Muhr, Schrodt, Wiesinger Österreichisches Deutsch
Muhr, Schrodt, Wiesinger Österreichisches Deutsch
-III-
ÖSTERREICHISCHES DEUTSCH
LINGUISTISCHE, SOZIALPSYCHOLOGISCHE
UND SPRACHPOLITISCHE ASPEKTE
EINER NATIONALEN VARIANTE DES DEUTSCHEN
HERAUSGEGEBEN VON
Die vorliegende Reihe hat das Ziel, Arbeitsmaterialien und Handbücher für die
Bereiche "Österreichisches Deutsch" und "Deutsch als Fremdsprache" zur Verfügung zu
stellen. Sie versucht, dem dringenden Bedarf nach Unterrichtsmaterialien und gut fun-
dierten Untersuchungen abzuhelfen, der für die Bereiche Deutsch als Fremdsprache und
für Deutsch in Österreich besteht.
Besonders für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache
in Österreich fehlen Materialien, die auf die spezifischen Lehr- und Lernbedingungen in
Österreich Rücksicht nehmen. Darüber hinaus besteht auch Bedarf an Materialien
verschiedenster Art für den österreichbezogenen Unterricht im Ausland. Für die Reihe
stehen Konzepte des interkulturellen Lernens sowie kommunikative und alternative
Ansätze der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache im Mittelpunkt.
Ein weiteres Anliegen ist es, Unterrichtsmaterialien und Untersuchungen zum
österreichischen Deutsch zur Verfügung zu stellen, die es den DeutschlehrerInnen im
In- und Ausland ermöglichen, fundierte Aussagen über diese Variante der deutschen
Gegenwartssprache machen zu können. Zugleich soll das Bewußtsein über die
linguistischen und kulturellen Grundlagen des österreichischen Deutsch auf der Ebene
der Standardsprache und der Alltagssprache gefördert werden. Dabei wird von einem
Konzept des Deutschen als "plurizentrischer Sprache" mit drei gleichberechtigten
Varianten des Deutschen ausgegangen.
Die entsprechenden Unterrichtsmaterialien und Untersuchungen sollen die
Kenntnis des österreichischen Deutsch verbessern und einen Einblick in die Vielfalt des
Deutschen geben. Die Reihe, die von R. Muhr begründet wurde, wird jetzt von Rudolf
Muhr und Richard Schrodt gemeinsam herausgegeben.
Inhaltsverzeichnis
Resolution
der TeilnehmerInnen an der Tagung "Österreichisches Deutsch."
............................................................................................................... Fehler! Textmarke nicht definiert.
Hans Moser:
Westösterreich und die Kodifizierung des "österreichischen Deutsch". ....................................166
Jakob Ebner:
Vom Beleg zum Wörterbuchartikel - Lexikographische Probleme
zum österreichischen Deutsch. .......................................................................................................178
Matthias Wermke:
Austriazismen im gemeinsprachlichen Wörterbuch des Deutschen, dargestellt an
DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch (DDUW), 2. Auflage 1989. .................................... 197
Rudolf Muhr:
Grammatische und pragmatische Merkmale des Österreichischen Deutsch............................. 208
Michael Bürkle:
Österreichische Standardaussprache: Vorurteile und Schibboleths............................................ 235
Flemming Talbo Stubkjær:
Überlegungen zur Standardaussprache in Österreich.................................................................. 248
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprecherschulung im ORF ........................................................................................................ 269
Otto Back:
Überlegungen zu einer österreichischen Standardlautung des Deutschen. ............................... 280
Nachbarsprachliche Aspekte: Gegenseitige Einflüsse zwischen dem österreichischen
Deutsch und den Sprachen in den umliegenden Nachbarländern Österreichs
Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:
Die deutsche Standardsprache in Südtirol. .................................................................................... 287
Anthony R. Rowley:
Bavarismen. Das Bayerische Deutsch. ............................................................................................ 305
Mária Papsonová:
Zum gegenseitigen Einfluß des österreichischen Deutsch und des Slowakischen..................... 313
Libuše Spáèèilová:
Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des österreichischen Deutsch
in der näheren Geschichte und Gegenwart. ..................................................................................326
Stanko epiææ:
Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek - Zur Geschichte
der deutschen Sprache in Kroatien. ................................................................................................ 354
Renata Horvath-Dronske:
Die Übernahme von Lehnwörtern aus dem österreichischen-deutschen
Sprachraum im kajkawischen Dialekt von Hrvatsko Zagorje (Kroatien). ................................. 374
Sachregister.......................................................................................................................................380
Register der angeführten Ausdrücke und Belege .......................................................................... 384
-IV-
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt die Vorträge der gleichnamigen Tagung, die
vom 22.-24. Mai 1995 an der Karl-Franzens-Universität Graz stattfand. Veranstalter
war das Internationale Forschungsinstitut Kulturwissenschaften (IFK, Wien),
Mitveranstalter waren darüber hinaus das Institut für Germanistik der Karl-Franzens-
Universität Graz, das Institut für Germanistik der Universität Wien und VERBAL,
Verband für Angewandte Linguistik, AILA Österreich. Die Inititiative zur Tagung ging
von Rudolf Muhr aus, bei der er von Richard Schrodt aktive Unterstützung und
Hilfestellung (Antragsstellung und Tagungsorganisation) fand. Zu einem späteren
Zeitpunkt wurde bekannt, daß auch Prof. Wiesinger für Herbst 1995 eine Tagung zum
österreichischen Deutsch geplant hatte. Nach eingehenden Gesprächen wurde
beschlossen, die beiden Tagungen zusammenzulegen und gemeinsam durchzuführen,
was sich als gute Entscheidung erwies, da damit eine umfassende Diskussion
verschiedener Aspekte des österreichischen Deutsch aus verschiedenen Blickwinkeln
möglich wurde.
Die Tagungsorganisatoren möchten dem IFK, das die Reise- und Aufenthaltskosten
der Referenten finanziert hat, für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung
danken. Der Dank gilt auch dem Bundesministerium für Wissenschaft und Kultur sowie
der Wissenschaftsabteilung der Steiermärkischen Landesregierung, die beide für die
Unterstützung von TagungsteilnehmerInnen aus osteuropäischen Ländern sowie für den
Organisationsaufwand eine Subvention zur Verfügung gestellt haben. Dem
Landeshauptmann der Steiermark sei herzlich für den Empfang der TeilnehmerInnen in
den Repräsentationsräumen der Steiermärkischen Landesregierung gedankt.
An der Tagung nahmen insgesamt 180 TeilnehmerInnen aus 16 verschiedenen
Ländern teil. Die Vorträge der insgesamt 25 ReferentInnen, die aus 11 Ländern kamen,
trafen auf ein interessiertes und engagiertes Publikum, was zu intensiven und zuweilen
auch emotionalen Diskussionen führte. Im vorliegenden Band sind 22 der 25 Vorträge
in überarbeiteter Form abgedruckt. Drei Beiträge fielen aus. An ihrer Stelle wurden die
Arbeiten von Glauninger, Horvath-Dronske und Kelle aufgenommen, da sie zur
aktuellen Diskussion interessante Aspekte beisteuern und gut zum Inhalt der anderen
Beiträge passen. Die Beiträge wurden von den Herausgebern nur in formaler, nicht aber
in inhaltlicher Hinsicht bearbeitet. Der Band enhält auch ein von R. Muhr erstelltes
Register, das die in den Beiträgen enthaltenen Sprachbelege der nationalen Varianten
des Deutschen sowie der Nachbarsprachen verzeichnet.
Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Beiträge in drei Abschnitten
zusammengefaßt:
1. Theoretische, sprachpolitische und sozialpsychologische Aspekte des
österreichischen Deutsch und des Konzepts "Deutsch als plurizentrische Sprache".
An die
Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten,
Frau Elisabeth Gehrer
Minoritenplatz 5
1010 Wien
RESOLUTION
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am wissenschaftlichen Kolloquium
"Österreichisches Deutsch" zum "Österreichischen Wörterbuch" und zur
österreichischen Sprachpolitik
1. Die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirates zur Planung und Beratung, bestehend aus
ausgewiesenen Experten (Hochschulgermanisten und Lehrern) zum österreichischen Deutsch.
2. Die Gewährung einer Forschungsförderung zur Erstellung eines Belegkorpus, das gleichermaßen für
das "Österreichische Wörterbuch" und zur Untersuchung der Verbreitung, Gültigkeit und Akzeptanz
des österreichischen Wortschatzes im amtlichen, medialen und alltagssprachlichen Gebrauch zur
Verfügung stehen soll.
3. Die Förderung der Verwendung und Verbreitung eines über die Schulausgabe hinausgehenden
"Österreichischen Wörterbuches" im amtlichen und öffentlichen Bereich.
4. Die TeilnehmerInnen des Kolloquiums treten auch dafür ein, daß über die Förderung des ÖWB hinaus
auch die Erstellung eines Aussprachewörterbuchs, eines Bedeutungswörterbuchs und einer Grammatik
des österreichischen Deutsch zu einem vorrangigen wissenschaftspolitischen und kulturpolitischen
Ziel erklärt und auch diesbezüglich konkrete Schritte zu ihrer Verwirklichung unternommen werden.
Damit sollen Unsicherheiten im Sprachgebrauch verringert und mehr Wissen über die Normen der in
Österreich gebräuchlichen Form der deutschen Standardsprache verfügbar gemacht werden, damit die
sichere und selbstbewußte Verwendung der österreichischen Standardsprache in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens gefördert bzw. sichergestellt wird.
Darüber hinaus und in Hinblick auf die geänderte politische Lage, die durch die Ereignisse seit dem
Jahre 1989 und nicht zuletzt durch den Beitritt zur EU entstanden ist, erscheint den
Kolloquiumsteilnehmern die Neubestimmung der österreichischen Sprachpolitik und ihre explizite
Ausformulierung notwendig. Sie schlagen daher die Gründung einer Enquetekommission vor, die sich mit
den Fragen der Statusplanung des österreichischen Deutsch und Fragen der Minderheiten- und
Zuwanderersprachen befassen soll.
Ass.-Prof. Dr. Rudolf Muhr Tit. ao. Prof. Dr. Richard Schrodt O. Univ.-Prof. Dr. Peter Wiesinger
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 7-16
Michael Clyne
(Clayton, Melbourne)
1. Einleitung
In den folgenden Beobachtungen möchte ich zunächst ein paar Punkte aus
einem IFK-Werkstattgespräch zum österreichischen Deutsch im vorigen November
kurz zusammenfassen und erweitern, dann einiges zur Sprachplanung sagen, und
einige Vorschläge zu einer koordinierten Sprachpolitik machen, die die künftigen
internen und externen Funktionen des österreichischen Deutsch im Mittelpunkt hat.
Plurizentrische Sprachen sind grenzübergreifende Sprachen mit konkurrier-
enden, aber auch interagierenden, nationalen (und gar übernationalen) Standard-
varietäten mit verschiedenen Normen, die eine gemeinsame Tradition teilen. Die
Bezeichnung will nicht auf territorial fest umrissene "Zentren" hinweisen, sondern
auf Situationen, in denen dieselbe Sprache in verschiedenen identifizierbaren
Gesellschaftsentitäten gebraucht wird. Dies ergibt sich aus historischen und soziolo-
gisch erklärbaren Prozessen, in denen Gesellschaften mit spezifischen Institutionen
entstehen. (Die Traumatisierung des Begriffs "national" im Deutschen lenkt hier von
seiner Nützlichkeit ab).
Es gibt zweierlei Kriterien für die Bestimmung und Unterscheidung von
Sprachen: die sprachlichen Formen (nach Kloss 1978 das Abstandsprinzip) und die
soziolinguistischen Funktionen (nach Kloss das Ausbauprinzip). Außersprachliche
Umstände wie der Wille, durch die Sprache eine distinktive nationale Identität
auszudrücken, hat aus Schwestervarietäten wie Indonesisch/Malaysisch,
Tschechisch/ Slowakisch, Hindi/Urdu autonome Sprachen gemacht. Dies ist durch
zwei Verfahren enststanden - die Erklärung der sprachlichen Varietät zur Sprache
und die Definierung der Sprache nach ihrem Corpus. Die Fachliteratur differenziert
zwar seit Kloss (1969) zwischen der Statusplanung, die sich mit der Stellung einer
Sprache im Verhältnis zu anderen befaßt und der Corpusplanung, wo der Corpus, die
äußere Form der Sprache verändert wird. Eigentlich handelt es sich aber um kom-
plementäre Verfahren, denn Teil des Definierungsprozesses ist eine Abgrenzung von
1
Ich danke Leslie Bodi, Rudolf Muhr und Stephan Toth für wichtige Anregungen und Heinz Kreutz für
stilistische Vorschläge.
-8-
anderen Sprachen und Varietäten. Die nach der Erklärung zu autonomen Sprachen
bleibenden lexikalischen oder grammatischen Ähnlichkeiten (wie etwa bei Dänisch,
Schwedisch und Norwegisch) können den Status einer Sprache keineswegs beein-
trächtigen.
5. Sprachplanung
Die Normierung des Wortschatzes des österreichischen Deutsch im ÖWB ist deut-
lich eine Form der Sprachplanung. Es ist jedoch potentiell nur ein Teil einer solchen Ak-
tion, denn die Aussprache und Grammatik und sonstige Aspekte der Sprache bleiben
unberührt und die notwendigen begleitenden Maßnahmen der Statusplanung sind
eigentlich nicht vorgenommen worden. Die Sprachplanung ist ein systematischer,
zukunftsorientierter Versuch, nach theoretischen Grundlagen, sprachliche Probleme zu
lösen. Unter den Tätigkeiten, die unter "Sprachplanung" subsumiert werden, sind die
Standardisierung einer Sprache, die Kodifizierung der Morphologie, die Entwicklung
einer neuen Orthographie, das Schaffen eines neuen Alphabets und die Beseitigung von
sogenannten "fremden" Elementen oder von denen, die gegen Teile der Bevölkerung
diskriminieren. Zu den Aufgaben der Corpusplanung gehört die Normierung. Die
Statusplanung hat generell zum Ziel:
1. die Entwicklung einer Sprache bzw. sprachlicher Existenzform als Symbol der
nationalen Identität,
2. die Verbreitung einer Sprache auf nationaler oder internationaler Ebene,
3. Minderheitsgruppen Rechte zu erteilen.
In der Sprachplanung geht man von einigen Etappen aus: Formulierung, Im-
plementierung, Elaborierung, Evaluierung (Haugen 1966, Rubin 1973). In seiner
Graduierung einer Nationalvarietät von voller Endonormativität (einheimische Nor-
men) bis zur vollen Exonormativität (Außennormen) unterscheidet Ammon (1989)
zwischen zweierlei Wirkungsträger der Sprachplanung - Kodex (Wörterbuch,
Grammatik, Aussprachehandbuch) und Modell-Sprachgebraucher. Der Grad der
Endonormativität variiert, je nachdem wie weit die Kodexe und die Modelle aus dem
In- oder dem Ausland stammen. Wie bei der Definierung einer autonomen Sprache
spielt auch bei Nationalvarietäten eine bewußte Abgrenzung (der 'Ausbau', nach
Kloss 1978) eine wesentliche Rolle. Auch erfordert eine erfolgreiche Sprachplanung
eine Abstimmung zwischen Kodex und Modellsprachgebrauch(ern). Corpusplanung
wird meist durch Linguisten entweder auf eigene Veranlassung oder unter Auftrag
bzw. von Sprachakademien durchgeführt, in manchen Fällen durch Interessen-
gruppen wie Feministen oder die Friedensbewegung. Um Erfolg zu haben, benötigen
Normen sowohl offizielle wie auch populäre Unterstützung. Manchmal ist eine
Sprachpolitik eigentlich fragmentarisch; manche Sprachpolitik wird lediglich explizit
oder ad hoc durchgeführt, im Gegensatz zu einer koordinierten Sprachpolitik, die alle
Aspekte der Sprache(n) umfaßt.
5.1 Ansätze zu einer österreichischen Sprachpolitik
Österreich verfügt bislang über keine explizite Sprachenpolitik. Wenn auch der
Standardisierungsprozeß des Deutschen mit der Einführung der Schriftlichkeit durch
staatliche Institutionen und die Kirchen durchgeführt und besonders durch den
Buchdruck verstärkt wurde (vgl. Anderson 1983), wird in der deutschen Sprachge-
meinschaft die Existenz der deutschen Sprache für selbstverständlich gehalten und
daher keine bewußte Sprachpolitik betrieben. In Österreich gibt es aber einige
Ansätze hierzu, die z.T. implizit durchgeführt werden. z.B.
I. Die Erklärung des Deutschen zur Amtssprache
In der österreichischen Bundesverfassung heißt es: "Die deutsche Sprache ist,
unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten
Rechte, die Staatssprache der Republik" (Art. 8). Keineswegs alle Staaten erklären ihre
Amtssprache in der Verfassung.
II. Der Schutz der Minderheitssprachen Kroatisch und
Slowenisch, mindestens in gewissen Gebieten
Nach Art. 7 des Staatsvertrags von Wien genießen slowenische und kroatische
Minderheiten in Kärnten, Burgenland und Steiermark das Recht auf Organisationen,
Versammlungen und Presse - und im Interesse der bilingualen Entwicklung -
Elementarschulunterricht sowie eine verhältnismäßige Zahl eigener Mittelschulen in
ihrer eigenen Sprache (s. auch Erklärung 4 zu Art. 7). Ferner wird in Gebieten der
obengenannten Bundesländer mit kroatischen, slowenischen und gemischten
Bevölkerungen Kroatisch bzw. Slowenisch neben Deutsch als Amtssprache
zugelassen. Allerdings ist dieser Gebrauch "auf bestimmte Personen und
Angelegenheiten beschränkt" (Par. 1, Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich
118, 1976) (auch Art. 66, Abs.4 des Staatsvertrags v. St. Germain, das
Volksgruppengesetz 1976/ 396). Gewisse gesetzliche Privilegien dieser Art gelten
auch für die Ungarischsprachigen im Burgenland und die Tschechischsprachigen in
Wien (Minoritätsakt 1976) aber nicht für die Romanisprachigen oder die
Migrantengruppen in Österreich (Wodak/De Cillia et al. 1995, Holzer und Münz
1993).
III. Verbreitung der deutschen Sprache und österreichischen
Landeskunde im Ausland, insbesondere in den Nachbarstaaten
Die österreichischen Lektoren in Ungarn, der Slowakei, der Tschechischen Re-
publik und in anderen Ländern sowie die von österreichischen Universitäten ange-
botenen österreichisch-orientierten Aus- und Fortbildungskurse für Deutsch-
lehrer/innen und das Österreichische Sprachdiplom bilden eine potentielle Kompo-
nente einer noch nicht koordinierten Sprachpolitik.
IV. Österreichs Verantwortung für den Schutz der deutschen
Sprache in Südtirol als Teil der Regionalautonomie
V. Verhandlungen mit der EU gemäß Protokoll 10 um die
Beibehaltung von 23 österreichisch-deutschen Wörtern im
kulinarischen Bereich
Der Schutz der Minderheitssprachen, darunter des einzigartigen Burgen-
ländischen Kroatisch mit seinen eigenen Normen, ist ein Anzeichen für die Anerken-
nung der symbolischen Bedeutung der Sprache. Es wäre konsistent, diesen Aspekt als
Hebel einer Sprachplanung auszuweiten, die die mehrfache Identität anerkennt, die
-12-
seit der Zeit der Monarchie mit Österreich verbunden ist. Allerdings ist schon das
Bestehen des ÖWB, das vom Unterrichtsministerium und von einem Bundesverlag
veröffentlicht wird und seit 1979 die eigenen Normen entwickelt, eine Anerkennung
dafür, daß die Corpusplanung Bestandteil einer impliziten österreichischen Sprach-
politik ist. Trotz beschränkter Mittel gibt das ÖWB seinen Anstoß.
5.2 Australische Initiativen
Damit eine Sprachpolitik die Belange aller Bevölkerungsteile und Interessen-
gruppen vertritt, ist es erforderlich, daß möglichst viele die Gelegenheit haben, an der
Sprachpolitik mitzuwirken. Es ist mir klar, daß Initiativen je nach dem Land unter-
schiedlich gehandhabt werden müssen. Ich möchte aber auf unsere australische
Erfahrung hinweisen. Die treibende Kraft hinter einer koordinierten australischen
Sprachpolitik kam von einer "Interessengemeinschaft" von Linguisten, Sprachlehrern,
ethnischen und Ureinwohnergruppen und wurde 1982 von der damaligen konser-
vativen Regierung aufgegriffen. Eine parlamentarische Enquetekommission, die aus
drei Politikern der konservativen Regierung und drei der Arbeiterpartei, der dama-
ligen Opposition, bestand, wurden damit beauftragt, Ermittlungen über den Bedarf
einer koordinierten Sprachpolitik für Australien anzustellen. Das umfangreiche
Ausmaß umfaßte u.a. die englische Sprache in Australien und ihr Verhältnis zu den
anderen in Australien gebrauchten Sprachen, den Ureinwohner- und Einwanderer-
sprachen, den Sprachengebrauch in öffentlichen Bereichen, den Unterricht von
Sprachen außer Englisch, den landesinternen und externen Gebrauch solcher
Sprachen, die Verständlichkeit der Rechts- und Vertragssprache, den Übersetzungs-
und Dolmetscherdienst und die Sonderbedürfnisse der Sprach- und Hörgeschädigten.
Im Laufe der Ermittlungen, die sich über etwa 18 Monate erstreckten, wurden 94
Zeugen gehört und 241 schriftliche Vorlagen erhalten, von Ministerien, Lehrerver-
bänden, Gewerkschaften, Hochschulen, Privatunternehmen, Ureinwohner- und
ethnischen Gruppen und Individuen. Der Bericht dieser Enqueten bildete die Grund-
lage für die National Policy on Languages (Lo Bianco, 1987) und späterer Sprachpoli-
tiken.
Bis etwa 1970 betrachtete sich Australien als eine Art Außenposten Großbri-
tanniens in den Antipoden und bevorzugten wenigstens die Eliten britische Kodexe
und Modelle für das Englische. Australisches Englisch wurde noch für "schlechtes
Englisch" gehalten. Der stark zunehmende Gebrauch einer vom britischen Englisch
weiter entfernten Varietät (Horvath, 1985) ist eng mit einer selbständigeren Außen-
politik und einem neuen multikulturellen Selbstverständnis verbunden. Zu den
wichtigsten Wirkungsträgern der fortgeschrittenen Kodifizierung des Australischen
Englisch gehören in erster Linie die Australian Broadcasting Corporation, die jetzt (im
Unterschied von vor 25 Jahren) die Eigennormen verbreitet, die Schulbücher, die
jetzt überwiegend in Australien hergestellt werden, und das seit 1981 erscheinende
Macquarie Dictionary, das als Autorität das Oxford English Dictionary allmählich
abgelöst hat. Wie das ÖWB seit 1979 markiert das Macquarie Dictionary die Außen-
normen und läßt die Eigennormen unmarkiert. Wenn auch konservativere und bri-
tisch-gesinnte Teile der Bevölkerung auf den Gebrauch des Oxford harren, hat das
australische Wörterbuch Anerkennung gefunden, nicht zuletzt durch seine Nähe zur
Sprachgemeinschaft. Durch eine Macquarie Dictionary Society mit regelmäßigem
Rundbrief werden die Benutzer mit der Registrierung neuer Wörter und neuer Ver-
wendungsweisen, Kritik bisheriger Auflagen und der Suche nach Belegen involviert.
Die Kodifizierung des Australischen Englisch wurde durch seine relative regionale
Homogenität erleichtert. Auch sind die Normen flexibler als in den USA oder in
Großbritannien. Erschwert wird die Kodifizierung durch den überaus großen
amerikanischen Einfluß auf das Australische Englisch.
5.3 Vorschläge für eine österreichische Sprachpolitik2
Aus der Kritik der letzten drei Auflagen des ÖWB (berechtigt oder unberechtigt)
lassen sich drei verhältnismäßige Mängel erkennen: Die geringe Zahl einschlägiger
empirischer Studien, die Notwendigkeit eines umfangreicheren Grundlagencorpus
(und das heißt auch mehr finanzielle Unterstützung für die unerläßlichen Corpus-
analysen und soziolinguistischen Untersuchungen) und eine regional und sozial
breitere Gruppe von Mitentscheidenden. Meines Wissens hat es bislang keine einzige
öffentliche Umfrage zum österreichischen Deutsch bzw. zu österreichischen Normen
gegeben. Die Normierung und Beschreibung des österreichischen Deutsch müßte
aber auch die Phonologie/Phonetik umfassen. Der Siebs ist schon längst überholt und
beruht auf der Voraussetzung einer asymmetrischen Plurizentrizität. Es genügt nicht,
sich auf ein Mannheimer Aussprachewörterbuch zu verlassen, das österreichisches
(und schweizerisches) Standarddeutsch (wohlwollend) auf die gleiche Ebene wie
süddeutsche Dialekte stellt. Es muß anhand empirischer Daten festgestellt werden,
welche grammatischen Strukturen in Österreich standardsprachlich sind (z.B. kom-
men hätte können; ist gesessen) und inwiefern und wofür die Außennormen gelten.
Da wesentliche Differenzen zwischen österreichischem Deutsch und anderen Stan-
dardvarietäten auf pragmatischer und diskursorganisatorischer Ebene zu finden sind,
müßte man bedenken, ob diese Aspekte, die ohnehin in der Verhaltensregelung
festgelegt sind, zu kodifizieren wären. Einiges spricht meines Erachtens dafür, daß
Österreich jetzt die Entwicklung einer expliziten Sprachpolitik vornehmen soll. Die
dramatischen Ereignisse der letzten fünf Jahre erfordern eine Bestätigung der mehr-
fachen Identität durch die Sprache. Österreich muß sich darüber im klaren sein, was
seine Standardnormen sind, womit es seine Identität sprachlich ausdrückt, womit
sich das österreichische Deutsch von anderen Nationalvarietäten (insbes. vom
bundesdeutschen Standarddeutschen) abgrenzen will und was für ein Deutsch ins
Ausland exportiert werden soll. Eine österreichische Sprachpolitik sollte daher durch
folgende Prozesse entwickelt werden:
2
Nach diesem Vortrag erfuhr ich, daß ähnliche Konzepte bereits im Kreise österreichischer Lehrer für
Deutsch als Fremdsprache und angewandter Sprachwissenschaftler besprochen werden.
-14-
wird in Umfragen immer mehr belegt. Die Voraussetzung eines homogenen interna-
tionalen Deutsch, das verteidigt werden muß, ist eine Fiktion, die auch bei anderen
plurizentrischen Sprachen existiert. Das wohlbekannte Beispiel des Englischen in
seinen vielen Erscheinungsformen zeigt klar, daß die Einheit und Effizienz einer
Sprache nicht gefährdet werden, wenn sie in allen Gebrauchsdomänen die kollektive
Selbstdarstellung ermöglichen. Der Unterschied zu den Sprachen, die sich spalten, ist,
daß eine gemeinsame Verantwortung für die Sprache durch die Schrift- und Ortho-
graphienormierung weiter getragen wird, wie wir es bei der internationalen
Rechtschreibreform des Deutschen gesehen haben. Jede Planung bezüglich einer
plurizentrischen Sprache muß freilich die Interaktion zwischen den Varietäten
berücksichtigen. In diesem Falle entspricht die Anziehungskraft Deutschlands in
einigen Aspekten der Attraktivität der USA im englischsprachigen und interna-
tionalen Kontext. Die deutsche Form kommt vor als die trendy Variante der jungen
Leute (z.B. zuweilen zwo für zwei), im Interesse des Tourismus (Schweinebraten für
Schweinsbraten auf der Speisekarte) oder wegen des Imports deutscher Produkte
(Müll statt Mist auf deutschem Mistkübel in Wien) bzw. Synchronisierung englisch-
sprachiger Filme im bundesdeutschen Deutsch. Die Diskussion des historischen Erbes
Österreichs überlasse ich denen, wie Leslie Bodi, die besser qualifiziert sind darüber
zu sprechen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß es, trotz der Spannung in der
deutschen Sprache zwischen den instrumentalen und symbolischen Funktionen der
Sprache, der Donaumonarchie gelungen ist, die Sprachpolitik zur Tradition zu
machen. Da die Sprachpolitik des 21. Jahrhunderts auf der Sprachvariation beruhen
muß, ist ein Land mit einer Geschichte des Sprachenkontakts in einer günstigen Lage,
eine solche zu entwickeln. Für die Bewältigung dieses Vorhabens wünsche ich Ihnen
auf alle Fälle viel Erfolg.
Literatur:
Ammon, Ulrich (1989a): Towards a descriptive framework for the status/ function/
status position of a language within a country. In: Ammon, Ulrich (Hrsg.)
(1989b): S.21-106.
Ammon, Ulrich (Hrsg.) (1989b): Status and function of languages and language
varieties. Berlin.
Anderson, Benedict (1983): Imagined communities. London.
Clyne, Michael (Hrsg.) (1992): Pluricentric Languages. Berlin.
Clyne, Michael (1995): The German Language in a Changing Europe. Cambridge.
De Cillia, Rudolf, Florian Menz, Wolfgang U. Dressler und Petra Cech (1995): Lin-
guistic Minorities in Austria. In: Paulson, Christina Bratt (Hrsg.): Linguistic
Minorities in Central and Eastern Europe.
Dressler, Wolfgang U. und Ruth Wodak (1982): Soziolinguistische Überlegungen
zum "Österreichischen Wörterbuch". In: Dardano, Maurizio, Wolfgang Dressler
und Gerhard Held (Hrsg.): Parallela (=Akten des 2. österreichisch-italienischen
Linguistentreffens). Tübingen, 247-260.
Ebner, Jakob (1981): Wie sagt man in Österreich? Mannheim.
-16-
Leslie Bodi
(Clayton, Melbourne)
1.1 Vorbemerkung
Meine Aufgabe ist hier, die Frage nach dem österreichischen Deutsch in einen
allgemeineren kulturhistorischen Kontext zu stellen, der vielleicht etwas über die rein
fachlinguistischen Aspekte dieses Problems hinausgeht.1 Ich sehe Sprache im wei-
testen Sinne des Wortes in ihrer Funktion als instrumentalem Kommunikationssystem
und auch in ihrer Rolle als Mittel der Identifikation und Selbstidentifikation von
Individuen und Gesellschaftssystemen. All dieses ist wichtig für die Entwicklung des
Nationalismus in der westlichen Welt seit dem Ausgang des Mittelalters, vor allem
aber des bewußt artikulierten Sprachnationalismus des 19. Jahrhunderts. Für Litera-
turhistoriker sind diese Fragen besonders relevant. Sprache ist ja das Rohmaterial für
Literatur als Sprachkunst. Sie hat eine pragmatische Kommunikationsfunktion,
gleichzeitig aber auch einen entwicklungspsychologisch tief verankerten symbo-
lischen Aussagewert, der ihr eine einzigartige Stellung in der Ausbildung der indivi-
duellen Persönlichkeitsstruktur sowie im Verlauf gesellschaftlicher Identifikations-
prozesse gibt. Über die einzelnen Aspekte der Sprache gibt es eine reichhaltige
Literatur - weniger bekannt und vielfach durch Sprach- und Gedankenregelungen
behaftet sind die Wechselwirkungen dieser Sphären innerhalb des deutschen
Sprachgebiets, auch wegen der katastrophalen Erfahrungen des offen aggressiven
und rassistischen Nationalismus der Nazizeit. Trotz wichtiger Publikationen der
1
Zur allgemeinen Information sind die Leser auf die in der Bibliographie angegebenen Werke
verwiesen. Die Anmerkungen beziehen sich vor allem auf besondere Diskussionspunkte. Sie
beziehen sich auch auf die ausführlichere Behandlung besonderer Fragen in meinen früheren
Artikeln; die historischen Aspekte sind jetzt eingehender behandelt in L. Bodi ”Internationale
Verständigung und nationale Identität - Modellfall Österreich”. In Herbert Arlt (Hg.): Kunst und
Internationale Verständigung. Unesco-Konferenz 18 - 20. 9. 1994. Bücherreihe I. Bd. 1 des Institutes
zur Erforschung und Förderung internationaler Literaturprozesse. St. Ingbert. 1995 (im Druck). Viele
Fragen wurden in Gesprächen mit Marianne Bodi, Michael Clyne und Moritz Csáky besprochen; bei
der technischen Herstellung des Artikels halfen Michael Haider und Charlotte Philipp. Ihnen sei
herzlich gedankt.
-18-
letzten Jahre gilt hier immer noch in vieler Hinsicht die Aussage von Norbert Elias aus
seinem Buch Über die Deutschen: ”In der Regel unterliegt die leidenschaftslose Erfor-
schung nationalistischer oder patriotischer Glaubensdoktrinen bis heute einem recht
starken Denkverbot. Sie ist sozial tabuiert.” (Elias, 1989:205) Dieser Ausspruch ist
für das Thema unserer Konferenz durchaus relevant.
1.2 Das österreichische Deutsch
Ich sehe mit Michael Clyne das österreichische Deutsch als nationale Standard-
variation der plurizentrischen deutschen Sprache an. Es soll dazu bemerkt werden,
daß der Gebrauch des Wortes ”national” im westlich-angelsächsischen Kontext viel
weniger emotional belastet ist als im kontinentalen Europa. Natürlich entsteht im
plurizentrischen deutschen Sprachraum ein besonderes Problem durch die Tatsache,
daß eines seiner Gesellschaftssysteme die Sprachbezeichnung zum Staatsnamen
gemacht hat. Die Existenz eines Deutschland genannten Nationalstaates macht es für
andere deutschsprachige Gesellschaften terminologisch schwierig, ihre eigene staat-
liche und sprachliche Eigenart zu bestimmen - ähnliche Probleme gibt es aber auch
in vielen anderen plurizentrischen Sprachgebieten der Welt (Clyne, 1992). Nicht alle
Deutschsprechenden leben in Deutschland, und in der mitteleuropäischen Region
existierten bis zur Verschärfung der nationalistischen Sprachkonflikte im 19. Jahr-
hundert viele sprachliche und ethnische Gruppen weitgehend friedlich mit- und
nebeneinander. Besonders das Beispiel der Donaumonarchie zeigt, daß Staatsnation
und Sprachnation nicht deckungsgleich sein müssen (Csáky, 1991). Die Schweiz
existiert bis heute als beispielhaft funktionierendes, vielsprachiges Staatsgebilde,
wenn auch die sprachliche Abgrenzung der deutschsprachigen Schweizer dem nor-
mativen Anspruch der deutschen Kultur gegenüber keineswegs problemlos vor sich
ging.
1.3 Modelle des ” Ethnos” und ” Demos”
Die Frage nach der Selbstdefinition von Gesellschaftsgruppen geht weit hinter
die Zeiten des modernen Nationalismus zurück. Bei der sozialen Abgrenzung vom
Anderen, Fremden wird in der europäischen Tradition oft auf die griechischen Ter-
mini ”Ethnos” und ”Demos” zurückgegriffen - der erste betont die Rolle der gemein-
samen Abstammung, Tradition und Religion, wobei der Sprache als emotionell gela-
denem, symbolisch bedeutsamen Faktor eine besondere Rolle zukommt. Der Begriff
des ”Demos” betont eher die formierte Organisation einer Gesellschaft, in der
Sprache als Mittel instrumenteller Kommunikation gebraucht wird.2
2
Zur Frage von ”Ethnos” und ”Demos” vgl. vor allem E. Francis (1965). Hier und in den
Ausführungen von C. Leggewie und G. Welz (In: Berding, 1994, s. 46-81) zeigen sich die
Schwierigkeiten, die sich im deutschen Sprachraum auf allen Seiten des politischen Spektrums noch
immer aus dem Weiterleben des ethnischen Sprachnationalismus ergeben.
3
E. Renans vielzitierte Vorlesung ”Qu´est-ce-qu´une Nation?” wurde 1882 an der Sorbonne gehalten.
4
Zur Typologie der Verschiedenheiten der Entwicklung in den historisch entstandenen Regionen
Europas vgl. vor allem István Bibó (1992) und Jenö Szücs (1990).
5
Zur Problematik Mitteleuropa gibt es eine reichhaltige neue Literatur. Eine wichtige letzte
Zusammenfassung ist neben bedeutenden Artikeln von M. Csáky (bes. 1993b) und Jacques Le
Rider der Essay von Mihály Vajda, ”Die Bedeutung von 'Mitteleuropa'” in König, Christoph (Hg.)
(1995): Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945-1992 Berlin;/New York. S. 51-59.
6
Zur Frage der deutschen Selbstidentifikation neben N. Elias (1989) vgl. auch Mommsen, Wolfgang
(1990): Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage. München/Zürich; jetzt
zusammenfassend: Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen
Deutungsmusters. Frankfurt/M./Leipzig. Zahlreiche Artikel in B. Giesen (1991) und H. Berding (1994)
behandeln Themen des deutschen Nationalismus.
7
Fichtes ”Reden an die deutsche Nation” als Antwort auf die napoleonische Expansionspolitik spielten
eine wichtige Rolle bei der Entstehung des ”romantischen Nationalismus”. Vgl. die Beiträge in Eade,
J. C. (Hg.) (1983): Romantic Nationalism in Europe. Canberra. Über die ungarischen Aspekte gibt es
eine extensive Literatur. Zuletzt: Fernec Biró (1994): A felvilágosodas koának magyar irodalma.
Budapest. S. 119-141.
dung war ein aktiver, dynamischer Prozeß, eine Manifestation des aggressiven
Sprachnationalismus, der sich bis heute trotz des Unbehagens deutscher Bildungs-
bürger und Intellektueller noch immer in Erscheinungen wie der Bedeutung des
”Deutschtums”, und des ”ius sanguinis” im Bürgerrecht der Bundesrepublik
Deutschland ausdrückt.
2.2 Aufklärung und Staatsräson in der Habsburgermonarchie
Ganz anders entwickelten sich die Traditionen des vielsprachigen Staates der
Habsburger. Zum grundlegenden Problem wurde die Frage, wie sich der Zerfall einer
sich immer stärker profilierenden alten europäischen Großmacht verhindern ließe,
für die alle Manifestationen des Sprachnationalismus nur gefährlich werden konnten.
Die Abwehr der Türkengefahr forderte den weitgehendsten Zusammenhalt der
Länder der Habsburger, der auch durch die schonungslose Unterdrückung der
Reformation gefördert werden sollte; die Dominanz des Latein hemmte die national-
sprachliche Entwicklung. Der sprachbildende Einfluß der Lutherbibel als eines all-
gemein gültigen sakralen deutschen Textes verschwand und der Büchermarkt wurde
weitgehend beschränkt. So wurden wichtige Grundlagen für die Ausbildung einer
über den regionalen Dialekten stehenden deutschen Standardsprache in den deutsch-
sprachigen Ländern der Habsburger beseitigt. Das bedeutete jedoch keineswegs das
Fehlen des Gefühls der staatlich-organisatorischen und wirtschaftlichen Zusammen-
gehörigkeit der Teile der vielsprachigen Monarchie, des späteren ”Österreich”, wie
sie etwa die Programmschrift des Kameralisten Philipp Wilhelm v. Hörnigk
Österreich über alles, wenn es nur will (1684) ausdrückt. Hier konnte allerdings der
Nexus zwischen Sprachentwicklung und Nationsbildung keine Rolle spielen, der zur
wichtigen Grundlage der sich in den nächsten Jahrzehnten entfaltenden Aufklä-
rungsliteratur und Sprachpolitik des mittleren und nördlichen Deutschlands wurde.
Der Reformabsolutismus (1749-1795) brachte einen entscheidenden Moderni-
sierungsschub. Der Verlust Schlesiens an Preußen weckte das Bewußtsein der Not-
wendigkeit des raschen ”Einholens” des westlichen Europas und der Konkurrenz mit
dem protestantischen Deutschland. Die bürokratische Zentralisierung und Rationali-
sierung der Erblande der Habsburger wurde schließlich von Joseph II. mit rücksichts-
loser Radikalität durchgeführt (Josephinismus). Die Grundlagen für einen im Sinne
der europäischen Aufklärung funktionierenden Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat
wurden gelegt, der Katholizismus modernisiert. Schon die Theresianische Schul-
reform hatte für eine weitgehende Alphabetisierung der Untertanen gesorgt; sie
brachte auch den Unterricht ethnischer Sprachen in die Elementarschulen der Mon-
archie.
Einen entscheidenden Schock gab dieser aufgeklärten Sprachpolitik das Sprach-
patent Josephs II. im Jahre 1784.8 Es wollte aus utilitaristischen, pragmatischen und
völlig rational scheinenden Gründen das im Königreich Ungarn noch immer als
8
Vgl. Leslie Bodi: ”1784 und die Folgen...” In: Jahrbuch II. Internationale Erich-Fried-Gesellschaft.
Amtssprache gebrauchte Latein durch Deutsch ersetzen. Obwohl der Kaiser betonte,
daß er keineswegs eine ”Germanisierung” seiner anderssprachigen Untertanen
beabsichtigte, erweckte seine Verordnung eine Welle erregten ständisch-
nationalistischen Protestes in Ungarn und auch in anderen ”historischen Nationen”
der Monarchie (Italien, Niederlande). Dem Erwachen des Sprachnationalismus
Herderscher Prägung standen der Kaiser und seine Ratgeber hilflos und
verständnislos gegenüber. Es war für ganz Europa ein erster deutlicher Modellfall des
Zusammenstoßes zwischen der instrumentalen pragmatischen Sprachauffassung der
aufgeklärten Staatsräson mit Sprache als einem der wichtigsten emotionell besetzten
Identifikationsmerkmale ethnischer Gruppen. 1784 zeigte zuerst die Gefahren, die
sich aus diesem Konflikt für die Existenz moderner vielsprachiger Imperien ergeben
können. In der Habsburgermonarchie wurde das Sprachpatent nie voll durchgeführt
und von Joseph II. vor seinem Tode revoziert.
9
All dies sind Kategorien, die Benedict Anderson (1993) als besonders relevant für die ”Konstruktion”
eines modernen Nationalbewußtseins aufzeigt.
10
Briefe des Dichters Johann Baptist von Alxinger. Hg. Gustav Wilhelm. Wien 1898. S. 72. Berufen
wurde 1774 Ignaz Felbinger, Abt von Sagan, ein neugebackener preußischer Untertan, der als
Schlesier aber mit den Verhältnissen der Habsburgermonarchie vertraut war. Vgl. Helmut
Engelbrecht (1984): Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Bd.3, S. 101-103.
11
Arneth, Alfred v. (1863-79): Geschichte Maria Theresias. Wien. 10 Bde. Reprint Osnabrück 1971,
Bd. 9. (1879) S. 234-37.
12
Die Rezension Goethes in ”Werke. Weimarer Ausgabe”, Bd. I/37. S. 269-73.
13
Zitiert wird nach: Sonnenfels, Joseph von (1820): Über den Geschäftsstyl. Vierte, sorgfältig
durchgesehene Auflage. Wien; vgl. dazu auch M. Csáky 1993a, S. 246-47.
14
Vgl. Walter Weiss: ”Zum Deutschen in der österreichischen Literatur.” In Bauer, W. M. u.a. (Hg.)
(1982): Tradition und Entwicklung. Festschrift Eugen Thurnher. Innsbruck, S. 47-58 und Bodi:
”Österreicher in der Fremde - Fremde in Österreich...” Akten des VIII. IVG- Kongresses. Tokyo 1990.
München 1991. Bd. 10. S. 120-125.
die Eigendynamik des Prozesses: die Liberalisierung des gedruckten Wortes führte
zum Umschlagen regierungstreuer Bekenntnisse in eine neue gesellschaftskritische
Literatur. Das erstreckte sich bald auch auf sprachliches Gebiet. Es gibt wichtige, von
der Linguistik m.E. zu wenig beobachtete Beispiele einer österreichischen
Sprachnormierung ”von unten”, z. B. bei den Predigtkritiken einer Gruppe junger
josephinischer Intellektueller und Freimaurer, die 1782-1784 eine Zeitschrift mit
stenogrammartig reproduzierten und kommentierten sonntäglichen Predigttexten
herausgaben.15 Sie diente dazu, die Abweichungen der Kirchenleute von den Zielset-
zungen des josephinischen Reformkatholizismus und der Toleranzpolitik aufzuzeigen
und an konkreten Textstellen die Verstöße gegen die im Sinne der Sonnenfels’schen
Sprachregelung bestimmten Richtlinien der neuen Aufklärungsstilistik zu registrie-
ren. Dies scheint ein im deutschsprachigen Raum einzigartiger Versuch zu sein, eine
Sprachstandardisierung aufgrund wortwörtlich registrierter und ironisch-
parodistisch kommentierter sakraler Texte durchzuführen. Hier spielen auch spezi-
fische österreichische Traditionen eine Rolle, die sich aus dem Weiterleben der Volks-
komödie und dem regen Musikleben der Stadt Wien ergeben (M. Csáky 1995).
Aus der Gebrauchsliteratur der Broschüren entstanden in den Jahren nach
1784 neue komplexere Formen der Belletristik, in denen in der vielsprachigen Welt-
stadt Wien die Spannungen zwischen verschiedensten Sprachebenen kreativ um-
funktioniert wurden. Neben den Sprachen der Völker der Monarchie ging es um den
Gebrauch verschiedener deutscher Dialekte und Regionalsprachen und der offiziell
standardisierten neuen Amtssprache des aufgeklärten Absolutismus. Zu verschie-
densten Funktionen wurde Französisch und Italienisch, Spanisch und Latein ver-
wandt; auch die Kenntnis der englischen Sprache verbreitete sich unter der Intel-
ligenz der Stadt. Es gab so einzigartige Möglichkeiten zur Schaffung intertextueller
und interlingualer Sprachspiele, von ”cross-reading”-Techniken einer Großstadt-
literatur, wie sie nirgendswo sonst im deutschen Sprachraum gegeben waren.16 In
dieser komplexen Sprachsituation wurden neue Formen der parodistischen Satire
entwickelt, die in Werken von F. X. Huber, P. Weidmann oder F. J. Ratschky ihren
Höhepunkt fanden.17 So wurde in der Krisenzeit des Absolutismus nach 1785 eine
Literaturtradition der wachen Sprachkritik geschaffen, die bis J. Nestroy, Karl Kraus
15
Der volle Titel ist ”Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien. Bearbeitet von einer
Gesellschaft Gelehrter, und herausgegeben von Leopold Aloys Hoffmann”, Wien 1782-1783; mit
Fortsetzungen bis 1788. Eingehende Besprechung in Bodi (1995) S. 128-138.
16
Es geht um Stilformen, wie sie Karl Riha unter der Kategorie der ”Cross-reading und Cross talking”
(Stuttgart 1971) beschrieb. Neueste Versuche, die stilistischen Sonderheiten der österreichischen
Sprachentwicklung nach 1780 zu erfassen in K. Adel u.a. (1994) und P. Rössler (1994). Vgl. auch M.
Csáky 1993a; 1993b.
17
Es geht vor allem um die gegen den Stil der Rechtssprechung und der Heeresberichte gerichteten
”Schlendrian”-Satiren Franz Xaver Hubers. (1787-88); Paul Weidmanns Parodie des aufgeklärt-
optimistischen Staatsromans in ”Der Eroberer” (1786 - Neuausgabe L. Bodi; F. Voit, Heidelberg
1995) und Franz Joseph Ratschkys komisches Epos über die Wirkungen der französischen
Revolution in Österreich. (”Melchior Striegel,” 1795; Neuausgabe W. Kriegleder, Graz 1991.)
und der österreichischen Gegenwartsliteratur lebendig geblieben ist. Sie wirkte sich
auch auf den Sprachgebrauch der Gesellschaft der Donaumonarchie aus.
3.4 Vom 18. zum 19. Jahrhundert
Die Politik des Reformabsolutismus war nach dem Tod Josephs II. und dem
kurzen Zwischenspiel der Regierung Leopolds II. (1790 - 1792) durch die inneren
Widersprüche der Aufklärungsbewegung und die Französische Revolution für das
herrschende Establishment des Habsburgerreiches untragbar geworden. Josephi-
nische Intellektuelle wurden als Jakobiner denunziert und 1794 - 1795 in einer
Reihe von Schauprozessen mit strengen Strafen belegt, eingeschüchtert und weitge-
hend aus dem politischen Leben ausgeschaltet; noch brutaler verfuhr die Regierung
mit ungarischen Revolutionären.18 Eine schwere Repression setzte allen Manifesta-
tionen der öffentlichen Meinung ein Ende. Die Zensur wurde zum fast lückenlosen
System gemacht und der Gebrauch aller Aufklärungsrhetorik strengstens unter-
drückt. Obwohl die in der Reformzeit geschaffenen Institutionen des zentralisierten
Beamtenstaates und auch Elemente der Rechtsstaatlichkeit und einer säkularisierten
Wohlfahrtspolitik im neuen österreichischen Kaiserstaat nach 1804 weiterlebten,
entstand ein veritables ”josephinisches Trauma” (R. Bauer), eine Politik des Ver-
schweigens und Verleugnens der radikalen Phase der Reformzeit. Nach dem kurzen
Zwischenspiel eines österreichisch-deutschen Patriotismus in den Napoleonischen
Kriegen charakterisierte den Metternichschen Polizeistaat eine völlige Unterdrückung
aller liberaler, demokratischer und nationaler Ideen; nur eine Politik des ”quieta non
movere”, des absoluten Stillstands schien den weiteren Bestand der Monarchie zu
sichern. Erhalten blieb jedoch die Standardisierung der Amtssprache im Sonnen-
fels’schen Sinne; im Schulunterricht blieb weiterhin die klassische Stilistik der Zeit
der Gegenreformation dominant. Eine grundlegend pragmatische Einstellung führte
zur Ablehnung aller geschlossenen ideologischen und theoretischen Denksysteme
und zu einer weitgehend skeptischen und ironischen Einstellung jeder als übertrieben
empfundenen Manifestation des pietistisch gefärbten Sentimentalismus und der
romantischen ”Schwärmerei” gegenüber. (R. Bauer 1966, 1977, 1987.) All dies
spielte auch eine Rolle bei der Ausbildung der sprachlichen Kultur Österreichs. Auch
hatte die Reformzeit die Institutionen des Büchermarkts und die sprachliche Basis für
eine deutsch-österreichische Literatur auf weltliterarischem Niveau geschaffen - sie
wird durch Namen wie Grillparzer, Raimund, Nestroy, Stifter und Lenau gekenn-
zeichnet.
Die strengen Zensurbestimmungen zwangen zum Gebrauch einer ӊsopischen
Sprache”, die aber von einem höchst rezeptiven Publikum sehr wohl verstanden
wurde (Bodi 1990, S. 19). Oft mußten charakteristische Formen des Nörgelns und
Raunzens die offene politische Kritik ersetzen. Haltungen wie die der Vorsicht, Ambi-
18
Die beste Darstellung der Jakobinerprozesse in Österreich findet sich in den Schriften Ernst
Wangermanns und in Helmut Reinalter: Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Wien/Köln/Graz
1980.
19
Wichtig für diese Frage die Diskussion in Bartsch, Kurt; Goltschnigg, Dietmar; Melzer, Gerhard (Hg.)
(1982): Für und wider eine österreichische Literatur. Königstein/Ts. Vgl. auch Bodi: ”Österreichische
Literatur - Deutsche Literatur. Zur Frage von Literatur und nationaler Identität.” In: ”Akten des VI.
IVG-Kongresses 1980.” Basel/München 1980. S. 486-492. und ders. ”Comic Ambivalence as an
Identity Marker: the Austrian Model.” In: Petr, Pavel; Roberts, David; Thomson, Philip (Hg.)(1985):
Comic Relations. Studies in the Comic, Satire and Comedy. Frankfurt/M./Bern/New York. S. 67-77.
20
Robert Musil, ”Der Mann ohne Eigenschaften.” Kapitelüberschrift Bd. I. Kap. 98.
21
Es geht vor allem um Renner, Karl (1902): Der Kampf der österreichischen Sozialdemokratie um den
Staat. Leipzig-Wien; und Bauer, Otto (1907): Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie.
Wien. Vgl. dazu vor allem die Aufsätze in Erich Fröschl u.a. 1991.
Was die Entwicklung des österreichischen Deutsch betrifft, ist von großer Be-
deutung, daß es sich innerhalb des vielsprachigen Raumes der Doppelmonarchie in
ständigem Kontakt mit anderen Sprachgruppen herausbildete. Aus Gründen lebens-
wichtiger Kommunikation mußten sich anderssprachige Staatsbürger des Deutsch als
lingua franca bedienen, und beherrschten es als Zweit- oder Drittsprache auf den
verschiedensten Ebenen der Kompetenz. In mehrsprachigen Gegenden war oft eine
Generationen überdauernde Spracherziehung und Sprachinterferenz auch trotz
intensiver politischer Konflikte gang und gebe geblieben. In der Literatur fanden
neben regionalen deutschen Dialekten auch die verschiedenen Sprachen der Monar-
chie in humoristisch-komischen, makkaronischen Texten ihren Niederschlag, die
auch die Wiener Operette für ihre starke soziale und übernationale Integrations-
funktion verwertete (M. Csáky 1995). Diese durch Interferenzen verschiedener
Grade gekennzeichneten Sprachgebräuche standen einer eher unflexiblen autorita-
tiven Sprachkodifizierung gegenüber, wie sie im Deutschen Reich nach 1871 ver-
pflichtend wurde. Die Möglichkeit permissiv-pluralistischer Offenheit konnte zum
positiven Selbstidentifikationsmerkmal des österreichischen Deutsch werden - aber
auch zu einer Verunsicherung des sprachlichen Selbstgefühls dem ”großen Nach-
barn” gegenüber bereiten.
4.2 Deutschsprachige Österreicher und deutscher
Sprachnationalismus
Die allgemeine Verschärfung und Radikalisierung nationalistischer, ethnischer
und rassistischer Ideen in Europa nach 1880 zwang auch die deutschen Sprach-
gruppen der Monarchie zur stärkeren sprachnationalen Selbstidentfikation. Für
diesen Prozeß hatte die Schaffung eines mächtigen deutschen Nationalstaates auf-
grund ethnisch-sprachlicher Kriterien eine entscheidende Bedeutung. Die deutsch-
sprachigen Bewohner der Donaumonarchie bewunderten die politische, wirtschaft-
liche, militärische und technologische Macht des neuen Reiches. Die seit der Stagna-
tion der Metternich-Zeit vorherrschende Gleichsetzung von ”deutsch” mit ”modern”
und ”effizient” erstarkte weitgehend. Ein wichtiger Faktor war auch die zunehmende
volle Abhängigkeit österreichischer Schriftsteller vom großen deutschen Büchermarkt
mit seinen im Sinne ”reichsdeutscher” Sprachnormen korrigierenden Lektoren. All
dies führte zu den zwischen ”abhängigen” und ”dominanten” Gesellschaftssystemen
eines plurizentrischen Sprachbereiches typischen Minderwertigkeitskomplexen und
Überheblichkeitsgefühlen, auf die M. Clyne in seinen Schriften immer wieder
hinweist (Bes. M. Clyne 1992; 1995).
Die deutschnationale Selbstidentifikation der deutschsprachigen Intelligenz
der Monarchie wurde sicher auch dadurch erleichtert, daß mit der Verdrängung
und dem Verschweigen eigener Geschichtstraditionen das so entstandene Vakuum
mit Traditionen eines anderen, aber sprachlich verwandten Gesellschaftssystems
aufgefüllt werden konnte. So wurde für den traumatisierten Josephinismus weit-
gehend die deutsche Aufklärung, Klassik und Romantik sowie die Bildungs-
ideologie der Goethezeit als eigene Tradition der Österreicher akzeptiert, um die
Leerstelle zwischen österreichischem Barock und Biedermeier auszufüllen. Die
deutsche Tradition wurde zum absoluten Maßstab der österreichischen Literatur-,
Kultur- und Sprachentwicklung gemacht; aus Deutschland ”zugereiste” Gelehrte,
Kritiker und Journalisten waren entscheidend an diesem Prozeß beteiligt (R. Bauer,
1977; 1987).
Die Übernahme von Deutungsmustern, die in einer gesellschaftlich sehr ver-
schiedenen, aber gleichsprachigen historischen und kulturellen Situation entstan-
den waren, erleichterte die ”deutschnationale” Identifikation der deutschspra-
chigen Österreicher, erschwerte aber immer wieder die Verbalisierung ihrer eige-
nen Bedürfnisse und Interessen, die nicht mit denen des deutschen Sprachnatio-
nalismus deckungsgleich waren. Es wirkte verwirrend für die Selbstidentifikation
der Österreicher, daß die semantischen Felder von deutschen Begriffen wie
”Weltanschauung”, ”Bildung”, ”Dichtung”, ”Heimat”, ”Volk”, ”Nation” und
”Kulturnation” und der Gegensatz von ”Kultur und Zivilisation” in den Tradi-
tionen des protestantischen, kleinstaatlichen Deutschlands wurzelten und nicht
den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Donaumonarchie der
Jahrhundertwende entsprachen. Zu Recht sagt F. Kreissler über solche
”semantische Falschmünzereien”: ”K. Kraus, der große Spötter, hat richtig gesagt:
Was Österreicher und Deutsche trennt, ist die gemeinsame Sprache. Ich möchte
sagen: Was historische Wahrheit und historische Lüge trennt, ist das gemeinsame
Wort.” (In: O. Rathkolb, 1990, S. 15)
Solche Inkongruenzen gehörten wohl auch zu den Problemen, die der einzig-
artig produktiven Kultur des österreichischen Fin-de-Siècle Gefühle von Unsicherheit
und Krisenhaftigkeit vermittelten (M. Csáky, 1993a). Auch die wichtigen Prozesse
der jüdischen Assimilation und der Entwicklung deutschsprachiger Literaturen in
ethnisch stark gemischten Gebieten der Monarchie wurden durch die ambivalente
Widersprüchlichkeit der nationalen Selbstidentifikation deutsch-österreichischer
Autoren beeinflußt.
Bis 1918 blieb das problematische Verhältnis der deutschsprachigen Staats-
bürger Österreichs zum deutschen Sprachnationalismus ungelöst. Es blieb schwierig,
ihre dominante Stellung im Vielvölkerstaat mit ihrer abhängigen Rolle im plurizen-
trischen deutschen Sprachbereich zu vereinbaren. Es ging hier nicht um klar
differenzierbare Identifikationsmuster, sondern um ein komplexes System sich
überschneidender, überlappender Kreise, das die Undeutlichkeit und Verschwom-
menheit fehlerhaft übereinander photographierter Bilder hatte.
22
Vgl. vor allem Plasser/Ulram (1991) und Bruckmüller (1994).
eines sich manchmal auch als ”links” verstehenden ”Austromasochismus”23, für den
deutsche Haltungen auch weiterhin als absolut beispielhaft für Österreich gesetzt
werden, vom Weiterleben einer im Langzeitgedächtnis verankerten Konfusion. Im-
mer wieder ist jedoch die entscheidende Frage: wie kann man Terminologien ent-
wickeln, die innerhalb der Internationalisierung Europas in einer schon unteilbar
gewordenen Welt das Verständnis der kulturellen Verschiedenheiten von Gesell-
schaftssystemen ermöglicht, ohne in den ethnisch-exklusiven Sprachnationalismus
und Rassismus des späten 19. Jahrhunderts und der Diktaturen der ersten Jahrhun-
derthälfte zurückzufallen.
Auch über das schwierige Verhältnis zwischen großen und kleinen, dominanten
und abhängigen Standardsprachen in plurizentrischen Situationen kann heute viel-
leicht objektiver gesprochen werden. Dies ist noch überall auf der Welt ein mit
Emotionen geladenes Thema. Die Voraussetzung ist, daß das ”große” System seinen
exklusiven Anspruch auf Dominanz aufgibt, und das ”kleine” über seine Minder-
wertigkeitskomplexe, seinen ”cultural cringe”24 hinwegkommt. Nationalistische
Überheblichkeitsgesten der ”Großen” sind hier ebenso kontraproduktiv wie die
Ängste des ”Kleinen” vor dem Absinken in die Provinz. Jede Diskussion über das
österreichische Deutsch setzt ein offenes Gespräch über solche Fragen voraus.
In den letzten Jahrzehnten entstand eine wichtige Literatur über die moderne
Identität Österreichs und ihre historischen Wurzeln - vor allem sei hier an Namen
wie F. Heer, F. Kreissler, E. Bruckmüller, G. Stourzh und A. Pelinka erinnert. Von
großer Bedeutung waren für die Historiker die Diskussionen um K. Erdmanns Thesen;
es gibt Debatten über die Charakteristika einer spezifisch österreichischen
Philosophie (R. Haller; M. Benedikt) und es gibt neue Projekte zur Schaffung einer
Geschichte der österreichischen Literatur im mitteleuropäischen Rahmen.25
Für all diese Arbeiten ist eine Klärung der Position, der Funktionen und Charak-
teristika des österreichischen Deutsch von grundlegender Bedeutung, und diese
Konferenz der Linguisten sollte einen wichtigen Beitrag zu dem Fragenkomplex aus
österreichischer, deutscher und internationaler Perspektive liefern.
23
Den Terminus gebraucht u. a. Thomas Chorherr in ”Wie der `Austro-Masochismus´ wieder gar nicht
fröhliche Urständ´ feiert” in ”Die Presse.” 24. Juni 1995, S. 3. Im Kontext dieser Problematik spricht
Gerald Stourzh über die ”neue Lüge von der sogenannten 'Lebenslüge' der Zweiten Republik.” G.
Stourzh (1990) S. 49. Eine eingehende allseitige Untersuchung der politischen, sozialen, kulturellen
und künstlerischen Aspekte der Praxis und des Topos der ”Österreichbeschimpfung” würde sich
sicher lohnen. Sie müßte natürlich über die oft sehr simplifizierende Reduktion auf einen
”unwandelbaren Volkscharakter” hinausgehen: es geht um ein sehr komplexes Phänomen, in dem
auch die sprachliche Situation des Landes eine wichtige Rolle spielt.
24
Mit diesem schwer übersetzbaren Ausdruck bezeichnete der Literaturkritiker A. A. Phillips das von
Minderwertigkeitskomplexen belastete Verhältnis der australischen Schriftsteller zum britischen
Literaturbetrieb. In: ”The Australian Tradition,” Melbourne 1958, S. 89-95.
25
Zuletzt versuchte György M. Vajda (1994) eine Geschichte der Literaturen der Donaumonarchie in
den Kontext der Kulturgeschichte Mitteleuropas zu stellen. Von den Fragen nach den Möglichkeiten
einer neuen österreichischen Literaturgeschichte handelt Schmidt-Dengler, Wendelin; Sonnleitner,
Johann; Zeyringer, Klaus (Hg.)( 1995): Literaturgeschichte: Österreich. Berlin.
Es geht hier um das Verständnis des österreichischen Deutsch als einer histo-
risch entstandenen nationalen Standardvariation der deutschen Sprache. Es sollte
verstanden werden, daß es auf den Besonderheiten eines gesellschaftlich-kulturell
spezifischen, komplexen Gesellschaftssystems beruht und starke Beziehungen zu den
anderen Sprach- und Kultursystemen der Region wie auch den Traditionen des ge-
samten deutschen Sprachgebiets hat. Das österreichische Deutsch entwickelte sich als
Ausdruck besonderer Handlungsnormen, Gesellschaftsstrukturen und Kommunika-
tionsstrategien. Sie benötigten semantische Felder mit eigener Bedeutung, die keines-
wegs deckungsgleich mit dem in anderen Systemen des deutschen Sprachgebietes
standardisierten Sprachgebrauch sind. Die Besonderheiten des österreichischen
Deutsch entstanden im Verlauf des natürlichen, spontanen Sprachwandels und der
vielfältigen Sprach- und Kulturkontakte des multinationalen Mitteleuropa, sind aber
zugleich Resultat bewußter und oft auch staatlicher Standardisierungsprozesse und
des in österreichischen Verhältnissen wurzelnden kreativen Sprachgebrauchs von
Künstlern und Schriftstellern seit dem späten 18. Jahrhundert.
Zum Abschluß sei nochmals betont: das österreichische Deutsch ist nicht besser
oder schlechter, nicht ”progressiver” oder ”reaktionärer” als das deutsche Standard-
deutsch, aber doch ein anderes, in vieler Hinsicht verschiedenes System. Es ist eben-
sogut Deutsch wie die anderen nationalen Standardvarietäten des deutschen Sprach-
bereichs. Es stellt keine starren Entscheidungsfragen eines exklusiven Ent-
weder/Oder, sondern setzt ein Verständnis für die mögliche Vielfalt von Sprachsy-
stemen desselben Sprachraums voraus. Es geht hier nicht um eine unlösbare
Konfrontation, sondern um produktive Interferenzen im Prozeß des ständigen
Sprachwandels. Eine solche flexible, dynamische und pluralistische Einstellung kann
das österreichische Deutsch zum wichtigen Modellfall für die deutsche, zentraleuro-
päische, europäische und globale Sprachproblematik unserer Zeit machen.
Literatur:
Diese Kurzbibliographie versucht eine beschränkte Auswahl relevanter neuerer
Bücher und Artikel über nationale und kulturelle Identifikations- und Selbstidentifi-
kationsprozesse zu geben. Es geht besonders um die Entwicklung Österreichs in
Geschichte, Gesellschaft, Sprache und Literatur im Kontext des pluralistischen Mittel-
europa und des plurizentrischen deutschen Sprachraums.
Adel, Kurt; Duttmoser, Rudolf; Filzmoser, Peter (1994): Tiefenstrukturen der Sprache.
Untersuchung regionaler Unterschiede mit statistischen Methoden. Wien.
Anderson, Benedict (1993): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgrei-
chen Konzepts. 2. Aufl. Frankfurt/M.
Bauer, Roger (1966): Der Idealismus und seine Gegner in Österreich. Heidelberg.
Bauer, Roger (1972): Die Welt als Reich Gottes. Wien.
Bauer, Roger (1977): Laßt sie koaxen, die kritischen Frösch´ in Preußen und Sachsen.
Zwei Jahrhunderte Literatur aus Österreich. Wien.
Bauer, Roger (1987): Gnad und Ungnad oder: Die österreichische Literatur im
Spiegel gemeindeutscher Betrachtung. In: Weder-Noch. Helsinki. S. 31-37.
Wendelin Schmidt-Dengler
(Wien)
Zwei Anekdoten seien zu Beginn gestattet: Ein Kollege, Deutscher von Geburt,
als Ordinarius österreichischer Staatsbürger versieht eine Gastprofessur im Winter-
semester 92/ 93 an der Humboldt-Universität; er will sich ein S-Bahn-Ticket kaufen,
und der Schalterbeamter fragt ihn: "Neue oder alte Bundesländer? Ost oder West?"
Worauf der so Angesprochene erwidert: "Ich bin Österreicher! "Und darauf der
Schalterbeamte, ob schalkhaft oder töricht, bleibe dahingestellt: "Also, neue Bundes-
länder." Wie immer man dies interpretiert, ob als Ernst oder Scherz, ganz wohl wird
einem nicht dabei, auch wenn der Gedanke, daß Österreich als neues Bundesland
dem vereinten Deutschland eingegliedert werden sollte, kaum jemand ernsthaft
kommen würde.
Die zweite Anekdote: Ein junge Kritikerin eines bekannten Hamburger
Wochenblattes meinte im lockeren Gespräch: Österreichische Literatur heute, das sei
irgendetwas, worin immer ein Kuhstall, ein Kalbsstrick und ein Selbstmord vor-
komme - obendrein alles sehr katholisch. In einem gewissen Sinne also noch ärger als
das, was aus Bayern zu erwarten wäre - in jedem Falle: Rustikales, derbtragisch, mit
eindeutigem Duft versehen; Weihrauch als Komplement des Stallgeruchs.
Doch nicht dabei wollen wir halten, sondern doch von der österreichischen
Literatur sprechen und fragen, welche endlose Kette von Vorurteilen nun zu solchen
- gewiß amüsanten, so doch schnellrichterlichen - Urteilen geführt hat. Die Frage, ob
es eine österreichischen Literatur gäbe, ist in die Jahre gekommen und damit schäbig
geworden; immerhin vermag sie bis heute die Gemüter zu erhitzen, und auch wenn
außer Zweifel steht, daß es eine von Österreichern verfaßte Literatur gibt, so werden
doch Zweifel an der Berechtigung dieser Fragestellung erhoben; denn es gibt ja eine
deutsche Literatur, und in der hat viel Platz. Ein Buch mit dem Titel "Tatsachen über
Deutschland", für das kein Verfasser verantwortlich zeichnet, enthält auch einen Ab-
schnitt über österreichische Literatur, und da liest man unter anderem: "Die Frage, ob
ein Autor deutscher Sprache Österreicher, Schweizer oder Deutscher ist, kümmert
den Leser wenig. Die Dichter Rainer Maria Rilke, geboren in Prag, und Hugo von
Hofmannsthal, geboren in Wien, gehören ebenso zur deutschen Literatur wie die Er-
zähler Robert Musil aus Klagenfurt, Thomas Mann aus Lübeck und Franz Kafka aus
-39-
Prag. Was wäre ferner die deutsche Literatur ohne die Schweizer Gottfried Keller
oder Max Frisch, ohne die Österreicher Adalbert Stifter oder Thomas Bernhard, ohne
den in Rumänien geborenen Lyriker Paul Celan? Die Werke aller dieser Autoren sind
Beiträge zur deutschen Literatur." Ein Denkexperiment sei gestattet: Nehmen wir an,
man dekretiert in Österreich, daß die Staatssprache von nun ab "österreichisch" zu
heißen habe, eine Sprache, die mit geringen Varianten von der Norm ja auch in
Deutschland gesprochen wird, und setzt nun Österreichisch für Deutsch ein: "Die
Frage, ob ein Autor österreichischer Sprache Österreicher, Schweizer oder Deutscher
ist, kümmert den Leser wenig. Die Dichter, Rainer Maria Rilke, geboren in Prag, und
Hugo von Hofmannsthal, geboren in Wien, gehören ebenso zur österreichischen
Literatur wie die Erzähler Robert Musil aus Klagenfurt, Thomas Mann aus Lübeck
oder Franz Kafka aus Prag. Was wäre ferner die österreichische Literatur ohne die
Schweizer Gottfried Keller oder Max Frisch, ohne die Deutschen Bertolt Brecht und
Friedrich Schiller? Die Werke aller Autoren sind Beiträge zur österreichischen
Literatur." Das würde, mit Grund, als unseriös und absurd angesehen; vielleicht sollte
auch das, was in dieser immerhin halbamtlichen Broschüre zu lesen ist, die die
Literatur aus Österreich zu einer Tatsache über Deutschland macht, ebenso gesehen
werden. Ich meine, daß ich auch kaum für voll genommen würde, wenn ich Poe,
Longfellow und Faulkner als englische Autoren reklamieren wollte.
Doch wir haben Schwierigkeiten, wenn wir definieren wollen, worin sich die
österreichische Literatur von der deutschen im engeren Sinne abhebt. Für den Fall,
daß damit etwas Wesenhaftes gemeint sei, gibt es doch sehr gravierende Bedenken. Es
sei einmal etwas vorweggenommen, einfach um hier Klarheit in der weiteren Argu-
mentation zu haben: Daß sich die österreichische Literatur von der deutschen durch
die Sprache unterschiede, ist in keinem Falle anzunehmen; die österreichische Lite-
ratur heute wird zum großen Teil auf deutsch verfaßt, mit anderen Worten: Es gibt
kein Kriterium, kein linguistisches, das verläßlich die österreichische Literatur von
der deutschen und im besonderen bundesdeutschen (oder früher reichsdeutschen) zu
trennen imstande wäre. Das österreichische Deutsch reicht - selbst wenn man ein
hohes Maß an Besonderheit in Rechnung zu stellen gewillt ist - nicht hin, um die Be-
sonderheit der österreichischen Literatur als einer österreichischen auch zu behaup-
ten, mögen solche Eigenheiten auch für Texte eine (eher regionale) Zuweisung mög-
lich machen - eine eindeutig konturierbare österreichische Literatur ist daraus nicht
ableitbar.
Die Versuche, österreichische Literatur aus einem österreichischen Wesen
abzuleiten, sind Legion: Grotesk und skurril, kauzig und verspielt, vor allem aber
barock, das sind die Schlagworte, mit denen vor allem seit den zwanziger Jahren die
österreichische Literatur sich selbst etikettiert sehen möchte. Solche Versuche sind
Legion: Sie reichen von Grillparzers Versuch einer Unterscheidung der österrei-
chischen und deutschen Dichter über Hofmannsthals Schema 'Preusse und Österrei-
cher' und Heimito von Doderers 'Athener Rede' bis zu Herbert Eisenreich und Hans
Weigel: Bescheidenheit (Grillparzer), Vermeidung von Krisen, "Ironie bis zur Auflö-
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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hält und zugleich die ästhetisch subtile Gestaltung und ihre in die Zukunft weisende
Funktion hoch anrechnet, selbst dieser Versuch benennt eher einen, wenn man so
will, Aggregatszustand des Österreichischen und weniger die österreichische Litera-
tur in ihrer Gesamtheit. Interessant ist die These, daß dieser habsburgische Mythos
erst dann virulent werde, da dessen reale Basis, nämlich die österreichische Monar-
chie, zu bestehen aufgehört habe, nämlich 1918. Mit anderen Worten: Für die mei-
sten Autoren war daher Österreich nicht präsent, vor allem war die Erste Republik
nicht präsent. Sie existiere nur mehr in der Retrospektivität. Eine Analyse der späten
Texte von Hofmannsthal, Kraus, Schnitzler, Andrian, der Werke von Roth und Musil
- dies alles scheint auf den ersten Blick diese These zu bestätigen. Der Eskapismus der
österreichischen Autoren, der Evasionscharakter dieser Literatur ist mittlerweile zum
Schlagwort geworden, mit dessen Hilfe diese Literatur beschreibbar sein soll. Auf eine
Formel gebracht: Die österreichische Literatur ist politisch regressiv, ja, im marxi-
stischen Sinne von falschem Bewußtsein geprägt, in ästhetischer Hinsicht hingegen
wegweisend. Hier geistert natürlich Lukacs, der ja viele seiner Werturteile (und nicht
zuletzt das über Joseph Roths ”Radetzkymarsch”) auf den Prämissen einer solchen
Widersprüchlichkeit aufbaute. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß mit Magris’
Buch die Diskussion über die österreichische Literatur auf ein Niveau gehoben
wurde, das sie von da an nicht mehr verlassen sollte; ein Rückfall hinter diese Er-
kenntnisse sollte nicht gestattet sein. Die unterschiedliche Bewertung der Position von
Magris macht mir sein Werk nur annehmbarer: Die einen halten ihn für einen, der
more Marxistico die schöne Welt der österreichischen Barockkultur demoliert, die
anderen für einen konservativen Propagator eben des habsburgischen Mythos, den er
mit liebevoller Kritik scharf analysiert hat.
Ähnliches ließe sich von Ulrich Greiner dereinst viel diskutiertem Buch über
den ”Tod des Nachsommers” (1979) sagen. Greiner verlängert die Thesen Magris’ in
die Zeit nach der 1945 und analysiert vor allem die Texte von Bernhard, Handke,
Scharang, Jonke und Gerhard Roth: Man sieht sofort, was dabei auf der Strecke bleibt,
vor allem also solche Texte wie die der (radikalen) österreichischen Avantgarde, wie
etwa die Texte der ”Wiener Gruppe”, die Ernst Jandls, die der surrealististischen
Autoren, um etwa an Friederike Mayröcker zu nennen. Die alle haben in der so naiv
ausgedehnten Nachfolge Adalbert Stifters so gut wie keinen Platz: Die österreichische
Literatur, so Greiner, stürbe noch immer den Tod des Nachsommers; sie wäre
"habsburgisch traumatisiert", bis auf den heutigen Tag. Handlungsverzicht und Pas-
sivität würden die Figuren prägen. Der stilisierte Exodus aus der Geschichte, ja über-
haupt der Fluch wider alle, die sich dem geschichtlichen Denken verpflichtet hätten,
würde die österreichische Literatur vom Biedermeier bis in die Gegenwart be-
stimmen. Gerade die Etablierung einer so lückenlosen Kontinuität macht den Kritiker
stutzig: So als ob es die aufsässige Tradition, die es nach Greiners Meinung in Öster-
reich nicht gegeben hätte, tatsächlich nicht auszumachen ist, so als ob es keinen
Anzengruber, keinen Karl Kraus und keinen Jura Soyfer und keinen Horváth gegeben
hätte. Sie alle werden in die Idylle Österreich eingebracht. Greiner verkennt die zahl-
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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reichen Risse und Brüche, er verkennt, die oft recht zickigen Entwicklungslinien der
österreichischen Literatur, er verkennt die Rolle, die der Nationalsozialismus in Öster-
reich gespielt hatte und seine Folgen. Die österreichische Literatur in ihrem Verhält-
nis zur Geschichte lesen setzt freilich auch eine bestimmte Lesefähigkeit voraus. Die
österreichische Literatur darf nämlich nicht so gelesen werden, daß man nur mit
Hilfe der Stoffe und des rhetorisch anschaulich gemachten politischen Bekenntnisses
auch auf eine politische Denkweise schließen zu können meint. Und Robert Menasses
Buch über die ”Sozialpartnerschaftliche Ästhetik” (1990) ist schließlich ein raffi-
nierter Essay, in dem er zu zeigen versucht, wie das Bedürfnis nach Harmonisierung,
das dem Prinzip der Sozialpartnerschaft abzulesen ist, auch die Literatur bestimmt. In
allen diesen Büchern erscheint das Bedürfnis nach Harmonie als Signum der österrei-
chischen Literatur. Vermieden werden Gegensätze, die Neigung zum Kompromiß
dominiert. Aber, so meine ich, die Besonderheit der österreichischen Literatur ist mit
solchen Konstanten, die, wenn überhaupt, anthropologische und nicht literarische
sind, nur bedingt zu erfassen.
Diese Form der Beschreibung reduziert alles immer wieder auf ein diffus
Menschliches, und latent ist dann auch ein wertendes Moment vorhanden, das die
Österreicher insgeheim als die besseren ausgibt, das ihnen attestiert, auch eine bes-
sere Literatur und überhaupt mehr Verständnis für Literatur und Kunst zu haben.
