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Muhr, Schrodt, Wiesinger Österreichisches Deutsch

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--

-III-

ÖSTERREICHISCHES DEUTSCH

LINGUISTISCHE, SOZIALPSYCHOLOGISCHE
UND SPRACHPOLITISCHE ASPEKTE
EINER NATIONALEN VARIANTE DES DEUTSCHEN

HERAUSGEGEBEN VON

RUDOLF MUHR, RICHARD SCHRODT, PETER WIESINGER

VERLAG HÖLDER-PICHLER-TEMPSKY WIEN


(Rückseite Titelblatt)

Redaktion und Erstellung des Manuskripts:


Rudolf Muhr, Richard Schrodt

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
Vorwort zur Reihe "Materialien und Handbücher zum
österreichischen Deutsch und zu Deutsch als
Fremdsprache"

Die vorliegende Reihe hat das Ziel, Arbeitsmaterialien und Handbücher für die
Bereiche "Österreichisches Deutsch" und "Deutsch als Fremdsprache" zur Verfügung zu
stellen. Sie versucht, dem dringenden Bedarf nach Unterrichtsmaterialien und gut fun-
dierten Untersuchungen abzuhelfen, der für die Bereiche Deutsch als Fremdsprache und
für Deutsch in Österreich besteht.
Besonders für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache
in Österreich fehlen Materialien, die auf die spezifischen Lehr- und Lernbedingungen in
Österreich Rücksicht nehmen. Darüber hinaus besteht auch Bedarf an Materialien
verschiedenster Art für den österreichbezogenen Unterricht im Ausland. Für die Reihe
stehen Konzepte des interkulturellen Lernens sowie kommunikative und alternative
Ansätze der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache im Mittelpunkt.
Ein weiteres Anliegen ist es, Unterrichtsmaterialien und Untersuchungen zum
österreichischen Deutsch zur Verfügung zu stellen, die es den DeutschlehrerInnen im
In- und Ausland ermöglichen, fundierte Aussagen über diese Variante der deutschen
Gegenwartssprache machen zu können. Zugleich soll das Bewußtsein über die
linguistischen und kulturellen Grundlagen des österreichischen Deutsch auf der Ebene
der Standardsprache und der Alltagssprache gefördert werden. Dabei wird von einem
Konzept des Deutschen als "plurizentrischer Sprache" mit drei gleichberechtigten
Varianten des Deutschen ausgegangen.
Die entsprechenden Unterrichtsmaterialien und Untersuchungen sollen die
Kenntnis des österreichischen Deutsch verbessern und einen Einblick in die Vielfalt des
Deutschen geben. Die Reihe, die von R. Muhr begründet wurde, wird jetzt von Rudolf
Muhr und Richard Schrodt gemeinsam herausgegeben.

Rudolf Muhr Richard Schrodt


-II-

Inhaltsverzeichnis
Resolution
der TeilnehmerInnen an der Tagung "Österreichisches Deutsch."
............................................................................................................... Fehler! Textmarke nicht definiert.

Theoretische, sprachpolitische und sozialpsychologische Aspekte des österreichischen


Deutsch und des Konzepts "Deutsch als plurizentrische Sprache"
Michael Clyne:
Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache: Überlegungen
zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht. .................................................. 7
Leslie Bodi:
Traditionen des österreichischen Deutsch im Schnittpunkt von Staatsräson
und Sprachnation. (Vom Reformabsolutismus bis zur Gegenwart). ........................................... 17
Wendelin Schmidt-Dengler:
Vom Staat, der keiner war, zur Literatur, die keine ist.
Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literaturgeschichte. .................................................. 38
Richard Schrodt:
Der Sprachbegriff zwischen Grammatik und Pragmatik:
Was ist das österreichische Deutsch? .................................................................................................. 52
Peter Wiesinger:
Das österreichische Deutsch in der Diskussion. ............................................................................... 59
Rudolf Muhr:
Zur Sprachsituation in Österreich und zum Begriff "Standardsprache"
in plurizentrischen Sprachen. Sprache und Identität in Österreich. ............................................. 75
Ulrich Ammon:
Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren und nationaler Varianten
bei plurinationalen Sprachen - am Beispiel des Deutschen. .........................................................110
Rudolf de Cillia:
Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat:Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt. ............................121
Victoria Martin:
Vorurteile und Meinungen zu einem Auslandsjahr in Österreich
aus sprachpädagogischer Sicht ...........................................................................................................132
Bernhard Kelle:
Der Verlust der Muttersprache - Beobachtungen am 'Auslandsösterreichischen'. ...................141
Merkmale des österreichischen Deutsch - Ihre Beschreibung und
Kodifizierung - Das Österreichische Wörterbuch
Manfred Glauninger:
Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich? Zur Verwendung von Möbel-Bezeichnungen
in österreichischen Möbelkatalogen und im österreichischen Deutsch. .................................. 148
Ingo Reiffenstein:
Das Österreichische Wörterbuch: Zielsetzungen und Funktionen.............................................158

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
---III-

Hans Moser:
Westösterreich und die Kodifizierung des "österreichischen Deutsch". ....................................166
Jakob Ebner:
Vom Beleg zum Wörterbuchartikel - Lexikographische Probleme
zum österreichischen Deutsch. .......................................................................................................178
Matthias Wermke:
Austriazismen im gemeinsprachlichen Wörterbuch des Deutschen, dargestellt an
DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch (DDUW), 2. Auflage 1989. .................................... 197
Rudolf Muhr:
Grammatische und pragmatische Merkmale des Österreichischen Deutsch............................. 208
Michael Bürkle:
Österreichische Standardaussprache: Vorurteile und Schibboleths............................................ 235
Flemming Talbo Stubkjær:
Überlegungen zur Standardaussprache in Österreich.................................................................. 248
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprecherschulung im ORF ........................................................................................................ 269
Otto Back:
Überlegungen zu einer österreichischen Standardlautung des Deutschen. ............................... 280
Nachbarsprachliche Aspekte: Gegenseitige Einflüsse zwischen dem österreichischen
Deutsch und den Sprachen in den umliegenden Nachbarländern Österreichs
Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:
Die deutsche Standardsprache in Südtirol. .................................................................................... 287
Anthony R. Rowley:
Bavarismen. Das Bayerische Deutsch. ............................................................................................ 305
Mária Papsonová:
Zum gegenseitigen Einfluß des österreichischen Deutsch und des Slowakischen..................... 313
Libuše Spáèèilová:
Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des österreichischen Deutsch
in der näheren Geschichte und Gegenwart. ..................................................................................326
Stanko Žepiææ:
Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek - Zur Geschichte
der deutschen Sprache in Kroatien. ................................................................................................ 354
Renata Horvath-Dronske:
Die Übernahme von Lehnwörtern aus dem österreichischen-deutschen
Sprachraum im kajkawischen Dialekt von Hrvatsko Zagorje (Kroatien). ................................. 374
Sachregister.......................................................................................................................................380
Register der angeführten Ausdrücke und Belege .......................................................................... 384
-IV-

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt die Vorträge der gleichnamigen Tagung, die
vom 22.-24. Mai 1995 an der Karl-Franzens-Universität Graz stattfand. Veranstalter
war das Internationale Forschungsinstitut Kulturwissenschaften (IFK, Wien),
Mitveranstalter waren darüber hinaus das Institut für Germanistik der Karl-Franzens-
Universität Graz, das Institut für Germanistik der Universität Wien und VERBAL,
Verband für Angewandte Linguistik, AILA Österreich. Die Inititiative zur Tagung ging
von Rudolf Muhr aus, bei der er von Richard Schrodt aktive Unterstützung und
Hilfestellung (Antragsstellung und Tagungsorganisation) fand. Zu einem späteren
Zeitpunkt wurde bekannt, daß auch Prof. Wiesinger für Herbst 1995 eine Tagung zum
österreichischen Deutsch geplant hatte. Nach eingehenden Gesprächen wurde
beschlossen, die beiden Tagungen zusammenzulegen und gemeinsam durchzuführen,
was sich als gute Entscheidung erwies, da damit eine umfassende Diskussion
verschiedener Aspekte des österreichischen Deutsch aus verschiedenen Blickwinkeln
möglich wurde.
Die Tagungsorganisatoren möchten dem IFK, das die Reise- und Aufenthaltskosten
der Referenten finanziert hat, für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung
danken. Der Dank gilt auch dem Bundesministerium für Wissenschaft und Kultur sowie
der Wissenschaftsabteilung der Steiermärkischen Landesregierung, die beide für die
Unterstützung von TagungsteilnehmerInnen aus osteuropäischen Ländern sowie für den
Organisationsaufwand eine Subvention zur Verfügung gestellt haben. Dem
Landeshauptmann der Steiermark sei herzlich für den Empfang der TeilnehmerInnen in
den Repräsentationsräumen der Steiermärkischen Landesregierung gedankt.
An der Tagung nahmen insgesamt 180 TeilnehmerInnen aus 16 verschiedenen
Ländern teil. Die Vorträge der insgesamt 25 ReferentInnen, die aus 11 Ländern kamen,
trafen auf ein interessiertes und engagiertes Publikum, was zu intensiven und zuweilen
auch emotionalen Diskussionen führte. Im vorliegenden Band sind 22 der 25 Vorträge
in überarbeiteter Form abgedruckt. Drei Beiträge fielen aus. An ihrer Stelle wurden die
Arbeiten von Glauninger, Horvath-Dronske und Kelle aufgenommen, da sie zur
aktuellen Diskussion interessante Aspekte beisteuern und gut zum Inhalt der anderen
Beiträge passen. Die Beiträge wurden von den Herausgebern nur in formaler, nicht aber
in inhaltlicher Hinsicht bearbeitet. Der Band enhält auch ein von R. Muhr erstelltes
Register, das die in den Beiträgen enthaltenen Sprachbelege der nationalen Varianten
des Deutschen sowie der Nachbarsprachen verzeichnet.
Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden die Beiträge in drei Abschnitten
zusammengefaßt:
1. Theoretische, sprachpolitische und sozialpsychologische Aspekte des
österreichischen Deutsch und des Konzepts "Deutsch als plurizentrische Sprache".

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
---V-

2. Merkmale des österreichischen Deutsch, damit verbundene linguistische und


methodische Fragestellungen ihrer Beschreibung und Kodifizierung sowie das
Österreichische Wörterbuch.
3. Nachbarsprachliche Aspekte: Die Beschreibung von Einflüssen aus dem
österreichischen Deutsch auf die Sprachen in den umliegenden Nachbarländern
Österreichs und ihr Status.
Den Beiträgen ist der endgültige Text der Resolution der TagungsteilnehmerInnen
vorangestellt, die an die Bundesministerin für Unterricht und kulturelle
Angelegenheiten, Frau Elisabeth Gehrer, übersandt wurde und das Ziel hat, neben einer
Neugestaltung des Österreichischen Wörterbuchs auch konkrete Schritte für eine
bessere wissenschaftliche Erforschung des österreichischen Deutsch zu setzen und mehr
Bewußtsein und Wissen über das österreichische Deutsch zu erreichen.
Die Tagungsorganisatoren und Herausgeber freuen sich, hiermit die Beiträge der
Tagung in schriftlicher Form vorlegen zu können und hoffen, daß dieser Band die
Diskussion und Erforschung des österreichischen Deutsch weiter beleben und im In-
und Ausland zu mehr Bewußtsein und Wissen über diese nationale Variante des
Deutschen führen wird.

Graz/Wien, im Oktober 1995

Rudolf Muhr Richard Schrodt Peter Wiesinger


In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 6-16

An die
Bundesministerin für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten,
Frau Elisabeth Gehrer
Minoritenplatz 5
1010 Wien
RESOLUTION
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am wissenschaftlichen Kolloquium
"Österreichisches Deutsch" zum "Österreichischen Wörterbuch" und zur
österreichischen Sprachpolitik

Die österreichischen und internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wissenschaftlichen


Kolloquium "Österreichisches Deutsch" an der Karl-Franzens-Universität Graz vom 22. - 24. Mai 1995
haben u.a. auch das vom Bundesministerium für Unterricht und Kunst herausgegebene "Österreichische
Wörterbuch" ausführlich diskutiert.
Sie erkennen Nutzen und Verdienste dieses einzigen offiziellen Lexikons des österreichischen
Deutsch an, namentlich auch in Anbetracht der begrenzten materiellen Ressourcen, die bisher für seine
Herausgabe zur Verfügung standen. Zugleich müssen sie aber mit Bedauern und Sorge feststellen, daß das
Österreichische Wörterbuch nach Umfang und wissenschaftlichen Grundlagen noch nicht den
Anforderungen entspricht, die hinsichtlich der nationalen und identitätsstiftenden Bedeutung des
österreichischen Deutsch an eine solche offizielle Dokumentation zu stellen sind. Deshalb ersuchen die
österreichischen und internationalen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am wissenschaftlichen Kolloquium
"Österreichisches Deutsch" mit einstimmigem Beschluß, das Bundesministerium für Unterricht und
kulturelle Angelegenheiten möge durch folgende Maßnahmen zur Verbesserung des "Österreichischen
Wörterbuches" und zur wissenschaftlichen Erforschung des österreichischen Deutsch Sorge tragen:

1. Die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirates zur Planung und Beratung, bestehend aus
ausgewiesenen Experten (Hochschulgermanisten und Lehrern) zum österreichischen Deutsch.
2. Die Gewährung einer Forschungsförderung zur Erstellung eines Belegkorpus, das gleichermaßen für
das "Österreichische Wörterbuch" und zur Untersuchung der Verbreitung, Gültigkeit und Akzeptanz
des österreichischen Wortschatzes im amtlichen, medialen und alltagssprachlichen Gebrauch zur
Verfügung stehen soll.
3. Die Förderung der Verwendung und Verbreitung eines über die Schulausgabe hinausgehenden
"Österreichischen Wörterbuches" im amtlichen und öffentlichen Bereich.
4. Die TeilnehmerInnen des Kolloquiums treten auch dafür ein, daß über die Förderung des ÖWB hinaus
auch die Erstellung eines Aussprachewörterbuchs, eines Bedeutungswörterbuchs und einer Grammatik
des österreichischen Deutsch zu einem vorrangigen wissenschaftspolitischen und kulturpolitischen
Ziel erklärt und auch diesbezüglich konkrete Schritte zu ihrer Verwirklichung unternommen werden.
Damit sollen Unsicherheiten im Sprachgebrauch verringert und mehr Wissen über die Normen der in
Österreich gebräuchlichen Form der deutschen Standardsprache verfügbar gemacht werden, damit die
sichere und selbstbewußte Verwendung der österreichischen Standardsprache in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens gefördert bzw. sichergestellt wird.
Darüber hinaus und in Hinblick auf die geänderte politische Lage, die durch die Ereignisse seit dem
Jahre 1989 und nicht zuletzt durch den Beitritt zur EU entstanden ist, erscheint den
Kolloquiumsteilnehmern die Neubestimmung der österreichischen Sprachpolitik und ihre explizite
Ausformulierung notwendig. Sie schlagen daher die Gründung einer Enquetekommission vor, die sich mit
den Fragen der Statusplanung des österreichischen Deutsch und Fragen der Minderheiten- und
Zuwanderersprachen befassen soll.

Wien und Graz, 1. September 1995

Ass.-Prof. Dr. Rudolf Muhr Tit. ao. Prof. Dr. Richard Schrodt O. Univ.-Prof. Dr. Peter Wiesinger
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 7-16

Michael Clyne

(Clayton, Melbourne)

Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache: Überlegungen zu ei


ner österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht 1

1. Einleitung
In den folgenden Beobachtungen möchte ich zunächst ein paar Punkte aus
einem IFK-Werkstattgespräch zum österreichischen Deutsch im vorigen November
kurz zusammenfassen und erweitern, dann einiges zur Sprachplanung sagen, und
einige Vorschläge zu einer koordinierten Sprachpolitik machen, die die künftigen
internen und externen Funktionen des österreichischen Deutsch im Mittelpunkt hat.
Plurizentrische Sprachen sind grenzübergreifende Sprachen mit konkurrier-
enden, aber auch interagierenden, nationalen (und gar übernationalen) Standard-
varietäten mit verschiedenen Normen, die eine gemeinsame Tradition teilen. Die
Bezeichnung will nicht auf territorial fest umrissene "Zentren" hinweisen, sondern
auf Situationen, in denen dieselbe Sprache in verschiedenen identifizierbaren
Gesellschaftsentitäten gebraucht wird. Dies ergibt sich aus historischen und soziolo-
gisch erklärbaren Prozessen, in denen Gesellschaften mit spezifischen Institutionen
entstehen. (Die Traumatisierung des Begriffs "national" im Deutschen lenkt hier von
seiner Nützlichkeit ab).
Es gibt zweierlei Kriterien für die Bestimmung und Unterscheidung von
Sprachen: die sprachlichen Formen (nach Kloss 1978 das Abstandsprinzip) und die
soziolinguistischen Funktionen (nach Kloss das Ausbauprinzip). Außersprachliche
Umstände wie der Wille, durch die Sprache eine distinktive nationale Identität
auszudrücken, hat aus Schwestervarietäten wie Indonesisch/Malaysisch,
Tschechisch/ Slowakisch, Hindi/Urdu autonome Sprachen gemacht. Dies ist durch
zwei Verfahren enststanden - die Erklärung der sprachlichen Varietät zur Sprache
und die Definierung der Sprache nach ihrem Corpus. Die Fachliteratur differenziert
zwar seit Kloss (1969) zwischen der Statusplanung, die sich mit der Stellung einer
Sprache im Verhältnis zu anderen befaßt und der Corpusplanung, wo der Corpus, die
äußere Form der Sprache verändert wird. Eigentlich handelt es sich aber um kom-
plementäre Verfahren, denn Teil des Definierungsprozesses ist eine Abgrenzung von

1
Ich danke Leslie Bodi, Rudolf Muhr und Stephan Toth für wichtige Anregungen und Heinz Kreutz für
stilistische Vorschläge.
-8-

anderen Sprachen und Varietäten. Die nach der Erklärung zu autonomen Sprachen
bleibenden lexikalischen oder grammatischen Ähnlichkeiten (wie etwa bei Dänisch,
Schwedisch und Norwegisch) können den Status einer Sprache keineswegs beein-
trächtigen.

2. Österreichisches Deutsch als Nationalvarietät einer


plurizentrischen deutschen Sprache
Obwohl es sich beim österreichischen Deutsch nicht um eine autonome Sprache
sondern um eine nationale Varietät, einen Zwischenbegriff zwischen einer Sprache
und einer regionalen Varietät handelt, spielen auch hier die beiden Verfahren,
Erklären und Definieren eine wichtige Rolle. Wenn Nationen nach Anderson (1983)
"imagined communities" sind, sind auch Standardsprachen in gewissem Sinne
erfunden, obwohl sie im Erfindungsprozeß aus bestehendem Rohstoff ausgebaut
werden. Plurizentrische Sprachen grenzen ab und vereinen zugleich, denn verschie-
dene Nationen, Staaten und Kulturen identifizieren sich in verschiedenen Existenz-
formen der gleichen Sprache. Es soll hier vielleicht wiederholt werden, daß Sprache
mehrere Funktionen erfüllt, darunter eine instrumentale, als wichtigstes Medium
menschlicher Verständigung und eine symbolische, als Mittel zur Identifizierung.
Das österreichische Deutsch symbolisiert, wie Standardvarietäten des Englischen,
Arabischen, Tamilischen, Portugiesischen und vieler anderer Sprachen u.a. eine
mehrfache Identität sowie Spannungen zwischen zentripetalen und zentrifugalen
Kräften auf verschiedenen Ebenen. Durch den Gebrauch des österreichischen
Deutsch identifizieren sich Sprachteilhaber mit anderen Mitgliedern der ganzen
grenzübergreifenden deutschen Sprachgemeinschaft, identifizieren sich aber
zugleich nicht nur als Österreicher, sondern auch als Bewohner einer gewissen
Region des Landes, als Angehörige einer sozialen Klasse und als Frau oder Mann.

3. Asymmetrische Plurizentrizität und deren Ursachen


Plurizentrische Sprachen sind aufgrund historischer, politischer und
wirtschaftlicher Machtverhältnisse sowie demographischer Faktoren asymmetrisch,
d.h. die Normen der verschiedenen Standardvarietäten sind nicht gleichberechtigt.
Man kann zwischen dominanten Nationen (wie z.B. bei Englisch die USA und
Großbritannien) und anderen Nationen der Sprachgemeinschaft (wie z.B. Australien
und Kanada) unterscheiden. Das bringt uns zur Frage: "Wer verfügt über das Recht,
eine Nationalvarietät zu bestimmen bzw. zu definieren?" Ich habe schon andernorts
(Clyne 1992, 1995) typische Einstellungen und Vorurteile einer dominanten Nation,
aufgelistet, die zur asymmetrischen Plurizentrizität beitragen:
1. Mitglieder einer dominanten Nationen neigen zur Verwechslung von
sprachlichen Merkmalen, die ihre Sprecher als Mitglieder einer Nation
identifizieren, mit der Zahl dieser Merkmale.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
--
-9-

2. Sie verwechseln Nationalvarietäten wegen überschneidender formaler Merkmale


mit Dialekten.
3. Sie neigen dazu, sich als alleinige Normenträger zu betrachten.
4. In den dominanten Nationen sind die Normierungs- und Normverbreitungsmittel
- Forschungs- und Sprachlehrinstitute sowie Verlage, die Grammatiken und
Wörterbücher herstellen, konzentriert.
5. Mitglieder der dominanten Nation haben oft eine Unkenntnis der Normen
anderer Nationen.
Insoweit Sprachwissenschaftler für die Normenerklärung und -definierung
verantwortlich sind, gibt es auch bei ihnen Einstellungen, die die symmetrische
Plurizentrizität erschwert:
1. Eine streng historische Auffassung, die im Falle der deutschen Sprache
"österreichisch" mit "bairisch" und "schweizerisch" mit "alemannisch" gleichsetzt
und daher keine Möglichkeit zuläßt, Nationalvarietäten begrifflich abzusichern.
2. Eine streng strukturalistische Auffassung, die nur von den "großen" gramma-
tischen Strukturen und phonologischen Unterschieden ausgeht und weder die
symbolische Bedeutung noch pragmatische bzw. diskursorganisatorische Aspekte
für ausschlaggebend hält.

4. Asymmetrische Plurizentrizität: Österreichisches


Deutsch
Von österreichischer Seite wird die asymmetrische Plurizentrizität gefördert,
indem die mehrfache Identität nicht anerkannt wird. Das geschieht, wenn z.B.
manche Österreicher eine österreichische Alternativnorm zum Deutschen Standard-
deutsch für überflüssig, minderwertig bzw. schädlich für die Einheit der deutsche
Sprache halten. Das kann auf die Ablehnung des Bestehens einer österreichischen
Nation oder auf Annahme der obengenannten deutschen Einstellungen
zurückzuführen sein. Es geschieht aber auch, weil entweder die Norm oder die mit
der Norm Umgehenden die "interne" mehrfache Identität des Österreichers nicht in
Betracht ziehen. Manche der Kritiken des ÖWB deuten darauf, daß österreichische
Normen, die Wiener Formen kodifizieren, manche Westösterreicher stören, aber
auch daß die österreichischen Klassenunterschiede noch wesentlich genug sind, um
Bildungsbürger gegen die Normierung mancher allgemein gebräuchlicher Formen
Anstoß nehmen zu lassen, die aber stilistischen Regeln der situationsbezogenen
Angemessenheit unterliegen. Zum ersten Punkt muß einerseits gesagt werden, daß in
den Medien, in Büchern und im Schulwesen viele Wiener Formen tatsächlich öster-
reichweite Geltung haben, daß aber der Plurizentrizität nicht gedient wird, wenn in
regiozentrischen Entscheidungen eine neue Asymmetrie offiziell gefördert wird. Von
zentraler Bedeutung ist daher die Bestimmung der überregionalen Variante. Der
zweite Punkt ist Quelle großer Normenunsicherheit (s. Muhr 1987).
-10-

5. Sprachplanung
Die Normierung des Wortschatzes des österreichischen Deutsch im ÖWB ist deut-
lich eine Form der Sprachplanung. Es ist jedoch potentiell nur ein Teil einer solchen Ak-
tion, denn die Aussprache und Grammatik und sonstige Aspekte der Sprache bleiben
unberührt und die notwendigen begleitenden Maßnahmen der Statusplanung sind
eigentlich nicht vorgenommen worden. Die Sprachplanung ist ein systematischer,
zukunftsorientierter Versuch, nach theoretischen Grundlagen, sprachliche Probleme zu
lösen. Unter den Tätigkeiten, die unter "Sprachplanung" subsumiert werden, sind die
Standardisierung einer Sprache, die Kodifizierung der Morphologie, die Entwicklung
einer neuen Orthographie, das Schaffen eines neuen Alphabets und die Beseitigung von
sogenannten "fremden" Elementen oder von denen, die gegen Teile der Bevölkerung
diskriminieren. Zu den Aufgaben der Corpusplanung gehört die Normierung. Die
Statusplanung hat generell zum Ziel:
1. die Entwicklung einer Sprache bzw. sprachlicher Existenzform als Symbol der
nationalen Identität,
2. die Verbreitung einer Sprache auf nationaler oder internationaler Ebene,
3. Minderheitsgruppen Rechte zu erteilen.
In der Sprachplanung geht man von einigen Etappen aus: Formulierung, Im-
plementierung, Elaborierung, Evaluierung (Haugen 1966, Rubin 1973). In seiner
Graduierung einer Nationalvarietät von voller Endonormativität (einheimische Nor-
men) bis zur vollen Exonormativität (Außennormen) unterscheidet Ammon (1989)
zwischen zweierlei Wirkungsträger der Sprachplanung - Kodex (Wörterbuch,
Grammatik, Aussprachehandbuch) und Modell-Sprachgebraucher. Der Grad der
Endonormativität variiert, je nachdem wie weit die Kodexe und die Modelle aus dem
In- oder dem Ausland stammen. Wie bei der Definierung einer autonomen Sprache
spielt auch bei Nationalvarietäten eine bewußte Abgrenzung (der 'Ausbau', nach
Kloss 1978) eine wesentliche Rolle. Auch erfordert eine erfolgreiche Sprachplanung
eine Abstimmung zwischen Kodex und Modellsprachgebrauch(ern). Corpusplanung
wird meist durch Linguisten entweder auf eigene Veranlassung oder unter Auftrag
bzw. von Sprachakademien durchgeführt, in manchen Fällen durch Interessen-
gruppen wie Feministen oder die Friedensbewegung. Um Erfolg zu haben, benötigen
Normen sowohl offizielle wie auch populäre Unterstützung. Manchmal ist eine
Sprachpolitik eigentlich fragmentarisch; manche Sprachpolitik wird lediglich explizit
oder ad hoc durchgeführt, im Gegensatz zu einer koordinierten Sprachpolitik, die alle
Aspekte der Sprache(n) umfaßt.
5.1 Ansätze zu einer österreichischen Sprachpolitik
Österreich verfügt bislang über keine explizite Sprachenpolitik. Wenn auch der
Standardisierungsprozeß des Deutschen mit der Einführung der Schriftlichkeit durch
staatliche Institutionen und die Kirchen durchgeführt und besonders durch den
Buchdruck verstärkt wurde (vgl. Anderson 1983), wird in der deutschen Sprachge-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
--
-11-

meinschaft die Existenz der deutschen Sprache für selbstverständlich gehalten und
daher keine bewußte Sprachpolitik betrieben. In Österreich gibt es aber einige
Ansätze hierzu, die z.T. implizit durchgeführt werden. z.B.
I. Die Erklärung des Deutschen zur Amtssprache
In der österreichischen Bundesverfassung heißt es: "Die deutsche Sprache ist,
unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten
Rechte, die Staatssprache der Republik" (Art. 8). Keineswegs alle Staaten erklären ihre
Amtssprache in der Verfassung.
II. Der Schutz der Minderheitssprachen Kroatisch und
Slowenisch, mindestens in gewissen Gebieten
Nach Art. 7 des Staatsvertrags von Wien genießen slowenische und kroatische
Minderheiten in Kärnten, Burgenland und Steiermark das Recht auf Organisationen,
Versammlungen und Presse - und im Interesse der bilingualen Entwicklung -
Elementarschulunterricht sowie eine verhältnismäßige Zahl eigener Mittelschulen in
ihrer eigenen Sprache (s. auch Erklärung 4 zu Art. 7). Ferner wird in Gebieten der
obengenannten Bundesländer mit kroatischen, slowenischen und gemischten
Bevölkerungen Kroatisch bzw. Slowenisch neben Deutsch als Amtssprache
zugelassen. Allerdings ist dieser Gebrauch "auf bestimmte Personen und
Angelegenheiten beschränkt" (Par. 1, Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich
118, 1976) (auch Art. 66, Abs.4 des Staatsvertrags v. St. Germain, das
Volksgruppengesetz 1976/ 396). Gewisse gesetzliche Privilegien dieser Art gelten
auch für die Ungarischsprachigen im Burgenland und die Tschechischsprachigen in
Wien (Minoritätsakt 1976) aber nicht für die Romanisprachigen oder die
Migrantengruppen in Österreich (Wodak/De Cillia et al. 1995, Holzer und Münz
1993).
III. Verbreitung der deutschen Sprache und österreichischen
Landeskunde im Ausland, insbesondere in den Nachbarstaaten
Die österreichischen Lektoren in Ungarn, der Slowakei, der Tschechischen Re-
publik und in anderen Ländern sowie die von österreichischen Universitäten ange-
botenen österreichisch-orientierten Aus- und Fortbildungskurse für Deutsch-
lehrer/innen und das Österreichische Sprachdiplom bilden eine potentielle Kompo-
nente einer noch nicht koordinierten Sprachpolitik.
IV. Österreichs Verantwortung für den Schutz der deutschen
Sprache in Südtirol als Teil der Regionalautonomie
V. Verhandlungen mit der EU gemäß Protokoll 10 um die
Beibehaltung von 23 österreichisch-deutschen Wörtern im
kulinarischen Bereich
Der Schutz der Minderheitssprachen, darunter des einzigartigen Burgen-
ländischen Kroatisch mit seinen eigenen Normen, ist ein Anzeichen für die Anerken-
nung der symbolischen Bedeutung der Sprache. Es wäre konsistent, diesen Aspekt als
Hebel einer Sprachplanung auszuweiten, die die mehrfache Identität anerkennt, die
-12-

seit der Zeit der Monarchie mit Österreich verbunden ist. Allerdings ist schon das
Bestehen des ÖWB, das vom Unterrichtsministerium und von einem Bundesverlag
veröffentlicht wird und seit 1979 die eigenen Normen entwickelt, eine Anerkennung
dafür, daß die Corpusplanung Bestandteil einer impliziten österreichischen Sprach-
politik ist. Trotz beschränkter Mittel gibt das ÖWB seinen Anstoß.
5.2 Australische Initiativen
Damit eine Sprachpolitik die Belange aller Bevölkerungsteile und Interessen-
gruppen vertritt, ist es erforderlich, daß möglichst viele die Gelegenheit haben, an der
Sprachpolitik mitzuwirken. Es ist mir klar, daß Initiativen je nach dem Land unter-
schiedlich gehandhabt werden müssen. Ich möchte aber auf unsere australische
Erfahrung hinweisen. Die treibende Kraft hinter einer koordinierten australischen
Sprachpolitik kam von einer "Interessengemeinschaft" von Linguisten, Sprachlehrern,
ethnischen und Ureinwohnergruppen und wurde 1982 von der damaligen konser-
vativen Regierung aufgegriffen. Eine parlamentarische Enquetekommission, die aus
drei Politikern der konservativen Regierung und drei der Arbeiterpartei, der dama-
ligen Opposition, bestand, wurden damit beauftragt, Ermittlungen über den Bedarf
einer koordinierten Sprachpolitik für Australien anzustellen. Das umfangreiche
Ausmaß umfaßte u.a. die englische Sprache in Australien und ihr Verhältnis zu den
anderen in Australien gebrauchten Sprachen, den Ureinwohner- und Einwanderer-
sprachen, den Sprachengebrauch in öffentlichen Bereichen, den Unterricht von
Sprachen außer Englisch, den landesinternen und externen Gebrauch solcher
Sprachen, die Verständlichkeit der Rechts- und Vertragssprache, den Übersetzungs-
und Dolmetscherdienst und die Sonderbedürfnisse der Sprach- und Hörgeschädigten.
Im Laufe der Ermittlungen, die sich über etwa 18 Monate erstreckten, wurden 94
Zeugen gehört und 241 schriftliche Vorlagen erhalten, von Ministerien, Lehrerver-
bänden, Gewerkschaften, Hochschulen, Privatunternehmen, Ureinwohner- und
ethnischen Gruppen und Individuen. Der Bericht dieser Enqueten bildete die Grund-
lage für die National Policy on Languages (Lo Bianco, 1987) und späterer Sprachpoli-
tiken.
Bis etwa 1970 betrachtete sich Australien als eine Art Außenposten Großbri-
tanniens in den Antipoden und bevorzugten wenigstens die Eliten britische Kodexe
und Modelle für das Englische. Australisches Englisch wurde noch für "schlechtes
Englisch" gehalten. Der stark zunehmende Gebrauch einer vom britischen Englisch
weiter entfernten Varietät (Horvath, 1985) ist eng mit einer selbständigeren Außen-
politik und einem neuen multikulturellen Selbstverständnis verbunden. Zu den
wichtigsten Wirkungsträgern der fortgeschrittenen Kodifizierung des Australischen
Englisch gehören in erster Linie die Australian Broadcasting Corporation, die jetzt (im
Unterschied von vor 25 Jahren) die Eigennormen verbreitet, die Schulbücher, die
jetzt überwiegend in Australien hergestellt werden, und das seit 1981 erscheinende
Macquarie Dictionary, das als Autorität das Oxford English Dictionary allmählich
abgelöst hat. Wie das ÖWB seit 1979 markiert das Macquarie Dictionary die Außen-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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-13-

normen und läßt die Eigennormen unmarkiert. Wenn auch konservativere und bri-
tisch-gesinnte Teile der Bevölkerung auf den Gebrauch des Oxford harren, hat das
australische Wörterbuch Anerkennung gefunden, nicht zuletzt durch seine Nähe zur
Sprachgemeinschaft. Durch eine Macquarie Dictionary Society mit regelmäßigem
Rundbrief werden die Benutzer mit der Registrierung neuer Wörter und neuer Ver-
wendungsweisen, Kritik bisheriger Auflagen und der Suche nach Belegen involviert.
Die Kodifizierung des Australischen Englisch wurde durch seine relative regionale
Homogenität erleichtert. Auch sind die Normen flexibler als in den USA oder in
Großbritannien. Erschwert wird die Kodifizierung durch den überaus großen
amerikanischen Einfluß auf das Australische Englisch.
5.3 Vorschläge für eine österreichische Sprachpolitik2
Aus der Kritik der letzten drei Auflagen des ÖWB (berechtigt oder unberechtigt)
lassen sich drei verhältnismäßige Mängel erkennen: Die geringe Zahl einschlägiger
empirischer Studien, die Notwendigkeit eines umfangreicheren Grundlagencorpus
(und das heißt auch mehr finanzielle Unterstützung für die unerläßlichen Corpus-
analysen und soziolinguistischen Untersuchungen) und eine regional und sozial
breitere Gruppe von Mitentscheidenden. Meines Wissens hat es bislang keine einzige
öffentliche Umfrage zum österreichischen Deutsch bzw. zu österreichischen Normen
gegeben. Die Normierung und Beschreibung des österreichischen Deutsch müßte
aber auch die Phonologie/Phonetik umfassen. Der Siebs ist schon längst überholt und
beruht auf der Voraussetzung einer asymmetrischen Plurizentrizität. Es genügt nicht,
sich auf ein Mannheimer Aussprachewörterbuch zu verlassen, das österreichisches
(und schweizerisches) Standarddeutsch (wohlwollend) auf die gleiche Ebene wie
süddeutsche Dialekte stellt. Es muß anhand empirischer Daten festgestellt werden,
welche grammatischen Strukturen in Österreich standardsprachlich sind (z.B. kom-
men hätte können; ist gesessen) und inwiefern und wofür die Außennormen gelten.
Da wesentliche Differenzen zwischen österreichischem Deutsch und anderen Stan-
dardvarietäten auf pragmatischer und diskursorganisatorischer Ebene zu finden sind,
müßte man bedenken, ob diese Aspekte, die ohnehin in der Verhaltensregelung
festgelegt sind, zu kodifizieren wären. Einiges spricht meines Erachtens dafür, daß
Österreich jetzt die Entwicklung einer expliziten Sprachpolitik vornehmen soll. Die
dramatischen Ereignisse der letzten fünf Jahre erfordern eine Bestätigung der mehr-
fachen Identität durch die Sprache. Österreich muß sich darüber im klaren sein, was
seine Standardnormen sind, womit es seine Identität sprachlich ausdrückt, womit
sich das österreichische Deutsch von anderen Nationalvarietäten (insbes. vom
bundesdeutschen Standarddeutschen) abgrenzen will und was für ein Deutsch ins
Ausland exportiert werden soll. Eine österreichische Sprachpolitik sollte daher durch
folgende Prozesse entwickelt werden:

2
Nach diesem Vortrag erfuhr ich, daß ähnliche Konzepte bereits im Kreise österreichischer Lehrer für
Deutsch als Fremdsprache und angewandter Sprachwissenschaftler besprochen werden.
-14-

1. Formulierung und Voruntersuchung der Hauptfragen/Enquete mit spezifischen


Empfehlungen
2. Festlegung der Leitprinzipien der Sprachpolitik
3. Formulierungen
Status: Österreichisches Deutsch - Funktionen im In- und Ausland
Standard vs. regionale Varietäten/ Anerkennung welcher Alternativformen?
Geltung der Standardvarietät in den verschiedenen Domänen
Deutsch und die anderen Sprachen Österreichs:
Regionale Minderheitssprachen
Einwanderersprachen
Fremdsprachen
Domänen: Im Schulwesen
In der Verwaltung und im öffentlichen Leben
In den Medien
In Dienstleistungen und im Tourismus
Im Handel
Übersetzungs- und Dolmetscherwesen
Corpus: Kodifizierungsbereiche: Lexikon/Semantik/Rechtschreibung
Genusbestimmung
Syntax/ Morphologie
Phonologie/ Phonetik
Inwieweit Pragmatik/Diskurs kodifizierbar ist, ist fragwürdig.
4. Implementierung
Kodexe - Wörterbuch (Rechtschreibung - international)
Aussprachewörterbuch
Grammatik
Modelle - Schulwesen
Verwaltung
Medien (Rundfunk/Fernsehen/Presse)
Kirche
5. Evaluierung: Regelmäßig; vor allem die Kodexe

Die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen zum österreichischen Deutsch


würden eine ausgezeichnete Grundlage bilden (s. z.B. Dressler und Wodak 1983;
Ebner 1981; Muhr 1993a, b; Wiesinger 1980, 1988).
Ein mögliches Bedenken gegen einen derartigen Vorgang ist, daß er als
anachronistische nationalistische Aktion mißverstanden werden kann. Dagegen muß
gesagt werden, daß gerade die zunehmende Einheit Europas daneben auch eine
Möglichkeit zur Selbstdarstellung benötigt. Daß es eine österreichische Identität gibt,

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
--
-15-

wird in Umfragen immer mehr belegt. Die Voraussetzung eines homogenen interna-
tionalen Deutsch, das verteidigt werden muß, ist eine Fiktion, die auch bei anderen
plurizentrischen Sprachen existiert. Das wohlbekannte Beispiel des Englischen in
seinen vielen Erscheinungsformen zeigt klar, daß die Einheit und Effizienz einer
Sprache nicht gefährdet werden, wenn sie in allen Gebrauchsdomänen die kollektive
Selbstdarstellung ermöglichen. Der Unterschied zu den Sprachen, die sich spalten, ist,
daß eine gemeinsame Verantwortung für die Sprache durch die Schrift- und Ortho-
graphienormierung weiter getragen wird, wie wir es bei der internationalen
Rechtschreibreform des Deutschen gesehen haben. Jede Planung bezüglich einer
plurizentrischen Sprache muß freilich die Interaktion zwischen den Varietäten
berücksichtigen. In diesem Falle entspricht die Anziehungskraft Deutschlands in
einigen Aspekten der Attraktivität der USA im englischsprachigen und interna-
tionalen Kontext. Die deutsche Form kommt vor als die trendy Variante der jungen
Leute (z.B. zuweilen zwo für zwei), im Interesse des Tourismus (Schweinebraten für
Schweinsbraten auf der Speisekarte) oder wegen des Imports deutscher Produkte
(Müll statt Mist auf deutschem Mistkübel in Wien) bzw. Synchronisierung englisch-
sprachiger Filme im bundesdeutschen Deutsch. Die Diskussion des historischen Erbes
Österreichs überlasse ich denen, wie Leslie Bodi, die besser qualifiziert sind darüber
zu sprechen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß es, trotz der Spannung in der
deutschen Sprache zwischen den instrumentalen und symbolischen Funktionen der
Sprache, der Donaumonarchie gelungen ist, die Sprachpolitik zur Tradition zu
machen. Da die Sprachpolitik des 21. Jahrhunderts auf der Sprachvariation beruhen
muß, ist ein Land mit einer Geschichte des Sprachenkontakts in einer günstigen Lage,
eine solche zu entwickeln. Für die Bewältigung dieses Vorhabens wünsche ich Ihnen
auf alle Fälle viel Erfolg.

Literatur:
Ammon, Ulrich (1989a): Towards a descriptive framework for the status/ function/
status position of a language within a country. In: Ammon, Ulrich (Hrsg.)
(1989b): S.21-106.
Ammon, Ulrich (Hrsg.) (1989b): Status and function of languages and language
varieties. Berlin.
Anderson, Benedict (1983): Imagined communities. London.
Clyne, Michael (Hrsg.) (1992): Pluricentric Languages. Berlin.
Clyne, Michael (1995): The German Language in a Changing Europe. Cambridge.
De Cillia, Rudolf, Florian Menz, Wolfgang U. Dressler und Petra Cech (1995): Lin-
guistic Minorities in Austria. In: Paulson, Christina Bratt (Hrsg.): Linguistic
Minorities in Central and Eastern Europe.
Dressler, Wolfgang U. und Ruth Wodak (1982): Soziolinguistische Überlegungen
zum "Österreichischen Wörterbuch". In: Dardano, Maurizio, Wolfgang Dressler
und Gerhard Held (Hrsg.): Parallela (=Akten des 2. österreichisch-italienischen
Linguistentreffens). Tübingen, 247-260.
Ebner, Jakob (1981): Wie sagt man in Österreich? Mannheim.
-16-

Haugen, Einar (1966): Language conflict and language planning. Cambridge.


Holzer, Werner und Rainer Münz (Hrsg.) (1993): Tendenzwende? Sprache und
Ethnizität im Burgenland. Wien.
Horvath, Barbara (1985): Variation in Australian English. Cambridge.
Kelly, Louis A. (Hrsg.): (1969) Description and Measurement of Bilingualism.
Toronto.
Kloss, Heinz (1969): Research possibilities on group bilingualism. In: Kelly, Louis
(Hrsg.): 296-316.
Kloss, Heinz (1978): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800.
(2. Auflage.) Düsseldorf.
Lo Bianco, Joseph (1987): National Policy on Languages. Canberra.
Muhr, Rudolf (1987): Deutsch in Österreich - Österreichisch. Zur
Begriffsbestimmung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In:
Grazer Arbeiten zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch in Österreich 1/
1987. Erw. und ergänzte Aufl. 1990. S. 1-23.
Muhr, Rudolf (Hrsg.)(1993a): Internationale Arbeiten zum Österreichischen Deutsch
und seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
Muhr, Rudolf (1993b): Pragmatische Unterschiede in der deutschsprachigen
Interaktion. Österreichisch - Bundesdeutsch. In: Muhr, Rudolf (1993a): S. 26-
38.
Rubin, Joan (1973): Language planning: Discussion of some current issues. In: Rubin,
Joan und Roger Shuy (Hrsg.), 1-10.
Rubin, Joan und Roger Shuy (Hrsg.) (1973): Language planning: Current issues and
research. Washington, D.C..
Wiesinger, Peter (1980): Zum Wortschatz im 'Österreichischen Wörterbuch'. In:
Österreich in Geschichte und Literatur 24: S. 367-397.
Wiesinger, Peter (Hrsg.) (1988): Das österreichische Deutsch. Wien

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 17-38

Leslie Bodi

(Clayton, Melbourne)

Traditionen des österreichischen Deutsch im


Schnittpunkt von Staatsräson und
Sprachnation.
(Vom Reformabsolutismus bis zur Gegenwart).

Ernst Jandl zum 70. Geburtstag gewidmet

1.1 Vorbemerkung
Meine Aufgabe ist hier, die Frage nach dem österreichischen Deutsch in einen
allgemeineren kulturhistorischen Kontext zu stellen, der vielleicht etwas über die rein
fachlinguistischen Aspekte dieses Problems hinausgeht.1 Ich sehe Sprache im wei-
testen Sinne des Wortes in ihrer Funktion als instrumentalem Kommunikationssystem
und auch in ihrer Rolle als Mittel der Identifikation und Selbstidentifikation von
Individuen und Gesellschaftssystemen. All dieses ist wichtig für die Entwicklung des
Nationalismus in der westlichen Welt seit dem Ausgang des Mittelalters, vor allem
aber des bewußt artikulierten Sprachnationalismus des 19. Jahrhunderts. Für Litera-
turhistoriker sind diese Fragen besonders relevant. Sprache ist ja das Rohmaterial für
Literatur als Sprachkunst. Sie hat eine pragmatische Kommunikationsfunktion,
gleichzeitig aber auch einen entwicklungspsychologisch tief verankerten symbo-
lischen Aussagewert, der ihr eine einzigartige Stellung in der Ausbildung der indivi-
duellen Persönlichkeitsstruktur sowie im Verlauf gesellschaftlicher Identifikations-
prozesse gibt. Über die einzelnen Aspekte der Sprache gibt es eine reichhaltige
Literatur - weniger bekannt und vielfach durch Sprach- und Gedankenregelungen
behaftet sind die Wechselwirkungen dieser Sphären innerhalb des deutschen
Sprachgebiets, auch wegen der katastrophalen Erfahrungen des offen aggressiven
und rassistischen Nationalismus der Nazizeit. Trotz wichtiger Publikationen der

1
Zur allgemeinen Information sind die Leser auf die in der Bibliographie angegebenen Werke
verwiesen. Die Anmerkungen beziehen sich vor allem auf besondere Diskussionspunkte. Sie
beziehen sich auch auf die ausführlichere Behandlung besonderer Fragen in meinen früheren
Artikeln; die historischen Aspekte sind jetzt eingehender behandelt in L. Bodi ”Internationale
Verständigung und nationale Identität - Modellfall Österreich”. In Herbert Arlt (Hg.): Kunst und
Internationale Verständigung. Unesco-Konferenz 18 - 20. 9. 1994. Bücherreihe I. Bd. 1 des Institutes
zur Erforschung und Förderung internationaler Literaturprozesse. St. Ingbert. 1995 (im Druck). Viele
Fragen wurden in Gesprächen mit Marianne Bodi, Michael Clyne und Moritz Csáky besprochen; bei
der technischen Herstellung des Artikels halfen Michael Haider und Charlotte Philipp. Ihnen sei
herzlich gedankt.
-18-

letzten Jahre gilt hier immer noch in vieler Hinsicht die Aussage von Norbert Elias aus
seinem Buch Über die Deutschen: ”In der Regel unterliegt die leidenschaftslose Erfor-
schung nationalistischer oder patriotischer Glaubensdoktrinen bis heute einem recht
starken Denkverbot. Sie ist sozial tabuiert.” (Elias, 1989:205) Dieser Ausspruch ist
für das Thema unserer Konferenz durchaus relevant.
1.2 Das österreichische Deutsch
Ich sehe mit Michael Clyne das österreichische Deutsch als nationale Standard-
variation der plurizentrischen deutschen Sprache an. Es soll dazu bemerkt werden,
daß der Gebrauch des Wortes ”national” im westlich-angelsächsischen Kontext viel
weniger emotional belastet ist als im kontinentalen Europa. Natürlich entsteht im
plurizentrischen deutschen Sprachraum ein besonderes Problem durch die Tatsache,
daß eines seiner Gesellschaftssysteme die Sprachbezeichnung zum Staatsnamen
gemacht hat. Die Existenz eines Deutschland genannten Nationalstaates macht es für
andere deutschsprachige Gesellschaften terminologisch schwierig, ihre eigene staat-
liche und sprachliche Eigenart zu bestimmen - ähnliche Probleme gibt es aber auch
in vielen anderen plurizentrischen Sprachgebieten der Welt (Clyne, 1992). Nicht alle
Deutschsprechenden leben in Deutschland, und in der mitteleuropäischen Region
existierten bis zur Verschärfung der nationalistischen Sprachkonflikte im 19. Jahr-
hundert viele sprachliche und ethnische Gruppen weitgehend friedlich mit- und
nebeneinander. Besonders das Beispiel der Donaumonarchie zeigt, daß Staatsnation
und Sprachnation nicht deckungsgleich sein müssen (Csáky, 1991). Die Schweiz
existiert bis heute als beispielhaft funktionierendes, vielsprachiges Staatsgebilde,
wenn auch die sprachliche Abgrenzung der deutschsprachigen Schweizer dem nor-
mativen Anspruch der deutschen Kultur gegenüber keineswegs problemlos vor sich
ging.
1.3 Modelle des ” Ethnos” und ” Demos”
Die Frage nach der Selbstdefinition von Gesellschaftsgruppen geht weit hinter
die Zeiten des modernen Nationalismus zurück. Bei der sozialen Abgrenzung vom
Anderen, Fremden wird in der europäischen Tradition oft auf die griechischen Ter-
mini ”Ethnos” und ”Demos” zurückgegriffen - der erste betont die Rolle der gemein-
samen Abstammung, Tradition und Religion, wobei der Sprache als emotionell gela-
denem, symbolisch bedeutsamen Faktor eine besondere Rolle zukommt. Der Begriff
des ”Demos” betont eher die formierte Organisation einer Gesellschaft, in der
Sprache als Mittel instrumenteller Kommunikation gebraucht wird.2

2
Zur Frage von ”Ethnos” und ”Demos” vgl. vor allem E. Francis (1965). Hier und in den
Ausführungen von C. Leggewie und G. Welz (In: Berding, 1994, s. 46-81) zeigen sich die
Schwierigkeiten, die sich im deutschen Sprachraum auf allen Seiten des politischen Spektrums noch
immer aus dem Weiterleben des ethnischen Sprachnationalismus ergeben.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-19-

Seit dem 16./17. Jahrhundert erlangten in den ökonomisch entwickelten


Gebieten Europas einheitlich organisierte absolutistische Flächenstaaten wachsende
Bedeutung (Elias 1988, Bd.2). Für diesen Prozeß wurden Energien des ”Ethnos” wie
des ”Demos” als proto-nationale Formen gesellschaftlicher Selbstidentifikation akti-
viert. Im westlichen Europa forderten demokratische und auch revolutionäre Kräfte
die Modernisierung ihrer Gesellschaftssysteme ”von unten”; die so entstandenen
Nationen konnten als ”tägliches Plebiszit” der Staatsbürger gekennzeichnet werden
(E. Renan).3 Das östliche Paradigma führte in Abwesenheit starker bürgerlicher
Kräfte eher zur Erneuerung ”von oben” durch staatliche Bürokratien;4 gleichzeitig
erhielten im östlichen und mittleren Europa auch Tendenzen ethnischer nationaler
Selbstidentifikation mit starker Betonung des Symbolwerts der Sprache besondere
Bedeutung. All diese Komponenten waren jedoch letztlich untrennbar verbunden und
konnten im Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu Zivilisationsbrüchen kata-
strophalster Art führen. Das europäische Aufklärungsparadigma stand allen Formen
des ethnisch motivierten Nationalismus weitgehend negativ gegenüber; rationali-
stischem Universalismus wurde im Gegensatz zu allen Differenzierungstendenzen
unbedingter Vorzug gegeben. Die Erfahrungen unseres Jahrhunderts und auch die
Entwicklung nach 1945 und 1989 zeigten jedoch, daß der Nationalismus des 19.
Jahrhunderts keineswegs ”am Verschwinden” ist, und ein historisches Langzeitge-
dächtnis auch weiterhin eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Gesellschaftssy-
stemen spielt.
Trotz der Globalisierung der Welt und der Herausbildung moderner interkonti-
nentaler Kommunikations- und Organisationsformen scheinen soziale Bedürfnisse
für die Zugehörigkeit zu historisch bedingten regionalen Gesellschaftssystemen
überschaubarer Größe auch weiterhin zu bestehen. Sie müssen jedoch nicht mehr die
Form exklusiv-fundamentalistischer Nationalismen annehmen, sondern können sich
in Richtung flexibler Strukturen menschlichen Zusammenlebens in offenen Zivilge-
sellschaften entwickeln. Es kann heute akzeptiert werden, daß eine Person oder
Personengruppe oder Gesellschaft nicht nur eine, sondern mehrere Identitäten
gleichzeitig haben kann - geschlechtsmäßig, altersmäßig, kulturell, sprachlich,
national - und daß dies keine Ausnahme, sondern den Normalfall in den westlichen
Wohlstandsgesellschaften unserer sehr komplex gewordenen Welt darstellt. In den
letzten Jahrzehnten entstanden neue Formen eines pluralistischen ”postmodernen”
Denkens auf allen Seiten des politischen Spektrums, die eine neue Diskussion der
Probleme der Identifikation und Selbstidentifikation von Individuen und Gesell-
schaftssystemen in diesem Sinne ermöglichen. Die Frage nach den Funktionen der
deutschen Sprache in Mitteleuropa5 kann hierbei als wichtiges Modell dienen.

3
E. Renans vielzitierte Vorlesung ”Qu´est-ce-qu´une Nation?” wurde 1882 an der Sorbonne gehalten.
4
Zur Typologie der Verschiedenheiten der Entwicklung in den historisch entstandenen Regionen
Europas vgl. vor allem István Bibó (1992) und Jenö Szücs (1990).
5
Zur Problematik Mitteleuropa gibt es eine reichhaltige neue Literatur. Eine wichtige letzte
Zusammenfassung ist neben bedeutenden Artikeln von M. Csáky (bes. 1993b) und Jacques Le

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-20-

2. Die Sprachproblematik im deutschen Sprachbereich im 18.


- 20. Jahrhundert.
Bei den Auffassungen über die Funktionen der Sprache geht es - sehr schema-
tisch betrachtet - um einen fast diametralen Gegensatz zwischen der Entwicklung in
Deutschland und im multinationalen Donauraum. Er erhält vor allem im späten 18.
und frühen 19. Jahrhundert seine deutliche Ausprägung.
2.1 Deutschland: Bildungsideologie und Sprachnationalismus
Die ”nationale Frage” in Deutschland war jahrhundertelang bestimmt durch die
Zersplitterung des Landes. Nach der Reformation und der Katastrophe des Drei-
ßigjährigen Krieges machten hunderte unabhängige Staatsgebilde die Schaffung eines
einheitlichen modernen Flächenstaates unmöglich. Dem kleinfürstlichen Absolutis-
mus stand nur ein schwaches Bürgertum gegenüber. Auf diese Lage reagierend
entwickelte die bürgerliche Intelligenz der fortgeschritteneren protestantischen
Gebiete eine universalistische kosmopolitische Aufklärungsideologie, der eine einzig-
artige Mischung von Philosophie, Kunst, Wissenschaft und säkularisierter pieti-
stischer Innerlichkeit zugrunde lag. Es entstand eine Philosophie und Literatur von
Weltrang in deutscher Sprache, deren Ausgangspositionen, Entstehungsbedingungen
und Ziele aber spezifisch für die Situation der deutschen Gesellschaft blieben. Die
Weltanschauung der Goethezeit betonte die Bedeutung von Kultur und Bildung als
wichtigste Mittel zur gesellschaftlichen Entwicklung und wurde seit den siebziger
Jahren des 18. Jahrhunderts zum grundlegenden ”Deutungsmuster” für die deutsche
Tradition bis zur Gegenwart.6 Es ging zugleich um ein utopisches Projekt der Schaf-
fung einer modernen Nation, das Herders Ansichten von der Bedeutung des
”Volkstums” und starke Elemente eines ethnisch-sprachlich begründeten deutschen
Nationalbewußtseins in sich trug. Schon in den Xenien Schillers und Goethes (1796)
bezog sich ”Bildung” immer stärker auf ”deutsche Bildung” - und Fichte forderte
1808 einen selbstbewußten deutschen Sprachnationalismus.7 Leitworte wie
”Bildung”, ”Kultur”, ”Weltanschauung”, ”Volk” und ”Heimat” entwickelten im deut-
schen Kontext Bedeutungsfelder, die sie für andere europäische Sprachen unüber-
setzbar machen. Sie wurden auch in den Dienst einer ”Realpolitik” gestellt, die die
Einigung Deutschlands den stärksten Kräften des feudalen Absolutismus und der
militärischen Macht Preußens überließ. Der Weg zur kleindeutschen Reichsgrün-

Rider der Essay von Mihály Vajda, ”Die Bedeutung von 'Mitteleuropa'” in König, Christoph (Hg.)
(1995): Germanistik in Mittel- und Osteuropa 1945-1992 Berlin;/New York. S. 51-59.
6
Zur Frage der deutschen Selbstidentifikation neben N. Elias (1989) vgl. auch Mommsen, Wolfgang
(1990): Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage. München/Zürich; jetzt
zusammenfassend: Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen
Deutungsmusters. Frankfurt/M./Leipzig. Zahlreiche Artikel in B. Giesen (1991) und H. Berding (1994)
behandeln Themen des deutschen Nationalismus.
7
Fichtes ”Reden an die deutsche Nation” als Antwort auf die napoleonische Expansionspolitik spielten
eine wichtige Rolle bei der Entstehung des ”romantischen Nationalismus”. Vgl. die Beiträge in Eade,
J. C. (Hg.) (1983): Romantic Nationalism in Europe. Canberra. Über die ungarischen Aspekte gibt es
eine extensive Literatur. Zuletzt: Fernec Biró (1994): A felvilágosodas koának magyar irodalma.
Budapest. S. 119-141.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-21-

dung war ein aktiver, dynamischer Prozeß, eine Manifestation des aggressiven
Sprachnationalismus, der sich bis heute trotz des Unbehagens deutscher Bildungs-
bürger und Intellektueller noch immer in Erscheinungen wie der Bedeutung des
”Deutschtums”, und des ”ius sanguinis” im Bürgerrecht der Bundesrepublik
Deutschland ausdrückt.
2.2 Aufklärung und Staatsräson in der Habsburgermonarchie
Ganz anders entwickelten sich die Traditionen des vielsprachigen Staates der
Habsburger. Zum grundlegenden Problem wurde die Frage, wie sich der Zerfall einer
sich immer stärker profilierenden alten europäischen Großmacht verhindern ließe,
für die alle Manifestationen des Sprachnationalismus nur gefährlich werden konnten.
Die Abwehr der Türkengefahr forderte den weitgehendsten Zusammenhalt der
Länder der Habsburger, der auch durch die schonungslose Unterdrückung der
Reformation gefördert werden sollte; die Dominanz des Latein hemmte die national-
sprachliche Entwicklung. Der sprachbildende Einfluß der Lutherbibel als eines all-
gemein gültigen sakralen deutschen Textes verschwand und der Büchermarkt wurde
weitgehend beschränkt. So wurden wichtige Grundlagen für die Ausbildung einer
über den regionalen Dialekten stehenden deutschen Standardsprache in den deutsch-
sprachigen Ländern der Habsburger beseitigt. Das bedeutete jedoch keineswegs das
Fehlen des Gefühls der staatlich-organisatorischen und wirtschaftlichen Zusammen-
gehörigkeit der Teile der vielsprachigen Monarchie, des späteren ”Österreich”, wie
sie etwa die Programmschrift des Kameralisten Philipp Wilhelm v. Hörnigk
Österreich über alles, wenn es nur will (1684) ausdrückt. Hier konnte allerdings der
Nexus zwischen Sprachentwicklung und Nationsbildung keine Rolle spielen, der zur
wichtigen Grundlage der sich in den nächsten Jahrzehnten entfaltenden Aufklä-
rungsliteratur und Sprachpolitik des mittleren und nördlichen Deutschlands wurde.
Der Reformabsolutismus (1749-1795) brachte einen entscheidenden Moderni-
sierungsschub. Der Verlust Schlesiens an Preußen weckte das Bewußtsein der Not-
wendigkeit des raschen ”Einholens” des westlichen Europas und der Konkurrenz mit
dem protestantischen Deutschland. Die bürokratische Zentralisierung und Rationali-
sierung der Erblande der Habsburger wurde schließlich von Joseph II. mit rücksichts-
loser Radikalität durchgeführt (Josephinismus). Die Grundlagen für einen im Sinne
der europäischen Aufklärung funktionierenden Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat
wurden gelegt, der Katholizismus modernisiert. Schon die Theresianische Schul-
reform hatte für eine weitgehende Alphabetisierung der Untertanen gesorgt; sie
brachte auch den Unterricht ethnischer Sprachen in die Elementarschulen der Mon-
archie.
Einen entscheidenden Schock gab dieser aufgeklärten Sprachpolitik das Sprach-
patent Josephs II. im Jahre 1784.8 Es wollte aus utilitaristischen, pragmatischen und
völlig rational scheinenden Gründen das im Königreich Ungarn noch immer als

8
Vgl. Leslie Bodi: ”1784 und die Folgen...” In: Jahrbuch II. Internationale Erich-Fried-Gesellschaft.

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-22-

Amtssprache gebrauchte Latein durch Deutsch ersetzen. Obwohl der Kaiser betonte,
daß er keineswegs eine ”Germanisierung” seiner anderssprachigen Untertanen
beabsichtigte, erweckte seine Verordnung eine Welle erregten ständisch-
nationalistischen Protestes in Ungarn und auch in anderen ”historischen Nationen”
der Monarchie (Italien, Niederlande). Dem Erwachen des Sprachnationalismus
Herderscher Prägung standen der Kaiser und seine Ratgeber hilflos und
verständnislos gegenüber. Es war für ganz Europa ein erster deutlicher Modellfall des
Zusammenstoßes zwischen der instrumentalen pragmatischen Sprachauffassung der
aufgeklärten Staatsräson mit Sprache als einem der wichtigsten emotionell besetzten
Identifikationsmerkmale ethnischer Gruppen. 1784 zeigte zuerst die Gefahren, die
sich aus diesem Konflikt für die Existenz moderner vielsprachiger Imperien ergeben
können. In der Habsburgermonarchie wurde das Sprachpatent nie voll durchgeführt
und von Joseph II. vor seinem Tode revoziert.

3. ” Deutsch” und deutsche Sprache im Reformabsolutismus


3.1 Aspekte des Österreichbegriffs: Abgrenzung vom
” unösterreichischen Deutschland”
Im Laufe der Bürokratisierung der Donaumonarchie spielt die Modernisierung
und Standardisierung der deutschen Sprache als Kommunikationsmittel der herr-
schenden deutschen Sprachgruppe eine besondere Rolle. Natürlich konnte hier die
Sprachnormierung, die im protestantischen Deutschland unter der Leitung
Gottscheds durchgeführt wurde, als wichtiges Vorbild dienen. Sprachgesellschaften
bemühten sich seit den sechziger Jahren verstärkt um die Uniformierung der Schrift-
sprache, ihre ”Reinigung” vom Dialekt und die Schaffung einer den Forderungen der
Aufklärung entsprechenden ”zivilisierten” Amtssprache. Wien war noch immer der
Sitz wichtiger Behörden des alten Heilig Römischen Reiches. Viele Beamte, Literaten,
Intellektuelle und Gelehrte des ganzen Reichsgebietes lebten hier und fanden in der
explosiv anwachsenden Bürokratie des Habsburgerstaates neue Karrieremöglich-
keiten.
Von höchster Relevanz für die Diskussion um das ”österreichische Deutsch” ist
die Herausbildung eines Bewußtseins der Zusammengehörigkeit der ”deutschen
Erblande” der Donaumonarchie in Form eines ”Österreichbegriffs” (E. Zöllner,
1988). Die Doppelfunktion der Habsburger als Heilig-Römische Kaiser und absolu-
tistische Landesfürsten ihrer dynastischen Besitzungen erschwerte eine österrei-
chische Selbstidentifikation ungemein; keineswegs konnte dies hier im Sinne des
ethnischen Sprachnationalismus des 19. Jahrhunderts vor sich gehen. In einer her-
vorragenden ”begriffsgeschichtlichen Skizze” zeichnet Grete Klingenstein die Phasen
dieser Entwicklung im 18. Jahrhundert (Klingenstein, 1995). Sie zeigt, wie sich der
Gebrauch der Worte ”Österreich” und ”österreichisch” seit etwa 1700 im Sprachge-
brauch wandelt und im Reformabsolutismus die meisten Elemente seiner späteren
Bedeutung erlangt. In der Rechtsreform werden Untertanen zu Staatsbürgern, die
Ausbreitung des Büchermarktes und der Kartographie schaffen eine publizistische

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-23-

Akzeptanz des Begriffes und das Bewußtsein territorialer Zusammengehörigkeit.9 Es


ging auch nach der Annahme des österreichischen Kaisertitels 1804 und dem Ende
des alten Reiches im Jahre 1806 um eine flexible, pluralistische, potentiell
”multikulturelle” Selbstdefinition. ”Österreich” blieb jedoch für lange Zeit ein
”namenloses Staatengebilde” (Klingenstein 1995) einem nur als utopischem Projekt
existierenden deutschen Nationalstaat gegenüber. Die Abgrenzung des Habsburger-
reiches von anderen Teilen des deutschen Sprachraums verursachte erhebliche ter-
minologische Schwierigkeiten. So fragte J. B. v. Alxinger 1793 seinen Leipziger
Verleger in einem Geschäftsbrief, ob er für ein Wiener Zeitschriftenprojekt ”den
Debit für das unösterreichische Deutschland übernehmen” wolle.10 Diese
schwerfällige Formulierung des sensitiven Sprachkünstlers Alxinger ist ein frühes
Beispiel für die stilistischen Hindernisse, die bis heute einer unverkrampften sprach-
lichen Artikulation des deutsch-österreichischen Verhältnisses im Wege stehen.
Bei den mit der Sprachreform engstens zusammenhängenden Diskussionen um
die Einrichtung eines neuen Schulsystems zeigte die Einstellung Josephs II. als Mitre-
genten schon ein deutliches Bewußtsein dafür, die Erblande der Monarchie als
gesondertes System zu betrachten. Er erkannte die Wichtigkeit eines eilig zu betrei-
benden ”Hauptgeschäfts” in der Hebung des Ausbildungsniveaus durch eine egalitäre
Erziehungspolitik und sah ein, daß in der Monarchie keine große Auswahl geeigneter
Pädagogen dafür zu finden sei. Trotzdem beantwortete er im Juli 1772 den Vorschlag
der Importe von Experten aus dem mittleren und nördlichen Deutschland mit der
Frage, ob man Gelehrten ”von Leipzig und Halle [...] mehr Glauben beymessen [solle]
als uns selbst”? Er fährt fort:
”Wir können und sollten unsere Länder, unsere Verfassung, unsere Gebrechen
[...] wohl besser kennen als jeder noch so einsichtige fremde Gelehrte, der hierher
berufen würde.” Der Kaiser nimmt an, daß dies eine Elite wohl fördern, dem
dringenden ”Hauptgeschäft” einer Massenerziehung aber wenig dienen würde.
Maria Theresias Meinung dazu ist: ”bin völig verstanden.” 11
Die Verschiedenheit der Perspektive der offiziellen rationalistisch-aufgeklärten
Ansichten über die Rolle und Funktion des Staates im Habsburgerreich und den neu
entstehenden, von Herders Ansichten geprägten, modernsten deutschen Ideen eines
ethnisch-emotionell bestimmten Gemeinschaftsgefühls zeigt eine wichtige Debatte
des Jahres 1771. In einer Rezension der Sonnenfels’schen Broschüre Über die Liebe
des Vaterlandes (Wien 1771) protestiert der junge Goethe gegen dessen

9
All dies sind Kategorien, die Benedict Anderson (1993) als besonders relevant für die ”Konstruktion”
eines modernen Nationalbewußtseins aufzeigt.
10
Briefe des Dichters Johann Baptist von Alxinger. Hg. Gustav Wilhelm. Wien 1898. S. 72. Berufen
wurde 1774 Ignaz Felbinger, Abt von Sagan, ein neugebackener preußischer Untertan, der als
Schlesier aber mit den Verhältnissen der Habsburgermonarchie vertraut war. Vgl. Helmut
Engelbrecht (1984): Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Bd.3, S. 101-103.
11
Arneth, Alfred v. (1863-79): Geschichte Maria Theresias. Wien. 10 Bde. Reprint Osnabrück 1971,
Bd. 9. (1879) S. 234-37.

