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Nach Der Mauer Den Abgrund

Amsterdamer Forschungspapiere zur neueren germanistik

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“Nach der Mauer der Abgrund”?

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Amsterdamer Beiträge
83

2013
zur neueren Germanistik

Herausgegeben von
William Collins Donahue
Norbert Otto Eke
Martha B. Helfer
Gerd Labroisse

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“Nach der Mauer der Abgrund”?
(Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur

Herausgegeben von
Norbert Otto Eke

Amsterdam - New York, NY 2013

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Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der
Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber.

Reihen-Herausgeber:

Prof. William Collins Donahue


Chair & Director of Graduate Studies
Department of Germanic Languages & Literature
Duke University - 116D Old Chemistry - Box 90256
Durham, NC 27708, USA, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Norbert Otto Eke


Universität Paderborn
Fakultät für Kulturwissenschaften, Warburger Str. 100, D - 33098 Paderborn,
Deutschland, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Martha B. Helfer


Rutgers University
172 College Avenue, New Brunswick, NJ 08901
Tel.: (732) 932-7201, Fax: (732) 932-1111, E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Gerd Labroisse


Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland
Tel.: (49)30 89724235 E-Mail: [email protected]

Cover Image: Bundesarchiv, Bild 145-P061246 / o.Ang. / CC-BY-SA 3.0

The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO
9706:1994, Information and documentation - Paper for documents -
Requirements for permanence”.

ISBN: 978-90-420-3653-6
E-Book ISBN: 978-94-012-0921-2
©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2013
Printed in The Netherlands

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Inhalt

Norbert Otto Eke: “Nach der Mauer der Abgrund”?


(Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur 7

I. Literaturgeschichtsschreibung
Hans-Christian Stillmark: Zu strukturalistischen und
systemtheoretischen Perspektiven in der germanistischen
Literaturwissenschaft der DDR 29
Wolfgang Emmerich: Zwischen Chronotopos und
Drittem Raum: Wie schreibt man die Geschichte des
literarischen Feldes DDR? 43
Janine Ludwig: Was war und ist DDR-Literatur? Debatten um
die Betrachtung der DDR-Literatur nach 1989 65
Michael Opitz: Was wird von der DDR-Literatur bleiben? 83
Matteo Galli: Post-Staatliche DDR-Literatur in der
Literaturgeschichtsschreibung. Eine Bestandsaufnahme 105

II. Wiedergelesen
Marianne Schwarz-Scherer: Strategien fiktionalen Erzählens –
Sozialistische Gattungspoetik in den Exil-Balladen in der SBZ
1945–1949 121
Thomas Ulrich: Hanns Eislers Johann Faustus und Brechts
Urfaust-Inszenierung als Beispiel der bedingungslosen Kulturpolitik
der Frühphase der DDR 133
Christian Jäger: Bau auf, Bau auf. Zur literarischen
Überlieferungsgeschichte der Anfangsjahre der DDR 147
Stefan Elit: Narrationen der Individualität in der geschlossenen
Gesellschaft? DDR-Gegenwartsprosa und DEFA-Film der
1960er Jahre 161
Michael Hofmann: Der Wilde Osten und der poetische
Süden. Grundlegungen und Modellanalysen zur Reiseliteratur
in der DDR 175

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6

III. Spätzeit – Wendezeit – Nachzeit


Susanne Liermann: “Mit diesem Schweigen [. . .] beginnt Protest” –
Die Diffusion von Engagement und Parteilichkeit in der späten
DDR-Literatur 197
Holger Helbig: Ausnahmezustand. Zur Literatur der Wende 213
Juliane Schöneich: ‘Wendelyrik’ zwischen Ideologie und
Wissenschaft – ein kritischer Rezeptionsüberblick 229
Michael Ostheimer: Nachgeholte Trauerarbeit. Traumatische
Erinnerungsräume im Werk ostdeutscher Autoren nach 1989 243
Matthias Schöning: Untergründige Koinzidenz: Christa Wolf,
der “Deutsch-deutsche Literaturstreit” und die Bezugnahmen auf
die “Große Kontroverse” 265
Heinz-Peter Preußer: Kritik als Loyalität. Ein Rückblick auf den
Legitimationsdiskurs späterer DDR-Literatur ausgehend von
Christa Wolfs Stadt der Engel 285

IV. Lektüren
Stephan Krause: “Das war mein Ort.” – Franz Fühmanns
literarisches Bergwerk 307
Silke Horstkotte: Von Ostrom nach Atlantis. Utopisches in
Uwe Tellkamps Der Turm 323
Andrea Jäger: Die Wiederbelebung des Historismus in der
literarischen Geschichtsschreibung über die DDR. Bemerkungen
zu Uwe Tellkamps Der Turm 343

Autorinnen und Autoren 357

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Norbert Otto Eke

“Nach der Mauer der Abgrund”? (Wieder-)Annäherungen


an die DDR-Literatur

I. Vor dem Abgrund


GLÜCKLOSER ENGEL 2
Zwischen Stadt und Stadt
Nach der Mauer der Abgrund
Wind an den Schultern die fremde
Hand am einsamen Fleisch
Der Engel ich höre ihn noch
Aber er hat kein Gesicht mehr als
Deines das ich nicht kenne1

Mit dem 1991 entstandenen Gedicht “Glückloser Engel 2” nimmt Heiner


Müller kurz nach der Selbstauflösung der DDR ein Motiv seines bereits in
den 1950er Jahren geschriebenen Prosagedichts “Der glücklose Engel” wie-
der auf, das seinerseits die Brücke zurückgeschlagen hatte zu einem dritten
Text: zu Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, in dessen
Zentrum die Allegorie vom “Engel der Geschichte” steht:
DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll
auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor
ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein
Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine
Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Stein-
schläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewe-
gung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der
Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel
zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis
das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein
fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.2

Nicht mehr die Vorstellung einer erzwungenen Bewegung der Entfer-


nung (hier weg vom Paradies des Ursprungs) leitet diese Nach-Schrift zur
neunten von Benjamins Thesen, sondern die der gewaltsamen Stillstellung.

1
Heiner Müller: Glückloser Engel 2. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 236.
2
Heiner Müller: Der glücklose Engel. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte [wie
Anm. 1]. S. 53.

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8

Benjamins Engel ist es nicht möglich, seine Flügel zu schließen, inne zu


halten: der “vom Paradiese her” (aus der Vergangenheit) wehende Sturm
des Fortschritts treibt ihn vor sich her und verhindert jede Form ‘heilender’
(rettender) Praxis, die im Wunsch, das “Zerschlagene”, die Trümmer
einer katastrophischen Geschichte mithin, wieder “zusammen[zu]fügen”,
formuliert ist.
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf
dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfer-
nen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen
und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aus-
sehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von
Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unab-
lässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er
möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen-
fügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln
verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.
Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt,
während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den
Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.3

Im Unterschied zum Angelus Novus aus Benjamins Denkbild wird


Müllers glückloser Engel mit seinem nach ‘vorn’, der “Zukunft”, und eben
nicht – wie im Falle von Benjamins Engel – dem verlorenen Ursprungspa-
radies zugewandten Blick festgehalten im gestauten Raum einer Gegenwart,
die die Eigenschaft, Übergang zu sein, verloren hat: die Vorstellung des
erzwungenen Stillstands ersetzt die der erzwungenen Bewegung. Regelrecht
eingeklemmt (versteinert) ist Müllers Engel zwischen den Katastrophen einer
Vergangenheit, die nicht vergehen will, und einer Zukunft, die ihn mit dem
Glanz ihrer Versprechen auf das ganz Andere blendet und stumm macht, d.h.
der Sinne beraubt und so in sich einschließt. Zwar spricht auch Müllers Text
mit seiner Zeitkonstruktion einer gegenüber der Zukunft nicht (mehr) offenen
Gegenwart vom Scheitern der Geschichte – hier gedacht als dem Verfehlen
des Kairos (der sich ereignende “Augenblick”) und damit des Entzugs indivi-
dueller Gestaltungsmacht für geschichtliche Ereignisse. Er überwölbt auf der
anderen Seite aber die sich von hier aus öffnende Kluft zwischen Utopie und
Praxis von der Seite eines – denkbaren – messianischen (oder auch epiphani-
schen) Momentums der Revitalisierung her: “wartend auf Geschichte in der

3
Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften.
Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2. Abhandlungen. Hg. von Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S.
691–704. Hier: S. 697f.

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9

Versteinerung [. . .] Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich


in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.” Der Persona
des Gedichts “Glückloser Engel 2” ist die messianische Hoffnung des frü-
hen Prosagedichtes buchstäblich ‘fremd’ geworden auf ihrem Steh-Platz im
Niemandsland “Zwischen Stadt und Stadt”, d.h. auf der ursprünglich in Reak-
tion auf das ‘Ausbluten’ des sozialistischen Staates als “Weglaufsperre”4
konzipierten steinernen Mauer (oder ihrem früheren Verlauf), die nach
Olaf Brieses Beobachtung vor allem eines war: “purer, ästhetischer Wille
zur Macht”, eine Sperranlage, deren stadtbeherrschende Architektur in
“emblematischer Vereinfachung” eines anzeigte: “Hier sind die Grenzen eines
abgeriegelten Lagerstaats, einer Realutopie aus Stein und Stacheldraht”.5
Die Mauer war als “architektonische[r] Ausnahmezustand” Ausdruck
gerade auch eines ‘politischen Ausnahmezustands’: “reines Nichts und
reine Macht, reine potentia des Todes”6 – und dennoch hatten nicht wenige
junge Intellektuelle ausgerechnet mit diesem Monstrum, das spätestens mit
der Errichtung der sogenannten “Grenzmauer 75”7 neben funktionalen (ord-
nungspolitischen, militärischen) auch ästhetische Bedürfnisse (“wartungsarm
und formschön”8) befriedigen sollte, die Hoffnung auf Liberalisierungen im
Innern der DDR verbunden. “Wir waren ungeheuer glücklich darüber”, so
erinnert Heiner Müller selbst 1992 im Gespräch mit Klaus Bednarz an diese
von ihm seinerzeit geteilte Fehleinschätzung, “weil wir meinten, jetzt können
wir, da der böse Feind uns nicht mehr stören kann, über unsere Probleme ganz
offen im Land reden und schreiben. Das glaubten wir alle. Zur selben Zeit
[. . .] hatte Otto Gotsche, der Sekretär von Ulbricht [. . .] gesagt: ‘Jetzt haben
wir die Mauer, und daran werden wir jeden zerquetschen, der gegen uns ist.
Was ich im Nachhinein so bemerkenswert finde, ist unsere Naivität – diese
Unschuld!’ ”.9
Volker Brauns Gedicht “Die Mauer” (1966) ist ein frühes Zeugnis der
gemischten Gefühlslage, mit der DDR-Intellektuelle auf den Mauerbau

4
Olaf Briese: Steinzeit. Mauern in Berlin. Illustrationen von Falk Nordmann.
Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 346.
5
Ebd.
6
Ebd. S. 358.
7
Olaf Briese hat in seiner Mauergeschichte acht zeitlich aufeinander folgende
Phasen des Sperranlagenbaus unterschieden (ebd. S. 349–355). In der Logik dieser
Entwicklung stellt die “Grenzmauer 75” die vierte Generation des Mauerbaus dar.
8
So 1982 der damalige Befehlshaber der Grenztruppen, Klaus-Dieter Baumgarten,
zitiert nach Briese: Steinzeit [wie Anm. 4]. S. 356.
9
Heiner Müller [und Klaus Bednarz]: Krieg ohne Schlacht. In: Werke 12. Gesprä-
che 3: 1991–1995. Hg. von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz,
Ludwig Haugk, Christian Hippe, Ingo Way. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S.
276–282. Hier: S. 277f.

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10

reagierten. “Schande”10 sei sie und Notwendigkeit zugleich, ist hier zu lesen.
Und doch stellt sich dem sprechenden Ich des Gedichts die Frage: “Aber das
mich so hält, das halbe / Land, das sich geändert hat mit mir, jetzt / Ist es
sichrer, aber /Ändre ichs noch?”.11 Die Schussstrophe dieses 76 Verse
umfassenden Gedichts lautet dann mit forciert listiger Dialektik, die sich der
Naivität nicht bewusst ist, der sie entspringt:
Aber
Ich sag: es ist Dreck, es steht
In der Stadt unstattlich, der Baukunst
Langer Unbau, streicht das schwarz
Den Schandbau, scheißt drauf
Denn es ist nicht
Eure Schande: zeigt sie.
Macht nicht in einem August
Einen Garten daraus, wälzt den Dreck nicht
Zu Beeten breit, mit Lilien über den Minen
Pflanzt Nesseln, nicht Nelken
Vermehrt nicht, zwischen den seltsamen
Städten, die Rätsel, krachend
Schmückt das Land nicht
Mit seiner Not. Und
Laßt nicht das Gras wachsen
Über der offenen Schande: es ist
Nicht eure, zeigt sie.12

Bilder des Zerfalls – von Ich und Welt, Selbst und Körper, Gegenwart und
Geschichte – markieren in Müllers “Glückloser Engel 2” zwei Jahre nach
dem Fall des Mauer-“Bau[s]” “Zwischen den seltsamen Städten, die den
gleichen /Namen haben”13 (wie es in Brauns Gedicht heißt) eine Erfahrung
der Desillusionierung, die der messianischen Rest-Hoffnung seines ‘alten’
Engel-Textes den Boden entzogen hat. Zwar bleibt das Flügelschlagen des
Engels im ‘Steinschlag’ noch zu hören; ein Subjekt der geschichtlichen
Bewegung (der erlösende Messias bzw. die messianische Erlösungsgemein-
schaft) aber ist für das Ich nicht mehr zu erkennen: “kein Gesicht mehr als /
Deines das ich nicht kenne”.
Der Vers “Nach der Mauer der Abgrund” selbst ist doppelbödig. Mit
ihm öffnet sich ein weiter Assoziationsraum der grundlosen Leere: vom
Abyssos der Johanneischen Apokalypse, aus dem das Ungeziefer und das

10
Volker Braun: Die Mauer. In: Texte in zeitlicher Folge 2. Halle: Mitteldeutscher
Verlag 21993. S. 82-85. Hier: S. 85.
11
Ebd. S. 83.
12
Ebd. S. 84f.
13
Ebd. S. 82f.

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11

apokalyptische ‘Tier’ aufsteigen, um die Menschen zu quälen, und in den


zuletzt der Satans-Drache gesperrt wird,14 über die ‘große Kluft’ zwischen
den Vermögenden und den Armen, von der im Lukas-Evangelium im “Gleich-
nis vom reichen Mann und vom armen Lazarus” die Rede ist,15 bis hin zu
Nietzsches Blick in den Abgrund im Tragödienbuch (und darüber hin-
aus). Überdies erlaubt die Eingangs-Präposition “Nach” ganz unterschiedli-
che Sichtweisen auf das alle zitierten ‘Engel’-Texte gleichermaßen leitende
Bewegungs-/Stagnationsmotiv: temporal, spatial, konditional, kausal. Grund-
legend allerdings bleibt für alle diese Lesarten das Vorstellungsmoment der
Scheidung – zwischen einem Diesseits und einem Jenseits (der Mauer). Das
verbindet “Glückloser Engel 2” mit dem etwa zeitgleich entstandenen Gedicht
“Leichter Regen auf leichtem Staub”, einem anderen ‘Mauer’-Gedicht aus
dem Nachlass Müllers, welches das Motiv der Scheidung mit dem Vorgang
einer Reise, einer Passage in den Tod, verbindet und damit von anderer Seite
her der Spur der haltlosen Hoffnungen und politischen Illusionen folgt, auf
der “Glückloser Engel 2” dem Zusammenbruch der realsozialistischen
Gesellschaftssysteme nachdenkt:
Leichter Regen auf leichtem Staub
Die Weiden im Gasthof
Werden grün werden und grün
Aber du Herr solltest Wein trinken vor deinem Abschied
Denn du wirst keine Freunde haben
Wenn du kommst an die Tore von Go
(für Erich Honecker nach Ezra Pound und Rihaku)16

“Leichter Regen auf leichtem Staub” ist als Übersetzung einer Übersetzung
(hier von Ezra Pounds “Light rain is on light dust” nach einem Gedicht des
chinesischen Dichters Wang Wei, das Pound seinen “Four Poems of Depar-
ture” vorangestellt hat) ein Gedicht aus Intertexten, dessen Referenzsystem
Gerrit-Jan Berendse im Einzelnen aufgeschlüsselt hat.17 Mit den “Tore[n]
von Go”, einem Bergpass zwischen dem östlichen China und der Mongolei,
der im Verständnis der chinesischen Geschichtsschreiber Zivilisation und
Barbarei, Ost von West, scheidet, evoziert das Gedicht das Bild einer ande-
ren Mauer. An den “Tore[n] von Go” tritt der Reisende auf seinem Weg ins

14
Vgl. Off. 9,1-12; 11,7; 20,1–3.
15
Lk, 16,19–31.
16
Heiner Müller: Leichter Regen auf leichtem Staub. In: Heiner Müller Werke I. Die
Gedichte [wie Anm. 1]. S. 231.
17
Gerrit-Jan Berendse: The Poet in a Cage. On the Motif of Stagnation in Poems by
Heiner Müller and Ezra Pound. In: Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. Hg.
von Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg 1995, S. 249–257.

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Exil aus dem Schatten der großen Mauer, die die chinesischen Machtha-
ber als Sperrwall über Jahrhunderte zum Schutz ihrer Territorien gegen die
feindlichen Barbaren errichtet haben. Jenseits der “Tore von Go”, nach
der Mauer, im Westen also, erwartet den Reisenden aber nichts anderes als
der Tod.
Das setzt nicht Erich Honecker ins Recht, an den das Gedicht adressiert
ist (im Übrigen die einzige Verszeile Müllers selbst), dreht das ‘chinesische’
Gedicht aber nun in eine die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte reflek-
tierende Ost-West-Achse. Von diesem zweiten Mauer-Gedicht Müllers aus
gelesen, erscheint das Jenseits der achtundzwanzig Jahre lang Berlin durch-
ziehenden Mauer im Rückblick als eingezäuntes (eingemauertes) Schutz-
gebiet: Reservoir und Reservat der Utopie, das – und dies in der Einfaltung
einer Opferlogik in die Semantiken der Entfremdung – zum Objekt der
Überwältigung geworden ist (“die fremde Hand am kalten Fleisch”18).
II. Revisionen
Die Müllers Gedicht leitenden Motive der Enttäuschung, des Unterlegen- und
Überwältigtseins bilden das referentielle Grundrauschen zu jener 1990 durch
die Veröffentlichung von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt ausgelösten
Debatte, die als deutsch-deutscher Literaturstreit oder auch als “Literaturstreit
im vereinten Deutschland”19 in die Literaturgeschichte eingegangen ist.20

18
Vgl. zur sexuellen Konnotation des Vereinigungsmotivs in Müllers Gedicht
Marcus Kreikebaum: Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld: Aisthesis 2003. S. 314f.
19
“Es geht nicht um Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland.
Hg. von Thomas Anz. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M.: Fischer 1995.
20
Der deutsch-deutsche Literaturstreit ist im wesentlichen dokumentiert in den
Sammelbänden von Anz (“Es geht nicht um Christa Wolf ” [wie Anm. 19]) sowie Karl
Deiritz und Hannes Krauss (Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder “Freunde, es
spricht sich schlecht mit gebundener Zunge”. Analysen und Materialien. Hamburg:
Luchterhand 1991). Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. u.a.:
Bernd Wittek: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Eine Analyse
des Streits um Christa Wolf und die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur in Zeitun-
gen und Zeitschriften. Marburg: Tectum 1997; Lennart Koch: Ästhetik der Moral
bei Christa Wolf und Monika Maron. Der Literaturstreit von der Wende bis zum
Ende der neunziger Jahre. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2001, sowie die Beiträge von
Stefan Neuhaus (“Kritik einer abstoßenden Welt”? Probleme des literarischen und
des literaturkritischen Diskurses über die DDR in den 1990er-Jahren) und Lothar
Bluhm (Grenzüberschreitungen – Liminalität, Literatur und öffentlicher Diskurs am
Beispiel der publizistischen Auseinandersetzungen um Christa Wolfs Was bleibt) in:
Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ‘geschlossenen Gesell-
schaften’ des Real-Sozialismus. Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R unipress
2009. S. 317–332 und S. 333–342.

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Aufgeführt als “deutsche[s] Provinzstück einer epochalen Zeitenwende”,21


das sich schnell von seinem Ausgangspunkt und damit der Frage entfernte,
ob sich die gerade eben noch auch im Westen hochverehrte Autorin durch das
Wegtauchen in eine angemaßte Opferrolle ihrer eigenen Irrtümer loszuspre-
chen bzw. ihrer geschichtlichen Verantwortung zu entledigen versuche, nahm
der deutsch-deutsche Literaturstreit mit Polemiken von Ulrich Greiner und
Frank Schirrmachen gegen die “deutsche Gesinnungsästhetik”22 sowie einem
Plädoyer Karl Heinz Bohrers für die “imaginative Potenz”23 bekanntlich bald
grundsätzliche Züge an. Nicht wenige bis dahin in der Bundesrepublik hoch-
geschätzte Autoren und Autorinnen – neben Christa Wolf u.a. Heiner Müller,
Stephan Hermlin, Stefan Heym, Volker Braun und Christoph Hein – mussten
es hinnehmen, in einem Klima der intellektuellen Abwicklung alter kulturel-
ler Wegmarken von tonangebenden Kritikern der Bundesrepublik als Altlast
der DDR abgeschrieben und mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden,
einem verfehlten Sinngebungsprojekt der Geschichte die nötige moralische
Legitimation verschafft zu haben. Das war so durchaus nicht vorhersehbar,
hatte sich die DDR-Literatur in den 1970er und 1980er Jahren doch nicht nur
eine breite Leserschaft in der Bundesrepublik und in den angelsächsischen
Ländern erobert, sondern sich über das ästhetische Ansehen hinaus auch einen
Nimbus erobert als Bastion von Regimekritik und Zivilcourage, nicht zuletzt
auch (und genau daraus erwuchs ihr nun ein Vorwurf) als glaubwürdige Ins-
tanz eines ‘wahren’ Sozialismus im ‘falschen’ (oder zumindest fehlerhaften)
Sozialismus. Es sei, so Thomas Schmidt 1992 rückschauend,
eine Lebenslüge um diese Literatur herum aufgebaut worden, und es war ver-
dienstvoll, dieser Lüge zu Leibe zu rücken [. . .]. Endlich einmal war es ausge-
sprochen: das Elend dieser feinziselierten Literatur, dieser oft genug verquasten
Innerlichkeit, dieser ebenso großmäuligen wie öden Brecht-Nachfolge, dieser oft
ahnungslosen Wirklichkeitszugewandtheit und nicht zuletzt dieser verblasenen,
pennälerhaften Avantgarde vom Prenzlauer Berg – das Elend einer Literatur, die
Schaden nehmen mußte, weil sie letztlich doch vom Rest der Welt abgeschnitten
blieb. Es spricht nicht gerade für die DDR-Literatur, daß vieles von ihr ohne den

21
Karl Deiritz, Hannes Krauss: Ein deutsches Familiendrama. In: Der deutsch-deut-
sche Literaturstreit oder “Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge”
[wie Anm. 20]. S. 7–12. Hier: S. 7.
22
Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe,
neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des west-
deutschen Bewußtseins. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.10.1990; Ulrich Greiner:
Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche
Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit 2.11.1990.
23
Karl Heinz Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR. In: Merkur 500 (1990). S. 1015–
1018. Hier: S. 1017.

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14

schützenden Kokon des Staates, in dem sie entstanden war, augenblicklich unreif,
bramarbasierend, kitschig und wie Schnee von gestern wirkt24.

Die Literatur der DDR und ihre Vertreter hätten als solche stets “die Idee
gegen die Wirklichkeit”, zugleich damit “ihre gesellschaftliche Schlüsselposi-
tion verteidigt” und “ihre besonderen, partikularen Interessen für allgemeine
ausgegeben”: “Sie waren Dialektiker von hohen Gnaden: Sie haben, um es
pointiert zu formulieren, noch ihr Leiden im und am Sozialismus so darzu-
stellen vermocht, daß es zuletzt eben diesem Sozialismus das Wort redete”.25
Vor dem Hintergrund der literarisch-publizistischen Debatten der 1990er
Jahre (u.a. um Botho Strauß’ Anschwellenden Bocksgesang, Peter Handkes
Serbien-Engagement und Martin Walsers Friedenspreisrede) stellt sich der
deutsch-deutsche Literaturstreit im Rückblick betrachtet – Lothar Bluhm hat
dies mit dankenswerter Nüchternheit herausgearbeitet – heute als lediglich
eine Station im Rahmen des “Justierungs- und Neusituierungsprozesses” dar,
“innerhalb dessen sich das kulturelle Orientierungssystem in Ost- und West-
Deutschland neu zu formieren suchte”.26 Fluchtpunkt der sich etwa einein-
halb Jahre hinziehenden publizistischen Debatte war über ihre verschiedenen
Etappen hinweg in erster Linie dabei das Verhältnis von Politik und Moral,
auch wenn sich die Diskussion nach den ersten, unmittelbar auf die Veröf-
fentlichung von Was bleibt folgenden Angriffen auf das ‘Denkmal’ der Groß-
schriftstellerin Christa Wolf 27 auf eine eher ästhetisch-theoretisch gegründete
Ebene zu verlagern schien. Als solcher ist der Literaturstreit Ausdruck damit
des bereits unmittelbar nach der Wende einsetzenden Ringens um eine den
politischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit angemessene Erinnerung an
die DDR. Mit dem Fall der Mauer, spätestens mit dem Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik, wurde der sozialistische deutsche Teilstaat so zur Konstruk-
tion der Erinnerung freigegeben. Ganz allgemein wurde der Systemwechsel
auf dem Boden der ehemals staatssozialistischen Systeme Osteuropas zum
Auslöser eines Transformations- und Revisionsprozesses standardisierter
Wahrnehmungsmuster und Wirklichkeitsbilder, in dessen Zuge sich gerade

24
Thomas Schmid: Pinscherseligkeit. Vom Elend des neuen deutschen Literatur-
streits. In: Literaturmagazin 29: Verkehrte Welten. Barock, Moral und schlechte
Sitten. Hg. von Martin Lüdke und Delf Schmidt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1992. S. 171-189. Hier: S. 175.
25
Ebd. S. 176f.
26
Lothar Bluhm: Grenzüberschreitungen [wie Anm. 20]. S. 335.
27
Vgl. dazu die Rezensionen von Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl. In: Die Zeit
1.6.1990, und Frank Schirrmacher: “Dem Druck des härteren, strengeren Lebens
standhalten”. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs
Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung “Was bleibt”. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung 2.6.1990.

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auch im Hinblick auf die DDR neue narrative Konstruktionen etablierten:


Die alten, hegemonialen (Abweichungen und Gegen-Erinnerungen ausschlie-
ßenden) Konstitutionsformen des kulturellen Gedächtnisses, in denen die
DDR ihr Selbstbild, aufgebaut, stabilisiert und kommuniziert hat, verloren
mit einem Schlag ihre Deutungsmacht, während ein Kampf um die ‘richtige’
Erinnerung einsetzte.28
Carola Rudnik hat sich eingehend mit diesem Transformationsprozess
beschäftigt und in diesem Zusammenhang drei Phasen hinsichtlich der Auf-
arbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit rekonstruiert, angefangen bei einem
Bemühen um vollständige Delegitimation der DDR in der Fluchtlinie
überwunden geglaubter totalitarismustheoretischer und antikommunistischer
Konzepte der 1980er Jahre (Historikerstreit) (1992-1995), über eine ins-
besondere durch die Arbeit der zweiten Enquete-Kommission des Bundes-
tags (“Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen
Einheit”) angestoßene Debatte um eine demokratische Erinnerungskultur
(1995-2005), bis hin zu einer Renationalisierung des Gedenkens mit wieder
verschärfter kommunismuskritischer bis antikommunistischer Stoßrichtung
nach 2005.29 Im Hinblick auf die Erinnerungspolitiken der zurückliegenden
zwanzig Jahre kommt sie zu folgendem Ergebnis:
(1) Der Prozess der Aufarbeitung von Zeitgeschichte sowie das Erinnern und
Gedenken waren wie nie zuvor geprägt vom politischen Imperativ. Es galt das
Primat der Politik. (2) Konservative, Opfervertreter und ehemalige Bürgerrecht-
ler bzw. Oppositionelle hatten in den ersten zwei Jahrzehnten Deutungshegemo-
nie. Dies führte zunächst zu einer Fokussierung der Geschichtsaufarbeitung auf
den Repressions- und Unrechtscharakter und sorgte bisweilen für eine Dominanz
undifferenzierter totalitarismustheoretischer Auslegungen der SBZ-bzw. der DDR-
Geschichte sowie des “antitotalitären Konsens” innerhalb des Erinnerungsdiskur-
ses. (3) Die “Friedliche Revolution” ist ebenfalls Ergebnis des von ehemaligen
Bürgerrechtlern und Oppositionellen dominierten Erinnerungsdiskurses. Sie hat
so, wie es die den Diskurs anführenden Akteure des Herbstes 89’ behaupteten,
insbesondere in Bezug auf das Ende des MfS und dessen museologische
Aufarbeitung nicht stattgefunden30.

Die Moralisierung dieser aufgeregten und streckenweise überhitzten Debatte


über ‘richtiges’ und ‘falsches’ Erinnern, in der das ‘alte’ Schauspiel des
Konflikts zwischen Geist und Macht eine Wiederaufführung vor großem

28
Vgl. zu den Erinnerungskonstruktionen nach 1989 eingehend Carola S. Rudnick:
Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik
nach 1989. Bielefeld: Transcript 2011. Hier auch eine Vielzahl nützlicher Literatur-
hinweise zur Auseinandersetzung mit der DDR nach 1989.
29
Zusammenfassend bes. ebd. S. 732–735.
30
Ebd. S. 731.

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Publikum erlebte,31 wiederum folgte der Logik einer medialen Erregungs-


kultur, unter deren Oberfläche sich nichts anderes als Aushandlungsprozesse
gesellschaftlicher Selbstverständigungen verbargen.
Die Ironie der Geschichte will es, daß im Zuge dieser Debatte dabei auch
auf überraschende Weise literaturtheoretische Modelle der 1960er und 1970er
Jahre eine neue Aktualität gewannen: Die Beschwörung der Moral zumindest
holte den Autor zurück aus dem Grab, das ihm die poststrukturalistischen und
dekonstruktivistischen Theorien dieser Jahrzehnte geschaufelt hatten – und
dies ungeachtet der Versuche einiger (weniger) Verteidiger der DDR-Literatur,
den Streit um Verantwortung und Moral des Schriftstellers ausgerechnet im
Rekurs auf poststrukturalistische Theoreme entschärfen zu wollen, d.h. “mit
dem Autor auch das Problem zum Verschwinden zu bringen”.32
In Erinnerung gerufen sei an dieser Stelle lediglich exemplarisch Roland
Barthes seinerzeit wegweisender Aufsatz mit dem sprichwörtlich gewor-
denen Titel Der Tod des Autors aus dem Jahr 1968. Barthes hatte darin ein
Modell von Texten als Räumen entwickelt, in denen sich verschiedene, für
sich genommen keineswegs originelle Schreibweisen vereinigen und bekämp-
fen. Dabei hatte Barthes gar nicht geleugnet, dass Texte von einzelnen Auto-
ren hervorgebracht werden, wohl aber die Vorstellung autonomer Kreativität
verneint.33 Galt der ‘Autor’ dem traditionellen (hermeneutischen) Literatur-
verständnis noch als das von den Instanzen des Erzählens innerhalb der litera-
rischen Texte zu unterscheidende Subjekt autonomer Urheberschaft, war seine
Bedeutung als Identität und Authentizität verbürgende Sinninstanz und
Verstehensnorm damit zweifelhaft geworden.
Die Konsequenzen des unterhalb der spektakulären Oberfläche des Lite-
raturstreits mitlaufenden Vorgangs der Reaktivierung eines autorzentrierten
Literaturverständnisses und des gleichzeitigen Versuchs seiner Abwehr hat
Anke-Marie Lohmeier in einem erhellenden Beitrag vorgeführt: dass nämlich
“die beiden scheinbar unversöhnlichen Paradigmen, die Rede von der ‘Ver-
antwortung’ und die vom ‘Tod’ des Autors, insofern eng zusammenhängen,
als beide Resultat eines Mißtrauens in die Konsistenz von Subjektivität (des
Autors hier, seiner Adressaten dort) sind, mithin Resultat einer Reserve gegen

31
Das herausgearbeitet zu haben, ist – bei aller Polemik im Einzelnen – das
Verdienst Thomas Schmids. Vgl. Ders.: Pinscherseligkeit [wie Anm. 24]. S. 178f.
32
Anke-Marie Lohmeier: Schriftstellers “Verantwortung” und Autors “Tod”.
Autorkonzepte und offene Gesellschaft am Beispiel des deutsch-deutschen Litera-
turstreits. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. von Heinrich Detering.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2002. S. 557–569. Hier: S. 565.
33
Roland Barthes: Der Tod des Autors (1968). In: Texte zur Theorie der Autorschaft.
Hg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und
Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2000. S. 185–193.

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den aufklärerischen Imperativ, dem auszuweichen sie beide (dem Autor hier,
seinen Adressaten dort) literaturtheoretisch gepflasterte Wege eröffnen”.34
Das erlaube den Schluss – und diese Pointe der Beobachtung birgt den eigent-
lichen Zündstofff der Analyse –, “dass jene traditionsreiche Reserve gegen
die offene Gesellschaft und ihre Ansprüche an die Freiheitsfähigkeit des
Subjekts in beiden virulent ist”.35 Lohmeier kritisiert von hier aus (und mit
Recht) ein Zweifaches: die mangelnde Einsicht vieler DDR-Intellektueller in
den letztlich totalitären Kern ihres Utopismus und ihre Blindheit gegenüber
der Offenheit pluralistischer Gesellschaftskonzepte einerseits, die letztlich zu
kurz greifende Ursachenforschung für dieses Versagen bei den Wortführern
des neuen deutschen Literaturstreits andererseits:
Dass sie [gemeint ist hier Christa Wolf] und mit ihr die Vertreter der “Utopie”
nicht vermochten, “die moderne Gesellschaft als kompliziertes System konkur-
rierender Gruppen zu verstehen”, mithin auch den letzthin totalitären Kern ihrer
“Utopie” nicht erkannten, ist ohne Frage richtig (und hätte der westlichen Lite-
raturkritik auch schon früher auffallen können). Die Gründe dafür aber in ihrem
“autoritären Charakter”, in einem (von Wolf selbst diagnostizierten) “Hang zu Ein-
und Unterordnung” zu suchen, wie Frank Schirrmacher in jenem Artikel unter-
nahm, mit dem der “Literaturstreit” im Juni 1990 begann, trifft das Problem nicht,
enthüllt sich vielmehr als zweckrationales Argument, das den Versuch stützen
soll, die Überlegenheit der westlichen Intelligenz zu behaupten, freiweg nach dem
Motto: Während die Intellektuellen/West (schon seit den fünfziger Jahren!) über
die sichere Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Pluralismus verfügten, per-
petuierten die Intellektuellen/Ost die Fehler der alten intellektuellen Eliten “von
Kaiserzeit und Drittem Reich” und schrieben so “das längst abgeschlossen
geglaubte Unglücksverhältnis des deutschen Intellektuellen mit der Macht bis in
die Gegenwart fort”.36

III. Re-Lektüren
Leicht aus dem Blick gerät angesichts der Aufgeregtheiten und der polemi-
sche Verve der unterschiedlichen Bilanzierungs-, Abwicklungs- und Legi-
timationsversuche, dass mit dem Fall der Mauer und dem Beitritt der DDR
zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes am 3.
Oktober 1990 einerseits die Literatur der DDR, andererseits aber auch dieje-
nige der Bundesrepublik in gewisser Weise ‚historisch’ geworden ist – auch
wenn mit dieser Einsicht in das Ergebnis der politischen Geschichte nicht

34
Lohmeier: Schriftstellers “Verantwortung” und Autors “Tod” [wie Anm. 32].
S. 558.
35
Ebd. S. 558.
36
Ebd. S. 560.

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eo ipso die akademisch scheinende Frage als solche erledigt wäre, ob eine
Scheidung beider deutscher Literaturen nach ästhetischen, thematischen oder
auch Kriterien einer spezifischen ‘Ortsgebundenheit’37 überhaupt jemals
möglich war – genauso wenig wie im Übrigen die von Wolfgang Emmerich
in seinem Beitrag zu dem vorliegenden Band aufgeworfene Frage beantwor-
tet ist, “was in den seither vergangenen zwei Dekaden eigentlich geschehen
ist und wie ‘DDR-Literatur’ in dem neuen mixtum compositum deutschspra-
chiger Literatur 1990 bis 2010 vorkommt”. Rainer Rosenbergs Prognose aus
dem Jahre 1995, in Zukunft werde man das, “was in den Grenzen dieses Staa-
tes geschrieben wurde” wohl kaum noch als “eine eigenständige deutschspra-
chige Literatur neben der westdeutschen oder österreichischen” verhandeln,38
zumindest hat sich so nicht bewahrheitet, im Gegenteil. Mehr als je zuvor
scheint überdies heute fraglich, was unter ‘DDR-Literatur’ verstanden werden
kann.
Bereits in den 1980er Jahren hatte der Schriftsteller Erich Loest “vier
Arten von DDR-Literatur” zu unterscheiden vorgeschlagen: eine im Westen
weithin unbeachtete systemkonforme Literatur, eine (in Maßen) system-
kritische, in Ost und West gleichermaßen veröffentlichte Literatur, eine auf
dem Boden der DDR entstandene, aber nahezu ausschließlich im Westen
veröffentlichte Literatur und eine von geflohenen oder ausgebürgerten
Autorinnen und Autoren geschriebene, die DDR gleichsam vom ‘Exil’ her
beschreibende Literatur.39 Die Sache ist seitdem nicht einfacher gewor-
den, besagt doch der politische Kontinuitätsbruch von 1989/90 ungeachtet
aller ökonomischen, administrativen, sozialen und mentalen Konsequenzen
für sich genommen erst einmal nichts über die Fortsetzung oder das Abbre-
chen literarischer Traditionen: Ebenso wenig wie 1945 gab es 1989/90 eine
‘Stunde Null’, d.h. einen Neuanfang in völliger Voraussetzungslosigkeit,
sehr wohl aber durchaus unterschiedlich gelagerte Versuche poetologischer
und ästhetischer Selbstverständigungen, eingeschlossen darin das Bemü-
hen darum, die Rolle der Literatur im sozialen Raum neu zu bestimmen.

37
Vgl. dazu Ursula Heukenkamps Plädoyer für eine ‘Regionalisierung’ der DDR-
Literatur – Ursula Heukenkamp: Ortsgebundenheit: Die DDR-Literatur als Variante
des Regionalismus in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Weimarer Beiträge 42.1
(1996). S. 30–53.
38
Rainer Rosenberg: Was war DDR-Literatur? Die Diskussion um den Gegenstand
in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für
Germanistik NF 5.1 (1995). S. 9–21. Hier: S. 19.
39
Erich Loest: Leipzig ist unerschöpflich. Über die vier Arten von DDR-Literatur
heute. Vorlesung, gehalten am 17.12.1984 an der Universität Paderborn. Pader-
born: PUR [2005].

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Obendrein ist auch die Zu- und Einordnung der nach 1989/90 entstandenen
sogenannten ‘Post-DDR’-Literatur ungeklärt (vgl. dazu insbesondere den
Beitrag Gallis im vorliegenden Band). Die naheliegende raumzeitliche His-
torisierung des Paradigmas ‘DDR-Literatur’ anhand der politischen Ereig-
nisgeschichtsgeschichte und damit ihre Bindung an die staatliche Formation
‘DDR’ unter Einschluss der SBZ (1945/49-1989/90) reduziert die Literatur
unzulässiger Weise auf eine systemische Funktion und blendet aus, dass sich
ästhetische Verfahrensweisen, Ausdrucksformen und Strukturmuster genauso
wenig wie mentale Traditionen und Einstellungen nicht allein mit einer
Abstimmung im Parlament erledigen (lassen).
Epochenbegriffe (und um einen solchen handelt es sich ja bei dem Begriff
‘DDR-Literatur’ in der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung) sind dadurch
bestimmt, dass sie halbwegs stabile Ensembles von Methoden, Techniken und
Ideen, von politischen, ideengeschichtlichen und ästhetischen Bedingungen
als Einheit (re-)konstruieren, was im literarhistorischen Fall nichts anderes
heißt als: eine Menge von Texten weist für einen bestimmten Zeitraum eine
Reihe beschreibbarer Gemeinsamkeiten auf; zugleich sind, was ihre Darstel-
lungsweisen oder die dargestellten Welten betrifft, die Unterschiede zwischen
ihnen geringer als zu den Texten eines anderen Zeitraums, die sich ihrerseits
in ihren Gemeinsamkeiten von den Texten des ersten Zeitraums (und weite-
rer Zeiträume) abheben. Nichts davon allerdings zeichnet die vermeintliche
Epochenbezeichnung ‘DDR-Literatur’ aus. Zu Recht haben die Herausge-
ber des 2009 erschienenen Metzler Lexikons DDR-Literatur, Michael Opitz
und Michael Hofmann, bereits in ihrer Band-Einleitung auf Divergenzen,
aber auch (seit den 1970er Jahren zunehmende) Konvergenzenzwischen bei-
den deutschen Literaturen40 verwiesen und vom als solchem inhomogenen
Charakter der “in der DDR geschriebene[n] Literatur”41 gesprochen. Viel-
leicht ist ja angesichts dessen eine pragmatische Verwendung des Begriffs
‘DDR-Literatur’, wie Wolfgang Emmerich sie 1996 vorgeschlagen und
Michael Opitz sie 2009 noch einmal bekräftigt hat, nach wie vor in der Tat
gegenwärtig die einzig probate Möglichkeit, mit dem Problem umzuge-
hen. Der vorliegende Band zumindest folgt in seiner Konzeption dieser von
Emmerich und Opitz vertretenen pragmatischen Bestimmung des Paradigmas
‘DDR-Literatur’. “Wer an Multiperspektivität interessiert ist”, so Emmerich
seinerzeit, “wird auch den Begriff DDR-Literatur nicht künstlich eindeutig

40
Michael Opitz, Michael Hofmann: Vorwort. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur.
Autoren – Institutionen – Debatten. Hg. von Dens. unter Mitarbeit von Julian
Kanning. Stuttgart-Weimar: Metzler 2009. S. V-VII. Hier: S. VI.
41
Ebd. S. V.

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machen, sondern beharrlich offenhalten. Der Begriff war, sofern man nicht an
die Linie der SED gebunden war, nie klar umrissen”.42
Wie immer man es auch wenden will: Auch wenn die Vereinigung der bei-
den deutschen Staaten für die bundesdeutsche Literatur in ihren Konsequen-
zen zunächst auch kaum spürbar gewesen sein mag, die DDR-Literatur traf
die Zäsur des 3. Oktober unabhängig von der jeweiligen Selbstpositionierung
der Autorinnen und Autoren im Hinblick auf die politische Systemkonkurrenz
ins Mark ihres Selbstverständnisses, ging ihr mit dem Ende des realexistie-
renden Sozialismus doch der primäre kulturelle und politische Resonanzraum
(positiv wie negativ) abhanden, und dies ungeachtet dessen, dass die anfäng-
lich getrennten Kommunikationsträume ‘BRD’ und ‘DDR’ seit den 1960er
Jahren zunehmend aufeinander reagiert hatten. Carsten Gansel hat in diesem
Sinn im Hinblick auf die Erweiterung ästhetischer und thematischer Standards
innerhalb der DDR-Literatur auf Rückkoppelungs- und Verstärkereffekte
hingewiesen, die sich aus dem Nebeneinander der Kommunikationsräume
ergeben haben und es zumindest Autoren und Autorinnen der DDR in einer
spezifischen ‘double bind’-Situation ermöglich hatte, symbolisches Kapital
in beiden Gesellschaftsystemen aufzubauen.43 Ich selbst habe an einem
Fallbeispiel, der Auseinandersetzung mit der Shoah seit den späten 1970er
Jahren, dieses Wechselspiel als Diskursverschränkung und -vermischung
beschrieben.44 Entscheidend dabei ist: Der DDR-Literatur bzw. ihren
Akteuren ging nicht nur die spezifische ‘Ökonomie der Aufmerksamkeit’, ohne
die sich symbolisches Kapital nicht erzeugen lässt, verloren; sie büßte auch
in entschiedener Weise ihre Gegenwärtigkeit als Instanz der Beobachtung
eines Felds symbolischer Machtkämpfe und als Austragungsort eben die-
ser Machtkämpfe im Rahmen eines offenen Prozesses ein, was sich für nicht

42
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 21997. S. 21. Michael Opitz: DDR-Literatur (Begriff).
In: Metzler Lexikon DDR-Literatur [wie Anm. 40]. S.72f. Hier: S. 73. Vgl. zu die-
ser Diskussion insbesondere auch den Beitrag von Janine Ludwig im vorliegen-
den Band sowie den von ihr und Mirjam Meuser verfassten einleitenden Aufsatz
“In diesem besseren Land – Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generatio-
nen engagierter Literaten” in: Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-
Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig und Mirjam Meuser.
Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009.
Hier: S. 11–71, bes. S. 26–39.
43
Carsten Gansel: Rhetorik der Erinnerung – Zu Literatur und Gedächtnis in den
‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In:
Rhetorik der Erinnerung [wie Anm. 20]. S. 9–16. Hier: S. 12.
44
Norbert Otto Eke: Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR. In: Shoah
in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke.
Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 85–106.

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wenige der vormals (in mehrfacher Hinsicht) ‘bedeutenden’ Autoren und


Autorinnen allererst einmal im Verlust einer Arbeitsillusion niederschlug –
einer Arbeitsillusion, die nicht allein den Traum von einer die Fesselungen
der Diktatur abstreifenden sozialistischen Gesellschaft zum Gegenstand hatte,
sondern auch das Verhältnis der künstlerischen Intelligenz zum ‘Staatsvolk’
der DDR betraf, für das zu sprechen sie immer wieder den Anspruch erhoben
hatte. Volker Braun hat dies in dem vielzitierten Gedicht “Das Eigentum” in
exemplarischer Weise formuliert:
Das Eigentum
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.45

Dieser Verlusterfahrung korrespondiert – den nach 1989/90 erschienenen


Sammelbänden und Einzelpublikationen, die seit dem Mauerfall Bilanz zu
ziehen versuchen, ihr Augenmerk zumal aber auf Einzelaspekte und nach wie
vor zumal auf die kanonisierten Autoren und Autorinnen der DDR-Literatur
richten, zum Trotz – eine augenfällige Zurückhaltung innerhalb der Litera-
turwissenschaft, was die Entwicklung neuer, übergreifender Fragestellungen
und Forschungsperspektiven angeht – Emmerich spricht in seinem Beitrag
zum vorliegenden Band gar von Zaghaftigkeit und Unsicherheit. Das mag
darin begründet sein, dass die Rezeption der DDR-Literatur nach anfängli-
cher Wahrnehmungsverweigerung gegenüber der abschätzig so genannten
‘Staats’-Literatur ‘hinter dem eisernen Vorhang’ über einen langen Zeitraum
zunächst geleitet worden war von einem Interesse am Experiment des
Sozialismus, dem 1989/90 gleichfalls der Boden entzogen wurde. Spätestens
seit dem Ende der 1960er Jahre zumindest war die reformsozialistische,
die kritische DDR-Literatur (und nur diese hat es zu einer nennenswer-
ten Rezeption im Westen gebracht) in den 1970er und 1980er Jahren zum
Statthalter eines ‘wahren’ Sozialismus im ‘falschen’ (oder zumindest feh-
lerhaften) realexistierenden Sozialismus geworden. Und in der Konsequenz
dieser Perspektivierung war die Würdigung der Literatur als je individuelle

45
Volker Braun: Das Eigentum. In: Texte in zeitlicher Folge 10. Halle 1993. S. 52.

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ästhetische Produktion zeitweilig in den Hintergrund getreten. Während


bis 1989 in erster Linie (im weitesten Sinn) dissidente, Tabugrenzen verlet-
zende, Spielräume für Kritik auslotende und erweiternde, Vorstellungen und
Wahrnehmungen entautomatisierende Texte rezipiert worden waren, hatte
ein Großteil der in der DDR verlegten und gelesenen Literatur im Westen
keine nennenswerte Rolle gespielt – und tut dies auch nach wie vor nicht.
Mit seiner Forderung, vorab jeder Entscheidung über die Kanonisierung
oder Entkanonisierung einzelner Werke die DDR-Literatur in ihrer Gesamt-
heit in die Betrachtung einzubeziehen, legt Michael Opitz in seinem Beitrag
zum vorliegenden Band den Finger in die Wunde so eines die Forschung zur
DDR-Literatur von Anfang an begleitenden und nach wie vor anhaltenden
Mankos interessegeleiteter Perspektivierungen. Von einer systematisierenden
Geschichte der DDR-Literatur, die Emmerichs Pionierarbeiten fortschreibt, ist
die Literaturgeschichtsschreibung nicht zuletzt aufgrund dieser anhaltenden
Wahrnehmungsverweigerung in der Breite weit entfernt, von einer Geschichte
der einen, die literarischen Entwicklungen im Osten und Westen des geteil-
ten Deutschland aufeinander beziehenden und miteinander verschränkenden
deutschen Literatur ganz zu schweigen.
Bereits 1995 hatte Ursula Heukenkamp in einem programmatischen Auf-
satz die Forderung zur Rückführung der DDR-Literatur in die eine Geschichte
der deutschen Literatur erhoben. Habe bis dahin das Gebot gegolten, “daß
die Literatur in der DDR in dem ihr eigenen Kontext” beschrieben werden
müsse, sei es nun an der Zeit, die kontrastive Literaturgeschichtsschreibung
aufzugeben und “den Gegenstand neu zu begründen als eine Geschichte der
deutschen Literatur der letzten vierzig Jahre”.46 Nach wie vor steht diese
Forderung als ungelöstes Problem im Raum, nicht zuletzt wohl weil diese
gebotene Re-Lektüre der DDR-Literatur notwendigerweise auch eine
Re-Lektüre der bundesdeutschen Literatur zur Voraussetzung hätte. Eine sol-
che gemeinsame Forschungsperspektive könnte meines Erachtens unter drei
Fragestellungen erfolgen.
1. Formzentriertheit versus Aussageorientierung: Heiner Müller hatte bereits
vor dem Fall der Mauer die nahezu ausschließliche Beschäftigung mit
Inhalten als Grundirrtum der Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung
kritisiert. Für ihn offenbarte sich in der Fokussierung inhaltlicher Prob-
lemstellungen ein grundlegendes Missverständnis, weil das “utopische
Moment [. . .] ja auch in der Form liegen” könne, oder auch “in der For-
mulierung”. Das Theater (darum geht es Müller bei dieser Aussage), folge

46
Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen Lite-
ratur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik NF 5.1
(1995). S. 22–37. Hier: S. 36.

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der Wissenschaft weithin auf der Spur dieses Missverständnisses: “Die


Theaterpraxis ist so, daß Inhalte transportiert werden. Es werden Mittei-
lungen gemacht mit Texten, es wird aber nicht der Text mitgeteilt – die
Form wird nicht hergestellt. Die Stücke werden nur nach ihren Inhalten
beurteilt”.47 Was hier bezogen ist auf das Drama, ließe sich generalisieren
zur Forderung nach einer systematisierenden Geschichtsschreibung der
ästhetischen Formen und Formungen in der deutschen Literatur seit 1945,
die zugleich den Funktionsweisen der Texte in den jeweils durch sie ent-
worfenen Kommunikationspraxen nachzugehen hätte.
2. “Geschichte im Gedächtnis”: Eine zweite Orientierungslinie der Re-
Lektüre der deutsch-deutschen Literatur seit 1945 bietet sich von Aleida
Assmans Konzeption einer “Geschichte im Gedächtnis”48 her, die den
Ausgangspunkt des von Carsten Gansel herausgegebenen Bandes Rhetorik
der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ‘geschlossenen Gesell-
schaften’ des Real-Sozialismus (Göttingen 2009) bildet. Mit ihr stünde
unter der Prämisse, dass jede Gegenwart sich ihre Vergangenheit schafft,
nicht mehr die Rekonstruktion einer Vergangenheit zur Diskussion,
sondern die Konstruktionsleistung von Erinnerung und Gedächtnis, an der
die Medien der Repräsentation (Historiographie, Literatur, Film, Denk-
mäler, Gedenktage usw.) mit ihren je spezifischen Ausdruckweisen stets
‘mitschreiben’. Das wiederum weist auf die eng damit verzahnte dritte
Orientierungslinie der Re-Lektüre, die der Prämisse folgt, dass die Analyse
artefaktueller Erscheinungen Verstehensmöglichkeiten kultureller Semiosis
eröffnet, Literatur insofern als solche einerseits Teil hat an kulturellen For-
mungsprozessen und andererseits zugleich die Sinn- und Deutungsmuster
reflektiert, in denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis aushandelt und
zum Ausdruck bringt.
3. Literatur als Zeitkapsel: In der Fluchtlinie dieser Überlegungen wären
sowohl die DDR-Literatur als auch diejenige der Bundesrepublik deutli-
cher als dies bislang der Fall gewesen ist als Medien der Aushandlung von
symbolischer Differenz in ihrer je eigenen Gegenwärtigkeit zu bestimmen.
Diese wiederum bestimmt sich in zweierlei Hinsicht: Als Erinnerungs- und
gleichermaßen öffentlicher Selbstverständigungsraum ist Literatur 1.
Spiegelfläche der Sinn- und Deutungsmuster, in denen eine Gesellschaft
ihr Selbstverständnis ausbildet und zum Ausdruck bringt. Als Ort der

47
Heiner Müller [und Uwe Wittstock]: Der Weltuntergang ist zu einem modischen
Problem geworden. In: Werke 10. Gespräche 1: 1965-1987. Hg. von Frank Hörnigk.
Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe, Ingo
Way. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 364–374. Hier: S. 372.
48
Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur
öffentlichen Inszenierung. München: C. H. Beck 2007.

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Begegnung von Spiel und Schrift (das Drama im engeren Sinn) ist sie 2.
zugleich Feld subjektiver Verschiebungen und Verformungen von (vergan-
gener und gegenwärtiger) Wirklichkeit, Kraftfeld mithin eines Prozesses,
in dem Zeit (Vergangenheit und Gegenwart) einer Identitäten setzenden
Umschrift unterliegt. Literatur ‘beobachtet’ und will in den Operationen des
Beobachtens ihrerseits selbst beobachtet werden. Carsten Gansel hat in der
Einleitung des erwähnten Bandes Rhetorik der Erinnerung diese doppelte
Bedeutung der Literatur im Hinblick auf die Konstitutions- und Konstruk-
tionsweisen des kollektiven Gedächtnisses und die in einer Gesellschaft
wirksamen Erinnerungspolitiken herausgearbeitet. Literatur, heißt es hier,
sei “erstens ein Medium [. . .], über das in Form von narrativen Inszenie-
rungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das
kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden” und von hier aus sage “die
Art und Weise der narrativen Inszenierung in literarischen Texten” auch
etwas “über die in einer Gesellschaft funktionierenden Prozesse der
Gedächtnisbildung”. Zum zweiten würden “in literarischen Texten indivi-
duelle, generationenspezifische sowie kollektive Formen von Erinnerung
gewissermaßen ‘abgebildet’ und damit wiederum beobachtbar”.49
Diese knappen Überlegungen entwerfen weniger Verfahren einer metho-
disch regulierten Beschäftigung mit der nach 1945 entstandenen deutschen
Literatur, als dass sie anschlussfähige Hypothesen für eine Re-Lektüre der
deutschen Literatur in den Jahren der politischen Teilung zu formulieren
suchen, die exkludierende, normative und kanonisch orientierte Wertungs-
kriterien auf den Prüfstand stellt. Sie wollen zugleich die Entwicklung eines
Modells ästhetischen Vermögens anregen, das der Selbstpositionierung der
Autoren in ihrem jeweiligen literarischen Feld Rechnung trägt.
IV. (Wieder-)Annäherungen
Damit ist der Rahmen skizziert, in dem die Beiträge des vorliegenden
Bandes zum einen Fragen der Literaturgeschichtsschreibung zur Diskussion
stellen und den Formierungen normativen Handelns im Umgang mit Literatur
und damit den Voraussetzungen von Wertungen innerhalb der Literaturge-
schichtsschreibung, ihren Bedingungen, Ausprägungen, Konzepten und ihrem
Wandel nachgehen (Stillmark, Emmerich, Ludwig, Opitz, Galli). Zur Diskus-
sion stehen mit ihnen zum anderen – beginnend mit einer kritischen Inspek-
tion der in zeitlicher Nähe zum Kriegsende entstandenen Literatur bis zu den
Prosatexten und DEFA-Filmen der 1960er Jahre – Fragen der Gattungsent-
wicklung und Beobachtungen zu diskursiven Leitvorstellungen, ästhetischen

49
Gansel: Rhetorik der Erinnerung [wie Anm. 43]. S. 10.

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25

und politischen Kontexten der frühen SBZ/DDR-Zeit (Schwarz-Scherer,


Ulrich, Christian Jäger, Elit); in diesem Zusammenhang findet auch ein Genre
Aufmerksamkeit, das innerhalb der DDR-Literatur als solches nicht unbedingt
zu erwarten gewesen wäre: die Reiseliteratur (Hofmann). Eine dritte Gruppe
von Texten richtet den Blick auf die späte DDR-Literatur und die Literatur
‘zur Wende’ und um die Wende herum, auf die Traumata, (Ab-)Brüche und
Neuanfänge (Liermann, Helbig, Schöneich, Ostheimer); zwei Beiträge setzen
sich in diesem Umfeld von verschiedenen Ausgangspunkten her (der offen-
sichtlichen Analogie zwischen dem Streit um Exil und Innere Emigration
in der Nachkriegszeit, dem Legitimationsdiskurs der späten DDR-Literatur)
noch einmal mit dem deutsch-deutschen Literaturstreit und Christa Wolfs
letztem großen Text Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud ausei-
nander (Schöning, Preußer). Den Abschluss bilden drei Fallstudien zu Franz
Fühmanns fragmentarischem Prosatext Im Berg und Uwe Tellkamps Roman
Der Turm (Krause, Horstkotte, Andrea Jäger), die den Faden des utopischen
Denkens aufnehmen, der lange Zeit (so oder so) leitend war für die DDR-
Literatur, und mit der Analyse des Historismus als narrativem Leitmodell von
Tellkamps monumentalem Werk vom Grundsatz her den Bogen zurückschla-
gen zu den eingangs des vorliegenden Bandes verhandelten Fragen und Prob-
lem der (Literatur-)Geschichtsschreibung.
Die hier versammelten Texte wurden zunächst vorgetragen im Rahmen
eines vom 9.-11. November 2010 im Literaturforum im Brecht-Haus (Berlin)
von Norbert Otto Eke und Michael Hofmann veranstalteten Symposiums, das
sich zum Ziel gesetzt hatte, zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer und
damit aus einer grundsätzlich veränderten Ausgangssituation heraus, einge-
führte Diskurs- und Argumentationslinien der Forschung zur DDR-Literatur
noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und einer Wiederannäherung an die
DDR-Literatur neue Impulse zu geben. Für den Druck wurden sie überarbei-
tet und erweitert. Allen Autoren und Autorinnen, die mit ihren Beiträgen die
Entstehung des Buches ermöglicht haben, sei ganz herzlich gedankt.
Ein besonderer Dank gilt Maik Bierwirth, M.A., der bereits das Berliner
Symposium tatkräftig unterstützt hatte und auch bei der Drucklegung des
Bandes mitgearbeitet hat. Das Symposium selbst wäre nicht möglich gewesen
ohne die logistische und organisatorische Unterstützung der Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen des Literatur-Forums im Brecht-Haus und die finanzielle
Förderung durch die Universitätsgesellschaft Paderborn. Auch dafür sei ganz
ausdrücklich gedankt.

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I. Literaturgeschichtsschreibung

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Hans-Christian Stillmark

Zu strukturalistischen und systemtheoretischen


Perspektiven in der germanistischen
Literaturwissenschaft der DDR
This essay calls into question the common assumption that methodology in
GDR literary theory was uniform, and traces some of the stages in the lively, hard-
fought development of the field. In particular, structuralism and systems theory
played an important part in the grounding of socialist realism in reader-response
theory. The essay examines some of the heated controversies that arose in the course
of this development, considers their consequences, and includes some personal
retrospection.

1.
Hin und wieder eignet sich einem Thema das Anekdotische. So auch hier
und jetzt, wenn vom Strukturalismus die Rede sein soll. Als die Comics noch
Bildgeschichten hießen, bin ich aufgewachsen u. a. mit Meister Nadelöhr,
Mäxchen Pfiffig und Ritter Runkel von Rübenstein. Der Platz für die Zukunft
war in der FRÖSI,1 einer Zeitschrift meiner Kindheit, durch Atomino reser-
viert. Dass Atomino2 aus Italien, genauer aus der L’Unità, der Zeitung der
damaligen italienischen Kommunisten kam, ist mir erst seit kurzem bewusst.
Atomino war ein schwarzes Männlein mit einer Antenne auf dem Kopf, das
auf seinem Gewand ein Atommodell hatte, einen Atomkern, um das die
Elektronen schwirrten. Zweifellos sollte Atomino meine polytechnische
Bildung befördern. Das einzige Atomkraftwerk der DDR bei Rheinsberg
stellte ich mir sehr aufgeräumt und sauber vor. Es war ein durch und durch
positiv besetzter Raum. Atomkraft und Kosmonautik erfüllte in meiner
Schule, die 1961 mit dem Namen Juri Gagarin eröffnet wurde, ohnehin das
‘lichte Morgen’. In meiner Berufsausbildung zwischen 1970 und 1973 hatte
ich als Maschinen- und Anlagenmonteur mit Abiturausbildung u. a. solche
Fächer zu absolvieren wie Elektronik und BMSR-Technik (Betriebs-, Mess-,
Steuerungs- und Regeltechnik), worin ich mit Grundlagen der Kybernetik, der

1
FRÖSI war die gängige Abkürzung der DDR-Kinderzeitschrift Fröhlich sein und
singen, die seit 1953 monatlich bis 1990 erschien. Herausgegeben wurde sie von
der Pionierorganisation “Ernst Thälmann”. Sie diente der Unterstützung der poly-
technischen Bildung und der kommunistischen Erziehung der Kinder.
2
Vgl. http://www.ddr-comics.de/atominos.htm. Downloaded 12.11.2010.

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30

Automatisierung, der Rechentechnik und elektronischen Datenverarbeitung


vertraut gemacht werden sollte. Ich erinnere mich an das Befremden, das
mich befiel, als ich im Deutschdiktat der Berufsschule neben solch schwie-
rigen Fällen wie ‘Rhinozeros’ auch ‘Netzplantechnik’, ‘Elektronische
Datenverarbeitung’ und ‘Strukturformel’ fehlerfrei zu schreiben hatte.
Während meines Lehrerstudiums hatte ich fakultativ das Fach Logik
belegt. Das wurde aber nach der zweiten Sitzung gestrichen und fand hin-
fort nicht mehr statt. Die Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED waren in
Kraft getreten und die Ausbildung in Logik wurde eingestellt. Ähnlich erging
es ganzen Studiendisziplinen wie Soziologie, Psycholinguistik oder auch
Kybernetik. Der Bruch ging auch, wie noch mitzuteilen ist, mitten durch
Biographien und Qualifikationen, die rigoros abgebrochen wurden. Der
wissenschaftlich-technische Fortschritt, auf den man in der DDR eigentlich
sonst nichts kommen ließ, wurde, wie es so schön hieß, ‘zurückgepfiffen’.
Nach der Wende am Beginn der 1970er Jahre wurde im obligatorischen Fach
Marxismus/Leninismus von meinem damaligen Dozenten das 1963 einge-
führte NÖSPL (das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung),
das zum ‘Entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus’ überleiten
sollte, höhnisch als ‘Verwickeltes System’ abgetan. Dass damit Kybernetik,
Netzplantechnik, Informatik, Soziologie, Systemtheorie, modell- und spiel-
begriffliche Querschnittswissenschaften aus dem bisherigen gesellschaftspo-
litischen Fokus genommen und an die Peripherie der politisch-ideologischen
Arbeit verbannt wurden, geschah ohne großes Aufsehen. Die Konsumorien-
tierung, die Zuwendung zum Wohnungsbauprogramm der Partei und deren
bisher ungekanntes Interesse für die ‘1000 kleinen Dinge’ des Alltags wur-
den von der Bevölkerung mit Erleichterung aufgenommen und verdrängten
die mögliche Trauer um eine an die Kandare genommene Gesellschaftsthe-
orie. Der allseits bekannte Kurswechsel 1971 von Ulbricht zu Honecker war
in seinen Wirkungen zwiespältig: Er wurde und wird heute allgemein als kul-
turpolitische Öffnung bewertet, die bis zur Biermann-Ausbürgerung anhielt.
Seine Kehrseite war aber auch das Ende der gesellschaftswissenschaftlichen
Modernisierung, die eine grundlegende innovative soziale Phase möglicher-
weise hätte ein- oder begleiten können. Die etwa zeitgleiche ‘Festigung der
sozialistischen Verhältnisse’, die mit dem Ausbau des nunmehr flächende-
ckenden Sicherheitsapparates, der kollektiven Landwirtschaft und der Besei-
tigung der letzten Reste von kleinen privatwirtschaftlichen Unternehmungen
in Stadt und Land einhergingen, schuf die Verwaltung von Stagnation und
dieses muffige, verlogene, misstrauische Klima, unter dem die Bevölkerung
hinfort in zunehmenden Maße litt. Sollen andere diesen Kurswechsel wort-
und kenntnisreicher beschreiben, ich muss mich hier auf die kulturpolitische
und literaturtheoretische Entwicklung konzentrieren.

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31

2.
Vom Strukturalismus zu reden, heißt über verschiedene Entwicklungsimpulse
und unterschiedliche Zentren zu sprechen. Es gehört bekanntlich die forma-
listische Programmatik der russisch-sowjetischen Moderne (Propp, Jakobson,
Tynjanow, Eichenbaum, Schklowski) dazu, es ist nötig über die linguisti-
sche Prager Schule zu reden (Jakobson, Trubetzkoj, Mukařovski), es sind die
ethnologisch-soziologischen Ansichten Claude Levy-Strauss’ und deren
Varietäten zu nennen. Hjemslev und Ingarden sind als Strukturalisten auch für
die literaturtheoretische Debatte der DDR von Bedeutung. Es sind die semio-
logischen Bestrebungen der französischen Moderne zu erwähnen, die die
strukturalistische Theorie in die poststrukturalistische Wende transformierten.
Julia Kristeva, Roland Barthes, Michel Foucault, Jean Baudrillard müssen hier
als programmatische Stichworte genügen. Sie hatten gewiss unterschiedliche
Relevanz für die Entwicklung in der DDR. Ich werde daher hier nur einige
Quellen des Strukturalismus, die aus meiner Sicht für die germanistische
Literaturwissenschaft der DDR Einfluss besaßen, beleuchten. Dabei kommt
es mir auf die unterschiedlichen Zugänge an, die eher als Umwege und auch
als Entfernungen lesbar sind.
Zunächst ist es eigenartig: Manfred Bierwisch, der Sprachwissenschaftler
und Studienfreund Uwe Johnsons, war es, der für die textwissenschaftliche
Linke in der Bundesrepublik das Interesse am Strukturalismus mitinitiierte.
In dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch Nr. 5
beförderte er 1966 die strukturalistische Wende in der Bundesrepublik. Sein
einführender Beitrag über den Strukturalismus3 half mit die damals dominan-
ten konventionellen Standpunkte der westdeutschen Geisteswissenschaft zu
überwinden. Bierwisch selbst war zwischen 1962 und bis zur deren Zwangs-
auflösung 1973 an der Arbeitsstelle “Strukturelle Grammatik” der Akademie
der Wissenschaften unter dem hochtalentierten Ausnahmeforscher Wolfgang
Steinitz (1905–1967) tätig gewesen. Der Finnougrist Steinitz war über Stock-
holm aus dem sowjetischen Exil den Säuberungen Stalins entkommen. Er
hatte in dieser Zeit Roman Jakobson und dessen strukturalistische Standpunkte
kennengelernt. Eine Spur seiner sprachwissenschaftlichen Forschungen zum
Volk der Chanten führte Steinitz nach Tartu, wo er 1939 seine Studien bei Paul
Ariste publizierte. Tartu war wiederum etwas später die Hochburg der Kul-
tursemiotik in der Sowjetunion, die mit dem Namen Juri Lotman internatio-
nale Wirkung erlangte. Steinitz’ Forschungen zum demokratischen Volkslied

3
Manfred Bierwisch: Strukturalismus. Geschichte, Methoden, Probleme. In: Kursbuch
(1966) H. 5. S. 77–152.

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beeinflussten übrigens die deutsche Folklore-Bewegung (Liederjan, Zupfgei-


genhansel, Hannes Wader) in den 70er Jahren. Der Große Steinitz ist immer
noch ein Standardwerk der demokratischen deutschen Folklore.
Zurück zur Sprachwissenschaft in der DDR und zu Manfred Bierwisch.
Das Phänomen Sprache (und darüber hinaus auch die Dichtung) zu mathema-
tisieren, war ein Ziel, dem sich Bierwisch in seinen Forschungsbemühungen
der 60er Jahre verschrieben hatte. Er hatte sich u. a. einem internationalen
Forschungsprojekt angeschlossen, das namhafte Wissenschaftler unter dem
Titel Mathematik und Dichtung4 zusammenbrachte. Durchsetzbar waren die
strukturalistischen Standpunkte in der DDR damals nicht. Die Literaturwis-
senschaft machte einen weiten Bogen um die zu szientistisch anmutenden
Positionen. Öffentlich sind dazu jedoch keine grundlegenden Auseinander-
setzungen, die zumindest Anknüpfungen erwogen hätten, geführt worden.
Dennoch gab es zweifellos mehr als nur eine Verbindung zu dem vielseiti-
gen Phänomen Strukturalismus. Ich erinnere mich an meinen Lehrer Wilhelm
Schmidt (1914–1982), dessen Deutsche Sprachkunde und Geschichte der
deutschen Sprache5 auch heutzutage noch aufgelegt werden. Andeutungs-
weise ließ er in seiner Vorlesung zur marxistisch-leninistischen Sprachtheorie
durchblicken, dass er die Kenntnis des Strukturalismus seiner wissenschaftli-
chen Herkunft von der Prager Karlsuniversität verdankte. Er hatte zwischen
1933 und 1937 dort slawische, klassische und deutsche Philologie sowie
Indogermanistik studiert und nach der Promotion als Lehrer für Tschechisch
und Latein zu arbeiten begonnen. In der Slawistik wird er zweifellos von
dem damals an der Karlsuniversität lehrenden Nikolai Trubetzkoj mit den
strukturalistischen Perspektiven in der Linguistik vertraut gemacht worden
sein. Leider ist Schmidts Leben und Wirken gerade in den frühen Jahren nur
fragmentarisch bekannt. Als langjähriger Leiter des Instituts für marxistisch-
leninistische Sprachtheorie mit Sitz in Potsdam6 machte er seine Studieren-
den mit den Grundlagen der Linguistik und den wissenschaftlichen Grenzen

4
Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft.
Hg. von Helmut Kreuzer und Rul Gunzenhäuser. München: Nymphenburger
Verlag 1965. Darin Beiträge von Roman Jakobson, Samuel R. Levin, Manfred
Bierwisch, Klaus Baumgärtner, Gustav Herdan, Wilhelm Fucks, Josef Lauter,
Helmut Praschek, Elisabeth Walther, Franz Schmidt, Hardi Fischer, Norbert Ulrich,
Karl Knauer, Jiri Levy, Helmut Lüdtke, Ivan Fönagy, Lubomir Dolezel, Max Bense,
Felix von Cube, Waltraud Reichert, Wolfgang Klein, Ulrike Jeanrond. Bierwischs
Beitrag trug den Titel: Poetik und Linguistik. In: Ebd. S. 49–66.
5
Wilhelm Schmidt: Deutsche Sprachkunde. Paderborn: IFB Verlag. 8., bearb. Aufl.
2008. – Ders.: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanisti-
sche Studium. Stuttgart: Hirzel. 10. verb. und erw. Aufl. 2007.
6
Vgl. Jens Wurche: Marx und Engels in der DDR-Linguistik: zur Herausbildung
einer “marxistisch-leninistischen Sprachtheorie”. Frankfurt a.M.: Lang 1999.

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33

des Faches einschließlich der unterschiedlichen Forschungsmethodologien


bekannt. Seit 1962 erarbeitete Schmidt als Vorsitzender der Kommission des
Faches Deutsch zur Ausarbeitung einheitlicher Studienprogramme Lehrpläne
für die fachwissenschaftliche Ausbildung von Oberstufenlehrern an den all-
gemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR. Zwischen 1965
und 1975 war Schmidt Vorsitzender der Zentralen Fachkommission Deutsch
des Ministeriums für Volksbildung und des Staatssekretariats des Hoch- und
Fachschulwesens. Die zahlreichen Funktionen Schmidts, die ihn an die Spitze
der linguistischen Forschung, der Lehrerbildung und entsprechende Kontroll-
gremien beriefen, will ich hier nicht auflisten7 – kurzum: Wilhelm Schmidt
war ein ausgewiesener Fachmann mit erheblichem Einfluss auf die Positio-
nen und Inhalte der sprachwissenschaftlichen Lehrerbildung und auf deren
Anwendung in der Schule. Ein eigenartiger Widerspruch ist hier zu konstatie-
ren: Schmidt informierte seine Studierenden sehr ausführlich zu Standpunk-
ten, die nicht seiner wissenschaftlichen Überzeugung entsprachen, er lehnte
aber aus der Sicht der schulgrammatischen Ausbildung neuere, innovative
Konzepte ab. Seine Kontroverse mit Manfred Bierwisch überdauerte seine
Lebenszeit.8 Bierwisch kritisierte noch nach 1990 die Potsdamer Schule, die
maßgeblich von Schmidt beeinflusst, ja nachhaltig geprägt war. Mit anderen
Worten: Linguistik in der DDR war sehr wohl über die Stalinschen Beiträge
zur Sprachwissenschaft hinausgekommen und es war keineswegs ausge-
schlossen, dass sich eine strukturalistische Richtung (allerdings innerhalb der
Grenzen eines materialistisch- dialektischen Rahmens) hätte entwickeln und
etablieren können. Scheinbar lag es aber an zurückliegenden kulturpolitischen
und ideologischen Debatten, dass bspw. Schmidt es nicht wagte, an seine frü-
heren Einsichten und Standpunkte anzuknüpfen. Die Gründe dafür sind nur zu
mutmaßen. Die eigene Entwicklung, die in der NS-Zeit (die für Schmidt 1938
begann) nicht ohne Turbulenzen und mit gewissen Anpassungen verlief –
Schmidt war in der Zeit um das Münchner Abkommen herum in Karlsbad
und Landskron als Referendar tätig – verbot Schmidt eine Kontinuität struk-
turalistischen Denkens, Forschens und Lehrens. Schließlich bewertete die

7
Vgl. Funktionale Sprachbeschreibung in der DDR zwischen 1960 und 1990.
Beiträge zur Bilanz und Kritik der “Potsdamer Richtung”. Hg. von Karl-Heinz Siehr,
Horst Ehrhardt, Elisabeth Berner. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1997. In diesem Band,
der sich aus der Perspektive der Lehrerbildung mit den linguistischen Positionen
kritisch auseinandersetzt, ist im Beitrag von Horst Ehrhardt (“Wilhelm Schmidt und
die funktionale Schule”, ebd. S. 49 ff.) eine Biografie Schmidts zitiert. Der Band ist
überaus verdienstvoll in seiner Aufarbeitung sprachwissenschaftlicher Kontroversen
um die überaus einflussreiche “Potsdamer Schule”.
8
Vgl. ebd. sowie Manfred Bierwisch: Grammatikforschung in der DDR: Auch ein
Rückblick. In: Linguistische Berichte 139. Tübingen: Niemeyer 1992. S. 169–181.

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34

‘Formalismus’-Debatte aus den 50er Jahren strukturalistische Positionen als


‘bürgerlich’, womit der Begriff und die in ihm angezeigte wissenschaftliche
Perspektive sozusagen von vornherein untauglich und damit unbrauchbar für
die kommunistische Erziehung der jungen Generation wurden. Und gleich-
wohl eine Julia Kristeva oder ein Tzvetan Todorov, aus Bulgarien kommend,
den sich entwickelnden französischen Strukturalismus mit der russischen
formalistischen Schule bekanntmachten, war die Gegenrichtung für die
DDR-Wissenschaft problematisch: Importe ‘bürgerlichen’ Gedankenguts
aus dem Westen galten damals in den ideologisch relevanten Disziplinen der
Gesellschaftswissenschaften als ausgeschlossen.
3.
Strukturalismus in einer klassischen Form gab es also in der DDR-Litera-
turwissenschaft so einfach nicht. Das Stichwort “Strukturalismus” sucht
man deshalb auch im Metzler Lexikon DDR-Literatur9 von 2009 vergebens.
Es hätte dies eine Aufweichung des politisch-ideologischen Kernbereichs
der marxistisch-leninistischen Fundierung bedeutet. Die Bezugnahme auf
die sogenannten bürgerlichen Ideologien war bis zum Ende der DDR immer
einzig unter dem Vorzeichen der Auseinandersetzung, d.h. Abgrenzung und
Widerlegung ihrer unmarxistischen Methodik möglich. Gegen den Struk-
turalismus sprach seine vermeintlich ahistorische Ausrichtung und damit
seine Unvereinbarkeit mit dem historischen Materialismus. Als ein weiteres
Argument gegen seine Integration in die Debatte um die Gesellschafts- und
Kulturtheorie stand die Wurzel der formalistischen Schule dem bereits
genannten Formalismus-Vorwurf aus den 40er/50er Jahren im Wege. Shdanow
und seine Exegeten richteten sich allerdings nicht in erster Linie gegen die
russische formalistische Dichtungstheorie. Sie hatten eine Engführung
des sozialistischen Realismus auf dem Gebiet der Musik im Sinn. In der
DDR wurde das Verdikt auf die weiteren Kunstarten ausgedehnt. Allein die
Ähnlichkeit der Terminologie verhinderte da schon die positive Bewertung
strukturalistischen Denkens.
Es gab aber die oben schon erwähnte Form der Auseinandersetzung, die
das strukturalistische Denken unter der Hand einschleuste, auch ungewollt.
Es lässt sich feststellen, dass die westeuropäischen, fremdsprachlichen Philo-
logien einen leichteren Zugriff auf die aktuellen wissenschaftlichen Standards
hatten, denn es gehörte zur Ausstattung der fremdsprachlichen Bereiche,
neueste Hervorbringungen auf dem Gebiet der jeweiligen Sprach- und Lite-
raturwissenschaft zu kennen. Auch durch die Übersetzertätigkeit zahlreicher

9
Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Hg. von
Michael Opitz und Michael Hofmann. Stuttgart-Weimar: Verlag J. B. Metzler 2009.

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35

Lektoren und Mitarbeiter in den Verlagen entstand eine kleine community


von Eingeweihten, deren Arbeit in andere Bereiche ausstrahlte. Sehr anschau-
lich kann man beim Sammelband Funktion der Literatur10 von 1975 diese
realisierte interdisziplinäre Arbeit beobachten, die sich auf verschiedene sla-
wische, spanische, französische Philologien und einen ab der Neuzeit bis
zur Gegenwart gezogenen Horizont auszeichnete. Es lässt sich auf diese
Weise eine Linie bspw. von der Romanistin Rita Schober zu strukturalistisch
arbeitenden Literaturwissenschaftlern aus anderen Philologien ausmachen.
Rita Schober, die ehemalige Assistentin von Victor Klemperer, hatte in ihrer
Schrift Im Banne der Sprache11 neben der nötigen Auseinandersetzung mit
ihrem Gegenstand auch über diesen Gegenstand selbst ausführlich informiert
und von da aus eine Möglichkeit gegeben, die teilweise gar nicht vorhan-
dene oder nur im ‘Giftschrank’ der Leipziger Deutschen Bücherei befindli-
che westliche Literatur überhaupt kennen zu lernen. So hatte der Rostocker
Heinz-Jürgen Staszak lediglich über Schobers Arbeit Kenntnis vom struktura-
listischen Denken und ging mit diesem Wissen daran, eine objektive, materia-
listisch fundierte Literaturtheorie auszuarbeiten. Sein Versuch von 1972 Über
modell- und systemtheoretische Aspekte der literarischen Widerspiegelung12
fiel leider in eine der oben skizzierten kultur- und gesellschaftspolitischen
Wenden und wurde als abweichende Auffassung unter Verschluss und aus der
Öffentlichkeit gehalten. Obwohl er seinen Versuch im Sinne der Entwicklung
des marxistischen Denkens vornahm, wurde sein der wissenschaftlichen
Qualifikation dienendes Projekt gestoppt und gemaßregelt. Um hier den
sinnreichen Katalog der DDR-typischen Disziplinierungen in Ansätzen
anzudeuten: Heinz-Jürgen Staszak verschwand für einige Jahre aus der
wissenschaftlichen Öffentlichkeit der DDR. Er war zunächst hauptamtlich in
die Gewerkschaftsleitung zur Bewährung abgeschoben worden und konnte
erst drei Jahre später in Timisoara, später in Prag als Auslandslektor und
immerhin damit im Beruf tätig werden. Die Gefahr ‘weggelobt’ zu werden‚
und also in den Machtapparat von Staat, Partei, Gewerkschaft oder Jugend-
organisation hineingezogen zu werden, war, so ist auch meine Erfahrung,
möglicherweise mit dem Herausfall aus der Wissenschaft und dem Beruf
verbunden. Eine Karriere in Partei- und Staatspositionen war für ernst zu

10
Funktion der Literatur. Aspekte – Probleme – Aufgaben. Hg. von Dieter
Schlenstedt, Brigitte Burmeister, Ilse Idzikowski und Dieter Kliche. Berlin:
Akademie-Verlag 1975.
11
Rita Schober: Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique,
speziell bei Roland Barthes. Halle a.d.S.: Mitteldeutscher Verlag 1968.
12
Lediglich ein Exemplar der Arbeit ist in der Universitätsbibliothek Rostock zu
finden.

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nehmende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nur selten erstrebens-


wert. Gegenüber dem brutalen Ausschließen und Entfernen aus der Wissen-
schaft, war die Form der Übertragung von Verantwortung zweifellos eine
zivilere Form der Disziplinierung. Gleichwohl: Unbequeme in Verantwortung
zu binden, war nur eine Methode kritische Geister zwar nicht loszuwerden,
letztlich aber ruhig zu stellen. Eine der erstaunlichen Widersprüche des Sozi-
alismus im Arbeiter- und Bauernstaat blieb die Strafe der ‘Bewährung in
der Produktion’. Weniger bekannt war die ‘Übertragung von Leitungsver-
antwortung’ im DDR-spezifischen Machiavellismus. In einem ähnlichen
Sinne wurde mein Doktorvater Helmut John, der auch auf dem Gebiet der
Literaturtheorie arbeitete und ein aktiver Verfechter der sich ausbildenden
Rezeptionsästhetik war, aufgrund einer schließlich nicht zustande gekom-
menen Publikation mit dem Vorwurf von nichtmarxistischen Positionen ‘fer-
tig’ gemacht. Im Ergebnis entstand eine Verstörung, die ihn im Hinblick auf
Publikationen tief getroffen hatte. Auch John wurde für lange Jahre in die
Leitungstätigkeit als Sektionsdirektor eingebunden, so dass im damaligen
Sitzungsmarathon an Forschung kaum noch zu denken war. Die sporadi-
schen Versuche, eine interne wissenschaftliche Öffentlichkeit für eine innova-
tive Literaturauffassung herzustellen, die zwar immer noch unter dem Label
des ‘sozialistischen Realismus’ stand, in der inhaltlichen Ausgestaltung sich
aber von den dogmatischen Positionen verabschieden wollte, konnte ihm
unter den Bedingungen des ‘Weglobens’ und des ‘Kaltstellens’ nicht gelin-
gen. Der Entzug von Verantwortung oder die Überhäufung mit zumal
fachfremden Aufgaben, das Beauflagen mit Ergebenheitsgesten, das sich
von ‘innen’ und von ‘außen’ ereignete, schließlich die gegenseitige Überwa-
chung und Zensur be- und verhinderten den Streit der Meinungen und eine
ergebnisoffene Debatte. Dabei ist zu beachten: Nicht etwa allein eine ferne
Instanz, wie die Fachaufsicht oder das Ministerium meldete den Einspruch
an, schlug den Betreffenden zur Delegierung vor; es waren häufig die unmit-
telbaren Kollektive bzw. deren Leitungen in den Institutionen selbst, die diese
‘Kaderentscheidungen’ fällten. Intern, in den unzähligen Versammlungen und
Gesprächen mit den staatlichen Partei- und Gewerkschaftsleitungen wurden
diese Abweichungen verhandelt, gemaßregelt und dann erlitten. Damit erwie-
sen sich die unangepassten kritischen und innovativen Geister immer als
Gefahrenpotential, das von den Disziplinierungsmaßnahmen der Kaderarbeit
zu beschwichtigen war.
Es ist zu wiederholen: Eine strukturalistische Schule gab es in der DDR-
Literaturwissenschaft nicht. Nun muss demgegenüber die Vorstellung, dass
die Theorie des sozialistischen Realismus als eine alles überwölbende künst-
lerische und kunstwissenschaftliche Dogmatik und als ein letztgültiges
Machtwort regierte, ebenfalls zurückgewiesen werden. Es gab im Gegen-
teil sehr viel Streit um die zeitgemäße Form der Kunsttheorie und -praxis,

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37

wobei die unterschiedlichen Seiten – Wissenschaftler, Institutionen und auch


die damit befassten Künstler – in einem sehr heterogenen Disput standen.
Eingeschlossen in die Kämpfe um die neue Kunst und deren Theorie waren
neben der öffentlichen Argumentation die offene wie verdeckte Zensur,
Publikationsverbote, Bestrafungen (‘Umsiedlerin’-Skandal), Ausweisungen
(Biermann) und Drangsalierungen in unterschiedlichen Graduierungen.
Umgekehrt spielten auch Belohnungen in den Debatten um die zeitgemäße
Wissenschaft und Poetik eine Rolle. Von der positiven Berichterstattung in
den Medien, Lobpreisung, der Auszeichnung durch Orden oder die gestei-
gerte Auflagenhöhe, dem (überaus seltenen) Einschluss in den Kanon, der
Aufnahme in den ‘Reisekader’ (womöglich ins ‘nichtsozialistische Ausland’),
die Herausstellung des ‘richtungsweisenden’ Charakters in Dokumenten der
Partei bis hin zur besonderen Vergabe von Wohnraum, Telefonanschluss und
Fahrzeug. Die von den ‘kleinen Leuten’ erbittert geführten Diskussionen um
die Privilegien der Sportler, Künstler und Wissenschaftler in der DDR können
als Symptom für das rege Interesse der davon ausgeschlossenen Bevölkerung
gelten.

4.
Wie erwähnt, lässt sich ab den frühen 1970er Jahren ein Abbruch in der
Rezeption des strukturalistischen Ansatzes beobachten und es dauerte einige
Zeit, bis sich eine neue Phase der strukturalistisch arbeitenden Literaturwis-
senschaftler deutlich in der Öffentlichkeit artikulierte. Der Machtwechsel
innerhalb der SED von Ulbricht zu Honecker äußerte sich in dramatischer
Weise auch im Hinblick auf das kulturelle Leben. Es ist dabei ein eigenar-
tiger Widerspruch zu konstatieren, der in einer kulturpolitischen Öffnung
und einer spürbaren Abnahme des direkten Drucks auf die Künstler und ihre
Verbände durch die SED bestand. So wurde in offiziellen Parteiverlautba-
rungen weitgehend darauf verzichtet, Werke zu loben oder zu verdammen,
wie es noch unter Ulbricht üblich war. Die Folgen dieser Bewertungen liefen
wohl der SED-Führung selbst aus dem Ruder. Zudem war Honecker selbst zu
wenig an kulturell-künstlerischen Debatten interessiert, um in diese offensiv
einzugreifen und etwa Richtungskorrekturen vorzunehmen. In der gegenläu-
figen Richtung kam es zu einer energischen Positionskorrektur, die rigoros
mit innovativen Wissenschaftskonzepten und ganzen Wissenschaftsdiszipli-
nen verfuhr. So wurden bspw. die Soziologie, die Kybernetik und auch die
Systemtheorie von einem Tag auf den andern zurückgepfiffen oder nahezu
abgeschafft. Das betraf auch laufende Qualifikationsverfahren, die schlagar-
tig abgebrochen wurden. Das genannte Beispiel Staszaks verlief dabei noch
glimpflich, für andere bedeutete der neue Kurs in der Parteipolitik sogar das
Ende der wissenschaftlichen Karriere.

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Es dauerte aber kein Jahrzehnt bis sich bei den in Halle arbeitenden Gott-
hard Lerchner und Hans-Georg Werner wiederum ein interessanter Rekurs
auf die strukturalistische Tätigkeit deutlich erkennen ließ. Gemeinsam mit der
in der DDR einzig tätigen literatursoziologischen Gruppe um Dietrich
Sommer entwickelten der Linguist Lerchner sowie der Literaturhistoriker
Werner sozusagen im Schatten der Biermann-Affäre eine aufsehenerregende
interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mit ihren Publikationen über Funktion
und Wirkung (1978),13 Leseerfahrung Lebenserfahrung (1983),14 Sprachform
von Dichtung (1984),15 Text und Dichtung (1984)16 gingen sie überaus
souverän auf strukturalistische Konzepte der internationalen Entwicklung
ein. Um den gewandelten Umgang und auch die gewachsene Souveränität
mit bis dato als nichtmarxistisch geltenden wissenschaftlichen Standpunkten
zu kennzeichnen, zitiere ich exemplarisch aus einer Fußnote von Hans-Georg
Werners Arbeit “Probleme der semantischen Analyse von Theodor Storms
‘Schimmelreiter’ ”: “Das auf A. J. Greimas [. . .] zurückgehende Modell der
semantischen Achse als Gliederungssystem eines sprachlichen Thesaurus
hat sich auch in der Praxis marxistisch-leninistischer Sprachforschung
bewährt”.17 Lerchner und Werner bauten in ihr Konzept eine Vielzahl von
theoretischen Prämissen ein, die keineswegs aus der bis dahin ‘gesicherten’
marxistischen Perspektive stammten. So waren die Sprechakttheorie (Austin,
Grice), die sprachkommunikative Handlungstheorie (Morris und Pike), die
Psycholinguistik (Bierwisch, Leontjev), die Semiotik (Eco), die Kulturanthro-
pologie (Assmann, Schlieben) und die Kultursemiotik (Lotman, Mukařovski)
vor allem von Lerchner aufeinander bezogen worden, um seine Sicht auf
den dichterischen Text und das Werk genauer zu fassen. Mit Hans-Georg
Werner, der ein spezifisches Verständnis von Geschichtlichkeit der Literatur
betonte – dies war ein überaus geschickter Einwand gegen den Vorwurf des
Ahistorischen bei der strukturalistischen Analytik – untersuchten beide
Zeichenstrukturen und Formalstrukturen poetischer Texte. Sie unterschieden

13
Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst.
Hg. von Dietrich Sommer u.a. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1978.
14
Leseerfahrung Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen. Hg. von
Dietrich Sommer u. a. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1983.
15
Gotthard Lerchner: Sprachform von Dichtung. Linguistische Untersuchungen zu
Funktion und Wirkung literarischer Texte. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1984.
16
Hans-Georg Werner: Text und Dichtung – Analyse und Interpretation: Zur
Methodologie literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Berlin-Weimar: Aufbau-
Verlag 1984.
17
Hans-Georg Werner (zusammen mit Gotthard Lerchner): Probleme der
semantischen Analyse von Theodor Storms „Schimmelreiter“ In: Hans-Georg
Werner: Text und Dichtung. Siehe Anm. 16, S. 385.

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den Text vom Werk sowie die Analyse von der Interpretation in einer pronon-
cierten Weise und setzten sich dezidiert mit der Problematik der begrifflichen
Unschärfe zwischen diesen Räumen auseinander.
5.
Neben der Einschleusung per Auseinandersetzung mit der bürgerlichen
Ideologie bis zur Übernahme wissenschaftlicher Standpunkte der interna-
tionalen Entwicklung und ihrer interdisziplinären Ausbreitung gab es auch
phasenweise eine gewollte Innovation, die sich anschickte, das 19. Jahrhun-
dert wissenschaftlich hinter sich zu lassen. Ich möchte hier nur ansatzweise,
jedoch zugleich nachdrücklich auf die kaum noch erinnerte systemtheoreti-
sche Perspektive der DDR-Gesellschaftswissenschaft aufmerksam machen.
Dazu ist noch einmal in der Entwicklung der DDR in die frühen 60er Jahre
zurückzugehen: Waren bis zum Tode Stalins die Kybernetik und Systemthe-
orie als idealistische Spielarten der bürgerlichen Ideologie verdammt worden,
so wurde in den 60er Jahren eine systemtheoretische Aufrüstung betrieben,
die bis zu Ulbrichts Ablösung anhielt. Es ereignete sich in dieser Zeit eine
Favorisierung der wissenschaftlich-technischen, bisweilen auch technizis-
tischen Entwicklung, die auch die kulturellen und geistigen Grundlagen der
Gesellschaft erfasste und diese auch per Parteibeschluss erreichen sollte.
Auf marxistischer Grundlage wurden von dem Philosophen Georg Klaus in
seinen Büchern Kybernetik in philosophischer Sicht (1964), Kybernetik und
Gesellschaft (1965) und Kybernetik und Erkenntnistheorie18 (1966) Versuche
unternommen, die Erkenntnisse der sich entwickelnden Querschnittswissen-
schaft nicht nur auf die Rechentechnik, die Automatisierung der Produk-
tion, sondern auch auf die materialistische Erkenntnistheorie und eigentlich
die gesamte gesellschaftliche Praxis anzuwenden. Interessanterweise bezog
sich Klaus nicht auf Oskar Wiener, sondern auf Klaus Steinbuch und dessen
Schrift Automat und Mensch von 1961.19 Daneben wiesen seine Bücher auch
das Studium der Schriften von Heinz von Foerster und von Gotthard Günther
aus. Neben der Verbeugung in Richtung der Sowjet-Wissenschaft in Form von
I. I. Arbolewski, W. D. Moissejew und A. A. Wischnewski ging Klaus auch
auf Claude E. Shannon zurück, bekanntlich einer der wesentlichen Anreger

18
Zu den genannten Büchern von Georg Klaus sind noch Einführung in die
formale Logik (1958) – Moderne Logik (1964) – Semiotik und Erkenntnistheorie
(1963) – Die Macht des Wortes (1964) und seine Spezielle Erkenntnistheorie (1965)
hinzuzufügen. Sie erschienen sämtlich teilweise in mehreren Auflagen im VEB
Deutschen Verlag der Wissenschaften.
19
Vgl. Karl Steinbuch: Automat und Mensch. Berlin-Göttingen-Heidelberg:
Springer 1963.

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für Niklas Luhmanns Kommunikationsbegriff. Eine Regeltechnologie für das


System Mensch war u. a. durch Manfred Peschel im Institut für Kybernetik
bei der Akademie der Wissenschaften auf medizinischem Gebiet konzipiert
worden.20 Hier ergab sich eine weitere Linie zur kognitionsphysiologischen
Erforschung der höheren Nerventätigkeit. Eine wichtige Rolle für das inno-
vative Denken der Literaturtheorie in der DDR spielte die Schrift von Horst
Redeker Abbildung und Aktion21 von 1966, die den Spielbegriff in den Trans-
formationsraum von Kunstausübung und gesellschaftlicher Praxis einbaute.
Die Spieltheorie in philosophischer Sicht22 von Georg Klaus unterstrich die
Bedeutung des homo ludens für die Mathematik, die Planungstätigkeit im
Allgemeinen, das Militär, die Ökonomie und, man staunt, die Machttheorie.
Als ein Bindeglied der Beziehungen zwischen Basis und Überbau konnte die
Spieltheorie, die von der Ökonomie deterministisch dirigierten kulturellen
und anthropologisch verkürzten Einheiten nobilitieren.
Es sei hier am Rande vermerkt, dass die systemtheoretische Terminologie
und das kybernetische Denken auch einige Schriftsteller der DDR beschäf-
tigte, die in ihren Werken diesen cybernetic turn auch deutlich mitvollzogen.
Zu nennen wäre hier Benito Wogatzki, ein zu Recht vergessener Autor der
am Ende der 1960er Jahre hochgelobten Fernsehdramatik. Erinnern möchte
ich aber auch an Gerhard Winterlichs, Heiner Müllers und Benno Bessons
Projekt “Horizonte”/“Waldstück” aus den Jahren 1968 bis 1970. Hier wurde
der Versuch gemacht, Shakespeares Sommernachtstraum systemtheore-
tisch unterfüttert in die DDR zu überführen, und zwar geradewegs auf dem
Bitterfelder Weg ins Petrolchemische Kombinat Schwedt. Wie sich die
Werks- und Parteileitung hier mit den für die Planung und Technologie
Verantwortlichen während eines gemeinsamen Urlaubs unter den Augen der
Belegschaft gegenseitig im Interesse der sozialistischen Produktion zu opti-
mieren versuchen, ist theatergeschichtlich ein Novum. Durchaus im Sinne
der Fortsetzung des Brechtschen Lehrstücks wurden nicht nur die Akteure
eines ursprünglichen Laienspiels in Bewegung gesetzt, auf die Volksbühne
Berlin verpflanzt wurden auch die Zuschauer der ersten beiden Reihen,
die sich im Anschluss an das Stück nunmehr selbst optimieren sollten.
Heiner Müller urteilte später: “Bessons wichtigste Arbeit in der DDR, die

20
Manfred Peschel: Regelung im menschlichen Organismus. In: Der Mensch als
Regler. Eine Sammlung von Aufsätzen. Hg. von Winfried Oppelt und Gerhard Vossius.
Berlin: Verlag Technik 1970.
21
Vgl. Horst Redeker: Abbild und Aktion. Versuch über die Dialektik des Realismus.
Halle a.d.Saale: Mitteldeutscher Verlag 1966.
22
Georg Klaus: Spieltheorie in philosophischer Sicht. Berlin: VEB Deutscher Verlag
der Wissenschaften 1968.

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Volksbühnenaufführung ‘Horizonte’, ein (unser gemeinsamer) Misserfolg,


sein Erfolg der Drache!”.23
Obwohl noch weitere Wissenschaftler es verdienen, hervorgehoben zu wer-
den, soll hier nur noch von einem die Rede sein: Recht frühzeitig arbeitete
auch Michael Franz, ein Schüler von Georg Klaus und Wolfgang Heise, bspw.
in seinem Aufsatz “Literarische Zeichensituation und poetologischer Bildbe-
griff ” (1968)24 an den strukturalen Grundlagen der Sprache und bezog diese
auf die Dichtung. Franz erweiterte seinen Gesichtskreis von der Literatur
auf andere Künste und ging sukzessive zur Erforschung einer semiotischen
Ästhetik und zur Kulturwissenschaft über. Seine Mitarbeit an den Bänden
Ästhetik heute (1978) und Ästhetik der Kunst (1987) sowie seine Redaktion
von Umberto Ecos Texten für die DDR-Öffentlichkeit (1988) soll hier nur
genannt und kann nicht genügend gewürdigt werden. Er spielte in jedem Fall
seit dem Ende der 60er Jahre bis in die Wende hinein für die Entwicklung der
Kunsttheorie in der DDR eine überaus anregende Rolle.
6.
Die systemtheoretische Innovation ging in das wohl bedeutendste literatur-
theoretische Werk der DDR-Literaturwissenschaft Gesellschaft Literatur
Lesen25 (kurz: GLL) ein. Gleich zu Beginn nahm Dieter Schlenstedt in seinem
Beitrag bei der Herleitung seines Textbegriffs in der ersten Fußnote Bezug
auf Georg Klaus. Er unterfütterte seinen Aufriss des literarischen Werks u. a.
mit den Erkenntnissen Roman Ingardens und Louis Hjelmslevs. Er arbeitete
mit dem Textbegriff der Arbeitsgruppe “Strukturelle Grammatik” (Steinitz,
Bierwisch) und setzte sich damit über tabuisierte Grenzen hinweg. In GLL
gingen über die bereits genannten strukturalistischen Ansätze auch Studien
aus der Psychologie ein, die ich hier nicht ausführen werde, die aber ebenfalls
zu den bekämpften bürgerlichen Ideologien gehörten.
Wichtig ist der selbstreflexive Gestus mit dem hier die eigene Arbeit
beschrieben, kritisiert und weiterentwickelt wurde. So erarbeitete die Gruppe
um Schlenstedt eine Periodisierung des eigenen Tuns anhand der rezepti-
onsästhetischen Perspektive. Es wurden drei Modellierungen sozialistisch
konzipierter Literaturtheorien und -praxen voneinander unterschieden: eine

23
Heiner Müller: Ein Diskussionsbeitrag. In: Ders.: Die Schlacht / Traktor / Leben
Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Berlin: Henschelverlag
1977. S. 105.
24
Vgl. Michael Franz: Literarische Zeichensituation und poetologischer Bildbegriff.
In: Weimarer Beiträge (1968) H. 4. S. 715–753.
25
Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche, Rosemarie
Lenzer: Gesellschaft Literatur Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht.
Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1973.

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soziologische Phase (Plechanow), die von einer gnoseologischen (Lukács der


1920/30er Jahre) abgelöst wurde und die wiederum von einer kommunikativ-
funktionalen Phase (ab Ende der 1960er Jahre) dekonstruiert wurde. Ich
erspare mir die Modelle im Einzelnen auszuführen und verweise auf die
Studie selbst.
Ich möchte schließlich noch zwei weitere Strukturierungen erwähnen,
die sich dezidiert auf die DDR-Literatur selbst bezogen. Es waren dies die
“Vorgangsfiguren” in den Wirkungsästhetischen Analysen (1979) Dieter
Schlenstedts und die unter dem Signum von “Klassik und Romantik in der
DDR” wiederum von Dieter Schlenstedt unterschiedenen “Verhaltensmög-
lichkeiten und Verhaltensunmöglichkeiten [. . .] als kontrovers konnotierte
Zeichen eines würdigen oder unwürdigen Lebens”.26 1987 auf der interna-
tionalen germanistischen Konferenz in Pisa vorgetragen und erst zwei Jahre
später und damit in letzter Stunde der DDR veröffentlicht, konnte der zwi-
schen den Zeilen des Lesens Kundige hier ein heraufkommende spannende
Kontroverse erkennen, die später von der Politik beiseite gelassen wurde.
Hier wurden Paradigmen erstellt, die in ihrer Modellhaftigkeit jegliche
Einförmigkeiten hinsichtlich der literarischen Produktion und Rezeption
unterliefen. Auch wenn es aus heutiger Sicht kaum noch wichtig erscheint,
aber die von Schlenstedt vorgetragenen “bewegte[n] Widerspruchsfelder im
Verlauf neuerer Literatur”27 emanzipierten sich von einer Periodisierung
eigener Geschichte, die sich vor allem an Parteitagen und dem Wechsel
von Machtkonstellationen orientierte. Hier erkannten die Wissenschaftler
(gewiss nur zum Teil) die von den Künstlern entworfene andere “Große
Geschichte, [. . .] die in vielen Geschichten als eine Struktur ablesbar ist,
als Organisation von Material, als verallgemeinernde Abbildung und ideo-
logisches Zeichen”.28 Als letzten Gedanken will ich die erklärte Absicht der
systemtheoretisch unterfütterten kommunikativ-funktionalen Literaturauf-
fassung hervorheben, die das literarische Handeln in einen sozialen Zusam-
menhang immer wieder zurückführte. Hieraus und ganz im Gegensatz zu
Positionen aus dem deutsch-deutschen Literaturstreit erschloss sich auch die
Wirkung von Kunst. Sie war weder in die Privatsphäre verwiesen, noch an die
Institutionen oder ‘Strukturen’ delegiert. Sie bereitete im besten Fall das vor,
was man später die dialogbereite Öffentlichkeit nennen konnte und die zu einer
Gesellschaftsveränderung führte, von der diese Poetiken und Poetologien
kaum zu träumen wagten.

26
Dieter Schlenstedt: Entwicklungslinien der neueren Literatur der DDR. In: Positi-
onen 5. Wortmeldungen zur DDR-Literatur. Hg. von Hinnerk Einhorn und Eberhard
Günther. Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1989. S. 34.
27
Ebd. S. 8.
28
Ebd. S. 10.

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Wolfgang Emmerich

Zwischen Chronotopos und Drittem Raum: Wie schreibt


man die Geschichte des literarischen Feldes DDR?
After a brief review of research on GDR literature since 1990, the application of
Bourdieu’s theory of autonomous ‘fields’ in relation to GDR conditions is discussed.
Bakhtin’s notion of the ‘chronotope’ is then introduced as a leading concept that pro-
vides a better understanding of the GDR and its literature. The ‘chronotope’ refers to
the rather constant ordering of space and time; this was significant for the GDR as a
whole, and particularly for its literature. The dissolution of the GDR as a fixed order
of space and time in 1989/90 resulted in the disappearance of the chronotope GDR
literature. Old and new literature from East Germany started shifting into a manifold
‘Third Space’.

I.
Am häufigsten wurde einem als Erforscher der DDR-Literatur in der
Wendezeit die Frage gestellt, ob man jetzt nicht arbeitslos würde, wo doch
das Sammelgebiet DDR-Literatur abgeschlossen sei. Wäre aus dieser mit
Verlaub strohdummen Frage ein Forschungskriterium abzuleiten, dann wäre
jegliche Bemühung um Literaturgeschichte müßig, waren doch alle Sammel-
gebiete, heißen sie nun Minnesang, Barock, Expressionismus, NS-Literatur
oder eben DDR-Literatur, irgendwann einmal abgeschlossen. So konnte man
entgegnen: Im Gegenteil, jetzt, da die DDR untergegangen und also historisch
geworden ist (und sich die Archive und Schubladen öffnen), wird sie und ihre
Literatur sich erst richtig erforschen lassen.
Quod erat demonstrandum. Zwanzig Jahre später kann man feststellen,
dass enorm viel zur Erschließung des Sammelgebiets DDR-Literatur getan
worden ist. Aber im Laufe der Jahre wurde auch klar, dass die Vorstellung
vom abgeschlossenen Sammelgebiet, bezogen auf die Literatur aus dem
Land, das von 1949 bis 1990 DDR hieß, eine Fiktion ist. Die Lebensläufe
aller DDR-Autoren aus den verschiedenen Generationen – von den damals,
um 1990, Ältesten, um 1910 bis 1920 Geborenen, über die 20er Jahrgänge
und die sog. Kriegskinder, also die zwischen Mitte der 1930er und Mitte der
1940er Jahre Geborenen, bis zu den Jüngeren und Jüngsten, die um 1990 erst
fünfzehn oder achtzehn waren – alle diese Lebensläufe transzendierten not-
gedrungen die weltgeschichtliche Zäsur 1989/90 (von den Wenigen, die, wie
Irmtraud Morgner oder Georg Seidel, exakt 1990 starben, einmal abgesehen) –
wenn dieser Grenzübertritt auch an signifikant verschiedenartigen Punkten
der jeweiligen Biographie lag. Schon aus diesem trivialen Faktum erklärt

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sich, dass ‘DDR-Literatur’ nach 1990 nicht aufhören konnte und nicht
aufgehört hat. Lebenslange oder auch nur eine Kindheit umspannende Prägungen
verschwinden nicht mit dem Untergang eines Staates. Und die interessante
Frage ist ja gerade, was in den seither vergangenen zwei Dekaden eigentlich
geschehen ist und wie ‘DDR-Literatur’ in dem neuen mixtum compositum
deutschsprachiger Literatur 1990 bis 2010 vorkommt.
Dazu später mehr. Zunächst möchte ich mich auf den Untertitel dieser
Tagung beziehen: “Literaturlandschaft der DDR”. Ich erlaube mir, den Geni-
tivartikel wegzulassen und nur von der Literaturlandschaft DDR zu sprechen.
Der von mir gewählte Titel – Chronotopos, Dritter Raum – deutet es schon an:
Mir scheint es an der Zeit zu sein, dass wir, was DDR und DDR-Literatur war,
stärker als bisher in raumzeitlichen Kategorien zu erfassen versuchen, was
durch das Ende des Staates DDR erleichtert wird. Ich verhalte mich in gewis-
ser Weise durchaus modisch, indem ich einige Gesichtspunkte und Fragestel-
lungen des sog. spatial turn auf die Geschichte der DDR-Literatur und der
nachfolgenden 20jährigen Transformationsperiode anzuwenden versuche –
mit den Freiheiten, die sich ein Älterer vielleicht leichter als andere erlau-
ben kann. Dazu haben mich Lektüren von Michail M. Bachtin, Michel
Foucault1, Homi K. Bhabha2, Edward W. Soja3, Arjun Appadurai4, Karl
Schlögel (sein Buch mit dem schönen Titel Im Raume lesen wir die Zeit5),
Friederike Eigler und anderen angeregt. Damit will ich nicht diejenigen
Perspektiven, wie man die Geschichte der DDR-Literatur schreiben könne,
falsifizieren, die ich selbst bisher angewendet oder vorgeschlagen habe. Das
waren die folgenden:
(1) die inzwischen als altmodisch geltende Perspektive einer (DDR-)Litera-
turgeschichte als Sozial- und Kulturgeschichte;
(2) die Einbettung der gesamten DDR-Literaturentwicklung in eine umfas-
sende Geschichte des Moderneparadigmas;

1
Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden.
Bd. 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. S. 670–697. Foucaults in diesem Aufsatz
eingeführter Begriff des Heterotopos ist anregend, aber ich halte ihn für so chamäle-
onartig, dass ich ihn im Kontext meiner folgenden Argumentation nicht verwenden
möchte.
2
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg 2000.
3
Vgl. als Einstieg Edward W. Sojas Aufsatz: Vom “Zeitgeist” zum “Raumgeist”.
New Twists on the Spatial Turn. In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den
Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Jörg Döring u. Tristan Thielmann.
Bielefeld: Transcript 2008. S. 241–262.
4
Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization.
Minneapolis-London: University of Minnesota 1996.
5
Karl Schlögel: Im Raum lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und
Geopolitik. München: Hanser 2003.

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(3) ein Verstehen der DDR-Literaturgeschichte als eine Generationenge-


schichte6;
(4) eine Analyse der DDR-Literatur als einer Abfolge von – im Verhältnis zur
Bundesrepublik – unterschiedlichen Diskursen und Archiven (angeregt
durch Moritz Baßler);
(5) eine Kontextuierung der DDR(-Literatur) in einer Theorie der sozialen
Felder nach Pierre Bourdieu, insbesondere natürlich der literarischen
Felder.

Der letztgenannte Ansatz wird auch in meinen Überlegungen und


Vorschlägen eine Rolle spielen, wenn auch nicht die Hauptrolle.
Wenn ich nun auf die letzten zwanzig Jahre Erforschung der DDR-Literatur
in historischer Absicht zurückschaue, dann kann das nur lückenhaft gesche-
hen, zumal, weil meine eigene Kenntnis der Forschung Lücken aufweist.
Gleichwohl, diesen Missstand vorausgesetzt, nehme ich Folgendes wahr:

(1) In historiographischer, insbesondere archivbasierter Hinsicht steht die


Zensur- und Überwachungsthematik des “Sicherungsbereiches Literatur”
(Joachim Walther7) deutlich im Vordergrund. Angesichts der Zugänglich-
keit der Archive und der auch menschlichen Brisanz des Problems ist das
so nachvollziehbar wie berechtigt, freilich auch einseitig. Auffällig ist,
dass ‘die’ Germanistik das Feld der seinerzeit vollständig unterdrückten
und verfemten Literatur von DDR-Autorinnen und -Autoren zwei Außen-
seitern überlässt, nämlich Ines Geipel und Joachim Walther. Ich denke
an das Archiv der unterdrückten Literatur in der DDR, das Walther als

6
Vgl. dazu Wolfgang Emmerich: Habitus- und Generationsgemeinschaften im lite-
rarischen Feld Ostdeutschland – vor und nach der Wende. Ein Versuch, das veränderte
literarische Feld mit Bourdieu und Mannheim besser zu verstehen. In: Weiter
schreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Hg. von Holger Helbig.
Berlin: Akademie 2007. S. 269–283. – Ders.: Generationen – Archive – Diskurse.
Wege zum Verständnis der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Gedächtnis und Iden-
tität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Hg. von Fabrizio Cambi. Würz-
burg: Königshausen & Neumann 2008. S. 15–29. – Und generell: Die DDR aus
generationsgeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Hg. von Annegret Schüle,
Thomas Ahbe, Rainer Gries. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006. Der
umfangreiche Band wird seinem Untertitel tatsächlich gerecht. Er enthält luzide
wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Studien ebenso wie empiriegestützte
erhellende Einzelanalysen und eine 100seitige Schlussbilanz von zweien der
Herausgeber, Ahbe und Gries, dazu reichhaltige Literaturangaben.
7
Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit
in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Links 1996.

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“mnemonisches Therapeutikum gegen die grassierende Diktatur-Amnesie”8


bezeichnet hat; ich denke an die Verschwiegene Bibliothek, die in der
Büchergilde Gutenberg erscheint (bisher zehn Bände), und an Geipels
Buch Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland
1945–1989 aus dem Jahre 2009. Im Metzler Lexikon DDR-Literatur (auch
von 2009) kommen von den von Geipel vorgestellten zwölf Schriftstelle-
rinnen nur zwei vor: Inge Müller und Gabriele Stötzer-Kachold. Freilich
sagt Geipel auch zu Recht, dass man die Mehrzahl ihrer Autorinnen
gar nicht gekannt haben könne, eben weil sie und ihre Texte komplett
unterdrückt wurden.
(2) Die Dominanz der Wendethematik (vor allem: das inzwischen wohl end-
lich verflogene Warten auf den Wenderoman) hat stärker historisch ori-
entierte Fragestellungen erfolgreich verdrängt. Dass die DDR(-Literatur)
vierzig (die SBZ mitgerechnet 45) Jahre, also fast ein halbes Jahrhundert,
gewährt hat, scheint zeitweise fast vergessen zu sein (diese Tagung macht
eine rühmliche Ausnahme, indem sie gerade der Frühzeit der SBZ/DDR
Raum gibt). Wenn in der DDR-Literatur- (und Post-DDR-Literatur-)
Forschung die historische Perspektive eine gewichtige Rolle spielte, dann
fast immer im Rückbezug auf die NS-Herrschaft – also aus guten, aber
nur partiell DDR-spezifischen Gründen. Eine literarhistorische Binnen-
differenzierung der DDR-Literatur aus mehr als vier Dekaden, die über
das bisher Geleistete hinausginge, ist aus meiner Sicht ein Desiderat.
(3) Gerade bei den zahlreichen Tagungsbänden zur ‘Bilanz’ der DDR-
Literatur dominiert, neben der Stasi-Thematik, die Fokussierung auf
einzelne Autorinnen und Autoren und ihr jeweiliges Werk. Es ist eine
gewisse Scheu zu verspüren, vielleicht auch Zaghaftigkeit und Unsicherheit,
sich an mehr als einen Autor heranzuwagen. Dazu passt: In den letzten
zwanzig Jahren sind zwar viele Dissertationen über die DDR-Literatur
(vor allem eben über einzelne Autoren) geschrieben worden, aber nur
ganz wenige Habilitationsschriften oder vergleichbar gründliche, tief
schürfende Monographien.
(4) Dazu stimmt der folgende Befund: Nach wie vor sind Versuche,
anspruchsvolle theoretische Paradigmen auf die DDR-Literatur und ihre
Geschichte zu applizieren, ungemein rar. Anstöße, die z.B. Bernhard
Greiner schon 1983 gegeben hat, sind verhallt. Zu fragen ist bis heute, ob
die DDR-Literatur-Forschung je aus der “Verquickung von Germanistik

8
Joachim Walther: Das “Archiv unterdrückter Literatur in der DDR” als mnemoni-
sches Therapeutikum gegen die grassierende Diktatur-Amnesie. In: Gedächtnis und
Literatur in den ‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945
und 1989. Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R unipress 2007. S. 265–276.
Hier: S. 265.

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und Politik” herausgefunden habe, die Greiner ihr seinerzeit als sie mas-
siv beengende “kollektive Fehlleistung” vorgeworfen hat.9 Diese Frage
richtet sich sowohl an die Liebhaber als auch an die Verächter der DDR-
Literatur, und natürlich auch an mich selbst. Gewiss, manche Aspekte der
DDR-Literatur können mittlerweile, auch über einzelne Autoren hinaus,
als gut erforscht gelten, z.B. die Frauenliteratur, die alternative Szene am
Prenzlauer Berg und Verwandtes, teilweise auch die späten 40er und frü-
hen 50er Jahre (ich nenne die Namen Gerrit-Jan Berendse, Birgit Dahlke,
Anneli Hartmann, Julia Hell, Ursula Heukenkamp), oder die Mythosre-
zeption und die Gattung Autobiographie. Auch sind die ausgebürgerten
und übergesiedelten Autoren durch Andrea Jägers Standardwerk lexikalisch
gut erfasst.10 Aber z.B. ein anspruchsvolles Buch wie David Bathricks
The Powers of Speech, das sehr grundsätzlich die öffentliche Sphäre
und die prominente Rolle des innermarxistischen Diskurses in der DDR
reflektiert, ist in Deutschland kaum rezipiert worden.11 Dabei enthält
es Anregungen für ein halbes Dutzend Dissertationen. Ich komme auf
Bathricks Buch zurück.
(5) Der heikelste Punkt (soweit meine Kenntnis reicht): In den letzten
fünfzehn Jahren ist im deutschen Sprachraum keine wirklich neue
Geschichte der DDR-Literatur in größerem Umfang (der auch nötig wäre)
erschienen.12 Ralf Schnell hatte ja schon 1993 seinem zuerst 1986
erschienenen Buch Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte,
Literaturbetrieb Kapitel zur DDR-Literatur beigeordnet, freilich: komplett
abgetrennt von der Darstellung der westdeutschen Entwicklung. 2003 hat
er seine Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 als “2.
überarbeitete und erweiterte Auflage”13 erscheinen lassen, in der er
einzelne Abschnitte, Autoren und Werke der DDR-Literatur in
chronologisch aufeinander folgende Großkapitel zur westdeutschen
wie auch österreichischen und Schweizer Literatur eingefügt hat – mit
merkwürdigen Effekten. Da kommt z.B. der Bitterfelder Weg vor die

9
Bernhard Greiner: DDR-Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. In:
Jahrbuch zur Literatur in der DDR 3 (1983). S. 233–254. Hier: S. 233.
10
Vgl. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen
von 1961 bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon. Bd. 2: Studie. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1995.
11
Vgl. David Bathrick: The Powers of Speech. The Politics of Culture in the GDR.
Lincoln & London: University of Nebraska 1995.
12
Eine beachtliche “kurze” [sic] DDR-Literaturgeschichte im Umfang von 459
Seiten ist in italienischer Sprache erschienen. Vgl. Fabrizio Cambi, Anna Chiarloni,
Matteo Galli, Magda Martini, Michele Sisto: L’invenzione del futuro. Breve storia
letteraria della DDR dal dopoguerra a oggi. Milano: Libri Scheiwiller 2009.
13
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2. überarb. u. erw. Auflage 2003.

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48

Gruppe 47 zu stehen, Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen geht unmittelbar


dem Teilkapitel “Existenzphilosophie und Sozialkritik in der Prosa”
voraus, und auf Günter Wallraff folgt Christa Wolf. Zum Ende hin
finden sich Heins Drachenblut und Wolfs Kassandra unter “Prosa der
‘Postmoderne’”. Zugegeben, Literarhistoriker haben’s schwer, nicht zum
Diener ihrer selbstgewählten Ordnungsschemata zu werden. Ich kann
ein Lied davon singen. Gleichwohl scheint mir Schnells Buch von 2003
zu zeigen, wie weit wir noch von einer Einlösung der Aufgabe entfernt
sind, eine Geschichte der deutschen Literatur seit 1945 zu schreiben,
die überzeugenden kategorialen Annahmen folgt, passende Vergleiche
anstellt (z.B. entlang den Generationen) und, sofern gegeben, die
literarischen Felder West und Ost in ihrer Verzahnung analysiert. – Auch
Wilfried Barner und sein Team haben 2006 eine Fortschreibung ihrer
gewichtigen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur
Gegenwart vorgelegt; freilich: ein typisches Sammelwerk, das, nicht
anders als Schnell, nur weniger kleinteilig, die DDR-Literatur rein
additiv neben die drei westlichen deutschsprachigen Literaturen stellt und
überdies kein erkennbares theoretisches Konzept hat.14 – David Wellberys
viel gelobte voluminöse New History of German Literature von 2004
hakt die DDR-Literatur mit ganzen sechs [!] Einträgen ab (dabei werden
Autoren vom Kaliber Huchel, Fühmann, Hacks, Braun, Hein nicht einmal
erwähnt) und hält aus dem Zeitraum 1990 bis 2004 nur einen Autor aus
Ostdeutschland, nämlich Durs Grünbein, für niveauvoll genug, um
Eingang in das Buch zu finden.15 Man erinnert sich an Hans-Ulrich
Wehlers Umgang mit vierzig Jahren DDR in Band 5 seiner Deutschen
Gesellschaftsgeschichte. Wehler hält es für angemessen, das “Intermezzo
der ostdeutschen Satrapie [sic]”, “die kurzlebige [sic] Existenz der DDR”
nur ganz am Rande im Verhältnis zu der großartig modernen Bundes-
republik zu behandeln. Man könne es, so Wehler, “der florierenden
DDR-Forschung getrost überlassen, das Gelände eines untergegange-
nen [. . .] Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden.”16
Vielleicht ist die ostdeutsche Diktatur Wehler einfach zu langweilig, hat
sie doch keinen Krieg angezettelt, keinen Holocaust auf dem Gewissen
und auch keine charismatischen Führer hervorgebracht wie das Dritte

14
Vgl. Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von
Wilfried Barner. München: Beck 2. akt. u. erw. Aufl. 2006.
15
Vgl. A New History of German Literature. Hg. von David E. Wellberry.
Cambridge, Mass.: Harvard UP 2003. – Deutsch: Eine neue Geschichte der
deutschen Literatur. Berlin: Berlin UP 2007.
16
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. V: Bundesrepublik
und DDR 1949–1990. München: Beck 2008. S. XVf.

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Reich, dessen Darstellung er unter dem Obertitel “Charismatische


Herrschaft und deutsche Gesellschaft [. . .] 1933–1945” verhandelt. Wie
auch immer, hier haben wir die ganze Arroganz gegenüber der DDR und
ihrer Erforschung, die auch in der Germanistik immer noch verbreitet
ist. – Bleibt das schon erwähnte Metzler Lexikon DDR-Literatur von
2009: ein verdienstvolles, nützliches, in der Regel den aktuellen Stand
der Forschung repräsentierendes Hilfsmittel, das sich aber – zu weiten Teilen
ein Autorenlexikon und von höchst verschiedenen Beiträgern verfasst –
wohl auch im Selbstverständnis der beiden Herausgeber Michael Opitz
und Michael Hofmann nicht als eine neue Literaturgeschichte versteht.17
(6) Schließlich, und damit komme ich zum Ende meiner Zwischenbilanz:
Was ist mittlerweile der Sachstand zu den drei Gretchen-Fragen nach Art
und Zahl der deutschen Literaturen seit 1945?
1. Wie viele deutsche Literaturen gibt es überhaupt?
2. Sollen westdeutsche und ostdeutsche Literaturgeschichte getrennt oder
gemeinsam abgehandelt werden?
3. Wie viele DDR-Literaturen gibt es?
Genau genommen, müssten diese Fragen jeweils noch einmal getrennt gestellt
und beantwortet werden für die Zeiträume bis 1990 und ab 1990. Man sieht
schon, dass diese Fragen zwar einerseits eminent wichtig, aber zugleich auch
sophistisch und in der Zuspitzung aberwitzig sind – und man sich dement-
sprechend, so meine ich, einen flexiblen Umgang mit ihnen erlauben sollte.
So sehe ich bisher keine Veranlassung, die Frage 1 anders als vor fünfzehn,
zwanzig Jahren zu beantworten, und das heißt: In den entscheidenden
Hinsichten gab es, immer noch mit Jürgen Link zu sprechen, ab dem Ende
der 1940er Jahre und tendenziell bis zum Ende der DDR ein Verhältnis der
“Diskulturalität” zwischen Ost und West – und folglich auch zwei verschiedene
deutsche Literaturen.18 Ein Folgeteil des folgenden Aufsatzes (Stichwort:
Chronotopos) versucht das zu untermauern. Damit ist auch schon die Frage
2 beantwortet, die z.B. Ursula Heukenkamp so heftig umgetrieben hat (vgl.
ihren Aufsatz E i n e Geschichte oder v i e l e Geschichten der deutschen
Literatur? Gründe und Gegengründe19). Mit geradezu existenzieller

17
Vgl. Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Hg.
von Michael Opitz u. Michael Hofmann unter Mitarb. von Julian Kanning.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2009.
18
Jürgen Link: Von der Spaltung zur Wiedervereinigung der deutschen Literatur?
(Überlegungen am Beispiel des Produktionsstücks), in: Jahrbuch zur Literatur in
der DDR 1 (1980). S. 59–78.
19
Ursula Heukenkamp: E i n e Geschichte oder v i e l e Geschichten der deutschen
Literatur? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik NF V (1995).
S. 22–37.

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Angespanntheit pendelt sie mehrfach zwischen den beiden Möglichkeiten,


die beiden deutschen Literaturen getrennt oder ineinander verzahnt darzustel-
len. Ihre ganze Sympathie gilt der zweiten Option (fast so, als ob sie die vier-
zig Jahre isolierter DDR-Literatur auch für sich als Person endlich abstreifen
wolle), aber sie muss auch anerkennen, dass die DDR ein eigenes literari-
sches Feld war (der Name Bourdieu fällt nicht, wohl aber wird der Feldbegriff
gebraucht) und somit auch weiterhin für sich dargestellt werden dürfe. In der
Skizze eines Projekts Geschichte der DDR-Literatur aus den letzten Jahren,
das auf der Homepage der Humboldt-Universität zu lesen ist, aber offenbar
als Projekt nicht mehr fortbesteht, hat Ursula Heukenkamp denn auch vehe-
ment und eindeutig die Auffassung vertreten, dass “die DDR-Literatur [. . .]
eine eigenständige deutschsprachige Literatur” sei, die sich aufgrund anderer
Produktions- und Rezeptionsbedingungen, anderer Themen und Traditi-
onsbezüge und eines anderen Literaturverständnisses “wesentlich von der
bundesdeutschen Literatur” unterscheide. Heukenkamps Fazit: “Die Literatur
der DDR kann daher nicht als Teil der bundesdeutschen Literatur seit 1945
mitverhandelt werden, ohne den Aussagegehalt und Rezeptionsraum ihrer
Texte zu beschneiden bzw. sogar zu verfälschen.”20
Gleichfalls 1995 befand Rainer Rosenberg – ein Literarhistoriker, der
schon zu DDR-Zeiten immer seinen eigenen klugen Kopf hatte – umgekehrt
und ohne weitere Angabe von Gründen, dass man nun, da die Staatsgrenzen
gefallen seien, DDR-Literatur als “eine eigenständige deutschsprachige
Literatur [. . .] in Zukunft wohl kaum noch verhandeln” werde.21 Das kann
Erstaunen hervorrufen, denn an dem, was die DDR und ihre Literatur einmal
waren, hat sich doch nicht automatisch etwas dadurch geändert, dass der Staat
zu bestehen aufgehört hat. Das gälte sonst z.B. auch für die drei Literaturen,
die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind (Exilliteratur, Nazi-Literatur,
Literatur der Inneren Emigration).
Bleibt die Frage Nummer 3, was denn eigentlich die DDR-Literatur gewesen
sei. Schon Fritz J. Raddatz kam 1987 auf drei verschiedene DDR-Literaturen,
wobei für ihn die dritte, jüngste und wichtigste die der Übergesiedelten von
Biermann bis Schädlich war.22 Erich Loest hatte bereits 1984 vorgeschla-
gen, vier Gruppen (je nach Systemtreue oder -untreue und Aufenthaltsort

20
Ursula Heukenkamp: Forschungsprojekt “Geschichte der DDR-Literatur”.
Homepage des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin.
Berlin o.J. (Downloaded November 2010; im Mai 2011 nicht mehr einsehbar).
21
Rainer Rosenberg: Was war DDR-Literatur? Die Diskussion um den Gegenstand
in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für
Germanistik. Neue Folge V (1995). S. 9–21. Hier: S. 19.
22
Vgl. Fritz J. Raddatz: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der
Gegenwart. Zur deutschen Literatur 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987.