Gewisse Zustände in der österreichischen Literatur mögen mit solchen Formeln sehr
gut bezeichnet werden; der stilisierte Rückzug aus der Politik, die Behauptung der
Priorität der Sprache vor den Inhalten, die sie transportiert, die Lust an der Reflexion
auf die Form unter Vernachlässigung der verbindlichen Inhalte, die Antithese Ord-
nung versus Chaos, ja vielleicht - und dies ist eine der bizarrsten Vermutungen - die
Vorliebe der Österreicher für das Diminutiv. Und doch liefern alle diese Beob-
achtungen kein entscheidendes Unterscheidungskriterium, sie liefern aber für jede
Epoche sehr gute Bestimmungen des Aggregatszustandes der österreichischen Lite-
ratur. Man kann gewiß auch - und das erscheint mir sehr fruchtbar - einzelne
Motive herausgreifen und sie in ihrem je spezifischen österreichischen Kontext ana-
lysieren. So erhält man gewiß eine sehr brauchbare Induktionsbasis, um für eine be-
stimmte Epoche, für einen bestimmten historischen Zustand das sehr genau zu be-
nennen, was für die Literatur aus Österreich kennzeichnend ist, und zwar für die re-
präsentative Literatur.
Mit der Annahme überzeitlicher Konstanten hingegen wird man, so meine ich,
sehr wenig Glück haben. Will man z.B. den Antihelden zum Prototyp erheben, so
denke man im Gegenzug an den preußischen Prinzen von Homburg; will man das
Sterben als einen für die österreichische Literatur typischen Zug ernennen, so über-
sieht man, daß allenthalben gestorben wird; auch den Witz und den Humor haben
die Österreicher nicht allein gepachtet, und die "Ironie bis zur Auflösung" ist wohl
auch von Thomas Mann praktiziert worden, der meines Wissens kein Österreicher
war; und alles das, was uns besonders typisch, ja besonders kennzeichnend scheint -
das schwimmt uns davon. Solche Verallgemeinerungen sind logisch unsauber, sie
sind aber das Salz der Debatte, einfach weil sie zum Widerspruch herausfordern. So
hat unlängst bei einer Tagung ein beschlagener Germanist aus der Bundesrepublik
gemeint, er hätte den Eindruck, die österreichischen Autoren hätten ihre Form, nicht
aber ihre Inhalte gefunden. Als Lehrerurteil zusammengefaßt: Äußere Form der
schriftlichen Arbeit: sehr gut; Inhalt: mangelhaft.
Gewiß ist es die Sprache, die Sprache an sich, auf welche sich die österrei-
chischen Autoren besonders zu konzentrieren vermochten. Indes wäre es ebenso
verfehlt, diese "Thematisierung der Sprache" als ein allenthalben verbindendes
Merkmal der österreichischen Literatur anzugeben; hingegen läßt sich für gewisse
Phasen sehr schön ein kontinuierlicher Traditionszusammenhang ausmachen, in dem
eben diese Konzentration auf die Sprache ein dominantes Ordnungsmuster herstellt.
"Aus [dem] Schatten der Wörtlichkeit, aus den unverrückbaren Wortfügungen
kanonischer Sprachdisziplinen ist die dem österreichischen Raum entstammende
Literatur nie herausgetreten. Das ergibt sich bereits aus der Konstellation jener
Stunde, in der sie ihren josephinischen Freibrief erhielt. [...] Die befreite Schrift
strebte nicht nach der Autonomie der poetischen Sprache. [...] Die freigewordenen
Potentiale äußerten sich im Dienste des Staates oder im Widerstreit mit ihm, nicht
aber im Dienste literarischer Selbstbestimmung", - so lautet eine der Thesen, die
Juliane Vogel in einer der letzten Nummern der ”manuskripte” aufgestellt hat -
bedenkenswert gewiß, wenngleich ich meine, daß sie nicht unwidersprochen bleiben
dürfte, denn sehr bald meldet sich doch gerade hier der Versuch an, im Bereich der
poetischen Sprache mündig zu werden. Die österreichische Literatur würde "Macht
und Herrschaft weniger in großen polemischen Helden als in komplizierten exeku-
tiven Apparaten zur Anschauung" bringen. (Vogel, 108f.)
Mit dem Verzicht auf die Größe sitzt man nun wiederum in einem Zusammen-
hang, der sehr oft zur indirekten Kennzeichnung des Österreichischen herangezogen
wurde (Weigel: ”Flucht vor der Größe”), zum anderen scheint es (auch für die Polito-
logie) sehr legitim, allen diesen Vorstellungen einmal mentalitätsgeschichtlich und
kulturgeschichtlich nachzugehen und die Literatur da als ein differenziert ausge-
legtes Zeugnis, als ein komplexes Dokument zu benützen. Ich meine, daß alle diese
Versuche von der mehr oder minder großen Ingeniosität ihrer Verfasser zeugen, daß
sie insgesamt alle nicht mehr leisten, als bestimmte Zustände der österreichischen
Literatur zu bezeichnen, daß sie auch typisch für die Epoche sind, der sie entstam-
men, daß sie indes keine über die historischen Zusähen hinweg gültigen Kriterien zu
geben imstande sind, die ein für allemal das Österreichische von dem wie immer
anders Deutschen in der Literatur trennend wegdefinieren vermöchten.
Ein kleiner Exkurs hin zum Diminutiv sei gestattet, ein Tribut auch an die
Sprachwissenschaft; vielleicht ist dieses Detail auch in mentalitätsgeschichtlicher
Hinsicht fruchtbar zu machen. Literarhistorisch stellen sich so, wie ich meine, schöne
und überraschende Zusammenhänge her.
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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Doch wäre es verfehlt, die Frage nach der österreichischen Literatur - auch im
Bereich der literaturwissenschaftlichen Forschung - aufzugeben. Dies vor allem an-
gesichts der Tatsache, daß sie sehr schnell eingemeindet zu werden scheint, daß sie
eingebracht wird in eine große Scheune, die da heißt: deutsche Literaturgeschichte.
Und die Literaturgeschichte und insonderheit die vor allem in den vergangenen Jah-
ren aufs Neue in der Bundesrepublik prosperierende Literaturgeschichtsschreibung
ist der Ort, an dem die österreichische Literatur aufgesogen wird, aufgesogen von
einem Grundmuster und von einer Werteskala, die ihr eigen ist, und die gerade die
österreichischen Autoren wie Sonderlinge dastehen läßt. Es fällt nun auf, daß just die
Phasen der österreichischen Geschichte, in denen die politische Bedeutung des Staates
gegen Null geht, auch in den Literaturgeschichten so gut wie eliminiert werden. Ein
entzückendes Beispiel der frühen Eingemeindung der österreichischen Literatur hat
Marie von Ebner Eschenbach in einer satirischen Schrift geliefert: ”Aus Franzensbad”.
Die österreichische Muse und der bedeutende Literaturhistoriker - er heißt hier Zeus
Gerbinus - treten einander gegenüber:
Österreichische Muse: Wolle Dein Angesicht zu mir wenden, auch ich habe unsterb-
liche Söhne geboren.
Zeus Gerbinus: Bäuerle und Nestroy meinest Du? Ihrer habe ich würdig gedacht.
Österreichische Muse: Herr! Herr! - Noch leben Grillparzer und Halm ...
Zeus Gerbinus: Nicht für mich. Und er bricht unwillig das Gespräch ab: Enthebe
Dich, kleine Unbekannte.
Österreichische Muse unter vielen Bücklingen ab (bei Seite). Es muß doch nichts an
mir sein, sonst würde ich nicht zur Thüre hinausgewiesen."
Die Entscheidung, was zu gefallen hat, liegt außerhalb Österreichs. Die Norm,
nach der gemessen wird, das Urmeter des Literaturmaßstabes ist und war in Weimar,
Jena, Leipzig, Frankfurt, Berlin oder Hamburg zu finden. Die Periodisierung wird von
der deutschen Literaturgeschichtsschreibung vorgenommen, und so nimmt es nicht
wenig wunder, daß die österreichischen Autoren nicht in das vorgegebene Muster, in
die hier konstruierten Abläufe hineinpassen, und daher zu Dauerverlegenheiten der
Literaturgeschichte werden: Grillparzer, der mißratene Klassiker; Raimund und
Lenau, die falschen Romantiker; Stifter und Sealsfield, die verfrühten oder die verun-
glückten Realisten; Nestroy, der triviale Autor - so kann man es bis zur Jahrhundert-
wende in den Literaturgeschichten lesen; Anzengruber, der zu spät zum Realismus
und zu früh zum Naturalismus kam - überhaupt Naturalismus, er scheint in Öster-
reich vergessen. Die Autoren haben die Aufgabe, die der Zeitgeist jeweils gestellt hat,
nicht erfüllt. Besonders prekär wird die Situation gegen Ende der Monarchie und mit
Beginn der Ersten Republik. Wurde die Monarchie noch als ein Staat registriert, in
dem das 19. Jahrhundert sein Finale feiern konnte, so existiert die Erste Republik in
den jetzt am Markt befindlichen oder erst vor kurzem verfaßten Literaturgeschichten
so gut wie gar nicht. Weder die von Zmegac, noch die von Bahr betreuten Literatur-
geschichten nehmen die Epoche nach 1918 zur Kenntnis, in der doch immerhin noch
ein Karl Kraus, ein Ödön von Horváth, ein Hugo von Hofmannsthal, ein Arthur
Schnitzler, ein Robert Musil, ein Hermann Broch und ein Joseph Roth bedeutende,
wenn nicht ihre bedeutendsten Werke schufen. Kraus, Schnitzler, Hofmannsthal er-
scheinen im Kontext der Monarchie, auch Joseph Roth und Robert Musil, und
Horváth gehört ja auch schon so halb nach Weimar, weil ganz nach München. Inter-
essant und ärgerlich ist dieses Faktum deswegen, weil diese Literaturgeschichten ja
gerade vorgeben, Sozialgeschichten der Literatur zu sein. Und wenn schon die Ent-
wicklung der österreichischen Literatur sich spezifizieren läßt, dann eben aus der
Sicht ihrer gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen; und diese waren,
man nehme alles nur in allem, doch radikal unterschiedlich von denen des
Deutschen Reiches. Auch die Zäsuren (etwa 1933/34) bedeuten in der österrei-
chischen Geschichte ganz etwas andres als in der deutschen; 1938 ist für Österreich
die entscheidende Wende nach 1934. Der Abschied von den Habsburgern vollzog
sich beileibe anders als der Abschied von den Hohenzollern; die Haltung zum Krieg in
Österreich grundsätzlich anders als in Deutschland. In Deutschland war trotz der
beträchtlichen Einbußen ein Reich erhalten geblieben, Österreich war zur kleinen
Alpenrepublik geschrumpft.
Die Literaturgeschichtsschreibung scheint an diesem Staat, den keiner wollte,
das, was ihm in der Realpolitik widerfuhr, nur mit noch größerer Konsequenz zu
vollziehen: Sie nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis und hat ihn so vor seinem tatsäch-
lichen Ende liquidiert. Indes ist jeder Autor der Ersten Republik in deutlicher Verbin-
dung zu sehen mit den besonderen Zuständen in Österreich, mit der Unsicherheit
(und zwar mit der in Österreich spezifischen Unsicherheit) in bezug auf die demo-
kratischen Entwicklungen; in den Sozialgeschichten der Literatur sollte auch die Tri-
vialliteratur Platz haben, ihre besondere Entwicklung von 1918 an - grundlegend an-
ders als in der Bundesrepublik. Zudem sind auch die bildungspolitischen Traditionen
mitzulesen, die lokalen Kontinuitäten und Debatten. Wer erwähnt denn überhaupt,
wie wichtig z.B. die Tradition des Wiener Kreises auch für die Literatur Österreichs
war? Es ist z.B. durchaus vertretbar, Broch, Musil und den leider immer wieder ent-
deckten und schnell wieder vergessenen Rudolf Brunngraber mit seinem Roman
”Karl und das XX. Jahrhundert” eben in diesem Zusammenhang zu lesen.
Interessant ist es auch, wie dort verfahren wird, wo den Österreichern - wie bei
Glaser - ein eigenes Kapitel für die Zeit von 1918 bis 1938 zugestanden wird. Der
vorzüglich orientierte Aufsatz ist allerdings im Gesamtkonzept so gelagert, daß für
ihn der Weizen bereits vergeben wurde und er die Spreu bekommt. Nicht daß Auto-
ren wie Schnitzler, Kraus, Musil, Broch, Hofmannsthal vergessen oder schlecht be-
handelt würden, ganz im Gegenteil, sie werden in kritischen Ehren gehalten, fraglich
ist nur, ob die Konstellationen, in denen sie gebraucht werden, auch den gesellschaft-
lichen Voraussetzungen entsprechen, die für diese verbindlich waren und auch
durch Sozialgeschichte der Literatur kenntlich werden sollen. Sie werden meistens
disloziert, übrig bleibt für den Österreichteil, was mehr oder weniger Lokales aus-
macht. Karl Kraus erscheint zwischen Sternheim und Brecht; die reiche Produktion
der kulturhistorischen Schriften (Friedell), die Autoren des Volksstückes, des Cabarets
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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(Soyfer z.B.) werden nicht erwähnt; kurzum, das recht vitale literarische Leben
Wiens, das literarische Leben der Provinz existiert nicht. Und dies steht oft in einem
gewissen Gegensatz zu jeglichem rezeptionsästhetischem Befund: Gerade die öster-
reichischen Autoren wurden, da durch die deutschen Verlage (z.B. Staackmann) ver-
breitet, im deutschen Reich sehr intensiv gelesen, und zwar als österreichische Auto-
ren. Die Liste ließe sich verlängern; entscheidend ist, daß diese Literaturgeschichten
den Österreich-Block immer etwas zu spät wahrnehmen und mit den Erscheinungen
aus Österreich wie auf einem Rangierbahnhof herumfahren. Symptomatisch ist ein
Satz wie: "Der von Brecht beschworene "Widerspruchsgeist" gegen verbreitete An-
schauungen ließ Karl Kraus (1874-1936) zum Schöpfer eines in seiner Weise einzig-
artigen dramatischen Werks werden." (GdL, 102) Ein Trapezakt in bezug auf die
Chronologie, indem suggeriert wird, daß Brecht irgendwie Karl Kraus den Wider-
spruchsgeist nahegelegt haben könnte. Daß Schnitzler mit ”Leutnant Gustl” der erste
war, der den inneren Monolog geglückt verwendete, wird meist vergessen.
Daß die Abfassung von Literaturgeschichten eben eine Tatsache aus Deutsch-
land ist, wird eine Tatsache über Österreich, und die österreichische Germanistik hat
sich dem gewiß nicht grundlosen Vorwurf auszusetzen, daß sie bis jetzt eben nicht
eine vertretbare Literaturgeschichte vorgelegt hat. Das liegt gewiß nicht (nur) an der
Unfähigkeit der österreichischen Germanisten; das von Walter Weiss 1981 vorge-
stellte Salzburger Projekt einer "offenen Literaturgeschichte" hat viel für sich und
könnte immer noch Ausgangspunkt einer solchen Literaturgeschichte sein - nur ge-
schrieben hat es bis jetzt noch niemand. Zum Teil sind auch respektable Selbstzweifel
schuld. Aber die jüngere Germanistik hat hier wesentliche Vorarbeiten geleistet und
im Rahmen der Sozialgeschichte durch profunde Einzelstudien über Schriftsteller-
vereinigungen, Verlagswesen und Literaturpreise, über Literaturzeitschriften und
über das literarische Leben, über die Beziehung von Politik und Geschichte sehr
deutlich gezeigt, daß die sozialen und historischen Rahmenbedingungen, von denen
Autoren aus Österreich ausgingen, doch grundsätzlich andere sind als die der deut-
schen Autoren; freilich wäre noch genauer zu erforschen, wie nun die historischen
und sozialen Voraussetzungen auch in der Textproduktion manifest werden. Es ließe
sich einmal sehr gut eben von solchen Oppositionspaaren, die für die österreichische
Literatur eine ganz spezifische Funktion haben, die Literatur in ihrem historischen
und politischen Zusammenhang erläutern, von Paaren wie etwa Stadt und Land,
Krieg und Frieden, Aufstieg und Deklassierung, Bildung und Unbildung, Provinz und
Metropole. Erst aus diesem Zusammenhang heraus sind Texte wie Hermann Brochs
Bergroman besser lesbar und in ein Beziehungsschema einzubinden, das ihnen
abgeht, wenn man es nur an Maßstäben der Faschismustheorie und Massentheorien
bricht. In jedem Falle schreiben Autoren aus einem ganz anderen politischen Kontext,
und der Untergang der Habsburger Monarchie erzeugte ein Vakuum, das ganz
anders gefüllt wurde, als es in Deutschland nach 1918 der Fall war. Freilich ist - und
das macht die Sache schwieriger und zugleich reizvoller - die österreichische
Literatur stets in ihrer Auseinandersetzung mit der im engeren Sinne deutschen zu
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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den beiden westlichen Staaten näher an die BRD heranzurücken, ich meine aber, daß
es gerade auf die Feinheit der Unterschiede ankommt. Die Praxis der Formulierung
verrät unerhört viel. Ich begnüge mich mit ein paar einschlägigen Beispielen. So wird
zum Beispiel zwischen den Exildramatikern Brecht, Wolf und Zuckmayer und den
Österreichern Hochwälder, Elias Canetti und Bruckner differenziert (101) - so als ob
die drei Letzgenannten keine Exildramatiker gewesen wären. Die neuen Akzente in
der Grazer Szene hätten jüngere Autoren gesetzt, "teils politisch bewegte, teils in
Experimentieren vernarrte" (Hervorhebung von mir W.S-D.). Es gibt zwar ein"
binnenlitarisches Phänomen", dem Handke "verklammert" ist (626), aber die große
Serie österreichischer Dichter der Gegenwart von Scharang über Frischmuth, Turrini
und Handke bis zu Thomas Bernhard sei das Reagieren auf eine Wirklichkeit, "die ge-
rade auf Grund ihrer Verdichtung zur modellhaften Kleinheit eine permanente
Provokation" wurde (627). Das wird im Kleindruck mitgeteilt - und damit doku-
mentieren die Autoren - malgré eux -, daß die Entwicklung doch nicht anders als die
zuvor mit Grund abgetane "Sonderentwicklung" zu fassen imstande sind (XVII). Es
klingt fast so, als hätte Robert Menasse den Verfassern im Vorbeihuschen das Wort
"sozialpartnerschaftliche Ästhetik" zugeflüstert. In jedem Falle wird mit der Betonung
auf der "Kleinheit" schon die Emphase, die jeder Größe eignet, herausgenommen.
Am bedenklichsten ist allerdings die getroffene Auswahl. Hier wird Elias Canetti
mit zwei Werken in einem Kontext erwähnt, der nicht der seine ist; seine große
Autobiographie fehlt. Albert Drach fehlt; Manès Sperber fehlt; Günther Anders fehlt;
Johannes Urzidil fehlt. Drach, der Büchnerpreisträger 1988 aus Österreich; Günther
Anders, der in Wien lebende Essayist, Romancier, Kritiker und Philosoph, aus
Schlesien stammend, Verfasser einer fundamentalen Schrift über die Gefahren des
atomaren Zeitalters und einer klarsichtigen Studie zu Franz Kafka; Manès Sperber,
einer der wichtigsten Renegaten des Stalinismus, Verfasser eines großen Romans,
einer Autobiographie, Kulturkritiker und politischer Essayist, geboren in der
Monarchie, Exilant, Gegner des Günther Anders; Johannes Urzidil, Sohn eines
Deutschböhmen und einer Rabbinertochter, Autor aus Prag: Alle vier zusammen mit
Canetti Exilautoren, aus der "gesamtdeutschen" Literaturgeschichte verbannt. Nach
den Gründen würde sich zu fragen lohnen: Sie müssen tief sitzen, vorerst läßt sich
allenfalls angeben: Sie passen nicht in das historische Schema, über das die
Literaturgeschichte gestülpt wird. Mit anderen Worten: Sie sind, genauso wie die
anderen österreichischen Autoren, die da fehlen, nicht von ihrer Produktion her mit
der deutschen Teilung in Beziehung zu bringen. Ihre Probleme liegen außerhalb des
politischen Bewußtseins der Bundesrepublik. Ich vereinfache: Für diese Literatur ist
Günter Grass Roman ”Die Blechtrommel” in etwa das Maß, an dem die Romanform
und die historische implizite Problematik sich auszurichten hätte. Viel Schelm und
auch ein wenig Wilhelm Meister und vor allem sehr viel deutsche Teilung.
Daß nun Autoren, die für eine spezifisch österreichische Tradition als Kron-
zeugen aufgerufen werden könnten, so gut wie ganz fehlen, darf hier auch vermerkt
werden: Herzmanovsky-Orlando gibt es nicht, Werner Kofler fehlt, Josef Winkler
fehlt, Gütersloh darf neben Grass, Walser und Hildesheimer Platz nehmen - Tertium
comparationis ist offenbar das Krause. Doderer darf sich zwischen Döblin und Jahnn
setzen; Gerhard Fritsch ist mit Hans Lebert offenbar eine quantité negligeable. Daß
André Heller fehlt, ist eine m.E. nach läßliche Sünde.
Was hier vorliegt, kann in der Tat nicht als Ausfluß eines bösen Willens ge-
deutet werden; das Wohlwollen, das einzelnen Autoren und Autorinnen ent-
gegengebracht wird, ist nicht nur façon de parler. Es ist das Spiel der Mächtigen, die
nicht zum Bewußtsein ihrer Macht kommen, die ihre Selbstverständlichkeit auch als
die Selbstverständlichkeit der anderen nehmen.
Die Frage, inwieweit es nun sinnvoll ist, von einer österreichischen Litera-
turgeschichte zu sprechen, und nicht doch die Unterteilung in noch kleinere
Regionen vorzunehmen, kann ich hier nicht mit Eindeutigkeit beantworten. Zu
bedenken wäre gegen das häufig mit Pathos vorgetragene und gewiß auch stich-
haltige Argument, Literatur habe Qualität jenseits nationaler Grenzen, daß es sehr
wohl die nationalen Organisationen sind, die sich der Literatur annehmen, was ja
nicht gleichbedeutend mit nationalistisch sein muß; daß es also eine Förderung von
seiten des Bundes gibt, daß dieser in seinem Interesse die Bibliotheken, die Archive,
die Vereine unterhält; daß an den Staat (Österreich) eben auch die Aufgabe delegiert
ist, die Interessen der Literatur, von amtswegen, möchte ich sagen, zu wahren. Und
daß der Staat dann gleichsam seine Rechte einfordert, kann man ihm nicht
verdenken. Das hört sich für viele böse an, man vernimmt schon das Wort vom
Staatsdichter, und daß er sich die Widerborstigen einkauft, ist schon ein Akt von
Verschleierung. Mag sein, daß so die Kritiker mundtot gemacht werden; daß ein
Autor gewissermaßen über staatlichen Auftrag die Nation jubiläumsgerecht
beschimpft, ist Teil eines Rituals, das bedenklich sein mag, weil es vielleicht einiges zu
verdecken vermag, was ausgesprochen werden müßte und wohl auch anders gesagt
werden müßte. Indes möchte ich nur sagen, daß es mir lieber ist, der Staat bezahlt
seine Dichter, als er vertreibt oder sperrt sie ein.
In jedem Fall ist darauf zu beharren, daß sehr wohl von einer österreichischen
Literatur die Rede sein kann und daß es ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit und
Fairneß ist, die Entwicklung der österreichischen Literatur in ihrem Zusammenhang
zu berücksichtigen. Das gilt nicht nur für die Gegenwart, das gilt, meine ich auch für
frühere Epochen, das gilt gewiß für die Aufklärung. In jedem Falle kann durch eine
literaturhistorische Betrachtung auch vielleicht wieder so etwas Gerechtigkeit
hergestellt werden. Die Allergien auf beiden Seiten, auf österreichischer Seite wie auf
deutscher, gilt es abzubauen. Die österreichischen Autoren können von Glück reden,
daß ihnen durch Deutschland ein gewaltiger Schallverstärker zuteil wird, deutsche
Kritiker und Literaturhistoriker indes sollten bei ihren Annexionsplänen und
Beurteilungen doch vorsichtiger sein. Österreicher wiederum sollten in dem
Bestreben der Abgrenzung von Deutschland vorsichtig sein, da eine Abgrenzung
leicht zu einer törichten Ausgrenzung kommt. In jedem Falle ist für die Zeit nach
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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1945 festzuhalten, daß der Austausch zwischen Deutschland und Österreich nie so
florierte auf dem weiten Felde des Literarischen; aber gerade die Anerkennung, die so
viele Österreicher, wenngleich manchmal als österreichische Legionäre in deutschen
Diensten und somit eingemeindet, hierzulande haben, sorgt für neue Probleme in der
behutsamen Differenzierung. "Unterschiedenes ist gut." (Hölderlin). Die Kritik hat
den österreichischen Autoren immer wieder ihre Traumatisierungen vorgeworfen: Sie
wären habsburgisch traumatisiert, katholisch traumatisiert - der Kalbsstrick ist zum
Greifen nahe - eine Truppe fröhlicher Selbstmörder. Vielleicht ist es gerade diese
Angst, sich vor einem großen Beobachter ständig zu beweisen, die uns so aufmüpfig
und manchmal leicht verletzlich macht. Gotthold Ephraim Lessing schrieb am 29.
November 1770 an seine spätere Frau Eva König nach Wien: "Gott verzeihe mir die
Sünde, wenn es nicht wahr ist, und wenn ich Unrecht tue, daß ich mir die
Österreichischen Prediger noch elender vorstelle als die Österreichischen Poeten und
Komödianten." Lessing kannte die Wiener Volkskomödie nicht, bei der eine Lady
Montague auf ihrer Reise in den Orient so lachte wie noch in ihrem Leben; allerdings
hatte sie noch nie so Anstößiges öffentlich gehört. Es muß ganz schön roh und deftig
zugegangen sein, da unten, là bas. Die Unterwelt ist in Bewegung. "Flectere si nequeo
superos Acheronta movebo" - das war das Motto der Traumdeutung. Vielleicht war
Lessing dieses noch Unkultivierte unheimlich. Es hat aber Früchte getragen, das
Unheimliche wie das Unbewußte. Vielleicht wären da allenthalben Revisionen
angebracht, in jedem Falle aber eine Wahrnehmung, die dem Gelächter wie dem
Ernst Rechnung trägt.
Vielleicht besteht der Reiz, den die österreichische Literatur ausübt, nicht zuletzt
darin, daß sie des öfteren sich nicht in die großen und festgeschriebenen Systeme
einpassen läßt, daß sie widerborstig ist, daß gerade an ihr sich die so scharf
geschliffenen Messer der Periodencharakteristiken stumpf wetzen. Es gibt sicher
wichtigere Fragen als die Besonderheit der österreichischen Literatur, es gibt
wichtigere Probleme als die Nöte der österreichischen Literaturhistoriker; aber
vielleicht sollte man diesen Fragen doch auch so etwas wie einen Symptomcharakter
zuerkennen, nämlich als den Fragen kleinerer Einheiten in einem Europa, zu dem wir
alle gerne gehören, und dem, so meine ich, gerade ein Moment gut täte, das gesetzte
Normen stets überprüfbar hält und sich nicht jedem Convenu beugt. Und das könnte
man von Beispielen aus der österreichischen Literatur ganz gut lernen, im subtilen
und heiklen Provisorium des Ästhetischen.
Und daß die Autoren wachsam sind und sich nicht gerne zu den Herolden einer
klischierten österreichischen Jubelidentität bequemen, bestätigen ein paar
sarkastische Verse jüngeren Datums von Michael Scharang:
MICHAEL SCHARANG
Die Antwort*)
Wie Sie reden
ist deutsch.
Wir reden anders.
Statt Erdäpfel
pflegen Schlagobers
wir zu sagen
statt Karotten
Paradeiser nämlich.
Auch ist zum Glück
das Von
bei uns verboten
von Quark deshalb
kann nicht die Rede sein.
Wir reden Topfen.
Das ist wie jedes Landeskind
gelernt hat zu erklären
österreichisch.
*)
Dieses Gedicht heißt nicht nur
die Antwort, es ist die Antwort -
und zwar auf ein Preisausschreiben
der Regierung, in dem gefordert wurde,
alle Probleme, die es mit der
österreichischen Identität, dem österreichischen
Wesen und dem österreichischen
Geist immer noch gibt, mit einem Schlag
zu lösen. Dieses Gedicht wurde preisgekrönt.
Statt eines Geldpreises erhielt
der Autor die Zusicherung, daß
seine Antwort bis zum nächsten Preisausschreiben
als endgültige Antwort gilt.
Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.52-58
Richard Schrodt
(Wien)
es verständlich, daß sich das Forschungsgebiet in dieser Sicht auf die Grammatik
beschränkt, und das ist die formale Darstellung des Sprachwissens. Dieses Sprachwis-
sen ist formalisiert eine geschlossene Regelmenge, konkret aber der Sprachbesitz
eines Einzelnen, wobei es prinzipiell gleichgültig ist, bis zu welchem Grad dieser
einzelne Sprachbesitz dem Ganzen einer Sprachgemeinschaft entspricht: Jeder
idiolektale Zug hat gleichen Anspruch auf Beschreibung und Erklärung wie überin-
dividuelle Phänomene. Auf diese Weise kommen die Grenzen einer Sprache gar nicht
in Sicht – oder eben nur in der Verschiedenheit der Symbolbeziehungen, die aber mit
Sprachvarietäten bzw. verschiedenen Sprachen nach herkömmlicher
(”vortheoretischer”) Auffassung nichts zu tun haben müssen.
Anders verhält es sich aber in der Alltagsauffassung von Sprachen. Hier ist das
Erlebnis einer Verschiedenheit konstitutiv, und Verschiedenheiten stellen sich auch
innerhalb einer umfassenden Sprachgemeinschaft ein. Diese Verschiedenheiten
reflektieren gemeinsame Werthaltungen, soziale und politische Einstellungen, die den
konkreten sprachlichen Ausdrücken und ihren Varianten auf allen sprachlichen
Ebenen einen bestimmten Symbolwert zuordnen. Sprachliche Merkmale erhalten
damit die Funktionen der Gruppenkonstitution und der Gruppenabgrenzung. Diese
Funktionen durchdringen die Sprachgemeinschaft bis zum sprechenden Individuum,
das durch seine sprachliche Ausdrucksweise seine Rollenzugehörigkeit und sein
Einstellungs- und Wertesystem bezeichnet. Solche Erlebnisse führen dazu, daß be-
stimmte sprachliche Formen zusätzlich zu ihrer Referenzfunktion und zu ihrer for-
malgrammatischen Funktion Einschätzungen und Werthaltungen bezeichnen, die oft
sogar das eigentliche kommunikative Interesse ausmachen. ”Du sprichst nicht meine
Sprache” – diese und ähnliche Ausdrucksweisen sind Ausdrücke für derartige
Differenzen. Wenn man die Saussuresche These der festen Verbindung von
Zeicheninhalt und -ausdruck ernst nimmt, so muß man diesen Differenzen langue-
Status zuerkennen, da ja auch die Konnotationen zur sozialen Seite der Sprache und
somit zum Zeicheninhalt gehören. In dieser Sicht erscheint die Alltagsauffassung von
Sprache durchaus linguistisch begründet, und es ist daher sinnvoll, wenn man sich
schon auf eine Diskussion über den Begriff einer Sprache einläßt, auch diesen Stand-
punkt miteinzubeziehen.
Daß Niederländisch als eigene Sprache, Plattdeutsch hingegen ”nur” als
deutscher Dialekt gilt, mag für den Systemlinguisten unerheblich und kein sinnvolles
Forschungsproblem sein: Für die konkreten Sprachteilhaber können aber solche
Unterschiede im einzelnen Lebensbezug konstitutiv sein. Daraus folgt, daß für das
Problem der Begrifflichkeit von ”Sprache” im Sinn einer Einzelsprache Antworten auf
mindestens folgende Fragen gesucht werden müssen:
• Welche sprachlichen Ausdrücke sind Träger von gruppenspezifischen Konnota-
tionen?
• Welche sprachlichen Ebenen sind betroffen?
• Wie gestaltet sich die diatopische und diastratische Verteilung von Konnotations-
systemen?
• Wie sind diese Konnotationssysteme historisch zu erklären?
• Wie kann die Zuordnung von Ausdrucksform und Inhaltsform (im Sinn des
Kopenhagener Stratifikationsmodells) im konkreten Fall historisch erklärt werden?
Im folgenden sollen nur einige Bemerkungen zum letzen Punkt gemacht wer-
den, soweit sie für das systematische Problem der Begrifflichkeit einer Einzelsprache
relevant sind.
bei Levinson 1994: 166ff). Aspekte des Sprachgebrauchs wirken auf Aspekte der
Sprachstruktur zurück und verändern diese Struktur selbst. In diachronischer Sicht
zeigt sich ein stetiger Fluß von pragmatischen Gebrauchsregeln zu grammatischen
Zeichenregeln: Pragmatik und Grammatik sind durch das Kriterium der intentionalen
Kommunikation verbunden. Unterschiede bestehen in der konventionellen
Verbundenheit von Form und Funktion (grammatisch: systematisch eindeutig,
pragmatisch: systematisch - nicht beliebig! - mehrdeutig) und in der Art der
Kontrastgruppe (grammatisch: geschlossenes demotiviertes Zeichenparadigma,
pragmatisch: offene motivierte Kontrastgruppe). Konventionalisierungen führen zu
geschlossenen demotivierten Paradigmen mit grammatischer Regularität. Das Krite-
rium der systematischen Mehrdeutigkeit erlaubt es, typisch pragmatische Phänomene
wie Höflichkeitsformen konsequent grammatisch zu beschreiben (das fordert
nachdrücklich Schubert 1985).
suchung zeigen werde – tatsächlich eine Aspektkongruenz ist und die subjektiven
Darstellungsweise im Sinn eines vom Sprecher gewählten Blickpunkts ausdrückt. Ein
Hinweis auf diesen ”Kategorienfehler” ist, daß die Zeitenfolgeregeln in den verschie-
den Grammatiken auch sehr verschieden dargestellt werden. Pragmatische
Phänomene werden daher sehr oft als nicht konstitutiv für die Frage nach dem
Sprachbegriff angesehen.
Die synchrone und diachrone ”Durchlässigkeit” der Grenze zwischen Gram-
matik und Pragmatik ist ein guter Grund dafür, den Begriff einer Einzelsprache
gerade aus den pragmatischen Funktionen abzuleiten: Im Bereich der Pragmatik
setzen gerade die Vorgänge an, die dann schließlich zu grammatischen Regeln und
festen Zeichenrelationen führen können. Auch hier ist die Zeitenfolge ein gutes
Beispiel, sind doch die geläufigen Regeln der lateinischen Schulgrammatik
Normierungen aus spätklassischer Zeit. Dazu kommt noch, daß ein solcher
”subjektiver” Sprachbegriff auch auf substrukturellen Phänomenen aufbauen kann,
die für das Erleben von Andersartigkeiten und damit zur Bezeichnung sozialer Ein-
stellungen konstitutiv sind – man denke etwa an die Erscheinung der
”Grenzversteifung”, d.h. der Verstärkung von Dialektunterschieden im Bereich der
Dialektgrenzen im Vergleich zu den Kernbereichen der Dialekte. Wenn man über-
haupt den Begriff einer Einzelsprache fassen will, dann erscheint es mir unabweis-
lich, die Grenze des kodifizierten formalgrammatischen Bereiches für die Frage nach
der Eigenständigkeit einer Sprache zu überschreiten. In diesem Sinn kann kein
Zweifel daran bestehen, daß das österreichische Deutsch als eigenständige Varietät
einer Gesamtsprache ”Deutsch” gewertet werden muß.
Literatur:
Frege, Gottlob (1976): Logische Untersuchungen. Herausgegeben und eingeleitet von
Günther Patzig. Göttingen (2. Aufl.)
Givòn, Talmy (1990): Syntax Bd. II, Amsterdam-Philadelphia
Heidolph, Karl Erich / Walter Flämig / Wolfgang Motsch und Kollektiv (1981):
Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin.
Kanngießer, Siegfried (1976): Sprachliche Universalien und diachrone Prozesse. In:
Karl-Otto Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt/Main 1976,
273-393.
Levinson, Stephen C. (1994): Pragmatik. Tübingen (= Konzepte der Sprach- und Lite-
raturwissenschaft 39) (2. Aufl.)
Savigny, Eike von (1983): Zum Begriff der Sprache. Stuttgart.
Schubert, Klaus (1985): Ist Höflichkeit ungrammatisch? In: Wilfried Kürschner /
Rüdiger Vogt (Hgg.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres. Akten des 19.
Linguistischen Kolloquiums Vechta 1984, Bd. 2. Tübingen (= Linguistische Ar-
beiten 157), 151–162.
Stechow, Arnim von / Wolfgang Sternefeld (1988): Bausteine syntaktischen Wissens.
Opladen.
Peter Wiesinger
(Wien)
Die Frage nach Struktur, Stellung, Beurteilung und Benennung der deutschen
Sprache in Österreich im Verhältnis zur deutschen Sprache in weiteren deutschspra-
chigen Ländern, insbesondere in Deutschland ist insofern bedeutsam, als Gesellschaft,
Sprache und Sprachverhalten engstens miteinander verbunden sind. In der Sprache
findet sich nämlich der geistig-kulturelle Niederschlag der Gesellschaft, und diese be-
stimmt das Sprachverhalten in der Kommunikation, so daß die Sprache ihrerseits
wieder zur Identität der Gesellschaft beiträgt. Für das heutige Österreich ist dies
dahingehend wesentlich, daß nach der Ersten Republik von 1918 als ein "Staat, den
keiner wollte" und der vorübergehenden Einverleibung in das nationalsozialistische
Deutsche Reich zwischen 1938 und 1945 Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg
seine staatliche Souveräntität wiedererlangte und sich nun in der Zweiten Republik
zunehmend ein österreichisches Nationalbewußtsein bildet und verfestigt, zu dem
auch die Sprache beiträgt. Wesentlicher äußerer Ausdruck dafür ist das ab 1947 im
Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht erarbeitete und 1951 erschienene
"Österreichische Wörterbuch", das nun in fortgeführter 37. Auflage von 1990
vorliegt und als lexikographisches Nachschlagewerk für die österreichischen Schulen
verbindlich ist. Zugleich zeigt sich anhand der darin festgehaltenen Austriazismen
und der Markierung von in Österreich ungebräuchlichen Ausdrücken der
Standardsprache in Deutschland besonders mittel- und norddeutscher Herkunft, daß
die deutsche Sprache in Österreich eine eigene Varietät bildet. Sie wird aber in der
seit etwa 1980 intensivierten, hauptsächlich von der universitären germanistischen
Sprachwissenschaft getragenen Forschung zum Teil unterschiedlich beurteilt. Im
folgenden sollen wesentliche Standpunkte vorgestellt und diskutiert werden. Dabei ist
zu berücksichtigen, daß der geschlossene deutsche Sprachraum acht Länder mit
unterschiedlichem Status des Deutschen umfaßt. Deutsch ist Staatssprache in
Deutschland, Österreich, Liechtenstein und in der deutschsprachigen Schweiz, neben
anderen Sprachen hat Deutsch amtlichen bzw. offiziellen Status in Belgien,
Luxemburg und Südtirol (Italien), und schließlich wird es mit starken Ein-
schränkungen öffentlich, wenn auch nicht amtlich in Elsaß-Lothringen (Frankreich)
verwendet.
Mit der Frage nach den Ausformungen der deutschen Sprache in den einzelnen
Ländern des geschlossenen deutschen Sprachraums und der Frage nach der ver-
-60-
bindlichen Norm befaßte sich in Deutschland schon seit den 1950er Jahren nach-
drücklich Hugo Moser. Bis zu seiner diesbezüglich letzten Veröffentlichung von 1985
vertrat Moser die Auffassung1, daß das Deutsche in der damaligen Bundesrepublik
Deutschland schon auf Grund der zentralen Lage und der höchsten Bevölkerungs-
und damit Sprecherzahl die Hauptvarietät verkörpere und damit die Norm darstelle.
Ihr schloß er als Nebenvarietät das Deutsche der damaligen Deutschen
Demokratischen Republik auf Grund ihres andersartigen gesellschaftspolitischen
Systems und der sich dadurch anbahnenden Wegentwicklung an. Beide Varietäten,
wobei für die graduelle Abstufung der politische Alleinvertretungsanspruch der
Bundesrepublik Pate gestanden haben dürfte, wurden zum Binnendeutschen zu-
sammengefaßt. Demgegenüber bildete das Deutsche in den im Westen und Süden an
die Bundesrepublik anschließenden deutschsprachigen Gebieten von Belgien,
Luxemburg, Elsaß-Lothringen, der Schweiz, Südtirols und Österreichs das Rand-
deutsche. Das bedeutet, daß aus binnendeutscher Sicht sprachliche Varianten etwa in
der Schweiz und in Österreich als Abweichungen erscheinen und eine Sonderstellung
einnehmen, indem sie in den betreffenden Ländern zwar durchaus standard-
sprachlich-normativ gelten können, aber hinsichtlich einer wünschenswerten, all-
seits verbindlichen Norm des Deutschen als Einheitssprache eben Regionalismen ohne
Normanspruch darstellen. Zur Änderung dieser monozentrischen Auffassung einer
invariablen, einheitlichen deutschen Schrift- und Standardsprache hat der au-
stralische Germanist Michael Clyne 1984 mit seinem Buch "Language and Society in
the German Speaking Countries" den Anstoß gegeben2. Darin stellt Clyne dem
monozentrischen Konzept mit nur einer Norm eine plurizentrische Beurteilung ge-
genüber, indem das Deutsche auf Grund von Varianten vielmehr über gleichwertige
nationale Varietäten in den einzelnen deutschsprachigen Staaten, ausgehend von de-
ren jeweiligen Zentren, verfüge3. Dadurch aber ist der etwas unterschiedliche
Sprachgebrauch insbesondere in Deutschland, Österreich und der Schweiz jeweils als
gleichrangig und gleichwertig anzusehen und kann das Deutsche in Deutschland,
also das Binnendeutsche im Sinne von Moser, nicht mehr als die alleinige, allgemein
verbindliche Norm gelten. Für ein polyzentrisches Konzept des Deutschen plädierte
dann 1986 Peter von Polenz auf der Internationalen Deutschlehrertagung in Bern
und fand besonders die Zustimmung der Vertreter der Deutschen Demokratischen
Republik und Österreichs4. 1988 machte dann Peter von Polenz diese neue
Auffassung in der "Zeitschrift für germanistische Linguistik" allgemein bekannt und
untermauerte sie mit einer Reihe weiterer Argumente5. War die Beurteilung des
österreichischen Deutsch und des Schweizerdeutschen als eigenständigen Varietäten
1
Moser (1985), S. 1687ff.
2
Clyne (1984). Wichtige Fortführungen bieten Clyne (1989, 1992) und besonders hinsichtlich
Österreichs Clyne (1993).
3
Den Begriff der Plurizentrizität hat bereits eingeführt Kloss (1978), S. 66ff.
4
Vgl. Hartung (1986) und Polenz (1987).
5
Polenz (1988), vgl. auch als Fortführung Polenz (1990).
des Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg in den betreffenden Ländern eine
unbestrittene Selbstverständlichkeit, so bedeutete der bundesdeutsche Beurtei-
lungswandel nur ein theoretisches Nachziehen als Anerkennung der herrschenden
sprachlichen Realitäten. Dementsprechend folgte in Deutschland und teilweise auch
aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland Zustimmung6. Praktisch änderte dieser
Meinungsumschwung freilich nichts, denn der Duden hatte in seine Rechtschreibung
als orthographisches Regelwerk für die deutsche Sprache schon seit 1970 zu-
nehmend süddeutsche, österreichische und schweizerdeutsche Varianten mit ent-
sprechender Kennzeichnung aufgenommen, ohne bei diesem pragmatischen Verfah-
ren die Frage nach deren Verhältnis zu einer Norm zu stellen7, und Hugo Moser
mußte, um nicht realitätsfremd zu sein, bei der bisher letzten Neubearbeitung der
Deutschen Aussprache im Siebs 1969 süddeutsche, österreichische und schweizer-
deutsche Eigenheiten zumindest als gemäßigte Hochlautung anerkennen und ihnen
weitere, wenn auch als "Abweichungen von der gemäßigten Hochlautung" zugeste-
hen8, von denen ein Teil aber schon damals zur Hochlautung bzw. Bühnenausspra-
che in Österreich zählte und vom österreichischen Phonetiker und Sprecherzieher
Felix Trojan eingebracht worden war.
Das österreichische Deutsch wurde besonders von der österreichischen,
teilweise aber auch von der deutschen und außerdeutschen germanistischen
Sprachwissenschaft beschrieben und charakterisiert9. Es zeichnet sich in seiner
geschriebenen Form besonders durch Eigenheiten im Wortschatz hauptsächlich als
Bezeichnungen und seltener auch durch Bedeutungen (onomasiologische und
semasiologische Besonderheiten) sowie in geringerem Umfang durch morphologische
Eigenheiten in der Formen- und Wortbildung einschließlich der Genera des
Substantivs, syntaktische und phraseologische sowie auch pragmatische
Besonderheiten aus. Mündlich kommen dann vor allem noch Besonderheiten der
Aussprache mit Lautbildung und Wortakzentuierung hinzu. Dabei bestehen noch
zusätzliche Unterschiede je nach der Sprechebene, nämlich ob es sich um
Hochlautung oder Standardlautung rhetorisch geschulter Berufssprecher wie
Rundfunk- und Fersehansager und -moderatoren oder Schauspieler oder um die
ihrerseits wieder in sich leicht abgestufte Standardsprache hauptsächlich in
öffentlichen, formellen Situationen handelt. Mit Recht ist darauf hingewiesen
worden, daß die schriftliche Variabilität wesentlich geringer ist als die mündliche
und daß die unterschiedliche Klangwirkung der Standardsprache auf der großen
regionalen Differenzierung der konstitutiven Sprechfaktoren nach Artikulationsbasis,
6
Vgl. u.a. Heger (1989), Domaschnew (1989), Besch (1990).
7
Duden-Rechtschreibung, 17.-20. Aufl.
8
Siebs (1969). Hingegen berücksichtigt Max Mangold auch in der 3. Aufl. des Duden-
Aussprachewörterbuches (1994) nicht die Besonderheiten der Standardaussprache in Österreich
und der Schweiz.
9
An Übersichtsdarstellungen der letzten 15 Jahre seien vor allem genannt Ebner (1980, 1989),
Hornung (1987), Mentrup (1980), Moosmüller (1991), Reiffenstein (1982, 1983); Russ (1994):
German in Austria, pp. 55-75; Wiesinger (1983, 1985, 1988, 1990, 1994).
10
Vgl. Besch (1990).
11
Proben dafür bringt Moosmüller (1991), S. 124ff.
reich?" auf etwa 4.000 Wörter. Demgegenüber verzeichnet Dudens "Großes Wörter-
buch der deutschen Sprache" einschließlich der Ableitungen und Komposita über
200.000 Stichwörter12. Im Vergleich machen daher die Austriazismen etwa 2 % aus,
oder anders ausgedrückt entfallen auf einen Text von 100 Wörtern im Durchschnitt
2 Austriazismen, wobei aber das tatsächliche Vorkommen auf Grund der
unterschiedlichen Verteilungen je nach Sachgebiet und Inhalt wechselt.
Die Unterschiedlichkeit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wobei sich
letztere ja nicht bloß auf die Standardsprache beschränkt, sondern zu dieser bei
fließenden Übergängen noch Umgangssprache und Dialekt hinzukommen13, sowie
die insgesamt beschränkte Zahl schriftsprachlicher österreichischer Besonderheiten
gegenüber einer dominanten Fülle schriftsprachlicher Gemeinsamkeiten mit der
allgemeinen deutschen Schriftsprache hat in den einschlägigen Beiträgen der
österreichischen germanistischen Sprachwissenschaftler Jakob Ebner, Ingo
Reiffenstein, Hans Moser, Maria Hornung und von mir zu weitgehender
Übereinstimmung in der Beurteilung geführt14. Einigkeit besteht darin, daß
angesichts der verhältnismäßig geringen Anzahl österreichischer Besonderheiten und
zum Teil zusätzlicher innerösterreichischer Unterschiede terminologisch nur die
Bezeichnung "österreichisches Deutsch" angemessen und sinnvoll ist. Schon 1980
stellt Jakob Ebner diesbezüglich fest:15
Ein einheitliches "Österreichisch" gibt es dennoch nicht. Was man als öster-
reichisches Deutsch bezeichnet, ist die Gesamtheit der in Österreich oder einer
österreichischen Landschaft vorkommenden sprachlichen Eigenheiten.
Unterschiedlichkeit, auch über Österreich hinaus, besteht in der Frage, inwie-
weit man bei Zusammenfassung der einzelnen Varianten zu Varietäten als Teilsy-
stemen innerhalb des Deutschen mit Bezug auf die Sprachverhältnisse eines Staats-
gebietes von nationalen Varianten und Varietäten sprechen kann. Diesbezüglich sagt
Peter von Polenz16:
Es kommt darauf an, welche Varianten mit dem Verhalten der Sprachbenutzer
als Staatsbürger in systemhafter Weise etwas zu tun haben, und zwar in ihrer
referenziellen und prädikativen Funktion ebenso wie in ihrer pragmatischen und
sprachsymptomatischen.
In diesem Sinn fassen, ohne zum Teil diese nicht immer klar definierten und
deshalb auch etwas unterschiedlich eingesetzten Termini zu gebrauchen, sicher Jakob
Ebner, Maria Hornung und ich das österreichische Deutsch als Varietät der
12
Die Zahlen jeweils nach den Angaben der betreffenden Wörterbücher: Ebner (1980), Umschlag;
Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1 (1993), S. 6.
13
Vgl. dazu neben Moosmüller (1991) auch Wiesinger (1988a, 1992).
14
Vgl. besonders die in Anm. 9 genannten Darstellungen sowie Hornung (1973) und hinsichtlich der
Aussprache Moser (1989).
15
Ebner (1980), S. 215.
16
Polenz (1990), S. 7.
deutschen Sprache auf. Ausdrücklich als "nationale Variante" bzw. "nationale Va-
rietät" bezeichnen sie in Österreich Hans Moser und außerhalb Peter von Polenz,
Michael Clyne und Anatoli Domaschnew17 Hingegen hält Ingo Reiffenstein die
österreichischen Besonderheiten zahlenmäßig für zu gering, um von einer
"nationalen Variante der deutschen Hochsprache" zu sprechen, wenn er 1982 fest-
stellt18:
Daß Österreich ein Teil des Geltungsbereiches der deutschen Hochsprache ist,
ist unbestritten. Ein unbestrittenes Faktum aber ist auch, daß die deutsche
Hochsprache in Österreich in einigen Punkten von der z.B. in der BRD gültigen Norm
abweicht, vor allem im Lexikon, aber auch in der Hochlautung. Soweit diese
Abweichungen in den Normenbüchern ... kodifiziert sind, reichen sie meines
Erachtens nicht aus, von einer nationalen österreichischen Variante der deutschen
Hochsprache zu reden, zumal es landschaftliche Wortschatzunterschiede ja auch
sonst im Binnendeutschen gibt. Und 1983 sagt Reiffenstein noch deutlicher19:
"Nationale Souveränität, abweichendes Gesellschaftssystem und ähnliches reichen
dafür (= für nationale Varianten des Deutschen) nicht aus. Wenn man als
Kriterium festsetzen wollte, daß von nationalen Varianten erst dann gesprochen
werden kann, wenn für bestimmte Varietäten ein eigenes, in sich kohärentes
Normensystem kodifiziert wird, dann gibt es innerhalb des deutschen keine
nationalen Varianten. Die je kodifizierten lexikalischen Besonderheiten sind nach
meiner Meinung ein zu schmaler Ausschnitt eines Sprachsystems, um das
Kriterium eines kohärenten Normensystems erfüllen zu können."
Auch Werner Besch pflichtet 1990 Reiffenstein bei, wenn er u.a. schreibt: 20:
"In der geschriebenen Form der Schriftsprache sind wir noch Brüder (und
Schwestern). Da spielt Nord und Süd kaum eine Rolle. ... Unterschiede, die im
Geschriebenen auftauchen, sind "eher unerheblich" ... Unterschiede in Lexikon und
Semantik werden notorisch überschätzt, auch bezüglich der anderen drei
deutschsprachigen Staaten. Sie haben wenig Gewicht im Blick auf den großen
gemeinsamen Gesamtwortschatz. ... Es bedarf einer langen Beobachtungszeit und
einer gewichteten Teilmenge an Beispielen, ehe ihnen der Status nationaler Variation
zugesprochen werden kann."
Insgesamt scheint es sich angesichts der für Österreich allseits als gültig aner-
kannten Varianten nur um einen Streit um Definitionen zu handeln, denn für den
gegenwärtigen österreichischen Sprachzustand kann weiterhin meine Beurteilung
von 1988 (1985) gelten21:
17
Moser (1989), S. 25; Polenz (1988), S. 204; Polenz (1990), S. 31; Clyne (1989, 1992, 1993);
Domaschnew (1993), S. 8.
18
Reiffenstein (1982), S. 13.
19
Reiffenstein (1983), S. 23.
20
Besch (1990), S. 93.
21
Wiesinger (1988), S. 17.
22
Auf die Möglichkeit, daß österreichische Sprachnormen "für sprachseparatistische Bestrebungen
mißbraucht werden könnten", weist bereits Moser (1989), S. 25, hin.
23
Vgl. die Ergebnisse von Selbsteinschätzungen der Sprachverwendung in einzelnen Situationen bei
Wiesinger (1988a) und Urteile bei Moosmüller (1991), S. 16ff.
24
Möcker (1992), S. 249.
25
An Kritiken vgl. u.a. Wiesinger (1980) und Fröhler (1982).
26
Pollak (1992).
27
Clyne (1993).
28
Domaschnew (1993), S. 17ff.
29
Wodak (1994). Es handelt sich bei diesem Artikel um die Kurzfassung des Referates "Gibt es ein
österreichisches Deutsch? - Sprachpolitik in einem modernen Europa" beim Symposion des
Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung "Europa der Ideen" am 28. April 1994 in Wien.
30
Vgl. Scheuringer (1987, 1988, 1989, 1992, 1994) und Wolf (1994, 1994a). Scheuringer (1989), S.
119 sagt in seiner diesbezüglich ersten Beschäftigung mit dieser Thematik von 1986 ausdrücklich:
"Im Sinne einer möglichst im ganzen deutschen Sprachraum tauglichen Standardsprache ist
bewußter Isolationismus, wie er von einer kleinen, aber einflußreichen Gruppe in Österreich forciert
wird, abzulehnen" und mit Bezug auf Muhr (1982): "Das Maß der Abgrenzung ist voll, und die
'linguistische Schizophrenie einer Nation' ist noch nicht eingetreten".
31
Vgl. dazu besonders Forer/Moser (1988) und Metzler (1988).
32
Vgl. Scheuringer (1994), S. 36 und 43.
33
Genannt seien hier besonders Ebner (1980) und die im Sammelband von Wiesinger (1988) vereinten
Beiträge.
Literatur
Besch, Werner (1990): Schrifteinheit - Sprechvielfalt. Zur Diskussion um die natio-
nalen Varianten der deutschen Standardsprache. In: German Life and Letters 43,
pp. 91-102.
Clyne, Michael (1984): Language and Society in the German-Speaking Countries.
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Languages and Language Varieties. Ed. by Ulrich Ammon. Berlin/New York, pp.
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Berlin/New York (Contributions to the Sociology of Language 62).
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delnden internationalen Kontext. In: Muhr (1993), S. 1-6.
Domaschnew, Anatoli (1989): Noch einmal über die nationalen Sprachvarianten im
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Duden-Aussprachewörterbuch. Wörterbuch der deutschen Standardaussprache. 3.
völlig neu bearb. und erweit. Aufl. von Max Mangold. Mann-
heim/Leipzig/Wien/Zürich 1994.
Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. völlig neu bearb. und
stark erweit. Aufl. 8 Bde. Mannheim/Leipzig/Wien/ Zürich 1993-95.
Duden-Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Mann-
heim/Wien/Zürich. 17. Aufl. 1973, 18. Aufl. 1980, 19. Aufl. 1986, 20. Aufl.
1991.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2. vollständig überarb. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich.
34
Vgl. Moser (1989), S. 25.
Ebner, Jakob (1989): Österreichisches Deutsch - ein Thema für die Didaktik. In: In-
formationen zur Deutschdidaktik 13/2, S. 88-98.
Forer, Rosa/Moser, Hans (1988): Beobachtungen zum westösterreichischen Sonder-
wortschatz. In: Wiesinger (1988), S. 189-209.
Fröhler, Horst (1982): Zum neuen Österreichischen Wörterbuch (35. Aufl. 1979).
Acht Thesen über seine Mängel und über deren Beseitigung. In: Österreich in
Geschichte und Literatur 26, S. 152-183.
Hartung, Wolfdietrich / Polenz, Peter von / Reiffenstein, Ingo / Thomke, Hellmut /
Werlen, Iwar: Podiumsgespräch "Nationale Varianten der deutschen Hochspra-
che". In: Tagungsbericht der 8. Internationalen Deutschlehrertagung, Bern 1886,
S. 55-72.
Heger, Klaus (1989): Zur plurizentrischen Sprachkultur. In: Zeitschrift für germa-
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In: Österreich in Geschichte und Literatur 17, S. 15-24.
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Kloss, Heinz (1978): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800.
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S. 106-115.
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reich, dargestellt an Beispielen aus dem Bezeichnungsfeld "Essen, Trinken, Mahl-
zeiten". In: Wiesinger (1988), S. 211-223.
Möcker, Hermann (1992): Aprikosenklöße? - Nein danke! "Österreichisches Deutsch"
- "Deutschländisches Deutsch". In: Österreich in Geschichte und Literatur 36, S.
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Moosmüller, Sylvia (1991): Hochsprache und Dialekt in Österreich. Soziophonologi-
sche Untersuchungen zu ihrer Abgrenzung in Wien, Graz, Salzburg und
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Moser, Hans (1989): Österreichische Aussprachenormen - Eine Gefahr für die
sprachliche Einheit des Deutschen? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik
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Moser, Hugo (1985): Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945. In: Sprach-
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Erforschung. Hrsg. von Werner Besch u.a. Berlin/New York, S. 1678-1707.
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phrenie einer Nation. In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8, S.
306-319.
Muhr, Rudolf (1987): Deutsch in Österreich - Österreichisch. Zur Begriffsbestim-
mung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In: Grazer Arbei-
ten zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch in Österreich 1, S. 1-23.
Rudolf Muhr
(Graz)
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Sprachsituation in Österreich
und versucht davon ausgehend zu zeigen, daß der Begriff der "Standardsprache"
innerhalb von plurizentrischen Sprachen, insbesondere im deutschsprachigen Kon-
text, einer Neudefinition bedarf. Dies vor allem deshalb, weil das Spannungsver-
hältnis von österreichischer Identität und deutscher Sprache für viele Österreicher
eine verwirrende und ungelöste Situation hervorgebracht hat, die bei der Beurteilung
der "Standardsprachlichkeit" österreichischer Ausdrücke eine entscheidende Rolle
spielt. Damit ist nicht nur die Legitimität des österreichischen Deutsch als nationale
Standardvariante des Deutschen berührt, sondern auch seine Rolle als Mittel zum
Ausdruck nationaler Identität und Selbst-Identifikation. Seit dem Vortrag, der dieser
Arbeit zugrundeliegt, ist auch die umfangreiche Arbeit von Ulrich Ammon (1995)
"Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz" zu den natio-
nalen Varianten erschienen. Im folgenden soll auch auf einige der dort vertretenen
Standpunkte sowie auf die einiger anderer Autoren eingegangen werden.2 Die
vorliegende Arbeit wurde gegenüber dem Vortrag um diese Ausführungen
ausgeweitet.
1
Maurus Lindemayr: Vorrede zur Predigt-Rhetorik. 1769. Lindemayr war Benediktinermönch im Stift
Lambach, Oberösterreich. Den Hinweis verdanke ich einem Vortrag von H. Scheuringer auf der 6.
Arbeitstagung für bayrisch-österreichische Dialektologie in Graz, 22.-25.9.1995. Ich danke dem Autor
für die Zuverfügungstellung des Manuskripts. Das Zitat ist auch enthalten in Wiesinger (1995a) und
von dort entnommen.
2
Auf die von P. Wiesinger (1995) in seinem Beitrag zum Tagungsband vorgenommene Darstellung
meiner Position zum österreichischen Deutsch, die völlig unzutreffend ist, werde ich hier nicht
eingehen, sondern in einer anderen Publikation.
-76-
Aus soziolinguistischer Sicht geht es bei der vorliegenden Diskussion nicht nur
um die Zuordnung einzelner Ausdrücke zu Sprachschichten oder nationalen
Varianten, sondern vielmehr darum, "die Beschreibung der Sprache nicht vom
Menschen zu trennen"3, was zu einer Reihe grundlegender Fragestellungen der
linguistischen Theorie und der Wirkungen sprachlicher Betätigung führt. Dazu
gehören u.a.:
1. Das Verhältnis von Sprache und Macht - Beanspruchung und Markierung von
Territorium durch Sprache - Angst vor Verlust eines Territoriums;
2. Eigenes und Fremdes in Sprache und Verhalten - Sprachliche und soziale Ein-
grenzung und Ausgrenzung;
3. Soziale Orientierung - Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu Gruppen und
Nationen;
4. Der Ausdruck von individueller und sprachlicher Identität durch Sprache und
andere Symbole;
5. Die staatliche Festlegung und Gültigkeit von Normen; staatliches System und
sprachliche Sozialisation.
6. Die Standardisierung von Sprache durch Gebrauch versus Standardisierung
durch Übernehmen kodifizierter Normen.
Hinzuzufügen wäre noch, daß diese Arbeit vor allem soziolinguistische, sprach-
politische und methodische Zielsetzungen hat. Ihr Augenmerk ist daher weniger auf
linguistische Details, sondern auf die eingehende Beschreibung der Sprachsituation in
Österreich und daraus abgeleiteter methodischer Konsequenzen gerichtet.
3
Prof. Norman Denison in seiner Antwort auf die Laudatio anläßlich seines 70. Geburtstags, in der er
auch ein programmatisches Resümee seiner soziolinguistischen Forschung formulierte.
4
Vgl. dazu das im deutschen Sprachraum bisher viel zu wenig rezipierte Standardwerk von Clyne
(1992): Pluricentric Languages. Different Norms in different nations.
5
Den Vorschlag von Ammon (1995:49), den Begriff "plurizentrisch" durch "plurinational" zu ersetzen,
halte ich für wenig hilfreich, weil es in verschiedenen Kulturregionen der Welt höchst unterschiedliche
Auffassungen des Begriffs "Nation" gibt und der Begriff damit nicht eindeutig ist. Ich bevorzuge
daher den deskriptiven Begriff "plurizentrisch".
6
Ammon (1995) differenziert zwischen "Varianten" als Einzelausdrücke und "Varietäten" als
Teilsysteme einer plurizentrischen Sprache.
7
Clyne (1992:456)., Vgl. dazu auch von Polenz (1988).
8
Clyne (1992: 455).
9
Vgl. dazu Clyne (1990/1993:2f), wo zehn Punkte aufgelistet sind, die dieses Verhältnis beschreiben.
1. Der Leiter des Französischen Kulturinstituts Wien, Jaques Le Rider bemerkt dazu in
einem Brief:10 "Als französischer Germanist kann ich bezeugen, daß das
"österreichische Deutsch" meistens als Abweichung von der Norm betrachtet wird.
Der österreichische Wortschatz wird in französischen Wörterbüchern nur be-
schränkt berücksichtigt."
2. M. Gauß (1994:30) berichtet in seinem Buch "Ritter, Tod und Teufel" davon, daß
Kinder aus Berlin eingeflogen werden mußten, als in Wien kürzlich eine amerika-
nische Kinderserie synchronisiert wurde. Denn die österreichische Sprachfärbung,
von der die ursprünglich vorgesehenen Wiener Kinder immer noch nicht vollständig
gereinigt werden konnten, hätte bewirktt, daß die Serie nur im österreichischen
Fernsehen gesendet, nicht aber auch an deutsche Stationen verkauft werden konnte.
3. Ganz auf dieser Linie liegt auch die Sprachpraxis in der populären Serie
"Kommissar Rex", die in Wien situiert ist und vom ORF zusammen mit dem deut-
schen Privatsender SAT1 produziert wurde. Der Darsteller des Kommissars, ein öster-
reichischer Schauspieler Tiroler Herkunft, spricht - als Wiener Kommissar! - deutlich
norddeutsch geprägtes Standarddeutsch, während seine Kollegen unverkennbar
Ostösterreichisch/Wienerisch sprechen. Nicht nur, daß es höchst unnatürlich ist,
wenn ein Polizeikommissar im österreichischen Alltag ausschließlich
Standarddeutsch spricht, symbolisch wird mit dieser Sprachpraxis auch ein klarer
sprachlicher Unterschied zwischen dem Chef und den subalternen Mitarbeitern ge-
zogen: Der Chef redet "richtig", die anderen sind halt Österreicher. Aus den Medien
ließen sich noch viele solcher Beispiele anführen.
4. Eine Reihe von österreichischen Lehrern, die in Frankreich ansässig wurden und
dort zur französischen Lehramtsprüfung (CAPES) antraten, mußten sich eine nord-
deutsche Aussprache aneignen, da ihre österreichische Standardaussprache als
"Dialekt" klassifiziert wurde und ihnen damit der erfolgreiche Abschluß der
(existentiell enorm wichtigen) Prüfung verweigert wurde.
5. Die Vorbehalte britischer Universitätsgermanisten und Germanistikstudenten ge-
genüber dem österreichischen Deutsch sind von V. Martin (1995) gut beschrieben
worden. Solche Vorbehalte sind beileibe nicht auf dieses Land beschränkt. Die allge-
meine Haltung der Auslandsgermanistik ist geprägt von Unsicherheit, Nichtwissen
und Distanzierung gegenüber dem ÖDt. bzw. von der Ansicht, daß ÖDt. als "Dialekt"
des Deutschen anzusehen sei. Die unmittelbare Folge davon ist, daß ausländische
GermanistikstudentInnen Schwierigkeiten haben, mit dem ÖDt. die jeweiligen Ab-
schlußprüfungen zu bestehen oder sogar in Gefahr kommen, das Studium abbrechen
zu müssen.11 Wie Victoria Martin zeigt, versuchen die meisten der von ihr befragten
10
Der Brief vom Feber 1995 war an R. Schrodt gerichtet und betraf die Teilnahme an der Tagung zum
österreichischen Deutsch in Graz.
11
So erzählte mir z.B. eine schwedische Studentin Ende September 1995, daß sie sehr stark darum
kämpfen mußte, daß ihr österreichisch gefärbtes Standarddeutsch von den bundesdeutschen
englischen Studenten das in Österreich gelernte Deutsch vor der Prüfung wieder
abzulegen. Auch die österreichischen Auslandslektoren werden sehr oft mit diesem
Problem konfrontiert: Ihr Deutsch wird - besonders von bundesdeutschen
Mitgliedern des Lehrpersonals - oft für nicht vollwertig gehalten, was dazu führt,
daß sie in der Ausbildung nicht entsprechend eingesetzt werden.12
6. Immer öfter werden österreichische Übersetzer mit dem Problem konfrontiert, daß
ihre Übersetzungen von den bundesdeutschen Auftraggebern - mit dem Vermerk
"falsche Übersetzung" bzw. "zu österreichisch" versehen - nicht angenommen wer-
den.13
Diese Abwertung der in Österreich gebräuchlichen Sprache wirkt auf das Image
des Landes und seine Produkte zurück. Ein Land, in dem nur ein "Dialekt" gesprochen
wird, ist nicht wirklich ernst zu nehmen. Es hat ein negativ markiertes Image und
damit zusammenhängend einen herabgesetzten Anerkennungs- und Marktwert.
Seine industriellen und erst recht seine kulturellen (sprachlichen) Produkte lassen
sich nicht in derselben Weise verkaufen bzw. bekommen nicht dieselbe Anerkennung
wie die anderer Länder. Das gilt auch für die beruflichen Verwertungschancen des
einzelnen und schlägt sich unmittelbar in Benachteiligungen allgemeiner Art und
ökonomischen Ungleichbehandlungen nieder. Wer sich nicht artikulieren kann bzw.
sich nicht in einer für ihn gültigen Sprache entsprechend artikuliert, wird nicht
wahrgenommen und existiert auf dem Markt der Ideen und kulturellen Produkte
nicht - sein Wert ist herabgesetzt.
3.2. Das Imageproblem des österreichischen Deutsch im Inland
- Sprachliche Minderwertigkeitsgefühle - Nichtwissen über
die Normen und Merkmale der eigenen Sprache
Dem Imageproblem im Ausland entspricht ein ebensolches im Inland. Dazu
trägt nicht nur die traditionelle Asymmetrie zu Deutschland bei, sondern auch eine
Reihe anderer Faktoren. Die Einstellungen der Österreicher zu ihrem Deutsch sind
durch drei Merkmale gekennzeichnet:
• Weitverbreitete sprachliche Minderwertigkeitsgefühle gegenüber bundes-
deutschen Sprechern;
• Unsicherheit den Normen der eigenen Sprache gegenüber, die nicht selten zu
Verleugnungshaltungen, Abwertung und Ablehnung des sprachlich Eigenen als
"Dialekt" führt;
• Nichtwissen über die Merkmale des eigenen Deutsch;
Macht man in Österreich Spracheinstellungsuntersuchungen, wird man fest-
stellen, daß sich die Österreicher ihrer Sprache ziemlich unsicher sind und in der
Professoren an ihrem Institut anerkannt wurde. Man akzeptierte es nach einiger Zeit schließlich mit
dem Argument, weil "sie es konstant verwende."
12
Auf der Jahrestagung 1995 des Österreichischen Lehrerverbandes Deutsch als Fremdsprache (22.-
23.10.1995) berichteten mehrere Lektoren von solchen Erfahrungen.
13
Persönliche Mitteilung von Grazer Dolmetschstudenten und Übersetzern.
Regel dazu tendieren, die stilistisch "höheren" bzw. "selteneren" Varianten, die mei-
stens nicht dem Alltagsgebrauch entsprechen, als die "richtigen" anzugeben. In der
Regel werden auch eher bundesdeutsch klingende Varianten als richtiger angesehen.
Vor die Alternative gestellt, ob "Stiege" oder "Treppe", "anfangen" oder "beginnen",
"kriegen" oder "bekommen", "reden" oder "sprechen", "rennen" oder "laufen" stan-
dardsprachlich" sind, neigen sehr viele Österreicher dazu, letzteres als "hochdeutsch"
anzusehen, weil sie glauben, ihr "normales Deutsch" sei ohnehin "Dialekt". Und das,
obwohl sie im Alltag so gut wie immer "Stiege, anfangen, kriegen, reden, rennen etc."
verwenden. Diese Haltung - das, was man sprachlich normalerweise tut, für nicht
adäquat zu halten und gleichzeitig, das, was man sprachlich üblicherweise nicht tut,
als höherwertiger anzusehen - habe ich wiederholt als "linguistische Schizophrenie"
bezeichnet.14 Ein Befund, zu dem auch Schmid (1990:28) kommt.15 Sie besteht in der
Ausblendung des Eigenen und der Dominantsetzung des sprachlich Anderen und ist
das stärkste Element der bestehenden Asymmetrie zwischen dem ÖDt. und dem
Bundesdeutschen. Verstärkung erfährt diese Einstellung durch den Umstand, daß die
Verkehrssprache der meisten Österreicher im alltäglichen Umgang eine standard-
spracheferne Variante ist, deren Ausdrücke in der Regel nicht kodifiziert und daher -
obwohl oft im ganzen Land gebräuchlich - nicht als Standard anerkannt sind.
Zur Untermauerung meiner Behauptungen möchte ich eines von vielen
Beispielen etwas ausführlicher darstellen: In einer Livesendung16 im ORF-Fernsehen
(Ende Mai 1995), zu der ich wegen des Tagesthemas "Österreichisches Deutsch" als
Experte eingeladen war, brachte die Mutter eines 9-jährigen Volksschülers, telefo-
nisch folgendes Problem vor:17
"Also ich finde, daß es sehr wichtig ist, daß die Kinder schon in der Schule das
Hochdeutsche lernen und nicht dieses Österreichisch. Mein Sohn kam letzte
Woche mit einer Hausaufgabe nachhause; ein Bilderrätsel, wo er für "Paradeiser",
"Tomate", "Erdäpfel" "Kartoffel" einsetzen mußte. Beim "Kukuruz" hat's geheißen,
das ist "böhmisch", weil er nicht "Mais" geschrieben hat. Und das ist schon ein bißl
schlimm. Aber das Ärgste war, für "Stelze" mußte er "Eisbein" hinschreiben. Und
woher soll ein Kind sowas wissen?"
Das zeigt, daß die(se/r) VolksschullehrerIn Unterrichtsmaterial verwendet, in
dem die in Österreich gebräuchlichen Ausdrücke als "Dialekt" und die bundes- bzw.
norddeutschen Regionalausdrücke als "Standard" dargestellt werden, ohne daß dies
14
Muhr (1982).
15
Dazu Schmid: "Denn wir "dürfen" nicht so sprechen (=glauben, nicht so sprechen zu dürfen, zu
sollen), wie wir eigentlich sprechen wollten - wir denken, es wäre verächtlich, so zu sprechen, wie es
uns "natürlich" erscheint, also wie wir gewohnt sind zu sprechen: und genau indem wir diesen
Eindruck produzieren, wird es überhaupt erst verächtlich."
16
Bei der Sendung handelt es sich um "Willkommen Österreich", die Montag bis Freitag in der Zeit von
17-18'45 Uhr ausgestrahlt wird. Sie ist eine Mischung aus Unterhaltungs- und Informationsblöcken
zu diversen Themen.
17
Wörtliche Wiedergabe des Liveanrufs während der Fernsehsendung.
die Lehrperson richtigstellt.18 Bezeichnend ist aber auch die Reaktion der Mutter. Sie
dringt nicht darauf, daß der landesüblichen Sprache der Vorzug gegeben wird, viel-
mehr soll die "richtige" Sprache erlernt werden, selbst wenn dies befremdend wirkt.
Ein Vorgang, den M. Clyne zu recht als "cultural cringe"19 bezeichnet hat. Es besteht
daher die starke Tendenz, die eigenen Ausdrücke im Zweifelsfall gegen bundesdeut-
sche Regionalausdrücke auszutauschen; und tut dies im Glauben, damit einen stan-
dardsprachlichen Ausdruck gewählt zu haben. Im Zweifelsfall haben daher die bun-
desdeutschen Ausdrücke Vorrang gegenüber den eigenen. Ein Phänomen, das ich als
sprachliche Entäußerung bezeichnen möchte. Dazu auch Schmid (1990:31): "Wie
können wir uns noch ausdrücken, vermitteln, mitteilen, "verwirklichen", wenn wir
immer erst nach jenem most juste suchen müssen, welches von außen her verbrieft
worden ist?" Wie der Anruf der besorgten Mutter deutlich zeigt, geht es gerade um
die "Bestätigung von außen". Erst dann glaubt man sicher zu sein, das "sprachlich
Richtige" zu tun. Rainer Münz (1995:33), seit einigen Jahren Professor an der
Humboldt-Universität Berlin, meint dazu: "Dahinter steht eine heimliche
Bewunderung und vor 1945 auch ganz offene Bewunderung, die wir Österreicher
für die zielstrebigen, eloquenten, ökonomisch erfolgreichen Deutschen hegen, ge-
paart mit dem Gefühl, nicht ganz mithalten zu können. Statt dessen halten wir
Österreicher uns für die besseren Lebenskünstler."
Die Bevorzugung der Normen der Dominanten deutschsprachigen Nation und
das damit verbundene Phänomen der sprachlichen Entäußerung ist, wie ein Beispiel
in Ammon (1995a:449) andeutet, auch österreichischen Sprachexperten nicht fremd.
Es ging dabei um die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von österreichischen
Ausdrücken, die meines Erachtens in allen Fällen gegeben ist:20 Dazu Ammon: "Das
Ergebnis war, daß Tatzreiter eine Reihe von Varianten als österreichisches
Standarddeutsch anerkannte, die Scheuringer ablehnte. Die von Tatzreiter
anerkannten Varianten stehen nachfolgend linksseitig, rechts daneben steht der
Kommentar Scheuringers.
Nachtmahl: "ist mir standardspr. fremd";
geröstete Erdäpfel: "ist für mich nicht standardspr.";
allfällig: "ist in dieser Position unmöglich; nur etwaige;
Pölstern: "empfinde ich nicht als Standard"
18
Manche Volksschullehrer arbeiten diese Arbeitsblätter allerdings auf "österreichisch" um, wie die
nächste Anruferin feststellte.
19
Frei übersetzbar als "kulturelle Unterwürfigkeit". Zum Ausdruck vgl. auch Fn. 24 im Beitrag von L.
Bodi in diesem Band.
20
Solche Unsicherheiten und Nichtübereinstimmungen könnten durchaus auch unter norddeutschen,
süddeutschen und ostdeutschen Germanisten auftreten, wenn die Standardsprachlichkeit von
Ausdrücken beurteilen sollten. Es ist wohl keine bloß österreichische Erscheinung, wie dies Ammon
suggerieren möchte. Unverständlich ist, daß bundesdeutschen Gewährspersonen kein ebensolcher
Fragebogen vorgelegt wurde. Das liegt aber in der Gesamttendenz des genannten Buches, das vor
allem versucht die Anderen Nationen zu beschreiben und die Dominante Nation mit dem Argument
fehlender Daten weitgehend ausklammert.