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-24-

”Römerpatriotismus” und die etatistische Forderung eines ”politischen Vaterlandes”,


das ihm im Sinne der Ansichten Herders und des Sturm und Drang absurd und anti-
quiert erscheint.12
3.2 Sprachstandardisierung ” von oben”
Mit der Veröffentlichung seines Lehrbuchs über die Grundsätze der Polizey,
Handlung und Finanz (1765), und den Briefen über die Wienerische Schaubühne
(1768; Neuausgabe von Hilde Haider-Pregler, Graz 1988) wurde J. von Sonnenfels
zum offiziellen Ideologen und Literaturkritiker des aufgeklärten Absolutismus in der
Donaumonarchie. Eng verbunden mit diesen Funktionen stand seine führende Rolle
in den Sprachgesellschaften und seine Tätigkeit als Leitfigur der österreichischen
Sprachreform. Josephinische Dekrete zeigten seit Anfang 1782 wachsendes Interesse
an der Gestaltung eines neuen österreichischen Amtsstils. Joseph II. erließ persönlich
Verordnungen über die Form von Bittschriften und ”Geschäftsaufsätzen”. 1783
wurde Deutsch zur allgemeinen Unterrichtssprache an der Universität Wien, und
auch das schon erwähnte Sprachpatent von 1784 beruhte auf der Standardisierung
des Sprachgebrauchs des rapide wachsenden Beamtenapparats. Instrumentelle
Gründe wie die Rationalisierung und Erleichterung des Geschäftsganges waren auch
die Prinzipien, die dem Sonnenfels’schen Lehrbuch Über den Geschäftsstyl (1784)
zugrundelagen; P. Wiesinger zeigt in einer eingehenden Analyse, wie sich die Ziele
der Sprachreform in verschiedenen Ausgaben des Buches durchsetzten (Wiesinger
1993, S. 399-401). Durchgehend betont Sonnenfels die Notwendigkeit von Logik,
Ordnung und Deutlichkeit der Argumentation. Er fordert Übersichtlichkeit, warnt
vor Abschweifungen und erhebt Takt, Höflichkeit und ”Anständigkeit” zu wichtigen
Kriterien - der Beamte soll nicht befehlen, sondern erklären (S. 51).13 Natürlich
beruht dieses Lehrbuch weitgehend auf der Reform der deutschen Schriftsprache im
Sinne Gottscheds - aber solche Forderungen einer betont urbanen, zivilisierten Stil-
haltung geben diesen Anweisungen wohl eine sehr besondere Richtung, die über eine
passive Befolgung ”sächsischer” Muster weit hinauszugehen scheint. Deutlich stellt
der Autor seine Ausführungen immer wieder in den Kontext des Habsburgerreiches
und seiner schon existierenden traditionellen Kanzleisprache. Es geht um den für alle
”Amtsstellen” der Monarchie nun verpflichtenden Sprachgebrauch. Sonnenfels
begründet die besondere Normierung für die ”österreichischen Länder” damit, daß
sie schon traditionell einen von anderen deutschen Sprachgebieten abweichenden
”eigenen Curialstyl, Kanzleystyl” hätten (S. 4). Entscheidend sind seine Ausführungen
über ”Provinzialausdrücke”: er definiert sie als ”Wörter, manchmal auch ganze
Redensarten, die nur in einer besonderen Provinz gang und gebe sind, und an deren
Stelle die allgemeine Sprache andere hat, die in allen Provinzen gleich verständlich
sind.” (S. 33/34)

12
Die Rezension Goethes in ”Werke. Weimarer Ausgabe”, Bd. I/37. S. 269-73.
13
Zitiert wird nach: Sonnenfels, Joseph von (1820): Über den Geschäftsstyl. Vierte, sorgfältig
durchgesehene Auflage. Wien; vgl. dazu auch M. Csáky 1993a, S. 246-47.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-25-

Die Frage, ob ”Provinzialausdrücke vermieden werden sollen”, sieht Sonnenfels


im Kontext des Problems, was denn im deutschen Sprachgebiet ”Provinz” oder
”Zentrum” sei. Eine Anmerkung zu dieser Frage liest sich wie eine frühe Verbali-
sierung der Plurizentrik der deutschen Sprache in der Situation der Zeit. Sonnenfels
sagt:
”Fast jede kleine Stadt des nördlichen Deutschlandes möchte gern der ganzen
Nation ihre Sprache zur Regel aufdringen [...] Beynahe jede deutsche Provinz
nennt Provinzialausdrücke, was in andern Provinzen anders als bey ihr genennet
wird. Dieses ist eines der größten Hindernisse zur Vollkommenheit unsrer
Sprache, welche an eigenthümlichen, und der Ableitung nach eignen Wörtern die
reichste unter allen lebenden Sprachen sein kann, sobald jede Provinz die
lächerliche Forderung der Ausschließung aufgeben, und dafür von der andern
herüber nehmen wird, was in der allgemeinen Sprache abgeht [...] Die
österreichische Provinzialsprache würde an brauchbaren Wörtern nicht eben den
kleinsten Beytrag liefern. Aber dies zu beweisen, müßte ein Idiotikon geschrieben
werden ....” (S. 34)
Immer wieder befürwortet der hervorragende Stilist und Schriftsteller
Sonnenfels eine Flexibilität der ”Kanzleysprache”, die es dem individuellen Beamten
freistellen könnte, den geeignetsten Terminus für sein Anliegen zu finden. Das kann
leicht ein Wort aus dem österreichischen Sprachgebrauch sein. Die gesellschaftliche
Relevanz einer kreativen Handhabung der offiziellen Sprache wird oft durch impli-
zite Hinweise auf die Größe und Vielfalt der Monarchie legitimiert. Es geht nicht um
eine unbedeutende Provinz, sondern einen mächtigen Großstaat. Der Gebrauch von
standardisierten Abkürzungen wird etwa damit begründet, daß es sich hier nicht um
eine Ersparnis von ”drei Wörtern von sechs” in dem einen oder anderen Dokument
handle, sondern um ”die Abkürzung von Millionen von Bescheiden, die in der
ganzen Monarchie geschrieben werden müssen”. (S. 108) Bei seinen stilistischen
Beispielen benützt Sonnenfels für didaktische Zwecke eine besondere Form der
Sprachkritik. Er konstruiert absurde Textstellen aus übertriebenen bürokratischen
Leerformeln oder inkohärent ”zerhackten” Satzteilen, um sie dann mit der korrekten
Version zu konfrontieren (S. 22 - 23), oder parodiert einen Text des Plinius, dem er
das klassische Latein des Originals gegenüberstellt. (S. 47 - 48) Es geht hier um
satirische, parodistische Sprachgebilde, wie sie auch den besten Literaturwerken der
Zeit zugrunde liegen.
Bis 1820 erschien Über den Geschäftsstyl in vier Auflagen und mußte von allen
angehenden Beamten im Rahmen eines strengen Prüfungssystems studiert werden.
Sicher hat das Buch auch viel zur Herausbildung einer charakteristischen Sprachhal-
tung der österreichischen Schriftsteller bis weit ins 19. Jahrhundert hinein getan.
Trotz der grundlegend geänderten politischen Situation nach 1795 trägt die Stilistik
von Sonnenfels auch noch später deutliche Spuren ihrer Entstehung im josephi-
nischen Jahrzehnt. Kaiserliche Erlässe zur Schaffung einer neuen Beamtenmoral und

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-26-

eines säkularisierten sozialen Verantwortungsbewußtseins werden immer wieder


evoziert. Noch immer bleibt ”Latinität” der Maßstab des guten Stils. Von deutschen
Autoren werden auch weiterhin vor allem Lessing und Wieland als Vorbilder zitiert.
Der Durchbruch der deutschen Bildungsideologie, die Schriften Goethes, Schillers,
Herders, Kants und der Romantiker sind nicht in die späteren Ausgaben des Lehr-
buchs integriert. So bleibt dieses wichtige Instrument der sprachlich-stilistischen
Ausbildung der österreichischen Intelligenz ein Dokument aufgeklärt-utilitaristischer
Staatsräson ohne die Entwicklung zum Postulat der Sprach- oder Kulturnation im
Sinne der deutschen Bildungsideologie mitzumachen. Hier liegen wichtige Vorausset-
zungen für eine vom norddeutschen ”Mainstream” abweichende österreichische
Sprachhaltung und Literaturpraxis.
3.3 Sprachstandardisierung ” von unten”
Die Schulreform der frühen siebziger Jahre legte die Grundlage für die Entste-
hung eines neuen Lesepublikums in der Habsburgermonarchie. Die Produktion von
Lehrbüchern und eine extensive Nachdrucktätigkeit schaffte einen Büchermarkt, der
in schärfstem Konkurrenzkampf mit der Buchindustrie des protestantischen
Deutschlands stand. Das Zensurpatent Josephs II. im Jahre 1781 brachte eine weit-
gehende Liberalisierung der Zensur, die allerdings vor allem der Förderung der
staatlichen Reformpolitik dienen sollte. Neben merkantilistischen Gesichtspunkten
ging es hier um eine typische ”Tauwetter-” oder ”Glasnost”-Situation, in der ein
radikaler Modernisierungsschub eines relativ rückständigen bürokratischen Staates
die Unterstützung breiterer Volksschichten zu gewinnen suchte (Bodi, 1990). Dies
führte schnell auch zur Entstehung einer neuen Intelligenz und zur Herausbildung
von Elementen einer räsonierenden öffentlichen Meinung. In einer ”Broschürenflut”
wurden vom Zentrum Wien ausgehend Tausende von billigen Pamphleten, Zeitun-
gen und Periodika produziert, in denen die Reformen diskutiert und der Informa-
tionshunger einer bis dahin weitgehend subliterarischen Bevölkerung gesättigt
werden konnten (Bodi, 1995). Neben vordringlichen Fragen des Kirchenkampfes
wurden hier - besonders als Antwort auf Friedrich Nicolais Reisebeschreibung (1783)
und die Stellungnahmen anderer Besucher aus dem protestantischen Deutschland -
in verschiedensten Formen die Fragen nach der Existenz einer neuen österreichischen
Literatur aufgeworfen. Die Unterschiede zum ”unösterreichischen Deutschland”
wurden in den Broschüren und Volkskomödien der Zeit auch durch die Einführung
leicht ironisierter ”Sendboten aus dem Reich” (W. Weiss)14 herausgearbeitet, wie sie
über Nestroy, Hofmannsthal und Musil bis zu Thomas Bernhard und Felix Mitterers
Piefke-Saga für die österreichische Literatur auch als sprachlich-stilistische Abgren-
zung vom ”unösterreichischen Deutschland” kennzeichnend blieben. Bald zeigte sich

14
Vgl. Walter Weiss: ”Zum Deutschen in der österreichischen Literatur.” In Bauer, W. M. u.a. (Hg.)
(1982): Tradition und Entwicklung. Festschrift Eugen Thurnher. Innsbruck, S. 47-58 und Bodi:
”Österreicher in der Fremde - Fremde in Österreich...” Akten des VIII. IVG- Kongresses. Tokyo 1990.
München 1991. Bd. 10. S. 120-125.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-27-

die Eigendynamik des Prozesses: die Liberalisierung des gedruckten Wortes führte
zum Umschlagen regierungstreuer Bekenntnisse in eine neue gesellschaftskritische
Literatur. Das erstreckte sich bald auch auf sprachliches Gebiet. Es gibt wichtige, von
der Linguistik m.E. zu wenig beobachtete Beispiele einer österreichischen
Sprachnormierung ”von unten”, z. B. bei den Predigtkritiken einer Gruppe junger
josephinischer Intellektueller und Freimaurer, die 1782-1784 eine Zeitschrift mit
stenogrammartig reproduzierten und kommentierten sonntäglichen Predigttexten
herausgaben.15 Sie diente dazu, die Abweichungen der Kirchenleute von den Zielset-
zungen des josephinischen Reformkatholizismus und der Toleranzpolitik aufzuzeigen
und an konkreten Textstellen die Verstöße gegen die im Sinne der Sonnenfels’schen
Sprachregelung bestimmten Richtlinien der neuen Aufklärungsstilistik zu registrie-
ren. Dies scheint ein im deutschsprachigen Raum einzigartiger Versuch zu sein, eine
Sprachstandardisierung aufgrund wortwörtlich registrierter und ironisch-
parodistisch kommentierter sakraler Texte durchzuführen. Hier spielen auch spezi-
fische österreichische Traditionen eine Rolle, die sich aus dem Weiterleben der Volks-
komödie und dem regen Musikleben der Stadt Wien ergeben (M. Csáky 1995).
Aus der Gebrauchsliteratur der Broschüren entstanden in den Jahren nach
1784 neue komplexere Formen der Belletristik, in denen in der vielsprachigen Welt-
stadt Wien die Spannungen zwischen verschiedensten Sprachebenen kreativ um-
funktioniert wurden. Neben den Sprachen der Völker der Monarchie ging es um den
Gebrauch verschiedener deutscher Dialekte und Regionalsprachen und der offiziell
standardisierten neuen Amtssprache des aufgeklärten Absolutismus. Zu verschie-
densten Funktionen wurde Französisch und Italienisch, Spanisch und Latein ver-
wandt; auch die Kenntnis der englischen Sprache verbreitete sich unter der Intel-
ligenz der Stadt. Es gab so einzigartige Möglichkeiten zur Schaffung intertextueller
und interlingualer Sprachspiele, von ”cross-reading”-Techniken einer Großstadt-
literatur, wie sie nirgendswo sonst im deutschen Sprachraum gegeben waren.16 In
dieser komplexen Sprachsituation wurden neue Formen der parodistischen Satire
entwickelt, die in Werken von F. X. Huber, P. Weidmann oder F. J. Ratschky ihren
Höhepunkt fanden.17 So wurde in der Krisenzeit des Absolutismus nach 1785 eine
Literaturtradition der wachen Sprachkritik geschaffen, die bis J. Nestroy, Karl Kraus

15
Der volle Titel ist ”Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien. Bearbeitet von einer
Gesellschaft Gelehrter, und herausgegeben von Leopold Aloys Hoffmann”, Wien 1782-1783; mit
Fortsetzungen bis 1788. Eingehende Besprechung in Bodi (1995) S. 128-138.
16
Es geht um Stilformen, wie sie Karl Riha unter der Kategorie der ”Cross-reading und Cross talking”
(Stuttgart 1971) beschrieb. Neueste Versuche, die stilistischen Sonderheiten der österreichischen
Sprachentwicklung nach 1780 zu erfassen in K. Adel u.a. (1994) und P. Rössler (1994). Vgl. auch M.
Csáky 1993a; 1993b.
17
Es geht vor allem um die gegen den Stil der Rechtssprechung und der Heeresberichte gerichteten
”Schlendrian”-Satiren Franz Xaver Hubers. (1787-88); Paul Weidmanns Parodie des aufgeklärt-
optimistischen Staatsromans in ”Der Eroberer” (1786 - Neuausgabe L. Bodi; F. Voit, Heidelberg
1995) und Franz Joseph Ratschkys komisches Epos über die Wirkungen der französischen
Revolution in Österreich. (”Melchior Striegel,” 1795; Neuausgabe W. Kriegleder, Graz 1991.)

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-28-

und der österreichischen Gegenwartsliteratur lebendig geblieben ist. Sie wirkte sich
auch auf den Sprachgebrauch der Gesellschaft der Donaumonarchie aus.
3.4 Vom 18. zum 19. Jahrhundert
Die Politik des Reformabsolutismus war nach dem Tod Josephs II. und dem
kurzen Zwischenspiel der Regierung Leopolds II. (1790 - 1792) durch die inneren
Widersprüche der Aufklärungsbewegung und die Französische Revolution für das
herrschende Establishment des Habsburgerreiches untragbar geworden. Josephi-
nische Intellektuelle wurden als Jakobiner denunziert und 1794 - 1795 in einer
Reihe von Schauprozessen mit strengen Strafen belegt, eingeschüchtert und weitge-
hend aus dem politischen Leben ausgeschaltet; noch brutaler verfuhr die Regierung
mit ungarischen Revolutionären.18 Eine schwere Repression setzte allen Manifesta-
tionen der öffentlichen Meinung ein Ende. Die Zensur wurde zum fast lückenlosen
System gemacht und der Gebrauch aller Aufklärungsrhetorik strengstens unter-
drückt. Obwohl die in der Reformzeit geschaffenen Institutionen des zentralisierten
Beamtenstaates und auch Elemente der Rechtsstaatlichkeit und einer säkularisierten
Wohlfahrtspolitik im neuen österreichischen Kaiserstaat nach 1804 weiterlebten,
entstand ein veritables ”josephinisches Trauma” (R. Bauer), eine Politik des Ver-
schweigens und Verleugnens der radikalen Phase der Reformzeit. Nach dem kurzen
Zwischenspiel eines österreichisch-deutschen Patriotismus in den Napoleonischen
Kriegen charakterisierte den Metternichschen Polizeistaat eine völlige Unterdrückung
aller liberaler, demokratischer und nationaler Ideen; nur eine Politik des ”quieta non
movere”, des absoluten Stillstands schien den weiteren Bestand der Monarchie zu
sichern. Erhalten blieb jedoch die Standardisierung der Amtssprache im Sonnen-
fels’schen Sinne; im Schulunterricht blieb weiterhin die klassische Stilistik der Zeit
der Gegenreformation dominant. Eine grundlegend pragmatische Einstellung führte
zur Ablehnung aller geschlossenen ideologischen und theoretischen Denksysteme
und zu einer weitgehend skeptischen und ironischen Einstellung jeder als übertrieben
empfundenen Manifestation des pietistisch gefärbten Sentimentalismus und der
romantischen ”Schwärmerei” gegenüber. (R. Bauer 1966, 1977, 1987.) All dies
spielte auch eine Rolle bei der Ausbildung der sprachlichen Kultur Österreichs. Auch
hatte die Reformzeit die Institutionen des Büchermarkts und die sprachliche Basis für
eine deutsch-österreichische Literatur auf weltliterarischem Niveau geschaffen - sie
wird durch Namen wie Grillparzer, Raimund, Nestroy, Stifter und Lenau gekenn-
zeichnet.
Die strengen Zensurbestimmungen zwangen zum Gebrauch einer ӊsopischen
Sprache”, die aber von einem höchst rezeptiven Publikum sehr wohl verstanden
wurde (Bodi 1990, S. 19). Oft mußten charakteristische Formen des Nörgelns und
Raunzens die offene politische Kritik ersetzen. Haltungen wie die der Vorsicht, Ambi-

18
Die beste Darstellung der Jakobinerprozesse in Österreich findet sich in den Schriften Ernst
Wangermanns und in Helmut Reinalter: Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Wien/Köln/Graz
1980.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-29-

valenz, Ironie und psychologischen Sensitivität wurden zu wichtigen Elementen der


Selbstidentifikation der österreichischen Literatur, besonders auch in Abgrenzung zu
anderen Literaturen des deutschen Sprachraumes.19 Zugleich entstehen hier bedeu-
tende Gemeinsamkeiten mit den sich rasch entwickelnden nationalsprachigen Litera-
turen der Monarchie (G. M. Vajda, 1994).

4. Identifikationsprobleme der deutschsprachigen


Österreicher im 19. Jahrhundert
4.1 Die dominante Sprachgruppe im Vielvölkerstaat
Seit dem frühen 19. Jahrhundert erstarkte der Sprachnationalismus in der gan-
zen westlichen Welt und manifestierte sich in Revolutionen und nationalen Freiheits-
kriegen. In Deutschland und der italienischen Irredenta spitzte sich die Gleichsetzung
von Staat, Volk und Sprachnation zur Forderung zu, daß jede Nation das exklusive
Recht auf ihren territorialen Flächenstaat hätte, auf dem keine andere Sprachgruppe
zu tolerieren wäre (vgl. bes. Gellner 1991, Hobsbawm 1992). Dies führte auch
innerhalb Österreichs zu schweren Konflikten mit den Nationalitäten der Gesamt-
monarchie. Sie wurde einerseits von vielen ethnischen Gruppen als ”Völkerkerker”
empfunden, andererseits aber als notwendiger Schutz vor anderen drohenden euro-
päischen Imperien im Osten und Westen des Landes. Der Einigungsprozeß Italiens
und Deutschlands führte zur kleindeutschen Lösung von 1871 und dem Ausgleich
mit Ungarn 1867. Der Dualismus machte das Habsburgerreich zunehmend ”zu
einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen war” (R. Musil).20 Die
Staatsräson forderte die Erhaltung der Monarchie auf dynastisch-katholischer
Grundlage; viele Nationalliberale und Sozialisten standen dem Nationalitätenproblem
weitgehend insensitiv gegenüber. Langsam entstanden jedoch auch konstruktive
Lösungsversuche; föderalistische Gedanken erschienen im Kontext demokratischer
Projekte (V. v. Andrian-Werburg, F. Palácký, O. Jászi). Als Ausnahme im Denken der
2. Internationale gab es im Austromarxismus ernstliche Versuche, ein theoretisches
Verständnis der ”nationalen Frage” zu fördern.21 Trotz Projekten einer
”Donauföderation” (L. Kossuth) scheiterten aber viele Kompromißversuche innerhalb
der Gesamtmonarchie an der rücksichtslosen Assimilationspolitik der Magyaren im
Königreich Ungarn. Auch progressive Reformversuche zur Lösung der Sprachenfrage
in Zisleithanien konnten dem ”Sprachenkampf” kein Ende machen.

19
Wichtig für diese Frage die Diskussion in Bartsch, Kurt; Goltschnigg, Dietmar; Melzer, Gerhard (Hg.)
(1982): Für und wider eine österreichische Literatur. Königstein/Ts. Vgl. auch Bodi: ”Österreichische
Literatur - Deutsche Literatur. Zur Frage von Literatur und nationaler Identität.” In: ”Akten des VI.
IVG-Kongresses 1980.” Basel/München 1980. S. 486-492. und ders. ”Comic Ambivalence as an
Identity Marker: the Austrian Model.” In: Petr, Pavel; Roberts, David; Thomson, Philip (Hg.)(1985):
Comic Relations. Studies in the Comic, Satire and Comedy. Frankfurt/M./Bern/New York. S. 67-77.
20
Robert Musil, ”Der Mann ohne Eigenschaften.” Kapitelüberschrift Bd. I. Kap. 98.
21
Es geht vor allem um Renner, Karl (1902): Der Kampf der österreichischen Sozialdemokratie um den
Staat. Leipzig-Wien; und Bauer, Otto (1907): Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie.
Wien. Vgl. dazu vor allem die Aufsätze in Erich Fröschl u.a. 1991.

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-30-

Was die Entwicklung des österreichischen Deutsch betrifft, ist von großer Be-
deutung, daß es sich innerhalb des vielsprachigen Raumes der Doppelmonarchie in
ständigem Kontakt mit anderen Sprachgruppen herausbildete. Aus Gründen lebens-
wichtiger Kommunikation mußten sich anderssprachige Staatsbürger des Deutsch als
lingua franca bedienen, und beherrschten es als Zweit- oder Drittsprache auf den
verschiedensten Ebenen der Kompetenz. In mehrsprachigen Gegenden war oft eine
Generationen überdauernde Spracherziehung und Sprachinterferenz auch trotz
intensiver politischer Konflikte gang und gebe geblieben. In der Literatur fanden
neben regionalen deutschen Dialekten auch die verschiedenen Sprachen der Monar-
chie in humoristisch-komischen, makkaronischen Texten ihren Niederschlag, die
auch die Wiener Operette für ihre starke soziale und übernationale Integrations-
funktion verwertete (M. Csáky 1995). Diese durch Interferenzen verschiedener
Grade gekennzeichneten Sprachgebräuche standen einer eher unflexiblen autorita-
tiven Sprachkodifizierung gegenüber, wie sie im Deutschen Reich nach 1871 ver-
pflichtend wurde. Die Möglichkeit permissiv-pluralistischer Offenheit konnte zum
positiven Selbstidentifikationsmerkmal des österreichischen Deutsch werden - aber
auch zu einer Verunsicherung des sprachlichen Selbstgefühls dem ”großen Nach-
barn” gegenüber bereiten.
4.2 Deutschsprachige Österreicher und deutscher
Sprachnationalismus
Die allgemeine Verschärfung und Radikalisierung nationalistischer, ethnischer
und rassistischer Ideen in Europa nach 1880 zwang auch die deutschen Sprach-
gruppen der Monarchie zur stärkeren sprachnationalen Selbstidentfikation. Für
diesen Prozeß hatte die Schaffung eines mächtigen deutschen Nationalstaates auf-
grund ethnisch-sprachlicher Kriterien eine entscheidende Bedeutung. Die deutsch-
sprachigen Bewohner der Donaumonarchie bewunderten die politische, wirtschaft-
liche, militärische und technologische Macht des neuen Reiches. Die seit der Stagna-
tion der Metternich-Zeit vorherrschende Gleichsetzung von ”deutsch” mit ”modern”
und ”effizient” erstarkte weitgehend. Ein wichtiger Faktor war auch die zunehmende
volle Abhängigkeit österreichischer Schriftsteller vom großen deutschen Büchermarkt
mit seinen im Sinne ”reichsdeutscher” Sprachnormen korrigierenden Lektoren. All
dies führte zu den zwischen ”abhängigen” und ”dominanten” Gesellschaftssystemen
eines plurizentrischen Sprachbereiches typischen Minderwertigkeitskomplexen und
Überheblichkeitsgefühlen, auf die M. Clyne in seinen Schriften immer wieder
hinweist (Bes. M. Clyne 1992; 1995).
Die deutschnationale Selbstidentifikation der deutschsprachigen Intelligenz
der Monarchie wurde sicher auch dadurch erleichtert, daß mit der Verdrängung
und dem Verschweigen eigener Geschichtstraditionen das so entstandene Vakuum
mit Traditionen eines anderen, aber sprachlich verwandten Gesellschaftssystems
aufgefüllt werden konnte. So wurde für den traumatisierten Josephinismus weit-
gehend die deutsche Aufklärung, Klassik und Romantik sowie die Bildungs-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-31-

ideologie der Goethezeit als eigene Tradition der Österreicher akzeptiert, um die
Leerstelle zwischen österreichischem Barock und Biedermeier auszufüllen. Die
deutsche Tradition wurde zum absoluten Maßstab der österreichischen Literatur-,
Kultur- und Sprachentwicklung gemacht; aus Deutschland ”zugereiste” Gelehrte,
Kritiker und Journalisten waren entscheidend an diesem Prozeß beteiligt (R. Bauer,
1977; 1987).
Die Übernahme von Deutungsmustern, die in einer gesellschaftlich sehr ver-
schiedenen, aber gleichsprachigen historischen und kulturellen Situation entstan-
den waren, erleichterte die ”deutschnationale” Identifikation der deutschspra-
chigen Österreicher, erschwerte aber immer wieder die Verbalisierung ihrer eige-
nen Bedürfnisse und Interessen, die nicht mit denen des deutschen Sprachnatio-
nalismus deckungsgleich waren. Es wirkte verwirrend für die Selbstidentifikation
der Österreicher, daß die semantischen Felder von deutschen Begriffen wie
”Weltanschauung”, ”Bildung”, ”Dichtung”, ”Heimat”, ”Volk”, ”Nation” und
”Kulturnation” und der Gegensatz von ”Kultur und Zivilisation” in den Tradi-
tionen des protestantischen, kleinstaatlichen Deutschlands wurzelten und nicht
den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Donaumonarchie der
Jahrhundertwende entsprachen. Zu Recht sagt F. Kreissler über solche
”semantische Falschmünzereien”: ”K. Kraus, der große Spötter, hat richtig gesagt:
Was Österreicher und Deutsche trennt, ist die gemeinsame Sprache. Ich möchte
sagen: Was historische Wahrheit und historische Lüge trennt, ist das gemeinsame
Wort.” (In: O. Rathkolb, 1990, S. 15)
Solche Inkongruenzen gehörten wohl auch zu den Problemen, die der einzig-
artig produktiven Kultur des österreichischen Fin-de-Siècle Gefühle von Unsicherheit
und Krisenhaftigkeit vermittelten (M. Csáky, 1993a). Auch die wichtigen Prozesse
der jüdischen Assimilation und der Entwicklung deutschsprachiger Literaturen in
ethnisch stark gemischten Gebieten der Monarchie wurden durch die ambivalente
Widersprüchlichkeit der nationalen Selbstidentifikation deutsch-österreichischer
Autoren beeinflußt.
Bis 1918 blieb das problematische Verhältnis der deutschsprachigen Staats-
bürger Österreichs zum deutschen Sprachnationalismus ungelöst. Es blieb schwierig,
ihre dominante Stellung im Vielvölkerstaat mit ihrer abhängigen Rolle im plurizen-
trischen deutschen Sprachbereich zu vereinbaren. Es ging hier nicht um klar
differenzierbare Identifikationsmuster, sondern um ein komplexes System sich
überschneidender, überlappender Kreise, das die Undeutlichkeit und Verschwom-
menheit fehlerhaft übereinander photographierter Bilder hatte.

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-32-

5. Sprachnation oder Staatsnation nach 1918?


5.1 Erste und Zweite Republik
Diese Problematik blieb dominant im Langzeitgedächtnis der deutschsprachigen
Österreicher auch nach dem Zerfall der Monarchie. Sie erschwerte für sie die
Akzeptanz des weitgehend einsprachigen Kleinstaates im neuen Europa und verur-
sachte viele der Krisen der Ersten Republik. Selbst die Sozialisten konnten sich bis zu
Hitlers Machtergreifung bekanntlich schwer vom Bekenntnis zum deutschen
Sprachnationalismus trennen. Die bis zum Bürgerkrieg gehende Polarisierung er-
leichterte den Fall der Ersten Republik und das Auslöschen eigener Staatlichkeit.
Schon bald nach dem Anschluß erwachte jedoch in breiten Schichten ein intensi-
viertes österreichisches Identitätsbewußtsein - stark auch gefördert durch die Er-
kenntnis sprach- und mentalitätsmäßiger Unterschiede.
Der Zusammenbruch Hitler-Deutschlands, die abschreckenden Erinnerungen
an den Fall der Ersten Republik sowie die ökonomischen, sozialen und politischen
Erfolge der frühen Nachkriegsjahre führten zum Erstarken Österreichs. Staatsvertrag,
Neutralitätserklärung und die darauf aufbauende Ära Kreisky konnten zur Entwick-
lung eines modernen, weltoffenen und demokratischen Österreichbewußtseins
führen. Es geht heute um eine nationale Selbstidentifikation im international-globalen
Rahmen, die in der neuen Situation nach 1989 mit der Entscheidung für Europa
1994 trotz aller Zweifel neue Möglichkeiten für die weitere Entwicklung eröffnet.
Dies ist nur möglich aufgrund der weit verbreiteten Erkenntnis, daß der exklusive
Sprachnationalismus des 19. Jahrhunderts nicht mehr Teil der dominanten Richtung
des ”Mainstream” der entwickelten westlichen Welt sein kann. Auch öffnet intellek-
tuell die Gedankenwelt der Postmoderne die Möglichkeiten für ein neues plurali-
stisches Denken.
5.2 Probleme und Perspektiven
Auffallend ist, daß dem von Meinungsforschern als weitgehend vorherrschend
ermittelten neuen Österreichbewußtsein22 in der politischen Praxis und der öffent-
lichen Diskussion noch immer Trends entgegenstehen, die auf die Schwierigkeit einer
von den Traumata der Vergangenheit unbelasteten Akzeptanz und Verbalisierung der
neuen gesellschaftlichen Selbstidentifikation hinweisen. Stark wirken bis heute Erin-
nerungen an die Konflikte der ganzen mitteleuropäischen Region in die Diskussionen
über das Verhältnis von staatlich organisierter demokratischer Zivilgesellschaft und
ethnisch bestimmtem Sprachnationalismus hinein. Besondere Schwierigkeiten entste-
hen in Situationen, in denen die Existenz gesonderter Gesellschaftssysteme innerhalb
plurizentrischer Sprachgebiete noch nicht verstanden und emotionell akzeptiert
wird. Im politischen Leben Österreichs zeigten sich solche Probleme etwa in den
Diskussionen um die Präsidentschaft Kurt Waldheims und in der von Jörg Haider
benützten Rhetorik. Auf intellektuell-publizistischem Gebiet zeugen Manifestationen

22
Vgl. vor allem Plasser/Ulram (1991) und Bruckmüller (1994).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-33-

eines sich manchmal auch als ”links” verstehenden ”Austromasochismus”23, für den
deutsche Haltungen auch weiterhin als absolut beispielhaft für Österreich gesetzt
werden, vom Weiterleben einer im Langzeitgedächtnis verankerten Konfusion. Im-
mer wieder ist jedoch die entscheidende Frage: wie kann man Terminologien ent-
wickeln, die innerhalb der Internationalisierung Europas in einer schon unteilbar
gewordenen Welt das Verständnis der kulturellen Verschiedenheiten von Gesell-
schaftssystemen ermöglicht, ohne in den ethnisch-exklusiven Sprachnationalismus
und Rassismus des späten 19. Jahrhunderts und der Diktaturen der ersten Jahrhun-
derthälfte zurückzufallen.
Auch über das schwierige Verhältnis zwischen großen und kleinen, dominanten
und abhängigen Standardsprachen in plurizentrischen Situationen kann heute viel-
leicht objektiver gesprochen werden. Dies ist noch überall auf der Welt ein mit
Emotionen geladenes Thema. Die Voraussetzung ist, daß das ”große” System seinen
exklusiven Anspruch auf Dominanz aufgibt, und das ”kleine” über seine Minder-
wertigkeitskomplexe, seinen ”cultural cringe”24 hinwegkommt. Nationalistische
Überheblichkeitsgesten der ”Großen” sind hier ebenso kontraproduktiv wie die
Ängste des ”Kleinen” vor dem Absinken in die Provinz. Jede Diskussion über das
österreichische Deutsch setzt ein offenes Gespräch über solche Fragen voraus.
In den letzten Jahrzehnten entstand eine wichtige Literatur über die moderne
Identität Österreichs und ihre historischen Wurzeln - vor allem sei hier an Namen
wie F. Heer, F. Kreissler, E. Bruckmüller, G. Stourzh und A. Pelinka erinnert. Von
großer Bedeutung waren für die Historiker die Diskussionen um K. Erdmanns Thesen;
es gibt Debatten über die Charakteristika einer spezifisch österreichischen
Philosophie (R. Haller; M. Benedikt) und es gibt neue Projekte zur Schaffung einer
Geschichte der österreichischen Literatur im mitteleuropäischen Rahmen.25
Für all diese Arbeiten ist eine Klärung der Position, der Funktionen und Charak-
teristika des österreichischen Deutsch von grundlegender Bedeutung, und diese
Konferenz der Linguisten sollte einen wichtigen Beitrag zu dem Fragenkomplex aus
österreichischer, deutscher und internationaler Perspektive liefern.

23
Den Terminus gebraucht u. a. Thomas Chorherr in ”Wie der `Austro-Masochismus´ wieder gar nicht
fröhliche Urständ´ feiert” in ”Die Presse.” 24. Juni 1995, S. 3. Im Kontext dieser Problematik spricht
Gerald Stourzh über die ”neue Lüge von der sogenannten 'Lebenslüge' der Zweiten Republik.” G.
Stourzh (1990) S. 49. Eine eingehende allseitige Untersuchung der politischen, sozialen, kulturellen
und künstlerischen Aspekte der Praxis und des Topos der ”Österreichbeschimpfung” würde sich
sicher lohnen. Sie müßte natürlich über die oft sehr simplifizierende Reduktion auf einen
”unwandelbaren Volkscharakter” hinausgehen: es geht um ein sehr komplexes Phänomen, in dem
auch die sprachliche Situation des Landes eine wichtige Rolle spielt.
24
Mit diesem schwer übersetzbaren Ausdruck bezeichnete der Literaturkritiker A. A. Phillips das von
Minderwertigkeitskomplexen belastete Verhältnis der australischen Schriftsteller zum britischen
Literaturbetrieb. In: ”The Australian Tradition,” Melbourne 1958, S. 89-95.
25
Zuletzt versuchte György M. Vajda (1994) eine Geschichte der Literaturen der Donaumonarchie in
den Kontext der Kulturgeschichte Mitteleuropas zu stellen. Von den Fragen nach den Möglichkeiten
einer neuen österreichischen Literaturgeschichte handelt Schmidt-Dengler, Wendelin; Sonnleitner,
Johann; Zeyringer, Klaus (Hg.)( 1995): Literaturgeschichte: Österreich. Berlin.

Leslie Bodi: Traditionen des österreichischen Deutsch


im Schnittpunkt von Staatsräson und Sprachnation.
-34-

Es geht hier um das Verständnis des österreichischen Deutsch als einer histo-
risch entstandenen nationalen Standardvariation der deutschen Sprache. Es sollte
verstanden werden, daß es auf den Besonderheiten eines gesellschaftlich-kulturell
spezifischen, komplexen Gesellschaftssystems beruht und starke Beziehungen zu den
anderen Sprach- und Kultursystemen der Region wie auch den Traditionen des ge-
samten deutschen Sprachgebiets hat. Das österreichische Deutsch entwickelte sich als
Ausdruck besonderer Handlungsnormen, Gesellschaftsstrukturen und Kommunika-
tionsstrategien. Sie benötigten semantische Felder mit eigener Bedeutung, die keines-
wegs deckungsgleich mit dem in anderen Systemen des deutschen Sprachgebietes
standardisierten Sprachgebrauch sind. Die Besonderheiten des österreichischen
Deutsch entstanden im Verlauf des natürlichen, spontanen Sprachwandels und der
vielfältigen Sprach- und Kulturkontakte des multinationalen Mitteleuropa, sind aber
zugleich Resultat bewußter und oft auch staatlicher Standardisierungsprozesse und
des in österreichischen Verhältnissen wurzelnden kreativen Sprachgebrauchs von
Künstlern und Schriftstellern seit dem späten 18. Jahrhundert.
Zum Abschluß sei nochmals betont: das österreichische Deutsch ist nicht besser
oder schlechter, nicht ”progressiver” oder ”reaktionärer” als das deutsche Standard-
deutsch, aber doch ein anderes, in vieler Hinsicht verschiedenes System. Es ist eben-
sogut Deutsch wie die anderen nationalen Standardvarietäten des deutschen Sprach-
bereichs. Es stellt keine starren Entscheidungsfragen eines exklusiven Ent-
weder/Oder, sondern setzt ein Verständnis für die mögliche Vielfalt von Sprachsy-
stemen desselben Sprachraums voraus. Es geht hier nicht um eine unlösbare
Konfrontation, sondern um produktive Interferenzen im Prozeß des ständigen
Sprachwandels. Eine solche flexible, dynamische und pluralistische Einstellung kann
das österreichische Deutsch zum wichtigen Modellfall für die deutsche, zentraleuro-
päische, europäische und globale Sprachproblematik unserer Zeit machen.

Literatur:
Diese Kurzbibliographie versucht eine beschränkte Auswahl relevanter neuerer
Bücher und Artikel über nationale und kulturelle Identifikations- und Selbstidentifi-
kationsprozesse zu geben. Es geht besonders um die Entwicklung Österreichs in
Geschichte, Gesellschaft, Sprache und Literatur im Kontext des pluralistischen Mittel-
europa und des plurizentrischen deutschen Sprachraums.
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Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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verständnis in den 90er Jahren. Wien.
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Wendelin Schmidt-Dengler

(Wien)

Vom Staat, der keiner war, zur Literatur, die


keine ist.
Zur Leidensgeschichte der österreichischen
Literaturgeschichte

Zwei Anekdoten seien zu Beginn gestattet: Ein Kollege, Deutscher von Geburt,
als Ordinarius österreichischer Staatsbürger versieht eine Gastprofessur im Winter-
semester 92/ 93 an der Humboldt-Universität; er will sich ein S-Bahn-Ticket kaufen,
und der Schalterbeamter fragt ihn: "Neue oder alte Bundesländer? Ost oder West?"
Worauf der so Angesprochene erwidert: "Ich bin Österreicher! "Und darauf der
Schalterbeamte, ob schalkhaft oder töricht, bleibe dahingestellt: "Also, neue Bundes-
länder." Wie immer man dies interpretiert, ob als Ernst oder Scherz, ganz wohl wird
einem nicht dabei, auch wenn der Gedanke, daß Österreich als neues Bundesland
dem vereinten Deutschland eingegliedert werden sollte, kaum jemand ernsthaft
kommen würde.
Die zweite Anekdote: Ein junge Kritikerin eines bekannten Hamburger
Wochenblattes meinte im lockeren Gespräch: Österreichische Literatur heute, das sei
irgendetwas, worin immer ein Kuhstall, ein Kalbsstrick und ein Selbstmord vor-
komme - obendrein alles sehr katholisch. In einem gewissen Sinne also noch ärger als
das, was aus Bayern zu erwarten wäre - in jedem Falle: Rustikales, derbtragisch, mit
eindeutigem Duft versehen; Weihrauch als Komplement des Stallgeruchs.
Doch nicht dabei wollen wir halten, sondern doch von der österreichischen
Literatur sprechen und fragen, welche endlose Kette von Vorurteilen nun zu solchen
- gewiß amüsanten, so doch schnellrichterlichen - Urteilen geführt hat. Die Frage, ob
es eine österreichischen Literatur gäbe, ist in die Jahre gekommen und damit schäbig
geworden; immerhin vermag sie bis heute die Gemüter zu erhitzen, und auch wenn
außer Zweifel steht, daß es eine von Österreichern verfaßte Literatur gibt, so werden
doch Zweifel an der Berechtigung dieser Fragestellung erhoben; denn es gibt ja eine
deutsche Literatur, und in der hat viel Platz. Ein Buch mit dem Titel "Tatsachen über
Deutschland", für das kein Verfasser verantwortlich zeichnet, enthält auch einen Ab-
schnitt über österreichische Literatur, und da liest man unter anderem: "Die Frage, ob
ein Autor deutscher Sprache Österreicher, Schweizer oder Deutscher ist, kümmert
den Leser wenig. Die Dichter Rainer Maria Rilke, geboren in Prag, und Hugo von
Hofmannsthal, geboren in Wien, gehören ebenso zur deutschen Literatur wie die Er-
zähler Robert Musil aus Klagenfurt, Thomas Mann aus Lübeck und Franz Kafka aus
-39-

Prag. Was wäre ferner die deutsche Literatur ohne die Schweizer Gottfried Keller
oder Max Frisch, ohne die Österreicher Adalbert Stifter oder Thomas Bernhard, ohne
den in Rumänien geborenen Lyriker Paul Celan? Die Werke aller dieser Autoren sind
Beiträge zur deutschen Literatur." Ein Denkexperiment sei gestattet: Nehmen wir an,
man dekretiert in Österreich, daß die Staatssprache von nun ab "österreichisch" zu
heißen habe, eine Sprache, die mit geringen Varianten von der Norm ja auch in
Deutschland gesprochen wird, und setzt nun Österreichisch für Deutsch ein: "Die
Frage, ob ein Autor österreichischer Sprache Österreicher, Schweizer oder Deutscher
ist, kümmert den Leser wenig. Die Dichter, Rainer Maria Rilke, geboren in Prag, und
Hugo von Hofmannsthal, geboren in Wien, gehören ebenso zur österreichischen
Literatur wie die Erzähler Robert Musil aus Klagenfurt, Thomas Mann aus Lübeck
oder Franz Kafka aus Prag. Was wäre ferner die österreichische Literatur ohne die
Schweizer Gottfried Keller oder Max Frisch, ohne die Deutschen Bertolt Brecht und
Friedrich Schiller? Die Werke aller Autoren sind Beiträge zur österreichischen
Literatur." Das würde, mit Grund, als unseriös und absurd angesehen; vielleicht sollte
auch das, was in dieser immerhin halbamtlichen Broschüre zu lesen ist, die die
Literatur aus Österreich zu einer Tatsache über Deutschland macht, ebenso gesehen
werden. Ich meine, daß ich auch kaum für voll genommen würde, wenn ich Poe,
Longfellow und Faulkner als englische Autoren reklamieren wollte.
Doch wir haben Schwierigkeiten, wenn wir definieren wollen, worin sich die
österreichische Literatur von der deutschen im engeren Sinne abhebt. Für den Fall,
daß damit etwas Wesenhaftes gemeint sei, gibt es doch sehr gravierende Bedenken. Es
sei einmal etwas vorweggenommen, einfach um hier Klarheit in der weiteren Argu-
mentation zu haben: Daß sich die österreichische Literatur von der deutschen durch
die Sprache unterschiede, ist in keinem Falle anzunehmen; die österreichische Lite-
ratur heute wird zum großen Teil auf deutsch verfaßt, mit anderen Worten: Es gibt
kein Kriterium, kein linguistisches, das verläßlich die österreichische Literatur von
der deutschen und im besonderen bundesdeutschen (oder früher reichsdeutschen) zu
trennen imstande wäre. Das österreichische Deutsch reicht - selbst wenn man ein
hohes Maß an Besonderheit in Rechnung zu stellen gewillt ist - nicht hin, um die Be-
sonderheit der österreichischen Literatur als einer österreichischen auch zu behaup-
ten, mögen solche Eigenheiten auch für Texte eine (eher regionale) Zuweisung mög-
lich machen - eine eindeutig konturierbare österreichische Literatur ist daraus nicht
ableitbar.
Die Versuche, österreichische Literatur aus einem österreichischen Wesen
abzuleiten, sind Legion: Grotesk und skurril, kauzig und verspielt, vor allem aber
barock, das sind die Schlagworte, mit denen vor allem seit den zwanziger Jahren die
österreichische Literatur sich selbst etikettiert sehen möchte. Solche Versuche sind
Legion: Sie reichen von Grillparzers Versuch einer Unterscheidung der österrei-
chischen und deutschen Dichter über Hofmannsthals Schema 'Preusse und Österrei-
cher' und Heimito von Doderers 'Athener Rede' bis zu Herbert Eisenreich und Hans
Weigel: Bescheidenheit (Grillparzer), Vermeidung von Krisen, "Ironie bis zur Auflö-

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
-40-

sung" (Hofmannsthal) und eine "Kavalkade des Verkennens, Verkanntwerdens und


Selbstzerstörens" (Hans Weigel) werden als Wesensmerkmale angeführt; Eisenreich
hat vielleicht am prägnantesten 1959 eine solche Serie von Urteilen und Vorurteilen
angeführt: "Österreichisch ist zuerst und überhaupt das Bemühen um Distanz [...]
Österreichisch ist sodann der freiwillige Verzicht auf aktuelle Wirksamkeit [...] Öster-
reichisch ist ferner die Aversion gegen alles Große, gegen alles Laute, gegen alles Ge-
waltsame, gegen jede erzwungene Veränderung, [...] das Interesse am konkreten
Sachverhalt, an der anschaulichen Wirklichkeit und damit der praktische Protest ge-
gen alles Spekulative, Konstruierte, Theoretische, Abstrakte, ja gegen die Philosophie
selbst. [...] Österreichisch ist das Bewahren, die Evidenthaltung des Überkommenen,
solang dieses lebt und gilt [...] Österreichisch ist eo ipso die Reserve gegenüber jed-
weder Modernität; [...] Österreichisch ist endlich der Zweifel an der faktischen und
der Glaube an die sprachliche Realität. [...] Österreichisch ist alles in allem eine spe-
zielle Art von Mißtrauen; ein Mißtrauen in alles, was gemeinhin für wichtig und
richtig, was gemeinhin für existent und in seiner Faktizität für unbezweifelbar gilt."
(Eisenreich, Reaktionen, 84-86)
So fragwürdig solche Generalisierungen und die Versuche sind, aus diesen
einmal unterstellten anthropologischen Konstanten die Literatur abzuleiten, so auf-
schlußreich sind solche Aussagen für den jeweiligen Status, den das Österreichische
in Österreich hat; darüber hinaus suggerieren sie eben auch eine geradezu lückenlose
Kontinuität des Österreichischen über alle Brüche und Risse in der Geschichte
hinweg; bereits der Aufweis solcher lückenlosen Traditionen wird zu einem identi-
tätsstiftenden Moment, das die Besonderheiten und Abweichungen der österrei-
chischen Literatur erklären soll; zugleich aber werden die Besonderheiten und Ab-
weichungen als Induktionsbasis eben zur Beschreibung dieser österreichischen
Identität herangezogen, die es zu beschreiben gilt. So problematisch ein solches Ver-
fahren auch ist - diese Form der Selbstdefinition wird auch von Nicht-Österreichern
gerne angenommen und ist ein integraler Bestandteil des Argumentationshaushaltes
in Österreich und läßt sich bereits selbst von der Frage nach der österreichischen
Literatur nicht mehr trennen. Er ist zu einem festen Bestandteil des literarischen Dis-
kurses in Österreich selbst geworden, an dem die Autoren selbst eifrig mitmischen,
etwa Peter Handke, der 1989 in seinem 'Versuch über die Müdigkeit' Österreich als
ein verkommenes, als das einzig zur Umkehr unfähige Volk mit prophetischem
Sprachaufwand bezeichnet hatte. Umgekehrt wird gerade der österreichischen
Literatur dieser Hang zur Selbststilisierung ihrer Besonderheit heimgezahlt, es ist der
Kalbsstrick, der ihr gedreht wird: Was den einen die österreichische Literatur aimabel
macht, das macht sie den anderen kritikabel.
Nein, es gibt kein Modell, kein Beschreibungsmuster, das der österreichischen
Literatur gerecht würde: Selbst ein so brillanter Versuche wie Magris´ Buch über den
'Habsburgischen Mythos' (1963), der der österreichischen Literatur mit der Bindung
an die habsburgische Vergangenheit ihr eine weltanschauliche Rückständigkeit und
undialektische Anschauung der Geschichte vorwirft, ihr den Evasionscharakter vor-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-41-

hält und zugleich die ästhetisch subtile Gestaltung und ihre in die Zukunft weisende
Funktion hoch anrechnet, selbst dieser Versuch benennt eher einen, wenn man so
will, Aggregatszustand des Österreichischen und weniger die österreichische Litera-
tur in ihrer Gesamtheit. Interessant ist die These, daß dieser habsburgische Mythos
erst dann virulent werde, da dessen reale Basis, nämlich die österreichische Monar-
chie, zu bestehen aufgehört habe, nämlich 1918. Mit anderen Worten: Für die mei-
sten Autoren war daher Österreich nicht präsent, vor allem war die Erste Republik
nicht präsent. Sie existiere nur mehr in der Retrospektivität. Eine Analyse der späten
Texte von Hofmannsthal, Kraus, Schnitzler, Andrian, der Werke von Roth und Musil
- dies alles scheint auf den ersten Blick diese These zu bestätigen. Der Eskapismus der
österreichischen Autoren, der Evasionscharakter dieser Literatur ist mittlerweile zum
Schlagwort geworden, mit dessen Hilfe diese Literatur beschreibbar sein soll. Auf eine
Formel gebracht: Die österreichische Literatur ist politisch regressiv, ja, im marxi-
stischen Sinne von falschem Bewußtsein geprägt, in ästhetischer Hinsicht hingegen
wegweisend. Hier geistert natürlich Lukacs, der ja viele seiner Werturteile (und nicht
zuletzt das über Joseph Roths ”Radetzkymarsch”) auf den Prämissen einer solchen
Widersprüchlichkeit aufbaute. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß mit Magris’
Buch die Diskussion über die österreichische Literatur auf ein Niveau gehoben
wurde, das sie von da an nicht mehr verlassen sollte; ein Rückfall hinter diese Er-
kenntnisse sollte nicht gestattet sein. Die unterschiedliche Bewertung der Position von
Magris macht mir sein Werk nur annehmbarer: Die einen halten ihn für einen, der
more Marxistico die schöne Welt der österreichischen Barockkultur demoliert, die
anderen für einen konservativen Propagator eben des habsburgischen Mythos, den er
mit liebevoller Kritik scharf analysiert hat.
Ähnliches ließe sich von Ulrich Greiner dereinst viel diskutiertem Buch über
den ”Tod des Nachsommers” (1979) sagen. Greiner verlängert die Thesen Magris’ in
die Zeit nach der 1945 und analysiert vor allem die Texte von Bernhard, Handke,
Scharang, Jonke und Gerhard Roth: Man sieht sofort, was dabei auf der Strecke bleibt,
vor allem also solche Texte wie die der (radikalen) österreichischen Avantgarde, wie
etwa die Texte der ”Wiener Gruppe”, die Ernst Jandls, die der surrealististischen
Autoren, um etwa an Friederike Mayröcker zu nennen. Die alle haben in der so naiv
ausgedehnten Nachfolge Adalbert Stifters so gut wie keinen Platz: Die österreichische
Literatur, so Greiner, stürbe noch immer den Tod des Nachsommers; sie wäre
"habsburgisch traumatisiert", bis auf den heutigen Tag. Handlungsverzicht und Pas-
sivität würden die Figuren prägen. Der stilisierte Exodus aus der Geschichte, ja über-
haupt der Fluch wider alle, die sich dem geschichtlichen Denken verpflichtet hätten,
würde die österreichische Literatur vom Biedermeier bis in die Gegenwart be-
stimmen. Gerade die Etablierung einer so lückenlosen Kontinuität macht den Kritiker
stutzig: So als ob es die aufsässige Tradition, die es nach Greiners Meinung in Öster-
reich nicht gegeben hätte, tatsächlich nicht auszumachen ist, so als ob es keinen
Anzengruber, keinen Karl Kraus und keinen Jura Soyfer und keinen Horváth gegeben
hätte. Sie alle werden in die Idylle Österreich eingebracht. Greiner verkennt die zahl-

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
-42-

reichen Risse und Brüche, er verkennt, die oft recht zickigen Entwicklungslinien der
österreichischen Literatur, er verkennt die Rolle, die der Nationalsozialismus in Öster-
reich gespielt hatte und seine Folgen. Die österreichische Literatur in ihrem Verhält-
nis zur Geschichte lesen setzt freilich auch eine bestimmte Lesefähigkeit voraus. Die
österreichische Literatur darf nämlich nicht so gelesen werden, daß man nur mit
Hilfe der Stoffe und des rhetorisch anschaulich gemachten politischen Bekenntnisses
auch auf eine politische Denkweise schließen zu können meint. Und Robert Menasses
Buch über die ”Sozialpartnerschaftliche Ästhetik” (1990) ist schließlich ein raffi-
nierter Essay, in dem er zu zeigen versucht, wie das Bedürfnis nach Harmonisierung,
das dem Prinzip der Sozialpartnerschaft abzulesen ist, auch die Literatur bestimmt. In
allen diesen Büchern erscheint das Bedürfnis nach Harmonie als Signum der österrei-
chischen Literatur. Vermieden werden Gegensätze, die Neigung zum Kompromiß
dominiert. Aber, so meine ich, die Besonderheit der österreichischen Literatur ist mit
solchen Konstanten, die, wenn überhaupt, anthropologische und nicht literarische
sind, nur bedingt zu erfassen.
Diese Form der Beschreibung reduziert alles immer wieder auf ein diffus
Menschliches, und latent ist dann auch ein wertendes Moment vorhanden, das die
Österreicher insgeheim als die besseren ausgibt, das ihnen attestiert, auch eine bes-
sere Literatur und überhaupt mehr Verständnis für Literatur und Kunst zu haben.
Gewisse Zustände in der österreichischen Literatur mögen mit solchen Formeln sehr
gut bezeichnet werden; der stilisierte Rückzug aus der Politik, die Behauptung der
Priorität der Sprache vor den Inhalten, die sie transportiert, die Lust an der Reflexion
auf die Form unter Vernachlässigung der verbindlichen Inhalte, die Antithese Ord-
nung versus Chaos, ja vielleicht - und dies ist eine der bizarrsten Vermutungen - die
Vorliebe der Österreicher für das Diminutiv. Und doch liefern alle diese Beob-
achtungen kein entscheidendes Unterscheidungskriterium, sie liefern aber für jede
Epoche sehr gute Bestimmungen des Aggregatszustandes der österreichischen Lite-
ratur. Man kann gewiß auch - und das erscheint mir sehr fruchtbar - einzelne
Motive herausgreifen und sie in ihrem je spezifischen österreichischen Kontext ana-
lysieren. So erhält man gewiß eine sehr brauchbare Induktionsbasis, um für eine be-
stimmte Epoche, für einen bestimmten historischen Zustand das sehr genau zu be-
nennen, was für die Literatur aus Österreich kennzeichnend ist, und zwar für die re-
präsentative Literatur.
Mit der Annahme überzeitlicher Konstanten hingegen wird man, so meine ich,
sehr wenig Glück haben. Will man z.B. den Antihelden zum Prototyp erheben, so
denke man im Gegenzug an den preußischen Prinzen von Homburg; will man das
Sterben als einen für die österreichische Literatur typischen Zug ernennen, so über-
sieht man, daß allenthalben gestorben wird; auch den Witz und den Humor haben
die Österreicher nicht allein gepachtet, und die "Ironie bis zur Auflösung" ist wohl
auch von Thomas Mann praktiziert worden, der meines Wissens kein Österreicher
war; und alles das, was uns besonders typisch, ja besonders kennzeichnend scheint -
das schwimmt uns davon. Solche Verallgemeinerungen sind logisch unsauber, sie

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-43-

sind aber das Salz der Debatte, einfach weil sie zum Widerspruch herausfordern. So
hat unlängst bei einer Tagung ein beschlagener Germanist aus der Bundesrepublik
gemeint, er hätte den Eindruck, die österreichischen Autoren hätten ihre Form, nicht
aber ihre Inhalte gefunden. Als Lehrerurteil zusammengefaßt: Äußere Form der
schriftlichen Arbeit: sehr gut; Inhalt: mangelhaft.
Gewiß ist es die Sprache, die Sprache an sich, auf welche sich die österrei-
chischen Autoren besonders zu konzentrieren vermochten. Indes wäre es ebenso
verfehlt, diese "Thematisierung der Sprache" als ein allenthalben verbindendes
Merkmal der österreichischen Literatur anzugeben; hingegen läßt sich für gewisse
Phasen sehr schön ein kontinuierlicher Traditionszusammenhang ausmachen, in dem
eben diese Konzentration auf die Sprache ein dominantes Ordnungsmuster herstellt.
"Aus [dem] Schatten der Wörtlichkeit, aus den unverrückbaren Wortfügungen
kanonischer Sprachdisziplinen ist die dem österreichischen Raum entstammende
Literatur nie herausgetreten. Das ergibt sich bereits aus der Konstellation jener
Stunde, in der sie ihren josephinischen Freibrief erhielt. [...] Die befreite Schrift
strebte nicht nach der Autonomie der poetischen Sprache. [...] Die freigewordenen
Potentiale äußerten sich im Dienste des Staates oder im Widerstreit mit ihm, nicht
aber im Dienste literarischer Selbstbestimmung", - so lautet eine der Thesen, die
Juliane Vogel in einer der letzten Nummern der ”manuskripte” aufgestellt hat -
bedenkenswert gewiß, wenngleich ich meine, daß sie nicht unwidersprochen bleiben
dürfte, denn sehr bald meldet sich doch gerade hier der Versuch an, im Bereich der
poetischen Sprache mündig zu werden. Die österreichische Literatur würde "Macht
und Herrschaft weniger in großen polemischen Helden als in komplizierten exeku-
tiven Apparaten zur Anschauung" bringen. (Vogel, 108f.)
Mit dem Verzicht auf die Größe sitzt man nun wiederum in einem Zusammen-
hang, der sehr oft zur indirekten Kennzeichnung des Österreichischen herangezogen
wurde (Weigel: ”Flucht vor der Größe”), zum anderen scheint es (auch für die Polito-
logie) sehr legitim, allen diesen Vorstellungen einmal mentalitätsgeschichtlich und
kulturgeschichtlich nachzugehen und die Literatur da als ein differenziert ausge-
legtes Zeugnis, als ein komplexes Dokument zu benützen. Ich meine, daß alle diese
Versuche von der mehr oder minder großen Ingeniosität ihrer Verfasser zeugen, daß
sie insgesamt alle nicht mehr leisten, als bestimmte Zustände der österreichischen
Literatur zu bezeichnen, daß sie auch typisch für die Epoche sind, der sie entstam-
men, daß sie indes keine über die historischen Zusähen hinweg gültigen Kriterien zu
geben imstande sind, die ein für allemal das Österreichische von dem wie immer
anders Deutschen in der Literatur trennend wegdefinieren vermöchten.
Ein kleiner Exkurs hin zum Diminutiv sei gestattet, ein Tribut auch an die
Sprachwissenschaft; vielleicht ist dieses Detail auch in mentalitätsgeschichtlicher
Hinsicht fruchtbar zu machen. Literarhistorisch stellen sich so, wie ich meine, schöne
und überraschende Zusammenhänge her.

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
-44-

Doch wäre es verfehlt, die Frage nach der österreichischen Literatur - auch im
Bereich der literaturwissenschaftlichen Forschung - aufzugeben. Dies vor allem an-
gesichts der Tatsache, daß sie sehr schnell eingemeindet zu werden scheint, daß sie
eingebracht wird in eine große Scheune, die da heißt: deutsche Literaturgeschichte.
Und die Literaturgeschichte und insonderheit die vor allem in den vergangenen Jah-
ren aufs Neue in der Bundesrepublik prosperierende Literaturgeschichtsschreibung
ist der Ort, an dem die österreichische Literatur aufgesogen wird, aufgesogen von
einem Grundmuster und von einer Werteskala, die ihr eigen ist, und die gerade die
österreichischen Autoren wie Sonderlinge dastehen läßt. Es fällt nun auf, daß just die
Phasen der österreichischen Geschichte, in denen die politische Bedeutung des Staates
gegen Null geht, auch in den Literaturgeschichten so gut wie eliminiert werden. Ein
entzückendes Beispiel der frühen Eingemeindung der österreichischen Literatur hat
Marie von Ebner Eschenbach in einer satirischen Schrift geliefert: ”Aus Franzensbad”.
Die österreichische Muse und der bedeutende Literaturhistoriker - er heißt hier Zeus
Gerbinus - treten einander gegenüber:
Österreichische Muse: Wolle Dein Angesicht zu mir wenden, auch ich habe unsterb-
liche Söhne geboren.
Zeus Gerbinus: Bäuerle und Nestroy meinest Du? Ihrer habe ich würdig gedacht.
Österreichische Muse: Herr! Herr! - Noch leben Grillparzer und Halm ...
Zeus Gerbinus: Nicht für mich. Und er bricht unwillig das Gespräch ab: Enthebe
Dich, kleine Unbekannte.
Österreichische Muse unter vielen Bücklingen ab (bei Seite). Es muß doch nichts an
mir sein, sonst würde ich nicht zur Thüre hinausgewiesen."
Die Entscheidung, was zu gefallen hat, liegt außerhalb Österreichs. Die Norm,
nach der gemessen wird, das Urmeter des Literaturmaßstabes ist und war in Weimar,
Jena, Leipzig, Frankfurt, Berlin oder Hamburg zu finden. Die Periodisierung wird von
der deutschen Literaturgeschichtsschreibung vorgenommen, und so nimmt es nicht
wenig wunder, daß die österreichischen Autoren nicht in das vorgegebene Muster, in
die hier konstruierten Abläufe hineinpassen, und daher zu Dauerverlegenheiten der
Literaturgeschichte werden: Grillparzer, der mißratene Klassiker; Raimund und
Lenau, die falschen Romantiker; Stifter und Sealsfield, die verfrühten oder die verun-
glückten Realisten; Nestroy, der triviale Autor - so kann man es bis zur Jahrhundert-
wende in den Literaturgeschichten lesen; Anzengruber, der zu spät zum Realismus
und zu früh zum Naturalismus kam - überhaupt Naturalismus, er scheint in Öster-
reich vergessen. Die Autoren haben die Aufgabe, die der Zeitgeist jeweils gestellt hat,
nicht erfüllt. Besonders prekär wird die Situation gegen Ende der Monarchie und mit
Beginn der Ersten Republik. Wurde die Monarchie noch als ein Staat registriert, in
dem das 19. Jahrhundert sein Finale feiern konnte, so existiert die Erste Republik in
den jetzt am Markt befindlichen oder erst vor kurzem verfaßten Literaturgeschichten
so gut wie gar nicht. Weder die von Zmegac, noch die von Bahr betreuten Literatur-
geschichten nehmen die Epoche nach 1918 zur Kenntnis, in der doch immerhin noch
ein Karl Kraus, ein Ödön von Horváth, ein Hugo von Hofmannsthal, ein Arthur

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-45-

Schnitzler, ein Robert Musil, ein Hermann Broch und ein Joseph Roth bedeutende,
wenn nicht ihre bedeutendsten Werke schufen. Kraus, Schnitzler, Hofmannsthal er-
scheinen im Kontext der Monarchie, auch Joseph Roth und Robert Musil, und
Horváth gehört ja auch schon so halb nach Weimar, weil ganz nach München. Inter-
essant und ärgerlich ist dieses Faktum deswegen, weil diese Literaturgeschichten ja
gerade vorgeben, Sozialgeschichten der Literatur zu sein. Und wenn schon die Ent-
wicklung der österreichischen Literatur sich spezifizieren läßt, dann eben aus der
Sicht ihrer gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen; und diese waren,
man nehme alles nur in allem, doch radikal unterschiedlich von denen des
Deutschen Reiches. Auch die Zäsuren (etwa 1933/34) bedeuten in der österrei-
chischen Geschichte ganz etwas andres als in der deutschen; 1938 ist für Österreich
die entscheidende Wende nach 1934. Der Abschied von den Habsburgern vollzog
sich beileibe anders als der Abschied von den Hohenzollern; die Haltung zum Krieg in
Österreich grundsätzlich anders als in Deutschland. In Deutschland war trotz der
beträchtlichen Einbußen ein Reich erhalten geblieben, Österreich war zur kleinen
Alpenrepublik geschrumpft.
Die Literaturgeschichtsschreibung scheint an diesem Staat, den keiner wollte,
das, was ihm in der Realpolitik widerfuhr, nur mit noch größerer Konsequenz zu
vollziehen: Sie nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis und hat ihn so vor seinem tatsäch-
lichen Ende liquidiert. Indes ist jeder Autor der Ersten Republik in deutlicher Verbin-
dung zu sehen mit den besonderen Zuständen in Österreich, mit der Unsicherheit
(und zwar mit der in Österreich spezifischen Unsicherheit) in bezug auf die demo-
kratischen Entwicklungen; in den Sozialgeschichten der Literatur sollte auch die Tri-
vialliteratur Platz haben, ihre besondere Entwicklung von 1918 an - grundlegend an-
ders als in der Bundesrepublik. Zudem sind auch die bildungspolitischen Traditionen
mitzulesen, die lokalen Kontinuitäten und Debatten. Wer erwähnt denn überhaupt,
wie wichtig z.B. die Tradition des Wiener Kreises auch für die Literatur Österreichs
war? Es ist z.B. durchaus vertretbar, Broch, Musil und den leider immer wieder ent-
deckten und schnell wieder vergessenen Rudolf Brunngraber mit seinem Roman
”Karl und das XX. Jahrhundert” eben in diesem Zusammenhang zu lesen.
Interessant ist es auch, wie dort verfahren wird, wo den Österreichern - wie bei
Glaser - ein eigenes Kapitel für die Zeit von 1918 bis 1938 zugestanden wird. Der
vorzüglich orientierte Aufsatz ist allerdings im Gesamtkonzept so gelagert, daß für
ihn der Weizen bereits vergeben wurde und er die Spreu bekommt. Nicht daß Auto-
ren wie Schnitzler, Kraus, Musil, Broch, Hofmannsthal vergessen oder schlecht be-
handelt würden, ganz im Gegenteil, sie werden in kritischen Ehren gehalten, fraglich
ist nur, ob die Konstellationen, in denen sie gebraucht werden, auch den gesellschaft-
lichen Voraussetzungen entsprechen, die für diese verbindlich waren und auch
durch Sozialgeschichte der Literatur kenntlich werden sollen. Sie werden meistens
disloziert, übrig bleibt für den Österreichteil, was mehr oder weniger Lokales aus-
macht. Karl Kraus erscheint zwischen Sternheim und Brecht; die reiche Produktion
der kulturhistorischen Schriften (Friedell), die Autoren des Volksstückes, des Cabarets

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
-46-

(Soyfer z.B.) werden nicht erwähnt; kurzum, das recht vitale literarische Leben
Wiens, das literarische Leben der Provinz existiert nicht. Und dies steht oft in einem
gewissen Gegensatz zu jeglichem rezeptionsästhetischem Befund: Gerade die öster-
reichischen Autoren wurden, da durch die deutschen Verlage (z.B. Staackmann) ver-
breitet, im deutschen Reich sehr intensiv gelesen, und zwar als österreichische Auto-
ren. Die Liste ließe sich verlängern; entscheidend ist, daß diese Literaturgeschichten
den Österreich-Block immer etwas zu spät wahrnehmen und mit den Erscheinungen
aus Österreich wie auf einem Rangierbahnhof herumfahren. Symptomatisch ist ein
Satz wie: "Der von Brecht beschworene "Widerspruchsgeist" gegen verbreitete An-
schauungen ließ Karl Kraus (1874-1936) zum Schöpfer eines in seiner Weise einzig-
artigen dramatischen Werks werden." (GdL, 102) Ein Trapezakt in bezug auf die
Chronologie, indem suggeriert wird, daß Brecht irgendwie Karl Kraus den Wider-
spruchsgeist nahegelegt haben könnte. Daß Schnitzler mit ”Leutnant Gustl” der erste
war, der den inneren Monolog geglückt verwendete, wird meist vergessen.
Daß die Abfassung von Literaturgeschichten eben eine Tatsache aus Deutsch-
land ist, wird eine Tatsache über Österreich, und die österreichische Germanistik hat
sich dem gewiß nicht grundlosen Vorwurf auszusetzen, daß sie bis jetzt eben nicht
eine vertretbare Literaturgeschichte vorgelegt hat. Das liegt gewiß nicht (nur) an der
Unfähigkeit der österreichischen Germanisten; das von Walter Weiss 1981 vorge-
stellte Salzburger Projekt einer "offenen Literaturgeschichte" hat viel für sich und
könnte immer noch Ausgangspunkt einer solchen Literaturgeschichte sein - nur ge-
schrieben hat es bis jetzt noch niemand. Zum Teil sind auch respektable Selbstzweifel
schuld. Aber die jüngere Germanistik hat hier wesentliche Vorarbeiten geleistet und
im Rahmen der Sozialgeschichte durch profunde Einzelstudien über Schriftsteller-
vereinigungen, Verlagswesen und Literaturpreise, über Literaturzeitschriften und
über das literarische Leben, über die Beziehung von Politik und Geschichte sehr
deutlich gezeigt, daß die sozialen und historischen Rahmenbedingungen, von denen
Autoren aus Österreich ausgingen, doch grundsätzlich andere sind als die der deut-
schen Autoren; freilich wäre noch genauer zu erforschen, wie nun die historischen
und sozialen Voraussetzungen auch in der Textproduktion manifest werden. Es ließe
sich einmal sehr gut eben von solchen Oppositionspaaren, die für die österreichische
Literatur eine ganz spezifische Funktion haben, die Literatur in ihrem historischen
und politischen Zusammenhang erläutern, von Paaren wie etwa Stadt und Land,
Krieg und Frieden, Aufstieg und Deklassierung, Bildung und Unbildung, Provinz und
Metropole. Erst aus diesem Zusammenhang heraus sind Texte wie Hermann Brochs
Bergroman besser lesbar und in ein Beziehungsschema einzubinden, das ihnen
abgeht, wenn man es nur an Maßstäben der Faschismustheorie und Massentheorien
bricht. In jedem Falle schreiben Autoren aus einem ganz anderen politischen Kontext,
und der Untergang der Habsburger Monarchie erzeugte ein Vakuum, das ganz
anders gefüllt wurde, als es in Deutschland nach 1918 der Fall war. Freilich ist - und
das macht die Sache schwieriger und zugleich reizvoller - die österreichische
Literatur stets in ihrer Auseinandersetzung mit der im engeren Sinne deutschen zu

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-47-

begreifen, so z.B., um nur eine signifikante Debatte heranzuziehen: die Bewertung


Oswald Spenglers durch österreichische Autoren (Musil, Zweig, Neurath,
Brunngraber). Es sind die feinen Unterschiede, auf die es bei diesen Debatten
ankommt, und indem historische Querschnitte gelegt werden und nicht die
unsaubere Chronologie der Literaturgeschichten für eine Reihe taumeln machender
Anachronismen sorgt, wird sich vielleicht auch der jeweilige Zustand der
österreichischen Literatur präziser bestimmen lassen.
Eine nüchterne Vorgangsweise ermöglicht es so, der österreichischen Literatur
gerecht zu werden; die österreichischen Autoren nicht als die kuriosen Ausnahmen
von der Regel, als die Anhänger einer Minderheit zu betrachten, sondern sehr wohl
in ihrer Entwicklung zu erfassen. Wenn man so will, könnte man eben auch auf die
Intertextualität verweisen, die durch das Schreiben in und um Österreich hergestellt
wird, eine besonders auffallende Tatsache, wenn man die Literatur etwa des letzten
Jahrzehnts in Österreich betrachtet, die z.B. immer wieder auf dem Umweg über
Thomas Bernhards Prosa ihre Kontexte herstellt. Solche Betrachtungen, die auch den
Überblicksdarstellungen förderlich wären, würden weg führen von der Darstellung
der österreichischen Literatur als eine Art Ableger der deutschen. In Hansers
Sozialgeschichte der Literatur, in einem Unternehmen, das einen vielversprechenden
Anfang nahm, finden sich zwei sehr knappe Beiträge über Österreich; Handke und
Bernhard sind disloziert, Jandl kommt kaum vor, von Mayröcker zu schweigen, zu
schweigen von Josef Winkler oder Wolfgang Bauer - die werden alle in
Zusammenhängen untergebracht, die nicht auf die besondere Situation Rücksicht
nehmen. Mit den Namen Wolfgruber, Roth und Innerhofer fallen ja nicht nur einige
Autoren durch den Rost, sondern auch ganze Formen von Literatur, die sehr wohl
ihre Wirkung hatten. Was bleibt, sind zwei kurze Causerien über Österreich,
geschrieben aus einer Art von Insider-Kenntnis, die das Vorurteil glänzend
bestätigen, daß die Österreicher einander dann besonders nicht mögen, wenn sie in
der Literatur tätig sind.
Daß dies nicht immer Ausfluß eines bösen Willens sein muß, geht aus der
großen, von Wilfried Barner im Vorjahr bei C.H Beck edierten ”Geschichte der
deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart” hervor, deren Einleitung in
kuriosen Windungen zu dem Ergebnis kommt, daß die Einbeziehung Österreichs und
der Schweiz in den Zusammenhang der "erste[n] einläßlichere[n] ‘gesamtdeutsche[n]’
Literaturgeschichte - nicht erst seit der Wende" (XVIII) durchaus nicht in den
Verdacht des Kulturimperialismus stehen müßte (XVII). Die "System -
Verschiedenheit" der DDR würde eine gesonderte Darstellung erzwingen, während
die Gleichbehandlung der "‘westlichen’ Teilliteraturen" "durch die Struktur der
literarischen Kommunikation legitimiert, ja nahegelegt wird" (XVIII). Was immer
man unter "Struktur literarischer Kommunikation" versteht - gerade die
Untersuchungen auf dem Gebiet der Sozialgeschichte haben deutlich gemacht, daß
diese sicher verschieden ist, in Österreich, in der Schweiz und Deutschland. Die
Gründe dafür könnte ich Schritt für Schritt dartun; sicher sind viele Erscheinungen in

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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den beiden westlichen Staaten näher an die BRD heranzurücken, ich meine aber, daß
es gerade auf die Feinheit der Unterschiede ankommt. Die Praxis der Formulierung
verrät unerhört viel. Ich begnüge mich mit ein paar einschlägigen Beispielen. So wird
zum Beispiel zwischen den Exildramatikern Brecht, Wolf und Zuckmayer und den
Österreichern Hochwälder, Elias Canetti und Bruckner differenziert (101) - so als ob
die drei Letzgenannten keine Exildramatiker gewesen wären. Die neuen Akzente in
der Grazer Szene hätten jüngere Autoren gesetzt, "teils politisch bewegte, teils in
Experimentieren vernarrte" (Hervorhebung von mir W.S-D.). Es gibt zwar ein"
binnenlitarisches Phänomen", dem Handke "verklammert" ist (626), aber die große
Serie österreichischer Dichter der Gegenwart von Scharang über Frischmuth, Turrini
und Handke bis zu Thomas Bernhard sei das Reagieren auf eine Wirklichkeit, "die ge-
rade auf Grund ihrer Verdichtung zur modellhaften Kleinheit eine permanente
Provokation" wurde (627). Das wird im Kleindruck mitgeteilt - und damit doku-
mentieren die Autoren - malgré eux -, daß die Entwicklung doch nicht anders als die
zuvor mit Grund abgetane "Sonderentwicklung" zu fassen imstande sind (XVII). Es
klingt fast so, als hätte Robert Menasse den Verfassern im Vorbeihuschen das Wort
"sozialpartnerschaftliche Ästhetik" zugeflüstert. In jedem Falle wird mit der Betonung
auf der "Kleinheit" schon die Emphase, die jeder Größe eignet, herausgenommen.
Am bedenklichsten ist allerdings die getroffene Auswahl. Hier wird Elias Canetti
mit zwei Werken in einem Kontext erwähnt, der nicht der seine ist; seine große
Autobiographie fehlt. Albert Drach fehlt; Manès Sperber fehlt; Günther Anders fehlt;
Johannes Urzidil fehlt. Drach, der Büchnerpreisträger 1988 aus Österreich; Günther
Anders, der in Wien lebende Essayist, Romancier, Kritiker und Philosoph, aus
Schlesien stammend, Verfasser einer fundamentalen Schrift über die Gefahren des
atomaren Zeitalters und einer klarsichtigen Studie zu Franz Kafka; Manès Sperber,
einer der wichtigsten Renegaten des Stalinismus, Verfasser eines großen Romans,
einer Autobiographie, Kulturkritiker und politischer Essayist, geboren in der
Monarchie, Exilant, Gegner des Günther Anders; Johannes Urzidil, Sohn eines
Deutschböhmen und einer Rabbinertochter, Autor aus Prag: Alle vier zusammen mit
Canetti Exilautoren, aus der "gesamtdeutschen" Literaturgeschichte verbannt. Nach
den Gründen würde sich zu fragen lohnen: Sie müssen tief sitzen, vorerst läßt sich
allenfalls angeben: Sie passen nicht in das historische Schema, über das die
Literaturgeschichte gestülpt wird. Mit anderen Worten: Sie sind, genauso wie die
anderen österreichischen Autoren, die da fehlen, nicht von ihrer Produktion her mit
der deutschen Teilung in Beziehung zu bringen. Ihre Probleme liegen außerhalb des
politischen Bewußtseins der Bundesrepublik. Ich vereinfache: Für diese Literatur ist
Günter Grass Roman ”Die Blechtrommel” in etwa das Maß, an dem die Romanform
und die historische implizite Problematik sich auszurichten hätte. Viel Schelm und
auch ein wenig Wilhelm Meister und vor allem sehr viel deutsche Teilung.
Daß nun Autoren, die für eine spezifisch österreichische Tradition als Kron-
zeugen aufgerufen werden könnten, so gut wie ganz fehlen, darf hier auch vermerkt
werden: Herzmanovsky-Orlando gibt es nicht, Werner Kofler fehlt, Josef Winkler

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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fehlt, Gütersloh darf neben Grass, Walser und Hildesheimer Platz nehmen - Tertium
comparationis ist offenbar das Krause. Doderer darf sich zwischen Döblin und Jahnn
setzen; Gerhard Fritsch ist mit Hans Lebert offenbar eine quantité negligeable. Daß
André Heller fehlt, ist eine m.E. nach läßliche Sünde.
Was hier vorliegt, kann in der Tat nicht als Ausfluß eines bösen Willens ge-
deutet werden; das Wohlwollen, das einzelnen Autoren und Autorinnen ent-
gegengebracht wird, ist nicht nur façon de parler. Es ist das Spiel der Mächtigen, die
nicht zum Bewußtsein ihrer Macht kommen, die ihre Selbstverständlichkeit auch als
die Selbstverständlichkeit der anderen nehmen.
Die Frage, inwieweit es nun sinnvoll ist, von einer österreichischen Litera-
turgeschichte zu sprechen, und nicht doch die Unterteilung in noch kleinere
Regionen vorzunehmen, kann ich hier nicht mit Eindeutigkeit beantworten. Zu
bedenken wäre gegen das häufig mit Pathos vorgetragene und gewiß auch stich-
haltige Argument, Literatur habe Qualität jenseits nationaler Grenzen, daß es sehr
wohl die nationalen Organisationen sind, die sich der Literatur annehmen, was ja
nicht gleichbedeutend mit nationalistisch sein muß; daß es also eine Förderung von
seiten des Bundes gibt, daß dieser in seinem Interesse die Bibliotheken, die Archive,
die Vereine unterhält; daß an den Staat (Österreich) eben auch die Aufgabe delegiert
ist, die Interessen der Literatur, von amtswegen, möchte ich sagen, zu wahren. Und
daß der Staat dann gleichsam seine Rechte einfordert, kann man ihm nicht
verdenken. Das hört sich für viele böse an, man vernimmt schon das Wort vom
Staatsdichter, und daß er sich die Widerborstigen einkauft, ist schon ein Akt von
Verschleierung. Mag sein, daß so die Kritiker mundtot gemacht werden; daß ein
Autor gewissermaßen über staatlichen Auftrag die Nation jubiläumsgerecht
beschimpft, ist Teil eines Rituals, das bedenklich sein mag, weil es vielleicht einiges zu
verdecken vermag, was ausgesprochen werden müßte und wohl auch anders gesagt
werden müßte. Indes möchte ich nur sagen, daß es mir lieber ist, der Staat bezahlt
seine Dichter, als er vertreibt oder sperrt sie ein.
In jedem Fall ist darauf zu beharren, daß sehr wohl von einer österreichischen
Literatur die Rede sein kann und daß es ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit und
Fairneß ist, die Entwicklung der österreichischen Literatur in ihrem Zusammenhang
zu berücksichtigen. Das gilt nicht nur für die Gegenwart, das gilt, meine ich auch für
frühere Epochen, das gilt gewiß für die Aufklärung. In jedem Falle kann durch eine
literaturhistorische Betrachtung auch vielleicht wieder so etwas Gerechtigkeit
hergestellt werden. Die Allergien auf beiden Seiten, auf österreichischer Seite wie auf
deutscher, gilt es abzubauen. Die österreichischen Autoren können von Glück reden,
daß ihnen durch Deutschland ein gewaltiger Schallverstärker zuteil wird, deutsche
Kritiker und Literaturhistoriker indes sollten bei ihren Annexionsplänen und
Beurteilungen doch vorsichtiger sein. Österreicher wiederum sollten in dem
Bestreben der Abgrenzung von Deutschland vorsichtig sein, da eine Abgrenzung
leicht zu einer törichten Ausgrenzung kommt. In jedem Falle ist für die Zeit nach

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
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1945 festzuhalten, daß der Austausch zwischen Deutschland und Österreich nie so
florierte auf dem weiten Felde des Literarischen; aber gerade die Anerkennung, die so
viele Österreicher, wenngleich manchmal als österreichische Legionäre in deutschen
Diensten und somit eingemeindet, hierzulande haben, sorgt für neue Probleme in der
behutsamen Differenzierung. "Unterschiedenes ist gut." (Hölderlin). Die Kritik hat
den österreichischen Autoren immer wieder ihre Traumatisierungen vorgeworfen: Sie
wären habsburgisch traumatisiert, katholisch traumatisiert - der Kalbsstrick ist zum
Greifen nahe - eine Truppe fröhlicher Selbstmörder. Vielleicht ist es gerade diese
Angst, sich vor einem großen Beobachter ständig zu beweisen, die uns so aufmüpfig
und manchmal leicht verletzlich macht. Gotthold Ephraim Lessing schrieb am 29.
November 1770 an seine spätere Frau Eva König nach Wien: "Gott verzeihe mir die
Sünde, wenn es nicht wahr ist, und wenn ich Unrecht tue, daß ich mir die
Österreichischen Prediger noch elender vorstelle als die Österreichischen Poeten und
Komödianten." Lessing kannte die Wiener Volkskomödie nicht, bei der eine Lady
Montague auf ihrer Reise in den Orient so lachte wie noch in ihrem Leben; allerdings
hatte sie noch nie so Anstößiges öffentlich gehört. Es muß ganz schön roh und deftig
zugegangen sein, da unten, là bas. Die Unterwelt ist in Bewegung. "Flectere si nequeo
superos Acheronta movebo" - das war das Motto der Traumdeutung. Vielleicht war
Lessing dieses noch Unkultivierte unheimlich. Es hat aber Früchte getragen, das
Unheimliche wie das Unbewußte. Vielleicht wären da allenthalben Revisionen
angebracht, in jedem Falle aber eine Wahrnehmung, die dem Gelächter wie dem
Ernst Rechnung trägt.
Vielleicht besteht der Reiz, den die österreichische Literatur ausübt, nicht zuletzt
darin, daß sie des öfteren sich nicht in die großen und festgeschriebenen Systeme
einpassen läßt, daß sie widerborstig ist, daß gerade an ihr sich die so scharf
geschliffenen Messer der Periodencharakteristiken stumpf wetzen. Es gibt sicher
wichtigere Fragen als die Besonderheit der österreichischen Literatur, es gibt
wichtigere Probleme als die Nöte der österreichischen Literaturhistoriker; aber
vielleicht sollte man diesen Fragen doch auch so etwas wie einen Symptomcharakter
zuerkennen, nämlich als den Fragen kleinerer Einheiten in einem Europa, zu dem wir
alle gerne gehören, und dem, so meine ich, gerade ein Moment gut täte, das gesetzte
Normen stets überprüfbar hält und sich nicht jedem Convenu beugt. Und das könnte
man von Beispielen aus der österreichischen Literatur ganz gut lernen, im subtilen
und heiklen Provisorium des Ästhetischen.
Und daß die Autoren wachsam sind und sich nicht gerne zu den Herolden einer
klischierten österreichischen Jubelidentität bequemen, bestätigen ein paar
sarkastische Verse jüngeren Datums von Michael Scharang:

MICHAEL SCHARANG

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-51-

Die Antwort*)
Wie Sie reden
ist deutsch.
Wir reden anders.
Statt Erdäpfel
pflegen Schlagobers
wir zu sagen
statt Karotten
Paradeiser nämlich.
Auch ist zum Glück
das Von
bei uns verboten
von Quark deshalb
kann nicht die Rede sein.
Wir reden Topfen.
Das ist wie jedes Landeskind
gelernt hat zu erklären
österreichisch.

