Nach Der Mauer Den Abgrund
Nach Der Mauer Den Abgrund
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Amsterdamer Beiträge
83
2013
zur neueren Germanistik
Herausgegeben von
William Collins Donahue
Norbert Otto Eke
Martha B. Helfer
Gerd Labroisse
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“Nach der Mauer der Abgrund”?
(Wieder-)Annäherungen an die DDR-Literatur
Herausgegeben von
Norbert Otto Eke
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Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der
Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber.
Reihen-Herausgeber:
The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO
9706:1994, Information and documentation - Paper for documents -
Requirements for permanence”.
ISBN: 978-90-420-3653-6
E-Book ISBN: 978-94-012-0921-2
©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2013
Printed in The Netherlands
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Inhalt
I. Literaturgeschichtsschreibung
Hans-Christian Stillmark: Zu strukturalistischen und
systemtheoretischen Perspektiven in der germanistischen
Literaturwissenschaft der DDR 29
Wolfgang Emmerich: Zwischen Chronotopos und
Drittem Raum: Wie schreibt man die Geschichte des
literarischen Feldes DDR? 43
Janine Ludwig: Was war und ist DDR-Literatur? Debatten um
die Betrachtung der DDR-Literatur nach 1989 65
Michael Opitz: Was wird von der DDR-Literatur bleiben? 83
Matteo Galli: Post-Staatliche DDR-Literatur in der
Literaturgeschichtsschreibung. Eine Bestandsaufnahme 105
II. Wiedergelesen
Marianne Schwarz-Scherer: Strategien fiktionalen Erzählens –
Sozialistische Gattungspoetik in den Exil-Balladen in der SBZ
1945–1949 121
Thomas Ulrich: Hanns Eislers Johann Faustus und Brechts
Urfaust-Inszenierung als Beispiel der bedingungslosen Kulturpolitik
der Frühphase der DDR 133
Christian Jäger: Bau auf, Bau auf. Zur literarischen
Überlieferungsgeschichte der Anfangsjahre der DDR 147
Stefan Elit: Narrationen der Individualität in der geschlossenen
Gesellschaft? DDR-Gegenwartsprosa und DEFA-Film der
1960er Jahre 161
Michael Hofmann: Der Wilde Osten und der poetische
Süden. Grundlegungen und Modellanalysen zur Reiseliteratur
in der DDR 175
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IV. Lektüren
Stephan Krause: “Das war mein Ort.” – Franz Fühmanns
literarisches Bergwerk 307
Silke Horstkotte: Von Ostrom nach Atlantis. Utopisches in
Uwe Tellkamps Der Turm 323
Andrea Jäger: Die Wiederbelebung des Historismus in der
literarischen Geschichtsschreibung über die DDR. Bemerkungen
zu Uwe Tellkamps Der Turm 343
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Norbert Otto Eke
1
Heiner Müller: Glückloser Engel 2. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 236.
2
Heiner Müller: Der glücklose Engel. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte [wie
Anm. 1]. S. 53.
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8
3
Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften.
Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2. Abhandlungen. Hg. von Rolf
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S.
691–704. Hier: S. 697f.
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9
4
Olaf Briese: Steinzeit. Mauern in Berlin. Illustrationen von Falk Nordmann.
Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 346.
5
Ebd.
6
Ebd. S. 358.
7
Olaf Briese hat in seiner Mauergeschichte acht zeitlich aufeinander folgende
Phasen des Sperranlagenbaus unterschieden (ebd. S. 349–355). In der Logik dieser
Entwicklung stellt die “Grenzmauer 75” die vierte Generation des Mauerbaus dar.
8
So 1982 der damalige Befehlshaber der Grenztruppen, Klaus-Dieter Baumgarten,
zitiert nach Briese: Steinzeit [wie Anm. 4]. S. 356.
9
Heiner Müller [und Klaus Bednarz]: Krieg ohne Schlacht. In: Werke 12. Gesprä-
che 3: 1991–1995. Hg. von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz,
Ludwig Haugk, Christian Hippe, Ingo Way. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S.
276–282. Hier: S. 277f.
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10
reagierten. “Schande”10 sei sie und Notwendigkeit zugleich, ist hier zu lesen.
Und doch stellt sich dem sprechenden Ich des Gedichts die Frage: “Aber das
mich so hält, das halbe / Land, das sich geändert hat mit mir, jetzt / Ist es
sichrer, aber /Ändre ichs noch?”.11 Die Schussstrophe dieses 76 Verse
umfassenden Gedichts lautet dann mit forciert listiger Dialektik, die sich der
Naivität nicht bewusst ist, der sie entspringt:
Aber
Ich sag: es ist Dreck, es steht
In der Stadt unstattlich, der Baukunst
Langer Unbau, streicht das schwarz
Den Schandbau, scheißt drauf
Denn es ist nicht
Eure Schande: zeigt sie.
Macht nicht in einem August
Einen Garten daraus, wälzt den Dreck nicht
Zu Beeten breit, mit Lilien über den Minen
Pflanzt Nesseln, nicht Nelken
Vermehrt nicht, zwischen den seltsamen
Städten, die Rätsel, krachend
Schmückt das Land nicht
Mit seiner Not. Und
Laßt nicht das Gras wachsen
Über der offenen Schande: es ist
Nicht eure, zeigt sie.12
Bilder des Zerfalls – von Ich und Welt, Selbst und Körper, Gegenwart und
Geschichte – markieren in Müllers “Glückloser Engel 2” zwei Jahre nach
dem Fall des Mauer-“Bau[s]” “Zwischen den seltsamen Städten, die den
gleichen /Namen haben”13 (wie es in Brauns Gedicht heißt) eine Erfahrung
der Desillusionierung, die der messianischen Rest-Hoffnung seines ‘alten’
Engel-Textes den Boden entzogen hat. Zwar bleibt das Flügelschlagen des
Engels im ‘Steinschlag’ noch zu hören; ein Subjekt der geschichtlichen
Bewegung (der erlösende Messias bzw. die messianische Erlösungsgemein-
schaft) aber ist für das Ich nicht mehr zu erkennen: “kein Gesicht mehr als /
Deines das ich nicht kenne”.
Der Vers “Nach der Mauer der Abgrund” selbst ist doppelbödig. Mit
ihm öffnet sich ein weiter Assoziationsraum der grundlosen Leere: vom
Abyssos der Johanneischen Apokalypse, aus dem das Ungeziefer und das
10
Volker Braun: Die Mauer. In: Texte in zeitlicher Folge 2. Halle: Mitteldeutscher
Verlag 21993. S. 82-85. Hier: S. 85.
11
Ebd. S. 83.
12
Ebd. S. 84f.
13
Ebd. S. 82f.
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11
“Leichter Regen auf leichtem Staub” ist als Übersetzung einer Übersetzung
(hier von Ezra Pounds “Light rain is on light dust” nach einem Gedicht des
chinesischen Dichters Wang Wei, das Pound seinen “Four Poems of Depar-
ture” vorangestellt hat) ein Gedicht aus Intertexten, dessen Referenzsystem
Gerrit-Jan Berendse im Einzelnen aufgeschlüsselt hat.17 Mit den “Tore[n]
von Go”, einem Bergpass zwischen dem östlichen China und der Mongolei,
der im Verständnis der chinesischen Geschichtsschreiber Zivilisation und
Barbarei, Ost von West, scheidet, evoziert das Gedicht das Bild einer ande-
ren Mauer. An den “Tore[n] von Go” tritt der Reisende auf seinem Weg ins
14
Vgl. Off. 9,1-12; 11,7; 20,1–3.
15
Lk, 16,19–31.
16
Heiner Müller: Leichter Regen auf leichtem Staub. In: Heiner Müller Werke I. Die
Gedichte [wie Anm. 1]. S. 231.
17
Gerrit-Jan Berendse: The Poet in a Cage. On the Motif of Stagnation in Poems by
Heiner Müller and Ezra Pound. In: Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. Hg.
von Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg 1995, S. 249–257.
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Exil aus dem Schatten der großen Mauer, die die chinesischen Machtha-
ber als Sperrwall über Jahrhunderte zum Schutz ihrer Territorien gegen die
feindlichen Barbaren errichtet haben. Jenseits der “Tore von Go”, nach
der Mauer, im Westen also, erwartet den Reisenden aber nichts anderes als
der Tod.
Das setzt nicht Erich Honecker ins Recht, an den das Gedicht adressiert
ist (im Übrigen die einzige Verszeile Müllers selbst), dreht das ‘chinesische’
Gedicht aber nun in eine die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte reflek-
tierende Ost-West-Achse. Von diesem zweiten Mauer-Gedicht Müllers aus
gelesen, erscheint das Jenseits der achtundzwanzig Jahre lang Berlin durch-
ziehenden Mauer im Rückblick als eingezäuntes (eingemauertes) Schutz-
gebiet: Reservoir und Reservat der Utopie, das – und dies in der Einfaltung
einer Opferlogik in die Semantiken der Entfremdung – zum Objekt der
Überwältigung geworden ist (“die fremde Hand am kalten Fleisch”18).
II. Revisionen
Die Müllers Gedicht leitenden Motive der Enttäuschung, des Unterlegen- und
Überwältigtseins bilden das referentielle Grundrauschen zu jener 1990 durch
die Veröffentlichung von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt ausgelösten
Debatte, die als deutsch-deutscher Literaturstreit oder auch als “Literaturstreit
im vereinten Deutschland”19 in die Literaturgeschichte eingegangen ist.20
18
Vgl. zur sexuellen Konnotation des Vereinigungsmotivs in Müllers Gedicht
Marcus Kreikebaum: Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld: Aisthesis 2003. S. 314f.
19
“Es geht nicht um Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland.
Hg. von Thomas Anz. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M.: Fischer 1995.
20
Der deutsch-deutsche Literaturstreit ist im wesentlichen dokumentiert in den
Sammelbänden von Anz (“Es geht nicht um Christa Wolf ” [wie Anm. 19]) sowie Karl
Deiritz und Hannes Krauss (Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder “Freunde, es
spricht sich schlecht mit gebundener Zunge”. Analysen und Materialien. Hamburg:
Luchterhand 1991). Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. u.a.:
Bernd Wittek: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Eine Analyse
des Streits um Christa Wolf und die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur in Zeitun-
gen und Zeitschriften. Marburg: Tectum 1997; Lennart Koch: Ästhetik der Moral
bei Christa Wolf und Monika Maron. Der Literaturstreit von der Wende bis zum
Ende der neunziger Jahre. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2001, sowie die Beiträge von
Stefan Neuhaus (“Kritik einer abstoßenden Welt”? Probleme des literarischen und
des literaturkritischen Diskurses über die DDR in den 1990er-Jahren) und Lothar
Bluhm (Grenzüberschreitungen – Liminalität, Literatur und öffentlicher Diskurs am
Beispiel der publizistischen Auseinandersetzungen um Christa Wolfs Was bleibt) in:
Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ‘geschlossenen Gesell-
schaften’ des Real-Sozialismus. Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R unipress
2009. S. 317–332 und S. 333–342.
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13
21
Karl Deiritz, Hannes Krauss: Ein deutsches Familiendrama. In: Der deutsch-deut-
sche Literaturstreit oder “Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge”
[wie Anm. 20]. S. 7–12. Hier: S. 7.
22
Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe,
neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des west-
deutschen Bewußtseins. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.10.1990; Ulrich Greiner:
Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche
Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit 2.11.1990.
23
Karl Heinz Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR. In: Merkur 500 (1990). S. 1015–
1018. Hier: S. 1017.
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schützenden Kokon des Staates, in dem sie entstanden war, augenblicklich unreif,
bramarbasierend, kitschig und wie Schnee von gestern wirkt24.
Die Literatur der DDR und ihre Vertreter hätten als solche stets “die Idee
gegen die Wirklichkeit”, zugleich damit “ihre gesellschaftliche Schlüsselposi-
tion verteidigt” und “ihre besonderen, partikularen Interessen für allgemeine
ausgegeben”: “Sie waren Dialektiker von hohen Gnaden: Sie haben, um es
pointiert zu formulieren, noch ihr Leiden im und am Sozialismus so darzu-
stellen vermocht, daß es zuletzt eben diesem Sozialismus das Wort redete”.25
Vor dem Hintergrund der literarisch-publizistischen Debatten der 1990er
Jahre (u.a. um Botho Strauß’ Anschwellenden Bocksgesang, Peter Handkes
Serbien-Engagement und Martin Walsers Friedenspreisrede) stellt sich der
deutsch-deutsche Literaturstreit im Rückblick betrachtet – Lothar Bluhm hat
dies mit dankenswerter Nüchternheit herausgearbeitet – heute als lediglich
eine Station im Rahmen des “Justierungs- und Neusituierungsprozesses” dar,
“innerhalb dessen sich das kulturelle Orientierungssystem in Ost- und West-
Deutschland neu zu formieren suchte”.26 Fluchtpunkt der sich etwa einein-
halb Jahre hinziehenden publizistischen Debatte war über ihre verschiedenen
Etappen hinweg in erster Linie dabei das Verhältnis von Politik und Moral,
auch wenn sich die Diskussion nach den ersten, unmittelbar auf die Veröf-
fentlichung von Was bleibt folgenden Angriffen auf das ‘Denkmal’ der Groß-
schriftstellerin Christa Wolf 27 auf eine eher ästhetisch-theoretisch gegründete
Ebene zu verlagern schien. Als solcher ist der Literaturstreit Ausdruck damit
des bereits unmittelbar nach der Wende einsetzenden Ringens um eine den
politischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit angemessene Erinnerung an
die DDR. Mit dem Fall der Mauer, spätestens mit dem Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik, wurde der sozialistische deutsche Teilstaat so zur Konstruk-
tion der Erinnerung freigegeben. Ganz allgemein wurde der Systemwechsel
auf dem Boden der ehemals staatssozialistischen Systeme Osteuropas zum
Auslöser eines Transformations- und Revisionsprozesses standardisierter
Wahrnehmungsmuster und Wirklichkeitsbilder, in dessen Zuge sich gerade
24
Thomas Schmid: Pinscherseligkeit. Vom Elend des neuen deutschen Literatur-
streits. In: Literaturmagazin 29: Verkehrte Welten. Barock, Moral und schlechte
Sitten. Hg. von Martin Lüdke und Delf Schmidt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1992. S. 171-189. Hier: S. 175.
25
Ebd. S. 176f.
26
Lothar Bluhm: Grenzüberschreitungen [wie Anm. 20]. S. 335.
27
Vgl. dazu die Rezensionen von Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl. In: Die Zeit
1.6.1990, und Frank Schirrmacher: “Dem Druck des härteren, strengeren Lebens
standhalten”. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs
Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung “Was bleibt”. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung 2.6.1990.
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15
28
Vgl. zu den Erinnerungskonstruktionen nach 1989 eingehend Carola S. Rudnick:
Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik
nach 1989. Bielefeld: Transcript 2011. Hier auch eine Vielzahl nützlicher Literatur-
hinweise zur Auseinandersetzung mit der DDR nach 1989.
29
Zusammenfassend bes. ebd. S. 732–735.
30
Ebd. S. 731.
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16
31
Das herausgearbeitet zu haben, ist – bei aller Polemik im Einzelnen – das
Verdienst Thomas Schmids. Vgl. Ders.: Pinscherseligkeit [wie Anm. 24]. S. 178f.
32
Anke-Marie Lohmeier: Schriftstellers “Verantwortung” und Autors “Tod”.
Autorkonzepte und offene Gesellschaft am Beispiel des deutsch-deutschen Litera-
turstreits. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. von Heinrich Detering.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2002. S. 557–569. Hier: S. 565.
33
Roland Barthes: Der Tod des Autors (1968). In: Texte zur Theorie der Autorschaft.
Hg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und
Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2000. S. 185–193.
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den aufklärerischen Imperativ, dem auszuweichen sie beide (dem Autor hier,
seinen Adressaten dort) literaturtheoretisch gepflasterte Wege eröffnen”.34
Das erlaube den Schluss – und diese Pointe der Beobachtung birgt den eigent-
lichen Zündstofff der Analyse –, “dass jene traditionsreiche Reserve gegen
die offene Gesellschaft und ihre Ansprüche an die Freiheitsfähigkeit des
Subjekts in beiden virulent ist”.35 Lohmeier kritisiert von hier aus (und mit
Recht) ein Zweifaches: die mangelnde Einsicht vieler DDR-Intellektueller in
den letztlich totalitären Kern ihres Utopismus und ihre Blindheit gegenüber
der Offenheit pluralistischer Gesellschaftskonzepte einerseits, die letztlich zu
kurz greifende Ursachenforschung für dieses Versagen bei den Wortführern
des neuen deutschen Literaturstreits andererseits:
Dass sie [gemeint ist hier Christa Wolf] und mit ihr die Vertreter der “Utopie”
nicht vermochten, “die moderne Gesellschaft als kompliziertes System konkur-
rierender Gruppen zu verstehen”, mithin auch den letzthin totalitären Kern ihrer
“Utopie” nicht erkannten, ist ohne Frage richtig (und hätte der westlichen Lite-
raturkritik auch schon früher auffallen können). Die Gründe dafür aber in ihrem
“autoritären Charakter”, in einem (von Wolf selbst diagnostizierten) “Hang zu Ein-
und Unterordnung” zu suchen, wie Frank Schirrmacher in jenem Artikel unter-
nahm, mit dem der “Literaturstreit” im Juni 1990 begann, trifft das Problem nicht,
enthüllt sich vielmehr als zweckrationales Argument, das den Versuch stützen
soll, die Überlegenheit der westlichen Intelligenz zu behaupten, freiweg nach dem
Motto: Während die Intellektuellen/West (schon seit den fünfziger Jahren!) über
die sichere Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Pluralismus verfügten, per-
petuierten die Intellektuellen/Ost die Fehler der alten intellektuellen Eliten “von
Kaiserzeit und Drittem Reich” und schrieben so “das längst abgeschlossen
geglaubte Unglücksverhältnis des deutschen Intellektuellen mit der Macht bis in
die Gegenwart fort”.36
III. Re-Lektüren
Leicht aus dem Blick gerät angesichts der Aufgeregtheiten und der polemi-
sche Verve der unterschiedlichen Bilanzierungs-, Abwicklungs- und Legi-
timationsversuche, dass mit dem Fall der Mauer und dem Beitritt der DDR
zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes am 3.
Oktober 1990 einerseits die Literatur der DDR, andererseits aber auch dieje-
nige der Bundesrepublik in gewisser Weise ‚historisch’ geworden ist – auch
wenn mit dieser Einsicht in das Ergebnis der politischen Geschichte nicht
34
Lohmeier: Schriftstellers “Verantwortung” und Autors “Tod” [wie Anm. 32].
S. 558.
35
Ebd. S. 558.
36
Ebd. S. 560.
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18
eo ipso die akademisch scheinende Frage als solche erledigt wäre, ob eine
Scheidung beider deutscher Literaturen nach ästhetischen, thematischen oder
auch Kriterien einer spezifischen ‘Ortsgebundenheit’37 überhaupt jemals
möglich war – genauso wenig wie im Übrigen die von Wolfgang Emmerich
in seinem Beitrag zu dem vorliegenden Band aufgeworfene Frage beantwor-
tet ist, “was in den seither vergangenen zwei Dekaden eigentlich geschehen
ist und wie ‘DDR-Literatur’ in dem neuen mixtum compositum deutschspra-
chiger Literatur 1990 bis 2010 vorkommt”. Rainer Rosenbergs Prognose aus
dem Jahre 1995, in Zukunft werde man das, “was in den Grenzen dieses Staa-
tes geschrieben wurde” wohl kaum noch als “eine eigenständige deutschspra-
chige Literatur neben der westdeutschen oder österreichischen” verhandeln,38
zumindest hat sich so nicht bewahrheitet, im Gegenteil. Mehr als je zuvor
scheint überdies heute fraglich, was unter ‘DDR-Literatur’ verstanden werden
kann.
Bereits in den 1980er Jahren hatte der Schriftsteller Erich Loest “vier
Arten von DDR-Literatur” zu unterscheiden vorgeschlagen: eine im Westen
weithin unbeachtete systemkonforme Literatur, eine (in Maßen) system-
kritische, in Ost und West gleichermaßen veröffentlichte Literatur, eine auf
dem Boden der DDR entstandene, aber nahezu ausschließlich im Westen
veröffentlichte Literatur und eine von geflohenen oder ausgebürgerten
Autorinnen und Autoren geschriebene, die DDR gleichsam vom ‘Exil’ her
beschreibende Literatur.39 Die Sache ist seitdem nicht einfacher gewor-
den, besagt doch der politische Kontinuitätsbruch von 1989/90 ungeachtet
aller ökonomischen, administrativen, sozialen und mentalen Konsequenzen
für sich genommen erst einmal nichts über die Fortsetzung oder das Abbre-
chen literarischer Traditionen: Ebenso wenig wie 1945 gab es 1989/90 eine
‘Stunde Null’, d.h. einen Neuanfang in völliger Voraussetzungslosigkeit,
sehr wohl aber durchaus unterschiedlich gelagerte Versuche poetologischer
und ästhetischer Selbstverständigungen, eingeschlossen darin das Bemü-
hen darum, die Rolle der Literatur im sozialen Raum neu zu bestimmen.
37
Vgl. dazu Ursula Heukenkamps Plädoyer für eine ‘Regionalisierung’ der DDR-
Literatur – Ursula Heukenkamp: Ortsgebundenheit: Die DDR-Literatur als Variante
des Regionalismus in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Weimarer Beiträge 42.1
(1996). S. 30–53.
38
Rainer Rosenberg: Was war DDR-Literatur? Die Diskussion um den Gegenstand
in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für
Germanistik NF 5.1 (1995). S. 9–21. Hier: S. 19.
39
Erich Loest: Leipzig ist unerschöpflich. Über die vier Arten von DDR-Literatur
heute. Vorlesung, gehalten am 17.12.1984 an der Universität Paderborn. Pader-
born: PUR [2005].
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19
Obendrein ist auch die Zu- und Einordnung der nach 1989/90 entstandenen
sogenannten ‘Post-DDR’-Literatur ungeklärt (vgl. dazu insbesondere den
Beitrag Gallis im vorliegenden Band). Die naheliegende raumzeitliche His-
torisierung des Paradigmas ‘DDR-Literatur’ anhand der politischen Ereig-
nisgeschichtsgeschichte und damit ihre Bindung an die staatliche Formation
‘DDR’ unter Einschluss der SBZ (1945/49-1989/90) reduziert die Literatur
unzulässiger Weise auf eine systemische Funktion und blendet aus, dass sich
ästhetische Verfahrensweisen, Ausdrucksformen und Strukturmuster genauso
wenig wie mentale Traditionen und Einstellungen nicht allein mit einer
Abstimmung im Parlament erledigen (lassen).
Epochenbegriffe (und um einen solchen handelt es sich ja bei dem Begriff
‘DDR-Literatur’ in der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung) sind dadurch
bestimmt, dass sie halbwegs stabile Ensembles von Methoden, Techniken und
Ideen, von politischen, ideengeschichtlichen und ästhetischen Bedingungen
als Einheit (re-)konstruieren, was im literarhistorischen Fall nichts anderes
heißt als: eine Menge von Texten weist für einen bestimmten Zeitraum eine
Reihe beschreibbarer Gemeinsamkeiten auf; zugleich sind, was ihre Darstel-
lungsweisen oder die dargestellten Welten betrifft, die Unterschiede zwischen
ihnen geringer als zu den Texten eines anderen Zeitraums, die sich ihrerseits
in ihren Gemeinsamkeiten von den Texten des ersten Zeitraums (und weite-
rer Zeiträume) abheben. Nichts davon allerdings zeichnet die vermeintliche
Epochenbezeichnung ‘DDR-Literatur’ aus. Zu Recht haben die Herausge-
ber des 2009 erschienenen Metzler Lexikons DDR-Literatur, Michael Opitz
und Michael Hofmann, bereits in ihrer Band-Einleitung auf Divergenzen,
aber auch (seit den 1970er Jahren zunehmende) Konvergenzenzwischen bei-
den deutschen Literaturen40 verwiesen und vom als solchem inhomogenen
Charakter der “in der DDR geschriebene[n] Literatur”41 gesprochen. Viel-
leicht ist ja angesichts dessen eine pragmatische Verwendung des Begriffs
‘DDR-Literatur’, wie Wolfgang Emmerich sie 1996 vorgeschlagen und
Michael Opitz sie 2009 noch einmal bekräftigt hat, nach wie vor in der Tat
gegenwärtig die einzig probate Möglichkeit, mit dem Problem umzuge-
hen. Der vorliegende Band zumindest folgt in seiner Konzeption dieser von
Emmerich und Opitz vertretenen pragmatischen Bestimmung des Paradigmas
‘DDR-Literatur’. “Wer an Multiperspektivität interessiert ist”, so Emmerich
seinerzeit, “wird auch den Begriff DDR-Literatur nicht künstlich eindeutig
40
Michael Opitz, Michael Hofmann: Vorwort. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur.
Autoren – Institutionen – Debatten. Hg. von Dens. unter Mitarbeit von Julian
Kanning. Stuttgart-Weimar: Metzler 2009. S. V-VII. Hier: S. VI.
41
Ebd. S. V.
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20
machen, sondern beharrlich offenhalten. Der Begriff war, sofern man nicht an
die Linie der SED gebunden war, nie klar umrissen”.42
Wie immer man es auch wenden will: Auch wenn die Vereinigung der bei-
den deutschen Staaten für die bundesdeutsche Literatur in ihren Konsequen-
zen zunächst auch kaum spürbar gewesen sein mag, die DDR-Literatur traf
die Zäsur des 3. Oktober unabhängig von der jeweiligen Selbstpositionierung
der Autorinnen und Autoren im Hinblick auf die politische Systemkonkurrenz
ins Mark ihres Selbstverständnisses, ging ihr mit dem Ende des realexistie-
renden Sozialismus doch der primäre kulturelle und politische Resonanzraum
(positiv wie negativ) abhanden, und dies ungeachtet dessen, dass die anfäng-
lich getrennten Kommunikationsträume ‘BRD’ und ‘DDR’ seit den 1960er
Jahren zunehmend aufeinander reagiert hatten. Carsten Gansel hat in diesem
Sinn im Hinblick auf die Erweiterung ästhetischer und thematischer Standards
innerhalb der DDR-Literatur auf Rückkoppelungs- und Verstärkereffekte
hingewiesen, die sich aus dem Nebeneinander der Kommunikationsräume
ergeben haben und es zumindest Autoren und Autorinnen der DDR in einer
spezifischen ‘double bind’-Situation ermöglich hatte, symbolisches Kapital
in beiden Gesellschaftsystemen aufzubauen.43 Ich selbst habe an einem
Fallbeispiel, der Auseinandersetzung mit der Shoah seit den späten 1970er
Jahren, dieses Wechselspiel als Diskursverschränkung und -vermischung
beschrieben.44 Entscheidend dabei ist: Der DDR-Literatur bzw. ihren
Akteuren ging nicht nur die spezifische ‘Ökonomie der Aufmerksamkeit’, ohne
die sich symbolisches Kapital nicht erzeugen lässt, verloren; sie büßte auch
in entschiedener Weise ihre Gegenwärtigkeit als Instanz der Beobachtung
eines Felds symbolischer Machtkämpfe und als Austragungsort eben die-
ser Machtkämpfe im Rahmen eines offenen Prozesses ein, was sich für nicht
42
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 21997. S. 21. Michael Opitz: DDR-Literatur (Begriff).
In: Metzler Lexikon DDR-Literatur [wie Anm. 40]. S.72f. Hier: S. 73. Vgl. zu die-
ser Diskussion insbesondere auch den Beitrag von Janine Ludwig im vorliegen-
den Band sowie den von ihr und Mirjam Meuser verfassten einleitenden Aufsatz
“In diesem besseren Land – Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generatio-
nen engagierter Literaten” in: Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-
Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig und Mirjam Meuser.
Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009.
Hier: S. 11–71, bes. S. 26–39.
43
Carsten Gansel: Rhetorik der Erinnerung – Zu Literatur und Gedächtnis in den
‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In:
Rhetorik der Erinnerung [wie Anm. 20]. S. 9–16. Hier: S. 12.
44
Norbert Otto Eke: Konfigurationen der Shoah in der Literatur der DDR. In: Shoah
in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke.
Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 85–106.
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21
45
Volker Braun: Das Eigentum. In: Texte in zeitlicher Folge 10. Halle 1993. S. 52.
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22
46
Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen Lite-
ratur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik NF 5.1
(1995). S. 22–37. Hier: S. 36.
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23
47
Heiner Müller [und Uwe Wittstock]: Der Weltuntergang ist zu einem modischen
Problem geworden. In: Werke 10. Gespräche 1: 1965-1987. Hg. von Frank Hörnigk.
Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe, Ingo
Way. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 364–374. Hier: S. 372.
48
Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur
öffentlichen Inszenierung. München: C. H. Beck 2007.
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24
Begegnung von Spiel und Schrift (das Drama im engeren Sinn) ist sie 2.
zugleich Feld subjektiver Verschiebungen und Verformungen von (vergan-
gener und gegenwärtiger) Wirklichkeit, Kraftfeld mithin eines Prozesses,
in dem Zeit (Vergangenheit und Gegenwart) einer Identitäten setzenden
Umschrift unterliegt. Literatur ‘beobachtet’ und will in den Operationen des
Beobachtens ihrerseits selbst beobachtet werden. Carsten Gansel hat in der
Einleitung des erwähnten Bandes Rhetorik der Erinnerung diese doppelte
Bedeutung der Literatur im Hinblick auf die Konstitutions- und Konstruk-
tionsweisen des kollektiven Gedächtnisses und die in einer Gesellschaft
wirksamen Erinnerungspolitiken herausgearbeitet. Literatur, heißt es hier,
sei “erstens ein Medium [. . .], über das in Form von narrativen Inszenie-
rungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das
kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden” und von hier aus sage “die
Art und Weise der narrativen Inszenierung in literarischen Texten” auch
etwas “über die in einer Gesellschaft funktionierenden Prozesse der
Gedächtnisbildung”. Zum zweiten würden “in literarischen Texten indivi-
duelle, generationenspezifische sowie kollektive Formen von Erinnerung
gewissermaßen ‘abgebildet’ und damit wiederum beobachtbar”.49
Diese knappen Überlegungen entwerfen weniger Verfahren einer metho-
disch regulierten Beschäftigung mit der nach 1945 entstandenen deutschen
Literatur, als dass sie anschlussfähige Hypothesen für eine Re-Lektüre der
deutschen Literatur in den Jahren der politischen Teilung zu formulieren
suchen, die exkludierende, normative und kanonisch orientierte Wertungs-
kriterien auf den Prüfstand stellt. Sie wollen zugleich die Entwicklung eines
Modells ästhetischen Vermögens anregen, das der Selbstpositionierung der
Autoren in ihrem jeweiligen literarischen Feld Rechnung trägt.
IV. (Wieder-)Annäherungen
Damit ist der Rahmen skizziert, in dem die Beiträge des vorliegenden
Bandes zum einen Fragen der Literaturgeschichtsschreibung zur Diskussion
stellen und den Formierungen normativen Handelns im Umgang mit Literatur
und damit den Voraussetzungen von Wertungen innerhalb der Literaturge-
schichtsschreibung, ihren Bedingungen, Ausprägungen, Konzepten und ihrem
Wandel nachgehen (Stillmark, Emmerich, Ludwig, Opitz, Galli). Zur Diskus-
sion stehen mit ihnen zum anderen – beginnend mit einer kritischen Inspek-
tion der in zeitlicher Nähe zum Kriegsende entstandenen Literatur bis zu den
Prosatexten und DEFA-Filmen der 1960er Jahre – Fragen der Gattungsent-
wicklung und Beobachtungen zu diskursiven Leitvorstellungen, ästhetischen
49
Gansel: Rhetorik der Erinnerung [wie Anm. 43]. S. 10.
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I. Literaturgeschichtsschreibung
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Hans-Christian Stillmark
1.
Hin und wieder eignet sich einem Thema das Anekdotische. So auch hier
und jetzt, wenn vom Strukturalismus die Rede sein soll. Als die Comics noch
Bildgeschichten hießen, bin ich aufgewachsen u. a. mit Meister Nadelöhr,
Mäxchen Pfiffig und Ritter Runkel von Rübenstein. Der Platz für die Zukunft
war in der FRÖSI,1 einer Zeitschrift meiner Kindheit, durch Atomino reser-
viert. Dass Atomino2 aus Italien, genauer aus der L’Unità, der Zeitung der
damaligen italienischen Kommunisten kam, ist mir erst seit kurzem bewusst.
Atomino war ein schwarzes Männlein mit einer Antenne auf dem Kopf, das
auf seinem Gewand ein Atommodell hatte, einen Atomkern, um das die
Elektronen schwirrten. Zweifellos sollte Atomino meine polytechnische
Bildung befördern. Das einzige Atomkraftwerk der DDR bei Rheinsberg
stellte ich mir sehr aufgeräumt und sauber vor. Es war ein durch und durch
positiv besetzter Raum. Atomkraft und Kosmonautik erfüllte in meiner
Schule, die 1961 mit dem Namen Juri Gagarin eröffnet wurde, ohnehin das
‘lichte Morgen’. In meiner Berufsausbildung zwischen 1970 und 1973 hatte
ich als Maschinen- und Anlagenmonteur mit Abiturausbildung u. a. solche
Fächer zu absolvieren wie Elektronik und BMSR-Technik (Betriebs-, Mess-,
Steuerungs- und Regeltechnik), worin ich mit Grundlagen der Kybernetik, der
1
FRÖSI war die gängige Abkürzung der DDR-Kinderzeitschrift Fröhlich sein und
singen, die seit 1953 monatlich bis 1990 erschien. Herausgegeben wurde sie von
der Pionierorganisation “Ernst Thälmann”. Sie diente der Unterstützung der poly-
technischen Bildung und der kommunistischen Erziehung der Kinder.
2
Vgl. http://www.ddr-comics.de/atominos.htm. Downloaded 12.11.2010.
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31
2.
Vom Strukturalismus zu reden, heißt über verschiedene Entwicklungsimpulse
und unterschiedliche Zentren zu sprechen. Es gehört bekanntlich die forma-
listische Programmatik der russisch-sowjetischen Moderne (Propp, Jakobson,
Tynjanow, Eichenbaum, Schklowski) dazu, es ist nötig über die linguisti-
sche Prager Schule zu reden (Jakobson, Trubetzkoj, Mukařovski), es sind die
ethnologisch-soziologischen Ansichten Claude Levy-Strauss’ und deren
Varietäten zu nennen. Hjemslev und Ingarden sind als Strukturalisten auch für
die literaturtheoretische Debatte der DDR von Bedeutung. Es sind die semio-
logischen Bestrebungen der französischen Moderne zu erwähnen, die die
strukturalistische Theorie in die poststrukturalistische Wende transformierten.
Julia Kristeva, Roland Barthes, Michel Foucault, Jean Baudrillard müssen hier
als programmatische Stichworte genügen. Sie hatten gewiss unterschiedliche
Relevanz für die Entwicklung in der DDR. Ich werde daher hier nur einige
Quellen des Strukturalismus, die aus meiner Sicht für die germanistische
Literaturwissenschaft der DDR Einfluss besaßen, beleuchten. Dabei kommt
es mir auf die unterschiedlichen Zugänge an, die eher als Umwege und auch
als Entfernungen lesbar sind.
Zunächst ist es eigenartig: Manfred Bierwisch, der Sprachwissenschaftler
und Studienfreund Uwe Johnsons, war es, der für die textwissenschaftliche
Linke in der Bundesrepublik das Interesse am Strukturalismus mitinitiierte.
In dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch Nr. 5
beförderte er 1966 die strukturalistische Wende in der Bundesrepublik. Sein
einführender Beitrag über den Strukturalismus3 half mit die damals dominan-
ten konventionellen Standpunkte der westdeutschen Geisteswissenschaft zu
überwinden. Bierwisch selbst war zwischen 1962 und bis zur deren Zwangs-
auflösung 1973 an der Arbeitsstelle “Strukturelle Grammatik” der Akademie
der Wissenschaften unter dem hochtalentierten Ausnahmeforscher Wolfgang
Steinitz (1905–1967) tätig gewesen. Der Finnougrist Steinitz war über Stock-
holm aus dem sowjetischen Exil den Säuberungen Stalins entkommen. Er
hatte in dieser Zeit Roman Jakobson und dessen strukturalistische Standpunkte
kennengelernt. Eine Spur seiner sprachwissenschaftlichen Forschungen zum
Volk der Chanten führte Steinitz nach Tartu, wo er 1939 seine Studien bei Paul
Ariste publizierte. Tartu war wiederum etwas später die Hochburg der Kul-
tursemiotik in der Sowjetunion, die mit dem Namen Juri Lotman internatio-
nale Wirkung erlangte. Steinitz’ Forschungen zum demokratischen Volkslied
3
Manfred Bierwisch: Strukturalismus. Geschichte, Methoden, Probleme. In: Kursbuch
(1966) H. 5. S. 77–152.
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32
4
Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft.
Hg. von Helmut Kreuzer und Rul Gunzenhäuser. München: Nymphenburger
Verlag 1965. Darin Beiträge von Roman Jakobson, Samuel R. Levin, Manfred
Bierwisch, Klaus Baumgärtner, Gustav Herdan, Wilhelm Fucks, Josef Lauter,
Helmut Praschek, Elisabeth Walther, Franz Schmidt, Hardi Fischer, Norbert Ulrich,
Karl Knauer, Jiri Levy, Helmut Lüdtke, Ivan Fönagy, Lubomir Dolezel, Max Bense,
Felix von Cube, Waltraud Reichert, Wolfgang Klein, Ulrike Jeanrond. Bierwischs
Beitrag trug den Titel: Poetik und Linguistik. In: Ebd. S. 49–66.
5
Wilhelm Schmidt: Deutsche Sprachkunde. Paderborn: IFB Verlag. 8., bearb. Aufl.
2008. – Ders.: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanisti-
sche Studium. Stuttgart: Hirzel. 10. verb. und erw. Aufl. 2007.
6
Vgl. Jens Wurche: Marx und Engels in der DDR-Linguistik: zur Herausbildung
einer “marxistisch-leninistischen Sprachtheorie”. Frankfurt a.M.: Lang 1999.
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33
7
Vgl. Funktionale Sprachbeschreibung in der DDR zwischen 1960 und 1990.
Beiträge zur Bilanz und Kritik der “Potsdamer Richtung”. Hg. von Karl-Heinz Siehr,
Horst Ehrhardt, Elisabeth Berner. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1997. In diesem Band,
der sich aus der Perspektive der Lehrerbildung mit den linguistischen Positionen
kritisch auseinandersetzt, ist im Beitrag von Horst Ehrhardt (“Wilhelm Schmidt und
die funktionale Schule”, ebd. S. 49 ff.) eine Biografie Schmidts zitiert. Der Band ist
überaus verdienstvoll in seiner Aufarbeitung sprachwissenschaftlicher Kontroversen
um die überaus einflussreiche “Potsdamer Schule”.
8
Vgl. ebd. sowie Manfred Bierwisch: Grammatikforschung in der DDR: Auch ein
Rückblick. In: Linguistische Berichte 139. Tübingen: Niemeyer 1992. S. 169–181.
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34
9
Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Hg. von
Michael Opitz und Michael Hofmann. Stuttgart-Weimar: Verlag J. B. Metzler 2009.
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35
10
Funktion der Literatur. Aspekte – Probleme – Aufgaben. Hg. von Dieter
Schlenstedt, Brigitte Burmeister, Ilse Idzikowski und Dieter Kliche. Berlin:
Akademie-Verlag 1975.
11
Rita Schober: Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique,
speziell bei Roland Barthes. Halle a.d.S.: Mitteldeutscher Verlag 1968.
12
Lediglich ein Exemplar der Arbeit ist in der Universitätsbibliothek Rostock zu
finden.
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37
4.
Wie erwähnt, lässt sich ab den frühen 1970er Jahren ein Abbruch in der
Rezeption des strukturalistischen Ansatzes beobachten und es dauerte einige
Zeit, bis sich eine neue Phase der strukturalistisch arbeitenden Literaturwis-
senschaftler deutlich in der Öffentlichkeit artikulierte. Der Machtwechsel
innerhalb der SED von Ulbricht zu Honecker äußerte sich in dramatischer
Weise auch im Hinblick auf das kulturelle Leben. Es ist dabei ein eigenar-
tiger Widerspruch zu konstatieren, der in einer kulturpolitischen Öffnung
und einer spürbaren Abnahme des direkten Drucks auf die Künstler und ihre
Verbände durch die SED bestand. So wurde in offiziellen Parteiverlautba-
rungen weitgehend darauf verzichtet, Werke zu loben oder zu verdammen,
wie es noch unter Ulbricht üblich war. Die Folgen dieser Bewertungen liefen
wohl der SED-Führung selbst aus dem Ruder. Zudem war Honecker selbst zu
wenig an kulturell-künstlerischen Debatten interessiert, um in diese offensiv
einzugreifen und etwa Richtungskorrekturen vorzunehmen. In der gegenläu-
figen Richtung kam es zu einer energischen Positionskorrektur, die rigoros
mit innovativen Wissenschaftskonzepten und ganzen Wissenschaftsdiszipli-
nen verfuhr. So wurden bspw. die Soziologie, die Kybernetik und auch die
Systemtheorie von einem Tag auf den andern zurückgepfiffen oder nahezu
abgeschafft. Das betraf auch laufende Qualifikationsverfahren, die schlagar-
tig abgebrochen wurden. Das genannte Beispiel Staszaks verlief dabei noch
glimpflich, für andere bedeutete der neue Kurs in der Parteipolitik sogar das
Ende der wissenschaftlichen Karriere.
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Es dauerte aber kein Jahrzehnt bis sich bei den in Halle arbeitenden Gott-
hard Lerchner und Hans-Georg Werner wiederum ein interessanter Rekurs
auf die strukturalistische Tätigkeit deutlich erkennen ließ. Gemeinsam mit der
in der DDR einzig tätigen literatursoziologischen Gruppe um Dietrich
Sommer entwickelten der Linguist Lerchner sowie der Literaturhistoriker
Werner sozusagen im Schatten der Biermann-Affäre eine aufsehenerregende
interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mit ihren Publikationen über Funktion
und Wirkung (1978),13 Leseerfahrung Lebenserfahrung (1983),14 Sprachform
von Dichtung (1984),15 Text und Dichtung (1984)16 gingen sie überaus
souverän auf strukturalistische Konzepte der internationalen Entwicklung
ein. Um den gewandelten Umgang und auch die gewachsene Souveränität
mit bis dato als nichtmarxistisch geltenden wissenschaftlichen Standpunkten
zu kennzeichnen, zitiere ich exemplarisch aus einer Fußnote von Hans-Georg
Werners Arbeit “Probleme der semantischen Analyse von Theodor Storms
‘Schimmelreiter’ ”: “Das auf A. J. Greimas [. . .] zurückgehende Modell der
semantischen Achse als Gliederungssystem eines sprachlichen Thesaurus
hat sich auch in der Praxis marxistisch-leninistischer Sprachforschung
bewährt”.17 Lerchner und Werner bauten in ihr Konzept eine Vielzahl von
theoretischen Prämissen ein, die keineswegs aus der bis dahin ‘gesicherten’
marxistischen Perspektive stammten. So waren die Sprechakttheorie (Austin,
Grice), die sprachkommunikative Handlungstheorie (Morris und Pike), die
Psycholinguistik (Bierwisch, Leontjev), die Semiotik (Eco), die Kulturanthro-
pologie (Assmann, Schlieben) und die Kultursemiotik (Lotman, Mukařovski)
vor allem von Lerchner aufeinander bezogen worden, um seine Sicht auf
den dichterischen Text und das Werk genauer zu fassen. Mit Hans-Georg
Werner, der ein spezifisches Verständnis von Geschichtlichkeit der Literatur
betonte – dies war ein überaus geschickter Einwand gegen den Vorwurf des
Ahistorischen bei der strukturalistischen Analytik – untersuchten beide
Zeichenstrukturen und Formalstrukturen poetischer Texte. Sie unterschieden
13
Funktion und Wirkung. Soziologische Untersuchungen zur Literatur und Kunst.
Hg. von Dietrich Sommer u.a. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1978.
14
Leseerfahrung Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen. Hg. von
Dietrich Sommer u. a. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1983.
15
Gotthard Lerchner: Sprachform von Dichtung. Linguistische Untersuchungen zu
Funktion und Wirkung literarischer Texte. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1984.
16
Hans-Georg Werner: Text und Dichtung – Analyse und Interpretation: Zur
Methodologie literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Berlin-Weimar: Aufbau-
Verlag 1984.
17
Hans-Georg Werner (zusammen mit Gotthard Lerchner): Probleme der
semantischen Analyse von Theodor Storms „Schimmelreiter“ In: Hans-Georg
Werner: Text und Dichtung. Siehe Anm. 16, S. 385.
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den Text vom Werk sowie die Analyse von der Interpretation in einer pronon-
cierten Weise und setzten sich dezidiert mit der Problematik der begrifflichen
Unschärfe zwischen diesen Räumen auseinander.
5.
Neben der Einschleusung per Auseinandersetzung mit der bürgerlichen
Ideologie bis zur Übernahme wissenschaftlicher Standpunkte der interna-
tionalen Entwicklung und ihrer interdisziplinären Ausbreitung gab es auch
phasenweise eine gewollte Innovation, die sich anschickte, das 19. Jahrhun-
dert wissenschaftlich hinter sich zu lassen. Ich möchte hier nur ansatzweise,
jedoch zugleich nachdrücklich auf die kaum noch erinnerte systemtheoreti-
sche Perspektive der DDR-Gesellschaftswissenschaft aufmerksam machen.
Dazu ist noch einmal in der Entwicklung der DDR in die frühen 60er Jahre
zurückzugehen: Waren bis zum Tode Stalins die Kybernetik und Systemthe-
orie als idealistische Spielarten der bürgerlichen Ideologie verdammt worden,
so wurde in den 60er Jahren eine systemtheoretische Aufrüstung betrieben,
die bis zu Ulbrichts Ablösung anhielt. Es ereignete sich in dieser Zeit eine
Favorisierung der wissenschaftlich-technischen, bisweilen auch technizis-
tischen Entwicklung, die auch die kulturellen und geistigen Grundlagen der
Gesellschaft erfasste und diese auch per Parteibeschluss erreichen sollte.
Auf marxistischer Grundlage wurden von dem Philosophen Georg Klaus in
seinen Büchern Kybernetik in philosophischer Sicht (1964), Kybernetik und
Gesellschaft (1965) und Kybernetik und Erkenntnistheorie18 (1966) Versuche
unternommen, die Erkenntnisse der sich entwickelnden Querschnittswissen-
schaft nicht nur auf die Rechentechnik, die Automatisierung der Produk-
tion, sondern auch auf die materialistische Erkenntnistheorie und eigentlich
die gesamte gesellschaftliche Praxis anzuwenden. Interessanterweise bezog
sich Klaus nicht auf Oskar Wiener, sondern auf Klaus Steinbuch und dessen
Schrift Automat und Mensch von 1961.19 Daneben wiesen seine Bücher auch
das Studium der Schriften von Heinz von Foerster und von Gotthard Günther
aus. Neben der Verbeugung in Richtung der Sowjet-Wissenschaft in Form von
I. I. Arbolewski, W. D. Moissejew und A. A. Wischnewski ging Klaus auch
auf Claude E. Shannon zurück, bekanntlich einer der wesentlichen Anreger
18
Zu den genannten Büchern von Georg Klaus sind noch Einführung in die
formale Logik (1958) – Moderne Logik (1964) – Semiotik und Erkenntnistheorie
(1963) – Die Macht des Wortes (1964) und seine Spezielle Erkenntnistheorie (1965)
hinzuzufügen. Sie erschienen sämtlich teilweise in mehreren Auflagen im VEB
Deutschen Verlag der Wissenschaften.
19
Vgl. Karl Steinbuch: Automat und Mensch. Berlin-Göttingen-Heidelberg:
Springer 1963.
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40
20
Manfred Peschel: Regelung im menschlichen Organismus. In: Der Mensch als
Regler. Eine Sammlung von Aufsätzen. Hg. von Winfried Oppelt und Gerhard Vossius.
Berlin: Verlag Technik 1970.
21
Vgl. Horst Redeker: Abbild und Aktion. Versuch über die Dialektik des Realismus.
Halle a.d.Saale: Mitteldeutscher Verlag 1966.
22
Georg Klaus: Spieltheorie in philosophischer Sicht. Berlin: VEB Deutscher Verlag
der Wissenschaften 1968.
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41
23
Heiner Müller: Ein Diskussionsbeitrag. In: Ders.: Die Schlacht / Traktor / Leben
Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Berlin: Henschelverlag
1977. S. 105.
24
Vgl. Michael Franz: Literarische Zeichensituation und poetologischer Bildbegriff.
In: Weimarer Beiträge (1968) H. 4. S. 715–753.
25
Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt, Karlheinz Barck, Dieter Kliche, Rosemarie
Lenzer: Gesellschaft Literatur Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht.
Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1973.
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26
Dieter Schlenstedt: Entwicklungslinien der neueren Literatur der DDR. In: Positi-
onen 5. Wortmeldungen zur DDR-Literatur. Hg. von Hinnerk Einhorn und Eberhard
Günther. Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1989. S. 34.
27
Ebd. S. 8.
28
Ebd. S. 10.
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Wolfgang Emmerich
I.
Am häufigsten wurde einem als Erforscher der DDR-Literatur in der
Wendezeit die Frage gestellt, ob man jetzt nicht arbeitslos würde, wo doch
das Sammelgebiet DDR-Literatur abgeschlossen sei. Wäre aus dieser mit
Verlaub strohdummen Frage ein Forschungskriterium abzuleiten, dann wäre
jegliche Bemühung um Literaturgeschichte müßig, waren doch alle Sammel-
gebiete, heißen sie nun Minnesang, Barock, Expressionismus, NS-Literatur
oder eben DDR-Literatur, irgendwann einmal abgeschlossen. So konnte man
entgegnen: Im Gegenteil, jetzt, da die DDR untergegangen und also historisch
geworden ist (und sich die Archive und Schubladen öffnen), wird sie und ihre
Literatur sich erst richtig erforschen lassen.
Quod erat demonstrandum. Zwanzig Jahre später kann man feststellen,
dass enorm viel zur Erschließung des Sammelgebiets DDR-Literatur getan
worden ist. Aber im Laufe der Jahre wurde auch klar, dass die Vorstellung
vom abgeschlossenen Sammelgebiet, bezogen auf die Literatur aus dem
Land, das von 1949 bis 1990 DDR hieß, eine Fiktion ist. Die Lebensläufe
aller DDR-Autoren aus den verschiedenen Generationen – von den damals,
um 1990, Ältesten, um 1910 bis 1920 Geborenen, über die 20er Jahrgänge
und die sog. Kriegskinder, also die zwischen Mitte der 1930er und Mitte der
1940er Jahre Geborenen, bis zu den Jüngeren und Jüngsten, die um 1990 erst
fünfzehn oder achtzehn waren – alle diese Lebensläufe transzendierten not-
gedrungen die weltgeschichtliche Zäsur 1989/90 (von den Wenigen, die, wie
Irmtraud Morgner oder Georg Seidel, exakt 1990 starben, einmal abgesehen) –
wenn dieser Grenzübertritt auch an signifikant verschiedenartigen Punkten
der jeweiligen Biographie lag. Schon aus diesem trivialen Faktum erklärt
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44
sich, dass ‘DDR-Literatur’ nach 1990 nicht aufhören konnte und nicht
aufgehört hat. Lebenslange oder auch nur eine Kindheit umspannende Prägungen
verschwinden nicht mit dem Untergang eines Staates. Und die interessante
Frage ist ja gerade, was in den seither vergangenen zwei Dekaden eigentlich
geschehen ist und wie ‘DDR-Literatur’ in dem neuen mixtum compositum
deutschsprachiger Literatur 1990 bis 2010 vorkommt.
Dazu später mehr. Zunächst möchte ich mich auf den Untertitel dieser
Tagung beziehen: “Literaturlandschaft der DDR”. Ich erlaube mir, den Geni-
tivartikel wegzulassen und nur von der Literaturlandschaft DDR zu sprechen.
Der von mir gewählte Titel – Chronotopos, Dritter Raum – deutet es schon an:
Mir scheint es an der Zeit zu sein, dass wir, was DDR und DDR-Literatur war,
stärker als bisher in raumzeitlichen Kategorien zu erfassen versuchen, was
durch das Ende des Staates DDR erleichtert wird. Ich verhalte mich in gewis-
ser Weise durchaus modisch, indem ich einige Gesichtspunkte und Fragestel-
lungen des sog. spatial turn auf die Geschichte der DDR-Literatur und der
nachfolgenden 20jährigen Transformationsperiode anzuwenden versuche –
mit den Freiheiten, die sich ein Älterer vielleicht leichter als andere erlau-
ben kann. Dazu haben mich Lektüren von Michail M. Bachtin, Michel
Foucault1, Homi K. Bhabha2, Edward W. Soja3, Arjun Appadurai4, Karl
Schlögel (sein Buch mit dem schönen Titel Im Raume lesen wir die Zeit5),
Friederike Eigler und anderen angeregt. Damit will ich nicht diejenigen
Perspektiven, wie man die Geschichte der DDR-Literatur schreiben könne,
falsifizieren, die ich selbst bisher angewendet oder vorgeschlagen habe. Das
waren die folgenden:
(1) die inzwischen als altmodisch geltende Perspektive einer (DDR-)Litera-
turgeschichte als Sozial- und Kulturgeschichte;
(2) die Einbettung der gesamten DDR-Literaturentwicklung in eine umfas-
sende Geschichte des Moderneparadigmas;
1
Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden.
Bd. 4. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. S. 670–697. Foucaults in diesem Aufsatz
eingeführter Begriff des Heterotopos ist anregend, aber ich halte ihn für so chamäle-
onartig, dass ich ihn im Kontext meiner folgenden Argumentation nicht verwenden
möchte.
2
Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg 2000.
3
Vgl. als Einstieg Edward W. Sojas Aufsatz: Vom “Zeitgeist” zum “Raumgeist”.
New Twists on the Spatial Turn. In: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den
Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. von Jörg Döring u. Tristan Thielmann.
Bielefeld: Transcript 2008. S. 241–262.
4
Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization.
Minneapolis-London: University of Minnesota 1996.
5
Karl Schlögel: Im Raum lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und
Geopolitik. München: Hanser 2003.
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45
6
Vgl. dazu Wolfgang Emmerich: Habitus- und Generationsgemeinschaften im lite-
rarischen Feld Ostdeutschland – vor und nach der Wende. Ein Versuch, das veränderte
literarische Feld mit Bourdieu und Mannheim besser zu verstehen. In: Weiter
schreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Hg. von Holger Helbig.
Berlin: Akademie 2007. S. 269–283. – Ders.: Generationen – Archive – Diskurse.
Wege zum Verständnis der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Gedächtnis und Iden-
tität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Hg. von Fabrizio Cambi. Würz-
burg: Königshausen & Neumann 2008. S. 15–29. – Und generell: Die DDR aus
generationsgeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Hg. von Annegret Schüle,
Thomas Ahbe, Rainer Gries. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006. Der
umfangreiche Band wird seinem Untertitel tatsächlich gerecht. Er enthält luzide
wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Studien ebenso wie empiriegestützte
erhellende Einzelanalysen und eine 100seitige Schlussbilanz von zweien der
Herausgeber, Ahbe und Gries, dazu reichhaltige Literaturangaben.
7
Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit
in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Links 1996.
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46
8
Joachim Walther: Das “Archiv unterdrückter Literatur in der DDR” als mnemoni-
sches Therapeutikum gegen die grassierende Diktatur-Amnesie. In: Gedächtnis und
Literatur in den ‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945
und 1989. Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R unipress 2007. S. 265–276.
Hier: S. 265.
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47
und Politik” herausgefunden habe, die Greiner ihr seinerzeit als sie mas-
siv beengende “kollektive Fehlleistung” vorgeworfen hat.9 Diese Frage
richtet sich sowohl an die Liebhaber als auch an die Verächter der DDR-
Literatur, und natürlich auch an mich selbst. Gewiss, manche Aspekte der
DDR-Literatur können mittlerweile, auch über einzelne Autoren hinaus,
als gut erforscht gelten, z.B. die Frauenliteratur, die alternative Szene am
Prenzlauer Berg und Verwandtes, teilweise auch die späten 40er und frü-
hen 50er Jahre (ich nenne die Namen Gerrit-Jan Berendse, Birgit Dahlke,
Anneli Hartmann, Julia Hell, Ursula Heukenkamp), oder die Mythosre-
zeption und die Gattung Autobiographie. Auch sind die ausgebürgerten
und übergesiedelten Autoren durch Andrea Jägers Standardwerk lexikalisch
gut erfasst.10 Aber z.B. ein anspruchsvolles Buch wie David Bathricks
The Powers of Speech, das sehr grundsätzlich die öffentliche Sphäre
und die prominente Rolle des innermarxistischen Diskurses in der DDR
reflektiert, ist in Deutschland kaum rezipiert worden.11 Dabei enthält
es Anregungen für ein halbes Dutzend Dissertationen. Ich komme auf
Bathricks Buch zurück.
(5) Der heikelste Punkt (soweit meine Kenntnis reicht): In den letzten
fünfzehn Jahren ist im deutschen Sprachraum keine wirklich neue
Geschichte der DDR-Literatur in größerem Umfang (der auch nötig wäre)
erschienen.12 Ralf Schnell hatte ja schon 1993 seinem zuerst 1986
erschienenen Buch Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren, Geschichte,
Literaturbetrieb Kapitel zur DDR-Literatur beigeordnet, freilich: komplett
abgetrennt von der Darstellung der westdeutschen Entwicklung. 2003 hat
er seine Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 als “2.
überarbeitete und erweiterte Auflage”13 erscheinen lassen, in der er
einzelne Abschnitte, Autoren und Werke der DDR-Literatur in
chronologisch aufeinander folgende Großkapitel zur westdeutschen
wie auch österreichischen und Schweizer Literatur eingefügt hat – mit
merkwürdigen Effekten. Da kommt z.B. der Bitterfelder Weg vor die
9
Bernhard Greiner: DDR-Literatur als Problem der Literaturwissenschaft. In:
Jahrbuch zur Literatur in der DDR 3 (1983). S. 233–254. Hier: S. 233.
10
Vgl. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen
von 1961 bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon. Bd. 2: Studie. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1995.
11
Vgl. David Bathrick: The Powers of Speech. The Politics of Culture in the GDR.
Lincoln & London: University of Nebraska 1995.
12
Eine beachtliche “kurze” [sic] DDR-Literaturgeschichte im Umfang von 459
Seiten ist in italienischer Sprache erschienen. Vgl. Fabrizio Cambi, Anna Chiarloni,
Matteo Galli, Magda Martini, Michele Sisto: L’invenzione del futuro. Breve storia
letteraria della DDR dal dopoguerra a oggi. Milano: Libri Scheiwiller 2009.
13
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2. überarb. u. erw. Auflage 2003.
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48
14
Vgl. Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von
Wilfried Barner. München: Beck 2. akt. u. erw. Aufl. 2006.
15
Vgl. A New History of German Literature. Hg. von David E. Wellberry.
Cambridge, Mass.: Harvard UP 2003. – Deutsch: Eine neue Geschichte der
deutschen Literatur. Berlin: Berlin UP 2007.
16
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. V: Bundesrepublik
und DDR 1949–1990. München: Beck 2008. S. XVf.
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49
17
Vgl. Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Hg.
von Michael Opitz u. Michael Hofmann unter Mitarb. von Julian Kanning.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2009.
18
Jürgen Link: Von der Spaltung zur Wiedervereinigung der deutschen Literatur?
(Überlegungen am Beispiel des Produktionsstücks), in: Jahrbuch zur Literatur in
der DDR 1 (1980). S. 59–78.
19
Ursula Heukenkamp: E i n e Geschichte oder v i e l e Geschichten der deutschen
Literatur? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik NF V (1995).
S. 22–37.
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50
20
Ursula Heukenkamp: Forschungsprojekt “Geschichte der DDR-Literatur”.
Homepage des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin.
Berlin o.J. (Downloaded November 2010; im Mai 2011 nicht mehr einsehbar).
21
Rainer Rosenberg: Was war DDR-Literatur? Die Diskussion um den Gegenstand
in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für
Germanistik. Neue Folge V (1995). S. 9–21. Hier: S. 19.
22
Vgl. Fritz J. Raddatz: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der
Gegenwart. Zur deutschen Literatur 3. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987.
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51
Ost oder West) zu unterscheiden.23 Ich selbst habe mehrfach dafür plädiert,
den Begriff DDR-Literatur “nicht künstlich eindeutig [zu] machen, sondern
beharrlich offen[zu]halten”.24 Gleichzeitig habe ich immer wieder vorge-
schlagen (und tue es noch), als Kern von DDR-Literatur diejenige anzusehen,
“die zwischen den beiden Polen der blinden Affirmation einerseits und der
radikalen Dissidenz andererseits angesiedelt war und stets das Unmögliche
versuchte [. . .]: nämlich Literatur aus dem blochschen ‘Geist der Utopie’ –
nüchterner gesagt: aus dem Geist reformsozialistischer Hoffnungen und Illu-
sionen – zu schaffen”.25 Es ist die Literatur der bekannten und vieldiskutierten
Namen.
II.
Soweit eine kurze Revue der Forschung. Dabei ist eine Richtung bewusst aus-
geklammert geblieben, die vielleicht die derzeit interessanteste ist, nämlich
der Versuch, DDR-Literatur mittels Bourdieus Theorie der sozialen Felder
zu analysieren. Hier sind vor allem die Initiatoren und Beiträger dreier
Sammelbände zu nennen: (1) der von Ute Wölfel herausgegebene Band
Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion
in der DDR von 2005,26 (2) der von Markus Joch und Norbert Christian Wolf
verantwortete Band Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen
Praxis (gleichfalls 200527) und (3) der wiederum von Joch und Wolf sowie
York-Gothart Mix und Nina Birkner herausgegebene Tagungsband Mediale
Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb
der Gegenwart von 200928. Konsequent ‘bourdieusch’ verfährt außerdem das
wenig rezipierte Buch der Politologin Angela Borgwardt Im Umgang mit der
Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären System (2002),
das innovative Autor-Feld-Studien zu Stefan Heym, Christa Wolf und Wolf
Biermann enthält.29
23
Vgl. Erich Loest: Über die vier Arten der DDR-Literatur von heute. Paderborn:
Schöningh 1984.
24
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Berlin: Aufbau 2000 [1996]. S. 16.
25
Ebd. S. 22.
26
Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der
DDR. Hg. von Ute Wölfel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
27
Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. von
Markus Joch u. Norbert Christian Wolf. Tübingen: Stauffenberg 2005.
28
Mediale Erregungen. Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbe-
trieb der Gegenwart. Hg. von Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian
Wolf, Nina Birkner. Tübingen: Niemeyer 2009.
29
Angela Borgwardt: Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung
in einem autoritären System. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
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52
In einem anderen Aufsatz habe ich das Thema ‘Bourdieu und die DDR
(-Literatur)’ ausführlich diskutiert;30 deshalb an dieser Stelle nur ein paar
Stichworte. Zwei schwerwiegende Probleme tun sich auf, wenn es um die
Anwendbarkeit von Bourdieu auf DDR-Verhältnisse geht:
(1) Ist die Annahme eines literarischen Feldes im Sinne Bourdieus für
die DDR überhaupt legitim? Wenn ja: Welche Einschränkungen sind
vorzunehmen?
(2) Ist das literarische Feld DDR-Literatur (unterstellt, es gibt eines) ein
separates im Verhältnis zu den anderen deutschsprachigen Literaturen seit
1945, oder ist von nur einem Feld auszugehen?
Bekanntlich hat Bourdieu selbst seine Theorie des literarischen Feldes aus-
schließlich auf die westlich-moderne Welt seit Anfang des 19. Jahrhunderts
angewendet. Schon die Terminologie wirft beim Versuch ihrer Anwendung auf
die DDR Probleme auf. Manche der leitenden bourdieuschen Begriffe wie der
des ‘Kapitals’ (resp. der Kapitalsorten), des ‘Erbes’, des ‘Intellektuellen’ oder
von ‘Orthodoxie’ und ‘Häresie’ waren in der DDR selbst, d. h. im Gebrauch
der SED-Funktionäre, von vornherein völlig anders definiert und müssen des-
halb, wenn überhaupt, deutlich abgegrenzt verwendet werden. Andere zentrale
Termini Bourdieus wie der des ‘Feldes’, des ‘Habitus’ und der ‘Doxa’ müssen
ebenfalls ‘umgedacht’ werden. Gleiches gilt für Begriffe wie ‘Konsekration’,
‘Distinktion’, ‘Institutionalisierung’, ‘Kanonisierung’ und zumal für den
Terminus illusio – “das kollektive Verhaftetsein mit dem Spiel”31 – , der sich
auf das System DDR-Literatur erhellend anwenden lässt, aber mit einer ganz
anderen Pointe als für westlich-moderne literarische Felder. Entscheidend
aber ist, dass das literarische Feld namens DDR in seinen “internen Kämp-
fen” zu keiner Zeit “weitgehend unabhängig” war von den Vorgaben “des
Machtfeldes oder des sozialen Feldes in seiner Gesamtheit”,32 was Bourdieu
als die Grundbedingung eines autonomen Feldes formuliert. Entsprechend
vorsichtig wird man mit seiner Begrifflichkeit umgehen müssen.
Diese Vorsicht sehe ich nicht überall am Werk. Frappierenderweise hat
Bourdieu selbst, und zwar in Ost-Berlin am 26. Oktober 1989, ausdrücklich
behauptet, dass es sich bei seinem Konstrukt der sozialen Felder “um ein
allgemeingültiges Modell” handle, “das es erlaubt, die historischen Variationen
zu erfassen, wenn auch um den Preis der Variablen”, die “den sozialen Raum”
30
Wolfgang Emmerich: Autonomie? Heteronomie? DDR-Autoren zwischen
Fremd- und Selbstinszenierung. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Hg.
von Christian Jürgensen, Gerhard Kaiser. Heidelberg: Winter 2011 (im Druck).
31
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. S. 270.
32
Ebd. S. 400.
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53
33
Vgl. Pierre Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staats-
sozialismus. In: Ders.: Die Intellektuellen und die Macht. Hg. von Irene Dölling.
Hamburg: VSA 1991. S. 33–39. Zitate S. 33–35. Veränderter Wiederabdruck unter
dem Titel: Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur
Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 28–32. – Auch Henning
Wrage spricht kritisch von “pauschalisierenden Bemerkungen” Bourdieus und
bemerkt, dass dieser “für die Beschreibung des Ganzen der DDR-Kultur kein
Konzept” gehabt habe. Er erkläre nicht, “dass zur spezifischen Eigenheit der DDR
auch die eben nicht vorhandene externe Differenzierung des literarischen Feldes der
DDR gehört.” Vgl. Henning Wrage: Feld, System, Ordnung. Zur Anwendbarkeit
soziologischer Modelle auf die DDR-Kultur. In: Literarisches Feld DDR [wie Anm.
26]. S. 53–73. Hier S. 54. Wrage weist auf zwei weitere einschlägige Veröffentli-
chungen Bourdieus zum Thema DDR/Ostblock hin: (1) Im Osten erwacht die
Geschichte. In: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik
und Kultur I. Hamburg: VSA 1997. S. 161–164 und (2) Die ‘sowjetische’ Variante
und das politische Kapital. In: Ders.: Praktische Vernunft [wie Anm. 33]. S. 28–32. –
Zum Problem auch Borgwardt: Im Umgang mit der Macht [wie Anm. 29]. S. 121.
34
Bourdieu: Politisches Kapital [wie Anm. 33]. S. 35.
35
Ebd. S. 38.
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54
36
Wölfel: Einleitung zu Literarisches Feld DDR [wie Anm. 26]. S. 5.
37
Ebd. S. 5f.
38
Dieter Schlenstedt: Integration – Loyalität – Anpassung. Über die Schwierigkeiten
bei der Aufkündigung eines komplizierten Verhältnisses. Ein Gespräch mit Frauke
Meyer-Gosau. In: Literatur in der DDR: Rückblicke. Hg. von Heinz Ludwig Arnold
u. Frauke Meyer-Gosau ( text kritik Sonderband). München: edition text kritik
1991. S. 169–183. Hier: S. 175f.
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55
39
Vgl. Jens Loescher: Aufmerksamkeit oder Distinktion? Neues von der Bourdieu-
Philologie anläßlich eines Kongresses. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte
16 (2007). S. 415–420. Hier: S. 418f. – In der Druckfassung von Mix’ Aufsatz
findet man freilich diese pointierte Position nicht mehr wieder, vielmehr eine
temperamentvolle Kritik an der auch von mir kritisierten Haltung, “die Feldtheorie
Bourdieus in reduktionistischer Manier munter als Blaupause für die Analyse
der Verhältnisse in der DDR” zu benutzen. Vgl. York-Gothart Mix: Avantgarde,
Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen
Literaturszene in der DDR. In: Mediale Erregungen? [wie Anm. 28]. S. 123–138.
Hier: S. 123.
40
Wölfel: Einleitung zu Literarisches Feld DDR [wie Anm. 26]. S. 9.
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56
(1) Die DDR war über vierzig Jahre territorial kohärent, was für Staaten
nicht selbstverständlich ist; allerdings in diesem Fall: mit einer Insel in
ihrer Mitte – West-Berlin, und die war natürlich für den Chronotopos
DDR ein bleibender Störfaktor.
(2) Die DDR war ethnisch homogen, nämlich germanisch-norddeutsches
Siedlungsgebiet, zeitweise und partiell auch slawisch besiedelt (mit einer
noch lebendigen, aber sehr kleinen slawischen Minorität). Das DDR-
Territorium erstreckte sich im Wesentlichen auf zwei vorherige Staatswe-
sen, nämlich Preußen und Sachsen. Damit ist ein landsmannschaftlicher,
aber kein ethnischer Gegensatz markiert, der zu DDR-Zeiten virulent
war, aber nicht entscheidend.