Nicht nur, daß man sich damit seiner eigenen Sprache begibt: Durchaus vor-
handene sprachliche Gemeinsamkeiten mit anderen Regionen Österreichs werden
nicht mehr wahrgenommen, weil sie der jeweiligen Regionalsprache zugeordnet
werden. Darauf basieren Äußerungen wie, "in Wien/in der Steiermark/in Tirol etc.
würden wir "..." sagen". Meistens ist der Ausdruck dann nicht bloß typisch für
Wien/Steiermark/Tirol, sondern im größten Teil Österreichs in Gebrauch. Das zeigt,
daß man aufgrund des Dogmas des "richtigen" Deutsch (= Schriftsprache) die eige-
nen Gemeinsamkeiten im Land nicht wahrnimmt, weil man glaubt, daß alles, was
nicht wie sog. "Hochdeutsch" klingt, nur Dialekt sein kann und der ist eben einmal
nur in einer Gegend gebräuchlich. Die wesentlichste Ursache dafür ist das Fehlen
umfassender Nachschlagewerke, daraus resultierende Unsicherheiten und die nicht-
verstandene Doppelidentität der Österreicher (Österreicher und deutschsprachig),
die Sprache als Identitätsfaktor bisher ausgeklammert hat. Da man als Staatssprache
"Deutsch" hat und nach den herkömmlichen Kriterien ethnisch/sprachlich gesehen
als Deutsche zu betrachten ist, sich aber nicht als solche fühlte und gleichzeitig für
diese Situation keine Lösung wußte, hat man diese Frage lieber nicht berührt bzw.
sich damit begnügt, lediglich auf vorhandene "(lexikalische) Besonderheiten in der
deutschen Sprache in Österreich" zu verweisen.
3.3 Die Purifizierung der österreichischen Literatursprache
Die sprachliche Außenorientierung in Österreich wird noch durch die Purifi-
zierung der österreichischen Literatursprache verstärkt, die darin besteht, daß öster-
reichische Sprachmerkmale aus der österreichischen Literatur systematisch entfernt
und durch bundesdeutsche oder neutrale Ausdrücke ersetzt werden. Das hat seinen
Grund vor allem darin, daß der Buchmarkt in Österreich zu klein ist und zahlreiche
österreichische Schriftsteller zu deutschen Verlagen gehen (müssen), wo ihre
Manuskripte dann von den norddeutsch geprägten Lektoren "normalisiert" werden.
Zugleich gibt es auch die vorauseilende Selbstzensur österreichischer AutorInnen, die
jedoch eher noch stärker zu sein scheint, als die Eingriffe der Verlagslektoren.
Hinweise auf beide Tendenzen gibt es bei Kahl (1964) bereits in den 60-iger Jahren.
Allerdings werden die sog. Austriazismen von den bundesdeutschen Verlagen durch-
aus auch akzeptiert, wenn der Autor sehr stark darauf besteht. In diese Richtung
gehen die Erfahrungen von Schmid (1990:34). Jedenfalls kostet es stundenlange
Diskussionen, wie R. Menasse in einem Interview auf der Frankfurter Buchmesse
1995 berichtete. Wie Innerhofer (1993) aus eigener Erfahrung beschrieb, gab es
auch in Österreich bei manchen Verlagen die Tendenz, die österreichischen
Sprachmerkmale zu entfernen. Sicher ist, daß lexikalische und syntaktische
Merkmale des österreichischen Deutsch in der sog. "schönen" Literatur kaum mehr
festzustellen sind.21 Eigensprachliche, österreichische Merkmale lassen sich in der
österreichischen Literatur fast nur noch in Werken finden, die in Österreich verlegt
21
Für einen Überblick darüber, welche Merkmale dennoch vorhanden sind, vgl. Graham Martin (1986).
und von Österreichern lektoriert wurden bzw. älteren Datums sind (etwa vor 1975).
Diese Behauptung basiert auf der Analyse eines Korpus von fünfzig literarischen
Werken der österreichischen Gegenwartsliteratur, die ich in eine Datenbank
übergeführt und analysiert habe. Eine ausführliche Darstellung der Einzelergebnisse
muß aus Platzgründen leider unterbleiben. Eine der wenigen Ausnahmen dazu ist
wohl Thomas Bernhard, in dessen Werk zahlreiche österreichische Sprachmerkmale
erhalten blieben, obwohl er Suhrkamp-Autor ist. Das ist, wenn man Berichten
glauben darf, ausschließlich darauf zurückzuführen, daß er seine Manuskripte
immer im letztmöglichen Augenblick abgegeben hat, sodaß Änderungen nicht mehr
möglich waren.22 Eine etwas andere Darstellung der Lektorierungspraxis bei
Suhrkamp gab der Cheflektor des Verlags kürzlich in einem Interview des ORF-
Fernsehens anläßlich des Österreichschwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse
1995. Er sagte: "Also wir haben mit Bernhard vereinbart, daß wir österreichische
Ausdrücke austauschen, wenn sie im Text an einer Stelle nur einmal vorkommen.
Wenn sie öfter vorkamen und daher stilbildend sind, haben wir sie belassen."23 Das
ÖDt. wird so als stilistische Nebenvariante behandelt und der Identitätsaspekt völlig
außer acht gelassen.
Jüngstes Beispiel für sprachliche Purifizierung und Einebnung der österrei-
chischen Literatursprache ist der Roman "Der See" von Gerhard Roth, der 1995 beim
Fischer Verlag erschienen ist. Obwohl die Handlung am Neusiedlersee spielt und dort
normalerweise nur "Gelsen" in großer Zahl vorkommen, gibt es im Roman aus-
schließlich "Stechmücken". Ähnlich verhält es sich mit dem Wort "Bub", das überall
durch "Junge" ersetzt wurde. Bloß auf Seite 175 kommt es ein einziges Mal vor und
vermutlich „übersehen“.
Die Einebnung der österreichischen Literatursprache zugunsten des bundes-
deutschen Sprachgebrauchs ist daher ein sprachpolitisches Faktum und ein lange an-
dauernder Prozeß, der sich aber in den letzten 20 Jahren enorm beschleunigt hat.
Paradoxerweise ist die österreichische Literatur damit zunehmend ohne "eigene"
Sprache. Ob sie auf Dauer die identitätsbildende Funktion aufrechterhalten kann, die
ihr in hohem Maße zugeschrieben wird, ist meines Erachtens fraglich. Denn die
sprachliche Angleichung macht die österreichische Literatur sprachlich zu einem un-
verkennbar "bundesdeutschen" Produkt. Dahinter steht das sog. "Erfordernis des
Marktes": Da bundesdeutsche Leser manche Ausdrücke nicht verstehen, wird der
Text "mundgerecht" aufbereitet. Daß sich die Frage nach der Berechtigung einer
österreichischen Literatur auf dieser Grundlage im Kreis dreht, ist offensichtlich:
Wenn man aus ihr alle Eigenmerkmale entfernt, darf man sich nicht wundern, daß
man am Ende keine eigene Literatur mehr hat.24
22
Vgl. dazu Innerhofer (1993).
23
Das Interview wurde am 10.10.1995 in einem Bericht über die Frankfurter Buchmesse gesendet.
24
Die Frage nach der sprachlichen Nicht-Selbständigkeit der österreichischen Literatur war ein
gewichtiges Argument bei der Diskussion, ob es eine solche gäbe. Dazu aber ganz pragmatisch die
Antwort von Leslie Bodi: "Wenn es ein selbständiges Land gibt, wird es auch eine Literatur geben."
25
Daten nach Docekal (1994:45;42) und Beer, E. u.a. (1991:95; 98, 100)
in den Prospekten keine Kästen mehr, sondern nur mehr Schränke, keine Fauteuils,
sondern nur mehr Polstersessel, keine Couch, sondern nur mehr die Sitzecke, keine
Abwasch, sondern bloß noch die Spüle usw. Die Folgen davon sind: Beim Einkaufen
gibt es ein "Bezeichnungsprobleme". Wenn im Prospekt von "Schrank" die Rede ist,
bzw. auf der Packung "Hörnchen" drauf steht, werden letztlich auch "Schränke" bzw.
"Hörnchen" gekauft. Verlangt jemand nach einer solcherart beschrifteten Ware, muß
er/sie das auch mündlich so bezeichnen, weil sonst nicht klar ist, worauf Bezug ge-
nommen wird. Die geschriebenen Ausdrücke sind auf die Dauer "stärker", weil sie
auf der Ware fixiert und damit dauernd präsent sind. Sie sickern so allmählich auch
in die gesprochene Sprache ein, was zu einer allmählichen Veränderung der Sprache
führt, die anfangs nur sehr langsam wahrnehmbar ist.
c) Auch die Zentralisierung im Handel spielt eine nicht unwichtige Rolle. Sie
führt zuweilen sogar zur Verwendung falscher Sachbezeichnungen. In einem
Supermarkt der Firma LÖWA fand ich auf einem Preisschild z.B. die Bezeichnung
"Becher". Bei der Betrachtung der Ware stellte sich heraus, daß es sich um das han-
delt, was man in Österreich "Häferl" bezeichnet: Eine große Kaffeetasse mit Henkel,
während unter "Becher" immer ein Trinkgefäß ohne Henkel verstanden wird. Ich
ging daraufhin zum Filialleiter und fragte ihn, warum man eine für Österreich of-
fensichtlich falsche Bezeichnung auf das Schild schreibt. Die Antwort war: Die Preis-
schilder werden zentral in Wien gemacht und ab 1. Jänner wird 1995 alles in der
Zentrale in Deutschland für sämtliche Filialen auch in Österreich produziert, er habe
da gar keinen Einfluß.
d) Parallel mit der Verflechtung im Handel ist im Radio und Fernsehen auch
eine deutliche Zunahme bundesdeutsch geprägter Werbung zu beobachten, zugleich
werden von österreichischen Rundfunkmoderatoren immer öfter bundesdeutsche
Ausdrücke verwendet, was nicht zuletzt auch mit der verstärkten Übernahme von
Sendungen bundesdeutscher Sendeanstalten zusammenhängt. Letztes Beispiel dieser
Übernahmen ist die Formulierung "Radio/Fernsehen etc. zum Anfassen", mit dem das
ORF-Radio derzeit für seine Sendungen in einem Werbespot wirbt.. Man hört diesen
Ausdruck seit Ende 1994 im Ö3-Radio, von wo es seinen Ausgangspunkt nahm,
nachdem es zuerst im deutschen Privatfernsehen aufgetaucht war. Diese bundesdeut-
schen Ausdrücke sind in sog. Zeitgeistmagazinen und Jugendsendungen besonders
häufig zu hören und zu lesen und werden von den Jugendlichen als Merkmale ihrer
Gruppensprache angesehen. Durchgängig in Gebrauch sind: Junge statt Bub/Bursch,
anfassen statt angreifen, jmd. anmachen statt sich jmd. aufreißen, schon/doch mal
statt schon/doch einmal, die Eins/Zwei etc. statt der Einser/der Zweier, am Morgen
statt in der Früh). In der Zeitschrift News war kürzlich das Wort "Babypause" im
Zusammenhang mit einer bekannten Fernsehmoderatorin zu lesen. In Österreich üb-
lich sind "Karenzurlaub" bzw. "Mutterschaftsurlaub". In der Werbung läuft derzeit
der Spot, in dem für eine österreichische Elektrowarenkette mit
"Schnäppchenpreisen" geworben und ein bewußt bundesdeutscher Akzent verwendet
wird. All diese Ausdrücke wurden aufgrund meiner Beobachtungen erst in den
letzten vier bis fünf Jahren übernommen.
Der Einfluß der Sprache der Filmsynchronisation und die allgemeine Vorbild-
wirkung, die von der Sprache der elektronischen Medien ausgeht, ist meiner Beob-
achtung nach besonders stark. Dazu muß in Erinnerung gerufen werden, daß seit der
Einführung des Privatfernsehens in Deutschland Ende der 80-iger Jahre und der
Ausstrahlung aller bundesdeutschen Fernsehprogramme (öffentlich-rechtlich und
privat) über Satellit bzw. über Kabel eine neue Qualität des Sprachkontakts in
Österreich entstanden ist, da diese Sender damit in fast jedem österreichischen
Haushalt empfangen werden können. Dem steht keine Reziprozität gegenüber, weil
der ORF derzeit nur über Gemeinsschaftssendungen von 3-Sat präsent ist bzw. in den
angrenzenden Gebieten Bayerns. Die einzige Ausnahme einer sprachlichen
Beeinflussung des Nordens durch den Süden des deutschsprachigen Raumes sind die
Wörter "eh", "halt" und "Servus" und "Schmäh", die man heute auch in Hamburg
hören bzw. im Spiegel lesen kann. Ihr Gebrauch ist jedoch anders als in Österreich.26
Bei einer stichprobenartigen Befragung von Jugendlichen (16-18 Jahre) bzw.
von 10-jährigen Kindern, konnte ich feststellen, daß bis zu 10 Stunden pro Tag fast
ausschließlich bundesdeutsche Privatsender konsumiert werden. Verstärkt wird dies
noch durch viele Zeichentrickfilme, Vorabendserien und Filme im
Spätabendprogramm, die alle amerikanischer Herkunft sind und alle ohne Ausnahme
von bundesdeutschen Studios synchronisiert wurden und somit eine bundesdeutsch
geprägte Sprache vermitteln. Unter Druck stehen von dort her alle österreichischen
Sprachmerkmale, die in direkter Opposition zu den bundesdeutschen Formen stehen.
Als Beispiele seien genannt: Die Verbindung der Verben stehen, liegen, sitzen mit sein
statt mit haben; der Unterschied zwischen dem österreichischen "angreifen" und
"anfassen", ersteres hat in Deutschland nur die Bedeutung "attackieren"; Genusunter-
schiede, wie "das" Service vs. "der" Service; "der" "der Akt" (Gerichtsakt) vs. "die"
Akt"e" usw. Ich konnte beobachten, daß diese Ausdrücke nicht nur von Kindern und
Jugendlichen zunehmend übernommen werden, sondern auch schon von sehr vielen
Erwachsenen im mittleren Alter.27 Viele österreichische Kinder wissen aufgrund des
bundesdeutsch bestimmten Fernsehkonsums gar nicht mehr, daß es in Österreich "ist
gelegen" und nicht "habe gelegen" heißt. Die Begründung, die mir von den Kindern
dafür gegeben wurde, war deutlich: "Man hört es ja immer im Fernsehen".
Deutschlehrer beobachten, daß sich das zunehmend auch in den Schulaufsätzen
26
Die Partikeln "eh" und "halt" werden in Ö. so gut wie ausschließlich in der gesprochenen Sprache
verwendet. Weiters wird der Begriff "Schmäh" auf "Lüge, Unwahrhaftigkeit" reduziert, was nur einen
geringen Teil seines Begriffsumfanges abdeckt und darüber hinaus die Lebenshaltung ignoriert, die
hinter diesem Begriff steht.
27
Der z. B. ein etwa 45-jährige Judotrainer, der im Hauptberuf Rechtsanwalt ist. Er hat diesen
Ausdruck bereits völlig internalisiert und verwendete ihn kürzlich während des Training parallel mit
"angreifen".
niederschlägt.28
C) Die Folgen der Tabuisierung des Verhältnisses von Sprache
und Nation und der Frage nach der Rolle des Deutschen in
Österreich - Sprachpolitische Ursachen der Abwehrhaltungen
der Österreicher zum eigenen Deutsch
Die Frage ist, wie solche Abwehr- und Abwertungs-Haltungen zur eigenen
Sprache zustande kommen können. Ich sehe dafür sprachpolitische, gesellschaftspo-
litische und linguistische Ursachen: 1) Die Nichtüberwindung der historisch lange
zurückreichenden Spaltung zwischen alltäglicher, gesprochener Normalsprache und
geschriebener und gesprochener Sprache in öffentlichen Funktionen. 2)
Identitätsambivalenz und politische Distanzierung (besonders der Intellektuellen) von
Land und Herkunft 3) Die Nichtüberwindung des großdeutschen Gedankengutes und
Unklarheit über die Inhalte der österreichischen Identität; 4) Negativmarkierung und
Nichtbewußtmachung des österreichischen Deutsch durch den schulischen
Deutschunterricht; 5) Das Dogma des "guten" und "einheitlichen" Deutsch; 6) Die
Nichtüberdachung des österreichischen Deutsch und die Kodifizierungspraxis der
bundesdeutschen Norminstanzen;
3.5 Identitätsambivalenz, nichtverstandene innere
Mehrsprachigkeit und Mehrfachidentität - Tabuisierung des
Zusammenhangs von Sprache und Nation
Ein ganz wesentlicher Faktor für die beschriebenen Unsicherheiten und Ab-
wehrhaltungen ist eine historisch weit zurückreichende Identitätsambivalenz der
Österreicher29, die bereits in josephinischer Zeit begann und ihren Ausgang in Dis-
krepanz zwischen der Funktion der Habsburger als Kaiser des Römischen Reiches
deutscher Nation und der Vielvölkersituation in ihren Erblanden hatte. Die Zwiespäl-
tigkeit der Situation erhöhte sich noch nach 1806, nachdem das Kaiserreich Öster-
reich gegründet worden war. Die deutschsprachigen Österreicher fühlten sich als
"Deutsche", waren aber zugleich einem multilingualen Staatsgebilde und der Krone
gegenüber loyal, was zu Mehrfachidentität, aber auch zu Spannungen mit den
sprachlich begründeten Identitätsvorstellungen führte, die aus Deutschland kamen.
Zur Zeit Josephs II. und Maria Theresias hatte mit der Einführung der Gottsched-
schen Sprachnormen außerdem bereits ein echter Kulturschock stattgefunden, der in
28
In einem Projekt, das ich mit einer befreundeten Lehrerin in einer Handelsakademie in Graz
durchgeführt habe, zeigte sich, daß in der Jugendsprache nicht nur viele bundesdeutsche Ausdrücke
vorkamen, die SchülerInnen gaben auch an, zu 90% bundesdeutsche Fernseh-Sender bis zu 10
Stunden pro Tag (Wochenende) zu konsumieren.
29
Nicht zu übersehen ist auch, daß die Folgen der Gegenreformation selbst bist heute nachwirken. Um
1580 waren 95% der österreichischen Bevölkerung protestantisch und die Lutherbibel in fast jedem
Haushalt vorhanden. Sie war in dieser Zeit das einzige Buch, das überhaupt gelesen wurde. Es ist
gut vorstellbar, daß seine Sprache auch im hiesigen Sprachgebiet zu einheitlicheren
Sprachverhältnissen geführt hätte, wenn man bedenkt, welch starke soziale und politische Wirkung
von der Bibel und vom Protestantismus ausging. Für das (gesellschaftliche) Schweigen, das mit der
Nichtaufarbeitung dieser und auch der nachjosephinischen Periode verbunden ist, vgl. Bodi
(1995/1977).
seinen Auswirkungen weit ins 19 Jhds. hinreichte und verschiedene Spannungen mit
sich brachte.
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht - eine der von Maria Theresia er-
griffenen Maßnahmen zur Modernisierung der Erblande - hatte einheitliche schrift-
sprachliche Normen notwendig gemacht. Der Versuch der Jesuiten, auf der Basis
heimischer Normen eine eigene Schriftnorm zu schaffen, scheiterte, weil dieser
Orden zugleich zum Kern der Reformgegner gehörte. Die Aufklärer führten daher die
Gottschedsche Norm ein, die jedoch nicht dem vorhandenen Sprachgebrauch im
deutschsprachigen Teil des Habsburgerreiches entsprach, sodaß es dadurch zu einer
starken Diskrepanz zwischen gesprochener und geschriebener Norm kam, die bis
heute andauert. Die eingangs zitierte Aussage des Benediktinerpaters Lindemayr be-
schreibt die lang zurückreichende und bis heute andauernde Sprachspaltung zwi-
schen geschriebener und gesprochener Sprache in Österreich sehr gut. Im Hinblick
auf einen Prediger, der den neuen Normen folgt, sagt er dort:
"Eben darum, daß Sie ein Prediger in Österreich würden, müßten Sie sich die sächsische
Mundart ab- und die österreichische angewöhnen. [...] -glauben Sie ja nicht, mein Herr, daß
Augustin nicht gut Lateinisch gekonnt. [...] Schrieb er, so war er, ein Römer. Redete er: so war
er, ein Hipponenser. So, mein Herr; so sollens auch wir machen. Im Schreiben, sollen wir
Sachsen; im Predigen aber, Oesterreicher seyn."30
Um modern und zeitgemäß zu scheinen bzw. zu sein, war und ist man daher in
Österreich seit dieser Zeit stark außenorientiert und schränkte damit das sprachlich
Eigene funktional ein. Die als "Hochdeutsch/Hochsprache" bezeichnete Sprache
wurde zugleich ein Merkmal der führenden Schichten, die sie in ihrem Alltag auch
als Umgangssprache benutzten. Alles andere galt daher bald als "pöbelhaft". Die dar-
aus entstehenden Spannungen waren stets vorhanden und wurden auch thematisiert.
So z.B. in den Stücken Nestroys, wo diese Unterschiede kunstvoll genutzt wurden,
aber auch in den Eipeldauer Briefen aus dem Jahre 1803:
"Da haben ein Paar Herrn über die deutsche Sprach räsonirt. "Wenn wir Oestreicher", hat der
eine gsagt, "früher angfangen hätten Bücher z' schreiben, als d' Schlesinger und d' Sachsen,
so hätten wir lauter östreichische Wörter. Da wüßten wir also nichts von ein Mädchen, und
Rädchen und Tischchen: sondern wir schrieben hübsch: ein Madl, ein Radl, ein Tischl, und
das wär auch viel leichter in d' Musik setzen; [...] und könnten gradweg singen: Wenn d' Lisel
nur wollt, wenn 's Lisel nur möcht, d' Lisel wär just für ein Hausknecht recht." Herr Vetter,
wie der glehrte Herr das Liedl gsungen hat, habn so gar d' arkadischen Lampen z' lachen
angefangen; aber ich wollt Herr Vetter, daß d' östreichische Sprach überall eingführt wär, so
würden mich d' Leut über mein Styli nicht so auslachen."31
Die Passage zeigt auch die soziale Stigmatisierung, die mit der Beibehaltung der
eigenen Sprache einherging. Ein Prozeß, der bis heute andauert.
30
Zit. nach Wiesinger (1995:354f).
31
Eipeldauer Briefe, 1803, Heft 13, 5. Brief, S. 37f,. Zit. nach Wisinger (1995:355).
In der Ersten Republik wurde die Diskrepanz zwischen der gewünschten deut-
37
Beispiel dafür ist das Buch "Inszenierungen" von Breuss/Liebhardt/Priebersky (1995), das zwar sehr
viel Material zur Identitätsproblematik Österreichs zusammengetragen hat, die Nationswerdung
Österreichs als "Inszenierung" seiner Führungsschichten beschreibt (1995:14): "Das Bekenntnis zu
einer österreichischen "Staatsnation" mag für die politische Klasse bereits Ergebnis der Erfahrungen
mit den Nationalsozialismus gewesen sein, seine glaubwürdige Darstellung für das Selbstbild der
Bevölkerung ebenso wie für die - zunächst durch die Alliierten repräsentierte - Welt mußte erst in
Szene gesetzt werden." Daß die Betonung der Eigenstaatlichkeit auch dem Willen der Bevölkerung
entsprochen hat, wird nicht in Betrachtung gezogen.
38
Der Begriff stammt von Holzer (1995).
nicht als "richtiges" Ausland sehen, wie Münz (1995:33) feststellt, was auf die
tieferliegende und in Deutschland weitverbreitete Einstellung zurückzuführen ist,
daß jemand, der Deutsch spricht auch Deutscher ist. Österreich wird damit als eine
Art Anomalie betrachtet; "als eine Art Deutschland, das aber nicht so heißt", wie der
Spiegel 1991 schrieb.39 Vor diesem Hintergrund fand auch der Historikerstreit statt,
in dem der deutsche Historiker Erdmann die von österreichischen Historikern
vehement abgelehnte These vorgebracht hatte, Österreich sei ein deutschsprachiges
Land, gehöre zur deutschen Sprach- und Kulturnation und sei deshalb als deutscher
Staat zu betrachten.40
Die Frage des österreichischen Deutsch rührt so gesehen an die Grundfesten der
österreichischen Identität, weil man bisher der Frage ausgewichen ist, welche Rolle
dabei die deutsche Sprache spielt. Dazu kommt auch ein allgemeiner
Selbstdefinitionsmangel, wie Knapp (1991:24) meint: "Vielleicht gibt es auch andere
Nationen, deren Nationalbewußtsein gespalten ist. Aber das Hin- und Herschwanken
zwischen Extrempositionen "Nabel der Welt" und "Triangel im Konzert der Nationen"
ist besonders auffallend."41 Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg zog man sich auf die
vom damaligen Bundeskanzler Figl formulierte Strategie zurück, die hieß: "Österreich
ist unser Vaterland, Deutsch ist unsere Muttersprache." Diese Antwort ist heute aber
angesichts zunehmender Verflechtungen in Wirtschaft und Medien sowie des
gemeinsamen EU-Marktes vermutlich zuwenig. Wenn ein Land in Sprache, Kultur,
Gesellschaft und Ökonomie nichts Spezifisches an sich hat, was seine Existenz positiv
besetzt legitimiert und sinnvoll macht, ist seine Aufrechterhaltung auf Dauer in Frage
gestellt. Es ist eine zweite und hier nicht zu diskutierende Frage, ob die
Aufrechterhaltung der europäischen Nationalstaaten angesichts der politischen
Prozesse innerhalb der EU überhaupt möglich oder sinnvoll ist. Auf diese
hochpolitischen Implikationen der Diskussion rund um das österreichische Deutsch
aufmerksam zu machen, ist meines Erachtens aber legitim. Für die Beschreibung des
österreichischen Deutsch ergibt sich daraus:
1. Die Beschreibung des österreichischen Deutsch kann nicht als rein
sprachliches Problem behandelt und nicht auf die bloße Aufzählung einzelner
linguistischer Merkmale reduziert werden. Vielmehr geht es auch um den Ausdruck
39
Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in Holzer (1995).
40
Vgl. dazu ein Zitat aus der österreichischen Turnerzeitung, die laut Handbuch des österreichischen
Rechtsextremismus als eindeutig rechtsextrem anzusehen ist: "Der Österreicher deutscher
Muttersprache gehört somit dem deutschen Volk als Kultur- und Sprachgemeinschaft an. [...] Seit
1945 wird die Zugehörigkeit Österreichs zur deutschen Nation von bestimmten Meinungsmachern
verbissen geleugnet. Eine Mischung aus blinden Haß, historischer Unwissenheit und falsch
verstandener Reinwaschung sollen Franz aus Passau zum selben "Ausländer" stempeln wie etwa
Paolo aus Udine oder Lazlo aus Budapest. (6/84, S.123 Zit. nach Hb. des Rechtsextremismus).
"Das Bekenntnis zu Österreich lediglich auf einen vagen, fragwürdigen Nationsbegriff einzuengen, ist
nichts weiter als der Versuch, volksbewußte Österreicher zu diffamieren." (3/88, S.123 Zit. nach Hb.
des Rechtsextremismus)
41
Vgl. dazu Horst Knapp (1991:24): Schizophrenes Nationalbewußtsein. Warum fällt der Mittelweg
zwischen Selbstüber- und unterschätzung so schwer?
von Identität durch Sprache, wobei es nicht auf die Verwendung einer großen Anzahl
von Ausdrücken und Merkmalen, sondern auf die Verwendung bestimmter Elemente
ankommt, die der Bevölkerung als Mittel der internen und externen Identifikation
dienen.
2. Individuelle, sprachliche, soziale und staatliche Identität und Identifikation
können nicht unabhängig voneinander gesehen werden. Um sich selbst begreifen zu
können, muß der einzelne eine Vorstellung und Bewußtsein über (soziales) Eigenes
und Anderes haben. Der einzelne muß einen sozialen Orientierungsmittelpunkt
haben und sich mit seiner Sprache auch im größeren sozialen Kontext wiederfinden,
um sich identifizieren zu können. Dies ist in plurizentrischen Sprachen ganz
besonders schwer, weil es sich um relativ ähnliche Systeme handelt und sprachliche,
soziale und staatliche Identität oft fälschlicherweise gleichgesetzt werden (wer
Deutsch spricht, ist Deutscher). Eine besondere Rolle spielen im Falle Österreichs
dabei die geographische Nähe, ökonomische Abhängigkeiten und historische
Ereignisse in den letzten 70 Jahren.
Im Zentrum meines Interesses steht daher die Frage der Funktion der deutschen
Sprache für die Identität Österreichs und inwieweit im speziellen das ÖDt. auch eine
Basis für die Identität des Landes abgibt bzw. ob und welche Probleme damit verbun-
den sind. Zu fragen ist dabei wie die Sprache im Land tatsächlich ist, welche
Funktionen die jeweils vorkommenden Varianten haben und nicht primär, ob die
Sprache, gemessen an den kodifizierten Normen befolgt wird.
3.6 Das Kodifikations- und Verbreitungsproblem des
österreichischen Deutsch.
Eine der Folgen der beschriebenen Identitätsambivalenz ist auch der Mangel an
zuverlässigen und umfassenden Nachschlagewerken. Er trägt wesentlich zu der
weiter oben beschriebenen Unsicherheit über die österreichischen Eigennormen und
zum Fehlen eines gefestigten Sprachbewußtseins bei. Denn die Vermittlung und
Bewußtmachung der Eigennormen und Außennormen im Schulunterricht hat das
Vorhandensein umfassender und linguistisch gesicherter Erkenntnisse und darauf
basierender Unterrichtsmaterialien zur Voraussetzung. Dies gilt sowohl für den erst-
sprachlichen Unterricht als auch für den DaF-Unterricht im Ausland. Einer entspre-
chenden Kodifikation des ÖDt. stand bisher aber die dominierende monozentrische
Auffassung innerhalb der internationalen und österreichischen Germanistik gegen-
über. Sie hat das ÖWB bisher nicht als gemeinsames Anliegen betrachtet, sondern an
konkreten Hilfestellungen zur Verbesserung vermissen lassen und aus verschiedenen
Gründen, wie auch aus verschiedenen Positionen bis auf wenige Ausnahmen stets
kritisiert. Das war ebenso wenig hilfreich wie Wiesingers (1990, 1995) häufig
zitierte (und vom Autor selbst immer wieder vorgebrachte Meinung), daß der lexi-
kalische Bestand des ÖDt. nicht mehr als 4000 Wörter umfasse. Eine Meinung, die
einfach unzutreffend ist, weil sie den Lemma-Bestand von Ebner (1980) zugrunde-
legt und unberücksichtigt läßt, daß weite Teile der Lexik und des Sprachgebrauchs
noch gar nicht erforscht sind.42 Hier ist jedoch nicht der Ort, die gesamte Diskussion
zum ÖWB noch einmal aufzurollen, doch muß berücksichtigt werden, daß das ÖWB
als Rechtschreib- und Schulwörterbuch konzipiert war und ist und daher die
Ansprüche, wie sie etwa an ein Universalwörterbuch gestellt werden, selbstver-
ständlich nicht erfüllen kann, diese Ansprüche aufgrund seiner Position und recht-
lichen Stellung aber durchaus erfüllen sollte. In seiner derzeitigen Form ist es in
Umfang und in mancher Hinsicht auch in lexikographischer Hinsicht unzureichend.
Andererseits ist Schmid (1990:25) durchaus zuzustimmen, wenn er meint, daß [...]
sich ... der ständige Spott über das Österreichische Wörterbuch als das [entlarvt], was
er zumindest auch anzeigt: eine virtuell antiösterreichische Haltung." Das
Österreichische Wörterbuch ist allen Einwänden zum Trotz, ein zentrales
sprachpolitisches Erfordernis und sollte zu einem entsprechend ausgestatteten und
wohl fundierten Universalwörterbuch ausgebaut werden, wie dies auch die
TeilnehmerInnen der Grazer Tagung auch gefordert haben.43 Dann wird es z.B.
österreichischen Auslandslektoren auch leichter möglich sein, bei Normdiskussionen
im Ausland stichhältige Grundlagen zur Hand zu haben, um ihren Standpunkt als
gültig nachweisen zu können.
3.7 Negativmarkierung und Nichtbewußtmachung des
österreichischen Deutsch durch den schulischen
Deutschunterricht - Die Dogmen des "guten" und
"einheitlichen" Deutsch"
Die weitgehend unreflektierte Übernahme der Außennormen ist eine nicht
unwesentliche Quelle des Imageproblems des österreichischen Deutsch im Inland.
Seine unmittelbare Folge ist die frühe Negativmarkierung des ÖDt. durch den
schulischen Deutschunterricht, wobei sehr oft keine wirkliche Differenzierung
zwischen Merkmalen der Standardsprache in Österreich und kleinregionalen
Ausdrücken gemacht wird. Entsprechend der allgemeinen Norm-Unsicherheit - von
der die LehrerInnen nicht ausgenommen sind, wird den Österreichern in der Schule
(und auch durch die Medien) das Gefühl vermittelt, ihr österreichisches Deutsch
entspräche nicht den Normen der Standardsprache. Sie müssen daher um- und neu
lernen. Das ist nichts Besonderes, da es alle Kinder im deutschen Sprachraum mehr
oder weniger betrifft. Entscheidend ist aber, daß den Kindern nicht gesagt wird, daß
ihr gesprochenes Deutsch nicht schlechter ist, als das nördlicher Regionen. Sie lernen
vor allem, daß sie ihr eigenes Deutsch vermeiden müssen. Am Ende steht dann eine
typische Vermeidungsstrategie, wie sie aus dem Fremdsprachenunterricht gut doku-
mentiert und aus dem Prozeß des sog. „Monitoring“ (Selbstbeobachtung im
Äußerungsvollzug) erklärbar ist. Man versucht, eine zielsprachliche Formulierung zu
äußern, schafft diese nicht ganz und beginnt, das, was man sagen wollte, mit den zur
Verfügung stehenden Mitteln der Zielsprache zu umschreiben. Daraus ergibt sich
42
Vgl. dazu Wiesinger (1995b)
43
Vgl. dazu die im Band abgedruckte Resolution.
nicht selten eine umständlichere, weniger präzise Ausdrucksform, die wiederum den
Eindruck sprachlicher Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit verstärkt. Dieser
Vorgang ist die Folge des "Monitoring" der Sprachproduktion anhand von
Außennormen.
Hinter diesen Problemen steht aber nicht nur sprachliche Unsicherheit, sondern
auch sehr viel sprachliches Unwissen und Nichtbewußtheit über das eigene Deutsch
und die sprachlichen Verhältnisse in Österreich. Der Deutschunterricht geht leider
nicht darauf ein, welche Merkmale das österreichische Deutsch hat, welche Regionen
es innerhalb des österreichischen Deutsch gibt bzw. was in der Standardsprache als
österreichischer bzw. bundesdeutscher oder schweizerischer Standard anzusehen ist.
Die Folge: Bei einem von mir durchgeführten Test mit Germanistikstudenten, konnten
z.B. nur wenige die Sprachproben aus Österreich korrekt zur jeweiligen
Herkunftsregion zuordnen. Noch geringer ist das Wissen aber über die Merkmale des
ÖDt. Selbst Österreicher mit umfangreicher Schulbildung sind kaum in der Lage,
andere Unterschiede als die zwischen "Paradeiser/Tomate", "Schlagobers/ Sahne" und
einige wenige andere Ausdrücke (meistens aus dem Lebensmittel und Essensbereich)
zu nennen. Ein Nichtwissen, das sich auch bei den EU-Verhandlungen auswirkte. Es
liegt sogar schriftlich dokumentiert in einer Aussendung des Pressedienstes der
damals führenden Sozialdemokratischen Partei vom April 1994 (die EU-
Beitrittsverhandlungen waren in der entscheidenden Phase) vor. Darin hieß es:
"Austriazismen sind typische Bezeichnungen für Lebensmittel, wie etwa Topfen,
Grammeln, Faschiertes und Rostbraten."44 Bei einem derartig reduzierten Sprachbe-
wußtsein, verwundert es, daß das Thema überhaupt Berücksichtigung fand und es
überrascht andererseits nicht, daß keine Generalklausel, sondern nur 23 Ausdrücke
aus dem Lebensmittelbereich aufgenommen wurden.
3.8 Die Nichtüberdachung des österreichischen Deutsch und
die Kodifizierungspraxis der bundesdeutschen Norminstanzen
Hinter der schulischen Praxis bei der Vermittlung von Sprachnormen steht
auch das schon erwähnte linguistische Phänomen der Nichtüberdachung des öster-
reichischen Deutsch (insbesondere der gesprochenen Varianten) durch die Struk-
turen der kodifizierten Standardsprache. Viele dieser an sich regionalen mitteldeut-
schen/norddeutschen Sprachformen (insbesondere in der Aussprache) sind zugleich
als Standardsprache/Schriftsprache kodifiziert worden. Die meisten Varianten der
gesprochenen Sprache in Österreich werden - so gesehen - durch die kodifizierte
Standardsprache "nicht überdacht"; sie "hängen" (vor allem) phonologisch und
lexikalisch gewissermaßen "in der Luft". Selbst ausgesprochen norddeutsche
Regionalausdrücke ("Eisbein") klingen oft noch viel standardsprachlicher
(hochdeutscher) als die eigenen landesüblichen Ausdrücke ("Stelze").
44
Zit. nach Pollak, Wolfgang (1994a): Identität durch Grammelschmalz. In: Der Standard v. 28.4.94.
Verstärkt wird dieser Mechanismus durch das Dogma des "guten und
einheitlichen Deutsch", wonach gutes Deutsch mit Schriftdeutsch gleichzusetzen ist.
Das hat für das ÖDt. zur Folge, daß letztlich stets die bundesdeutschen Normen des
Duden für maßgebend gehalten werden - sie sind die Referenznorm, wenn es zu
entscheiden gilt, was "stilistisch gut", "hoch", "gewählt" und "richtig" ist. Dies gilt um
so mehr, als Österreich über keine entsprechenden Nachschlagewerke verfügt, die
eine umfassende Beschreibung des ÖDt. zur Verfügung stellen und im Duden
nachgeschlagen wird, wenn Zweifelsfragen zu klären sind. Das wiederum hat zur
Folge, daß die österreich-eigenen Sprachformen durch tätige Mithilfe seitens der
Österreicher selbst immer mehr ins Abseits gedrängt werden. Die endogene
Entwicklung des Österreichischen wird aufgrund dieser Barriere daher stark
eingeschränkt, weil die entsprechenden Ausdrücke primär aus der gesprochenen
Sprache kommen, diesen aber der Makel des "umgangsprachlichen" bzw.
"dialektalen" anhaftet. Das aus diesem Prozeß resultierende, negative sprachliche
Eigenstereotyp wird auf diese Weise solange stabilisiert, solange man nicht eine ge-
zielte Bewußtmachung der Eigennormen und die gezielte Förderung ihres Status
betreibt.
Wie die Diskussion um die 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuches
gezeigt hat,45 steht hinter all diesen Spannungen die Annahme, daß die
Schriftsprache die ausschließliche Basis des Begriffs "Standardsprache" ist. Davon
ausgehend wurden Versuche, die jeweiligen nationalen Normen und den
Gebrauchsstandard mitzuberücksichtigen als "Seperatismus", "Provinzialismus",
"Hinterwäldlertum" etc. gebrandmarkt. Tatsächlich wurde und wird in den Duden-
Wörterbüchern jedoch überwiegend der nord- und mitteldeutsche Sprachgebrauch
als "Standard" dargestellt. Während diese Varianten in der Regel unmarkiert und
damit als "gemeindeutsch" zu betrachten sind, werden die süddeutschen,
österreichischen und schweizerdeutschen Varianten mit entsprechenden
Bezeichnungen markiert.46 Entscheidend ist, daß im Duden der Ausdruck
„bundesdeutsch“ fehlt und kein einziger Ausdruck als solcher markiert vorkommt.
Zwar wird in den Wörterbüchern z.B. auch die Kennzeichnung "norddeutsch"
verwendet47, nicht wenige der als unmarkiert verzeichneten Ausdrücke sind jedoch
eindeutig bundesdeutsch bzw. nord- und mitteldeutscher Sprachgebrauch, da sie an-
derswo nicht vorkommen oder nicht in derselben Weise verwendet werden. Die ent-
sprechende Markierung der bundesdeutschen Ausdrücke wäre daher allein schon
aus sachlichen Gründen mehr als angebracht, ebenso die Erstellung eines Wörter-
buchs der sog. "Teutonismen". Für den Wörterbuchbenutzer ist eine Markierung im-
45
Vgl. dazu Wiesinger (1980), Fröhler (1981) u.a.
46
Vgl. dazu Wermke (1995), in diesem Band.
47
Im Duden-Universalwörterbuch haben aufgrund meiner Computer-Auswertung insgesamt 590
Einträge ausschließlich die Markierung "norddeutsch", 196 "süddeutsch", 1266 "schweizerisch" und
1802 "österreichisch". In Kombinationen mit anderen Markierungen haben 596 Einträge auch die
Markierung "norddeutsch", 798 "süddeutsch, 1662 "schweizerisch" und 2481 "österreichisch".
mer ein Signal für eine Verwendungseinschränkung und ein Hinweis darauf, statt-
dessen eine unmarkierte (somit nichteingeschränkte) Variante zu verwenden. Es ist
nicht akzeptabel, daß nur die spezifischen Varianten der A(nderen) Nationen
markiert werden, die spezifischen der D-(ominierenden) Nation aber nicht. Der
Vorschlag Ammons (Ammon, 1994), ein Wörterbuch der Teutonismen zu erstellen
ist daher nur zu begrüßen.48 Zugleich geht der von Ammon (1995) nun schon
wiederholt vorgebrachte Vorwurf, wonach das ÖWB einen "Nationalitäts-Purismus"
verfolge, weil es die nicht-österreichischen Varianten markiere, völlig am Punkt
vorbei, denn es ist es gerade der ureigenste Sinn eines Wörterbuchs einer nationalen
Varietät den eigenen Sprachgebrauch zu kodifizieren und das geht wohl nur, wenn
man ihn von jenem Sprachgebrauch unterscheidbar macht, der nicht zum jeweiligen
Territorium gehört.49 Darüber hinaus: Der Duden macht nichts anderes: Die
bundesdeutschen Varianten bleiben unmarkiert, die der anderen nationalen
Varianten werden markiert. Warum der Duden daher keinen Nationalitäts-Purismus
verfolgt, müßte noch stichhältig erklärt werden. Einer Erklärung, der ich mit
Interesse entgegensehe.
Zusammenfassend ist somit festzuhalten: Das derzeit durch den Duden
kodifizierte Standard-Deutsch hat eine eindeutige nord- und mitteldeutsche
"Schlagseite", sodaß von einer "Einheitlichkeit" und uneingeschränkten
überregionalen Repräsentativität keine Rede sein kann. Für die Verwendung des
Begriffs "(All)Gemeindeutsch" bedeutet das, daß darunter nur jene Ausdrücke
subsummiert werden können, die in allen drei Haupt-Regionen regional unmarkiert
in Verwendung stehen. Als deutsche Standardsprache wäre daher nach meiner
Auffassung die Schnittmenge der verschiedenen überregional gültigen nationalen
Varianten anzusehen, in deren Kern das unmarkierte "Allgemeindeutsch" steht, das
allen drei Hauptregionen gemeinsam ist. Alle anderen Ausdrücke müssen als
Merkmale der jeweiligen nationalen Variante des Deutschen angesehen werden.
48
Von L. Zehetner wird derzeit der Versuch der Erstellung einer süddeutschen Standardnorm
unternommen. Die Publikation seines "Wörterbuchs der Standardsprache in Altbayern" wurde
allerdings vom Verlag trotz eines vorhandenen Vertrags letztlich mit der Begründung abgelehnt, "daß
keine Partikularismen unterstützt werden". Es scheint, daß sich diese Erfahrungen ziemlich mit jenen
decken, die bei der Erstellung einer österreichischen Norm gemacht wurden und werden.
49
Auch ein von Ammon schon mehrmals vorgebrachtes Argument, wonach die Ersteller des ÖWB sich
und dem österreichischen Deutsch selbst einen niedrigeren Status zuschrieben, weil sie den Begriff
"binnendeutsch" für das Bundesdeutsche verwenden, ist falsch. Bis 1990/91 war dies innerhalb der
Germanistischen Sprachwissenschaft der gängige Begriff für das Bundesdeutsche, wie z.B. der Titel
des bekannten Artikels von P. v. Polenz (1988) auch zeigt: "Binnendeutsch" oder plurizentrische
Sprachkultur?". Es ist offensichtlich, daß hier - wie auch an anderen Stellen des Buches - die Absicht
dahinter steht, die Inferiorität des ÖWB zu beweisen.
Beschreibung nationaler Varianten und des ÖDt. eine wichtige Rolle spielen. Im fol-
genden soll nun darauf und auch auf die unter Kap. 1 gestellten Fragen eingegangen
werden.
4.1 Der zugrundegelegte Nationsbegriff - Mehrfache oder
einfache Identität
Die Verwirrung beginnt bereits dort, wo es um den Begriff "national" bzw.
"Nation" geht, die im angelsächsischen Raum immer gleichbedeutend mit "Staat" ist,
während im deutschen Sprachraum zwischen "Nation" und "Staat" unterschieden
wird. Die ethnisch begründete Nations-Auffassung geht davon aus, daß eine Nation
und die Zugehörigkeit zu ihr durch eine bestimmte Sprache konstituiert wird. Eine
Nation kann sich demnach auch über mehrere Staaten erstrecken, nämlich
genausoweit wie dort Deutsch gesprochen wird. Demnach wäre Österreich lediglich
der politischen Rechten diesen Zustand wieder herbeizuführen. Diese Anmerkung ist
notwendig, da sonst wesentliche Hintergrund-Aspekte dieser Diskussion ausgeblendet
werden. Wenn die These gilt, daß die Österreicher eine eigene (und doppelte)
Identität haben - die Meinungsumfragen lassen daran keinen Zweifel -, dann ist die
Vermutung gerechtfertigt, daß dies in ihrer Sprache bzw. in anderen Symbolen der
Identifikation einen Reflex findet, da eine Identitätsrepräsentation einen Ausdruck
braucht, um sich zu manifestieren.
4.2 Die Grundlagen der Beschreibung plurizentrischer
Sprachen: Staat oder Nation bzw. Norm- und
sprachsystembezogener oder sprachgebrauchsbezogener
Beschreibungsansatz
Ein weiterer Punkt der Diskussion ist, was als Grundlage der Beschreibung der
nationalen Varianten dienen soll. Ist es das jeweilige Land (Staat) oder ist nur eine
"Nation" als Ganzes bzw. die "Standardsprache" als solche die Grundlage der
Beschreibung? Ammon (1995a:49) unterscheidet zwischen "nationalen"
Varianten/Varietäten und "staatsspezifischen Varietäten/Varianten", wobei er sich
fälschlicherweise auf den Gebrauch des Terminus "national" bei Clyne beruft, indem
er die völlig andere inhaltliche Füllung des Begriffs "Nation" im angelsächsischen
Sprachraum übersieht.54 Diese Unterscheidung dient dazu, die Sprachunterschiede
zwischen der ehemaligen BRD und DDR als "staatsspezifische" benennen zu können,
weil die DDR keine eigene Nation gewesen sei und die dortigen Unterschiede "auf
einer anderen Ebene liegen und keineswegs auf die nationale Varietät Deutschlands
[abzielen]". Meines Erachtens ist die getroffene Unterscheidung im Kontext des
Konzepts der plurizentrischen Sprachen unerheblich und allein ausreichend, daß es
staatsrechtlich unabhängige Länder gibt, deren Existenz legitimiert ist.55 Damit ist da-
von auszugehen, daß jeder Staat zugleich eine Nation mit ihr spezifischen Merkmalen
ist, da der Willen seiner Bevölkerung zum Zusammenleben mit der Zeit zur
Herausbildung von gruppendifferenzierenden und sie kennzeichnenden Merkmalen
führt.
Zugleich ist damit die Frage verbunden, ob die gesamte Sprache eines Landes
die nationale Variante darstellt und daher die Beschreibungsgrundlage bilden soll,
oder nur die jeweilige nationale Standardvariante. Im ersten Fall wäre zuerst danach
zu fragen, wie der Sprachgebrauch im jeweiligen Land ist, welche Varianten es gibt,
welche davon der Identifikation dienen und welche davon "Standard" im dem Sinne
sind, daß sie - wie ich meine - "in öffentlichen Situationen mit der Intention
überregionaler Kommunikation"56 vorkommen. Auch Reiffenstein (1983:88) äußert
54
Diese Auffassung findet sich auch in einer früheren Publikation des Autors (Ammon, 1991).
55
Diese Legitimation wird im Normalfall der Willen der Bevölkerung sein, der - wie der Fall DDR zeigt -
für die Aufrechterhaltung des Staates entscheidend ist. Darüber hinaus müssen wohl auch noch
völkerrechtliche und staatsrechtliche Kriterien erfüllt sein.
56
Vgl. dazu Muhr (1987a) .
57
"Wenn eine Äußerung als Hochsprache intendiert, die Sprachsituation hochsprachegemäß ist und
die Äußerung von den Hörern entsprechend akzeptiert wird, dann ist das Hochsprache, jedenfalls in
der betreffenden Kommunikationsgemeinschaft."
58
M. Clyne hat den Umfang des Begriffs "nationale Varietät" zwischenzeitlich präzisiert und sagt: "Ich
würde den Gebrauchsstandard in den Begriff "nationale Varietät" mit einschließen, weil sich die
Sprecher natürlich nicht immer an die Kodexe halten und auch der Gebrauchsstandard der
Identifikation dienen kann." (Persönliche Mitteilung an mich, R.M.)
Stelle des 564 Seiten starken Buches klar wird, ob damit primär "schriftsprachlicher
Standard" oder ein darüber hinausgehender Begriff gemeint ist. Allerdings findet sich
in einer früheren Publikation des Autors (Ammon, 1994:63) die Meinung, daß nur
Staaten eigene Varianten der Schriftsprache haben können und weist alle Elemente,
die dieser Variante nicht entsprechen, dem "Substandard" zu, wobei völlig unklar ist,
was mit letzterem beschrieben wird bzw., ob damit z.B. "Umgangssprache" oder eine
davon unabhängige Variante gemeint ist.
Der wohl entscheidendste Punkt ist aber, ob von einer nationalen Variante "erst
dann gesprochen werden kann, wenn für bestimmte Varietäten ein eigenes, in sich
kohärentes Normensystem kodifiziert wird, [denn] dann gibt es innerhalb des Deut-
schen keine nationalen Varianten."59 Damit wird von einer nationalen
Variante/Varietät eigentlich "ein eigenes, in sich kohärentes Sprachsystem" verlangt,
was ich jedoch für zu weitgehend halte, weil dies eine faktische Gleichsetzung mit
"Sprache" bedeutet und das gesamte Konzept der nationalen Varianten/Varietäten
überflüssig macht. Diese Ansicht steht jedoch auch hinter dem Argument, daß das
österreichische Deutsch "nicht einheitlich" sei, daher könne man von keiner
"nationalen Variante" sprechen.60 Warum dabei übersehen wird, daß das
Bundesdeutsche auch nicht einheitlich ist, bedarf jedoch noch der Erklärung. Der
Versuch L. Zehetners der Beschreibung einer süddeutschen Standardvariante auf
altbairischer Basis weist genau in dieselbe Richtung.
Bei einer nationalen Variante/Varietät ist meines Erachtens nicht das
Vorhandensein eines kohärenten Normensystems konstitutierend, sondern das
Vorhandensein einer bestimmten Menge von Ausdrücken und/oder textuellen und
anderen Systemeigenschaften und/oder kommunikativ-pragmatischen
Handlungsmustern, die die jeweilige Bevölkerung für sich gültig hält und sich damit
identifiziert. Würde dieses Herangehen nicht gewählt, könnten regionale
Unterschiede innerhalb einer nationalen Variante (z.B. Vorarlberger, Tiroler vs. bay-
rische bzw. norddeutsche Ausdrücke) nicht in die Beschreibung einbezogen werden,
obwohl sie eindeutig österreichische bzw. bundesdeutsche Varianten sind. Richard
Schrodt (1985: ) merkt dazu an: "Daß Niederländisch als eigene Sprache,
Plattdeutsch hingegen ”nur” als deutscher Dialekt gilt, mag für den Systemlinguisten
unerheblich und kein sinnvolles Forschungsproblem sein: Für die konkreten
Sprachteilhaber können aber solche Unterschiede im einzelnen Lebensbezug
konstitutiv sein."
Die Anzahl dieser linguistischen und kommunikativ-pragmatischen Merkmale
muß nicht groß sein, entscheidend ist lediglich, daß sie von der jeweiligen
Bevölkerung als Identifikationsmerkmal betrachtet werden. Das hat aber sehr viel mit
der Selbstwahrnehmung der jeweiligen Großgruppe (dem nationalen/staatlichen
Selbstbewußtsein) zu tun. Nationen innerhalb einer plurizentrischen
59
Reiffenstein (1983:23).
60
Vgl. dazu u.a Wolff (1994), besonders aber Scheuringer (1988), (1994).
Sprachverbandes, die sich ihrer Identität nicht sicher sind, wie dies im Falle
Österreichs immer wieder der Fall zu sein scheint, haben große Schwierigkeiten
damit, eine eigene sprachliche Identität zu finden, da gegen sie immer wieder der
Vorwurf der "Sprachspaltung", "Nivellierung der Sprache nach unten",
"Ausgrenzung" und "Nationalismus" erhoben wird.61 Das wirkt auf die Einschätzung
ihrer Sprache massiv zurück, wie unter Pkt. 3 gezeigt werden konnte.
Wenn Varianten der Anderen Nationen durch deren Sprecher beurteilt werden,
ob ihnen ein standardsprachlicher Status zukommt, ist das Sprecherurteil daher in
hohem Maße von ihren sozialen Einstellungen (elitär vs. egalitär), der sozialen
Herkunft (spezifisch vs. unspezifisch) und vom Ausmaß der Identifikation mit dem
Herkunftsland (groß - gering) abhängig. Allgemein kann davon ausgegangen wer-
den, daß je egalitärer die sozialen Einstellungen, je unspezifischer/durchschnittlicher
die soziale Herkunft und je höherer die Identifikation mit dem Heimatland und
seinem politischen System ist, um so eher wird die jeweilige Gewährsperson bereit
sein, z.B. österreichischen bzw. schweizerischen Varianten einen
standardsprachlichen Status zuzuerkennen während für die Kultureliten die
Beobachtung M. Clyne's (1993:3 bzw. 1992:459f) gilt: "Die Kultureliten der A
Nationen unterwerfen sich den Normen der D-Nation(en)."
Eine sprachsoziologische Untersuchung, die unter solchen Umständen danach
fragt, ob bestimmte Ausdrücke dem "Dialekt", der "Umgangsprache" oder der
"Standardsprache" angehören, wie dies in Wiesinger (1988a) gemacht wurde, kann
angesichts der beschriebenen Sprachsituation und der vorherrschenden Unsicherheit
nur zu verzerrten Ergebnissen führen und ist daher kein taugliches
Untersuchungsinstrument. Relevante Daten können nur durch indirekte
Beobachtung des tatsächlichen Sprachgebrauchs gewonnen werden, die in einer
zweiten Phase durch Spracheinschätzungsuntersuchungen ergänzt werden müssen.
4.3 Der Standardsprachebegriff: Ausschließlich
schriftsprachennaher
Standard oder (auch) Gebrauchsstandard.
Damit ist klar geworden, daß das methodische Vorgehen und die
Fragestellungen des normbezogenen Ansatzes von der Sprache ausgehen und primär
danach gefragt wird, wie Sprache verwendet werden sollte. Im Grunde weiß man
beim normbezogenen Ansatz schon im voraus, was "Standard" ist, denn die
Anbindung der Standardsprache an die geschriebene Sprache wird dabei unausge-
sprochen vorausgesetzt und regionale nationale Variation ausschließlich als
dialektale bzw. soziolektale Erscheinung angesehen, die es jedenfalls zu vermeiden
bzw. als "nichtstandardsprachlich" zu markieren gilt, selbst wenn sie mündlich
hochfrequent sind. Dahinter steht wohl die primäre Absicht, daß eine möglichst
61
Vgl.dazu Wiesinger (1980) und die Diskussion rund um die 35. Auflage des Österreichischen
Wörterbuches, wo all diese Vorwürfe erhoben wurden. Für einen Überblick vgl. Muhr (1983) und
Sluga (1989).
62
Dieser Konflikt lag der Kontroverse um die 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuchs zugrunde.
63
Vgl. dazu u.a. Niebaum (1984).
64
Muhr (1987/1990a).
Literatur
Ammon, Ulrich (1991): The differentiation of the German Language into national
varieties of the Federal Republic of Germany (F.R.G.), the German Democratic
Republic (G.D.R.), Austria and Switzerland. In: History of European Ideas, Vol.13.
No. 1/2. S. 75-88.
Ammon, Ulrich (1994): Über ein fehlendes Wörterbuch "Wie sagt man in Deutschland?"
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Ulrich Ammon
(Duisburg)
Bevölkerungs-
Normautoriäten: Sprachkodex
Korrekturen (Kodifizierter)
Modellsprecher/ Sprachexperten:
-schreiber: Fachurteile
Modelltexte
mehrheit
Abb. 1: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät
Kodexes und Diskrepanzen in der Bewertung der nationalen Varianten durch die
verschiedenen standardsetzenden Instanzen miteinander zusammenhängen können.
3. Nationalvarietäts-Purismus gegenüber
Alleinvertretungsanspruch
Die skizzierten Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland: Lücken-
haftigkeit und mangelnde methodische Absicherung des Kodexes sowie Dissens in der
Anerkennung der nationalen Varianten als Standard, sind wichtige Aspekte dessen,
was schon oft als "Asymmetrie" zwischen den nationalen Zentren plurinationaler
Sprachen bezeichnet wurde (z. B. Clyne 1989). In allen plurinationalen Sprachen
gibt es Asymmetrien dieser oder ähnlicher Art zwischen manchen nationalen Zen-
tren, keineswegs zwischen allen. Es wäre interessant im einzelnen zu prüfen, in-
wiefern der folgende Unterschied zwischen Österreich und Deutschland auch in
anderen Sprachen zu beobachten ist. Er läßt sich wiederum besonders leicht am
Sprachkodex feststellen.
Ausgangspunkt der Beobachtung sind die sogenannten Sternchen-Wörter des
Österreichischen Wörterbuchs, deren Kennzeichnung übrigens die Anerkennung der
Asymmetrie von dessen Seite verrät. Das Österreichische Wörterbuch (1990:15)
verwendet dafür nämlich den Ausdruck "Binnendeutsch" für das deutsche Deutsch,
wenn auch in Anführungszeichen. Damit stuft es das eigene österreichische Deutsch
selbst als eine Art Außendeutsch ein. Wichtiger ist aber, daß diese Sternchen-Wörter
die einzigen nationalen Varianten anderer Zentren des Deutschen sind, die das
Wörterbuch enthält, zumindest die einzigen, die als fremdnational markiert sind.
Nationale Varianten der deutschsprachigen Schweiz fehlen. Außerdem sind die
Sternchen-Wörter kein Versuch, die nationalen Varianten Deutschlands vollständig
zu erfassen. Erfaßt werden damit vielmehr nur diejenigen Varianten Deutschlands,
die in Österreich schon eingedrungen sind. Das Sternchen dient als Warnung an die
Wörterbuch-Benutzer, diese Wörter unbesehen zu verwenden.
Diese Markierungspraxis des Österreichischen Wörterbuchs läßt sich meines
Erachtens angemessen bewerten als eine Art von Purismus. Sie läßt sich genauer
spezifizieren als Nationalvarietäts-Purismus. Mit der Sternchen-Markierung soll
nämlich die eigene nationale Varietät vor dem Eindringen von Varianten aus einer
anderen nationalen Varietät geschützt werden. Sprachpurismus ist ein typisches
Verhalten einer Sprachgemeinschaft, deren Sprache einen niedrigeren Kontaktstatus
hat, gegenüber einer Sprachgemeinschaft mit einer Sprache von höherem Kontakt-
status. Im vorliegenden Fall handelt es sich freilich nicht um verschiedene Sprachen,
sondern um verschiedene Varietäten derselben Sprache. Das einstige Abwehrver-
halten Deutschlands gegenüber Entlehnungen aus dem Französischen oder das heu-
tige Verhalten Frankreichs gegenüber den Entlehnungen aus dem Englischen haben
manche Ähnlichkeit mit diesem Verhalten.
Demgegenüber ist das Verhalten der Kodifizierer Deutschlands von Wolfgang
Pollak (1994: 63-65) zu Recht als "Alleinvertretungsanspruch" charakterisiert wor-
den. Es erscheint mir allerdings für ein nach Erklärungen suchendes Verständnis eher
abträglich, wenn man hier unbesehen bösen Willen unterstellt. Die Asymmetrie hat
Gründe jenseits der subjektiven Einstellung der Kodifizierer. Die Duden-Bände, mit
denen ich mich hier als pars pro toto für den Kodex Deutschlands begnüge, enthalten
nicht nur die nationalen Varianten eines der beiden anderen nationalen Zentren,
sondern beider anderen Zentren. Außerdem versuchen sie, diese nationalen
Varianten möglichst vollständig zu erfassen. Dies zeigt sich nicht nur daran, daß die
Zahl der Austriazismen und Helvetismen, der mit "österr." bzw. "schweiz." markierten
Formen etwa im Rechtschreib-Duden viel größer ist als die Zahl der Sternchen-
Wörter im Österreichischen Wörterbuch.. Ganz besonders deutlich wird dies daran,
daß die Dudenredaktion eigene "Dudenausschüsse" in Österreich und in der Schweiz
unterhält, deren Aufgabe es ist, ihnen die Austriazismen und Helvetismen in mög-
lichst großer Vollständigkeit zu liefern. Ganz bestimmt handelt es sich dabei auch
nicht nur oder nicht in erster Linie um solche Austriazismen und Helvetismen, die
schon nach Deutschland eingedrungen sind. Zugrunde liegt eine ganz andere
Zielsetzung, nämlich die, über alle nationalen Varietäten des Deutschen möglichst
umfassend zu informieren. Damit will die Dudenredaktion den Anspruch für ihre
Bände unterstreichen, Sprachkodex für die ganze deutsche Sprache zu sein.
Genaugenommen erfüllt die Dudenredaktion diesen - an sich eigentlich nicht
verwerflichen - Anspruch jedoch nicht, sondern erliegt doch einer Art Alleinvertre-
tungsanspruch, der zumindest aus österreichischer und schweizerischer Sicht prob-
lematisch erscheinen muß. Die nationalen Varianten des eigenen Zentrums, die
Teutonismen, werden in den Duden-Bänden nämlich nicht als solche markiert. Dies
mag unproblematisch sein für die deutschen Benutzer; für die österreichischen und
die Schweizer Benutzer wären entsprechende Hinweise jedoch unter Umständen sehr
wichtig. Wenn sie in den Duden-Bänden Wörter wie Abitur oder Sahne unmarkiert
finden, so müssen sie annehmen, daß sie auch im eigenen österreichischen und
Schweizer nationalen Zentrum gelten, was sicher nicht ohne weiteres zutrifft. Die
Duden-Bände sind demnach keineswegs eine über den verschiedenen nationalen
Varietäten des Deutschen stehende neutrale Instanz, sondern es sind primär Kodi-
fizierungen des deutschen Deutsch. Es ist allgemein üblich, daß die Sprachkodizes
eines nationalen Zentrums die eigenen nationalen Varianten nicht markieren. Dies
gilt auch für den österreichischen und schweizerischen Kodex. Aber gerade durch
diese Unterlassung erweisen sich die Duden-Bände eben als Kodizes nur des eigenen
nationalen Zentrums, nicht als gesamtsprachliche, die über den verschiedenen na-
tionalen Zentren stehen. Soweit ich sehe, hat man sich in der Dudenredaktion diese
Frage noch gar nicht gestellt. Dieses fehlende Problembewußtsein wäre ein weiteres
Indiz für die Befangenheit in der eigenen nationalen Varietät. Man sieht keine
Beschränkung ihrer Geltung und daher auch keinen Bedarf, die eigenen nationalen
Varianten als solche zu markieren.
A A
A A
A A A
Literatur:
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heim/Wien/Zürich: Dudenverlag.
Rudolf de Cillia
(Wien)
1. Vorbemerkung
Der Titel des vorliegenden Beitrags spielt auf die Tatsache an, daß die Frage des
österreichischen Deutsch, der österreichischen Besonderheiten bei den EU-Beitritts-
verhandlungen eine gewisse Rolle gespielt hat, ja in den Werbekampagnen vor der
EU-Abstimmung am 12. Juni 1994 eine doch gewichtige Rolle. So wurde in
Tageszeitungen und auf Plakatwänden mit dem Slogan "Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfel-
salat" die Volksseele beruhigt, denn es ging damals eben nicht nur die Angst vor
obskuren Blutschokoladen und Atomparadeisern um, sondern auch die Befürchtung,
die ÖsterreicherInnen würden künftig in der Konditorei nur mehr "Quarktaschen"
statt "Topfenkolatschen" bekommen und im Restaurant "Pfifferlingtunke mit Klößen"
anstatt "Eierschwammerlsoße mit Knödeln". Knödeln.
Konkretes Resultat dieser sprachenpolitischen Auseinandersetzungen rund um
den österreichischen EU-Beitritt war das sogenannte Protokoll Nr. 10, Teil des öster-
reichischen Beitrittsantrags, in dem 23 spezifisch österreichische Ausdrücke aus dem
Bereich des Lebensmittelrechts explizit als den bundesdeutschen Bezeichnungen (also
z.B. Pfifferlinge - Eierschwammerl, Quark - Topfen) gleichberechtigt EU-
primärrechtlich verankert wurden. Das wurde auch von den österreichischen Poli-
tikerInnen als großer Erfolg gefeiert, von den Medien allerdings meist eher ironisch
bis zynisch kommentiert.
Einige Wochen nach dem erfolgten Beitritt Österreichs fand sich dann eine
Zeitungschlagzeile wie "Österreichisch klingt einfach nicht deutsch" (Kurier vom
13.2.1995), was als Klage einer österreichgeplagten holländischen EU-Dolmetscherin
zitiert wird. Diese Sprachenfrage stellte sich also offensichtlich innerhalb des EU-
Übersetzungsdienstes.
Im folgenden Artikel wird nun dieses Protokoll Nr. 10 und seine sprachenpo-
litische Bedeutung diskutiert. Dazu werden folgende Punkte erörtert: Die
Sprachenpolitik der EU, die Entstehung und Bedeutung des Protokolls Nr. 10, die
Kritik an dieser Regelung, die sprachenpolitische Bedeutung dieser Regelung, und
abschließend muß natürlich die Frage beantwortet werden, ob denn der Erdäpfelsalat
tatsächlich Erdäpfelsalat bleibt, und zwar sowohl was das signifikant betrifft,- also
-123-
darf man die Bezeichnung auch EU-weit verwenden -, als auch was das signifié
betrifft, also ist sozusagen nach wie vor dasselbe drin?
In der Kritik an diesem Protokoll Nr. 10 wurde vielfach festgestellt, hier würde
das "österreichische Deutsch" auf 23 Wörter reduziert, Wörter wie "Palatschinke",
"Beuschel", "Mozartkugel", ja vielleicht auch die "Burenwurst" wurden vermißt.
Daher ist es notwendig, zu erklären, wie es zu dieser Liste von österreichischen
Besonderheiten kam: Nach Lutz (1994: 881) liegt "der freie Gebrauch der Sprache an
sich und die Zulässigkeit bestimmter nationaler sprachlicher Besonderheiten (...)
außerhalb der Zuständigkeit der EU". Lediglich im Gebrauch der Amtssprachen gebe
es klare Regelungen. Durch Österreichs Beitritt ergab sich sozusagen keine neue
Amtssprache, aber das Problem, daß in einigen EG-Rechtsakten, die Eingang in die
österreichische Rechtslandschaft finden, Begriffe wie "Quark" oder "Aprikosen"
vorkommen, die unserem Sprachgebrauch fremd sind.
"Verhandlungsgegenstand des Austriazismenprotokolls konnten daher sinn-
vollerweise nur diese sich von den österreichischen Begriffen unterscheidenden
bundesdeutschen Ausdrücke sein, die in der deutschen Ausgabe des EG-Amtsblattes
aufscheinen, für die ein klares Gegenstück existiert und deren Einzug in die öster-
reichisch Rechtssprache vermieden werden sollte" (Lutz 1994: 881)
In den Erläuterungen der österreichisch Regierungsvorlage vom 7.11.94 heißt
es daher, Voraussetzung für die Aufnahme in den "Katalog der Austriazismen" sei
gewesen, daß es sich nicht "bloß um regionale oder mundartliche Begriffe" gehandelt
habe, sondern daß ein "offizieller Charakter des Begriffes in Österreich durch Rechts-
texte nachgewiesen werden konnte". Außerdem mußte ein bundesdeutsches Gegen-
stück im geltenden EU-Recht belegt werden. Austriazismen, zu denen es kein Gegen-
stück in der deutschsprachigen Fassung des EU-Rechts gibt, wurden daher nicht
aufgenommen und "diese Ausdrücke bleiben vom EU-Recht unberührt und können
weiterhin beliebig verwendet werden". (Regierungsvorlage: 430)
Die konkrete Vorgangsweise war daher die folgende: Beamte des Land-
wirtschafts- und Gesundheitsministerium stellten mit EDV-Unterstützung einen
Vergleich der Texte des geltenden EU-Rechts und des österreichischen Rechts an, und
sozusagen der "harte Kern" der unterschiedlichen Ausdrücke in beiden Rechtswerken
wurde in der Liste des Protokolls Nr. 10 festgelegt. Lutz (1994: 881) interpretiert
daher die geringe Zahl an Austriazismen nicht als Mißerfolge der Verhandlungen,
sondern als Beleg dafür, "daß die Rechtstexte der EG bisher mit einer relativ geringen
Zahl von Begriffen ausgekommen sind". Nach seiner Einschätzung sei diese Form des
Protokolls Nr. 10 im übrigen der realistische, erreichbare Kompromiß gewesen, eine
Generalklausel (s.u.) sei nicht durchsetzbar gewesen und hätte außerdem das Prob-
lem mit sich gebracht, daß auf Grund der mangelnden Kodifizierung des öster-
reichischen Deutsch bei jedem neuen Einzelfall eventuell langwierige Diskussionen
entstanden wären.
Die Frage, wie die "geeignete Form", in der die österreichischen Ausdrücke
beigefügt werden sollen, aussieht, wurde mittlerweile auch geklärt: Prinzipiell gab es
drei Möglichkeiten (Fußnoten, Klammerausdrücke, Schrägstrich), wobei auf Betrei-
ben der österreichischen Seite die Gleichwertigkeit ausdrückende Form der Angabe
nach einem Schrägstrich, nicht ohne Widerstand, durchgesetzt werden konnte.
Bei Klingler (1993), dessen Beitrag vor dem Protokoll Nr. 10 erschienen ist, fin-
det sich ein Hinweis darauf, warum diese Frage insbesondere bei den Lebensmittel-
bezeichnungen derartige Wichtigkeit erlangte. Danach habe die historische Ent-
wicklung des EG- Lebensmittelrechts eine Zeitlang (von 1969 bis ca. 1979) darauf
abgestellt, "handelshemmende einzelstaatliche Rechtsvorschriften" durch gemein-
schaftliche Harmonisierungsakte abzubauen (Erlassen von vertikalen Richtlinien,
Produkt-Regelungen), wobei dieses Programm aber spätestens 1979 gescheitert sei,
wo man vom Prinzip abging, daß jede abweichende einzelstaatliche Regelung eines
Gemeinschaftsaktes bedürfe. Eine Handvoll vertikaler Richtlinien aus den späten
Sechziger und Siebziger Jahren bestünden aber nach wie vor, und diese seien die
Ursache einer eventuellen "Preussifizierungsgefahr". Denn ausschließlich in den
vertikalen Richtlinien könnten Produktbezeichnungen durch das Gemeinschaftrecht
vorgegeben sein. So sei z.B. für die Etikettierung von Lebensmitteln vorrangig die
(horizontale) Richtlinie Nr. 79/112 zuständig, was z.B. bedeutet, daß die Etiket-
tierung "in einer dem Käufer leicht verständlichen Sprache abgefaßt" zu sein hat und
schon insofern die Beibehaltung nationaler Bezeichnungen gesichert sei. Klingler
resümiert für die Umsetzung des EG-Lebensmittelrechts in Österreich:
Kurz gesagt: Auch in Zukunft kann der österreichisch Hersteller seine
"Marillenmarmelade" auf dem inländischen Markt unterbringen, ohne beanstandet
zu werden, eine "Praline" nach EG-Jargon kann für Österreich weiterhin ein
"Schokoladenkonfekt" bleiben." (Klingler 1993: 55)
Lutz (1994) weist darauf hin, daß Verwechslungen mit einem anderen lebens-
mittelrechtlichen Problem der EU stattgefunden haben, nämlich dem "Schutz von
geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und
Lebensmittel" (Verordnung 2081/92 des Rates), wo es darum geht, daß Wirtschafts-
treibenden unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit gegeben wird,
Ursprungsbezeichnungen und traditionelle Bezeichnungen für Lebensmittel EU-weit
zu schützen, also z.B. (als fiktive Beispiele) "Original Zillertaler Grammelknödel",
"Mayerlinger Schloßkäse" oder "Grazer Grammelschmalz ". Ähnliche Bestimmungen
existieren für Spirituosen.
Die Regelung betrifft weiters nur das EU-Recht (Primär- und Sekundärrecht). In
Österreich bestehende Produktbezeichnungen, auch die, die nicht in der Liste
enthalten sind, können selbst verständlich beibehalten werden, (also keine Quark-
taschen oder Pfifferlingtunken!). Regionale Produktbezeichnungen können, unter
bestimmten Bedingungen, auch geschützt werden. Bei der Umsetzung von EU-Richt-
linien in österreichisches Recht steht es Österreich frei, ausschließlich die in Öster-
reich gebräuchlichen Begriffe zu verwenden.
Das Protokoll Nr. 10 stellt in gewissem Sinn eine erste Anerkennung der
eigenen österreichischen Variante der deutschen Sprache in internationalen Ver-
trägen dar und ist insofern einzigartig. Ein Problem könnte sich jedoch ergeben,
wenn zukünftiges EG-Recht neue Begriffe einführt, für die unterschiedliche Aus-
drücke im österreichischen Deutsch und im Bundesdeutschen existieren. Könnte da
nicht mit Hinweis auf die Geschlossenheit der Liste des Protokolls die Aufnahme
neuer Austriazismen verweigert werden? Lutz (1994) und die Regierungsvorlage
(1994) finden folgende Interpretation:
"Durch das Protokoll Nr. 10 wird primärrechtlich das Prinzip etabliert, daß Austria-
zismen im Rahmen des EU-Rechts anzuerkennen sind. Sollte neues EU-Recht bisher
noch nicht abgedeckte Bereiche regeln, so wird sich Österreich als Mitglied der EU
auf das Prinzip des Protokolls Nr. 10 berufen und die Berücksichtigung der entspre-
chenden Austriazismen einfordern können" (Regierungsvorlage 1994: 430).
Lutz argumentiert, daß die vom Europäischen Gerichtshof in anderem Zusam-
menhang entwickelte Judikatur dieser Interpretation entgegenkomme. Da der EuGH
z.B. die Tendenz habe, "teleologische Überlegungen vor den reinen Wortlaut von
Bestimmungen zu stellen" (Lutz 1994: 883), sei nicht auszuschließen, daß er, würde
er damit befaßt, der österreichischen Argumentation folgen würde. So gesehen hätte
das Protokoll Nr. 10 wesentlich mehr erreicht als die Einführung der 23 Wörter,
nämlich tatsächlich eine prinzipielle Gleichstellung der beiden Varianten.
Die oben skizzierte pluralistische Sprachenpolitik der EU würde auch eher
dafür sprechen, daß eine großzügige Interpretation dieses Sprachenproblems zu
erwarten wäre. In jedem Fall hat die EU-Terminologiekommission noch vor dem
Beitritt Österreichs mit der Herausgabe einer Publikation reagiert, in der nach einer
allgemeinen Einführung in das österreichische Deutsch ein Glossar von ca. 1500
Wörtern aufgeführt wird, für die es unterschiedliche Bezeichnungen in Österreich
und der BRD gibt, was ebenfalls für eine tolerante Sprachenpolitik spricht:
Neben "praktischen" Überlegungen sollte mit dieser Arbeit ein Zeichen der
hohen Sensibilisierung seitens der EG gegenüber der sprachlichen - und damit kul-
turellen -Identität eines (zukünftigen) Mitgliedstaats gesetzt werden. (...) sollte aber
andererseits nicht als Aufforderung zu einem künstlichen Sprachseparatismus ver-
standen werden oder als Windmühlenkampf gegen das natürliche Verschwinden
sprachlicher Besonderheiten in einer vernetzten Welt". (Markhardt o.J.: 4.)
Daß die konkrete Ausführung der Publikation allerdings Mängel aufweist, soll
nicht verschwiegen werden: so ist einerseits von "Austriazismen" die Rede, ander-
erseits aber von "Binnendeutsch", was eine deutliche Wertung enthält und mono-
zentrisches Sprachverständnis zur Grundlage hat. Aber darüber sollte die prinzipiell
positive Tendenz einer derartigen Publikation keinesfalls vergessen werden.
hang mit dem Beitritt Österreichs zur EU ist nicht mehr hoch akut, aber Wach-
samkeit ist weiterhin angebracht" (Pollak 1994: 158).
Weniger hintergründig verlief die Diskussion bzw. Berichterstattung in den
Medien aus diesem Anlaß. Von österreichischer Seite wurden meist ironische und
selbstironische Kommentare abgegeben, die die Frage der Austriazismen teils als
unwesentlich einstufen sollten, teils darauf abzielten, daß eine Liste von letztlich 23
Ausdrücken tatsächlich etwas seltsam anmutete.
Bereits eine Schlagzeilenanalyse der Zeitungsberichte und -kommentare zeigt in
gewissem Sinn den Stellenwert des Problems: "Topfen überlebt die EU", "Keine Angst
mehr vor Quarktaschen", "Erdäpfel, Fisolen und Marille", "Topfen bleibt Topfen",
"Marille siegt", "Alles Powidl, dem 10er sei Dank", "Die Angst des Österreichers vor
der Quarktasche", "EU: Stelze gegen Eisbein", "Kein Quark hier". Die Kommentare
gehen hauptsächlich in die Richtung, daß bezweifelt wird, daß sich die öster-
reichische Tourismusindustrie auch an diese sprachenpolitische Linie halten würde.
In seiner bekannt unanständigen Art schließlich kommentiert das Protokoll der
Karikaturist Manfred Deix in der Wochenendbeilage der Neuen Kronenzeitung, wo
er z.B. einen Schüler fragen läßt: "Herr Professor, darf man in der EU anstatt
HINTERTEIL auch OASCH sagen?"