*)
Dieses Gedicht heißt nicht nur
die Antwort, es ist die Antwort -
und zwar auf ein Preisausschreiben
der Regierung, in dem gefordert wurde,
alle Probleme, die es mit der
österreichischen Identität, dem österreichischen
Wesen und dem österreichischen
Geist immer noch gibt, mit einem Schlag
zu lösen. Dieses Gedicht wurde preisgekrönt.
Statt eines Geldpreises erhielt
der Autor die Zusicherung, daß
seine Antwort bis zum nächsten Preisausschreiben
als endgültige Antwort gilt.

Wendelin Schmidt Dengler: Vom Staat, der keiner war, zur Literatur,
die keine ist. Zur Leidensgeschichte der österreichischen Literatur.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.52-58

Richard Schrodt

(Wien)

Der Sprachbegriff zwischen Grammatik und


Pragmatik:
Was ist das österreichische Deutsch?

1. Fragestellung und Problemlage


Die Frage nach der Eigenständigkeit des österreichischen Deutsch kann auf
mehreren Ebenen gestellt werden, und demnach wird auch der begriffliche Wert
dieses Ausdrucks kontrovers beurteilt: Ist das österreichische Deutsch (die Klein-
schreibung des Adjektivs soll hier nichts präjudizieren) eine eigenständige Varietät
einer Gesamtsprache, die womöglich sogar den Eigennamen ”Österreichisch”
verdient, oder ist es ”nur” eine (regionale) ”Abart” einer Gesamtsprache ”Deutsch”,
die allein als eine eigenständige Sprache verstanden werden darf? Das Wort ”Abart”
kann in der konkreten Diskussion dabei durchaus eine wertende Komponente erhal-
ten, sei dies nun in der öffentlichen oder in der fachwissenschaftlichen Auseinander-
setzung um die Sprache in Österreich. Man kann diese grundsätzliche Frage von der
politischen und sozialpsychologischen Begrifflichkeit aus sehen, wie das unter
Einschluß der vielen Vorarbeiten eingehend von Ulrich Ammon in diesem Band
dargelegt wird. Es stellt sich aber diese Frage auch in Bezug auf sprachinhärente
Merkmale: Welche sprachlichen Merkmale (lexikalisch, syntaktisch, grammatisch,
phonologisch/phonetisch) sind dafür verantwortlich, daß man von einer eigen-
ständigen Sprache (oder Varietät) sprechen muß und nicht bloß von einer Erschei-
nungsform einer in gewissem Sinn übergeordneten Entität? Aus der Sicht der neueren
Systemlinguistik ist die Fragestellung selbst irreführend, weil hier der Sprachbegriff
im besten Fall ein vortheoretisches Phänomen ist. Im Sinn einer formalgramma-
tischen Begriffsbildung, etwa nach der Art der (neueren) Generativistik, heißt es da
etwa: ”Sprache wird in dieser Wissenschaft als ein relativ uninteressantes Phänomen
angesehen.” (von Stechow/Sternefeld 1988:25). Hinter diesem Wort verbirgt sich
kein vernünftiger wissenschaftlicher Gegenstand – so ist es bei den beiden Autoren zu
lesen. In dieser Sicht handelt es sich bestenfalls um einen vorwissenschaftlichen
Begriff. Die Unendlichkeit der Sprache, ihre Abhängigkeit von sozialen und poli-
tischen Faktoren, die Störfaktoren der Äußerungen durch Performanzerscheinungen
(Versprechen/ Verschreiben, Verschränkungen, Anakoluthe usw.) machen einen
streng naturwissenschaftlichen Zugang unmöglich bzw. reduzieren das Unter-
suchungsgebiet auf Nachbarwissenschaften wie Soziologie und Psychologie. Daher ist
-53-

es verständlich, daß sich das Forschungsgebiet in dieser Sicht auf die Grammatik
beschränkt, und das ist die formale Darstellung des Sprachwissens. Dieses Sprachwis-
sen ist formalisiert eine geschlossene Regelmenge, konkret aber der Sprachbesitz
eines Einzelnen, wobei es prinzipiell gleichgültig ist, bis zu welchem Grad dieser
einzelne Sprachbesitz dem Ganzen einer Sprachgemeinschaft entspricht: Jeder
idiolektale Zug hat gleichen Anspruch auf Beschreibung und Erklärung wie überin-
dividuelle Phänomene. Auf diese Weise kommen die Grenzen einer Sprache gar nicht
in Sicht – oder eben nur in der Verschiedenheit der Symbolbeziehungen, die aber mit
Sprachvarietäten bzw. verschiedenen Sprachen nach herkömmlicher
(”vortheoretischer”) Auffassung nichts zu tun haben müssen.
Anders verhält es sich aber in der Alltagsauffassung von Sprachen. Hier ist das
Erlebnis einer Verschiedenheit konstitutiv, und Verschiedenheiten stellen sich auch
innerhalb einer umfassenden Sprachgemeinschaft ein. Diese Verschiedenheiten
reflektieren gemeinsame Werthaltungen, soziale und politische Einstellungen, die den
konkreten sprachlichen Ausdrücken und ihren Varianten auf allen sprachlichen
Ebenen einen bestimmten Symbolwert zuordnen. Sprachliche Merkmale erhalten
damit die Funktionen der Gruppenkonstitution und der Gruppenabgrenzung. Diese
Funktionen durchdringen die Sprachgemeinschaft bis zum sprechenden Individuum,
das durch seine sprachliche Ausdrucksweise seine Rollenzugehörigkeit und sein
Einstellungs- und Wertesystem bezeichnet. Solche Erlebnisse führen dazu, daß be-
stimmte sprachliche Formen zusätzlich zu ihrer Referenzfunktion und zu ihrer for-
malgrammatischen Funktion Einschätzungen und Werthaltungen bezeichnen, die oft
sogar das eigentliche kommunikative Interesse ausmachen. ”Du sprichst nicht meine
Sprache” – diese und ähnliche Ausdrucksweisen sind Ausdrücke für derartige
Differenzen. Wenn man die Saussuresche These der festen Verbindung von
Zeicheninhalt und -ausdruck ernst nimmt, so muß man diesen Differenzen langue-
Status zuerkennen, da ja auch die Konnotationen zur sozialen Seite der Sprache und
somit zum Zeicheninhalt gehören. In dieser Sicht erscheint die Alltagsauffassung von
Sprache durchaus linguistisch begründet, und es ist daher sinnvoll, wenn man sich
schon auf eine Diskussion über den Begriff einer Sprache einläßt, auch diesen Stand-
punkt miteinzubeziehen.
Daß Niederländisch als eigene Sprache, Plattdeutsch hingegen ”nur” als
deutscher Dialekt gilt, mag für den Systemlinguisten unerheblich und kein sinnvolles
Forschungsproblem sein: Für die konkreten Sprachteilhaber können aber solche
Unterschiede im einzelnen Lebensbezug konstitutiv sein. Daraus folgt, daß für das
Problem der Begrifflichkeit von ”Sprache” im Sinn einer Einzelsprache Antworten auf
mindestens folgende Fragen gesucht werden müssen:
• Welche sprachlichen Ausdrücke sind Träger von gruppenspezifischen Konnota-
tionen?
• Welche sprachlichen Ebenen sind betroffen?

Richard Schrodt: Der Sprachbegriff zwischen Grammatik


und Pragmatik: Was ist das österreichische Deutsch?
-54-

• Wie gestaltet sich die diatopische und diastratische Verteilung von Konnotations-
systemen?
• Wie sind diese Konnotationssysteme historisch zu erklären?
• Wie kann die Zuordnung von Ausdrucksform und Inhaltsform (im Sinn des
Kopenhagener Stratifikationsmodells) im konkreten Fall historisch erklärt werden?
Im folgenden sollen nur einige Bemerkungen zum letzen Punkt gemacht wer-
den, soweit sie für das systematische Problem der Begrifflichkeit einer Einzelsprache
relevant sind.

2. Pragmatische Merkmale werden grammatische Merkmale


Seit der ”kommunikativ-pragmatischen Wende” in den 70er-Jahren ist es
üblich, der Systemlinguistik nach der Art der strukturalistischen Schulen ein For-
schungsgebiet entgegenzusetzen, das die gesellschaftliche Praxis und die
gesellschaftlichen Bedürfnisse menschlicher Rede in den Vordergrund der wissen-
schaftlichen Untersuchungen stellt. Ähnliches hat es vereinzelt zweifellos auch schon
vorher gegeben: Unter den psychologischen und sprachidealistischen Ansätzen, wie
sie in der Germanistik und vor allem in der Romanistik verbreitet waren, finden sich
viele Bemerkungen und Beobachtungen, die heute durchaus als Fälle sprachprag-
matischer Beschreibungen gelten können. Zu einem konsequenten Neuansatz kam es
allerdings erst im erwähnten Zeitraum als Folge eines Ungenügens und Unbehagens:
Systemlinguistische Konzepte allein waren zur Erklärung, wie sich eine konkrete
Äußerungsbedeutung einer gegebenen linguistischen Einheit einstellt, nicht geeignet.
Daneben bestand vor allem in den USA immer schon das Interesse an soziolin-
guistischen Fragestellungen, die sich dem naturwissenschaftlichen Erklärungs-
anspruch strukturalistischer Richtung entzogen. Wenn wir heute von Sprachprag-
matik sprechen, hat sich das einschlägige Forschungsgebiet entscheidend gewandelt:
Was 1938 Charles Morris als ”Beziehung von Zeichen zu den Interpretanten” ver-
stand, wird heute von Disziplinen wie Psycholinguistik, Soziolinguistik, Neuro-
linguistik und anderen abgedeckt. Es würde hier nicht weit führen, die Definitions-
problematik dieses Faches vorzustellen. Wenn man wissen will, was man unter
sprachwissenschaftlicher ”Pragmatik” verstehen kann, genügt es, einige Kapitel eines
Einführungsbuches vorzuführen: Da finden sich die Beschreibung deiktischer Kate-
gorien wie Pronomina und bestimmter Adverbien, Konversationsimplikaturen,
Präsuppositionen, Sprechakte und Gesprächsstrukturen. Allen diesen Themen ist
gemeinsam, daß sie einen Bezug zu gesellschaftlichen Faktoren der sprachlich Agier-
enden herstellen und Regularitäten im Bereich der Beziehungen von sprachlichen
Formen mit Kontext- und Konsituationsfaktoren formulieren (ein besonders
aufschlußreiches Verfahren beschreibt Savigny 1983; Grundsätzliches zum Einfluß
des Kommunikationsbedarfs auf die pragmatische Dimension und die grammatische
Struktur bei Kanngießer 1976).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-55-

Die Grammatikalisierung pragmatischer Faktoren betrifft aber nicht alle


sprachlichen Ausdruckssysteme im gleichen Maß. Vielmehr zeigt sich, daß der
Kernbereich von Grammatikalisierungen im Bereich dessen liegt, was in der Literatur
gelegentlich als ”subjektive grammatische Kategorie” oder als ”kommunikativ-
pragmatische Kategorie” (Heidolph et al. 1980: 107ff) bezeichnet wird.
Abbildtheoretisch gesehen, gibt es Kategorien, die sich im Wesentlichen auf
außersprachliche Verhältnisse beziehen, und solche, die die Einstellung der
Kommunikationspartner gegenüber ihren Äußerungen bezeichnen. Diese
Unterscheidung ist auch dann sinnvoll, wenn man eine strikte Abbildtheorie des
sprachlichen Zeichens ablehnt. Man kann zwischen Kategorien, die sich auf
außersprachliche Gegebenheiten beziehen und sie in einem komplexen Verhältnis in
einer Einzelsprache abbilden, und solchen, die sich auf die kommunikativ-
pragmatischen Funktionen einer sprachlichen Form beziehen, im Grund nach dem
Fregeschen Verfahren (Frege 1976 [1918]: 30ff, bes. 34ff) unterscheiden: Pragma-
tisch ist demnach alles das, was die (semantischen) Aspekte der Wahrheit und Falsch-
heit ”überragt” (wie sich Frege ausdrückt). Dazu gehören Ausdrücke, für die sich die
Wahrheitsfrage nicht stellt (Befehle, Fragen), weiters Ausdrücke, die für die
Wahrheitsfrage irrelevant sind und zum ”Gedanken” (im Fregeschen Sinn) noch
Elemente des Gefühls, der Stimmung oder der Einbildungskraft hinzufügen, und
schließlich indexikalische Ausdrücke, die mit einem Kontextwissen ergänzt werden
müssen, also z.B. Pronomina. Freges Ausführungen bieten noch immer einen
eindrucksvollen Zugang zu den entsprechenden sprachlichen Kategorien. So sind
kommunikativ-pragmatische und in diesem Sinn pragmatische Funktionen
vornehmlich in modalen Kategorien zu finden wie etwa im verbalen Modus und in
den Modalpartikeln, ebenso in den Ausdrucksformen der Thema-Rhema-Gliederung
und natürlich in den rhetorischen oder stilistischen Varianten von Synonymen.
Die Unterscheidung zwischen grammatischen und pragmatischen sprachlichen
Kategorien (wie ich sie abkürzend so nennen will) ist allerdings eine bloß analytische
Unterscheidung. Oft kommt einer grammatischen Kategorie noch eine pragmatische
Komponente durch diachronische oder universelle Prozesse hinzu. Das kann im
Prinzip bei allen zunächst oder auf einer primären, wörtlichen Ebene ”rein gram-
matischen” Kategorien vorkommen. Ein Beispiel: Der Numerus ist typischerweise eine
grammatische Kategorie, insofern er sich auf die außersprachlichen Verhältnisse der
Zahl der Referenzobjekte bezieht. Er kann aber auch zu pragmatischen Kategorie
werden, wenn er zur Signalisierung von Höflichkeitsformen eingesetzt wird und sich
etwa im Gegensatz zum ”wörtlichen” Plural auf eine Einzelperson in höflicher
Anrede bezieht. Es ist letztlich eine Frage der Usualisierung, ob aus diesen
Höflichkeitsformen ein eigenes Paradigma wird und damit in den Bereich der
grammatischen Formen übertritt. Letztlich kann man für jede pragmatische Kategorie
einen eigenen (abstrakten) Referenzbereich konstruieren, sodaß der Gegensatz
zwischen grammatischem und pragmatischen Bereich verschwindet. Diese zunächst
nur theoretische Möglichkeit (eine Art ”linguistischer Konstruktivismus”) gewinnt

Richard Schrodt: Der Sprachbegriff zwischen Grammatik


und Pragmatik: Was ist das österreichische Deutsch?
-56-

überall dort sprachliche Gestalt, wo der Kontext- und Konsituationsbezug ver-


schwindet, was zeichentheoretisch auf eine feste Referenzbeziehung deutet. In der
Sprachgeschichte gehören solche Vorgänge zum den diachronischen Universalien.
Besonders deutliche Beispiele finden sich im Bereich der Modalität. Ein gutes Beispiel
ist die Herausbildung des Admirativs im Albanischen: Er hat einen weiten Be-
deutungsbereich wie Fremdbezeugtheit, indirektes Erlebnis, Staunen, Begeisterung,
Überraschung, Besorgnis, Zweifel, Ironie und kann selbst wieder im Konjunktiv
stehen. Hier ist zweifellos eine subjektive grammatische Kategorie gewissermaßen
objektiviert worden.

3. Pragmatische Merkmale bauen auf grammatischen Merkmalen


auf
Gelegentlich werden die Ausdrücke ”pragmatisch” und ”grammatisch” so
angeführt, daß man denken könnte, es handle sich um zwei getrennte, vielleicht
sogar antagonistische Gebiete sprachwissenschaftlicher Theorienbildung. Jedoch darf
die bequeme Benennung der entsprechenden Forschungsgebiete nicht dazu führen,
den gegenseitigen Bezug dieser beiden Disziplinen zu verkennen. Ohne viel Über-
treibung kann man in metaphorischer Ausdrucksweise behaupten, daß die Pragmatik
auf die Grammatik angewiesen ist und umgekehrt. Daß in vielen Bereichen gram-
matische Erscheinungen auf pragmatische Phänomene aufbauen, zeigen schon die
deiktischen Kategorien - und das sind nicht nur Artikel und Pronomina, sondern
auch manche Tempusformen. Der umgekehrte Fall ist vielleicht nicht so offen-
sichtlich, und möglicherweise ist gerade hier der Neuansatz in der linguistischen
Theoriebildung besonders deutlich (so daß man oft von einem Paradigmenwechsel
spricht). Tatsächlich setzen aber pragmatische Regeln formalgrammatische Regeln
voraus. Das zeigt sich z.B. deutlich bei den sekundären Sprechakten, wo sich der
spezifische kommunikative Effekt gerade im Kontrast zum ”wörtlichen” Sprechakt
einstellt, und Serialisierungsbeschränkungen bei konjungierten Nominalphrasen in
der Form Vater und Sohn (*Sohn und Vater), Leben und Tod (*Tod und Leben), Mann
und Frau (*Frau und Mann), vgl. dazu Givón (1990: 488ff). Diese Serialisierungs-
beschränkungen setzen die kategorielle Gleichheit der beiden Nominalphrasen auf
der formalsemantischen Ebene voraus. Aus diesen wenigen Beispielen und weiteren
Überlegungen, die hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden können, ist zu be-
gründen, daß die Pragmatik in der Gesamttheorie der linguistischen Kompetenz
enthalten ist und daß sie als Komponente der Grammatik gelten kann. Die Grenze
zwischen Pragmatik und Grammatik liegt dort, wo aus einer zugrundeliegenden
formalgrammatischen bzw. formalsemantischen Einheit durch verschiedene durch
Weltwissen und kontext- bzw. konsituationsabhängige Inferenzen Äußerungs-
bedeutungen entstehen können. Engen sich diese Verschiedenheiten durch Usual-
isierung ein, entsteht eine feste Verbindung von Ausdruck und Inhalt und damit eine
formalgrammatische Einheit. Die Usualisierung von Metaphern, Euphemismen und
Hyperbeln ist ein anschauliches Beispiel für solche Prozesse (dazu weitere Hinweise

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-57-

bei Levinson 1994: 166ff). Aspekte des Sprachgebrauchs wirken auf Aspekte der
Sprachstruktur zurück und verändern diese Struktur selbst. In diachronischer Sicht
zeigt sich ein stetiger Fluß von pragmatischen Gebrauchsregeln zu grammatischen
Zeichenregeln: Pragmatik und Grammatik sind durch das Kriterium der intentionalen
Kommunikation verbunden. Unterschiede bestehen in der konventionellen
Verbundenheit von Form und Funktion (grammatisch: systematisch eindeutig,
pragmatisch: systematisch - nicht beliebig! - mehrdeutig) und in der Art der
Kontrastgruppe (grammatisch: geschlossenes demotiviertes Zeichenparadigma,
pragmatisch: offene motivierte Kontrastgruppe). Konventionalisierungen führen zu
geschlossenen demotivierten Paradigmen mit grammatischer Regularität. Das Krite-
rium der systematischen Mehrdeutigkeit erlaubt es, typisch pragmatische Phänomene
wie Höflichkeitsformen konsequent grammatisch zu beschreiben (das fordert
nachdrücklich Schubert 1985).

4. Mögliche Mißverständnisse und ihre Auswirkungen auf den


Sprachbegriff
Sprachliche Formen und Regeln haben also formalgrammatische und pragma-
tische Funktionen. Das gleiche sprachliche Material tritt somit in zwei Funktions-
bereichen auf, was man für die Ausdrucksformen etwa so darstellen könnte:
Pragmatische Funktionen:
Sprachliche Ebene 1
Sprachliche Ebene 2
Sprachliche Ebene 3
.
.
Formalgrammatische Funktionen:
Sprachliche Ebene 1
Sprachliche Ebene 2
Sprachliche Ebene 3
.
.
In der Diskussion über bestimmte Ausdrucksformen kommt es oft zu Mißver-
ständnissen, wenn man den Funktionsbereich nicht nennt. Geläufig ist die Unterstel-
lung, daß von formalgrammatischen Funktionen die Rede sein soll, während es
tatsächlich um pragmatische Funktionen geht. Formalgrammatische Funktionen sind
besser und genauer kodifiziert als pragmatische Funktionen, sie machen sozusagen
den prototypischen Bereich der Grammatik (als Beschreibung einer Einzelsprache
verstanden) aus. Ein ähnliches Mißverständnis kommt dann zustande, wenn eine
kommunikativ-pragmatische Kategorie fälschlicherweise als formalgrammatische
Kategorie beschrieben und kodifiziert wird. Das ist m.M. bei der Zeitenfolge im
Neuhochdeutschen der Fall, die – wie ich in einer demnächst erscheinenden Unter-

Richard Schrodt: Der Sprachbegriff zwischen Grammatik


und Pragmatik: Was ist das österreichische Deutsch?
-58-

suchung zeigen werde – tatsächlich eine Aspektkongruenz ist und die subjektiven
Darstellungsweise im Sinn eines vom Sprecher gewählten Blickpunkts ausdrückt. Ein
Hinweis auf diesen ”Kategorienfehler” ist, daß die Zeitenfolgeregeln in den verschie-
den Grammatiken auch sehr verschieden dargestellt werden. Pragmatische
Phänomene werden daher sehr oft als nicht konstitutiv für die Frage nach dem
Sprachbegriff angesehen.
Die synchrone und diachrone ”Durchlässigkeit” der Grenze zwischen Gram-
matik und Pragmatik ist ein guter Grund dafür, den Begriff einer Einzelsprache
gerade aus den pragmatischen Funktionen abzuleiten: Im Bereich der Pragmatik
setzen gerade die Vorgänge an, die dann schließlich zu grammatischen Regeln und
festen Zeichenrelationen führen können. Auch hier ist die Zeitenfolge ein gutes
Beispiel, sind doch die geläufigen Regeln der lateinischen Schulgrammatik
Normierungen aus spätklassischer Zeit. Dazu kommt noch, daß ein solcher
”subjektiver” Sprachbegriff auch auf substrukturellen Phänomenen aufbauen kann,
die für das Erleben von Andersartigkeiten und damit zur Bezeichnung sozialer Ein-
stellungen konstitutiv sind – man denke etwa an die Erscheinung der
”Grenzversteifung”, d.h. der Verstärkung von Dialektunterschieden im Bereich der
Dialektgrenzen im Vergleich zu den Kernbereichen der Dialekte. Wenn man über-
haupt den Begriff einer Einzelsprache fassen will, dann erscheint es mir unabweis-
lich, die Grenze des kodifizierten formalgrammatischen Bereiches für die Frage nach
der Eigenständigkeit einer Sprache zu überschreiten. In diesem Sinn kann kein
Zweifel daran bestehen, daß das österreichische Deutsch als eigenständige Varietät
einer Gesamtsprache ”Deutsch” gewertet werden muß.

Literatur:
Frege, Gottlob (1976): Logische Untersuchungen. Herausgegeben und eingeleitet von
Günther Patzig. Göttingen (2. Aufl.)
Givòn, Talmy (1990): Syntax Bd. II, Amsterdam-Philadelphia
Heidolph, Karl Erich / Walter Flämig / Wolfgang Motsch und Kollektiv (1981):
Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin.
Kanngießer, Siegfried (1976): Sprachliche Universalien und diachrone Prozesse. In:
Karl-Otto Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt/Main 1976,
273-393.
Levinson, Stephen C. (1994): Pragmatik. Tübingen (= Konzepte der Sprach- und Lite-
raturwissenschaft 39) (2. Aufl.)
Savigny, Eike von (1983): Zum Begriff der Sprache. Stuttgart.
Schubert, Klaus (1985): Ist Höflichkeit ungrammatisch? In: Wilfried Kürschner /
Rüdiger Vogt (Hgg.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres. Akten des 19.
Linguistischen Kolloquiums Vechta 1984, Bd. 2. Tübingen (= Linguistische Ar-
beiten 157), 151–162.
Stechow, Arnim von / Wolfgang Sternefeld (1988): Bausteine syntaktischen Wissens.
Opladen.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 59-75

Peter Wiesinger

(Wien)

Das österreichische Deutsch in der Diskussion

Die Frage nach Struktur, Stellung, Beurteilung und Benennung der deutschen
Sprache in Österreich im Verhältnis zur deutschen Sprache in weiteren deutschspra-
chigen Ländern, insbesondere in Deutschland ist insofern bedeutsam, als Gesellschaft,
Sprache und Sprachverhalten engstens miteinander verbunden sind. In der Sprache
findet sich nämlich der geistig-kulturelle Niederschlag der Gesellschaft, und diese be-
stimmt das Sprachverhalten in der Kommunikation, so daß die Sprache ihrerseits
wieder zur Identität der Gesellschaft beiträgt. Für das heutige Österreich ist dies
dahingehend wesentlich, daß nach der Ersten Republik von 1918 als ein "Staat, den
keiner wollte" und der vorübergehenden Einverleibung in das nationalsozialistische
Deutsche Reich zwischen 1938 und 1945 Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg
seine staatliche Souveräntität wiedererlangte und sich nun in der Zweiten Republik
zunehmend ein österreichisches Nationalbewußtsein bildet und verfestigt, zu dem
auch die Sprache beiträgt. Wesentlicher äußerer Ausdruck dafür ist das ab 1947 im
Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht erarbeitete und 1951 erschienene
"Österreichische Wörterbuch", das nun in fortgeführter 37. Auflage von 1990
vorliegt und als lexikographisches Nachschlagewerk für die österreichischen Schulen
verbindlich ist. Zugleich zeigt sich anhand der darin festgehaltenen Austriazismen
und der Markierung von in Österreich ungebräuchlichen Ausdrücken der
Standardsprache in Deutschland besonders mittel- und norddeutscher Herkunft, daß
die deutsche Sprache in Österreich eine eigene Varietät bildet. Sie wird aber in der
seit etwa 1980 intensivierten, hauptsächlich von der universitären germanistischen
Sprachwissenschaft getragenen Forschung zum Teil unterschiedlich beurteilt. Im
folgenden sollen wesentliche Standpunkte vorgestellt und diskutiert werden. Dabei ist
zu berücksichtigen, daß der geschlossene deutsche Sprachraum acht Länder mit
unterschiedlichem Status des Deutschen umfaßt. Deutsch ist Staatssprache in
Deutschland, Österreich, Liechtenstein und in der deutschsprachigen Schweiz, neben
anderen Sprachen hat Deutsch amtlichen bzw. offiziellen Status in Belgien,
Luxemburg und Südtirol (Italien), und schließlich wird es mit starken Ein-
schränkungen öffentlich, wenn auch nicht amtlich in Elsaß-Lothringen (Frankreich)
verwendet.
Mit der Frage nach den Ausformungen der deutschen Sprache in den einzelnen
Ländern des geschlossenen deutschen Sprachraums und der Frage nach der ver-
-60-

bindlichen Norm befaßte sich in Deutschland schon seit den 1950er Jahren nach-
drücklich Hugo Moser. Bis zu seiner diesbezüglich letzten Veröffentlichung von 1985
vertrat Moser die Auffassung1, daß das Deutsche in der damaligen Bundesrepublik
Deutschland schon auf Grund der zentralen Lage und der höchsten Bevölkerungs-
und damit Sprecherzahl die Hauptvarietät verkörpere und damit die Norm darstelle.
Ihr schloß er als Nebenvarietät das Deutsche der damaligen Deutschen
Demokratischen Republik auf Grund ihres andersartigen gesellschaftspolitischen
Systems und der sich dadurch anbahnenden Wegentwicklung an. Beide Varietäten,
wobei für die graduelle Abstufung der politische Alleinvertretungsanspruch der
Bundesrepublik Pate gestanden haben dürfte, wurden zum Binnendeutschen zu-
sammengefaßt. Demgegenüber bildete das Deutsche in den im Westen und Süden an
die Bundesrepublik anschließenden deutschsprachigen Gebieten von Belgien,
Luxemburg, Elsaß-Lothringen, der Schweiz, Südtirols und Österreichs das Rand-
deutsche. Das bedeutet, daß aus binnendeutscher Sicht sprachliche Varianten etwa in
der Schweiz und in Österreich als Abweichungen erscheinen und eine Sonderstellung
einnehmen, indem sie in den betreffenden Ländern zwar durchaus standard-
sprachlich-normativ gelten können, aber hinsichtlich einer wünschenswerten, all-
seits verbindlichen Norm des Deutschen als Einheitssprache eben Regionalismen ohne
Normanspruch darstellen. Zur Änderung dieser monozentrischen Auffassung einer
invariablen, einheitlichen deutschen Schrift- und Standardsprache hat der au-
stralische Germanist Michael Clyne 1984 mit seinem Buch "Language and Society in
the German Speaking Countries" den Anstoß gegeben2. Darin stellt Clyne dem
monozentrischen Konzept mit nur einer Norm eine plurizentrische Beurteilung ge-
genüber, indem das Deutsche auf Grund von Varianten vielmehr über gleichwertige
nationale Varietäten in den einzelnen deutschsprachigen Staaten, ausgehend von de-
ren jeweiligen Zentren, verfüge3. Dadurch aber ist der etwas unterschiedliche
Sprachgebrauch insbesondere in Deutschland, Österreich und der Schweiz jeweils als
gleichrangig und gleichwertig anzusehen und kann das Deutsche in Deutschland,
also das Binnendeutsche im Sinne von Moser, nicht mehr als die alleinige, allgemein
verbindliche Norm gelten. Für ein polyzentrisches Konzept des Deutschen plädierte
dann 1986 Peter von Polenz auf der Internationalen Deutschlehrertagung in Bern
und fand besonders die Zustimmung der Vertreter der Deutschen Demokratischen
Republik und Österreichs4. 1988 machte dann Peter von Polenz diese neue
Auffassung in der "Zeitschrift für germanistische Linguistik" allgemein bekannt und
untermauerte sie mit einer Reihe weiterer Argumente5. War die Beurteilung des
österreichischen Deutsch und des Schweizerdeutschen als eigenständigen Varietäten

1
Moser (1985), S. 1687ff.
2
Clyne (1984). Wichtige Fortführungen bieten Clyne (1989, 1992) und besonders hinsichtlich
Österreichs Clyne (1993).
3
Den Begriff der Plurizentrizität hat bereits eingeführt Kloss (1978), S. 66ff.
4
Vgl. Hartung (1986) und Polenz (1987).
5
Polenz (1988), vgl. auch als Fortführung Polenz (1990).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-61-

des Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg in den betreffenden Ländern eine
unbestrittene Selbstverständlichkeit, so bedeutete der bundesdeutsche Beurtei-
lungswandel nur ein theoretisches Nachziehen als Anerkennung der herrschenden
sprachlichen Realitäten. Dementsprechend folgte in Deutschland und teilweise auch
aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland Zustimmung6. Praktisch änderte dieser
Meinungsumschwung freilich nichts, denn der Duden hatte in seine Rechtschreibung
als orthographisches Regelwerk für die deutsche Sprache schon seit 1970 zu-
nehmend süddeutsche, österreichische und schweizerdeutsche Varianten mit ent-
sprechender Kennzeichnung aufgenommen, ohne bei diesem pragmatischen Verfah-
ren die Frage nach deren Verhältnis zu einer Norm zu stellen7, und Hugo Moser
mußte, um nicht realitätsfremd zu sein, bei der bisher letzten Neubearbeitung der
Deutschen Aussprache im Siebs 1969 süddeutsche, österreichische und schweizer-
deutsche Eigenheiten zumindest als gemäßigte Hochlautung anerkennen und ihnen
weitere, wenn auch als "Abweichungen von der gemäßigten Hochlautung" zugeste-
hen8, von denen ein Teil aber schon damals zur Hochlautung bzw. Bühnenausspra-
che in Österreich zählte und vom österreichischen Phonetiker und Sprecherzieher
Felix Trojan eingebracht worden war.
Das österreichische Deutsch wurde besonders von der österreichischen,
teilweise aber auch von der deutschen und außerdeutschen germanistischen
Sprachwissenschaft beschrieben und charakterisiert9. Es zeichnet sich in seiner
geschriebenen Form besonders durch Eigenheiten im Wortschatz hauptsächlich als
Bezeichnungen und seltener auch durch Bedeutungen (onomasiologische und
semasiologische Besonderheiten) sowie in geringerem Umfang durch morphologische
Eigenheiten in der Formen- und Wortbildung einschließlich der Genera des
Substantivs, syntaktische und phraseologische sowie auch pragmatische
Besonderheiten aus. Mündlich kommen dann vor allem noch Besonderheiten der
Aussprache mit Lautbildung und Wortakzentuierung hinzu. Dabei bestehen noch
zusätzliche Unterschiede je nach der Sprechebene, nämlich ob es sich um
Hochlautung oder Standardlautung rhetorisch geschulter Berufssprecher wie
Rundfunk- und Fersehansager und -moderatoren oder Schauspieler oder um die
ihrerseits wieder in sich leicht abgestufte Standardsprache hauptsächlich in
öffentlichen, formellen Situationen handelt. Mit Recht ist darauf hingewiesen
worden, daß die schriftliche Variabilität wesentlich geringer ist als die mündliche
und daß die unterschiedliche Klangwirkung der Standardsprache auf der großen
regionalen Differenzierung der konstitutiven Sprechfaktoren nach Artikulationsbasis,

6
Vgl. u.a. Heger (1989), Domaschnew (1989), Besch (1990).
7
Duden-Rechtschreibung, 17.-20. Aufl.
8
Siebs (1969). Hingegen berücksichtigt Max Mangold auch in der 3. Aufl. des Duden-
Aussprachewörterbuches (1994) nicht die Besonderheiten der Standardaussprache in Österreich
und der Schweiz.
9
An Übersichtsdarstellungen der letzten 15 Jahre seien vor allem genannt Ebner (1980, 1989),
Hornung (1987), Mentrup (1980), Moosmüller (1991), Reiffenstein (1982, 1983); Russ (1994):
German in Austria, pp. 55-75; Wiesinger (1983, 1985, 1988, 1990, 1994).

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
-62-

Lautbildung und Intonation beruht10. Hierin bildet Deutschland ebensowenig eine


Einheit wie Österreich, das diesbezüglich in mehrere, deutlich hörbare Regionen
zerfällt, was bei genügender Erfahrung auch dem Laien die räumliche Zuordnung
eines standardsprachlichen Sprechers ermöglicht11.
Die Stellung des österreichischen Deutsch im Verhältnis zur schriftsprachlichen
Form in Deutschland läßt sich am besten anhand des Wortschatzes und seiner Ver-
breitung aufzeigen. Hier gibt es fünf Bezeichnungs- und eine sechste Bedeutungs-
gruppe. Zunächst beteiligt sich Österreich als oberdeutsches Sprachgebiet mit bairi-
scher Dialektprägung und -herkunft von Tirol bis Niederösterreich und dem Bur-
genland und alemannischer im westlichsten Bundesland Vorarlberg am süd-
deutsch/norddeutschen Gegensatz, indem es Samstag/Sonnabend, Rechen/Harke,
Orange/Apfelsine, kehren/fegen, heuer/dieses Jahr heißt. Die gemeinsame bairische
Stammesherkunft zeigen Übereinstimmungen in Bayern und Österreich wie Maut
'Wegzoll', Knödel 'Kloß', Kren 'Meerrettich'. Die eigentlichen Austriazismen als bloß in
Österreich geltende Bezeichnungen umfassen einerseits die amtssprachliche
Terminologie der staatlichen Einrichtungen und Verwaltung wie National-
rat/Bundestag, Parlament/Bundeshaus, Kundmachung/Bekanntmachung, Ansu-
chen/Gesuch, Erlagschein/Zahlkarte, Matura/Abitur, und andererseits den Ver-
kehrswortschatz, der sich zum Teil erst in den letzten Jahrzehnten allgemein durch-
gesetzt hat und Österreich vom angrenzenden Bayern unterscheidet wie Tisch-
ler/Schreiner, Marille/Aprikose, Obers/Sahne, Jause/Brotzeit, sich verkühlen/sich
(v)erkälten. Die vierte Gruppe zeigt eine innerösterreichische Ost-Westteilung mit
unterschiedlichen Grenzverläufen wie Fleischhauer (älter Fleischhacker)/Metzger,
Rauchfang/Kamin, Ribisel/Johannisbeere, Bartwisch/Kehrwisch, Mistschau-
fel/Kehrschaufel. Die fünfte Gruppe bilden regionale Ausdrücke, die sich zum Teil
auch auf regional begrenzte Erscheinungen beziehen und wozu auch Alemanismen
in Vorarlberg gehören. Die sechste Gruppe betrifft schließlich gemeindeutsche
Wörter mit einer zusätzlichen Bedeutung wie z.B. Bäckerei nicht nur für 'Geschäft
eines Bäckers' sondern auch für 'süßes Kleingebäck'. Alle sechs Wortgruppen werden
aus österreichischer Sicht trotz der über Österreich hinausreichenden Gültigkeit der
ersten und zweiten Gruppe sowie teilweise der fünften und sechsten Gruppe insofern
als Austriazismen zusammengefaßt, als ihr Gebrauch für Österreich charakteristisch
ist. Sie unterscheiden sich insgesamt deutlich vom nord- und mitteldeutschen
schriftsprachlichen Gebrauch, der teilweise auch in Süddeutschland als
schriftsprachliche Norm angesehen wird und den die österreichische Forschung als
"binnendeutsch" bezeichnet hat, doch trotz des übereinstimmenden Terminus in et-
was anderem Sinn als Hugo Moser. Diese gut erfaßten lexikalischen Austriazismen
verteilen sich auf unterschiedliche Sachgebiete und belaufen sich nach ihrer Zu-
sammenstellung von Jakob Ebner in seinem Wörterbuch "Wie sagt man in Öster-

10
Vgl. Besch (1990).
11
Proben dafür bringt Moosmüller (1991), S. 124ff.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-63-

reich?" auf etwa 4.000 Wörter. Demgegenüber verzeichnet Dudens "Großes Wörter-
buch der deutschen Sprache" einschließlich der Ableitungen und Komposita über
200.000 Stichwörter12. Im Vergleich machen daher die Austriazismen etwa 2 % aus,
oder anders ausgedrückt entfallen auf einen Text von 100 Wörtern im Durchschnitt
2 Austriazismen, wobei aber das tatsächliche Vorkommen auf Grund der
unterschiedlichen Verteilungen je nach Sachgebiet und Inhalt wechselt.
Die Unterschiedlichkeit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wobei sich
letztere ja nicht bloß auf die Standardsprache beschränkt, sondern zu dieser bei
fließenden Übergängen noch Umgangssprache und Dialekt hinzukommen13, sowie
die insgesamt beschränkte Zahl schriftsprachlicher österreichischer Besonderheiten
gegenüber einer dominanten Fülle schriftsprachlicher Gemeinsamkeiten mit der
allgemeinen deutschen Schriftsprache hat in den einschlägigen Beiträgen der
österreichischen germanistischen Sprachwissenschaftler Jakob Ebner, Ingo
Reiffenstein, Hans Moser, Maria Hornung und von mir zu weitgehender
Übereinstimmung in der Beurteilung geführt14. Einigkeit besteht darin, daß
angesichts der verhältnismäßig geringen Anzahl österreichischer Besonderheiten und
zum Teil zusätzlicher innerösterreichischer Unterschiede terminologisch nur die
Bezeichnung "österreichisches Deutsch" angemessen und sinnvoll ist. Schon 1980
stellt Jakob Ebner diesbezüglich fest:15
Ein einheitliches "Österreichisch" gibt es dennoch nicht. Was man als öster-
reichisches Deutsch bezeichnet, ist die Gesamtheit der in Österreich oder einer
österreichischen Landschaft vorkommenden sprachlichen Eigenheiten.
Unterschiedlichkeit, auch über Österreich hinaus, besteht in der Frage, inwie-
weit man bei Zusammenfassung der einzelnen Varianten zu Varietäten als Teilsy-
stemen innerhalb des Deutschen mit Bezug auf die Sprachverhältnisse eines Staats-
gebietes von nationalen Varianten und Varietäten sprechen kann. Diesbezüglich sagt
Peter von Polenz16:
Es kommt darauf an, welche Varianten mit dem Verhalten der Sprachbenutzer
als Staatsbürger in systemhafter Weise etwas zu tun haben, und zwar in ihrer
referenziellen und prädikativen Funktion ebenso wie in ihrer pragmatischen und
sprachsymptomatischen.
In diesem Sinn fassen, ohne zum Teil diese nicht immer klar definierten und
deshalb auch etwas unterschiedlich eingesetzten Termini zu gebrauchen, sicher Jakob
Ebner, Maria Hornung und ich das österreichische Deutsch als Varietät der

12
Die Zahlen jeweils nach den Angaben der betreffenden Wörterbücher: Ebner (1980), Umschlag;
Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1 (1993), S. 6.
13
Vgl. dazu neben Moosmüller (1991) auch Wiesinger (1988a, 1992).
14
Vgl. besonders die in Anm. 9 genannten Darstellungen sowie Hornung (1973) und hinsichtlich der
Aussprache Moser (1989).
15
Ebner (1980), S. 215.
16
Polenz (1990), S. 7.

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
-64-

deutschen Sprache auf. Ausdrücklich als "nationale Variante" bzw. "nationale Va-
rietät" bezeichnen sie in Österreich Hans Moser und außerhalb Peter von Polenz,
Michael Clyne und Anatoli Domaschnew17 Hingegen hält Ingo Reiffenstein die
österreichischen Besonderheiten zahlenmäßig für zu gering, um von einer
"nationalen Variante der deutschen Hochsprache" zu sprechen, wenn er 1982 fest-
stellt18:
Daß Österreich ein Teil des Geltungsbereiches der deutschen Hochsprache ist,
ist unbestritten. Ein unbestrittenes Faktum aber ist auch, daß die deutsche
Hochsprache in Österreich in einigen Punkten von der z.B. in der BRD gültigen Norm
abweicht, vor allem im Lexikon, aber auch in der Hochlautung. Soweit diese
Abweichungen in den Normenbüchern ... kodifiziert sind, reichen sie meines
Erachtens nicht aus, von einer nationalen österreichischen Variante der deutschen
Hochsprache zu reden, zumal es landschaftliche Wortschatzunterschiede ja auch
sonst im Binnendeutschen gibt. Und 1983 sagt Reiffenstein noch deutlicher19:
"Nationale Souveränität, abweichendes Gesellschaftssystem und ähnliches reichen
dafür (= für nationale Varianten des Deutschen) nicht aus. Wenn man als
Kriterium festsetzen wollte, daß von nationalen Varianten erst dann gesprochen
werden kann, wenn für bestimmte Varietäten ein eigenes, in sich kohärentes
Normensystem kodifiziert wird, dann gibt es innerhalb des deutschen keine
nationalen Varianten. Die je kodifizierten lexikalischen Besonderheiten sind nach
meiner Meinung ein zu schmaler Ausschnitt eines Sprachsystems, um das
Kriterium eines kohärenten Normensystems erfüllen zu können."
Auch Werner Besch pflichtet 1990 Reiffenstein bei, wenn er u.a. schreibt: 20:
"In der geschriebenen Form der Schriftsprache sind wir noch Brüder (und
Schwestern). Da spielt Nord und Süd kaum eine Rolle. ... Unterschiede, die im
Geschriebenen auftauchen, sind "eher unerheblich" ... Unterschiede in Lexikon und
Semantik werden notorisch überschätzt, auch bezüglich der anderen drei
deutschsprachigen Staaten. Sie haben wenig Gewicht im Blick auf den großen
gemeinsamen Gesamtwortschatz. ... Es bedarf einer langen Beobachtungszeit und
einer gewichteten Teilmenge an Beispielen, ehe ihnen der Status nationaler Variation
zugesprochen werden kann."
Insgesamt scheint es sich angesichts der für Österreich allseits als gültig aner-
kannten Varianten nur um einen Streit um Definitionen zu handeln, denn für den
gegenwärtigen österreichischen Sprachzustand kann weiterhin meine Beurteilung
von 1988 (1985) gelten21:

17
Moser (1989), S. 25; Polenz (1988), S. 204; Polenz (1990), S. 31; Clyne (1989, 1992, 1993);
Domaschnew (1993), S. 8.
18
Reiffenstein (1982), S. 13.
19
Reiffenstein (1983), S. 23.
20
Besch (1990), S. 93.
21
Wiesinger (1988), S. 17.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-65-

Nach nunmehr rund 40 Jahren nimmt heute das österreichische Deutsch,


obwohl es keine völlige Einheit bildet, als regionale Variante des Deutschen seinen
festen, allseits anerkannten Platz ein.
Bei genauerer Betrachtung aber bietet die Bezeichnung "nationale Variante"
bzw. "nationale Varietät" die Möglichkeit, über den realen Sprachzustand mit der
uneinheitlichen Gültigkeit der einzelnen Varianten hinweg und unter Vernachlässi-
gung der überwiegenden, allgemein verbindlichen deutschen Gemeinsamkeiten das
nationale Moment ungebührlich hervorzukehren und die Varietät als selbständige,
territorial abgegrenzte, staatsgebundene Sprachform im Sinne einer Nationalsprache
hinzustellen und dann entsprechende Kodifizierungen von Grammatik und Wort-
schatz zu verlangen, um auf diese Weise in formaler Abgrenzung eine Identität von
Staatsnation und Sprache, allerdings gegen die sprachliche Realität, zu erreichen22. In
dieser Hinsicht verfährt Rudolf Muhr, wenn er zwar die deutsche Sprache in
Österreich als eine Varietät des Deutschen gelten läßt, sie aber bewußt als
"Österreichisch" bezeichnet, um damit weitere sprachpolitische Ziele anzusteuern.
Bereits in seinem diesbezüglich ersten Aufsatz von 1982 "Österreichisch. An-
merkungen zur linguistischen Schizophrenie einer Nation" fragt Muhr nach dem
Verhältnis von Nation und Sprache. Dabei bildet der Ansatz Herders den Ausgang,
der angesichts einer im 18. Jh. fehlenden politischen Einheit der Deutschen über die
zahlreichen Kleinstaaten hinweg Kultur und Sprache zum einigenden Band machte,
wozu dann im 19. Jh. noch der Lebensraum hinzukam, so daß schließlich eine Nation
als Einheit von Volk, Territorium, Sprache und Kultur definiert wurde. Einen solchen
Nationsbegriff erstrebt nun Muhr auch für den selbständigen Staat Österreich und
seine Staatsbürger und empfindet es als Schizophrenie, daß die heute zweifellos
vorhandene, vom Volk anerkannte und in der Volksmeinung fest verankerte
österreichische Nation keine ihr spezifische Sprache haben soll. Denn die heimische
gesprochene und die außerhalb kodifizierte und geregelte Schriftsprache würden
auseinanderklaffen und in weiten Bevölkerungskreisen Kommunikationshemmungen
mit sprachlichen und sozialen Minderwertigkeitsgefühlen auslösen. Daraus ergibt
sich nun für Muhr die Notwendigkeit, nach einer Verbindungsmöglichkeit von
Sprache, Sprachgebrauch und Nation zu suchen und damit ein entsprechendes
"Österreichisch" herauszubilden.
Das geschieht dann 1987 im Aufsatz "Deutsch in Österreich - Österreichisch.
Zur Begriffsbestimmung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich".
Standardsprache wird hier ohne Berücksichtigung ihrer Struktur unter Beiseitelas-
sung der allgemein üblichen Definition als erstrebte mündliche Realisierung der
Schriftsprache bloß als Sprachnorm in der Öffentlichkeit verstanden. Als Beispiele für
öffentlichen Sprachgebrauch in Österreich werden nun folgende mündliche
Sprachproben herangezogen: das Lied des Popmusikers Wolfgang Ambros "A jeda

22
Auf die Möglichkeit, daß österreichische Sprachnormen "für sprachseparatistische Bestrebungen
mißbraucht werden könnten", weist bereits Moser (1989), S. 25, hin.

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
-66-

kheat zu aner Minderheit" im Wiener Dialekt, eine weitgehend in ostösterreichisch-


wienerischer Umgangssprache geführte Fernsehdiskussion der Parteipolitiker Franz
Vranitzky und Alois Mock im Hinblick auf die damals bevorstehende Nationalrats-
wahl sowie weitere kurze umgangssprachliche Beispiele eines Innsbrucker Chirur-
gen, zweier höherer Beamter sowie einer Haupt- und einer Volksschullehrerin. Muhr
ist sich natürlich als Sprachwissenschaftler der Diskrepanz gegenüber der all-
gemeinen, auch in Österreich üblichen Auffassung von Standardsprache - volks-
tümlich als "Hochdeutsch" bezeichnet - bewußt und vor allem, daß das Dialektlied,
das er bei Vermeidung der üblichen Termini Dialekt und Umgangssprache auch als
"ostösterreichische Stadtsprache (Wien) - Alltagssprache" von den weiteren Proben
als "Standardsprache mit alltagssprachlichen Einschüben" bzw. "mit regional-
sprachlichen Merkmalen" abhebt, einer solchen Auffassung nicht entspricht. So
versucht Muhr, zwei neue Begriffe von Standardsprache zu schaffen, nämlich einen
"Standard nach außen" und einen "Standard nach innen". Als "Standard nach außen"
wird "die herkömmliche Standardsprache" verstanden, die man als Vortrags- und
Vorlesesprache und im Umgang mit Fremden gebrauche, so daß sie für einen
Großteil der Österreicher eine fremdartige "Norm des Uneigentlichseins" darstelle,
eine Einstufung, die, wie soziolinguistische Erhebungen zeigen, dem Status und der
Einschätzung der Standardsprache nicht entsprechen23. Demgegenüber sei der
"Standard nach innen" die unter Österreichern in Alltagssituationen verwendete
Sprachform als vertraute "Norm des Eigentlichseins", die für "ungefährdete, ent-
spannte Normalität" sorge, weil hier Ungezwungenheit und keine Gefahr von
Normverstößen gegeben sei. Dabei wird zwar in sprachsoziologischer Hinsicht mit
dem Hinweis auf angebliche soziolinguistische Unangemessenheit bewußt das Glie-
derungsmodell der gesprochenen Sprache in Standardsprache - Umgangssprache -
Dialekt aufgegeben, aber in bezug auf dieses werden die Sprachschichten der Um-
gangssprache und des Dialekts und damit des sogenannten Substandards zum an-
geblichen Standard und damit zur Standardsprache in Österreich erklärt und dem-
entsprechend auch als "Österreichisch" benannt.
So handelt es sich, wie Muhr dann 1989 in seinem zusammenfassenden
Thesenpapier "Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache - Gespaltenes
Bewußtsein - Gespaltene Identität" ausführt, bei "Deutsch" und "Österreichisch" um
eine "gespaltene Sprache" oder deutlicher gesagt, um zwei Sprachen. Deshalb lehnt
Muhr auch die Bezeichnung österreichischer Spracheigenheiten als Austriazismen
ab, weil sie ja den Bezug zur deutschen Sprache und ihre Einordnung als Varianten
in diese voraussetzen. Solange aber nun diese sprachliche Trennung durch Verselb-
ständigung von "Österreichisch" nicht völlig vollzogen sei, leide der Österreicher
eben an "gespaltenem Bewußtsein" und an "gespaltener Identität". In diesem Sinn hat
z.B. Hermann Möcker vorgeschlagen, man solle im Verhältnis zu "österreichisch" und

23
Vgl. die Ergebnisse von Selbsteinschätzungen der Sprachverwendung in einzelnen Situationen bei
Wiesinger (1988a) und Urteile bei Moosmüller (1991), S. 16ff.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-67-

"schweizerisch" nicht in mißverständlicher Weise von "deutsch" reden, sondern von


"deutschländisch" und bezüglich der deutschen Staatszugehörigkeit nicht von
"Deutschen" sondern von "Deutschländern"24. In dieselbe Richtung auf sprachliche
Verselbständigung Österreichs zielte bekanntlich schon die 35. Auflage des
"Österreichischen Wörterbuches" von 1979 durch die unmarkierte Aufnahme
zahlreicher Ausdrücke aus Umgangssprache, Dialekt und Jargon, die aber, da sie
gegen den standardsprachlichen Gebrauch in Österreich gerichtet waren und diesen
verfälschten, unter vielseitiger Kritik in der folgenden 36. Auflage von 1985
zurückgenommen wurden25. Dieselben Ziele verfolgen 1992 auch die
sprachpolitischen Plädoyers und Argumentationen von Wolfgang Pollak26, 1993 die
Aufzeigung von Wegen zur Sprachnormierung und Anerkennung kleinstaatlicher
Varietäten im Rahmen polyzentrischer Sprachen von Michael Clyne27, die
Aufforderung von Anatoli Domaschnew, die Österreicher mögen die ihnen eigene
Sprache in einem eigenen Wörterbuch als Norm kodifizieren28 sowie 1994 die
ähnlichen, gegen Vereinnahmung durch Deutschland und ebenfalls zur Abgrenzung
von Ruth Wodak angestellten Überlegungen unter dem Titel "Wir sind nicht Duden-
Land"29.
Einen als Reaktion geradezu gegenteiligen Standpunkt nehmen Hermann
Scheuringer und Norbert Richard Wolf ein30. Sie gehen von westösterreichischen Ver-
hältnissen vom westlichen Oberösterreich über Salzburg bis Tirol aus und damit von
jenen Gebieten, die Österreich nicht nur geographisch, sondern auch sprachlich mit
Bayern bzw. überhaupt mit dem süddeutschen Raum verbinden. Sprachlich bilden
diese Gebiete hinsichtlich der lexikalischen Ost-Westteilung Österreichs die
Westhälfte, zu der mit weiterer Eigenstellung noch Vorarlberg hinzukommt, das sich
diesbezüglich als Gebiet alemannischer Prägung vielfach mit der Schweiz und mit
den anschließenden schwäbischen Gebieten Südwestdeutschlands verbindet. Zwar
sind in den westösterreichischen Gebieten die ostösterreichischen Benennungen
teilweise passiv bekannt, werden aber alltagssprachlich nicht aktiv verwendet31.
Schriftsprachlich herrscht vor allem in Tirol und Vorarlberg viel stärker als in

24
Möcker (1992), S. 249.
25
An Kritiken vgl. u.a. Wiesinger (1980) und Fröhler (1982).
26
Pollak (1992).
27
Clyne (1993).
28
Domaschnew (1993), S. 17ff.
29
Wodak (1994). Es handelt sich bei diesem Artikel um die Kurzfassung des Referates "Gibt es ein
österreichisches Deutsch? - Sprachpolitik in einem modernen Europa" beim Symposion des
Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung "Europa der Ideen" am 28. April 1994 in Wien.
30
Vgl. Scheuringer (1987, 1988, 1989, 1992, 1994) und Wolf (1994, 1994a). Scheuringer (1989), S.
119 sagt in seiner diesbezüglich ersten Beschäftigung mit dieser Thematik von 1986 ausdrücklich:
"Im Sinne einer möglichst im ganzen deutschen Sprachraum tauglichen Standardsprache ist
bewußter Isolationismus, wie er von einer kleinen, aber einflußreichen Gruppe in Österreich forciert
wird, abzulehnen" und mit Bezug auf Muhr (1982): "Das Maß der Abgrenzung ist voll, und die
'linguistische Schizophrenie einer Nation' ist noch nicht eingetreten".
31
Vgl. dazu besonders Forer/Moser (1988) und Metzler (1988).

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
-68-

Ostösterreich Zurückhaltung gegenüber Regionalismen, und Ausdrücke wie Metzker,


Kaminkehrer oder Stopsel haben bayerische bzw. süddeutsche Stützung. Das aber
veranlaßt Scheuringer, gegen die Versuche ostösterreichische Spracheigenheiten als
"österreichisch" für ganz Österreich verbindlich hinzustellen, wie dies bei Rudolf
Muhr zum Ausdruck kommt, zu polemisieren und das sprachnationale Gebaren als
"kakanisch" zu ironisieren. Deshalb ist Scheuringer unter westösterreichischem
Blickwinkel in seinen Beiträgen stets bestrebt, als "österreichisch" geltende
Bezeichnungen zu relativieren und nachzuweisen, daß auch die sogenannten bloß
"deutschen" Bezeichnungen in Österreich vorkommen, sowie westösterreichisch-
bayerische bzw. überhaupt oberdeutsche Gemeinsamkeiten und das nicht nur lexi-
kalisch, sondern auch auf den weiteren sprachlichen Ebenen hervorzukehren. Damit
aber werden als Austriazismen nur jene Beispiele anerkannt, die in ganz Österreich
gelten, also der amts- und verkehrssprachliche Wortschatz der obgenannten dritten
Gruppe, während Ausdrücke der vierten und fünften Gruppe, also der ostösterrei-
chische und der regionale Wortschatz, den Status von Regionalismen erhält. Ferner
versucht Scheuringer aufzuzeigen, daß eine Reihe österreichischer Ausdrücke nur
mündlich-umgangssprachliches, aber nicht schriftsprachliches Niveau besitze, wie
z.B. picken für kleben, Pickerl für Aufkleber bzw. 'Prüfungsplakette für ein Fahrzeug'
oder Mascherl für Fliege, und das dies auch für Erscheinungen der Morphologie
gelte, wie für das aus dem Dialekt stammende Diminutivsuffix -erl etwa in den
beiden genannten Beispielen. Dabei spiele es keine Rolle, daß solche Erscheinungen
auch geschrieben begegnen. In ähnlicher Weise argumentiert auch Norbert Richard
Wolf. Gegenüber den sprachlichen Verselbständigungsbestrebungen als Aufbau eines
Gegensatzes von "Österreichisch" gegenüber "(Bundes)deutsch" bzw. einer
verselbständigenden nationalen Varietät "Österreichisch", wie sie Rudolf Muhr und
andere betreiben, werden hier die österreichischen Spracheigenheiten bagatellisiert
und statt dessen die Gemeinsamkeiten Österreichs und Süddeutschlands im Rahmen
des Oberdeutschen hervorgehoben. Dementsprechend erscheint es angesichts
heterogener österreichischer Sprachverhältnisse auch nicht erforderlich, die ohnedies
gefestigte und von niemandem angezweifelte nationale Eigenstaatlichkeit Österreichs
mit Hilfe einer nicht vorhandenen Eigensprachlichkeit stützen zu wollen. Ja auf
Grund der sprachlichen Heterogenität sei es gleichermaßen falsch, von
"österreichischem Deutsch" oder von "Österreichisch" sprechen zu wollen, sondern
die Vielfalt, wie sie auch sonst im deutschen Sprachraum herrscht, erlaube auch für
Österreich nur von "Deutsch in Österreich" zu sprechen32.
Beide extremen Standpunkte, die man als österreichisch-national und deutsch-
integrativ bezeichnen könnte, werden den tatsächlichen österreichischen Sprachver-
hältnissen nicht gerecht. Was angesichts dieser Divergenzen not tut, ist ein nüchter-
nes, sachliches Verhältnis zu der auch in Österreich gültigen deutschen Sprache und
zwar in ihrer spezifischen Varietät als österreichisches Deutsch. Dabei ist einerseits

32
Vgl. Scheuringer (1994), S. 36 und 43.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-69-

zu berücksichtigen, daß sich Österreich an allgemeinen Entwicklungen der deut-


schen Gegenwartssprache mitbeteiligt, wie vor allem an den zunehmenden Nomi-
nalisierungstendenzen und dem Rückgang des Genitivs in der Syntax sowie der
starken Aufnahme von Anglizismen im Wortschatz und der uneingeschränkten
Teilnahme an den Terminologien der modernen Fachsprachen, und daß vor allem im
Wortschatz die Austriazismen hinsichtlich des auch in Österreich gültigen ge-
samtdeutschen Wortschatzes eine relativ geringe Anzahl ausmachen und daß dies
erst recht für die Grammatik mit Morphologie und Syntax gilt. Andererseits besteht
in Österreich durch lange Tradition eine lebendige Beziehung zwischen Mündlichkeit
und Schriftlichkeit, so daß bei regionaler Unterschiedlichkeit von Dialekten und
Umgangssprachen es nicht nur zu regionalen Differenzierungen der Standard-
aussprache, sondern auch des als schriftsprachlich geltenden Wortschatzes kommt.
Übereinstimmungen mit dem Süddeutschen als sprachhistorisch gesehen oberdeut-
sche Erscheinungen und besonders bloß ostösterreichische, von der Bundeshauptstadt
Wien aus bestimmte Erscheinungen lassen das österreichische Deutsch in seinem
heutigen Zustand heterogen erscheinen. Bei Berücksichtigung der Sprachgeographie
und zwar jener der Umgangs-, Schrift- und Standardsprache, bestehen im Rahmen
der Polyzentrizität des Deutschen mehrere Zentren, die aber nicht, wie der Australier
Michael Clyne und der Russe Anatoli Domaschnew dies aus der Außensicht
suggerieren möchten, einheitliche, staatsgebundene nationale Varietäten her-
vorrufen, indem jeweils Staat und Sprache koinzidieren würden, sondern in jedem
der deutschsprachigen Staaten gibt es mehrere derartige Zentren. Zwar hat in Öster-
reich Wien als Bundeshauptstadt vorrangiges Prestige, aber es prägt und beeinflußt
sprachlich heute vor allem Ost- und Südösterreich, nämlich Niederösterreich, das
nördliche Burgenland und über Linz Oberösterreich und in Anfängen Salzburg sowie
über Graz und Klagenfurt die Steiermark und Kärnten, während Tirol und erst recht
Vorarlberg, also Westösterreich, davon noch weitgehend unberührt bleiben und
eigene Wege gehen. So gilt für das österreichische Deutsch weiterhin jene schon oben
von Jakob Ebner zitierte Beurteilung als einer Summe von einzelnen, doch
geographisch wechselnden Erscheinungen, denen aber insgesamt normative
Gültigkeit in Österreich zukommt. Insofern kann man mit vollem Recht von einer Va-
rietät österreichisches Deutsch sprechen. Als nationale Varietät wäre es nur dann an-
zusprechen, wenn man darunter keine einheitliche Norm versteht, was aber im
Widerspruch zum Einheitlichkeit erfordernden Begriff Nation steht, und die terri-
tiorialen und pragmatischen Momente seiner Gültigkeit und Verwendung in Öster-
reich zu den alleinigen Kriterien macht. Wohl in diesem Sinn und nicht nur hin-
sichtlich der geringen Beispielanzahl im Vergleich zum deutschen Gesamtsystem
wird man die Zurückweisung des österreichischen Deutsch als einer nationalen Va-
rietät durch Ingo Reiffenstein zu interpretieren haben.
Statt weiterer ideologisch und sprachpolitisch geführter Auseinandersetzungen
wird es zukünftig vielmehr notwendig und zielführender sein, das österreichische
Deutsch einerseits auf dem von einem Teil der Wissenschaftler längst beschrittenen

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
-70-

Weg in objektiver Weise weiter zu erforschen33 und seine Weiterentwicklungen zu


beobachten und andererseits es in weiten Kreisen bewußt zu machen und seine An-
erkennung im Rahmen der Polyzentrizität des Deutschen durchzusetzen.
Hier stellen sich folgende Aufgaben:
1. die systematische Registrierung und Beschreibung der Aussprache der
gehobenen und der durchschnittlichen Standardsprache als mündliche Realisierung
der Schriftsprache, um festzustellen, was in Österreich von möglichst weiter bis all-
gemeiner Verbreitung und Gültigkeit bei freilich regionaler Unterschiedlichkeit der
sprechkonstitutiven Faktoren Artikulationsbasis und Intonation ist und worin
regionale Realisierungsunterschiede bestehen. Ein Aussprachewörterbuch des
österreichischen Deutsch unter Einschluß der regionalen Unterschiedlichkeit muß
das Endergebnis sein.
2. die Registrierung und Beschreibung des spezifischen standard- und
umgangssprachlichen österreichischen Wortschatzes nach Bezeichnungen und
Bedeutungen sowie der spezifischen Eigenheiten in der Grammatik mit Form-,
Genus- und Wortbildungsunterschieden und Unterschieden im Satzbau, um
herauszufinden, was groß- und was nur kleinräumig verbreitet ist und welche
sprachsoziologischen bzw. stilistischen Einstufungen gegeben werden. Ein
Sprachatlas und ein Wörterbuch der Austriazismen werden die Darstellungsformen
sein, wobei die geringen Abweichungen in der Grammatik dem Wörterbuch
hinzugefügt werden können.
3. Die Sammlung und Erklärung der bisher überhaupt nicht beachteten
Phraseologie und da die Feststellung einer spezifisch österreichischen Phraseologie
nach Art und Verbreitung.
4. Die systematische Erforschung der Pragmatik der Sprache, also der
sprachlichen Verhaltensweise in bestimmten kommunikativen Situationen, wie
Anreden, Grüßen, Bitten, Auffordern usw., die zum Teil ein deutliches
österreichisches Eigengepräge aufweist.
5. Bei der österreichischen Bevölkerung müssen Wissensdefizite um das
österreichische Deutsch abgebaut werden, indem seine Stellung und seine
Eigenheiten im Vergleich zum Gesamtdeutschen schon im Schulunterricht vermittelt
und in den für den Deutschunterricht bestimmten Schulbüchern dargestellt werden,
was bislang leider nicht der Fall ist.
6. Schließlich empfiehlt sich eine insgesamt intensivere sprachliche Erziehung
zu einer guten schriftlichen und mündlichen Beherrschung der Schrift- und Stan-
dardsprache, die heute innerhalb der größeren Beziehungs- und Wirtschaftsräume
und der intensiven Mobilität notwendig ist. Sollten sich wirklich viele Österreicher
ihrer, weil stark dialektal gefärbten Sprache schämen und diese minderwertig

33
Genannt seien hier besonders Ebner (1980) und die im Sammelband von Wiesinger (1988) vereinten
Beiträge.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-71-

empfinden oder nur unzulänglich die Standardsprache beherrschen, so ist diesem


Defizit durch einen besseren Sprachunterricht in der Schule auf der Basis der
österreichischen Standardsprache zu steuern.
Eine derartige innerösterreichische intensivierte Erforschung, Bewußtmachung
und Verwendung des österreichischen Deutsch, wozu auch die Medien in Form von
Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film und da die Verantwortlichen für die Synchro-
nisierung fremdsprachiger Filme sowie die Übersetzer fremdsprachiger Literatur
eingeladen sind, wird auch dazu beitragen, dem österreichischen Deutsch im Ausland
und insbesondere in Deutschland seinen ihm gebührenden Platz und Rang zu
verschaffen und seine Anerkennung durchzusetzen. Warum sollten z.B. die
österreichischen Varianten Spengler, Karfiol, Vorgangsweise, durchwegs und auf
Urlaub gehn weniger normativ und zulässig sein als ihre bundesdeutschen Entspre-
chungen Klempner, Blumenkohl, Vorgehensweise, durchweg und in Urlaub gehn,
wenn man an Varianten wie Samstag/Sonnabend, Rechen/Harke und
Orange/Apfelsine keinen Anstoß nimmt? Österreichisches Deutsch ist kein schlech-
teres, sondern ein anderes Deutsch34.