(3) Die DDR war konfessionell homogen. Im Jahre 1949 waren ca. 90%
ihrer Einwohner evangelisch-lutherisch, darunter viele Heimatvertriebene
aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Die Katholiken befanden
41
Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 58 u.
passim.
42
Michael C. Frank u. Kirsten Mahlke: Nachwort zu Bachtin: Chronotopos [wie
Anm. 42]. S. 201–242. Hier: S. 205.
43
Bachtin: Chronotopos [wie Anm. 41]. S. 188.
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58
44
Vgl. u.a. Herfried Münkler: Politische Mythen der DDR. In: Jahrbuch 1996
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. S. 123–156. – Und
Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR [wie Anm. 24]. S. 34–39. – Sowie
Herfried Münklers neues Buch Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009.
45
Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. In: Ders.:
Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Frankfurt a.M.: Insel 1964 [1798].
S. 357. – Auch Thomas Taterka verwendet den Ausdruck “Geschichtszeichen” in
“Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik”. Grundzüge des
Lagerdiskurses der DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre
Geschichte(n). Hg. von Birgit Dahlke, Martina Langermann, Thomas Taterka.
Stuttgart-Weimar: Metzler 2000. S. 312-365. Hier: S. 316.
46
Wolfgang Emmerich: Fast eine Leerstelle – Über die verleugnete Präsenz des
Holocaust in der DDR-Literatur. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts IX
(2010). S. 57–84.
47
Bathrick: The Powers of Speech [wie Anm. 11]. S. 228f.
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59
Der paradoxe Befund lautet also: Ein großer – und vielleicht der wichtigste –
Teil der Schriftsteller und Intellektuellen aus der DDR definierte und insze-
nierte sich ganze vier Jahrzehnte lang explizit marxistisch, und damit in einem
Selbstverständnis, das auch in den westlichen Ländern im Lauf der Jahrzehnte
in die Krise gekommen, wo nicht vollends unter die Räder geraten war.
Freilich drehte sich das, wofür die Autoren als Repräsentanten standen, im
Lauf der Zeit um nahezu 180 Grad: von der vorbehaltlosen Bejahung des
Aufbaus des Sozialismus zu einer Radikalkritik der Strukturen und des je
aktuellen, als verkommen deklarierten Ist-Zustandes dieses Systems. Die
Wende 1989/90 bescherte dann den Autor(inn)en aus der Gruppe der Reform-
sozialisten ein weiteres Paradox: Indem sie mit dem Zerfall der DDR fast
schlagartig ihre privilegierte Position als Experten für die Verkündigung
des “wahren Sozialismus” und für Lebenshilfe verloren, ja regelrecht vom
Denkmal gestürzt und Verachtung und Spott preisgegeben wurden (ich meine
natürlich den sog. Literaturstreit), verloren sie ihren Repräsentantenstatus
endgültig. Auch diese Besonderheit gehört zum Chronotopos DDR.
Ein weiteres Wesensmerkmal desselben ist die Entstehung und propa-
gandistische Pflege dessen, was Wolfgang Engler treffend die arbeiterliche
Gesellschaft48 genannt hat (und Ursula Heukenkamp ist ihm im Blick auf
die Literatur gefolgt49). Die Arbeiterklasse war bekanntlich, anderslauten-
den Parolen zum Trotz, nie die herrschende Klasse, aber ‘Arbeit’ war immer
ein hoch besetzter Wert, und zwar in allen DDR-Milieus. Daraus hat sich ein
gesellschaftlich dominanter Habitus gebildet, der über die von der SED pro-
pagierte Arbeitsideologie weit hinausgeht und auch, was die gegenwärtige
mentale Verfassung eines großen Teils der Ostdeutschen angeht, kaum zu
überschätzen ist. In 40 Jahren DDR ist eine Konstellation entstanden, in der
(ich zitiere Engler) der “Mythos von der Arbeiterklasse mit der alltagskul-
turellen Dominanz der proletarisch bis kleinbürgerlich-materialistischen
Kultur” zusammenfloss.50
Last not least: Die Literatur hat, wie andere Kulturbereiche, in der DDR
von Anfang bis Ende einen besonderen Ort eingenommen. Sie war, verordnet
und freiwillig zur gleichen Zeit, “sozialaktivistisch” und “sozialpädagogisch”
(in den immer wieder zitierenswerten Worten von Uwe Johnson51). Und sie
48
Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin:
Aufbau 1999.
49
Heukenkamp: Forschungsprojekt “Geschichte der DDR-Literatur” [wie Anm. 20].
50
Vgl. Engler: Die Ostdeutschen [wie Anm. 48]. S. 200.
51
Vgl. Uwe Johnson in “Sie sprechen verschiedene Sprachen”. Schriftsteller
diskutieren (d.i.: Hans Werner Richter, Heinz von Cramer, Günter Grass, Uwe
Johnson, Paul Wiens, Hermann Kant, Max Walter Schulz). In: alternative.
Zeitschrift für Literatur und Kritik 7 (1964). Heft 38/39. S. 97–100. Hier: S. 98.
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52
Schlenstedt: Integration – Loyalität – Anpassung [wie Anm. 38]. S. 175.
53
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992. S. 78f. Den
Vorschlag verdanke ich Matías Martínez, Wuppertal. Klüger bezieht sich hier zwar
explizit auf das KZ als besonderen Ort (der mehr als nur Ort/Landschaft ist), aber
ich halte die vorgenommene Bedeutungsübertragung für erlaubt.
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62
Weißer Hirsch.54 Auch das war “ein Ort in der Zeit, zu einer gewissen Zeit,
weder vorher noch nachher”, mit Ruth Klüger zu sprechen. Und Tellkamps
Roman bestätigt einmal mehr den Satz von Cicero, der lautet: “Groß ist die
Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.”55
IV.
Seit Beginn der 1990er Jahre haben wir es mit ziemlich anderen Orten und
Räumen zu tun als dem, was bis dahin die DDR als ein tendenziell geschlos-
senes Raum-Zeit-Amalgam war. Und die nun entstehenden neuen Zeit-Räume
sind auch für die Literatur ungemein folgenreich. Diese gänzlich andere
Situation soll abschließend wenigstens skizziert werden.
Seit dem 3. Oktober 1990 haben sich die Grenzen des Raums DDR in Luft
aufgelöst, und ebenso seine bestimmenden Zeitkoordinaten. Konzentrieren
wir uns auf die Literatur: Das neu entstandene entgrenzte und diffuse Feld
Deutschland West plus Ost – man könnte es mit Christian Kracht “Faserland”
nennen – gleicht seither einem riesigen (virtuellen) ‘dritten Raum’ (sowohl
im Sinne von Edward W. Soja als auch in dem von Homi K. Bhabha vorzu-
stellen), in dem sehr verschiedene Ideologien, Mentalitäten, Habitusformen,
Autorselbstverständnisse und Schreibkonzepte aufeinanderstoßen, aber
neuerdings eben auch noch elementarere Gegensätze, nämlich solche der
Ethnien, Konfessionen und Sprachen. In den Worten von Arjun Appadurai:
“groups are no longer tightly territorialized, spatially bounded, historically
unselfconscious, or culturally homogeneous”.56 Und sie stoßen nicht abstrakt
und ‘irgendwie’ aufeinander, sondern in der Lebenswelt und Alltagserfah-
rung von uns allen, und so auch im Bewusstsein der je einzelnen Autoren.
Entscheidend ist, dass im Zeichen von Zuwanderung und Globalisierung die
Reintegration dessen, was DDR-Literatur war, ins neue ökonomisch, medial
und mental homogenisierte Feld deutsche Literatur nur noch ein Sonderfall
ist, der von täglich neuen Durchmischungen in einer immer weniger über-
schaubaren Landschaft überlagert wird. Die Autoren aus der ehemaligen
DDR sind mittlerweile nur eine Teilgruppe von vielen – allerdings immer
54
Vgl. David Clarke: Space, Time and Power. The Chronotopes of Uwe Tellkamp’s
Der Turm. In: German Life and Letters. New Series LXIII (2010). No. 4. S. 490–
503. Clarkes Aufsatz, der mir erst nach meinen eigenen Überlegungen bekannt
geworden ist, wendet Bachtins Kategorie des Chronotopos wie dieser primär inner-
literarisch an, “um die Politik des Raums in der Stadt” Dresden herauszuarbeiten
(S. 490).
55
Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut
und das größte Übel. Stuttgart: Reclam 1989. S. 397.
56
Appadurai: Modernity at Large [wie Anm. 4]. S. 48.
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noch eine sehr besondere. Vor allem die Älteren unter ihnen mussten müh-
sam ihr Selbstverständnis als Autoren umbauen, sofern sie es nicht vorzogen,
ihre alte Identität zu verkapseln (wie z.B. Hermann Kant oder der inzwischen
verstorbene Peter Hacks).57 Aber im Zeichen der neuen Transkulturalität des
Raums Deutschland ändert sich auch für Westdeutsche alles, was bislang als
Erinnerungsraum und gewachsenes kulturelles Gedächtnis so fest gefügt
schien. Zwar geht die Auseinandersetzung zwischen den zwei deutschen
Nachkriegskulturen und -literaturen, die die frühen 1990er Jahre dominierte
und die man Aleida Assmanns Begriffstrias von Legitimation, Delegitimation
und Distinktion gut fassen kann,58 noch weiter, aber entschieden weni-
ger heftig und existenziell aufgeladen als vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Bei
den inzwischen alten Autoren aus der DDR (gemeint sind die über sechzig)
geht es immer noch um Distinktion: um die Bewahrung oder Preisgabe des
bisherigen Identität stiftenden symbolischen Kapitals oder um aufwendige
Amalgamierungsversuche. Bei den Jüngeren hingegen sind längst vielfältige
hybride Autoridentitäten entstanden. Wie sollte es auch anders sein, da die
Mehrzahl dieser Menschen inzwischen längere Aufenthalte im westlichen
Ausland von Frankreich und Italien bis New York verbracht hat. Schon Angela
Krauß und Katja Lange-Müller, Kathrin Schmidt und Thomas Brussig, Durs
Grünbein und Ingo Schulze, und nun erst recht Jens Bisky, Antje Ravic Stru-
bel, Julia Schoch, Jenny Erpenbeck, Jochen Schmidt, Jakob Hein, Peter
Wawerzinek, Clemens Meyer, Jana Simon (eine Enkelin von Christa Wolf)
und Jana Hensel bewegen sich in der globalisierten Welt wie Fische im
Wasser. Dass ihnen zur Seite eine immer größere Zahl von Autorinnen und
Autoren steht, die aus anderen Ethnien und Religionen, zum Teil sogar aus
anderen Erdteilen stammen, die aber deutsch schreiben und publizieren,
und zum Teil großartig (ich nenne keinen einzigen Namen, weil es so viele
sind): Das stört diese jüngeren Autoren, ob sie nun aus Deutschland Ost oder
West stammen, überhaupt nicht, wie sie (und wir alle) uns auch zunehmend
daran gewöhnen, dass vor allem Romane aus vieler Herren Länder als über-
setzte in unser eigenes literarisches Feld hineinragen und es durchdringen.
Das macht auch den Begriff der Nationalliteratur immer fragwürdiger.
57
Vgl. den Band Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im
vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg i.Br.:
Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009. Er enthält
Studien zu Heiner Müller, Christa Wolf, Rainer Kirsch, Ulrich Plenzdorf, Volker
Braun, Christoph Hein, Stefan Schütz, Petr Wawerzinek und Annett Gröschner.
58
Vgl. hierzu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des
kulturellen Gedächtnisses. München: Fink 1999. S. 138 u. passim.
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“We are all translated men”, heißt das schon geflügelte Wort von Salman
Rushdie,59 und manche Forscher arbeiten sogar schon, bezogen auf den
Grundzustand der Transkulturalität, mit dem translational turn.60 Natürlich
werden in diesem neuen, nach allen Seiten offenen Chronotopos, den ich
im Anschluss an Soja und Bhabha third space / Dritter Raum61 nenne, auch
alle Vergangenheitsbeziehungen neu verhandelt: weitestgehend jenseits von
Schuld und Sühne, frei von falscher Identifikation mit den Opfern und
wohlfeilem Moralisieren. Der deutsche Familienroman, mittlerweile bald
ein Vier-Generationen-Roman, wird ein weiteres Mal neu geschrieben; nicht
wenige aus der Internationale der jüngeren Germanisten forschen dazu.62
Mit der Konzentration auf drei Raumbegriffe – literarisches Feld,
Chronotopos und third space – habe ich mich zweifelsohne ins Fahrwasser
des sog. spatial turn begeben, wie er seit der Erfindung des Terminus durch
Edward W. Soja im Schwange ist. Vielleicht hat es in den Sozial- und
Kulturwissenschaften tatsächlich so etwas wie eine “Raumvergessenheit”
gegeben. In diesem Sinne kann man sich Karl Schlögel anschließen, der
treffend formuliert hat: “Der turn ist offenbar die moderne Rede für
gesteigerte Aufmerksamkeit für Seiten und Aspekte, die bisher zu kurz
gekommen sind.”63
59
Vgl. Salman Rushdie: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981–1991.
London: Penguin 1992. S. 17.
60
Vgl. Doris Bachmann-Medick: The Translational Turn. In: Translation Studies.
Special Issue. Vol. 2. Nr. 1. London: Routledge 2009. S. 2–16.
61
Vgl. die bereits genannten Titel von Bhabha und Soja sowie meinen Aufsatz:
Odradek – ein Bewohner des Dritten Raums. Mit Franz Kafka unterwegs zu trans-
kulturellen Lektüren. In: Dislocation and Reorientation. Exile, Division and the End
of Communism in German Culture and Politics. In Honour of Ian Wallace. Hg. von
Axel Goodbody u.a. Amsterdam-New York: Rodopi 2009. S. 83–96.
62
Vgl. u.a. Anne Fuchs: Phantoms of War in Contemporary German Literature,
Films and Discourse. The Politics of Memory. Houndmills, Basingstoke: Palgrave
Macmillan 2008. – Und Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Natio-
nalsozialismus in der deutschen Literatur seit 1990. Würzburg: Königshausen &
Neumann 2010.
63
Karl Schlögel: Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in
den Geschichts- und Kulturwissenschaften. In: Was sind Kulturwissenschaften?
Dreizehn Antworten. Hg. von Heinz Dieter Kittsteiner. München: Fink 2004.
S. 261–283. Hier: S. 265.
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Janine Ludwig
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Becher, der immer die deutsche “Kulturnation” beschworen und sich eine
“einheitliche, neue deutsche Nationalliteratur” ersehnt hatte, starb 1958.
Weitere Abgrenzungstendenzen zeigte die Bitterfelder Konferenz 1959 mit
der Formulierung des Bitterfelder Weges unter dem Motto “Greif zur Feder,
Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!” Allerdings war da
offiziell noch die Einheit der deutschen Nation in der Verfassung der DDR
1
Wendezeichen. Neue Sichtweisen auf die Literatur der DDR. Hg. von Roswitha
Skare u. Rainer B. Hoppe. Amsterdam-Atlanta, GA: Rodopi 1999. S. 10.
2
Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen
Literatur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue
Folge V-1 (1995). S. 22–37. Hier: S. 25.
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festgeschrieben, und man berief sich auf die Traditionen der sozialistischen
deutschen (Arbeiter-)Literatur. 1961 gab es auf dem V. Schriftstellerkongress
der DDR einen Disput zwischen Alexander Abusch, der von zwei deutschen
Literaturen sprach, und Alfred Kurella, der ihm in seinem Schlusswort dezi-
diert widersprach. Die Konzeption einer eigenständigen Literatur entwickelte
sich dann in den 1960er Jahren; dennoch sprach man zu diesem Zeitpunkt
offiziell weder von DDR-Literatur noch von einer Literatur der BRD.
1967 schließlich machte der Literaturwissenschaftler Hans Mayer in der
Bundesrepublik auf die Verschiedenheiten beider Literaturen aufmerksam;
es entstanden erste Einzeldarstellungen. Die letztlich entscheidende Zäsur ist
wohl in der Machtübernahme Erich Honeckers 1971 zu sehen, unter dessen
Ägide der Übergang von der Zwei-Staaten-Theorie zur Zwei-Nationen-
Theorie und die Etablierung des real existierenden Sozialismus als eigenständige
Gesellschaftsform zementiert sowie in der neuen DDR-Verfassung von 1974
auf relativ klandestine Weise die Passagen zur deutschen Nation bzw. Einheit
entfernt wurden. Nun war offiziell eine sozialistische ‘DDR-Nationalliteratur’
etabliert und ging nach und nach auch in die Literaturgeschichtsschreibung
der Bundesrepublik ein. Zwar erregte Fritz J. Raddatz 1972 noch großes
Aufsehen, als er in seiner Habilitationsschrift das Urteil fällte: “Es gibt zwei
deutsche Literaturen”, die “sich festmachen an Sprache wie an ideologischer
Debatte”,3 doch schließlich setzte sich diese Haltung durch, und es entstanden
in den 1970er Jahren in der BRD mehrere eigenständige Bände zur Literatur-
geschichte der DDR sowie eigene Forschungsbereiche.4
Bereits gegen Ende der 1970er Jahre wurde diese Trennung jedoch wieder
in Zweifel gezogen. Das kulturpolitische Tauwetter, das Erich Honecker bei
seinem Machtantritt 1971 suggeriert hatte,5 war mit der Ausbürgerung Wolf
Biermanns 1976 einer neuen ‘Eiszeit’ gewichen. In der Folge verließen viele
SchriftstellerInnen (z.B. Thomas Brasch, Günter Kunert, Sarah Kirsch) ihr Land
3
Später neu aufgelegt als: Fritz J. Raddatz: Zur deutschen Literatur der Zeit 1.
Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 1987. S. 727.
4
Vgl. Roswitha Skare: 1989/90: Eine Wende in der deutschen Literaturgeschichte?
Tendenzen der neueren Literaturgeschichtsschreibung. In: Wendezeichen [wie Anm. 1].
S. 15–43. Hier: S. 17.
5
Honecker sagte auf der 4. Tagung des ZK der SED 1971: “Wenn man von der fes-
ten Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von
Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhalt-
lichen Gestaltung als auch des Stils.” Erich Honecker: Die Hauptaufgabe umfaßt
auch die weitere Erhöhung des kulturellen Niveaus. Aus dem Schlußwort auf der
4. Tagung des Zentralkomitees der SED. 17. Dezember 1971. In: Dokumente zur
Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, 1971–1974. Hg. von Gisela Rüß.
Stuttgart: Seewald 1976. S. 287.
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Im Zuge des Literaturstreites 1990 wiederum meldete sich Walter Jens mit
einer Art Solidaritätsbekundung westdeutscher Kollegen für die angegriffenen
DDR-AutorInnen zu Wort: “Es gab zwei deutsche Staaten, aber es gab nur
eine deutsche Literatur.”10
6
Fritz J. Raddatz: Zur deutschen Literatur der Zeit 3. Eine dritte deutsche Literatur.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 51.
7
Christoph Hein: “Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu
leben.” Gespräch mit Krysztof Jachimczak. Nach dem Erscheinen von Horns Ende
(1986). In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hg. von Lothar Baier. Frankfurt
a.M.: Luchterhand 1990. S. 45–67. Hier: S. 66.
8
Christoph Hein: “Schreiben als Aufbegehren gegen die Sterblichkeit.” Gespräch
mit Uwe Hornauer und Hans Norbert Janowski. In: Christoph Hein [wie Anm. 7].
S. 76–86. Hier: S. 77.
9
Hier zit. nach: Andreas Petersell: Die Literatur in der DDR von der Biermann-
Ausbürgerung bis zu Beginn der 80er Jahre. http://www.petersell.de/ddr/2_ueberblick.
htm. Downloaded 01.04.2009.
10
Walter Jens: Plädoyer gegen die Preisgabe der DDR-Kultur. Fünf Forderungen an
die Intellektuellen im geeinten Deutschland. In: Süddeutsche Zeitung 16.06.1990.
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11
Auch aus österreichischer und schweizerischer Sicht sind Tendenzen, alle
deutschsprachigen Literaturen unter eine (westdeutsch dominierte) Literatur zu
subsumieren, wie dies Wilfried Barners Geschichte der deutschen Literatur von
1945 bis zur Gegenwart tut, stark umstritten. Vgl. Klaus Zeyringer: Text und
Kontext: Österreichische Literatur. Ein Konzept. In: Jahrbuch der Deutschen
Schillergesellschaft 40 (1996). Hg. von Wilfried Barner, Walter Müller-Seidel,
Ulrich Ott. Stuttgart: Kröner 1996. S. 438–448. Man vergleiche in diesem Band
auch die weiteren Beiträge, die für eine deutsche, deutschsprachige oder gar
Weltliteratur plädieren, zusammengestellt unter der einleitenden Frage: “Wieviele
deutsche Literaturen?” In: Ebd. S. 435–484.
12
Klaus Hermsdorf: Regionen deutscher Literatur 1870–1945. Theoretische und
typologische Fragen. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 3 (1993). S.
22–37. Hier: S. 35.
13
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2003.
14
Ralf Schnell: Vom Umgang mit der Literatur der DDR. In: Der Deutschunterricht 6
(2003). S. 78–85. Hier: S. 84.
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oder auch das politische Selbstverständnis der Autoren in Ost und West
als Sozialisten (wenn auch unterschiedlicher Prägung), die als gemeinsa-
mes Thema die Aufarbeitung des Nationalsozialismus geeint habe: “Die
Trennungslinien verflüchtigen sich in historischer Perspektive.”15 Schnell
erhofft sich so “die Befreiung der DDR-Literatur aus den eingrenzenden, ein-
engenden Umzäunungen des so genannten ‘realexistierenden Sozialismus’ ”.16
Auch Roswitha Skare betont “[p]arallele literarische Entwicklungen” in
beiden Staaten sowie die “gemeinsame literarische Tradition” beider Lite-
raturen und seit den 1970er Jahren eine “immer bessere [gegenseitige]
Zugänglichkeit”.17 Schließlich plädiert sie für eine Betrachtung der DDR-
Literatur als Regionalliteratur.
Wolfgang Emmerich wiederum spricht in diesem Zusammenhang ganz
zu Recht von synchronen und diachronen Merkmalen im Verhältnis der
beiden Literaturen.18 Zu ersteren zählt er die Auseinandersetzung mit dem
Faschismus und die Aufarbeitung der deutschen Kriegsschuld wie auch
die Entstehung einer politisch-utopischen Literatur in Westdeutschland im
Zusammenhang mit der 68er-Bewegung. Dennoch meint Emmerich heute,
“gerade diese Konvergenz eher überbetont zu haben”,19 und verweist auf dia-
chrone Momente wie die so genannte “Erberezeption” oder “das vielleicht
auch Fragwürdige am Anknüpfen mancher DDR-Literaten an Tendenzen
einer Zivilisations- und Rationalismuskritik seit der Romantik”,20 aber auch
das fast systematische Ausblenden des Holocaust und die nachgerade mythi-
sche Verklärung des deutschen Antifaschismus in der Literatur der DDR.
Letztlich hält Emmerich somit an einer Betrachtung der DDR-Literatur als
eigenständigem Phänomen fest. Dies tut auch Ursula Heukenkamp, die zwar
einmal vorsichtig abwägend “Gründe und Gegengründe” für eine solche
eigenständige Betrachtung anführt,21 jedoch als verantwortliche Leiterin eines
bis heute nicht realisierten Forschungsprojektes “Geschichte der DDR-Lite-
ratur” an der Humboldt-Universität auf der entsprechenden Website betonte:
Wir sind der Auffassung, die DDR-Literatur ist eine eigenständige deutschspra-
chige Literatur, die sich wesentlich von der bundesdeutschen Literatur unterscheidet.
15
Ebd.
16
Ebd.
17
Skare: 1989/90 [wie Anm. 4]. S. 41.
18
Wolfgang Emmerich: Für eine andere Wahrnehmung der DDR-Literatur. Neue
Kontexte, neue Paradigmen, ein neuer Kanon. In: Die andere deutsche Litera-
tur. Aufsätze zur Literatur aus der DDR. Hg. von Wolfgang Emmerich. Opladen:
Westdeutscher Verlag 1994. S. 190-207. Hier S. 203f.
19
Ebd. S. 203.
20
Ebd. S. 204f.
21
Vgl. Heukenkamp: Eine Geschichte [wie Anm. 2].
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22
Website des Forschungsprojektes “Geschichte der DDR-Literatur” an der
Humboldt-Universität zu Berlin. http://www2.hu-berlin.de/literatur/projekte/ddr_
literatur/ddr_literatur.html. Downloaded 23.3.2009.
23
Alle Zitate: Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der
Gegenwartsliteratur. In: Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Hg.
von Andreas Erb. Opladen-Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 9–31. Hier:
S. 9f.
24
Ebd. S. 15. (Hervorh. im Orig. von K.-M.B.)
25
Ebd. S. 20.
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26
Viktor Žmegač, Zdenko Škreb, Ljerka Sekulič: Kleine Geschichte der deutschen
Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Marix 2004. S. 390.
27
Astrid Köhler: Brückenschläge. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
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erkennen war. Sie [. . .] wird unter neuem Firmennamen weiterbestehen, ganz ein-
fach als deutsche Literatur, und das heißt im Klartext: als westdeutsche.28
Das impliziere auch, die Literatur aus der ehemaligen DDR werde an
Ernsthaftigkeit verlieren, sich dem Markt in puncto Verkäuflichkeit anpassen
müssen, so Becker weiter. Geradezu als Antwort auf diese These kann ein
Beitrag von Iris Radisch mit dem programmatischen Titel: Es gibt zwei deut-
sche Gegenwartsliteraturen in Ost und West! gelesen werden. Hierin stellt
Radisch noch 2001 erhebliche Unterschiede fest. Zwar kritisiert sie die ihrer
Meinung nach von ostdeutschen SchriftstellerInnen völlig überzogen dar-
gestellte angebliche Differenz zwischen Ost und West – “Ironie, Indifferenz
und Konsum im Westen. Ideale, Ernst und Seele im Osten”, – bestätigt sie in
gewisser Weise jedoch selbst mit ihrem Befund:
Im Westen dominiert der Beschreibungsfetischismus, der Kult des Hier und Jetzt,
das Dogma des Reflexionsverbots, der postmoderne Mix geborgter Töne. Im Osten
gibt es eine poetische, tragische, im besten Sinne politische Literatur, die nicht
Stellung bezieht, aber durch die machtvolle Bergwerksarbeit ihrer originellen und
häufig sehr expressiven Sprache deutsche Wirklichkeit decouvriert, dekonstru-
iert, destabilisiert – mit einem Wort literarisch kommentiert. Diese Literatur ist in
einem beinahe vergessenen Sinn gesellschaftskritisch.29
Günter Rüther stellt schließlich die simple Frage, “ob auf den Begriff ‘DDR-
Literatur’ verzichtet werden kann”, und findet
kein schlagendes Gegenargument gegen den in der Germanistik, Literaturkritik und
Öffentlichkeit eingebürgerten Begriff “DDR-Literatur” [. . .]. Umso mehr kommt
es jedoch darauf an, zu differenzieren, wenn wir von DDR-Literatur sprechen.30
28
Jurek Becker: Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur. In: The German
Quarterly 63. 3/4 (1990). S. 359–366. Hier: S. 364f.
29
Iris Radisch: Es gibt zwei deutsche Gegenwartsliteraturen in Ost und West! In:
Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989-1999. Hg. von
Gerhard Fischer u. David Roberts. Tübingen: Stauffenberg 22007. S. 1–14. Hier:
S. 5 u. 13. Radisch hatte diesen Text in unwesentlich anderer Form bereits zuvor
veröffentlicht, u.a. als: Dies.: Dichter in Halbtrauer. In: Die Zeit 04.06.1993.
Beilage Literatur. S. 71.
30
Günter Rüther: Nur “ein Tanz in Ketten”? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung
und Selbstbehauptung. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus
und DDR-Sozialismus. Hg. von Günter Rüther. Paderborn-München: Schöningh
1997. S. 249–282. Hier: S. 255. Rüther bezieht sich auf: Paul Gerhard Klussmann:
Anmerkungen zur Geschichte der DDR-Literatur im Jahr 1990. In: Im Dialog mit
der interkulturellen Germanistik. Hg. von Hans-Christoph Graf von Nayhauss u.
Krysztof A. Kuczynski. Warschau: Universität Warschau 1993. S. 93–109. Hier:
S. 103.
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Bei allen Zweifeln scheint dies jedoch fruchtbarer als eine thematisch ori-
entierte Fügung wie etwa “Literatur über die DDR”. Eine solche Definition
würde vollständig jene Werke vernachlässigen, in denen es nicht primär um
die DDR geht bzw. dazu nötigen, diese Texte einzig als Parabeln auf die
spezifische Situation in der DDR zu lesen. Sogar westliche Texte mit diesem
Thema müssten dann als DDR-Literatur gelten.
Denkbar, und literaturwissenschaftlich am elegantesten, wenngleich sehr
schwierig, wäre ein Versuch, für die DDR-Literatur ‘typische’ Kriterien zu
beschreiben, seien sie nun thematischer oder ästhetischer Art – also doch
eine Art Epochenbegriff zu konstituieren. Uwe Wittstock hat immerhin zwei
thematische Konstanten in den Werken von DDR-Autoren auszumachen ver-
sucht: die “geradezu archaische” Konfrontation eines Individuums “mit einem
monolithischen Machtapparat” und die vehemente Auseinandersetzung mit dem
Verlauf der Geschichte.31 Dies allein wird allerdings wohl kaum genügen,
den Begriff “DDR-Literatur” erschöpfend zu umschreiben. Hilfreich wäre
es womöglich, die von Peter Böthig vorgeschlagenen ‘Leitbegriffe’ eines
Diskurses der DDR-Literatur als “sozialistischer Literatur” hinzuzunehmen:
Geschichte als kontinuierlicher, teleologischer Prozeß; Fortschritt als prozessualer
Modus der Geschichte; Utopie als sozial relevante, die Gesellschaft vorantreibende
Kraft; Gesellschaft als Quelle von Sinn; antagonistisches Staats- und Klassen-
modell; Subjekt als Zentrum von Texten; Literatur als (wie auch immer kritische,
widersprechende, therapeutische) Repräsentation nachprüfbarer Realitäten.32
31
Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen der Moral:
Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten müssen. In:“Es
geht nicht um Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von
Thomas Anz. München: Spangenberg 1991. S. 198–207. Hier: S. 201f.
32
Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Differenz und Revolte. Untersuchungen
an den Rändern eines Diskurses. Berlin: Lukas 1997. S. 11.
33
Vgl. Janine Ludwig u. Mirjam Meuser: In diesem besseren Land – Die Geschichte
der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten. In: Literatur ohne
Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von
Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg: fwpf 2009. S. 11–71.
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34
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 191.
35
Martina Langermann u. Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer
Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der
DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Hg. von
Birgit Dahlke, Martina Langermann, Thomas Taterka. Stuttgart-Weimar: Metzler
2000. S. 1–32. Hier: S. 26.
36
Ebd. S. 7 und 27f.
37
Ebd. S. 6.
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kann38 (woraus später die Schwundstufe “Leseland” wurde). Darin habe sich
die DDR-Literatur von der bundesdeutschen unterschieden. Ganz ähnlich
kommt Thomas Schmidt zu dem Ergebnis, dass “[s]innvolle Merkmale für ein
gesamtdeutsches literarisches Feld vor 1989 [. . .] nicht ausgemacht werden”
können, und die DDR-Literatur “als Sonderfall” jenseits derjenigen der BRD
und der Literaturen des Ostblocks geführt werden muss.39
Dies bestätigt auch David Bathrick, wenn er ausführt, wie sich die reform-
sozialistischen Literaten40 in der DDR – im Gegensatz zu den Intellektuellen
des übrigen Ostblocks, die etwa für “Marktreformen” oder eine “pluralisti-
sche Zivilgesellschaft” eintraten – in einer besonderen Position wiederfanden:
Sie standen – um ein Bild aus Heiner Müllers Hamletmaschine zu zitieren –
auf beiden Seiten der Barrikade:
[E]s war präzise diese Funktion, auf beiden Seiten der Machtverteilung, als offi-
zielle und inoffizielle Stimme innerhalb eines Ganzen, die eine besondere Art von
literarischem Intellektuellen in der DDR hervorbrachte und dazu beitrug, eine
besondere Art von literarischer Öffentlichkeit ans Licht zu bringen.41
38
Ebd. S. 2. Zu den Begriffen “Literaturgesellschaft” und “Leseland” als Selbst-
darstellungskonzepten des DDR-Kulturapparates vgl. Simone Barck, Martina
Langermann, Siegfried Lokatis: Vorbemerkung. In: Jedes Buch ein Abenteuer.
Zensursystem und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger
Jahre. Hg. von Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis. Berlin:
Akademie 1997. S. 9–17. Hier: S. 12.
39
Thomas Schmidt: Über Redeweisen der Literaturwissenschaft, die Zäsur von
1848 und das (un)literarische Engagement der ‘DDR-Literatur’. In: Engagierte
Literatur in Wendezeiten. Hg. von Willi Huntemann, Małgorzata Klentak-Zabłocka,
Fabian Lampart, Thomas Schmidt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.
S. 49–73. Hier: S. 51.
40
Wenn man die drei (grob gerasterten) Bereiche ‘offizielle Parteiliteratur’,
‘kritisch-engagierte’ oder ‘kritisch-loyale’ oder ‘reformsozialistische’ Literatur und
‘dezidiert dissidentische Literatur’ bemühen will, ist hier vor allem von der mittle-
ren die Rede, die die größte Menge der bekannten und anerkannten Literatur
ausmacht.
41
David Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht. Die Repräsentanz des Schrift-
stellers in der DDR. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im
Kalten Krieg. Hg. von Sven Hanuschek, Therese Hörnigk, Christine Malende.
Tübingen: Niemeyer 2000. S. 235–248. Hier: S. 240f.
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Doch auch auf eine weitere, meist zu wenig beachtete Besonderheit macht
Bathrick aufmerksam, nämlich den Einfluss der Bundesrepublik bzw. des
Westens auf die Konfigurierung des intellektuellen Feldes der DDR – durch
spezielle Förderung von Dissidenten, durch die Entscheidung, wer oder was
im Westen gedruckt wurde und was nicht. Nicht zuletzt deshalb verwischten
sich “die Linien zwischen offiziell und inoffiziell, zwischen Dissidenz und
Repräsentanz, zwischen außerhalb und innerhalb”44 in einem Maße, das die
heftigen Anfeindungen nach dem Fall der Mauer erst ermöglichte und die auf
beiden Seiten mit Projektionen versehene Rolle der DDR-Intellektuellen als
“eine gemachte, eine künstliche, eine hypertrophe Rolle”45 offenbarte.
Literarisches Engagement in der DDR
Ein Spezifikum der DDR-Literatur gilt es also hervorzuheben: die in die-
ser Komplexität einzigartige Ausprägung literarischen Engagements. Jurek
Becker vermerkte dies 1990 vor allem für die älteren Generationen der
DDR-Schriftsteller:
Das politische Anliegen stellte die alles überragende Qualität eines Buches dar;
kaum ein Autor hätte es sich leisten können, darauf keine Rücksicht zu nehmen.
Andere Aspekte des Schreibens wie, sagen wir, Leichtigkeit oder Kunstsinn oder
Phantasie hatten ihre Bedeutung vor allem darin, dass sie das Eigentliche zur
vollen Geltung bringen sollten, das Anliegen.46
42
Alle Zitate ebd. S. 245.
43
Ebd. Bathrick zitiert hier Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelli-
genz und die Macht. Berlin: Rowohlt 1992. S. 151f.
44
Ebd. S. 244f.
45
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 191.
46
Becker: Wiedervereinigung [wie Anm. 28]. S. 360.
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Auch wir halten das spezifische literarische Engagement der meisten DDR-
Schriftsteller für ein entscheidendes Definitionsmerkmal der DDR-Literatur
und halten es zugleich für verschieden von dem der engagierten Literatur etwa
der Bundesrepublik.47 Das sehen manche freilich anders: Frank Schirrmacher
und Ulrich Greiner hatten im Literaturstreit keinerlei Probleme, die engagier-
ten Literaturen in Ost und West gleichzusetzen48 und unter dem Schmähbe-
griff “Gesinnungsästhetik” auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen,
um gemeinsam mit Karl Heinz Bohrer eine Literatur zu fordern, die sich rein
ästhetisch definiere und von politischen Haltungen Abstand nehme. Auch
Wolfgang Emmerich zeigte sich offenbar überzeugt von Schirrmachers
Argumenten und übernahm in seinem Artikel Für eine andere Wahrnehmung
der DDR-Literatur dessen Gleichsetzung der Rolle führender Literaten in
der Bundesrepublik und in der DDR – die gleichermaßen in einem “präzep-
torischen Gewissen der Nation-Rollenverständnis”,49 stehen geblieben seien,
wobei der Verlust dieses Selbstverständnisses für die DDR-Autoren schwerer
zu ertragen gewesen sei als für die westdeutschen Kollegen.
Zu einer Stilisierung der Autoren in politischer Hinsicht hatte in der DDR
jedoch auch das Publikum mit seiner Erwartungshaltung beigetragen, wie
Christoph Hein erläutert:
Man wurde von zwei Seiten bedrängt, und die Literatur war von zwei Seiten
bedroht – vom staatlichen Zensor und von den Erwartungen des Publikums. Dem
Druck des Staates konnte man ausweichen, der war so eindeutig und offensicht-
lich. Aber da gab es die Gefahr, daß man sich im Widerstand verkrampft und
blödsinnig verbeißt [. . .]. Dem Druck des Publikums hingegen konnte man sich
kaum entziehen. Die Leser wollten hören, wie ich dem Honecker das Messer in
den Leib stoße. Gefragt war nicht nur der kritisch-engagierte, sondern der extrem
politische Schriftsteller. Und das ist eine Gefahr für die Literatur.50
47
Zur spezifischen Ausprägung engagierter Literatur in der DDR zwischen
Sartre, Lenin, Lukács vgl. Mirjam Meusers Ausführungen in: Ludwig u. Meuser:
Geschichte [wie Anm. 33]. Hier: S. 39-47.
48
Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe,
neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des west-
deutschen Bewußtseins. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.10.1990. Literatur.
Beilage zur Buchmesse. S. 1–2. – Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik.
Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz.
In: Die Zeit 02.11.1990.
49
Emmerich: Wahrnehmung [wie Anm. 18]. S. 203f.
50
Christoph Hein: “Die alten Themen habe ich noch, jetzt kommen neue dazu.”
Gespräch mit Sigrid Löffler (März 1990). In: Christoph Hein [wie Anm. 7].
S. 37–44. Hier: S. 44.
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51
Schmidt: Redeweisen [wie Anm. 39]. S. 71. (Hervorh. im Orig. bei T.S.)
52
Ebd. S. 72.
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betrachten. Hierfür gibt es gute Argumente. Zunächst liegen mit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges und der friedlichen Revolution von 1989 (bzw. dem
Untergang der DDR 1990) zwei einschneidende historische Zäsuren vor,
die das Kriterium von “Trennereignissen” bzw. “Epochenschwellen” (Hans
Blumenberg) erfüllen und die dazwischenliegende Zeit einrahmen53 – wobei
dies natürlich auch für die Literatur der alten Bundesrepublik zutrifft, die
man ebenfalls als eigene Epoche ansehen kann;54 doch ist ja eine zeitliche
Parallelität oder Überlappung mehrerer Epochen in der Literaturgeschichte
nicht ungewöhnlich. Um weiterhin für die Werke von Autoren aus der DDR
gemeinsame Ordnungsprinzipien oder gar “Epochen-Signaturen”55 festzu-
halten, müsste man die (hier nur beispielhaft von Wittstock und Böthig ange-
führten) Motive, Themen und Leitbegriffe zusammenfassen, dabei jedoch
unzulässige Verallgemeinerungen vermeiden bzw. inhaltliche Wandel- und
Verschiebungstendenzen berücksichtigen – was ja mit den weit verbreiteten
Subkategorien Aufbauliteratur, Ankunftsliteratur, Untergrundliteratur, Lite-
ratur des Prenzlauer Berg etc. bereits versucht wurde. Weitaus schwieriger
erscheint es, eine gemeinsame ästhetisch-formale Basis auszumachen, sei es
ausgehend von der staatlichen Ablehnung avantgardistisch-modernistischer
Techniken – ohne jedoch dem berüchtigten “Sozialistischen Realismus” auf-
zusitzen, dem die wenigsten Schriftsteller ungebrochen folgten. Zumindest
gattungsbezogen wären gewisse gemeinsame Merkmale vielleicht fassbar, sei
es eine Tendenz zum realistischen Erzählen in der Prosa, ein hohes Formbe-
wusstsein und eine spezielle Erberezeption in Lyrik und Drama56 (mit eige-
nen Strömungen, etwa “Sächsische Dichterschule” oder Produktionsstücke,
neues Geschichtsdrama, Hacks’ “Sozialistische Klassik” etc.).
Vor allem aber spricht für die Klassifizierung der DDR-Literatur als
Epoche ein entscheidendes Kriterium: eine in ungemein vielen theoreti-
schen Texten zur Literatur beständig ausgearbeitete, überarbeitete, in der
Diskussion stehende Programmatik, mithin ein fortlaufender Diskurs über
53
Vgl. Benedikt Jeßing u. Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche
Literaturwissenschaft. Stuttgart-Weimar: Metzler 2003. S. 11.
54
Zur Diskussion der historischen Epoche 1945-89 und ihrer verschiedenen
Ausprägung in Ost- und Westdeutschland vgl. Thomas Schubert: Von der Epoché
des Zeithistorikers. Bemerkungen zur “Aufarbeitung der Aufarbeitung”. In:
Deutschland Archiv 43.5 (2010). S. 889-896.
55
Gerhard Rupp: Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der
Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999.
56
Wobei auch das ‘sozialistische Drama’ kein ganz einheitlicher Begriff sein kann;
z.B. fallen etwa Heiner Müllers Stücke der 1970er Jahre, die sich explizit ‘west-
licher’ oder gar postmoderner Techniken bedienten, formal etwas aus dem so zu
konstruierenden Rahmen.
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Als wenige Beispiele unter vielen seien hier nur genannt: Christoph Hein: Als
Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin-Weimar: Aufbau 1990. –
Ders.: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004
[Berlin-Weimar: Aufbau 1987]. Darin u.a. ein Essay zur spezifisch engagier-
ten Literatur der DDR: Linker Kolonialismus oder Der Wille zum Feuilleton. S.
130–143. – Rainer Kirsch: Kunst und Verantwortung. In: Werke 4. Berlin 2004, S.
131–142. – Ders.: Amt des Dichters. Aufsätze, Rezensionen, Notizen, 1964–1978.
Rostock: Hinstorff 1979.
58
Vgl. Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik XII.
Hg. von Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München: Fink 1987.
59
U.a. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer
Entwurf. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995. Darin bes.: “Einleitung: Vom
Dilemma der Epochenbegriffe”. S. 7-30.
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Michael Opitz
I.
Die Frage, was von der DDR-Literatur bleiben wird, ist spekulativ. Denn zur
Beantwortung können nur vergangene und heutige, nicht aber zukünftige
Rezeptionsbedingungen herangezogen werden. Dennoch hat Hölderlins Vers:
“Was bleibet aber, stiften die Dichter” seine tiefere Wahrheit.1 Hilft er aber
bei der Antwortsuche auf die Frage, was von der DDR-Literatur bleiben wird,
wirklich weiter? Hölderlin spricht von Dichtern und so bliebe zunächst die
Frage zu beantworten, welche Dichter die DDR-Literatur denn hervorgebracht
hat. Dichter gelten als Verfasser von sprachkünstlerisch gestalteten Texten,
weshalb das Wort überwiegend im Hinblick auf die Lyrik Anwendung findet.
Doch wird im 20. Jahrhundert die Bezeichnung Autor oder Schriftsteller
gebräuchlich. Haben Autoren der DDR-Literatur Bleibendes gestiftet? Für das
Gegenteil, für Texte, die in Sprache übertrugen, was parteipolitische Direktiven
vorformuliert haben, ließen sich leicht Beispiele finden. Allerdings zeichnet
sich diese staatlich geförderte und für vorbildlich angesehene Literatur durch
einen hohen Verfallswert aus. Zu großen Teilen ist sie sehr schnell und zu
recht vergessen worden. Apologetische Texte aus dem literarischen Feld der
DDR-Literatur werden in einem zukünftigen Literaturkanon wohl kaum zu
finden sein, es sei denn als Beispiele für dichtungsferne Literatur. Insofern
spricht auf den ersten Blick einiges für die These von Reinhard Baumgart, die
1
Friedrich Hölderlin: Andenken. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in
zeitlicher Folge. Hg. von D. E. Sattler. Band XI. 1804–1808. München: Luchterhand
2004. S. 121–123. Hier: S. 123.
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er vor fast zwanzig Jahren formuliert hat. Er prognostizierte 1992, dass die
DDR-Literatur in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird.
Denn nichts spricht dafür, daß sich nach dem Ende der DDR ausgerechnet in der
Literatur etwas erhalten wird, was sich auf allen anderen Gebieten in den Westen
hinein auflöst. Das zurückgeblieben Deutsche, das langsam Gearbeitete, das
gläubig Traditionelle oder auch beflissen Engagierte der DDR-Bücher: es wird
sich verlieren.2
2
Reinhard Baumgart: Der neudeutsche Literaturstreit. Anlaß – Verlauf –
Vorgeschichte – Folgen. In: Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur.
TEXT KRITIK 113. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text
kritik 1992. S. 72–85. Hier: S. 85.
3
Ebd.
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Nach dem Ende der DDR wurde nicht nur die DDR, sondern auch die in
der DDR geschriebene, oder die mit Bezug auf ihre Existenz entstandene
Literatur aus einer veränderten Perspektive wahrgenommen. Bis 1989 hatte
die Literatur in der DDR auch die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit und in
der Bundesrepublik wurden besonders jene Texte aus der DDR zur Kenntnis
genommen, die in dem Land, in dem sie geschrieben worden waren, verbo-
ten, ignoriert oder nur in geringer Auflage erscheinen konnten. Besonders
diese Texte sollen nach dem Verschwinden der DDR – wie zu lesen ist – nun
stärker auf ihren ästhetischen Wert hin befragt werden. Der schien bis 1989
weit weniger wichtig gewesen zu sein, da offensichtlich die intendierte poli-
tische Sprengkraft deutlich stärker interessierte. Demnach wurden inhaltliche
Norm- und Tabubrüche über die sprachkünstlerische und damit die ästhe-
tische Bedeutung gestellt. Wolfgang Emmerich schreibt in der “Einleitung”
seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR von 1996: “Die interessante
DDR-Literatur bleibt gerade nicht ‘eine Literatur des geschlossenen Regel-
kreises, geschrieben von Bürgern der DDR für Bürger der DDR’, wie Karl
Robert Mandelkow behauptet hat.”4 Dagegen gibt er zu bedenken:
Vielleicht bleibt sie es noch allzusehr, weil auch Autoren wie Wolf oder Braun,
vielleicht sogar Müller illusionär an ihre sozialpädagogische Aufgabe auf dem
Terrain der DDR glaubten. Aber sie geht, zum Glück, auch darüber hinaus, wird,
als eine, die wieder an die internationale Moderne Anschluß findet, immer stärker
autonom und souverän, ja subversiv gegenüber dem Offizialdiskurs der SED und
der ihr abgeforderten politischen Funktion. Daß sie es in den meisten Fällen nie
ganz wurde, ist ihr Dilemma, vielleicht darf man auch sagen: ihre Tragik. Dieser
Umstand macht sie wiederum auf eigentümliche Weise interessant, weil anders als die
westdeutsche Literatur. Die vorliegende Darstellung versucht dieser Konstellation
Rechnung zu tragen und die Wahrnehmung von DDR-Literatur als Literatur zu
befördern. Auch wenn große Textmengen aus dem Fundus der DDR-Literatur
diesem emphatischen Literaturbegriff mit Sicherheit nicht gerecht werden, bleibt
ein erheblicher Rest.5
4
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 1996. S. 26.
5
Ebd. S. 26f.
6
Ebd. S. 19.
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sich eher umgekehrt. Die Direktiven, die auf Kulturtagungen des ZK der SED
oder auf Kulturkonferenzen der FDJ formuliert wurden, kamen zustande,
nachdem sich literarische Beispiele häuften, die dem parteipolitischen
Realismuskurs nicht gefolgt waren. Von Bräunigs Roman Rummelplatz war in der
ndl nur ein Kapitel zu lesen, das aber genügte und der Autor musste sich auf
dem 11. Plenum von 1965 heftige Anfeindungen gefallen lassen, da das von
ihm entworfene Menschenbild der Wismut-Arbeiter nicht dem entsprach, das
man gern abgebildet gesehen hätte. Und auf der Kulturkonferenz der FDJ von
1982 wurde Volker Brauns Stück Schmitten kritisiert, weil der Autor “eine
ignorante Position zum tatsächlichen Leben der Arbeiterklasse einnehmen”
würde.7 Die Politik verfolgte die Absicht, die Literatur per Dekret zum partei-
politischen Gleichschritt zu bewegen und auf Kurs zu bringen. DDR-Literatur
ist in bestimmten Literaturverhältnissen entstanden, wobei es zu den Beson-
derheiten dieser Literatur gehört, dass ein gewichtiger Teil der DDR-Literatur
außerhalb dieser Literaturverhältnisse geschrieben wurde und – der Eindruck
drängt sich gegenwärtig auf – noch immer geschrieben wird. Es spricht
deshalb einiges dafür, neben der Aufmerksamkeit gegenüber dem Werk,
die Literaturverhältnisse nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Aussagen
darüber getroffen werden sollen, was sich als bleibend erweist und warum.
Um die Frage nicht im Nirwana der Spekulation verschwinden zu lassen, wird
es um Kriterien gehen müssen. Aber welche?
II.
Volker Braun bescheinigt der Kunst in seinem Gedicht “[Die Kunst]” aus
dem Zyklus “Totentänze/Liebeslager” Grazie.8 Grazie ist das zentrale Thema
in Kleists Essay Über das Marionettentheater. Darin findet sich die provo-
kante These, dass eine Marionette mehr Grazie besitze, als ein lebender
Tänzer. Ähnlich irritierend ist Brauns These, der von der Kunst als einer
Untoten spricht. Er sieht sie als eine Wiedergängerin, die sich mit Anmut über
die Gräber hinwegbewegt. In Kleists Aufsatz wird die Zierde der Grazie als
Komplementärbegriff gegenübergestellt. Ein junger Mann fällt in Kleists Text
der Eitelkeit zum Opfer, als er versucht, eine anmutige Bewegung zu wiederho-
len, die ihm einmal gelungen war, als er sich nämlich – ganz bei sich seiend –
einen Splitter aus dem Fuß zog. Beim erneuten Versuch geht ihm das freie
Spiel der Gebärde verloren. Dieser Geschichte lässt Kleist jene von einem
7
Hartmut König: Die Verantwortung der FDJ für Kultur und Kunst in den
Kämpfen unserer Zeit. Referat auf der Kulturkonferenz der Freien Deutschen
Jugend. In: Junge Welt Nr. 248. 22.10.1982. S. 3–10. Hier: S. 7.
8
Volker Braun: [Die Kunst]. In: Ders.: Auf die schönen Possen. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2005. S. 39.
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Bären folgen, der in der Lage ist, jeden Stoß eines Fechtmeisters zu parieren.
Kleist schlussfolgert aus den Beispielen: “Wir sehen, daß in dem Maaße, als,
in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die
Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt”.9 Grazie stellt
sich ein, so Kleist, “wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches
gegangen ist”.10
In Brauns Gedicht tritt keine Marionette, sondern eine Tote auf, aber gerade
deren Lebendigkeit und Eleganz sorgt für Verwunderung. In ihrer anmuti-
gen Beweglichkeit unterscheidet sie sich beispielsweise von der “arbeitslos”
gewordenen Utopie. Auch sie nimmt Braun mit dem Gedicht “[Die Utopie]”
in seinen Totentanzreigen auf.11 Während das wilde Gedächtnis, das Braun
der Kunst bescheinigt, ihr Überleben garantiert, erscheint die Utopie, in
Anlehnung an Ernst Bloch, nur ein “Tagtraum” gewesen zu sein. “Dies steckt
ja zuallererst in der Utopie –, die nicht umsonst als Gespenst umgeht. Das
Gespenstische an ihr ist nicht das Untote im Tanz, sondern der Rückschluß
[. . .] auf die Verhältnisse, die ein ‘Überleben von der Hand in den Mund’ mit
charakterisiert.”12
Durch Majuskeln wird im Gedicht “[Die Kunst]” der Vers hervorgehoben:
“WIR KÖNNEN JA NICHTS BEHALTEN.” Trotz aller Grazie handelt es
sich bei der tanzenden Toten in Brauns Gedicht um ein Skelett. Die so hervor-
gerufene Irritation hat kleistsches Format. Die Kunst in Brauns Gedicht bleibt
beweglich. Sie ist nicht zu halten und sie kann nichts behalten. Was sie äußert,
muss zuvor durch sie hindurchgegangen sein, sodass die Kunst als ein
Scharnier des öffentlichen Lebens verstanden werden kann. Sie nimmt und
sie gibt. Sie kann nichts halten und sie will nichts behalten. Sie braucht
Öffentlichkeit! Sie will sich einmischen, sich zu Wort melden und sich dabei
an nichts halten müssen – sie will autonom sein.
Auf einen anderen Bezug, den zu Hölderlins Gedicht “Mnemosyne”,
hat Stephan Krause hingewiesen.13 Bei Hölderlin heißt es: “Und vieles /
9
Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke.
Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß u. Peter Staengle. II/7 Berliner
Abendblätter I. Basel-Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997. S. 329–331. Hier: S. 330.
10
Ebd.
11
Volker Braun: [Die Utopie]. In: Ders.: Auf die schönen Possen [wie Anm. 8].
S. 33.
12
Stepan Krause: Engagement oder Tanz der Begriffe? – Zu Volker Brauns Gedicht-
zyklen Totentänze/Liebeslager. In: Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer
DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Miriam
Meuser. Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen
2009. S. 185–199. Hier: S. 189.
13
Ebd. S. 197.
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Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten. [. . .] Ins
Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist / Zu behalten.”14 Im
Dialog mit Hölderlins Gedicht bürdet sich die Kunst, die Braun im Blick hat,
gerade die Last des Scheiterns sowie die Last der Gescheiterten auf. So ist
sie gewappnet gegen das Vergessen. Sie kann zwar in Vergessenheit geraten,
aber der Gedanke schreckt die Kunst in Brauns Gedicht nicht. Als Garant des
Erinnerns ist sie immun gegen Verfall. Selbst wenn sie nur noch als ein abge-
storbenes Relikt aus der Vergangenheit in Erscheinung tritt, sie steckt voller
Leben.
Volker Braun greift in dem Gedicht “[Die Kunst]” einen Gedanken auf,
der in dem Peter Weiss gewidmeten Essay “Ein Ort für Peter Weiss” zent-
ral ist. In dem Essay unternimmt es Braun, den “Ort” des Schreibens nach
der Wende von 1989 neu zu kartographieren. Nachdem die Geschichte den
Boden umgepflügt hat, gilt Brauns Aufmerksamkeit den Bodenverhältnissen,
denn er sucht nach einem Ort, der dem Schreiben zukünftig einen gewissen
Halt bieten könnte. Der Ort, den er – ebenso wie Peter Weiss – auf seiner
Karte markiert hatte, war, das wussten beide, ein vorläufiger und er ist inzwi-
schen verschwunden. Er war nicht mehr als ein Halteplatz, geeignet, um auf
Geschichte zu warten, wie es in Heiner Müllers Text “DER GLÜCKLOSE
ENGEL” heißt. Dieser Ort war mehr und mehr in eine Schieflage gera-
ten und dass er schließlich ins Rutschen kam, daran hatte auch die kritisch-
engagierte DDR-Literatur eine Aktie. Sie hat die Verhältnisse unterminiert, indem
sie widersprach, oder, wie die Literatur des Prenzlauer Bergs, indem sie zu
einer anderen Sprache fand. Braun beschreibt den Untergang der DDR als
das Verschwinden einer für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Alterna-
tive, sodass “[d]ie Punkte in der Topografie des Schreibens [. . .] selber zum
blinden Fleck”15 wurden.
Es war die Literatur von Braun und Müller, es waren die Texte von
Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, Christa Wolf, Karl Mickel, Christoph Hein,
Jurek Becker und Thomas Brasch, von Angela Krauß, Uwe Kolbe und Bert
Papenfuß (weitere Namen ließen sich finden), die stetig den Boden aushöhl-
ten, auf dem sie geschrieben wurden. Dieses Unter- und Umgraben war
notwendig, weil die Bodenbeschaffenheit zu Wünschen übrig ließ. Deshalb das
Engagement dieser Literatur, die auf Veränderungen hinschrieb. Anders als
die apologetischen Texte der DDR-Literatur hat sich diese Literatur gegen die
14
Friedrich Hölderlin: Mnemosyne. In: Ders.: Sämtliche Werke [wie Anm. 1].
S. 170–172. Hier: S. 170f.
15
Volker Braun: Ein Ort für Peter Weiss. In: Ders.: Wir befinden uns soweit wohl.
Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998.
S. 164–174. Hier: S. 167.
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89
16
Volker Braun: Das Eigentum. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge. Band 10. Halle:
Mitteldeutscher Verlag 1993. S. 52.
17
Heiner Müller: Die Reflexion ist am Ende, die Zukunft gehört der Kunst.
Gespräch mit Frank M. Raddatz. In: Ders. Werke Band 12. Gespräche Band 3. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 7–18. Hier: S. 7.
18
Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer
Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Ders.: Schriften. Werke 8. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. S. 208–212. Hier: S. 211f.
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Wahrnehmungstrübung war. Christa Wolf gräbt in Stadt der Engel die Vergan-
genheit um und sie befördert so das Unterste der eigenen Lebensgeschichte
nach oben. Dieses Vorgehen erinnert an die Methode, die Walter Benjamin in
“Ausgraben und Erinnern” vorgeschlagen hat. Dort heißt es:
Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich
verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer
wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen
wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt.19
Einen Satz aus diesem Benjamin-Text hat Christa Wolf ihrem Buch als Motto
vorangestellt – er lautet: “So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger
berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher
ihrer habhaft wurde.”20 Dieser Satz wird zum Ausgangspunkt des Erzählens,
wobei gleichzeitig nach dem Ort gesucht wird, der dem Schreiben Halt ver-
leihen könnte. Es ist deshalb alles andere als manisch, wenn die Erzählerin,
sich selbst marternd, dem Vergessen so intensiv nachspürt. Die Erinnerungs-
arbeit muss – verstanden im Benjaminschen Sinne – immer wieder auf ‘einen
und denselben Sachverhalt’ zurückkommen. Diesem Sachverhalt will Christa
Wolf in Stadt der Engel schreibend auf den Grund gehen. Der Roman, an dem
sie mit Unterbrechungen mehrere Jahre geschrieben hat, ist ‘langsam gearbei-
tet’ und engagiert geschrieben worden. Die Geschichte wird entscheiden, ob
er bleibt.
Engagement, diesen nur scheinbar “in die Jahre” gekommenen Begriff,
stellen Janine Ludwig und Mirjam Meuser in ihrem Aufsatz In diesem besse-
ren Land – Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagier-
ter Literatur ins Zentrum der Debatte über die in der DDR entstandene oder
sich auf sie beziehende Literatur. Denn selbst die Abkehr von der engagierten
Literatur wurde in der DDR zu einem Politikum, wie die Reaktionen auf die
Literatur des Prenzlauer Bergs gezeigt haben. Die kritisch-engagierten DDR-
Autoren waren – ebenso wie die gänzlich “unengagierten” – konfrontiert mit
den herrschenden Literaturverhältnissen, in denen erwartet wurde, dass man
sich an die formal-ästhetischen Kriterien hält. Internationale Anerkennung
aber genoss gerade jene in der DDR entstandene Literatur, die sich durch
Nonkonformismus auszeichnete. Dabei fand der intendierte Ort des
Schreibens weniger Beachtung, sondern vielmehr der, von dem aus tatsächlich
19
Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern. In: Ders.: Gesammelte Schriften.
Unter Mitwirk. von Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. von Rolf
Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Band IV/1. Hg. von Tillman Rexroth.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972. S. 400–401. Hier: S. 400.
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92
Durch die Panzerung büßt der Wagen an Wendigkeit ein und immer stärker
bewegt er sich in eine Richtung, die der, der ihn lenkt, eigentlich nicht ein-
schlagen wollte. Bei der Fahrt durch die Geschichte hinterlässt der Wagen
eine “Blutspur”. Es ist die blutige Spur der Revolution, die mit einem Fanal
in Petersburg und sich weiter zu Städten wie Berlin, Budapest und Prag
zieht, die für das Scheitern stehen, was als revolutionärer Neubeginn begann.
In den niedergewalzten Revolutionen spiegeln sich die Verwerfungen der
sozialistischen Idee. Jean Paul Sartre hat dafür den Begriff vom “unglückli-
chen Bewusstsein” geprägt.22 Aus diesem Bewusstsein heraus ist in der DDR
kritisch-engagierte Dichtung geschrieben worden, eine Literatur, in der die
Autoren auf Distanz zur politischen Praxis gegangen sind. Das posthume
Schicksal der Werke, so hat es Sartre in “Was ist Literatur?” formuliert, hängt
21
Volker Braun: Der Eisenwagen. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge. Band 7.
Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1991. S. 231–238. Hier: S. 235.
22
Jean Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981. S. 225.
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weder “von unserem Talent noch von unseren Bemühungen” ab.23 Entschei-
dend dafür, was bleibt und was vergessen werden wird, ist, nach Sartres
Meinung, der Ausgang des Konflikts zwischen den beiden Machtblöcken.
Dieser Gedanke nimmt Bezug auf Benjamins Überlegung, die sich in den
Thesen Über den Begriff der Geschichte findet:
Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die
Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal
zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu
diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die
heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.24
Die Dichter mögen Bleibendes stiften, aber der Malstrom der Zeit arbeitet
daran mit, was bleibt. Und die Rezeption, die in bestimmten Verhältnissen
stattfindet – sozialen und ökonomischen –, entscheidet mit darüber, was
überliefert werden wird.
III.
Mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen von Goethes Wahlverwandt-
schaften hat Walter Benjamin den Roman intensiv gelesen. Das Ergebnis
dieser Lektüre könnte aufschlussreich für eine zukünftige Rezeption von
Literatur sein. Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften ist der
Versuch, ein Werk aus sich selbst heraus zu erklären, ohne dabei die Position
des Autors oder die der Rezeptionsgeschichte zu vernachlässigen. In dem 1922
abgeschlossenen Aufsatz, der 1924/25 in den von Hugo von Hofmannsthal
herausgegebenen “Neuen Deutschen Blättern” erschien, fragt Benjamin nach
dem bleibenden Wert von Goethes Roman. Er liest den 1811 erschienenen
Prosatext über eine in Auflösung befindliche Ehe vor dem Hintergrund der
literaturgeschichtlichen Aufnahme des Werkes, der er eine entschiedene
Absage erteilt. Entgegen der bisherigen Rezeption sind die Wahlverwandt-
schaften für ihn kein Ehe-Roman. Ihn interessieren sehr viel mehr die im
Roman waltenden Kräfte, denen die vier zentralen Personen beinahe willen-
los ausgeliefert sind. Charlotte, Eduard, der Hauptmann und Ottilie reagie-
ren nach dem Muster einer chemischen Gleichung. Es hat den Anschein, als
würden sie unabhängig vom eigenen Wollen bestimmten Anziehungs- und
Abstoßungskräften ausgesetzt sein. Benjamin extrapoliert seinen Interpreta-
tionsneuansatz, indem er sich von der Lesart Gundolfs, die dominierend für
23
Ebd. S. 204.
24
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte
Schriften [wie Anm. 19]. Band I/2. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann
Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 693–703. Hier: S. 696.
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seine Zeit war, distanziert. Benjamin interessiert sich für den Roman, weil
sein “trüber Einfluß” bei “verwandten Gemütern” schwärmerische Anteil-
nahme und bei distanzierten Betrachtern “widerstrebende Verstörtheit” aus-
zulösen vermag. Vor dem Hintergrund dieser beiden gegensätzlichen Lesarten
erscheint eine “unbestechliche”, der Vernunft folgende Kunstkritik notwendig
zu sein, wenn es gelingen soll, hinter das Geheimnis des Werkes zu gelan-
gen. Benjamin führt dazu mit dem “Sachgehalt” und dem “Wahrheitsgehalt”
zwei für seine Analyse zentrale Begriffe ein. Als bleibend erweisen sich nach
seiner Überzeugung jene Werke, “deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachge-
halt eingesenkt” ist.25 Während Wahrheits- und Sachgehalt in der Frühzeit
der Werke noch geeint sind, vergrößert sich der Abstand zwischen ihnen im
Verlauf der Überlieferungsgeschichte. Während der Wahrheitsgehalt der
Werke zu jeder Zeit gleich verborgen bleibt, unterliegen die Sachgehalte
einem Verständniswandel. Die Sachgehalte verrätseln sich mehr und mehr
mit der zeitlichen Distanz und bestimmte Realien treten dann auffällig hervor,
wenn sie nicht mehr existieren. Für den Kritiker erwächst daraus die Aufgabe:
Man darf ihn [den Kritiker] mit einem Paläographen vor einem Pergamente ver-
gleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern
Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letzten
beginnen müsste, so der Kritiker mit dem Kommentieren.26
Der Kritik geht die Kommentierung der Sachgehalte voraus und erst die
Kritik ist in der Lage, den Wahrheitsgehalt eines Werkes zu erfassen.
Unverzichtbar ist die Kommentierung der den Werken inhärenten Rea-
lien. Sie müssen genannt und gedeutet werden, weil der Kritiker erst durch
die Kommentierung der Sachgehalte auf den Wahrheitsgehalt stößt, der den
Werken eingeschrieben ist. Bei der Beschreibung der Realien aber bewegt sich
der Kritiker unweigerlich in jenem Feld, dem sie ihre Existenz verdanken.
Benjamins Kritiker seziert und differenziert, er zerstört den schönen Schein,
um auf den Wahrheitsgehalt eines Werkes zu stoßen. Benjamin zeigt sich im
Wahlverwandtschaften-Essay unbeeindruckt von der seine Zeit dominierenden
Rezeption und findet eigene Kriterien für seine ganz anders gelagerte Lesart.
Ein Beispiel, wie durch eine veränderte Perspektive ein ganz neues Licht auf
einen kanonischen Text fallen kann.
Versteht man die DDR-Literatur als ein Archiv, in der ein inzwischen
untergegangenes Staatswesen seinen Abdruck hinterlassen hat, dann wird die
25
Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte
Schriften [wie Anm. 19]. Band I/1. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann
Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. S. 125–201. Hier: S. 125.
26
Ebd.
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27
Anselm Kiefer: Die Kunst geht knapp nicht unter. Anselm Kiefer im Gespräch mit
Klaus Dermutz. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 247.
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Autor wie Paul Celan, der der Ansicht war, dass das vollkommene Gedicht
als eine Form des Widerstands die Welt “zerkratzen” müsse. “Widerstand ist
sehr komplex. Widerstand gegen den normalen, abgenutzten, standardisierten
Gebrauch der Wörter. Das kann Widerstand sein, aber auch der Widerstand
gegen die eigene Beruhigung.”28
In Wolfgang Hilbigs Roman Eine Übertragung, der 1989 erschienen ist,
heißt es über den Protagonisten C., er “kratze” seine Phantasien ins Papier.29
Zu seinen “liebsten Besitztümern” zählt C. ein Ölbild, in dessen Zentrum,
“konturlos, nur ein von einer Farbe in die andere hinüberschmelzender Kreis,
eine weiße Sonne, stand”. In dem Bild findet C. etwas aufgehoben, was er
“an manchen Tagen und zu gewisser Zeit, vor oder nach dem Sonnenunter-
gang, vom Küchenfenster unserer Wohnung in M. aus sah [. . .]. In bestimm-
ten Augenblicken nach dem Verschwinden der Sonne war es mir, als kehre
ein dunstiges Spiegelbild einer weißen Sonne dorthin, wo es nichts zu suchen
hatte.”30 Auch diese von Hilbig beschriebene Sonne scheint nicht unterzuge-
hen. Sie verschwindet zwar, aber wenn sie verschwunden ist, dann erscheint
dort, wo sie ihren Platz hatte, erneut als Spiegelbild.
C., ein Heizer, der in den Nächten schreibt, sieht jeden seiner Sätze von der
“Trivialität bedroht”.31 Aber auch er ist bedroht, denn man hat ihn verhaftet,
weil er eine DDR-Fahne angezündet haben soll. Doch C. ist unschuldig, nur
dieses Wissen hilft ihm nicht, denn seine Vernehmer sind von seiner Schuld
überzeugt. Sie machen ihn zu jemandem, der er nicht ist. Auf unterschiedli-
chen Ebenen angesiedelt, finden die Konfliktparteien zu keiner gemeinsamen
Sprache. Ihr Sprechen bleibt vom Geheimnis umgeben. C. ist das Opfer einer
Verwechslung geworden, wodurch sich seine bereits latent vorhandene Iden-
titätskrise verstärkt, denn er übt einen Beruf aus und er geht neben diesem
Beruf seiner Berufung nach. Das hat zur Folge, dass er stets ein anderer
sein muss. Die Anklage nimmt den Vorwurf der Brandstiftung zum Anlass,
einen Zusammenhang zwischen seiner schriftstellerischen Arbeit und dem
Abbrennen der Fahne herzustellen. Sie wirft ihm vor, er hätte die Fahne nur
deshalb angezündet, weil die von ihm geschriebene Literatur in dem Land
ignoriert wird, das die Fahne symbolisiert. Ein Rechtsanwalt macht C. klar, was
man von Schriftstellern im Allgemeinen und im Besonderen von ihm hält:
“Schriftsteller sind ein Nichts!”32 C. ist ein Nichts und nicht der, für den man
28
Ebd.