7. Schlußbemerkung
Kehren wir zum Erdäpfelsalat zurück. Aus dem oben Ausgeführten ist deutlich
geworden, daß derselbe auch in der EU ein solcher bleiben darf, sowohl von der
Zusammensetzung her als auch von der Bezeichnung her, obwohl ja sicher in be-
stimmten Regionen Österreichs der Kartoffelsalat vorgezogen wird, ja es wohl auch in
Wien, dessen damaliger Bürgermeister für die Kampagne verantwortlich zeichnete,
Kartoffelsalatesser gibt. Schmid 1990 spricht etwa davon, daß das Wiener Boule-
vardkleinformat eher die Kartoffeln, das Boulevardgroßformat eher die Erdäpfeln
bevorzuge. Auf diese Fragen von Sprache und nationalen Identität näher einzugehen
ist diesem Rahmen leider nicht möglich. Aber daß gastronomische Fragen für das
Österreichbewußtsein wohl zumindest ebenso wichtig sind, wie Fragen der sprach-
lichen Identität, stellt schon Schmid (1990: 30) fest, wenn er schreibt:
"Bei der Terminologie des Essens zeigt sich noch am ehesten (...) eine gewisse öster-
reichische Resistenz gegenüber Eisbein und roter Beete. Daraus ist indessen im Grund
nicht mehr abzuleiten, als daß ein Phäakenvolk dem Speisen (und Trinken) große
Bindekraft zuschreibt, deshalb am Rande sogar der Benennung."
8. Anhang:
PROTOKOLL NR. 10
ÜBER DIE VERWENDUNG SPEZIFISCH ÖSTERREICHISCHER AUSDRÜCKE
DER DEUTSCHEN SPRACHE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN UNION
Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:
Fels, Ludwig (1995): Servus, Österreich! Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat. In: Die
Zeit Nr. 3: 13. Jänner 1995.
FESSEL + GFK Institut für Marktforschung (1991): Deutschkenntnisse im Länderver-
gleich. Wien: Ms.
FESSEL + GFK Institut für Marktforschung (1994): Identität und EU-Beitritt. Textbe-
richt. Wien: Ms.
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europäischen Verständigung (mit sprachökonomischen und sprachökologischen
Anmerkungen). In: Staquet, David /Zeyringer, Klaus (Hrsg.) (1993): Les langues:
Pivot du nouvel espace économique européen. Nottingham. S. 70-95.
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In: Economy-Fachmagazin 3. S. 53-55.
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logische Untersuchungen zu ihrer Abgrenzung in Wien, Graz, Salzburg und
Innsbruck. Wien.
Muhr, Rudolf (1993) (Hrsg.): Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch
und seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
Pollak, Wolfgang (1992): Was halten die Österreicher von ihrem Deutsch? Wien.
Pollak, Wolfgang (1994a): Identität durch Grammelschmalz. In: Der Standard v.
28.4.94.
Pollak Wolfgang (1994b): Österreich und Europa. Sprachkulturelle und nationale
Identität. Wien.
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Ausdrücke der deutschen Sprache.
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der Europäischen Union". Ratsdokument Nr. 4034/95.
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7.11.1994. Wien.
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Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis. Salzburg. S. 23-34.
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Victoria Martin
(Oxford)
Tabelle 1 Jahr
Land/Prozent/Anzahl 1995/96 1994/95 1993/94 1992/93 1991/92
Österreich: Prozent 22,24 21,73 21,71 19,43 21,96
Anzahl 161 161 170 135 130
Deutschland: Prozent 75,42 75,57 76,50 78,70 75,34
Anzahl 534 560 599 547 446
Schweiz: Prozent 1,84 2,70 1,79 1,87 2,70
Anzahl 13 20 14 13 16
Man sieht, daß Österreichs Beliebtheit seit 1992/3 ständig steigt u. zw. auf
Kosten von Deutschland. Heuer fanden sich anfangs sogar nicht ausreichend viele
Bewerber, um alle Stellen in Deutschland zu besetzen. Wenn das österreichische
Deutsch also nicht den gleichen Status wie das Bundesdeutsch hätte (zumindest
theoretisch), dann würden sich auch nicht so viele Bewerber um Stellen in Österreich
finden.
An Studenten, die das österreichische Deutsch lernen, wird dieselbe Anfor-
derung wie an die Deutschlandbesucher gestellt, nämlich die Fähigkeit, zwischen der
(österreichischen) Hochsprache und den Dialekten bzw. der Umgangssprache zu
unterscheiden und letztere zu vermeiden. In den Prüfungen wird dann die Verwen-
dung nach bundesdeutschen Normen nicht-standardsprachlicher Formen gestattet,
wenn diese Formen der österreichischen Hochsprache entstammen. Merkmale der
österreichischen Hochsprache können also theoretisch ohne Bedenken in einer
Übersetzung vorkommen, auch wenn sie vom bundesdeutschen Standard abweichen.
(Allerdings wird auch hier eine gewisse Konsequenz gefordert: wer über Kukuruz
schreibt, darf nicht im gleichen Text auch Möhren erwähnen). Diese Anerkennung
der österreichischen Nationalvariante setzt immerhin voraus, daß der Prüfer in der
Lage ist, den hochsprachlichen Status solcher Merkmale zu erkennen. Wo dem Prüfer
die notwendigen Kenntnisse fehlen, kann es zur falschen Einschätzung der
‘Richtigkeit’ gewisser Austriazismen kommen. Dank der mangelnden Kodifizierung
der österreichischen Hochsprache kann der des Österreichischen unkundigen Lehrers
nicht einfach nachschlagen, um den sozialen bzw. stilistischen Status einer ihm
unbekannten Form zu überprüfen.
Durch Umfragen unter Kollegen an verschiedenen Hochschulen sowie ein-
gehende Gruppendiskussionen mit Studenten ermittelte ich den tatsächlichen Stand
des Wissens um das österreichische Deutsch sowie die vermeintlichen
Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, wenn ein Student das Auslandsjahr nicht
in der BRD sondern in Österreich verbringt.
irischem Englisch - unter gebildeten Sprechern findet man eine andere Aussprache,
einige andere Ausdrücke, aber keine völlig andere Sprache'. 'Die Eigenartigkeit der
Aussprache und des Dialekts in Österreich spielen keine wichtige Rolle, wenn es um
das Verständnis des Hochdeutschen geht, und es ist für Studenten von Vorteil, wenn
sie sich für Mundarten interessieren'. 'Ich bin zufrieden, wenn sie irgendwo hin-
fahren, wo es keine Englischsprachigen gibt'.)
- 7% bevorzugen Österreich aus nicht-sprachlichen Gründen (Ein Dozent fügte
aber hinzu: 'Ich frage mich, warum ich eine der Studenten, die jetzt im Ausland sind,
dazu aufmunterte, nach Vorarlberg zu gehen, und ob irgend jemand sie verstehen
wird, wenn sie zurückkehrt'.)
- 7% bevorzugen Österreich, zum Teil aus sprachlichen Gründen ('Ich würde
sie dazu aufmuntern, nach Österreich zu fahren, um ihre Kenntnis der
deutschsprachigen Welt zu erweitern und um sie auf Österreich und seine
Geschichte aufmerksam zu machen'.)
Auffallend ist, daß fast alle Befragten das österreichische Deutsch problema-
tisierten, indem sie sich auf die dortigen Sprachverhältnisse bezogen, um ihre Wahl
des bevorzugten Ziellandes zu erklären. Auch meinten alle, daß schwächeren Studen-
ten von einem Österreichaufenthalt abzuraten wären, da diese wahrscheinlich nicht
in der Lage wären, die gesprochene Sprache und den schriftlichen Standard
auseinanderzuhalten. In Deutschland hingegen wird angenommen, daß die
gesprochene Sprache den schriftsprachlichen Normen viel näher steht.
Die Dozenten unterstützen jedoch im großen und ganzen alle Studenten, die
den Wunsch äußern, das Auslandsjahr in Österreich zu verbringen, aber nur die
wenigsten machen die Studenten auf diese Möglichkeit aufmerksam, d.h. die Studen-
ten selber müssen auf die Idee kommen, nach Österreich zu fahren. Die Toleranz den
österreichischen Besonderheiten gegenüber basiert aber auf nicht allzu festem Boden,
denn die meisten Prüfer/innen sind nicht in der Lage, Austriazismen als solche zu
erkennen. Gefragt nach dem Stellenwert von Austriazismen, die in einer Übersetzung
für die Abschlußprüfung vorkämen, meinten sie, Lexeme der nationalen Variante
seien durchaus akzeptabel. Als Beispiel solcher Lexeme erwähnten sie Wörter wie
Bub, heuer, Erdapfel, also Lexeme, die im gesamten bairischen Raum auftreten, aber
auch Schlagobers und Paradeiser, die offensichtlich als stereotype Kennzeichen des
österreichischen Deutsch dienen.
Auffallend war, daß viele der standardsprachlichen Austriazismen ihnen ein-
fach nicht bekannt waren, vor allem im syntaktischen Bereich. Von den Merkmalen,
die die Studenten als problematisch einstuften (siehe unten), wurde keines als
hochsprachlich betrachtet.
wichtigeres Problem, da sie fürchteten, die Prüfer würden selten wissen, ob Ab-
weichungen von den bundesdeutschen Normen zur österreichischen Hochsprache
gehören. Die möglichen Fehleinschätzungen können in drei Gruppen unterteilt
werden (alle Beispiele wurden von den befragten Studenten selbst erwähnt):
1. Lexeme der österreichischen Hochsprache werden als Regionalismen bzw.
Dialektausdrücke abgewertet. Sie werden zwar nicht für erfundene Wörter ge-
halten, aber eventuell für stilistisch fehl am Platz, z.B. Bub, Erdapfel,
Fleischhauer, Kasten, Rauchfangkehrer, Sack.
2. Lexeme der österreichischen Hochsprache werden als fehlerhaft, d.h. als vom
Studenten erfunden, beurteilt. z.B. Geldtasche, Karfiol, Trafikant. An dieser Stelle
wurde auch das Problem des Umlauts erwähnt, da das Fehlen oder Vorhanden-
sein vom Umlaut, wenn ein Bundesdeutsch Sprechender das Gegenteil erwartet,
wohl leicht als Fehler eingestuft wird, z.B. benützen statt benutzen, Wägen statt
Wagen, färbig statt farbig.
3. Manche Lexeme haben eine leicht unterschiedliche Bedeutung bzw. andere
Kollokationen im Bundesdeutschen und werden daher unter Umständen als
falsch beurteilt, wenn sie mit ihrer österreichischen Bedeutung verwendet wer-
den, z.B. Sessel, Gasse, Polster, sperren, reden.
Um potentiellen Fehleinschätzungen des Prüfers zuvorzukommen, versuchten
alle befragten Studenten, in der Zeit vor den Prüfungen Austriazismen so weit wie
möglich abzulegen. Zu den obenerwähnten Schwierigkeiten kommt aber auch noch
eine vierte hinzu, nämlich die Tatsache, daß die Studenten selber nicht immer in der
Lage sind, Lexeme der österreichischen Hochsprache als nicht-bundesdeutsch zu
erkennen. Hier konnten sie mir natürlich keine Beispiele nennen, aber ein kleiner
Test ergab, daß die meisten von ihnen einige Formen nur in ihrer österreichischen
Variante kannten.
Bei den Lexemen waren es hauptsächlich diejenigen, die alltägliche Begriffe
bezeichnen, die nicht als spezifisch österreichisch erkannt wurden. Die bundes-
deutsche Variante ist in Klammern angegeben: z.B. Ordination (Sprechstunde),
Meldezettel (Meldeschein), Erlagschein (Zahlkarte), Putzerei (Chemische Reinigung),
Hausmeister (Hauswart), Vorhang (Gardine), Gehsteig (Bürgersteig), Wimmerl
(Pickel), Kipferl (Hörnchen, Kren (Meerrettich).
Allgemein erkennbare Austriazismen stellte eine Gruppe von Begriffen dar, die
schon in den frühsten Phasen des DaF-Unterrichts gelehrt werden: z.B. Spital
(Krankenhaus), Wirtshaus (Gasthof), Beisl (Kneipe), Jänner (Januar), Stiege (Treppe),
sich verkühlen (sich erkälten). Lexeme, die offensichtlich nicht deutscher Herkunft
sind, wurden auch leicht als Austriazismen erkannt: z.B. Melanzani (Aubergine),
Ribisel (Johannisbeere), Palatschinke (Pfannkuchen).
Die Unsicherheit ist allerdings noch stärker im nichtlexikalischen Bereich. Die
meisten konnten nicht sagen, ob es Bundesdeutsche oder Österreicher sind, die
liegen, stehen und sitzen mit sein bilden; manche wußten sogar nicht, daß es möglich
Literatur:
Clyne, Michael (1992): German as a pluricentric language. In: Ders. (Hrsg.): Pluri-
centric Languages. Differing Norms in Different Nations. Berlin/New York. S.
117-147.
König, Werner (1978): Atlas zur deutschen Sprache. München.
Martin, Graham (1990): National linguistic peculiarities in German-language dictio-
naries for use in schools: Austriacisms in the Österreichischer Schülderduden
and helveticisms in the Schweizer Schülerduden. Oxford. (= German Life and
Letters 44/1).
Österreichisches Wörterbuch (1990): 37. Auflage. Wien.
Rizzo-Bauer, Hildegard (1962): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in
Österreich und in Südtirol. Mannheim.
Bernhard Kelle
(Freiburg im Breisgau)
1
Vortrag, gehalten auf der 6. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie, Graz, 20.-
24.9. 1995. Für die Aufnahme in den vorliegen Sammelband danke ich R. Muhr.
-143-
Äußerungen bedeutet. Ich bin hier selektiv vorgegangen und habe nur einen
bestimmten Ausschnitt des Situationsspektrums zu Kontrollzwecken aufgenommen.
Auf die dabei gewonnenen Ergebnisse komme ich später zurück. Ich möchte nun,
bevor ich eine genauere Einschätzung des Phänomens versuche, etwas systematischer
darlegen, um welche Fälle es sich handelt. Dabei wird davon zu sprechen sein,
1. auf welchen sprachlichen Ebenen sich die Veränderungen zeigen und
2. in welchen Situationen sie auftreten.
Nur geringe Einflüsse haben sich auf der phonetisch-phonologischen Ebene
feststellen lassen. Es scheint so, daß im lautlichen Bereich die größte Stabilität zu
beobachten ist und auch der langjährige Aufenthalt im alemannischen Umfeld die
bairischen Grundlagen nicht zerstören konnte. Selbst die Benutzung einer möglichst
neutralen Standardsprache bleibt von bairischer Phonologie beeinflußt. Ganz selten
taucht ein sekundäres alemannischen Dialektmerkmal (Jakob 1985, 33ff.), nämlich
der Spirant [ š ] für [ s ] in isch für ist auf (Da isch'er ja) . Für viele gebürtige
Alemannen bleibt dieses Merkmal ein Leben lang kennzeichnend, was man z.B.
bestens in den Reden von Helmut Schäuble, dem derzeitigen Fraktionsvorsitzenden
der CDU beobachten kann. Meine Benutzung ist so selten und so stark auf den einen
Ausdruck beschränkt, daß man nicht von einem wirklichen, das phonologische
System verändernden Einfluß sprechen könnte.
Deutlicher sind die Adaptionen in der Morphologie. Hier ist vor allem das
alemannische Diminutivsuffix -le hervorzuheben, von dem ich in meinem Sprechen
an verschiedener Stelle unbewußten Gebrauch mache, den ich aber in der ersten Zeit
meines Aufenthaltes zum Teil bewußt lernen mußte. Ein Beispiel dafür ist das
Einkaufen, wo etwa beim Bäcker das Kaufen von Semmeln nicht oder nur schlecht
funktioniert, und wo Weckle (Schwäb. Wb. VI/1, 521 "Brötchen aus Weißbrot") der
richtige Ausdruck ist. Besonders nach Verschlußlaut wie in Weckle fällt die
Verwendung der alemannischen Endung ausgesprochen schwer. Andere Belege, wie
z.B. Bächle (Bad. Wb. I, 104 "Bächlein"), bißle (Bad. Wb. I, 239 "bißchen") oder
Männle (Bad. Wb. III, 550 "Männlein") sind für den bairischen Gaumen besser
geschaffen und treten so auch auf.
Eine weitere Erscheinung der alemannischen Morphologie ist die Apokope des
Endungs - e: z.B. dann kriegst du eins auf die Kapp oder die Frage Komme Sie vom
Schaffe? Adaptiert wurden auch die Formen aus den Verbalparadigmen von gehen
und haben: Die Gesprächseröffnung mit wie gots (Bad. Wb. II, 331 "wie geht's") und
die Form hätt in Sätzen wie dem bereits zitierten es hätt schlecht Wetter bzw. die
Formen des Einheitsplurals hän in hän ihr des au ... (Bad. Wb II, 517 "habt ihr das
auch") sind beobachtet worden.
Am deutlichsten treten die Veränderungen auf der lexikalischen Ebene hervor.
Besonders hervorstechend und auch leicht erklärbar sind die Fälle, in denen eine
lexikalische Variante gelernt werden mußte, da sonst die kommunikative Praxis sehr
erschwert gewesen wäre. Beispiele finden sich vor allem im Bereich des Einkaufens
und bei Nahrungsbezeichnungen, wo häufig lokale lexikalische Varianten
vorhanden sind. Das bereits zitierte Weckle ist hier ein Paradefall, da es auch heute
noch Schwierigkeiten beim Aussprechen bereitet und häufig im letzten Augenblick
hilfsweise zum Weckerl mutiert. Weitere Belege sind Büerle (Bad. Wb. I, 128 "Art
Weißbrötchen"), Bippeleskäs (Bad Wb. I, 234 "Quark") und ähnliches. Zu
unterscheiden sind von diesen mehr oder weniger erzwungenen und gelernten
Veränderungen des Wortschatzes diejenigen, die sich einfach nur eingestellt haben.
Dazu zählen vor allen Dingen Ausdrücke für die räumlichen Orientierung sowie
emotionale Ausdrücke. Besonders betroffen ist der Bereich der Richtungsadverbien,
wo hinzus (Bad. Wb. II, 726 "hinwärts"), nuf (Bad. Wb. II, 704 "hinauf"), nab (Bad.
Wb. II, 698 "hinab") und ähnliches häufig festzustellen waren. Beim emotionalen
Wortschatz sind es die Ausrufe des Erstaunens/der Verwunderung,
Qualitätsbezeichnungen sowie die ortsüblichen Beleidigungen, die z.B. beim
Autofahren in geschützter, rechtsfreier Umgebung zum Vorschein kommen. Zu
nennen ist hier z.B. der Ausruf heiligs Blechle (Bad. Wb. I, 257), die Adjektive
lummelig (Bad. Wb. III, 503 "schlaff") und brummlig (Bad. Wb. I, 346 "brummelnd,
mürrisch") oder die weniger ehrenhaften Bezeichnungen Dubel (Bad. Wb. I, 582
"Dummkopf") oder Dackel (Bad. Wb. I, 399 "Narr"), die mittlerweile den
entsprechenden österreichischen Wortschatz überlagern, morphologisch aber relativ
vertraut sind.
Zwei Beobachtungen sind schließlich dem Übergangsbereich von Morphologie
und Syntax zuzurechnen; im einen Fall handelt es sich um den fehlenden Akkusativ
des Substantivs mask. Sg., z.B. ich fahr der Buckel nuf (Besch/Löffler 1977, 57) sowie
die Wendungen mit als in der Bedeutung "immer, doch wohl": Der geht als ins
Wirtshaus (Bad. Wb. I, 34).
Bei der Suche nach den Ursachen für die Übernahmen muß zunächst nach dem
pragmatischen Hintergrund für die Äußerungen gefragt werden. Lassen sich
besondere Merkmale der einzelnen Gesprächstypen erkennen, in denen die
besprochenen Elemente auftreten? Zur Überprüfung dieser Frage habe ich mehrfach
meine Redebeiträge in Seminaren auf Tonband mitgeschnitten. Es handelt sich dabei
um frei gesprochenen Text, der je nach Situation den Texttypen "Diskussion" bzw.
"Vorlesung/Vortrag" zuzuordnen wäre. Die Aufzeichnung umfaßt mehrere Stunden,
und ich konnte kein einziges alemannisches Element der besprochenen Art in diesen
Texten finden. Die Texte, denen ich die oben zitierten Beobachtungen entnommen
habe, sind dagegen meist informelle Gespräche mit muttersprachlichen Alemannen,
ferner mit meinen Kindern oder guten Freunden. Die dahinterstehende Situation ist
häufig ein Verkaufsgespräch oder eine Begegnung, in der "small talk" vorherrscht. Es
deutet sich hiermit eine Trennung an, die im Rahmen der von Hugo Steger
entworfenen Theorie der "Kommunikativen Bezugsbereiche" gut beschreibbar ist
(Steger 1991). Steger trennt in seinem Modell zwischen Alltags- und Theoriewelt,
wobei in der Alltagswelt im wesentlichen Texte entstehen, die zur Bewältigung der
alltäglichen Lebenspraxis notwendig sind. Darunter sind die grundlegenden
Handlungen zu verstehen, die zur Lebensaufrechterhaltung nötig sind, wie Essen,
Schlafen, Wohnen etc. In den Theoriewelten dagegen finden sich spezielle Teilse-
mantiken für bestimmte Funktionen, so z.B. für die Institutionen, für Wissenschaft,
Technik, Religion und schließlich für die Literatursprache. Betrachtet man auf diesem
Hintergrund die von mir gemachten Beobachtungen, dann zeigt sich, daß die
Alemannismen ausschließlich im Bereich der Alltagswelt auftreten und die gesamte
Theoriewelt von dieser Veränderung unbeeinflußt bleibt.
Innerhalb der Alltagswelt sind es die den genannten Basisbedürfnissen gut
zuordenbaren Bereiche Nahrungsbezeichnung, räumliche Orientierung und
Beziehungs-/Kontaktpflege, die als Situationen anfällig für alemannische Einflüsse
sind. In ihnen findet Kommunikation mit Sprechern statt, die in meiner apriorischen
Situationseinschätzung als mögliche Alemannen angenommen werden. Zur
Situationsbeschreibung gehört demnach auch eine Vorvermutung über den
Gesprächspartner, daß dieser perzeptiv auf die Verwendung von Alemannisch
eingestellt sein könnte. Ein Auslöser für dieses Verhalten ist wahrscheinlich die -
auch von mir gemachte - Erfahrung, daß man häufig mit Nachfragen und
kommunikativem Mehraufwand rechnen muß, wenn man der auf Alemannisches
gerichteten Erwartungshaltung des Gegenübers mit Bairisch begegnet (z.B. in der
Mensa, wenn Hühnchen ausgegeben wird und man dann Hendl verlangt, wird das
nicht verstanden, auch wenn keine anderen Störungen des Kanals vorliegen). Man
unterliegt einem Anpassungsdruck, der durch die jeweilige Situation erzeugt wird
und der durch Sanktionen dazu führt, daß man sich sprachlich anpaßt. Sanktionen
können z.B. die Reaktionen des Hörers sein, die sein Nichtverstehen begleiten und das
sich daraus auf Sprecherseite entwickelnde Nicht-Verstanden-Fühlen mit der
Notwendigkeit, alles wiederholen zu müssen - mit der Gefahr, daß der
Kommunikationsakt erneut scheitert.
Obwohl sich dies nicht direkt aus meinen Beobachtungen ablesen läßt, vermute
ich, daß es eine zeitliche Reihung beim Erwerb der neuen Ausdrucksmöglichkeiten
gibt: Ganz am Anfang stehen die Elemente, die für die aktuelle Lebensbewältigung
dringend benötigt werden. Dazu zählt die abweichende Lexik, die sich, wie erwähnt,
im Bereich Lebensmittelbezeichnungen/Einkaufen besonders bemerkbar macht.
Ferner zählt dazu die räumliche Orientierung, die ebenfalls ein sehr primäres
Bedürfnis zu sein scheint. Schließlich schließt sich diesen beiden Bereichen zeitlich
der Erwerb von Ausdrücken an, die mehr für die soziale Orientierung benötigt
werden, worunter die emotional geladenen Qualitätsbezeichnungen und die
Schimpfwörter fallen. Am Anfang steht demnach die Sicherung und Vereinfachung
des 'Überlebens', dem die Gestaltung der sozialen Beziehungen und das Ausdrücken
von Gefühlen folgen (vgl. Steger 1976).
Literatur
Bechert, Johannes/Wildgen, Wolfgang 1991. Einführung in die
Sprachkontaktforschung. Darmstadt.
Besch, Werner/Löffler, Heinrich 1977. Alemannisch. (=Dialekt/Hochsprache -
kontrastiv. 3.) Düsseldorf.
Bad. Wb. Badisches Wörterbuch. Hrsg. v. E. Ochs und K.F. Müller. Bd 1ff. Lahr
1925ff.
Manfred Glauninger
(Graz)
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit wird im theoretischen Kontext des Modells der lin-
guistischen Plurizentrizität1, anhand eines kleinen Ausschnitts aus der sprachlichen
Realität Österreichs versucht, die Inkongruenz zwischen einem monozentrisch aus-
gerichteten Standard auf der einen und der österreichischen Variante auf der ande-
ren Seite näher zu untersuchen.
Zu diesem Zweck habe ich einige Bezeichnungen und Ausdrücke für Möbel
und Einrichtungsgegenstände, die ich in Katalogen, Werbebroschüren und Flugblät-
tern von insgesamt zwölf verschiedenen Einrichtungshäusern und Möbelhändlern im
Zeitraum von Oktober 1994 und März 1995 gefunden habe, mit den Ergebnissen
einer von mir durchgeführten Umfrage verglichen und so auf ihre Entsprechung
hinsichtlich eines als österreichisch empfundenen Sprachgebrauchs empirisch unter-
sucht. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit sich bundesdeutsche Möbel-
bezeichnungen in Österreich ausbreiten bzw. bereits ausgebreitet haben, ohne sich
dabei von Einwürfen abhalten zu lassen, die meinen, die Beschäftigung mit dem
österreichischen Deutsch gleiche "Sandkastenspiele[n]" an der Sahne [...] Schlag-
obers-Front"2.
Zum Verhalten der Österreicher gegenüber den bundesdeutschen Einflüssen
sagt J. Ebner (1980:212):
1
Vgl. dazu Clyne (1989:359: "A national variety [...] is usually a variety of a standard language [...]
identified with a particular nation - by both members of that nation and outsiders [...]. In order to
exclude 'non-nationals', this is essential." Und an anderer Stelle (1992:125): "The German [in
Österreich] used by the highest ranking personalities in government, academic and the public
service is distinctly Austrian [...]."
2
Scheuringer (1988:65). Demgegenüber v. Polenz: (1988) "Will man nun bestimmte sprachliche
Varianten als s t a a t s n a t i o n a l e [Sperrdruck übernommen] kennzeichnen, so genügt als
Kriterium nicht ihr bloßes Vorkommen in einem Staat x; sie müssen auch x-typisch sein im Sinne der
sprachlichen Symptomfunktion, als mögliche Mittel (interner und externer) Identifizierung der
Sprachbevölkerung von x."
-150-
2. Die Untersuchung
Es lag nahe, die Behauptungen Ebners genauer zu überprüfen, weil ich beob-
achtet hatte, daß man im Register vieler Möbelkataloge z. B. keinen "Sessel" (im Sinne
von "Stuhl") finden konnte. Die Untersuchung erfolgte mittels eines Fragebogens, der
aus drei Teilen/Fragestellungen bestand:
1. Ein Blatt mit Abbildungen verschiedener Möbelstücke (Sessel, Kasten, Fauteuil,
Polster, Lampe), das den Gewährspersonen vorgelegt wurde. Sie wurden danach
gefragt, wie sie die abgebildeten Gegenstände bezeichnen.
2. Eine weitere Fragestellung bezog sich darauf, was für sie diese Ausdrücke bedeu-
ten bzw. ob Bedeutungsunterschiede bestehen.
3. Eine Liste mit verschiedenen Möbelbezeichnungen, die danach abgefragt wurde,
welche der Bezeichnungen als "österreichisch" anzusehen sei. Eine Zusatzfrage
bezog sich darauf, was die Gewährspersonen mündlich in einer öffentlichen Si-
tuation verwenden und welchen Ausdruck sie schreiben würden, wenn sie z.B.
an ein Amt schrieben.4
Insgesamt wurden 92 Personen befragt, davon waren 48 Männer und 44
Frauen, wobei darauf geachtet wurde, daß auf die drei gewählten Alterskategorien
ungefähr dieselbe Anzahl von Gewährspersonen entfielen. Es waren dies in der Al-
terskategorie bis 30 Jahre 12 Männer und 14 Frauen, in der Alterskategorie 30 bis 60
3
Muhr (1989:78).: Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache - Gespaltenes Bewußtsein -
Gespaltene Identität. In: IDE / Klagenfurt 2 (1989), S. 78.
4
Für Untersuchung orientierte ich mich uns an der Funktion des Standards, überregionale
Kommunikation zu ermöglichen, das heißt "in einer öffentlichen Kommunikationssituation mit der
Intention geäußert [zu werden], überregional verständlich zu sein" und der Erfüllung des Kriteriums,
auch tatsächlich überregional verstanden zu werden, und das unabhängig vom sozialen Rang des
Sprechers. (Zit. nach: Rudolf Muhr: Deutsch in Österreich - Österreichisch: Zur Begriffsbestimmung
und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In: Grazer Arbeiten zu Deutsch als Fremd-
sprache und Deutsch in Österreich 1 (1987, 21990), S. 7.).
SESSEL STUHL
Österreich für 1 Person konzipiertes, auch: bequemes, außerge-
vierbeiniges Sitzmöbel ohne wöhnliches Sitzmöbel
Polsterung/Komfort, mit
Rückenlehne
Deutschland für 1 Person konzipiertes, für 1 Person konzipiertes, vier-
vierbeiniges Sitzmöbel mit beiniges Sitzmöbel ohne Polste-
obligatorischem Komfort rung
(Polsterung, Armlehne) und
Rückenlehne
5
Es handelte sich Prospekte der folgenden Firmen: Bettenreich Dibelka, Büttinghaus, Gröbl Möbel,
Hellweg, Ikea Österreich, Imo, Kika, Leiner, Lutz, Mobelix und Möma.
6
Es wurden folgende Wörterbücher verwendet:: Jakob Ebner, Wie sagt man in Österreich; DUDEN -
Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hrsg. u. bearb. v.
Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung v. Günther
Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1980; Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als
Fremdsprache. Das neue einsprachige Wörterbuch für Deutschlernende. Hrsg. v. Dieter Götz,
Günter Haensch u. Hans Wellmann. In Zusammenarbeit mit der Langenscheidt-Redaktion. Leitende
Redakteure Vincent J. Docherty u. Günther Jehle. Berlin, München, Leipzig [u. a.]: Langenscheidt
1993; Österreichisches Wörterbuch. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und
Kunst. 35., völlig neu bearb. Aufl. Wien: Bundesverlag 1979 sowie 36., überarbeitete Aufl. 1985.
Sessel ist, sondern ein Fauteuil. Die Verwirrungen, die sich daraus ergeben können,
lassen sich leicht ausmalen: Man stelle sich vor, bei der Warenausgabe eines Grazer
Möbelhändlers wird die Abholung des gemäß Werbebroschüre bestellten Sessels
urgiert, bis das Lagerpersonal verzweifelt mitteilt, unter dem genannten
Kundennamen sei nur ein Polsterstuhl bzw. ein Fauteuil abholbereit.
Diese an und für sich schon komplizierte Situation wird durch marketingstrate-
gisch - bzw. werbewirtschaftlich bedingte "Pseudosynonymie" nicht gerade einfacher.
So fand ich z. B. auf Katalogseiten neben sechs Sesseln im bundesdeutschen Sinn
dann doch wieder ein Fauteuil, mit einer andersfärbigen Polsterung als einzigem
Unterscheidungsmerkmal. Und wenn ein Grazer Möbelhaus zwischen mehreren
überraschenderweise "österreichisch" bezeichneten Sesseln dann als "Preishit des
Monats" doch wieder den Bauernstuhl anbietet, entbehrt das nicht einer gewissen -
wohl unbeabsichtigten - kabarettistischen Qualität.
Es zeigt sich, daß das untersuchte Werbematerial diverser Möbel- und Einrich-
tungshäuser in hohem Ausmaß der bundesdeutschen Norm folgt. Ungepolsterte,
vierbeinige Sitzmöbel mit Rückenlehne, auf denen 1 Person Platz findet, werden dort
fast ausschließlich mit der Bezeichnung Stuhl bedacht. Demgegenüber ergibt die Be-
fragung der Gewährspersonen unserer Erhebung anhand von entsprechendem Bild-
material zu 70 % die Bezeichnung Sessel. 58 % schließen für sich in der mündlichen,
56 % in der schriftlichen Standardsprache die Verwendung des Wortes Stuhl für
dieses Möbelstück völlig aus und 86 % aller Befragten nennen Sessel "österreichisch".
Die semasiologisch ausgerichtete Befragung nach den Merkmalen von "Stuhl"
bzw. "Sessel" ergibt (vgl. Tab. 2.), daß 48% der Befragten mit Stuhl ein außerge-
wöhnliches Sitzmöbel (spezielle Funktion, Bequemlichkeit) verbinden, für 52 % steht
dieses Wort synonym zu Sessel.
7
Als Bezeichnung eines für 1 Person konzipierten Sitzmöbels ohne Polsterung/Komfort, mit
Rückenlehne.
Die Umfrage ergibt hier onomasiologisch und spontan mit 74% das Wort
Fauteuil, der Rest nennt Polsterstuhl oder Polstersessel. Demgegenüber findet sich im
Werbematerial in dieser Bezeichnungsfunktion zu 80 % das bundesdeutsche Sessel,
nur knappe 15 % der Eintragungen lauten auf Fauteuil. Zu beachten ist auch die
unterschiedliche Bereitschaft, das Wort "Fauteuil" schriftsprachlich (63%) und im
mündlichen Standard (75%) zu verwenden.
Während sich jedoch für ein derartiges Möbelstück immerhin noch jeder dritte
Grazer schriftlich, jeder vierte mündlich die Bezeichnung Polsterstuhl oder Polster-
sessel unter Umständen vorstellen kann, wird die Bezeichnung "Sessel" in diesem Fall
von den Befragten zu 100% abgelehnt, während in den Katalogen gerade diese am
häufigsten vorkommt. Daran zeigt sich, daß die Befragten den bundesdeutschen
Sprachgebrauch (noch) nicht übernommen haben. Allerdings ergab die altersbe-
zogene Auswertung, daß jene 2/3 der Gewährspersonen, die Fauteuil als typisch
österreichisch empfinden, vor allem Grazerinnen und Grazer im Alter von über 30
Jahren sind. Die anderen 34%, die Polstersessel / Polsterstuhl als "österreichisch"
nennen, rekrutieren sich nahezu ausschließlich aus der Altersgruppe unter 30 Jah-
ren, was darauf hindeutet, daß auch hier der linguistische Erosionsprozeß der all-
mählichen Angleichung an den bundesdeutschen Sprachgebrauch bereits begonnen
8
(Stuhl impliziert Plus an Bequemlichkeit und Funktion.)
9
Dazu gehörten z.B. "Polsterstuhl" "Polstersessel" u.a.
hat, an deren Ende auch in Österreich - analog zum bundesdeutschen Lexikon - das
Wort Fauteuil als veraltet angesehen wird.
3.3 Die Bezeichnungen "Kasten / Schrank"
Wie steht es weiters um die Verwendung des erst seit spätmittelhochdeutscher
Zeit im heutigen Sinne verwendeten Wortes Schrank im Verhältnis zu Kasten?
Die Primärbedeutung von Kasten ist in der Bundesrepublik Behälter (z. B. für
die Aufbewahrung und den Transport von Getränkeflaschen). Diese Bedeutung wird
in Österreich vom Wort Kiste abgedeckt. Ein "Kasten" ist in Österreich hingegen das,
was man in Deutschland einen "Schrank" nennt. Ein "höheres, kastenartiges, mit
Türen versehenes, meist verschließbares Möbelstück zur Aufbewahrung von Klei-
dern, Geschirr, Büchern u. ä.". Im ÖWB wird dieser Ausdruck mit Asterisk versehen
und steht somit in dieser Bedeutung als "bundesdeutsch" dem österreichischen Kasten
gegenüber. Ähnlich wie bei Sessel / Stuhl wird diese Opposition bei Komposita und
im Bereich der metaphorischen Verwendung wieder aufgehoben. In Österreich gibt
es daher beispielsweise auch den Geldschrank oder Wandschrank und die Zusam-
mensetzungen Geigenkasten, Werkzeugkasten, Karteikasten. Und ein baufälliges
Haus ist hierzulande wie in Deutschland ein alter Kasten, ebensolches gilt für phra-
seologische Ausdrücke wie etwas auf dem Kasten haben.
Tabelle 6: Ergebnisse der Befragung zur Bezeichnung einer "Stoffhülle, die mit weichem
Material (z. B. Federn) gefüllt ist und als Kopfunterlage dient"
Polster Kissen beides
Werbematerial 24% 76% -
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmaterial 78% 22% -
mündl. Standard 72% 18% 10%
schriftl. Standard 53% 28% 19%
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 100% 0% 0%
Auffallend ist auch, daß deutlich weniger Gewährspersonen - nur ca. die Hälfte
- bereit sind, das Wort "Polster" auch schriftsprachlich zu verwenden. Dies ist ein
Zeichen dafür, daß der eigenen Sprache ein niedrigerer Status zugesprochen wird,
denn der bundesdeutsche und der schriftsprachliche Ausdruck bzw. der österrei-
chische und mündlich gebrauchte fallen jeweils zusammen.
3.5 Die Bezeichnungen "Lampe / Leuchte" und "Abwasch /
Spüle"
Zum Abschluß möchte ich noch zwei besonders markante Fälle der Diskrepanz
zwischen der im Werbematerial praktizierten bundesdeutschen Norm und der
sprachlicher Realität in Österreich herausgreifen.
Für "elektrische Geräte, die Licht erzeugen und mit nur einer Glühbirne ausge-
stattet sind", findet sich in Katalogen und Broschüren zu 80 % der ursprünglich aus
der technischen Fachsprache stammende und nun in der Bundesrepublik bereits
standardisierte Begriff Leuchte, und zwar als Hänge-, Tisch-, Küchenleuchte und
Schreibtischleuchte etc.
Meine Befragungsdaten weisen demgegenüber mit 96 % als spontane Bezeich-
nung von Bildmaterial das Wort Lampe aus. Die Gewährspersonen nannten dieses
Wort zu über 90% als dasjenige, das sie standardsprachlich mündlich und schriftlich
verwenden würden. Denn der Gebrauch von Leuchte beschränkt sich in Österreich
auf die metaphorische oder ironische Bezeichnung für einen Menschen mit beson-
derer intellektueller Qualität. Die Sprache der Möbelkataloge ist in diesem Punkt ge-
radezu "exterritorial".
Damit scheint für Lampe ein Schicksal vorgezeichnet, das sich für den im ÖWB
verzeichneten Ausdruck Abwasch schon erfüllt hat: In keinem einzigen Exemplar der
von mir untersuchten Werbebroschüren, Flugblätter und Kataloge wird die Be-
zeichnung Abwasch verwendet. Stattdessen findet man dort in der typisch österrei-
chischen Küche neben dem Schrank, der Küchenleuchte und den Stühlen zu guter
letzt doch noch die obligatorische Spüle, die man sowohl im ÖWB als auch in der
Standardsprache des Österreichers vergeblich suchen wird, weil sie einfach unge-
bräuchlich ist.
4. Zusammenfassung
Mit dieser kleinen Untersuchung wollte ich anhand einiger weniger Beispiele
zeigen, daß im Werbematerial, das Einrichtungs- und Möbelhäuser in Graz zur Ver-
teilung bringen, die Waren überwiegend nicht mit jenen Bezeichnungen angeführt
sind, die man in Graz als Standard spricht und schreibt. Es wird - auch von aus-
schließlich am lokalen Markt präsenten Möbelhäusern - in überproportional hohem
Maße die bundesdeutsche Norm verwendet. Das österreichische Lexikon dient - im
bescheidenen Ausmaß - wohl primär der Konsumstimulation durch Bezeichnungs-
variation, die Artikelvariation suggerieren soll. Da sich jedoch die vermeintliche
Synonymie einzelner österreichischer und bundesdeutscher Wörter bei differen-
zierter Analyse als komplexer erweist, als gemeinhin (d. h. aus monozentrischer Per-
spektive) in bezug auf "Austriazismen" angenommen wird, kann es - man denke an
Sessel / Fauteuil / Stuhl - durchaus zu handfesten Mißverständnissen oder auch
Phänomenen wie dem "semantic muddle"10 kommen.
Es ist anzunehmen, daß die Diskrepanz zwischen der schriftsprachlichen Be-
vorzugung bundesdeutscher Normen, die im Gegensatz zu österreichischen Stan-
dardvarianten und dem realen Sprachgebrauch steht, weder auf Graz noch die Be-
zeichnungen in Möbelkatalogen begrenzt ist. Die Gründe oder Motive für diesen
permanenten Bruch der sprachlichen und auch sozialen Konventionen dürfte im Be-
reich der nichtgefestigten sprachlichen Identität der Österreicher bzw. im Kontext
der sozialpsychologischen und sprachpolitischen Situation zu suchen sein, die nach
Clyne (1992) zwischen "D(ominanten) und A(nderen) Nationalvarietäten" innerhalb
plurizentrischer Sprachen weltweit zu beobachten ist.11
Man sollte daher weder voreilig von "Sprachimperialismus" oder von
"Sandkastenspiele[n] an der "Sahne-[...] Schlagobersfront"12 sprechen, noch mit
Feindbildern wie dem "häßlichen Deutschen" bzw. mit quasi-biologistischen Ver-
schleierungstheorien operieren, wonach sich "diese binnendeutschen Einflüsse heute
gewissermaßen als natürliche Vorgänge" vollzögen. Nichts davon trägt zur wis-
senschaftlich relevanten Beschreibung der Situation bei. Gerade eine solche aber -
abseits von Ideologisierung, Polemisierung, Pauschalierung und Simplifizierung -
hätte sich das österreichische Deutsch verdient.
Dies gilt umso mehr, als sich aus multinationalen, global-ökonomisch-poli-
tischen Organisationsformen und der elektronischen Kommunikationsrevolution
sowie aus dem Druck des US-amerikanischen Englischen, linguistische
Nivellierungstendenzen andeuten, deren möglicherweise dramatische Konsequenzen
für quantitativ unbedeutende, regional begrenzte Sprachen noch gar nicht abzusehen
sind.
10
Clyne (1989).
11
Vgl. dazu M. Clyne (1993:5): Die österreichische Nationalvarietät des Deutschen im wandelnden
internationalen Kontext.
12
Vgl. dazu Schmid (1990) und Scheuringer (1989).
Literatur
CLYNE, Michael (1989): Pluricentricity: National Variety. In: Status and Function of
Languages and Language Varieties. Hrsg. v. Ulrich Ammon. Berlin: de Gruyter. S.
357-371.
CLYNE, Michael (1992): German as a pluricentric language. Differing Norms in
Different Nations. In: Ders. (ed.): Pluricentric Languages. Berlin u. New York: de
Gruyter. S. 117-149.
CLYNE, Michael (1993): Die österreichische Nationalvarietät des Deutschen im wan-
delnden internationalen Kontext. In: Muhr (1993), S. 1-6.
DRESSLER, Wolfgang U. u. WODAK, Ruth (1983): Soziolinguistische Überlegungen
zum österreichischen Wörterbuch. In: Parallela. Akten des 2. Österreichisch-
Italienischen Linguistentreffens, Roma, 1.-4.2.1982. Hrsg. v. M. Dardano. [u. a.]
Tübingen: Narr, S. 247-260.
EBNER, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2., vollst. überarb. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1980. (=
Duden Taschenbücher.8.)
MOSER, Hans (1990): Deutsche Standardsprache - Anspruch und Wirklichkeit. In:
Tagungsbericht der IX. Internationalen Deutschlehrertagung Wien 31.7. -
4.8.1989. Wien: Internationaler Deutschlehrerverband, S. 17-30.
MUHR, Rudolf (1982): Österreichisch. Anmerkungen zur linguistischen Schizo-
phrenie einer Nation. In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8 , Bd 1,
S. 306-319.
MUHR, Rudolf (1989): Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache - Gespal-
tenes Bewußtsein - Gespaltene Identität. In: IDE / Klagenfurt 2 (1989), S. 74-87.
MUHR, Rudolf (1987/1990): Deutsch in Österreich - Österreichisch: Zur Begriffs-
bestimmung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In: Grazer
Arbeiten zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch in Österreich 1 (1987,
21990), S. 1-23.
MUHR, Rudolf (1984): Über das Für und Wider der Kritik am österreichischen Wör-
terbuch. In: Informationen zur Deutschdidaktik 4 (1984), S. 134-138.
MUHR, Rudolf (1993): Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und
seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
ÖSTERREICHISCHES WÖRTERBUCH. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für
Unterreicht und Kunst. 35., völlig neu bearb. Aufl. Wien: Bundesverlag 1979
sowie 36., überarbeitete Aufl. 1985.
POLENZ, Peter von (1988): "Binnendeutsch" oder Plurizentrische Sprachkultur? Ein
Plädoyer für Normalisierung in der Frage der "nationalen" Varianten. In: ZGL 16,
S. 198-218
SCHEURINGER, Hermann (1988): Powidltatschkerl oder Die kakanische Sicht aufs
Österreichische. In: Jb.f.Intern. Germanistik 1, S. 63-71.
SCHMID, Georg (1990): ... sagen die Deutschen. Annäherung an eine Geschichte des
Sprachimperialismus. In: Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges
Verhältnis. Hrsg. v. Oliver Rathkolb und Georg Schmid. Salzburg: Otto Müller. S.
23-35.
Ingo Reiffenstein
(Salzburg)
1. Neubeginn 1951
Das ”Österreichische Wörterbuch” trat 19511 an die Stelle der bis 1938 für die
Schulen verbindlichen österreichischen ”Regeln für die deutsche Rechtschreibung
nebst Wörterverzeichnis”; dieses Buch war zuerst 1879 (ein Jahr vor dem Duden!)
unter dem Titel ”Regeln und Wörter-Verzeichnis für die deutsche Rechtschreibung”
im k.k. Schulbücher-Verlag in Wien erschienen.2 Der neue Buchtitel entsprach einem
neuen bzw. einem erweiterten Konzept und Anspruch: nicht mehr nur Wörter-
verzeichnis als ergänzender Belegteil zu einem orthographischen Regelwerk, sondern
Wörterbuch der Sonderausprägung des Deutschen in Österreich. Es blieb zwar einer-
seits ”in erster Linie ein Rechtschreibbuch” (S. 5), aber es wollte zugleich auch ”bis
zu einem gewissen Grad [... ein] Stilwörterbuch” sein (S. 7*), ”ein Wörterbuch der
guten, richtigen deutschen Gemeinsprache”, allerdings unter besonderer Be-
rücksichtigung der österreichischen Besonderheiten. Zu diesem Zweck wurden auch
”zahlreiche allgemein verwendete Wörter der österreichischen Umgangssprache und
der österreichischen Mundarten” aufgenommen (S. 6*).3
1
Österreichisches Wörterbuch 1951, im folgenden zit. nach der 19. unveränderten Auflage (o.J.).
2
Möcker 1980, 419.
3
Eine Geschichte des Österreichischen Wörterbuches und seiner (anonymen!) Autoren fehlt.
Hinweise bei Sluga 1989, 44 ff.; Wiesinger 1980, 367 f.; Reiffenstein 1983, 17 f.
4
Mitherausgeber wohl deshalb, weil als Herausgeber das Bundesministerium für Unterricht und Kunst
fungiert; allerdings heißt es auf dem Titelblatt: herausgegeben im Auftrag des BMUK. Das Vorwort
unterzeichnen bis zur 34. Auflage ”Die Verfasser und die Herausgeber”, in der 35. und 36. Auflage
”Die Verfasser”. Für das Vorwort der 37. Auflage zeichnet niemand mehr verantwortlich; im letzten
Absatz wird jedoch ”der Dank der Redaktion und der Verfasser” ausgedrückt. Vermutlich sind die
”Verfasser” und die ”Mitherausgeber” identisch. Seit der 36. Auflage (1985) scheint als vierter
Mitherausgeber Otto Back auf.
-160-
5
Duden 1991.
6
Duden 1983.
Dafür ist der erfaßte Lexikon-Ausschnitt zu schmal. Ein solches Wörterbuch dürfte
kaum weniger als 100.000 Lemmata umfassen.
2.1 Eine denkmögliche Alternative
Da die deutsche Orthographie in Österreich nicht von der gemeindeutschen
abweicht, könnte ich mir auch eine ganz andere Befriedigung der gerade genannten
Bedürfnisse vorstellen: dem Rechtschreibunterricht wird auch in Österreich der Du-
den zugrunde gelegt, der sich von seinem Umfang her tatsächlich als ”Buch fürs
Leben” eignet (und in österreichischen Ämtern, Redaktionen und auf privaten
Schreibtischen ja auch tatsächlich diese Aufgabe erfüllt). Der spezifisch öster-
reichische Wortschatz (maximal etwa 10.000 Lemmata) wird in einem guten Wör-
terbuch dargestellt, das wirklich den Ansprüchen an ein einsprachiges Wörterbuch
gerecht wird. Wie da z.B. die Abgrenzungen, Verzahnungen und Beziehungen von
und mit dem deutschen Wortschatz in Deutschland darzustellen wären, hat Jakob
Ebner in einem wichtigen Beitrag 1988 dargestellt.7 Die Erstellung eines solchen
Österreichischen Wörterbuches wäre ein lohnendes Ziel der österreichischen
Sprachgermanistik. Einstweilen bietet das Duden-Taschenbuch von J. Ebner8 einen
sehr brauchbaren, freilich erweiterungs- und verbesserbaren Ersatz für ein größeres
Wörterbuch. Das neue Duden-Taschenbuch von Kurt Meyer (”Wie sagt man in der
Schweiz?”)9 enthält für einen Ausbau des Buches von Ebner wertvolle Anregungen.
Ein größeres Wörterbuch des Deutschen in Österreich sollte auch den spezifischen
Wortschatz der österreichischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts aufnehmen.
2.2 Von der 35. zur 37. Auflage
Aber ich habe hier nicht von Zukunftsplänen und von Unterlassungen der
eigenen Zunft zu reden, sondern von dem real existierenden Österreichischen Wör-
terbuch, und zwar in seiner 37. Auflage (1990). Im Kern ist es unter den gegebenen
Bedingungen und Möglichkeiten ein durchaus brauchbares Buch. Im Prinzip stimme
ich der seit der 35. Auflage vorgenommenen Wortschatzerweiterung auch auf um-
gangssprachliches Wortgut und der größeren Toleranz gegenüber Varianten auf ver-
schiedenen Ebenen zu. Beides entspricht einem Normenverständnis, das ich teile. Im
einzelnen läßt sich freilich sehr Vieles verbessern. Die 35. Auflage ist überwiegend
heftig kritisiert worden.10 Einhellig und zurecht ist die fehlende Kennzeichnung der
Sprach- und Stilebenen beanstandet worden. Die Bearbeiter des Österreichischen
Wörterbuches haben schon in der 36. Auflage auf diese Kritik positiv reagiert und
7
Ebner 1988.
8
Ebner 1980.
9
Meyer 1989.
10
Vgl. Sluga 1989 (im Urteil nicht immer sicher); Wiesinger 1980; Fröhler 1982. Es ist hier nicht der
Platz, die z.T. emotionale Kritik einer neuerlichen Kritik zu unterziehen; vgl. auch Reiffenstein 1983,
18 und Anm. 14-16.
11
Z.B. wurde in der 35. Auflage die etwas altmodische Markierung ”Dichterspr.” (S. 10) eingeführt, z.B.
für Aar, Kämpe. In der 37. Auflage wurde diese Markierung durch die in Wörterbüchern übliche
Kennzeichnung ”gehoben” (geh.) ersetzt, vgl. S. 16.
12
In der Diskussion hat Herr Dr. Fussy von der Wörterbuchstelle des Österreichischen
Bundesverlages allerdings bereits für die nächste Auflage eine Umfangserweiterung auf ca. 70.000
Lemmata (also fast eine Verdoppelung des Lemmabestandes!) angekündigt.
13
Forer/Moser 1988; Metzler 1988; vgl. auch das Referat von Hans Moser in diesem Band.
3.3 Ostlastigkeit
In diesem Zusammenhang ist auch auf die ausgeprägte und oft nicht hinrei-
chend markierte Wien- und Ostösterreich-Lastigkeit hinzuweisen. Gelegentlich sind
umgangssprachliche Wörter als ”ostösterr.” markiert, oft aber bei gleicher Geltung
nicht: Hetschepetsch ist nicht das ”ugs.” Wort für Hagebutte, sondern das ”ostösterr.
ugs.”; der Fleischhauer ist zutreffend als ”ostösterr.” ausgewiesen, der Rauchfang-
kehrer und die Ribisel ‘Johannisbeere’ nicht (und der westösterreichische Kamin-
kehrer nicht einmal gebucht). Aber darüber wird Hans Moser sprechen.
Gewiß ist auf diesem Gebiet noch viel an empirischer Arbeit zu leisten. Man
kann den Bearbeitern aber den Vorwurf nicht ersparen, auch vorhandene Informa-
tionsquellen nicht hinreichend genützt zu haben.15 Ohne neue Erhebungen wird es
jedenfalls nicht gehen.
3.4 Unösterreichische Wörter
Seit 1951 war es ein aus der damaligen politischen Situation verständliches An-
liegen des Österreichischen Wörterbuches, unösterreichische deutsche Wörter, d.h.
solche, deren Gebrauch in Österreich unüblich ist, durch einen Asterisk zu markie-
14
Meyer 1989, 15 f. und Anm. 7.
15
Z.B. Eichhoff 1977/78; auch der Deutsche Wortatlas von Walther Mitzka (und Ludwig Erich Schmitt),
Gießen 1951-1980, enthält viele verwertbare Informationen, auch wenn er in erster Linie
mundartlichen Sprachgebrauch erfaßt und die Verhältnisse von 1939/41 dokumentiert.
ren, zu stigmatisieren. Im Zug der Neubearbeitung von 1979 wurden auch diese
Markierungen etwas vermehrt; sie betreffen aber selbst in der 35. Auflage nur ca.
120 Wörter, und seither wurden einige Markierungen wieder gestrichen. Prinzipiell
ist dagegen auch heute nichts einzuwenden, und über viele Wörter wird es auch
keine Meinungsunterschiede von Bregenz bis Wien geben (z.B. bei Apfelsine, Apri-
kose, Quark, Klempner, Sonnabend usw.). In anderen Fällen ist die Situation aus
verschiedenen Gründen problematischer: wenn Sahne mit Sternchen markiert wird,
dann steht dem entgegen, daß man in wahrscheinlich allen österreichischen Kaffee-
häusern (jedenfalls im Westen bis Oberösterreich, aber auch in Graz) zum Kaffee
Sahne bekommt (auf den von den Molkereien verpackten Portionen steht allerdings
”Kaffeeobers”); auch die Käsesahnetorte hat sich weitgehend durchgesetzt, die ja
nicht einfach ein Topfenkuchen ist. Bei Tomate, Müll, Gardine, Schrank u.a. hat das
Österreichische Wörterbuch seit der 36. Auflage Wiesingers Kritik16 Rechnung ge-
tragen und das Sternchen gestrichen. Unverständlich ist mir, warum in die 37. Auf-
lage erstmals das Lemma Aubergine (ohne Sternchen) aufgenommen wurde; dafür ist
m.W. in ganz Österreich Melanzani üblich (das in keinem der Duden-Wörterbücher
aufscheint, was korrigiert werden sollte; vgl. auch Ebner 1980, 125 f.).17 Anders liegt
die Sache, wenn nur bestimmte Bedeutungen unösterreichisch sind, z.B. Anlage für
österreichisch Beilage (zu einem Brief); in den anderen Bedeutungen ist das Wort
aber auch in Österreich allgemein üblich. Solche Verhältnisse lassen sich nur in
ausführlicheren Wörterbuchartikeln darstellen. Ebner (1988) bietet dafür gute Bei-
spiele. - Wenn man der Anpassung an bundesdeutschen Sprachgebrauch wehren
will, dann sollte man m.E. nicht nur auf die gastronomischen Schibboleths achten,
sondern auch auf andere Phänomene, die in Österreich (noch) nicht üblich sind, z.B.
langgehen (wissen, wie es langgeht), hochgehen, -steigen für hinauf-, mal für
einmal, klammheimlich, Häme u.v.a.
3.5 Toleranz gegenüber Varianten
Viel Kritik hat die 35. Auflage auch für ihre tolerante Einstellung gegenüber
Varianten der Schreibung, des Genusgebrauchs, der Kasusrektion bei einigen Prä-
positionen u.a. erfahren. Ich halte auch in diesem Punkt die liberale Haltung des
Österreichischen Wörterbuches im Prinzip für richtig, ohne in allen Einzelheiten zu-
zustimmen. Orthographische Dubletten betreffen vor allem die Schreibung von
Wörtern der Umgangssprachen und der Mundarten, z.B. Binkel, P-; Bichl, P-;
Flachse, -x-; Glumpert, Kl-.18 Wenn solche Wörter ins Wörterbuch aufgenommen
16
Wiesinger 1980, 370 ff.
17
Ein differenziertes Modell zur Kennzeichnung jener Wörter (Entsprechungen), die den
Deutschschweizern nicht oder weniger geläufig sind, findet bei Meyer 1989 Anwendung
(Erläuterungen S. 18 f.): -: auch in der Schweiz neben dem Helvetismus üblich (in Österreich z.B.
Paradeiser - Tomate, Kasten - Schrank); //: in der Schweiz gar nicht üblich (österreichisch z.B.
Orange // Apfelsine, Marille // Aprikose, Samstag // Sonnabend); //: in der Schweiz deutlich weniger
angewendet als der Helvetismus (österreichisch z.B. Rahm oder Obers // Sahne, Semmel //
Brötchen).
18
Vgl. auch Möcker 1980, 420 f.
werden, wäre es für die Benützer hilfreich, e i n e Form zu normieren und die
Schreibvarianten lediglich als Verweislemmata aufzunehmen. Ein Wörterbuch, und
erst recht ein Schulwörterbuch, kann sich von der Pflicht zu normieren nicht absen-
tieren. Anders steht es mit dem Genusgebrauch; wenn man da bei Schwankungen
nicht (wie bisher überwiegend) strikt normieren will, müßte empirisch erhoben
werden, was als standardsprachlich akzeptiert wird und was nicht. Wenn für Joghurt
und für Quargel gleich alle drei Genera zur Wahl angeboten werden, dann scheint
mir die Liberaliät übertrieben zu sein. Schwankungen von Genetiv und Dativ nach
einigen Präpositionen (bes. dank, trotz, während, wegen) haben eine lange
Geschichte.19 Seit 200 Jahren präferieren die Grammatiker den Genetiv. Daß sie sich
nicht völlig haben durchsetzen können, beweist, wie fest auch der Dativ im
Sprachgebrauch verankert ist. Die Behandlung der Präpositionen im Österreichischen
Wörterbuch unterscheidet sich im übrigen nicht von der im Duden.
4. Schlußfolgerung
Ich ziehe aus meinen Überlegungen das folgende Fazit: Das Österreichische
Wörterbuch ist ein brauchbares und, leider nur in einem begrenzten Bereich, not-
wendiges Buch. Es ließe sich ohne strukturelle Eingriffe freilich erheblich verbessern.
Das herausgebende Bundesministerium für Unterricht und Kunst und der Verlag
wären gut beraten, wenn sie dazu die Hilfe der österreichischen Universitäts-
germanistik und Lehrerschaft in Anspruch nehmen würden.
Literatur:
Duden (1991). Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Aufl. Mann-
heim/Leipzig/Wien/Zürich (Duden 1).
Duden (1983). Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. [...] von Günther Drosdowski.
Mannheim/Wien/Zürich.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich. (Duden-Taschenbücher 8).
Ders. (1988): Wörter und Wendungen des österreichischen Deutsch. In: Wiesinger
1988, S. 99- 187.
Eichhoff, Jürgen (1977/78): Wortatlas der deutschen Umgangssprache. 2 Bde.
Bern/München.
Forer, Rosa/ Moser, Hans (1988): Beobachtungen zum westösterreichischen Sonder-
wortschatz. In: Wiesinger 1988, S. 189-209.
Fröhler, Horst (1982): Zum neuen Österreichischen Wörterbuch (35. Aufl. 1979).
Acht Thesen über seine Mängel und über deren Beseitigung. In: Österreich in
Geschichte und Gegenwart 26, S. 152-183.
Metzler, Karin (1988): Das Verhalten Vorarlbergs gegenüber Wortgut aus Ostöster-
reich, dargestellt an Beispielen aus dem Bezeichnungsfeld ”Essen, Trinken,
Mahlzeiten”. In: Wiesinger 1988, S. 211-223.
19
Vgl. Paul 1958, 43 ff.
Meyer, Kurt (1989): Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen
Besonderheiten. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich. (Duden-Taschenbücher 22).
Möcker, Hermann (1980): ”Fahren Sie schon Rad, oder fahren Sie noch rad?”
Grammatische und orthographische Beobachtungen am neuen Österreichischen
Wörterbuch. In: Österreich in Geschichte und Gegenwart 24, S. 416-445.
Österreichisches Wörterbuch (1951). Mittlere Ausgabe. Hrsg. im Auftrage des Bun-
desministeriums für Unterricht. 19. unveränderte Aufl. Wien o.J. (1. Aufl. 1951).
Österreichisches Wörterbuch (1979). Hrsg. im Auftrag des Bundes ministeriums für
Unterricht und Kunst. 35., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. [Redaktion:
Wörterbuchstelle des Österreichischen Bundesverlages unter Mitwirkung einer
Expertenkommission. Mithrsg.: Erich Benedikt, Maria Hornung, Ernst Pacolt].
Wien 1979.
Dasselbe (1985), 36., überarbeitete Aufl. [bei den Mithrsg. zusätzlich: Otto Back].
Wien.
Dasselbe (1990), 37., überarbeitete Aufl. Wien.
Paul, Hermann (1958): Deutsche Grammatik. 4. Bd. (Syntax, II.). 4. Aufl. Halle.
Reiffenstein, Ingo (1983): Deutsch in Österreich. In: I.R., Heinz Rupp, Peter von
Polenz, Gustav Korlén, Tendenzen, Formen und Strukturen der deutschen Stan-
dardsprache nach 1945. Marburg 1983. (Marburger Studien zur Germanistik
3), S. 15-27.
Sluga, Maria Theresia (1989): Die Diskussion um das Österreichische Wörterbuch.
Diplomarbeit (masch.) Wien.
Wiesinger, Peter (1980): Zum Wortschatz im ”Österreichischen Wörterbuch”. In:
Österreich in Geschichte und Gegenwart 24, S. 367-397.
Ders. (Hrsg.) (1988): Das österreichische Deutsch. Wien/Köln/Graz. (Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12).
Hans Moser
(Innsbruck)
Der Begriff "österreichisches Deutsch" kann auf zweierlei Art definiert werden:
entweder als die Gesamtheit aller jener sprachlichen Ausdrucksformen, die Anspruch
auf gesamtstaatliche Geltung erheben und die Standardsprache in Österreich von der
anderer deutscher Staaten oder Regionen unterscheiden (Schibbolethdefinition) oder
als die Gesamtheit der Sprachformen, die (irgendwo) in Österreich zum Standard ge-
hören oder ihm nahe stehen, mit oder ohne Entsprechungen außerhalb Österreichs.
Geht man von der zweiten Definition aus - was ich tun möchte - dann müßten
nach M. Clyne (1995:60) die Österreicher ihren Anspruch, eine nationale Varietät
des Deutschen zu sprechen und zu schreiben, ausdrücklich deklarieren und sie
müßten definieren, was Bestandteil dieser Varietät ist - Deklaration des Status also
und Definition des Corpus.
Die Deklaration des Status steht im öffentlichen Bewußtsein auf etwas wacke-
ligen Beinen. Wie die Arbeit von Moosmüller (1991:23 ff.) gezeigt hat, neigt man vor
allem in Ostösterreich dazu, diesen Status in Anspruch zu nehmen - und zwar für
eine wienerisch-mittelbairisch geprägte Varietät, wie sie von geübten Sprechern in
(halb)offiziellen Situationen zu hören ist. Sehr sicher ist der gestellte Anspruch offen-
bar nicht. Dazu paßt auch das Verhalten der Lehrbuchautoren. Mustert man nämlich
die österreichischen Lehrbücher für das Fach "Deutsch", wird man Auskünfte über
Begriffe wie "Einheitssprache, Dialekt, Slang" und "Jägersprache" finden, das Stich-
wort "österreichisches Deutsch" fehlt so gut wie ganz (Moser 1990:11). Beobachtet
man schließlich das Verhalten des ORF, des größten und einflußreichsten Modell-
Sprechers des Landes, dann spürt man die Unsicherheit über den Status in einem
eigentümlichen Schwanken zwischen Regionalismen und hyperkorrekten Formen
(Pollak 1992:87 ff.).
Diese Unsicherheit bezüglich des Status hat Ursachen. Die wichtigste davon ist,
daß die Corpusdefinition fehlt, daß nicht oder nicht ausreichend geklärt ist, was
österreichischer Standard ist.
Am extremsten gilt das für den Bereich der Aussprache. Hier hat I. Reiffenstein
schon 1982 festgestellt , dem österreichischen Deutsch komme die Son-
derstellung einer nationalen Variante gegenüber sonstigen Regionalvarianten (z. B.
Bayern, Schwaben, Rheinland)" zu (so auch Clyne 1982:54 ff.). Eine systematische
-168-
Beschreibung der Eigenheiten dieser Variante steht aber bis heute aus. Deshalb be-
schreibt R. Muhrs Feststellung, die Österreicher seien zwar "im allgemeinen" von der
Eigenständigkeit ihrer Sprache überzeugt, nach deren Eigenschaften befragt, seien sie
aber "alle miteinander ratlos" (1982:306), den Sachverhalt hinsichtlich der Aus-
sprache recht genau.
Eine solche systematische Beschreibung des österreichischen Aussprachestan-
dards wäre vor allem deshalb wichtig, weil sonst nicht zureichend geklärt ist, wo die
Grenze zwischen standardsprachlichen und Substandardlautungen im einzelnen
verläuft.
Solange diese Grenze nicht gezogen ist, wissen die Österreicher primär, daß sie
bestimmte Normen nicht erfüllen - in diesem Fall die Siebs- oder Dudennormen. Da
sie andererseits das Gefühl haben, daß die Befolgung mancher dieser Normen in
Österreich irgendwie unangemessen, affektiert, "unnatürlich" wäre, halten sie an
ihren Gebrauchsnormen fest. Sie haben dabei allerdings ein schlechtes Gewissen.
Denn sie sind zum allergrößten Teil mit einem mehr oder minder monozentrischen
Konzept der Standardsprache aufgewachsen, das "den Standard" als einen "Punkt"
ansieht, d.h. eine "Sprachvarietät ohne Varianten im Bereich der sprachlichen For-
men" (Bartsch 1987:244). Mit der Tatsache, daß der Standard "empirisch gesehen ein
Bereich" ist, der "eine Bandbreite von Variationen einschließt" (ebda), können sie
schwer umgehen. Das erklärt die Unsicherheiten und das Schwanken im ORF, das
erklärt auch das Schweigen der Schulbücher zum österreichischen Deutsch. Solange
es aber in den Schulen keine Aufklärung über die Eigenart der eigenen National-
varietät gibt, solange u. a. die hochfrequenten Eigenarten dieser Varietät im Bereich
der Aussprache nicht zureichend charakterisiert sind, wird das schlechte Gewissen,
wird das sprachliche Minderwertigkeitsgefühl nicht verschwinden.
Ich vermute, daß das Zögern in der Definition des Corpus auch damit zusam-
menhängt, daß man sehr lange von der Schibbolethdefinition des österreichischen
Deutsch ausgegangen ist und deshalb mit der sprachlichen Vielfalt innerhalb des
Landes nicht zurechtkommt. Geht man nämlich von dieser Definition aus, dann stellt
sich leicht das Gefühl ein, die Zahl der gemeinsamen Merkmale des Österreichischen
sei zu klein und es erwacht das Bedürfnis, sie anzureichern - am ehesten aus dem
dominanten Wienerisch-Ostösterreichischen, aber immer mit dem Bewußtsein, daß
es auch noch etwas anderes gibt - zum Beispiel den etwas wilderen Westen.
Im Bereich des Wortschatzes existiert eine amtliche Definition des österrei-
chischen Deutsch, das Österreichische Wörterbuch (ÖWB). Dort besteht also die Ge-
legenheit, die angesprochenen Vermutungen zu überprüfen, und ich will das im fol-
genden anhand einiger Beispiele auch tun. Ich stütze mich dabei im wesentlichen auf
eine Untersuchung zum westösterreichischen Sonderwortschatz, die ich gemeinsam
mit einer Kollegin vor etwa 10 Jahren durchgeführt habe (Forer - Moser 1988) und
auf die Diplomarbeit eines meiner Schüler, Gregor Retti (1991), der sich in einer
Untersuchung mit der Entwicklung, dem Wortbestand und dem Markierungssystem
Tabelle 2: Fortsetzung
Ich denke, schon ein erster Blick auf diese Liste zeigt, daß die adjektivische Be-
zeichnung "westösterreichisch" nicht so verstanden werden kann, als ob es so etwas
wie eine westösterreichische Spracheinheit gäbe. Die Zahl der Wörter ist gering, die
Einträge gehören fast ausschließlich in die Peripherie des Lexikons und sind hetero-
gen. Eine Umfrage in meinem Innsbrucker Bekanntenkreis hat überdies ergeben, daß
Tiroler native speakers eine Reihe dieser als westösterreichisch markierten Wörter
entweder nicht kennen (Gand, Lüngerl, pitzeln, Stickel, Stotz, Tschoche) oder nicht
gebrauchen (Gülle, schellen, Schotten, Zugehfrau).
Der Befund ist also recht deutlich und stimmt mit den Ergebnissen meiner
älteren Erhebung überein. Damals habe ich eine Zufallsstichprobe von 260 Wörtern
aus Jakob Ebners Duden - Bändchen "Wie sagt man in Österreich" von Tiroler und
Vorarlberger Gewährspersonen beurteilen lassen. Dabei stellte sich heraus, daß nur
der institutionell gestützte oder vermittelte Teil des Wortguts (derjenige also, der sich
aus der Tatsache der politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsmäßigen Einheit
des Staats ergibt) in beiden Bundesländern restlos geläufig ist. Immerhin betrug der
Anteil dieser Wörter in der Stichprobe etwa 40 %. Wenn man mit Peter Wiesinger
(1990:218) den österreichischen Sonderwortschatz mit ca. 4000 Wörtern veran-
schlagt, käme man hochgerechnet doch auf etwa 1500 Stichwörter, die man als
Austriazismen im engeren Sinn des Wortes bezeichnen könnte.
Anders verhält es sich beim alltagssprachlichen Wortschatz, vor allem beim
Wortgut, das in Ostösterreich aus den unteren Sprachschichten in den Bereich der
Standardsprache aufgestiegen ist. In diesem Fall zeigt die Auswertung der ange-
sprochenen Stichprobe, daß den Tirolern nur etwa 40 % der Wörter, den Vorarl-
bergern gar nur 15 % so geläufig waren, daß sie sich vorstellen konnten, sie auch zu
gebrauchen. Das bedeutet zunächst einmal, daß der Wortschatz von Tirolern und
Vorarlbergern zu stark voneinander abweicht, um so etwas wie eine westöster-
reichische Regionalsprache zu postulieren. Hauptgrund dafür ist, daß wegen der
Retti hat nämlich anhand eines Fragebogens von ca. 400 Items festgestellt, daß
von 72 Stichwörtern, die im Wörterbuch keinerlei Markierung aufweisen (weder
areal noch stilistisch), 27 der Hälfte der Gewährspersonen schlicht unbekannt waren.
Das untere Ende der Liste ist in der Tabelle 5 wiedergegeben:
b1 b2 b3 b4 b0 s1 s2 s3 s0 m1 m2 m3 m0
schlitzig 6 25 0 0 0 1 4 0 1 3 2 0 1
Drusch 5 26 0 0 0 3 2 0 0 3 2 0 0
stuppen 5 24 1 1 0 0 5 0 0 2 3 0 0
kirren 5 26 0 0 0 0 5 0 0 0 5 0 0
Büttel 5 23 3 0 0 0 5 0 0 0 5 0 0
jenisch 4 26 0 1 0 0 4 0 0 1 3 0 0
Zügenglöcklein 3 28 0 0 0 1 2 0 0 3 0 0 0
Koriandoli 3 28 0 0 0 1 2 0 0 2 1 0 0
Simperl 3 27 1 0 0 0 3 0 0 0 3 0 0
Fechsung 1 30 0 0 0 1 0 0 0 0 1 0 0
Bifang 1 30 0 0 0 0 1 0 0 1 0 0 0
zerspeilen 0 31 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Schaub 0 31 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Erläuterung zu den Siglen:
Bekanntheit: Schriftlicher Gebrauch (Voraussetzung: b1):
b1 = bekannt s1 = wird gebraucht
b2 = unbekannt s2 = wird nicht gebraucht
b3 = andere Bedeutung s3 = wird unter Bedingungen gebraucht
b4 = Wort bekannt, Bedeutung unbekannt s0 = keine Angabe
b0 = keine Angaben
Das erste dieser Wörter ist schlitzig, das ein westösterreichisches Pendant hat,
nämlich schlutzig. Wenn man unter schlutzig nachschlägt, dann findet man fol-
genden Eintrag: schlutzig (T, V, mda.): schlitzig, schlüpfrig. Der neugierige West-
österreicher, der schlitzig nicht kennt - und ich war bis vor kurzem ein solcher, ob-
wohl ich seit meinen Jugendtagen ein Freund typisch wienerischer Literatur zwischen
Nestroy und Qualtinger bin - schaut natürlich unter dieser Form nach, und findet
dort den Eintrag: schlitzig; der schlitzige (glitschige) Fisch; obwohl die Bedeu-
tungsangabe in der Klammer darauf hindeutet, daß die Autoren an der allgemeinen
Bekanntheit des Wortes zweifeln, keine areale, stilistische oder sonstige Markierung -
also gesamtösterreichischer Standard.
Das verstimmt den Westösterreicher - und zwar diesseits und jenseits des Arl-
bergs. Er bekommt dadurch den Eindruck vermittelt, das österreichische Deutsch
werde bei der Definition des Corpus stillschweigend mit dem ostösterreichischen,
letztlich dem wienerischen Sprachbrauch identifiziert. Der Verdacht liegt auch inso-
fern nahe, als die Verteilung der demographischen, politischen und institutionellen
Macht dafür alle Voraussetzungen bietet.
Jene Regionen Österreichs, die zur Peripherie gehören - und dazu gehört der
Westen, insbesondere Vorarlberg - sehen sich unter diesen Umständen gegenüber
dem ostösterreichischen Zentrum plötzlich in derselben Lage wie Österreich insge-
samt gegenüber der norddeutschen dominierten Norm des bundesrepublikanischen
Deutsch.
M. Clyne hat im Fall asymmetrischer Plurizentrizität zwischen dominanten (D-
Varietäten) und anderen Nationalvarietäten (A-Varietäten) unterschieden. Für die D-
Nationen gelten - nicht nur im Deutschen sondern generell - folgende Merkmale:
(Clyne 1995:62 f.):
Dominante Nationen - Andere Nationen
1. Die D-Nationen verwechseln häufig das Bestehen von spezifischen Merkmalen
einer Nationalvarietät, die ihre Sprecher als Mitglieder dieser Nation identifizie-
ren, mit der Zahl dieser Merkmale.
2. Die D-Nationen neigen dazu, aufgrund überschneidender Sprachmerkmale
Nationalvarietäten mit Dialekten (regionalen Varietäten) zu verwechseln.
3. Die D-Nationen betrachten sich gern als die alleinigen Normenträger und die
A-Varietäten als exotische, heimelige, charmante veraltete Abweichungen vom
Standard.
4. Die Normen der D-Nationen werden für strenger gehalten als die der A-
Nationen.
5. D-Nationen verfügen über die besten Mittel, ihre Varietäten zu exportieren, in-
dem sie Forschungs- und Sprachlehrinstitute erhalten und Grammatiken und
Wörterbücher bei Verlagen in D-Nationen erscheinen.
6. Es herrscht in D-Nationen die Vorstellung, daß sprachliche Variation in der
Standardsprache auf die gesprochene Norm beschränkt ist.
7. Die D-Normen sind bei den A-Nationen besser bekannt als umgekehrt."
Diese Merkmale charakterisieren sehr gut das Verhältnis von bundesdeutschem
und österreichischem Deutsch. Soweit es sich bei diesen Merkmalen um Einstellun-
gen handelt - und außer bei den Punkten 5 und 7, wo Sachverhalte angesprochen
werden, handelt es sich um Einstellungen - setzen sie ein Normverständnis voraus,
das erstens nicht empirisch, sondern präskriptiv und zweitens nicht plurizentrisch
sondern monozentrisch ist.