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34
Vgl. Moser (1989), S. 25.

Peter Wiesinger: Das österreichische Deutsch


in der Diskussion.
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Wiesinger, Peter (1990): Standardsprache und Mundarten in Österreich. In: Deut-
sche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Hrsg. von Gerhard
Stickel. Berlin/New York. (Institut für deutsche Sprache. Jahrbuch 1989), S.
218-232.
Wiesinger, Peter (1992): Zur Interaktion von Dialekt und Standardsprache in Öster-
reich. In: Dialect and Standard Language in the English, Dutch, German and
Norwegian Language Areas. Ed. by J.A. Leuvensteijn and J.B. Berns. Amsterdam,
pp. 290-311. (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen,
Verhandelingen, Afd. Letterkunde, NF 150).
Wiesinger, Peter (1994): Das österreichische Deutsch - Eine Varietät der deutschen
Sprache. In: Terminologie et Traduction 1994/1, Luxembourg, S. 41-62.
Wodak, Ruth (1994): Wir sind nicht Duden-Land. In: Wiener Journal 65, Juni 1994,
S. 26-27.
Wolf, Norbert Richard (1994/3): Kann man in Österreich deutsche Sprachwissen-
schaft betreiben? In: Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft
für Germanistik. Wien. S. 16-29.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.75-120

Rudolf Muhr

(Graz)

Zur Sprachsituation in Österreich und zum


Begriff "Standardsprache" in plurizentrischen
Sprachen.
Sprache und Identität in Österreich.

Im Schreiben sollen wir Sachsen;


Im Predigen aber Oesterreicher seyn.
(Maurus Lindemayr, 1769)1

1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Sprachsituation in Österreich
und versucht davon ausgehend zu zeigen, daß der Begriff der "Standardsprache"
innerhalb von plurizentrischen Sprachen, insbesondere im deutschsprachigen Kon-
text, einer Neudefinition bedarf. Dies vor allem deshalb, weil das Spannungsver-
hältnis von österreichischer Identität und deutscher Sprache für viele Österreicher
eine verwirrende und ungelöste Situation hervorgebracht hat, die bei der Beurteilung
der "Standardsprachlichkeit" österreichischer Ausdrücke eine entscheidende Rolle
spielt. Damit ist nicht nur die Legitimität des österreichischen Deutsch als nationale
Standardvariante des Deutschen berührt, sondern auch seine Rolle als Mittel zum
Ausdruck nationaler Identität und Selbst-Identifikation. Seit dem Vortrag, der dieser
Arbeit zugrundeliegt, ist auch die umfangreiche Arbeit von Ulrich Ammon (1995)
"Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz" zu den natio-
nalen Varianten erschienen. Im folgenden soll auch auf einige der dort vertretenen
Standpunkte sowie auf die einiger anderer Autoren eingegangen werden.2 Die
vorliegende Arbeit wurde gegenüber dem Vortrag um diese Ausführungen
ausgeweitet.

1
Maurus Lindemayr: Vorrede zur Predigt-Rhetorik. 1769. Lindemayr war Benediktinermönch im Stift
Lambach, Oberösterreich. Den Hinweis verdanke ich einem Vortrag von H. Scheuringer auf der 6.
Arbeitstagung für bayrisch-österreichische Dialektologie in Graz, 22.-25.9.1995. Ich danke dem Autor
für die Zuverfügungstellung des Manuskripts. Das Zitat ist auch enthalten in Wiesinger (1995a) und
von dort entnommen.
2
Auf die von P. Wiesinger (1995) in seinem Beitrag zum Tagungsband vorgenommene Darstellung
meiner Position zum österreichischen Deutsch, die völlig unzutreffend ist, werde ich hier nicht
eingehen, sondern in einer anderen Publikation.
-76-

Aus soziolinguistischer Sicht geht es bei der vorliegenden Diskussion nicht nur
um die Zuordnung einzelner Ausdrücke zu Sprachschichten oder nationalen
Varianten, sondern vielmehr darum, "die Beschreibung der Sprache nicht vom
Menschen zu trennen"3, was zu einer Reihe grundlegender Fragestellungen der
linguistischen Theorie und der Wirkungen sprachlicher Betätigung führt. Dazu
gehören u.a.:
1. Das Verhältnis von Sprache und Macht - Beanspruchung und Markierung von
Territorium durch Sprache - Angst vor Verlust eines Territoriums;
2. Eigenes und Fremdes in Sprache und Verhalten - Sprachliche und soziale Ein-
grenzung und Ausgrenzung;
3. Soziale Orientierung - Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu Gruppen und
Nationen;
4. Der Ausdruck von individueller und sprachlicher Identität durch Sprache und
andere Symbole;
5. Die staatliche Festlegung und Gültigkeit von Normen; staatliches System und
sprachliche Sozialisation.
6. Die Standardisierung von Sprache durch Gebrauch versus Standardisierung
durch Übernehmen kodifizierter Normen.
Hinzuzufügen wäre noch, daß diese Arbeit vor allem soziolinguistische, sprach-
politische und methodische Zielsetzungen hat. Ihr Augenmerk ist daher weniger auf
linguistische Details, sondern auf die eingehende Beschreibung der Sprachsituation in
Österreich und daraus abgeleiteter methodischer Konsequenzen gerichtet.

2. Bruchlinien der Diskussion über die nationalen


Varianten des Deutschen und das österreichische Deutsch.
Seit Clyne (1984) und erst recht seit Polenz (1988) hat sich innerhalb der Ger-
manistischen Linguistik zunehmend die Meinung durchgesetzt, daß in den einzelnen
deutschsprachigen Staaten, insbesondere in Österreich, der Schweiz und
Deutschland, eigene Staatsvarianten der deutschen Standardsprache festzustellen
sind. Im Gegensatz zur allgemeinen Anerkennung dieses Grundatzes, haben sich aus
der Diskussion um das Konzept "plurizentrische Sprache" jedoch nur einige wenige
Kernbegriffe und Grundannahmen als völlig unbestritten herausgestellt, die für die
verschiedenen plurizentrischen Sprachen in allen Teilen der Welt und damit auch für
das Deutsche gleichermaßen gelten4. In allen Fällen erstreckt sich eine Sprache auf
mehrere staatliche Gebiete, innerhalb derer die jeweilige Sprache einer bestimmten
Eigenentwicklung unterliegt. Jedes dieser Länder ist demnach "Zentrum" der jewei-
ligen nationalen Variante, daher trifft für solche Sprachen auch der Begriff

3
Prof. Norman Denison in seiner Antwort auf die Laudatio anläßlich seines 70. Geburtstags, in der er
auch ein programmatisches Resümee seiner soziolinguistischen Forschung formulierte.
4
Vgl. dazu das im deutschen Sprachraum bisher viel zu wenig rezipierte Standardwerk von Clyne
(1992): Pluricentric Languages. Different Norms in different nations.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-77-

"plurizentrisch"5 zu. Diese einzelstaatlichen Varianten sind als "nationale Varianten"


bzw. "Varietäten"6 anzusehen, die auch eine identifizierende Funktion zum Erkennen
der Eigengruppe haben: "National identity is often expressed through national
varieties"7. Unbestritten ist darüber hinaus nur noch wie Clyne (1993:2) konstatiert,
daß es symmetrischeren und asymmetrischeren Plurizentrismus gibt, was mit der
Größe und wirtschaftlichen Kraft der einzelnen Länder zusammenhängt, die zu einer
"Hackordung" (pecking order)8 und zu typischen Einstellungen zwischen
D(ominierenden) und A(nderen) Nationen führt.9
Das Problem der nationalen Varianten ist damit noch nicht gelöst, da es nach
wie vor eine Reihe kontroversieller Punkte gibt. Dazu gehören (ohne vollständig zu
sein) die folgenden offenen Diskussionspunkte:
1. Inwieweit werden die Urteile der jeweiligen Sprachteilnehmer bei der Zuordnung
der Varianten zu einzelnen Ländern und Stilschichten nicht nur von der
Sprachsituation und den vorherrschenden Spracheinstellungen in den jeweiligen
Teilzentren einer plurizentrischen Sprache beeinflußt, sondern auch von der
Orientierung an den (medial vermittelten) Normen der D-Nation?
2. Welche Sprachvariante(n) wird der Bestimmung von "nationaler Variante" zu-
grundegelegt? Sind allein standardsprachliche Varianten in die Betrachtung ein-
zubeziehen oder spielen auch andere Varianten eine Rolle?
3. Welches Konzept von Standardsprache wird zugrundegelegt? Ist ein Ausdruck
dann standardsprachlich, wenn er geschrieben vorkommt oder gibt es auch einen
nichtkodifizierten (überwiegend) gesprochenen Gebrauchsstandard? Was ist mit
sog. "dialektalen bzw. umgangssprachlichen" Ausdrücken, die geschrieben vor-
kommen? Ab wann sind sie "Standard"? Was ist mit der Einbeziehung sog. regio-
naler Ausdrücke (Vorarlbergisch, Tirolerisch, Burgenländisch, Bayrisch)?
4. Was ist, wenn sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft über ihren eigenen
Sprachgebrauch unsicher sind und bei der Angabe der stilistischen Zuordnung
völlig widersprüchliche Angaben machen? Gilt dann das "Experten"urteil bzw.
welcher methodische Weg zum Erzielen stichhaltiger Daten wird dann einge-
schlagen?
5. Was ist überhaupt die textuelle Grundlage der Kodifizierung der nationalen Vari-
anten? Ist es Sachprosa, schöne Literatur, Zeitungssprache (welche?), Amtssprache
etc.?

5
Den Vorschlag von Ammon (1995:49), den Begriff "plurizentrisch" durch "plurinational" zu ersetzen,
halte ich für wenig hilfreich, weil es in verschiedenen Kulturregionen der Welt höchst unterschiedliche
Auffassungen des Begriffs "Nation" gibt und der Begriff damit nicht eindeutig ist. Ich bevorzuge
daher den deskriptiven Begriff "plurizentrisch".
6
Ammon (1995) differenziert zwischen "Varianten" als Einzelausdrücke und "Varietäten" als
Teilsysteme einer plurizentrischen Sprache.
7
Clyne (1992:456)., Vgl. dazu auch von Polenz (1988).
8
Clyne (1992: 455).
9
Vgl. dazu Clyne (1990/1993:2f), wo zehn Punkte aufgelistet sind, die dieses Verhältnis beschreiben.

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-78-

6. Welches linguistische Konzept wird der Beschreibung zugrundegelegt, hat es des-


kriptiv, normativ oder beides zu sein? Müssen die "nationalen" Ausdrücke im ge-
samten Staatsgebiet vorkommen, um als "national" anerkannt zu werden oder ge-
nügt auch die Verwendung in Teilregionen? Was ist mit Ausdrücken, die auch
außerhalb des Staatsgebietes vorkommen?
7. Was ist mit dem Verhältnis von "Sprache" und "Identität", "Staat" und "Nation",
"Sprachnation" und "Kulturnation" bzw. welche Terminologie ist der Bezeichnung
der einzelnen nationalen Varianten überhaupt zugrundezulegen?
Über diese Fragen hinaus stehen in bezug auf das österreichische Deutsch drei
konkrete Fragen im Zentrum meines Interesses, die die weiter oben angeführten einer
Klärung näher bringen sollen:
1. Wie ist der tatsächliche Sprachgebrauch in Österreich? Dabei frage ich mich
primär, wie Sprache in verschiedenen (öffentlichen) Sprachsituationen verwendet
wird und nicht, ob die Sprache, gemessen an den kodifizierten Normen, befolgt
wird, da die letztere Fragestellung nicht deskriptiv im eigentlichen Sinne ist,
sondern nur deskriptiv in bezug auf die Einhaltung gesetzter Normen.
2. Welche Funktion haben die vorkommenden Varianten des österreichischen
Deutsch in der Kommunikation und für die Identität seiner Bewohner? Inwieweit
spielt das ÖDt. für die Identität des Landes eine Rolle und welche Probleme sind
damit verbunden?
3. Welche methodischen Schritte gewährleisten eine angemessene Beschreibung der
österreichischen Sprachvariante(n) im Kontext des Konzepts "Deutsch als pluri-
zentrische Sprache"?

3. Die Sprachsituation in Österreich


Bevor ich in Abschnitt 4 auf die wichtigsten der hier aufgeworfenen Fragen
eingehe, scheint mir die Beschreibung der Sprachsituation in Österreich bzw. der
Situation des österreichischen Deutsch notwendig. Legt man die allgemein anerkann-
ten Kriterien von M. Clyne (1992) zugrunde, gehört das österreichische Deutsch zu
den A(nderen) Varianten innerhalb der drei Vollzentren des Deutschen. Seine
Situation ist durch drei Faktoren bestimmt:
1. Eine starke Asymmetrie zum Bundesdeutschen als der D(ominierenden)
Variante. Diese ergibt sich einerseits aus demographischen, ökonomischen, medialen
und anderen Ungleichgewichtigkeiten, die aufgrund der unterschiedlichen Größe der
beiden Länder zwischen Österreich und Deutschland bestehen.
2. Kontaktphänomene, die eher einseitig sind und sich in einer verstärkten
Übernahme bundesdeutscher Ausdrücke bemerkbar machen. Ihre unmittelbare
Ursache sind der starke Tourismus, die starke ökonomische Verflechtung und der
starke Konsum bundesdeutsch geprägter Fernsehsendungen.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-79-

3. Tabuisierung des Zusammenhanges zwischen Sprache und Nation und der


politischen Rolle der deutschen Sprache in Österreich. Diese Phänomene ergeben sich
aus der besonderen historischen Entwicklung des deutschsprachigen Raumes seit
1938 bzw. seit 1918.
Ich möchte verschiedene Auswirkungen dieser drei Punkte aufzeigen sowie auf
eine Reihe von damit verbundenen Faktoren hinweisen, die die Bestimmung des
Begriffs "Standardsprache" bzw. die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von
Ausdrücken beeinflussen :
A) Auswirkungen der Asymmetrie:
1. Das Imageproblem des ÖDt. im Ausland.
2. Das Imageproblem des ÖDt. im Inland.
3. Die Purifizierung der österreichischen Literatursprache.
B) Auswirkungen des verstärkten Kontakts zwischen Österreich und Deutschland
4. Das Problem des graduell stärker werdenden Sprachwandels und der stillen
sprachlichen Angleichung via Medien und Markt.
C) Auswirkungen der Tabuisierung der Rolle der deutschen Sprache in Österreich
5. Identitätsambivalenz und nicht verstandene innere Mehrsprachigkeit im
sprachlich-kulturellen Bereich.
6. Der doppelte Sprachgebrauch in der gesprochenen Sprache - Standard nach
Innen - Standard nach Außen und seine Verwechslung mit "Umgangssprache"
7. Das Kodifikationsproblem - Die faktische Nichtkodifikation.
8. Das Dogma vom "guten" und einheitlichen "Hoch"deutschen.
9. Die nicht verstandene innere Mehrsprachigkeit in Österreich
10. Das staatspolitische Problem: Deutsch als Staatssprache = Deutscher Staat?

A) Auswirkungen der Asymmetrie:

3.1 Das Imageproblem des ÖDt. im Ausland


Den wenigsten Österreichern ist bewußt, daß ihr Deutsch im Ausland fast im-
mer als Dialekt des Deutschen angesehen und ihnen nachgesagt wird, daß sie kein
"richtiges" Deutsch sprechen können. Das "gute", "wahre" Deutsch sei eben nicht in
Österreich (oder in der Schweiz), sondern nur in Deutschland zuhause. Und dies
trotz der Tatsache, daß gut die Hälfte der deutschsprachigen Literatur, die seit 1945
erschienen ist, von Österreichern stammt. Zur Untermauerung dieser Behauptungen
seien einige Beispiele angeführt, die Liste ließe sich beliebig verlängern:

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-80-

1. Der Leiter des Französischen Kulturinstituts Wien, Jaques Le Rider bemerkt dazu in
einem Brief:10 "Als französischer Germanist kann ich bezeugen, daß das
"österreichische Deutsch" meistens als Abweichung von der Norm betrachtet wird.
Der österreichische Wortschatz wird in französischen Wörterbüchern nur be-
schränkt berücksichtigt."
2. M. Gauß (1994:30) berichtet in seinem Buch "Ritter, Tod und Teufel" davon, daß
Kinder aus Berlin eingeflogen werden mußten, als in Wien kürzlich eine amerika-
nische Kinderserie synchronisiert wurde. Denn die österreichische Sprachfärbung,
von der die ursprünglich vorgesehenen Wiener Kinder immer noch nicht vollständig
gereinigt werden konnten, hätte bewirktt, daß die Serie nur im österreichischen
Fernsehen gesendet, nicht aber auch an deutsche Stationen verkauft werden konnte.
3. Ganz auf dieser Linie liegt auch die Sprachpraxis in der populären Serie
"Kommissar Rex", die in Wien situiert ist und vom ORF zusammen mit dem deut-
schen Privatsender SAT1 produziert wurde. Der Darsteller des Kommissars, ein öster-
reichischer Schauspieler Tiroler Herkunft, spricht - als Wiener Kommissar! - deutlich
norddeutsch geprägtes Standarddeutsch, während seine Kollegen unverkennbar
Ostösterreichisch/Wienerisch sprechen. Nicht nur, daß es höchst unnatürlich ist,
wenn ein Polizeikommissar im österreichischen Alltag ausschließlich
Standarddeutsch spricht, symbolisch wird mit dieser Sprachpraxis auch ein klarer
sprachlicher Unterschied zwischen dem Chef und den subalternen Mitarbeitern ge-
zogen: Der Chef redet "richtig", die anderen sind halt Österreicher. Aus den Medien
ließen sich noch viele solcher Beispiele anführen.
4. Eine Reihe von österreichischen Lehrern, die in Frankreich ansässig wurden und
dort zur französischen Lehramtsprüfung (CAPES) antraten, mußten sich eine nord-
deutsche Aussprache aneignen, da ihre österreichische Standardaussprache als
"Dialekt" klassifiziert wurde und ihnen damit der erfolgreiche Abschluß der
(existentiell enorm wichtigen) Prüfung verweigert wurde.
5. Die Vorbehalte britischer Universitätsgermanisten und Germanistikstudenten ge-
genüber dem österreichischen Deutsch sind von V. Martin (1995) gut beschrieben
worden. Solche Vorbehalte sind beileibe nicht auf dieses Land beschränkt. Die allge-
meine Haltung der Auslandsgermanistik ist geprägt von Unsicherheit, Nichtwissen
und Distanzierung gegenüber dem ÖDt. bzw. von der Ansicht, daß ÖDt. als "Dialekt"
des Deutschen anzusehen sei. Die unmittelbare Folge davon ist, daß ausländische
GermanistikstudentInnen Schwierigkeiten haben, mit dem ÖDt. die jeweiligen Ab-
schlußprüfungen zu bestehen oder sogar in Gefahr kommen, das Studium abbrechen
zu müssen.11 Wie Victoria Martin zeigt, versuchen die meisten der von ihr befragten

10
Der Brief vom Feber 1995 war an R. Schrodt gerichtet und betraf die Teilnahme an der Tagung zum
österreichischen Deutsch in Graz.
11
So erzählte mir z.B. eine schwedische Studentin Ende September 1995, daß sie sehr stark darum
kämpfen mußte, daß ihr österreichisch gefärbtes Standarddeutsch von den bundesdeutschen

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-81-

englischen Studenten das in Österreich gelernte Deutsch vor der Prüfung wieder
abzulegen. Auch die österreichischen Auslandslektoren werden sehr oft mit diesem
Problem konfrontiert: Ihr Deutsch wird - besonders von bundesdeutschen
Mitgliedern des Lehrpersonals - oft für nicht vollwertig gehalten, was dazu führt,
daß sie in der Ausbildung nicht entsprechend eingesetzt werden.12
6. Immer öfter werden österreichische Übersetzer mit dem Problem konfrontiert, daß
ihre Übersetzungen von den bundesdeutschen Auftraggebern - mit dem Vermerk
"falsche Übersetzung" bzw. "zu österreichisch" versehen - nicht angenommen wer-
den.13
Diese Abwertung der in Österreich gebräuchlichen Sprache wirkt auf das Image
des Landes und seine Produkte zurück. Ein Land, in dem nur ein "Dialekt" gesprochen
wird, ist nicht wirklich ernst zu nehmen. Es hat ein negativ markiertes Image und
damit zusammenhängend einen herabgesetzten Anerkennungs- und Marktwert.
Seine industriellen und erst recht seine kulturellen (sprachlichen) Produkte lassen
sich nicht in derselben Weise verkaufen bzw. bekommen nicht dieselbe Anerkennung
wie die anderer Länder. Das gilt auch für die beruflichen Verwertungschancen des
einzelnen und schlägt sich unmittelbar in Benachteiligungen allgemeiner Art und
ökonomischen Ungleichbehandlungen nieder. Wer sich nicht artikulieren kann bzw.
sich nicht in einer für ihn gültigen Sprache entsprechend artikuliert, wird nicht
wahrgenommen und existiert auf dem Markt der Ideen und kulturellen Produkte
nicht - sein Wert ist herabgesetzt.
3.2. Das Imageproblem des österreichischen Deutsch im Inland
- Sprachliche Minderwertigkeitsgefühle - Nichtwissen über
die Normen und Merkmale der eigenen Sprache
Dem Imageproblem im Ausland entspricht ein ebensolches im Inland. Dazu
trägt nicht nur die traditionelle Asymmetrie zu Deutschland bei, sondern auch eine
Reihe anderer Faktoren. Die Einstellungen der Österreicher zu ihrem Deutsch sind
durch drei Merkmale gekennzeichnet:
• Weitverbreitete sprachliche Minderwertigkeitsgefühle gegenüber bundes-
deutschen Sprechern;
• Unsicherheit den Normen der eigenen Sprache gegenüber, die nicht selten zu
Verleugnungshaltungen, Abwertung und Ablehnung des sprachlich Eigenen als
"Dialekt" führt;
• Nichtwissen über die Merkmale des eigenen Deutsch;
Macht man in Österreich Spracheinstellungsuntersuchungen, wird man fest-
stellen, daß sich die Österreicher ihrer Sprache ziemlich unsicher sind und in der

Professoren an ihrem Institut anerkannt wurde. Man akzeptierte es nach einiger Zeit schließlich mit
dem Argument, weil "sie es konstant verwende."
12
Auf der Jahrestagung 1995 des Österreichischen Lehrerverbandes Deutsch als Fremdsprache (22.-
23.10.1995) berichteten mehrere Lektoren von solchen Erfahrungen.
13
Persönliche Mitteilung von Grazer Dolmetschstudenten und Übersetzern.

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-82-

Regel dazu tendieren, die stilistisch "höheren" bzw. "selteneren" Varianten, die mei-
stens nicht dem Alltagsgebrauch entsprechen, als die "richtigen" anzugeben. In der
Regel werden auch eher bundesdeutsch klingende Varianten als richtiger angesehen.
Vor die Alternative gestellt, ob "Stiege" oder "Treppe", "anfangen" oder "beginnen",
"kriegen" oder "bekommen", "reden" oder "sprechen", "rennen" oder "laufen" stan-
dardsprachlich" sind, neigen sehr viele Österreicher dazu, letzteres als "hochdeutsch"
anzusehen, weil sie glauben, ihr "normales Deutsch" sei ohnehin "Dialekt". Und das,
obwohl sie im Alltag so gut wie immer "Stiege, anfangen, kriegen, reden, rennen etc."
verwenden. Diese Haltung - das, was man sprachlich normalerweise tut, für nicht
adäquat zu halten und gleichzeitig, das, was man sprachlich üblicherweise nicht tut,
als höherwertiger anzusehen - habe ich wiederholt als "linguistische Schizophrenie"
bezeichnet.14 Ein Befund, zu dem auch Schmid (1990:28) kommt.15 Sie besteht in der
Ausblendung des Eigenen und der Dominantsetzung des sprachlich Anderen und ist
das stärkste Element der bestehenden Asymmetrie zwischen dem ÖDt. und dem
Bundesdeutschen. Verstärkung erfährt diese Einstellung durch den Umstand, daß die
Verkehrssprache der meisten Österreicher im alltäglichen Umgang eine standard-
spracheferne Variante ist, deren Ausdrücke in der Regel nicht kodifiziert und daher -
obwohl oft im ganzen Land gebräuchlich - nicht als Standard anerkannt sind.
Zur Untermauerung meiner Behauptungen möchte ich eines von vielen
Beispielen etwas ausführlicher darstellen: In einer Livesendung16 im ORF-Fernsehen
(Ende Mai 1995), zu der ich wegen des Tagesthemas "Österreichisches Deutsch" als
Experte eingeladen war, brachte die Mutter eines 9-jährigen Volksschülers, telefo-
nisch folgendes Problem vor:17
"Also ich finde, daß es sehr wichtig ist, daß die Kinder schon in der Schule das
Hochdeutsche lernen und nicht dieses Österreichisch. Mein Sohn kam letzte
Woche mit einer Hausaufgabe nachhause; ein Bilderrätsel, wo er für "Paradeiser",
"Tomate", "Erdäpfel" "Kartoffel" einsetzen mußte. Beim "Kukuruz" hat's geheißen,
das ist "böhmisch", weil er nicht "Mais" geschrieben hat. Und das ist schon ein bißl
schlimm. Aber das Ärgste war, für "Stelze" mußte er "Eisbein" hinschreiben. Und
woher soll ein Kind sowas wissen?"
Das zeigt, daß die(se/r) VolksschullehrerIn Unterrichtsmaterial verwendet, in
dem die in Österreich gebräuchlichen Ausdrücke als "Dialekt" und die bundes- bzw.
norddeutschen Regionalausdrücke als "Standard" dargestellt werden, ohne daß dies

14
Muhr (1982).
15
Dazu Schmid: "Denn wir "dürfen" nicht so sprechen (=glauben, nicht so sprechen zu dürfen, zu
sollen), wie wir eigentlich sprechen wollten - wir denken, es wäre verächtlich, so zu sprechen, wie es
uns "natürlich" erscheint, also wie wir gewohnt sind zu sprechen: und genau indem wir diesen
Eindruck produzieren, wird es überhaupt erst verächtlich."
16
Bei der Sendung handelt es sich um "Willkommen Österreich", die Montag bis Freitag in der Zeit von
17-18'45 Uhr ausgestrahlt wird. Sie ist eine Mischung aus Unterhaltungs- und Informationsblöcken
zu diversen Themen.
17
Wörtliche Wiedergabe des Liveanrufs während der Fernsehsendung.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-83-

die Lehrperson richtigstellt.18 Bezeichnend ist aber auch die Reaktion der Mutter. Sie
dringt nicht darauf, daß der landesüblichen Sprache der Vorzug gegeben wird, viel-
mehr soll die "richtige" Sprache erlernt werden, selbst wenn dies befremdend wirkt.
Ein Vorgang, den M. Clyne zu recht als "cultural cringe"19 bezeichnet hat. Es besteht
daher die starke Tendenz, die eigenen Ausdrücke im Zweifelsfall gegen bundesdeut-
sche Regionalausdrücke auszutauschen; und tut dies im Glauben, damit einen stan-
dardsprachlichen Ausdruck gewählt zu haben. Im Zweifelsfall haben daher die bun-
desdeutschen Ausdrücke Vorrang gegenüber den eigenen. Ein Phänomen, das ich als
sprachliche Entäußerung bezeichnen möchte. Dazu auch Schmid (1990:31): "Wie
können wir uns noch ausdrücken, vermitteln, mitteilen, "verwirklichen", wenn wir
immer erst nach jenem most juste suchen müssen, welches von außen her verbrieft
worden ist?" Wie der Anruf der besorgten Mutter deutlich zeigt, geht es gerade um
die "Bestätigung von außen". Erst dann glaubt man sicher zu sein, das "sprachlich
Richtige" zu tun. Rainer Münz (1995:33), seit einigen Jahren Professor an der
Humboldt-Universität Berlin, meint dazu: "Dahinter steht eine heimliche
Bewunderung und vor 1945 auch ganz offene Bewunderung, die wir Österreicher
für die zielstrebigen, eloquenten, ökonomisch erfolgreichen Deutschen hegen, ge-
paart mit dem Gefühl, nicht ganz mithalten zu können. Statt dessen halten wir
Österreicher uns für die besseren Lebenskünstler."
Die Bevorzugung der Normen der Dominanten deutschsprachigen Nation und
das damit verbundene Phänomen der sprachlichen Entäußerung ist, wie ein Beispiel
in Ammon (1995a:449) andeutet, auch österreichischen Sprachexperten nicht fremd.
Es ging dabei um die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von österreichischen
Ausdrücken, die meines Erachtens in allen Fällen gegeben ist:20 Dazu Ammon: "Das
Ergebnis war, daß Tatzreiter eine Reihe von Varianten als österreichisches
Standarddeutsch anerkannte, die Scheuringer ablehnte. Die von Tatzreiter
anerkannten Varianten stehen nachfolgend linksseitig, rechts daneben steht der
Kommentar Scheuringers.
Nachtmahl: "ist mir standardspr. fremd";
geröstete Erdäpfel: "ist für mich nicht standardspr.";
allfällig: "ist in dieser Position unmöglich; nur etwaige;
Pölstern: "empfinde ich nicht als Standard"

18
Manche Volksschullehrer arbeiten diese Arbeitsblätter allerdings auf "österreichisch" um, wie die
nächste Anruferin feststellte.
19
Frei übersetzbar als "kulturelle Unterwürfigkeit". Zum Ausdruck vgl. auch Fn. 24 im Beitrag von L.
Bodi in diesem Band.
20
Solche Unsicherheiten und Nichtübereinstimmungen könnten durchaus auch unter norddeutschen,
süddeutschen und ostdeutschen Germanisten auftreten, wenn die Standardsprachlichkeit von
Ausdrücken beurteilen sollten. Es ist wohl keine bloß österreichische Erscheinung, wie dies Ammon
suggerieren möchte. Unverständlich ist, daß bundesdeutschen Gewährspersonen kein ebensolcher
Fragebogen vorgelegt wurde. Das liegt aber in der Gesamttendenz des genannten Buches, das vor
allem versucht die Anderen Nationen zu beschreiben und die Dominante Nation mit dem Argument
fehlender Daten weitgehend ausklammert.

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-84-

Nicht nur, daß man sich damit seiner eigenen Sprache begibt: Durchaus vor-
handene sprachliche Gemeinsamkeiten mit anderen Regionen Österreichs werden
nicht mehr wahrgenommen, weil sie der jeweiligen Regionalsprache zugeordnet
werden. Darauf basieren Äußerungen wie, "in Wien/in der Steiermark/in Tirol etc.
würden wir "..." sagen". Meistens ist der Ausdruck dann nicht bloß typisch für
Wien/Steiermark/Tirol, sondern im größten Teil Österreichs in Gebrauch. Das zeigt,
daß man aufgrund des Dogmas des "richtigen" Deutsch (= Schriftsprache) die eige-
nen Gemeinsamkeiten im Land nicht wahrnimmt, weil man glaubt, daß alles, was
nicht wie sog. "Hochdeutsch" klingt, nur Dialekt sein kann und der ist eben einmal
nur in einer Gegend gebräuchlich. Die wesentlichste Ursache dafür ist das Fehlen
umfassender Nachschlagewerke, daraus resultierende Unsicherheiten und die nicht-
verstandene Doppelidentität der Österreicher (Österreicher und deutschsprachig),
die Sprache als Identitätsfaktor bisher ausgeklammert hat. Da man als Staatssprache
"Deutsch" hat und nach den herkömmlichen Kriterien ethnisch/sprachlich gesehen
als Deutsche zu betrachten ist, sich aber nicht als solche fühlte und gleichzeitig für
diese Situation keine Lösung wußte, hat man diese Frage lieber nicht berührt bzw.
sich damit begnügt, lediglich auf vorhandene "(lexikalische) Besonderheiten in der
deutschen Sprache in Österreich" zu verweisen.
3.3 Die Purifizierung der österreichischen Literatursprache
Die sprachliche Außenorientierung in Österreich wird noch durch die Purifi-
zierung der österreichischen Literatursprache verstärkt, die darin besteht, daß öster-
reichische Sprachmerkmale aus der österreichischen Literatur systematisch entfernt
und durch bundesdeutsche oder neutrale Ausdrücke ersetzt werden. Das hat seinen
Grund vor allem darin, daß der Buchmarkt in Österreich zu klein ist und zahlreiche
österreichische Schriftsteller zu deutschen Verlagen gehen (müssen), wo ihre
Manuskripte dann von den norddeutsch geprägten Lektoren "normalisiert" werden.
Zugleich gibt es auch die vorauseilende Selbstzensur österreichischer AutorInnen, die
jedoch eher noch stärker zu sein scheint, als die Eingriffe der Verlagslektoren.
Hinweise auf beide Tendenzen gibt es bei Kahl (1964) bereits in den 60-iger Jahren.
Allerdings werden die sog. Austriazismen von den bundesdeutschen Verlagen durch-
aus auch akzeptiert, wenn der Autor sehr stark darauf besteht. In diese Richtung
gehen die Erfahrungen von Schmid (1990:34). Jedenfalls kostet es stundenlange
Diskussionen, wie R. Menasse in einem Interview auf der Frankfurter Buchmesse
1995 berichtete. Wie Innerhofer (1993) aus eigener Erfahrung beschrieb, gab es
auch in Österreich bei manchen Verlagen die Tendenz, die österreichischen
Sprachmerkmale zu entfernen. Sicher ist, daß lexikalische und syntaktische
Merkmale des österreichischen Deutsch in der sog. "schönen" Literatur kaum mehr
festzustellen sind.21 Eigensprachliche, österreichische Merkmale lassen sich in der
österreichischen Literatur fast nur noch in Werken finden, die in Österreich verlegt

21
Für einen Überblick darüber, welche Merkmale dennoch vorhanden sind, vgl. Graham Martin (1986).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-85-

und von Österreichern lektoriert wurden bzw. älteren Datums sind (etwa vor 1975).
Diese Behauptung basiert auf der Analyse eines Korpus von fünfzig literarischen
Werken der österreichischen Gegenwartsliteratur, die ich in eine Datenbank
übergeführt und analysiert habe. Eine ausführliche Darstellung der Einzelergebnisse
muß aus Platzgründen leider unterbleiben. Eine der wenigen Ausnahmen dazu ist
wohl Thomas Bernhard, in dessen Werk zahlreiche österreichische Sprachmerkmale
erhalten blieben, obwohl er Suhrkamp-Autor ist. Das ist, wenn man Berichten
glauben darf, ausschließlich darauf zurückzuführen, daß er seine Manuskripte
immer im letztmöglichen Augenblick abgegeben hat, sodaß Änderungen nicht mehr
möglich waren.22 Eine etwas andere Darstellung der Lektorierungspraxis bei
Suhrkamp gab der Cheflektor des Verlags kürzlich in einem Interview des ORF-
Fernsehens anläßlich des Österreichschwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse
1995. Er sagte: "Also wir haben mit Bernhard vereinbart, daß wir österreichische
Ausdrücke austauschen, wenn sie im Text an einer Stelle nur einmal vorkommen.
Wenn sie öfter vorkamen und daher stilbildend sind, haben wir sie belassen."23 Das
ÖDt. wird so als stilistische Nebenvariante behandelt und der Identitätsaspekt völlig
außer acht gelassen.
Jüngstes Beispiel für sprachliche Purifizierung und Einebnung der österrei-
chischen Literatursprache ist der Roman "Der See" von Gerhard Roth, der 1995 beim
Fischer Verlag erschienen ist. Obwohl die Handlung am Neusiedlersee spielt und dort
normalerweise nur "Gelsen" in großer Zahl vorkommen, gibt es im Roman aus-
schließlich "Stechmücken". Ähnlich verhält es sich mit dem Wort "Bub", das überall
durch "Junge" ersetzt wurde. Bloß auf Seite 175 kommt es ein einziges Mal vor und
vermutlich „übersehen“.
Die Einebnung der österreichischen Literatursprache zugunsten des bundes-
deutschen Sprachgebrauchs ist daher ein sprachpolitisches Faktum und ein lange an-
dauernder Prozeß, der sich aber in den letzten 20 Jahren enorm beschleunigt hat.
Paradoxerweise ist die österreichische Literatur damit zunehmend ohne "eigene"
Sprache. Ob sie auf Dauer die identitätsbildende Funktion aufrechterhalten kann, die
ihr in hohem Maße zugeschrieben wird, ist meines Erachtens fraglich. Denn die
sprachliche Angleichung macht die österreichische Literatur sprachlich zu einem un-
verkennbar "bundesdeutschen" Produkt. Dahinter steht das sog. "Erfordernis des
Marktes": Da bundesdeutsche Leser manche Ausdrücke nicht verstehen, wird der
Text "mundgerecht" aufbereitet. Daß sich die Frage nach der Berechtigung einer
österreichischen Literatur auf dieser Grundlage im Kreis dreht, ist offensichtlich:
Wenn man aus ihr alle Eigenmerkmale entfernt, darf man sich nicht wundern, daß
man am Ende keine eigene Literatur mehr hat.24

22
Vgl. dazu Innerhofer (1993).
23
Das Interview wurde am 10.10.1995 in einem Bericht über die Frankfurter Buchmesse gesendet.
24
Die Frage nach der sprachlichen Nicht-Selbständigkeit der österreichischen Literatur war ein
gewichtiges Argument bei der Diskussion, ob es eine solche gäbe. Dazu aber ganz pragmatisch die
Antwort von Leslie Bodi: "Wenn es ein selbständiges Land gibt, wird es auch eine Literatur geben."

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-86-

Will man daher österreichische Sprachmerkmale empirisch beschreiben, wird


man sie kaum in der Literatursprache, sondern am ehesten noch in der Sprache der
Massenzeitungen bzw. in frei moderierten Sendungen von Rundfunk und Fernsehen
finden. Die Einbeziehung dieser Sprache wird aber vielfach mit dem Hinweis abge-
lehnt, daß diese nur bedingt "standardsprachlich" sei und viele "umgangssprachliche"
oder sogar "dialektale" Ausdrücke enthalte. Damit dreht sich die Beschreibung im
außennormorientierten Normkreis, der nur durchbrochen werden kann, wenn man
einen anderen Begriff von Standardsprache zugrundelegt bzw. sich nicht dauernd
außenorientiert verhält.

B) Die Folgen von verstärktem Sprachkontakt

3.4 Sprachlicher Druck und Einebnung durch den Gemeinsamen


Binnenmarkt und die elektronischen Medien
Die realen ökonomischen Ungleichheiten innerhalb Europas und innerhalb des
deutschsprachigen Raumes machen sich in einem sehr starken Sprach-Druck und
damit verbundenen Einebnungstendenzen bemerkbar. Die Hauptursache dafür ist die
immer stärker werdende wirtschaftliche Verflechtung mit Deutschland in Handel
und Industrie sowie der starke Fernsehkonsum (deutscher Privatsender über Satellit),
wie auch die fast ausschließlich norddeutsch geprägte Synchronisation nichtdeutsch-
sprachiger Filme. Auf Deutschland entfielen 1994 38,1% des Exports, 40% des
Imports sowie 50% aller Touristen.25 Nach der Untersuchung von Beer u.a. (1991)
stieg der Anteil bundesdeutschen Kapitals in Österreich zwischen 1961 und 1989
von 9,5 auf 39,3% aller ausländischen Investitionen; im Handel betrug der Anteil
25,8% und in der Industrie sogar 44,9%. Der sprachliche Einfluß ist eine natürliche
Folge verstärkten Kontakts durch das Fernsehen, den Tourismus bzw. durch Importe.
Die Produkte werden mit den auf den Waren bzw. Verpackungen aufgedruckten
bundesdeutschen Bezeichnungen importiert bzw. in den Prospekten mit bundes-
deutschen Bezeichnungen geführt. Dazu einige Beispiele:
a) Bei der Handelskette "Hofer" findet man z.B. "Hörnchen" statt "Kipferl",
"Aprikosen" statt "Marillen" und "Aprikosennektar" statt "Marillennektar" etc. Die
Folge davon ist, daß diese Bezeichnungen mit der Zeit in den Gebrauchsstandard auf-
genommen werden, wie ich in meiner eigenen Familie beobachten konnte. Denn
wenn eine Familie beim Mittagessen ist und jemand möchte Fruchtsaft trinken, wird
automatisch "Aprikosennektar" verlangt, wenn es so auf der Packung steht. Das ist
um so mehr der Fall, wenn verschiedene Getränke zur Auswahl stehen.
b) Die Arbeit von M. Glauninger (1995) zeigt, daß der gesamte österreichische
Möbelhandel bereits zu einer fast ausschließlich bundesdeutsch geprägten Termino-
logie übergegangen ist und viele Österreicher nicht mehr sicher wissen, wie die her-
kömmlichen österreichischen Ausdrücke mancher Möbelstücke heißen. Es gibt daher

25
Daten nach Docekal (1994:45;42) und Beer, E. u.a. (1991:95; 98, 100)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-87-

in den Prospekten keine Kästen mehr, sondern nur mehr Schränke, keine Fauteuils,
sondern nur mehr Polstersessel, keine Couch, sondern nur mehr die Sitzecke, keine
Abwasch, sondern bloß noch die Spüle usw. Die Folgen davon sind: Beim Einkaufen
gibt es ein "Bezeichnungsprobleme". Wenn im Prospekt von "Schrank" die Rede ist,
bzw. auf der Packung "Hörnchen" drauf steht, werden letztlich auch "Schränke" bzw.
"Hörnchen" gekauft. Verlangt jemand nach einer solcherart beschrifteten Ware, muß
er/sie das auch mündlich so bezeichnen, weil sonst nicht klar ist, worauf Bezug ge-
nommen wird. Die geschriebenen Ausdrücke sind auf die Dauer "stärker", weil sie
auf der Ware fixiert und damit dauernd präsent sind. Sie sickern so allmählich auch
in die gesprochene Sprache ein, was zu einer allmählichen Veränderung der Sprache
führt, die anfangs nur sehr langsam wahrnehmbar ist.
c) Auch die Zentralisierung im Handel spielt eine nicht unwichtige Rolle. Sie
führt zuweilen sogar zur Verwendung falscher Sachbezeichnungen. In einem
Supermarkt der Firma LÖWA fand ich auf einem Preisschild z.B. die Bezeichnung
"Becher". Bei der Betrachtung der Ware stellte sich heraus, daß es sich um das han-
delt, was man in Österreich "Häferl" bezeichnet: Eine große Kaffeetasse mit Henkel,
während unter "Becher" immer ein Trinkgefäß ohne Henkel verstanden wird. Ich
ging daraufhin zum Filialleiter und fragte ihn, warum man eine für Österreich of-
fensichtlich falsche Bezeichnung auf das Schild schreibt. Die Antwort war: Die Preis-
schilder werden zentral in Wien gemacht und ab 1. Jänner wird 1995 alles in der
Zentrale in Deutschland für sämtliche Filialen auch in Österreich produziert, er habe
da gar keinen Einfluß.
d) Parallel mit der Verflechtung im Handel ist im Radio und Fernsehen auch
eine deutliche Zunahme bundesdeutsch geprägter Werbung zu beobachten, zugleich
werden von österreichischen Rundfunkmoderatoren immer öfter bundesdeutsche
Ausdrücke verwendet, was nicht zuletzt auch mit der verstärkten Übernahme von
Sendungen bundesdeutscher Sendeanstalten zusammenhängt. Letztes Beispiel dieser
Übernahmen ist die Formulierung "Radio/Fernsehen etc. zum Anfassen", mit dem das
ORF-Radio derzeit für seine Sendungen in einem Werbespot wirbt.. Man hört diesen
Ausdruck seit Ende 1994 im Ö3-Radio, von wo es seinen Ausgangspunkt nahm,
nachdem es zuerst im deutschen Privatfernsehen aufgetaucht war. Diese bundesdeut-
schen Ausdrücke sind in sog. Zeitgeistmagazinen und Jugendsendungen besonders
häufig zu hören und zu lesen und werden von den Jugendlichen als Merkmale ihrer
Gruppensprache angesehen. Durchgängig in Gebrauch sind: Junge statt Bub/Bursch,
anfassen statt angreifen, jmd. anmachen statt sich jmd. aufreißen, schon/doch mal
statt schon/doch einmal, die Eins/Zwei etc. statt der Einser/der Zweier, am Morgen
statt in der Früh). In der Zeitschrift News war kürzlich das Wort "Babypause" im
Zusammenhang mit einer bekannten Fernsehmoderatorin zu lesen. In Österreich üb-
lich sind "Karenzurlaub" bzw. "Mutterschaftsurlaub". In der Werbung läuft derzeit
der Spot, in dem für eine österreichische Elektrowarenkette mit
"Schnäppchenpreisen" geworben und ein bewußt bundesdeutscher Akzent verwendet

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-88-

wird. All diese Ausdrücke wurden aufgrund meiner Beobachtungen erst in den
letzten vier bis fünf Jahren übernommen.
Der Einfluß der Sprache der Filmsynchronisation und die allgemeine Vorbild-
wirkung, die von der Sprache der elektronischen Medien ausgeht, ist meiner Beob-
achtung nach besonders stark. Dazu muß in Erinnerung gerufen werden, daß seit der
Einführung des Privatfernsehens in Deutschland Ende der 80-iger Jahre und der
Ausstrahlung aller bundesdeutschen Fernsehprogramme (öffentlich-rechtlich und
privat) über Satellit bzw. über Kabel eine neue Qualität des Sprachkontakts in
Österreich entstanden ist, da diese Sender damit in fast jedem österreichischen
Haushalt empfangen werden können. Dem steht keine Reziprozität gegenüber, weil
der ORF derzeit nur über Gemeinsschaftssendungen von 3-Sat präsent ist bzw. in den
angrenzenden Gebieten Bayerns. Die einzige Ausnahme einer sprachlichen
Beeinflussung des Nordens durch den Süden des deutschsprachigen Raumes sind die
Wörter "eh", "halt" und "Servus" und "Schmäh", die man heute auch in Hamburg
hören bzw. im Spiegel lesen kann. Ihr Gebrauch ist jedoch anders als in Österreich.26
Bei einer stichprobenartigen Befragung von Jugendlichen (16-18 Jahre) bzw.
von 10-jährigen Kindern, konnte ich feststellen, daß bis zu 10 Stunden pro Tag fast
ausschließlich bundesdeutsche Privatsender konsumiert werden. Verstärkt wird dies
noch durch viele Zeichentrickfilme, Vorabendserien und Filme im
Spätabendprogramm, die alle amerikanischer Herkunft sind und alle ohne Ausnahme
von bundesdeutschen Studios synchronisiert wurden und somit eine bundesdeutsch
geprägte Sprache vermitteln. Unter Druck stehen von dort her alle österreichischen
Sprachmerkmale, die in direkter Opposition zu den bundesdeutschen Formen stehen.
Als Beispiele seien genannt: Die Verbindung der Verben stehen, liegen, sitzen mit sein
statt mit haben; der Unterschied zwischen dem österreichischen "angreifen" und
"anfassen", ersteres hat in Deutschland nur die Bedeutung "attackieren"; Genusunter-
schiede, wie "das" Service vs. "der" Service; "der" "der Akt" (Gerichtsakt) vs. "die"
Akt"e" usw. Ich konnte beobachten, daß diese Ausdrücke nicht nur von Kindern und
Jugendlichen zunehmend übernommen werden, sondern auch schon von sehr vielen
Erwachsenen im mittleren Alter.27 Viele österreichische Kinder wissen aufgrund des
bundesdeutsch bestimmten Fernsehkonsums gar nicht mehr, daß es in Österreich "ist
gelegen" und nicht "habe gelegen" heißt. Die Begründung, die mir von den Kindern
dafür gegeben wurde, war deutlich: "Man hört es ja immer im Fernsehen".
Deutschlehrer beobachten, daß sich das zunehmend auch in den Schulaufsätzen

26
Die Partikeln "eh" und "halt" werden in Ö. so gut wie ausschließlich in der gesprochenen Sprache
verwendet. Weiters wird der Begriff "Schmäh" auf "Lüge, Unwahrhaftigkeit" reduziert, was nur einen
geringen Teil seines Begriffsumfanges abdeckt und darüber hinaus die Lebenshaltung ignoriert, die
hinter diesem Begriff steht.
27
Der z. B. ein etwa 45-jährige Judotrainer, der im Hauptberuf Rechtsanwalt ist. Er hat diesen
Ausdruck bereits völlig internalisiert und verwendete ihn kürzlich während des Training parallel mit
"angreifen".

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-89-

niederschlägt.28
C) Die Folgen der Tabuisierung des Verhältnisses von Sprache
und Nation und der Frage nach der Rolle des Deutschen in
Österreich - Sprachpolitische Ursachen der Abwehrhaltungen
der Österreicher zum eigenen Deutsch
Die Frage ist, wie solche Abwehr- und Abwertungs-Haltungen zur eigenen
Sprache zustande kommen können. Ich sehe dafür sprachpolitische, gesellschaftspo-
litische und linguistische Ursachen: 1) Die Nichtüberwindung der historisch lange
zurückreichenden Spaltung zwischen alltäglicher, gesprochener Normalsprache und
geschriebener und gesprochener Sprache in öffentlichen Funktionen. 2)
Identitätsambivalenz und politische Distanzierung (besonders der Intellektuellen) von
Land und Herkunft 3) Die Nichtüberwindung des großdeutschen Gedankengutes und
Unklarheit über die Inhalte der österreichischen Identität; 4) Negativmarkierung und
Nichtbewußtmachung des österreichischen Deutsch durch den schulischen
Deutschunterricht; 5) Das Dogma des "guten" und "einheitlichen" Deutsch; 6) Die
Nichtüberdachung des österreichischen Deutsch und die Kodifizierungspraxis der
bundesdeutschen Norminstanzen;
3.5 Identitätsambivalenz, nichtverstandene innere
Mehrsprachigkeit und Mehrfachidentität - Tabuisierung des
Zusammenhangs von Sprache und Nation
Ein ganz wesentlicher Faktor für die beschriebenen Unsicherheiten und Ab-
wehrhaltungen ist eine historisch weit zurückreichende Identitätsambivalenz der
Österreicher29, die bereits in josephinischer Zeit begann und ihren Ausgang in Dis-
krepanz zwischen der Funktion der Habsburger als Kaiser des Römischen Reiches
deutscher Nation und der Vielvölkersituation in ihren Erblanden hatte. Die Zwiespäl-
tigkeit der Situation erhöhte sich noch nach 1806, nachdem das Kaiserreich Öster-
reich gegründet worden war. Die deutschsprachigen Österreicher fühlten sich als
"Deutsche", waren aber zugleich einem multilingualen Staatsgebilde und der Krone
gegenüber loyal, was zu Mehrfachidentität, aber auch zu Spannungen mit den
sprachlich begründeten Identitätsvorstellungen führte, die aus Deutschland kamen.
Zur Zeit Josephs II. und Maria Theresias hatte mit der Einführung der Gottsched-
schen Sprachnormen außerdem bereits ein echter Kulturschock stattgefunden, der in

28
In einem Projekt, das ich mit einer befreundeten Lehrerin in einer Handelsakademie in Graz
durchgeführt habe, zeigte sich, daß in der Jugendsprache nicht nur viele bundesdeutsche Ausdrücke
vorkamen, die SchülerInnen gaben auch an, zu 90% bundesdeutsche Fernseh-Sender bis zu 10
Stunden pro Tag (Wochenende) zu konsumieren.
29
Nicht zu übersehen ist auch, daß die Folgen der Gegenreformation selbst bist heute nachwirken. Um
1580 waren 95% der österreichischen Bevölkerung protestantisch und die Lutherbibel in fast jedem
Haushalt vorhanden. Sie war in dieser Zeit das einzige Buch, das überhaupt gelesen wurde. Es ist
gut vorstellbar, daß seine Sprache auch im hiesigen Sprachgebiet zu einheitlicheren
Sprachverhältnissen geführt hätte, wenn man bedenkt, welch starke soziale und politische Wirkung
von der Bibel und vom Protestantismus ausging. Für das (gesellschaftliche) Schweigen, das mit der
Nichtaufarbeitung dieser und auch der nachjosephinischen Periode verbunden ist, vgl. Bodi
(1995/1977).

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-90-

seinen Auswirkungen weit ins 19 Jhds. hinreichte und verschiedene Spannungen mit
sich brachte.
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht - eine der von Maria Theresia er-
griffenen Maßnahmen zur Modernisierung der Erblande - hatte einheitliche schrift-
sprachliche Normen notwendig gemacht. Der Versuch der Jesuiten, auf der Basis
heimischer Normen eine eigene Schriftnorm zu schaffen, scheiterte, weil dieser
Orden zugleich zum Kern der Reformgegner gehörte. Die Aufklärer führten daher die
Gottschedsche Norm ein, die jedoch nicht dem vorhandenen Sprachgebrauch im
deutschsprachigen Teil des Habsburgerreiches entsprach, sodaß es dadurch zu einer
starken Diskrepanz zwischen gesprochener und geschriebener Norm kam, die bis
heute andauert. Die eingangs zitierte Aussage des Benediktinerpaters Lindemayr be-
schreibt die lang zurückreichende und bis heute andauernde Sprachspaltung zwi-
schen geschriebener und gesprochener Sprache in Österreich sehr gut. Im Hinblick
auf einen Prediger, der den neuen Normen folgt, sagt er dort:
"Eben darum, daß Sie ein Prediger in Österreich würden, müßten Sie sich die sächsische
Mundart ab- und die österreichische angewöhnen. [...] -glauben Sie ja nicht, mein Herr, daß
Augustin nicht gut Lateinisch gekonnt. [...] Schrieb er, so war er, ein Römer. Redete er: so war
er, ein Hipponenser. So, mein Herr; so sollens auch wir machen. Im Schreiben, sollen wir
Sachsen; im Predigen aber, Oesterreicher seyn."30

Um modern und zeitgemäß zu scheinen bzw. zu sein, war und ist man daher in
Österreich seit dieser Zeit stark außenorientiert und schränkte damit das sprachlich
Eigene funktional ein. Die als "Hochdeutsch/Hochsprache" bezeichnete Sprache
wurde zugleich ein Merkmal der führenden Schichten, die sie in ihrem Alltag auch
als Umgangssprache benutzten. Alles andere galt daher bald als "pöbelhaft". Die dar-
aus entstehenden Spannungen waren stets vorhanden und wurden auch thematisiert.
So z.B. in den Stücken Nestroys, wo diese Unterschiede kunstvoll genutzt wurden,
aber auch in den Eipeldauer Briefen aus dem Jahre 1803:
"Da haben ein Paar Herrn über die deutsche Sprach räsonirt. "Wenn wir Oestreicher", hat der
eine gsagt, "früher angfangen hätten Bücher z' schreiben, als d' Schlesinger und d' Sachsen,
so hätten wir lauter östreichische Wörter. Da wüßten wir also nichts von ein Mädchen, und
Rädchen und Tischchen: sondern wir schrieben hübsch: ein Madl, ein Radl, ein Tischl, und
das wär auch viel leichter in d' Musik setzen; [...] und könnten gradweg singen: Wenn d' Lisel
nur wollt, wenn 's Lisel nur möcht, d' Lisel wär just für ein Hausknecht recht." Herr Vetter,
wie der glehrte Herr das Liedl gsungen hat, habn so gar d' arkadischen Lampen z' lachen
angefangen; aber ich wollt Herr Vetter, daß d' östreichische Sprach überall eingführt wär, so
würden mich d' Leut über mein Styli nicht so auslachen."31

Die Passage zeigt auch die soziale Stigmatisierung, die mit der Beibehaltung der
eigenen Sprache einherging. Ein Prozeß, der bis heute andauert.

30
Zit. nach Wiesinger (1995:354f).
31
Eipeldauer Briefe, 1803, Heft 13, 5. Brief, S. 37f,. Zit. nach Wisinger (1995:355).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-91-

In der Ersten Republik wurde die Diskrepanz zwischen der gewünschten deut-

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-92-

(linguistischen) Selbstdefinition verbunden. Sie finden sich bei (kritischen, liberalen)


österreichischen Intellektuellen ebenso, wie bei konservativen bis deutschnational
eingestellten Gruppen. Auf der liberalen Seite wird dem offiziellen Österreich
(teilweise berechtigt) fehlende Modernität, mangelnde Weltoffenheit, Konservativität
und vor allem Nachlässigkeit bei der Bewältigung der Nazivergangenheit Österreichs
vorgeworfen. Mit der Distanzierung von diesen Aspekten des Landes oder auch der
Umdeutung des erfolgreich verlaufenen Nationsbildungsprozesses37, erfolgt
gleichzeitig auch eine Ablehnung oder Relativierung des spezifisch Österreichischen
und seiner Sprache. Beides wird entweder als belanglos abgetan oder mit
konservativ-reaktionärem Nationalismus und mit kleinkariertem provinziellem
Denken assoziiert, daher abgelehnt und verdächtigt, die Betonung einer
österreichischen Norm des Deutschen beabsichtige eine neue Ausgrenzung und
arbeite sogar rechtsradikalen Politikern in die Hände. Diese Abwehrhaltung mancher
kritischer österreichischer Intellektueller und Künstler gegen inakzeptable politische
und soziale Verhältnisse hat eine lange Tradition. Sie führt oft genug dazu, daß man
die vermeintlich "provinziellen" Verhältnisse ablehnt und anderswo sein Heil sucht.
Sehr oft gilt dann Deutschland als geläutertes Vorbild. Daß man sich damit potentiell
dem etablierten und anerkannten Nationalismus (deutscher oder anderer Prägung)
anschließt, wird den meisten garnicht bewußt, denn sprachliche Betätigung
impliziert immer auch eine soziale oder nationale Zuordnung. Diese ist inhärenter
Teil der verwendeten sprachlichen Formen. Man kann sich einer Zuordnung zwar
bewußt entziehen, muß an ihre Stelle auf längere Sicht wohl andere
Äußerungsformen setzen, da es völlig neutrale, sozial und national unspezifische
Ausdrucksformen als solche nicht gibt; an diese Stelle muß eine andere Sprache bzw.
ein anderer sozialer Orientierungspunkt (oder zumindest ein Bewußtsein davon)
treten. Wie Holzer (1995) zu Recht anmerkt, entsteht damit ohne es zu wollen, ein
paradoxer Gleichklang in der Ablehnung zwischen diesen "gnadenlos guten"38
Kritikern und jenen deutschnationalen Gruppierungen, die auf der Basis völkisch-
ethnischen Denkens konsequent die staatsnationale Entwicklung Österreichs in den
letzten 50 Jahren ignorieren und Österreich auf der Basis eines ethnisch begründeten
Sprachnationalismus als deutschen Staat betrachten. Beide Gruppen stellen an
Österreich die Frage nach der Legitimität seiner Existenz, wenn auch aus ganz
verschiedener Perspektive und mit ganz verschiedenen Zielsetzungen. Das kann auch
im Kontext der Einstellung nicht weniger Deutscher gesehen werden, die Österreich

37
Beispiel dafür ist das Buch "Inszenierungen" von Breuss/Liebhardt/Priebersky (1995), das zwar sehr
viel Material zur Identitätsproblematik Österreichs zusammengetragen hat, die Nationswerdung
Österreichs als "Inszenierung" seiner Führungsschichten beschreibt (1995:14): "Das Bekenntnis zu
einer österreichischen "Staatsnation" mag für die politische Klasse bereits Ergebnis der Erfahrungen
mit den Nationalsozialismus gewesen sein, seine glaubwürdige Darstellung für das Selbstbild der
Bevölkerung ebenso wie für die - zunächst durch die Alliierten repräsentierte - Welt mußte erst in
Szene gesetzt werden." Daß die Betonung der Eigenstaatlichkeit auch dem Willen der Bevölkerung
entsprochen hat, wird nicht in Betrachtung gezogen.
38
Der Begriff stammt von Holzer (1995).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-93-

nicht als "richtiges" Ausland sehen, wie Münz (1995:33) feststellt, was auf die
tieferliegende und in Deutschland weitverbreitete Einstellung zurückzuführen ist,
daß jemand, der Deutsch spricht auch Deutscher ist. Österreich wird damit als eine
Art Anomalie betrachtet; "als eine Art Deutschland, das aber nicht so heißt", wie der
Spiegel 1991 schrieb.39 Vor diesem Hintergrund fand auch der Historikerstreit statt,
in dem der deutsche Historiker Erdmann die von österreichischen Historikern
vehement abgelehnte These vorgebracht hatte, Österreich sei ein deutschsprachiges
Land, gehöre zur deutschen Sprach- und Kulturnation und sei deshalb als deutscher
Staat zu betrachten.40
Die Frage des österreichischen Deutsch rührt so gesehen an die Grundfesten der
österreichischen Identität, weil man bisher der Frage ausgewichen ist, welche Rolle
dabei die deutsche Sprache spielt. Dazu kommt auch ein allgemeiner
Selbstdefinitionsmangel, wie Knapp (1991:24) meint: "Vielleicht gibt es auch andere
Nationen, deren Nationalbewußtsein gespalten ist. Aber das Hin- und Herschwanken
zwischen Extrempositionen "Nabel der Welt" und "Triangel im Konzert der Nationen"
ist besonders auffallend."41 Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg zog man sich auf die
vom damaligen Bundeskanzler Figl formulierte Strategie zurück, die hieß: "Österreich
ist unser Vaterland, Deutsch ist unsere Muttersprache." Diese Antwort ist heute aber
angesichts zunehmender Verflechtungen in Wirtschaft und Medien sowie des
gemeinsamen EU-Marktes vermutlich zuwenig. Wenn ein Land in Sprache, Kultur,
Gesellschaft und Ökonomie nichts Spezifisches an sich hat, was seine Existenz positiv
besetzt legitimiert und sinnvoll macht, ist seine Aufrechterhaltung auf Dauer in Frage
gestellt. Es ist eine zweite und hier nicht zu diskutierende Frage, ob die
Aufrechterhaltung der europäischen Nationalstaaten angesichts der politischen
Prozesse innerhalb der EU überhaupt möglich oder sinnvoll ist. Auf diese
hochpolitischen Implikationen der Diskussion rund um das österreichische Deutsch
aufmerksam zu machen, ist meines Erachtens aber legitim. Für die Beschreibung des
österreichischen Deutsch ergibt sich daraus:
1. Die Beschreibung des österreichischen Deutsch kann nicht als rein
sprachliches Problem behandelt und nicht auf die bloße Aufzählung einzelner
linguistischer Merkmale reduziert werden. Vielmehr geht es auch um den Ausdruck

39
Zahlreiche Beispiele dieser Art finden sich in Holzer (1995).
40
Vgl. dazu ein Zitat aus der österreichischen Turnerzeitung, die laut Handbuch des österreichischen
Rechtsextremismus als eindeutig rechtsextrem anzusehen ist: "Der Österreicher deutscher
Muttersprache gehört somit dem deutschen Volk als Kultur- und Sprachgemeinschaft an. [...] Seit
1945 wird die Zugehörigkeit Österreichs zur deutschen Nation von bestimmten Meinungsmachern
verbissen geleugnet. Eine Mischung aus blinden Haß, historischer Unwissenheit und falsch
verstandener Reinwaschung sollen Franz aus Passau zum selben "Ausländer" stempeln wie etwa
Paolo aus Udine oder Lazlo aus Budapest. (6/84, S.123 Zit. nach Hb. des Rechtsextremismus).
"Das Bekenntnis zu Österreich lediglich auf einen vagen, fragwürdigen Nationsbegriff einzuengen, ist
nichts weiter als der Versuch, volksbewußte Österreicher zu diffamieren." (3/88, S.123 Zit. nach Hb.
des Rechtsextremismus)
41
Vgl. dazu Horst Knapp (1991:24): Schizophrenes Nationalbewußtsein. Warum fällt der Mittelweg
zwischen Selbstüber- und unterschätzung so schwer?

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-94-

von Identität durch Sprache, wobei es nicht auf die Verwendung einer großen Anzahl
von Ausdrücken und Merkmalen, sondern auf die Verwendung bestimmter Elemente
ankommt, die der Bevölkerung als Mittel der internen und externen Identifikation
dienen.
2. Individuelle, sprachliche, soziale und staatliche Identität und Identifikation
können nicht unabhängig voneinander gesehen werden. Um sich selbst begreifen zu
können, muß der einzelne eine Vorstellung und Bewußtsein über (soziales) Eigenes
und Anderes haben. Der einzelne muß einen sozialen Orientierungsmittelpunkt
haben und sich mit seiner Sprache auch im größeren sozialen Kontext wiederfinden,
um sich identifizieren zu können. Dies ist in plurizentrischen Sprachen ganz
besonders schwer, weil es sich um relativ ähnliche Systeme handelt und sprachliche,
soziale und staatliche Identität oft fälschlicherweise gleichgesetzt werden (wer
Deutsch spricht, ist Deutscher). Eine besondere Rolle spielen im Falle Österreichs
dabei die geographische Nähe, ökonomische Abhängigkeiten und historische
Ereignisse in den letzten 70 Jahren.
Im Zentrum meines Interesses steht daher die Frage der Funktion der deutschen
Sprache für die Identität Österreichs und inwieweit im speziellen das ÖDt. auch eine
Basis für die Identität des Landes abgibt bzw. ob und welche Probleme damit verbun-
den sind. Zu fragen ist dabei wie die Sprache im Land tatsächlich ist, welche
Funktionen die jeweils vorkommenden Varianten haben und nicht primär, ob die
Sprache, gemessen an den kodifizierten Normen befolgt wird.
3.6 Das Kodifikations- und Verbreitungsproblem des
österreichischen Deutsch.
Eine der Folgen der beschriebenen Identitätsambivalenz ist auch der Mangel an
zuverlässigen und umfassenden Nachschlagewerken. Er trägt wesentlich zu der
weiter oben beschriebenen Unsicherheit über die österreichischen Eigennormen und
zum Fehlen eines gefestigten Sprachbewußtseins bei. Denn die Vermittlung und
Bewußtmachung der Eigennormen und Außennormen im Schulunterricht hat das
Vorhandensein umfassender und linguistisch gesicherter Erkenntnisse und darauf
basierender Unterrichtsmaterialien zur Voraussetzung. Dies gilt sowohl für den erst-
sprachlichen Unterricht als auch für den DaF-Unterricht im Ausland. Einer entspre-
chenden Kodifikation des ÖDt. stand bisher aber die dominierende monozentrische
Auffassung innerhalb der internationalen und österreichischen Germanistik gegen-
über. Sie hat das ÖWB bisher nicht als gemeinsames Anliegen betrachtet, sondern an
konkreten Hilfestellungen zur Verbesserung vermissen lassen und aus verschiedenen
Gründen, wie auch aus verschiedenen Positionen bis auf wenige Ausnahmen stets
kritisiert. Das war ebenso wenig hilfreich wie Wiesingers (1990, 1995) häufig
zitierte (und vom Autor selbst immer wieder vorgebrachte Meinung), daß der lexi-
kalische Bestand des ÖDt. nicht mehr als 4000 Wörter umfasse. Eine Meinung, die
einfach unzutreffend ist, weil sie den Lemma-Bestand von Ebner (1980) zugrunde-
legt und unberücksichtigt läßt, daß weite Teile der Lexik und des Sprachgebrauchs

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-95-

noch gar nicht erforscht sind.42 Hier ist jedoch nicht der Ort, die gesamte Diskussion
zum ÖWB noch einmal aufzurollen, doch muß berücksichtigt werden, daß das ÖWB
als Rechtschreib- und Schulwörterbuch konzipiert war und ist und daher die
Ansprüche, wie sie etwa an ein Universalwörterbuch gestellt werden, selbstver-
ständlich nicht erfüllen kann, diese Ansprüche aufgrund seiner Position und recht-
lichen Stellung aber durchaus erfüllen sollte. In seiner derzeitigen Form ist es in
Umfang und in mancher Hinsicht auch in lexikographischer Hinsicht unzureichend.
Andererseits ist Schmid (1990:25) durchaus zuzustimmen, wenn er meint, daß [...]
sich ... der ständige Spott über das Österreichische Wörterbuch als das [entlarvt], was
er zumindest auch anzeigt: eine virtuell antiösterreichische Haltung." Das
Österreichische Wörterbuch ist allen Einwänden zum Trotz, ein zentrales
sprachpolitisches Erfordernis und sollte zu einem entsprechend ausgestatteten und
wohl fundierten Universalwörterbuch ausgebaut werden, wie dies auch die
TeilnehmerInnen der Grazer Tagung auch gefordert haben.43 Dann wird es z.B.
österreichischen Auslandslektoren auch leichter möglich sein, bei Normdiskussionen
im Ausland stichhältige Grundlagen zur Hand zu haben, um ihren Standpunkt als
gültig nachweisen zu können.
3.7 Negativmarkierung und Nichtbewußtmachung des
österreichischen Deutsch durch den schulischen
Deutschunterricht - Die Dogmen des "guten" und
"einheitlichen" Deutsch"
Die weitgehend unreflektierte Übernahme der Außennormen ist eine nicht
unwesentliche Quelle des Imageproblems des österreichischen Deutsch im Inland.
Seine unmittelbare Folge ist die frühe Negativmarkierung des ÖDt. durch den
schulischen Deutschunterricht, wobei sehr oft keine wirkliche Differenzierung
zwischen Merkmalen der Standardsprache in Österreich und kleinregionalen
Ausdrücken gemacht wird. Entsprechend der allgemeinen Norm-Unsicherheit - von
der die LehrerInnen nicht ausgenommen sind, wird den Österreichern in der Schule
(und auch durch die Medien) das Gefühl vermittelt, ihr österreichisches Deutsch
entspräche nicht den Normen der Standardsprache. Sie müssen daher um- und neu
lernen. Das ist nichts Besonderes, da es alle Kinder im deutschen Sprachraum mehr
oder weniger betrifft. Entscheidend ist aber, daß den Kindern nicht gesagt wird, daß
ihr gesprochenes Deutsch nicht schlechter ist, als das nördlicher Regionen. Sie lernen
vor allem, daß sie ihr eigenes Deutsch vermeiden müssen. Am Ende steht dann eine
typische Vermeidungsstrategie, wie sie aus dem Fremdsprachenunterricht gut doku-
mentiert und aus dem Prozeß des sog. „Monitoring“ (Selbstbeobachtung im
Äußerungsvollzug) erklärbar ist. Man versucht, eine zielsprachliche Formulierung zu
äußern, schafft diese nicht ganz und beginnt, das, was man sagen wollte, mit den zur
Verfügung stehenden Mitteln der Zielsprache zu umschreiben. Daraus ergibt sich

42
Vgl. dazu Wiesinger (1995b)
43
Vgl. dazu die im Band abgedruckte Resolution.

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-96-

nicht selten eine umständlichere, weniger präzise Ausdrucksform, die wiederum den
Eindruck sprachlicher Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit verstärkt. Dieser
Vorgang ist die Folge des "Monitoring" der Sprachproduktion anhand von
Außennormen.
Hinter diesen Problemen steht aber nicht nur sprachliche Unsicherheit, sondern
auch sehr viel sprachliches Unwissen und Nichtbewußtheit über das eigene Deutsch
und die sprachlichen Verhältnisse in Österreich. Der Deutschunterricht geht leider
nicht darauf ein, welche Merkmale das österreichische Deutsch hat, welche Regionen
es innerhalb des österreichischen Deutsch gibt bzw. was in der Standardsprache als
österreichischer bzw. bundesdeutscher oder schweizerischer Standard anzusehen ist.
Die Folge: Bei einem von mir durchgeführten Test mit Germanistikstudenten, konnten
z.B. nur wenige die Sprachproben aus Österreich korrekt zur jeweiligen
Herkunftsregion zuordnen. Noch geringer ist das Wissen aber über die Merkmale des
ÖDt. Selbst Österreicher mit umfangreicher Schulbildung sind kaum in der Lage,
andere Unterschiede als die zwischen "Paradeiser/Tomate", "Schlagobers/ Sahne" und
einige wenige andere Ausdrücke (meistens aus dem Lebensmittel und Essensbereich)
zu nennen. Ein Nichtwissen, das sich auch bei den EU-Verhandlungen auswirkte. Es
liegt sogar schriftlich dokumentiert in einer Aussendung des Pressedienstes der
damals führenden Sozialdemokratischen Partei vom April 1994 (die EU-
Beitrittsverhandlungen waren in der entscheidenden Phase) vor. Darin hieß es:
"Austriazismen sind typische Bezeichnungen für Lebensmittel, wie etwa Topfen,
Grammeln, Faschiertes und Rostbraten."44 Bei einem derartig reduzierten Sprachbe-
wußtsein, verwundert es, daß das Thema überhaupt Berücksichtigung fand und es
überrascht andererseits nicht, daß keine Generalklausel, sondern nur 23 Ausdrücke
aus dem Lebensmittelbereich aufgenommen wurden.
3.8 Die Nichtüberdachung des österreichischen Deutsch und
die Kodifizierungspraxis der bundesdeutschen Norminstanzen
Hinter der schulischen Praxis bei der Vermittlung von Sprachnormen steht
auch das schon erwähnte linguistische Phänomen der Nichtüberdachung des öster-
reichischen Deutsch (insbesondere der gesprochenen Varianten) durch die Struk-
turen der kodifizierten Standardsprache. Viele dieser an sich regionalen mitteldeut-
schen/norddeutschen Sprachformen (insbesondere in der Aussprache) sind zugleich
als Standardsprache/Schriftsprache kodifiziert worden. Die meisten Varianten der
gesprochenen Sprache in Österreich werden - so gesehen - durch die kodifizierte
Standardsprache "nicht überdacht"; sie "hängen" (vor allem) phonologisch und
lexikalisch gewissermaßen "in der Luft". Selbst ausgesprochen norddeutsche
Regionalausdrücke ("Eisbein") klingen oft noch viel standardsprachlicher
(hochdeutscher) als die eigenen landesüblichen Ausdrücke ("Stelze").