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Ost oder West) zu unterscheiden.23 Ich selbst habe mehrfach dafür plädiert,
den Begriff DDR-Literatur “nicht künstlich eindeutig [zu] machen, sondern
beharrlich offen[zu]halten”.24 Gleichzeitig habe ich immer wieder vorge-
schlagen (und tue es noch), als Kern von DDR-Literatur diejenige anzusehen,
“die zwischen den beiden Polen der blinden Affirmation einerseits und der
radikalen Dissidenz andererseits angesiedelt war und stets das Unmögliche
versuchte [. . .]: nämlich Literatur aus dem blochschen ‘Geist der Utopie’ –
nüchterner gesagt: aus dem Geist reformsozialistischer Hoffnungen und Illu-
sionen – zu schaffen”.25 Es ist die Literatur der bekannten und vieldiskutierten
Namen.
II.
Soweit eine kurze Revue der Forschung. Dabei ist eine Richtung bewusst aus-
geklammert geblieben, die vielleicht die derzeit interessanteste ist, nämlich
der Versuch, DDR-Literatur mittels Bourdieus Theorie der sozialen Felder
zu analysieren. Hier sind vor allem die Initiatoren und Beiträger dreier
Sammelbände zu nennen: (1) der von Ute Wölfel herausgegebene Band
Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion
in der DDR von 2005,26 (2) der von Markus Joch und Norbert Christian Wolf
verantwortete Band Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen
Praxis (gleichfalls 200527) und (3) der wiederum von Joch und Wolf sowie
York-Gothart Mix und Nina Birkner herausgegebene Tagungsband Mediale
Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb
der Gegenwart von 200928. Konsequent ‘bourdieusch’ verfährt außerdem das
wenig rezipierte Buch der Politologin Angela Borgwardt Im Umgang mit der
Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären System (2002),
das innovative Autor-Feld-Studien zu Stefan Heym, Christa Wolf und Wolf
Biermann enthält.29

23
Vgl. Erich Loest: Über die vier Arten der DDR-Literatur von heute. Paderborn:
Schöningh 1984.
24
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Berlin: Aufbau 2000 [1996]. S. 16.
25
Ebd. S. 22.
26
Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der
DDR. Hg. von Ute Wölfel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
27
Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. von
Markus Joch u. Norbert Christian Wolf. Tübingen: Stauffenberg 2005.
28
Mediale Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbe-
trieb der Gegenwart. Hg. von Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian
Wolf, Nina Birkner. Tübingen: Niemeyer 2009.
29
Angela Borgwardt: Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung
in einem autoritären System. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.

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In einem anderen Aufsatz habe ich das Thema ‘Bourdieu und die DDR
(-Literatur)’ ausführlich diskutiert;30 deshalb an dieser Stelle nur ein paar
Stichworte. Zwei schwerwiegende Probleme tun sich auf, wenn es um die
Anwendbarkeit von Bourdieu auf DDR-Verhältnisse geht:
(1) Ist die Annahme eines literarischen Feldes im Sinne Bourdieus für
die DDR überhaupt legitim? Wenn ja: Welche Einschränkungen sind
vorzunehmen?
(2) Ist das literarische Feld DDR-Literatur (unterstellt, es gibt eines) ein
separates im Verhältnis zu den anderen deutschsprachigen Literaturen seit
1945, oder ist von nur einem Feld auszugehen?
Bekanntlich hat Bourdieu selbst seine Theorie des literarischen Feldes aus-
schließlich auf die westlich-moderne Welt seit Anfang des 19. Jahrhunderts
angewendet. Schon die Terminologie wirft beim Versuch ihrer Anwendung auf
die DDR Probleme auf. Manche der leitenden bourdieuschen Begriffe wie der
des ‘Kapitals’ (resp. der Kapitalsorten), des ‘Erbes’, des ‘Intellektuellen’ oder
von ‘Orthodoxie’ und ‘Häresie’ waren in der DDR selbst, d. h. im Gebrauch
der SED-Funktionäre, von vornherein völlig anders definiert und müssen des-
halb, wenn überhaupt, deutlich abgegrenzt verwendet werden. Andere zentrale
Termini Bourdieus wie der des ‘Feldes’, des ‘Habitus’ und der ‘Doxa’ müssen
ebenfalls ‘umgedacht’ werden. Gleiches gilt für Begriffe wie ‘Konsekration’,
‘Distinktion’, ‘Institutionalisierung’, ‘Kanonisierung’ und zumal für den
Terminus illusio – “das kollektive Verhaftetsein mit dem Spiel”31 – , der sich
auf das System DDR-Literatur erhellend anwenden lässt, aber mit einer ganz
anderen Pointe als für westlich-moderne literarische Felder. Entscheidend
aber ist, dass das literarische Feld namens DDR in seinen “internen Kämp-
fen” zu keiner Zeit “weitgehend unabhängig” war von den Vorgaben “des
Machtfeldes oder des sozialen Feldes in seiner Gesamtheit”,32 was Bourdieu
als die Grundbedingung eines autonomen Feldes formuliert. Entsprechend
vorsichtig wird man mit seiner Begrifflichkeit umgehen müssen.
Diese Vorsicht sehe ich nicht überall am Werk. Frappierenderweise hat
Bourdieu selbst, und zwar in Ost-Berlin am 26. Oktober 1989, ausdrücklich
behauptet, dass es sich bei seinem Konstrukt der sozialen Felder “um ein
allgemeingültiges Modell” handle, “das es erlaubt, die historischen Variationen
zu erfassen, wenn auch um den Preis der Variablen”, die “den sozialen Raum”

30
Wolfgang Emmerich: Autonomie? Heteronomie? DDR-Autoren zwischen
Fremd- und Selbstinszenierung. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Hg.
von Christian Jürgensen, Gerhard Kaiser. Heidelberg: Winter 2011 (im Druck).
31
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. S. 270.
32
Ebd. S. 400.

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namens DDR und die Machtbeziehungen in ihm konstitutiv differenzieren.


Damit meinte er hauptsächlich eine Umgewichtung der verschiedenen Kapi-
talsorten in der DDR: nämlich die geringe Bedeutung des ökonomischen
Kapitals bei umso größerer Bedeutung des politischen Kapitals (als einer
“Unterart des sozialen Kapitals”), wie auch das “relative Gewicht des kul-
turellen Kapitals”.33 In diesem Zusammenhang spricht Bourdieu auch von
einer “Patrimonialisierung kollektiver Ressourcen”.34 Des Weiteren weist er
treffend darauf hin, dass in 40 Jahren DDR “die zur Entwicklung kulturel-
ler Modelle fähigen Schichten durch die Emigration dezimiert worden sind”.
Schließlich sei “auch und vor allem die politische und moralische Kontrolle
zu berücksichtigen, die infolge der egalitären Prätentionen des Regimes über
die sichtbaren Äußerungen von Unterschieden und mehr noch über das
Streben nach Unterscheidung ausgeübt wird”.35
Mit Verlaub: Das halte ich für eine allzu abstrakte, verblüffend kurzschlüs-
sige Theorieadaption für die DDR durch ihren Urheber selbst. Ich kann sie
mir nur durch Bourdieus weitgehende Unkenntnis des realsozialistischen
Lagers (das er bekanntlich nicht schätzte) bzw. durch sein eklatantes Desin-
teresse an demselben erklären. Die SED-Herrschaft, zumal in Zeiten des
Stalinismus, stellt aus meiner Sicht zunächst einmal Bourdieus gesamten
Ansatz in Frage, was die Applikation auf die DDR resp. auf Gesellschaften
des Ostblocks angeht, insofern eine seiner entscheidenden Prämissen, die
dem jeweiligen Feld unterstellte ‘Autonomie’, in Staaten wie der DDR nicht
gegeben war und statt ihrer Repression in vielfältiger Form herrschte (wofür

33
Vgl. Pierre Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staats-
sozialismus. In: Ders.: Die Intellektuellen und die Macht. Hg. von Irene Dölling.
Hamburg: VSA 1991. S. 33–39. Zitate S. 33–35. Veränderter Wiederabdruck unter
dem Titel: Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur
Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 28–32. – Auch Henning
Wrage spricht kritisch von “pauschalisierenden Bemerkungen” Bourdieus und
bemerkt, dass dieser “für die Beschreibung des Ganzen der DDR-Kultur kein
Konzept” gehabt habe. Er erkläre nicht, “dass zur spezifischen Eigenheit der DDR
auch die eben nicht vorhandene externe Differenzierung des literarischen Feldes der
DDR gehört.” Vgl. Henning Wrage: Feld, System, Ordnung. Zur Anwendbarkeit
soziologischer Modelle auf die DDR-Kultur. In: Literarisches Feld DDR [wie Anm.
26]. S. 53–73. Hier S. 54. Wrage weist auf zwei weitere einschlägige Veröffentli-
chungen Bourdieus zum Thema DDR/Ostblock hin: (1) Im Osten erwacht die
Geschichte. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik
und Kultur I. Hamburg: VSA 1997. S. 161–164 und (2) Die ‘sowjetische’ Variante
und das politische Kapital. In: Ders.: Praktische Vernunft [wie Anm. 33]. S. 28–32. –
Zum Problem auch Borgwardt: Im Umgang mit der Macht [wie Anm. 29]. S. 121.
34
Bourdieu: Politisches Kapital [wie Anm. 33]. S. 35.
35
Ebd. S. 38.

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Bourdieus Wendung: mehr Gewicht des “politischen Kapitals” und erhöhte


“politische und moralische Kontrolle” doch ein wenig euphemistisch klingt).
Allerdings schreibt z.B. Ute Wölfel in der Einleitung zu dem erwähnten
Sammelband von 2005 ähnlich sorglos wie Bourdieu selbst:
Die Autonomie als Schlüsselbegriff, nämlich Bedingung des Feldes, erwies sich
dabei als ergiebig, sofern sie nicht als Bewertungskriterium verwendet wird,
sondern als Kategorie, an die ein differenziertes Instrumentarium zur Analyse
literarischer Verhältnisse gebunden ist, das den komplexen Beziehungen und
Interaktionen, den Mechanismen, Strategien und Erwartungen gerecht werden
kann, die die literarische Produktion bestimmen.36

Im Weiteren heißt es bei ihr, es gehe um den “historisch konkreten Prozess


der relativen Autonomisierung”, der sich im Rahmen der “Verzahnung von
Literatur und Politik” abspiele, wobei “Autonomie nicht nur eine Eigenschaft,
sondern zugleich Spielregel des Feldes” sei.37
Zumindest die letzten beiden Formulierungen scheinen mir verfehlt zu
sein. Hier hat sich die erstrebte Objektivierung des Forschungsgegenstan-
des DDR-Literatur so sehr verselbständigt, dass ein tendenzielles Diktat der
Politik über die Literatur als bloße “Verzahnung” deklariert wird (zweier
offenbar gleich mächtiger Partner?) und dem literarischen Feld DDR pauschal
“Autonomie” als “Spielregel” zugeschrieben wird, die sich in Wirklichkeit
die in ihm Agierenden allenfalls mühsam und zäh erobert haben, und dies
auch bis zum Ende der DDR nie ganz. Da scheint mir die Lesart des DDR-
Literaturwissenschaftlers Dieter Schlenstedt angemessener zu sein, der 1991
in einem Gespräch äußerte:
Es war ja so, daß diese Literatur in einem geschlossenen ideologischen Raum
arbeitete, der den Vorschriften folgte, dem die Macht bestimmte Denkformen und
Denkregeln, Symbole, Bilder, klischierte Sprache vorgab. Und das schuf eine son-
derbare Lage. Die Autoren hatten einen bestimmten Bezugspunkt, ob sie den nun
wollten oder nicht; und was sie sagten, welche Bilder sie zeigten, war zu bewerten
am Maß des Aufgehens in oder der Distanz zu diesem offiziellen ideologischen
Raum. Ein Spiel von Nähe und Ferne zu dem, was offiziell galt, wurde gespielt,
von Lesern und Autoren, auch wenn über die Regeln dieses Spiels nicht gespro-
chen wurde. So entstanden denn auch sprengkräftige Wirkungen der Literatur, weil
in einem geschlossenen Raum schon eine kleine Abweichung etwas Kolossales
bedeuten kann. Es war ein ernstes Spiel.38

36
Wölfel: Einleitung zu Literarisches Feld DDR [wie Anm. 26]. S. 5.
37
Ebd. S. 5f.
38
Dieter Schlenstedt: Integration – Loyalität – Anpassung. Über die Schwierigkeiten
bei der Aufkündigung eines komplizierten Verhältnisses. Ein Gespräch mit Frauke
Meyer-Gosau. In: Literatur in der DDR: Rückblicke. Hg. von Heinz Ludwig Arnold
u. Frauke Meyer-Gosau ( text  kritik Sonderband). München: edition text  kritik
1991. S. 169–183. Hier: S. 175f.

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Aus dieser zutreffenden Beschreibung des literarischen Feldes der DDR


(zumindest: eingeschränkt auf die Literatur seit Mitte der 1960er Jahre) geht
hervor, dass ‘Autonomie’ gerade nicht die “Bedingung des Feldes” resp. seine
“Spielregel” war. Ein ersehnter Bezugspunkt für den Schreibenden, für seinen
Text ist nicht die Regel im Feld. Die vorgegebene Spielregel hieß zunächst
und ganz eindeutig: Heteronomie. Die Freiwilligkeit, mit der sich das Gros
der DDR-Autoren zumindest bis an die Schwelle der 1960er Jahre der Hete-
ronomie ihrer eigenen Produktion wie auch der Rezeption bei den Lesern
unterwarf, wird heute immer noch unterschätzt, weil man sich daran gewöhnt
hat, nur an die Häretiker Brecht, Eisler, Huchel und wenige andere zu denken.
Dass man, hieraus folgernd, der DDR generell den Status eines eigenen lite-
rarischen Feldes absprechen müsse, wie das z.B. York-Gothart Mix getan hat,
halte ich wiederum für überzogen.39
Damit ist der andere kritische Punkt in der Anwendung von Bourdieus
Feldbegriff auf die DDR-Literatur berührt, nämlich die partielle, aber permanente
Offenheit des DDR-Feldes (man könnte anschaulicher sagen: die Löchrigkeit
oder die offene Flanke), insofern viele Bücher ihrer Autoren gleichzeitig oder
nur in westlichen Verlagen für ein westliches Publikum erschienen und dem-
gemäß in einem anderen Feld agierten. Im Lauf der Zeit waren es nicht nur
viele Bücher, die ins andere Feld hineinwirkten, sondern auch immer mehr
DDR-Autoren, die zeitweise oder endgültig in der Bundesrepublik Wohnung
nahmen. So spricht Ute Wölfel von einer “Verzahnung von west- und ost-
deutschem literarischem Feld”;40 andere Forscher wählen andere einschlägige
Metaphern, um den vertrackten literarischen Verhältnissen gerecht zu werden. Wir
sehen, die Applikation bourdieuscher Theoreme auf die DDR-Wirklichkeit ist
interessant, führt aber nicht automatisch zu mehr Übersichtlichkeit.
III.
Im Folgenden möchte ich einen Aspekt von Bourdieus Konzept aufgreifen
und pointieren, der als nebensächlich erscheinen mag. Es ist die Metapher

39
Vgl. Jens Loescher: Aufmerksamkeit oder Distinktion? Neues von der Bourdieu-
Philologie anläßlich eines Kongresses. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte
16 (2007). S. 415–420. Hier: S. 418f. – In der Druckfassung von Mix’ Aufsatz
findet man freilich diese pointierte Position nicht mehr wieder, vielmehr eine
temperamentvolle Kritik an der auch von mir kritisierten Haltung, “die Feldtheorie
Bourdieus in reduktionistischer Manier munter als Blaupause für die Analyse
der Verhältnisse in der DDR” zu benutzen. Vgl. York-Gothart Mix: Avantgarde,
Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen
Literaturszene in der DDR. In: Mediale Erregungen? [wie Anm. 28]. S. 123–138.
Hier: S. 123.
40
Wölfel: Einleitung zu Literarisches Feld DDR [wie Anm. 26]. S. 9.

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des Feldes, die er ganz unbedenklich und gewissermaßen abwechselnd auch


dreidimensional, im Sinne von Raum, verwendet. Und ich möchte sie mit
einem Terminus von Michail Bachtin verknüpfen, dem ich, genau genommen,
eine neue Bedeutung zuschreibe.
Bachtins Begriff Chronotopos ist als eine seiner zentralen Kategorien für
die Analyse erzählender Prosa bekannt. Aber neben diesem “inneren Chro-
notopos”, d.h. der “Raumzeit des dargestellten Lebens” im Roman, räsoniert
Bachtin auch über den jeweiligen “reale[n] äußere[n] Chronotopos”, in resp.
an welchem die romanhafte Darstellung öffentlich wird und dem sie ent-
stammt.41 Das ist, konkret beispielhaft, der Marktplatz, die Agora, und das ist,
allgemein gesprochen, “die epochenspezifische raumzeitliche Ordnungsstruk-
tur der menschlichen Weltwahrnehmung”.42
Was ich mir nun erlaube, ist, Bachtins Leitbegriff Chronotopos als “die
hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum”43 zu einem außerlitera-
rischen Konzept umzudenken, das es möglich macht, einen jeweiligen (geo-
graphischen) Raum und eine jeweilige (historische) Zeit so eng ineinander
verschlungen als nur möglich vorzustellen – und dieses auf das über vier
Jahrzehnte existente Gebilde namens DDR anzuwenden. Diese engstens
ineinander verschlungene Raumzeit ist nach meinem Verständnis die
Dauerbedingung von ‘DDR’ und ‘DDR-Literatur’. Was heißt das konkret?

(1) Die DDR war über vierzig Jahre territorial kohärent, was für Staaten
nicht selbstverständlich ist; allerdings in diesem Fall: mit einer Insel in
ihrer Mitte – West-Berlin, und die war natürlich für den Chronotopos
DDR ein bleibender Störfaktor.
(2) Die DDR war ethnisch homogen, nämlich germanisch-norddeutsches
Siedlungsgebiet, zeitweise und partiell auch slawisch besiedelt (mit einer
noch lebendigen, aber sehr kleinen slawischen Minorität). Das DDR-
Territorium erstreckte sich im Wesentlichen auf zwei vorherige Staatswe-
sen, nämlich Preußen und Sachsen. Damit ist ein landsmannschaftlicher,
aber kein ethnischer Gegensatz markiert, der zu DDR-Zeiten virulent
war, aber nicht entscheidend.
(3) Die DDR war konfessionell homogen. Im Jahre 1949 waren ca. 90%
ihrer Einwohner evangelisch-lutherisch, darunter viele Heimatvertriebene
aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Die Katholiken befanden

41
Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 58 u.
passim.
42
Michael C. Frank u. Kirsten Mahlke: Nachwort zu Bachtin: Chronotopos [wie
Anm. 42]. S. 201–242. Hier: S. 205.
43
Bachtin: Chronotopos [wie Anm. 41]. S. 188.

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sich eindeutig in der Diaspora. Daraus folgt die weite Verbreitung


dessen, was Max Weber protestantische Leistungsethik genannt hat – ein
generell, aber auch für das Selbstverständnis der Autoren bedeutsamer
Faktor.
(4) Die DDR hatte, einzelnen Kursänderungen, Reform- und Restaurati-
onsversuchen zum Trotz, über vierzig Jahre die gleiche Form politischer
Herrschaft und die gleiche staatssozialistische Organisation ihrer
Ökonomie. Die Strukturen waren hierarchisch, das gesellschaftliche und
wirtschaftliche Leben war vielfältiger Kontrolle unterworfen; ein freies
Spiel der Kräfte war in allen gesellschaftlichen Wertsphären die Ausnahme
und nicht die Regel. Das gilt auch für die kulturellen Bereiche.
(5) Die DDR war von ihren soziokulturellen und politischen Traditionen her
zwar nicht homogen, aber markant geprägt. Sachsen war (mit Teilen von
Thüringen und Sachsen-Anhalt) neben dem Ruhrgebiet, das moderne
deutsche Industriegebiet par excellence, dazu eines der ältesten Zentren
der Arbeiterbewegung, wo die SPD einst ihre ersten Reichstagssitze
errungen hatte. In der Nazi-Zeit wurden diese Gebiete (wie auch Berlin),
wo sie früher rot gewesen waren, teilweise stark braun – und dann, nach
1945, auch wieder rot.

Territorial kohärent, ethnisch homogen, konfessionell homogen, in den


Herrschafts- und Wirtschaftsstrukturen konstant, soziokulturell und politisch
klar profiliert: Das sind natürlich sehr verkürzte Zuschreibungen grundsätz-
licher Merkmale. Aber sie weisen deutlich in eine Richtung: Der ‘Ort’ DDR
bleibt für einen langen Zeitraum identisch; die Zahl der Einwohner verrin-
gert sich bis 1961 entscheidend durch ‘Republikflucht’, die zu einem großen
Anteil eine Flucht von Eliten war und zu einer weiteren Homogenisierung
der verbleibenden Bevölkerung führte. Von 1961 bis 1989 lebt die DDR-
Bevölkerung in geschlossenen Grenzen. Auf den schon genannten tendenziell
homogenen Grundlagen der Ethnizität, der Konfession, der politischen und
ökonomischen Struktur und der politischen Traditionen kommt es zu einer
fortschreitenden Angleichung der diversen Bevölkerungsgruppen, auch gene-
rationsübergreifend. Zudem gibt es im Land ausgesprochen wenig Fremde.
Die, die da sind (Soldaten der Roten Armee) oder ins Land geholt werden
(Studierende, politische Asylanten aus Südafrika oder Chile und später Gast-
arbeiter vor allem aus Vietnam und Angola/Mozambique) werden von der
DDR-Bevölkerung weitgehend abgeschirmt. Vermischung ist unerwünscht
und findet auch weitgehend nicht statt.
Auf der Grundlage all dieser Homogenitätsmerkmale ist auch die Implan-
tation ganz anderer Gründungsmythen als in Westdeutschland erfolgreich
und trägt zur weiteren Homogenisierung bei. Das ist inzwischen allseits
bekannt; ich nenne nur die Stichworte Antifaschismus/Sozialismus versus

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58

D-Mark/Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik.44 Aus DDR-Bürgern,


von denen die meisten Älteren genauso Nazis oder stumme Mitläufer waren
wie ihre westdeutschen Altersgenossen, werden “Sieger der Geschichte”. So
entsteht im Lauf der Jahrzehnte ein von Generation zu Generation weiterge-
gebenes kulturelles Gedächtnis, das sich gravierend von dem westdeutschen
unterscheidet. Eines seiner Merkmale ist (um nur ein pointiertes Beispiel
zu geben), dass nicht ‘Auschwitz’ als dominantes “Geschichtszeichen” im
Sinne Immanuel Kants45 für den Massenmord an den Juden aufgerichtet
wird, sondern ‘Buchenwald’ mit der Legende des erfolgreichen proletarisch-
kommunistischen Widerstands.46 Eng verwoben mit den DDR-spezifischen
Gründungsmythen ist das irritierende Faktum, dass sich über die Jahrzehnte
hin kritischer Dissens im politischen wie im literarischen Feld der DDR fast
durchweg und anhaltend marxistisch artikulierte – völlig anders als in den
meisten anderen Ostblockstaaten. Warum? Nun, Systemkritiker in der DDR
konnten nach zwölf Jahren Naziherrschaft und dem Holocaust weder auf
ein ‘unschuldiges’ nationales Erbe zurückgreifen, noch eigneten sich die in
Ostdeutschland gegebenen religiösen Traditionen für die Fundierung einer
Gegenposition (wie vor allem im katholischen Polen). Bei Marx hingegen,
zumal in seinen Frühschriften, u.a. den Pariser Manuskripten, fanden sich
philosophische Maximen, aus denen sich ein “wahrer Sozialismus”, ein
“Sozialismus mit menschlichem Antlitz” als Gegenentwurf zum “real existie-
renden Sozialismus” herleiten ließ. In den Worten von David Bathrick, der
dieses Phänomen gründlich analysiert hat:
Like Luther, their [the author’s, W.E.] original intent was very much a move toward
reformation and revision and not a total abandonment of doctrinal adherence or
even a break with the institutional church. And like Luther again, the political con-
sequences of such heresy led them far afield of their imagined political goals.47

44
Vgl. u.a. Herfried Münkler: Politische Mythen der DDR. In: Jahrbuch 1996
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. S. 123–156. – Und
Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR [wie Anm. 24]. S. 34–39. – Sowie
Herfried Münklers neues Buch Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009.
45
Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. In: Ders.:
Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Insel 1964 [1798].
S. 357. – Auch Thomas Taterka verwendet den Ausdruck “Geschichtszeichen” in
“Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik”. Grundzüge des
Lagerdiskurses der DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre
Geschichte(n). Hg. von Birgit Dahlke, Martina Langermann, Thomas Taterka.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2000. S. 312-365. Hier: S. 316.
46
Wolfgang Emmerich: Fast eine Leerstelle – Über die verleugnete Präsenz des
Holocaust in der DDR-Literatur. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts IX
(2010). S. 57–84.
47
Bathrick: The Powers of Speech [wie Anm. 11]. S. 228f.

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Der paradoxe Befund lautet also: Ein großer – und vielleicht der wichtigste –
Teil der Schriftsteller und Intellektuellen aus der DDR definierte und insze-
nierte sich ganze vier Jahrzehnte lang explizit marxistisch, und damit in einem
Selbstverständnis, das auch in den westlichen Ländern im Lauf der Jahrzehnte
in die Krise gekommen, wo nicht vollends unter die Räder geraten war.
Freilich drehte sich das, wofür die Autoren als Repräsentanten standen, im
Lauf der Zeit um nahezu 180 Grad: von der vorbehaltlosen Bejahung des
Aufbaus des Sozialismus zu einer Radikalkritik der Strukturen und des je
aktuellen, als verkommen deklarierten Ist-Zustandes dieses Systems. Die
Wende 1989/90 bescherte dann den Autor(inn)en aus der Gruppe der Reform-
sozialisten ein weiteres Paradox: Indem sie mit dem Zerfall der DDR fast
schlagartig ihre privilegierte Position als Experten für die Verkündigung
des “wahren Sozialismus” und für Lebenshilfe verloren, ja regelrecht vom
Denkmal gestürzt und Verachtung und Spott preisgegeben wurden (ich meine
natürlich den sog. Literaturstreit), verloren sie ihren Repräsentantenstatus
endgültig. Auch diese Besonderheit gehört zum Chronotopos DDR.
Ein weiteres Wesensmerkmal desselben ist die Entstehung und propa-
gandistische Pflege dessen, was Wolfgang Engler treffend die arbeiterliche
Gesellschaft48 genannt hat (und Ursula Heukenkamp ist ihm im Blick auf
die Literatur gefolgt49). Die Arbeiterklasse war bekanntlich, anderslauten-
den Parolen zum Trotz, nie die herrschende Klasse, aber ‘Arbeit’ war immer
ein hoch besetzter Wert, und zwar in allen DDR-Milieus. Daraus hat sich ein
gesellschaftlich dominanter Habitus gebildet, der über die von der SED pro-
pagierte Arbeitsideologie weit hinausgeht und auch, was die gegenwärtige
mentale Verfassung eines großen Teils der Ostdeutschen angeht, kaum zu
überschätzen ist. In 40 Jahren DDR ist eine Konstellation entstanden, in der
(ich zitiere Engler) der “Mythos von der Arbeiterklasse mit der alltagskul-
turellen Dominanz der proletarisch bis kleinbürgerlich-materialistischen
Kultur” zusammenfloss.50
Last not least: Die Literatur hat, wie andere Kulturbereiche, in der DDR
von Anfang bis Ende einen besonderen Ort eingenommen. Sie war, verordnet
und freiwillig zur gleichen Zeit, “sozialaktivistisch” und “sozialpädagogisch”
(in den immer wieder zitierenswerten Worten von Uwe Johnson51). Und sie

48
Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin:
Aufbau 1999.
49
Heukenkamp: Forschungsprojekt “Geschichte der DDR-Literatur” [wie Anm. 20].
50
Vgl. Engler: Die Ostdeutschen [wie Anm. 48]. S. 200.
51
Vgl. Uwe Johnson in “Sie sprechen verschiedene Sprachen”. Schriftsteller
diskutieren (d.i.: Hans Werner Richter, Heinz von Cramer, Günter Grass, Uwe
Johnson, Paul Wiens, Hermann Kant, Max Walter Schulz). In: alternative.
Zeitschrift für Literatur und Kritik 7 (1964). Heft 38/39. S. 97–100. Hier: S. 98.

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war erklärtermaßen Lebenshilfe, auch auf der individuellen Ebene. Dement-


sprechend verschieden zur Bundesrepublik war die literarische Traditionsbil-
dung, waren die Einflussbeziehungen zwischen Autoren und Werken, erklärt
sich auch die verspätete Modernerezeption. Und dementsprechend anders
war das Selbstverständnis der meisten Autoren: nämlich Erzieher des Volkes,
Aufklärer, pointiert: Gewissen der Nation sein. Damit standen sie, zumeist
unbewusst, in der Tradition der protestantischen Gewissenskultur, die sie
agnostisch wendeten. Generell gilt – noch einmal in Schlenstedts Worten – ,
dass “diese Literatur in einem geschlossenen ideologischen Raum arbeitete,
der den Vorschriften folgte, dem die Macht bestimmte Denkformen und
Denkregeln, Symbole, Bilder, klischierte Sprache vorgab.”52
So kommt, trotz Ermüdungen und Rissen im System DDR und trotz
zaghaft seit 1968, stärker dann seit 1976, entstehenden Bürgerbewegungen
eine bemerkenswert dichte Kontinuität von 40, 45 Jahren zustande (das ist,
knapp nach dem Kaiserreich, die längste Periode der jüngeren deutschen
Geschichte) – eine Kontinuität nicht nur eines Staatswesens, sondern auch
einer spezifischen Lebensweise und Lebenswelt der DDR-Bürger. In summa:
Die wechselseitige Durchdringung von räumlichen und zeitlichen Determi–
nanten von Lebensweise und Kultur in der DDR ist eine sehr lang anhaltende
und weitgehende. Das schließt gravierende Veränderungen auf der Zeitachse
keineswegs aus (die interne Historisierung dieses langen Zeitraums ist, wie
gesagt, dringend notwendig). Mein Vorschlag ist, die Unverwechselbarkeit der
DDR-Literatur, die ich als sehr stark ansehe, aus diesem Bündel von homo-
genisierenden Merkmalen zu erklären, die für mich zusammen den stabilen
Chronotopos DDR / DDR-Literatur ausmachen. Man könnte auch das von
Ruth Klüger geprägte Neuwort “Zeitschaft/Zeitschaften” aufnehmen, um “zu
vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher
noch nachher”53 – hier also der ‘Ort in der Zeit’ namens DDR. Diese Unver-
wechselbarkeit lässt sich auf mehreren Ebenen feststellen, so z.B. auf der der
Autorgenerationen, die sich so im Westen alle nicht finden lassen (hier muss
diese Andeutung genügen). Oder man fasst einzelne Autoren ins Auge, und ich
behaupte, dass nicht nur parteinahe Autoren, sondern gerade auch andere, viel
bessere, thematisch, aber auch stilistisch und im Schreibgestus unverwechsel-
bar ‘DDR’ sind. Ich nenne nur die Namen Hermlin, Fühmann, Hacks, Müller,

52
Schlenstedt: Integration – Loyalität – Anpassung [wie Anm. 38]. S. 175.
53
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992. S. 78f. Den
Vorschlag verdanke ich Matías Martínez, Wuppertal. Klüger bezieht sich hier zwar
explizit auf das KZ als besonderen Ort (der mehr als nur Ort/Landschaft ist), aber
ich halte die vorgenommene Bedeutungsübertragung für erlaubt.

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Wolf, Reimann, die ganze Sächsische Dichterschule, Biermann, Braun,


Hilbig, Jirgl, Fuchs und Papenfuß-Gorek. Und es wäre völlig unmöglich, dass
z.B. ein Text von Walser, Enzensberger, Botho Strauß, Kronauer oder Mose-
bach in diese Reihe geriete, die ihrerseits – mit vielen anderen und bei aller
Verschiedenheit – unverwechselbar für den Chronotopos Deutschland-West
stehen.
Weitergehend möchte ich behaupten, dass die Eigenart der Schauplätze,
der inneren Chronotopoi im Sinne von Bachtin, die DDR-Literatur von
der westdeutschen unterscheidet. Auch das lässt sich hier nur andeuten.
Typische Handlungsorte vor allem der ersten zwanzig Jahre DDR-Literatur
sind bekanntlich solche der Industriearbeit, überhaupt der Arbeitswelt (vom
frühen Produktionsroman und Produktionsstück über den Bitterfelder Weg
und Johnson, Wolf, Morgner bis zu Angela Krauß und noch Antje Ravic
Strubel), aber auch Orte der landwirtschaftlichen Produktion (Hacks, Müller,
Strittmatter u.a.); des weiteren Orte des DDR-Alltags außerhalb der unmit-
telbaren Produktionssphäre (de Bruyn, Wolf, Plenzdorf und viele andere).
Gerade zur ersten Kategorie lassen sich Beispiele nennen, die nirgends als
in der DDR angesiedelt sein können: dreimal das Mauern eines Ringofens
(Eduard Claudius, Brecht, Müller), mehrfach Großbaustellen und Braunkoh-
lenbergbau (Erik Neutsch, Müller, B. K. Tragelehn, Reimann, Braun u.a.),
einmalig: der Uranbergbau der Wismut (Werner Bräunig, Konrad Wolfs Film
Sonnensucher – und noch Lutz Seilers Lyrikband Pech und Blende). – Sodann
dominieren bestimmte geschichtliche Orte: an erster Stelle solche des anti-
faschistischen Widerstandskampfes (Seghers, Hermlin, Apitz, Nackt unter
Wölfen als der kanonische Text u. v. a.) und Orte des 2. Weltkriegs, die in die
DDR-Geschichtssicht eingepasst (Karl Mundstock, Harry Thürk, Fühmann,
Max Walter Schulz, Dieter Noll u. v. a.) und in die DDR-Frühgeschichte hinü-
bergeführt werden (Seghers, Schulz, Noll, Hermann Kants Aula, die für meh-
rere Texte zu den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten steht; Johnsons Jahrestage,
ab dem Ende von Band 2. Kein anderes Buch bildet die frühe DDR raumzeit-
lich so lebendig ab wie dieses). Gewiss, die inneren Chronotopoi der DDR-
Literatur differenzieren sich stark aus in ihren letzten beiden Jahrzehnten; sie
werden individueller und verlassen oft ganz bewusst den Raum DDR, bis hin
zum Aufsuchen weit entfernter historischer und mythischer Orte. In manchen
Texten, vor allem Romanen, werden weit auseinanderliegende Chronotopoi
montiert, z.B. in Morgners Trobadora Beatriz oder bei Fries oder Schädlich.
Weitere Namen muss ich nicht nennen. Zum Ende der DDR-Zeit hin wird
das eigene Land als Ort von Repression (z.B. in der NVA), Bespitzelung und
Zensur immer häufiger thematisch. Und fünfzehn Jahre nach dem Ende des
Staates wird in Uwe Tellkamps Der Turm ein singulärer Chronotopos, ein ein-
zelner homogener kultureller Raum innerhalb des Groß-Chronotopos DDR
beschworen: nämlich die verkapselte bildungsbürgerliche Welt von Dresden,

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Weißer Hirsch.54 Auch das war “ein Ort in der Zeit, zu einer gewissen Zeit,
weder vorher noch nachher”, mit Ruth Klüger zu sprechen. Und Tellkamps
Roman bestätigt einmal mehr den Satz von Cicero, der lautet: “Groß ist die
Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.”55
IV.
Seit Beginn der 1990er Jahre haben wir es mit ziemlich anderen Orten und
Räumen zu tun als dem, was bis dahin die DDR als ein tendenziell geschlos-
senes Raum-Zeit-Amalgam war. Und die nun entstehenden neuen Zeit-Räume
sind auch für die Literatur ungemein folgenreich. Diese gänzlich andere
Situation soll abschließend wenigstens skizziert werden.
Seit dem 3. Oktober 1990 haben sich die Grenzen des Raums DDR in Luft
aufgelöst, und ebenso seine bestimmenden Zeitkoordinaten. Konzentrieren
wir uns auf die Literatur: Das neu entstandene entgrenzte und diffuse Feld
Deutschland West plus Ost – man könnte es mit Christian Kracht “Faserland”
nennen – gleicht seither einem riesigen (virtuellen) ‘dritten Raum’ (sowohl
im Sinne von Edward W. Soja als auch in dem von Homi K. Bhabha vorzu-
stellen), in dem sehr verschiedene Ideologien, Mentalitäten, Habitusformen,
Autorselbstverständnisse und Schreibkonzepte aufeinanderstoßen, aber
neuerdings eben auch noch elementarere Gegensätze, nämlich solche der
Ethnien, Konfessionen und Sprachen. In den Worten von Arjun Appadurai:
“groups are no longer tightly territorialized, spatially bounded, historically
unselfconscious, or culturally homogeneous”.56 Und sie stoßen nicht abstrakt
und ‘irgendwie’ aufeinander, sondern in der Lebenswelt und Alltagserfah-
rung von uns allen, und so auch im Bewusstsein der je einzelnen Autoren.
Entscheidend ist, dass im Zeichen von Zuwanderung und Globalisierung die
Reintegration dessen, was DDR-Literatur war, ins neue ökonomisch, medial
und mental homogenisierte Feld deutsche Literatur nur noch ein Sonderfall
ist, der von täglich neuen Durchmischungen in einer immer weniger über-
schaubaren Landschaft überlagert wird. Die Autoren aus der ehemaligen
DDR sind mittlerweile nur eine Teilgruppe von vielen – allerdings immer

54
Vgl. David Clarke: Space, Time and Power. The Chronotopes of Uwe Tellkamp’s
Der Turm. In: German Life and Letters. New Series LXIII (2010). No. 4. S. 490–
503. Clarkes Aufsatz, der mir erst nach meinen eigenen Überlegungen bekannt
geworden ist, wendet Bachtins Kategorie des Chronotopos wie dieser primär inner-
literarisch an, “um die Politik des Raums in der Stadt” Dresden herauszuarbeiten
(S. 490).
55
Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut
und das größte Übel. Stuttgart: Reclam 1989. S. 397.
56
Appadurai: Modernity at Large [wie Anm. 4]. S. 48.

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noch eine sehr besondere. Vor allem die Älteren unter ihnen mussten müh-
sam ihr Selbstverständnis als Autoren umbauen, sofern sie es nicht vorzogen,
ihre alte Identität zu verkapseln (wie z.B. Hermann Kant oder der inzwischen
verstorbene Peter Hacks).57 Aber im Zeichen der neuen Transkulturalität des
Raums Deutschland ändert sich auch für Westdeutsche alles, was bislang als
Erinnerungsraum und gewachsenes kulturelles Gedächtnis so fest gefügt
schien. Zwar geht die Auseinandersetzung zwischen den zwei deutschen
Nachkriegskulturen und -literaturen, die die frühen 1990er Jahre dominierte
und die man Aleida Assmanns Begriffstrias von Legitimation, Delegitimation
und Distinktion gut fassen kann,58 noch weiter, aber entschieden weni-
ger heftig und existenziell aufgeladen als vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Bei
den inzwischen alten Autoren aus der DDR (gemeint sind die über sechzig)
geht es immer noch um Distinktion: um die Bewahrung oder Preisgabe des
bisherigen Identität stiftenden symbolischen Kapitals oder um aufwendige
Amalgamierungsversuche. Bei den Jüngeren hingegen sind längst vielfältige
hybride Autoridentitäten entstanden. Wie sollte es auch anders sein, da die
Mehrzahl dieser Menschen inzwischen längere Aufenthalte im westlichen
Ausland von Frankreich und Italien bis New York verbracht hat. Schon Angela
Krauß und Katja Lange-Müller, Kathrin Schmidt und Thomas Brussig, Durs
Grünbein und Ingo Schulze, und nun erst recht Jens Bisky, Antje Ravic Stru-
bel, Julia Schoch, Jenny Erpenbeck, Jochen Schmidt, Jakob Hein, Peter
Wawerzinek, Clemens Meyer, Jana Simon (eine Enkelin von Christa Wolf)
und Jana Hensel bewegen sich in der globalisierten Welt wie Fische im
Wasser. Dass ihnen zur Seite eine immer größere Zahl von Autorinnen und
Autoren steht, die aus anderen Ethnien und Religionen, zum Teil sogar aus
anderen Erdteilen stammen, die aber deutsch schreiben und publizieren,
und zum Teil großartig (ich nenne keinen einzigen Namen, weil es so viele
sind): Das stört diese jüngeren Autoren, ob sie nun aus Deutschland Ost oder
West stammen, überhaupt nicht, wie sie (und wir alle) uns auch zunehmend
daran gewöhnen, dass vor allem Romane aus vieler Herren Länder als über-
setzte in unser eigenes literarisches Feld hineinragen und es durchdringen.
Das macht auch den Begriff der Nationalliteratur immer fragwürdiger.

57
Vgl. den Band Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im
vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg i.Br.:
Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009. Er enthält
Studien zu Heiner Müller, Christa Wolf, Rainer Kirsch, Ulrich Plenzdorf, Volker
Braun, Christoph Hein, Stefan Schütz, Petr Wawerzinek und Annett Gröschner.
58
Vgl. hierzu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des
kulturellen Gedächtnisses. München: Fink 1999. S. 138 u. passim.

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“We are all translated men”, heißt das schon geflügelte Wort von Salman
Rushdie,59 und manche Forscher arbeiten sogar schon, bezogen auf den
Grundzustand der Transkulturalität, mit dem translational turn.60 Natürlich
werden in diesem neuen, nach allen Seiten offenen Chronotopos, den ich
im Anschluss an Soja und Bhabha third space / Dritter Raum61 nenne, auch
alle Vergangenheitsbeziehungen neu verhandelt: weitestgehend jenseits von
Schuld und Sühne, frei von falscher Identifikation mit den Opfern und
wohlfeilem Moralisieren. Der deutsche Familienroman, mittlerweile bald
ein Vier-Generationen-Roman, wird ein weiteres Mal neu geschrieben; nicht
wenige aus der Internationale der jüngeren Germanisten forschen dazu.62
Mit der Konzentration auf drei Raumbegriffe – literarisches Feld,
Chronotopos und third space – habe ich mich zweifelsohne ins Fahrwasser
des sog. spatial turn begeben, wie er seit der Erfindung des Terminus durch
Edward W. Soja im Schwange ist. Vielleicht hat es in den Sozial- und
Kulturwissenschaften tatsächlich so etwas wie eine “Raumvergessenheit”
gegeben. In diesem Sinne kann man sich Karl Schlögel anschließen, der
treffend formuliert hat: “Der turn ist offenbar die moderne Rede für
gesteigerte Aufmerksamkeit für Seiten und Aspekte, die bisher zu kurz
gekommen sind.”63

59
Vgl. Salman Rushdie: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981–1991.
London: Penguin 1992. S. 17.
60
Vgl. Doris Bachmann-Medick: The Translational Turn. In: Translation Studies.
Special Issue. Vol. 2. Nr. 1. London: Routledge 2009. S. 2–16.
61
Vgl. die bereits genannten Titel von Bhabha und Soja sowie meinen Aufsatz:
Odradek – ein Bewohner des Dritten Raums. Mit Franz Kafka unterwegs zu trans-
kulturellen Lektüren. In: Dislocation and Reorientation. Exile, Division and the End
of Communism in German Culture and Politics. In Honour of Ian Wallace. Hg. von
Axel Goodbody u.a. Amsterdam-New York: Rodopi 2009. S. 83–96.
62
Vgl. u.a. Anne Fuchs: Phantoms of War in Contemporary German Literature,
Films and Discourse. The Politics of Memory. Houndmills, Basingstoke: Palgrave
Macmillan 2008. – Und Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Natio-
nalsozialismus in der deutschen Literatur seit 1990. Würzburg: Königshausen &
Neumann 2010.
63
Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in
den Geschichts- und Kulturwissenschaften. In: Was sind Kulturwissenschaften?
Dreizehn Antworten. Hg. von Heinz Dieter Kittsteiner. München: Fink 2004.
S. 261–283. Hier: S. 265.

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Janine Ludwig

Was war und ist DDR-Literatur? Debatten um die


Betrachtung der DDR-Literatur nach 1989
The term ‘GDR literature’ has been subject to controversy, both for political rea-
sons and for reasons of canonisation. Since the collapse of the GDR in 1989/90 the
status of this literature has been debated: should literature from this bygone state
still be regarded as a separate entity, subsumed under West German literature or
German-language literature in general, or considered as regional literature? This
essay reviews the genesis of two German literatures, discusses definitions of ‘GDR
literature’, and maintains that GDR literature should be seen as a ‘special case’, dis-
tinct from both West German and Eastern European literature. The author argues that
GDR literature emerged under a unique set of social circumstances, including con-
ditions of production, the function of literature and its role in society, and the self-
understanding of writers as advocates of ‘engaged literature’, albeit advocates who
were sitting on the fence. Finally, the author proposes that GDR literature be descri-
bed as a literary epoch characterised by intense programmatic discussions.

Bis heute ist der Terminus “DDR-Literatur” umstritten – sowohl hinsichtlich


der Korrektheit des Begriffs als auch, damit zusammenhängend, hinsicht-
lich der Frage, was dieser Begriff denn enthalten solle. Zum einen war dieser
Terminus seit je mit unterschwelligen politischen Haltungen überfrachtet
und galt manchen als negativ konnotiert bzw. als Staatsliteratur desavouiert –
weshalb jene mitunter den Begriff “Literatur der DDR” bevorzugen. Zum
anderen bereitet auch die inhaltliche Definition dessen, was alles DDR-Literatur
sein oder gewesen sein soll, mithin, wie dieser Begriff kanonisch zu umreißen
wäre, Schwierigkeiten.
Schließlich handelt es sich hier nicht um eine Nationalliteratur im klassi-
schen Sinne, wie etwa die griechische oder polnische, sondern um die Litera-
tur eines Staates (nicht einer Nation), dessen Existenz lange umstritten, nicht
eben umjubelt war und auch nur 40 Jahre andauerte. Diese Literatur teilte eine
gemeinsame Sprache mit drei weiteren Staaten (Bundesrepublik Deutschland,
Österreich, Schweiz) und stand durchaus im kulturellen und gesellschaft-
lichen Austausch, besonders mit der alten BRD. Und natürlich wurde nach
1989, als so vieles auf den Prüfstand gestellt wurde, auch die DDR-Literatur
neu bewertet. Es kann hier gar nicht auf den hauptsächlich im Feuilleton
ausgetragenen deutsch-deutschen Literaturstreit von 1990 eingegangen wer-
den, der ja in einem eigenen Beitrag in diesem Band diskutiert wird. Auch in
der Literaturwissenschaft wurden die Karten neu gemischt. Roswitha Skare
etwa stellt in ihrem Band Wendezeichen. Neue Sichtweisen auf die Literatur

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der DDR (1999) mit völliger Selbstverständlichkeit die “erkenntnisleitende


Frage” in den Vordergrund: “Welche Texte bedürfen einer erneuten Lektüre
und können bzw. sollen weiterhin Gegenstand literaturhistorischen Interesses
sein?”.1 Von dort bis zu der Frage, wie mit der DDR-Literatur nunmehr in
Literaturgeschichten umzugehen sei, ist es kein weiter Weg.
So lohnt es sich, kurz in die Geschichte zurückzugehen und in groben
Zügen zu umreißen, wie es überhaupt zu dem Begriff gekommen ist.
Begriffs- und Entstehungsgeschichte einer DDR-Literatur
Die Annahme einer DDR-Literatur als eigenständiges Phänomen setzte sich
selbst in der DDR offiziell erst in den 1960er Jahren bzw. um 1970 durch.
Zuvor hatte dem noch lange die Vorstellung einer deutschen Nationalkultur
und -literatur im Sinne der von Walter Ulbricht beschworenen “einheitlichen
Kulturnation” entgegengestanden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dominierte in den deutschen
Besatzungszonen zunächst das Bemühen um eine einheitliche Kultur und
Literatur, auch wenn der erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongress im
Oktober 1947 bereits der letzte war, weil es zu erheblichen Disputen im
Vorfeld des Kalten Krieges kam. 1951wurde mit der Wiederbelebung der
Formalismus-Debatte in der DDR die Abkoppelung von der westlichen
Moderne proklamiert, um einen Sozialistischen Realismus nach sowjetischem
Vorbild zu etablieren. Dennoch betont Ursula Heukenkamp mit Recht:
Auch wenn praktisch und programmatisch Weichen gestellt wurden, war es allge-
mein noch gar nicht akzeptabel, daß die Gegenwartsliteratur zweigeteilt sein sollte.
Gerade die Remigranten, die sich in der DDR angesiedelt hatten, fühlten sich als
Teilnehmer oder auch Repräsentanten der deutschen Literatur, der Staat war inso-
fern für sie keine Determinante literarischer Vorgänge. Etwas lapidar könnte man
formulieren: Solange Johannes R. Becher lebte, konnte der Begriff von einer sozi-
alistischen Nationalliteratur nicht vertreten werden.2

Becher, der immer die deutsche “Kulturnation” beschworen und sich eine
“einheitliche, neue deutsche Nationalliteratur” ersehnt hatte, starb 1958.
Weitere Abgrenzungstendenzen zeigte die Bitterfelder Konferenz 1959 mit
der Formulierung des Bitterfelder Weges unter dem Motto “Greif zur Feder,
Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!” Allerdings war da
offiziell noch die Einheit der deutschen Nation in der Verfassung der DDR

1
Wendezeichen. Neue Sichtweisen auf die Literatur der DDR. Hg. von Roswitha
Skare u. Rainer B. Hoppe. Amsterdam-Atlanta, GA: Rodopi 1999. S. 10.
2
Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen
Literatur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue
Folge V-1 (1995). S. 22–37. Hier: S. 25.

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festgeschrieben, und man berief sich auf die Traditionen der sozialistischen
deutschen (Arbeiter-)Literatur. 1961 gab es auf dem V. Schriftstellerkongress
der DDR einen Disput zwischen Alexander Abusch, der von zwei deutschen
Literaturen sprach, und Alfred Kurella, der ihm in seinem Schlusswort dezi-
diert widersprach. Die Konzeption einer eigenständigen Literatur entwickelte
sich dann in den 1960er Jahren; dennoch sprach man zu diesem Zeitpunkt
offiziell weder von DDR-Literatur noch von einer Literatur der BRD.
1967 schließlich machte der Literaturwissenschaftler Hans Mayer in der
Bundesrepublik auf die Verschiedenheiten beider Literaturen aufmerksam;
es entstanden erste Einzeldarstellungen. Die letztlich entscheidende Zäsur ist
wohl in der Machtübernahme Erich Honeckers 1971 zu sehen, unter dessen
Ägide der Übergang von der Zwei-Staaten-Theorie zur Zwei-Nationen-
Theorie und die Etablierung des real existierenden Sozialismus als eigenständige
Gesellschaftsform zementiert sowie in der neuen DDR-Verfassung von 1974
auf relativ klandestine Weise die Passagen zur deutschen Nation bzw. Einheit
entfernt wurden. Nun war offiziell eine sozialistische ‘DDR-Nationalliteratur’
etabliert und ging nach und nach auch in die Literaturgeschichtsschreibung
der Bundesrepublik ein. Zwar erregte Fritz J. Raddatz 1972 noch großes
Aufsehen, als er in seiner Habilitationsschrift das Urteil fällte: “Es gibt zwei
deutsche Literaturen”, die “sich festmachen an Sprache wie an ideologischer
Debatte”,3 doch schließlich setzte sich diese Haltung durch, und es entstanden
in den 1970er Jahren in der BRD mehrere eigenständige Bände zur Literatur-
geschichte der DDR sowie eigene Forschungsbereiche.4
Bereits gegen Ende der 1970er Jahre wurde diese Trennung jedoch wieder
in Zweifel gezogen. Das kulturpolitische Tauwetter, das Erich Honecker bei
seinem Machtantritt 1971 suggeriert hatte,5 war mit der Ausbürgerung Wolf
Biermanns 1976 einer neuen ‘Eiszeit’ gewichen. In der Folge verließen viele
SchriftstellerInnen (z.B. Thomas Brasch, Günter Kunert, Sarah Kirsch) ihr Land

3
Später neu aufgelegt als: Fritz J. Raddatz: Zur deutschen Literatur der Zeit 1.
Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 1987. S. 727.
4
Vgl. Roswitha Skare: 1989/90: Eine Wende in der deutschen Literaturgeschichte?
Tendenzen der neueren Literaturgeschichtsschreibung. In: Wendezeichen [wie Anm. 1].
S. 15–43. Hier: S. 17.
5
Honecker sagte auf der 4. Tagung des ZK der SED 1971: “Wenn man von der fes-
ten Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von
Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhalt-
lichen Gestaltung als auch des Stils.” Erich Honecker: Die Hauptaufgabe umfaßt
auch die weitere Erhöhung des kulturellen Niveaus. Aus dem Schlußwort auf der
4. Tagung des Zentralkomitees der SED. 17. Dezember 1971. In: Dokumente zur
Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, 1971–1974. Hg. von Gisela Rüß.
Stuttgart: Seewald 1976. S. 287.

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in Richtung Westen. Nach Raddatz schrieben diese exilierten AutorInnen


sogar eine “dritte deutsche Literatur” – “im Augenblick die einzige von
politischer Evidenz”.6 Hinzu kamen in den 1980er Jahren sogenannte
“Konvergenzbewegungen” zwischen ost- und westdeutscher Literatur, die sich
an einer Häufung paralleler Themen festmachen ließen (Zivilisationskritik,
Frauenbewegung, atomare Bedrohung etc.).
Dennoch wurde insgesamt von einer getrennten Betrachtung beider Litera-
turen nicht mehr abgerückt – vielleicht unter anderem deshalb, weil sich nun
bereits ganze Forschungsbereiche und Spezialisierungen institutionell gebil-
det hatten. Sie wurde aber auch von führenden ostdeutschen Schriftstellern
weiterhin bestätigt, selbst von dem im Westen erfolgreichen Christoph Hein,
der 1983 betonte, “daß beginnend mit meiner Generation, spätestens begin-
nend mit meiner Generation, man schon von zwei verschiedenen Literaturen
sprechen muß”,7 ja, “daß wir Literatur des jeweilig anderen deutschen Staates
künftig als Literatur aus dem Ausland begreifen müssen, um sie überhaupt zu
verstehen”.8 Manche Älteren formulierten dies differenzierter, etwa Stephan
Hermlin 1978:
Ich bin ein Schriftsteller der DDR, da ich hier lebe und arbeite . . . Aber so bin
ich denn ein deutscher Schriftsteller, ich sei nur immer wer ich sei, verbunden mit
allem, im Positiven wie im Negativen, was deutsch geschrieben wurde und deutsch
geschrieben wird. . . Und weiter: Die Existenz einer Literatur ist nicht deckungs-
gleich mit der Existenz von Staaten. [. . .] Die DDR-Literatur ist nicht zu bestrei-
ten; sie ist die hier entstandene und entstehende deutsche Literatur.9

Im Zuge des Literaturstreites 1990 wiederum meldete sich Walter Jens mit
einer Art Solidaritätsbekundung westdeutscher Kollegen für die angegriffenen
DDR-AutorInnen zu Wort: “Es gab zwei deutsche Staaten, aber es gab nur
eine deutsche Literatur.”10

6
Fritz J. Raddatz: Zur deutschen Literatur der Zeit 3. Eine dritte deutsche Literatur.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 51.
7
Christoph Hein: “Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu
leben.” Gespräch mit Krysztof Jachimczak. Nach dem Erscheinen von Horns Ende
(1986). In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hg. von Lothar Baier. Frankfurt
a.M.: Luchterhand 1990. S. 45–67. Hier: S. 66.
8
Christoph Hein: “Schreiben als Aufbegehren gegen die Sterblichkeit.” Gespräch
mit Uwe Hornauer und Hans Norbert Janowski. In: Christoph Hein [wie Anm. 7].
S. 76–86. Hier: S. 77.
9
Hier zit. nach: Andreas Petersell: Die Literatur in der DDR von der Biermann-
Ausbürgerung bis zu Beginn der 80er Jahre. http://www.petersell.de/ddr/2_ueberblick.
htm. Downloaded 01.04.2009.
10
Walter Jens: Plädoyer gegen die Preisgabe der DDR-Kultur. Fünf Forderungen an
die Intellektuellen im geeinten Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung 16.06.1990.

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Gab und gibt es zwei deutsche Literaturen? Debatten nach 1989


Die Existenz zweier deutscher Literaturen war also nie ganz unumstritten,
jedoch von etwa 1970 bis 1990 eine recht stabile Konvention, die sich aller-
dings vor allem aus der faktischen Wirkungsmacht der Zweistaatlichkeit
generierte. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass nach dem Unter-
gang der DDR prompt die Frage wiederkehrte, ob und inwiefern es denn je
eine DDR-Literatur gegeben habe (was vermehrt dementiert wird) bzw. ob
und in welcher Weise man nunmehr die Literaturgeschichte(n) umschreiben
müsse. Es bieten sich die Möglichkeiten an, entweder 1. die DDR-Literatur
weiterhin als eigenständiges (und abgeschlossenes) Phänomen zu behandeln,
wie Wolfgang Emmerich das tut, oder sie 2. unter die westdeutsche Literatur
zu subsumieren oder 3. sie als Teilliteratur innerhalb der deutschsprachigen
Literatur, neben der westdeutschen, schweizerischen und österreichischen
einzuordnen,11 oder 4. sie sogar als Regionalliteratur zu begreifen, wie das
etwa Klaus Hermsdorf tut, mit der Begründung, dass “die Trennkraft von
Staatsgrenzen für den Organismus der deutschsprachigen Literatur in der
Literaturgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte (besonders der DDR)
überschätzt, hingegen die regionalisierende Rolle der ‘Länder’ dieser Staaten
unterschätzt worden”12 sei.
Ralf Schnell entscheidet sich in der Neufassung seiner Geschichte der
deutschsprachigen Literatur seit 194513 für den zweitgenannten Weg, nämlich
eine “Integration der DDR-Literatur in die Gesamtentwicklung der deutschspra-
chigen Literatur seit 1945”.14 Er rechtfertigt dies mit grundsätzlichen Gemein-
samkeiten, betreffend etwa wichtige Ereignisse der Nachkriegsgeschichte

11
Auch aus österreichischer und schweizerischer Sicht sind Tendenzen, alle
deutschsprachigen Literaturen unter eine (westdeutsch dominierte) Literatur zu
subsumieren, wie dies Wilfried Barners Geschichte der deutschen Literatur von
1945 bis zur Gegenwart tut, stark umstritten. Vgl. Klaus Zeyringer: Text und
Kontext: Österreichische Literatur. Ein Konzept. In: Jahrbuch der Deutschen
Schillergesellschaft 40 (1996). Hg. von Wilfried Barner, Walter Müller-Seidel,
Ulrich Ott. Stuttgart: Kröner 1996. S. 438–448. Man vergleiche in diesem Band
auch die weiteren Beiträge, die für eine deutsche, deutschsprachige oder gar
Weltliteratur plädieren, zusammengestellt unter der einleitenden Frage: “Wieviele
deutsche Literaturen?” In: Ebd. S. 435–484.
12
Klaus Hermsdorf: Regionen deutscher Literatur 1870–1945. Theoretische und
typologische Fragen. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 3 (1993). S.
22–37. Hier: S. 35.
13
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2003.
14
Ralf Schnell: Vom Umgang mit der Literatur der DDR. In: Der Deutschunterricht 6
(2003). S. 78–85. Hier: S. 84.

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oder auch das politische Selbstverständnis der Autoren in Ost und West
als Sozialisten (wenn auch unterschiedlicher Prägung), die als gemeinsa-
mes Thema die Aufarbeitung des Nationalsozialismus geeint habe: “Die
Trennungslinien verflüchtigen sich in historischer Perspektive.”15 Schnell
erhofft sich so “die Befreiung der DDR-Literatur aus den eingrenzenden, ein-
engenden Umzäunungen des so genannten ‘realexistierenden Sozialismus’ ”.16
Auch Roswitha Skare betont “[p]arallele literarische Entwicklungen” in
beiden Staaten sowie die “gemeinsame literarische Tradition” beider Lite-
raturen und seit den 1970er Jahren eine “immer bessere [gegenseitige]
Zugänglichkeit”.17 Schließlich plädiert sie für eine Betrachtung der DDR-
Literatur als Regionalliteratur.
Wolfgang Emmerich wiederum spricht in diesem Zusammenhang ganz
zu Recht von synchronen und diachronen Merkmalen im Verhältnis der
beiden Literaturen.18 Zu ersteren zählt er die Auseinandersetzung mit dem
Faschismus und die Aufarbeitung der deutschen Kriegsschuld wie auch
die Entstehung einer politisch-utopischen Literatur in Westdeutschland im
Zusammenhang mit der 68er-Bewegung. Dennoch meint Emmerich heute,
“gerade diese Konvergenz eher überbetont zu haben”,19 und verweist auf dia-
chrone Momente wie die so genannte “Erberezeption” oder “das vielleicht
auch Fragwürdige am Anknüpfen mancher DDR-Literaten an Tendenzen
einer Zivilisations- und Rationalismuskritik seit der Romantik”,20 aber auch
das fast systematische Ausblenden des Holocaust und die nachgerade mythi-
sche Verklärung des deutschen Antifaschismus in der Literatur der DDR.
Letztlich hält Emmerich somit an einer Betrachtung der DDR-Literatur als
eigenständigem Phänomen fest. Dies tut auch Ursula Heukenkamp, die zwar
einmal vorsichtig abwägend “Gründe und Gegengründe” für eine solche
eigenständige Betrachtung anführt,21 jedoch als verantwortliche Leiterin eines
bis heute nicht realisierten Forschungsprojektes “Geschichte der DDR-Lite-
ratur” an der Humboldt-Universität auf der entsprechenden Website betonte:
Wir sind der Auffassung, die DDR-Literatur ist eine eigenständige deutschspra-
chige Literatur, die sich wesentlich von der bundesdeutschen Literatur unterscheidet.

15
Ebd.
16
Ebd.
17
Skare: 1989/90 [wie Anm. 4]. S. 41.
18
Wolfgang Emmerich: Für eine andere Wahrnehmung der DDR-Literatur. Neue
Kontexte, neue Paradigmen, ein neuer Kanon. In: Die andere deutsche Litera-
tur. Aufsätze zur Literatur aus der DDR. Hg. von Wolfgang Emmerich. Opladen:
Westdeutscher Verlag 1994. S. 190-207. Hier S. 203f.
19
Ebd. S. 203.
20
Ebd. S. 204f.
21
Vgl. Heukenkamp: Eine Geschichte [wie Anm. 2].

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In ihr galten andere Produktions- und Rezeptionsbedingungen, sie hatte andere


Themen und Traditionsbezüge, ihre Autorinnen und Autoren folgten zu großen
Teilen einem anderen Literaturverständnis. Die Literatur der DDR kann daher
nicht als Teil der bundesdeutschen Literatur seit 1945 mitverhandelt werden, ohne
den Aussagegehalt und Rezeptionsraum ihrer Texte zu beschneiden bzw. sogar
zu verfälschen.22

DDR-Literatur nach der ‘Wende’?


Schließlich wird etwas seltener oder weniger explizit die Frage aufgewor-
fen, ob denn tatsächlich mit dem Ende der DDR über Nacht oder doch übers
Jahr ihre Literatur zu existieren aufgehört habe, oder ob sich nicht (durch
personelle Kontinuitäten) bestimmte Linien dieser Literatur fortgesetzt
haben. Das Spektrum an Antworten reicht von der Behauptung des jähen
Untergangs einer Literatur bis zu völliger Ablehnung jedweder Zäsur.
Beispielhaft für die zweite, radikale Position seien hier nur einige Stimmen
genannt. Klaus-Michael Bogdal etwa meint: “Die Vereinigung der beiden
deutschen Nachkriegsrepubliken ist kein ‘großes’ Thema der Literatur im Sinne
einer ‘Zeitenwende’, die Aufbruch und Neuorientierung verheißt.” Er kommt
zu dem “Resultat, daß andere (alte) Themen dominieren” und möchte
“behaupten, daß ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte
geschrieben worden wären, die wir jetzt zu lesen bekommen”.23 Bezüglich
der westdeutschen Literatur glaubt er, “daß der Schlüssel für unsere Gegen-
wartsliteratur nicht in den Ereignissen um 1989, sondern in den siebziger
Jahren zu finden” sei,24 und hinsichtlich der DDR-Literatur, dass “die Forte-
xistenz einer ‘virtuellen’ DDR-Literatur nach dem Untergang von Staat und
Gesellschaft plausibel”25 sein könnte. Ein kroatisches Autorenkollektiv wie-
derum kommt zu folgendem Befund:
Ein Rückblick auf die achtziger Jahre bestätigt die Feststellung, daß das Ver-
schwinden des politisch verfehlten, völlig überflüssigen Staates im Osten Deutsch-
lands in literarischer Hinsicht kaum einen Einschnitt darstellt. Die seit langem
bestehende (und in dieser Literaturgeschichte auch immer wieder betonte) inof-
fizielle Einheit der deutschsprachigen Literatur erhielt durch die weltgeschichtli-
chen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 nun auch einen entsprechenden Rahmen.

22
Website des Forschungsprojektes “Geschichte der DDR-Literatur” an der
Humboldt-Universität zu Berlin. http://www2.hu-berlin.de/literatur/projekte/ddr_
literatur/ddr_literatur.html. Downloaded 23.3.2009.
23
Alle Zitate: Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der
Gegenwartsliteratur. In: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Hg.
von Andreas Erb. Opladen-Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 9–31. Hier:
S. 9f.
24
Ebd. S. 15. (Hervorh. im Orig. von K.-M.B.)
25
Ebd. S. 20.

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Entscheidende Folgen mögen die Veränderungen allenfalls für das literarische


Fußvolk der regierenden Partei in der ehemaligen DDR haben; eine dauerhafte
Wirkung auf das Schaffen der Autoren von Rang, diesseits wie jenseits der einsti-
gen Grenze, ist dagegen kaum anzunehmen.26

Auch Astrid Köhler stellt, allerdings in deutlich wohlmeinenderer Absicht,


Kontinuitäten für die DDR-Literatur nach 1989 fest.27
Hierbei fällt auf, dass die unterschiedlichen Haltungen zur ‘Wende im
Schreiben’ auf je zwei mögliche, gegensätzliche Weisen mit der Haltung zur
Einheit oder Eigenständigkeit der Literatur(en) korrelieren und ideologisch
motiviert scheinen: So kann die Annahme von der Einheit der (gesamt-)
deutschen Literatur einerseits der Absicht dienen, die DDR-Literatur in
quasi ‘kolonialistischer’ Weise unter die westdeutsche zu subsumieren – oder
andererseits einen Versuch der ‘Rettung’ eines Textkorpus vor der generel-
len Abwertung darstellen. In beiden Fällen müsste die (Über-)Betonung von
Konvergenzen logisch zu einer Behauptung von Kontinuität führen. Denn wenn
die DDR-Literatur schon immer fast ‘westlich’ war, gibt es auch wenig
Grund, eine Zäsur anzunehmen.
Ebenso kann die behauptete Eigenständigkeit der DDR-Literatur zu ihrer
allgemeinen Verabschiedung oder gar rückwirkenden Desavouierung inst-
rumentalisiert werden – oder aber als affirmativer Versuch gemeint sein, die
(ästhetischen) Stärken und Eigenheiten einer Literatur zu würdigen, die auch
nach dem Untergang ihres Landes Bestand und Bedeutung hat. In beiden
Fällen legt eine Betonung der Eigenheit der DDR-Literatur eher die Vermutung
von einschneidenden Veränderungen durch die ‘Wende’ nahe – es sei denn, es
gelänge der Nachweis, dass diese Eigenheiten auch auf geänderte gesellschaft-
liche Verhältnisse übertragbar oder zumindest produktiv wandelbar sind –
was allerdings ein wirkliches Qualitätsmerkmal dieser Literatur wäre.
Jurek Becker jedenfalls prophezeite bereits 1990 in einem gleichnamigen
Aufsatz die Wiedervereinigung der deutschen Literatur:
Ich halte es für eine nicht allzu gewagte Prognose, daß DDR-Literatur in ihrer bis-
herigen Form aufhören wird zu existieren. [. . .] Ich meine damit nicht, daß sie voll-
ständig aufhören wird zu existieren. Es wird sie nur als DDR-Literatur nicht mehr
geben. Sie wird sich bescheiden, sie wird in Volumen und Anspruch abnehmen, sie
wird sich entpolitisieren müssen. Und entpolitisieren heißt in diesem Zusammen-
hang nicht nur entstalinisieren, sondern auch ent-antistalinisieren. Sie wird all
ihre Eigenarten verlieren, all das, woran sie einmal als eigenständiges Etwas zu

26
Viktor Žmegač, Zdenko Škreb, Ljerka Sekulič: Kleine Geschichte der deutschen
Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Marix 2004. S. 390.
27
Astrid Köhler: Brückenschläge. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.

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erkennen war. Sie [. . .] wird unter neuem Firmennamen weiterbestehen, ganz ein-
fach als deutsche Literatur, und das heißt im Klartext: als westdeutsche.28

Das impliziere auch, die Literatur aus der ehemaligen DDR werde an
Ernsthaftigkeit verlieren, sich dem Markt in puncto Verkäuflichkeit anpassen
müssen, so Becker weiter. Geradezu als Antwort auf diese These kann ein
Beitrag von Iris Radisch mit dem programmatischen Titel: Es gibt zwei deut-
sche Gegenwartsliteraturen in Ost und West! gelesen werden. Hierin stellt
Radisch noch 2001 erhebliche Unterschiede fest. Zwar kritisiert sie die ihrer
Meinung nach von ostdeutschen SchriftstellerInnen völlig überzogen dar-
gestellte angebliche Differenz zwischen Ost und West – “Ironie, Indifferenz
und Konsum im Westen. Ideale, Ernst und Seele im Osten”, – bestätigt sie in
gewisser Weise jedoch selbst mit ihrem Befund:
Im Westen dominiert der Beschreibungsfetischismus, der Kult des Hier und Jetzt,
das Dogma des Reflexionsverbots, der postmoderne Mix geborgter Töne. Im Osten
gibt es eine poetische, tragische, im besten Sinne politische Literatur, die nicht
Stellung bezieht, aber durch die machtvolle Bergwerksarbeit ihrer originellen und
häufig sehr expressiven Sprache deutsche Wirklichkeit decouvriert, dekonstru-
iert, destabilisiert – mit einem Wort literarisch kommentiert. Diese Literatur ist in
einem beinahe vergessenen Sinn gesellschaftskritisch.29

Günter Rüther stellt schließlich die simple Frage, “ob auf den Begriff ‘DDR-
Literatur’ verzichtet werden kann”, und findet
kein schlagendes Gegenargument gegen den in der Germanistik, Literaturkritik und
Öffentlichkeit eingebürgerten Begriff “DDR-Literatur” [. . .]. Umso mehr kommt
es jedoch darauf an, zu differenzieren, wenn wir von DDR-Literatur sprechen.30

28
Jurek Becker: Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur. In: The German
Quarterly 63. 3/4 (1990). S. 359–366. Hier: S. 364f.
29
Iris Radisch: Es gibt zwei deutsche Gegenwartsliteraturen in Ost und West! In:
Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989-1999. Hg. von
Gerhard Fischer u. David Roberts. Tübingen: Stauffenberg 22007. S. 1–14. Hier:
S. 5 u. 13. Radisch hatte diesen Text in unwesentlich anderer Form bereits zuvor
veröffentlicht, u.a. als: Dies.: Dichter in Halbtrauer. In: Die Zeit 04.06.1993.
Beilage Literatur. S. 71.
30
Günter Rüther: Nur “ein Tanz in Ketten”? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung
und Selbstbehauptung. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus
und DDR-Sozialismus. Hg. von Günter Rüther. Paderborn-München: Schöningh
1997. S. 249–282. Hier: S. 255. Rüther bezieht sich auf: Paul Gerhard Klussmann:
Anmerkungen zur Geschichte der DDR-Literatur im Jahr 1990. In: Im Dialog mit
der interkulturellen Germanistik. Hg. von Hans-Christoph Graf von Nayhauss u.
Krysztof A. Kuczynski. Warschau: Universität Warschau 1993. S. 93–109. Hier:
S. 103.

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Eine solche Differenzierung kommt wohl nicht umhin, den vielfach


unternommenen und problematischen Versuch, DDR-Literatur zu definie-
ren und vor allem kanonisch zu umreißen, wieder aufzugreifen und neu zu
wagen.

Definition des Begriffs “DDR-Literatur”


Die engste Begriffsbestimmung findet sich in der Formulierung “Literatur in
der DDR”, die sich – ähnlich einem Epochenbegriff – auf einen bestimmten
Zeitabschnitt beschränkt und somit alle literarischen Werke versammelt, die
von 1949–1990 in der DDR entstanden (oder, wenn man die SBZ als Vorläufer
einschließt, ab 1945). Der Unterschied zu einem Epochenbegriff – etwa
“Literatur der Aufklärung” oder “Romantik” liegt allerdings darin, dass diese
Epochen als geistige Strömungen begriffen werden, die durch gemeinsame
inhaltliche und ästhetische Merkmale bestimmt sind – was hier jedoch nicht
gemeint ist.
Wolfgang Emmerich variiert diese zeitlich-territoriale Bestimmung mit
dem modifizierenden Vorschlag “Literatur aus der DDR”. Vielleicht will
er damit bereits gewissen Konsequenzen bzw. Problemen einer zeitlichen
Bestimmung Rechnung tragen – z.B., dass mit dem Untergang der DDR auch
deren literarischer Kanon als abgeschlossen betrachtet werden müsste. Oder
dass die Zuordnung der vor 1989 ausgesiedelten Schriftsteller, wie auch der
nach Kriegsende aus dem Exil zugereisten, schwierig ist: Sollte man etwa
sagen, Brechts Tage der Commune ist Schweizer Literatur, weil 1949 in
Zürich geschrieben, sein Coriolanus oder die Buckower Elegien hingegen
seien DDR-Literatur? Was ist mit Autoren, die überhaupt erst ab 1990 publi-
zierten, dann jedoch quasi “aus der Schublade”, also Werke, zu denen zumin-
dest die Vorarbeiten definitiv noch in der DDR gesammelt worden waren,
etwa Peter Wawerzinek: Es war einmal. . . Parodien zur DDR-Literatur
(1990), NIX (1990), Moppel Schappiks Tätowierungen (1991). Vielleicht hat
Emmerich mit “Literatur aus der DDR”, also etwa: “Literatur, die aus der
DDR heraus entstanden ist”, bewusst versucht, den Begriffsrahmen etwas zu
erweitern.
Einen noch weiter gefassten Rahmen erhält der Begriff DDR-Literatur,
wenn man ihn – wie etwa Roswitha Skare – mit dem Merkmal “biographisch”
versieht. Literatur von Autoren aus der DDR. Problematisch erscheint natür-
lich hier die Frage nach der Bestimmung der Identität eines Autors: Wann
beginnt eine DDR-Biographie und wo endet sie? Hat ein Thomas Brasch mit
dem Datum seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland (1976) seine
DDR-Biographie für abgelegt erklärt und fortan bundesdeutsche Literatur
geschrieben? Oder war er Teil einer “dritten deutschen Literatur” – wie
Fritz J. Raddatz sie nannte?

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Bei allen Zweifeln scheint dies jedoch fruchtbarer als eine thematisch ori-
entierte Fügung wie etwa “Literatur über die DDR”. Eine solche Definition
würde vollständig jene Werke vernachlässigen, in denen es nicht primär um
die DDR geht bzw. dazu nötigen, diese Texte einzig als Parabeln auf die
spezifische Situation in der DDR zu lesen. Sogar westliche Texte mit diesem
Thema müssten dann als DDR-Literatur gelten.
Denkbar, und literaturwissenschaftlich am elegantesten, wenngleich sehr
schwierig, wäre ein Versuch, für die DDR-Literatur ‘typische’ Kriterien zu
beschreiben, seien sie nun thematischer oder ästhetischer Art – also doch
eine Art Epochenbegriff zu konstituieren. Uwe Wittstock hat immerhin zwei
thematische Konstanten in den Werken von DDR-Autoren auszumachen ver-
sucht: die “geradezu archaische” Konfrontation eines Individuums “mit einem
monolithischen Machtapparat” und die vehemente Auseinandersetzung mit dem
Verlauf der Geschichte.31 Dies allein wird allerdings wohl kaum genügen,
den Begriff “DDR-Literatur” erschöpfend zu umschreiben. Hilfreich wäre
es womöglich, die von Peter Böthig vorgeschlagenen ‘Leitbegriffe’ eines
Diskurses der DDR-Literatur als “sozialistischer Literatur” hinzuzunehmen:
Geschichte als kontinuierlicher, teleologischer Prozeß; Fortschritt als prozessualer
Modus der Geschichte; Utopie als sozial relevante, die Gesellschaft vorantreibende
Kraft; Gesellschaft als Quelle von Sinn; antagonistisches Staats- und Klassen-
modell; Subjekt als Zentrum von Texten; Literatur als (wie auch immer kritische,
widersprechende, therapeutische) Repräsentation nachprüfbarer Realitäten.32

Die DDR-Literatur als Sonderfall


Mirjam Meuser und ich haben vorgeschlagen, über solche thematischen
Bestimmungen hinaus, sich dem Begriff DDR-Literatur soziologisch, bio-
graphisch und ästhetisch zu nähern, und besonders das Selbstverständnis und
die Schreibhaltung von Autoren in den Blick zu nehmen.33 Wir betrachten
die Literatur der DDR als historischen Sonderfall – durch die einzigartige

31
Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen der Moral:
Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten müssen. In:“Es
geht nicht um Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von
Thomas Anz. München: Spangenberg 1991. S. 198–207. Hier: S. 201f.
32
Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Differenz und Revolte. Untersuchungen
an den Rändern eines Diskurses. Berlin: Lukas 1997. S. 11.
33
Vgl. Janine Ludwig u. Mirjam Meuser: In diesem besseren Land – Die Geschichte
der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten. In: Literatur ohne
Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von
Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg: fwpf 2009. S. 11–71.

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Verschränkung von Literatur und Gesellschaft in diesem Land. Die damit


einhergehenden Prägungen übten einen Einfluss auf die DDR-AutorInnen
und ihre Werke aus, der weder in der Literatur der BRD, noch in denjenigen
der Ostblockstaaten seinesgleichen findet.
In historisch einmaliger Weise wurde Literatur in der DDR als maßgebli-
ches Instrument zur Herstellung, ja sogar Erziehung einer neuen Gesellschaft
verstanden – und das von allen am Literaturbetrieb Beteiligten. Zwar fanden
beständig harte Debatten um Kanones, ästhetische Vorschriften, Formen
und Inhalte statt – doch sind diese als Richtungskämpfe innerhalb eines
Grundkonsenses zu bewerten, der die extrem hohe Bedeutung von Literatur
voraussetzte. Weiterhin existierte wohl in der Geschichte kaum je ein Staat,
der Literatur derart gezielt in sein politisches Programm eingebaut und der-
gestalt akribisch überwacht, verwaltet, über sie Buch geführt hat. Die damit
einhergehenden Debatten um einzelne Werke und ihre Autoren, selbst die har-
schesten Repressalien trafen paradoxerweise nur in den seltensten Fällen tat-
sächliche Systemgegner.
Die den literarischen Intellektuellen gerade vom Staat selbst zuerkannte
“Schlüsselrolle”, die die Apologeten der Macht ebenso einschloss wie die
Opponierenden,34 basierte auf dem auffällig ausgeprägten “Glaube[n] an
eine im Guten wie im Bösen nachgerade übernatürliche Wirkungsmacht der
Literatur”,35 sagen Martina Langermann und Thomas Taterka. Sie beschrei-
ben die DDR als einen “‘Raum’, in dem das Verhältnis zwischen Literatur
und Gesellschaft ‘osmotisch’ gedacht werden muß”36 und versuchen so dem
Dilemma einer “Endstellung” (Emmerich) der Literatur im Kontext ihrer
gesellschaftlichen Bedingungen zu entgehen: “Literarische Texte und der von
ihnen gemachte Gebrauch haben wesentlich zur Definition dessen und zur
Verständigung darüber beitragen sollen, was die DDR sei oder sein sollte.”37
Sowohl die Schriftsteller als auch die Literatur selbst erscheinen somit als
konstitutiv beteiligt an der Vision einer “angestrebten Vergesellschaftung
durch Literatur- und Kunstkommunikation”, die mit dem “suggestiven Bild
Johannes R. Bechers” als “die Literaturgesellschaft” umschrieben werden

34
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 191.
35
Martina Langermann u. Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer
Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der
DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Hg. von
Birgit Dahlke, Martina Langermann, Thomas Taterka. Stuttgart-Weimar: Metzler
2000. S. 1–32. Hier: S. 26.
36
Ebd. S. 7 und 27f.
37
Ebd. S. 6.

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kann38 (woraus später die Schwundstufe “Leseland” wurde). Darin habe sich
die DDR-Literatur von der bundesdeutschen unterschieden. Ganz ähnlich
kommt Thomas Schmidt zu dem Ergebnis, dass “[s]innvolle Merkmale für ein
gesamtdeutsches literarisches Feld vor 1989 [. . .] nicht ausgemacht werden”
können, und die DDR-Literatur “als Sonderfall” jenseits derjenigen der BRD
und der Literaturen des Ostblocks geführt werden muss.39
Dies bestätigt auch David Bathrick, wenn er ausführt, wie sich die reform-
sozialistischen Literaten40 in der DDR – im Gegensatz zu den Intellektuellen
des übrigen Ostblocks, die etwa für “Marktreformen” oder eine “pluralisti-
sche Zivilgesellschaft” eintraten – in einer besonderen Position wiederfanden:
Sie standen – um ein Bild aus Heiner Müllers Hamletmaschine zu zitieren –
auf beiden Seiten der Barrikade:
[E]s war präzise diese Funktion, auf beiden Seiten der Machtverteilung, als offi-
zielle und inoffizielle Stimme innerhalb eines Ganzen, die eine besondere Art von
literarischem Intellektuellen in der DDR hervorbrachte und dazu beitrug, eine
besondere Art von literarischer Öffentlichkeit ans Licht zu bringen.41

Abseits einer notwendigen Kritik am Verhalten Einzelner wirbt Bathrick für


Verständnis gerade gegenüber den Schriftstellern der Nachkriegsgenera-
tion, deren epochale Grunderfahrung im “Erleben und Erbe des Faschismus”
bestanden habe – und dem Versuch der Aufarbeitung der “Vergangenheit
durch Aufbau eines alternativen Kultursystems”. Was diese sich nur langsam

38
Ebd. S. 2. Zu den Begriffen “Literaturgesellschaft” und “Leseland” als Selbst-
darstellungskonzepten des DDR-Kulturapparates vgl. Simone Barck, Martina
Langermann, Siegfried Lokatis: Vorbemerkung. In: Jedes Buch ein Abenteuer.
Zensursystem und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger
Jahre. Hg. von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis. Berlin:
Akademie 1997. S. 9–17. Hier: S. 12.
39
Thomas Schmidt: Über Redeweisen der Literaturwissenschaft, die Zäsur von
1848 und das (un)literarische Engagement der ‘DDR-Literatur’. In: Engagierte
Literatur in Wendezeiten. Hg. von Willi Huntemann, Małgorzata Klentak-Zabłocka,
Fabian Lampart, Thomas Schmidt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.
S. 49–73. Hier: S. 51.
40
Wenn man die drei (grob gerasterten) Bereiche ‘offizielle Parteiliteratur’,
‘kritisch-engagierte’ oder ‘kritisch-loyale’ oder ‘reformsozialistische’ Literatur und
‘dezidiert dissidentische Literatur’ bemühen will, ist hier vor allem von der mittle-
ren die Rede, die die größte Menge der bekannten und anerkannten Literatur
ausmacht.
41
David Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht. Die Repräsentanz des Schrift-
stellers in der DDR. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im
Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek, Therese Hörnigk, Christine Malende.
Tübingen: Niemeyer 2000. S. 235–248. Hier: S. 240f.

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von ihrer selbst auferlegten ideologischen Treuepflicht emanzipierende


Generation von ihren osteuropäischen Schicksalsgenossen unterschied, war
“genau ihre Unfähigkeit und ihr Widerwille, das System als Ganzes in Frage zu
stellen”. Dieselbe Unfähigkeit allerdings wiederum erlaubte es ihnen, exakt
“das zu tun, was sie eigentlich taten”, brachte mit anderen Worten ihr
spezifisches literarisches Engagement hervor.42 Besonders bezeichnend für
die dilemmatische Situation der ostdeutschen Intellektuellen war, dass sie
sich, wie Bathrick ausführt, in vielen Fällen gar nicht darüber im Klaren
waren, “was sie objektiv vollbrachten und ausagierten”:
Obwohl sie sich in ihren Versuchen, das System zu verändern, meist als entmutigt,
unterdrückt und ausgegrenzt empfanden und dies zum Teil tatsächlich waren,
funktionierten sie im selben Augenblick als Komplizen und aktive Mitschöpfer des
von ihnen angegriffenen Systems.43

Doch auch auf eine weitere, meist zu wenig beachtete Besonderheit macht
Bathrick aufmerksam, nämlich den Einfluss der Bundesrepublik bzw. des
Westens auf die Konfigurierung des intellektuellen Feldes der DDR – durch
spezielle Förderung von Dissidenten, durch die Entscheidung, wer oder was
im Westen gedruckt wurde und was nicht. Nicht zuletzt deshalb verwischten
sich “die Linien zwischen offiziell und inoffiziell, zwischen Dissidenz und
Repräsentanz, zwischen außerhalb und innerhalb”44 in einem Maße, das die
heftigen Anfeindungen nach dem Fall der Mauer erst ermöglichte und die auf
beiden Seiten mit Projektionen versehene Rolle der DDR-Intellektuellen als
“eine gemachte, eine künstliche, eine hypertrophe Rolle”45 offenbarte.
Literarisches Engagement in der DDR
Ein Spezifikum der DDR-Literatur gilt es also hervorzuheben: die in die-
ser Komplexität einzigartige Ausprägung literarischen Engagements. Jurek
Becker vermerkte dies 1990 vor allem für die älteren Generationen der
DDR-Schriftsteller:
Das politische Anliegen stellte die alles überragende Qualität eines Buches dar;
kaum ein Autor hätte es sich leisten können, darauf keine Rücksicht zu nehmen.
Andere Aspekte des Schreibens wie, sagen wir, Leichtigkeit oder Kunstsinn oder
Phantasie hatten ihre Bedeutung vor allem darin, dass sie das Eigentliche zur
vollen Geltung bringen sollten, das Anliegen.46

42
Alle Zitate ebd. S. 245.
43
Ebd. Bathrick zitiert hier Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelli-
genz und die Macht. Berlin: Rowohlt 1992. S. 151f.
44
Ebd. S. 244f.
45
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 191.
46
Becker: Wiedervereinigung [wie Anm. 28]. S. 360.

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Auch wir halten das spezifische literarische Engagement der meisten DDR-
Schriftsteller für ein entscheidendes Definitionsmerkmal der DDR-Literatur
und halten es zugleich für verschieden von dem der engagierten Literatur etwa
der Bundesrepublik.47 Das sehen manche freilich anders: Frank Schirrmacher
und Ulrich Greiner hatten im Literaturstreit keinerlei Probleme, die engagier-
ten Literaturen in Ost und West gleichzusetzen48 und unter dem Schmähbe-
griff “Gesinnungsästhetik” auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen,
um gemeinsam mit Karl Heinz Bohrer eine Literatur zu fordern, die sich rein
ästhetisch definiere und von politischen Haltungen Abstand nehme. Auch
Wolfgang Emmerich zeigte sich offenbar überzeugt von Schirrmachers
Argumenten und übernahm in seinem Artikel Für eine andere Wahrnehmung
der DDR-Literatur dessen Gleichsetzung der Rolle führender Literaten in
der Bundesrepublik und in der DDR – die gleichermaßen in einem “präzep-
torischen Gewissen der Nation-Rollenverständnis”,49 stehen geblieben seien,
wobei der Verlust dieses Selbstverständnisses für die DDR-Autoren schwerer
zu ertragen gewesen sei als für die westdeutschen Kollegen.
Zu einer Stilisierung der Autoren in politischer Hinsicht hatte in der DDR
jedoch auch das Publikum mit seiner Erwartungshaltung beigetragen, wie
Christoph Hein erläutert:
Man wurde von zwei Seiten bedrängt, und die Literatur war von zwei Seiten
bedroht – vom staatlichen Zensor und von den Erwartungen des Publikums. Dem
Druck des Staates konnte man ausweichen, der war so eindeutig und offensicht-
lich. Aber da gab es die Gefahr, daß man sich im Widerstand verkrampft und
blödsinnig verbeißt [. . .]. Dem Druck des Publikums hingegen konnte man sich
kaum entziehen. Die Leser wollten hören, wie ich dem Honecker das Messer in
den Leib stoße. Gefragt war nicht nur der kritisch-engagierte, sondern der extrem
politische Schriftsteller. Und das ist eine Gefahr für die Literatur.50

So schuf – laut Thomas Schmidt – “die Parallellage der beiden einander


zugleich bedingenden wie ausschließenden Felder eine double bind-Situation,

47
Zur spezifischen Ausprägung engagierter Literatur in der DDR zwischen
Sartre, Lenin, Lukács vgl. Mirjam Meusers Ausführungen in: Ludwig u. Meuser:
Geschichte [wie Anm. 33]. Hier: S. 39-47.
48
Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe,
neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des west-
deutschen Bewußtseins. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.10.1990. Literatur.
Beilage zur Buchmesse. S. 1–2. – Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik.
Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz.
In: Die Zeit 02.11.1990.
49
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 203f.
50
Christoph Hein: “Die alten Themen habe ich noch, jetzt kommen neue dazu.”
Gespräch mit Sigrid Löffler (März 1990). In: Christoph Hein [wie Anm. 7].
S. 37–44. Hier: S. 44.

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die die Schreibenden in die vertrackte Dialektik von Sich-Engagieren und


Engagiert-Werden hineinzwang und in deren genauer Ausarbeitung sich die
Schizophrenie der DDR-Literatur erfassen ließe”.51 Das literarische Enga-
gement ostdeutscher Autoren lässt sich also nur innerhalb eines komplexen
Diskurs- und Interaktionsgefüges beschreiben, das wiederum konstitutiv
mitverantwortlich war für die singuläre Sprecherposition, die diesen Schrift-
stellern in ihrem Land – und meist auch in der westlichen Öffentlichkeit –
zugesprochen wurde, die sie letztlich auch für sich selbst in Anspruch
nahmen. “‘DDR-Literatur’ war durch und durch engagierte Literatur”,52
folgert Schmidt.
Natürlich war dieses literarische Engagement nicht über 40 Jahre hinweg
gleich, wie auch alle DDR-Literatur bis 1989 nicht als homogen oder auch nur
ähnlich bezeichnet werden kann. Die Formen engagierter Literatur wandel-
ten sich schon bei einzelnen Schriftstellern innerhalb dieses Zeitraumes und
erst recht zwischen den Generationen. Deshalb haben Mirjam Meuser und ich
ein neues Generationenmodell vorgestellt, das in Zehner-Jahresschritten die
Generationen genau in diesem sich wandelnden, um nicht zu sagen: nachla-
ssenden oder sich zum Schwerpunkt Kritik hin verlagernden Engagement
vorstellt. Wir beginnen mit der ersten Generation, die in der DDR zu schreiben
begann (etwa Heiner Müller und Christa Wolf, geb. 1929) bis hin zur
Generation der von Uwe Kolbe die “Hineingeborenen” genannten, die jegliches
Engagiert-Werden ablehnten und sich als literarische Opposition verstanden
(selbst darin freilich noch an die Literaturgesellschaft und die Wirkungsmacht
der Literatur gebunden).
Unser Vorschlag, dieses literarische Engagement als ein Hauptkriterium
der DDR-Literatur zu betrachten (was auch biographische Faktoren wie
Sozialisierung einschließt und, über die Schreibhaltung, oft ästhetische
Auswirkungen zeitigt), hat Konsequenzen für die Kanonisierung: Es erlaubt
eine Einbindung vieler der aus der DDR Ausgereisten ebenso wie die prin-
zipielle Möglichkeit einer Fortexistenz von DDR-Literatur über das Jahr
1990 hinaus, wenn denn Schreibhaltung und Ästhetik relativ ungebrochen
fortgeführt wurden (z.B. Christa Wolfs Medea. Stimmen, 1996). Als proble-
matisch hieran könnte man die Gefahr einer graduellen Abstufung anführen,
dahingehend, dass man vielleicht behaupten müsste, von der Schreibhaltung
her hätten manche Autoren eher DDR-Literatur in diesem Sinne geschrieben
als andere – ein Problem, dem wir mit der differenzierten Beleuchtung (der
Entwicklung) des literarischen Engagements beizukommen versuchen.
Abschließend möchte ich für die bereits angedeutete Variante plädie-
ren, die DDR-Literatur als eine eigenständige literaturhistorische Epoche zu

51
Schmidt: Redeweisen [wie Anm. 39]. S. 71. (Hervorh. im Orig. bei T.S.)
52
Ebd. S. 72.

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betrachten. Hierfür gibt es gute Argumente. Zunächst liegen mit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges und der friedlichen Revolution von 1989 (bzw. dem
Untergang der DDR 1990) zwei einschneidende historische Zäsuren vor,
die das Kriterium von “Trennereignissen” bzw. “Epochenschwellen” (Hans
Blumenberg) erfüllen und die dazwischenliegende Zeit einrahmen53 – wobei
dies natürlich auch für die Literatur der alten Bundesrepublik zutrifft, die
man ebenfalls als eigene Epoche ansehen kann;54 doch ist ja eine zeitliche
Parallelität oder Überlappung mehrerer Epochen in der Literaturgeschichte
nicht ungewöhnlich. Um weiterhin für die Werke von Autoren aus der DDR
gemeinsame Ordnungsprinzipien oder gar “Epochen-Signaturen”55 festzu-
halten, müsste man die (hier nur beispielhaft von Wittstock und Böthig ange-
führten) Motive, Themen und Leitbegriffe zusammenfassen, dabei jedoch
unzulässige Verallgemeinerungen vermeiden bzw. inhaltliche Wandel- und
Verschiebungstendenzen berücksichtigen – was ja mit den weit verbreiteten
Subkategorien Aufbauliteratur, Ankunftsliteratur, Untergrundliteratur, Lite-
ratur des Prenzlauer Berg etc. bereits versucht wurde. Weitaus schwieriger
erscheint es, eine gemeinsame ästhetisch-formale Basis auszumachen, sei es
ausgehend von der staatlichen Ablehnung avantgardistisch-modernistischer
Techniken – ohne jedoch dem berüchtigten “Sozialistischen Realismus” auf-
zusitzen, dem die wenigsten Schriftsteller ungebrochen folgten. Zumindest
gattungsbezogen wären gewisse gemeinsame Merkmale vielleicht fassbar, sei
es eine Tendenz zum realistischen Erzählen in der Prosa, ein hohes Formbe-
wusstsein und eine spezielle Erberezeption in Lyrik und Drama56 (mit eige-
nen Strömungen, etwa “Sächsische Dichterschule” oder Produktionsstücke,
neues Geschichtsdrama, Hacks’ “Sozialistische Klassik” etc.).
Vor allem aber spricht für die Klassifizierung der DDR-Literatur als
Epoche ein entscheidendes Kriterium: eine in ungemein vielen theoreti-
schen Texten zur Literatur beständig ausgearbeitete, überarbeitete, in der
Diskussion stehende Programmatik, mithin ein fortlaufender Diskurs über

53
Vgl. Benedikt Jeßing u. Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche
Literaturwissenschaft. Stuttgart-Weimar: Metzler 2003. S. 11.
54
Zur Diskussion der historischen Epoche 1945-89 und ihrer verschiedenen
Ausprägung in Ost- und Westdeutschland vgl. Thomas Schubert: Von der Epoché
des Zeithistorikers. Bemerkungen zur “Aufarbeitung der Aufarbeitung”. In:
Deutschland Archiv 43.5 (2010). S. 889-896.
55
Gerhard Rupp: Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der
Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999.
56
Wobei auch das ‘sozialistische Drama’ kein ganz einheitlicher Begriff sein kann;
z.B. fallen etwa Heiner Müllers Stücke der 1970er Jahre, die sich explizit ‘west-
licher’ oder gar postmoderner Techniken bedienten, formal etwas aus dem so zu
konstruierenden Rahmen.

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das Selbstverständnis sozialistischer Literatur – der selbst von den dezidiert


dissidentischen Autoren der 1980er-Jahre noch aufgegriffen und als (Sprach-)
Kritik weitergeführt wurde.57 Aus diesem Diskurs und seinen Texten spricht
durchaus ein “Epochenbewusstsein”58 vieler DDR-Schriftsteller. Bei der
Charakterisierung von Epochen werden in der Literaturgeschichtsschreibung
bevorzugt solche programmatischen Texte hinzugezogen, die thematische
und ästhetische Kriterien formulieren, unter denen eine neue Strömung oder
Gruppierung von Autoren arbeitet, und die dann, oft im Nachhinein, als
definitorische Merkmale ausgemacht werden.
Es mag eingewendet werden, dass Klassifizierungen von neuen literari-
schen Epochen immer auch neue Probleme zeitigen, immer Ausnahmefälle
und Unschärfen an den Rändern aufweisen, ja, dass der Epochenbegriff selbst
hinlänglich problematisiert worden ist.59 Dennoch hat sich die Einteilung in
Epochen als nützliche Vorgehensweise erwiesen, die auch im vorliegenden
Falle gewinnbringend angewendet werden kann, um diese unter so speziellen
Umständen gewachsene DDR-Literatur sinnvoll zu umreißen.

57
Als wenige Beispiele unter vielen seien hier nur genannt: Christoph Hein: Als
Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin-Weimar: Aufbau 1990. –
Ders.: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004
[Berlin-Weimar: Aufbau 1987]. Darin u.a. ein Essay zur spezifisch engagier-
ten Literatur der DDR: Linker Kolonialismus oder Der Wille zum Feuilleton. S.
130–143. – Rainer Kirsch: Kunst und Verantwortung. In: Werke 4. Berlin 2004, S.
131–142. – Ders.: Amt des Dichters. Aufsätze, Rezensionen, Notizen, 1964–1978.
Rostock: Hinstorff 1979.
58
Vgl. Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik XII.
Hg. von Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München: Fink 1987.
59
U.a. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer
Entwurf. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995. Darin bes.: “Einleitung: Vom
Dilemma der Epochenbegriffe”. S. 7-30.

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Michael Opitz

Was wird von der DDR-Literatur bleiben?


The question “What will remain of GDR literature?” is speculative, because what
actually constitutes GDR literature is still under discussion. This essay attempts to look
closely at this issue by analyzing Walter Benjamin’s essay “Wahlverwandtschaften”,
which rereads Goethe’s novel using a critical basis other than that of modern literary
criticism. Moreover, the essay explores categories such as commitment and autonomy,
which may determine whether a work gains entry into the literary canon. In so doing,
the essay responds to instances of linguistic contradiction and social non-conformity
(W. Hilbig, R. Jirgl).

I.
Die Frage, was von der DDR-Literatur bleiben wird, ist spekulativ. Denn zur
Beantwortung können nur vergangene und heutige, nicht aber zukünftige
Rezeptionsbedingungen herangezogen werden. Dennoch hat Hölderlins Vers:
“Was bleibet aber, stiften die Dichter” seine tiefere Wahrheit.1 Hilft er aber
bei der Antwortsuche auf die Frage, was von der DDR-Literatur bleiben wird,
wirklich weiter? Hölderlin spricht von Dichtern und so bliebe zunächst die
Frage zu beantworten, welche Dichter die DDR-Literatur denn hervorgebracht
hat. Dichter gelten als Verfasser von sprachkünstlerisch gestalteten Texten,
weshalb das Wort überwiegend im Hinblick auf die Lyrik Anwendung findet.
Doch wird im 20. Jahrhundert die Bezeichnung Autor oder Schriftsteller
gebräuchlich. Haben Autoren der DDR-Literatur Bleibendes gestiftet? Für das
Gegenteil, für Texte, die in Sprache übertrugen, was parteipolitische Direktiven
vorformuliert haben, ließen sich leicht Beispiele finden. Allerdings zeichnet
sich diese staatlich geförderte und für vorbildlich angesehene Literatur durch
einen hohen Verfallswert aus. Zu großen Teilen ist sie sehr schnell und zu
recht vergessen worden. Apologetische Texte aus dem literarischen Feld der
DDR-Literatur werden in einem zukünftigen Literaturkanon wohl kaum zu
finden sein, es sei denn als Beispiele für dichtungsferne Literatur. Insofern
spricht auf den ersten Blick einiges für die These von Reinhard Baumgart, die

1
Friedrich Hölderlin: Andenken. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in
zeitlicher Folge. Hg. von D. E. Sattler. Band XI. 1804–1808. München: Luchterhand
2004. S. 121–123. Hier: S. 123.

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er vor fast zwanzig Jahren formuliert hat. Er prognostizierte 1992, dass die
DDR-Literatur in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird.
Denn nichts spricht dafür, daß sich nach dem Ende der DDR ausgerechnet in der
Literatur etwas erhalten wird, was sich auf allen anderen Gebieten in den Westen
hinein auflöst. Das zurückgeblieben Deutsche, das langsam Gearbeitete, das
gläubig Traditionelle oder auch beflissen Engagierte der DDR-Bücher: es wird
sich verlieren.2

Baumgart assoziiert DDR-Literatur mit ‘langsam gearbeitet’, ‘gläubig tradi-


tionell’ und ‘beflissen engagiert’. Auf Beispiele verzichtet er weitgehend. Mit
einer Ausnahme. Die Ausnahme heißt Heiner Müller. Dessen “Avantgardismen”
bezeichnet er als “treu traditionalistisch”.3 Baumgarts These klingt, als würde
mit der Zeit von der Literatur etwas abfallen, was die DDR-Literatur in Teilen
einst auszeichnete.
Doch was fällt unter den Begriff DDR-Literatur? Der Terminus wäre
zunächst zu hinterfragen und zu definieren. Denn wenn ungeklärt bleibt, was
eigentlich unter DDR-Literatur zu verstehen ist, dann lässt sich auch keine
Aussage darüber treffen, ob diese Literatur zu recht oder vielleicht zu unrecht
verschwindet/verschwinden wird. Schaut man sich die Vergabepraxis von
Literaturpreisen an, dann fällt auf, dass Autoren mit ostdeutscher Sozialisation
sehr wohl ausgezeichnet werden. Seit 2000 ging der Büchner-Preis an Volker
Braun (2000), Wolfgang Hilbig (2002) und Reinhard Jirgl (2010). Gehören sie
zur DDR-Literatur? Hilbig ging 1985 in den Westen. In der DDR wurde 1983
nur eine Auswahl seiner Texte unter dem Titel Stimme Stimme publiziert. Als
Reinhard Jirgls Debüt, der Mutter Vater Roman 1990 in der DDR erschien,
war das Land bereits in Auflösung begriffen. Und Volker Braun? Anders als
die zuvor genannten, hat er einen großen Teil seiner Texte in der DDR publi-
ziert (was oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war). Wurde er für
diese Texte mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet oder für jene, die er nach
1990 im wiedervereinten Deutschland geschrieben hat? Alle drei Autoren,
so unterschiedlich sich ihre Biographien auch lesen, sind in der DDR sozia-
lisiert worden. In ihren Texten taucht die DDR als ein zentrales Thema auf.
Im gleichen Zeitraum erhielten Uwe Tellkamp (2004), Lutz Seiler (2007) und
Peter Wawerzinek (2010) den Ingeborg-Bachmann-Preis. Auch sie wuchsen in
der DDR auf, in der sie aber kein Buch veröffentlichten. Es handelt sich um
Autoren, die neuerdings zur sogenannten Post-DDR-Literatur gezählt werden.

2
Reinhard Baumgart: Der neudeutsche Literaturstreit. Anlaß – Verlauf –
Vorgeschichte – Folgen. In: Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur.
TEXT  KRITIK 113. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text 
kritik 1992. S. 72–85. Hier: S. 85.
3
Ebd.

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Nach dem Ende der DDR wurde nicht nur die DDR, sondern auch die in
der DDR geschriebene, oder die mit Bezug auf ihre Existenz entstandene
Literatur aus einer veränderten Perspektive wahrgenommen. Bis 1989 hatte
die Literatur in der DDR auch die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit und in
der Bundesrepublik wurden besonders jene Texte aus der DDR zur Kenntnis
genommen, die in dem Land, in dem sie geschrieben worden waren, verbo-
ten, ignoriert oder nur in geringer Auflage erscheinen konnten. Besonders
diese Texte sollen nach dem Verschwinden der DDR – wie zu lesen ist – nun
stärker auf ihren ästhetischen Wert hin befragt werden. Der schien bis 1989
weit weniger wichtig gewesen zu sein, da offensichtlich die intendierte poli-
tische Sprengkraft deutlich stärker interessierte. Demnach wurden inhaltliche
Norm- und Tabubrüche über die sprachkünstlerische und damit die ästhe-
tische Bedeutung gestellt. Wolfgang Emmerich schreibt in der “Einleitung”
seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR von 1996: “Die interessante
DDR-Literatur bleibt gerade nicht ‘eine Literatur des geschlossenen Regel-
kreises, geschrieben von Bürgern der DDR für Bürger der DDR’, wie Karl
Robert Mandelkow behauptet hat.”4 Dagegen gibt er zu bedenken:
Vielleicht bleibt sie es noch allzusehr, weil auch Autoren wie Wolf oder Braun,
vielleicht sogar Müller illusionär an ihre sozialpädagogische Aufgabe auf dem
Terrain der DDR glaubten. Aber sie geht, zum Glück, auch darüber hinaus, wird,
als eine, die wieder an die internationale Moderne Anschluß findet, immer stärker
autonom und souverän, ja subversiv gegenüber dem Offizialdiskurs der SED und
der ihr abgeforderten politischen Funktion. Daß sie es in den meisten Fällen nie
ganz wurde, ist ihr Dilemma, vielleicht darf man auch sagen: ihre Tragik. Dieser
Umstand macht sie wiederum auf eigentümliche Weise interessant, weil anders als die
westdeutsche Literatur. Die vorliegende Darstellung versucht dieser Konstellation
Rechnung zu tragen und die Wahrnehmung von DDR-Literatur als Literatur zu
befördern. Auch wenn große Textmengen aus dem Fundus der DDR-Literatur
diesem emphatischen Literaturbegriff mit Sicherheit nicht gerecht werden, bleibt
ein erheblicher Rest.5

Emmerich spricht sich in der erweiterten Neuausgabe seiner Literatur-


geschichte der DDR für eine Akzentverschiebung bei der Bewertung der
DDR-Literatur aus: “[S]ensibler als vorher” sollen, so Emmerich, “die wichtigen
literarischen Texte als individuelle Produktionen mit ästhetischen Mitteln”
vorgestellt werden, “die gerade nicht als Ausfluß irgendwelcher kulturpoliti-
scher Direktiven zu begreifen” sind.6 Was sie, mit Verlaub gesagt, auch nur in
der Frühphase der DDR waren. Später, seit Mitte der 60er Jahre, verhielt es

4
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 1996. S. 26.
5
Ebd. S. 26f.
6
Ebd. S. 19.

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sich eher umgekehrt. Die Direktiven, die auf Kulturtagungen des ZK der SED
oder auf Kulturkonferenzen der FDJ formuliert wurden, kamen zustande,
nachdem sich literarische Beispiele häuften, die dem parteipolitischen
Realismuskurs nicht gefolgt waren. Von Bräunigs Roman Rummelplatz war in der
ndl nur ein Kapitel zu lesen, das aber genügte und der Autor musste sich auf
dem 11. Plenum von 1965 heftige Anfeindungen gefallen lassen, da das von
ihm entworfene Menschenbild der Wismut-Arbeiter nicht dem entsprach, das
man gern abgebildet gesehen hätte. Und auf der Kulturkonferenz der FDJ von
1982 wurde Volker Brauns Stück Schmitten kritisiert, weil der Autor “eine
ignorante Position zum tatsächlichen Leben der Arbeiterklasse einnehmen”
würde.7 Die Politik verfolgte die Absicht, die Literatur per Dekret zum partei-
politischen Gleichschritt zu bewegen und auf Kurs zu bringen. DDR-Literatur
ist in bestimmten Literaturverhältnissen entstanden, wobei es zu den Beson-
derheiten dieser Literatur gehört, dass ein gewichtiger Teil der DDR-Literatur
außerhalb dieser Literaturverhältnisse geschrieben wurde und – der Eindruck
drängt sich gegenwärtig auf – noch immer geschrieben wird. Es spricht
deshalb einiges dafür, neben der Aufmerksamkeit gegenüber dem Werk,
die Literaturverhältnisse nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Aussagen
darüber getroffen werden sollen, was sich als bleibend erweist und warum.
Um die Frage nicht im Nirwana der Spekulation verschwinden zu lassen, wird
es um Kriterien gehen müssen. Aber welche?
II.
Volker Braun bescheinigt der Kunst in seinem Gedicht “[Die Kunst]” aus
dem Zyklus “Totentänze/Liebeslager” Grazie.8 Grazie ist das zentrale Thema
in Kleists Essay Über das Marionettentheater. Darin findet sich die provo-
kante These, dass eine Marionette mehr Grazie besitze, als ein lebender
Tänzer. Ähnlich irritierend ist Brauns These, der von der Kunst als einer
Untoten spricht. Er sieht sie als eine Wiedergängerin, die sich mit Anmut über
die Gräber hinwegbewegt. In Kleists Aufsatz wird die Zierde der Grazie als
Komplementärbegriff gegenübergestellt. Ein junger Mann fällt in Kleists Text
der Eitelkeit zum Opfer, als er versucht, eine anmutige Bewegung zu wiederho-
len, die ihm einmal gelungen war, als er sich nämlich – ganz bei sich seiend –
einen Splitter aus dem Fuß zog. Beim erneuten Versuch geht ihm das freie
Spiel der Gebärde verloren. Dieser Geschichte lässt Kleist jene von einem

7
Hartmut König: Die Verantwortung der FDJ für Kultur und Kunst in den
Kämpfen unserer Zeit. Referat auf der Kulturkonferenz der Freien Deutschen
Jugend. In: Junge Welt Nr. 248. 22.10.1982. S. 3–10. Hier: S. 7.
8
Volker Braun: [Die Kunst]. In: Ders.: Auf die schönen Possen. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2005. S. 39.

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Bären folgen, der in der Lage ist, jeden Stoß eines Fechtmeisters zu parieren.
Kleist schlussfolgert aus den Beispielen: “Wir sehen, daß in dem Maaße, als,
in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die
Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt”.9 Grazie stellt
sich ein, so Kleist, “wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches
gegangen ist”.10
In Brauns Gedicht tritt keine Marionette, sondern eine Tote auf, aber gerade
deren Lebendigkeit und Eleganz sorgt für Verwunderung. In ihrer anmuti-
gen Beweglichkeit unterscheidet sie sich beispielsweise von der “arbeitslos”
gewordenen Utopie. Auch sie nimmt Braun mit dem Gedicht “[Die Utopie]”
in seinen Totentanzreigen auf.11 Während das wilde Gedächtnis, das Braun
der Kunst bescheinigt, ihr Überleben garantiert, erscheint die Utopie, in
Anlehnung an Ernst Bloch, nur ein “Tagtraum” gewesen zu sein. “Dies steckt
ja zuallererst in der Utopie –, die nicht umsonst als Gespenst umgeht. Das
Gespenstische an ihr ist nicht das Untote im Tanz, sondern der Rückschluß
[. . .] auf die Verhältnisse, die ein ‘Überleben von der Hand in den Mund’ mit
charakterisiert.”12
Durch Majuskeln wird im Gedicht “[Die Kunst]” der Vers hervorgehoben:
“WIR KÖNNEN JA NICHTS BEHALTEN.” Trotz aller Grazie handelt es
sich bei der tanzenden Toten in Brauns Gedicht um ein Skelett. Die so hervor-
gerufene Irritation hat kleistsches Format. Die Kunst in Brauns Gedicht bleibt
beweglich. Sie ist nicht zu halten und sie kann nichts behalten. Was sie äußert,
muss zuvor durch sie hindurchgegangen sein, sodass die Kunst als ein
Scharnier des öffentlichen Lebens verstanden werden kann. Sie nimmt und
sie gibt. Sie kann nichts halten und sie will nichts behalten. Sie braucht
Öffentlichkeit! Sie will sich einmischen, sich zu Wort melden und sich dabei
an nichts halten müssen – sie will autonom sein.
Auf einen anderen Bezug, den zu Hölderlins Gedicht “Mnemosyne”,
hat Stephan Krause hingewiesen.13 Bei Hölderlin heißt es: “Und vieles /

9
Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke.
Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß u. Peter Staengle. II/7 Berliner
Abendblätter I. Basel-Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997. S. 329–331. Hier: S. 330.
10
Ebd.
11
Volker Braun: [Die Utopie]. In: Ders.: Auf die schönen Possen [wie Anm. 8].
S. 33.
12
Stepan Krause: Engagement oder Tanz der Begriffe? – Zu Volker Brauns Gedicht-
zyklen Totentänze/Liebeslager. In: Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer
DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Miriam
Meuser. Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen
2009. S. 185–199. Hier: S. 189.
13
Ebd. S. 197.

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Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten. [. . .] Ins
Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist / Zu behalten.”14 Im
Dialog mit Hölderlins Gedicht bürdet sich die Kunst, die Braun im Blick hat,
gerade die Last des Scheiterns sowie die Last der Gescheiterten auf. So ist
sie gewappnet gegen das Vergessen. Sie kann zwar in Vergessenheit geraten,
aber der Gedanke schreckt die Kunst in Brauns Gedicht nicht. Als Garant des
Erinnerns ist sie immun gegen Verfall. Selbst wenn sie nur noch als ein abge-
storbenes Relikt aus der Vergangenheit in Erscheinung tritt, sie steckt voller
Leben.
Volker Braun greift in dem Gedicht “[Die Kunst]” einen Gedanken auf,
der in dem Peter Weiss gewidmeten Essay “Ein Ort für Peter Weiss” zent-
ral ist. In dem Essay unternimmt es Braun, den “Ort” des Schreibens nach
der Wende von 1989 neu zu kartographieren. Nachdem die Geschichte den
Boden umgepflügt hat, gilt Brauns Aufmerksamkeit den Bodenverhältnissen,
denn er sucht nach einem Ort, der dem Schreiben zukünftig einen gewissen
Halt bieten könnte. Der Ort, den er – ebenso wie Peter Weiss – auf seiner
Karte markiert hatte, war, das wussten beide, ein vorläufiger und er ist inzwi-
schen verschwunden. Er war nicht mehr als ein Halteplatz, geeignet, um auf
Geschichte zu warten, wie es in Heiner Müllers Text “DER GLÜCKLOSE
ENGEL” heißt. Dieser Ort war mehr und mehr in eine Schieflage gera-
ten und dass er schließlich ins Rutschen kam, daran hatte auch die kritisch-
engagierte DDR-Literatur eine Aktie. Sie hat die Verhältnisse unterminiert, indem
sie widersprach, oder, wie die Literatur des Prenzlauer Bergs, indem sie zu
einer anderen Sprache fand. Braun beschreibt den Untergang der DDR als
das Verschwinden einer für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Alterna-
tive, sodass “[d]ie Punkte in der Topografie des Schreibens [. . .] selber zum
blinden Fleck”15 wurden.
Es war die Literatur von Braun und Müller, es waren die Texte von
Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, Christa Wolf, Karl Mickel, Christoph Hein,
Jurek Becker und Thomas Brasch, von Angela Krauß, Uwe Kolbe und Bert
Papenfuß (weitere Namen ließen sich finden), die stetig den Boden aushöhl-
ten, auf dem sie geschrieben wurden. Dieses Unter- und Umgraben war
notwendig, weil die Bodenbeschaffenheit zu Wünschen übrig ließ. Deshalb das
Engagement dieser Literatur, die auf Veränderungen hinschrieb. Anders als
die apologetischen Texte der DDR-Literatur hat sich diese Literatur gegen die

14
Friedrich Hölderlin: Mnemosyne. In: Ders.: Sämtliche Werke [wie Anm. 1].
S. 170–172. Hier: S. 170f.
15
Volker Braun: Ein Ort für Peter Weiss. In: Ders.: Wir befinden uns soweit wohl.
Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
S. 164–174. Hier: S. 167.

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politischen Vorgaben der Macht gestellt, ohne in den ‘sozialistischer Realis-


mus’ genannten Chorgesang einzustimmen. In dieser Dichtung ist kritisch
zur Sprache gebracht worden, wie es um das Land bestellt war. Diese Texte
besaßen ein utopisches Potential, wobei es unerheblich war, ob die Hoffnung
“im Weg [lag] wie eine Falle” – wie es in Brauns Gedicht “Das Eigentum”
heißt.16 Dass es nicht bleiben konnte, wie es war, war eine Grundüberzeugung
dieser Literatur. Zunehmend aber wurde im Verlauf der Jahre zur Gewissheit,
dass es nicht wurde, wie es werden sollte.
Es spricht einiges dafür, dass auch zukünftig jene Dichtung erinnert wer-
den wird, die Auskunft über die gesellschaftlichen Verhältnisse gibt, in denen
sie entstanden ist. In der Form aber muss sie sich ebenso wie auf der inhaltli-
chen Ebene widersetzen. Dadurch zeichnet sich ein Großteil der zum “Erbe”
gehörenden Literatur aus: Sie ist widerstandsevident und vergessensresistent.
Heiner Müller hat die Überzeugung geäußert: “Kultur ist immer auf
Geschichte, auf die Toten bezogen.”17 Dabei muss die Dichtung, die sich in
die bestehenden Verhältnisse einmischt, nicht als autonomes Kunstprodukt
verstanden werden, wie es bei Müller heißt:
Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der Liquidation ihrer Autonomie,
Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der Enteignung, zuletzt am
Verschwinden des Autors. Das Bleibende ist das Flüchtige. Was auf der Flucht
ist, bleibt. [. . .] Arbeit am Verschwinden des Autors ist Widerstand gegen das
Verschwinden des Menschen. Die Bewegung der Sprache ist alternativ: das
Schweigen der Entropie oder der universale Diskurs, der nichts ausläßt und
niemanden ausschließt. Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste
Erscheinung des Neuen der Schrecken.18

Die Liquidation ihres Autonomiestatus setzt, nach Müller, Autonomie voraus,


wobei jene Autoren, in deren Texten die katastrophale Gefahr des Untergangs
zentral ist, unwesentlich werden. Die Größe ihrer Texte besteht gerade darin,
dass sie dem Autor zu einer Größe verhelfen, die zu vernachlässigen ist. Denn
nicht der Einzelne, der sie geschaffen hat, soll ins Zentrum der Aufmerksam-
keit gerückt werden, sondern das Textwollen selber. Müller begreift dieses
Wollen als Auftrag: Texte haben Widerstand zu organisieren.

16
Volker Braun: Das Eigentum. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Halle:
Mitteldeutscher Verlag 1993. S. 52.
17
Heiner Müller: Die Reflexion ist am Ende, die Zukunft gehört der Kunst.
Gespräch mit Frank M. Raddatz. In: Ders. Werke Band 12. Gespräche Band 3. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 7–18. Hier: S. 7.
18
Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer
Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Ders.: Schriften. Werke 8. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. S. 208–212. Hier: S. 211f.

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Vom Verrat an der Kunstautonomie war im deutsch-deutschen Literaturstreit


die Rede, als Karl Heinz Bohrer Christa Wolf vorwarf, sie hätte die “Auto-
nomie der Kunst” an die Moral und die Politik verraten. Das Wort von der
“Gesinnungsästhetik” machte damals die Runde. Angesichts dieses Vorwurfs,
die Kunstautonomie verraten zu haben, und der von Heiner Müller vertrete-
nen Position, die großen Texte würden an der “Liquidation ihrer Autonomie”
arbeiten, gerät nicht nur der Literaturbegriff ins Spannungsfeld der Debatte,
sondern es scheint notwendig, auch die Literaturverhältnisse zu hinterfragen.
Ausgangspunkt des deutschen-deutschen Literaturstreits bildete Christa
Wolfs Erzählung Was bleibt?. Darin stehen Hoffnungen auf dem Prüfstand,
die einst als Vorschuss in ein Gesellschaftsmodell investiert wurden. Christa
Wolfs Analyse wird zur Selbstbefragung, denn sie will in Erfahrung bringen,
was bleibt. Zugleich will sie herausfinden, ob es sinnvoll war zu bleiben.
Diese Antwortsuche beschäftigt sie auch in ihrem Roman Stadt der Engel
oder The Overcoat of Doctor Freud. Drehpunkt des Romans ist die Frage,
warum sich die Ich-Erzählerin, die Ähnlichkeiten mit der Autorin liegen auf
der Hand, zur Mitarbeit bei der Staatssicherheit bereit erklärt hat. An diese
Frage ist eine zweite gebunden: Wie konnte sie ihre Bereitschaftserklärung
vergessen? Zunächst wollte sie nicht glauben, was ihr die Geschichte als
Tatsache präsentierte. Neben einer Unmenge an Opferakten existiert von der
Erzählerin eine schmale “Täterakte”. Weil sie in Erfahrung bringen will, was
sie damals bewogen hat, eine solche Entscheidung zu treffen, begibt sie sich
im Roman in einen “Schacht”. Es ist der Versuch, in jene Räume der eige-
nen Lebensgeschichte vorzudringen, die im Dunkeln des Vergessens liegen.
Indem sie ihre Biographie erzählend zurückverfolgt, wendet sie das, was im
Verborgenen liegt, nach außen, sodass Freuds Mantel zum Synonym für die
von ihr zu leistende Erinnerungsarbeit wird. Sich den Mantel des Vergessens
anzulegen, wäre verführerisch gewesen, aber da sie eine Antwort auf sie quä-
lende Fragen gesucht hat, durfte sie sich nicht in diesem Mantel verstecken.
Die Antwort konnte nur gefunden werden, wenn sie sich der eigenen
Vergangenheit stellt, und das bedeutete: der Mantel musste nicht angezogen,
sondern gewendet werden – damit das, was innen war, nach außen gelangt.
Im Akt der Selbstbefragung stellt sich Christa Wolf bewusst der Vergangenheit,
auch auf die Gefahr hin, der eigenen Person im Schacht als einer Fremden
zu begegnen. Sie taucht in den Schacht des gelebten Lebens hinab, weil sie
nur dort finden kann, was sie vergessen hat. Die Entscheidung ist radikal
und sie ist mit Konsequenzen verbunden: Das Vorhaben kann nur gelingen,
wenn sich die Erzählerin vorbehaltlos ihrer Vergangenheit nähert. Das ist eine
Herausforderung und zugleich ein Wagnis, denn sie steht ebenso wie das
gelebte Leben zur Disposition.
Die Selbstanalyse schließt die Analyse von Geschichte ein, denn sie
will sich bis zu jenem blinden Fleck vorarbeiten, der Ursache für ihre

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Wahrnehmungstrübung war. Christa Wolf gräbt in Stadt der Engel die Vergan-
genheit um und sie befördert so das Unterste der eigenen Lebensgeschichte
nach oben. Dieses Vorgehen erinnert an die Methode, die Walter Benjamin in
“Ausgraben und Erinnern” vorgeschlagen hat. Dort heißt es:
Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich
verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer
wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen
wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.19

Einen Satz aus diesem Benjamin-Text hat Christa Wolf ihrem Buch als Motto
vorangestellt – er lautet: “So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger
berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher
ihrer habhaft wurde.”20 Dieser Satz wird zum Ausgangspunkt des Erzählens,
wobei gleichzeitig nach dem Ort gesucht wird, der dem Schreiben Halt ver-
leihen könnte. Es ist deshalb alles andere als manisch, wenn die Erzählerin,
sich selbst marternd, dem Vergessen so intensiv nachspürt. Die Erinnerungs-
arbeit muss – verstanden im Benjaminschen Sinne – immer wieder auf ‘einen
und denselben Sachverhalt’ zurückkommen. Diesem Sachverhalt will Christa
Wolf in Stadt der Engel schreibend auf den Grund gehen. Der Roman, an dem
sie mit Unterbrechungen mehrere Jahre geschrieben hat, ist ‘langsam gearbei-
tet’ und engagiert geschrieben worden. Die Geschichte wird entscheiden, ob
er bleibt.
Engagement, diesen nur scheinbar “in die Jahre” gekommenen Begriff,
stellen Janine Ludwig und Mirjam Meuser in ihrem Aufsatz In diesem besse-
ren Land – Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagier-
ter Literatur ins Zentrum der Debatte über die in der DDR entstandene oder
sich auf sie beziehende Literatur. Denn selbst die Abkehr von der engagierten
Literatur wurde in der DDR zu einem Politikum, wie die Reaktionen auf die
Literatur des Prenzlauer Bergs gezeigt haben. Die kritisch-engagierten DDR-
Autoren waren – ebenso wie die gänzlich “unengagierten” – konfrontiert mit
den herrschenden Literaturverhältnissen, in denen erwartet wurde, dass man
sich an die formal-ästhetischen Kriterien hält. Internationale Anerkennung
aber genoss gerade jene in der DDR entstandene Literatur, die sich durch
Nonkonformismus auszeichnete. Dabei fand der intendierte Ort des
Schreibens weniger Beachtung, sondern vielmehr der, von dem aus tatsächlich

19
Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: Ders.: Gesammelte Schriften.
Unter Mitwirk. von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. von Rolf
Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Band IV/1. Hg. von Tillman Rexroth.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972. S. 400–401. Hier: S. 400.
20
Ebd.