Ich würde also aus den vorangegangenen Beobachtungen - sie ließen sich übri-
gens unschwer vermehren - den Schluß ziehen: wenn man in M. Clynes Merkmal-
liste den Begriff "Nation" durch "Region" ersetzt, ist damit das Verhältnis der west-
lichen Bundesländer gegenüber dem Großraum Wien - Salzburg getroffen
(auszunehmen ist -leider- der Punkt 5.). M. Bürkle hat insofern für Vorarlberg zu-
recht die Formel "Peripherie der Peripherie" vorgeschlagen (1995:1ff.). Studiert man
b1 b2 b3 b4 b0 s1 s2 s3 s0 m1 m2 m3 m0
Plane 31 0 0 0 0 30 0 0 1 28 2 0 1
Delle 31 0 0 0 0 29 2 0 0 24 7 0 0
Pfütze 31 0 0 0 0 23 7 0 1 14 15 1 1
mulmig 31 0 0 0 0 22 9 0 0 28 3 0 0
Schlagsahne 31 0 0 0 0 21 9 0 1 15 15 0 1
Aprikose 31 0 0 0 0 21 10 0 0 10 19 0 2
Sahne 31 0 0 0 0 19 11 0 1 19 11 0 1
Typ 31 0 0 0 0 18 12 0 1 29 2 0 0
pinkeln 31 0 0 0 0 15 16 0 0 20 11 0 0
Flittchen 31 0 0 0 0 13 17 0 1 17 14 0 0
Nutte 31 0 0 0 0 12 19 0 0 19 12 0 0
pissen 31 0 0 0 0 6 25 0 0 10 21 0 0
deftig 30 0 0 1 0 24 5 0 1 24 6 0 0
garen 30 1 0 0 0 22 7 0 1 18 11 0 1
Korridor 30 1 0 0 0 19 10 0 1 12 17 0 1
Murks 30 1 0 0 0 8 21 0 1 25 4 0 1
Bulle 30 1 0 0 0 6 23 0 1 23 7 0 0
Hickhack 29 2 0 0 0 13 15 0 1 18 10 0 1
Pickel 28 2 0 0 1 25 3 0 0 26 2 0 0
Lache 27 4 0 0 0 12 14 0 1 11 15 0 1
Semikolon 24 6 0 1 0 13 10 0 1 5 18 0 1
staken 15 15 0 0 1 8 7 0 0 7 8 0 0
kirre 11 13 4 2 0 3 8 0 0 5 6 0 0
Etwa 50 % seiner Gewährspersonen geben also an, sie würden 2/3 dieser
Wörter mündlich und die Hälfte davon schriftlich gebrauchen. Weil es möglich, ja
sogar erbeten war, zu allen Wörtern Zusatzbemerkungen zu machen, läßt sich auch
sagen, daß bei etwa 2/3 dieser Westösterreicher wenigstens von einigen Gewährs-
personen die bundesdeutsche Herkunft erkannt wurde, bei 7 Stichwörtern allerdings
(Plane, mulmig, deftig, garen, Murks, Hickhack, Pickel) war auch das keiner einzigen
Gewährsperson bewußt.
Ich darf abschließend betonen, daß es mir nicht darum geht, das Österrei-
chische Wörterbuch madig zu machen. Ich wollte vielmehr wahrscheinlich machen,
daß es (noch) nicht frei von der Vorstellung ist, österreichisches Deutsch sei primär
das, was uns von allen anderen unterscheidet, daß es daher diese Unterschiede
überbetont, wodurch sich durch die Hintertür ein wienerischer Monozentrismus
einschleicht. Das ist zwar vermutlich nicht beabsichtigt, das beruht in vielen Fällen
vermutlich auf einem Fehlen von Informationen, weil es kein ausreichendes Corpus
gibt. Das schadet aber dem Ansehen des Wörterbuchs zumindest im Westen - selbst-
verständlich auch außerhalb Österreichs.
Es müßte zugegebenermaßen viel Vorarbeit geleistet werden, um die Beschrei-
bung des österreichischen Wortschatzes auf die nächsthöhere Stufe zu bringen. Dazu
müßte mit Sicherheit ein genaueres Wissen über die Gebrauchsnormen erarbeitet
werden, was ohne ein breitgestreutes und repräsentatives Corpus nicht möglich ist.
Ein "Wörterbuch des österreichischen Deutsch in seiner ganzen Vielfalt, das sowohl
areale als auch stilistische Informationen gibt" (Wolf 1994:27), auf die man sich
verlassen kann, ist daher ein dringendes Desiderat.
Epilog: Das gilt natürlich nicht nur für den Wortschatz. Für die Etablierung
einer österreichischen Aussprachenorm gilt mutatis mutandis ähnliches. Beide Ziele
sind nur als Gemeinschaftsunternehmen erreichbar. Am besten unter dem Dach der
Akademie der Wissenschaften, weil dann auch ein gewisses Maß an Autorität ge-
geben wäre. Das würde natürlich einiges an organisatorischem und finanziellem
Aufwand erfordern. Wir Westösterreicher hätten zwei Motive, zu diesem Aufwand
beizutragen: das, dem österreichischen Deutsch zu dem ihm gebührenden Status zu
verhelfen und das, bei der Postulierung von Eigennormen gehört und berücksichtigt
zu werden.
Literatur:
Clyne, Michael (1982): Österreich. Standarddeutsch und andere Nationalvarianten.
In: Das Problem Österreich. Monash University. S. 54 ff.
Clyne, Michael (1992): German as a pluricentric language. In.-Ders. (Hrsg.): Pluri-
centric Languages. S. 117 - 147.
Clyne, Michael (1995): Österreichisches Deutsch. Zur Nationalvarietät einer pluri-
zentrischen Sprache. In: Literatur und Kritik 291/292, S. 60-67.
Bartsch, Renate (1987): Sprachnormen. Theorie und Praxis. Tübingen (= Konzepte
der Sprach- und Literaturwissenschaft 38).
Bürkle, Michael (1995): Österreichischer Wortschatz in Vorarlberg: Peripherie der
Peripherie? Manuskript, Innsbruck, S. 1-25.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2. Aufl. Mannheim (= Duden - Taschenbücher 8).
Forer, Rosa und Moser, Hans (1988): Beobachtungen zum westösterreichischen Son-
derwortschatz. In: Peter Wiesinger, Das österreichische Deutsch. Wien
(=Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 12), S. 189-209.
Moosmüller, Silvia (1991): Hochsprache und Dialekt in Österreich. Wien, Köln,
Weimar (Sprachwissenschaftliche Reihe 1).
Jakob Ebner
(Linz)
1. Korpus
Dieser Beitrag zeigt grundsätzliche Fragen auf und ist zugleich Erfahrungsbe-
richt. Wie der Titel anzeigt, gehe ich davon aus, daß lexikographische Arbeit auf der
Basis eines Belegkorpus erfolgt. Dabei ist zu klären, wie das Korpus erstellt und wie
damit gearbeitet wird. Der vorrangige Zweck des Korpus ist in meinem konkreten
Fall die Materialbasis für eine Neubearbeitung des Wörterbuches ”Wie sagt man in
Österreich?”, das im Dudenverlag erstmals 1969, in einer 2., neu bearbeiteten Auf-
lage 1980 erschienen ist. Das Material dient aber auch der Behandlung der Austria-
zismen in anderen Duden-Wörterbüchern. Die Essenz davon bildet die Basis für die
Österreich-Eintragungen im Rechtschreibduden, die ich dem österreichischen
Dudenausschuß zu Aufnahme vorschlage.1 Außerdem leistete die Kartei gute Dienste
bei der Erstellung der Wortliste für die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung.
Vorbild für die Materialsammlung ist die Belegkartei der Dudenredaktion, die
ich in meinen ”Lehrjahren” in der Dudenredaktion kennengelernt habe. Diese Kartei
ist neben der Kartei der Berliner Akademie der Wissenschaft, die für das
”Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache” von Klappenbach/Steinitz angelegt
wurde, das einzige deutschsprachige Belegkorpus, das nicht einfach Wörter und ihr
Vorkommen registriert, sondern auf Wortverwendung und Wortbedeutung eingeht.
(Für die Zwecke eines Rechtschreibwörterbuches würde also ein wesentlich einfa-
cheres Verfahren genügen.)
1
Der österreichische Dudenausschuß ist eine lose organisierte Gruppe von Germanisten aus
verschiedenen Regionen Österreichs, die eine ausgewogene, fundierte Eintragungen im
Rechtschreibduden, dem durch seine weite Verbreitung ein besonderes Gewicht zukommt,
garantieren soll. Mit Stand vom Frühjahr 1995 gehören ihm an Alois Brandstetter (Klagenfurt),
Michael Bürkle (Vorarlberg), Jakob Ebner (Linz; Leitung), Hans Moser (Innsbruck), Ingo Reiffenstein
(Salzburg), Peter Wiesinger (Wien).
-180-
tur, Rundfunk. Pressebelege nehmen dabei einen breiten Raum ein, denn der aktuelle
politisch-öffentliche Wortschatz tritt am besten in Tageszeitungen zutage. Als
Konstante verwende ich die Tageszeitung ”Die Presse”, da sie je nach Art der
Berichterstattung unterschiedliche Sprachformen einsetzt und auch um einen
sachlichen politischen Stil bemüht ist. Dazu kommen Pressebelege aus
Boulevardzeitungen und Zeitungen der österreichischen Bundesländer, z. B.
Salzburger Nachrichten, Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten, OÖ.
Nachrichten, Volksblatt, Kleine Zeitung, Kärntner Tageszeitung, Standard, Kurier,
Kronenzeitung. Die Belege stammen teils aus systematischer Exzerption, z. B. durch
einen Monat, teils aus Einzelbelegen aus zufälligen Lesefrüchten. Neben den
Tageszeitungen wurden ausführlich die Nachrichtenmagazine ”profil” und ”News”
exzerpiert.
Die systematische Exzerption zeigt einen Querschnitt durch den Sprachge-
brauch und gibt zugleich im Ablauf der Jahre Einblick in die Sprachentwicklung. Die
Einzelbelege bringen vor allem interessante Detailbeispiele.
Aus dem Gebrauchsschrifttum ragen neben den diversen Vereinszeitschriften
die Kochbücher heraus. Sie sind nicht nur wegen regionaler kulinarischer Besonder-
heiten und ihrer Ausdrücke ergiebig, sondern auch deshalb, weil sie den starken
Wandel des Kochwortschatzes in den letzten 20 Jahren zeigen: einerseits ein Ver-
schwinden vieler älterer, aber noch immer als typische Austriazismen kolportierter
Wörter, andererseits ein verstärktes Aufleben österreichischer Wörter im Fachwort-
schatz, die früher noch vermieden worden wären.
Weiters sind regionale heimatkundliche Schriften über altes Handwerk, Bräu-
che, Transportmittel usw. wertvoll. Allerdings stößt man hier bald an die Grenze zum
Fachwortschatz, den zu verzeichnen ein allgemeinsprachliches Wörterbuch von
vornherein nicht in der Lage ist. Es bieten aber auch die Wochenendbeilagen der
Zeitungen viel Material für kulturgeschichtliche Details.
In den Zeitungen sind die Textsorte und das Ressort zu beachten. Die meisten
Austriazismen finden sich auf den Sportseiten, in der Theaterkritik, in Leitartikeln
und Glossen sowie im Lokalteil. Die Arten der Austriazismen sind dabei aber je nach
Verwendungszusammenhang sehr unterschiedlich. Was die Fachtermini der Sport-
sprache betrifft, ist im Sportteil der Anteil an spezifisch österreichischem Wortschatz
stark zurückgegangen. So hat sich die Fußballsprache weitgehend des englischen
Einflusses entledigt (eine der wenigen Ausnahmen ist Out). Die Bereiche Skisport und
Tennis hatten ohnehin keine Unterschiede zum binnendeutschen Wortschatz. Ty-
pisch österreichisch ist heute eine aus der Umgangssprache schöpfende metaphern-
reiche Sprache, also eine österreichische Kommentarsprache an der Stelle der alten
österreichische Sportfachsprache. Die Theaterkritik verwendet Austriazismen häufig
als Zitatwörter aus dem Dialekt oder aus anderen Wortschatzbereichen (z. B. Sport-
ausdrücke in der Theaterkritik) und nützt so im nestroyschen Duktus die Wirkung
des stilistischen Wechsels innerhalb eines Textes oder Satzes. Ähnliches gilt, in gerin-
gerem Maß und je nach Zeitung, für Leitartikel und Glossen. Die politische Bericht-
erstattung enthält kaum Austriazismen, zumal die Texte häufig von internationalen
Agenturen übernommen werden. Dabei macht man sich häufig nicht einmal die
Mühe der Übersetzung, sodaß man fallweise von einem ”Oberbürgermeister” liest,
einem bundesdeutschen Verwaltungsausdruck, der dem österreichischen
”Bürgermeister” entspricht.
Die zweite Frage bei der Beurteilung der Zeitungsquellen betrifft also die Arten
des Sprachgebrauchs in bezug auf die verschiedenen Sprachschichten. Im wesent-
lichen kann man hier von drei Schichten sprechen:
- Standardsprache,
- Standardsprache mit vielen Zitaten aus anderen Sprachschichten,
- dialektaler Duktus. (Damit ist aber nicht Dialekt gemeint, sondern eine Standard-
sprache, die in Satzbau und gedanklichem Konzept eine dialektale Denkgrundlage
verrät.)
Die Zeitungen zeigen aber auch die regional unterschiedliche Sprachauffassung
innerhalb Österreichs, was die Distanz zu dialektalen Formen betrifft. Auch hier ist
ein neuer Trend zu beobachten. Waren Wiener Zeitungen immer schon durch häu-
figen Wechsel in der Sprachschicht und häufige Wiener Dialektzitate
gekennzeichnet, war für Westösterreich der einheitliche Gebrauch der Standard-
sprache typisch. Nur die unvermeidbaren landschaftlich bedingten dialektalen Ter-
mini (für Landschaftsformen, Arbeitsmethoden, Arbeitsgeräte usw.) waren verschrift-
sprachlicht zu finden. Dialekt war hier der mündlichen Sprache vorbehalten. Diese
Unterscheidung gilt auch heute noch, allerdings in geringerem Maße als früher. In
den Glossen der ”Salzburger Nachrichten” findet man immer häufiger umgangs-
sprachliche Austriazismen oder Alemannismen in Vorarlberger Zeitungen.
Auch die Literatursprache tritt in verschiedenen Formen auf. Sie ist in der mo-
derne Literatur durch die Präferenz der personalen Erzählhaltung häufig situativ
orientiert und neigt schon alleine deshalb zu Verwendung unterschiedlicher
Sprachschichten als Gestaltungsmittel. Daher wird nicht zu Unrecht die Meinung ge-
äußert, als Beispiel regionaler Standardsprache würden sich Sachtexte am besten eig-
nen.
Austriazismen werden in der Literatur primär (als ”normale” Sprachmittel) und
sekundär (zitiert oder bewußt eingesetzt) verwendet. Dabei taucht auch heute noch
der alte österreichische Gegensatz zwischen städtischer (vorwiegend Wiener) und
ländlicher Lebensart auf. Für die vom Wienerischen geprägte städtische Sprache fan-
den sich aus der Literatur eine große Zahl von Beispielen, man denke nur an die
großen Werke von Doderer. Wollte man in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die
ländliche, bäuerliche Welt aus der Literatur erfassen, geriet man schnell in die Blut-
und Boden-Literatur der Dreißigerjahre. Heute hat sich im Zuge einer sozialen Um-
schichtung unter Schriftstellern wieder eine größere Zahl von Autoren des Landle-
bens angenommen, sodaß auch wieder Belege für diesen Bereich zu finden sind, ich
denke an Autoren wie Gerhard Roth, Josef Winkler, Alois Brandstetter. Unter Gegen-
wartsautoren mit primär verwendeten Austriazismen sind Robert Menasse für den
städtischen Bereich, Friedrich Zauner für den ländlichen Bereich ergiebig. Bewußt
zitierte, also sekundär verwendete Austriazismen finden sich in großer Zahl: Josef
Winkler, Robert Schneider, Elfriede Jelinek usw. verbinden mit ihrer Sprache ein
sozialkritisches Programm, während Alois Brandstetter seine Dialektzitate aus einer
Bildungssicht humanistischer Gelehrsamkeit heraus verwendet. Das Wort ”Adel” im
Sinne von Jauche, ein typisches bairisches Dialektwort, wird m. W. nicht primär
verwendet, dazu ist es zu dialektal. Zudem ist der Unterschied zwischen Aussprache
und Schreibung zu groß. Brandstetter verwendet es mehrmals im Wortspiel, um den
Kontrast zur standardsprachlichen Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Sekundär
verwendete Wörter, besonders wenn sie als Austriazismen reflektiert werden - wie oft
bei Doderer -, sind als Belegstelle im Wörterbuch nur bedingt verwendbar, denn die
Belege sollen ja Beispielfunktion für die Wortverwendung haben.
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist die nach dem Alter der Quel-
len. In der ersten Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” wurden einige Belege
von Nestroy, Grillparzer, Rosegger usw. aufgenommen, allerdings nur für auch heute
noch vorkommende Wörter. Das hat sich nicht bewährt, weil Wörterbuchbenützer
meist vom Alter der Quelle auf das Alter des Wortes selbst schließen. In der 2. Auf-
lage (1980) finden sich daher fast keine Belegstellen aus dem 19. Jahrhundert, dafür
viele aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: Schnitzler, Doderer, Karl Kraus,
Horváth usw. Die Wortverwendungen sind auch heute noch gültig, auch was die
Stilschicht betrifft. Als veraltet empfundenes Wortgut wird immer speziell gekenn-
zeichnet. Mit dem Ausbau der Belegkartei stehen für die meisten Stichwörter Belege
jüngerer Autoren zur Verfügung, die in einer Neubearbeitung die alten Belege erset-
zen. Auf diese Weise kann man in früheren Auflagen weitere, auch ältere, Belege fin-
den.
Rundfunk und Fernsehen werden beim Aufbau eines Korpus ebenfalls berück-
sichtigt, wenn auch das gesprochene Wort in Rundfunk oder Fernsehen nicht so ein-
fach nachzuweisen ist wie bei schriftlich vorliegende Quellen. Auffallend ist, daß
kaum ein Unterschied zu den jeweils vergleichbaren Pressetexten besteht. Naturge-
mäß sind Rundfunk und Fernsehen bei der Beobachtung der Aussprache die wesent-
lichen Quellen.
3. Exzerptoren
Bei einer Kartei, die Austriazismen sammelt, stellt sich natürlich die Frage, wer
die Markierung als Austriazismus feststellen kann. Sollen nun Exzerpte von Öster-
reichern oder Deutschen durchgeführt werden?
Eine Basissammlung können zunächst einmal nur Personen aus dem Binnen-
deutschen erstellen, und zwar aus dem nord- und mitteldeutschen Raum, weil es mit
dem deutschen Süden zu viele Überschneidungen mit dem österreichischen Deutsch
gibt. Es haben sich aber auch Personen mit zu ausgeprägtem norddeutschen Sprach-
gebrauch nicht bewährt, da dann oft sogar mitteldeutsche Formen als österreichisch
angegeben werden. Eine Exzerption auf Austriazismen hin, die nur dadurch erfolgt,
daß jemand alle ihm fremd erscheinenden Wörter oder Verwendungsweisen mar-
kiert, ist nur die erste notwendige Stufe. Solche Angaben müssen dann erst von einer
kompetenten Person in Deutschland selbst daraufhin durchgesehen werden, ob sie
tatsächlich üblich sind oder ob es sich um nur zufällige kontextabhängige Einzelbe-
lege handelt. In einer dritten Stufe muß jemand, der für österreichischen Sprachge-
brauch kompetent ist, beurteilen, ob es sich tatsächlich um eine übliche österrei-
chische Ausdrucksweise handelt. Auch hier wäre es wieder möglich, daß ein Autor
eine ganz unösterreichische Formulierung gewählt hat oder daß es sich um einen
nicht repräsentativen Zufallsbeleg handelt. Der Weg vom Anstreichen in einer Zei-
tung oder einem Buch bis hin zu einem für den Wörterbuchartikel verwendbaren
Beleg ist somit ein weiter und zeitraubender. Wenn man die Möglichkeit hat, sprach-
lich geschulte Exzerptoren einzusetzen, wird der Vorgang verkürzt und ist zielfüh-
render. Insofern sind erfahrende Exzerptoren der Dudenredaktion, die mir gelegent-
lich in natürlich beschränktem Ausmaß zur Verfügung standen, von unschätzbarem
Wert. Vor allem können solche Exzerptoren auch Auffälligkeiten der Phraseologie,
des Präpositionsgebrauchs usw. einschätzen, die von Laien meist nicht erkannt wer-
den. In der Dudenredaktion wurde in gewissen Abständen ein Querschnitt durch
österreichische Zeitungen und Zeitschriften exzerpiert, wobei natürlich nicht nur
Austriazismen abfielen. Das erklärt, warum erstaunlich viele Belege österreichischer
Zeitungen im großen Universalwörterbuch aufscheinen, und zwar nicht nur für
Austriazismen. Exzerpte von Laien erbringen einen geringen Prozentsatz wirklich
brauchbarer Belege, andererseits aber finden sich gerade darin wieder Beobachtun-
gen, über die Fachleute hinweggegangen wären. Das zeigte sich bei den Exzerpten,
die Professor Ammon, Duisburg, dankenswerter Weise mit Studenten durchführte.
Wie diffizil es mitunter ist, österreichischen von individuellem Sprachgebrauch
abzugrenzen, zeigt folgendes Beispiel: Vor Jahren verwendete ich in Deutschland die
Formulierung ”Ich habe einen Durst”, worauf man mir erklärte, im Deutschen könne
man nur ”Ich habe Durst” sagen. Ähnliche Verwendungsweisen des Artikels beruhen
im allgemeinen auf individuellem Sprachgebrauch und können nicht als Austria-
zismen angesehen werden. Da mir die Phrase aber sehr geläufig war, wanderte er als
Lemma provisorisch in die Kartei. In der Folge fiel mir der Ausdruck mit Artikel in
der gesprochenen und geschriebenen Sprache öfter auf, sodaß ich ihn im Auge be-
hielt; eine Aufnahme in die 2. Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” war aber
nicht gerechtfertigt. Vor einiger Zeit las ich den Roman ”Herzrasen” des italienischen
Autors Marco Lodoli. Im Duktus der Sprache schien mir die Übersetzung als öster-
reichisch, ohne daß diese gefühlsmäßige Annahme durch Wortschatzschibboleths
bewiesen worden wäre. Als aber der Satz ”Ich habe einen Durst” in einem standard-
sprachlichen Kontext auftauchte, rief ich im Residenzverlag in Salzburg an, wo man
mir bestätigte, daß die Übersetzerin (Gundl Nagl) Österreicherin ist. Es verstärkt sich
der Verdacht, daß es sich tatsächlich um einen Austriazismus handelt.
Was die Ressourcen betrifft, ist es derzeit nicht möglich, in größerem Stil bun-
desdeutsche Exzerptoren zu beschäftigen. So muß ein wesentlicher Teil der Arbeit
doch in Österreich selbst erledigt werden. Das ergibt sich aber auch aus der Zielset-
zung. Denn wenn man nicht nur Wortlisten aufstellt, sondern auch Bedeutungen
und Wortverwendung, zum Teil sogar in genaueren Nuancen die Unterschiede zum
Binnendeutschen beschreibt, kann erst von österreichischer Seite das Material aufbe-
reitet, lexikographisch bewertet und dargestellt werden. Häufig genügt es, daß aus
Deutschland eine Erstmeldung kommt, in Österreich aber weitere Belege gesammelt
werden. Über gezielte Rückfragen kann man dann eruieren, ob alle Bedeutungen und
Verwendungen eines Wortes spezifisch österreichisch sind. Manchmal genügt auch
der Blick in das große Duden-Universalwörterbuch, in das große Fremdwörterbuch
oder den Stilduden.
Exzerption nach Austriazismen ist also ein doppeltes Verfahren sowohl aus bin-
nendeutscher als auch aus österreichischer Sicht.
Körberlgeld (nebenbei verdientes Geld): Die Reform der Lkw-Besteuerung ... hat dem
Fiskus laut Wirtschaftskammer ein beachtliches Körberlgeld beschert. (Der
Standard 15. 11. 1994).
packeln, Packler, Packelei (paktieren, unseriöser politischer Schacher): Denn wie von
allen Seiten über den ORF, seine Posten und über mögliche Packeleien debattiert
wurde, ... (Die Presse 25. 9. 1993).
präpotent, Präpotenz (Überheblichkeit, Machtgehabe): ... die Impotenz des Staates,
die sich in Präpotenz ausdrückt (ORF, Italien-Korrespodent, 11. 8. 1993)
Haberer, verhabert, Verhaberung, Machthaberer, Haberei (politisches Agieren auf
der Basis von Freundschaften): Inmitten journalistisch-politischer Verhaberung
... (Die Furche 22. 12. 1994); Immer wieder ist die Rede gewesen von der
Gefahr der Kumpanei, der ”Verhaberung” der Kontrollierten mit den
Kontrolloren. (Die Presse 23. 10. 1994).
vernadern, Naderer, Vernaderer, Vernaderung (verraten): Die Polizei wird also zur
Vernaderung durch Gesetz aufgefordert. (profil 27. 9. 1993).
verbandelt (in Beziehung stehend mit jmd.): Er gewinne, weil er nicht verbandelt sei,
er sei für seine Konkurrenten nicht faßbar (Die Presse 27. 1. 1995).
Wortspende (Äußerung, kurze Stellungnahme; nach einem Wortspiel der Feature-
Redaktion des ORF ”Darf ich Sie um eine Wortspende bitten?”) Schluß mit
Wortspenden! ... Banale, von den Medien herausgepreßte Wortspenden ziehen
nicht mehr, weil sie eine nachvollziehbare Politik nicht ersetzen können. (Die
Furche 24. 11. 1994).
Zuckerl als produktives Substantiv, z. B. Wahlzuckerl, Steuerzuckerl.
Häfenurlaub (Ausgang für Häftlinge, Hafturlaub), ”Häfenurlaub” kommt ursprüng-
lich aus dem Slang, wurde dann aber in standardsprachliche Texte übernom-
men und dominiert in der Presse so sehr, daß kaum die sachliche Bezeichnung
vorkommt, womit die negative Bewertung eines Hafturlaubs indirekt mit-
schwingt.
Im Überblick zeigt sich, daß die Sprache der Öffentlichkeit viele Wörter aus Be-
deutungsübertragungen schöpft und ihre Anleihen zu einem nicht geringen Teil von
älteren dialektalen oder umgangssprachlichen Wörtern nimmt, was zur Folge hat,
daß diese Wörter meist emotional oder konnotativ besetzt sind. Gerade dadurch sind
sie aber Zeugnis für die inoffizielle Geschichte, die politische Stimmungslage des
Landes.
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch die saloppen, abwertenden
Bezeichnungen für Nachbarvölker, die natürlich nicht standardsprachlich sind, aber
in zitierter Rede auch literarisch häufig vorkommen: Tschusch, Piefke, Katzelmacher.
Kakanien, kakanisch (die auf Musil zurückgehende Wortprägung bezieht sich dabei
nicht auf die historische k.u.k. Monarchie, sondern auf skurrile oder sonderbare
Zustände der Gegenwart),
Riese: der rote, grüne Riese (SP-nahe bzw. VP-nahe Wirtschaftsbetriebe),
Ausgedinge (Altersversorgung oder Positionen nach dem Ausscheiden aus der Po-
litik),
Illegaler (mit deutlicher Konnotation an illegale Nazis in der 1. Republik),
pannonisch (im jüngeren Sinn für burgenländisch, z. B. pannonische Küche, pan-
nonisches Gymnasium).
Wörter spiegeln auch die lokalen und kommunalen Probleme. So steigen in den
letzten Jahren die Wiener Belege für
Parkpickerl, Josefstadt-Pickerl, Pickerlbesitzer, Pickerlregelung, Parkpickerl-Modell
usw.
Bim (Straßenbahn),
Ohrwaschel (im Sinn von Gehsteigverbreiterungen vor Kreuzungen): Ohrwascheln
räumen! (Aufruf zur Gehsteigräumung im Winter; Die Presse 10. 12. 1994);
Die Verkehrsbetriebe bestehen auf den Ohrwascheln (Die ganze Woche
39/1993)
Die horizontalen Linien zeigen die Veränderungen in der Bedeutung: Die Mehr-
zahl der Belege betreffen wirtschaftliche Verhältnisse, der zweite Teil sind Metaphern
aus der Wirtschaft, im dritten Teil hat sich das Verwendungsfeld der Objekte bereits
vom ursprünglichen Bereich entfernt. Der Wörterbuchartikel dazu müßte dann diese
Form haben:
Die folgenden Beispiele mit den Belegstellen zeigen die weite Streuung dieses
Bildungstypus:
Austro-Chinese (österreichischer Tischtennisspieler chinesischer Herkunft, Salzbur-
ger Nachrichten 12. 4. 1990)
Austro-”Dynasty” (österreichische TV-Serie nach dem Muster der Serie ”Dynasty”,
Die Presse 21. 1. 1991)
Austro-Berserker (Harald Kislinger, österreichischer Dramatiker mit wuchtigen
Themen; Volksblatt 18. 2. 1995)
Austromasochismus, Austro-Masochismus (Jörg Mauthe redet in ähnlichem Zu-
sammenhang vom ”Austromasochismus” und meint damit jene Mentalität, die
den Begriff des Österreichischen von vornherein in negative Beziehungen zur
Welt setzt; Die Presse 21./22. 11. 1970; Die langjährige SP-Spitzenpolitikerin
Gertrude Fröhlich-Sandner bedauert einen ”Austro-Masochismus”, Die Presse
12. 4. 1990)
Austrofaschist (Basta 4/1993)
Austro-Krimi (Standard 4./5. 1995)
Austropop, Austro-Pop (Austropop-Prominenz feierte in Graz 20 Jahre Opus; täglich
Alles 19. 9. 1993)
Austro-Popper (... daß sich der Bürgermeister seit Jahren zur Fangemeinde des Aus-
tro-Poppers zählt; Tiroler Tageszeitung 22. 8. 1992)
Austro-Kicker (österreichische Fußballnationalmannschaft, Standard 15. 11. 1994)
Austro-Slowenen (Die Toleranz mit Austro-Slowenen und Tschuschen; Salzburger
Nachrichten 7. 3. 1994)
Austro-Barde (Fendrich. Der Austro-Barde als Carell-Nachfolger; News 15. 7. 1994)
Koalition 1987 hatte es keinen Platz mehr im politischen Wortschatz, wenn es auch
gelegentlich als bildungssprachliches Wort in einem allgemeineren Sinn vorkommt.
Erstaunlich viele veraltete Wörter, die entweder aus dem Dialekt kommen oder
aus einer alten traditionellen bürgerlichen Kultur als Relikt erhalten geblieben sind,
tauchen immer wieder in Belegen auf. Ich nenne einige Beispiele:
Badewaschl (Bademeister)
ballestern (Fußball spielen)
blut-: blutwenig (verstärkendes Bestimmungswort)
brenn-: brennrot, brennheiß, brennkalt (verstärkendes Bestimmungswort)
Frischgefangte(r) (Berufsanfänger[in])
Goiserer (Bergschuh)
Gote, Godn, Göd, Göte (Pate, Patin)
Grätzl, Grätzlfest (Stadtviertel)
Greißler, Greißlersterben (Gemischtwarenhändler)
Haferlschuh (fester Halbschuh)
Hansl (Rest im Bierglas)
Kaffeesieder (Kaffehausbesitzer, Berufsbezeichnung)
Kiberer (Kriminalbeamter)
Klamsch (geistiger Defekt)
Kombinesch (Unterkleid)
komplett (voll besetzt)
Körberlgeld (Nebenverdienst)
Maschekseite (Hintertür)
Mulatschag (ausgelassenes Fest, Orgie ungarischer Prägung)
Nachzipf (Wiederholungsprüfung)
Nebelsuppe (dichter Nebel)
Pawlatsche (Gang an der Außenseite eines Hauses, Bretterbühne)
Psyche (Frisiertoilette mit Spiegel)
Salzamt (unerreichbare Instanz)
Strizzi (Gauner)
Strotter (im Abfall Stochernder, Obdachloser)
Taschlzieher (Taschendieb)
Topfenneger (Mensch mit weißer, ungebräunter Haut)
Tröpferlbad (öffentliches Bad zur Körperreinigung)
Wappler (eigenartiger Mensch)
Wuchtlkicker (Fußballer)
Zeugl (Kutsche mit Pferd)
Manche davon sind tatsächlich in der Alltagssprache fest verankert, wie Zeugl,
Grätzl, Greißler, andere tauchen nur in bestimmten Kontexten auf. Es kommen aber
aus verschiedener Quelle neue saloppe Wörter auf, z. B.:
Keks (Uniformstern, z. B. beim Bundesheer, bei der Feuerwehr)
nullkommajosef (verstärkend für ”nichts”, zusätzlich bekannt, seit eine alkoholfreie
Biersorte so benannt wurde),
Vifzack (geschickter, rasch reagierender Mensch),
Wunderwuzzi (Mensch, von dem man die Lösung aller Probleme erwartet).
Dialektwörter, die in den regionalen Standard oder wenigstens in eine allge-
meine Umgangssprache übergewechselt sind, sind z. B.:
bärig (verstärkendes Wort)
brodeln (langsam arbeiten, zu spät fertig werden)
Budel (Theke)
durchfretten (mit Mühe durchbringen)
kiefeln (kauen)
pecken (picken)
Pflanzerei (Neckerei)
stad, hackenstad (arbeitslos), schmähstad (zu keiner entsprechenden Antwort mehr
fähig)
Tachinierer (Faulenzer)
Taschenfeitel (Taschenmesser)
Tschick (Zigarette)
Trumm (großes Stück)
unbetamt (unerfahren, naiv, unelegant), Untam (unförmiger, ungehobelte Mensch)
urassen (verschwenden)
Einige Wörter aus dieser Gruppe haben die Grenzen der Sprachschicht völlig
übersprungen und gehören heute zu den produktivsten Wörtern des österreichischen
Deutsch:
Pfusch, pfuschen, Pfuscher (Schwarzarbeit),
Sandler (Obdachloser)
Pickerl, Parkpickerl, Autobahnpickerl (Klebeetikett, Vignette)
Hacken, hackeln, Hackler ([manuelle] Arbeit)
Schmäh, Lavendelschmäh (zu offensichtlich billiger Trick), Schmähbruder, Schmäh
führen, Schmähführer, schmähstad, Öko-Schmäh
In der Literatursprache kommen immer wieder basisdialektale Restfomen vor, z. B.
7. Der Lemmaansatz
Lexikographische Probleme werfen die Wörter auf, deren Lautung nicht im
Standardschriftsystem vorkommen. Sind es volkskundliche Termini, werden sie auch
in der Dialektlautung wiedergegeben, z. B.
Kripperlroas (ein Adventbrauch; als Terminus nicht als -reise wiederzugeben),
Moar (Kapitän einer Mannschaft beim Eisstockschießen; nicht als Mayer denkbar),
Tram, Tramdecke (Balken; nicht etymologisch als Träme).
Schwierig wird es, wenn Wörter mündlich in regional verschiedenen Dialekt-
lautungen und auch in einer verschriftlichten Form vorkommen. Dabei entstehen
unterschiedliche Schreibungen, z. B. in
Millirahmstrudel/Milchrahmstrudel Speis/Speise (Speisekammer)
Kirtag/Kirchtag Leich/Leiche (Begräbnis)
Simperl/Simpelein (Körbchen)
Die Lautunterschiede beruhen auf Regionalismen innerhalb Österreichs. In
Wörtern mit deutlichem Lautunterschied, z. B. ausbandeln/ausbeineln (die Knochen
auslösen), lassen sich sowohl Gründe für eine dialektale Schreibung im Sinne einer
lexikalisierten Bedeutung als auch für eine etymologische Schreibung mit dem Vorteil
größerer Durchsichtigkeit anführen. Die Belege für die beiden Möglichkeiten halten
sich die Waage. In einige Fällen ist die übertragene Bedeutung nur in dialektaler Aus-
sprache denkbar:
drahn/drehen (im Sinne von: die Nacht zum Tag machen)
gemähte Wiese/gmahte Wiesn (etwas ohne Anstrengung Erreichtes).
Lexikographisch ist es am sinnvollsten, alle vorkommenden Formen anzuführen
und das Problem selbst zu thematisieren. Beispiel eines Wörterbuchartikels mit zwei
getrennten Lemmata:
allerdings im Schriftsystem sehr fremd wirkt. Schiech z. B. wird aus dieser Unsicher-
heit auch schiach oder sogar schiarch geschrieben. Das sind freilich Varianten, die
man im lexikographischen Ansatz besser nicht nachvollzieht, sondern wenn nötig
durch Verweise regelt. Der lautliche Zusammenfall von mhd. ei mit der Vokali-
sierung von -ar- führt gelegentlich zu Lemmatisierungsproblemen. Das Wort
Scheiten (Späne), z. B. in Hobelscheiten tritt in dieser etymologisch richtigen Form
kaum mehr auf, dagegen als Schaten (laut Wiener Dialektaussprache, so bei Nestroy),
meist aber als Scharten und fällt so mit einem anderen Wort zusammen.
Ein ähnliches Problem stellt sich beim Diminutiv zu Laib, das freilich nicht nur
Diminutiv ist, sondern auch gesonderte Bedeutungen hat. Es gibt zwei Möglichkeiten
des Lemmaansatzes:
Variante 1 [rundes Stück Brot, Käse]
Laibchen
Laberl Loaberl
Laibchen Laiberl
Laberl Loaberl
Vielfach wird aber die Form Laibchen überhaupt abgelehnt (so wurde im Öster-
reich-Kalender des Goethe-Instituts eine entsprechende Korrektur nachträglich
durchgeführt) und nur Laberl als Lemma angesetzt. Das entspricht nicht den öster-
reichischen Verhältnissen, denn in der einschlägigen Literatur (Kochbücher, kuli-
narische Berichte, Aufschriften in Bäckereien usw.) überwiegen die Laibchen-
Schreibungen. Man muß für Österreich die Diskrepanz zwischen gängiger Lautung
Während etwa Gschnas und Gspusi schon wegen der Herkunft keine Vorsilbe
Ge- haben können, ist eine Form Gespritzer denkbar und auch häufig, bei gsch-
mackig/geschmackig sind die beiden Formen etwa gleich stark vertreten. In diesem
Bereich wird man nicht umhinkommen, unterschiedliche Ansätze zu verwenden.
Eine Lenkung durch den Lexikographen besteht dann nur in der Entscheidung, wel-
che Form als Hauptform angesetzt wird.
Neu ist aber in jüngerer Zeit, daß der Apostroph als Auslassungszeichen eine
Renaissance erlebt, sowohl in der Presse als auch z. B. in den Inserts des Fernsehens:
G’riß, g’schmackig. Da man Apostrophformen nicht als Lemma ansetzt, hat das zur
Folge, daß in einer rückläufigen Entwicklung die vollen Formen mit Ge- wieder zu-
nehmen, denn der Apostroph kann nur als Ersatz für das -e- verstanden werden.
8. Schluß
Einer differenzierten Darstellung in einem Wörterbuch steht oft der Zwang zu
Kürze und ein zu enges soziolinguistisches und stilistisches Markierungssystem im
Wege. Die Angabe ”umgangssprachlich” ist vielfach zu weitmaschig und daher we-
nig aussagekräftig. Einen Ausweg bietet die Unterscheidung zwischen
”umgangssprachlich” für Wörter, die dem System des Standard entsprechen, aber
nicht in allen üblichen, sachlichen Kontexten angewandt werden können, und
”mundartnah”2 oder ”dialektnah” für Wörter, die aus dem Basisdialekt kommen und
ihren Geltungsbereich ausgeweitet haben. Außerdem sollte Standardsprache unter-
schieden werden in ”offiziell” (in sachlichen, auch öffentlichen Texten verwendbar)
2
So Kurt Meyer in ”Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen Besonderheiten”.
Dudenverlag, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989. Duden Taschenbücher Bd. 22
Matthias Wermke
(Mannheim)
Austriazismen im gemeinsprachlichen
Wörterbuch des Deutschen, dargestellt an
DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch (DDUW),
2. Auflage 1989
1. Vorbemerkung
Wenn gemeinsprachliche Wörterbücher des Deutschen auch nur in Teilen des
Sprachgebietes geltende lexikalische Einheiten verzeichnen, dann geschieht dies
heute nicht mehr vorrangig in sprachpflegerischer Absicht1, sondern in dem Bestre-
ben, die synchrone Vielschichtigkeit der Sprache und insbesondere ihrer Lexik gerade
auch in diatopischer Hinsicht wenigstens ansatzweise zu dokumentieren. Wör-
terbücher können nicht davon abstrahieren, daß das Deutsche ein Kontinuum ist, in
dem die Varietäten des sogenannten Substandards zum Teil erhebliche sprachliche
Relevanz haben. Dieses lexikographische Ziel ist für das Deutsche von besonderem
Belang und offenbar auch nicht unproblematisch, als sich das Sprachgebiet über
mehrere politisch souveräne Staaten erstreckt und die politischen Verhältnisse und
das mit ihnen einhergehende nationale Eigenbewußtsein zwangsläufig auf die Spra-
che und besonders den Wortschatz einwirken. Zwar zerfällt die Einheit der Sprache
dadurch nicht, aber es entwickeln sich dennoch Unterschiede, die die Kommuni-
kation in bestimmten Bereichen erschweren können. Solche werden schon ganz vor-
dergründig augenfällig bei den Namen von politischen Institutionen und Amtsträgern
(in der ehemaligen DDR Volkskammer, Staatsratsvorsitzender; in Österreich
Landeshauptmann; in der Schweiz Kantonsgericht, Landsgemeinde, Landammann),
um nur ein Beispiel genannt zu haben.
Die Aufnahme von Austriazismen und anderer, nur in Teilen des deutschen
Sprachraums verbreiteter lexikalischer Einheiten ins gemeinsprachliche Wörterbuch
rechtfertigt sich aber daneben auch durch die aus den außersprachlichen Bedingun-
1
In der 9. Auflage des Österreichischen Wörterbuches, mittlere Ausgabe 1951, heißt es im Vorwort
zum Beispiel noch zu den entsprechend markierten Wörtern der ”österreichischen Umgangssprache
und der österreichischen Mundarten”: ”Damit werden die Benutzer des Wörterbuches von der
Verwendung der Umgangssprache oder der Mundart in der gehobenen Sprache ausdrücklich
gewarnt und zugleich zu den guten gemeindeutschen Formen hingeleitet.” (Hugo Moser zit. nach
Rizzo-Baur, Hildegard: Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Österreich und in
Südtirol. Duden-Beiträge, Heft 5. Mannheim 1962, S. 13).
-199-
2
Vgl. dazu: Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage, Mannheim 1989, S. 7.
3
Vgl. dazu ebenda S. 9.
4
Vgl. dazu z. B.: Hausmann, Franz Josef: Lexikographie. In: Handbuch der Lexikologie. Hrsg. von
Christoph Schwarze u. Dieter Wunderlich. Königstein/Ts. 1985, S. 367 - 411. Besch, Werner: Zur
Kennzeichnung sprachlandschaftlicher Wortvarianten im Duden-Wörterbuch und im Brockhaus-
Wahrig. In: Wortes anst, verbi gratia. Donum natalicum Gilbert A. R. De Smet. Hrsg. von H. L. Cox,
V. F. Vanacker, E. Verhofstadt. Leuven 1986, S. 47-64.
Schwierigkeiten treten auch auf, wenn ein zunächst nur regional gebräuch-
liches Wort in die Gemeinsprache übergeht. Wird das ebenfalls schon genannte Feu-
del im Deutschen Universalwörterbuch noch als ”nordd.” apostrophiert, so muß man
doch feststellen, daß das Wort zwischenzeitlich auch in den Gemeinwortschatz Ein-
gang gefunden hat und zwar als Kurzform des in den 70er und 80er Jahren bei
Schülern und Studenten so beliebten Palästinenserfeudels, der im Deutschen Univer-
salwörterbuch nicht verzeichnet ist, wohl aber im Großen Wörterbuch der deutschen
Sprache (3. Auflage 1993-1995) und dort als ”salopp abwertend” - also mit einer
Stilschichtangabe - markiert ist. Die Schwierigkeit bei der diatopischen Auszeichnung
von Wörterbucheinträgen belegen auch Angaben wie ”bes. österr.” im Falle von An-
rainer (b) (‘Anlieger’) oder aspirieren (1) (‘sich um etwas bewerben’), die suggerie-
ren, daß das betreffende Lemma bzw. die betreffende Wortbedeutung auch gemein-
sprachlich ist, oder Angaben wie ”landsch., bes. österr.” wie im Falle von aufpelzen
(aufbürden), die einerseits einen nicht genau einzugrenzenden Geltungsraum an-
zeigen, andererseits aber ein klar umgrenztes Geltungsgebiet nennen.
Wenn viele diatopische Markierungen auf der einen Seite nur annähernde Aus-
sagen über den Geltungsbereich einer sprachlichen Einheit machen können, so zei-
gen sie auf der anderen Seite aber sehr deutlich die Zusammengehörigkeit bestimm-
ter sprachlicher Räume, verweisen bei aller sprachlichen Unterschiedlichkeit zwi-
schen den Regionen doch auf ein gutes Stück Einheitlichkeit innerhalb der Lexik. Das
gilt für das schon genannte Beispiel pelzen, aber auch für Fälle wie apern (südd.,
österr., schweiz.), auflassen (5 a) (‘[einen Betrieb o. ä.] aufgeben, auflösen’: landsch.,
bes. südd., österr.), Galtvieh (bayr., österr., schweiz.)5 oder auch Geiß (südd., österr.,
schweiz., westmd.).
2.2 Austriazismen im einzelnen
Die besonderen Ausprägungen des Deutschen in Österreich sind auf vier
sprachlichen Ebenen angesiedelt, nämlich auf der Ebene der Lexik (Wörter, die nur
in Österreich gebräuchlich sind), der Semantik (Wortbedeutungen, die nur in Öster-
reich gebräuchlich sind), auf der Ebene der Grammatik (z. B. Unterschiede im Arti-
kelgebrauch [der Abszeß vs. österr. das Abszeß]; hierzu könnten auch Unterschiede in
der Wortbildung gezählt werden [österr. Adventkranz vs. Adventskranz], die wir hier
aber der Lexik zuschlagen) und auf der Ebene der Aussprache (Geschoß vs. österr.
Geschoß).
5
Um den linguistisch nicht geschulten Wörterbuchbenutzer nicht zu überfordern, werden
Besonderheiten des Bairischen nicht wie fachintern üblich mit ”bair.”, sondern mit ”bayr.”
ausgezeichnet. Der Hinweis ”bayr.” ist also nicht politisch, sondern sprachlich aufzufassen.
2.3 Auswahlkriterien
Wie für alle Stichwörter, die im Deutschen Universalwörterbuch verzeichnet
sind, gilt auch für die Austriazismen in erster Linie das Auswahlkriterium der Au-
thentizität. Damit ist gesagt, daß nur solche Austriazismen ins Wörterbuch Eingang
finden, die in den zugrundeliegenden schriftlichen Quellen belegt sind, wobei gilt,
daß eine Mehrfachbelegung gegeben sein sollte in Quellen unterschiedlicher Prove-
nienz (Streuung). Ein Wort, das zwar häufig, aber z. B. nur in Belegen aus der
”Neuen Kronen Zeitung” dokumentiert ist, ist demnach noch nicht ”wörterbuchreif”.
Zu den Quellen, die die Dudenredaktion bei ihrer lexikographischen Arbeit nutzt,
gehört in erster Linie die große Sprachkartei, die derzeit mehrere Millionen Sprach-
belege aus den unterschiedlichsten schriftlichen Quellen enthält. Das Quellenkorpus
umfaßt ein möglichst repräsentatives Textsortenspektrum, das von einfachen Ge-
brauchstexten (Bedienungsanleitungen für technische Geräte o. ä.) über Zeitungs-
und Zeitschriftenartikeln bis hin zu literarischen Texten reicht. Prägungen gespro-
chener Sprache kommen praktisch nicht in Betracht, es sei denn in verschriftlichter
Form über literarische Texte. Österreichische Quellen sind zu etwa 5 % enthalten.
Das Korpus ist variabel. Alle Texte stammen aus der Zeit zwischen 1900 und heute.
Für die Sprachkartei ausgewertet wurden und werden u. a. eine ganze Reihe österrei-
chischer Zeitungen und Zeitschriften, so z. B. ”auto touring” (Wien), ”Dolomiten”
(Bozen), ”Express” (Wien), ”Kronen-Zeitung” bzw. die ”Neue Kronen Zeitung”
(beide Wien), die ”Salzburger Nachrichten” (Salzburg), die ”Tiroler Tageszeitung”
(Innsbruck), die ”Oberösterreichischen Nachrichten” (Linz) u. v. a. m. Hinzu treten
die Werke wichtiger österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie Joseph
Roth, Heimito von Doderer, Ilse Aichinger. Aus dem ”Kurier” und der ”Neuen Kronen
Zeitung” stammen z. B. Belege für Gefangenenhaus; Gleichenfeier ist dokumentiert in
Exzerpten aus der Zeitschrift ”Profil” (Wien) und wieder dem ”Kurier”. Für Animo
gibt es einen Beleg aus den ”Oberösterreichischen Nachrichten” wie aus der in
München erscheinenden Zeitschrift ”Wiener” usw. Schließlich profitiert auch das
DDUW von den Arbeiten Jakob Ebners zum österreichischen Wortschatz, wie sie ins
Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten6 Eingang gefunden haben.
Aufnahme finden im allgemeinen solche Wörter, die im österreichischen
Sprachgebrauch standardsprachlichen oder umgangssprachlichen Charakter haben
und nicht der reinen Mundart angehören. Beispiele hierfür sind aus den untersuch-
ten Buchstabenstrecken A und G Akquisitor (gemeinspr. Akquisiteur), Animo
(‘Schwung, Vorliebe’), Gleichenfeier (Richtfest), assanieren (‘gesund machen,
verbessern’) oder gustiös (gemeinspr. appetitlich), aber auch die österreichisch-
umgangssprachlichen Wörter Grätzel (‘Teil eines Wohnviertels, Häuserblock’), Goder
(‘Doppelkinn’), äußerln (‘einen Hund auf die Straße führen’) u. a. m. Gleiches gilt für
spezifische Wortbedeutungen, die zu Wörtern des allgemeinen deutschen
6
Ebner, Jakob: Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten. 2.,
vollst. überarb. Auflage. Mannheim 1980.
3. Analyseergebnis
3.1 Der quantitative Befund
Das Deutsche Universalwörterbuch liegt der Dudenredaktion in einem elek-
tronischen, nach inhaltlichen Kriterien in SGML7 ausgezeichneten Format vor. Dieser
Datenbestand umfaßt rund 116 000 Stichworteinträge. Von diesen enthalten 2 074
die diatopische Angabe ”österr.”, das entspricht einem Anteil von 1,8 %. Die Zahl der
im DDUW enthaltenen Austriazismen entspricht damit genau ihrem Anteil im deut-
schen Gesamtwortschatz. So beziffert Wiesinger die lexikalischen Eigenheiten des
österreichischen Deutsch auf ”rund 4 000 Wörter von durchschnittlich 220 000 ge-
samtdeutschen Wörtern.”8 Zum Vergleich: Helvetismen sind in einer Größenordnung
von 1,1 % vertreten, süddeutsche Einheiten mit 0,6 %, norddeutsche mit 0,5 %; als
”landschaftlich” markiert sind 2,2 % aller Einträge und als ”regional” nur 0,05 %,
nämlich genau 67 Fälle. Entsprechend des gemeinsprachlichen Ansatzes des
Wörterbuches sind diatopische Varianten also generell nur am Rande berücksichtigt,
wobei neben den als ”landschaftlich” markierten, geographisch nicht genau zuzu-
ordnenden Einheiten insbesondere die Austriazismen eine größere Rolle spielen.
Von den 2 074 genannten Fällen entfallen 149 (= 7,2 %) auf grammatische An-
gaben. In der Regel werden hier Aussagen zum spezifischen Artikelgebrauch und zu
besonderen, (nur) in Österreich gebräuchlichen Flexionsformen gemacht.
7
SGML = Standard Generalized Markup Language (ISO 8879: 1986).
8
Wiesinger, Peter: Standardsprache und Mundart in Österreich. In: Deutsche Gegenwartssprache.
Tendenzen und Perspektiven. Hrsg. von Gerhard Stickel. IdS Jahrbuch 1989. Berlin/New York 1990.
S. 218 - 232.
Tabelle 1
Markierung Subst. Verb Adj. sonst. Summe
österr. 44 14 5 2 65
österr. ugs. 6 5 2 1 14
(bes.) österr. Amtsspr. 2 1 3
südd., österr. 13 5 1 19
südd., auch österr. 1 1
südd., österr. ugs. 2 1 1 1 5
südd., österr. salopp (abwertend) 1 1 2
österr., schweiz. 5 1 1 1 8
bes. österr., schweiz. 2 1 3
südd., österr., schweiz. mundartl. 1 1
südd., österr., selten schweiz. 1 1
südd., österr., schweiz., westmd. 1 1
landsch., bes. österr. 1 1
landsch., österr. veraltet, schweiz. 1 1
bayr., österr. 2 2
bes. bayr., österr. 1 1
bayr., österr. ugs. 2 2
bes. bayr., österr. ugs. 1 1
bayr., österr., schweiz. 1 1 2
österr. mundartl. 1 1
Für die restlichen Belege gilt, daß es sich hier gar nicht um Austriazismen in ei-
nem engeren Sinne handelt, sondern um sprachliche Besonderheiten, die ”auch in
Österreich” vorkommen, daneben aber ebenso im Süddeutschen (15,3 %), im
Schweizerdeutschen (6 %), im Süddeutschen und Schweizerdeutschen (3,3 %) und
auch im Bairischen (und Schweizerdeutschen; 5,5 %).
Tabelle 2
Markierung Subst. Verb Adj. sonstige Summe
österr. 13 8 21 21
österr., sonst veraltet,
Amtssprache 1 1
österr. ugs. 1 3 4
österr. ugs., bes. wiener. 1 1
österr. Amtsspr. 2 1 3
bes. österr. 2 2 4
südd., österr. ugs. 1 1
südd., österr. scherzh. 1 1
österr., schweiz. 1 1
bes. österr., schweiz. 1 1
südd., österr., schweiz. 1 1
landsch., bes. österr. 1
landsch., bes. südd., 1
österr. 1 1
bayr., österr. 2 2
bes. ostösterr. 1 1
schweiz., bes. westösterr. 1 1
1. Küche 5. Verkehrswesen
2. Amts- und Militärwesen inkl. Titel 6. Beruf
3. Schulwesen 7. Praktisches Leben, alltägliche Dinge
4. Politik und Verrichtungen
Außerdem soll sich die österreichische Lexik durch Fremdwörter, die im Bin-
nendeutschen durch deutsche Wörter ersetzt wurden, auszeichnen (Ebner) sowie
durch viele alte oder internationale Wörter (Mentrup).
Berücksichtigt man nur die zuvor als genuin bezeichneten Belege, dann ergibt
sich für eine Gesamtsumme von 81 Wörtern, die als ”österreichisch” oder
”österreichisch umgangssprachlich” markiert sind, folgendes Ergebnis:
9
z. B. Rizzo-Baur, Hildegard vgl. 1; Ebner, Jakob vgl. 4; Mentrup, Wolfgang und Kühn, Peter:
Deutsche Sprache in Österreich und in der Schweiz. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik.
Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand. 2., vollst. neu bearb. und
erweiterte Auflage. Tübingen 1980. S. 527 - 536.
Tabelle 3
Bereich Anz. % Beispiele
Küche 12 14,3 Aschanti(nuß), Gansljunge, Gedünstete, Gerebelte,
Gerstelsuppe, Grießschmarren, Gustostückerl, abre-
beln, abschmalzen, ausschroten, geschmackig, gu-
stiös
Amts- und 8 9,5 Ärar, Gestionsbericht, Amtskanzlei, Ausbildner, Ge-
Militärwesen bietskrankenhaus, Gefangenenhaus, Grindel, ausfol-
gen
Schulwesen 1 1,2 Aufnahmsprüfung
Verkehrswesen 1 1,2 gassenseitig
Prakt. Leben / 42 50 Absteigquartier, Adventkranz, Anbot, Aß, Aufsitzer,
Alltägliches Ausreibtuch, Ganeff, Gaudee, Guckerschecken, Go-
der ... antauchen, anpicken, ausplauschen, aus-
schoppen, äußerln, auswerkeln, grapsen, geblumt,
gehaut, gefinkelt
Beruf 7 8,3 Almer, Ausnehmer, Auszugsbauer, Gehaltsvor
rückung, Gerüster, Gleiche(nfeier)
Politik 0 0
Fremdwörter 8 9,5 Agentie, Ambo, Animo, Assanierung, Garçonnière,
agentieren, assanieren, außertourlich
alte/intern. 2 2,4 Akquisitor, Aviso
Wörter
des Gebrauchs von Fremdwörtern oder von deutschen Wörtern. Fremdwortgut liegt
in beiden Varietäten des Deutschen vor. Nur erscheinen diese Fremdwörter in unter-
schiedlicher Form.
Völlig unterrepräsentiert sind in den Auswahlstrecken schließlich die Bereiche
Schule, Politik und Verkehr. Es darf aber angenommen werden, daß sich ihr Anteil an
den im DDUW enthaltenen Austriazismen auch bei der Berücksichtigung einer grö-
ßeren Teilstrecke nicht wesentlich erhöhen würde.
Rudolf Muhr
(Graz)
1. Einleitung
In Publikationen, die Aussagen zu den linguistischen Merkmalen des ÖD
machen, findet sich meistens der Hinweis, daß es in bezug auf die Grammatik nur
sehr wenige Unterschiede zum Bundesdeutschen gibt. In der Regel wird auf die
Perfektbildung mit sein der Verben liegen, sitzen und stehen und auf einige wenige
andere Punkte verwiesen.
Mich interessierte die Frage, auf welcher theoretischen und empirischen Basis
diese Aussagen zustandekamen und ob es tatsächlich nur so wenige Unterschiede in
diesem Bereich gibt. Darüber hinaus möchte ich auch auf einige grundsätzliche
Probleme der Beschreibung plurizentrischer Sprachen eingehen, um dann einen
kurzen Überblick über bisher bekannte und bisher noch nicht bekannte
grammatische Merkmale des ÖD zu präsentieren, ohne jedoch den Anspruch der
Vollständigkeit zu erheben. Im zweiten Teil der Arbeit sollen dann auch einige
wichtige pragmatische Merkmale des ÖD vorgestellt werden. Das Vorhandensein
solcher Unterschiede wurde immer wieder angedeutet1, sodaß es sinnvoll schien,
auch dieser Frage nachzugehen. Erste Teilergebnisse liegen in drei meiner
Publikationen (Muhr, 1987f, 1993, 1994) vor. Allerdings kann nur ein erster
Überblick über die wichtigsten Punkte der beiden Bereiche gegeben werden, eine
auch nur annähernde Vollständigkeit zu erreichen, ist derzeit nicht möglich
1
Z.B. Moser (1989).
2
Rizzo-Baur (1962); Ebner (1980) usw.
-210-
Hinzu kommt, daß es sprachliche Formen gibt, die herkömmlicher Weise als nicht
standardsprachlich gelten, aber weit verbreitet sind und als typisch für eine Variante
zu werten sind. Ich habe in mehreren Publikationen außerdem auf das
Vorhandensein eines "Standards-nach-Innen"3 verwiesen, der in der
Innenkommunikation verwendet wird und ebenfalls Zielpunkt von Identifikation und
sozialer Orientation ist und damit die Neubestimmung des Begriffs "Standardsprache"
in plurizentrischen Sprachen notwendig macht4. Diese Variante ist überwiegend
gesprochene Sprache und als großregionale, innerösterreichische Ausgleichvariante
(Ost-, Westösterreichisch) anzusehen. Sie wurde bisher in der Kodifizierung nicht
bzw. nur dann berücksichtigt, wenn lexikalische Ausdrücke über die Sprache sog.
seriöser Zeitungen bzw. über den Sprachgebrauch führender sozialer Gruppen zum
Teil der öffentlichen Sprache wurde. Typisches Beispiel ist der Ausdruck Pickerl, das
noch vor 20 Jahren als typisches Dialektwort galt, heute aber allgemein für alle
Klebeetiketten steht und darüber hinaus noch eine Spezialbedeutung bekommen hat:
Es bezeichnet jene (grüne/weiße) Etikette, die man auf die Windschutzscheibe
geklebt bekommt, wenn man sein Kraftfahrzeug zur jährlichen Sicherheits-
überprüfung gebracht hat und alles in Ordnung war. Also das, was man in der BRD
als TÜV bezeichnet. Ein weiteres Beispiel ist der Abschiedsgruß Baba (gesprochen
['b!a:'b!a:]), der ursprünglich der Kindersprache angehörte und sich Anfang des 80-iger
Jahre über die Studentensprache von Graz ausgehend nach Wien und von dort über
die Medien im ganzen Land verbeitete. Beide Ausdrücke sind Beispiele für die
endogene Erneuerung des österreichischen Deutsch. Bezüglich ihrer Kodifizierung
werden eine Reihe grundsätzlicher Fragen aufgeworfen:
1. Was ist der sprachtheoretische Ausgangspunkt der vergleichenden Analyse
zwischen Varianten einer plurizentrischen Sprache? Ist der Schriftstandard,
Gebrauchsstandard, beides?
2. Inwieweit kann die gesprochene Sprache miteinbezogen werden und welche
ihrer Merkmale sind zu berücksichtigen?
3. Was ist mit "typischen" Merkmalen, die nicht kodifiziert, aber weit verbreitet
sind?
4. Welches Textkorpus ist der Analyse und dem Vergleich zugrunde zu legen? Eine
Analyse auf der Basis von Zeitungstexten ergibt andere Ergebnisse als ein Korpus
der Literatursprache.
5. Welchen Begriff von Grammatik legt man zugrunde?
Die derzeitige Praxis der Kodifizierung beruht ausschließlich auf geschriebenen
Texten. Das ist für die österreichische Situation mehr als problematisch, da damit die
Standard-nach Innen-Variante praktisch als "Dialekt" ausgeschlossen wird und alle
ihre grammatischen Merkmale in keinem Kanon gültiger grammatischer Merkmale
aufscheinen. Allerdings gibt es ein kleines Schlupfloch in Form der Zeitungssprache,
wobei die sog. "Boulevardzeitungen" eine ganz besonders große Rolle spielen. Diese
3
Vgl. dazu Muhr (1987/1990)
4
Für einige Ansätze dazu vgl. Muhr (1991)
Sprache ist der gesprochenen relativ nahe und wirkt damit als Erneuerungsquelle der
geschriebenen Sprache. Dieser empirischen Tatsache steht allerdings der Umstand
entgegen, daß diese Sprache in der Meinung von Spracharbeitern verschiedener
Branchen ein außerordentlich niedriges Prestige hat. Eine zweite Quelle der
Erneuerung sind die auch Werke von Schriftstellern, die sich in ihren Werken mit
der sozialen Realität Österreichs auseinandersetzen. Diese heute fast ausgestorbene
Spezies verwendet bei der Darstellung ihrer Charaktere Formulierungen, die dem
aktuellen Sprachgebrauch, vielfach auch gebrochen durch schriftsprachliche Über-
setzungsregeln, sehr nahe sind. Dazu gehört z.B. Thomas Bernhard, der in seinem
Furor vielfach gesprochene Sprache verschriftet hat und diese durch seine Prominenz
vor dem Zugriff bundesdeutscher Lektoren erhalten konnte. Bei Bernhard kommen
z.B. Belege des sog. "passé surcomposé" (Doppeltes Perfekt/Plusquamperfekt) vor, die
andernorts sicher als falsch korrigiert worden wären. Beispiel:
1. [...] eine Unverschämtheit, die mich an ihnen schon immer abgestoßen gehabt
hat. Fast alle zu dem Nachtmahl Gekommenen hatten noch ihre [...]
(Bernhard:Holzfällen 32:26)
2. Allein das Wort lungenkrank hatte mich immer entsetzt gehabt. Jetzt hatte ich es
den ganzen Tag so oft zu hören bekommen, daß ... (Bernhard:Atem 105:25)
Diese Struktur kommt in der gesprochenen Sprache auch in Deutschland vor,
wie ich selbst an Sprechern in Mannheim mehrmals feststellen konnte. Sie wird dort
allerdings (wie in Österreich) als nicht-standardsprachliche Erscheinung betrachtet.
Wissenschaftlich abgehandelt wurde sie von Eroms (1989).
Daran ist erkennbar, daß sich die derzeitige Diskussion um die Merkmale der
Varianten des Deutschen gewissermaßen im präskriptiven Korrekturkreis dreht: Was
kodifiziert wurde, erscheint in den Texten und was nicht kodifiziert ist, wird aus
diesen entfernt. Die so gereinigten Texte, besonders literatursprachlicher Herkunft,
dienen wiederum als Grundlage für die Kodifizierung, wodurch die Schere zwischen
gesprochener und geschriebener Sprache und damit die Diskrepanz zwischen der
kodifizierten Sprache und der gesprochenen Sprachwirklichkeit immer größer wird.
Für Österreich ist dieser Umstand doppelt bedeutsam, da die typischsten
österreichischen Sprachmerkmale gerade in der gesprochenen, überregionalen
Sprache zu finden sind, diese aber oft als "nicht-standardsprachlich" vermieden
werden. Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt ist der Grammatikbegriff, den man der
Analyse zugrundelegt. Herkömmlicher weise besteht die Grammatik ja aus der Lexik,
Syntax und Morphologie, d.h. aus den syntagmatischen und paradigmatischen Kom-
binationsregeln, den Reihefolgeregeln (Wort- und Satzgliedstellung), den damit
verbundenen morphosyntaktischen Formationsregeln bzw. der Wortbildung. Die
Semantik steht in diesem traditionellen Modell immer ein wenig abseits und wird als
solche implizit im Bereich der Wortartendarstellung miteinbezogen. Ein Blick auf die
empirischen Daten zum ÖD zeigt aber, daß gerade in der Semantik große Unter-
schiede zu finden sind, die eine Reihe grammatischer Phänomene nach ziehen. Zur
Daran läßt sich ein typisches und bisher übersehenes Merkmal nationaler
Varianten zeigen: Es sind dies Präferenzunterschiede, die durch die Wahl
unterschiedlicher lexikalischer Mittel innerhalb desselben Ausdrucksfeldes entstehen.
Weiters besteht zwischen den einzelnen Ausdrücken semantisch vielfach nur
Teilsynonymie, die Unterschiede bei der Selektion der Kollokationselemente bewirkt.
Die verschiedene semantische Basis führt auf diese Weise zu divergierenden
grammatischen Systemen. Wie subtil diese Unterschiede sind, zeigt sich am Stichwort
bekommen im Duden-Universalwörterbuch:
5
Duden Universalwörterbuch 1989:462
7) *~es nicht über sich b. «hat» (sich f) jmdm. [nicht] zuträglich sein;
nicht zu einer [für die eigene oder [un]günstig für jmdn., etw. sein «ist»:
eine andere Person] unangenehmen das Essen ist mir [gut] bekommen;
Handlung entschließen können): sie wohl bekomm's!
hatte es nicht über sich bekommen,
ihn zu betrügen.
Leider läßt es des die knapp bemessene Zeit nicht zu, auf die theoretische Seite
der Analyse weiter einzugehen. Im folgenden soll nun ein kurzer Überblick über
wichtige grammatische Merkmale des ÖD gegeben werden, wobei ich mich auf die
weniger oder nicht bekannten Merkmale konzentrieren möchte. In den
nachfolgenden Tabellen und Aufstellungen stehen in der linken Spalte jeweils die
österreichischen Formen und in der rechten die bundesdeutschen.
6
3. Grammatische Merkmale des ÖD
3.1 Grammatische Kategorien - Genusunterschiede bei
Substantiven
2. Artikelgebrauch
2.1 Eigennamen werden mit Artikel bzw. auch ohne gebraucht:
6
In den nachfolgenden Tabellen und Aufstellungen finden sich in der linken Spalte die österreichischen
Ausdrücke und in der rechten die bundesdeutschen.
-erl Ableitungen: bisserl <> bißchen; Busserl, das <> Küßchen, das; Salzstangerl,
das <> Salzstange, die; Schwammerl, das <> Pilz, der; Tratscherl, das <>
Plauderei, die; Pickerl, das <> Klebeetikette, die; Zuckerl, das <> Bonbon, das;
Kipferl, das <> Hörnchen, das usw.;
-erln Ableitungen: äußerln (den Hund auf die Straße führen); fensterln (nachts
durchs Fenster zur Geliebten gehen) usw.;
-eln Ableitungen: brandeln (etw. anzünden); packeln (etw. hinterrücks aus-
machen); zündeln (anzünden); fratscheln; ausfratscheln (ausfragen) usw.;
-ert Suffix in der gespr. Sprache: patschert (unbeholfen); schlampert
(schlampig); teppert (blöde); hatschert (hinkend); wacklert (wacklig) usw.;
2.4 Fugenmorpheme -s -Ø -e
-s Morphem: Aufnahmsprüfung/Aufnahmeprüfung; Fabriksbesitzer; -sarbeiter;
-sdirektor; Zug-sverkehr; -sverbindung; -sunglück <> Zugverkehr; -
verbindung; -unglück; Überfallskommando/Überfallkommando; Gelenksent-
zündung/Gelenkentzündung usw.;
-Ø Morphem: Mausfalle <> Mausefalle; Taglohn <> Tagelohn; Taglöhner <>
Tagelöhner
2.5 Die Ableitungen mit -ieren bei Verben
delogieren <> rauswerfen; exekutieren <> Auftrag ausführen; pragmatisieren
<> fest anstellen; tranferieren <> versetzen; refundieren <> ersetzen; vidieren
<> beglaubigen; strichlieren <> stricheln; eruieren <> herausfinden
2.6. Verschiedene Suffixe bei Adjektiven und Adverbien mit teilweisen
Bedeutungsunterschieden
grauslich <> grausig; brenzlich <> brenzlig; durchwegs <> durchweg
2.7 Lateinisches Genitiv-i der II. Deklination bei Feiertagsnamen und Kirchenbauten
vs. -s Morphem.
2. Eine Präposition oder ein Adverb wird mit unterschiedlichen Verben kombiniert.
Die jeweiligen Wörter haben dieselbe Basisbedeutung und drücken prinzipiell
denselben Inhalt aus.
4) Im ÖD gibt es eine Reihe von Präfixverben und Neubildungen, die im Bdt. keine
direkte Entsprechung haben
lediglich die Aufgabe gestellt, zu beurteilen, ob der jeweilige Testsatz von ihnen für a)
unmöglich (Spalte 1); b) möglich, aber nicht üblich (Spalte 2); c) möglich und üblich
(Spalte 3) gehalten wird.
Obwohl die Anzahl der Testpersonen sehr gering ist, zeigten sich in sehr vielen
Fällen ganz eindeutige Ergebnisse. Die Besprechung der Testsätze mit fachkundigen
Kollegen bestätigte darüber hinaus die (vorläufigen) Untersuchungsergebnisse, die
derzeit an einer großen Zahl von Gewährspersonen überprüft werden.7
1. Das Verb abfallen hat in Österreich nicht die Bedeutung "einen Anteil bekom-
men". Stattdessen steht "bekommen" bzw. "überbleiben".
unmögl mögl./ mögl.+
nicht übl. üblich
3. Das Verb beibiegen gibt es in Ö. nicht. Stattdessen steht beibringen bzw. erklären.
7
Die Untersuchung wird fortgesetzt und voraussichtlich 1996 publiziert werden. Ich danke Jana
Hlaèinova herzlich für die Mithilfe.
4. Das Verb vorbinden gibt es in Ö. nicht. Es wird zwar für möglich, aber nicht
üblich gehalten. Stattdessen steht umbinden.
5. Das Verb aufbringen gibt es in Ö. nicht in der Bedeutung auf eine Fläche
streichen. Stattdessen steht "streichen".
führt von der Siedlung weg", also nicht die Bedeutung "etw. Schweres
abtransportieren".
8. Das Verb "abbringen" hat in Österreich nicht die Bedeutung "lösen/von einer
Oberfläche lösen". Stattdessen steht "wegbringen".
Wie die Testsätze 134ff zeigen, ist in Österreich die Verwendung eines
zusätzlichen Richtungsadverbs bei Verben der Fortbewegung ganz offensichtlich
nicht notwendig. Darüber hinaus kann das Verb "bringen" nur mit "weg" und nicht
mit "fort" kombiniert werden, da dieses die schon erwähnte lokal-statische Bedeutung
hat (Er ist fort. = Er ist nicht da/hier.).
10. Das Adverb "hoch" hat in Österreich nicht die Bedeutung "hinauf". Stattdessen
steht "hinauf" oder kein Adverb.
11. Das Verb "vorbringen" hat in Österreich nicht die Bedeutung "nach vorne/in den
vorderen Teil eines Ortes bringen". Es hat lediglich die abstrakte Bedeutung
"erklären/vortragen".
1. da vs. dort
(Jemand war gestern in Berlin.) In Deutschland ist es möglich und üblich, zu
sagen: "Ich war gestern da", wenn sich jemand zu einem späteren Zeitpunkt auf
diesen Ort bezieht und sich dort nicht mehr befindet. In Österreich ist in diesem Fall
hingegen die Verwendung von "dort" üblich: "Ich war gestern dort." Dahinter steht
die deutliche Unterscheidung zwischen sprechereigenen und sprecherfremden Ort.
Faßt man diese exemplarischen Beispiele zusammen, ergibt sich folgendes Bild:
1. Die Bedeutungs- und Gebrauchsunterschiede ergeben sich vor allem aus der
Verwendung lokaler Präpositionen wie "ab", "bei", "auf" etc., in der Bedeutung
"Kontakt mit einer Fläche" bzw. "Richtung auf einen Punkt hin".
2. Eine besonders große Wirkung haben die Präpositionen "ab" und "aus" in der
Bedeutung "weg" bzw. "Richtung auf einen Punkt hin".
3. Dasselbe gilt für Adverbien wie "fort", "hoch" etc., die in Österreich geringe bis
keine Richtungsbedeutung, sondern eher lokal-statische Bedeutung haben.
4. Bei den Richtungsadverbien gibt es Unterschiede in der Bedeutung und in der
Kombinationsfähigkeit mit Verben.
5. Syntaktische Unterschiede
In der Fachliteratur werden nur wenige grammatische Merkmale angeführt.
Dazu gehören die schon erwähnte Bildung des Perfekts mit "sein" bei den Verben
"stehen, sitzen, liegen" sowie der weitgehende Entfall des Präteritums zugunsten des
Perfekts als Erzählzeit in der gesprochenen Sprache. Tatsächlich gibt es wesentlich
mehr syntaktische Unterschiede als diese. Der folgende Überblick gibt Hinweise auf
andere grammatische Unterschiede, die bisher nicht beachtet wurden. Der Überblick
ist keineswegs vollständig.
5.1 Die Wahl der Präpositionen in Präpositionalgruppen in
der Funktion von Lokalbestimmungen der Unterkategorie
"Punktuelle Lokalität mit Kontakt"
Österreich Deutschland
Auf dem Baum sind noch Äpfel. An dem Baum sind ...
auf : an Sie sind/studieren auf der Uni. an der Uni sein/studieren.
Auf der Uni/auf der Polizei war An der Uni/bei der Polizei
viel los. lossein.
Alles liegt auf dem Boden. .. am Boden liegen.
auf : am Aber: Er ist nervlich am Boden. ... am Boden sein.
Wir leben auf dem Land. ... am Land leben.
Zornig sprang er auf/an die an die Zimmerdecke sprin-
auf : an Zimmerdecke. gen.
Sie starrten auf die Zimmer- an die Zimmerdecke starren.
decke.
4. Du stehst mir erst wieder zum Abendessen auf. (HR1 25.5.90) Öst.: beim/zum
Abendessen auf.
3. Da haben wir Frau E. gefragt, Ernährungswissenschaftlerin bei der Bundesanstalt
für Ernährungswissenschaft. (SWF1 Baden aktuell, 20.6.90) Öst.: an der
Bundesanstalt. In Ö wird durch "an" stärkere (lokale) Affiliation ausgedrückt, je-
doch nur bei "abstrakten" Objekten (wie Institutionen).
Österreich Deutschland
am:zum am Ende vorigen Jahres. zum Ende vorigen Jahres.
am Wochenende. zum Wochenende
am 25. Jahrestag der Gründung zum 25. Jahrestag.
von/ Es passierte in der Nacht vom in der Nacht zum Sonntag.
vom : zum Sonntag. (= die Nacht von Sams-
tag auf Sonntag).
auf : zum Ich war in der Nacht auf Montag zum Montag
dort.
Auch zu den Temporalbestimmungen möchte ich noch einige Belege aus der bundes-
deutschen Mediensprache anführen:
1. Die Witterungsbeständigkeit nimmt in der Nacht zum Sonntag ab. (SDR Nach-
richten 15.5.91). Öst.: nimmt in der Nacht auf Sonntag ab.
2. Die sind zu Tausenden nach Italien gereist, nachdem man zu Anfang keinen
Heller auf die junge Mannschaft setzte. (SWF1, Bericht über WM-Fans, 30.6.90).
Öst.: nachdem man am Anfang keinen Heller auf die junge Mannschaft setzte.
3. Spitzenvertreter der Regierung kommen am Mittag mit der SPD zusammen. (HR1
29.5.) Öst.: kommen zu Mittag/in der Mittagszeit zusammen. In Österreich ist
"am" nur kombinierbar mit Substantiven, die das semantische Merkmal "+ lokal"
tragen.
4. Es ist spät am Tag. (SWF, 22.5.90, Morgenmagazin). Öst.: Es ist bereits spät/oder
Zeitpunktnennung.
5. Meine Mutter ist schon fast in die 60. (HR3 19.6.90) Öst.: ist schon fast 60
(Jahre alt). In Ö "in" + Zeitpunktangabe nicht möglich, sondern hat primär nur
lokale Bedeutung.
Österreich Deutschland
1. Man muß alles händisch machen. 1. Man muß alles von Hand machen.
Adjektiv vs. Präpositionalgruppe (ARD-Fernsehshow 22.5. 21'55)
2. Er wohnt als Untermieter schwarz. 2. Er wohnt schwarz zur Untermiete.
(Abstrakt/ apersonal vs. personal) (HR1, Aktuell 28.5.90)
3. Üblich: Wir liegen mit der Zeit ganz 3. Wir sind ganz gut in der Zeit. (ZDF,
gut. Wir liegen ganz gut in der Zeit. Sportübertragung 19.6.90)
(Möglich aber nicht sehr üblich.)
4. Da ist einer schwer beim Arbeiten. 4. Da ist einer am Schaffen dran.
("Bei" gegenüber "am" in Verbindung (Mannheim, Aussage eines Mitarbeiters
mit Verbalabstrakta, die aus über einen Arbeitskollegen)
Tätigkeitsverben gebildet wurden.)
Das Perfekt der folgenden Verben wird in Ö. mit "sein" in Dtld. überwiegend
mit "haben" gebildet: liegen, stehen, sitzen, hängen, knien, lehnen, schweben, stecken.