29
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Werke. Band IV. Hg. von Jörg Bong,
Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011. S. 60.
30
Ebd. S. 67.
31
Ebd. S. 61.
32
Ebd. S. 49.
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ihn hält. Um sich zwischen den Nichtexistenzen als Person zu verorten, unter-
zieht er sich einem Selbstverhör, um die Koordinaten seines Seins bestimmen zu
können. Er geht der Bedeutung eines Kassibers nach, der ihm im Gefängnis
zugeschmuggelt wurde. Den Kassiber hat er nach der Lektüre verschluckt,
sodass das darauf mitgeteilte Geheimnis nun durch sein Inneres geht. Der
Weg des Kassibers durch seinen Körper erscheint ihm von symbolischer
Bedeutung zu sein.
Sein Text hatte ein Geheimnis enthalten, das durch mich hindurchging, durch
meine Eingeweide, aber ohne daß es mich nur im mindesten berührt zu haben
schien, um dann, unter Anstrengungen, die mir mein angstgelähmter Stuhlgang
verursachte, seinen Weg hinab in die Klärgruben des Gefängnisses, in die damp-
fenden Flüssigkeiten eines stinkenden Acheron zu finden. – So schied, ich war mir
der Tragweite dieses Vergleichs bewußt, das göttliche Prinzip eines Stoffwechsels
zuweilen ganze Universen von zwischenmenschlichen Beziehungen aus, wenn
diese innerhalb der irdischen Gefangenschaft aller Kreatur dem Ratschluß des
Schicksals entgegenstehen mochten.33
33
Ebd. S. 51f.
34
Ebd. S. 249.
35
Ebd. S. 250.
36
Ebd.
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Abwesendem aber wird als Affront gegen die Vorgaben des ‘sozialistischen
Realismus’ angesehen. C. aber kann die Antworten, nach denen er sucht, nur
im Abwesenden finden. Er, den man für ein Nichts hält, der im Literaturen-
semble des Landes, in dem er lebt, nicht anwesend ist, erkennt in der
Abwesenheit den Urgrund der Poesie:
[D]ie Poesie war die Abwesenheit, wie sie denkbar konsequent, wie sie abso-
lut zu verstehen war, nämlich als die Abwesenheit Gottes. Als die Abwesenheit
einer Erklärung. Als die Abwesenheit auch der Klage. Als ein Sein auch ohne die
Möglichkeit zur Larmoyanz, wie ihr so viele Schriftsteller, die ihm widerlich
waren, verfielen. Es war die Abwesenheit einer Mitte . . . es war vielleicht
Sentimentalität in ihrer gemeinsten Form, vermischt mit Kälte in ihrer kältesten
Form, es war die Abwesenheit der logischen Erklärung.37
Das Ausscheiden des Kassibers erweist sich für C. als Ausgangspunkt für
seine im Verborgenen liegende Geschichte. Die geheime Sprache ist durch
ihn hindurch gegangen. Er hat sie verinnerlicht und nur in seinem Innern
kann er sie finden. “Da ‘Poesie’ nicht sinngemäß zu erfassen ist, muß man
sie als ‘abwesend’ beschreiben.”39 C., der von der Geschichte ausgeschieden
wurde, kann sich ihr nur als Abwesender stellen. In dieser Hinsicht korres-
pondiert eine der Grundaussagen von Hilbigs Roman mit seinem Gedicht
“abwesenheit” von 1969. Darin wird von Worten als von “gefrorenen fetzen”
gesprochen. Das Gedicht verweist auf die Notwendigkeit, eine neue Sprache
zu finden:
[. . .]
und wir werden nicht vermißt unsere worte sind
gefrorene fetzen und fallen in den geringen schnee
wo bäume stehn prangend weiß im reif – ja und
reif zum zerbrechen
37
Ebd. S. 338.
38
Ebd. S. 372.
39
Wolfgang Hilbig: Zeit ohne Wirklichkeit. Ein Gespräch mit Harro Zimmermann.
In: Wolfgang Hilbig. Text Kritik Heft 123. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text kritik 1994. S. 11–18. Hier: S. 17.
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40
Wolfgang Hilbig: abwesenheit. In: Ders.: Gedichte. Werke. Band I. Hg. von Bong,
Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. S. 51.
41
Hilbig: Übertragung [wie Anm. 29]. S. 247.
42
Jürgen Hosemann: Nachbemerkung. In: Hilbig: Übertragung [wie Anm. 29].
S. 408.
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Der namenlos bleibende Protagonist teilt das Schicksal der Abwesenheit mit
Hilbig, der in der DDR nicht dazu gehörte. Das macht auch die verweigerte
Zuordnung von Hilbigs Gedichten deutlich, die 1980 in der Zeitschrift Sinn
und Form veröffentlicht wurden. Unter der Überschrift “GEDICHTE AUS
DER DDR” erscheinen in diesem Heft Gedichte von Lothar Walsdorf, Klaus
Rahn und Willi Sagert. Dagegen findet man die acht zwischen 1973 und 1979
entstandenen Gedichte Hilbigs nicht unter dieser Überschrift.44 Soll die Sepa-
rierung Unterschiede kenntlich machen? Zumindest entsteht dieser Eindruck.
Der zu dieser Zeit noch in der DDR lebende Autor schreibt Gedichte, aber
sie kommen, anders als die seiner Kollegen, nicht aus der DDR. Woher aber
kommen sie dann? Hat die Redaktion mit der verweigerten Zuordnung mög-
licherweise Recht gehabt? Hilbig war ein Dichter, der in der DDR die Fetzen
Wirklichkeit fand, die ihm als Koordinaten für seine Dichtung genügten.
Die DDR existiert ja eigentlich noch, ausgenommen ihre Bezeichnung, ihre
Regierung, die die Bezeichnung erfunden hat, und das Ideologie-System, mit dessen
Hilfe sie versucht hat zu funktionieren. Es sind also nur Nebensächlichkeiten
verblichen, und mit denen sollte sich ein Schriftsteller nicht abgeben. Das andere,
also überwiegende zu beschreiben – auch dessen Veränderungen und, wenn es denn
sein soll, seinen Untergang – das ist, denke ich, eine große (und atemberaubende)
43
Wolfgang Hilbig: Über den Tonfall. In: Ders.: Erzählungen und Kurzprosa. Werke.
Band II. Hg. von Bong, Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. S. 74.
44
Die Gedichte von Lothar Walsdorf, Klaus Rahn und Willi Sagert finden sich in:
Sinn und Form 32 (1980). Heft 6. S. 1251–1258. Erst mit einem deutlichen Abstand
von etwa vierzig Seiten folgen die Gedichte von Wolfgang Hilbig. Es handelt
sich um: “variationen zu einer diagnose”, “reisefieber”, “die namen”, “déjà vu”,
“gewöhnlicher rassismus”, “sprache”, “zwischen den paradiesen” und “berlin. fla-
neur de la nuit” sind auf den Seiten 1299–1305 zu finden.
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Aufgabe für einen Schriftsteller. Und ein solcher Versuch wäre keineswegs
provinziell. Die ganze Welt der Literatur besteht aus diesen kleinen Provinzen à
la DDR.45
V.
Werke, die Widerstand in der Sprache leisten, werden in der extremsten Vari-
ante in der deutschsprachigen Literatur von Reinhard Jirgl geschrieben. Jirgls
zwischen 1980 und 1985 geschriebener Mutter Vater Roman lag fünf Jahre
im Verlag, da ihm die notwendige Druckgenehmigung nicht erteilt wurde.
Während dieser Zeit, also etwa zwischen 1985 und 1988, schrieb Jirgl die 2002
im Hanser Verlag erschienene Genealogie des Tötens. Texte, die in der DDR ent-
standen, sind erst Jahre später im Westen erschienen. Für Jirgl ist die Schrift
des geschriebenen Textes mehr als nur das Transportmittel des Inhalts. Indem
er die Normen der Schriftsprache unberücksichtigt lässt und sich für eine
lautbezogene Schreibform entscheidet, lädt er die Sprache mit zusätzlichen
Bedeutungen auf. Er schreibt beispielsweise das Wort “Wirtschaft” mit
Doppel-“r” und verleiht dem Wort so eine zusätzliche Bedeutungsebene. Auf die-
sem Wege findet die Emotionalität, mit der Wirklichkeit erlebt wird, Eingang
in die Emotionalität des Textes. Als individuelles Erlebnisfeld funktioniert der
Text für Jirgl aber nur dann, wenn er sich in der Sprache unterscheidet, wenn
er in der Oberfläche des sprachlichen Ausdrucks zu jener unverwechselbaren
Subjektivität findet, die der Autor als seine, ihn auszeichnende Schriftsprache
verwendet. Diese Sprache widersetzt sich den Regeln einer normativen
Grammatik, deren Regeln für Jirgl nicht verbindlich sind. Er löst in seiner
Sprache die vorgegeben Sprachmuster auf und widersetzt sich, indem er Regeln
unterläuft, sodass die Sprache zum Ort des Widerspruchs wird.
Nur in der Schonungslosigkeit und der Ungerechtigkeit gegen das Unrechte sehe
ich eine (literarische) Möglichkeit, dem vom alltäglichen Terror Terrorisierten ein
Recht, wenn man so will, dann ein Positives zu geben. – Vor diesem Hintergrund
gilt mein Schreiben der Suche nach der größtmöglichen Subjektivität des Textes,
sowohl dem Inhalt als auch der Form gemäß [. . .]. Im Textgebilde sollen in der
Gesamtheit die Spannungen und Konflikte der äußeren Wirklichkeit durch
literarische Mittel in der Wirklichkeit des Textes – in bearbeiteter, zugespitzter,
‘inszenierter’ Wirklichkeits-Form – sich wiederfinden.46
Jirgl lässt sich nicht von Sprachnormen gefangen nehmen, er lässt sich
Sprachregeln nicht vorschreiben, sondern er versteht das Unterlaufen dieser
45
Hilbig: Zeit ohne Wirklichkeit [wie Anm. 30]. Hier: S. 12.
46
Reinhard Jirgl: Die wilde und die gezähmte Schrift. Eine Arbeitsübersicht. In:
Ders.: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2006. München: Hanser
2008. S. 92–122. Hier: S. 109f.
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Normen und Regeln als einen Hinweis darauf, dass der Mensch weder in har-
monischer Übereinkunft mit seiner Sprache noch in der mit der Gesellschaft
existiert. Mit einer ihm eigenen sprachlichen Renitenz erhebt Jirgl Einspruch
gegen jegliche Versuche, den Einzelnen mit den Mitteln einer normierten
Sprache zu schleifen. Seiner Meinung nach ist die Sprache ein Spiegelbild
für das “Chaos der Geschichte”, wobei der Körper des Subjekts jener Ort ist,
dem die Wunden der Geschichtsverwerfungen eingezeichnet sind.47
Von solchen Verwerfungen handelt Jirgls Roman Abtrünnig von 2004. Im
Zentrum stehen Figuren, die Grenzen überschreiten. Weil sie menschenwür-
dig leben wollen, verlassen sie ihre Heimat und werden so zu Abtrünnigen.
Jirgls Roman ist bevölkert von Nomaden, die von einer Seite auf die andere
wechseln. Als moderne Glücksritter sind sie unterwegs auf der Suche nach
dem Glück. Da, wo sie herkommen, würden sie schon bleiben, wenn sie die
Lebenswirklichkeit nicht als Zumutung erfahren würden. Die Figuren werden
innerhalb von Umbruchsprozessen zu Obdachlosen. Sie bleiben Unbehauste,
die sich plötzlich in einer durch grelles Gewitterlicht ausgeleuchteten Land-
schaft wiederfinden. Bindungen halten dieser Zerreißprobe nicht stand und
wer über Macht verfügt, zwingt andere dazu, sich zu unterwerfen.
Jirgl schaut mit unbestechlichem Blick gerade dorthin, wo die Wärme aus
den Dingen und Beziehungen verschwunden ist. Er beschreibt kalte Zustände
und Handlungsräume, in denen die erfahrene Eiszeit zur Daueratmosphäre
in einer globalen Gegenwart geworden ist. Diese Verhältnisse bieten dem
Einzelnen keinen Halt mehr, denn der Boden hat an Festigkeit verloren und
das Fundament ist brüchig geworden. Angesichts der massiven existentiel-
len Herausforderungen, der Erfahrung, nicht dazuzugehören, werden jene
Überlebensqualitäten wieder kultiviert, die notwendig sind, um den eigenen
Untergang abwenden zu können. Ethik wird zum Luxus, wo Unbehaustheit
eine allgemeinen Erfahrung ist. Jirgls Figuren sind chancenlos, denn was sie
auch versuchen, die Beschädigungen, die sie erfahren, hören nicht auf. Wie
geschickt sie auch vorgehen, was immer sie auch an Verdrängungskünsten
aufbringen, ihnen misslingt der entscheidende Schritt: Sie schaffen es nicht,
die Lebenswirklichkeit hinter sich zu lassen, die sie beschädigt hat und die sie
weiterhin verletzt.
Die Organisatoren haben den Titel der Konferenz “Nach der Mauer der
Abgrund” in Heiner Müllers Gedicht “Glückloser Engel 2” gefunden. Müller
stellt mit diesem Gedicht, in dem er den Engel noch hört, einen Bezug zu
seinem Gedicht “Der glücklose Engel” von 1958 her. Der Engel in diesem
Gedicht wartet auf Geschichte “in der Versteinerung von Flug Blick Atem”.
Von diesem Gedicht aus ergeben sich Verbindungen zu Benjamins Text vom
47
Ebd. S. 108.
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Angelus Novus aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte. Das War-
ten auf Geschichte, der Dialog mit den Toten, ist Müllers Thema. Es ist dies
darüber hinaus ein zentrales Thema der Literatur, die wir, der Einfachheit
halber, als DDR-Literatur bezeichnen. Literatur, die sich in die Geschichte
versenkt, die die Vergangenheit umgräbt, die nach möglichen Ursachen für
geschichtliche Verwerfungen sucht und sich nicht mit Beschwichtigungen
zufrieden gibt, wird schwer in Vergessenheit geraten, wenn sie für diese
Themen eine überzeugende Sprache gefunden hat.
Engagement bedeutet laut Duden: “berufliche Verpflichtung” und ver-
altet steht das Wort für “Aufforderung zum Tanz”. Eine Literatur, der eine
Aufforderung zum Tanz eingeschrieben ist, und die die Verhältnisse zum
Tanzen bringt, einer solchen Literatur sollte/könnte Dauer beschieden sein.
Die “Kunst”, so heißt es in Volker Brauns Gedicht, “wagt es zu denken /
Im Untergrund, wo alles lebt / Wie, ist es möglich? daß die Verhältnisse
tanzen.”48
48
Volker Braun: [Die Kunst] [wie Anm. 8].
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Matteo Galli
1
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Leipzig: Kiepenheuer 2000. S. 10.
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2
Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart-
Weimar: Metzler 2003. S. IX.
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107
3
Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.
München: Beck 1994. S. XV.
4
Ebd.
5
Ebd. S. XVI.
6
Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegen-
wart. München. 2. akt. u. erw. Aufl. München: Beck 2006. S. 923–1120. Hier:
S. 1157–1164.
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108
7
Ebd. S. XXVIII.
8
Ebd. S. XXIX.
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wurde9. Erst ab der sechsten Ausgabe im Jahre 2001 ist ein längeres Vorwort
zu lesen sowie ein richtiges Kapitel zur Literatur nach 1989. Geschrieben
wurde es von Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers. Das 42seitige Kapitel
trägt den Titel “Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
seit 1989”.10 Anlässlich der siebten und bis dato letzten Ausgabe im Jahre
2008 hat sich Opitzens Kapitel nahezu verdoppelt, die 42 Seiten sind nun 77
geworden.11 Ein paar Worte nun zum nunmehr zwanzigjährigen Metzlerschen
Palimpsest. Emmerichs kurzer Text aus dem Jahre 1992 ist – wie schon der
De Bruynsche Titel sagt – eine Zwischenbilanz, es geht in der Hauptsache
um Überlegungen zur Vergangenheit, zu den unterschiedlichen literarischen
Systemen und Feldern, um die Krise im Westen wie im Osten der littérature
engagée, um Meta-Diskurse. Über künftige, literarhistorische Konzepte lässt
Emmerich in diesem Zusammenhang nichts verlautbaren, lediglich in den
allerletzten Zeilen seiner Zwischenbilanz stellt er seine Prognose auf, die er
folgendermaßen auf den Punkt bringt: Pluralität und Transnationalität:
Der internationale Stoffwechsel dieser divergierenden Literaturen ist so vielfäl-
tig, dass sich auch das Beschreibungsmodell ‘Nationalliteratur’ mehr denn je als
untauglich erweist. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur existiert in einer
Vielzahl zueinander offener Szenen; ihre Lebensform ist die einer ‘unordentlichen’
Pluralität – und das ist gut so.12
Das coming out von Klaus Wowereit war damals ziemlich aktuell. Das war
also die 4. Auflage aus dem Jahre 1992. Mit geändertem Datum im Titel (1995
statt 1992) und einigen Ergänzungen wandern diese Seiten in Emmerichs
eigene Literaturgeschichte – darüber gleich.
Erst 2001 ist das Weiter-Schreiben an der Reihe. Das geschieht im Rahmen
einer grundsätzlichen Überarbeitung des ganzen Werks. Neue Autoren, neue
Teile. Neu-geschrieben wurde ja nicht nur das Kapitel über die Literatur nach
1989, sondern auch das Kapitel über die literarische Moderne zwischen 1890
und 1920. Nun ein paar Überlegungen zum Kapitel von Michael Opitz und
Carola Wiemers-Opitz. Hier fehlt die obligate Eingangsfrage zur Quantifizierung
9
Wolfgang Emmerich: Zwischenbilanz 1992. Einheit und Vielfalt der deutschen
Literatur. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Wolfgang Beutin.
Stuttgart: Metzler 4. überarb. Aufl. 1992. S. 606–612.
10
Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen
Literatur seit 1989. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von
Wolfgang Beutin. Stuttgart-Weimar: Metzler 6. überarb. Aufl. 2001. S. 660–702.
11
Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen
Literatur seit 1989. In: Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Hg. von
Wolfgang Beutin. Stuttgart-Weimar: Metzler 7. überarb. Aufl. 2008. S. 663–740.
12
Emmerich: Zwischenbilanz 1992 [wie Anm. 9]. S. 612.
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deutscher Literaturen, eine genuin west-deutsche Frage, wenn ich das so sagen
darf (Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers sind bekanntlich ostdeutsche
Literaturwissenschaftler), man kommt direkt zur Sache, mit den politischen
Voraussetzungen der Wende, mit dem deutsch-deutschen Literaturstreit, mit den
Stasi-Affären mancher ost-deutscher Schriftsteller, kurzum: mit dem nunmehr
klassischen Narrativ aller Literaturgeschichten, die nach der Wende geschrieben
worden sind und die sich mit der Gegenwartsliteratur befassen. Wenn es dann
um Tendenzen und um Texte geht, ist der eindeutige Versuch zu begrüßen, sich
von publizistischen und auch literarhistorischen Schablonen loszulösen und auf
Trends, Gattungen und Diskurse hinzuweisen, die für beide vormalige deut-
sche Literaturen galten und vor allem gelten. Das ist in nahezu allen Kapiteln
aufzufinden: im Kapitel “Literarische Verarbeitung der Wende in Prosatexten”
(S. 667–673), im Lyrikkapitel (S. 674–678), wo im Gegensatz zum entspre-
chenden Kapitel bei Schnell kaum geopolitische Kategorien bemüht werden,
im Abschnitt “Expeditionen zu den Ursprüngen” (S. 684–689), wo Werke von
Handke, Kronauer und Felicitas Hoppe besprochen werden, aber auch von Adolf
Endler, Irina Liebmann und Kathrin Schmidt, im Kapitel über die Familien- und
Kindheitsromane. Da, wo dies im ersten Durchgang nicht geschehen ist und eine
gewisse Rigidität noch am Werke zu sein schien, wurde im zweiten Durchgang,
d. h. im Jahre 2008 um- und weitergeschrieben. Das geschieht z. B. im Abschnitt
“Sprachexkursionen in zerklüfteten Landschaften” (S. 672–673), wo man sich
mit der so genannten “Ostmoderne” auseinandersetzt (also Jirgl, Drawert, Gert
Neumann etc.). In der Ausgabe von 2008 (S. 682–685) werden auch Werke von
Michael Lentz und Peter Weber verhandelt.
13
Emmerich: Kleine Literaturgeschichte [wie Anm. 1]. S. 18.
14
Ebd. S. 19.
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Auf der anderen Seite distanziert sich Emmerich von der “Eigenperspektive
der reformsozialistischen Autoren”,15 indem er ihre politische Theorie und
literarische Praxis mit Zweifeln bedenkt. Soweit die Revision. Fortschrei-
bung heißt bei Emmerich zweierlei: Zum einen Fort-Schreiben an (der) DDR-
Literaturgeschichte(n), also: Fort- bzw. Weiter-Schreiben über ein nunmehr
historisch gewordenes Phänomen, zum andern Fort-Schreiben im Sinne von
konkreter Auseinandersetzung mit Post-DDR-Literatur. Zum ersten Punkt ist
er sehr wortreich. Ein Teil von Emmerichs Ausführungen, die im Eingangska-
pitel “Was heißt und zu welchem Ende studiert man die Geschichte der DDR-
Literatur?” zu lesen ist, besteht in einer Art Verteidigung des literarischen
(und Forschungs-)Felds DDR. Dessen Weiter-Bestehen wird auch und vor
allem da bewiesen, wo es negiert zu werden scheint, z.B. bei Schnell oder bei
Barner (damals erste Auflage, das gleiche gilt aber, wie wir gesehen haben,
auch für die zweite Auflage). Emmerichs Fazit zum Thema DDR-Literaturge-
schichtsschreibung nach der Bilanz zur DDR:
Das Ableben eines Staates kann kein Anlass sein, eine auf dessen Geschichte
gerichtete Beschreibungs- und Analyseperspektive für alle Zukunft aufzugeben.
Dann dürfte man auch keine separate Geschichte der Literatur im Dritten Reich
mehr schreiben, um nur ein besonders offensichtliches Parallelbeispiel zu
nennen.16
15
Ebd. S. 23.
16
Ebd. S. 25.
17
Ebd. S. 460.
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112
18
TextKritik. Sonderband DDR-Literatur der neunziger Jahre. Hg. von
Heinz-Ludwig Arnold. München: edition textkritik 2000.
19
Astrid Köhler: Brückenschlag. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
20
Literatur ohne Land?: Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten
Deutschland. Hg. von Janine Ludwig u. Mirjam Meuser. Freiburg: Fördergemein-
schaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen 2009.
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113
21
Holger Helbig: Weiterschreiben. Zum literarischen Nachleben der DDR. In:
Weiterschreiben: zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Hg. von dems.
Berlin: Akademie 2007. S. 1–7.
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114
22
Michael Opitz: DDR in der Literatur nach 1989. In: Metzler-Lexikon DDR
Literatur. Hg. von Michael Opitz u. Michael Hoffmann. Stuttgart-Weimar: Metzler
2009. S. 69–72.
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der DDR veröffentlicht wurde, wurde zum Träger einer Reihe von positiven
Merkmalen, die der Literatur aus dem Westen seit Jahren, vielleicht seit
Jahrzehnten abhanden gekommen waren. An drei Beispielen aus den Jahren
1994, 1997 und 2009 möchte ich dies im Folgenden beweisen. Im März 1994
zelebriert Gustav Seibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit
überschwänglichen Tönen den “Götterliebling” Durs Grünbein:
Die äußere Konstellation dieses Erfolges ist leicht zu beschreiben. Grünbein ist der
erste Dichter, der die Spaltung der deutschen Literatur überwindet. Jetzt, wo er da
ist, erkennt man sofort, dass dies nur einem jungen Autor aus dem Osten gelin-
gen konnte. Das ist keine Frage nationaler Gefühle oder politischer Einstellungen,
keine der Ideologien oder gar des muffigen Identitätsdiskurses, mit dem eine ideen-
lose Politik eine phantasielose Literatur infiziert; es ist eine Frage der Erfahrungen
und der daran geknüpften Sprache. Nur ein Schriftsteller aus dem Osten ist
gezwungen, mit beiden Erfahrungen zu Rande zu kommen: der östlichen seiner
Herkunft, der westlichen seiner Zukunft.23
Eine weitere Überlegung sei hier im Hinblick auf das Stichwort “Erfahrung”
vorzubringen. Die (nicht-ideologischen) jüngeren ostdeutschen Autoren
nehmen aus ihrem Leben vor dem Mauerfall, aus den Erlebnissen um den
Mauerfall etwas mit, was in der Wahrnehmung mancher Feuilletonisten der
west-deutschen, spätestens seit den 80er Jahren mit post-modernen Spielen
jonglierenden Literatur fehlt: Sie nehmen Stoff mit. “Existentielle Brüche”,
schrieb Frauke Meyer-Gosau in einem 2004 in “Literaturen” erschienenen
Aufsatz, “sind ihr [der in der DDR sozialisierten Autorin, MG] Stoff und
23
Gustav Seibt: Mit besseren Nerven als jedes Tier. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung 15.03.1994. S. 62.
24
Heribert Tommek: Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz.
Der Aufstieg des Dichters Durs Grünbein in den neunziger Jahren, in: Annali
Online UniFe. 2009, 1. S. 203-204. http://annali.unife.it/lettere/2009vol1/tommek.
pdf. Downloaded 15.8.2011. Siehe auch die Erstveröffentlichung in: Symbolische
Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Hg. von Robert Schmidt u.
Volker Woltersdorff. Konstanz: UVK 2008. S. 147–67.
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25
Frauke Mayer-Gosau: Blühende Leselandschaften. In: Literaturen 2004/4. S. 10.
26
Martin Hielscher: Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migran-
tenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman “Engelszungen”. In:
TextKritik. Sonderband Literatur und Migration. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold.
München: edition textkritik 2006. S. 199.
27
Siehe Anm. 25.
28
Iris Radisch: Der Herbst des Quatschocento. In: Die Zeit 17.10.1997. Nachge-
druckt in: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige
Gegenwartsliteratur. Hg. von Astrid Köhler u. Rainer Moritz. Leipzig: Reclam.
1998. S. 180–188.
29
Iris Radisch: Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunziger
Jahre in Ost und West. In: TextKritik. Sonderband DDR-Literatur der neunziger
Jahre [wie Anm. 18]. S. 15–26.
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Ebd.
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II. Wiedergelesen
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Marianne Schwarz-Scherer
1
Silvia Schlenstedt: Stephan Hermlin. Berlin: Volk und Wissen 1985 (Schriftsteller
der Gegenwart 2).
2
Ebd. S. 118.
3
Ebd. S. 119f.
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4
Weinert beschreibt diese Abende in eindrucksvoller Weise in dem Vorwort
“Gedichte als Partisanen” seines 1947 veröffentlichten Gedichtbandes. Erich Weinert:
Rufe in die Nacht. Gedichte aus der Fremde 1933–1943. Berlin: Volk und Welt
1947. S. 5–32.
5
Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1821–1824. Hg. von Stefan Greif
und Andrea Ruhlig. Frankfurt a.M.: DKV 1998 (Sämtliche Werke. Bd. 21). S. 39.
6
Johann Wolfgang Goethe: West-Östlicher Divan. Teil 1. Hg. von Hendrik Birus.
Frankfurt a.M.: DKV 1994 (Sämtliche Werke. Bd. 3/1). S. 206.
7
Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die
Lieder alter Völker. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Bd. 2. Hg. von G. Arnold u. a.
Frankfurt a.M.: DKV 1993. S. 447–497. Hier: S. 477.
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8
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried
Barner. München: Beck ²2006. S. 144.
9
Vgl. Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegungen einer
Gattungsgeschichte. Heidelberg: Winter 1979. S. 349, 351.
10
Manfred Jäger spricht mit den Worten Tulpanows für die Jahre 1945-1949 von der
“Sturm- und Drangperiode des antifaschistischen Neubeginns”. Manfred Jäger: Die
Sturm- und Drangperiode des antifaschistischen Neubeginns. 1945–1949. In: Ders.:
Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß. Köln: Edition Deutschland
Archiv 1982. S. 1–24.
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Trug doch die Nacht den Albatros11 und vor allem der 1953 nachfolgende Band
Bergwindballade12 enthalten eine Anzahl von Balladen, deren Besonderheit
die Adaption einer vom magischen Realismus geprägten Fiktion in die
Balladenerzählung ist. Auch sie gehören zu einer Literatur, deren verbinden-
des Moment das Etikett “Humanismus” war und deren Veröffentlichung zum
“antifaschistischen Gründungs-Mythos”13 der DDR beitrug.14
In exemplarischer Weise stehen die nach 1945 veröffentlichten Balladen
nicht nur der Dichtung des sozialistischen Realismus, sondern darüber hin-
aus der ganzen nachfolgenden erzählenden Lyrik der DDR zur Seite. An
ihnen lassen sich fiktionale Erzählstrategien nachweisen, die dem Realismus-
Anspruch der Dichtung zwar folgen, jedoch einer verflachten Fiktion “in den
Formen des Lebens”, wie sie vielfach die nachfolgende sozialistisch-realistische
Dichtung dominiert, differenzierte fiktionale Verfahren entgegenhalten. Sie
demonstrieren innerhalb der Lyrik Realismusstrategien, wie sie die Funktion
der Literatur als Ersatzöffentlichkeit später abrufen wird. Dass sie dabei
nicht auf lyrische Momente der Innerlichkeit oder eine akzentuierte Subjek-
tivität verzichten muss, gehört zu den Besonderheiten der Gattungsmischung
Ballade. Und so nimmt es nicht Wunder, dass die Gattung als erzählendes
Gedicht zu den dominanten lyrischen Genres in der DDR-Literatur zählt.
In den frühen, nach 1945 publizierten Gedichtbänden ist die Ballade
vielfach vertreten, und manche tragen den Gattungsnamen bereits im Titel
wie Die Balladen und Songs des Walter Steinbach15 oder Zweiundzwanzig
Balladen16 von Stephan Hermlin. Diese während der Kriegsjahre entstandenen
11
Erich Arendt: Trug doch die Nacht den Albatros. Gedichte. Berlin: Rütten &
Loening 1951.
12
Erich Arendt: Bergwindballade. Gedichte des spanischen Freiheitskampfes. Berlin:
Dietz 1952.
13
Vgl. Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009.
S. 421–453. Hier: S. 426.
14
Gleichwohl zeichnet sich schon in diesen Jahren die ‘Ausrichtung’ der Verlage in
der SBZ ab; so erscheinen die wirklich ‘harten Brocken’ politischer Panegyrik nicht
in dem dem Kulturbund nahestehenden Aufbau-, sondern im Dietz-Verlag, der, so
Christoph Links, “wie eine Abteilung des SED-Zentralkommitees behandelt” wird
und “noch bis 1950 der Zensur durch die sowjetische Militäradministration” unter-
steht. (Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und
ihre Konsequenzen. Berlin: Ch. Links 2009. S. 167–171. Hier: S. 168). Ein Beispiel
dafür sind Erich Weinerts Gedichtbände; so erschien Rufe in die Nacht 1947 bei
Volk und Welt, Kapitel II der Weltgeschichte im gleichen Jahr im Dietz-Verlag, letzter
mit explizit politisch-agitatorischem Inhalt und auf die Sowjetunion gemünzt.
15
Die Balladen und Songs des Walter Steinbach. Berlin: Dietz 1948.
16
Stephan Hermlin: Zweiundzwanzig Balladen. Berlin: Volk und Welt 1947.
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Texte stellen die Gattung als ein tagespolitisches Medium vor. Doch zugleich
bewahrt die Gattung auch Elemente ihrer älteren Geschichtszustände als
numinose Ballade oder Wiedergänger-Ballade, so dass sie sich schon in den
früh publizierten Texten als Konglomerat der Gattungsgeschichte und der
aktuellen Geschichte erweist: Wiedergänger und politisch-aktuelle Thematik,
Heldenballade und Held der Arbeit werden in dieser Gattung zusammenge-
führt; Kunst- und Volksballaden, Ballade und Bänkelsang, sie vermischen
sich in den Balladentexten, die in der SBZ publiziert werden.17 Dass die Gat-
tung überdies als metapoetisches Medium taugt, zeigen exemplarisch die
Balladen Stephan Hermlins. Er eröffnet in der Ballade einen poetologischen
Diskurs über die Gattung, der in den Folgejahren von den DDR-Autoren
immer wieder aufgenommen wird, während er in der Literaturwissenschaft
der DDR noch beinahe dreißig Jahre auf sich warten lässt.
Schon die frühen Texte zeigen die Bedeutung, die der lyrischen
Darstellungsweise innerhalb der Konstitution der Ballade als genus mixtum
zukommt. So wird von Becher und Hermlin die Erzählung über die Figur
und die Perspektive eines Ich vorgenommen, die die jeweilige Geschichte
aus einer subjektiven Sicht zu schildern ermöglicht. Nicht über einen allwis-
senden außenstehenden Erzähler, sondern über die subjektive Berichterstat-
tung wird das Geschehen zu einem subjektiven Erlebnis und räumt damit der
erzählten Geschichte einen dominanten Subjekt-Bezug ein, wie er im allge-
meinen der Erlebnislyrik vorbehalten ist. Von dieser Warte aus stehen der
Darstellung reflexiv- wie fiktionsorientierte Betrachtungen offen, können
“Fiktivitätsfaktoren”18 neben subjektiven Emotionen geschildert werden, über
die einer realistischen Erzählung zudem die Tür zur phantastischen Fiktion
geöffnet wird, die an die Wahrnehmung des Ich-Subjekts rückgekoppelt
werden kann.
3.
Bechers Ballade “Kinderschuhe aus Lublin”19 gehörte zur Schullektüre der
DDR. Entstanden ist das Gedicht vor dem Hintergrund der Lektüre eines
17
In den literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken der DDR findet man daher
unter dem Lemma “Bänkelsang” den Verweis auf die “Ballade”, so beispielsweise
in: Sachwörterbuch für den Literaturunterricht. Klassen 9 bis 12. Hg. von Karl-
heinz Kasper. Berlin: Volk und Wissen 51983.
18
Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur
und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 2001. S. 80.
19
Johannes R. Becher: Kinderschuhe aus Lublin. In: ders.: Ausgewählte Dichtung
aus der Zeit der Verbannung 1933–1945. Berlin: Aufbau 1945. S. 212–217. Das
Konzentrationslager Majdanek gehörte zur Stadt Lublin.
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Berichts von Konstantin Simonow, der den Fund von zigtausenden Kinder-
schuhen in den Baracken des Lagers Majdanek dokumentiert.20 Von daher
handelt es sich um einen referentialisierbaren historischen Hintergrund, vor
dem sich die Geschichte der Ballade entwickelt, jedoch zur phantastischen
Fiktion gewendet wird. In der Ballade berichtet ein Ich-Erzähler von einer
Gerichtsverhandlung, bei der die Kinderschuhe als “Zeugen” auftreten.
Sie figuriert der Erzähler zu Kindern und verleiht ihnen einen “Zeugen”-
Status, indem er die “Schuhchen” zu einer ‘Aussage’ befähigt, so dass sie
von ihrem Lageraufenthalt erzählen können. Die phantastische Fiktion bleibt
als poetische Konstruktion präsent und ist mithin keine Fabel, also keine
Gattung uneigentlichen Erzählens, sondern ein von subjektiver Betroffenheit
initiierter poetischer Prozess, der über Metonymie und Allegorie hin zur
Fiktion schreitet. Zugleich kann diese Metamorphose jederzeit auf den
historisch verbürgten Fund zurückgeführt werden, da die poetische Verfah-
rensweise offen gelegt wird. In dieser Demonstration des ‘Gemachtseins’ ist
die phantastische Erzählung ein poetisches Produkt, so dass in der Ballade
zwar die Tradition der Gattung im Bereich des Wundersamen oder des Irre-
alen genutzt wird, über die Realismusstrategie jedoch auf eine realistische
Erzählweise rückgeführt werden kann, indem Becher die Verfahren der
Uneigentlichkeit ausstellt.
Wie Bechers Fiktionsdarstellung die historische Referenz der Geschichte
über die Nennung “Lublin” im Titel präsent hält und sie über den Paratext
als Geschichtsballade kennzeichnet, bindet auch Stephan Hermlins “Ballade
von den toten Städten”21 den Paratext in die Fiktion der Ballade ein und
führt Fiktion und Realität in einem metafiktionalen und metapoetischen
Verfahren zusammen. In dieser Balladen-Erzählung steht die Littérature
engagée Pate, und mit ihr ist die Ich-Erzählung als Verpflichtung auf die
subjektive Parteinahme hervorgehoben. Das dem Text vorangestellte
“Motto” ist ein Auszug aus der Tageszeitung Paris soir über das Nachtlager
der Menschen in den Metro-Schächten im zerbombten London während des
Zweiten Weltkriegs. Es ist die faktuale Darstellung der fiktionalen Balladen-
Erzählung und darüber die explizite Herausstellung des Realitätsbezugs der
Literatur. In dieser Relation fungiert das Ich-Subjekt als fiktiver Erzähler und
Autor zugleich und ist als Erzählerfigur Konstrukt einer Mise en abyme. Die
Fiktionalität der Ballade wird somit sowohl fiktiv wie fiktional untergraben,
will aber dennoch als Fiktion gelesen werden, da die erzählte Geschichte im
Vergleich zu ihrer realen Vorlage mit fiktiven Elementen ausgeschmückt und
20
Vgl. dazu: Johannes R. Becher: Gedichte 1942–1948. Berlin-Weimar: Aufbau
1967 (Gesammelte Werke. Bd. 5). Hier: Anm. 335, S. 795f.
21
Hermlin: Ballade von den toten Städten. In: ders.: Zweiundzwanzig Balladen
[wie Anm. 16]. S. 13–16.
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vor numinoser Kulisse sogar mit den Mitteln der Phantastik verfremdet wird.
Mit ihnen zitiert Hermlin traditionelle Momente der numinosen oder Geister-
Ballade. Dennoch bleiben Realität und Fiktion über den “Autor-Erzähler”22 in
einem Vergleichsmodus, in der das erzählende Ich die Funktion eines Mittlers
erfüllt, der sich als Erzähler an die Realität gebunden fühlt und in der Rolle
des Autors einer wertenden und belehrenden Wirkung der Fiktion verpflichtet
ist. Über das Ich-Subjekt erfolgt somit die Transformation von Realität und
Fiktion als ein ausgestellter metafiktionaler Akt.
Auch hier kommt wie bei Becher dem erzählenden Ich eine mehrfache
Mittlerfunktion zu, die nun neben der einer narrativen Vermittlerinstanz auch
gattungstransformierende Funktion hat, da sie am Schnittpunkt zwischen
Lyrik und Epik situiert ist: Bei Hermlin wird das Ich als Erzähler aus einem
lyrischen Subjekt “Wir” herausgelöst, ist Teil eines als ‘Multi-Task’ struk-
turierten, polyphonen Gedichts, das sowohl als lyrische Einzelrede wie als
Erzähltext konzipiert ist. Über das Ich-Subjekt erfolgt somit der Prozess der
Gattungsmischung, die allerdings in Hermlins Text eine additive und weniger
‘fließende’ Gattungsverbindung aufweist, wie sie in Bechers Gedicht vorliegt,
die aber, funktionsgleich, explizit die Verbindung von Lyrik und Erzählung in
der Ballade herausstellt.
Ein drittes Beispiel – und in ihm nähert sich die Fiktion den “Formen des
Lebens” – ist die Ballade von Erich Weinert “Die Toten rufen”.23 Wie schon
der Titel erahnen lässt, ist es jedoch allein mit einer realistisch-fiktiven
Bestimmung der Geschichte nicht getan, sondern in Weinerts Ballade tritt
die für die Gattung typische Wiedergänger-Figur auf. Sie stellt sich als der
“unbekannte Soldat” vor und mischt sich am Volkstrauertag unter die anwe-
senden Minister – sie sind eindeutig als Göring und Goebbels charakterisiert,
jedoch nicht mit Namen bezeichnet. Der Tote, ein sprechender Kadaver, tritt
in einer realistisch gezeichneten fiktiven Welt als phantastische Figur auf,
und indem realistisch Mögliches mit Phantastischem zusammen gebracht
wird, wird das eine vom anderen infiziert, werden auch die “Reichsminister”
zu unheimlichen Gestalten. Weinerts Strategie geht jedoch noch weiter: Mit
der Benennung des Toten als “unbekannte[r[ Soldat” ruft er über die Figur ein
im kulturellen Gedächtnis des Lesers verankertes Wissen auf und knüpft die
Balladengeschichte an das Denkmal des Unbekannten Soldaten an, an dem
seit dem ersten Weltkrieg alljährlich die Feierlichkeiten zum Volkstrauertag
abgehalten werden. Im alltagssprachlichen Gebrauch ist die Bezeichnung
22
In dieser Doppelfunktion sieht Schlenstedt den Autor respektive Erzähler in der
Prosa der 70er Jahre. Dieter Schlenstedt: Die neuere DDR-Literatur und ihre Leser.
Wirkungsästhetische Analysen. München: Damnitz 1980. S. 293.
23
Erich Weinert: Die Toten rufen. In: ders.: Rufe in die Nacht [wie Anm. 4].
S. 251–255.
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24
Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975).
S. 345–387. Hier: S. 347.
25
Die Verbreitungsweise des Textes steht in engem Zusammenhang mit der inten-
dierten Rezeptionsweise; das Gedicht wurde als Flugblatt über der östlichen Grenze
Deutschlands in den letzten Kriegsmonaten abgeworfen und richtete sich an eine
Leserschaft, die an die eigenen Toten dachte und in den Worten der fiktiven Toten
die ihrer Angehörigen hören sollte.
26
Hier sei nur auf die Balladen von Hans Lorbeer: Das Gericht im Moor (In: Ders.: Die
Gitterharfe. Berlin: Dietz 1948. S. 100–102) und von Max Zimmering: Ballade von der
Hochzeit im Weizenfeld ( In: ders.: Und fürchte nicht den Tag. Balladen und andere
Verse von Gestern und Heute. Dresden: Sachsenverlag 1950. S. 23–25.) hingewiesen.
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tritt der Erzähler mit einer die Fiktion fortschreibenden Wertung hervor, in
der er sich für eine gerechte Strafe der Beteiligten an dem Kindermord von
Majdanek ausspricht:
Wenn Tote einst als Rächer schreiten
Und über Deutschland hallt ihr Schritt
Und weithin sich die Schatten breiten -
Dann ziehen auch die Schuhchen mit.
[. . .]
Und wo die Schergen sich verbergen,
Dort treten sie unheimlich ein.
Dieses Plädoyer wird von Hans Haase “Balladenurteil[. . .]” genannt, das er
als “Urteil[. . .] über den balladesken Handlungsvorgang” bestimmt.28 Das
Balladenurteil erscheint als ein der fabula-docet-Formel oder der Moralstrophe
des Bänkelsangs verwandtes Urteil. Es bleibt bis 1986, bis zu dem von
Claus Träger29 herausgegebenen Wörterbuch der Literaturwissenschaft, fester
Bestandteil der DDR-Balladendefinition und beschreibt ein Gattungsmerkmal,
das “die emotionale-rationale Wertung des Balladengeschehens [erfasst], die
aus allen seinen Teilen erschlossen werden kann, oft jedoch akzentuiert
hervortritt, etwa durch Häufung gleicher Metaphern oder direkt durch ein
Spruchurteil. Gerade das Balladenurteil ist Ausdruck lyrischer Subjektivität”.30
Das Wörterbuch für den Literaturunterricht geht sogar noch weiter, indem es
in diesem Spruchurteil “humanistische Wertmaßstäbe gestaltet [sieht]: für Liebe,
27
Becher: Kinderschuhe aus Lublin [wie Anm. 19]. S. 216f.
28
Horst Haase: Operativität, Volkstümlichkeit und nationale Bedeutung von
Johannes R. Bechers Ballade ‘Kinderschuhe aus Lublin’. In: Weimarer Beiträge 9
(1963). S. 544–555. Hier: S. 550.
29
Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Hg. von Claus Träger Leipzig: Bibliogra-
phisches Institut 1986.
30
Hans Koch (Leitung) u. a.: Literatur und Persönlichkeit. Berlin: Volk und Wissen
1986. S. 496, Anmerkung 50.
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Mut und Würde des Menschen, für Tapferkeit und Solidarität, für Haß und
Vaterlandsliebe sowie andere Werte. Sie bringen die weltanschauliche
Stellung des Balladendichters zum Ausdruck”.31 Das Balladenurteil ist demnach
eine Wertungskategorie, in dem Volksverbundenheit, ideologisches Engage-
ment und Parteilichkeit, die Grundpostulate des sozialistischen Realismus,
explizit zum Ausdruck gebracht werden. Als im Balladenurteil strukturell
inhärente Bestandteile der Gattung formen sie die Ballade zur politischen
Lehrgattung um, die schon von daher als ein “[f]ür das Anliegen der Literatur
der Arbeiterklasse [. . .] besonders geeignetes Genre”32 erscheint. Doch über
dieses Instrument, das dem Balladengeschehen eine direkte statt eine ‘indirekte
Teleologie’33 anträgt, wie sie Hartmut Laufhütte als Merkmal der Ballade
bestimmt, weichen diese Gedichte von der Tradition der Ballade ab und
schlagen den Weg zum Bänkelsang oder zur Volksballade ein. Vor allem aber
formt das Balladenurteil in seiner politischen Intension die klassische Ballade
zur sozialistisch-operativen Gattung um.
Schwieriger ist die Abweichung im Fall des “indirekten Balladenurteils”
zu bestimmen, jenes “balladesken Urteilens”, das Volkmar Tietz in dem für
die Universität aufbereiteten Lehrbuch der DDR Grundbegriffe der Litera-
turanalyse als der Ballade “immanent in der Art des Erzählens” erläutert.34
Und dieses führt Weinerts Ballade explizit vor, wenn er den Wiedergängern
die agitatorische Rede in der Diktion der kommunistischen Partei und ihrer
Propaganda in den Mund legt:
Kollege, du hast meinen Platz weggenommen,
Kollege, nun bin ich wiedergekommen.
[. . .]
Doch was du hier tust, Kollege,
ist nur für den eigenen Tod!
[. . .]
Heraus! Laßt die Maschinen stehn!
Jetzt muß es mit denen zu Ende gehen!
31
Sachwörterbuch für den Literaturunterricht. Hg. von Karlheinz Kasper. S. 25–27.
Hier: S. 26. (Hervorhebung von mir).
32
Ebd., S. 26f.
33
Zur “Indirektheit” der “teleologischen Vorgangsstrukturierung” der Ballade vgl.
auch das Nachwort von Hartmut Laufhütte in: Deutsche Balladen. Hg. von Hartmut
Laufhütte. Stuttgart: Reclam durchges. Ausgabe 2003. S. 592–632. Hier: S. 619.
34
Volkmar Tietz: Lyrische Genres III: Epigramm, Spruchdichtung, Lehrgedicht,
Ballade, Chronik. In: Grundbegriffe der Literaturanalyse. Hg. von Karlheinz Kasper
u. Dieter Wuckel. Leipzig: Bibliographisches Institut ²1985. Zur Ballade vgl.
S. 251–254. Hier: S. 253.
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Was von Tietz als ‘balladeskes Urteilen’ beschrieben wird, ist die politisch-
ideologische Reklamation der fiktionalen Erzählung der Ballade, die damit
als wertendes, Parteilichkeit und Ideologie zum Ausdruck bringendes Element
der Ballade vereinnahmt wird. Vor diesem Hintergrund manifestiert sich in
jeder fiktionalen Erzählung ein Werturteil, das die Fiktion auf eine politisch-
ideologisch zu lesende, zwanghafte Allegorie beschränkt. Man kann diese
Infizierung der Fiktion mit dem Begriff “Indexikalität”36 beschreiben, die
als ein drittes Element, darin dem “Imaginären”37 Wolfgang Isers verwandt,
dem Realen und Fiktiven zur Seite gestellt wird. Darüber ist die “Indexikali-
sierung” vor allem an die Lukács’sche Kategorie des “Typischen” gebunden,
die, vor dem Verständnis der “Totalität” im Sinne kommunistischer Utopie,
in der Fiktion eine Art “Vor-Schein” zum Ausdruck bringt. Im Rahmen der
Semantik oder der paradigmatischen Ebene des Textes trägt dieses balladeske
35
Erich Weinert: Die Toten rufen. In: Ders.: Rufe in die Nacht [wie Anm. 4].
S. 251–255. Hier: S. 253f.
36
Vgl. Bernd Häsner: Indexikalität und Indexikalisierung. Überlegungen zur lite-
raturwissenschaftlichen Relevanz eines sprachphilosophischen Konzepts. In: Im
Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer
Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. Hg. von Irina O. Rajewsky
und Ulrike Schneider. Stuttgart: Steiner 2008. S. 67–84. Häsner legt seiner Arbeit
ein gegenüber dem sprachwissenschaftlichen Gebrauch erweitertes Verständnis
von Indexikalität zugrunde, in dem es um “deiktische Text-Welt-Relationen” geht
(S. 72, Anm. 2). Sie stehen bei ihm ebenso in einem “Äußerungskontext” (S. 72),
meinen aber die “personalen, zeitlichen und räumlichen Parameter der Textgene-
rierung – [. . .] deren unmittelbare lebensweltliche Voraussetzungen”, wie er sie in
Hempfers Begriff der “potentiellen Autoreflexivität” sieht. “Es geht [. . .] um den
empirischen Autor in der Situation und im Moment oder während der Zeitspanne
der Textproduktion und um deren empirische – mediale, soziale, ökonomische, psy-
chologische, mentale etc. – Konditionen, und zwar insoweit diese im Text selber
indiziert werden” (S. 72). Diese “Konditionen” werden hier um das Moment der
politisch-ideologischen Intension erweitert gedacht.
37
Vgl. dazu besonders die frühen Darlegungen Wolfgang Isers zum Imaginären in:
Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: Funktionen
des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München: Fink 1983 (Poetik
und Hermeneutik X). S. 121–151. Darin schlägt Iser vor, “die Zweistelligkeit von
Fiktion und Wirklichkeit durch eine dreistellige Beziehung zu ersetzen” (S. 121).
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38
Vgl. Helmut Pape: Indexikalität und die Anwesenheit der Welt in der Sprache.
In: (Hg.): Indexikalität und sprachlicher Weltbezug. Hg. von Matthias Kettner und
Helmut Pape. Paderborn: Mentis 2002. S. 91–119. Zit. in: Bernd Häsner: Indexikalität
und Indexikalisierung [wie Anm. 36]. S. 68.
39
Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung,
Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart: Metzler 1991. S. 59.
40
Vgl. auch Bernhard F. Scholz: Belehrung. In: Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Berlin-New York: de Gruyter 1997.
S. 211–215. Bd. I. Hier: S. 214.
41
Dies steht auch im Zusammenhang mit der Wende vom gnoseologischen zum
axiologischen Literaturverständnis in der DDR.
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Thomas Ulrich
1
Redaktionskollegium “Neues Deutschland” (Wilhelm Girnus): Das “Faust”-
Problem und die deutsche Geschichte. In: Hans Bunge: Die Debatte um Hanns
Eislers Johann Faustus. Eine Dokumentation. Berlin: BasisDruck 1991. S. 101.
2
Vgl. Jürgen Schebera: Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten.
Mainz: Schott Musik International 1998. S. 226.
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3
Vgl. Hans Bunge: Verlorene Zeit? In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers
Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 19.
4
Vgl. Maren Köster: Negative und positive Helden? Probleme der Rezeption der
Faustus-Debatte. In: Hanns Eislers Johann Faustus. 50 Jahre nach Erscheinen des
Operntexts 1952. Hg. von Peter Schweinhardt. Wiesbaden-Leipzig-Paris: Breitkopf &
Härtel 2005 (Eisler-Studien Band 1). S. 98.
5
Eisler hatte bereits 1951 erste Probleme mit der Kulturpolitik der DDR, die im
Rahmen der Formalismus-Debatte unter anderem seine für Ernst Busch verfassten
Lieder gegen den Koreakrieg Ami go home und No, Susanna als formalistisch
aburteilte. Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 241.
6
Vgl. Christian Glanz: Hanns Eisler. Leben und Werk. Wien: Edition Steinbauer
2008. S. 8.
7
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 160–75.
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8
Vgl. Glanz: Hanns Eisler [wie Anm. 6]. S. 39.
9
Vgl. Anne Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte und stalinistischen Semantik
der Faustus-Debatte. In: Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 4]. S. 116–118.
10
Vgl. Friedrike Wißmann: Johann Faustus. Eislers Materialien und die Komposition
des Textes. In: Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 4]. S. 13–16.
11
Vgl. Wißmann: Eislers Materialien [wie Anm. 10]. S. 17.
12
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 241.
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kann: Mal ist es die Wahrheit, dann sind es Geld und Kostbarkeiten, letzt-
lich sucht er die Anerkennung der fürstlichen Herren. Das goethesche Motto
“Es irrt der Mensch, so lang er strebt”13 trifft in besonderem Maße auf
Eislers Faust zu: So beschwert sich Pluto, der Herr der Unterwelt, im Vor-
spiel darüber, dass Deutschland das einzige Land sei, in dem ein Mensch aus
Verzweiflung vierfache Doktorwürden erlange, um noch immer nicht zufrieden
zu sein.14 Fausts andauernde Unzufriedenheit wird auch von Mephistopheles
kommentiert, in seiner letzten Szene mit Faust, der Entführung in die Hölle.15
Der Zustand andauernder Fortentwicklung, andauerndes Entwicklungsstre-
ben, verbunden mit der Unfähigkeit, sich eindeutig zu einer Sache zu beken-
nen, sind die Attribute, die Eisler seinem Faust einschreibt. Im ersten der drei
Akte wettert Faust gegen die Fürsten und Junker, die das Leben der Bauern
wie eine Pest verunstalten würden.16 Wie an der Rahmenfigur des Bauernop-
fers Karl ersichtlich wird, war Faust früher selbst ein eifriger Verfechter der
sozialrevolutionären Befreiungspolitik Thomas Müntzers, floh jedoch in der
Schicksalsschlacht von Frankenhausen und verriet die Ideale, für die er und
Karl als Jugendliche des gleichen Standes eingetreten waren.17 Faust bezeich-
net sich Karl gegenüber als Wahrheitssuchender, schließt jedoch kurze Zeit
darauf den Vertrag mit Mephistopheles, von dem er reichlich Geld, die Kost-
barkeiten des Lebens und die Beherrschung der höchsten Kunst fordert, die
Mephistopheles ihm jedoch zugunsten der Kunst des Schwarzspielens, einer
Art teuflischer Theaterinszenierung, ausredet.18 Eine der Bedingungen des
Vertrags sieht vor, dass Faust von nun an keinerlei positive Empfindungen
gegenüber Freunden und vor allem gegenüber den alten Kampfgenossen
pflegen darf – eine Bedingung, die er gerade mit der abschließenden
Confessio bricht, in der er das Schicksal der tapferen Bauern beklagt, die in
Frankenhausen den Tod fanden, während er floh.19
Bereits die Schwarzspiele, die Faust und Mephistopheles im zweiten Akt in
Atlanta aufführen, zeigen erste Risse in Fausts Fassade: So lässt er David als
Teil der Landbevölkerung gegen den junkerhaften Goliath kämpfen oder setzt
die Sehnsucht der Sklaven nach einem besseren Leben mit Ovids Darstellung
13
Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Johann Wolfgang von
Goethe: Sämtliche Werke. Hg. von Victor Langs. München: Random House 2006
(Münchner Ausgabe). Band 6.1. S. 543.
14
Vgl. Hanns Eisler: Johann Faustus. Hg. von Jürgen Schebera. Leipzig: Faber &
Faber 1996. S. 17.
15
Vgl. Hanns Eisler: Johann Faustus [wie Anm. 14]. S. 134.
16
Vgl. ebd., S. 21–22.
17
Vgl. ebd., S. 29–32.
18
Vgl. ebd., S. 48–57.
19
Vgl. ebd., S. 126–133.
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20
Vgl. ebd., S. 74–91.
21
Vgl. ebd., S. 92–94.
22
Ebd., S. 133.
23
Vgl. Jürgen Schebera: Johann Faustus. Oper ohne Musik. In: Hanns Eisler: Johann
Faustus [wie Anm. 14]. S. 147; vgl. auch den Eintrag zur Formalismus-Debatte/
Formalismus-Kampagne in: Metzler Lexikon. DDR-Literatur. Hg. von Michael
Opitz und Michael Hofmann. Stuttgart: Metzler 2009. S. 94–96.
24
Vgl. Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 109.
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25
Vgl. Alexander Dymschitz: Warum wir gegen Dekadenz sind. In: Tägliche
Rundschau 21.03.1948 und Alexander Dymschitz: Über die formalistische Richtung
in der Malerei. In: Tägliche Rundschau 24.11.1948.
26
Metzler Lexikon. DDR-Literatur [wie Anm. 22]. S. 95.
27
Vgl. Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 122–125.
28
Ernst Fischer: Doktor Faustus und der deutsche Bauernkrieg. In: Bunge: Die
Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 23.
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139
29
Ebd., S. 27.
30
Vgl. ebd., S. 36.
31
Vgl. Schebera: Johann Faustus. Oper ohne Musik [wie Anm. 22]. S. 153.
32
Vgl. Alexander Abusch: Faust – Held oder Renegat in der deutschen Nationalli-
teratur. In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1].
S. 47.
33
Vgl. ebd., S. 53.
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Es ist diese für Abusch positive Konzeption, die Eislers Werk vollkommen
außer Acht lässt. Er beschmutze mit seiner Gestaltung das große goethesche
Erbe, das als Grundlage des sozialistischen Staatsapparats als äußerst wich-
tig verstanden wurde. Goethe wie auch seine Faustfigur seien Symbole für
die “Überwindung der geistigen Finsternis”,34 sie verkörpern den fort-
laufenden deutschen Freiheitskampf. Eislers Faust kann aufgrund seiner
Gestaltungsweise nicht in diese Tradition eingereiht werden. Der negative
Held ist für Abusch lediglich Ausdruck eines mangelnden Verständnisses
für Nation und Nationalerbe, dessen Ursache er in Eislers amerikanischem
Exil vermutete.35
Im Rahmen dieser ersten Diskussionsrunde, die von Abuschs Aufsatz
dominiert wird, sind es nur Brecht und Zweig, die sich auf Eislers Seite schla-
gen. Beide versuchen an diesem ersten Verhandlungstag, Abuschs Vorwürfe
durch sachliche Argumente aus dem Weg zu räumen. So betont Brecht die
durchaus im Sinne des Sozialismus zu deutende Figurenkonzeption,36 wäh-
rend Zweig meint, dass das einzige Problem des Librettos die Benennung
des Protagonisten als Faust wäre, weil dadurch direkt das goethesche Erbe
beschworen würde.37
Als weiterer wichtiger Gegenspieler Eislers entpuppt sich Wilhelm
Girnus, damals Mitglied im Redaktionskollegium des Neuen Deutschland,
dem Zentralorgan der SED, das bereits im Vorfeld der Diskussion positive
Hervorhebungen anderer Künstler an Eislers Text nicht abzudrucken bereit
war.38 Girnus argumentiert, dass Eislers Werk nicht im Einklang mit dem
“Wesen der gegebenen sozialen und historischen Erscheinung” und damit als
mangelhaft zu bewerten sei.39 Faust als Renegat darzustellen, wie Fischer in
seinem Aufsatz verkündet, grenzt für Girnus an Verrat am Volk, da er Goethes
Faust ähnlich wie Abusch als Ausdruck der fortschrittsgewandten deutschen
Nation verstehe. Girnus schlussfolgert, dass Eislers Faust-Konzeption anti-
national und pessimistisch und gerade in Zeiten der Abgrenzung gegen den
Westen in keiner Weise dazu geeignet sei, die seiner Meinung nach in diesen
34
Vgl. ebd., S. 49.
35
Vgl. ebd., S. 54.
36
Vgl. Brechts Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der ersten Sitzung der
Mittwochgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (13.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 62.
37
Vgl. Zweigs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der ersten Sitzung der
Mittwochgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (13.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 63–64.
38
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 242–243.
39
Vgl. Wilhelm Girnus: Das Faust-Problem und die deutsche Geschichte. In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 94.
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40
Vgl. Girnus: Das Faust-Problem [wie Anm. 38]. S. 101.
41
Vgl. Brechts Redebeitrag [wie Anm. 35]. S. 82.
42
Vgl. Girnus: Das Faust-Problem [wie Anm. 38]. S. 101.
43
Johanna Rudolph: Weitere Bemerkungen zum Faust-Problem. Zur Aufführung
von Goethes Urfaust durch das Berliner Ensemble. In: Bunge: Die Debatte um
Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 119.
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den rebellischen Protest gegen die feudale Gesellschaft und die prophetische
Vision einer sozialistischen Zukunft im Faust II.44
Die zweite Sitzung führt das Possenspiel der ersten Diskussionsrunde fort.
Eisler beginnt mit einer Verteidigungsrede. Er betont, dass seine Bearbei-
tung auf Puppenspiele und Volksbuch zurückgehe, nicht auf Goethes Werk.
Eisler gibt an, dass er einen Faust habe erschaffen wollen, der seine Fehler,
den Verrat an der Bauernklasse, eindeutig bereue. Er gibt sich patriotisch und
beharrt im Rahmen dieses Bekenntnisses auf seinem Standpunkt, ein natio-
nal wichtiges Stück geschaffen zu haben, das in seiner Zentralfigur gerade
die Misere aufzeige, die Deutschland in den Zweiten Weltkrieg geführt habe:
die Inaktivität der Bildungsbürger vorm Nationalsozialismus.45 Eisler wirft
seinen Kritikern vor, nicht das ganze Stück zu betrachten, sondern lediglich
einzelne Textpassagen herauszufiltern, die zu ihrer Kritik passen würden.
Aus heutigem Blickwinkel scheint es, als ob Eisler nicht wusste, was mit ihm
geschah. Er wirft seinen Gegnern mangelhaftes Zitieren vor, scheint jedoch
nicht zu begreifen, um was es tatsächlich geht.46 Es ist Wilhelm Girnus, der
nach Eislers Ausführungen noch einmal den Hauptkritikpunkt betont, Eisler
hätte Faust als einen Renegaten dargestellt. Eine Bezeichnung, die Eisler eher
fremd ist, er verwehrt sich sogar gegen sie,47 und sich lediglich in Fischers
Aufsatz findet.
Eislers Kritiker, zu denen dieses Mal auch Ernst-Hermann Meyer, einer
von Eislers Meisterschülern, zu zählen ist, beharren auf ihrer Position,
Eisler reagiere nicht angemessen auf die Vorwürfe, das Stück sei der Anlage
nach antinational und beschmutze das deutsche Nationalerbe, indem es die
für den Sozialismus wichtige Periode der Bauernkriege verfälscht darstelle.48
Wieder ist es Girnus, der auf diesem Punkt beharrt. Die Klassik ist für ihn
die Epoche, in der die größten deutschen Künstler, vor allem Schiller und
Goethe, darum bemüht gewesen seien, bürgerlich-demokratische Freiheiten
einzufordern, was Eisler offensichtlich nicht verstehe. Immer wieder wird
während der Diskussion auf Fischers Formulierung “Faust sei ein Renegat”
44
Vgl. Rudolph: Weitere Bemerkungen zum Faust-Problem [wie Anm. 42]. S. 122.
45
Vgl. Eislers Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 141.
46
Vgl. ebd., S. 141f.
47
Vgl. ebd., S. 140.
48
Vgl. Ernst-Hermann Meyers und Wilhelm Girnus’ Redebeiträge. In: Gesprächs-
protokoll der zweiten Sitzung der Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann
Faustus (27.05.1953). In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus
[wie Anm. 1]. S. 145–155.
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49
Vgl. Hans Rodenbergs Beitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 163. – Vgl. auch:
Hartmann: Zur sowjetischen Vorgeschichte [wie Anm. 9]. S. 118.
50
Bertolt Brecht: Thesen zur “Faustus”-Diskussion. In: Bertolt Brecht: Große kom-
mentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht u.a. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1988. Band 3. S. 246.
51
Vgl. Brecht: Thesen zur “Faustus”-Diskussion [wie Anm. 49]. S. 247–248.
52
Vgl. Bertolt Brechts Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der zweiten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (27.05.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 161.
53
Vgl. Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 243.
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54
Vgl. Arnold Zweigs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 196.
55
Vgl. Alexander Abuschs Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung
der Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In:
Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm. 1]. S. 203–205.
56
Vgl. Alexander Abuschs Redebeitrag [wie Anm. 54]. S. 193–194.
57
Vgl. Max Schröders Redebeitrag. In: Gesprächsprotokoll der dritten Sitzung der
Mittwochsgesellschaft zu Hanns Eislers Johann Faustus (10.06.1953). In: Bunge:
Die Debatte um Hanns Eislers Johann Faustus [wie Anm 1]. S. 231.
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Ulbricht verurteilt somit Eisler und Brecht im Sinne von Girnus’ und Abuschs
Kritik. Die politische Ausgrenzung, die Eisler aufgrund der Debatte und
Ulbrichts scharfem Resümee erfährt, führt ihn kurzzeitig ins Wiener Exil. Die
Kompositionen an seiner Oper bleiben unvollständig.59
Sein Johann Faustus beschäftigt die DDR-Kulturpolitik allerdings noch
ein weiteres Mal. Als Hans Bunge den Operntext 1968, fünfzehn Jahre
nach der Debatte, in Rostock zur Aufführung bringen will, verbietet die
Kulturadministration der DDR, aufgestachelt durch die Ereignisse in Prag,
kurzerhand jedwede Aufführung von Eislers Werken. Hans Bunge schlussfol-
gert in Bezug auf die Kulturpolitik der DDR:
In der Kulturpolitik hatte sich fünfzehn Jahre lang nichts entkrampft. Stattdessen
sind die Künstler immer mehr reglementiert worden. [. . .] Der große Hanns Eisler
war das Exempel, um den Künstlern das Rückgrat zu brechen. Bei den meisten ist
das gelungen.60
58
Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 246.
59
Kurz nach Ulbrichts Verdikt finden die Ereignisse des 17. Juni statt, die Eisler
schockieren und neben der Diskussion um sein Libretto sicher ebenfalls dazu
beitragen, dass Eisler die DDR für einige Monate in Richtung Wien verlässt. Vgl.
Schebera: Eisler [wie Anm. 2]. S. 246–247.
60
Hans Bunge: Verlorene Zeit? In: Bunge: Die Debatte um Hanns Eislers Johann
Faustus [wie Anm. 1]. S. 19.
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Christian Jäger
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Eine Art Nestor der DDR-Literatur, Willi Bredel, beispielsweise hat sich
mit dem gehörigen zeitlichen Abstand – der Roman erschien von 1956 bis
1962 – daran versucht, die Anfänge der DDR literarisch zu verarbeiten.
Er stellt an den Anfang seines dreibändigen Werkes Ein neues Kapitel
einen Protagonisten, der nichts anderes ist als: Schriftsteller. Ein besonde-
rer Schriftsteller natürlich, der in Moskau studiert hat, und nun, im Frühling
1945 nach Deutschland geschickt wird, um Rostock wieder aufzubauen. Die
als nächstes eingeführten, wichtigen Personen gehören allesamt dem sowje-
tischen Militär an. Die Erzählerstimme nimmt die Deutschen aus einer zwei-
felnden Perspektive wahr: kann man ihnen trauen, stimmen die Geschichten,
die sie erzählen, wollen sie die Sowjets in einen Hinterhalt locken oder ähn-
liches? Misstrauen in allen Schattierungen bestimmt die Wahrnehmung, stets
folgt dem Vertrauen die Selbstermahnung, nicht zu vertrauensselig zu sein.
Und das Misstrauen ist partiell auch immer gerechtfertigt, es wird geplün-
dert, Waffen werden versteckt, Nazis und ihre Soldaten verborgen. Und
natürlich steckt in den Hirnen die Angst vor der Rache der Untermenschen,
Angst vor Vergewaltigungen, vor der Entdeckung der Grausamkeiten.
Freitode häufen sich und der Glaube an den Führer währt fort, selbst als
dieser sich schon umgebracht hat. Der zweite gute Deutsche ist denn auch
Deserteur, vor Moskau zur Roten Armee übergelaufen, da sein Bruder von
den Faschisten in Dachau umgebracht wurde. Und von den unter den Nazis
Widerstandleistenden gibt es einige, die sich zum Beispiel in antifaschis-
tischen Komitees organisiert hatten, um den Übergang zur Diktatur des
Proletariats zu gestalten. Die sowjetische Militäradministration hat sich dazu
natürlich auch ein paar Gedanken gemacht:
Der Oberstleutnant erklärte seinen Besuchern in ruhigen Worten, aber fest und
bestimmt die politische Lage. Die Interessen der Arbeiter und Bauern seines
Landes [. . .] seien identisch mit denen der Arbeiter und Bauern Deutschlands,
jedoch könne das besiegte Deutschland nicht über Nacht als vertrauenswür-
diger Partner angesehen werden, sie müßten die Nazis und Kriegsverbrecher
zur Verantwortung ziehen und demokratisch denken und handeln lernen. Für
weitergesteckte Ziele fehlten vorläufig die Voraussetzungen. Die sowjetische
Besatzungsmacht wolle demokratische Grundlagen schaffen helfen; dann könne
das deutsche Volk sein Schicksal selbst gestalten. Für die erste Aufgabe, das Leben
zu normalisieren und antifaschistische demokratische Staatsorgane zu schaffen,
müßten nicht nur die Arbeiter und Bauern, sondern alle aufbauwilligen Kräfte der
Bevölkerung gewonnen werden.2
Und mit dieser Bestimmung der politischen Lage ist denn auch ein
Grundproblem aufgemacht: die Schieflage zwischen Sowjets, deutschen
2
Willi Bredel: Ein neues Kapitel. Berlin-Weimar: Aufbau 1974. Band 1. S. 43.