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geschrieben wurde. Der Widerstand gegen die tatsächlichen Literaturverhält-


nisse wurde zum Gradmesser für die Wertschätzung von Literatur. Autoren
wie Braun, Hein, Wolf oder Müller dachten in ihren Texten über grundlegende
Veränderung nach, aber sie stellten nicht die ökonomischen Verhältnisse der
DDR in Frage. Dennoch geriet durch ihr Schreiben neben dem realen, auch
der utopisch aufgeladene Ort ihres Schreibens in eine Schieflage, was 1990
schließlich zum Verschwinden der einstigen Alternative führte.
Das Experiment Sozialismus scheiterte in Raten. Thomas Brasch hat die
Alternativlosigkeit in seinem Film Domino (1981) in einem Satz festgehal-
ten: ‘Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht.’ Diese Erfahrung wurde
spätestens in den achtziger Jahren für die kritisch-engagierten Autoren zur
Gewissheit. Immer deutlicher zeigte sich, dass dem gesellschaftlich Neuen
bereits die Strukturen des Misslingens eingeschrieben waren. Dieser Gedanke
ist in Volker Brauns Text Der Eisenwagen (1981) zentral, in dem Braun
anhand des Umbaus eines Wagens über die im Umbau befindliche sozialis-
tische Gesellschaft nachdenkt. Der Wagen wird im Verlauf der Entwicklung
immer mehr mit Eisenplatten gepanzert. Scheinbar, um im “Innern Deckung”
zu finden. Der Panzer ist zwar Schutzraum, aber aus dem Fahrzeug wer-
den angebliche Verräter hinausgeworfen und von ihm werden vermeintliche
Gegner überrollt.
Alle Verräter, die recht hatten, kippten aus dem Wagen. Wir spürten das Knirschen
unter den Rädern. Ein internes Problem; es war nur e i n e Blutspur, die wir hinter-
ließen, an die sich die Außenwelt zu gewöhnen hatte. Eine Spur, die sich verlief in
Kanälen, im Beton, in Spuren, die sich verzettelten, durch unwirkliche Landschaft
und unwirkliche Zeit.21

Durch die Panzerung büßt der Wagen an Wendigkeit ein und immer stärker
bewegt er sich in eine Richtung, die der, der ihn lenkt, eigentlich nicht ein-
schlagen wollte. Bei der Fahrt durch die Geschichte hinterlässt der Wagen
eine “Blutspur”. Es ist die blutige Spur der Revolution, die mit einem Fanal
in Petersburg und sich weiter zu Städten wie Berlin, Budapest und Prag
zieht, die für das Scheitern stehen, was als revolutionärer Neubeginn begann.
In den niedergewalzten Revolutionen spiegeln sich die Verwerfungen der
sozialistischen Idee. Jean Paul Sartre hat dafür den Begriff vom “unglückli-
chen Bewusstsein” geprägt.22 Aus diesem Bewusstsein heraus ist in der DDR
kritisch-engagierte Dichtung geschrieben worden, eine Literatur, in der die
Autoren auf Distanz zur politischen Praxis gegangen sind. Das posthume
Schicksal der Werke, so hat es Sartre in “Was ist Literatur?” formuliert, hängt

21
Volker Braun: Der Eisenwagen. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge. Band 7.
Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1991. S. 231–238. Hier: S. 235.
22
Jean Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. S. 225.

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weder “von unserem Talent noch von unseren Bemühungen” ab.23 Entschei-
dend dafür, was bleibt und was vergessen werden wird, ist, nach Sartres
Meinung, der Ausgang des Konflikts zwischen den beiden Machtblöcken.
Dieser Gedanke nimmt Bezug auf Benjamins Überlegung, die sich in den
Thesen Über den Begriff der Geschichte findet:
Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die
Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal
zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu
diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die
heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.24

Die Dichter mögen Bleibendes stiften, aber der Malstrom der Zeit arbeitet
daran mit, was bleibt. Und die Rezeption, die in bestimmten Verhältnissen
stattfindet – sozialen und ökonomischen –, entscheidet mit darüber, was
überliefert werden wird.
III.
Mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen von Goethes Wahlverwandt-
schaften hat Walter Benjamin den Roman intensiv gelesen. Das Ergebnis
dieser Lektüre könnte aufschlussreich für eine zukünftige Rezeption von
Literatur sein. Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften ist der
Versuch, ein Werk aus sich selbst heraus zu erklären, ohne dabei die Position
des Autors oder die der Rezeptionsgeschichte zu vernachlässigen. In dem 1922
abgeschlossenen Aufsatz, der 1924/25 in den von Hugo von Hofmannsthal
herausgegebenen “Neuen Deutschen Blättern” erschien, fragt Benjamin nach
dem bleibenden Wert von Goethes Roman. Er liest den 1811 erschienenen
Prosatext über eine in Auflösung befindliche Ehe vor dem Hintergrund der
literaturgeschichtlichen Aufnahme des Werkes, der er eine entschiedene
Absage erteilt. Entgegen der bisherigen Rezeption sind die Wahlverwandt-
schaften für ihn kein Ehe-Roman. Ihn interessieren sehr viel mehr die im
Roman waltenden Kräfte, denen die vier zentralen Personen beinahe willen-
los ausgeliefert sind. Charlotte, Eduard, der Hauptmann und Ottilie reagie-
ren nach dem Muster einer chemischen Gleichung. Es hat den Anschein, als
würden sie unabhängig vom eigenen Wollen bestimmten Anziehungs- und
Abstoßungskräften ausgesetzt sein. Benjamin extrapoliert seinen Interpreta-
tionsneuansatz, indem er sich von der Lesart Gundolfs, die dominierend für

23
Ebd. S. 204.
24
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte
Schriften [wie Anm. 19]. Band I/2. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann
Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 693–703. Hier: S. 696.

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seine Zeit war, distanziert. Benjamin interessiert sich für den Roman, weil
sein “trüber Einfluß” bei “verwandten Gemütern” schwärmerische Anteil-
nahme und bei distanzierten Betrachtern “widerstrebende Verstörtheit” aus-
zulösen vermag. Vor dem Hintergrund dieser beiden gegensätzlichen Lesarten
erscheint eine “unbestechliche”, der Vernunft folgende Kunstkritik notwendig
zu sein, wenn es gelingen soll, hinter das Geheimnis des Werkes zu gelan-
gen. Benjamin führt dazu mit dem “Sachgehalt” und dem “Wahrheitsgehalt”
zwei für seine Analyse zentrale Begriffe ein. Als bleibend erweisen sich nach
seiner Überzeugung jene Werke, “deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachge-
halt eingesenkt” ist.25 Während Wahrheits- und Sachgehalt in der Frühzeit
der Werke noch geeint sind, vergrößert sich der Abstand zwischen ihnen im
Verlauf der Überlieferungsgeschichte. Während der Wahrheitsgehalt der
Werke zu jeder Zeit gleich verborgen bleibt, unterliegen die Sachgehalte
einem Verständniswandel. Die Sachgehalte verrätseln sich mehr und mehr
mit der zeitlichen Distanz und bestimmte Realien treten dann auffällig hervor,
wenn sie nicht mehr existieren. Für den Kritiker erwächst daraus die Aufgabe:
Man darf ihn [den Kritiker] mit einem Paläographen vor einem Pergamente ver-
gleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern
Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letzten
beginnen müsste, so der Kritiker mit dem Kommentieren.26

Der Kritik geht die Kommentierung der Sachgehalte voraus und erst die
Kritik ist in der Lage, den Wahrheitsgehalt eines Werkes zu erfassen.
Unverzichtbar ist die Kommentierung der den Werken inhärenten Rea-
lien. Sie müssen genannt und gedeutet werden, weil der Kritiker erst durch
die Kommentierung der Sachgehalte auf den Wahrheitsgehalt stößt, der den
Werken eingeschrieben ist. Bei der Beschreibung der Realien aber bewegt sich
der Kritiker unweigerlich in jenem Feld, dem sie ihre Existenz verdanken.
Benjamins Kritiker seziert und differenziert, er zerstört den schönen Schein,
um auf den Wahrheitsgehalt eines Werkes zu stoßen. Benjamin zeigt sich im
Wahlverwandtschaften-Essay unbeeindruckt von der seine Zeit dominierenden
Rezeption und findet eigene Kriterien für seine ganz anders gelagerte Lesart.
Ein Beispiel, wie durch eine veränderte Perspektive ein ganz neues Licht auf
einen kanonischen Text fallen kann.
Versteht man die DDR-Literatur als ein Archiv, in der ein inzwischen
untergegangenes Staatswesen seinen Abdruck hinterlassen hat, dann wird die

25
Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte
Schriften [wie Anm. 19]. Band I/1. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann
Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 125–201. Hier: S. 125.
26
Ebd.

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Kommentierung der in den Werken vorhanden Sachgehalte zu einer notwen-


digen Voraussetzung, um deren Wahrheitsgehalte aufzuspüren. Die DDR-
Literatur wäre demnach in ihrer Gesamtheit kritisch zu kommentieren. Denn
erst nach eingehender Untersuchung ließe sich entscheiden, welche Werke
Eingang in einen Kanon finden sollten und welche vergessen werden können.
Deshalb sollten die Werke von Hermann Kant nicht unter den Tisch fallen, auf
dem die von Heiner Müller liegen. Hier fällt der Literaturwissenschaft eine
Aufgabe zu, denn neben Johannes Bobrowski muss sie sich auch um die
Texte von Erik Neutsch oder Walter Werner kümmern. Sie wird sich denen
zuwenden müssen, die wie Einar Schleef die DDR verließen, und jene nicht
vergessen dürfen, die wie Günter de Bruyn im Osten blieben. Die Literatur
trägt die Signaturen der Zeit, in der sie entstanden ist. Doch nicht nur die Zeit,
sondern auch die Literatur hinterlässt Spuren, sie zerkratzt oder streicht durch,
wenn sie die Gesellschaft in die Pflicht nimmt und sich verweigert.
IV.
“Die Kunst”, so hat es Anselm Kiefer 1975 einem Aquarell eingeschrieben,
“geht knapp nicht unter.” Auf dem Bild ist ein Sonnenuntergang am Nordkap
zu sehen. Die Sonne geht im hohen Norden nie ganz unter. Sie verschwindet
nicht, sondern sie senkt sich, berührt den Horizont nur kurz, um dann wie-
der aufzusteigen. Kiefer leitet daraus sein programmatisches Kunstkonzept
ab. Die Kunst, so führt er aus, wird ständig vom Design bedroht. Das Design
bedient sich der Kunst, indem es Formen und Materialien gefällig und für den
alltäglichen Gebrauch verwertbar macht. Passt sich die Kunst diesem Trend
an, geht sie unter. Wenn sie bestehen will, muss sie sich widersetzen und
auf Materialien zurückgreifen, die in der Struktur der Oberfläche dialogisch
mit den Bildinhalten korrespondieren. Dies ist ein Grund, weshalb Kiefer
mit Sand, Asche, Blei, vertrockneten Sonnenblumen oder verwelkten Rosen
arbeitet. Diese Materialien sind dem Design zu spröde. Aber gerade diese
Materialien lädt Kiefer mit Bedeutungen auf. Darüber hinaus schreibt er sei-
nen Bildern Zitate von Autoren ein, sodass seine Bilder Dialoge mit Ingeborg
Bachmann, Paul Celan oder Walter Benjamin eröffnen. Von den Gedichten der
Bachmann sagt Kiefer, sie würden eine “dünne Illusionsschicht” aufreißen.
Dauernd würde durch die Gedichte etwas ‘aufplatzen’. “Die Gedichte schaf-
fen einen Durchbruch.”27 Einen Durchbruch schaffen sie, weil sie Widerstand
in der Sprache leisten und sich einem standardisierten Sprachgebrauch wider-
setzen. Dadurch aber verweisen sie auf eine Welt hinter der Welt. Auf diese
Gedichte reagiert Kiefer malend. Er dialogisiert, beispielsweise mit einem

27
Anselm Kiefer: Die Kunst geht knapp nicht unter. Anselm Kiefer im Gespräch mit
Klaus Dermutz. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 247.

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Autor wie Paul Celan, der der Ansicht war, dass das vollkommene Gedicht
als eine Form des Widerstands die Welt “zerkratzen” müsse. “Widerstand ist
sehr komplex. Widerstand gegen den normalen, abgenutzten, standardisierten
Gebrauch der Wörter. Das kann Widerstand sein, aber auch der Widerstand
gegen die eigene Beruhigung.”28
In Wolfgang Hilbigs Roman Eine Übertragung, der 1989 erschienen ist,
heißt es über den Protagonisten C., er “kratze” seine Phantasien ins Papier.29
Zu seinen “liebsten Besitztümern” zählt C. ein Ölbild, in dessen Zentrum,
“konturlos, nur ein von einer Farbe in die andere hinüberschmelzender Kreis,
eine weiße Sonne, stand”. In dem Bild findet C. etwas aufgehoben, was er
“an manchen Tagen und zu gewisser Zeit, vor oder nach dem Sonnenunter-
gang, vom Küchenfenster unserer Wohnung in M. aus sah [. . .]. In bestimm-
ten Augenblicken nach dem Verschwinden der Sonne war es mir, als kehre
ein dunstiges Spiegelbild einer weißen Sonne dorthin, wo es nichts zu suchen
hatte.”30 Auch diese von Hilbig beschriebene Sonne scheint nicht unterzuge-
hen. Sie verschwindet zwar, aber wenn sie verschwunden ist, dann erscheint
dort, wo sie ihren Platz hatte, erneut als Spiegelbild.
C., ein Heizer, der in den Nächten schreibt, sieht jeden seiner Sätze von der
“Trivialität bedroht”.31 Aber auch er ist bedroht, denn man hat ihn verhaftet,
weil er eine DDR-Fahne angezündet haben soll. Doch C. ist unschuldig, nur
dieses Wissen hilft ihm nicht, denn seine Vernehmer sind von seiner Schuld
überzeugt. Sie machen ihn zu jemandem, der er nicht ist. Auf unterschiedli-
chen Ebenen angesiedelt, finden die Konfliktparteien zu keiner gemeinsamen
Sprache. Ihr Sprechen bleibt vom Geheimnis umgeben. C. ist das Opfer einer
Verwechslung geworden, wodurch sich seine bereits latent vorhandene Iden-
titätskrise verstärkt, denn er übt einen Beruf aus und er geht neben diesem
Beruf seiner Berufung nach. Das hat zur Folge, dass er stets ein anderer
sein muss. Die Anklage nimmt den Vorwurf der Brandstiftung zum Anlass,
einen Zusammenhang zwischen seiner schriftstellerischen Arbeit und dem
Abbrennen der Fahne herzustellen. Sie wirft ihm vor, er hätte die Fahne nur
deshalb angezündet, weil die von ihm geschriebene Literatur in dem Land
ignoriert wird, das die Fahne symbolisiert. Ein Rechtsanwalt macht C. klar, was
man von Schriftstellern im Allgemeinen und im Besonderen von ihm hält:
“Schriftsteller sind ein Nichts!”32 C. ist ein Nichts und nicht der, für den man

28
Ebd.
29
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Werke. Band IV. Hg. von Jörg Bong,
Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011. S. 60.
30
Ebd. S. 67.
31
Ebd. S. 61.
32
Ebd. S. 49.

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ihn hält. Um sich zwischen den Nichtexistenzen als Person zu verorten, unter-
zieht er sich einem Selbstverhör, um die Koordinaten seines Seins bestimmen zu
können. Er geht der Bedeutung eines Kassibers nach, der ihm im Gefängnis
zugeschmuggelt wurde. Den Kassiber hat er nach der Lektüre verschluckt,
sodass das darauf mitgeteilte Geheimnis nun durch sein Inneres geht. Der
Weg des Kassibers durch seinen Körper erscheint ihm von symbolischer
Bedeutung zu sein.
Sein Text hatte ein Geheimnis enthalten, das durch mich hindurchging, durch
meine Eingeweide, aber ohne daß es mich nur im mindesten berührt zu haben
schien, um dann, unter Anstrengungen, die mir mein angstgelähmter Stuhlgang
verursachte, seinen Weg hinab in die Klärgruben des Gefängnisses, in die damp-
fenden Flüssigkeiten eines stinkenden Acheron zu finden. – So schied, ich war mir
der Tragweite dieses Vergleichs bewußt, das göttliche Prinzip eines Stoffwechsels
zuweilen ganze Universen von zwischenmenschlichen Beziehungen aus, wenn
diese innerhalb der irdischen Gefangenschaft aller Kreatur dem Ratschluß des
Schicksals entgegenstehen mochten.33

Auch Hilbigs Protagonist kann nichts “behalten”. Der gesamte “Durchfall”


seines “Verstandes”, so C. über sich, lagert im Acheron. C. fragt sich, ob er
erst alles aus sich herausgeschrieben haben muss, ob er erst keine Sprache
mehr in sich vorfinden darf, um als Heizer arbeiten zu können. Hilbigs Roman
ist autobiographisch grundiert. Wolfgang Hilbig wurde 1978 angeklagt, eine
DDR-Fahne verbrannt zu haben. Obwohl er unschuldig war, genügte der
Verdacht, um ihn für mehrere Monate zu inhaftieren. Wie C. wurde auch
Hilbig in der Literaturlandschaft der DDR ignoriert. Hilbig hat dem Roman
eine Poetik eingeschrieben, die er am Beispiel des Schriftstellers C. entwickelt.
Zwischen Schreiben und Leben gibt es eine ‘Übertragung’. “Die Übertragung
meines Lebens in einen endlichen Satz hieße: wenn ich schreibe bin ich. Aber
ich bin nicht, setzte ich hinzu.”34
C. ist ein Gefangener. Gefangen in seiner Doppelexistenz, als auch in den
Strukturen der Literaturgesellschaft, die er nicht bereit ist widerspruchs-
los anzuerkennen. Der zur Nichtexistenz Verurteilte ringt “andauernd um
sein Dasein”.35 Dass es um seine Daseinsexistenz und um seine Existenz als
Schriftsteller geht, wird ihm angesichts einer Auseinandersetzung im Zirkel
schreibender Arbeiter bewusst. Im Zirkel wirft man ihm vor, er würde “vor
der Wirklichkeit auf der Flucht” sein.36 C. beschreibe nicht, was anwesend
ist, sondern er interessiere sich allein für Abwesendes. Diese Hinwendung zu

33
Ebd. S. 51f.
34
Ebd. S. 249.
35
Ebd. S. 250.
36
Ebd.

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Abwesendem aber wird als Affront gegen die Vorgaben des ‘sozialistischen
Realismus’ angesehen. C. aber kann die Antworten, nach denen er sucht, nur
im Abwesenden finden. Er, den man für ein Nichts hält, der im Literaturen-
semble des Landes, in dem er lebt, nicht anwesend ist, erkennt in der
Abwesenheit den Urgrund der Poesie:
[D]ie Poesie war die Abwesenheit, wie sie denkbar konsequent, wie sie abso-
lut zu verstehen war, nämlich als die Abwesenheit Gottes. Als die Abwesenheit
einer Erklärung. Als die Abwesenheit auch der Klage. Als ein Sein auch ohne die
Möglichkeit zur Larmoyanz, wie ihr so viele Schriftsteller, die ihm widerlich
waren, verfielen. Es war die Abwesenheit einer Mitte . . . es war vielleicht
Sentimentalität in ihrer gemeinsten Form, vermischt mit Kälte in ihrer kältesten
Form, es war die Abwesenheit der logischen Erklärung.37

Erst als C. Abwesenheit als die ihm zugewiesene Existenzform akzeptiert,


vermag er sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Der Abwesende erkennt
in der Beschreibung des Abwesenden seine Funktion als Autor. Um aber über
die Abwesenheit schreiben zu können, muss C. eine neue Sprache finden.
Wenn ich aus der Geschichte, die ich hinter mir hatte, ausgeschieden war, dann
musste ich erst wieder auf die Suche nach den Wörtern gehen. Oder war das
Nichtfinden der Wörter ein Beweis dafür, daß ich aus der Geschichte noch nicht
ausgeschieden war? Nein, ich war ausgeschieden, weil ich die Wörter nicht
gefunden hatte.38

Das Ausscheiden des Kassibers erweist sich für C. als Ausgangspunkt für
seine im Verborgenen liegende Geschichte. Die geheime Sprache ist durch
ihn hindurch gegangen. Er hat sie verinnerlicht und nur in seinem Innern
kann er sie finden. “Da ‘Poesie’ nicht sinngemäß zu erfassen ist, muß man
sie als ‘abwesend’ beschreiben.”39 C., der von der Geschichte ausgeschieden
wurde, kann sich ihr nur als Abwesender stellen. In dieser Hinsicht korres-
pondiert eine der Grundaussagen von Hilbigs Roman mit seinem Gedicht
“abwesenheit” von 1969. Darin wird von Worten als von “gefrorenen fetzen”
gesprochen. Das Gedicht verweist auf die Notwendigkeit, eine neue Sprache
zu finden:
[. . .]
und wir werden nicht vermißt unsere worte sind
gefrorene fetzen und fallen in den geringen schnee
wo bäume stehn prangend weiß im reif – ja und
reif zum zerbrechen

37
Ebd. S. 338.
38
Ebd. S. 372.
39
Wolfgang Hilbig: Zeit ohne Wirklichkeit. Ein Gespräch mit Harro Zimmermann.
In: Wolfgang Hilbig. Text  Kritik Heft 123. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text  kritik 1994. S. 11–18. Hier: S. 17.

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alles das letzte ist uns zerstört unsere hände


zuletzt zerbrochen unsere worte zerbrochen: komm doch
geh weg bleib hier – eine restlos zerbrochne sprache
einander vermengt und völlig egal in allem
und der wir nachlaufen und unserer abwesenheit

nachlaufen so wie uns am abend


verjagte hunde nachlaufen mit kranken
unbegreiflichen augen.40

Hilbig entbindet die Sprache von der allgemeinen Mitteilungsfunktion – für


ihn hat die Sprache eine Übertragungsfunktion. Diese Sprache verweigert
sich einem Abbildrealismus. Indem sie auf Distanz geht, kommt sie aber der
Wirklichkeit sehr viel näher. “Der Realismus, in diesem Zusammenhang,
konnte keiner sein, denn die Wirklichkeit, die er bediente, war durch und
durch künstlich und ihre Wahrheiten waren hohl.”41
Eine jetzt zum ersten Mal aus dem Nachlass veröffentlichte Erzählung mit
dem Titel Eine Übertragung von 1982 zeigt, dass sich Hilbig bereits vor dem
Erscheinen des Romans Eine Übertragung (1989) mit zentralen Figuren und
Motiven befasst hat. Die frühe Erzählung gibt insofern Aufschluss über die
Entstehungsgeschichte des Romans. Eine zunächst nur 22-seitige Erzählung
wird immer umfangreicher und schließlich versieht Hilbig die vierte hand-
schriftliche Fassung mit dem Vermerk: “Beendet Ostern 1989”.42 In seinen
wesentlichen Teilen ist der Roman in der DDR konzipiert und zum Teil auch
dort geschrieben worden. Nach seinem Weggang aus der DDR arbeitet
Hilbig an dem Manuskript weiter, das er schließlich in der Bundesrepublik
abschließt. Es wäre falsch, den Roman zur DDR-Literatur zu zählen, ebenso
falsch wäre es aber, ihn der westdeutschen Literatur zuzuordnen.
Die Poetik, die Hilbig dem Roman Eine Übertragung eingeschrieben hat,
greift Überlegungen auf, die sich bereits in der Erzählung Über den Tonfall
(1977) finden. In diesem Prosatext fühlt sich ein Lyriker durch die offizielle
Feststellung herausgefordert, wonach die Lyrik an Breite und Vielfalt gewon-
nen habe. Der Gewinn, so die These, hängt damit zusammen, dass sich die
Poeten der Realität zugewandt hätten. Diese Schlussfolgerung interessiert
ihn, da man ihm in der in Rede stehenden Lyriklandschaft keinen Platz zuge-
steht. Er geht deshalb der Frage nach, wie er schreiben müsste, um wahrge-
nommen zu werden. Erneut gleicht die Antwortsuche einer selbst auferlegten

40
Wolfgang Hilbig: abwesenheit. In: Ders.: Gedichte. Werke. Band I. Hg. von Bong,
Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. S. 51.
41
Hilbig: Übertragung [wie Anm. 29]. S. 247.
42
Jürgen Hosemann: Nachbemerkung. In: Hilbig: Übertragung [wie Anm. 29].
S. 408.

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Verhörsituation. Hilbigs Protagonist fragt sich, ob es am Realitätsbezug liegt,


dass einige Poeten gewürdigt werden, während man ihn ignoriert. Auch dieser
Lyriker ist abwesend, weshalb er versucht, sich schreibend, über seine Funktion
als Dichter Klarheit zu verschaffen. Was in dem besagten Artikel als literari-
scher Zugewinn lobend herausgestellt wird, erweist sich für ihn als Verlust:
[D]ie Lyrik ist der Realität zum Opfer gefallen. Eine schöne Elegie über den Tod
eines Baumes inmitten der Industrie, beispielsweise, wäre der gesellschaftlichen
Aufmerksamkeit unbedingt Anlaß, den Realitätsbezug der Lyrik zu feiern. Die
Entschlossenheit der Lyrik nämlich, stellvertretend für die Gesellschaft zu leiden
und wachsam zu sein, läßt gewiß nichts zu wünschen übrig. Nein, sie hat diesen
Anspruch sogar zu ihrer ersten Inspirationsquelle werden lassen und verwirklicht
seine Artikulation so weitgehend, daß man sagen muß, ihr ganzer Tonfall besteht
aus der Deskription dieses Anspruchs.43

Der namenlos bleibende Protagonist teilt das Schicksal der Abwesenheit mit
Hilbig, der in der DDR nicht dazu gehörte. Das macht auch die verweigerte
Zuordnung von Hilbigs Gedichten deutlich, die 1980 in der Zeitschrift Sinn
und Form veröffentlicht wurden. Unter der Überschrift “GEDICHTE AUS
DER DDR” erscheinen in diesem Heft Gedichte von Lothar Walsdorf, Klaus
Rahn und Willi Sagert. Dagegen findet man die acht zwischen 1973 und 1979
entstandenen Gedichte Hilbigs nicht unter dieser Überschrift.44 Soll die Sepa-
rierung Unterschiede kenntlich machen? Zumindest entsteht dieser Eindruck.
Der zu dieser Zeit noch in der DDR lebende Autor schreibt Gedichte, aber
sie kommen, anders als die seiner Kollegen, nicht aus der DDR. Woher aber
kommen sie dann? Hat die Redaktion mit der verweigerten Zuordnung mög-
licherweise Recht gehabt? Hilbig war ein Dichter, der in der DDR die Fetzen
Wirklichkeit fand, die ihm als Koordinaten für seine Dichtung genügten.
Die DDR existiert ja eigentlich noch, ausgenommen ihre Bezeichnung, ihre
Regierung, die die Bezeichnung erfunden hat, und das Ideologie-System, mit dessen
Hilfe sie versucht hat zu funktionieren. Es sind also nur Nebensächlichkeiten
verblichen, und mit denen sollte sich ein Schriftsteller nicht abgeben. Das andere,
also überwiegende zu beschreiben – auch dessen Veränderungen und, wenn es denn
sein soll, seinen Untergang – das ist, denke ich, eine große (und atemberaubende)

43
Wolfgang Hilbig: Über den Tonfall. In: Ders.: Erzählungen und Kurzprosa. Werke.
Band II. Hg. von Bong, Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. S. 74.
44
Die Gedichte von Lothar Walsdorf, Klaus Rahn und Willi Sagert finden sich in:
Sinn und Form 32 (1980). Heft 6. S. 1251–1258. Erst mit einem deutlichen Abstand
von etwa vierzig Seiten folgen die Gedichte von Wolfgang Hilbig. Es handelt
sich um: “variationen zu einer diagnose”, “reisefieber”, “die namen”, “déjà vu”,
“gewöhnlicher rassismus”, “sprache”, “zwischen den paradiesen” und “berlin. fla-
neur de la nuit” sind auf den Seiten 1299–1305 zu finden.

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Aufgabe für einen Schriftsteller. Und ein solcher Versuch wäre keineswegs
provinziell. Die ganze Welt der Literatur besteht aus diesen kleinen Provinzen à
la DDR.45

V.
Werke, die Widerstand in der Sprache leisten, werden in der extremsten Vari-
ante in der deutschsprachigen Literatur von Reinhard Jirgl geschrieben. Jirgls
zwischen 1980 und 1985 geschriebener Mutter Vater Roman lag fünf Jahre
im Verlag, da ihm die notwendige Druckgenehmigung nicht erteilt wurde.
Während dieser Zeit, also etwa zwischen 1985 und 1988, schrieb Jirgl die 2002
im Hanser Verlag erschienene Genealogie des Tötens. Texte, die in der DDR ent-
standen, sind erst Jahre später im Westen erschienen. Für Jirgl ist die Schrift
des geschriebenen Textes mehr als nur das Transportmittel des Inhalts. Indem
er die Normen der Schriftsprache unberücksichtigt lässt und sich für eine
lautbezogene Schreibform entscheidet, lädt er die Sprache mit zusätzlichen
Bedeutungen auf. Er schreibt beispielsweise das Wort “Wirtschaft” mit
Doppel-“r” und verleiht dem Wort so eine zusätzliche Bedeutungsebene. Auf die-
sem Wege findet die Emotionalität, mit der Wirklichkeit erlebt wird, Eingang
in die Emotionalität des Textes. Als individuelles Erlebnisfeld funktioniert der
Text für Jirgl aber nur dann, wenn er sich in der Sprache unterscheidet, wenn
er in der Oberfläche des sprachlichen Ausdrucks zu jener unverwechselbaren
Subjektivität findet, die der Autor als seine, ihn auszeichnende Schriftsprache
verwendet. Diese Sprache widersetzt sich den Regeln einer normativen
Grammatik, deren Regeln für Jirgl nicht verbindlich sind. Er löst in seiner
Sprache die vorgegeben Sprachmuster auf und widersetzt sich, indem er Regeln
unterläuft, sodass die Sprache zum Ort des Widerspruchs wird.
Nur in der Schonungslosigkeit und der Ungerechtigkeit gegen das Unrechte sehe
ich eine (literarische) Möglichkeit, dem vom alltäglichen Terror Terrorisierten ein
Recht, wenn man so will, dann ein Positives zu geben. – Vor diesem Hintergrund
gilt mein Schreiben der Suche nach der größtmöglichen Subjektivität des Textes,
sowohl dem Inhalt als auch der Form gemäß [. . .]. Im Textgebilde sollen in der
Gesamtheit die Spannungen und Konflikte der äußeren Wirklichkeit durch
literarische Mittel in der Wirklichkeit des Textes – in bearbeiteter, zugespitzter,
‘inszenierter’ Wirklichkeits-Form – sich wiederfinden.46

Jirgl lässt sich nicht von Sprachnormen gefangen nehmen, er lässt sich
Sprachregeln nicht vorschreiben, sondern er versteht das Unterlaufen dieser

45
Hilbig: Zeit ohne Wirklichkeit [wie Anm. 30]. Hier: S. 12.
46
Reinhard Jirgl: Die wilde und die gezähmte Schrift. Eine Arbeitsübersicht. In:
Ders.: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2006. München: Hanser
2008. S. 92–122. Hier: S. 109f.

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Normen und Regeln als einen Hinweis darauf, dass der Mensch weder in har-
monischer Übereinkunft mit seiner Sprache noch in der mit der Gesellschaft
existiert. Mit einer ihm eigenen sprachlichen Renitenz erhebt Jirgl Einspruch
gegen jegliche Versuche, den Einzelnen mit den Mitteln einer normierten
Sprache zu schleifen. Seiner Meinung nach ist die Sprache ein Spiegelbild
für das “Chaos der Geschichte”, wobei der Körper des Subjekts jener Ort ist,
dem die Wunden der Geschichtsverwerfungen eingezeichnet sind.47
Von solchen Verwerfungen handelt Jirgls Roman Abtrünnig von 2004. Im
Zentrum stehen Figuren, die Grenzen überschreiten. Weil sie menschenwür-
dig leben wollen, verlassen sie ihre Heimat und werden so zu Abtrünnigen.
Jirgls Roman ist bevölkert von Nomaden, die von einer Seite auf die andere
wechseln. Als moderne Glücksritter sind sie unterwegs auf der Suche nach
dem Glück. Da, wo sie herkommen, würden sie schon bleiben, wenn sie die
Lebenswirklichkeit nicht als Zumutung erfahren würden. Die Figuren werden
innerhalb von Umbruchsprozessen zu Obdachlosen. Sie bleiben Unbehauste,
die sich plötzlich in einer durch grelles Gewitterlicht ausgeleuchteten Land-
schaft wiederfinden. Bindungen halten dieser Zerreißprobe nicht stand und
wer über Macht verfügt, zwingt andere dazu, sich zu unterwerfen.
Jirgl schaut mit unbestechlichem Blick gerade dorthin, wo die Wärme aus
den Dingen und Beziehungen verschwunden ist. Er beschreibt kalte Zustände
und Handlungsräume, in denen die erfahrene Eiszeit zur Daueratmosphäre
in einer globalen Gegenwart geworden ist. Diese Verhältnisse bieten dem
Einzelnen keinen Halt mehr, denn der Boden hat an Festigkeit verloren und
das Fundament ist brüchig geworden. Angesichts der massiven existentiel-
len Herausforderungen, der Erfahrung, nicht dazuzugehören, werden jene
Überlebensqualitäten wieder kultiviert, die notwendig sind, um den eigenen
Untergang abwenden zu können. Ethik wird zum Luxus, wo Unbehaustheit
eine allgemeinen Erfahrung ist. Jirgls Figuren sind chancenlos, denn was sie
auch versuchen, die Beschädigungen, die sie erfahren, hören nicht auf. Wie
geschickt sie auch vorgehen, was immer sie auch an Verdrängungskünsten
aufbringen, ihnen misslingt der entscheidende Schritt: Sie schaffen es nicht,
die Lebenswirklichkeit hinter sich zu lassen, die sie beschädigt hat und die sie
weiterhin verletzt.
Die Organisatoren haben den Titel der Konferenz “Nach der Mauer der
Abgrund” in Heiner Müllers Gedicht “Glückloser Engel 2” gefunden. Müller
stellt mit diesem Gedicht, in dem er den Engel noch hört, einen Bezug zu
seinem Gedicht “Der glücklose Engel” von 1958 her. Der Engel in diesem
Gedicht wartet auf Geschichte “in der Versteinerung von Flug Blick Atem”.
Von diesem Gedicht aus ergeben sich Verbindungen zu Benjamins Text vom

47
Ebd. S. 108.

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Angelus Novus aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte. Das War-
ten auf Geschichte, der Dialog mit den Toten, ist Müllers Thema. Es ist dies
darüber hinaus ein zentrales Thema der Literatur, die wir, der Einfachheit
halber, als DDR-Literatur bezeichnen. Literatur, die sich in die Geschichte
versenkt, die die Vergangenheit umgräbt, die nach möglichen Ursachen für
geschichtliche Verwerfungen sucht und sich nicht mit Beschwichtigungen
zufrieden gibt, wird schwer in Vergessenheit geraten, wenn sie für diese
Themen eine überzeugende Sprache gefunden hat.
Engagement bedeutet laut Duden: “berufliche Verpflichtung” und ver-
altet steht das Wort für “Aufforderung zum Tanz”. Eine Literatur, der eine
Aufforderung zum Tanz eingeschrieben ist, und die die Verhältnisse zum
Tanzen bringt, einer solchen Literatur sollte/könnte Dauer beschieden sein.
Die “Kunst”, so heißt es in Volker Brauns Gedicht, “wagt es zu denken /
Im Untergrund, wo alles lebt / Wie, ist es möglich? daß die Verhältnisse
tanzen.”48

48
Volker Braun: [Die Kunst] [wie Anm. 8].

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Matteo Galli

Post-Staatliche DDR-Literatur in der


Literaturgeschichtsschreibung. Eine Bestandsaufnahme
This essay addresses three issues: 1) the transformations of contemporary histories
of German literature during the last twenty years; in particular, post-GDR literature
is examined by taking four examples of literary histories that published new editions
after 1990; 2) post-GDR literature as an autonomous field of research; and 3) the
standing of post-GDR literature in press criticism.

“Natürlich hätte man weiterschreiben können, da doch immer noch und


wieder ‘DDR-Literatur’ entsteht”.1 Dies behauptet Wolfgang Emmerich im
Juli 2000 beim Abschiednehmen von seiner Literaturgeschichte, an der er
über zwanzig Jahre geschrieben hat. Wenn alles so einfach wäre: Emmerichs
Selbstverständlichkeit im Postulieren einer posthumen Existenz der DDR-
Literatur ist alles andere als unumstritten.
Ich werde mich im Folgenden mit drei Aspekten befassen. Erstens: mit einigen
Literaturgeschichten, deren Erstausgaben vor der Wende erschienen oder ledig-
lich entstanden sind und die nach der Wende ein- oder mehrmals wiederaufge-
legt wurden. Es werden insgesamt 4 Literaturgeschichten sein (Schnell, Barner,
Beutin und selbstverständlich Emmerich). Es fällt auf, dass – soweit ich sehe – in
den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Raum kein neues umfangreiches lite-
raturhistorisches Projekt über die Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts entstanden ist. Der erste Abschnitt wird auch der längste sein; im zweiten
Abschnitt werde ich mich kurz mit einigen Tendenzen der Forschung zur
Post-DDR-Literatur beschäftigen, also zur Post-DDR-Literatur als autonomem
Forschungsfeld. Im dritten und letzten Abschnitt wird es ums Feuilleton gehen.
Wie geht man dort um mit der Post-DDR-Literatur?

1. Nachdrucken, Überarbeiten, Nachschreiben


1.1. Revision und Fortschreibung
Darum geht es bei Ralf Schnell, der 1993 seine Geschichte der deutsch-
sprachigen Literatur seit 1945 als Reprise und Ergänzung seiner Literatur
der Bundesrepublik aus dem Jahre 1986 vorlegte. Genau zehn Jahre später,
im Jahre 2003, erscheint eine 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Im

1
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 2000. S. 10.

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Vorwort wird zwar das Hauptkriterium der Überarbeitung genannt – nämlich


der “Versuch einer weitgehenden Integration auch der DDR-Literatur in die
Gesamtentwicklung der deutschsprachigen Literatur seit 1945”,2 über die
Kriterien der Fortschreibung wird jedoch nichts gesagt. In der ca. 100
Seiten umfassenden so genannten Fortschreibung koexistieren zwei Ansätze:
ein Ansatz, bei dem die literarische Sozialisation der Akteure weiterhin eine
wichtige Rolle zu spielen scheint, und ein Ansatz, der von der Idee eines
nunmehr einheitlichen literarischen Feldes auszugehen scheint. Die ganze
Diskursebene – etwa in der Sektion, die den Titel “Deutsche Debatten”
(S. 522–528) trägt – wird nicht nur unter einem gesamtdeutschen Standpunkt,
sondern auch ausgesprochen a-chronologisch verhandelt: Der deutsch-
deutsche Literaturstreit z. B. kommt nach Walsers Rede in der Paulskirche
nebst Wiederaufnahme des Historikerstreits aus dem Jahre 1986 als Prämisse
zu einem besseren Verständnis von Walsers Frankfurter Ausführungen. Nach
dem deutsch-deutschen Literaturstreit folgen dann der Anschwellende Bocks-
gesang, Handke und Serbien und Walsers Tod eines Kritikers. Das gleiche
gilt auch für die so genannte “Wende-Literatur” (S. 529–534) – ein Begriff,
den Schnell eigentlich sehr weit, ein wenig zu weit fasst. Es geht hierbei zwar
in der Hauptsache um ostdeutsche Autoren, der ganze Abschnitt wird aber
von einigen Ausführungen zu Peter Schneider eingeführt, von F.C. Delius,
Andreas Neumeister, Thorsten Becker und von Jürgen Becker ist auch die
Rede – seltsamerweise aber nicht von Günter Grass, dessen Wenderoman
Ein weites Feld erst 50 Seiten später vorkommt, da wo es um die “Erinnerte
Vergangenheit” (S. 585–598) geht. Parallel dazu bleibt Schnell dem Para-
digma der geteilten Literaturgeschichtsschreibung alles in allem treu: z. B im
Abschnitt über die Lyrik, wo es zunächst einmal um ostdeutsche Autoren geht
(Grünbein, Drawert, Rosenlöcher), und dann um die westdeutschen und die
anderen: Thomas Kling, Hans-Ulrich Treichel, Zehra Çirak und Oskar
Pastior. Diese uneingestandene Fortsetzung der Zweiteilung fällt vor allem
dadurch auf, dass zahlreiche Diskurse wie z.B. der Holocaust-, der Pop- und
der Erinnerungsdiskurs fast ausschließlich anhand von westdeutschen Texten
verhandelt werden, auch wenn es genug Beispiele von ost-deutschen Texten
gegeben hätte, die man für diese Themenkomplexe hätte bemühen können: Im
schon erwähnten, 13 Seiten langen an sich eher diffusen Abschnitt “Erinnerte
Vergangenheit” werden Grass, Kempowski, Walser, Treichel, Stadler, Genazino,
Hürlimann, Wackwitz, Sebald, Schlink, Streeruwitz und andere genannt. Der
einzige ostdeutsche Autor, der vertreten ist, ist Reinhard Jirgl.

2
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2003. S. IX.

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1.2. “Schließliche Konvergenz”?


Schnell hatte mit der Wende aufgehört. Barner & Co. wurden von der Wende
überrascht – die Sache wird reichlich und ein wenig pathetisch im Vorwort
thematisiert. Die Autoren sahen in “der schließlichen Konvergenz der Sys-
teme”3 die Richtigkeit ihrer konzeptionellen Entscheidung bestätigt, nämlich
“die Literatur des Westens und die der DDR in möglichst engem Zusam-
menhang darzustellen”.4 Demzufolge entschlossen sie sich, wenn nicht
die ganze Literaturgeschichte, so doch das letzte Kapitel, das Kapitel über
die 1980er Jahre auf das glückliche Ende hin zu schreiben, ohne jedoch –
wie es ausdrücklich im Vorwort heißt – “einer falschen Teleologie Vorschub
leisten”5 zu wollen. Das 150 Seiten lange Kapitel über die 1980er Jahre hieß
also nun “Durchlässigkeit der Systeme”, und in den der Literatur der späten
DDR gewidmeten Abschnitten (ca. 50 Seiten) waren Titel oder Untertitel zu
finden wie: “Der lange Weg zur Öffnung”, “Adieu DDR”, “Endspiele” oder
sogar “Post-DDR”. Das Buch schloss mit einem fünfzehnseitigen Epilog, der
“Abrechnen und Rechthaben” (S. 923–938) betitelt war, wo es in der Hauptsa-
che um die politischen Fakten der Vereinigung, um das Schicksal literarischer
Institutionen, um den deutsch-deutschen Literaturstreit, um Stasi-Geschichten
ging. Das Buch erschien übrigens erst im Jahre 1994. Zwölf Jahre später,
im Jahre 2006 wird eine “zweite aktualisierte und erweiterte Auflage” ver-
öffentlicht. Die knapp 200 neuen Seiten tragen den Titel “Drei Literaturen?
Die Neunziger Jahre”.6 Der vormalige Epilog “Abrechnen und Rechthaben”
ist zum Eingangskapitel mutiert und doppelt so lang geworden (S. 925–963).
Dem folgen nun weitere fünf Abschnitte, zwei zur Prosa: ein größerer zur
“Erzählprosa” der 90er Jahre, ein kürzerer zur Post-DDR-Prosa der 90er
Jahre (das Verhältnis, wenn ich das numerisch visualisieren darf, ist 44 zu 17
Seiten, es entspricht fast dem Kräfteverhältnis der Bevölkerung der vormaligen
deutschen Staaten), zwei zur Lyrik (31:15) und nur einer zum Theater, 43
Seiten, davon 3 zur Post-DDR-Dramatik. Im kurzen Vorwort wird auf den
großen Erfolg der nunmehr fast vergriffenen ersten Auflage und auf die
Überlegungen eingegangen, ob nachgedruckt, überarbeitet oder nachgeschrieben
werden sollte. Im Prinzip ist das Buch eine Mischung aus allem geworden.

3
Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.
München: Beck 1994. S. XV.
4
Ebd.
5
Ebd. S. XVI.
6
Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegen-
wart. München. 2. akt. u. erw. Aufl. München: Beck 2006. S. 923–1120. Hier:
S. 1157–1164.

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Ein ganzer Abschnitt wird dem Problem Post-DDR-Literatur gewidmet. Einen


ganz kleinen Teil davon möchte ich zitieren:
Wir haben uns [. . .] entschieden, dort, wo sich charakteristische Gruppen abzeich-
nen (etwa bei den Theaterautoren, Lyrikern oder Romanciers aus der ‘ehemaligen
DDR’), auch entsprechende Kapitel zu bilden. Dass es Phänomene wie ‘Post-
DDR-Literatur’ gibt, und zwar höchst ungleichartige, ist kaum bestreitbar. Der
Problemkomplex wird um so strittiger bleiben, je länger er – auch noch über ein
Jahrzehnt nach der ‘Wende’ – andauert.7

Dieser von Anführungszeichen wimmelnde Passus kulminiert in der


Feststellung, an dem ursprünglichen Konzept – “alle deutschsprachigen
Literaturen im Zusammenhang und in einem Band darzustellen” – habe sich
nichts geändert, seine Vorzüge seien partiell sogar bestätigt: “Freilich statt
‘DDR-Kapiteln’ haben wir nunmehr schmalere ‘Nach-DDR-Kapitel’ ”.8
Wie schmal, habe ich bereits gesagt. Bei Autoren, die schließlich von der
sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage explizit angekündigten
Idee einer “schließlichen Konvergenz der Systeme” ausgegangen sind, mutet
das post-staatliche Beibehalten der Zweiteilung wenn nicht des literarischen
Feldes und der Diskurse im Allgemeinen, so doch der literarischen Erzeug-
nisse ein wenig merkwürdig an. Es gilt im Übrigen noch festzustellen, was die
Autoren mit dem Titel “Drei Literaturen?” beabsichtigten. Die Frage wird nir-
gendwo punktuell erörtert, weder im Vorwort noch im einleitenden Abschnitt
über die 90er Jahre. Nachdem ich mehrere Hypothesen durchgespielt habe,
bin ich bei der wohl banalsten angelangt: Aus den klassischen vier deutsch-
sprachigen Literaturen nach 1945 (BRD, DDR, Österreich und Schweiz) sind
nun möglicherweise drei geworden. Eine klare Entscheidung, d.h. eine klare
Antwort auf die Frage des Titels haben die Autoren dieser Literaturgeschichte
jedoch nicht getroffen: Sie stellen gerne Fragen, Antworten vermögen sie
kaum zu geben.
1.3. Tendenzen
Ich komme nun zum dritten und letzten Beispiel einer gesamtdeutschen
Literaturgeschichte, die mehrere Auflagen vor und nach der Wende erlebt
hat, nämlich zur Metzler-Literaturgeschichte vulgo Beutin genannt. Im
Jahre 1992 wird die erste Auflage veröffentlicht, die auch die Ereignisse
um 1989/1990 thematisiert. Dies geschieht zwar ohne Vorwort, dafür aber
durch einen sechsseitigen Text, der “Zwischenbilanz 1992. Einheit und
Vielfalt der deutschen Literatur” heißt und von Wolfgang Emmerich verfasst

7
Ebd. S. XXVIII.
8
Ebd. S. XXIX.

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wurde9. Erst ab der sechsten Ausgabe im Jahre 2001 ist ein längeres Vorwort
zu lesen sowie ein richtiges Kapitel zur Literatur nach 1989. Geschrieben
wurde es von Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers. Das 42seitige Kapitel
trägt den Titel “Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
seit 1989”.10 Anlässlich der siebten und bis dato letzten Ausgabe im Jahre
2008 hat sich Opitzens Kapitel nahezu verdoppelt, die 42 Seiten sind nun 77
geworden.11 Ein paar Worte nun zum nunmehr zwanzigjährigen Metzlerschen
Palimpsest. Emmerichs kurzer Text aus dem Jahre 1992 ist – wie schon der
De Bruynsche Titel sagt – eine Zwischenbilanz, es geht in der Hauptsache
um Überlegungen zur Vergangenheit, zu den unterschiedlichen literarischen
Systemen und Feldern, um die Krise im Westen wie im Osten der littérature
engagée, um Meta-Diskurse. Über künftige, literarhistorische Konzepte lässt
Emmerich in diesem Zusammenhang nichts verlautbaren, lediglich in den
allerletzten Zeilen seiner Zwischenbilanz stellt er seine Prognose auf, die er
folgendermaßen auf den Punkt bringt: Pluralität und Transnationalität:
Der internationale Stoffwechsel dieser divergierenden Literaturen ist so vielfäl-
tig, dass sich auch das Beschreibungsmodell ‘Nationalliteratur’ mehr denn je als
untauglich erweist. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur existiert in einer
Vielzahl zueinander offener Szenen; ihre Lebensform ist die einer ‘unordentlichen’
Pluralität – und das ist gut so.12

Das coming out von Klaus Wowereit war damals ziemlich aktuell. Das war
also die 4. Auflage aus dem Jahre 1992. Mit geändertem Datum im Titel (1995
statt 1992) und einigen Ergänzungen wandern diese Seiten in Emmerichs
eigene Literaturgeschichte – darüber gleich.
Erst 2001 ist das Weiter-Schreiben an der Reihe. Das geschieht im Rahmen
einer grundsätzlichen Überarbeitung des ganzen Werks. Neue Autoren, neue
Teile. Neu-geschrieben wurde ja nicht nur das Kapitel über die Literatur nach
1989, sondern auch das Kapitel über die literarische Moderne zwischen 1890
und 1920. Nun ein paar Überlegungen zum Kapitel von Michael Opitz und
Carola Wiemers-Opitz. Hier fehlt die obligate Eingangsfrage zur Quantifizierung

9
Wolfgang Emmerich: Zwischenbilanz 1992. Einheit und Vielfalt der deutschen
Literatur. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Wolfgang Beutin.
Stuttgart: Metzler 4. überarb. Aufl. 1992. S. 606–612.
10
Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen
Literatur seit 1989. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von
Wolfgang Beutin. Stuttgart-Weimar: Metzler 6. überarb. Aufl. 2001. S. 660–702.
11
Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen
Literatur seit 1989. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von
Wolfgang Beutin. Stuttgart-Weimar: Metzler 7. überarb. Aufl. 2008. S. 663–740.
12
Emmerich: Zwischenbilanz 1992 [wie Anm. 9]. S. 612.

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deutscher Literaturen, eine genuin west-deutsche Frage, wenn ich das so sagen
darf (Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers sind bekanntlich ostdeutsche
Literaturwissenschaftler), man kommt direkt zur Sache, mit den politischen
Voraussetzungen der Wende, mit dem deutsch-deutschen Literaturstreit, mit den
Stasi-Affären mancher ost-deutscher Schriftsteller, kurzum: mit dem nunmehr
klassischen Narrativ aller Literaturgeschichten, die nach der Wende geschrieben
worden sind und die sich mit der Gegenwartsliteratur befassen. Wenn es dann
um Tendenzen und um Texte geht, ist der eindeutige Versuch zu begrüßen, sich
von publizistischen und auch literarhistorischen Schablonen loszulösen und auf
Trends, Gattungen und Diskurse hinzuweisen, die für beide vormalige deut-
sche Literaturen galten und vor allem gelten. Das ist in nahezu allen Kapiteln
aufzufinden: im Kapitel “Literarische Verarbeitung der Wende in Prosatexten”
(S. 667–673), im Lyrikkapitel (S. 674–678), wo im Gegensatz zum entspre-
chenden Kapitel bei Schnell kaum geopolitische Kategorien bemüht werden,
im Abschnitt “Expeditionen zu den Ursprüngen” (S. 684–689), wo Werke von
Handke, Kronauer und Felicitas Hoppe besprochen werden, aber auch von Adolf
Endler, Irina Liebmann und Kathrin Schmidt, im Kapitel über die Familien- und
Kindheitsromane. Da, wo dies im ersten Durchgang nicht geschehen ist und eine
gewisse Rigidität noch am Werke zu sein schien, wurde im zweiten Durchgang,
d. h. im Jahre 2008 um- und weitergeschrieben. Das geschieht z. B. im Abschnitt
“Sprachexkursionen in zerklüfteten Landschaften” (S. 672–673), wo man sich
mit der so genannten “Ostmoderne” auseinandersetzt (also Jirgl, Drawert, Gert
Neumann etc.). In der Ausgabe von 2008 (S. 682–685) werden auch Werke von
Michael Lentz und Peter Weber verhandelt.

1.4. Revision und Fortschreibung II


Im Frühjahr 1996 erscheint eine erweiterte Neuausgabe von Wolfgang
Emmerichs Kleiner Literaturgeschichte der DDR, die erste, in der es auch
um die Literatur nach 1989 geht. Auch hier geht es im Prinzip um Revision
und Fortschreibung. Die Revision betrifft die Methodologie und die Emphase:
Emmerich versucht sich auf der einen Seite von seinem früheren Ansatz
zumindest zum Teil zu befreien, der das “Verhaktsein von Literatur mit
Geschichte und Gesellschaft” postuliert hatte und dem “allzu simplen Schema”13
gefolgt war:
erst das gesellschaftlich-politsche System im Wandel, dann die Kulturpolitik in
Gestalt der Verlautbarungen von Parteitagen, ZK-Plenen und Schriftstellerkon-
gressen, dann schließlich die Literatur selber in Gattungs- oder thematischen
Längsschnitten.14

13
Emmerich: Kleine Literaturgeschichte [wie Anm. 1]. S. 18.
14
Ebd. S. 19.

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Auf der anderen Seite distanziert sich Emmerich von der “Eigenperspektive
der reformsozialistischen Autoren”,15 indem er ihre politische Theorie und
literarische Praxis mit Zweifeln bedenkt. Soweit die Revision. Fortschrei-
bung heißt bei Emmerich zweierlei: Zum einen Fort-Schreiben an (der) DDR-
Literaturgeschichte(n), also: Fort- bzw. Weiter-Schreiben über ein nunmehr
historisch gewordenes Phänomen, zum andern Fort-Schreiben im Sinne von
konkreter Auseinandersetzung mit Post-DDR-Literatur. Zum ersten Punkt ist
er sehr wortreich. Ein Teil von Emmerichs Ausführungen, die im Eingangska-
pitel “Was heißt und zu welchem Ende studiert man die Geschichte der DDR-
Literatur?” zu lesen ist, besteht in einer Art Verteidigung des literarischen
(und Forschungs-)Felds DDR. Dessen Weiter-Bestehen wird auch und vor
allem da bewiesen, wo es negiert zu werden scheint, z.B. bei Schnell oder bei
Barner (damals erste Auflage, das gleiche gilt aber, wie wir gesehen haben,
auch für die zweite Auflage). Emmerichs Fazit zum Thema DDR-Literaturge-
schichtsschreibung nach der Bilanz zur DDR:
Das Ableben eines Staates kann kein Anlass sein, eine auf dessen Geschichte
gerichtete Beschreibungs- und Analyseperspektive für alle Zukunft aufzugeben.
Dann dürfte man auch keine separate Geschichte der Literatur im Dritten Reich
mehr schreiben, um nur ein besonders offensichtliches Parallelbeispiel zu
nennen.16

Was die tatsächliche Fortschreibung anbelangt, da ist Emmerich wesentlich


lakonischer. Im Vorwort 1996 wird richtigerweise behauptet: “Kulturelle Pro-
zesse und Eigenarten hören nicht schlagartig an einem bestimmten Datum wie
z. B. dem Ende eines Staates auf ”; im Vorwort 2000 steht jedoch der eingangs
zitierte Satz: “Natürlich hätte man es [das Buch] weiterschreiben können.”
Quousque tandem? Bis wann, könnte man sich da fragen? Emmerich verab-
schiedet sich von seinem Forschungsobjekt und tritt ab. Emmerichs tatsäch-
liche Fortschreibung besteht aus neunzig Seiten (S. 435–525). Er verhandelt
mit seiner gewohnten Klarheit einige bedeutende Fakten und Tendenzen der
DDR-Literatur nach der Wende: vom Zusammenbruch des Systems DDR-
Literatur zum post-utopischen und melancholischen Mood einiger Schrift-
steller (Emmerichs Hinweis auf den “furor melancholicus”17 hat sofort einen
Riesenerfolg gehabt und wird seitdem immer wieder zitiert), vom Literatur-
streit zu einigen Beispielen autobiographischen Schreibens, von der neuen
Heimat-Literatur zu den (damals) ersten Spielarten der Ostalgie.

15
Ebd. S. 23.
16
Ebd. S. 25.
17
Ebd. S. 460.

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2. Post-DDR-Literatur als autonomes Feld


Im nämlichen Jahr, als Emmerich seine Literaturgeschichte beendete, erschien
bei TextKritik ein Sonderband mit dem Titel “DDR-Literatur der neunziger
Jahre”.18 Auffallend ist das Fehlen jeglicher legitimatorischer Einführungs-
worte: Die Herausgeber und die Beiträger (17 an der Zahl) verhandeln den
Begriff, als sei er durchaus selbstverständlich. In den meisten Beiträgen geht
es allemal um Autoren, die schon einige Jahre (Jahrzehnte) vor dem Mauerfall
tätig waren. Doch da, wo es um Schriftsteller geht, die in den 1990er Jahren
ihr literarisches Debüt feierten, künftige Klassiker der “Post-DDR-Literatur”
(Thomas Brussig, Ingo Schulze, Durs Grünbein), werden sie stillschweigend
den ‘kanonischen’ Autoren beigesellt.
Die fast unübersichtliche Zahl an Sammelbänden zur zeitgenössischen
Literatur, die in den letzten 10 Jahren im deutschsprachigen Raum und auch
im Ausland erschienen ist, hat jedoch diesen Strang d.i. die Post-DDR-
Literatur, als klares, autonom konturiertes literarhistorisches Feld kaum
weitergeführt – auch diejenigen Wissenschaftler haben dies nicht getan, deren
Bücher die so genannte Wendeliteratur erörtert haben.
Das mit Abstand häufigste Modell von Publikationen zur “Post-DDR-
Literatur” könnte man nach dem Titel des von Astrid Köhler verfassten Buchs
aus dem Jahre 2007 als “Brückenschlag”-Modell bezeichnen.19 Hier wird
das Werk vor und nach 1989 einiger namhafter Autoren aus der DDR auf der
Suche nach Kontinuitäten, Parallelitäten, Brüchen untersucht: Christa Wolf,
Klaus Schlesinger, Ulrich Plenzdorf, Irina Liebmann, Christoph Hein, Angela
Krauß, Kristin Hensel. Und überhaupt: Der Großteil dessen, was in den
letzten Jahren geschrieben wurde, hat das Spätwerk der DDR-Klassiker
zum Thema. Das gilt auch für eine der letzten Aufsatzsammlungen (Literatur
ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland,
2009 erschienen).20 In der langen Einführung setzen sich die Herausgeberinnen
Janine Ludwig und Mirjam Meuser länger mit dem “DDR-Literatur”-Begriff
schlechthin auseinander als mit dem, was danach kam: Mehrere präpositio-
nale Syntagmen werden da ausgetestet und eins nach dem anderen verworfen:
Literatur in der DDR, aus der DDR, über die DDR, nach der DDR.

18
TextKritik. Sonderband DDR-Literatur der neunziger Jahre. Hg. von
Heinz-Ludwig Arnold. München: edition textkritik 2000.
19
Astrid Köhler: Brückenschlag. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
20
Literatur ohne Land?: Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten
Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg: Fördergemein-
schaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009.

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Der bis heute einzige, systematische Versuch, das vielschichtige “Post-


DDR”-Territorium zu kartieren, fand 2006 mit der von Holger Helbig in
Erlangen durchgeführten Tagung statt, die den Namen Weiterschreiben. Zur
DDR-Literatur nach dem Ende der DDR trug. In der Einführung21 zu den
bereits im darauf folgenden Jahr erschienenen Akten zeigt Helbig vier
Modalitäten auf, in die die so genannte “DDR-Literatur nach dem Ende
der DDR” aufgegliedert werden könnte, vier Modalitäten, die Helbig durch
den Rückgriff auf vier Verben, allesamt Komposita des Verbs schreiben,
herausarbeitet und erläutert:
1. um-schreiben (S. 2–3). Diese Kategorie steht in erster Linie mit den dis-
kursiven Praktiken im Zusammenhang, die insbesondere unmittelbar nach
der Wiedervereinigung im Laufe des deutsch-deutschen Literaturstreits zu
einer Um-Positionierung, eben zu einer “Um-schreibung” geführt haben,
im Hinblick auf die politisch-öffentliche und literarische Rolle einiger
bedeutender ostdeutscher Schriftsteller, der so genannten Reformsozia-
listen (allen voran Christa Wolf, aber auch Volker Braun, Heiner Müller,
Christoph Hein usw.).
2. weiter-schreiben (S. 3–4). Diese Kategorie betrifft Autoren, die wie die
gerade erwähnten bereits vor dem Ende der DDR tätig und bekannt waren,
aber auch solche, die nicht allzu lange vor dem Fall der Mauer debütiert
und einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatten. Wie entwickelt sich
nun ihr Opus?
3. nach-schreiben (S. 4–6). Diese Kategorie hat mich am wenigsten über-
zeugt, denn sie umfasst nach Helbig auf der einen Seite Autoren, die zwar
in der DDR geblieben sind, aber erst nach dem Ende der DDR publizie-
ren konnten (der eklatanteste Fall ist wohl Reinhard Jirgl). Auf der anderen
Seite schließt sie Neuausgaben mit ein, etwa in Form von Werkausgaben
bereits veröffentlichter Autoren, aber auch kleinere und größere Verlags-
initiativen, die in gewisser Hinsicht mit der epochalen Wende der Jahre
1989-90 verbunden waren (hierzu zählen der erste, in der DDR geplante
Sammelband der Werke Uwe Johnsons, der in den 1980er Jahren lange
vorbereitet und in den Monaten kurz vor dem Fall der Mauer endlich fertig
gestellt worden war, jedoch niemals veröffentlicht wurde, die posthum
erfolgte Publikation der Romane von Werner Bräunig und Brigitte Reimann,
sowie die von Faber & Faber ab 1995 veröffentlichte DDR-Bibliothek).
4. neu-schreiben (S. 6-7). Unter diese Kategorie subsumiert Helbig in seiner
Einführung Phänomene, die in der Hauptsache der Kult-Sphäre und der

21
Holger Helbig: Weiterschreiben. Zum literarischen Nachleben der DDR. In:
Weiterschreiben: zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Hg. von dems.
Berlin: Akademie 2007. S. 1–7.

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Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind (die ‘ostalgisch’ gefärbten


Autobiografien von Jana Hensel, Claudia Rusch, Jakob Hein u.a.), aber
auch Texte westdeutscher Autoren, die von der DDR handeln. Die m. E.
wichtigsten Autoren und Tendenzen dieser Modalität bleiben jedoch –
zumindest in der Einführung – so gut wie unerwähnt. Im Tagungsband
werden dann doch einige wichtige(re) Beispiele wie Antje Rávic Strubels
Roman Tupolew 134 oder die lyrische Produktion von Lutz Seiler einge-
hender untersucht.
Ein letztes Werk möchte ich abschließend nennen: Das Metzler Lexikon
DDR-Literatur, das Michael Opitz und Michael Hoffmann im Jahre 2009
herausgegeben haben. Auch hier wird stillschweigend auf Kontinuitäten zwi-
schen der DDR-Literatur und der “Post-DDR”-Literatur hingewiesen, wenn
man bedenkt, dass Autoren jeweils einen Eintrag erhalten haben, die vor dem
Mauerfall noch nicht debütiert hatten (Thomas Brussig, Julia Franck, Annett
Gröschner, Reinhard Jirgl, Ingo Schulze, Lutz Seiler), dass 6 Spalten dem
“deutsch-deutschen Literaturstreit” gewidmet sind, dass sogar die “Zonen-
kinder” in das Lexikon Eingang gefunden haben. Darüber hinaus hat Michael
Opitz selbst den Eintrag “DDR in der Literatur nach 1989” verfasst, wobei
er allerdings keine weitere theoretische oder auch nur pragmatische gattungs-
oder generationsmäßige Kategorisierung vornimmt.22 Erwähnt werden nicht
weniger als 15 Autoren mit jeweils einem fiktionalen bzw. autobiografischen
Werk, deren Opus vor der Wende schon eine bemerkenswerte Konsistenz hatte
(Wolf, Hein, Braun, De Bruyn, Loest, Hilbig, Maron, Hensel, Drawert) oder
New Entries aus den 90er Jahren und aus den Nuller Jahren (Jana Hensel und
Uwe Tellkamp, Thomas Brussig und Ingo Schulze, Reinhard Jirgl und Antje
Rávic Strubel).
Mein Fazit: ein theoretisches oder auch lediglich pragmatisches Konzept zu,
eine Definition von dem, was Post-DDR-Literatur genannt werden könnte, ist
im Jahre 2010 noch ein Desiderat der Forschung.
3. Post-DDR-Literatur im Feuilleton: drei Beispiele
Ab Mitte der Neunziger Jahre konnte man genau in den nämlichen (West)-
Medien, die im Rahmen des deutsch-deutschen Literaturstreits mit den
Reformsozialisten und deren Ansprechpartnern im Westen abgerechnet hatten,
einen allmählichen Paradigmenwechsel feststellen. Zunächst setzte man bei
der jüngeren Generation an: Die Literatur aus der DDR, die nach dem Ende

22
Michael Opitz: DDR in der Literatur nach 1989. In: Metzler-Lexikon DDR
Literatur. Hg. von Michael Opitz u. Michael Hoffmann. Stuttgart-Weimar: Metzler
2009. S. 69–72.

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der DDR veröffentlicht wurde, wurde zum Träger einer Reihe von positiven
Merkmalen, die der Literatur aus dem Westen seit Jahren, vielleicht seit
Jahrzehnten abhanden gekommen waren. An drei Beispielen aus den Jahren
1994, 1997 und 2009 möchte ich dies im Folgenden beweisen. Im März 1994
zelebriert Gustav Seibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit
überschwänglichen Tönen den “Götterliebling” Durs Grünbein:
Die äußere Konstellation dieses Erfolges ist leicht zu beschreiben. Grünbein ist der
erste Dichter, der die Spaltung der deutschen Literatur überwindet. Jetzt, wo er da
ist, erkennt man sofort, dass dies nur einem jungen Autor aus dem Osten gelin-
gen konnte. Das ist keine Frage nationaler Gefühle oder politischer Einstellungen,
keine der Ideologien oder gar des muffigen Identitätsdiskurses, mit dem eine ideen-
lose Politik eine phantasielose Literatur infiziert; es ist eine Frage der Erfahrungen
und der daran geknüpften Sprache. Nur ein Schriftsteller aus dem Osten ist
gezwungen, mit beiden Erfahrungen zu Rande zu kommen: der östlichen seiner
Herkunft, der westlichen seiner Zukunft.23

Heribert Tommek hat in einem fulminanten Aufsatz diesen Passus bestens


kommentiert:
Die Oppositionsbildung: national, politisch, ideologisch, ideen- bzw. phantasielos
versus nicht-national, unpolitisch, nicht-ideologisch, von der Erfahrung bestimmt
bzw. ›erfahrungsgesättigte Sprache‹ ist topisch und symptomatisch für die symbo-
lische Durchsetzung einer repräsentativen l’art pour l’art-Position. Sie findet auf
der Grundlage einer Matrix diskursleitender ›Großkategorien‹ bzw. Ideologemen
statt, die sich seit den siebziger Jahren durchsetzten und in den 1990er Jahren kon-
solidierten, wie etwa der Desillusion oder des Endes der Ideologien und Utopien.24

Eine weitere Überlegung sei hier im Hinblick auf das Stichwort “Erfahrung”
vorzubringen. Die (nicht-ideologischen) jüngeren ostdeutschen Autoren
nehmen aus ihrem Leben vor dem Mauerfall, aus den Erlebnissen um den
Mauerfall etwas mit, was in der Wahrnehmung mancher Feuilletonisten der
west-deutschen, spätestens seit den 80er Jahren mit post-modernen Spielen
jonglierenden Literatur fehlt: Sie nehmen Stoff mit. “Existentielle Brüche”,
schrieb Frauke Meyer-Gosau in einem 2004 in “Literaturen” erschienenen
Aufsatz, “sind ihr [der in der DDR sozialisierten Autorin, MG] Stoff und

23
Gustav Seibt: Mit besseren Nerven als jedes Tier. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung 15.03.1994. S. 62.
24
Heribert Tommek: Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz.
Der Aufstieg des Dichters Durs Grünbein in den neunziger Jahren, in: Annali
Online UniFe. 2009, 1. S. 203-204. http://annali.unife.it/lettere/2009vol1/tommek.
pdf. Downloaded 15.8.2011. Siehe auch die Erstveröffentlichung in: Symbolische
Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Hg. von Robert Schmidt u.
Volker Woltersdorff. Konstanz: UVK 2008. S. 147–67.

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Erfahrungs-Kapital”.25 Von “Stofffülle”, die die blutarme (west)-deutsche


Literatur revitalisieren sollte, sprach auch Martin Hielscher im Hinblick auf
die Literaten “mit Migrationshintergrund”, die zu Anfang der 90er Jahre in
Deutschland eine immer stärkere Präsenz im Literaturbetrieb innehatten.26
Die Post-DDR-Literatur wird aufgrund eines genuin neo-kolonialen Ansatzes
seitens des westdeutschen Feuilletons (nach wie vor “Zuteilungs-Instanz für
historische Bedeutung”27) im Endeffekt als eine Spielart der Migrationslitera-
tur betrachtet. Die (Post-DDR)-Literaten als statische Migranten? Vielleicht,
denn wenn es darum geht, Romane zu rezensieren von Autoren, die aus der
DDR kommen, wird der biographische Hintergrund niemals verschwiegen,
genau wie bei Autoren aus der Vojwodina oder aus Bulgarien (um zwei
Beispiele von preisgekrönten Autorinnen zu nennen). Kommt ein Autor etwa
aus München, aus Bremen oder aus der Eifel, dann spielt seine Herkunft
eine wesentlich geringere Rolle, wenn überhaupt. Die ost-deutsche Herkunft
bringt also eine Art “Exoten-Bonus” mit sich.
Mein zweites Beispiel: Man nehme Iris Radisch. Seit 1990 Redakteurin der
ZEIT, seit 2000 anstelle von Sigrid Löffler im “Literarischen Quartett”, hat sie
in der Redaktion die Rezensionen von DDR und Post-DDR-Literatur regel-
mäßig übernommen: von Sascha Anderson bis Reinhard Jirgl, von Wolfgang
Hilbig bis Julia Schoch, von Monika Maron bis Hermann Kant. Denkt man an
die erste große Debatte über den Zustand der deutschen Literatur um die Mitte
der 90er Jahre, dann ist Iris Radisch so ziemlich die einzige gewesen, die in
dieser genuin west-deutschen und ausschließlich vom west-deutschen Feuil-
leton ausgetragenen Debatte Thesen vorgetragen hat, die die Rolle der “Post-
DDR”-Literatur im literarischen Feld eingehend thematisierten. Zu lesen sind
Radischs Positionen in einem Beitrag, dessen erste Fassung im Oktober 1997
in der ZEIT unter dem Titel “Der Herbst des Quatschocento”28 erschien, die
zweite 2000 im genannten TextKritik-Band unter dem Titel “Zwei getrennte
Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger Jahre in Ost und West”29

25
Frauke Mayer-Gosau: Blühende Leselandschaften. In: Literaturen 2004/4. S. 10.
26
Martin Hielscher: Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migran-
tenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman “Engelszungen”. In:
TextKritik. Sonderband Literatur und Migration. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold.
München: edition textkritik 2006. S. 199.
27
Siehe Anm. 25.
28
Iris Radisch: Der Herbst des Quatschocento. In: Die Zeit 17.10.1997. Nachge-
druckt in: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige
Gegenwartsliteratur. Hg. von Astrid Köhler u. Rainer Moritz. Leipzig: Reclam.
1998. S. 180–188.
29
Iris Radisch: Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger
Jahre in Ost und West. In: TextKritik. Sonderband DDR-Literatur der neunziger
Jahre [wie Anm. 18]. S. 15–26.

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und die dritte 2001 in den Tagungsakten eines Kolloquiums in Sydney


unter dem emphatischen Titel “Es gibt zwei deutsche Literaturen in Ost und
West”.30 Die zwar ironisch vorgetragene, jedoch im Endeffekt befürwortete
These lautet in der ersten Fassung des Aufsatzes:
Es gibt in Ostdeutschland eine neue tragische Literatur, die sich vom melancholi-
schen Minimalismus des Westens weit entfernt hat. Einen poetischen Vitalismus
(und sei es ein Vitalismus zum Tode), der antritt gegen den Beschreibungsfetischis-
mus der früh gealterten jungen Westliteratur. Ganz so wie sintemal zu Zeiten der
konservativen Revolution die ‘tragische Essenz’ gegen die westliche ‘Dekadenz’.31
Womit Tommeks Begriff des “Nicht-Ideologischen” möglicherweise auf
einen genaueren Punkt gebracht wird: Diesem Paradigma entsprechen vor
allem Autoren, die in keinem Falle dem ostalgischen Mood anheimgefallen
sind, sondern eher jüngere Oppositionelle oder jüngere innere Emigranten
in der DDR waren, die entweder eine auratisierende, neo-konservative Idee
von Dichtung (Beispiele: Grünbein oder Tellkamp) pflegen und vermitteln
möchten oder in einer neo-modernistischen, wenn nicht sogar post-avantgar-
distischen Genealogie stehen (Beispiele: Hilbig oder Jirgl). In beiden Fällen
spielt die deutliche Abgrenzung zur “linken” Tradition der Reformsozialisten
eine eindeutige Rolle (Ausnahme: Heiner Müller, der als einzige mögliche
Vermittlungsinstanz zwischen den genannten Tendenzen betrachtet werden
könnte). Das symbolische Kapital einiger wichtiger Autoren der Post-DDR-
Literatur (Grünbein, Jirgl, Tellkamp etc.) wird durch die neo-konservativen
und neo-bürgerlichen Tendenzen des deutschen Feuilletons erheblich aufge-
wertet, der ja in den letzten 20 Jahren ähnlichen west-deutschen Tendenzen
und Autoren viel Interesse und Spielraum entgegengebracht hat (von der
ganzen Botho-Strauß-Debatte über die Pop-Literatur-Welle bis hin zu Martin
Mosebach als Büchnerpreisträger).
Drittes Beispiel: Am 26. November 2009 erscheint in der ZEIT ein längerer
Aufsatz von Alexander Cammann, der den sprechenden Titel Im Osten ging die
Sonne auf trägt und den Untertitel: “Lichtjahre voraus: Warum die Literatur,
die aus der DDR kam, die Werke des Westens immer noch überragt”. Auch
hier geht es in der Hauptsache um eine (künstliche) Gegenüberstellung zwischen
der west-deutschen und der ost-deutschen Literatur vor und nach 1990:
Dabei vermögen ihre [der DDR-Literatur, MG] vergessene Vielfalt, ihr spröder Reiz
und ästhetischer Anspruch, ihre abenteuerlichen Geschichten und bösen Schicksale
bei dem, der sich heute auf diese verblassende Schönheit einlässt, intensivere
Leseerlebnisse bewirken als manche Walser-Wohmann-Wondratschek-Ware.32
30
Iris Radisch: Es gibt zwei deutsche Literaturen in Ost und West. In: Schreiben
nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989–1999. Hg. von Gerhard
Fischer u. David Roberts. Tübingen: Stauffenburg 2001. S. 1–14.
31
Iris Radisch: Der Herbst des Quatschocento [wie Anm. 28]. S. 187.
32
Alexander Cammann: Im Osten ging die Sonne auf. In: Die Zeit 26.11.2009.

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Die DDR-Literatur hat im Vergleich zur BRD-Literatur einen größeren


Anspruch auf Dauer und Klassizität. Dies wird sich zeigen und interessiert
mich in diesem Zusammenhang nur in begrenztem Maße, auch wenn diese
Re-Habilitierung der DDR-Klassiker schon seltsam anmutet im Vergleich
zur pauschalen Dämonisierung in den Jahren des Literaturstreits. Interes-
sant ist, dass dieses Gütesiegel auch auf die “Post-DDR”-Literatur appliziert
wird. Namen werden genannt (Tellkamp, Schulze), die Anhäufung von
wichtigen Preisen erwähnt (DDR- und “Post-DDR”-Autoren, die den alt-
ehrwürdigen Büchner-Preis, den neu-gegründeten und schnell zu Prestige
avancierten Deutschen Buchpreis erhalten haben), auf Tendenzen hingewie-
sen (etwa die Wiederentdeckung von Peter Hacks: siehe unter dem Stichwort
“Re-Auratisierung” bzw. “Re-Nobilitierung” mit ähnlichen Beispielen im
westlichen Lager, z.B. Heimito von Doderer), das Östliche als Projektionsfläche
verloren gegangener Werte (Traditionsgebundenheit, Heimat, Langsamkeit,
Ernst usw usf.) wird ausdrücklich betont. Fazit von Cammann: “Angesichts
dieser östlichen Diskursmacht kann einem Autor westdeutscher Herkunft
durchaus ungemütlich werden”.33 Östliche Diskursmacht? Unsinn! Die
Diskursmacht bleibt fest in west-deutschen Händen.

33
Ebd.

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II. Wiedergelesen

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Marianne Schwarz-Scherer

Strategien fiktionalen Erzählens – Sozialistische Gattungspoetik


in den Exil-Balladen in der SBZ 1945–1949
The first attempts to reshape a traditional genre within the framework of socialist
aesthetics oriented towards socialist realism appear in the ballads of the Soviet
Occupation Zone (SBZ). The categories of socialist realism are applied to this genre,
focusing on the technique of fictional narrative and the transformation of ballads from
indirect teleology to didactic judgment. Ideology, Volkstümlichkeit (popular traditions),
Parteilichkeit (partisanship, partijnost) and realistic narrative become its constitutive
elements. Both the genre of the ballad and the so-called Erzählgedicht (narrative
poem) are examples of how, in GDR literature, socialist and classical heritages are
merged into a construct of agitprop and Weimar Classicism. As such, the history of the
ballad illustrates the function of genre in socialist realism, and also is exemplary of the
attempt to establish a poetics of genre (Gattungspoetik) within socialist aesthetics.

In ihrer Monographie über Stephan Hermlin1 berichtet Silvia Schlenstedt


von dessen erster Reise nach Moskau, die er gemeinsam mit anderen Intel-
lektuellen im Frühjahr 1948 unternahm. Dieser Besuch, den Schlenstedt als
“symptomatisch für die veränderte Funktion des Schriftstellers und seinen
neuen Aktionsradius im Osten Deutschlands”2 bewertet, diente nicht allein
dem Kennenlernen der sowjetischen Verhältnisse und sowjetischer Kollegen,
sondern beinhaltete auch Diskussionen der deutschen und sowjetischen
Autoren über den sozialistischen Realismus. In diesem Rahmen wurde auch
die Frage diskutiert, “ob es angehe, vollendete, für frühere Epochen sowje-
tischer Geschichte und Literatur charakteristische Werke umzuarbeiten”,3 sie
folglich den Doktrinen des sozialistischen Realismus anzupassen. Soweit kam
es nicht, doch stellen die politisch-operativen Ansprüche an Literatur gravie-
rende Folgen für eine Ästhetik dar, von der ein Teilgebiet, die Gattungspoetik,
in diesem Beitrag am Beispiel der Ballade betrachtet werden soll.
1.
Ästhetische Voraussetzungen, pragmatische Bedingungen und das sozia-
listische Erbe-Verständnis – sie treffen in der Ballade in seltener Harmonie

1
Silvia Schlenstedt: Stephan Hermlin. Berlin: Volk und Wissen 1985 (Schriftsteller
der Gegenwart 2).
2
Ebd. S. 118.
3
Ebd. S. 119f.

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zusammen. Da die Gattung auf eine lange Geschichte zurückblicken und


damit auf vielfältige Traditionen zurückgreifen kann, zeigt sie sich den ver-
schiedenen Anforderungen gegenüber überaus aufgeschlossen: Über die
Kunstballade steht sie dem klassischen Erbe ebenso nahe, wie sie über die
Volksballade und deren Volkstümlichkeit dem sozialistischen Erbe verwandt
ist. In der Nachfolge der sozialen Ballade dient die Gattung in den 20er und
frühen 30er Jahren dem Agitprop-Theater als kleine Theaterform, für die die
Texte Erich Weinerts beispielhaft stehen, der mit seinen Balladenlesungen
für volle Säle bei den Kundgebungen der KPD sorgte.4 Neben dieser sozia-
listischen Tradition steht die Ballade in direktem Bezug zum Weimarer Erbe,
verlieh ihr doch Goethe die klassischen ‘Weihen’: Er bestimmte die Gattung
als “Ur-Ey”,5 in dem die “Naturformen” der Dichtung, “Epos, Lyrik und
Drama” “im engsten Raume” “beysammen” sind, wie es in den “Noten und
Abhandlungen zum West-Östlichen Divan” heißt.6
Diese Traditionslinie der Ballade führt auch zu Herder. Dessen Beobach-
tung der “Würfe und Sprünge”, wie er sie im “Briefwechsel über Ossian und
die Lieder alter Völker”7 hervorhebt, bergen für das Epische der Ballade
mittelbar die Legitimation modernen Erzählens. Sie binden Montage- und
Leerstellen-Verfahren in eine klassische Tradition ein, und was in den späte-
ren Jahren in der Prosa als Formalismus verworfen wird, erweist sich in der
Ballade als Bestandteil ihrer klassischen Poetik.
Die Geschichte der Gattung bringt zugleich eine thematische Vielfalt mit
sich, die vom Heldentum ebenso wie von Gespenstergeschichten geprägt ist,
die eine numinose wie eine historische Fabel kennt. Ihre Tauglichkeit auch
für eine aktuelle Thematik, die in erzählender Weise zum Kriegsgeschehen
oder auch zu tagespolitischen Ereignissen Stellung bezieht, ist so gleichsam
in der Tradition verbürgt. Und so trifft die Gattung in den Nachkriegsjahren
auf ideale Bedingungen, die ihr als einer schon Ende des 19. Jahrhunderts tot
gesagten Gattung zu überraschend neuer Vitalität verhelfen, indem sie eine

4
Weinert beschreibt diese Abende in eindrucksvoller Weise in dem Vorwort
“Gedichte als Partisanen” seines 1947 veröffentlichten Gedichtbandes. Erich Weinert:
Rufe in die Nacht. Gedichte aus der Fremde 1933–1943. Berlin: Volk und Welt
1947. S. 5–32.
5
Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1821–1824. Hg. von Stefan Greif
und Andrea Ruhlig. Frankfurt a.M.: DKV 1998 (Sämtliche Werke. Bd. 21). S. 39.
6
Johann Wolfgang Goethe: West-Östlicher Divan. Teil 1. Hg. von Hendrik Birus.
Frankfurt a.M.: DKV 1994 (Sämtliche Werke. Bd. 3/1). S. 206.
7
Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die
Lieder alter Völker. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Bd. 2. Hg. von G. Arnold u. a.
Frankfurt a.M.: DKV 1993. S. 447–497. Hier: S. 477.

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Möglichkeit der Einebnung des “Widerspruch[s] zwischen den pragmatischen


Forderungen [d. i. ‘die eingängige und schlagkräftige Formulierung tagespoli-
tischer Sachverhalte, die griffige Umsetzung des Aktuellen in Versform’] und
der geheimen Sehnsucht nach Erhabenheit und klassischer Größe”8 bietet.
Goethes Definition wird von der DDR-Literaturwissenschaft beibehalten,
und während man sich in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik
auf den epischen Charakter einigt, sogar eine dramatische oder allzu lyri-
sche Betonung aus der Kunstballade ausgeschlossen wissen will,9 bleiben
die drei Dichtweisen in der DDR-Ballade Definitionsbestandteil und darüber
die Gattung Teil des klassischen Erbes der “sozialistischen deutschen
Nationalliteratur”. Dass die Ballade darüber hinaus vor allem als Genre der
Lyrik in der DDR festgeschrieben wird, daran mag Johannes R. Becher nicht
ganz unschuldig sein.
2.
Themenvielfalt und Gestaltungsfreiheit zeigen bereits die ersten nach 1945
publizierten Gattungsbeispiele. Ob mitternächtliche Geisterkulisse oder
Fabrikalltag, ob Naturereignis oder Kriegszerstörung, in dieser Gattung
begegnet man einer Variationsbreite, die mit der “Sturm und Drangperiode”10
der Nachkriegsjahre korrespondiert, wie sie auch in den Publikationen in der
SBZ zum Ausdruck kommt, in der die Volksfrontpolitik in der Dichtung der
frühen Nachkriegsjahre Gestalt annimmt: Neben Gedichtbänden der schon
zurückgekehrten oder noch im Ausland weilenden Exilanten, u. a. von
Johannes R. Becher, Louis Fürnberg, Erich Weinert, Bertolt Brecht oder
Stephan Hermlin erscheinen auch Monographien von Dichtern des inneren
Exils und Widerstands wie Ricarda Huch und Adam Kuckhoff oder der im Exil
verstorbenen Max Hermann-Neiße und Franz Werfel, nicht zu vergessen der
erste Gedichtband von Peter Huchel. All diese zu den Druckerzeugnissen
der SBZ zählenden Werke zeigen eine Vielfalt an Traditionsbezügen, für die
selbst in den frühen fünfziger Jahren noch Beispiele zu finden sind wie die
ersten Publikationen Erich Arendts. Sein 1951 erschienener Gedichtband

8
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried
Barner. München: Beck ²2006. S. 144.
9
Vgl. Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegungen einer
Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter 1979. S. 349, 351.
10
Manfred Jäger spricht mit den Worten Tulpanows für die Jahre 1945-1949 von der
“Sturm- und Drangperiode des antifaschistischen Neubeginns”. Manfred Jäger: Die
Sturm- und Drangperiode des antifaschistischen Neubeginns. 1945–1949. In: Ders.:
Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß. Köln: Edition Deutschland
Archiv 1982. S. 1–24.

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Trug doch die Nacht den Albatros11 und vor allem der 1953 nachfolgende Band
Bergwindballade12 enthalten eine Anzahl von Balladen, deren Besonderheit
die Adaption einer vom magischen Realismus geprägten Fiktion in die
Balladenerzählung ist. Auch sie gehören zu einer Literatur, deren verbinden-
des Moment das Etikett “Humanismus” war und deren Veröffentlichung zum
“antifaschistischen Gründungs-Mythos”13 der DDR beitrug.14
In exemplarischer Weise stehen die nach 1945 veröffentlichten Balladen
nicht nur der Dichtung des sozialistischen Realismus, sondern darüber hin-
aus der ganzen nachfolgenden erzählenden Lyrik der DDR zur Seite. An
ihnen lassen sich fiktionale Erzählstrategien nachweisen, die dem Realismus-
Anspruch der Dichtung zwar folgen, jedoch einer verflachten Fiktion “in den
Formen des Lebens”, wie sie vielfach die nachfolgende sozialistisch-realistische
Dichtung dominiert, differenzierte fiktionale Verfahren entgegenhalten. Sie
demonstrieren innerhalb der Lyrik Realismusstrategien, wie sie die Funktion
der Literatur als Ersatzöffentlichkeit später abrufen wird. Dass sie dabei
nicht auf lyrische Momente der Innerlichkeit oder eine akzentuierte Subjek-
tivität verzichten muss, gehört zu den Besonderheiten der Gattungsmischung
Ballade. Und so nimmt es nicht Wunder, dass die Gattung als erzählendes
Gedicht zu den dominanten lyrischen Genres in der DDR-Literatur zählt.
In den frühen, nach 1945 publizierten Gedichtbänden ist die Ballade
vielfach vertreten, und manche tragen den Gattungsnamen bereits im Titel
wie Die Balladen und Songs des Walter Steinbach15 oder Zweiundzwanzig
Balladen16 von Stephan Hermlin. Diese während der Kriegsjahre entstandenen

11
Erich Arendt: Trug doch die Nacht den Albatros. Gedichte. Berlin: Rütten &
Loening 1951.
12
Erich Arendt: Bergwindballade. Gedichte des spanischen Freiheitskampfes. Berlin:
Dietz 1952.
13
Vgl. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009.
S. 421–453. Hier: S. 426.
14
Gleichwohl zeichnet sich schon in diesen Jahren die ‘Ausrichtung’ der Verlage in
der SBZ ab; so erscheinen die wirklich ‘harten Brocken’ politischer Panegyrik nicht
in dem dem Kulturbund nahestehenden Aufbau-, sondern im Dietz-Verlag, der, so
Christoph Links, “wie eine Abteilung des SED-Zentralkommitees behandelt” wird
und “noch bis 1950 der Zensur durch die sowjetische Militäradministration” unter-
steht. (Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und
ihre Konsequenzen. Berlin: Ch. Links 2009. S. 167–171. Hier: S. 168). Ein Beispiel
dafür sind Erich Weinerts Gedichtbände; so erschien Rufe in die Nacht 1947 bei
Volk und Welt, Kapitel II der Weltgeschichte im gleichen Jahr im Dietz-Verlag, letzter
mit explizit politisch-agitatorischem Inhalt und auf die Sowjetunion gemünzt.
15
Die Balladen und Songs des Walter Steinbach. Berlin: Dietz 1948.
16
Stephan Hermlin: Zweiundzwanzig Balladen. Berlin: Volk und Welt 1947.

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Texte stellen die Gattung als ein tagespolitisches Medium vor. Doch zugleich
bewahrt die Gattung auch Elemente ihrer älteren Geschichtszustände als
numinose Ballade oder Wiedergänger-Ballade, so dass sie sich schon in den
früh publizierten Texten als Konglomerat der Gattungsgeschichte und der
aktuellen Geschichte erweist: Wiedergänger und politisch-aktuelle Thematik,
Heldenballade und Held der Arbeit werden in dieser Gattung zusammenge-
führt; Kunst- und Volksballaden, Ballade und Bänkelsang, sie vermischen
sich in den Balladentexten, die in der SBZ publiziert werden.17 Dass die Gat-
tung überdies als metapoetisches Medium taugt, zeigen exemplarisch die
Balladen Stephan Hermlins. Er eröffnet in der Ballade einen poetologischen
Diskurs über die Gattung, der in den Folgejahren von den DDR-Autoren
immer wieder aufgenommen wird, während er in der Literaturwissenschaft
der DDR noch beinahe dreißig Jahre auf sich warten lässt.
Schon die frühen Texte zeigen die Bedeutung, die der lyrischen
Darstellungsweise innerhalb der Konstitution der Ballade als genus mixtum
zukommt. So wird von Becher und Hermlin die Erzählung über die Figur
und die Perspektive eines Ich vorgenommen, die die jeweilige Geschichte
aus einer subjektiven Sicht zu schildern ermöglicht. Nicht über einen allwis-
senden außenstehenden Erzähler, sondern über die subjektive Berichterstat-
tung wird das Geschehen zu einem subjektiven Erlebnis und räumt damit der
erzählten Geschichte einen dominanten Subjekt-Bezug ein, wie er im allge-
meinen der Erlebnislyrik vorbehalten ist. Von dieser Warte aus stehen der
Darstellung reflexiv- wie fiktionsorientierte Betrachtungen offen, können
“Fiktivitätsfaktoren”18 neben subjektiven Emotionen geschildert werden, über
die einer realistischen Erzählung zudem die Tür zur phantastischen Fiktion
geöffnet wird, die an die Wahrnehmung des Ich-Subjekts rückgekoppelt
werden kann.
3.
Bechers Ballade “Kinderschuhe aus Lublin”19 gehörte zur Schullektüre der
DDR. Entstanden ist das Gedicht vor dem Hintergrund der Lektüre eines

17
In den literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken der DDR findet man daher
unter dem Lemma “Bänkelsang” den Verweis auf die “Ballade”, so beispielsweise
in: Sachwörterbuch für den Literaturunterricht. Klassen 9 bis 12. Hg. von Karl-
heinz Kasper. Berlin: Volk und Wissen 51983.
18
Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur
und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 2001. S. 80.
19
Johannes R. Becher: Kinderschuhe aus Lublin. In: ders.: Ausgewählte Dichtung
aus der Zeit der Verbannung 1933–1945. Berlin: Aufbau 1945. S. 212–217. Das
Konzentrationslager Majdanek gehörte zur Stadt Lublin.

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Berichts von Konstantin Simonow, der den Fund von zigtausenden Kinder-
schuhen in den Baracken des Lagers Majdanek dokumentiert.20 Von daher
handelt es sich um einen referentialisierbaren historischen Hintergrund, vor
dem sich die Geschichte der Ballade entwickelt, jedoch zur phantastischen
Fiktion gewendet wird. In der Ballade berichtet ein Ich-Erzähler von einer
Gerichtsverhandlung, bei der die Kinderschuhe als “Zeugen” auftreten.
Sie figuriert der Erzähler zu Kindern und verleiht ihnen einen “Zeugen”-
Status, indem er die “Schuhchen” zu einer ‘Aussage’ befähigt, so dass sie
von ihrem Lageraufenthalt erzählen können. Die phantastische Fiktion bleibt
als poetische Konstruktion präsent und ist mithin keine Fabel, also keine
Gattung uneigentlichen Erzählens, sondern ein von subjektiver Betroffenheit
initiierter poetischer Prozess, der über Metonymie und Allegorie hin zur
Fiktion schreitet. Zugleich kann diese Metamorphose jederzeit auf den
historisch verbürgten Fund zurückgeführt werden, da die poetische Verfah-
rensweise offen gelegt wird. In dieser Demonstration des ‘Gemachtseins’ ist
die phantastische Erzählung ein poetisches Produkt, so dass in der Ballade
zwar die Tradition der Gattung im Bereich des Wundersamen oder des Irre-
alen genutzt wird, über die Realismusstrategie jedoch auf eine realistische
Erzählweise rückgeführt werden kann, indem Becher die Verfahren der
Uneigentlichkeit ausstellt.
Wie Bechers Fiktionsdarstellung die historische Referenz der Geschichte
über die Nennung “Lublin” im Titel präsent hält und sie über den Paratext
als Geschichtsballade kennzeichnet, bindet auch Stephan Hermlins “Ballade
von den toten Städten”21 den Paratext in die Fiktion der Ballade ein und
führt Fiktion und Realität in einem metafiktionalen und metapoetischen
Verfahren zusammen. In dieser Balladen-Erzählung steht die Littérature
engagée Pate, und mit ihr ist die Ich-Erzählung als Verpflichtung auf die
subjektive Parteinahme hervorgehoben. Das dem Text vorangestellte
“Motto” ist ein Auszug aus der Tageszeitung Paris soir über das Nachtlager
der Menschen in den Metro-Schächten im zerbombten London während des
Zweiten Weltkriegs. Es ist die faktuale Darstellung der fiktionalen Balladen-
Erzählung und darüber die explizite Herausstellung des Realitätsbezugs der
Literatur. In dieser Relation fungiert das Ich-Subjekt als fiktiver Erzähler und
Autor zugleich und ist als Erzählerfigur Konstrukt einer Mise en abyme. Die
Fiktionalität der Ballade wird somit sowohl fiktiv wie fiktional untergraben,
will aber dennoch als Fiktion gelesen werden, da die erzählte Geschichte im
Vergleich zu ihrer realen Vorlage mit fiktiven Elementen ausgeschmückt und

20
Vgl. dazu: Johannes R. Becher: Gedichte 1942–1948. Berlin-Weimar: Aufbau
1967 (Gesammelte Werke. Bd. 5). Hier: Anm. 335, S. 795f.
21
Hermlin: Ballade von den toten Städten. In: ders.: Zweiundzwanzig Balladen
[wie Anm. 16]. S. 13–16.

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vor numinoser Kulisse sogar mit den Mitteln der Phantastik verfremdet wird.
Mit ihnen zitiert Hermlin traditionelle Momente der numinosen oder Geister-
Ballade. Dennoch bleiben Realität und Fiktion über den “Autor-Erzähler”22 in
einem Vergleichsmodus, in der das erzählende Ich die Funktion eines Mittlers
erfüllt, der sich als Erzähler an die Realität gebunden fühlt und in der Rolle
des Autors einer wertenden und belehrenden Wirkung der Fiktion verpflichtet
ist. Über das Ich-Subjekt erfolgt somit die Transformation von Realität und
Fiktion als ein ausgestellter metafiktionaler Akt.
Auch hier kommt wie bei Becher dem erzählenden Ich eine mehrfache
Mittlerfunktion zu, die nun neben der einer narrativen Vermittlerinstanz auch
gattungstransformierende Funktion hat, da sie am Schnittpunkt zwischen
Lyrik und Epik situiert ist: Bei Hermlin wird das Ich als Erzähler aus einem
lyrischen Subjekt “Wir” herausgelöst, ist Teil eines als ‘Multi-Task’ struk-
turierten, polyphonen Gedichts, das sowohl als lyrische Einzelrede wie als
Erzähltext konzipiert ist. Über das Ich-Subjekt erfolgt somit der Prozess der
Gattungsmischung, die allerdings in Hermlins Text eine additive und weniger
‘fließende’ Gattungsverbindung aufweist, wie sie in Bechers Gedicht vorliegt,
die aber, funktionsgleich, explizit die Verbindung von Lyrik und Erzählung in
der Ballade herausstellt.
Ein drittes Beispiel – und in ihm nähert sich die Fiktion den “Formen des
Lebens” – ist die Ballade von Erich Weinert “Die Toten rufen”.23 Wie schon
der Titel erahnen lässt, ist es jedoch allein mit einer realistisch-fiktiven
Bestimmung der Geschichte nicht getan, sondern in Weinerts Ballade tritt
die für die Gattung typische Wiedergänger-Figur auf. Sie stellt sich als der
“unbekannte Soldat” vor und mischt sich am Volkstrauertag unter die anwe-
senden Minister – sie sind eindeutig als Göring und Goebbels charakterisiert,
jedoch nicht mit Namen bezeichnet. Der Tote, ein sprechender Kadaver, tritt
in einer realistisch gezeichneten fiktiven Welt als phantastische Figur auf,
und indem realistisch Mögliches mit Phantastischem zusammen gebracht
wird, wird das eine vom anderen infiziert, werden auch die “Reichsminister”
zu unheimlichen Gestalten. Weinerts Strategie geht jedoch noch weiter: Mit
der Benennung des Toten als “unbekannte[r[ Soldat” ruft er über die Figur ein
im kulturellen Gedächtnis des Lesers verankertes Wissen auf und knüpft die
Balladengeschichte an das Denkmal des Unbekannten Soldaten an, an dem
seit dem ersten Weltkrieg alljährlich die Feierlichkeiten zum Volkstrauertag
abgehalten werden. Im alltagssprachlichen Gebrauch ist die Bezeichnung

22
In dieser Doppelfunktion sieht Schlenstedt den Autor respektive Erzähler in der
Prosa der 70er Jahre. Dieter Schlenstedt: Die neuere DDR-Literatur und ihre Leser.
Wirkungsästhetische Analysen. München: Damnitz 1980. S. 293.
23
Erich Weinert: Die Toten rufen. In: ders.: Rufe in die Nacht [wie Anm. 4].
S. 251–255.

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‘Unbekannter Soldat’ Synonym für das Gedenken an die Kriegsgefallenen.


Weinert nutzt diese Uneigentlichkeit und löst sie fiktional auf, indem er sie
als Metonymie, als Synekdoche, liest und sie als pars pro toto im ersten Teil
und als totum pro parte im zweiten Teil des Gedichts in die Fiktion überträgt.
Das kulturelle Wissen ‘Unbekannter Soldat’ nimmt darüber fiktive Gestalt an,
die als phantastische Figur zugleich in der Wirklichkeit des Alltags abgesi-
chert ist. Dieser Wiederkehrer und schließlich die Heerscharen von Toten, die
ihren Gräbern “bei Tubruk, bei Moskau, bei Stalingrad” entsteigen, suchen
in der Realität des kulturellen Gedächtnisses ihre Anbindung: Das Geden-
ken am Volkstrauertag als Akt der Erinnerung wird als Wiederkehr der Toten
fiktional erfüllt. Ebenso wird die uneigentliche Rede “Die Toten mahnen” in
die Fiktion übertragen, indem die Toten die Lebenden vor dem Naziregime und
dessen Kriegstreiberei warnen. Vermittelt über kulturelles Wissen und Sprach-
gebrauch rekurriert diese phantastische Fiktivität auf Referenz beim Leser und
zielt darauf ab, “quasipragmatisch”24 rezipiert zu werden.25 Die Fiktion soll
Illusion von Wirklichkeit erzeugen, die Wiedergänger-Figur als Kriegstoter
in die von Kriegserfahrung geprägte Alltagswelt der Leser Eingang und seine
Worte Gehör finden. Die fiktiv übersetzte Uneigentlichkeit der Alltagssprache
kann darüber von einer operativen Zielsetzung in Dienst genommen werden.
Während bei Weinert die phantastische Fiktivität aus der Alltagswirklichkeit
abgeleitet wird, ist sie bei Becher ein autonomes, poetisches Verfahren.
Doch in beiden Fällen – und das gilt auch für alle anderen mit Geistern
oder Wiedergänger-Figuren ausgestatteten Geschichten in der DDR-
Balladenliteratur26 – ist eine Anbindung an realistische Erzählweisen verbind-
lich: Auch phantastisch-fiktive Welten bleiben realistisch erklärbare Welten.
4.
Bechers und auch Weinerts Ballade verdienen jedoch noch dank eines ande-
ren strukturellen Bestands Aufmerksamkeit: Am Ende der Becher-Ballade

24
Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975).
S. 345–387. Hier: S. 347.
25
Die Verbreitungsweise des Textes steht in engem Zusammenhang mit der inten-
dierten Rezeptionsweise; das Gedicht wurde als Flugblatt über der östlichen Grenze
Deutschlands in den letzten Kriegsmonaten abgeworfen und richtete sich an eine
Leserschaft, die an die eigenen Toten dachte und in den Worten der fiktiven Toten
die ihrer Angehörigen hören sollte.
26
Hier sei nur auf die Balladen von Hans Lorbeer: Das Gericht im Moor (In: Ders.: Die
Gitterharfe. Berlin: Dietz 1948. S. 100–102) und von Max Zimmering: Ballade von der
Hochzeit im Weizenfeld ( In: ders.: Und fürchte nicht den Tag. Balladen und andere
Verse von Gestern und Heute. Dresden: Sachsenverlag 1950. S. 23–25.) hingewiesen.

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tritt der Erzähler mit einer die Fiktion fortschreibenden Wertung hervor, in
der er sich für eine gerechte Strafe der Beteiligten an dem Kindermord von
Majdanek ausspricht:
Wenn Tote einst als Rächer schreiten
Und über Deutschland hallt ihr Schritt
Und weithin sich die Schatten breiten -
Dann ziehen auch die Schuhchen mit.

[. . .]
Und wo die Schergen sich verbergen,
Dort treten sie unheimlich ein.

Sie schleichen sich herauf die Stiegen,


Sie treten in die Zimmer leis.
Die Henker wie gefesselt liegen
Und zittern vor dem Schuldbeweis.
[. . .]
Der Kindermord ist klar erwiesen.
Die Zeugen all bekunden ihn.
Und nie vergeß ich unter diesen
Die Kinderschuhe aus Lublin.27

Dieses Plädoyer wird von Hans Haase “Balladenurteil[. . .]” genannt, das er
als “Urteil[. . .] über den balladesken Handlungsvorgang” bestimmt.28 Das
Balladenurteil erscheint als ein der fabula-docet-Formel oder der Moralstrophe
des Bänkelsangs verwandtes Urteil. Es bleibt bis 1986, bis zu dem von
Claus Träger29 herausgegebenen Wörterbuch der Literaturwissenschaft, fester
Bestandteil der DDR-Balladendefinition und beschreibt ein Gattungsmerkmal,
das “die emotionale-rationale Wertung des Balladengeschehens [erfasst], die
aus allen seinen Teilen erschlossen werden kann, oft jedoch akzentuiert
hervortritt, etwa durch Häufung gleicher Metaphern oder direkt durch ein
Spruchurteil. Gerade das Balladenurteil ist Ausdruck lyrischer Subjektivität”.30
Das Wörterbuch für den Literaturunterricht geht sogar noch weiter, indem es
in diesem Spruchurteil “humanistische Wertmaßstäbe gestaltet [sieht]: für Liebe,

27
Becher: Kinderschuhe aus Lublin [wie Anm. 19]. S. 216f.
28
Horst Haase: Operativität, Volkstümlichkeit und nationale Bedeutung von
Johannes R. Bechers Ballade ‘Kinderschuhe aus Lublin’. In: Weimarer Beiträge 9
(1963). S. 544–555. Hier: S. 550.
29
Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Hg. von Claus Träger Leipzig: Bibliogra-
phisches Institut 1986.
30
Hans Koch (Leitung) u. a.: Literatur und Persönlichkeit. Berlin: Volk und Wissen
1986. S. 496, Anmerkung 50.

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Mut und Würde des Menschen, für Tapferkeit und Solidarität, für Haß und
Vaterlandsliebe sowie andere Werte. Sie bringen die weltanschauliche
Stellung des Balladendichters zum Ausdruck”.31 Das Balladenurteil ist demnach
eine Wertungskategorie, in dem Volksverbundenheit, ideologisches Engage-
ment und Parteilichkeit, die Grundpostulate des sozialistischen Realismus,
explizit zum Ausdruck gebracht werden. Als im Balladenurteil strukturell
inhärente Bestandteile der Gattung formen sie die Ballade zur politischen
Lehrgattung um, die schon von daher als ein “[f]ür das Anliegen der Literatur
der Arbeiterklasse [. . .] besonders geeignetes Genre”32 erscheint. Doch über
dieses Instrument, das dem Balladengeschehen eine direkte statt eine ‘indirekte
Teleologie’33 anträgt, wie sie Hartmut Laufhütte als Merkmal der Ballade
bestimmt, weichen diese Gedichte von der Tradition der Ballade ab und
schlagen den Weg zum Bänkelsang oder zur Volksballade ein. Vor allem aber
formt das Balladenurteil in seiner politischen Intension die klassische Ballade
zur sozialistisch-operativen Gattung um.
Schwieriger ist die Abweichung im Fall des “indirekten Balladenurteils”
zu bestimmen, jenes “balladesken Urteilens”, das Volkmar Tietz in dem für
die Universität aufbereiteten Lehrbuch der DDR Grundbegriffe der Litera-
turanalyse als der Ballade “immanent in der Art des Erzählens” erläutert.34
Und dieses führt Weinerts Ballade explizit vor, wenn er den Wiedergängern
die agitatorische Rede in der Diktion der kommunistischen Partei und ihrer
Propaganda in den Mund legt:
Kollege, du hast meinen Platz weggenommen,
Kollege, nun bin ich wiedergekommen.
[. . .]
Doch was du hier tust, Kollege,
ist nur für den eigenen Tod!
[. . .]
Heraus! Laßt die Maschinen stehn!
Jetzt muß es mit denen zu Ende gehen!

31
Sachwörterbuch für den Literaturunterricht. Hg. von Karlheinz Kasper. S. 25–27.
Hier: S. 26. (Hervorhebung von mir).
32
Ebd., S. 26f.
33
Zur “Indirektheit” der “teleologischen Vorgangsstrukturierung” der Ballade vgl.
auch das Nachwort von Hartmut Laufhütte in: Deutsche Balladen. Hg. von Hartmut
Laufhütte. Stuttgart: Reclam durchges. Ausgabe 2003. S. 592–632. Hier: S. 619.
34
Volkmar Tietz: Lyrische Genres III: Epigramm, Spruchdichtung, Lehrgedicht,
Ballade, Chronik. In: Grundbegriffe der Literaturanalyse. Hg. von Karlheinz Kasper
u. Dieter Wuckel. Leipzig: Bibliographisches Institut ²1985. Zur Ballade vgl.
S. 251–254. Hier: S. 253.

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Die Toten werden mit Euch marschieren.


Die Toten werden die Lebenden führen.
[. . .]35

Was von Tietz als ‘balladeskes Urteilen’ beschrieben wird, ist die politisch-
ideologische Reklamation der fiktionalen Erzählung der Ballade, die damit
als wertendes, Parteilichkeit und Ideologie zum Ausdruck bringendes Element
der Ballade vereinnahmt wird. Vor diesem Hintergrund manifestiert sich in
jeder fiktionalen Erzählung ein Werturteil, das die Fiktion auf eine politisch-
ideologisch zu lesende, zwanghafte Allegorie beschränkt. Man kann diese
Infizierung der Fiktion mit dem Begriff “Indexikalität”36 beschreiben, die
als ein drittes Element, darin dem “Imaginären”37 Wolfgang Isers verwandt,
dem Realen und Fiktiven zur Seite gestellt wird. Darüber ist die “Indexikali-
sierung” vor allem an die Lukács’sche Kategorie des “Typischen” gebunden,
die, vor dem Verständnis der “Totalität” im Sinne kommunistischer Utopie,
in der Fiktion eine Art “Vor-Schein” zum Ausdruck bringt. Im Rahmen der
Semantik oder der paradigmatischen Ebene des Textes trägt dieses balladeske

35
Erich Weinert: Die Toten rufen. In: Ders.: Rufe in die Nacht [wie Anm. 4].
S. 251–255. Hier: S. 253f.
36
Vgl. Bernd Häsner: Indexikalität und Indexikalisierung. Überlegungen zur lite-
raturwissenschaftlichen Relevanz eines sprachphilosophischen Konzepts. In: Im
Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer
Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Hg. von Irina O. Rajewsky
und Ulrike Schneider. Stuttgart: Steiner 2008. S. 67–84. Häsner legt seiner Arbeit
ein gegenüber dem sprachwissenschaftlichen Gebrauch erweitertes Verständnis
von Indexikalität zugrunde, in dem es um “deiktische Text-Welt-Relationen” geht
(S. 72, Anm. 2). Sie stehen bei ihm ebenso in einem “Äußerungskontext” (S. 72),
meinen aber die “personalen, zeitlichen und räumlichen Parameter der Textgene-
rierung – [. . .] deren unmittelbare lebensweltliche Voraussetzungen”, wie er sie in
Hempfers Begriff der “potentiellen Autoreflexivität” sieht. “Es geht [. . .] um den
empirischen Autor in der Situation und im Moment oder während der Zeitspanne
der Textproduktion und um deren empirische – mediale, soziale, ökonomische, psy-
chologische, mentale etc. – Konditionen, und zwar insoweit diese im Text selber
indiziert werden” (S. 72). Diese “Konditionen” werden hier um das Moment der
politisch-ideologischen Intension erweitert gedacht.
37
Vgl. dazu besonders die frühen Darlegungen Wolfgang Isers zum Imaginären in:
Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Funktionen
des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München: Fink 1983 (Poetik
und Hermeneutik X). S. 121–151. Darin schlägt Iser vor, “die Zweistelligkeit von
Fiktion und Wirklichkeit durch eine dreistellige Beziehung zu ersetzen” (S. 121).

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Urteilen zu einer politisch-ideologischen Bedeutungserweiterung des fik-


tionalen Textes bei, die dann nicht allgemein die “Anwesenheit der Welt in
der Sprache”,38 sondern hier die der Fiktion zugrunde liegende, ihr inhärente
Ideologie beschreiben soll.
Gottfried Gabriel spricht im Zusammenhang der nicht-propositionalen
Erkenntnis der Literatur von der “anagogische[n] Funktion”, die sich als
sublime Möglichkeit hinter dem Text verbirgt.39 Jenseits einer expliziten
Thematisierung kann dann die Arbeitswelt-Thematik ebenso wie die Realismus-
Strategie in der phantastischen Fiktion als implizite politisch-ideologische
Wertung oder als indirektes Balladenurteil durchaus auch zu dieser Form der
Anagoge gerechnet werden40 – und auf deren Negation hin ist ein Großteil
der späteren Balladenliteratur in der DDR ausgerichtet.41
So bleibt für die SBZ-Balladen-Publikationen festzuhalten: Nach
Hartmut Laufhüttes “Grundlegungen”, die maßgeblich die Balladendefinition
der westdeutschen Literaturwissenschaft beeinflusst hat, können die Balladen
der SBZ zum größten Teil nicht der Kunstballade zugerechnet werden, da
sie über das Balladenurteil die Indirektheit der Teleologie überschreiten und
ihre lyrische Akzentuierung dem epischen Definitionsmerkmal gleichberech-
tigt zur Seite gestellt ist. Doch gerade in diesen Abweichungen manifestieren
sich die Spezifika einer Gattungsästhetik, die danach trachtete, die Ballade,
ohne Preisgabe ihrer klassischen Traditionslinie, zu einer sozialistisch-
realistischen Gattung umzuformen und zu einer sozialistischen Poetik der
Ballade führte.

38
Vgl. Helmut Pape: Indexikalität und die Anwesenheit der Welt in der Sprache.
In: (Hg.): Indexikalität und sprachlicher Weltbezug. Hg. von Matthias Kettner und
Helmut Pape. Paderborn: Mentis 2002. S. 91–119. Zit. in: Bernd Häsner: Indexikalität
und Indexikalisierung [wie Anm. 36]. S. 68.
39
Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung,
Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart: Metzler 1991. S. 59.
40
Vgl. auch Bernhard F. Scholz: Belehrung. In: Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Berlin-New York: de Gruyter 1997.
S. 211–215. Bd. I. Hier: S. 214.
41
Dies steht auch im Zusammenhang mit der Wende vom gnoseologischen zum
axiologischen Literaturverständnis in der DDR.

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Thomas Ulrich

Hanns Eislers Johann Faustus und Brechts


Urfaust-Inszenierung als Beispiel der bedingungslosen
Kulturpolitik der Frühphase der DDR
Hanns Eisler’s libretto Johann Faustus, first published in 1952, gave rise to a dis-
cussion about the importance of literary role models within the context of the GDR’s
separation from the FRG in 1953. The seemingly cultural discussion was in reality a
politically motivated campaign to repress cultural works that were not compliant with
the GDR’s self-conception as a progressive, future-orientated socialist state. Hanns
Eisler, who had composed the GDR’s national hymn in 1949, was trapped between
his socialist conviction and the reality of the GDR. The Faustus-trial becomes a first
example of the GDR’s radical treatment of nonconformist art.

Hanns Eisler hat dem deutschen Volk optimistische, volkstümliche, wegwei-


sende Massenlieder mit schöner nationaler Intention geschenkt. Sie begeis-
tern und entflammen das deutsche Volk und besonders die deutsche Jugend
in ihrem Kampf für ein neues Deutschland. Zu diesen Schöpfungen steht der
Johann Faustus im Widerspruch. Er ist pessimistisch, volksfremd, ausweg-
los, antinational,1 schlussfolgert Wilhelm Girnus im Neuen Deutschland, dem
Zentralorgan der SED, am 14. Mai 1953. Sein Artikel Das Faust-Problem und
die deutsche Geschichte stellt einen der Höhepunkte im Schauprozess um die
Bedeutung von Hanns Eislers Libretto für die frisch gegründete DDR dar.
Die Schelte, die Hanns Eisler aufgrund seines Operntextes einfährt, ist ein
erstes Anzeichen für die direkte Einflussnahme des Zentralkomitees der SED
auf kulturpolitische Entscheidungen innerhalb der Deutschen Demokratischen
Republik. Eisler, dem knappe drei Jahre zuvor im Oktober 1950 zusammen
mit Johannes R. Becher der Nationalpreis erster Klasse verliehen worden
war,2 wird durch die drei Verhandlungstage der Mittwochsgesellschaft in der
Akademie der Künste und die Ereignisse des kurz darauf folgenden 17. Juni
in eine Sinnkrise gestürzt, die letzten Endes dazu führt, dass er die geplante
Oper niemals komponiert. Für Hans Bunge ist dies der Beweis dafür, dass

1
Redaktionskollegium “Neues Deutschland” (Wilhelm Girnus): Das “Faust”-
Problem und die deutsche Geschichte. In: Hans Bunge: Die Debatte um Hanns
Eislers Johann Faustus. Eine Dokumentation. Berlin: BasisDruck 1991. S. 101.
2
Vgl. Jürgen Schebera: Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten.
Mainz: Schott Musik International 1998. S. 226.

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“dogmatische Eingriffe in Kunst, Wissenschaft und humanistische Lebensfor-


men unersetzbare Verluste”3 verursachen.
Eislers Johann Fausten als Ausdruck der deutschen Misere
Dass es gerade Eisler treffen musste, der in den frühen Jahren der DDR neben
Brecht, Arnold Zweig und Johannes R. Becher zu den wichtigsten Künstlern
des neuen deutschen Teilstaates gehörte, mutet heute mitunter wie ein von
ganz oben geplanter Zufall an.
Die Diskussion entbrennt zwischen dem 13. Mai und dem 10. Juni 1953,
ein gutes halbes Jahr nach der Veröffentlichung des Operntextes im Oktober
1952 im Aufbau-Verlag. Eisler, der gerade aufgrund seiner Zusammenarbeit
mit Becher und Brecht in der Bundesrepublik eher skeptisch beäugt wurde,4
erlebt in diesen wenigen Monaten, was es heißt, an den Plänen des Regimes
vorbeizuschreiben.5
Eislers Profil entspricht dem vieler Künstler in der Frühphase der DDR.
Christian Glanz nennt ihn in seiner kürzlich erschienenen Biografie einen
sozialistischen Idealisten, der Zeit seines Lebens an eine sozialistische Staats-
form geglaubt habe, die aufgrund der Debatten um sein ursprünglich als
volksnahes Opernprojekt verstandenes Libretto gehörig ins Wanken geraten
sei.6 Bereits vor seiner Emigration in die USA 1938 näherte sich Eisler an die
Sowjetunion an, wurde 1935 Vorsitzender des Internationalen Musikbüros.
Warum er 1938 dann in die USA statt in die Sowjetunion flüchtet, kann
heutzutage nicht mehr zufriedenstellend beantwortet werden.7 Die ersten Jahre
seines Exils verbringt er in New York, wo er an der New School of Social
Research lehrt. 1942 siedelt er dann über an die Westküste, wo er in Thomas
Manns Umkreis vermutlich die ersten Ideen zu seinem Johann Faustus
entwickelt. 1948 kehrt Eisler aufgrund der Beschlüsse des House Committee

3
Vgl. Hans Bunge: Verlorene Zeit? In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers
Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 19.
4
Vgl. Maren Köster: Negative und positive Helden? Probleme der Rezeption der
Faustus-Debatte. In: Hanns Eislers Johann Faustus. 50 Jahre nach Erscheinen des
Operntexts 1952. Hg. von Peter Schweinhardt. Wiesbaden-Leipzig-Paris: Breitkopf &
Härtel 2005 (Eisler-Studien Band 1). S. 98.
5
Eisler hatte bereits 1951 erste Probleme mit der Kulturpolitik der DDR, die im
Rahmen der Formalismus-Debatte unter anderem seine für Ernst Busch verfassten
Lieder gegen den Koreakrieg Ami go home und No, Susanna als formalistisch
aburteilte. Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 241.
6
Vgl. Christian Glanz: Hanns Eisler. Leben und Werk. Wien: Edition Steinbauer
2008. S. 8.
7
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 160–75.

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on Un-American Activities nach Wien zurück, das er 1949 in Richtung


Ost-Berlin verlässt.8
Die damalige sowjetische Militäradministration ist in den ersten Nach-
kriegsjahren im Gegensatz zur westlichen Administration daran interessiert,
während des Krieges emigrierte Künstler zurück nach Deutschland zu holen,
um ein kulturpolitisches Umdenken zu ermöglichen.9 Im Sinne dieser Kul-
turpolitik wird 1945 der Bund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands,
der spätere DDR-Kulturbund, gegründet, dem Johannes R. Becher als erster
Präsident vorsteht. Es ist Becher, der Eisler 1949 in Ost-Berlin in Empfang
nimmt. Die Zusammenarbeit mit ihm wird die erste Phase von Eislers
DDR-Leben bestimmen.
Die Hauptarbeit am Johann Faustus beginnt im Juli 1951 und ist im
Oktober 1952 mit der Veröffentlichung des Opern-Textes im Ostberliner
Aufbau-Verlag vorerst abgeschlossen. Als Eislers Hauptquellen lassen sich
der neunte Band der deutschen Puppenkomödien Die beiden alten deutschen
Volksschauspiele vom Doktor Faust und Christoph Wagner, Fausts Famulus
von 1890, Das Puppenspiel vom Doktor Faust und das alte Volksbuch Die
Historia von D. Johann Fausten benennen.10 Goethes Faust spielt im Sinne
einer Vorlage eine eher marginale Rolle, nur einige Szenen lassen sich direkt
mit Goethes Werk vergleichen: Fausts Spaziergang vor den Toren Wittenbergs
mit Goethes Osterspaziergang, Fausts Hofszene mit dem Teufelsgold
bei Eisler mit der Assignaten-Szene des goetheschen Faust II und die
Liebschaft zwischen Hans Wurst und der Küchengehilfin Grete mit Teilen der
Gretchentragödie.11
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hat Eisler mit seinem Libretto
einen Text geschaffen, der sich durchaus weit entfernt von Goethe positio-
niert, als Ausdruck der Zeit, in der er niedergeschrieben wurde, jedoch unbe-
schränkt einen hohen Stellenwert einnimmt. “Hübsch provokant”, nennt
Thomas Mann Eislers Text nach einer ersten Lektüre, auch Feuchtwanger und
Brecht sehen in Eislers Bearbeitung eine zeitangemessene Darstellung des
altbekannten Themas.12
Eislers Faust ist der Sohn eines Bauern, der Zeit seines Lebens nach etwas
Höherem, einem idealistischen Ziel strebt, das er selbst kaum benennen

8
Vgl. Glanz: Hanns Eisler [wie Anm. 6]. S. 39.
9
Vgl. Anne Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte und stalinistischen Semantik
der Faustus-Debatte. In: Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 4]. S. 116–118.
10
Vgl. Friedrike Wißmann: Johann Faustus. Eislers Materialien und die Komposition
des Textes. In: Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 4]. S. 13–16.
11
Vgl. Wißmann: Eislers Materialien [wie Anm. 10]. S. 17.
12
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 241.

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kann: Mal ist es die Wahrheit, dann sind es Geld und Kostbarkeiten, letzt-
lich sucht er die Anerkennung der fürstlichen Herren. Das goethesche Motto
“Es irrt der Mensch, so lang er strebt”13 trifft in besonderem Maße auf
Eislers Faust zu: So beschwert sich Pluto, der Herr der Unterwelt, im Vor-
spiel darüber, dass Deutschland das einzige Land sei, in dem ein Mensch aus
Verzweiflung vierfache Doktorwürden erlange, um noch immer nicht zufrieden
zu sein.14 Fausts andauernde Unzufriedenheit wird auch von Mephistopheles
kommentiert, in seiner letzten Szene mit Faust, der Entführung in die Hölle.15
Der Zustand andauernder Fortentwicklung, andauerndes Entwicklungsstre-
ben, verbunden mit der Unfähigkeit, sich eindeutig zu einer Sache zu beken-
nen, sind die Attribute, die Eisler seinem Faust einschreibt. Im ersten der drei
Akte wettert Faust gegen die Fürsten und Junker, die das Leben der Bauern
wie eine Pest verunstalten würden.16 Wie an der Rahmenfigur des Bauernop-
fers Karl ersichtlich wird, war Faust früher selbst ein eifriger Verfechter der
sozialrevolutionären Befreiungspolitik Thomas Müntzers, floh jedoch in der
Schicksalsschlacht von Frankenhausen und verriet die Ideale, für die er und
Karl als Jugendliche des gleichen Standes eingetreten waren.17 Faust bezeich-
net sich Karl gegenüber als Wahrheitssuchender, schließt jedoch kurze Zeit
darauf den Vertrag mit Mephistopheles, von dem er reichlich Geld, die Kost-
barkeiten des Lebens und die Beherrschung der höchsten Kunst fordert, die
Mephistopheles ihm jedoch zugunsten der Kunst des Schwarzspielens, einer
Art teuflischer Theaterinszenierung, ausredet.18 Eine der Bedingungen des
Vertrags sieht vor, dass Faust von nun an keinerlei positive Empfindungen
gegenüber Freunden und vor allem gegenüber den alten Kampfgenossen
pflegen darf – eine Bedingung, die er gerade mit der abschließenden
Confessio bricht, in der er das Schicksal der tapferen Bauern beklagt, die in
Frankenhausen den Tod fanden, während er floh.19
Bereits die Schwarzspiele, die Faust und Mephistopheles im zweiten Akt in
Atlanta aufführen, zeigen erste Risse in Fausts Fassade: So lässt er David als
Teil der Landbevölkerung gegen den junkerhaften Goliath kämpfen oder setzt
die Sehnsucht der Sklaven nach einem besseren Leben mit Ovids Darstellung

13
Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Johann Wolfgang von
Goethe: Sämtliche Werke. Hg. von Victor Langs. München: Random House 2006
(Münchner Ausgabe). Band 6.1. S. 543.
14
Vgl. Hanns Eisler: Johann Faustus. Hg. von Jürgen Schebera. Leipzig: Faber &
Faber 1996. S. 17.
15
Vgl. Hanns Eisler: Johann Faustus [wie Anm. 14]. S. 134.
16
Vgl. ebd., S. 21–22.
17
Vgl. ebd., S. 29–32.
18
Vgl. ebd., S. 48–57.
19
Vgl. ebd., S. 126–133.

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eines goldenen Zeitalters gleich.20 Die Anbiederung an den Dienerstand geht


im zweiten Akt so weit, dass Faust überhastet vor dem Herren von Atlanta
fliehen muss.21 Der dritte Akt, der mit Fausts Ableben und der Verherrlichung
des tatsächlichen Bauernkriegers Karl endet, zeigt einen Faust, der zum
Vorbild aller Deutschen werden will, aufgrund seiner Verbrüderungspoli-
tik mit den hohen Herren und der von Panik getriebenen Exekution einiger
Bauern letztlich allerdings zu einer tragischen Figur wird, die in der
Confessio versteht, dass der Verrat der einstigen Ideale bei der Schlacht von
Frankenhausen schwerer wiegt als jedes weitere Vergehen, das er durch sein
stetes Fortstreben begangen hat. Die Confessio endet mit dem bezeichnen-
den Satz: “So soll es jedem gehen, der nicht den Mut hat, zu seiner Sach’ zu
stehn.”22
Eisler hat somit eine Faustfigur geschaffen, die darauf angelegt ist zu
demonstrieren, was mit politischen Renegaten geschehen solle. Es scheint
sich vordergründig um ein Werk zu handeln, das im Sinne der sozialistischen
Abspaltungspolitik zum westlichen Nachbarn durchaus hätte verwendet wer-
den können. Zwischenzeitlich hatte sich allerdings das politische Klima in der
DDR entschieden verschärft, was Hanns Eisler kurze Zeit später am eigenen
Leib erfahren muss.
Die Debatte um Eislers Johann Faustus
Eisler gerät in einen vordergründig literarischen Konflikt, der allerdings auf-
grund seiner unterliegenden Formalismus-Semantik recht schnell als poli-
tische Debatte um die Bedeutung von Nation und Nationalerbe identifiziert
werden kann.23 Vor dem Hintergrund der Anspruchshaltung des sozialisti-
schen Realismus, der angeregt durch Andrej Shdanows Formalismusdebatte
in den ausklingenden 40er Jahren bereits die sowjetische Kulturpolitik domi-
niert, werden die kulturellen Produktionen der DDR ab 1951 mit einem
Maß gemessen, dem einige, unter ihnen Brechts und Dessaus Inszenierung
Das Verhör des Lukullus wie auch Eislers Johann Faustus, nicht entsprechen
können.24
Bereits im November 1948 erscheinen in der Täglichen Rundschau, der
Zeitung der sowjetischen Militäradministration, zwei Artikel des damaligen

20
Vgl. ebd., S. 74–91.
21
Vgl. ebd., S. 92–94.
22
Ebd., S. 133.
23
Vgl. Jürgen Schebera: Johann Faustus. Oper ohne Musik. In: Hanns Eisler: Johann
Faustus [wie Anm. 14]. S. 147; vgl. auch den Eintrag zur Formalismus-Debatte/
Formalismus-Kampagne in: Metzler Lexikon. DDR-Literatur. Hg. von Michael
Opitz und Michael Hofmann. Stuttgart: Metzler 2009. S. 94–96.
24
Vgl. Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 109.