Im Süddeutschen und im Schweizerischen ist die Perfektbildung dieser Verben
ähnlich wie im Österreichischen, sie wird jedoch in Deutschland sehr oft als
"umgangssprachlich" angesehen.
5.7 Die Vergangenheitstempora
5.7.1 Das Präteritum
Das Präteritum wird in Österreich in der gesprochenen Sprache selbst in den
sozial höchsten Registern und in der öffentlichen Sprache sog gut wie nicht
verwendet, sondern durch das Perfekt ersetzt. Vermieden werden insbesondere die
Präteritumsformen der starken Verben. Die einzige Präteritumsform, die häufig
verwendet wird, ist das Präteritum von "sein" - "war", das vielfach mit den
entsprechenden Perfektformen "bin - gewesen" konkurriert. Anders ist es in der
geschriebenen Sprache, wo das Präteritum sehr wohl vorkommt und wie sonst im
gesamten dt. Sprachraum als Erzähltempus zum Erzählen von zurückliegenden und
abgeschlossenen Ereignissen dient.
5.7.2 Das Perfekt
Das Perfekt ist in Ö das universielle Vergangenheitstempus, das alle unmittelbar
vor dem Sprecherzeitpunkt liegenden, entweder abgeschlossenen oder nicht ab-
geschlossenen Ereignisse darstellt. Es ist - wie schon erwähnt - der Ersatz für das
Präteritum und (in Verbindung mit Temporaladverbien) teilweise auch für das
Plusquamperfekt.
5.7.3 Das Plusquamperfekt
Es wird in der gesprochenen Sprache (außer im formalen Diskurs und im
höchsten Register) faktisch nicht verwendet und kommt sowohl mit "hatte", als auch
mit "war" nur in der geschriebenen Sprache vor, dort allerdings den kodifizierten
schriftsprachlichen Normen gemäß.
3. ein Drittel war vor der Geburt Röntgenstrahlen ausgesetzt gewesen, 31 dieser
Kinder entwickelte bis zum Alter von 15 Jahren Krebs. (Handbuchkorpus:
Mannheimer Korpus)
5.8. Die Reihenfolge der verbalen Elemente im sog.
Schlußfeld des Satzes
Flemming Stubkjär von der Univ. Odense kommt das Verdienst zu, auf die Un-
terschiede in der Abfolge der Verbformen im sog. Schlußfeld des Satzes aufmerksam
gemacht zu haben (Stubkjär, 1993), die in der folgenden Übersicht dargestellt sind.
Der Unterschied zwischen dem ÖDt. und dem Bundesdeutschen besteht darin,
daß beim Aufeinandertreffen von drei Verbformen im Schlußfeld von Nebensätzen in
Österreich zuerst der Infinitiv des Vollverbs und erst dann das finite Verb steht,
während es sich im bundesdeutschen Standard genau umgekehrt verhält. Stubkjär
(1993:48) weist darauf hin, daß in der österreichischen Variante "erreicht wird, daß
das Hauptverb in nächstem Kontakt zu seinen nominalen Gliedern steht" und es sich
damit um keine Verletzung der Reihenfolgennorm handelt, sondern um eine
alternative Anordnung, in der "die mitzuteilende, grundlegende Proposition, d.h. das
Hauptverb mit seinen nominalen Ergänzungen und Angaben, zuerst innerhalb des
Satzbogens zu Ende geführt wird."
8
Vgl. dazu ausführlich Muhr (1995c).
9
Nach Plasser/Ulram (1993:43) wird diese Haltung von der Sozialforschung als "competitiver
Individualismus" bezeichnet.
10
Plasser/Ulram (1993:43)
Michael Bürkle
(Innsbruck)
Österreichische Standardaussprache:
Vorurteile und Schibboleths
0. Vorbemerkungen
Zur österreichischen Aussprache gibt es viele Meinungen, aber nur relativ
wenig Empirie – neben Luick (1923) sind aus in jüngerer Zeit vor allem die Arbeiten
von Sylvia Moosmüller und meine Beiträge zu erwähnen; das österreichische Beiblatt
zum Siebs ist wohl kaum unter die empirisch fundierten Beiträge zu rechnen.
Es gibt allerdings viele Ansichten darüber, an welchen kennzeichnenden
Merkmalen (Schibboleths) man österreichische Sprecher erkennt. Manche dieser
vermeintlichen Schibboleths stellen sich als Fehl- oder Vorurteile heraus. Manche
Vorurteile über das österreichische Deutsch erweisen sich dagegen – zumindest
teilweise – als stimmig. (Vorurteile sind ja nicht unbedingt falsch; sie sind lediglich
auf verkürztem Weg gewonnen.) Von den verschiedenen "Meinungen" zur Aus-
sprache des österreichisches Deutsch (ö.D.) und ihrer Deckung in der Realität bzw.
Empirie handelt dieser Beitrag.
Ein Grund, warum es zwar viele Meinungen, aber so wenig Empirie über die
Aussprache des ö.D. gibt, ist, daß das ö.D. immer, in jeder Situation, in verschiedenen
Registern auftreten kann. Die Wahl des sprachlichen Registers ist in Österreich nicht
allein durch die Kommunikationssituation bestimmt; umgekehrt kann also eine Situa-
tion in Österreich nicht durch die Wahl des Registers beschrieben werden. In jeder
Situation kann aus stilistischen, rhetorischen, ästhetischen, also jedenfalls pragma-
tischen Gründen das Register mehrfach gewechselt werden – intentional bei routi-
nierten/kompetenten Sprechern, akzidentell bei unroutinierten bzw. in Bezug auf
den Standard weniger kompetenten Sprechern. Ich nenne hier zwei Beispiele:
a) In einer Podiumsdiskussion an der Universität Innsbruck zum Thema
"Zerstört der Tourismus die Umwelt?" äußert Herr K., ein redeerfahrener und in
gewissem Sinn auch redegewandter Tourismusmanager: "Ich nenne nur das Beispiel
Mieders. Mieders im Stubaital […]". Dabei ist die erste Nennung des Ortsnamens
Mieders gekennzeichnet durch einen standardsprachlichen Langvokal [i:], während
die zweite Nennung einen Diphthong [iÇ], also dialektal-umgangssprachlichen Ein-
schlag zeigt. (Außerdem sind im zweiten Satz auch andere dialektal-umgangs-
-237-
sprachliche Merkmale zu finden, wie z.B. stark velarisierte a-Vokale.) Ein und das-
selbe Wort wird in direkter Folge zweimal verschieden gesprochen. Ist Herr K. ein
schlechter Redner, nicht in der Lage, das standardsprachliche Register durchzu-
halten? Oder ist der Diphthong österreichischer Standard? Beiden Fragen ist mit
"Nein!" zu antworten. Meine Interpretation: Herrn K.´s abstrakte Argumentation
findet im (österreichischen) Standard statt; der Wechsel auf die exemplarische Ebene
wird mit einem Wechsel des Registers verbunden. Es handelt sich letztlich um ein
(vermutlich nicht völlig bewußt eingesetztes) rhetorisches Mittel. Solche rhetorischen
Registerwechsel sind – meiner Beobachtung nach – in ganz Österreich völlig normal.
b) In einem gemeinsamen linguistischen Seminar der Institute für Germanistik
der Universitäten Augsburg und Innsbruck wird Prof. M., ein Österreicher, genauer:
ein Tiroler, in einem längeren, in österreichischem Standard vorgetragenenen Dis-
kussionsbeitrag durch eine Frage einer Studentin unterbrochen. Prof. M. antwortet
mit: ”Desisch doch kloar” und führt danach seinen Redebeitrag im standardsprach-
lichen Register fort. Am Schluß der Diskussion thematisierte ich Prof. M.´s Verhalten
im Seminar und frage die Augsburger Studierenden, ob ihnen ähnliche Verhaltens-
weisen aus Lehrveranstaltungen in Augsburg geläufig sind. Die einhellige Antwort:
Nein, das sei völlig unüblich.
Österreichische Aussprache erscheint in der Praxis also fast immer in Register-
mischungen; es mischen sich deshalb in alltagstheoretische Meinungen und wissen-
schaftliche Befunde über den österreichischen Standard Meinungen und Befunde
über tiefere Register des ö.D. Weil die Frage nach der Aussprache des Standards
innerhalb des ö.D. also von pragmatischen Fragestellungen um- und überlagert wird,
bin ich froh darüber, das Thema Aussprache im Rahmen der Grazer Tagung in
pragmatische Zusammenhänge eingebettet zu sehen.
1
Die alltagstheoretischen Formulierungen sind in der Regel von weniger Fachvokabular
gekennzeichnet. Ich fasse hier zusammen und kürze, indem ich übersetze.
2
Erschienen als Bürkle(1995). In der Arbeit, die als Paralleluntersuchung zu W. Königs ”Atlas zur
Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland” konzipiert war, wird – wie bei
König – das Corpus durch das Vorlesen von Wortlisten gewonnen. Es handelt sich also um
Vorlesesprache und Laborsprache. Mir ist klar, daß meine Ergebnisse deshalb nicht naiv auf
tatsächlich gesprochene österreichische Deutsch übertragen werden können.
3
Die Versuchsanordnung entsprach der von W. König. Jede Gewährsperson las eine im wesentlichen
mit der Liste W. Königs identische Liste von ca. 1500 Wörtern auf Band. Es handelte sich um 15
Gewährspersonen (davon 11 Frauen) aus fast allen österreichischen Bundesländern (2 aus Wien, 3
aus Niederösterreich, 2 aus der Steiermark, 1 aus Kärnten, 2 aus Oberösterreich, 1 aus Salzburg, 2
aus Tirol und 2 aus Vorarlberg). Keine Gewährsperson war als Sprecher geschult, alle gehörten aber
der Bildungsschicht an, hatten insbesondere Matura und waren zwischen 1954 und 1965 geboren.
Im Rahmen meiner Dissertation habe ich allerdings lediglich die Verhältnisse in den unbetonten
Silben ausgewertet.
4
Die Regel […] gilt auch in Österreich, nicht jedoch bei lässiger Sprechweise”, ”Langvokale […]
können […] auch gekürzt werden”, ”[…] sind oft anders verteilt als in der [Standardlautung]” (alle
Formulierungsbeispiele aus Lipold 1988, S.41.)
5
Ich gebe dabei gerne zu, daß gerade in solchen Argumentationen mein Corpus seine inhärenten
Schwächen offenbart: verlesene Wortlisten unflektierter Wörter können manches nicht greifen.
derheit; sie gelte "im größten Teil Österreichs" (vgl. Lipold 1988:45). Tatsächlich
stelle ich in meinem Corpus für ganz Österreich fest, daß stimmhafte Lenes in unbe-
tonten Silben in jeder Position sehr bzw. äußerst selten sind: beim B mit etwa 4%
(Bürkle 1995:165f.), beim D mit etwa 10% (Bürkle 1995:170f.), beim G mit 0%
(Bürkle 1995:174) und beim S mit etwa 11% (Bürkle 1995,S. 184ff.).
2.3. Die Nachsilbe -ig
Bezüglich der Aussprache der Nachsilbe -ig mit Verschlußlaut meint Lipold
(1988:46), daß sie "heute […] in Österreich immer häufiger gebraucht" werde. Ich
stelle in meinem Corpus praktisch generelle Aussprache mit Verschlußlaut fest
(Bürkle 1995:190f.).
2.4. R-Vokalisierung
Lipold nennt noch eine gewisse R-Vokalisierung als systematische Aussprache-
besonderheit des österreichischen Deutsch. Tatsächlich stelle ich weitestgehende
Vokalisierungen von R-Lauten sogar in meinem laborsprachlichen Corpus fest (vgl.
Bürkle1995:201ff.).
2.5. Nasalierung vorausgehender Vokale
Eine generelle Auswirkung von Nasalen (vgl. Lipold 1988:46) konnte ich
dagegen in keiner Weise beobachten.
2.6.-2.10. Hochlautung in Österreich nach Moosmüller und
Dressler
Sylvia Moosmüller und Wolfgang U. Dressler beschreiben in einem Aufsatz
über "Hochlautung und soziophonologische Variation in Österreich” 7 ”Variablen",
die mehr oder minder typisch für österreichisches Deutsch sind:
2.6. Regressive Nasalassimilation (folgender Konsonant führt
zur Assimilation eines Nasals, Typ: fünf –> fümf)
Sie ist nach Moosmüller / Dressler "weitgehend generalisiert" (Moosmüller /
Dressler 1988:87), durch Lehrer zu ca. 96%, durch Universitätsprofessoren zu ca.
91%, in Nachrichtensendungen zu ca. 72%. An der Wortgrenze ist die Assimilation
seltener (in Nachrichten nur mehr bei 24%, in Vorlesungen und im Unterricht immer
noch bei etwa 75% bzw. 82%).
Diese Befunde kann ich aufgrund meines Corpus nicht bestätigen. Mir stehen
45 einschlägige Transkripte zur Verfügung (Wörter: Ankunft, Sänfte, zukünftig);
lediglich in 4 Fällen kommt es dabei zu einer Assimilation.6
6
Durch die Untersuchungsmethode – Vorlesesprache, Laborsprache – tendiert mein Corpus
höchstwahrscheinlich dazu, im Vergleich zum tatsächlich gesprochenen Standard zu ”korrekte”
Aussprache zu liefern. Andrerseits nehme ich an, daß Abweichungen ”nach unten”, die bereits in
meinem Corpus vorkommen, als typisch und generalisiert anzunehmen sind.
7
Dieses Merkmal ist in kabarettistischem Kontext allerdings als Schibboleth genützt worden; zwar
nicht in bezug auf die österreichische Gemeinsprache, wohl aber in Anspielung auf den ehemaligen
Außenminister Mock, der hier wirklich Großes geleistet hat.
43% der Fälle aus (Bürkle 1995:172f.). Das hängt damit zusammen, daß in meinem
Corpus beim bilabialem Verschluß die (allenfalls schwache) Aspiration eine relativ
geringe Rolle spielt (insgesamt ca. 31% der Fälle), während die Phonemopposition im
dentalen Bereich weit stärker noch durch die (allenfalls schwache) Aspiration getra-
gen wird (ca. 55% der Fälle).8 An beiden Artikulationsstellen wird allerdings nicht
nur dort lenisiert, wo die Fortis intervokalisch steht. Wörter mit Doppelkonsonant-
Schreibung tendieren auch in intervokalischer Position nicht zur Lenisierung; auch
sonst finde ich Lenes in intervokalischer Position nicht häufiger als in anderen
Positionen.
2.10. Intervokalische Spirantisierung des bilabialen
Lenisplosivs (Typ: aber –> awer)
Auch sie ist bei Moosmüller und Dressler von mittlerer Häufigkeit, selten (mit
ca. 6%) in Nachrichten, häufiger (mit ca. 62% bzw. 41%) im Unterricht und in
Vorlesungen. In meinem Corpus tritt dieses Phänomen nicht auf; es könnte sich
einerseits um ein dezidiert ostösterreichisches Phänomen handeln; und es dürfte auch
im Osten Österreichs praktisch nur in der unbetonten Wörtern auftreten, wie auch
das bei Moosmüller / Dressler gegebene Beispiel nahelegt. Ist es ein Merkmal, das an
unbetonte Wörter gebunden ist, so erklärt das weitgehend sein Nicht-Auftreten in
meinem Corpus.
Moosmüller und Dressler geben ohne weitere Kommentare noch Zahlen für
zwei Artikulationsmerkmale im Übergang zwischen Wörtern an, nämlich für die
"Konsonantentilgung im Auslaut vor anlautenden, nicht-homorganen Konsonanten"
(Typ: und Bürger –> un Bürger –>um Bürger) - ca. 13% bei Nachrichten, ca. 52% im
Unterricht und ca. 48% in Vorlesungen – und für die "Absorption homorganer
auslautender Konsonanten" (Typ: in Streik getreten –> inStreiketreten), die mit ca.
62% in Nachrichten, ca. 95% im Unterricht und ca. 78% in Vorlesungen ein sehr
häufiges Phänomen ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß beim Vorlesen einer
Wortliste Variablen, die den Übergang von Wort zu Wort betreffen – wie es die
beiden letzten bei Moosmüller und Dressler sind – nicht beobachtet werden können;
ich kann hier also keine Zahlenwerte ergänzen.
2.11.-2.16. Weitere Merkmale des österreichischen Deutsch9
8
An der velaren Artikulationsstelle (G vs. K) sieht es noch viel deutlicher aus: hier spielt – zumindest
in meinem Corpus, auch bei den Gewährspersonen aus Wien und Niederösterreich – der
Spannungsgrad praktisch keine relevante Rolle bei der Unterscheidung von Lenis und Fortis. Das
Merkmal Affrizierung ([k] vs. [kx]; der Verschluß wird an der gleichen Artikulationsstelle in einen
Reibelaut übergeführt) trägt hier mit ca. 70% aller Realisierungen bei den theoretischen ”Fortes” (vgl.
Bürkle 1995, S.175f.) die Phonemopposition zwischen theoretischer "Lenis” und ”Fortis”.
Die tägliche Praxis in der öffentlichen Rede beweist, daß die von mir hier geortete Phonemopposition
bei vielen Personen aus Ostösterreich immer wieder eingeebnet wird. Es wird noch anderer
Untersuchungen bedürfen, um zu klären, ob beispielsweise wienerisches ”glauben” für klauben etc.
mehrheitlich als österreichischer Standard akzeptiert werden kann oder ob es sich bei solchen
Ausprachevarianten nicht um ein Switching in etwas tiefere Register handelt.
9
Nach Bürkle (1995).
– E-Vokale
Es kommt beim E - wie bei allen jeweils "benachbarten" Vokalphonemen - zu
"Überlappungserscheinungen". Alle Transkripte zwischen neutralem und geschlos-
senem [e] geben mögliche Artikulationen von Siebs´schen kurzen offenen, kurzen
geschlossenen oder langen geschlossenen E-Vokalen wieder. Es ist z.B. der praktisch
völlige Zusammenfall von kurzem offenen [E] und kurzem (theoretisch geschlos-
senen) [e] (in Wörtern wie lebendig) festzustellen (vgl. Bürkle 1995:115ff.).
Kurze, offene E-Vokale treten nach Siebs bei einigen Wörtern im Wortinneren,
dazu in Wörtern mit den Präfixen ver-, zer-, er- und ent- auf. In allen Fällen wird
der gleiche Vokal als Aussprachenorm empfohlen; die Realität sieht anders aus. Beim
ent- ist festzuhalten, daß der Vokal generell als (evtl.) leicht zentralisiertes, neutrales
bis geschlossenes E realisiert wird. Beim ver- ist die bei weitem dominierende Artiku-
lation (ca. 75%) einfach ein vollzentralisierter Vokal mit A-Färbung (Typ: verändern
–> vaändern). Beim zer- sind derartige Realisierungen mit ca. 50% seltener; Spielar-
ten mit Diphthong-Charakter werden etwas häufiger. Beim er- dagegen werden
diphthongische Varianten mit über 80% dagegen dominierend. Der deutliche
Unterschied in der Aussprache der Präfixe ver- (bzw. zer-) und er- findet in den
Aussprachewörterbüchern übrigens keinerlei Niederschlag.
– Die I-Vokale (vgl. Bürkle 1995:103ff., bes. S. 111f.)
Es zeigt sich schnell, daß eine Analyse der Aussprachegewohnheiten am besten
nach Suffixen getrennt zu erfolgen hat.
Die Suffixe -ig und -lich (sowie -igkeit) verhalten sich ähnlich. Sie zeigen in
etwa einem Viertel aller Fälle leicht zentralisierte Artikulation ([ iW ]), in etwa drei
Viertel der Fälle nicht-zentralisierte ("voll-vokalische") Aussprache. Innerhalb der
”vollen” Realisierungen sind in Bezug auf ihren Öffnungsgrad neutrale die größte
Gruppe, tendenziell offene dagegen nur etwa halb so häufig.
Bei -nis und -ling sind leicht zentralisierte Varianten mit 41% bzw. 34% etwas
häufiger; gleichzeitig sind innerhalb der vollen Varianten die offenen fast gleich
häufig (beim -nis mit 28% vs. 31%) oder sogar noch etwas häufiger (beim -ling mit
35% vs. 31%) als die neutralen.
Eine Zwitterstellung nimmt -isch ein, in dem der Vokal zwar auch in drei Vier-
tel der Fälle voll (also nicht-zentralisiert) artikuliert wird; trotzdem ist eine relativ
starke Tendenz zur Öffnung zu bemerken (41% offene vs. 35% neutrale Varianten).
Es ist festzuhalten, daß Artikulationen, die auf eine Rolle des Schwa-Lauts als
General-Allophon hindeuten, äußerst selten sind. Entsprechende Varianten eines I-
Vokals kommen in keinem Fall auf 2% der Artikulationen.
Zwischen langem und kurzem Vokal gibt es auch hier typische "Überlap-
pungen": Kurzer und langer I-Vokal haben einige Transkripte gemeinsam; jede neu-
trale bis offene bzw. kurze bis halblange I-Variante könnte im wesentlichen eine
Realisierung des kurzen oder des langen I-Phonems sein. Zwar bleibt die phonolo-
gische Opposition Kürze vs. Länge auch in unbetonter Stellung zumindest rudimentär
erhalten: einerseits dadurch, daß Zentralisierung häufiges Merkmal (um ca. 25%)
unbetonter kurzer I-Vokale und nur von eher marginaler Bedeutung (um ca. 2%) bei
unbetonten langenI-Vokalen ist, andererseits durch den Umstand, daß Dehnung
mindestens bis zur Halblänge für ein "eigentlich" langes I der Normalfall (bei etwa
75%), für ein kurzes I aber (mit unter 1%) eine überaus seltene Erscheinung ist.
Anders formuliert: die phonologische Opposition /kurz/ vs. /lang/, die in den
Aussprachewörterbüchern durch das zusätzliche Merkmal [offen] vs. [geschlossen]
gestützt wird, ist in den von mir beobachteten Nebensilben im wesentlichen noch
vorhanden, wird aber weit eher durch das Merkmal [zentralisiert] vs. [nicht-
zentralisiert] gestützt als durch verschiedene Öffnungsgrade des Vokals.
Modell 1 ist das einzige, das in den Aussprachewörterbüchern von Duden und
Siebs erwähnt wird, wobei der Duden sich für das Transkript [OY] entscheidet, wäh-
rend Siebs sich mit dem WdA auf dieVariante [O/] festlegt.
Modell 1 als die am ehesten den Normen der Aussprachewörterbücher gerecht
werdende Variante ist die seltenste Realisierung. Die Modelle 2 und 3, die beide
durch eine Entrundung des Abglitts gekennzeichnet sind, machen etwa die Hälfte
aller Realisierungen aus. Modell 4, das bisher kaum beschrieben wurde – auch Harth
(1984) und König (1989:60f.) führen es nicht – ist fast im gesamten öst. Bun-
desgebiet vertreten(lediglich aus Wien und aus der Steiermark sind keine Belege
vorhanden) und kommt so auf ein knappes Drittel der Gesamtbeleganzahl.
(Werden die Artikulationen des Modells 2 ebenfalls als korrekt aufgefaßt, steigt
der Anteil an "richtigen" Artikulationen auf etwas über 50%; immer noch relativ
wenig, wenn man an die zu starker Normierung tendierende Aufnahmesituation
denkt.)
Anbetracht der geringen Rolle der Stimmbeteiligung und des artikulatorischen Feh-
lens von Aspiration bzw. Affrizierung als möglichem unterstützenden Merkmal muß
man in diesem (meines Erachtens dem einzigen!) Bereich fast schon von einem
Zusammenbruch dieser phonologischen Opposition sprechen.
3. Zusammenfassung
Es zeigt sich, daß manche vermeintlichen Merkmale des ö.D. jedenfalls nicht in
allen seinen Registern auftreten. Ob die tatsächlich auftretenden Merkmals als Schib-
boleths dienen können, kann nur im Vergleich zu bundesdeutschen oder schweize-
rischen (oder anderen) Varianten des Deutschen überprüft werden. Ein Vergleich mit
dem König´schen Ausspracheatlas und anderen empirisch fundierten Arbeiten über
”deutsches Deutsch” legt den Verdacht nahe, daß nur sehr wenige phonetische
Eigenheiten des ö.D. ausschließlich in Österreich vorkommen und damit als Schibbo-
leths im engeren Sinn dienen könnten. (Verlust der Stimmhaftigkeit bei Konsonanten
gibt es auch im Süden Deutschlands10; ebenso relativ flache Diphthonge11 usw. usf.).
Ein eindeutiges phonetisches Merkmal als Schibboleth des ö.D. kann ich nicht anbie-
ten. Ein Analogon zum "s-pitzen S-tein" für – ja, wofür eigentlich: für Hamburg, für
Hamburg-Umgebung, für ganz Norddeutschland, für bestimmte Soziolekte aus dieser
Gegend ? – gibt es nicht.
Es ist aber festzustellen: bei der Frage nach Schibboleths ist nicht nur danach zu
fragen, wo ein phonetisches Merkmal auftritt, sondern auch, wie häufig es wo auf-
tritt. Damit bleiben als funktionierende sprachliche Erkennungsmerkmale Bündel,
Kombinationen mehrerer der hier beschriebenen phonetischen Merkmale.
Literatur:
Bürkle, Michael (1995): Zur Aussprache der unbetonten Silben im österreichischen
Standarddeutschen. Die unbetonten Silben. Frankfurt/M., Berlin, Bern etc. (=
Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 17).
Bürkle, Michael (1993a):Sprechen Sie Österreichisch? Österreichisches Deutsch aus
phonetischer Sicht. In: ÖDaF-Mitteilungen 1, S. 9-19.
Bürkle, Michael (1993b): Zur Aussprache des österreichischen Standards. Öster-
reich-Typisches im Bereich der unbetonten Silben. In: Rudolf Muhr, Hg.: Inter-
nationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und seinen nachbarsprach-
lichen Bezügen. Wien.(= Materialien und Handbücher zum österreichischen
Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache Bd. 1). S. 53-66.
König, Werner (1989): Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesre-
publik Deutschland. 2 Bde. Ismaning.
Lipold, Günter (1988): Die österreichische Variante der deutschen Standardaus-
sprache. In: Peter Wiesinger, Hg.: Das österreichische Deutsch. (= Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12). S.31-54.
10
Vgl. z.B. die Karten S.2,S.3, S.5 bei König (1989, Bd. 2, S. 242ff.)
11
Vgl. z.B. die Karte EI.1 bei König (1989, Bd. 2, S. 143)
(Odense)
1. Einleitung
Die folgenden Überlegungen zur Standardaussprache in Österreich gehen von
der Annahme aus, daß das österreichische Deutsch generell als eine nationale
Varietät der deutschen Sprache gewertet werden kann. Dieser Varietätenstatus läßt
sich in der Morphologie, in der Aussprache und in vielen Bereichen der Syntax und
der Pragmatik nachweisen. Was die Aussprache angeht, ist die österreichische
Varietät durch eigenständige phonematische bzw. phonetische Realisierungen des im
großen und ganzen einheitlichen, deutschen Phonemsystems gekennzeichnet, die als
österreichische Gebrauchsnormen sich erheblich von den präskriptiven Normen
Siebsscher Prägung abheben.
Meine Überlegungen bauen auf den Diskussionen und den Ergebnissen der
österreichischen Sprachwissenschaft der letzten 25 Jahre auf und reflektieren - ohne
sie hier einzeln behandeln zu können - sowohl die Erkenntnisse in bezug auf die
Erfassung des sprachlichen Kontinuums im österreichischen Deutsch (d.h. die
variierenden, situativen Register der lautlichen Realisierung) als auch die
Unterschiede in der Bewertung der Ausspracheformen als Gebrauchsnormen
und/oder Zielnormen. Ich begnüge mich mit einem Hinweis auf die Arbeiten von
Ingo Reiffenstein, Peter Wiesinger, Hans Moser, Rudolf Muhr, Sylvia Moosmüller,
Günter Lipold, Hermann Scheuringer, Franz Patocka, Michael Bürkle und dem Kreis
um Wolfgang Dressler.
Den Einstieg zum Thema bilden zwei Anstöße: Zum einen steht angesichts der
von der Wissenschaft allgemein anerkannten Plurizentrizität der deutschen Sprache
die Auslandsgermanistik vor neuen Problemen, nicht zuletzt da die Plurizentrizität
die Anerkennung einer nicht nur regionalen, sondern einer staatlichen, nationalen
Aussprachevarietät impliziert. Wo die Auslandsgermanistik in der Forschung
prinzipiell die Aufgaben und Methoden der Germanistik in den deutschsprachigen
Staaten teilt, steht die auslandsgermanistische Lehre - und ich spreche jetzt nur von
der sprachwissenschaftlichen Dimension des Germanistikstudiums - vor dem
Problem, daß sie nicht nur der Vermittlung einer wissenschaftlich fundierten,
synchronen Deskription der deutschen Sprache verpflichtet ist (und dazu gehört die
-251-
werden könnte, und zwar ohne daß wir erst abwarten müßten, daß die Österreicher
zu einem Konsensus über die Akzeptanz bestimmter Ausspracheformen als
präskriptiver Normen kommen. Den methodischen Ausgangspunkt bildete die
Beschreibung der Aussprache unserer eigenen Muttersprache, des Dänischen. Dabei
waren wir uns natürlich völlig bewußt, daß es erhebliche Unterschiede in dem
Existenzmodus (wenn ich es so nennen darf) zwischen dem österreichischen Deutsch
und dem Dänischen gibt: So gibt es z.B. außerhalb Dänemarks keine Sprache, deren
lautliche Realisierung eine Überdachungsfunktion einnehmen könnte. Dennoch
glaube ich, daß es berechtigt ist, sich mit den Methoden des Großen Dänischen
Aussprachewörterbuchs auseinanderzusetzen. Im folgenden werde ich einen Einblick
in den Aufbau und die Methodik dieses Werkes vermitteln und zeigen, wie diese
Erkenntnisse für die Arbeit mit einem österreichischen Aussprachewörterbuch
vielleicht vom Nutzen sein könnten.
In Dänemark gibt es für die Orthographie und für das grammatische System
präskriptive Normen, festgehalten in Rechtschreibewörterbüchern und
Grammatiken. Diese Normen sind von der Schule und von der öffentlichen
Verwaltung zu befolgen, und sie werden es auch: Normbrüche in diesen Bereichen
sind deklassierend. Dagegen ist die Aussprache nicht normiert. Es liegt kein
Aussprachewörterbuch vor, das etwa von einem Minister sanktioniert wäre und
dessen Ausspracheformen als Zielnorm gelten. Das bedeutet aber nicht, daß jede
Aussprache denselben Status hat und daß in der Sprachgemeinschaft kein impliziter
Konsensus existiert über die ungefähre Standardaussprache des Dänischen - die
sogenannte Rigsmålsudtale -, wenn auch zugegeben werden muß, daß die
konsensuelle Toleranzbreite relativ groß ist. Die Rigsmålsudtale ist die Aussprache, die
in den Lehrerausbildungen im Hinblick auf den schulischen Unterricht vermittelt
wird. Sie ist kein "Kunstprodukt", sondern historisch gesehen aus der Sprache in
Kopenhagen entstanden. Die Kopenhagener Ausspracheformen haben sich verbreitet,
so daß alle Formen überall in Dänemark gehört werden können, aber nie als
Gesamtheit bei einem einzelnen Individuum, es sei denn daß es in der Hauptstadt
aufgewachsen ist. Die Rigsmålsudtale wird als die in jeder Hinsicht neutrale, nicht
regional gebundene Varietät verstanden, der sich auch der Rundfunk und das
Fernsehen, das klassische Theater und der Pfarrer bedienen, es sei denn daß
besondere Effekte erreicht werden sollen. Trotz des Fehlens einer präskriptiven Norm
erschien dennoch im Jahre 1991 "Den Store Danske Udtaleordbog", eine
Jahrhundertleistung der dänischen Phonetiker - aber in einer knapp 10-jährigen
Arbeit entstanden.
Das Große Dänische Aussprachewörterbuch ist deskriptiv und nicht
normativ/präskriptiv, ja es kann es nicht sein. Daß es indirekt vielleicht eine
präskriptive Wirkung haben kann, ist unzweifelhaft, aber nicht beabsichtigt. Das
Wörterbuch berücksichtigt die tatsächlichen Ausspracheformen in Dänemark
außerhalb der eigentlichen dialektalen Aussprache. Daß z. B. in Nordjütland im
Dialekt [Uk] gesprochen wird statt standardsprachlich [UD], wird nicht registriert,
auch weil die stimmlose Klusilaussprache wahrscheinlich die Realisierung eines ganz
anderen Phonems als die stimmhafte Spirantaussprache der Standardaussprache
darstellt.
Das Große Dänische Aussprachewörterbuch beantwortet somit nicht die Frage:
Welche Aussprache ist korrekt? - weil diese Frage für sinnlos gehalten wird. Sie gibt
nur Sinn, wenn sie in bezug auf eine bestimmte sprachliche Varietät präzisiert wird.
Was in Westjütland korrekt ist, ist nicht notwendigerweise in Odense korrekt.
Präzisieren wir die Frage: "Welche Aussprache ist in der Varietät X beim Wort
Kartoffel korrekt?", verschwindet das Problem: Jede Aussprache vom Wort Kartoffel,
die in X auffindbar ist, ist in X korrekt. Oder wie die Verfasser das
Korrektheitsproblem umschreiben: Ist der afrikanische Elefant korrekter als der
indische?
Das Wörterbuch beschreibt die dänische Standardaussprache, einschließlich
der regional gefärbten Aussprachen. Dabei werden sowohl soziolinguistische als
regionale Parameter einbezogen: Einmal der Unterschied zwischen der Aussprache in
Kopenhagen und den größeren Städten auf Seeland auf der einen Seite und der
Provinz auf der anderen, und zum anderen der Unterschied zwischen Aussprachen,
die sozial korrelliert sind. Hier werden nur zwei Varianten angesetzt: Hoch (H)
versus Niedrig (L = lav). Die Begründung für diese Parameter liegt darin, daß die
Standardaussprache als eine nicht lokalisierbare Aussprache aufgefaßt wird und daß
eine solche Aussprache mit dem Merkmal "Hoch" sich - so die Verfasser - tatsächlich
nur in Kopenhagen und in den größeren Städten auf Seeland findet. (Durch diese
Festlegung wird klar, daß nicht jede Ausspracheform, die bei Kopenhagenern gehört
werden kann, eine Rigsmåls-Aussprache ist. Es gibt eben andere Kopenhagener
Soziolekte mit anderen Ausspracheformen). Über diese Parameter hinaus werden
folgende Faktoren berücksichtigt: altersbedingte Faktoren, der Faktor Distinktheit
(formell - informell) und kontextbedingte Faktoren.
Der Aufbau der einzelnen Einträge sieht wie folgt aus: Die erste Form, die
notiert wird, ist die Distinktheitsaussprache (= D), d.h. eine Aussprache, die Personen
mit höherem Sozialstatus, die um 1930 in Kopenhagen geboren sind, als ihre
deutlichste in spontaner Rede benutzen. Diese Aussprache hat im ganzen Land
denselben Status. Sie ist druckstark und von der Aussprache anderer Wörter in
demselben Satz unbeeinflußt. Sie ist aber keine Diktieraussprache, sondern eben
spontan. Der Begriff Distinktheitsebene definiert das Wörterbuch selbst
folgendermaßen (S. 33):
"[Die] Distinktheitsebene [ist eine] Deutlichkeitsebene. Jeder Sprecher verfügt über
eine Skala von Distinktheitsebenen, von der sehr hohen (z.B. in Rufen) bis zur
sehr niedrigen (z.B. beim monologischen Murmeln). Mit jeder Distinktheitsebene
stimmt beim Sprecher eine bestimmte Reduktionsebene bezüglich der einzelnen
Wörter der Äußerung überein, aber nicht dieselbe.Unter Reduktionsharmonie
Diktieraussprache, oder besser: Das, was wir oft glauben, in unserer distinkten
Aussprache zu realisieren, realisieren wir bei spontaner Rede gar nicht. Dies zeigt
wiederum, daß der Phonetiker schlecht beraten ist, wenn er beabsichtigt, für
Aussprachewörterbuchzwecke seine eigene, vermeintliche Aussprache durch
Introspektion zu notieren, denn er weiß nicht genau, wie er in spontaner Rede
spricht. Die Wörterbucharbeit muß auf umfassenden, empirischen Untersuchungen
aufbauen. Das Beispiel zeigt natürlich auch ein Problem in bezug auf die Relation
zwischen Schrift und Laut auf. Man muß sich wundern, daß es den meisten Kindern
gelingt, einigermaßen korrekt zu buchstabieren. Die Ursache liegt darin, daß das
orthographische System vielen anderen Regeln als Zuordnungsregeln zwischen Laut
und Graphem unterliegt, z.B. Regeln zur morphologischen und etymologischen
Konstanz. Die neuen Vorschläge zur Orthographiereform im Deutschen zeigen
weithin dasselbe.
Beispiel 3 in Beilage I ist das Substantiv kØkken, dt. Küche. Die D-Form zeigt
eine assimilierte Form mit [n] als Träger der zweiten Silbe. Daneben steht die
Hauptform, versehen mit dem Nummerhinweis 3. Unter Nummer 3 (vgl. Beilage II)
heißt es:
"Hier wechselt das alte, sehr distinkte [Kn] mit [n] (durch K-Assimilation) und [ K ]
(nach [ g, N ]) oder [m] (nach [b, m]) oder [m] (nach [f, v])."
Es sind solche präzisen Beschreibungen der tatsächlichen Aussprache der
Standardsprache, die Sprachpfleger etwas aufgeregt haben. Sie sehen in der
"verknappten" Aussprache, d.h. in dem typischen Schwa-Schwund und in der
Velarisierung des Nasals - eine Folge von Fernassimilation - einen Verfall der
Sprachkultur. Es läßt sich aber zeigen, daß die Sprachpuristen in spontaner Rede die
Assimilationen selbst mitmachen. Sonst wäre eine D-Form ohne Assimilation hier
angeführt! Das Beispiel ist deshalb in sich selbst ein gutes Argument für ein
deskriptives Aussprachwörterbuch auf wissenschaftlicher Basis: Die
Sprachwirklichkeit zeigt, was als Distinktheitsform und Hauptform gilt - und nicht
was als vermeintliche präskriptive Norm zu gelten habe, nachdem man auf die
tatsächlich vorkommenden Buchstaben im Wort hingewiesen hat.
Beispiel 4 (Vgl. Beilage I) soll Tendenzen in der Entwicklung der dänischen
Aussprache verdeutlichen. Alle Homonyme vom Wort ret (dt. Recht, Gericht,
Gerechtigkeit, Anspruch, rechte Seite, gerade, recht) haben als D-Form [ ä ]-
Aussprache. Der Hinweis auf Nummer 44 (vgl. Beilage II) lehrt uns aber, daß die
Aussprache [ rA ] sehr häufig vorkommt, sowohl in allen L-korrellierten Aussprachen
als auch bei dem Teil der Kopenhagener Jugend, der sonst eine H-Varietät benutzt.
Das bedeutet, daß diese Aussprache, die von Gebildeten naserümpfend zur Kenntnis
genommen wird, die Zukunft in sich trägt (s. zur generellen Entwicklungsgrundlage
der dänischen Standardaussprache Brink/Lund). Man könnte meinen, daß diese
Aussprache zu einer Vermehrung von Homonymen führt, in casu zu einem
Zusammenfall mit dem Substantiv rat, dt. Steuerrad, und das ist richtig, aber darum
kümmert sich die Sprache offenbar nicht, denn der Kontext sorgt für die korrekte
Disambiguierung.
Schließlich zeigt Beispiel 5 (vgl. Beilage I) storebror, dt. älterer Bruder das
Phänomen der [R]-Vokalisierung. Als D-Form findet man im ersten
Zusammensetzungselement keine [R]-haltige Form. In den Nummerhinweisen 9 und
12 (vgl. Beilage II) werden die Auswirkungen der [R]-Vokalisierung eingehend
behandelt, z.B. die Auswirkungen auf den Stoßton und die Länge bzw. die Kürze der
vokalischen Amalgierung.
Ich habe einen kleinen Eindruck von den Arbeitsmethoden und - techniken
vermitteln wollen, die dem Großen Dänischen Aussprachewörterbuch
zugrundeliegen. Ich füge hinzu: Vor dem eigentlichen Wörterbuchteil finden wir auf
etwa 100 Seiten eine Anleitung für den Benutzer, eine Darstellung der Prinzipien des
Wörterbuchs (20 Seiten), Terminologie und Abkürzungen (12 Seiten), ein Kapitel für
den nicht dänischlesenden Benutzer: "Introduction and Terminology & Abbreviations"
(43 Seiten), die Definiton der phonetischen Zeichen (10 Seiten) und eine besondere
Darstellung des dänischen Lautsystems (20 Seiten). Die Eintragungen selbst umfassen
etwa 1.460 Seiten. Nach den Nummerhinweisen und den generellen
Wechselverhältnissen folgt der Versuch, das dänische Flexionssystem auf
phonetischer Grundlage darzustellen (knapp 30 Seiten). Insgesamt umfaßt das Werk
1.659 Seiten. Das Aussprachewörterbuch ist eine wissenschaftliche Darstellung des
Varietätenreichtums, wobei die allerkleinsten Nuancen bei der Realisierung der Laute
angeführt werden. Das führt dazu, daß das Wörterbuch in vollem Umfang nur von
Experten benutzt werden kann. Aber auf der Grundlage des Wörterbuchs sind schon
benutzerfreundlichere Aussprachewörterbücher erschienen, die konsequent die
Distinktheitsformen bzw. sowohl Distinktheits- als auch Hauptformen, aufnehmen.
Es ist aber festzuhalten, daß diese Aussprachewörterbücher prinzipiell keine
präskriptiven Normen angeben, obwohl sie wahrscheinlich als solche - nicht zuletzt
im Ausland - gewertet werden.
Verfassung und Region einsetzen können. Uns kommt es darauf an zu versuchen, die
Merkmale des Standards nach außen in seiner Distinktheitsform zu erfassen,
während die Ausspracheformen des Standards nach innen, die ja in hohem Grade
regionale Färbungen tragen (unter Umständen sind sie mit der Dialektaussprache
identisch), schon erfaßt, aber in einem systematisch angelegten Kommentarteil des
Wörterbuchs beschrieben werden sollen. Wir verfügen über keine ausreichenden
Kenntnisse der tatsächlich vorkommenden regionalen Varietäten, und es wäre also
vermessen, wenn wir uns darüber eigene Meinungen bilden würden.
An dieser Stelle möchte ich im Hinblick auf unser Thema zur
Variationslinguistik sagen: Bei der Untersuchung von gesprochener Sprache geht es
um Klassifikationen, und somit auch um Generalisierungen und Abstraktionen. Ein
methodischer Weg besteht darin, seinen Ausgangspunkt in den tatsächlichen
Ausspracheformen zu nehmen und zu versuchen, sie verschiedenen Typen von
Schichten zuzuordnen. Bei diesem Vorgang bilden Faktoren wie lokale Gebundenheit
und Verbreitung der Formen, eventuell soziologische, altersbedingte,
geschlechtsspezifische oder andere außersprachliche Bindungen der Formen
letztendlich die Entscheidungsgrundlage dafür, ob bestimmte Formen einer
bestimmten Schicht zuzuordnen sind oder einer anderen, wobei die Grenzziehungen
im oberen Teil des Schichtenmodells immer problematischer werden. So ist es
beispielsweise ein (sprachwissenschaftliches Beschreibungs-) Problem, daß die
Entwicklung von Regionalsprachen tendenziell das hierarchisch aufgebaute
Schichtensystem abbaut: so schätzt z.B. ein Däne, der die ostjütländische
Regionalsprache spricht, diese Regionalsprache als Standardsprache ein; gleichzeitig
werden dialektnähere Sprachformen eher zu Soziolekten, weil sie mit L-Status
verbunden sind. Ich sehe in Österreich eine vergleichbare Situation. Ein anderer
Ausgangspunkt liegt - wie bei Muhr - darin, die Standardaussprache nach außen an
Hand von außersprachlichen Merkmalen zu definieren. Erst in einem zweiten Schritt
wird untersucht, welche tatsächlichen Ausspracheformen in den relevanten
Sprechsituationen vorkommen. Obwohl es evident erscheint, daß die beiden Eingänge
verschieden sind, kommt es mir vor, als werde bei der letztendlichen Entscheidung
darüber, ob die Standardaussprache diese oder jene Ausspracheform kennt oder ob
diese oder jene Ausspracheform standardsprachlich ist, von beiden Richtungen
ähnlich argumentiert und als würden so ziemlich gleiche Ergebnisse erreicht. Für den
Nicht-Österreicher, der mit den sozialpsychologischen Implikationen bestimmter
Ausspracheformen nicht völlig vertraut sein kann, scheint aber der Einstieg in die
standardsprachliche Problematik des österreichischen Deutsch leichter zu sein, wenn
die empirische Basis Auspracheformen sind, die als +öffentlich, +institutionalisiert
und +optimale Reichweite bewertet werden können.
Wir haben in Odense den Versuch aus folgender einfacher Überlegung gewagt:
So wie das Dänische keine präskriptive Norm kennt und somit versucht werden muß,
eine D-Form, eine Hauptform und andere Ausspracheformen herauszukristallieren,
die mit regionalen, sozialen und anderen Faktoren korrellieren, muß das
Der Vorteil bei dieser Vorgangsweise liegt auf der Hand: Die Studenten und
Studentinnen, mit denen ich gearbeitet habe, sind alle älteren Semesters; sie sind
schon von der Volksschule und vom Gymnasium - und vor allem vom Deutschen
Fernsehen, das überall in Dänemark gesehen werden kann - mit der präskriptiven
Norm in Deutschland vertraut; sie haben einen Phonetikkurs hinter sich und in fast
allen Fällen auch einen mindestens einsemestrigen Aufenthalt an einer deutschen
Universität. Deshalb fallen ihnen Abweichungen von der Dudennorm sofort auf,
auch wenn sie vielleicht nicht im Stande sind, die Unterschiede präzise zu
charakterisieren. Nicht nur können sie die Unterschiede registrieren, sondern sie
stehen den Varietäten völlig vorurteilslos gegenüber: keine der Varietäten ist
stigmatisiert. Im Gegenteil: Wenn der österreichische Bundeskanzler im Fernsehen so
oder so sagt, muß das wohl als eine ganz normale, nicht-deklassierende
Ausspracheform bewertet werden!
Im folgenden behandle ich nur einen kleinen Teil der Beobachtungen, die wir
im österreichischen Standard nach außen gemacht haben. Gleichzeitig zeige ich, wie
wir uns vorstellen, daß Kommentare zu den Ausspracheformen angeführt werden
können. Die Beobachtungen sind - nicht überraschend - dieselben, wie sie in den
Forschungsarbeiten vorliegen, aber vielleicht verleihen wir ihnen einen anderen
Stellenwert als üblich.
Die Vokale
Wir behaupten, daß der Aussprache der Vokale im österreichischen
Standarddeutsch größere Aufmerksamkeit zukommen müßte, als es allgemein in der
Forschung der Fall ist. Die Realisierungen der Vokale sind wichtige Signale: Hier
spricht ein Österreicher!
Die traditionelle Aufstellung des Vokaldreiecks, bzw. Vierecks, zeigt für die
deutsche Norm, daß bei den hochgestellten Vokalen ein Unterschied im
Öffnungsgrad zwischen beispielsweise dem langen [i:] und dem kurzen [I] besteht:
Der Langvokal ist höhergestellt. Entsprechend bei den Vokalen mit mittlerem
Öffnungsgrad. Soweit es unsere Untersuchungen angeht, arbeiten wir mit der These,
daß alle hochgestellten Vokale denselben, hochgestellten Öffnungsgrad besitzen, d.h.
wir transkribieren auch die kurzen i-, y- und u-Laute mit kleinen Buchstaben, um die
Qualitätsgleichheit mit den Langvokalen zu markieren. Ob diese Aussprache der
Kurzvokale in betonter Silbe mit Gespanntheit verbunden ist - so daß der Unterschied
zwischen 'gespannt' - 'ungespannt', der im Deutschen mit den
Quantitätsunterschieden einhergeht, zu Gunsten der Dimension 'Gespanntheit'
aufgehoben ist -, läßt sich endgültig nur mit technischem Gerät untersuchen. Wir
vermuten aber, daß im österreichischen Deutsch der Abstand zwischen den Polen
'gespannt-ungespannt' kleiner ist als im Deutschen.
Auch bei den mittelgestellten Palatalvokalen stellen wir für die Kurzvokale [E]
und [(] eine etwas geschlossenere, d.h. höhergestellte Aussprache als bei Duden fest.
Sie ist nicht so signifikant wie bei den hochgestellten Vokalen, und wir haben uns auf
Die Aussprache der Klusillaute ist ein besonders schwieriges Kapitel. Die in der
deutschen hochsprachlichen Norm vorkommende Kombination von drei Merkmalen
bei jedem Klusillaut (Stimmhaftigkeit, Intensität und Aspiration) liegt in derselben Art
und Weise in der österreichischen Standardlautung nach außen nicht vor. Wir sind
der Auffassung, daß eine gerechte Festlegung der Ausspracheformen in Österreich
jeden einzelnen Laut separat behandeln muß und bei jedem einzelnen Laut dessen
Aussprache in den Basispositionen (Anlaut, Inlaut und Auslaut). Generell meinen wir,
daß eine fehlende Stimmhaftigkeit bei den Klusilen im Anlaut auch für die
Distinktheitsformen anzunehmen ist. Unseren Untersuchungen nach bleiben in der
distinktiven Aussprache die Lenisklusile im Anlaut Lenes, während die Fortisklusile
als Halblenes realisiert werden. Einen völligen Zusammenfall der beiden Reihen in
der Intensitätsdimension haben wir in einigen Fällen registriert, aber nicht generell.
(Vgl. dazu Moser, 1989, S. 15) Wir nehmen an, daß eine Neutralisierung der
Intensitätsopposition mit regionalen und/oder situativen Parametern, vielleicht auch
mit sozialen (?), korrelliert. Was die Aspirationsdimension angeht, sind wir mit
unseren eigenen Untersuchungen nicht weit gekommen. Das Beschreibungsproblem
liegt darin, daß die in der deutschen Normaussprache aspirierten Fortisklusile nicht
nur in verschiedenen Basispositionen mit oder ohne Aspiration ausgesprochen
werden können, sondern auch in verschiedenen Typen von Clustern. Als
Spezialproblem steht die Standardaussprache des Ableitungsmorphems -ig.
Überhaupt ist eine umfassende, empirische Arbeit notwendig, damit die Realisierung
der Klusillaute in der Standardlautung nach außen korrekt erfaßt werden kann.
Im folgenden zeige ich an Hand einiger Beispiele, wie wir uns vorstellen, daß
Wörterbuchartikel aufgebaut werden können. Dabei sollen die Sternchen für Zahlen
stehen, die auf Paragraphen im Kommentarteil hinweisen. Ein Punkt nach Vokal
deutet Halblänge an. Halbfortis ist in der Transkription nicht markiert.
Reiffenstein, Ingo (1982): Hochsprachliche Norm und regionale Varianten der Hoch-
sprache: Deutsch in Österreich. In: Moser, Hans (Hrsg.): Zur Situation des Deut-
schen in Südtirol. Innsbruck. S. 9-18.
Scheuringer, Hermann (1987): Anpassung oder Abgrenzung? Bayern und Österreich
und der schwierige Umgang mit der deutschen Standardsprache. In: Deutsche
Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation 2. S. 110-121.
Wiesinger, Peter (1988): Die deutsche Sprache in Österreich. Eine Einführung. In:
Ders. (Hrsg.): Das österreichische Deutsch. Wien/Köln/Graz. (= Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12). S. 9-30.
Eva Wächter-Kollpacher
(Wien)
1. Einleitung
Ich bin zu dieser Tagung eingeladen worden, weil die Veranstalter aus
naheliegenden Gründen der Meinung waren, der Österreichische Rundfunk hätte
eine sehr wichtige Funktion im Zusammenhang mit dem "österreichischen Deutsch",
wenn es überhaupt einen solchen Begriff gäbe. Da ich als Chefsprecherin für die
Sprechausbildung im ORF zuständig bin, wäre es interessant, Sprachnormen, die dort
den Sprechern in meinem Auftrag vermittelt würden, näher unter die Lupe zu
nehmen. Ich habe zugesagt, aber ich verhehle nicht: mit etwas gemischten Gefühlen.
Als Angehöriger eines Mediums hat man sich daran gewöhnt, bei jeder sich
bietenden Gelegenheit und zu jeder Sachfrage einen Teil der allgemeinen
"Medienschelte" abzubekommen. Außerdem kann ein Massenmedium es halt einfach
- auch bei der Sprache - nicht allen rechtmachen. Und auch aus etlichen
Wortmeldungen bei dieser Tagung wurde klar: Jeder findet in der Sprache von
Rundfunk und Fernsehen sein sprachliches Interessensgebiet manifestiert und zwar
meistens in Negativbeispielen. Diesen Umstand zu beklagen, hieße, von der Sache
nichts zu verstehen, denn Sprache teilt im allgemeinen das Schicksal aller guten
dienstbaren Geister: man nimmt sie nur wahr, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Und
es gibt natürlich im ORF-Alltag immer wieder genug sprachliche Abweichungen,
Fehler: größere, kleinere, punktuelle aber auch tendenzielle, diesem Umstand
verdanke ich ja auch meine Funktion, und die lautet: bei den ORF-Mitarbeitern am
Mikrofon und vor der Kamera für möglichst korrekte Sprache zu sorgen. Aber da
drängt sich sofort die Frage auf : korrekte Sprache, bitteschön, was ist das? Lassen Sie
mich also ein bißchen weiter ausholen.
wir seit unserer Kindheit gehört haben, bilden einen erheblichen Teil unserer
Vorstellungen von offizieller Sprache. Es wird auch immer darauf hingewiesen, die
Sprache des Österreichischen Rundfunks nach 1945 habe die österreichische
Identität entscheidend mitgeprägt. Ob wir das also wollen oder nicht, die
elektronischen Medien, denen sich im Sog des Infotainments auch kaum jemand
mehr entziehen will, werden sich wahrscheinlich - auch auf die Sprache - mehr
auswirken, als wir wahrhaben wollen und sicher auch in Bereichen, an die wir noch
gar nicht denken.
4. Die Programmvielfalt
Und da wird eben viel gesprochen, auch in den deutschsprachigen Programmen
des ORF, in den beiden Fernsehkanälen ORF1 und ORF2, im Kultursender
Österreich1, in Österreich2, das sind die Lokalradios der Bundesländer, von denen im
Großraum Wien sogar drei zu hören sind, außerdem in dem bei der jüngeren
Generation so beliebten Sender Ö3. Seit kurzem gibt es zusätzliche deutschsprachige
Sendungen auf Blue Danube Radio, und vergessen wir auch nicht das Programm, das
Radio Österreich International auf Kurzwelle ausstrahlt, hier nehmen wir schon seit
vielen Jahren in deutscher Sprache Kontakt mit der ganzen Welt auf, in einer
deutschen Sprache, wie sie bei uns in überregionaler Form gepflegt wird. Gleiches gilt
für unseren österreichischen Anteil am Satellitenprogramm 3sat. Das sollte jetzt
natürlich keine Leistungsschau sein, ich wollte Ihnen nur vor Augen führen oder ins
Gedächtnis rufen, wieviel an deutschem Wort hier tagtäglich rund um die Uhr
realisiert und verbreitet wird, in unserem relativ kleinen Land und natürlich immer
auch über die Grenzen hinaus. Und vieles an Sprache, vor allem im Fernsehbereich,
denken Sie an Filme, Serien, Trickfilme, Werbung, ist in den seltensten Fällen in
Österreich hausgemacht. Sprechen wir also vom restlichen Teil der Sendungen, und
der ist immer noch ansehnlich genug.
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-274-
8. Österreichisches Deutsch
Das sinnvollste Sprachlogo für den ORF kann daher - völlig ideologiefrei und
ganz pragmatisch gesehen - nur bedeuten: österreichisches Deutsch. Ich habe das
ominöse Bestimungswort "hoch" jetzt aus einem guten Grund weggelassen. Ich
möchte damit gegen die Begriffe der Sprachschichtung "oben" und "unten"
ankämpfen und sie durch die Begriffe "Ferne" und "Nähe" ersetzen. Den immer
wieder in der Fachliteratur beschriebenen Sprachebenen mit ihrer vertikalen
Ausrichtung an den sozialen Gegebenheiten entsprechen in der Kommunikation und
somit in der medialen Wirklichkeit meiner Meinung nach aber eher horizontale
Muster: Je weiter die hochsprachliche Ebene verlassen wird, desto näher kommt der
Sprechende zum Zuhörer (auch der Personenkreis, der dabei angesprochen wird, ist
kleiner). Auf dem Weg von der Hochsprache zum Dialekt ändert sich die
Sprechsituation allmählich vom Offiziellen zum Privaten hin, vom Allgemeinen zum
Persönlichen.
10. Medienpersönlichkeiten
Diese jeweils passenden Sprechebenen nun lautlich voneinander deutlich
abzugrenzen und genau vorzuschreiben, wäre absurd: Jemand, der seine ”Rolle”
richtig erkannt hat, also sein Zielpublikum entsprechend wahrnimmt und mit dem
jeweiligen Thema verantwortungsvoll umgeht, wird von sich aus ganz automatisch
das Richtige tun: an der korrekten Lautung oder am Tonfall (natürlich auch am
Satzbau und der Wortwahl) etwas ändern und damit die richtige, nämlich
beabsichtigte Wirkung erzielen, vorausgesetzt, er kann mit Sprache umgehen.
Jemand, der bewußte Registerwechsel nicht gut beherrscht, soll daher auch nur für
die Sprechebene eingesetzt werden, die ihm liegt. Wir erleben die meisten Menschen
in den elektronischen Medien somit nur in einer bestimmten Rolle, ein Umstand, den
das elektronische Medium von heute sehr forciert, Rolle und auftretende Person
sollen möglichst zur Medienpersönlichkeit verschmelzen. Personality erleichtert die
dringend erwünschte Hörerbindung. Hörerbindung verspricht dokumentierte
Einschaltziffern und ergibt letztlich Werbeeinnahmen, ohne die kein Medium
heutzutage mehr auskommt. Auch das vom Management scheinbar weit entfernte
Thema Sprache muß vor diesem realen Hintergrund gesehen werden.
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-278-
bestimmten Stelle den attraktiven Klang einer gut ausgebildeten Stimme brauchen.
Diese Profis, die oft im Hauptberuf Bühnenschauspieler sind, werden dann für eine
bestimmte Sprechaufgabe engagiert, und es ist diese Gruppe von Sprechern, die -
auch in den Werbespots - Bühnenaussprache weiterhin ins Medium hereintragen.
Dadurch werden manche eventuell überhöhte Aussprachedetails - möglicherweise
nur unterschwellig - weiter im Bewußtsein der Zuhörer gehalten, diese Subinhalte
werden sehr oft durch bestechende Stimmqualität auch noch besonders positiv
besetzt. Auch das ist Sprachrealität im ORF.
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-280-
• Bei Wort- und Silbenfugen ist auf den geschmeidigen Übergang zwischen
Konsonanten zu achten, da der Eindruck von Künstlichkeit unbedingt
vermieden werden soll, Deutlichkeit aber erwünscht ist.
• Im Sinn der Eindeutigkeit von Wörtern ist vor allem bei "e", "o" und "ö" auf
die Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen großer Wert zu legen.
3. Das lange "Umlaut-a" darf nicht zu offen werden.
4. Was den Umgang mit dem "r" in seinen verschiedenen Positionen betrifft,
entscheidet der Trainer selbst, je nach artikulatorischer Ausgangslage des
Konsonanten beim Schüler, ob und wo Zungenspitzen-r oder Gaumen-r zu
erarbeiten ist.
5. Es muß genau geprüft werden, ob die Vermittlung des stimmhaften anlautenden
"s" und die Aussprache der Endsilbe "-ig" als "-ich" in der beabsichtigten
Sprechebene sinnvoll ist, im Zweifelsfall werden diese "höchstsprachlichen"
Details nicht ins Programm aufgenommen.
21. Agogik und Stimmbildung
Ein wichtiger Bereich des Trainings betrifft natürlich auch die Sinnvermittlung.
Vom journalistischen Anliegen ausgehend ist sie wichtiger als jeder andere Inhalt,
aber am schwersten zu vermitteln, hier plagen wir uns alle sehr, den Leuten die in
der Schule oft falsch anerzogene Lesesprache auszutreiben. Vor allem aber geht es im
Sprechtraining des ORF um die Ausbildung der Sprechstimme!
kommen, ist es für diesen Bereich dann auch meistens schon zu spät, mit normalen
stimmbildnerischen Mitteln ist hier nichts mehr auszurichten. Das mündige
Familienmitglied oder wenigstens der mündige Schüler, der seine Meinung mit gut
sitzender, frei klingender Stimme vertreten lernt, wäre ein großes Anliegen von
meiner Seite; und wenn man das eher über Dialektsprache im Unterricht erreicht,
soll es mir recht sein. Stimmlich präsente Menschen können ein eventuelles Manko in
der hochsprachlichen Lautbildung später viel besser ausgleichen, viel leichter
artikulatorisch dazulernen, weil sie über guten Stimmsitz ausreichend
Sprechspannung entwickelt haben. Was nun Hochsprache, Umgangssprache oder
Dialekt als Unterrichtssprache betrifft, so habe ich nie verstanden, warum man nicht
auch im Unterricht zwischen Sprechebenen switchen lernen kann, ohne daß deshalb
die ”Hochsprache” künstlich oder elitär werden muß und die heimatlich gefärbte
Sprache zur häßlichen und falschen abgewertet. Statt der oft angefeindeten
Aufforderung: "jetzt sprich schön" sollte es also vielleicht besser heißen: "jetzt sprich
anders".
In diesem nicht wertenden sondern funktionalen Zusammenhang sehe ich das
österreichische Deutsch: auch variantenreich innerhalb der Sendungen des ORF.
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 282-286
Otto Back
(Wien)
1. Einleitung
1.1 Die Kodifikation der deutschen Aussprache1 beruht zu einem bedeutenden
Teil auf Festlegungen, die den oberdeutschen Raum und damit auch Österreich nur
unzureichend berücksichtigt haben. Daraus ergibt sich ein Zustand, wo
Ausspracheweisen, die in Österreich aufgrund langer Tradition einem hohen
Stilniveau zugerechnet werden, nach Maßstäben der gegenwärtig allein
systematisierten deutschen Aussprachenormen lediglich als "gemäßigte Hochlautung"
oder "Umgangslautung" gelten. Aber eine solche Situation entspricht nicht dem
plurizentrischen2 Charakter der "mehrstaatigen" Sprache Deutsch und führt zu dem
Gedanken,3 daß längst bestehende österreichische Merkmale einer kultivierten
Aussprache der gemeinsamen deutschen Schriftsprache auch in einer formell
anerkannten österreichischen Lautungskodifikation zum Ausdruck gelangen sollten.4
1.2 Falls es dazu kommt, hätte man es zum Teil bloß mit der Sanktionierung von
schon Bestehendem zu tun, zum Teil aber auch mit Akten von Sprachplanung,
insofern als ein Normengefüge zu schaffen wäre, das hinsichtlich der Auswahl und
der Kombination seiner Bestandteile etwas Neues darstellte. Aller
Kodifikationstätigkeit hätten Erhebungen des Gebrauches und seiner
gesellschaftlichen Einschätzung vorauszugehen; auch wo die Daten schon bekannt
sind, bedürften sie der Bestätigung und der Präzisierung.
1.3 Der sprachplanerische Vorgang der Aussprache- oder Orthoepie-
Kodifikation steht in Wechselbeziehung zu dem der Schreibungs- oder
Orthographie-Normung: Hat diese sich, nebst anderem, nach Lautungsgegebenheiten
1
Siebs (1969); GWDA (1982); Duden Ausspr.-Wtb. (1990). Geschichtliches: Ursula Stötzer in Agricola
u. a. (Hrsg.) (1970), S. 825- 833.
2
Clyne (1990).
3
Moser (1989a).
4
Kritik an Siebs (1969): Reiffenstein (1982), S. 11-12; (1983), S. 21. – Übrigens verzeichnet unter den
in Anm. 1 genannten Wörterbüchern Siebs (1969) am häufigsten auch die österreichischen
Aussprachevarianten.
-283-
2. Leseaussprache
Auszugehen wäre von den einzelnen regionalen Leseaussprachen als den
Ergebnissen des Verlautlichens (Phonisierens) schriftsprachlicher Wortgestalten.5 Die
theoretische Stellung von "Leseaussprache" gegenüber "Dialekt" und
"Umgangssprache" einerseits, "Standardlautung" andrerseits läßt sich wie folgt
kennzeichnen: Einiges aus dem Lautstand der Basisdialekte6 findet sich gefiltert im
Lautstand der Verkehrsdialekte; dieser wiederum ist teilweise in den Lautstand der
Umgangssprachen eingegangen. Und die umgangssprachliche Lautung, angewendet
auf Formen der geschriebenen Standardsprache, bildet eine wesentliche Komponente
der Leseaussprachen. Demzufolge sind österreichische Leseaussprachen den
einzelnen Verkehrsräumen7 Österreichs zugeordnet. Dabei kann das
donauösterreichische Areal als eine Einheit gesehen werden: Oberösterreich,
Niederösterreich, Wien und das nördliche Burgenland. Besondere Eigenständigkeit
kennzeichnet Vorarlberg, Tirol und Kärnten. Eine aus österreichischen
Leseaussprachen integrierte Standardlautung Österreichs wäre ein Gegenstück zu der
Standardlautung mittel- und norddeutscher Prägung, wie sie den bisher vorliegenden
Aussprachewörterbüchern des Deutschen (s. Anm. 1) zu entnehmen ist.
8
3. Österreichische Aussprachebesonderheiten
Unterschiede zwischen österreichischen Leseaussprachen einerseits und der
Aussprache mittel- und norddeutsch bestimmter Kodifikation andrerseits rühren von
mehreren Ursachen her: regionale Lautverhältnisse; Schultraditionen; Ambiguität
mancher orthographischer Strukturen hinsichtlich der ihnen zuzuordnenden
Lautung. Im folgenden einige sich daraus ergebende typische Erscheinungen als
Beispiele (wobei "D" = Standardlautung nach Duden Ausspr.-Wtb., s. Anm. 1 ; "Ö" =
in österreichischen Leseaussprachen vorherrschend) :
3.1 Einige Unterschiede in Laut-Inventar und/oder -
Distribution:
5
Wiesinger (1985), S. 1940: "Lesesprache als Ablesung schriftsprachlicher Texte". – Schmeller
(1821), S. 21: "Die Aussprache der Gebildeten ist gewöhnlich ganz passiv nach dem Buchstaben der
einmal zum Gesetz gewordenen Orthographie gemodelt, doch so, daß fast überall die Hauptfarben
des Provincial-Dialekts durchscheinen." "(...) von der provinciellen Art und Weise, das
Schriftdeutsche zu lesen (...)".
6
Wiesinger (1988), S. 18-22.
7
Wiesinger (1985), S. 1941-1942.
8
"Österreichisches Beiblatt zu Siebs", entstanden unter der Redaktion von Felix Trojan vermutlich
zwischen 1953 und 1957 (Siebs [1969], S. 15; Lipold [1988], S. 54), nennt zahlreiche österreichische
Aussprache-Spezifika, auch von standardsprachlichem Rang, aber bezeichnet sie als "auch
zulässig" neben den Siebsschen Aussprachevarianten.
9
Luick (1932), S. 19, 73.
10
Bürkle (1993a), S. 16 -17; (1993b), S. 2, 4; (1995).
11
Luick (1932), S. 84 - 91; Moser (1989b), S. 24-26.
12
Luick (1932), S. VII , 68-69, 90.
13
Luick (1932), S. 19-20, 71-72.
14
Luick (1932), S. 22, 78-79 ("helles" und "dunkles" l).
15
Man verwechsle nicht "Leseaussprache", die sich auf eine gesamte Sprache oder Sprachvarietät
bezieht (s. Abschnitt 2), und "Schriftbildaussprache" eines einzelnen Lexems. Begreiflicherweise
enthält Leseaussprache meist auch Fälle von Schriftbildaussprache.
16
Luick (1932), S. 92.
17
Lipold (1988), S. 47-49.
4. Auswahlkriterien
Soll eine österreichische Aussprachekodifizierung von teilweise divergenten
Leseaussprachen österreichischer Landschaften (vgl. Abschnitt 2) ausgehen, so sind
Kriterien nötig, die bei der Selektion zwischen konkurrierenden Systemteilen
orientieren können.
4.1. Zu diesen Kriterien sollten zählen: Verbreitung des betreffenden
Aussprachemerkmals nach Sprecherzahl und nach räumlicher Streuung;
gesellschaftliche Akzeptanz; auditive Deutlichkeit; Leichterwerbbarkeit im Sinne von
Ableitbarkeit aus dem vorgegebenen orthographischen Schriftbild; Übereinstimmung
mit erkennbaren Entwicklungstendenzen; nicht zuletzt: Wahrung des
Zusammenhaltes mit Aussprachekodifikationen des übrigen deutschen
Sprachraumes. All dies setzt umfangreiche Forschungsarbeit zur Faktenerhebung
voraus. Und da solche Kriterien bei der Anwendung unvermeidlicherweise
miteinander in Konflikt geraten, werden dafür Präzedenzregeln vorzusehen sein.
4.2. So könnten vorbereitende Untersuchungen möglicherweise ergeben, daß
zwar alle betonten Kurzvokale (außer a) in österreichischen Leseaussprachen relativ
geringen Öffnungsgrad haben, daß dieser jedoch bei e, ö, o als nicht so akzeptabel
bewertet wird wie bei i, ü, u.
Diphthongenverflachung oder gar Monophthongierung wird trotz vielleicht
starken Sprecherrückhaltes aufgrund mehrerer anderer Kriterien ausgeschlossen
bleiben. Auf die Behauchung von p, t wird man wahrscheinlich nicht verzichten
wollen, ungeachtet des raumfremden Ursprunges der aspirierten Aussprache.
Stimmhafte Aussprache von b, d, g, s kann zwar kaum allgemein gefordert, aber auch
nicht generell ausgeschlossen werden. Die Unterscheidung eines "dunklen" (hinteren)
und eines "hellen" (vorderen) a-Phonems (z.B. Name, Dame), entsprechend einer
analogen Opposition in den bayrisch-österreichischen Dialekten, läßt sich trotz ihres
vermutlich starken Identifikationseffekts wohl nicht übernehmen: Sie ist auf ihrem
Areal im Rückzug begriffen und ohne Dialektkenntnis schwer erlernbar, weil in der
Orthographie nicht abgebildet.18 Den in Abschnitt 3 genannten Falltypen
österreichischer Abweichung von den Siebs/Duden/GWDA-Normen könnte die
Rezeption in eine österreichische Lautungskodifikation sicher sein.
18
Luick (1932), S. 73-74; Reiffenstein (1968), S. 692-693; Moser (1989a), S. 23.
6. Ausblick
Mit welchen Schwierigkeiten, neben denjenigen der Arbeit selbst, ist zu
rechnen? Geringes Interesse in der Öffentlichkeit: Mit Rechtschreibung haben viele
sich herumzuschlagen, Orthoepie bereitet wenig Kopfzerbrechen. Aussprache ist eine
Form der persönlichen Stilisierung, sie ist schwer bewußt zu machen und meist nur
indirekt zu beeinflussen. Feine Aussprachenuancen sind schriftlich nicht
vermittelbar.
Der Weg ist umlagert von Mißverstehern, Mißdeutern und Hanswursten. Wer
nicht weiß, was es mit der gegenwärtigen Lautungskodifikation auf sich hat, mag sich
bei der Nachricht von ihrer österreichischen Neugestaltung bestenfalls nichts, eher
aber alles mögliche Unsinnige oder Spassige vorstellen.
Gestörtes Verhältnis zur Schrift: So wie viele Laien ihre Aussprache für ein
getreues Abbild der Orthographie halten, so meinen – auf höherer Ebene – nicht
wenige Lautschriftkundige aus den IPA-Notierungen die Lautverhältnisse der eigenen
Sprachvarietät herauszuhören. Gestörtes Verhältnis zu Standardisierung in
sprachlichen Dingen: ein weit verbreitetes linguistisches Leiden.
19
Hornung (1988).
20
Duden-Ausspr.-Wtb. (1990), S. 97; Back (1977).
Aber das wirklich Ernste: Ist es nicht etwa schon zu spät? Betritt Österreich
nicht bereits den Weg Süddeutschlands, wo das Fortleben der Dialekte nicht hindert,
daß in die Ränge von Standardsprache, ja von Umgangssprache raumfremde,
norddeutsch geprägte Varietäten einrücken? Lohnt es noch den Rettungsversuch für
das österreichische Deutsch? Die Antworten werden verschieden ausfallen: je nach
Wissen um den Stand der Dinge – aber auch je nach Bewertung von Sprache (und sei
es nur mit ihrer phonetischen Oberflächenstruktur) als Mittel staatsnationaler
Identitätsstiftung.
Literatur:
Agricola, Erhard (Hrsg.) (l970): Die deutsche Sprache. 2 Bde. Leipzig (Bibliograph.
Inst.).
Back, Otto (l977): Zur Frage der Aussprache fremder Namen. In: Österreichische
Namenforschung, 5, H. 1, S. 3 - 14.
Bürkle, Michael (l993a): Sprechen Sie Österreichisch? In: ÖDaF Mitteilungen
(Informationen d. Vereins "Österr. Lehrerverband Deutsch als Fremdsprache), H.
1 /1993.
Bürkle, Michael (l993b): (Ein) Deutsch lernen? Vortragsmanuskript X. Internationale
Deutschlehrer-Tagung Leipzig l993.
Bürkle, Michael (l995): Deutsche Standardaussprache in Österreich im Bereich der
Nebentonsilben. (= Schriften zur deutschen Sprache in Österreich, l7.) Frankfurt
(Peter Lang).
Clyne, Michael (l990): Die österreichische Nationalvarietät im [sich] wandelnden
internationalen Kontext. In: GRADaF (Grazer Arbeiten zu Deutsch als
Fremdsprache und Deutsch in Österreich), 1/199O, S. 4 - 8.
Duden Ausspr.-Wtb. (1990): Duden Aussprachewörterhuch. Wörterbuch der
deutschen Standardaussprache. Bearbeiter: Max Mangold. 3. Aufl. Mannheim
(Duden).
GWDA (l982): Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache. Hrsg. Ursula Stötzer,
Eva-Maria Krech u. a. Leipzig(VEB Bibliogr. Inst.).
Hornung, Maria (l988): Die richtige Aussprache von Namen in Österreich. In:
Wiesinger, Peter (Hrsg.), S. 55 - 7O.
Lipold, Günter (l988): Die österreichische Variante der deutschen
Standardaussprache. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.), S. 31 - 54.
Luick, Karl (l932): Deutsche Lautlehre mit besonderer Berücksichtigung der
Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer. Wien (Deuticke). (1.
Auflage: l904.)
Moser, Hans (l989a): Österreichische Aussprachenormen – Eine Gefahr für die
sprachliche Einheit des Deutschen? In: Jahrbuch für internationale Germanistik,
21, H. 1, S. 8 - 25.
Moser Hans (l989b): Deutsche Standardsprache – Anspruch und Wirklichkeit. In: IX.
Internationale Deutschlehrertagung Wien l989, Tagungsbericht, S. 17 - 3O.
Reiffenstein, Ingo (1968): Zur phonetischen Struktur der Umgangssprache. In:
Verhandlungen des Zweiten Internationalen Dialektologenkongresses
Marburg/Lahn 1965 (Hrsg. L. E. Schmitt). Wiesbaden (Steiner). (= Zeitschrift
für Mundartforschung, Beih. 4.) Bd. II, S. 687 - 698.
(Bozen)
Unserer Meinung nach sind es zum einen wohl die Quellen; zum andern die
damalige Art, Kontaktphänomene zu beschreiben, und erst drittens die tatsächlichen
Gegebenheiten.
• Die Quellen: Stark von "echter" Zweisprachigkeit geprägte Bozner Kreise, eine
sprachlich nicht besonders gebildete Beamtenschicht der ersten
Nachkriegsgeneration; amtliche Quellen, deren Primärtexte wohl fast sämtlich
italienisch verfaßt waren.
• Der Stand der Wissenschaft: Man beschreibt damals Kontaktphänomene als
Beeinträchtigungen des Systems – ohne auf die Dynamik des Geschehens näher
einzugehen und pragmatische Aspekte näher zu durchleuchten. Wenn ich nicht
auch sage, wer, wann, mit wem eine solche (kontaminierte) Sprache spricht, wie
häufig die Phänomene auftreten und welchen kommunikativen Charakter sie
haben, ist es schwer, ihre Bedeutung einzuschätzen. Das gilt herauf bis zu K.
Pernstichs – übrigens sehr ausgewogener – Darstellung der italienischen
Interferenzen in den deutschen Medien Südtirols (Pernstich, 1985). Sehr viele
ihrer Beispiele kann man als Zitate oder als Bezeichnungen für Institutionen und
Dinge klassifizieren, für die es keine deutschen Entsprechungen gibt. Das Zitat
aber hat eine ganz andere Ursache und Wirkung als die unbewußte Verwendung
von anderssprachigen Elementen. Man hat damals nach Interferenzen gesucht:
das, was mit dem übrigen deutschen Sprachraum übereinstimmte, also das
Nichtmarkierte, hat man nicht notiert. Diese Defizitorientierung hat die Arbeit
erleichtert, hat aber oft zu einem falschen Bild geführt.
• Die Situation damals: es gab damals noch größere Unsicherheit im Gebrauch der
Hochsprache in Südtirol, es gab noch kein gut funktionierendes Übersetzungsamt
bei der Südtiroler Landesregierung, es gab viele Beamte, die keine deutsche Schule
besucht hatten, die deutsche Oberschule war gerade im Aufbau begriffen, die
Kontakte zum übrigen deutschen Sprachraum waren damals viel spärlicher als
heute, die Medienlandschaft war eine völlig andere, alle Auswirkungen von Krieg
und Faschismus waren noch stärker zu spüren.