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Revolutionären und ihren jeweiligen Ländern. Während die UdSSR den his-
torischen Fortschritt repräsentiert, in dem die Partei als identisch mit den
Interessen der Bevölkerung gesehen wird, kann davon in Deutschland noch
keine Rede sein. Deutschland ist politisch gesehen noch nicht reif für die
sozialistische Revolution, sondern muss erst einmal bürgerlich-demokratisch
werden. Offensichtlich ist die Oktoberrevolution hier das allein selig
machende Vorbild und gibt es ein Abweichen von den unterschiedlichen
marxistischen Theorien, denen zufolge der Faschismus nur eine Krisenform
des Kapitalismus darstellt. Eine Krisenform, die genau dann sich historisch
Bahn bricht, wenn die bürgerlich-demokratische Oberfläche des Kapitalismus
dem revolutionären Andrängen der Arbeiterklasse nicht mehr standhal-
ten kann. In dieser verkürzten Fassung gilt dies für die Theorien Stalins,
Dimitroffs, Thalheimers und ein Stück weit auch noch für die von Adorno
und Horkheimer. Diesen theoretischen Ansätzen zufolge bedürfte es logi-
scherweise keiner Restituierung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung,
was in der sowjetischen Besatzungszone aber gleichwohl unternommen wird.
Für die KPD und ihre Anhänger macht diese Ausrichtung keinen Sinn; ihnen
wird die Chance genommen, die erste sozialistische Ordnung auf deutschem
Boden zu begründen, wofür nach dem Scheitern der Novemberevolution von
1918 diesmal bessere machtpolitische Voraussetzungen bestanden hätten.
Doch ausgerechnet die Sowjetunion bremst die deutschen Sozialisten aus, es
geht nicht mehr um den Kampf gegen den Faschismus, sondern um die geo-
politischen Optionen im mitteleuropäischen Raum und zumindest bis 1949
setzt die Sowjetunion auf ein neutrales Gesamtdeutschland. Die emotional-
politischen Verwerfungen dieser strategischen Ausrichtung müssen immens
gewesen sein, wohl nicht für die Moskauer Exilanten, die zumindest teil-
weise auf Linie gebracht worden waren, wohl aber für all diejenigen aus dem
Widerstand aufgetauchten, aus KZs entlassenen und aus dem sonstigen Exil
zurückgekehrten Sozialisten, deren Träume vom radikalen Neubeginn nicht
nur auf ein materiell und psychisch desolates Deutschland stießen, sondern
von ihren Parteifreunden mit genau diesem Verweis auf die Notwendigkeit
der Reinstallation einer bürgerlichen demokratischen Ordnung eine ideologi-
sche Ohrfeige erhielten, die sie in die Realität der Machtpolitik holte.
Damit wird der Traum vom Aufbruch in die sozialistische Ordnung
verschoben und an dessen Stelle tritt einstweilen eine andere Größe: die
Nationale Front, eine Deutschland-den-Deutschen-Politik, die auch die
irgendwie noch vertretbaren Nazis mit in das Boot holen soll, dessen Kurs der
große Führer des Volkes in Richtung mitteleuropäischer Pufferstaat vorläufig
festgelegt hat.
Dieser Ausflug ist natürlich nicht ganz grundlos, sondern eine Antwort auf
die Frage, wieso soviel Skepsis in Bredels Buch festgehalten ist. Ein neues
Kapitel erzählt ständig von den Rückschlägen und Enttäuschungen, die den
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Um in Lohn und Brot zu bleiben und ihre Pensionen nicht zu verlieren, hätten sich
die hier Beschäftigten jedem politischen Zustand angepasst. Selbstverständlich
würden sie das auch jetzt tun, wenn man sie in Ruhe lasse und nicht von ihnen
fordere, sie sollten sich wie klassenbewußte Arbeiter benehmen. Fast jeder sei der
klassische Typ eines verspießerten Proleten, Ihre Welt verlaufe in den Grenzen:
Familie, Schrebergarten, Kino, Skatabend, Gesangverein. Dazu gehöre noch, und
darauf legten sie größten Wert, alle vier Jahre einmal wählen zu dürfen. In der
Zwischenzeit aber wollten sie mit Politik nicht behelligt werden. Wer diese Spiel-
und Lebensregeln respektiere, sei ihr Freund, wer sie verletze, mache sie sich zum
Feinde. Boisen dachte daran wie Wahlkes grundgütige Augen dabei hart und böse
geworden waren. Der alte Genosse verhehlte nicht, wie sehr er diesen Schlag
Arbeiter verabscheute, die nur ihre Schrebergartenbude im Kopf hatten, auch im
Nazireich.6
Diese Beobachtung einer mehr oder minder apolitischen Haltung von Teilen
der Arbeiterschaft scheint durchaus zutreffend zu sein. Allerdings sind die
Folgerungen, die daraus gezogen werden wie auch die Haltung der Abscheu
3
Ebd. S. 145.
4
Ebd.
5
Ebd. S. 149.
6
Ebd. S. 192.
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7
Vgl. Alain Badiou: Petit manuel d’inesthétique. Paris: le seuil éditions 1998. S. 16.
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8
Bredel: Ein neues Kapitel [wie Anm. 2]. S. 266.
9
Erich Köhler: Hinter den Bergen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.
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Schwarzenberg also als Modell für eine deutsche Revolution, für etwas
Authentisches, nicht dem Lande aufgedrücktes und von fern installiertes, wo
nicht ferngesteuertes. Heym wirft damit einen Seitenblick auf Geschichte als
mögliche.
In der Gemeinde gibt es einen, der bis zum Schluss versucht den experi-
mentellen Status Schwarzenbergs zu wahren, den jüdischen Intellektuellen
Max Wolfram, dessen Dissertation im Dritten Reich abgelehnt wurde und
der schon auf der Hinrichtungsliste stand, aber dank glücklicher Fügung
den Krieg überlebt hat. Seine Dissertation befasste sich mit utopischen
Gesellschaftsmodellen und kam zu dem Schluss:
daß jede bisher entworfene Utopie eine Diktatur war, die die Menschen zu ihrem
Glück zwang und jene, die sich eine andere Art von Glück vorstellten, liquidierte.
Und es konnte auch nicht anderes sein, schrieben Sie, denn der als bester aller
möglichen konzipierte utopische Staat mußte jede Kritik an seinem Verhalten,
jeden Änderungsvorschlag als ein Unterfangen betrachten, das bestmögliche
Modell durch eines von zwangsläufig minderem Wert zu ersetzen. Das war ja
das Bestechende an ihrer Dissertation, Herr Kollege, daß sie so illusionslos war,
und eine ethische Begründung für die Notwendigkeit von Geheimpolizei und
Konzentrationslagern lieferte.11
Nun, das sagt der SS-Mann zu Wolfram, der die Arbeit seinerzeit ablehnte.
Den Hinweis, dass er alle anderen Punkte in Wolframs Arbeit außer Acht
lasse, kontert er mit der Bemerkung, das sei genau der “jüdische Dreh”,
“die Einführung der Demokratie im Paradies”12, und genau der Grund, warum
er seinerzeit die Arbeit zurückgewiesen habe. Klar thematisiert Heym mit
der zuvor zitierten Passage auch die paranoische Maschine, die den politi-
sche Praxis gewordenen Sozialismus begleitete. In Schwarzenberg sollte es
anders gehen, war die damalige Idee des Max Wolfram, doch als schließlich
die Freie Republik von der Roten Armee in Obhut genommen wird,
10
Stefan Heym: Schwarzenberg. München: Bertelsmann 2004 [1984]. S. 61.
11
Ebd. S. 68.
12
Ebd.
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Heym ist hier so explizit, dass es kaum einer Interpretation bedarf, und die
Geschichte Schwarzenbergs endet in dem Hörsaal mit dem Begehren des
jungen Mannes, den Traum behalten zu dürfen, woraufhin der Professor ihn
einen Utopisten nennt und das Ende der Stunde nutzt, die Diskussion mit dem
Verweis auf andernfalls anstehende Unannehmlichkeiten zu schließen.
Der Vorwurf des Utopieverlustes ist in seiner Bedeutung für westliche und
östliche Utopisten zu differenzieren. Während im Westen die sozialistische
Utopie die Systemalternative bedeutete, die Richtung markierte, in die der
Kapitalismus überschritten werden sollte, so war der Osten offiziell schon
dort angekommen. In den real existierenden Staaten des wissenschaftlichen
Sozialismus ging es politisch gegen die Utopie genau um dieses Insistieren
auf der Wissenschaftlichkeit und Praktikabilität des bestehenden Sozialismus;
leider damit auch um den unsinnigen Wettlauf mit dem Kapitalismus, der wohl
verloren gehen musste, da genau das zukünftige Moment am Sozialismus
dabei verloren ging, das in den Kreisen der sozialismustreuen Dissidenz stets
noch gewahrt wurde, was genau sie für die Sachwalter der sozialistischen
13
Ebd. S. 267.
14
Ebd. S. 269.
15
Karl Marx Friedrich Engels Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus
beim ZK der SED. Bd. 3. Berlin: Dietz 1983. S. 5. – Vgl. Heym: Schwarzenberg
[wie Anm. 10]. S. 271.
16
Heym: Schwarzenberg [wie Anm. 10]. S. 271.
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Das unbesetzte Gebiet, das sich nicht herumsprechen konnte, blieb auch unter den
Bewohnern nicht im Gerede, zu sonderbar war das Gebilde, vorläufig, rückständig
und utopisch, anstößig für jeden Staat. Und nichts blieb ihnen von der Epoche im
Gedächtnis außer dem Hunger, der Unsicherheit, dem Abgeschnittensein von der
Welt und ihren Waren. Und sie vergaßen diese Angst, diese Freiheit, in der sie sich
selbst bestimmen und Gerechtigkeit üben konnten, und wußten wieder, was das
Beste für sie war.19
17
Vgl. Jacques Rancière. Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Frankfurt a.M.: Fischer 1994.
18
Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 9.
19
Ebd. S. 64.
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Schlupfloch zu lassen, um sich diese Reserve zu sichern. Der Kalte Krieg hatte vor
dem Frieden begonnen, und Schwarzenberg spielte seine unbegriffene Rolle. Ein
Laienspiel, das der Ami grinsend, der Iwan verblüfft verfolgte, bevor das agitatori-
sche Stück abgesetzt wurde. Aber auch diese Mächte wußten das Wichtigste noch
nicht, die tieferliegende, die auszubeutende Wahrheit, die Wismut hieß.20
Die Wahrheit liegt natürlich in der Ökonomie – allerdings geborgen und auch
über ihre richtige Bergung ließe sich streiten und die großen Betriebe, ob nun
Wismut (Bräunig), Schwarze Pumpe (Bastian) oder Warnow-Werft (Bredel),
sind die anderen Orte des Aufbau-Mythos, erzählen, wie die Arbeiter tätig
zusammenwachsen, sich Gemeinschaft und Gesellschaft in der Produktion
ausbilden.
Nun, um zu einem anderen Topos der DDR-Literatur und ihrer Aufbaujahre
zu kommen, so ist dies die Erzählung des 17. Juni 1953. Ein Datum, das
zumindest markiert, dass einige Menschen nicht einsahen, dass ihnen gegeben
worden wäre, was sie brauchten. Der erste Band von Bastians als Chronik der
DDR angelegtem Werk Gewalt und Zärtlichkeit21 endet mit den Ereignissen
des 17. Juni. Es erscheinen sowohl Provokateure, die sich seit längerem vor-
bereitet haben, als auch Arbeiter die vergleichsweise spontan gegen die Norm-
Erhöhung demonstrieren.22
Hier wie an anderen Stellen gibt es stets den Spagat zwischen gar nicht
geleugnetem Unbehagen der Arbeiter und der Inszenierung durch den Westen,
die Verbreitung der lokalen Arbeitsniederlegungen durch den RIAS. Und
schon das ist stets Angriff genug. Denn der Gedanke ist ja, die Einigkeit
herzustellen, die der Arbeiterbewegung historisch abging. Auch Bräunig
endet mit diesem Tag den ersten Band seines Rummelplatz, dem kein Zweiter
folgte. Über die Reden, die in Halle gehört werden, heißt es:
Das ist das Vokabular des Reichspropagandaministeriums, das da über den Platz
hallt, aber es sind Reden von Freiheit und Demokratie, und daß die Bonzen an
die Laternen gehißt werden sollen, es hallen Baldur-von-Schirach-Reden über
den Platz und ist immer von Deutschland die Rede, von Volk und Freiheit. [. . .]
Und es fällt eine schwarzweißrote Fahne aus einem Fenster. Und ein Kerl mit den
Stirnstoppeln der Zuchthäusler weiß, daß die Knechtschaft gebrochen werden
müsse, nieder mit den vollgefressenen Russenknechten, und wir brauchen keinen
Staat, wir brauchen Freiheit. Dann fängt einer von den Normen an, von berech-
tigten Forderungen, aber der ist schon wieder verschwunden, noch ehe er den
dritten Satz beendet hat. Vorn links: Es lebe die deutsche Republik, vorn rechts:
Über alles in der Welt, Mitte: Hunger, Hunger! [. . .] Die Kommandeuse von
Ravensbrück kennt keiner, woher auch, sieben Jahre hat sie hinter sich von den
20
Ebd. S. 100.
21
Horst Bastian: Gewalt und Zärtlichkeit. Erster Roman. Berlin: Neues Leben 1974.
22
Vgl. ebd. S. 326–336.
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fünfzehn, zu denen sie verurteilt ist – sie spricht jetzt. Freiheit für alle Gefangenen.
Und eine Regierung aus bewährten Männern. Da weiß freilich keiner, welche Art
Bewährung gemeint ist, keiner hier kennt die Kommandeuse von Ravensbrück,
soeben aus dem Zuchthaus herausgeholt, aufgenommen in den Führungsstab, die
Mörder sind unter uns, aber wer kennt sie . . .23
Die Frage erweist sich im geschichtlichen Nachgang als prophetisch, ist die
historische Figur der Erna Dorn in ihrer Bedeutung doch bei Historikern
umstritten. In der DDR-Literatur – so bei Hermlin, Bräunig oder Bastian –
gilt die Befreiung einer KZ-Kommandeuse als klares Symptom des reak-
tionären Charakters, den der 17. Juni annahm. Zumindest für diese Autoren
war es eher ein Grund zum Schulterschluss mit der herrschenden Macht, die
gemessen an wiederkehrenden Nazis – und so war die Wahrnehmung – dann
doch ein Versprechen besserer Zukunft darstellte und so blieb es auch in den
Rückblicken auf die Anfangsjahre.
Selbst Biographien von Menschen, die sich vom real existierenden
Sozialismus abgewandt haben, legen noch Zeugnis davon ab, so auch die aus
den USA stammende Edith Anderson in ihren Erinnerungen an das Berlin
der Nachkriegszeit unter dem Titel Liebe im Exil24. Als Exil begriff sie die
DDR, in die sie nach Ende des 2. Weltkrieges einreiste, um dort mit ihrem
Mann Max Schroeder zu leben. Schroeder, seit 1932 KPD-Mitglied, war
ein wichtiger Publizist im kommunistischen Exil; zunächst in Frankreich,
dann nach diversen Internierungslagern in den USA. Von 1947 bis kurz vor
seinem Tod 1957 ist er Cheflektor des Aufbau-Verlages. Seine Frau wird
erfolgreiche Kinderbuchautorin und Übersetzerin in der DDR. Von einem
New York-Aufenthalt im Frühjahr 1960 und mehreren späteren kehrt sie vor
allem ihrer Tochter zuliebe in die DDR zurück. In ihren Erinnerungen an die
Anfangsjahre erzählt sie vom persönlichen Glück und den Privilegien, die
Kulturfunktionäre hatten. Sie erzählt auch von den politischen Intrigen und
Ränken und den bisweilen bitteren Konsequenzen wie im Fall Walter Janka/
Wolfgang Harich (bei genauerer Betrachtung muss man allerdings sagen,
dass hier der Akzent immer nur auf die hysterische Entlarvung, Verhaftung
und Verurteilung gelegt wird; dass beide bereits in den 1960er Jahren wie-
der in die kreative Elite der DDR integriert waren, findet hingegen keine
Beachtung). Sie erklärt diejenigen, die Janka im Gefängnis und vor Gericht
schikaniert haben, zur Bande und spricht ihnen den Ehrentitel Genossen ab.
Nicht der Sozialismus an sich erscheint schlecht, sondern es sind teilweise
die Menschen, die moralisch schlecht sind und ihn daher unvollkommen und
fehlerhaft umsetzen.
23
Werner Bräunig: Rummelplatz. Berlin: Aufbau 2007. S. 615–617.
24
Edith Anderson: Liebe im Exil. Berlin: BasisDruck 2007.
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Direkt im Anschluss an die Passage, die sie Janka widmet, erzählt sie vom
Besuch eines US-amerikanischen Schriftstellerpaares:
Beide waren ausgezehrt von Armut, die zu lange gedauert hatte und brauchten
dringend sowohl medizinische Behandlung als auch neue Sachen, um ihre schä-
bige und geflickte Kleidung zu ersetzen. [. . .] Der Grund, daß beide so wunderbar
aussahen, so unbesiegt, so wahrhaft frei von Sorge, war, daß sie dieses eine Mal in
einem Land waren, wo sie wie Fürsten behandelt wurden und nicht wie abservierte
Schreiber, die sich krumm machen und anbiedern mußten für jede Krume wider-
willig gewährter Verlagsarbeit.25
25
Ebd. S. 483f.
26
Zit. nach Arno Schmidt: Deutsches Elend. Zürich: Haffmans 1984. S. 74f.
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Stefan Elit
1
Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur des siebziger und
achtziger Jahre. Frankfurt a.M.-Bern-New York u.a.: Lang 1997. S. 13 (genauerer
Nachweis des Braun-Zitats ebd. Fn. 1).
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2
Vgl. Johannes Huinink: Individuum und Gesellschaft in der DDR –
Theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft in den
Lebensverläufen ihrer Bürger. In: Ders. u.a.: Kollektiv und Eigensinn. Lebensläufe
in der DDR und danach. Berlin: Akademie 1995. S. 25–44. Hier: S. 33–35.
3
Auf die generelle Begriffsdiskussion zu Identität, Individualität und Alterität, wie
sie seit geraumer Zeit vor allem auf philosophischer und soziologischer Ebene
geführt wird, ist hier nicht weiter einzugehen, da deren grundsätzliche Aspekte
im hier interessierenden Kontext nicht sehr viel beitragen – auch wenn natür-
lich die dialektische Abhängigkeit jeglicher Identitätssetzung von einer (gleich-
ursprünglichen) Alterität ebenfalls gilt und für geschlossene, zumal totalitäre
Gesellschaftsideologie von besonderer Bedeutung ist. Vgl. zur neueren Debatte
unter Einbezug der Literatur- und Kulturwissenschaften etwa die Erträge des
Freiburger SFB 541 Identitäten und Alteritäten – Die Funktion von Alterität für
die Konstitution und Konstruktion von Identität, seit 1999 veröffentlicht in der
Reihe Identitäten und Alteritäten, sowie etwa den Band Alterität. Hg. von Brigitte
Schlieben-Lange. Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik 110 (1998).
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zweier DEFA-Verbotsfilme von 1965/66 mit der Mitte des Jahrzehnts aus-
einander und hält schließlich anhand von Gerti Tetzners Roman Karen W.
eine Art Rückschau auf das Jahrzehnt von einer höheren Warte aus. Von
übergreifendem Interesse ist bei alledem eine auf den ersten Blick paradoxe
Diskursposition, und zwar diejenige eines individualistischen Sozialismus,
die im Laufe des Jahrzehnts anscheinend immer virulenter wird.
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“Was seid ihr bloß für Menschen?” – ein Satz, der zumindest im üblichen
heutigen Sprachgebrauch eher nicht mit Hoffnung erfüllt. Aber anscheinend
wollte Reimann mit diesem Satz Ulis tatsächlich ein neues positives Interesse
des ‘Bürgersohns’ am sozialistischen Menschenbild ausdrücken.
Der Weg der Erzählung bis zu diesem Punkt ist außerdem narrativ und
perspektivisch um einiges aufwendiger und damit vielschichtiger gestal-
tet als in Ankunft im Alltag: Komplex und spannungsvoll erscheint etwa die
Verschaltung einer erzählerischen Rahmenebene mit mehreren Ebenen der
Rückblendung. Der chronologisch noch fortschreitende Erzählrahmen bil-
det dabei den eigentlichen Konflikt ab, und die Rückblenden dienen der
Erklärung der gegenwärtigen Situation. Ferner sind es Dialoge auf der
Rahmenebene sowie Selbstreflexionen und Erinnerungen der Ich-Erzählerin,
die eine gewisse diskursive Offenheit inszenieren.
Die Erinnerungen eröffnen darüber hinaus rhetorisch geschickt eine wei-
tere Problemebene: Die Ich-Erzählerin versuchte sich nämlich im Rahmen
ihres eigenen ‘Bitterfelder Wegs’ ganz hoffnungsvoll als Malerin in einem
Industriekombinat. Dort ist sie jedoch nicht nur auf Gegenliebe gestoßen, son-
dern auch auf Eitelkeiten und Ausgrenzungsbestrebungen, die sie zwischen-
zeitlich durchaus am Sinn ihres Bemühens haben zweifeln lassen. Es kam in
diesem Zusammenhang sogar zum Besuch eines jungen, als freundlich-
korrekt und liberal bis jovial gezeichneten Stasi-Mannes, der dem Vorwurf
nachzugehen hatte, dass die Ich-Erzählerin in ihrem ‘Zirkel malender Arbeiter’
feindlich-konspirativ “eine bürgerliche Plattform gebildet habe”.5 Elisabeth
wies den Vorwurf, hinter dem sie die Intrige eines Malerkollegen erkannte,
vehement von sich, und sie beruhigte den MfS-Vertreter dadurch anscheinend
hinreichend, er kam jedenfalls nicht noch einmal. Ein Parteisekretär setzt der
Intrige schließlich ein für die Ich-Erzählerin gutes und gerechtes Ende, und
nicht zuletzt diese selbst erlebte Problemgeschichte wird vor dem resignie-
renden Bruder zum gleichnishaften Argument: Auch die bereits ‘gutwillige’
Schwester muss also auf ihrem Weg in die sozialistische Gemeinschaft mit
gewissen Hindernissen kämpfen! Der Text steigert gerade durch diese letzte
4
Brigitte Reimann: Die Geschwister. Erzählung. Berlin-Weimar: Aufbau 1963.
S. 253.
5
Ebd. S. 193.
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Erzählwendung für den Leser die Komplexität der vorgestellten Welt über die
rahmenden Problemdebatten hinaus und beugt so vermutlich dem Vorwurf
einer allzu märchenhaften Ankunft im sozialistischen Alltag vor.
Für Reimanns Erzählung im Ganzen ist allerdings festzuhalten, dass die
Ursachen für die vorgestellten Probleme erneut vornehmlich auf der Ebene
persönlicher Dispositionen und zwischenmenschlicher Beziehungen und
weniger auf der Ebene des Gesellschaftssystems an sich angesiedelt werden:
Es ist die gekränkte Eitelkeit eines Malerkollegen, die die Ich-Erzählerin bei-
nahe generell an der Arbeit im sozialistischen Kombinat verzweifeln lässt, und
es ist an späterer Stelle das Eingeständnis des eigenen, immer noch ‘bürger-
lichen’ Klassendenkens, das die volle Integration verhindert.6 Zu korrigieren
haben sich also immer noch vor allem die Individuen, das Gesellschaftssystem
kennt nur einzelne Härten ohne größere strukturelle Bedeutung.
3. Forcierte Problemdiskussion in DEFA-Verbotsfilmen von 1965/66
Namhafte Teile zweier Jahresproduktionen der DEFA fielen zwischen
Ende 1965 und Herbst 1966 Verdikten der Führung der Staatspartei zum
Opfer. Die neue ‘harte Linie’ des 11. Plenums des ZK der SED vom
Dezember 1965 traf insgesamt zwölf DEFA-Filme, aber auch andere vor der
Veröffentlichung stehende Kunstwerke wie etwa Werner Bräunigs großen
Roman Rummelplatz. Mit dem so genannten ‘Kahlschlagplenum’7 und ihm
folgenden Beschlüssen des SED-Politbüros brachte die führende Partei zum
Ausdruck, dass sie ihre Kontrolle im Staat derart gefährdet sah, dass sie sogar
unmittelbar nach der Premiere noch hoch gelobte Kinofilme aus dem Verkehr
zog. Besorgnisse wegen einer zuvor zu großen Liberalität und Meldungen
über wenig linientreue Entwicklungen in der Jugendkultur seit 19618
6
Vgl. ebd. S. 162.
7
Die Rubrizierung dieses ZK-Plenums mit dem Schlagwort Kahlschlag hat anschei-
nend ein Dokumentationsband der frühen Nachwendezeit etabliert, vgl. die ent-
sprechende Eingangsbemerkung in einer späteren Auflage des zuerst 1991 im
Gefolge eines wissenschaftlichen Colloquiums erschienenen Bandes: Kahlschlag.
Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Hg. von Günter
Agde. Berlin: Aufbau 2. erw. Aufl. 2000. S. 9. Der Band enthält eine umfassende
Sammlung von zeitgenössischen Dokumenten vom Plenum und aus dem Umfeld
desselben sowie mehrere sehr erhellende Studien über Abläufe, vermutliche
Hintergründe und auch Fernwirkungen (bis 1976 bzw. sogar 1989) des kulturellen
Einschnitts in der DDR, der von dieser Parteitagung ausging.
8
Etwa zu dem von staatsoffizieller Seite festgestellten jugendlichen Rowdytum,
dass durch westlich-modernistische Einflüsse auch unter den Kulturschaffenden
der DDR befördert werde, vgl. Wolfgang Engler: Strafgericht über die Moderne –
Das 11. Plenum im historischen Rückblick. In: Kahlschlag [wie Anm. 7]. S. 16–36.
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Hier: S. 18. Als aufschlussreichen zeitgenössischen Kommentar vgl. das Zitat aus
Brigitte Reimanns Tagebuch ebd. S. 29. Nicht weiter einzugehen ist hier ferner auf
die wohl hinter allem stehende problematische ökonomische Entwicklung der DDR
und die Ausrichtung der DDR-Staatsführung auf den neuen Hardliner in Moskau,
Breschnew; Kultur- und Jugendpolitik können vor diesem Hintergrund auch als
Felder der Ablenkung bzw. Umlenkung öffentlicher Aufmerksamkeit bezeichnet
werden.
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und so besticht Balla zum Beispiel Lkw-Fahrer, damit sie ihm und nicht ande-
ren das nötige Baugut liefern. Geradezu selbstherrlich ist auch sein Verhalten
gegenüber Staatsmacht, Polizei und Parteifunktionären, von denen er sich
nicht ohne Weiteres zur Ordnung rufen lässt. Im Laufe der erzählten Zeit, das
heißt innerhalb einiger Wochen und Monate, stößt er sich jedoch sozusagen
die Hörner ab, und dies vor allem in der Auseinandersetzung mit dem neuen
leitenden Parteifunktionär auf der Baustelle, Werner Horrath. Horrath ist
dabei einer jener ‘Planer und Leiter’, die nach der 2. Bitterfelder Konferenz
(1964) mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten. Als der eigentliche, sich entwi-
ckelnde ‘positive Held’ erscheint freilich Hans Balla, der nicht zuletzt durch
Horrath lernt, dass er seinen Tatendrang besser mit der Gesamtgemeinschaft
verbinden muss, um der als richtig erkannten Sache konsequenter zu dienen.
Ballas Zuneigung zu einer jungen Ingenieurin auf der Baustelle, Katrin Klee,
trägt zudem dazu bei, dass der individualistische Draufgänger domestiziert wird.
Beinahe gegenläufig zu Balla entwickelt sich hingegen der erwähnte
Parteisekretär Horrath. Der zweite Held des Romans verrennt sich näm-
lich trotz anfänglich vorbildlichen Bemühens bei einzelnen Fragen von
Organisation und Menschenführung, und er ‘verzettelt’ sich außerdem privat:
Er ist ebenfalls der jungen Ingenieurin zugeneigt und beginnt mit ihr sogar
eine regelrechte Beziehung, obwohl er – im Gegensatz zum Junggesellen
Balla – an einem anderen Ort bereits Ehefrau und Kind hat. Horrath muss
daher schließlich einige Maßregelungen hinnehmen, die in einem existenzbe-
drohenden Parteiausschlussverfahren kulminieren. In Beyers Film wird die-
ses Parteiverfahren sogar zur erzählerischen Rahmenebene im Sinne einer
Gesamtaufarbeitung der Geschehnisse.
Die dort aufgerollten Verwicklungen sollen jedoch im Einzelnen nicht
weiter verfolgt werden, um zu der eigentlichen Frage zurückzukommen:
Wieso wurde Frank Beyers filmische Adaption so viel kritischer beurteilt
als der in vielen Kerninhalten identische Roman Erik Neutschs? War es die
größere Aufmerksamkeit der Funktionäre gegenüber dem Massenmedium
Kinofilm? War der Film am Ende nur ein Opfer der geänderten Zeitumstände
von 1966 gegenüber denjenigen von 1964 (Heiner Müllers herausragende
Bühnenadaption des Romans, Der Bau, hatte ja bereits auf dem 11. Plenum
zu einem der zentralen Verbotsobjekte gezählt)? Oder hat es eventuell ent-
scheidende inhaltliche Abänderungen gegeben?
Eine erste Antwort gibt eine Zusammenfassung der deutlichsten
Eigenheiten, die der Film gegenüber dem Roman aufweist. Formalästhetisch
kann man zunächst von einer generellen Abkehr von Neutschs aufdring-
lich pathetischem und langatmigem Realismus sprechen – der Roman zählt
über 900 Seiten –, und zwar hin zu einer im zeitgenössischen Vergleich
moderat experimentellen Filmästhetik. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich
sodann die markantesten Änderungen analog zur neuen Ästhetik als Verzicht
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Im Film wird Balla weder Parteimitglied noch Held der Arbeit, er reist weder in
die Sowjetunion, noch trifft er den Genossen Staatsratsvorsitzenden. [. . .] Zwar
sind auch dem Film-Balla die undogmatischen Genossen sympathisch, aber anders
als im Roman bleibt die Partei unbeweglich.9
Mit Blick auf die Frage von Individualität und Alterität ist schließlich
Folgendes festzustellen: Das Verhalten zumal des Balla im Film wirkt teils
herzerfrischend impulsiv, teils ist es unwirsch bis störrisch (er erscheint so
übrigens sogar im Ansatz als eine latent anarchistische Figur, was an sich
schon ein Dorn im Auge der SED-Hardliner sein konnte). Es ist aber immer
im positiven Sinn als authentisch und fundamental menschlich zu bezeich-
nen, und genau diese facettenreiche Individualität wird anders als im Roman
nicht bis ins Letzte und demonstrativ auf eine ‘bessere’, parteilich-sozialistische
Kollektividentität hin umgebogen. Vielmehr scheint der Balla im Film in
einer quasi über-ideologischen Weise fürsorglich-human zu werden, etwa in
seinem Verhalten gegenüber der Ingenieurin Klee, als diese an ihrem unste-
ten Geliebten Horrath und der allgemeinen Situation auf der Baustelle ver-
zweifelt. – Der Film lässt damit der Persönlichkeit Ballas ein größeres
Eigenrecht, zumal gegenüber einer Partei, deren Vertreter im Einzelnen viel
‘fehlbarer’ erscheinen als in Neutschs Roman (allein dies sicherlich auch ein
wichtiges Verbotmoment). Vor allem die Grenze zwischen anzuerkennender
Individualität und nicht tolerabler Alterität wird so jedoch deutlich zugunsten
der Ersteren verschoben – im Umkehrschluss: Es handelt sich hier gleichsam
um eine Mahnung zu Toleranz bzw. der Vorschlag eines möglichst individua-
listischen Sozialismus.
Eine besonders interessante thematische Variante in dieser Richtung
bietet unter den vielen diskussionswürdigen 1965er Verbotsfilmen der
Spielfilm Karla. Er entstand seit 1964 nach einem Drehbuch des jungen
Ulrich Plenzdorf und unter der Regie des seinerzeit ebenfalls renommierten
Regisseurs Hermann Zschoche und durfte im Gegensatz zu Spur der Steine
nicht einmal ganz zur Fertigstellung kommen.10 Allerdings konnte Karla
9
Joachim Wittkowski: Essay. In: Ders.: Erik Neutsch. In: Kritisches Lexikon
zur deutschen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. http://www.
munzinger.de. Downloaded: 14.12.2010.
10
Plenzdorfs Filmszenarium konnte immerhin 1978 im Ostberliner Henschel-Verlag
erscheinen.
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11
Eine umfängliche Zusammenfassung und Diskussion des Werks, ausgehend von
Plenzdorfs Filmszenarium, vgl. in Siegfried Mews: Ulrich Plenzdorf. München:
Beck 1984 (Autorenbücher 41). S. 21–34.
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Christa Wolf über ihn austauschte;12 von der erzählten Jetztzeit her ist er in
der Endfassung sodann auf 1967 zu datieren, und wohl nur aufgrund äußerer
Umstände ist er erst nach 1970 fertig geworden.
Der Roman zeigt zumindest auf bestimmten Ebenen deutlich: Individualität
war und blieb wohl die immer wieder unterdrückte gesellschaftliche Frage.
Die kollektivistische Ordnung wird zwar auch in diesem Werk weiterhin
bejaht, und die hier nicht weiter zu erläuternde Selbstfindungsthematik der
Titelfigur Karen Waldau ist vielleicht eher unideologisch-persönlicher Natur
und berührt den hier interessierenden Konflikt Individuum-Gesellschaft
weniger. Die Hauptfigur ist es daher auch nicht, die hier, zum Abschluss,
fokussiert werden soll. Aufschlussreich erscheint vielmehr eine narrative
Seitenlinie des Romans, und zwar mit Bezug auf Karen W.s Lebensgefährten
Dr. Fritz Peters, der sich als Historiker an der Universität Leipzig
folgenden Überlegungen widmete: Die sozialistische Geschichtswissenschaft
der 1960er Jahre vernachlässigte seines Erachtens die Bedeutung ein-
zelner ‘großer Persönlichkeiten’ für den Geschichtsprozess sowie deren
subjektive Sichtweisen auf die Gesellschaft. Diese Individuen nähmen aber
sehr wohl auf historische Entwicklungen Einfluss, wenn auch nur neben
den gesellschaftlichen Klassen und anderen Wirkkräften in dialektisch-
materialistischer Geschichtsperspektive. Peters hatte diese Hypothese
bereits in der ersten Hälfte der 1960er zum Zentrum seiner Promotion
gemacht und mit Nachdruck verteidigt; bis zur Jetztzeit des Romans
arbeitete er dann an diesem Thema weiter, schließlich sogar mit einer gan-
zen Institutsforschergruppe. Abwehrreaktionen von Seiten anderer Historiker
und Systemkräfte sowie ein zunehmender Verschleiß des eigenen Elans
im Karrieregerangel ließen ihn jedoch sein Kerninteresse immer weni-
ger energisch verfolgen, und in der anzunehmenden Zukunft bzw. dem
Romanhorizont wird er dies womöglich bald gar nicht mehr tun. – Die Frage
des Individuums begegnet hier also auf einer ‘zweiten Ebene’, das heißt als
versandender Versuch eines re-entry des Einzelsubjekts in die sozialistische
Geschichtswissenschaft, man könnte auch sagen: Es begegnet als ein immer
vergeblicheres Bemühen um eine individualistischere Sozialismustheorie.
1974 durfte ein Roman diese Problemlage immerhin mitteilen.13
12
Vgl. den Briefwechsel der Autorin mit Christa Wolf in: Christa Wolf: Essays/
Gespräche/Reden/Briefe 1959–1974. München: Luchterhand 1999 (Dies.: Werke 4).
S. 213–237.
13
Ein historisches Substrat bzw. mit großen Abstrichen eine reale Vorbildfigur
für Peters und seinen wissenschaftlichen Ansatz könnte man eventuell in Jürgen
Kuczynski sehen, der sich in den 1960er Jahren für ähnliche Fragen interessierte, als
seinerzeit bereits zentraler Vertreter der sozialistischen Gesellschaftswissenschaft
an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften aber sicherlich deutlich etablierter
war als die Figur Peters.
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14
Diesbezüglich positivere Einschätzungen in älterer Forschung haben sich m.E.
als nicht realistisch erwiesen, so etwa bei Jochen Staadt: Konfliktbewußtsein und
sozialistischer Anspruch in der DDR-Literatur. Zur Darstellung gesellschaftlicher
Widersprüche in Romanen nach dem VIII. Parteitag der SED 1971. Berlin: Spiess
1977 (Hochschul-Skripten. Literaturwissenschaft 1). S. 298–308.
15
Dümmel: Identitätsprobleme [wie Anm. 1]. S. 13.
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Michael Hofmann
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer mag die Erinnerung an die
DDR in vielen öffentlichen Diskursen nur eine marginale Rolle spielen. Für
die Kulturwissenschaft und auch für eine kritische Öffentlichkeit, die nicht
immer nur den neuesten Trends hinterherläuft, sind differenzierte Perspektiven
auf die verschiedenen Aspekte der Geschichte des ‘zweiten deutschen
Staates’, aber vor allem seiner Gesellschaft und seiner Menschen, von großem
Interesse. Und zwar einerseits, weil ein gegenseitiges Verständnis zwischen
Ost- und Westdeutschen auf einem besseren Kennenlernen beruht, das auch
das jeweilige Gedächtnis einbeziehen sollte. Und andererseits zeigen etwa die
Aporien der Banken- und Finanzkrisen die Notwendigkeit, Alternativen zu
einem rein kapitalistischen Gesellschaftsmodell zu bedenken. Zwar war die
DDR nicht der ideale Staat der Arbeiter und Bauern, von dem die Propaganda
sprach; es lohnt sich aber heute noch, Erfahrungen nachzuvollziehen, die mit
den Perspektiven und Aporien des real existierenden Sozialismus gemacht
und die unter anderem in literarischen Diskursen artikuliert wurden.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich vielfältige aktuelle Perspektiven auf
die Literatur der DDR:
1. Literatur hat Teil an einem kulturellen Gedächtnis, das nach dem Ende
einer unmittelbaren Weitergabe von Erfahrungen und Erinnerungen auf
Texte, Dokumente und Artefakte angewiesen ist. Literatur kann insofern
historische Erfahrungen wiedergeben und diese gleichzeitig kritisch reflek-
tieren. Wer also etwas über die DDR und die Erfahrungen ihrer Bürger
wissen will, kann die Literatur der DDR studieren – und er kann dies heute
relativ unvoreingenommen ohne die Schablonen des Kalten Krieges und
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1
Vgl. hier und im Folgenden grundlegend Michael Hofmann: Interkulturelle
Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006.
2
Vgl. Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. In:
Hermeneutik der Fremde. Hg. von Alois Wierlacher und Hans Dietrich Krusche.
München: iudicium 1990. S. 80, 102. – Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus
der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft. München:
iudicium 2008. – Ortrud Gutjahr: Alterität und Interkulturalität. Neuere deut-
sche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue
Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek bei
Hamburg 2002. S. 345–369.
3
Vgl. zur soziologischen Forschung in diesem Kontext Ortfried Schäffter: Modi des
Fremderlebens. In: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination
und Bedrohung. Hg. von Ortfried Schäffter. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991.
S. 11–42.
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Abwertung des Anderen. Wenn aber – was in der Moderne und vor allem
in postkolonialen Konstellationen meistens der Fall ist – das Eigene im
Kontext von Krisen und Selbstzweifeln erfahren wird, dann kann das
Fremde zur Folie einer kritischen Selbstreflexion werden und sogar zu
einer Erweiterung des Eigenen beitragen.
3. Das Verhältnis von kultureller und literarische Alterität kann – wie oben
bereits angedeutet – im Sinne Norbert Mecklenburgs so gefasst werden,
dass Literatur als Einübung in die Erfahrung des Fremden/Anderen ohne
das ‘Risiko’ der realen Begegnung gefasst wird.
4. Die Modelle und Konzepte der Interkulturellen Literaturwissenschaft
ergeben neben anderen innovativen Perspektiven die Idee einer
Literaturgeschichte des Fremden, die sich im Bereich der neueren deut-
schen Literatur vom Barock über Lessing, Goethe, die Romantik bis in die
interkulturelle Literatur der Gegenwart erstrecken kann (als prominentes
aktuelles Beispiel kann der Roman Der Weltensammler des in Bulgarien
geborenen, auf Deutsch schreibenden Kosmopoliten Ilija Trojanow
gelten4).
Geht man zu der Reiseliteratur als zu einem privilegierten Thema der
interkulturellen Literaturwissenschaft, so hat die Germanistik erst in
den 1980er Jahren grundlegende Forschungsergebnisse und komplexe
Konzepte entwickelt. Vor allem Peter J. Brenner hat in einem ausführlichen
Forschungsbericht und in einem von ihm herausgegebenen Sammelband
zur Geschichte der Reiseliteratur Maßstäbe gesetzt,5 die heute vor allem
durch neuere Erkenntnisse zu Fragen des “Orientalismus” (Edward Said)6
und allgemein zu postkolonialen Konstellationen7 zu ergänzen sind. In
folgender Weise können die allgemeinen Konzepte der Interkulturellen
Literaturwissenschaft auf die Reiseliteratur angewendet werden:
1. Im Reisebericht, der von der Gattungsdefinition her auf einer ‘realen’
Reiseerfahrung des Autors oder der Autorin beruht, wird das Erlebnis
des Fremden beschrieben, indem man es implizit oder explizit mit dem
Eigenen vergleicht.
4
Vgl. Ilija Trojanow: Der Weltensammler. München: Hanser 2006.
5
Vgl. Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur.
Hg. von Peter J. Brenner. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. – Peter J. Brenner:
Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsbericht. als Vorstudie zu
einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer 1990.
6
Vgl. Edward Said: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a New
Afterword. London: Penguin Books 1995.
7
Vgl. Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der
Kolonialzeit. Hg. von Alexander Honold und Klaus Scherpe. Stuttgart-Weimar:
Metzler 2004.
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2. Das Fremde wird somit vor dem Hintergrund des Eigenen interpretiert.
3. Das Fremde ist jeweils mein Fremdes; das Eigene ist der Maßstab, das
Fremde aufzunehmen. Der Reiseschriftsteller thematisiert Auffälligkeiten
und Differenzen, die ihm vor dem Hintergrund seiner persönlichen
Erfahrungen und seiner Einbettung in seine eigene Kultur als relevant,
merkwürdig, auffällig, bedeutsam erscheinen.
4. Im Fremden findet sich häufig verdrängtes Eigenes. Die Dichotomie
zwischen Eigenem und Fremdem lässt sich in dieser schematischen
Allgemeinheit nicht aufrechterhalten. Indem das ‘Fremde’ an Bedürfnisse
und Interessen des ‘Eigenen’ appelliert, wird sich der Reiseschriftsteller
des Fremden im Eigenen und des Eigenen im Fremden bewusst. Es ent-
steht ein “dritter Raum” (Homi Bhabha),8 ein Ort des Übergangs und der
Begegnung, in der die Begriffe des Eignen und des Fremden neu verhan-
delt werden und Identitätszuschreibungen tiefgreifende Veränderungen
erfahren können.
5. Zu berücksichtigen ist auch der utopische Aspekt des Reisens: Gerade in
der Moderne wird speziell das außereuropäische Fremde in zivilisations-
kritischer Perspektive mit Freiheit, Natur, Ursprung und der Abwesenheit
von Zwängen identifiziert. Dabei ist leicht durchschaubar, dass hiermit
Risiken der Projektion, der Vereinnahmung des Fremden, ja sogar eine
implizite Abwertung des Fremden als des Naiven und nicht intellektuell
Differenzierten einhergehen. Die kritische Analyse der Reiseliteratur hat
also die im Text vorherrschenden Maßstäbe der Beurteilung des Fremden
und des Eigenen nachzuzeichnen und die Frage zu erörtern, inwieweit
eine Offenheit für das Andere des Eigenen im Schreibprozess erreichbar
wird und ob die nicht zu umgehende Gefahr der Instrumentalisierung des
Anderen vor allem als Projektionsfigur kritisch reflektiert wird.
6. Die Beschreibung und kritische Analyse von Reiseliteratur kann sich auf
die Ergebnisse der Gattungsgeschichte stützen. Diese unterscheidet ver-
schiedene historische Typen der Reiseliteratur: so etwa die Pilgerreise,
die Kavalierstour und die “sentimental journey” des 18. Jahrhunderts
und die Bildungsreise (vgl. Baedecker). Von besonderer Bedeutung ist
auch der Gender-Aspekt. Seit dem 19. Jahrhundert nimmt die Literatur
von reisenden Frauen einen besonderen Stellenwert ein. Mit dem
Prozess der Kolonialisierung wird die Beschreibung außereuropäischer
8
Vgl. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth
Bronfen. Tübingen: Stauffenburg 2000. – Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-
amerikanischen Multikultualismusdebatte. Hg. von Elisabeth Bronfen, Benjamin
Marius und Therese Steffen. Tübingen: Stauffenburg 1997.
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Fremde wie etwa der Südsee und des ‘Orients’ zentral. Für die Tradition
gesellschaftskritischer Literatur, die im Prinzip für die DDR besonders
bedeutsam war, sind die im Vormärz, vor allem bei Heine, entwickelten
und im 20. Jahrhundert exemplarisch durch den ‘rasenden Reporter’ Egon
Erwin Kisch gepflegte Gattungen des ‘Reisebildes’, des sozialkritischen
Reiseberichts und der Reportage elementar.
Für die Reiseliteratur der Moderne und insbesondere der Zeit nach 1945 sind
vor allem zwei kritische Perspektiven zu benennen:
1. Mit den schon genannten Begriffen des Exotismus und des Orientalismus
werden Zugangsweisen zum Fremden beschrieben, mit denen sich die
Reisenden an spektakulären Phänomenen des Fremden erfreuen und
berauschen, die aber das Fremde letztlich als der europäischen Kultur
unterlegen betrachten. Wenn in der Tradition des Rousseauismus die
Naivität, Unschuld und Naturnähe exotischer Fremder betont wird, so ist
damit einerseits eine Entlastung von den Entfremdungserfahrungen der
technisierten, industrialisierten und bürokratisierten Moderne verbunden;
andererseits wird implizit an der intellektuellen, organisatorischen und
technischen Überlegenheit der europäischen (und nordamerikanischen)
Kultur festgehalten. Auf der anderen Seite ist etwa die Geschichte der
Orient-Literatur zwar sicherlich differenzierter zu betrachten, als dies in
Saids grundlegendem Werk geschehen ist.9 Nicht zu leugnen ist aber, dass
die Konstruktion von ‘Orient’ in eminentem Maße zur Bestätigung euro-
päischen Selbstverständnisses verwendet wurde. Ob eine ‘authentische’
Begegnung mit dem außereuropäisch Fremden überhaupt möglich ist,
erscheint als aporetische Frage; fest steht, dass die kritische Selbstreflexion
als Strukturelement des Reiseberichts zumindest ein Problembewusstsein
für die Gefahren von Projektion und Missachtung erzeugen kann.
2. Vor allem in den westlich-kapitalistischen Ländern ist nach der ökonomi-
schen Erholung in der Zeit nach 1945 der Reisebericht mit einer Kritik
des (Massen-)Tourismus verbunden. Der die authentische Fremderfahrung
Suchende grenzt sich von dem konventionellen Touristen ab, der in west-
deutscher Perspektive eine Neckermann-Pauschalreise bucht und auf
Mallorca deutsches Bier und Sauerkraut verzehrt. Die arrogante und illu-
sionäre Haltung des ‘gebildeten’ und ‘authentischen’ Reisenden wurde
aber bereits in den 1960er Jahren wirkungsvoll und mit guten Argumenten
von Hans Magnus Enzensberger kritisiert, der in seiner Kritik der Kritik
des Tourismus den bildungsbürgerlichen Dünkel der Tourismus-Kritiker
9
Vgl. Orientalism. A Reader. Hg. von Alexander Lyon Macfie. New York: New York
University Press 2000.
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10
Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus. In: Merkur 12
(1958). S. 701–720.
11
Vgl. Ulla Birnat: “Ich bin nicht der erste Fremde hier”. Zur deutschsprachigen
Reiseliteratur nach 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.
12
Vgl. exemplarisch Silke Cramer: Reise und Identität. Autogeographie im Werk
Hubert Fichtes. Bielefeld: Aisthesis 1999. – Michael Fisch: Verwörterung der Welt.
Über die Bedeutung des Reisens für Leben und Werk von Hubert Fichte. Orte –
Zeiten – Begriffe. Aachen: Rimbaud 2000.
13
Erste rhapsodische Impressionen zum Thema bei Birgit Kawohl: “Besser als hier
ist es überall”. Reisen im Spiegel der DDR-Literatur. Marburg: Tectum 2000.
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musste für einen Leser der DDR einen völlig anderen Status haben als für
einen Westdeutschen.
2. Im Rahmen der wirtschaftlichen Konsolidierung der DDR seit den 1960er
Jahren gab es selbstverständlich auch Urlaubsreisen; diese führten aber
hauptsächlich ins Inland der DDR (Ostsee, Erzgebirge) oder ins sozialisti-
schen Ausland (Plattensee).
3. Reiseberichte entstanden insofern aus anderen Anlässen als solchen, die
für die BRD typisch waren. Während nämlich im Westen auch in der
Reiseliteratur Individualreisen im Vordergrund standen, wurden in der
DDR-Literatur häufig Reisen in politischen oder Schriftstellerdelegationen
beschrieben.
4. In einer noch zu entwickelnden Typologie der DDR-Reiseliteratur
sind zu unterscheiden: Reisen ins sozialistische Ausland, ins kapitalis-
tische Ausland und in Länder der sog. ‘Dritten Welt’ (wobei es sich um
‘Bruderländer’ oder kapitalistische Staaten handeln kann).
Folgende Fragestellungen und Forschungsperspektiven ergeben sich aus
diesen Vorüberlegungen:
1. Diskurse über das Fremde waren auch in der DDR gleichzeitig
Diskurse über das Eigene: Bedürfnisse und Defizite, aber auch positive
Selbsteinschätzungen der DDR zeigen sich in der Reiseliteratur.
2. Die entscheidende These, die sich aus den ersten Studien zur DDR-
Reiseliteratur ergibt, liegt in der Behauptung, dass diese Reflexionen auf
das Fremde und das Eigene keinesfalls ausschließlich von den offiziel-
len ideologischen Vorgaben des Staates oder der SED bestimmt waren.
Sicherlich spielten diese als ‘Erwartungshorizont’ vor allem der Verlage
und der Kulturpolitik eine wesentliche Rolle; sie konnten aber gerade in
der vermeintlich politisch weniger brisanten Reiseliteratur – wie schon an
unseren beiden Modellanalysen zu zeigen ist – leicht umgangen bzw. sogar
subversiv in Frage gestellt werden.
3. Viele Reiseberichte haben aber auch sehr individuelle Perspektiven neben
politischen, gesellschaftlichen, weltanschaulichen und fremdheitsorientier-
ten, wie das Beispiel von Fritz Rudolf Fries zeigt, der in Spanien auch den
Spuren seiner Kindheit nachgeht.14
4. In der Aushandlung von Eigenem und Fremden werden auch in der
DDR-Literatur Defizite, aber auch Errungenschaften des Eigenen im
Kontakt mit dem Fremden deutlich.
5. Zu den in der Forschung noch nicht gestellten Fragen gehört etwa die
folgende: Gibt es spezielle Orte des Fremden in der DDR-Reiseliteratur?
14
Vgl. Fritz Rudolf Fries: Mein spanisches Brevier. Rostock: Hinstorff 1979.
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Schon diese ersten tastenden Fragen zeigen, dass wir es mit einem weiten Feld
zu tun haben, das erst ansatzweise bearbeitet ist, das aber sowohl literatur- als
auch kultur- und mentalitätsgeschichtlich von hohem Interesse ist.
In dem 2009 erschienenen Metzler-Lexikon zur DDR-Literatur hat Jean
Mortier eine ersten Überblick über die Entwicklung der DDR-Reiseliteratur
gegeben:16 In den 1940er und 1950er Jahren überwiegen nach seiner
Einschätzung Berichte vom Aufbau des Sozialismus etwa in der Sowjetunion
und in China, zum Beispiel bei Bodo Uhse. In den 1960er Jahren sind auch
Texte über Westeuropa festzustellen, vor allem über Frankreich (z.B. Fred
Wander), während das Interesse an Sibirien anhält (vgl. die Modellanalyse
zu Brigitte Reimann). Die 1970er Jahre bringen Berichte prominenter DDR-
Autoren über das westliche Ausland: so schreiben Hermann Kant über
Schweden, Günter Kunert über die USA, Rolf Schneider über Frankreich
und Fries über Spanien; es finden sich aber auch sehr originelle Texte über
das sozialistische Ausland, so etwa von Franz Fühmann über Ungarn und von
Adolf Endler über Georgien (vgl. unsere zweite Modellanalyse). Die 1980er
Jahre bringen nach Mortier keine sehr bedeutenden Texte hervor, obwohl
gleichzeitig die Surrogatbedürfnisse der Leser gewachsen seien.
Nach diesen ersten Erkundungen bietet der weitere Text dieses Beitrags
eine erste Stichprobe, indem wir Reimanns Sibirien (aus den 1960er Jahren)
und Endlers Georgien (aus den 1970er Jahren) mit den skizzierten Kategorien
15
Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe. Leipzig: Aufbau 1996.
16
Vgl. Jean Mortier: Reiseliteratur. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren –
Institutionen – Debatten. Hg. von Michael Opitz und Michael Hofmann. Unter
Mitarbeit von Julian Kanning. Stuttgart-Weimar: Metzler 2009. S. 270–272.
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17
Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise. Mit
einem Auszug aus dem privaten Tagebuch und Fotos von Thomas Billhardt. Berlin:
Aufbau ²2004.
18
Mortier: Reiseliteratur [wie Anm. 16]. S. 270.
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19
Reimann: Das grüne Licht der Steppe [wie Anm. 17]. S. 172.
20
Ebd. S. 60.
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Die Kehrseite des Heroismus zeigt sich in einer Episode ganz besonders
deutlich: Reimann berichtet von der Begegnung mit Boris Gainulin, einem
der ‘Helden’ der sozialistischen Aufbauarbeit in Sibirien, der durch einen
Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist.21 Indem der verunglückte Held der
Arbeit in seiner Behinderung mit Empathie dargestellt wird, zeigen sich die
menschlichen Opfer, die für das industrielle Wachstum gebracht werden; ein
verzweifelnder Heroismus stellt den Diskurs im Sinne des Auftrags massiv in
Frage. Und genauso bemerkt Reimann sehr kritisch die Existenz vieler hässli-
cher Neubauten. Diese seien viel schlimmer als in Hoyerswerda, wo Reimann
selbst gelebt und gearbeitet hat und dessen Probleme sie später in dem großen
Romanfragment Franziska Linkerhand literarisch verarbeitet hat.22 Lohnen
sich die Opfer und die vielen Entbehrungen, die mit der Pionierarbeit einer
gewaltigen Industrialisierung und der Ausbeutung der Bodenschätze verbun-
den sind? Und kann man ein Leben im Sinne eines glückenden sozialisti-
schen Entwurfs führen, wenn man in abstoßenden Wohnsilos haust, die keine
Kommunikation und keine Behaglichkeit zulassen? Und werden die Bewohner
Sibiriens nicht zu Sklaven ihrer Arbeit, anstatt sich im Kontakt mit der Natur
zu freien Menschen herauszubilden? Diese Fragen begründen eigentlich eine
pessimistische Sicht auf die fremde Kultur und auf deren Errungenschaften.
Allerdings wird diese Diskursperspektive durch eine andere überblendet, die
ganz im Sinne unserer ‘neueren’ Fragestellungen mit einer Thematisierung
kultureller Differenz verbunden ist und die – so meine These – den
eigentlichen Reiz von Reimanns Reisebericht ausmacht.
Die Faszination der Reise und des Berichts, den Reimann schreibt, beruht
nämlich weniger auf den politischen Diskursen, die sich natürlich auch in
dem Text finden. Die entscheidende Fremderfahrung, die Reimann in ihrem
Text vermittelt, bezieht sich auf die Größe und Erhabenheit einer noch weit-
gehend unberührten Natur und auf die Mentalität der Menschen, die in die-
ser leben. Der ‘Wilde Osten’, so wird schnell deutlich, unterscheidet sich in
kultureller Hinsicht von dem Leben in Deutschland/in der DDR dadurch,
dass die Menschen in ihrem Naturverhältnis weniger entfremdet erscheinen
als diejenigen, die in einer bürokratisch organisierten und durch planmä-
ßige Abläufe strukturierten Gesellschaft leben. Reimann beschreibt voller
Faszination die Weite der Landschaft und die grandiose, weitgehend unbe-
rührte Natur, wie sie sich in der Steppe, den Flüssen und etwa dem (damals
noch nicht verschmutzten) Baikalsee zeigt. Die Faszination durch die
Landschaft entspricht einer Faszination durch die Menschen, die sich mit
21
Vgl. ebd. S. 111–118.
22
Vgl. zu Reimann insgesamt den Überblick bei Carola Opitz-Wiemers: Brigitte
Reimann. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur [wie Anm. 16]. S. 270–272.
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23
Vgl. Reimann: Das grüne Licht der Steppe [wie Anm. 17]. S. 96–102.
24
Ebd. S. 128.
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schärfer sieht, als ob in einem anderen Land die eigenen Anliegen näher her-
anrücken”.25 Dies gilt auch für die bereits angesprochene Architekturkritik,
die als Bindeglied zwischen negativen Tendenzen in der Sowjetunion und in
der DDR fungiert.
Freiheit und Weite der sibirischen Landschaft und Gesellschaft stehen
also gegen deutsche Enge. Das Freie und Weite ergibt sich aber aus der
erhabenen Natur und viel weniger aus dem Kampf des Menschen mit die-
ser Natur. Der sibirische Ingenieur-Poet steht als ‘neuer Mensch’ gegen bor-
nierte Funktionäre; er ist aber für Reimann (vielleicht wie die Protagonisten
des Wilden Westens im amerikanischen Diskurs) eher ein Mensch der Natur
als ein Mensch der Zivilisation. Wenn aber – und dies ist bisher nicht gese-
hen worden – bei Reimann die Erhabenheit der Natur gegen die mensch-
liche Spießbürgerlichkeit steht, dann ist die Utopie des Sozialismus als
Industrialismus in Frage gestellt. Der Text enthält demnach Tendenzen,
die als Vorläufer der Zivilisationskritik verstanden werden können, die in
den 1970er Jahren für die Literatur der DDR zentral wurde. Dabei liegt die
Aporie von Reimanns Position darin, dass Sibirien aber industrialisiert und
zivilisiert und damit ent-naturiert wird und Moskau und der DDR somit
immer ähnlicher. So verbindet sich bei Reimann echte Begeisterung für
einen unbürokratischen sozialistischen Aufbau mit einer noch nicht begriff-
lich artikulierten Frustration, die mit den Aporien des Industrialismus und der
sozialistischen Planwirtschaft zu tun hat. Die implizite Utopie der Reise liegt
in der Erfahrung von Freiheit in der erhabenen und weitgehend menschenfer-
nen Natur. Diese Utopie ist aber paradox und ambivalent; Reimann weiß um
diese Paradoxie, die darin liegt, dass der Mensch im Kontakt mit der Natur
diese zerstört (wie wir heute durch Bilder vom ökologisch toten Baikal-See
wissen, der in dem Bericht als ein Naturparadies beschrieben wird). Das
unbewusste Wissen um diese Paradoxie ist der melancholische Unterton
des Reiseberichts, der von den später veröffentlichten Notizen des privaten
Tagebuchs verstärkt wird.
Endlers Georgien: Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen – die lustvolle
Erfahrung des poetischen Südens
Adolf Endler hat in den Jahren 1971 und 1973 zwei Reisen nach Georgien
unternommen. Beim zweiten Mal wurde er von Elke Erb und Rainer
Kirsch begleitet. Die Reisen waren von vornherein durch ihren literarischen
Charakter ausgezeichnet, war es doch das Ziel der Reisenden, eine Anthologie
mit Nachdichtungen georgischer literarischer Texte herauszubringen. Die
Reise galt also nicht nur dem Kennenlernen des Landes im Allgemeinen,
25
Ebd. S. 79.
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sondern auch den Kontakten mit Autorinnen und Autoren und der Recherche im
Blick auf repräsentative und interessante Texte. Georgien erscheint in
Endlers Perspektive26 zunächst als ein fremdes Land, das er auch mit Hilfe
historischer Kenntnisse zu erschließen sucht. Primär geht es ihm aber um
einen intensiven Kontakt mit den Menschen und speziell den Kollegen,
und er erlebt Georgien als ein Land des Südens und als ein Land der
Poesie. Bisweilen kann man sich dabei an Goethes Italien-Reise erinnert
fühlen; wesentlich erscheinen die demonstrative Distanzierung von poli-
tisch-gesellschaftlichen Fragestellungen und die Engführung von Poesie,
Natur und Landschaft. Mit der demonstrativen und vielleicht strategischen
Übernahme idealistischer Poesiekonzepte unterläuft Endler deutlich alle
Ansprüche an kulturpolitische Modelle, die Positionen des Klassenkampfes
und der gesellschaftlichen Einbindung von Literatur ins Zentrum stellen.
Georgien erscheint als ein befreundetes Land des Südens, in dem – anders
als in Reimanns Sibirien, aber doch mit einer gewissen Ähnlichkeit – die
Verbohrtheit und Engstirnigkeit des deutschen (und auch des russischen)
Alltags nicht anzutreffen sind.
Der Süden, die Wärme und eine südliche Lebensweise sind das erste
beherrschende Element von Endlers Reisebeschreibung. Die Einbettung
des Landes in die Landschaft wird betont; Kaukasus, Täler und Flüsse sind
kennzeichnend für das Lebensgefühl der Georgier. Die georgische Dichtung,
für die sich Endler auch aus den genannten professionellen Gründen interes-
siert, wird dezidiert aus poetischer und poetologischer Perspektive betrachtet,
weniger politisch-gesellschaftlich. In der Tradition Herders und auch schon
der Aufklärung wird der Bezug einer nationalen Kultur zu Landschaft und
Klima betont. Endler setzt bei seiner Konzipierung der Nachdichtungen auf
Empathie; seine Präsenz im Lande soll ihm helfen, die Mentalität der Georgier
zu verstehen. Er schildert Gespräche mit georgischen Autoren und Vermittlern
(mit Dolmetschern oder auf Russisch). Bei der Nachdichtung geht es ja
darum, dass sprachkundige Übersetzer sogenannte Interlinearübersetzungen
anfertigen, die dann von professionellen Schriftstellern in eine poetische
Form gebracht werden.27 Mit seiner Konzeption der Einfühlung in die
Mentalität seiner Gesprächspartner verbindet Endler eine Polemik gegen
die Wissenschaftler der Jenaer Universität und ihre ‘Kaukasus-Forschung’,
die er als zu spezialisiert und rationalistisch versteht.28 Dennoch vermittelt sein
26
Vgl. Adolf Endler: Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen. Halles a.d. Saale:
Mitteldeutscher Verlag 1976.
27
Vgl. Stephan Krause: Nachdichtung. In: Metzer Lexikon DDR-Literatur
[wie Anm. 16]. S. 233–235, der auch die Bedeutung von Nachdichtungen für die
DDR-Literatur insgesamt unterstreicht.
28
Vgl. Endler: Georgien [wie Anm. 26]. S. 109.
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29
Vgl. ebd. S. 42.
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III. Spätzeit – Wendezeit – Nachzeit
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Susanne Liermann
Die späte DDR-Literatur war und ist eine, die die Grenzen der DDR kon-
kret und im übertragenen Sinne überwunden hat. Sie wurde zur Zeit ihres
Entstehens mit großer Aufmerksamkeit auch von der bundesrepublikani-
schen Öffentlichkeit aufgenommen; angesichts ihrer “Modernisierung”2 galt
sie im Vergleich mit den anderen deutschsprachigen Literaturen als ‘wettbe-
werbstauglich’. Und zugleich gestand man ihr bleibende “Zuständigkeit”3,
also eine politische Bedeutsamkeit zu. Die politische Lesart ergab sich dabei
durchaus bereits aus einer Diffusion einst konstitutiver Ansprüche – etwa der
Operativität eines primär realistischen Schreibens. Selbst die Volte gegen
ein engagiertes Schreiben – also zugespitzt noch die Absenz von politischen
Themen – konnte und wurde als politischer Einspruch verstanden.
Engagement und Modernisierung der Literatur, literarische Autonomie
und politische Lesart gehen ein Spannungsverhältnis ein, dem im Folgenden
meine Aufmerksamkeit gilt. Die Fragen, was Literatur leisten will und kann,
ob und wie sie gewährleistet, was ihr Anliegen ist oder in welchem Kontext sie
sich selbst verortet, stellt sich die späte DDR-Literatur dabei vielmals selbst.
1
Christa Wolf: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Hg. von Sonja
Hilzinger. München: Luchterhand 2000. S. 330.
2
Wolfgang Emmerich: Schicksale der Moderne in der DDR. In: Literarische
Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von Sabina Becker, Helmuth Kiesel, Robert
Krause. Berlin-New York: de Gruyter 2007. S. 419–434. Hier: S. 425.
3
Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der
1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen. Heidelberg: Winter 2008. S. 18.
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Ich werde mich auf drei durchaus sehr unterschiedliche Texte beziehen: auf
Stephan Hermlins Abendlicht, Christa Wolfs Kassandra und Gert Neumanns
Elf Uhr.4 Jeder der drei Texte thematisiert auf bestimmte Weise das eigene
Schreiben und konturiert einen Begriff von Literatur: Hermlin in einem auto-
biographischen Text, der sich vielschichtig auf die eigene Autorschaft bezieht,
Christa Wolf vor allem in den Poetik-Vorlesungen zur Kassandra – auch in
der Erzählung, die bereits mehrfach als Verhandlung einer Intellektuellen-
und Schriftstellerproblematik interpretiert wurde5 – und Gert Neumann in
einem Tagebuch, das Martin Walser als ein reines “sprachliches, poetisches
Exerzieren überhaupt”6 gelesen hat.
Gemeinsam ist den Texten, dass sie sich um eine Selbstverortung und
Selbstverständigung bemühen. Allein die Selbstreflexion darf man dabei als
ein Signum später DDR-Literatur verstehen. Gerade sie wurde als Hinweis
auf eine Autonomisierung7 gelesen. Mit großer Emphase werden künstle-
rische Welten entworfen und verteidigt, die zudem ihre Abwendung von der
Realität zuweilen demonstrativ ausstellen. Diese Autonomisierung spiegelt
jedoch noch immer den diktatorischen Kontext: Die Texte machen keinen
Hehl daraus, dass sie auf einen prekären Kontext reagieren; die Literatur ist
dank ihm bei Christa Wolf “Obdach”8 und bei Gert Neumann “Emigration”.9
Die Autonomisierung legt sich als Rückzug in literarische Welten an, den
u.a. Lämmert bereits als Charakteristikum beherrschter Literatur diskutiert
hat: Die literarische Selbstverständigung schafft sich allein via autothemati-
scher Wendung ein “unangreifbares Elementarreich oder auch [. . .] ein hohes
Geisterreich”.10
Die Reaktion auf den diktatorischen Kontext – das Engagement – wäre vor
diesem Hintergrund neu zu bewerten. Ein simplizistisches Bedingungsgefüge
ist dabei nicht vorauszusetzen. Selbstredend ist von einer relativen Autonomie
4
Stephan Hermlin: Abendlicht. Leipzig: Reclam 1979. – Wolf: Kassandra [wie
Anm. 1]. – Gert Neumann: Elf Uhr. Rostock: Hinstorff 1990.
5
Der Monolog ist u.a. von Nickel-Bacon als tragischer Akt einer künstlerischen
Selbstkonstitution gelesen worden. Vgl. Irmgard Nickel-Bacon: Schmerz der
Subjektwerdung. Ambivalenzen und Widersprüche in Christa Wolfs utopischer
Novellistik. Tübingen: Stauffenburg 2001. S. 283.
6
Martin Walser: Vorwort. In: Gert Neumann: Elf Uhr. Köln: DuMont 1999. S. 7–13.
Hier: S. 7.
7
Vgl. Emmerich: Schicksale der Moderne [wie Anm. 2]. S. 425.
8
Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 109.
9
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 192.
10
Eberhard Lämmert: Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter
Diktaturen. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und
DDR-Sozialismus. Hg. von Günther Rüther. Paderborn: Schöningh 1997. S. 15–37.
Hier: S. 24.
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11
Vgl. Wrage: Die Zeit der Kunst [wie Anm. 3]. S. 25.
12
Auch die DDR-Literaturwissenschaft hat mit dem Verlust der Gegenwart der
DDR-Literatur umzugehen. Die Theoriedebatte der neunziger Jahre hat dabei den
hermeneutischen Zugriff auf Texte aus einer Diktatur hellsichtig problematisiert,
sucht die Hermeneutik doch einen Schulterschluss mit den Texten, der nun nicht
länger opportun erschien. Allein den Erkenntniswegen der Texte nachzusinnen
und sie nachzuvollziehen kann heute – in weiten Teilen – kaum mehr befriedigen.
Auch den Status der Öffentlichkeit will ich nicht zum entscheidenden Kriterium der
Analyse machen. Mit ihm verbanden sich zumeist Gegenkanonisierungsversuche:
Es war zu Beginn der neunziger vor allem jede inoffizielle Literatur, die (vor der
breiten Thematisierung der Stasi-Verstrickungen) eine andere, vom Kontext unaf-
fizierte DDR-Literatur konturieren sollte und damit nolens volens die These einer
Literaturautonomie für diesen Teil der DDR-Literatur zu belegen hatte, aber der
harschen Ablehnung und Aussonderung der restlichen DDR-Literatur keinen ande-
ren Zugang, sondern nur einen neuen Textkorpus entgegensetzte (und oft ein nur
einseitiges Bild der Diktatur produzierte).