44
Zit. nach Pollak, Wolfgang (1994a): Identität durch Grammelschmalz. In: Der Standard v. 28.4.94.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-97-

Verstärkt wird dieser Mechanismus durch das Dogma des "guten und
einheitlichen Deutsch", wonach gutes Deutsch mit Schriftdeutsch gleichzusetzen ist.
Das hat für das ÖDt. zur Folge, daß letztlich stets die bundesdeutschen Normen des
Duden für maßgebend gehalten werden - sie sind die Referenznorm, wenn es zu
entscheiden gilt, was "stilistisch gut", "hoch", "gewählt" und "richtig" ist. Dies gilt um
so mehr, als Österreich über keine entsprechenden Nachschlagewerke verfügt, die
eine umfassende Beschreibung des ÖDt. zur Verfügung stellen und im Duden
nachgeschlagen wird, wenn Zweifelsfragen zu klären sind. Das wiederum hat zur
Folge, daß die österreich-eigenen Sprachformen durch tätige Mithilfe seitens der
Österreicher selbst immer mehr ins Abseits gedrängt werden. Die endogene
Entwicklung des Österreichischen wird aufgrund dieser Barriere daher stark
eingeschränkt, weil die entsprechenden Ausdrücke primär aus der gesprochenen
Sprache kommen, diesen aber der Makel des "umgangsprachlichen" bzw.
"dialektalen" anhaftet. Das aus diesem Prozeß resultierende, negative sprachliche
Eigenstereotyp wird auf diese Weise solange stabilisiert, solange man nicht eine ge-
zielte Bewußtmachung der Eigennormen und die gezielte Förderung ihres Status
betreibt.
Wie die Diskussion um die 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuches
gezeigt hat,45 steht hinter all diesen Spannungen die Annahme, daß die
Schriftsprache die ausschließliche Basis des Begriffs "Standardsprache" ist. Davon
ausgehend wurden Versuche, die jeweiligen nationalen Normen und den
Gebrauchsstandard mitzuberücksichtigen als "Seperatismus", "Provinzialismus",
"Hinterwäldlertum" etc. gebrandmarkt. Tatsächlich wurde und wird in den Duden-
Wörterbüchern jedoch überwiegend der nord- und mitteldeutsche Sprachgebrauch
als "Standard" dargestellt. Während diese Varianten in der Regel unmarkiert und
damit als "gemeindeutsch" zu betrachten sind, werden die süddeutschen,
österreichischen und schweizerdeutschen Varianten mit entsprechenden
Bezeichnungen markiert.46 Entscheidend ist, daß im Duden der Ausdruck
„bundesdeutsch“ fehlt und kein einziger Ausdruck als solcher markiert vorkommt.
Zwar wird in den Wörterbüchern z.B. auch die Kennzeichnung "norddeutsch"
verwendet47, nicht wenige der als unmarkiert verzeichneten Ausdrücke sind jedoch
eindeutig bundesdeutsch bzw. nord- und mitteldeutscher Sprachgebrauch, da sie an-
derswo nicht vorkommen oder nicht in derselben Weise verwendet werden. Die ent-
sprechende Markierung der bundesdeutschen Ausdrücke wäre daher allein schon
aus sachlichen Gründen mehr als angebracht, ebenso die Erstellung eines Wörter-
buchs der sog. "Teutonismen". Für den Wörterbuchbenutzer ist eine Markierung im-

45
Vgl. dazu Wiesinger (1980), Fröhler (1981) u.a.
46
Vgl. dazu Wermke (1995), in diesem Band.
47
Im Duden-Universalwörterbuch haben aufgrund meiner Computer-Auswertung insgesamt 590
Einträge ausschließlich die Markierung "norddeutsch", 196 "süddeutsch", 1266 "schweizerisch" und
1802 "österreichisch". In Kombinationen mit anderen Markierungen haben 596 Einträge auch die
Markierung "norddeutsch", 798 "süddeutsch, 1662 "schweizerisch" und 2481 "österreichisch".

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-98-

mer ein Signal für eine Verwendungseinschränkung und ein Hinweis darauf, statt-
dessen eine unmarkierte (somit nichteingeschränkte) Variante zu verwenden. Es ist
nicht akzeptabel, daß nur die spezifischen Varianten der A(nderen) Nationen
markiert werden, die spezifischen der D-(ominierenden) Nation aber nicht. Der
Vorschlag Ammons (Ammon, 1994), ein Wörterbuch der Teutonismen zu erstellen
ist daher nur zu begrüßen.48 Zugleich geht der von Ammon (1995) nun schon
wiederholt vorgebrachte Vorwurf, wonach das ÖWB einen "Nationalitäts-Purismus"
verfolge, weil es die nicht-österreichischen Varianten markiere, völlig am Punkt
vorbei, denn es ist es gerade der ureigenste Sinn eines Wörterbuchs einer nationalen
Varietät den eigenen Sprachgebrauch zu kodifizieren und das geht wohl nur, wenn
man ihn von jenem Sprachgebrauch unterscheidbar macht, der nicht zum jeweiligen
Territorium gehört.49 Darüber hinaus: Der Duden macht nichts anderes: Die
bundesdeutschen Varianten bleiben unmarkiert, die der anderen nationalen
Varianten werden markiert. Warum der Duden daher keinen Nationalitäts-Purismus
verfolgt, müßte noch stichhältig erklärt werden. Einer Erklärung, der ich mit
Interesse entgegensehe.
Zusammenfassend ist somit festzuhalten: Das derzeit durch den Duden
kodifizierte Standard-Deutsch hat eine eindeutige nord- und mitteldeutsche
"Schlagseite", sodaß von einer "Einheitlichkeit" und uneingeschränkten
überregionalen Repräsentativität keine Rede sein kann. Für die Verwendung des
Begriffs "(All)Gemeindeutsch" bedeutet das, daß darunter nur jene Ausdrücke
subsummiert werden können, die in allen drei Haupt-Regionen regional unmarkiert
in Verwendung stehen. Als deutsche Standardsprache wäre daher nach meiner
Auffassung die Schnittmenge der verschiedenen überregional gültigen nationalen
Varianten anzusehen, in deren Kern das unmarkierte "Allgemeindeutsch" steht, das
allen drei Hauptregionen gemeinsam ist. Alle anderen Ausdrücke müssen als
Merkmale der jeweiligen nationalen Variante des Deutschen angesehen werden.

4. Methodisch divergente methodische Zugänge zum "semantic


muddle" und nichtvergleichbare Ergebnisse als Folge
Wie aus den vorangegangenen Ausführungen vermutlich klar wurde, gibt es in
der Diskussion um das österreichische Deutsch eine Reihe völlig divergenter metho-
discher Zugänge und eine ziemliche Verwirrung über zentrale Begriffe, die bei der

48
Von L. Zehetner wird derzeit der Versuch der Erstellung einer süddeutschen Standardnorm
unternommen. Die Publikation seines "Wörterbuchs der Standardsprache in Altbayern" wurde
allerdings vom Verlag trotz eines vorhandenen Vertrags letztlich mit der Begründung abgelehnt, "daß
keine Partikularismen unterstützt werden". Es scheint, daß sich diese Erfahrungen ziemlich mit jenen
decken, die bei der Erstellung einer österreichischen Norm gemacht wurden und werden.
49
Auch ein von Ammon schon mehrmals vorgebrachtes Argument, wonach die Ersteller des ÖWB sich
und dem österreichischen Deutsch selbst einen niedrigeren Status zuschrieben, weil sie den Begriff
"binnendeutsch" für das Bundesdeutsche verwenden, ist falsch. Bis 1990/91 war dies innerhalb der
Germanistischen Sprachwissenschaft der gängige Begriff für das Bundesdeutsche, wie z.B. der Titel
des bekannten Artikels von P. v. Polenz (1988) auch zeigt: "Binnendeutsch" oder plurizentrische
Sprachkultur?". Es ist offensichtlich, daß hier - wie auch an anderen Stellen des Buches - die Absicht
dahinter steht, die Inferiorität des ÖWB zu beweisen.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-99-

Beschreibung nationaler Varianten und des ÖDt. eine wichtige Rolle spielen. Im fol-
genden soll nun darauf und auch auf die unter Kap. 1 gestellten Fragen eingegangen
werden.
4.1 Der zugrundegelegte Nationsbegriff - Mehrfache oder
einfache Identität
Die Verwirrung beginnt bereits dort, wo es um den Begriff "national" bzw.
"Nation" geht, die im angelsächsischen Raum immer gleichbedeutend mit "Staat" ist,
während im deutschen Sprachraum zwischen "Nation" und "Staat" unterschieden
wird. Die ethnisch begründete Nations-Auffassung geht davon aus, daß eine Nation
und die Zugehörigkeit zu ihr durch eine bestimmte Sprache konstituiert wird. Eine
Nation kann sich demnach auch über mehrere Staaten erstrecken, nämlich
genausoweit wie dort Deutsch gesprochen wird. Demnach wäre Österreich lediglich

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-100-

der politischen Rechten diesen Zustand wieder herbeizuführen. Diese Anmerkung ist
notwendig, da sonst wesentliche Hintergrund-Aspekte dieser Diskussion ausgeblendet
werden. Wenn die These gilt, daß die Österreicher eine eigene (und doppelte)
Identität haben - die Meinungsumfragen lassen daran keinen Zweifel -, dann ist die
Vermutung gerechtfertigt, daß dies in ihrer Sprache bzw. in anderen Symbolen der
Identifikation einen Reflex findet, da eine Identitätsrepräsentation einen Ausdruck
braucht, um sich zu manifestieren.
4.2 Die Grundlagen der Beschreibung plurizentrischer
Sprachen: Staat oder Nation bzw. Norm- und
sprachsystembezogener oder sprachgebrauchsbezogener
Beschreibungsansatz
Ein weiterer Punkt der Diskussion ist, was als Grundlage der Beschreibung der
nationalen Varianten dienen soll. Ist es das jeweilige Land (Staat) oder ist nur eine
"Nation" als Ganzes bzw. die "Standardsprache" als solche die Grundlage der
Beschreibung? Ammon (1995a:49) unterscheidet zwischen "nationalen"
Varianten/Varietäten und "staatsspezifischen Varietäten/Varianten", wobei er sich
fälschlicherweise auf den Gebrauch des Terminus "national" bei Clyne beruft, indem
er die völlig andere inhaltliche Füllung des Begriffs "Nation" im angelsächsischen
Sprachraum übersieht.54 Diese Unterscheidung dient dazu, die Sprachunterschiede
zwischen der ehemaligen BRD und DDR als "staatsspezifische" benennen zu können,
weil die DDR keine eigene Nation gewesen sei und die dortigen Unterschiede "auf
einer anderen Ebene liegen und keineswegs auf die nationale Varietät Deutschlands
[abzielen]". Meines Erachtens ist die getroffene Unterscheidung im Kontext des
Konzepts der plurizentrischen Sprachen unerheblich und allein ausreichend, daß es
staatsrechtlich unabhängige Länder gibt, deren Existenz legitimiert ist.55 Damit ist da-
von auszugehen, daß jeder Staat zugleich eine Nation mit ihr spezifischen Merkmalen
ist, da der Willen seiner Bevölkerung zum Zusammenleben mit der Zeit zur
Herausbildung von gruppendifferenzierenden und sie kennzeichnenden Merkmalen
führt.
Zugleich ist damit die Frage verbunden, ob die gesamte Sprache eines Landes
die nationale Variante darstellt und daher die Beschreibungsgrundlage bilden soll,
oder nur die jeweilige nationale Standardvariante. Im ersten Fall wäre zuerst danach
zu fragen, wie der Sprachgebrauch im jeweiligen Land ist, welche Varianten es gibt,
welche davon der Identifikation dienen und welche davon "Standard" im dem Sinne
sind, daß sie - wie ich meine - "in öffentlichen Situationen mit der Intention
überregionaler Kommunikation"56 vorkommen. Auch Reiffenstein (1983:88) äußert

54
Diese Auffassung findet sich auch in einer früheren Publikation des Autors (Ammon, 1991).
55
Diese Legitimation wird im Normalfall der Willen der Bevölkerung sein, der - wie der Fall DDR zeigt -
für die Aufrechterhaltung des Staates entscheidend ist. Darüber hinaus müssen wohl auch noch
völkerrechtliche und staatsrechtliche Kriterien erfüllt sein.
56
Vgl. dazu Muhr (1987a) .

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-101-

sich in diese Richtung.57 Die so eruierten Varianten könnten geschrieben und


gesprochen oder nur gesprochen sein, wobei es vorderhand keine Rolle spielt, ob die
Variante "dialektal", "umgangssprachlich", "regional", "sozial" markiert ist.
Entscheidend ist in einem ersten Untersuchungsschritt primär ihr Vorkommen und
ihre identifizierende Funktion. In einem weiteren Schritt wäre zu unterscheiden,
welche Varianten nationale oder wenigstens großregionale Gültigkeit haben.
Dies gilt um so mehr, als durch die starke (elektronisch-)mediale
Massenkommunikation völlig neue Kommunikationszusammenhänge geschaffen
wurden, die eine verbale Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen via Fernsehen
und Radio mit sich bringt. Das schafft jene "sprachliche Normalität", die durch die
Sprache entsteht, die Bevölkerung eines Landes "im allgemeinen Umgang verwendet."
Sie ist bei der Kodifizierung der Standardsprache meines Erachtens ebenfalls zu
berücksichtigen. Diese Varianten werden in der Regel regional und/oder sozial mehr
oder weniger geprägt sein, doch sind sie die wichtigste Basis für das sprachliche
Normbewußtsein einer staatsnationalen Sprachgemeinschaft, das in den großen
städtischen Ballungszentren seine potentielle überregionale Ausprägung erfährt.
Dabei kann es, wie die Untersuchung von Glauniger (1995) zeigt, zu gravierenden
Diskrepanzen zwischen geschriebenem Gebrauch/Vorkommen und
"normalsprachlichem" Sprachbewußtsein kommen, wenn eine Gesellschaft von einer
dominierenden Außen-Variante überlagert wird. Die damit verbundenen
sozialpsychologischen Reaktionen sind vielfältig und reichen - wie schon weiter oben
beschrieben - vom glatten Verleugnen des eigenen Sprachgebrauchs, über
Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen bis hin zu starker Überkompensation.
Diese Faktoren sind bei Sprachuntersuchungen zu berücksichtigen, da
Fragestellungen, die diese Umstände außer acht lassen, zu irreführenden Ergebnissen
über die Spracheinschätzung in Österreich kommen. Der von mir vertretene
"kommunikations- und sprachgebrauchsorientierte Ansatz" unterscheidet sich
grundsätzlich vom "normorientierten Ansatz", dem Ammon (1995:67) folgt und un-
tersucht, "welche sprachlichen Normen für sie [= die Österreicher/Schweizer usw.]
gelten, welche Normen von ihnen erwartet werden", weil damit ein sicherer Schluß
auf "Indikatoren einer nationalen Varietät ... ihre spezifischen Einzelvarianten oder
Variantenkombinationen" möglich sei. In der Folge engt Ammon (1995:69) den
Begriff "nationale Varietät" auf "Standardvarietät" ein und beruft sich dabei auf M.
Clyne58, um diesen Begriff an anderer Stelle (1995:82) mit "öffentlichen
Kommunikationsmittel für die ganze Nation" gleichzusetzen, ohne daß an irgendeiner

57
"Wenn eine Äußerung als Hochsprache intendiert, die Sprachsituation hochsprachegemäß ist und
die Äußerung von den Hörern entsprechend akzeptiert wird, dann ist das Hochsprache, jedenfalls in
der betreffenden Kommunikationsgemeinschaft."
58
M. Clyne hat den Umfang des Begriffs "nationale Varietät" zwischenzeitlich präzisiert und sagt: "Ich
würde den Gebrauchsstandard in den Begriff "nationale Varietät" mit einschließen, weil sich die
Sprecher natürlich nicht immer an die Kodexe halten und auch der Gebrauchsstandard der
Identifikation dienen kann." (Persönliche Mitteilung an mich, R.M.)

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
-102-

Stelle des 564 Seiten starken Buches klar wird, ob damit primär "schriftsprachlicher
Standard" oder ein darüber hinausgehender Begriff gemeint ist. Allerdings findet sich
in einer früheren Publikation des Autors (Ammon, 1994:63) die Meinung, daß nur
Staaten eigene Varianten der Schriftsprache haben können und weist alle Elemente,
die dieser Variante nicht entsprechen, dem "Substandard" zu, wobei völlig unklar ist,
was mit letzterem beschrieben wird bzw., ob damit z.B. "Umgangssprache" oder eine
davon unabhängige Variante gemeint ist.
Der wohl entscheidendste Punkt ist aber, ob von einer nationalen Variante "erst
dann gesprochen werden kann, wenn für bestimmte Varietäten ein eigenes, in sich
kohärentes Normensystem kodifiziert wird, [denn] dann gibt es innerhalb des Deut-
schen keine nationalen Varianten."59 Damit wird von einer nationalen
Variante/Varietät eigentlich "ein eigenes, in sich kohärentes Sprachsystem" verlangt,
was ich jedoch für zu weitgehend halte, weil dies eine faktische Gleichsetzung mit
"Sprache" bedeutet und das gesamte Konzept der nationalen Varianten/Varietäten
überflüssig macht. Diese Ansicht steht jedoch auch hinter dem Argument, daß das
österreichische Deutsch "nicht einheitlich" sei, daher könne man von keiner
"nationalen Variante" sprechen.60 Warum dabei übersehen wird, daß das
Bundesdeutsche auch nicht einheitlich ist, bedarf jedoch noch der Erklärung. Der
Versuch L. Zehetners der Beschreibung einer süddeutschen Standardvariante auf
altbairischer Basis weist genau in dieselbe Richtung.
Bei einer nationalen Variante/Varietät ist meines Erachtens nicht das
Vorhandensein eines kohärenten Normensystems konstitutierend, sondern das
Vorhandensein einer bestimmten Menge von Ausdrücken und/oder textuellen und
anderen Systemeigenschaften und/oder kommunikativ-pragmatischen
Handlungsmustern, die die jeweilige Bevölkerung für sich gültig hält und sich damit
identifiziert. Würde dieses Herangehen nicht gewählt, könnten regionale
Unterschiede innerhalb einer nationalen Variante (z.B. Vorarlberger, Tiroler vs. bay-
rische bzw. norddeutsche Ausdrücke) nicht in die Beschreibung einbezogen werden,
obwohl sie eindeutig österreichische bzw. bundesdeutsche Varianten sind. Richard
Schrodt (1985: ) merkt dazu an: "Daß Niederländisch als eigene Sprache,
Plattdeutsch hingegen ”nur” als deutscher Dialekt gilt, mag für den Systemlinguisten
unerheblich und kein sinnvolles Forschungsproblem sein: Für die konkreten
Sprachteilhaber können aber solche Unterschiede im einzelnen Lebensbezug
konstitutiv sein."
Die Anzahl dieser linguistischen und kommunikativ-pragmatischen Merkmale
muß nicht groß sein, entscheidend ist lediglich, daß sie von der jeweiligen
Bevölkerung als Identifikationsmerkmal betrachtet werden. Das hat aber sehr viel mit
der Selbstwahrnehmung der jeweiligen Großgruppe (dem nationalen/staatlichen
Selbstbewußtsein) zu tun. Nationen innerhalb einer plurizentrischen

59
Reiffenstein (1983:23).
60
Vgl. dazu u.a Wolff (1994), besonders aber Scheuringer (1988), (1994).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-103-

Sprachverbandes, die sich ihrer Identität nicht sicher sind, wie dies im Falle
Österreichs immer wieder der Fall zu sein scheint, haben große Schwierigkeiten
damit, eine eigene sprachliche Identität zu finden, da gegen sie immer wieder der
Vorwurf der "Sprachspaltung", "Nivellierung der Sprache nach unten",
"Ausgrenzung" und "Nationalismus" erhoben wird.61 Das wirkt auf die Einschätzung
ihrer Sprache massiv zurück, wie unter Pkt. 3 gezeigt werden konnte.
Wenn Varianten der Anderen Nationen durch deren Sprecher beurteilt werden,
ob ihnen ein standardsprachlicher Status zukommt, ist das Sprecherurteil daher in
hohem Maße von ihren sozialen Einstellungen (elitär vs. egalitär), der sozialen
Herkunft (spezifisch vs. unspezifisch) und vom Ausmaß der Identifikation mit dem
Herkunftsland (groß - gering) abhängig. Allgemein kann davon ausgegangen wer-
den, daß je egalitärer die sozialen Einstellungen, je unspezifischer/durchschnittlicher
die soziale Herkunft und je höherer die Identifikation mit dem Heimatland und
seinem politischen System ist, um so eher wird die jeweilige Gewährsperson bereit
sein, z.B. österreichischen bzw. schweizerischen Varianten einen
standardsprachlichen Status zuzuerkennen während für die Kultureliten die
Beobachtung M. Clyne's (1993:3 bzw. 1992:459f) gilt: "Die Kultureliten der A
Nationen unterwerfen sich den Normen der D-Nation(en)."
Eine sprachsoziologische Untersuchung, die unter solchen Umständen danach
fragt, ob bestimmte Ausdrücke dem "Dialekt", der "Umgangsprache" oder der
"Standardsprache" angehören, wie dies in Wiesinger (1988a) gemacht wurde, kann
angesichts der beschriebenen Sprachsituation und der vorherrschenden Unsicherheit
nur zu verzerrten Ergebnissen führen und ist daher kein taugliches
Untersuchungsinstrument. Relevante Daten können nur durch indirekte
Beobachtung des tatsächlichen Sprachgebrauchs gewonnen werden, die in einer
zweiten Phase durch Spracheinschätzungsuntersuchungen ergänzt werden müssen.
4.3 Der Standardsprachebegriff: Ausschließlich
schriftsprachennaher
Standard oder (auch) Gebrauchsstandard.
Damit ist klar geworden, daß das methodische Vorgehen und die
Fragestellungen des normbezogenen Ansatzes von der Sprache ausgehen und primär
danach gefragt wird, wie Sprache verwendet werden sollte. Im Grunde weiß man
beim normbezogenen Ansatz schon im voraus, was "Standard" ist, denn die
Anbindung der Standardsprache an die geschriebene Sprache wird dabei unausge-
sprochen vorausgesetzt und regionale nationale Variation ausschließlich als
dialektale bzw. soziolektale Erscheinung angesehen, die es jedenfalls zu vermeiden
bzw. als "nichtstandardsprachlich" zu markieren gilt, selbst wenn sie mündlich
hochfrequent sind. Dahinter steht wohl die primäre Absicht, daß eine möglichst

61
Vgl.dazu Wiesinger (1980) und die Diskussion rund um die 35. Auflage des Österreichischen
Wörterbuches, wo all diese Vorwürfe erhoben wurden. Für einen Überblick vgl. Muhr (1983) und
Sluga (1989).

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
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einheitliche Sprachform erzielt und aufrechterhalten bleibt. Standardsprache ist


demnach alles, was in als standardsprachlich angesehenen (öffentlichen) Kontexten
geschrieben vorkommt und nicht zu stark von der geschriebenen Sprache abweicht.
Ich möchte dies den verkappt-monozentristischen Zirkelschluß nennen, denn die
Beschreibung dreht sich munter im Kreis und bestätigt ständig den festgelegten Status
quo: Was nicht geschrieben/öffentlich-sprachlich etc. erwartbar ist, kann nicht
geschrieben/öffentlich-sprachlich verwendet werden und ist daher nicht
standardsprachlich. Es wird als "umgangssprachlich" oder "dialektal" aufgefaßt und
hat dieser Auffassung zufolge im standardsprachlichen Wörterbuch nichts zu
suchen. Die typischsten Ausdrücke einer nationalen Variante sind in der Regel die
"umgangssprachlich/dialektalen", die überregionale Verbreitung innerhalb des je-
weiligen Sprachzentrums haben. Gemäß den Kriterien des normativen
Beschreibungsansatzes werden diese aber potentiell aus der Kodifizierung und der
standardsprachlichen Anerkennung ausgeschlossen, es sei denn irgendein mutiger
Mensch verwendet sie schriftlich.62 Das zeigt sich ganz deutlich an den
Schwierigkeiten des Wortes "Pickerl", das in den letzten 20 Jahren allgemein für
"Etikette" gebräuchlich wurde. Erst als es in "seriösen" Zeitungen geschrieben vorkam,
wurde es kodifiziert. Derzeit wird es schon wieder durch den Ausdruck "Vignette"
ersetzt, das der Wirtschaftsminister Anfang Oktober 1995 zum erstenmal verwendete
und von da in den Radio- und Fernseh-Nachrichten das "Pickerl" ersetzte.
Der von mir vertretene kommunikations- und sprachgebrauchsorientierte
Ansatz hat seine methodische Basis hingegen primär in der Frage, wie Sprache von
wem, wann usw. in der Kommunikation verwendet wird., d.h. in der Frage nach den
jeweiligen kommunikativen Anforderungen und den damit verbundenen sprach-
lichen Formen. Ich meine auch, daß eine exakte und wissenschaftlich haltbare
Abgrenzung zwischen "Umgangssprache" (was immer das sein mag) und gespro-
chener Standardsprache nicht möglich ist. Das zeigt sich nicht zuletzt sehr gut an den
völlig divergierenden Schichtenbezeichungen ein und derselben Ausdrücke in
verschiedenen Wörterbüchern des Deutschen.63 Das herkömmliche, dreistufige
Variantenschema bedarf angesichts des plurizentrischen Konzepts dringend eines
Ersatzes durch andere Termini, weil damit Eigenvarianten der A-Nationen ausgeson-
dert und die Asymmetrie der D-Nation stabilisiert wird. Daher ist zwischen gespro-
chener und geschriebener Sprache, regionalen und überregionalen Ausdrücken, öf-
fentlichen und anderen Kommunikationsintentionen/-situationen sowie Eigen- und
Fremdausdrücken zu unterscheiden. Das bedeutet nicht, die Idee der
Standardsprache als solche aufzugeben. Zu verlangen ist jedoch eine exakte
Beschreibung des jeweiligen nationalen Sprachgebrauchs und die Berücksichtigung
des Faktors "Identifikation" durch Sprache.

62
Dieser Konflikt lag der Kontroverse um die 35. Auflage des Österreichischen Wörterbuchs zugrunde.
63
Vgl. dazu u.a. Niebaum (1984).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-105-

Bereits in einer früheren Untersuchung (Muhr, 1987/1990) konnte ich zeigen,


daß die doppelte Identität der Österreicher - deutschsprachig und Österreicher -
ihren Ausdruck in einem Standard nach außen (Außenvariante) und einem Standard
nach innen (Innen-Variante) ihren Ausdruck findet.64 Der von mir so benannte
Innenstandard ist eine Form des "Gebrauchsstandard" in Österreich, der vor allem in
der mündlichen Kommunikation seine Ausprägung findet, aber (weitgehend)
unabhängig von der sozialen Herkunft der Sprecher ist. Dies ergab sich aus der
Untersuchung einer großen Anzahl von gesprochenen Sprache in öffentlichen
Situationen, die ich konsequent von einem kommunikationsorientierten Standpunkt
aus untersucht habe, d.h., ich habe nicht danach gefragt, ob gemessen an
kodifizierten Normen "richtig" gesprochen wird, sondern nur festgestellt, wie
gesprochen wird und warum. Dabei stellte sich heraus, daß vor allem phonologisch
ein oftmaliges Schwanken zwischen zwei Ebenen stattfindet, die ich Außenstandard
und Innenstandard genannt habe, da ihr Auftreten mit kommunikativen Funktionen
verbunden ist. Ich stimme daher Bürkle (1995) nicht zu, daß die auch von ihm
beobachteten Registerwechsel ausschließlich aus rhetorischen Gründen eingesetzt
würden. Meine Daten zeigen hingegen, daß es sich um viel grundsätzlichere
Beweggründe handelt. Denn zum Wechsel der Variante - hin zum Innenstandard -
kommt es im Gespräch immer dann, wenn
a) es thematisch um personenbezogene Inhalte geht, d.h., wenn jemand persönlich
angesprochen/angegriffen wird.
b) Emotionen involviert sind, u. zw. je erregter/ bedrückter etc. der Sprecher ist, um
so eher wird sog. "Alltagssprache" realisiert.
c) sich die Sprecher kennen bzw. sich gegenseitig nicht als Fremde/Nicht-
Österreicher einstufen.
In allen anderen Fällen wird in öffentlichen Situationen der (österreichische)
Außenstandard verwendet. Es lassen sich demnach die folgenden 5 kommunikativen
Faktoren für diese spezifische Form des österreichischen Sprachverhaltens in öffent-
lichen Situationen feststellen:
1. Der Gesprächspartner: Bekannt oder fremd bzw. der Eigengruppe oder einer
Fremdgruppe zugehörig empfunden.
2. Die Sprecherrolle und Sprecherhaltung: Agieren als Experte/Nichtexperte und
Vertreten von Eigenstandpunkten vs. Fremdstandpunkten)
3. Das Ausmaß der Emotionalität: groß vs. klein.
4. Der Formalitätsgrad bzw. das Ausmaß der Öffentlichkeit und institutionellen
Einbettung der Situation: gegeben / nicht gegeben.
5. Der Beruf und die standardsprachlichen Kenntnisse

64
Muhr (1987/1990a).

Rudolf Muhr: Zur Srpachsituation in Österreich und zum


Begriff "standardsprache" in plurizentrischen Sprachen
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Es gibt daher nicht nur sprachliche Identitätssymbole in der


Außenkommunikation der Österreicher, sondern erst recht in der
Innen(gruppen)kommunikation. Wäre dies nicht so, würde es allen
sozialpsychologischen Erkenntnissen widersprechen. Die Existenz von zwei Standards
für die Außen- und Innenkommunikation ist somit als eine intelligente Anpassung an
eine komplexe Sprachsituation aufzufassen, deren Akzeptanz jedoch aufgrund der
Dogmen des "einheitlichen" und "guten" Deutsch bislang unterblieben ist.

5. Sprachplanung für das österreichische Deutsch?


Ich glaube, daß es angesichts der von mir aufgezeigten Fakten legitim und not-
wendig ist, für das österreichische Deutsch sprachplanerische Maßnahmen zu setzen.
Wie schon M. Clyne (1995) aufgezeigt hat, sollten klare sprachpolitische Leitlinien
erarbeitet werden, die nicht nur das österreichische Deutsch betreffen, sondern auch
die Minderheiten- und Einwanderersprachen und auch für die Durchführung einer
zeitgemäßen Auslandskulturpolitik unverzichtbar sind. Weiters sollte die Erstellung
eines umfangreichen Belegkorpus sowie die Erstellung eines Großen Österreichischen
Wörterbuchs, eines (deskriptiven) Aussprachewörterbuchs und einer Grammatik in
Angriff genommen werden. Diese Maßnahmen sollten von einer entsprechenden
Schulung der DeutschlehrerInnen und einer besseren Bewußtmachung der
Eigennormen im (Deutsch-)Unterricht begleitet werden.
Wenn die Identität des österreichischen Deutsch erhalten bleiben soll, müßten
im Fernsehen außerdem mehr unsynchronisierte Filme mit Untertiteln gesendet wer-
den, was für die Fremdsprachenkenntnisse der Bevölkerung durchaus von Vorteil
wäre. Schließlich sollte der Handel angehalten werden, auch die in Österreich lan-
desüblichen Ausdrücke auf den Waren aufzudrucken, so wie es beim Export in
Länder mit völlig anderen Sprachen ohnehin erforderlich ist. Eine nationale Variante
einer Sprache ist strukturell nicht anders zu behandeln als eine völlig andere
Sprache. Um jedoch nicht in überholte sprachpflegerische Ausgrenzungsreflexe zu
verfallen, sollten bundesdeutsche und schweizerische Varianten in die Wörterbücher
aufgenommen, jedoch entsprechend ihrer jeweiligen Herkunft gekennzeichnet und
auch als solche im Deutschunterricht der Schulen bewußt gemacht werden. Damit
entsteht zusätzliches Sprachwissen, aus dem sich erweiterte Kommunikations-
möglichkeiten eröffnen. Das macht es möglich, die schon vorhandene innere
Mehrsprachigkeit intensiv zu fördern, größere Bewußtheit und mehr Geläufigkeit in
verschiedenen Varianten des Deutschen zu erreichen. Damit ist ein Mehr an Sprache
und kommunikativen Möglichkeiten und der bessere Ausdruck mehrfacher Identität
verbunden. Das zu erreichen, halte ich für einen unschätzbaren Vorteil und
zusammen mit den Forderungen der Resolution für ein wichtiges sprachpolitisches
Ziel einer aufgeschlossenen und zeitgemäßen österreichischen Sprachpolitik.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-107-

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Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.111-120

Ulrich Ammon

(Duisburg)

Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren und


nationaler Varianten bei plurinationalen
Sprachen - am Beispiel des Deutschen.

1. Zur grundlegenden Begrifflichkeit und Terminologie


a) 'Staat' - 'Sprachgemeinschaft' - 'Nation'
Die klare Unterscheidung zwischen den drei Begriffen 'Staat',
'Sprachgemeinschaft' und 'Nation' erscheint mir im vorliegenden Zusammenhang
wichtig. Staaten sind juristisch definiert und haben eine bestimmte politische Organi-
sationsform (eigene Regierung und dergleichen); Sprachgemeinschaften sind sozio-
linguistisch definiert: die Sprecher derselben Muttersprache - wenn man den ideolo-
gischen Ballast dieses Ausdrucks scheut: "Erstsprache", was allerdings nicht genau
dasselbe bedeutet. Die Definition von Nationen ist viel unsicherer. Man kann sie als
politische Willensgemeinschaften verstehen, als Gruppen von Menschen, die mehr-
heitlich das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat wünschen. So gesehen
waren die frühere BRD und die DDR zwar zwei verschiedene Staaten, gehörten aber
zur gleichen Nation. Österreich ist ein eigenständiger Staat und - wie die Volksbefra-
gungen zeigen - eine eigenständige Nation, gehört aber zur selben Sprachgemein-
schaft wie Deutschland. Die Schweiz gehört zu verschiedenen Sprachgemeinschaften,
bildet aber sowohl einen eigenständigen Staat als auch eine Nation für sich. Ich
verzichte auf den Terminus Sprachnation (oder auch Kulturnation), da er politisch
verfänglicher ist als der Terminus Sprachgemeinschaft; denn er suggeriert eine
politische Zusammengehörigkeit. Ebenso verzichte ich auf den Terminus
Staatsnation, da er den Willen zur politischen Zusammengehörigkeit suggeriert; der
Terminus Staat ist demgegenüber unproblematischer. Die vielfältigen
Abgrenzungsprobleme zwischen diesen Begriffen kann ich hier jedoch nicht
diskutieren (vgl. Ammon 1995: 18-34).
b) 'Standardsprache' - 'Standardvarietät' - 'nationale
Varietät'
In manchen Zusammenhängen kann auch die klare Unterscheidung zwischen
'Standardvarietät' und 'Standardsprache' zweckmäßig sein. Hierbei sollte man der
-112-

ansonsten üblichen Unterscheidung zwischen 'Sprache' und 'Varietät' folgen. Eine


Standardsprache ist dann eine Gesamtsprache, die mindestens eine Standardvarietät
als Subsprache (Subsystem) enthält. Zwischen Standardsprache und Standardvarietät
besteht also eine Menge-Element-Beziehung. Das gegenwärtige Deutsch ist demnach
eine Standardsprache, denn es enthält mehrere Standardvarietäten. Dagegen ist das
mittelalterliche Deutsch keine Standardsprache, sondern eine Nonstandardsprache.
Insofern Standardvarietäten spezifisch sind für Nationen, sind es nationale Varietäten.
Ich neige dazu, die nationalen Varietäten als Teilmenge der Standardvarietäten
aufzufassen. Damit wäre der Begriff 'Standardvarietät' dem Begriff 'nationale Varietät'
inhärent; jede nationale Varietät ist eine Standardvarietät, jedoch nicht unbedingt
umgekehrt. Eine andere Möglichkeit wäre, neben nationalen Standardvarietäten auch
nationale Nonstandardvarietäten anzusetzen. Ein Beispiel dafür wäre vielleicht der
Schweizer 'Nationaldialekt'. Die Schweiz hätte dann zwei nationale Varietäten: das
Schweizerhochdeutsche und das Schwyzertütsche. Ich gehe jedoch hier - und auch
ansonsten - davon aus, daß Nationalvarietäten Standardvarietäten sein müssen. Die
heutige deutsche Sprache hat im wesentlichen drei nationale Varietäten: das deut-
sche, das österreichische und das schweizerische Standarddeutsch. Sie gehören zur
gleichen Sprache, weil sie einander linguistisch sehr ähnlich sind. Ebenso gehören all
diejenigen Dialekte zur gleichen Sprache, nämlich der deutschen, die von diesen drei
Standardvarietäten überdacht werden und ihnen einigermaßen ähnlich sind.
c) 'Nationale Varianten' - 'nationale Varietäten' -
'plurinationale Variablen'
Weiterhin ist es für manche Analysen nützlich, zwischen 'Varietäten' und
'Varianten' zu unterscheiden. Zwischen beiden besteht wiederum eine Menge-Ele-
ment-Beziehung. Varietäten sind ganze Sprachsysteme, Varianten die einzelnen
Einheiten. So ist das österreichische Standarddeutsch eine nationale Varietät, das
Wort Karfiol 'Blumenkohl'' dagegen eine nationale Variante Österreichs. Aufgrund
des unter b) Gesagten ist damit zugleich das österreichische Standarddeutsch eine
nationale Varietät und das Wort Karfiol eine nationale Variante jeweils der deutschen
Sprache.
Variablentheoretisch kann man nationale Varianten als Werte sprachlicher
(oder linguistischer) Variablen auffassen, die man dann wohl am besten pluri-
nationale Variablen nennt. So nimmt in unserem Beispiel diese Variable in Österreich
den Wert Karfiol, in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz aber den Wert
Blumenkohl an. Man kann sie eine onomasiologische Variable nennen, da sie durch
den Bezug auf denselben Gegenstand bzw. dieselbe Bedeutung zusammengehalten
wird. Daneben gibt es auch semasiologische Variablen, die dadurch zusammenge-
halten werden, daß sie in allen Nationen denselben Ausdruck haben, aber in der
Bedeutung variieren. Ein Beispiel ist der Ausdruck Bäckerei, der in Österreich
'Backstube oder süßes Gebäck' bedeutet, in Deutschland und der Schweiz aber nur
'Backstube'. Die Forschungsaufgabe, alle plurinationalen Variablen des Deutschen,

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-113-

onomasiologische wie semasiologische, zusammenzustellen, ist bislang noch nicht


einmal thematisiert worden. Wie man sich denken kann, bestehen nationale
Varietäten nur zu Bruchteilen aus nationalen Varianten; größtenteils bestehen sie aus
Einheiten, die nicht national variieren, also nationalen Konstanten. Dieser Umstand
bedingt die große linguistische Ähnlichkeit zwischen den nationalen Varietäten einer
Sprache bzw. ihre Zuordnung zur gleichen Sprache.
d) 'Nationales Sprachzentrum' - 'Nation einer Sprache'
Schließlich ist zu beachten, daß nicht alle Nationen, die eine bestimmte Sprache
sprechen, notwendigerweise zugleich nationale Zentren dieser Sprache sind. So ist z.
B. die deutsche Sprache in fünf Nationen nationale Amtssprache und in zwei
weiteren regionale Amtssprache, hat aber nur drei nationale Zentren oder zumindest
nur drei unzweifelhafte Fälle davon. Deutlicher kann man auch sagen: Sie hat nur
drei nationale Vollzentren (Deutschland, Österreich und die deutschsprachige
Schweiz). Liechtenstein, Luxemburg, die italienische Provinz Bozen-Südtirol und die
deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien sind allenfalls nationale Halbzentren. Sie
verfügen zwar über einzelne spezifische Varianten, die man mit gewisser Be-
rechtigung als Standardvarianten bewerten kann (vgl. Ammon 1995: 391-421), es
mangelt ihnen jedoch an entscheidenden Institutionen, die erst ein nationales Voll-
zentrum hervorbringen oder ausmachen. Auf diese Institutionen komme ich gleich
zu sprechen. Es ist üblich, eine Sprache mit mehreren nationalen Zentren
"plurizentrisch" zu nennen. Meines Erachtens ist der Ausdruck plurinationale
Sprache dafür noch treffender. Verschiedene Zentren einer Sprache kann es nämlich
grundsätzlich auch innerhalb ein und derselben Nation geben. Der Ausdruck pluri-
zentrisch eignet sich daher besser für den Oberbegriff, der Ausdruck plurinational
dagegen besser für den spezifischen Unterbegriff, mit dem wir uns hier befassen.

2. Die notwendigen gesellschaftlichen Instanzen eines


nationalen Sprachzentrums
Ein nationales Sprachzentrum im Sinne eines Vollzentrums braucht all diejeni-
gen sozialen Instanzen oder Kräfte, die eine Standardvarietät setzen. Nur auf ihrer
Grundlage kann es eine eigene nationale Varietät entwickeln und erhalten. Die in
meinen Augen wichtigsten Komponenten eines solchen Kräftefeldes sind in Ab-
bildung 1 dargestellt. Die einzelnen Komponenten lassen sich in bezug auf Österreich
wie folgt beispielhaft verdeutlichen:
Der Sprachkodex ist im wesentlichen das Österreichische Wörterbuch. Die
Kodifizierer sind dessen Bearbeiter. In einem differenzierteren Modell könnte man
Kodex und Kodifizierer auch unterscheiden. Nicht jede Beschreibung einer natio-
nalen Varietät ist Bestandteil ihres Kodexes. Voraussetzung dafür ist eine gewisse
amtliche Gültigkeit. Sie besteht - etwas vereinfacht gesagt - darin, daß Lehrer sich bei
ihren Korrekturen auf den Kodex berufen dürfen oder mit dem Kodex in Einklang
stehen müssen.

Ulrich Ammon: Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren


und nationaler Varianten bei plurinationalen Sprachen
-114-

Bevölkerungs-

Normautoriäten: Sprachkodex
Korrekturen (Kodifizierter)

Modellsprecher/ Sprachexperten:
-schreiber: Fachurteile
Modelltexte

mehrheit
Abb. 1: Soziales Kräftefeld einer Standardvarietät

Die wichtigste Gruppe der Normautoritäten, genauer Sprachnormautoritäten,


sind eben die Lehrer. Es gehören aber auch die Vorgesetzten auf Ämtern dazu, die
befugt oder sogar verpflichtet sind, das Sprachverhalten anderer, ihrer Mitarbeiter
(Untergebenen), zu korrigieren.
Modellsprecher und Modellschreiber sind in erster Linie professionelle Sprach-
benutzer: Berufssprecher in den Medien und Schauspieler bzw. Autoren, vor allem
Sachtextautoren einschließlich Journalisten. Sie produzieren die Modelltexte, an
denen sich vor allem die Kodifizierer orientieren.
Die Sprachexperten sind die Fachlinguisten, und zwar die nicht unmittelbar mit
der Kodifizierung befaßten. Ihre Urteile spielen auch eine Rolle dabei mit, welche
Sprachvarianten als standardsprachlich gelten.
Alle vier Komponenten wirken aufeinander ein, was durch die Pfeile angezeigt
ist. Ein Beispiel für dieses Wirkungsgeflecht bietet die Auseinandersetzung um die 35.
Auflage des Österreichischen Wörterbuchs. An dieser Auseinandersetzung läßt sich
auch zeigen, daß sich die verschiedenen standardsetzenden Kräfte in unterschied-
licher Weise auf die Bevölkerungsmehrheit bzw. deren Sprache und Sprachwertvor-
stellungen berufen. Die Bevölkerungsmehrheit ist jedoch in der Regel nicht direkt an
der Setzung der Standardvarietät beteiligt. Allerdings wäre es wohl grundsätzlich
möglich, sie durch Ermittlung ihrer Vorlieben, z. B. geeignete Befragungen, in den
Prozeß der Setzung einer Standardvarietät einzubeziehen.
Das Modell in Abb. 1 ermöglicht einerseits die Unterscheidung zwischen na-
tionalen Vollzentren und nationalen Halbzentren; letzteren fehlen im Gegensatz zu
ersteren manche der dort repräsentierten Instanzen. Andererseits eignet es sich auch
zur weiteren typologischen Differenzierung zwischen den Vollzentren. Im Falle der
deutschen Sprache gibt es hierbei vor allem auffällige Unterschiede beim Sprach-
kodex. So ist der österreichische Sprachkodex, wie übrigens teilweise auch der
schweizerische, im Vergleich zum Sprachkodex Deutschlands sowohl lückenhaft als

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-115-

auch - mangels ausreichender Finanzmittel oder sonstiger Ressourcen - methodisch


unbefriedigend gemacht. Dies zeigt allein schon der Vergleich mit den Duden-
Bänden einschließlich des großen Wörterbuchs des Duden-Verlags.
In Österreich fehlen ein eigenes Aussprachewörterbuch, eine eigene Grammatik
und ein Bedeutungswörterbuch, ganz zu schweigen von spezielleren Kodexteilen wie
die Zusammenstellung der sprachlichen Hauptschwierigkeiten, Redewendungen und
dergleichen. Außerdem ist das Österreichische Wörterbuch insoweit methodisch un-
befriedigend abgesichert, als - wenigstens bisher - eine geeignete Sprachkartei fehlt.
Die Materialien des Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (1963 ff.),
die als Quelle dienen, sind zur Kodifizierung einer Standardvarietät grundsätzlich
ungeeignet, da es sich dabei um eine Datensammlung für ein Dialektwörterbuch
handelt. Die Kodifizierer können sich also allenfalls intuitiv - ohne gültige und
zuverlässige methodische Absicherung - auf die Modellsprecher und -schreiber bzw.
Modelltexte stützen.
Beides, Lückenhaftigkeit und mangelnde methodische Absicherung, untergräbt
unweigerlich das Prestige des österreichischen Sprachkodexes. Appelle an die
nationale Loyalität sind kein ausreichendes Gegenmittel. Vor allem sind
anspruchsvolle Sprachbenutzer darauf angewiesen, den Sprachkodex Deutschlands
mitheranzuziehen, wo der Kodex Österreichs keine Auskunft gibt. Ein Beispiel ist der
"Lernbehelf" Sprache und Sprechen in Hörfunk und Fernsehen (1987) des ORF, der
sich auf den Aussprache-Duden (jeweils die neueste Auflage) und auf den Siebs
(1969), und zwar dessen "gemäßigte Hochlautung", stützt. Über diese Art von
Spezialkodex werden somit die eigenen Modellsprecher auf den Aussprachekodex
eines anderen nationalen Zentrums verwiesen. Es liegt auf der Hand, daß diese Um-
stände auch die Autonomie der eigenen nationalen Varietät schmälern.
Auch im Grad der Übereinstimmung in der Bewertung der nationalen Varian-
ten, speziell ihrer Anerkennung als standardsprachlich, gibt es vermutlich be-
deutsame Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Zentren des
Deutschen. Mir scheint, daß die im Sprachkodex ausgewiesenen nationalen Varian-
ten Österreichs besonders häufig in ihrer Standardsprachlichkeit angezweifelt wer-
den. Indizien dafür finden sich wieder in den Auseinandersetzungen um die 35.
Auflage des Österreichischen Wörterbuchs. In Aufsätzen, die ich österreichischen
Lehrern zur Korrektur vorgelegt habe, wurden die Wörter aper und Türschnalle von
einem Viertel und das Wort Eiskasten von einem Fünftel der Befragten beanstandet,
obwohl sie in der neuesten Auflage des Österreichischen Wörterbuchs unmarkiert
und damit als standardsprachlich ausgewiesen sind (Ammon 1995: 436-447). Des-
gleichen wurden Wörter wie Indian, Gefrorenes oder Gewinnst von mehreren von
mir informell befragten österreichischen Sprachexperten als hoffnungslos veraltet
eingestuft, obwohl auch sie sich unmarkiert im neuesten Österreichischen Wörter-
buch finden. Man sieht hieran, wie methodisch unbefriedigende Bearbeitung des

Ulrich Ammon: Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren


und nationaler Varianten bei plurinationalen Sprachen
-116-

Kodexes und Diskrepanzen in der Bewertung der nationalen Varianten durch die
verschiedenen standardsetzenden Instanzen miteinander zusammenhängen können.

3. Nationalvarietäts-Purismus gegenüber
Alleinvertretungsanspruch
Die skizzierten Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland: Lücken-
haftigkeit und mangelnde methodische Absicherung des Kodexes sowie Dissens in der
Anerkennung der nationalen Varianten als Standard, sind wichtige Aspekte dessen,
was schon oft als "Asymmetrie" zwischen den nationalen Zentren plurinationaler
Sprachen bezeichnet wurde (z. B. Clyne 1989). In allen plurinationalen Sprachen
gibt es Asymmetrien dieser oder ähnlicher Art zwischen manchen nationalen Zen-
tren, keineswegs zwischen allen. Es wäre interessant im einzelnen zu prüfen, in-
wiefern der folgende Unterschied zwischen Österreich und Deutschland auch in
anderen Sprachen zu beobachten ist. Er läßt sich wiederum besonders leicht am
Sprachkodex feststellen.
Ausgangspunkt der Beobachtung sind die sogenannten Sternchen-Wörter des
Österreichischen Wörterbuchs, deren Kennzeichnung übrigens die Anerkennung der
Asymmetrie von dessen Seite verrät. Das Österreichische Wörterbuch (1990:15)
verwendet dafür nämlich den Ausdruck "Binnendeutsch" für das deutsche Deutsch,
wenn auch in Anführungszeichen. Damit stuft es das eigene österreichische Deutsch
selbst als eine Art Außendeutsch ein. Wichtiger ist aber, daß diese Sternchen-Wörter
die einzigen nationalen Varianten anderer Zentren des Deutschen sind, die das
Wörterbuch enthält, zumindest die einzigen, die als fremdnational markiert sind.
Nationale Varianten der deutschsprachigen Schweiz fehlen. Außerdem sind die
Sternchen-Wörter kein Versuch, die nationalen Varianten Deutschlands vollständig
zu erfassen. Erfaßt werden damit vielmehr nur diejenigen Varianten Deutschlands,
die in Österreich schon eingedrungen sind. Das Sternchen dient als Warnung an die
Wörterbuch-Benutzer, diese Wörter unbesehen zu verwenden.
Diese Markierungspraxis des Österreichischen Wörterbuchs läßt sich meines
Erachtens angemessen bewerten als eine Art von Purismus. Sie läßt sich genauer
spezifizieren als Nationalvarietäts-Purismus. Mit der Sternchen-Markierung soll
nämlich die eigene nationale Varietät vor dem Eindringen von Varianten aus einer
anderen nationalen Varietät geschützt werden. Sprachpurismus ist ein typisches
Verhalten einer Sprachgemeinschaft, deren Sprache einen niedrigeren Kontaktstatus
hat, gegenüber einer Sprachgemeinschaft mit einer Sprache von höherem Kontakt-
status. Im vorliegenden Fall handelt es sich freilich nicht um verschiedene Sprachen,
sondern um verschiedene Varietäten derselben Sprache. Das einstige Abwehrver-
halten Deutschlands gegenüber Entlehnungen aus dem Französischen oder das heu-
tige Verhalten Frankreichs gegenüber den Entlehnungen aus dem Englischen haben
manche Ähnlichkeit mit diesem Verhalten.
Demgegenüber ist das Verhalten der Kodifizierer Deutschlands von Wolfgang
Pollak (1994: 63-65) zu Recht als "Alleinvertretungsanspruch" charakterisiert wor-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-117-

den. Es erscheint mir allerdings für ein nach Erklärungen suchendes Verständnis eher
abträglich, wenn man hier unbesehen bösen Willen unterstellt. Die Asymmetrie hat
Gründe jenseits der subjektiven Einstellung der Kodifizierer. Die Duden-Bände, mit
denen ich mich hier als pars pro toto für den Kodex Deutschlands begnüge, enthalten
nicht nur die nationalen Varianten eines der beiden anderen nationalen Zentren,
sondern beider anderen Zentren. Außerdem versuchen sie, diese nationalen
Varianten möglichst vollständig zu erfassen. Dies zeigt sich nicht nur daran, daß die
Zahl der Austriazismen und Helvetismen, der mit "österr." bzw. "schweiz." markierten
Formen etwa im Rechtschreib-Duden viel größer ist als die Zahl der Sternchen-
Wörter im Österreichischen Wörterbuch.. Ganz besonders deutlich wird dies daran,
daß die Dudenredaktion eigene "Dudenausschüsse" in Österreich und in der Schweiz
unterhält, deren Aufgabe es ist, ihnen die Austriazismen und Helvetismen in mög-
lichst großer Vollständigkeit zu liefern. Ganz bestimmt handelt es sich dabei auch
nicht nur oder nicht in erster Linie um solche Austriazismen und Helvetismen, die
schon nach Deutschland eingedrungen sind. Zugrunde liegt eine ganz andere
Zielsetzung, nämlich die, über alle nationalen Varietäten des Deutschen möglichst
umfassend zu informieren. Damit will die Dudenredaktion den Anspruch für ihre
Bände unterstreichen, Sprachkodex für die ganze deutsche Sprache zu sein.
Genaugenommen erfüllt die Dudenredaktion diesen - an sich eigentlich nicht
verwerflichen - Anspruch jedoch nicht, sondern erliegt doch einer Art Alleinvertre-
tungsanspruch, der zumindest aus österreichischer und schweizerischer Sicht prob-
lematisch erscheinen muß. Die nationalen Varianten des eigenen Zentrums, die
Teutonismen, werden in den Duden-Bänden nämlich nicht als solche markiert. Dies
mag unproblematisch sein für die deutschen Benutzer; für die österreichischen und
die Schweizer Benutzer wären entsprechende Hinweise jedoch unter Umständen sehr
wichtig. Wenn sie in den Duden-Bänden Wörter wie Abitur oder Sahne unmarkiert
finden, so müssen sie annehmen, daß sie auch im eigenen österreichischen und
Schweizer nationalen Zentrum gelten, was sicher nicht ohne weiteres zutrifft. Die
Duden-Bände sind demnach keineswegs eine über den verschiedenen nationalen
Varietäten des Deutschen stehende neutrale Instanz, sondern es sind primär Kodi-
fizierungen des deutschen Deutsch. Es ist allgemein üblich, daß die Sprachkodizes
eines nationalen Zentrums die eigenen nationalen Varianten nicht markieren. Dies
gilt auch für den österreichischen und schweizerischen Kodex. Aber gerade durch
diese Unterlassung erweisen sich die Duden-Bände eben als Kodizes nur des eigenen
nationalen Zentrums, nicht als gesamtsprachliche, die über den verschiedenen na-
tionalen Zentren stehen. Soweit ich sehe, hat man sich in der Dudenredaktion diese
Frage noch gar nicht gestellt. Dieses fehlende Problembewußtsein wäre ein weiteres
Indiz für die Befangenheit in der eigenen nationalen Varietät. Man sieht keine
Beschränkung ihrer Geltung und daher auch keinen Bedarf, die eigenen nationalen
Varianten als solche zu markieren.

Ulrich Ammon: Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren


und nationaler Varianten bei plurinationalen Sprachen
-118-

4. Asymmetrie in den Nationalspitznamen und den


Stereotypen
Bei asymmetrischen plurinationalen Sprachen lassen sich typische gegenseitige
Bewertungen der Bewohner feststellen. Gewöhnlich scheinen die Bewohner des
dominanten Zentrums die Bewohner der dominierten Zentren gerne zu mögen und
sympathisch zu finden. Jedenfalls trifft dies zu auf die Einstellung der Deutschen
gegenüber den Österreichern und den Schweizern. Den Deutschen sind die Öster-
reicher am sympathischsten von allen Nationen, und die Schweizer folgen unmittel-
bar danach. Die von den Deutschen diesen beiden Nationen zugeschriebenen Eigen-
schaften könnten kaum schmeichelhafter sein. Offenbar lieben die Deutschen die
Österreicher und die Schweizer sogar mehr als sich selbst. Sie haben auch keine
abschätzigen Nationalspitznamen für sie - wenn man von dem außer Gebrauch
gekommenen Spitznamen Kamerad Schnürschuh für die Österreicher absieht, der
ohnehin auf das Militär beschränkt war.
Dagegen bewerten die Österreicher und die Schweizer die Deutschen zwie-
spältig bis negativ. Beide halten die Deutschen zwar für nahe verwandt, aber
zugleich für unliebsame Verwandte: für laut, aufdringlich, rücksichtslos, arrogant,
unkultiviert und dergleichen. Diese Eigenschaften schwingen mit in den in Öster-
reich und in der Schweiz allgemein bekannten Nationalspitznamen für die
Deutschen: Piefke bzw. Schwob oder auch Schwab. In diesen Bewertungen und den
Nationalspitznamen kommt ein Gefühl des Bedrohtseins zum Ausdruck, das bis zu
einem gewissen Grad typisch ist für die Haltung dominierter gegenüber dominanten
Zentren. Im vorliegenden Fall ist natürlich als Erklärung zusätzlich die neuere
Geschichte heranzuziehen, nicht zuletzt der Nationalsozialismus (vgl. zu diesem
ganzen Komplex Ammon 1995: 214-227, 308-316, 378-384).

5. Typen nationaler Varianten


Eine differenzierte Typologie der nationalen Zentren einer Sprache läßt sich -
wie mir scheint - auch auf einer Typologie der nationalen Varianten aufbauen. In
starker Vereinfachung eines von mir an anderer Stelle ausführlicher dargestellten
Vorschlags (Ammon im Druck) lassen sich vor allem die folgenden Typen unter-
scheiden:

(1) Kodifizierte gegenüber nichtkodifizierten nationalen Varianten.


Erstere sind im Kodex als Standard ausgewiesen, letztere werden von den
anderen Instanzen der Setzung einer Standardvarietät (vgl. Abb. 1) weitgehend als
Standard anerkannt, ohne im Kodex entsprechend ausgewiesen zu sein. Ein öster-
reichisches Beispiel einer unkodifizierten nationalen Variante ist Schwedenbombe
(dt./schweiz. Mohrenkopf - vgl. Ebner 1980: 165; Wiesinger 1980: 370) das auch in
der neuesten Auflage des Österreichischen Wörterbuchs nicht erscheint.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-119-

(2) Austauschbare gegenüber nichtaustauschbaren nationalen


Varianten.
Austauschbare Nichtaustauschbare
Variante Variante

A A

Abb. 2: Variantentypen: austauschbar - nicht austauschbar


Gemeint ist: beim Reden oder Schreiben gegen gemeindeutsche Varianten aus-
tauschbar. Ein österreichisches Beispiel ist etwa Paradeiser, an dessen Stelle heute
auch Tomate verwendet werden kann, das nicht ausgesprochen unösterreichisch
klingt und kein Sternchen-Wort im Österreichischen Wörterbuch mehr ist. Karfiol ist
dagegen nicht austauschbar, denn seine Entsprechung Blumenkohl ist ein Sternchen-
Wort im Österreichischen Wörterbuch.

(3) Nationale Varianten einer Teilregion ihres Zentrums


gegenüber nationalen Varianten der Gesamtregion ihres
Zentrums.
Variante einer Variante der
Teilregion Gesamtregion

A A

Abb. 3: Variantentypen: Teilregion - Gesamtregion


Ein österreichisches Beispiel ist Schotten (dt./schweiz. Quark), das auch nach
dem Österreichischen Wörterbuch (1990) nur in Westösterreich gilt, im Gegensatz
zu Topfen, das - zumindest nach Österreichischem Wörterbuch - gesamtöster-
reichisch ist (weitere Beispiele für Austriazismen einer Teilregion ihres Zentrums in
Forer/Moser 1988).

Ulrich Ammon: Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren


und nationaler Varianten bei plurinationalen Sprachen
-120-

(4) Spezifische gegenüber unspezifischen nationalen


Varianten.
Spezifische Unspezifische Unspezifische
Variante Variante (a) Variante (b)

A A A

Abb. 4: Variantentypen: spezifisch - unspezifisch


Spezifisch sind nationale Varianten, die nur im betreffenden Zentrum gelten,
unspezifisch dagegen diejenigen, die auch in anderen nationalen Zentren gelten.
Natürlich dürfen sie nicht in allen nationalen Zentren gelten; andernfalls sind sie
gesamtsprachlich und überhaupt keine nationalen Varianten. Übrigens ist die Ab-
grenzung zwischen nationalen Varianten und gesamtsprachlichen Varianten genau
besehen ziemlich diffizil; ich möchte im Moment jedoch nicht auf diese Frage einge-
hen (vgl. Ammon im Druck). Ein österreichisches Beispiel für eine spezifische Vari-
ante ist etwa Marille (dt./schweiz. Aprikose). Ein Beispiel für eine unspezifische
österreichische Variante ist dagegen Fahrrad, das zugleich eine unspezifische
Variante Deutschlands ist, denn in der Schweiz, und nur dort gilt dafür Velo.
Man darf annehmen, daß eine nationale Varietät umso mehr abgesichert ist, je
mehr nationale Varianten sie hat, die a) kodifiziert, b) nicht austauschbar, c) spezi-
fisch sind und d) in der Gesamtregion ihres Zentrums gelten. Es wäre eine interes-
sante, aber offenkundig nicht ganz einfache Aufgabe, die drei nationalen Zentren des
Deutschen nach dem Bestand solcher nationalen Varianten miteinander zu ver-
gleichen.

Literatur:
Ammon, Ulrich (1995) Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der
Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York: de Gruyter.
Ammon, Ulrich (im Druck, 1996) Typologie der nationalen Varianten des Deutschen
zum Zweck systematischer und erklärungsbezogener Beschreibung nationaler
Varietäten In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 63 (2).
Clyne, Michael (1989) Pluricentricity: National Variety. In Ammon, Ulrich (Hrsg.)
Status and Function of Languages and Language Varieties. Berlin/New York. S.
357-371.
Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache (1991) Drosdowski, Günther u. a.
(Hrsg.). 20., erw. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag.
Ebner, Jakob (1980:) Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten (Duden Taschenbücher 8). 2., überarb. Aufl. Mann-
heim/Wien/Zürich: Dudenverlag.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-121-

Forer, Rosa/Moser, Hans (1988) Beobachtungen zum westösterreichischen Sonder-


wortschatz. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.) Das österreichische Deutsch.
Wien/Köln/Graz: Böhlau. S. 189-209.
Sprache und Sprechen in Hörfunk und Fernsehen. Ein Lernbehelf des Österreichi-
schen Rundfunks. (1987) Wien: Österreichischer Rundfunk.
Österreichisches Wörterbuch (1979/1990) 35./37. Aufl. Wien: Österreichischer
Bundesverlag.
Pollak, Wolfgang (1994) Österreich und Europa. Sprachkulturelle und nationale
Identität. Wien: Institut für Sozio-Semiotische Studien.
Siebs. Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewör-
terbuch (1969) de Boor, Helmut u. a. (Hrsg.) 19., umgearb. Aufl. Berlin: de
Gruyter.
Wiesinger, Peter (1980) Zum Wortschatz im "Österreichischen Wörterbuch. In:
Österreich in Geschichte und Literatur 24 (7): 367-397.
Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (1963 ff.) Dollmayr,
V./Kranzmayer, E. (Bearb.). Wien/Graz: Böhlaus Nachfolger.

Ulrich Ammon: Vorschläge zur Typologie nationaler Zentren


und nationaler Varianten bei plurinationalen Sprachen
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 122-131

Rudolf de Cillia

(Wien)

Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt

1. Vorbemerkung
Der Titel des vorliegenden Beitrags spielt auf die Tatsache an, daß die Frage des
österreichischen Deutsch, der österreichischen Besonderheiten bei den EU-Beitritts-
verhandlungen eine gewisse Rolle gespielt hat, ja in den Werbekampagnen vor der
EU-Abstimmung am 12. Juni 1994 eine doch gewichtige Rolle. So wurde in
Tageszeitungen und auf Plakatwänden mit dem Slogan "Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfel-
salat" die Volksseele beruhigt, denn es ging damals eben nicht nur die Angst vor
obskuren Blutschokoladen und Atomparadeisern um, sondern auch die Befürchtung,
die ÖsterreicherInnen würden künftig in der Konditorei nur mehr "Quarktaschen"
statt "Topfenkolatschen" bekommen und im Restaurant "Pfifferlingtunke mit Klößen"
anstatt "Eierschwammerlsoße mit Knödeln". Knödeln.
Konkretes Resultat dieser sprachenpolitischen Auseinandersetzungen rund um
den österreichischen EU-Beitritt war das sogenannte Protokoll Nr. 10, Teil des öster-
reichischen Beitrittsantrags, in dem 23 spezifisch österreichische Ausdrücke aus dem
Bereich des Lebensmittelrechts explizit als den bundesdeutschen Bezeichnungen (also
z.B. Pfifferlinge - Eierschwammerl, Quark - Topfen) gleichberechtigt EU-
primärrechtlich verankert wurden. Das wurde auch von den österreichischen Poli-
tikerInnen als großer Erfolg gefeiert, von den Medien allerdings meist eher ironisch
bis zynisch kommentiert.
Einige Wochen nach dem erfolgten Beitritt Österreichs fand sich dann eine
Zeitungschlagzeile wie "Österreichisch klingt einfach nicht deutsch" (Kurier vom
13.2.1995), was als Klage einer österreichgeplagten holländischen EU-Dolmetscherin
zitiert wird. Diese Sprachenfrage stellte sich also offensichtlich innerhalb des EU-
Übersetzungsdienstes.
Im folgenden Artikel wird nun dieses Protokoll Nr. 10 und seine sprachenpo-
litische Bedeutung diskutiert. Dazu werden folgende Punkte erörtert: Die
Sprachenpolitik der EU, die Entstehung und Bedeutung des Protokolls Nr. 10, die
Kritik an dieser Regelung, die sprachenpolitische Bedeutung dieser Regelung, und
abschließend muß natürlich die Frage beantwortet werden, ob denn der Erdäpfelsalat
tatsächlich Erdäpfelsalat bleibt, und zwar sowohl was das signifikant betrifft,- also
-123-

darf man die Bezeichnung auch EU-weit verwenden -, als auch was das signifié
betrifft, also ist sozusagen nach wie vor dasselbe drin?

2. Zur Sprachenpolitik der EU


Dem Folgenden sei die Bemerkung vorausgeschickt, daß die EU in sprachenpo-
litischen Fragen besonders egalitär und pluralistisch vorgeht, daß sie sich auf der
Ebene der internationalen Organisationen die großzügigste Sprachenpolitik im
wahrsten Sinne des Wortes "leistet", was die Kosten für Dolmetscher- und Überset-
zerdienst betrifft (Schröder 1992:365 gibt für das Jahr 1990 eine Schätzung von 308
Millionen DM an). Amtssprachen der Europäischen Gemeinschaft sind die
Staatssprachen sämtlicher Mitgliedsstaaten, d.h. im Moment 11 Sprachen (Dänisch,
Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch,
Portugiesisch, Schwedisch, Spanisch), die Arbeitssprachen, die im Dienstbetrieb der
Organe vorherrschen, sind in erster Linie Französisch und Englisch, daneben auch
Deutsch. Daß der Regelung der Sprachenfrage besondere integrationspolitische
Bedeutung zukommt, darauf weisen Thun-Hohenstein/Cede 1995 hin. Und auch in
einer Reihe von sprachenpolitischen Absichtserkärungen wird diese sprachliche
Diversifizierungspolitik immer wieder betont, so z.B. schon in einer Stellungnahme
des europäischen Parlaments vom 16.11.1978, das nicht wünscht, daß
"die Schaffung eines gemeinsamen Kommunikationsmittels im kulturellen Bereich für
alle Bürger Europas zur Gleichförmigkeit führt, denn gleichzeitig müssen die Spra-
chen und Kulturen aller Länder der Gemeinschaft einschließlich der ethnischen und
sprachlichen Minderheiten und vor allem die vom Untergang zutiefst bedrohten
Sprachen und Kulturen unbedingt geschützt werden." (zitiert nach Christ 1980: 74).
Andere Beispiele finden sich bei Schröder 1992, der allerdings auch darauf
verweist, daß die Wirkung derartiger Erklärungen, sowohl was Sprachenangebot,
Sprachenwahl und Sprachenfolge angeht, bisher eher gering war. Neuesten Datums
ist etwa ein Memorandum zum Thema "Vielsprachigkeit in der Europäischen Union",
das vom Rat der EU im ersten Halbjahr 1995 geprüft werden soll (Rat der
Europäischen Union 1995), in dem auf die Sprachenvielfalt als "ein Grundelement
der europäischen Identität" hingewiesen wird, auf die "durch Vielfältigkeit und
Mehrsprachigkeit gekennzeichnete Identität Europas".
All diese Dokumente und Regelungen betreffen allerdings den Fall, wo es sich
um unterschiedliche Sprachen, also Deutsch, Englisch, Französisch etc. handelt,
Regelungen für unterschiedliche Varianten einer plurizentrischen Sprache, etwa
Französisch in Frankreich und in Belgien, liegen bisher nicht vor.
Die sprachenpolitische Literatur von österreichischer Seite im Zusammenhang
mit Österreichs EU-Beitritt (mit Ausnahme von Pollak 1994, s.u.) befaßt sich vor-
wiegend mit Fremdsprachenunterricht und der "Europareife" Österreichs unter
diesem Blickwinkel, geht allerdings auf diesen Aspekt von Sprachenpolitik nicht ein.
So findet sich bei Lavric (1992) lediglich eine ausführliche Auseinandersetzung mit

Rudolf de Cillia: Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat.


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt.
-125-

In der Kritik an diesem Protokoll Nr. 10 wurde vielfach festgestellt, hier würde
das "österreichische Deutsch" auf 23 Wörter reduziert, Wörter wie "Palatschinke",
"Beuschel", "Mozartkugel", ja vielleicht auch die "Burenwurst" wurden vermißt.
Daher ist es notwendig, zu erklären, wie es zu dieser Liste von österreichischen
Besonderheiten kam: Nach Lutz (1994: 881) liegt "der freie Gebrauch der Sprache an
sich und die Zulässigkeit bestimmter nationaler sprachlicher Besonderheiten (...)
außerhalb der Zuständigkeit der EU". Lediglich im Gebrauch der Amtssprachen gebe
es klare Regelungen. Durch Österreichs Beitritt ergab sich sozusagen keine neue
Amtssprache, aber das Problem, daß in einigen EG-Rechtsakten, die Eingang in die
österreichische Rechtslandschaft finden, Begriffe wie "Quark" oder "Aprikosen"
vorkommen, die unserem Sprachgebrauch fremd sind.
"Verhandlungsgegenstand des Austriazismenprotokolls konnten daher sinn-
vollerweise nur diese sich von den österreichischen Begriffen unterscheidenden
bundesdeutschen Ausdrücke sein, die in der deutschen Ausgabe des EG-Amtsblattes
aufscheinen, für die ein klares Gegenstück existiert und deren Einzug in die öster-
reichisch Rechtssprache vermieden werden sollte" (Lutz 1994: 881)
In den Erläuterungen der österreichisch Regierungsvorlage vom 7.11.94 heißt
es daher, Voraussetzung für die Aufnahme in den "Katalog der Austriazismen" sei
gewesen, daß es sich nicht "bloß um regionale oder mundartliche Begriffe" gehandelt
habe, sondern daß ein "offizieller Charakter des Begriffes in Österreich durch Rechts-
texte nachgewiesen werden konnte". Außerdem mußte ein bundesdeutsches Gegen-
stück im geltenden EU-Recht belegt werden. Austriazismen, zu denen es kein Gegen-
stück in der deutschsprachigen Fassung des EU-Rechts gibt, wurden daher nicht
aufgenommen und "diese Ausdrücke bleiben vom EU-Recht unberührt und können
weiterhin beliebig verwendet werden". (Regierungsvorlage: 430)
Die konkrete Vorgangsweise war daher die folgende: Beamte des Land-
wirtschafts- und Gesundheitsministerium stellten mit EDV-Unterstützung einen
Vergleich der Texte des geltenden EU-Rechts und des österreichischen Rechts an, und
sozusagen der "harte Kern" der unterschiedlichen Ausdrücke in beiden Rechtswerken
wurde in der Liste des Protokolls Nr. 10 festgelegt. Lutz (1994: 881) interpretiert
daher die geringe Zahl an Austriazismen nicht als Mißerfolge der Verhandlungen,
sondern als Beleg dafür, "daß die Rechtstexte der EG bisher mit einer relativ geringen
Zahl von Begriffen ausgekommen sind". Nach seiner Einschätzung sei diese Form des
Protokolls Nr. 10 im übrigen der realistische, erreichbare Kompromiß gewesen, eine
Generalklausel (s.u.) sei nicht durchsetzbar gewesen und hätte außerdem das Prob-
lem mit sich gebracht, daß auf Grund der mangelnden Kodifizierung des öster-
reichischen Deutsch bei jedem neuen Einzelfall eventuell langwierige Diskussionen
entstanden wären.
Die Frage, wie die "geeignete Form", in der die österreichischen Ausdrücke
beigefügt werden sollen, aussieht, wurde mittlerweile auch geklärt: Prinzipiell gab es
drei Möglichkeiten (Fußnoten, Klammerausdrücke, Schrägstrich), wobei auf Betrei-

Rudolf de Cillia: Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat.