J. Kramer findet in Südtirol eine Hochsprache bundesrepublikanischer Prägung,
eine hochsprachliche Variante österreichischer Prägung, eine Südtiroler Koiné neben
den Ortsdialekten vor. Er bringt für den Wortschatz relativ wenige bundesdeutsche
Belege, für die Phonologie kaum welche, andere Bereiche sind überhaupt nicht
belegt. (Es gibt sie, z. B. hinauf, rauf, runter, rein, mal etc.; doof, Knilch und ähnliche,
die er nennt, sie können allerdings Zitate sein).
Mit dem Satz: ”Die Hochsprache österreichischer Prägung ist als die
traditionelle Normsprache Südtirols zu betrachten.”, haben wir eine gewisse Mühe.
Schriftlich und mündlich? Diese Tradition ist wohl durch den Faschismus und den
Krieg unterbrochen worden, aber dazu später. Im Gefolge Riedmanns behauptet
Kramer, die Hochsprache österreichischer Prägung in Südtirol sei antiquiert. Dafür
bringt er keine Belege. Wie überhaupt die Behauptung Riedmanns, die Südtiroler
Umgangssprache sei "nicht zeitnahe", nicht leicht zu belegen sein dürfte. Wann ist
eine Sprache zeitnahe?
Die Südtiroler Koiné sei eine regionale Umgangssprache bairisch-
österreichischen Typs, durch Trennung habe sie eigenständige Züge herausgebildet.?
Unseres Erachtens ist derzeit eine dialektale Koiné im Entstehen. Die Zunahme
bundesdeutscher Züge ist wohl nicht in dem von Kramer gewünschten und
prognostizierten Ausmaß eingetreten, wenn sie auch feststellbar ist.
Wenn jemand die Behauptung aufstellt, das Normitalienische komme dem
Südtiroler mehr entgegen als das Hochdeutsche; die Phonologie des Italienischen
bereite den Südtirolern weniger Schwierigkeiten als die des Standarddeutschen, der
hat nie Südtiroler Kinder aus entlegenen Tälern Italienisch sprechen hören. Vollends
widersprüchlich ist der Satz: ”So kommt es, daß viele Südtiroler sich grammatisch in
der italienischen Hochsprache viel sicherer fühlen als im Hochdeutsch, wo sie
wortschatzmäßig sich viel leichter ausdrücken können.” Die Logik hinter diesen
Feststellungen wäre nämlich: die Südtiroler tun sich mit deutscher Phonologie und
Grammatik besonders schwer, haben aber einen recht gut ausgebauten deutschen
Wortschatz – deswegen bauen sie viele italienische Wörter in ihre Rede ein!
Der Einfluß des Italienischen habe das Südtiroler Deutsch der deutschen
Normsprache im Fall des stimmhaften s genähert. Wir stellen dieses Phonem nur bei
”echten” Zweisprachigen und in Deutschland trainierten RAI-Journalisten - auch bei
manchen Geistlichen vielleicht noch - fest.
In der Syntax seien die "italienischen Einflüsse ungewöhnlich hoch", und zwar
um so höher, je hochsprachlicher die Sprachebene, besonders ausgesetzt sei die
Amtssprache. (Im wesentlichen handle es sich um Unsicherheiten im
Präpositionengebrauch, Schwierigkeiten bei der Wortstellung, falschen
Kasusgebrauch, überlanges Periodisieren, die Du-Anrede in der Werbung.)
Der stärkste Einfluß gehe auf den Wortschatz aus. Jedoch gebe es nur wenige
Luxuslehnwörter; als Beispiele nennt er operatore, calcolatore, programmatore,
entrata, uscita. Ich kenne viele andere lexikalische Interferenzen, diese jedoch habe
ich alle noch nie in deutschsüdtiroler Mund gehört oder irgendwo geschrieben
gefunden. Wenn schon, dann setzt man auch bei uns wie im übrigen deutschen
Sprachraum die englischen Bezeichnungen ein.
Viele Thesen Riedmanns, die von anderen übernommen werden, waren damals
übertrieben und sind heute nicht mehr haltbar. Einerseits steht dahinter ein elitäres
Sprachbewußtsein, andererseits hat es seit den späten 70er Jahren große
Veränderungen gegeben. Von einem Polyzentrismus der deutschen Sprache war
damals noch keine Rede. Als hochsprachlich wurde nur die Siebs-Aussprache
anerkannt, deshalb die Bemerkung Kramers zum stimmhaften s. Das mühsame
Erlernen der Hochsprache durch Südtiroler wird immer wieder betont. Wir wissen
inzwischen, daß dies bei uns nicht viel anders ist als anderswo. Im deutschsprachigen
Ausland herrscht oft heute noch die Meinung vor, daß die deutsche Sprache in
Südtirol auf allen Ebenen mehr oder weniger stark mit Italianismen durchsetzt sei.
Vor einigen Tagen hat mich eine Studentin angerufen, die an der Uni Innsbruck eine
Diplomarbeit über den Einfluß des Italienischen auf den Südtiroler Dialekt schreiben
soll, und hat mir berichtet, daß man am Institut für Linguistik der Auffassung sei, da
müsse es doch ”zahllose Beispiele” geben.
Häufig werden Auffälligkeiten in Kontaktsituationen vorschnell dem Kontakt
zugeschrieben. So etwa auch Phänomene, die wir eindeutig als lernersprachlich
bedingt (z.B. als Übergeneralisierungen) bezeichnen können, wie etwa die
"schwache" Flexion "starker" Verben (Riedmann 1972). Daß sich sehr vieles geändert
hat seit den 70er Jahren, zeigt eine kleine Probe, die ich vor einigen Monaten mit den
bei Moser/Putzer (Moser/Putzer1980) aufgezählten italienischen Interferenzen in
der deutschen Sprache der Städte angestellt habe. In meinem näheren Bekanntenkreis
- alles in der Stadt lebende Südtiroler (Lehrerkollegen, Schüler, Studenten etc.) - habe
ich nur einen ganz geringen Teil davon registrieren können, meistens die
Speisenbezeichnungen.
Die aus dem Italienischen stammenden Wörter, die sich in der Schriftsprache
durchgesetzt haben, sind vergleichsweise gering an der Zahl, aber es gibt sie
natürlich: Zone (= Fläche, Gebiet), Patronat (gewerkschaftl. Sozialfürsorge),
konventioniert mit (durch eine Vereinbarung verbunden?), Fraktion (Ortsteil),
Inspektorat (z.B. Arbeitsinspektorat) für Aufsichtsbehörde; ferner eine Reihe von
Lehnbildungen, wie Wettbewerb (Bewerbung um eine öffentliche Stelle mit
Punkteranglisten), Dringlichkeitsbesetzung, Dringlichkeitsbeschluß (aber im Duden:
Dringlichkeitsanfrage, -antrag). Früher wurden oft auch Wörter als Interferenzen
angesehen, die heute nicht mehr auf Südtirol beschränkt sind: Kollaudierung (im
Duden als österr., schweiz. registriert), Präfektur (inzwischen auch vom Duden
unmarkiert registriert). Melanzani wird häufig zu den aus dem Italienischen
übernommenen Speisenbezeichnungen gezählt; ein Blick ins ÖWB oder in das
Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten zeigt, daß die Übernahme nicht in
Südtirol stattgefunden hat. Der Nationalfeiertag ist inzwischen auch bei uns eher ein
Staatsfeiertag geworden, der Funktionär zum Beamten. Ab und zu taucht noch der
Hydrauliker auf; er ist inzwischen aber auch (zumindest redaktionsintern) zum
Wasserinstallateur avanciert.
Ein kurzes Fazit: Es gab zunächst ein massives Eindringen von Italianismen in
die Umgangssprache und vor allem in die amtliche Hochsprache in Südtirol. Dann
gab es ein Aufbäumen, eine Sensibilisierung (hier noch so ein Begriff) fand statt.
Heute noch anfällig sind gewisse Bereiche der Amtssprache (vor allem in Bereichen,
für die der Staat weiterhin zuständig ist), die Jugendsprache (als altersbedingte
Phasen, vor allem in Städten), stark zweisprachig geprägte Kreise (aber auch hier
handelt es sich heute viel öfter um Zitate als um unbewußte Verwendung),
Benennung von Dingen, die es im deutschen Sprachraum nicht oder so nicht gibt.
mündlich schriftlich
Binnendt. österr. Deutsch österr. Deutsch Binnendt.
1918–1945
1995
Ein Schuldirektor hat mir einmal stolz erzählt, wie die Lehrer seiner Schule in
einer konzertierten Aktion die Kinder dazu gebracht hätten, statt Paterbichl
"Paterbühel" zu sagen und zu schreiben. Der deutsche Feriengast, die Stille Hilfe, das
Kulturwerk für Südtirol, vor allem aber bundesdeutsche Massenmedien, auch die
Anpassung der Südtiroler Autoren an den größeren Markt, haben das ihre zu dieser
Entwicklung beigetragen. Das hat auch zu einer gewissen Verarmung der in Südtirol
gebrauchten Schriftsprache und des mündlichen Standards geführt. Man hat sich so
Im teglichn Lebm isch ebm das Steuersischtem in Nortirol ein anderes, als es in
Sitirolisch.
8. (Gewerkschaftler, m): … ålso, das würde bedeutn: weniger Årbeitsplätze,
weniger Gelt und weniger Chonsn fir die Jugnt, weniger Gelt fir den Pereich
Gesundheit. Wir kennen uns diese Måßnåmen nicht piatn låssn, und deshålb …
(LP = Landespolitiker, OP = Lokalpolitiker)
Sprachgruppe eigene Schulen, das bedeutet also deutsche und italienische Schulen
und die sogenannte paritätische Schule für die ladinische Sprachgruppe. Die
Autonome Provinz Südtirol hat in Schulfragen sekundäre Zuständigkeiten inne, dies
bringt mit sich, daß unter Einhaltung der Rahmenbedingungen des Staates eigene
Lehrpläne sowie Lehrmaterialien entwickelt und Fortbildungsinitiativen ergriffen
werden können, die auf die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten der
jeweiligen Sprachgruppe eingehen.
Die Bemühungen der letzten 15 Jahre besonders im Bereich der
muttersprachlichen Erziehung der deutschen Schule haben zu eigenen Lehrplänen
(Lehrplanentwürfen) in allen Schulstufen geführt. In diesen Lehrplänen wird ein
Bildungskonzept verfolgt, das in sprachpolitischer und didaktischer Hinsicht mehrere
sich ergänzende Ziele verfolgt. Zum einen geht es um den Anschluß der
Spracherziehung in Südtirol an die fachdidaktische Diskussion im übrigen deutschen
Sprachraum. Dies ist umso notwendiger, als bis vor ca. 15 Jahren die Lehrpläne sehr
zentralstaatlich ausgerichtet und vielfach noch einem sehr veralteten
Bildungskonzept verpflichtet waren. Zum anderen werden Ziele angestrebt, die in
Anbetracht der Kleinräumigkeit des Landes oder der Minderheitensituation der
deutschen Sprachgruppe in kompensatorischem wie autonomisierendem Sinne
wichtig erscheinen. Darüber hinaus wird unter der Perspektive einer gemeinsamen
Spracherziehung aber auch angestrebt, daß die Leistungen des
Muttersprachunterrichts für das Erlernen der anderen Sprachen und umgekehrt
besser nutzbar gemacht werden sollen. Ein solchermaßen komplexes
Sprachbildungskonzept umzusetzen macht die Zusammenarbeit aller LehrerInnen
notwendig. Spracherziehung ist gemeinsames Anliegen aller Fächer.
Dazu ein Auszug aus dem Bildungskonzept der Südtiroler Oberschulen:
"Diese vielfältigen Leistungen von Sprache müssen in allen Fächern
wahrgenommen werden. Sprachförderung ist Prinzip und Anliegen des gesamten
Unterrichts und will Sprachfähigkeit, Sprachhandlungskompetenz und
Sprachbewußtsein aufbauen."
Die Spracherziehung in der deutschen Schule nimmt sich der inneren wie der
äußeren Mehrsprachigkeit an. Sie sind in den Zielvorgaben der muttersprachlichen
lehrpläne verankert. Dazu einigevAuszüge aus dem Lehrplanentwurf Deutsch im
Triennium/Oberschule (11.-13.Schj.):
Ziel I/6 Sprechen und Verstehen
"Innere Mehrsprachigkeit als Ausdruck von Identität und sozialer Zugehörigkeit
und die Sprachvarietäten situationsgerecht einsetzen."
Ziel IV/6 Einsicht in Sprache
"Das Bewußtsein der inneren Mehrsprachigkeit als einer Erscheinungsform von
Sprache und der äußeren Mehrsprachigkeit in Sprachgrenzgebieten vertiefen. Die
Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Lehrbücher und
die dort vertretene Lehrbuchsprache. Ein großer Teil der in Südtirol verwendeten
Lehrbücher kommt auch heute noch aus dem deutschsprachigen Ausland, aus
Deutschland und aus Österreich, wobei die österreichischen Verlage in den letzten 10
Jahren bedeutend an Boden gewonnen haben. Der Rest sind Eigenproduktionen, oft
auch in enger Zusammenarbeit mit deutschen oder österreichischen Verlagen
entstehend. Die Herstellung von Unterrichtsmaterialien, die in Fächern wie
Rechtskunde und Handelstechnik usw. benötigt werden und in denen eindeutig auf
italienische Unterlagen, weil z.B. die Rechts- und Verwaltungssprache betreffend,
Bezug genommen werden muß, erfordert großen Einsatz. Hier ist eine enorme
Übersetzungsarbeit zu leisten, die die menschlichen und fachlichen Ressourcen im
Lande sehr beanspruchen.
Die Deutschdidaktik in Südtirol hat sich in letzter Zeit besonders auf Aspekte
der inneren Mehrsprachigkeit und dort vor allem auf die Fachsprache konzentriert.
Dies auch deshalb, weil die IEA-Studie zu den Lesefertigkeiten der
PflichtschulabgängerInnen in Südtirol im Bereich der Sachtexte einen leichten
Rückstand gegenüber italienischen, deutschen und schweizer SchülerInnen
festgestellt hat.
Die Frage, nach welchen deutschen Standards sich die Fachsprache in Südtirol
nun aber ausrichtet, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Eigene Instanzen, wie
sie Schulbuchkommissionen in Deutschland oder Österreich darstellen und indirekt
auch eine sprachnormierende Funktion ausüben, gibt es in Südtirol nicht.
Diskussionen unter LehrerInnen über die sprachliche Angemessenheit von
Lehrbüchern werden normalerweise mehr unter pädagogischen als unter
Gesichtspunkten der Sprachangemessenheit oder gar Sprachplanung geführt.
Feststellen läßt sich aber, daß die Tendenz zur sprachinternen Internationalisierung
und zur allgemeinen Internationalisierung besonders im fachsprachlichen Bereich in
einem Sprachkontaktgebiet wie Südtirol besonders aufmerksam wahrgenommen
wird. Auch bauen mehrere postsekundäre Ausbildungslehrgänge bereits auf
mehrsprachigem Unterricht auf. Die Normenfrage wird unter diesem Gesichtspunkt
nicht nur innerhalb einer Sprache, sondern auch zwischen den Sprachen
ausgehandelt werden müssen.
2.5 Die Normenfrage
Wie überall auf der Welt sind auch bei uns Lehrer und Lehrerin - und im
besonderem SprachlehrerInnen - die von der Gesellschaft akzeptierten
Normenwächter über die Sprache. Nachdem in unserem Unterricht in den letzten
Jahren einiges in Bewegung geraten ist, insgesamt eine Aufwertung des
kommunikativen, d.h. auf menschliche Verständigung ausgerichteten Unterrichts
und des Sprachunterrichts an sich (gegenüber dem Literaturunterricht) stattgefunden
hat, bedeutet dies auch, Normvorstellungen, die bisher nur am Sprachsystem oder
evtl. sogar an der Literatursprache ausgerichtet waren, zu überdenken. Aus
Literatur
Aufschnaiter, Werner von (1982): Sprachkontaktbedingte Besonderheiten der
deutschen Gesetzes- und Amtssprache in Südtirol. In: Germanistische
Mitteilungen 16. Brüssel.
Egger, Kurt (1977): Zweisprachigkeit in Südtirol. Probleme zweier Volksgruppen an
der Sprachgrenze. (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes, Bd. 5). Bozen.
Egger, Kurt (Hg.) (1982): Dialekt und Hochsprache in der Schule. Beiträge zum
Deutschunterricht in Südtirol. Bozen.
Eisermann, Gottfried (1981): Die deutsche Sprachgemeinschaft in Südtirol.
Minoritäten, Medien und Sprache, Bd. 2 (= Bonner Beiträge zur Soziologie, Bd.
18). Stuttgart.
Kramer, Johannes (1981): Deutsch und Italienisch in Südtirol (= Reihe Siegen.
Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 23). Heidelberg.
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Rundschau 5/1976. S. 6–10.
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Mehrsprachigkeit. Zum muttersprachlichen Unterricht in Südtirol. In: Der
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Sprachdidaktik für den kleinen Raum. In: Peter Klotz/Peter Sieber (Hgg.):
Vielerlei Deutsch, Stuttgart.
Mattheier, Klaus J. (1994): Vom und „feinen“ vom „unfeinen Deutsch“. In: Lanthaler,
F. (Hg.): Dialekt und Mehrsprachigkeit. Beiträge eines internationalen
Symposiums. Bozen. S. 89–99.
Moser, Hans (Hg.) (1982): Zur Situation des Deutschen in Südtirol.
Sprachwissenschaftliche Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und
Sprachkontakt (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschft, Germanistische
Reihe, 13). Innsbruck.
Moser, Hans (1982): Zur Untersuchung des gesprochenen Deutsch in Südtirol. In:
Moser (Hg.): Zur Situation des Deutschen in Südtirol. Sprachwissenschaftliche
Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und Sprachkontakt (= Innsbrucker
Beiträge zur Kulturwissenschft, Germanistische Reihe, 13). Innsbruck. S. 75–90.
Moser, Hans/Putzer Oskar (1980): Zum umgangssprachlichen Wortschatz in
Südtirol: italienische Interferenzen in der Sprache der Städte. In: Wiesinger, P.
(Hg.): Sprache und Name in Österreich. Festschrift für Walter Steinhauser zum
95. Geburtstag. Wien. S. 139–172.
Riedmann, Gerhard (1972): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in
Südtirol (= Duden Beiträge, Sonderreihe: Die Besonderheiten der deutschen
Schriftsprache im Ausland, 39). Mannheim.
Tyroller, Hans (1986): Trennung und Integration der Sprachgruppen in Südtirol. In:
Hinderling, R. (Hg.). Europäische Sprachminderheiten im Vergleich. Deutsch
und andere Sprachen. Deutsche Sprache in Europa und Übersee, Bd. 11.
Stuttgart.
Anthony R. Rowley
(München)
1. Einleitung
Dieser Bericht soll als Vergleichsgrundlage für die Beschäftigung mit dem
österreichischen Deutsch die Besonderheiten der regionalen Schriftsprache in einem
anderen deutschsprachigen Land vorstellen, nämlich in Österreichs Nachbarland
Bayern.
Auf zwischenstaatlicher Ebene steht nun nach dem "plurizentrischen"
Normmodell von Michael Clyne (1984) außer Frage, daß in einzelnen
deutschsprachigen Staaten, insbesondere in Österreich, der Schweiz und
Deutschland, eigene Staatsvarianten der deutschen Standardsprache nachzuweisen
sind. Aber die Norm ist auch innerhalb dieser Gebilde nicht einheitlich. So sieht sich
etwa das Österreichische Wörterbuch laut Vorwort mit der durchschlagenden
sprachlichen Ausstrahlung Wiens sowie mit ausgeprägten lexikalischen
Besonderheiten Vorarlbergs konfrontiert (Österreichisches Wörterbuch, S. 15). Es
kann also nicht überraschen, daß auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland
die Standardsprache kein streng normiertes und einheitliches Gebilde ist. Einzelne
Regionen Deutschlands haben nicht nur ihre Dialekte, sondern auch regional
geprägte Varianten der Standardsprache. So auch Bayern, wie Löffler (1994:150)
vorsichtig anerkennt: "Ja selbst eine bayerische Variante des Hochdeutschen scheint
es zu geben, auch wenn sie innerbayerisch kaum bewußt ist und von außen vielfach
bezweifelt wird".
Regionale Normvarianten gibt es wohl keineswegs nur im Freistaat Bayern; aber
in Bayern ist man sich dessen mit Sicherheit am stärksten bewußt. Hier bekommt die
regionale Variante der Schriftsprache in einigen Kreisen direkt eine
identitätserhaltende Funktion zugeschrieben: als Kampfmittel gegen "sprachliche
Überfremdung" oder gar "Borussifizierung", wie es Bekh (1983:14) in seinem
"Handbuch der bayerischen Hochsprache" ausdrückt. Es gibt eine bairische Variante
der Standardsprache. Entgegen der zitierten Auffassung von Löffler gibt es in Bayern
durchaus ein gewisses Bewußtsein für diese eigene Variante; zugestandenermaßen ist
dieses Bewußtsein nicht besonders stark ausgeprägt.
-308-
1
Nach meinen eigenen Erhebungen sowie einer freundlichen Mitteilung Herrmann Scheuringers.
klassifizierte Fälle. Die Bavarismen und andere Regionalismen sind also in den
Wörterbüchern erfaßt, aber nicht vollständig und zuweilen fehlerhaft oder unrichtig.
Für Österreich und einige andere deutschsprachige Staaten und Regionen gibt
es nun Wörterbücher, die die regionalen Besonderheiten zusammenfassen (für
Österreich natürlich Ebner, 1980). Für die deutsche Bundesrepublik gibt es übrigens
bezeichnenderweise kein solches Wörterbuch (vgl. Ammon, 1994).2
Auf eine konkrete Anfrage hin zeigte die Duden-Redaktion an einem derartigen
Werk für Bayern kein Interesse (Zehetner 1995a:257). Nach meinem Fazit oben wäre
eine solche Sammlung aus lexikographischer Sicht nützlich, etwa um den
Wörterbüchern genauere und fehlerfreie Verbeitungsangaben zu ermöglichen. Der
Regensburger Germanist Ludwig Zehetner gerade ein solches Werk vor, ein "Lexikon
der deutschen Sprache in Altbayern". Nach seinen bisherigen Äußerungen ist seine
Zielsetzung nicht zuletzt auch eine sprachpolitische. Er schreibt: "Der deutsche Süden
kann nicht tatenlos duldend zusehen, wie seine eigene Sprache zunehmend
verfremdet wird" (Zehetner 1995a:257); Ziel des Werks sei deswegen:
"Bewußtmachung der Eigenart des südlichen Deutsch und Stärkung eines
oberdeutschen Sprachbewußtseins" (1995b:2). Sprachpolitische Zielsetzungen
können natürlich nicht an den Bedürfnissen einzelner linguistischer Teildisziplinen
gemessen werden. Aber Arbeiten zur bayerischen Variante der Schriftsprache sind
auch aus sprachpolitischer Sicht meines Erachtens grundsätzlich zu begrüßen. Hier
folge ich Hermann Scheuringer, der (1989:51f.) die Frage stellt "nach dem
wünschenswerten Maß an Regionalität in einer gesamtdeutschen Standardsprache
und natürlich nach den realistischen Möglichkeiten, dieses Maß an Regionalität zu
wahren, denn Regionalität scheint eine großflächige Kultursprache wie das Deutsche
heute noch zu verlangen, um sich nicht zu weit von den Sprachträgern zu entfernen
Um diese Ausgewogenheit zwischen Anpassung und Abgrenzung [er meint: im
Vergleich Bayern und Österreich] zu erreichen, müßte man nun Bayern ein größeres
Maß an Abgrenzungswillen zugestehen, da ja die Möglichkeiten zur Durchsetzung
oder auch nur zur Behauptung sprachlicher Regionalität ungleich schwächer sind als
in Österreich".
Zu diesem sprachpolitischen Standpunkt gibt es allerdings eine
Gegenauffassung. Gegen die Liebhabertendenz, die Vielfalt wie Scheuringer
(1989:52) als "Symptome sprachlicher Vitalität" zu verstehen, steht der bürokratische
Zentralismus, dem jegliche regionale Abweichung, auch sprachlicher Art, ein Dorn
im Auge ist. Nachdem nun der bundesdeutsche Sprachraum durch
Wiedervereinigung noch gravierender nordlastig geworden ist als vorher, befürchtet
etwa Ludwig Zehetner eine Verstärkung der ohnehin vorhandenen "übereifrige[n]
2
Vielleicht sollte man auch eine Anregung von Ammon (ebd.) aufgreifen, der geradezu ein
Wörterbuch der norddeutschen Besonderheiten wie Apfelsine, Mótor, Sahne, Sonnabend, oder
Chemie vorschlägt. Es ist ja wirklich so, daß der Süden Deutschlands die Mitte des Sprachraums ist
und daß man nicht immer gerade ihn als den abweichenden Teil verstehen muß.
akzeptieren müssen. Die bayerischen Puristen haben also viel zu tun. In der neuesten
Nummer vom Rundbrief des Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte e.V., der
mit der Zielsetzung gegründet wurde, das regionale Deutsch zu stärken, werden zwei
amtliche und eine private Stelle diesmal zum Ziel der Sprachkritik. Das
Kultusministerium wird kritisiert, weil es stets nur von Jungen, nicht von Buben
spricht, im Bayerischen Rundfunk wird das Zäpfchen-r angeprangert; und einem
uneinsichtigen Traunsteiner Kinderhort, der sich den Namen "Die Murmel" gegeben
hat, wird erklärt, daß man in Bayern "Der Schusser" sagen muß.
Die wachsende Integration in die restliche Bundesrepublik zeitigt sprachliche
Folgen. Schon Adolf Hitlers Abschaffung der byeerischen Eigenständigkiet mußte die
mußte die sprachliche Situation in Bayern beeinflussen. Das von Wolfgang Johannes
Bekh ausgemachte Heer von annähernd drei Millionen freiwillig aus dem
deutschsprachigen Norden zugezogenen Neusiedlern fast noch mehr. Österreich
hatte nach dem letzten Krieg Anlaß, seine sprachlichen Besonderheiten zu einer
Absetzbewegung vom Reichsdeutschen weg zu bündeln, Bayern dagegen eher Anlaß
zu einer Integration mit den anderen Ländern des Bundes. Das Überleben oder
Absterben der lokalen Normvarianten wird uns zeigen, wie ernst es die Deutschen
mit dem Föderalismus nehmen.
Ich schließe mit einem kurzen Fazit. Es gibt eine für Bayern charakteristische
Ausprägung der deutschen Standardsprache vor allem in Aussprache und Wortwahl.
Einige Besonderheiten umfassen den ganzen Freistaat, andere nur Teile davon,
insbesondere Altbayern. Vor allem in Altbayern besteht auch ein gewisses Bewußtsein
für die identitätsstiftende Funktion dieser Variante.
Mária Papsonová
(Prešov)
1. Einleitung
Meinen Ausführungen zum angegebenen Thema sollen zwei Präzisierungen
vorausgeschickt und im folgenden kurz begründet werden.
1. Es ist nicht das Ziel dieses Beitrages, die österreichischen Bestandteile im
Slowakischen genau aufzulisten bzw. diese geographisch und soziologisch
einzuordnen - bei der Behandlung des Themas wird vom breiteren Kontext der
slowakischen-deutschen Sprachkontakte ausgegangen und erst vor deren
Hintergrund versucht, auf den Einfluß der österreichischen bzw. der bairisch-
österreichischen Gebiete hinzuweisen.
2. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht die Beeinflussung des
Slowakischen und dessen Mundarten (Maa.) durch das Deutsche, die umgekehrte
Einwirkung wurde außer Acht gelassen.
Anmerkung: Der Begriff "Slowakisch" steht überdachend sowohl für die
Schriftsprache als auch für deren Mundarten, während unter der Bezeichnung
"deutsch" zusammenfassend vor allem die (auch in der heutigen Slowakei historisch
wie gegenwärtig gesprochenen) deutschen Mundarten zu verstehen sind. Ähnlich
wird die Bezeichnung "Deutsche" für alle Sprecher dieser Mundarten verwendet, die
verschiedene Sprachlandschaften der zentralen Gebiete des Deutschen, also auch den
geschlossenen österreichischen Raum, repräsentieren. Dementsprechend werden
unter "Germanismen" sowohl Teutonismen als auch Austriazismen verstanden.
Zu 1. Die dauerhaften Spuren, die das Deutsche im Slowakischen hinterlassen
hat, ergeben sich nicht nur aus den frühmittelalterlichen wechselseitigen Kontakten
der Slawen mit den Germanen, auch nicht nur aus der bis heute andauernden
Nachbarschaft der österreichischen und slowakischen Sprachgemeinschaft. Sie sind
vielmehr Ergebnis der spezifischen gesellschaftlich-historischen Entwicklung der
mittelalterlichen Slowakei, der direkten Kontakte der slowakischen und deutschen
Bevölkerung und ihres Zusammenlebens und hängen mit dem Kolonisationsprozeß
der umfangreichen Gebiete des damaligen Oberungarns eng zusammen.
Die mittelalterliche Besiedlung der heutigen Slowakei, die im größeren Umfang
an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vom ostmitteldeutschen Raum her
-316-
einsetzte und bis ins 15. Jahrhundert durch Kolonisten aus schlesischen und bairisch-
österreichischen Gebieten fortgeführt wurde (Schwarz 1935:292ff.; Kuhn 1967:20-
35), erreichte im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt - die Zahl der Deutschen wird
auf 200 000 bis 250 000 (etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung, vgl. Grothe
1943:25) geschätzt.
Die Einwanderer, die auf Einladung ungarischer Herrscher kamen, angelockt
v.a. durch günstige rechtliche und wirstchaftliche Bedingungen, waren in ihrem
Heimatland Zeugen der intensiven Entfaltung des städtischen Lebens und bemühten
sich, Elemente und Formen dieses prosperierenden Prozesses auch in der neuen
Heimat wirksam werden zu lassen. Bereits kurz nach ihrer Niederlassung nahmen sie
führende wirtschaftlich-politische Stellungen ein, die es ihnen ermöglichten, einen
wichtigen Beitrag zur Städtegründung, zur Entfaltung des Städtewesens, Bergbaus,
Handels, der Handwerke und der Landwirtschaft zu leisten. Aufgrund der durch die
umfangreichen Rechte bedingten Reife und Organisation verdrängten die Deutschen
auf mehrere Jahrhunderte die ursprüngliche slowakische bzw. später angesiedelte
ungarische Bevölkerung aus den wichtigsten Sphären. Nicht nur in den
zusammenhängend besiedelten Gebieten (Oberzips und Zipser Gründe,
mittelslowakisches Bergbaugebiet, ostslowakische Bergstädte, die an das
niederösterreichische Sprachgebiet angrenzende Südwestslowakei), sondern auch in
allen bedeutenden Städten und Orten, deren Patriziat überwiegend Deutsche
bildeten, wurde ihre Sprache zur zweiten Amtssprache.
Mit den entwickelteren Arbeitstechniken und Arbeitsweisen, mit neuen Formen
des städtischen Lebens übernehmen die Slowaken von den deutschen Einwanderern
auch die in ihrer Sprache meist nicht bestehenden Benennungen. Die mitgebrachte
ausgereifte Organisation der Zünfte und Handwerke, des Handels und Bergbaus
sowie der öffentlichen Verwaltung wirkt sich sowohl auf die gesprochene als auch
auf die geschriebene Sprache der einheimischen Bevölkerung stark aus. Aus keiner
anderen Sprache wurde ins Slowakische so viel übernommen wie aus dem
Deutschen, das auch bei den meisten Entlehnungen lateinischer Herkunft die Rolle
der Mittlersprache spielt. Durch den deutschen Filter gelangen darüber hinaus
Wörter aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen u. a. m. in den
slowakischen Wortbestand. Neben den das wirtschaftliche und öffentliche Leben
bzw. ihre Organisation betreffenden Wörtern wurden in der langen Zeit des
Sprachkontakts auch viele Benennungen integriert, die mit den Dingen und
Erscheinungen des Alltagslebens zusammenhängen. Diese Integration wurde darüber
hinaus von verschiedenen außersprachlichen Faktoren begünstigt, so von der
Migration bestimmter Sozialgruppen der einheimischen Bevölkerung (Handwerker,
Kaufleute, Tagelöhner, Dienstpersonal, Militärdienst in der Armee der k. u. k.
Monarchie, Auswanderung), die aus der deutschsprachigen Umgebung neue Wörter,
oft spezielle Ausdrücke aus dem Bereich ihrer Erwerbstätigkeit und des
gesellschaftlichen Lebens, mitbringen. Auf diesen Wegen gelangen im 19. und
anfangenden 20. Jahrhundert besonders Wörter aus dem Bereich des Amt- und
vor allem in Bezug auf diese schnell untergehende spezielle Terminologie eine
Fundgrube, die man für germanistische Untersuchungen exploitieren müßte.
Sowohl in den bis jetzt gedruckten als auch in den wohl zahlreicheren, nur in
Maschinenschrift vorliegenden Arbeiten (Diplom-, Doktorarbeiten, Dissertationen)
sowie den in philologischen Fachzeitschriften und Sammelbänden verstreuten
Beiträgen kann man wiederholt den Versuchen begegnen, das fremde Wortgut seiner
Herkunft nach einzuordnen und zu erklären. Dabei werden die zum großen Teil nur
in der gesprochenen Sprache (Mundart, Ma.) bestehenden Lexeme meist den
Benennungen der deutschen Gegenwartssprache gegenübergestellt und die
Abweichungen und Veränderungen, die das Lehnwort gegenüber der
schriftsprachlichen Lautung aufweist, als Ergebnis der Adaptierung und der
Interferenz der umliegenden slowakischen Mundart(en) beurteilt.
Einen Beweis dafür, daß der Prozeß der Übernahme viel komplizierter ist, nicht
nur die historische Entwicklung der beteiligten Kontaktsprachen und deren
Mundarten, sondern auch der Nachbarsprachen und die gesellschaftlich-politische
Entwicklung des untersuchten Sprach- und Zeitraums, die Kulturgeschichte im
breiten Kontext berücksichtigen muß, bringt Rainer Rudolf in seiner 1991 in Wien
erschienenen Monographie Die deutschen Lehn- und Fremdwörter in der
slowakischen Sprache. Da sich der Autor bei der Zusammenstellung des Wörterbuchs
auf die bis jetzt gedruckten Arbeiten gestützt hat, stellen die von ihm aufgelisteten
fast 4.000 germanisch-deutschen Lehnwörter keineswegs die vollständige
Bestandsaufnahme dar. So ist z. B. der Anteil der Wörter deutscher Herkunft in den
bis heute lexikographisch nicht erschlossenen slowakischen Mundarten der Oberzips
und der Zipser Gründe, in denen die Kontaktsituation bis ins 20. Jahrhundert
aufrechterhalten blieb, sehr hoch.
(vgl. J. Valiska) u. a.) kremfy - Krämpfe, klej - Klee, kirbis - Kürbis, lancuch - Kette,
mhd. lanne, lenèèa - Linse, štiglic - Stieglitz, majkefer, makaber - Maikäfer).
3.2.2. Die genannten Beispiele lassen erkennen, daß die Wörter deutscher
Herkunft in einzelnen Mundarten z. T. sehr unterschiedlich adaptiert wurden und
verschiedene Laut- und Formenvarianten (z. B. árešt, arešt, harešt, hárešet, herešt -
Arrest; hajcer, hajcér, hajcier, hajacér, hajèèár, hajcár - Heizer; tiract, tirarc, tirac,
tiras, tijarc, iarc, tilarc, tiralc, tira¾¾c - Tierarzt), oft auch unterschiedliche
Bedeutungen aufweisen. So sind z. B. die Bedeutungen des maskulinen Substantivs
koch mindestens zwei Homonymen zuzuordnen (Lipták, 1980:125), wobei sich aber
ihre Verbreitungsgebiete nicht decken:
der Mittelslowakei als 'Kleidung' allgemein bekannt ist und auf den Plural des hd.
Neutrums "Gerät" hinweist, seiner heutigen Bedeutung aber kaum entspricht. Die in
den slow. Maa. festgehaltenen Bedeutungen dieser Entlehnung gehen auf mhd.
Substantiv gerâde zurück, das 'die fahrende Habe der Frau, Hausrat und Kleider'
bezeichnet (in dieser Bedeutung auch im Polnischen graty, im Alttschech. grad,
gerad, gród (vgl. Machek, 1957:117).
Vereinzelt dienen Lautvarianten dazu, verschiedene Bedeutungen des
entlehnten Wortes auseinanderzuhalten: tragar - Träger, Stützbalken / troger
Gepäckträger; flek - Fleck, in übertragener Bedeutung auch 'eine (gute) Arbeitsstelle';
f¾¾ak, f¾¾aky - Därme, Innereien; šiba - Fensterscheibe / šajba - Scheibe, šajbovec -
Scheibenbürste; bei ¾uft - Luft; ¾oft - 'Entlüftungsloch im Keller' liegt
höchstwahrscheinlich auch Kontamination vor.
Bei unseren Betrachtungen gehen wir von der These aus, daß für ein voll
adaptiertes, also entlehntes Wort (im Unterschied zum Fremdwort) nur diejenige
lexikalische Einheit fremder Herkunft gehalten werden kann, die sich der
einheimischen Mundart maximal angepaßt hat und in ihrem Wortbestand als
systemhaftes Element funtioniert (Bartko 1980:91). Diese kann also keine Phoneme,
Phonemkombinationen bzw. Realisierungsformen solcher Lautgesetze enthalten, die
im einheimischen Sprach- bzw. Mundartsystem nicht vorkommen.
4.1.1. Wenn man in Betracht zieht, daß (abgesehen von ihrer Aussprache) das
Deutsche und Slowakische das gleiche Inventar von nicht umgelauteten Vokalen
besitzen, folglich also im Prozeß der Übernahme kein Grund zur Interferenz bestand,
dann sind die meisten Veränderungen dieser Laute in der Stammsilbe nicht als
Ergebnis der Adaptation, sondern als Besonderheiten der im betreffenden Gebiet
gesprochenen deutschen Mundarten zu erklären. Ihre Umlaute sowie Diphthoge
müssen dagegen dem einheimischen Lautsystem, das keine gerundeten Vokale und
fallenden Diphthonge kennt, angepaßt werden.
So sind neben den Belegen, die das mhd. bzw. schriftsprachliche a/â bewahren,
oft solche zu finden, die den ma. Wandel a > o aufweisen:
mhd. a: dufart - Durchfahrt; dach - Dach; gánok, ganek - zu "Gang" ('gangartiger
Hofbalkon'; vgl. slow. pavlaèèe - öst. Pawlatschen); hantlager - Handlanger;
firhag, firhanga - Vorhang (nur in der Bed. 'Gardine'); macher - Fachmann;
übertr. 'Prahler'; šma¾¾ec - Schmalz, Schweinefett; pakova (sa) - einpacken;
übertr. 'abhauen' (pakuj sa! - hau' ab!)
mhd. â: š¾¾afrok - Schlafrock; ratuš, ratús - Rathaus; harnad¾¾a - Haarnadel; jarmok/
jarmak/jarmark - Jahrmarkt; hák - Haken; krám - Kram; übertr. 'Geschäft'.
a > o: boks - Wachs (nur für 'Schukreme'); krochma¾¾ - Kraftmehl; bodvanka -
Badewanne; ponk - Bank (nur für 'Arbeitstisch in der Tischlerwerkstatt'); spori
/ špori / šporova - sparen; sporite¾¾ò a < Sparkasse; sporák - Sparherd; šor -
Schar (nur in der Bed. 'Reihe'); stodola - Stadel.
â > o: blajbok - Bleiwaage; drôt/drot - Draht; ferš¾¾ok - Verschlag; fajront -
Feierabend; gróf/grof - Graf; fjerš¾¾ok, ferš¾¾ok - Verschlag, Kiste; grodseg¾¾a -
Gratsäge; švagor / švager / švoger - Schwager; škop, škopok, škopec -
Holzschaff, Melkschaff.
Da dieser mundartliche Wandel in frühneuhochdeutscher Zeit sowohl
oberdeutsch (obd.) als auch mitteldeutsch (md.) bezeugt ist (V. Moser 1929, §§ 69,
75, 2), kann man ihn m. E. nicht nur dem direkten Einfluß des bairisch-
österreichischen Raumes zuschreiben. Ähnlich ist die Senkung von mhd. e (ä) schon
mhd. in vielen Gebieten des Oberdeutschen und im gesamten Ostmitteldeutschen
(Omd.) verbreitet (V. Moser 1929, §§ 71, 2; 76, 2) :
e(ä) > a: gepe¾¾/gápe¾¾ - Göpelwerk (mhd. gebel); fo¾¾vark - Vorwerk (meist als Flur-
bzw. Ortsname); plech/b¾¾acha - Blech; rachova - rechnen; rachunek -
Literatur:
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der Wörter fremder Herkunft im mundartlichen Wörterbuch]. In:
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(Hrsg.): Kolloquium zu den volkskundlichen Bedingungen der Kultur bei den
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Hutterer, Claus Jürgen (1995): Über die mehrsprachige Konvergenz in der
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Kontinuität der Zeit. Prešov. S. 255-267.
Kaèala, Ján et al. (1987): Krátky slovník slovenského jazyka [Kurzes Wörterbuch der
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Krajèoviè, Rudolf (1988): Vývin slovenského jazyka a dialektológia [Die Entwicklung
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Lipták, Štefan (1980): O výskume remeselníckej terminológie a jej zaradení do
náreèového slovníka [Über die Erforschung der Handwerksterminologie und
Libuše Spáèilová
(Olomouc)
1. Einleitung
Das langjährige Zusammenleben der Tschechen mit den Österreichern in der
multinationalen habsburgischen Monarchie beeinflußte ohne Zweifel in vielen
Hinsichten die Gewohnheiten beider Völker. Als Beweis dafür kann die Sprache
dienen, denn die Sprache, und hier besonders der Wortschatz, spiegelt die
Lebensrealität wider. Die gegenseitige Beeinflußung beider Sprachen begann bereits
mit den ersten Handelsbeziehungen beider Völker.
Ich komme aus Olomouc, und in dieser mährischen Stadt war die Situation
noch deswegen spezifisch, weil hier von der Gründung der Stadt im 13. Jahrhundert
(vorher gab es hier bereits eine ältere slawische Ansiedlung) bis zum Jahre 1945 die
tschechische und deutsche Bevölkerung zusammenlebte. Die ersten sprachlichen
Kontakte sind viel älter. Nach Müller ist ”der mögliche Beginn slawisch-deutscher
lexikalischer Beziehungen im Ostalpengebiet sowie im ehemaligen Böhmen und
Mähren etwa mit dem 7. Jahrhundert datiert.”1 Die ältesten im Olmützer Archiv
bewahrten schriftlichen Quellen aus dem 15. Jahrhundert, die uns über
Handelsbeziehungen informieren, wurden im Frühneuhochdeutschen verfaßt. Diese
Archivalien sind sprachgeschichtlich sehr bedeutend, weil sie erweisen, daß das
Olmützer Deutsch durch die bairisch-österreichische Variante beeinflußt wurde. Seit
Anfang des 16. Jahrhunderts lieferten die Augsburger und Nürnberger ihre
"Kramerwaren" nach Olomouc. Unter diesem Begriff hat man sich Luxusartikel
vorzustellen, die für wohlhabende Olmützer Bürger bestimmt waren. Besonders
intensiv waren diese Kontakte zwischen den genannten bayrischen Städten und
Olomouc bis zu den 30er Jahren desselben Jahrhunderts.2 Die gleiche Intensität
erreichte der Handel mit Wien und Linz3 seit Ende des 15. Jahrhunderts bis zur
Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg.
1
Müller (1974), S. 109.
2
Kameníková (1980), S. 104.
3
Ebenda, S. 108.
-330-
Nicht nur die Beziehungen reicher Kaufleute, sondern auch die Kontakte ihrer
Faktoren, Fuhrmänner und Diener beeinflußten den Wortschatz, und nicht allein an
den Beziehungen für luxuriöse Waren wird dieser Einfluß deutlich.
4
Z. B. Archiv der Stadt Olomouc (weiter ASO), Bücher, Sign. 138, f. 41r, 197r; Sign. 164, f. 24v.
5
Z. B. ASO, Bücher, Sign. 122, f. 124v
6
Das Hanna-Gebiet ist ein Teil Mährens.
7
ASO, Bücher, Sign. 120, f. 28v.
8
Slovník spisovné èeštiny pro školu a veøejnost. Praha (1978), S. 51.
9
ASO, Bücher, Sign. 120, 121, 122, passim.
10
ASO, Bücher, Sign. 120, f. 26v, 28v.
11
Vgl. Machek (1971), S. 133-134, weiter Holub - Kopeèný (1952), S. 110.
12
Valta (1974), S. 69.
13
Vgl. Ebner (1980), S. 143.
14
Es gibt viele Studien, die sich mit dem Slawischen bzw. Tschechischen im Wienerischen
beschäftigen. Als Beispiel kann z. B. Steinhauser (1962) dienen.
15
Valta (1974), S. 66ff.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-332-
16
John, - Lichtblau (1990), S. 19.
17
Ebenda, S. 19.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-334-
in Tábor in Südböhmen, also in dem Gebiet, das vom österreichischen Deutsch stark
geprägt wurde, und möglicherweise war die Autorin Österreicherin. Verwendet aber
wurde dieses Kochbuch wahrscheinlich auf unserem Territorium.
Österreichische Ausdrücke finden wir gleich bei der Charakteristik des
Geschirrs. Wichtige Hilfsmittel in der Küche werden durch österreichische und
bairische Ausdrücke benannt wie Walker bzw. Nudelwalker (bdt. Nudelholz, im
Tschechischen umgangssprachlich válek na nudle) oder Reindl (bdt. kleiner
Kochtopf, in der tschechischen Schriftsprache gibt es das Wort rendlík). Bei der
Beschreibung der Arbeitsverfahren erscheint das Verb sprudeln (bdt. quirlen), in den
mährischen Mundarten verwendet man bis heute das Verb šprudlovat oder das
Substantiv šprudlák (im Österreichischen Sprudler), ein Küchengerät, mit dessen
Hilfe man sprudelt. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den Speisen zuwenden, so
finden wir unter den Kochrezepten z. B. Rindsuppe (bdt. Fleischbrühe), Eingetropftes
in die Suppe (bdt. flüssiger Teig, den man durch ein Sieb als Einlage in eine kochende
Suppe tropfen läßt) oder eine gelbe Einbrenn (bdt. Mehlschwitze). Von Fleischsorten
kann man das Wort Lungenbraten nennen (bdt. Lendenbraten). Bei Obst und Gemüse
entdecken wir andere, in Österreich gebräuchliche Wörter, wie Karfiol (bdt.
Blumenkohl, im Tschechischen das heute wenig verwendete Wort karfiól), Fisolen
(bdt. grüne Bohnen, in der tschechischen Schriftsprache fazole), Marillen (bdt.
Aprikosen, in der tschechischen Schriftsprache meruò òky), Ribisel (bdt.
Johannisbeeren, in der tschechischen Schriftsprache rybíz), Paradieser (bdt. Tomaten,
in der tschechischen Schriftsprache rajata), Erdäpfel (bdt. Kartoffeln, in den
mährischen Mundarten erteple), Kohl (bdt. Wirsing, in der hannakischen Mundart
kél) oder das Wort Kren (bdt. Meerrettich, in der tschechischen Schriftsprache køen),
das wie schon erwähnt slawischer Abstammung ist. Interessant ist auch der Ausdruck
Schmetten (bdt. Sahne), der im Ostmitteldeutsch verwendet wurde und vom
slawischen Wort smetana (Sahne) abgeleitet werden kann.18 In diesem Kochbuch
fehlt natürlich nicht ein Rezept für böhmische Kolatschen (die Bezeichnung wurde
vom tschechischen Wort Kolo - Rad abgeleitet, tschechisch koláèe) - kleine gefüllte
Hefebackstücke. Allerdings sollten die Kolatschen nach diesem Kochrezept nicht aus
Germ, sondern aus Hefe gebacken werden. Nicht zuletzt für die Feinschmecker sei
noch eine andere Mehlspeise erwähnt: die Dalken (kleine Fladen mit Marmelade).
Dieses Wort entstand aus dem tschechischen Wort vdolky. Anna Rosenmüllers
Kochbuch belegt eine gegenseitige Beeinflußung der tschechischen Sprache und des
österreichischen Deutsch; einerseits wurden österreichische Ausdrücke, die im
Tschechischen entlehnt wurden, andererseits Wörter tschechischer Herkunft
verwendet.
Elisabeth Stöckels Buch "Die bürgerliche Küche oder neuestes österreichisches
Kochbuch für Haushaltungen, welche einen schmackhaften Tisch lieben" erschien im
Jahre 1861 in Wien. Betrachten wir nun nur diejenigen Ausdrücke der
18
Müller (1974), S. 117.
19
Slovník spisovné èeštiny pro školu a veøejnost (1978), S. 102.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-336-
Auch das 1911 in Wien von Heintz herausgegebene Kochbuch belegt den
gegenseitigen Einfluß auf dem Gebiet des Wortschatzes. Vom Austausch der Rezepte
zeugen viele böhmische Speisen, manchmal sogar durch ihre geographischen
Bezeichnungen, z. B. die Brünner Suppe, Erbsen auf böhmische Art, böhmische
Knödel u. a. Wir finden im Buch auch die Powidltascherln, Kartoffelndalken,
Liwanzen (im Tschechischen sind lívance eine Mehlspeise aus gegossenem Teig, die
in einer Pfanne zubereitet wird) mit Powidln, gefüllte Buchteln mit Powidln oder
echte böhmische Dalken mit Germ. Zu anderen Spezialitäten gehören z.B.
österreichischer Plunderteig, der in der tschechischen Schriftsprache als plundrové
tììsto bekannt ist, weiter Kremschnitte, bei uns umgangssprachlich kremšnýty
genannt, oder Pischingertorte (Oblatentorte), die unter dem umgangssprachlichen
Wort pišingr besonders in Böhmen bekannt ist.
Das enge Zusammenleben der Österreicher und Tschechen in der ehemaligen
Monarchie läßt sich nicht zuletzt anhand der Kochkunst illustrieren; und ihre
Sprachen - gerade die dazugehörige Lexik zeigt den gegenseitigen Einfluß der
österreichischen Variante des Deutschen und des Tschechischen. Die meisten
entlehnten Wörter sowohl im österreichischen Deutsch als auch im Tschechischen
gehören allerdings nur zur Umgangssprache oder sind mundartlich begrenzt. Diese
Beschränkung hatte auf tschechischer Seite einen nationalpolitischen Grund. Man
versuchte die tschechische Sprache aus Angst vor einer Beeinträchtigung der eigenen
Sprache gegen jeden größeren deutschen Einfluß abzuschirmen. Diese Tendenzen
wurden nach der Schlacht am Weißen Berge stärker und kulminierten im 19.
Jahrhundert.20 Sie betrafen die deutsche Sprache als Ganzes, d. h. auch die
österreichische Sprachvariante. Nur wenige entlehnte Wörter österreichischer oder
auch französischer und italienischer Herkunft, die über das österreichische Deutsch
in die Böhmischen Länder gekommen waren, wurden in die tschechische
Schriftsprache aufgenommen, wenn es noch kein heimisches Äquivalent gab. Solche
Wörter dienten überwiegend als Basis für einen neuen Ausdruck, an dem man jedoch
bis heute Spuren der fremden Herkunft erkennen kann (z. B. Marille - meruò òka).
Ähnlich war es aber auch bei der Entlehnung tschechischer oder slawischer Wörter
im österreichischen Deutsch. Die meisten entlehnten Ausdrücke gehören zur
Umgangssprache oder werden nur mundartlich verwendet. Nur in den Fällen, in
denen österreichische Begriffe fehlten, wurden tschechische oder slawische Wörter in
die österreichische Schriftsprache erhoben (Kren - køøen).
20
Man denke an die puristischen Tendenzen, die mit der sog. nationalen Wiedergeburt in den
Böhmischen Ländern verbunden sind.
der Advokat:
das Wort aus der Rechtswissenschaft, das aus dem Lateinischen (advocatus) im 14.
Jh. entlehnt wurde, verwendet man in Österreich und in der Schweiz. In
Binnendeutsch wurde es im 19. Jh. durch den Ausdruck Rechtsanwalt ersetzt und ist
heute für veraltet oder wird für abwertend gehalten. Im Tschechischen entspricht
dem österreichischen Wort das Äquivalent advokát;
das Fauteuil:
das Wort wurde aus dem Altfränkischen (faldistol = Faltstuhl) ins Französische
(fauteuil) und im 18. Jh. wieder ins Deutsche übernommen. Es wird vor allem in
Österreich verwendet, sonst ist es veraltet. In Binnendeutsch entspricht ihm der
Ausdruck Sessel (bequemer Polstersessel mit Armlehnen); im Tschechischen ist das
Wort fotel als teilweise veralteter Ausdruck der Gemeinsprache zu bezeichnen;
das Goal:
die Bezeichnung aus der englischen sportlichen Terminologie (goal) wird in
Österreich und in der Schweiz gebraucht, in Binnendeutsch ist es ein veralteter
Ausdruck, üblich ist das Wort Tor. Im Tschechischen ist das Wort gól auch teilweise
veraltet, trotzdem bis heute in der Umgangssprache verwendbar, in der
Schriftsprache wurde es durch das Wort branka (= Tor) ersetzt;
insultieren:
dieses Verb hat seine Herkunft im Lateinischen (insultare) und ist bis heute in der
Schweiz aktuell. In Binnendeutsch ist es veraltet, stattdessen ist "beleidigen" üblich.
Im Tschechischen gehört das Wort insultovat zur Bildungssprache;
das Pennal:
der im schulischen Milieu übliche Ausdruck wurde Ende des 15. Jh. aus dem
Lateinischen (penna) ins Deutsche entlehnt. In Binnendeutsch wird das Wort
Federbüchse verwendet. In dieser Sprachvariante, wo das Wort Pennal in der
erwähnten Bedeutung für veraltet gehalten wird, hat es noch eine andere - auch
veraltete - Bedeutung: eine höhere Schule. Im Tschechischen gehört das Wort penál
zur Gemeinsprache (in derselben Bedeutung wie in Österreich). Das Wörterbuch der
tschechischen Schriftsprache bezeichnet es nicht als veraltet, sein Gebrauch ist jedoch
eher bei der älteren Generation üblich;
das Spital:
das lateinische Wort hospes stand am Anfang der Entwicklung dieses Substantivs, das
heute in Österreich und in der Schweiz zum medizinischen Milieu gehört. Diesem in
Binnendeutsch veralteten Ausdruck entspricht das binnendeutsche Äquivalent
Krankenhaus. Im Tschechischen wird die Bezeichnung Špitál als veraltet angesehen,
in der Umgangssprache wird es jedoch bis heute verwendet, sehr oft im pejorativen
Sinne;
die Tabatiere:
dieser bis heute verwendete österreichische Ausdruck wurde im 17. Jh. aus dem
die Fisole:
aus dem Lateinischen phaseolus, in Binnendeutsch grüne Bohne. Im Tschechischen
gibt es das Äquivalent fazole;
garagieren:
das französische Wort garage wurde zur Basis für diesen österreichischen und
schweizerischen Ausdruck, der in Österreich heute nicht mehr in Gebrauch ist. Die
binnendeutsche Umschreibung das Fahrzeug in die Garage einstellen ist etwas länger.
Im Tschechischen ist das Äquivalent garáovat bis heute aktuell;
die Garçonniére:
dieses Wort hat seine Herkunft im französischen Wort garçon. In Österreich ist dieser
Ausdruck bis heute üblich, in Binnendeutsch wird das Äquivalent
Einzimmerwohnung verwendet. Im Tschechischen ist das Wort garsoniéra, in der
Umgangssprache garsonka ganz üblich. Es ist jedoch keine Einzimmerwohnung,
sondern nur ein Zimmer mit Zubehör (es ist ein Typ von kleinen Wohnungen für
ledige oder alleinstehende Leute);
der Grasel:
es ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der in Binnendeutsch Äquivalente wie
Halunke oder Gauner hat. Im Prager Pitaval von Egon Erwin Kisch wird der
Räuberhauptmann Hans Georg Grasel erwähnt, der aus Mähren stammte und in
Niederösterreich lebte. Dieser Mann wurde im Jahre 1815 gefangen, zu Tode
verurteilt und am 31. 1. 1818 am Neuen Tor in Wien hingerichtet.21 Im
Tschechischen wird der vulgäre Ausdruck grázl verwendet;
die Kaluppe:
diesem österreichischen Ausdruck diente das tschechische Wort chalupa als Basis.
Während es im Tschechischen ein kleineres Haus auf dem Lande (früher ein Gebäude
mit einem kleineren Feldstück, heute eher ein der städtischen Bevölkerung zur
Erholung dienendes Wochenendhaus) bezeichnet, erwarb das Wort im
österreichischen Deutsch eine andere Bedeutung, die mit baufälliges altes Haus
umschrieben werden könnte;
der Karfiol:
das Wort hat den Ursprung in den italienischen Ausdrücken cavolo und fiore, es wird
in Österreich und Süddeutschland gebraucht. Das Wort wurde um 1600
eingedeutscht. Das tschechische Äquivalent karfiól (in Binnendeutsch Blumenkohl),
das heute aktiv weniger verwendet wird, gilt jedoch nicht als veraltet;
die Karniese:
der Ausdruck wurde aus dem Spanischen übernommen (cornisa). Er wird in
Österreich für das binnendeutsche Wort Gardinenleiste gebraucht. Im Tschechischen
21
Siehe Kisch, Egon Erwin: Praský pitaval. Praha (1964), S. 208-212.
hält man das Wort garný ý für teilweise veraltet, es gibt jedoch kein besseres
tschechisches Äquivalent;
die Klobasse:
das Wort ist slawischer (tschechischer oder slowakischer) Abstammung. Im
Alttschechischen kann man zwei Varianten dieses Wortes finden - koblása oder
klobása, heute nur klobása. Den Ausdruck verwendet man in Österreich. Er
entspricht der binnendeutschen Bezeichnung eine Art grober, gewürzter Wurst;
die Kolatsche:
in allen slawischen Sprachen vorhanden, stammt das Wort von dem Ausdruck kolo
(Rad). Im Alttschechischen war die ursprüngliche Bedeutung des Wortes koláèè ein
Geschenk oder eine Bestechung. Im österreichischen Deutsch dürfte es in der Zeit
erschienen sein, in der Köchinnen aus Böhmen und Mähren nach Österreich kamen.
Sie brachten ihre eigenen tschechischen Fachausdrücke mit und dürften in Wien mit
diesem in Böhmen und Mähren beliebten Gebäck Erfolg gehabt haben. Das
binnendeutsche Äquivalent wird in der Umschreibung ein kleines, gefülltes
Hefegebäckstück ausgedrückt;
kollaudieren, die Kollaudation:
das Wort wurde aus dem Lateinischen (laudare) entlehnt und gehört heute zur
österreichischen und schweizerischen Amtssprache. In Binnendeutsch gibt es nur
eine Umschreibung - amtliche Überprüfung eines Bauwerkes. Im Tschechischen
gehört das Äquivalent kolaudovat, kolaudace zur Fachsprache;
die Konsumation:
lateinisch consumare; dieses Wort in der österreichischen und schweizerischen
Variante entspricht dem binnendeutschen Ausdruck Verzehr. Das tschechische Wort
konzumace ist als Ausdruck der Bildungssprache zu bezeichnen;
die Korrespondenzkarte:
aus dem Lateinischen (respondere). In Österreich nicht mehr in Gebrauch, wohl aber
in der Schweiz, im Binnendeutschen geht es um eine Postkarte mit aufgedrucktem
Wertzeichen. Im Tschechischen wird die umgangssprachliche Bezeichnung
korespondenèní lístek gebraucht;
der Kren:
das Wort stammt aus dem slawischen Ausdruck chrøn. In Binnendeutschen wird der
Ausdruck Meerrettich gebraucht. Die österreichische und süddeutsche Form
entspricht dem tschechischen Wort køen;
der Kukuruz:
dieser Ausdruck dürfte südslawischer Abstammung sein. Im Serbischen gibt es
kukuruz, im Ukrainischen kukuruza. Das Wort Kukuruz verwendet man in
Österreich und Süddeutschland. In Österreich existiert noch ein landschaftliches
Synonym der Türken. Beide Bezeichnungen haben ihre Äquivalente im
Tschechischen, und zwar einen Ausdruck in der Schriftsprache kukuøøice und ein
mundartliches Äquivalent turkyò, das veraltet ist und vor allem in Mähren verwendet
wurde. In Binnendeutsch entspricht dem Wort Kukuruz Mais;
die Liwanze:
dieses Wort wurde aus dem Tschechischen übernommen (lívanec) und wurde von
böhmischen und mährischen Köchinnen nach Wien gebracht. Im Binnendeutschen
kann man die Umschreibung Mehlspeise aus gegossenem Teig, die auf einer Pfanne
zubereitet wird, verwenden;
lizitieren:
der Ausdruck stammt aus dem Lateinischen (licitari) und ist nur in Österreich üblich.
Interessant ist es, das dieser Ausdruck im Duden nicht angeführt ist. Man kann ihn
jedoch im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache22 finden. In Binnendeutsch
entspricht ihm das Äquivalent versteigern. Die Tschechen verwenden das Wort
licitovat;
der Malter (< aus dem Italienischen malta):
dieser Ausdruck dient als umgangssprachliche Bezeichnung des binnendeutschen
Wortes Mörtel. Im Tschechischen gibt es malta. Dieses Wort (der oder das Malter)
kann auch der Name des heute nicht mehr verwendeten Hohlmaßes für Getreide
oder Raummaßes für Holz sein. (Mhd. malter = Getreidemaß.) Das tschechische
Äquivalent zu dieser Bedeutung ist mìø
ìø , korec;
ìøice
die Marille:
das Wort wurde aus dem Italienischen armellino (im Lateinischen gibt es armeriaca)
entlehnt. In Binnendeutsch existiert das Äquivalent Aprikose. Das tschechische Wort
meruka ist dem österreichischen ähnlich;
die Matrikel:
lat. matricula, der Ausdruck aus der österreichischen Amtssprache entspricht dem
binnendeutschen Wort Personenstandregister, tschechisch matrika. In der
binnendeutschen Variante hat der Ausdruck noch eine andere Bedeutung - ein
amtliches Personenverzeichnis (z. B. an der Universität). In dieser Bedeutung ist das
tschechische Äquivalent auch verwendbar;
die Matura:
das lateinische Wort maturus bedeutet reif. In Österreich hat sich der Ausdruck
Matura und in der Schweiz Matur eingebürgert. In Binnendeutsch verwendet man
für diese Prüfung den Ausdruck Abitur, Abiturprüfung. Mit dem tschechischen
Äquivalent maturita wird dieselbe Prüfung an jeder Mittelschule bezeichnet.
Abgeleitete Wörter Maturant (in Binnendeutsch Abiturient) und maturieren (das
Abitur ablegen) entsprechen den tschechischen Ausdrücken maturant und
maturovat;
22
Klappenbach, Ruth /Steinitz, Wolfgang (1969) S. 2385.
die Palatschinke:
dieser Ausdruck, der aus dem Ungarischen (palacsinta) oder Rumänischen (placinta)
stammt, kann als Beweis für die Vermischung des Wortschatzes der Kochkunst in der
alten Monarchie dienen. In Binnendeutsch geht es um einen dünnen Eierkuchen, der
zusammengerollt und mit Marmelade gefüllt wird. Ins Tschechische ist das Wort
palaèèinka aus der Slowakei gekommen;
paprizieren:
das Wort ungarischer Abstammung wird ebenfalls in der österreichischen Kochkunst
verwendet. In Binnendeutsch wird es umschrieben - mit Paprika würzen. Das
tschechische Äquivalent paprikovat ist (aktuell;
der Partezettel:
der Ausdruck wurde aus dem Französischen (donner part) entlehnt, in der
österreichisch Sprachvariante kommt öfter seine Kurzform die Parte vor. In
Binnendeutsch entspricht diesem Wort die Bezeichnung Todesanzeige, und im
Tschechischen wird noch heute das schon veraltete umgangssprachliche Äquivalent
parte gebraucht;
der Powidl:
ist tschechischer Herkunft povidla, das die österreichische Kochkunstterminologie
bereichert hat. Unter diesem Begriff versteckt sich der binnendeutsche Ausdruck
Pflaumenmus;
die Pawlatsche:
diese Vokabel, die aus dem Tschechischen entlehnt wurde pavlaèè, ist in der
österreichischen Sprache ein umgangssprachlicher Ausdruck. In Binnendeutsch wird
die Umschreibung offener Gang an der Hofseite eines Hauses gebraucht. Außer dieser
Bedeutung, die mit der im Tschechischen identisch ist, kann man noch auf andere
Bedeutungen hinweisen: baufälliges Haus oder Bretterbühne;
petschiert sein:
im Tschechischen gibt es den Ausdruck peèe (im Deutschen Petschaft, Siegel). Die
erwähnte Wendung ist in Österreich umgangssprachlich und bedeutet in
Binnendeutsch den Nachtteil haben, in einer schwierigen Situation sein. Den
Ursprung dieser Verbindung könnte man in der Zeit finden, in der das Haus wegen
Schulden verpfändet und versiegelt wurde;
die Pogatsche:
das Wort kommt aus dem Ungarischen (pogácsa), in Binnendeutsch kann man nur
die Umschreibung flacher Eierkuchen mit Grieben verwenden. Das tschechische
Diminutivum pagáèèek ist veraltet und mundartlich;
der Präsenzdienst:
der aus dem Lateinischen stammende Ausdruck (praesens) gehört zur
österreichischen Amtssprache. In Binnendeutsch bedeutet er Grundwehrdienst.
die Tuchend:
das Wort stammt aus den slawischen Sprachen. Bis heute wird es in Bayern und
Österreich verwendet. Die binnendeutsche Variante setzt den Ausdruck Federbett ein.
Das tschechische Wort duchna wird bis heute in Mähren gebraucht;
die Watsche (lat. facies ?):
es geht um einen umgangssprachlichen in Österreich und Bayern verwendeten
Ausdruck, in Binnendeutsch kommt das Äquivalent Ohrfeige vor, im Tschechischen
das aus dem Deutschen entlehnte Wort facka;
der Zeller (lat. selinum):
ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für die binnendeutsche Sellerie. Im
Tschechischen gibt es das Wort celer.
abkrageln:
dieses Verb entstammt der Wiener Gaunersprache. In der deutschen Schriftsprache
bedeutet dieses Wort kaltmachen, erledigen. Im Tschechischen gibt es den vulgären
Ausdruck odkráglovat;
der Bartwisch:
für dieses bairische und österreichische Wort werden in Binnendeutsch die
Bezeichnungen Handbesen oder Handfeger verwendet. Im Tschechischen ist das
Wort portviš auch veraltet;
das Beis(e)l:
dieser österreichische Ausdruck hat seine Herkunft in Jiddisch (bajis =
Gastwirtschaft). In Binnendeutsch entspricht diese Bedeutung den Wörtern Kneipe
23
Duden. Deutsches Universal Wörterbuch A-Z. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim 1989, S.
901.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-350-
oder einfaches Gasthaus, die tschechische Sprache verfügt über den vulgären
Ausdruck pajzl;
das Beusch(e)l:
bdt. Lungenhaschee, im Tschechischen gibt es ein teilweise veraltetes Wort der
Gemeinsprache pajšl;
das Bischofsbrot:
ist eine gebackene Mehlspeise, im Tschechischen wird die wortwörtliche Übersetzung
biskupský chlebíèèek verwendet;
das Buckerl:
es geht um einen ironischen umgangssprachlichen Ausdruck, der als unterwürfige
Verbeugung umschrieben werden kann. Das veraltete Wort des
Gemeintschechischen pukrle wird heute eher ironisch verwendet;
das Busserl:
in der binnendeutschen Variante Kuß (in Österreich und Bayern auch familiär Bussi),
tschechisch pusa), der Ausdruck kann noch eine andere Bedeutung haben - ein sehr
kleines süßes Gebäck (z. B. Kokosbusserl), das auch im Tschechischen bekannt ist. Als
Äquivalent wird das tschechische Diminutivum pusinka gebraucht;
die Dachgleiche, die Dachgleichenfeier:
bdt. Richtfest, im Tschechischen ein Slangwort glajcha;
die Eismänner:
für diese Bezeichnung wird in der binnendeutschen Sprachvariante der Ausdruck
Eisheilige verwendet (vom 12. bis 14. Mai). Im Tschechischen gibt es nur die
wortwörtliche Übersetzung der österreichischen Bezeichnung (ledoví mui);
das Endel, endeln:
österreichischer und süddeutscher Ausdruck, in Binnendeutsch bedeutet das Verb die
Ränder eines Gewebes einfassen. Im Tschechischen sagt man umgangssprachlich
entlovat, entl;
faschieren:
aus dem österreichischen mundartlichen Ausdruck Fasch = Farce (aus gehacktem
Fleisch hergestellte Füllung). Aus dem Verb (in bdt. durch den Fleischwolf drehen)
entstand das Substantiv das Faschierte, das folgenden binnendeutschen Äquivalenten
entspricht: Hackfleisch und aus Hackfleisch hergestellte Speise. Im Tschechischen
verwendet man den gemeinen Ausdruck fašírovat, fašírka;
der Feldkurat:
bdt. Militärgeistlicher, im Tschechischen ist das Wort vor allem durch Jaroslav
Hašeks Buch Die Abenteuer des braven Soldaten Švejk bekannt (feldkurát);
die Flachse:
bairisch und österreichisch für die binnendeutsche Sehne. Das Wort flaksa gilt im
Tschechischen als umgangsprachlich;
der Fratz (frühnhd. fratze - ital. frasca):
der süddeutsche, österreichische und schweizerische Ausdruck für bdt. ungezogenes
Kind. Im Tschechischen gilt das Wort fracek als salopp;
das Herrenhemd:
in Binnendeutsch wird das Wort Oberhemd verwendet, im Tschechischen die
wortwörtliche Übersetzung der österreichischen Bezeichnung pánská košile;
die Hetz:
in der österreichischen Sprachvariante ein umgangssprachlicher Ausdruck für das
binnendeutsche Wort Spaß oder fröhliches Treiben. Der tschechische
umgangssprachliche Ausdruck hec ist expressiv (im Sinne von provozieren);
der Hubertusmantel:
es geht um die Bezeichnung eines Mantels, der ursprünglich von Jägern getragen und
nach dem Schutzherrn der Jäger, dem Bischof Hubertus (+728), genannt wurde. In
Binnendeutsch gibt es den Ausdruck Lodenmantel, im Tschechischen wird die
Kurzform hubertus verwendet;
die Maut:
binnendeutsch Straßen- oder Brückenzoll, im Tschechischen mýto;
der Mistkübel:
binnendeutsch Abfalleimer, im Tschechischen gibt es das ausdrucksvolle Äquivalent
kýbl;
das Neugewürz:
es geht um den österreichischen Ausdruck für das binnendeutsche Wort Piment
(Nelkenpfeffer). Im Tschechischen ist die wortwörtliche Übersetzung nové koøøení
aktuell;
der Nudelwalker:
das Wort wird in Österreich und in Bayern gebraucht. In Binnendeutsch entspricht
ihm das Äquivalent Nudelholz, im Tschechischen das umgangssprachliche Wort
válek na nudle;
die Pipe:
ist ein umgangssprachlicher österreichischer Ausdruck für den Faßhahn, im
Tschechischen gibt es das Wort pípa;
der Pracker:
das Reindl:
ein süddeutscher und österreichischer Ausdruck für den binnendeutsche Begriff
kleiner Kochtopf, im Tschechischen umgangssprachlich rendlík;
die Spendel:
binnendeutsch Stecknadel, im Tschechischen špendlík;
spreizen:
das bairische und österreichische Verb hat in Binnendeutsch das Äquivalent stützen,
im Tschechischen enspricht diesem Wort der gemeinsprachlicher Ausdruck
zašprajcovat;
das Stamperl:
dieses Substantiv ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für das binnendeutsche Wort
Schnapsglas. In Böhmen und Mähren wird der mundartliche Ausdruck štamprle bis
heute verwendet;
das Stockerl:
für das binnendeutsche Wort Hocker gibt es diesen umgangssprachlichen
österreichischen Ausdruck. Das Wort der tschechischen Gemeinsprache štokrle
entspricht der österreichischen Form;
die Teeschale:
ist ein rundes oder ovales oben offenes Gefäß, im Tschechischen ist das Wort šálek
üblich;
der Tram:
der österreichische Ausdruck für das binnendeutsche Wort Balken. Im Tschechischen
gibt es die sehr ähnliche Form: trám;
die Wichsleinwand:
binnendeutsch Wachstuch, die tschechische teilweise veraltete Form ist vikslajvant;
das Wimmerl:
das Wort ist ein bayrischer, österreichischer und schweizerischer Ausdruck für den
binnendeutschen Pickel, Pustel. Im Tschechischen das teilweise veraltete Wort vimrle;
die Zieche:
das Wort stammt aus dem mhd. Begriff zieche. Es ist ein aktueller Ausdruck in
Österreich und Süddeutschland, im Tschechischen entspricht ihm das Wort cícha, in
Binnendeutsch Bettbezug, -überzug.
der Zipp:
der (heute ungebräuchlich gewordene) österreichische Ausdruck für den
Reißverschluß, im Tschechischen zip(s).
Literatur:
Duden - Deutsches Universalwörterbuch (1989): 2. völlig neu bearbeitete Auflage.
Mannheim.
Ebner, Jakob: Wie sagt man in Österreich? Mannheim 1980. 2., vollständig
überarbeitete Auflage.
Glettler, Monika: Böhmisches Wien. Wien/München 1985.
Heintz, J. M.: Die Wiener Bürger-Küche. Wien 1911.
Holub, Josef - Kopeèný, František: Etymologický slovník jazyka èeského.
(Etymologisches Wörterbuch der tschechischen Sprache.) Praha 1952.
John, Michael - Lichtblau, Albert: Schmelztigel Wien einst und jetzt. Zur Geschichte
und Gegenwart von Zuwanderungen und Minderheiten. Wien/Köln 1990.
Kameníková, Libuše: Dìjiny obchodu v Olomouci v období pøechodu od feudalismu
ke kapitalismu. Diplomová práce. (Geschichte des Handels in Olomouc in der
Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Diplomarbeit.) Olomouc
1980.
Kisch, Egon Erwin (1964): Praký pitaval. Praha.
Klappenbach, Ruth/Steinitz, Wolfgang (1969): Wörterbuch der deutschen
Gegenwartssprache. Berlin.
Machek, Václav: Etymologický slovník jazyka èeského. (Etymologisches Wörterbuch
der tschechischen Sprache.) Praha 1971.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-356-
Stanko epièè
(Zagreb)
1. Einleitung
Kulturhistorische Beziehungen zwischen Kroaten und Österreichern beginnen
noch viel früher, als es ein kroatisches oder österreichisches Staatsgebilde gegeben
hat, in der Zeit, als der erste dem Namen nach bekannte deutsche Dichter Otfried von
Weißenburg in der Widmung seiner Evangelienharmonie an den fränkischen König
Ludwig über ihn dichtet: er ostarrochi rihtit al, so Frankono kuning scal. Das Wort
ostarrochi bezeichnet den Osten des Fränkischen Reiches, das nach dem Vertrag in
Verdun unter den drei Enkeln Karls des Großen, Karl dem Kahlen, Lothar und Ludwig
dem Deutschen, geteilt wurde. Der Ostfränkische Staat verbreitete seine Gebiete auch
auf einen Teil des Balkans, wo die Kroaten lebten, und erreichte jene Grenzen, die das
Oströmische von dem Weströmischen Reich trennten und die bis zum heutigen Tag
die Grenze zweier so verschiedener Zivilisationen markieren. Das Fränkische Reich
brachte durch seine Ausbreitung nach Osten den kroatischen und anderen Heiden
die Christianisierung katholischer Provenienz, während aus dem Byzantinischen
Reich das orthodoxe Christentum nach Westen vordrang. Im Ostfränkischen Reich
waren verschiedene germanische Stämme vereinigt, unter ihnen auch die Bayern, die
den Österreichern die dialektale Grundlage für die spätere österreichische Sprache
lieferten. Kontakte der Kroaten und Österreicher aus dieser Zeit bleiben im Bereich
der Sagen und lassen sich nur an interessanten archäologischen Funden nachweisen.1
Kontakte zwischen Österreich und Kroatien als Kontakte zwischen der
österreichischen deutschen Sprache und der kroatischen Sprache sind nur eine
kontinuierliche Fortsetzung der Beziehungen aus der vorgeschichtlichen Zeit der
noch ungeteilten Sprachfamilien der Germanen und der Slawen, später dann der
nach Sprache und geographischer Ausbreitung erkennbaren Ost-, Nord- und
Westgermanen, dann der Goten und der altdeutschen Stämme mit bereits getrennten
1
Die kroatische Schriftstellerin und Germanistin Camilla Lucerna versucht aufgrund historischer
Quellen und archäologischer Funde Verbindungen zwischen Dalmatien und Kärnten in dieser Zeit zu
beweisen. Vgl. Lucerna (1935).
-358-
Ost-, West- und Südslawen bis hin zu Kontakten zwischen verschiedenen slawischen
Sprachgemeinschaften und verschiedenen deutschsprachigen Stämmen. All das
hinterließ Spuren in zahlreichen historischen Schichten der Lehnwörter, mehr in den
slawischen Sprachen aus dem Germanischen, weniger Slawisches in den
germanischen Sprachen. Die Entlehnung ist immer ein Geben und Nehmen, eine
höher stehende (mächtigere) Zivilisation gibt mit den Gegenständen der allgemeinen
Kultur und Zivilisation auch die dazugehörigen Namen. Neben den Wörtern der
Profankultur werden aber auch abstrakte Begriffe der Geisteskultur übermittelt.