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13
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 2000.
S. 334.
14
Hermlin: Abendlicht [wie Anm. 4]. S. 5.
15
Hermlin: Abendlicht [wie Anm. 4]. S. 67.
16
Ebd.
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allem als Gegenteil verhandelt.17 Hier werden Tat, Größe, Mut und Kunst,
Weltabgewandtheit, Traumverlorenheit gegenübergestellt. Und zugleich ver-
kehrt der schon zuvor in einem Alptraum vergegenwärtigte Tod des Bruders
das Verhältnis, das zugespitzt und abstrahiert das von Kunst und Welt ist.
Das katastrophische Jahrhundert bedeutet hier nun schlichtweg Tod und
Verderben. Dagegen steht bei Hermlin die Kunst als rettendes, vor Tod und
Verzweiflung bewahrendes Prinzip. Beschrieben und aufgewertet wird in
weiten Teilen des Textes eine poetische Existenz. Das folgende Zitat expli-
ziert nahezu, dass Kunst als Überlebensprinzip vorgestellt wird. Sie erscheint
zugleich in der so unverträglichen Gegenüberstellung von Kunst und katastro-
phischer Welt fortwährend als bedrohte; die “Blutspur der Dichtung” bezieht
sich hier auf die Zäsur 1945:
ich sah Dichtung, auch meine eigene, in Zwänge und Zusammenhänge verstrickt,
ich konnte nicht außerhalb der Zeit stehen [. . .].
Während die Worte meiner Freundin immer leiser zu mir drangen, sah ich die
lange Blutspur der Dichtung [. . .]; sie lief durch Exil, Haft und Tod. Ich stand an
der Grube, in die dieses Blut geflossen war, ehe ich zu den Schatten hinabstieg.
Auch dachte ich an die Tage, als die Dichtung mich davor bewahrt hatte, stumpf zu
werden und nur noch zu existieren, als ich drei kleine Bände, in denen zu lesen ich
mich täglich zwang, in meiner Tasche trug, durch Kriege, unter Steckbriefen hin-
durch, einen Hölderlin, einen Shelley, einen Baudelaire, meine ganze Bibliothek.18
Die Zeit nach 1945 bleibt dann – als bedeutungsvolle Leerstelle – ausgespart.
In einem Text, der in der Kunst autobiographischen Sinn sucht, bleibt allein
die Kritik an den sozialistischen Kunstanschauungen – die dann die Qualität
existenzieller Anfechtungen erhalten – zu vermerken. Hermlin greift –
eher lakonisch denn kämpferisch – die Kulturpolitik der DDR an, die auf
Kunstverhinderung hinausläuft:
Von jenem Augenblick an, da ich begonnen hatte, Marx und Lenin zu lesen, und in
die Arbeiterbewegung eintrat, entstand für mich eine Bedrängnis aus dem Umstand,
daß, obwohl für mich die Theorie in allen menschlichen Bereichen mehr und
mehr ihre Schlüssigkeit erwies, ich auf dem Gebiet der Kunstanschauung nichts
Entsprechendes zu finden vermochte. [. . .] Die Kunst des Jahrhunderts wurde
mehr und mehr zu einem Pfuhl der Verdammnis, die großen Namen der Literatur,
der Musik, der Malerei stellten personifizierte Übel dar, drittrangige akademische
Epigonen wurden zu Genies befördert, man suchte die Wurzel des Verhängnisses,
schon hatte ein Eiferer sich so weit zurückgearbeitet, daß er Flaubert und
Baudelaire für dekadent zu erklären vermochte. Theorien und Begriffe entstan-
den aus dem Nichts, sie waren nicht zu begründen, man tat so, als seien sie längst
bewiesen, man sparte nicht am Gebrauch des Wortes ‘wissenschaftlich’ [. . .], und
17
Ebd.
18
Ebd. S. 102.
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vergeblich wartete man auf das Kind aus jenem Andersenschen Märchen, das
den Ruf ausstößt: ‘Aber der Kaiser ist ja nackt!’ [. . .] Die Regenerationsfähigkeit
der Arbeiterbewegung ist beträchtlich – sie hat auch für mich, in mir eine
Rolle gespielt. Doch konnte ich, wenn ich das Vergangene überschlug, nicht
davon absehen, daß das vergebliche Ringen um eine gar nicht wünschenswerte
Übereinstimmung in einer falsch gestellten Frage mich in dreißig Jahren viel Kraft
gekostet, vielleicht auch daran gehindert hatte, mehr und Besseres zu geben.19
Lakonisch kann der Text in seiner Kritik bleiben, da er sich allein schon in
seiner poetischen Form fortlaufend und eindrücklich über diese Drohkulisse
erhebt. Was einerseits das Zerrissene oder auch Bedrohte der Biographie
darstellt – das Fragmentarische, die fehlende Chronologie und der nur zyk-
lenhafte Zusammenschluss der Erzählungen – gerät gleichzeitig zu einem
positiven Signal: Motivik und Symbolik übernehmen Ordnung und letztlich
Sinnstiftung der Autobiographie. Die ostentativ poetische Form, gespickt auch
mit zahlreichen intertextuellen Querverweisen, erhebt sich demonstrativ über
alle Anfechtungen.
Die Kritik am Kontext mag auf die Kunstanschauungen fokussiert bleiben,
eine “Regenerationsfähigkeit” des Sozialismus – die an seinem Umgang mit
den Künsten festgemacht wird – wird auch konkret benannt. Der Widerspruch
ist jedoch so strukturierend wie fundamental. Denn in seiner poetischen
Form, in seiner Tendenz zu einer entsubstantialisierten poetischen Sprache,
auch in den elitären Selbstinszenierungen akzentuiert Hermlin allein den
Widerspruch: Er erschreibt einen Graben, den seine Prosa gerade nicht mehr
zu überwinden trachtet.
Diesen literarischen Autonomisierungstendenzen – das sei verallgemei-
nernd vorweggenommen – geben die Texte selbst eine auf den Kontext bezo-
gene Bedeutung. Autonomie und Modernisierung, das legt Hermlin nahe,
wollen hinsichtlich der aufgerufenen Versöhnlichkeit befragt werden und
verstanden sein. Sie konservieren den negativen Zeitbezug ebenso wie eine
Aufwertung der Kunst zu einem existenziellen Rettungsanker.
Das ist zeittypisch und prägt ebenso Neumanns Elf Uhr. Denn im Prinzip
sehr ähnlich schreibt Gert Neumann ein Tagebuch, das ansetzt an dem Punkt,
wo der Alltag in der Diktatur – äquivalent zum katastrophischen Jahrhundert
bei Hermlin – es ihm streitig macht, als Schriftsteller zu leben. Genötigt zur
Arbeit in einem Kaufhaus, hält er am literarischen Schaffen fest und sucht
sich jeden Tag Elf Uhr einen Ort zum Schreiben. Der Widerspruch struktu-
riert hier deutlicher noch als bei Hermlin das gesamte literarische Projekt:
Denn in diesem Widerspruch wird es angelegt. Ortheil beschrieb das pragma-
tisch: “Er hatte als Schlosser und Handwerker in einem Leipziger Kaufhaus
19
Ebd. S. 41ff.
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gearbeitet und auch während dieser Tätigkeit die sich selbst gestellte Aufgabe
des Schriftstellers ununterbrochen behauptet.”20
Neumanns Reflexionen verharren oft allein bei den Abenteuern, überhaupt
einen Ort zum Schreiben zu finden; wo sie darüber hinaus gehen, bleiben
sie zumeist auf das eigene Schreiben, auf die durch die Diktatur gestellten
Bedingungen und auf Fragen der Literatur bezogen. Und wie schon latent
bei Hermlin wird dem Streitigmachen einer Schriftsteller-Existenz allein die
Kunst, bei Neumann konkret das Schreiben, fortlaufend und eindrücklich
entgegengesetzt. Bei Neumann wird das Schreiben daher – weitaus radikaler –
konsequent zum Selbstzweck: “Denn es ist ja eine weithin unbekannte
Tatsache, daß ‘Schreiben’ nichts ist, jedoch die Gelegenheit zu schreiben
alles.”21
Für die Gestalt der Texte und die poetologische Selbstverortung, um
die sich Neumann nun dezidiert bemüht, hat das Folgen. Hermlin schon
ist daran gelegen, mit seiner Prosa eine reine Poetizität auszustellen. Die
Gegenwärtigkeit einer höchst intransitiven und fortlaufend alternierenden
Narration verspricht eine Sinnstiftung, da sie eine Konvergenz mit der auto-
biographisch urgründlichen Autorschaftserfahrung markiert. Die symboli-
sche Sättigung und motivische Dichte des Textes, die vielen intertextuellen
Verweise setzen sich über alle beschriebenen Anfechtungen hinweg. Schon
Hermlins Sprache wird dabei betont selbstreferentiell. Das Absolute die-
ser nicht deduktiven, eher lyrisch-musikalischen Sprache demonstriert das
grundsätzliche “Unbehagen am Bestehenden” und “erweist sich als mit einer
Apologetik der Vorhandenheit unvereinbar”, wie bereits Zanucchi schreibt.
Hermlins poetische Sprache hat den “Charakter einer zweiten Natur, die den
Widerspruch zur entfremdeten ersten benennt.”22 Die bewusst artistische
Sprache konterkariert so eindrücklich den versöhnenden Horizont. Wird er
am Umgang mit der Kunst, also mithin an der Vermittelbarkeit des konkreten
Textes festgemacht, baut ihm Hermlin formal gerade keine Brücke mehr.
Zugespitzter wird bei Neumann Literatur jenseits ihrer kommunikativen
Potenzen gedacht. In den poetologischen Reflexionen werden Entstofflichung
und Inkommensurabilität programmatisch verteidigt. Mehr noch als Hermlin
versucht der Text intentional jede Verbindung zur Realität zu kappen, inhalt-
lich und thematisch – in einer höchst selbstreflexiven Tendenz und großen
20
Hanns-Josef Ortheil: Die Sprache des Widerstands. In: Merkur. Nr. 11/1981.
S. 1167–1175. Hier: S. 1169.
21
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 356.
22
Mario Zanucchi: Die Sprache des Schweigens. Zur späten Prosa Stephan
Hermlins. In: Zehn Jahre nachher. Poetische Identität und Geschichte in der deut-
schen Literatur nach der Vereinigung. Hg. von Fabrizio Cambi u. Alessandro
Fambrini. Trento: Universita degli studi di Trento 2002. S. 297–321. Hier: S. 305f.
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Redundanz – wie auch formal – vor allem in einer eigensinnigen Syntax. Das
Vorwort bebildert das eindrucksvoll:
Dieses Buch hat das entsetzliche Thema zum Gegenstand meiner Darstellung
gewählt, in dem das Determinieren und das Determiniertsein, das der Intellekt so
benennt, um eine Logik in der Darstellung der Wirklichkeit, durch das Denken, zu
erhalten: als Handlungen betrachtet werden, die die Wirklichkeit in eine bestimmte
Form zwingen, damit der obszöne Hunger der Menschen, der durch den Mangel an
Poesie, der freilich ebenfalls das Werk der Menschen ist, entsteht, gestillt wird; –
und versucht den Prozeß der Darstellung, der in Wahrheit ein Kampf gegen
die Versteinerung der Materie Wirklichkeit durch die Sprache ist und dessen
Motivationen angesichts des, schwer herrschenden, Wahrheitselends, nur ange-
sichts eines Sieges in diesem Kampf nicht niedrig genannt werden müssen.23
23
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 356.
24
Ebd. S. 27.
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205
25
Julia Hell: Post-Fascist Fantasies. Psychoanalysis, History and the Literature of
East Germany. Durham: Duke UP 1997. S. 222.
26
Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 228.
27
Ebd. S. 109 u. 150.
28
Ebd. S. 191 u. 150.
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Man muss sich in Erinnerung rufen, mit welcher Emphase auch dieser weib-
lichen Stimme ontologische Relevanz zugesprochen wird. Bekanntlich per-
spektiviert Wolf in der Erzählung den mythologischen Stoff aus einer nun
psychologisch ausgeloteten Perspektive Kassandras; und sie verhandelt in
den Vorlesungen diese Perspektivierung unter dem Signum eines weiblichen
Ausdrucks. Die Wichtigkeit des Anliegens könnte kaum dramatischer
erscheinen: Weiblichkeit wird als Paradigma des Unterdrückten verhandelt;
diese Marginalisierung ist zugleich der Punkt, der die Welt aus den Fugen
geraten ließ.
Wolf schließt dabei auch Geschichte und literarische Darstellung kurz: Bei
Aischylos, das ist Wolfs Aufhänger, hatte Kassandra eben auch im übertrage-
nen Sinne kaum etwas zu sagen. Wolf denkt sich eine andere Wirklichkeit, die
Aischylos mit männlichem Macht- und Herrschaftskalkül überschrieben hat.
So tragen die Texte einer männlichen Literatur schließlich Verantwortung für
eine blutige Geschichte. Die literarische Stimme, also nun die weibliche, wird
in diesen historisierenden Begründungszusammenhängen nie nur als Symbol,
sondern als Exemplum in existentiellem Sinne verhandelt. Aischylos etwa gilt
Wolf ganz handfest als Vollstrecker eines männlichen Herrschaftswillens.
Die gegenwärtige Suche nach einem weiblichen Ausdruck betont dann
ebenso existentielle Dimensionen, die schon Hermlin und Neumann auf ihre
Weise herausstellen. Sie werden bei Wolf umgesetzt durch die Betonung
produktionsästhetischer, autor-zentrierter Zusammenhänge. Diese subjektive
Perspektive verweigert sich programmatisch jedem Repräsentationsprinzip.
Der negative Zeitbezug sorgt dafür, dass die verabsolutierte Produktionsästhetik
dann tendentiell auch negativ gefasst wird. Der essayistische Versuchscharakter
bei Wolf, die Suchbewegungen der Vorlesungen harmonieren dann mit der Aus-
musterung und eher wahllos erscheinenden Kritik jeder bisherigen Ästhetik.
Selbst die vorgenommene Relativierung der eigenen Erzählung und die immer
wieder betonte Vorläufigkeit sind nicht nur Selbstkritik. Kondensat dieser
Suche ist, dass der weibliche Ausdruck sich entzieht und unbestimmbar bleibt.
Verteidigt wird in den Poetikvorlesungen damit eine andere Stimme, der
der Widerstand ganz emphatisch zur Weltgeschichte und -politik zugespro-
chen wird. Sie aber kann nur vorläufig oder noch unmöglich und sie darf
brüchig und unverständlich sein. Durch die Unterdrückungsgeschichte kann
ein weiblicher Ausdruck, das ist ein weiteres Argument, nur eruptiv hervor-
brechen. Auch die Erzählung arbeitet an dieser Hypertrophierung einer nega-
tiven Produktionsästhetik, heißt es doch dort: “Mit diesem Schweigen [. . .]
beginnt Protest”.29
So landen alle drei Texte trotz – oder eher wegen – der großen existentiel-
len und bei Hermlin und Wolf auch ausformulierten gesellschaftspolitischen
29
Ebd. S. 330.
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30
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 243.
31
Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart:
DVA 1991. S. 186f.
32
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 141.
33
Ebd. S. 130.
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Realität. Auch bei Wolf wird Realität nur noch als sich selbst auflösende, sich
selbst vernichtende reflektiert. Diesem Denken entspringen die praktischen
und theoretischen Absagen an einen Realismus und Re-Präsentanz. Sie las-
sen sich sicherlich als Reflex auf den Machtanspruch der Partei und seine
Deutungshoheit verstehen. Die literarische Stimme soll mit dieser Welt nichts
mehr zu tun haben.
Neumanns Suche nach einem Raum zum Schreiben auch im übertragenen
Sinne bleibt in der fortlaufenden, nie endgültig glückenden Suche stecken.
Das ist das Kondensat und bestimmt den Eindruck, den man vom Tagebuch
hat: Es kann nur das alle Lebensbereiche Durchdringende der Diktatur
bebildern, auch die “beherrschende Bewußtlosigkeit”34, gegen die Neumann
doch anschreibt.
Dem Deutungsmonopol, den Machtansprüchen zu entkommen, mag
erklärtes Ziel sein; in der Nivellierung von Aussage- und Kommunikations-
dimensionen von Literatur werden sie jedoch zunächst als übermächtige und
allumfassende gespiegelt, denn simple Wider-Worte, eine Poetologie enga-
gierter Literatur gibt es hier nicht.35
Die Literatur spiegelt damit eine höchst gestörte Kommunikation, aber
zementiert sie zugleich. Sie macht die mangelnde Responsibilität des Systems
kenntlich. Neumann benennt sie, er verweist auf das Manipulative und
Übergriffige der Diktatur. Hier motiviert sich die besonders von Neumann
emphatisierte Unverständlichkeit, die Wolf und Hermlin nur moderater
formulieren. Der “Verfall des Dialogs”36 bleibt dann nicht nur kritisierte
Grundlage. Er wird in der gesuchten und eigensinnig verfochtenen Poesie
auch nicht aufgehalten.
Eine solche Literatur war am Ende der DDR aussagekräftig und wichtig, da
sie die Beschränkung individueller Handlungsräume zwar weniger benannte,
aber eindringlich erfahrbar machte. Dabei darf das Hypertrophieren künst-
lerischer Möglichkeiten als Befreiungsversuch gelesen werden, als Versuch,
eine Realität außer Kraft zu setzen. Das gilt meines Erachtens noch für das
Schaffen der inoffiziellen Szenen, die sich bis zum Ende der DDR stetig
vergrößerten. Zugleich wäre auch hier festzuhalten, dass das Spielerische,
34
Ebd. S. 26.
35
Aus dieser ästhetischen Emanzipation ist allgemein nur mittelbar eine politische
herauszulesen. Die späte DDR-Literatur kehrt den offiziellen Vorlieben der DDR –
dem Realismus ebenso wie dem thematischen Kanon – den Rücken. Das literari-
sche Wirkungspotential schmolz dabei zusammen auf eine Praxis und Symbolik
je individueller Selbstverwirklichung, die man nicht unterbewerten sollte, die
auch politische Wirksamkeit entfalten konnte, aber die eben einem Samisdat-oder
Gegenöffentlichkeitsbegriff nicht wirklich entspricht.
36
Neumann: Elf Uhr [wie Anm. 4]. S. 27.
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37
Widerständigkeit nur mit einer inkommensurablen Sprache zu behaupten, arti-
kuliert vor allem Ohnmacht. Vgl. desweiteren Jan Faktor: Sechzehn Punkte zur
Prenzlauer-Berg-Szene. In: MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit. Hg. von
Peter Böthig u. Klaus Michael. Leipzig: Reclam 1993. S. 91–111.
38
Zum durchaus offen ausgestellten Phantasma wird die Literatur, wo sie sich
trotz ihrer prekären Lage nicht von gesellschaftlichen Ansprüchen verabschie-
det, wo die Selbststilisierungen einen nahezu christologischen Exemplar- und
Stellvertretungscharakter annehmen. Treffend und produktiv ist das implizit voraus-
gesetzte sozialpsychologische Bild der DDR weniger in zeitkritischer Dimension,
denn hinsichtlich der Internalisierung von Herrschaftsstrukturen.
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Man kann das als Dilemma beschreiben: Repräsentativ will die Literatur
nicht sein, nicht selbst Machtansprüche stellen und für andere sprechen. An
dem Ausschreiten ihrer Möglichkeiten hat sie folgerichtig weniger Interesse
als an der Darstellung ihrer Be- und Verhinderung. Heute lässt sich das als
“eine geradezu hypnotische Denkhemmung”39 verstehen, der die sicherlich
intensiv rezipierte Geistesgeschichte in ihren Theoremen durchaus Vorschub
geleistet hat. Die Dilemmata, in denen sich die Literatur einrichtet, haben
jedoch – angesichts einer erstarrten politischen Situation, gerade auch im gro-
ßen Rahmen des eingefrorenen Krieges und seiner Zuspitzung zur atomaren
Patt-Situation in den achtziger Jahren – seismographische Qualitäten.
Auch die Genese der DDR-Literatur ist hier zu erinnern, auf die Wolf und
Hermlin selbst entscheidenden Einfluss genommen haben. Literatur stand in
der frühen DDR unter dem Signum von Wirksamkeit und Engagement. Der
selbstgewählte Anspruch der Autoren kehrt nun als teuer bezahlte Hybris
wieder: Weniger Verantwortung denn zugestandene Selbstbeschneidung
war Ergebnis. Die Problematisierung von Sagbarkeit, die Wolf betreibt,
konzediert das nun umstandslos. Die Geschichte der frühen engagierten
DDR-Literatur erscheint in diesem Licht als die einer Instrumentalisierung.
Und in der Tat: Die apostrophierte gesellschaftliche und geschichtliche
Bedeutsamkeit der Literatur beruhte auf der pädagogischen und legitimatori-
schen Funktionalisierung durch die DDR-Kulturpolitik.
Auch am Ende der DDR wurde jede öffentliche Artikulation, auch die lite-
rarische, als Politikum behandelt. Die Literatur will diese Zusammenhänge
nun jedoch einseitig aufkündigen, gerade in einer nahezu prototypischen,
exemplarischen Verhandlung eines literarischen Ausdrucks, der sich an keine
Regel mehr halten soll.
Bereits im Selbstverständnis wird das nicht mehr als Engagement, son-
dern als Fluchtbewegung reflektiert: So werden “Emigration” und “Obdach”
zu Metaphern für die Literatur, mithin in einem anderen Sinn als dem von
Lämmert aufgerufenen. Wenig überraschend werden Parallelen zur Exilliteratur
angeboten. Auch und gerade diese intertextuellen Bezüge v.a. bei Hermlin und
Wolf verweisen sowohl auf das Nichteinverständnis mit dem Gegebenen und
auf eine Distanz zum System, als auch – absichtlich oder nicht – auf den zen-
tralen antifaschistischen Legitimationsdiskurs. Offensichtlich ist, dass auch
hier – wie im Fall von Thomas Manns verlängertem Exil – “den Deutschen
39
Diese Diagnose stellt im Rückblick auf die jüngste Geistesgeschichte Horst
Bredekamp: Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus.
In: Ders.: Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel. Berlin: Wagenbach
2007. S. 136–156. Hier: S. 137.
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etwas von der verdrängten Schuld ins Bewußtsein”40 gehoben werden soll,
wie es Adorno einst formulierte. Das Anknüpfen an diesen Zusammenhang
entsteht jedoch unter nahezu umgekehrten Vorzeichen. Recht absichtsvoll soll
nun eine Schuld dargestellt werden, und zwar die der anderen. Unter diesen
Vorzeichen ist die imaginierte Exilierung der Literatur zunächst ein Abgeben
von Verantwortung für die gegenwärtigen Zustände der Diktatur. Das Beleihen
von Opfergesten unterstreicht das eindrucksvoll. Eindrücklich und deutungs-
würdig ist, dass programmatisch schier jeder Substanz-, Verantwortungs- und
auch Handlungsbegriff ins Negative verkehrt wird.
Den Instrumentalisierungsversuchen, denen die Autoren bis zuletzt
ausgesetzt waren, wollte man sich entziehen, d.h. auch der bleibenden
Verstrickung der eigenen Person ein Ende setzen. Gerade in ihrer so speziel-
len Autonomisierung artikuliert die Literatur einen gewisserweise umfassen-
den Widerspruch gegenüber der Politisierung aller Lebensbereiche; sie sucht
nach Bereichen jenseits aller Politik; die Suche führt in eine Hermetik, die
dann den politischen Verhältnissen gerade keine konkrete Kritik, sondern eine
negativ ausbuchstabierte ästhetische Autonomie entgegensetzte.
Jenseits der notwendigerweise ambivalent bleibenden politischen ‚Haltung’
bleibt die Literatur damit eindrücklich: gerade im wenn auch illusionistisch-
tröstlichen Abgeben einer Verantwortung oder selbst in einer haltlos erschei-
nenden Grandiositätsphantasie. Das Prekäre des diktatorischen Alltags findet
sich hinreichend gespiegelt. Die Fluchtbewegung in einen selbstreferentiellen
ästhetischen Kosmos verwies zumindest auf die fehlende Responsibilität und
Erstarrung des Systems. Den Machterhaltungsstrategien des Systems wurde
damit jedoch eine nur fragile Hürde gebaut. Die Texte waren somit eher
Krisensymptom als dass sie einen Ausweg wiesen.
40
Theodor W. Adorno u. Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955. Hg. von
Christoph Gödde u. Thomas Sprecher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. S. 48.
Vgl. zu diesen Bezügen v.a. Wolf: Kassandra [wie Anm. 1]. S. 134f. Die “große
Kontroverse” resultierte aus der Konfrontation zwischen der Erwartungshaltung,
die nach Ende des Krieges gegenüber dem emigrierten Schriftsteller Thomas Mann
vorhanden war, und seiner entschiedenen Haltung, nicht nach Deutschland zurück-
zukehren. Im Zentrum der öffentlichen Debatte um den Schriftsteller stand der
Komplex der deutschen Schuld. Das nach dem Ende des Krieges in der deutschen
Gesellschaft weitverbreitete Bewußtsein, Opfer und nicht Täter zu sein, wurde durch
Thomas Manns Position nachhaltig in Frage gestellt. Die Reaktionen auf ihn waren
eine Abwehr seiner Aufforderung, die “deutsche Katastrophe”, so die Formulierung
des Historikers Friedrich Meinecke, als selbstverschuldet zu erkennen. Thomas
Manns Stellungnahmen zu Deutschland widersprachen dabei dem in der deutschen
Nachkriegsgesellschaft vorhandenen Verständnis des Nationalsozialismus als einer
Art Fremdherrschaft.
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Holger Helbig
Heiner Müllers Gedicht Glückloser Engel 2 ist der Versuch, die Bedeutung
eines historischen Moments zu erfassen.1 Der Titel des Gedichts verweist
auf die den Text bestimmenden Verfahren der Bedeutungsgewinnung. Zum
einen kommt ein Bild zum Einsatz, das durch seine Tradierung ganz von sei-
nem ursprünglichen Bezug – dem zum Faschismus – abgelöst und zu einer
geschichtstheoretischen Allegorie wurde.2 Es handelt sich um Walter Benjamins
Deutung eines Bildes von Paul Klee. Zum anderen zeigt die Nummerierung
an, dass es sich um einen fortgesetzten Versuch handelt, den Engel zu
beschreiben, und also der kontrastierende Vergleich mit anderen Versuchen,
eine historische Veränderung zu bewerten, nahe liegt. Bei Müller heißt es:
Der Engel ich höre ihn noch
Aber er hat kein Gesicht mehr als
Deines das ich nicht kenne3
1
Die Veranstalter der Tagung, die in diesem Band dokumentiert wird, haben sich
aus dem Gedicht einen Vers als Überschrift entliehen.
2
Zu den Stationen dieser Entwicklung vgl. etwa die Anthologie Glückloser Engel.
Dichtungen zu Walter Benjamin. Hg. von Erdmut Wizisla u. Michael Opitz.
Frankfurt a.M.: Insel 1992.
3
Heiner Müller: Der glücklose Engel 2. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte.
Hg. von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21998. S. 338.
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Bei Benjamin hatte der Engel noch ein Gesicht, dem die Fixierung auf die
Schrecken der Vergangenheit abzulesen war. Der Sturm blies ihm ins Gesicht,
das war der Fortschritt.4 Als Müller das Bild das erste Mal ausarbeitete – in
der Miniatur Der glücklose Engel –, etwa 1958, beschrieb er, wie das Gesicht
beschädigt wurde: Die Augen wurden eingedrückt.5
Inzwischen, der zweite Text stammt von 1991, hat der Engel kein eige-
nes Gesicht mehr. Der Sprecher kann ihn nicht sehen, nur hören. Nun rückt
ein Gegenüber in die Position des Engels ein: “Dein Gesicht, das ich nicht
kenne”. Die leicht paradoxe Figur hält offen, was die Geschehnisse bedeu-
ten. Es ist nicht zu erkennen. Das könnte, 1991, der Nähe zu den Ereignissen
geschuldet sein.
Für eine Deutung des Gedichts und die Bewertung der mit ihm angespro-
chenen Veränderungen grenzt die lange Reihe der Texte, die an die neunte
von Benjamins Thesen über den Begriff Geschichte anschließt, bereits ein, um
welche Sorte Ereignis es sich handelte und mit welcher Logik es zu betrach-
ten sei. In dieser Reihe wird immer wieder aufs Neue die These ausgearbei-
tet, dass das Festhalten an der Idee des Fortschritts einen Preis hat. Er kann
schlimmstenfalls so hoch sein, dass der Fortschritt in Frage steht. Der Engel
möchte verweilen und das Zerschlagene zusammenfügen, aber ein Sturm
weht ihn von dem ständig anwachsenden Trümmerhaufen in die Zukunft. In
der Selbstverständigung der Intellektuellen, die Heiner Müller hier vertritt,
wird die von ihrem Ursprungstext entfernte Metaphorik gewöhnlich in eine
abwägend-kritische Verlustrechnung verwandelt.6
Diese Sichtweise soll im Folgenden ergänzt werden, indem ihr eine
Betrachtung zur Seite gestellt wird, die auf die Voraussetzungen der Verluste
ausgerichtet ist. Den Ausgangspunkt dafür bildet ebenfalls Benjamins Text,
allerdings nicht die neunte, sondern die achte These, eben die vorausgehende.
Sie beginnt wie folgt:
Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‘Ausnahmezustand’,
in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte
4
Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders. Gesammelte
Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/Gershom Scholem hg. von
Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2, Abhandlungen. Hg. von
Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974.
S. 691–704. Hier: S. 697f. (These IX).
5
Vgl. Heiner Müller: Der glücklose Engel. In: Heiner Müller Werke I. Die Gedichte
[wie Anm. 3]. S. 53.
6
Der so gefasste historische Mechanismus ist in der Frage, wie viele Ostdeutsche
sich die DDR zurückwünschen, radikal trivialisiert worden.
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kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung
des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen.7
Das lässt sich, von heute aus rückblickend, leicht auf die Geschichte der
DDR und ihr Ende anwenden. In 40 Jahren Demokratischer Republik
war ein permanenter Ausnahmezustand Alltag geworden. Der wirkliche
Ausnahmezustand war dann die Wende: eine Steigerung der Ausnahmen bis
hin zur Zerstörung des Alltags. Ein Rückblick auf die Literaturlandschaft
DDR ist geeignet, diese Anwendung der Benjaminschen These zu stützen.
Das Vorgehen beruht auf der Annahme, dass eine besondere Gegenwart
auch eine besondere Literatur hervorbringe – und dem Rückschluss, dass an
dieser Literatur auch die Besonderheit der Zeit, in der sie geschrieben wurde,
erkennbar sei. Das gilt sowohl für die langen vierzig Jahre als auch die kurzen
Monate der Wende. Von letzteren ist im Folgenden die Rede, ohne dass die
ersteren aus den Augen verloren werden: Ein Konzept wie Ausnahmezustand
beruht ja darauf, dass eine Norm ausgesetzt wird. Der Alltag als Bedingung
des “wirklichen Ausnahmezustands” kommt also unweigerlich mit zur
Sprache.
Ausnahmezustand soll dabei in dem verfassungsrechtlich bzw. staatstheo-
retischen Sinne verstanden werden, wie er in Auseinandersetzung vor allem
mit Carl Schmitt durch Giorgio Agamben diskutiert worden ist, nämlich als
zeitweilig prekäres Verhältnis von auctoritas und potestas.
Potestas meint die normativ-rechtlichen Elemente des juristischen Systems,
vereinfacht gesagt: die Gesetze und den Apparat zu ihrer Durchsetzung, auf
die der Souverän des Staates zur Aufrechterhaltung der Norm zurückgreift.
Auctoritas meint die anomischen-metarechtlichen Elemente, die in der Lage
sind, die Norm und mit ihr die Gesetze zu verändern, insbesondere jene, die
es vermögen, die Änderung zu legitimieren.8 Die Rede ist nicht von einer
7
Benjamin: Geschichte [wie Anm. 4]. S. 697. Die Fortsetzung des Satzes – “und
dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern” –
zeigt noch einmal, dass Benjamins Text enthistorisiert und als Grundlagenschrift
über den Begriff der Geschichte gelesen wird. Das tue ich im Folgenden auch. –
Zeitgleich mit Benjamin war sich Carl J. Friedrich sicher, dass es “keine institu-
tionelle Rettung” gebe, “die garantieren könnte, daß die Vollmachten aus einer
Notverordnung wirklich zu dem Ziel angewandt werden, die Verfassung zu retten.
Sicherstellen kann dies allein die Entschlossenheit des Volks zu überprüfen, ob sie
diesem Ziel dienen”. Friedrich, Carl J.: Constitutional Government and Democracy.
Theory and Practise in Europe and America. Boston: Ginn 1950 [1941]. S. 828.
Die Übersetzung folgt Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer. Teil II.
Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 15.
8
Die Formulierungen folgen Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 100f.
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9
Ebd., S. 8.
10
An diesem Tag versammelten sich etwa eine halbe Million Menschen auf dem
Alexanderplatz in Berlin. In etwas mehr als 4 Stunden sprachen und sangen 22
von ihnen vor den anderen, ihre Äußerungen wurden beklatscht und ausgepfif-
fen. Die dazugehörigen Texte sind dokumentiert als Mitschnitt des Fernsehens, auf
CD und in verschiedenen Büchern. Vgl. etwa 40 Jahre DDR-TschüSSED 4.11.89.
Ausstellung der “Initiativgruppe 4.11.89” im Museum für Deutsche Geschichte,
Berlin-Ost und im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn. Katalog der Ausstellung, Bonn 1990, Stiftung Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland (dieser Vorlage folgen die Zitate). – Vgl. ebenso: 4.
November ’89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden. Hg. von Annegret Hahn,
Gisela Pucher, Henning Schaller, Lothar Scharsich. Frankfurt a.M.: Propyläen
1990. Sowie die CD Berlin Alexanderplatz 4.11.’89. Die Kundgebung am Vorabend
des Mauerfalls. BMG Berlin Musik GmbH 1999. – Der Status des Textes innerhalb
der Wende ist noch genauer zu bestimmen: Es spricht einiges dafür, ihn unter den
späten Wende-Texten anzusiedeln; es wäre reizvoll, ihn einmal als das letzte Stück
Literatur der Wende zu lesen. Es handelte sich um die erste legale Demonstration
der Wende.
11
Die gemäßigte Fassung lautet: Die Struktur der gesellschaftlichen Öffentlichkeit
verändert sich, und das zieht unweigerlich Veränderungen in der literarischen
Öffentlichkeit nach sich. Der Vorgang lässt sich gut an den Poetikvorlesungen
beobachten, die von Oktober 1989 bis Januar 1990 an der Leipziger Universität
gehalten worden sind. Vgl. dazu: . . . diese Stunde gehört den Autoren. Leipziger
Poetik-Vorlesungen im Herbst 89. Veranstaltet und geleitet von Walfried Hartinger.
Hg. von Christel Hartinger, Antonia Opitz, Roland Opitz. Leipzig: Leipziger
Universitätsverlag 2010.
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Für die Kundgebung jedenfalls steht das außer Zweifel. Gleich ein-
gangs beschrieb eine Schauspielerin, wie der alltägliche Ausnahmezustand
beschaffen war:
Die Regierung ist eingesetzt, um dem Allgemeinwillen zur Anerkennung zu ver-
helfen, aber die Regierenden haben einen Individualwillen, und jeder Wille drängt
zur Herrschaft. Bedienen sie, d. h. die Regierenden, sich zu diesem Zwecke der in
ihren Händen liegenden öffentlichen Gewalt, dann wird die Regierung zur Geißel
für die Freiheit.12
12
Katalog [wie Anm. 10]. S. 12. Dass ich die Namen der Redner unterdrücke,
gehört zu den Ergebnissen der Diskussion in Berlin. Mehrfach machten Hörer dar-
auf aufmerksam, dass die Texte der sog. Intellektuellen zwangsläufig eine ganz
andere Verbreitung erfahren als die der Masse. Das führt zu Konstruktionen, in
denen Literaten als Zeugen dafür angeführt werden, dass es die Masse war, die den
Wandel herbeigeführt hat. Die Frage, wie die Literaturwissenschaft dem Umschlag
der politischen Autorschaft in eine literarische gerecht werden könne, ließ sich
in der Diskussion nicht beantworten. Die Anonymisierung ist ein stilistisches
Mittel, die Frage auffällig zu bewahren; sie ist freilich illusionistisch. Immerhin
wird so der Status der Reden als ein Text betont, in dem der Beitrag des einzel-
nen Autors aufgeht. Die höchst unterschiedliche Tradierung der Texte – einige wur-
den mehrfach gedruckt, bis zum Nachdruck in Werkausgaben, andere sind nur in
den Dokumentationen enthalten – drückt den Status des jeweiligen Autors aus.
Dass gelegentlich von der literarischen Geltung einiger Sprecher auf deren poli-
tische Kompetenz geschlossen wurde, ist nicht weniger illusionistisch als die
Anonymisierung.
13
Vgl. ebd. S. 13f.
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Verhältnis von Politik und Recht bezeichnet,14 was und weshalb hier gewen-
det werden soll. Zum einen soll einer nur den Buchstaben nach herrschen-
den Norm wieder Geltung verschafft, zum anderen Gesetzestext gestrichen
werden, der dem Allgemeinwillen – das ist das Wort der Schauspielerin –
widerspricht. Der Jurist beglückwünscht die Anwesenden dazu, dass die
Demonstration “auf dem Rechtsweg beantragt und genehmigt worden ist”.15
Die Demonstrationen bis zu dieser fanden in dem erwähnten Niemandsland
statt, im Widerspruch zum geltenden öffentlichen Recht und gedeckt von einer
sich verändernden politischen Faktizität. Wie weit diese Veränderung reichte,
kann man sehen, wenn man sich fragt, wer sie autorisierte. Von dieser Frage
hing damals und hängt auch für die rückblickende Rekonstruktion alles ab:
Welche gesellschaftliche Kraft ist mächtig genug, der herrschenden Macht die
Legitimität abzuerkennen und ihre eigene oder eine andere zu installieren?16 –
Der Name dieser Instanz wurde bereits erwähnt, es ist die auctoritas.
Auch der Kategorie Autorität im legalistischen Sinne haftet noch etwas
von jenem lateinischen augere an, das für gewöhnlich mit dem Autor in der
schönen Literatur verbunden ist: “etwas aus dem eigenen Schoß hervorge-
hen lassen, etwas zur Existenz bringen”.17 Für die Sphäre des Rechts und der
Politik kommt, so ließe sich vereinfacht sagen, zu dieser Fähigkeit noch
das Vermögen hinzu, einer Aussage auch Geltung zu verschaffen, sie zu
legitimieren.
Unter dieser Voraussetzung betrachtet, handelt es sich bei der Kundgebung
auf dem Alexanderplatz im wahrsten Sinne des Wortes um ein Treffen von
Autoren. An der Rede einer Schriftstellerin wird das deutlich, sobald man
den Gebrauch der Personalpronomina betrachtet. Zum einen kennzeichnet die
Autorin ihre Position, indem sie sich in Distanz zu der Masse begibt: dann
sagt sie Ich; zum anderen stellt sie sich als zugehörig zu dieser Masse aus,
dann sagt sie Wir. Wir, das sind die Masse und die Autorin.
Soweit sind wir wohl noch nicht, daß wir sie [die Wendehälse, H.H.] mit Humor
nehmen können. Was uns doch in anderen Fällen schon gelingt. “Trittbrettfahrer
zurücktreten!” lese ich auf Transparenten. Und an die Polizei gerichtet von
Demonstranten der Ruf: Zieht euch um und schließt euch an! [Applaus]
Ich muß sagen, ein großzügiges Angebot.18
14
Vgl. dazu ebd. S. 14–28.
15
Ebd. S. 14.
16
Die Frage lässt sich über die Wende hinaus verlängern.
17
Zu den Implikationen der Problematik des Begriffs auctoritas im gegebenen
Kontext vgl. Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 90f. (Punkt 6.2); dort
auch das Zitat von Emil Benveniste, das ich hier verwende, mit Nachweis.
18
Katalog [wie Anm. 10]. S. 38. (Hervorh. H.H.).
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Die Schriftstellerin hat die Transparente nicht beschriftet, sie beurteilt einen
fremden Text. Wenn sie sich umstandslos zu der Masse hinzuzählt, so ist dies
auch (aber nicht nur) durch deren sprachliche Kompetenz begründet. Am
Ende ihrer Rede spricht die Schriftstellerin die unmittelbare Situation an und
die Bedeutung der Massenansammlung aus. Sie sagt:
Dies ist eine Demo, genehmigt, gewaltlos. Wenn sie so bleibt, bis zum Schluß,
wissen wir wieder mehr über das, was wir können. Und darauf bestehen wir dann.
[Starker Applaus.]
Ein Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. [Zurufe,
Klatschen, starker Applaus.].19
Als der Beifall nicht enden wollte, fügte die Schriftstellerin hinzu: “Alles
nicht von mir. Alles nicht von mir. Das ist literarisches Volksvermögen”.20
An dieser Stelle werden der legalistische Anspruch des Volkes und zumin-
dest ein Teil seiner Begründung ausgesprochen. Darauf bestehen wir dann:
Das meint, den eingangs ausgesprochenen Anspruch auf Gesetzesänderung
durchzusetzen, wozu die genehmigte Kundgebung bereits der erste Schritt
ist. Und das ist möglich, weil das Volk auf dem Wege ist, Autorität zu
gewinnen.
Erkennbar wird das am effektvollen Einsatz des Zweizeilers: Die Autorin
bedient sich aus dem Textvorrat eines anderen Autors. Es ist, mehrfach ange-
zeigt, der des Volkes.
Die Schriftstellerin lehnt die Autorenrechte an den Sprüchen ab und erkennt
deren Autor an; die Wiederholung der Ablehnung betont die Quellenangabe.
Das Wort Volksvermögen ist in seiner Doppeldeutigkeit präzise. Gemeint
sind sowohl das Vermögen, etwas herstellen zu können, als auch der gesell-
schaftliche Wert, den das Hergestellte repräsentiert. Zur juristischen Relevanz
des Vermögens tritt die Ökonomie der öffentlichen Geltung: symbolisches
Kapital.21
19
Ebd. S. 39. (Hervorh. H.H.).
20
Zitiert nach der CD Berlin Alexanderplatz [wie Anm. 10]. Auch das Deutsche
Historische Museum stellte im Internet eine Aufnahme zur Verfügung, die die
betreffende Passage enthält, vgl. http://www.dhm.de/lemo/html/DieDeutsche
Einheit/ WandelImOsten/kundgebungAufDemAlexanderplatzBody.html. Downloaded
30.3.2004. (Hervorh. H.H.).
21
Zur juristischen Relevanz vgl. Helmut Haberstumpf: Handbuch des
Urheberrechts. Neuwied: Luchterhand 22000. Zur symbolischen Relevanz vgl.
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.
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Den Vorgang der Autor-Werdung des Volkes beschreibt die Rednerin wie
folgt:
Unglaubliche Wandlung. Das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als
Volk zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen –
der tausendfache Ruf: Wir sind das Volk! [Starker Applaus].22
Die Masse auf dem Platz wusste, was gemeint ist, wenn sich ein Staatsvolk
als Volk zu erkennen gibt.23 Löst man das tautologische Moment auf, so heißt
das: Mit der Fähigkeit zur Artikulation gewinnt die Masse Subjektstatus. Sie
bringt eine sprachlich klar erkennbare Identität hervor, sie wird zum Autor.
Wir sind das Volk: Mit diesem Satz beansprucht die Masse, nicht nur Urheber
der Äußerungen zu sein. Das Aussprechen des Offensichtlichen bezieht sei-
nen Sinn vor allem aus dem legalistischen Anspruch, der mit der Äußerung
artikuliert wird. Der Autor fordert, was ihm zusteht: Autorität.
Die Literaturgeschichtsschreibung macht bisher keine Anstalten, diesen
Umstand in Rechnung zu stellen. Sie vernachlässigt den wichtigsten Autor
der Wendezeit. Das liegt unter anderem daran, dass die Kategorien, mit denen
gearbeitet wird, auf den Normalfall zugeschnitten sind. Das betrifft insbeson-
dere das Konzept von Autorschaft und den Werkbegriff.
Wenn das Volk mit eigener Stimme spricht, dann ist das auch ein litera-
rischer Ausnahmezustand. Das Volk tritt als politische Autorität auf und
das führt dazu, dass es auch als Autor im literarischen Sinne sichtbar wird.
Wenige Beispiele genügen, dies zu belegen:
Trittbrettfahrer abtreten
Für die beidseitige Bemalung der Mauer
Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume
Stasi in die Produktion, nur für Arbeit gibt es Lohn
Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt
Was das Volk schon lange weiß, macht Egon erst seit gestern heiß
Pässe für alle – Laufpaß für die SED
Visafrei bis Hawaii
Wir denken nicht anders, wir denken!24
Der gattungstheoretische Befund ist ganz eindeutig: Die Masse bevorzugt den
Spruch. Bei den Aufschriften der Transparente wird die Alltagsrede auf kunst-
volle Weise genutzt. Die Sprüche sind alle situationsgebunden, der Autor
eines einzelnen ist nicht zu erkennen. Die Autorschaft ist, was den einzelnen
22
Katalog [wie Anm. 10]. S. 39.
23
Meine Zusammenstellung aus Katalog.
24
Meine Zusammenstellung aus Katalog.
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betrifft, anonym. Für die Wirkung des Textes kommt es auch gar nicht auf den
einzelnen an. Was zählt, ist die Masse der Sprüche. Sie bildet den entschei-
denden Text, zu dem jede Aufschrift ihren Teil beiträgt.
Die “eindringliche, durch ihre inhaltliche, logische oder formale Eigenart
frappierende [. . .] Ausdrucksweise, [der einzelnen Sprüche,] die zweifellos
einen ästhetischen Reiz ausüben soll”, kennzeichnet die “Urteilsfähigkeit”
des Autors.25 Die ästhetisch bestimmte Form geht mit den inhaltlich kompe-
tenten Aussagen eine Einheit ein, sie bilden ein Werk.26 Sein Autor ist, nicht
nur in diskurstheoretischer Hinsicht, ein Subjekt. Im Hinblick auf das his-
torische Geschehen und seine legalistischen Implikationen formuliert: Die
politische Autorität wird so groß, dass das Volk als Autor anerkannt wird. Es
handelt sich dabei nicht um eine natürliche Person, sondern um den Leviathan
in Aktion.
Und dieser besondere Status der Masse bestimmt die Beschaffenheit des
Ausnahmezustands. Dem entspricht spiegelverkehrt, dass der Souverän
reduziert wird auf die bloße physische und private Person. Die Instanz, bei
deren Nennung mindestens zwei Epitheta der Macht unvermeidlich waren,
Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzender der
DDR, wird nun als alter Mann dargestellt. Einer der Redner sagte:
Ich möchte uns alle an einen alten Mann erinnern, an einen alten und wahrschein-
lich jetzt sehr einsamen Mann. Ich spreche von Erich Honecker. [. . .]
Und ich glaube, auch für diesen alten Mann ist unsere Gesellschaft keinesfalls
die Erfüllung seiner Träume. Selbst er, an der Spitze dieses Staates stehend und für
ihn, für seine Erfolge, aber auch für seine Fehler, Versäumnisse und Verbrechen
besonders verantwortlich, selbst er war den verkrusteten Strukturen gegenüber fast
ohnmächtig.27
Damit kommt der Souverän wieder dort an, wo das neue Recht seinen
Ausgang nimmt: im Leben. Es ist die Gleichzeitigkeit beider Phänomene –
das Volk als Autor und der Souverän als Mensch – die den Ausnahmezustand
25
Eintrag Spruch von Klaus Kanzog, in: Reallexikon der deutschen
Literaturgeschichte. Bd. 4. Hg. von Klaus Kanzog u. Achim Masser. Berlin: de
Gruyter 1984. S. 151–160. Hier: S. 152.
26
Unvermeidlich: “Das Wort ‘Werk’ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahr-
scheinlich ebenso problematisch wie die Individualität des Autors”. (Michael
Foucault: Was ist ein Autor? [Vortrag von 1969]. In: Schriften zur Literatur. Hg.
von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2003. S. 234–270. Hier: S. 241.) – Die Originale der Sprüche
werden nicht in Bibliotheken, sondern in Museen aufbewahrt. An diesem fei-
nen Unterschied könnten weiterführende Überlegungen zur Differenzierung des
Werkbegriffs ansetzen.
27
Katalog [wie Anm. 10]. S. 56.
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bestimmt. Für einen Moment ist nicht zu entscheiden, wer die Macht
hat. Ganz in diesem Sinne definiert Agamben den Ausnahmezustand als
“Schwelle der Unentscheidbarkeit [. . .] zwischen Leben und Recht, auctoritas
und potestas”:
Er [der Ausnahmezustand] gründet in der wesentlichen Fiktion, dass die Anomie –
in der Form der auctoritas, des lebenden Gesetzes oder der Gesetzeskraft – noch in
Beziehung zur Rechtsordnung steht und dass die Macht, die Norm zu suspendie-
ren, unmittelbar auf das Leben zugreift.28
Die Definition von Agamben ist ebenso präzise wie desillusionierend: Der
Ausnahmezustand, den Benjamin als wirklichen apostrophiert hat, beruht
auf einer Fiktion. Für den Fall des römischen arcanum imperii, den Agamben
bespricht, oder die zwei Körper des Königs, die Alfred Kantorowicz behan-
delt hat,29 lässt sich die Fiktion als intakte Tradierung eines staatstragenden
Mechanismus’ fassen. Für den Fall der Wende allerdings handelte es sich um
die Hoffnung, unmittelbar aus dem Leben heraus lasse sich Recht legitimieren.
Dieser Umstand verleiht dem maßgeblichen Autor noch mehr Gewicht. Der
Terminus Hoffnung zeigt an, dass keinesfalls sicher war, ob das Erhoffte auch
eintreten werde.30
Zu den Eigenheiten der Wende gehört, dass in hohem Maße offen war,
zu welchem Ergebnis die Entwicklung führen würde. Dazu steht nicht im
Widerspruch, dass sich alle Beteiligten und Beobachter darüber einig waren,
dass das Geschehen eine beachtliche historische Dimension hatte. Vielmehr
ergibt sich aus beidem ein weiteres Kriterium, anhand dessen sich der
Ausnahmezustand und seine Dauer näher bestimmen lassen.
Das Kriterium besteht im Zusammenfall von Geschichts- und
Gegenwartsbewusstsein. Es ist massenhaft belegt. Nicht nur die hohe Zahl von
Tagebüchern fällt ins Gewicht, sondern vor allem deren Abweichung von der
Gattungsnorm. Tagebücher gehören zu den Ego-Dokumenten; im Normalfall
handelt es sich um literarische Erzeugnisse, die geschrieben werden, um
Subjektivität her- und auszustellen sowie diese zu überliefern. Sie folgen
einer “Rhetorik der Identität” und bestimmten Regeln der Selbstdarstellung.31
Im Ausnahmefall nun werden die Tagebücher geschrieben, um die Ereignisse
28
Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 101.
29
Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs: Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta 1992.
30
Quer durch alle Parteien wurde öffentlich damit kokettiert, wie überrascht man
von der Wende gewesen sei. Man hielt dies für aufrichtig und ungefährlich und
zeigte so an, dass man also andere Hoffnungen unterhalten hatte.
31
Vgl. Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.
S. 130f.
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festzuhalten. Die Autoren stellen ihre Subjektivität zurück. Sie berichten nicht
von einer privaten Wirklichkeit, sondern versuchen, eine gesellschaftliche zu
erfassen.32
Dieses Bewusstsein für die historische Dimension der Ereignisse lässt sich
auch am Text vom 4. November 1989 nachweisen. Die Transparente lassen ein
Bewusstsein für den geschichtlichen Moment erkennen. Eine kleine Auswahl
soll das verdeutlichen.
Demokratie Jetzt oder Nie
1789–1989
Das Rad der Geschichte wird über Euch hinwegrollen – wir drehen’s
Es lebe die Oktoberrevolution 1989
Egon, wann beginnt die Wende, oder sind wir schon am Ende?
Alle MACHT den RÄTEN!!!
Vergangenheit bekennen! Damit sie nicht zur Zukunft wird
Vorwärts, doch nichts vergessen!
Sucht / nach / Geschichte33
32
Die Behauptung ließe sich belegen etwa anhand von: Alonso Alvarez de Toledo:
Nachrichten aus einem Land, das niemals existierte. Berlin: Volk & Welt 1992. –
Cees Nooteboom: Berliner Notizen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. – Robert
Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berlin-Journal 1989–1990. Frankfurt a.M.:
Fischer 1993.
33
Meine Zusammenstellung aus Katalog [wie Anm. 10].
34
Vgl. ebd. S. 3.
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35
“In diesem Jahr waren die Straßen immer voller Menschen: [. . .] – immer fan-
den irgendwelche Ereignisse statt, die die Menschen zu Tausenden auf die Straße
trieben. Es war eine undefinierte Zeit, ein Dazwischen: Das alte System trat ab und
der Westen war noch nicht da. In diesem Jahr wechselte ständig die Richtung, alle
paar Wochen hatte die DDR etwas Neues mit sich vor.” (Thomas Brussig: “Zum
Reporter muß man geboren sein”. Matthias Matusseks Palasthotel. In: Matthias
Matussek: Palasthotel oder Wie die Einheit über Deutschland hereinbrach.
Frankfurt a.M.: Fischer 2005. S. 9–13. Hier: S. 11).
36
Die Beschreibung folgt einschlägigen Definitionen des Terminus Erlebnis.
“Ein Erlebnis ist ein besonderer Moment individueller Weltaneignung, in dem
Objekt oder Welt und Subjekt oder Ich ungeschieden präsent sind”. Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart:
Metzler 2. neu bearb. Aufl. 2005. S. 391. Daher steht es im Kontrast zum Alltag.
Die Selbstvergessenheit des Subjekts und die unmittelbare Erfülltheit des Moments
begründen die Relevanz des Erlebnisses: Es ist selbstverständlich und bedarf
keiner Beweise. Durch ein Erlebnis ist das Subjekt “bedeutsam auf das Ganze
seines Daseins bezogen”. (Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg. von
Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe 1972. Sp. 703).
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37
Die Beschreibung folgt einschlägigen Definitionen des Terminus Erlebnis.
“Ein Erlebnis ist ein besonderer Moment individueller Weltaneignung, in dem
Objekt oder Welt und Subjekt oder Ich ungeschieden präsent sind”. Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart:
Metzler 2. neu bearb. Aufl. 2005. S. 391. Daher steht es im Kontrast zum Alltag.
Die Selbstvergessenheit des Subjekts und die unmittelbare Erfülltheit des Moments
begründen die Relevanz des Erlebnisses: Es ist selbstverständlich und bedarf
keiner Beweise. Durch ein Erlebnis ist das Subjekt “bedeutsam auf das Ganze
seines Daseins bezogen”. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg.
von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe 1972.
Sp. 703.
38
Agamben: Ausnahmezustand [wie Anm. 7]. S. 103.
39
Das Ausmaß des Wandels der Bundesrepublik seit 1990 ist erstaunlich. Nach all
der aufrüttelnden Aktivität, nach all diesem massenhaften Engagement während und
nach der Wende besteht die Mehrheit des Volkes 20 Jahre später aus Nichtwählern.
Ein Blick auf das politische Personal erklärt vieles – aber auch das? Als Indiz für
die Lage kann Günter Gaus’ Artikel Warum ich kein Demokrat mehr bin gelten, in
dem er einen Zusammenhang zwischen geistiger Klarheit, verlorener Hoffnung und
der Geschichte ostdeutsch sozialisierter Idealisten herstellt: “Mein Abschied von
der Demokratie ist im Geistigen zu vergleichen mit der Entrümpelung eines Hauses,
bevor man es verlässt und ins ‘Augustinum’ zieht. Wenn man alt genug geworden
ist, um alle Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung des Menschen aufgegeben
zu haben, dann bleibt einem als intellektuelle Anstrengung nur noch das Vergnügen,
sich selber nichts mehr vorzumachen. Und für die Öffentlichkeit niedergeschrieben
habe ich das ‘Servus, Demokratie’, weil ich als bundesrepublikanischer Staatsdiener
bei der DDR nicht ohne Mitleid erlebt habe, dass sich dort idealistisch gesinnte
Menschen damit gequält haben, ihre bitteren, sie bekümmernden Einsichten in das
Konkrete des real existierenden Sozialismus unausgesprochen zu lassen.” (Günter
Gaus: Warum ich kein Demokrat mehr bin. In: Süddeutsche Zeitung 23.8.2003.)
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Aus dieser Perspektive wäre es unmöglich, den Blick nur auf die Trümmer
der DDR zu richten. Stattdessen wäre nach den Intentionen des entscheiden-
den Autors der Wendeliteratur zu fragen, nach denen des Volkes. Oder, an
Benjamin angelehnt formuliert: Aus der Perspektive der Unterdrückten lag
es nahe, den nach 40 Jahren normal wirkenden Ausnahmenzustand in einen
wirklichen Ausnahmezustand zu verwandeln, um aus diesem heraus wieder in
eine Normalität zu gelangen.
Der Satz Wir sind das Volk ist Ausdruck des Ausnahmezustands. Die
politische Dimension der Aussage überdeckt die literarische Quelle nahezu
vollständig.40 Der Satz Wir sind ein Volk beschreibt die Normalität. Wer hätte
vor 21 Jahren eine solche Feststellung für möglich gehalten, wer hält sie
heute für normal?
Um es mit Benjamin zu sagen:
Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert
noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer
Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es
stammt, nicht zu halten ist.41
So endet die achte der Thesen über den Begriff der Geschichte.
In der neunten, unmittelbar daran anknüpfend, beschreibt Benjamin den
Preis, der für die Verwirklichung des Möglichen zu zahlen ist. Der Engel der
Geschichte “hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette
von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe”.42
Das ist der Hinweis auf die Verluste, das ist die Absage an einen unschuldigen
Fortschritt. Das wiedervereinte Deutschland hat den Traum vom demokrati-
schen Sozialismus gekostet.
Am 4. November 1989 wollte Heiner Müller auf dem Alexanderplatz
aus Bertolt Brechts Gedicht Fatzer komm vorlesen. Brechts Gedicht ist der
Versuch, die Bedeutung eines historischen Moments zu erfassen. Es setzt ein in
einem Moment, da Siege und Niederlagen erfochten sind. Es greift voraus auf
kommende Zeiten in der Gewissheit, dass Geschichte nicht stillzustellen ist:
Du bist fertig, Staatsmann.
Der Staat ist nicht fertig.
Gestatte, dass wir ihn verändern
Nach den Bedingungen unseres Lebens.
40
“Wir sind das Volk, die Menschheit wir,/ Sind ewig drum, trotz alledem!”
(Ferdinand Freiligrath: Trotz alledem! In: Reclams großes Buch der deutschen
Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Hg. von Heinrich Detering.
Stuttgart: Reclam 2007. S. 448–450. Hier: S. 449).
41
Benjamin: Geschichte [wie Anm. 4]. S. 697.
42
Ebd.
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43
Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe.
Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef-Müller. Berlin:
Aufbau 1993. Bd. 14. S. 32f.
44
Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1992. S. 355.
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Juliane Schöneich
1
Jörg Fröhlich, Reinhild Meinel, Karl Riha: Vorwort zur dritten Auflage. In: Wende-
Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der deutschen Einheit. Hg.
von Denselben. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1999. S. 7.
2
Hannes Krauss: Die Wiederkehr des Erzählens. Neue Beispiele der Wendeliteratur.
In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen –
Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher.
Heidelberg: Synchron 2004. S. 97–108. Hier: S. 97.
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230
3
Frank Thomas Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ im Spiegel der deutschsprachigen
Literatur. Bd.1. Berlin: de Gruyter 2003. S. 68. Hier online-Ressource 2008, http://
dx.doi.org/10.1515/9783110201635.
4
Zur temporären Staffelung verschiedener Genres in Bezug zu 1989/90 vgl. bei-
spielsweise: Grub: ‚Wende’ und ‚Einheit’ [wie Anm. 3]. – Kerstin E. Reimann:
Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach
1989/90. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. – Ulrike Bremer: Versionen der
Wende. Eine textanalytische Untersuchung erzählerischer Prosa junger deutscher
Autoren zur Wiedervereinigung. Osnabrück: Rasch 2002.
5
Aus biographischer Sicht müssen in erster Linie Autorinnen und Autoren aus der
DDR (Gebliebene und Gegangene) berücksichtigt werden, da vor allen Dingen jene
mit einer ‘DDR-Biographie’ Gedichte schrieben, in denen sie “das politische, soziale,
kulturelle und nicht zuletzt lebensgeschichtliche Faktum von Wende und
DDR-Zusammenbruch, von Anschluss und Vereinigung reflektieren.” (Hermann
Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der
1990er Jahre. Münster: Lit. Verlag 2004. S. 66.) Dies gilt, obwohl sich beispiels-
weise auch Grass oder Rühmkorf zu Wort gemeldet haben und obwohl in den ein-
schlägigen Anthologien von Chiarloni oder Conrady VertreterInnen aus Ost und
West zu Wort kommen. Vgl. Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie. Hg. von
Anna Chiarloni und Helga Pankoke. Berlin: Aufbau 1991. – Von einem Land und
vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990. Hg. von Karl Otto Conrady.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.
6
Ähnlich argumentieren Arnold und Korte: “Allerdings repräsentiert die Auswahl
dieser Dekade [1989–1999] vor allem solche Gedichte, die sich in den aktuel-
len DDR-Diskurs einmischen – im Glauben an eine literarische Gattung, deren
Subjektivität den Anspruch und die Souveränität einer poetischen Stimme bewahrt”
(Hermann Korte und Heinz Ludwig Arnold: Nachwort. In: Lyrik der DDR. Hg.
von Denselben. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S. 403–412. Hier: S. 411). Arnold
und Kortes expliziter Hinweis auf ‘Subjektivität’ muss hierbei anscheinend als
Zugeständnis an widersprechende Argumentationslinien und Haltungen des offizi-
ellen Erinnerungsdiskurses gelesen werden.
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Parameter geknüpft ist, auch wenn die Ablehnung dieser Faktoren im wissen-
schaftlichen und literaturkritischen Diskurs lautbar gemacht wurde – aller-
dings nur, was die Bewertungskriterien für vor 1989/90 entstandene Werke
anbelangte. Tendenziöse Aspekte, die bei Feuilletonartikeln, Rezensionen,
Kommentaren etc. weniger überraschenden, besetzen jedoch auch den Raum
der Wissenschaft und polarisieren noch immer.7 Mit zeitlichem Abstand
steigt die Zahl der ausgewogeneren Betrachtungsweisen, wie die Zahl jener
sinkt, die sowohl die Zeit der Zweistaatlichkeit als auch des vereinigten
Deutschland literaturkritisch begleiteten. Dennoch sollen hier mit Fokus auf
gesellschaftskritische Elemente zwei wichtige Hauptargumentationsstränge in
der Literaturwissenschaft der 1990er Jahre herausgearbeitet werden, denn in
der Nachbetrachtung ist durchaus über weite Strecken eine Zweiteilung der
literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen feststellbar: Jene, die auf die
Existenz von ‘Wendelyrik’ und gleichzeitig auf deren Marginalisierung in der
Literaturwissenschaft hinweisen, und jene, die auf der Abwesenheit politisch-
gesellschaftsrelevanter Themen bestehen.
Die Abwesenheitsthese wird in erster Linie mit der Reduktion der
Wende-Reaktionen aus dem Osten auf Trauerarbeit, Furcht vor “Prestige-
und Statusverluste[n]”8 und auf Effekte einer “Bewußtseinskrise, die ihre
Wurzeln im Bruch der eigenen Biographie, im Verlust der Lebenskontinuität
hat”, parallelisiert.9 Hinzu kommt das “Provisorische des Schreibens jener
Zwischenzeit”10 und die Verknappung der Zeit zwischen den Herbsten
1989 und 1990 durch die Tendenz der Überblendung von Mauerfall und
Wiedervereinigung in der gesamtgesellschaftlichen Retrospektive.
Dass traumatische Verlusterfahrungen in vielen Wendegedichten eine
große Rolle spielen, soll natürlich keinesfalls in Abrede gestellt werden.
Die völlige Reduktion gesellschaftskritischer Standpunkte auf individu-
elle Krisenerfahrungen erscheint jedoch eher als Suche nach Gründen für
7
Deutlichstes Beispiel ideologisch bedingter Maßstäbe finden sich sicherlich bei
der Bewertung der Werke der “Prenzlauer-Berg-Connection”, deren avantgar-
distische Avancen vor 1989 gefeiert und nach der Enttarnung von Anderson und
Schedlinski in Bausch und Bogen verdammt wurden. Für eine kritische Analyse
vgl. Karen Leeder: Breaking Boundaries. A New Generation of Poets in the GDR.
Oxford: Clarendon Press 1996.
8
Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. Stuttgart: Metzler 2004.
S. 246.
9
Walter Hinck: Einleitung. In: Gedichte und Interpretationen, Gegenwart II.
Stuttgart: Reclam 1997. S. 9–20. Hier: S. 11f.
10
Anna Chiarloni: Zwischen den Zeiten. Zur jüngsten Lyrik von Heinz Czechowski.
In: Schaltstelle. Neue Deutsche Lyrik im Dialog. Hg. von Karen Leeder.
Amsterdam-New York: Rodopi 2007 (German Monitor 69). S. 37–53. Hier: S. 38.
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11
Walter Erhart: Gedichte, 1989. In: Zwei Wendezeiten: Blicke auf die deutsche
Literatur 1945 und 1989. Hg. von Dems. und Dirk Niefanger. Tübingen: Niemeyer
1997. S. 141–165. Hier: S. 165.
12
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 246.
13
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist sicherlich in den veränderten
Publikationsbedingungen zu finden, die viele Autorinnen und Autoren in
Kleinstverlage zwangen und so aus dem öffentlichen Blickfeld rückten.
14
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe.
Berlin: Aufbau 2000. S. 510.
15
Ebd.
16
Erhard: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 145.
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233
Auch die Zahl der Veröffentlichungen, nicht nur bis 1998 sondern schon
1990/91, spricht gegen Emmerichs These.17 Zwar nimmt die Lyrik im
Vergleich mit anderen zeitnahen Genres, wie dokumentaristischem und
diaristischem Schreiben18 natürlich geringeren Raum ein,19 aber die
quantitative Unterrepräsentation von Lyrik besteht nicht erst seit der
Wende und mag an der ihr attestierten Marktferne liegen. Doch gerade in
der ihr zugewiesenen “Besonderheit [. . .] sich für pragmatische Zwecke
der Information und Aufklärung wenig zu eignen”,20 sehen andere ihre
Möglichkeiten – die marktpolitische “Unverwertbarkeit”21 von Lyrik könne
vielleicht, wenn schon nicht zur “massenwirksamen politischen Einrede”
nutzbar gemacht zu werden, doch “das ganz unabhängige, radikale lyrische
Sprechen” fördern.22
Die Annahme einer möglichen Radikalität lyrischen Sprechens hätte zu
der Frage nach einer auch oder gerade in der Lyrik nach 1989/90 dominie-
renden Gesellschaftskritik und der Bezugnahme auf tagespolitische Aktualität
führen müssen. Der Blickwinkel verschob sich jedoch dahingehend, ob man
formal, von der historisch-politisch und gesellschaftlich-soziologischen
Zäsur 1989/90 ausgehend, auch auf einen ähnlich fundamentalen litera-
turgeschichtlichen Einschnitt schließen könne. Der Vergleich mit 1945 lag
für viele Kritiker nahe,23 manche sprachen in diesem Zusammenhang von
17
Dies bemerkt auch Eskin, der auf die „explosion of poetry on the German market
during and after the Wende“ hinweist, welche „the sheer inevitability (or perhaps
necessity) of a poetic – and by extension, aesthetic in general – response to radi-
cal sociopolitical events“ belege. (Michael Eskin: German Poetry after the Wall. An
Introduction. In: The Germanic Review 77:1 (2002). S. 3–6. Hier: S. 4.
18
Vgl. Reimann: Schreiben nach der Wende [wie Anm. 4]. – Volker Wehdeking:
Einleitung: Wende und Einheit im Gedicht (1990–2000). In: Mentalitätswandel
in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Hg. von Dems. Berlin: Erich
Schmidt 2000.
19
Im Gegensatz dazu glaubt Eskin: „In fact, poetry may plausibly be viewed as
postwall Germany’s dominant [. . .] artistic genre.“ (Eskin: German Poetry after the
Wall [wie Anm. 17]. S. 4.)
20
Emmerich: Literaturgeschichte [wie Anm. 14]. S. 510.
21
Peter Geist: die ganz großen themen fühlen sich gut an. Die Wiederkehr des
Politischen in der jüngeren Lyrik. In: Junge Lyrik. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
Text + Kritik 171, VII/06. München: edition text + kritik 2006. S. 99.
22
Heinrich Vormweg: Verteidigung des Gedichts: Eine Polemik und ein Vorschlag.
Göttingen: Wallstein 1990. S. 30.
23
Auf die Parallelisierung von 1945 und 1989 und die Verlängerung der Periode der
Nachwendeliteratur bis zur Wiedervereinigung kann an dieser Stelle leider nicht
ausführlicher eingegangen werden.
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234
24
Iris Radisch: Die zweite Stunde Null. In: Die Zeit 7.10.1994.
25
Erhart: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 147.
26
Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des
20. Jahrhunderts. In: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text + kritik 1999 (Text + Kritik. Sonderband XI/99). S. 63–106.
Hier: S. 95f.
27
Ebd. S. 96.
28
Walter Hinck: Stationen der deutschen Lyrik. Von Luther bis in die Gegenwart –
100 Gedichte mit Interpretationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.
S. 219.
29
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 71.