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Leiters der Kulturabteilung Alexander Dymschitz, in denen er vor den


Gefahren des Formalismus warnt, der aufgrund seiner Formaffinität ästheti-
sche Maßstäbe über den ideologischen Inhalt eines Kunstwerkes stellen würde
und somit gegen die Forderung des sozialistischen Realismus, die gültige
kulturelle Staatsdoktrin der DDR, verstoße, da ein Weggang von der inhaltlich-
ideologischen Ebene zugunsten einer ästhetischen Konzeption gegen das
Empfinden des deutschen Volkes agieren würde.25 Literatur solle kein
Ausdruck der Zeit sein, in der sie geschrieben wurde, sie solle idealisierte
Darstellungen liefern, die das Projekt der sozialistischen Staatsführung positiv
hervorheben. In den Worten des ZK der SED vom März 1951 heißt dies, der
Formalismus vollziehe den “völligen Bruch mit dem klassischen Kulturerbe”,
dies führe “zur Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des
Nationalbewusstseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet objektiv
eine Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus.”26
Der Künstler müsse eher eine Vorbildfunktion einnehmen und dem Volk durch
seine Kunst die sozialistischen Zukunftswerte vermitteln. Er wird zu einem
politischen Vorbild bzw. einem Lehrer, der seinen Rezipienten zeigt, wie ein
Leben im Sinne des erfolgreichen Sozialismus auszusehen habe.27 Die
Darstellung von sozialistischer Moral, die Veranschaulichung des sozialis-
tischen Helden, der für die Entwicklung seiner Volksgemeinschaft kämpft,
lässt sich Eislers Faust nicht andichten. Es ist diese Abweichung von der
politischen Forderung an die Kunst, die eines der Hauptargumente in den
Diskussionen um Eislers Johann Faustus darstellt.
Die Aufregung um Eislers Werk beginnt mit einem Aufsatz Ernst Fischers,
der im sechsten Heft von Sinn und Form Ende 1952 veröffentlicht wird. In
dem über vierzig Seiten umfassenden Artikel lobt Fischer Eislers Werk über
alle Maßen. Er bezeichnet es als “großartige und volkstümliche Weiterbildung
der alten Faust-Sage”,28 die von höchstem literarischen Wert sei. Fischer
lobt vor allem Eislers Mut, mit dem goetheschen Faust-Vorbild zu bre-
chen, indem er als erster die historischen Hintergründe der Bauernkriege für
die Entwicklung seiner Figur benutze. Faust sei ein Humanist, dem es trotz
aller Bildung nicht gelinge, sich an der fortschrittlichen Revolution des
Bauernstands zu beteiligen. Eislers Konzeption ist für Fischer somit Ausdruck
der grundlegenden Unfähigkeit vieler Gelehrter, eindeutig Partei zu ergreifen.

25
Vgl. Alexander Dymschitz: Warum wir gegen Dekadenz sind. In: Tägliche
Rundschau 21.03.1948 und Alexander Dymschitz: Über die formalistische Richtung
in der Malerei. In: Tägliche Rundschau 24.11.1948.
26
Metzler Lexikon. DDR-Literatur [wie Anm. 22]. S. 95.
27
Vgl. Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 122–125.
28
Ernst Fischer: Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg. In: Bunge: Die
Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 23.

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Er bezeichnet den selbst aus Bauernkreisen stammenden Faust als politischen


Renegaten, der am Ende das bekommt, was er für seinen Verrat verdiene.29
Die Faustfigur sei Abbild einer urdeutschen Geisteshaltung und verdeut-
liche den Ursprung und den Charakter der deutschen Misere, die in dieser
Form noch immer vorgefunden werden könne. Für ihn ist Faust also die
Zentralgestalt der deutschen Misere. Mit dieser Konzeption sei Eislers Oper
dazu fähig, zu einer deutschen Nationaloper zu werden.30
Die Kritik an Eislers Werk, die die anschließende Debatte bestimmt,
beschäftigt sich vor allem mit zentralen Punkten aus Fischers Aufsatz. So ver-
öffentlicht Alexander Abusch, der damalige Bundessekretär des Kulturbundes
zur demokratischen Erneuerung und spätere Kultusminister der DDR, zu
Beginn der Diskussionsrunden in der Akademie der Künste am 13. Mai 1953
einen Artikel, der zentrale Punkte von Fischers Essay wieder aufnimmt. Er
stellt sich die Frage, ob es erlaubt sei, Faust, einen der Helden der deutschen
Nationalliteratur, als Renegaten darzustellen.
Insbesondere dieser Verweis auf die Bedeutung der deutschen Nationallite-
ratur, auf das deutsche Nationalerbe, ist im Hinblick auf die Behandlung des
Librettos von großer Wichtigkeit. Die DDR verstand sich als Erbe der pro-
gressiven Nationalliteratur, zu der vor allem auch Goethes Faust gezählt wur-
de.31 Auch wenn in Eislers Werk nur wenige Szenen direkt mit Goethes Faust
verglichen werden können, wird dieser Vergleich gerade im Verständnis der
zentralen Figur zur wichtigsten Argumentationsbasis. So wirft Abusch Eisler
in der ersten Sitzung der Mittwochsgesellschaft vor, er habe noch nicht tief
genug in die Grundfrage des patriotischen Kampfes geschaut und deshalb kei-
nen wahren Bezug zum Nationalerbe.32 Die Darstellung Fausts als politischer
Renegat sei vollkommen haltlos. In Abuschs Sinne müsse Faust als Figur ver-
standen werden, die gegen die deutsche Misere kämpfe, und nicht als Figur,
die ein Teil der Misere sei. Ihm zufolge gelang es erst Goethe, der Faustfigur
die ursprüngliche Renaissance-Haltung, die sich im Streben nach Wahrheit,
im Abschütteln von hemmenden Einflüssen von Puritanern und Lutheranern
zeigt, zu reaktivieren. Goethes Faust ist für Abusch ein stetig fortschreitender
Charakter, der sich lediglich im positiven Sinne entwickelt. Er legt die vielen
Hemmnisse, sogar die des Teufelspaktes, letzten Endes aufgrund seiner fort-
schrittlichen Denkweise ab.33

29
Ebd., S. 27.
30
Vgl. ebd., S. 36.
31
Vgl. Schebera: Johann Faustus. Oper ohne Musik [wie Anm. 22]. S. 153.
32
Vgl. Alexander Abusch: Faust – Held oder Renegat in der deutschen Nationalli-
teratur. In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1].
S. 47.
33
Vgl. ebd., S. 53.

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Es ist diese für Abusch positive Konzeption, die Eislers Werk vollkommen
außer Acht lässt. Er beschmutze mit seiner Gestaltung das große goethesche
Erbe, das als Grundlage des sozialistischen Staatsapparats als äußerst wich-
tig verstanden wurde. Goethe wie auch seine Faustfigur seien Symbole für
die “Überwindung der geistigen Finsternis”,34 sie verkörpern den fort-
laufenden deutschen Freiheitskampf. Eislers Faust kann aufgrund seiner
Gestaltungsweise nicht in diese Tradition eingereiht werden. Der negative
Held ist für Abusch lediglich Ausdruck eines mangelnden Verständnisses
für Nation und Nationalerbe, dessen Ursache er in Eislers amerikanischem
Exil vermutete.35
Im Rahmen dieser ersten Diskussionsrunde, die von Abuschs Aufsatz
dominiert wird, sind es nur Brecht und Zweig, die sich auf Eislers Seite schla-
gen. Beide versuchen an diesem ersten Verhandlungstag, Abuschs Vorwürfe
durch sachliche Argumente aus dem Weg zu räumen. So betont Brecht die
durchaus im Sinne des Sozialismus zu deutende Figurenkonzeption,36 wäh-
rend Zweig meint, dass das einzige Problem des Librettos die Benennung
des Protagonisten als Faust wäre, weil dadurch direkt das goethesche Erbe
beschworen würde.37
Als weiterer wichtiger Gegenspieler Eislers entpuppt sich Wilhelm
Girnus, damals Mitglied im Redaktionskollegium des Neuen Deutschland,
dem Zentralorgan der SED, das bereits im Vorfeld der Diskussion positive
Hervorhebungen anderer Künstler an Eislers Text nicht abzudrucken bereit
war.38 Girnus argumentiert, dass Eislers Werk nicht im Einklang mit dem
“Wesen der gegebenen sozialen und historischen Erscheinung” und damit als
mangelhaft zu bewerten sei.39 Faust als Renegat darzustellen, wie Fischer in
seinem Aufsatz verkündet, grenzt für Girnus an Verrat am Volk, da er Goethes
Faust ähnlich wie Abusch als Ausdruck der fortschrittsgewandten deutschen
Nation verstehe. Girnus schlussfolgert, dass Eislers Faust-Konzeption anti-
national und pessimistisch und gerade in Zeiten der Abgrenzung gegen den
Westen in keiner Weise dazu geeignet sei, die seiner Meinung nach in diesen

34
Vgl. ebd., S. 49.
35
Vgl. ebd., S. 54.
36
Vgl. Brechts Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der ersten Sitzung der
Mittwochgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (13.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 62.
37
Vgl. Zweigs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der ersten Sitzung der
Mittwochgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (13.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 63–64.
38
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 242–243.
39
Vgl. Wilhelm Girnus: Das Faust-Problem und die deutsche Geschichte. In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 94.

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Zeiten notwendigen Kräfte im Volk zu mobilisieren.40 Er bezeichnet Eisler


vor allem aufgrund seines amerikanischen Exils als einen dem deutschen Volk
entfremdeten Künstler und versucht diesen Punkt mit Fausts Worten zu Beginn
des dritten Aktes zu unterstreichen, in dem dieser Wittenberg nach seinem
Atlanta-Exil als grau und hässlich bezeichnet. Brechts Einwand am Ende des
ersten Diskussionstages, gerade Fausts späte Einsicht, die gute Sache ver-
raten zu haben, stelle das Positive des Werks dar, wird vom Gremium nicht
akzeptiert.41
Einen Tag nach der ersten Gesprächsrunde veröffentlicht Girnus im
Neuen Deutschland seinen Artikel “Das Faust-Problem und die deutsche
Geschichte”, in dem er seinen Beitrag verschriftlicht. Girnus verschärft hier
seine Ansicht bis zu der Aussage, Eislers Text sei “ungeeignet als Grundlage
für eine deutsche Nationaloper”.42
Am 27. Mai findet die zweite Sitzung der Mittwochsgesellschaft statt,
die sich mit der Faust-Problematik auseinandersetzt. Im Vorfeld der Diskus-
sion veröffentlicht Johanna Rudolph im Neuen Deutschland ihre “weitere[n]
Bemerkungen zum Faust-Problem”. Sie kritisiert die vom Berliner Ensemble
in Potsdam inszenierte Urfaust-Aufführung, die bereits seit April 1952
gespielt wird und erst jetzt, im Rahmen der Eisler-Diskussion, in den Fokus
gerät. Rudolph wirft der Inszenierung inhaltliche Überschneidungen mit
Eislers Konzeption vor. Brecht versuche laut Programmheft gerade durch die
Inszenierung des Urfaust-Stoffes, die “Einschüchterung durch die Klassizität”
abzuschütteln.43 Rudolphs Kritik kreist um diese Formulierung. Sie geht so
weit zu behaupten, Brecht zerstöre mit dieser Inszenierung sein Lebenswerk,
indem es ein schlechtes Licht auf seine sozialistischen Überzeugungen werfen
würde. Sie bezeichnet die gesamte Aufführung als ”Absage an die klassischen
Traditionen der deutschen Nationalkultur” und zieht auf diese Weise Brecht
und sein Ensemble mit in die Diskussion um Nation und Wahrung von
Nationalerbe, in die Hanns Eisler geraten ist. Es ist Rudolph, die den
ursprünglich inhaltlich-ideologischen Konflikt explizit in den Kontext der
früheren Formalismus-Debatte einrückt und somit dessen politische
Bedeutung hervorhebt. Eisler und Brecht würden durch ihre Faust-Gestalten
das Nationalbewusstsein des Volkes unterhöhlen und zerstören. Beide über-
sehen laut Rudolph den Entwicklungsgang der goetheschen Faust-Dichtung,

40
Vgl. Girnus: Das Faust-Problem [wie Anm. 38]. S. 101.
41
Vgl. Brechts Redebeitrag [wie Anm. 35]. S. 82.
42
Vgl. Girnus: Das Faust-Problem [wie Anm. 38]. S. 101.
43
Johanna Rudolph: Weitere Bemerkungen zum Faust-Problem. Zur Aufführung
von Goethes Urfaust durch das Berliner Ensemble. In: Bunge: Die Debatte um
Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 119.

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den rebellischen Protest gegen die feudale Gesellschaft und die prophetische
Vision einer sozialistischen Zukunft im Faust II.44
Die zweite Sitzung führt das Possenspiel der ersten Diskussionsrunde fort.
Eisler beginnt mit einer Verteidigungsrede. Er betont, dass seine Bearbei-
tung auf Puppenspiele und Volksbuch zurückgehe, nicht auf Goethes Werk.
Eisler gibt an, dass er einen Faust habe erschaffen wollen, der seine Fehler,
den Verrat an der Bauernklasse, eindeutig bereue. Er gibt sich patriotisch und
beharrt im Rahmen dieses Bekenntnisses auf seinem Standpunkt, ein natio-
nal wichtiges Stück geschaffen zu haben, das in seiner Zentralfigur gerade
die Misere aufzeige, die Deutschland in den Zweiten Weltkrieg geführt habe:
die Inaktivität der Bildungsbürger vorm Nationalsozialismus.45 Eisler wirft
seinen Kritikern vor, nicht das ganze Stück zu betrachten, sondern lediglich
einzelne Textpassagen herauszufiltern, die zu ihrer Kritik passen würden.
Aus heutigem Blickwinkel scheint es, als ob Eisler nicht wusste, was mit ihm
geschah. Er wirft seinen Gegnern mangelhaftes Zitieren vor, scheint jedoch
nicht zu begreifen, um was es tatsächlich geht.46 Es ist Wilhelm Girnus, der
nach Eislers Ausführungen noch einmal den Hauptkritikpunkt betont, Eisler
hätte Faust als einen Renegaten dargestellt. Eine Bezeichnung, die Eisler eher
fremd ist, er verwehrt sich sogar gegen sie,47 und sich lediglich in Fischers
Aufsatz findet.
Eislers Kritiker, zu denen dieses Mal auch Ernst-Hermann Meyer, einer
von Eislers Meisterschülern, zu zählen ist, beharren auf ihrer Position,
Eisler reagiere nicht angemessen auf die Vorwürfe, das Stück sei der Anlage
nach antinational und beschmutze das deutsche Nationalerbe, indem es die
für den Sozialismus wichtige Periode der Bauernkriege verfälscht darstelle.48
Wieder ist es Girnus, der auf diesem Punkt beharrt. Die Klassik ist für ihn
die Epoche, in der die größten deutschen Künstler, vor allem Schiller und
Goethe, darum bemüht gewesen seien, bürgerlich-demokratische Freiheiten
einzufordern, was Eisler offensichtlich nicht verstehe. Immer wieder wird
während der Diskussion auf Fischers Formulierung “Faust sei ein Renegat”

44
Vgl. Rudolph: Weitere Bemerkungen zum Faust-Problem [wie Anm. 42]. S. 122.
45
Vgl. Eislers Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 141.
46
Vgl. ebd., S. 141f.
47
Vgl. ebd., S. 140.
48
Vgl. Ernst-Hermann Meyers und Wilhelm Girnus’ Redebeiträge. In: Gesprächs-
protokoll der zweiten Sitzung der Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann
Faustus (27.05.1953). In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus
[wie Anm. 1]. S. 145–155.

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hingewiesen, die im Rahmen des Slansky-Prozesses eine besondere Brisanz


entfaltet.49
Brecht führt in dieser zweiten Diskussionsrunde seine zwölf Thesen zur
Faust-Diskussion an, in denen er Eislers Libretto als bedeutendes literarisches
Werk bezeichnet. Wieder betont er den hohen literarischen Wert des Libret-
tos, gerade die Umdeutung der klassischen Faustfigur macht für Brecht den
Wert der Dichtung aus. So müsse es Künstlern erlaubt sein, “eine große Figur
der Literatur neu und in einem anderen Geist” zu behandeln.50 Er bezieht sich
hierbei auf die antike Kunst, in der es vollkommen normal war, altbekannte
Figuren neu zu interpretieren. Er versucht somit, Eislers Libretto aus der poli-
tischen Diskussion in eine künstlerische zu stellen, was nicht gelingt. Brecht
unterstützt Eislers Neukonzeption der Faustfigur, die er gerade durch die
Confessio als nationale Charakterkonzeption versteht.51 Er betont, dass die
positiven Gegenaspekte zu den Herrenfiguren und Bauernschlächtern in der
Figur des Bauernopfers Karl zum Ausdruck kämen, wenn auch vielleicht
nicht so plakativ, wie Abusch und Girnus dies gern hätten.52
Brechts Versuch einer Verteidigung wird von Girnus nur teilweise akzep-
tiert, beherrschend bleibt die Diskussion um das Typische der Faustfigur, das
immer wieder gegen die Auffassung eines progressiven Goethe-Faust gehal-
ten wird. Girnus operiert hierbei mit Malenkows Begriff des Typischen, das
für ihn gerade 1953 eher darin besteht, dass die einstigen Renegaten unter
den Intellektuellen sich wieder zum Sozialismus bekennen würden, um den
aufsteigenden sozialistischen deutschen Staat zu unterstützen.53
Am 10. Juni 1953 trifft sich die Mittwochsgesellschaft zur letzten Runde
der Debatte über Eislers Libretto. Bereits in seinem Eröffnungsplädoyer
betont Arnold Zweig, dass die Diskussion, die sich stetig um das Verhältnis
zwischen Goethes und Eislers Faustfigur dreht, im luftleeren Raum hinge.
Dabei könne sie einen kulturellen Beitrag zur Vereinigung der beiden deut-
schen Teilstaaten leisten, tue dies jedoch aufgrund der Diskussionsgrundlage

49
Vgl. Hans Rodenbergs Beitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 163. – Vgl. auch:
Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 118.
50
Bertolt Brecht: Thesen zur “Faustus”-Diskussion. In: Bertolt Brecht: Große kom-
mentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1988. Band 3. S. 246.
51
Vgl. Brecht: Thesen zur “Faustus”-Diskussion [wie Anm. 49]. S. 247–248.
52
Vgl. Bertolt Brechts Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 161.
53
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 243.

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nicht.54 Zweig stellt somit die unterschwellig wichtige politische Meinungs-


mache hinter dem scheinbar kulturellen Disput in den Fokus. Seinen mah-
nenden Worten gelingt es jedoch nicht, den Vorträgen eine neue Richtung zu
verleihen.
Eisler und Brecht wird von Abusch letztlich Kosmopolitismus im Sinne
der Formalismus-Debatte vorgeworfen,55 womit die politische Dimension
schließlich eindeutig benannt ist. Abusch fährt fort, indem er sagt, eine neue
Bearbeitung der Faustfigur sei vor dem Hintergrund des sich verschärfenden
Ost-West-Konfliktes eben nicht wünschenswert. Viel eher müsse es darum
gehen, in Faust eine im Sinne der sozialistischen Staatsbildung agierende
Figur zu erkennen.56
Der dritte Diskussionsabend verläuft für Eisler besonders frustrierend.
So schlägt sich zwar Hermann Dunker, ein Funktionär der sozialistischen
Arbeiterbewegung, auf Eislers Seite, indem er Brechts Thesen unterstützt,
jedoch behalten Abusch und Girnus die Oberhand. Ihre Vorwürfe können
nicht vom Tisch geräumt werden. Wesentliche Unterstützung kommt ihnen
dabei aus den Reihen des Aufbau-Verlages zu, der Eislers Werk im Oktober
1952 veröffentlicht hat. Max Schröder, der Lektor des Aufbau-Verlages, der
sich einige Monate zuvor für die Veröffentlichung des Librettos ausgespro-
chen hat, bezeichnet diesen Schritt im Rückblick als einen der größten Fehler
seines Lebens.57
Zu einem abschließenden Ergebnis gelangen die Teilnehmer auch am
dritten Diskussionstag nicht. Die Argumente und Gegenargumente drehen
sich im Kreis. Die Fronten sind auf beiden Seiten verhärtet und ein Kompro-
miss scheint aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen unmöglich
zu sein.
Fazit
Das abschließende Votum über Eislers Johann Faustus gibt letzten
Endes nicht die Mittwochsgesellschaft der Akademie der Künste, sondern

54
Vgl. Arnold Zweigs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 196.
55
Vgl. Alexander Abuschs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung
der Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In:
Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 203–205.
56
Vgl. Alexander Abuschs Redebeitrag [wie Anm. 54]. S. 193–194.
57
Vgl. Max Schröders Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm 1]. S. 231.

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Walter Ulbricht höchstpersönlich in seiner “Ansprache an die Kunst- und


Kulturschaffenden” ab. Ulbricht resümiert:
Unseren Kampf führen wir [. . .] auch um die Pflege unseres großen deutschen
Kulturerbes [. . .], indem wir es nicht zulassen, dass eines der bedeutendsten Werke
unseres großen deutschen Dichters Goethe formalistisch verunstaltet wird, dass
man die großen Ideen in Goethes Faust zu einer Karikatur macht, wie das in eini-
gen Werken auch in der DDR geschehen ist, zum Beispiel in dem sogenannten
Faustus von Eisler und in der Inszenierung des Urfaust.58

Ulbricht verurteilt somit Eisler und Brecht im Sinne von Girnus’ und Abuschs
Kritik. Die politische Ausgrenzung, die Eisler aufgrund der Debatte und
Ulbrichts scharfem Resümee erfährt, führt ihn kurzzeitig ins Wiener Exil. Die
Kompositionen an seiner Oper bleiben unvollständig.59
Sein Johann Faustus beschäftigt die DDR-Kulturpolitik allerdings noch
ein weiteres Mal. Als Hans Bunge den Operntext 1968, fünfzehn Jahre
nach der Debatte, in Rostock zur Aufführung bringen will, verbietet die
Kulturadministration der DDR, aufgestachelt durch die Ereignisse in Prag,
kurzerhand jedwede Aufführung von Eislers Werken. Hans Bunge schlussfol-
gert in Bezug auf die Kulturpolitik der DDR:
In der Kulturpolitik hatte sich fünfzehn Jahre lang nichts entkrampft. Stattdessen
sind die Künstler immer mehr reglementiert worden. [. . .] Der große Hanns Eisler
war das Exempel, um den Künstlern das Rückgrat zu brechen. Bei den meisten ist
das gelungen.60

58
Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 246.
59
Kurz nach Ulbrichts Verdikt finden die Ereignisse des 17. Juni statt, die Eisler
schockieren und neben der Diskussion um sein Libretto sicher ebenfalls dazu
beitragen, dass Eisler die DDR für einige Monate in Richtung Wien verlässt. Vgl.
Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 246–247.
60
Hans Bunge: Verlorene Zeit? In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann
Faustus [wie Anm. 1]. S. 19.

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Christian Jäger

Bau auf, Bau auf. Zur literarischen Überlieferungsgeschichte


der Anfangsjahre der DDR
This essay considers authors who were or are still sympathizing with the idea of a
socialist society, analyzing how they describe the first years of the GDR. Three diffe-
rent topics are discussed. The first can be regarded as the main problem of the early
years of the GDR: how to build a socialist society with a population that at least
tolerated fascism and the persecution of socialists for a dozen years. This is crucial,
because it implies that the GDR was founded on paranoia and on mistrust towards
its own citizens. The second topic is the Republic of Schwarzenberg, which functions
as a synecdoche for discussing the GDR and the chances for a different kind of soci-
alism. Finally, the 17th of June 1953 is a central point to consider when discussing
the options that politicians in the GDR had. As bewildering as it might seem, this day
provoked intellectuals to have an even stronger identification with the GDR. The essay
concludes with an anecdotal account of the same phenomenon, but told from a rare
perspective: that of an American exiled in the GDR.

Am 07.10.1949 begann ein neues Kapitel in der Geschichte Deutschlands, die


Geschichte zweier deutscher Staaten, von denen einer sich selbst als sozialistisch
beschrieb. Dieses Ereignis und seine Vorgeschichte seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges sind natürlich nicht nur in die Geschichtsbücher eingegangen, son-
dern auch in die Literaturgeschichte. Seit dem Anschluss der neuen Bundesländer,
in die die DDR gegliedert wurde, ist viel professionelle Aufarbeitung der
Vergangenheit der DDR erfolgt. Ein Schwerpunkt der Historiker- und Politiker-
Zunft lag dabei auf dem Unrecht, das dort beklagt wurde, und so entstand
über die Jahre retrospektiv ein Bild der DDR als von allem Anfang an fins-
tere Diktatur. Nun, damit erklärt sich nicht die Faszination, die die DDR nicht
allein auf intellektuelle Rückkehrer, sondern auch auf sozialistisch gesonnene
Menschen im Westen ausübte. Immerhin wanderten bis zum Bau der Mauer circa
400.000 Bundesbürger nach Osten ab. Im folgenden geht es daher darum, die
Attraktivität zu zeigen, die sich in der Literatur der DDR von den Anfangsjahren
erhalten hat und zugleich nicht die Augen vor einigen Dilemmata zu schließen,
die einen letztlich paranoischen Staatsapparat konstituierten. Folgerichtig wird es
um ein paar nur in Grenzen bedachte und im Westen noch weniger gewürdigte
Autoren gehen, die a priori der Dissidenz unverdächtig sind.1
1
Da in diesem Band Wolfgang Emmerich und andere die neuere Forschungsliteratur
einer eingehenden Würdigung unterzogen haben, beschränke ich mich hier auf eine
Empfehlung, die zwar nicht explizit die Darstellung der Aufbaujahre zum Thema
hat, aber zeitlich benachbart, die Kunstproduktion in der jungen DDR analysiert:
Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der
1960er Jahre. Heidelberg: Winter 2008.

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Eine Art Nestor der DDR-Literatur, Willi Bredel, beispielsweise hat sich
mit dem gehörigen zeitlichen Abstand – der Roman erschien von 1956 bis
1962 – daran versucht, die Anfänge der DDR literarisch zu verarbeiten.
Er stellt an den Anfang seines dreibändigen Werkes Ein neues Kapitel
einen Protagonisten, der nichts anderes ist als: Schriftsteller. Ein besonde-
rer Schriftsteller natürlich, der in Moskau studiert hat, und nun, im Frühling
1945 nach Deutschland geschickt wird, um Rostock wieder aufzubauen. Die
als nächstes eingeführten, wichtigen Personen gehören allesamt dem sowje-
tischen Militär an. Die Erzählerstimme nimmt die Deutschen aus einer zwei-
felnden Perspektive wahr: kann man ihnen trauen, stimmen die Geschichten,
die sie erzählen, wollen sie die Sowjets in einen Hinterhalt locken oder ähn-
liches? Misstrauen in allen Schattierungen bestimmt die Wahrnehmung, stets
folgt dem Vertrauen die Selbstermahnung, nicht zu vertrauensselig zu sein.
Und das Misstrauen ist partiell auch immer gerechtfertigt, es wird geplün-
dert, Waffen werden versteckt, Nazis und ihre Soldaten verborgen. Und
natürlich steckt in den Hirnen die Angst vor der Rache der Untermenschen,
Angst vor Vergewaltigungen, vor der Entdeckung der Grausamkeiten.
Freitode häufen sich und der Glaube an den Führer währt fort, selbst als
dieser sich schon umgebracht hat. Der zweite gute Deutsche ist denn auch
Deserteur, vor Moskau zur Roten Armee übergelaufen, da sein Bruder von
den Faschisten in Dachau umgebracht wurde. Und von den unter den Nazis
Widerstandleistenden gibt es einige, die sich zum Beispiel in antifaschis-
tischen Komitees organisiert hatten, um den Übergang zur Diktatur des
Proletariats zu gestalten. Die sowjetische Militäradministration hat sich dazu
natürlich auch ein paar Gedanken gemacht:
Der Oberstleutnant erklärte seinen Besuchern in ruhigen Worten, aber fest und
bestimmt die politische Lage. Die Interessen der Arbeiter und Bauern seines
Landes [. . .] seien identisch mit denen der Arbeiter und Bauern Deutschlands,
jedoch könne das besiegte Deutschland nicht über Nacht als vertrauenswür-
diger Partner angesehen werden, sie müßten die Nazis und Kriegsverbrecher
zur Verantwortung ziehen und demokratisch denken und handeln lernen. Für
weitergesteckte Ziele fehlten vorläufig die Voraussetzungen. Die sowjetische
Besatzungsmacht wolle demokratische Grundlagen schaffen helfen; dann könne
das deutsche Volk sein Schicksal selbst gestalten. Für die erste Aufgabe, das Leben
zu normalisieren und antifaschistische demokratische Staatsorgane zu schaffen,
müßten nicht nur die Arbeiter und Bauern, sondern alle aufbauwilligen Kräfte der
Bevölkerung gewonnen werden.2

Und mit dieser Bestimmung der politischen Lage ist denn auch ein
Grundproblem aufgemacht: die Schieflage zwischen Sowjets, deutschen

2
Willi Bredel: Ein neues Kapitel. Berlin-Weimar: Aufbau 1974. Band 1. S. 43.

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Revolutionären und ihren jeweiligen Ländern. Während die UdSSR den his-
torischen Fortschritt repräsentiert, in dem die Partei als identisch mit den
Interessen der Bevölkerung gesehen wird, kann davon in Deutschland noch
keine Rede sein. Deutschland ist politisch gesehen noch nicht reif für die
sozialistische Revolution, sondern muss erst einmal bürgerlich-demokratisch
werden. Offensichtlich ist die Oktoberrevolution hier das allein selig
machende Vorbild und gibt es ein Abweichen von den unterschiedlichen
marxistischen Theorien, denen zufolge der Faschismus nur eine Krisenform
des Kapitalismus darstellt. Eine Krisenform, die genau dann sich historisch
Bahn bricht, wenn die bürgerlich-demokratische Oberfläche des Kapitalismus
dem revolutionären Andrängen der Arbeiterklasse nicht mehr standhal-
ten kann. In dieser verkürzten Fassung gilt dies für die Theorien Stalins,
Dimitroffs, Thalheimers und ein Stück weit auch noch für die von Adorno
und Horkheimer. Diesen theoretischen Ansätzen zufolge bedürfte es logi-
scherweise keiner Restituierung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung,
was in der sowjetischen Besatzungszone aber gleichwohl unternommen wird.
Für die KPD und ihre Anhänger macht diese Ausrichtung keinen Sinn; ihnen
wird die Chance genommen, die erste sozialistische Ordnung auf deutschem
Boden zu begründen, wofür nach dem Scheitern der Novemberevolution von
1918 diesmal bessere machtpolitische Voraussetzungen bestanden hätten.
Doch ausgerechnet die Sowjetunion bremst die deutschen Sozialisten aus, es
geht nicht mehr um den Kampf gegen den Faschismus, sondern um die geo-
politischen Optionen im mitteleuropäischen Raum und zumindest bis 1949
setzt die Sowjetunion auf ein neutrales Gesamtdeutschland. Die emotional-
politischen Verwerfungen dieser strategischen Ausrichtung müssen immens
gewesen sein, wohl nicht für die Moskauer Exilanten, die zumindest teil-
weise auf Linie gebracht worden waren, wohl aber für all diejenigen aus dem
Widerstand aufgetauchten, aus KZs entlassenen und aus dem sonstigen Exil
zurückgekehrten Sozialisten, deren Träume vom radikalen Neubeginn nicht
nur auf ein materiell und psychisch desolates Deutschland stießen, sondern
von ihren Parteifreunden mit genau diesem Verweis auf die Notwendigkeit
der Reinstallation einer bürgerlichen demokratischen Ordnung eine ideologi-
sche Ohrfeige erhielten, die sie in die Realität der Machtpolitik holte.
Damit wird der Traum vom Aufbruch in die sozialistische Ordnung
verschoben und an dessen Stelle tritt einstweilen eine andere Größe: die
Nationale Front, eine Deutschland-den-Deutschen-Politik, die auch die
irgendwie noch vertretbaren Nazis mit in das Boot holen soll, dessen Kurs der
große Führer des Volkes in Richtung mitteleuropäischer Pufferstaat vorläufig
festgelegt hat.
Dieser Ausflug ist natürlich nicht ganz grundlos, sondern eine Antwort auf
die Frage, wieso soviel Skepsis in Bredels Buch festgehalten ist. Ein neues
Kapitel erzählt ständig von den Rückschlägen und Enttäuschungen, die den

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überzeugten Sozialisten beim Aufbau widerfahren – bspw. bei der schleunigen


Wieder-Eröffnung der Universität: Der Germanistik-Professor Alfons Möller
hält eine Vorlesung über den Heliand, feiert ihn als germanische Neugestaltung
der semitischen Heilslehre und als “urdeutsche Kulturleistung”3, die weit
über den homerischen Gesängen stehe – und der Hörsaal gerät in Verzückung
oder, um es mit Bredel zu sagen, in “ein wildes, jubelndes Stampfen”.4
Der Professor, darauf angesprochen, ob er nicht vielleicht doch der faschis-
tischen Rassenlehre nahe gekommen sei, insistiert, er habe die Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung vorgetragen und die gleiche Vorlesung halte
er seit 35 Jahren, schon im Kaiserreich, dann in den “Systemjahren” und sogar
im nationalsozialistischen Reich habe es niemals Beanstandungen gegeben.
Lakonisch schließt dieser Abschnitt: “Um elf Uhr vormittags war die Universität
eröffnet worden; um ein Uhr mittags wurde sie wieder geschlossen.”5
Selbst im revolutionären Enthusiasmus verraten, beauftragt, die Verräter zu
integrieren, entwickelt sich bei den Genossen eine gepflegte Paranoia gepaart
mit einer Arroganz gegenüber denjenigen, die die Notwendigkeit der linien-
treuen, revolutionären Arbeit nicht begreifen. Eine von Bredels Hauptfiguren,
Boisen, erinnert sich auf dem Weg zum Elektrizitätswerk, was ihm ein ande-
rer Genosse über die dortigen Arbeiter gesagt hatte:

Um in Lohn und Brot zu bleiben und ihre Pensionen nicht zu verlieren, hätten sich
die hier Beschäftigten jedem politischen Zustand angepasst. Selbstverständlich
würden sie das auch jetzt tun, wenn man sie in Ruhe lasse und nicht von ihnen
fordere, sie sollten sich wie klassenbewußte Arbeiter benehmen. Fast jeder sei der
klassische Typ eines verspießerten Proleten, Ihre Welt verlaufe in den Grenzen:
Familie, Schrebergarten, Kino, Skatabend, Gesangverein. Dazu gehöre noch, und
darauf legten sie größten Wert, alle vier Jahre einmal wählen zu dürfen. In der
Zwischenzeit aber wollten sie mit Politik nicht behelligt werden. Wer diese Spiel-
und Lebensregeln respektiere, sei ihr Freund, wer sie verletze, mache sie sich zum
Feinde. Boisen dachte daran wie Wahlkes grundgütige Augen dabei hart und böse
geworden waren. Der alte Genosse verhehlte nicht, wie sehr er diesen Schlag
Arbeiter verabscheute, die nur ihre Schrebergartenbude im Kopf hatten, auch im
Nazireich.6

Diese Beobachtung einer mehr oder minder apolitischen Haltung von Teilen
der Arbeiterschaft scheint durchaus zutreffend zu sein. Allerdings sind die
Folgerungen, die daraus gezogen werden wie auch die Haltung der Abscheu

3
Ebd. S. 145.
4
Ebd.
5
Ebd. S. 149.
6
Ebd. S. 192.

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zumindest fragwürdig. Neuere Theoretiker wie Alain Badiou7 gehen davon


aus, dass es bei jeder Revolution zwei Probleme gibt:

1. Die potentiell revolutionären Subjekte wollen nichts wissen, und schwer-


wiegender noch:
2. Die potentiell revolutionären Subjekte wollen nicht handeln.

Unter diesen Prämissen ist letztlich der Marxismus-Leninismus angetreten


mittels der Partei als Speerspitze, zum einen das revolutionäre Bewusstsein
zu wecken, zum anderen die Revolution auch durchzuführen. Es gibt somit
einen ideologieinhärenten Erziehungsauftrag, der sowohl auf Aufklärung als
auch auf Handeln gerichtet ist. Wie Wahlke treffend beobachtet hat, stößt
dieser Missionierungs- und Agitierungsauftrag auf wenig Gegenliebe, bei
den alten Subjekten, aus denen neue politische Menschen werden sollen. Im
Kern ist hier einer der Gründe der Ablehnung der DDR benannt, die zwar
ein paar Nischenkulturen zuließ – und Statistiken zufolge hatte 1989 jeder
zweite DDR-Bürger ein Stück Garten –, doch die ständige Drangsal, nun
politisch aktiv und bewusst zu sein, ging den Bürgern und Bürgerinnen, die
darin wenig Sinn sahen, sondern ganz andere, privatistische Interessen hatten,
zusehends auf die Nerven. Im Kapitalismus hingegen gibt es allenfalls ein
feuilletonistisches Lamento über sinkende Wahlbeteiligung, im Großen und
Ganzen wird aber von keinem Bürger und keiner Bürgerin gesellschaftliches
Engagement verlangt, sondern man bleibt sich, so man will, vergleichsweise
selbst überlassen. Die Frage ist, wieso, wenn man das erkennt, so sehr auf
eine zudem auch noch konsensuelle Politik gedrängt wird bzw. in der DDR
gedrängt wurde. Die Agitation als Auftrag zur Politisierung einer verabscheu-
ten apolitischen Haltung erklärt sich wiederum aus den Bedingungen des
Entstehens der DDR im Wettbewerb mit den westzonalen Gebieten, die auf
eine bürgerliche Demokratisierung setzten. Der Sozialismus soll eben nicht
als revolutionärer Akt mit entsprechender Gewalt begründet, sondern durch
allgemeine und frei Wahlen installiert werden, wobei der größte Teil der
Wahlbevölkerung in zwölf Jahren Nationalsozialismus nicht zum harten Kern
des Widerstands gerechnet werden kann. Es gibt also fraglos ein Problem.
Setzte Lenin in der Oktoberrevolution noch darauf, dass die postrevolutionäre
Ordnung dem Sozialismus die Sympathien einbringen werde, die er benö-
tigte, war die anschließende Erfahrung des Bürgerkriegs und der Aggression
imperialistischer Mächte nicht dazu angetan, eine entspannte Haltung des wir
überzeugen durch Taten gedeihen zu lassen. Dem historischen Verständnis

7
Vgl. Alain Badiou: Petit manuel d’inesthétique. Paris: le seuil éditions 1998. S. 16.

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nach bewegte sich die marxistisch-leninistische Bewegung seither in einem


ständigen Abwehrkampf, stets auf der Hut vor äußeren Aggressoren und nicht
minder auf der Hut vor internen Verrätern. Und dann werden die Aktivisten
vor der Gründung der DDR, zudem mit dem Auftrag versehen, ein neutrales
Deutschland zu erstreiten, in dem der Sozialismus von überzeugten Wählern
an die Macht gebracht wird.
Fast kann man schon hier folgern, dass diese Aufgabe kaum lösbar ist,
einen politisch-psychologischen Spagat von den Akteuren verlangt, dem
sie kaum Rechnung werden tragen können. Die realpolitischen Umstände
wirken auch nicht gerade hilfreich: Industrieanlagen werden von der schüt-
zenden Sowjet-Macht demontiert, die Ostgebiete wurden abgetreten und
Flüchtlinge suchen in zerstörten Städten nach Nahrung und Unterkunft, die
Partei, die sich anschickt, das Alltagsleben entscheidend zu gestalten, war
zwölf Jahre lang verboten, im Untergrund oder im Exil, etliche auch in KZs
und diejenigen, die in der Weimarer Republik aktiv dabei waren, sind geal-
tert oder tot, zutiefst enttäuscht von einer Bevölkerung, die das 1000jährige
Reich bis 1945 in der einen oder anderen Weise mitgetragen hat. Der es jetzt
aber auch nicht um die Reflexion und möglicherweise Sühne der faschisti-
schen Vergangenheit geht, sondern um das Überleben. Hungersnot herrschte
im Westen wie im Osten, Wohnungen und Wärme waren rar, dem ersten
Nachkriegswinter fielen nochmals zahllose Zivilisten zum Opfer. All diesen
Widrigkeiten zum Trotz soll der Sozialismus auf mehr oder minder scho-
nende Weise dem deutschen Volke beigebracht werden . . .
Die Größe der Herausforderung, die darin liegt, lässt sich im Bezug auf
mythische Gestalten benennen und die Frage wäre nur, handelt es sich um
eine Aufgabe für Herakles oder für Sisyphos. Anlässlich einer geplanten ers-
ten Theateraufführung vor Ort, Professor Mamlock von Friedrich Wolf, heißt
es – nicht allein über die Kunst: “Nicht was der Mensch will, sondern was er
braucht , was ihm nützt, muß ihm gegeben werden.”8
Folglich ist also nicht des Menschen Wille sein Königreich, sondern es dik-
tiert der Nutzen, und genau darum, worin er bestehen möge, dreht sich der
Streit in der Literatur und den dort formulierten Debatten ebenso wie in der
historischen Realität, und die Fragen nach dem Anfang werden immer wieder
neu gestellt.
So erzählt Erich Köhler9 in den 1970er Jahren von dem kleinen Gutsweiler
Ruhin, einem bei Kriegsende übersehenen Ort. Inmitten von Bergen gele-
gen gerät er in Vergessenheit bei den Behörden und die Menschen dort

8
Bredel: Ein neues Kapitel [wie Anm. 2]. S. 266.
9
Erich Köhler: Hinter den Bergen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

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organisieren von sich aus so etwas wie einen urchristlichen Kommunismus,


bewirtschaften gemeinsam die Äcker, schaffen eine Großküche und errich-
ten, angeleitet vom Laienprediger Rufeland, Gemeinschaftsgebäude. Diese
vergessene Gemeinde wird dann doch von den ersten Nachkriegsbehörden
entdeckt, die einen kommissarischen Vertreter bestellen. Und damit beginnt
ein Kampf gegen das mehr oder minder christliche Kollektiv, das einerseits
als funktionierende Solidargemeinschaft dargestellt wird, aber auch als pat-
riarchal-reaktionäre Gemeinde, die insbesondere Frauen, zumal solche die
uneheliche Kinder haben, diskriminiert.
Es gibt ein erzählerisch ausgewogenes Streiten zwischen traditionel-
ler Gemeinschaftsform und dem Geist der neuen Republik, der gegen
Sektierertum und Aberglauben antritt. Neue Wohnhäuser werden errichtet,
als es scheint, als werde demnächst im Ort Bergbau getrieben werden, und
die Kirche, mit deren Bau zuerst begonnen wurde, wird nie zu Ende gebaut.
Dessen ungeachtet bleibt der Prediger am Ort und ist für die Menschen dort
stets ein stärkeres Leitbild als die örtlichen Parteifunktionäre. Das Kuriose
ist, dass sich in dem Ort nach gut marxistischer Geschichtsphilosophie erst
ein Bürgertum entwickeln muss, wofür die agrarische Gemeinschaftsform
zerstört wird und alle Einwohner privaten Landbesitz zugeteilt bekommen,
den sie dann, wenig später, im Zuge der staatlichen Kollektivierung wieder
aufgeben sollen. Köhler, der die Geschichte weiter treibt bis in die 1970er
Jahre, endet damit, dass sein Ort ein Urlaubsort wird in dem Pioniere und
Gewerkschaftler und Parteikader vom Alltag Erholung suchen und die
Bauern nur noch Staffage einer dörflichen Idylle sind. Angeregt war die
Erzählung offenbar von einem realgeschichtlichen Begebnis: der unbesetz-
ten Zone im Nachkriegsdeutschland, die von Stefan Heym als Freie Republik
Schwarzenberg gepriesen wurde.
Schwarzenberg war lediglich sechs Wochen unbesetzt, die Gründe dafür
sind umstritten. Die Rote Armee stoppte vereinbarungsgemäß in Annaberg
ihren Vormarsch, während die amerikanischen Truppen an dem Flüßchen
Zwickauer Mulde innehielten. Offenbar gab es da ein Missverständnis, da sie
bis zur Freiberger Mulde hätten vordringen können. Eine andere Variante geht
von Absprachen zwischen Wehrmacht und US-Armee aus, denen zufolge
das Gebiet unbesetzt blieb, um den Rückzug der deutschen Truppen aus dem
tschechischen Gebiet zu erleichtern und den Übergang in amerikanische
Gefangenschaft dort vorzubereiten.
Köhler, der ein ähnlich unstetes Leben wie Bräunig führte, bevor
auch er – übrigens wesentlich länger als Bräunig – als Bergarbeiter beim
Aufbau der Wismut half, wird in dieser Zeit wahrscheinlich die Geschichte
Schwarzenbergs gehört haben. Auch in dieser Gegend gründeten sich die
bereits eingangs erwähnten antifaschistischen Aktionsausschüsse, übernahmen
die Macht, vertrieben die Nazis und Kollaborateure aus ihren Stellung und

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versuchten den Nachkriegsalltag zu organisieren. Warum nun Schwarzenberg?


Heym lässt einen seiner Erzähler die Bedeutung aussprechen:
Aber vergessen wir doch nicht, daß es in Deutschland noch nie gelungen war,
eine Revolution aus eigener Kraft zum Siege zu führen; alle Bemühungen in
diese Richtung waren stets in Blut erstickt worden; so daß unsere erfolgreiche
schwarzenbergische, so klein und schäbig sie auch erscheinen mag, immerhin
ein Präzedenzfall ist und als bescheidenes Beispiel für künftige Versuche dienen
könnte.10

Schwarzenberg also als Modell für eine deutsche Revolution, für etwas
Authentisches, nicht dem Lande aufgedrücktes und von fern installiertes, wo
nicht ferngesteuertes. Heym wirft damit einen Seitenblick auf Geschichte als
mögliche.
In der Gemeinde gibt es einen, der bis zum Schluss versucht den experi-
mentellen Status Schwarzenbergs zu wahren, den jüdischen Intellektuellen
Max Wolfram, dessen Dissertation im Dritten Reich abgelehnt wurde und
der schon auf der Hinrichtungsliste stand, aber dank glücklicher Fügung
den Krieg überlebt hat. Seine Dissertation befasste sich mit utopischen
Gesellschaftsmodellen und kam zu dem Schluss:
daß jede bisher entworfene Utopie eine Diktatur war, die die Menschen zu ihrem
Glück zwang und jene, die sich eine andere Art von Glück vorstellten, liquidierte.
Und es konnte auch nicht anderes sein, schrieben Sie, denn der als bester aller
möglichen konzipierte utopische Staat mußte jede Kritik an seinem Verhalten,
jeden Änderungsvorschlag als ein Unterfangen betrachten, das bestmögliche
Modell durch eines von zwangsläufig minderem Wert zu ersetzen. Das war ja
das Bestechende an ihrer Dissertation, Herr Kollege, daß sie so illusionslos war,
und eine ethische Begründung für die Notwendigkeit von Geheimpolizei und
Konzentrationslagern lieferte.11

Nun, das sagt der SS-Mann zu Wolfram, der die Arbeit seinerzeit ablehnte.
Den Hinweis, dass er alle anderen Punkte in Wolframs Arbeit außer Acht
lasse, kontert er mit der Bemerkung, das sei genau der “jüdische Dreh”,
“die Einführung der Demokratie im Paradies”12, und genau der Grund, warum
er seinerzeit die Arbeit zurückgewiesen habe. Klar thematisiert Heym mit
der zuvor zitierten Passage auch die paranoische Maschine, die den politi-
sche Praxis gewordenen Sozialismus begleitete. In Schwarzenberg sollte es
anders gehen, war die damalige Idee des Max Wolfram, doch als schließlich
die Freie Republik von der Roten Armee in Obhut genommen wird,

10
Stefan Heym: Schwarzenberg. München: Bertelsmann 2004 [1984]. S. 61.
11
Ebd. S. 68.
12
Ebd.

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verschwindet Max Wolfram, da er mit “der Sowjetmacht – feindlich gesinnten


Kräften – in Verbindung gestanden hat.”13 Doch dessen ungeachtet erscheint
er im Nachspiel geläutert wieder: in Leipzig nun als Professor, der über
“soziale Strukturen in utopischen Gesellschaften”14 liest. Man mag darin ein
Zeichen sehen, dass die neue Gesellschaft auch kritische Denker zu überzeu-
gen und zu integrieren vermag. In der Vorlesung jedenfalls meldet sich ein
Nachfahre der Schwarzenberger Republikaner zu Wort, der kritisiert, dass mit
dem real existierenden Sozialismus der Traum aus sei. Der Professor verweist
auf Marx’ 2. Feuerbach-These, wo es heißt: “In der Praxis muß der Mensch
die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens
beweisen.”15
Der Jünger Schwarzenbergs entgegnet:
‘Wie aber, wenn die Praxis nicht stattfinden durfte?’ ‘Dann ist gerade die
Unterdrückung dieser Praxis, die eigentliche Praxis. Und somit die entscheidende
Kritik an den Theorien, um die es in dem Fall ging.’ ‘Und damit sollen wir uns
abfinden?’ sagt Kiessling. ‘Wir hatten es doch beinahe geschafft damals, bei uns in
Schwarzenberg. [. . .] Schwarzenberg war eine große Hoffnung.’ ‘Schwarzenberg
war eine große Illusion.’16

Heym ist hier so explizit, dass es kaum einer Interpretation bedarf, und die
Geschichte Schwarzenbergs endet in dem Hörsaal mit dem Begehren des
jungen Mannes, den Traum behalten zu dürfen, woraufhin der Professor ihn
einen Utopisten nennt und das Ende der Stunde nutzt, die Diskussion mit dem
Verweis auf andernfalls anstehende Unannehmlichkeiten zu schließen.
Der Vorwurf des Utopieverlustes ist in seiner Bedeutung für westliche und
östliche Utopisten zu differenzieren. Während im Westen die sozialistische
Utopie die Systemalternative bedeutete, die Richtung markierte, in die der
Kapitalismus überschritten werden sollte, so war der Osten offiziell schon
dort angekommen. In den real existierenden Staaten des wissenschaftlichen
Sozialismus ging es politisch gegen die Utopie genau um dieses Insistieren
auf der Wissenschaftlichkeit und Praktikabilität des bestehenden Sozialismus;
leider damit auch um den unsinnigen Wettlauf mit dem Kapitalismus, der wohl
verloren gehen musste, da genau das zukünftige Moment am Sozialismus
dabei verloren ging, das in den Kreisen der sozialismustreuen Dissidenz stets
noch gewahrt wurde, was genau sie für die Sachwalter der sozialistischen

13
Ebd. S. 267.
14
Ebd. S. 269.
15
Karl Marx Friedrich Engels Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus
beim ZK der SED. Bd. 3. Berlin: Dietz 1983. S. 5. – Vgl. Heym: Schwarzenberg
[wie Anm. 10]. S. 271.
16
Heym: Schwarzenberg [wie Anm. 10]. S. 271.

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Sachlichkeit zu Dissidenten und aus Kritikern zu möglichen Feinden werden


ließ. Nun mit Rancière17 wissen wir es besser: keine Revolution ohne
programmatische Verfehlung der Realität.
Und die Deutung Schwarzenbergs setzt sich fort bis in die Nachzeit der
DDR. Volker Braun gibt seine Version der Geschichte im Jahre 2004 in den
Druck. Diese besticht durch eine formale Klammer. Der zweite Absatz lautet:
Die herrschaftslose Zeit im unbesetzten Gebiet Schwarzenberg endete nach
zweiundvierzig Tagen mit dem Einzug der Roten Armee und der gewollten
Unterwerfung der Bevölkerung unter die neue Ordnung, die sie versorgen und ver-
walten würde. Und nichts blieb ihr von der kurzen Epoche im Gedächtnis, von der
Lust der Selbstbestimmung, dem Rausche der Gerechtigkeit und sie vergaß diese
Angst, diese Freiheit bei allem Anderswerden und wollte nicht mehr wissen, was
für sie das Beste war.18

Der vorletzte Absatz lautet:

Das unbesetzte Gebiet, das sich nicht herumsprechen konnte, blieb auch unter den
Bewohnern nicht im Gerede, zu sonderbar war das Gebilde, vorläufig, rückständig
und utopisch, anstößig für jeden Staat. Und nichts blieb ihnen von der Epoche im
Gedächtnis außer dem Hunger, der Unsicherheit, dem Abgeschnittensein von der
Welt und ihren Waren. Und sie vergaßen diese Angst, diese Freiheit, in der sie sich
selbst bestimmen und Gerechtigkeit üben konnten, und wußten wieder, was das
Beste für sie war.19

Die Parallelismen sind augenfällig, in dem eigenwilligen Duktus Brauns


allerdings nicht selbstexplikativ. Die zentrale Differenz besteht darin, dass
am Ende die Bevölkerung wieder weiß, was das Beste für sie ist, was sie
eingangs nicht mehr wissen wollte. Allerdings hat sich unter der Hand der
Begriff des Besten gewandelt. War das Beste des erstzitierten Absatzes noch
eine soziale oder politische Idee, so ist das Beste, das gewusst werden will
und kann, ein Wissen von der Welt der Waren. Schwarzenberg ist eine ste-
ckengebliebene Geschichte, die nicht ausgeführt wurde, politisch jedenfalls
nicht, in der Literatur jedoch ist diese Geschichte etwas, das eine lange Dauer
bekommen hat. In einem kurzen Text Brauns, der sich in einer Sammlung von
Denkbildern befindet, die Im schwarzen Berg überschrieben ist, heißt es über
die Geschichte Schwarzenbergs:
Aber man weiß nun, daß [. . .] noch andere Kräfte daran zogen: und das State
Department insgeheim beschlossen hatte, der geschlagenen Wehrmacht ein

17
Vgl. Jacques Rancière. Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Frankfurt a.M.: Fischer 1994.
18
Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 9.
19
Ebd. S. 64.

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Schlupfloch zu lassen, um sich diese Reserve zu sichern. Der Kalte Krieg hatte vor
dem Frieden begonnen, und Schwarzenberg spielte seine unbegriffene Rolle. Ein
Laienspiel, das der Ami grinsend, der Iwan verblüfft verfolgte, bevor das agitatori-
sche Stück abgesetzt wurde. Aber auch diese Mächte wußten das Wichtigste noch
nicht, die tieferliegende, die auszubeutende Wahrheit, die Wismut hieß.20

Die Wahrheit liegt natürlich in der Ökonomie – allerdings geborgen und auch
über ihre richtige Bergung ließe sich streiten und die großen Betriebe, ob nun
Wismut (Bräunig), Schwarze Pumpe (Bastian) oder Warnow-Werft (Bredel),
sind die anderen Orte des Aufbau-Mythos, erzählen, wie die Arbeiter tätig
zusammenwachsen, sich Gemeinschaft und Gesellschaft in der Produktion
ausbilden.
Nun, um zu einem anderen Topos der DDR-Literatur und ihrer Aufbaujahre
zu kommen, so ist dies die Erzählung des 17. Juni 1953. Ein Datum, das
zumindest markiert, dass einige Menschen nicht einsahen, dass ihnen gegeben
worden wäre, was sie brauchten. Der erste Band von Bastians als Chronik der
DDR angelegtem Werk Gewalt und Zärtlichkeit21 endet mit den Ereignissen
des 17. Juni. Es erscheinen sowohl Provokateure, die sich seit längerem vor-
bereitet haben, als auch Arbeiter die vergleichsweise spontan gegen die Norm-
Erhöhung demonstrieren.22
Hier wie an anderen Stellen gibt es stets den Spagat zwischen gar nicht
geleugnetem Unbehagen der Arbeiter und der Inszenierung durch den Westen,
die Verbreitung der lokalen Arbeitsniederlegungen durch den RIAS. Und
schon das ist stets Angriff genug. Denn der Gedanke ist ja, die Einigkeit
herzustellen, die der Arbeiterbewegung historisch abging. Auch Bräunig
endet mit diesem Tag den ersten Band seines Rummelplatz, dem kein Zweiter
folgte. Über die Reden, die in Halle gehört werden, heißt es:
Das ist das Vokabular des Reichspropagandaministeriums, das da über den Platz
hallt, aber es sind Reden von Freiheit und Demokratie, und daß die Bonzen an
die Laternen gehißt werden sollen, es hallen Baldur-von-Schirach-Reden über
den Platz und ist immer von Deutschland die Rede, von Volk und Freiheit. [. . .]
Und es fällt eine schwarzweißrote Fahne aus einem Fenster. Und ein Kerl mit den
Stirnstoppeln der Zuchthäusler weiß, daß die Knechtschaft gebrochen werden
müsse, nieder mit den vollgefressenen Russenknechten, und wir brauchen keinen
Staat, wir brauchen Freiheit. Dann fängt einer von den Normen an, von berech-
tigten Forderungen, aber der ist schon wieder verschwunden, noch ehe er den
dritten Satz beendet hat. Vorn links: Es lebe die deutsche Republik, vorn rechts:
Über alles in der Welt, Mitte: Hunger, Hunger! [. . .] Die Kommandeuse von
Ravensbrück kennt keiner, woher auch, sieben Jahre hat sie hinter sich von den

20
Ebd. S. 100.
21
Horst Bastian: Gewalt und Zärtlichkeit. Erster Roman. Berlin: Neues Leben 1974.
22
Vgl. ebd. S. 326–336.

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fünfzehn, zu denen sie verurteilt ist – sie spricht jetzt. Freiheit für alle Gefangenen.
Und eine Regierung aus bewährten Männern. Da weiß freilich keiner, welche Art
Bewährung gemeint ist, keiner hier kennt die Kommandeuse von Ravensbrück,
soeben aus dem Zuchthaus herausgeholt, aufgenommen in den Führungsstab, die
Mörder sind unter uns, aber wer kennt sie . . .23

Die Frage erweist sich im geschichtlichen Nachgang als prophetisch, ist die
historische Figur der Erna Dorn in ihrer Bedeutung doch bei Historikern
umstritten. In der DDR-Literatur – so bei Hermlin, Bräunig oder Bastian –
gilt die Befreiung einer KZ-Kommandeuse als klares Symptom des reak-
tionären Charakters, den der 17. Juni annahm. Zumindest für diese Autoren
war es eher ein Grund zum Schulterschluss mit der herrschenden Macht, die
gemessen an wiederkehrenden Nazis – und so war die Wahrnehmung – dann
doch ein Versprechen besserer Zukunft darstellte und so blieb es auch in den
Rückblicken auf die Anfangsjahre.
Selbst Biographien von Menschen, die sich vom real existierenden
Sozialismus abgewandt haben, legen noch Zeugnis davon ab, so auch die aus
den USA stammende Edith Anderson in ihren Erinnerungen an das Berlin
der Nachkriegszeit unter dem Titel Liebe im Exil24. Als Exil begriff sie die
DDR, in die sie nach Ende des 2. Weltkrieges einreiste, um dort mit ihrem
Mann Max Schroeder zu leben. Schroeder, seit 1932 KPD-Mitglied, war
ein wichtiger Publizist im kommunistischen Exil; zunächst in Frankreich,
dann nach diversen Internierungslagern in den USA. Von 1947 bis kurz vor
seinem Tod 1957 ist er Cheflektor des Aufbau-Verlages. Seine Frau wird
erfolgreiche Kinderbuchautorin und Übersetzerin in der DDR. Von einem
New York-Aufenthalt im Frühjahr 1960 und mehreren späteren kehrt sie vor
allem ihrer Tochter zuliebe in die DDR zurück. In ihren Erinnerungen an die
Anfangsjahre erzählt sie vom persönlichen Glück und den Privilegien, die
Kulturfunktionäre hatten. Sie erzählt auch von den politischen Intrigen und
Ränken und den bisweilen bitteren Konsequenzen wie im Fall Walter Janka/
Wolfgang Harich (bei genauerer Betrachtung muss man allerdings sagen,
dass hier der Akzent immer nur auf die hysterische Entlarvung, Verhaftung
und Verurteilung gelegt wird; dass beide bereits in den 1960er Jahren wie-
der in die kreative Elite der DDR integriert waren, findet hingegen keine
Beachtung). Sie erklärt diejenigen, die Janka im Gefängnis und vor Gericht
schikaniert haben, zur Bande und spricht ihnen den Ehrentitel Genossen ab.
Nicht der Sozialismus an sich erscheint schlecht, sondern es sind teilweise
die Menschen, die moralisch schlecht sind und ihn daher unvollkommen und
fehlerhaft umsetzen.

23
Werner Bräunig: Rummelplatz. Berlin: Aufbau 2007. S. 615–617.
24
Edith Anderson: Liebe im Exil. Berlin: BasisDruck 2007.

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Direkt im Anschluss an die Passage, die sie Janka widmet, erzählt sie vom
Besuch eines US-amerikanischen Schriftstellerpaares:
Beide waren ausgezehrt von Armut, die zu lange gedauert hatte und brauchten
dringend sowohl medizinische Behandlung als auch neue Sachen, um ihre schä-
bige und geflickte Kleidung zu ersetzen. [. . .] Der Grund, daß beide so wunderbar
aussahen, so unbesiegt, so wahrhaft frei von Sorge, war, daß sie dieses eine Mal in
einem Land waren, wo sie wie Fürsten behandelt wurden und nicht wie abservierte
Schreiber, die sich krumm machen und anbiedern mußten für jede Krume wider-
willig gewährter Verlagsarbeit.25

Anderson erwähnt auch, dass zumindest die Schriftstellerin in der DDR


Probleme mit der Zensur und es als Frau zudem schwerer als ihr Mann gehabt
haben würde, nichts desto trotz gibt es auch das Positive an der DDR. Die
Ambivalenz ist bei den Biographien offenbar gar nicht so verschieden von
der der Romanfiguren, die zumindest bei den hier genannten Schriftstellern
durchaus als gebrochene in eine Welt starten, die ihrerseits widersprüchlich
und in sich gebrochen ist. Dass sich die Helden in dieser Widersprüchlichkeit
mit Einsicht in die Notwendigkeit sozialistisch einrichten, ist umgekehrt
auch nicht nur Fiktion, sondern verzeichnet recht genau die Prozesse, die im
Bewusstsein vieler Bürger, nicht nur der DDR, vorgegangen sind.
Um abschließend einen westdeutschen Autor zu zitieren:
Da ist die Lage für UnsSchriftsteller einfach so: Wir müssen uns im reinlichsten
Interesse unserer Arbeit, dort aufhalten, wo uns die geringste Zahl an von Denk
und SchreibHemmungen droht. Und da bekenne ich es denn ganz offen: wenn
ich mich einst früher oder später (und ich fürchte immer, es werde ‘früher’ sein)
vor die Wahl gestellt sehen werde, zwischen einer dann vollausgebildeten braun
und schwarzen Diktatur (Generäle plus Katholiken) und einer ‘roten’ –, – tcha,
dann werde ich gemäß meinem Prinzip der ‘geringeren Denkhemmung’, vermut-
lich den Osten wählen. Nicht jauchzend wohlgemerkt, sonst wär’ ich ja längst
‘drüben’; vielmehr wird es eine Wahl werden zwischen 2 ‘größeren Übeln’ –: aber
im TransAlbingistan werden mir die Kinder auf der Straße hoffentlich nur ein
dümmerliches ‘Formalist’ hinterherrufen; während bei uns noch zusätzlich religiö-
ser und nationaler Fanatismus über mich herfallen dürfte. (Noch ist es ja nicht ganz
so weit, aber wir spurten ja mit 100 Millionen Beinchen darauf zu !) Wo ist bloß
der Staat, der sein Grundgesetz mit dem all-herrlichen Satz begönne: Die Welt ist
groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können!’?26

So war es am 19.07.1963 in Die Zeit zu lesen; Autor? Kein Geringerer als


Arno Schmidt.

25
Ebd. S. 483f.
26
Zit. nach Arno Schmidt: Deutsches Elend. Zürich: Haffmans 1984. S. 74f.

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Stefan Elit

Narrationen der Individualität in der geschlossenen


Gesellschaft? DDR-Gegenwartsprosa und
DEFA-Film der 1960er Jahre
For many literary critics GDR prose does not really seem to be interesting before
the 1970s and 1980s when considering fictional space for the individual in secluded
socialist societies. Even the rare exceptions mainly focus on particular outsider roles.
However, GDR literature of the 1960s has been judged to be almost ‘naively’ con-
cerned with the reconciliation of the individual and the socialist collective. But this
hypothesis has to be questioned: On the one hand, many literary texts and DEFA films
around 1960 in fact favor socialist realism and the ‘Bitterfelder Weg’ (‘Bitterfeld way’)
as a cultural means of social collectivism in the GDR. On the other hand, even in the
early 1960s there are already prominent literary examples that question social collec-
tivism and give priority to a more open discussion of individuality. This observation
is elucidated with reference to selected examples, thereby developing a more nuanced
insight into the discourse on the individual in socialism at the time.

1. Zur Erinnerung: Individuum und Gesellschaft im Realsozialismus


Zum Auftakt gleich ein Fazit: Es entstammt der 1997 publizierten Dissertation
von Karsten Dümmel, Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der 70er und
80er Jahre, und lautet:
Mit dem Ende der DDR ging die Hoffnung verloren, diesem “Larvenstaat” [Zitat
Volker Braun, S.E.] werde der authentische Mensch entschlüpfen, der in harmo-
nischem Gleichgewicht zur eigenen Identität gefunden habe. Statt jener Hoffnung
blieb allein die gesamtgesellschaftliche Erfahrung, daß aufgrund staatlichen
Zwangs in nahezu allen Lebensbereichen eine gelungene Individuation häufig ver-
hindert worden war.1

Gemäß der gängigen literaturgeschichtlichen Einschätzung ist in der


DDR-Literatur der 1960er Jahre das Scheitern dieser großen Hoffnung über
längere Zeit noch weit entfernt, eine Harmonisierung von Einzelidentität und
Kollektiv sei den Autorinnen und Autoren hingegen realistisch erschienen.
Worauf aber gründete sich eigentlich diese Hoffnung und wie wurde sie lite-
rarisch umgesetzt?

1
Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur des siebziger und
achtziger Jahre. Frankfurt a.M.-Bern-New York u.a.: Lang 1997. S. 13 (genauerer
Nachweis des Braun-Zitats ebd. Fn. 1).

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Das Verhältnis von Individualidentität und Gesellschaft, eines der zentralen


Themen der europäischen Literatur der Moderne, erfährt in den geschlosse-
nen Gesellschaften des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts eine besondere
Perspektivierung: Im Gegensatz zur großen Linie der Emanzipation des
bürgerlichen Individuums seit der Aufklärung hat nun ein neu definier-
tes gesellschaftliches Ganzes absolute Priorität: Ihm gegenüber, das heißt
gegenüber dem notorischen sozialistischen Kollektiv, hat der Einzelne im
Zweifel zurückzustehen; denn er vertritt allenfalls Partikularrechte, die sich
womöglich sogar als Reste eines überholten bürgerlichen Individualismus
erweisen.
Allerdings wird der Einzelne in seinem persönlichen Glücksstreben durch-
aus auch angesprochen. Denn er soll zum einen annehmen, dass nur der
Sozialismus die ökonomischen Grundbedürfnisse eines jeden berücksich-
tigt und auch eine Absicherung derselben bewirkt – und so überhaupt die
Voraussetzungen für eine befriedigende Existenz schafft. Verwirklicht wer-
den soll dies durch die Einhegung moderner Egozentriken. Zum anderen
wird in der ökonomistischen Perspektive des Staatssozialismus der Einzelne
gerade in seinem Streben nach materieller Absicherung auch zum Träger des
Gesamtfortschritts der Gesellschaft – eine im Übrigen allgemein moderne-
typische Erwartung.2 Freilich hat sich das Individuum hier im Wesentlichen
über das sozialistische Staatskollektiv zu definieren und möglichst sogar seine
persönliche Identität mit ihm gleichzusetzen.
Individualität hingegen, die auf eigenen situativen oder generellen
Freiheitsvorstellungen bzw. Lebenszielen beharrt, weicht ab und wird zur
Alterität,3 und ihr Träger ist gegebenenfalls aus dem Kollektiv auszugrenzen.

2
Vgl. Johannes Huinink: Individuum und Gesellschaft in der DDR –
Theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft in den
Lebensverläufen ihrer Bürger. In: Ders. u.a.: Kollektiv und Eigensinn. Lebensläufe
in der DDR und danach. Berlin: Akademie 1995. S. 25–44. Hier: S. 33–35.
3
Auf die generelle Begriffsdiskussion zu Identität, Individualität und Alterität, wie
sie seit geraumer Zeit vor allem auf philosophischer und soziologischer Ebene
geführt wird, ist hier nicht weiter einzugehen, da deren grundsätzliche Aspekte
im hier interessierenden Kontext nicht sehr viel beitragen – auch wenn natür-
lich die dialektische Abhängigkeit jeglicher Identitätssetzung von einer (gleich-
ursprünglichen) Alterität ebenfalls gilt und für geschlossene, zumal totalitäre
Gesellschaftsideologie von besonderer Bedeutung ist. Vgl. zur neueren Debatte
unter Einbezug der Literatur- und Kulturwissenschaften etwa die Erträge des
Freiburger SFB 541 Identitäten und Alteritäten – Die Funktion von Alterität für
die Konstitution und Konstruktion von Identität, seit 1999 veröffentlicht in der
Reihe Identitäten und Alteritäten, sowie etwa den Band Alterität. Hg. von Brigitte
Schlieben-Lange. Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik 110 (1998).

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Entsprechend negative Bewertungen lauteten auf ein bestenfalls ‘unter-


entwickeltes sozialistisches Bewusstsein’, das ‘Missverstehen historischer
Notwendigkeiten’, ein ‘Verharren in bürgerlich-dekadenten Denkweisen’ oder
schlimmstenfalls auf eine unmittelbar ‘feindliche Gesinnung’. Zu gewärti-
gende Konsequenzen gingen von einfachen Umerziehungsversuchen über die
soziale Deklassierung bis hin zur harschen staatlichen Sanktion – wenn der
Uneinsichtige nicht selbst die Gemeinschaft verließ, im Falle der DDR in der
Regel Richtung Bundesrepublik.
Um dieses Verständnis von anzustrebender Kollektivität und im Zweifel
delegitimierter Individualität gesellschaftlich nachhaltiger zu etablieren,
setzten die Machtapparate bekanntermaßen auf eine Affirmation ihrer
Gesellschaftsdoktrin in Kunst und Literatur: den ‘Sozialistischen Realismus’.
In DDR-Prosa und DEFA-Film um 1960 hieß dessen aktuelle Version
natürlich ‘Bitterfelder Weg’, d.h. ‘Aufbauliteratur’ und sodann vor allem:
‘Ankunftliteratur’. Schon 1961 wurde von der DDR-Literaturkritik diese wei-
tere Strömung im Kontext des ‘Bitterfelder Wegs’ ausgemacht, die gegen-
über der älteren ‘Aufbauliteratur’ einen qualitativen Sprung markieren sollte.
Denn sie richtete sich an eine jüngere Generation von DDR-Bürgern, deren
äußere und noch mehr ‘innere’ Ankunft im realsozialistischen Staat zu beför-
dern war. Ausgangspunkt war hier die problematisch gebliebene Vermittlung
von Individual- und Staatsinteressen bzw. die Versöhnung von persönlicher
und neuer sozial erwarteter Identität: Nach Generation und sozialer Schicht
hatten anscheinend insbesondere die etwa zwischen 1925 und 1940 gebore-
nen Nachkommen ‘bürgerlicher’ Familien durch ihre Erstsozialisation im
Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch erhebli-
che und dabei nur zum Teil überhaupt bewusste Vorbehalte, sich in das aktu-
elle Gesellschaftssystem einzufügen. Die ‘Ankunftliteratur’ beschrieb daher
neue Wege, auf denen sich zumindest ‘gutwillige’ Einzelne mit ‘bürgerli-
chem’ Hintergrund ins neue Sozialkollektiv integrieren konnten. Spielräume
für eine gesellschaftlich akzeptable Individualität scheinen (auch) hier genau
so weit gegeben, wie der Einzelne nicht in einem ideologischen Dissens mit
der Gemeinschaft verharrt und damit zum anstößlichen Alter, zum Anderen,
wird. Die Frage nach der Grenze zwischen dem einen und dem anderen
stellt sich dabei immer wieder neu und wird im Laufe des Jahrzehnts für die
Protagonisten einiger fiktionaler Texte und DEFA-Filme – späterhin auch
unmittelbar für deren Autoren – buchstäblich Selbst-aufreibend.
Welche Momente in der Konfrontation aber sind es, die die viel beschwo-
rene ‘Ankunft’ zumindest in der Fiktion untergraben? Die nachfolgenden
Werkbeispiele entstammen einem entsprechend interessierten größeren
Forschungsvorhaben zu DDR-Gegenwartsprosa und thematisch verwandten
DEFA-Spielfilmen. Die vorliegende Auswahlanalyse beginnt mit Brigitte
Reimanns Prosa vom Anfang der 1960er Jahre, setzt sich sodann vermittels

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zweier DEFA-Verbotsfilme von 1965/66 mit der Mitte des Jahrzehnts aus-
einander und hält schließlich anhand von Gerti Tetzners Roman Karen W.
eine Art Rückschau auf das Jahrzehnt von einer höheren Warte aus. Von
übergreifendem Interesse ist bei alledem eine auf den ersten Blick paradoxe
Diskursposition, und zwar diejenige eines individualistischen Sozialismus,
die im Laufe des Jahrzehnts anscheinend immer virulenter wird.

2. Paradebeispiele für das System: Brigitte Reimanns frühe Romane


Brigitte Reimann ging bekanntlich ihren ganz persönlichen ‘Bitterfelder Weg’,
und zwar im Rahmen eines mehrjährigen Aufenthalts in der neu entstehen-
den Stadt Hoyerswerda, wo sie ein Langzeitpraktikum im Industriekombinat
Schwarze Pumpe absolvierte und am ‘Schreiben im Zirkel’ teilnahm. Ein
1961 erschienener Roman der seinerzeitigen Vorzeige-Schriftstellerin sollte
sogar für die erwähnte literarische Strömung der ‘Ankunftliteratur’ Pate ste-
hen, lautete sein Titel doch just Ankunft im Alltag. Reimanns Roman widmet
sich allerdings bereits auch problematisierend dem Mit- und Gegeneinander
von Individuum und einem teils recht hart erscheinenden sozialistischen
Gesellschaftssystem. Gekoppelt wird die Problematik hier an eine Dreiecks-
Liebesbeziehung zwischen jungen Menschen, Abiturienten, die für die
umrissene DDR-Nachwuchsgeneration typisch erscheinen. Das ‘Ergebnis’
des Romans ist jedoch im Wesentlichen noch gut sozialkollektivistisch: Die
‘Ankunft im Alltag’ findet durch den erzieherischen Effekt statt, den für die
drei ein Praktikum in Schwarze Pumpe und insbesondere das Wirken eines
väterlichen Brigadeführers hat. Die Wirkung besteht dabei maßgeblich in der
nachhaltig positiven Erfahrung, wie erfüllend der sozialistische Arbeitsalltag
auch für junge Menschen ‘bürgerlicher’ Provenienz sein kann.
Reimanns 1963 erschienene Erzählung Die Geschwister weist inhalt-
lich einige Ähnlichkeiten mit Ankunft im Alltag auf, vor allem in der
Grundkonstellation dreier Hauptfiguren: Von diesen müssen zumindest zwei
noch einen inneren Weg hin zur vertieften Akzeptanz des sozialistischen
Staatswesens beschreiten, da sie aufgrund ihres familiären Hintergrunds eher
‘bürgerlich’-individualistisch orientiert sind. Es handelt sich bei den bei-
den Figuren zum einen um die identifikatorisch angelegte Ich-Erzählerin,
Elisabeth, und zum anderen um deren Bruder Uli, dessen innere Abkehr
hier zum eigentlichen Problem wird. Am Ende der auf Spannung gestell-
ten Erzählung wird aber selbst er, der eigentlich die DDR verlassen wollte,
innerlich wieder an sie herangezogen, und zwar durch lange Gespräche
mit der dritten Hauptfigur, dem als sympathisch und überlegen gezeichne-
ten Parteigenossen Joachim, der zugleich der Geliebte Elisabeths ist. Der
allerletzte Absatz der Erzählung soll anscheinend pointiert das neu
geweckte Interesse des Bruders Uli ausdrücken, den Realsozialismus bzw.

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seine unmittelbar vor ihm stehenden Vertreter in ihren Motivationen besser zu


verstehen – aus der Perspektive Elisabeths heißt es dort:
Mein Bruder musterte mich stumm und mit einem Ausdruck von grübelnder
Neugierde, und nach einer Weile sagte er, fragend und in einem Ton, der mich mit
zitternder Hoffnung erfüllte: “Was seid ihr bloß für Menschen?”.4

“Was seid ihr bloß für Menschen?” – ein Satz, der zumindest im üblichen
heutigen Sprachgebrauch eher nicht mit Hoffnung erfüllt. Aber anscheinend
wollte Reimann mit diesem Satz Ulis tatsächlich ein neues positives Interesse
des ‘Bürgersohns’ am sozialistischen Menschenbild ausdrücken.
Der Weg der Erzählung bis zu diesem Punkt ist außerdem narrativ und
perspektivisch um einiges aufwendiger und damit vielschichtiger gestal-
tet als in Ankunft im Alltag: Komplex und spannungsvoll erscheint etwa die
Verschaltung einer erzählerischen Rahmenebene mit mehreren Ebenen der
Rückblendung. Der chronologisch noch fortschreitende Erzählrahmen bil-
det dabei den eigentlichen Konflikt ab, und die Rückblenden dienen der
Erklärung der gegenwärtigen Situation. Ferner sind es Dialoge auf der
Rahmenebene sowie Selbstreflexionen und Erinnerungen der Ich-Erzählerin,
die eine gewisse diskursive Offenheit inszenieren.
Die Erinnerungen eröffnen darüber hinaus rhetorisch geschickt eine wei-
tere Problemebene: Die Ich-Erzählerin versuchte sich nämlich im Rahmen
ihres eigenen ‘Bitterfelder Wegs’ ganz hoffnungsvoll als Malerin in einem
Industriekombinat. Dort ist sie jedoch nicht nur auf Gegenliebe gestoßen, son-
dern auch auf Eitelkeiten und Ausgrenzungsbestrebungen, die sie zwischen-
zeitlich durchaus am Sinn ihres Bemühens haben zweifeln lassen. Es kam in
diesem Zusammenhang sogar zum Besuch eines jungen, als freundlich-
korrekt und liberal bis jovial gezeichneten Stasi-Mannes, der dem Vorwurf
nachzugehen hatte, dass die Ich-Erzählerin in ihrem ‘Zirkel malender Arbeiter’
feindlich-konspirativ “eine bürgerliche Plattform gebildet habe”.5 Elisabeth
wies den Vorwurf, hinter dem sie die Intrige eines Malerkollegen erkannte,
vehement von sich, und sie beruhigte den MfS-Vertreter dadurch anscheinend
hinreichend, er kam jedenfalls nicht noch einmal. Ein Parteisekretär setzt der
Intrige schließlich ein für die Ich-Erzählerin gutes und gerechtes Ende, und
nicht zuletzt diese selbst erlebte Problemgeschichte wird vor dem resignie-
renden Bruder zum gleichnishaften Argument: Auch die bereits ‘gutwillige’
Schwester muss also auf ihrem Weg in die sozialistische Gemeinschaft mit
gewissen Hindernissen kämpfen! Der Text steigert gerade durch diese letzte

4
Brigitte Reimann: Die Geschwister. Erzählung. Berlin-Weimar: Aufbau 1963.
S. 253.
5
Ebd. S. 193.

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Erzählwendung für den Leser die Komplexität der vorgestellten Welt über die
rahmenden Problemdebatten hinaus und beugt so vermutlich dem Vorwurf
einer allzu märchenhaften Ankunft im sozialistischen Alltag vor.
Für Reimanns Erzählung im Ganzen ist allerdings festzuhalten, dass die
Ursachen für die vorgestellten Probleme erneut vornehmlich auf der Ebene
persönlicher Dispositionen und zwischenmenschlicher Beziehungen und
weniger auf der Ebene des Gesellschaftssystems an sich angesiedelt werden:
Es ist die gekränkte Eitelkeit eines Malerkollegen, die die Ich-Erzählerin bei-
nahe generell an der Arbeit im sozialistischen Kombinat verzweifeln lässt, und
es ist an späterer Stelle das Eingeständnis des eigenen, immer noch ‘bürger-
lichen’ Klassendenkens, das die volle Integration verhindert.6 Zu korrigieren
haben sich also immer noch vor allem die Individuen, das Gesellschaftssystem
kennt nur einzelne Härten ohne größere strukturelle Bedeutung.
3. Forcierte Problemdiskussion in DEFA-Verbotsfilmen von 1965/66
Namhafte Teile zweier Jahresproduktionen der DEFA fielen zwischen
Ende 1965 und Herbst 1966 Verdikten der Führung der Staatspartei zum
Opfer. Die neue ‘harte Linie’ des 11. Plenums des ZK der SED vom
Dezember 1965 traf insgesamt zwölf DEFA-Filme, aber auch andere vor der
Veröffentlichung stehende Kunstwerke wie etwa Werner Bräunigs großen
Roman Rummelplatz. Mit dem so genannten ‘Kahlschlagplenum’7 und ihm
folgenden Beschlüssen des SED-Politbüros brachte die führende Partei zum
Ausdruck, dass sie ihre Kontrolle im Staat derart gefährdet sah, dass sie sogar
unmittelbar nach der Premiere noch hoch gelobte Kinofilme aus dem Verkehr
zog. Besorgnisse wegen einer zuvor zu großen Liberalität und Meldungen
über wenig linientreue Entwicklungen in der Jugendkultur seit 19618

6
Vgl. ebd. S. 162.
7
Die Rubrizierung dieses ZK-Plenums mit dem Schlagwort Kahlschlag hat anschei-
nend ein Dokumentationsband der frühen Nachwendezeit etabliert, vgl. die ent-
sprechende Eingangsbemerkung in einer späteren Auflage des zuerst 1991 im
Gefolge eines wissenschaftlichen Colloquiums erschienenen Bandes: Kahlschlag.
Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Hg. von Günter
Agde. Berlin: Aufbau 2. erw. Aufl. 2000. S. 9. Der Band enthält eine umfassende
Sammlung von zeitgenössischen Dokumenten vom Plenum und aus dem Umfeld
desselben sowie mehrere sehr erhellende Studien über Abläufe, vermutliche
Hintergründe und auch Fernwirkungen (bis 1976 bzw. sogar 1989) des kulturellen
Einschnitts in der DDR, der von dieser Parteitagung ausging.
8
Etwa zu dem von staatsoffizieller Seite festgestellten jugendlichen Rowdytum,
dass durch westlich-modernistische Einflüsse auch unter den Kulturschaffenden
der DDR befördert werde, vgl. Wolfgang Engler: Strafgericht über die Moderne –
Das 11. Plenum im historischen Rückblick. In: Kahlschlag [wie Anm. 7]. S. 16–36.

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verursachten eine Kehrtwende, die zeitgenössische Hoffnungen auf eine


entspanntere Gesellschaftsentwicklung nach dem Mauerbau nachhaltig
enttäuschte.
Bekanntestes Beispiel für einen DEFA-Film, der zunächst durchaus mit
Zustimmung der zuständigen staatlichen Gremien zu ersten Aufführungen
kam, ist Spur der Steine, gedreht unter der Regie des damals bereits renom-
mierten Regisseurs Frank Beyer und mit den Publikumslieblingen Manfred
Krug und Eberhard Esche in den männlichen Hauptrollen. Am 15. Juni 1966
war der Film mit großem Erfolg in Potsdam zu einer Art Vorpremiere gekom-
men, um dann eigentlich ab dem 30. Juni mit einer für DDR-Verhältnisse
großen Zahl von fast 60 Kopien landesweit zu laufen. Tagungen von Politbüro
und Sekretariat des ZK der SED am 28. und 29. des Monats führten jedoch
zu einem weitgehenden Stopp von Verbreitung und Bewerbung; es kam sogar
zu manipulativen Störungen, etwa bei der zentralen Ostberliner Premiere
im Kino International, wo einbestellte Protestzuschauer aus verschiede-
nen Parteigruppen den Film ausbuhten – ein organisierter ‘Volkszorn’, der
zumal in Deutschland ungute Erinnerungen wachruft. Der Film verschwand
so auf Jahrzehnte in der Versenkung. Kopien blieben glücklicherweise erhal-
ten, und so konnte er 1990 wie mehrere andere Verbotsfilme noch zu einem
zweiten Kinoleben erweckt werden, und zwar im Rahmen einer feierlichen
Neuaufführung im alten Ostberliner Premierenkino.
Warum aber misstraute man gerade diesem Film? War er doch nach einer
gleichnamigen Romanvorlage von Erik Neutsch entstanden, die kurz zuvor im
Land noch größte Ehren erlangt hatte – erst 1964 hatte Neutsch für sein Werk
den hochrangigen DDR-Nationalpreis für Kunst und Literatur bekommen.
Darüber hinaus sollte der Roman bis 1989 zur vorbildlichsten sozialistisch-
realistischen Literatur gezählt werden und über Jahrzehnte zum schulischen
Kanon gehören.
Im Mittelpunkt von Roman und Film steht der gut dreißigjährige Anführer
einer Zimmermannbrigade, Hans Balla, der seine Handwerkertruppe
mit großem Elan zu Höchstleistungen bringt, dabei jedoch nicht immer
ganz korrekt vorgeht: Allenthalben wird er konfrontiert mit der Situation
des Materialmangels, aber auch mit einer schwerfälligen bürokratischen
Organisation auf einer Industriegroßbaustelle bei dem fiktiven Ort Schkona,

Hier: S. 18. Als aufschlussreichen zeitgenössischen Kommentar vgl. das Zitat aus
Brigitte Reimanns Tagebuch ebd. S. 29. Nicht weiter einzugehen ist hier ferner auf
die wohl hinter allem stehende problematische ökonomische Entwicklung der DDR
und die Ausrichtung der DDR-Staatsführung auf den neuen Hardliner in Moskau,
Breschnew; Kultur- und Jugendpolitik können vor diesem Hintergrund auch als
Felder der Ablenkung bzw. Umlenkung öffentlicher Aufmerksamkeit bezeichnet
werden.

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und so besticht Balla zum Beispiel Lkw-Fahrer, damit sie ihm und nicht ande-
ren das nötige Baugut liefern. Geradezu selbstherrlich ist auch sein Verhalten
gegenüber Staatsmacht, Polizei und Parteifunktionären, von denen er sich
nicht ohne Weiteres zur Ordnung rufen lässt. Im Laufe der erzählten Zeit, das
heißt innerhalb einiger Wochen und Monate, stößt er sich jedoch sozusagen
die Hörner ab, und dies vor allem in der Auseinandersetzung mit dem neuen
leitenden Parteifunktionär auf der Baustelle, Werner Horrath. Horrath ist
dabei einer jener ‘Planer und Leiter’, die nach der 2. Bitterfelder Konferenz
(1964) mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten. Als der eigentliche, sich entwi-
ckelnde ‘positive Held’ erscheint freilich Hans Balla, der nicht zuletzt durch
Horrath lernt, dass er seinen Tatendrang besser mit der Gesamtgemeinschaft
verbinden muss, um der als richtig erkannten Sache konsequenter zu dienen.
Ballas Zuneigung zu einer jungen Ingenieurin auf der Baustelle, Katrin Klee,
trägt zudem dazu bei, dass der individualistische Draufgänger domestiziert wird.
Beinahe gegenläufig zu Balla entwickelt sich hingegen der erwähnte
Parteisekretär Horrath. Der zweite Held des Romans verrennt sich näm-
lich trotz anfänglich vorbildlichen Bemühens bei einzelnen Fragen von
Organisation und Menschenführung, und er ‘verzettelt’ sich außerdem privat:
Er ist ebenfalls der jungen Ingenieurin zugeneigt und beginnt mit ihr sogar
eine regelrechte Beziehung, obwohl er – im Gegensatz zum Junggesellen
Balla – an einem anderen Ort bereits Ehefrau und Kind hat. Horrath muss
daher schließlich einige Maßregelungen hinnehmen, die in einem existenzbe-
drohenden Parteiausschlussverfahren kulminieren. In Beyers Film wird die-
ses Parteiverfahren sogar zur erzählerischen Rahmenebene im Sinne einer
Gesamtaufarbeitung der Geschehnisse.
Die dort aufgerollten Verwicklungen sollen jedoch im Einzelnen nicht
weiter verfolgt werden, um zu der eigentlichen Frage zurückzukommen:
Wieso wurde Frank Beyers filmische Adaption so viel kritischer beurteilt
als der in vielen Kerninhalten identische Roman Erik Neutschs? War es die
größere Aufmerksamkeit der Funktionäre gegenüber dem Massenmedium
Kinofilm? War der Film am Ende nur ein Opfer der geänderten Zeitumstände
von 1966 gegenüber denjenigen von 1964 (Heiner Müllers herausragende
Bühnenadaption des Romans, Der Bau, hatte ja bereits auf dem 11. Plenum
zu einem der zentralen Verbotsobjekte gezählt)? Oder hat es eventuell ent-
scheidende inhaltliche Abänderungen gegeben?
Eine erste Antwort gibt eine Zusammenfassung der deutlichsten
Eigenheiten, die der Film gegenüber dem Roman aufweist. Formalästhetisch
kann man zunächst von einer generellen Abkehr von Neutschs aufdring-
lich pathetischem und langatmigem Realismus sprechen – der Roman zählt
über 900 Seiten –, und zwar hin zu einer im zeitgenössischen Vergleich
moderat experimentellen Filmästhetik. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich
sodann die markantesten Änderungen analog zur neuen Ästhetik als Verzicht

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auf besonders plakative Momente bezeichnen, mit denen Neutsch die


Wendung Ballas zum ‘positiven Helden’ und zudem die geradezu ‘väterliche
Güte’ und Selbsteinsicht der Partei gekennzeichnet hatte. Joachim Wittkowski
hat die wichtigsten dieser Änderungen präzise erfasst:

Im Film wird Balla weder Parteimitglied noch Held der Arbeit, er reist weder in
die Sowjetunion, noch trifft er den Genossen Staatsratsvorsitzenden. [. . .] Zwar
sind auch dem Film-Balla die undogmatischen Genossen sympathisch, aber anders
als im Roman bleibt die Partei unbeweglich.9

Mit Blick auf die Frage von Individualität und Alterität ist schließlich
Folgendes festzustellen: Das Verhalten zumal des Balla im Film wirkt teils
herzerfrischend impulsiv, teils ist es unwirsch bis störrisch (er erscheint so
übrigens sogar im Ansatz als eine latent anarchistische Figur, was an sich
schon ein Dorn im Auge der SED-Hardliner sein konnte). Es ist aber immer
im positiven Sinn als authentisch und fundamental menschlich zu bezeich-
nen, und genau diese facettenreiche Individualität wird anders als im Roman
nicht bis ins Letzte und demonstrativ auf eine ‘bessere’, parteilich-sozialistische
Kollektividentität hin umgebogen. Vielmehr scheint der Balla im Film in
einer quasi über-ideologischen Weise fürsorglich-human zu werden, etwa in
seinem Verhalten gegenüber der Ingenieurin Klee, als diese an ihrem unste-
ten Geliebten Horrath und der allgemeinen Situation auf der Baustelle ver-
zweifelt. – Der Film lässt damit der Persönlichkeit Ballas ein größeres
Eigenrecht, zumal gegenüber einer Partei, deren Vertreter im Einzelnen viel
‘fehlbarer’ erscheinen als in Neutschs Roman (allein dies sicherlich auch ein
wichtiges Verbotmoment). Vor allem die Grenze zwischen anzuerkennender
Individualität und nicht tolerabler Alterität wird so jedoch deutlich zugunsten
der Ersteren verschoben – im Umkehrschluss: Es handelt sich hier gleichsam
um eine Mahnung zu Toleranz bzw. der Vorschlag eines möglichst individua-
listischen Sozialismus.
Eine besonders interessante thematische Variante in dieser Richtung
bietet unter den vielen diskussionswürdigen 1965er Verbotsfilmen der
Spielfilm Karla. Er entstand seit 1964 nach einem Drehbuch des jungen
Ulrich Plenzdorf und unter der Regie des seinerzeit ebenfalls renommierten
Regisseurs Hermann Zschoche und durfte im Gegensatz zu Spur der Steine
nicht einmal ganz zur Fertigstellung kommen.10 Allerdings konnte Karla

9
Joachim Wittkowski: Essay. In: Ders.: Erik Neutsch. In: Kritisches Lexikon
zur deutschen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. http://www.
munzinger.de. Downloaded: 14.12.2010.
10
Plenzdorfs Filmszenarium konnte immerhin 1978 im Ostberliner Henschel-Verlag
erscheinen.

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ebenfalls im Winter 1989/90 nachträglich vollendet und 1990 uraufgeführt


werden.
Die weibliche Titelfigur, Karla Blum, gespielt von der jungen Jutta
Hoffmann, ist eine frisch examinierte Lehrerin an ihrer ersten Schule. Die
Figur weist interessante Ähnlichkeiten, aber auch komplementäre Züge zu
Brigitte Reimanns frühen Heldinnen auf: Wie diese identifiziert sich Karla
eigentlich sehr mit dem Sozialismus, gerät aber dennoch auf mehreren
Ebenen in Konflikte, die sie beinahe ganz aufgeben lassen:11 Erstens hat sie
es zwar mit einem wohlwollenden und liberalen Schulleiter zu tun, aber auch
mit einer sozusagen preußisch-sozialistischen Schulrätin. Diese wacht ideo-
logisch und geradezu ‘sittenstreng’ über die Schulen ihres Kreises, und sie ist
bereits skeptisch aufgrund früherer ‘unorthodoxer’ Akte des Schulleiters, die
ihrer Meinung nach das Ansehen der Institution untergraben haben. Zweitens
stehen Karla in ihrer Abiturklasse mehrere Schüler gegenüber, die ihnen vor-
gesetzte sozialistische Lehrmeinungen entweder unkritisch und übereifrig
oder aber nurmehr opportunistisch bis zynisch hinnehmen. Karla hingegen
hat sich selbständiges ‘Weiterdenken’ und unverblümte Ehrlichkeit auf die
Fahnen geschrieben, und so provozieren zumal die in zweierlei Richtung frag-
würdigen Schülerhaltungen bei ihr den Willen, vor Ort neue Verhältnisse zu
schaffen. Hinzu kommt, drittens, Karlas neuer Geliebter am Schulort, Kaspar
Stein, ein ehemaliger politischer Journalist, der aufgrund von irritierenden
Wendehals-Erfahrungen in der Zeit nach Stalins Tod bereits weitgehend resig-
niert hat und nun im selbst gewählten gesellschaftlichen Abseits lebt, obwohl
er überzeugter Sozialist ist. Seine stille zynische Alterität lässt Karla jedoch
umso mehr ihr gestaltungsorientiertes Ideal vertreten.
Gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit an der Schule regt Karla einzelne Schüler
freilich so spontan zum unvermittelten Widerspruch gegen allzu schlichte
Ideologismen an der Schule an, dass sie mit Schulleiter und Schulrätin in
Widerstreit gerät. Sie muss sich vorwerfen lassen, dass sie nicht hinrei-
chend übergreifend politisch denke und außerdem durch ihr Laisser-faire die
Autorität der ganzen Lehrerschaft infrage stelle. Im nachfolgenden halben
Jahr bemüht sich Karla daher, weniger ihrem spontanen, schlicht-ehrlichen
Naturell zu folgen, sondern mehr abzuwägen und – wie es immer wieder
heißt – mit ‘Vorsicht’ zu handeln. Als ‘Krönung’ dieser Selbstdisziplinierung
im Sinne des Gesellschaftssystems erscheint, dass Karla eine schulöffentliche
Auszeichnung für vorbildliche ‘Planerfüllung’ im Unterricht erhält.
Nicht zuletzt durch diese Prämierung sieht sie sich jedoch als
‘Selbstdenkende’ vor dem Ende und beschließt nach einer kurzen Frustphase

11
Eine umfängliche Zusammenfassung und Diskussion des Werks, ausgehend von
Plenzdorfs Filmszenarium, vgl. in Siegfried Mews: Ulrich Plenzdorf. München:
Beck 1984 (Autorenbücher 41). S. 21–34.

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die Wende zurück zu ihren alten Idealen: In einer spektakulären Schulstunde


mit den Abiturienten, bei der wie zufällig Schuldirektor, Schulrätin und ein
hoher Parteifunktionär anwesend sind, appelliert sie emphatisch, jeglichem
Nachbeten von Meinungsschablonen (wieder) zu entsagen und stattdessen
immer wahrhaftig zu sein. Durch diese Botschaft sieht jedoch insbeson-
dere die Schulrätin erneut die Autorität der ganzen Institution Schule derart
untergraben, dass sie Karla mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert
und nach kurzer Frist an einen abgelegeneren Ort versetzen lässt. Der
Schulleiter sowie der erwähnte hohe Gast – als Funktionär aus der Hauptstadt
eine Art sozialistischer deus ex machina, also eine personifizierte ‘höhere
Gerechtigkeit’ – ermutigen Karla immerhin, so zu bleiben, wie sie ist, bzw.
auf dem an sich richtigen Weg weiterzumachen.
Am Ende des Films bleibt jedoch zunächst eine Protagonistin zurück,
die psychisch recht lädiert ist. Eine positive Wendung wird allerdings auch
noch angebahnt, Karla verliert ihren Geliebten zum Schluss nicht auch: In
der letzten Filmsequenz springt er vielmehr buchstäblich mit auf den Zug,
der Karla an eine neue Schule im Realsozialismus bringen soll – sie wer-
den vielleicht sogar beide noch einmal versuchen, im Rahmen einer Art
‘zweiten Ankunft’ ihre Individualität und die nötige politisch-ideologische
‘Vorsicht’ unter einen Hut zu bringen. Die beim Zuschauer zu erwartende
Skepsis gegenüber ihren Erfolgsaussichten ist freilich nicht nur durch per-
sönliche Eigenheiten auf Seiten Karlas und Kaspars zu erklären: Ideologisch
begründete Intoleranz oder gar Engstirnigkeit und Widersprüche selbst in der
Haltung des Schuldirektors sind zu deutlich geworden – und gerade solche
Einstellungen bei den Vertretern der Staatsmacht sind es, die in der konkre-
ten Handlungskonsequenz einen humanen und sensiblen Einzelnen nachhaltig
beschädigen oder gar frustrieren. Dass der Film eher eine solche Erkenntnis
vermitteln mag anstelle der deklarierten Hoffnungsperspektive, hat ihm
sicherlich nicht zuletzt das Stoppsignal der Parteifunktionäre und den seiner-
zeit ‘beliebten’ Pessimismus- und Skeptizismus-Vorwurf eingetragen. Das
erneute konstruktive Plädoyer für einen individualistischeren Sozialismus
dürfte hingegen kaum offizielle Anerkennung erfahren haben.

4. Rückschau auf die 1960er Jahre: Gerti Tetzners Karen W.


Anstelle der üblichen Beispiele für DDR-Gegenwartsprosa vom Ende
der 1960er Jahre, also Wolfs Nachdenken über Christa T. oder Reimanns
Franziska Linkerhand, soll abschließend ein heute bedauerlicherweise
weitgehend vergessener, aber auf besondere Weise aufschlussreicher Text
in den Blick genommen werden, nämlich der 1974 veröffentlichte Roman
Karen W. von Gerti Tetzner. In seinen Anfängen geht der Roman zurück bis
auf das Jahr 1965, in dem sich Tetzner bereits mit der von ihr bewunderten

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Christa Wolf über ihn austauschte;12 von der erzählten Jetztzeit her ist er in
der Endfassung sodann auf 1967 zu datieren, und wohl nur aufgrund äußerer
Umstände ist er erst nach 1970 fertig geworden.
Der Roman zeigt zumindest auf bestimmten Ebenen deutlich: Individualität
war und blieb wohl die immer wieder unterdrückte gesellschaftliche Frage.
Die kollektivistische Ordnung wird zwar auch in diesem Werk weiterhin
bejaht, und die hier nicht weiter zu erläuternde Selbstfindungsthematik der
Titelfigur Karen Waldau ist vielleicht eher unideologisch-persönlicher Natur
und berührt den hier interessierenden Konflikt Individuum-Gesellschaft
weniger. Die Hauptfigur ist es daher auch nicht, die hier, zum Abschluss,
fokussiert werden soll. Aufschlussreich erscheint vielmehr eine narrative
Seitenlinie des Romans, und zwar mit Bezug auf Karen W.s Lebensgefährten
Dr. Fritz Peters, der sich als Historiker an der Universität Leipzig
folgenden Überlegungen widmete: Die sozialistische Geschichtswissenschaft
der 1960er Jahre vernachlässigte seines Erachtens die Bedeutung ein-
zelner ‘großer Persönlichkeiten’ für den Geschichtsprozess sowie deren
subjektive Sichtweisen auf die Gesellschaft. Diese Individuen nähmen aber
sehr wohl auf historische Entwicklungen Einfluss, wenn auch nur neben
den gesellschaftlichen Klassen und anderen Wirkkräften in dialektisch-
materialistischer Geschichtsperspektive. Peters hatte diese Hypothese
bereits in der ersten Hälfte der 1960er zum Zentrum seiner Promotion
gemacht und mit Nachdruck verteidigt; bis zur Jetztzeit des Romans
arbeitete er dann an diesem Thema weiter, schließlich sogar mit einer gan-
zen Institutsforschergruppe. Abwehrreaktionen von Seiten anderer Historiker
und Systemkräfte sowie ein zunehmender Verschleiß des eigenen Elans
im Karrieregerangel ließen ihn jedoch sein Kerninteresse immer weni-
ger energisch verfolgen, und in der anzunehmenden Zukunft bzw. dem
Romanhorizont wird er dies womöglich bald gar nicht mehr tun. – Die Frage
des Individuums begegnet hier also auf einer ‘zweiten Ebene’, das heißt als
versandender Versuch eines re-entry des Einzelsubjekts in die sozialistische
Geschichtswissenschaft, man könnte auch sagen: Es begegnet als ein immer
vergeblicheres Bemühen um eine individualistischere Sozialismustheorie.
1974 durfte ein Roman diese Problemlage immerhin mitteilen.13
12
Vgl. den Briefwechsel der Autorin mit Christa Wolf in: Christa Wolf: Essays/
Gespräche/Reden/Briefe 1959–1974. München: Luchterhand 1999 (Dies.: Werke 4).
S. 213–237.
13
Ein historisches Substrat bzw. mit großen Abstrichen eine reale Vorbildfigur
für Peters und seinen wissenschaftlichen Ansatz könnte man eventuell in Jürgen
Kuczynski sehen, der sich in den 1960er Jahren für ähnliche Fragen interessierte, als
seinerzeit bereits zentraler Vertreter der sozialistischen Gesellschaftswissenschaft
an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften aber sicherlich deutlich etablierter
war als die Figur Peters.

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5. Kurzer Ausblick auf die Individualitätsfrage in den 1970er


und 1980er Jahren
Die literarische Debatte um diese Frage versiegte – zumindest mit Bezug auf
gesellschaftlich aktive Figuren – bereits um 1970 jedoch weitgehend.14 Viele
Autoren wichen stattdessen bekanntermaßen aus und übten eine eher indirekte
Gesellschaftskritik, indem sie nurmehr Probleme von Außenseiterfiguren dar-
stellten: in den 1970er Jahren gerne mit Bezug auf den Adoleszenzbereich,
am prominentesten wohl in Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen W.; in den
1980er Jahren hingegen verlegte man sich auf eine generationsmäßig ver-
schobene Kritik, das heißt auf “demotivierte Erwachsene und desillusionierte
Veteranen”,15 so etwa in Christoph Heins Novelle Der fremde Freund. – Über
diese vieldiskutierten Alteritätsproblematiken am Rand der Gesellschaft ist
jedoch die lebhafte vorangegangene Debatte im sozialen Zentrum nicht zu
vergessen bzw. noch um einiges genauer zu verfolgen – durch eine umfas-
sende Re-Lektüre von DDR-Prosa und DEFA-Film der 1960er Jahre.

14
Diesbezüglich positivere Einschätzungen in älterer Forschung haben sich m.E.
als nicht realistisch erwiesen, so etwa bei Jochen Staadt: Konfliktbewußtsein und
sozialistischer Anspruch in der DDR-Literatur. Zur Darstellung gesellschaftlicher
Widersprüche in Romanen nach dem VIII. Parteitag der SED 1971. Berlin: Spiess
1977 (Hochschul-Skripten. Literaturwissenschaft 1). S. 298–308.
15
Dümmel: Identitätsprobleme [wie Anm. 1]. S. 13.

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Michael Hofmann

Der Wilde Osten und der poetische Süden.


Grundlegungen und Modellanalysen zur Reiseliteratur
in der DDR
Travelogues of the GDR present a new field of inquiry. The special situation in the
GDR, which did not allow all its citizens to travel where they wanted, made trave-
logues different from those in the West. By studying them we can learn important
details about the mentality and literary situation in the GDR. This essay examines two
travelogues: the first by Brigitte Reimann, who made a trip to Siberia with a group of
GDR officials and discovered what I call “The Wild East”; the second, by Adolf
Endler, about Georgia, which appears as a romantic South. The essay shows that
intercultural constellations in the GDR were different; this is an interesting field of
research that could be examined in future publications.

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer mag die Erinnerung an die
DDR in vielen öffentlichen Diskursen nur eine marginale Rolle spielen. Für
die Kulturwissenschaft und auch für eine kritische Öffentlichkeit, die nicht
immer nur den neuesten Trends hinterherläuft, sind differenzierte Perspektiven
auf die verschiedenen Aspekte der Geschichte des ‘zweiten deutschen
Staates’, aber vor allem seiner Gesellschaft und seiner Menschen, von großem
Interesse. Und zwar einerseits, weil ein gegenseitiges Verständnis zwischen
Ost- und Westdeutschen auf einem besseren Kennenlernen beruht, das auch
das jeweilige Gedächtnis einbeziehen sollte. Und andererseits zeigen etwa die
Aporien der Banken- und Finanzkrisen die Notwendigkeit, Alternativen zu
einem rein kapitalistischen Gesellschaftsmodell zu bedenken. Zwar war die
DDR nicht der ideale Staat der Arbeiter und Bauern, von dem die Propaganda
sprach; es lohnt sich aber heute noch, Erfahrungen nachzuvollziehen, die mit
den Perspektiven und Aporien des real existierenden Sozialismus gemacht
und die unter anderem in literarischen Diskursen artikuliert wurden.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich vielfältige aktuelle Perspektiven auf
die Literatur der DDR:
1. Literatur hat Teil an einem kulturellen Gedächtnis, das nach dem Ende
einer unmittelbaren Weitergabe von Erfahrungen und Erinnerungen auf
Texte, Dokumente und Artefakte angewiesen ist. Literatur kann insofern
historische Erfahrungen wiedergeben und diese gleichzeitig kritisch reflek-
tieren. Wer also etwas über die DDR und die Erfahrungen ihrer Bürger
wissen will, kann die Literatur der DDR studieren – und er kann dies heute
relativ unvoreingenommen ohne die Schablonen des Kalten Krieges und

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auch ohne problematische Vereinnahmungen von DDR-Perspektiven durch


westdeutsche Beobachter.
2. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist die Geschichte der DDR
und ihrer Literatur ein exemplarisches Forschungsfeld zur Untersuchung
des spezifischen Verhältnisses von Literatur und Politik, das in einer
Gesellschaft vorlag, in der die Freiheit der Meinungsäußerung durch
Zensur und Einschüchterung eingeschränkt war, in der Literaten und
andere Kulturschaffende aber sehr wohl Mittel und Wege fanden,
nicht-konforme und unkonventionelle Meinungen und Erfahrungen zu
artikulieren.
3. Die alte Diskussion um die Frage, ob es sich bei der Literatur der DDR
und derjenigen der Bundesrepublik um eine oder zwei Literaturen han-
delte, war immer schon abstrakt und steril. Ohne diese scholastische Frage
klären zu wollen, erscheint es möglich und interessant, die Literatur der
DDR in eine allgemeine Geschichte der deutschsprachigen und der
europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu integrieren.
4. Die Literatur der DDR reflektiert eine problematische Geschichtserfahrung,
die mit der Ambivalenz historischer Prozesse und den Aporien von
Modernisierung, Bürokratie und Technologie zusammenhängt. Die
Geschichte der DDR sollte vor diesem Hintergrund nicht einseitig ‘vom
Ende her’ betrachtet werden, sondern als eine spezifische Spielart der
Auseinandersetzung mit den Problemen der Moderne. Aus westdeutscher
Perspektive besteht keine Notwendigkeit, ständig von einer vermeintli-
chen Überlegenheit des Westens auszugehen; es bedarf einer unvoreinge-
nommenen Neugier und Offenheit, um Lebensentwürfe und künstlerische
Artikulationen aufzunehmen, die zum Teil anders als im Westen waren,
aber ihren eigenen Wert und ihre eigene Würde besaßen.
5. In den besten Texten transzendiert die Literatur der DDR wie die der
Bundesrepublik oder die Österreichs und der Schweiz ihre historischen
Bedingungen und gewinnt einen exemplarischen Wert, der im Sinne der
eben beschriebenen Auseinandersetzung mit Folgen der Modernisierung
und der problematischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu den
gültigen historischen Zeugnissen dieser Epoche gehört.
6. Für die Forschung zur DDR-Literatur bedeutet dies, dass es darauf
ankommt, sich von konventionellen Fragestellungen zu lösen und neue
Perspektiven zu entwickeln. Fragen, die für die westdeutsche Literatur
und/oder für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft nach 1990
von besonderer Bedeutung sind, können auf ihre Bedeutung auch für
Literatur und Kultur der DDR befragt werden. In diesem Sinne sind
die Reiseliteratur und die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem
Fremden Gegenstände, die bisher nur am Rande im Blick auf die DDR
behandelt wurden. Sie können aber einerseits einen wichtigen Beitrag zu

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einer Mentalitätsgeschichte der DDR leisten; andererseits, so die hier zu


skizzierende These, zeigen die Reisetexte der DDR spezifische und ori-
ginelle Reaktionen auf Fragestellungen, die zwar in anderer, aber doch
in vergleichbarer Form auch in der westdeutschen und der europäischen
Literatur insgesamt auftreten.
Zu den zuletzt erwähnten neueren Perspektiven der Literatur- und
Kulturwissenschaft zählt die Frage nach dem Stellenwert interkulturel-
ler Konstellationen für die Kultur und Literatur deutscher und europäischer
Gesellschaften. Im Zuge der Globalisierung ist noch deutlicher geworden, was
schon immer galt: Konstruktionen des Eigenen und literarische wie nichtlite-
rarische Formulierungen des eigenen Selbstverständnisses wurden und werden
sehr oft dadurch artikuliert, dass eine Begegnung mit Fremden und Anderem
thematisiert und inszeniert wird. Die interkulturelle Literaturwissenschaft hat
in diesem Kontext folgende Einsichten und Fragestellungen entwickelt:1
1. Unbestreitbar ist die Bedeutung der Literatur für die Auseinandersetzung
mit anderen Kulturen.2 Literatur als Einübung in Alterität kann ganz all-
gemein als Simulation von Fremderfahrungen begriffen werden, und dies
gilt in besonderem Maße für die Darstellung und Auseinandersetzung mit
kulturell Fremdem. Unter der Voraussetzung von Fiktion und Simulation
ist eine hypothetische Auseinandersetzung mit dem Fremden möglich, die
ohne die ‘Gefahren’ der realen Begegnung verläuft und so den Umgang
mit dem Fremdem in gewissem Sinne einübt.
2. In diesem Kontext ist eine Dialektik des Fremden und des Eigenen zu
beobachten: Die Analyse des Fremden bedingt und hat zur Voraussetzung
eine affirmative oder kritische Reflexion des Eigenen.3 Wenn das Eigene
zum absoluten Maßstab erhoben wird, erfolgt eine Abgrenzung und eine

1
Vgl. hier und im Folgenden grundlegend Michael Hofmann: Interkulturelle
Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006.
2
Vgl. Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. In:
Hermeneutik der Fremde. Hg. von Alois Wierlacher und Hans Dietrich Krusche.
München: iudicium 1990. S. 80, 102. – Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus
der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München:
iudicium 2008. – Ortrud Gutjahr: Alterität und Interkulturalität. Neuere deut-
sche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue
Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek bei
Hamburg 2002. S. 345–369.
3
Vgl. zur soziologischen Forschung in diesem Kontext Ortfried Schäffter: Modi des
Fremderlebens. In: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination
und Bedrohung. Hg. von Ortfried Schäffter. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991.
S. 11–42.

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Abwertung des Anderen. Wenn aber – was in der Moderne und vor allem
in postkolonialen Konstellationen meistens der Fall ist – das Eigene im
Kontext von Krisen und Selbstzweifeln erfahren wird, dann kann das
Fremde zur Folie einer kritischen Selbstreflexion werden und sogar zu
einer Erweiterung des Eigenen beitragen.
3. Das Verhältnis von kultureller und literarische Alterität kann – wie oben
bereits angedeutet – im Sinne Norbert Mecklenburgs so gefasst werden,
dass Literatur als Einübung in die Erfahrung des Fremden/Anderen ohne
das ‘Risiko’ der realen Begegnung gefasst wird.
4. Die Modelle und Konzepte der Interkulturellen Literaturwissenschaft
ergeben neben anderen innovativen Perspektiven die Idee einer
Literaturgeschichte des Fremden, die sich im Bereich der neueren deut-
schen Literatur vom Barock über Lessing, Goethe, die Romantik bis in die
interkulturelle Literatur der Gegenwart erstrecken kann (als prominentes
aktuelles Beispiel kann der Roman Der Weltensammler des in Bulgarien
geborenen, auf Deutsch schreibenden Kosmopoliten Ilija Trojanow
gelten4).
Geht man zu der Reiseliteratur als zu einem privilegierten Thema der
interkulturellen Literaturwissenschaft, so hat die Germanistik erst in
den 1980er Jahren grundlegende Forschungsergebnisse und komplexe
Konzepte entwickelt. Vor allem Peter J. Brenner hat in einem ausführlichen
Forschungsbericht und in einem von ihm herausgegebenen Sammelband
zur Geschichte der Reiseliteratur Maßstäbe gesetzt,5 die heute vor allem
durch neuere Erkenntnisse zu Fragen des “Orientalismus” (Edward Said)6
und allgemein zu postkolonialen Konstellationen7 zu ergänzen sind. In
folgender Weise können die allgemeinen Konzepte der Interkulturellen
Literaturwissenschaft auf die Reiseliteratur angewendet werden:
1. Im Reisebericht, der von der Gattungsdefinition her auf einer ‘realen’
Reiseerfahrung des Autors oder der Autorin beruht, wird das Erlebnis
des Fremden beschrieben, indem man es implizit oder explizit mit dem
Eigenen vergleicht.

4
Vgl. Ilija Trojanow: Der Weltensammler. München: Hanser 2006.
5
Vgl. Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur.
Hg. von Peter J. Brenner. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. – Peter J. Brenner:
Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsbericht. als Vorstudie zu
einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer 1990.
6
Vgl. Edward Said: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a New
Afterword. London: Penguin Books 1995.
7
Vgl. Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der
Kolonialzeit. Hg. von Alexander Honold und Klaus Scherpe. Stuttgart-Weimar:
Metzler 2004.

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2. Das Fremde wird somit vor dem Hintergrund des Eigenen interpretiert.
3. Das Fremde ist jeweils mein Fremdes; das Eigene ist der Maßstab, das
Fremde aufzunehmen. Der Reiseschriftsteller thematisiert Auffälligkeiten
und Differenzen, die ihm vor dem Hintergrund seiner persönlichen
Erfahrungen und seiner Einbettung in seine eigene Kultur als relevant,
merkwürdig, auffällig, bedeutsam erscheinen.
4. Im Fremden findet sich häufig verdrängtes Eigenes. Die Dichotomie
zwischen Eigenem und Fremdem lässt sich in dieser schematischen
Allgemeinheit nicht aufrechterhalten. Indem das ‘Fremde’ an Bedürfnisse
und Interessen des ‘Eigenen’ appelliert, wird sich der Reiseschriftsteller
des Fremden im Eigenen und des Eigenen im Fremden bewusst. Es ent-
steht ein “dritter Raum” (Homi Bhabha),8 ein Ort des Übergangs und der
Begegnung, in der die Begriffe des Eignen und des Fremden neu verhan-
delt werden und Identitätszuschreibungen tiefgreifende Veränderungen
erfahren können.
5. Zu berücksichtigen ist auch der utopische Aspekt des Reisens: Gerade in
der Moderne wird speziell das außereuropäische Fremde in zivilisations-
kritischer Perspektive mit Freiheit, Natur, Ursprung und der Abwesenheit
von Zwängen identifiziert. Dabei ist leicht durchschaubar, dass hiermit
Risiken der Projektion, der Vereinnahmung des Fremden, ja sogar eine
implizite Abwertung des Fremden als des Naiven und nicht intellektuell
Differenzierten einhergehen. Die kritische Analyse der Reiseliteratur hat
also die im Text vorherrschenden Maßstäbe der Beurteilung des Fremden
und des Eigenen nachzuzeichnen und die Frage zu erörtern, inwieweit
eine Offenheit für das Andere des Eigenen im Schreibprozess erreichbar
wird und ob die nicht zu umgehende Gefahr der Instrumentalisierung des
Anderen vor allem als Projektionsfigur kritisch reflektiert wird.
6. Die Beschreibung und kritische Analyse von Reiseliteratur kann sich auf
die Ergebnisse der Gattungsgeschichte stützen. Diese unterscheidet ver-
schiedene historische Typen der Reiseliteratur: so etwa die Pilgerreise,
die Kavalierstour und die “sentimental journey” des 18. Jahrhunderts
und die Bildungsreise (vgl. Baedecker). Von besonderer Bedeutung ist
auch der Gender-Aspekt. Seit dem 19. Jahrhundert nimmt die Literatur
von reisenden Frauen einen besonderen Stellenwert ein. Mit dem
Prozess der Kolonialisierung wird die Beschreibung außereuropäischer

8
Vgl. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth
Bronfen. Tübingen: Stauffenburg 2000. – Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-
amerikanischen Multikultualismusdebatte. Hg. von Elisabeth Bronfen, Benjamin
Marius und Therese Steffen. Tübingen: Stauffenburg 1997.

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Fremde wie etwa der Südsee und des ‘Orients’ zentral. Für die Tradition
gesellschaftskritischer Literatur, die im Prinzip für die DDR besonders
bedeutsam war, sind die im Vormärz, vor allem bei Heine, entwickelten
und im 20. Jahrhundert exemplarisch durch den ‘rasenden Reporter’ Egon
Erwin Kisch gepflegte Gattungen des ‘Reisebildes’, des sozialkritischen
Reiseberichts und der Reportage elementar.
Für die Reiseliteratur der Moderne und insbesondere der Zeit nach 1945 sind
vor allem zwei kritische Perspektiven zu benennen:
1. Mit den schon genannten Begriffen des Exotismus und des Orientalismus
werden Zugangsweisen zum Fremden beschrieben, mit denen sich die
Reisenden an spektakulären Phänomenen des Fremden erfreuen und
berauschen, die aber das Fremde letztlich als der europäischen Kultur
unterlegen betrachten. Wenn in der Tradition des Rousseauismus die
Naivität, Unschuld und Naturnähe exotischer Fremder betont wird, so ist
damit einerseits eine Entlastung von den Entfremdungserfahrungen der
technisierten, industrialisierten und bürokratisierten Moderne verbunden;
andererseits wird implizit an der intellektuellen, organisatorischen und
technischen Überlegenheit der europäischen (und nordamerikanischen)
Kultur festgehalten. Auf der anderen Seite ist etwa die Geschichte der
Orient-Literatur zwar sicherlich differenzierter zu betrachten, als dies in
Saids grundlegendem Werk geschehen ist.9 Nicht zu leugnen ist aber, dass
die Konstruktion von ‘Orient’ in eminentem Maße zur Bestätigung euro-
päischen Selbstverständnisses verwendet wurde. Ob eine ‘authentische’
Begegnung mit dem außereuropäisch Fremden überhaupt möglich ist,
erscheint als aporetische Frage; fest steht, dass die kritische Selbstreflexion
als Strukturelement des Reiseberichts zumindest ein Problembewusstsein
für die Gefahren von Projektion und Missachtung erzeugen kann.
2. Vor allem in den westlich-kapitalistischen Ländern ist nach der ökonomi-
schen Erholung in der Zeit nach 1945 der Reisebericht mit einer Kritik
des (Massen-)Tourismus verbunden. Der die authentische Fremderfahrung
Suchende grenzt sich von dem konventionellen Touristen ab, der in west-
deutscher Perspektive eine Neckermann-Pauschalreise bucht und auf
Mallorca deutsches Bier und Sauerkraut verzehrt. Die arrogante und illu-
sionäre Haltung des ‘gebildeten’ und ‘authentischen’ Reisenden wurde
aber bereits in den 1960er Jahren wirkungsvoll und mit guten Argumenten
von Hans Magnus Enzensberger kritisiert, der in seiner Kritik der Kritik
des Tourismus den bildungsbürgerlichen Dünkel der Tourismus-Kritiker

9
Vgl. Orientalism. A Reader. Hg. von Alexander Lyon Macfie. New York: New York
University Press 2000.

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und die Vergeblichkeit der Suche nach dem “authentischen Fremden”


aufgezeigt hat.10
Zur Reiseliteratur der Bundesrepublik liegen nur wenige systematische
Studien vor. In ihrer anregenden Arbeit hat Ulla Birnat folgende Aspekte
dieser Literatur herausgestellt:11
1. Von fundamentaler Bedeutung ist – wie bereits dargelegt – der Beginn
des Massentourismus seit den 1950er Jahren, der im sogenannten
‘Teutonengrill’ in Rimini und am ‘Ballermann’ auf Mallorca seine in der
Populärkultur bedeutsamen und in der „Hochkultur“ scharf kritisierten
Ausprägungen gefunden hat.
2. Die elitäre Kritik des Tourismus, die den sozialen Aspekt einer Möglichkeit
der Urlaubsreise für jedermann geflissentlich übersah und an einem
Begriff von Bürgerlichkeit festzuhalten versuchte, der in der NS-Zeit
bereits fundamental in Frage gestellt worden war, erfuhr – wie erwähnt –
eine wirksame Metakritik bei Hans Magnus Enzensberger.
3. Anspruchsvolle Reiseliteratur reagiert auf die aporetische Spannung
zwischen Massentourismus und vermeintlich ‘authentischer’ Begegnung
mit selbstreflexiven und selbstkritischen Schreibweisen.
4. Seit den 1980er Jahren ist die Entwicklung einer postkolonial inspirier-
ten ‘Ethnopoesie’ (Hubert Fichte) zu beobachten, die eurozentrische
Perspektiven radikal in Frage zu stellen sucht.12
Bereits auf den ersten Blick erscheint ersichtlich, dass die Kultur des Reisens
und damit auch die Reiseliteratur der DDR von den Verhältnissen in der
Bundesrepublik stark unterschieden waren.13 Folgende Faktoren beeinflussten
beide Bereiche entscheidend:
1. In der gesamten Geschichte der DDR gab es für die Normalbürger
erhebliche Reisebeschränkungen. Reisen ins kapitalistische Ausland waren
normalerweise nicht erlaubt; spontane Reisen auch innerhalb der DDR waren
problematisch. Die Beschreibung einer Reise nach Paris oder London

10
Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: Merkur 12
(1958). S. 701–720.
11
Vgl. Ulla Birnat: “Ich bin nicht der erste Fremde hier”. Zur deutschsprachigen
Reiseliteratur nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.
12
Vgl. exemplarisch Silke Cramer: Reise und Identität. Autogeographie im Werk
Hubert Fichtes. Bielefeld: Aisthesis 1999. – Michael Fisch: Verwörterung der Welt.
Über die Bedeutung des Reisens für Leben und Werk von Hubert Fichte. Orte –
Zeiten – Begriffe. Aachen: Rimbaud 2000.
13
Erste rhapsodische Impressionen zum Thema bei Birgit Kawohl: “Besser als hier
ist es überall”. Reisen im Spiegel der DDR-Literatur. Marburg: Tectum 2000.

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musste für einen Leser der DDR einen völlig anderen Status haben als für
einen Westdeutschen.
2. Im Rahmen der wirtschaftlichen Konsolidierung der DDR seit den 1960er
Jahren gab es selbstverständlich auch Urlaubsreisen; diese führten aber
hauptsächlich ins Inland der DDR (Ostsee, Erzgebirge) oder ins sozialisti-
schen Ausland (Plattensee).
3. Reiseberichte entstanden insofern aus anderen Anlässen als solchen, die
für die BRD typisch waren. Während nämlich im Westen auch in der
Reiseliteratur Individualreisen im Vordergrund standen, wurden in der
DDR-Literatur häufig Reisen in politischen oder Schriftstellerdelegationen
beschrieben.
4. In einer noch zu entwickelnden Typologie der DDR-Reiseliteratur
sind zu unterscheiden: Reisen ins sozialistische Ausland, ins kapitalis-
tische Ausland und in Länder der sog. ‘Dritten Welt’ (wobei es sich um
‘Bruderländer’ oder kapitalistische Staaten handeln kann).
Folgende Fragestellungen und Forschungsperspektiven ergeben sich aus
diesen Vorüberlegungen:
1. Diskurse über das Fremde waren auch in der DDR gleichzeitig
Diskurse über das Eigene: Bedürfnisse und Defizite, aber auch positive
Selbsteinschätzungen der DDR zeigen sich in der Reiseliteratur.
2. Die entscheidende These, die sich aus den ersten Studien zur DDR-
Reiseliteratur ergibt, liegt in der Behauptung, dass diese Reflexionen auf
das Fremde und das Eigene keinesfalls ausschließlich von den offiziel-
len ideologischen Vorgaben des Staates oder der SED bestimmt waren.
Sicherlich spielten diese als ‘Erwartungshorizont’ vor allem der Verlage
und der Kulturpolitik eine wesentliche Rolle; sie konnten aber gerade in
der vermeintlich politisch weniger brisanten Reiseliteratur – wie schon an
unseren beiden Modellanalysen zu zeigen ist – leicht umgangen bzw. sogar
subversiv in Frage gestellt werden.
3. Viele Reiseberichte haben aber auch sehr individuelle Perspektiven neben
politischen, gesellschaftlichen, weltanschaulichen und fremdheitsorientier-
ten, wie das Beispiel von Fritz Rudolf Fries zeigt, der in Spanien auch den
Spuren seiner Kindheit nachgeht.14
4. In der Aushandlung von Eigenem und Fremden werden auch in der
DDR-Literatur Defizite, aber auch Errungenschaften des Eigenen im
Kontakt mit dem Fremden deutlich.
5. Zu den in der Forschung noch nicht gestellten Fragen gehört etwa die
folgende: Gibt es spezielle Orte des Fremden in der DDR-Reiseliteratur?

14
Vgl. Fritz Rudolf Fries: Mein spanisches Brevier. Rostock: Hinstorff 1979.

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Gibt es etwa einen speziellen DDR-Orient und einen speziellen Süden


der DDR?
6. Gibt es vielleicht ein geringeres Überlegenheitsgefühl der DDR-Reisenden
im Vergleich zu den Westdeutschen (wenn sich Überlegenheit über
ökonomische Stärke definiert) oder verwischen sich vor allem in der
‘Dritten Welt’ die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland?
7. Unterscheiden sich Utopien der DDR-Reiseliteratur von der des Westens?
Oder ist die seit den 1970er Jahren nach Wolfgang Emmerich für beide
deutsche Literaturen diagnostizierte Tendenz zur Zivilisationskritik15 auch
ein gemeinsamer Trend in der Reiseliteratur?
8. Wie ist das Verhältnis zwischen dem reisenden Schriftsteller und dem
‘normalen’ Reisenden und gibt es in dieser Frage einen Unterschied zum
Westen (weil die DDR-Schriftsteller zum Teil ein Reiseprivileg hatten und
die Westautoren sich vom ‘gewöhnlichen Touristen’ abgrenzten)?

Schon diese ersten tastenden Fragen zeigen, dass wir es mit einem weiten Feld
zu tun haben, das erst ansatzweise bearbeitet ist, das aber sowohl literatur- als
auch kultur- und mentalitätsgeschichtlich von hohem Interesse ist.
In dem 2009 erschienenen Metzler-Lexikon zur DDR-Literatur hat Jean
Mortier eine ersten Überblick über die Entwicklung der DDR-Reiseliteratur
gegeben:16 In den 1940er und 1950er Jahren überwiegen nach seiner
Einschätzung Berichte vom Aufbau des Sozialismus etwa in der Sowjetunion
und in China, zum Beispiel bei Bodo Uhse. In den 1960er Jahren sind auch
Texte über Westeuropa festzustellen, vor allem über Frankreich (z.B. Fred
Wander), während das Interesse an Sibirien anhält (vgl. die Modellanalyse
zu Brigitte Reimann). Die 1970er Jahre bringen Berichte prominenter DDR-
Autoren über das westliche Ausland: so schreiben Hermann Kant über
Schweden, Günter Kunert über die USA, Rolf Schneider über Frankreich
und Fries über Spanien; es finden sich aber auch sehr originelle Texte über
das sozialistische Ausland, so etwa von Franz Fühmann über Ungarn und von
Adolf Endler über Georgien (vgl. unsere zweite Modellanalyse). Die 1980er
Jahre bringen nach Mortier keine sehr bedeutenden Texte hervor, obwohl
gleichzeitig die Surrogatbedürfnisse der Leser gewachsen seien.
Nach diesen ersten Erkundungen bietet der weitere Text dieses Beitrags
eine erste Stichprobe, indem wir Reimanns Sibirien (aus den 1960er Jahren)
und Endlers Georgien (aus den 1970er Jahren) mit den skizzierten Kategorien

15
Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe. Leipzig: Aufbau 1996.
16
Vgl. Jean Mortier: Reiseliteratur. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren –
Institutionen – Debatten. Hg. von Michael Opitz und Michael Hofmann. Unter
Mitarbeit von Julian Kanning. Stuttgart-Weimar: Metzler 2009. S. 270–272.