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt.
-126-

ben der österreichischen Seite die Gleichwertigkeit ausdrückende Form der Angabe
nach einem Schrägstrich, nicht ohne Widerstand, durchgesetzt werden konnte.
Bei Klingler (1993), dessen Beitrag vor dem Protokoll Nr. 10 erschienen ist, fin-
det sich ein Hinweis darauf, warum diese Frage insbesondere bei den Lebensmittel-
bezeichnungen derartige Wichtigkeit erlangte. Danach habe die historische Ent-
wicklung des EG- Lebensmittelrechts eine Zeitlang (von 1969 bis ca. 1979) darauf
abgestellt, "handelshemmende einzelstaatliche Rechtsvorschriften" durch gemein-
schaftliche Harmonisierungsakte abzubauen (Erlassen von vertikalen Richtlinien,
Produkt-Regelungen), wobei dieses Programm aber spätestens 1979 gescheitert sei,
wo man vom Prinzip abging, daß jede abweichende einzelstaatliche Regelung eines
Gemeinschaftsaktes bedürfe. Eine Handvoll vertikaler Richtlinien aus den späten
Sechziger und Siebziger Jahren bestünden aber nach wie vor, und diese seien die
Ursache einer eventuellen "Preussifizierungsgefahr". Denn ausschließlich in den
vertikalen Richtlinien könnten Produktbezeichnungen durch das Gemeinschaftrecht
vorgegeben sein. So sei z.B. für die Etikettierung von Lebensmitteln vorrangig die
(horizontale) Richtlinie Nr. 79/112 zuständig, was z.B. bedeutet, daß die Etiket-
tierung "in einer dem Käufer leicht verständlichen Sprache abgefaßt" zu sein hat und
schon insofern die Beibehaltung nationaler Bezeichnungen gesichert sei. Klingler
resümiert für die Umsetzung des EG-Lebensmittelrechts in Österreich:
Kurz gesagt: Auch in Zukunft kann der österreichisch Hersteller seine
"Marillenmarmelade" auf dem inländischen Markt unterbringen, ohne beanstandet
zu werden, eine "Praline" nach EG-Jargon kann für Österreich weiterhin ein
"Schokoladenkonfekt" bleiben." (Klingler 1993: 55)
Lutz (1994) weist darauf hin, daß Verwechslungen mit einem anderen lebens-
mittelrechtlichen Problem der EU stattgefunden haben, nämlich dem "Schutz von
geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und
Lebensmittel" (Verordnung 2081/92 des Rates), wo es darum geht, daß Wirtschafts-
treibenden unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit gegeben wird,
Ursprungsbezeichnungen und traditionelle Bezeichnungen für Lebensmittel EU-weit
zu schützen, also z.B. (als fiktive Beispiele) "Original Zillertaler Grammelknödel",
"Mayerlinger Schloßkäse" oder "Grazer Grammelschmalz ". Ähnliche Bestimmungen
existieren für Spirituosen.

4. Rechtsnatur und rechtliche Wirkungen des Protokolls Nr.


10
Das Protokoll Nr. 10 ist integraler Bestandteil des Beitrittsvertrags und ist daher
Teil des EU-Primärrechts, hat daher den gleichen Rang wie die Gründungsverträge
selbst und ändert entgegenstehendes Primärrecht als lex posterior. D.h. daß hinsicht-
lich schon bestehenden EG-Rechts die 23 Austriazismen den bestehenden bundes-
deutschen gleichgestellt sind, hinsichtlich zukünftiger Rechtsakte müssen die Austria-
zismen in "geeigneter Form" beigefügt werden.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-127-

Die Regelung betrifft weiters nur das EU-Recht (Primär- und Sekundärrecht). In
Österreich bestehende Produktbezeichnungen, auch die, die nicht in der Liste
enthalten sind, können selbst verständlich beibehalten werden, (also keine Quark-
taschen oder Pfifferlingtunken!). Regionale Produktbezeichnungen können, unter
bestimmten Bedingungen, auch geschützt werden. Bei der Umsetzung von EU-Richt-
linien in österreichisches Recht steht es Österreich frei, ausschließlich die in Öster-
reich gebräuchlichen Begriffe zu verwenden.
Das Protokoll Nr. 10 stellt in gewissem Sinn eine erste Anerkennung der
eigenen österreichischen Variante der deutschen Sprache in internationalen Ver-
trägen dar und ist insofern einzigartig. Ein Problem könnte sich jedoch ergeben,
wenn zukünftiges EG-Recht neue Begriffe einführt, für die unterschiedliche Aus-
drücke im österreichischen Deutsch und im Bundesdeutschen existieren. Könnte da
nicht mit Hinweis auf die Geschlossenheit der Liste des Protokolls die Aufnahme
neuer Austriazismen verweigert werden? Lutz (1994) und die Regierungsvorlage
(1994) finden folgende Interpretation:
"Durch das Protokoll Nr. 10 wird primärrechtlich das Prinzip etabliert, daß Austria-
zismen im Rahmen des EU-Rechts anzuerkennen sind. Sollte neues EU-Recht bisher
noch nicht abgedeckte Bereiche regeln, so wird sich Österreich als Mitglied der EU
auf das Prinzip des Protokolls Nr. 10 berufen und die Berücksichtigung der entspre-
chenden Austriazismen einfordern können" (Regierungsvorlage 1994: 430).
Lutz argumentiert, daß die vom Europäischen Gerichtshof in anderem Zusam-
menhang entwickelte Judikatur dieser Interpretation entgegenkomme. Da der EuGH
z.B. die Tendenz habe, "teleologische Überlegungen vor den reinen Wortlaut von
Bestimmungen zu stellen" (Lutz 1994: 883), sei nicht auszuschließen, daß er, würde
er damit befaßt, der österreichischen Argumentation folgen würde. So gesehen hätte
das Protokoll Nr. 10 wesentlich mehr erreicht als die Einführung der 23 Wörter,
nämlich tatsächlich eine prinzipielle Gleichstellung der beiden Varianten.
Die oben skizzierte pluralistische Sprachenpolitik der EU würde auch eher
dafür sprechen, daß eine großzügige Interpretation dieses Sprachenproblems zu
erwarten wäre. In jedem Fall hat die EU-Terminologiekommission noch vor dem
Beitritt Österreichs mit der Herausgabe einer Publikation reagiert, in der nach einer
allgemeinen Einführung in das österreichische Deutsch ein Glossar von ca. 1500
Wörtern aufgeführt wird, für die es unterschiedliche Bezeichnungen in Österreich
und der BRD gibt, was ebenfalls für eine tolerante Sprachenpolitik spricht:
Neben "praktischen" Überlegungen sollte mit dieser Arbeit ein Zeichen der
hohen Sensibilisierung seitens der EG gegenüber der sprachlichen - und damit kul-
turellen -Identität eines (zukünftigen) Mitgliedstaats gesetzt werden. (...) sollte aber
andererseits nicht als Aufforderung zu einem künstlichen Sprachseparatismus ver-
standen werden oder als Windmühlenkampf gegen das natürliche Verschwinden
sprachlicher Besonderheiten in einer vernetzten Welt". (Markhardt o.J.: 4.)

Rudolf de Cillia: Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat.


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt.
-128-

Daß die konkrete Ausführung der Publikation allerdings Mängel aufweist, soll
nicht verschwiegen werden: so ist einerseits von "Austriazismen" die Rede, ander-
erseits aber von "Binnendeutsch", was eine deutliche Wertung enthält und mono-
zentrisches Sprachverständnis zur Grundlage hat. Aber darüber sollte die prinzipiell
positive Tendenz einer derartigen Publikation keinesfalls vergessen werden.

5. Die Kritik am Protokoll Nr. 10


Kritiker am Protokoll Nr. 10 und der hier gewählten Lösung könnten folgen-
dermaßen argumentieren: Paradoxerweise sei durch die Festlegung des öster-
reichischen Deutsch auf 23 "Austriazismen" die Nichtgleichwertigkeit der beiden
Varianten der deutschen Sprache festgeschrieben worden. Danach sei das EU-
Deutsch das Deutsch der BRD, die lange vor Österreich EU-Mitglied gewesen sei,
außer eben bei den 23 österreichischen Ausdrücken. Auch die Tatsache, daß es
zwischen den beiden Varianten wesentliche Unterschiede auf allen sprachlichen
Ebenen, nicht nur auf der lexikalischen Ebene (und da führt schon Markhardt an die
1500 Ausdrücke an), gibt, sind unberücksichtigt geblieben. Unterschiede im mor-
phologischen, syntaktischen, pragmatischen Bereich, in der Phonetik/Phonologie
können so als unwesentlich, irrelevant erscheinen bzw. "nicht den gleichen Status"
haben und "nicht mit der gleichen Rechtswirkung verwendet werden" dürfen wie die
in Deutschland verwendeten Ausdrücke.
Besonders Wolfgang Pollak hat diese Regelung kritisiert. In einem "Kommentar
der anderen" im Standard vom 28.4.94 spricht er von einem "gefährlichen Minia-
turkompromiß". Die paar "Demonstrationsaustriazismen" seien geschickt ausgewählt
(Gebrauchsfrequenz, Eßkultur). Pollak kritisiert v.a. auch die Begründung für die
"Mini-Liste" in einer Presseaussendung des Gesundheitsministeriums, nämlich: "Der
der EU erwachsende Mehraufwand ist minimal", was die Frage des österreichischen
Deutsch in den Rang des noch tolerierbaren Mehraufwandes für die EU verweise.
Pollak bezeichnet die Regelung als Kapitulation, denn es hätte eine uneingeschränkte
Anerkennung der Austriazismen erfolgen müssen. In seinem letzten Buch (Pollak
1994) schlägt er etwa folgende Generalklausel vor, um die Gleichwertigkeit von
Teutonismen und Austriazismen abzusichern:
"Sollten in den EU-Rechtsakten Ausdrücke aufgenommen werden, für die in der BRD
und in Österreich unterschiedliche Standardvarianten vorliegen, so sind beide im
Amtsblatt der EU zu verzeichnen. Diese Bestimmung erstreckt sich selbstverständlich
auch auf neues EU-Recht" (Pollak 1994: 156)
Pollak führt ein "Defizit an nationaler Identität" als Begründung dafür an, daß
es zu dieser unbefriedigenden Lösung des Protokolls Nr. 10 kam. Im Ausblick seines
Buches sieht er die Entwicklung allerdings etwas positiver: "Wie die neueste Ent-
wicklung .... erkennen läßt, haben verschiedene Faktoren dazu geführt, daß durch
das Protokoll Nr. 10 doch eine gewisse Aufwertung der Austriazismen erfolgt ist."
(Pollak 1994: 157). Und: "Die Gefahr eines sprachlichen Anschlusses im Zusammen-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-129-

hang mit dem Beitritt Österreichs zur EU ist nicht mehr hoch akut, aber Wach-
samkeit ist weiterhin angebracht" (Pollak 1994: 158).
Weniger hintergründig verlief die Diskussion bzw. Berichterstattung in den
Medien aus diesem Anlaß. Von österreichischer Seite wurden meist ironische und
selbstironische Kommentare abgegeben, die die Frage der Austriazismen teils als
unwesentlich einstufen sollten, teils darauf abzielten, daß eine Liste von letztlich 23
Ausdrücken tatsächlich etwas seltsam anmutete.
Bereits eine Schlagzeilenanalyse der Zeitungsberichte und -kommentare zeigt in
gewissem Sinn den Stellenwert des Problems: "Topfen überlebt die EU", "Keine Angst
mehr vor Quarktaschen", "Erdäpfel, Fisolen und Marille", "Topfen bleibt Topfen",
"Marille siegt", "Alles Powidl, dem 10er sei Dank", "Die Angst des Österreichers vor
der Quarktasche", "EU: Stelze gegen Eisbein", "Kein Quark hier". Die Kommentare
gehen hauptsächlich in die Richtung, daß bezweifelt wird, daß sich die öster-
reichische Tourismusindustrie auch an diese sprachenpolitische Linie halten würde.
In seiner bekannt unanständigen Art schließlich kommentiert das Protokoll der
Karikaturist Manfred Deix in der Wochenendbeilage der Neuen Kronenzeitung, wo
er z.B. einen Schüler fragen läßt: "Herr Professor, darf man in der EU anstatt
HINTERTEIL auch OASCH sagen?"

6. "Österreichisch klingt einfach nicht deutsch"


zitiert der Kurier vom 13.2.95 eine holländische Dolmetscherin, und: "Ganz
vergangen ist das Lachen den Übersetzern, wenn Österreicher am Wort sind. Dann
bricht Panik aus, da Sprüche wie "die Krot werd' ma schluck'n müssen", auch für
geschulte Ohren fremd sind." Dann folgt ein Hinweis auf den österreichischen
Kommissär Fischler, der bei einer Sitzung kurz ins Tirolerische verfiel. Müssen öster-
reichische Politiker und Beamte in Brüssel jetzt zu Englisch, Französisch auch noch
Bundesdeutsch lernen, um übersetzt werden zu können, oder müssen die Dolmet-
scherInnen eine neues Idiom dazulernen? Oder handelt es sich um eine Zeitungs-
ente?
Auf eine schriftliche Anfrage über das tatsächliche Ausmaß, die tatsächliche
Relevanz dieses Problems an den EU-Übersetzungsdienst bekam der Verfasser bisher
noch keine Antwort. Anzunehmen ist, daß der Zeitungsbericht übertreibt, anzu-
nehmen ist aber auch, daß das Ganze einen Kern Wahrheit in sich trägt, nämlich,
daß außerhalb der Grenzen Österreichs erst bekanntgemacht werden muß, daß das
österreichische Deutsch eine gleichwertige Variante des Deutschen darstellt.
Nach jahrzehntelanger Absenz in der Auslandskultur- und Sprachenpolitik ist
es nicht verwunderlich, daß man anderswo der Meinung ist, man könne in Öster-
reich zwar einen Kultururlaub, wohl auch einmal ein Kultursemester absolvieren,
aber "richtiges Deutsch" lernen könne man hier nicht. In anderen Ländern tätige
AuslandslektorInnen, SprachassistentInnen wissen ein Lied vom geringen Prestige des
österreichischen Deutsch zu singen. Eine Umfrage des Fessel-Instituts in

Rudolf de Cillia: Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat.


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt.
-130-

osteuropäischen Nachbarländern führte etwa zu folgendem Ergebnis: Auf die Frage:


"Was würden Sie lieber lernen, österreichisches, deutsches oder Schweizer Deutsch?"
antworteten zwischen 0 und 1% mit "Schweizer Deutsch", zwischen 7 und 14% der
Befragten mit "österreichisches Deutsch", 28-52% mit "deutsches Deutsch". (FESSEL +
GFK Institut für Marktforschung 1991).
Aber die aktuelle Situation stellt eine historische Chance dar, dem Prestige des
österreichischen Deutsch außerhalb unserer Grenzen, wohl auch innerhalb, auf die
Beine zu helfen. Die oben erwähnte Publikation der EU-Terminologiekommission, die
bereits vor der Ausverhandlung des Protokolls Nr. 10 erstellt wurde, zeigt, daß hier
mit dem Protokoll Nr. 10 sozusagen ein erster Schritt gelungen ist. Ein selbstbewußtes
Auftreten in Brüssel kann so ein weiterer Schritt in einer Reihe sprachenpolitischer
Maßnahmen der letzten Jahre sein, die das sprachliche Selbstbewußtsein der
deutschsprachigen ÖsterreicherInnen befördern helfen.
Als einen anderen wesentlichen Schritt muß man die Ausarbeitung eines
eigenen österreichischen Sprachdiploms für DaF erwähnen, das ebenfalls für die
Verbreitung und Präsenz einer österreichisch Standardnorm außerhalb unserer
Grenzen sorgen wird und so einen wesentlichen Beitrag zur Prestigeplanung des
österreichischen Deutsch leistet. Und letztlich sind es v.a. Veranstaltungen wie das
Kolloquium zum österreichischen Deutsch, die dazu beitragen können und werden.

7. Schlußbemerkung
Kehren wir zum Erdäpfelsalat zurück. Aus dem oben Ausgeführten ist deutlich
geworden, daß derselbe auch in der EU ein solcher bleiben darf, sowohl von der
Zusammensetzung her als auch von der Bezeichnung her, obwohl ja sicher in be-
stimmten Regionen Österreichs der Kartoffelsalat vorgezogen wird, ja es wohl auch in
Wien, dessen damaliger Bürgermeister für die Kampagne verantwortlich zeichnete,
Kartoffelsalatesser gibt. Schmid 1990 spricht etwa davon, daß das Wiener Boule-
vardkleinformat eher die Kartoffeln, das Boulevardgroßformat eher die Erdäpfeln
bevorzuge. Auf diese Fragen von Sprache und nationalen Identität näher einzugehen
ist diesem Rahmen leider nicht möglich. Aber daß gastronomische Fragen für das
Österreichbewußtsein wohl zumindest ebenso wichtig sind, wie Fragen der sprach-
lichen Identität, stellt schon Schmid (1990: 30) fest, wenn er schreibt:
"Bei der Terminologie des Essens zeigt sich noch am ehesten (...) eine gewisse öster-
reichische Resistenz gegenüber Eisbein und roter Beete. Daraus ist indessen im Grund
nicht mehr abzuleiten, als daß ein Phäakenvolk dem Speisen (und Trinken) große
Bindekraft zuschreibt, deshalb am Rande sogar der Benennung."

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-131-

8. Anhang:
PROTOKOLL NR. 10
ÜBER DIE VERWENDUNG SPEZIFISCH ÖSTERREICHISCHER AUSDRÜCKE
DER DEUTSCHEN SPRACHE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN UNION
Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:

DER DEUTSCHEN SPRACHE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN UNION


Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:

DER DEUTSCHEN SPRACHE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN UNION


Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:

DER DEUTSCHEN SPRACHE IM RAHMEN DER EUROPÄISCHEN UNION


Im Rahmen der Europäischen Union gilt folgendes:

Rudolf de Cillia: Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat.


Österreichisches Deutsch und EU-Beitritt.
-132-

Fels, Ludwig (1995): Servus, Österreich! Erdäpfelsalat bleibt Erdäpfelsalat. In: Die
Zeit Nr. 3: 13. Jänner 1995.
FESSEL + GFK Institut für Marktforschung (1991): Deutschkenntnisse im Länderver-
gleich. Wien: Ms.
FESSEL + GFK Institut für Marktforschung (1994): Identität und EU-Beitritt. Textbe-
richt. Wien: Ms.
Handler, Peter (1993): Europas Sprachenpolitik und die Rolle Österreichs in der
europäischen Verständigung (mit sprachökonomischen und sprachökologischen
Anmerkungen). In: Staquet, David /Zeyringer, Klaus (Hrsg.) (1993): Les langues:
Pivot du nouvel espace économique européen. Nottingham. S. 70-95.
Klingler, Markus (1993): Über Marillenmarmelade, Erdäpfel, Sahne und Frikadellen.
In: Economy-Fachmagazin 3. S. 53-55.
Lavric, Eva (1992): Welche Sprachen für Europa. Fremdsprachliche Lernerbedürf-
nisse in Österreich im Kontext der EG-Annäherung. In: Griller, Stefan / Lavric,
Eva / Neck, Reinhard (1992) (Hrsg.): Europäische Integration aus österrei-
chischer Sicht, Wien. S.57-386.
Lutz, Fabian (1994): Das Austriazismenprotokoll im EU-Beitrittsvertrag. In: ecolex
1994. S. 880-883.
Markhardt, Heidemarie (o.J.): Ausdrücke des öffentlichen Bereichs in Österreich.
(Unité de Terminologie - Unité de Coordination Linguistique. Brüssel.
Moosmüller, Silvia (1991): Hochsprache und Dialekt in Österreich. Soziophono-
logische Untersuchungen zu ihrer Abgrenzung in Wien, Graz, Salzburg und
Innsbruck. Wien.
Muhr, Rudolf (1993) (Hrsg.): Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch
und seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
Pollak, Wolfgang (1992): Was halten die Österreicher von ihrem Deutsch? Wien.
Pollak, Wolfgang (1994a): Identität durch Grammelschmalz. In: Der Standard v.
28.4.94.
Pollak Wolfgang (1994b): Österreich und Europa. Sprachkulturelle und nationale
Identität. Wien.
Protokoll Nr. 10:(1994): Protokoll Nr. 10 über die Verwendung östereichischer
Ausdrücke der deutschen Sprache.
Rat der Europäischen Union (1995): Memorandum zum Thema "Vielsprachigkeit in
der Europäischen Union". Ratsdokument Nr. 4034/95.
Regierungsvorlage (1994): Regierungsvorlage zum EU-Beitrittsvertrag vom
7.11.1994. Wien.
Schmid, Georg (1990): ...sagen die Deutschen. Annäherung an eine Geschichte des
Sprachimperialismus. In: Rathkolb, Oliver u.a. (Hrsg.): Österreich und
Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis. Salzburg. S. 23-34.
Schröder, Konrad (1992): Der Single European Market und die Fremdsprachen. In:
Schröder, Konrad (Hrsg.): Fremdsprachen im Europäischen Haus. DNS 4/5
1992. S. 342-368.
Thun-Hohenstein, Christoph/Cede, Franz (1995): Europarecht. Das Recht der euro-
päischen Union unter besonderer Berücksichtigung des EU-Beitritts Österreichs.
Wien.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 133-140

Victoria Martin

(Oxford)

Vorurteile und Meinungen zu einem


Auslandsjahr in Österreich aus
sprachpädagogischer Sicht

Der plurizentrische Status der deutschen Sprache hat wichtige praktische


Auswirkungen für den Deutschunterricht im Ausland, vor allen an den Hochschulen,
da Studenten in diesem Stadium des Spracherwerbs meistens ein Jahr im Ausland
verbringen, um ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen und dadurch auch die
bunte Vielfalt der lebendigen deutschen Sprache kennenlernen. Was bisher nur
trockene Theorie war, ausschließlich im Klassenzimmer und daher immer unter der
Kontrolle des Lehrers vermittelt, wird jetzt aus erster Hand erlebt. Bis zu diesem
Zeitpunkt nimmt der bundesdeutsche Standard die zentrale Stelle im DaF-Unterricht
ein; jetzt gehen das Wissen des Studenten und das des Lehrers um die deutsche
Sprache eventuell auseinander, je nachdem wie gut der Lehrer die regionalen Varian-
ten des Deutschen kennt bzw. in welchem Gebiet der deutschsprachigen Länder der
Student sich aufhält. Wenn der Student eine regionale Variante des Bundesdeutschen
als gesprochene Sprache lernt, werden Interferenzen aus dieser Variante in der
Schriftsprache von dem Lehrer als abweichend erkannt und als
nichtstandardsprachlich beurteilt, auch wenn der Lehrer diese Variante selbst nicht
kennt. Bei dem österreichischen und dem Schweizer Deutsch ist es insofern anders,
als die Abweichungen von den bundesdeutschen schriftsprachlichen Normen nicht
auf Interferenzen aus dem Dialekt oder der Umgangssprache zurückzuführen sind,
sondern die Normen einer anderen nationalen Hochsprache darstellen.
Die primäre sprachliche Anforderung, die an Studenten der Germanistik gestellt
wird, ist die korrekte Anwendung der deutschen Sprache. ‘Korrekt’ bedeutet in die-
sem Zusammenhang nicht nur, daß die grammatischen Regeln des Deutschen richtig
eingesetzt und die passendsten lexikalischen Formulierungen gewählt werden, son-
dern auch, daß der Student dazu fähig ist, konsequent das adäquate Register zu be-
nutzen. Diese Fähigkeiten werden dann in Abschlußprüfungen getestet, die meistens
solche Aufgaben stellen wie die Übersetzung eines Textausschnittes aus dem Eng-
lischen ins Deutsche und die Abfassung eines Aufsatzes auf deutsch. Bei der Bewer-
tung dieser Arbeiten werden Fehler im grammatikalischen und lexikalischen Bereich
negativ, ein guter Stil aber positiv bewertet. Das passende Register ist fast aus-
schließlich das des gehobenen schriftlichen Standarddeutschen, wie es u.a. vom
-134-

Standarddeutschen, wie es vom Duden definiert wird. Genauso wie im


Deutschunterricht in den deutschsprachigen Ländern werden dialektale
Satzkonstruktionen, Lexeme und Redewendungen als "falsch" bewertet.
Bei den praktischen Schwierigkeiten, die sich also aus dem Auslandsjahr für
Studenten und Lehrenden ergeben, handelt es sich um die Unterscheidung zwischen
Standardsprache und regionaler Umgangssprache bzw. Dialekt. Die sprachlichen
Prüfungen setzen voraus, daß die Studenten in der Lage sind, die sprachlichen Vari-
anten auseinanderzuhalten und nur das ‘richtige’, sprich das standardsprachliche
Deutsch zu verwenden. In Fällen, wo der Student das Auslandsjahr in Deutschland
verbracht hat, ergeben sich hinsichtlich der Bewertung des sprachlichen Registers
keine Probleme, da das Standarddeutsch ja explizit kodifiziert ist. Abweichungen von
diesem allgemein gültigen Standard werden negativ bewertet, egal, ob die Ab-
weichungen durch Interferenzen aus der eigenen Sprache oder aus einer nicht-
standardsprachlichen Variante des Deutschen stammen. Der Lehrer selber muß nicht
wissen, aus welcher Variante abweichende Formen stammen, er muß nur erkennen,
daß sie den standarddeutschen Normen nicht entsprechen. Bei den Studenten, die
nicht in Deutschland sondern in Österreich oder der Schweiz ihrer Kompetenz er-
worben haben, ist die Trennung zwischen akzeptablen und nichtakzeptablen Ab-
weichungen vom Standarddeutschen nicht so klar gezogen. Diese Situation ergibt
sich aus dem plurizentrischen Status des Deutschen einerseits und dem niedrigen
Bekanntheitsgrad der nicht-bundesdeutschen Nationalvarianten andererseits. (Man
kann in Hinblick auf das österreichische und das Schweizer Deutsch nicht von Stan-
dardsprachen reden, da sie nicht im Sinne einer offiziellen Kodifizierung standard-
isiert worden sind. Es gibt aber sehr wohl eine österreichische und eine Schweizer
Hochsprache, die durch den Kontext der Verwendung definiert sind.
Im Prinzip wird der plurizentrische Status des Deutschen an den britischen
Hochschulen voll akzeptiert. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß Österreich sich
als Zielland für das Auslandsjahr großer Beliebtheit erfreut. (siehe Tabelle 1)

Tabelle 1 Jahr
Land/Prozent/Anzahl 1995/96 1994/95 1993/94 1992/93 1991/92
Österreich: Prozent 22,24 21,73 21,71 19,43 21,96
Anzahl 161 161 170 135 130
Deutschland: Prozent 75,42 75,57 76,50 78,70 75,34
Anzahl 534 560 599 547 446
Schweiz: Prozent 1,84 2,70 1,79 1,87 2,70
Anzahl 13 20 14 13 16

Prozentsatz der Bewerber/innen um eine Assistentenstelle in einem deutschsprachigen Land.


(Daten vom Central Bureau for Educational Visits and Exchanges.)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-135-

Man sieht, daß Österreichs Beliebtheit seit 1992/3 ständig steigt u. zw. auf
Kosten von Deutschland. Heuer fanden sich anfangs sogar nicht ausreichend viele
Bewerber, um alle Stellen in Deutschland zu besetzen. Wenn das österreichische
Deutsch also nicht den gleichen Status wie das Bundesdeutsch hätte (zumindest
theoretisch), dann würden sich auch nicht so viele Bewerber um Stellen in Österreich
finden.
An Studenten, die das österreichische Deutsch lernen, wird dieselbe Anfor-
derung wie an die Deutschlandbesucher gestellt, nämlich die Fähigkeit, zwischen der
(österreichischen) Hochsprache und den Dialekten bzw. der Umgangssprache zu
unterscheiden und letztere zu vermeiden. In den Prüfungen wird dann die Verwen-
dung nach bundesdeutschen Normen nicht-standardsprachlicher Formen gestattet,
wenn diese Formen der österreichischen Hochsprache entstammen. Merkmale der
österreichischen Hochsprache können also theoretisch ohne Bedenken in einer
Übersetzung vorkommen, auch wenn sie vom bundesdeutschen Standard abweichen.
(Allerdings wird auch hier eine gewisse Konsequenz gefordert: wer über Kukuruz
schreibt, darf nicht im gleichen Text auch Möhren erwähnen). Diese Anerkennung
der österreichischen Nationalvariante setzt immerhin voraus, daß der Prüfer in der
Lage ist, den hochsprachlichen Status solcher Merkmale zu erkennen. Wo dem Prüfer
die notwendigen Kenntnisse fehlen, kann es zur falschen Einschätzung der
‘Richtigkeit’ gewisser Austriazismen kommen. Dank der mangelnden Kodifizierung
der österreichischen Hochsprache kann der des Österreichischen unkundigen Lehrers
nicht einfach nachschlagen, um den sozialen bzw. stilistischen Status einer ihm
unbekannten Form zu überprüfen.
Durch Umfragen unter Kollegen an verschiedenen Hochschulen sowie ein-
gehende Gruppendiskussionen mit Studenten ermittelte ich den tatsächlichen Stand
des Wissens um das österreichische Deutsch sowie die vermeintlichen
Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, wenn ein Student das Auslandsjahr nicht
in der BRD sondern in Österreich verbringt.

Die Meinungen der Dozenten


Die Meinungen von 30 Kollegen ermittelte ich mit Hilfe einer Umfrage, die sich
auf das Auslandsjahr bezog. Auf die Frage, ob sie ein bestimmtes Land bevorzugten
oder ob es ihnen eigentlich gleichgültig sei, wo die Studenten hinfahren, kamen
folgende Antworten:
- 7% ist es lieber, daß die Studenten ihr Auslandsjahr in Deutschland verbrin-
gen, damit sie Hochdeutsch als gesprochene Sprache lernen (Kommentar dazu: 'Aber
nur wenn der Student selber keine Präferenz hat').
- 20% bevorzugen Deutschland, jedoch nicht aus sprachlichen Gründen.
- 59% haben keine Präferenz (Kommentare dazu: 'Die Eigentümlichkeit des
österreichischen Deutsch ist sehr übertrieben worden'. 'Der Unterschied zwischen
dem Deutschen und dem Österreichischen ist wie der zwischen britischem und

Victoria Martin: Vorurteile und Meinungen zu einem Auslandsjahr


in Österreich aus sprachpädagogischer Sicht.
-136-

irischem Englisch - unter gebildeten Sprechern findet man eine andere Aussprache,
einige andere Ausdrücke, aber keine völlig andere Sprache'. 'Die Eigenartigkeit der
Aussprache und des Dialekts in Österreich spielen keine wichtige Rolle, wenn es um
das Verständnis des Hochdeutschen geht, und es ist für Studenten von Vorteil, wenn
sie sich für Mundarten interessieren'. 'Ich bin zufrieden, wenn sie irgendwo hin-
fahren, wo es keine Englischsprachigen gibt'.)
- 7% bevorzugen Österreich aus nicht-sprachlichen Gründen (Ein Dozent fügte
aber hinzu: 'Ich frage mich, warum ich eine der Studenten, die jetzt im Ausland sind,
dazu aufmunterte, nach Vorarlberg zu gehen, und ob irgend jemand sie verstehen
wird, wenn sie zurückkehrt'.)
- 7% bevorzugen Österreich, zum Teil aus sprachlichen Gründen ('Ich würde
sie dazu aufmuntern, nach Österreich zu fahren, um ihre Kenntnis der
deutschsprachigen Welt zu erweitern und um sie auf Österreich und seine
Geschichte aufmerksam zu machen'.)
Auffallend ist, daß fast alle Befragten das österreichische Deutsch problema-
tisierten, indem sie sich auf die dortigen Sprachverhältnisse bezogen, um ihre Wahl
des bevorzugten Ziellandes zu erklären. Auch meinten alle, daß schwächeren Studen-
ten von einem Österreichaufenthalt abzuraten wären, da diese wahrscheinlich nicht
in der Lage wären, die gesprochene Sprache und den schriftlichen Standard
auseinanderzuhalten. In Deutschland hingegen wird angenommen, daß die
gesprochene Sprache den schriftsprachlichen Normen viel näher steht.
Die Dozenten unterstützen jedoch im großen und ganzen alle Studenten, die
den Wunsch äußern, das Auslandsjahr in Österreich zu verbringen, aber nur die
wenigsten machen die Studenten auf diese Möglichkeit aufmerksam, d.h. die Studen-
ten selber müssen auf die Idee kommen, nach Österreich zu fahren. Die Toleranz den
österreichischen Besonderheiten gegenüber basiert aber auf nicht allzu festem Boden,
denn die meisten Prüfer/innen sind nicht in der Lage, Austriazismen als solche zu
erkennen. Gefragt nach dem Stellenwert von Austriazismen, die in einer Übersetzung
für die Abschlußprüfung vorkämen, meinten sie, Lexeme der nationalen Variante
seien durchaus akzeptabel. Als Beispiel solcher Lexeme erwähnten sie Wörter wie
Bub, heuer, Erdapfel, also Lexeme, die im gesamten bairischen Raum auftreten, aber
auch Schlagobers und Paradeiser, die offensichtlich als stereotype Kennzeichen des
österreichischen Deutsch dienen.
Auffallend war, daß viele der standardsprachlichen Austriazismen ihnen ein-
fach nicht bekannt waren, vor allem im syntaktischen Bereich. Von den Merkmalen,
die die Studenten als problematisch einstuften (siehe unten), wurde keines als
hochsprachlich betrachtet.

Die Meinungen der Studenten


Bei den Studenten war meine Vorgangsweise anders, da Umfragen meist nur
sehr knappe Antworten erzielen. Durch eingehende Gruppenbesprechungen habe ich

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-137-

herauszufinden versucht, welche Gedanken bei der Wahl von Österreich


mitschwingen, welche Vorteile und Nachteile sich Studenten von einem Aufenthalt in
Österreich erwarten, und ob diese Vorstellungen mit der Realität übereinstimmen.
Der Hauptgrund für die Wahl Österreichs ist demnach die zentrale geographische
Lage, die Freizeitmöglichkeiten (vor allem das Skifahren), die Schönheit des Landes
und die besser bezahlten Assistentenstellen. Dazu kam auch, daß die meisten Studen-
ten nach eigenen Angaben ziemlich häufig in Deutschland gewesen waren und keine
Lust hatten, noch einmal dorthin zu fahren. Österreich hingegen verfügt über einen
gewissen Hauch an Exotik.
Auf die Frage, ob sie irgendwelche sprachlichen Schwierigkeiten erwarteten,
sagten alle, daß sie gehört hätten, die Sprache sei sehr schwer, jedoch habe dies ihnen
bis kurz vor der Abreise nichts ausgemacht. Dann seien sie allerdings in Panik ge-
raten. Eine Studentin schilderte, wie sie den Schuldirektor anrief, in der vollen
Überzeugung, sie würde kein Wort verstehen, und wie überrascht sie war, als
plötzlich "diese melodiöse Sprechweise" am Apparat zu vernehmen war.
Die tatsächlichen sprachlichen Schwierigkeiten waren dann immerhin größer
als erwartet. Es herrscht offensichtlich ziemliches Unwissen über die sprachliche
Situation in Österreich, bevor die Assistenten im Land ankommen. Alle Befragten
brauchten mindestens einen Monat, bevor sie sich sprachlich zurechtfanden. Zwei
brachen nach kurzer Zeit ihren Aufenthalt ab und meinten, es sei wegen der Sprache
gewesen. Eine Studentin, die in Graz tätig war, meinte, die Sprache hätte sie zuerst in
Panik gebracht, dann habe sie sie häßlich gefunden, dann interessant, und schließlich
wunderschön, eine Äußerung, die viel Zustimmung erhielt. Die meisten Schwierig-
keiten ergaben sich bei dem Umgang mit Straßenbahnfahrern, Verkäufern usw.,
Kollegen und Freunde hingegen gaben sich meistens Mühe, hochsprachlich zu reden,
wenigstens am Anfang. Es scheint also, daß sich die Assistenten nach einiger Zeit der
Verwunderung sprachlich sehr schnell einleben, obwohl zwei Studentinnen meinten,
es wäre besser gewesen, nach Deutschland zu fahren, da sie die bundesdeutsche
Hochlautung schneller beherrscht hätten. Die Kehrseite dieser Erfahrung wurde dann
auch erwähnt: da für Engländer die bundesdeutsche Standardaussprache leichter zu
verstehen ist als die österreichische, konnten diejenigen Studenten, die in Österreich
ihr Deutsch gelernt hatten, sowohl bundesdeutsche als auch österreichische Sprecher
verstehen, was umgekehrt nicht unbedingt der Fall war. Insofern brachte die größere
Mühe auch einen Vorteil mit sich.
Die meisten Schwierigkeiten stellten sich nach der Rückkehr nach England ein
und betrafen vor allem die Forderungen, die ihnen die Abschlußprüfungen stellten. In
dieser Hinsicht hatten alle Angst, daß das Deutsch, das sie in Österreich gelernt
hatten, in den Augen der allmächtigen aber nicht des Österreichischen kundigen
Prüfer zu weit vom Bundesdeutschen abweichen würde. Die mündliche Prüfung gilt
als weniger problematisch, eben deswegen, weil nach eigenen Angaben die meisten
Studenten in der Zeit nach der Rückkehr die österreichische Aussprache sowieso

Victoria Martin: Vorurteile und Meinungen zu einem Auslandsjahr


in Österreich aus sprachpädagogischer Sicht.
-138-

verlernen. Einige jedoch berichteten von einem "Verfallen" in die österreichische


Sprechweise, wenn sie während der Prüfung unter Druck gesetzt wurden. Hier tritt
die Bewertung des österreichischen Deutsch als eine Variante mit niederem Status
deutlich hervor. Die mündliche Prüfung an den britischen Hochschulen wird im
gehobensten sprachlichen Register geführt, und es herrscht offensichtlich die Mein-
ung, daß die österreichische Sprechweise eben nicht gehoben genug, d.h. dieser
Situation nicht angemessen sei. Die meisten Unsicherheiten bezogen sich jedoch auf
die Schriftsprache.
Bei einem Aufenthalt in Österreich sind zwei mögliche Probleme zu erwarten:
Erstens kann es sein, daß der Student lexikalische und syntaktische Merkmale der
österreichischen Hochsprache erlernt hat, die dann in Großbritannien nicht akzep-
tiert werden, weil sie den bundesdeutschen Normen nicht entsprechen. (Dies sahen
die Dozenten allerdings nicht als Problem, da sie glaubten, sie seien in der Lage solche
Austriazismen zu erkennen); zweitens könnte es vorkommen, daß der Student sich
Dialektausdrücke und Satzkonstruktionen aneignet, nicht aber in der Lage ist, sie von
hochsprachlichen Ausdrücken zu unterscheiden. Dies ist wohl eine Gefahr, die in den
Köpfen der Lehrer herumgeistert, da so viele von ihnen meinen, "der Dialekt" wäre
ein triftiger Grund, schwächeren Studenten doch von einem Österreichaufenthalt
abzuraten. Die Studenten selber lehnten diese Vermutung jedoch entschieden ab.
Nach eignen Angaben hatte kein einziger der Befragten damit Schwierigkeiten
gehabt, den jeweiligen Ortsdialekt und die Standardsprache auseinanderzuhalten. Im
Gegenteil, sie waren darüber ziemlich entrüstet, daß man ihnen die Unfähigkeit,
zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache zu unterscheiden, unterstellte.
Trotz dieser Behauptung fielen ihnen jedoch im Laufe des Gesprächs Beispiele ein:
1. Unsicherheit, ob die dritte Person Singular mit oder ohne Umlaut gebildet wird.
ZB. "Er schlaft/schläft, sie fahrt/fährt."
2. Verwechslung der Konjunktionen als und wie. Z.B. "Ich rufe so bald als/wie
möglich an"; "Ich bin länger da gewesen als/wie du."
3. Unsicherheiten betreffen den Dativ und Akkusativ, weil mir/mi ([miK, mi:]) und
dir/di ([diK, di:]) lautlich schwer zu unterscheiden sind.
4. Verwendung von Präpositionen wie wegen, trotz, statt mit dem Dativ statt mit
dem Genitiv. Daß dieses Merkmal nicht ausschließlich auf Österreich beschränkt
ist, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum vorkommt, war den Studenten
allerdings nicht bewußt.
5. Eine Studentin erwähnte auch, daß sie manchmal -n statt schwa [Ì] am Ende von
Feminina setze, z.B. Gassn, Kirchn. Interessanterweise glaubte sie, daß dies nur
im Dativ gilt, vielleicht analog zum -n im Dativ plural. Dieses Beispiel weist auf
ein weiteres Problem hin, nämlich auf die falsche Interpretation von
Dialektregeln, die ja nicht gelehrt werden.
Obwohl die Möglichkeit von Dialektinterferenzen dann doch zugegeben wurde,
betrachteten die Studenten den Mangel an Kodifizierung der Hochsprache als ein viel

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-139-

wichtigeres Problem, da sie fürchteten, die Prüfer würden selten wissen, ob Ab-
weichungen von den bundesdeutschen Normen zur österreichischen Hochsprache
gehören. Die möglichen Fehleinschätzungen können in drei Gruppen unterteilt
werden (alle Beispiele wurden von den befragten Studenten selbst erwähnt):
1. Lexeme der österreichischen Hochsprache werden als Regionalismen bzw.
Dialektausdrücke abgewertet. Sie werden zwar nicht für erfundene Wörter ge-
halten, aber eventuell für stilistisch fehl am Platz, z.B. Bub, Erdapfel,
Fleischhauer, Kasten, Rauchfangkehrer, Sack.
2. Lexeme der österreichischen Hochsprache werden als fehlerhaft, d.h. als vom
Studenten erfunden, beurteilt. z.B. Geldtasche, Karfiol, Trafikant. An dieser Stelle
wurde auch das Problem des Umlauts erwähnt, da das Fehlen oder Vorhanden-
sein vom Umlaut, wenn ein Bundesdeutsch Sprechender das Gegenteil erwartet,
wohl leicht als Fehler eingestuft wird, z.B. benützen statt benutzen, Wägen statt
Wagen, färbig statt farbig.
3. Manche Lexeme haben eine leicht unterschiedliche Bedeutung bzw. andere
Kollokationen im Bundesdeutschen und werden daher unter Umständen als
falsch beurteilt, wenn sie mit ihrer österreichischen Bedeutung verwendet wer-
den, z.B. Sessel, Gasse, Polster, sperren, reden.
Um potentiellen Fehleinschätzungen des Prüfers zuvorzukommen, versuchten
alle befragten Studenten, in der Zeit vor den Prüfungen Austriazismen so weit wie
möglich abzulegen. Zu den obenerwähnten Schwierigkeiten kommt aber auch noch
eine vierte hinzu, nämlich die Tatsache, daß die Studenten selber nicht immer in der
Lage sind, Lexeme der österreichischen Hochsprache als nicht-bundesdeutsch zu
erkennen. Hier konnten sie mir natürlich keine Beispiele nennen, aber ein kleiner
Test ergab, daß die meisten von ihnen einige Formen nur in ihrer österreichischen
Variante kannten.
Bei den Lexemen waren es hauptsächlich diejenigen, die alltägliche Begriffe
bezeichnen, die nicht als spezifisch österreichisch erkannt wurden. Die bundes-
deutsche Variante ist in Klammern angegeben: z.B. Ordination (Sprechstunde),
Meldezettel (Meldeschein), Erlagschein (Zahlkarte), Putzerei (Chemische Reinigung),
Hausmeister (Hauswart), Vorhang (Gardine), Gehsteig (Bürgersteig), Wimmerl
(Pickel), Kipferl (Hörnchen, Kren (Meerrettich).
Allgemein erkennbare Austriazismen stellte eine Gruppe von Begriffen dar, die
schon in den frühsten Phasen des DaF-Unterrichts gelehrt werden: z.B. Spital
(Krankenhaus), Wirtshaus (Gasthof), Beisl (Kneipe), Jänner (Januar), Stiege (Treppe),
sich verkühlen (sich erkälten). Lexeme, die offensichtlich nicht deutscher Herkunft
sind, wurden auch leicht als Austriazismen erkannt: z.B. Melanzani (Aubergine),
Ribisel (Johannisbeere), Palatschinke (Pfannkuchen).
Die Unsicherheit ist allerdings noch stärker im nichtlexikalischen Bereich. Die
meisten konnten nicht sagen, ob es Bundesdeutsche oder Österreicher sind, die
liegen, stehen und sitzen mit sein bilden; manche wußten sogar nicht, daß es möglich

Victoria Martin: Vorurteile und Meinungen zu einem Auslandsjahr


in Österreich aus sprachpädagogischer Sicht.
-140-

sei, diese Verben mit haben zu bilden. Abweichender Präpositionengebrauch dürfte


auch schwer zu erkennen sein, da alle Befragten überrascht waren, daß die Bundes-
deutschen eben nicht am Land oder am Markt sagen, bei am/auf dem Klo und
am/auf dem Boden waren sie andererseits unsicher, welche Form als österreichisch
gilt.
Der Umlaut bildete auch in dieser Kategorie einen reichen Grund der Verwir-
rung: Stichhältig wurde von allen für bundesdeutsch gehalten, sowie Kommissar und
Missionar; Wägen dagegen erkannte man als österreichische Form.
Das Geschlecht bei Substantiven bildete eine Kategorie, wo keine der Studenten
wußten, daß die österreichische Norm von der bundesdeutschen abweicht. Vielleicht
ist dies darauf zurückzuführen, daß wir Engländer uns sowieso nur mit großer
Schwierigkeit das Geschlecht merken können: z.B. der (die) Butter, das (der) Service,
die Akte (der Akt).
Diese Bedenken gelten allerdings nur für die ziemlich unnatürliche Situation
der schriftlichen Prüfungen. Außerhalb des akademischen Rahmens werden solche
Austriazismen überhaupt nicht als Nachteil gesehen, im Gegenteil, so manche
Deutschlerner empfinden ihre Kenntnisse als Vorteil, da Bundesdeutsche, vor allem
aus dem Norden, nicht immer in der Lage sind, zwischen Fehlern und Austriazismen
zu unterscheiden. Eine Studentin erzählte stolz, daß norddeutsche Bekannte sie ur-
sprünglich für 'eine Süddeutsche mit einem kleinen Sprachproblem' gehalten hätten.
Immerhin bleibt diese robuste Einstellung nach der Rückkehr nur dann erhal-
ten, wenn weiterer Input von österreichischen Sprechern vorhanden ist. Alle Be-
fragten hatten versucht, sich der bundesdeutschen Sprechweise von Kommilitonen
anzupassen, wenn sie wieder einmal in England angelangt waren. Eine sprach von
'sprachlicher Schizophrenie' - mit österreichischen Freunden versuche sie, sich die
österreichische Aussprache wieder anzueignen, aber mit dem deutschen Lektor und
mit anderen Studenten versuche sie, sich den bundesdeutschen Normen anzupassen.
Alle sprachen von einem sprachlichen Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den
Studenten, die ihr Auslandsjahr in Deutschland verbracht hatten und folglich das
'richtige' Deutsch beherrschten: einzige glorreiche Ausnahme bildeten zwei Studen-
tinnen, die beide demselben College angehörten, wo auch ein österreichischer Lektor
tätig war. Dies zeigt die Wichtigkeit von sprachlicher Unterstützung. Selbstver-
ständlich kommt sich einer, der von Bundesdeutsch Sprechenden umgeben ist, isoliert
und unsicher vor, wenn er keinen Zugang zu Kollegen hat, die eine ähnliche Art
Deutsch reden.
Das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von österreichischen Sprechern an
der Hochschule wird natürlich durch Zufall bestimmt, und insofern kann in dieser
Richtung nichts unternommen werden, um die 'sprachliche Schizophrenie' und das
sprachliche Minderwertigkeitsgefühl abzubauen. Was die Prüfungen angeht, kann
aber sehr wohl eine Verstärkung des sprachlichen Selbstbewußtseins erzielt werden,
und zwar indem die österreichische Hochsprache weitgehend kodifiziert wird.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-141-

Solange die österreichische Hochsprache nur Hochsprache und keine Standard-


sprache bleibt, werden sowohl die Österreicher selbst als auch die Deutschstudenten
aus dem Ausland ihr einen niederen Status zuordnen als dem Bundesdeutschen. Eine
solche Kodifizierung hätte aber auch wichtige praktische Folgen für diejenigen
Studenten, die im Auslandsjahr das österreichische Deutsch lernen, denn es lieferte
ihnen einen gewissen Schutz gegen das Unwissen der Prüfer. Würde sich die Antwort
auf die Frage, ob eine dem bundesdeutschen Standard nicht entsprechende Form
fehlerhaft ist, Teil des österreichischen Standards ist oder einer
nichtstandardsprachlichen Variante entstammt, leicht durch Nachschlagen in einem
einzigen Werk finden, würden die Studenten nicht so verzweifelt versuchen, ihr
österreichisches Deutsch vor den Prüfungen zu verlernen.

Literatur:
Clyne, Michael (1992): German as a pluricentric language. In: Ders. (Hrsg.): Pluri-
centric Languages. Differing Norms in Different Nations. Berlin/New York. S.
117-147.
König, Werner (1978): Atlas zur deutschen Sprache. München.
Martin, Graham (1990): National linguistic peculiarities in German-language dictio-
naries for use in schools: Austriacisms in the Österreichischer Schülderduden
and helveticisms in the Schweizer Schülerduden. Oxford. (= German Life and
Letters 44/1).
Österreichisches Wörterbuch (1990): 37. Auflage. Wien.
Rizzo-Bauer, Hildegard (1962): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in
Österreich und in Südtirol. Mannheim.

Victoria Martin: Vorurteile und Meinungen zu einem Auslandsjahr


in Österreich aus sprachpädagogischer Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 142-147

Bernhard Kelle

(Freiburg im Breisgau)

Der Verlust der Muttersprache - Beobachtungen


1
am 'Auslandsösterreichischen'

Im folgenden Erfahrungsbericht geht es um die Anpassungsprozesse an eine


anderssprachige Umwelt, denen sich Sprecher zu unterwerfen haben, die von ihrer
muttersprachlichen Umgebung räumlich abgeschnitten sind. Meine eigene
sprachliche Situation dient dabei als Beobachtungsgrundlage. Sie unterscheidet sich
von den in der Kontaktlinguistik vornehmlich untersuchten Situationen dadurch, daß
die 'anderssprachige Umwelt' keine fremdsprachige ist, sondern eine dialektal andere.
Es handelt sich um die Beschreibung einer Diglossiesituation im Sinne von Fishman
(1975: 96), der feststellt,
"[...] daß Diglossie weder nur in mehrsprachigen Gesellschaften, die offiziell
verschiedene "Sprachen" anerkennen, noch lediglich in Gesellschaften, die
Volkssprachen und klassische Varietäten verwenden, vorhanden ist, sondern
auch in Gesellschaften, die verschiedene Dialekte, Register oder funktionell
differenzierte Sprachvarietäten irgendwelcher Art benützen."
Mit dem hierfür zutreffenden Terminus 'Binnendiglossie' (Kloss 1976) läßt sich
u.a. das Nebeneinander von Standardsprache und 'Schwyzertütsch' (Kloss 1976,
314) bezeichnen, das aber insofern vom hier beschriebenen Fall unterschieden ist, als
jeder deutschsprachige Schweizer in dieser Diglossie-Situation aufwächst.
Ich werde zunächst darstellen, um welche Veränderungen meines sprachlichen
Verhaltens es sich handelt und schließlich versuchen, zu einer Bewertung und Ein-
ordnung der Phänomene in einen theoretischen Rahmen zu kommen. Dies erweist
sich aufgrund der Forschungslage problematisch, da sich die Berührungspunkte zur
Kontaktlinguistik und zur Diglossie-/Bilingualismusforschung in vielen Punkten als
unzutreffend erweisen, und diese Disziplinen jeweils selbst noch um Definitionen
und Abgrenzungen ringen (vgl. Kremnitz 1987, Bechert/Wildgen 1991). Die
sprachliche Erscheinung, der ich nachgegangen bin, besteht darin, daß mein eigenes
Sprechen sich innerhalb der letzten 20 Jahre verändert hat, und zwar in zweifacher
Hinsicht:

1
Vortrag, gehalten auf der 6. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie, Graz, 20.-
24.9. 1995. Für die Aufnahme in den vorliegen Sammelband danke ich R. Muhr.
-143-

• Mein standardsprachliches Sprechen hat sich sukzessive der Standardsprache, wie


sie in der Bundesrepublik gesprochen wird, angepaßt. Typische "Austriazismen" -
vor allem im lexikalischen Bereich (z.B. Abitur vs. Matura) - sind nach und nach
geschwunden. Die Erforschung und Dokumentation solcher Unterschiede
zwischen österreichischem Deutsch und dem Deutsch der Bundesrepublik ist ja
ein besonderer Forschungsschwerpunkt der Grazer Kollegen (vgl. Muhr 1993).
Aber Phänomene, die die Differenzen zwischen diesen beiden Standardsprachen
betreffen, will ich hier aussparen, obwohl sie mit der zweiten Beobachtung
sicherlich in Beziehung stehen und nicht immer leicht davon abzutrennen sind.
• Diese zweite Gruppe von Feststellungen besteht darin, daß sich neben der
Anpassung meiner Standardsprache an die Variante der Bundesrepublik bestimmte
sprachliche Merkmale und Einheiten festgesetzt haben, die man dem
Alemannischen zurechnen muß, besonders seiner oberrheinischen Ausprägung,
wie sie rund um Freiburg gesprochen wird.
Es handelt sich also um das Eindringen bestimmter alemannischer Elemente in
meinen grundständig bairisch geprägten Sprachgebrauch, der ursprünglich solche
Elemente nicht enthalten hat, da meine sprachliche Herkunft bairisch-österreichisch
ist. Ich bin bis zum 8. Lebensjahr in Kapfenberg in der Steiermark aufgewachsen,
habe dann bis zur Matura in Linz an der Donau gelebt und bin anschließend über
das Studium in Wien nach Freiburg i.Br. gekommen, wo ich seither lebe und arbeite.
Auf das fragliche Phänomen des Eindringens von Alemannismen in meinen
Sprachgebrauch bin ich durch einen Wiener Kollegen aufmerksam geworden . Als
wir gemeinsam eine Bergtour machten, sagte ich morgens zum Fenster
hinausschauend zu ihm, heut hätt's wieder ein Sauwetter, woraufhin er mich ansah
und sagte: ‘Der Kelle kann kein Deutsch mehr’. Er meinte natürlich mit "Deutsch"
zunächst das österreichische Deutsch und im besonderen die Existenzaussage mit
heute hat es (Bad. Wb. I, 518 "es gibt") für heut hamma o.ä. Damals betrachtete ich
die von mir gewählte Formulierung noch als Ausrutscher. Seitdem ich mich aber
dazu entschlossen hatte, über dieses Thema zu referieren, lag ich ständig vor mir
selbst auf der Lauer und mußte feststellen, daß ich diese Art der Existenzaussage
tatsächlich häufig verwende und daß auch andere, dem Alemannischen
zurechenbare Einheiten auftreten.
2. Ich habe also in Selbstbeobachtung diese neuen sprachlichen Muster zu ent-
decken versucht , was zu methodischen Schwierigkeiten führt, die mit dieser Form
der Beobachtung verbunden sind. Ich bin mir der Probleme als langjähriger
Mitarbeiter an einem direkt erhobenen Sprachatlas mit sehr gezielter
Informantenauswahl und hoher Standardisierung in der Erhebung sehr bewußt (vgl.
Steger/Kelle 1989, Schrambke 1993); auch erkenne ich die besondere Gefahr der
Selbstsuggestion, der man leicht unterliegen kann. Die Frage war allerdings, wie ein
erster Zugriff auf solche Übernahmephänomene erfolgen sollte: Mit einem
Tonbandgerät zu arbeiten, hätte das ganztägige Aufnehmen aller sprachlichen

Bernhard Kelle: Der Verlust der Muttersprache:


Beobachtungen am 'Auslandsösterreichischen
-144-

Äußerungen bedeutet. Ich bin hier selektiv vorgegangen und habe nur einen
bestimmten Ausschnitt des Situationsspektrums zu Kontrollzwecken aufgenommen.
Auf die dabei gewonnenen Ergebnisse komme ich später zurück. Ich möchte nun,
bevor ich eine genauere Einschätzung des Phänomens versuche, etwas systematischer
darlegen, um welche Fälle es sich handelt. Dabei wird davon zu sprechen sein,
1. auf welchen sprachlichen Ebenen sich die Veränderungen zeigen und
2. in welchen Situationen sie auftreten.
Nur geringe Einflüsse haben sich auf der phonetisch-phonologischen Ebene
feststellen lassen. Es scheint so, daß im lautlichen Bereich die größte Stabilität zu
beobachten ist und auch der langjährige Aufenthalt im alemannischen Umfeld die
bairischen Grundlagen nicht zerstören konnte. Selbst die Benutzung einer möglichst
neutralen Standardsprache bleibt von bairischer Phonologie beeinflußt. Ganz selten
taucht ein sekundäres alemannischen Dialektmerkmal (Jakob 1985, 33ff.), nämlich
der Spirant [ š ] für [ s ] in isch für ist auf (Da isch'er ja) . Für viele gebürtige
Alemannen bleibt dieses Merkmal ein Leben lang kennzeichnend, was man z.B.
bestens in den Reden von Helmut Schäuble, dem derzeitigen Fraktionsvorsitzenden
der CDU beobachten kann. Meine Benutzung ist so selten und so stark auf den einen
Ausdruck beschränkt, daß man nicht von einem wirklichen, das phonologische
System verändernden Einfluß sprechen könnte.
Deutlicher sind die Adaptionen in der Morphologie. Hier ist vor allem das
alemannische Diminutivsuffix -le hervorzuheben, von dem ich in meinem Sprechen
an verschiedener Stelle unbewußten Gebrauch mache, den ich aber in der ersten Zeit
meines Aufenthaltes zum Teil bewußt lernen mußte. Ein Beispiel dafür ist das
Einkaufen, wo etwa beim Bäcker das Kaufen von Semmeln nicht oder nur schlecht
funktioniert, und wo Weckle (Schwäb. Wb. VI/1, 521 "Brötchen aus Weißbrot") der
richtige Ausdruck ist. Besonders nach Verschlußlaut wie in Weckle fällt die
Verwendung der alemannischen Endung ausgesprochen schwer. Andere Belege, wie
z.B. Bächle (Bad. Wb. I, 104 "Bächlein"), bißle (Bad. Wb. I, 239 "bißchen") oder
Männle (Bad. Wb. III, 550 "Männlein") sind für den bairischen Gaumen besser
geschaffen und treten so auch auf.
Eine weitere Erscheinung der alemannischen Morphologie ist die Apokope des
Endungs - e: z.B. dann kriegst du eins auf die Kapp oder die Frage Komme Sie vom
Schaffe? Adaptiert wurden auch die Formen aus den Verbalparadigmen von gehen
und haben: Die Gesprächseröffnung mit wie gots (Bad. Wb. II, 331 "wie geht's") und
die Form hätt in Sätzen wie dem bereits zitierten es hätt schlecht Wetter bzw. die
Formen des Einheitsplurals hän in hän ihr des au ... (Bad. Wb II, 517 "habt ihr das
auch") sind beobachtet worden.
Am deutlichsten treten die Veränderungen auf der lexikalischen Ebene hervor.
Besonders hervorstechend und auch leicht erklärbar sind die Fälle, in denen eine
lexikalische Variante gelernt werden mußte, da sonst die kommunikative Praxis sehr

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-145-

erschwert gewesen wäre. Beispiele finden sich vor allem im Bereich des Einkaufens
und bei Nahrungsbezeichnungen, wo häufig lokale lexikalische Varianten
vorhanden sind. Das bereits zitierte Weckle ist hier ein Paradefall, da es auch heute
noch Schwierigkeiten beim Aussprechen bereitet und häufig im letzten Augenblick
hilfsweise zum Weckerl mutiert. Weitere Belege sind Büerle (Bad. Wb. I, 128 "Art
Weißbrötchen"), Bippeleskäs (Bad Wb. I, 234 "Quark") und ähnliches. Zu
unterscheiden sind von diesen mehr oder weniger erzwungenen und gelernten
Veränderungen des Wortschatzes diejenigen, die sich einfach nur eingestellt haben.
Dazu zählen vor allen Dingen Ausdrücke für die räumlichen Orientierung sowie
emotionale Ausdrücke. Besonders betroffen ist der Bereich der Richtungsadverbien,
wo hinzus (Bad. Wb. II, 726 "hinwärts"), nuf (Bad. Wb. II, 704 "hinauf"), nab (Bad.
Wb. II, 698 "hinab") und ähnliches häufig festzustellen waren. Beim emotionalen
Wortschatz sind es die Ausrufe des Erstaunens/der Verwunderung,
Qualitätsbezeichnungen sowie die ortsüblichen Beleidigungen, die z.B. beim
Autofahren in geschützter, rechtsfreier Umgebung zum Vorschein kommen. Zu
nennen ist hier z.B. der Ausruf heiligs Blechle (Bad. Wb. I, 257), die Adjektive
lummelig (Bad. Wb. III, 503 "schlaff") und brummlig (Bad. Wb. I, 346 "brummelnd,
mürrisch") oder die weniger ehrenhaften Bezeichnungen Dubel (Bad. Wb. I, 582
"Dummkopf") oder Dackel (Bad. Wb. I, 399 "Narr"), die mittlerweile den
entsprechenden österreichischen Wortschatz überlagern, morphologisch aber relativ
vertraut sind.
Zwei Beobachtungen sind schließlich dem Übergangsbereich von Morphologie
und Syntax zuzurechnen; im einen Fall handelt es sich um den fehlenden Akkusativ
des Substantivs mask. Sg., z.B. ich fahr der Buckel nuf (Besch/Löffler 1977, 57) sowie
die Wendungen mit als in der Bedeutung "immer, doch wohl": Der geht als ins
Wirtshaus (Bad. Wb. I, 34).
Bei der Suche nach den Ursachen für die Übernahmen muß zunächst nach dem
pragmatischen Hintergrund für die Äußerungen gefragt werden. Lassen sich
besondere Merkmale der einzelnen Gesprächstypen erkennen, in denen die
besprochenen Elemente auftreten? Zur Überprüfung dieser Frage habe ich mehrfach
meine Redebeiträge in Seminaren auf Tonband mitgeschnitten. Es handelt sich dabei
um frei gesprochenen Text, der je nach Situation den Texttypen "Diskussion" bzw.
"Vorlesung/Vortrag" zuzuordnen wäre. Die Aufzeichnung umfaßt mehrere Stunden,
und ich konnte kein einziges alemannisches Element der besprochenen Art in diesen
Texten finden. Die Texte, denen ich die oben zitierten Beobachtungen entnommen
habe, sind dagegen meist informelle Gespräche mit muttersprachlichen Alemannen,
ferner mit meinen Kindern oder guten Freunden. Die dahinterstehende Situation ist
häufig ein Verkaufsgespräch oder eine Begegnung, in der "small talk" vorherrscht. Es
deutet sich hiermit eine Trennung an, die im Rahmen der von Hugo Steger
entworfenen Theorie der "Kommunikativen Bezugsbereiche" gut beschreibbar ist
(Steger 1991). Steger trennt in seinem Modell zwischen Alltags- und Theoriewelt,

Bernhard Kelle: Der Verlust der Muttersprache:


Beobachtungen am 'Auslandsösterreichischen
-146-

wobei in der Alltagswelt im wesentlichen Texte entstehen, die zur Bewältigung der
alltäglichen Lebenspraxis notwendig sind. Darunter sind die grundlegenden
Handlungen zu verstehen, die zur Lebensaufrechterhaltung nötig sind, wie Essen,
Schlafen, Wohnen etc. In den Theoriewelten dagegen finden sich spezielle Teilse-
mantiken für bestimmte Funktionen, so z.B. für die Institutionen, für Wissenschaft,
Technik, Religion und schließlich für die Literatursprache. Betrachtet man auf diesem
Hintergrund die von mir gemachten Beobachtungen, dann zeigt sich, daß die
Alemannismen ausschließlich im Bereich der Alltagswelt auftreten und die gesamte
Theoriewelt von dieser Veränderung unbeeinflußt bleibt.
Innerhalb der Alltagswelt sind es die den genannten Basisbedürfnissen gut
zuordenbaren Bereiche Nahrungsbezeichnung, räumliche Orientierung und
Beziehungs-/Kontaktpflege, die als Situationen anfällig für alemannische Einflüsse
sind. In ihnen findet Kommunikation mit Sprechern statt, die in meiner apriorischen
Situationseinschätzung als mögliche Alemannen angenommen werden. Zur
Situationsbeschreibung gehört demnach auch eine Vorvermutung über den
Gesprächspartner, daß dieser perzeptiv auf die Verwendung von Alemannisch
eingestellt sein könnte. Ein Auslöser für dieses Verhalten ist wahrscheinlich die -
auch von mir gemachte - Erfahrung, daß man häufig mit Nachfragen und
kommunikativem Mehraufwand rechnen muß, wenn man der auf Alemannisches
gerichteten Erwartungshaltung des Gegenübers mit Bairisch begegnet (z.B. in der
Mensa, wenn Hühnchen ausgegeben wird und man dann Hendl verlangt, wird das
nicht verstanden, auch wenn keine anderen Störungen des Kanals vorliegen). Man
unterliegt einem Anpassungsdruck, der durch die jeweilige Situation erzeugt wird
und der durch Sanktionen dazu führt, daß man sich sprachlich anpaßt. Sanktionen
können z.B. die Reaktionen des Hörers sein, die sein Nichtverstehen begleiten und das
sich daraus auf Sprecherseite entwickelnde Nicht-Verstanden-Fühlen mit der
Notwendigkeit, alles wiederholen zu müssen - mit der Gefahr, daß der
Kommunikationsakt erneut scheitert.
Obwohl sich dies nicht direkt aus meinen Beobachtungen ablesen läßt, vermute
ich, daß es eine zeitliche Reihung beim Erwerb der neuen Ausdrucksmöglichkeiten
gibt: Ganz am Anfang stehen die Elemente, die für die aktuelle Lebensbewältigung
dringend benötigt werden. Dazu zählt die abweichende Lexik, die sich, wie erwähnt,
im Bereich Lebensmittelbezeichnungen/Einkaufen besonders bemerkbar macht.
Ferner zählt dazu die räumliche Orientierung, die ebenfalls ein sehr primäres
Bedürfnis zu sein scheint. Schließlich schließt sich diesen beiden Bereichen zeitlich
der Erwerb von Ausdrücken an, die mehr für die soziale Orientierung benötigt
werden, worunter die emotional geladenen Qualitätsbezeichnungen und die
Schimpfwörter fallen. Am Anfang steht demnach die Sicherung und Vereinfachung
des 'Überlebens', dem die Gestaltung der sozialen Beziehungen und das Ausdrücken
von Gefühlen folgen (vgl. Steger 1976).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-147-

Die beschriebene Situation hat gewisse Ähnlichkeiten mit der von


Auswanderern, die lange Jahre in fremdsprachiger Umgebung leben und wieder auf
ihre Muttersprache zurückgreifen müssen. Es ist leicht zu hören, wie stark sich die
ursprünglich erlernte Sprache verändert hat und wie groß die Unsicherheiten beim
Sprechen geworden sind: Im lexikalischen Bereich fehlen Wörter, die Phonologie ist
dauerhaft und systematisch verändert (z.B. bei der Aussprache des r durch lange in
Amerika lebende Deutschsprachige).
Die Muttersprache zeigt sich hier als verlernbar. Dieser Prozeß ist sicher
schwächer ausgeprägt, wenn man - wie ich - unter der gleichen Dachsprache in eine
solche diglossische Situation gestellt ist, d.h. wenn nicht zwei verschiedene Sprachen
interferieren, sondern nur zwei relativ nah verwandte Dialekte, die darüber hinaus
von weitgehend gemeinsamen Standardsprachen überwölbt sind. Ich kann an dieser
Stelle nur vermuten, daß trotzdem in beiden Fällen ähnliche Prozesse vorliegen, wenn
die Kompetenz für die Muttersprache schwindet.
Ich möchte dafür ein Beispiel anführen, das diesen Kompetenzverlust auch bei
mir nachweist. Als ich kürzlich mit meinem Bergsteiger-Freund telefonierte, kam das
Gespräch auf Pilze und deren zur Zeit günstige Kondition; er sagte zu mir: „Ah,
prima, dann gehen wir Schwammerln brocken.“ In Amerika nennt man den Vorgang
mushroom hunting, auch daß man Pilze fängt, ist mir - wenn auch scherzhaft -
schon begegnet, aber es war mir vollständig entfallen, daß man sie in Österreich
brockt. Und ich wäre von mir aus auch nicht mehr auf die Idee gekommen, diese
Wendung zu benutzen. Das Beispiel steht nicht allein. In zunehmendem Maße gerate
ich ins Schlingern, wenn mich andere als Experten für (angeblich) österreichische
Ausdrücke befragen: Was ist perlustrieren? Nur durchsuchen oder gleich auch noch
verhaften? Habe ich jemals weiters für ferner benützt oder haben es mir nur meine
deutschen Chefs ausgetrieben? Kann ich inzwischen ein au und ein ei sprechen oder
sage ich immer noch ees für "Eis" und ooto für "Auto"?
Meine sprachlichen Verwandlungen sind jedenfalls für meine Umwelt und für
mich selbst wahrnehmbar geworden, was aber nicht bedeutet, daß der eine
Kompetenzverlust durch eine wachsende Kompetenz auf der anderen Seite
ausgeglichen würde: Meine Tochter, die mich fragte, worüber ich in Graz sprechen
wolle, sagte: "Ach so, du meinst die Art wie du mit dem Josef (=Bauernsohn aus der
Umgebung) redest - ach Papa, das ist ja soooo peinlich!!"

Literatur
Bechert, Johannes/Wildgen, Wolfgang 1991. Einführung in die
Sprachkontaktforschung. Darmstadt.
Besch, Werner/Löffler, Heinrich 1977. Alemannisch. (=Dialekt/Hochsprache -
kontrastiv. 3.) Düsseldorf.
Bad. Wb. Badisches Wörterbuch. Hrsg. v. E. Ochs und K.F. Müller. Bd 1ff. Lahr
1925ff.

Bernhard Kelle: Der Verlust der Muttersprache:


Beobachtungen am 'Auslandsösterreichischen
-148-

Fishman, Joshua A. 1975. Soziologie der Sprache. (=hueber hochschulreihe. 30.)


München.
Jakob, Karlheinz 1985. Dialekt und Regionalsprache im Raum Heilbronn. Zur
Klassifizierung von Dialektmerkmalen in einer dialektgeographischen
Übergangslandschaft. (= Studien zur Dialektologie in Südwestdeutschland. 3. 1.)
Marburg.
Kloss, Heinz 1976. Über 'Diglossie'. In: Deutsche Sprache. 4. 313-323.
Kremnitz, Georg 1987. Diglossie/Polyglossie. In: Ammon, Ulrich/Dittmar,
Norbert/Mattheier, Klaus J. (Hgg.) Soziolinguistik. (=HSK 3.1.) Berlin, New York.
208-218.
Muhr, Rudolf (Hg.) 1993. Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und
seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
Schrambke, Renate 1993. Planung und Durchführung der Erhebungen. In: Steger,
Hugo/Schupp, Volker (Hgg.) Einleitung zum Südwestdeutschen Sprachatlas.
Marburg. 31-59.
Schwäb. Wb. Schwäbisches Wörterbuch. Hrsg. v. H. Fischer u. W. Pfleiderer. 6 Bde.
Tübingen 1904-1936.
Steger, Hugo 1976. Sprechintentionen. Paper. Freiburg.
Steger, Hugo 1991. Alltagssprache. Zur Frage nach ihrem besonderen Status in
medialer und semantischer Hinsicht. In: Raible, Wolfgang (Hg.) Symbolische
Formen, Medien, Identität. Tübingen. 55-112.
Steger, Hugo/Kelle, Bernhard 1991. Der Südwestdeutsche Sprachatlas (SSA). In:
Veith, Werner H./Putschke, Wolfgang (Hgg.) Sprachatlanten des Deutschen.
Laufende Projekte. (= Studien zum Kleinen Deutschen Sprachatlas. 2.) Tübingen.
201-221

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.149 -157

Manfred Glauninger

(Graz)

Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich?