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235
30
Dieter Lamping: Bundesrepublik Deutschland: Von 1945 bis zur
Wiedervereinigung. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hg. von
Walter Hinderer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. S. 327–362. Hier:
S. 355.
31
Christa Wolf: Von Büchner sprechen. In: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays
und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand
1987. S. 612.
32
Erhard: Gedichte, 1989 [wie Anm. 11]. S. 149.
33
Vgl. dazu: “Es geht nicht um Christa Wolf ”: Der Literaturstreit im vereinten
Deutschland. Hg. von Thomas Anz. Frankfurt a.M.: Fischer 1995. – Der deutsch-
deutsche Literaturstreit oder ‘Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener
Zunge’. Hg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg: Luchterhand 1991. –
Lennart Koch: Ästhetik der Moral bei Christa Wolf und Monika Maron: Der
Literaturstreit von der Wende bis zum Ende der neunziger Jahre. Frankfurt a.M.:
Lang 2001.
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236
Wende in der Literatur [. . .] Die Dichter bauen an ihrem Œuvre, und ein Zeitbezug
wird eher beiläufig wahrgenommen, Politik geht nur als Prügelknabe oder
Nörgelstoff in die Texte ein.34
34
Alexander von Bormann: Die Lyrik der neunziger Jahre. In: Geschichte der deut-
sche Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Hg. von Wilfried Barner u.a. München:
C. H. Beck 2006. S. 1025–1064. Hier: S. 1025.
35
Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ [wie Anm. 3]. S. 427.
36
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 246.
37
Hermann Korte: Auf dem Trampelpfad. Deutsche Lyrik 1985 bis 1991. In: Vom
gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold.
München: edition text + kritik 1992 (Text + Kritik 113). S. 52–62. Hier: S. 53. Und
weiter: Dann “wird Lyrik zur aufbereiteten Fernsehnachricht aus zweiter Hand. Der
‘informierte Lyriker’, einer aus dem Fernsehpublikum wie du und ich, grübelt den
Headlines nach und spricht sich aus: ein Nachrichtenamateur, dessen eigentliche
Domäne das Umwandeln von Fernsehthemen in Betroffenheit ist“ (ebd. S. 53f.).
38
Geist: die ganz großen themen [wie Anm. 21]. S. 99.
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237
39
Lamping: Bundesrepublik Deutschland [wie Anm. 30]. S. 354.
40
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 26.
41
Korte: Deutschsprachige Lyrik [wie Anm. 8]. S. 251
42
Theo Elm: Einleitung. In: Lyrik der neunziger Jahre. Hg. von Dems. Stuttgart:
Reclam 2000. S. 15–35. Hier: S. 16f.
43
Ebd. S. 21f.
44
Ebd. S. 25f.
45
Ebd. S. 31.
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238
46
Ebd. S. 24.
47
Theo Elm: Einleitung. In: Kristallisationen. Deutsche Gedichte der achtziger
Jahre. Hg. von Dems. Stuttgart: Reclam 1992. S. 15–38. Hier: S. 15f.
48
Korte: Zurückgekehrt [wie Anm. 5]. S. 77.
49
Ebd.
50
Ebd.
51
Elm: Einleitung, Neunziger Jahre [wie Anm. 42]. S. 25.
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239
52
Geist: die ganz großen themen [wie Anm. 21]. S. 98.
53
Bormann: Lyrik der neunziger Jahre [wie Anm. 34]. S. 1064.
54
Hermann Korte: ‘Wenn ein staat ins gras beißt, singen die dichter’. DDR-Lyrik
der neunziger Jahre. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre. Hg. von Heinz-Ludwig
Arnold. München: edition text kritik 2000 (Text Kritik, Sonderband IX/00).
S. 122–144. Hier: S. 123.
55
Torsten Pflugmacher: abstand gestalten. Erinnerte Medien und Erinnerungsmedien
in der Autobiographie nach 1989. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit
1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Hg. von Clemens
Kammler und dems. Heidelberg: Synchron 2004. S. 109.
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240
Verlusts”56 verantwortlich sei. Auch hier findet eine Rückführung auf indi-
viduelle Verlusterfahrungen und Traumata statt, die jedoch durch ihre eher
heimelig-heimatliche Rückbesinnung und die positive Teilkonstruktion von
Vergangenheit zur Gemeinschaftserfahrung führe. Kritisiert wird in diesem
Zusammenhang natürlich die, sich oft genug in Stereotypen niederschla-
gende, Abgrenzung vom ‘Anderen’, die dem Einheitsdiskurs im Wege stünde,
und die mangelnde Bereitschaft zur retrospektiven Aufarbeitung. Das sich
die geforderte Auseinandersetzung jedoch in erster Linie auf rückblickende
Abrechnung – die endlich einen Schlussstrich unter Fragen der Vergangenheit
ziehen sollte um den Weg frei zu machen für ein gesamtdeutsches National-
und Kulturverständnis – und nicht auf gegenwärtige Kritik bezog, haben etli-
che der vorgestellten Rezeptionsbeispiele belegt. Bedenkt man, wie emotional
manche Debatten geführt wurden, erscheint Iris Radischs Bemerkung plausi-
bel, dass sich zu Beginn der neunziger Jahre “ein Kulturkampf zu entwickeln
schien, an dessen Oberfläche es allzu häufig um die Frage von Moral und
Stasi, an dessen Wurzel es aber um die Bewertung des Verlustes eines ganzen
Landes, einer nationalen und politischen Identität ging.”57 Um dieser ideo-
logischen Belastung zu entgehen, spricht Emmerich von dem notwendigen
“Schritt von der Mythologisierung zur Historisierung der DDR-Literatur.”58
Durch die Nähe von Historisierung und Historismus bleiben auch hier jedoch
Bedenken bezüglich der scheinbaren Abgeschlossenheit und Objektivität –
auf Selektionsprozesse und Konstruktionsmechanismen von Geschichte durch
die Sieger hatte schon Benjamin hingewiesen.
Zwar stellt sich die Frage, ob die Modelle des ‘Kollektiven Gedächtnisses’
nach Halbwachs und des ‘Kulturellen Gedächtnisses’ nach Aleida und Jan
Assmann in Bezug auf DDR-Vergangenheit greifen, denn, so führt Michael
Strübel an, “dies wäre anhand der Periode der DDR-Existenz zu kurz”,59
trotzdem erscheinen mir manche Aspekte durchaus anwendbar. Zum
einen werden durch die angesprochene Reduktion, Individualisierung und
Entgegenwärtlichung kulturelle Rekonstruktions- und Selektionsprozesse
illustriert. Weiterhin erscheinen Kanonmechanismen und die beschriebenen
56
Grub: ‘Wende’ und ‘Einheit’ [wie Anm. 3]. S. 580.
57
Iris Radisch: Zwei getrennte Literaturgebiete. Deutsche Literatur der neunzi-
ger Jahre in Ost und West. In: DDR-Literatur der neunziger Jahre [wie Anm. 54].
S.13–26. Hier: S. 16.
58
Emmerich: Literaturgeschichte [wie Anm. 14]. S. 9.
59
Michael Strübel: Ostalgie und Dekonstruktion im deutschen Film nach 1989.
Auf der Suche nach der verlorenen Identität? In: Deutschland fiktiv. Die deutsche
Einheit, Teilung und Vereinigung im Spiegel von Literatur und Film. Hg. von
Wolfgang Bergem und Reinhard Wesel. Berlin: Lit Verlag 2009. 189–205. Hier:
S. 192.
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60
Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Hg. von Ulrich Mehlem. Hamburg:
Argument Verlag 1994 (Ausgewählte Schriften 2). S. 204. Nach: Wolfgang Bergem:
Erzählte Geschichte(n). Verdichtung politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit
in Narrationen. In: Deutschland fiktiv [wie Anm. 59]. S. 207–236. Hier: S. 209.
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Ebd.
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Michael Ostheimer
Einleitung
Für die DDR-Literatur bildete das Jahr 1989 neben vielen anderen einschnei-
denden Veränderungen auch eine Erinnerungszäsur. Ilse Nagelschmidt
akzentuiert diesen Wandel wie folgt:
so stellt sich der Erinnerungsprozess in der ostdeutschen Literatur als bewusste
Rekonstruktion der Vergangenheit, als willentliche und wissentliche Suche nach
den Spuren des Gewesenen in der Gegenwart der sich verändernden Realität dar.
Nach 1989 leben Autorinnen und Autoren in Zwischenzeiten und Zwischenorten.
[. . .] Die Verortung im Sinne des Ab- und Herantastens, des neuen Ort-Findens
und Ort-Bestimmens.1
Ich teile diese Diagnose ebenso wie ich das raumzeitliche Vokabular für tref-
fend halte; ja, ich würde sogar noch zwei Aspekte forcieren, sprich: Einerseits
die Raum-Metaphorik (“Zwischenorte”, “Verortung”) durchaus wörtlich neh-
men, anderseits die Spurensuche nach dem Gewesenen auf die subjektiven
Überwältigungserfahrungen ausrichten. Zusammengenommen und als These
formuliert: Für die Neu-Verortung der ostdeutschen Literatur nach 1989 ist
das Zusammenspiel von Erinnerung, Raum und Trauma konstitutiv.
1
Ilse Nagelschmidt: Die wilden Jahre sind vorbei. Paradigmen der
Identitätskonstruktion in der ostdeutschen Literatur nach 1989. In: Konkurrenzen,
Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Hg. von
Andrea Geier u. Jan Süselbeck. Göttingen: Wallstein 2009. S. 102–116. Hier:
S. 110.
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2
Exemplarisch und in Ansätzen soll das etabliert werden, was Ansgar Nünning
als ein “besonderes Desiderat für eine kulturwissenschaftlich und kulturgeschicht-
lich ausgerichtete Erzählforschung” beschreibt, nämlich, “dass es unter Rückgriff
auf Bachtins Konzept des Chronotopos und Lotmans semiotischem Ansatz einer
Rekonstruktion unterschiedlicher historischer, epochenspezifischer und national-
sprachlicher Kultur- und Raummodelle bedarf ” (Ansgar Nünning: Formen und
Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische
Kategorien und neue Perspektiven. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die
Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hg. von Wolfgang Hallet u. Birgit
Neumann. Bielefeld: transcript 2009. S. 33–52. Hier: S. 49).
3
Zit. nach: Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg.
Essays und Gespräche. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. S. 109.
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Müll verwandelt. Mit dem Trümmerschutt der Stadt wurden die Tagebaue der
Umgebung verfüllt”.4
Gerade in Hilbigs Nachwendetexten finden Luftkriegsszenarien bzw. die
materielle und geistige Zerstörung kurz nach 1945 einen starken Widerhall.
Beispielsweise erinnert den Protagonisten von Hilbigs 1993 erschienenem
Roman Ich der Knall einer zerspringenden Lampe an frühe Kriegserlebnisse:
so tief dieser [sc. Knall; M.O.] auch gewesen war: dunkel glaubte er sich der
Explosion zu entsinnen, die schwach hereingedrungen war wie aus einem ent-
fernten Gelände . . . so ähnlich mußten sich in den letzten Kriegsjahren die in
den Straßen zerplatzenden Luftminen angehört haben, wenn er mit seiner Mutter
im Keller Schutz gesucht hatte . . . wahrscheinlich konnte er sich nicht wirklich
an diese Zeit erinnern; es war dies in den ersten drei Jahren nach seiner Geburt
gewesen . . . gut erinnerte er sich aber an das Ziel dieser Luftangriffe, an die zer-
trümmerten Industrieanlagen hinter der Kleinstadt, die der Spielplatz und das
Forschungsgebiet seiner Kindheit gewesen waren.5
4
Karen Lohse: Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biographie. Leipzig: Plöttner
2008. S. 30.
5
Wolfgang Hilbig: Ich. Frankfurt a.M.: Fischer 1993. S. 139.
6
Wolfgang Hilbig: Erzählungen und Kurzprosa. Werke. Bd. 2. Hg. von Jörg Bong,
Jürgen Hosemann, Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S. 625.
7
Ebd. S. 626.
8
Wolfgang Hilbig: Alte Abdeckerei. Erzählung, Frankfurt a.M: Fischer 1991. S. 7.
9
Einiges deutet auf das Wendejahr 1989 als Erzählgegenwart hin, vgl. Bärbel
Heising: “Briefe voller Zitate aus dem Vergessen”. Intertextualität im Werk
Wolfgang Hilbigs. Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 1996 (Bochumer Schriften zur
deutschen Literatur 48). S. 144. – Lohse: Hilbig [wie Anm. 4]. S. 31.
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10
Vgl. zu den autobiografischen Zügen des Ich-Erzählers Lohse: Hilbig [wie
Anm. 4]. S. 31f. – Hans-Christian Stillmark: „alte Abdeckerei . . . Altdeckerei . . .
Alteckerei . . . Alteckerei . . . Alterei . . .“. Wolfgang Hilbigs Erzählung im Lichte
der Poetologie Julia Kristevas. In: Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und
Literaturwissenschaft. Hg. von Michael Hoffmann u. Christine Keßler. Frankfurt
a.M.: Lang 2003 (Sprache – System und Tätigkeit 47). S. 357–369. Hier: S. 362.
11
Vgl. Ulrich Krellner: Die doppelte Vergangenheit in der Literatur der neunziger
Jahre. In: Perspektivensuche. Hg. von Edgar Platen. München: Iudicium 2002
(Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur 2).
S. 26–45. Hier: S. 44, der das Spezifikum von Hilbigs Schreiben darin erkennt,
dass er “die traumatisierenden Folgen [der Vergangenheit; M.O.] ganz in den
Mittelpunkt rückt”.
12
Vgl. Günter Butzer: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink 1998 (Münchener ger-
manistische Beiträge 42). S. 332: “Alte Abdeckerei entfaltet einen iterativen
Erinnerungsraum, der sich als Wiederholung der Kindheit durch die Figur eines
‘proletarischen Flaneurs’ aufbaut”.
13
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 35.
14
Ebd. S. 16
15
Ebd. S. 65
16
Ebd. S. 77
17
Ebd. S. 67f.
18
Ebd. S. 72.
19
Ebd. S. 73.
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nach seinem Berufswunsch gefragt wird, sind ihm alle “Loblieder[] auf die
Sicherheiten eines produktiven Lebens zur Stärkung der Republik”20 zuwi-
der und er entgegnet: “ich habe die Absicht in Germania II zu arbeiten”.21
Mit dieser Absicht trifft er nicht nur auf Entrüstung bei seinen Eltern,22 son-
dern scheint Gefahr zu laufen, “aus der Welt zu fallen, wenn man sich für das
Allereinfachste interessierte . . . und vielleicht sogar Gefahr, aus der Welt zu
verschwinden”.23
Will man die Motivationsgrundlage dieser doch recht absonderlichen
Absicht nachvollziehen, rührt man an das auf Anhieb alles andere als trans-
parente Zentrum dieser Erzählung: Nämlich erstens an die Sprachlosigkeit
des Erzählers, die aus einer Gemengelage aus Kriegserfahrungen, famili-
ärer Entfremdung und einer Abneigung gegen das ubiquitäre gesellschaft-
liche Fortschrittspathos resultiert; und zweitens dem Antidot gegen diese
Sprachlosigkeit, das in einem Verfahren besteht, das sich als literarische
Entfaltung von Orten als Erinnerungsauslösern bzw. als narrative Aneignung
der diachronen Geschichtetheit von Orten realisiert.
Die familiäre Entfremdung des Erzählers zeigt sich darin, dass er, der
von seiner Familie in Distanz markierenden Synonymen als “Anhang”24
oder “Anverwandten”25 zu sprechen pflegt, nachdem “beinah jede Form von
Auseinandersetzung zwischen meinen Angehörigen und mir erlosch[en ist]”,
allabendlich als “ein aus unserem Kreis Entschwundener” ein “Schweigen”
betritt, “das zu durchbrechen verboten schien und in dem ich mich wie ein
Unsichtbarer bewegte”.26 Von den “schweigenden und furchtsamen Alten”27
allenfalls noch geduldet, entwickelt sich das Verhältnis schließlich so,
daß man mich überhaupt nicht mehr erwartet hatte . . . die beklommene
Einsilbigkeit der Erwachsenen, die dort vor schon zur Mitte geschobenen Tellern
am Tisch saßen, schien doch in der unverhofften Anwesenheit eines unheimlichen
und lästigen, wenn auch kaum sichtbaren Eindringlings begründet; irgendein frem-
der Gast, ein schweigsamer und gespenstischer Jüngling, der sich benahm, als sei er
schon lange hiergewesen, war da herangetreten, um in den Resten des Nachtmahls
zu stochern, eine Erscheinung, ein Phantom, ein ärgerlich aufdringlicher
20
Ebd. S. 75.
21
Ebd. S. 76.
22
Die in ihrer fraglosen Übereinstimmung mit den jeweils vorherrschenden
Übereinkünften der Mächtigen als geradezu paradigmatisch außengeleitete Personen
zu bezeichnen sind.
23
Ebd. S. 78.
24
Ebd. S. 22.
25
Ebd. S. 73.
26
Ebd. S. 27.
27
Ebd. S. 52.
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Geist, den man allabendlich losgeworden zu sein hoffte, und der doch, einem
bösen Fluch vergleichbar, von dieser traurigen Familie nicht mehr abließ.28
Einer der Gründe für diese Anti-Familienidylle besteht darin, dass sich die
anderen Familienmitglieder für ihre Umgebung und deren Geschichte – im
Gegensatz zu dem Erzähler – in keinster Weise interessieren. Die kollektive
Verdrängung bzw. Ignoranz gegenüber der katastrophischen Vergangenheit
drückt sich in dem mehrfach angemahnten Blick unter die Oberfläche aus
(“auferstanden aus Ruinen über den Massengräbern, über den Massengräbern
der Diktatur des Proletariats, über den Massengräbern der allmächtigen
Lehre Lenins, oh über den Massengräbern von ‘Wissen ist Macht’”);29 avan-
ciert zu Ende der Erzählung zu einem allgemeinen Nicht-wissen-Wollen30
(“Niemands Wissen klapperte hölzern und monoton an der Schädeldecke
der Erde”);31 kulminiert schließlich in einer von einem Stolleneinbruch ver-
ursachten gewaltigen Eruption, so dass die untergegangenen Ruinen von
Germania II schließlich vom flutenden Wasser überspült werden.32
Aufgrund der sozialen Isolation des Erzählers, der den Erwartungshaltungen
von Familie und Gesellschaft nicht entspricht, “verschiebt sich die identitäts-
stiftende und -erhaltende Bindung auf die Räume von Natur und Literatur”.33
Gegen die Sprachlosigkeit, die ja zum Großteil ein Resultat des familiä-
ren Desinteresses und dem in der Gesellschaft wirksamen Schweige-Tabu
über die Vergangenheit darstellt, geht er als doppelt Ausgeschlossener vor,
als Angehöriger einer Familie von “Exilanten”, der entgegen dem Bestreben
seiner Familie ein “ebenso uneingestandene[s] wie unklare[s] Interesse an
28
Ebd. S. 27f.
29
Ebd. S. 82f.
30
Vgl. dazu Uwe Schoor u. Gerhard Bauer: Das tickende Fleisch unterm Gras:
Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. In: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik
in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Gerhard Bauer u. Robert
Stockhammer. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. S. 239–253. Hier: S. 249f. –
Stillmark: Abdeckerei [wie Anm. 10]. S. 365.
31
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 114.
32
Vgl. dazu die ähnlich apokalyptisch anmutende Schlussvision in Hilbigs Gedicht
das meer in sachsen aus dem Jahr 1977: “ich weiß das meer kommt wieder nach
sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat” (Wolfgang Hilbig: Gedichte.
Werke, Bd. 1. Hg. von Bong, Hosemann, Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008.
S. 81–84. Hier: S. 84).
33
Markus Symmank: „Schriftgezirp“. Zur Poetologie in Wolfgang Hilbigs Erzählung
Alte Abdeckerei. In: Poesie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann. Hg.
von Dagmar Ottmann u. Markus Symmank. Würzburg: Königshausen & Neumann
2001. S. 217–228. Hier: S. 222.
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34
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 65.
35
Ebd. S. 31f.
36
In Hilbigs Werk spielt die Chandos-Erfahrung der Sprachskepsis eine zentrale
Rolle. In dem Text Aufruf zum Widerstand. Warum wir dem Zerfall trotzen müssen,
den Hilbig anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Hofmannsthals Chandos-Brief
als fiktive Antwort an den Lord formulierte, werden die Historisierung des eigenen
Daseins und die persönliche Sprachnot miteinander verknüpft: “Mein Fall ist, in
Kürze, ebenderjenige, den Sie beschrieben haben: Es sei Ihnen völlig die Fähigkeit
abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu spre-
chen. – Mit einem Unterschied: Es ist mir nie gelungen, eine solche Fähigkeit zu
erlangen. Ich bin aufgewachsen mit dem Verlust dieser Fähigkeit, ich bin beinahe
ohne diese Fähigkeit geboren. / Das Jahr, in dem ich zur Welt kam, war ein furcht-
bares Jahr. Am selben Tag, an dem ich geboren wurde, hat man . . . Nein, ich muß
genauer sein, das unbestimmte Wörtchen ‘man’ ist hier nicht zulässig, ich muß die
Dinge beim Namen nennen: Am 31. August 1941, an meinem Geburtstage, wurde
durch das deutsche Polizeibataillon 320 in der Minkowzy eine Erschießung durch-
geführt, es wurden Juden erschossen, die Zahl der Gemordeten belief sich auf
2200 Männer, Frauen und Kinder”. Hilbig geht so weit, sich als solitär zu begrei-
fen: “Da, wo ich lebe, weiß ich niemanden, der so denkt wie ich . . . Und sollte
es da noch den oder jenen geben, so weiß er es nicht von mir. – Die Menschen,
die ich reden höre, bedienen sich fließender Sätze, sprechen in logischer Abfolge,
geben ihrer Freude, oder auch ihren Verstimmungen, erstaunlich sicheren Ausdruck,
sie verstehen, was sie sagen, und lassen andere an ihrem Verständnis teilhaben,
auf das sie vertrauen: Ich kann das nicht, und vielleicht, Mylord, habe ich es nie
gekonnt”. Hilbig erkennt seine Aufgabe darin, mit den Mitteln der Literatur gegen
den Sprachzerfall anzuarbeiten: “Und so interpretiere ich Ihren Brief, Philipp Lord
Chandos: als einen Versuch, eine Verneinung Ihres Briefs zu mobilisieren und den
Widerstand dagegen reifen zu lassen” (Wolfgang Hilbig: Aufruf zum Widerstand.
Warum wir dem Zerfall trotzen müssen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
19.7.2002. S. 37). – Vgl. dazu auch Stillmark: Abdeckerei [wie Anm. 10]. S. 361f.
37
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 93.
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250
38
Günter Butzer zufolge wird hier “die Vergangenheit als Raum wahrgenommen
und erinnert [. . .], als Archäologie des historischen Schreckens” (Butzer: Fehlende
Trauer [wie Anm. 12]. S. 332).
39
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 80.
40
Ebd. S. 93.
41
Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul-
turellen Gedächtnisses. München: Beck 32006. S. 299 u. 304. Vgl. S. 300 zur
Differenzierung von Orten (die in der Vertikalen erforscht werden) und Räumen
(die in der Vertikalen entdeckt und erschlossen werden).
42
Ebd. S. 309.
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251
43
Vgl. zur Herkunft des Begriffs (Freud), zu seiner Problematik (bei Alexander
und Margarete Mitscherlich und Norbert Elias) und zum Versuch, Trauerarbeit als
“Selbstreflexion im verlorenen Anderen” zu konzeptualisieren, Ulrike Jureit u.
Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung.
Stuttgart: Klett-Cotta 2010. S. 128–196.
44
Vgl. dazu auch Rosemarie Barwinski-Fäh: Die Angst des Abwesenden vor der
Abwesenheit. In: Trauma. Hg. von Wolfram Mauser u. Carl Pietzcker. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2000 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche.
Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 19). S. 181–192. Hier: S. 190: “Wolfgang
Hilbig lässt seine Protagonisten darstellen, welche psychischen Wirkungen die
traumatische Erfahrung der sozialen Negierung der eigenen Identität haben
können: Seine Hauptfiguren zeigen frühe Abwehrmechanismen wie dissozia-
tive Prozesse und Ansätze einer multiplen Persönlichkeit [. . .]. Sie fühlen sich
hilflos und ohnmächtig und versuchen ihre Hoffnungslosigkeit im Alkohol zu
ertränken. Affektregression, die immer mit Traumatisierung einhergeht, d.h. die
Entdifferenzierung, Deverbalisierung und Resomatisierung der Affekte, prägt über
weite Teile seiner Romane den Gefühlsausdruck seiner Erzähler”.
45
Vgl. dazu die Definition der traumatischen Erfahrung in Gottfried Fischer
und Peter Riedesser als “vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit
Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dau-
erhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.” (Gottfried Fischer
u. Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München-Basel: Reinhardt
2
1999. S. 79).
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252
46
Vgl. Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und
sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer 1997. S. 54–56 u. S. 71–85.
47
Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 95.
48
Vgl. Markus Symmank: “Schriftgezirp” [wie Anm. 33]. S. 219.
49
Der Ich-Erzähler scheint auf eine mysteriöse Weise an seine Heimat und Familie
gekettet zu sein. Den einzigen Ausbruchsversuch, den er unternimmt, bricht er nach
wenigen Tagen ab, um wieder zu seinen Angehörigen und an seinen angestamm-
ten Wohnort zurückzukehren (vgl. Hilbig: Abdeckerei [wie Anm. 8]. S. 43-45). Der
Auslöser für diese Rückkehr ist ein Erlebnis von phantomatischer Qualität: “Im
Traum war ich überzeugt, in der Finsternis auf eine tote Ratte getreten zu sein,
auf den prallen Leib einer ersoffenen Wasserratte, sagte ich mir mit Eiseskälte im
Traum. . . [. . .] Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich sah, daß ich nicht geträumt
hatte, oder daß ich die Wahrheit geträumt hatte: unten im Flur lag tatsächlich der
aufgerissene Kadaver einer riesigen Ratte, die mich mit weit aufgesperrtem Rachen
anstarrte, als habe sie soeben einen klagenden Schrei ausgestoßen . . . und als habe
mich dieser Schrei hinausgerufen, schienen sich unsere Blicke einen Moment lang
voller Haß ineinander zu senken” (ebd. S. 44).
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253
50
Vgl. Butzer: Fehlende Trauer [wie Anm. 12]. S. 334: “Das Gebäude, das zu einer
ehemaligen Braunkohlefabrik gehört und auf einem weitverzweigten System unter-
irdischer Stollen erbaut ist, erweist sich in der Imagination des Ich als Ort, an dem
die kollektiv verdrängte Vergangenheit der ostdeutschen Gesellschaft aufbewahrt
liegt.”
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254
51
Vgl. Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-
klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal
der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart: Enke 1979 (Forum der
Psychiatrie N.F. 5). S. 55–58.
52
Ebd. S. 178.
53
Vgl. zur Psychotraumatologie, die sich in den deutschsprachigen Ländern
erst in den 1990er Jahren als eigenständiges Praxis- und Forschungsfeld inner-
halb der medizinisch-psychologischen Disziplinen etablierte, Fischer/Riedesser:
Psychotraumatologie [wie Anm. 45]. – Zu den Versuchen, das Konzept des
Psychotraumas für die philologischen Fächer theoretisch wie praktisch anschluss-
fähig zu machen, vgl. Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und
Empathie. Göttingen: Wallstein 2004. – Harald Weilnböck: Psychotraumatologie.
Über ein neues Paradigma für Psychotherapie und Kulturwissenschaften. In: lite-
raturkritik.de. Ausgabe 10: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_
id4264. Downloaded 2.9.2008. – Harald Weilnböck: „Das Trauma muss dem
Gedächtnis unverfügbar bleiben“. Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von
Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen. In: Mittelweg 36 17.2
(2007). S. 2–64.
54
Michael M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 183.
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55
Zu Recht notiert Butzer Fehlende Trauer [wie Anm. 12]. S. 334f., dass sich die
Industrielandschaft nicht allein auf den Nationalsozialismus bezieht, sondern
eben auch auf die “DDR-Zeit”: “In der alten Abdeckerei überlagern sich mehrere
Schichten deutscher Vergangenheit.”
56
Vgl. Jan Rupp: Erinnerungsräume in der Erzählliteratur. In: Raum und Bewegung
in der Literatur [wie Anm. 2]. S. 181–194. Hier: S. 182: “Die Darstellung und
Inszenierung von Erinnerungsräumen in der Erzählliteratur ist keine bloße
Widerspiegelung außerliterarischer Orte, sondern eine konstruktive, oft kon-
flikthafte Aushandlung über die Orte des kollektiven Gedächtnisses”.
57
Vgl. Bachtin: Chronotopos [wie Anm. 54]. S. 205–207.
58
Ebd. S. 8.
59
Ebd. S. 187.
60
Vgl. auch ebd. S. 187: „Im Chronotopos werden die Knoten des Sujets geschürzt
und gelöst“.
61
Vgl. Michael C. Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze
bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Raum und Bewegung in der Literatur
[wie Anm. 2]. S. 53–80. Hier: S. 73, der auf “die Gegebenheit epochenspezifischer
Semantiken des Raumes und der Zeit” verweist. “Jeder Autor konkretisiert, wenn
auch auf jeweils unterschiedliche Weise, die ihm vorgegebenen Vorstellungen von
Raum und Zeit, die solcherart das literarische Menschenbild determinieren”.
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62
Gottfried Fischer: Psychoanalyse und Psychotraumatologie. In: Trauma [wie
Anm. 44]. S. 11–26. Hier: S. 16.
63
Ebd.
64
Sigrid Weigel unternimmt in dem “Topographische Poetologie” überschriebe-
nen Kapitel ihrer Bachmann-Studie eine ähnliche Lektüre, wenn sie – im Rekurs
auf Freuds topographisches Gedächtnis-Modell und Walter Benjamins Aneignung
desselben (vgl. Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter
Wahrung des Briefgeheimnisses. München: dtv 2003. S. 27–51 mit S. 248–250) –
schreibt: “Städte sind in Bachmanns Schriften die herausragenden Schauplätze
einer Gedächtnistopographie, in der die Bilder aus dem Unbewußten der Kultur mit
den Erinnerungsspuren des Subjekts korrespondieren” (ebd. S. 364).
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65
Gerade unter dieser Perspektive wäre die Behauptung von Carsten Gansel zu
überprüfen, “dass in der DDR bis 1989 kein Manuskript zum Buch wurde, dass
in der Lage war, das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis ernsthaft zu erschüt-
tern“ (Carsten Gansel: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung.
Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gedächtnis und Literatur in
den ‘geschlossenen Gesellschaften’ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989.
Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 [Formen der
Erinnerung 29]. S. 13–37. Hier: S. 36).
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66
Hilbig: Erzählungen [wie Anm. 6]. S. 471.
67
Ebd.
68
Ebd. S. 472.
69
Ebd. S. 473.
70
Vgl. ebd. S. 472.
71
Ebd.
72
Markus Bader u. Daniel Herrmann: Wo das Morgen schon Gegenwart war. In:
halle-neustadt führer. Hg. von Markus Bader u. Daniel Herrmann. Halle (Saale):
Mitteldeutscher Verlag o.J. S. 5f. Hier: S. 6.
73
So verfehlt auch Corkhill (Alan Corkhill: Räume des Erinnerns und Vergessens
bei Wolfgang Hilbig. Erinnerungskonstellationen im Hilbigschen Werk. In: Literatur
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3. Geteilte Erinnerung
Nach 1945 bildeten sich zwischen West- und Ostdeutschland zwei grund-
legend unterschiedliche erinnerungspolitische Konstellationen heraus.
Während in der DDR, die sich auf der Grundlage einer sozialistischen
Einparteiendiktatur als Nachfolgestaat des antifaschistischen Widerstands
behauptete, bis zum Mauerfall das Widerstandsnarrativ dominierte, wurden
Holocaust, traumatische Kriegserfahrungen sowie Flucht und Vertreibung mar-
ginalisiert. Diese von Staats wegen betriebene Erinnerungsmonopolisierung
verlor mit der Wende ihren institutionellen Rückhalt und führte vor allem
in der Literatur zu einer Trauerarbeit, bei der naturgemäß auch die staatli-
chen Repressionserfahrungen und die spezifisch ostdeutsche soziokulturelle
Rahmung reflektiert wurden.74
Für ostdeutsche Autoren ist mit der Wende 1989/90 ein enormes Bedürfnis
entstanden, bisher ausgeklammerte Leidenserfahrungen artikulieren zu
können. Das wirft folgende Frage auf: Führten die mit der historischen
Zäsur sich im Diskurs um die deutsche Vergangenheit nach 1945 ergeben-
den Umschichtungen, Neubewertungen und Deutungskämpfe zu in der
DDR-Literatur nicht existierenden – und bis dato auch nicht vorstellbaren –
Gegenständen und Formen der literarischen Sagbarkeit? Etablierte sich
in der Post-DDR-Literatur eine – durch die nunmehr offene Hinwendung
zur Familiengeschichte zumal familiär perspektivierte – nachgeholte
Trauerarbeit?
1989 setzte in der Vergangenheitsorientierung der ostdeutschen Literatur
eine nachhaltige Wende ein. Einem Dammbruch gleich öffneten sich die
zuvor geheimen Archive, fielen die Tabus, die die DDR-Schriftsteller zuvor
auf das Verschweigen und Verdrängen verpflichteten.75 Unter den zahlreichen
Exponenten des öffentlichen Lebens, die die gewendeten Verhältnisse dazu
nutzten, in autobiographischen Texten ihre Rolle in den bislang ausgeblende-
ten Abschnitten der DDR-Vergangenheit zu beschreiben, befanden sich auch
für Leser 31.3 [2008]. S. 143–154. Hier: S. 154) die Pointe von Hilbigs chronoto-
pographischem Schreiben, wenn er behauptet, dass der “Blick aufs Große in diesem
Autor abhanden gekommen sei” und dagegen “die Regionalität von Hilbigs literari-
sierten Erinnerungsloci als eine Stärke” notiert. Vielmehr ist es so, dass die Beson-
derheit gerade in der Kombination von regionalen Chronotopoi mit geschichtlichem
Weitblick besteht.
74
Vgl. zur Trauerarbeit ostdeutscher Autoren nach 1989 auch Julia Kormann:
Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wiesbaden:
Deutscher Universitäts-Verlag 1999. S. 153–163.
75
Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe. Leipzig: Kiepenheuer 1996. S. 479.
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76
Vgl. Ebd. S. 481. – Ortrun Niethammer: Konversionen und Renegaten.
Autobiographische Rückblicke auf die DDR anhand literarischer Beispiele von
Monika Maron und Uwe Kolbe. In: Literatur als Erinnerung. Winfried Woesler zum
65. Geburtstag. Hg. von Bodo Plachta. Tübingen: Niemeyer 2004. S. 325–346.
Hier: S. 326–332.
77
Vgl. Niethammer: Konversionen und Renegaten [wie Anm. 76]. S. 331.
78
Meike Herrmann etwa weist auf die generationengeschichtliche Ost-West-
Differenz nach 1945 hin (“Der Einschnitt 1968 fehlt fast ganz, der Einschnitt 1989
ist als viel wichtiger zu erachten”), macht sie aber nicht für ihre Untersuchung
fruchtbar: “Die im Folgenden aufgeführten Phänomene sollen trotzdem umfas-
send gelten, da sie an biographischen Umbruchssituationen wie dem Eintritt in
eine bestimmte Altersgruppe festgemacht sind”. Des ungeachtet markiert sie einen
grundsätzlichen Unterschied zwischen den literarischen Situationen in der frühen
Nachkriegszeit und der Nachwendezeit: “Die Tatsache, dass die Erfahrungsdifferenz
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Da auch die BRD in den 1950er und frühen 1960er Jahren aufgrund der
Westintegration, des Antikommunismus und der eigenwilligen Interpretation
des Nationalsozialismus, wonach die Nazis als kleine Gruppe Krimineller
das deutsche Volk verführt, manipuliert und durch Terror zum Mitmachen
gezwungen habe, die einst gemeinsame Vergangenheit in vergleichbarer
Weise wie die DDR behandelte, wurde das Dritte Reich “aus der jeweiligen
Geschichte beider Staaten heraus- und in die des jeweils anderen Staates
hineinmanövriert”.83 Erst Ende der 1960er, 1970er und auch noch zum
Teil der 1980er Jahre beschäftigte man sich in der BRD nachhaltig mit den
Opfern des und den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus.
Diese, die westdeutsche Gesellschaft nunmehr überwölbende Erinnerung an
den Holocaust vertiefte jedoch “die Erinnerungsspaltung zwischen den bei-
den Teilen Deutschlands, da in der DDR die Erinnerungsmuster der fünfzi-
ger und sechziger Jahre nicht neu arrangiert wurden. Der Holocaust blieb
dort bis zur Mitte der achtziger Jahre (nahezu) vollständig vergessen”.84
Mit Blick auf ‘1968’ könnte man Folgendes resümieren: Während sich in
Westdeutschland maßgeblich angestoßen von der 68er-Bewegung eine opfer-
zentrierte Erinnerungskultur etablierte,85 führte just deren Fehlen in der
DDR86 zu einem Festhalten der ostdeutschen Bevölkerung am Mythos des
Antifaschismus – auch über das Jahr 1990 hinaus.87
82
Elisabeth Domansky: Die gespaltene Erinnerung. In: Kunst und Literatur nach
Auschwitz. Hg. von Manuel Köppen. Berlin: Schmidt 1993. S. 178–196. Hier:
S. 182.
83
Ebd. S. 185.
84
Ebd. S. 188.
85
Vgl. dazu umfassend Jureit u. Schneider: Gefühlte Opfer [wie Anm. 43].
86
Vgl. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution.
Frankfurt a. M.: Fischer 2002. S. 23: “Und als ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR gilt [. . .], daß es eben
dort kein ‘68’ gegeben hat; oder, noch apodiktischer: ‘daß die DDR eine deutsche
Geschichte minus 1968 war’”. – Vgl. ferner Stefan Wolle: Der Traum von der
Revolte. Die DDR 1968. Berlin: Links 2008.
87
Vgl. Domansky: Die gespaltene Erinnerung [wie Anm. 82]. S. 192. – Und:
Annette Leo: Antifaschismus. In: Erinnerungsorte der DDR. Hg. von Martin
Sabrow. München: Beck 2009. S. 30–42.
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Matthias Schöning
1
Diese Überlagerung der drei Zeitdimensionen, die jeder kulturellen Praxis
unwiderruflich eingeschrieben ist, gehört inzwischen zum Theorien übergrei-
fenden common sense der Kulturwissenschaften. Daher die variantenreiche
Formulierung, die für Subjekt und Objekt der Operation verschiedene (theorieab-
hängige) Begrifflichkeiten anbietet. Die entscheidenden Differenzen bestehen in der
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Vor allem auf der mittleren Ebene der typischen pragmatischen Zielsetzung
(oberhalb der konkreten zeitgeschichtlichen Bindung) unterscheiden sich lite-
raturwissenschaftliche von literaturkritischen Bestandsaufnahmen in allen
genannten Punkten, d.h. gleichermaßen hinsichtlich Adressaten, Zielsetzung
und Vorgehensweise. Während die literaturwissenschaftliche Epochenbilanz
künftiger Forschung zuarbeitet, indem sie Einzeltexte analysiert, inter-
pretiert und zu syn- und diachron strukturierten Textkorpora zusammen-
stellt, um künftigen Studien in diesem Bereich die Aufgabe der schlichten
Erschließung des Forschungsgebiets abzunehmen, zielt die literaturkritische
Tätigkeit auf die Literatur selbst. Ihre Adressaten sind Schriftsteller und
andere Kulturschaffende, ihre Zielsetzung ist die Einflussnahme auf den Gang
der Literatur oder zumindest auf deren feuilletonistische Begleitung. An ihr
Vorgehen werden dabei keine wissenschaftlichen Maßstäbe wie terminologi-
sche Präzision, argumentative Kohärenz oder kriterielle Spezifizität angelegt,
sondern das Kriterium ist der diskursive Erfolg selbst, so dass die literaturkri-
tische Kommunikation insgesamt “strategisch” genannt werden kann.4 Werfen
sich in der Debatte einzelne Teilnehmer mangelnde Differenziertheit oder feh-
lende Sachadäquation vor, so dienen solche Vorwürfe nicht der Hebung des
Niveaus der sachlichen Auseinandersetzung, sondern der Diffamierung des
Gegners bzw. umgekehrt der Durchsetzung der eigenen Position. Während
der wissenschaftliche Text – von dem deswegen nicht behauptet werden soll,
dass er neutral wäre – Ansatzpunkt und Gewicht eines jeden Arguments
explizit ausweisen sollte,5 lebt die öffentliche Debatte von Anspielungen und
Insinuationen, die eine untergründige Wirkung entfalten, die sich dem ersten
Blick verbirgt. Verstärkt wird die Wirkung öffentlicher Debatten nicht zuletzt
dadurch, dass ein Exempel im Wortsinne statuiert wird, d.h. dass ein einzelner
prominenter Autor, dessen Exemplarität mehr angenommen als aufgewiesen
wird, für die Schwächen einer ganzen Generation, einer Strömung oder ästhe-
tischen Position herhalten muss, wenn das Feuilleton die Zeit der Abrechnung
für gekommen hält.
4
Zum Begriff “strategische Kommunikation” vgl. Jürgen Habermas: Theorie des
kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (edition suhrkamp
1502). Band 1. S. 348ff.
5
Die methodologischen Anforderungen an wissenschaftliche Texte – das haben
die Theoriedebatten zur Genüge unter Beweis gestellt – garantieren nicht poli-
tische, moralische oder sonstige Neutralität. Insofern es sich dabei aber um
Zweitcodierungen handelt, sind die wissenschaftlichen Kriterien so lange unver-
zichtbar, wie eine Äußerung nicht lediglich politisch, moralisch etc. sein will.
Für kommentierende Stellungnahmen in der Tages- oder Wochenpresse gelten solche
Anforderungen nicht. Doppelcodierungen dieser Art gehören nicht zu Ihrer Praxis.
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Dabei trägt jedes einzelne Element einer solchen Kampagne, auch wenn
es mit der deklarierten Stoßrichtung der Fehde direkt gar nichts zu tun zu
haben scheint, nicht nur Munition zur Entscheidung der im Zentrum ste-
henden Fragen bei: Von den antisemitischen Vorurteilen und homopho-
ben Diffamierungen in Heinrich Heines Streit mit August von Platen6 bis
zum Vorwurf der Spießigkeit an die Adresse von Emil Staiger im Zürcher
Literaturstreit sind die Diffamierungen ad personam nicht lediglich mehr
oder weniger grobe Mittel zum Zweck, sondern zugleich Anzeichen historisch
spezifischer Semantiken, die aus dem Streit über Literatur Richtungskämpfe
um “sich wandelnde politische, kulturelle und literarische” Selbstdeutungen7
einer Gesellschaft machen. Auf dieser unteren, speziellen Ebene, auf der
sich die Einzelfälle der immer wieder ähnlich instrumentierten Institution
“Literaturstreit” konkretisieren, bringt nicht so sehr der neuerliche Streit um
die ästhetische Qualität irgendeines Werkes oder einer Literaturströmung die
spezifische historische Situation zum Ausdruck, sondern vielmehr zeigt die
‘Wahl der Waffen’ an, was die Stunde geschlagen hat.
Das gilt auch für den so genannten “Ersten deutsch-deutschen
Literaturstreit” des Jahres 1990, der in sehr expliziter Form die literarisch-
ästhetische Qualität der DDR-Literatur in Frage stellt und damit den in allen
gesellschaftlichen Bereichen geführten Streit (um den jeweiligen Wert eines
Gegenstandes oder einer Praxis aus der der Bundesrepublik beitretenden
DDR) auf literarisches Gebiet trägt. Interessanter als die bloße Tatsache, dass
der Kampf um Macht, Ansehen und die Regeln ihrer Verteilung in der neu ent-
stehenden gesamtdeutschen Gesellschaft auch vor Literatur und Kunst nicht
Halt machen, sind die Mittel, mit denen er geführt wird. Die Rolle eines emi-
nenten historischen Anzeichens spielt hier vor allem die Bezugnahme auf die
so genannte “Große Kontroverse” des Jahres 1945/46 zwischen Thomas Mann
als Stellvertreter der Exilliteratur und Walter von Molo sowie insbesondere
Frank Thiess als Apologeten der ‘Inneren Emigration’. Geht es, wie bereits
gesagt, den Kritikern erklärtermaßen darum, im Jahr der Wiedervereinigung
die ästhetische Qualität der ehemaligen DDR-Literatur in Zweifel zu ziehen,
um unausgesprochen, aber leicht durchschaubar, den Einfluss ihrer Autoren
im Literaturbetrieb des vereinigten Deutschland zu reduzieren,8 so ist nicht
auf den ersten Blick klar, was die wiederholte beiläufige Parallelisierung der
6
Vgl. Hans Mayer: “Der Streit zwischen Heine und Platen”. In: Ders.: Außenseiter.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. S. 207–223.
7
Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn: W. Fink/UTB 2008 (Literaturwissen-
schaft elementar). S. 50.
8
Zu dieser Form der Analyse intellektueller Positionskämpfe vgl. Pierre Bourdieu:
Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1.
Hamburg: VSA 1992.
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Situation der DDR-Literatur mit der der ‘Inneren Emigration’ dabei schließ-
lich bewirkt. Die damit vorgenommene Abwertung zu einer politisch kontami-
nierten, historisch und regional bedingten Schwundform moderner Literatur,
die nicht länger anschlussfähig ist, verhält sich zwar gleichsinnig zu expliziter
und impliziter Zielsetzung und ist insofern pragmatisch leicht zu erklären. Als
Anzeichen der historischen Situation scheint die Parallelstellung aber nicht
ganz in dieser flankierenden Dienstleistungsfunktion aufzugehen, zumal die
auf diesem Wege in ein schiefes Licht gerückte Christa Wolf sich ihrerseits
des Rückverweises auf die Situation der Emigranten im Jahr 1945 bedient.
Signifikant für den historischen Augenblick am Vorabend der
Wiedervereinigung ist zunächst die Parallelsetzung von nationalsozialisti-
scher und staatssozialistischer Kultur im Geiste der Totalitarismustheorie, die
nicht nur der DDR-Kultur rundheraus abspricht, bewahrenswerte kulturelle
Leistungen hervorgebracht zu haben, sondern zugleich mit dem kulturprägen-
den Konsens der alten BRD bricht, der aus der Singularität der nationalso-
zialistischen Verbrechen eine Sonderstellung der Bundesrepublik im Konzert
der Völker ableitet. Um die politische ‘Normalisierung’ der Bundesrepublik
kann es im Folgenden nicht gehen, gleichwohl aber um einen der vielen
Schauplätze, aus denen sie sich zusammensetzt. Denn signifikant ist auch,
dass die gegnerischen Parteien des Deutsch-deutschen Literaturstreits unaus-
gesprochen die Überzeugung eint, die den Rückbezug auf die Debatte des
ersten Nachkriegsjahres sachlich motiviert, nämlich dass die Epoche der
Nachkriegsliteratur 1989 zu Ende gegangen ist und daher eine Revision ihrer
leitenden Literaturkonzepte geboten scheint.
Ziel dieses Aufsatzes ist es, die verschiedenen Aspekte der Parallelisierung
der Literaturdebatten von 1989 und 1945 analytisch zu trennen, um den
Diskurs freizulegen, der dem Deutsch-deutschen Literaturstreit zu Grunde
liegt. Zu diesem Zweck gehe ich zunächst (2.) auf die so genannte “Große
Kontroverse” ein, um den Bezugspunkt der Debattierenden des Jahres 1990
in Erinnerung zu rufen und an einem ersten Beispiel zu zeigen, wie pragmati-
sche Differenzen und diskursive Identität einher gehen können. Im Anschluss
daran werden (3.) verschiedene Formen der Bezugnahme auf die ältere
Kontroverse unterschieden und hinsichtlich ihrer Stichhaltigkeit geprüft (4.).
Abschließend gehe ich auf Christa Wolfs jüngstes Buch ein, um es zunächst
als späte Antwort auf die Parallelisierung der Debatten von 1945 und 1990
(5.) zu deuten und schließlich die darin angedeutete Selbstrevision ihrer
Poetik herauszupräparieren (6.).
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Wertigkeit von Exilliteratur und ‘Innerer Emigration’, begann mit einem offe-
nen Brief Walter von Molos an Thomas Mann.9 Walter von Molo forderte
in diesem Brief Thomas Mann dazu auf, nach Deutschland zurückzukehren
und sich seinen deutschen Landsleuten zuzuwenden, um in einer historischen
Situation, in der über das weitere Schicksal Deutschlands noch nicht entschie-
den war, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Das auffälligste rhetorische
Mittel des Vortrags ist die fünffache Wiederholung der Aufforderung “kom-
men Sie bald”, die dabei zweimal als Bitte eingeleitet wird. Das klingt dann
z.B. so:
Bitte, kommen Sie bald und zeigen Sie, daß der Mensch die Pflicht hat, an die
Mitmenschen zu glauben, immer wieder zu glauben, weil sonst die Menschlichkeit
aus der Welt verschwinden müsste. [. . .] Wir müssen endlich jeder dem alle
Menschen einigenden dienen, das Gemeinsame, Verbindende, nicht weiter oder
neu das Trennende suchen, denn Haß und pauschale Herabsetzung und unrichtig
abgekürzte Geschichtsbetrachtungen zu vergänglichen Zwecken sind unfrucht-
bar und führen zu Katastrophen; das haben wir doch in unserer Lebensspanne in
schrecklicher Art erfahren. [. . .] Kommen Sie bald wie ein guter Arzt, der nicht
nur die Wirkungen sieht, sondern die Ursache der Krankheit sucht und diese vor-
nehmlich zu beheben bemüht ist[. . .]. [. . .] Kommen Sie bald zu Rat und Tat. [. . .]
Suchen wir wieder gemeinsam – wie vor 1933 – die Wahrheit, indem wir uns alle
auf den Weg zu ihr begeben und helfen, helfen, helfen! In diesem Sinne Ihr Walter
von Molo10
Das Eigentümliche dieses offenen Briefes besteht darin, dass Thomas Mann
zwar als Therapeut adressiert, zugleich aber in eine Art Zwangspflicht
genommen wird. Er wird einerseits als Heilkundiger angesprochen, ande-
rerseits werden ihm die Qualitäten, die ihn als einen solchen hervorheben,
als eine unabstreifbare Verpflichtung entgegengehalten, der gegenüber es
keine Entscheidungsfreiheit gibt. Dieser eigentümliche Sprechakt erzeugt
Motivverdacht: Thomas Mann und dessen moralische Autorität sollen
offensichtlich instrumentalisiert werden – ob dem Verfasser das vollends
bewusst ist oder nicht. Dem Text scheint als Motiv eingeschrieben zu
sein, Thomas Mann zu einer Rückkehr als einer Geste der Verzeihung zu
9
Vgl. grundsätzlich auch Gerhard Kurz: “‘Innere Emigration’. Zur öffentli-
chen Kontroverse zwischen Walter v. Molo, Thomas Mann und Frank Thieß”.
In: Öffentlicher Sprachgebrauch: Praktische, Theoretische und Historische
Perspektiven. Hg. von Karin Böke u. a. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
S. 221–235.
10
Walter von Molo: „[Walter von Molo an Thomas Mann]“ (redaktioneller Titel
des offenen Briefes an Thomas Mann). In: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter
von Molo: Ein Streitgespräch über die äußere und innere Emigration. Dortmund:
Buchdruckerei W. Crüwell o.J. [1946] (Druckschriften Vertriebsdienst). S. 2.
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Von Beitrag zu Beitrag tritt die Kehrseite der ebenso durchtriebenen wie
topisch bewehrten Rechtfertigungsstrategie, nämlich die Diskreditierung des
Exils, mehr und mehr in den Vordergrund und gipfelt darin, dass Thomas
Manns Zugehörigkeit zur deutschen Literatur grundsätzlich in Frage gestellt
11
Fast zeitgleich erschien 1946 Karl Jaspers: Die Schuldfrage sowohl in Heidelberg
als auch in Zürich (dort mit dem Zusatz: Ein Beitrag zu deutschen Frage).
12
Thomas Mann: “Rundfunkbotschaft”. In: Thomas Mann, Frank Thieß, Walter von
Molo. [wie Anm. 10] S. 6–7. Hier: S. 7 (Hervorhebung von mir; M.Sch.).
13
Frank Thiess: “Innere Emigration”. In: Ebd. S. 2–3. Hier: S. 3.
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wird.14 Entscheidend ist hier jedoch nicht so sehr der völkische Zug, der
Thiess’ Argumentation grundiert, als vielmehr die fortwährende Reklamation,
die Teilnahme am kollektiven Geschick sei eine Inspirationsquelle, aus der
moralische und literarische Erneuerung erfolge, und mithin ein Reichtum, der
mit materieller Armut niemals zu teuer erkauft sei:
Muß es für einen schöpferischen Geist, der am zeitlosen Deutschland zu hängen
glaubt, nicht furchtbar sein, gerade jetzt, gerade in diesen Tagen einer Neugeburt
aus Blut und Qualen, nicht inmitten seines Volkes zu stehen? Er mag wohl, des
bin ich gewiß, Stunden der Zerrissenheit und der Einsamkeit erlebt haben, um
die wir ihn nicht beneiden. Denn all die Trümmer um uns, so wirklich sie in ihrer
Schrecklichkeit sind, sie sind doch zugleich Symbol der Zerstörung einer Welt,
die wir als nie wiederkehrend hinter uns wissen. Sie sind das Abbild einer inneren
Zerstörung, dem Zerbrechen einer Schale zu vergleichen, aus der man uns heraus-
stieß, damit wir endlich aus ihr emporsteigen in die Wahrheit neuer Gesittung und
wahrer Selbsterkenntnis. Wir, die wir alles erlebten, können es verstehen, er konnte
es drüben nicht.15
Thiess Ausführungen sind tief eingelassen in den deutschen Diskurs, der Geist
und Macht resp. Geld als polare Alternative begreift und den öffentlichen
Erfolg stets als Verrat des Geistes beargwöhnt, wie Helmuth Plessner bereits
in den Zwanzigerjahren beklagt hatte.16 Im Unterschied dazu ruft Walter von
Molo den Dichterfürsten an, den Repräsentanten, dessen Handeln symboli-
sche Kraft hat. Der gemeinsame Zweck der Beiträge von Walter von Molo und
Frank Thieß besteht trotz dieser unterschiedlichen Bezugnahme auf Thomas
Mann jedoch im gemeinsamen Interesse an der Schuldabwehr, das lediglich
auf unterschiedliche Weise verfolgt wird. Darin besteht der Zusammenhang
der Beiträge, der von Thomas Mann denn auch tatsächlich so verstanden und
zurückgewiesen wurde, wie oben bereits zitiert. Im Besonderen ist allerdings
Frank Thiess17 für den schlechten Ruf der Kampagne verantwortlich, die in
exemplarischer Weise vorführt, wie sich jemand dadurch reinwaschen will,
dass er andere mit Dreck bewirft.
Weniger eindeutig zu bestimmen ist demgegenüber die Position von
Thomas Mann. Einerseits erscheint Thomas Manns Abwehr der Zumutungen
14
Vgl. Frank Thiess: “Abschied von Thomas Mann”. In: Ebd. S. 5–6. Hier: S. 6.
15
Frank Thiess: “Frank Thieß antwortet Thomas Mann”. In: Ebd. S. 7–8. Hier: S. 8.
16
Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen
Radikalismus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2003. Band V. S. 7–133.
17
Zu Thiess’ Rolle im Nationalsozialismus vgl. Yvonne Wolf: Frank Thiess und der
Nationalsozialismus. Ein konservativer Revolutionär als Dissident. Tübingen: Max
Niemeyer Verlag 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 114).
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18
Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?
Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1990.
19
Thomas Mann: “Offener Brief für Deutschland”. In: Thomas Mann, Frank Thieß,
Walter von Molo. [wie Anm. 10]. S. 3–5. Hier: S. 4.
20
Vgl. Mann: “Rundfunkbotschaft” [wie Anm. 12]. S. 6.
21
Vgl. jetzt die äußerst hilfreiche Neuausgabe: Thomas Mann: Betrachtungen
eines Unpolitischen. Hg. u. kommentiert von Hermann Kurzke. Frankfurt a.M.: S.
Fischer Verlag 2009 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe). Band 13.1 u. 13.2
(Kommentar). – Zur Diskursposition des Textes am Ende des Ersten Weltkriegs
vgl. Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektu-
elle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2009. S. 86ff.
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wenn Wolf Lepenies urteilt, dass “die Bitterkeit der Auseinandersetzung zwi-
schen Vertretern der ‘Inneren Emigration’ und Exilanten [. . .] nicht zuletzt
daher [rührte], dass sie – trotz aller Unterschiede [. . .] – eine deutsche
Gemeinsamkeit miteinander teilten: die Präferenz, die kulturellen Faktoren in
der Erklärung politisch-moralischer Tatbestände gegeben wurde”.22 Lepenies
gibt damit einen wichtigen Hinweis darauf, dass die sich so unversöhnlich
gebenden Gegner vieler Debatten von einer gemeinsamen Tiefenstruktur
zehren, die ‘in der Hitze des Gefechts’ Teilnehmern und Beobachtern meist
verborgen bleibt. Und tatsächlich bleibt festzuhalten, dass der Dissens der um
Thomas Mann und seine Stellung zu Deutschland und der deutschen Literatur
streitenden Parteien einen Deutschland-Diskurs weiterführt, dessen inne-
rer Dissens letztlich kleiner dimensioniert ist als der große Unterschied zur
Literatur der nachfolgenden Generationen.
3. Parallelisierung von “Großer Kontroverse” und
“Deutsch-deutschem Literaturstreit”
Die Debatte der jüngsten Nachkriegszeit ist denn auch insoweit dem Vergessen
anheimgefallen, als die Initiatoren nur noch den Spezialisten erinnerlich sind –
und auch diesen vielfach nur dem Namen nach. Thomas Mann dagegen ist
kanonisiert und durch Film und Fernsehen nach wie vor präsent, ohne dass
eine Spur des Streits, die ihm eine mögliche Rückkehr nach Deutschland ver-
gällt und seine Stellung in der Nachkriegsliteratur beeinträchtigt hat, noch an
ihm haften würde. Erst der Deutsch-deutsche Literaturstreit hat die Debatte
von damals in Erinnerung gerufen, indem er auf mindestens dreierlei Weise
einen Zusammenhang zwischen beiden Kontroversen hergestellt hat.23
Erstens sind wiederholt Analogien zwischen ‘Innerer Emigration’ und
DDR-Literatur hergestellt worden, zweitens sind die Aussagen von Autoren
beider historischer Umbruchsituationen auf Ähnlichkeiten hin verglichen
worden und drittens ist von manchen Beobachtern die als Streit bereits reflek-
tierte Fehde mit der “Großen Kontroverse” in Beziehung gesetzt worden.
Darüber hinaus sind unreflektierte Identifikationen zu verzeichnen, wie sie
etwa darin zum Ausdruck kommen, dass die Süddeutsche Zeitung in einer
Umfrage zur Einschätzung von DDR-Autorinnen und Autoren den durch die
22
Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. München-Wien: Hanser
2006. S. 295.
23
Vgl. insg. auch den instruktiven Aufsatz von Wolfgang Gabler: “Die konser-
vierte Kontroverse. Literaturstreit nach 1945 und nach 1989: Vom Sinn einer
Analogiebildung”. In: 1945–1995: 50 Jahre deutschsprachige Literatur in
Aspekten. Hg. von Gerhard Knapp und Gerd Labroisse. Amsterdam: Rodopi 1995
(Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 38/39). S. 495–522.
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24
Klaus Podak: “Geeint miteinander streiten. Schriftsteller in der DDR: Waren
sie nur Mitläufer und Oppostunisten? – Eine Umfrage”. In: Süddeutsche Zeitung
25.6.1990.
25
Ebd.
26
Zitiert nach Thomas Anz: “Initiation des Streits”. In: Es geht nicht um Christa
Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von dems. München:
Edition Spangenberg 1991. S. 45–55. Hier: S. 50.
27
Vgl. außer dem Fall von z.B. Peter Fuchs die von der Büchergilde Gutenberg
verlegte Reihe “Die Verschwiegene Bibliothek” mit Texten aus dem von den
Herausgebern Ines Geipel und Joachim Walther gegründeten “Archiv unterdrückter
Literatur in der DDR”.
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Die Voraussetzungen nämlich, dass die DDR in keiner Hinsicht etwas getaugt
und ihren Bürgern nichts zu bieten gehabt habe und dem entsprechend von
denkenden Menschen nur prinzipiell habe abgelehnt werden können, führt zu
einer grundsätzlichen Verfehlung der literarischen Kultur der DDR.
Nachhaltiger als diese spontane Gelegenheitsschmähung, die zahlreiche
Proteste nach sich gezogen hat, war der Vorstoß von Frank Schirrmacher, der
die Aussagen von Autoren beider historischer Umbruchsituationen in sehr
anspielungsreicher Weise der Ähnlichkeit bezichtigte:
Wenn eine Diktatur zu Ende ist, reden die Beteiligten nicht von Schuld und
Mitverantwortung, sondern von der Notwendigkeit einer neuen Sprache. Vor der
Gewissensnot in die diffusen Räume des Unsagbaren zu flüchten, das war aller-
dings schon die Übung der vom Nationalsozialismus belasteten Intellektuellen der
Nachkriegszeit – Wiederholungszwang der Geschichte.28
Schirrmacher agiert weniger ungeschützt als sein Vorgänger auf dem Chef-
Posten des FAZ-Feuilletons und justiert seinen Angriff präziser. Ihm ist
es nicht unmittelbar um die Abwertung einer nicht mehr zu ändernden
Vergangenheit zu tun. Diese dient vielmehr als Mittel, um aktuelle und
künftige Diskursmacht festzulegen. Analog zur Frage des Wechselkurses
zwischen Ost- und Westwährung geht es hier um den Wechselkurs des sozi-
alen und symbolischen Kapitals der DDR-Intellektuellen innerhalb der
nach 1989 entstehenden gemeinsamen Öffentlichkeit. Indem er Christa
Wolfs Suche nach einer “neuen Sprache” als Ausflucht vor der moralischen
Verantwortung als repräsentativer DDR-Schriftstellerin anprangert, versucht
er die Transformation ihres symbolischen Kapitals aus der Zeit der DDR
in Westwährung zu unterbrechen. Der Erfahrungsschatz, den die zu allem
Überfluss auch noch Was bleibt betitelte Erzählung ausstellt, soll gerade nicht
bleiben, sondern abgewertet werden. Außer der Tatsache, dass man moralisch
fehlt, wäre aus den Zwängen und Nöten einer zwischen der Verantwortung
gegenüber dem Publikum und den kulturpolitischen Vorgaben balancierenden
Literatur29 für das gemeinsame Deutschland demnach nichts zu lernen.
Über den unmittelbar situativen Zusammenhang hinaus erweist sich die
Abrechnung mit der DDR-Literatur als Gelegenheit, auch auf den intel-
lektuellen Bühnen des Westens die Gewichte neu zu verteilen. In politi-
scher Perspektive mündet “die Abfertigung der DDR-Literatur [. . .] in eine
Generalabrechnung mit jeglicher linksorientierten deutschen Literatur.
28
Frank Schirrmancher: “‘Dem Druck des härteren. Strengeren Lebens standhal-
ten’”. In: Es geht nicht um Christa Wolf [wie Anm. 26]. S. 77–89. Hier S. 87.
29
Zu diesem Spannungsfeld vgl. Matthias Schöning: “Kassiber der Zustimmung.
Christa Wolfs Der geteilte Himmel und die narrative Codierung von Individualität
im Literatursystem der DDR”. In: Weimarer Beiträge 57, 2011. H.1. S. 76–100.
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Zur Disposition steht nicht dieser oder jener individuelle Ostautor, son-
dern die gesamtdeutsche Nachkriegsliteraturtradition linker Provenienz”.30
Offensichtlich geht es um Intellektuellen-Politik, deswegen fehlt in keiner
Darstellung des Streits die Zuschreibung weltanschaulicher Epitheta wie
“liberal”, “konservativ” etc. an die Adresse der die Beiträge publizierenden
Tages- und Wochenzeitungen. Eine solche Perspektivierung hat jedoch den
Nachteil, dass sie den Diskurs der Bundesrepublik ungebrochen reproduziert
und dazu zwingt, sich auf eine Seite der konstitutiven politischen Differenz zu
schlagen, während es doch – wäre es den Kritikern ernst mit der Revision der
ost- wie der westdeutschen Literaturtradition – darum gehen müsste, mit den
eingespielten und nach wie vor reflexhaft funktionierenden Diskursmustern
zu brechen.
4. Diskursgeschichtliche Zusammenhänge
Richtig ist jedenfalls, dass Christa Wolfs Publikation des vermeintlich älte-
ren Textes zu diesem Zeitpunkt den Beginn einer eigenen Neujustierung der
Position im intellektuellen Feld anzeigt. Für eine solche Feststellung braucht
es keinerlei Mutwillen, sondern lediglich Unparteilichkeit und analyti-
sche Intention. Nicht richtig ist, dass dieser primär moralischen Kategorien
gehorcht. Vielmehr diktiert der Systemwandel mit seinem Zusammenbruch
aller Koordinaten des literarischen Feldes die Suche nach einer neuen litera-
rischen Strategie.31 – Trotzdem kann man in einem zweiten Schritt natürlich
feststellen, dass der ‘intellektuelle Devisenhandel’, zu dem die etablierten
Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR gezwungen sind, deswegen kei-
neswegs unschuldig ist. Auf der anderen Seite sind aber auch die Wächter an
der Pforte des BRD-Diskurses keine unabhängigen Richter, sondern Anwälte
in eigener Sache. Hinsichtlich Schirrmachers wird das strategische Moment
seiner Kommunikation deutlich, wenn man tatsächlich einmal das Verhalten
in den von ihm und anderen lediglich assoziativ aufeinander bezogenen
Debatten nach 1945 und 1990 vergleicht.
Tut man dies, dann ist zunächst einmal zu konzedieren, dass eine
durchaus identische Diskurstradition aus den Texten der Autorinnen und
Autoren beider Literaturfehden spricht, die in den jeweiligen historischen
Schwellensituationen ihr Handeln und Schreiben in der Vergangenheit für die
neue Situation programmieren. Leidensdruck und Kreativität werden dabei
als produktives Verhältnis inszeniert und schmerzliche Zeugenschaft soll in
30
Weninger: Streitbare Literaten [wie Anm. 2]. S. 143f.
31
Womit freilich noch nicht behauptet wäre, dass der Text Was bleibt von Christa
Wolfs eine solche neue Strategie bereits kennzeichnete. Zunächst einmal verweist
lediglich der Umstand der Publikation auf einen entsprechenden Bedarf.
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Während Literatur, die sich nicht aus den Ressourcen persönlicher Erfahrung
speist, in den Verdacht gerät, ein beliebiges Spiel mit Wortmaterial, Sujets und
Dramaturgien zu betreiben, inszeniert sich die Literatur der Kriegsteilnehmer
und Diktaturopfer als eigentliche Kunst, die verbürgt, was sie zeigt und
vor deren historischem Ernst das Problem der Arbitrarität der auch von ihr
gebrauchten Zeichen zur Nichtigkeit verblasst.
Diskursgeschichtliche Zusammenhänge aufzudecken, ist auch das Ziel
des bereits im Jahr fünf des wiedervereinigten Deutschlands erschienenen
Artikels von Antonia Grunenberg, “Das Unglück der Literatur”, der bereits
die Debatten als solche aufeinander bezieht.33 Damit liegt ein Beispiel für
eine dritte Form von Rückbezug auf 1945 vor. Diese ist nun weniger partei-
lich als historisierend zu nennen. Auch Grunenberg bezieht zwar ausdrücklich
Stellung und lässt keinen Zweifel an ihrer grundsätzlichen ‘Westorientierung’,
die sich darin ausdrückt, dass sie die DDR nicht zuletzt als Residuum einer
Form von Kulturkritik begreift, die einmal den nach 1945 in Westdeutschland
mühsam beendeten deutschen Sonderweg konstituierte. Zugleich aber vermei-
det sie sowohl jede Parteinahme innerhalb der Debatte als auch jede Form der
Schuldzuweisung, um stattdessen mit diskurstherapeutischer Intention eine
Art nachholender Europäisierung anzumahnen.
Wie Grunenberg deutlich macht, war die 1945 und 1990 parallelisie-
rende Invektive insofern durchaus produktiv, als sie die Aufdeckung von
Diskurszusammenhängen anregt. Gleichwohl muss man sagen, dass die
konkrete Diagnose ‘autoritärer Charaktere’ von Frank Schirrmacher “das
Problem nicht [trifft]”.34 Schirrmacher bedient sich nicht nur eines Begriffs
32
Christa Wolf: Was bleibt. München: dtv 1994 (Sammlung Luchterhand). S. 21.
33
Antonia Grunenberg: “Das Unglück der Literatur”. In: Die Zeit 8.4.1994. S. 49f.
34
Anke-Marie Lohmeier: “Schriftstellers ‘Verantwortung’ und Autors ‘Tod’.
Autorkonzepte und offene Gesellschaft am Beispiel des deutsch-deutschen
Literaturstreits”. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hg. von Heinrich
Detering. Stuttgart-Weimar: Metzler 2002 (Reihe: DFG-Symposien). S. 557–569.
Hier: S. 560.
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35
Vgl. nur Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Hg. von Ludwig
von Friedeburg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973.
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36
Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1949–1950. Hg. von Inge Jens. Frankfurt a.M.:
S. Fischer 1991.
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37
Mann: “Offener Brief ” [wie Anm. 19]. S. 4.