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der Interkulturellen Literaturwissenschaft und der Reiseliteratur-Forschung


analysieren. Die Ergebnisse dieser Studien legen die Vermutung nahe, dass
gerade die Berichte über politisch unauffällige ‘Bruderländer’ möglicherweise
freieres Schreiben begünstigen. Außerdem ist in beiden Texten die Frage nach
einem spezifischen Osten und Süden der DDR zu stellen.
Unsere erste These zu Reimanns Text lautet: Wir haben es mit einer
Bestätigung und gleichzeitig einer ersten Dekonstruktion des Hohelieds des
sozialistischen Aufbaus zu tun. Sibirien erscheint als ‘wilder Osten’, als unbe-
rührte Natur, die ohne bürokratische Vermittlung erlebt und bearbeitet werden
kann. Damit übt Reimann implizit Kritik am sozialistischen Industrialismus;
ihr Reisebericht mündet in die Aporie einer unerfüllbaren Sehnsucht nach
einer Begegnung mit unberührter Natur und unverdorbener Menschlichkeit.
Und dies ist die erste These zu Endlers Text: Dieser verweigert sich jeg-
licher politischer Instrumentalisierung und beschreibt geradezu demonstrativ
eine Schrifttellerreise, eine “sentimental journey”, die sich politischer Zwänge
zu entziehen sucht und Georgien als Land der naturnahen Poeten feiert. Mit
seiner Konstruktion eines poetischen Südens folgt Endler im Gegensatz zu
der politischen Instrumentalisierung der Kunst und Literatur in den offiziel-
len Programmen der staatlichen Kulturpolitik einer Herderschen Utopie einer
Dichtung mit unmittelbarem Bezug zur Landschaft; auch bei ihm ist (trotz der
Verweise auf die georgische Industrie) die Aporie einer vorindustriellen Idylle
zu erkennen.
Folgende Fragestellungen leiten die anschließenden Untersuchungen:

1. Welches sind die Hauptaspekte der Charakterisierung des Fremden vor


dem Hintergrund des DDR-Eigenen?
2. Welche Arten der Charakterisierung des Fremden lassen sich beobach-
ten: politische, soziologische, poetisch-literarische, Beobachtungen zum
Verhältnis zur Natur und zur Mentalität der Fremden?
3. Wie wird das Eigenbild des Reisenden bezeichnet?
4. Welche Aspekte eines impliziten oder expliziten DDR-Diskurses lassen
sich erkennen?
5. Welche Beobachtungen zur Darstellung von Landschaft lassen sich
sammeln?
6. Welche utopischen Aspekte finden sich in den Reiseberichten (in Bezug
auf die DDR, in Bezug auf die Situation von Industrieländern in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Bezug auf die individuelle
Situation des Schreibenden)?
7. Lassen sich problematische Aspekte des Exotismus und Orientalismus
beobachten?
8. Welche Bezüge zu Tendenzen und Strömungen der DDR-Literatur sind in
den Reiseberichten zu erkennen?

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Reimanns Sibirien: Das grüne Licht der Steppen –


Faszination des ‘Wilden Ostens’
Brigitte Reimann beschreibt in ihrem Text17 eine zweiwöchige Reise
nach Sibirien mit einer Delegation des FDJ-Zentralrates 1964 (als einzige
Schriftstellerin). Ihr Text wurde zunächst in Zeitungen und 1965 als Buch
veröffentlicht; es war ein großer ‘Lesererfolg’, und Mortier vermerkt weiter
über ihr Bild von Sibirien: “Dort entstünden die Helden der sozialistischen
Arbeit, dort ließe sich die Überlegenheit des Sozialismus im Wettlauf mit
dem Kapitalismus am besten ablesen”.18 Meine Lektüre soll zeigen, dass
diese Lesart dem Text Reimanns definitiv nicht gerecht wird; schon der Titel
des Buchs verweist auf eine Spannung zwischen einer Faszination an einer
grandiosen unberührten Landschaft und dem erwarteten Bericht über die
Erfolge des industriellen Sozialismus.
Die Analyse beginnt mit der Erörterung einiger poetologischer Reflexionen
in Reimanns privatem Tagebuch, das erst nach ihrem Tod veröffentlicht
wurde. Danach analysiere ich die verschiedenen, durchaus komplexen und
ambivalenten Diskurse über Sibirien, bevor ich mich den impliziten und
expliziten Diskursen über die DDR zuwende und in einer Gesamtschau eine
zusammenfassende Deutung des Textes vornehme.
Reimann reflektiert in ihren Tagebüchern ihre Außenseiterrolle in der deut-
schen FDJ-Delegation, die dazu führte, dass ihr schon während der Reise,
aber erst recht nach der Abfassung des Berichts mangelnde Parteilichkeit vor-
geworfen wurde. So stellt sie sich im Tagebuch explizit die Frage nach der
Rolle einer Schriftstellerin in der FDJ-Delegation. Diese soll, so die offen-
sichtliche Erwartung, eine optimistische, aufbauende Reportage abliefern, die
sie ihrer eigenen Überzeugung nach aber aus verschiedenen Gründen nicht
verfassen kann: Zum einen fehlen ihr fundierte ökonomische und politische
Kenntnisse, um in sachlicher Hinsicht dem Erlebten und Erfahrenen gerecht
zu werden; zum anderen – und das ist entscheidend – widerstrebt es ihr, einen
propagandaartigen Bericht zu verfassen, der in ganz schematischer Weise nur
die positiven und ‘progressiven’ Aspekte der sibirischen Wirklichkeit wieder-
geben würde. Um dieser Spannung zu entgehen, wählt Reimann – wie man
aus den Tagebuchaufzeichnungen entnehmen kann – eine List, indem sie sich
für eine subjektive Form entscheidet. Indem sie ihre Unfähigkeit zu vermeint-
lich objektiver und eindeutig parteilicher Darstellung offen zur Schau stellt,
gibt sie sich naiv und unterläuft damit subversiv den ideologischen Anspruch

17
Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise. Mit
einem Auszug aus dem privaten Tagebuch und Fotos von Thomas Billhardt. Berlin:
Aufbau ²2004.
18
Mortier: Reiseliteratur [wie Anm. 16]. S. 270.

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an ihren Text. Ihre Absicht sei es gewesen, so die Tagebuchschreiberin, “unter


dem Mantel der Naivität [. . .] den gewissen Leuten allerhand Kuckuckseier
ins bürokratische Nest [zu] legen”.19 Nimmt man diese Aussage als eine
Art Lektüreanweisung, so wird eine doppelte Lektüre des Textes möglich, mit
der eine Differenz zum offiziellen Diskurs der DDR-Kulturpolitik in einer
künstlerischen Form erkennbar wird, die in ihrer Darstellung des Fremden
und kultureller Differenz implizit Anforderungen an das Eigene der DDR
stellt, die im Alltag des real existierenden deutschen Sozialismus nicht erfüllt
wurden.
Die Diskurse über Sibirien bewegen sich zwischen Aussagen im Sinne des
impliziten Auftrags an die Schriftstellerin und politisch-gesellschaftlicher
Kritik an den Zuständen in Sibirien; sie beziehen sich aber auch – und das
ist für unsere Perspektive wesentlich – auf die sibirische Landschaft und das
spezifische Verhältnis, das die Menschen in diesem Land gegenüber der Natur
haben. Jenseits der politischen Zuweisungen geht es um eine Faszination
durch den ‘Wilden Osten’, die sich eben auf diese Landschaft und auf die
Menschen bezieht, die sich in ihrem Alltagsleben, ihren Handlungen und
Gefühlen in sichtbarer Weise von denen in der DDR unterscheiden.
Was wir von einem in der DDR geschriebenen Reisetext über das sozialis-
tische Sibirien in einer konventionellen Perspektive erwarten, finden wir auch
in Reimanns Text: das Lob der heroischen Arbeit an der Industrialisierung
Sibiriens. Dass die Menschen in der Konfrontation mit einer wilden (‘erhabe-
nen’) Natur und extremen klimatischen Bedingungen unglaubliche Leistungen
vollbringen, das erkennt die Reiseschriftstellerin Reimann und das vermerkt
sie bewundernd. Es sind Pionierleistungen, die im Rahmen des sozialisti-
schen Aufbaus vollbracht werden und die dem gesamten sozialistischen Lager
nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch zugutekommen, weil die
Urbarmachung der gewaltigen Naturlandschaft eine Leistung ist, die andere
anspornt, in weniger problematischen Verhältnissen ihr Bestes zu geben und
der Gemeinschaft zu nützen.
Aber der Bericht vermerkt auch negative geschichtliche Entwicklungen
und Zustände. Nicht alle Menschen in Sibirien entsprechen dem heroischen
Ideal, das die Ideologie als die einzige Wahrheit anspricht und das Reimann
auch nicht prinzipiell ablehnt. Sie kritisiert dementsprechend die negativen
Berufsperspektiven der Jugendlichen, die nicht alle selbstverständlich und
ohne zu zögern zu Heroen der Industrialisierung werden wollen. So stellt
Reimann fest, keiner wolle “in die Kohle gehen”,20 und sie verschweigt auch
nicht Vandalismus und Gewalt, welche die gesellschaftliche Realität des
weiten Landes und seiner industrialisierten Pionierstädte kennzeichnen.

19
Reimann: Das grüne Licht der Steppe [wie Anm. 17]. S. 172.
20
Ebd. S. 60.

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Die Kehrseite des Heroismus zeigt sich in einer Episode ganz besonders
deutlich: Reimann berichtet von der Begegnung mit Boris Gainulin, einem
der ‘Helden’ der sozialistischen Aufbauarbeit in Sibirien, der durch einen
Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist.21 Indem der verunglückte Held der
Arbeit in seiner Behinderung mit Empathie dargestellt wird, zeigen sich die
menschlichen Opfer, die für das industrielle Wachstum gebracht werden; ein
verzweifelnder Heroismus stellt den Diskurs im Sinne des Auftrags massiv in
Frage. Und genauso bemerkt Reimann sehr kritisch die Existenz vieler hässli-
cher Neubauten. Diese seien viel schlimmer als in Hoyerswerda, wo Reimann
selbst gelebt und gearbeitet hat und dessen Probleme sie später in dem großen
Romanfragment Franziska Linkerhand literarisch verarbeitet hat.22 Lohnen
sich die Opfer und die vielen Entbehrungen, die mit der Pionierarbeit einer
gewaltigen Industrialisierung und der Ausbeutung der Bodenschätze verbun-
den sind? Und kann man ein Leben im Sinne eines glückenden sozialisti-
schen Entwurfs führen, wenn man in abstoßenden Wohnsilos haust, die keine
Kommunikation und keine Behaglichkeit zulassen? Und werden die Bewohner
Sibiriens nicht zu Sklaven ihrer Arbeit, anstatt sich im Kontakt mit der Natur
zu freien Menschen herauszubilden? Diese Fragen begründen eigentlich eine
pessimistische Sicht auf die fremde Kultur und auf deren Errungenschaften.
Allerdings wird diese Diskursperspektive durch eine andere überblendet, die
ganz im Sinne unserer ‘neueren’ Fragestellungen mit einer Thematisierung
kultureller Differenz verbunden ist und die – so meine These – den
eigentlichen Reiz von Reimanns Reisebericht ausmacht.
Die Faszination der Reise und des Berichts, den Reimann schreibt, beruht
nämlich weniger auf den politischen Diskursen, die sich natürlich auch in
dem Text finden. Die entscheidende Fremderfahrung, die Reimann in ihrem
Text vermittelt, bezieht sich auf die Größe und Erhabenheit einer noch weit-
gehend unberührten Natur und auf die Mentalität der Menschen, die in die-
ser leben. Der ‘Wilde Osten’, so wird schnell deutlich, unterscheidet sich in
kultureller Hinsicht von dem Leben in Deutschland/in der DDR dadurch,
dass die Menschen in ihrem Naturverhältnis weniger entfremdet erscheinen
als diejenigen, die in einer bürokratisch organisierten und durch planmä-
ßige Abläufe strukturierten Gesellschaft leben. Reimann beschreibt voller
Faszination die Weite der Landschaft und die grandiose, weitgehend unbe-
rührte Natur, wie sie sich in der Steppe, den Flüssen und etwa dem (damals
noch nicht verschmutzten) Baikalsee zeigt. Die Faszination durch die
Landschaft entspricht einer Faszination durch die Menschen, die sich mit

21
Vgl. ebd. S. 111–118.
22
Vgl. zu Reimann insgesamt den Überblick bei Carola Opitz-Wiemers: Brigitte
Reimann. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur [wie Anm. 16]. S. 270–272.

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dieser erhabenen Naturlandschaft auseinandersetzen und in ihr wirken. Die


Planung und Ausführung der Kolonialisierung erfolgt, so Reimann, weitge-
hend ohne bürokratische Willkür; der “Neue Mensch” entstehe in Sibirien,
nicht in Moskau. Zum Paradigma dieses neuen Menschen wird der Ingenieur,
Poet und Frauenschwarm Alexej Martschuk.23 Er wird ganz im Sinne eines
klassischen und sozialistischen Ideals als eine umfassend ausgebildete
Persönlichkeit und als jemand beschrieben, der nicht auf sein Fachwissen
und seine technischen Fertigkeiten beschränkt ist, sondern eben auch zu einer
dichterischen Reflexion seiner Tätigkeit fähig ist. Charakteristisch für ihn ist
aber, dass er immer in der ‘Vorhut’, der Avantgarde der Pioniere bleibt, dass
er immer wieder weiterzieht zur unberührten Natur, um diese zu kultivieren.
An der Grenze zwischen der unberührten Natur und der Zivilisation, weit ab
von den Bürokraten und Hierarchien bewegt sich dieser Mann und er erscheint
als die Realisierung einer sozialistischen Utopie, aber eben nicht in Moskau,
wo die abstrakten Pläne hergestellt werden, sondern im ‘Wilden Osten’,
wo der Mensch in einem unmittelbaren Stoffwechsel mit der Natur zu sein
scheint.
Dieses spezifische Verhältnis zur Welt, zur Landschaft und zur Natur
prägt auch die Physiognomie der sibirischen Männer – und das bedeutet:
Nicht die in Zahlen messbaren Erfolge der Industrialisierung sind für sie die
entscheidende Erfahrung der sibirischen Reise, sondern das Erlebnis einer
speziellen menschlichen Lebens- und Arbeitsweise, die sich den Zwängen
einer normierten Welt entzogen hat und zu spontanen und gefühlsmäßig
getroffenen Entscheidungen fähig ist. Auch die russische Dolmetscherin wird
in dieser Konstellation zu einer Freundin, mit der die Schreiberin das Erlebnis
des “Friedens” in der vom Menschen unberührten Steppe teilt.24
Diese Diskurse über Sibirien sind alle implizit und explizit Diskurse über
die DDR. Die Kleinlichkeit und Enge des Alltags dort kontrastieren mit der
Weite Sibiriens – und diese Weite macht die Menschen großherzig und nicht
kleingeistig und engstirnig wie die meisten Menschen in der DDR. In die-
sen Kontext gehört auch die von Reimann bemerkte und sarkastisch kriti-
sierte Spießigkeit und deutschtümelnde Bierseligkeit der DDR-Funktionäre,
die zu ihrer Delegation gehören. Sie zeigen mit ihrer deutschen ordinären
Kleinbürgerlichkeit eine restringierte Kultur des Feierns, die sich von der
russischen Großzügigkeit in kleinlicher Weise abhebt. Mögen auch hier
gewisse Klischees über die ‘russische Seele’ mitspielen, so ist doch deutlich zu
erkennen, dass es sich um kulturelle Differenzen handelt, die den kritischen
Blick auf das Eigene schärfen: “Manchmal ist es, als ob man aus der Ferne

23
Vgl. Reimann: Das grüne Licht der Steppe [wie Anm. 17]. S. 96–102.
24
Ebd. S. 128.

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schärfer sieht, als ob in einem anderen Land die eigenen Anliegen näher her-
anrücken”.25 Dies gilt auch für die bereits angesprochene Architekturkritik,
die als Bindeglied zwischen negativen Tendenzen in der Sowjetunion und in
der DDR fungiert.
Freiheit und Weite der sibirischen Landschaft und Gesellschaft stehen
also gegen deutsche Enge. Das Freie und Weite ergibt sich aber aus der
erhabenen Natur und viel weniger aus dem Kampf des Menschen mit die-
ser Natur. Der sibirische Ingenieur-Poet steht als ‘neuer Mensch’ gegen bor-
nierte Funktionäre; er ist aber für Reimann (vielleicht wie die Protagonisten
des Wilden Westens im amerikanischen Diskurs) eher ein Mensch der Natur
als ein Mensch der Zivilisation. Wenn aber – und dies ist bisher nicht gese-
hen worden – bei Reimann die Erhabenheit der Natur gegen die mensch-
liche Spießbürgerlichkeit steht, dann ist die Utopie des Sozialismus als
Industrialismus in Frage gestellt. Der Text enthält demnach Tendenzen,
die als Vorläufer der Zivilisationskritik verstanden werden können, die in
den 1970er Jahren für die Literatur der DDR zentral wurde. Dabei liegt die
Aporie von Reimanns Position darin, dass Sibirien aber industrialisiert und
zivilisiert und damit ent-naturiert wird und Moskau und der DDR somit
immer ähnlicher. So verbindet sich bei Reimann echte Begeisterung für
einen unbürokratischen sozialistischen Aufbau mit einer noch nicht begriff-
lich artikulierten Frustration, die mit den Aporien des Industrialismus und der
sozialistischen Planwirtschaft zu tun hat. Die implizite Utopie der Reise liegt
in der Erfahrung von Freiheit in der erhabenen und weitgehend menschenfer-
nen Natur. Diese Utopie ist aber paradox und ambivalent; Reimann weiß um
diese Paradoxie, die darin liegt, dass der Mensch im Kontakt mit der Natur
diese zerstört (wie wir heute durch Bilder vom ökologisch toten Baikal-See
wissen, der in dem Bericht als ein Naturparadies beschrieben wird). Das
unbewusste Wissen um diese Paradoxie ist der melancholische Unterton
des Reiseberichts, der von den später veröffentlichten Notizen des privaten
Tagebuchs verstärkt wird.
Endlers Georgien: Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen – die lustvolle
Erfahrung des poetischen Südens
Adolf Endler hat in den Jahren 1971 und 1973 zwei Reisen nach Georgien
unternommen. Beim zweiten Mal wurde er von Elke Erb und Rainer
Kirsch begleitet. Die Reisen waren von vornherein durch ihren literarischen
Charakter ausgezeichnet, war es doch das Ziel der Reisenden, eine Anthologie
mit Nachdichtungen georgischer literarischer Texte herauszubringen. Die
Reise galt also nicht nur dem Kennenlernen des Landes im Allgemeinen,

25
Ebd. S. 79.

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sondern auch den Kontakten mit Autorinnen und Autoren und der Recherche im
Blick auf repräsentative und interessante Texte. Georgien erscheint in
Endlers Perspektive26 zunächst als ein fremdes Land, das er auch mit Hilfe
historischer Kenntnisse zu erschließen sucht. Primär geht es ihm aber um
einen intensiven Kontakt mit den Menschen und speziell den Kollegen,
und er erlebt Georgien als ein Land des Südens und als ein Land der
Poesie. Bisweilen kann man sich dabei an Goethes Italien-Reise erinnert
fühlen; wesentlich erscheinen die demonstrative Distanzierung von poli-
tisch-gesellschaftlichen Fragestellungen und die Engführung von Poesie,
Natur und Landschaft. Mit der demonstrativen und vielleicht strategischen
Übernahme idealistischer Poesiekonzepte unterläuft Endler deutlich alle
Ansprüche an kulturpolitische Modelle, die Positionen des Klassenkampfes
und der gesellschaftlichen Einbindung von Literatur ins Zentrum stellen.
Georgien erscheint als ein befreundetes Land des Südens, in dem – anders
als in Reimanns Sibirien, aber doch mit einer gewissen Ähnlichkeit – die
Verbohrtheit und Engstirnigkeit des deutschen (und auch des russischen)
Alltags nicht anzutreffen sind.
Der Süden, die Wärme und eine südliche Lebensweise sind das erste
beherrschende Element von Endlers Reisebeschreibung. Die Einbettung
des Landes in die Landschaft wird betont; Kaukasus, Täler und Flüsse sind
kennzeichnend für das Lebensgefühl der Georgier. Die georgische Dichtung,
für die sich Endler auch aus den genannten professionellen Gründen interes-
siert, wird dezidiert aus poetischer und poetologischer Perspektive betrachtet,
weniger politisch-gesellschaftlich. In der Tradition Herders und auch schon
der Aufklärung wird der Bezug einer nationalen Kultur zu Landschaft und
Klima betont. Endler setzt bei seiner Konzipierung der Nachdichtungen auf
Empathie; seine Präsenz im Lande soll ihm helfen, die Mentalität der Georgier
zu verstehen. Er schildert Gespräche mit georgischen Autoren und Vermittlern
(mit Dolmetschern oder auf Russisch). Bei der Nachdichtung geht es ja
darum, dass sprachkundige Übersetzer sogenannte Interlinearübersetzungen
anfertigen, die dann von professionellen Schriftstellern in eine poetische
Form gebracht werden.27 Mit seiner Konzeption der Einfühlung in die
Mentalität seiner Gesprächspartner verbindet Endler eine Polemik gegen
die Wissenschaftler der Jenaer Universität und ihre ‘Kaukasus-Forschung’,
die er als zu spezialisiert und rationalistisch versteht.28 Dennoch vermittelt sein

26
Vgl. Adolf Endler: Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen. Halles a.d. Saale:
Mitteldeutscher Verlag 1976.
27
Vgl. Stephan Krause: Nachdichtung. In: Metzer Lexikon DDR-Literatur
[wie Anm. 16]. S. 233–235, der auch die Bedeutung von Nachdichtungen für die
DDR-Literatur insgesamt unterstreicht.
28
Vgl. Endler: Georgien [wie Anm. 26]. S. 109.

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Reisebericht eine gute historische Dokumentation, etwa zu Medea und den


Kolchern, den georgischen ‘Barbaren’ der Antike, und auch zur Geschichte
der deutsch-georgischen Beziehungen.
Georgien erscheint als ein Land der Dichter. Jeder Georgier, so heißt es,
träumt von einem Buch, das er schreiben wird.29 Es ist also ein Land der
Dichter, des Südens, des innigen Bezugs zwischen Landschaft und Poesie.
Nicht nur die deutschen Gäste, auch die Russen verändern sich, wenn sie
in Georgien, im Süden leben. Hier wird implizit darauf verwiesen, dass die
Russen in der Sowjetunion eine dem Kolonialismus ähnliche Funktion in
Georgien ausüben, dass aber der südliche Lebensstil ihr ökonomisches und
technisch-industrielles Denken gewissermaßen erweicht und dass dieses einer
humaneren Mentalität Platz macht. Die zunächst vordergründig erscheinenden
Bedingungen des Klimas und der Landschaft vermitteln also eine implizite
Utopie, die eine Befreiung des Menschen aus den Zwängen eines ökonomi-
schen Nützlichkeitsdenkens bewirkt.
Endlers Reisebericht zeichnet sich dadurch aus, dass er poetologische
Fragestellungen impliziert und dass er selbstreflexiv angelegt ist, wie der
Titel Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen bereits andeutet. Endler rela-
tiviert den eigenen Zugang, indem er ihn als einen subjektiven darstellt, mit
dem er sich nicht anmaßt, objektive Feststellungen über das Gastland zu tref-
fen. Mit der expliziten Positionierung des schreibenden Ich als Schriftsteller
und Dichter, nicht als Sozialist oder Politiker wendet sich der Text explizit
gegen eine Funktionalisierung der Dichtung und verkörpert die romantische
Vision der Dichtung als Ausdruck eines Volkes und von dessen Bezug zur
Landschaft. Damit löst sich Endler von dem in der DDR von der Kulturpolitik
präferierten Konzept einer ‘Literatur der Werktätigen’ und genießt und
bewirkt gleichzeitig eine Befreiung aus den Zwängen einer dogmatischen
Literaturpolitik, mit der das unabhängige Selbstverständnis des deutschen
Dichters im Kontakt mit der Poesie Georgiens gestärkt wird.
Nicht zu verkennen bleibt eine spezifische Form des Exotismus und
Rousseausismus: Den Menschen des Südens wird eine ‘naive’ Korrespondenz
mit der Landschaft zugesprochen, eine nicht-entfremdete Beziehung zu Welt
und Landschaft, die mit einer zivilisatorischen Stufe zusammenhängt, die in
Deutschland und Europa schon längst überwunden erscheint. Diese prob-
lematische Perspektive kann aber im Blick auf die DDR als eine Wendung
gegen Zweckrationalität und Utilitarismus verstanden werden. Politisch
brisant erscheint die bereits erwähnte indirekte Kritik an der Beherrschung
des Landes durch die Russen.

29
Vgl. ebd. S. 42.

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Sehr deutlich ist der Bezug zur Zivilisationskritik der DDR-Literatur


der 1970er Jahre, die sich als Kritik am technologischen Rationalismus
und am Industrialismus artikuliert. So ist trotz der Problematik mögli-
cher Projektionen und einer Annäherung an rousseauistische Konzepte
kein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Georgiern zu erkennen, weil
diese vor allem als ‘Dichterkollegen’ respektiert werden. In diesem Sinne
beschreibt Endler tatsächlich eine “sentimental journey”, auch im Sinne einer
Abkehr vom Industrialismus (auch wenn die Industrie Georgiens erwähnt
wird). Die Aporien dieser Position liegen wie skizziert in der Gefahr der
Projektion und in der Vermeidung der Frage nach der Notwendigkeit industri-
eller Entwicklung in Georgien. In gewissem Sinne stehen die naiven Georgier
gegen die sentimentalischen Russen und Deutschen – und damit erbt Endler
die Aporien des Rousseauismus und des Idealismus; sein Reisebericht ist aber
gleichzeitig und vor allem ein energisches Plädoyer für eine autonome Poesie
und Literatur gegen die Instrumentalisierung der Kunst und Literatur durch
die realsozialistische Literaturpolitik, und dieses Plädoyer funktioniert mit
dem spezifischen Bezug zur georgischen Kultur, deren Faszination auch für
einen heutigen Leser durchaus nachvollziehbar bleibt.
Die Stichproben lassen erkennen, dass eine Untersuchung der
DDR-Reiseliteratur spezifische Ergebnisse erbringen kann, die in
Detailforschungen zu verifizieren wären. Es gibt offensichtlich eine spezi-
fische DDR-Reiseliteratur, bei der es im Vergleich zu derjenigen der BRD
keine Auseinandersetzung mit Problemen des Massentourismus gibt und
bei der spezifische Reiseziele vorkommen (bzw. westliche Reiseziele aus
einer deutlich anderen Perspektive gesehen werden). Probleme der DDR
werden implizit und explizit thematisiert: Bürokratie, Spießigkeit, Enge,
inhumane Architektur, Gängelung der Kunst und Literatur durch die Partei.
Es deutet sich aber über diese erwartbare Konstellation hinaus eine grund-
legende Perspektive an: eine implizite Krise des Industrialismus, eine zum
Teil scheinbar naive, zum Teil ansatzweise reflektierte Wendung zur ‘Natur’
gegen vom Menschen gestaltete Gesellschaft. Damit thematisieren die unter-
suchten Reiseberichte in DDR-spezifischer Weise ein prinzipielles Dilemma
des modernen Menschen, der die Natur sucht und überallhin die Zivilisation
bringt. Die Kritik an den negativen Folgen und Begleiterscheinungen der
Industrialisierung ist nicht nur ein pittoresker Nebeneffekt, sondern berührt
ein grundlegendes Dilemma, das auch für kapitalistische Gesellschaften
gilt. Insofern stehen die untersuchten Reiseberichte im Kontext einer grund-
legenden Kritik der Modernisierung und Industrialisierung und damit
einer Zivilisationskritik im Sinne einer ‘Dialektik der Aufklärung’. Und
es ist nicht zu überraschend, dass die tiefergehende Analyse Kategorien der
Epochenschwelle um 1800 findet, die die erste große Modernisierungskrise
der deutschen und europäischen Kultur darstellt.

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Die DDR-Reiseliteratur steht somit im Kontext einer deutschen und euro-


päischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Sinn der
europäischen Zivilisation kritisch befragt und die eigene Position selbst-
kritisch reflektiert. Sie lässt sich nicht von ihren Entstehungsbedingungen
isolieren, transzendiert diese aber wie jede Literatur, die über Epochen und
Grenzen hinweg Menschen anspricht. Es ist ein weites Forschungsfeld eröff-
net, mit dem umfangreiches Material zu analysieren ist. Ich hoffe, mit meinen
Vorüberlegungen und meinen beiden Stichproben Anregungen für eine neue
und weiterführende Auseinandersetzung mit der DDR-Reiseliteratur geliefert
zu haben.

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III. Spätzeit – Wendezeit – Nachzeit

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Susanne Liermann

“Mit diesem Schweigen [. . .] beginnt Protest”1 – Die Diffusion


von Engagement und Parteilichkeit in der späten DDR-Literatur
The late GDR literature was seen as both a committed and a modernist literature.
This essay discusses the commitment and the new poetic license of the late litera-
ture of East Germany, using the examples of Stephan Hermlin’s Abendlicht, Christa
Wolf’s Kassandra and Gert Neumann’s Elf Uhr. All three texts emphasize that litera-
ture expresses an existential need against the background of the GDR dictatorship.
However, the new poetic license was not primarily connected with concrete critique.
Rather, it describes an escape movement that Lämmert has shown to be symptoma-
tic of “beherrschte Literatur”. The poetological self-conception is highly skeptical: it
emphasizes questions of effability and also doubts the possibility of understanding.
Therefore, both the new autonomy and the commitment appear fragile, und must be
understood as a reaction to the highly restrictive dictatorship.

Die späte DDR-Literatur war und ist eine, die die Grenzen der DDR kon-
kret und im übertragenen Sinne überwunden hat. Sie wurde zur Zeit ihres
Entstehens mit großer Aufmerksamkeit auch von der bundesrepublikani-
schen Öffentlichkeit aufgenommen; angesichts ihrer “Modernisierung”2 galt
sie im Vergleich mit den anderen deutschsprachigen Literaturen als ‘wettbe-
werbstauglich’. Und zugleich gestand man ihr bleibende “Zuständigkeit”3,
also eine politische Bedeutsamkeit zu. Die politische Lesart ergab sich dabei
durchaus bereits aus einer Diffusion einst konstitutiver Ansprüche – etwa der
Operativität eines primär realistischen Schreibens. Selbst die Volte gegen
ein engagiertes Schreiben – also zugespitzt noch die Absenz von politischen
Themen – konnte und wurde als politischer Einspruch verstanden.
Engagement und Modernisierung der Literatur, literarische Autonomie
und politische Lesart gehen ein Spannungsverhältnis ein, dem im Folgenden
meine Aufmerksamkeit gilt. Die Fragen, was Literatur leisten will und kann,
ob und wie sie gewährleistet, was ihr Anliegen ist oder in welchem Kontext sie
sich selbst verortet, stellt sich die späte DDR-Literatur dabei vielmals selbst.

1
Christa Wolf: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Hg. von Sonja
Hilzinger. München: Luchterhand 2000. S. 330.
2
Wolfgang Emmerich: Schicksale der Moderne in der DDR. In: Literarische
Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von Sabina Becker, Helmuth Kiesel, Robert
Krause. Berlin-New York: de Gruyter 2007. S. 419–434. Hier: S. 425.
3
Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der
1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen. Heidelberg: Winter 2008. S. 18.

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Ich werde mich auf drei durchaus sehr unterschiedliche Texte beziehen: auf
Stephan Hermlins Abendlicht, Christa Wolfs Kassandra und Gert Neumanns
Elf Uhr.4 Jeder der drei Texte thematisiert auf bestimmte Weise das eigene
Schreiben und konturiert einen Begriff von Literatur: Hermlin in einem auto-
biographischen Text, der sich vielschichtig auf die eigene Autorschaft bezieht,
Christa Wolf vor allem in den Poetik-Vorlesungen zur Kassandra – auch in
der Erzählung, die bereits mehrfach als Verhandlung einer Intellektuellen-
und Schriftstellerproblematik interpretiert wurde5 – und Gert Neumann in
einem Tagebuch, das Martin Walser als ein reines “sprachliches, poetisches
Exerzieren überhaupt”6 gelesen hat.
Gemeinsam ist den Texten, dass sie sich um eine Selbstverortung und
Selbstverständigung bemühen. Allein die Selbstreflexion darf man dabei als
ein Signum später DDR-Literatur verstehen. Gerade sie wurde als Hinweis
auf eine Autonomisierung7 gelesen. Mit großer Emphase werden künstle-
rische Welten entworfen und verteidigt, die zudem ihre Abwendung von der
Realität zuweilen demonstrativ ausstellen. Diese Autonomisierung spiegelt
jedoch noch immer den diktatorischen Kontext: Die Texte machen keinen
Hehl daraus, dass sie auf einen prekären Kontext reagieren; die Literatur ist
dank ihm bei Christa Wolf “Obdach”8 und bei Gert Neumann “Emigration”.9
Die Autonomisierung legt sich als Rückzug in literarische Welten an, den
u.a. Lämmert bereits als Charakteristikum beherrschter Literatur diskutiert
hat: Die literarische Selbstverständigung schafft sich allein via autothemati-
scher Wendung ein “unangreifbares Elementarreich oder auch [. . .] ein hohes
Geisterreich”.10
Die Reaktion auf den diktatorischen Kontext – das Engagement – wäre vor
diesem Hintergrund neu zu bewerten. Ein simplizistisches Bedingungsgefüge
ist dabei nicht vorauszusetzen. Selbstredend ist von einer relativen Autonomie

4
Stephan Hermlin: Abendlicht. Leipzig: Reclam 1979. – Wolf: Kassandra [wie
Anm. 1]. – Gert Neumann: Elf Uhr. Rostock: Hinstorff 1990.
5
Der Monolog ist u.a. von Nickel-Bacon als tragischer Akt einer künstlerischen
Selbstkonstitution gelesen worden. Vgl. Irmgard Nickel-Bacon: Schmerz der
Subjektwerdung. Ambivalenzen und Widersprüche in Christa Wolfs utopischer
Novellistik. Tübingen: Stauffenburg 2001. S. 283.
6
Martin Walser: Vorwort. In: Gert Neumann: Elf Uhr. Köln: DuMont 1999. S. 7–13.
Hier: S. 7.
7
Vgl. Emmerich: Schicksale der Moderne [wie Anm. 2]. S. 425.
8
Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 109.
9
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 192.
10
Eberhard Lämmert: Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter
Diktaturen. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und
DDR-Sozialismus. Hg. von Günther Rüther. Paderborn: Schöningh 1997. S. 15–37.
Hier: S. 24.

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der literarischen Produktion auszugehen, die der zentripetalen Kraft des


Gesamtsystems jedoch auch dann nicht entging, wenn sie kritisch oder gar
ablehnend auf es Bezug nimmt.11 Im Fokus auf Selbstverständigungen und
damit auf eher poetologische Fragen will ich auch nicht neuerlich eine literari-
sche Kritik bewerten, die nach der Wende – nachvollziehbarerweise – schnell
ihre Berechtigung verlor und verworfen wurde. Es ist eben die historische
Marke des Untergangs der DDR, der nur insbesondere Zeitdiagnosen der
Literatur so rasant obsolet machte.12
Fragt man nach den Ansprüchen des Schreibens, betrachtet man die dazu-
gehörigen Poetologien, fehlt zwar das Bekenntnis zum Engagement. Der dik-
tatorische Kontext erscheint dennoch durchaus kritisch: Gerade die betonten
Schwierigkeiten, die vielen emphatisch herbeigeschriebenen Aporien und
Paradoxien der Selbstverständigungen zeigen den Kontext als abgründigen,
nicht nur umfassender, sondern auch unversöhnlicher, als es die ausgespro-
chenen Zeitdiagnosen nahelegen. Die Fragen, wie sich die Diktatur in den
Texten darstellt und mehr noch, wie man ihr begegnete, sind allemal span-
nende, die sich kurzschlüssigen Bewertungen entziehen. Denn wie ist eine
Literatur zu bewerten, die schon bei Christa Wolf nichts mehr re-präsentieren
will und bei Gert Neumann auch praktisch nichts mehr sagen, nicht mehr
verstehbar sein will?
Kunst vs. Welt
Für den Rückzug in literarische Welten ist zunächst Hermlins autobiogra-
phisches Abendlicht ein prägnantes Beispiel. In Abendlicht macht Hermlin
seine Schriftstellerei zum allein sinnstiftenden Fixpunkt. In seiner äußerst

11
Vgl. Wrage: Die Zeit der Kunst [wie Anm. 3]. S. 25.
12
Auch die DDR-Literaturwissenschaft hat mit dem Verlust der Gegenwart der
DDR-Literatur umzugehen. Die Theoriedebatte der neunziger Jahre hat dabei den
hermeneutischen Zugriff auf Texte aus einer Diktatur hellsichtig problematisiert,
sucht die Hermeneutik doch einen Schulterschluss mit den Texten, der nun nicht
länger opportun erschien. Allein den Erkenntniswegen der Texte nachzusinnen
und sie nachzuvollziehen kann heute – in weiten Teilen – kaum mehr befriedigen.
Auch den Status der Öffentlichkeit will ich nicht zum entscheidenden Kriterium der
Analyse machen. Mit ihm verbanden sich zumeist Gegenkanonisierungsversuche:
Es war zu Beginn der neunziger vor allem jede inoffizielle Literatur, die (vor der
breiten Thematisierung der Stasi-Verstrickungen) eine andere, vom Kontext unaf-
fizierte DDR-Literatur konturieren sollte und damit nolens volens die These einer
Literaturautonomie für diesen Teil der DDR-Literatur zu belegen hatte, aber der
harschen Ablehnung und Aussonderung der restlichen DDR-Literatur keinen ande-
ren Zugang, sondern nur einen neuen Textkorpus entgegensetzte (und oft ein nur
einseitiges Bild der Diktatur produzierte).

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“poetische[n] Autobiographie”13 konturiert sich einerseits eine künstlerische


Gegenwelt, die jedoch einen existentiellen Anspruch nicht aufgibt: Sie spen-
det hier nicht nur autobiographischen Sinn, sondern sie erscheint nun gera-
dezu als Überlebensprinzip – vor dem Hintergrund eines katastrophischen
Jahrhunderts, d.h. auch angesichts einer Enttäuschung über den real existie-
renden Sozialismus.
Der zyklenhafte Erzähltext fasst lose sehr verschiedene Erinnerungen und
Stationen des Lebens zusammen: angefangen bei der bürgerlichen, kunst-
sinnigen Herkunft und einer entrückt anmutenden Kindheit bis hin zu einer
Politisierung, die den Beitritt zum Kommunistischen Jugendverband ebenso
aufgreift wie die illegale Widerstandsarbeit in Deutschland, Emigration,
Résistance und Spanischen Bürgerkrieg.
Das Besondere dieses autobiographischen Schreibens ist die regressive
Bewegung, durch die Sinnstiftung gesucht wird: Es ist die Kindheit, die von
allem Anfang an traumverloren und kunstsinnig erscheint, zu der Anschluss
gesucht wird. Schon Titel und Motto verweisen vergleichsweise eindeutig
darauf: “Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren”,14
lautet das Walsers Der Gehülfe entnommene Motto.
Die traumverlorene, entrückte Kindheit und ein ausgestellter Kunstsinn ver-
dichten sich auf der einen Seite zu einer Atmosphäre von Stille, Einsamkeit,
Frieden. Ihr steht auf der anderen Seite ein Lebenslauf gegenüber, der wie
ein Geworfensein auf eine exzentrische Bahn anmutet, da er unfreiwillig in
ein katastrophisches Jahrhundert verwickelt scheint. Das hat zugleich den
Effekt, dass die Teile des – bekannterweise ausgeschmückten15 – politischen
Lebenslaufs depotenziert werden; hier erscheinen sie nun als Entfremdung,
als Bedrohung.
So stehen sich nahezu kontrapunktisch politischer Lebenslauf und
Erfahrungen mit Kunst resp. das eigene Schreiben gegenüber: Auch situa-
tive Schilderungen des politischen Lebensweges werden durch Erinnerungen
an Kunst überblendet; die Personage arbeitet ebenso mit an der Bebilderung
der Differenz. Die Erzählungen des Bruders etwa – erinnert wird er zunächst
als kriegerischer Held mitsamt Heldentod – weisen dann auf eine Verkehrung
des Heldentums: Der Bruder, so schreibt Hermlin, sei zwar jünger, aber grö-
ßer, zugewandter, pragmatischer, dafür nicht künstlerisch begabt, mutig,
verwegen, stattlich, beliebt und vom Ansinnen getrieben “mich zu vertei-
digen und zu beschützen”.16 Das erzählte Ich wird komplementär dazu in

13
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 2000.
S. 334.
14
Hermlin: Abendlicht [wie Anm. 4]. S. 5.
15
Hermlin: Abendlicht [wie Anm. 4]. S. 67.
16
Ebd.

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allem als Gegenteil verhandelt.17 Hier werden Tat, Größe, Mut und Kunst,
Weltabgewandtheit, Traumverlorenheit gegenübergestellt. Und zugleich ver-
kehrt der schon zuvor in einem Alptraum vergegenwärtigte Tod des Bruders
das Verhältnis, das zugespitzt und abstrahiert das von Kunst und Welt ist.
Das katastrophische Jahrhundert bedeutet hier nun schlichtweg Tod und
Verderben. Dagegen steht bei Hermlin die Kunst als rettendes, vor Tod und
Verzweiflung bewahrendes Prinzip. Beschrieben und aufgewertet wird in
weiten Teilen des Textes eine poetische Existenz. Das folgende Zitat expli-
ziert nahezu, dass Kunst als Überlebensprinzip vorgestellt wird. Sie erscheint
zugleich in der so unverträglichen Gegenüberstellung von Kunst und katastro-
phischer Welt fortwährend als bedrohte; die “Blutspur der Dichtung” bezieht
sich hier auf die Zäsur 1945:
ich sah Dichtung, auch meine eigene, in Zwänge und Zusammenhänge verstrickt,
ich konnte nicht außerhalb der Zeit stehen [. . .].
Während die Worte meiner Freundin immer leiser zu mir drangen, sah ich die
lange Blutspur der Dichtung [. . .]; sie lief durch Exil, Haft und Tod. Ich stand an
der Grube, in die dieses Blut geflossen war, ehe ich zu den Schatten hinabstieg.
Auch dachte ich an die Tage, als die Dichtung mich davor bewahrt hatte, stumpf zu
werden und nur noch zu existieren, als ich drei kleine Bände, in denen zu lesen ich
mich täglich zwang, in meiner Tasche trug, durch Kriege, unter Steckbriefen hin-
durch, einen Hölderlin, einen Shelley, einen Baudelaire, meine ganze Bibliothek.18

Die Zeit nach 1945 bleibt dann – als bedeutungsvolle Leerstelle – ausgespart.
In einem Text, der in der Kunst autobiographischen Sinn sucht, bleibt allein
die Kritik an den sozialistischen Kunstanschauungen – die dann die Qualität
existenzieller Anfechtungen erhalten – zu vermerken. Hermlin greift –
eher lakonisch denn kämpferisch – die Kulturpolitik der DDR an, die auf
Kunstverhinderung hinausläuft:
Von jenem Augenblick an, da ich begonnen hatte, Marx und Lenin zu lesen, und in
die Arbeiterbewegung eintrat, entstand für mich eine Bedrängnis aus dem Umstand,
daß, obwohl für mich die Theorie in allen menschlichen Bereichen mehr und
mehr ihre Schlüssigkeit erwies, ich auf dem Gebiet der Kunstanschauung nichts
Entsprechendes zu finden vermochte. [. . .] Die Kunst des Jahrhunderts wurde
mehr und mehr zu einem Pfuhl der Verdammnis, die großen Namen der Literatur,
der Musik, der Malerei stellten personifizierte Übel dar, drittrangige akademische
Epigonen wurden zu Genies befördert, man suchte die Wurzel des Verhängnisses,
schon hatte ein Eiferer sich so weit zurückgearbeitet, daß er Flaubert und
Baudelaire für dekadent zu erklären vermochte. Theorien und Begriffe entstan-
den aus dem Nichts, sie waren nicht zu begründen, man tat so, als seien sie längst
bewiesen, man sparte nicht am Gebrauch des Wortes ‘wissenschaftlich’ [. . .], und

17
Ebd.
18
Ebd. S. 102.

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vergeblich wartete man auf das Kind aus jenem Andersenschen Märchen, das
den Ruf ausstößt: ‘Aber der Kaiser ist ja nackt!’ [. . .] Die Regenerationsfähigkeit
der Arbeiterbewegung ist beträchtlich – sie hat auch für mich, in mir eine
Rolle gespielt. Doch konnte ich, wenn ich das Vergangene überschlug, nicht
davon absehen, daß das vergebliche Ringen um eine gar nicht wünschenswerte
Übereinstimmung in einer falsch gestellten Frage mich in dreißig Jahren viel Kraft
gekostet, vielleicht auch daran gehindert hatte, mehr und Besseres zu geben.19

Lakonisch kann der Text in seiner Kritik bleiben, da er sich allein schon in
seiner poetischen Form fortlaufend und eindrücklich über diese Drohkulisse
erhebt. Was einerseits das Zerrissene oder auch Bedrohte der Biographie
darstellt – das Fragmentarische, die fehlende Chronologie und der nur zyk-
lenhafte Zusammenschluss der Erzählungen – gerät gleichzeitig zu einem
positiven Signal: Motivik und Symbolik übernehmen Ordnung und letztlich
Sinnstiftung der Autobiographie. Die ostentativ poetische Form, gespickt auch
mit zahlreichen intertextuellen Querverweisen, erhebt sich demonstrativ über
alle Anfechtungen.
Die Kritik am Kontext mag auf die Kunstanschauungen fokussiert bleiben,
eine “Regenerationsfähigkeit” des Sozialismus – die an seinem Umgang mit
den Künsten festgemacht wird – wird auch konkret benannt. Der Widerspruch
ist jedoch so strukturierend wie fundamental. Denn in seiner poetischen
Form, in seiner Tendenz zu einer entsubstantialisierten poetischen Sprache,
auch in den elitären Selbstinszenierungen akzentuiert Hermlin allein den
Widerspruch: Er erschreibt einen Graben, den seine Prosa gerade nicht mehr
zu überwinden trachtet.
Diesen literarischen Autonomisierungstendenzen – das sei verallgemei-
nernd vorweggenommen – geben die Texte selbst eine auf den Kontext bezo-
gene Bedeutung. Autonomie und Modernisierung, das legt Hermlin nahe,
wollen hinsichtlich der aufgerufenen Versöhnlichkeit befragt werden und
verstanden sein. Sie konservieren den negativen Zeitbezug ebenso wie eine
Aufwertung der Kunst zu einem existenziellen Rettungsanker.
Das ist zeittypisch und prägt ebenso Neumanns Elf Uhr. Denn im Prinzip
sehr ähnlich schreibt Gert Neumann ein Tagebuch, das ansetzt an dem Punkt,
wo der Alltag in der Diktatur – äquivalent zum katastrophischen Jahrhundert
bei Hermlin – es ihm streitig macht, als Schriftsteller zu leben. Genötigt zur
Arbeit in einem Kaufhaus, hält er am literarischen Schaffen fest und sucht
sich jeden Tag Elf Uhr einen Ort zum Schreiben. Der Widerspruch struktu-
riert hier deutlicher noch als bei Hermlin das gesamte literarische Projekt:
Denn in diesem Widerspruch wird es angelegt. Ortheil beschrieb das pragma-
tisch: “Er hatte als Schlosser und Handwerker in einem Leipziger Kaufhaus

19
Ebd. S. 41ff.

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gearbeitet und auch während dieser Tätigkeit die sich selbst gestellte Aufgabe
des Schriftstellers ununterbrochen behauptet.”20
Neumanns Reflexionen verharren oft allein bei den Abenteuern, überhaupt
einen Ort zum Schreiben zu finden; wo sie darüber hinaus gehen, bleiben
sie zumeist auf das eigene Schreiben, auf die durch die Diktatur gestellten
Bedingungen und auf Fragen der Literatur bezogen. Und wie schon latent
bei Hermlin wird dem Streitigmachen einer Schriftsteller-Existenz allein die
Kunst, bei Neumann konkret das Schreiben, fortlaufend und eindrücklich
entgegengesetzt. Bei Neumann wird das Schreiben daher – weitaus radikaler –
konsequent zum Selbstzweck: “Denn es ist ja eine weithin unbekannte
Tatsache, daß ‘Schreiben’ nichts ist, jedoch die Gelegenheit zu schreiben
alles.”21
Für die Gestalt der Texte und die poetologische Selbstverortung, um
die sich Neumann nun dezidiert bemüht, hat das Folgen. Hermlin schon
ist daran gelegen, mit seiner Prosa eine reine Poetizität auszustellen. Die
Gegenwärtigkeit einer höchst intransitiven und fortlaufend alternierenden
Narration verspricht eine Sinnstiftung, da sie eine Konvergenz mit der auto-
biographisch urgründlichen Autorschaftserfahrung markiert. Die symboli-
sche Sättigung und motivische Dichte des Textes, die vielen intertextuellen
Verweise setzen sich über alle beschriebenen Anfechtungen hinweg. Schon
Hermlins Sprache wird dabei betont selbstreferentiell. Das Absolute die-
ser nicht deduktiven, eher lyrisch-musikalischen Sprache demonstriert das
grundsätzliche “Unbehagen am Bestehenden” und “erweist sich als mit einer
Apologetik der Vorhandenheit unvereinbar”, wie bereits Zanucchi schreibt.
Hermlins poetische Sprache hat den “Charakter einer zweiten Natur, die den
Widerspruch zur entfremdeten ersten benennt.”22 Die bewusst artistische
Sprache konterkariert so eindrücklich den versöhnenden Horizont. Wird er
am Umgang mit der Kunst, also mithin an der Vermittelbarkeit des konkreten
Textes festgemacht, baut ihm Hermlin formal gerade keine Brücke mehr.
Zugespitzter wird bei Neumann Literatur jenseits ihrer kommunikativen
Potenzen gedacht. In den poetologischen Reflexionen werden Entstofflichung
und Inkommensurabilität programmatisch verteidigt. Mehr noch als Hermlin
versucht der Text intentional jede Verbindung zur Realität zu kappen, inhalt-
lich und thematisch – in einer höchst selbstreflexiven Tendenz und großen

20
Hanns-Josef Ortheil: Die Sprache des Widerstands. In: Merkur. Nr. 11/1981.
S. 1167–1175. Hier: S. 1169.
21
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 356.
22
Mario Zanucchi: Die Sprache des Schweigens. Zur späten Prosa Stephan
Hermlins. In: Zehn Jahre nachher. Poetische Identität und Geschichte in der deut-
schen Literatur nach der Vereinigung. Hg. von Fabrizio Cambi u. Alessandro
Fambrini. Trento: Universita degli studi di Trento 2002. S. 297–321. Hier: S. 305f.

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Redundanz – wie auch formal – vor allem in einer eigensinnigen Syntax. Das
Vorwort bebildert das eindrucksvoll:
Dieses Buch hat das entsetzliche Thema zum Gegenstand meiner Darstellung
gewählt, in dem das Determinieren und das Determiniertsein, das der Intellekt so
benennt, um eine Logik in der Darstellung der Wirklichkeit, durch das Denken, zu
erhalten: als Handlungen betrachtet werden, die die Wirklichkeit in eine bestimmte
Form zwingen, damit der obszöne Hunger der Menschen, der durch den Mangel an
Poesie, der freilich ebenfalls das Werk der Menschen ist, entsteht, gestillt wird; –
und versucht den Prozeß der Darstellung, der in Wahrheit ein Kampf gegen
die Versteinerung der Materie Wirklichkeit durch die Sprache ist und dessen
Motivationen angesichts des, schwer herrschenden, Wahrheitselends, nur ange-
sichts eines Sieges in diesem Kampf nicht niedrig genannt werden müssen.23

Zugleich lässt Neumann keinen Zweifel daran, dass er auf diktatorische


Bedingungen reagiert: In den wenigen autobiographischen Schilderungen
benennt er das Demütigende und Manipulative der Diktatur, in den abstrahie-
renden Reflexionen akzentuiert er das Statische und Versteinerte der Realität
und ihrer Sprachregelungen.
Neumanns Text ist dann zwar getragen von der auch ausgesprochenen
Weigerung, “in einer Wirklichkeitskonstruktion zu leben, die mir eine vorbe-
reitete Gebärde abfordern wollte”.24 Die Folgen jedoch sind weitreichend und
führen in eine hermetische Sprache, die programmatisch kritikfern sein will.
Neumann erklärt dabei nicht nur jede offene Kritik für einen Verrat an der
Kunst. Diese Verweigerung bedingt auch eine weitreichende Entstofflichung,
die reflexive Innenschau und das beginnende Sprachexperiment.
Die Poetologie einer Widerständigkeit
Hermlin erhebt sich durch einen formalen Eklektizismus, durch zahlreiche
intertextuelle Bezüge und eine überaus poetische Sprache und Tektonik über
die “Blutspur der Dichtung”. Für die Selbstbehauptung – um die es beiden
Texten vor dem Hintergrund einer so übermäßig restriktiv agierenden Diktatur
geht – werden eine bei Hermlin zunehmend lyrische, intentionslos musika-
lische Sprache, bei Neumann eine weithin entstofflichte Selbstreflexion und
eine zunehmend hermetische Prosa eingespannt. Außer Zweifel steht, dass
diese Selbstbehauptungen dem diktatorischen Kontext abgetrotzt werden und
sich gegen ihn stellen. Sie akzentuieren jedoch weniger eine Opposition, als
vielmehr ein Jenseitiges gegenüber dem doktrinären Kontext. Somit werden
Kritiklosigkeit und Hermetik – wie von den inoffiziellen Szenen dann auch
beeindruckend perpetuiert – zum Signum einer im Selbstverständnis der

23
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 356.
24
Ebd. S. 27.

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Diktatur trotzenden Literatur. Damit ist eine durchaus paradoxale literarische


Selbstbehauptung beschrieben.
Eben diesen Zusammenhang versucht Christa Wolf extensiv in ihrer
Kassandra-Vorlesung zu begründen. Sie formuliert nun nahezu als kausalen
Zusammenhang, was bei Hermlin und Neumann verschiedentlich zu beob-
achten ist: dass eine widerständige Selbstbehauptung keineswegs mit Kritik
korreliert ist, sondern von einer von Julia Hell bereits beschriebenen “pure
voice”25 getragen wird. Wolfs Suche nach einer weiblichen Stimme beschreibt
dabei m.E. Eigenheiten einer beherrschten Literatur; die Frau gilt Wolf als die
Unterdrückte. Und so lesen sich Wolfs Vorlesungen nahezu als eine Poetologie
beherrschter Literatur.
Dass es dabei um eine “Stimme”26 geht, wie Wolf immer wieder schreibt,
deutet schon die Richtung an: Was wem wozu und wie zu sagen ist, wird auch
bei ihr sekundär. Das hat seine Logik, die Wolf ausführt: Die Literatur will
aus einem grundsätzlichen Nicht-Einverständnis heraus auf Bestehendes auch
nicht mehr Bezug nehmen, sie will nicht mehr re-präsentieren und kann daher
utopisch oder kritisch nur sein, wenn sie “boden-los” ist:
Mir fällt auf, daß das Verdikt, unrealistisch, realitätsfern zu sein, gegen Literatur
genau so erhoben wird wie gegen die Friedensbewegung, und von den gleichen
Leuten. Realist ist heute, wer auf dem Boden der Tatsachen steht – ein Boden, der
in den Plänen dieser gleichen Realisten bereits verseucht ist. – Welche Konsequenz
hat dieser Realismusbegriff für die Ästhetik? [. . .].
Die Einsicht, daß unser aller physische Existenz von den Verschiebungen im
Wahndenken sehr kleiner Gruppen von Menschen abhängt, also vom Zufall, hebt
natürlich die klassische Ästhetik endgültig aus ihren Angeln [. . .]. Eine tapfere,
wenn auch boden-lose Anstrengung, zugleich der frei schwebenden Vernunft und
sich selbst Obdach zu schaffen: in der Literatur.27

Das Frei-Schwebende des Gedankens bezeichnet seine Realitätsferne;


das Boden-Lose des gesuchten Ausdrucks artikuliert sich bei Wolf dann
vor allem in der Abstoßung von jeder bisherigen Ästhetik – viel zitiert ist
Wolfs pauschale Absage an jedes “Muster” – und in der Aufwertung einer
Inkommensurabilität. Der neue Ausdruck soll “wild” sein:
‘Authentisch’ – auch so ein Wort aus der Kunstsprache – nur sein können, indem
sie [gemeint ist Ingeborg Bachmann, S.L.] auf den Abstand, den bestimmte Formen
geben, verzichtet. Eine Besessenheit muss Worte finden, die sich an das Ritual, das
bändigt, nicht halten kann, die sich an nichts halten kann, ungebändigt ist, wild.28

25
Julia Hell: Post-Fascist Fantasies. Psychoanalysis, History and the Literature of
East Germany. Durham: Duke UP 1997. S. 222.
26
Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 228.
27
Ebd. S. 109 u. 150.
28
Ebd. S. 191 u. 150.

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Man muss sich in Erinnerung rufen, mit welcher Emphase auch dieser weib-
lichen Stimme ontologische Relevanz zugesprochen wird. Bekanntlich per-
spektiviert Wolf in der Erzählung den mythologischen Stoff aus einer nun
psychologisch ausgeloteten Perspektive Kassandras; und sie verhandelt in
den Vorlesungen diese Perspektivierung unter dem Signum eines weiblichen
Ausdrucks. Die Wichtigkeit des Anliegens könnte kaum dramatischer
erscheinen: Weiblichkeit wird als Paradigma des Unterdrückten verhandelt;
diese Marginalisierung ist zugleich der Punkt, der die Welt aus den Fugen
geraten ließ.
Wolf schließt dabei auch Geschichte und literarische Darstellung kurz: Bei
Aischylos, das ist Wolfs Aufhänger, hatte Kassandra eben auch im übertrage-
nen Sinne kaum etwas zu sagen. Wolf denkt sich eine andere Wirklichkeit, die
Aischylos mit männlichem Macht- und Herrschaftskalkül überschrieben hat.
So tragen die Texte einer männlichen Literatur schließlich Verantwortung für
eine blutige Geschichte. Die literarische Stimme, also nun die weibliche, wird
in diesen historisierenden Begründungszusammenhängen nie nur als Symbol,
sondern als Exemplum in existentiellem Sinne verhandelt. Aischylos etwa gilt
Wolf ganz handfest als Vollstrecker eines männlichen Herrschaftswillens.
Die gegenwärtige Suche nach einem weiblichen Ausdruck betont dann
ebenso existentielle Dimensionen, die schon Hermlin und Neumann auf ihre
Weise herausstellen. Sie werden bei Wolf umgesetzt durch die Betonung
produktionsästhetischer, autor-zentrierter Zusammenhänge. Diese subjektive
Perspektive verweigert sich programmatisch jedem Repräsentationsprinzip.
Der negative Zeitbezug sorgt dafür, dass die verabsolutierte Produktionsästhetik
dann tendentiell auch negativ gefasst wird. Der essayistische Versuchscharakter
bei Wolf, die Suchbewegungen der Vorlesungen harmonieren dann mit der Aus-
musterung und eher wahllos erscheinenden Kritik jeder bisherigen Ästhetik.
Selbst die vorgenommene Relativierung der eigenen Erzählung und die immer
wieder betonte Vorläufigkeit sind nicht nur Selbstkritik. Kondensat dieser
Suche ist, dass der weibliche Ausdruck sich entzieht und unbestimmbar bleibt.
Verteidigt wird in den Poetikvorlesungen damit eine andere Stimme, der
der Widerstand ganz emphatisch zur Weltgeschichte und -politik zugespro-
chen wird. Sie aber kann nur vorläufig oder noch unmöglich und sie darf
brüchig und unverständlich sein. Durch die Unterdrückungsgeschichte kann
ein weiblicher Ausdruck, das ist ein weiteres Argument, nur eruptiv hervor-
brechen. Auch die Erzählung arbeitet an dieser Hypertrophierung einer nega-
tiven Produktionsästhetik, heißt es doch dort: “Mit diesem Schweigen [. . .]
beginnt Protest”.29
So landen alle drei Texte trotz – oder eher wegen – der großen existentiel-
len und bei Hermlin und Wolf auch ausformulierten gesellschaftspolitischen

29
Ebd. S. 330.

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Ansprüche schließlich bei einer subtilen oder offenen, praktischen oder


theoretischen Relativierung von Aussage- und Kommunikationsdimensionen,
bei einer sehr eigenen Autonomie literarischer Sprache.
Neumann formuliert die Zusammenhänge schließlich nur rigoroser und
ohne den hohen argumentativen Aufwand von Wolf: am deutlichsten, wenn er
die Verständlichkeit als “Entwürdigung des Lesers” ausweist:
‘Eine andere Versöhnungsformel, von der Friedrich Hebbel einmal dunkel, und
ohne sich näher zu erklären, aber doch dergestalt sprach. . .’, las ich aus mei-
nen Notizen vor den Männern; und verantwortete das folgende Gespräch über
die Fragen der Verständlichkeit, indem ich sagte, daß in meinen Augen eine ver-
ständliche Schreibmethode die klare Entwürdigung eines Lesers sei, da sie ihn
ausweglos deuten müsse. Ich sagte, daß durch den Mangel einer geistigen, leben-
digen, Auseinandersetzung jeglicher Kontakt eines Textes zur Würde seines Lesers
unterbrochen sei; und daß die Schlußfolgerung daraus nicht die Forderung nach
Verständlichkeit sei, sondern die nach Artikulation jener Würde.30

Die Unverständlichkeit wird als eine Art Demokratisierung literarischer


Kommunikation hochgeschätzt. Das ist eine sicherlich sehr eigene, vor allem
zeitbedingte Auslegung einer ästhetischen Offenheit. Die Autoren schätzen
das Inkommensurable; man kann auch sagen: das Nichts-Sagende, wie etwa
Reich-Ranicki Wolf vorgehalten hat.31
Schweigen als Protest
“Protest” – das ist im Selbstverständnis weniger die konkrete Kritik, die
bei Hermlin nur einen Punkt trifft, der sich Neumann programmatisch ver-
weigert und die Wolf gerecht auf die Großmächte zu verteilen sucht. Er
bezieht sich bereits vielmehr auf diese ausgesprochene Relativierung von
Aussagedimensionen, für die schon Wolf die Metapher des Schweigens findet
und die Neumann am ehesten als Verweigerungs-Haltung kenntlich macht. Elf
Uhr ist ein Text ausgestellter und demonstrierter wie auch programmatisch
verteidigter Kompromisslosigkeit. Neumann schreibt schließlich, die neuen
Sätze sollen “aufhören, Bestätigungen bestimmter Deutungsstrukturen der
Realität zu sein”.32
Neumann versagt sich explizit jede politische Kritik: “[J]egliches
Engagement [. . .] bewirkt, daß das Thema [. . .] sofort gründlich zertrüm-
mert wird”.33 Aussagekräftig ist schon bei Hermlin die Depotenzierung aller

30
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 243.
31
Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart:
DVA 1991. S. 186f.
32
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 141.
33
Ebd. S. 130.

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Realität. Auch bei Wolf wird Realität nur noch als sich selbst auflösende, sich
selbst vernichtende reflektiert. Diesem Denken entspringen die praktischen
und theoretischen Absagen an einen Realismus und Re-Präsentanz. Sie las-
sen sich sicherlich als Reflex auf den Machtanspruch der Partei und seine
Deutungshoheit verstehen. Die literarische Stimme soll mit dieser Welt nichts
mehr zu tun haben.
Neumanns Suche nach einem Raum zum Schreiben auch im übertragenen
Sinne bleibt in der fortlaufenden, nie endgültig glückenden Suche stecken.
Das ist das Kondensat und bestimmt den Eindruck, den man vom Tagebuch
hat: Es kann nur das alle Lebensbereiche Durchdringende der Diktatur
bebildern, auch die “beherrschende Bewußtlosigkeit”34, gegen die Neumann
doch anschreibt.
Dem Deutungsmonopol, den Machtansprüchen zu entkommen, mag
erklärtes Ziel sein; in der Nivellierung von Aussage- und Kommunikations-
dimensionen von Literatur werden sie jedoch zunächst als übermächtige und
allumfassende gespiegelt, denn simple Wider-Worte, eine Poetologie enga-
gierter Literatur gibt es hier nicht.35
Die Literatur spiegelt damit eine höchst gestörte Kommunikation, aber
zementiert sie zugleich. Sie macht die mangelnde Responsibilität des Systems
kenntlich. Neumann benennt sie, er verweist auf das Manipulative und
Übergriffige der Diktatur. Hier motiviert sich die besonders von Neumann
emphatisierte Unverständlichkeit, die Wolf und Hermlin nur moderater
formulieren. Der “Verfall des Dialogs”36 bleibt dann nicht nur kritisierte
Grundlage. Er wird in der gesuchten und eigensinnig verfochtenen Poesie
auch nicht aufgehalten.
Eine solche Literatur war am Ende der DDR aussagekräftig und wichtig, da
sie die Beschränkung individueller Handlungsräume zwar weniger benannte,
aber eindringlich erfahrbar machte. Dabei darf das Hypertrophieren künst-
lerischer Möglichkeiten als Befreiungsversuch gelesen werden, als Versuch,
eine Realität außer Kraft zu setzen. Das gilt meines Erachtens noch für das
Schaffen der inoffiziellen Szenen, die sich bis zum Ende der DDR stetig
vergrößerten. Zugleich wäre auch hier festzuhalten, dass das Spielerische,

34
Ebd. S. 26.
35
Aus dieser ästhetischen Emanzipation ist allgemein nur mittelbar eine politische
herauszulesen. Die späte DDR-Literatur kehrt den offiziellen Vorlieben der DDR –
dem Realismus ebenso wie dem thematischen Kanon – den Rücken. Das literari-
sche Wirkungspotential schmolz dabei zusammen auf eine Praxis und Symbolik
je individueller Selbstverwirklichung, die man nicht unterbewerten sollte, die
auch politische Wirksamkeit entfalten konnte, aber die eben einem Samisdat-oder
Gegenöffentlichkeitsbegriff nicht wirklich entspricht.
36
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 27.

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Experimentelle und Absurde vor allem von der Verdammung zu einem –


überspitzt gesagt – nur clownesken Handeln und auch Darstellen beredt
Auskunft gab. Die ästhetische Radikalität scheint, so gesehen, in einem
unmittelbaren Zusammenhang zum Machtanspruch der Diktatur gestanden zu
haben. Jan Faktor hat bereits die Literatur der inoffiziellen Szenen in ihrer
Tendenz zu einem ästhetischen Eskapismus beschrieben.37 Protest ließ sich
aus dieser Literatur ablesen, wenngleich er oft keine konkrete Formulierung
fand.
Programmatisch verteidigt und dem Status Quo entgegengesetzt wird von
den drei hier behandelten Texten verschiedentlich eine negativ ausgelegte
ästhetische Autonomie, die noch einen phantasmagorischen, aber vor allem
einen zutiefst skeptischen Charakter hat. Phantasmagorisch erscheint etwa
Hermlins Suggestion in Abendlicht, mit der Kunst zugleich den besseren
Sozialismus zu verteidigen. Von einer Regenerationsfähigkeit des Sozialismus
ist noch die Rede, die am Umgang mit der Kunst, mit dem eigenen Text und
mithin der eigenen Person festgemacht wird. Man kann das als Kritik (gerade
im Hinblick auf die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten) lesen. Ebenso
aber scheinen alte Loyalitäten und Glaubenssätze noch zu tragen. Vor allem
aber ist dieser Kurzschluss eine vornehmlich wohl Demütigungen kompen-
sierende Grandiositätsphantasie.38 Hermlins Text trägt zumindest klar elitäre
Züge: im Gestus, sich in einer reinen Poetizität über jegliche Anfechtungen
hinwegzusetzen, durch die reiche Intertextualität, den Eklektizismus und
schließlich auch die Erzählungen seiner kunstsinnigen Herkunft. Sie kompen-
sieren erlittene Kränkungen, auch den Verlust von Hoffnung und sind darin
ebenso Reflex auf eine längst gestörte Beziehung.
Skeptisch erscheint die Literatur, die das je Individuelle akzentuiert, die
in ihrer Befreiung exemplarischen Wert erhält, damit existentielle Ansprüche
untermauert, wenn sie die literarische Stimme zu einer verschwiegenen
und inkommensurablen reduziert. Auch wo die Literatur wie bei Wolf gar
Geschichte positivieren oder bei Hermlin den Sozialismus erneuern will, ist
eine Konsequenz aus der perpetuierten Zuständigkeit und der existentiellen
Aufwertung literarischen Schaffens nun diese Reduktion.

37
Widerständigkeit nur mit einer inkommensurablen Sprache zu behaupten, arti-
kuliert vor allem Ohnmacht. Vgl. desweiteren Jan Faktor: Sechzehn Punkte zur
Prenzlauer-Berg-Szene. In: MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit. Hg. von
Peter Böthig u. Klaus Michael. Leipzig: Reclam 1993. S. 91–111.
38
Zum durchaus offen ausgestellten Phantasma wird die Literatur, wo sie sich
trotz ihrer prekären Lage nicht von gesellschaftlichen Ansprüchen verabschie-
det, wo die Selbststilisierungen einen nahezu christologischen Exemplar- und
Stellvertretungscharakter annehmen. Treffend und produktiv ist das implizit voraus-
gesetzte sozialpsychologische Bild der DDR weniger in zeitkritischer Dimension,
denn hinsichtlich der Internalisierung von Herrschaftsstrukturen.

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Man kann das als Dilemma beschreiben: Repräsentativ will die Literatur
nicht sein, nicht selbst Machtansprüche stellen und für andere sprechen. An
dem Ausschreiten ihrer Möglichkeiten hat sie folgerichtig weniger Interesse
als an der Darstellung ihrer Be- und Verhinderung. Heute lässt sich das als
“eine geradezu hypnotische Denkhemmung”39 verstehen, der die sicherlich
intensiv rezipierte Geistesgeschichte in ihren Theoremen durchaus Vorschub
geleistet hat. Die Dilemmata, in denen sich die Literatur einrichtet, haben
jedoch – angesichts einer erstarrten politischen Situation, gerade auch im gro-
ßen Rahmen des eingefrorenen Krieges und seiner Zuspitzung zur atomaren
Patt-Situation in den achtziger Jahren – seismographische Qualitäten.
Auch die Genese der DDR-Literatur ist hier zu erinnern, auf die Wolf und
Hermlin selbst entscheidenden Einfluss genommen haben. Literatur stand in
der frühen DDR unter dem Signum von Wirksamkeit und Engagement. Der
selbstgewählte Anspruch der Autoren kehrt nun als teuer bezahlte Hybris
wieder: Weniger Verantwortung denn zugestandene Selbstbeschneidung
war Ergebnis. Die Problematisierung von Sagbarkeit, die Wolf betreibt,
konzediert das nun umstandslos. Die Geschichte der frühen engagierten
DDR-Literatur erscheint in diesem Licht als die einer Instrumentalisierung.
Und in der Tat: Die apostrophierte gesellschaftliche und geschichtliche
Bedeutsamkeit der Literatur beruhte auf der pädagogischen und legitimatori-
schen Funktionalisierung durch die DDR-Kulturpolitik.
Auch am Ende der DDR wurde jede öffentliche Artikulation, auch die lite-
rarische, als Politikum behandelt. Die Literatur will diese Zusammenhänge
nun jedoch einseitig aufkündigen, gerade in einer nahezu prototypischen,
exemplarischen Verhandlung eines literarischen Ausdrucks, der sich an keine
Regel mehr halten soll.
Bereits im Selbstverständnis wird das nicht mehr als Engagement, son-
dern als Fluchtbewegung reflektiert: So werden “Emigration” und “Obdach”
zu Metaphern für die Literatur, mithin in einem anderen Sinn als dem von
Lämmert aufgerufenen. Wenig überraschend werden Parallelen zur Exilliteratur
angeboten. Auch und gerade diese intertextuellen Bezüge v.a. bei Hermlin und
Wolf verweisen sowohl auf das Nichteinverständnis mit dem Gegebenen und
auf eine Distanz zum System, als auch – absichtlich oder nicht – auf den zen-
tralen antifaschistischen Legitimationsdiskurs. Offensichtlich ist, dass auch
hier – wie im Fall von Thomas Manns verlängertem Exil – “den Deutschen

39
Diese Diagnose stellt im Rückblick auf die jüngste Geistesgeschichte Horst
Bredekamp: Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus.
In: Ders.: Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Berlin: Wagenbach
2007. S. 136–156. Hier: S. 137.

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etwas von der verdrängten Schuld ins Bewußtsein”40 gehoben werden soll,
wie es Adorno einst formulierte. Das Anknüpfen an diesen Zusammenhang
entsteht jedoch unter nahezu umgekehrten Vorzeichen. Recht absichtsvoll soll
nun eine Schuld dargestellt werden, und zwar die der anderen. Unter diesen
Vorzeichen ist die imaginierte Exilierung der Literatur zunächst ein Abgeben
von Verantwortung für die gegenwärtigen Zustände der Diktatur. Das Beleihen
von Opfergesten unterstreicht das eindrucksvoll. Eindrücklich und deutungs-
würdig ist, dass programmatisch schier jeder Substanz-, Verantwortungs- und
auch Handlungsbegriff ins Negative verkehrt wird.
Den Instrumentalisierungsversuchen, denen die Autoren bis zuletzt
ausgesetzt waren, wollte man sich entziehen, d.h. auch der bleibenden
Verstrickung der eigenen Person ein Ende setzen. Gerade in ihrer so speziel-
len Autonomisierung artikuliert die Literatur einen gewisserweise umfassen-
den Widerspruch gegenüber der Politisierung aller Lebensbereiche; sie sucht
nach Bereichen jenseits aller Politik; die Suche führt in eine Hermetik, die
dann den politischen Verhältnissen gerade keine konkrete Kritik, sondern eine
negativ ausbuchstabierte ästhetische Autonomie entgegensetzte.
Jenseits der notwendigerweise ambivalent bleibenden politischen ‚Haltung’
bleibt die Literatur damit eindrücklich: gerade im wenn auch illusionistisch-
tröstlichen Abgeben einer Verantwortung oder selbst in einer haltlos erschei-
nenden Grandiositätsphantasie. Das Prekäre des diktatorischen Alltags findet
sich hinreichend gespiegelt. Die Fluchtbewegung in einen selbstreferentiellen
ästhetischen Kosmos verwies zumindest auf die fehlende Responsibilität und
Erstarrung des Systems. Den Machterhaltungsstrategien des Systems wurde
damit jedoch eine nur fragile Hürde gebaut. Die Texte waren somit eher
Krisensymptom als dass sie einen Ausweg wiesen.

40
Theodor W. Adorno u. Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955. Hg. von
Christoph Gödde u. Thomas Sprecher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 48.
Vgl. zu diesen Bezügen v.a. Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 134f. Die “große
Kontroverse” resultierte aus der Konfrontation zwischen der Erwartungshaltung,
die nach Ende des Krieges gegenüber dem emigrierten Schriftsteller Thomas Mann
vorhanden war, und seiner entschiedenen Haltung, nicht nach Deutschland zurück-
zukehren. Im Zentrum der öffentlichen Debatte um den Schriftsteller stand der
Komplex der deutschen Schuld. Das nach dem Ende des Krieges in der deutschen
Gesellschaft weitverbreitete Bewußtsein, Opfer und nicht Täter zu sein, wurde durch
Thomas Manns Position nachhaltig in Frage gestellt. Die Reaktionen auf ihn waren
eine Abwehr seiner Aufforderung, die “deutsche Katastrophe”, so die Formulierung
des Historikers Friedrich Meinecke, als selbstverschuldet zu erkennen. Thomas
Manns Stellungnahmen zu Deutschland widersprachen dabei dem in der deutschen
Nachkriegsgesellschaft vorhandenen Verständnis des Nationalsozialismus als einer
Art Fremdherrschaft.

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Holger Helbig

Ausnahmezustand. Zur Literatur der Wende


A particular time generates a particular literature; hence, a particular literature docu-
ments a particular time. Starting from this assumption, the essay explores the historical
implications of the so-called ‘Wende’ in 1989 by tracing the relationship between the
concept of authorship and the concept of works. Giorgio Agamben’s description of the
‘state of emergency’ is used to show that the main author of the ‘Wende’ was the peo-
ple. The essay furnishes evidence for this claim in a legal as well as a literary sense.

Angesichts außerordentlicher Wirklichkeit nimmt das Bewußtsein den Platz der


Imagination ein. Wallace Stevens, Adagia

Altogether elsewhere, vast


Herds of reindeer move across
Miles and miles of golden moss,
Silently and very fast.
Wystan H. Auden, The Fall of Rome

Heiner Müllers Gedicht Glückloser Engel 2 ist der Versuch, die Bedeutung
eines historischen Moments zu erfassen.1 Der Titel des Gedichts verweist
auf die den Text bestimmenden Verfahren der Bedeutungsgewinnung. Zum
einen kommt ein Bild zum Einsatz, das durch seine Tradierung ganz von sei-
nem ursprünglichen Bezug – dem zum Faschismus – abgelöst und zu einer
geschichtstheoretischen Allegorie wurde.2 Es handelt sich um Walter Benjamins
Deutung eines Bildes von Paul Klee. Zum anderen zeigt die Nummerierung
an, dass es sich um einen fortgesetzten Versuch handelt, den Engel zu
beschreiben, und also der kontrastierende Vergleich mit anderen Versuchen,
eine historische Veränderung zu bewerten, nahe liegt. Bei Müller heißt es:
Der Engel ich höre ihn noch
Aber er hat kein Gesicht mehr als
Deines das ich nicht kenne3

1
Die Veranstalter der Tagung, die in diesem Band dokumentiert wird, haben sich
aus dem Gedicht einen Vers als Überschrift entliehen.
2
Zu den Stationen dieser Entwicklung vgl. etwa die Anthologie Glückloser Engel.
Dichtungen zu Walter Benjamin. Hg. von Erdmut Wizisla u. Michael Opitz.
Frankfurt a.M.: Insel 1992.
3
Heiner Müller: Der glücklose Engel 2. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte.
Hg. von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21998. S. 338.

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Bei Benjamin hatte der Engel noch ein Gesicht, dem die Fixierung auf die
Schrecken der Vergangenheit abzulesen war. Der Sturm blies ihm ins Gesicht,
das war der Fortschritt.4 Als Müller das Bild das erste Mal ausarbeitete – in
der Miniatur Der glücklose Engel –, etwa 1958, beschrieb er, wie das Gesicht
beschädigt wurde: Die Augen wurden eingedrückt.5
Inzwischen, der zweite Text stammt von 1991, hat der Engel kein eige-
nes Gesicht mehr. Der Sprecher kann ihn nicht sehen, nur hören. Nun rückt
ein Gegenüber in die Position des Engels ein: “Dein Gesicht, das ich nicht
kenne”. Die leicht paradoxe Figur hält offen, was die Geschehnisse bedeu-
ten. Es ist nicht zu erkennen. Das könnte, 1991, der Nähe zu den Ereignissen
geschuldet sein.
Für eine Deutung des Gedichts und die Bewertung der mit ihm angespro-
chenen Veränderungen grenzt die lange Reihe der Texte, die an die neunte
von Benjamins Thesen über den Begriff Geschichte anschließt, bereits ein, um
welche Sorte Ereignis es sich handelte und mit welcher Logik es zu betrach-
ten sei. In dieser Reihe wird immer wieder aufs Neue die These ausgearbei-
tet, dass das Festhalten an der Idee des Fortschritts einen Preis hat. Er kann
schlimmstenfalls so hoch sein, dass der Fortschritt in Frage steht. Der Engel
möchte verweilen und das Zerschlagene zusammenfügen, aber ein Sturm
weht ihn von dem ständig anwachsenden Trümmerhaufen in die Zukunft. In
der Selbstverständigung der Intellektuellen, die Heiner Müller hier vertritt,
wird die von ihrem Ursprungstext entfernte Metaphorik gewöhnlich in eine
abwägend-kritische Verlustrechnung verwandelt.6
Diese Sichtweise soll im Folgenden ergänzt werden, indem ihr eine
Betrachtung zur Seite gestellt wird, die auf die Voraussetzungen der Verluste
ausgerichtet ist. Den Ausgangspunkt dafür bildet ebenfalls Benjamins Text,
allerdings nicht die neunte, sondern die achte These, eben die vorausgehende.
Sie beginnt wie folgt:
Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‘Ausnahmezustand’,
in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte

4
Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders. Gesammelte
Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/Gershom Scholem hg. von
Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2, Abhandlungen. Hg. von
Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974.
S. 691–704. Hier: S. 697f. (These IX).
5
Vgl. Heiner Müller: Der glücklose Engel. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte
[wie Anm. 3]. S. 53.
6
Der so gefasste historische Mechanismus ist in der Frage, wie viele Ostdeutsche
sich die DDR zurückwünschen, radikal trivialisiert worden.

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kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung
des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.7

Das lässt sich, von heute aus rückblickend, leicht auf die Geschichte der
DDR und ihr Ende anwenden. In 40 Jahren Demokratischer Republik
war ein permanenter Ausnahmezustand Alltag geworden. Der wirkliche
Ausnahmezustand war dann die Wende: eine Steigerung der Ausnahmen bis
hin zur Zerstörung des Alltags. Ein Rückblick auf die Literaturlandschaft
DDR ist geeignet, diese Anwendung der Benjaminschen These zu stützen.
Das Vorgehen beruht auf der Annahme, dass eine besondere Gegenwart
auch eine besondere Literatur hervorbringe – und dem Rückschluss, dass an
dieser Literatur auch die Besonderheit der Zeit, in der sie geschrieben wurde,
erkennbar sei. Das gilt sowohl für die langen vierzig Jahre als auch die kurzen
Monate der Wende. Von letzteren ist im Folgenden die Rede, ohne dass die
ersteren aus den Augen verloren werden: Ein Konzept wie Ausnahmezustand
beruht ja darauf, dass eine Norm ausgesetzt wird. Der Alltag als Bedingung
des “wirklichen Ausnahmezustands” kommt also unweigerlich mit zur
Sprache.
Ausnahmezustand soll dabei in dem verfassungsrechtlich bzw. staatstheo-
retischen Sinne verstanden werden, wie er in Auseinandersetzung vor allem
mit Carl Schmitt durch Giorgio Agamben diskutiert worden ist, nämlich als
zeitweilig prekäres Verhältnis von auctoritas und potestas.
Potestas meint die normativ-rechtlichen Elemente des juristischen Systems,
vereinfacht gesagt: die Gesetze und den Apparat zu ihrer Durchsetzung, auf
die der Souverän des Staates zur Aufrechterhaltung der Norm zurückgreift.
Auctoritas meint die anomischen-metarechtlichen Elemente, die in der Lage
sind, die Norm und mit ihr die Gesetze zu verändern, insbesondere jene, die
es vermögen, die Änderung zu legitimieren.8 Die Rede ist nicht von einer

7
Benjamin: Geschichte [wie Anm. 4]. S. 697. Die Fortsetzung des Satzes – “und
dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern” –
zeigt noch einmal, dass Benjamins Text enthistorisiert und als Grundlagenschrift
über den Begriff der Geschichte gelesen wird. Das tue ich im Folgenden auch. –
Zeitgleich mit Benjamin war sich Carl J. Friedrich sicher, dass es “keine institu-
tionelle Rettung” gebe, “die garantieren könnte, daß die Vollmachten aus einer
Notverordnung wirklich zu dem Ziel angewandt werden, die Verfassung zu retten.
Sicherstellen kann dies allein die Entschlossenheit des Volks zu überprüfen, ob sie
diesem Ziel dienen”. Friedrich, Carl J.: Constitutional Government and Democracy.
Theory and Practise in Europe and America. Boston: Ginn 1950 [1941]. S. 828.
Die Übersetzung folgt Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer. Teil II.
Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 15.
8
Die Formulierungen folgen Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 100f.

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Novelle zu einem Gesetzblatt, sondern von der Suspendierung geltenden


Rechts und dessen Re-Aktivierung bzw. der Installation eines neuen oder ver-
änderten. Der kleinste Nenner aller Definitionen des Ausnahmezustands lau-
tet: “Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität”.9
Die Literatur der Wende ist die Literatur dieses Niemandslands. Gemeint ist
also nicht Schreiben nach und über die Wende, sondern während der Wende,
nicht Literatur unter dem Eindruck der Ereignisse, sondern als Bestandteil
der Ereignisse. Um die Eigenheiten dieser Literatur genauer zu bestimmen,
um zu beschreiben, inwiefern diese Literatur eine Ausnahme ist, wird para-
digmatisch ein einzelner Text betrachtet, der in der literaturgeschichtlichen
Behandlung schon einige Aufmerksamkeit erfahren hat: die Kundgebung auf
dem Alexanderplatz am 4.11.1989.10
Der Terminus Wende lässt sich für diesen Text ganz wörtlich verstehen:
Etwas kehrt sich um. Nämlich, wie zu zeigen sein wird, das Verhältnis von
auctoritas und potestas und mit ihm das Verhältnis von Autor und Leser.
Beides lässt sich nicht voneinander lösen. Vielmehr lässt sich, als starke
These, behaupten, die Literatur der Wende handle eben davon.11

9
Ebd., S. 8.
10
An diesem Tag versammelten sich etwa eine halbe Million Menschen auf dem
Alexanderplatz in Berlin. In etwas mehr als 4 Stunden sprachen und sangen 22
von ihnen vor den anderen, ihre Äußerungen wurden beklatscht und ausgepfif-
fen. Die dazugehörigen Texte sind dokumentiert als Mitschnitt des Fernsehens, auf
CD und in verschiedenen Büchern. Vgl. etwa 40 Jahre DDR-TschüSSED 4.11.89.
Ausstellung der “Initiativgruppe 4.11.89” im Museum für Deutsche Geschichte,
Berlin-Ost und im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn. Katalog der Ausstellung, Bonn 1990, Stiftung Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland (dieser Vorlage folgen die Zitate). – Vgl. ebenso: 4.
November ’89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden. Hg. von Annegret Hahn,
Gisela Pucher, Henning Schaller, Lothar Scharsich. Frankfurt a.M.: Propyläen
1990. Sowie die CD Berlin Alexanderplatz 4.11.’89. Die Kundgebung am Vorabend
des Mauerfalls. BMG Berlin Musik GmbH 1999. – Der Status des Textes innerhalb
der Wende ist noch genauer zu bestimmen: Es spricht einiges dafür, ihn unter den
späten Wende-Texten anzusiedeln; es wäre reizvoll, ihn einmal als das letzte Stück
Literatur der Wende zu lesen. Es handelte sich um die erste legale Demonstration
der Wende.
11
Die gemäßigte Fassung lautet: Die Struktur der gesellschaftlichen Öffentlichkeit
verändert sich, und das zieht unweigerlich Veränderungen in der literarischen
Öffentlichkeit nach sich. Der Vorgang lässt sich gut an den Poetikvorlesungen
beobachten, die von Oktober 1989 bis Januar 1990 an der Leipziger Universität
gehalten worden sind. Vgl. dazu: . . . diese Stunde gehört den Autoren. Leipziger
Poetik-Vorlesungen im Herbst 89. Veranstaltet und geleitet von Walfried Hartinger.
Hg. von Christel Hartinger, Antonia Opitz, Roland Opitz. Leipzig: Leipziger
Universitätsverlag 2010.

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Für die Kundgebung jedenfalls steht das außer Zweifel. Gleich ein-
gangs beschrieb eine Schauspielerin, wie der alltägliche Ausnahmezustand
beschaffen war:
Die Regierung ist eingesetzt, um dem Allgemeinwillen zur Anerkennung zu ver-
helfen, aber die Regierenden haben einen Individualwillen, und jeder Wille drängt
zur Herrschaft. Bedienen sie, d. h. die Regierenden, sich zu diesem Zwecke der in
ihren Händen liegenden öffentlichen Gewalt, dann wird die Regierung zur Geißel
für die Freiheit.12

Das war, rückblickend bewertet, milde gesprochen – aber es erfüllt Benjamins


Forderung, man müsse sich bewusst werden, dass die Regel, nach der man
lebt, der Ausnahmezustand ist. Ein Schauspieler setzte fort und sagte wörtlich:
“Wir demonstrieren hier für die Inhalte folgender Verfassungsartikel” –,
dann verlas er Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR, die die freie
Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht betrafen. Beide gemein-
sam forderten sodann die ersatzlose Streichung bzw. Modifikation der
Paragraphen 99, 106, 107 und 217 des Strafgesetzbuches der DDR, die die
“Landesverräterische Nachrichtenübermittlung”, “Staatsfeindliche Hetze”,
“Verfassungsfeindlichen Zusammenschluß” und “Zusammenrottung” betrafen.
Schließlich wurde auch noch verlangt, Artikel 1, Kapitel 1 der Verfassung der
DDR umzuschreiben.13
Der Anspruch, herrschendes Recht und seine Handhabung zu suspendie-
ren und ein neues an beider Stelle zu setzen, ist konkret. Die nicht zufällig
von einem sachkundigen Anwalt vorgetragene Forderung nach einem neuen

12
Katalog [wie Anm. 10]. S. 12. Dass ich die Namen der Redner unterdrücke,
gehört zu den Ergebnissen der Diskussion in Berlin. Mehrfach machten Hörer dar-
auf aufmerksam, dass die Texte der sog. Intellektuellen zwangsläufig eine ganz
andere Verbreitung erfahren als die der Masse. Das führt zu Konstruktionen, in
denen Literaten als Zeugen dafür angeführt werden, dass es die Masse war, die den
Wandel herbeigeführt hat. Die Frage, wie die Literaturwissenschaft dem Umschlag
der politischen Autorschaft in eine literarische gerecht werden könne, ließ sich
in der Diskussion nicht beantworten. Die Anonymisierung ist ein stilistisches
Mittel, die Frage auffällig zu bewahren; sie ist freilich illusionistisch. Immerhin
wird so der Status der Reden als ein Text betont, in dem der Beitrag des einzel-
nen Autors aufgeht. Die höchst unterschiedliche Tradierung der Texte – einige wur-
den mehrfach gedruckt, bis zum Nachdruck in Werkausgaben, andere sind nur in
den Dokumentationen enthalten – drückt den Status des jeweiligen Autors aus.
Dass gelegentlich von der literarischen Geltung einiger Sprecher auf deren poli-
tische Kompetenz geschlossen wurde, ist nicht weniger illusionistisch als die
Anonymisierung.
13
Vgl. ebd. S. 13f.

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Verhältnis von Politik und Recht bezeichnet,14 was und weshalb hier gewen-
det werden soll. Zum einen soll einer nur den Buchstaben nach herrschen-
den Norm wieder Geltung verschafft, zum anderen Gesetzestext gestrichen
werden, der dem Allgemeinwillen – das ist das Wort der Schauspielerin –
widerspricht. Der Jurist beglückwünscht die Anwesenden dazu, dass die
Demonstration “auf dem Rechtsweg beantragt und genehmigt worden ist”.15
Die Demonstrationen bis zu dieser fanden in dem erwähnten Niemandsland
statt, im Widerspruch zum geltenden öffentlichen Recht und gedeckt von einer
sich verändernden politischen Faktizität. Wie weit diese Veränderung reichte,
kann man sehen, wenn man sich fragt, wer sie autorisierte. Von dieser Frage
hing damals und hängt auch für die rückblickende Rekonstruktion alles ab:
Welche gesellschaftliche Kraft ist mächtig genug, der herrschenden Macht die
Legitimität abzuerkennen und ihre eigene oder eine andere zu installieren?16 –
Der Name dieser Instanz wurde bereits erwähnt, es ist die auctoritas.
Auch der Kategorie Autorität im legalistischen Sinne haftet noch etwas
von jenem lateinischen augere an, das für gewöhnlich mit dem Autor in der
schönen Literatur verbunden ist: “etwas aus dem eigenen Schoß hervorge-
hen lassen, etwas zur Existenz bringen”.17 Für die Sphäre des Rechts und der
Politik kommt, so ließe sich vereinfacht sagen, zu dieser Fähigkeit noch
das Vermögen hinzu, einer Aussage auch Geltung zu verschaffen, sie zu
legitimieren.
Unter dieser Voraussetzung betrachtet, handelt es sich bei der Kundgebung
auf dem Alexanderplatz im wahrsten Sinne des Wortes um ein Treffen von
Autoren. An der Rede einer Schriftstellerin wird das deutlich, sobald man
den Gebrauch der Personalpronomina betrachtet. Zum einen kennzeichnet die
Autorin ihre Position, indem sie sich in Distanz zu der Masse begibt: dann
sagt sie Ich; zum anderen stellt sie sich als zugehörig zu dieser Masse aus,
dann sagt sie Wir. Wir, das sind die Masse und die Autorin.
Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir sie [die Wendehälse, H.H.] mit Humor
nehmen können. Was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. “Trittbrettfahrer
zurücktreten!” lese ich auf Transparenten. Und an die Polizei gerichtet von
Demonstranten der Ruf: Zieht euch um und schließt euch an! [Applaus]
Ich muß sagen, ein großzügiges Angebot.18

14
Vgl. dazu ebd. S. 14–28.
15
Ebd. S. 14.
16
Die Frage lässt sich über die Wende hinaus verlängern.
17
Zu den Implikationen der Problematik des Begriffs auctoritas im gegebenen
Kontext vgl. Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 90f. (Punkt 6.2); dort
auch das Zitat von Emil Benveniste, das ich hier verwende, mit Nachweis.
18
Katalog [wie Anm. 10]. S. 38. (Hervorh. H.H.).

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Die Schriftstellerin hat die Transparente nicht beschriftet, sie beurteilt einen
fremden Text. Wenn sie sich umstandslos zu der Masse hinzuzählt, so ist dies
auch (aber nicht nur) durch deren sprachliche Kompetenz begründet. Am
Ende ihrer Rede spricht die Schriftstellerin die unmittelbare Situation an und
die Bedeutung der Massenansammlung aus. Sie sagt:
Dies ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so bleibt, bis zum Schluß,
wissen wir wieder mehr über das, was wir können. Und darauf bestehen wir dann.
[Starker Applaus.]
Ein Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. [Zurufe,
Klatschen, starker Applaus.].19

Als der Beifall nicht enden wollte, fügte die Schriftstellerin hinzu: “Alles
nicht von mir. Alles nicht von mir. Das ist literarisches Volksvermögen”.20
An dieser Stelle werden der legalistische Anspruch des Volkes und zumin-
dest ein Teil seiner Begründung ausgesprochen. Darauf bestehen wir dann:
Das meint, den eingangs ausgesprochenen Anspruch auf Gesetzesänderung
durchzusetzen, wozu die genehmigte Kundgebung bereits der erste Schritt
ist. Und das ist möglich, weil das Volk auf dem Wege ist, Autorität zu
gewinnen.
Erkennbar wird das am effektvollen Einsatz des Zweizeilers: Die Autorin
bedient sich aus dem Textvorrat eines anderen Autors. Es ist, mehrfach ange-
zeigt, der des Volkes.
Die Schriftstellerin lehnt die Autorenrechte an den Sprüchen ab und erkennt
deren Autor an; die Wiederholung der Ablehnung betont die Quellenangabe.
Das Wort Volksvermögen ist in seiner Doppeldeutigkeit präzise. Gemeint
sind sowohl das Vermögen, etwas herstellen zu können, als auch der gesell-
schaftliche Wert, den das Hergestellte repräsentiert. Zur juristischen Relevanz
des Vermögens tritt die Ökonomie der öffentlichen Geltung: symbolisches
Kapital.21

19
Ebd. S. 39. (Hervorh. H.H.).
20
Zitiert nach der CD Berlin Alexanderplatz [wie Anm. 10]. Auch das Deutsche
Historische Museum stellte im Internet eine Aufnahme zur Verfügung, die die
betreffende Passage enthält, vgl. http://www.dhm.de/lemo/html/DieDeutsche
Einheit/ WandelImOsten/kundgebungAufDemAlexanderplatzBody.html. Downloaded
30.3.2004. (Hervorh. H.H.).
21
Zur juristischen Relevanz vgl. Helmut Haberstumpf: Handbuch des
Urheberrechts. Neuwied: Luchterhand 22000. Zur symbolischen Relevanz vgl.
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

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Den Vorgang der Autor-Werdung des Volkes beschreibt die Rednerin wie
folgt:
Unglaubliche Wandlung. Das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als
Volk zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen –
der tausendfache Ruf: Wir sind das Volk! [Starker Applaus].22

Die Masse auf dem Platz wusste, was gemeint ist, wenn sich ein Staatsvolk
als Volk zu erkennen gibt.23 Löst man das tautologische Moment auf, so heißt
das: Mit der Fähigkeit zur Artikulation gewinnt die Masse Subjektstatus. Sie
bringt eine sprachlich klar erkennbare Identität hervor, sie wird zum Autor.
Wir sind das Volk: Mit diesem Satz beansprucht die Masse, nicht nur Urheber
der Äußerungen zu sein. Das Aussprechen des Offensichtlichen bezieht sei-
nen Sinn vor allem aus dem legalistischen Anspruch, der mit der Äußerung
artikuliert wird. Der Autor fordert, was ihm zusteht: Autorität.
Die Literaturgeschichtsschreibung macht bisher keine Anstalten, diesen
Umstand in Rechnung zu stellen. Sie vernachlässigt den wichtigsten Autor
der Wendezeit. Das liegt unter anderem daran, dass die Kategorien, mit denen
gearbeitet wird, auf den Normalfall zugeschnitten sind. Das betrifft insbeson-
dere das Konzept von Autorschaft und den Werkbegriff.
Wenn das Volk mit eigener Stimme spricht, dann ist das auch ein litera-
rischer Ausnahmezustand. Das Volk tritt als politische Autorität auf und
das führt dazu, dass es auch als Autor im literarischen Sinne sichtbar wird.
Wenige Beispiele genügen, dies zu belegen:
Trittbrettfahrer abtreten
Für die beidseitige Bemalung der Mauer
Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume
Stasi in die Produktion, nur für Arbeit gibt es Lohn
Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt
Was das Volk schon lange weiß, macht Egon erst seit gestern heiß
Pässe für alle – Laufpaß für die SED
Visafrei bis Hawaii
Wir denken nicht anders, wir denken!24

Der gattungstheoretische Befund ist ganz eindeutig: Die Masse bevorzugt den
Spruch. Bei den Aufschriften der Transparente wird die Alltagsrede auf kunst-
volle Weise genutzt. Die Sprüche sind alle situationsgebunden, der Autor
eines einzelnen ist nicht zu erkennen. Die Autorschaft ist, was den einzelnen

22
Katalog [wie Anm. 10]. S. 39.
23
Meine Zusammenstellung aus Katalog.
24
Meine Zusammenstellung aus Katalog.

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betrifft, anonym. Für die Wirkung des Textes kommt es auch gar nicht auf den
einzelnen an. Was zählt, ist die Masse der Sprüche. Sie bildet den entschei-
denden Text, zu dem jede Aufschrift ihren Teil beiträgt.
Die “eindringliche, durch ihre inhaltliche, logische oder formale Eigenart
frappierende [. . .] Ausdrucksweise, [der einzelnen Sprüche,] die zweifellos
einen ästhetischen Reiz ausüben soll”, kennzeichnet die “Urteilsfähigkeit”
des Autors.25 Die ästhetisch bestimmte Form geht mit den inhaltlich kompe-
tenten Aussagen eine Einheit ein, sie bilden ein Werk.26 Sein Autor ist, nicht
nur in diskurstheoretischer Hinsicht, ein Subjekt. Im Hinblick auf das his-
torische Geschehen und seine legalistischen Implikationen formuliert: Die
politische Autorität wird so groß, dass das Volk als Autor anerkannt wird. Es
handelt sich dabei nicht um eine natürliche Person, sondern um den Leviathan
in Aktion.
Und dieser besondere Status der Masse bestimmt die Beschaffenheit des
Ausnahmezustands. Dem entspricht spiegelverkehrt, dass der Souverän
reduziert wird auf die bloße physische und private Person. Die Instanz, bei
deren Nennung mindestens zwei Epitheta der Macht unvermeidlich waren,
Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzender der
DDR, wird nun als alter Mann dargestellt. Einer der Redner sagte:
Ich möchte uns alle an einen alten Mann erinnern, an einen alten und wahrschein-
lich jetzt sehr einsamen Mann. Ich spreche von Erich Honecker. [. . .]
Und ich glaube, auch für diesen alten Mann ist unsere Gesellschaft keinesfalls
die Erfüllung seiner Träume. Selbst er, an der Spitze dieses Staates stehend und für
ihn, für seine Erfolge, aber auch für seine Fehler, Versäumnisse und Verbrechen
besonders verantwortlich, selbst er war den verkrusteten Strukturen gegenüber fast
ohnmächtig.27

Damit kommt der Souverän wieder dort an, wo das neue Recht seinen
Ausgang nimmt: im Leben. Es ist die Gleichzeitigkeit beider Phänomene –
das Volk als Autor und der Souverän als Mensch – die den Ausnahmezustand

25
Eintrag Spruch von Klaus Kanzog, in: Reallexikon der deutschen
Literaturgeschichte. Bd. 4. Hg. von Klaus Kanzog u. Achim Masser. Berlin: de
Gruyter 1984. S. 151–160. Hier: S. 152.
26
Unvermeidlich: “Das Wort ‘Werk’ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahr-
scheinlich ebenso problematisch wie die Individualität des Autors”. (Michael
Foucault: Was ist ein Autor? [Vortrag von 1969]. In: Schriften zur Literatur. Hg.
von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2003. S. 234–270. Hier: S. 241.) – Die Originale der Sprüche
werden nicht in Bibliotheken, sondern in Museen aufbewahrt. An diesem fei-
nen Unterschied könnten weiterführende Überlegungen zur Differenzierung des
Werkbegriffs ansetzen.
27
Katalog [wie Anm. 10]. S. 56.

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bestimmt. Für einen Moment ist nicht zu entscheiden, wer die Macht
hat. Ganz in diesem Sinne definiert Agamben den Ausnahmezustand als
“Schwelle der Unentscheidbarkeit [. . .] zwischen Leben und Recht, auctoritas
und potestas”:
Er [der Ausnahmezustand] gründet in der wesentlichen Fiktion, dass die Anomie –
in der Form der auctoritas, des lebenden Gesetzes oder der Gesetzeskraft – noch in
Beziehung zur Rechtsordnung steht und dass die Macht, die Norm zu suspendie-
ren, unmittelbar auf das Leben zugreift.28

Die Definition von Agamben ist ebenso präzise wie desillusionierend: Der
Ausnahmezustand, den Benjamin als wirklichen apostrophiert hat, beruht
auf einer Fiktion. Für den Fall des römischen arcanum imperii, den Agamben
bespricht, oder die zwei Körper des Königs, die Alfred Kantorowicz behan-
delt hat,29 lässt sich die Fiktion als intakte Tradierung eines staatstragenden
Mechanismus’ fassen. Für den Fall der Wende allerdings handelte es sich um
die Hoffnung, unmittelbar aus dem Leben heraus lasse sich Recht legitimieren.
Dieser Umstand verleiht dem maßgeblichen Autor noch mehr Gewicht. Der
Terminus Hoffnung zeigt an, dass keinesfalls sicher war, ob das Erhoffte auch
eintreten werde.30
Zu den Eigenheiten der Wende gehört, dass in hohem Maße offen war,
zu welchem Ergebnis die Entwicklung führen würde. Dazu steht nicht im
Widerspruch, dass sich alle Beteiligten und Beobachter darüber einig waren,
dass das Geschehen eine beachtliche historische Dimension hatte. Vielmehr
ergibt sich aus beidem ein weiteres Kriterium, anhand dessen sich der
Ausnahmezustand und seine Dauer näher bestimmen lassen.
Das Kriterium besteht im Zusammenfall von Geschichts- und
Gegenwartsbewusstsein. Es ist massenhaft belegt. Nicht nur die hohe Zahl von
Tagebüchern fällt ins Gewicht, sondern vor allem deren Abweichung von der
Gattungsnorm. Tagebücher gehören zu den Ego-Dokumenten; im Normalfall
handelt es sich um literarische Erzeugnisse, die geschrieben werden, um
Subjektivität her- und auszustellen sowie diese zu überliefern. Sie folgen
einer “Rhetorik der Identität” und bestimmten Regeln der Selbstdarstellung.31
Im Ausnahmefall nun werden die Tagebücher geschrieben, um die Ereignisse

28
Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 101.
29
Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs: Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
30
Quer durch alle Parteien wurde öffentlich damit kokettiert, wie überrascht man
von der Wende gewesen sei. Man hielt dies für aufrichtig und ungefährlich und
zeigte so an, dass man also andere Hoffnungen unterhalten hatte.
31
Vgl. Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.
S. 130f.

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festzuhalten. Die Autoren stellen ihre Subjektivität zurück. Sie berichten nicht
von einer privaten Wirklichkeit, sondern versuchen, eine gesellschaftliche zu
erfassen.32
Dieses Bewusstsein für die historische Dimension der Ereignisse lässt sich
auch am Text vom 4. November 1989 nachweisen. Die Transparente lassen ein
Bewusstsein für den geschichtlichen Moment erkennen. Eine kleine Auswahl
soll das verdeutlichen.
Demokratie Jetzt oder Nie
1789–1989
Das Rad der Geschichte wird über Euch hinwegrollen – wir drehen’s
Es lebe die Oktoberrevolution 1989
Egon, wann beginnt die Wende, oder sind wir schon am Ende?
Alle MACHT den RÄTEN!!!
Vergangenheit bekennen! Damit sie nicht zur Zukunft wird
Vorwärts, doch nichts vergessen!
Sucht / nach / Geschichte33

Die Aufmerksamkeit für die historische Situation reichte noch weiter.


Am Ende der Kundgebung forderten die Veranstalter die Teilnehmer auf,
Transparente und Plakate abzugeben: Man wolle sie sammeln und dem
Museum übergeben. Hermann Schäfer zufolge, dem Direktor des Hauses
der Geschichte, der die Sammlung übernahm, kam diese Idee angesichts
der Menge und der Originalität der Texte auf.34 Von der Straße ins Museum:
Man war sich während des Geschehens selbst historisch geworden. Die
so begonnene Werkausgabe steht noch aus, von den Versäumnissen der
Literaturgeschichte war bereits die Rede.
Fürs erste sollte es genügen, einige Anforderungen an das entsprechende
Kapitel der Literaturgeschichte zu skizzieren. Aus der Beschaffenheit des
zentralen Autors und seines Werkes resultiert, dass das Kapitel sowohl in
einer Literaturgeschichte als auch in einem Geschichtsbuch stehen kön-
nen sollte. Die Literatur der Wende ist immer auch historisches Objekt im
engen Sinne, sie war Bestandteil historischen Handelns. Die Relevanz der
Reden und Sprüche lag sowohl im Wortlaut als auch in ihrer performati-
ven Expressivität, in ihrer Geltung. Sie markierten die Institutionalisierung

32
Die Behauptung ließe sich belegen etwa anhand von: Alonso Alvarez de Toledo:
Nachrichten aus einem Land, das niemals existierte. Berlin: Volk & Welt 1992. –
Cees Nooteboom: Berliner Notizen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. – Robert
Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berlin-Journal 1989–1990. Frankfurt a.M.:
Fischer 1993.
33
Meine Zusammenstellung aus Katalog [wie Anm. 10].
34
Vgl. ebd. S. 3.

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einer neuen Öffentlichkeit. Mit ihrer zunehmenden Durchsetzung wurde die


literarische Ersatzöffentlichkeit überflüssig, sie ging schließlich mit dem
Leseland unter.
In einem so angelegten Kapitel würde also gezeigt werden, dass die
sogenannte kritische Literatur der DDR funktionslos wurde, und zwar mit
derselben Unvermeidlichkeit, mit der auch der sozialpädagogische Auftrag an
die Literaten sowie Zensur und Selbstzensur entfielen.
Das Kapitel könnte in Anlehnung an Thomas Brussig mit Die undefinierte
Zeit überschrieben sein.35 Die dringlichste Aufgabe dieses Kapitels bestünde
darin, dieses Undefiniert-Sein genauer zu beschreiben.
Die Teilnehmer der Demonstration machten einerseits die Erfahrung, dass
ihr Tun Folgen hatte, die über das von ihnen für möglich Gehaltene hinausgin-
gen. Daher das zunehmende Selbstbewusstsein. Sie machten andererseits die
Erfahrung, dass sie die Folgen nicht abschätzen konnten, dass sie ständiger
Umwertung und Neuorientierung ausgesetzt waren. Daher das zunehmende
Gegenwartsbewusstsein. Aus beidem zusammen resultierte eine veränderte
Selbstwahrnehmung. Man lebte in einer bedeutungsvollen Gegenwart und
hatte an ihr Teil. – Man erlebte etwas, das sich zusammenfassend als die
gesellschaftliche Relevanz des Einzelnen beschreiben ließe. Der Einzelne
erfuhr sich als Volk. Es kam zu massenhaftem Engagement mit hohem
Einsatz. Man wollte beteiligt sein an der Bestimmung des gesellschaftlichen
Selbstverständnisses und verstand das als Voraussetzung des eigenen Selbst.
Man machte die Erfahrung des “unmöglichen Möglichen”, wie Derrida
das einmal genannt hat: ein Vielleicht, dessen Besonderheit darin besteht,
nicht das Mögliche, sondern das Unmögliche zu betreffen.36 Es war eine

35
“In diesem Jahr waren die Straßen immer voller Menschen: [. . .] – immer fan-
den irgendwelche Ereignisse statt, die die Menschen zu Tausenden auf die Straße
trieben. Es war eine undefinierte Zeit, ein Dazwischen: Das alte System trat ab und
der Westen war noch nicht da. In diesem Jahr wechselte ständig die Richtung, alle
paar Wochen hatte die DDR etwas Neues mit sich vor.” (Thomas Brussig: “Zum
Reporter muß man geboren sein”. Matthias Matusseks Palasthotel. In: Matthias
Matussek: Palasthotel oder Wie die Einheit über Deutschland hereinbrach.
Frankfurt a.M.: Fischer 2005. S. 9–13. Hier: S. 11).
36
Die Beschreibung folgt einschlägigen Definitionen des Terminus Erlebnis.
“Ein Erlebnis ist ein besonderer Moment individueller Weltaneignung, in dem
Objekt oder Welt und Subjekt oder Ich ungeschieden präsent sind”. Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart:
Metzler 2. neu bearb. Aufl. 2005. S. 391. Daher steht es im Kontrast zum Alltag.
Die Selbstvergessenheit des Subjekts und die unmittelbare Erfülltheit des Moments
begründen die Relevanz des Erlebnisses: Es ist selbstverständlich und bedarf
keiner Beweise. Durch ein Erlebnis ist das Subjekt “bedeutsam auf das Ganze
seines Daseins bezogen”. (Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg. von
Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe 1972. Sp. 703).

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Ausnahmeerfahrung. Und Wendezeit war, so lange es möglich war, diese


Erfahrung massenhaft zu machen.
Was für den Einzelnen das Erlebnis einer seltenen aber bewussten
Ungeschiedenheit von Welt und Ich gewesen sein mag, ein besonderer
Moment individueller Weltaneignung, dessen unmittelbare Erfülltheit aus der
eigenen Selbstvergessenheit resultiert,37 war für die Gesellschaft zweifellos
ein politisches Geschehen. Das wäre, wenn es darauf ankäme, der letzte Beleg
für die These vom Ausnahmezustand. Mit den Worten Agambens: “Im Recht
seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung
zum Recht offenbar werden zu lassen heißt, zwischen ihnen einen Raum für
menschliches Handeln zu eröffnen.”38
Dieser Raum ist das Politische. In ihm war 1989 Platz für apolitische, für
menschliche Begründungen. Das muss eine Ausnahme sein.
In diesem Sinne käme es in dem Kapitel darauf an zu zeigen, dass das Ende
der DDR zugleich der Beginn einer neuen Bundesrepublik gewesen ist.39

37
Die Beschreibung folgt einschlägigen Definitionen des Terminus Erlebnis.
“Ein Erlebnis ist ein besonderer Moment individueller Weltaneignung, in dem
Objekt oder Welt und Subjekt oder Ich ungeschieden präsent sind”. Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart:
Metzler 2. neu bearb. Aufl. 2005. S. 391. Daher steht es im Kontrast zum Alltag.
Die Selbstvergessenheit des Subjekts und die unmittelbare Erfülltheit des Moments
begründen die Relevanz des Erlebnisses: Es ist selbstverständlich und bedarf
keiner Beweise. Durch ein Erlebnis ist das Subjekt “bedeutsam auf das Ganze
seines Daseins bezogen”. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg.
von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe 1972.
Sp. 703.
38
Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 103.
39
Das Ausmaß des Wandels der Bundesrepublik seit 1990 ist erstaunlich. Nach all
der aufrüttelnden Aktivität, nach all diesem massenhaften Engagement während und
nach der Wende besteht die Mehrheit des Volkes 20 Jahre später aus Nichtwählern.
Ein Blick auf das politische Personal erklärt vieles – aber auch das? Als Indiz für
die Lage kann Günter Gaus’ Artikel Warum ich kein Demokrat mehr bin gelten, in
dem er einen Zusammenhang zwischen geistiger Klarheit, verlorener Hoffnung und
der Geschichte ostdeutsch sozialisierter Idealisten herstellt: “Mein Abschied von
der Demokratie ist im Geistigen zu vergleichen mit der Entrümpelung eines Hauses,
bevor man es verlässt und ins ‘Augustinum’ zieht. Wenn man alt genug geworden
ist, um alle Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung des Menschen aufgegeben
zu haben, dann bleibt einem als intellektuelle Anstrengung nur noch das Vergnügen,
sich selber nichts mehr vorzumachen. Und für die Öffentlichkeit niedergeschrieben
habe ich das ‘Servus, Demokratie’, weil ich als bundesrepublikanischer Staatsdiener
bei der DDR nicht ohne Mitleid erlebt habe, dass sich dort idealistisch gesinnte
Menschen damit gequält haben, ihre bitteren, sie bekümmernden Einsichten in das
Konkrete des real existierenden Sozialismus unausgesprochen zu lassen.” (Günter
Gaus: Warum ich kein Demokrat mehr bin. In: Süddeutsche Zeitung 23.8.2003.)

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Aus dieser Perspektive wäre es unmöglich, den Blick nur auf die Trümmer
der DDR zu richten. Stattdessen wäre nach den Intentionen des entscheiden-
den Autors der Wendeliteratur zu fragen, nach denen des Volkes. Oder, an
Benjamin angelehnt formuliert: Aus der Perspektive der Unterdrückten lag
es nahe, den nach 40 Jahren normal wirkenden Ausnahmenzustand in einen
wirklichen Ausnahmezustand zu verwandeln, um aus diesem heraus wieder in
eine Normalität zu gelangen.
Der Satz Wir sind das Volk ist Ausdruck des Ausnahmezustands. Die
politische Dimension der Aussage überdeckt die literarische Quelle nahezu
vollständig.40 Der Satz Wir sind ein Volk beschreibt die Normalität. Wer hätte
vor 21 Jahren eine solche Feststellung für möglich gehalten, wer hält sie
heute für normal?
Um es mit Benjamin zu sagen:
Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert
noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer
Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es
stammt, nicht zu halten ist.41

So endet die achte der Thesen über den Begriff der Geschichte.
In der neunten, unmittelbar daran anknüpfend, beschreibt Benjamin den
Preis, der für die Verwirklichung des Möglichen zu zahlen ist. Der Engel der
Geschichte “hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette
von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe”.42
Das ist der Hinweis auf die Verluste, das ist die Absage an einen unschuldigen
Fortschritt. Das wiedervereinte Deutschland hat den Traum vom demokrati-
schen Sozialismus gekostet.
Am 4. November 1989 wollte Heiner Müller auf dem Alexanderplatz
aus Bertolt Brechts Gedicht Fatzer komm vorlesen. Brechts Gedicht ist der
Versuch, die Bedeutung eines historischen Moments zu erfassen. Es setzt ein in
einem Moment, da Siege und Niederlagen erfochten sind. Es greift voraus auf
kommende Zeiten in der Gewissheit, dass Geschichte nicht stillzustellen ist:
Du bist fertig, Staatsmann.
Der Staat ist nicht fertig.
Gestatte, dass wir ihn verändern
Nach den Bedingungen unseres Lebens.

40
“Wir sind das Volk, die Menschheit wir,/ Sind ewig drum, trotz alledem!”
(Ferdinand Freiligrath: Trotz alledem! In: Reclams großes Buch der deutschen
Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Hg. von Heinrich Detering.
Stuttgart: Reclam 2007. S. 448–450. Hier: S. 449).
41
Benjamin: Geschichte [wie Anm. 4]. S. 697.
42
Ebd.

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Gestatte, dass wir Staatsmänner sind, Staatsmann.


Unter deinen Gesetzen steht dein Name.
Vergiß den Namen
Achte deine Gesetze, Gesetzgeber.

Lass dir die Ordnung gefallen, Ordner.


Der Staat braucht dich nicht mehr.
Gib ihn heraus.43

Das wäre ein ansprechend verpackter vorausblickender Rat gewesen.


Bekanntlich hat Heiner Müller stattdessen Wodka getrunken und einen
miserabel formulierten Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften
gelesen; “kein Text für 500 000 Menschen, die glücklich sein wollten”.44
Drei junge Leute, für die kein Platz auf der Rednerliste war, hatten den
Dramatiker gebeten, dem Aufruf seine Stimme zu leihen.
Müller folgte dem Rat, den Brecht gegeben hatte. Er ersetzte einen Text
von ästhetischer Relevanz durch einen Text von juristischer Bedeutung. Damit
nutzte er als Autor den Spielraum der Situation für ein politisches Handeln,
das menschlich ist. In dem noch zu schreibenden Kapitel über die Literatur
der Wende wird Müller als volksnaher Autor erscheinen.
In Müllers eingangs zitiertem Gedicht ist das Gesicht des Engels nicht zu
sehen. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich nun der Zukunft zugewandt
hat, so wie es dem untergegangen Staat von einem seiner Dichter einst in die
Hymne geschrieben worden war. Das wäre ein ungeahnter Fortschritt.

43
Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe.
Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef-Müller. Berlin:
Aufbau 1993. Bd. 14. S. 32f.
44
Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1992. S. 355.

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Juliane Schöneich

‘Wendelyrik’ zwischen Ideologie und Wissenschaft – ein


kritischer Rezeptionsüberblick
A concept like ‘Wendelyrik’ or ‘lyric poetry of the Wendezeit’ is of course problematic,
and aligns with the definitional difficulties of terms like ‘GDR literature’‚ ‘literature
of the GDR’‚ ‘literature of the Wende’ etc. Nevertheless, I use the concept here, for
want of a better one, and consider lyric poetry that thematically refers to and criti-
cally deals with the fall of the Berlin Wall and the end of the GDR, the unification
process and the transformation of the political and economic system. I do not deal
primarily with lyric itself, but rather examine and assess the reactions to it in second-
ary literature. In so doing, I show that the representation and evaluation of lyrical
works from that time are still closely tied to ideological and political parameters. By
concentrating on scientific research, I emphasize the fact that tendentious aspects –
that surprise little in feuilleton articles, reviews, comments etc. – also occur in and
polarise the scientific debate. This is demonstrated by illustrating the main arguments
of two opposing positions: one points to the existence of ‘Wendelyrik’ but at the same
time to its marginalisation; the other insists on the absence of politically relevant sub-
jects in the lyric of the ‘Wendezeit‘ or tries to reduce them to individual emotionalized
reactions.

Ein Begriff wie ‘Wendelyrik’ ist natürlich keinesfalls unproblematisch und


birgt ähnliche Definitionsschwierigkeiten wie die Termini ‘DDR-Literatur / -
Lyrik’ oder ‘Literatur / Lyrik aus der DDR’. Obwohl ‘DDR-Lyrik nach
dem Ende der DDR’ in etlichen literaturgeschichtlichen Abhandlungen und
Anthologien als Ausläufer der DDR-Lyrik im gesamtdeutschen Kontext der
Lyrik der neunziger Jahre dargestellt wird, ist die konkrete Verbindung zur
gesellschaftlich-politischen Zäsur, trotz unübersehbarer thematischer Bezüge,
selten. Während manche den Ausdruck ‘Wende-Literatur’ bereits als fes-
ten “terminus technicus”1 sehen möchten, weisen andere auf die nur vage
umrissene Kontur des Bezugpunktes hin, die mit den Jahren an Unklarheit
zunimmt, denn die “Unschärfe des Begriffs Wende wächst mit dem zeitlichen
Abstand zu dem, was zu benennen er vorgibt.”2 Dennoch könnte ein Teilgebiet

1
Jörg Fröhlich, Reinhild Meinel, Karl Riha: Vorwort zur dritten Auflage. In: Wende-
Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der deutschen Einheit. Hg.
von Denselben. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1999. S. 7.
2
Hannes Krauss: Die Wiederkehr des Erzählens. Neue Beispiele der Wendeliteratur.
In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen –
Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher.
Heidelberg: Synchron 2004. S. 97–108. Hier: S. 97.

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der ‘DDR-Lyrik nach 1989’ auf Grund chronotopischer und thematischer


Faktoren als ‘Wendelyrik’ bezeichnet werden, ohne Traditionslinien auf sti-
listischer, thematischer und personeller Ebene, die möglicherweise auf einen
umfassenderen Begriff von ‘DDR-Lyrik nach 1989’ hinweisen, zu unterschla-
gen. Indem die “primär thematische Herangehensweise”3 durch temporäre4
und biographische5 Elemente unterstützt wird, definiert sich ‘Wendelyrik’ als
Teilgebiet der ‘DDR-Lyrik nach 1989’ mit genauem thematischen Bezug und
sozialkritischem Ansatz.6
Auf Grund einer vergleichenden Analyse der Reaktionen auf ‘Wendelyrik’
in der wissenschaftlichen Literatur kann angenommen werden, dass die
Aufnahme von im Umkreis der Wende und ihren Nachwehen entstande-
ner Lyrik noch lange nach 1989/90 eng an ideologische und politische

3
Frank Thomas Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ im Spiegel der deutschsprachigen
Literatur. Bd.1. Berlin: de Gruyter 2003. S. 68. Hier online-Ressource 2008, http://
dx.doi.org/10.1515/9783110201635.
4
Zur temporären Staffelung verschiedener Genres in Bezug zu 1989/90 vgl. bei-
spielsweise: Grub: ‚Wende’ und ‚Einheit’ [wie Anm. 3]. – Kerstin E. Reimann:
Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach
1989/90. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. – Ulrike Bremer: Versionen der
Wende. Eine textanalytische Untersuchung erzählerischer Prosa junger deutscher
Autoren zur Wiedervereinigung. Osnabrück: Rasch 2002.
5
Aus biographischer Sicht müssen in erster Linie Autorinnen und Autoren aus der
DDR (Gebliebene und Gegangene) berücksichtigt werden, da vor allen Dingen jene
mit einer ‘DDR-Biographie’ Gedichte schrieben, in denen sie “das politische, soziale,
kulturelle und nicht zuletzt lebensgeschichtliche Faktum von Wende und
DDR-Zusammenbruch, von Anschluss und Vereinigung reflektieren.” (Hermann
Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der
1990er Jahre. Münster: Lit. Verlag 2004. S. 66.) Dies gilt, obwohl sich beispiels-
weise auch Grass oder Rühmkorf zu Wort gemeldet haben und obwohl in den ein-
schlägigen Anthologien von Chiarloni oder Conrady VertreterInnen aus Ost und
West zu Wort kommen. Vgl. Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hg. von
Anna Chiarloni und Helga Pankoke. Berlin: Aufbau 1991. – Von einem Land und
vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990. Hg. von Karl Otto Conrady.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.
6
Ähnlich argumentieren Arnold und Korte: “Allerdings repräsentiert die Auswahl
dieser Dekade [1989–1999] vor allem solche Gedichte, die sich in den aktuel-
len DDR-Diskurs einmischen – im Glauben an eine literarische Gattung, deren
Subjektivität den Anspruch und die Souveränität einer poetischen Stimme bewahrt”
(Hermann Korte und Heinz Ludwig Arnold: Nachwort. In: Lyrik der DDR. Hg.
von Denselben. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S. 403–412. Hier: S. 411). Arnold
und Kortes expliziter Hinweis auf ‘Subjektivität’ muss hierbei anscheinend als
Zugeständnis an widersprechende Argumentationslinien und Haltungen des offizi-
ellen Erinnerungsdiskurses gelesen werden.

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Parameter geknüpft ist, auch wenn die Ablehnung dieser Faktoren im wissen-
schaftlichen und literaturkritischen Diskurs lautbar gemacht wurde – aller-
dings nur, was die Bewertungskriterien für vor 1989/90 entstandene Werke
anbelangte. Tendenziöse Aspekte, die bei Feuilletonartikeln, Rezensionen,
Kommentaren etc. weniger überraschenden, besetzen jedoch auch den Raum
der Wissenschaft und polarisieren noch immer.7 Mit zeitlichem Abstand
steigt die Zahl der ausgewogeneren Betrachtungsweisen, wie die Zahl jener
sinkt, die sowohl die Zeit der Zweistaatlichkeit als auch des vereinigten
Deutschland literaturkritisch begleiteten. Dennoch sollen hier mit Fokus auf
gesellschaftskritische Elemente zwei wichtige Hauptargumentationsstränge in
der Literaturwissenschaft der 1990er Jahre herausgearbeitet werden, denn in
der Nachbetrachtung ist durchaus über weite Strecken eine Zweiteilung der
literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen feststellbar: Jene, die auf die
Existenz von ‘Wendelyrik’ und gleichzeitig auf deren Marginalisierung in der
Literaturwissenschaft hinweisen, und jene, die auf der Abwesenheit politisch-
gesellschaftsrelevanter Themen bestehen.
Die Abwesenheitsthese wird in erster Linie mit der Reduktion der
Wende-Reaktionen aus dem Osten auf Trauerarbeit, Furcht vor “Prestige-
und Statusverluste[n]”8 und auf Effekte einer “Bewußtseinskrise, die ihre
Wurzeln im Bruch der eigenen Biographie, im Verlust der Lebenskontinuität
hat”, parallelisiert.9 Hinzu kommt das “Provisorische des Schreibens jener
Zwischenzeit”10 und die Verknappung der Zeit zwischen den Herbsten
1989 und 1990 durch die Tendenz der Überblendung von Mauerfall und
Wiedervereinigung in der gesamtgesellschaftlichen Retrospektive.
Dass traumatische Verlusterfahrungen in vielen Wendegedichten eine
große Rolle spielen, soll natürlich keinesfalls in Abrede gestellt werden.
Die völlige Reduktion gesellschaftskritischer Standpunkte auf individu-
elle Krisenerfahrungen erscheint jedoch eher als Suche nach Gründen für

7
Deutlichstes Beispiel ideologisch bedingter Maßstäbe finden sich sicherlich bei
der Bewertung der Werke der “Prenzlauer-Berg-Connection”, deren avantgar-
distische Avancen vor 1989 gefeiert und nach der Enttarnung von Anderson und
Schedlinski in Bausch und Bogen verdammt wurden. Für eine kritische Analyse
vgl. Karen Leeder: Breaking Boundaries. A New Generation of Poets in the GDR.
Oxford: Clarendon Press 1996.
8
Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. Stuttgart: Metzler 2004.
S. 246.
9
Walter Hinck: Einleitung. In: Gedichte und Interpretationen, Gegenwart II.
Stuttgart: Reclam 1997. S. 9–20. Hier: S. 11f.
10
Anna Chiarloni: Zwischen den Zeiten. Zur jüngsten Lyrik von Heinz Czechowski.
In: Schaltstelle. Neue Deutsche Lyrik im Dialog. Hg. von Karen Leeder.
Amsterdam-New York: Rodopi 2007 (German Monitor 69). S. 37–53. Hier: S. 38.