Deshalb darf der deutsche Einfluß auf Kroatien, und das bedeutet vor allem der Ein-
fluß Österreichs, mit dem wir eine lange gemeinsame Geschichte teilen, nicht nur als
grobe und unbarmherzige Germanisierung interpretiert werden, wie dies bis in die
neueste Zeit üblich war.2 Ohne diese Germanisierung befänden wir uns in einer Si-
tuation, die der deutsche Indogermanist Hermann Hirt bei seinen ethnologischen
Untersuchungen in Bosnien vorfand und im Jahr 1898 aufzeichnete:
"Im Altertum wohnten hier die Illyrier, mit denen die Römer manchen harten Kampf
zu bestehen hatten, bis sie sich auch ihr Land völlig unterworfen haben. Schon
damals waren die Bewohner in der Kultur zurück. Die römische Herrschaft hat
manche Spuren hinterlassen, aber sie hat sicher nicht vermocht, die durch die Natur
gebotene Wirtschaftsform zu verändern. Ackerbau konnte nur wenig betrieben
werden, und die Viehzucht bildete daher die Hauptwirtschaftsform. Manche Stürme
sind später über das Land dahingebraust, das nach der Völkerwanderungszeit
allmählich von den Serben besetzt wurde. Auch die Serben waren ein einfaches, nach
unseren Begriffen primitives Volk, das aus Gegenden kam, die der Einfluß der
Mittelmeerkultur kaum berührt hatte. Die germanische Kultur, wie sie uns Tacitus
schildert, hatten sie schwerlich erreicht. Das Land konnte nicht dazu beitragen, sie zu
höherer Gesittung zu führen. Die Eroberung dieser Gegenden durch die Türken
bewirkte einen völligen Abschluß gegen die nordeuropäischen Einflüsse. Nur von der
dalmatinischen Küste, auf die Venedig Einfluß gewann, sind Einwirkungen
ausgegangen, die sich noch heute in dem interessanten Kunstgewerbe des Landes
zeigen. Erst seit der österreichischen Besitzergreifung ist das Land seinen natürlichen
Verhältnissen wiedergegeben. Wenn Österreich seinerseits nach diesem Besitze
streben mußte, so ist es für das Land erst recht ein Bedürfnis gewesen, mit dem
Norden Fühlung zu erhalten. Obgleich jetzt 19 Jahre seit der Besetzung verstrichen
sind, obgleich mit Anstrengung aller Kräfte gearbeitet ist, um das Land zu heben, so
fühlt man sich doch noch in eine andere Welt versetzt, wenn man bei Brod die Save
überschritten hat. In ganz Kroatien wird man kaum daran erinnert, daß man das
deutsche Sprachgebiet verlassen hat, steht es doch seit Jahrhunderten unter dem
2
Als Beispiel für die ältere Literatur sei das informative Büchlein von Velimir Deeliè (1901) erwähnt.
Für die neuere Literatur kann z.B. die knapp dargestellte Geschichte der Kroaten in der
Jugoslawischen Enzyklopädie dienen, wo österreichische Politik Kroatien gegenüber nur als
Germanisierung dargestellt wird, ohne daß kulturelle Beziehungen überhaupt erwähnt werden. Von
kommunistischen Geschichtsbüchern für Schulen ganz zu schweigen.
Einfluß der deutschen Kultur; aber mit dem Betreten des bosnischen Bodens befindet
man sich im Orient."3
Dieses Zeugnis Hermann Hirts können wir für eine objektive Darstellung der
Situation halten, weil es unwahrscheinlich ist, daß er irgendwelche subjektiven Zu-
neigungen oder Abneigungen Österreich, Kroatien oder den Serben gegenüber hatte.
Das einzige, was aus seiner Darstellung nicht klar hervorgeht, ist die Unterscheidung
der bosnischen Serben, Kroaten oder Moslems, wenn ein solcher Unterschied damals
überhaupt eine Rolle spielte. Viel wahrscheinlicher scheint es jedoch, daß dieser
Unterschied im Laufe des 20. Jahrhunderts künstlich geschaffen wurde und heute
zur Katastrophe führte, für die nicht so sehr die jahrhundertelange Türkenherrschaft
als vielmehr die mitten durch den Balkan verlaufende Grenze zwischen östlicher und
westlicher Welt verantwortlich ist. Diese Grenze der Zivilisation ist zugleich eine
Grenze des sprachlichen Einflusses, die wir als sprachlich-zivilisatorische Grenze
durch die ganze Geschichte verfolgen können.
2. Historischer Überblick
In der tiefen noch vorösterreichisch-kroatischen Vergangenheit lassen sich an
einer ersten Schicht von Lehnwörtern Kontakte der Germanen und Slawen
nachweisen als Folge ihrer nachbarlichen Begegnungen im Frieden und in
kriegerischen Auseinandersetzungen. Besonders diese letzteren haben Spuren
hinterlassen, die auf die von Slawen übernommene militärische Organisation der
Germanen hinweisen. Bis zum heutigen Tag sind im Kroatischen (teilweise nur noch
im kajkawischen Dialekt) Wörter gebräuchlich, die auf diese uralten Begegnungen
zurückgehen: dt. Volk ist aus dessen germ. Form ins Slaw. übernommen als plúkú, kr.
puk; kr. knez "Fürst" ist dasselbe Wort wie dt. König; kr. cesar und car "Kaiser" ist
höchstwahrscheinlich entlehnt aus der gotischen Entsprechung des heutigen Wortes
Kaiser, dieses geht wiederum zurück auf den Namen des römischen Heerführers und
Schriftstellers Caesar (dessen Name im klassischen Latein kaisar lautete); dt. walten
und kr. vladati "herrschen" gehören zu derselben Entlehnungsschicht wie kr. maèè
"Schwert", šljem "Helm", bradva "Bartaxt" und viele andere. Auf friedliches
Zusammenleben weisen folgende Wörter hin: kr. hljeb "Brot" aus got. hlaibs; kr.
kupiti "kaufen" aus got. kaupon zu lat. caupo "Gastwirt, Händler"; kr. kajkawisches
Wort penezi "Geld" ist dasselbe Wort wie dt. Pfennig, kr. pila "Säge" ist dt. Feile, kr.
postiti "fasten" ist dt. fasten, kr. pop ist dt. Pfaffe, kr. škrinja "Truhe" ist d. Schrein und
kr. hia "(kleines) Haus" ist das Haus. Die Lautgestalt eines Lehnworts verrät die Zeit,
in der das Wort entlehnt wurde, und die Sprache oder den Dialekt, aus dem entlehnt
wurde. Das Lehnwort bewahrt die Lautgestalt, die das Wort in der anderen Sprache
hatte, und entwickelt sich weiter nach den Gesetzen der eigenen Sprache, wie z.B. das
Wort šrinja, das aus dem Deutschen zu der Zeit entlehnt wurde, als das heutige Wort
Schrein scroni lautete (ahd. Lehnwort aus lat. scrinium.)
3
Zitiert nach Hirt (1940: 228).
Die verhältnismäßig kurze fränkische Episode auf kroatischem Boden zog keine
bemerkenswerten Folgen nach sich. Erst einige Jahrhunderte später, Anfang des 13.
Jahrhunderts, als deutsche Hospites sich an der Gründung kroatischer Städte
beteiligen, beginnt eine kontinuierliche Verbindung mit der deutschsprachigen
Bevölkerung, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger intensiv
andauert. Als erste Stadtgründung mit deutschen Siedlern wird Varadin erwähnt.4
Deutsche Siedler in den Städten verstärken wirtschaftliche und kulturelle
Beziehungen zum deutschsprachigen Raum, und der deutsche Einfluß breitet sich bis
zur Küste aus. Da es sich aber um keine systematische Ansiedlung handelt, erwähnt
werden einzelne deutsche Handwerker in dalmatinischen Städten, weicht der
deutsche Einfluß an der Adria vor dem venezianischen zurück und bleibt auch hier
eine Episode ohne nennenswerte Folgen.5
Erst das 16. Jahrhundert bedeutet den Anfang einer festen und dauernden
Verbindung zwischen Österreich und Kroatien, als im Jahr 1527 Ferdinand der I.
König von Kroatien wurde. Diese Verbindung dauerte in den stürmischen Perioden
von Reformation, Gegenreformation, Aufklärung und Absolutismus bis zum endgül-
tigen Zusammenbruch 1918. Im 16. Jahrhundert wurden auch die Grundlagen für
die zukünftige Militärgrenze geschaffen, die nicht nur für die Verteidigung des
Westens vor dem immer weiteren Vordringen der Türken von großer Bedeutung war,
sondern eine wichtige kulturhistorische Rolle in der Verbreitung deutscher Einflüsse
in Kroatien spielte. Die Reformation war keine günstige Periode für eine weitere
Entwicklung kultureller Beziehungen zu Kroatien, weil eine kontinuierliche
Ansiedlung deutscher Handwerker und Kaufleute aus den protestantischen deutschen
Gebieten im katholischen Kroatien des 16. und 17. Jahrhunderts fast völlig abbrach.
Erst durch den Sieg der Gegenreformation in Süddeutschland und Österreich setzte
sich die Zuwanderung der deutschsprachigen Bevölkerung in Kroatien weiter fort.
Auch die soziale Struktur deutscher Muttersprachler veränderte sich zu dieser Zeit.
Während es im Anfang vorwiegend Bürger waren, Handwerker und Kaufleute, so
waren es jetzt Angehörige adeliger Familien. Auch der kroatische Adel knüpfte enge
Beziehungen zum österreichischen Adel an, was eine Ausbreitung und Festigung der
deutschen Sprache in adeligen Kreisen zur Folge hatte.
Obwohl die Zahl der Zugewanderten aus dem deutschen Sprachgebiet
verhältnismäßig gering war, und obwohl sie sich der einheimischen kroatischen
Bevölkerung sehr schnell assimilierten, kann angenommen werden, daß wegen der
Kontinuität der Ansiedlung (die sich in Matrikeln der Pfarren verfolgen läßt) eine
deutsche Kolonie Bestand hatte, deren Angehörige nicht nur Handwerker und
4
Angaben zur Geschichte der deutschen Beziehungen zu Balkanvölkern sind u.a. Valjavec (1958)
entnommen.
5
In dem Gedicht Lanci Alamani (Deutsche Landsknechte) des Dubrovniker Dichters Mavro Vetranoviæ
(1482-1576) kommen deutsche Lehnwörter vor, die die vor den Türken geflüchteten deutschen
Siedler, die sog. Sachsen, nach Dubrovnik gebracht haben. Sie waren Gründer der seit der Mitte des
13. Jahrhunderts in Bosnien und Serbien bestehenden Bergbaukolonien.
Kaufleute waren, sondern allmählich auch Ärzte, Apotheker und Beamte, die der
deutschen Sprache in Kroatien, und das bedeutet vor allem in den Städten, Dauer und
Festigung sicherten. Die Zahl der Zuwanderer erhöhte sich Ende des 17.
Jahrhunderts erheblich. Hier muß vor allem die Zuwanderung der sog.
"Donauschwaben" erwähnt werden, die verwüstete und menschenleere Gebiete in
Südungarn und Slawonien besiedelten, nachdem aus ihnen die Türken vertrieben
worden waren. Diese Siedler sind Bauern, ihre Sprache ist nicht österreichischer
Herkunft, sie brachten hierher eine ganz andere dialektale Zugehörigkeit, als es
vorher bei dem einheimischen Deutsch der Fall war. Sie kamen aus Bayern, Franken,
Hessen, Schwaben und brachten ihren alemannischen und fränkischen Dialekt mit,
der in kroatischen Gegenden ganz neu war. Ihre homogenen Dorfgemeinschaften,
die sich gegen die Vermischung mit einheimischen Völkerschaften dieser Gegenden
behaupten konnten, blieben bis zum zweiten Weltkrieg von allen politischen
Veränderungen weitgehend unberührt.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der deutschen Sprache in
Kroatien immer mehr zu. Deutsch wurde sogar zur Sprache einer überregionalen
Kommunikation und nimmt in der sozialen Gesellschaftsstruktur einen festen Platz
ein: Latein war immer noch die Sprache der Politik und der Wissenschaften, Deutsch
war die Umgangssprache höherer Gesellschaftsschichten, Kroatisch dagegen (in
nördlichen Gebieten Kajkawisch) wurde als Sprache der Kommunikation mit der Die-
nerschaft und den Angehörigen niedriger Gesellschaftsschichten gebraucht.6
Soziolinguistisch handelt es sich in Kroatien um einen Fall des Bilinguismus (oder
Trilinguismus, wenn Latein mitgerechnet wird), der in allen Habsburgischen Ländern
Parallelen haben muß, weil die soziopolitische Situation (vielleicht nur mit Ausnahme
Ungarns) überall gleich war. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts oder genauer
seit 1770 verstärkte Deutsch seine Position und verdrängte in den Städten Latein,
aber auch das Kroatisch-Kajkawische. Selbst in der Zeit der Illyrischen Bewegung7
verstärkte Deutsch immer mehr seine Position, weil die deutsche Umgangssprache in
der Kontroverse um die Einführung einer gemeinsamen kroatischen Literatursprache
6
Diese Behauptung darf natürlich nicht den Eindruck erwecken, daß Kroatisch nur die Sprache der
Kammerzofen und der Reitknechte war. Eine reichhaltige Literatur seit der Renaissance und noch
ältere religiöse Texte im kroatisierten Altkirchenslawischen sind Zeugen einer am südöstlichen Rand
des europäischen Westens existierenden Kultur. Durch politische und dialektale Zerspaltung des
kroatischen Gebietes bedingt, entfalteten sich drei voneinander weitgehend unabhängige und in
verschiedenen historischen Perioden unterschiedlich stark hervortretende Literaturen und
Literatursprachen: in Dubrovnik und an der Adriaküste Èakavisch, in Slawonien Štokawisch und im
kroatischen Nordwesten um Zagreb und Varadin Kajkawisch, die sich erst im 19. Jahrhundert zu
einer gemeinsamen Literatursprache auf štokawischer Grundlage vereinigen.
7
"Ilirski preporod" (Illyrische nationale Wiedergeburt) versuchte nicht nur alle Kroaten, sondern auch
alle Südslawen in einer nationalen Volksgemeinschaft und in einem Staat zu vereinigen. Eine erste
Voraussetzung dafür war eine gemeinsame Sprache, frei von jeder dialektalen Spaltung, die jedoch
von vielen abgelehnt wurde. Die Serben wollten auf ihren Volksnamen nicht verzichten, zumal sie mit
Vuk Stefanoviæ Karadiæ als linguistischem Theoretiker und Praktiker an der Spitze der Meinung
waren, daß es keine Kroaten gibt, sondern daß sie "Serben katholischen Glaubens" sind. Tragische
Ereignisse der jüngsten Vergangenheit auf dem Balkan haben ihre Wurzeln in politischen
Auseinandersetzungen des angehenden 19. Jahrhunderts.
auf štokawischer Grundlage mit der Verdrängung des Kajkawischen das einzige
allgemein verständliche Kommunikationsmittel unter Gebildeten blieb. Herausgege-
ben wurden Zeitungen und Zeitschriften in deutscher Sprache, die erste war bereits
Ende des 18. Jahrhunderts Kroatischer Korrespondent in Zagreb. Die Vertreter der
Illyrischen Nationalbewegung schrieben und dichteten deutsch, sie veröffentlichten
ihre Arbeiten auch in der Zagreber deutschen Zeitschrift Luna. Alle diejenigen, deren
Verdienst (oder Schuld) ist, daß der štokawische Dialekt zur Staatssprache in Kroatien
erhoben worden ist (mit Ljudevit Gaj an der Spitze), waren deutsch erzogen, sie
sprachen und schrieben ihre literarischen Werke deutsch. So verfaßte Ljudevit Gaj
noch als Schüler ein Büchlein Die Schlösser bei Krapina. Antun Mihanoviæ (Dichter
der kroatischen Nationalhymne) veröffentlichte eine linguistische Untersuchung Zu-
sammenstellung von 200 laut- und sinnverwandten Wörtern des Sanscrites und
Slavischen. Ivan Kukuljeviæ, Politiker, Schriftsteller und Historiograph, auch einer der
Führer der Illyrischen Bewegung, schrieb deutsche Gedichte, obwohl behauptet
wurde, daß er als Student der Philosophie noch kein Deutsch konnte. Ebenso wurde
behauptet, daß er sein Drama Juran i Sofija, das als erste Theatervorstellung in kroati-
scher Sprache aufgeführt wurde, zuerst deutsch geschrieben, dann ins Kroatische
übersetzt hat, und zwar sehr schlecht, so daß Vjekoslav Babukiæ, Professor für
kroatische Sprache und Verfasser einer "illyrischen Grammatik" (Ilirska slovnica, d.h.
Kroatische Grammatik), seinen Text verbessern mußte.8 Graf Janko Draškoviæ, auch
einer der Gründer der Illyrischen Bewegung, wandte sich 1838 mit einer
propagandistischen Schrift an kroatische vaterlandsliebende Frauen. Damit er aber
verstanden wird, schrieb er deutsch: Ein Wort an Iliriens hochherzige Töchter. Seit
1848 kann Kroatien für zweisprachig gehalten werden. Erst seit 1860, nach der
zehnjährigen Dauer des Bachschen Absolutismus, nahm die gesellschaftliche Bedeu-
tung der deutschen Sprache immer mehr ab, trotzdem aber blieb das Deutsche ein
Statussymbol höherer Gesellschaftsschichten.9 Miroslav Krlea hat den Menschen
dieser Gesellschaftsschicht mit seinen Glembays ein Denkmal errichtet und sie mit
ihrer deutsch-kroatischen Mischsprache auch sprachlich charakterisiert.
Diese Sprache war in den ersten Jahren der jugoslawischen Ära nach dem
ersten Weltkrieg ein lebendiges Idiom im Umgang der Intellektuellen, weil ohne
deutsche Sprachkenntnisse Krleas Dramen für das Theaterpublikum unverständlich
gewesen wären. Erst durch eine feindliche Haltung der jugoslawischen, d.h.
serbischen Regierung in Belgrad der deutschen Sprache und dem deutschsprachigen
Schulwesen gegenüber verlor das Deutsche in wenigen Jahrzehnten an Bedeutung.10
8
Über die Entwicklung des Kroatischen informiert Vince (21990)
9
Über die Bedeutung der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert in Kroatien vgl. Kessler (1984a).
10
Kessler (1984b: 179) betont, daß Probleme der deutschen Minderheit noch heute kontrovers
beurteilt werden. "Die einen sehen vor allem die 'fünfte Kolonne' des Nationalsozialismus, die
anderen beklagen den nicht gewährten Gruppenrechte und verurteilen den andersnationalen Staat
wegen seiner 'entnationalisierenden' Politik".
11
Krlea (1952).
Redewendungen"12
Diese mit österreichischen Lehnwörtern durchsetzte Sprache ist noch heute die
Umgangssprache der alteingesessenen Zagreber Bevölkerung. Und es ist deshalb kein
Zufall, daß der amerikanische Slawist Thomas Magner13 deutsche Lehnwörter ver-
zeichnet hatte, als er in den fünfziger Jahren den Zagreber kajkawischen Dialekt
untersuchte. Als bereits klassisches Beispiel des Zagreber Kroatischen wird der von
Magners Informanten geäußerte Satz zitiert: Bedinerica klopfa tepihe v lihthofu, in
dem kein kroatisches Lexem vorkommt, der aber trotzdem kroatisch ist, weil die
grammatische Struktur kroatisch ist. Die Existenz dieser Sprache ist heute bedroht,
weil Zagreb seit dem zweiten Weltkrieg mit Zuwanderern aus nichtkajkawischen
Gebieten überschwemmt ist, die sich sprachlich sehr schwer assimilieren. Das
Zagreber Kajkawische ist heute noch mehr in Gefahr, eine tote Sprache zu werden,
weil Zagreb eine Stadt voll von Flüchtlingen und Neuzugezogenen geworden ist, was
ganz bestimmt für die autochthone Sprache Zagrebs dauerhafte Folgen haben wird.
Auch schriftliche Quellen, vor allem Wörterbücher und Grammatiken,
beweisen, daß die deutsche Sprache in Kroatien immer ein österreichisches Deutsch
war. Sie enthalten einen typischen Wortschatz sowie Ausspracheregeln, die genau
das österreichische Umgangsdeutsch beschreiben.14 Die Kontinuität der Aussprache
läßt sich verfolgen vom ersten gedruckten kroatischen Wörterbuch mit deutschen
Äquivalenten, Dictionarium quinque nobilissimarum Europae linguarumvon Faustus
Verantius aus dem Jahr 1595, über Lexicon latinum von Sušnik und Jambrešiæ aus
dem Jahr 1742 bis zu zahlreichen Grammatiken und Lehrbüchern der deutschen
Sprache, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von kroatischen Verfassern
geschrieben wurden. Auch in kroatischen Grammatiken für deutsche Mutter-
sprachler wird auf die deutsche Aussprache hingewiesen, damit die Aussprache des
Kroatischen "kontrastiv" erleichtert wird. Typische Merkmale der österreichischen
Aussprache lassen sich schließlich auch an Lehnwörtern zeigen, die im Kroatischen
so gesprochen werden, wie sie die Angehörigen der kroatischen Sprachgemeinschaft
gehört haben. Es sind vor allem ungerundete Vokale (e statt ö, i statt ü, ei statt eu:
knedli, kroat. - Knödel, frištik - Frühstück, fajercajk - Feuerzeug), a als o švorc -
schwarz, keine Unterscheidung stimmhafter und stimmloser Okklusive (puter -
Butter, tumplati - doppeln, kramlpogaèèni - Grammelpogatschen). Erst in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in Österreich und Anfang des 19. Jahrhunderts in
Kroatien beginnt eine Unifizierung der deutschen Sprache, zuerst orthographisch,
dann auch phonetisch, die durch die Autorität Gottscheds und seines Nachfolgers
Adelung aus dem protestantischen Norden in den österreichischen Sprachraum
importiert wurde. Aber die Bürger der österreichischen Kronländer sprechen auch
weiterhin die österreichische Umgangssprache, die mit den Muttersprachen der in
12
Krlea (1952: 370).
13
Vgl. dazu: Magner (1960).
14
Vgl. zum folgenden: epiæ (1991, 1992a, 1992b, 1993).
der Monarchie vereinigten Völker seltsame Mischsprachen produziert, wie sie z.B.
Krlea in seiner Agramer Kindheit Anfang des 20. Jahrhunderts festhält:
"U doba kada su po sobama svijetlile hengelampe, a hausfrau ni dala popraviti
ausgus ili štenge ili fensterštok na lihthofu, a kod Palancegerov je bil majandaht,
a placmuzika Zehcenerska je svirala na Zrinjiplacu ili na Francjozefplacu, a
gospon oberlajtnant je kod jegerhorna bil na gablecu i pojel par virštlov
(ajnšpener) i popil krigl pive, a dinsman jednoj hercig frajlici ni donesel na
banhof kofer, a filarke su klafrale da je kod korskomande opal raufankirer z
lojtrah, kad je htel popraviti gezims na fajermaueru, a u uèioni milosrdnicah je
bil bešerung, a na kristbaumu su blistale kugle od meršauma, a hauzmajster ni
dobil tringelda i to zakaj je haustor fernahlesigal, a v pajzlu švajnsbraten s
pajšlom je jako skup, a kiršnštrudl ima šercle, a vajnšato se zmufal, to su bili
dnevni gangovi na špajskartama za nadobudne gospodi~iše s tašngeldom, u
escimerima sa calkelnerom ili s kasafrajlama kao poslugom."15
Diese von Krlea mit feinem Gespür für die sprachliche Kennzeichnung des
bürgerlichen Milieus Zagrebs festgehaltene Sprache lebt weiter in der Intimsphäre
der Familie. Eine Fundgrube des "Küchenkroatischpallawatschs" sind Omas
handgeschriebene Kochbücher, die Kochrezepte enthalten, von denen sich auch die
heutige Generation inspirieren läßt. Diese Hommage auf das österreichische Deutsch
in Kroatien möge noch mit einem Rezept illustriert werden, das um 1930 in Samobor
(einer kleinen Stadt in der Nähe von Zagreb) aufgezeichnet wurde:
15
Krlea (1952: 369 f.) Der Text lautet in Übersetzung:
"In der Zeit als in den Zimmern Hängelampen leuchteten, und die Hausbesitzerin den Ausguß oder
die Treppen oder den Fensterstock zum Lichthof nicht reparieren ließ, und bei den Barmherzigen
Brüdern die Maiandacht war, und die Platzmusik der Sechzehner auf dem Zrinyi-Platz oder dem
Franz-Joseph-Platz spielte, und der Herr Oberleutnant beim Jägerhorn zum Gabelfrühstück war und
ein Paar Würstchen (Einspänner) aß und ein Krügl Bier trank, und der Dienstmann einem herzigen
Fräulein den Koffer nicht zum Bahnhof brachte, und die Marktweiber tratschten, daß bei der
Korpskommandantur der Rauchfangkehrer von der Leiter herunterfiel, als er das Gesims an der
Feuermauer reparieren wollte, und im Lehrzimmer der Barmherzigen Schwestern die Bescherung
war, und am Christbaum Meerschaumkugeln glänzten, und der Hausmeister kein Trinkgeld bekam,
weil er das Haustor vernachlässigt hatte, und im Beisel der Schweinsbraten mit Beuschel sehr teuer
ist, und der Kirschenstrudel Scherzel hat, und das Weinchaudeau muffelt, das waren tägliche Gänge
auf Speisekarten für hoffnunungsvolle junge Herren mit Taschengeld, in Eßzimmern mit einem
Zahlkellner oder mit Kassafräulein als Bedienung."
Nicht ohne weiteres durchsichtige Lehnwörter: kr. štenge, auch štinge aus mhd. stege, stiege mit
einem eingeschobenen n, das durch Nasalierung von g in obliquen Kasus (stegen zu stengn)
phonetisch durchaus verständlich ist, kr. Palancegeri eine Verballhornung des Adj. barmherzig als
Bezeichnung für Angehörige eines Laienordens (Barmherzige Brüder), die seit 1804 das Zagreber
Krankenhaus im Stadtzentrum leiteten; kr. filarka "Marktfrau" vermutlich abgeleitet von kleiner
Geldeinheit filir, aus ung. fillér; das ung. Wort wird zurückgeführt auf d. Vierer, wahrscheinlicher aber
ist eine Entlehnung aus d. Heller; kr. klafrati "tratschen" zu d. klaffen, kläffen. Da es sich aber um ein
altes Wort handelt, ist eine Ableitung vom mhd. klafferer, klefferer "Schwätzer" möglich, oder wegen
der onomatopoetischen weitverbreiteten Wurzel mit k- im Anlaut sogar auch eine unabhängige
Entwicklung im Deutschen und Slawischen denkbar.
Dampfnudeli
7 dk putra, 4 dk šeæera sa 5 umanjaka flaumig abtrajbat. Dinar
germa dampfel, malo soli, 1/2 l brašna, mlijeko po potrebi da je loker
tijesto, klopfat, kad je rahlo pustiti da se zide, onda dasku štaubat i sa
kavskom `licom ausštehat i opet shajat. Onda u rajndlu dati mlijeka,
cukra i putra, kad se šmelca onda nutra slagati i opet pustiti shajati.
Onda u ror.16
16
Der Text in Übersetzung: Dampfnudeln. 7 dkg Butter, 4 dkg Zucker mit 5 Dottern flaumig abtreiben.
Dampfl von 1 Dinar Germ, etwas Salz , 1/2 l Mehl, Milch nach Bedarf, damit der Teig locker ist,
klopfen, wenn es locker ist, aufgehen lassen, dann das Brett stauben und mit einem Kaffeelöffel
ausstechen und wieder aufgehen lassen. Dann in ein Reindl Milch, Zucker und Butter geben, und als
es geschmolzen ist, (Nudeln) hineinlegen und wieder gehen lassen. Dann ins Rohr.
17
Vgl. zum folgenden Oberkersch (1972).
der Stadt Osijek, wodurch sich Osijek im wesentlichen von Zagreb unterscheidet. In
Zagreb ist Deutsch die Sprache der Handwerker, Kaufleute, Beamten, Gelehrten (d.h.
Geistlichen), die Sprache des Militärs und des Adels. In Osijek auch, aber mit dem
großen Unterschied, daß Osijek dazu noch ein deutschsprachiges Proletariat hat, das
von Arbeitern und kleinen Handwerkern bis hin zu Landstreichern, Dieben und
Prostituierten reicht. Mit dem Zerfall der Monarchie und mit der Gründung
Jugoslawiens beginnt ein allgemeiner und endgültiger Verfall der deutschen Kultur,
mit der Unterdrückung der deutschen Sprache, Schließung der deutschen Schulen bis
hin zur Katastrophe im und nach dem zweiten Weltkrieg. Das will aber nicht heißen,
daß das Zusammenleben der deutschsprachigen und einheimischen Bevölkerung
immer unbetrübt verlief. Kritische, aber auch feindliche Stimmen der deutschen
Sprache gegenüber standen immer im engsten Zusammenhang mit dem politischen
Kräfteverhältnis in Kroatien zwischen dem österreichischen und dem ungarischen
Teil der Monarchie. Das Ansehen der deutschen Sprache erreichte den Tiefststand in
der Ära Bach, und der uneingeschränkte Gebrauch der deutschen Sprache endete mit
dem ungarisch-kroatischen Ausgleich 1868, als Kroatien in den inneren
Angelegenheiten autonom wurde und den Gebrauch der kroatischen Sprache
durchsetzte. Die neue politische Lage war für das deutschsprachige Bürgertum
insofern anders geworden, als die Gefahr für dessen Bestand jetzt nicht mehr von den
kroatischen Vertretern im Parlament, sondern von einer immer mehr
deutschfeindlichen öffentlichen Meinung kam. In den kroatischen Zeitungen, die
nach der offiziellen Durchsetzung der kroatischen Sprache überall gegründet
werden, wird in ständigen Kolumnen, meist unter dem Titel "švapèarenje", gegen
einzelne "Vaterlandsverräter" gewettert, die sich der deutschen Sprache auch weiter
öffentlich bedienten. Im Parlament war jedoch die "deutsche Frage" kein wichtiges
Thema mehr, weil die kroatischen Abgeordneten, die sich schon immer um die
öffentliche Anerkennung der kroatischen Sprache bemüht hatten, jetzt andere
Prioritäten hatten. Nach dem Ausgleich mit Ungarn mußten sie die staatsrechtliche
Stellung Kroatiens gegen den immer stärkeren ungarischen Druck in der Regierung
des überall verhaßten Banus Khuen-Héderváry verteidigen.
Trotzdem bleibt Deutsch auch weiterhin die Sprache der Kommunikation
innerhalb bürgerlicher Familien. Ein Beispiel möge den Charakter dieser Sprache
wenigstens teilwiese demonstrieren. Es handelt sich um einen Brief der damals etwa
65jährigen Großmutter einer kinderreichen Zagreber jüdischen Familie in genauer
Wiedergabe.
Pastor Pindor, der das reinste Deutsch in der Monarchie, das Schlesische, sprach.
Zwei Jahre ging ich in Wien in die Schule, absolvierte die Fortbildungsklassen mit
vorzüglichem Erfolg, und dennoch blieben mir Brocken hängen, die direkt aus der
Podravina und dem Langen Hof stammten. Sie mischten sich auch in meinen
schriftlichen Stil, und gerade das habe ich immer als größten Nachteil empfunden,
habe jahrelang dagegen angekämpft und versucht, die aus meiner Kindheit
herstammende Esseker Sprachbarbarei zu überwinden. Und erst nach vielen Jahren
Abwesenheit ist es mir teilweise gelungen. Ich gebe zu, daß meine Eltern nicht ganz
unrecht hatten, wenn sie mir den Verkehr mit den Leuten im Langen Hof zu
erschweren oder ganz unmöglich zu machen versuchten. Denn abgesehen von dem
schlechten Esseker Deutsch, das ich mir dort aneignete, gab es unten eine Menge
zweifelhafter Elemente. Das Laster gedieh neben der Aufopferung, das Gute neben
dem Bösen, es gab Trinker, Diebe und Raufbolde. Es gab Krankheit, Hunger und
Schmutz. Aber so tragisch dies alles auch war, stellte es doch ein unverfälschtes Stück
Leben dar, das ich auf diese Weise früh kennenlernte. " 18
Diese Sprache lebte auch weiter in dem neugegründeten jugoslawischen Staat
bis zu dem Augenblick, als Hitler im Jahr 1939 "in einer aufsehenerregenden Rede"19
einen "zwischenstaatlich organisierten Bevölkerungsaustausch" empfahl, der eine
"neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse" in Europa herbeiführen würde,
wodurch die Nationalitätenkonflikte beseitigt worden wären. Unter dem zynischen
Euphemismus "ethnische Flurbereinigung" begann die zwanghafte Umsiedlung von
Hunderttausenden Deutschen, Serben, Kroaten, Slowenen und Juden, die dann nach
dem Sieg des Kommunismus 1945 den endgültigen Abschluß fand in der
Vernichtung der zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung, vorwiegend Frauen und
Kinder, die vertrieben, liquidiert oder für mehrere Jahre in Konzentrationslagern
eingesperrt wurden.
Die deutsche Sprache in Zagreb schwindet aus der Öffentlichkeit noch viel
früher als in Osijek, mit der Gründung Jugoslawiens. Von der festen Verankerung des
Deutschen im Zagreber Bürgertum zeugt auch die Gründung der Zagreber
Germanistik 1895, die nach dem Muster der Grazer Germanistik als
muttersprachliche Philologie organisiert wurde. Alle Studenten der damaligen Zeit
sprachen Deutsch als Muttersprache oder als Zweitsprache. Erst nach dem Zerfall der
Monarchie und mit der beginnenden Serbisierung Kroatiens verliert die deutsche
Sprache ihre jahrhundertealte Position in der kroatischen Hauptstadt und versinkt zu
einer immer weniger wichtigen Fremdsprache, besonders nach dem zweiten
Weltkrieg, als sie für die kommunistischen Machthaber nichts anderes war als
Sprache des faschistischen Feindes.
18
Vukelich (1992: 95f).
19
Die folgenden Zitate sind Wehlen (1980: 68, 74) entnommen.
Text 1 - Šnopsbudik
"Hajde Naci šik hea nouha a Šprica, ton kema oba ham."
"Host jo Cajt, vu laufst šun hin?"
"Cu majna Oldn, sunst kipc a muria. Pasnua auf, klajh veats to sajn. Ton veast hean a
gagaraj."
"Au pist tu a Rousgoutas, pik iara ani afta Papm, tas sa sihs meak, vea ta gazda is."
20
Plein (1929 - 1938).
21
Für alle Informationen und Unterlagen über das Osijeker Deutsch dankt der Verfasser dem verehrten
und lieben Kollegen Velimir Petroviæ sehr herzlich.
"To nuct niks, to konst rajnflahn vi ina kronkas Rous, ti Koušn ket ia vi'a Koafrajtog -
Raèn.
Hinweise zu Text 1: "kr. hajde "auf, los"; ung. muri "Radau, Spektakel"; ung. gazda "
Herr, Chef", auch kr. gazda "Herr, reicher Mann, Arbeitgeber"
Text 3
Tes kenans ten Pedacapfl faceln.
Pa mia mohns kane Miškulanc.
Si sogt mida muac’trum Nodl homs ia an Inikcijon im Pauh kštouhn.
Te oldi Šastezn hoda Štrumfsakl mit Silbaguln faèukt im Šifoneakostn und voa ima
trauf kseisn via Truthen.
Cum bajšpil ava Duaf prauhns ka Hebamin kan Doukta unt ti Menèn sajn
pumprlksund.
Sigst to voa ta Kolumbuš a kšajdara az mi. Tos voa Bogamu njegovog a krajckeipfl.
ole tsva: un fu:n mai Einkj di kla:ni hob iç a: tsva: jOÄr khi:t
alle zwei, und von meinem Enkel die Kleine habe ich auch zwei Jahre gehütet.
va: sKU ka ’asfalt kanK Sta:nK fi:l Staup un da hamÄ ziç hOt kSpi:lt
war so, kein Asphalt, keine Steine, viel Staub, und da haben wir sich halt gespielt.
Ihr Sprachrepertoire ist viel größer als das der anderen Informanten, die in
ihren deutschen Erzählungen und Gesprächen auf kroatische Übersetzung
ausweichen mußten, weil in ihrem muttersprachlichen Vokabular beträchtliche
Lücken entstanden sind. Außerdem scheint ein Unterschied zu bestehen zwischen der
Sprache der ländlichen Bevölkerung aus der näheren Umgebung und der Sprache der
Städter. Auf dem Lande wurde das alte, ursprüngliche Deutsch bewahrt, in der Stadt
scheint sich der Einfluß einer österreichischen Umgangssprache bemerkbar zu
machen. Die phonetischen Besonderheiten sind in der nachfolgenden Tabelle
angeführt.
22
Vgl. Popadiæ (1978) und Grubaèiæ (1971).
die geschichtliche Rolle der deutschen Sprache in Kroatien nüchtern und objektiv
darzustellen. Und dies war das Ziel dieses Artikels.
Literatur
Deeliæ, Velimir (1901): Iz njemaèkog Zagreba. Prinos kulturnoj povjesti Hrvata.
(Aus dem deutschen Zagreb. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Kroaten).
Zagreb.
Grubaèiæ, Emilija (1971): "Kniæanin / Banat". In: Phonai, Monographien 10,
Tübingen.
Hirt, Hermann (1940): "Volksleben und Sitten in Bosnien und der Herzegowina". In:
H. Hirt, Indogermanica, ausgewählt und herausgegeben von H. Arntz, Halle, S.
228 f.
Kessler, Wolfgang (1984a): "Aus der Dominanz in die Marginalität. Einige
Bemerkungen zur Rolle der deutschen Sprache in Kroatien im 19. Jahrhundert."
In: Die deutsche Sprache in Südosteuropa, München.
Kessler, Wolfgang (1984b): "Zwischen den Völkern. Das Schulwesen der
deutschsprachigen Minderheit Jugoslawiens in der Zwischenkriegszeit." In:
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Wien.
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Nr.12.
Lucerna, Cammila (1935): "Tragovi saobraæaja izmeðu Karantanije i Dalmacije u
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der Karolingerzeit). In: Prilog Vjesniku arheološkog društva, XVI.
Magner, Thomas F. (1960): A Zagreb Kajkavian Dialect, Pennsylvania.
Oberkersch, Valentin (1972): Die Deutschen in Syrmien, Slawonien und Kroatien bis
zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der
Donauschwaben. Stuttgart.
Plein, Lujo (1929 - 1938): Die essekerische Sprechart. Gesammelte Gespräche aus
den Osijeker Gassen und Peripherie, 5 Hefte, Osijek.
Popadiæ, Hanna (1978): "Deutsche Siedlungsmundarten aus Slawonien /
Jugoslawien", Phonai - Monographien 10, Tübingen.
Teuschl, Wolfgang (1990): Wiener Dialektlexikon, Wien.
Valjavec, Fritz (1958): Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu
Südosteuropa, München.
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kroatischen Literatursprache), Zagreb.
Vukelich, Wilma von (1992): Spuren der Vergangenheit. Osijek um die
Jahrhundertwende. Herausgegeben von Vlado Obad, München - Veröffent
lichungen des Süddeutschen Kulturwerks, Reihe C: Erinnerungen und Quellen,
Herausgegeben von Anton Schwob, Band 12, S. 95 f.
Wehlen, Hans-Ulrich (1980): Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche
Minderheit 1918 - 1978, Göttingen.
epiæ, Stanko (1991): "Wortschatz und Lehnbeziehungen in kroatischen und
serbischen Grammatiken der deutschen Sprache im 18. und 19. Jahrhundert". In:
Znanstvena revija 1, Maribor.
Renata Horvath-Dronske
(Zagreb)
1. Vorbemerkung
Der vorliegende Artikel versteht sich als Bestandteil einer Lehnwortforschung,
die sich aufgrund von konkreten Untersuchungen in einem klar umgrenzten Raum
(hier: das Gebiet von Hrvatsko zagorje, bzw. die Gemeinde Krapina1) mit dem hier
aktuell vorhandenen Lehnwortschatz auseinandersetzt. Dieser Arbeit liegt eine in
dem genannten Gebiet durchgeführte Untersuchung zugrunde, die ich vor zwei
Jahren mit 32 ZagorijanerInnen aus unterschiedlichen Alters- und Bildungsgruppen
durchgeführt habe und auf deren Grundlage eine Liste mit etwa 1000 aus dem
österreichisch/deutschen Sprachraum stammenden Lehnwörtern zusammengestellt
werden konnte. Diese Arbeit beschäftigt sich insbesondere mit den unterschiedlichen
Formen der phonetischen, morphologischen und semantischen Anpassung des
Lehnwortbestandes an den kajkawischen Dialekt.
Gleich zu Beginn sei auf folgendes hingewiesen: Ein bedeutender Teil der auf
dem Gebiet von Hrvatsko zagorje gebrauchten Lehnwörter verfügt über Merkmale,
die auf einen österreichischen bzw. süddeutschen Ursprung hinweisen, z.B.:
štamperlin - Stamperl; buhtlin - Buchtel; škarnicl - Stanitzel.
Die Herkunft aus dem österreichischen bzw. süddeutschen Raum ist nicht nur
aufgrund der selbst in der Zielsprache erhaltenen typischen Diminutivform
erkennbar, sondern auch, weil viele Ausdrücke im norddeutschen Sprachraum
unbekannt bzw. ungebräuchlich sind. Die Übernahme der Lehnwörter hängt generell
mit der Zeit der politischen, kulturellen und ökonomisch-technischen Dominanz der
k.u.k.-Monarchie in diesem Raum zusammen. Dies läßt sich auch durch Wörter
belegen, die, wie z.B. hauzierac - Hausierer, hauzierati - hausieren Berufe oder
Tätigkeiten bezeichnen, die es heutzutage gar nicht mehr gibt, bzw. die heute anders
1
Hrvatsko zagorje umfaßt den nordwestlich der Hauptstadt Zagreb gelegenen Teil Kroatiens bis zur
kroatisch-slowenischen Grenze.
-378-
benannt werden (dem alten Hausierer, der seine Ware an der Haustür anbietet und
verkauft, entspricht heute eventuell der Vertreter).
Eine kleinere Gruppe der deutschen Lehnwörter wurde in neuerer Zeit
übernommen, und zwar entweder unter dem Einfluß der kroatischen Gastarbeiter -
als Beispiele können wir in diesem Zusammenhang folgendes erwähnen: baustela -
Baustelle; autoban - Autobahn; urla(u)b - Urlaub; Oder unter dem Einfluß des
Fremdenverkehrs (z.B. luftmadrac - Luftmatratze) und wirtschaftlicher Kontakte
zwischen den beiden Sprachgemeinschaften, wobei das Kroatische/Kajkawische
Ausdrücke wie ratkapa - Radkappe; šiberdah - Schiebedach; tankati - tanken aus der
deutschen Sprache übernommen hat. Deutlich ist dabei, daß diese Ausdrücke mit der
modernen (auto)mobilen Zeit zusammenhängen.
Übernommen und eingebürgert wurden nicht nur Wörter, die mit der
technischen Überlegenheit des deutschsprachigen Raumes zusammenhingen und für
die es in der kroatischen Sprache noch keinen entsprechenden Ausdruck gab,
sondern sogar Schimpfwörter. Dies stellt eine äußerst interessante Erscheinung dar,
denn es ist wohlbekannt, daß unter den europäischen Völkern bzw. Sprachen gerade
die slawische Sprachfamilie (darunter auch das Kroatische) einen geradezu
unermeßlichen Reichtum an Schimpfwörtern aufweist. Sie werden auch heute noch
parallel zu den kroatischen Schimpfwörtern verwendet:
Der Einfluß des deutschsprachigen Raums ist auch im Bereich der Spitznamen
spürbar. So nennt man etwa wegen seiner schwachen Körperkonstitution meinen
Großvater Spac - Spatz und meinen Onkel wegen seiner geschickten und vor allem
schnellen Aufgabenerfüllung Šus - Schuß.
Nicht nur einzelne Wörter wurden übernommen, sondern in selteneren Fällen
auch ganze Phrasen, wie z.B. ide k najgi oder biti na najgi - zur Neige gehen.
Wortwörtlich übernommen wurde auch hier mit einer eindeutigen Anpassung
an das kroatische Deklinationssystem nur das Nomen najga - Neige; doch die
einheimischen Wörter, die die Präposition und das Verb ersetzen, orientieren sich am
deutschen Vorbild (Verwendung derselben Wortarten), vor allem in der ersten
Variante: ide k najgi: ide = geht, k = zur, najga = Neige.3
c) in geringerer Menge vorhanden sind schließlich Verben, die ihren Infinitiv auf -iti
bilden (faliti - fehlen);
d) lediglich zwei Verben (curiknuti se, kroat. - sich rückwärts bewegen,
zurücksetzen; cugnuti - einmal einen kräftigen Schluck nehmen) bilden den
Infinitiv auf -nuti.
2. Bei den entlehnten Nomen ergibt sich folgendes
Erscheinungsbild:
a) Die überwiegende Anzahl der entlehnten Wörter sind Nomen, die zudem
weitgehend in ihrer ursprünglichen phonetischen Form in den Lehnwortbestand
der SprecherInnen aus der Gemeinde Krapina eingegangen sind ( z.B. anker -
Anker, brener - Brenner, ciferblat - Zifferblatt). Diese Wörter wie auch phonetisch
stärker überarbeitete Entlehnungen sind gleichermaßen dem Deklinationsschema
für Maskulina unterworfen.
b) Auffällig ist, daß die auf -e auslautenden deutschen Nomen mit Ausnahme von
cange - Zange und dilje - Diele entweder diese Endung verlieren (bajlag - Beilage,
ceh - Zeche, luftmadrac - Luftmatratze) oder aber, was wesentlich häufiger
vorkommt, auf -a enden und folglich weiblichen Geschlechts sind; z.B. felga -
Felge; jakna - Jacke; špalta - Spalte.
c) Relativ selten sind kroatische Nominalisierungen, die folglich dem neutralen
Deklinationsmuster folgen: sparanje - sparen; heklanje - häkeln; strikanje -
stricken.
d) Zusammengesetzte Nomen, sofern sie nicht vollständig - abhängig von etwaigen
phonetischen Veränderungen - übernommen werden (z.B. ajeršpajz - Eierspeise,
ajzenban - Eisenbahn, balansštanga - Balancierstange) verlieren als Lehnwort ihr
Grundwort, werden folglich entweder auf das Bestimmungswort reduziert
(dreš für Dreschmaschine, centimetar für Zentimetermaß, gater für Gattersäge,
freza für Fräsmaschine, rikverc für Rückwärtsgang, špajza für Speisekammer
usw.) oder aber das Bestimmungswort wird durch die Endung -ica ergänzt
(borerica für Bohrmaschine, štoperica für Stoppuhr, ziherica für Sicherheitsnadel).
e) Deutlich seltener ist demgegenüber die Erscheinung, daß die deutsche
Wortzusammensetzung als Lehnwort allein durch das Grundwort vergegenwärtigt
wird (so z.B. bei dem Wort šmeker für Feinschmecker, beim Wort stok für
Türstock, oder aber hauba für Motor- bzw. Kühlerhaube oder Trockenhaube).
3. Auch Adjektive wurden seltener entlehnt.
Unter den ca. 1000 Entlehnungen, die als Ergebnis meiner Untersuchung auf
dem Gebiet der Gemeinde Krapina identifiziert werden konnten, sind nur etwa 15
Adjektive.
a) Lediglich drei Adjektive falièni - von: fehlen = mit einem Mangel, friški -frisch,
glat/glatki - glatt sind vollständig adaptiert, d.h. sie erscheinen sowohl in
prädikativer (meso je friško - Das Fleisch ist frisch) und z.T. adverbialer als auch
attributiver Stellung (friško meso - frisches Fleisch) und werden dabei den
jeweiligen kroatischen Deklinationsregeln unterworfen.
b) Bei der Mehrzahl der restlichen Adjektiven (blond - blond, braun - braun, faj -
fein, falj - wohlfeil, fertik - fertig, fest/fijest - fest, knap - knapp, fraj - frei, slank -
schlank, ziher - sicher) ist eine attributive Verwendung ausgeschlossen und nur
eine prädikative (sutra sam fraj - morgen bin ich frei), z.T. auch eine adverbiale
möglich (z.B. ofarbat æu se na blond - Ich werde mein Haar blond färben lassen).
Im prädikativen oder adverbialen Gebrauch werden diese Wörter nicht dekliniert.
c) Eine weitere Sonderstellung beanspruchen die Adjektive res - resch und srek -
schräg. Das aus dem österreischen Sprachraum stammende Wort reš (resch) wird
nicht attributiv und gemeinhin auch nicht als Ergänzung zu sein gebraucht,
sondern - stets undekliniert - nur in adverbialer Stellung (meso je reš peèeno - das
Fleisch ist resch gebraten). Das Adjektiv šrek wird ohne Deklinationsendung in
prädikativer bzw. adverbialer Stellung nur zusammen mit den Präpositionen po -
auf, an oder na - auf, an benutzt (slika visi na srek - Das Bild hängt schräg).
2.3. Semantische Aspekte
Die Wortbedeutung(en) eines Lehnwortes dürfte(n) schon aus prinzipiellen
sprachtheoretischen Überlegungen nie mit der/den ursprünglichen zusammenfallen,
läßt sich doch der Sinn eines Wortes - auch wenn es dem Sprachbewußtsein so
erscheint - nicht aus einer linearen Beziehung zu einem außersprachlichen
Referenten herleiten. Vielmehr - so jedenfalls de Saussure - ist der Inhalt eines Wortes
"richtig bestimmt nur durch das mitwirken dessen, was außerhalb seiner vorhanden
ist" (Saussure, S.138), und folglich Ausdruck einer Positionierung innerhalb der
Totalität eines bestimmten sprachlichen Systems.
Abgesehen von dieser generellen Einschränkung lassen sich auf einem
pragmatischeren Niveau folgende Aussagen über die semantischen Relationen
zwischen Lehnwörtern und ihren deutschen Entsprechungen formulieren.4
1. Homonyme oder polysemische Wörter werden in der Regel auf eine
Bedeutung reduziert. Dies gilt allerdings nicht oder nur begrenzt für die Lehnwörter
slag in der Bedeutung Schlaganfall und Schlagobers/Sahne, cuk in der Bedeutung
Eisenbahn, Durchzug und in der Wendung einen guten Zug haben (viel trinken)
einen guten Zug haben (viel trinken) > cuk (kroat.) oder etwa koštati in der
Bedeutung einen Preis haben - kosten und schmecken/probieren - kosten. Bei
mehrdeutigen Wörtern werden gewöhnlicherweise nicht die figurativen
Komponenten Bestandteil der Lehnwortbedeutung, sondern nur die
4
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß hier nur die aktuelle Lehnwortbedeutung mit dem
aktuellen deutschen/österreichischen verglichen werden kann. Von daher könnte es durchaus sein,
daß bereits relativ früh entlehnte Wörter die ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben. da sie den
neueren Bedeutungswandel im österr./bundesdt. Deutsch nach der Adaption nicht mitgemacht
haben.
Grundbedeutungen übernommen. Dies gilt z.B. nicht für das Wort bremzati, das
auch im figurativen Sinne von "jdn. hindern, hemmen, jdm. Einhalt gebieten"
verwendet wird.
2. Das Lehnwort "bank" bedeutet zum einen "(Sitz)bank", bezeichnet zum
zweiten "den von allen (Glücks-)Spielern gesetzten Einsatz" und zum dritten den
"Verkaufstisch in kleineren Geschäften". Der zweite und dritte Wortinhalt von "bank"
zeigt typische Formen der Bedeutungsänderungen, denen die Lehnwörter
unterworfen sind.
a) Die zweite Bedeutung von "bank" weist eine leichte semantische Verschiebung
gegenüber der deutschen Wendung "die Bank halten" (= gegen alle Mitspieler
spielen, setzen) auf. Im selben Sinne bedeutet ljajfati außer schleifen auch
bremsen/abbremsen. Demgegenüber weist das Wort šenkati die deutsche
Grundbedeutung schenken nicht auf, sondern wird nur in der Bedeutung etwas
billig oder billiger verkaufen gebraucht.
Eine solche geringe semantische Umwandlung finden wir auch bei jenen
Lehnwörtern, die den deutschen Ausgangsbedeutungen eine pejorative (drek
bedeutet auch schlichtweg Scheiße) oder eine positivere Wendung geben. So hat
das Wort frajer nicht den heute geläufigen deutschen Wortinhalt Kunde einer
Prostituierten, sondern bezeichnet im Unterschied zur aktuellen deutschen
Grundbedeutung allgemein einen in jeder Hinsicht attraktiven (und meist
unverheirateten) jungen Mann, und das Verb kocati ließe sich mit dem Wort
aufstoßen ins Deutsche rückübersetzen.
b) Die dritte Bedeutung von bank (Verkaufstisch oder Ladentisch) hält sich nicht
mehr im Rahmen kleinerer semantischen Abweichungen, auch wenn ein gewisser
assoziativer Zusammenhang zwischen der deutschen Ausgangsbedeutung und
demgegenüber stark veränderten Lehnwortbedeutung vorhanden ist. Letzteres gilt
auch für dilje, das nur im Sinne von Dachspeicher verwendet wird, und rampa,
das neben der im Deutschen geläufigen Bedeutung Laderampe auch die Schranken
an einem Bahnübergang bezeichnet. Hier hat sich der Zusammenhang mit der
Ausgangsbedeutung noch weiter aufgelöst.
Die wenigen Beispiele, die in diesem Zusammenhang genannt wurden, mögen
die Wichtigkeit des aus dem österreichischen bzw. (süd-)deutschen Sprachraum
stammenden Lehnwortbestandes für das Gebiet von Hrvatsko Zagorje belegen. Im
alltäglichen Sprachgebrauch wie auch in den Fachsprachen einzelner
Industriezweige (hier vor allem Holz- und Textilindustrie) sind viele dieser Wörter
fast unersetzlich. In all dem wird die bis heute wirksame kulturelle und politische
Verflechtung zwischen Österreich und Hrvatsko Zagorje deutlich.
Sachregister
Abstandsprinzip 7 in der Pressesprache 179
Abwehrhaltungen der Österreicher zum Kenntnisse englischer Universitätsgerma-
eigenen Deutsch 88 nisten 135
Akzent Verwendung bei Prüfungen 138
der Hansestadt Hamburg 310 zugleich Bavarismen 306
Alemannismen 143 Austriazismenprotokoll 124
Apokope des Endungs - e im Alem. 143 Austromasochismus (soziale Haltung) 32
in Vorarlberger Zeitungen 180 Bavarismen 306ff;
Diminutivsuffix -le 144 Behandlung in Grammatiken und Wörter-
Alleinvertretungsanspruch, deutscher 115 büchern 308
Alltagsauffassung von Sprachen 53 gesamtbairische 314
Altbayern 306 lexikalische, Klassifizierung 314
American English 249 in Phonologie 306
Anschluß, sprachlicher durch EU 128 Sachbavarismen 314
Anpassungsdruck 86, 145 Verwaltungsbavarismen 315
Arealbezeichnungen von Lexik 308 Bayerisches Deutsch 305
Assimilationspolitik im Königreich Ungarn 29 Aussprache 306
Asymmetrie des ÖDt. zum Bundesdeutschen Aussprache 313
77 des [a] in Bayern 306
Aufklärung und Staatsräson in der Habs- d. Zungen-r 313
burgermonarchie 21 Altbayern 313
Ausbauprinzip 7 identitätsstiftende Funktion
Auslandsgermanistik 133ff; 248 der bayr. Variante 311
Auslandsjahr englischer Germanistik- Bedrohung der bayerischen Normvariante
studenten 307
Österreich als Zielland 133 Bewußtmachung des südlichen Deutsch
praktische Schwierigkeiten 133 309
Sprachliche Schwierigkeiten während Borussifizierung 305
des Aufenhalts 136 Belege
Auslandslektoren, österreichische 11; 129 Pressebelege 179
Auslandsösterreichisch, Verlust 141 Beurteilung 180
Außendeutsch 116 Berufssprecher 113
Außennormen, Markierung in Wörterbüchern Bildungsideologie und Sprachnationalismus
13 in Deutschland 199
Aussprache → Standardaussprache Fehlen bei Sonnenfels 25
postvokalische r-Vokalisierungen in Bayern Binnendeutsch 116; 127
306 Binnendiglossie 141
Umgangslautung 280 Bonner Handwerkerordnung von 1964
Aussprachewörterbuch, österreichisches 250 Sonderregelungen für Bayern 310
Möglicher Aufbau von Wörterbuchartikeln British English 249
262 Bühnensprache
Australisches Englisch 12 Distanzierung der ORF-Sprecher 274
Austriazismen 116 Bundesdeutsch 132
Abbau 142 Corpusplanung 7
Arten 179 Aufgaben 100
Behandlung in den Duden-Wörterbüchern cultural cringe
178 in abhängigen Nationen 33
Gleichstellung in der EU 125 D(ominierende) ~ A(ndere) Nationen
im Duden 197 Hackordung 77
im Slowakischen 313 Spracheinstellungen 8
in der Literatur 180 deutscher Block 123
-384-
Wortregister
Der folgende Index verzeichnet die in den Beiträgen angeführten sprachlichen Ausdrücke zu den
einzelnen nationalen und regionalen Varianten/Varietäten. Die österreichischen Ausdrücke
stehen jeweils an erster, die bundesdeutschen/schweizerischen etc. an nachfolgender Stelle. Die
österreichischen Ausdrücke sind unmarkiert. Die Markierung „öst.“ wird nur dort angeführt,
wenn ein Ausdruck auch in anderen Regionen des dt. Sprachraums außerhalb Österreichs
vorkommt. Das Tildenzeichen [ ~ ] hat hier die Bedeutung „entspricht“ (Ausdruck A ~
Ausdruck B). Die Zeichen [ > ] [ < ] bedeuten wie sonst in der Linguistik üblich „wurde zu“ bzw.
„wurde aus/von“. Bei manchen Ausdrücken ist das Doppelzeichen [<>] angeführt, wenn der
Ausdruck z.B. im österreichischen Deutsch oder im Tschechischen vorkommt, aber aus einer
anderen Sprache als diesen beiden entlehnt wurde. In Klammern gesetzte Ausdrücke sind
Bedeutungserläuterungen. Sofern Ausdrücke auch in Nachbarsprachen vorkommen, wurden
diese unter dem österreichischen Stichwort angeführt, stehen aber noch einmal gesondert in der
alphabetischen Liste.
firhag, firhanga < Vorhang (slowak.) 321 gánok, ganek < Gang 321
Fisolen, die ~ Grüne Bohnen 128, 130 Gansljunge, das 205
Fisole > fazole (tsch.) 332, 338 gar (zu Ende) 192
fjerš¾¾ok, ferš¾¾ok < Verschlag, Kiste (slowak.) garagieren > garáovat (tsch.) 338
321 garbiar < Gerber (slowak.) 317
Flachse, die 164 Garconniere 199, 205
Flachse (Sehne) > flaksa (tsch.) 348 Garçonniére (Einzimmerwohnung) > gar-
f¾¾ak, f¾¾aky < Därme, Innereien (slowak.) 327 soniéra (tsch.) 338
Fleischbänke, die 320 Gardine, die (bdt.) 163
Fleischer, der (bdt.) 171 garen 175
Fleischhacker, der (oöst.) 171 Gasse, die Gassn, die 138
Fleischhauer (älter Fleischhacker) ~ Metzger gassenseitig 205
61, 139; 162, 171 gater für Gattersäge (kroat.) 377
flek < Fleck, auch 'eine (gute) Arbeit' (slowak.) Gaudee, die 205
320 Gaudi (österr. bayr.) 308
Flittchen, das 175 Gebietskrankenhaus 205
Florianijünger, der (Feuerwehrmann) 189 geblumt ~ geblümt 205
fo¾¾vark < Vorwerk (slowak.) 322 Gedünstetes, das 205
forcimer (kroat.) < Vorzimmer 360 Gefangenenhaus 202; 205
foršta < Fußbodenbrett (slowak.) 322 gefinkelt 205
foršus < Vorschuß (slowak.) 317 Gefrorenes 114
fortie¾¾, fortie¾¾ny < zu Vorteil (slow.) 317 Gehalt, der/das ~ das 214
fošner < Förster (slowak.) 322 Gehaltsvorrückung 199, 205
foter < Vater (slowak.) 318 gehaut 205
fraj¾¾a < Fräulein ('Frau mit schlechtem Ruf') Gehsteig ~ Bürgersteig 138
(slowak.) 323 geht sich nicht aus ~ reicht nicht 227
frajer < Freier (slowak.) 318 Geiß (südd., österr., schweiz., westmd.) 200
frajerka < '(feste) Freundin' (slowak.) 318 gelbe Rübe (wöst.) 171, 308
Fraktion (Ortsteil) (südti.) 290 gelbe Rüben (wösterr. bayr.) 315
fräsen > frezati (kroat.) 377 Geld wie Mist (bdt. Geld wie Heu) > novca
Fratz (ungez. Kind) > fracek (tsch.) 349 kao blata (kroat.) 360
frei > fraj (kroat.) 378 Geldtasche, die 138
Freier > frajer (kroat.) (attraktiver, junger ge¾¾ajza < Gleis (slowak.) 324
Mann) 379 ge¾¾atka < Geleit (slowak.) 324
freza für Fräsmaschine (kroat.) 377 ge¾¾ender < Geländer (slowak.) 322
frezati (kroat.) < fräsen 377 Gelse, die ~ Stechmücke 84
frisch > friski (kroat.) 378 gemähte Wiese/gmahte Wiesn etwas ohne
Frischgefangte (Berufsanfänger[in]) 190 Anstrengung Erreichtes) 193
Frühstück > frištik (kroat.) 361 gepe¾¾/gápe¾¾ < Göpelwerk (slowak.) 329
fruštik/frištik < Frühstück (slowak.) 323 geraten (gelingen) 194
Fuchtel 'alte Frau' (österr. bayr.) 308 Gerebelte 207
furt < fortwährend - stále (slowak.) 317 gerš¾¾a < Gerste (slowak.) 325
fusák < Fußsack (slowak.) 318 Gerstelsuppe 205
fusek¾¾a < Fußsocke (slowak.) 325 Gerüster, der 205
geschmackig 205
G Geschoß ~ Geschoß (Ausspr.) 200
Gespritzter 195
Gabelfrühstück, das (oöst.) 171 Gestionsbericht, der (schweiz.) 205
gach (jäh) 192 Gewinnst 114
Galimathias 162 gezelšaft < Gesellschaft (slowak.) 324
Galtvieh, das (bayr., österr., schweiz.) 200 gführig 195
Gand, der (wöst.) Schutthalde im Gebirge Ghörtsich 195
168 ghupft wie gsprungen 195
Ganeff, der (Gauner) 205 Gibraltar (Ausspr.) 203
Krampus > krampus (kroat.) 375 lancuch < Kette (slowak.) 319
Kranewitter (südti.) 291 Landammann (schweiz.) 197
Krankenhaus (südti.) 291 Landesfürst 185
kremfy < Krämpfe (slowak.) 319 Landeshauptmann 198; 207
Kremschnitte > kremšnýty (tsch.) 334 Landsgemeinde (schweiz.)197
Kren ~ Meerrettich 63; 132; 139 langgehen 163
Kren < chøøen/køøen (tsch.) 328, 332, 339 lano < Seil (slowak.) 317
Kren (bayr.) 307 läßt sich nichts machen ~ kann man nichts
krenkova sa < sich kränken (slowak.) 318 machen 227
Kreuzköpfl (kluger Kopf) 368 Leberkäse (österr. bayr.) 307
kriegen ~ bekommen 82 lehnen (sein) 227
kríge¾¾ < Krügel (slowak.) 323 Leich(e) (Begräbnis) 192
Kriminal (Zuchthaus) > kriminál (tsch.) 347 Leckerli (schweiz.) 207
kripe¾¾ < Krüppel (slowak.) 323 lenèèa < Linse (slowak.) 319
Kripperlroas 192 letkolbò òa < Lötkolben (slowak.) 323
krochma¾¾ < Kraftmehl (slowak.) 317, 321 liegen (sein) 227
Krügel, das/Krügerl, das <> Maß, die 215 liegen + sein ~ haben 139
krumple/grumple < Kartoffel (slowak.) 318 Liwanze (Mehlspeise) < lívance (tsch.) 340,
kšeft < Geschäft (slowak.) 323; 324 334
ksicht < Gesicht (slowak.) 324 lizitieren (versteigern) < licitovat (tsch.) 340
kuch < Hefekuchen (slowak.) 319 Logis (bayr.) 308
Kugel/Kugerl, das (oöst.) 171 lohnt sich nicht ~ lohnt nicht 227
Kühler > kiler (kroat.) 377 ¾oft < 'Entlüftungsloch im Keller' (slowak.)
Kukuruz 134 320
Kukuruz (Mais) <> kukuøøice (tsch.) 339 ¾uftova < lüften (slowak.) 322
kumšt < Kunst (slowak.) 324 lukrieren 189
kumštir < Künstler (slowak.) 324 ¾uft < Luft (slowak.) 320
kumštova < 'spekulieren, überlegen' Luftmatratze > luftmadrac (kroat.) 376; 377
(slowak.) 324 lukrieren 187f
Kundmachung ~ Bekanntmachung, 62 lummelig (bdt. alem) ~ schlaff 144
Kupee (Eisenbahnabteil) > kupé (tsch.) 345 Lungenbraten > (bdt. Lendenbraten) > (tsch.)
kupiti (kroat.) (kaufen) < got. kaupon 357 332
Kurator, der 187 Luster (Lüster) > lustr (tsch.) 352
ORF-Kurator 187 Lutscher, der (wöst.) 171
kurb¾¾a < Kurbel (slowak.) 325
kušnier < Kürschner (slowak.) 322 M
kvaltova < 'sich sehr beeilen, hastig arbeiten
(slowak.) 322 ma mindráky < Minderwertigkeitskomplexe
kvelb < Gewölbe (slowak.) 324; 324 haben (slowak.) 318
kvicht < Gewicht (slowak.) 324 ma resty < Reste haben (slowak.) 318
kýbe¾¾ < Kübel (slowak.) 323 macher < Fachmann (slowak.) 321
Machthaberer 184
L Maiensäß, das (wöst.) Voralpe 169
majer < Meierhof, Gut (slowak.) 323
Labskaus (bdt.) 207 majkefer, makaber -< Maikäfer (slowak.) 319
Lache, die 175 majster < Meister (slowak.) 317; 323
Laderampe/Bahnschranken > rampa (kroat.) mal ~ einmal 163
379 Malter, das (Mörtel) > mìøøice (tsch.) 340
Lagerhaus 162 Männle (bdt. alem.) ~ Männlein 143
Laib 194 Marende, die (wöst.) Zwischenmahlzeit am
Laberl 194; 194 Nachmittag 168
Laibchen, Laiberl, Loaberl 194 Marille ~ Aprikose 62, 119, 128, 130
lajtnant < Leutnant (slowak.) 323 Marille (südti.) 291
Lampe, die ~ Leuchte 155
Marillen > meruò òky/meruò òka (tsch.) 332, mordova < morden (slowak.) 329
340 mordstrumm, trumm (gewaltig groß) 368
Marillenmarmelade 125 Mótor (norddt.) 309
Marmelade ~ Konfitüre (bayr.) 310 Mozartkugel 124
Marterl, das (österr. bayr.) 308 Mulatschag (ausgelassenes Fest) 191
Martinigans ~ Martinsgans 217 Müll ~ Mist 15, 163
Maschekseite, die (Hintertür) 191 mulmig 175
Mascherl, das ~ Fliege, die 68 Mure (südti.) 291
mašta¾¾ < Stall (slowak.) 317 Murks, der 171
Matrikel, die (Personenstandregister) > ma- Murmel, die (bdt.) 171
trika (tsch.) 340 Mus (Schmarren) 192
Matura, die ~ Abitur, das 62 Musikantenstadel 183
Matura (südti.) 291 mýto < Maut (slowak.) 317
Matura > maturita (tsch.) 340 mýto < Maut (tsch.) 349
maturieren > maturovat (tsch.) 340
Mausfalle ~ Mausefalle 217 N
Maut, die (Wegzoll) 62, 198
Maut (südti.) 291 nachgehen/zurückbleiben (Uhr) ~ nach-
Mautabfertigung, Mauthaus 198 bleiben 220
Mautner 198 nachhause führen/nachhause bringen ~
Mautplatz; Streckenmaut; Videomaut 188 nachhause fahren 227
mautpflichtig 198 nachhinein ~ hinterher 218
Mautstelle, Mautstraße, Mautsystem 198 Nachtkastl, das > nah(t)kasl (kroat.) 360
mýto < Maut (slowak.) 317 Nachtmahl, das 82
mýto < Maut (tsch.) 349 Nachzipf, der (Wiederholungsprüfung) 191
mebe¾¾, meb¾¾e < Möbel (slowak.) 323 Naderer, der 184
Mehlspeise > melšpajs (kroat.) 360 Nägerl (bdt. Nelkengewürz) 333
Melanzani ~ Aubergine 131; 138, 163 Napf, der 199
Melanzani (südti.) 290 Nationalfeiertag (südti.) 290
Meldezettel ~ Meldeschein 138 Nationalrat ~ Bundestag 61
Metzger, der (wöst.) Fleischhauer 68, 168, 171, Nebelsuppe (dichter Nebel) 191
175; 310 necha niekoho v štichu < jdn. im Stich lassen
Metzger (bayr.) 307 (slowak.) 318
Metzgerei, die (wöst.) Fleischhauerei 168 necova < netzen (slowak.) 322
Millirahmstrudel 192 nema o nieèèom ani dunstu < keinen Dunst
minca < Münze (slowak.) 323 von etw. haben (slowak.) 318
mincier < Münzer, Schnellwaage (slowak.) neuerlich ~ erneut 218
323 Neugewürz (Piment) > nové koøøení (tsch.)
mir/mi 137 349
Mischkulanz, die (Durcheinander, Betrügerei) Neuner, der (wöst.) 171
368 niederlegen sich ~ schlafen legen 218
Missionar, der 139 niedersetzen sich ~ sich setzen 218
Mistkübel, der 14 niederstoßen ~ umstoßen, umwerfen 217
Mistkübel > kýbl (tsch.) 349 niekoho ocajchova - 'jdm. ein Zeichen, einen
Mistschaufel, die ~ Kehrschaufel 61 Makel anheften (slowak.) 319
miteinander (südti.) 291 nitenciger < Nietenzieher (slowak.) 324
Moar 192 nokerle, noker¾¾iky < Nockerl (slowak.) 324
Möbelpolster/Sitzauflage 154 Nudelwalker > válek na nudle (tsch.) 332,
Möhre, die (oöst.) 134, 171 349
Monocolore, die 189 nuf ( bdt. alem) ~ hinauf 144
Montur, die > mundúr (tsch.) 329 nullkommajosef (verstärkend für nichts) 191
Moos (südti.) 291 Nuß, die (Fleischsorte) ~ Kugel 130
Moosbeere, die (wöst.) 170 Nutte, die 175
mordár < Mörder (slowak.) 322
Spritzer (Wein mit Sodawasser) 368 Stotz, der (wöst. mda.) niedriges, bottich-
sprudeln (bdt. quirlen) > šprudlovat (tsch.) artiges Holzgefäß 168
332 Straßen- bzw. Brückenbenutzungsgebühr
Sprudler (Quirl) > šprudlák (tsch.) 332 198
špumprnákle (tsch.) < Spompande(l)n, die Streberer, der 215
343 streichen auf (Farbe) ~ aufbringen 220
šraubciger, šravenciger < Schraubenzieher strichlieren ~ stricheln 217
(slowak.) 324 stricken > štrikanje (kroat.) 377
šregom < schräg - naprieè (slowak.) 317 Strizzi (Gauner) 191
šrek (kroat.) < schräg (schief) 378 Strotter (Obdachloser) 191
šrubova, šrofuva < schrauben (slowak.) 324 strúd¾¾a < Strudel (slowak.) 325
Staatsratsvorsitzender (DDR.) 197 štrumpad¾¾a < Strumpfband (slowak.) 325
Staatssäckel, der 189 Student > student (tsch.) 347
stad, hackenstad (arbeitslos) 191 Stuhl, der 152ff
Stadel (bayr.) 307 Bauernstuhl, der, elektrischer Stuhl 150
staken (bdt.) 175 Fauteuil 151
Stamperl 333 Heiliger Stuhl, Lehrstuhl 150
štamper¾¾ik < Stamperl, Schnaps-, Likörglas Liegestuhl 151
(slowak.) 324 Polstersessel 152
štamprle (tsch.) < Stamperl 350 Polsterstuhl 152
štamperlin (kroat.) < Stamperl 374 Rollstuhl , Schaukelstuhl 150
štangerliky < Nußstangerl (slowak.) 332 Sesselkleber 150
Stanitzel > skarnicl/skanicl (kroat.) 360, 374 Sessellift 150
Staunze (bayr.) 314 sich zwischen alle Stühle setzen 150
šte¾¾ova < stellen (slowak.) 322 štuk¾¾ova < stückeln (slowak.) 322
stecken (sein) 227 štuke¾¾ < Stückel (slowak.) 322
Stefanitag ~ Stephanstag 217 stuppen mda. 172
stehen + sein ~ haben 139, 227 šturmova < zu stürmen (slowak.) 317
stehen (sein) (bayr.) 307 šturmovština < hastige Arbeit (slowak.) 318
¾ 323 Suchtgift 185
šteker < Stecker (slowak.) 322 Suchtgiftfahnder 185
Stelze ~ Eisbein 128 šulciger < Schuhanzieher (slowak.) 324
štemajzòa < Stemmeisen (slowak.) 323 Sulz, das ~ die Sülze 214
štempe¾¾ < Stempel (slowak.) 329 Sulz, das > sulc (tsch.) 352
štepova < steppen (slowak.) 322 šupina, šupa < Schuppe (slowak.) 314
stichhältig ~ stichhaltig 139 šuplik/šuflik/šuf¾¾ada < Schublade (slowak.)
stickel (wöst.) ein stickliger (steiler) Weg 168 324
Stiege, die ~ Treppe, die 82; 138 šurc < Schürze - zástera (slowak.) 317
stier (ohne Geld) 368 Surfleisch (österr. bayr.) 308
Stier ~ Bulle 310 šuster < Schuster - obuvník (slowak.) 317
štiglic < Stieglitz (slowak.) 319 švab¾¾e, švab¾¾iky < Schwefelhölzer, Streich-
štilka < Stielkamm, aber auch 'elektrische hölzer (slowak.) 322
Handsäge' (slowak.) 318 švábky < Kartoffel (slowak.) 322
Stockerl (Hocker) > štokrle (tsch.) 332; 350 švablik < Schwefelholz (slowak.) 322
štokrl (kroat.) < Stockerl 360 švagor, švagriná - Schwager, Schwägerin
štodola < Stadel (slowak.) 321 (slowak.) 318
stok (kroat.) < Türstock 377 švorc < schwarz(kroat.) 361
štoperica für Stoppuhr (kroat.) 377
štopka < (Strümpfe) stopfen (slowak.) 318 T
Stoppel, der (oöst.) 171
Stopsel, der ∼ Stöpsel (Korken) (westöst, sdt.) Tabatiere (Schnupftabakdose) > tabatìrka
67, 170, 171 (tsch.) 337
Stopsel, der (bayr.) 307 Tachinierer (Faulenzer) 191
Stöpsel, der 171 Taferl, das 333
The distinction between Austrian and German literature is crucial for understanding the intertextuality in Austrian literature, as Austrian authors often engage in a unique dialogue with their German counterparts, consciously distinguishing themselves through references and themes specific to Austria's historical and social contexts. This intertextual aspect provides deeper insights into the Austrian literary tradition and its divergence from the German mainstream .
Austrian literature is seen as aesthetically pioneering yet politically escapist. This duality is seen in the works of authors like Joseph Roth whose literature is critiqued as displaying 'false consciousness' due to its dreamy reflection on past glories rather than engaging with present realities. This paradox has been used to describe the literature's evasion of contemporary political engagement while still achieving high levels of aesthetic sophistication .
The concept of the 'Habsburg myth' is pivotal in understanding Austrian literature as it became particularly potent when the real basis, the Austrian monarchy, ceased to exist in 1918. The texts of authors like Hofmannsthal, Kraus, Schnitzler, Andrian, Roth, and Musil reflect escapism, showing Austrian literature as politically regressive and aesthetically advanced. This paradox underlines the myth's ongoing influence and highlights a form of false consciousness, aligning with Marxist critiques like those of Lukács .
The discussion highlights challenges such as the lack of a clearly defined standard for Austrian German, which leads to feelings of linguistic inadequacy and identity tension among Austrians. These challenges are exacerbated in international contexts where Austrian linguistic peculiarities must navigate between being seen as regional oddities or as legitimate variations of Standard German, impacting how Austrians perceive their cultural and national identity .
There is a claim of a seamless continuity in Austrian literature from the Biedermeier period to the present, characterized by a withdrawal from politics and a preference for aesthetic form over substance. Greiner and others critique this notion, noting the ignored disruptive elements and resistant traditions, like those of Anzengruber and Kraus, which contradict the idea of a passive continuity .
Linguistic identity and language policy are central to Austrian cultural identity, as debates over the norms of Austrian Standard German reveal a tension between adhering to broader German standards and celebrating unique linguistic features. This tension influences how Austrians perceive their language in relation to German, impacting their cultural identity and sense of belonging within the German-speaking world .
Post-1945 Austrian literature is shaped by a need to reconcile with the past while forging a new identity separate from Germany. The focus on harmonization and avoidance of stark contrasts reflects a national desire for social partnership and compromise, as discussed in Menasse's exploration of social partnership aesthetics. This shaping of consciousness is seen in the continuity of themes from past Austrian literature, underlying a unique cultural dialogue .
Austrian literature is distinguished from German literature by its unique sociopolitical context and its response to historical events like the fall of the Habsburg Monarchy. Authors like Musil, Zweig, and Bernhard write from perspectives shaped by Austrian social and historical conditions, making their work distinct in thematic opposition pairs like city versus country and war versus peace, which are reflective of the nation's identity rather than aligned with broader German narratives .
Austrian linguistic policies impact the perception of Austrian identity by fostering awareness of a distinct national variant of German, yet causing confusion due to fluctuating standards and international comparisons. Domestically, this results in mixed perceptions of linguistic adequacy, while internationally it challenges Austria's cultural distinctiveness within the German-speaking world, necessitating careful policy navigation to maintain both domestic identity and international relations .
The document argues for the uniqueness of Austrian literary tradition through its emphasis on motifs like the anti-hero, the stylized retreat from political engagement, and prioritizing language over content. These motifs reflect Austria's historical and cultural specificities, creating a distinct tradition that is both influenced by and distinct from German literary norms. Analysis of these motifs allows for a deeper understanding of Austria's unique narrative style and its contributions to the broader literary landscape .