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Die zitierte Episode leitet den Prozess der Neubestimmung der Position des
eigenen Werks in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ein und setzt
den neuralgischen Punkt vorausgreifend in Szene. Mit der DDR, auf deren
Existenz die fiktive Autorin bei ihrer Ankunft in der Stadt der Engel so trot-
zig beharrt, hat die reale Autorin den gesellschaftlichen Rahmen verloren, der
ihren Texten Relevanz garantierte und die Funktionstüchtigkeit ihres Konzepts
engagierter Literatur sicherstellte. So sehr der Anspruch auf Relevanz und
Realitätsfülle nach wie vor das Voraussetzungssystem der Autorschaft von
Christa Wolf bestimmt, so sehr dokumentiert ihr Text deren schmerzliche
38
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2010. S. 9f.
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Wir wohnen hier der Urszene bei, die das Buch, das Christa Wolf schließlich
vorgelegt hat, poetologisch möglich macht. Es konnte veröffentlich werden,
weil die Szene fiktiv ist und insofern urheberrechtlich gesehen Christa Wolf
gehört und ihre (neue) Autorschaft begründet, nicht aber jenem fiktiven
Bob Rice eignet, der innerdiegetisch zwar der Erzählerin seine Geschichte
schenken können mag und damit auf sein Urheberrecht verzichtet, damit
aber noch lange nicht ihre Autorschaft begründen kann. Das metaleptische
Selbstzitat des Buchtitels stellt die Initialzündung des realen Buches inner-
halb der erzählten Welt dar, indem es innerdiegetisch die Devestitur des
Autorschaftskonzepts signalisiert, mit dem Christa Wolf bis dato angetreten
war, und auf deren Trümmern sie nun eine neuerliche Autorschaft begründet.
39
Ebd. S. 155.
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Heinz-Peter Preußer
1
Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen
Feldes. Übers. aus d. Frz. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 2001 [1992]. S. 198–205; Grafik: S. 199, 203.
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2
Vgl. ebd. S. 235–257. Hier: S. 251, 253 insb.; Grafik: S. 255. – Siehe auch den
Band Alternde Avantgarden. Hg. von Alexandra Pontzen und Heinz-Peter Preußer.
Heidelberg: Winter 2011. Insb. von den Hgg.: In “Gegenrichtung voran”! – Eine
Einleitung zu den Alternden Avantgarden. S. 7–28. Hier: S. 15f.
3
Vgl. Der Bremer Literaturpreis 1954–1987: “bewundert viel und viel geschol-
ten. . .”. Reden der Preisträger und andere Texte. Eine Dokumentation der Rudolf-
Alexander-Schröder-Stiftung. Hg. von Wolfgang Emmerich. Bremerhaven:
Wirtschaftsverlag NW 1988. Erweiterte Neuausgabe: Der Bremer Literaturpreis
1954–1998. Eine Dokumentation. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW 1999. Hier
insbesondere die Einleitung des Hg. S. 7–34.
4
Fritz J. Raddatz: Ein Rückzug auf sich selbst. Christa Wolfs Sommerstück. In: Die
Zeit 24.3.1989. – Vgl. auch Anonymus: Club der einsamen Schmerzen. In: Der
Spiegel 10.4.1989. S. 229.
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5
Christa Wolf: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994. Köln: Kiepenheuer &
Witsch 1994. S. 169.
6
Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen
aus gegebenem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch. In: “Es geht nicht um
Christa Wolf”. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von Thomas
Anz. München: Spangenberg 1991. S. 35–40. Hier: S. 35. Zuerst in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung 12.11.1987.
7
Vgl. etwa Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen
der Moral: Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten
müssen. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 198–207. Hier insb.:
S. 200. Zuerst in: Süddeutsche Zeitung 13./14.10.1990.
8
Frank Schirrmacher: “Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten”.
Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden
und ihre jüngste Erzählung Was bleibt. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie
Anm. 6]. S. 77–89. Hier: S. 87. Zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2.6.1990.
9
Günter Grass, Hellmuth Karasek, Rolf Becker: Nötige Kritik oder Hinrichtung?
Spiegel-Gespräch mit Günter Grass über die Debatte um Christa Wolf und die
DDR-Literatur. In: “Es geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 122–134.
Hier: S. 122. Zuerst in: Der Spiegel 16.7.1990.
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Weitere zehn Jahre später, 2010, ist der Roman endlich erschienen. Er könnte
zum Prüfstein werden, ob inzwischen Distanz vorliegt zur eigenen Person, zu
den Vorfällen im Literaturstreit und eine neue Sicht auf die Beziehung zum
Staat DDR und dem real existierenden Sozialismus möglich ist. Machen
wir also erst einmal eine Probe, wenngleich keine Nagelprobe, indem wir
den Text Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud lesen als Reaktion
auf diese Erschütterung im literarischen Feld, die nach der Wende vor allem
unsere Autorin betraf.
Das erste, womit wir konfrontiert werden, ist eine “Trotzreaktion”,
wie die Erzählerin selbst vermerkt. Bei der Einreise in die USA gibt die
Schriftstellerin auf Nachfrage an, ihr Pass stamme aus Ostdeutschland. Auch
wenn der Paratext vorab mit Nachdruck insistiert, alle Figuren des Romans
seinen “Erfindungen der Erzählerin”, wird man im Folgenden doch nicht
umhin können, Ereignisse der Realbiografie mit denjenigen der fiktiona-
len Figur zu vergleichen. Zu viele Indizien weisen aus, dass es sich hier nur
um eine Autofiktion handeln kann:12 die Überblendung realen Geschehens
mit einer ontologisch klaren Referenz auf historisch Vergangenes – und
Änderungen im Detail, gegebenenfalls auch im Personeninventar, welche die
Narration dann überhaupt zur fiktionalen werden lässt. Die Rahmendaten aber
wären Christa Wolfs neunmonatiger Getty-Stipendien-Aufenthalt 1992/93 in
10
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr, 1960–2000. München: Luchterhand 2003. S. 628.
11
Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003 [2002].
S. 444.
12
Zum Begriff, den man gemeinhin auf Serge Doubrovsky zurückführt, vgl. etwa
Frank Zipfel: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und
Literarität? In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen.
Hg. von Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer. Berlin-New York, NY: de
Gruyter 2009. S. 285–314. – Siehe auch Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion
oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar.
In: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Autobiographisches Schreiben in
der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Ulrich Breuer und Beatrice
Sandberg. München: Iudicium 2006. Band 1. S. 353–368.
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Santa Monica, Kalifornien.13 Wenn die Erzählerin also 1992 einen noch nicht
abgelaufenen DDR-Pass vorlegt, hat das Provokationswert: “Are you sure this
country does exist?”, wird sie gefragt – und die Antwort fällt mit “Yes, I am”
entsprechend trotzig aus.14
Was bringt eine DDR-Bürgerin dazu, zwei Jahre nach dem Ende des
Staates kontrafaktisch dessen Existenz zu behaupten? Wie ist dieser Trotz
motiviert? Geht es nur darum, im Sinne Blochs retrospektiv, im melancholi-
schen Gestus eine Latenz zu konservieren, ein Möglichwerden?15 Oder zeigt
sich hier eine Loyalität dem projizierten Ideal gegenüber, die alle frühere
Kritik weit übersteigt und das eigene Verhaftetsein mit den Verhältnissen erst
zementiert? Man kann sich keinen Dissidenten vorstellen, der sich ähnlich
verhalten hätte. Die Erzählerin jedenfalls spricht bedauernd von einem “unter-
gegangenen Staat”,16 von “Zusammenbruch”17 und wieder vom “Untergang”
“meines Landes”,18 “dieses kleinere[n] Deutschland[s] [. . .], mit all seinen
Mängeln, ach was, mit seinen Gebrechen und Fehlern”,19 – da ist Trauerarbeit
angesagt. Und genau die leistet das Buch auf zum Teil quälend langatmigen
400 Seiten.
Irgendwann bildete sich der Satz: Wir haben dieses Land geliebt. Ein unmöglicher
Satz, der nichts als Hohn und Spott verdient hätte, wenn du ihn ausgesprochen
hättest. Aber das tatest du nicht. Du behieltest ihn für dich, wie du nun vieles für
dich behältst.20
Wie ein Schock erreicht die Erzählerin hingegen die Nachricht, ihre Zuarbeit
als Informelle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit sei publik
geworden – ein Tatbestand, den die Autorin “vollkommen vergessen” haben
13
Vgl. Magenau: Christa Wolf [wie Anm. 11]. S. 420–426.
14
Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin: Suhrkamp
2010. Im Folgenden als Sigle StE mit anschließender Paginierung. Hier: StE 10.
15
In diesem Sinne auch Volker Braun: Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst
einmal am Ende. Äußerungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. Darin das Gespräch
mit Rolf Jucker [1994]. S. 99–109. Hier: S. 100. – Vgl. Verena Kirchner: Im Bann
der Utopie. Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie in der DDR-Literatur. Heidelberg:
Winter 2002. S. 126–170. Hier insb.: S. 158, 160f., 168. – Siehe auch Wolfgang
Emmerich: Status melancholicus. Zur Transformation der Utopie in der DDR-
Literatur. In: Text + Kritik. Sonderband: Literatur in der DDR. Rückblicke. Hg. von
Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. München: Edition Text + Kritik
1991. S. 232–245.
16
StE 15, vgl. 178.
17
StE 22.
18
StE 64, 401, 404; vgl. 204.
19
StE 204.
20
StE 73.
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will.21 “Und als dann nach der ‘Wende’ bei uns die Jagd auf Informelle
Mitarbeiter in den Akten begann, kam mir nicht eine Sekunde der Gedanke,
dies könne auch mich betreffen. Ich fühlte mich ganz unbelastet”, sagt
unsere fiktionale Autorin zur Figur Sally.22 Das ganze Buch nun soll diese
Verdrängungsleistung23 plausibel machen – und die Erzählerin ist sich doch
sehr bewusst, dass genau dies nicht gelingen kann. Zu absurd scheint die
Rechtfertigungsfigur, wie die Ich-Instanz selbst mehrfach einräumt. Wer
Opfer staatlicher Überwachung in der DDR geworden ist – in jenem “trostlo-
sen düsteren Winter 1976/77”24 –, sollte sich in Szenen solcher Begegnungen,
wie sie Was bleibt beschreibt, nicht erinnern, einmal selbst berichtet zu
haben? Wer sich als Objekt einer “Hetzjagd” (oder “Hexenjagd”) fühlt, die
“erst richtig losgeht, wenn [man] angeschlagen” ist,25 sollte nicht früher schon
seine Erinnerungen aufbrechen sehen, statt sie von außen anstoßen zu lassen?
“Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise,
und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es”, notiert die Erzählerin,
um dann abermals zu bekräftigen, dass sie sich damit auch selbst als Opfer
bezeichnet sehen will: “Ja, [. . .]: Ich fühlte mich besudelt”.26
Zur Erklärung dieses sonderlichen Umstands verwendet die Narration eine
Anekdote, welche die Figur Bob Rice im Roman erzählt: “Die Geschichte, wie
er Freuds Mantel gewann und wieder verlor”.27 Es ist der (unter-)titelgebende
“overcoat of Dr. Freud”,28 der hier zur Metapher wird für einen Mechanismus
der Verdrängung und der Bemäntelung, des Vergessens und Verschweigens.
Weil der Mantel wieder verschwand, kann er nicht erinnern an den einstigen
Träger und damit auch nicht an dessen Werk, das zentral von der Wiederkehr
des Verdrängten handelt – als Regelsystem von Triebstruktur und zensu-
rierendem Ich.29 Genau an die Stelle, fast schon in der Mitte des Romans,
manövriert die Erzählerin den ersten Hinweis: “Meine Akte war den Medien
übergeben worden”.30 – “Der Blick in diese Akten [. . .] hat die Vergangenheit
zersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet”.31 Aus der Sicht der
Erzählerin wird damit ein jahrelanges “uferlose[s] Gerede” angestoßen,
21
StE 186, 196; vgl. 200, 205.
22
StE 202.
23
Vgl. StE 205.
24
StE 168.
25
StE 144, 203.
26
StE 184.
27
StE 154.
28
StE 155.
29
StE 177.
30
StE 177.
31
StE 182f.
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Während die Erzählerin die Entdeckung nachträgt, hat sie die mediale
Auswertung dieser Enthüllung auch in Kalifornien eingeholt. Jetzt wird
der “overcoat of Dr. Freud” nicht mehr als Metapher der großen Absenz
gebraucht, sondern präsentisch “mißbraucht [. . .], verwundbare Stellen zu
bedecken”.37 Der Mantel wird zur Chiffre, die das Fehlen des Verdrängten
und den Vorgang des Bemäntelns zugleich erklärt: “Ich wünschte, er könnte
mich schützen”.38 Einmal schwebt er gar über unserer fiktionalen Autorin,
um ihr, engelsgleich, eine Ankündigung zu überbringen.39 Stringent ist der
Umgang mit diesem titelgebenden Motiv nicht, fügt sich aber ein in die
Atmosphäre des unpräzisen Ahnens, bei der eine trivialisierte Psychoanalyse
herhalten muss für die Rettung des eigenen Selbst. “Der Mantel, weißt du,
32
StE 180.
33
StE 183.
34
StE 186.
35
StE 189; vgl. 195.
36
StE 185.
37
StE 192.
38
StE 203; vgl. 236, 229.
39
StE 249.
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der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen
wenden muß. Damit das Innere sichtbar wird”.40 Wir verstehen mit der
Autorin dieses ‘Innere’ wesentlich als ‘Erinnerung’: und damit als Teil einer
Arbeit. Sie muss “mühsam heraufgeholt” werden,41 etwa wenn es gilt, die
Akten der Staatssicherheit abzugleichen mit den Restbeständen des eigenen
Gedächtnisses:42 “Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht
nur, daß ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, daß ich
nicht sicher bin, wer sich da erinnert”.43
Es wäre aber ein Missverständnis, hier allein einen konstruktivistischen
Vorbehalt artikuliert zu sehen oder die Auffächerung einer identischen
Subjektivität in die postmoderne Differenz. Es geht, vielmehr, um Entlastung:
“Trostlos, trostlos”, sagt sich die Erzählerin, und “trostlos, trostlos” wieder-
holt sie noch auf derselben Seite, um die Lektüre der Akten zu charakterisie-
ren: “ein Vergiftungsgefühl”.44 Was die Autorin aber viel direkter, körperlicher
attackiert, ist die Entwertung ihres Werks durch die eigene Enttarnung – und
die Vernichtung des symbolischen Kapitals, das bislang mit diesem Werk
verbunden war und nur Zuwächse kannte. “JEDE ZEILE, DIE ICH JETZT
NOCH SCHREIBE, WIRD GEGEN MICH VERWENDET WERDEN”.45
Damit wird Schreiben hinfällig – oder gefährlich. Im Traum antizipiert
die Erzählerin bereits ihren eigenen Tod: “und [ich] habe keine Angst
mehr davor. Ich empfand etwas wie einen kleinen Trost”.46 Erst nach dem
Durchgang durch den Tod tangiert die Autorin der Fiktion nicht mehr, was ihr
an Vorwürfen über den Ozean und über den Kontinent bis an die Westküste
nachgeworfen wird:47 “Ich war ja tot, das war gut, es betraf mich nicht”.48
Die eigene Abstumpfung wird ein probates Mittel, die “Gefahrenzone zu
überstehen. Sie zu durchqueren mit möglichst wenig Empfindung”.49
Person und Funktion werden hier nicht getrennt; ja, beides wird als inte-
graler Bestandteil des Selbst aufgefasst. Die Depotenzierung im literari-
schen Feld verarbeitet unsere Erzählerin deshalb als einen Anschlag auf ihr
Leben. Eben diese Überblendung macht es auch unmöglich, sich selbst in
einer Beobachtung zweiter Ordnung zu beschreiben, den Abstand der zwei
40
StE 261.
41
StE 201.
42
StE 202.
43
StE 214.
44
StE 232.
45
StE 232.
46
StE 237.
47
Vgl. StE 248.
48
StE 237.
49
StE 238.
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293
50
StE 197; vgl. 79, 258.
51
StE 81.
52
Vgl. StE 307.
53
Zur Diskussion der kontrovers gehandelten Zahlen vgl.: Süddeutsche Zeitung
12.8.2008. Hier werden 1303 Todesopfer genannt, die auf Fluchtversuche aus der
DDR in den Westen zurückgingen. http://www.sueddeutsche.de/politik/innerdeutsche-
grenze-opfer-an-der-mauer-1.582162 [Abruf am 5.11.2010].
54
Zitiert in: Die Zeit 29.1.1993. S. 52, eigener Kasten.
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bedroht, gejagt, beraubt und vernichtet”.55 Nun, in Stadt der Engel, zieht sie
die Parallele verhaltener; aufgegeben hat sie diese nicht. Aber sie sieht auch
die eigene Vertreibung aus dem heutigen Polen, der alten Heimat Landsberg
an der Warthe, in ein abweisendes und zerstörtes Nachkriegsdeutschland:
“und unsere Leiden als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen”.56
Der Blick soll sich zum Jahrhundertpanorama weiten – und darin die eigene
Verletzung, die Beschädigung des Werks, das so sehr an gelebte Biografie
geknüpft ist, kompensieren.
Tatsächlich ist Christa Wolf am Ende der DDR nicht mehr die
Staatsdichterin gewesen, die sie in jungen Jahren vielleicht hatte werden wol-
len.57 Ihre Biografie ist von offensichtlichen Brüchen begleitet. In einem Satz
aus dem Jahre 1958, ein Jahr vor ihrer Anwerbung zum ‘Geheimen Informator’
und anschließenden ‘Inoffiziellen Mitarbeiter’, heißt es noch: “Der Kampf
für den Sozialismus ist immer mehr zur einzigen Möglichkeit geworden, sich
konsequent menschliches Handeln und Denken zu bewahren”.58
So plan hat Christa Wolf späterhin den Staat DDR nicht mehr gestützt.
Sie hat sich, was ausführlich dokumentiert wurde, vielmehr scharfe Kritik
zugezogen und musste sich der Zensur beugen. Die politische Karriere der
Kandidatin des ZK der SED fand bereits 1967 ein abruptes Ende.59 Bekannt
geworden sind vor allem die Vorgänge um ihr Buch Nachdenken über
55
Fritz J. Raddatz: Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber.
Bemerkungen zu Heiner Müller und Christa Wolf. In: Die Zeit 29.1.1993. S. 51.
56
StE 405.
57
Vgl. Frauke Meyer-Gosau: Lebensform Prosa. Eine Wegbeschreibung von der
Moskauer Novelle zu Was bleibt. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 1994.
H. 46. Christa Wolf. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text +
kritik, 4. Aufl., Neufassung. S. 23-34. Hier: S. 23. – Der nachfolgende Text gibt,
mit kleinen redaktionellen Angleichungen, in Passagen den Wortlaut des Kapitels 4,
Unterkapitel: Aktengestöber im Leseland, meiner hier angeführten Schrift wieder:
Heinz-Peter Preußer: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa
Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln-Weimar-Wien: Böhlau
2000. S. 399–409. Der Begriff Legitimationsdiskurs, der auch hier verhandelt wird,
war Gegenstand des Projektes Zivilisationskritik als Legitimationsdiskurs. Spätere
DDR-Literatur im Kontext deutscher Kulturphilosophie. Mit einem Vergleich zivi-
lisationskritischer Literatur in Österreich, der deutschsprachigen Schweiz und
der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms
Differenzierung und Integration unter der Leitung von Horst Domdey, Mitarbeiter
Richard Herzinger und Heinz-Peter Preußer.
58
In: Neue deutsche Literatur 6 (1958). Zit. nach Hermann Kähler: Christa Wolf
erzählt. In: Weggenossen. Fünfzehn Schriftsteller der DDR. Hg. von Christel Berger
und Klaus Jarmatz. Leipzig: Reclam 1975. S. 214–232. Hier: S. 214.
59
Vgl. Magenau: Christa Wolf. Biographie [wie Anm. 11]. S. 132f., 136, 166,
172–191, 200, 204, 220, 222f.
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Dokumentiert in dem Band: Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und ‘Ästhetik’
der Behinderung von Literatur. Ausstellungsbuch. Hg. von Ernest Wichner und
Herbert Wiesner. Berlin: Literaturhaus Berlin 1991. S. 84–89. – Zum Zensurfall
Christa T. ist zudem ein eigener Band erschienen: Dokumentation zu Christa
Wolf. “Nachdenken über Christa T.” Hg. von Angela Drescher. Hamburg-Zürich:
Luchterhand 1991. Siehe auch: StE 112.
61
Gestrichen wurde auf den folgenden Seiten der Ausgabe Darmstadt-Neuwied:
Luchterhand 1983: S. 84, 97, 106, 108, 109, 112. Das entspricht den ausgelasse-
nen Stellen bei Aufbau: S. 110, 124, 135, 138, 139, 142. Die Auslassungen sind
dort durch “[. . .]” markiert. Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung. Berlin-
Weimar: Aufbau ²1984 [1983]. Die gestrichenen Stellen, allesamt aus der Dritten
Vorlesung der Voraussetzungen, wurden zu DDR-Zeiten wie Geheimkassiber
gehandelt. Mir liegt ein Kassandra-Exemplar vor, das in Schönschrift die ausgelas-
senen Passagen wiedergibt. Nach dem Ende des realsozialistischen Staates war die
Botschaft wertlos. Ich habe sie auf dem Ramsch erstanden. Die blassblauen einge-
legten Zettel finden sich wieder abgedruckt in Roswitha Skare: Christa Wolfs “Was
bleibt”: Kontext – Paratext – Text. Tromsø: Universitetet i Tromsø 2007. S. 259f.
Abrufbar unter: http://hdl.handle.net/10037/1412 [Abruf am 5.11.2010]. – Vgl.
Alexander Stephan: Christa Wolf. München: Beck ³1987. S. 217f. – Wichner/
Wiesner (Hg.): Zensur in der DDR [wie Anm. 60]. S. 107–109.
62
Christa Wolf: Der geteilte Himmel. Erzählung. Halle a.d.S.: Mitteldeutscher
Verlag 91965 [1963]. S. 288. Stefan Schütz ist (wie Thomas Brasch) nur durch
den Wechsel in die Bundesrepublik diesem Dilemma entkommen. Anders als
Wolf, Müller und Braun kann er (auch Brasch) in romantischem Antikapitalismus
schwelgen, ohne sich in Legitimationsfiguren für den Realsozialismus zu verren-
ken. Die Frage nach der legitimierenden Funktion kritischer DDR-Literatur ist
zuerst eine nach ihrer Institutionalisierung, nach den verschiedenen diskursiven
Rahmenbedingungen deutschsprachiger Literaturen. – Siehe dazu mein Buch:
Heinz-Peter Preußer: Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur dies-
seits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg: Winter 2003. Hier den Abschnitt
Funktionalisierungen zivilisationskritischer Bilder. S. 112–116.
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Im Grunde haben sie und andere verbittert, dass sich schon seit den sech-
ziger Jahren die Schere auftat zwischen den Vorstellungen der Partei und
denjenigen einer nachrückenden literarischen Intelligenz. Dass ihr Setzen
auf Partizipation an der Macht so desillusioniert werden musste, hat diese
Generation wohl nie verschmerzt.63 Ihr vormoderner, genuin romantischer
Anspruch war ja, in einem idealen Staat Geist und Macht zu versöhnen und
aus dem humanen Potenzial der Literatur heraus eine Gemeinschaft zu prä-
gen, welche die Partikularismen der bürgerlichen Gesellschaft kompensieren
könnte.64 Utopische Vision und konkrete Gestaltungsmöglichkeit liefen mit
der Entwicklungsgeschichte der DDR denn auch immer weiter auseinander.
Die Utopie verdünnte sich zu etwas Sphärischem, zur geheimen Ahnung einer
wissenden Schicht. Leiden an den realen Verhältnissen und deren radikale
Überbietung bedingten sich wechselseitig.65
Erst mit der Auflösung des Staates DDR war der Boden für die utopi-
sche Projektion entzogen. Eine Verbitterung dem Gang der Geschichte
gegenüber setzte sich durch. Vom Bedingungsverhältnis von Leid und uto-
pischer Überbietung blieb fast nur noch die Seite des Leidens zurück. Eine
Entwicklung, die vor allem Christa Wolfs Texte und Äußerungen nach der
‘Wende’ zu erkennen geben, und die für sich betrachtet kaum verständ-
lich sind. Die Wertungen verschieben sich. Die Situation der jetzigen
Bundesrepublik wird allemal schlimmer gesehen als die Vergangenheit in
der historisch gewordenen DDR. Man muss das nur konstatieren, nicht mora-
lisch aburteilen. Das ist im Literaturstreit um Christa Wolf bereits bis zur
63
Vgl. Heiner Müller: Germania 3. Gespenster am toten Mann. Mit einem lexikali-
schen Anhang, zusammengestellt von Stefan Suschke. Köln: Kiepenheuer & Witsch
²1996 [1996]. S. 53: “unsre / Tragödie, die Trennung von Wissen und Macht”.
64
Dazu Joachim Lehmann: Der Geist wird Macht. Zur Genealogie des deutschen
Tausendkünstler-Postulats. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches
Denken 46 (1992). H. 2. S. 200–209. – Ebenso Klaus Städtke: Zwischen staatli-
cher Förderung und Lesererwartung. Hat die Literarische Intelligenz in der DDR
versagt? In: Neophilologus 77 (1993). S. 457–466. Beide Aufsätze passim. – Siehe
auch Joachim Lehmann: Die blinde Wissenschaft. Realismus und Realität in der
Literaturtheorie der DDR. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Hier:
S. 223–228.
65
Frauke Meyer-Gosau setzt den Akzent anders. In Lebensform Prosa [wie Anm.
57] schreibt sie, bezogen auf den ersten und den letzten fiktionalen Prosatext
Christa Wolfs in der DDR, Moskauer Novelle und Was bleibt: “Die Versammlung
der Zukunftssüchtigen erscheint 1990 so gut wie 1961 als bereits konkrete
Utopie [. . .]. Die Bedrohung freilich, die Ende der fünfziger Jahre vor allem außen,
im friedens- und lebensfeindlichen Kapitalismus gesehen wurde, ist seit dem Ende
der siebziger Jahre nach innen gewandert.” (S. 25. Vgl. S. 33.)
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Erschöpfung geschehen.66 Die Illusionen, die sich die Autorin machte, hat-
ten bis zuletzt geholfen, ein System zu stabilisieren, das über keine demo-
kratische Legitimation verfügte. Ob das in ihrer Intention lag, ob sie sich zur
Widerstandskämpferin nur stilisierte oder sich tatsächlich (und berechtigter
Weise) so empfand, muss hier nicht entschieden werden.
Christa Wolfs Visionen sind stets im Kontext deutscher Kultur- und
Lebensphilosophie verblieben; ihr Katastrophismus aber ist nach dem
‘Untergang’ der DDR in die Nähe des Masochismus geraten. Das war zu real-
sozialistischen Zeiten und in der Tat bis 1989 anders. Auf dem Umschlag der
Aufbau-Ausgabe von Was bleibt sieht man die Tristesse einer neblig grau in
grau gehaltenen Häuserzeile, durch die sich – wie durch einen Schleier – eine
pastellfarbene Buntheit leise ankündigt. Die Straßenflucht selbst bringt kaum
eine Aufhellung, auch der Himmel ist in dem gleichen Ton gehalten. Aber er
ist eine freie Fläche, ein Projektionsrahmen, wenn man so will, ein Trichter
ins Freie und Offene. Dort steht, auch das kein Zufall, der Titel: Was bleibt.
Das Bild könnte als Allegorie betrachtet werden. Auf dem Boden der DDR-
Realität kann erst entstehen, was als Vision die schlechte Gegenwärtigkeit
überhöht. Die Hoffnung lebt. Sie durchbricht das Grau so, wie das lebendige
Wachsen sich gegen die Versiegelung wehrt, sie aufsprengt.67
Nach diesem Muster entstehen bei Christa Wolf Sinnfüllungsmodelle. In
deren Zentrum entwickelt sie das Bild ‘idealer’ Gemeinschaften. Geistige
Führerschaft geht in die Sozietät über. Das galt bereits für Kassandra. Häufig
überträgt die Autorin solche erfüllten Augenblicke ins Umfeld eines literari-
schen Zirkels. So auch in Was bleibt. Unter dem Druck von Observation und
Intrige schildert sie eine Lesung, die erst nach Mühen zustande kam. Noch
einmal ist die Dichterin in der Position des Präzeptors; und in der Aufhebung
dieser Funktion glaubt sie sich sogleich am Ziel. Die Ich-Erzählerin schirmt
ab vor dem Zugriff des Staates, moderiert, hält schützend die Hand über die
Lesergemeinde, die sich doch eigentlich selbst artikulieren soll: ‘nicht mehr
66
Vgl. Chaim Nolls und Frank Schirrmachers Nachträge zu dem Band von Anz “Es
geht nicht um Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 252f. und 256f. Die Texte, allesamt
ohne eigenen Titel, sind versammelt unter der gemeinsamen Aufschrift: Der Streit
geht weiter. Neue Stellungnahmen zur Debatte (ebd. S. 241–260).
67
Vgl. Skare: Christa Wolfs “Was bleibt” [wie Anm. 61]. S. 80f., 250. Siehe auch
ebd. S. 251–258. In Bibliotheken zugänglicher (wenngleich nicht so umfangreich
und nur schwarzweiß illustriert) dürfte die Fassung sein, die unter demselben Titel
2008 erschienen ist beim LIT-Verlag in Berlin und Münster, dort die Seiten 105–
107. Dem Buch liegt eine CD-ROM bei mit Ergänzungen der farbigen Abbildungen
in einer „Bildergalerie“. – Vgl. weiterhin meinen Beitrag: Die verletzliche
Natur. Adam Müllers politische Romantik und die spätere DDR-Literatur. Eine
Parallelkonstruktion. In: Linker Kitsch. Bekenntnisse – Ikonen – Gesamtkunstwerke.
Hg. von Bettina Gruber. München: Fink 2012 (im Erscheinen).
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für andere sprechen müssen’. Schweigen kann die Erzählerin, weil sich von
selbst spricht, was gesagt werden muss. Ihre Botschaft ist angekommen,
reproduziert sich aus sich heraus. Das ‘Leseland’ DDR feiert in Was bleibt
seinen vielleicht letzten und unfreiwillig komischen Triumph.68
In Sommerstück leistet die Erinnerung, das grelle Idyll zu mildern. Weil es
unrettbar, unwiederbringlich ist, wird das Vergangene kostbar; ein Schatz, den
es zu bewahren gilt und der das Fundament einer besseren Zukunft sein soll.
Der Abschied ist nicht resignativ. “Jetzt [. . .] herrscht über das Leben wieder
die Erinnerung. / Es sollte nicht sein. / Damals, so reden wir heute, haben wir
gelebt”.69 Im Schreiben übermittelt sich, was in der Lebensaugenblicklichkeit
nicht einzufangen wäre, sondern nur zu empfinden: ”Und wenn der Rest
unserer Tage auf diesen Tag zusammenschmolz – heute lebten wir, wie man
leben soll, und darauf kam es an”.70 Eine Kulturgemeinschaft flüchtet vor der
schlechten Realität der DDR aufs Land, verlebt dort einen Sommer, schön
und traurig. Wissend um die Trennung von Stadt und Land, die sich kaum in
einem Willensakt würde aufheben lassen, genießen die Figuren – auch hier –
als Randexistenzen und Außenseiter ein Leben als ob. Ihr Alltag müsste
anders, grundverschieden sein von den herkömmlichen Abläufen: “Wo doch
hier das wirkliche Leben ist. Ihr werdet sehen”.71
Einfachheit, Nähe, Wärme und Glück sind Erfahrungen, die nur noch
das Refugium auf dem Lande zuzulassen scheint.72 Mit der Akzeptanz des
Naturzyklischen, mit der Legitimation des Lebens aus sich selbst heraus,
schwindet der universalistische Anspruch, der auf den modernen Individuen
lastet. Ein Rückzug ins Private scheint sich hier zu offenbaren, der die
Angelegenheiten des Staates, sein mechanisches Funktionieren, im Geiste
der Romantik als seelenloses Mahlwerk verachtet. Die Literaturkritik, gerade
im Westen, hat diese Tendenz vor dem deutsch-deutschen Literaturstreit
beschrieben als inhaltliche Loslösung und ästhetische Autonomisierung.
Zunehmend entferne sich Prosa und Essayistik Christa Wolfs von den
68
Vgl. Arker, der von einer “Überfrachtung” der Szene mit “einer Semantik des
Religiösen” spricht und dennoch alles daran setzt, einen schlechten Text gegen seine
Kritiker zu verteidigen: “messianisch dürfte die utopische Fest-Stimmung genannt
werden, eine Mischung aus ‘Brüderlichkeit’ und kreisbildendem Wir-Gefühl”.
Dieter Arker: “Was bleibt. Was meiner Stadt zugrunde liegt und woran sie zugrunde
geht”. Anmerkungen zu Christa Wolfs Erzählung Was bleibt. In: Text + Kritik 46
[wie Anm. 57]. S. 88–99. Hier: S. 96, 99, Fn. 10.
69
Christa Wolf: Sommerstück. Frankfurt a.M.: Luchterhand 1989. S. 7.
70
Ebd. S. 156.
71
Ebd. S. 11.
72
Ebd. S. 73.
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73
Einen Überblick über die literaturgeschichtliche Einordnung der kritisch-loyalen
DDR-Literatur geben Richard Herzinger und Heinz-Peter Preußer: Die Resistenz
der Bilder. Literatur als kulturphilosophische Kritik der Modernisierung. Aspekte
einer Neubewertung der DDR-Literaturgeschichte. In: Wirkendes Wort. Deutsche
Sprache und Literatur in Forschung und Lehre 43 (1993). H. 1. S. 121–144. Hier:
S. 123–125.
74
Christa Wolf: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und
Gespräche 1959–1985. Auswahl: Angela Drescher. Darmstadt-Neuwied:
Luchterhand 1987. S. 496. – Manfred Jäger bemerkt in seinem Aufsatz: Rauschgift-
Lektüre. Zu Christa Wolfs Literatur-Vorstellungen, nach dem Wiederlesen eines
sehr alten Aufsatzes. In: Text + Kritik 46 [wie Anm. 57]. S. 35–47: “Christa Wolf
blieb auf der Seite der Kulturbringer”. “Zu ihrer Vorstellung von ‘wahrer’ oder
‘guter Literatur’ gehört, daß sie zum Kanon des Wertvollen zählt oder wenigstens
den Anspruch darauf erheben kann” (S. 45, 43). Der “antiwestliche Affekt gegen
die ‘amerikanische Unkultur’” habe bis in die jüngste Vergangenheit hinein “tiefe
Spuren [. . .] hinterlassen” (S. 44). Vgl. die bei Jäger zit. Passage aus Wolf: Auf dem
Weg nach Tabou [wie Anm. 5]. S. 56 [entstanden 1990]: “Bei uns will jedes Kind
sich erst einmal an Coca-Cola satt trinken und an Donald-Duck-Heften satt lesen”.
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Vgl. Karl Heinz Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur. Deutsche
Zeitschrift für europäisches Denken 44 (1990). H. 10/11. S. 1015–1018. – Siehe
auch Städtke: Zwischen staatlicher Förderung und Lesererwartung [wie Anm. 64].
Hier: S. 460.
76
Siehe dazu etwa die kritische Würdigung von Lothar Müller: So viel Inbrunst,
ganz zerrissen. Der gesamtdeutsche Erfolg des Individuums: Christa Wolf feiert
heute ihren achtzigsten Geburtstag. In: Süddeutsche Zeitung 18.3.2009.
77
Vgl. Antonia Grunenberg: Antifaschismus – Ein deutscher Mythos. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt 1993.
78
Christa Wolf: Reden im Herbst. Berlin-Weimar: Aufbau 1990. S. 116.
79
Ebd. S. 171.
80
Ebd. S. 117.
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lasse “wie ein Versorgungsnotstand oder ein Reisedefizit”.81 Wolf will ‘Werte’
restituieren und befürchtet die Aufzehrung von Substanz.
Wie sollte der Verfall aufgehalten werden? Das Modell liefert, naturge-
mäß, die Kundgebung auf dem Alexanderplatz 1989: “Am 4. November
haben wir einen schönen und hoffentlich für die Zukunft wichtigen Moment
erlebt während einer großen Demonstration hier in Berlin, zu der Künstler
aufgerufen hatten”. Die Szene ähnelt bis ins Detail der Dichterlesung in Was
bleibt. Der Künstler moderiert, das Volk artikuliert sich und kommt – durch
die Vermittlung des Künstlers – zu sich selbst: “Es waren Menschenmassen
auf der Straße, die sich souverän, kritisch, zugleich aber auch beinahe hei-
ter verhielten. Obgleich vorher Angst herrschte”.82 Der volkspädagogische
Auftrag ist erfüllt, der Künstler an seinem Ziel, seiner Selbstenthebung durch
das Leben, angekommen. Hier ist “der Punkt der größtmöglichen Annäherung
zwischen Künstlern, Intellektuellen und anderen Volksschichten” erreicht,
ihr “Zusammengehen”. Dabei handelte es sich nach Christa Wolf nicht
um “das Zufallsprodukt eines glücklichen Augenblicks”, sondern um den
“Kulminations- und Höhepunkt einer Vorgeschichte”.83
Der Sozialismus hat sich zu einem “massenhafte[n] Gespräch” aller mit
allen transformiert.84 Die Verkäuferin redet auf einmal “über Stadt- und
Staatsangelegenheiten”, und Christa Wolf sieht deshalb “Brechts Stück von
der Pariser Kommune” Realität werden.85 “Man fing schon an, das für nor-
mal zu halten”, was, wie beschrieben, nicht funktionieren kann. “Und das
geht quer durch die Institutionen, es geht natürlich auch weit hinein in die
sozialistische Einheitspartei. Viele Mitglieder der Partei sind stark beunruhigt
und wollen genau wie alle anderen versuchen, die DDR zu erhalten”.86 Als in
der fernen Sowjetunion der Hallenser Madrigalchor von Christa Wolf persön-
lich über den friedlichen Verlauf der Leipziger Großdemonstrationen unter-
richtet wird, begreift die Autorin gleich, “warum diese jungen Leute aus der
DDR jetzt singen mußten”: Um “ihrer Freude” Ausdruck zu verleihen,
tragen sie den “Hunderten von Fluggästen” “O Täler weit, o Höhen” vor.
“Sehr deutsch, sicherlich”, kommentiert Wolf, aber doch ein erhebender, ein
“[u]nvergeßlich[er]” Augenblick.87
81
Ebd. S. 95, 100.
82
Ebd. S. 132.
83
Ebd. S. 158f. Vgl. ebd. S. 139. – Siehe auch StE 262, 411.
84
Wolf: Reden im Herbst [wie Anm. 78]. S. 78.
85
Ebd. S. 15.
86
Ebd. S. 81. – Vgl. StE 411.
87
Wolf: Reden im Herbst [wie Anm. 78]. S. 11.
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In Stadt der Engel singt die Autorin selbst, um sich im Augenblick höchs-
ter Not88 zu erhalten. Es sind Lieder von der Romantik bis zum Spanischen
Bürgerkrieg und vor allem deutsches, urdeutsches Liedgut,89 für das sie sich
in den Reden im Herbst noch meinte entschuldigen zu müssen. Was sie ein-
sam intoniert, trägt doch den Bezug auf Gemeinschaft virulent in sich. Die
Icherzählerin vergewissert sich in der eigenen Sprache ihrer Zugehörigkeit
zum Gesamt des Sprachraums. Nicht zufällig schließt ihr bunter Reigen mit
Schillers Ode An die Freude – in Beethovens Vertonung als 4. Satz der 9.
Sinfonie: “Freude, schöner Götterfunken”. Der Leser soll ergänzen, dass die-
ser “Kuß der ganzen Welt” gehört, die “Millionen” “umschlungen” werden,90
auch wenn der Impuls nicht aus einer Euphorie hervorbricht, sondern aus
tiefster Depression. Die ersten Strahlen des neuen Tages allerdings verhei-
ßen die symbolische Wiedergeburt, lassen unsere fiktionale Autorin endlich
zur Ruhe kommen und schlafen.91 Wenig später ist sie wieder hergestellt und
singt nun, wieder trotzig, die Lieder der sozialistischen Internationale – aus
dem Inventar der “Ernst-Busch-Platten”.92
“KEIN ANDERES FLECKCHEN ERDE AUF DIESER WELT” hat die
Ich-Erzählerin “SO INTERESSIERT WIE DIESES LÄNDCHEN”, dem sie
“EIN EXPERIMENT ZUTRAUTE”. Nun, das ist die Summe des nostalgi-
schen Anflugs wie der gelebten Biografie, sei es “MIT NOTWENDIGKEIT
GESCHEITERT”.93 “Die Hoffnung verkam, die Utopie zerbröckelte, ging
in Verwesung über. Wir mußten lernen, ohne Alternative zu leben”.94 Die
DDR, “unser Land” hingegen hat die fiktionale Autorin geliebt als Projektion:
“nicht, wie es war, sondern wie es sein würde”.95 Nun aber herrschen “Häme,
Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot”.96 Die Texte der Wende waren
“getränkt [. . .] von Hoffnung”; so auch der Appell “Für unser Land” –
“Hoffnungen, die man wenig später Illusionen nennen mußte”.97 So kann der
fiktionalen Autorin in Los Angeles, der Stadt der Engel, auch nur noch ein
88
Vgl. StE 308.
89
StE 249f.
90
Friedrich Schiller: An die Freude. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard
Fricke und Herbert G. Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
91993. Band 1. S. 133–136. Hier: S. 133, Zeilen 1, 9f.
91
StE 251.
92
StE 271.
93
StE 289.
94
StE 258; vgl. 316.
95
StE 258.
96
StE 411; vgl. 294.
97
StE 266.
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Engel beispringen, der sie zur Genesung führt: Angelina, “die schwarze Frau
aus dem MS. VICTORIA”.98
Stadt der Engel ist ein Buch des Abschlusses. So findet sich, neben vie-
len Wiederholungen, Selbstzitaten, Reminiszenzen auch eine an Kassandra,
hier die Frage, was denn den “Späteren” wohl “einfallen wird, wenn sie an
uns denken”.99 “Vielleicht”, antwortet Peter Gutman, Alter Ego der fikti-
onalen Autorin, “wird man sagen, sie haben zuletzt ohne Illusionen, aber
nicht ohne Erinnerung an ihre Träume gelebt. An den Wind Utopias in den
Segeln ihrer Jugend”.100 Die Ich-Instanz will das gern glauben, kommt aber
zu einem nüchternen Resümee: “DU BIST DABEI GEWESEN. DU HAST
ES ÜBERLEBT[.] Es hat dich nicht kaputtgemacht. Du kannst davon
berichten”.101
Kritik als Loyalität ist ein Gestus, der das Ende der DDR schon mehr als
zwei Jahrzehnte überdauert hat. Das ist der befremdliche Befund, den erst
Wolfs letztes Buch so deutlich hervortreten lässt. Der Titel meines Beitrags
beschreibt demnach kein Oxymoron, sondern ein Bedingungsverhältnis. Es
ist auch keine additive Konjunktion, die das Gegensätzliche verbindet,
sondern beide Teile bilden das Amalgam der moralisch Integren in diesem
Land DDR – eben das macht den Sachverhalt so schwierig.
Die Entwertung Wolfs war hart und selten fair. Aber sie erledigte nicht,
wie es die Debatte über die “Gesinnungsästhetik” insinuierte,102 gleich
alle engagierten, linken Intellektuellen. Günter Grass hat bekanntlich den
Nobelpreis für Literatur erhalten, auf den sich auch Wolf Hoffnungen
machen durfte – vor 1990. Nobel erklärte Grass, er hätte den Preis 1999
gern geteilt mit Wolf – als Zeugnis der gesamtdeutschen Literatur – was
aber nicht möglich gewesen sei.103 Dass Christa Wolf, im Wendeherbst, “in
der DDR auch ohne Nobelpreis nobilitiert und unangreifbar geworden war”,
wie Magenau schreibt, hat hingegen ihre Position im literarischen Feld –
nicht nur des Westens – nachhaltig zerstört. “Der Staat suchte schmeichle-
risch ihre Nähe, um sich mit ihr zu schmücken und die eigene Schwäche zu
kaschieren”.104 Erst danach trat sie an die Öffentlichkeit – als Sprecherin der
98
StE 326.
99
Christa Wolf: Kassandra. Erzählung. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand 1983.
S. 150.
100
StE 317.
101
StE 214.
102
Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. – Noch einmal: Christa
Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: “Es geht nicht um
Christa Wolf” [wie Anm. 6]. S. 208–216. Zuerst in: Die Zeit 2.11.1990.
103
Vgl. Magenau: Christa Wolf [wie Anm. 11]. S. 446.
104
Ebd. S. 366.
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Bürgerbewegung, zu der sie erst spät stieß. Es ist diese Verquickung, die sich
im Juni 1990 als Angriff auf ihr Werk und ihre Person entlud. Als der unter-
schwellige Legitimationsdiskurs, der immer im Werk mitschwang, 1989 prak-
tisch werden wollte, folgte die Kritik auf dem Fuß. Seit dieser Demontage
haben wir auf ein gelungenes Werk Christa Wolfs gewartet – und auf eines,
das diesem Zirkel der Kritik als Loyalität entkommen wäre. Auch Stadt der
Engel, ihr letztes Werk, löst diese Erwartungen nicht ein.105
105
Daran ändert auch nichts, dass Wolf im Oktober 2010 den Thomas-Mann-Preis
erhalten und von Grass wiederum für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht wurde.
Vgl. die entsprechende dpa-Meldung unter: http://www.rhein-zeitung.de/magazin_
artikel,-Christa-Wolf-mit-Thomas-Mann-Preis-ausgezeichnet-_arid,153769.html
[Abruf am 5.11.2010]. Die ersten Rezensenten schätzten das Werk zum Teil deut-
lich wohlwollender ein. Vgl. etwa Michael Opitz: Auf dem Zenit ihres Könnens.
Deutschlandradio Kultur 26. 6. 2010. Der Text unter http://www.dradio.de/kultur/
sendungen/kritik/120781/ [Abruf am 5.11.2010]. Von Opitz auch ein entsprechen-
der Beitrag im vorliegenden Band. Ähnlich der Tenor einer Lesung in Leipzig.
Siehe dazu Janina Fleischer: Christa Wolfs neuer Roman. In: Leipziger Volkszeitung
17.6.2010. Unter LVZ-Online siehe: http://nachrichten.lvz-online.de/kultur/news/
christa-wolfs-neuer-roman-stadt-der-engel-oder-the-overcoat-of-dr-freud/r-news-a-
35829.html [Abruf am 5.11.2010]. Emphatisch lobend auch Simone Dattenberger:
Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. In: Münchner Merkur 19.6.2010. Unter:
http://www.merkur-online.de/nachrichten/kultur/wahrheit-nichts-wahrheit-809756.
html [Abruf am 5.11.2010]. Anerkennend äußert sich auch Richard Kämmerlings:
Mein Schutzengel nimmt es mit jedem Raumschiff auf. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung 18.6.2010. Im Netz zu finden unter: http://www.faz.net/artikel/C30347/
christa-wolf-stadt-der-engel-oder-the-overcoat-of-dr-freud-mein-schutzengel-
nimmt-es-mit-jedem-raumschiff-auf-30273440.html [Abruf am 5.11.2010].
Deutlich kritisch hingegen Heinrich Thies: Christa Wolf über sich und die Stadt
der Engel. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 15.6.2010. Unter: http://www.haz.
de/Nachrichten/Kultur/Buecher/Christa-Wolf-ueber-sich-und-die-Stadt-der-Engel
[Abruf am 5.11.2010]. Eine „literarische Enttäuschung“ konstatiert auch Lothar
Müller: Ich habe Margarete vergessen. In ihrem Roman Stadt der Engel unterwirft
Christa Wolf ihre literarische Phantasie der Kontrolle durch Politik und Moral. In:
Süddeutsche Zeitung 19./20.6.2010. Eine Übersicht wichtiger Besprechungen findet
sich zudem unter: http://www.complete-review.com/reviews/ddr/wolfc3.htm [Abruf
am 5.11.2010].
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IV. Lektüren
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Stephan Krause
Die Skizze des Ortes Bergwerk bei Franz Fühmann, die dieser Beitrag anbie-
tet, zeigt eine Ortsbeschreibung, in der ‚Topo-Graphie‘ wörtlich verstanden
wird. In Fühmanns unter dem Titel Im Berg erschienenem Fragment werden
bedeutsame poetologische Fragen thematisiert, die eng mit dem fragmenta-
rischen Charakter des Bergwerktextes zusammenhängen und mit denen sich
der Text noch (und gerade) in seiner Fragmentarizität auseinandersetzt. Die
Möglichkeit der Einbettung in Kontexte weit über die reichlich eingeeng-
ten der DDR hinaus, bestimmt sich unter Berücksichtigung der mythischen
Dimensionen des Bergwerkes auch von der Unvollendetheit des Textes her.
Mithin scheinen weniger die hypothetischen Überlegungen zu seinem vollen-
denden (und vollendeten) Abschluss ergiebig zu sein. Fragestellungen aber,
mit denen sich vom Ort unter Tage her die Anlage Bergwerk – als Erzgrube
wie als Text – beschreiben lässt und in denen die vorhandene Anlegung
des Textes berücksichtigt wird, bergen den Vorteil, ihn sowohl von der
Diskursivität (auch der aktuell möglichen) als auch einer potentiellen diskur-
siven Inkommensurabilität her zu untersuchen. Es lässt sich daran trotz seiner
Fragmentarizität eine Widerstandsfähigkeit beobachten, die auffällig bleibt,
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auch wenn der Abbruch des Bergwerkprojektes noch “dem Abgrund dem
Schweigen / Das der Protagonist meiner Zukunft ist”1 ähnlich zu sein scheint,
von dem in Müllers Ende der Handschrift die Rede ist. Müllers spätes Gedicht
bezieht sich nicht direkt auf Fühmanns Bergwerkfragment. Doch verfassen
die Verse den Abbruch eines Schreibens und den Beginn von Unlesbarkeit,
in der den schriftlichen Zeichen kein Sinn mehr zuordenbar ist, da ihre
Zeichenhaftigkeit in Frage steht. Der Abbruch des Bergwerkes bei Fühmann
lässt sich damit vielleicht insofern in Zusammenhang bringen, als es sich um
keine absichtliche Fragmentierung handelt, sondern um Unabschließbarkeit.
Dem steht beispielsweise die von Gewissheit erfüllte Äußerung von
Christa Wolf in Karlheinz Munds Fühmann-Film Das Bergwerk2 gegen-
über, der Bergwerktext hätte, fertiggestellt, dieses Jahrhundert irgendwie
aufgerissen und Fühmann hätte den Bruch von 1989 gebraucht, um das
Bergwerk zu schaffen. Dieser 19923 wahrhaft vergeblichen Hoffnung auf
und der Gewissheit um den, hätte es ihn gegeben, erfolgreichen Abschluss
wohnt jene Vorstellung als Vorgabe einer Vollendung inne, von der ausge-
hend sich die Auseinandersetzung mit Franz Fühmanns unabgeschlosse-
nem Text Im Berg allzu oft vollzieht.4 Die Fiktion vom Ende, das der Text
1
Heiner Müller: Ende der Handschrift. In: Ders.: Werke: Bd. 1. Die Gedichte. Hg.
von Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. S. 322. Norbert Otto Ekes
Thematisierung und Kontextualisierung des Müller-Verses “Nach der Mauer der
Abgrund” aus Glückloser Engel 2 (Heiner Müller: Glückloser Engel 2. In: Ders.:
Werke: Bd.1, S. 236) in diesem Band ruft ausdrücklich die Frage nach einem Weiter
auf, die Müllers Gedicht anspricht. Die Fühmann’sche Seilfahrt ins Bergwerk hier
unmittelbar anzuschließen, erwiese sich als Kurzschluss, zumal das Bergwerk zwar
als hadesnaher Ort erscheint, nicht jedoch als Abgrund. Die Tiefendimension bleibt
zwar unergründlich, aber eben aufgrund ihrer erdgeschichtlichen Dimension.
2
Karlheinz Mund (Regie / Buch): Das Bergwerk – Franz Fühmann. Deutschland
1998 (Provobis/A Jour Film/mdr). Erstaufführung am 15.10.1998.
3
Munds Film stammt von 1998, Wolfs Aussage ist jedoch, wie im Film zu erkennen
ist, älter.
4
Vgl. hierzu u.a.: Marcel Beyer: Berggeschrei. Franz Fühmanns Bergwerk-Projekt.
In: die horen 49.[216] (2004). S. 97–114. – Sigrid Damm: “Am liebsten tät ich
auf die Straße gehen und brüllen” – zu Franz Fühmanns “ Im Berg”. In: Franz
Fühmann. Es bleibt nichts anderes als das Werk. Ausstellung der Stiftung Archiv
der Akademie der Künste. Hg. von Barbara Heinze. Berlin: Akademie der Künste
1993 (Ausstellungskatalog). S. 8–15. – Lothar Köhn: Franz Fühmanns Fragment Im
Berg. In: La mine dans la civilisation et la littérature allemandes. / Der Bergbau
in Kultur und Literatur des deutschen Sprachraums. Hg. von Paul Colonge.
Villeneuve d’Ascq: Université Charles de Gaulle [Lille] 1995 (Germanica 16).
S. 83–93. – Lothar Müller: Schichtende. Über Franz Fühmanns Fragment “Im Berg”.
In: Literaturwissenschaft und politische Kultur. Für Eberhard Lämmert zum 75.
Geburtstag. Hg. von Winfried Menninghaus u. Klaus R. Scherpe. Stuttgart: Metzler
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in das Weiß einer unbeschriebenen leeren Seite nach dem Abbruch verlegt,
bestimmt, ohne dass die Vollendung existierte, vielfach die Einschätzung
und die Lesarten zum Fühmann’schen Bergwerk. Fast bar einer Reflexion
des vorhandenen anspruchsvollen Textes und ohne eine kritische Diskussion
seiner Abgebrochenheit oder seines fragmentarischen Zustands wird seine
Bedeutung oft auf die fehlende Vollendung festgelegt, so als könne am ehe-
sten das Nicht-Geschriebene die Bedeutung des Textes vorgeben oder gar
erschließen.
Dass sich im Bergwerktext weitaus mehr an poetologischer Reflexion und
an intertextueller Aufladung finden lässt, als dies je die Zuspitzung auf den
Textabbruch offenlegen kann, wird im Folgenden aufgezeigt.
In ein Bergwerk einzufahren bedeutet, sich in den Untergrund von (poe-
tisch) zunächst schweigsamer Finsternis zu begeben. Wer hinabfährt in die
Grube, dringt ein in den unergründlichen Bereich einer Urgeschichte und
zugleich von Urschichten, gerät in Gegenden, deren zeitliche Dimensionen
der Entstehung und Ergründung5 sich dem Betrachter nur amorph und
spröde zeigen. Wer als schatzgräberischer Entdecker dorthin kommt, findet
sich bei Fühmann aber nicht in den romantischen Gewölben einer reichen
Höhle wieder, sondern im gleißend kalten Neonlicht eines unterirdischen
Verschiebebahnhofs6 voller polternder Kipploren, beladen mit ausgebro-
chenem Erz oder mit taubem Gestein, das die Haldengebirge über Tage
anwachsen lässt. Dort unten findet sich das Kupferflöz, von dessen rötlich
geworfenen Adern auch die Unterwelt in Rilkes großem Poem Orpheus.
1999. S. 77–99. – Gänzlich anders, letztlich gegen ein bloßes Scheitern, argumen-
tiert etwa Richter in der – abgesehen von Heinzes umfangreichem Materialband –
nach wie vor einzigen brauchbaren Fühmann-Biographie: Hans Richter: Franz
Fühmann – Ein deutsches Dichterleben. Berlin: Aufbau 1992. Hier besonders: S. 23ff. –
Außerdem: Ursula Püschel: Franz Fühmann im Berg. In: Neue deutsche Literatur
40.1 (1992). S. 149–155.
5
So heißt es über den Zusammenhang von Tiefendimension und geologischer
Entstehungsdauer: “und über mir tausend Meter Gestein, das waren zweiundzwan-
zig Jahrzehntmillionen eines beharrlichen Mühens der Erde sich aus Magma und
Meer zu heben” (Franz Fühmann: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß. Hg. von Ingrid
Prignitz. Rostock: Hinstorff 21993. S. 23).
6
Die künstliche Beleuchtung wird gleich zu Anfang erwähnt: “Alles Licht ist
Kunstlicht, mitunter zwar gleißend”. Ebd. S. 9. Der unterirdische Bahnhof ist der
erste Ort, den der Erzähler im Bergwerk betritt. Er ist sich nicht sicher, ob er sich
im Berg befindet: “Gleise, Bogenlampen, Züge, Gemäuer, Stufen, Verkehrsampeln,
Drehscheiben, Weichen –: ein Werkbahnhof bei künstlichem Licht. – Waren wir im
Berg? – Was ich nicht sah, war Fels” (ebd. S. 19).
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Eurydike. Hermes7 durchzogen ist. Dieses Flöz ist dem ungeschulten Auge
ununterscheidbar vom übrigen, tauben Gestein:
Zwischen Liegendem und Hangendem das Flöz, das wir abbaun, Kupferschiefer,
siebenundzwanzig bis achtunddreißig Zentimeter mächtig [. . .]. Der Bergmann
unterscheidet im Flöz abermals fünf Schichten: Feine Lette, Grobe Lette,
Kammschale, Kopf und Schwarze Berge, so die Stufenfolge von unten nach oben,
und zwischen diesen Lagen noch besondere Nähte; ich habe lange Zeit gebraucht,
das Flöz vom Fels zu unterscheiden, ich sah beides als grauschwarzes Gestein.8
7
Rainer Maria Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes. In: Ders.: Werke. Kommentierte
Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hg. von Manfred Engel u.
Ulrich Fülleborn. Frankfurt a.M.: Insel 1996. S. 500–503.
8
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 14.
9
Vgl. die Episode, in der der Erzähler ein Dampfbad besucht und sich dort bei-
nahe verirrt. Besonders auffällig ist die labyrinthische Textgestalt: Franz Fühmann:
Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Ders.: Werkausgabe: Bd. 3.
Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte
des Lebens. Rostock: Hinstorff 1993. S. 281–506. Hier: S. 333–342.
10
In einer Tagebuchskizze ähnelt der Anblick entgegenkommender Bergleute dem
von Zyklopen: “alles aus dem Mythos nehmen – Kopflampen = die Einäugigen – /
Die Vier, die aus dem Flachen uns entgegenkamen – unwillkürlich Respekt, unbe-
kannt, und mit Kopflicht aus dem Dunkeln scheint der Mensch bedeutend größer –”.
Tagebuchnotiz Fühmanns vom 22.04.1975. Akademie der Künste (AdK) Berlin.
Franz-Fühmann-Archiv (FFA) Nr. 35/2. S. 8f.
11
Vgl. hierzu: “Alles Licht ist Kunstlicht, mitunter zwar gleißend [. . .], aber die-
ses Licht reicht nicht weit in die Grube, ein paar Meter Fahlnis zwischen Lampe
und Lampe, und wo die Zentralbelichtung endet, wird die Finsternis nur noch von
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dem Licht durchschlagen, das jeder auf seinem Schutzhelm trägt” (Fühmann: Im
Berg [wie Anm. 5]. S. 9). Vgl. dazu auch folgende Stelle im Nachlass: “Lampe
wirft einen Schein um dich dein Daheim, dein Kreis dahinter Mauern aus
Dunkelheit, etwas Samtartiges, ein Innenraum ohne sichtbare Mauern – daher dieses
Anheimelnde, das ist es!! Soweit das Licht scheint, schiebt sich diese Mauer lautlos
zurück und naht dann wieder, so schwebt die Erde im schwarzen All, so schwebt
das Bewußtsein im Unbewußten –” AdK Berlin. FFA Nr. 35/2. SA A21.
12
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 23.
13
Diese Erläuterungen werden im Text zu Anfang gegeben und stellen somit die
sprachliche Einfahrt ins Bergwerk dar. Die erste Lektion Bergmannssprache sei
“sofort ins Prinzipielle” (ebd. S. 9.) gelaufen. Referiert wird an jener Stelle ein
Gespräch zwischen dem (schriftstellerischen) Erzähler und einem Bergmann über
den ‘richtigen’ (Fach-)Sprachgebrauch, der – insbesondere von dem Bergmann –
nach Wahrheit und Lüge gemessen wird.
14
Ebd. S. 11.
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zeigt sich auch an der Schwierigkeit, unter Tage den eigenen Aufenthaltsort
im Verhältnis zur oberirdischen Topographie zu bestimmen.15
Die Seilfahrt in den Schacht führt im Bergwerkbuch in etwa 1000 Meter
Teufe.16 Die Grube ist in Felder aufgeteilt, die nach den Himmelsrichtungen
benannt sind, in denen sie sich bezogen auf den Schacht befinden. Doch eine
genaue Bestimmung des Ortes bleibt damit noch immer schwierig – und soll
für den empirischen Ort des Textes gar gänzlich ausbleiben. Die Fahrt unter
Tage – ob in der Grubenbahn oder zu Fuß, der Bergmann ‘fährt’ immer17 –
bemisst sich eher an der vergangenen Zeit als durch ein Entfernungsmaß. Was
bleibt, ist die Bewegung in den Streben und Strecken, deren Verlauf zu fol-
gen ist. Somit erscheint die im Bergwerktext aufgeworfene Frage nach dem
Wo unter Tage in Bezug auf die Anlagen und Örtlichkeiten über Tage als
sehr berechtigt, wenngleich sie freilich eine eher abstrahierende Betrachtung
der Gesamtanlage des Bergwerkes in einer Art gedachtem Saigerriss impli-
ziert. D.h., die Hauptdifferenz der Ortsbestimmung unter Tage zu der über
Tage besteht darin, dass der in einer Landschaft mögliche Rundblick und
die Abschätzung von Entfernungen oder Lagen in der Grube unmöglich
ist. Vielmehr erfolgt eine Bestimmung des eigenen Ortes in Bezug auf das
Über Tage, also nicht in horizontaler Dimension, sondern vertikal, da die
Horizontale ja optisch ohnehin durch die Reichweite des Lichtes begrenzt ist.
Den eigenen Ort so nicht selbständig erfassen zu können, son-
dern auf die Aussagen der Bergleute angewiesen zu sein, gehört zu den
Grunderfahrungen, die der Bergwerktext verschiedentlich enthält: “Ich hatte
längst jede Orientierung verloren”,18 bekennt der Erzähler und muss sich
15
Vgl. dazu: “Ich hatte nur eine Dimension, die der Höhe, hinauf zum Tageslicht: Wir
gruben in neunhundert Meter Tiefe, und August verriet mir, wo wir uns befanden:
direkt unterm Ambulatorium!” (ebd. S. 107).
16
Bergmannssprache für ‘Tiefe’ (in der Grube). Vgl.: Julius Dannenberg u. Werner
Adolf Frantz: Bergmännisches Wörterbuch. Verzeichniß und Erklärung der bei
Bergbau, Salinenbetrieb und Aufbereitung vorkommenden technischen Ausdrücke.
Nach dem neuesten Stande der Wissenschaft, Technik und Gesetzgebung. Leipzig:
Brockhaus 1882. Dieses relativ alte Werk bietet noch immer einen sehr umfas-
senden Einblick in die Lexik der Bergmannssprache. In Fühmanns umfangreicher
Sammlung (Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB), Sammlung Fühmann)
sind beispielsweise auch folgende Standardwerke enthalten, denen die bergmänni-
sche Fachsprache zu entnehmen ist: Karl-Heinz Eisenhuth u. Eberhard Kautzsch:
Handbuch für den Kupferschieferbergbau. Leipzig: Fachbuchverlag 1954. –
Taschenbuch für den Bergmann. Bd. 2. Allgemeines bergmännisches Fachwissen.
Mit 23 Tabellen. Hg. von der Kammer der Technik, Zentralleitung, Fachverband
Bergbau. Leipzig: Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie 1961.
17
Dies sei die “Anfangslektion in der Bergmannssprache” (Fühmann: Im Berg [wie
Anm. 5]. S. 9) gewesen, heißt es im Text.
18
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19
Ebd. S. 26.
20
Die Angaben zum Umfang und dieser Vergleich finden sich in einem Brief des
Autors an Ingrid Prignitz vom 24.01.1983. In: Franz Fühmann: Briefe 1950–1984.
Eine Auswahl. Hg. von Hans-Jürgen Schmitt. Rostock: Hinstorff 21994. S. 454–459.
Hier: S. 454. – Eine wertvolle Untersuchung zu (intertextuellen) Beziehungen zwi-
schen Fühmann und Joyce liefert Dennis Tate: Undercover Odyssey: The Reception
of James Joyce in the Work of Franz Fühmann. In: German Life and Letters
47.3 (1994). S. 302–312. – Vgl. zu dieser Fragestellung auch: Stephan Krause:
Topographien des Unvollendbaren. Franz Fühmanns intertextuelles Schreiben
und das Bergwerk. Heidelberg: Winter 2009 (Probleme der Dichtung 42). Insb.
S. 128–164.
21
Der Text findet sich im Bergwerk als 12. Unterkapitel und als Abschluss des
ersten Hauptstückes (Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 115-122). Wiederum
enthalten ist er in: Franz Fühmann: Das Ohr des Dionysios. Nachgelassene
Erzählungen. Hg. von Ingrid Prignitz. Rostock: Hinstorff 1995. S. 41–49.
22
Der Erzähler erwähnt dies auch im 13. Unterkapitel: “in alten Tagebüchern
[. . .] (deren Kritzelschrift, mitunter im Kriechen geschrieben, ich nicht mehr ent-
ziffern könnte, hätte ich sie nicht sofort damals abgetippt)” (Fühmann: Im Berg
[wie Anm. 5]. S. 124). Offenkundig ist hier die Parallele zu Müllers freilich viel spä-
teren Versen in Ende der Handschrift, wenngleich der Einschub bei Fühmann den
Verlust von bereits Geschriebenem und weniger den von Noch-zu-Schreibendem
meint.
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23
Die Sammlung befindet sich zum größten Teil in den Historischen Sammlungen
der ZLB. Kleine Teile liegen auch in den Beständen der Akademie der
Künste in Berlin. Einen Eindruck ermöglicht die Auswahlbibliographie zur
Bergwerkssammlung in: Krause: Topographien des Unvollendbaren [wie Anm. 20].
S. 390–391.
24
Fühmann fertigte zu all seinen Buchprojekten derartige Collagen an, die er nach
Abschluss des Textes jedoch vernichtete. Die Collage zum Bergwerk ist als einzige
erhalten geblieben und befindet sich in den Beständen der ZLB. Eine Fotografie
der Collage findet sich in: Barbara Heinze: Franz Fühmann. Eine Biographie in
Bildern, Dokumenten und Briefen. Rostock: Hinstorff 1998. S. 351.
25
“ein dickes Buch Piranesi, herrlich! brauch ich fürs Bergwerk.”, schreibt Franz
Fühmann an Ingrid Prignitz am 21.02.1979. AdK, Berlin, FFA Nr. 1143, S. 3. In
Fühmanns Bibliothek findet sich neben jenem Band Piranesi auch Norbert Miller:
Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi. München: dtv
1994 (ZLB, Sammlung Fühmann).
26
Die Kupferkönigin war als (mythische) Hüterin der unterirdischen Sphäre vorge-
sehen. Die Kapitel über sie blieben jedoch Skizzen. Beim Fund eines sogenannten
‘Kupferherings’ (Abdruck eines Fischleibes im Schiefer) heißt es: “Am feinsten ist
die Rückenflosse gezeichnet, ein schmaler, goldgestrichelter Fächer, Tribut für die
Kupferkönigin” (Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 91).
27
Während der (lateinische) Vorname dieser Figur klar auf ‘Königin’ verweist, hat
der Nachname etymologisch nichts mit Kupfer zu tun, doch verweist er phonetisch
und orthografisch auf ihr mythisch-phantastisches Pedant, die Kupferkönigin. Sie
tritt in den Tanzpalastkapiteln 7 und 8 auf. Zwischen rivalisierenden Bergleuten
bricht dort eine Prügelei aus, deren Ursache sie ist. Sie hat kupferfarbenes Haar und
einen ebensolchen Mantel. Vgl. ebd. S. 83f.
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zugelassen, sodass sich mit der Schwere der Arbeit und der Dunkelheit unter
Tage die Wunschvorstellung von der über Tage wartenden Braut oder Ehefrau
verbindet, die Fühmann noch auf erotisches Verlangen zuspitzt. Hinzu kom-
men die anatomischen Zeichnungen des menschlichen Körpers, auf deren
Grundlage die Einfahrt in die unzähligen Windungen des Bergwerks auch für
ein Eindringen in den menschlichen Körper bei medizinischen Operationen
steht. Nicht zuletzt finden sich Hinweise auf die Ähnlichkeit von Bergwerk
und Hades. Die Einfahrt in die Erde ist ja nicht nur das Eindringen in einen
Bereich, für dessen Betreten der Mensch zuvor um göttlichen Beistand bittet –
dies ist erhalten bis in den bergmännischen Gruß ‘Glück auf!’ hinein –, das
Eindringen ist ebenso eine Annäherung an den Hades. Für diese unterirdische
Sphäre sind tiefe Schwärze und Dunkelheit kennzeichnend.28 Hadeslandschaft
ist die Grube auch, da die Arbeit des Bergmanns und “ein jedes Tun und
Lassen im Wirkungsfeld des Todes [stand]. Er war da, im schwarzen
Bergmannstuch, und prüfte gnadenlos jeden Handgriff; er war es, der jedes
Stück Arbeit wog”.29
Ein wichtiger Aspekt der Textgestalt und des Inhaltes ist die breite und
vielseitige Verwendung intertextueller Bezüge, Anspielungen und Zitate. Am
deutlichsten sind hier zunächst die Bezüge zu romantischen Bergwerktexten
und Autoren. Die Romantik ist schon durch den literarischen Ort aufgeru-
fen, an dem auch der Bergmann Novalis herumgeklettert sein mag.30 Diese
Tradition erscheint nicht durch modifiziertes Erzählen etwa von Hebels
Unverhofftes Wiedersehen.31 Vielmehr wird die Idee erwähnt, die lange und
unbequeme Fahrt mit der Grubenbahn durch einen “Fahrterzähler”32 zu ver-
kürzen, für dessen Posten sich der Erzähler zu bewerben gedenkt. Es sollen
Bergwerksgeschichten gelesen werden. Die aufgezählten Beispiele sind trotz
großer inhaltlicher Unterschiede alle der romantischen Bergwerksliteratur
28
Vgl. dazu die im Hörspiel Die Schatten gelieferte Beschreibung des Hadeslandes
Kimmerien: “das vollkommene Dunkel, wo die Schatten drin unsichtbar werden”.