Möbel-Bezeichnungen in Werbekatalogen und im
österreichischen Deutsch.

1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit wird im theoretischen Kontext des Modells der lin-
guistischen Plurizentrizität1, anhand eines kleinen Ausschnitts aus der sprachlichen
Realität Österreichs versucht, die Inkongruenz zwischen einem monozentrisch aus-
gerichteten Standard auf der einen und der österreichischen Variante auf der ande-
ren Seite näher zu untersuchen.
Zu diesem Zweck habe ich einige Bezeichnungen und Ausdrücke für Möbel
und Einrichtungsgegenstände, die ich in Katalogen, Werbebroschüren und Flugblät-
tern von insgesamt zwölf verschiedenen Einrichtungshäusern und Möbelhändlern im
Zeitraum von Oktober 1994 und März 1995 gefunden habe, mit den Ergebnissen
einer von mir durchgeführten Umfrage verglichen und so auf ihre Entsprechung
hinsichtlich eines als österreichisch empfundenen Sprachgebrauchs empirisch unter-
sucht. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit sich bundesdeutsche Möbel-
bezeichnungen in Österreich ausbreiten bzw. bereits ausgebreitet haben, ohne sich
dabei von Einwürfen abhalten zu lassen, die meinen, die Beschäftigung mit dem
österreichischen Deutsch gleiche "Sandkastenspiele[n]" an der Sahne [...] Schlag-
obers-Front"2.
Zum Verhalten der Österreicher gegenüber den bundesdeutschen Einflüssen
sagt J. Ebner (1980:212):

1
Vgl. dazu Clyne (1989:359: "A national variety [...] is usually a variety of a standard language [...]
identified with a particular nation - by both members of that nation and outsiders [...]. In order to
exclude 'non-nationals', this is essential." Und an anderer Stelle (1992:125): "The German [in
Österreich] used by the highest ranking personalities in government, academic and the public
service is distinctly Austrian [...]."
2
Scheuringer (1988:65). Demgegenüber v. Polenz: (1988) "Will man nun bestimmte sprachliche
Varianten als s t a a t s n a t i o n a l e [Sperrdruck übernommen] kennzeichnen, so genügt als
Kriterium nicht ihr bloßes Vorkommen in einem Staat x; sie müssen auch x-typisch sein im Sinne der
sprachlichen Symptomfunktion, als mögliche Mittel (interner und externer) Identifizierung der
Sprachbevölkerung von x."
-150-

"Der Österreicher verhält sich gegenüber den Einflüssen des Binnendeutschen


sehr verschieden. Bei einer Gruppe von Wörtern gebraucht er die binnendeutsche
und die österreichische Form. Die binnendeutsche gilt als moderner und vor-
nehmer. Man gebraucht sie deshalb in gewählter Ausdrucksweise oder Deutschen
gegenüber, z. B. Schrank statt Kasten, [...] Stuhl statt Sessel (die binnendeutsche
Bedeutung für Sessel, "bequemer, gepolsteter Stuhl", kann sich in Österreich nicht
durchsetzen, weil hier Sessel synonym zu Stuhl ist; der binnendeutsche Sessel
heißt hier Fauteuil."
Mir geht es dabei um die Untersuchung eines Ausschnitt des österreichischen
Deutsch, um eine "Momentaufnahme" des Sprachzustandes in Graz, in einem Raum,
wo "eine von Wien ausgehende Koiné [...], an der gut 80 % der österreichischen Be-
völkerung mehr oder weniger teilhat"3, zumindest ansatzweise den Bezugsrahmen
für gesamtösterreichische Repräsentation schafft.

2. Die Untersuchung
Es lag nahe, die Behauptungen Ebners genauer zu überprüfen, weil ich beob-
achtet hatte, daß man im Register vieler Möbelkataloge z. B. keinen "Sessel" (im Sinne
von "Stuhl") finden konnte. Die Untersuchung erfolgte mittels eines Fragebogens, der
aus drei Teilen/Fragestellungen bestand:
1. Ein Blatt mit Abbildungen verschiedener Möbelstücke (Sessel, Kasten, Fauteuil,
Polster, Lampe), das den Gewährspersonen vorgelegt wurde. Sie wurden danach
gefragt, wie sie die abgebildeten Gegenstände bezeichnen.
2. Eine weitere Fragestellung bezog sich darauf, was für sie diese Ausdrücke bedeu-
ten bzw. ob Bedeutungsunterschiede bestehen.
3. Eine Liste mit verschiedenen Möbelbezeichnungen, die danach abgefragt wurde,
welche der Bezeichnungen als "österreichisch" anzusehen sei. Eine Zusatzfrage
bezog sich darauf, was die Gewährspersonen mündlich in einer öffentlichen Si-
tuation verwenden und welchen Ausdruck sie schreiben würden, wenn sie z.B.
an ein Amt schrieben.4
Insgesamt wurden 92 Personen befragt, davon waren 48 Männer und 44
Frauen, wobei darauf geachtet wurde, daß auf die drei gewählten Alterskategorien
ungefähr dieselbe Anzahl von Gewährspersonen entfielen. Es waren dies in der Al-
terskategorie bis 30 Jahre 12 Männer und 14 Frauen, in der Alterskategorie 30 bis 60

3
Muhr (1989:78).: Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache - Gespaltenes Bewußtsein -
Gespaltene Identität. In: IDE / Klagenfurt 2 (1989), S. 78.
4
Für Untersuchung orientierte ich mich uns an der Funktion des Standards, überregionale
Kommunikation zu ermöglichen, das heißt "in einer öffentlichen Kommunikationssituation mit der
Intention geäußert [zu werden], überregional verständlich zu sein" und der Erfüllung des Kriteriums,
auch tatsächlich überregional verstanden zu werden, und das unabhängig vom sozialen Rang des
Sprechers. (Zit. nach: Rudolf Muhr: Deutsch in Österreich - Österreichisch: Zur Begriffsbestimmung
und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In: Grazer Arbeiten zu Deutsch als Fremd-
sprache und Deutsch in Österreich 1 (1987, 21990), S. 7.).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-151-

Jahre 19 Männer und 18 Frauen sowie in der Alterskategorie über 60 Jahre 17


Männer und 12 Frauen. Das Prospektmaterial stammte von insgesamt 12 verschiede-
nen Firmen und umfaßte sowohl komplette Kataloge als auch einzelne Blätter und
Werbebroschüren kleineren und größeren Umfangs, in denen ich insgesamt 250
Belege der untersuchten Ausdrücke fand.5 Sie bildeten die Basis der prozentualen
Auswertung.

3. Die Untersuchungsergebnisse im einzelnen


3.1 Die Bezeichnungen "Sessel / Stuhl"
Ein Blick in verschiedene Wörterbücher6 ergibt, daß es hinsichtlich Sessel /
Stuhl zwischen dem österreichischen und dem bundesdeutschen Deutsch eine
Teilsynonymie gibt, die immer wieder zu Verwirrung führt

SESSEL STUHL
Österreich für 1 Person konzipiertes, auch: bequemes, außerge-
vierbeiniges Sitzmöbel ohne wöhnliches Sitzmöbel
Polsterung/Komfort, mit
Rückenlehne
Deutschland für 1 Person konzipiertes, für 1 Person konzipiertes, vier-
vierbeiniges Sitzmöbel mit beiniges Sitzmöbel ohne Polste-
obligatorischem Komfort rung
(Polsterung, Armlehne) und
Rückenlehne

Diese bedeutungsmäßige Verteilung der Bezeichnungen Sessel / Stuhl hebt sich


in Zusammensetzungen und bei Kompositabildungen wieder auf: Rollstuhl, Schau-
kelstuhl, Lehrstuhl, Liegestuhl, Heiliger Stuhl, elektrischer Stuhl, Sessellift, aber auch
Sesselkleber oder sich zwischen alle Stühle setzen und anderes mehr werden in
Deutschland und Österreich im Standard einheitlich verwendet.
Allerdings: Wer in einem Katalog eines österreichischen Möbelhauses die im In-
dex unter dem Stichwort "Sessel" angeführten Seiten aufblättert, wird zu seiner Ver-
wunderung durchwegs das finden, was für einen Österreicher nie und nimmer ein

5
Es handelte sich Prospekte der folgenden Firmen: Bettenreich Dibelka, Büttinghaus, Gröbl Möbel,
Hellweg, Ikea Österreich, Imo, Kika, Leiner, Lutz, Mobelix und Möma.
6
Es wurden folgende Wörterbücher verwendet:: Jakob Ebner, Wie sagt man in Österreich; DUDEN -
Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hrsg. u. bearb. v.
Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter Leitung v. Günther
Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1980; Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als
Fremdsprache. Das neue einsprachige Wörterbuch für Deutschlernende. Hrsg. v. Dieter Götz,
Günter Haensch u. Hans Wellmann. In Zusammenarbeit mit der Langenscheidt-Redaktion. Leitende
Redakteure Vincent J. Docherty u. Günther Jehle. Berlin, München, Leipzig [u. a.]: Langenscheidt
1993; Österreichisches Wörterbuch. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und
Kunst. 35., völlig neu bearb. Aufl. Wien: Bundesverlag 1979 sowie 36., überarbeitete Aufl. 1985.

Manfred Glauninger: Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich?


Möbelbezeichnungen in Werbekatalogen und im österreichischen Deutsch.
-152-

Sessel ist, sondern ein Fauteuil. Die Verwirrungen, die sich daraus ergeben können,
lassen sich leicht ausmalen: Man stelle sich vor, bei der Warenausgabe eines Grazer
Möbelhändlers wird die Abholung des gemäß Werbebroschüre bestellten Sessels
urgiert, bis das Lagerpersonal verzweifelt mitteilt, unter dem genannten
Kundennamen sei nur ein Polsterstuhl bzw. ein Fauteuil abholbereit.
Diese an und für sich schon komplizierte Situation wird durch marketingstrate-
gisch - bzw. werbewirtschaftlich bedingte "Pseudosynonymie" nicht gerade einfacher.
So fand ich z. B. auf Katalogseiten neben sechs Sesseln im bundesdeutschen Sinn
dann doch wieder ein Fauteuil, mit einer andersfärbigen Polsterung als einzigem
Unterscheidungsmerkmal. Und wenn ein Grazer Möbelhaus zwischen mehreren
überraschenderweise "österreichisch" bezeichneten Sesseln dann als "Preishit des
Monats" doch wieder den Bauernstuhl anbietet, entbehrt das nicht einer gewissen -
wohl unbeabsichtigten - kabarettistischen Qualität.

Was ergibt die Untersuchung hinsichtlich der Verwendung der Bezeichnungen


Sessel / Stuhl / Fauteuil ?

Tabelle 1: Ergebnisse der Befragung zu den Ausdrücken "Stuhl/Sessel"7


SESSEL STUHL beides
Werbematerial 5% 95% -
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmaterial 70% 30 % -
mündl. Standard 58 % 22 % 20 %
schriftl. Standard 56 % 34 % 10 %
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 86 % 9% 5%

Es zeigt sich, daß das untersuchte Werbematerial diverser Möbel- und Einrich-
tungshäuser in hohem Ausmaß der bundesdeutschen Norm folgt. Ungepolsterte,
vierbeinige Sitzmöbel mit Rückenlehne, auf denen 1 Person Platz findet, werden dort
fast ausschließlich mit der Bezeichnung Stuhl bedacht. Demgegenüber ergibt die Be-
fragung der Gewährspersonen unserer Erhebung anhand von entsprechendem Bild-
material zu 70 % die Bezeichnung Sessel. 58 % schließen für sich in der mündlichen,
56 % in der schriftlichen Standardsprache die Verwendung des Wortes Stuhl für
dieses Möbelstück völlig aus und 86 % aller Befragten nennen Sessel "österreichisch".
Die semasiologisch ausgerichtete Befragung nach den Merkmalen von "Stuhl"
bzw. "Sessel" ergibt (vgl. Tab. 2.), daß 48% der Befragten mit Stuhl ein außerge-
wöhnliches Sitzmöbel (spezielle Funktion, Bequemlichkeit) verbinden, für 52 % steht
dieses Wort synonym zu Sessel.

7
Als Bezeichnung eines für 1 Person konzipierten Sitzmöbels ohne Polsterung/Komfort, mit
Rückenlehne.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-153-

Tabelle 2: "SESSEL" / "STUHL" haben welche Bedeutungsmerkmale?


Ja Nein
SESSEL / STUHL sind Synonyme 52 % 48 %8

3.2 Die Bezeichnungen "Fauteuil / Polsterstuhl /


Polstersessel"
Deutlicher zeigt sich die Diskrepanz zwischen der im Werbematerial dominie-
renden, bundesdeutschen Variante und dem österreichischen Deutsch bei der Be-
zeichnung für gepolsterte, bequeme Sitzmöbel, die 1 Person Platz bieten.

Tabelle 3: Ergebnisse der Befragung zur Bezeichnung eines "gepolsterten,


bequemen Sitzmöbels, das 1 Person Platz bietet, Rücken- und Armlehne obligatorisch"
Fauteuil Sessel div. andere9
Werbematerial 15 % 80% 5%
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmate- 74% - 26%
rial
mündl. Standard 75% - 25%
schriftl. Standard 63% - 37%
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 66 % - 34%

Die Umfrage ergibt hier onomasiologisch und spontan mit 74% das Wort
Fauteuil, der Rest nennt Polsterstuhl oder Polstersessel. Demgegenüber findet sich im
Werbematerial in dieser Bezeichnungsfunktion zu 80 % das bundesdeutsche Sessel,
nur knappe 15 % der Eintragungen lauten auf Fauteuil. Zu beachten ist auch die
unterschiedliche Bereitschaft, das Wort "Fauteuil" schriftsprachlich (63%) und im
mündlichen Standard (75%) zu verwenden.
Während sich jedoch für ein derartiges Möbelstück immerhin noch jeder dritte
Grazer schriftlich, jeder vierte mündlich die Bezeichnung Polsterstuhl oder Polster-
sessel unter Umständen vorstellen kann, wird die Bezeichnung "Sessel" in diesem Fall
von den Befragten zu 100% abgelehnt, während in den Katalogen gerade diese am
häufigsten vorkommt. Daran zeigt sich, daß die Befragten den bundesdeutschen
Sprachgebrauch (noch) nicht übernommen haben. Allerdings ergab die altersbe-
zogene Auswertung, daß jene 2/3 der Gewährspersonen, die Fauteuil als typisch
österreichisch empfinden, vor allem Grazerinnen und Grazer im Alter von über 30
Jahren sind. Die anderen 34%, die Polstersessel / Polsterstuhl als "österreichisch"
nennen, rekrutieren sich nahezu ausschließlich aus der Altersgruppe unter 30 Jah-
ren, was darauf hindeutet, daß auch hier der linguistische Erosionsprozeß der all-
mählichen Angleichung an den bundesdeutschen Sprachgebrauch bereits begonnen

8
(Stuhl impliziert Plus an Bequemlichkeit und Funktion.)
9
Dazu gehörten z.B. "Polsterstuhl" "Polstersessel" u.a.

Manfred Glauninger: Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich?


Möbelbezeichnungen in Werbekatalogen und im österreichischen Deutsch.
-154-

hat, an deren Ende auch in Österreich - analog zum bundesdeutschen Lexikon - das
Wort Fauteuil als veraltet angesehen wird.
3.3 Die Bezeichnungen "Kasten / Schrank"
Wie steht es weiters um die Verwendung des erst seit spätmittelhochdeutscher
Zeit im heutigen Sinne verwendeten Wortes Schrank im Verhältnis zu Kasten?
Die Primärbedeutung von Kasten ist in der Bundesrepublik Behälter (z. B. für
die Aufbewahrung und den Transport von Getränkeflaschen). Diese Bedeutung wird
in Österreich vom Wort Kiste abgedeckt. Ein "Kasten" ist in Österreich hingegen das,
was man in Deutschland einen "Schrank" nennt. Ein "höheres, kastenartiges, mit
Türen versehenes, meist verschließbares Möbelstück zur Aufbewahrung von Klei-
dern, Geschirr, Büchern u. ä.". Im ÖWB wird dieser Ausdruck mit Asterisk versehen
und steht somit in dieser Bedeutung als "bundesdeutsch" dem österreichischen Kasten
gegenüber. Ähnlich wie bei Sessel / Stuhl wird diese Opposition bei Komposita und
im Bereich der metaphorischen Verwendung wieder aufgehoben. In Österreich gibt
es daher beispielsweise auch den Geldschrank oder Wandschrank und die Zusam-
mensetzungen Geigenkasten, Werkzeugkasten, Karteikasten. Und ein baufälliges
Haus ist hierzulande wie in Deutschland ein alter Kasten, ebensolches gilt für phra-
seologische Ausdrücke wie etwas auf dem Kasten haben.

Tabelle 4: Ergebnisse der Befragung zur Bezeichnung eines "großen, hochgebauten


Möbelstückes mit verschließbaren Türen, in dem man Kleidung aufbewahrt."
Kasten Schrank beides
Werbematerial 4% 96% -
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmaterial 70% 30% -
mündl. Standard 56% 24% 20%
schriftl. Standard 48% 30% 22%
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 77% 18% 5%

Auf eine entsprechende Abbildung hin befragt, verwenden 70 % der Grazerin-


nen und Grazer das Wort Kasten, 30 % die Bezeichnung Schrank.
Im mündlichen Standard bleiben 56 % obligatorisch bei Kasten, im schriftlichen
nur mehr 48 %. Auf dieser Sprachebene wird von 30 % Schrank verwendet, 22 %
schreiben beide Wörter. Und für 77% ist die Bezeichnung Kasten, für 18% aber
Schrank österreichisch. Nach den Bedeutungsmerkmalen befragt (vgl. Tab. 5), geben
48% der Befragten an, daß beide Ausdrücke synonym sind, während für 52% mit
Schrank "ein Plus an Größe impliziert ist" bzw. darauf verwiesen wird, daß dieser
"nicht freistehend, sondern fix montiert, 'eingebaut', ist (z. B: als Wandschrank)".

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-155-

Tabelle 5: "Kasten / Schrank" haben welche Bedeutungsmerkmale?


Kasten / Schrank sind Synonyme Ja Nein
48% 52 %

Im Vergleich dazu führt die Bezeichnung Kasten im Werbematerial ein völliges


Randdasein. Nur 4 % der Eintragungen konnten darauf lautend erhoben werden. Sie
sind beschränkt auf lokale, kleinere Möbelhäuser. Denn in den Katalogen der
österreichweit operierenden Einrichtungsketten wird man keinen Kasten im be-
schriebenen Sinne finden, weder im Register noch im Bildteil, und das, obwohl - wie
gezeigt wurde - sowohl ÖWB als auch Umfragedaten dieses Wort als österreichische
Primärbezeichnung ausweisen. Der Aufdruck "Österreich" unter dem Logo eines in
ganz Europa agierenden Möbelhändlers dürfte sich somit nur auf die in österrei-
chischen Schillingen angeschriebenen Preise beziehen.
3.4 Die Bezeichnungen "Polster / Kissen"
Eine ähnliche Situation ergibt sich in bezug auf Polster und Kissen. Auch bei
diesen Ausdrücken besteht zwischen dem österreichischen Deutsch und dem Bun-
desdeutschen Teilsynonymie. Der Ausdruck Polster (der) bezeichnet in Österreich
sowohl "eine mit weichem Material gefüllte Stoffhülle, die zur Kopfunterlage dient"
(bdt. "Kissen") als auch "eine mit Stoff- oder Lederbezug versehene, elastische Mö-
belauflage" (Möbelpolster/Sitzauflage). Polster (das) hat in der BRD nur die zweite
Bedeutung, für die erste steht Kissen.
Es überrascht inzwischen wohl nicht mehr, wenn die Befragung auch hier das-
selbe Bild ergibt, wie bei den bereits zuvor untersuchten Ausdrücken. Zwischen dem
Sprachgebrauch der Kataloge - wo zu 76 % das Wort "Kissen" vorkommt - und dem
Sprachbewußtsein, demzufolge zu 100% das Wort "Polster" als "österreichisch" be-
trachtet wird, besteht faktisch eine völlige Nichtübereinstimmung. Die detaillierten
Daten finden sich in Tab. 6.

Tabelle 6: Ergebnisse der Befragung zur Bezeichnung einer "Stoffhülle, die mit weichem
Material (z. B. Federn) gefüllt ist und als Kopfunterlage dient"
Polster Kissen beides
Werbematerial 24% 76% -
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmaterial 78% 22% -
mündl. Standard 72% 18% 10%
schriftl. Standard 53% 28% 19%
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 100% 0% 0%

Auffallend ist auch, daß deutlich weniger Gewährspersonen - nur ca. die Hälfte
- bereit sind, das Wort "Polster" auch schriftsprachlich zu verwenden. Dies ist ein
Zeichen dafür, daß der eigenen Sprache ein niedrigerer Status zugesprochen wird,

Manfred Glauninger: Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich?


Möbelbezeichnungen in Werbekatalogen und im österreichischen Deutsch.
-156-

denn der bundesdeutsche und der schriftsprachliche Ausdruck bzw. der österrei-
chische und mündlich gebrauchte fallen jeweils zusammen.
3.5 Die Bezeichnungen "Lampe / Leuchte" und "Abwasch /
Spüle"
Zum Abschluß möchte ich noch zwei besonders markante Fälle der Diskrepanz
zwischen der im Werbematerial praktizierten bundesdeutschen Norm und der
sprachlicher Realität in Österreich herausgreifen.
Für "elektrische Geräte, die Licht erzeugen und mit nur einer Glühbirne ausge-
stattet sind", findet sich in Katalogen und Broschüren zu 80 % der ursprünglich aus
der technischen Fachsprache stammende und nun in der Bundesrepublik bereits
standardisierte Begriff Leuchte, und zwar als Hänge-, Tisch-, Küchenleuchte und
Schreibtischleuchte etc.
Meine Befragungsdaten weisen demgegenüber mit 96 % als spontane Bezeich-
nung von Bildmaterial das Wort Lampe aus. Die Gewährspersonen nannten dieses
Wort zu über 90% als dasjenige, das sie standardsprachlich mündlich und schriftlich
verwenden würden. Denn der Gebrauch von Leuchte beschränkt sich in Österreich
auf die metaphorische oder ironische Bezeichnung für einen Menschen mit beson-
derer intellektueller Qualität. Die Sprache der Möbelkataloge ist in diesem Punkt ge-
radezu "exterritorial".

Tabelle 7: Ergebnisse der Befragung zur Bezeichnung von "elektrischen Geräten,


die Licht erzeugen und mit nur einer Glühbirne ausgestattet sind"
Lampe Leuchte beides
Werbematerial 20% 80% -
Spontane Bezeichnungen anhand von Bildmaterial 96% 4% -
mündl. Standard 95% 5% -
schriftl. Standard 91% 6% 3%
Welche Bezeichnung ist "österreichisch"? 100% 0% 0%

Damit scheint für Lampe ein Schicksal vorgezeichnet, das sich für den im ÖWB
verzeichneten Ausdruck Abwasch schon erfüllt hat: In keinem einzigen Exemplar der
von mir untersuchten Werbebroschüren, Flugblätter und Kataloge wird die Be-
zeichnung Abwasch verwendet. Stattdessen findet man dort in der typisch österrei-
chischen Küche neben dem Schrank, der Küchenleuchte und den Stühlen zu guter
letzt doch noch die obligatorische Spüle, die man sowohl im ÖWB als auch in der
Standardsprache des Österreichers vergeblich suchen wird, weil sie einfach unge-
bräuchlich ist.

4. Zusammenfassung
Mit dieser kleinen Untersuchung wollte ich anhand einiger weniger Beispiele
zeigen, daß im Werbematerial, das Einrichtungs- und Möbelhäuser in Graz zur Ver-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-157-

teilung bringen, die Waren überwiegend nicht mit jenen Bezeichnungen angeführt
sind, die man in Graz als Standard spricht und schreibt. Es wird - auch von aus-
schließlich am lokalen Markt präsenten Möbelhäusern - in überproportional hohem
Maße die bundesdeutsche Norm verwendet. Das österreichische Lexikon dient - im
bescheidenen Ausmaß - wohl primär der Konsumstimulation durch Bezeichnungs-
variation, die Artikelvariation suggerieren soll. Da sich jedoch die vermeintliche
Synonymie einzelner österreichischer und bundesdeutscher Wörter bei differen-
zierter Analyse als komplexer erweist, als gemeinhin (d. h. aus monozentrischer Per-
spektive) in bezug auf "Austriazismen" angenommen wird, kann es - man denke an
Sessel / Fauteuil / Stuhl - durchaus zu handfesten Mißverständnissen oder auch
Phänomenen wie dem "semantic muddle"10 kommen.
Es ist anzunehmen, daß die Diskrepanz zwischen der schriftsprachlichen Be-
vorzugung bundesdeutscher Normen, die im Gegensatz zu österreichischen Stan-
dardvarianten und dem realen Sprachgebrauch steht, weder auf Graz noch die Be-
zeichnungen in Möbelkatalogen begrenzt ist. Die Gründe oder Motive für diesen
permanenten Bruch der sprachlichen und auch sozialen Konventionen dürfte im Be-
reich der nichtgefestigten sprachlichen Identität der Österreicher bzw. im Kontext
der sozialpsychologischen und sprachpolitischen Situation zu suchen sein, die nach
Clyne (1992) zwischen "D(ominanten) und A(nderen) Nationalvarietäten" innerhalb
plurizentrischer Sprachen weltweit zu beobachten ist.11
Man sollte daher weder voreilig von "Sprachimperialismus" oder von
"Sandkastenspiele[n] an der "Sahne-[...] Schlagobersfront"12 sprechen, noch mit
Feindbildern wie dem "häßlichen Deutschen" bzw. mit quasi-biologistischen Ver-
schleierungstheorien operieren, wonach sich "diese binnendeutschen Einflüsse heute
gewissermaßen als natürliche Vorgänge" vollzögen. Nichts davon trägt zur wis-
senschaftlich relevanten Beschreibung der Situation bei. Gerade eine solche aber -
abseits von Ideologisierung, Polemisierung, Pauschalierung und Simplifizierung -
hätte sich das österreichische Deutsch verdient.
Dies gilt umso mehr, als sich aus multinationalen, global-ökonomisch-poli-
tischen Organisationsformen und der elektronischen Kommunikationsrevolution
sowie aus dem Druck des US-amerikanischen Englischen, linguistische
Nivellierungstendenzen andeuten, deren möglicherweise dramatische Konsequenzen
für quantitativ unbedeutende, regional begrenzte Sprachen noch gar nicht abzusehen
sind.

10
Clyne (1989).
11
Vgl. dazu M. Clyne (1993:5): Die österreichische Nationalvarietät des Deutschen im wandelnden
internationalen Kontext.
12
Vgl. dazu Schmid (1990) und Scheuringer (1989).

Manfred Glauninger: Wie "bundesdeutsch" wohnt Österreich?


Möbelbezeichnungen in Werbekatalogen und im österreichischen Deutsch.
-158-

Literatur

CLYNE, Michael (1989): Pluricentricity: National Variety. In: Status and Function of
Languages and Language Varieties. Hrsg. v. Ulrich Ammon. Berlin: de Gruyter. S.
357-371.
CLYNE, Michael (1992): German as a pluricentric language. Differing Norms in
Different Nations. In: Ders. (ed.): Pluricentric Languages. Berlin u. New York: de
Gruyter. S. 117-149.
CLYNE, Michael (1993): Die österreichische Nationalvarietät des Deutschen im wan-
delnden internationalen Kontext. In: Muhr (1993), S. 1-6.
DRESSLER, Wolfgang U. u. WODAK, Ruth (1983): Soziolinguistische Überlegungen
zum österreichischen Wörterbuch. In: Parallela. Akten des 2. Österreichisch-
Italienischen Linguistentreffens, Roma, 1.-4.2.1982. Hrsg. v. M. Dardano. [u. a.]
Tübingen: Narr, S. 247-260.
EBNER, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2., vollst. überarb. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1980. (=
Duden Taschenbücher.8.)
MOSER, Hans (1990): Deutsche Standardsprache - Anspruch und Wirklichkeit. In:
Tagungsbericht der IX. Internationalen Deutschlehrertagung Wien 31.7. -
4.8.1989. Wien: Internationaler Deutschlehrerverband, S. 17-30.
MUHR, Rudolf (1982): Österreichisch. Anmerkungen zur linguistischen Schizo-
phrenie einer Nation. In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8 , Bd 1,
S. 306-319.
MUHR, Rudolf (1989): Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache - Gespal-
tenes Bewußtsein - Gespaltene Identität. In: IDE / Klagenfurt 2 (1989), S. 74-87.
MUHR, Rudolf (1987/1990): Deutsch in Österreich - Österreichisch: Zur Begriffs-
bestimmung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In: Grazer
Arbeiten zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch in Österreich 1 (1987,
21990), S. 1-23.

MUHR, Rudolf (1984): Über das Für und Wider der Kritik am österreichischen Wör-
terbuch. In: Informationen zur Deutschdidaktik 4 (1984), S. 134-138.
MUHR, Rudolf (1993): Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und
seinen nachbarsprachlichen Bezügen. Wien.
ÖSTERREICHISCHES WÖRTERBUCH. Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für
Unterreicht und Kunst. 35., völlig neu bearb. Aufl. Wien: Bundesverlag 1979
sowie 36., überarbeitete Aufl. 1985.
POLENZ, Peter von (1988): "Binnendeutsch" oder Plurizentrische Sprachkultur? Ein
Plädoyer für Normalisierung in der Frage der "nationalen" Varianten. In: ZGL 16,
S. 198-218
SCHEURINGER, Hermann (1988): Powidltatschkerl oder Die kakanische Sicht aufs
Österreichische. In: Jb.f.Intern. Germanistik 1, S. 63-71.
SCHMID, Georg (1990): ... sagen die Deutschen. Annäherung an eine Geschichte des
Sprachimperialismus. In: Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges
Verhältnis. Hrsg. v. Oliver Rathkolb und Georg Schmid. Salzburg: Otto Müller. S.
23-35.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 158-165

Ingo Reiffenstein

(Salzburg)

Das Österreichische Wörterbuch: Zielsetzungen


und Funktionen

1. Neubeginn 1951
Das ”Österreichische Wörterbuch” trat 19511 an die Stelle der bis 1938 für die
Schulen verbindlichen österreichischen ”Regeln für die deutsche Rechtschreibung
nebst Wörterverzeichnis”; dieses Buch war zuerst 1879 (ein Jahr vor dem Duden!)
unter dem Titel ”Regeln und Wörter-Verzeichnis für die deutsche Rechtschreibung”
im k.k. Schulbücher-Verlag in Wien erschienen.2 Der neue Buchtitel entsprach einem
neuen bzw. einem erweiterten Konzept und Anspruch: nicht mehr nur Wörter-
verzeichnis als ergänzender Belegteil zu einem orthographischen Regelwerk, sondern
Wörterbuch der Sonderausprägung des Deutschen in Österreich. Es blieb zwar einer-
seits ”in erster Linie ein Rechtschreibbuch” (S. 5), aber es wollte zugleich auch ”bis
zu einem gewissen Grad [... ein] Stilwörterbuch” sein (S. 7*), ”ein Wörterbuch der
guten, richtigen deutschen Gemeinsprache”, allerdings unter besonderer Be-
rücksichtigung der österreichischen Besonderheiten. Zu diesem Zweck wurden auch
”zahlreiche allgemein verwendete Wörter der österreichischen Umgangssprache und
der österreichischen Mundarten” aufgenommen (S. 6*).3

2. Die 35. Auflage


1979 erschien (28 Jahre nach der 1. Auflage!) als 35. Auflage die erste tief-
greifende Neubearbeitung und Erweiterung des Österreichischen Wörterbuches
(seither 36:1985, 37:1990). Erstmals sind als ”Mitherausgeber” Erich Benedikt,
Maria Hornung und Ernst Pacolt genannt4 - ”unter Mitwirkung einer Experten-

1
Österreichisches Wörterbuch 1951, im folgenden zit. nach der 19. unveränderten Auflage (o.J.).
2
Möcker 1980, 419.
3
Eine Geschichte des Österreichischen Wörterbuches und seiner (anonymen!) Autoren fehlt.
Hinweise bei Sluga 1989, 44 ff.; Wiesinger 1980, 367 f.; Reiffenstein 1983, 17 f.
4
Mitherausgeber wohl deshalb, weil als Herausgeber das Bundesministerium für Unterricht und Kunst
fungiert; allerdings heißt es auf dem Titelblatt: herausgegeben im Auftrag des BMUK. Das Vorwort
unterzeichnen bis zur 34. Auflage ”Die Verfasser und die Herausgeber”, in der 35. und 36. Auflage
”Die Verfasser”. Für das Vorwort der 37. Auflage zeichnet niemand mehr verantwortlich; im letzten
Absatz wird jedoch ”der Dank der Redaktion und der Verfasser” ausgedrückt. Vermutlich sind die
”Verfasser” und die ”Mitherausgeber” identisch. Seit der 36. Auflage (1985) scheint als vierter
Mitherausgeber Otto Back auf.
-160-

kommission”, die weiterhin in der Anonymität verbleibt. Die Erweiterung des


Lexikonteils ist beträchtlich, von bis dahin 274 auf 337 Seiten, in der 37. Auflage
(1990) auf 370 Seiten; das ergibt eine Umfangssteigerung um mehr als ein Drittel.
Auch der allgemeine Teil (orthographische Regeln, Interpunktionsregeln, gramma-
tikalische Fachausdrücke, Alphabete, diverse Verzeichnisse, aber keine Korrekturvor-
schriften) ist entsprechend erweitert (von 75 auf 91 bzw. 127 Seiten). Ein Teil der
Erweiterung entfällt auf umgangssprachliche und mundartliche Wörter und Bedeu-
tungen, die die Sonderstellung des Deutschen in Österreich schärfer akzentuieren.
Gleichzeitig wird dadurch der Charakter des Bedeutungswörterbuches verstärkt, da
die umgangssprachlichen und mundartlichen Wörter notwendig alle mit Bedeu-
tungs- und Verwendungsangaben versehen sind. Dennoch versteht sich das Öster-
reichische Wörterbuch weiterhin ”in erster Linie [als] ein Wörterbuch für die Recht-
schreibung” (35/1979:11; 36/1985:12; 37/1990:11), seiner historischen Tradition
entsprechend (”Regeln für die deutsche Rechtschreibung”). Tatsächlich ist es aber seit
1951 und noch deutlicher seit 1979 auf dem Weg zu einem Wörterbuch im vollen
Sinn des Wortes, das zwar natürlich auch die verbindlichen orthographischen For-
men dokumentiert, darüber hinaus aber Auskunft über Bedeutungen, Verwend-
ungsweisen und Gebrauchsebenen der dokumentierten Wörter bietet. Das Österrei-
chische Wörterbuch nimmt damit eine ähnliche Zwischenstellung zwischen Wörter-
liste und Wörterbuch ein wie, aus anderen Gründen, der Orthographie-Duden.5
Zwar ist das Österreichische Wörterbuch auf diesem Weg weiter vorangeschritten als
der Duden, da es weit überwiegend zu den Eintragungen Bedeutungs- oder Ver-
wendungsangaben bietet. Die Beschränkung auf ein Wörterbuch ”in erster Linie für
die Rechtschreibung” erlaubt aber eine relativ willkürliche Auswahl aus der jewei-
ligen Bedeutungsbreite der Wörter. Der Abstand zu einem ”richtigen” Wörterbuch
wird deutlich, wenn man das Österreichische Wörterbuch oder den Orthographie-
Duden z.B. neben das Duden-Universalwörterbuch6 hält. Daß andererseits den rein
orthographischen Bedürfnissen offenbar auch mit einer Wörterliste Rechnung getra-
gen werden kann, zeigt das ”Schweizer Rechtschreibbuch für Schule und Praxis”.
Der Kompromiß des Österreichischen Wörterbuches läßt sich durch die Ziel-
setzungen und durch die Bedingungen rechtfertigen. Benötigt wird ein Schulbuch
mittleren Umfangs (mit 35-40.000 Lemmata etwa 1/3 des Orthographie-Dudens). Es
hat in erster Linie als Regelbuch und als Wörterliste dem Rechtschreibunterricht zu
dienen, als Wörterbuch kann es bei dem Ausbau des Wortschatzwissens der Schüler
hilfreich sein; vor allem aber sollte es als Wörterbuch des österreichischen
Regionalwortschatzes der sprachlichen Selbstversicherung der Österreicher eine soli-
de Grundlage bieten und damit eine nicht unwichtige sprachpolitische Aufgabe
wahrnehmen. Die im Vorwort des Österreichischen Wörterbuches geäußerte Hoff-
nung, es könne ein ”Buch fürs Leben” sein, wird - fürchte ich - Illusion bleiben.

5
Duden 1991.
6
Duden 1983.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-161-

Dafür ist der erfaßte Lexikon-Ausschnitt zu schmal. Ein solches Wörterbuch dürfte
kaum weniger als 100.000 Lemmata umfassen.
2.1 Eine denkmögliche Alternative
Da die deutsche Orthographie in Österreich nicht von der gemeindeutschen
abweicht, könnte ich mir auch eine ganz andere Befriedigung der gerade genannten
Bedürfnisse vorstellen: dem Rechtschreibunterricht wird auch in Österreich der Du-
den zugrunde gelegt, der sich von seinem Umfang her tatsächlich als ”Buch fürs
Leben” eignet (und in österreichischen Ämtern, Redaktionen und auf privaten
Schreibtischen ja auch tatsächlich diese Aufgabe erfüllt). Der spezifisch öster-
reichische Wortschatz (maximal etwa 10.000 Lemmata) wird in einem guten Wör-
terbuch dargestellt, das wirklich den Ansprüchen an ein einsprachiges Wörterbuch
gerecht wird. Wie da z.B. die Abgrenzungen, Verzahnungen und Beziehungen von
und mit dem deutschen Wortschatz in Deutschland darzustellen wären, hat Jakob
Ebner in einem wichtigen Beitrag 1988 dargestellt.7 Die Erstellung eines solchen
Österreichischen Wörterbuches wäre ein lohnendes Ziel der österreichischen
Sprachgermanistik. Einstweilen bietet das Duden-Taschenbuch von J. Ebner8 einen
sehr brauchbaren, freilich erweiterungs- und verbesserbaren Ersatz für ein größeres
Wörterbuch. Das neue Duden-Taschenbuch von Kurt Meyer (”Wie sagt man in der
Schweiz?”)9 enthält für einen Ausbau des Buches von Ebner wertvolle Anregungen.
Ein größeres Wörterbuch des Deutschen in Österreich sollte auch den spezifischen
Wortschatz der österreichischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts aufnehmen.
2.2 Von der 35. zur 37. Auflage
Aber ich habe hier nicht von Zukunftsplänen und von Unterlassungen der
eigenen Zunft zu reden, sondern von dem real existierenden Österreichischen Wör-
terbuch, und zwar in seiner 37. Auflage (1990). Im Kern ist es unter den gegebenen
Bedingungen und Möglichkeiten ein durchaus brauchbares Buch. Im Prinzip stimme
ich der seit der 35. Auflage vorgenommenen Wortschatzerweiterung auch auf um-
gangssprachliches Wortgut und der größeren Toleranz gegenüber Varianten auf ver-
schiedenen Ebenen zu. Beides entspricht einem Normenverständnis, das ich teile. Im
einzelnen läßt sich freilich sehr Vieles verbessern. Die 35. Auflage ist überwiegend
heftig kritisiert worden.10 Einhellig und zurecht ist die fehlende Kennzeichnung der
Sprach- und Stilebenen beanstandet worden. Die Bearbeiter des Österreichischen
Wörterbuches haben schon in der 36. Auflage auf diese Kritik positiv reagiert und

7
Ebner 1988.
8
Ebner 1980.
9
Meyer 1989.
10
Vgl. Sluga 1989 (im Urteil nicht immer sicher); Wiesinger 1980; Fröhler 1982. Es ist hier nicht der
Platz, die z.T. emotionale Kritik einer neuerlichen Kritik zu unterziehen; vgl. auch Reiffenstein 1983,
18 und Anm. 14-16.

Ingo Reiffenstein: Das Österreichische Wörterbuch:


Zielsetzungen und Funktionen.
-162-

entsprechende Kennzeichnungen vorgenommen - wie weit immer zutreffend, dar-


über kann man natürlich streiten.11

3. Kritik und Zielvorstellungen


3.1 Lemmaauswahl
Wenn man davon ausgeht, daß das Österreichische Wörterbuch als Schulbuch
einen Umfang von ca. 500 Seiten (so die 37. Auflage) aus wirtschaftlichen Gründen
nicht wesentlich wird überschreiten können12, dann ist eine strenge Beschränkung
bei der Auswahl der Lemmata unvermeidbar. Die Kriterien für diese Auswahl sind bei
dem jetzt vorliegenden Wörterbuch z.T. schwer durchschaubar und z.T. prinzipiell
zu kritisieren. Die Herausgeber des Österreichischen Wörterbuches sollten m.E.
bemüht sein, in erster Linie den aktuellen und den allgemein üblichen Wortschatz
der Österreicher abzubilden. Das Wörterbuch sollte sichtbar machen, daß es nicht
nur kein einheitliches Deutsch, sondern daß es auch kein einheitliches öster-
reichisches Deutsch gibt. Die regionalen Besonderheiten haben je gleiches Recht, die
österreichischen innerhalb des Deutschen, aber nicht weniger die westöster-
reichischen innerhalb des österreichischen Deutsch.
Da die Umgangssprachen in Österreich auch in der öffentlichen Kommuni-
kation einen relativ breiten Raum einnehmen, ist ihre Berücksichtigung auch in
einem standardsprachlichen Wörterbuch - in Grenzen - gerechtfertigt. Freilich ist
dann aber auch streng auf regionale Ausgewogenheit zu achten, die derzeit keines-
wegs gegeben ist. Wie wenig repräsentativ das Österreichische Wörterbuch - und
leider auch das Duden-Taschenbuch von J. Ebner - für den Sprachgebrauch von Tirol
und Vorarlberg ist, haben Innsbrucker Untersuchungen von Rosa Forer/Hans Moser
und Karin Metzler13 deutlich gemacht. Etwas abgeschwächt gilt das auch für Salz-
burg und Oberösterreich und vermutlich auch für Kärnten. Wenig tauglich ist das in
der Diskussion vorgetragene Argument, daß schließlich 80% der Österreicher in Ost-
österreich lebten und daß die 20% im Westen dies eben zur Kenntnis nehmen müß-
ten. Dieses Argument gäbe den über 90% der Deutschsprachigen außerhalb von
Österreich das Recht, die Varietät von weniger als 10% - das österreichische Deutsch
- als eine Quantité négligeable anzusehen.
3.2 Mundartliches Wortgut
Hingegen kann das Österreichische Wörterbuch - bei gegebenem Raum - kein
historisches Wörterbuch sein, und erst recht darf es kein Dialekt-Wörterbuch sein.

11
Z.B. wurde in der 35. Auflage die etwas altmodische Markierung ”Dichterspr.” (S. 10) eingeführt, z.B.
für Aar, Kämpe. In der 37. Auflage wurde diese Markierung durch die in Wörterbüchern übliche
Kennzeichnung ”gehoben” (geh.) ersetzt, vgl. S. 16.
12
In der Diskussion hat Herr Dr. Fussy von der Wörterbuchstelle des Österreichischen
Bundesverlages allerdings bereits für die nächste Auflage eine Umfangserweiterung auf ca. 70.000
Lemmata (also fast eine Verdoppelung des Lemmabestandes!) angekündigt.
13
Forer/Moser 1988; Metzler 1988; vgl. auch das Referat von Hans Moser in diesem Band.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-163-

Wörter wie Bagstall ‘Zaunstütze’, Ergetag ‘Dienstag’, Pfinztag ‘Donnerstag’, gotikeit


‘gewissermaßen’, Bifang ‘Ackerstreifen’, Safaladi ‘Wurstart’, Anrand ‘Anlauf’ u.v.a.
sollten ersatzlos gestrichen werden; sie haben ihren legitimen Platz im ”Wörterbuch
der bairischen Mundarten in Österreich”, nicht aber in einem standardsprachlichen
Wörterbuch des Deutschen in Österreich. Auch veraltete Wörter und Begriffe wie
Galimathias, Kämpe, Reisige können Wichtigerem Platz machen, auch die Goiserer
‘genagelte Bergschuhe’ gibt es seit wenigstens 30 Jahren nicht mehr (dagegen hat
man den Haferlschuh m.E. zu Unrecht gestrichen [er ist im Duden mit der Markie-
rung österr. gebucht!]), an die Stelle der D-Züge sind IC, EC getreten (nicht gebucht).
Solche entbehrlichen Eintragungen sind umso ärgerlicher, wenn wichtige öster-
reichische Institutionen wie das Lagerhaus, der Verlängerte, der Präsenzdiener oder
der Zivildiener (die drei letzten im Duden als österr. markiert!) fehlen. Ich empfehle,
es in diesem Punkt mit K. Meyer zu halten:
”keine Raritätensammlung, wie sie ältere Wörterbücher z.T. boten: altehr-
würdige Wörter, die das Herz des Romantikers, Nostalgikers usw. erfreuen,
die aber kaum ein Deutschschweizer heute noch kennt, geschweige denn
öffentlich gebraucht” und weiter: ”Sehr zurückgehalten haben wir uns auch
beim sog. historischen Wortschatz, d.h. bei Bezeichnungen für Gegenstände
und Einrichtungen, die wir nur noch aus der Geschichte oder dem Museum
kennen.”14

3.3 Ostlastigkeit
In diesem Zusammenhang ist auch auf die ausgeprägte und oft nicht hinrei-
chend markierte Wien- und Ostösterreich-Lastigkeit hinzuweisen. Gelegentlich sind
umgangssprachliche Wörter als ”ostösterr.” markiert, oft aber bei gleicher Geltung
nicht: Hetschepetsch ist nicht das ”ugs.” Wort für Hagebutte, sondern das ”ostösterr.
ugs.”; der Fleischhauer ist zutreffend als ”ostösterr.” ausgewiesen, der Rauchfang-
kehrer und die Ribisel ‘Johannisbeere’ nicht (und der westösterreichische Kamin-
kehrer nicht einmal gebucht). Aber darüber wird Hans Moser sprechen.
Gewiß ist auf diesem Gebiet noch viel an empirischer Arbeit zu leisten. Man
kann den Bearbeitern aber den Vorwurf nicht ersparen, auch vorhandene Informa-
tionsquellen nicht hinreichend genützt zu haben.15 Ohne neue Erhebungen wird es
jedenfalls nicht gehen.
3.4 Unösterreichische Wörter
Seit 1951 war es ein aus der damaligen politischen Situation verständliches An-
liegen des Österreichischen Wörterbuches, unösterreichische deutsche Wörter, d.h.
solche, deren Gebrauch in Österreich unüblich ist, durch einen Asterisk zu markie-

14
Meyer 1989, 15 f. und Anm. 7.
15
Z.B. Eichhoff 1977/78; auch der Deutsche Wortatlas von Walther Mitzka (und Ludwig Erich Schmitt),
Gießen 1951-1980, enthält viele verwertbare Informationen, auch wenn er in erster Linie
mundartlichen Sprachgebrauch erfaßt und die Verhältnisse von 1939/41 dokumentiert.

Ingo Reiffenstein: Das Österreichische Wörterbuch:


Zielsetzungen und Funktionen.
-164-

ren, zu stigmatisieren. Im Zug der Neubearbeitung von 1979 wurden auch diese
Markierungen etwas vermehrt; sie betreffen aber selbst in der 35. Auflage nur ca.
120 Wörter, und seither wurden einige Markierungen wieder gestrichen. Prinzipiell
ist dagegen auch heute nichts einzuwenden, und über viele Wörter wird es auch
keine Meinungsunterschiede von Bregenz bis Wien geben (z.B. bei Apfelsine, Apri-
kose, Quark, Klempner, Sonnabend usw.). In anderen Fällen ist die Situation aus
verschiedenen Gründen problematischer: wenn Sahne mit Sternchen markiert wird,
dann steht dem entgegen, daß man in wahrscheinlich allen österreichischen Kaffee-
häusern (jedenfalls im Westen bis Oberösterreich, aber auch in Graz) zum Kaffee
Sahne bekommt (auf den von den Molkereien verpackten Portionen steht allerdings
”Kaffeeobers”); auch die Käsesahnetorte hat sich weitgehend durchgesetzt, die ja
nicht einfach ein Topfenkuchen ist. Bei Tomate, Müll, Gardine, Schrank u.a. hat das
Österreichische Wörterbuch seit der 36. Auflage Wiesingers Kritik16 Rechnung ge-
tragen und das Sternchen gestrichen. Unverständlich ist mir, warum in die 37. Auf-
lage erstmals das Lemma Aubergine (ohne Sternchen) aufgenommen wurde; dafür ist
m.W. in ganz Österreich Melanzani üblich (das in keinem der Duden-Wörterbücher
aufscheint, was korrigiert werden sollte; vgl. auch Ebner 1980, 125 f.).17 Anders liegt
die Sache, wenn nur bestimmte Bedeutungen unösterreichisch sind, z.B. Anlage für
österreichisch Beilage (zu einem Brief); in den anderen Bedeutungen ist das Wort
aber auch in Österreich allgemein üblich. Solche Verhältnisse lassen sich nur in
ausführlicheren Wörterbuchartikeln darstellen. Ebner (1988) bietet dafür gute Bei-
spiele. - Wenn man der Anpassung an bundesdeutschen Sprachgebrauch wehren
will, dann sollte man m.E. nicht nur auf die gastronomischen Schibboleths achten,
sondern auch auf andere Phänomene, die in Österreich (noch) nicht üblich sind, z.B.
langgehen (wissen, wie es langgeht), hochgehen, -steigen für hinauf-, mal für
einmal, klammheimlich, Häme u.v.a.
3.5 Toleranz gegenüber Varianten
Viel Kritik hat die 35. Auflage auch für ihre tolerante Einstellung gegenüber
Varianten der Schreibung, des Genusgebrauchs, der Kasusrektion bei einigen Prä-
positionen u.a. erfahren. Ich halte auch in diesem Punkt die liberale Haltung des
Österreichischen Wörterbuches im Prinzip für richtig, ohne in allen Einzelheiten zu-
zustimmen. Orthographische Dubletten betreffen vor allem die Schreibung von
Wörtern der Umgangssprachen und der Mundarten, z.B. Binkel, P-; Bichl, P-;
Flachse, -x-; Glumpert, Kl-.18 Wenn solche Wörter ins Wörterbuch aufgenommen

16
Wiesinger 1980, 370 ff.
17
Ein differenziertes Modell zur Kennzeichnung jener Wörter (Entsprechungen), die den
Deutschschweizern nicht oder weniger geläufig sind, findet bei Meyer 1989 Anwendung
(Erläuterungen S. 18 f.): -: auch in der Schweiz neben dem Helvetismus üblich (in Österreich z.B.
Paradeiser - Tomate, Kasten - Schrank); //: in der Schweiz gar nicht üblich (österreichisch z.B.
Orange // Apfelsine, Marille // Aprikose, Samstag // Sonnabend); //: in der Schweiz deutlich weniger
angewendet als der Helvetismus (österreichisch z.B. Rahm oder Obers // Sahne, Semmel //
Brötchen).
18
Vgl. auch Möcker 1980, 420 f.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-165-

werden, wäre es für die Benützer hilfreich, e i n e Form zu normieren und die
Schreibvarianten lediglich als Verweislemmata aufzunehmen. Ein Wörterbuch, und
erst recht ein Schulwörterbuch, kann sich von der Pflicht zu normieren nicht absen-
tieren. Anders steht es mit dem Genusgebrauch; wenn man da bei Schwankungen
nicht (wie bisher überwiegend) strikt normieren will, müßte empirisch erhoben
werden, was als standardsprachlich akzeptiert wird und was nicht. Wenn für Joghurt
und für Quargel gleich alle drei Genera zur Wahl angeboten werden, dann scheint
mir die Liberaliät übertrieben zu sein. Schwankungen von Genetiv und Dativ nach
einigen Präpositionen (bes. dank, trotz, während, wegen) haben eine lange
Geschichte.19 Seit 200 Jahren präferieren die Grammatiker den Genetiv. Daß sie sich
nicht völlig haben durchsetzen können, beweist, wie fest auch der Dativ im
Sprachgebrauch verankert ist. Die Behandlung der Präpositionen im Österreichischen
Wörterbuch unterscheidet sich im übrigen nicht von der im Duden.

4. Schlußfolgerung
Ich ziehe aus meinen Überlegungen das folgende Fazit: Das Österreichische
Wörterbuch ist ein brauchbares und, leider nur in einem begrenzten Bereich, not-
wendiges Buch. Es ließe sich ohne strukturelle Eingriffe freilich erheblich verbessern.
Das herausgebende Bundesministerium für Unterricht und Kunst und der Verlag
wären gut beraten, wenn sie dazu die Hilfe der österreichischen Universitäts-
germanistik und Lehrerschaft in Anspruch nehmen würden.

Literatur:
Duden (1991). Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Aufl. Mann-
heim/Leipzig/Wien/Zürich (Duden 1).
Duden (1983). Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. [...] von Günther Drosdowski.
Mannheim/Wien/Zürich.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich. (Duden-Taschenbücher 8).
Ders. (1988): Wörter und Wendungen des österreichischen Deutsch. In: Wiesinger
1988, S. 99- 187.
Eichhoff, Jürgen (1977/78): Wortatlas der deutschen Umgangssprache. 2 Bde.
Bern/München.
Forer, Rosa/ Moser, Hans (1988): Beobachtungen zum westösterreichischen Sonder-
wortschatz. In: Wiesinger 1988, S. 189-209.
Fröhler, Horst (1982): Zum neuen Österreichischen Wörterbuch (35. Aufl. 1979).
Acht Thesen über seine Mängel und über deren Beseitigung. In: Österreich in
Geschichte und Gegenwart 26, S. 152-183.
Metzler, Karin (1988): Das Verhalten Vorarlbergs gegenüber Wortgut aus Ostöster-
reich, dargestellt an Beispielen aus dem Bezeichnungsfeld ”Essen, Trinken,
Mahlzeiten”. In: Wiesinger 1988, S. 211-223.

19
Vgl. Paul 1958, 43 ff.

Ingo Reiffenstein: Das Österreichische Wörterbuch:


Zielsetzungen und Funktionen.
-166-

Meyer, Kurt (1989): Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen
Besonderheiten. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich. (Duden-Taschenbücher 22).
Möcker, Hermann (1980): ”Fahren Sie schon Rad, oder fahren Sie noch rad?”
Grammatische und orthographische Beobachtungen am neuen Österreichischen
Wörterbuch. In: Österreich in Geschichte und Gegenwart 24, S. 416-445.
Österreichisches Wörterbuch (1951). Mittlere Ausgabe. Hrsg. im Auftrage des Bun-
desministeriums für Unterricht. 19. unveränderte Aufl. Wien o.J. (1. Aufl. 1951).
Österreichisches Wörterbuch (1979). Hrsg. im Auftrag des Bundes ministeriums für
Unterricht und Kunst. 35., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. [Redaktion:
Wörterbuchstelle des Österreichischen Bundesverlages unter Mitwirkung einer
Expertenkommission. Mithrsg.: Erich Benedikt, Maria Hornung, Ernst Pacolt].
Wien 1979.
Dasselbe (1985), 36., überarbeitete Aufl. [bei den Mithrsg. zusätzlich: Otto Back].
Wien.
Dasselbe (1990), 37., überarbeitete Aufl. Wien.
Paul, Hermann (1958): Deutsche Grammatik. 4. Bd. (Syntax, II.). 4. Aufl. Halle.
Reiffenstein, Ingo (1983): Deutsch in Österreich. In: I.R., Heinz Rupp, Peter von
Polenz, Gustav Korlén, Tendenzen, Formen und Strukturen der deutschen Stan-
dardsprache nach 1945. Marburg 1983. (Marburger Studien zur Germanistik
3), S. 15-27.
Sluga, Maria Theresia (1989): Die Diskussion um das Österreichische Wörterbuch.
Diplomarbeit (masch.) Wien.
Wiesinger, Peter (1980): Zum Wortschatz im ”Österreichischen Wörterbuch”. In:
Österreich in Geschichte und Gegenwart 24, S. 367-397.
Ders. (Hrsg.) (1988): Das österreichische Deutsch. Wien/Köln/Graz. (Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.167 -177

Hans Moser

(Innsbruck)

Westösterreich und die Kodifizierung des


"österreichischen Deutsch"

Der Begriff "österreichisches Deutsch" kann auf zweierlei Art definiert werden:
entweder als die Gesamtheit aller jener sprachlichen Ausdrucksformen, die Anspruch
auf gesamtstaatliche Geltung erheben und die Standardsprache in Österreich von der
anderer deutscher Staaten oder Regionen unterscheiden (Schibbolethdefinition) oder
als die Gesamtheit der Sprachformen, die (irgendwo) in Österreich zum Standard ge-
hören oder ihm nahe stehen, mit oder ohne Entsprechungen außerhalb Österreichs.
Geht man von der zweiten Definition aus - was ich tun möchte - dann müßten
nach M. Clyne (1995:60) die Österreicher ihren Anspruch, eine nationale Varietät
des Deutschen zu sprechen und zu schreiben, ausdrücklich deklarieren und sie
müßten definieren, was Bestandteil dieser Varietät ist - Deklaration des Status also
und Definition des Corpus.
Die Deklaration des Status steht im öffentlichen Bewußtsein auf etwas wacke-
ligen Beinen. Wie die Arbeit von Moosmüller (1991:23 ff.) gezeigt hat, neigt man vor
allem in Ostösterreich dazu, diesen Status in Anspruch zu nehmen - und zwar für
eine wienerisch-mittelbairisch geprägte Varietät, wie sie von geübten Sprechern in
(halb)offiziellen Situationen zu hören ist. Sehr sicher ist der gestellte Anspruch offen-
bar nicht. Dazu paßt auch das Verhalten der Lehrbuchautoren. Mustert man nämlich
die österreichischen Lehrbücher für das Fach "Deutsch", wird man Auskünfte über
Begriffe wie "Einheitssprache, Dialekt, Slang" und "Jägersprache" finden, das Stich-
wort "österreichisches Deutsch" fehlt so gut wie ganz (Moser 1990:11). Beobachtet
man schließlich das Verhalten des ORF, des größten und einflußreichsten Modell-
Sprechers des Landes, dann spürt man die Unsicherheit über den Status in einem
eigentümlichen Schwanken zwischen Regionalismen und hyperkorrekten Formen
(Pollak 1992:87 ff.).
Diese Unsicherheit bezüglich des Status hat Ursachen. Die wichtigste davon ist,
daß die Corpusdefinition fehlt, daß nicht oder nicht ausreichend geklärt ist, was
österreichischer Standard ist.
Am extremsten gilt das für den Bereich der Aussprache. Hier hat I. Reiffenstein
schon 1982 festgestellt , dem österreichischen Deutsch komme die Son-
derstellung einer nationalen Variante gegenüber sonstigen Regionalvarianten (z. B.
Bayern, Schwaben, Rheinland)" zu (so auch Clyne 1982:54 ff.). Eine systematische
-168-

Beschreibung der Eigenheiten dieser Variante steht aber bis heute aus. Deshalb be-
schreibt R. Muhrs Feststellung, die Österreicher seien zwar "im allgemeinen" von der
Eigenständigkeit ihrer Sprache überzeugt, nach deren Eigenschaften befragt, seien sie
aber "alle miteinander ratlos" (1982:306), den Sachverhalt hinsichtlich der Aus-
sprache recht genau.
Eine solche systematische Beschreibung des österreichischen Aussprachestan-
dards wäre vor allem deshalb wichtig, weil sonst nicht zureichend geklärt ist, wo die
Grenze zwischen standardsprachlichen und Substandardlautungen im einzelnen
verläuft.
Solange diese Grenze nicht gezogen ist, wissen die Österreicher primär, daß sie
bestimmte Normen nicht erfüllen - in diesem Fall die Siebs- oder Dudennormen. Da
sie andererseits das Gefühl haben, daß die Befolgung mancher dieser Normen in
Österreich irgendwie unangemessen, affektiert, "unnatürlich" wäre, halten sie an
ihren Gebrauchsnormen fest. Sie haben dabei allerdings ein schlechtes Gewissen.
Denn sie sind zum allergrößten Teil mit einem mehr oder minder monozentrischen
Konzept der Standardsprache aufgewachsen, das "den Standard" als einen "Punkt"
ansieht, d.h. eine "Sprachvarietät ohne Varianten im Bereich der sprachlichen For-
men" (Bartsch 1987:244). Mit der Tatsache, daß der Standard "empirisch gesehen ein
Bereich" ist, der "eine Bandbreite von Variationen einschließt" (ebda), können sie
schwer umgehen. Das erklärt die Unsicherheiten und das Schwanken im ORF, das
erklärt auch das Schweigen der Schulbücher zum österreichischen Deutsch. Solange
es aber in den Schulen keine Aufklärung über die Eigenart der eigenen National-
varietät gibt, solange u. a. die hochfrequenten Eigenarten dieser Varietät im Bereich
der Aussprache nicht zureichend charakterisiert sind, wird das schlechte Gewissen,
wird das sprachliche Minderwertigkeitsgefühl nicht verschwinden.
Ich vermute, daß das Zögern in der Definition des Corpus auch damit zusam-
menhängt, daß man sehr lange von der Schibbolethdefinition des österreichischen
Deutsch ausgegangen ist und deshalb mit der sprachlichen Vielfalt innerhalb des
Landes nicht zurechtkommt. Geht man nämlich von dieser Definition aus, dann stellt
sich leicht das Gefühl ein, die Zahl der gemeinsamen Merkmale des Österreichischen
sei zu klein und es erwacht das Bedürfnis, sie anzureichern - am ehesten aus dem
dominanten Wienerisch-Ostösterreichischen, aber immer mit dem Bewußtsein, daß
es auch noch etwas anderes gibt - zum Beispiel den etwas wilderen Westen.
Im Bereich des Wortschatzes existiert eine amtliche Definition des österrei-
chischen Deutsch, das Österreichische Wörterbuch (ÖWB). Dort besteht also die Ge-
legenheit, die angesprochenen Vermutungen zu überprüfen, und ich will das im fol-
genden anhand einiger Beispiele auch tun. Ich stütze mich dabei im wesentlichen auf
eine Untersuchung zum westösterreichischen Sonderwortschatz, die ich gemeinsam
mit einer Kollegin vor etwa 10 Jahren durchgeführt habe (Forer - Moser 1988) und
auf die Diplomarbeit eines meiner Schüler, Gregor Retti (1991), der sich in einer
Untersuchung mit der Entwicklung, dem Wortbestand und dem Markierungssystem

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-169-

des Österreichischen Wörterbuchs auseinander gesetzt hat. Das Wörterbuch selbst


wird nur in seiner letzten Ausgabe herangezogen, die Kontroversen um frühere Aus-
gaben werden als bekannt vorausgesetzt.
Zunächst zum Begriff "Westösterreich": im Österreichischen Wörterbuch gibt es
an arealen Markierungen neben den Bundesländerbezeichnungen und dem arealen
Passepartout "landschaftlich" die recht lakonische Feststellung: "Auf größere Verbrei-
tungsgebiete innerhalb Österreichs weisen die Kennzeichnungen als
'westösterreichisch' bzw. als 'ostösterreichisch' hin" (1990:37). Die Tabelle über die
Häufigkeit der angesprochenen Markierungen weist folgenden Befund aus (nach
Retti 1991: 80 ff):

Tabelle 1: Zahl der im ÖWb areal begrenzten Stichwörter

ostöst. 87 Burgenland 4 Salzburg 6


westöst. 22 Steiermark 8 Tirol 17
Wien 63 Kärnten 11 Vorarlberg 30
Niederösterreich 0 Oberöst. 3 Südtirol 10
Wie weit das Westösterreichische im Verständnis des Wörterbuchs reicht, bleibt
offen; daß es die Tiroler Landesgrenzen nach Osten überschreitet, ist daraus zu
schließen, daß es Stichwörter gibt, die die Markierung T und V tragen. Die beiden
Wortlisten sehen folgendermaßen aus (nach Retti 1991:92 und 93):

Tabelle 2: Im ÖWB als "westöst." markierte Stichwörter


bestoßen "(westöst.) eine Alm mit Vieh belegen)"
Butz "der "
Ferner "der (westöst.) Gletscher; - Firn"
Gand "die (westöst.): Schutthalde im Gebirge"
Gülle "die (westöst.): Jauche"
Marende "die (westöst.): Zwischenmahlzeit am Nachmittag"
Metzger "der (westöst.): Fleischhauer"
Metzgerei "die (westöst.)" Fleischhauerei
pitzeln "bitzeln (westöst. mda.): (auf der Haut) pricklen, stechen [...]"
schellen "(westöst.): klingeln, läuten"
Schlutzkrapfen "der (westöst.): eine Mehlspeise"
Schotten "der (westöst.): Topfen"
Schrofen "der (westöst. ugs.) [...] zerklüfteter Fels; Klippen"
stickel "(westöst.); ein stickliger (steiler) Weg"
Stotz "der, Stötze (westöst. mda.) niedriges, bottichartiges Holzge-
fäß"
Tschockel "der (westöst.): Holzschuh, Hutquaste"

Hans Moser: Westösterreich und die Kodifizierung


des "österreichischen Deutsch".
-170-

Tabelle 2: Fortsetzung

Watten "das (westöst.): ein Kartenspiel"


Widum "das, der W. (westöst., K): Pfarrhof"
Zieger "der (westöst.): ein Käse"
Zimmerin "die (westöst.): Stubenmädchen"
Zugehfrau "die, Zugeherin (landsch. westöst.): Bedienerin"

Tabelle 3: Im ÖWB mit V und T markierte Stichwörter


Alpe "die, -/-n, Alp (V, T): Alm"
Fasnacht "die, -, (auch: Fastnacht) (T, V): Fasching"
Maiensäß "das, -es (-e (V, T): Voralpe, bewirtschaftete Frühlingsweide"
schlutzig "(T, V mda.): schlitzig, schlüpfrig"

Ich denke, schon ein erster Blick auf diese Liste zeigt, daß die adjektivische Be-
zeichnung "westösterreichisch" nicht so verstanden werden kann, als ob es so etwas
wie eine westösterreichische Spracheinheit gäbe. Die Zahl der Wörter ist gering, die
Einträge gehören fast ausschließlich in die Peripherie des Lexikons und sind hetero-
gen. Eine Umfrage in meinem Innsbrucker Bekanntenkreis hat überdies ergeben, daß
Tiroler native speakers eine Reihe dieser als westösterreichisch markierten Wörter
entweder nicht kennen (Gand, Lüngerl, pitzeln, Stickel, Stotz, Tschoche) oder nicht
gebrauchen (Gülle, schellen, Schotten, Zugehfrau).
Der Befund ist also recht deutlich und stimmt mit den Ergebnissen meiner
älteren Erhebung überein. Damals habe ich eine Zufallsstichprobe von 260 Wörtern
aus Jakob Ebners Duden - Bändchen "Wie sagt man in Österreich" von Tiroler und
Vorarlberger Gewährspersonen beurteilen lassen. Dabei stellte sich heraus, daß nur
der institutionell gestützte oder vermittelte Teil des Wortguts (derjenige also, der sich
aus der Tatsache der politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsmäßigen Einheit
des Staats ergibt) in beiden Bundesländern restlos geläufig ist. Immerhin betrug der
Anteil dieser Wörter in der Stichprobe etwa 40 %. Wenn man mit Peter Wiesinger
(1990:218) den österreichischen Sonderwortschatz mit ca. 4000 Wörtern veran-
schlagt, käme man hochgerechnet doch auf etwa 1500 Stichwörter, die man als
Austriazismen im engeren Sinn des Wortes bezeichnen könnte.
Anders verhält es sich beim alltagssprachlichen Wortschatz, vor allem beim
Wortgut, das in Ostösterreich aus den unteren Sprachschichten in den Bereich der
Standardsprache aufgestiegen ist. In diesem Fall zeigt die Auswertung der ange-
sprochenen Stichprobe, daß den Tirolern nur etwa 40 % der Wörter, den Vorarl-
bergern gar nur 15 % so geläufig waren, daß sie sich vorstellen konnten, sie auch zu
gebrauchen. Das bedeutet zunächst einmal, daß der Wortschatz von Tirolern und
Vorarlbergern zu stark voneinander abweicht, um so etwas wie eine westöster-
reichische Regionalsprache zu postulieren. Hauptgrund dafür ist, daß wegen der

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-171-

alemannischen Dialektbasis der alltagssprachliche ostösterreichische Wortschatz in


Vorarlberg viel weniger angenommen wird als in Tirol. Umgekehrt hat M. Bürkle in
einer noch unveröffentlichten Probebohrung bei zeitgenössischen Vorarlberger Auto-
ren (1995: passim) 60 Wörter zu Tage gefördert, die als Standardanwärter in Frage
kommen, aber in Tirol unüblich sind. Zum Teil handelt es sich dabei um reine Vor-
arlbergismen (Birnbrot oder Federschachtel für Federpennal), zum Teil um Wörter,
die auch im angrenzenden alemannischen Raum üblich sind (außerorts, die Beiz für
Beisel als Übernahme aus der Schweiz).
Relativ einig sind sich Tiroler und Vorarlberger, daß eine ganze Reihe von
Wörtern, die im Österreichischen Wörterbuch unmarkiert sind, für sie keine stan-
dardsprachliche Geltung besitzen und auf keinen Fall geschrieben würden; dazu ge-
hören etwa aufpicken, Fechsung, Hackel, Häferl, Hetschepesch, Simperl usw.. Zu
diesen gemeinsam abgelehnten ostösterreichischen Wörtern gehören auch solche, die
wegen ihrer lautlichen oder morphologischen Struktur sehr viel zögernder anerkannt
werden als im Osten des Landes. Typisches Beispiel dafür sind die Deminutive auf -
erl oder -el (Bröckerl, Seiherl, Schnackerl, Schmuckbandel), denen meist zu
annähernd 100 % der standardsprachliche Status aberkannt wird. Dazu paßt, daß die
von mir befragten Westösterreicher (Vorarlberger und Tiroler) auch eine ausge-
sprochene Abneigung dagegen haben, Wörtern aus der eigenen Umgangssprache
schriftsprachliche Geltung zuzusprechen, was etwa das Beispiel "Schwarzbeere", auf
der Tabelle 4 zeigt: Moosbeere 5,5 %, ostösterreichisch Schwarzbeere 25 %, Hei-
delbeere 68 %). Diese Abneigung verringert sich nur dann, wenn diese Wörter Be-
standteil eines größeren Geltungsraums, also überregional gültig sind, was in der Ta-
belle etwa bei Metzger, Kaminkehrer, aber auch Stopsel für Korken zutrifft.
Demnach läßt sich festhalten: die Ostösterreicher sind eher geneigt, den eigenen
Regionalvarianten Standardstatus zuzubilligen und das Österreichische Wörterbuch
neigt dazu, ihnen gesamtösterreichische Geltung zuzuschreiben. Die Arbeit Rettis
bestätigt diesen Befund und läßt erkennen, daß diese Tendenz des Österreichischen
Wörterbuchs auch quantitativ nicht ganz bedeutungslos ist.

Hans Moser: Westösterreich und die Kodifizierung


des "österreichischen Deutsch".
-172-

Tabelle 4: Die schriftsprachliche Verwendung von konkurrierenden


Begriffsvarianten in Westösterreich (Prozentwerte; Anordnung nach der Häufigkeit
der verwendeten ostösterreichischen Varianten)

ostösterr. Verw. westösterr. Verw. andere Verw.