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das Ausbleiben euphorischer Reaktionen oder radikaler Nach-Kritik, die


gleichzeitig vehemente Skepsis und Zweifel an politisch-gesellschaftlichen
Entwicklungen relativieren sollten. Differenzierter sieht es beispielsweise
Walter Erhart:
Die deutsche Einheit und das Ende der Geschichte haben sich in der Lyrik um
1989 von Anfang an so gespiegelt, wie es zumeist erst jetzt, nach dem Verstummen
der Festreden, allerorten sichtbar geworden ist: weniger feierlich, als vielmehr
reich an Katastrophen, weniger hoffnungsvoll als vielmehr niederschmetternd,
weniger utopisch als vielmehr orientierungslos, weniger stabilisierend als vielmehr
ich-gefährdend.11

Die Kritik des neuen marktwirtschaftlichen Gesellschaftssystems, die sich so


gar nicht einer “siegreiche[n] Erweiterung der Bundesrepublik Deutschland
bis an die Oder”12 anpasste, bei den einen und eine scheinbar fortgeführte
a-politische Haltung bei anderen sorgten dafür, dass ‘Wendelyrik’, die dem
öffentlichen Erinnerungsdiskurs entgegenstand, oftmals auf individuelle
Krisen und fortgeführte ideologische Verblendung reduziert und damit ten-
denziell ausgeblendet13 bzw. abgewertet wurde. Die Klassifizierung von
Gedichten der (verlängerten) Wendezeit als “Erlebnisgedichte der besonderen
Art”14 spiegelt dabei die Entmündigung auf intellektuell-rationaler Ebene und
den Verweis in individualisierte und emotionalisierte Bereiche.
Keine Zeit für Lyrik?
Der pauschalen Genreabwertung Emmerichs, der bemerkt, dass es “viel bana-
ler, in der Regel keine Zeit für Lyrik gab, einfach weil man Wichtigeres zu
schreiben und überhaupt zu tun hatte”,15 hält Erhardt entgegen:
Gedichte reagieren [. . .] besonders schnell: auf veränderte Zeitläufte [sic!], auf
Zusammenbrüche und ‚Nullpunkte’, auf Veränderungen. [. . .] In der Literatur
gehört ihr oft die Unmittelbarkeit einer Zeitzeugenschaft, in der sich lyrische
Botschaft, Traditionsbewältigung und subjektive Befindlichkeit aktuell und
dokumentarisch verbinden.16

11
Walter Erhart: Gedichte, 1989. In: Zwei Wendezeiten: Blicke auf die deutsche
Literatur 1945 und 1989. Hg. von Dems. und Dirk Niefanger. Tübingen: Niemeyer
1997. S. 141–165. Hier: S. 165.
12
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 246.
13
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist sicherlich in den veränderten
Publikationsbedingungen zu finden, die viele Autorinnen und Autoren in
Kleinstverlage zwangen und so aus dem öffentlichen Blickfeld rückten.
14
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Berlin: Aufbau 2000. S. 510.
15
Ebd.
16
Erhard: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 145.

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Auch die Zahl der Veröffentlichungen, nicht nur bis 1998 sondern schon
1990/91, spricht gegen Emmerichs These.17 Zwar nimmt die Lyrik im
Vergleich mit anderen zeitnahen Genres, wie dokumentaristischem und
diaristischem Schreiben18 natürlich geringeren Raum ein,19 aber die
quantitative Unterrepräsentation von Lyrik besteht nicht erst seit der
Wende und mag an der ihr attestierten Marktferne liegen. Doch gerade in
der ihr zugewiesenen “Besonderheit [. . .] sich für pragmatische Zwecke
der Information und Aufklärung wenig zu eignen”,20 sehen andere ihre
Möglichkeiten – die marktpolitische “Unverwertbarkeit”21 von Lyrik könne
vielleicht, wenn schon nicht zur “massenwirksamen politischen Einrede”
nutzbar gemacht zu werden, doch “das ganz unabhängige, radikale lyrische
Sprechen” fördern.22
Die Annahme einer möglichen Radikalität lyrischen Sprechens hätte zu
der Frage nach einer auch oder gerade in der Lyrik nach 1989/90 dominie-
renden Gesellschaftskritik und der Bezugnahme auf tagespolitische Aktualität
führen müssen. Der Blickwinkel verschob sich jedoch dahingehend, ob man
formal, von der historisch-politisch und gesellschaftlich-soziologischen
Zäsur 1989/90 ausgehend, auch auf einen ähnlich fundamentalen litera-
turgeschichtlichen Einschnitt schließen könne. Der Vergleich mit 1945 lag
für viele Kritiker nahe,23 manche sprachen in diesem Zusammenhang von

17
Dies bemerkt auch Eskin, der auf die „explosion of poetry on the German market
during and after the Wende“ hinweist, welche „the sheer inevitability (or perhaps
necessity) of a poetic – and by extension, aesthetic in general – response to radi-
cal sociopolitical events“ belege. (Michael Eskin: German Poetry after the Wall. An
Introduction. In: The Germanic Review 77:1 (2002). S. 3–6. Hier: S. 4.
18
Vgl. Reimann: Schreiben nach der Wende [wie Anm. 4]. – Volker Wehdeking:
Einleitung: Wende und Einheit im Gedicht (1990–2000). In: Mentalitätswandel
in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Hg. von Dems. Berlin: Erich
Schmidt 2000.
19
Im Gegensatz dazu glaubt Eskin: „In fact, poetry may plausibly be viewed as
postwall Germany’s dominant [. . .] artistic genre.“ (Eskin: German Poetry after the
Wall [wie Anm. 17]. S. 4.)
20
Emmerich: Literaturgeschichte [wie Anm. 14]. S. 510.
21
Peter Geist: die ganz großen themen fühlen sich gut an. Die Wiederkehr des
Politischen in der jüngeren Lyrik. In: Junge Lyrik. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
Text + Kritik 171, VII/06. München: edition text + kritik 2006. S. 99.
22
Heinrich Vormweg: Verteidigung des Gedichts: Eine Polemik und ein Vorschlag.
Göttingen: Wallstein 1990. S. 30.
23
Auf die Parallelisierung von 1945 und 1989 und die Verlängerung der Periode der
Nachwendeliteratur bis zur Wiedervereinigung kann an dieser Stelle leider nicht
ausführlicher eingegangen werden.

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einer “zweiten Stunde Null”24 oder einem “‘Kahlschlag’-Stil”,25 ungeach-


tet der literaturwissenschaftlich bereits widerlegten Annahme einer ersten
Stunde Null. Andere hielten dagegen, “daß sich nach 1990 Schreibweisen
wie Poetiken nicht fundamental veränderten” und nichts “zu spüren [war]
von neuen Poetik-Ansätzen”.26 Problematisch hierbei ist natürlich nicht die
Notation konstanter Schreibweisen, die ja gerade für eine ‘DDR-Lyrik nach
1989’ spricht, sondern der Vorwurf, dass einerseits “von einem maßgeblichen
Bruch im Selbstverständnis und Habitus der Lyriker [ebenso wenig zu spüren
war]”27 wie andererseits weder Mauerfall noch Wiedervereinigung eine
“frohgemute[] Bejahung” evozierten und sich nicht “als grundlegende ‘Wende’
in der Dichtung nieder[schlugen]”.28 Die Vermischung ästhetischer Kriterien
mit eindimensionalen ideologisch-moralischen Rezeptionserwartungen reicht
also noch mindestens bis ins Jahr 2001.
Die Anerkennung der Tatsache, dass der Prozess der Desillusionierung
im Osten lange vor dem Fall der Mauer einsetzt und dass relativ unver-
änderte Schreibweisen bei etablierten AutorInnen dementsprechend nicht
etwa auf Politikferne zurückzuführen sind, sondern die konsequente
Fortführung einer kritischen Haltung bedeuten, die die Verfallsmerkmale
und Zerfallsmechanismen schon spätestens seit der Biermann-Ausbürgerung
genau diagnostizierte, wurde jedoch selten positiv anerkannt. Korte bemerkt
zwar in den Werken von LyrikerInnen aus der DDR vor 1989 einen “oft
brisanten Dialog über ihr Verhältnis zu Politik, Geschichte und Kultur” und
erkennt die Einbringung “ihrer kritischen Stimmen in den Zeitdiskurs” an.29
Die Fortführung und Zunahme systemkritischer Lyrik nach dem Mauerfall
wurde jedoch durch geknickten Stolz oder Angst vor Statusverlust von
Individuen begründet. Dies scheint dem Umstand geschuldet, dass die mah-
nenden Stimmen nicht verstummten oder in den Vereinigungsjubel einstimm-
ten, sondern im Gegenteil, apokalyptischer wurden. Analog dazu fanden
sich auch unter den ausgereisten oder ausgewiesenen AutorInnen aus der
DDR keine “Hymniker der neuen deutschen Einheit [. . .]. Keine Freude, nur

24
Iris Radisch: Die zweite Stunde Null. In: Die Zeit 7.10.1994.
25
Erhart: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 147.
26
Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des
20. Jahrhunderts. In: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text + kritik 1999 (Text + Kritik. Sonderband XI/99). S. 63–106.
Hier: S. 95f.
27
Ebd. S. 96.
28
Walter Hinck: Stationen der deutschen Lyrik. Von Luther bis in die Gegenwart –
100 Gedichte mit Interpretationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.
S. 219.
29
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 71.

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Trauer, Wut, Enttäuschung, Verbitterung” wie bei Sarah Kirsch oder


“nüchtern-nachdenkliche Skepsis” bei Reiner Kunze.30 Die von Christa Wolf
schon 1980 bemerkte Ernüchterung “bis auf die Knochen”31 setzte sich auch
nach 1989 konsequent fort. Die resigniert skeptische Positionsbestimmung
“zwischen verordnetem Aufbruch und subjektiver Endzeiterfahrung”32 wurde,
in Opposition zum herrschenden politischen Jubeldiskurs stehend, in der
Kritik jedoch oft als ideologische Verblendung und verzweifeltes Festhalten an
utopischen Aspirationen gedeutet. Das Umschlagen der Bewertungskriterien
für gesellschaftskritische Texte im Moment des Perspektivwechsels lässt
sich deutlich am Literaturstreit33 mit der Formel ‘Gesinnungsästhetik’, der
Polarisierung von Ästhetik und Moral und der, ja immer mal wieder auf-
tauchenden, Forderung nach einer l’art pour l’art ablesen. Dass sich viele
Intellektuelle nach 1989 an das Biermann-Credo: ‘Vom Regen in die Jauche’
erinnert fühlten und die Untergangsstimmung anhielt oder noch verschärft
wurde, mochte lange nicht verziehen werden. Die Feuilletondebatten führten
dabei vor, was in der Wissenschaft belegt werden sollte: Gesellschaftskritik,
die als destabilisierender Faktor des bestehenden Systems wahrgenommen
wurde, musste individualisiert und durch Verfahren der zeitlichen Versetzung,
durch Ridikulisierung und Pseudo-Psychologisierung, durch die Absprache
rationaler Erkenntnisfähigkeit und durch radikale Emotionalisierung,
stellenweise auch durch Diminutisation, ausgeblendet werden. Indem man
der Lyrik höchsten ein, dem Wandel der Zeit uneinsichtig gegenüberstehen-
des, Festhalten an überkommenen Überzeugungen attestierte, konnte gesell-
schaftsrelevante Zeitkritik übergangen werden. So sehr, dass Alexander von
Bormann noch 2006 konstatierte
mit welcher Selbstverständlichkeit in den neunziger Jahren ‘einfach’ weiterge-
schrieben wird. Die Vereinigung der beiden Deutschlands markiert kaum eine

30
Dieter Lamping: Bundesrepublik Deutschland: Von 1945 bis zur
Wiedervereinigung. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. von
Walter Hinderer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. S. 327–362. Hier:
S. 355.
31
Christa Wolf: Von Büchner sprechen. In: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays
und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand
1987. S. 612.
32
Erhard: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 149.
33
Vgl. dazu: “Es geht nicht um Christa Wolf ”: Der Literaturstreit im vereinten
Deutschland. Hg. von Thomas Anz. Frankfurt a.M.: Fischer 1995. – Der deutsch-
deutsche Literaturstreit oder ‘Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener
Zunge’. Hg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg: Luchterhand 1991. –
Lennart Koch: Ästhetik der Moral bei Christa Wolf und Monika Maron: Der
Literaturstreit von der Wende bis zum Ende der neunziger Jahre. Frankfurt a.M.:
Lang 2001.

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Wende in der Literatur [. . .] Die Dichter bauen an ihrem Œuvre, und ein Zeitbezug
wird eher beiläufig wahrgenommen, Politik geht nur als Prügelknabe oder
Nörgelstoff in die Texte ein.34

Politik und Lyrik


Von Bormanns These der Abwesenheit (tages)politischer und systemkritischer
Stellungnahmen erstaunt, doch generell werden trotz des thematisch deutli-
chen Bezugs selten Verbindungslinien zur politischen Lyrik gezogen, auch
wenn Grub anmerkt: “Die Lyrik der Wendezeit steht der Essayistik näher
als dies zu anderen Zeiten der Fall gewesen sein mag, zumal auch die Lyrik
eine explizit oder implizit politische ist”.35 Korte dagegen glaubt feststellen
zu können, “dass es in allen deutschsprachigen Ländern seit Ende der 70er
Jahre keine bemerkenswerte politische Lyrik-Bewegung” gegeben habe.36 Im
Bemühen darum, für Lyrik aus der DDR Analogien zur nach Mitte der 1970er
Jahre politisch tatsächlich eher verhaltenen Lyrik der BRD herauszuarbeiten,
wird dabei negiert, dass auch die Beschreibung radikaler Desillusionierung
und Gegenwartskritik ohne genau definierte Alternativen durchaus als
politische Stellungnahme gewertet werden kann. Schon vor 1989 wurde
tagesaktuelle Zeitkritik als “Räsoniergehabe” abgetan, wenn die “Grenzen
zwischen Professionalität und Dilettantismus eingezogen” seien, da “nicht
das Medium der Sprache, sondern die Sprache der Medien den Gedichten
ihre Sprichwörter nennt und ihnen die Themen zuweist”.37 Diese seit den
60er Jahren um sich greifenden “Diskreditierung politischer Intentionen”
im Westen und die sich in den neunziger Jahren anschließende “rasante
Entwertung der per se gesellschaftskritischen Funktion der Lyrik” sowie die
“Hinrichtungsorgien des Feuilletons” im Osten tragen wohl auch zur allge-
meinen Scheu einer Zuordnung und Zusammenfassung kritischer Lyrik bei.38

34
Alexander von Bormann: Die Lyrik der neunziger Jahre. In: Geschichte der deut-
sche Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried Barner u.a. München:
C. H. Beck 2006. S. 1025–1064. Hier: S. 1025.
35
Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ [wie Anm. 3]. S. 427.
36
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 246.
37
Hermann Korte: Auf dem Trampelpfad. Deutsche Lyrik 1985 bis 1991. In: Vom
gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text + kritik 1992 (Text + Kritik 113). S. 52–62. Hier: S. 53. Und
weiter: Dann “wird Lyrik zur aufbereiteten Fernsehnachricht aus zweiter Hand. Der
‘informierte Lyriker’, einer aus dem Fernsehpublikum wie du und ich, grübelt den
Headlines nach und spricht sich aus: ein Nachrichtenamateur, dessen eigentliche
Domäne das Umwandeln von Fernsehthemen in Betroffenheit ist“ (ebd. S. 53f.).
38
Geist: die ganz großen themen [wie Anm. 21]. S. 99.

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Weiterhin zu nennen, sind das Bewusstsein, dass die Chancen, politisch


relevante Veränderungen zu erzielen, marginal seien und, wie Lamping meint,
die “Eindeutigkeit politischer Poesie verbraucht ist, den Veränderungen als
nicht mehr angemessen empfunden wird”.39
Man könnte dagegenhalten, dass die kritischen Stellungnahmen zum
Vereinigungsprozess und zur neuen Gesellschaftsordnung durchaus
Eindeutigkeit beanspruchen können. Durch die pauschale Abwertung als
bloße “Verweigerungshaltung gegenüber jedwedem Arrangieren mit dem
neuen deutschen Staat”40 und durch eine Reduktion der Wende-Reaktionen
auf Furcht vor “Dekanonisierung der DDR-Lyrik” und den einhergehenden
“Status- und Aufmerksamkeitsverlust”41 wurde ihnen jedoch jede Berechtigung
abgesprochen.
Nahtlos in neue Jahrtausend
Eine ähnliche Funktion wie die der Abwertung eines dezidiert politisch-
kritischen Bewusstseins durch die Reduktion der Gedichte als Reaktion auf
individuelle Verlusterfahrungen, wird durch die Erstarrungsmetapher der
Kristallisation bei Theo Elm vorgenommen. Dieser unterscheidet in der Lyrik
der neunziger Jahre zwischen Transit- und Erlebnispoesie. Der Transitkünstler
habe im ständigen Durchlauf der Gegenwartsmomente dem Ich die “aufkläre-
rische Identität entzogen” und ihm das “Verlust- und Krisenhafte”42 gründlich
ausgetrieben. Für Elm nimmt “der Künstler [. . .] nicht Positionen ein, sondern
passiert Orte” und seine Proklamation des Anästhetischen bestehe eben in der
“Abwesenheit grenzziehender Standpunkte, Programme und Bekenntnisse”.43
Gegenüber der “subjekt- und geschichtslosen ‘Transitpoesie’” wird die
Erlebnispoesie nicht in der Gegenwart verortet, sondern im Gegenteil, sie sei,
da Utopia verdorrt, auf Arcadia ausgewichen. “Weil die Zukunft verschlossen
scheint, wendet sich der Blick zurück”.44 Erinnerung trete auf als
verborgene, subjektive Geschichte [. . .] die sich heute nicht mehr als ‘Bewältigung’,
sondern als ‘Gedächtnis’ versteht, nicht mehr als moralisches Engagement, son-
dern als lastende Erinnerung – als Erinnerung, mit der sie freilich in die Gegenwart
reicht und deren kristalline ‘Posthistoire’ hervorruft.45

39
Lamping: Bundesrepublik Deutschland [wie Anm. 30]. S. 354.
40
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 26.
41
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 251
42
Theo Elm: Einleitung. In: Lyrik der neunziger Jahre. Hg. von Dems. Stuttgart:
Reclam 2000. S. 15–35. Hier: S. 16f.
43
Ebd. S. 21f.
44
Ebd. S. 25f.
45
Ebd. S. 31.

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In beiden Formen werden gesellschaftsrelevante, gegenwartskritische


Tendenzen als “nicht entscheidend” ausgeblendet.46 Elm greift dabei auf
Begrifflichkeiten zurück, die er bereits in der Anthologie zur Lyrik der acht-
ziger Jahre47 vorgestellt hatte und überträgt Arnold Gehlens Theorie der
Kristallisation aus den 1960er Jahren nahtlos auf die 1990er Jahre. Ergänzend
könnte man (wiederum) Korte anführen, der glaubt feststellen zu können,
dass in der Lyrik von AutorInnen aus der DDR in den 1990er Jahren
etwas von der Wohlstands- und Fortschrittskritik westdeutscher Lyriker der späten
fünfziger und frühen sechziger Jahre wieder[kehrt]: das Bild von einem Land,
in dem Langeweile und kleinbürgerliche Ordnung vorherrschen, Freizeit und
Konsum, Kunststoff und Geschichtslosigkeit. [. . .] Im Rundumschlag solcher
Räsonnements ersetzen Sprachklischees und Formeln zuweilen die Schärfe der
Beobachtung, so dass der gesellschaftskritische Ansatz [. . .] auf unfreiwillige
Weise unverbindlich wird.48

Gesellschaftskritik, in der Rezeption durch angebliche Unverbindlichkeit


und negativ konnotierten “Moralismus” oder “didaktischen Zeigefinger”
ihrer Relevanz beraubt, wäre zusätzlich “nicht etwa das Resultat verlore-
ner Illusionen über Kapitalismus und Konsumgesellschaft”.49 Abgesehen
davon, dass es sich hier wohl eher um bestätigte Befürchtungen denn
geraubte Illusionen handeln dürfte, werden stattdessen Heimatlosigkeit und
Fremdheitsgefühle als alleinige Gründe der Konstatierung von Missständen
benannt, die im übrigen zur “Unschärfe der [. . .] Beobachtungsperspektive”
beitrügen.50 Elms Charakterisierung, dass sich die LyrikerInnen der neun-
ziger Jahre vor dem Hintergrund einer “exzentrischen und auskunftslosen
Welterfahrung [. . .] in der Kultur der Kristallisation”51 eingerichtet hätten,
verbindet Geist mit dem Stichwort der ‘Entwicklungsfremdheit’ (Benn).
Dieses spiegele nicht nur keine Beobachtung am lyrischen Sujet, sondern
entbehre zudem
jeglicher Bemühungen um begriffsgeschichtliche Reflexion. Und mehr noch:
Um eine ‘Entwicklungsfremdheit der Zeit’ zu behaupten, musste das Krachen
im Gebälk großgeschichtlicher Konstruktionen überhört werden. Überhört wer-
den mussten die melancholischen bis zornigen Befunde ostdeutscher Lyriker von
Heiner Müller, Karl Mickel, Harald Gerlach oder Volker Braun über die gewollte

46
Ebd. S. 24.
47
Theo Elm: Einleitung. In: Kristallisationen. Deutsche Gedichte der achtziger
Jahre. Hg. von Dems. Stuttgart: Reclam 1992. S. 15–38. Hier: S. 15f.
48
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 77.
49
Ebd.
50
Ebd.
51
Elm: Einleitung, Neunziger Jahre [wie Anm. 42]. S. 25.

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Enteignung und Entmündigung der ostdeutschen ‘Revolutionäre’ , die Verwandlung


ihres Landstrichs in ein weitgehend deindustrialisiertes Mezzogiorno nach 1990.52

Doch nicht nur etablierte AutorInnen, bei denen die Erklärungsversuche


aus gebrochenen Biographien, Verlusterfahrungen und Zukunftsängsten
unter Umständen noch greifen könnten, sondern auch jüngere Lyrikerinnen
und Lyriker aus dem Osten setzen sich überaus kritisch mit dem ‘D-Mark-
Leben’ (Rathenow) auseinander. Gesellschaftskritik wird so zum generati-
onsübergeifenden Moment. Auch wenn der Utopie-Verlust bei den Jüngeren,
zu denen beispielsweise Grünbein, Hensel, Kolbe, Köhler, Mensching
oder Schmidt zählen, keine so gravierende Rolle mehr spielt, ist bei allen
eine tiefgreifende Skepsis gegenüber jedweder Ideologie und ein geschärf-
tes Bewusstsein für Herrschafts- und Machtmechanismen anzutreffen, das
sich auch in Gegenwartskritik äußert. Entschieden bestritten werden muss
daher von Bormanns Einschätzung, es sei “ein wenig kennzeichnend für
diese Generation, daß ihr zu den ‘großen’ Themen (sagen wir: Deutschland
und die Welt) kleine Gesten und zu den kleinen Themen (sagen wir:
Schreibhemmungen, Partnerprobleme) große Gesten einfallen”.53
Dementsprechend wird gesellschaftskritische Lyrik nach 1989 in der
Sekundärliteratur kaum als zusammenhängender Komplex betrachtet. Der
Fokus liegt auf individuellen und individualisierten Aspekten, auf einzelnen
Autorinnen und Autoren – thematische Gemeinsamkeiten werden wenig her-
ausgestellt oder, wenn Motivbezüge und biographische Verknüpfungen nicht
negiert werden können, in einen “virtuellen, posthistorischen Raum”54 verla-
gert. Das mag mit der um sich greifenden Skepsis gegenüber klar definierba-
ren Bereichen zusammenhängen, kann aber auch als Versuch gelesen werden,
Motivzusammenhänge, die in Bezug auf die Prosa als Merkmal des “kleine-
ren Erinnerungskollektivs”55 bezeichnet wurden, zu marginalisieren. Doch
auch dieser Aspekt des kollektiven Gedächtnisses kann einseitig gelesen
werden. Grub verkürzt eine mögliche ‘Ost-Identität’ durch die Parallelisierung
mit dem Begriff ‘Ostalgie’, für deren Entstehung selbst ein “Gefühl des

52
Geist: die ganz großen themen [wie Anm. 21]. S. 98.
53
Bormann: Lyrik der neunziger Jahre [wie Anm. 34]. S. 1064.
54
Hermann Korte: ‘Wenn ein staat ins gras beißt, singen die dichter’. DDR-Lyrik
der neunziger Jahre. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre. Hg. von Heinz-Ludwig
Arnold. München: edition text  kritik 2000 (Text  Kritik, Sonderband IX/00).
S. 122–144. Hier: S. 123.
55
Torsten Pflugmacher: abstand gestalten. Erinnerte Medien und Erinnerungsmedien
in der Autobiographie nach 1989. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit
1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens
Kammler und dems. Heidelberg: Synchron 2004. S. 109.

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Verlusts”56 verantwortlich sei. Auch hier findet eine Rückführung auf indi-
viduelle Verlusterfahrungen und Traumata statt, die jedoch durch ihre eher
heimelig-heimatliche Rückbesinnung und die positive Teilkonstruktion von
Vergangenheit zur Gemeinschaftserfahrung führe. Kritisiert wird in diesem
Zusammenhang natürlich die, sich oft genug in Stereotypen niederschla-
gende, Abgrenzung vom ‘Anderen’, die dem Einheitsdiskurs im Wege stünde,
und die mangelnde Bereitschaft zur retrospektiven Aufarbeitung. Das sich
die geforderte Auseinandersetzung jedoch in erster Linie auf rückblickende
Abrechnung – die endlich einen Schlussstrich unter Fragen der Vergangenheit
ziehen sollte um den Weg frei zu machen für ein gesamtdeutsches National-
und Kulturverständnis – und nicht auf gegenwärtige Kritik bezog, haben etli-
che der vorgestellten Rezeptionsbeispiele belegt. Bedenkt man, wie emotional
manche Debatten geführt wurden, erscheint Iris Radischs Bemerkung plausi-
bel, dass sich zu Beginn der neunziger Jahre “ein Kulturkampf zu entwickeln
schien, an dessen Oberfläche es allzu häufig um die Frage von Moral und
Stasi, an dessen Wurzel es aber um die Bewertung des Verlustes eines ganzen
Landes, einer nationalen und politischen Identität ging.”57 Um dieser ideo-
logischen Belastung zu entgehen, spricht Emmerich von dem notwendigen
“Schritt von der Mythologisierung zur Historisierung der DDR-Literatur.”58
Durch die Nähe von Historisierung und Historismus bleiben auch hier jedoch
Bedenken bezüglich der scheinbaren Abgeschlossenheit und Objektivität –
auf Selektionsprozesse und Konstruktionsmechanismen von Geschichte durch
die Sieger hatte schon Benjamin hingewiesen.
Zwar stellt sich die Frage, ob die Modelle des ‘Kollektiven Gedächtnisses’
nach Halbwachs und des ‘Kulturellen Gedächtnisses’ nach Aleida und Jan
Assmann in Bezug auf DDR-Vergangenheit greifen, denn, so führt Michael
Strübel an, “dies wäre anhand der Periode der DDR-Existenz zu kurz”,59
trotzdem erscheinen mir manche Aspekte durchaus anwendbar. Zum
einen werden durch die angesprochene Reduktion, Individualisierung und
Entgegenwärtlichung kulturelle Rekonstruktions- und Selektionsprozesse
illustriert. Weiterhin erscheinen Kanonmechanismen und die beschriebenen

56
Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ [wie Anm. 3]. S. 580.
57
Iris Radisch: Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunzi-
ger Jahre in Ost und West. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre [wie Anm. 54].
S.13–26. Hier: S. 16.
58
Emmerich: Literaturgeschichte [wie Anm. 14]. S. 9.
59
Michael Strübel: Ostalgie und Dekonstruktion im deutschen Film nach 1989.
Auf der Suche nach der verlorenen Identität? In: Deutschland fiktiv. Die deutsche
Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film. Hg. von
Wolfgang Bergem und Reinhard Wesel. Berlin: Lit Verlag 2009. 189–205. Hier:
S. 192.

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Verfahren zu Reduktion und Ausschluss bestimmter Themen aus dem kultu-


rellen Funktionsgedächtnis scheinbar zwingend notwendig zur Stabilisierung
eines, nennen wir es ‘Lobbygedächtnisses’, welches darauf angewiesen
ist, systemkritische Stimmen zu negieren oder zumindest, als in reaktionärer
Verblendung stecken geblieben, abzuwerten. Eine derartige Selektion zieht
auch eine Rekonstruktion von Geschichte und in diesem Fall von Literatur-
geschichte nach sich. Wenn inzwischen differenziertere Betrachtungsweisen
der Texte von Lyrikerinnen und Lyrikern aus der DDR vorliegen, ist das
möglicherweise erstens durch den größeren zeitlichen Abstand, der eine
zunehmende Objektivität durch schwindende persönliche Befangenheit
der Kritiker ermöglicht, und zweitens durch einen Rückgang des Themas
bedingt. Drittens verweist es auch auf die inzwischen erhöhte Stabilität
kollektiver Gedächtnisdiskurse. Sieht man nationale Kulturen “nicht als etwas
Einheitliches, sondern als einen diskursiven Entwurf [. . .], der Differenzen
als Einheit oder Identität darstellt”60 so sind auch die kritischen lyrischen
Stimmen über die “deutsche Einheit, Teilung und Vereinigung [. . .] Beiträge
zu einer Verständigung über deutsche Identität.”61

60
Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hg. von Ulrich Mehlem. Hamburg:
Argument Verlag 1994 (Ausgewählte Schriften 2). S. 204. Nach: Wolfgang Bergem:
Erzählte Geschichte(n). Verdichtung politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit
in Narrationen. In: Deutschland fiktiv [wie Anm. 59]. S. 207–236. Hier: S. 209.
61
Ebd.

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Michael Ostheimer

Nachgeholte Trauerarbeit. Traumatische Erinnerungsräume


im Werk ostdeutscher Autoren nach 1989
Up until the fall of the Berlin Wall, the dominant narrative in GDR literature was that
of resistance to fascism. The traumatic experiences of war, flight and expulsion were
taboo topics and could only be inadequately mourned, their effects on family dynam-
ics only inadequately articulated. This essay attempts to show how these repressed
experiences finally found their literary expression after reunification. It analyses
Wolfgang Hilbig’s work using the concept of psychotraumatology and Mikhail
Bakhtin’s term chronotope. The traumato-chronotopic approach could also prove
useful in reading texts by other East German authors such as Reinhard Jirgl, Kurt
Drawert, Angela Krauß and Lutz Seiler.

Einleitung
Für die DDR-Literatur bildete das Jahr 1989 neben vielen anderen einschnei-
denden Veränderungen auch eine Erinnerungszäsur. Ilse Nagelschmidt
akzentuiert diesen Wandel wie folgt:
so stellt sich der Erinnerungsprozess in der ostdeutschen Literatur als bewusste
Rekonstruktion der Vergangenheit, als willentliche und wissentliche Suche nach
den Spuren des Gewesenen in der Gegenwart der sich verändernden Realität dar.
Nach 1989 leben Autorinnen und Autoren in Zwischenzeiten und Zwischenorten.
[. . .] Die Verortung im Sinne des Ab- und Herantastens, des neuen Ort-Findens
und Ort-Bestimmens.1

Ich teile diese Diagnose ebenso wie ich das raumzeitliche Vokabular für tref-
fend halte; ja, ich würde sogar noch zwei Aspekte forcieren, sprich: Einerseits
die Raum-Metaphorik (“Zwischenorte”, “Verortung”) durchaus wörtlich neh-
men, anderseits die Spurensuche nach dem Gewesenen auf die subjektiven
Überwältigungserfahrungen ausrichten. Zusammengenommen und als These
formuliert: Für die Neu-Verortung der ostdeutschen Literatur nach 1989 ist
das Zusammenspiel von Erinnerung, Raum und Trauma konstitutiv.

1
Ilse Nagelschmidt: Die wilden Jahre sind vorbei. Paradigmen der
Identitätskonstruktion in der ostdeutschen Literatur nach 1989. In: Konkurrenzen,
Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Hg. von
Andrea Geier u. Jan Süselbeck. Göttingen: Wallstein 2009. S. 102–116. Hier:
S. 110.

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Entfalten möchte ich diese These in drei Schritten: 1. Im Rückgriff


auf Michail Bachtins Begriff des Chronotopos und das Konzept der
Psychotraumatologie soll anhand von Wolfgang Hilbigs erzählerischem Werk
(und hier besonders an dem Text Alte Abdeckerei) exemplarisch gezeigt wer-
den, wie ostdeutsche Autoren nach dem Mauerfall eine Form von Trauerarbeit
nachholen, indem sie bislang tabuisierte traumatische Kriegserfahrungen
samt deren familiendynamischen Nachwirkungen rückhaltlos literarisch
artikulieren. 2. Diese Lektüre wird als traumatochronotopographische kon-
zeptualisiert und in einer kurzen Skizze zum einen auf weitere ostdeutsche
Autoren, sprich auf Reinhard Jirgl und Kurt Drawert angewendet, zum ande-
ren auf die Historisierung der DDR-Geschichte ausgeweitet – Letzteres am
Beispiel von Angela Krauß, Lutz Seiler und Hilbigs Erzählung Die elfte These
über Feuerbach. 3. Abschließend sollen die Befunde im Ost-West-Vergleich
unter dem Stichwort der geteilten Erinnerung literarhistorisch perspektiviert
werden.2
1. Traumatische Erinnerungsräume im erzählerischen
Werk Wolfgang Hilbigs
Einer Interviewäußerung aus dem Jahr 2002 zufolge bilden Luftkriegserlebnisse
Wolfgang Hilbigs früheste Erinnerungsspuren: “Meine ersten Erinnerungen,
die ich zu haben glaube, sind fast immer geprägt vom Feuerschein und
Rauch der Bombenangriffe auf die kleine Industriestadt, in der wir wohn-
ten”.3 Bei der kleinen Industriestadt handelt es sich um – das damals zu
Sachsen, heute zu Thüringen gehörige – Meuselwitz, das, folgt man der
Hilbig-Biographie von Karen Lohse, durch die Bombardierungen nahezu
seine gesamte Altstadt verlor: “Die zerstörten Häuser der Innenstadt wurden
größtenteils nicht wieder aufgebaut. Ihrer baulichen Vergangenheit beraubt,
bekam die Stadt ein völlig neues Gesicht. Die Vergangenheit hatte sich in

2
Exemplarisch und in Ansätzen soll das etabliert werden, was Ansgar Nünning
als ein “besonderes Desiderat für eine kulturwissenschaftlich und kulturgeschicht-
lich ausgerichtete Erzählforschung” beschreibt, nämlich, “dass es unter Rückgriff
auf Bachtins Konzept des Chronotopos und Lotmans semiotischem Ansatz einer
Rekonstruktion unterschiedlicher historischer, epochenspezifischer und national-
sprachlicher Kultur- und Raummodelle bedarf ” (Ansgar Nünning: Formen und
Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische
Kategorien und neue Perspektiven. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die
Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hg. von Wolfgang Hallet u. Birgit
Neumann. Bielefeld: transcript 2009. S. 33–52. Hier: S. 49).
3
Zit. nach: Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg.
Essays und Gespräche. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. S. 109.

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Müll verwandelt. Mit dem Trümmerschutt der Stadt wurden die Tagebaue der
Umgebung verfüllt”.4
Gerade in Hilbigs Nachwendetexten finden Luftkriegsszenarien bzw. die
materielle und geistige Zerstörung kurz nach 1945 einen starken Widerhall.
Beispielsweise erinnert den Protagonisten von Hilbigs 1993 erschienenem
Roman Ich der Knall einer zerspringenden Lampe an frühe Kriegserlebnisse:
so tief dieser [sc. Knall; M.O.] auch gewesen war: dunkel glaubte er sich der
Explosion zu entsinnen, die schwach hereingedrungen war wie aus einem ent-
fernten Gelände . . . so ähnlich mußten sich in den letzten Kriegsjahren die in
den Straßen zerplatzenden Luftminen angehört haben, wenn er mit seiner Mutter
im Keller Schutz gesucht hatte . . . wahrscheinlich konnte er sich nicht wirklich
an diese Zeit erinnern; es war dies in den ersten drei Jahren nach seiner Geburt
gewesen . . . gut erinnerte er sich aber an das Ziel dieser Luftangriffe, an die zer-
trümmerten Industrieanlagen hinter der Kleinstadt, die der Spielplatz und das
Forschungsgebiet seiner Kindheit gewesen waren.5

Es ist just diese Mischung aus Ausnahmezustand und zerstörter Lebenswelt,


die Hilbigs Protagonisten umtreibt. Dem für ihn verstörenden Zeitenwandel
versucht der Ich-Erzähler in Ort der Gewitter entgegenzuarbeiten, indem er
dem Krieg sowie der “unwirkliche[n] Figur”6 seines bei Stalingrad gefallenen
Vaters schreibend begegnet:
vielleicht konnte ich eines Tages in diese Welt eindringen, wenn ich über sie
schrieb, wenn ich mir darüber Notizen machte, schriftliche Ausführungen, die das
Bild jener Zeit noch einmal in die Wirklichkeit zurückriefen, gleichsam so, als
könnte die gegenwärtige Zeit damit wirklicher werden.7

Eine vergleichbare Konstellation liegt Hilbigs im Herbst 1990 beendeter


Erzählung Alte Abdeckerei zugrunde. Die Erzählung, die mit den Worten
beginnt: “Ich besann mich auf ein Flüßchen hinter der Stadt”,8 ist eine zwi-
schen Gegenwartsschilderungen9 und Erinnerungen changierende Reflexion

4
Karen Lohse: Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biographie. Leipzig: Plöttner
2008. S. 30.
5
Wolfgang Hilbig: Ich. Frankfurt a.M.: Fischer 1993. S. 139.
6
Wolfgang Hilbig: Erzählungen und Kurzprosa. Werke. Bd. 2. Hg. von Jörg Bong,
Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S. 625.
7
Ebd. S. 626.
8
Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei. Erzählung, Frankfurt a.M: Fischer 1991. S. 7.
9
Einiges deutet auf das Wendejahr 1989 als Erzählgegenwart hin, vgl. Bärbel
Heising: “Briefe voller Zitate aus dem Vergessen”. Intertextualität im Werk
Wolfgang Hilbigs. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 1996 (Bochumer Schriften zur
deutschen Literatur 48). S. 144. – Lohse: Hilbig [wie Anm. 4]. S. 31.

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eines Ich-Erzählers.10 Es handelt sich um den Versuch, einen traumatischen


Erfahrungskomplex mittels tastender Schreibversuche im Rahmen einer retro-
spektiven Selbstverständigungsbemühung einzuholen.11
Der Text kreist um Kindheitserlebnisse aus der Zeit des II. Weltkriegs
bzw. der frühen Nachkriegszeit.12 So fühlt sich der Ich-Erzähler zum
einen “jeden Abend wieder [. . .] an die einst in unserem Viertel wütenden
Kriegsbrände erinnert”,13 zum andern versucht er sich die geradezu magische
Anziehungskraft für die “kriegszerstörten Stätten”14 zu erklären, von denen
eine Fabrik namens Germania II auf ihn als kleinen Jungen eine besondere
Faszination ausübte. Aus, wie er selbst sagt, “Interesse an unguten Orten”15
sucht er immer wieder die Nähe dieses Werks, das mit der Produktion von
Seife oder “irgendeiner Vorform von Waschmitteln” beschäftigt war und
zugleich als “Inbegriff des Dunklen, Schmierigen, Ungesunden”,16 als
symbolischer Unheilsort der modernen Zivilisationsgeschichte erscheint.
Nachdem der Erzähler unzählige Male mit ansehen musste, wie reihenweise
krankes Vieh und “Tierkadaver” an der “Rampe” ausgeladen wurden,17
fühlte er sich verwandelt “in einen Mitwisser [. . .], in den Teilhaber irgend-
eines Tausendjährigen Reichs und seiner Historie”,18 dessen Wege nunmehr
vom “Leichengeruch”19 begleitet wurden. Als er in der Schule schließlich

10
Vgl. zu den autobiografischen Zügen des Ich-Erzählers Lohse: Hilbig [wie
Anm. 4]. S. 31f. – Hans-Christian Stillmark: „alte Abdeckerei . . . Altdeckerei . . .
Alteckerei . . . Alteckerei . . . Alterei . . .“. Wolfgang Hilbigs Erzählung im Lichte
der Poetologie Julia Kristevas. In: Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und
Literaturwissenschaft. Hg. von Michael Hoffmann u. Christine Keßler. Frankfurt
a.M.: Lang 2003 (Sprache – System und Tätigkeit 47). S. 357–369. Hier: S. 362.
11
Vgl. Ulrich Krellner: Die doppelte Vergangenheit in der Literatur der neunziger
Jahre. In: Perspektivensuche. Hg. von Edgar Platen. München: Iudicium 2002
(Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 2).
S. 26–45. Hier: S. 44, der das Spezifikum von Hilbigs Schreiben darin erkennt,
dass er “die traumatisierenden Folgen [der Vergangenheit; M.O.] ganz in den
Mittelpunkt rückt”.
12
Vgl. Günter Butzer: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink 1998 (Münchener ger-
manistische Beiträge 42). S. 332: “Alte Abdeckerei entfaltet einen iterativen
Erinnerungsraum, der sich als Wiederholung der Kindheit durch die Figur eines
‘proletarischen Flaneurs’ aufbaut”.
13
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 35.
14
Ebd. S. 16
15
Ebd. S. 65
16
Ebd. S. 77
17
Ebd. S. 67f.
18
Ebd. S. 72.
19
Ebd. S. 73.

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nach seinem Berufswunsch gefragt wird, sind ihm alle “Loblieder[] auf die
Sicherheiten eines produktiven Lebens zur Stärkung der Republik”20 zuwi-
der und er entgegnet: “ich habe die Absicht in Germania II zu arbeiten”.21
Mit dieser Absicht trifft er nicht nur auf Entrüstung bei seinen Eltern,22 son-
dern scheint Gefahr zu laufen, “aus der Welt zu fallen, wenn man sich für das
Allereinfachste interessierte . . . und vielleicht sogar Gefahr, aus der Welt zu
verschwinden”.23
Will man die Motivationsgrundlage dieser doch recht absonderlichen
Absicht nachvollziehen, rührt man an das auf Anhieb alles andere als trans-
parente Zentrum dieser Erzählung: Nämlich erstens an die Sprachlosigkeit
des Erzählers, die aus einer Gemengelage aus Kriegserfahrungen, famili-
ärer Entfremdung und einer Abneigung gegen das ubiquitäre gesellschaft-
liche Fortschrittspathos resultiert; und zweitens dem Antidot gegen diese
Sprachlosigkeit, das in einem Verfahren besteht, das sich als literarische
Entfaltung von Orten als Erinnerungsauslösern bzw. als narrative Aneignung
der diachronen Geschichtetheit von Orten realisiert.
Die familiäre Entfremdung des Erzählers zeigt sich darin, dass er, der
von seiner Familie in Distanz markierenden Synonymen als “Anhang”24
oder “Anverwandten”25 zu sprechen pflegt, nachdem “beinah jede Form von
Auseinandersetzung zwischen meinen Angehörigen und mir erlosch[en ist]”,
allabendlich als “ein aus unserem Kreis Entschwundener” ein “Schweigen”
betritt, “das zu durchbrechen verboten schien und in dem ich mich wie ein
Unsichtbarer bewegte”.26 Von den “schweigenden und furchtsamen Alten”27
allenfalls noch geduldet, entwickelt sich das Verhältnis schließlich so,
daß man mich überhaupt nicht mehr erwartet hatte . . . die beklommene
Einsilbigkeit der Erwachsenen, die dort vor schon zur Mitte geschobenen Tellern
am Tisch saßen, schien doch in der unverhofften Anwesenheit eines unheimlichen
und lästigen, wenn auch kaum sichtbaren Eindringlings begründet; irgendein frem-
der Gast, ein schweigsamer und gespenstischer Jüngling, der sich benahm, als sei er
schon lange hiergewesen, war da herangetreten, um in den Resten des Nachtmahls
zu stochern, eine Erscheinung, ein Phantom, ein ärgerlich aufdringlicher

20
Ebd. S. 75.
21
Ebd. S. 76.
22
Die in ihrer fraglosen Übereinstimmung mit den jeweils vorherrschenden
Übereinkünften der Mächtigen als geradezu paradigmatisch außengeleitete Personen
zu bezeichnen sind.
23
Ebd. S. 78.
24
Ebd. S. 22.
25
Ebd. S. 73.
26
Ebd. S. 27.
27
Ebd. S. 52.

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Geist, den man allabendlich losgeworden zu sein hoffte, und der doch, einem
bösen Fluch vergleichbar, von dieser traurigen Familie nicht mehr abließ.28

Einer der Gründe für diese Anti-Familienidylle besteht darin, dass sich die
anderen Familienmitglieder für ihre Umgebung und deren Geschichte – im
Gegensatz zu dem Erzähler – in keinster Weise interessieren. Die kollektive
Verdrängung bzw. Ignoranz gegenüber der katastrophischen Vergangenheit
drückt sich in dem mehrfach angemahnten Blick unter die Oberfläche aus
(“auferstanden aus Ruinen über den Massengräbern, über den Massengräbern
der Diktatur des Proletariats, über den Massengräbern der allmächtigen
Lehre Lenins, oh über den Massengräbern von ‘Wissen ist Macht’”);29 avan-
ciert zu Ende der Erzählung zu einem allgemeinen Nicht-wissen-Wollen30
(“Niemands Wissen klapperte hölzern und monoton an der Schädeldecke
der Erde”);31 kulminiert schließlich in einer von einem Stolleneinbruch ver-
ursachten gewaltigen Eruption, so dass die untergegangenen Ruinen von
Germania II schließlich vom flutenden Wasser überspült werden.32
Aufgrund der sozialen Isolation des Erzählers, der den Erwartungshaltungen
von Familie und Gesellschaft nicht entspricht, “verschiebt sich die identitäts-
stiftende und -erhaltende Bindung auf die Räume von Natur und Literatur”.33
Gegen die Sprachlosigkeit, die ja zum Großteil ein Resultat des familiä-
ren Desinteresses und dem in der Gesellschaft wirksamen Schweige-Tabu
über die Vergangenheit darstellt, geht er als doppelt Ausgeschlossener vor,
als Angehöriger einer Familie von “Exilanten”, der entgegen dem Bestreben
seiner Familie ein “ebenso uneingestandene[s] wie unklare[s] Interesse an

28
Ebd. S. 27f.
29
Ebd. S. 82f.
30
Vgl. dazu Uwe Schoor u. Gerhard Bauer: Das tickende Fleisch unterm Gras:
Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. In: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik
in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Gerhard Bauer u. Robert
Stockhammer. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. S. 239–253. Hier: S. 249f. –
Stillmark: Abdeckerei [wie Anm. 10]. S. 365.
31
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 114.
32
Vgl. dazu die ähnlich apokalyptisch anmutende Schlussvision in Hilbigs Gedicht
das meer in sachsen aus dem Jahr 1977: “ich weiß das meer kommt wieder nach
sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat” (Wolfgang Hilbig: Gedichte.
Werke, Bd. 1. Hg. von Bong, Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008.
S. 81–84. Hier: S. 84).
33
Markus Symmank: „Schriftgezirp“. Zur Poetologie in Wolfgang Hilbigs Erzählung
Alte Abdeckerei. In: Poesie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann. Hg.
von Dagmar Ottmann u. Markus Symmank. Würzburg: Königshausen & Neumann
2001. S. 217–228. Hier: S. 222.

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unserer Herkunft” hat.34 Das Erstaunliche nun an dem Programm einer


Überwindung der Sprachlosigkeit und des familiären Desinteresses besteht
darin, dass der Erzähler versucht
mit den Toten und Verbannten zu denken, mit den wesenlosen Dingen, mit den
Erden, mit Gestein und Flüssen, mit den sprach- und lautlosen Tierwesen, die
dem Menschen feind waren. [. . .] es war eine Sprache, in der die Substantive ihre
Bedeutung verloren hatten, es war die Sprache einer Wahrnehmung, die allein auf
wortlose und flüchtige Augenblicke reagierte.35

Während Hilbig hier sprachtheoretisch an Hofmannsthals Chandos-Erfahrung


anknüpft,36 so gilt für den Erzähler, will er denn die Sprachmächtigkeit
wieder erlangen, die fatale Diagnose: “Schicht um Schicht hatte der Verfall
der Arten die Erde bedeckt”,37 schlichtweg umzukehren. Also auf den Spuren

34
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 65.
35
Ebd. S. 31f.
36
In Hilbigs Werk spielt die Chandos-Erfahrung der Sprachskepsis eine zentrale
Rolle. In dem Text Aufruf zum Widerstand. Warum wir dem Zerfall trotzen müssen,
den Hilbig anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Hofmannsthals Chandos-Brief
als fiktive Antwort an den Lord formulierte, werden die Historisierung des eigenen
Daseins und die persönliche Sprachnot miteinander verknüpft: “Mein Fall ist, in
Kürze, ebenderjenige, den Sie beschrieben haben: Es sei Ihnen völlig die Fähigkeit
abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu spre-
chen. – Mit einem Unterschied: Es ist mir nie gelungen, eine solche Fähigkeit zu
erlangen. Ich bin aufgewachsen mit dem Verlust dieser Fähigkeit, ich bin beinahe
ohne diese Fähigkeit geboren. / Das Jahr, in dem ich zur Welt kam, war ein furcht-
bares Jahr. Am selben Tag, an dem ich geboren wurde, hat man . . . Nein, ich muß
genauer sein, das unbestimmte Wörtchen ‘man’ ist hier nicht zulässig, ich muß die
Dinge beim Namen nennen: Am 31. August 1941, an meinem Geburtstage, wurde
durch das deutsche Polizeibataillon 320 in der Minkowzy eine Erschießung durch-
geführt, es wurden Juden erschossen, die Zahl der Gemordeten belief sich auf
2200 Männer, Frauen und Kinder”. Hilbig geht so weit, sich als solitär zu begrei-
fen: “Da, wo ich lebe, weiß ich niemanden, der so denkt wie ich . . . Und sollte
es da noch den oder jenen geben, so weiß er es nicht von mir. – Die Menschen,
die ich reden höre, bedienen sich fließender Sätze, sprechen in logischer Abfolge,
geben ihrer Freude, oder auch ihren Verstimmungen, erstaunlich sicheren Ausdruck,
sie verstehen, was sie sagen, und lassen andere an ihrem Verständnis teilhaben,
auf das sie vertrauen: Ich kann das nicht, und vielleicht, Mylord, habe ich es nie
gekonnt”. Hilbig erkennt seine Aufgabe darin, mit den Mitteln der Literatur gegen
den Sprachzerfall anzuarbeiten: “Und so interpretiere ich Ihren Brief, Philipp Lord
Chandos: als einen Versuch, eine Verneinung Ihres Briefs zu mobilisieren und den
Widerstand dagegen reifen zu lassen” (Wolfgang Hilbig: Aufruf zum Widerstand.
Warum wir dem Zerfall trotzen müssen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
19.7.2002. S. 37). – Vgl. dazu auch Stillmark: Abdeckerei [wie Anm. 10]. S. 361f.
37
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 93.

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geschichtlicher Zerstörung sich Schicht für Schicht die verdrängte bzw. –


geradezu wörtlich zu verstehende – unterdrückte Geschichte im Sinne einer
kritischen Heimatarchäologie anzueignen.38
Um dies zu bewerkstelligen, macht er sich gemein mit den von der
Gesellschaft ausgestoßenen Arbeitern von Germania II, denn diese scheinen
durch ihre Arbeit an dem tabuisierten Ort, auch wenn sie “Trinker” sind und
“immer unter ihresgleichen” verkehren‚39 über eine Art Geheimwissen zu
verfügen:
vielleicht wußten die Gedanken der Männer von Germania II besser, woraus das
Leben ersproß . . . und wenn sie kaum noch standen, wußten sie besser als jede
andere Sprache, aus welchen Absenzen die Worte waren, und wenn ihre Gedanken
kaum noch aufrecht gingen, wußten sie deutlicher als gewöhnlich, woraus auch sie
erkoren waren . . ..40

Orten wohnt, das führte Aleida Assmann in ihrem Buch Erinnerungsräume


aus, kein immanentes Gedächtnis inne, aber für die Konstruktion kultureller
Erinnerungsräume sind sie von konstitutiver Bedeutung. Das sieht man vor
allem dann, wenn im Zuge von Kriegen, Migration oder Modernisierungen
die Erinnerungen von bestimmten Orten durch Überschreibung gelöscht
und neue Erinnerungen konstruiert werden.41 Nicht mehr existierende
Lebenskonstellationen gar können nur narrativ kompensiert werden, indem
eine Geschichte erzählt wird, die, mit den Worten Aleida Assmanns,
das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Erinnerungsorte sind zersprengte
Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs. Denn mit der
Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält
materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum
zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind
allerdings erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muß zusätzlich durch sprachliche
Überlieferungen gesichert werden.42

Diese Überlieferungssicherung übernehmen nicht zuletzt Schriftsteller wie


Wolfgang Hilbig, die es für eine vordringliche Aufgabe halten, gegen die

38
Günter Butzer zufolge wird hier “die Vergangenheit als Raum wahrgenommen
und erinnert [. . .], als Archäologie des historischen Schreckens” (Butzer: Fehlende
Trauer [wie Anm. 12]. S. 332).
39
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 80.
40
Ebd. S. 93.
41
Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul-
turellen Gedächtnisses. München: Beck 32006. S. 299 u. 304. Vgl. S. 300 zur
Differenzierung von Orten (die in der Vertikalen erforscht werden) und Räumen
(die in der Vertikalen entdeckt und erschlossen werden).
42
Ebd. S. 309.

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Gedächtnislosigkeit der Zeitgenossen eine literarische Trauerarbeit aufzubie-


ten. Eine Trauerarbeit,43 die das Vergessen und Verdrängen von geschichtli-
chen Zerstörungserfahrungen und die dadurch hervorgerufenen Traumata
durch die Rekonstruktion von Erinnerungsräumen und Lebensgeschichten,
die zu verloren gehen drohen, poetisch aufhebt und so zu einem Teil des
kulturellen Gedächtnisses macht.
Den individualpsychologischen Prozess, den diese Erinnerungspoetik
umfasst, entfaltet Hilbig, indem die durch ein Kindheitstrauma bewirkte
Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers verkoppelt wird mit der narrativen
Erschließung von durch Vergessen oder Verdrängung bedrohten Erinne-
rungsorten. Thesenhaft und in der größtmöglichen Verknappung lautet das
poetologische Programm: Durcharbeitung einer individuellen traumatischen
Fixierung durch das narrative Wiederauflebenlassen von geschichtsträchtigen
Orten. Oder, mit einer etwas anderen Perspektive: Die Suche nach der verlo-
renen Sprache wird inszeniert als eine Trauma-Therapie.44 In Analogie dazu
vollzieht sich die Wiedererlangung des Sprachvermögens durch lebensge-
schichtliche Erinnerungen, durch die Rekonstruktion der Kindheitsgeschichte.
Traumata sind negative Überwältigungserfahrungen, die sich nicht sinn-
stiftend in das Kontinuum einer Biographie integrieren lassen.45 Anders

43
Vgl. zur Herkunft des Begriffs (Freud), zu seiner Problematik (bei Alexander
und Margarete Mitscherlich und Norbert Elias) und zum Versuch, Trauerarbeit als
“Selbstreflexion im verlorenen Anderen” zu konzeptualisieren, Ulrike Jureit u.
Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung.
Stuttgart: Klett-Cotta 2010. S. 128–196.
44
Vgl. dazu auch Rosemarie Barwinski-Fäh: Die Angst des Abwesenden vor der
Abwesenheit. In: Trauma. Hg. von Wolfram Mauser u. Carl Pietzcker. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2000 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche.
Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 19). S. 181–192. Hier: S. 190: “Wolfgang
Hilbig lässt seine Protagonisten darstellen, welche psychischen Wirkungen die
traumatische Erfahrung der sozialen Negierung der eigenen Identität haben
können: Seine Hauptfiguren zeigen frühe Abwehrmechanismen wie dissozia-
tive Prozesse und Ansätze einer multiplen Persönlichkeit [. . .]. Sie fühlen sich
hilflos und ohnmächtig und versuchen ihre Hoffnungslosigkeit im Alkohol zu
ertränken. Affektregression, die immer mit Traumatisierung einhergeht, d.h. die
Entdifferenzierung, Deverbalisierung und Resomatisierung der Affekte, prägt über
weite Teile seiner Romane den Gefühlsausdruck seiner Erzähler”.
45
Vgl. dazu die Definition der traumatischen Erfahrung in Gottfried Fischer
und Peter Riedesser als “vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit
Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dau-
erhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.” (Gottfried Fischer
u. Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München-Basel: Reinhardt
2
1999. S. 79).

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gesagt: Traumata sind Negativerfahrungen, die sich nicht reflektieren und


versprachlichen lassen und die daher der Erinnerung widerstreben. Der
Ich-Erzähler als Traumatisierter wird hier zunächst perspektiviert als ein
zur Sprachlosigkeit Verdammter, als ein in der Zeit Haltloser. Halt spen-
det dagegen die Narration von geschichtsträchtigen Orten. Die Geschichten
wiederzugewinnen, die in für seine eigene Biographie maßgebliche Orte
eingeschrieben sind, heißt, die eigene Identität wiederzugewinnen. In Form
eines selbstreferentiellen Ähnlichkeitsverhältnisses, das sich als Mise en
abîme oder, folgt man der Typologie selbstreflexiven Erzählens von Michael
Scheffel, als “einfache Spiegelung” konkretisieren lässt,46 erscheint die
Rekonstruktion und Narration der Geschichte von Orten zugleich als eine
Aufbauarbeit am Selbst des Protagonisten.
Erst nachdem der Ich-Erzähler sich das Fabrikgelände von Germania II
auf unzähligen Erkundungstouren erschloss und beharrlich die Nähe zu den
dort tätigen Arbeitern suchte, wird er sprachmächtig und verwandelt sich
vom schweigenden Einzelgänger zum literarisch-philosophischen, sich auf
Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit berufenden Erinnerungsarbeiter im
Steinbruch der deutschen Zivilisations- als Katastrophengeschichte: “Und
wenn ich fortan gebeugt war über das Papier, um es mit Tinte zu besudeln,
spürte ich, wie die Ebenen zu gähnen begannen . . ..”47
Es ist die fundamentale Erfahrung der Überwindung eines durch
die Kriegsereignisse bedingten familiären Trennungstraumas und einer
dadurch hervorgerufenen Sprachlosigkeit durch die Annäherung an das
Gedächtnis eines Ortes,48 die Hilbigs Ich-Erzähler durchlebt.49 Germania II
erscheint als ein Ort, an dem gleichermaßen die individuelle und kollektive

46
Vgl. Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und
sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer 1997. S. 54–56 u. S. 71–85.
47
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 95.
48
Vgl. Markus Symmank: “Schriftgezirp” [wie Anm. 33]. S. 219.
49
Der Ich-Erzähler scheint auf eine mysteriöse Weise an seine Heimat und Familie
gekettet zu sein. Den einzigen Ausbruchsversuch, den er unternimmt, bricht er nach
wenigen Tagen ab, um wieder zu seinen Angehörigen und an seinen angestamm-
ten Wohnort zurückzukehren (vgl. Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 43-45). Der
Auslöser für diese Rückkehr ist ein Erlebnis von phantomatischer Qualität: “Im
Traum war ich überzeugt, in der Finsternis auf eine tote Ratte getreten zu sein,
auf den prallen Leib einer ersoffenen Wasserratte, sagte ich mir mit Eiseskälte im
Traum. . . [. . .] Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich sah, daß ich nicht geträumt
hatte, oder daß ich die Wahrheit geträumt hatte: unten im Flur lag tatsächlich der
aufgerissene Kadaver einer riesigen Ratte, die mich mit weit aufgesperrtem Rachen
anstarrte, als habe sie soeben einen klagenden Schrei ausgestoßen . . . und als habe
mich dieser Schrei hinausgerufen, schienen sich unsere Blicke einen Moment lang
voller Haß ineinander zu senken” (ebd. S. 44).

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Geschichte enggeführt werden.50 Die Temporalisierung eines Ortes wird zum


Ausgangspunkt, um die Familien- und Geschichtslosigkeit der Protagonisten
sowie deren defizienten Kommunikationsmodus eines Rückzugs aus der
Sprache aufzuheben.
Die Entfremdung des Ich-Erzählers von der Familie und der Sprache ist
bei Hilbig Symptom für eine allgemeine Vertrauenskrise; für ein mangelndes
Vertrauen in die Stabilität und Autorität der – durch den Nationalsozialismus
und überdies durch die SED-Herrschaft – nachhaltig erschütterten europäi-
schen Zivilisation. Das Schweigen und das Wieder-neu-zur-Sprache-Finden
wendet sich auf spezifische Weise gegen die sprachliche Repräsentation des
Holocausts als eines historischen Ereignisses unter anderen. Bilanzieren
lässt sich eine Doppelfunktion der Sprachlosigkeit bzw. ihrer Überwindung,
die ins Zentrum von Hilbigs ethischer Poetik der Erinnerung führt und
traumatische Langzeitwirkungen des Totalitarismus reflektiert. So fun-
giert die Sprachlosigkeit einerseits als (Spät-)Folge der traumatischen
Überwaltigungserfahrung und steht damit für einen referentiellen Bezug
auf die historischen Ereignisse. Andererseits fungiert sie als rhetorische
Strategie, die für den Leser die Unmöglichkeit markiert, autoritativ Zeugnis
abzulegen im Sinne eines Berichtens der Wahrheit. Die geschilderte
Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers verkoppelt die Bezeugung der trauma-
tischen Erfahrungen mit dem Wissen um die narrative Konstruiertheit der
Erinnerung, fungiert mithin als Repräsentation der Nicht-Repräsentierbarkeit
(des Holocausts, des Kriegstraumas). Menschliches Leiden und der Tod,
so die Logik, bleiben sprachlich inkommensurabel, der Versuch ihrer
Darstellung stößt an die Grenzen eines dokumentarischen Realismus. Die
aufs Historische zielenden Beschreibungen von Hilbigs Erzähler bilden
wortreiche Annäherungsschleifen, eine auf Selbstverständigung in einer
unwirtlichen Um- bzw. Mitwelt und auf Sicherung des Verlustraums Heimat
zielende Wortkunst der approximativen Erinnerungsarchäologie.
2. Traumatochronotopographische Lektüre
In der Topografie der von Zerstörung geprägten Nachkriegslandschaft fun-
giert Germania II als Schlüsselreiz, der bei dem Ich-Erzähler die Erfahrung
eines durch die Kriegsereignisse bedingten familiären Trennungstraumas
wachruft. In der Psychologie nennt man derartige Sinneseindrücke, die

50
Vgl. Butzer: Fehlende Trauer [wie Anm. 12]. S. 334: “Das Gebäude, das zu einer
ehemaligen Braunkohlefabrik gehört und auf einem weitverzweigten System unter-
irdischer Stollen erbaut ist, erweist sich in der Imagination des Ich als Ort, an dem
die kollektiv verdrängte Vergangenheit der ostdeutschen Gesellschaft aufbewahrt
liegt.”

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Erinnerungen an eine traumatische Konstellation wecken, Trigger (engl.


‘Auslöser’). Dabei besteht die sozialpsychologische Besonderheit der
Entwurzelungsproblematik darin, dass der Ich-Erzähler zwei traumatische
Sequenzen durchlaufen musste: Erstens einen Angriff auf die Integrität sei-
ner Familie; zweitens das Eintauchen in eine andere Welt, das als Verdrängen
der Herkunft erfahren wird.51 Diese kumulative Traumatisierung führt zu
einer Sprachlosigkeit, deren Kern die Erinnerungslosigkeit ist. Gegen diese
gilt es für den Traumatisierten anzukämpfen, denn “Trauerarbeit”, so lehrt die
Psychotraumatologie, “ist aufs engste mit der Verarbeitung der persönlichen
Erinnerungsreste verknüpft”.52 Das ist der eine, der psychotraumatologische
Aspekt.53
Der andere Aspekt, auf den sich Germania II für den Ich-Erzähler brin-
gen lässt, ist ein erzähltheoretischer, der mit einem auf den russischen
Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895–1975) zurückgehenden
Begriff gekennzeichnet werden soll, nämlich als Chronotopos. Der Begriff
bezieht sich – in einem allgemeinen Sinne – auf die wechselseitige Beziehung
von Raum und Zeit. Er kann sowohl eine Verräumlichung der Zeit meinen
(z.B. eine Straße, auf der sich die dargestellten Ereignisse abspielen) als auch
eine Verzeitlichung des Raums (z. B. ein Schloss, in “dem sich in sichtbarer
Form die Spuren der Jahrhunderte und der Geschlechter abgelagert haben”,54
etwa in Gestalt des Mobiliars oder einer Ahnengalerie).
Auf Alte Abdeckerei bezogen heißt das, dass die Präsenz der
Vergangenheit nicht dem Objekt selbst inhäriert, sondern die Gegenwart des

51
Vgl. Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-
klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal
der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart: Enke 1979 (Forum der
Psychiatrie N.F. 5). S. 55–58.
52
Ebd. S. 178.
53
Vgl. zur Psychotraumatologie, die sich in den deutschsprachigen Ländern
erst in den 1990er Jahren als eigenständiges Praxis- und Forschungsfeld inner-
halb der medizinisch-psychologischen Disziplinen etablierte, Fischer/Riedesser:
Psychotraumatologie [wie Anm. 45]. – Zu den Versuchen, das Konzept des
Psychotraumas für die philologischen Fächer theoretisch wie praktisch anschluss-
fähig zu machen, vgl. Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und
Empathie. Göttingen: Wallstein 2004. – Harald Weilnböck: Psychotraumatologie.
Über ein neues Paradigma für Psychotherapie und Kulturwissenschaften. In: lite-
raturkritik.de. Ausgabe 10: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_
id4264. Downloaded 2.9.2008. – Harald Weilnböck: „Das Trauma muss dem
Gedächtnis unverfügbar bleiben“. Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von
Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen. In: Mittelweg 36 17.2
(2007). S. 2–64.
54
Michael M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 183.

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Vergangenen für das wahrnehmende Subjekt durch konkrete Gegenstände


im Landschaftsraum signalisiert wird – wie eben Germania II bei dem Ich-
Erzähler zwanghaft die traumatischen Kriegs- und Familienerfahrungen
aufruft.55 Doch Chronotopoi müssen nicht notwendigerweise nur zu
Reaktualisierungen von Traumata führen, sondern können im Gegenteil auch
zu Ausgangspunkten für eine Traumadurcharbeitung im Sinne einer heilsa-
men Therapie werden. Genau diese Doppelfunktion nimmt Germania II in
Alte Abdeckerei ein.56
In meiner Argumentation werden, indem ich Bachtins Konzept des
Chronotopos mit einer psychotraumatologisch orientierten Literaturinterpre-
tation verbinde, zwei analytisch zu trennende Konzepte zusammengeführt.
Im Nachwort der 2008 erschienenen Neuausgabe von Bachtins Text
Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman wird zwischen sechs
Funktionen des Chronotopos-Konzepts bei Bachtin unterschieden.57 Auf zwei
dieser Funktionen habe ich mich in meinen Ausführungen bezogen: Zum
einen auf den Chronotopos als erzähltheoretische Kategorie, als “Form-
Inhalt-Kategorie”,58 die als Bestandteil der raumzeitlichen Organisation der
Handlung zugleich deren Inhalt prägt und die “grundlegenden Sujetereignisse”59
in eine bestimmte Bahn lenkt.60 Zum andern auf den Chronotopos als für die
literarische Darstellung des Menschen entscheidende Kategorie. Denn die
szenische Ausgestaltung determiniert auch maßgeblich die Darstellung des
Menschen, der sich innerhalb des betreffenden Raum-Zeit-Gefüges bewegt.61

55
Zu Recht notiert Butzer Fehlende Trauer [wie Anm. 12]. S. 334f., dass sich die
Industrielandschaft nicht allein auf den Nationalsozialismus bezieht, sondern
eben auch auf die “DDR-Zeit”: “In der alten Abdeckerei überlagern sich mehrere
Schichten deutscher Vergangenheit.”
56
Vgl. Jan Rupp: Erinnerungsräume in der Erzählliteratur. In: Raum und Bewegung
in der Literatur [wie Anm. 2]. S. 181–194. Hier: S. 182: “Die Darstellung und
Inszenierung von Erinnerungsräumen in der Erzählliteratur ist keine bloße
Widerspiegelung außerliterarischer Orte, sondern eine konstruktive, oft kon-
flikthafte Aushandlung über die Orte des kollektiven Gedächtnisses”.
57
Vgl. Bachtin: Chronotopos [wie Anm. 54]. S. 205–207.
58
Ebd. S. 8.
59
Ebd. S. 187.
60
Vgl. auch ebd. S. 187: „Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt
und gelöst“.
61
Vgl. Michael C. Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze
bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Raum und Bewegung in der Literatur
[wie Anm. 2]. S. 53–80. Hier: S. 73, der auf “die Gegebenheit epochenspezifischer
Semantiken des Raumes und der Zeit” verweist. “Jeder Autor konkretisiert, wenn
auch auf jeweils unterschiedliche Weise, die ihm vorgegebenen Vorstellungen von
Raum und Zeit, die solcherart das literarische Menschenbild determinieren”.

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Was die psychotraumatologisch orientierte Lektüre anbetrifft, so handelt es


sich bei ihr um “keine Psychoanalyse von Texten oder Autoren. Das tertium
comparationis ist vielmehr der Kommunikationsprozeß in Psychoanalyse und
Kunst”.62 D.h. es geht darum, die individuellen literarischen Ausdrucksformen
von traumatischen Erfahrungen zu erforschen, eine “neue Sprache” oder
“Meta-Sprache”,
die über die bisherigen, traumagebundenen Ausdrucksmittel hinausweist und
geeignet erscheint, das Paradoxon der ‘traumatischen Information’ – mit einer
Erfahrung zu leben, mit der sich nicht leben läßt – zu entschlüsseln und im drei-
fachen dialektischen Sinne dieses Wortes ‘aufzuheben’: d. h. sie aufzubewahren
(lat. conservare), und zwar als Erinnerung, sie zu eliminieren (tollere) und sie
zugleich auf eine neue, eine ‘Metaebene’ des Selbst- und Weltverständnisses hin
zu überschreiten (elevare).63

Hilbigs Alte Abdeckerei fordert geradezu dazu auf, eine chronotopographische


Lektüre, die die Phänomene der Verzeitlichung des Raums akzentuiert, mit
einer traumatologischen Lektüre zu verknüpfen.64 Erst mit dieser bifokalen
Lektüre lässt sich m.E. die Entwicklung des Ich-Erzählers plausibel nachvoll-
ziehen. Nachvollziehen, wie ein aufgrund seines Familien- und Sprachverlusts
traumatisch aus der Zeit Gefallener eine supplementäre Identität gewinnt.
Und zwar, indem er Orte wie Germania II als Gedächtnismedien begreift, die
auf eine unsichtbare Vergangenheit verweisen, mit der er erzählend in Kontakt
tritt. Auf diese Weise, indem er Orte als stumme Zeugen der Vergangenheit
wieder zum Sprechen bringt, arbeitet er sein Trauma durch und stellen sich
Stück für Stück auch wieder Erinnerungen an seine verschütt gegangene
Kindheit ein.
Ausgehend von dem Erinnerungstext Alte Abdeckerei könnte man
nun in Hilbigs Werk – mit einer gewissen begrifflichen Kühnheit – eine
Reihe von Traumatochronotopoi ausfindig machen, ja, die literaturwis-
senschaftliche Analyse der Interaktion von traumatisierten Figuren und
Zeitorten schlechthin als Traumatochronotopographie bezeichnen. Für eine

62
Gottfried Fischer: Psychoanalyse und Psychotraumatologie. In: Trauma [wie
Anm. 44]. S. 11–26. Hier: S. 16.
63
Ebd.
64
Sigrid Weigel unternimmt in dem “Topographische Poetologie” überschriebe-
nen Kapitel ihrer Bachmann-Studie eine ähnliche Lektüre, wenn sie – im Rekurs
auf Freuds topographisches Gedächtnis-Modell und Walter Benjamins Aneignung
desselben (vgl. Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter
Wahrung des Briefgeheimnisses. München: dtv 2003. S. 27–51 mit S. 248–250) –
schreibt: “Städte sind in Bachmanns Schriften die herausragenden Schauplätze
einer Gedächtnistopographie, in der die Bilder aus dem Unbewußten der Kultur mit
den Erinnerungsspuren des Subjekts korrespondieren” (ebd. S. 364).

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traumatochronotopographische Lektüre freilich eignet sich jegliche Literatur, in


der ‘Zeitorte’ als Ausgangspunkte zur Reaktualisierung bzw. Durcharbeitung
von Traumata fungieren.65
Zum Beispiel das Werk Reinhard Jirgls, in dem seit seinem
MutterVaterRoman zwei Pfeiler menschlicher Identitätsverankerung im
Vordergrund stehen, ein geographischer, die Heimat, und ein genetisch-sozi-
aler, die Familie. Beide bilden auch das Koordinatensystem des Romans Die
Unvollendeten aus dem Jahr 2003, umgesetzt in der Sehnsucht der Figuren
nach Heimat und Familienheil und der durchgängig zu gewärtigenden Realität
von Heimatverlust und Familienzerrüttung. Der Roman erzählt von dem sich
über vier Generationen erstreckenden Schicksal der sudetendeutschen Familie
Rosenbach – Großmutter Johanna, die beiden Töchter Hanna und Maria, die
Enkelin Anna und der Urenkel Rainer –, die im Nachkriegssommer 1945
aus ihrer Heimatstadt Komotau vertrieben wurde und sich darauf in der
SBZ/DDR ansiedelt. In den drei Teilen des Buches wird entfaltet, wie diese
Vertreibung über die Jahrzehnte und Generationen hinweg als Stigmatisierung
und Beschädigung der persönlichen Integrität der Familienmitglieder fort-
wirkt. Oder Kurt Drawerts Text Spiegelland von 1992, der, ausgehend
von dem nach der Wende den Ich-Erzähler bestimmendem Gefühl der
Heimatlosigkeit eine doppelte Absicht verfolgt: einen Rechenschaftsbericht
über die familiären Verstrickungen in die NS- und SED-Diktatur zu liefern
und als Selbstverständigungstext zu fungieren, durch den der Erzähler seine
Sprachkrise, die vom Ende der DDR ausgelöst wurde, überwindet.
Während Jirgl und Drawert die pathogenen Spätwirkungen der unauf-
gearbeiteten NS-Familiengeschichte vor dem Hintergrund der bereits
untergegangenen DDR literarisieren, so eignet sich eine traumatochronoto-
pographische Lektüre freilich auch, um die DDR-Geschichte ausdrücklich
selbst zu historisieren. So z.B. anhand der Wismut-Literatur von Angela
Krauß oder Lutz Seiler. In Der Dienst von Angela Krauß (1990) versucht
eine Tochter den Selbstmord ihres Vaters nachzuvollziehen, indem sie den
Uranbergbau im Erzgebirge mit den väterlichen Ostfronterfahrungen und
dessen Enttäuschungen über den Verlauf des Prager Frühlings verklammert.
Oder Lutz Seilers Erzählung Der gute Sohn (2009), in der ein Ich-Erzähler

65
Gerade unter dieser Perspektive wäre die Behauptung von Carsten Gansel zu
überprüfen, “dass in der DDR bis 1989 kein Manuskript zum Buch wurde, dass
in der Lage war, das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis ernsthaft zu erschüt-
tern“ (Carsten Gansel: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung.
Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gedächtnis und Literatur in
den ‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989.
Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 [Formen der
Erinnerung 29]. S. 13–37. Hier: S. 36).

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daran erinnert, welche Auswirkungen das langsame Verschwinden des für


den Uranbergbau geopferten Dorfes Culmitzsch für seine Bewohner mit sich
brachte.
Schließlich möchte ich noch Hilbigs Erzählung Die elfte These
über Feuerbach aus dem Jahr 1992 anführen, die ich in Bezug auf die
Historisierung des sozialistischen Epochenprojekts für einen Schlüsseltext
halte. Auf einer Taxifahrt durch die südlich von Leipzig gelegenen
Tagebaugebiete reflektiert der Schriftsteller W. über seinen Beitrag zu
einer tags darauf stattfindenden Veranstaltung zum Thema Utopie an der
Uni Leipzig. “Abraumkippen”, “bodenloses Terrain” und “ein Gewirr von
Schluchten und Dünen”66 säumen die Straße. “Und es verwunderte ihn nicht,
daß ihm hier in dieser Gegend die elfte Feuerbach These von Marx einge-
fallen war. . ..”67 Angesichts der “gründlich veränderte[n] Landschaft”,68 ja,
des “Wüstengelände[s]”69 wird ihm plötzlich klar und formulierbar, was ihm
während seiner früheren, aufgrund der Omnipräsenz des Staates ohnmächti-
gen Sprachlosigkeit70 stets verwehrt blieb: nämlich, dass die Veränderung der
Welt im Namen der Utopie bereits längst raumgreifend verwirklicht wurde.
Man hatte in der Gegend den Rohstoff aus dem Boden gegraben, welcher der
Wirtschaft des Landes den Energiebedarf sichern sollte für den Versuch, die
Welt zu verändern. Hier hatten die Reserven im Boden gelegen, die der Utopie
zu praktischer Wirklichkeit verhelfen sollten. Niemand hatte es je gewagt, den
Materialismus der Veränderungen zu interpretieren, seit die utopische Idee Fuß
gefaßt hatte in diesem Land . . . jetzt, nachdem sich die Verhältnisse gewendet
hatten, war es vorbei mit der Utopie, und die ganze Gegend blieb so, wie sie war.71

Die Verwirklichung der Utopie fand bereits statt, deren Veränderungen


sind das Erbe, das es nun zu interpretieren gilt. Prägnanter, so meine
ich, lassen sich die Hinterlassenschaften der Utopie der sozialistischen
Menschengemeinschaft, jener Zeit also, in der – wie es in einer Parole aus
der Gründungszeit der sozialistischen Planstadt Halle-Neustadt heißt – “das
Morgen schon Gegenwart”72 war, kaum historisieren.73

66
Hilbig: Erzählungen [wie Anm. 6]. S. 471.
67
Ebd.
68
Ebd. S. 472.
69
Ebd. S. 473.
70
Vgl. ebd. S. 472.
71
Ebd.
72
Markus Bader u. Daniel Herrmann: Wo das Morgen schon Gegenwart war. In:
halle-neustadt führer. Hg. von Markus Bader u. Daniel Herrmann. Halle (Saale):
Mitteldeutscher Verlag o.J. S. 5f. Hier: S. 6.
73
So verfehlt auch Corkhill (Alan Corkhill: Räume des Erinnerns und Vergessens
bei Wolfgang Hilbig. Erinnerungskonstellationen im Hilbigschen Werk. In: Literatur

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3. Geteilte Erinnerung
Nach 1945 bildeten sich zwischen West- und Ostdeutschland zwei grund-
legend unterschiedliche erinnerungspolitische Konstellationen heraus.
Während in der DDR, die sich auf der Grundlage einer sozialistischen
Einparteiendiktatur als Nachfolgestaat des antifaschistischen Widerstands
behauptete, bis zum Mauerfall das Widerstandsnarrativ dominierte, wurden
Holocaust, traumatische Kriegserfahrungen sowie Flucht und Vertreibung mar-
ginalisiert. Diese von Staats wegen betriebene Erinnerungsmonopolisierung
verlor mit der Wende ihren institutionellen Rückhalt und führte vor allem
in der Literatur zu einer Trauerarbeit, bei der naturgemäß auch die staatli-
chen Repressionserfahrungen und die spezifisch ostdeutsche soziokulturelle
Rahmung reflektiert wurden.74
Für ostdeutsche Autoren ist mit der Wende 1989/90 ein enormes Bedürfnis
entstanden, bisher ausgeklammerte Leidenserfahrungen artikulieren zu
können. Das wirft folgende Frage auf: Führten die mit der historischen
Zäsur sich im Diskurs um die deutsche Vergangenheit nach 1945 ergeben-
den Umschichtungen, Neubewertungen und Deutungskämpfe zu in der
DDR-Literatur nicht existierenden – und bis dato auch nicht vorstellbaren –
Gegenständen und Formen der literarischen Sagbarkeit? Etablierte sich
in der Post-DDR-Literatur eine – durch die nunmehr offene Hinwendung
zur Familiengeschichte zumal familiär perspektivierte – nachgeholte
Trauerarbeit?
1989 setzte in der Vergangenheitsorientierung der ostdeutschen Literatur
eine nachhaltige Wende ein. Einem Dammbruch gleich öffneten sich die
zuvor geheimen Archive, fielen die Tabus, die die DDR-Schriftsteller zuvor
auf das Verschweigen und Verdrängen verpflichteten.75 Unter den zahlreichen
Exponenten des öffentlichen Lebens, die die gewendeten Verhältnisse dazu
nutzten, in autobiographischen Texten ihre Rolle in den bislang ausgeblende-
ten Abschnitten der DDR-Vergangenheit zu beschreiben, befanden sich auch

für Leser 31.3 [2008]. S. 143–154. Hier: S. 154) die Pointe von Hilbigs chronoto-
pographischem Schreiben, wenn er behauptet, dass der “Blick aufs Große in diesem
Autor abhanden gekommen sei” und dagegen “die Regionalität von Hilbigs literari-
sierten Erinnerungsloci als eine Stärke” notiert. Vielmehr ist es so, dass die Beson-
derheit gerade in der Kombination von regionalen Chronotopoi mit geschichtlichem
Weitblick besteht.
74
Vgl. zur Trauerarbeit ostdeutscher Autoren nach 1989 auch Julia Kormann:
Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wiesbaden:
Deutscher Universitäts-Verlag 1999. S. 153–163.
75
Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe. Leipzig: Kiepenheuer 1996. S. 479.

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eine Reihe von Schriftstellern.76 Der Systemwandel forderte gleichsam dazu


auf, sich dessen zu vergewissern, was war, und es sich schreibend anzueig-
nen. Da schlug zum einen das autobiographische Motiv durch, sich auf der
Grundlage eines nunmehr vorbehaltlosen Selbstausdrucks eine stimmige, sich
durch innere Kohärenz auszeichnende individuelle Entwicklungsgeschichte
zu verleihen; zum andern wurde, weil jede Versprachlichung aufgrund
der Gleichzeitigkeit von individuellen und kollektiven Erinnerungen zur
Kongruenz der beiden Erinnerungsformen auffordert,77 das Begehren spür-
bar, ideologisch begründete Verdrängungsmechanismen offenzulegen. Ohne
die tabufreie Hinwendung zur Vergangenheit war für die in der DDR sozi-
alisierten Autoren der zweiten und dritten Generation nach dem Ende des
Kalten Krieges keine Reflexion über die eigene Gewordenheit bzw. keine
Voraussetzung für einen Neuanfang vorstellbar.
Nachdem mit der Wiedervereinigung sich das Bedürfnis nach kritischen
Stellungnahmen zu Gegenwartsproblemen der DDR erledigt hatte, durch-
setzte sich die gesteigerte Bereitschaft, sich zu erinnern, mit dem Bestreben,
den Leerstellen des offiziellen Geschichtsverständnisses nachzuspüren. Im
Zuge der sich der Perspektive des wiedervereinigten Deutschlands verdan-
kenden Tendenz zur Historisierung und Neubewertung, die die Geschichte
der beiden deutschen Staaten erfasste, wurde besonders der Umgang mit
dem Nationalsozialismus einer Revision unterzogen. Es gilt mithin, den
Blick darauf zu konzentrieren, ob die notorischen Erfahrungsdifferenzen in
den beiden deutschen Teilstaaten auch von einer “gespaltenen Erinnerung”
(Domansky) begleitet wurden, die auch im Ost-West-Vergleich der Literatur
nach 1989 noch deutlich spürbar ist. Denn auch in der erinnerungskultu-
rellen Literaturforschung sollte der Ost-West-Gegensatz als heuristischer
Ausgangspunkt nicht vorschnell zu einer einseitigen Synthetisierung aufge-
löst werden.78

76
Vgl. Ebd. S. 481. – Ortrun Niethammer: Konversionen und Renegaten.
Autobiographische Rückblicke auf die DDR anhand literarischer Beispiele von
Monika Maron und Uwe Kolbe. In: Literatur als Erinnerung. Winfried Woesler zum
65. Geburtstag. Hg. von Bodo Plachta. Tübingen: Niemeyer 2004. S. 325–346.
Hier: S. 326–332.
77
Vgl. Niethammer: Konversionen und Renegaten [wie Anm. 76]. S. 331.
78
Meike Herrmann etwa weist auf die generationengeschichtliche Ost-West-
Differenz nach 1945 hin (“Der Einschnitt 1968 fehlt fast ganz, der Einschnitt 1989
ist als viel wichtiger zu erachten”), macht sie aber nicht für ihre Untersuchung
fruchtbar: “Die im Folgenden aufgeführten Phänomene sollen trotzdem umfas-
send gelten, da sie an biographischen Umbruchssituationen wie dem Eintritt in
eine bestimmte Altersgruppe festgemacht sind”. Des ungeachtet markiert sie einen
grundsätzlichen Unterschied zwischen den literarischen Situationen in der frühen
Nachkriegszeit und der Nachwendezeit: “Die Tatsache, dass die Erfahrungsdifferenz

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In der Einleitung zu ihrem Sammelband Wende des Erinnerns?


Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989 fassen
die Herausgeber den Ost-West-Gegensatz als eine lange nachwirkende
Entzweiung in der deutschen Literatur: “Es bildeten sich zwei getrennte
Erinnerungskulturen aus, die zwar Berührungsmomente aufweisen, deren
Differenzen aber bedeutsamer sind”.79 Den von Jürgen Link geprägten Begriff
der “Diskulturalität” aufgreifend, spricht Wolfgang Emmerich von einem
geteilten kulturellen Gedächtnis, das sich zwischen der DDR und der BRD
herausbildete und noch deren Wiedervereinigung überdauert.80 Während, so
lauten die zentralen Argumente für die Erinnerungsspaltung zwischen den bei-
den deutschen Staaten, in der SBZ und späteren DDR der Gründungsmythos
vom Antifaschismus als Rechtfertigung für den Sozialismus, als gesellschaft-
liche Grundlage für den Aufbau eines zweiten deutschen Staates diente,81
war ‘1968’ in der DDR nur ein marginales Ereignis, das keinen relevanten
Einfluss auf die Bevölkerung ausübte und auch im kulturellen Gedächtnis des
Staates folgenlos blieb.

zwischen den Generationen durch die unterschiedliche biographische Gewichtung


der ost-, west- oder gesamtdeutschen Lebensabschnitte sowie vor dem Hintergrund
des Medienwandels und der Ausdifferenzierung des Literaturbetriebs eher größer
geworden ist, die verschiedenen Autorengenerationen aber – im Medium des Buchs
vereinheitlicht – nebeneinander auf dem Markt präsent bleiben, führt zu einer
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie es sie in dem Maße etwa in der Litera-
tur unmittelbar nach 1945 nicht gegeben hat” (Meike Herrmann: Vergangenwart.
Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger
Jahren. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010 [Epistemata Literaturwissen-
schaft 691]. S. 28).
79
Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand: Wende des Erinnerns?
[Einleitung]. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen
Literatur nach 1989. Hg. von Barbara Beßlich, Katharina Grätz, Olaf Hildebrand.
Berlin: Schmidt 2006 (Philologische Studien und Quellen 198). S. 7–17. Hier: S. 13.
80
Vgl. Wolfgang Emmerich: Cultural Memory East v. West: Is What Belongs
Together Really Growing Together? In: Oxford German Studies 38.3 (2009).
S. 242–253. Hier bes. S. 250, wo Emmerich seine These mit einer Zukunftsprognose
abrundet: “There can be no doubt, in my view, that the ‘Diskulturalität’ between
East and West Germans at and after the Wende has proven to be much stronger than
had been expected. My thesis is as follows: the cultural estrangement between East
and West is great and will remain so for a long time. It will become the history of at
least three generations”.
81
Vgl. zum Mythos des antifaschistischen Widerstandes Herfried Münkler: Die
Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009. S. 421–441.

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Der Mythos vom antifaschistischen Widerstand offerierte der ostdeutschen


Bevölkerung
eine psychologische Entlastungsstrategie, sich durch die Identifikation mit den
antifaschistischen Widerstandskämpfern und Opfern des Dritten Reiches rückwir-
kend symbolisch in deren Reihen einordnen und damit der Frage nach der eigenen
Verantwortlichkeit für und Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus
aus dem Wege gehen zu können.82

Da auch die BRD in den 1950er und frühen 1960er Jahren aufgrund der
Westintegration, des Antikommunismus und der eigenwilligen Interpretation
des Nationalsozialismus, wonach die Nazis als kleine Gruppe Krimineller
das deutsche Volk verführt, manipuliert und durch Terror zum Mitmachen
gezwungen habe, die einst gemeinsame Vergangenheit in vergleichbarer
Weise wie die DDR behandelte, wurde das Dritte Reich “aus der jeweiligen
Geschichte beider Staaten heraus- und in die des jeweils anderen Staates
hineinmanövriert”.83 Erst Ende der 1960er, 1970er und auch noch zum
Teil der 1980er Jahre beschäftigte man sich in der BRD nachhaltig mit den
Opfern des und den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus.
Diese, die westdeutsche Gesellschaft nunmehr überwölbende Erinnerung an
den Holocaust vertiefte jedoch “die Erinnerungsspaltung zwischen den bei-
den Teilen Deutschlands, da in der DDR die Erinnerungsmuster der fünfzi-
ger und sechziger Jahre nicht neu arrangiert wurden. Der Holocaust blieb
dort bis zur Mitte der achtziger Jahre (nahezu) vollständig vergessen”.84
Mit Blick auf ‘1968’ könnte man Folgendes resümieren: Während sich in
Westdeutschland maßgeblich angestoßen von der 68er-Bewegung eine opfer-
zentrierte Erinnerungskultur etablierte,85 führte just deren Fehlen in der
DDR86 zu einem Festhalten der ostdeutschen Bevölkerung am Mythos des
Antifaschismus – auch über das Jahr 1990 hinaus.87

82
Elisabeth Domansky: Die gespaltene Erinnerung. In: Kunst und Literatur nach
Auschwitz. Hg. von Manuel Köppen. Berlin: Schmidt 1993. S. 178–196. Hier:
S. 182.
83
Ebd. S. 185.
84
Ebd. S. 188.
85
Vgl. dazu umfassend Jureit u. Schneider: Gefühlte Opfer [wie Anm. 43].
86
Vgl. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution.
Frankfurt a. M.: Fischer 2002. S. 23: “Und als ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR gilt [. . .], daß es eben
dort kein ‘68’ gegeben hat; oder, noch apodiktischer: ‘daß die DDR eine deutsche
Geschichte minus 1968 war’”. – Vgl. ferner Stefan Wolle: Der Traum von der
Revolte. Die DDR 1968. Berlin: Links 2008.
87
Vgl. Domansky: Die gespaltene Erinnerung [wie Anm. 82]. S. 192. – Und:
Annette Leo: Antifaschismus. In: Erinnerungsorte der DDR. Hg. von Martin
Sabrow. München: Beck 2009. S. 30–42.

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Sprich: Nach einer Phase der staatssozialistischen Deutungshoheit, in der


die Energien der (familiendynamischen) NS-Aufarbeitung aufgestaut wur-
den, wanderten diese Energien in die Kulturkritik und die Kunst ab. So war
nach der Wiedervereinigung die Zeit reif, um jetzt die mit Krieg und Flucht
verknüpften und über Jahrzehnte belastenden Erfahrungstransfers – beson-
ders auf literarische Weise – zu bearbeiten. Damit ereignete sich in der
Post-DDR-Literatur gleichsam eine Transformation des Geständniszwangs
(vor gesamtdeutscher Öffentlichkeit) mit dem Ergebnis einer – zumal in
familienliterarischer Form – nachgeholten Trauerarbeit.
1968 und seine Folgen, zu denen gehört, dass die BRD das Dritte Reich
als Teil seiner Geschichte akzeptierte und den Holocaust erinnerte, der
in der DDR ebenso wie die Kriegsfolgen, Flucht und Vertreibung weiter-
hin weitgehend vergessen blieb, etablierten eine neue Erinnerungsspaltung
im geteilten Deutschland (vorher: Interpretation des Dritten Reiches als
Terrorherrschaft einer kleinen Gruppe Krimineller im Westen vs. psycholo-
gische Selbstentlastung durch den Antifaschismus-Mythos im Osten). Diese
Erinnerungsspaltung markiert nicht nur eines der Haupthindernisse auf dem
Weg zu einer politisch wie publizistisch gerne heraufbeschworenen ‘Einheit
der Nation’, sondern bewirkten auch eine Unterdrückung der familiären
Überlieferungen im offiziellen Geschichtsdiskurs. Vor allem die Literatur –
und hier zumal die autobiographisch geprägte – übernahm nach der poli-
tischen Wende die Funktion, die unausgesprochenen oder unbewusst
bleibenden Aspekte des Vergangenen der öffentlichen Reflexion zugänglich
zu machen, besonders die facettenreichen Familiengeschichten aus der fami-
liären Intimsphäre zu befreien und in Form einer literarisch-reflexiven
Trauerarbeit in das kulturelle Gedächtnis des vereinigten Deutschland zu
übersetzen. Im Vergleich zur BRD der 1970er und 1980er Jahre nachgeholt
sind diese Geschichten insofern, als sich bis zum Ende der DDR kein der
Ende der 1970er Jahre boomenden Väterliteratur vergleichbares Genre entwi-
ckelte, das die familiäre Nachgeschichte von NS und Holocaust literarisierte.
Diese nachgeholte Trauerarbeit wird in der Post-DDR-Literatur flankiert –
wofür exemplarisch Angela Krauß, Lutz Seiler und Hilbigs Die elfte These
über Feuerbach angeführt wurden – von einer Tendenz zur literarischen
Historisierung von spezifischen DDR-Erinnerungsorten. Perspektivisch aus-
gedrückt: Nicht nur die Wismut und die thüringisch-sächsischen Tagebaue,
sondern auch Erinnerungsorte wie die Mauer, die sozialistischen Planstädte
oder Bautzen bilden einschlägige Ausgangspunkte für eine literarische
Traumatochronotopographie der DDR-Geschichte.

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Matthias Schöning

Untergründige Koinzidenz: Christa Wolf, der


“Deutsch-deutsche Literaturstreit” und die
Bezugnahmen auf die “Große Kontroverse”
The aim of this essay is to divide analytically the different aspects of the paralleliza-
tion of the debates concerning literature in 1989 and in 1945 and to uncover the dis-
course that underlies the “Deutsch-deutscher Literaturstreit”. For this purpose I dwell
on the so-called “Große Kontroverse” to remind of the debaters’ point of reference in
1990 and to illustrate how pragmatic differences and discursive identities accompany
each other. Subsequently, I distinguish several modes of reference to the prior contro-
versy and assess their validity. Finally, I interpret Christa Wolf’s Die Stadt der Engel
as a late answer to the parallelization of the debates and elaborate the self-revision of
Wolf’s poetics contained in her book.

1. Der “Literaturstreit” als Institution und diskursives Ereignis


Literaturwissenschaftliche “Rückblicke” – wie sie der vorliegende Band
verspricht – und öffentliche literarische Kontroversen haben gemeinsam, dass
sie die Bedeutung einer zurückliegenden literarischen Epoche, die Höhen und
Tiefen einer “Literaturlandschaft” oder ein anders konfiguriertes Textkorpus
sichten, bewerten und einordnen. In beiden Fällen handelt es sich um intel-
lektuelle Praktiken, die ihren Gegenstand nicht schon vorfinden – auch wenn
der Ausdruck “Landschaft” etwas anderes suggeriert. Vielmehr wird im Zuge
der Sichtung und Bewertung ein Konglomerat von Texten und Kontexten,
von Werken und Personen, von Äußerungen und Institutionen in eine
Gegenständlichkeit allererst erzeugende Ordnung gebracht, die wiederum von
den Vorannahmen und Maßstäben, den Perspektiven und Werten derjenigen
Systeme und Diskurse, Felder und Akteure abhängt, die diese Sichtung und
Bewertung vornehmen. Insofern sind beide “Rückblicke”, der literaturwis-
senschaftliche und der literaturkritische, niemals nur archivarisch, sondern
vielmehr konstruktiv. Indem sie Bilanz ziehen, stellen sie in der jeweiligen
Gegenwart die Vergangenheit her, auf die in der nächsten Zukunft – sei es als
Vorbild, sei es als Mahnung oder gänzlich neutral – referiert werden wird.1

1
Diese Überlagerung der drei Zeitdimensionen, die jeder kulturellen Praxis
unwiderruflich eingeschrieben ist, gehört inzwischen zum Theorien übergrei-
fenden common sense der Kulturwissenschaften. Daher die variantenreiche
Formulierung, die für Subjekt und Objekt der Operation verschiedene (theorieab-
hängige) Begrifflichkeiten anbietet. Die entscheidenden Differenzen bestehen in der

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Dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeit, die besagte Rückblicke und


Bilanzen mit jeder Art von Selbstverständigung im kulturellen Feld tei-
len, stehen die Differenzen hinsichtlich Adressaten, Zielsetzung und
Vorgehensweise gegenüber. Die Unterschiede lassen sich system-, diskurs-
und medienspezifisch aufgliedern und zu Typen von Bilanzierungsdebatten
mit ganz unterschiedlicher Reichweite und Nachhaltigkeit verdichten.
Während etwa der von Emil Staiger provozierte ‘Zürcher Literaturstreit’2 pri-
mär Literaturwissenschaftler und Schriftsteller involviert, die Pressevertreter
aber nur Bericht erstatten, verläuft die Frontlinie im ‘Deutsch-deutschen
Literaturstreit’ des Jahres 1990 primär zwischen den Literaturkritikern
der großen westdeutschen Zeitungen und den Schriftstellerinnen und
Schriftstellern der DDR (verschiedene ‘Überläufer’ eingeschlossen) – und die
akademische Literaturwissenschaft beobachtet und analysiert das kommuni-
kative Ereignis und die ausgetauschten Argumente. Literaturwissenschaft und
Literaturkritik nehmen in der Konstellation mit einer öffentlich debattierten
Literatur insofern tendenziell komplementäre Rollen ein, in denen jeweils
die eine Profession vorrangig als Akteur agiert, während die je andere in der
Rolle eines Beobachters zweiter bzw. dritter Ordnung fungiert.3 Über diese
typologischen und strukturellen Differenzen hinaus wird der einzelne Fall,
wird die konkrete Debatte, nicht zuletzt durch die historische Semantik und
andere geschichtliche Indices der jeweiligen Situation geprägt, die den Streit
sich ereignen und öffentlichen Widerhall finden lassen.

unterschiedlichen, z.T. gegensätzlichen Programmierung des Zusammenhangs


der Zeitdimensionen, die – verteilt über das ganze Spektrum der Möglichkeiten –
entweder identitätsstiftende Kontinuität oder machtvolle Regulierung, kritische
Weitergabe oder epistemologische Brüchigkeit betonen. Das methodologische
Bewusstsein für die Textualität, Rhetorizität und insofern Konstruiertheit von
Geschichte geht maßstäblich auf Hayden White: Metahistory. Die historische Ein-
bildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main: Fischer 2008
[amerik. EA 1973] zurück. – Für exemplarische Fallstudien zur Konstruktion von
Vergangenheit in verschiedenen Kulturen vgl. den klassischen Aufsatzband: The
Invention of Tradition. Hg. von Eric Hobsbawm und Terence Ranger. Cambridge:
University Press 1992 [1983] (Reihe: Canto).
2
Vgl. Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deut-
schen Literatur von Adorno bis Walser. München: C.H. Beck 2004 (Beck’sche
Reihe). S. 68–83.
3
Die von der Systemtheorie Niklas Luhmanns geborgte Terminologie mit ihrer
Unterscheidung von Beobachtern verschiedener Grade unterstreicht sowohl die –
gleichsam ontologische – Gemeinsamkeit der Konstruktivität als auch die Differenz
der systemspezifischen kommunikativen Rollen. Vgl. z.B. Niklas Luhmann: Die
Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. S. 92–164.

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Vor allem auf der mittleren Ebene der typischen pragmatischen Zielsetzung
(oberhalb der konkreten zeitgeschichtlichen Bindung) unterscheiden sich lite-
raturwissenschaftliche von literaturkritischen Bestandsaufnahmen in allen
genannten Punkten, d.h. gleichermaßen hinsichtlich Adressaten, Zielsetzung
und Vorgehensweise. Während die literaturwissenschaftliche Epochenbilanz
künftiger Forschung zuarbeitet, indem sie Einzeltexte analysiert, inter-
pretiert und zu syn- und diachron strukturierten Textkorpora zusammen-
stellt, um künftigen Studien in diesem Bereich die Aufgabe der schlichten
Erschließung des Forschungsgebiets abzunehmen, zielt die literaturkritische
Tätigkeit auf die Literatur selbst. Ihre Adressaten sind Schriftsteller und
andere Kulturschaffende, ihre Zielsetzung ist die Einflussnahme auf den Gang
der Literatur oder zumindest auf deren feuilletonistische Begleitung. An ihr
Vorgehen werden dabei keine wissenschaftlichen Maßstäbe wie terminologi-
sche Präzision, argumentative Kohärenz oder kriterielle Spezifizität angelegt,
sondern das Kriterium ist der diskursive Erfolg selbst, so dass die literaturkri-
tische Kommunikation insgesamt “strategisch” genannt werden kann.4 Werfen
sich in der Debatte einzelne Teilnehmer mangelnde Differenziertheit oder feh-
lende Sachadäquation vor, so dienen solche Vorwürfe nicht der Hebung des
Niveaus der sachlichen Auseinandersetzung, sondern der Diffamierung des
Gegners bzw. umgekehrt der Durchsetzung der eigenen Position. Während
der wissenschaftliche Text – von dem deswegen nicht behauptet werden soll,
dass er neutral wäre – Ansatzpunkt und Gewicht eines jeden Arguments
explizit ausweisen sollte,5 lebt die öffentliche Debatte von Anspielungen und
Insinuationen, die eine untergründige Wirkung entfalten, die sich dem ersten
Blick verbirgt. Verstärkt wird die Wirkung öffentlicher Debatten nicht zuletzt
dadurch, dass ein Exempel im Wortsinne statuiert wird, d.h. dass ein einzelner
prominenter Autor, dessen Exemplarität mehr angenommen als aufgewiesen
wird, für die Schwächen einer ganzen Generation, einer Strömung oder ästhe-
tischen Position herhalten muss, wenn das Feuilleton die Zeit der Abrechnung
für gekommen hält.

4
Zum Begriff “strategische Kommunikation” vgl. Jürgen Habermas: Theorie des
kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp
1502). Band 1. S. 348ff.
5
Die methodologischen Anforderungen an wissenschaftliche Texte – das haben
die Theoriedebatten zur Genüge unter Beweis gestellt – garantieren nicht poli-
tische, moralische oder sonstige Neutralität. Insofern es sich dabei aber um
Zweitcodierungen handelt, sind die wissenschaftlichen Kriterien so lange unver-
zichtbar, wie eine Äußerung nicht lediglich politisch, moralisch etc. sein will.
Für kommentierende Stellungnahmen in der Tages- oder Wochenpresse gelten solche
Anforderungen nicht. Doppelcodierungen dieser Art gehören nicht zu Ihrer Praxis.

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Dabei trägt jedes einzelne Element einer solchen Kampagne, auch wenn
es mit der deklarierten Stoßrichtung der Fehde direkt gar nichts zu tun zu
haben scheint, nicht nur Munition zur Entscheidung der im Zentrum ste-
henden Fragen bei: Von den antisemitischen Vorurteilen und homopho-
ben Diffamierungen in Heinrich Heines Streit mit August von Platen6 bis
zum Vorwurf der Spießigkeit an die Adresse von Emil Staiger im Zürcher
Literaturstreit sind die Diffamierungen ad personam nicht lediglich mehr
oder weniger grobe Mittel zum Zweck, sondern zugleich Anzeichen historisch
spezifischer Semantiken, die aus dem Streit über Literatur Richtungskämpfe
um “sich wandelnde politische, kulturelle und literarische” Selbstdeutungen7
einer Gesellschaft machen. Auf dieser unteren, speziellen Ebene, auf der
sich die Einzelfälle der immer wieder ähnlich instrumentierten Institution
“Literaturstreit” konkretisieren, bringt nicht so sehr der neuerliche Streit um
die ästhetische Qualität irgendeines Werkes oder einer Literaturströmung die
spezifische historische Situation zum Ausdruck, sondern vielmehr zeigt die
‘Wahl der Waffen’ an, was die Stunde geschlagen hat.
Das gilt auch für den so genannten “Ersten deutsch-deutschen
Literaturstreit” des Jahres 1990, der in sehr expliziter Form die literarisch-
ästhetische Qualität der DDR-Literatur in Frage stellt und damit den in allen
gesellschaftlichen Bereichen geführten Streit (um den jeweiligen Wert eines
Gegenstandes oder einer Praxis aus der der Bundesrepublik beitretenden
DDR) auf literarisches Gebiet trägt. Interessanter als die bloße Tatsache, dass
der Kampf um Macht, Ansehen und die Regeln ihrer Verteilung in der neu ent-
stehenden gesamtdeutschen Gesellschaft auch vor Literatur und Kunst nicht
Halt machen, sind die Mittel, mit denen er geführt wird. Die Rolle eines emi-
nenten historischen Anzeichens spielt hier vor allem die Bezugnahme auf die
so genannte “Große Kontroverse” des Jahres 1945/46 zwischen Thomas Mann
als Stellvertreter der Exilliteratur und Walter von Molo sowie insbesondere
Frank Thiess als Apologeten der ‘Inneren Emigration’. Geht es, wie bereits
gesagt, den Kritikern erklärtermaßen darum, im Jahr der Wiedervereinigung
die ästhetische Qualität der ehemaligen DDR-Literatur in Zweifel zu ziehen,
um unausgesprochen, aber leicht durchschaubar, den Einfluss ihrer Autoren
im Literaturbetrieb des vereinigten Deutschland zu reduzieren,8 so ist nicht
auf den ersten Blick klar, was die wiederholte beiläufige Parallelisierung der

6
Vgl. Hans Mayer: “Der Streit zwischen Heine und Platen”. In: Ders.: Außenseiter.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 207–223.
7
Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn: W. Fink/UTB 2008 (Literaturwissen-
schaft elementar). S. 50.
8
Zu dieser Form der Analyse intellektueller Positionskämpfe vgl. Pierre Bourdieu:
Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1.
Hamburg: VSA 1992.

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Situation der DDR-Literatur mit der der ‘Inneren Emigration’ dabei schließ-
lich bewirkt. Die damit vorgenommene Abwertung zu einer politisch kontami-
nierten, historisch und regional bedingten Schwundform moderner Literatur,
die nicht länger anschlussfähig ist, verhält sich zwar gleichsinnig zu expliziter
und impliziter Zielsetzung und ist insofern pragmatisch leicht zu erklären. Als
Anzeichen der historischen Situation scheint die Parallelstellung aber nicht
ganz in dieser flankierenden Dienstleistungsfunktion aufzugehen, zumal die
auf diesem Wege in ein schiefes Licht gerückte Christa Wolf sich ihrerseits
des Rückverweises auf die Situation der Emigranten im Jahr 1945 bedient.
Signifikant für den historischen Augenblick am Vorabend der
Wiedervereinigung ist zunächst die Parallelsetzung von nationalsozialisti-
scher und staatssozialistischer Kultur im Geiste der Totalitarismustheorie, die
nicht nur der DDR-Kultur rundheraus abspricht, bewahrenswerte kulturelle
Leistungen hervorgebracht zu haben, sondern zugleich mit dem kulturprägen-
den Konsens der alten BRD bricht, der aus der Singularität der nationalso-
zialistischen Verbrechen eine Sonderstellung der Bundesrepublik im Konzert
der Völker ableitet. Um die politische ‘Normalisierung’ der Bundesrepublik
kann es im Folgenden nicht gehen, gleichwohl aber um einen der vielen
Schauplätze, aus denen sie sich zusammensetzt. Denn signifikant ist auch,
dass die gegnerischen Parteien des Deutsch-deutschen Literaturstreits unaus-
gesprochen die Überzeugung eint, die den Rückbezug auf die Debatte des
ersten Nachkriegsjahres sachlich motiviert, nämlich dass die Epoche der
Nachkriegsliteratur 1989 zu Ende gegangen ist und daher eine Revision ihrer
leitenden Literaturkonzepte geboten scheint.
Ziel dieses Aufsatzes ist es, die verschiedenen Aspekte der Parallelisierung
der Literaturdebatten von 1989 und 1945 analytisch zu trennen, um den
Diskurs freizulegen, der dem Deutsch-deutschen Literaturstreit zu Grunde
liegt. Zu diesem Zweck gehe ich zunächst (2.) auf die so genannte “Große
Kontroverse” ein, um den Bezugspunkt der Debattierenden des Jahres 1990
in Erinnerung zu rufen und an einem ersten Beispiel zu zeigen, wie pragmati-
sche Differenzen und diskursive Identität einher gehen können. Im Anschluss
daran werden (3.) verschiedene Formen der Bezugnahme auf die ältere
Kontroverse unterschieden und hinsichtlich ihrer Stichhaltigkeit geprüft (4.).
Abschließend gehe ich auf Christa Wolfs jüngstes Buch ein, um es zunächst
als späte Antwort auf die Parallelisierung der Debatten von 1945 und 1990
(5.) zu deuten und schließlich die darin angedeutete Selbstrevision ihrer
Poetik herauszupräparieren (6.).

2. Die “Große Kontroverse” um den Exilanten Thomas Mann


Die schon bald nach dem Ereignis so genannte “Große Kontroverse”, d.h.
der im August 1945 losgetretene Streit um die ästhetische und moralische

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Wertigkeit von Exilliteratur und ‘Innerer Emigration’, begann mit einem offe-
nen Brief Walter von Molos an Thomas Mann.9 Walter von Molo forderte
in diesem Brief Thomas Mann dazu auf, nach Deutschland zurückzukehren
und sich seinen deutschen Landsleuten zuzuwenden, um in einer historischen
Situation, in der über das weitere Schicksal Deutschlands noch nicht entschie-
den war, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Das auffälligste rhetorische
Mittel des Vortrags ist die fünffache Wiederholung der Aufforderung “kom-
men Sie bald”, die dabei zweimal als Bitte eingeleitet wird. Das klingt dann
z.B. so:
Bitte, kommen Sie bald und zeigen Sie, daß der Mensch die Pflicht hat, an die
Mitmenschen zu glauben, immer wieder zu glauben, weil sonst die Menschlichkeit
aus der Welt verschwinden müsste. [. . .] Wir müssen endlich jeder dem alle
Menschen einigenden dienen, das Gemeinsame, Verbindende, nicht weiter oder
neu das Trennende suchen, denn Haß und pauschale Herabsetzung und unrichtig
abgekürzte Geschichtsbetrachtungen zu vergänglichen Zwecken sind unfrucht-
bar und führen zu Katastrophen; das haben wir doch in unserer Lebensspanne in
schrecklicher Art erfahren. [. . .] Kommen Sie bald wie ein guter Arzt, der nicht
nur die Wirkungen sieht, sondern die Ursache der Krankheit sucht und diese vor-
nehmlich zu beheben bemüht ist[. . .]. [. . .] Kommen Sie bald zu Rat und Tat. [. . .]
Suchen wir wieder gemeinsam – wie vor 1933 – die Wahrheit, indem wir uns alle
auf den Weg zu ihr begeben und helfen, helfen, helfen! In diesem Sinne Ihr Walter
von Molo10

Das Eigentümliche dieses offenen Briefes besteht darin, dass Thomas Mann
zwar als Therapeut adressiert, zugleich aber in eine Art Zwangspflicht
genommen wird. Er wird einerseits als Heilkundiger angesprochen, ande-
rerseits werden ihm die Qualitäten, die ihn als einen solchen hervorheben,
als eine unabstreifbare Verpflichtung entgegengehalten, der gegenüber es
keine Entscheidungsfreiheit gibt. Dieser eigentümliche Sprechakt erzeugt
Motivverdacht: Thomas Mann und dessen moralische Autorität sollen
offensichtlich instrumentalisiert werden – ob dem Verfasser das vollends
bewusst ist oder nicht. Dem Text scheint als Motiv eingeschrieben zu
sein, Thomas Mann zu einer Rückkehr als einer Geste der Verzeihung zu

9
Vgl. grundsätzlich auch Gerhard Kurz: “‘Innere Emigration’. Zur öffentli-
chen Kontroverse zwischen Walter v. Molo, Thomas Mann und Frank Thieß”.
In: Öffentlicher Sprachgebrauch: Praktische, Theoretische und Historische
Perspektiven. Hg. von Karin Böke u. a. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
S. 221–235.
10
Walter von Molo: „[Walter von Molo an Thomas Mann]“ (redaktioneller Titel
des offenen Briefes an Thomas Mann). In: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter
von Molo: Ein Streitgespräch über die äußere und innere Emigration. Dortmund:
Buchdruckerei W. Crüwell o.J. [1946] (Druckschriften Vertriebsdienst). S. 2.

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zwingen, um mittelbar die im Raum stehende ‘Schuldfrage’11 zu kriminali-


sieren und ihr so auszuweichen. Thomas Mann antwortet denn auch in sei-
ner “Rundfunkbotschaft an Deutschland”, seinem zweiten Beitrag in dieser
Auseinandersetzung, er wolle sich “besser hier draußen [. . .] einsetzen für die
Europahilfe, für die Errettung deutscher Kinder vom Hungertode, als drüben
eine Milderungsagitation übernehmen, von der man nie [wisse], ob sie nicht
dem deutschen Nationalsozialismus dien[e]”.12
Diese Antwort, die das implizierte Ansinnen explizit zurückweist, gilt
freilich nicht nur Walter von Molo, denn noch bevor Thomas Mann auf des-
sen offenen Brief überhaupt reagieren konnte, spitzte Frank Thieß in seinem
berühmt-berüchtigten Artikel mit der Überschrift “Innere Emigration” die
Kontroverse entscheidend zu, indem er den Streitpunkt verschob. Ihm ging es
nicht um eine Aufforderung zur Rückkehr, um Thomas Manns Autorität zu
instrumentalisieren, sondern um deren zunehmend radikale Infragestellung.
Bekannt geworden ist das pejorative Schlagwort von den “Logen[. . .] -plätzen”
des Exils, die Thomas Mann und andere Exilanten in den Jahren 1933–45
eingenommen hätten. In direktem Zusammenhang damit steht die in allen
drei Beiträgen von Thiess durchgehaltene Rechtfertigung für den Verbleib
in Deutschland mit Hinweis auf die kognitiven Vorzüge der Zeugenschaft.
Diesbezüglich schreibt Thiess gleich im ersten Beitrag “Innere Emigration”:
Männer wie Kasimir Edschmid, Hermann Keyserling, Walter von Molo, Erich
Kästner, Werner Bergengruen, ja sogar betont “nationale” Schriftsteller wie Hans
Grimm und Ernst Wiechert befanden sich sehr bald in einer Isolierung, die sich
für viele von ihnen wirtschaftlich verhängnisvoll auswirkte, ihnen dafür aber einen
Schatz an Einsicht und Erfahrung gab, der für ihre künftige Arbeit von größtem
Wert sein kann. / Auch ich bin oft gefragt worden, warum ich nicht emigriert sei,
und konnte immer nur dasselbe antworten: falls es mir gelänge, diese schauerli-
che Epoche (über deren Dauer wir uns freilich alle getäuscht hatten) lebendig zu
überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche
Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus
hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der
deutschen Tragödie zuschaute.13

Von Beitrag zu Beitrag tritt die Kehrseite der ebenso durchtriebenen wie
topisch bewehrten Rechtfertigungsstrategie, nämlich die Diskreditierung des
Exils, mehr und mehr in den Vordergrund und gipfelt darin, dass Thomas
Manns Zugehörigkeit zur deutschen Literatur grundsätzlich in Frage gestellt

11
Fast zeitgleich erschien 1946 Karl Jaspers: Die Schuldfrage sowohl in Heidelberg
als auch in Zürich (dort mit dem Zusatz: Ein Beitrag zu deutschen Frage).
12
Thomas Mann: “Rundfunkbotschaft”. In: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter von
Molo. [wie Anm. 10] S. 6–7. Hier: S. 7 (Hervorhebung von mir; M.Sch.).
13
Frank Thiess: “Innere Emigration”. In: Ebd. S. 2–3. Hier: S. 3.

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wird.14 Entscheidend ist hier jedoch nicht so sehr der völkische Zug, der
Thiess’ Argumentation grundiert, als vielmehr die fortwährende Reklamation,
die Teilnahme am kollektiven Geschick sei eine Inspirationsquelle, aus der
moralische und literarische Erneuerung erfolge, und mithin ein Reichtum, der
mit materieller Armut niemals zu teuer erkauft sei:
Muß es für einen schöpferischen Geist, der am zeitlosen Deutschland zu hängen
glaubt, nicht furchtbar sein, gerade jetzt, gerade in diesen Tagen einer Neugeburt
aus Blut und Qualen, nicht inmitten seines Volkes zu stehen? Er mag wohl, des
bin ich gewiß, Stunden der Zerrissenheit und der Einsamkeit erlebt haben, um
die wir ihn nicht beneiden. Denn all die Trümmer um uns, so wirklich sie in ihrer
Schrecklichkeit sind, sie sind doch zugleich Symbol der Zerstörung einer Welt,
die wir als nie wiederkehrend hinter uns wissen. Sie sind das Abbild einer inneren
Zerstörung, dem Zerbrechen einer Schale zu vergleichen, aus der man uns heraus-
stieß, damit wir endlich aus ihr emporsteigen in die Wahrheit neuer Gesittung und
wahrer Selbsterkenntnis. Wir, die wir alles erlebten, können es verstehen, er konnte
es drüben nicht.15

Thiess Ausführungen sind tief eingelassen in den deutschen Diskurs, der Geist
und Macht resp. Geld als polare Alternative begreift und den öffentlichen
Erfolg stets als Verrat des Geistes beargwöhnt, wie Helmuth Plessner bereits
in den Zwanzigerjahren beklagt hatte.16 Im Unterschied dazu ruft Walter von
Molo den Dichterfürsten an, den Repräsentanten, dessen Handeln symboli-
sche Kraft hat. Der gemeinsame Zweck der Beiträge von Walter von Molo und
Frank Thieß besteht trotz dieser unterschiedlichen Bezugnahme auf Thomas
Mann jedoch im gemeinsamen Interesse an der Schuldabwehr, das lediglich
auf unterschiedliche Weise verfolgt wird. Darin besteht der Zusammenhang
der Beiträge, der von Thomas Mann denn auch tatsächlich so verstanden und
zurückgewiesen wurde, wie oben bereits zitiert. Im Besonderen ist allerdings
Frank Thiess17 für den schlechten Ruf der Kampagne verantwortlich, die in
exemplarischer Weise vorführt, wie sich jemand dadurch reinwaschen will,
dass er andere mit Dreck bewirft.
Weniger eindeutig zu bestimmen ist demgegenüber die Position von
Thomas Mann. Einerseits erscheint Thomas Manns Abwehr der Zumutungen

14
Vgl. Frank Thiess: “Abschied von Thomas Mann”. In: Ebd. S. 5–6. Hier: S. 6.
15
Frank Thiess: “Frank Thieß antwortet Thomas Mann”. In: Ebd. S. 7–8. Hier: S. 8.
16
Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen
Radikalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2003. Band V. S. 7–133.
17
Zu Thiess’ Rolle im Nationalsozialismus vgl. Yvonne Wolf: Frank Thiess und der
Nationalsozialismus. Ein konservativer Revolutionär als Dissident. Tübingen: Max
Niemeyer Verlag 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 114).

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wie ein Vorschein der “Westernisierung”,18 die die bundesrepublikanische


Gesellschaft unter den Augen der westlichen Besatzungsmächte bald schon
zu prägen beginnt, wenn er schreibt:
Heute bin ich amerikanischer Bürger und lange vor Deutschlands schrecklicher
Niederlage habe ich öffentlich und privat erklärt, daß ich nicht die Absicht hätte,
Amerika je wieder den Rücken zu kehren. Meine Kinder, von denen zwei Söhne
noch heute im amerikanischen Heer dienen, sind eingewurzelt in diesem Lande,
englisch sprechende Enkel wachsen um mich auf. Ich selbst, mannigfach ver-
ankert auch schon in diesem Boden, bin da und dort ehernhalber gebunden, in
Washington, an den Hauptuniversitäten der Staaten, die mir ihre Honorary Degrees
verliehen. Ich habe mir an dieser herrlichen, zukunftatmenden Küste mein Haus
errichtet, in dessen Schutz ich mein Lebenswerk zu Ende führen möchte – teilhaft
einer Atmosphäre von Macht, Vernunft, Überfluß und Frieden. Geradeheraus: Ich
sehe nicht, warum ich die Vorteile meines seltsamen Loses nicht genießen sollte,
nachdem ich seine Nachteile bis zur Hefe gekostet.19

Es zeugt von durchaus bemerkenswertem Mut, in der so sehr von einer


Semantik der ethischen Verpflichtungen und des kollektiven Geschicks
bestimmten Auseinandersetzung derart ‘egoistische’ Motive auszuflaggen,20
von denen Thomas Mann leicht ahnen kann, dass böse Zungen sie ihm bald
entgegen halten werden. Weitet man jedoch den Kontext aus, so erweist sich
der zur Schau getragene Amerikanismus der Denkweise andererseits jedoch
als lediglich situativ gebrauchte Souveränitätsgeste. Von der am 29. Mai 1945
in der Library of Congress gehaltenen, im Oktober desselben Jahres in der
Neuen Rundschau und 1947 sogar separat veröffentlichten Rede Deutschland
und die Deutschen bis zum Doktor Faustus stellt Thomas Mann weniger
‘amerikanische’ als ‘deutsche Diagnosen’ – was nichts anderes heißen soll,
als dass er darin fortfährt, in nationalkulturellen Mustern zu denken, die
weniger Ironie vertragen als seine (nicht immer zurecht) viel gescholtenen
Betrachtungen eines Unpolitischen.21 Es ist daher vollkommen berechtigt,

18
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?
Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1990.
19
Thomas Mann: “Offener Brief für Deutschland”. In: Thomas Mann, Frank Thieß,
Walter von Molo. [wie Anm. 10]. S. 3–5. Hier: S. 4.
20
Vgl. Mann: “Rundfunkbotschaft” [wie Anm. 12]. S. 6.
21
Vgl. jetzt die äußerst hilfreiche Neuausgabe: Thomas Mann: Betrachtungen
eines Unpolitischen. Hg. u. kommentiert von Hermann Kurzke. Frankfurt a.M.: S.
Fischer Verlag 2009 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe). Band 13.1 u. 13.2
(Kommentar). – Zur Diskursposition des Textes am Ende des Ersten Weltkriegs
vgl. Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektu-
elle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2009. S. 86ff.

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wenn Wolf Lepenies urteilt, dass “die Bitterkeit der Auseinandersetzung zwi-
schen Vertretern der ‘Inneren Emigration’ und Exilanten [. . .] nicht zuletzt
daher [rührte], dass sie – trotz aller Unterschiede [. . .] – eine deutsche
Gemeinsamkeit miteinander teilten: die Präferenz, die kulturellen Faktoren in
der Erklärung politisch-moralischer Tatbestände gegeben wurde”.22 Lepenies
gibt damit einen wichtigen Hinweis darauf, dass die sich so unversöhnlich
gebenden Gegner vieler Debatten von einer gemeinsamen Tiefenstruktur
zehren, die ‘in der Hitze des Gefechts’ Teilnehmern und Beobachtern meist
verborgen bleibt. Und tatsächlich bleibt festzuhalten, dass der Dissens der um
Thomas Mann und seine Stellung zu Deutschland und der deutschen Literatur
streitenden Parteien einen Deutschland-Diskurs weiterführt, dessen inne-
rer Dissens letztlich kleiner dimensioniert ist als der große Unterschied zur
Literatur der nachfolgenden Generationen.
3. Parallelisierung von “Großer Kontroverse” und
“Deutsch-deutschem Literaturstreit”
Die Debatte der jüngsten Nachkriegszeit ist denn auch insoweit dem Vergessen
anheimgefallen, als die Initiatoren nur noch den Spezialisten erinnerlich sind –
und auch diesen vielfach nur dem Namen nach. Thomas Mann dagegen ist
kanonisiert und durch Film und Fernsehen nach wie vor präsent, ohne dass
eine Spur des Streits, die ihm eine mögliche Rückkehr nach Deutschland ver-
gällt und seine Stellung in der Nachkriegsliteratur beeinträchtigt hat, noch an
ihm haften würde. Erst der Deutsch-deutsche Literaturstreit hat die Debatte
von damals in Erinnerung gerufen, indem er auf mindestens dreierlei Weise
einen Zusammenhang zwischen beiden Kontroversen hergestellt hat.23
Erstens sind wiederholt Analogien zwischen ‘Innerer Emigration’ und
DDR-Literatur hergestellt worden, zweitens sind die Aussagen von Autoren
beider historischer Umbruchsituationen auf Ähnlichkeiten hin verglichen
worden und drittens ist von manchen Beobachtern die als Streit bereits reflek-
tierte Fehde mit der “Großen Kontroverse” in Beziehung gesetzt worden.
Darüber hinaus sind unreflektierte Identifikationen zu verzeichnen, wie sie
etwa darin zum Ausdruck kommen, dass die Süddeutsche Zeitung in einer
Umfrage zur Einschätzung von DDR-Autorinnen und Autoren den durch die

22
Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München-Wien: Hanser
2006. S. 295.
23
Vgl. insg. auch den instruktiven Aufsatz von Wolfgang Gabler: “Die konser-
vierte Kontroverse. Literaturstreit nach 1945 und nach 1989: Vom Sinn einer
Analogiebildung”. In: 1945–1995: 50 Jahre deutschsprachige Literatur in
Aspekten. Hg. von Gerhard Knapp und Gerd Labroisse. Amsterdam: Rodopi 1995
(Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 38/39). S. 495–522.