Franz Fühmann: Die Schatten. Ein Hörspiel. Hg. von Ingrid Prignitz. Mit Reprod.
v. Graphiken v. Clemens Gröszer. Rostock: Hinstorff 1986. S. 9.
29
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5], S. 22f.
30
Diesen Zusammenhang benennt und illustriert auch folgendes Material einer
Ausstellung: Franz Fühmann und Novalis im Mansfelder Berg(werk). [Mappe,
9 Blatt]. Wiederstedt: Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum
Schloß Oberwiederstedt 2000.
31
Vgl. jedoch als Variation auf Hebels Erzählung: Aufgeschobene Heimkehr. Wie
von Hebel sowie den direkten Bezug zu Fühmanns Bergwerk in: Die Literatur
als Bergwerk betrachtet. Epitaph für Fühmann. In: Volker Braun: Das unbesetzte
Gebiet. Im schwarzen Berg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. S. 78–79 u. S. 83–84.
32
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 8.
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33
Ebd.
34
Ebd. S. 9.
35
Vgl.: “Langhin galt ein Flöz mit weniger als 2,1 Prozent nicht als abbauwürdig;
heute baun wir, zum Beispiel im Nordfeld, Flöze mit 0,3 Prozent ab”. Ebd. S. 15.
36
Ebd. S. 24.
37
Ebd. S. 17.
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Mit der Versenkung des Textes in solche landläufige Beliebigkeit und der
Überschreibung des Abbruchs durch vor allem ideologiehaltige Formeln,
wie jene vom ‘Ende der Geschichte’ wird dem aber nicht beizukommen sein.
Davon hebt sich das Bergwerkfragment gerade in seinen sich verwischenden
Konturen ab.
Die nachträgliche Hinzufügung des Untertitels, Bericht eines Scheiterns,
prägt dem Text eine Vorgabe auf – und auch eine Vorgabe für dessen
Lektüre –, die seine literarischen und noch seine mythischen Dimensionen
so zu überwölben scheint, dass sie sie letztlich zu verdecken droht. Es ist,
als schöbe sich jener Untertitel gemeinsam mit Fühmanns schmerzvollen
Testamentsworten38 vor den Text und schriebe ihm damit offenbar ein vor
allem greifbares Ende zu, das dieser selbst nur als Abbruch anbietet und mit
dem er – in diesem Verständnis – allein auf den Abgrund eines Vergeblichen
verwiese. Den Abgrund also, sofern der Bergwerktext diesen überhaupt
anspricht, schreibt allenfalls der Untertitel vor. Zudem zeigt sich in Im Berg
eine Reflexion der dialektischen Relation von Scheitern und (abschließendem)
Gelingen. Vollendung enthält als Figur eines Abschlusses nämlich zugleich
die Gemachtheit39 dieses Gelingens. Eine weitere dialektische Lösung des
Problems findet sich etwa bei Samuel Beckett: “All of old. Nothing else
ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better”.40
Demnach bestünde eine sich steigernde Entwicklung weniger im je besse-
ren Gelingen. Die zentrale (poetologische) Passage im Bergwerk bietet – fast
sekundiert Fühmann dem Iren – eine Sentenz, in der sich nicht die bei Beckett
aufzufindende und zudem in einer Art Prosagedicht geäußerte (lockere)
Distanz wiederfindet, die jedoch das literarische Gestaltungsproblem expli-
zit aufruft. An zentraler Stelle wird im Bergwerk mithin darüber reflektiert,
dass noch “jedes Gelingen ein Scheitern”41 sei, sofern Gestaltung und ästhe-
tisches Gebilde im Angesicht des Urerlebnisses ihre Vollendung auszustellen
38
Die viel zitierten Sätze lauten: “Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist
der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft,
wie wir sie alle einmal erträumten” (ebd. S. 307).
39
Die Differenzierung von Gewachsenem und Gemachtem fand Fühmann bei
Tucholsky: “Es gibt gewachsene Dinge und gemachte – die meisten sind gemacht.
Die gewachsenen sind die, bei deren Herstellung der Schöpfer sich das geglaubt
hat, was er machte” (Kurt Tucholsky: Man muß dran glauben. . . In: Ders.:
Gesammelte Werke: Bd. 2. 1919–1920. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J.
Raddatz. Reinbek: Rowohlt 1995. S. 186–189. Hier: S. 186).
40
Samuel Beckett: Worstward Ho. In: Ders.: The Grove Centenary Edition:
Vol. IV, Poems, Short Fiction, Criticism. Ed. by Paul Auster. New York: Grove 2006.
S. 471–485. Hier: S. 471.
41
Im Berg [wie Anm. 5]. S. 106.
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suchten, die sich vor allem über die Tatsache erhebe, dass das Überwältigende
des Erlebens entschwinde. Der entscheidende Abschnitt im Bergwerk spitzt
dies zu und wendet sich abschließend in den Mythos, mit dem das Problem
eigentlich metaphorisiert wird:
Unter diesem Aspekt ist jedes Gelingen ein Scheitern, und man mag sich noch so
oft sagen, daß Literatur nicht das Leben sein kann und nicht dessen Surrogat sein
darf – etwas in einem weiß es besser; und wenn man auch nicht dran zugrunde
geht, so reibt man sich doch ein Leblang dran auf und schmeckt noch im Glück
des Werk-Vollendens den Überdruß am Artefakt. – Papier; Leinwand; Gips; arm-
selige Zeichen; man stößt derlei angewidert von sich. – Am farbigen Abglanz
hätten wir das Leben – nein, das Leben haben wir als Leben, allein wir können
es nicht halten, wir haben es im steten Entgleiten, und der farbige Abglanz sei-
nes Verweilens ist als Abglanz einer Dimension, der wesentlichsten, der des
Lebendig-Seins beraubt. – Unglückliches Volk, das einen Helden; armseliges Sein,
das Künstler braucht. – Die Verse mögen noch so glühen, ihr Feuer setzt keinen
Strohhalm in Brand, die prangendsten Rosen auf der Leinwand sind duftlos, man
könnte ihnen Essenzen beimengen und hätte Ärgres als Leichengeruch, nämlich
dessen Surrogat als Surrogat des Lebendig-Schönen. – Die Schattenwelt am lich-
ten Tag; die Hadesgrube mitten im Leben, und Achilles begehrt, viel lieber droben
der geringste aller Tagelöhner zu sein als drunten der Schatten des gewaltigsten
Helden und er heult, Schatten, nach einem Rinnsal Leben, nach einem Tropfen
rauchendem Blut.
Ach –42
42
Ebd. S. 106f.
43
Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Werkausgabe:
Bd. 6. Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock: Hinstorff 1993. S. 82–140.
Der Text entstand aus einem 1974 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalte-
nen Vortrag und erschien erstmalig in: Fühmann: Erfahrungen und Widersprüche.
Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff 1975.
44
Vgl. Fühmanns Äußerung mit Blick auf sein Schreiben in den 1950er Jahren
gegenüber Schoeller: “Meine poetische Konzeption hatte geheißen: die Märchen
gehen in Erfüllung” (Franz Fühmann: Gespräch mit Wilfried F. Schoeller. In: Ders.:
Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch. Hg. von Hans-Jürgen
Schmitt. Hamburg: Hoffmann und Campe 1983. S. 349–384. Hier: S. 357).
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45
Vgl. hierzu entsprechende Passagen in Zweiundzwanzig Tage. Insbesondere ab
S. 480 verdichten sich die aphoristisch gehaltenen Gegenüberstellungen von
Märchen und Mythos, etwa: “Das Märchen weist auf Abgründe hin, der Mythos ist
abgründig”. Fühmann: Zweiundzwanzig Tage [wie Anm. 9]. S. 486.
46
Vgl. die von Blumenberg formulierten Überlegungen zum Mythos: “Daß die
Rezeption nicht zum Mythos dazukommt und ihn anreichert, sondern Mythos uns
in gar keiner anderen Verfassung als der stets schon im Rezeptionsverfahren befind-
lich zu sein, überliefert und bekannt ist, beruht trotz der ikonischen Konstanz auf
der Verformbarkeit seiner Elemente, darauf, daß er nicht – um noch einmal mit
Bernays zu sprechen – aus granitenen Gestalten besteht, an denen jeder Zugriff
zum Sich-Vergreifen werden muß” (Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1996. S. 240–241).
47
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 24.
48
Ebd. S. 106.
49
Ebd.
50
Vgl. hierzu ausführlicher: Krause: Topographien des Unvollendbaren [wie
Anm. 20]. Hier: S. 229–248.
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reduziert den Text gerade auch aufgrund seiner Fragmentgestalt auf ein blo-
ßes Zeugnis, dessen fiktionales Potential nahezu unbeachtet bleibt. Was sich
als Parabel des sozialen wie politischen Scheiterns aufzudrängen scheint,
findet seine Entsprechung jedoch in keiner Weise in den mythisch unterleg-
ten Dimensionen dieses Textes und in der fiktionalen Anlegung seines Ortes.
Denn Im Berg weist trotz (und wegen) seiner Fragmentarizität nicht nur über
den Kontext DDR ästhetisch hinaus bzw. gibt einem beredten Untergrund
sprachlichen Ausdruck, sondern im Bergwerktext spricht sich mit Blick auf
die Schreibbarkeit und Nicht-Schreibbarkeit von Erfahrung ein poetisch-
universaler als eine dokumentarisch-historische Attitüde aus. Die Echtheit
und Wahrhaftigkeit dieses Anspruchs und die Einzigartigkeit des Ortes (von
Hervor- oder Heraushebung lässt sich angesichts des hauptsächlich unterir-
disch situierten Raumes nur im übertragenen Sinne sprechen), aber auch
die Verbindung von Rohheit und Rauheit des Tuns und Arbeitens unter Tage
und zugleich dessen als unentfremdete Arbeit vermutete Reinheit als seine
Unhintergehbarkeit kommen im Bergwerk zur Sprache: “Jungfräulicher
Ort; jedes Streb war Pionierland; hier unten wurden neue Küsten gewon-
nen, nicht westwärts, sondern hinab in die Zeit”.51 Ein Jargon der anfängli-
chen Entdeckung verknüpft sich darin mit einer erdgeschichtlich-mythischen
Dimension, von der noch politische Eindimensionalität suspendiert wird.
Die Nicht-Fassbarkeit der temporal-mythischen Ausmaße des Bergwerkes, in
denen u. a. die Kupferkönigin auftreten und der Hades sich befinden sollten,
bestimmen die Offenheit des Textes.
Gelesen als kritischer Subtext, der 1991 posthum in jener Periode deut-
scher Verheißungsvorstellungen erscheint, müsste er ebenso in einem Kontext
der Vergeblichkeit auch dieser Verheißung verstanden werden, da Fühmann
etwa schon weitaus früher bemerkte “diese Saturiertheitsgesellschaft”52
könne auch keine Alternative sein. Das Einfahren in Fühmanns literarisches
Bergwerk zeigt insofern keinen Blick in einen ‘Abgrund’, sondern verfasst
im Abwenden von einer vollendeten Verheißung vielmehr noch das Wissen
um deren (romantische) Verlockung. Als negative Spur einer vermeintlichen
‘Fußnote der Geschichte’53 bleibt diese den Schichtungen des Bergwerkes
eingeprägt und dessen Text eingeschrieben. Sie erscheint als Anderes, das noch
51
Fühmann: Im Berg [wie Anm. 5]. S. 23.
52
Fühmann ergänzt in diesem Brief an Margarete Hannsmann noch, er “[könnte]
dort auch nicht leben” (Franz Fühmann an Margarete Hannsmann am 30.05.1978.
In: Margarete Hannsmann: Protokolle aus der Dämmerung 1977–1984. Begegnungen
und Briefwechsel zwischen Franz Fühmann, Margarete Hannsmann und HAP
Grieshaber. Rostock: Hinstorff 2000. S. 60).
53
Vgl. dazu u.a.: Mathias Wedel: Sturz von der Hühnerleiter. Die DDR als
“Fußnote”. In: Freitag 17.03.2000.
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vorher, vor dem “Wegfall der Mauer [. . .] draußen [war]”,54 wie Müller sagt,
und das aufgenommen werden muss. An der Abgebrochenheit des Bergwerkes
zeigt sich auch dessen Andersartigkeit, die sich mit ihrer Zerklüftung noch
gegen eine Nivellierung sperrt und die sich gleichsam in dem Anderswo55
ausdrückt, als das das Unter Tage in Fühmanns Text erscheint und das auch
nicht notwendig in restlosem Begreifen aufzulösen ist. Vielmehr scheint dies
als Erfahrung noch anzustehen, sodass Volker Braun – ohne direkten Bezug
zu Fühmann – gut siebzehn Jahre später im Machwerk auf einen weiteren dia-
lektischen Zug des Problems zurückkommt:
Vielleicht muß sich die Menschheit noch einmal buchstabieren, und der neue
Anfang der Geschichte heißt: für den Letzten soll die Welt gemacht sein. Gewohnt
zu scheitern denkt er für sich, die eigentliche Arbeit habe noch gar nicht begonnen,
sie wird der Gesellschaft den Atem verschlagen. Nichts ist nahrhafter als begrif-
fene Irrtümer: so können sich Kannibalen sättigen, auf den Schlachtfeldern.56
54
Heiner Müller: Die Reflexion ist am Ende, die Zukunft gehört der Kunst.
[Gespräch mit Frank M. Raddatz.] In: Ders.: Werke: Bd. 12, Gespräche 3. Hg. von
Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 7–18. Hier: S. 11.
55
Vgl. folgenden Gedanken bei Bernhard Waldenfels: “Der Ort des Fremden in
der Erfahrung ist streng genommen ein Nicht-Ort. Das Fremde ist nicht einfach
anderswo, es ist das Anderswo”. In: Ders.: Topographie des Fremden. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1997 (Studien zur Phänomenologie des Fremden 1). S. 26.
56
Volker Braun: Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 220.
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Silke Horstkotte
I. Einleitung
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.8.2007 ver-
suchte sich der Schriftsteller Uwe Tellkamp an einer Beantwortung der Frage
“Was war die DDR?”. “Die Antwort”, so Tellkamp,
hängt wohl vom Blickwinkel des Betrachters ab: War sie eine Pädagogische
Provinz, die ihr Anliegen, Erziehung des Menschen zum höheren Zweck, mit
Lehrern bewerkstelligte, die, einst gestrafte Söhne, zu strafenden Vätern wur-
den? [. . .] War sie ein Groß-Kombinat namens Brot & Lügen (Anatomia: Magen)
mit Sekretariaten für Nägel, Rührgeräte und einem Hafen der 1000 Kleinen
Dinge [. . .]? Ein Chemie-Bezirk, dessen vergifteter, elbischer Unterwelt-Fluss
durch verkohlte Wälder floss (Anatomia: Lunge), um eine finstere Insel Utopia
(Anatomia: Herz), die Gelehrteninsel Kastalia, Schneckenhaus der ludi magister
der E.T.A. Hoffmannschen Universität Kerepes, zweisprachiger Ausgaben von
Büchern der Völker und Welten. Ein Bezirk der Uranier und Zukunftsgläubigen,
die auf Millimeterpapier Visionen entwarfen, die Revolution in die Welt zu tragen
gedachten?1
Tellkamps Fragen mussten für die FAZ-Leser des Sommers 2007 außeror-
dentlich rätselhaft klingen, bezogen sich ihre Chiffren doch auf einen Code,
der erst über ein Jahr später zugänglich wurde: nämlich auf Tellkamps im
Herbst 2008 veröffentlichten Roman Der Turm sowie auf eine darin enthal-
tene Zeichnung von Tellkamps Hand, die auf den Vorsatzpapieren des Buches
reproduziert wurde.
1
Uwe Tellkamp: “Was war die DDR?”. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
16.8.2007.
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Findet sich der Topos der “pädagogischen Provinz” aus Wilhelm Meisters
Wanderjahre beispielsweise als Titel des ersten Buchs von Der Turm wieder,
so sind der elbische Fluß ebenso wie die Anatomie Gegenstand der Vorsatz-
Zeichnung. Der mit der musikalischen Gattungsbezeichnung “Ouvertüre”
betitelte Prolog des Romans enthält zudem weitere Stichwörter aus dem
Artikel, insbesondere aus dem Bereich der gelehrten Anspielungen: die
Gelehrteninsel, ludi magister, Kastalia usw. werden in den Aufzeichnungen
der Figur Meno Rohde genannt, die den Roman nicht nur als Ouvertüre
eröffnen, sondern auch an verschiedenen Stellen in den heterodiegetischen
Erzählerbericht einmontiert sind. In seinen Aufzeichnungen schafft Rohde ein
Netzwerk von intertextuellen Anleihen und Querverweisen, die, ähnlich wie
Tellkamp das im Artikel andeutet, die Funktion einer poetischen Deutung der
DDR übernehmen, indem sie das Raumgefüge des Romans strukturieren.
Diese Interpretation der DDR durch einen poetischen Zitations- und
Allusionsstil ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Im engeren Sinne
interessiert dabei die Deutung der DDR als Utopie und durch Utopien, denn
ein Schwerpunkt der intertextuellen Referenzen liegt auf dem Kanon utopi-
scher und dystopischer Literatur. Bereits auf den ersten Seiten führt Meno
Rohde Begriffe ein, welche die erzählte Welt als utopischen Raum charak-
terisieren. Da sind erstens einmal die Verweise auf die Lage Dresdens im
Ostblock, genauer: “die Sozialistische Union [. . .], das Rote Reich, [der]
Archipel”.2 Natürlich waren die Warschauer-Pakt-Staaten kein “Archipel”,
auch wenn sie den Archipel Gulag enthielten. Die Vorstellung einer Inselwelt,
die sich auch auf das Innere Dresdens erstreckt (Tellkamp hat der Dresdner
Stadttopographie eine Reihe fiktiver Inseln hinzugefügt), verweist vielmehr
unmittelbar auf einen gängigen Topos von Raumutopien, in denen das uto-
pische Staatsgefüge auf einer Insel verortet wird (z.B. Insel Felsenburg).
Zweitens wird die DDR und wird Dresden auch als “Papierrepublik” und
“Gelehrteninsel” bezeichnet,3 also als im engeren Sinne hermetischer
Bereich innerhalb der Raumutopie gekennzeichnet. Damit stellt sich notwen-
dig die Frage, wie mit der sozialistischen Utopie und ihrer vermeintlichen
Verwirklichung im Staatswesen DDR nach dessen Zusammenbruch literarisch
zu verfahren ist: die Frage “was war die DDR” (und wie können wir noch
über sie schreiben) steht im Mittelpunkt auch des epischen Romanprojekts.
Schließlich verweist das Stichwort ATLANTIS,4 dem schon durch die
Schreibung mit Großbuchstaben eine herausgehobene Stellung innerhalb des
2
Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2008.
3
Ebd. S. 9.
4
Vgl. ebd.
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5
Ebd.
6
Géza Horváth: Utopie der geistigen Elite in Hermann Hesses Roman Das
Glasperlenspiel. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien. Hg. von Árpád Bernáth, Endre Hárs, Peter Plener. Tübingen: Francke
2006. S. 145–153.
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7
Vgl. insb. Rudolf Maresch u. Florian Rötzer: Renaissance der Utopie:
Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. – Die
Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende. Hg. von Julian Nida-Rümelin u.
Klaus Kufeld. Freiburg: Alber 2011. – Man denke auch an Joachim Fests These
vom “Ende des utopischen Zeitalters”: Joachim Fest: Der zerstörte Traum:
Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin: Siedler 1991. – Vgl. zudem Johano
Strasser: Leben ohne Utopie? Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990. – Klaus
Vondung: “Wunschräume und Wunschzeiten”. Einige wissenschaftsgeschichtliche
Erinnerungen. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien [wie Anm. 5]. S. 183–190.
8
Árpád Bernáth: Entwurf einer “utopischen” Literaturwissenschaft oder Was
für Romane hätte Heinrich Böll geschrieben, wäre Hitler nicht an die Macht
gekommen? In: Vom Zweck des Systems: Beiträge zur Geschichte literarischer
Utopien [wie Anm. 5]. S. 155–162. Hier: S. 155.
9
Ebd.
10
Zur Typologie literarischer Raum- und Zeitutopien vgl. u.a. Wilhelm Voßkamp:
Fortschreitende Vollkommenheit (der Übergang von der Raum- zur Zeitutopie
im 18. Jahrhundert). In: 1984 und danach. Utopie. Realität. Perspektiven. Hg.
von Erhard R. Wiehn. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1984. – Ders.:
Utopie als Antwort auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der
Neuzeit. In: Geschichte als Literatur: Formen und Grenzen der Repräsentation
von Vergangenheit. Hg. von Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe.
Stuttgart: Metzler 1990, S. 273–283. – Ders.: Narrative Inszenierung von Bild und
Gegenbild. Zur Poetik literarischer Utopien. In: Vom Zweck des Systems: Beiträge
zur Geschichte literarischer Utopien [wie Anm. 5]. S. 215–226. Zur frühneuzeitli-
chen und barocken Raumutopie ausführlich Ludwig Stockinger: Ficta Respublica.
Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen
Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1981 (HERMAEA
NF 45).
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11
Die Zeichnung, die Hoffmann einem Brief an seinen Bamberger Verleger Kunz
beilegte, ist reproduziert in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläu-
tert von Hans von Müller u. Friedrich Schnapp, hg. von Friedrich Schnapp. 2. Bd.:
Berlin 1814–1822. München: Winkler 1968. Bild zwischen S. 66 u. 67.
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12
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 7.
13
Ebd. S. 890.
14
Michael M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur histori-
schen Poetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.
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15
Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1992.
16
Hierzu umfassend Wilhelm Lettenbauer: Moskau, das dritte Rom: Zur Geschichte
einer politischen Theorie. München: Pustet 1961.
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17
Anne Fuchs: Topographien des System-Verfalls: Nostalgische und dystopische
Raumentwürfe in Uwe Tellkamps Der Turm. In: Germanistische Mitteilungen 70
(2009). S. 43–58. Hier: S. 44.
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18
Ex 20, 1–21.
19
Mk 9, 2–4.
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332
ermöglicht einen direkten Übergang von einem Chronotop ins andere, ohne
Umweg über das tiefergelegene Loschwitz; dieser Übergang ist jedoch durch
ein kompliziertes Zugangsritual reglementiert, das anlässlich eines Besuchs
Meno Rohdes in Ostrom geschildert wird:
Der Brückenweg hatte Mauern zu beiden Seiten. Nach zwanzig Schritten traf man
auf einen Tordurchlaß, eine Wand quer über den Weg, die bis zur Mauerkrone in
etwa vier Metern Höhe reichte. Ein rotweiß gestreiftes Wächterhäuschen stand
neben dem Tor; der Posten darin hatte eine Kalaschnikow geschultert, schrie schon
von weitem, was Meno wolle, verlangte seinen Personalausweis zu sehen. Dann
drückte er auf einen Klingelknopf im Wächterhäuschen, das Tor öffnete sich.20
Es folgt ein Gespräch zwischen Meno Rohde und dem Offizier über den
Zweck des Besuchs; der Offizier macht einen Kontrollanruf, es wird ein
Passierschein augestellt. Meno Rohde geht über die Brücke, und schließlich
gibt es eine zweite Zugangskontrolle am anderen Ende der Brücke.
Dieses Durchgangsritual erinnert zunächst einmal jeden, der einmal
aus dem Westen in die DDR eingereist ist, an das System der doppelten
Einreisekontrollen. Die Zugangsbeschränkung zu Ostrom dient deshalb nicht
nur der Abschottung der beiden gegensätzlichen Chronotope, sondern fun-
giert zugleich als ein Spiegelbild der Zugangsbeschränkung zur DDR, womit
Ostrom als eine Art DDR im kleinen bzw. als abyme der DDR erkennbar wird.
Tatsächlich gibt es im Roman eine Passage, die ausdrücklich auf eine solche
topographische Verschachtelung von immer rigider kontrollierten Räumen
ineinander Bezug nimmt. Und zwar ist das die Passage, in der Christian
Hoffmann, der immer wieder große Probleme mit dem System hat, weil er
ständig die falschen Sachen sagt, im Innersten des Gefängnissystems DDR
ankommt. (“Christian, du hältst deinen Mund, hast du das verstanden!”,21
schärft ihm der Vater immer wieder ein – vergeblich.) Christian hat sich
für drei Jahre zur Armee verpflichten müssen, um an einen der begehrten
Studienplätze für Medizin zu kommen, kann aber leider auch bei der Armee
seinen Mund nicht halten. Er kommentiert nämlich den Tod eines Kameraden
bei einem Panzerunfall, der wahrscheinlich von einem Vorgesetzten verschul-
det wurde, im Affekt mit dem Ausruf: “So was ist nur in diesem Scheißstaat
möglich”.22 Diese Äußerung trägt Christian einen Strafarrest von zwölf
Monaten ein, wo er schließlich wegen Aufmüpfigkeit im sogenannten U-Boot
landet, das ist die lichtlose unterirdische Arrestzelle innerhalb des Strafarrests.
Dort reflektiert Christian über die mise-en-abyme-Struktur der DDR als eines
20
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 104.
21
Ebd. S. 330 u. passim.
22
Ebd. S. 799.
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Die hier vorgelegte Interpretation der DDR könnte eindeutiger nicht sein:
Sie war eine totalitär organisierte “pädagogische Provinz” (so der dop-
peldeutige Titel des ersten Buchs), bestehend aus einem Piranesi-artigen
Alptraum ineinander verschachtelter Gefängnisräume. Tatsächlich kann diese
Verschachtelung als paradigmatisch für das Erzählverfahren der heterodiege-
tischen Romanerzählung verstanden werden. Das zielt nämlich darauf ab, in
einem realistischen Erzählstil die gesamte DDR und alle ihre Lebensbereiche
in sich aufzunehmen: ihre Schulen und Krankenhäuser, die Stasi, die Armee,
das Justiz- und Strafvollzugssystem, die Rolle der Polizei und der byzan-
tinisch-kafkaesken Bürokratie, die notorische Wohnraumknappheit und so
weiter und so fort.
Viele Rezensionen haben diese minutiöse Repräsentation des täglichen
Lebens in der DDR hervorgehoben und den Turm als einen Schlüsselroman
gelesen, in dem alles und jeder einen identifizierbaren Widerpart in der
Wirklichkeit hat.24 Ähnlich verlief auch die Rezeption vieler ostdeutscher
Leser, die sich zumeist enttäuscht zeigten, weil Tellkamp, bei aller enzyk-
lopädischen Vollständigkeit, die DDR eben doch nicht genau so beschreibt,
wie einzelne Leser sie erinnern.25 Dass ein solches, eigentlich naives,
Lektüremuster auch die Rezeption geübter Leser prägen konnte, liegt nun
daran, dass Tellkamp speziell im heterodiegetischen Erzähldiskurs eine
ganze Reihe von Spuren in dieser Richtung legt. Es gibt im Roman – neben
dem leicht erkennbaren Stadtteil Weißer Hirsch – tatsächlich eine Menge
23
Ebd. S. 827.
24
Vgl. u.a. Helmut Böttiger: Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel. Tellkamps klas-
sischer Bildungsroman über die DDR erzählt meisterlich aus einer stillgelegten
Zeit: “Der Turm”. In: Die Zeit 22.9.2008 – Sabine Franke: Im Dresdner Musennest:
Uwe Tellkamps monumental märchenhafter DDR-Familienroman “Der Turm”. In:
Frankfurter Rundschau 25.9.2008.
25
Hierzu ausführlich Katrin Max: Deutsch-deutsche Traditionspflege.
Überlegungen zu Uwe Tellkamps Roman Der Turm. In: Poetische Welt(en). Ludwig
Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet. Hg. von Martin Blawid u. Katrin
Henzel. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011. S. 211–223.
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Figuren, die die Züge realer Persönlichkeiten, insbesondere aus dem DDR-
Literatur- und Kulturbetrieb, tragen (u.a. haben mehrere Rezensenten, wohl
zu Recht, Franz Fühmann, und Jürgen Kuczinski identifiziert). Allerdings
lebten die realen Vorbilder von Tellkamps Figuren in Ost-Berlin, nicht in
Dresden, und Berlin, nicht Dresden, war auch das Zentrum des literarischen
Lebens. Ohnehin ist die Lektüre als Schlüsselroman verkürzend, weil sie
nicht die systematische Verfremdung und intertextuelle Überdeterminierung
der Wirklichkeit im Roman berücksichtigt. Auch der Zugang vom
Turmstraßenviertel nach Ostrom leistet mehr, als ein abyme der DDR zu
schaffen. Er kennzeichnet Ostrom nämlich als im engeren Sinne hermeti-
schen Bereich innerhalb der exklusiven Berglage. Der oströmische Chronotop
erhellt deshalb erst von seiner Funktionalisierung innerhalb der Utopiekritik
des Romans her.
III. Utopien
Die Semantisierung der Stadtteile Turmstraßenviertel und Ostrom basiert auf
dem schematischen Raumgefüge utopischer Romane, auf die nicht nur Meno
Rohde, sondern auch heterodiegetischer Erzähldiskurs und Paratext immer
wieder anspielen. (Beispielsweise heißt das Restaurant, in dem sich die
Familie Hoffmann zu Anfang des Romans zu einer Geburtstagsfeier versam-
melt, “Felsenburg”). Versucht man, sich einen Überblick über die verschie-
denen anzitierten Utopiemodelle, ihre jeweilige innere Logik (ihr Chronotop)
und ihre Funktionalisierung hinsichtlich einer Deutung der DDR zu verschaf-
fen, so muss man frustriert feststellen, dass wir es im Turm letztlich mit einem
polyperspektivischen Gegeneinandersetzen eigentlich miteinander inkompati-
bler Utopie-Modelle zu tun haben, die auch in sich nicht immer vollkommen
schlüssig sind. Das gilt insbesondere für ihre jeweilige Funktionalisierung
hinsichtlich der Deutung der DDR. Wird einmal die DDR selbst als geschei-
terte (politische) Utopie designiert, so geht es in anderen Modellen um utopi-
sche Vorstellungen, die ein Widerlager hierzu darstellen, sowie schließlich um
poetische Utopien, die nicht auf eine Verwirklichung in der erzählten Realität
zielen. Teilweise lassen sich diese Widersprüche dadurch auflösen, dass unter-
schiedliche utopische Referenzen, Utopiemodelle, und Einstellungen zur
Utopie mit den unterschiedlichen Erzählinstanzen des Romans in Verbindung
gebracht werden: mit dem hyperrealistischen heterodiegetischen Erzähler
einerseits, dessen Stil häufig mit Thomas Mann verglichen wird, mit Meno
Rohdes Bewußstseinsstromstil andererseits (mit Parallelen zu Joyce, Woolf
und Musil). Die beiden Erzählerstimmen sind sowohl typographisch als
auch stilistisch relativ deutlich voneinander differenziert. Innerhalb der
Heterodiegese ist sodann weiter zu unterscheiden zwischen verschiede-
nen Fokalisator-Figuren, die über das Verfahren der erlebten Rede auch
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336
26
Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr: Gelehrtensatire seit der Aufklärung.
Göttingen: Wallstein 2003. S. 320.
27
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 849.
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Foucault nennt als Beispiele die Psychiatrie oder das Gefängnis. Die DDR als
ein Großgefängnis, das alle seine Bürger gefangen hält, wird jedoch zu ihrem
eigenen institutionellen Widerlager, dessen Untergang am Ende des Romans
als folgerichtig präsentiert wird, enthält doch die Heterotopie als ein realisierter
utopischer Ort ein notwenig systemsprengendes Potential.
Damit wird die kyropädische Utopie im Stile Goethes verabschiedet;
statt dessen privilegiert der Roman und privilegiert vor allem Meno Rohde
ein anderes Utopie-Konzept, in dem es nun nicht mehr um eine Insel der
Glückseligen für alle geht, sondern um den Übergang eines Einzelnen vom
profanen in den utopischen Bereich. Dieses dritte, romantisch-subjektive
Utopie-Konzept wird über das Stichwort “Atlantis” aufgerufen, das in der
Ouvertüre den nächtlichen Übertritt der Turmstraßenbewohner in die Welt der
klassischen Literatur und Musik bezeichnet. Rohde spricht in der Ouvertüre
von “ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen
war, das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren”.29 Dieses Mutabor ist
in die Romanstruktur integriert, denn es signalisiert – als Titel des zweiten
Kapitels – paratextuell Christian Hoffmanns Ankunft im Turmstraßenviertel.
Darüber hinaus identifiziert Rohde das Atlantis-Konzept, ebenso wie des-
sen spezifischen Hoffmann-Rekurs, explizit mit der Dresdner Nostalgie oder
“Sehnsucht” als einer rückwärtsgewandten Utopie, “einer Märchenstadt.
Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd
nach gestern; die leidige, ausgehöhlte Realität wird mit Träumen ergänzt:
Schatten-Dresden, Schein hinter dem Sein, fließt durch dessen Poren, erzeugt
Hoffmannsche Zwitter”.30 Hoffmann dient an dieser Stelle als Gewährsmann
einer Optik, die – im Gegensatz zum von Meno Rohde gegenüber Christian
propagierten Verfahrens des genauen Hinsehens –31 keine präzisen Bilder
28
Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck. Leipzig: Reclam
1990. S. 34–46. Hier: S. 39.
29
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 9.
30
Ebd. S. 368.
31
Vgl. ebd. S. 270.
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IV. Atlantis
Der Kunzische Riß ist eine Zeichnung, die Hoffmann 1814 einem Brief an
seinen Bamberger Verleger Kunz beilegte und auf der er seine neue Berliner
Wohnung in der Taubenstraße, gleich beim Gendarmenmarkt sowie deren
räumliche Umgebung skizzierte. Die Raumordnung dieser Zeichnung basiert
auf einem fantastischen Szenario mit einem Ineinander des Irrealen und
des Realen, genau wie in Hoffmanns erzählerischem Werk und insbeson-
dere in dem kurz zuvor vollendeten Goldenen Topf. Wie Klaus Deterding
überzeugend argumentiert hat, kann die Zeichnung “in ihrer Bedeutung für
[Hoffmanns] Gesamtwerk kaum hoch genug eingeschätzt werden”, enthält sie
doch quasi ‘Hoffmann in nuce’: “Der sogenannte Kunzische Riß gibt exemp-
larisch die poetische Weltsicht Hoffmanns als Integration des Realen und des
Irrealen. Er ist damit ein Konzentrat von Hoffmanns gesamter Poetik”.32 Die
Skizze enthält neben der realen Aussicht der Wohnung in der Taubenstraße
(Bsp.: ein Soldat, Damen) auch Personen, die sich nicht unbedingt zu dieser
Zeit dort aufhielten (Tieck, Bernhardi, Brentano); sie enthält zudem Verweise
auf den Spielplan des Berliner Schauspielhauses, der durch die kostümierten
Sänger auf der Straße dargestellt wird, z.B. die Glucksche Armida. Schließlich
hat Hoffmann auch eigene literarische Figuren, und zwar solche aus dem kurz
zuvor vollendeten Goldenen Topf in die Zeichnung eingearbeitet: der Student
Anselmus schreitet links neben der französischen Kirche an Serpentina
vorbei; unterhalb dieser Gruppe spaziert der Konrektor Paulmann in entge-
gengesetzter Richtung. Im Zentrum des Blattes steht Kreisler, Hoffmanns
poetisch-musikalisches alter ego. Hoffmann selbst kommt ansonsten auf der
Zeichnung nicht vor, er steht außerhalb, ist aber doch sichtbar: und zwar
deshalb, weil die Zeichnung seine Perspektive auf die Wirklichkeit wieder-
gibt. Das poetische Prinzip des Schauens ist, als serapiontische Schau, dabei
geprägt durch ein Ineinander von äußerer und innerer Wirklichkeit.
Wie verhält sich nun Tellkamps Vorsatzblatt-Zeichnung zu diesem iko-
nischen Vorbild? Zunächst einmal zeigt die Zeichnung einen skizzen- und
bruchstückhaften Stadtplan Dresdens, der durch die Elbe zweigeteilt wird
und in den zahlreiche Handlungsorte des Romans eingezeichnet sind: das
Tausendaugenhaus, Haus Abendstern, die Turmstraße selber, die askanische
Insel, Sitz der örtlichen Bürokratie, das Krankenhaus Friedrich Wolf oder
auch der hermetisch umzäunte Block A (“wo der engste Zirkel um Barsano
lebt”). Allerdings ist der Maßstab der Karte (1:1001) höchst ungewöhnlich
und eindeutig ungenau – die Karte müsste viel größer sein; auch ist der
32
Klaus Deterding: Hoffmanns Erzählungen. Eine Einführung in das Leben und
Werk E.T.A. Hoffmanns. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Kap. II: Der
“Kunzische Riß”. S. 81–91. Hier: S. 82.
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Plan nicht genordet. Die Zeichnung ist in der unteren linken Ecke mit dem
Titel “Der Turm – Der Schlaf in den Uhren” bezeichnet; “Der Schlaf in den
Uhren” ist der Titel eines kürzeren Prosatextes, mit dem Tellkamp 2004 den
Bachmann-Preis gewonnen hat und der verschiedene Motive und Figuren vor-
wegnimmt, die später in den Turm eingegangen sind. Zahlreiche Details auf
der Zeichnung zeigen darüber hinaus an, dass es sich nicht um eine realisti-
sche Repräsentation Dresdens handeln kann: Die Elbe ist als “elbischer Fluß”
beschriftet, mit intertextuellem Bezug auf die nicht-menschliche Spezies der
Elben in J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe; die Semperoper befindet sich in der
Mitte des Flusses, neben einer Reihe symbolisch repräsentierter menschli-
cher Organe. Auch die sächsische Schweiz wurde in der Elbe und innerhalb
Dresdens repräsentiert, ebenso wie “Samarkand” und die “Karbidinsel” –
fiktive Orte innerhalb des Chemie-Dreiecks, in die Christian strafversetzt
wird – zu Bestandteilen der Dresdner Stadttopographie mutieren. Fernes
wird so nahegerückt, Naheliegendes dagegen auseinandergeschoben: Die
Standseilbahn zum Turmstraßenviertel und die Schwebebahn nach Ostrom
sind in entgegengesetzte Ecken der Skizze platziert, obwohl sie innerhalb der
erzählten Welt – ebenso wie in der außerliterarischen Wirklichkeit – nur etwa
einen Kilometer voneinander entfernt in Loschwitz liegen.
Ein fantastisch rekonstituiertes Dresden, das die gesamte DDR ein-
schließt, wird in dieser Zeichnung zu einem Organismus mit Herz, Lunge
usw. unter Einschluss wirklicher und nicht-wirklicher Elemente und topogra-
phischer Bezugspunkte. Die Repräsentation der DDR als eines Körpers mit
Organen rekurriert einmal mehr auf Utopien und Staatsromane des 17. und
18. Jahrhunderts und auf die zugrundeliegende Staatstheorie des Barock, die
den Staat als einen Organismus verstand. Mit dieser Zeichnung reklamiert
Tellkamp für sich selbst das Hoffmannsche Prinzip der serapiontischen Schau
und illustriert zudem, dass in und hinter der ersten Wirklichkeit des philist-
rösen Dresden tatsächlich eine zweite, poetische Wirklichkeit liegt, die den
philiströsen Dresdnern verschlossen bleiben mag, die deshalb aber nicht
weniger wirklich ist. Atlantis selbst ist im Turm folglich kein Ort und auch
keine vollendete Utopie, sondern das Prinzip der serapiontischen Schau
selbst: Überblendung der Wirklichkeit mit den flackernden, immateriellen
Bildern der Fantasie. Und es ist speziell Meno Rohde, der zu dieser Art der
doppelten Wahrnehmung befähigt ist: “Atlantis, dessen Konturen Meno hin-
ter den Zimmern zurückkehren sah, eine Art Parallelverschiebung, flackernde
Projektion”.33
Tellkamps – oder genauer gesagt: Meno Rohdes – Atlantis ist deshalb nicht
allein der nächtlich besuchte poetische Ort, sondern umfasst die gesamte
DDR, sofern sie serapiontisch geschaut – und das heißt wohl: intertextuell
33
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 2]. S. 723.
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überblendet wird. Weshalb die Frage Uwe Tellkamps aus dem FAZ-Artikel –
was war die DDR – im Roman umformuliert wird als
was war ATLANTIS, das wir nachts betraten, wenn das Mutabor gesprochen war,
das unsichtbare Reich hinter dem sichtbaren, das erst nach langen Aufenthalten,
den Touristen nicht und nicht den Traumlosen, aus den Konturen des Tages brach
und Risse hinterließ, einen Schatten unter den Diagrammen dessen, was wir Die
erste Wirklichkeit nannten, ATLANTIS: Die zweite Wirklichkeit, Insel Dresden/
die Kohleninsel/die Kupferinsel der Regierung/Insel mit dem roten Stern/die
Askanische Insel, wo Justitias Jünger arbeiteten, zu ATLANTIS verknüpft ver-
sponnen verkrustet34.
Damit fragt Rohde programmatisch nach dem utopischen Status der DDR und
ihrem Verhältnis zu anderen Utopien und kommt zu dem Ergebnis, dass das
Utopische der DDR – also die DDR als Atlantis – immer nur eine subjektive
poetische Interpretation sein kann, die Touristen und Traumlosen verschlossen
bleibt.
Eins jedenfalls ist sicher: Eine einfache und eindeutige Beantwortung der
im FAZ-Artikel gestellten Frage “was war die DDR” ist von einem derar-
tig hochseiltänzerisch diffizilen Erzählkonstrukt wie Tellkamps Turm nicht
zu erwarten. Eine andere Frage wäre die literaturkritische nach dem ästheti-
schen Gelingen des narrativen Unterfangens, die aber nicht Gegenstand die-
ses Beitrags war. Die DDR, das dürfte jedenfalls deutlich geworden sein, war
alles: pädagogische Provinz und Großkombinat und Hafen der kleinen Dinge.
Sie war vielen vieles und jedem etwas anderes, weshalb auch nur ein polyper-
spektivisches Erzählverfahren zur Darstellung der ganzen DDR angemessen
sein konnte. Tellkamp selbst verweist deshalb in dem poetologischen FAZ-
Artikel auf Hoffmann als einen Gewährsmann eines auf Eindeutigkeit nicht
reduziblen fantastischen Erzählens:
Ich meine, dass die künstlerische Aufarbeitung des Stoffs “DDR” sich fortsetzen
wird, denn kein mir bekanntes Buch entwirft ein Modell, das die Komplexität der
oben angedeuteten Sichtweisen (kein Anspruch auf Vollständigkeit!) erreicht, das
alle diese möglichen Interpretationen in sich vereint.
Vater aller besseren Literatur über das Problem ist, meiner Ansicht nach, E.T.A.
Hoffmann, bei dem die (Alb-) Träume in die Wirklichkeit wucherten. Je ferner dies
Ländchen im Maelstrom aus Zeit und Geschichte sinkt, desto mehr wird es, glaube
ich, Züge eines Turmbaus in Atlantis annehmen. Die literarische Zukunft unserer
Vergangenheit ist offen.35
34
Ebd. S. 9.
35
Uwe Tellkamp: “Was war die DDR?” [wie Anm. 1].
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Andrea Jäger
1
Wolfgang Büscher: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2006. S. 128.
2
Ebd. S. 128f.
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3
Vilmar Geppert: Der ‘andere’ historische Roman. Theorie und Strukturen einer
diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976 (Studien zur deutschen
Literatur Band 42). – Sowie Ders.: Der historische Roman. Geschichte umerzählt –
von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke 2009.
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Die literarische Geschichtsschreibung über die DDR, resp. über den Realen
Sozialismus scheint aber an diese Reflektionen nicht nur anzuschließen.
Vielmehr findet sich hier auch eine Anknüpfung an traditionelle realisti-
sche Schreibweisen. Das geschieht zunächst einmal recht unspektakulär, und
zwar durch die vermeintliche Unmittelbarkeit authentischen Sprechens. Hier
schreibt sich eine Literatur der Zeitzeugen fort, die – als es die DDR noch
gab – aus eigener Anschauung und Betroffenheit heraus aus dem und von
dem Land des Realen Sozialismus berichteten. Verbunden war dies häufig
mit dem Gestus des Aufklärers, der auf die Verhältnisse des Systems (nicht
zuletzt im Westen) kritisch aufmerksam machen wollte.4 Diese Erzählweise
wird nun einfach fortgesetzt, während sich der Gegenstand in ein Stück
Geschichte verwandelt hat. Ein Beispiel dafür sind sicherlich die Romane von
Erich Loest, mit ihrem Anspruch, die Geschichte und die Geschichten aus
der DDR zu erzählen, wie sie “wirklich geschehen” sind. Diese Werke pro-
blematisieren ihren Authentizitätsanspruch einfach nicht. Allerdings, bei aller
Unbekümmertheit in Bezug auf die inzwischen historischen Fakten, bieten
Loests Romane nicht einfach ein Geschichtsbild, das die Geschichte einer ein-
heitlichen Deutung unterziehen könnte – wiewohl sie auf Geschichtsdeutung
einzelner Ereignisse durchaus nicht verzichten,5 aber da liegt genau der
Unterschied zu dem, worum es hier in erster Linie geht, nämlich um ein
kohärentes Geschichtsbild.
Hier geht es spezieller um solche Werke, die nicht nur den
Objektivitätsanspruch des Historismus erneuern, also dieses Erzählen, “wie
es wirklich geschehen sei”, sondern auch das teleologische Prinzip des
ästhetischen Historismus wiederbeleben, demzufolge in der Geschichte ein
objektiver zustimmungsfähiger Sinn walte, der sich mit determinierender
Kraft im historischen Prozess Geltung verschaffe und der sich üblicherweise
in den Universalien: Vernunft, Geist, Fortschritt Anschauung gibt.6
4
Solche Erfahrungsliteratur aus der DDR gibt es in großer Fülle. Vor allem
Autoren, die das Land verlassen mussten, haben häufig ihre Sicht auf die
DDR literarisch niedergelegt. Vgl. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR.
Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Bd. 1: Autorenlexikon.
Frankfurt a.M.: Lang 1995.
5
So hat sich Erich Loest beispielsweise mehrfach mit dem 17. Juni 1953 auseinan-
dergesetzt, zuletzt in seinem Roman Sommergewitter. Göttingen: Steidl 2005.
6
Eigentlich sind die Universalien des teleologischen Geschichtsbildes noch um
eine zu erweitern: Sozialismus. Denn die Geschichtsphilosophie des Realen
Sozialismus, der historische Materialismus, wollte auf den geschichtslegitima-
torischen Ertrag des Historismus nicht verzichten, sondern ihn auf die eigene
historische Tat lenken. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn jetzt dieses
Gedankenmuster erneut gegen den Sozialismus in Anschlag gebracht wird.
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7
Uwe Tellkamp: Der Turm. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.
8
Die Nationalstiftung hat besonders die Leistung der drei AutorInnen hervorgeho-
ben, in ihren Werken unvoreingenommen auf die deutsche Geschichte zu blicken:
“Eine Nation braucht Erinnerung an ihre gemeinsame Geschichte. Mit ihrem jewei-
ligen Werk fördern die Preisträger die Bereitschaft, sich unvoreingenommen mit
den unterschiedlichen Biographien anderer zu befassen, um diese zu entschlüs-
seln und zu verstehen” (http://www.nationalstiftung.de/nationalpreis2009.php.
Downloaded 14.4.2011).
9
In Rezensionen wie im Internet finden sich jede Menge Hinweise auf die Dresdner
Örtlichkeiten des Romans wie auch der stete Hinweis auf die Realitätstreue des
Werks. Erst diese Rezeption rundet das Bild über den Roman ab, er sei eine wahre
Geschichtsdarstellung.
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wird er in Bezug auf die Darstellungen des Militärs. Hier übernimmt Christian
seine Aufgabe). Diese Beglaubigung geschieht durch drei Momente: Meno ist
Augenzeuge, er verschriftlicht das Erlebte in seinem Tagebuch (im Roman ein
Ort unverstellter, weil absolut unkontrollierter Reflektion), und außerdem
hinterfragt er die Wahrnehmungsform des Beobachtens.
Meno Rohde hat eine Romanbiographie, die ihn zum idealen Augenzeugen
macht. Er hat das Hotel Lux mit seinen Eltern erlebt, er war verheiratet
mit der Tochter des Wirtschaftswissenschaftlers Londoner (alias Jürgen
Kuczynski), von der aber auch wieder geschieden, d.h. der Familie nicht mehr
verpflichtet, aber dennoch von ihr als Ex-Schwiegersohn akzeptiert, so dass
er als einziger Türmer sowohl beruflichen als auch privaten Zugang hat zur
geistigen und politischen Elite des Landes im ansonsten hermetisch abgerie-
gelten Bezirk Ostrom, das fiktive, nach Dresden verlegte Wandlitz.
Die Tagebucheinträge, die der Roman immer wieder in die Erzählung
einstreut, weisen zum Teil bis in die Stilistik hinein eine regelrechte
Identität mit der Erzählerstimme auf, so dass deren Erzählung durch die
Tagebucheinträge einfach fortgesetzt wird und stellenweise zu einer Stimme
verschmilzt.10
In seinem Tagebuch, aber auch in seinen Gesprächen mit Christian vertritt
Meno das Ideal des genauen Sehens. “Lass uns ein wenig sehen üben”,11 ver-
langt er von Christian. Insofern Meno das Prinzip des genauen-Hinsehens und
des unbestechlichen Blicks, der sich nicht von der Magie des oberflächlichen
Eindrucks blenden lässt, sondern hinter diese Oberflächen mit “wissenschaft-
licher Kälte” schaut – insofern er diesen Blick nicht nur selbst theoretisch
vertritt, und zwar am unideologischen Gegenstand, es geht in dem Gespräch
um Schmetterlinge! –, sondern auch noch Christian darin unterrichtet,
erscheint er selbst als “Meister” dieses Blicks.
Seine Glaubwürdigkeit als Augenzeuge ist durch diese drei Momente
verbürgt – sie wird auch von keiner anderen Figur und erst recht nicht vom
Erzähler in irgendeiner Weise wieder aufgebrochen. Zugleich ist mit ihm ein
überindividueller Wahrheitsanspruch der Erzählung gesetzt.
Schlüsselroman
Ein weiteres Element inszeniert den Roman als wirklichkeitsgetreue
Wiedergabe der DDR-Gesellschaft. Der Roman behauptet Objektivität,
indem er die Fiktionalität zum Faktischen hin aufbricht: In Bezug auf etliche
Figuren präsentiert er sich als ein Schlüsselroman. Dabei legt der Roman kei-
nerlei Wert darauf, die wahre Identität der Figuren besonders zu verschleiern.
10
So z.B. die Tagebucheinträge im Kapitel “Auf Hiddensee”. S. 675–687.
11
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 7.]. S. 270.
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12
Details zur Entschlüsselung der Figuren finden sich bei Wikipedia unter http://
de.wikipedia.org/wiki/Der_Turm_(Tellkamp). Downloaded 14.4.2011.
13
Tellkamp: Der Turm [wie Anm. 7]. S. 7.
14
Ebd. S. 8.
15
Ebd. S. 7.
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16
Ebd.
17
Ebd. S. 8.
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350
18
Die Reihenfolge des Gedankens ist insofern wichtig, weil die Vorstellung,
die1980er Jahre der DDR seien Jahre des Stillstandes gewesen, bekanntlich eine
eingängige Formel ist, die aber tatsächlich nichts anderes als eine sehr oberfläch-
liche Ausdrucksweise dafür ist, dass sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung
zunehmend verschlechtert haben. Die Übersetzung dieser Verschlechterung in
die “Erfahrung” des Stillstands beruhte noch auf der Hoffnung, dass mit der
Benennung der materiellen Misere der Menschen in der DDR zugleich auch ein
Mangel der Staatsräson des Realen Sozialismus benannt sei, an dessen Kurierung
das System selbst noch ein Interesse hätte haben müssen.
19
Ebd. S. 9.
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351
20
Die positive Bewertung der Figuren ergibt sich nicht daraus, dass der Roman alle
Handlungen des Einzelnen gutheißen würde. So erscheint Richards Unfähigkeit,
sein Liebesverhältnis offen zu praktizieren, durchaus als kritikabel. Der positiven
Bewertung liegt ein prinzipiellerer Maßstab zugrunde. Die Figuren werden unter-
schieden an der Frage, ob sie eine authentische Individualität haben oder nicht.
21
“Das war es nicht, was er sich vorgestellt hatte. Reina hatte einfach seine Hand
genommen, ohne ihn zu fragen. [. . .] Und nun sollte man, wie es hieß, miteinander
gehen. (Was machte man da eigentlich, wenn man ‚miteinander ging‘? Er konnte
sich darunter nichts als Langeweile vorstellen). Reina sollte die Frau sein, mit der er
ein Leben lang zusammensein, Kinder haben würde?” (Ebd. S. 487). Wohlgemerkt,
der Roman handelt in den 1980er Jahren!
22
Vgl. ebd. S. 332.
23
Das zeigt sich etwa bei den Frauen der Türmer, die ein ganz überkomme-
nes Rollenverständnis haben, wenn Sie sich für ihre Männer am Tisch schä-
men, wenn sie politische Gespräche ins Harmlose abbiegen wollen, wenn sie sich
ums Haushälterische kümmern und da ihre Expertenschaft in Sachen gesunde
Ernährung entwickeln. Vgl. auch das Tischgespräch anlässlich von Richards
Enthüllung seiner Stasikontakte (ebd. S. 442f.).
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352
oder ihrer elitären Eitelkeit, in der sich ihre Nähe zur Macht manifestiert.
Zum Beispiel das Ehepaar Honich, mit seinen gestanzten Polizeireden ohne
jede Individualität. Sie denunzieren sich schon sprachlich.24 Auch Meno
betrachtet sie als böse Naturen:
Ich habe meine Manuskripte Anne zur Verwahrung gegeben, riet also zum Frieden,
wenngleich mir der Gedanke schwer erträglich ist, daß dieses Weibsstück an der
Zehnminutenuhr – wie vertraut, wie beruhigend der Gong, den ich durchs Telefon
hörte – herumfingert, womöglich, um sie zu demolieren: manche Menschen
können fremdes Glück nicht ertragen, manche Menschen reizt die Würde
aristokratischer und wehrloser Gegenstände, sie zu verkrüppeln.25
24
Vgl. ebd. S. 577. – Es gibt im Turm kein festes Kennzeichen für die vom
System kontaminierte Charaktermaske, die die fehlende Individualität ersetzt.
So ist beispielsweise der Major a.D. im Wehrlager gerade kein Grobian, sondern
eher jovial. Christian kommt es so vor, als hätte er mit der gleichen “Jovialität
und Aufgeräumtheit auch ein entsprechendes Lager vor fünfzig Jahren geleitet”
(S. 441). Umgekehrt, wer Menschlichkeit praktizieren will – Anne will z.B. am
Bahnhof einem russischen Soldaten etwas zu essen geben – macht sich sofort
verdächtig (vgl. ebd. S. 592f.).
25
Ebd. S. 682.
26
“mittlerweile war die Schule als ‚rot‘ verschrien, und auch die sängerischen
Leistungen sollten, wie gesagt wurde, gelitten haben” (ebd. S. 437).
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Diese Dinge lösen ein Glücksempfinden bei Richard aus, das mit dem von
Meno angesichts von Eichendorff-Gedichten vergleichbar ist:
Die gleiche Empfindung von tiefer Befriedigung, von Glück vielleicht und viel-
leicht auch von Erlösung – daß es hier und jetzt einmal etwas gab, das nicht besser
aus Menschensinn und Menschenhand hervorgehen konnte –, diese Empfindung,
die er auf Menos Gesicht las, kannte auch Richard, nur löste kein Gedicht sie
aus [bei Meno sind es Eichendorff-Gedichte], sondern diese Werkbank, und bei
seinem Vater war es das Innenleben einer mechanischen Uhr aus der hohen Zeit
der Glashütter Uhrenmanufakturen gewesen, Zeugnis von Handwerksfleiß und
peniblem Tüftlersinn.28
27
Ebd. S. 281f.
28
Ebd. S. 282f.
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wenn auch die Wäscheschleudern nicht stabil auf dem Boden stehen? Die
ausbleibende Frage nach dem Grund inszeniert die Behauptung einer fakti-
schen Grundlosigkeit, mithin einer Selbstzweckhaftigkeit des Mangels. Ein
prinzipiell widersinniger Zweck regiert das materielle Leben.
Krankheit
Den Widersinn, der im selbstzweckhaften Angriff auf jegliche menschliche
Wesenhaftigkeit besteht, überführt der Roman zunehmend in das Bild von
Krankheit. Die Figuren erkranken, deren Krankheit ist wiederum nur ein
Symptom für eine Krankheit, an der das Land leidet:
Land in seltsamer Krankheit, Jugend war alt, Jugend wollte nicht erwachsen wer-
den, Bürger lebten in Nischen, zogen sich im Staatskörper zurück, der, regiert
von Greisen, in todesnahem Schlaf lag. Zeit der Fossile; Fische strandeten,
wenn Wasser sich verliefen, zappelten stumm eine Weile, beugten sich, ermatte-
ten, starben reglos und versteinerten: in den Häuserwänden, den schimmelnden
Treppenfluren, schmolzen in Akten ein, wurden Wasserzeichen. Die seltsame
Krankheit zeichnete die Gesichter; sie war ansteckend, kein Erwachsener, der
sie nicht hatte, kein Kind, das unschuldig blieb. Verschluckte Wahrheiten, unaus-
gesprochene Gedanken durchbitterten den Leib, wühlten ihn zu einem Bergwerk
der Angst und des Hasses. Erstarrung und Aufweichung zugleich waren die
Hauptsymptome der seltsamen Krankheit.29
Mit diesem Tagebucheintrag von Meno beginnt der letzte Teil des Romans.
Die Menschen fangen an, sich des Sozialismus, der Krankheit, zu entledigen.
Dabei scheinen sie wie von einer höheren Macht ergriffen:
die Menschenströme schienen behutsamsten Witterungsänderungen zu folgen,
möglicherweise nur einem im Halbton weitergetragenen Gerücht, einem korri-
gierten Magnetismus (Stoßen, Hoffen), und dabei ziellos zu sein, aufgescheuchte
Bienen, denen man ihren Bau genommen hat. Geschrei und Stöhnen, Rufe über die
dunklen Straßen, Glasklirren.31
Wie das Telos des ästhetischen Historismus nimmt sich das Tellkampsche
Telos die Menschen zu Hilfe, um sich durchzusetzen. Sie sind nicht Subjekt
der Geschichte, sondern Instrument eines höheren Geschichtsgesetzes.
29
Ebd. S. 890.
30
Ebd. S. 943.
31
Ebd. S. 894.
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So passt es auch, dass sich der Roman relativ belustigt zeigt über die revolu-
tionären Aktivitäten der Bevölkerung. Die Opposition verstrickt sich in recht
absurde, der revolutionären Situation unangemessene Debatten32 und ver-
liert sich darin, von “irgendwelchen Gesellschaftsmodellen mit Emphase zu
schwadronieren”.33
Die Revolution selbst vollzieht sich dann als eine Art dionysischer
Eruption, die rauschhafte Entäußerung einer Urkraft der Masse Mensch,
die sich als lebensspendende heilende Kraft des sich als “Papierrepublik”
erweisenden Sozialismus entledigt. Ein geradezu expressionistisches
Heilungspathos löst – literarhistorisch in richtiger Chronologie – den behäbi-
gen Buddenbrookstil des Erzählers zu Beginn des Romans ab:
eiterweiße Rinnsale suchen sich ihren Weg zu den Rohröffnungen, die auf
Rohreingänge weisen, die auf Rohrausgänge weisen, Mund übergibt sich in
Mund, und aus den Traufen quillt der Preßsaft, Flüssigkeit kostbar wie Blut und
Sperma, aus den Papieren der Archive – . . . aber dann auf einmal . . . schlugen die
Uhren, schlugen den 9. November, “Deutschland einig Vaterland“, schlugen ans
Brandenburger Tor:34
Der Roman endet bekanntlich mit einem Doppelpunkt: Seine Fortsetzung wird
erwartet. Doch der Gedanke, dass sich in der Wende 1989 ein historischer Sinn
erfüllt, der der eigentlichen Wesenheit des Menschen zu ihrem Recht verhilft
und sie von einer Krankheit namens Sozialismus befreit, dieser Gedanke lässt
sich auch noch nach der Wende fortsetzen und taugt als Erklärungsmuster
fort für das Ausbleiben der “blühenden Landschaften”. Dies findet man ein-
schlägig bei der dritten Preisträgerin des Nationalpreises: Monika Maron. In
ihrem Bericht über den Bitterfelder Bogen wendet sie sich gegen Kritiker des
Vereinigungsprozesses und insbesondere gegen Günter Grass. Sie sagt:
Fünfundvierzig Jahre nach dem Krieg sind die Ostdeutschen dazugekommen, frei-
willig, in ein reiches, demokratisch verfasstes Land. Trotzdem dauert es offenbar
länger, als viele, auch ich, gehofft haben, ehe die Sehnen und Nervenstränge des
zerrissenen Organismus Deutschland wieder zusammenwachsen, ehe sich die ver-
schiedenen Erfahrungen in Ost und West zur gemeinsamen Geschichte verdichtet
haben. Das könnte Günter Grass mit seiner Biografie, seinen Erfahrungen und
manchmal verspäteten Einsichten eigentlich wissen.35
Das aber ist eben doch keine Frage von Wissen, sondern eher eine der
Durchschlagskraft von Diskursen.
32
Vgl. ebd. S. 912.
33
Ebd. S. 938.
34
Ebd. S. 973.
35
Monika Maron: Bitterfelder Bogen. Ein Bericht. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. S.
164.
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Autorinnen und Autoren
EKE, NORBERT OTTO, geb. 1958, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche
Literatur und Literaturtheorie an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete:
Erinnerungskulturen und ästhetische Formungen mit Schwerpunkten in
den Bereichen Dramen- und Theatergeschichte, deutsch-jüdische Literatur
(Literatur und Shoah), Vormärzliteratur und Gegenwartsliteratur. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen
des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Hg. mit Alo
Allkemper) (2006). – Shoah in der deutschsprachigen Literatur (Hg. mit
Hartmut Steinecke) (2006). – Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur (2007). –
New Readings – Neulektüren (Hg. mit Gerhard P. Knapp) (2009). – “Sprache,
die so tröstlich zu mir kam”. Thomas Valentin in Briefen von und an Hermann
Hesse (mit Dagmar Olasz-Eke) (2011). – Schemata und Praktiken (Hg. mit
Tobias Conradi, Gisela Ecker u. Florian Muhle) (2012). – Poetologisch-
poetische Interventionen – Gegenwartsliteratur schreiben (Hg. mit Alo
Allkemper u. Hartmut Steinecke) (2012). Herausgeber der Zeitschrift für
deutsche Philologie und der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik.
ELIT, STEFAN, geb. 1972, Dr. phil., Akademischer Rat im Fach Neuere deut-
sche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik und Vergleichende
Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Arbeitsgebiete:
Literarische Antikerezeption und Übersetzung, Poetik und Sprachpatriotismus
in der Frühen Neuzeit (etwa bei F.G. Klopstock, J.H. Voß d.Ä., J.W.
v. Goethe); Erzählliteratur und Spielfilm in der DDR (v.a. 1960/70er
Jahre), deutschsprachige Gegenwartslyrik (U. Kolbe, D. Grünbein u.a.).
Neuere Veröffentlichungen u.a.: Lyrik. Gattungsgeschichte, Formen,
Analysetechniken (2008). – Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römische
Antike in deutschsprachiger Lyrik und Altphilologie der Gegenwart (Hg. mit
Kai Bremer u. Friederike Reents) (2010). – “. . . notwendig und schön zu wis-
sen, auf welchem Boden man geht”. Arbeitsbuch Uwe Kolbe (Hg.) (2012).
Herausgeber der Buchreihe Die Antike und ihr Weiterleben.
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GALLI, MATTEO, geb. 1960, Dr. phil., Professor für Deutsche Literatur an
der Universität Ferrara/Italien. Arbeitsgebiete: Neuere Deutsche Literatur,
Deutscher Film, Interkulturalität, Literatur und Terrorismus. Neuere
Veröffentlichungen u.a. Edgar Reitz (2006). – Mythos Terrorismus (Hg.
mit Heinz-Peter Preußer) (2006). – Deutsche Gründungsmythen (Hg. mit
Heinz-Peter Preußer) (2008). – “Cronache di Atlantide (1989-2009)”.
In: L’invenzione del futuro, hg. v. Michele Sisto (2009). – Deutsche
Familienromane (Hg. mit Simone Costagli) (2010). Übersetzer aus dem
Deutschen ins Italienische, Werke u.a. von Uwe Timm, Jens Sparschuh,
Volker Braun, Julia Franck.
HOFMANN, MICHAEL, geb. 1957, Dr. phil., Professor für neuere deutsche
Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn,
Dissertation zur “Ästhetik des Widerstands” von Peter Weiss, Habilitation
zu Wielands Versepen; Neuere Veröffentlichungen u.a.: Interkulturelle
Literaturwissenschaft (2006). – Der Deutschen Morgenland. Bilder des
Orients in der deutschen Literatur und Kultur 1770-1850 (Hg. mit Charis
Goer) (2008). – Metzler Lexikon DDR-Literatur (Hg. mit Michael Opitz)
(2009).
HORSTKOTTE, SILKE, geb. 1972, Dr. phil., Privatdozentin für Neuere deut-
sche Literatur an der Universität Leipzig. Arbeitsgebiete: Erzählliteratur
des 20. und 21. Jahrhunderts, literarische Visualität, Film und Fotografie,
Erinnerungskulturen, Literatur und Religion sowie Narratologie. Neuere
Veröffentlichungen u.a.: Nachbilder: Fotografie und Gedächtnis in der deut-
schen Gegenwartsliteratur (2009). – “Seeing or Speaking: Visual Narratology
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JÄGER, ANDREA, geb. 1956, Dr. phil., Professorin für Neuere und neueste deut-
sche Literatur am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg. Sprecherin des interdisziplinären Promotionsstudiengangs
Sprache – Literatur – Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Literatur des
19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, insbesondere Literatur und Ästhetik
des Bürgerlichen Realismus, der Weimarer Republik, der DDR und der
Nachwendeliteratur. Promotion zum Dramatiker Peter Hacks, Habilitation
zum Historischen Erzählen bei Conrad Ferdinand Meyer. Neuere
Publikationen u.a.: Masse Mensch. Das “Wir” – sprachlich behauptet,
ästhetisch inszeniert. (Hg. mit Gerd Antos und Malcolm H. Dunn) (2006). –
Religionskritik in Literatur und Philosophie nach der Aufklärung (Hg. mit
Carsten Jacobi und Bernhard Spies) (2007). – Wahrnehmungskulturen.
Erkenntnis – Mimesis – Entertainment (Hg. mit Gerd Antos, Thomas Bremer
und Christian Oberländer) (2008). – Heitere Spiele über den Ausgang der
Geschichte. Peter Hacks und die Komödie im Kalten Krieg (Hg.) (2012).
JÄGER, CHRISTIAN, geb. 1964, Dr. phil., Privatdozent für Neuere deutsche
Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsgebiete: Literatur
um 1800 sowie der Weimarer Republik, Kurzprosa, Nachkriegs- und
Gegenwartsliteratur, Verhältnis von Philosophie und Literatur, Ästhetik-
und Mediengeschichte, Berlin-Darstellungen. Neuere Veröffentlichungen
u.a.: Michel Foucault – Das Ungedachte denken. Entwicklung und Struktur
des kategorialen Zusammenhangs in Foucaults Schriften (1994). – Gilles
Deleuze. Eine Einführung (1997). – Städtebilder zwischen Literatur und
Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik (mit
Erhard Schütz) (1999). – Minoritäre Literatur. Das Konzept der kleinen
Literatur am Beispiel prager- und sudetendeutscher Werke (2005).
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LUDWIG, JANINE, geb. 1974, Dr. phil., Akademische Direktorin des Dickinson-
in-Bremen-Programms an der Universität Bremen. Arbeitsgebiete:
DDR-Literatur, Heiner Müller, deutsche Gegenwartsliteratur, politische, phi-
losophische und kulturgeschichtliche Aspekte in Literatur, Film und Theater.
Neuere Veröffentlichungen u.a.: Literatur ohne Land? Schreibstrategien
einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland (Hg. mit Mirjam Meuser)
(2009). – Macht und Ohnmacht des Schreibens. Späte Texte Heiner Müllers
(2009). – Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers
in der Bundesrepublik – Rezeption und Wirkung (2009). Stellvertretende
Vorstandsvorsitzende der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft.
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OPITZ, MICHAEL, geb. 1953, Dr. phil., Dozent für Neuere deutsche Literatur
und Theater am IES-Berlin. Arbeitsgebiete: Neuere deutsche Literatur, DDR-
Literatur, Theaterwissenschaften, Walter Benjamin, Franz Hessel, Thomas
Bernhard, Wolfgang Hilbig. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Brecht Lexikon
(Hg. mit Ana Kugli) (2006). – Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen
bis zu Gegenwart (Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
seit 1989, zus. mit Carola Opitz-Wiemers) (2008). – Metzler Lexikon DDR-
Literatur (Hg. mit Michael Hofmann) (2009). – In diesem Land. Gedichte
1990–2010 (Hg. mit Michael Lentz) (2010).
SCHÖNING, MATTHIAS, geb. 1969, Dr. phil., Privatdozent und Akad. Rat für
Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der
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