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alliierte Entnazifizierung prominent gewordenen Begriff des “Mitläufers”


benutzt,24 was denn auch sogleich von Hans Mayer moniert wird.25
Belege für die bewusst vorgenommenen Analogiebildungen wären zu
Punkt eins z.B. Marcel Reich-Ranickis in seiner Fernsehsendung Das literari-
sche Quartett getätigte Aussage, es sei vollkommen falsch, DDR-Autoren und
‘Innere Emigration’ zu vergleichen,
weil jeder Schriftsteller im Dritten Reich, der irgendeinen Widerstand gewagt hat,
sein Leben oder zumindest die Haft, KZ und Ähnliches riskiert hat. Immerhin, in
der DDR ist in den letzten 10 Jahren kein einziger Schriftsteller verhaftet worden.
So groß war das Risiko nicht, dort in Ungnade zu fallen. Und dies spricht nicht für
diese Schriftsteller.26

Der Unverfrorenheit des Gesagten kommt man am besten mit einer


Explikation des Implizierten bei, auch wenn Reich-Ranickis Aussage nicht
schwierig zu verstehen ist. Reich-Ranicki vergleicht im Modus der Negation.
Er stellt die Vergleichbarkeit in Abrede, um damit gleichwohl eine Aussage
zu den Vergleichsgegenständen zu machen. Dass ‘Innere Emigration’
und DDR-Literatur nicht vergleichbar seien, heißt im Klartext, dass die
Zwangslage der DDR-Intellektuellen geringer und deshalb – wie in einem
Modell kommunizierender Röhren – ihre moralische Verantwortung um so
größer gewesen sei, woran sich die Folgerung anschließt, dass sie diesbe-
züglich versagt hätten. Unverfroren ist diese Stellungnahme einerseits, weil
sie in ihrer Generalisierung falsch ist, die von der Stasi ausgeübte Gewalt
klein redet und die vielen Fälle weniger prominenter Schriftstellerinnen und
Schriftsteller unterschlägt, deren Arbeit mit massiven Mitteln unterdrückt
wurde.27 Andererseits macht Reich-Ranickis Aussage zwei Voraussetzungen,
die man im Einzelnen diskutieren, aber nicht umstandslos als gegeben anneh-
men und dann auch noch verknüpfen kann, wenn man eine dem Sachverhalt
in seiner Historizität angemessene Einschätzung abgeben will (was hier
offensichtlich nicht der Fall ist, aber selbstredend nicht expliziert wird).

24
Klaus Podak: “Geeint miteinander streiten. Schriftsteller in der DDR: Waren
sie nur Mitläufer und Oppostunisten? – Eine Umfrage”. In: Süddeutsche Zeitung
25.6.1990.
25
Ebd.
26
Zitiert nach Thomas Anz: “Initiation des Streits”. In: Es geht nicht um Christa
Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von dems. München:
Edition Spangenberg 1991. S. 45–55. Hier: S. 50.
27
Vgl. außer dem Fall von z.B. Peter Fuchs die von der Büchergilde Gutenberg
verlegte Reihe “Die Verschwiegene Bibliothek” mit Texten aus dem von den
Herausgebern Ines Geipel und Joachim Walther gegründeten “Archiv unterdrückter
Literatur in der DDR”.

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Die Voraussetzungen nämlich, dass die DDR in keiner Hinsicht etwas getaugt
und ihren Bürgern nichts zu bieten gehabt habe und dem entsprechend von
denkenden Menschen nur prinzipiell habe abgelehnt werden können, führt zu
einer grundsätzlichen Verfehlung der literarischen Kultur der DDR.
Nachhaltiger als diese spontane Gelegenheitsschmähung, die zahlreiche
Proteste nach sich gezogen hat, war der Vorstoß von Frank Schirrmacher, der
die Aussagen von Autoren beider historischer Umbruchsituationen in sehr
anspielungsreicher Weise der Ähnlichkeit bezichtigte:
Wenn eine Diktatur zu Ende ist, reden die Beteiligten nicht von Schuld und
Mitverantwortung, sondern von der Notwendigkeit einer neuen Sprache. Vor der
Gewissensnot in die diffusen Räume des Unsagbaren zu flüchten, das war aller-
dings schon die Übung der vom Nationalsozialismus belasteten Intellektuellen der
Nachkriegszeit – Wiederholungszwang der Geschichte.28

Schirrmacher agiert weniger ungeschützt als sein Vorgänger auf dem Chef-
Posten des FAZ-Feuilletons und justiert seinen Angriff präziser. Ihm ist
es nicht unmittelbar um die Abwertung einer nicht mehr zu ändernden
Vergangenheit zu tun. Diese dient vielmehr als Mittel, um aktuelle und
künftige Diskursmacht festzulegen. Analog zur Frage des Wechselkurses
zwischen Ost- und Westwährung geht es hier um den Wechselkurs des sozi-
alen und symbolischen Kapitals der DDR-Intellektuellen innerhalb der
nach 1989 entstehenden gemeinsamen Öffentlichkeit. Indem er Christa
Wolfs Suche nach einer “neuen Sprache” als Ausflucht vor der moralischen
Verantwortung als repräsentativer DDR-Schriftstellerin anprangert, versucht
er die Transformation ihres symbolischen Kapitals aus der Zeit der DDR
in Westwährung zu unterbrechen. Der Erfahrungsschatz, den die zu allem
Überfluss auch noch Was bleibt betitelte Erzählung ausstellt, soll gerade nicht
bleiben, sondern abgewertet werden. Außer der Tatsache, dass man moralisch
fehlt, wäre aus den Zwängen und Nöten einer zwischen der Verantwortung
gegenüber dem Publikum und den kulturpolitischen Vorgaben balancierenden
Literatur29 für das gemeinsame Deutschland demnach nichts zu lernen.
Über den unmittelbar situativen Zusammenhang hinaus erweist sich die
Abrechnung mit der DDR-Literatur als Gelegenheit, auch auf den intel-
lektuellen Bühnen des Westens die Gewichte neu zu verteilen. In politi-
scher Perspektive mündet “die Abfertigung der DDR-Literatur [. . .] in eine
Generalabrechnung mit jeglicher linksorientierten deutschen Literatur.

28
Frank Schirrmancher: “‘Dem Druck des härteren. Strengeren Lebens standhal-
ten’”. In: Es geht nicht um Christa Wolf [wie Anm. 26]. S. 77–89. Hier S. 87.
29
Zu diesem Spannungsfeld vgl. Matthias Schöning: “Kassiber der Zustimmung.
Christa Wolfs Der geteilte Himmel und die narrative Codierung von Individualität
im Literatursystem der DDR”. In: Weimarer Beiträge 57, 2011. H.1. S. 76–100.

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Zur Disposition steht nicht dieser oder jener individuelle Ostautor, son-
dern die gesamtdeutsche Nachkriegsliteraturtradition linker Provenienz”.30
Offensichtlich geht es um Intellektuellen-Politik, deswegen fehlt in keiner
Darstellung des Streits die Zuschreibung weltanschaulicher Epitheta wie
“liberal”, “konservativ” etc. an die Adresse der die Beiträge publizierenden
Tages- und Wochenzeitungen. Eine solche Perspektivierung hat jedoch den
Nachteil, dass sie den Diskurs der Bundesrepublik ungebrochen reproduziert
und dazu zwingt, sich auf eine Seite der konstitutiven politischen Differenz zu
schlagen, während es doch – wäre es den Kritikern ernst mit der Revision der
ost- wie der westdeutschen Literaturtradition – darum gehen müsste, mit den
eingespielten und nach wie vor reflexhaft funktionierenden Diskursmustern
zu brechen.
4. Diskursgeschichtliche Zusammenhänge
Richtig ist jedenfalls, dass Christa Wolfs Publikation des vermeintlich älte-
ren Textes zu diesem Zeitpunkt den Beginn einer eigenen Neujustierung der
Position im intellektuellen Feld anzeigt. Für eine solche Feststellung braucht
es keinerlei Mutwillen, sondern lediglich Unparteilichkeit und analyti-
sche Intention. Nicht richtig ist, dass dieser primär moralischen Kategorien
gehorcht. Vielmehr diktiert der Systemwandel mit seinem Zusammenbruch
aller Koordinaten des literarischen Feldes die Suche nach einer neuen litera-
rischen Strategie.31 – Trotzdem kann man in einem zweiten Schritt natürlich
feststellen, dass der ‘intellektuelle Devisenhandel’, zu dem die etablierten
Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR gezwungen sind, deswegen kei-
neswegs unschuldig ist. Auf der anderen Seite sind aber auch die Wächter an
der Pforte des BRD-Diskurses keine unabhängigen Richter, sondern Anwälte
in eigener Sache. Hinsichtlich Schirrmachers wird das strategische Moment
seiner Kommunikation deutlich, wenn man tatsächlich einmal das Verhalten
in den von ihm und anderen lediglich assoziativ aufeinander bezogenen
Debatten nach 1945 und 1990 vergleicht.
Tut man dies, dann ist zunächst einmal zu konzedieren, dass eine
durchaus identische Diskurstradition aus den Texten der Autorinnen und
Autoren beider Literaturfehden spricht, die in den jeweiligen historischen
Schwellensituationen ihr Handeln und Schreiben in der Vergangenheit für die
neue Situation programmieren. Leidensdruck und Kreativität werden dabei
als produktives Verhältnis inszeniert und schmerzliche Zeugenschaft soll in

30
Weninger: Streitbare Literaten [wie Anm. 2]. S. 143f.
31
Womit freilich noch nicht behauptet wäre, dass der Text Was bleibt von Christa
Wolfs eine solche neue Strategie bereits kennzeichnete. Zunächst einmal verweist
lediglich der Umstand der Publikation auf einen entsprechenden Bedarf.

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einen ästhetischen Wert verwandelt werden. Mit dem Argumentationsmuster,


das Frank Thieß in penetranter Weise ausbeutet, arbeitet auch Christa Wolfs
Erzählung Was bleibt, die von Beginn an eine enge Relation zwischen der
schriftstellerischen Arbeit an der Sprache und der persönlichen Erfahrung der
Überwachung durch ein totalitäres Regime herstellt:
Doch [. . .] der Sprachgrenze würde ich mich erst nähern, wenn ich mir zutraute zu
erklären, warum an jenen Tagen, an denen die Autos nicht in Wirklichkeit, nur als
Phantombild auf meiner Netzhaut vorhanden waren, die Angst nicht von mir wich,
nicht einmal geringer war als an Tagen der offensichtlichen Observation.32

Während Literatur, die sich nicht aus den Ressourcen persönlicher Erfahrung
speist, in den Verdacht gerät, ein beliebiges Spiel mit Wortmaterial, Sujets und
Dramaturgien zu betreiben, inszeniert sich die Literatur der Kriegsteilnehmer
und Diktaturopfer als eigentliche Kunst, die verbürgt, was sie zeigt und
vor deren historischem Ernst das Problem der Arbitrarität der auch von ihr
gebrauchten Zeichen zur Nichtigkeit verblasst.
Diskursgeschichtliche Zusammenhänge aufzudecken, ist auch das Ziel
des bereits im Jahr fünf des wiedervereinigten Deutschlands erschienenen
Artikels von Antonia Grunenberg, “Das Unglück der Literatur”, der bereits
die Debatten als solche aufeinander bezieht.33 Damit liegt ein Beispiel für
eine dritte Form von Rückbezug auf 1945 vor. Diese ist nun weniger partei-
lich als historisierend zu nennen. Auch Grunenberg bezieht zwar ausdrücklich
Stellung und lässt keinen Zweifel an ihrer grundsätzlichen ‘Westorientierung’,
die sich darin ausdrückt, dass sie die DDR nicht zuletzt als Residuum einer
Form von Kulturkritik begreift, die einmal den nach 1945 in Westdeutschland
mühsam beendeten deutschen Sonderweg konstituierte. Zugleich aber vermei-
det sie sowohl jede Parteinahme innerhalb der Debatte als auch jede Form der
Schuldzuweisung, um stattdessen mit diskurstherapeutischer Intention eine
Art nachholender Europäisierung anzumahnen.
Wie Grunenberg deutlich macht, war die 1945 und 1990 parallelisie-
rende Invektive insofern durchaus produktiv, als sie die Aufdeckung von
Diskurszusammenhängen anregt. Gleichwohl muss man sagen, dass die
konkrete Diagnose ‘autoritärer Charaktere’ von Frank Schirrmacher “das
Problem nicht [trifft]”.34 Schirrmacher bedient sich nicht nur eines Begriffs

32
Christa Wolf: Was bleibt. München: dtv 1994 (Sammlung Luchterhand). S. 21.
33
Antonia Grunenberg: “Das Unglück der Literatur”. In: Die Zeit 8.4.1994. S. 49f.
34
Anke-Marie Lohmeier: “Schriftstellers ‘Verantwortung’ und Autors ‘Tod’.
Autorkonzepte und offene Gesellschaft am Beispiel des deutsch-deutschen
Literaturstreits”. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. von Heinrich
Detering. Stuttgart-Weimar: Metzler 2002 (Reihe: DFG-Symposien). S. 557–569.
Hier: S. 560.

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aus dem Nachkriegsvokabular der kritischen Theorie35 und aktualisiert damit


den intellektuellen Jargon der alten Bundesrepublik. Indem der Diskurs über
Schriftsteller und Gesellschaft moralisiert wird, wird er wider den ersten
Anschein fortgeschrieben und die dichotomische Lagerbildung reproduziert,
die man wahlweise mit politischen oder ästhetischen Begriffen plakatie-
ren kann, die aber in jedem Fall zu den konstitutiven Voraussetzungen eines
politisierten Literaturdiskurses gehört, wie er die Bundesrepublik über weite
Strecken geprägt hat. Zwar kann davon gesprochen werden, dass im Zuge
der Fundamentalkritik an der DDR-Literatur zugleich die linksintellektu-
elle Hegemonie im kulturellen Feld gebrochen werden soll, keineswegs aber
kann davon die Rede sein, dass der Deutsch-deutsche Literaturstreit aus den
Diskurstraditionen der alten Bundesrepublik ausschert. Im Gegenteil wird der
Diskurs der alten BRD weniger verabschiedet als fortgeführt, um gleichsam
kurz vor Schluss doch noch die Scheuer einzufahren.
5. Rekonfiguration der Parallelisierung der Debatten von 1945 und 1990
Wie bereits gesagt, muss man weder den Diskurs noch die Autorinnen und
Autoren, die sich neuerlich in diesen einschreiben, dafür kriminalisieren, dass
sie den Topos von der Geburt der Kunst aus innerer oder äußerer Bedrückung
erneuern. Ebenso wenig ist die Kritik dafür zu tadeln, dass sie erst jetzt
ihre Maßstäbe errichtet und die Kriterien schärft, während zuvor keine lau-
ten Töne zu hören waren. Zunächst einmal dokumentieren beide Seiten nur,
dass sich die bedeutenden Literaturfehden typischerweise an Fragen der
Programmierung der Schnittstelle zwischen Literatur und Realität entzün-
den. Besonders brenzlig wird der Streit dann, wenn ein Paradigma durch ein
anderes abgelöst wird und die Koordinaten des intellektuellen Feldes, die
zugleich die Ressourcenverteilung bestimmen, zur Neuverhandlung anstehen.
Da es sich um eine außerparadigmatische Situation handelt, werden notwen-
digerweise immer falsche oder schiefe Maßstäbe auf Situationen projiziert,
in denen nach anderen Prinzipien gehandelt wurde. Entscheidend dürfte
vielmehr sein, ob die alten Literaturkonzepte restituiert, übertüncht oder
tatsächlich renoviert werden, wenn sich der Theaterdampf der feuilletonisti-
schen Kämpfe verzogen hat.
Um dieser Frage nachzugehen, wird abschließend der bis dato letzte
Ausläufer der Debatte, das neueste Buch von Christa Wolf, Stadt der Engel
oder The Overcoat of Dr. Freud, hinzugezogen. Christa Wolfs Buch legt einer-
seits davon Zeugnis ab, um was es geht, wenn man den Deutsch-deutschen
Literaturstreit vor allem als Streit um die Zukunftsfähigkeit der miteinander

35
Vgl. nur Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Hg. von Ludwig
von Friedeburg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.

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konkurrierenden west- vs. ostkulturellen Traditionsreste begreift. Andererseits


ist Wolfs Buch ein Dokument der poetologischen Selbstüberprüfung, das
sicherlich einen trotzig beharrlichen Zug hat, zugleich jedoch in einem
elaborierten Sinne sentimentalisch ist: Im Bewusstsein einer irreversi-
bel veränderten politischen und historischen Position zieht Christa Wolf
Schlussfolgerungen für ihre Literaturkonzeption. Dabei geht sie vielleicht
noch nicht mit letzter Konsequenz vor, man wird ihr aber nicht absprechen
können, dass sie Neujustierungen ausprobiert.
In Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud nämlich treffen wir
auf eine fiktive Erzählerin (welche freilich einiges mit der Autorin gemein
hat), die einerseits zwischen den Literaturen und Debatten von 1990 und
1945/46 einen Zusammenhang herstellt und andererseits im Zuge ihrer eige-
nen Reflexion des Vorgefallenen und seiner historischen Voraussetzungen ihre
DDR-spezifische Literaturkonzeption einer Revision unterzieht. Die Prüfung,
der Christa Wolf sich und ihre Autorschaftskonzeption unterzieht, wird sich
als erheblich produktiver erweisen als die angestrengte Generalabrechnung
der westdeutschen Feuilletons mit der DDR-Literatur, als deren Exempel sie
herhalten musste – allerdings mit der Pointe, dass Sie in einer entscheidenden
Hinsicht zu einem gar nicht so sehr verschiedenen Ergebnis kommt wie ihre
Kritiker.
Verletzt von öffentlichen Anfeindungen, die ihr Lebenswerk in ein schiefes
Licht rücken und bald auch ihre Biographie wegen doch wohl eher nachrangi-
ger Stasi-Kontakte an den Pranger stellen werden, sucht die für ein akademi-
sches Jahr als Writer in Residence am Getty Institute Los Angeles installierte
Erzählerin Trost u.a. beim Thomas Mann der Tagebücher aus den letzten
Jahren des Exils.36 Die Konstellation ist nicht nur deshalb glücklich, weil
Thomas Mann wenige Kilometer vom Aufenthaltsort der Erzählerin entfernt
seine amerikanische Exilzeit verbracht hat und die “Stadt der Engel” über-
haupt eine Emigrantenstadt war und ist, deren Spuren im Buch auf mehreren
Ebenen nachgegangen wird. Sinnstiftend ist der Bezug auf Thomas Mann vor
allem deshalb, weil er zur nächstgelegenen historischen Schwelle zurückführt,
die den Anfang der Epoche markiert, an deren Ende Erzählerin und Autorin
ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Leistungen und Unterlassungen, kurzum
ihr Leben auf die Probe gestellt finden. Das vorrangig zitierte Tagebuch der
Gründerjahre der deutschen Doppelstaatlichkeit 1949 und 1950 spiegelt die
Situation zumal dadurch, dass es die Notate Thomas Manns im Zuge seiner
Rückkehr nach Europa enthält sowie Randbemerkungen und ausgeschiedene

36
Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1949–1950. Hg. von Inge Jens. Frankfurt a.M.:
S. Fischer 1991.

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Passagen der beiden Goethe-Preisreden von Frankfurt am Main und Weimar,


die den Autor vor genau die weltgeschichtliche Situation des Kalten Krieges
stellen, deren Nachbeben Christa Wolf heimsuchen. Mann und Wolf verbin-
det einerseits der objektive Zwang, die eigene Konzeption von Autorschaft im
Angesicht der historischen Situation zu prüfen, und andererseits der Umstand,
dass ihnen eine öffentliche Debatte diktiert wird, in der sie zugleich als
Teilnehmer und Exempel – oder auch nur als Exempel – fungieren.
Christa Wolf greift damit die assoziative Parallelisierung der histo-
rischen Schwellenjahre von 1945 und 1990 auf, konfiguriert aber die
Personenkonstellation neu und macht damit auf einen Unterschied der
Debatten aufmerksam, der von den Initiatoren des Vergleichs sorgsam unter-
schlagen worden war. Während die ‘Inneren Emigranten’ Walter von Molo
und insbesondere Frank Thiess Thomas Mann angreifen, befindet sich
die ihnen assoziativ an die Seite gestellte Christa Wolf in Stellvertretung
für die DDR-Literatur nicht in der Position der Angreiferin, sondern
der Angegriffenen. Hält man sich das vor Augen, dann erweist sich die
Verbindung, die Wolf nun in ihrem jüngsten Buch Stadt der Engel zwischen
sich und Thomas Mann herstellt, nicht als larmoyante Einfühlung in die
Exilsituation, sondern als Antwort auf die Zuschreibungen des Literaturstreits.
Indem die Autorin Christa Wolf den von der bevorstehenden Rückkehr nach
Europa beunruhigten Thomas Mann der Tagebücher als Parallelfigur ihrer
Erzählerin zur Seite stellt, die zwar in entgegengesetzter Bewegungsrichtung
unterwegs, aber gleichsinnig beunruhigt ist hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit
zu einem Literatur- und Kulturraum – indem sie also diese Konstellation
entwirft, setzt sie der Verteilung der Positionen durch den Literaturstreit,
der sie in pejorativer Absicht an die Seite der ‘Inneren Emigration’ gerückt
hatte, eine alternative Aufstellung entgegen, die freilich – wenn auch still-
schweigend – das symbolische Kapital Thomas Manns für sich beansprucht.
Im Unterschied zu Thomas Mann allerdings, der in seiner ersten Antwort auf
die Angriffe gekontert hatte, dass in seinen Augen “Bücher, die von 1933 bis
1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wert-
los [seien] und nicht gut, in die Hand zu nehmen”,37 geht Christa Wolf nicht
zum Gegenangriff über, sondern unterzieht ihre Literaturkonzeption einer
selbstständigen Prüfung, die sich von den Zumutungen des Feuilletons frei
hält. Wie ihr Buch zeigt, muss die autonome Prüfung nicht weniger scho-
nungslos sein als die diktierte, wenn es gelingt, die Frage aus dem morali-
schen Bereich zu lösen und auf das literaturästhetisch viel wichtigere Feld der
Autorschaftskonzeption zu transponieren.

37
Mann: “Offener Brief ” [wie Anm. 19]. S. 4.

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6. Ansätze zur Selbstrevision


Abschließend soll eine Lesart von Stadt der Engel oder The Overcoat of
Dr. Freud skizziert werden, die dieses Buch in erweiterter Hinsicht als eine
Antwort auf den Literaturstreit begreift. Sie exponiert die These, dass den
Text die Bereitschaft kennzeichnet, das von Beginn der Autorschaft Christa
Wolfs an praktizierte Literaturkonzept einem Eignungstest zu unterziehen. Im
Gewand der Treue zum eigenen Schreibverfahren, das darin zum Ausdruck
kommt, dass Wolf sich eine Erzählerin schafft, die über weite Strecken als
Doppelgängerin der Autorin erscheint, obwohl sie als fiktiv gelten soll, fin-
det Christa Wolf nicht nur die Sprache, um nachträglich auf den Streit zu ant-
worten, in dem sie nur Gegenstand, aber nicht Partei war, sondern auch die
Kraft, um sich dessen sachliche Substanz zu eigen zu machen und sich die
Frage vorzulegen, wie sich das Ende der DDR auf ihre Literaturkonzeption
auswirke.
Bereits der erste Abschnitt ist hinsichtlich dieser Zielsetzung unübersehbar
signifikant. Es wird erzählt, wie der Pass der fiktiven Ich-Erzählerin bei der
Grenzkontrolle Aufsehen erregt:
[E]r blätterte lange darin, studierte jedes einzelne Visum [. . .] schließlich richtete
er den Blick seiner eisblauen Augen auf mich: Germany? – Yes. East Germany. –
Weitergehende Auskünfte zu geben wäre mir schwergefallen, auch sprachlich,
aber der Beamte holte sich Rat am Telefon. Diese Szene kam mir vertraut vor,
das Gefühl der Spannung kannte ich gut, auch das der Erleichterung, als er, da die
Antwort auf seine Frage wohl befriedigend gewesen war, endlich das Visum stem-
pelte und mir meinen Paß mit seiner von Sommersprossen übersäten Hand über die
Theke zurückreichte: Are you sure this country does exist? – Yes, I am, antwortete
ich knapp, das weiß ich noch, obwohl die korrekte Antwort “no” gewesen wäre
und ich, während ich lange auf das Gepäck wartete, mich fragen mußte, ob es sich
wirklich gelohnt hatte, mit dem noch gültigen Paß eines nicht mehr existierenden
Staates in die USA zu reisen, nur um einen jungen rothaarigen Einreisebeamten zu
irritieren.38

Die zitierte Episode leitet den Prozess der Neubestimmung der Position des
eigenen Werks in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ein und setzt
den neuralgischen Punkt vorausgreifend in Szene. Mit der DDR, auf deren
Existenz die fiktive Autorin bei ihrer Ankunft in der Stadt der Engel so trot-
zig beharrt, hat die reale Autorin den gesellschaftlichen Rahmen verloren, der
ihren Texten Relevanz garantierte und die Funktionstüchtigkeit ihres Konzepts
engagierter Literatur sicherstellte. So sehr der Anspruch auf Relevanz und
Realitätsfülle nach wie vor das Voraussetzungssystem der Autorschaft von
Christa Wolf bestimmt, so sehr dokumentiert ihr Text deren schmerzliche
38
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2010. S. 9f.

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Unverfügbarkeit. Los Angeles – ausgerecht die Stadt Disneylands und


Hollywoods möchte man sagen – ist der Ort, an dem die weder gänzlich fik-
tive noch reale Erzähler-Autorin tatsächlich “aus allen Himmeln stürzt” (so
die Überschrift des ersten Kapitels) und zunächst um die Weltreferenz ihrer
Texte zu kämpfen scheint. Tatsächlich ist der zur Selbstprüfung ausersehene
Ort jedoch höchst angemessen, und zwar gerade nicht wegen der sympathe-
tisch instrumentalisierten Emigrantinnen und Emigranten, sondern weil die
Stadt ein Zeichenlabor ist, ein semiotisches Experimentierfeld, das von den
Filmstudios bis zur Semiotik der Erdbebenwarnungen die Kommunikation
von Codes erprobt, deren Referenz stets zweifelhaft bleibt. Der sich zuneh-
mend abzeichnende Verlust des engagierten Literatur- und Weltmodells, der
der Erzählerin zwischenzeitlich selbst die Lesbarkeit einfachster Zeichen wie
Verkehrsampeln unmöglich macht, kann hier nicht das letzte Wort bleiben.
Die Schriftstellerin gewinnt die weltordnende Kraft ihrer Sprache
denn auch in genau dem Moment zurück, in dem sie ihren Anspruch auf
Authentizität zurücknimmt, reduziert. Nachdem die Autorin/Erzählerin
berichtet hat, wie der fiktive Bob Rice die Geschichte erzählt, wie die Witwe
des historischen Architekten Richard Neutra ihm den fiktiven Mantel des
ebenfalls historischen Sigmund Freud geschenkt und wie er ihn gehütet, aber
wieder eingebüßt habe, fährt sie folgendermaßen fort:
What do you think about my story, fragte Bob mich später. Hör zu sagte ich,
morgen werde ich anfangen, ein Buch zu schreiben, das wird heißen:

DIE STADT DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD


Mach das, sagte Bob, und dann kam sein großmütiges Angebot: Nimm dir alles,
was du brauchen kannst.
Alles? fragte ich. / Alles, sagte er.
Das wird ein Buch werden, sagte ich, das ich nicht veröffentlichen kann.39

Wir wohnen hier der Urszene bei, die das Buch, das Christa Wolf schließlich
vorgelegt hat, poetologisch möglich macht. Es konnte veröffentlich werden,
weil die Szene fiktiv ist und insofern urheberrechtlich gesehen Christa Wolf
gehört und ihre (neue) Autorschaft begründet, nicht aber jenem fiktiven
Bob Rice eignet, der innerdiegetisch zwar der Erzählerin seine Geschichte
schenken können mag und damit auf sein Urheberrecht verzichtet, damit
aber noch lange nicht ihre Autorschaft begründen kann. Das metaleptische
Selbstzitat des Buchtitels stellt die Initialzündung des realen Buches inner-
halb der erzählten Welt dar, indem es innerdiegetisch die Devestitur des
Autorschaftskonzepts signalisiert, mit dem Christa Wolf bis dato angetreten
war, und auf deren Trümmern sie nun eine neuerliche Autorschaft begründet.

39
Ebd. S. 155.

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Freuds Overcoat bewahrt die Autorin/Erzählerin bei ihrer Selbstprüfung


gerade dadurch vor dem drohenden Selbstverlust, dass er ihre Autorschaft mit
geschenkten Geschichten neu beginnen lässt. Ihr Text wird damit vom proble-
matisch gewordenen Anspruch auf Real-Referenz befreit und wäre – vor dem
Hintergrund des historischen Umbruchs und der begleitenden Debatten – als
Antwort in der Sache zu lesen.

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Heinz-Peter Preußer

Kritik als Loyalität.


Ein Rückblick auf den Legitimationsdiskurs späterer
DDR-Literatur ausgehend von Christa Wolfs Stadt der Engel
The controversial debate held in a reunified Germany on the merit of East and West
German literary production has primarily highlighted the fundamental ambivalence
of the critical but loyal East German intelligence and exhibited once more quite dra-
matically the difference between self-perception and external perception. A prominent
example for the attempt to establish a more general, yet quintessential discussion on
the dichotomy between autonomous and non-autonomous aesthetics are the critical
contributions regarding the East-German female author Christa Wolf. It seems, however,
that the oxymoron, which articulates a basic loyalty through its very critical attitude
towards the status quo, has rarely been fully comprehended. This essay suggests,
without accusing Christa Wolf of this position, that her oeuvre supported a legitima-
tory discourse of real socialism in its late phase. It therefore explores the late author’s
insights regarding these entanglements by revisiting her final novel City of Angels, or
the Overcoat of Dr. Freud, published in 2010. Pertinent questions asked include,
whether Wolf herself, or the female narrator, reflects upon this specific issue – and if
so, what are the results of the novel?

Im literarischen Feld der alten Bundesrepublik hatte die spätere DDR-


Literatur einen Nimbus erreicht, den die sozialistische Literatur auf deut-
schem Boden bis zu diesem Zeitpunkt kaum je verbuchen konnte. Sie war fest
verankert in dem entscheidenden mittleren Feld institutioneller Konsekration,
wie es Bourdieu beschreibt. Die Titel verkauften sich gut bis hervorragend,
ohne doch Massenware zu sein, die allein auf den hohen ökonomischen Profit
schielt –, und sie waren in Ost und West gefragt. Diese Literatur zählt nicht
zur Avantgarde, die eine noch stärkere und spezifischere Konsekration erhält,
dies aber gegen die sehr geringen oder gar nicht vorhandenen ökonomischen
Profite aufwiegen muss.1 Vielmehr ist es eine, die in den Feuilletons der
gehobenen überregionalen Presse hohe Aufmerksamkeit findet, als Longseller
in die Literaturgeschichte eindringt und den Deutschunterricht der Schulen
mit zeitgenössischem Lesestoff versorgt. Gemeint ist die Literatur der intel-
lektuellen Erfolgsautoren, die schon arriviert sind. Diese etablierten Autoren

1
Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
Feldes. Übers. aus d. Frz. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2001 [1992]. S. 198–205; Grafik: S. 199, 203.

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mittleren oder fortgeschrittenen Alters, die gealterten Avantgarden der DDR,2


hatten nahezu alle Preise, und auch die im Westen, erhalten, vor allem den
wichtigen Büchnerpreis. Mit Uwe Johnson (1971) und Reiner Kunze (1976)
wurden Autoren geehrt, die den Wechsel in die BRD vollzogen hatten.
Christa Wolf (1980) und Heiner Müller (1985) hingegen erhielten die West-
Auszeichnung noch als Autoren der DDR.
Das ist durchaus keine banale Entwicklung, bedenkt man, dass ein DDR-
Autor wie Bertolt Brecht bis zu seinem Tod 1956 nie durchsetzbar gewe-
sen wäre. Noch die Verleihung des Bremer Literaturpreises an Christa Wolf
1978 war ein Politikum.3 Die Entspannungspolitik aber zeitigte ihre Früchte
auch in einem unverkrampfteren Umgang mit den Autoren des anderen deut-
schen Staates. Die mussten keine Dissidenten oder Renegaten mehr sein, um
im Westen hohes Ansehen zu genießen und symbolisches wie ökonomisches
Kapital zu akkumulieren. Neben den konservativen Bewahrern untergegange-
nen Kulturgutes ist auch die arrivierte Avantgarde gut für die allerhöchsten
Auszeichnungen. Paradigmatisch für diese Tendenz war der Vorschlag des
Feuilletons der BRD, Christa Wolf nun endlich den ihr lange zustehenden
Nobelpreis für Literatur zuzusprechen. Das war 1989, nach dem Erscheinen
von Sommerstück. “Es wäre endlich an der Zeit, wollte sich die Stockholmer
Akademie dieser Schriftstellerin entsinnen. Sie ist des Nobelpreises würdig”,
deklamierte Fritz J. Raddatz in der Zeit 1989.4
Dann aber kam die Wende, Christa Wolfs Erzählung Was bleibt und
der daran anschließende Literaturstreit im vereinten Deutschland. Als
Fernwirkung dieser endlosen Debatten musste Volker Braun bis zum Jahr
2000 auf den Büchnerpreis warten. Für Christa Wolf aber war der Einschnitt
ungleich härter. Sie hat das selbst vielfach reflektiert. Paradigmatisch dafür
ist der Text Nagelprobe, in dem sich die Autorin zum weiblichen Christus

2
Vgl. ebd. S. 235–257. Hier: S. 251, 253 insb.; Grafik: S. 255. – Siehe auch den
Band Alternde Avantgarden. Hg. von Alexandra Pontzen und Heinz-Peter Preußer.
Heidelberg: Winter 2011. Insb. von den Hgg.: In “Gegenrichtung voran”! – Eine
Einleitung zu den Alternden Avantgarden. S. 7–28. Hier: S. 15f.
3
Vgl. Der Bremer Literaturpreis 1954–1987: “bewundert viel und viel geschol-
ten. . .”. Reden der Preisträger und andere Texte. Eine Dokumentation der Rudolf-
Alexander-Schröder-Stiftung. Hg. von Wolfgang Emmerich. Bremerhaven:
Wirtschaftsverlag NW 1988. Erweiterte Neuausgabe: Der Bremer Literaturpreis
1954–1998. Eine Dokumentation. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW 1999. Hier
insbesondere die Einleitung des Hg. S. 7–34.
4
Fritz J. Raddatz: Ein Rückzug auf sich selbst. Christa Wolfs Sommerstück. In: Die
Zeit 24.3.1989. – Vgl. auch Anonymus: Club der einsamen Schmerzen. In: Der
Spiegel 10.4.1989. S. 229.

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stilisiert: “Genagelt / ans Kreuz Vergangenheit. / Jede Bewegung / treibt / die


Nägel / ins Fleisch”.5
Man mag der Schriftstellerin Wolf weder die Kränkung, noch den tief sit-
zenden Schmerz absprechen. Dennoch fällt auf, wie wenig sie in der Lage
ist, sich selbst, ihr Verhalten und das ihrer nun zahlreichen Gegner in einer
Beschreibung zweiter Ordnung zu reflektieren und für sich selbst auf Distanz
zu bringen. In den bestehenden Literaturverhältnissen war (und ist) das viel-
leicht auch gar nicht recht möglich. “DDR-Staatsdichterin”, rief Marcel
Reich-Ranicki der zweifachen Nationalpreisträgerin schon 1987 zu.6 – Viele
waren erschrocken über diese Etikettierung, die gleich die gesamte kritisch-
loyale DDR-Literatur treffen sollte, und haben ihr öffentlich widersprochen.7
Der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, mokierte sich indes über
Wolfs apokryphe Widerstandshandlung, erst mit der Selbstliquidierung des
Staates DDR sich als Verfolgte des Regimes gezeichnet zu haben. Was 1979,
zum Zeitpunkt des geschilderten Geschehens, wie ein Sprengsatz habe wirken
können, sei nun, zehn Jahre später, anachronisch, lächerlich und “unglaub-
würdig bis an die Grenzen des Kitsches”.8
Christa Wolf hat sich von diesen Anwürfen kaum je erholt. Günter Grass
und Walter Jens sprachen sogar von einer “Hinrichtung” Wolfs, die das west-
deutsche Feuilleton betrieben habe.9 Der Roman Stadt der Engel sollte diese
Kränkung verwinden, ein literarisches Zeugnis des Überlebens darstellen.
Am 27. September 2000 ist davon schon die Rede – und die Autorin bezeich-
net die noch ausstehende Narration in dem Notateband Ein Tag im Jahr,

5
Christa Wolf: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1994. S. 169.
6
Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen
aus gegebenem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch. In: “Es geht nicht um
Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von Thomas
Anz. München: Spangenberg 1991. S. 35–40. Hier: S. 35. Zuerst in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung 12.11.1987.
7
Vgl. etwa Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen
der Moral: Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten
müssen. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 198–207. Hier insb.:
S. 200. Zuerst in: Süddeutsche Zeitung 13./14.10.1990.
8
Frank Schirrmacher: “Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten”.
Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden
und ihre jüngste Erzählung Was bleibt. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie
Anm. 6]. S. 77–89. Hier: S. 87. Zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.6.1990.
9
Günter Grass, Hellmuth Karasek, Rolf Becker: Nötige Kritik oder Hinrichtung?
Spiegel-Gespräch mit Günter Grass über die Debatte um Christa Wolf und die
DDR-Literatur. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 122–134.
Hier: S. 122. Zuerst in: Der Spiegel 16.7.1990.

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1960–2000 als einen “unendliche[n] Strickstrumpf ” – “und ich weiß gar


nicht, ob ich das noch veröffentlicht sehen möchte”.10 Ihrem Biografen,
Jörg Magenau, gesteht die Autorin ein, diese Arbeit sei “labyrinthisch”:
“Tagebücher und Briefe fließen als Material des Lebens darin ein”.
Vielleicht wird dieses so unabschließbar erscheinende Werk [. . .] als ihr gro-
ßes ‘Lebensmuster’ betrachtet werden, als Versuch, die Bilanz eines Jahrhunderts
zu ziehen und über die eigene Geschichte als Geschichte einer sozialistischen
Intellektuellen Rechenschaft abzulegen.11

Weitere zehn Jahre später, 2010, ist der Roman endlich erschienen. Er könnte
zum Prüfstein werden, ob inzwischen Distanz vorliegt zur eigenen Person, zu
den Vorfällen im Literaturstreit und eine neue Sicht auf die Beziehung zum
Staat DDR und dem real existierenden Sozialismus möglich ist. Machen
wir also erst einmal eine Probe, wenngleich keine Nagelprobe, indem wir
den Text Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud lesen als Reaktion
auf diese Erschütterung im literarischen Feld, die nach der Wende vor allem
unsere Autorin betraf.
Das erste, womit wir konfrontiert werden, ist eine “Trotzreaktion”,
wie die Erzählerin selbst vermerkt. Bei der Einreise in die USA gibt die
Schriftstellerin auf Nachfrage an, ihr Pass stamme aus Ostdeutschland. Auch
wenn der Paratext vorab mit Nachdruck insistiert, alle Figuren des Romans
seinen “Erfindungen der Erzählerin”, wird man im Folgenden doch nicht
umhin können, Ereignisse der Realbiografie mit denjenigen der fiktiona-
len Figur zu vergleichen. Zu viele Indizien weisen aus, dass es sich hier nur
um eine Autofiktion handeln kann:12 die Überblendung realen Geschehens
mit einer ontologisch klaren Referenz auf historisch Vergangenes – und
Änderungen im Detail, gegebenenfalls auch im Personeninventar, welche die
Narration dann überhaupt zur fiktionalen werden lässt. Die Rahmendaten aber
wären Christa Wolfs neunmonatiger Getty-Stipendien-Aufenthalt 1992/93 in

10
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, 1960–2000. München: Luchterhand 2003. S. 628.
11
Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003 [2002].
S. 444.
12
Zum Begriff, den man gemeinhin auf Serge Doubrovsky zurückführt, vgl. etwa
Frank Zipfel: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und
Literarität? In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen.
Hg. von Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer. Berlin-New York, NY: de
Gruyter 2009. S. 285–314. – Siehe auch Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion
oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar.
In: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Autobiographisches Schreiben in
der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Ulrich Breuer und Beatrice
Sandberg. München: Iudicium 2006. Band 1. S. 353–368.

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Santa Monica, Kalifornien.13 Wenn die Erzählerin also 1992 einen noch nicht
abgelaufenen DDR-Pass vorlegt, hat das Provokationswert: “Are you sure this
country does exist?”, wird sie gefragt – und die Antwort fällt mit “Yes, I am”
entsprechend trotzig aus.14
Was bringt eine DDR-Bürgerin dazu, zwei Jahre nach dem Ende des
Staates kontrafaktisch dessen Existenz zu behaupten? Wie ist dieser Trotz
motiviert? Geht es nur darum, im Sinne Blochs retrospektiv, im melancholi-
schen Gestus eine Latenz zu konservieren, ein Möglichwerden?15 Oder zeigt
sich hier eine Loyalität dem projizierten Ideal gegenüber, die alle frühere
Kritik weit übersteigt und das eigene Verhaftetsein mit den Verhältnissen erst
zementiert? Man kann sich keinen Dissidenten vorstellen, der sich ähnlich
verhalten hätte. Die Erzählerin jedenfalls spricht bedauernd von einem “unter-
gegangenen Staat”,16 von “Zusammenbruch”17 und wieder vom “Untergang”
“meines Landes”,18 “dieses kleinere[n] Deutschland[s] [. . .], mit all seinen
Mängeln, ach was, mit seinen Gebrechen und Fehlern”,19 – da ist Trauerarbeit
angesagt. Und genau die leistet das Buch auf zum Teil quälend langatmigen
400 Seiten.
Irgendwann bildete sich der Satz: Wir haben dieses Land geliebt. Ein unmöglicher
Satz, der nichts als Hohn und Spott verdient hätte, wenn du ihn ausgesprochen
hättest. Aber das tatest du nicht. Du behieltest ihn für dich, wie du nun vieles für
dich behältst.20

Wie ein Schock erreicht die Erzählerin hingegen die Nachricht, ihre Zuarbeit
als Informelle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit sei publik
geworden – ein Tatbestand, den die Autorin “vollkommen vergessen” haben

13
Vgl. Magenau: Christa Wolf [wie Anm. 11]. S. 420–426.
14
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp
2010. Im Folgenden als Sigle StE mit anschließender Paginierung. Hier: StE 10.
15
In diesem Sinne auch Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst
einmal am Ende. Äußerungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Darin das Gespräch
mit Rolf Jucker [1994]. S. 99–109. Hier: S. 100. – Vgl. Verena Kirchner: Im Bann
der Utopie. Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie in der DDR-Literatur. Heidelberg:
Winter 2002. S. 126–170. Hier insb.: S. 158, 160f., 168. – Siehe auch Wolfgang
Emmerich: Status melancholicus. Zur Transformation der Utopie in der DDR-
Literatur. In: Text + Kritik. Sonderband: Literatur in der DDR. Rückblicke. Hg. von
Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. München: Edition Text + Kritik
1991. S. 232–245.
16
StE 15, vgl. 178.
17
StE 22.
18
StE 64, 401, 404; vgl. 204.
19
StE 204.
20
StE 73.

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will.21 “Und als dann nach der ‘Wende’ bei uns die Jagd auf Informelle
Mitarbeiter in den Akten begann, kam mir nicht eine Sekunde der Gedanke,
dies könne auch mich betreffen. Ich fühlte mich ganz unbelastet”, sagt
unsere fiktionale Autorin zur Figur Sally.22 Das ganze Buch nun soll diese
Verdrängungsleistung23 plausibel machen – und die Erzählerin ist sich doch
sehr bewusst, dass genau dies nicht gelingen kann. Zu absurd scheint die
Rechtfertigungsfigur, wie die Ich-Instanz selbst mehrfach einräumt. Wer
Opfer staatlicher Überwachung in der DDR geworden ist – in jenem “trostlo-
sen düsteren Winter 1976/77”24 –, sollte sich in Szenen solcher Begegnungen,
wie sie Was bleibt beschreibt, nicht erinnern, einmal selbst berichtet zu
haben? Wer sich als Objekt einer “Hetzjagd” (oder “Hexenjagd”) fühlt, die
“erst richtig losgeht, wenn [man] angeschlagen” ist,25 sollte nicht früher schon
seine Erinnerungen aufbrechen sehen, statt sie von außen anstoßen zu lassen?
“Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise,
und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es”, notiert die Erzählerin,
um dann abermals zu bekräftigen, dass sie sich damit auch selbst als Opfer
bezeichnet sehen will: “Ja, [. . .]: Ich fühlte mich besudelt”.26
Zur Erklärung dieses sonderlichen Umstands verwendet die Narration eine
Anekdote, welche die Figur Bob Rice im Roman erzählt: “Die Geschichte, wie
er Freuds Mantel gewann und wieder verlor”.27 Es ist der (unter-)titelgebende
“overcoat of Dr. Freud”,28 der hier zur Metapher wird für einen Mechanismus
der Verdrängung und der Bemäntelung, des Vergessens und Verschweigens.
Weil der Mantel wieder verschwand, kann er nicht erinnern an den einstigen
Träger und damit auch nicht an dessen Werk, das zentral von der Wiederkehr
des Verdrängten handelt – als Regelsystem von Triebstruktur und zensu-
rierendem Ich.29 Genau an die Stelle, fast schon in der Mitte des Romans,
manövriert die Erzählerin den ersten Hinweis: “Meine Akte war den Medien
übergeben worden”.30 – “Der Blick in diese Akten [. . .] hat die Vergangenheit
zersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet”.31 Aus der Sicht der
Erzählerin wird damit ein jahrelanges “uferlose[s] Gerede” angestoßen,

21
StE 186, 196; vgl. 200, 205.
22
StE 202.
23
Vgl. StE 205.
24
StE 168.
25
StE 144, 203.
26
StE 184.
27
StE 154.
28
StE 155.
29
StE 177.
30
StE 177.
31
StE 182f.

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“das wir ‘Stasi-Debatte’ nennen würden”. “Und in der Öffentlichkeit


beherrschten die zwei Buchstaben das Feld: IM. ‘Informeller Mitarbeiter’.
Auf wen die zutrafen oder zuzutreffen schienen, der war verurteilt, wie wenig
oder wieviel diese Buchstaben wirklich über ihn aussagen mochten”.32
Zu Recht beklagt die Figur der Autorin die “brutale Banalisierung”
ihres Lebens,33 in ihrer Biografie verkürzt zu werden auf eine Episode.34
Aber das ganze Buch reproduziert doch nur diese Eingrenzung, indem es
die Obsession teilt und ein Immunisierungsmittel sucht gegen “die neue
Zeitungskampagne”.35 Nicht der Tatbestand der Zuträgerdienste, wohl aber
der Umstand des Vergessens wird im Folgenden zum alles bestimmenden
Erzählmoment, dem sich die anderen Ereignisse unterzuordnen haben. Statt
aber tatsächlich eine Selbstdistanzierung zu leisten zu diesen nun schon fast
zwei Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen, fingiert die Erzählung dies nur –
mit einem einfachen erzähltechnischen Kniff: Von sich redet die fiktionale
Autorin als vergangenes Du, das von einem gegenwärtigen Ich angesprochen
wird. Die Szene ist der “letzte Tag in der Behörde” nach dem Studium der
eigenen Akten:
Sofort überkam dich ein Gefühl von drohendem Unheil, ohne daß du ahntest, was
da noch sein könne [. . .]. Sie dürfe dir deine ‘Täterakte’ – zum ersten Mal dieses
Wort! – nicht zeigen, dazu habe sie sich verpflichtet. Du hast insistiert.36

Während die Erzählerin die Entdeckung nachträgt, hat sie die mediale
Auswertung dieser Enthüllung auch in Kalifornien eingeholt. Jetzt wird
der “overcoat of Dr. Freud” nicht mehr als Metapher der großen Absenz
gebraucht, sondern präsentisch “mißbraucht [. . .], verwundbare Stellen zu
bedecken”.37 Der Mantel wird zur Chiffre, die das Fehlen des Verdrängten
und den Vorgang des Bemäntelns zugleich erklärt: “Ich wünschte, er könnte
mich schützen”.38 Einmal schwebt er gar über unserer fiktionalen Autorin,
um ihr, engelsgleich, eine Ankündigung zu überbringen.39 Stringent ist der
Umgang mit diesem titelgebenden Motiv nicht, fügt sich aber ein in die
Atmosphäre des unpräzisen Ahnens, bei der eine trivialisierte Psychoanalyse
herhalten muss für die Rettung des eigenen Selbst. “Der Mantel, weißt du,

32
StE 180.
33
StE 183.
34
StE 186.
35
StE 189; vgl. 195.
36
StE 185.
37
StE 192.
38
StE 203; vgl. 236, 229.
39
StE 249.

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der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen
wenden muß. Damit das Innere sichtbar wird”.40 Wir verstehen mit der
Autorin dieses ‘Innere’ wesentlich als ‘Erinnerung’: und damit als Teil einer
Arbeit. Sie muss “mühsam heraufgeholt” werden,41 etwa wenn es gilt, die
Akten der Staatssicherheit abzugleichen mit den Restbeständen des eigenen
Gedächtnisses:42 “Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht
nur, daß ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, daß ich
nicht sicher bin, wer sich da erinnert”.43
Es wäre aber ein Missverständnis, hier allein einen konstruktivistischen
Vorbehalt artikuliert zu sehen oder die Auffächerung einer identischen
Subjektivität in die postmoderne Differenz. Es geht, vielmehr, um Entlastung:
“Trostlos, trostlos”, sagt sich die Erzählerin, und “trostlos, trostlos” wieder-
holt sie noch auf derselben Seite, um die Lektüre der Akten zu charakterisie-
ren: “ein Vergiftungsgefühl”.44 Was die Autorin aber viel direkter, körperlicher
attackiert, ist die Entwertung ihres Werks durch die eigene Enttarnung – und
die Vernichtung des symbolischen Kapitals, das bislang mit diesem Werk
verbunden war und nur Zuwächse kannte. “JEDE ZEILE, DIE ICH JETZT
NOCH SCHREIBE, WIRD GEGEN MICH VERWENDET WERDEN”.45
Damit wird Schreiben hinfällig – oder gefährlich. Im Traum antizipiert
die Erzählerin bereits ihren eigenen Tod: “und [ich] habe keine Angst
mehr davor. Ich empfand etwas wie einen kleinen Trost”.46 Erst nach dem
Durchgang durch den Tod tangiert die Autorin der Fiktion nicht mehr, was ihr
an Vorwürfen über den Ozean und über den Kontinent bis an die Westküste
nachgeworfen wird:47 “Ich war ja tot, das war gut, es betraf mich nicht”.48
Die eigene Abstumpfung wird ein probates Mittel, die “Gefahrenzone zu
überstehen. Sie zu durchqueren mit möglichst wenig Empfindung”.49
Person und Funktion werden hier nicht getrennt; ja, beides wird als inte-
graler Bestandteil des Selbst aufgefasst. Die Depotenzierung im literari-
schen Feld verarbeitet unsere Erzählerin deshalb als einen Anschlag auf ihr
Leben. Eben diese Überblendung macht es auch unmöglich, sich selbst in
einer Beobachtung zweiter Ordnung zu beschreiben, den Abstand der zwei

40
StE 261.
41
StE 201.
42
StE 202.
43
StE 214.
44
StE 232.
45
StE 232.
46
StE 237.
47
Vgl. StE 248.
48
StE 237.
49
StE 238.

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Jahrzehnte produktiv zu machen für die eigenen Verstrickungen – und die


werden eben nicht mit dem Kürzel Stasi erfasst. Christa Wolf war keine loyale
Dissidentin, die sich in ihrer Loyalität – und ganz am Anfang ihrer Karriere –
nur ein wenig verstiegen hätte. Sondern man muss begreifen, dass in der
reformsozialistischen Kritik selbst die einzige Loyalität bestand, die man
der späteren DDR noch entgegenbringen konnte. Die “‘SED-Diktatur’”, der
“‘Unrechtsstaat’” in den Begriffen der “Gazetten”,50 erscheint genau darin in
dem milderen Licht, das Erreichte, bei allen Fehlentwicklungen, zu verstehen
als qualitativer moralischer Fortschritt. Der Kapitalismus hingegen wird offen
als Barbarei aufgefasst. Und die zeigt sich gerade und erneut im Umgang
mit unserer Autorin als fiktionale Figur, auch wenn der Bezug nicht direkt
hergestellt wird. “Der Virus hieß Menschenverachtung. Ich hatte ihn in dem
Teil des Landes, in dem ich lebte, lange Zeit für besiegt gehalten, besiegt
durch Aufklärung”.51
Täter- und Opferperspektive werden in bekannter Dialektik vertauscht.52
Auch wenn die DDR möglicherweise eine moderate Diktatur gewesen ist,
deren Todesopfer, etwa an der innerdeutschen Grenze, verglichen mit ande-
ren verbrecherischen Regimes, zahlenmäßig beschränkt waren, so hat es sie
doch gegeben:53 ganz abgesehen von der Vielzahl zerstörter Lebensläufe
infolge politischer Unterdrückung. Und eben das sieht die Autorin, als Figur
des Romans, nicht. Sie sieht nicht die gebrochenen Biografien der Personen,
die Jahre wegen politischer Unliebsamkeit im Gefängnis verbrachten. Sie
sieht stattdessen die Exilierten, die Flucht vor den Nazis an jenen Ort, an dem
sie selbst sich nun aufhält – und mit deren Schicksal sie sich vorsichtig ver-
gleicht. Für moralisch entrüstete Kritik hatte bereits eine Äußerung Christa
Wolfs in der Fernsehsendung Kulturreport vom 24. Januar 1993 gesorgt, in
der sie sich und Heiner Müller als vom Westen kriminalisiert, ausgegrenzt
und verfolgt beschrieb; so wie zuvor die linke und jüdische Kultur aus
Deutschland vertrieben worden sei.54 Fritz J. Raddatz ging mit der von ihm
hochgeschätzten Autorin an diesem Punkt rigoros ins Gericht: “Der Vergleich
mit vom Tode Bedrohten, knapp dem Gas der Barbaren Entronnenen”, so
schreibt er, “steht ihr nicht zu. Das ist eine entweder historisch törichte oder
moralisch infame Klitterung. Eine Anmaßung allemal. Hier wird niemand

50
StE 197; vgl. 79, 258.
51
StE 81.
52
Vgl. StE 307.
53
Zur Diskussion der kontrovers gehandelten Zahlen vgl.: Süddeutsche Zeitung
12.8.2008. Hier werden 1303 Todesopfer genannt, die auf Fluchtversuche aus der
DDR in den Westen zurückgingen. http://www.sueddeutsche.de/politik/innerdeutsche-
grenze-opfer-an-der-mauer-1.582162 [Abruf am 5.11.2010].
54
Zitiert in: Die Zeit 29.1.1993. S. 52, eigener Kasten.

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bedroht, gejagt, beraubt und vernichtet”.55 Nun, in Stadt der Engel, zieht sie
die Parallele verhaltener; aufgegeben hat sie diese nicht. Aber sie sieht auch
die eigene Vertreibung aus dem heutigen Polen, der alten Heimat Landsberg
an der Warthe, in ein abweisendes und zerstörtes Nachkriegsdeutschland:
“und unsere Leiden als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen”.56
Der Blick soll sich zum Jahrhundertpanorama weiten – und darin die eigene
Verletzung, die Beschädigung des Werks, das so sehr an gelebte Biografie
geknüpft ist, kompensieren.
Tatsächlich ist Christa Wolf am Ende der DDR nicht mehr die
Staatsdichterin gewesen, die sie in jungen Jahren vielleicht hatte werden wol-
len.57 Ihre Biografie ist von offensichtlichen Brüchen begleitet. In einem Satz
aus dem Jahre 1958, ein Jahr vor ihrer Anwerbung zum ‘Geheimen Informator’
und anschließenden ‘Inoffiziellen Mitarbeiter’, heißt es noch: “Der Kampf
für den Sozialismus ist immer mehr zur einzigen Möglichkeit geworden, sich
konsequent menschliches Handeln und Denken zu bewahren”.58
So plan hat Christa Wolf späterhin den Staat DDR nicht mehr gestützt.
Sie hat sich, was ausführlich dokumentiert wurde, vielmehr scharfe Kritik
zugezogen und musste sich der Zensur beugen. Die politische Karriere der
Kandidatin des ZK der SED fand bereits 1967 ein abruptes Ende.59 Bekannt
geworden sind vor allem die Vorgänge um ihr Buch Nachdenken über

55
Fritz J. Raddatz: Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber.
Bemerkungen zu Heiner Müller und Christa Wolf. In: Die Zeit 29.1.1993. S. 51.
56
StE 405.
57
Vgl. Frauke Meyer-Gosau: Lebensform Prosa. Eine Wegbeschreibung von der
Moskauer Novelle zu Was bleibt. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 1994.
H. 46. Christa Wolf. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text +
kritik, 4. Aufl., Neufassung. S. 23-34. Hier: S. 23. – Der nachfolgende Text gibt,
mit kleinen redaktionellen Angleichungen, in Passagen den Wortlaut des Kapitels 4,
Unterkapitel: Aktengestöber im Leseland, meiner hier angeführten Schrift wieder:
Heinz-Peter Preußer: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa
Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln-Weimar-Wien: Böhlau
2000. S. 399–409. Der Begriff Legitimationsdiskurs, der auch hier verhandelt wird,
war Gegenstand des Projektes Zivilisationskritik als Legitimationsdiskurs. Spätere
DDR-Literatur im Kontext deutscher Kulturphilosophie. Mit einem Vergleich zivi-
lisationskritischer Literatur in Österreich, der deutschsprachigen Schweiz und
der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms
Differenzierung und Integration unter der Leitung von Horst Domdey, Mitarbeiter
Richard Herzinger und Heinz-Peter Preußer.
58
In: Neue deutsche Literatur 6 (1958). Zit. nach Hermann Kähler: Christa Wolf
erzählt. In: Weggenossen. Fünfzehn Schriftsteller der DDR. Hg. von Christel Berger
und Klaus Jarmatz. Leipzig: Reclam 1975. S. 214–232. Hier: S. 214.
59
Vgl. Magenau: Christa Wolf. Biographie [wie Anm. 11]. S. 132f., 136, 166,
172–191, 200, 204, 220, 222f.

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Christa T.60 Selbst die Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra konnten


nicht ohne Striche am Skript in der DDR erscheinen.61
Christa Wolf trägt die Ambivalenz ihrer gesamten Generation; bei Heiner
Müller und Volker Braun liegen die Parallelen offen zutage. Radikale Kritik
und latente Staatstreue gehörten in der DDR der siebziger und achtziger
Jahre oft zusammen. In der Ambivalenz von Kritik und Loyalität schiller-
ten Biografie und Werk, was dieser repräsentativen DDR-Literatur sogar
einen spezifischen Reiz verlieh. Anders als die freiwilligen und unfreiwil-
ligen Dissidenten konnten die reformorientierten, kritisch-loyalen DDR-
Schriftsteller sich damit profilieren, “dem Druck des härteren, strengeren
Lebens” standzuhalten, wie es Christa Wolf schon im Geteilten Himmel for-
mulierte.62 Sie hat unter diesem Druck zweifellos gelitten, ihn aber zugleich
als einen moralischen Anspruch begriffen, der das eigene Tun sinnvoll macht.

60
Dokumentiert in dem Band: Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und ‘Ästhetik’
der Behinderung von Literatur. Ausstellungsbuch. Hg. von Ernest Wichner und
Herbert Wiesner. Berlin: Literaturhaus Berlin 1991. S. 84–89. – Zum Zensurfall
Christa T. ist zudem ein eigener Band erschienen: Dokumentation zu Christa
Wolf. “Nachdenken über Christa T.” Hg. von Angela Drescher. Hamburg-Zürich:
Luchterhand 1991. Siehe auch: StE 112.
61
Gestrichen wurde auf den folgenden Seiten der Ausgabe Darmstadt-Neuwied:
Luchterhand 1983: S. 84, 97, 106, 108, 109, 112. Das entspricht den ausgelasse-
nen Stellen bei Aufbau: S. 110, 124, 135, 138, 139, 142. Die Auslassungen sind
dort durch “[. . .]” markiert. Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin-
Weimar: Aufbau ²1984 [1983]. Die gestrichenen Stellen, allesamt aus der Dritten
Vorlesung der Voraussetzungen, wurden zu DDR-Zeiten wie Geheimkassiber
gehandelt. Mir liegt ein Kassandra-Exemplar vor, das in Schönschrift die ausgelas-
senen Passagen wiedergibt. Nach dem Ende des realsozialistischen Staates war die
Botschaft wertlos. Ich habe sie auf dem Ramsch erstanden. Die blassblauen einge-
legten Zettel finden sich wieder abgedruckt in Roswitha Skare: Christa Wolfs “Was
bleibt”: Kontext – Paratext – Text. Tromsø: Universitetet i Tromsø 2007. S. 259f.
Abrufbar unter: http://hdl.handle.net/10037/1412 [Abruf am 5.11.2010]. – Vgl.
Alexander Stephan: Christa Wolf. München: Beck ³1987. S. 217f. – Wichner/
Wiesner (Hg.): Zensur in der DDR [wie Anm. 60]. S. 107–109.
62
Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Erzählung. Halle a.d.S.: Mitteldeutscher
Verlag 91965 [1963]. S. 288. Stefan Schütz ist (wie Thomas Brasch) nur durch
den Wechsel in die Bundesrepublik diesem Dilemma entkommen. Anders als
Wolf, Müller und Braun kann er (auch Brasch) in romantischem Antikapitalismus
schwelgen, ohne sich in Legitimationsfiguren für den Realsozialismus zu verren-
ken. Die Frage nach der legitimierenden Funktion kritischer DDR-Literatur ist
zuerst eine nach ihrer Institutionalisierung, nach den verschiedenen diskursiven
Rahmenbedingungen deutschsprachiger Literaturen. – Siehe dazu mein Buch:
Heinz-Peter Preußer: Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur dies-
seits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg: Winter 2003. Hier den Abschnitt
Funktionalisierungen zivilisationskritischer Bilder. S. 112–116.

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Im Grunde haben sie und andere verbittert, dass sich schon seit den sech-
ziger Jahren die Schere auftat zwischen den Vorstellungen der Partei und
denjenigen einer nachrückenden literarischen Intelligenz. Dass ihr Setzen
auf Partizipation an der Macht so desillusioniert werden musste, hat diese
Generation wohl nie verschmerzt.63 Ihr vormoderner, genuin romantischer
Anspruch war ja, in einem idealen Staat Geist und Macht zu versöhnen und
aus dem humanen Potenzial der Literatur heraus eine Gemeinschaft zu prä-
gen, welche die Partikularismen der bürgerlichen Gesellschaft kompensieren
könnte.64 Utopische Vision und konkrete Gestaltungsmöglichkeit liefen mit
der Entwicklungsgeschichte der DDR denn auch immer weiter auseinander.
Die Utopie verdünnte sich zu etwas Sphärischem, zur geheimen Ahnung einer
wissenden Schicht. Leiden an den realen Verhältnissen und deren radikale
Überbietung bedingten sich wechselseitig.65
Erst mit der Auflösung des Staates DDR war der Boden für die utopi-
sche Projektion entzogen. Eine Verbitterung dem Gang der Geschichte
gegenüber setzte sich durch. Vom Bedingungsverhältnis von Leid und uto-
pischer Überbietung blieb fast nur noch die Seite des Leidens zurück. Eine
Entwicklung, die vor allem Christa Wolfs Texte und Äußerungen nach der
‘Wende’ zu erkennen geben, und die für sich betrachtet kaum verständ-
lich sind. Die Wertungen verschieben sich. Die Situation der jetzigen
Bundesrepublik wird allemal schlimmer gesehen als die Vergangenheit in
der historisch gewordenen DDR. Man muss das nur konstatieren, nicht mora-
lisch aburteilen. Das ist im Literaturstreit um Christa Wolf bereits bis zur

63
Vgl. Heiner Müller: Germania 3. Gespenster am toten Mann. Mit einem lexikali-
schen Anhang, zusammengestellt von Stefan Suschke. Köln: Kiepenheuer & Witsch
²1996 [1996]. S. 53: “unsre / Tragödie, die Trennung von Wissen und Macht”.
64
Dazu Joachim Lehmann: Der Geist wird Macht. Zur Genealogie des deutschen
Tausendkünstler-Postulats. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches
Denken 46 (1992). H. 2. S. 200–209. – Ebenso Klaus Städtke: Zwischen staatli-
cher Förderung und Lesererwartung. Hat die Literarische Intelligenz in der DDR
versagt? In: Neophilologus 77 (1993). S. 457–466. Beide Aufsätze passim. – Siehe
auch Joachim Lehmann: Die blinde Wissenschaft. Realismus und Realität in der
Literaturtheorie der DDR. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Hier:
S. 223–228.
65
Frauke Meyer-Gosau setzt den Akzent anders. In Lebensform Prosa [wie Anm.
57] schreibt sie, bezogen auf den ersten und den letzten fiktionalen Prosatext
Christa Wolfs in der DDR, Moskauer Novelle und Was bleibt: “Die Versammlung
der Zukunftssüchtigen erscheint 1990 so gut wie 1961 als bereits konkrete
Utopie [. . .]. Die Bedrohung freilich, die Ende der fünfziger Jahre vor allem außen,
im friedens- und lebensfeindlichen Kapitalismus gesehen wurde, ist seit dem Ende
der siebziger Jahre nach innen gewandert.” (S. 25. Vgl. S. 33.)

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Erschöpfung geschehen.66 Die Illusionen, die sich die Autorin machte, hat-
ten bis zuletzt geholfen, ein System zu stabilisieren, das über keine demo-
kratische Legitimation verfügte. Ob das in ihrer Intention lag, ob sie sich zur
Widerstandskämpferin nur stilisierte oder sich tatsächlich (und berechtigter
Weise) so empfand, muss hier nicht entschieden werden.
Christa Wolfs Visionen sind stets im Kontext deutscher Kultur- und
Lebensphilosophie verblieben; ihr Katastrophismus aber ist nach dem
‘Untergang’ der DDR in die Nähe des Masochismus geraten. Das war zu real-
sozialistischen Zeiten und in der Tat bis 1989 anders. Auf dem Umschlag der
Aufbau-Ausgabe von Was bleibt sieht man die Tristesse einer neblig grau in
grau gehaltenen Häuserzeile, durch die sich – wie durch einen Schleier – eine
pastellfarbene Buntheit leise ankündigt. Die Straßenflucht selbst bringt kaum
eine Aufhellung, auch der Himmel ist in dem gleichen Ton gehalten. Aber er
ist eine freie Fläche, ein Projektionsrahmen, wenn man so will, ein Trichter
ins Freie und Offene. Dort steht, auch das kein Zufall, der Titel: Was bleibt.
Das Bild könnte als Allegorie betrachtet werden. Auf dem Boden der DDR-
Realität kann erst entstehen, was als Vision die schlechte Gegenwärtigkeit
überhöht. Die Hoffnung lebt. Sie durchbricht das Grau so, wie das lebendige
Wachsen sich gegen die Versiegelung wehrt, sie aufsprengt.67
Nach diesem Muster entstehen bei Christa Wolf Sinnfüllungsmodelle. In
deren Zentrum entwickelt sie das Bild ‘idealer’ Gemeinschaften. Geistige
Führerschaft geht in die Sozietät über. Das galt bereits für Kassandra. Häufig
überträgt die Autorin solche erfüllten Augenblicke ins Umfeld eines literari-
schen Zirkels. So auch in Was bleibt. Unter dem Druck von Observation und
Intrige schildert sie eine Lesung, die erst nach Mühen zustande kam. Noch
einmal ist die Dichterin in der Position des Präzeptors; und in der Aufhebung
dieser Funktion glaubt sie sich sogleich am Ziel. Die Ich-Erzählerin schirmt
ab vor dem Zugriff des Staates, moderiert, hält schützend die Hand über die
Lesergemeinde, die sich doch eigentlich selbst artikulieren soll: ‘nicht mehr

66
Vgl. Chaim Nolls und Frank Schirrmachers Nachträge zu dem Band von Anz “Es
geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 252f. und 256f. Die Texte, allesamt
ohne eigenen Titel, sind versammelt unter der gemeinsamen Aufschrift: Der Streit
geht weiter. Neue Stellungnahmen zur Debatte (ebd. S. 241–260).
67
Vgl. Skare: Christa Wolfs “Was bleibt” [wie Anm. 61]. S. 80f., 250. Siehe auch
ebd. S. 251–258. In Bibliotheken zugänglicher (wenngleich nicht so umfangreich
und nur schwarzweiß illustriert) dürfte die Fassung sein, die unter demselben Titel
2008 erschienen ist beim LIT-Verlag in Berlin und Münster, dort die Seiten 105–
107. Dem Buch liegt eine CD-ROM bei mit Ergänzungen der farbigen Abbildungen
in einer „Bildergalerie“. – Vgl. weiterhin meinen Beitrag: Die verletzliche
Natur. Adam Müllers politische Romantik und die spätere DDR-Literatur. Eine
Parallelkonstruktion. In: Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen – Gesamtkunstwerke.
Hg. von Bettina Gruber. München: Fink 2012 (im Erscheinen).

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für andere sprechen müssen’. Schweigen kann die Erzählerin, weil sich von
selbst spricht, was gesagt werden muss. Ihre Botschaft ist angekommen,
reproduziert sich aus sich heraus. Das ‘Leseland’ DDR feiert in Was bleibt
seinen vielleicht letzten und unfreiwillig komischen Triumph.68
In Sommerstück leistet die Erinnerung, das grelle Idyll zu mildern. Weil es
unrettbar, unwiederbringlich ist, wird das Vergangene kostbar; ein Schatz, den
es zu bewahren gilt und der das Fundament einer besseren Zukunft sein soll.
Der Abschied ist nicht resignativ. “Jetzt [. . .] herrscht über das Leben wieder
die Erinnerung. / Es sollte nicht sein. / Damals, so reden wir heute, haben wir
gelebt”.69 Im Schreiben übermittelt sich, was in der Lebensaugenblicklichkeit
nicht einzufangen wäre, sondern nur zu empfinden: ”Und wenn der Rest
unserer Tage auf diesen Tag zusammenschmolz – heute lebten wir, wie man
leben soll, und darauf kam es an”.70 Eine Kulturgemeinschaft flüchtet vor der
schlechten Realität der DDR aufs Land, verlebt dort einen Sommer, schön
und traurig. Wissend um die Trennung von Stadt und Land, die sich kaum in
einem Willensakt würde aufheben lassen, genießen die Figuren – auch hier –
als Randexistenzen und Außenseiter ein Leben als ob. Ihr Alltag müsste
anders, grundverschieden sein von den herkömmlichen Abläufen: “Wo doch
hier das wirkliche Leben ist. Ihr werdet sehen”.71
Einfachheit, Nähe, Wärme und Glück sind Erfahrungen, die nur noch
das Refugium auf dem Lande zuzulassen scheint.72 Mit der Akzeptanz des
Naturzyklischen, mit der Legitimation des Lebens aus sich selbst heraus,
schwindet der universalistische Anspruch, der auf den modernen Individuen
lastet. Ein Rückzug ins Private scheint sich hier zu offenbaren, der die
Angelegenheiten des Staates, sein mechanisches Funktionieren, im Geiste
der Romantik als seelenloses Mahlwerk verachtet. Die Literaturkritik, gerade
im Westen, hat diese Tendenz vor dem deutsch-deutschen Literaturstreit
beschrieben als inhaltliche Loslösung und ästhetische Autonomisierung.
Zunehmend entferne sich Prosa und Essayistik Christa Wolfs von den

68
Vgl. Arker, der von einer “Überfrachtung” der Szene mit “einer Semantik des
Religiösen” spricht und dennoch alles daran setzt, einen schlechten Text gegen seine
Kritiker zu verteidigen: “messianisch dürfte die utopische Fest-Stimmung genannt
werden, eine Mischung aus ‘Brüderlichkeit’ und kreisbildendem Wir-Gefühl”.
Dieter Arker: “Was bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde
geht”. Anmerkungen zu Christa Wolfs Erzählung Was bleibt. In: Text + Kritik 46
[wie Anm. 57]. S. 88–99. Hier: S. 96, 99, Fn. 10.
69
Christa Wolf: Sommerstück. Frankfurt a.M.: Luchterhand 1989. S. 7.
70
Ebd. S. 156.
71
Ebd. S. 11.
72
Ebd. S. 73.

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Direktiven des Staates und einer verordneten Schreibhaltung. Gesehen wurde


überwiegend der kritische Impuls solcher gegenläufigen Konzepte, nicht, was
sie strukturell und inhaltlich dennoch anbindet an das sozialistische Projekt.73
Die generalisierte Zivilisationskritik, die West und Ost vordergründig als
gemeinsame Opfer eines katastrophisch verlaufenden Modernisierungs- und
Technisierungsprozesses auffasste, schien diese Lesart nahezulegen.
Gerade in der Kritik Christa Wolfs an einem blind verlaufenden Fortschritt
sah man das Treffende auf beiden Seiten. Aber sie zielte ungleich. Weil der
Westen, die verrannte Modernisierungsmaschinerie, so ihre Auffassung,
der Vernichtung um so vieles näher stand, weil er ungleich rigider die
Durchrationalisierung aller Lebensprozesse betrieb, weil bei ihm Kommerz
und Konsum sich zu nicht mehr kritisierbaren Götzen entwickelt hatten,
konnte der Mangel sozialistischer Staaten noch als Chance begriffen wer-
den. Völlig unbeachtet blieb die Tatsache, dass die Realpolitik der DDR stets
den Fortschritt beschwor und die konsumptiven Engpässe, das Zuwenig an
Effizienz und Produktivität beständig auszugleichen bemüht war, wenn-
gleich vergeblich. Erst in der faktisch gebremsten Modernisierung liegt die
Möglichkeit, einen utopischen Projektionsraum neu zu begründen, neue
Freiräume zu eröffnen und ein überkommenes Bild des Literaten als Künstler
zu bewahren. “Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch”, schrieb Christa
Wolf 1968 für sich und die Partei.74
Vermittelt bleibt die kritisierte Parteioligarchie so dem in Sommerstück
melancholisch beschworenen Projekt einer ländlich-utopischen Gemeinschaft
verbunden. Geschützt vor dem Zugriff totalisierender Vermarktung, gesichert

73
Einen Überblick über die literaturgeschichtliche Einordnung der kritisch-loyalen
DDR-Literatur geben Richard Herzinger und Heinz-Peter Preußer: Die Resistenz
der Bilder. Literatur als kulturphilosophische Kritik der Modernisierung. Aspekte
einer Neubewertung der DDR-Literaturgeschichte. In: Wirkendes Wort. Deutsche
Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 43 (1993). H. 1. S. 121–144. Hier:
S. 123–125.
74
Christa Wolf: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und
Gespräche 1959–1985. Auswahl: Angela Drescher. Darmstadt-Neuwied:
Luchterhand 1987. S. 496. – Manfred Jäger bemerkt in seinem Aufsatz: Rauschgift-
Lektüre. Zu Christa Wolfs Literatur-Vorstellungen, nach dem Wiederlesen eines
sehr alten Aufsatzes. In: Text + Kritik 46 [wie Anm. 57]. S. 35–47: “Christa Wolf
blieb auf der Seite der Kulturbringer”. “Zu ihrer Vorstellung von ‘wahrer’ oder
‘guter Literatur’ gehört, daß sie zum Kanon des Wertvollen zählt oder wenigstens
den Anspruch darauf erheben kann” (S. 45, 43). Der “antiwestliche Affekt gegen
die ‘amerikanische Unkultur’” habe bis in die jüngste Vergangenheit hinein “tiefe
Spuren [. . .] hinterlassen” (S. 44). Vgl. die bei Jäger zit. Passage aus Wolf: Auf dem
Weg nach Tabou [wie Anm. 5]. S. 56 [entstanden 1990]: “Bei uns will jedes Kind
sich erst einmal an Coca-Cola satt trinken und an Donald-Duck-Heften satt lesen”.

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im Leseland DDR,75 kann sich eine Gemeinschaft der Kultivierten dar-


auf besinnen, wie das ‘sozialistische Experiment’ noch rettbar wäre. Die
Antworten, die im Werk Christa Wolfs angeboten werden, schöpfen allesamt
aus der romantischen Tradition sozialistischer Ideen. Sie sind zudem nah ver-
wandt mit genuin konservativen Elementen, idealistischen sowie kulturphilo-
sophischen Vorstellungen und zielen auf ein unversehrtes Bild des Menschen,
ein ganzheitliches Individuum.76 Und sie legen nahe oder zeigen direkt, wie
weit die westlich-kapitalistische Welt in der Zerstörung dieser personalen
Identität vorangeschritten ist und das Negativbild abgibt.
An dieser Selbsteinschätzung hat sich noch in ihren Reden im Herbst
wenig geändert. Der Antifaschismus ist als Legitimationsfigur77 vom
Antirationalismus abgelöst worden. Christa Wolf nimmt jetzt in Kauf,
als “wissenschaftsfeindlich” bezeichnet zu werden, weil es für sie um
“Existenzfragen” geht; und die stellt sie, wie die Autorin selbst meint, “radi-
kal”. Dabei tröstet sie, “in einem Land wie diesem hier” zu leben, “wo die
Wissenschaft gar nicht die enormen Mittel hatte und nicht haben wird, wie
[. . .] in den USA oder in der Bundesrepublik und anderen hochentwickelten
kapitalistischen Ländern”. Denn dort sei die wissenschaftliche Forschung als
Institution “in sich sehr abgeschlossen, kaum mehr der Öffentlichkeit rechen-
schaftspflichtig, ihr auch kaum einsichtig”, und damit einem “zwanghaften
Selbstlauf unterworfen”.78
Mit diesen simplen und einigermaßen realitätsfernen Gedanken strengt
sich Christa Wolf im November 1989 noch einmal an, eine “sozialistische
Alternative zur Bundesrepublik” zu entwickeln.79 “Ich setzte schon immer,
und bleibe dabei, auf die Alternative Sozialismus”.80 Als ihr, während der
Leipziger Großdemonstrationen, jemand sagt: “Wir müssen die DDR retten”,
sieht Wolf in der gegenwärtigen “Krise” vor allem einen “geistigmoralischen
Notstand unserer Gesellschaft”, der sich “nicht so schnell [. . .] beseitigen”

75
Vgl. Karl Heinz Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur. Deutsche
Zeitschrift für europäisches Denken 44 (1990). H. 10/11. S. 1015–1018. – Siehe
auch Städtke: Zwischen staatlicher Förderung und Lesererwartung [wie Anm. 64].
Hier: S. 460.
76
Siehe dazu etwa die kritische Würdigung von Lothar Müller: So viel Inbrunst,
ganz zerrissen. Der gesamtdeutsche Erfolg des Individuums: Christa Wolf feiert
heute ihren achtzigsten Geburtstag. In: Süddeutsche Zeitung 18.3.2009.
77
Vgl. Antonia Grunenberg: Antifaschismus – Ein deutscher Mythos. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 1993.
78
Christa Wolf: Reden im Herbst. Berlin-Weimar: Aufbau 1990. S. 116.
79
Ebd. S. 171.
80
Ebd. S. 117.

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lasse “wie ein Versorgungsnotstand oder ein Reisedefizit”.81 Wolf will ‘Werte’
restituieren und befürchtet die Aufzehrung von Substanz.
Wie sollte der Verfall aufgehalten werden? Das Modell liefert, naturge-
mäß, die Kundgebung auf dem Alexanderplatz 1989: “Am 4. November
haben wir einen schönen und hoffentlich für die Zukunft wichtigen Moment
erlebt während einer großen Demonstration hier in Berlin, zu der Künstler
aufgerufen hatten”. Die Szene ähnelt bis ins Detail der Dichterlesung in Was
bleibt. Der Künstler moderiert, das Volk artikuliert sich und kommt – durch
die Vermittlung des Künstlers – zu sich selbst: “Es waren Menschenmassen
auf der Straße, die sich souverän, kritisch, zugleich aber auch beinahe hei-
ter verhielten. Obgleich vorher Angst herrschte”.82 Der volkspädagogische
Auftrag ist erfüllt, der Künstler an seinem Ziel, seiner Selbstenthebung durch
das Leben, angekommen. Hier ist “der Punkt der größtmöglichen Annäherung
zwischen Künstlern, Intellektuellen und anderen Volksschichten” erreicht,
ihr “Zusammengehen”. Dabei handelte es sich nach Christa Wolf nicht
um “das Zufallsprodukt eines glücklichen Augenblicks”, sondern um den
“Kulminations- und Höhepunkt einer Vorgeschichte”.83
Der Sozialismus hat sich zu einem “massenhafte[n] Gespräch” aller mit
allen transformiert.84 Die Verkäuferin redet auf einmal “über Stadt- und
Staatsangelegenheiten”, und Christa Wolf sieht deshalb “Brechts Stück von
der Pariser Kommune” Realität werden.85 “Man fing schon an, das für nor-
mal zu halten”, was, wie beschrieben, nicht funktionieren kann. “Und das
geht quer durch die Institutionen, es geht natürlich auch weit hinein in die
sozialistische Einheitspartei. Viele Mitglieder der Partei sind stark beunruhigt
und wollen genau wie alle anderen versuchen, die DDR zu erhalten”.86 Als in
der fernen Sowjetunion der Hallenser Madrigalchor von Christa Wolf persön-
lich über den friedlichen Verlauf der Leipziger Großdemonstrationen unter-
richtet wird, begreift die Autorin gleich, “warum diese jungen Leute aus der
DDR jetzt singen mußten”: Um “ihrer Freude” Ausdruck zu verleihen,
tragen sie den “Hunderten von Fluggästen” “O Täler weit, o Höhen” vor.
“Sehr deutsch, sicherlich”, kommentiert Wolf, aber doch ein erhebender, ein
“[u]nvergeßlich[er]” Augenblick.87

81
Ebd. S. 95, 100.
82
Ebd. S. 132.
83
Ebd. S. 158f. Vgl. ebd. S. 139. – Siehe auch StE 262, 411.
84
Wolf: Reden im Herbst [wie Anm. 78]. S. 78.
85
Ebd. S. 15.
86
Ebd. S. 81. – Vgl. StE 411.
87
Wolf: Reden im Herbst [wie Anm. 78]. S. 11.

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In Stadt der Engel singt die Autorin selbst, um sich im Augenblick höchs-
ter Not88 zu erhalten. Es sind Lieder von der Romantik bis zum Spanischen
Bürgerkrieg und vor allem deutsches, urdeutsches Liedgut,89 für das sie sich
in den Reden im Herbst noch meinte entschuldigen zu müssen. Was sie ein-
sam intoniert, trägt doch den Bezug auf Gemeinschaft virulent in sich. Die
Icherzählerin vergewissert sich in der eigenen Sprache ihrer Zugehörigkeit
zum Gesamt des Sprachraums. Nicht zufällig schließt ihr bunter Reigen mit
Schillers Ode An die Freude – in Beethovens Vertonung als 4. Satz der 9.
Sinfonie: “Freude, schöner Götterfunken”. Der Leser soll ergänzen, dass die-
ser “Kuß der ganzen Welt” gehört, die “Millionen” “umschlungen” werden,90
auch wenn der Impuls nicht aus einer Euphorie hervorbricht, sondern aus
tiefster Depression. Die ersten Strahlen des neuen Tages allerdings verhei-
ßen die symbolische Wiedergeburt, lassen unsere fiktionale Autorin endlich
zur Ruhe kommen und schlafen.91 Wenig später ist sie wieder hergestellt und
singt nun, wieder trotzig, die Lieder der sozialistischen Internationale – aus
dem Inventar der “Ernst-Busch-Platten”.92
“KEIN ANDERES FLECKCHEN ERDE AUF DIESER WELT” hat die
Ich-Erzählerin “SO INTERESSIERT WIE DIESES LÄNDCHEN”, dem sie
“EIN EXPERIMENT ZUTRAUTE”. Nun, das ist die Summe des nostalgi-
schen Anflugs wie der gelebten Biografie, sei es “MIT NOTWENDIGKEIT
GESCHEITERT”.93 “Die Hoffnung verkam, die Utopie zerbröckelte, ging
in Verwesung über. Wir mußten lernen, ohne Alternative zu leben”.94 Die
DDR, “unser Land” hingegen hat die fiktionale Autorin geliebt als Projektion:
“nicht, wie es war, sondern wie es sein würde”.95 Nun aber herrschen “Häme,
Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot”.96 Die Texte der Wende waren
“getränkt [. . .] von Hoffnung”; so auch der Appell “Für unser Land” –
“Hoffnungen, die man wenig später Illusionen nennen mußte”.97 So kann der
fiktionalen Autorin in Los Angeles, der Stadt der Engel, auch nur noch ein

88
Vgl. StE 308.
89
StE 249f.
90
Friedrich Schiller: An die Freude. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard
Fricke und Herbert G. Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
91993. Band 1. S. 133–136. Hier: S. 133, Zeilen 1, 9f.
91
StE 251.
92
StE 271.
93
StE 289.
94
StE 258; vgl. 316.
95
StE 258.
96
StE 411; vgl. 294.
97
StE 266.

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Engel beispringen, der sie zur Genesung führt: Angelina, “die schwarze Frau
aus dem MS. VICTORIA”.98
Stadt der Engel ist ein Buch des Abschlusses. So findet sich, neben vie-
len Wiederholungen, Selbstzitaten, Reminiszenzen auch eine an Kassandra,
hier die Frage, was denn den “Späteren” wohl “einfallen wird, wenn sie an
uns denken”.99 “Vielleicht”, antwortet Peter Gutman, Alter Ego der fikti-
onalen Autorin, “wird man sagen, sie haben zuletzt ohne Illusionen, aber
nicht ohne Erinnerung an ihre Träume gelebt. An den Wind Utopias in den
Segeln ihrer Jugend”.100 Die Ich-Instanz will das gern glauben, kommt aber
zu einem nüchternen Resümee: “DU BIST DABEI GEWESEN. DU HAST
ES ÜBERLEBT[.] Es hat dich nicht kaputtgemacht. Du kannst davon
berichten”.101
Kritik als Loyalität ist ein Gestus, der das Ende der DDR schon mehr als
zwei Jahrzehnte überdauert hat. Das ist der befremdliche Befund, den erst
Wolfs letztes Buch so deutlich hervortreten lässt. Der Titel meines Beitrags
beschreibt demnach kein Oxymoron, sondern ein Bedingungsverhältnis. Es
ist auch keine additive Konjunktion, die das Gegensätzliche verbindet,
sondern beide Teile bilden das Amalgam der moralisch Integren in diesem
Land DDR – eben das macht den Sachverhalt so schwierig.
Die Entwertung Wolfs war hart und selten fair. Aber sie erledigte nicht,
wie es die Debatte über die “Gesinnungsästhetik” insinuierte,102 gleich
alle engagierten, linken Intellektuellen. Günter Grass hat bekanntlich den
Nobelpreis für Literatur erhalten, auf den sich auch Wolf Hoffnungen
machen durfte – vor 1990. Nobel erklärte Grass, er hätte den Preis 1999
gern geteilt mit Wolf – als Zeugnis der gesamtdeutschen Literatur – was
aber nicht möglich gewesen sei.103 Dass Christa Wolf, im Wendeherbst, “in
der DDR auch ohne Nobelpreis nobilitiert und unangreifbar geworden war”,
wie Magenau schreibt, hat hingegen ihre Position im literarischen Feld –
nicht nur des Westens – nachhaltig zerstört. “Der Staat suchte schmeichle-
risch ihre Nähe, um sich mit ihr zu schmücken und die eigene Schwäche zu
kaschieren”.104 Erst danach trat sie an die Öffentlichkeit – als Sprecherin der

98
StE 326.
99
Christa Wolf: Kassandra. Erzählung. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand 1983.
S. 150.
100
StE 317.
101
StE 214.
102
Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. – Noch einmal: Christa
Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: “Es geht nicht um
Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 208–216. Zuerst in: Die Zeit 2.11.1990.
103
Vgl. Magenau: Christa Wolf [wie Anm. 11]. S. 446.
104
Ebd. S. 366.

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Bürgerbewegung, zu der sie erst spät stieß. Es ist diese Verquickung, die sich
im Juni 1990 als Angriff auf ihr Werk und ihre Person entlud. Als der unter-
schwellige Legitimationsdiskurs, der immer im Werk mitschwang, 1989 prak-
tisch werden wollte, folgte die Kritik auf dem Fuß. Seit dieser Demontage
haben wir auf ein gelungenes Werk Christa Wolfs gewartet – und auf eines,
das diesem Zirkel der Kritik als Loyalität entkommen wäre. Auch Stadt der
Engel, ihr letztes Werk, löst diese Erwartungen nicht ein.105

105
Daran ändert auch nichts, dass Wolf im Oktober 2010 den Thomas-Mann-Preis
erhalten und von Grass wiederum für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht wurde.
Vgl. die entsprechende dpa-Meldung unter: http://www.rhein-zeitung.de/magazin_
artikel,-Christa-Wolf-mit-Thomas-Mann-Preis-ausgezeichnet-_arid,153769.html
[Abruf am 5.11.2010]. Die ersten Rezensenten schätzten das Werk zum Teil deut-
lich wohlwollender ein. Vgl. etwa Michael Opitz: Auf dem Zenit ihres Könnens.
Deutschlandradio Kultur 26. 6. 2010. Der Text unter http://www.dradio.de/kultur/
sendungen/kritik/120781/ [Abruf am 5.11.2010]. Von Opitz auch ein entsprechen-
der Beitrag im vorliegenden Band. Ähnlich der Tenor einer Lesung in Leipzig.
Siehe dazu Janina Fleischer: Christa Wolfs neuer Roman. In: Leipziger Volkszeitung
17.6.2010. Unter LVZ-Online siehe: http://nachrichten.lvz-online.de/kultur/news/
christa-wolfs-neuer-roman-stadt-der-engel-oder-the-overcoat-of-dr-freud/r-news-a-
35829.html [Abruf am 5.11.2010]. Emphatisch lobend auch Simone Dattenberger:
Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. In: Münchner Merkur 19.6.2010. Unter:
http://www.merkur-online.de/nachrichten/kultur/wahrheit-nichts-wahrheit-809756.
html [Abruf am 5.11.2010]. Anerkennend äußert sich auch Richard Kämmerlings:
Mein Schutzengel nimmt es mit jedem Raumschiff auf. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung 18.6.2010. Im Netz zu finden unter: http://www.faz.net/artikel/C30347/
christa-wolf-stadt-der-engel-oder-the-overcoat-of-dr-freud-mein-schutzengel-
nimmt-es-mit-jedem-raumschiff-auf-30273440.html [Abruf am 5.11.2010].
Deutlich kritisch hingegen Heinrich Thies: Christa Wolf über sich und die Stadt
der Engel. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 15.6.2010. Unter: http://www.haz.
de/Nachrichten/Kultur/Buecher/Christa-Wolf-ueber-sich-und-die-Stadt-der-Engel
[Abruf am 5.11.2010]. Eine „literarische Enttäuschung“ konstatiert auch Lothar
Müller: Ich habe Margarete vergessen. In ihrem Roman Stadt der Engel unterwirft
Christa Wolf ihre literarische Phantasie der Kontrolle durch Politik und Moral. In:
Süddeutsche Zeitung 19./20.6.2010. Eine Übersicht wichtiger Besprechungen findet
sich zudem unter: http://www.complete-review.com/reviews/ddr/wolfc3.htm [Abruf
am 5.11.2010].

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IV. Lektüren

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Stephan Krause

“Das war mein Ort.” – Franz Fühmanns literarisches Bergwerk


This essay describes and analyses the particularities and poetical extraordinariness
of Fühmann’s fragmentary, unfinished novel Im Berg, also known as the ‘Bergwerk-
Projekt’, posthumously published in 1992. It aims, first, to (re)introduce Fühmann’s
text – which was marginalized due to its unfinished state – and to show its impor-
tance to GDR literature. Second, it emphasize that this novel project explicitly does
not bear witness to the literary (or personal) failure of its author facing a disastrous
abyss, to which the mine is not comparable. Furthermore, by emphasizing the fictio-
nality and literariness of this work, the mine in Im Berg is contextualized as a literary
and literarily significant place. The essay thus provides a sketch of Franz Fühmann’s
late project and underlines the importance of interpreting it not as a biographical or
historical document, but as a literary text.

Ne nous confions pas à l’échec, ce serait avoir la nostalgie de la réussite.


Maurice Blanchot
Csak álom vagy, hiába akarlak, / lidérc, kit a vágy maga szűl
(Nur ein Traum bist du, vergeblich verlangt mich nach dir / Irrlicht, das die Sehn-
sucht allein gebiert)
Szabó Lőrinc

Wahlspruch der Mansfelder Bergleute:


ICH BIN EIN BERGMANN, WER IST MEHR!

Die Skizze des Ortes Bergwerk bei Franz Fühmann, die dieser Beitrag anbie-
tet, zeigt eine Ortsbeschreibung, in der ‚Topo-Graphie‘ wörtlich verstanden
wird. In Fühmanns unter dem Titel Im Berg erschienenem Fragment werden
bedeutsame poetologische Fragen thematisiert, die eng mit dem fragmenta-
rischen Charakter des Bergwerktextes zusammenhängen und mit denen sich
der Text noch (und gerade) in seiner Fragmentarizität auseinandersetzt. Die
Möglichkeit der Einbettung in Kontexte weit über die reichlich eingeeng-
ten der DDR hinaus, bestimmt sich unter Berücksichtigung der mythischen
Dimensionen des Bergwerkes auch von der Unvollendetheit des Textes her.
Mithin scheinen weniger die hypothetischen Überlegungen zu seinem vollen-
denden (und vollendeten) Abschluss ergiebig zu sein. Fragestellungen aber,
mit denen sich vom Ort unter Tage her die Anlage Bergwerk – als Erzgrube
wie als Text – beschreiben lässt und in denen die vorhandene Anlegung
des Textes berücksichtigt wird, bergen den Vorteil, ihn sowohl von der
Diskursivität (auch der aktuell möglichen) als auch einer potentiellen diskur-
siven Inkommensurabilität her zu untersuchen. Es lässt sich daran trotz seiner
Fragmentarizität eine Widerstandsfähigkeit beobachten, die auffällig bleibt,

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auch wenn der Abbruch des Bergwerkprojektes noch “dem Abgrund dem
Schweigen / Das der Protagonist meiner Zukunft ist”1 ähnlich zu sein scheint,
von dem in Müllers Ende der Handschrift die Rede ist. Müllers spätes Gedicht
bezieht sich nicht direkt auf Fühmanns Bergwerkfragment. Doch verfassen
die Verse den Abbruch eines Schreibens und den Beginn von Unlesbarkeit,
in der den schriftlichen Zeichen kein Sinn mehr zuordenbar ist, da ihre
Zeichenhaftigkeit in Frage steht. Der Abbruch des Bergwerkes bei Fühmann
lässt sich damit vielleicht insofern in Zusammenhang bringen, als es sich um
keine absichtliche Fragmentierung handelt, sondern um Unabschließbarkeit.
Dem steht beispielsweise die von Gewissheit erfüllte Äußerung von
Christa Wolf in Karlheinz Munds Fühmann-Film Das Bergwerk2 gegen-
über, der Bergwerktext hätte, fertiggestellt, dieses Jahrhundert irgendwie
aufgerissen und Fühmann hätte den Bruch von 1989 gebraucht, um das
Bergwerk zu schaffen. Dieser 19923 wahrhaft vergeblichen Hoffnung auf
und der Gewissheit um den, hätte es ihn gegeben, erfolgreichen Abschluss
wohnt jene Vorstellung als Vorgabe einer Vollendung inne, von der ausge-
hend sich die Auseinandersetzung mit Franz Fühmanns unabgeschlosse-
nem Text Im Berg allzu oft vollzieht.4 Die Fiktion vom Ende, das der Text

1
Heiner Müller: Ende der Handschrift. In: Ders.: Werke: Bd. 1. Die Gedichte. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 322. Norbert Otto Ekes
Thematisierung und Kontextualisierung des Müller-Verses “Nach der Mauer der
Abgrund” aus Glückloser Engel 2 (Heiner Müller: Glückloser Engel 2. In: Ders.:
Werke: Bd.1, S. 236) in diesem Band ruft ausdrücklich die Frage nach einem Weiter
auf, die Müllers Gedicht anspricht. Die Fühmann’sche Seilfahrt ins Bergwerk hier
unmittelbar anzuschließen, erwiese sich als Kurzschluss, zumal das Bergwerk zwar
als hadesnaher Ort erscheint, nicht jedoch als Abgrund. Die Tiefendimension bleibt
zwar unergründlich, aber eben aufgrund ihrer erdgeschichtlichen Dimension.
2
Karlheinz Mund (Regie / Buch): Das Bergwerk – Franz Fühmann. Deutschland
1998 (Provobis/A Jour Film/mdr). Erstaufführung am 15.10.1998.
3
Munds Film stammt von 1998, Wolfs Aussage ist jedoch, wie im Film zu erkennen
ist, älter.
4
Vgl. hierzu u.a.: Marcel Beyer: Berggeschrei. Franz Fühmanns Bergwerk-Projekt.
In: die horen 49.[216] (2004). S. 97–114. – Sigrid Damm: “Am liebsten tät ich
auf die Straße gehen und brüllen” – zu Franz Fühmanns “ Im Berg”. In: Franz
Fühmann. Es bleibt nichts anderes als das Werk. Ausstellung der Stiftung Archiv
der Akademie der Künste. Hg. von Barbara Heinze. Berlin: Akademie der Künste
1993 (Ausstellungskatalog). S. 8–15. – Lothar Köhn: Franz Fühmanns Fragment Im
Berg. In: La mine dans la civilisation et la littérature allemandes. / Der Bergbau
in Kultur und Literatur des deutschen Sprachraums. Hg. von Paul Colonge.
Villeneuve d’Ascq: Université Charles de Gaulle [Lille] 1995 (Germanica 16).
S. 83–93. – Lothar Müller: Schichtende. Über Franz Fühmanns Fragment “Im Berg”.
In: Literaturwissenschaft und politische Kultur. Für Eberhard Lämmert zum 75.
Geburtstag. Hg. von Winfried Menninghaus u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart: Metzler

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in das Weiß einer unbeschriebenen leeren Seite nach dem Abbruch verlegt,
bestimmt, ohne dass die Vollendung existierte, vielfach die Einschätzung
und die Lesarten zum Fühmann’schen Bergwerk. Fast bar einer Reflexion
des vorhandenen anspruchsvollen Textes und ohne eine kritische Diskussion
seiner Abgebrochenheit oder seines fragmentarischen Zustands wird seine
Bedeutung oft auf die fehlende Vollendung festgelegt, so als könne am ehe-
sten das Nicht-Geschriebene die Bedeutung des Textes vorgeben oder gar
erschließen.
Dass sich im Bergwerktext weitaus mehr an poetologischer Reflexion und
an intertextueller Aufladung finden lässt, als dies je die Zuspitzung auf den
Textabbruch offenlegen kann, wird im Folgenden aufgezeigt.
In ein Bergwerk einzufahren bedeutet, sich in den Untergrund von (poe-
tisch) zunächst schweigsamer Finsternis zu begeben. Wer hinabfährt in die
Grube, dringt ein in den unergründlichen Bereich einer Urgeschichte und
zugleich von Urschichten, gerät in Gegenden, deren zeitliche Dimensionen
der Entstehung und Ergründung5 sich dem Betrachter nur amorph und
spröde zeigen. Wer als schatzgräberischer Entdecker dorthin kommt, findet
sich bei Fühmann aber nicht in den romantischen Gewölben einer reichen
Höhle wieder, sondern im gleißend kalten Neonlicht eines unterirdischen
Verschiebebahnhofs6 voller polternder Kipploren, beladen mit ausgebro-
chenem Erz oder mit taubem Gestein, das die Haldengebirge über Tage
anwachsen lässt. Dort unten findet sich das Kupferflöz, von dessen rötlich
geworfenen Adern auch die Unterwelt in Rilkes großem Poem Orpheus.

1999. S. 77–99. – Gänzlich anders, letztlich gegen ein bloßes Scheitern, argumen-
tiert etwa Richter in der – abgesehen von Heinzes umfangreichem Materialband –
nach wie vor einzigen brauchbaren Fühmann-Biographie: Hans Richter: Franz
Fühmann – Ein deutsches Dichterleben. Berlin: Aufbau 1992. Hier besonders: S. 23ff. –
Außerdem: Ursula Püschel: Franz Fühmann im Berg. In: Neue deutsche Literatur
40.1 (1992). S. 149–155.
5
So heißt es über den Zusammenhang von Tiefendimension und geologischer
Entstehungsdauer: “und über mir tausend Meter Gestein, das waren zweiundzwan-
zig Jahrzehntmillionen eines beharrlichen Mühens der Erde sich aus Magma und
Meer zu heben” (Franz Fühmann: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß. Hg. von Ingrid
Prignitz. Rostock: Hinstorff 21993. S. 23).
6
Die künstliche Beleuchtung wird gleich zu Anfang erwähnt: “Alles Licht ist
Kunstlicht, mitunter zwar gleißend”. Ebd. S. 9. Der unterirdische Bahnhof ist der
erste Ort, den der Erzähler im Bergwerk betritt. Er ist sich nicht sicher, ob er sich
im Berg befindet: “Gleise, Bogenlampen, Züge, Gemäuer, Stufen, Verkehrsampeln,
Drehscheiben, Weichen –: ein Werkbahnhof bei künstlichem Licht. – Waren wir im
Berg? – Was ich nicht sah, war Fels” (ebd. S. 19).

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Eurydike. Hermes7 durchzogen ist. Dieses Flöz ist dem ungeschulten Auge
ununterscheidbar vom übrigen, tauben Gestein:
Zwischen Liegendem und Hangendem das Flöz, das wir abbaun, Kupferschiefer,
siebenundzwanzig bis achtunddreißig Zentimeter mächtig [. . .]. Der Bergmann
unterscheidet im Flöz abermals fünf Schichten: Feine Lette, Grobe Lette,
Kammschale, Kopf und Schwarze Berge, so die Stufenfolge von unten nach oben,
und zwischen diesen Lagen noch besondere Nähte; ich habe lange Zeit gebraucht,
das Flöz vom Fels zu unterscheiden, ich sah beides als grauschwarzes Gestein.8

Die Schwärze einer beinahe undurchdringlichen Nacht umgibt dort alles.


Jeder Schritt voran nimmt sich als ein Vordringen aus, dessen Ungewissheit
selbst es bestimmt. Der voran liegende Gang zeichnet sich unter Tage nicht
als verlässlicher Weg ab, auf dem auszuschreiten die Orientierung selbst
gewänne und erinnert damit auch auf andere, vielleicht beklemmendere
Weise an das Labyrinth des Budapester Lukácsbades in Zweiundzwanzig Tage
oder Die Hälfte des Lebens.9 Der voran liegende Gang unter Tage reicht je
nur soweit wie der Lichtstrahl der Helmlampe, die den entgegenkommenden
Bergmann als riesenhaften Zyklopen10 erscheinen lässt. Die Einäugigkeit
weist dabei zurück auf die Gefahr, dieses eine lichte Auge zu verlieren, und
zeigt die Todesgefahr nahezu vollständiger Orientierungslosigkeit. Erkenntnis
und der Raum des Ichs entstehen unter Tage in der Reichweite der Lampe.
Der Übergang von Lichtschein über versickernde Helligkeit zu gänzlich
finsterer Schwärze schiebt sich je nur um die Länge eines Schrittes voran.
Die beleuchtete Begrenztheit des Raumes ist unter Tage die nicht übertretbare
Grenze jeder Erkenntnismöglichkeit.11

7
Rainer Maria Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes. In: Ders.: Werke. Kommentierte
Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. von Manfred Engel u.
Ulrich Fülleborn. Frankfurt a.M.: Insel 1996. S. 500–503.
8
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 14.
9
Vgl. die Episode, in der der Erzähler ein Dampfbad besucht und sich dort bei-
nahe verirrt. Besonders auffällig ist die labyrinthische Textgestalt: Franz Fühmann:
Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Ders.: Werkausgabe: Bd. 3.
Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte
des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993. S. 281–506. Hier: S. 333–342.
10
In einer Tagebuchskizze ähnelt der Anblick entgegenkommender Bergleute dem
von Zyklopen: “alles aus dem Mythos nehmen – Kopflampen = die Einäugigen – /
Die Vier, die aus dem Flachen uns entgegenkamen – unwillkürlich Respekt, unbe-
kannt, und mit Kopflicht aus dem Dunkeln scheint der Mensch bedeutend größer –”.
Tagebuchnotiz Fühmanns vom 22.04.1975. Akademie der Künste (AdK) Berlin.
Franz-Fühmann-Archiv (FFA) Nr. 35/2. S. 8f.
11
Vgl. hierzu: “Alles Licht ist Kunstlicht, mitunter zwar gleißend [. . .], aber die-
ses Licht reicht nicht weit in die Grube, ein paar Meter Fahlnis zwischen Lampe
und Lampe, und wo die Zentralbelichtung endet, wird die Finsternis nur noch von

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Solche Erfahrung steht im Bergwerk Franz Fühmanns neben dem Versuch


sprachlicher und auch bergmannssprachlicher Annäherung an diese besondere
Örtlichkeit, an die Arbeit und an die Bergleute mit ihrem stolzen Anspruch
“ICH BIN EIN BERGMANN, WER IST MEHR!”.12 So sehr die motivischen
Einzelheiten und die Details der Beschreibung die narrative Auskleidung
des aufgerufenen Topos Bergwerk darstellen, so sehr bleibt ihnen auch die
Frage nach der Möglichkeit von Orientierung und Bestimmung des eigenen
Ortes unterlegt. Dies drückt sich darin aus, dass die Benennung so essenziel-
ler räumlicher Bezugsgrößen wie ‘Fußboden’ und ‘Decke’ als Dimensionen
im Bergwerk neu zu begreifen sind. Die bergmännischen Bezeichnungen
scheinen zwar bloße Übersetzungen der über Tage alltäglich gebräuchlichen
Begriffe zu sein, doch geht es ja gerade nicht um Spezialwerkzeuge oder die
Beschreibung komplizierter geomechanischer Vorgänge, sondern lediglich
darum, sich über die unmittelbare Umgebung zu verständigen. So lernt der
Erzähler im Bergwerk, dass unter Tage für den Boden die Bezeichnung ‘Sohle’
und für die Decke die Bezeichnung ‘First’ gilt. Die vermeintliche Wand der
‘Strecke’ – bergmännisch für den Gang – wird zum ‘Stoß’. Der gemeinhin
bekannte ‘Stollen’ nun bezeichnet korrekt gebraucht nur eine Strecke, die ins
Freie mündet. Die gesamte Anlage schließlich, eingeschlossen die übertägi-
gen Einrichtungen wie Förderturm, Kauen und Bürotrakt wird ‘Grube’ oder
auch mal ‘Schacht’ genannt.13 Der Bergmann kritisiert den Schriftsteller für
dessen vermeintliche sprachliche Inkompetenz in dieser Hinsicht und erklärt
auf dessen Entgegenkommen, auch einen Text (“Geschreibe”14) mit richtigem
Gebrauch der Fachsprache läse er nicht. Das Bergwerk erscheint gegenüber
dem ‘Über Tage’ als sprachlich besonders markierter Ort. Diese Differenz

dem Licht durchschlagen, das jeder auf seinem Schutzhelm trägt” (Fühmann: Im
Berg [wie Anm. 5]. S. 9). Vgl. dazu auch folgende Stelle im Nachlass: “Lampe
wirft einen Schein um dich  dein Daheim, dein Kreis dahinter Mauern aus
Dunkelheit, etwas Samtartiges, ein Innenraum ohne sichtbare Mauern – daher dieses
Anheimelnde, das ist es!! Soweit das Licht scheint, schiebt sich diese Mauer lautlos
zurück und naht dann wieder, so schwebt die Erde im schwarzen All, so schwebt
das Bewußtsein im Unbewußten –” AdK Berlin. FFA Nr. 35/2. SA A21.
12
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 23.
13
Diese Erläuterungen werden im Text zu Anfang gegeben und stellen somit die
sprachliche Einfahrt ins Bergwerk dar. Die erste Lektion Bergmannssprache sei
“sofort ins Prinzipielle” (ebd. S. 9.) gelaufen. Referiert wird an jener Stelle ein
Gespräch zwischen dem (schriftstellerischen) Erzähler und einem Bergmann über
den ‘richtigen’ (Fach-)Sprachgebrauch, der – insbesondere von dem Bergmann –
nach Wahrheit und Lüge gemessen wird.
14
Ebd. S. 11.

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zeigt sich auch an der Schwierigkeit, unter Tage den eigenen Aufenthaltsort
im Verhältnis zur oberirdischen Topographie zu bestimmen.15
Die Seilfahrt in den Schacht führt im Bergwerkbuch in etwa 1000 Meter
Teufe.16 Die Grube ist in Felder aufgeteilt, die nach den Himmelsrichtungen
benannt sind, in denen sie sich bezogen auf den Schacht befinden. Doch eine
genaue Bestimmung des Ortes bleibt damit noch immer schwierig – und soll
für den empirischen Ort des Textes gar gänzlich ausbleiben. Die Fahrt unter
Tage – ob in der Grubenbahn oder zu Fuß, der Bergmann ‘fährt’ immer17 –
bemisst sich eher an der vergangenen Zeit als durch ein Entfernungsmaß. Was
bleibt, ist die Bewegung in den Streben und Strecken, deren Verlauf zu fol-
gen ist. Somit erscheint die im Bergwerktext aufgeworfene Frage nach dem
Wo unter Tage in Bezug auf die Anlagen und Örtlichkeiten über Tage als
sehr berechtigt, wenngleich sie freilich eine eher abstrahierende Betrachtung
der Gesamtanlage des Bergwerkes in einer Art gedachtem Saigerriss impli-
ziert. D.h., die Hauptdifferenz der Ortsbestimmung unter Tage zu der über
Tage besteht darin, dass der in einer Landschaft mögliche Rundblick und
die Abschätzung von Entfernungen oder Lagen in der Grube unmöglich
ist. Vielmehr erfolgt eine Bestimmung des eigenen Ortes in Bezug auf das
Über Tage, also nicht in horizontaler Dimension, sondern vertikal, da die
Horizontale ja optisch ohnehin durch die Reichweite des Lichtes begrenzt ist.
Den eigenen Ort so nicht selbständig erfassen zu können, son-
dern auf die Aussagen der Bergleute angewiesen zu sein, gehört zu den
Grunderfahrungen, die der Bergwerktext verschiedentlich enthält: “Ich hatte
längst jede Orientierung verloren”,18 bekennt der Erzähler und muss sich

15
Vgl. dazu: “Ich hatte nur eine Dimension, die der Höhe, hinauf zum Tageslicht: Wir
gruben in neunhundert Meter Tiefe, und August verriet mir, wo wir uns befanden:
direkt unterm Ambulatorium!” (ebd. S. 107).
16
Bergmannssprache für ‘Tiefe’ (in der Grube). Vgl.: Julius Dannenberg u. Werner
Adolf Frantz: Bergmännisches Wörterbuch. Verzeichniß und Erklärung der bei
Bergbau, Salinenbetrieb und Aufbereitung vorkommenden technischen Ausdrücke.
Nach dem neuesten Stande der Wissenschaft, Technik und Gesetzgebung. Leipzig:
Brockhaus 1882. Dieses relativ alte Werk bietet noch immer einen sehr umfas-
senden Einblick in die Lexik der Bergmannssprache. In Fühmanns umfangreicher
Sammlung (Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB), Sammlung Fühmann)
sind beispielsweise auch folgende Standardwerke enthalten, denen die bergmänni-
sche Fachsprache zu entnehmen ist: Karl-Heinz Eisenhuth u. Eberhard Kautzsch:
Handbuch für den Kupferschieferbergbau. Leipzig: Fachbuchverlag 1954. –
Taschenbuch für den Bergmann. Bd. 2. Allgemeines bergmännisches Fachwissen.
Mit 23 Tabellen. Hg. von der Kammer der Technik, Zentralleitung, Fachverband
Bergbau. Leipzig: Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie 1961.
17
Dies sei die “Anfangslektion in der Bergmannssprache” (Fühmann: Im Berg [wie
Anm. 5]. S. 9) gewesen, heißt es im Text.
18
Ebd. S. 11.

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in der Grube immer in Begleitung eines Bergmanns “mindestens im Rang


eines Obersteigers”19 bewegen, damit die sichere Orientierung in der Grube
gewährleistet ist.
Der als Buch vorliegende Text des Bergwerkes enthält gut ein Zehntel des
geplanten Umfangs von ungefähr 1000 Seiten. Der Roman sollte “in der Nähe
von Ulysses”20 liegen, wie Fühmann selbst an seine Lektorin schreibt. Das
erste von sieben geplanten Hauptstücken ist vollständig und auch die erste
der je zwischen den Hauptstücken vorgesehenen Erzählungen liegt mit Das
Ohr des Dionysios21 vor. Vom zweiten Hauptstück gibt es nur ein und ein
weiteres begonnenes Unterkapitel, das mitten im Satz abbricht. Darüber hin-
aus enthält das umfangreiche Nachlasskonvolut, das im Archiv der Akademie
der Künste lagert, eine Fülle von weiteren, auch früheren Textfassungen,
Notizen und Skizzen, Notizbüchern mit vielfach unleserlicher, weil wohl
im Bergwerk, liegend, hockend während der Arbeit geschriebener Schrift,22
die zudem mit einem ganz eigenen Code aus Abkürzungen, stenographi-
schen Elementen und Morsezeichen durchsetzt ist. Das Archiv enthält auch
eine Reihe von Briefen, Bildern, Fotos und Karten der Mansfelder Gegend,
darunter geologische Karten, sowie sogenannte Saigerrisse, z.T. zurückge-
hend bis ins 19. Jahrhundert. Fühmann hat sich eigens für dieses Buchprojekt
zudem eine Sammlung von bergmännischer, geologischer, geophysischer

19
Ebd. S. 26.
20
Die Angaben zum Umfang und dieser Vergleich finden sich in einem Brief des
Autors an Ingrid Prignitz vom 24.01.1983. In: Franz Fühmann: Briefe 1950–1984.
Eine Auswahl. Hg. von Hans-Jürgen Schmitt. Rostock: Hinstorff 21994. S. 454–459.
Hier: S. 454. – Eine wertvolle Untersuchung zu (intertextuellen) Beziehungen zwi-
schen Fühmann und Joyce liefert Dennis Tate: Undercover Odyssey: The Reception
of James Joyce in the Work of Franz Fühmann. In: German Life and Letters
47.3 (1994). S. 302–312. – Vgl. zu dieser Fragestellung auch: Stephan Krause:
Topographien des Unvollendbaren. Franz Fühmanns intertextuelles Schreiben
und das Bergwerk. Heidelberg: Winter 2009 (Probleme der Dichtung 42). Insb.
S. 128–164.
21
Der Text findet sich im Bergwerk als 12. Unterkapitel und als Abschluss des
ersten Hauptstückes (Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 115-122). Wiederum
enthalten ist er in: Franz Fühmann: Das Ohr des Dionysios. Nachgelassene
Erzählungen. Hg. von Ingrid Prignitz. Rostock: Hinstorff 1995. S. 41–49.
22
Der Erzähler erwähnt dies auch im 13. Unterkapitel: “in alten Tagebüchern
[. . .] (deren Kritzelschrift, mitunter im Kriechen geschrieben, ich nicht mehr ent-
ziffern könnte, hätte ich sie nicht sofort damals abgetippt)” (Fühmann: Im Berg
[wie Anm. 5]. S. 124). Offenkundig ist hier die Parallele zu Müllers freilich viel spä-
teren Versen in Ende der Handschrift, wenngleich der Einschub bei Fühmann den
Verlust von bereits Geschriebenem und weniger den von Noch-zu-Schreibendem
meint.

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sowie kulturhistorischer Fachliteratur angelegt.23 Ein weiteres eindrucksvol-


les Zeugnis seiner Arbeit am und vor allem im Bergwerk dürfte aber neben
dem Text selbst die großformatige Collage sein, die Fühmann zur und wäh-
rend der Arbeit am Bergwerk angefertigt hat.24 Sie visualisiert die unterirdi-
schen Strecken und den Arbeitsort vor Streb, sowie die höhlenartigen Räume,
die sich unter Tage finden lassen. Fotos zeigen Bergwerke und Bergleute bei
ihrer Arbeit in der Grube. Fühmanns eigene Besuche im Kupfer- und auch im
Kalibergbau im Mansfelder Revier, während denen er das Material sammelte,
werden durch dieses selbst erstellte Bild ergänzt. Bei genauerem Hinsehen
lassen sich viele Details ausmachen, die thematisch in enger Beziehung zum
Bergwerk stehen. So enthält die Collage einen Ausschnitt aus dem Carceri-
Zyklus von Giovanni Battista Piranesi, dessen Darstellungen von erfunde-
nen gewaltigen Kerkerräumen, Carceri d’invenzione, Fühmann selbst in
Beziehung zu seinem Bergwerk setzt.25 Zu sehen sind außerdem einzelne las-
zive Frauenfotographien, die sich im Text motivisch etwa in der erotisch auf-
geladenen, mythischen Figur der Kupferkönigin26 unter Tage bzw. der Regina
Kuypers27 über Tage wiederfinden. Frauen sind unter Tage offiziell nicht

23
Die Sammlung befindet sich zum größten Teil in den Historischen Sammlungen
der ZLB. Kleine Teile liegen auch in den Beständen der Akademie der
Künste in Berlin. Einen Eindruck ermöglicht die Auswahlbibliographie zur
Bergwerkssammlung in: Krause: Topographien des Unvollendbaren [wie Anm. 20].
S. 390–391.
24
Fühmann fertigte zu all seinen Buchprojekten derartige Collagen an, die er nach
Abschluss des Textes jedoch vernichtete. Die Collage zum Bergwerk ist als einzige
erhalten geblieben und befindet sich in den Beständen der ZLB. Eine Fotografie
der Collage findet sich in: Barbara Heinze: Franz Fühmann. Eine Biographie in
Bildern, Dokumenten und Briefen. Rostock: Hinstorff 1998. S. 351.
25
“ein dickes Buch Piranesi, herrlich! brauch ich fürs Bergwerk.”, schreibt Franz
Fühmann an Ingrid Prignitz am 21.02.1979. AdK, Berlin, FFA Nr. 1143, S. 3. In
Fühmanns Bibliothek findet sich neben jenem Band Piranesi auch Norbert Miller:
Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München: dtv
1994 (ZLB, Sammlung Fühmann).
26
Die Kupferkönigin war als (mythische) Hüterin der unterirdischen Sphäre vorge-
sehen. Die Kapitel über sie blieben jedoch Skizzen. Beim Fund eines sogenannten
‘Kupferherings’ (Abdruck eines Fischleibes im Schiefer) heißt es: “Am feinsten ist
die Rückenflosse gezeichnet, ein schmaler, goldgestrichelter Fächer, Tribut für die
Kupferkönigin” (Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 91).
27
Während der (lateinische) Vorname dieser Figur klar auf ‘Königin’ verweist, hat
der Nachname etymologisch nichts mit Kupfer zu tun, doch verweist er phonetisch
und orthografisch auf ihr mythisch-phantastisches Pedant, die Kupferkönigin. Sie
tritt in den Tanzpalastkapiteln 7 und 8 auf. Zwischen rivalisierenden Bergleuten
bricht dort eine Prügelei aus, deren Ursache sie ist. Sie hat kupferfarbenes Haar und
einen ebensolchen Mantel. Vgl. ebd. S. 83f.

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zugelassen, sodass sich mit der Schwere der Arbeit und der Dunkelheit unter
Tage die Wunschvorstellung von der über Tage wartenden Braut oder Ehefrau
verbindet, die Fühmann noch auf erotisches Verlangen zuspitzt. Hinzu kom-
men die anatomischen Zeichnungen des menschlichen Körpers, auf deren
Grundlage die Einfahrt in die unzähligen Windungen des Bergwerks auch für
ein Eindringen in den menschlichen Körper bei medizinischen Operationen
steht. Nicht zuletzt finden sich Hinweise auf die Ähnlichkeit von Bergwerk
und Hades. Die Einfahrt in die Erde ist ja nicht nur das Eindringen in einen
Bereich, für dessen Betreten der Mensch zuvor um göttlichen Beistand bittet –
dies ist erhalten bis in den bergmännischen Gruß ‘Glück auf!’ hinein –, das
Eindringen ist ebenso eine Annäherung an den Hades. Für diese unterirdische
Sphäre sind tiefe Schwärze und Dunkelheit kennzeichnend.28 Hadeslandschaft
ist die Grube auch, da die Arbeit des Bergmanns und “ein jedes Tun und
Lassen im Wirkungsfeld des Todes [stand]. Er war da, im schwarzen
Bergmannstuch, und prüfte gnadenlos jeden Handgriff; er war es, der jedes
Stück Arbeit wog”.29
Ein wichtiger Aspekt der Textgestalt und des Inhaltes ist die breite und
vielseitige Verwendung intertextueller Bezüge, Anspielungen und Zitate. Am
deutlichsten sind hier zunächst die Bezüge zu romantischen Bergwerktexten
und Autoren. Die Romantik ist schon durch den literarischen Ort aufgeru-
fen, an dem auch der Bergmann Novalis herumgeklettert sein mag.30 Diese
Tradition erscheint nicht durch modifiziertes Erzählen etwa von Hebels
Unverhofftes Wiedersehen.31 Vielmehr wird die Idee erwähnt, die lange und
unbequeme Fahrt mit der Grubenbahn durch einen “Fahrterzähler”32 zu ver-
kürzen, für dessen Posten sich der Erzähler zu bewerben gedenkt. Es sollen
Bergwerksgeschichten gelesen werden. Die aufgezählten Beispiele sind trotz
großer inhaltlicher Unterschiede alle der romantischen Bergwerksliteratur

28
Vgl. dazu die im Hörspiel Die Schatten gelieferte Beschreibung des Hadeslandes
Kimmerien: “das vollkommene Dunkel, wo die Schatten drin unsichtbar werden”.
Franz Fühmann: Die Schatten. Ein Hörspiel. Hg. von Ingrid Prignitz. Mit Reprod.
v. Graphiken v. Clemens Gröszer. Rostock: Hinstorff 1986. S. 9.
29
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5], S. 22f.
30
Diesen Zusammenhang benennt und illustriert auch folgendes Material einer
Ausstellung: Franz Fühmann und Novalis im Mansfelder Berg(werk). [Mappe,
9 Blatt]. Wiederstedt: Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum
Schloß Oberwiederstedt 2000.
31
Vgl. jedoch als Variation auf Hebels Erzählung: Aufgeschobene Heimkehr. Wie
von Hebel sowie den direkten Bezug zu Fühmanns Bergwerk in: Die Literatur
als Bergwerk betrachtet. Epitaph für Fühmann. In: Volker Braun: Das unbesetzte
Gebiet. Im schwarzen Berg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 78–79 u. S. 83–84.
32
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 8.

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zuzuordnen: “Die Bergwerke zu Falun nach E.T.A. Hoffmann; Der Alte


vom Berge nach Ludwig Tieck; die Bergszenen aus dem Heinrich von
Ofterdingen; Unverhofftes Wiedersehen nach Johann Peter Hebel; Die vier
Norweger nach Henrik Steffens: Der Bergmann war eine Schlüsselgestalt der
Romantik”.33 Diese Texte sollen gewissermaßen in die zu ihnen passende,
authentische Gegend gebracht werden, um sie dort aufzuführen. Fühmann
schreibt seinem Bergwerk die romantische Tradition ein, auf deren Terrain
er sich wähnt. Der Text bewegt sich in unterirdischen Strecken und Streben,
deren Entdeckung nicht nur bereits stattgefunden hat, sondern denen eine
Tradierung unterlegt ist, in die sich der Text durch das bloße Aufrufen stellt.
Das Schatzkammerhafte und Geheimnisvolle, dessen sich die romantischen
Texte zumeist bedienen, um die wundersamen Welten unter Tage zu beschrei-
ben, schwindet in den Fühmann’schen Ausführungen schnell. Im Bergwerk
sieht es nicht nur “wie an einem vergleichbaren Industrieort über Tage”34 aus,
sondern dort unten lassen sich auch keine funkelnden Gesteine finden, nicht
einmal das Flöz ist auf Anhieb erkennbar. Der Ich-Erzähler berichtet, er habe
sehr lange gebraucht, um es vom übrigen Gestein zu unterscheiden und es
enthalte nur mehr 0,3 Prozent Erz,35 wahrlich kein funkelnder Schatz, wie ihn
noch Hoffmanns Elis gesehen hatte.
Indes erscheint die pointierte Feststellung “Das war mein Ort.”36 als
explizite Setzung einer sprachlichen Aneignung des Ortes, die noch der
Desillusionierung – “ich fand mich enttäuscht.”37 – zu Beginn des zweiten
Unterkapitels entgegengehalten wird. Unter Anspielung auf einen weiteren
Fühmann-Titel ist zu hinterfragen, um was für einen Ort, in was für einem
Berg es sich handelt. Zu antworten bleibt darauf nicht mit dem fortschreitend
verbrechenden und verbleichenden Pathos, mit welchem dem Autor trüge-
risch der Balsam politischer Absolution erteilt worden ist. Sein Verschwinden
wurde als willkommene Voraussetzung missdeutet, ihm in jenem als abge-
schlossen zurechtgelegten Sammelgebiet seinen Platz zuzuweisen. Sein Weg
sei in Geröll, Schotter und Trümmern verbrochen, ja jenes wenig nach seinem
Tod hinweggefegte (politische) Ziel habe gar an sich schon aus brüchig tau-
ben Schuttbrocken einer Halde bestanden und der Tod stehe mithin auch mit
einem romantischen Verfallensein in Zusammenhang, wie es eben von Elis
erzählt wird.

33
Ebd.
34
Ebd. S. 9.
35
Vgl.: “Langhin galt ein Flöz mit weniger als 2,1 Prozent nicht als abbauwürdig;
heute baun wir, zum Beispiel im Nordfeld, Flöze mit 0,3 Prozent ab”. Ebd. S. 15.
36
Ebd. S. 24.
37
Ebd. S. 17.

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Mit der Versenkung des Textes in solche landläufige Beliebigkeit und der
Überschreibung des Abbruchs durch vor allem ideologiehaltige Formeln,
wie jene vom ‘Ende der Geschichte’ wird dem aber nicht beizukommen sein.
Davon hebt sich das Bergwerkfragment gerade in seinen sich verwischenden
Konturen ab.
Die nachträgliche Hinzufügung des Untertitels, Bericht eines Scheiterns,
prägt dem Text eine Vorgabe auf – und auch eine Vorgabe für dessen
Lektüre –, die seine literarischen und noch seine mythischen Dimensionen
so zu überwölben scheint, dass sie sie letztlich zu verdecken droht. Es ist,
als schöbe sich jener Untertitel gemeinsam mit Fühmanns schmerzvollen
Testamentsworten38 vor den Text und schriebe ihm damit offenbar ein vor
allem greifbares Ende zu, das dieser selbst nur als Abbruch anbietet und mit
dem er – in diesem Verständnis – allein auf den Abgrund eines Vergeblichen
verwiese. Den Abgrund also, sofern der Bergwerktext diesen überhaupt
anspricht, schreibt allenfalls der Untertitel vor. Zudem zeigt sich in Im Berg
eine Reflexion der dialektischen Relation von Scheitern und (abschließendem)
Gelingen. Vollendung enthält als Figur eines Abschlusses nämlich zugleich
die Gemachtheit39 dieses Gelingens. Eine weitere dialektische Lösung des
Problems findet sich etwa bei Samuel Beckett: “All of old. Nothing else
ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better”.40
Demnach bestünde eine sich steigernde Entwicklung weniger im je besse-
ren Gelingen. Die zentrale (poetologische) Passage im Bergwerk bietet – fast
sekundiert Fühmann dem Iren – eine Sentenz, in der sich nicht die bei Beckett
aufzufindende und zudem in einer Art Prosagedicht geäußerte (lockere)
Distanz wiederfindet, die jedoch das literarische Gestaltungsproblem expli-
zit aufruft. An zentraler Stelle wird im Bergwerk mithin darüber reflektiert,
dass noch “jedes Gelingen ein Scheitern”41 sei, sofern Gestaltung und ästhe-
tisches Gebilde im Angesicht des Urerlebnisses ihre Vollendung auszustellen

38
Die viel zitierten Sätze lauten: “Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist
der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft,
wie wir sie alle einmal erträumten” (ebd. S. 307).
39
Die Differenzierung von Gewachsenem und Gemachtem fand Fühmann bei
Tucholsky: “Es gibt gewachsene Dinge und gemachte – die meisten sind gemacht.
Die gewachsenen sind die, bei deren Herstellung der Schöpfer sich das geglaubt
hat, was er machte” (Kurt Tucholsky: Man muß dran glauben. . . In: Ders.:
Gesammelte Werke: Bd. 2. 1919–1920. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J.
Raddatz. Reinbek: Rowohlt 1995. S. 186–189. Hier: S. 186).
40
Samuel Beckett: Worstward Ho. In: Ders.: The Grove Centenary Edition:
Vol. IV, Poems, Short Fiction, Criticism. Ed. by Paul Auster. New York: Grove 2006.
S. 471–485. Hier: S. 471.
41
Im Berg [wie Anm. 5]. S. 106.

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suchten, die sich vor allem über die Tatsache erhebe, dass das Überwältigende
des Erlebens entschwinde. Der entscheidende Abschnitt im Bergwerk spitzt
dies zu und wendet sich abschließend in den Mythos, mit dem das Problem
eigentlich metaphorisiert wird:
Unter diesem Aspekt ist jedes Gelingen ein Scheitern, und man mag sich noch so
oft sagen, daß Literatur nicht das Leben sein kann und nicht dessen Surrogat sein
darf – etwas in einem weiß es besser; und wenn man auch nicht dran zugrunde
geht, so reibt man sich doch ein Leblang dran auf und schmeckt noch im Glück
des Werk-Vollendens den Überdruß am Artefakt. – Papier; Leinwand; Gips; arm-
selige Zeichen; man stößt derlei angewidert von sich. – Am farbigen Abglanz
hätten wir das Leben – nein, das Leben haben wir als Leben, allein wir können
es nicht halten, wir haben es im steten Entgleiten, und der farbige Abglanz sei-
nes Verweilens ist als Abglanz einer Dimension, der wesentlichsten, der des
Lebendig-Seins beraubt. – Unglückliches Volk, das einen Helden; armseliges Sein,
das Künstler braucht. – Die Verse mögen noch so glühen, ihr Feuer setzt keinen
Strohhalm in Brand, die prangendsten Rosen auf der Leinwand sind duftlos, man
könnte ihnen Essenzen beimengen und hätte Ärgres als Leichengeruch, nämlich
dessen Surrogat als Surrogat des Lebendig-Schönen. – Die Schattenwelt am lich-
ten Tag; die Hadesgrube mitten im Leben, und Achilles begehrt, viel lieber droben
der geringste aller Tagelöhner zu sein als drunten der Schatten des gewaltigsten
Helden und er heult, Schatten, nach einem Rinnsal Leben, nach einem Tropfen
rauchendem Blut.
Ach –42

Mit der hier am Schluss der Passage praktizierten Überführung der


Überlegungen in ein mythisches Beispiel tritt Fühmanns spätestens seit dem
Essay Das mythische Element in der Literatur43 signifikantes poetisches
Konzept des Mythos gleich zweifach hervor, und zwar indem Erzählbarkeit
und Unvollendbarkeit des Mythos zugleich zur Sprache kommen – auch im
wörtlichen Sinn – und dieser zudem die Unlösbarkeit auch des zuvor zuge-
spitzten poetischen Problems unterstreicht. Von diesem zentralen poetologi-
schen Abschnitt aus ist daher unbedingt auf den Zusammenhang zwischen
den poetischen Konzeptionen des Märchens44 und des Mythos in Fühmanns

42
Ebd. S. 106f.
43
Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Werkausgabe:
Bd. 6. Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock: Hinstorff 1993. S. 82–140.
Der Text entstand aus einem 1974 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalte-
nen Vortrag und erschien erstmalig in: Fühmann: Erfahrungen und Widersprüche.
Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff 1975.
44
Vgl. Fühmanns Äußerung mit Blick auf sein Schreiben in den 1950er Jahren
gegenüber Schoeller: “Meine poetische Konzeption hatte geheißen: die Märchen
gehen in Erfüllung” (Franz Fühmann: Gespräch mit Wilfried F. Schoeller. In: Ders.:
Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch. Hg. von Hans-Jürgen
Schmitt. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983. S. 349–384. Hier: S. 357).

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Schreiben hinzuweisen. Die Märchenkonzeption taucht hier in sofern noch


auf, als diese die abgelegte Wunschvorstellung moralischer Eindeutigkeit dar-
stellt, in der alles restlos aufzugehen vermag. Der Offenheit einer mythischen
Narration bzw. vom Mythischen beeinflussten Poetik hatte sich Fühmann
aber schon am Donauufer in Budapest zugewandt.45 Von diesem Konzept
her, das vor allem ein immer schon als Rezeption vorgefundenes und vor-
zufindendes Narrativ gegenüber der geschliffenen Abschlussform heraus-
stellt,46 ist auch das angesprochene poetische Problem der Vollendbarkeit (des
Bergwerkes) zu verstehen. Im Bergwerk zeigt sich zwar ein Wissen um die
Verlockung einer märchenhaften Verheißung, die sich auch in der Gewissheit
von “Das war mein Ort.”47 wiedererkennen lässt und die noch im Abbrechen
des Textes aufscheint. Doch diese Vollendungsfiktion drängt sich vor die
Erfahrung des in Fühmanns Text so zentralen Urerlebnisses, sodass anstelle
eines Erlebens eigentlich nur mehr Abgeschmacktheit bleibt, die Fühmann als
bloßes “Surrogat”48 fasst. Der “Überdruß am Artefakt”49 schließlich rührt von
einer Verheißungsvorstellung her, die sich aus dem gerundeten Abschließen
speist, das sich im Moment seiner gelingenden Ausführung indes nur als
taube Kopie der Verheißung erweist.
Ein gern praktiziertes Verständnis, das in dem Bergwerkfragment eine
Art Parabel auf die krisenhafte Endphase der DDR ausmacht, erkennt darin
bezogen auf den (historisch-politischen) Zeitraum seiner Entstehung vor
allem prophetisches Potential und vernachlässigt die weitreichenden poe-
tologischen Reflexionen sowie seinen iterativen Aufbau (vor allem zu
Beginn)50 und auch die offenkundige erzählerische Distanznahme zum dar-
gebotenen Geschehen. Eine solche Auffassung des Bergwerkes als Dokument

45
Vgl. hierzu entsprechende Passagen in Zweiundzwanzig Tage. Insbesondere ab
S. 480 verdichten sich die aphoristisch gehaltenen Gegenüberstellungen von
Märchen und Mythos, etwa: “Das Märchen weist auf Abgründe hin, der Mythos ist
abgründig”. Fühmann: Zweiundzwanzig Tage [wie Anm. 9]. S. 486.
46
Vgl. die von Blumenberg formulierten Überlegungen zum Mythos: “Daß die
Rezeption nicht zum Mythos dazukommt und ihn anreichert, sondern Mythos uns
in gar keiner anderen Verfassung als der stets schon im Rezeptionsverfahren befind-
lich zu sein, überliefert und bekannt ist, beruht trotz der ikonischen Konstanz auf
der Verformbarkeit seiner Elemente, darauf, daß er nicht – um noch einmal mit
Bernays zu sprechen – aus granitenen Gestalten besteht, an denen jeder Zugriff
zum Sich-Vergreifen werden muß” (Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1996. S. 240–241).
47
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 24.
48
Ebd. S. 106.
49
Ebd.
50
Vgl. hierzu ausführlicher: Krause: Topographien des Unvollendbaren [wie
Anm. 20]. Hier: S. 229–248.

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reduziert den Text gerade auch aufgrund seiner Fragmentgestalt auf ein blo-
ßes Zeugnis, dessen fiktionales Potential nahezu unbeachtet bleibt. Was sich
als Parabel des sozialen wie politischen Scheiterns aufzudrängen scheint,
findet seine Entsprechung jedoch in keiner Weise in den mythisch unterleg-
ten Dimensionen dieses Textes und in der fiktionalen Anlegung seines Ortes.
Denn Im Berg weist trotz (und wegen) seiner Fragmentarizität nicht nur über
den Kontext DDR ästhetisch hinaus bzw. gibt einem beredten Untergrund
sprachlichen Ausdruck, sondern im Bergwerktext spricht sich mit Blick auf
die Schreibbarkeit und Nicht-Schreibbarkeit von Erfahrung ein poetisch-
universaler als eine dokumentarisch-historische Attitüde aus. Die Echtheit
und Wahrhaftigkeit dieses Anspruchs und die Einzigartigkeit des Ortes (von
Hervor- oder Heraushebung lässt sich angesichts des hauptsächlich unterir-
disch situierten Raumes nur im übertragenen Sinne sprechen), aber auch
die Verbindung von Rohheit und Rauheit des Tuns und Arbeitens unter Tage
und zugleich dessen als unentfremdete Arbeit vermutete Reinheit als seine
Unhintergehbarkeit kommen im Bergwerk zur Sprache: “Jungfräulicher
Ort; jedes Streb war Pionierland; hier unten wurden neue Küsten gewon-
nen, nicht westwärts, sondern hinab in die Zeit”.51 Ein Jargon der anfängli-
chen Entdeckung verknüpft sich darin mit einer erdgeschichtlich-mythischen
Dimension, von der noch politische Eindimensionalität suspendiert wird.
Die Nicht-Fassbarkeit der temporal-mythischen Ausmaße des Bergwerkes, in
denen u. a. die Kupferkönigin auftreten und der Hades sich befinden sollten,
bestimmen die Offenheit des Textes.
Gelesen als kritischer Subtext, der 1991 posthum in jener Periode deut-
scher Verheißungsvorstellungen erscheint, müsste er ebenso in einem Kontext
der Vergeblichkeit auch dieser Verheißung verstanden werden, da Fühmann
etwa schon weitaus früher bemerkte “diese Saturiertheitsgesellschaft”52
könne auch keine Alternative sein. Das Einfahren in Fühmanns literarisches
Bergwerk zeigt insofern keinen Blick in einen ‘Abgrund’, sondern verfasst
im Abwenden von einer vollendeten Verheißung vielmehr noch das Wissen
um deren (romantische) Verlockung. Als negative Spur einer vermeintlichen
‘Fußnote der Geschichte’53 bleibt diese den Schichtungen des Bergwerkes
eingeprägt und dessen Text eingeschrieben. Sie erscheint als Anderes, das noch

51
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 23.
52
Fühmann ergänzt in diesem Brief an Margarete Hannsmann noch, er “[könnte]
dort auch nicht leben” (Franz Fühmann an Margarete Hannsmann am 30.05.1978.
In: Margarete Hannsmann: Protokolle aus der Dämmerung 1977–1984. Begegnungen
und Briefwechsel zwischen Franz Fühmann, Margarete Hannsmann und HAP
Grieshaber. Rostock: Hinstorff 2000. S. 60).
53
Vgl. dazu u.a.: Mathias Wedel: Sturz von der Hühnerleiter. Die DDR als
“Fußnote”. In: Freitag 17.03.2000.

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vorher, vor dem “Wegfall der Mauer [. . .] draußen [war]”,54 wie Müller sagt,
und das aufgenommen werden muss. An der Abgebrochenheit des Bergwerkes
zeigt sich auch dessen Andersartigkeit, die sich mit ihrer Zerklüftung noch
gegen eine Nivellierung sperrt und die sich gleichsam in dem Anderswo55
ausdrückt, als das das Unter Tage in Fühmanns Text erscheint und das auch
nicht notwendig in restlosem Begreifen aufzulösen ist. Vielmehr scheint dies
als Erfahrung noch anzustehen, sodass Volker Braun – ohne direkten Bezug
zu Fühmann – gut siebzehn Jahre später im Machwerk auf einen weiteren dia-
lektischen Zug des Problems zurückkommt:
Vielleicht muß sich die Menschheit noch einmal buchstabieren, und der neue
Anfang der Geschichte heißt: für den Letzten soll die Welt gemacht sein. Gewohnt
zu scheitern denkt er für sich, die eigentliche Arbeit habe noch gar nicht begonnen,
sie wird der Gesellschaft den Atem verschlagen. Nichts ist nahrhafter als begrif-
fene Irrtümer: so können sich Kannibalen sättigen, auf den Schlachtfeldern.56

Unfertigkeit aber, die bei Fühmann auch poetische Unerreichbarkeit meint –


und zwar der unentfremdeten Arbeit im Bergwerk wie des Bergwerks als
Arbeitsort –, ist bei ihm keine Figur kläglichen Scheiterns. Sie ist die unhin-
tergehbare Authentizität einer Erfahrung, deren Blindheit Franz Fühmanns
Bergwerkfragment noch und noch immer bezeugt.

54
Heiner Müller: Die Reflexion ist am Ende, die Zukunft gehört der Kunst.
[Gespräch mit Frank M. Raddatz.] In: Ders.: Werke: Bd. 12, Gespräche 3. Hg. von
Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 7–18. Hier: S. 11.
55
Vgl. folgenden Gedanken bei Bernhard Waldenfels: “Der Ort des Fremden in
der Erfahrung ist streng genommen ein Nicht-Ort. Das Fremde ist nicht einfach
anderswo, es ist das Anderswo”. In: Ders.: Topographie des Fremden. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1997 (Studien zur Phänomenologie des Fremden 1). S. 26.
56
Volker Braun: Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 220.

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Silke Horstkotte

Von Ostrom nach Atlantis.


Utopisches in Uwe Tellkamps Der Turm
This essay reads Uwe Tellkamp’s novel Der Turm in light of the renewed interest in
utopian literature and politics after 1989. It argues that the novel introduces a large
variety of intertextual allusions to utopian literature in order to designate the GDR as
a failed utopian experiment. The poetical interpretation of the GDR as a failed utopia
determines the structure of narrated space in every detail. While the novel’s hetero-
diegetic narrator sets up a schematic model of antithetical utopian spaces, the
intradiegetic passages penned by the character narrator Meno Rohde introduce the
idea of a poetic or ‘serapiontic’ transgression of narrated space, based on E.T.A.
Hoffmann’s novella Der goldene Topf.

I. Einleitung
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.8.2007 ver-
suchte sich der Schriftsteller Uwe Tellkamp an einer Beantwortung der Frage
“Was war die DDR?”. “Die Antwort”, so Tellkamp,
hängt wohl vom Blickwinkel des Betrachters ab: War sie eine Pädagogische
Provinz, die ihr Anliegen, Erziehung des Menschen zum höheren Zweck, mit
Lehrern bewerkstelligte, die, einst gestrafte Söhne, zu strafenden Vätern wur-
den? [. . .] War sie ein Groß-Kombinat namens Brot & Lügen (Anatomia: Magen)
mit Sekretariaten für Nägel, Rührgeräte und einem Hafen der 1000 Kleinen
Dinge [. . .]? Ein Chemie-Bezirk, dessen vergifteter, elbischer Unterwelt-Fluss
durch verkohlte Wälder floss (Anatomia: Lunge), um eine finstere Insel Utopia
(Anatomia: Herz), die Gelehrteninsel Kastalia, Schneckenhaus der ludi magister
der E.T.A. Hoffmannschen Universität Kerepes, zweisprachiger Ausgaben von
Büchern der Völker und Welten. Ein Bezirk der Uranier und Zukunftsgläubigen,
die auf Millimeterpapier Visionen entwarfen, die Revolution in die Welt zu tragen
gedachten?1

Tellkamps Fragen mussten für die FAZ-Leser des Sommers 2007 außeror-
dentlich rätselhaft klingen, bezogen sich ihre Chiffren doch auf einen Code,
der erst über ein Jahr später zugänglich wurde: nämlich auf Tellkamps im
Herbst 2008 veröffentlichten Roman Der Turm sowie auf eine darin enthal-
tene Zeichnung von Tellkamps Hand, die auf den Vorsatzpapieren des Buches
reproduziert wurde.

1
Uwe Tellkamp: “Was war die DDR?”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
16.8.2007.

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Findet sich der Topos der “pädagogischen Provinz” aus Wilhelm Meisters
Wanderjahre beispielsweise als Titel des ersten Buchs von Der Turm wieder,
so sind der elbische Fluß ebenso wie die Anatomie Gegenstand der Vorsatz-
Zeichnung. Der mit der musikalischen Gattungsbezeichnung “Ouvertüre”
betitelte Prolog des Romans enthält zudem weitere Stichwörter aus dem
Artikel, insbesondere aus dem Bereich der gelehrten Anspielungen: die
Gelehrteninsel, ludi magister, Kastalia usw. werden in den Aufzeichnungen
der Figur Meno Rohde genannt, die den Roman nicht nur als Ouvertüre
eröffnen, sondern auch an verschiedenen Stellen in den heterodiegetischen
Erzählerbericht einmontiert sind. In seinen Aufzeichnungen schafft Rohde ein
Netzwerk von intertextuellen Anleihen und Querverweisen, die, ähnlich wie
Tellkamp das im Artikel andeutet, die Funktion einer poetischen Deutung der
DDR übernehmen, indem sie das Raumgefüge des Romans strukturieren.
Diese Interpretation der DDR durch einen poetischen Zitations- und
Allusionsstil ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Im engeren Sinne
interessiert dabei die Deutung der DDR als Utopie und durch Utopien, denn
ein Schwerpunkt der intertextuellen Referenzen liegt auf dem Kanon utopi-
scher und dystopischer Literatur. Bereits auf den ersten Seiten führt Meno
Rohde Begriffe ein, welche die erzählte Welt als utopischen Raum charak-
terisieren. Da sind erstens einmal die Verweise auf die Lage Dresdens im
Ostblock, genauer: “die Sozialistische Union [. . .], das Rote Reich, [der]
Archipel”.2 Natürlich waren die Warschauer-Pakt-Staaten kein “Archipel”,
auch wenn sie den Archipel Gulag enthielten. Die Vorstellung einer Inselwelt,
die sich auch auf das Innere Dresdens erstreckt (Tellkamp hat der Dresdner
Stadttopographie eine Reihe fiktiver Inseln hinzugefügt), verweist vielmehr
unmittelbar auf einen gängigen Topos von Raumutopien, in denen das uto-
pische Staatsgefüge auf einer Insel verortet wird (z.B. Insel Felsenburg).
Zweitens wird die DDR und wird Dresden auch als “Papierrepublik” und
“Gelehrteninsel” bezeichnet,3 also als im engeren Sinne hermetischer
Bereich innerhalb der Raumutopie gekennzeichnet. Damit stellt sich notwen-
dig die Frage, wie mit der sozialistischen Utopie und ihrer vermeintlichen
Verwirklichung im Staatswesen DDR nach dessen Zusammenbruch literarisch
zu verfahren ist: die Frage “was war die DDR” (und wie können wir noch
über sie schreiben) steht im Mittelpunkt auch des epischen Romanprojekts.
Schließlich verweist das Stichwort ATLANTIS,4 dem schon durch die
Schreibung mit Großbuchstaben eine herausgehobene Stellung innerhalb des

2
Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2008.
3
Ebd. S. 9.
4
Vgl. ebd.

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Geflechts utopischer Referenzen zugewiesen wird, auf Atlantis als Utopie-


Topos von Platon über Bacon bis hin zu E.T.A. Hoffmann, dessen Goldener
Topf – nicht nur wegen der Dresden-Bezüge – eine Schlüsselrolle in Der Turm
spielt.
Während einige der genannten Utopie-Referenzen sich den gegensätz-
lichen Funktionen einer Gegenweltlichkeit (Atlantis) oder der Kritik reali-
sierter, aber gescheiterter Utopien zuordnen lassen (Papierrepublik), haben
andere Anspielungen einen ambivalenteren Status. So spricht Rohde in
einem der Karl-Marx-Universität (Leipzig) gewidmeten Abschnitt seines
Bewusstseinsstroms, auf Herrmann Hesses Glasperlenspiel rekurrierend,
von “Gelehrten”, “sozialistischen Glasperlenspieler[n]” und “ludi magistri”.5
Doch will er damit das Wissenschaftssystem der DDR als Teil einer zum
Scheitern verurteilten Utopie brandmarken oder aber als deren institutio-
nelles Widerlager charakterisieren? Bei Hesse bildet die reine Geisteswelt
der Glasperlenspieler bekanntlich eine Gegenwelt zur Wirklichkeit der
Totalitarismen in der Mitte des 20. Jahrhunderts: die Utopie einer geistigen
Elite.6 In den Aufzeichnungen Meno Rohdes dagegen scheint der Rückzug
ins Reingeistige eher kritisiert zu werden: Nicht Nachdenken ist l’ordre du
jour (und schon gar nicht das schematisierte, ideologiegeleitete Denken im
Stile der DDR-Akademie, der die Figur Rohde in die etwas freieren Gefilde
des Verlagswesens entkam). Durchgreifendes Handeln ist es, was letztlich
das Ende des Romans und der DDR herbeiführt. Der Status utopischer
Referenzen im Roman schwankt also zwischen der Funktion einer utopischen
Gegenweltlichkeit und der einer Referenz auf die DDR als verwirklichte
Utopie, die dem Scheitern preisgegeben wird. Hinzu kommt der Atlantis-
Diskurs, der in Anlehnung an die Poetologie E.T.A. Hoffmanns eine fantas-
tische Doppelbödigkeit von Realem und Irrealem inszeniert. Es ist daher
bei einer Untersuchung utopischer Referenzen in Der Turm stets der spezi-
fische Status einzelner Verweise, ihrer Konnotationen und ihres Grades an
Eindeutigkeit zu bedenken. Des weiteren ist der erzähllogische Status der
Utopie-Referenzen zu beachten: Utopisches begegnet sowohl in den homo-
diegetisch-intradiegetischen Aufzeichnungen der Figur Meno Rohde als auch
im heterodiegetisch-extradiegetischen Erzählerdiskurs, der den größten Teil
des Romans ausmacht. Dass die beiden Erzählinstanzen unterschiedliche
Autoritätsgrade hinsichtlich des Erzählten besitzen, dürfte sich von selber
verstehen. Hinzu kommen utopische Referenzen in Figurenäußerungen sowie

5
Ebd.
6
Géza Horváth: Utopie der geistigen Elite in Hermann Hesses Roman Das
Glasperlenspiel. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien. Hg. von Árpád Bernáth, Endre Hárs, Peter Plener. Tübingen: Francke
2006. S. 145–153.

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paratextuelle Anspielungen (etwa in Kapitelüberschriften, aber auch in der


bereits erwähnten Vorsatzblatt-Zeichnung).
Der Turm ist damit einerseits ein Paradebeispiel für das gesteigerte wissen-
schaftliche, aber auch literarische Interesse an Utopien nach 1989, ausgehend
von der Frage: Hat das Utopische noch Geltung, oder hat sich die Utopie mit
dem Ende des Sozialismus selbst erledigt?7 Andererseits jedoch ist Tellkamp
nicht einfach Verfasser einer klassischen Utopie im Sinne der Historie einer
“nicht stattgefundenen Geschichte”.8 Er verkündet keine “wünschens-
werte oder abschreckende, aber unvermeidbar eintretende Zukunft”9 wie die
Verfasser klassischer Zeitutopien oder Dystopien, und er sucht, anders als die
Verfasser frühneuzeitlicher Raumutopien, auch nicht, Geschichte durch ein
stringentes Ordnungssystem zu bannen.10 Vielmehr stellt der gesamte Roman
eine ausgedehnte Metareflexion über unterschiedliche Utopie-Konzepte, über
Prätexte und Verfahren utopischen Erzählens im Horizont des Scheiterns

7
Vgl. insb. Rudolf Maresch u. Florian Rötzer: Renaissance der Utopie:
Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. – Die
Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende. Hg. von Julian Nida-Rümelin u.
Klaus Kufeld. Freiburg: Alber 2011. – Man denke auch an Joachim Fests These
vom “Ende des utopischen Zeitalters”: Joachim Fest: Der zerstörte Traum:
Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin: Siedler 1991. – Vgl. zudem Johano
Strasser: Leben ohne Utopie? Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990. – Klaus
Vondung: “Wunschräume und Wunschzeiten”. Einige wissenschaftsgeschichtliche
Erinnerungen. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien [wie Anm. 5]. S. 183–190.
8
Árpád Bernáth: Entwurf einer “utopischen” Literaturwissenschaft oder Was
für Romane hätte Heinrich Böll geschrieben, wäre Hitler nicht an die Macht
gekommen? In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien [wie Anm. 5]. S. 155–162. Hier: S. 155.
9
Ebd.
10
Zur Typologie literarischer Raum- und Zeitutopien vgl. u.a. Wilhelm Voßkamp:
Fortschreitende Vollkommenheit (der Übergang von der Raum- zur Zeitutopie
im 18. Jahrhundert). In: 1984 und danach. Utopie. Realität. Perspektiven. Hg.
von Erhard R. Wiehn. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1984. – Ders.:
Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der
Neuzeit. In: Geschichte als Literatur: Formen und Grenzen der Repräsentation
von Vergangenheit. Hg. von Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe.
Stuttgart: Metzler 1990, S. 273–283. – Ders.: Narrative Inszenierung von Bild und
Gegenbild. Zur Poetik literarischer Utopien. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge
zur Geschichte literarischer Utopien [wie Anm. 5]. S. 215–226. Zur frühneuzeitli-
chen und barocken Raumutopie ausführlich Ludwig Stockinger: Ficta Respublica.
Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen
Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1981 (HERMAEA
NF 45).

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politischer Utopien nach 1989 dar. Der Pluralität unterschiedlicher Modelle


utopischen Schreibens, die entworfen werden, korrespondiert dabei die
Pluralität der Erzählerstimmen, die diese vermitteln.
Angesichts der Fülle unterschiedlicher sowie polyvalenter Utopie-
Konzepte und Referenzen ist es nicht ganz einfach, den interpretatorischen
Überblick zu bewahren. Vereinfachend gesagt, besteht meine These im fol-
genden jedoch darin, dass die Kombination zweier Erzählverfahren in Der
Turm dazu dient, die Topographie Dresdens und der DDR, wie sie in der
heterodiegetischen Erzählung über die Familie Hoffmann/Rohde und ins-
besondere über den jungen Christian Hoffmann, Meno Rohdes Neffen,
repräsentiert wird, mit einer zweiten Raumordnung zu überlagern und zu
durchdringen, die hauptsächlich in den homodiegetischen Tagebuchpassagen
Rohdes formuliert wird und die eine poetische Interpretation der ersten
Raumordnung darstellt. Dieses Verfahren einer Durchdringung zweier inkom-
mensurabler Raumgefüge entlehnt Tellkamp dem Werk E.T.A. Hoffmanns,
insbesondere dessen Fantasiestück Der goldene Topf. Hoffmann spielt als
intertextuelle Gewährsinstanz eine nicht zu überschätzende Schlüsselrolle
für Tellkamp. Er wurde bereits in dem FAZ-Artikel genannt. Auch Tellkamps
Vorsatzblattzeichnung, die die Durchdringung zweier Raumordnungen
ikonisch repräsentiert, zitiert Hoffmann, nämlich dessen sogenannten
“Kunzischen Riß”11, eine Zeichnung aus Hoffmanns Hand, die als eine
Art Konzentrat von Hoffmanns fantastischer Poetik gelten kann. Damit
repräsentiert Der Turm eine Deutung der DDR, die sich bestimmter lite-
rarischer Techniken bedient, welche sich mittelbar und unmittelbar auf
Gestaltungsweisen von E.T.A. Hoffmann zurückführen lassen. Das für die
Nach-Wende-Literatur virulente Problem der Darstellung der DDR wird
damit durch die fantastische Raumkonzeption Hoffmanns gelöst.
Tellkamps Poetisierung der DDR und den Weg von Ostrom – der erzähl-
ten DDR – nach Atlantis – ihrer poetischen Überbietung – werde ich in die-
sem Aufsatz in drei Schritten nachvollziehen. Ich skizziere – erstens – den
Aufbau des Raumgefüges in Der Turm. Dabei vertrete ich die These, dass die
Raumordnung des Romans auf einem Neben- und Ineinander unterschiedli-
cher, miteinander inkompatibler Chronotopoi basiert. Zweitens diskutiere ich
die Funktion einiger im Turm anzitierter Utopie-Konzepte, die mir besonders
bedeutsam erscheinen, für das Verfahren der Poetisierung des Raums (und
damit der Poetisierung der DDR) durch intertextuelle Aufladung. Schließlich

11
Die Zeichnung, die Hoffmann einem Brief an seinen Bamberger Verleger Kunz
beilegte, ist reproduziert in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläu-
tert von Hans von Müller u. Friedrich Schnapp, hg. von Friedrich Schnapp. 2. Bd.:
Berlin 1814–1822. München: Winkler 1968. Bild zwischen S. 66 u. 67.

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analysiere ich – drittens – die Tellkampsche Vorsatzblatt-Zeichnung als Kern


und Konzentrat der utopischen Raumpoetik von Der Turm.
II. Chronotopoi
Die erzählte Zeit umfasst in Der Turm einen präzise datierten Zeitraum vom
4. Dezember 1982 bis zum 9. November 1989. Damit evoziert der Roman
eine vergangene Epoche, nämlich die Schlußphase der DDR, zugleich jedoch
eine Zeit, in der die Hauptfiguren des Romans ohnehin bereits in einer ver-
gangenen Ära leben, die mit den politischen und sozialen Entwicklungen in
dieser Epoche nur wenige Kongruenzpunkte aufweist. Wie so viele Themen
und Motive des Romans wird auch die Vorstellung divergierender raumzeit-
licher Ordnungen in der “Ouvertüre” Meno Rohdes eingeführt, und zwar
bereits auf deren erster Seite. Dort beschreibt Rohde die Warschauer-
Pakt-Staaten nämlich als “Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt
war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den
Plattenspielern . . .”.12 Bestimmt die “Anderzeit” hier einerseits den gesamten
Ostblock im Gegensatz zur westlichen Welt, so charakterisiert sie andererseits
in besonderem Ausmaße die herausgehobene Sphäre des Turmstraßenviertels,
in dem zahlreiche Figuren wohnen. Hier nämlich ertönt die Musik von den
Plattenspielern; hier ticken die verschiedenen Uhren, deren im Verlauf des
Romans zunehmend häufige Erwähnung die auslaufende Zeit der DDR im
“Mahlstrom”13 des Finales signalisieren wird.
Soziale und geographische Räume werden in Der Turm durch ihre je
eigene, innere raumzeitliche Logik determiniert und charakterisiert. Auch und
gerade innerhalb des Handlungsortes Dresden sind einzelne Stadtteile als ver-
schiedene Chronotope strukturiert. Der Bachtinsche Begriff des Chronotops14
soll hier dazu dienen, die innere Raum-Zeit-Struktur einzelner Orte innerhalb
der Handlung zu beschreiben, welche die Basis der poetischen Raumordnung
in Der Turm bildet. Dabei werden aus der Fülle der Handlungsorte zwei
Dresdner Stadtteile herausgegriffen, die eine besonders zentrale Rolle für
die poetische Raumordnung des Romans spielen: das Turmstraßenviertel und
Ostrom.
Räumliches Zentrum des Romans ist die fiktive Turmstraße, die im ehe-
mals gutbürgerlichen Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch lokalisiert
werden kann. Allerdings tauchen die Stadtteilnamen Weißer Hirsch oder
Oberloschwitz im Roman an keiner Stelle auf; statt dessen wird die Gegend

12
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 7.
13
Ebd. S. 890.
14
Michael M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur histori-
schen Poetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

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durchweg als “Turmstraßenviertel” bezeichnet. Auch hat Tellkamp die interne


Stadtteilgeographie in der erzählten Welt modifiziert und Straßennamen ver-
ändert oder hinzugefügt. Dennoch gibt es genügend Parallelen zum realen
Weißen Hirsch, dass der Stadtteil von Rezensenten und Lesern sofort erkannt
wurde. Diese Parallelen betreffen unter anderem die exklusive Höhenlage
des Stadtteils, seine Bevölkerungsstruktur, und die Tatsache seiner Nicht-
Zerstörung. Diese drei Aspekte hängen miteinander zusammen. Denn wegen
seiner topographischen Lage auf einem Hügel abseits der Dresdner Innenstadt
war der Weiße Hirsch im Bombenangriff vom Februar 1945 weitestgehend
verschont geblieben und stellte deshalb in den 1980er Jahren eines der weni-
gen Rückzugsgebiete des alten Dresden dar. Das machte das Stadtviertel zum
attraktiven Wohnort für alle diejenigen, die dem früheren Glanz Dresdens nos-
talgisch verbunden waren. Gleichzeitig war der Weiße Hirsch allerdings auch
ein beliebtes Wohngebiet der Dresdner Parteinomenklatur; Kurt Drawert hat
dieses Milieu in seinem Kurzroman Spiegelland eindrucksvoll geschildert.15
Uwe Tellkamp dagegen führt in Der Turm eine topographische Trennung
zwischen den beiden sozialen Milieus ein, indem er die bourgeoisen DDR-
Dissidenten in Weißer Hirsch, die Bonzen-Nomenklatura dagegen in dem jen-
seits der das Viertel wie ein Graben durchziehenden Grundstraße gelegenen
Teil von Oberloschwitz ansiedelt. Wie das Turmstraßenviertel, so enthält auch
dieser Stadtteil, der von den Turmstraßenbewohnern “Ostrom” genannt wird
(der offizielle Name innerhalb der Romanwirklichkeit wird nicht mitgeteilt),
innerhalb der Stadtteilkonturen eine fiktive Straßentopographie. Im übrigen
jedoch sind beide Stadtteile nicht nur hinsichtlich ihrer Bevölkerungsstruktur,
sondern auch chronotopisch strikt antithetisch strukturiert. Bei Ostrom han-
delt es sich um einen rigide abgeschotteten Bereich, dessen Zugang durch
eine Reihe von Armeewachtposten kontrolliert wird – angelehnt wohl an den
realen Berliner Stadtteil Wandlitz, Wohnort der Staats- und Parteiführung. Der
Ortsname Ostrom enthält folglich eine Anspielung auf Ost-Berlin und auf das
geteilte Deutschland, er ruft aber daneben auch das Stereotyp einer byzanti-
nischen Bürokratie auf, mit der die Bewohner des Turmstraßenviertels immer
wieder in Konflikt geraten. Schließlich besteht eine dritte Anspielungsebene
auf Moskau, das in russischen Kirchendokumenten des 16. Jahrhunderts als
das “dritte Rom” bezeichnet wurde. Trotz der ursprünglich apokalyptischen
Referenz des Begriffs ist er seither immer wieder benutzt worden, um den
russischen und später den sowjetischen Machtanspruch zu untermauern.16

15
Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1992.
16
Hierzu umfassend Wilhelm Lettenbauer: Moskau, das dritte Rom: Zur Geschichte
einer politischen Theorie. München: Pustet 1961.

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Alle drei Bedeutungsebenen spielen in Tellkamps Roman eine zentrale Rolle,


und diese intertextuelle Überdetermination von Räumen ist insgesamt typisch
für Tellkamps Deutung der DDR.
Wieso nun teilt Tellkamp Oberloschwitz in zwei verschiedene Stadtteile,
und wie sehen deren Chronotope aus? Während Ostrom, wie erwähnt, die
Größen der Partei sowie die sogenannte “rote Aristokratie” beherbergt (also
ehemalige Moskau-Exilanten und deren Kinder – hier werden die Bezüge zu
Moskau als drittem Rom deutlich), leben im Turmstraßenviertel in erster Linie
bourgeoise DDR-Dissidenten. Deren nostalgische Abkehr von der Gegenwart
wird in Der Turm als eine speziell für Dresden typische Haltung charakteri-
siert. Wie Anne Fuchs treffend formuliert hat, verwandelt
[der] im Roman von den Dresdner Bürgern geführte nostalgische Erinnerungsdiskurs
[. . .] die Topographie der Stadt in eine Zitatlandschaft, welche die Entauratisierung
der Wirklichkeit in der von Versorgungsengpässen charakterisierten DDR der 80er
Jahre im Rückzug auf eine poetisierte und mythisierte Vorkriegsvergangenheit
zurücknehmen will.17

Die Turmstraßenbewohner engagieren sich in Hausmusikkreisen und


Theatergruppen, sie organisieren Vortragsreihen über das alte Dresden
und sammeln historische Schallplattenaufnahmen. Alle diese Aktivitäten
einer nostalgischen Gegenwarts- und Ideologie-Abkehr finden innerhalb
des Stadtteils statt, während systemkonformeres Handeln – Berufsleben,
Ausbildung, Interaktion mit den Behörden – in andere Stadtteile, vor
allem den Innenstadtbereich, ausgelagert ist. Der Untertitel des Romans,
“Geschichte aus einem versunkenen Land”, historisiert die Widerständigkeit
dieser nostalgischen Wirklichkeitsflucht als eine historische Geste innerhalb
der Geschichte des verschwundenen Landes DDR. Zusätzlich enthält der
Begriff des “versunkenen Landes” eine Referenz auf das untergegangene
Atlantis, das für die poetische Raumkonstruktion des Romans eine entschei-
dende Rolle spielt. Die Turmstraßenbewohner leben also in einem Chronotop,
das von nostalgischer Erinnerung und Rückwärtsgewandtheit geprägt ist und
das sich deshalb grundsätzlich widerständig zu den Chronotopen Ostroms wie
auch des Innenstadtbereichs verhält.
Das oströmische Chronotop basiert auf einer noch weitergehenden
Abschottung von der Umgebung. Während die Turmstraßenbewohner sich die
zunehmend frustrierende DDR-Wirklichkeit durch nostalgische Rückwendung
vom Leibe halten, reagieren die Oströmer mit allseitigem Misstrauen und
wachsender Paranoia auf das sich abzeichnende Scheitern der sozialistischen

17
Anne Fuchs: Topographien des System-Verfalls: Nostalgische und dystopische
Raumentwürfe in Uwe Tellkamps Der Turm. In: Germanistische Mitteilungen 70
(2009). S. 43–58. Hier: S. 44.

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Utopie. Die Antithese zwischen den beiden benachbarten Chronotopen


wird unterstrichen durch ein kompliziertes System der Übergänge von einer
Sphäre in die andere. Die Einführung dieses Übergangsmechanismus dürfte
ausschlaggebend gewesen sein für die Entscheidung einer topographischen
Aufteilung von Turmstraßenviertel und Ostrom. Beide Stadtteile liegen
jeweils auf Anhöhen oberhalb des Elbtals. Die Höhenlage charakterisiert
beide Stadtteile als exklusive Bereiche, und diese Exklusivität wird durch
das erste Kapitel des Romans mit dem Titel “Auffahrt” explizit hervorge-
hoben. Geschildert wird, wie Christian Hoffmann mit der Standseilbahn ins
Turmstraßenviertel fährt, wo eine Geburtstagsfeier für seinen Vater stattfin-
det. Durch den Verweis auf Christi Himmelfahrt kennzeichnet der Kapiteltitel
die topographische Höhenlage als exklusiven Bereich und reichert das
Stadtteilchronotop über das semantische Element “Berg” um vielfältige reli-
giöse und quasi-religiöse Konnotationen an – zu denken wäre insbesondere an
die Rolle des Bergs als Offenbarungsort in der jüdisch-christlichen Tradition
(Mose auf dem Sinai;18 Verklärung Christi19) sowie an die Rolle von Berg und
Gebirge in der Rhetorik des Erhabenen. Auch die im engeren Sinne litera-
rischen intertextuellen Referenzen können an dieser Stelle nur angerissen
werden; mit Sicherheit stellt der Zauberberg jedoch einen ganz zentralen
Prätext vor allem für den ersten Teil des Romans dar.
Grundsätzlich gliedert sich die Raumstruktur des Romans in oben und
unten, wobei der obere Bereich durch die Trennung in Turmstraßenviertel
und Ostrom noch einmal untergliedert ist. Der Gliederung in oben und unten
liegt eine sehr schematische Raumordnung zugrunde, die sowohl soziale
Schichtungen als auch eine Hierarchisierung von Tätigkeiten abbildet: Oben
wohnen die Intelligenz und die Macht, unten die Plebs; oben findet kultu-
rell ambitioniertes Freizeitvergnügen statt, nach unten fährt man, um sich
mit den Behörden herumzuschlagen oder den Waren des täglichen Bedarfs
hinterherzujagen. Während zum Turmstraßenviertel (ebenso wie zu des-
sen realem Vorbild Weißer Hirsch) eine Standseilbahn führt, gelangt man
nach Ostrom, aus dem unterhalb gelegenen Stadtteil Loschwitz kommend,
mit einer Schwebebahn (genau wie in das reale Oberloschwitz), wobei die
Anfangshaltestellen beider Bahnen in Loschwitz weniger als einen Kilometer
voneinander entfernt sind. Es gibt aber im Turm auch eine direkte Verbindung
zwischen beiden Stadtteilen, die über eine Brücke führt, aus dem bereits ziem-
lich exklusiven Turmstraßenviertel also in das militärisch gesicherte Ostrom
(und diese Brücke ist fiktiv, obwohl tatsächlich in den 1930er Jahren der
Bau einer Brücke über die Grundstraße geplant wurde). Die fiktive Brücke

18
Ex 20, 1–21.
19
Mk 9, 2–4.

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ermöglicht einen direkten Übergang von einem Chronotop ins andere, ohne
Umweg über das tiefergelegene Loschwitz; dieser Übergang ist jedoch durch
ein kompliziertes Zugangsritual reglementiert, das anlässlich eines Besuchs
Meno Rohdes in Ostrom geschildert wird:

Der Brückenweg hatte Mauern zu beiden Seiten. Nach zwanzig Schritten traf man
auf einen Tordurchlaß, eine Wand quer über den Weg, die bis zur Mauerkrone in
etwa vier Metern Höhe reichte. Ein rotweiß gestreiftes Wächterhäuschen stand
neben dem Tor; der Posten darin hatte eine Kalaschnikow geschultert, schrie schon
von weitem, was Meno wolle, verlangte seinen Personalausweis zu sehen. Dann
drückte er auf einen Klingelknopf im Wächterhäuschen, das Tor öffnete sich.20

Es folgt ein Gespräch zwischen Meno Rohde und dem Offizier über den
Zweck des Besuchs; der Offizier macht einen Kontrollanruf, es wird ein
Passierschein augestellt. Meno Rohde geht über die Brücke, und schließlich
gibt es eine zweite Zugangskontrolle am anderen Ende der Brücke.
Dieses Durchgangsritual erinnert zunächst einmal jeden, der einmal
aus dem Westen in die DDR eingereist ist, an das System der doppelten
Einreisekontrollen. Die Zugangsbeschränkung zu Ostrom dient deshalb nicht
nur der Abschottung der beiden gegensätzlichen Chronotope, sondern fun-
giert zugleich als ein Spiegelbild der Zugangsbeschränkung zur DDR, womit
Ostrom als eine Art DDR im kleinen bzw. als abyme der DDR erkennbar wird.
Tatsächlich gibt es im Roman eine Passage, die ausdrücklich auf eine solche
topographische Verschachtelung von immer rigider kontrollierten Räumen
ineinander Bezug nimmt. Und zwar ist das die Passage, in der Christian
Hoffmann, der immer wieder große Probleme mit dem System hat, weil er
ständig die falschen Sachen sagt, im Innersten des Gefängnissystems DDR
ankommt. (“Christian, du hältst deinen Mund, hast du das verstanden!”,21
schärft ihm der Vater immer wieder ein – vergeblich.) Christian hat sich
für drei Jahre zur Armee verpflichten müssen, um an einen der begehrten
Studienplätze für Medizin zu kommen, kann aber leider auch bei der Armee
seinen Mund nicht halten. Er kommentiert nämlich den Tod eines Kameraden
bei einem Panzerunfall, der wahrscheinlich von einem Vorgesetzten verschul-
det wurde, im Affekt mit dem Ausruf: “So was ist nur in diesem Scheißstaat
möglich”.22 Diese Äußerung trägt Christian einen Strafarrest von zwölf
Monaten ein, wo er schließlich wegen Aufmüpfigkeit im sogenannten U-Boot
landet, das ist die lichtlose unterirdische Arrestzelle innerhalb des Strafarrests.
Dort reflektiert Christian über die mise-en-abyme-Struktur der DDR als eines

20
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 104.
21
Ebd. S. 330 u. passim.
22
Ebd. S. 799.

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Systems ineinander verschachtelter Räume mit immer strengeren Zugangs-


bzw. Austrittskontrollen:
Die Idee, daß er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte, ließ
Christian eine lange Zeit in der noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los.
Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer. Er war bei der
nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er
war Insasse der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und
Stacheldraht. Und in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt hockte er im U-Boot,
hinter Mauern ohne Fenster. Jetzt also war er ganz da, jetzt mußte er angekommen
sein.23

Die hier vorgelegte Interpretation der DDR könnte eindeutiger nicht sein:
Sie war eine totalitär organisierte “pädagogische Provinz” (so der dop-
peldeutige Titel des ersten Buchs), bestehend aus einem Piranesi-artigen
Alptraum ineinander verschachtelter Gefängnisräume. Tatsächlich kann diese
Verschachtelung als paradigmatisch für das Erzählverfahren der heterodiege-
tischen Romanerzählung verstanden werden. Das zielt nämlich darauf ab, in
einem realistischen Erzählstil die gesamte DDR und alle ihre Lebensbereiche
in sich aufzunehmen: ihre Schulen und Krankenhäuser, die Stasi, die Armee,
das Justiz- und Strafvollzugssystem, die Rolle der Polizei und der byzan-
tinisch-kafkaesken Bürokratie, die notorische Wohnraumknappheit und so
weiter und so fort.
Viele Rezensionen haben diese minutiöse Repräsentation des täglichen
Lebens in der DDR hervorgehoben und den Turm als einen Schlüsselroman
gelesen, in dem alles und jeder einen identifizierbaren Widerpart in der
Wirklichkeit hat.24 Ähnlich verlief auch die Rezeption vieler ostdeutscher
Leser, die sich zumeist enttäuscht zeigten, weil Tellkamp, bei aller enzyk-
lopädischen Vollständigkeit, die DDR eben doch nicht genau so beschreibt,
wie einzelne Leser sie erinnern.25 Dass ein solches, eigentlich naives,
Lektüremuster auch die Rezeption geübter Leser prägen konnte, liegt nun
daran, dass Tellkamp speziell im heterodiegetischen Erzähldiskurs eine
ganze Reihe von Spuren in dieser Richtung legt. Es gibt im Roman – neben
dem leicht erkennbaren Stadtteil Weißer Hirsch – tatsächlich eine Menge

23
Ebd. S. 827.
24
Vgl. u.a. Helmut Böttiger: Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel. Tellkamps klas-
sischer Bildungsroman über die DDR erzählt meisterlich aus einer stillgelegten
Zeit: “Der Turm”. In: Die Zeit 22.9.2008 – Sabine Franke: Im Dresdner Musennest:
Uwe Tellkamps monumental märchenhafter DDR-Familienroman “Der Turm”. In:
Frankfurter Rundschau 25.9.2008.
25
Hierzu ausführlich Katrin Max: Deutsch-deutsche Traditionspflege.
Überlegungen zu Uwe Tellkamps Roman Der Turm. In: Poetische Welt(en). Ludwig
Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet. Hg. von Martin Blawid u. Katrin
Henzel. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011. S. 211–223.

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Figuren, die die Züge realer Persönlichkeiten, insbesondere aus dem DDR-
Literatur- und Kulturbetrieb, tragen (u.a. haben mehrere Rezensenten, wohl
zu Recht, Franz Fühmann, und Jürgen Kuczinski identifiziert). Allerdings
lebten die realen Vorbilder von Tellkamps Figuren in Ost-Berlin, nicht in
Dresden, und Berlin, nicht Dresden, war auch das Zentrum des literarischen
Lebens. Ohnehin ist die Lektüre als Schlüsselroman verkürzend, weil sie
nicht die systematische Verfremdung und intertextuelle Überdeterminierung
der Wirklichkeit im Roman berücksichtigt. Auch der Zugang vom
Turmstraßenviertel nach Ostrom leistet mehr, als ein abyme der DDR zu
schaffen. Er kennzeichnet Ostrom nämlich als im engeren Sinne hermeti-
schen Bereich innerhalb der exklusiven Berglage. Der oströmische Chronotop
erhellt deshalb erst von seiner Funktionalisierung innerhalb der Utopiekritik
des Romans her.

III. Utopien
Die Semantisierung der Stadtteile Turmstraßenviertel und Ostrom basiert auf
dem schematischen Raumgefüge utopischer Romane, auf die nicht nur Meno
Rohde, sondern auch heterodiegetischer Erzähldiskurs und Paratext immer
wieder anspielen. (Beispielsweise heißt das Restaurant, in dem sich die
Familie Hoffmann zu Anfang des Romans zu einer Geburtstagsfeier versam-
melt, “Felsenburg”). Versucht man, sich einen Überblick über die verschie-
denen anzitierten Utopiemodelle, ihre jeweilige innere Logik (ihr Chronotop)
und ihre Funktionalisierung hinsichtlich einer Deutung der DDR zu verschaf-
fen, so muss man frustriert feststellen, dass wir es im Turm letztlich mit einem
polyperspektivischen Gegeneinandersetzen eigentlich miteinander inkompati-
bler Utopie-Modelle zu tun haben, die auch in sich nicht immer vollkommen
schlüssig sind. Das gilt insbesondere für ihre jeweilige Funktionalisierung
hinsichtlich der Deutung der DDR. Wird einmal die DDR selbst als geschei-
terte (politische) Utopie designiert, so geht es in anderen Modellen um utopi-
sche Vorstellungen, die ein Widerlager hierzu darstellen, sowie schließlich um
poetische Utopien, die nicht auf eine Verwirklichung in der erzählten Realität
zielen. Teilweise lassen sich diese Widersprüche dadurch auflösen, dass unter-
schiedliche utopische Referenzen, Utopiemodelle, und Einstellungen zur
Utopie mit den unterschiedlichen Erzählinstanzen des Romans in Verbindung
gebracht werden: mit dem hyperrealistischen heterodiegetischen Erzähler
einerseits, dessen Stil häufig mit Thomas Mann verglichen wird, mit Meno
Rohdes Bewußstseinsstromstil andererseits (mit Parallelen zu Joyce, Woolf
und Musil). Die beiden Erzählerstimmen sind sowohl typographisch als
auch stilistisch relativ deutlich voneinander differenziert. Innerhalb der
Heterodiegese ist sodann weiter zu unterscheiden zwischen verschiede-
nen Fokalisator-Figuren, die über das Verfahren der erlebten Rede auch

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stilistisch und sprachlich Eingang in den Erzählerdiskurs finden. Besonders


in denjenigen Passagen, in denen Meno Rohde innerhalb der Heterodiegese
als Fokalisator fungiert, kommt es dabei naturgemäß zu einer stilistischen
Annäherung zwischen beiden Erzählerstimmen. Dagegen stellt beispielsweise
Richard Hoffmann eine naivere Fokalisator-Figur dar, deren Einschätzungen
der DDR teilweise karikierend dargestellt werden; dass Figurenäußerungen
und erlebte Rede natürlich nicht mit Aussagen des Erzählers oder gar des
Autors verwechselt werden dürfen, versteht sich. Auch diese Aufspaltung
kann allerdings nicht alle Widersprüche auflösen, denn das Turmstraßen-
Chronotop ist auch innerhalb des realistischen Erzählerdiskurses bereits von
Meno Rohdes Beziehungsdenken infiziert. Nicht zufällig wird aus dem Werk
Thomas Manns gerade der Zauberberg am deutlichsten anzitiert, womit Mann
auch im heterodiegetischen Erzähldiskurs eben gerade als nicht nur realistischer,
sondern auch fantastisch-romantischer Autor in Anspruch genommen wird.
Nach diesen einführenden Äußerungen zum polyglotten Erzählverfahren
dürfte deutlich sein, dass eine klare Zuschreibung im Sinne einer auk-
torialen Poetik der Utopie schwierig bis unmöglich ist. Die romaninter-
nen Äußerungen zur Utopie sind deshalb immer im Kontext der jeweiligen
Erzähl- und Fokalisationsinstanz zu betrachten. Wenn ich im Folgenden ver-
suche, die unterschiedlichen utopischen Perspektiven des Romans aufzulö-
sen, so immer mit dem Vorbehalt, dass die damit hergestellte Ordnung primär
heuristische Funktion hat. Dabei konzentriere ich mich auf unterschiedliche
chrono-topographische Vorstellungen, die durch einige der Utopie-Modelle
aufgerufen werden und unterscheide, zugegebenermaßen überpointiert, zwi-
schen denjenigen Utopie-Konzepten, die im heterodiegetischen Erzähldiskurs
aufgerufen werden, und denen aus den homodiegetischen Erzählpassagen
Meno Rohdes. Frühzeitig bringen Rohdes Aufzeichnungen das utopische
Genre ins Spiel. So wird etwa das Turmstraßenviertel als eine “Gelehrteninsel”
bezeichnet, womit Tellkamp eine bekannte Utopie, genauer: Dystopie des
20. Jahrhunderts aufruft: Arno Schmidts Die Gelehrtenrepublik. Das ist
ohne Zweifel ein ganz zentraler Prätext für Tellkamp; neben der Vorstellung
einer Gelehrteninsel findet sich hier deren Teilung in freie Welt und Ostblock
vorgeprägt, ebenso die Situierung der Gelehrteninsel in einer zerstörten
Umwelt, die im zweiten Teil des Turm eine zentrale Rolle spielt. Auch das
System von Öffnungen und Schließungen im Zugang vom Turmstraßenviertel
nach Ostrom verweist auf die Tradition der Gelehrtenrepubliken und
Staatsromane, in denen der Zutritt zum hermetischen Bereich durch kom-
plizierte Ein- und Ausgangskontrollen reglementiert ist. Bei Arno Schmidt
beispielsweise muss der Protagonist Charles Henry Winer durch den nuklear
verwüsteten sogenannten Hominidenstreifen, einen auf beiden Seiten durch
hohe Mauern und militärische Posten gesicherten Bereich, nach Eureka/
Kalifornien reisen, von wo er sich auf die Gelehrteninsel einschifft, für die

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er eine 50-stündige Aufenthaltsgenehmigung hat. Wie Alexander Kosenina


bemerkt hat, handelt es sich bei solchen hermetischen Bereichen innerhalb
des Gelehrten- und Staatsromans um “fiktive, utopische Räume, die nur
durch poetische Grenzüberschreitungen vom Realistischen zum Fantastischen
zu erreichen sind”.26 Sowohl das Turmstraßenviertel als auch Ostrom
werden in Der Turm also nicht nur durch ihre topographische Lage,
sondern auch mithilfe der Anspielungen auf das utopische Genre als exklu-
siver Bereich gekennzeichnet, doch stellt das durch Zugangskontrollen
gesicherte Ostrom den im engeren Sinne hermetischen Bereich dar, möglicher-
weise deshalb, weil in ihm das lokale Machtzentrum des auf eine zukünftige
kommunistische Utopie orientierten Sozialismus verortet ist. Entscheidend
für Rohdes Utopie-Konzept ist allerdings weniger die Schematisierung
der Raumutopie als vielmehr der Gedanke einer Grenzüberschreitung zum
Fantastischen, verbunden mit dem Stichwort Atlantis. Ich werde gleich darauf
zurückkommen.
Der zentrale Utopie-Diskurs im heterodiegetischen Erzählen ist ohne
Zweifel derjenige der DDR als verwirklichter und scheiternder politischer
Utopie. Die Kritik an der sozialistischen Utopie hat dabei zwei Aspekte:
Erstens erweist sich die verwirklichte Utopie letztlich als ein einziges, großes
Gefängnis; im Inneren untergliedert in einem mise en abyme immer rigider
kontrollierter Räume. Zweitens wird das Scheitern der Gesellschaftsutopie im
Scheitern der Bildungsgeschichte des Protagonisten Christian individualisiert.
Beide Kritikpunkte werden durch intertextuelle Referenzen untermauert und
beglaubigt. Der zentrale Bezugstext für die Kritik an der kyropädischen Utopie
ist Wilhelm Meisters Wanderjahre. Das wird anhand des autoritativen, paratex-
tuellen Zitats der “pädagogischen Provinz” als Titel des ersten Romanteils
deutlich, welcher die DDR als Ganze designiert, wobei insbesondere
Christian Hoffmann das Objekt dieses (im Roman natürlich scheiternden)
Erziehungsexperimentes bildet. So wird beispielsweise Christians Arrest im
Schwedter U-Boot explizit als ein Umerziehungsprojekt bezeichnet; an einer
anderen Stelle beschreibt Meno Rohde die Sowjetunion unter Stalin als ein
“Pädagogische[s] Großprojekt”.27 Die Verschachtelung von Räumen inner-
halb der DDR dagegen rekurriert auf die Raumutopie frühneuzeitlicher und
barocker Gelehrten- und Staatsromane sowie auf deren Aktualisierung bei
Arno Schmidt.
Eine Interpretation der DDR durch den Bezug auf die literarische Utopie
also: Damit macht der Roman deutlich, dass die DDR als Utopie versagt hat
und selbst mithilfe utopischer Literatur kritisiert werden kann, wobei er in

26
Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr: Gelehrtensatire seit der Aufklärung.
Göttingen: Wallstein 2003. S. 320.
27
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 849.

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erster Linie auf Utopie-Satiren zurückgreift, die von gescheiterten Utopien


handeln. Die DDR wird damit zur Heterotopie im Sinne Michel Foucaults:
Heterotopien sind nach Foucault
wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineinge-
zeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich rea-
lisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig
repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller
Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können28.

Foucault nennt als Beispiele die Psychiatrie oder das Gefängnis. Die DDR als
ein Großgefängnis, das alle seine Bürger gefangen hält, wird jedoch zu ihrem
eigenen institutionellen Widerlager, dessen Untergang am Ende des Romans
als folgerichtig präsentiert wird, enthält doch die Heterotopie als ein realisierter
utopischer Ort ein notwenig systemsprengendes Potential.
Damit wird die kyropädische Utopie im Stile Goethes verabschiedet;
statt dessen privilegiert der Roman und privilegiert vor allem Meno Rohde
ein anderes Utopie-Konzept, in dem es nun nicht mehr um eine Insel der
Glückseligen für alle geht, sondern um den Übergang eines Einzelnen vom
profanen in den utopischen Bereich. Dieses dritte, romantisch-subjektive
Utopie-Konzept wird über das Stichwort “Atlantis” aufgerufen, das in der
Ouvertüre den nächtlichen Übertritt der Turmstraßenbewohner in die Welt der
klassischen Literatur und Musik bezeichnet. Rohde spricht in der Ouvertüre
von “ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen
war, das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren”.29 Dieses Mutabor ist
in die Romanstruktur integriert, denn es signalisiert – als Titel des zweiten
Kapitels – paratextuell Christian Hoffmanns Ankunft im Turmstraßenviertel.
Darüber hinaus identifiziert Rohde das Atlantis-Konzept, ebenso wie des-
sen spezifischen Hoffmann-Rekurs, explizit mit der Dresdner Nostalgie oder
“Sehnsucht” als einer rückwärtsgewandten Utopie, “einer Märchenstadt.
Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd
nach gestern; die leidige, ausgehöhlte Realität wird mit Träumen ergänzt:
Schatten-Dresden, Schein hinter dem Sein, fließt durch dessen Poren, erzeugt
Hoffmannsche Zwitter”.30 Hoffmann dient an dieser Stelle als Gewährsmann
einer Optik, die – im Gegensatz zum von Meno Rohde gegenüber Christian
propagierten Verfahrens des genauen Hinsehens –31 keine präzisen Bilder

28
Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck. Leipzig: Reclam
1990. S. 34–46. Hier: S. 39.
29
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 9.
30
Ebd. S. 368.
31
Vgl. ebd. S. 270.

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des Seienden, sondern impräzise und immaterielle Doppelbelichtungen der


Wirklichkeit produziert und dadurch den fantastischen “Schein” hinter dem
realistischen “Sein” offen legt.
Gerade diesem fantastischen Verfahren liegt jedoch ein letztlich wirklich-
keitssprengendes Potential inne. Es handelt sich bei der anzitierten Optik um
das Hoffmannsche Prinzip der serapiontischen Schau, das Hoffmann expli-
zit erst in den Serapions-Brüdern entwickelte, das aber in nuce bereits dem
Goldenen Topf sowie der in enger Verbindung mit dieser Erzählung stehen-
den autobiographischen Zeichnung, dem “Kunzischen Riß”, innewohnt.
Die poetische Raumordnung bei Hoffmann, welche die Durchdringung
zweier Wirklichkeiten in Der Turm vorprägt, basiert auf einer fantastischen
Überlagerung von Räumen. So gibt es im Goldenen Topf zwei Städte, die
in demselben Raum existieren und aus denselben Objekten und Personen
bestehen, wobei identische Personen und Orte je nach Stimmungslage des
Studenten Anselmus wahlweise dem philiströsen Dresden mit Konrektoren,
Knaster und Punsch oder dem wunderbaren Dresden mit Übergang nach
Atlantis zugeordnet werden können. Natürlich sind nicht alle Figuren gleich-
zeitig Bürger beider Städte – der Konrektor Paulmann oder Veronika z.B.
gehören nur dem philiströsen Dresden an – aber die Bürger des wunderba-
ren Dresden werden von den philiströsen Dresdnern sowie von Anselmus,
sofern er gerade der philiströse Anselmus ist und nicht der mit poetischer
Einbildungskraft begabte enthusiastische Anselmus, als Bewohner des
philiströsen Dresden wahrgenommen.
Während also der realistische Erzähldiskurs des heterodiegetischen
Erzählers in Der Turm eine schematische Raumordnung etabliert, die auf einer
topographischen Teilung in oben und unten, Turmstraßenviertel und Ostrom
basiert und die ein abyme der DDR darstellt, thematisieren die vor- und ein-
gelagerten homodiegetischen Aufzeichnungen Meno Rohdes das Scheitern
der DDR als Utopie und leisten somit eine poetische Interpretation dieser
Raumordnung, in der die DDR durch Verweis auf literarische Utopien als
Heterotopie im Sinne Michel Foucaults charakterisiert wird. Das Stichwort
Atlantis nun ruft eine dritte Raumvorstellung auf, die direkt auf die Romantik
zurückgeht: ein utopischer Raum, der nicht den Ambivalenzen der literari-
schen Utopie unterliegt. Diese durch Meno Rohde privilegierte, romantische
Utopie wird der DDR entgegengesetzt, die als Heterotopie abgewirtschaftet
hat. Um den Status dieser Atlantis-Utopie geht es mir im abschließenden Teil
meines Beitrags. Inwiefern gibt es in Tellkamps Dresden eine wunderbare
Sphäre mit Übergang nach Atlantis? Anders gefragt: Wie sieht Tellkamps
Hoffmann-Interpretation bzw. die seiner Figur, des Lektors Meno Rohde aus?
Aufschluss über Tellkamps Verhältnis zu Hoffmann könnte die peritextuell
reproduzierte Zeichnung auf den Vorsatzblättern geben, mit Parallelen zu
Hoffmanns Kunzischem Riß.

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IV. Atlantis
Der Kunzische Riß ist eine Zeichnung, die Hoffmann 1814 einem Brief an
seinen Bamberger Verleger Kunz beilegte und auf der er seine neue Berliner
Wohnung in der Taubenstraße, gleich beim Gendarmenmarkt sowie deren
räumliche Umgebung skizzierte. Die Raumordnung dieser Zeichnung basiert
auf einem fantastischen Szenario mit einem Ineinander des Irrealen und
des Realen, genau wie in Hoffmanns erzählerischem Werk und insbeson-
dere in dem kurz zuvor vollendeten Goldenen Topf. Wie Klaus Deterding
überzeugend argumentiert hat, kann die Zeichnung “in ihrer Bedeutung für
[Hoffmanns] Gesamtwerk kaum hoch genug eingeschätzt werden”, enthält sie
doch quasi ‘Hoffmann in nuce’: “Der sogenannte Kunzische Riß gibt exemp-
larisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und des
Irrealen. Er ist damit ein Konzentrat von Hoffmanns gesamter Poetik”.32 Die
Skizze enthält neben der realen Aussicht der Wohnung in der Taubenstraße
(Bsp.: ein Soldat, Damen) auch Personen, die sich nicht unbedingt zu dieser
Zeit dort aufhielten (Tieck, Bernhardi, Brentano); sie enthält zudem Verweise
auf den Spielplan des Berliner Schauspielhauses, der durch die kostümierten
Sänger auf der Straße dargestellt wird, z.B. die Glucksche Armida. Schließlich
hat Hoffmann auch eigene literarische Figuren, und zwar solche aus dem kurz
zuvor vollendeten Goldenen Topf in die Zeichnung eingearbeitet: der Student
Anselmus schreitet links neben der französischen Kirche an Serpentina
vorbei; unterhalb dieser Gruppe spaziert der Konrektor Paulmann in entge-
gengesetzter Richtung. Im Zentrum des Blattes steht Kreisler, Hoffmanns
poetisch-musikalisches alter ego. Hoffmann selbst kommt ansonsten auf der
Zeichnung nicht vor, er steht außerhalb, ist aber doch sichtbar: und zwar
deshalb, weil die Zeichnung seine Perspektive auf die Wirklichkeit wieder-
gibt. Das poetische Prinzip des Schauens ist, als serapiontische Schau, dabei
geprägt durch ein Ineinander von äußerer und innerer Wirklichkeit.
Wie verhält sich nun Tellkamps Vorsatzblatt-Zeichnung zu diesem iko-
nischen Vorbild? Zunächst einmal zeigt die Zeichnung einen skizzen- und
bruchstückhaften Stadtplan Dresdens, der durch die Elbe zweigeteilt wird
und in den zahlreiche Handlungsorte des Romans eingezeichnet sind: das
Tausendaugenhaus, Haus Abendstern, die Turmstraße selber, die askanische
Insel, Sitz der örtlichen Bürokratie, das Krankenhaus Friedrich Wolf oder
auch der hermetisch umzäunte Block A (“wo der engste Zirkel um Barsano
lebt”). Allerdings ist der Maßstab der Karte (1:1001) höchst ungewöhnlich
und eindeutig ungenau – die Karte müsste viel größer sein; auch ist der

32
Klaus Deterding: Hoffmanns Erzählungen. Eine Einführung in das Leben und
Werk E.T.A. Hoffmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Kap. II: Der
“Kunzische Riß”. S. 81–91. Hier: S. 82.

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Plan nicht genordet. Die Zeichnung ist in der unteren linken Ecke mit dem
Titel “Der Turm – Der Schlaf in den Uhren” bezeichnet; “Der Schlaf in den
Uhren” ist der Titel eines kürzeren Prosatextes, mit dem Tellkamp 2004 den
Bachmann-Preis gewonnen hat und der verschiedene Motive und Figuren vor-
wegnimmt, die später in den Turm eingegangen sind. Zahlreiche Details auf
der Zeichnung zeigen darüber hinaus an, dass es sich nicht um eine realisti-
sche Repräsentation Dresdens handeln kann: Die Elbe ist als “elbischer Fluß”
beschriftet, mit intertextuellem Bezug auf die nicht-menschliche Spezies der
Elben in J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe; die Semperoper befindet sich in der
Mitte des Flusses, neben einer Reihe symbolisch repräsentierter menschli-
cher Organe. Auch die sächsische Schweiz wurde in der Elbe und innerhalb
Dresdens repräsentiert, ebenso wie “Samarkand” und die “Karbidinsel” –
fiktive Orte innerhalb des Chemie-Dreiecks, in die Christian strafversetzt
wird – zu Bestandteilen der Dresdner Stadttopographie mutieren. Fernes
wird so nahegerückt, Naheliegendes dagegen auseinandergeschoben: Die
Standseilbahn zum Turmstraßenviertel und die Schwebebahn nach Ostrom
sind in entgegengesetzte Ecken der Skizze platziert, obwohl sie innerhalb der
erzählten Welt – ebenso wie in der außerliterarischen Wirklichkeit – nur etwa
einen Kilometer voneinander entfernt in Loschwitz liegen.
Ein fantastisch rekonstituiertes Dresden, das die gesamte DDR ein-
schließt, wird in dieser Zeichnung zu einem Organismus mit Herz, Lunge
usw. unter Einschluss wirklicher und nicht-wirklicher Elemente und topogra-
phischer Bezugspunkte. Die Repräsentation der DDR als eines Körpers mit
Organen rekurriert einmal mehr auf Utopien und Staatsromane des 17. und
18. Jahrhunderts und auf die zugrundeliegende Staatstheorie des Barock, die
den Staat als einen Organismus verstand. Mit dieser Zeichnung reklamiert
Tellkamp für sich selbst das Hoffmannsche Prinzip der serapiontischen Schau
und illustriert zudem, dass in und hinter der ersten Wirklichkeit des philist-
rösen Dresden tatsächlich eine zweite, poetische Wirklichkeit liegt, die den
philiströsen Dresdnern verschlossen bleiben mag, die deshalb aber nicht
weniger wirklich ist. Atlantis selbst ist im Turm folglich kein Ort und auch
keine vollendete Utopie, sondern das Prinzip der serapiontischen Schau
selbst: Überblendung der Wirklichkeit mit den flackernden, immateriellen
Bildern der Fantasie. Und es ist speziell Meno Rohde, der zu dieser Art der
doppelten Wahrnehmung befähigt ist: “Atlantis, dessen Konturen Meno hin-
ter den Zimmern zurückkehren sah, eine Art Parallelverschiebung, flackernde
Projektion”.33
Tellkamps – oder genauer gesagt: Meno Rohdes – Atlantis ist deshalb nicht
allein der nächtlich besuchte poetische Ort, sondern umfasst die gesamte
DDR, sofern sie serapiontisch geschaut – und das heißt wohl: intertextuell

33
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 723.

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überblendet wird. Weshalb die Frage Uwe Tellkamps aus dem FAZ-Artikel –
was war die DDR – im Roman umformuliert wird als

was war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war,
das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten,
den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach
und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die
erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden/
die Kohleninsel/die Kupferinsel der Regierung/Insel mit dem roten Stern/die
Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft ver-
sponnen verkrustet34.

Damit fragt Rohde programmatisch nach dem utopischen Status der DDR und
ihrem Verhältnis zu anderen Utopien und kommt zu dem Ergebnis, dass das
Utopische der DDR – also die DDR als Atlantis – immer nur eine subjektive
poetische Interpretation sein kann, die Touristen und Traumlosen verschlossen
bleibt.
Eins jedenfalls ist sicher: Eine einfache und eindeutige Beantwortung der
im FAZ-Artikel gestellten Frage “was war die DDR” ist von einem derar-
tig hochseiltänzerisch diffizilen Erzählkonstrukt wie Tellkamps Turm nicht
zu erwarten. Eine andere Frage wäre die literaturkritische nach dem ästheti-
schen Gelingen des narrativen Unterfangens, die aber nicht Gegenstand die-
ses Beitrags war. Die DDR, das dürfte jedenfalls deutlich geworden sein, war
alles: pädagogische Provinz und Großkombinat und Hafen der kleinen Dinge.
Sie war vielen vieles und jedem etwas anderes, weshalb auch nur ein polyper-
spektivisches Erzählverfahren zur Darstellung der ganzen DDR angemessen
sein konnte. Tellkamp selbst verweist deshalb in dem poetologischen FAZ-
Artikel auf Hoffmann als einen Gewährsmann eines auf Eindeutigkeit nicht
reduziblen fantastischen Erzählens:

Ich meine, dass die künstlerische Aufarbeitung des Stoffs “DDR” sich fortsetzen
wird, denn kein mir bekanntes Buch entwirft ein Modell, das die Komplexität der
oben angedeuteten Sichtweisen (kein Anspruch auf Vollständigkeit!) erreicht, das
alle diese möglichen Interpretationen in sich vereint.
Vater aller besseren Literatur über das Problem ist, meiner Ansicht nach, E.T.A.
Hoffmann, bei dem die (Alb-) Träume in die Wirklichkeit wucherten. Je ferner dies
Ländchen im Maelstrom aus Zeit und Geschichte sinkt, desto mehr wird es, glaube
ich, Züge eines Turmbaus in Atlantis annehmen. Die literarische Zukunft unserer
Vergangenheit ist offen.35

34
Ebd. S. 9.
35
Uwe Tellkamp: “Was war die DDR?” [wie Anm. 1].

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Andrea Jäger

Die Wiederbelebung des Historismus in der literarischen


Geschichtsschreibung über die DDR.
Bemerkungen zu Uwe Tellkamps Der Turm
The GDR itself has become a historical topic. Recent novels refer to the GDR as a
historical phenomenon. The retrospective novels thereby reveal the return of an
approach to history long debated in scientific discourse at the nexus of narratology
and historiography: the return of historicism and its teleological claims of meaning
and objectivity. Contemporary narratives about the GDR do not display skepticism
towards constructions of historical meaning, but rather candidly attach themselves to
ideas of meaning. In both style and content the novels are characterized by an intri-
guing unconcern for the conception of history as a meaningful teleological process.
Analyzing Uwe Tellkamp’s novel Der Turm, this essay examines the implications of the
re-enthroned historicism for aesthetics.

“Plötzlich”, so sagt Wolfgang Büscher, kurz nachdem er auf seinem


Fußmarsch von Berlin nach Moskau im Jahr 2001 das zweite Mal die Memel
überschritten hat, “[p]lötzlich [empfand] ich etwas wie Mitleid mit dem
Kommunismus”:1
Er nahm menschliche Züge an. Alt war er. Er konnte nicht mehr. Ich ging durch
sein gefallenes Reich, durch die Hallen wehte der Wind, Unkraut wuchs in seinen
Sälen, ich traf ihn in seinem letzten Stadium an und betrachtete ihn mit der etwas
angeekelten Neugier, mit der man einen alten Wüstling und Familientyrannen
ungeniert anschaut, jetzt, wo er nur noch die Ruine seiner lebenslangen Raserei
ist, einer Empörung gegen Gott und die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein
wird. Ein vor Vergeblichkeit zitternder kleiner Mann, der wütend versucht, eine
gewaltige Frau zu besteigen und ihr unentwegt zuflüstert, aber ich liebe dich doch,
ich liebe dich doch, folge mir, ich erlöse dich von deinen falschen Träumen, und
der, während er auf ihr predigt und predigt, alles zerstört, was er berührt und am
Ende sich selbst. Die Riesin leidet schrecklich unter ihm, er misshandelt sie, wo er
kann, und bringt sie fast um, aber eines Tages ist er alt und schwach, und sie spürt
es und wirft ihn einfach ab und zertritt ihn mit ihren großen Füßen.2

Quelle dieses allegorisch inszenierten Mitleids ist nicht einfach die


Erfolglosigkeit, das Scheitern des “alten Wüstlings”, Quelle des Mitleids
ist vielmehr die Gewissheit, dass dieser Misserfolg unausweichlich, dem

1
Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2006. S. 128.
2
Ebd. S. 128f.

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Kommunismus wie dem Wüstling von vornherein eingeschrieben war. Dafür


steht das Bild von der “lebenslange[n] Raserei”, das die den Kommunismus
verkörpernde Sowjetunion als ein durch und durch irrationales Anliegen fasst,
in dem sich eine Empörung ausdrückte, deren aberwitzige Universalität –
“gegen Gott und die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird” – auf ihre
prinzipielle Grund- und Berechtigungslosigkeit verweisen soll; die von den
kommunistischen Idealen reklamierte Moralität zeigt sich in der Allegorie als
Bemäntelung schierer Zerstörungswut, die freilich das System letztlich selbst
richtet. Dagegen steht die Riesin, das Land (Russland), die eine eigene, unzer-
störbare und letztlich unantastbare Natur hat und die deswegen im Kampf mit
dem System auch notwendig überlegen ist. Das Bild hat eine unübersehbare
Aporie: Es spricht dem Kommunismus eine überdimensionale gewalttätige
Wirkung ebenso zu wie auch eine geradezu lächerliche Chancenlosigkeit,
aber diese Aporie des Bildes wird in Kauf genommen, um den geschichtsphi-
losophischen Gedanken zu veranschaulichen, dass die Sowjetunion nicht nur
niedergegangen ist, sondern dass diesem Niedergang ein höherer Sinn, eine
historische Gerechtigkeit innewohnte, die sich mit zwingender Kraft im
historischen Prozess Geltung verschafft habe.
Um solch ein Gedankenmuster geht es im Folgenden, genauer: um die
Wiederbelebung des Historismus in der literarischen Geschichtsschreibung
über den realen Sozialismus. Im gegenwärtigen Erzählen über die DDR lässt
sich nämlich eine auffällige Gegenbewegung feststellen gegenüber jenem his-
torischen Erzählen, das geprägt ist durch die kritischen Debatten über teleolo-
gische Sinnstrukturen der Historiographie und in der Folge über das Erinnern,
wie sie die letzten Jahrzehnte für die Dichtung ebenso maßgeblich waren
wie für die Literatur- und Kulturwissenschaften. In diesen Debatten wurde
und wird im Anschluss an Hayden Whites Metahistory der Objektivitäts-
und Authentizitätsanspruch der – wissenschaftlich oder literarisch – erzähl-
ten Geschichte bezweifelt, der Konstruktionscharakter des Erinnerten
hervorgehoben, und es ist inzwischen zum unbestrittenen Qualitätsmerkmal
für historisches Erzählen geworden, dass es diesen Konstruktionscharakter
selbst thematisiert und ausstellt.3 Dieser Anspruch schlägt sich in vielen
Werken der Geschichtserzählung, der Erinnerungsliteratur wie auch in der
Autobiographie nieder und hat dort eigene Poetiken geschaffen, wovon auch
Werke von Autoren aus der DDR zeugen, wie zum Beispiel Christoph Heins
Geschichtsroman Landnahme (2004) oder die Romane von Reinhard Jirgl.

3
Vilmar Geppert: Der ‘andere’ historische Roman. Theorie und Strukturen einer
diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976 (Studien zur deutschen
Literatur Band 42). – Sowie Ders.: Der historische Roman. Geschichte umerzählt –
von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke 2009.

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Die literarische Geschichtsschreibung über die DDR, resp. über den Realen
Sozialismus scheint aber an diese Reflektionen nicht nur anzuschließen.
Vielmehr findet sich hier auch eine Anknüpfung an traditionelle realisti-
sche Schreibweisen. Das geschieht zunächst einmal recht unspektakulär, und
zwar durch die vermeintliche Unmittelbarkeit authentischen Sprechens. Hier
schreibt sich eine Literatur der Zeitzeugen fort, die – als es die DDR noch
gab – aus eigener Anschauung und Betroffenheit heraus aus dem und von
dem Land des Realen Sozialismus berichteten. Verbunden war dies häufig
mit dem Gestus des Aufklärers, der auf die Verhältnisse des Systems (nicht
zuletzt im Westen) kritisch aufmerksam machen wollte.4 Diese Erzählweise
wird nun einfach fortgesetzt, während sich der Gegenstand in ein Stück
Geschichte verwandelt hat. Ein Beispiel dafür sind sicherlich die Romane von
Erich Loest, mit ihrem Anspruch, die Geschichte und die Geschichten aus
der DDR zu erzählen, wie sie “wirklich geschehen” sind. Diese Werke pro-
blematisieren ihren Authentizitätsanspruch einfach nicht. Allerdings, bei aller
Unbekümmertheit in Bezug auf die inzwischen historischen Fakten, bieten
Loests Romane nicht einfach ein Geschichtsbild, das die Geschichte einer ein-
heitlichen Deutung unterziehen könnte – wiewohl sie auf Geschichtsdeutung
einzelner Ereignisse durchaus nicht verzichten,5 aber da liegt genau der
Unterschied zu dem, worum es hier in erster Linie geht, nämlich um ein
kohärentes Geschichtsbild.
Hier geht es spezieller um solche Werke, die nicht nur den
Objektivitätsanspruch des Historismus erneuern, also dieses Erzählen, “wie
es wirklich geschehen sei”, sondern auch das teleologische Prinzip des
ästhetischen Historismus wiederbeleben, demzufolge in der Geschichte ein
objektiver zustimmungsfähiger Sinn walte, der sich mit determinierender
Kraft im historischen Prozess Geltung verschaffe und der sich üblicherweise
in den Universalien: Vernunft, Geist, Fortschritt Anschauung gibt.6

4
Solche Erfahrungsliteratur aus der DDR gibt es in großer Fülle. Vor allem
Autoren, die das Land verlassen mussten, haben häufig ihre Sicht auf die
DDR literarisch niedergelegt. Vgl. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR.
Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon.
Frankfurt a.M.: Lang 1995.
5
So hat sich Erich Loest beispielsweise mehrfach mit dem 17. Juni 1953 auseinan-
dergesetzt, zuletzt in seinem Roman Sommergewitter. Göttingen: Steidl 2005.
6
Eigentlich sind die Universalien des teleologischen Geschichtsbildes noch um
eine zu erweitern: Sozialismus. Denn die Geschichtsphilosophie des Realen
Sozialismus, der historische Materialismus, wollte auf den geschichtslegitima-
torischen Ertrag des Historismus nicht verzichten, sondern ihn auf die eigene
historische Tat lenken. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn jetzt dieses
Gedankenmuster erneut gegen den Sozialismus in Anschlag gebracht wird.

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Als Prototyp solch einer Wiederbelebung des teleologischen


Geschichtsdenkens kann man Uwe Tellkamps Roman Der Turm betrachten.7
Der Roman wurde bekanntlich vielfach ausgezeichnet, sein Verfasser erhielt
dafür 2009 zusammen mit Erich Loest und Monika Maron den Nationalpreis
der neuen Bundesrepublik Deutschland.8 In den folgenden Ausführungen geht
es weniger um den Nachweis, dass Tellkamp teleologisch verfährt, denn das
ist nicht schwierig zu erkennen: Der Turm will nicht nur eine Geschichte aus
dem Dresden der 80er Jahre erzählen, vielmehr verschmilzt hier die 40jährige
Geschichte der DDR zu einer, in der die (selbst in den 80er Jahren wohl kaum
absehbare) historische Niederlage des Realen Sozialismus ihm als sein unaus-
weichliches Gesetz eingeschrieben wird. Das ist so offensichtlich, dass man es
nicht beweisen muss. Mich interessiert vielmehr, welche narrativen Strategien
der Roman ergreift, um diese nachträgliche Sinnaufladung der Geschichte
plausibel zu machen. Dass es sich beim Turm und seinen Geschichten näm-
lich um narrative Konstruktionen handelt und nicht einfach um Abbildungen
des empirischen Geschehens, wird nur allzu gern übersehen, und zwar vor
allem natürlich bei jenen, die dem Buch politisch beipflichten, aber auch bei
den zahlreichen Kritikern, die dem Buch seine vielen historischen “Fehler”
ankreiden.9
Der mittlere Held
Der Turm verfügt ganz klassisch für Romane des ästhetischen Historismus
über einen mittleren Helden: Das ist seit Walter Scotts Roman Waverley, or,
’tis sixty years since (1814) eine Figur, die als Augenzeuge fungiert und die es
aufgrund ihrer sozialen Stellung erlaubt, einen internen Blick sowohl auf die
Herrschaft des Landes zu werfen wie auch auf die von ihr Betroffenen. Dabei
verfolgt die Figur selbst kein eigenes Kalkül. Diese Walter Scottsche Figur ist
im Turm der Lektor Meno Rohde. Die narrative Funktion dieser Figur besteht
darin, die Darstellung des Erzählers durchgängig zu beglaubigen (abgelöst

7
Uwe Tellkamp: Der Turm. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.
8
Die Nationalstiftung hat besonders die Leistung der drei AutorInnen hervorgeho-
ben, in ihren Werken unvoreingenommen auf die deutsche Geschichte zu blicken:
“Eine Nation braucht Erinnerung an ihre gemeinsame Geschichte. Mit ihrem jewei-
ligen Werk fördern die Preisträger die Bereitschaft, sich unvoreingenommen mit
den unterschiedlichen Biographien anderer zu befassen, um diese zu entschlüs-
seln und zu verstehen” (http://www.nationalstiftung.de/nationalpreis2009.php.
Downloaded 14.4.2011).
9
In Rezensionen wie im Internet finden sich jede Menge Hinweise auf die Dresdner
Örtlichkeiten des Romans wie auch der stete Hinweis auf die Realitätstreue des
Werks. Erst diese Rezeption rundet das Bild über den Roman ab, er sei eine wahre
Geschichtsdarstellung.

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wird er in Bezug auf die Darstellungen des Militärs. Hier übernimmt Christian
seine Aufgabe). Diese Beglaubigung geschieht durch drei Momente: Meno ist
Augenzeuge, er verschriftlicht das Erlebte in seinem Tagebuch (im Roman ein
Ort unverstellter, weil absolut unkontrollierter Reflektion), und außerdem
hinterfragt er die Wahrnehmungsform des Beobachtens.
Meno Rohde hat eine Romanbiographie, die ihn zum idealen Augenzeugen
macht. Er hat das Hotel Lux mit seinen Eltern erlebt, er war verheiratet
mit der Tochter des Wirtschaftswissenschaftlers Londoner (alias Jürgen
Kuczynski), von der aber auch wieder geschieden, d.h. der Familie nicht mehr
verpflichtet, aber dennoch von ihr als Ex-Schwiegersohn akzeptiert, so dass
er als einziger Türmer sowohl beruflichen als auch privaten Zugang hat zur
geistigen und politischen Elite des Landes im ansonsten hermetisch abgerie-
gelten Bezirk Ostrom, das fiktive, nach Dresden verlegte Wandlitz.
Die Tagebucheinträge, die der Roman immer wieder in die Erzählung
einstreut, weisen zum Teil bis in die Stilistik hinein eine regelrechte
Identität mit der Erzählerstimme auf, so dass deren Erzählung durch die
Tagebucheinträge einfach fortgesetzt wird und stellenweise zu einer Stimme
verschmilzt.10
In seinem Tagebuch, aber auch in seinen Gesprächen mit Christian vertritt
Meno das Ideal des genauen Sehens. “Lass uns ein wenig sehen üben”,11 ver-
langt er von Christian. Insofern Meno das Prinzip des genauen-Hinsehens und
des unbestechlichen Blicks, der sich nicht von der Magie des oberflächlichen
Eindrucks blenden lässt, sondern hinter diese Oberflächen mit “wissenschaft-
licher Kälte” schaut – insofern er diesen Blick nicht nur selbst theoretisch
vertritt, und zwar am unideologischen Gegenstand, es geht in dem Gespräch
um Schmetterlinge! –, sondern auch noch Christian darin unterrichtet,
erscheint er selbst als “Meister” dieses Blicks.
Seine Glaubwürdigkeit als Augenzeuge ist durch diese drei Momente
verbürgt – sie wird auch von keiner anderen Figur und erst recht nicht vom
Erzähler in irgendeiner Weise wieder aufgebrochen. Zugleich ist mit ihm ein
überindividueller Wahrheitsanspruch der Erzählung gesetzt.
Schlüsselroman
Ein weiteres Element inszeniert den Roman als wirklichkeitsgetreue
Wiedergabe der DDR-Gesellschaft. Der Roman behauptet Objektivität,
indem er die Fiktionalität zum Faktischen hin aufbricht: In Bezug auf etliche
Figuren präsentiert er sich als ein Schlüsselroman. Dabei legt der Roman kei-
nerlei Wert darauf, die wahre Identität der Figuren besonders zu verschleiern.

10
So z.B. die Tagebucheinträge im Kapitel “Auf Hiddensee”. S. 675–687.
11
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 7.]. S. 270.

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Die schnelle Identifikation ist allein dadurch gewährleistet, dass die


Darstellung dieser Figuren eindeutige biographische Details der Originale ent-
hält und weitgehend die Stereotypen bedient, die sowieso über die Originale
kursieren, bzw. das allgemein Bekannte aufgreift (Beispiele dafür sind Peter
Hacks und Franz Fühmann).12 Es geht um Identifikation und nicht um
einen neuen oder gar analytischen Blick auf die dargestellten Schriftsteller,
Wissenschaftler und Politiker. Der Funktion der Wiedererkennung wider-
spricht also auch nicht, dass diese Personen verschmolzen werden mit
ihren poetischen Sprechweisen (wie z.B. Hacks) oder mit Protagonisten
ihrer Romane (wie z.B. Brigitte Reimann mit ihrer Romanfigur Franziska
Linkerhand).
Mit diesen beiden Elementen greift Der Turm zu traditionellen Strategien
der Beglaubigung des Erzählten als faktentreu und authentisch. Was aber
genau wird beglaubigt? Wie wird der geschichtsphilosophische Gedanke an
einen höheren Sinn in der Geschichte – und damit ist gemeint: an ein subjekt-
gemäßes, zustimmungsfähiges Gesetz des historischen Prozesses – ins Spiel
gebracht?
Der Fortschrittsgedanke
Der Gedanke, dass der Geschichte eine gerechte Tendenz innewohne, führt
der Roman bereits am Anfang ein. Er beginnt mit einem Tagebucheintrag von
Meno. Dieser Eintrag entwirft ein großes, auf den ersten Eindruck paradoxes
allegorisches Bild. Einerseits wird das Szenario eines absoluten Stillstandes
entworfen: ein Kontinent, “in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse”,13
wo der “Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern
auftürmte, die den Strom in ihren Zangen preßten und, wie den Lauf der
Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten”.14
Andererseits aber gibt es drei einander zum Teil entgegenwirkende
Bewegungen:
– Eine Rückwärtsbewegung: “das Rote Reich, den Archipel, durchädert
durchwachsen durchwuchert von den Arterien Venen Kapillaren des
Stroms, aus dem Meer gespeist”,15 eine Rückwärtsbewegung also, in der
der Fluss aus dem Meer gespeist wird, was den natürlichen Verlauf auf den
Kopf stellt.

12
Details zur Entschlüsselung der Figuren finden sich bei Wikipedia unter http://
de.wikipedia.org/wiki/Der_Turm_(Tellkamp). Downloaded 14.4.2011.
13
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 7]. S. 7.
14
Ebd. S. 8.
15
Ebd. S. 7.

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– Eine Bewegung von der Oberfläche in die Tiefe: “Schwebstoffe hinab in


die Tiefe, wo die Rinnsale der Stadt sich mischten” –16 dort in der Tiefe
gärt der gesamte Dreck des Landes.
– Aber auch eine Bewegung nach vorne: “aber die Uhren schlugen”.17
Ausdruck dieser Bewegung sind vor allem die Uhren, die in den
Wohnungen der Türmer stehen. Es sind private Räume, in denen sich die
Zeit vorwärts bewegt.
Das Bild des Stillstandes, der Rückwärtsbewegung und des Sinkens konterka-
riert die in der DDR gültige Propaganda eines fortwährenden gesellschaftli-
chen Fortschritts. Die DDR wird blamiert am ausbleibenden Fortschritt. Aber
auch: Die DDR blamiert sich selbst am ausbleibenden Fortschritt, der den
natürlichen Gang der Dinge vereitelt. Die Ouvertüre ergreift also in ihrer ver-
nichtenden Kritik an der DDR zugleich Partei für deren Legitimationsformel,
der Vorstellung vom stetigen Fortschritt, insofern dessen Ausbleiben als
widernatürliche Rückwärtsbewegung erscheint, weshalb er sich – so die
Logik des Bildes – letztlich gar nicht aufhalten lässt, wie die natürliche Zeit
symbolisiert, die neben der Gesellschaft im privaten Raum Zeichen setzt.
Die Grundkoordinaten menschlicher materieller Existenz: Raum und Zeit
erscheinen in dem Bild als ebenso betroffen von der Stilllegung des histori-
schen Prozesses – eine Betroffenheit, aus der sich im Bild zugleich alle Übel
der realsozialistischen Gesellschaft erklären – wie auch als prinzipiell resis-
tent gegen solchen Eingriff in ihre Natur – ein Paradox, das sich mittels der
Amalgamierung des Fortschrittsgedankens mit der Lebensphilosophie plausi-
bilisiert (die Parallele zur eingangs zitierten Allegorie aus Wolfgang Büschers
Reisebericht ist hier bereits offenkundig). Die Zeit verschafft sich Geltung, sie
befindet sich nur in einem menschheitsgeschichtlichen Dornröschenschlaf,
während der Untergang des Landes bereits in vollem Gange ist: Die DDR
erscheint als Atlantis, sie geht wie bei Platon notwendig an ihrem eigenen
universalen Machtanspruch zugrunde, dem die menschheitsgeschichtliche
Legitimation fehlt.
Noch einmal anders und etwas weniger bildlich ausgedrückt: Die
Stillstandsmetapher bringt einen Grund für das Scheitern des Systems ins
Spiel, der explizit absieht von dem, was sich in dem Land in den 1980er
Jahren – den Jahren des Rüstungswettlaufs, der Westverschuldung, der
Ausreisewellen etc. – tatsächlich abgespielt hat. Dieser Grund speist
sich aus einem Vergleich, einem Vergleich mit dem leeren, weil univer-
sellen Fortschrittsgedanken, der wie ein historisches Sollen wirkt und
von dem ein Staat nur um den Preis des eigenen Untergangs abweichen

16
Ebd.
17
Ebd. S. 8.

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kann. Die Stillstandsmetapher ist also die negative Ausdrucksweise der


Fortschrittsteleologie, von der man nach der Ouvertüre immerhin soviel
weiß, dass es zur größtmöglichen Katastrophe führt, wenn man sie als Staat
ignoriert. Die Stillstandsmetapher ist also entgegen der in den Feuilletons
allenthalben geäußerten Behauptung, hier werde der Zustand der DDR tref-
fend beschrieben, alles andere als eine Tatsachenbeschreibung, sie beinhal-
tet vielmehr eine Diagnose, die sich aus dem von vornherein anvisierten und
präsupponierten Grund, nicht etwa aus der Betrachtung der Symptome ablei-
tet,18 die DDR als Verstoß gegen die Gesetze der Geschichte aufzufassen. In
der Ouvertüre wird dieser Gedanke zusätzlich dadurch beglaubigt, dass er
als eine Erkenntnis präsentiert wird, die nur einem besonderen, in die Tiefe
gehenden und die Zeichen verstehenden Blick zugänglich wird, der nicht ein-
fach aus eigener Betroffenheit oder aus Dissidenz hervorgehe:
was war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war,
das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten,
den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach
und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die
erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden/
die Kohleninsel/die Kupferinsel der Regierung/Insel mit dem roten Stern/
die Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft
versponnen verkrustet.19

Diese zweite Wirklichkeit ist das heimlich waltende Geschichtsgesetz,


das sich dem ästhetischen Blick zeigt: die bereits wirksame Utopie des
Untergangs der DDR.
Authentische Charaktere und Charaktermasken der Partei. Triviale Muster
Wie manifestiert sich dieses Geschichtsgesetz aber an der Oberfläche der
erzählten Geschichte? Nicht alle Kapitel haben ja den seherischen Blick,
der sich in Menos Tagebuch äußert, zum Gegenstand, es werden vielmehr
gewöhnliche Episoden aus dem privaten und beruflichen Leben der Türmer
geboten. Eine Variante dieser Manifestation besteht darin, dass der Roman

18
Die Reihenfolge des Gedankens ist insofern wichtig, weil die Vorstellung,
die1980er Jahre der DDR seien Jahre des Stillstandes gewesen, bekanntlich eine
eingängige Formel ist, die aber tatsächlich nichts anderes als eine sehr oberfläch-
liche Ausdrucksweise dafür ist, dass sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung
zunehmend verschlechtert haben. Die Übersetzung dieser Verschlechterung in
die “Erfahrung” des Stillstands beruhte noch auf der Hoffnung, dass mit der
Benennung der materiellen Misere der Menschen in der DDR zugleich auch ein
Mangel der Staatsräson des Realen Sozialismus benannt sei, an dessen Kurierung
das System selbst noch ein Interesse hätte haben müssen.
19
Ebd. S. 9.

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beinahe durchgängig ein triviales Figurenmuster bedient, das die Figuren in


positive und negative Charaktere scheidet. Positiv sind fast alle Figuren des
Turms gezeichnet, und zwar dadurch, dass sie eine Individualität haben,20
d.h. sie beziehen ihre sie kennzeichnenden Eigenschaften und Eigenarten
nicht aus den sozialen Rollen, die sie ausüben, sondern sie bilden eine quasi-
natürliche individuelle Besonderheit aus, die sich – zur Verdeutlichung
ihrer wesenhaften Fremdheit gegenüber dem Sozialismus – in ihren
Bestimmungsmomenten an kulturelle Traditionen des Bürgertums aus
der Zeit vor dem Faschismus anlehnt. Die Figuren sind sozialisiert jenseits
der Gesellschaft, in der sie leben. (In dieser Figurengestaltung verfährt der
Roman bis zur psychologischen Unwahrscheinlichkeit – wie etwa im Falle
Christians, dessen Liebesvorstellungen regelrecht anachronistisch wirken.21)
Umgekehrt sind die sozialen Rollen, die die Figuren ausüben, deutlich von
ihrer Individualität unterschieden. So erhalten die Kinder des Turms beispiels-
weise regelrecht Schauspielunterricht in Sachen öffentliche Heuchelei.22 Die
Rolle bleibt das Äußerliche, bloß aufgesetzte auf eine Besonderheit, die sich
in ihrer Inszenierung als scheinbar natürliche dem Systemzugriff prinzipiell
entzieht.23
Spiegelbildlich konstruiert der Roman die Figuren, die den Machtapparat
verkörpern oder sich der Ideologie des Apparats verschrieben haben – Dichter
wie Eschschloraque, die Kaminski-Zwillinge oder das Ehepaar Honich. Diese
erscheinen durchweg als nicht individuell und nicht authentisch. Sie sind
Charaktermasken entweder ihrer politischen Mission, falsch und aufdringlich,

20
Die positive Bewertung der Figuren ergibt sich nicht daraus, dass der Roman alle
Handlungen des Einzelnen gutheißen würde. So erscheint Richards Unfähigkeit,
sein Liebesverhältnis offen zu praktizieren, durchaus als kritikabel. Der positiven
Bewertung liegt ein prinzipiellerer Maßstab zugrunde. Die Figuren werden unter-
schieden an der Frage, ob sie eine authentische Individualität haben oder nicht.
21
“Das war es nicht, was er sich vorgestellt hatte. Reina hatte einfach seine Hand
genommen, ohne ihn zu fragen. [. . .] Und nun sollte man, wie es hieß, miteinander
gehen. (Was machte man da eigentlich, wenn man ‚miteinander ging‘? Er konnte
sich darunter nichts als Langeweile vorstellen). Reina sollte die Frau sein, mit der er
ein Leben lang zusammensein, Kinder haben würde?” (Ebd. S. 487). Wohlgemerkt,
der Roman handelt in den 1980er Jahren!
22
Vgl. ebd. S. 332.
23
Das zeigt sich etwa bei den Frauen der Türmer, die ein ganz überkomme-
nes Rollenverständnis haben, wenn Sie sich für ihre Männer am Tisch schä-
men, wenn sie politische Gespräche ins Harmlose abbiegen wollen, wenn sie sich
ums Haushälterische kümmern und da ihre Expertenschaft in Sachen gesunde
Ernährung entwickeln. Vgl. auch das Tischgespräch anlässlich von Richards
Enthüllung seiner Stasikontakte (ebd. S. 442f.).

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oder ihrer elitären Eitelkeit, in der sich ihre Nähe zur Macht manifestiert.
Zum Beispiel das Ehepaar Honich, mit seinen gestanzten Polizeireden ohne
jede Individualität. Sie denunzieren sich schon sprachlich.24 Auch Meno
betrachtet sie als böse Naturen:
Ich habe meine Manuskripte Anne zur Verwahrung gegeben, riet also zum Frieden,
wenngleich mir der Gedanke schwer erträglich ist, daß dieses Weibsstück an der
Zehnminutenuhr – wie vertraut, wie beruhigend der Gong, den ich durchs Telefon
hörte – herumfingert, womöglich, um sie zu demolieren: manche Menschen
können fremdes Glück nicht ertragen, manche Menschen reizt die Würde
aristokratischer und wehrloser Gegenstände, sie zu verkrüppeln.25

Die Leistung dieses Positiv/Negativ-Musters der Figurenschilderung liegt


nicht nur in der moralischen Delegitimation des Sozialismus. Es ist mehr
gesagt: Der Sozialismus vergeht sich an einer quasinatürlichen Humanität
und moralischen Wesenheit, die er zugleich gar nicht außer Kraft setzen kann.
Dieses Wesen behauptet sich als die wahre authentische Existenz der Figuren.
Damit bestätigt sich das Telos auch hier ex negativo als Verstoß gegen ein
natürliches Prinzip, ein Verstoß, der letzten Endes nur erfolglos sein kann,
insofern er die meisten Leute nicht erreicht.
Mangel – viele Mängel – Mangelwirtschaft
Ähnlich wie mit den Personen geht es mit den Dingen. Auch hier gibt es alte
Gegenstände wie die Zehnminutenuhr, die unverändert die politischen Zeiten
überdauern. Andererseits sind die Dinge empfindlicher als die Menschen,
sie verfallen, verschimmeln, verrotten. Daneben gibt es Gegenstände, die
Produkte der DDR-Wirtschaft sind. Diese sind von Haus aus fehlkonstruiert:
ob Wäscheschleuder oder Dampfabzug – sie funktionieren nicht gescheit.
Wo immer sich die DDR des materiellen Lebens bemächtigt, versagen die
Dinge ihren Dienst. Ähnliches gilt für die Menschen. So heißt es über die
Kreuzschule mit ihrem bekannten Chor: Seit die Kreuzschule rot ist, singen
sie schlecht.26 Dass es hier um mehr geht als das bloße Nichtfunktionieren

24
Vgl. ebd. S. 577. – Es gibt im Turm kein festes Kennzeichen für die vom
System kontaminierte Charaktermaske, die die fehlende Individualität ersetzt.
So ist beispielsweise der Major a.D. im Wehrlager gerade kein Grobian, sondern
eher jovial. Christian kommt es so vor, als hätte er mit der gleichen “Jovialität
und Aufgeräumtheit auch ein entsprechendes Lager vor fünfzig Jahren geleitet”
(S. 441). Umgekehrt, wer Menschlichkeit praktizieren will – Anne will z.B. am
Bahnhof einem russischen Soldaten etwas zu essen geben – macht sich sofort
verdächtig (vgl. ebd. S. 592f.).
25
Ebd. S. 682.
26
“mittlerweile war die Schule als ‚rot‘ verschrien, und auch die sängerischen
Leistungen sollten, wie gesagt wurde, gelitten haben” (ebd. S. 437).

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von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs, zeigt sich an Reflektionen wie


jenen von Richard über sein Werkzeug:
Das Werkzeug war sein Stolz, und wenn er “Besitz” dachte, dann sah er nicht
zuerst einen Kontoauszug vor sich, die Möbel in der Wohnung, den Plattenspieler,
die Querner-Gemälde oder den Lada, sondern die Hängeschränke mit den aufge-
reihten Ring- und Mauerschlüsseln, den Rohrzangen, Gewindeschneidern und
Schneidkluppen-Sätzen, den Meißeln und Stechbeiteln. Kein Pfusch aus irgend-
einem Volkseigenen Betrieb, sondern schwere Vorkriegs-Stahlware aus den
Gesenkschmieden des Bergischen Lands.27

Diese Dinge lösen ein Glücksempfinden bei Richard aus, das mit dem von
Meno angesichts von Eichendorff-Gedichten vergleichbar ist:
Die gleiche Empfindung von tiefer Befriedigung, von Glück vielleicht und viel-
leicht auch von Erlösung – daß es hier und jetzt einmal etwas gab, das nicht besser
aus Menschensinn und Menschenhand hervorgehen konnte –, diese Empfindung,
die er auf Menos Gesicht las, kannte auch Richard, nur löste kein Gedicht sie
aus [bei Meno sind es Eichendorff-Gedichte], sondern diese Werkbank, und bei
seinem Vater war es das Innenleben einer mechanischen Uhr aus der hohen Zeit
der Glashütter Uhrenmanufakturen gewesen, Zeugnis von Handwerksfleiß und
peniblem Tüftlersinn.28

Analog zum Verhältnis der sozialistischen Gesellschaft zur authentischen


Individualität der Turmbewohner erscheinen der materielle Verfall der Dinge
und die Produktion von Mangelware somit als unmittelbarer Angriff auf
diese Wesenheit, diese Sinnaufladung der Dinge. Das Resultat eines solchen
Verstoßes ist die Allgemeinheit der Zerstörung, die sich im Roman als allge-
genwärtige zeigt, und damit eine Untergrabung der eigenen Fundamente des
Systems.
Die Darstellung der Mängel hat aber noch eine weitere Funktion. In der
massiven Häufung des Mangels in jedem Bereich – eine Häufung, die zum
narrativen Selbstzweck wird (weshalb da auch Dinge vorkommen, an denen
de facto kein Mangel herrschte, wie z.B. Knöpfe) – wird ein Grund für die
Mängel nahegelegt: Der Mangel erscheint als ein regelrechter Selbstzweck
des Systems. Der Roman kennt nämlich neben dem Mangel als dem ökono-
mischen Resultat des Systems überhaupt kein ökonomisches Ziel, zu dem der
Mangel ins Verhältnis gesetzt werden könnte, was ja sofort die Frage danach
auslösen würde, wie sich der Mangel überhaupt erklärt. Diese Frage setzt der
Roman außer Kraft. Die Erklärung jedes einzelnen Mangels erübrigt sich im
Verweis auf den Mangel daneben: Warum soll man fehlende Knöpfe erklären,

27
Ebd. S. 281f.
28
Ebd. S. 282f.

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wenn auch die Wäscheschleudern nicht stabil auf dem Boden stehen? Die
ausbleibende Frage nach dem Grund inszeniert die Behauptung einer fakti-
schen Grundlosigkeit, mithin einer Selbstzweckhaftigkeit des Mangels. Ein
prinzipiell widersinniger Zweck regiert das materielle Leben.
Krankheit
Den Widersinn, der im selbstzweckhaften Angriff auf jegliche menschliche
Wesenhaftigkeit besteht, überführt der Roman zunehmend in das Bild von
Krankheit. Die Figuren erkranken, deren Krankheit ist wiederum nur ein
Symptom für eine Krankheit, an der das Land leidet:
Land in seltsamer Krankheit, Jugend war alt, Jugend wollte nicht erwachsen wer-
den, Bürger lebten in Nischen, zogen sich im Staatskörper zurück, der, regiert
von Greisen, in todesnahem Schlaf lag. Zeit der Fossile; Fische strandeten,
wenn Wasser sich verliefen, zappelten stumm eine Weile, beugten sich, ermatte-
ten, starben reglos und versteinerten: in den Häuserwänden, den schimmelnden
Treppenfluren, schmolzen in Akten ein, wurden Wasserzeichen. Die seltsame
Krankheit zeichnete die Gesichter; sie war ansteckend, kein Erwachsener, der
sie nicht hatte, kein Kind, das unschuldig blieb. Verschluckte Wahrheiten, unaus-
gesprochene Gedanken durchbitterten den Leib, wühlten ihn zu einem Bergwerk
der Angst und des Hasses. Erstarrung und Aufweichung zugleich waren die
Hauptsymptome der seltsamen Krankheit.29

Mit diesem Tagebucheintrag von Meno beginnt der letzte Teil des Romans.

Wie ein hochinfektiöser Holzsplitter steckte der Schrei der Tausenden


Ausreisewilligen zum Balkon der Prager Botschaft, auf dem der bundesdeutsche
Außenminister Freiheit verkündet hatte, im Gehör des müden und kranken Leibs,
dessen vierzigster Geburtstag in ein paar Tagen gefeiert werden mußte.30

Die Menschen fangen an, sich des Sozialismus, der Krankheit, zu entledigen.
Dabei scheinen sie wie von einer höheren Macht ergriffen:
die Menschenströme schienen behutsamsten Witterungsänderungen zu folgen,
möglicherweise nur einem im Halbton weitergetragenen Gerücht, einem korri-
gierten Magnetismus (Stoßen, Hoffen), und dabei ziellos zu sein, aufgescheuchte
Bienen, denen man ihren Bau genommen hat. Geschrei und Stöhnen, Rufe über die
dunklen Straßen, Glasklirren.31

Wie das Telos des ästhetischen Historismus nimmt sich das Tellkampsche
Telos die Menschen zu Hilfe, um sich durchzusetzen. Sie sind nicht Subjekt
der Geschichte, sondern Instrument eines höheren Geschichtsgesetzes.

29
Ebd. S. 890.
30
Ebd. S. 943.
31
Ebd. S. 894.

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So passt es auch, dass sich der Roman relativ belustigt zeigt über die revolu-
tionären Aktivitäten der Bevölkerung. Die Opposition verstrickt sich in recht
absurde, der revolutionären Situation unangemessene Debatten32 und ver-
liert sich darin, von “irgendwelchen Gesellschaftsmodellen mit Emphase zu
schwadronieren”.33
Die Revolution selbst vollzieht sich dann als eine Art dionysischer
Eruption, die rauschhafte Entäußerung einer Urkraft der Masse Mensch,
die sich als lebensspendende heilende Kraft des sich als “Papierrepublik”
erweisenden Sozialismus entledigt. Ein geradezu expressionistisches
Heilungspathos löst – literarhistorisch in richtiger Chronologie – den behäbi-
gen Buddenbrookstil des Erzählers zu Beginn des Romans ab:
eiterweiße Rinnsale suchen sich ihren Weg zu den Rohröffnungen, die auf
Rohreingänge weisen, die auf Rohrausgänge weisen, Mund übergibt sich in
Mund, und aus den Traufen quillt der Preßsaft, Flüssigkeit kostbar wie Blut und
Sperma, aus den Papieren der Archive – . . . aber dann auf einmal . . . schlugen die
Uhren, schlugen den 9. November, “Deutschland einig Vaterland“, schlugen ans
Brandenburger Tor:34

Der Roman endet bekanntlich mit einem Doppelpunkt: Seine Fortsetzung wird
erwartet. Doch der Gedanke, dass sich in der Wende 1989 ein historischer Sinn
erfüllt, der der eigentlichen Wesenheit des Menschen zu ihrem Recht verhilft
und sie von einer Krankheit namens Sozialismus befreit, dieser Gedanke lässt
sich auch noch nach der Wende fortsetzen und taugt als Erklärungsmuster
fort für das Ausbleiben der “blühenden Landschaften”. Dies findet man ein-
schlägig bei der dritten Preisträgerin des Nationalpreises: Monika Maron. In
ihrem Bericht über den Bitterfelder Bogen wendet sie sich gegen Kritiker des
Vereinigungsprozesses und insbesondere gegen Günter Grass. Sie sagt:
Fünfundvierzig Jahre nach dem Krieg sind die Ostdeutschen dazugekommen, frei-
willig, in ein reiches, demokratisch verfasstes Land. Trotzdem dauert es offenbar
länger, als viele, auch ich, gehofft haben, ehe die Sehnen und Nervenstränge des
zerrissenen Organismus Deutschland wieder zusammenwachsen, ehe sich die ver-
schiedenen Erfahrungen in Ost und West zur gemeinsamen Geschichte verdichtet
haben. Das könnte Günter Grass mit seiner Biografie, seinen Erfahrungen und
manchmal verspäteten Einsichten eigentlich wissen.35

Das aber ist eben doch keine Frage von Wissen, sondern eher eine der
Durchschlagskraft von Diskursen.

32
Vgl. ebd. S. 912.
33
Ebd. S. 938.
34
Ebd. S. 973.
35
Monika Maron: Bitterfelder Bogen. Ein Bericht. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S.
164.

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Autorinnen und Autoren

EKE, NORBERT OTTO, geb. 1958, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche
Literatur und Literaturtheorie an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete:
Erinnerungskulturen und ästhetische Formungen mit Schwerpunkten in
den Bereichen Dramen- und Theatergeschichte, deutsch-jüdische Literatur
(Literatur und Shoah), Vormärzliteratur und Gegenwartsliteratur. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen
des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Hg. mit Alo
Allkemper) (2006). – Shoah in der deutschsprachigen Literatur (Hg. mit
Hartmut Steinecke) (2006). – Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur (2007). –
New Readings – Neulektüren (Hg. mit Gerhard P. Knapp) (2009). – “Sprache,
die so tröstlich zu mir kam”. Thomas Valentin in Briefen von und an Hermann
Hesse (mit Dagmar Olasz-Eke) (2011). – Schemata und Praktiken (Hg. mit
Tobias Conradi, Gisela Ecker u. Florian Muhle) (2012). – Poetologisch-
poetische Interventionen – Gegenwartsliteratur schreiben (Hg. mit Alo
Allkemper u. Hartmut Steinecke) (2012). Herausgeber der Zeitschrift für
deutsche Philologie und der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik.

ELIT, STEFAN, geb. 1972, Dr. phil., Akademischer Rat im Fach Neuere deut-
sche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik und Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete:
Literarische Antikerezeption und Übersetzung, Poetik und Sprachpatriotismus
in der Frühen Neuzeit (etwa bei F.G. Klopstock, J.H. Voß d.Ä., J.W.
v. Goethe); Erzählliteratur und Spielfilm in der DDR (v.a. 1960/70er
Jahre), deutschsprachige Gegenwartslyrik (U. Kolbe, D. Grünbein u.a.).
Neuere Veröffentlichungen u.a.: Lyrik. Gattungsgeschichte, Formen,
Analysetechniken (2008). – Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römische
Antike in deutschsprachiger Lyrik und Altphilologie der Gegenwart (Hg. mit
Kai Bremer u. Friederike Reents) (2010). – “. . . notwendig und schön zu wis-
sen, auf welchem Boden man geht”. Arbeitsbuch Uwe Kolbe (Hg.) (2012).
Herausgeber der Buchreihe Die Antike und ihr Weiterleben.

EMMERICH, WOLFGANG, geb. 1941 in Chemnitz, 1958 Übersiedlung in


die Bundesrepublik, Dr. phil., seit 1978 Professor für Neuere deutsche
Literaturgeschichte und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen.
Gastprofessuren in den USA, Paris und Oxford. 1990 Gründung und bis zur
Pensionierung 2006 Leitung des dortigen Instituts für kulturwissenschaftliche
Deutschlandstudien. Arbeitsgebiete: Literatur- und Kulturgeschichte des 20.
Jahrhunderts; Kulturtheorie; Gegenwartsliteratur. Neuere Veröffentlichungen

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u.a.: Kleine Literaturgeschichte der DDR (1982/1989/1996). – Paul Celan.


Eine Monographie (1998). – Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form
der Mythenrezeption (Hg. mit M. Vöhler und B. Seidensticker) (2005). – Eros
und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace (Hg. mit
C. Solte-Gresser und H.-W. Jäger) (2005). – Literatur – Gender – Psychoanalyse
(Hg. mit E. Kammler) (2006). – Gottfried Benn. Eine Monographie (2006). –
Literarisches Chemnitz. Autoren – Werke – Tendenzen (Hg. mit B. Leistner)
(2008).

GALLI, MATTEO, geb. 1960, Dr. phil., Professor für Deutsche Literatur an
der Universität Ferrara/Italien. Arbeitsgebiete: Neuere Deutsche Literatur,
Deutscher Film, Interkulturalität, Literatur und Terrorismus. Neuere
Veröffentlichungen u.a. Edgar Reitz (2006). – Mythos Terrorismus (Hg.
mit Heinz-Peter Preußer) (2006). – Deutsche Gründungsmythen (Hg. mit
Heinz-Peter Preußer) (2008). – “Cronache di Atlantide (1989-2009)”.
In: L’invenzione del futuro, hg. v. Michele Sisto (2009). – Deutsche
Familienromane (Hg. mit Simone Costagli) (2010). Übersetzer aus dem
Deutschen ins Italienische, Werke u.a. von Uwe Timm, Jens Sparschuh,
Volker Braun, Julia Franck.

HELBIG, HOLGER, geb. 1965, Dr. phil., Uwe Johnson-Stiftungsprofessor


für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Rostock.
Arbeitsgebiete: Uwe Johnson-Forschung, Wissenschaftsgeschichte, cultural
studies. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur
nach dem Ende der DDR (Hg.) (2007). – Arbeitsbuch Lyrik (mit Kristin
Felsner und Therese Manz) (2008). Herausgeber des Johnson-Jahrbuchs.

HOFMANN, MICHAEL, geb. 1957, Dr. phil., Professor für neuere deutsche
Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn,
Dissertation zur “Ästhetik des Widerstands” von Peter Weiss, Habilitation
zu Wielands Versepen; Neuere Veröffentlichungen u.a.: Interkulturelle
Literaturwissenschaft (2006). – Der Deutschen Morgenland. Bilder des
Orients in der deutschen Literatur und Kultur 1770-1850 (Hg. mit Charis
Goer) (2008). – Metzler Lexikon DDR-Literatur (Hg. mit Michael Opitz)
(2009).

HORSTKOTTE, SILKE, geb. 1972, Dr. phil., Privatdozentin für Neuere deut-
sche Literatur an der Universität Leipzig. Arbeitsgebiete: Erzählliteratur
des 20. und 21. Jahrhunderts, literarische Visualität, Film und Fotografie,
Erinnerungskulturen, Literatur und Religion sowie Narratologie. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deut-
schen Gegenwartsliteratur (2009). – “Seeing or Speaking: Visual Narratology

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and Focalization, Literature to Film”. In: Narratology in the Age of Cross-


Disciplinary Narrative Research, hg. v. Sandra Heinen u. Roy Sommer
(2009). – “Focalization in Graphic Narrative” (mit Nancy Pedri) (Narrative
19:3, 2011).

JÄGER, ANDREA, geb. 1956, Dr. phil., Professorin für Neuere und neueste deut-
sche Literatur am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg. Sprecherin des interdisziplinären Promotionsstudiengangs
Sprache – Literatur – Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des
19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, insbesondere Literatur und Ästhetik
des Bürgerlichen Realismus, der Weimarer Republik, der DDR und der
Nachwendeliteratur. Promotion zum Dramatiker Peter Hacks, Habilitation
zum Historischen Erzählen bei Conrad Ferdinand Meyer. Neuere
Publikationen u.a.: Masse Mensch. Das “Wir” – sprachlich behauptet,
ästhetisch inszeniert. (Hg. mit Gerd Antos und Malcolm H. Dunn) (2006). –
Religionskritik in Literatur und Philosophie nach der Aufklärung (Hg. mit
Carsten Jacobi und Bernhard Spies) (2007). – Wahrnehmungskulturen.
Erkenntnis – Mimesis – Entertainment (Hg. mit Gerd Antos, Thomas Bremer
und Christian Oberländer) (2008). – Heitere Spiele über den Ausgang der
Geschichte. Peter Hacks und die Komödie im Kalten Krieg (Hg.) (2012).

JÄGER, CHRISTIAN, geb. 1964, Dr. phil., Privatdozent für Neuere deutsche
Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsgebiete: Literatur
um 1800 sowie der Weimarer Republik, Kurzprosa, Nachkriegs- und
Gegenwartsliteratur, Verhältnis von Philosophie und Literatur, Ästhetik-
und Mediengeschichte, Berlin-Darstellungen. Neuere Veröffentlichungen
u.a.: Michel Foucault – Das Ungedachte denken. Entwicklung und Struktur
des kategorialen Zusammenhangs in Foucaults Schriften (1994). – Gilles
Deleuze. Eine Einführung (1997). – Städtebilder zwischen Literatur und
Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik (mit
Erhard Schütz) (1999). – Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen
Literatur am Beispiel prager- und sudetendeutscher Werke (2005).

KRAUSE, STEPHAN, geb. 1975, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas
an der Universität Leipzig (GWZO). Arbeitsgebiete: Ästhetische Schreib-
strategien in der deutschen und ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts
(Schwerpunkte in der Nachkriegs- und Nach-Wende-Zeit), Politik und
Geschlecht in ‘Weltendramen’ des 19. Jahrhunderts. Neuere Veröffentlichungen
u.a.: Topographien des Unvollendbaren. Franz Fühmanns intertextuelles
Schreiben und das Bergwerk (2009). – “Engagement oder Tanz der Begriffe? –
Zu Volker Brauns Gedichtzyklen Totentänze / Liebeslager”. In: Literatur ohne

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Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland, hg. v.


Janine Ludwig, Mirjam Meuser (2009). – “Kép, cserepek és emlékezés – Térey
János és Durs Grünbein ‘drezdai’ lírájáról [Bild, Scherben und Erinnerung –
Zu János Téreys und Durs Grünbeins “Dresdner” Lyrik.] In: Irodalomtörténet
[Literaturgeschichte] (2011/1). – „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen“ –
Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90 (Hg. mit
Friederike Partzsch) (2012). Mitglied der Redaktion von Convivium.

LIERMANN, SUSANNE, geb. 1977, Dr. phil., Referatsleiterin in der


Begabtenförderung der Naumann-Stiftung. Arbeitsgebiete: DDR-Kultur,
v.a. DDR-Literaturgeschichte und Fernsehgeschichte, Literatur des 20.
Jahrhunderts, Literatur und Psychoanalyse. Neuere Veröffentlichungen u.a.: “Die
Vermehrung des Schweigens”. Selbstbilder später DDR-Literatur (2012). –
“Dichter als Propheten. Religiöse Topoi in Wolfs ‘Kassandra’ und Franz
Fühmanns ‘Vor Feuerschlünden’”. In: Kunst, Literatur und Religion –
Ausdrucksformen in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, hg. v. G. Besier
(2008). – “Alltag als Regelverstoß. Maxie Wanders ‘Guten Morgen, Du Schöne’
und die Verfilmungen im DDR-Fernsehen”. In: Alltag. Zur Dramaturgie des
Normalen im DDR-Fernsehen, hg. v. H. Wrage (2006). – “Antifaschismus
als Medium der Auseinandersetzung mit der DDR. Franz Fühmanns Ödipus-
Erzählung und ihre Verfilmungen”. In: Realitätskonstruktion. Faschismus und
Antifaschismus in den Literaturverfilmungen des DDR-Fernsehens, hg. v. R.
Steinlein zus. mit Henning Wrage (2004). – “Der andere Antifaschismus. Die
Funktionalisierung von Frauenfiguren in Filmen über den antifaschistischen
Widerstand”. In: Realitätskonstruktion. Faschismus und Antifaschismus in
den Literaturverfilmungen des DDR-Fernsehens, hg. v. R. Steinlein (2004). –
Das Buch zum Film – der Film zum Buch. Annäherung an den literarischen
Kanon im DDR-Fernsehen (zus. mit Thomas Beutelschmidt und Henning
Wrage sowie Kristian Kißling) (2004).

LUDWIG, JANINE, geb. 1974, Dr. phil., Akademische Direktorin des Dickinson-
in-Bremen-Programms an der Universität Bremen. Arbeitsgebiete:
DDR-Literatur, Heiner Müller, deutsche Gegenwartsliteratur, politische, phi-
losophische und kulturgeschichtliche Aspekte in Literatur, Film und Theater.
Neuere Veröffentlichungen u.a.: Literatur ohne Land? Schreibstrategien
einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland (Hg. mit Mirjam Meuser)
(2009). – Macht und Ohnmacht des Schreibens. Späte Texte Heiner Müllers
(2009). – Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers
in der Bundesrepublik – Rezeption und Wirkung (2009). Stellvertretende
Vorstandsvorsitzende der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft.

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OPITZ, MICHAEL, geb. 1953, Dr. phil., Dozent für Neuere deutsche Literatur
und Theater am IES-Berlin. Arbeitsgebiete: Neuere deutsche Literatur, DDR-
Literatur, Theaterwissenschaften, Walter Benjamin, Franz Hessel, Thomas
Bernhard, Wolfgang Hilbig. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Brecht Lexikon
(Hg. mit Ana Kugli) (2006). – Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen
bis zu Gegenwart (Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
seit 1989, zus. mit Carola Opitz-Wiemers) (2008). – Metzler Lexikon DDR-
Literatur (Hg. mit Michael Hofmann) (2009). – In diesem Land. Gedichte
1990–2010 (Hg. mit Michael Lentz) (2010).

OSTHEIMER, MICHAEL, geb. 1968, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter der


Professur für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an
der TU Chemnitz. Arbeitsgebiete: Antikerezeption, Literaturtheorie, DDR-
Literatur, China-Rezeption, Gegenwartsliteratur. Neuere Veröffentlichungen
u.a.: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen (mit Arne Klawitter)
(2008). – Strahlungen. Literatur um die “Wismut” (Hg. mit Wolfram Ette u.
Jörg Pottbeckers) (2012).

PREUSSER, HEINZ-PETER, geb. 1962, Akademischer Rat an der Universität


Bremen, Leiter des DoktorandInnen-Kollegs Textualität des Films.
Arbeitsgebiete: Neuere und neueste Literaturgeschichte, Ästhetik, Medien,
insb. Filmwissenschaft. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Krieg in den Medien
(Hg.) (2005). – Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren
(Hg. mit Matthias Wilde) (2006). – Literatur inter- und transmedial/Inter-
and Transmedial Literature (Hg. mit David Bathrick) (2012).

SCHÖNEICH, JULIANE, geb. 1978, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der


Universität Osnabrück. Arbeitsgebiete: Gender Studies, Literatur nach 1945,
Literatur der DDR. Neuere Veröffentlichungen u.a.: “Relationale Poesie –
Text.Raum.Sprache bei Barbara Köhler” (mauerschau, Ausgabe 01/2010). –
“Mascha Kaléko und die Grenzen der ‘Neuen Frau’ ”. In: Geschlechterbilder
im Wandel? Das Werk deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1894-1945,
hg. v. Sarah Guddat, Sabine Hastedt (2011). – “GenDer Sprache – Gram.
Zu den Gertrude Stein Übersetzungen Barbara Köhlers” (erscheint 2012
im Tagungsband Performanz, hg. v. H. van Lawick, B. Jirku, M. Wolf). –
“Identitätskonstrukte – Gemeinschaftsformen in Texten ostdeutscher
Autorinnen und Autoren zwischen Erinnern und Erfinden” (erscheint 2012
im Tagungsband Gemeinschaftsformen, hg. v. M. Brink, S. Pritsch).

SCHÖNING, MATTHIAS, geb. 1969, Dr. phil., Privatdozent und Akad. Rat für
Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der

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Universität Konstanz. Arbeitsgebiete: Romantik, Literatur des 20. Jahrhunderts,


insbes. Literatur in realgeschichtlichen Handlungszusammenhängen. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik –
Politik – Zeitgeschichte (Hg. mit Ingo Stöckmann) (2012).

SCHWARZ-SCHERER, MARIANNE, Dr. phil., Lehrbeauftragte für


Literaturwissenschaft an der Universität Rostock. Arbeitsgebiete: DDR-
Literatur, Lyrik, Erzähltheorie, Gattungsästhetik der DDR. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Subjektivität in der Naturlyrik der DDR (1990). –
“Zwischen klassischem Erbe, marxistischer Geschichtsphilosophie und
Strukturalismus: Dieter Schlenstedts Entwurf einer ‘sozialistischen’
Gattungstheorie”. In: Edinburgh German Yearbook 3 (2009).

STILLMARK, HANS-CHRISTIAN, geb. 1954, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter im


Institut für Künste und Medien, Lehrstuhl Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Arbeitsgebiete: Dramen-
und Theatergeschichte, Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt DDR-
Literatur, Poetiken einzelner Autoren. Neuere Veröffentlichungen u.a.:
“Worüber man (noch) nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied sin-
gen”. Texte und Lektüren (Hg. mit Brigitte Krüger) (2001). – Rückblicke
auf die Literatur der DDR (Hg.) (2002). – Lesarten. Beiträge zur Kunst-,
Literatur- und Sprachkritik. (Hg. mit Brigitte Krüger u. Helmut Peitsch)
(2007). – Ein Riss geht durch den Autor. Transmediale Inszenierungen im
Werk von Peter Weiss (Hg. mit Margrid Bircken u. Dieter Mersch) (2009). –
Zukunft aus der Vergangenheit? Zum künstlerischen und kulturellen Erbe
der DDR, Das Argument 295 (Hg. mit Peter Jehle [Koordination], Wolfram
Adolphi, Thomas Pappritz, Klaus Schulte u. Ilse Schütte) (2011).

ULRICH, THOMAS, geb. 1979, Dr. phil. Arbeitsgebiete: Staatsphilosophie


des 18. und 19. Jahrhunderts, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
mit Schwerpunkten in den Bereichen Narratologie, Literatur und
Ideologie. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Anthropologie und Ästhetik in
Schillers Staat (2011). – Lesen und Verwandlung: Lektüreprozesse und
Transformationsdynamiken in der erzählenden Literatur (Hg. mit Steffen
Groscurth) (2011). – “Ernst Moritz Arndts Geist der Zeit als Dokument
deutsch-französischer Erbfeindschaft”. In: Die Saat deutsch-französischer
Erbfeindschaft? – Der Spiegel der deutsch-französischen Beziehungen im
Zeitalter Ludwigs XIV. in der deutschen Literatur und Historiographie nach
1715, hg. v. Jean Schillinger) (2010).

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