Begriffsvariante % Begriffsvariante % Vergleichsvariante %
Jause (nachm.) 90 Marende 1,7 Zwischenmahlzeit 4,5
Jause (vorm.) 81,8 Neuner 0
Gabelfrühstück 9,1 Halbmittag 0
Karotte 79,7 gelbe Rübe* 17,4
Möhre 1,4
Schuhband 65,7 Schuhriemen 4,5e Schnürsenkel 16,4
Schuhbandl* 0 Schuhlitze 1,5c Schnürriemen 6
Schuhbändel* 1,5b
Kugel/Kugerl 45,2 Specker 3,2 Murmel 41,9
Fleischhauer 38,6 Metzger* 55,7 Fleischer 5,7b
Fleischhacker 0
Rauchfangkehrer 37,1 Kaminkehrer* 44,3 Schornsteinfeger 15,7
Kaminfeger* 2,8c
Scherz 25 e Zipfel 7,8 Anschnitt 18,8
Scherz(e)l* 9,4 Brotkante/-rinde 12,5
Schwarzbeere* 24,6d Moosbeere 5,5 Heidelbeere 68,5
Fetzen 14,5 Putzlumpen* 34,8 Tuch/Putztuch/ 15,9
Bodentuch
Reibtuch 4,3a Huder 0 Putzlappen 18,8
Schlecker 13,1 Lutscher* 82
Stoppel 8,6 Stopsel* 25,7 Korken 17,1
Stöpsel 47,1
Bedienerin 7,6a Zugeherin 27,3 Putzfrau 34,8
Zugehfrau 7,6 Raumpflegerin 7,5
Putzerin 4,5a
Bartwisch a
4,8 Kehrwisch* 46,8 Besen 40,3
Schnackerl 3,3 Schnackler*/ 1,7 Schluckauf 91,5
Schnackl

Retti hat nämlich anhand eines Fragebogens von ca. 400 Items festgestellt, daß
von 72 Stichwörtern, die im Wörterbuch keinerlei Markierung aufweisen (weder
areal noch stilistisch), 27 der Hälfte der Gewährspersonen schlicht unbekannt waren.
Das untere Ende der Liste ist in der Tabelle 5 wiedergegeben:

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-173-

Tabelle 5: Im ÖWB unmarkierte Wörter - Einschätzung in Westösterreich

b1 b2 b3 b4 b0 s1 s2 s3 s0 m1 m2 m3 m0
schlitzig 6 25 0 0 0 1 4 0 1 3 2 0 1
Drusch 5 26 0 0 0 3 2 0 0 3 2 0 0
stuppen 5 24 1 1 0 0 5 0 0 2 3 0 0
kirren 5 26 0 0 0 0 5 0 0 0 5 0 0
Büttel 5 23 3 0 0 0 5 0 0 0 5 0 0
jenisch 4 26 0 1 0 0 4 0 0 1 3 0 0
Zügenglöcklein 3 28 0 0 0 1 2 0 0 3 0 0 0
Koriandoli 3 28 0 0 0 1 2 0 0 2 1 0 0
Simperl 3 27 1 0 0 0 3 0 0 0 3 0 0
Fechsung 1 30 0 0 0 1 0 0 0 0 1 0 0
Bifang 1 30 0 0 0 0 1 0 0 1 0 0 0
zerspeilen 0 31 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Schaub 0 31 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Erläuterung zu den Siglen:
Bekanntheit: Schriftlicher Gebrauch (Voraussetzung: b1):
b1 = bekannt s1 = wird gebraucht
b2 = unbekannt s2 = wird nicht gebraucht
b3 = andere Bedeutung s3 = wird unter Bedingungen gebraucht
b4 = Wort bekannt, Bedeutung unbekannt s0 = keine Angabe
b0 = keine Angaben

Analog ist beim mündlichen Gebrauch (m) zu interpretieren

Das erste dieser Wörter ist schlitzig, das ein westösterreichisches Pendant hat,
nämlich schlutzig. Wenn man unter schlutzig nachschlägt, dann findet man fol-
genden Eintrag: schlutzig (T, V, mda.): schlitzig, schlüpfrig. Der neugierige West-
österreicher, der schlitzig nicht kennt - und ich war bis vor kurzem ein solcher, ob-
wohl ich seit meinen Jugendtagen ein Freund typisch wienerischer Literatur zwischen
Nestroy und Qualtinger bin - schaut natürlich unter dieser Form nach, und findet
dort den Eintrag: schlitzig; der schlitzige (glitschige) Fisch; obwohl die Bedeu-
tungsangabe in der Klammer darauf hindeutet, daß die Autoren an der allgemeinen
Bekanntheit des Wortes zweifeln, keine areale, stilistische oder sonstige Markierung -
also gesamtösterreichischer Standard.
Das verstimmt den Westösterreicher - und zwar diesseits und jenseits des Arl-
bergs. Er bekommt dadurch den Eindruck vermittelt, das österreichische Deutsch
werde bei der Definition des Corpus stillschweigend mit dem ostösterreichischen,
letztlich dem wienerischen Sprachbrauch identifiziert. Der Verdacht liegt auch inso-

Hans Moser: Westösterreich und die Kodifizierung


des "österreichischen Deutsch".
-174-

fern nahe, als die Verteilung der demographischen, politischen und institutionellen
Macht dafür alle Voraussetzungen bietet.
Jene Regionen Österreichs, die zur Peripherie gehören - und dazu gehört der
Westen, insbesondere Vorarlberg - sehen sich unter diesen Umständen gegenüber
dem ostösterreichischen Zentrum plötzlich in derselben Lage wie Österreich insge-
samt gegenüber der norddeutschen dominierten Norm des bundesrepublikanischen
Deutsch.
M. Clyne hat im Fall asymmetrischer Plurizentrizität zwischen dominanten (D-
Varietäten) und anderen Nationalvarietäten (A-Varietäten) unterschieden. Für die D-
Nationen gelten - nicht nur im Deutschen sondern generell - folgende Merkmale:
(Clyne 1995:62 f.):
Dominante Nationen - Andere Nationen
1. Die D-Nationen verwechseln häufig das Bestehen von spezifischen Merkmalen
einer Nationalvarietät, die ihre Sprecher als Mitglieder dieser Nation identifizie-
ren, mit der Zahl dieser Merkmale.
2. Die D-Nationen neigen dazu, aufgrund überschneidender Sprachmerkmale
Nationalvarietäten mit Dialekten (regionalen Varietäten) zu verwechseln.
3. Die D-Nationen betrachten sich gern als die alleinigen Normenträger und die
A-Varietäten als exotische, heimelige, charmante veraltete Abweichungen vom
Standard.
4. Die Normen der D-Nationen werden für strenger gehalten als die der A-
Nationen.
5. D-Nationen verfügen über die besten Mittel, ihre Varietäten zu exportieren, in-
dem sie Forschungs- und Sprachlehrinstitute erhalten und Grammatiken und
Wörterbücher bei Verlagen in D-Nationen erscheinen.
6. Es herrscht in D-Nationen die Vorstellung, daß sprachliche Variation in der
Standardsprache auf die gesprochene Norm beschränkt ist.
7. Die D-Normen sind bei den A-Nationen besser bekannt als umgekehrt."
Diese Merkmale charakterisieren sehr gut das Verhältnis von bundesdeutschem
und österreichischem Deutsch. Soweit es sich bei diesen Merkmalen um Einstellun-
gen handelt - und außer bei den Punkten 5 und 7, wo Sachverhalte angesprochen
werden, handelt es sich um Einstellungen - setzen sie ein Normverständnis voraus,
das erstens nicht empirisch, sondern präskriptiv und zweitens nicht plurizentrisch
sondern monozentrisch ist.
Ich würde also aus den vorangegangenen Beobachtungen - sie ließen sich übri-
gens unschwer vermehren - den Schluß ziehen: wenn man in M. Clynes Merkmal-
liste den Begriff "Nation" durch "Region" ersetzt, ist damit das Verhältnis der west-
lichen Bundesländer gegenüber dem Großraum Wien - Salzburg getroffen
(auszunehmen ist -leider- der Punkt 5.). M. Bürkle hat insofern für Vorarlberg zu-
recht die Formel "Peripherie der Peripherie" vorgeschlagen (1995:1ff.). Studiert man

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-175-

die Untersuchung Silvia Moosmüllers, welche Varietäten Österreichs als hochsprach-


lich eingeschätzt werden, findet man diesen Befund bestätigt (1991:23ff)
Welche Konsequenzen sollten aus dieser Lage gezogen werden? Ganz sicher die,
die Standardnormen des österreichischen Deutsch sowohl in der Lautung wie im
Wortschatz so genau wie möglich zu beschreiben. Das ist eine Voraussetzung dafür,
um ihnen auch den Status des Bildungssprachlichen zu geben. Insofern ist das Öster-
reichische Wörterbuch ein Schritt in die richtige Richtung gewesen.
Zum anderen sollte aber eine Definition dieser Normen nicht vergessen, daß es
innerhalb Österreichs so etwas wie regionale Plurizentrizität, d. h. standardsprach-
liche Heterogenität gibt. Diese Heterogenität sollte genausowenig wie die Hetero-
genität des Deutschen überhaupt nur aus der Optik eines einzigen Zentrums bewertet
werden (Moser 1990:20), denn es wäre wohl in sich widersprüchlich, „für die
sprachliche und nationale Identität Österreichs einzutreten und sich über die Iden-
titätsbedürfnisse der Bundesländer hinwegzusetzen" (Pollak 1992:12). Für die natio-
nale Identifizierung sollte die Schnittmenge der gemeinsamen Merkmale genügen, im
übrigen sollten (alle) Sprachformen, die irgendwo in Österreich zum Standard gehö-
ren, als österreichisches Deutsch anerkannt werden. Sie wären als Besonderheiten mit
regionaler Beschränkung zu werten; um daraus eine eigene Varietät
"Westösterreichisch" oder "Ostösterreichisch" abzuleiten, fehlt ihnen das Gewicht.
Bei der Definition der nationalsprachlichen Normen sollte auch bedacht wer-
den, daß es im Westen Österreichs manchmal zu einer Normenkonkurrenz kommen
kann. Die Tiroler und Vorarlberger wissen sehr wohl, daß ihre Metzger, Kamin-
kehrer, Putzfrauen oder Türklinken außerhalb Österreichs standardfähig sind, und
sei es nur im angrenzenden süddeutschen oder schweizerischen Raum. Sie wollen
sich deshalb die ostösterreichischen Varianten nicht aufdrängen lassen.
Sie wollen es aber auch in anderen Fällen nicht. Besonders dann nicht, wenn sie
den Eindruck haben, daß die Lexikographen ihre Macht dazu nutzen, mundartliche
oder umgangssprachliche Formen als Standard zu exportieren.
Ich würde daraus überhaupt den Schluß ziehen, daß in einer Beschreibung des
Standards - ganz gleich, ob in der Lautung, in der Grammatik oder im Wortschatz -
Formen aus den anderen Sprachschichten nichts zu suchen haben. Der größte Teil
der im Österreichischen Wörterbuch als "mda." und ein Teil der als "ugs." markierten
Einträge - ganz gleich, ob west- oder ostösterreichisch - könnte damit verschwinden.
Eine letzte Bemerkung, die dieses Thema abrundet: es wäre zu überlegen, ob es
die Kennzeichnung mit den Sternchen braucht, das die Bedeutung "in Österreich
nicht heimisch oder erst seit kurzem gebräuchlich" (Österreichisches Wörterbuch,
Tabelle "Zeichenerklärung") hat. Dem österreichischen Zielpublikum wäre vermut-
lich mit einer Kennzeichnung der Austriazismen mehr gedient. Zumindest müßte
auch in diesem Fall mitbedacht werden, daß die Akzeptanz und fallweise auch die
Einschätzung dieser Wörter in Westösterreich anders ist als im Osten. Die Retti-Liste
enthält 23 solcher Wörter (Tabelle 6 nach Retti 1991:118).

Hans Moser: Westösterreich und die Kodifizierung


des "österreichischen Deutsch".
-176-

Tabelle 6: Einträge im ÖWB, die mit (*) gekennzeichnet sind.

b1 b2 b3 b4 b0 s1 s2 s3 s0 m1 m2 m3 m0
Plane 31 0 0 0 0 30 0 0 1 28 2 0 1
Delle 31 0 0 0 0 29 2 0 0 24 7 0 0
Pfütze 31 0 0 0 0 23 7 0 1 14 15 1 1
mulmig 31 0 0 0 0 22 9 0 0 28 3 0 0
Schlagsahne 31 0 0 0 0 21 9 0 1 15 15 0 1
Aprikose 31 0 0 0 0 21 10 0 0 10 19 0 2
Sahne 31 0 0 0 0 19 11 0 1 19 11 0 1
Typ 31 0 0 0 0 18 12 0 1 29 2 0 0
pinkeln 31 0 0 0 0 15 16 0 0 20 11 0 0
Flittchen 31 0 0 0 0 13 17 0 1 17 14 0 0
Nutte 31 0 0 0 0 12 19 0 0 19 12 0 0
pissen 31 0 0 0 0 6 25 0 0 10 21 0 0
deftig 30 0 0 1 0 24 5 0 1 24 6 0 0
garen 30 1 0 0 0 22 7 0 1 18 11 0 1
Korridor 30 1 0 0 0 19 10 0 1 12 17 0 1
Murks 30 1 0 0 0 8 21 0 1 25 4 0 1
Bulle 30 1 0 0 0 6 23 0 1 23 7 0 0
Hickhack 29 2 0 0 0 13 15 0 1 18 10 0 1
Pickel 28 2 0 0 1 25 3 0 0 26 2 0 0
Lache 27 4 0 0 0 12 14 0 1 11 15 0 1
Semikolon 24 6 0 1 0 13 10 0 1 5 18 0 1
staken 15 15 0 0 1 8 7 0 0 7 8 0 0
kirre 11 13 4 2 0 3 8 0 0 5 6 0 0

Etwa 50 % seiner Gewährspersonen geben also an, sie würden 2/3 dieser
Wörter mündlich und die Hälfte davon schriftlich gebrauchen. Weil es möglich, ja
sogar erbeten war, zu allen Wörtern Zusatzbemerkungen zu machen, läßt sich auch
sagen, daß bei etwa 2/3 dieser Westösterreicher wenigstens von einigen Gewährs-
personen die bundesdeutsche Herkunft erkannt wurde, bei 7 Stichwörtern allerdings
(Plane, mulmig, deftig, garen, Murks, Hickhack, Pickel) war auch das keiner einzigen
Gewährsperson bewußt.
Ich darf abschließend betonen, daß es mir nicht darum geht, das Österrei-
chische Wörterbuch madig zu machen. Ich wollte vielmehr wahrscheinlich machen,
daß es (noch) nicht frei von der Vorstellung ist, österreichisches Deutsch sei primär

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-177-

das, was uns von allen anderen unterscheidet, daß es daher diese Unterschiede
überbetont, wodurch sich durch die Hintertür ein wienerischer Monozentrismus
einschleicht. Das ist zwar vermutlich nicht beabsichtigt, das beruht in vielen Fällen
vermutlich auf einem Fehlen von Informationen, weil es kein ausreichendes Corpus
gibt. Das schadet aber dem Ansehen des Wörterbuchs zumindest im Westen - selbst-
verständlich auch außerhalb Österreichs.
Es müßte zugegebenermaßen viel Vorarbeit geleistet werden, um die Beschrei-
bung des österreichischen Wortschatzes auf die nächsthöhere Stufe zu bringen. Dazu
müßte mit Sicherheit ein genaueres Wissen über die Gebrauchsnormen erarbeitet
werden, was ohne ein breitgestreutes und repräsentatives Corpus nicht möglich ist.
Ein "Wörterbuch des österreichischen Deutsch in seiner ganzen Vielfalt, das sowohl
areale als auch stilistische Informationen gibt" (Wolf 1994:27), auf die man sich
verlassen kann, ist daher ein dringendes Desiderat.
Epilog: Das gilt natürlich nicht nur für den Wortschatz. Für die Etablierung
einer österreichischen Aussprachenorm gilt mutatis mutandis ähnliches. Beide Ziele
sind nur als Gemeinschaftsunternehmen erreichbar. Am besten unter dem Dach der
Akademie der Wissenschaften, weil dann auch ein gewisses Maß an Autorität ge-
geben wäre. Das würde natürlich einiges an organisatorischem und finanziellem
Aufwand erfordern. Wir Westösterreicher hätten zwei Motive, zu diesem Aufwand
beizutragen: das, dem österreichischen Deutsch zu dem ihm gebührenden Status zu
verhelfen und das, bei der Postulierung von Eigennormen gehört und berücksichtigt
zu werden.

Literatur:
Clyne, Michael (1982): Österreich. Standarddeutsch und andere Nationalvarianten.
In: Das Problem Österreich. Monash University. S. 54 ff.
Clyne, Michael (1992): German as a pluricentric language. In.-Ders. (Hrsg.): Pluri-
centric Languages. S. 117 - 147.
Clyne, Michael (1995): Österreichisches Deutsch. Zur Nationalvarietät einer pluri-
zentrischen Sprache. In: Literatur und Kritik 291/292, S. 60-67.
Bartsch, Renate (1987): Sprachnormen. Theorie und Praxis. Tübingen (= Konzepte
der Sprach- und Literaturwissenschaft 38).
Bürkle, Michael (1995): Österreichischer Wortschatz in Vorarlberg: Peripherie der
Peripherie? Manuskript, Innsbruck, S. 1-25.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten. 2. Aufl. Mannheim (= Duden - Taschenbücher 8).
Forer, Rosa und Moser, Hans (1988): Beobachtungen zum westösterreichischen Son-
derwortschatz. In: Peter Wiesinger, Das österreichische Deutsch. Wien
(=Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 12), S. 189-209.
Moosmüller, Silvia (1991): Hochsprache und Dialekt in Österreich. Wien, Köln,
Weimar (Sprachwissenschaftliche Reihe 1).

Hans Moser: Westösterreich und die Kodifizierung


des "österreichischen Deutsch".
-178-

Moser, Hans (1990): Österreichische Aussprachenormen. Eine Gefahr dür die


sprachliche Einheit des Deutschen? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik
21/1, S. 8-25.
Moser, Hans (1990): Deutsche Standardsprache - Anspruch und Wirklichkeit. In: IX.
Internationale Deutschlehrertagung 1989. Tagungsbericht. Wien, S. 17-30.
Muhr, Rudolf (1982): Österreichisch. Anmerkungen zur Schizophrenie einer Nation.
In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 8. S. 306-319.
Österreichisches Wörterbuch. (1990): Hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums für
Unterricht, Kunst und Sport, 37. Aufl. Wien.
Pollak, Wolfgang (1992): Was halten die Österreicher von ihrem Deutsch? Eine
sprachpolitische und soziosemiotische Analyse der sprachlichen Identität der
Österreicher. Wien.
Reiffenstein, Ingo (1982): Hochsprachliche Norm und regionale Varianten der Hoch-
sprache: Deutsch in Österreich. In: Hans Moser (Hrsg): Zur Situation des
Deutschen in Südtirol, Innsbruck (= IBK, Germanistische Reihe 13), S. 9-18.
Reiffenstein, Ingo (1983): Deutsch in Österreich. In: Wolfgang Brandt, Rudolf Freu-
denberg (Hrsg.): Tendenzen, Formen und Strukturen der deutschen Standard-
sprache nach 1945. Marburg. (=Marburger Studien zur Germanistik 3), S. 15-
27.
Retti, Gregor (1991): "Das Österreichische Wörterbuch". Entwicklung, Wortbestand,
Markierungssysteme. Dipl.Arb. Innsbruck .
Wiesinger, Peter (1990): Standardsprache und Mundarten in Österreich. In: Deut-
sche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven, hrsg. von Gerhard
Stickel. Berlin/New York. (= Institut für deutsche Sprache. Jahrbuch 1989). S.
218-232.
Wiesinger, Peter (1988): Das österreichische Deutsch. Wien (= Schriften zur deut-
schen Sprache in Österreich 12).
Wolf, Norbert Richard (1994/3): Kann man in Österreich deutsche Sprachwissen-
schaft betreiben? In: Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft
für Germanistik. Wien. S. 16-29.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 179-196

Jakob Ebner

(Linz)

Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum
österreichischen Deutsch

1. Korpus
Dieser Beitrag zeigt grundsätzliche Fragen auf und ist zugleich Erfahrungsbe-
richt. Wie der Titel anzeigt, gehe ich davon aus, daß lexikographische Arbeit auf der
Basis eines Belegkorpus erfolgt. Dabei ist zu klären, wie das Korpus erstellt und wie
damit gearbeitet wird. Der vorrangige Zweck des Korpus ist in meinem konkreten
Fall die Materialbasis für eine Neubearbeitung des Wörterbuches ”Wie sagt man in
Österreich?”, das im Dudenverlag erstmals 1969, in einer 2., neu bearbeiteten Auf-
lage 1980 erschienen ist. Das Material dient aber auch der Behandlung der Austria-
zismen in anderen Duden-Wörterbüchern. Die Essenz davon bildet die Basis für die
Österreich-Eintragungen im Rechtschreibduden, die ich dem österreichischen
Dudenausschuß zu Aufnahme vorschlage.1 Außerdem leistete die Kartei gute Dienste
bei der Erstellung der Wortliste für die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung.
Vorbild für die Materialsammlung ist die Belegkartei der Dudenredaktion, die
ich in meinen ”Lehrjahren” in der Dudenredaktion kennengelernt habe. Diese Kartei
ist neben der Kartei der Berliner Akademie der Wissenschaft, die für das
”Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache” von Klappenbach/Steinitz angelegt
wurde, das einzige deutschsprachige Belegkorpus, das nicht einfach Wörter und ihr
Vorkommen registriert, sondern auf Wortverwendung und Wortbedeutung eingeht.
(Für die Zwecke eines Rechtschreibwörterbuches würde also ein wesentlich einfa-
cheres Verfahren genügen.)

2. Die Quellen und ihre Bewertung


Wesentlich ist, daß die ausgewählten Texte einen Querschnitt durch das
Schrifttum der Gegenwart repräsentieren, und zwar Presse, Gebrauchstexte, Litera-

1
Der österreichische Dudenausschuß ist eine lose organisierte Gruppe von Germanisten aus
verschiedenen Regionen Österreichs, die eine ausgewogene, fundierte Eintragungen im
Rechtschreibduden, dem durch seine weite Verbreitung ein besonderes Gewicht zukommt,
garantieren soll. Mit Stand vom Frühjahr 1995 gehören ihm an Alois Brandstetter (Klagenfurt),
Michael Bürkle (Vorarlberg), Jakob Ebner (Linz; Leitung), Hans Moser (Innsbruck), Ingo Reiffenstein
(Salzburg), Peter Wiesinger (Wien).
-180-

tur, Rundfunk. Pressebelege nehmen dabei einen breiten Raum ein, denn der aktuelle
politisch-öffentliche Wortschatz tritt am besten in Tageszeitungen zutage. Als
Konstante verwende ich die Tageszeitung ”Die Presse”, da sie je nach Art der
Berichterstattung unterschiedliche Sprachformen einsetzt und auch um einen
sachlichen politischen Stil bemüht ist. Dazu kommen Pressebelege aus
Boulevardzeitungen und Zeitungen der österreichischen Bundesländer, z. B.
Salzburger Nachrichten, Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten, OÖ.
Nachrichten, Volksblatt, Kleine Zeitung, Kärntner Tageszeitung, Standard, Kurier,
Kronenzeitung. Die Belege stammen teils aus systematischer Exzerption, z. B. durch
einen Monat, teils aus Einzelbelegen aus zufälligen Lesefrüchten. Neben den
Tageszeitungen wurden ausführlich die Nachrichtenmagazine ”profil” und ”News”
exzerpiert.
Die systematische Exzerption zeigt einen Querschnitt durch den Sprachge-
brauch und gibt zugleich im Ablauf der Jahre Einblick in die Sprachentwicklung. Die
Einzelbelege bringen vor allem interessante Detailbeispiele.
Aus dem Gebrauchsschrifttum ragen neben den diversen Vereinszeitschriften
die Kochbücher heraus. Sie sind nicht nur wegen regionaler kulinarischer Besonder-
heiten und ihrer Ausdrücke ergiebig, sondern auch deshalb, weil sie den starken
Wandel des Kochwortschatzes in den letzten 20 Jahren zeigen: einerseits ein Ver-
schwinden vieler älterer, aber noch immer als typische Austriazismen kolportierter
Wörter, andererseits ein verstärktes Aufleben österreichischer Wörter im Fachwort-
schatz, die früher noch vermieden worden wären.
Weiters sind regionale heimatkundliche Schriften über altes Handwerk, Bräu-
che, Transportmittel usw. wertvoll. Allerdings stößt man hier bald an die Grenze zum
Fachwortschatz, den zu verzeichnen ein allgemeinsprachliches Wörterbuch von
vornherein nicht in der Lage ist. Es bieten aber auch die Wochenendbeilagen der
Zeitungen viel Material für kulturgeschichtliche Details.
In den Zeitungen sind die Textsorte und das Ressort zu beachten. Die meisten
Austriazismen finden sich auf den Sportseiten, in der Theaterkritik, in Leitartikeln
und Glossen sowie im Lokalteil. Die Arten der Austriazismen sind dabei aber je nach
Verwendungszusammenhang sehr unterschiedlich. Was die Fachtermini der Sport-
sprache betrifft, ist im Sportteil der Anteil an spezifisch österreichischem Wortschatz
stark zurückgegangen. So hat sich die Fußballsprache weitgehend des englischen
Einflusses entledigt (eine der wenigen Ausnahmen ist Out). Die Bereiche Skisport und
Tennis hatten ohnehin keine Unterschiede zum binnendeutschen Wortschatz. Ty-
pisch österreichisch ist heute eine aus der Umgangssprache schöpfende metaphern-
reiche Sprache, also eine österreichische Kommentarsprache an der Stelle der alten
österreichische Sportfachsprache. Die Theaterkritik verwendet Austriazismen häufig
als Zitatwörter aus dem Dialekt oder aus anderen Wortschatzbereichen (z. B. Sport-
ausdrücke in der Theaterkritik) und nützt so im nestroyschen Duktus die Wirkung
des stilistischen Wechsels innerhalb eines Textes oder Satzes. Ähnliches gilt, in gerin-

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-181-

gerem Maß und je nach Zeitung, für Leitartikel und Glossen. Die politische Bericht-
erstattung enthält kaum Austriazismen, zumal die Texte häufig von internationalen
Agenturen übernommen werden. Dabei macht man sich häufig nicht einmal die
Mühe der Übersetzung, sodaß man fallweise von einem ”Oberbürgermeister” liest,
einem bundesdeutschen Verwaltungsausdruck, der dem österreichischen
”Bürgermeister” entspricht.
Die zweite Frage bei der Beurteilung der Zeitungsquellen betrifft also die Arten
des Sprachgebrauchs in bezug auf die verschiedenen Sprachschichten. Im wesent-
lichen kann man hier von drei Schichten sprechen:
- Standardsprache,
- Standardsprache mit vielen Zitaten aus anderen Sprachschichten,
- dialektaler Duktus. (Damit ist aber nicht Dialekt gemeint, sondern eine Standard-
sprache, die in Satzbau und gedanklichem Konzept eine dialektale Denkgrundlage
verrät.)
Die Zeitungen zeigen aber auch die regional unterschiedliche Sprachauffassung
innerhalb Österreichs, was die Distanz zu dialektalen Formen betrifft. Auch hier ist
ein neuer Trend zu beobachten. Waren Wiener Zeitungen immer schon durch häu-
figen Wechsel in der Sprachschicht und häufige Wiener Dialektzitate
gekennzeichnet, war für Westösterreich der einheitliche Gebrauch der Standard-
sprache typisch. Nur die unvermeidbaren landschaftlich bedingten dialektalen Ter-
mini (für Landschaftsformen, Arbeitsmethoden, Arbeitsgeräte usw.) waren verschrift-
sprachlicht zu finden. Dialekt war hier der mündlichen Sprache vorbehalten. Diese
Unterscheidung gilt auch heute noch, allerdings in geringerem Maße als früher. In
den Glossen der ”Salzburger Nachrichten” findet man immer häufiger umgangs-
sprachliche Austriazismen oder Alemannismen in Vorarlberger Zeitungen.
Auch die Literatursprache tritt in verschiedenen Formen auf. Sie ist in der mo-
derne Literatur durch die Präferenz der personalen Erzählhaltung häufig situativ
orientiert und neigt schon alleine deshalb zu Verwendung unterschiedlicher
Sprachschichten als Gestaltungsmittel. Daher wird nicht zu Unrecht die Meinung ge-
äußert, als Beispiel regionaler Standardsprache würden sich Sachtexte am besten eig-
nen.
Austriazismen werden in der Literatur primär (als ”normale” Sprachmittel) und
sekundär (zitiert oder bewußt eingesetzt) verwendet. Dabei taucht auch heute noch
der alte österreichische Gegensatz zwischen städtischer (vorwiegend Wiener) und
ländlicher Lebensart auf. Für die vom Wienerischen geprägte städtische Sprache fan-
den sich aus der Literatur eine große Zahl von Beispielen, man denke nur an die
großen Werke von Doderer. Wollte man in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die
ländliche, bäuerliche Welt aus der Literatur erfassen, geriet man schnell in die Blut-
und Boden-Literatur der Dreißigerjahre. Heute hat sich im Zuge einer sozialen Um-
schichtung unter Schriftstellern wieder eine größere Zahl von Autoren des Landle-
bens angenommen, sodaß auch wieder Belege für diesen Bereich zu finden sind, ich

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
-182-

denke an Autoren wie Gerhard Roth, Josef Winkler, Alois Brandstetter. Unter Gegen-
wartsautoren mit primär verwendeten Austriazismen sind Robert Menasse für den
städtischen Bereich, Friedrich Zauner für den ländlichen Bereich ergiebig. Bewußt
zitierte, also sekundär verwendete Austriazismen finden sich in großer Zahl: Josef
Winkler, Robert Schneider, Elfriede Jelinek usw. verbinden mit ihrer Sprache ein
sozialkritisches Programm, während Alois Brandstetter seine Dialektzitate aus einer
Bildungssicht humanistischer Gelehrsamkeit heraus verwendet. Das Wort ”Adel” im
Sinne von Jauche, ein typisches bairisches Dialektwort, wird m. W. nicht primär
verwendet, dazu ist es zu dialektal. Zudem ist der Unterschied zwischen Aussprache
und Schreibung zu groß. Brandstetter verwendet es mehrmals im Wortspiel, um den
Kontrast zur standardsprachlichen Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Sekundär
verwendete Wörter, besonders wenn sie als Austriazismen reflektiert werden - wie oft
bei Doderer -, sind als Belegstelle im Wörterbuch nur bedingt verwendbar, denn die
Belege sollen ja Beispielfunktion für die Wortverwendung haben.
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist die nach dem Alter der Quel-
len. In der ersten Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” wurden einige Belege
von Nestroy, Grillparzer, Rosegger usw. aufgenommen, allerdings nur für auch heute
noch vorkommende Wörter. Das hat sich nicht bewährt, weil Wörterbuchbenützer
meist vom Alter der Quelle auf das Alter des Wortes selbst schließen. In der 2. Auf-
lage (1980) finden sich daher fast keine Belegstellen aus dem 19. Jahrhundert, dafür
viele aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: Schnitzler, Doderer, Karl Kraus,
Horváth usw. Die Wortverwendungen sind auch heute noch gültig, auch was die
Stilschicht betrifft. Als veraltet empfundenes Wortgut wird immer speziell gekenn-
zeichnet. Mit dem Ausbau der Belegkartei stehen für die meisten Stichwörter Belege
jüngerer Autoren zur Verfügung, die in einer Neubearbeitung die alten Belege erset-
zen. Auf diese Weise kann man in früheren Auflagen weitere, auch ältere, Belege fin-
den.
Rundfunk und Fernsehen werden beim Aufbau eines Korpus ebenfalls berück-
sichtigt, wenn auch das gesprochene Wort in Rundfunk oder Fernsehen nicht so ein-
fach nachzuweisen ist wie bei schriftlich vorliegende Quellen. Auffallend ist, daß
kaum ein Unterschied zu den jeweils vergleichbaren Pressetexten besteht. Naturge-
mäß sind Rundfunk und Fernsehen bei der Beobachtung der Aussprache die wesent-
lichen Quellen.

3. Exzerptoren
Bei einer Kartei, die Austriazismen sammelt, stellt sich natürlich die Frage, wer
die Markierung als Austriazismus feststellen kann. Sollen nun Exzerpte von Öster-
reichern oder Deutschen durchgeführt werden?
Eine Basissammlung können zunächst einmal nur Personen aus dem Binnen-
deutschen erstellen, und zwar aus dem nord- und mitteldeutschen Raum, weil es mit
dem deutschen Süden zu viele Überschneidungen mit dem österreichischen Deutsch

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-183-

gibt. Es haben sich aber auch Personen mit zu ausgeprägtem norddeutschen Sprach-
gebrauch nicht bewährt, da dann oft sogar mitteldeutsche Formen als österreichisch
angegeben werden. Eine Exzerption auf Austriazismen hin, die nur dadurch erfolgt,
daß jemand alle ihm fremd erscheinenden Wörter oder Verwendungsweisen mar-
kiert, ist nur die erste notwendige Stufe. Solche Angaben müssen dann erst von einer
kompetenten Person in Deutschland selbst daraufhin durchgesehen werden, ob sie
tatsächlich üblich sind oder ob es sich um nur zufällige kontextabhängige Einzelbe-
lege handelt. In einer dritten Stufe muß jemand, der für österreichischen Sprachge-
brauch kompetent ist, beurteilen, ob es sich tatsächlich um eine übliche österrei-
chische Ausdrucksweise handelt. Auch hier wäre es wieder möglich, daß ein Autor
eine ganz unösterreichische Formulierung gewählt hat oder daß es sich um einen
nicht repräsentativen Zufallsbeleg handelt. Der Weg vom Anstreichen in einer Zei-
tung oder einem Buch bis hin zu einem für den Wörterbuchartikel verwendbaren
Beleg ist somit ein weiter und zeitraubender. Wenn man die Möglichkeit hat, sprach-
lich geschulte Exzerptoren einzusetzen, wird der Vorgang verkürzt und ist zielfüh-
render. Insofern sind erfahrende Exzerptoren der Dudenredaktion, die mir gelegent-
lich in natürlich beschränktem Ausmaß zur Verfügung standen, von unschätzbarem
Wert. Vor allem können solche Exzerptoren auch Auffälligkeiten der Phraseologie,
des Präpositionsgebrauchs usw. einschätzen, die von Laien meist nicht erkannt wer-
den. In der Dudenredaktion wurde in gewissen Abständen ein Querschnitt durch
österreichische Zeitungen und Zeitschriften exzerpiert, wobei natürlich nicht nur
Austriazismen abfielen. Das erklärt, warum erstaunlich viele Belege österreichischer
Zeitungen im großen Universalwörterbuch aufscheinen, und zwar nicht nur für
Austriazismen. Exzerpte von Laien erbringen einen geringen Prozentsatz wirklich
brauchbarer Belege, andererseits aber finden sich gerade darin wieder Beobachtun-
gen, über die Fachleute hinweggegangen wären. Das zeigte sich bei den Exzerpten,
die Professor Ammon, Duisburg, dankenswerter Weise mit Studenten durchführte.
Wie diffizil es mitunter ist, österreichischen von individuellem Sprachgebrauch
abzugrenzen, zeigt folgendes Beispiel: Vor Jahren verwendete ich in Deutschland die
Formulierung ”Ich habe einen Durst”, worauf man mir erklärte, im Deutschen könne
man nur ”Ich habe Durst” sagen. Ähnliche Verwendungsweisen des Artikels beruhen
im allgemeinen auf individuellem Sprachgebrauch und können nicht als Austria-
zismen angesehen werden. Da mir die Phrase aber sehr geläufig war, wanderte er als
Lemma provisorisch in die Kartei. In der Folge fiel mir der Ausdruck mit Artikel in
der gesprochenen und geschriebenen Sprache öfter auf, sodaß ich ihn im Auge be-
hielt; eine Aufnahme in die 2. Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” war aber
nicht gerechtfertigt. Vor einiger Zeit las ich den Roman ”Herzrasen” des italienischen
Autors Marco Lodoli. Im Duktus der Sprache schien mir die Übersetzung als öster-
reichisch, ohne daß diese gefühlsmäßige Annahme durch Wortschatzschibboleths
bewiesen worden wäre. Als aber der Satz ”Ich habe einen Durst” in einem standard-
sprachlichen Kontext auftauchte, rief ich im Residenzverlag in Salzburg an, wo man

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
-184-

mir bestätigte, daß die Übersetzerin (Gundl Nagl) Österreicherin ist. Es verstärkt sich
der Verdacht, daß es sich tatsächlich um einen Austriazismus handelt.
Was die Ressourcen betrifft, ist es derzeit nicht möglich, in größerem Stil bun-
desdeutsche Exzerptoren zu beschäftigen. So muß ein wesentlicher Teil der Arbeit
doch in Österreich selbst erledigt werden. Das ergibt sich aber auch aus der Zielset-
zung. Denn wenn man nicht nur Wortlisten aufstellt, sondern auch Bedeutungen
und Wortverwendung, zum Teil sogar in genaueren Nuancen die Unterschiede zum
Binnendeutschen beschreibt, kann erst von österreichischer Seite das Material aufbe-
reitet, lexikographisch bewertet und dargestellt werden. Häufig genügt es, daß aus
Deutschland eine Erstmeldung kommt, in Österreich aber weitere Belege gesammelt
werden. Über gezielte Rückfragen kann man dann eruieren, ob alle Bedeutungen und
Verwendungen eines Wortes spezifisch österreichisch sind. Manchmal genügt auch
der Blick in das große Duden-Universalwörterbuch, in das große Fremdwörterbuch
oder den Stilduden.
Exzerption nach Austriazismen ist also ein doppeltes Verfahren sowohl aus bin-
nendeutscher als auch aus österreichischer Sicht.

4. Auswahl der Stichwörter


Welche Fragen stellt nun der Lexikograph an eine Kartei, wenn es um die lexi-
kographische Darstellung des österreichischen Deutsch geht? Wir machen im fol-
genden einfach einen Spaziergang durch die Kartei und suchen die Beispiele, die
Tendenzen der österreichischen Gegenwartssprache zeigen, der größeren Anschau-
lichkeit wegen eingegrenzt auf für das politische und öffentliche Leben signifikante
Wörter. Die Belegen aus diesem Wortschatzbereich stammen naturgemäß aus der
Presse. Die Zitate sind aus Platzgründen verkürzt, für die Abfassung von Artikeln ist
ein wesentlich größerer Kontext nötig und vorhanden.
anpatzen und anschütten (im Sinne von verleumden, beschimpfen): Die Art, wie er
Kardinal König und zuvor seine bischöflichen Mitbrüder ”angeschüttet” hat, ist
in der jüngeren österreichischen Kirchengeschichte ohne Beispiel (Die Presse
13. 4. 1995),
Bauchfleck (im übertragenen Sinn, ähnlich Flop): Belgrad interpretierte diesen
diplomatischen Bauchfleck völlig richtig: Washington setze auf den Erhalt
Jugoslawiens auch unter serbischer Vorherrschaft. (Salzburger Nachrichten 14.
7. 1992).
Intrigantenstadel (als Variation von Musikantenstadel): ”Ich halte diesen
Intrigantenstadl [Obmanndebatte in der ÖVP] nicht mehr aus” (Die Presse 18.
3. 1995). Weiterführung des Wortspiels in einem Bericht über das Bundesheer:
Jene, die im Militantenstadl den drohenden Vaterlandsmord an die Pissoirwand
malen. (profil 23. 8. 1993).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-185-

Körberlgeld (nebenbei verdientes Geld): Die Reform der Lkw-Besteuerung ... hat dem
Fiskus laut Wirtschaftskammer ein beachtliches Körberlgeld beschert. (Der
Standard 15. 11. 1994).
packeln, Packler, Packelei (paktieren, unseriöser politischer Schacher): Denn wie von
allen Seiten über den ORF, seine Posten und über mögliche Packeleien debattiert
wurde, ... (Die Presse 25. 9. 1993).
präpotent, Präpotenz (Überheblichkeit, Machtgehabe): ... die Impotenz des Staates,
die sich in Präpotenz ausdrückt (ORF, Italien-Korrespodent, 11. 8. 1993)
Haberer, verhabert, Verhaberung, Machthaberer, Haberei (politisches Agieren auf
der Basis von Freundschaften): Inmitten journalistisch-politischer Verhaberung
... (Die Furche 22. 12. 1994); Immer wieder ist die Rede gewesen von der
Gefahr der Kumpanei, der ”Verhaberung” der Kontrollierten mit den
Kontrolloren. (Die Presse 23. 10. 1994).
vernadern, Naderer, Vernaderer, Vernaderung (verraten): Die Polizei wird also zur
Vernaderung durch Gesetz aufgefordert. (profil 27. 9. 1993).
verbandelt (in Beziehung stehend mit jmd.): Er gewinne, weil er nicht verbandelt sei,
er sei für seine Konkurrenten nicht faßbar (Die Presse 27. 1. 1995).
Wortspende (Äußerung, kurze Stellungnahme; nach einem Wortspiel der Feature-
Redaktion des ORF ”Darf ich Sie um eine Wortspende bitten?”) Schluß mit
Wortspenden! ... Banale, von den Medien herausgepreßte Wortspenden ziehen
nicht mehr, weil sie eine nachvollziehbare Politik nicht ersetzen können. (Die
Furche 24. 11. 1994).
Zuckerl als produktives Substantiv, z. B. Wahlzuckerl, Steuerzuckerl.
Häfenurlaub (Ausgang für Häftlinge, Hafturlaub), ”Häfenurlaub” kommt ursprüng-
lich aus dem Slang, wurde dann aber in standardsprachliche Texte übernom-
men und dominiert in der Presse so sehr, daß kaum die sachliche Bezeichnung
vorkommt, womit die negative Bewertung eines Hafturlaubs indirekt mit-
schwingt.
Im Überblick zeigt sich, daß die Sprache der Öffentlichkeit viele Wörter aus Be-
deutungsübertragungen schöpft und ihre Anleihen zu einem nicht geringen Teil von
älteren dialektalen oder umgangssprachlichen Wörtern nimmt, was zur Folge hat,
daß diese Wörter meist emotional oder konnotativ besetzt sind. Gerade dadurch sind
sie aber Zeugnis für die inoffizielle Geschichte, die politische Stimmungslage des
Landes.
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang auch die saloppen, abwertenden
Bezeichnungen für Nachbarvölker, die natürlich nicht standardsprachlich sind, aber
in zitierter Rede auch literarisch häufig vorkommen: Tschusch, Piefke, Katzelmacher.

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
-186-

Während Tschusch in seinem Gebrauch im wesentlichen unverändert ist,


Katzelmacher seine Aktualität verloren hat und vorwiegend in älteren Texten vor-
kommt bzw. von älteren Personen verwendet wird, bahnt sich bei Piefke eine Ent-
wicklung an. Zum einen verdrängt es in Österreich fast ganz das Wort ”Preuße”
(somit ergibt sich ein deutlicher Sprachunterschied zu Bayern), zum andern verliert
es zunehmend an negativem Charakter und kann in Einzelfällen auch fast wertneu-
tral oder sogar anerkennend verwendet werden. Die Undifferenziertheit der Bedeu-
tung entspricht der Unklarheit über die Begriffe ”Norddeutscher”, ”Preuße” (im hi-
storischen Sinn) und ”Bundesdeutscher”, für die es ja in Österreich meist keine
klaren geographischen Vorstellungen, sondern vor allem gefühlsmäßige Einschät-
zungen gibt. Wenn in einem Beleg von einem österreichischen Fußballer, der nach
Deutschland engagiert werden sollte und dem es offenbar an Disziplin fehlt, mit dem
Satz die Rede ist Die Piefkes werden’s ihm schon abgewöhnen (”täglich Alles” 19. 9.
1993), so läßt das freilich tief blicken in eine Mentalität des sich Unterordnens unter
den ”großen Bruder”.
Natürlich gibt es auch sachliche, offizielle Termini der Öffentlichkeitssprache, z. B.
Belangsendung,
Klub, Klubzwang, Klubsitzung, Klubobmann, Klubobfrau (Fraktion),
Präsidiale (Sitzung des Parlamentspräsidiums),
ressortieren (in die Zuständigkeit eines Ressorts gehören),
Sprengel, -Schul-, Wahl-, Seelsorgssprengel (Bezirk),
Suchtgift (amtlich für Rauschgift), Suchtgiftfahnder,
Verstaatlichte, Verstaatlichtenminister, -sprecher, -krise.
wilde(r) Abgeordnete(r) (Abgeordnete(r) ohne Parteizugehörigkeit).
Ein eigenes, interessantes Kapitel bilden historisierende Ausdrücke für Vorgänge
der aktuellen Politik. Auch sie sind Zeugnis des politischen Bewußtseins und der
Herkunft der politischen Denkweisen:
Kaiser, Bezirkskaiser, VÖEST-Kaiser, Betriebskaiser, Ortskaiser (und zwar im allge-
meinen eher für sozialdemokratisch dominierte Bereiche),
Granden, VP-Granden, ORF-Granden, ÖIAG-Granden, Gewerkschaftsgranden
(einflußreiche Personen, bes. einer Partei; in Deutschland auch in dieser Be-
deutung üblich, aber nicht in diesen politischen Zusammenhängen),
Patriarch, Bezirkspatriarch, Landesfürst (wobei meist Landeshauptleute VP-
dominierter Bundesländer gemeint sind),
Reichshälfte: rote, schwarze, linke, rechte Reichshälfte (aus Zeiten einer großen Ko-
alition mit Proporzsystem die Einflußbereiche der beiden Parteien SPÖ und
ÖVP),

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Kakanien, kakanisch (die auf Musil zurückgehende Wortprägung bezieht sich dabei
nicht auf die historische k.u.k. Monarchie, sondern auf skurrile oder sonderbare
Zustände der Gegenwart),
Riese: der rote, grüne Riese (SP-nahe bzw. VP-nahe Wirtschaftsbetriebe),
Ausgedinge (Altersversorgung oder Positionen nach dem Ausscheiden aus der Po-
litik),
Illegaler (mit deutlicher Konnotation an illegale Nazis in der 1. Republik),
pannonisch (im jüngeren Sinn für burgenländisch, z. B. pannonische Küche, pan-
nonisches Gymnasium).
Wörter spiegeln auch die lokalen und kommunalen Probleme. So steigen in den
letzten Jahren die Wiener Belege für
Parkpickerl, Josefstadt-Pickerl, Pickerlbesitzer, Pickerlregelung, Parkpickerl-Modell
usw.
Bim (Straßenbahn),
Ohrwaschel (im Sinn von Gehsteigverbreiterungen vor Kreuzungen): Ohrwascheln
räumen! (Aufruf zur Gehsteigräumung im Winter; Die Presse 10. 12. 1994);
Die Verkehrsbetriebe bestehen auf den Ohrwascheln (Die ganze Woche
39/1993)

5. Bearbeitung der Stichwörter


Die Beobachtungen des Wortschatzes der Gegenwartssprache gehen in zweier-
lei Richtungen: Welche Wörter sind in einer bestimmten Zeit hochfrequent und pro-
duktiv? Welche Wörter werden gemeindeutsch und sind daher nicht mehr als
Austriazismen zu verzeichnen?
Zu aktuellen Wörtern gehören z. B. lukrieren, Kurator (spezifisch österreichisch
ist dabei die Bedeutung: Mitglied eines Kuratoriums, z. B. ORF-Kurator), Causa,
Pouvoir, Austro-.
Lukrieren hat in den letzten Jahren nicht nur an Frequenz, sondern auch an
Verwendungsumfang gewonnen, sodaß ich eine lexikographische Erfassung von
Grund auf neu ansetzen mußte. Das Wort scheint in den meisten Wörterbüchern
nicht auf, auch nicht im Österreichischen Wörterbuch. Das Duden Universalwörter-
buch (2. Auflage 1994) führt es als veraltet in der Bedeutung ”gewinnen, einen Ge-
winn machen”, in der 2. Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” wird es als
Fachwort aus der Wirtschaft in der Bedeutung ”Gewinn erzielen” mit einem Presse-
beleg geführt. Diese Angaben werden der heutigen Verwendung nicht mehr ganz ge-
recht. An dem Beispiel zeigen wir den Weg von den Belegen zum Artikel. Dabei sind
sowohl die Subjekte als auch die Objekte zu beachten, die mit diesem Verb verbunden
werden können:

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
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Subjekt Verb Objekt


der ”rote Riese” (Konsum) lukrier- 1,5 Mrd. für das Innenstadt-Haus
der Finanzminister 400 Mill. an Münzgewinn
Kaufmann Skonti
die Republik 600 S pro Quadratmeter
der Bürgermeister Gewinne aus seinen Beteiligungen
man eine Transportversicherung
wirtschaftlich erfolgreiche Zuwendungen aus diesem Budgetposten
Blätter (für sich)
man Kursgewinne
die Volkspartei das Kapital [das Ansehen der Ministerin]
er [der Bundespräsident] diesen Bonus [polit. Vorteile]
Jörg Haider das beste Ergebnis bei den letzten
Wahlen
”junge” Politiker Abschlag [gemeint ist: Nachsicht]

Die horizontalen Linien zeigen die Veränderungen in der Bedeutung: Die Mehr-
zahl der Belege betreffen wirtschaftliche Verhältnisse, der zweite Teil sind Metaphern
aus der Wirtschaft, im dritten Teil hat sich das Verwendungsfeld der Objekte bereits
vom ursprünglichen Bereich entfernt. Der Wörterbuchartikel dazu müßte dann diese
Form haben:

lukrieren, lukrierte, hat lukriert <lat.> (Wirtschaft): a) [Gewinn] erzielen, in Ge-


winn umsetzen: Die Republik ... ließ ... die Liegenschaft schätzen und lukrierte jetzt
... 600 Schilling pro Quadratmeter (Die Presse 20. 9. 1990); Gleichzeitig erklärt
er, aus seinen Beteiligungen weder Verluste geltend gemacht, noch Gewinne
lukriert zu haben (Salzburger Nachrichten 16. 2. 1990); (übertragen:) In den
Umfragen lag sie stets über den Werten ihrer Partei - und trotzdem konnte die
Volkspartei dieses Kapital nicht lukrieren. (Die Presse 2. 3. 1991); Durch seine
Reisetätigkeit, die ständige Präsenz ... und das Vakuum, das sein Vorgänger
hinterlassen hat, lukriert er [Klestil] diesen Bonus. (profil 27. 9. 1993); Dort
lukrierte Jörg Haider bei den letzten Nationalratswahlen das beste Ergebnis. (ORF,
Ö1, Mittagsjournal, 13. 6. 1994). b) ausbezahlt bekommen: eine Pension,
Versicherung lukrieren; Vranitzky kritisierte, daß ... "einige Verleger"
wirtschaftlich erfolgreicher Blätter ebenfalls Zuwendungen [aus der
Presseförderung] für sich lukrieren wollten. (Die Presse 24. 8. 1994); Will man
eine Transportversicherung lukrieren, muß etwas auf dem Transportweg vorfallen
(Die Presse 16. 1. 1991). (Das Verb lukrieren ist im Binnendt. selten oder veraltet,
das Adjektiv lukrativ unterscheidet sich in Österreich und im Binnendeutschen
weder in Frequenz noch in Bedeutung.)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Die folgenden Beispiele mit den Belegstellen zeigen die weite Streuung dieses
Bildungstypus:
Austro-Chinese (österreichischer Tischtennisspieler chinesischer Herkunft, Salzbur-
ger Nachrichten 12. 4. 1990)
Austro-”Dynasty” (österreichische TV-Serie nach dem Muster der Serie ”Dynasty”,
Die Presse 21. 1. 1991)
Austro-Berserker (Harald Kislinger, österreichischer Dramatiker mit wuchtigen
Themen; Volksblatt 18. 2. 1995)
Austromasochismus, Austro-Masochismus (Jörg Mauthe redet in ähnlichem Zu-
sammenhang vom ”Austromasochismus” und meint damit jene Mentalität, die
den Begriff des Österreichischen von vornherein in negative Beziehungen zur
Welt setzt; Die Presse 21./22. 11. 1970; Die langjährige SP-Spitzenpolitikerin
Gertrude Fröhlich-Sandner bedauert einen ”Austro-Masochismus”, Die Presse
12. 4. 1990)
Austrofaschist (Basta 4/1993)
Austro-Krimi (Standard 4./5. 1995)
Austropop, Austro-Pop (Austropop-Prominenz feierte in Graz 20 Jahre Opus; täglich
Alles 19. 9. 1993)
Austro-Popper (... daß sich der Bürgermeister seit Jahren zur Fangemeinde des Aus-
tro-Poppers zählt; Tiroler Tageszeitung 22. 8. 1992)
Austro-Kicker (österreichische Fußballnationalmannschaft, Standard 15. 11. 1994)
Austro-Slowenen (Die Toleranz mit Austro-Slowenen und Tschuschen; Salzburger
Nachrichten 7. 3. 1994)
Austro-Barde (Fendrich. Der Austro-Barde als Carell-Nachfolger; News 15. 7. 1994)

Weiterführungen sind das Wortspiel


Austronaut (österreichischer Astronaut; eine TV-Dokumentation über die Vorberei-
tungsarbeiten der Austronauten; Die Presse 30. 1. 1991) und das Adjektiv
austriakisch (Die böhmische Küche ... rangiert in der austriakischen Wertordnung
gleich nach dem Dreigestirn Sängerknabe - Lippizaner - Heuriger; Die Presse
21. 9. 1994).

Zu den produktivsten Wörtern gehört in einer Zeit großer Verkehrsprobleme


das Wort Maut mit allen Zusammensetzungen und Ableitungen, z. B. Mautplatz, -
einhebung; -einhebung, -hoheit, -system, -pflichtig, -strecke, Streckenmaut, Video-
maut, Mautner, Bemautung. Als altes bairisches Wort war es in Österreich in die
Standard- und Verwaltungssprache gelangt und natürlich infolge des Straßen-

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
-190-

verkehrs über die Alpen gesamtdeutsch bekannt geworden. Nun scheint es in


Deutschland aber nicht nur mehr passiv verstanden, sondern auch aktiv gebräuch-
lich zu werden, und das nicht nur im Zusammenhang mit den Alpenverkehr, sodaß
Maut möglicherweise in absehbarer Zeit seinen Status als Austriazismus verlieren
könnte.
Ähnliches könnte bald mit Palatschinke geschehen. Einerseits hat sich in Öster-
reich die Form und der kulinarische Stellenwert geändert, andererseits wurde das
Wort nach Deutschland exportiert und steht dort nicht für eine neue Speise, sondern
bezeichnet die ohnehin auch einheimische Speise (Pfannkuchen u. ä.) neu, sodaß
Palatschinke ein gesamtdeutsches Wort für eine regional nicht mehr typische Speise
wird. Es stehen hier Wörter und Sachen in einem engen Zusammenhang. Die Ände-
rung der Art, wie Palatschinken serviert werden, hängt auch mit dem Aufkommen
der französischen Crêpes zusammen, auf die offenbar teilweise das Wort Palatschinke
”darübergestülpt” wurde. Der Sach- und Sprachzusammenhang der Begriffe
Omelett, Palatschinke, Pfannkuchen und Crêpe wäre einer genaueren Untersuchung
wert.
Die Fügung im nachhinein wurde nach vielen Überlegungen und Rückfragen in
der 1. Auflage von ”Wie sagt man in Österreich?” noch als ”besonders öster-
reichisch” geführt, in der 2. Auflage wegen der inzwischen deutlich gewordenen ge-
samtdeutschen Verbreitung eliminiert, jetzt ist der Ausdruck bereits Musterbeispiel in
den neuen Rechtschreibregeln. Allerdings ist das Gegenstück im vorhinein nach wie
vor auf Österreich beschränkt.
Eine Gruppe von Wörtern gehört zwar der Standardsprache an, kommt aber
kaum als primäres Wort vor, sondern nur als stilistische Variante in der Funktion
einer Proform, z. B.

Advokat (neben Anwalt) Gouvernal (neben Lenkstange)


Säckelwart (neben Kassier), Staatssäckel Goalie (neben Tormann)
Salär (neben Gehalt) Florianijünger (neben Feuerwehrmann)

Sammeln und Beobachten von österreichischer Sprache heißt nicht unbedingt,


daß jedes Wort in ein Wörterbuch eingehen muß. Erst über längere Sicht zeigt sich
manchmal, ob ein neues Wort oder neu aus anderen Sprachschichten übernommenes
Wort wirklich einen festen Platz im Sprachgebrauch erhält und daher kodifiziert
werden darf. Viele situationsbedingte Wörter verschwinden wieder. Das Wort mono-
color mit der Substantivierung die Monocolore war z. B. typisch für die politische
Situation der Sechzigerjahre, als nach der langen Nachkriegsperiode der großen
Koalition erstmals 1966 eine Alleinregierung gebildet wurde. Als Hybridform (aus
monochrom und unicolor) oft kritisiert, kam es außer Gebrauch, als Alleinregie-
rungen selbstverständlich wurden. Auch nach der erneuten Bildung einer großen

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Koalition 1987 hatte es keinen Platz mehr im politischen Wortschatz, wenn es auch
gelegentlich als bildungssprachliches Wort in einem allgemeineren Sinn vorkommt.

6. Die Rolle des Dialekts


In Österreich, als einem Gebiet mit Dialekt-Standard-Kontinuum, spielt der
Dialekt eine besondere Rolle. Die Erforschung des österreichischen Deutsch geht da-
bei aber nicht von der Dialektologie aus, die einen eigenen Gegenstand darstellt, son-
dern vom Standard. In den Belegen nehmen die Dialektwörter oder -formen, die in
schriftlichen Texten (reine Mundarttexte natürlich ausgenommen) vorkommen,
einen breiten Raum ein. Man ist dabei in jedem Einzelfall zu Interpretationen ge-
zwungen. Reine Zitatwörter (vergleichbar einem lateinischen oder englischen Zitat-
wort) sind zuerst einmal außer Acht zu lassen. Zu beachten sind sie erst dann, wenn
in einem längeren Zeitabschnitt häufig zitierte Wörter in den umgangssprachlichen
Wortschatz übergehen. Im Kurier vom 29. 1. 1995 und in der Folge noch einige
Male, wurde ein 17jähriger Bursch zitiert, das von ihm ermordete Mädchen sei
”anlassig” (ausgelassen, sexuell aktiv) geworden. Dieser basisdialektale Beleg bleibt,
obwohl für den konkreten Anlaß mehrmals vorkommend, ein Einzelbeleg. Ob das
Wort in standardsprachlichen oder umgangssprachichen schriftlichen Texten später
öfter vorkommt (vielleicht weil einmal in die Pressesprache eingeführt?) oder im Ba-
sisdialekt bleibt, ist nicht abzusehen. Eine Gesetzmäßigkeit, welche Wörter in einen
regionalen Standard aufsteigen, ist nicht erkennbar. Man kann nur im nachhinein
ihren neuen Stellenwert feststellen.

Erstaunlich viele veraltete Wörter, die entweder aus dem Dialekt kommen oder
aus einer alten traditionellen bürgerlichen Kultur als Relikt erhalten geblieben sind,
tauchen immer wieder in Belegen auf. Ich nenne einige Beispiele:

Badewaschl (Bademeister)
ballestern (Fußball spielen)
blut-: blutwenig (verstärkendes Bestimmungswort)
brenn-: brennrot, brennheiß, brennkalt (verstärkendes Bestimmungswort)
Frischgefangte(r) (Berufsanfänger[in])
Goiserer (Bergschuh)
Gote, Godn, Göd, Göte (Pate, Patin)
Grätzl, Grätzlfest (Stadtviertel)
Greißler, Greißlersterben (Gemischtwarenhändler)
Haferlschuh (fester Halbschuh)
Hansl (Rest im Bierglas)
Kaffeesieder (Kaffehausbesitzer, Berufsbezeichnung)
Kiberer (Kriminalbeamter)
Klamsch (geistiger Defekt)
Kombinesch (Unterkleid)
komplett (voll besetzt)

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
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Körberlgeld (Nebenverdienst)
Maschekseite (Hintertür)
Mulatschag (ausgelassenes Fest, Orgie ungarischer Prägung)
Nachzipf (Wiederholungsprüfung)
Nebelsuppe (dichter Nebel)
Pawlatsche (Gang an der Außenseite eines Hauses, Bretterbühne)
Psyche (Frisiertoilette mit Spiegel)
Salzamt (unerreichbare Instanz)
Strizzi (Gauner)
Strotter (im Abfall Stochernder, Obdachloser)
Taschlzieher (Taschendieb)
Topfenneger (Mensch mit weißer, ungebräunter Haut)
Tröpferlbad (öffentliches Bad zur Körperreinigung)
Wappler (eigenartiger Mensch)
Wuchtlkicker (Fußballer)
Zeugl (Kutsche mit Pferd)
Manche davon sind tatsächlich in der Alltagssprache fest verankert, wie Zeugl,
Grätzl, Greißler, andere tauchen nur in bestimmten Kontexten auf. Es kommen aber
aus verschiedener Quelle neue saloppe Wörter auf, z. B.:
Keks (Uniformstern, z. B. beim Bundesheer, bei der Feuerwehr)
nullkommajosef (verstärkend für ”nichts”, zusätzlich bekannt, seit eine alkoholfreie
Biersorte so benannt wurde),
Vifzack (geschickter, rasch reagierender Mensch),
Wunderwuzzi (Mensch, von dem man die Lösung aller Probleme erwartet).
Dialektwörter, die in den regionalen Standard oder wenigstens in eine allge-
meine Umgangssprache übergewechselt sind, sind z. B.:
bärig (verstärkendes Wort)
brodeln (langsam arbeiten, zu spät fertig werden)
Budel (Theke)
durchfretten (mit Mühe durchbringen)
kiefeln (kauen)
pecken (picken)
Pflanzerei (Neckerei)
stad, hackenstad (arbeitslos), schmähstad (zu keiner entsprechenden Antwort mehr
fähig)
Tachinierer (Faulenzer)
Taschenfeitel (Taschenmesser)
Tschick (Zigarette)
Trumm (großes Stück)
unbetamt (unerfahren, naiv, unelegant), Untam (unförmiger, ungehobelte Mensch)
urassen (verschwenden)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Einige Wörter aus dieser Gruppe haben die Grenzen der Sprachschicht völlig
übersprungen und gehören heute zu den produktivsten Wörtern des österreichischen
Deutsch:
Pfusch, pfuschen, Pfuscher (Schwarzarbeit),
Sandler (Obdachloser)
Pickerl, Parkpickerl, Autobahnpickerl (Klebeetikett, Vignette)
Hacken, hackeln, Hackler ([manuelle] Arbeit)
Schmäh, Lavendelschmäh (zu offensichtlich billiger Trick), Schmähbruder, Schmäh
führen, Schmähführer, schmähstad, Öko-Schmäh
In der Literatursprache kommen immer wieder basisdialektale Restfomen vor, z. B.

Adel (Jauche) Anken (Butter, alemannisch)


gach (jäh) geraten (gelingen)
Alzerl (ein bißchen) ausspechteln (ausspionieren)
gar (zu Ende) ausstallieren (beanstanden)
Leich(e) (Begräbnis) aus Bestemm (aus Prinzip)
Mus (Schmarren, Speise aus Mehl, Eiern Spreck (Tick)
und Fett)
bakschierlich (niedlich, hübsch) Dati (Vater)
pomali (langsam) zersprageln (sich die Füße wundlaufen)
Diese Wörter sind deshalb aber nicht typisch für österreichischen Standard. Sie
sind einerseits wegen ihres Stilwerts innerhalb des Textes interessant, andererseits
werden sie von mir gesammelt, um eine eventuelle Entwicklung nachvollziehen zu
können.

7. Der Lemmaansatz
Lexikographische Probleme werfen die Wörter auf, deren Lautung nicht im
Standardschriftsystem vorkommen. Sind es volkskundliche Termini, werden sie auch
in der Dialektlautung wiedergegeben, z. B.
Kripperlroas (ein Adventbrauch; als Terminus nicht als -reise wiederzugeben),
Moar (Kapitän einer Mannschaft beim Eisstockschießen; nicht als Mayer denkbar),
Tram, Tramdecke (Balken; nicht etymologisch als Träme).
Schwierig wird es, wenn Wörter mündlich in regional verschiedenen Dialekt-
lautungen und auch in einer verschriftlichten Form vorkommen. Dabei entstehen
unterschiedliche Schreibungen, z. B. in
Millirahmstrudel/Milchrahmstrudel Speis/Speise (Speisekammer)
Kirtag/Kirchtag Leich/Leiche (Begräbnis)
Simperl/Simpelein (Körbchen)
Die Lautunterschiede beruhen auf Regionalismen innerhalb Österreichs. In
Wörtern mit deutlichem Lautunterschied, z. B. ausbandeln/ausbeineln (die Knochen

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
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auslösen), lassen sich sowohl Gründe für eine dialektale Schreibung im Sinne einer
lexikalisierten Bedeutung als auch für eine etymologische Schreibung mit dem Vorteil
größerer Durchsichtigkeit anführen. Die Belege für die beiden Möglichkeiten halten
sich die Waage. In einige Fällen ist die übertragene Bedeutung nur in dialektaler Aus-
sprache denkbar:
drahn/drehen (im Sinne von: die Nacht zum Tag machen)
gemähte Wiese/gmahte Wiesn (etwas ohne Anstrengung Erreichtes).
Lexikographisch ist es am sinnvollsten, alle vorkommenden Formen anzuführen
und das Problem selbst zu thematisieren. Beispiel eines Wörterbuchartikels mit zwei
getrennten Lemmata:

gemäht: *eine gemähte Wiese, verschriftsprachlichte Form von Çgmahte Wiesen:


Dann wird der Generalversammlung in Paris [über die Weltausstellungspläne] im
Monat Mai berichtet. Eine gemähte Wiese also? (Salzburger Nachrichten 7. 4. 1989);
Er hatte gedacht, für ihn sei ich nur noch eine gemähte Wiese. (G. Fussenegger,
Spiegelbild mit Feuersäule 163). - Es kommt sowohl die hochsprachliche als auch die
dialektale Schreibung vor, die Aussprache ist aber immer dialektal.
gmahte Wiesen, die; -n -, -n - (ugs.): ein sicherer Erfolg; etwas, was ohne Mühe
erreicht werden kann: A g'mahte Wiesen ist das [Gewinn der Wahlen] net, das ist mir
klar", meint Pröll nachdenklich. (OÖN 28. 4. 1993); ... sieht es so aus, als würde aus
der "g'mahten Wies'n" für den Profi Busek ein offenes Rennen zwischen den beiden
Obmannkandidaten. (OÖN 21. 6. 1991); Es war mir bei der Annahme von "Cabaret"
vollkommen klar, daß es keine "gmahte Wiesen" werden kann (Die Presse 17. 12.
1970). Çgemäht.

Gerade etymologisch undurchsichtig gewordene Wörter treten in verschie-


denen Lemmaansätzen auf, z. B. Glumpert, Klumpert, Gelumpe. Wählt ein Autor die
Form Gelumpe, so wählt er die etymologische, aber nicht gesprochene, in der An-
nahme, die Leser würden sie je nach ihrem Dialekt aussprechen. Glumpert oder
Klumpert dagegen ahmen die tatsächlich gesprochene Form nach, wobei die beiden
Schreibungen mit G- und K- den stimmhaften und stimmlosen Verschlußlauten einer
Region dokumentieren bzw. die Schreibunsicherheit, die durch die fehlende Unter-
scheidung der beiden Laute entstanden ist. Will man der Sprachwirklichkeit unmit-
telbarer entsprechen, ist dieser zweite Zugang zu einem Stichwort der naheliegende,
er hat aber den Nachteil, daß möglicherweise eine regional beschränkte Variante zur
Norm erhoben wird, die für andere Regionen nicht maßgeblich ist.
Es ist vor allem eine bestimmte Gruppe von Lauten, die hier eine Rolle spielen.
In einigen älteren Dialektwörtern kann der gesprochene Diphthong ie mit dem lan-
gen i verwechselt werden: klieben, Kliebhacke; schiech; schliefen, Schlieferl,
Ohrenschlieferl. Daher taucht in Texten gelegentlich die Schreibung mit ia auf, was

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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allerdings im Schriftsystem sehr fremd wirkt. Schiech z. B. wird aus dieser Unsicher-
heit auch schiach oder sogar schiarch geschrieben. Das sind freilich Varianten, die
man im lexikographischen Ansatz besser nicht nachvollzieht, sondern wenn nötig
durch Verweise regelt. Der lautliche Zusammenfall von mhd. ei mit der Vokali-
sierung von -ar- führt gelegentlich zu Lemmatisierungsproblemen. Das Wort
Scheiten (Späne), z. B. in Hobelscheiten tritt in dieser etymologisch richtigen Form
kaum mehr auf, dagegen als Schaten (laut Wiener Dialektaussprache, so bei Nestroy),
meist aber als Scharten und fällt so mit einem anderen Wort zusammen.
Ein ähnliches Problem stellt sich beim Diminutiv zu Laib, das freilich nicht nur
Diminutiv ist, sondern auch gesonderte Bedeutungen hat. Es gibt zwei Möglichkeiten
des Lemmaansatzes:
Variante 1 [rundes Stück Brot, Käse]
Laibchen
Laberl Loaberl

Variante 2 [rundes Stück Brot, Käse]

Laibchen Laiberl
Laberl Loaberl

Laibchen ist die der gesamtdeutschen Standardsprache nachgebildete Form, die in


Österreich schriftlich häufig vorkommt, praktisch nie aber mündlich. Der Zu-
gang zum Lemma ist also bestimmt von schriftlicher oder mündlicher Sprache.
Laiberl ist die im deutschen Südosten häufigste Form (in Kärnten und Tirol nicht bo-
denständig),
Laberl ist die der ostösterreichischen Umgangssprache nachgebildete Schreibung,
Loaberl entspricht der westösterreichischen Mundart.

Da Laiberl schriftlich kaum vorkommt, ist diese Form in Variante 1 ausgespart.


Sie hätte aber den Vorteil, daß sie durch ai als bairische Form gekennzeichnet wäre,
aus der dann jede Dialektlandschaft die jeweilige Lautung ableiten kann. Dieses in
Bayern übliche Verfahren ist in Österreich nicht eingeführt, vermutlich weil die Aus-
spracheunterschiede doch zu groß sind.

Vielfach wird aber die Form Laibchen überhaupt abgelehnt (so wurde im Öster-
reich-Kalender des Goethe-Instituts eine entsprechende Korrektur nachträglich
durchgeführt) und nur Laberl als Lemma angesetzt. Das entspricht nicht den öster-
reichischen Verhältnissen, denn in der einschlägigen Literatur (Kochbücher, kuli-
narische Berichte, Aufschriften in Bäckereien usw.) überwiegen die Laibchen-
Schreibungen. Man muß für Österreich die Diskrepanz zwischen gängiger Lautung

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
-196-

und Schreibung akzeptieren und entweder einer aussprachenahen Schreibung ent-


sprechend mehrere Lemmata oder entsprechend einer anderen Zielsetzung eines
Wörterbuchs eine stärker etymologisch-systemgetreue Schreibung ansetzen. Freilich
sollte innerhalb eines Wörterbuchs das System einheitlich sein.
Das heißt aber nicht, daß alle Schreibungen genau nach einer Norm gehen
müssen. Wörter mit bestimmten Lautkombinationen können unterschiedliche Ent-
wicklungen nehmen. Gerade die Gruppe mit der Vorsilbe Ge- bzw. G- verläuft je
nach Stichwort unterschiedlich, wodurch es für den Lexikographen schwierig ist,
einen befriedigenden Ansatz zu finden, z. B.

gführig Griß Gschropp


Ghörtsich Gscherr Gespritzter
ghupft wie gsprungen gschmackig Gspusi
Gluscht Gschnas Gstanzl

Während etwa Gschnas und Gspusi schon wegen der Herkunft keine Vorsilbe
Ge- haben können, ist eine Form Gespritzer denkbar und auch häufig, bei gsch-
mackig/geschmackig sind die beiden Formen etwa gleich stark vertreten. In diesem
Bereich wird man nicht umhinkommen, unterschiedliche Ansätze zu verwenden.
Eine Lenkung durch den Lexikographen besteht dann nur in der Entscheidung, wel-
che Form als Hauptform angesetzt wird.
Neu ist aber in jüngerer Zeit, daß der Apostroph als Auslassungszeichen eine
Renaissance erlebt, sowohl in der Presse als auch z. B. in den Inserts des Fernsehens:
G’riß, g’schmackig. Da man Apostrophformen nicht als Lemma ansetzt, hat das zur
Folge, daß in einer rückläufigen Entwicklung die vollen Formen mit Ge- wieder zu-
nehmen, denn der Apostroph kann nur als Ersatz für das -e- verstanden werden.

8. Schluß
Einer differenzierten Darstellung in einem Wörterbuch steht oft der Zwang zu
Kürze und ein zu enges soziolinguistisches und stilistisches Markierungssystem im
Wege. Die Angabe ”umgangssprachlich” ist vielfach zu weitmaschig und daher we-
nig aussagekräftig. Einen Ausweg bietet die Unterscheidung zwischen
”umgangssprachlich” für Wörter, die dem System des Standard entsprechen, aber
nicht in allen üblichen, sachlichen Kontexten angewandt werden können, und
”mundartnah”2 oder ”dialektnah” für Wörter, die aus dem Basisdialekt kommen und
ihren Geltungsbereich ausgeweitet haben. Außerdem sollte Standardsprache unter-
schieden werden in ”offiziell” (in sachlichen, auch öffentlichen Texten verwendbar)

2
So Kurt Meyer in ”Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen Besonderheiten”.
Dudenverlag, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1989. Duden Taschenbücher Bd. 22

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-197-

und ”inoffiziell” (eher der Kommentarsprache angehörend). Außerdem könnten


Markierungen wie ”Zweitwort” oder ”dialektales Zitatwort” gute Dienste leisten.
Arbeit an einer Sprachkartei ist anders als Arbeit an der sprachlichen Theorie.
Eine Kartei belegt Zusammenhänge und Entwicklungen, die man als Sprachbenutzer
sonst nicht bewußt mitvollziehen kann. Für die Darstellung des österreichischen
Deutsch ist dabei wichtig, daß diese Varietät weder zu einem Museum eines alten
Zustandes eingefroren noch zwanghaft als Mittel zu übertriebener Neuerung oder
Abgrenzung gesehen wird. Die Belege führen eine einseitige Sicht wieder zu einer
sachbezogenen Betrachtung. Die Sammlung des Materials ist die wichtigste Aufgabe
für das Erfassen des österreichische Deutsch. Eine Kartei kann aber auch vieles vor-
täuschen, was nicht unbedingt der Wirklichkeit entspricht, wenn man der Gefahr
unterliegt, einseitig vor allem das Ausgefallene, Interessante zu sammeln. Daher ist
die Interpretation der Quellen die zweite große Aufgabe. Es kommt nicht nur darauf
an, daß ein Wort, eine Phrase oder eine Wortform belegt ist, auch Textsorte und si-
tuativer Zusammenhang sind wesentlich. So können die Belege Entwicklungen nach
verschiedenen Richtungen aufzeigen: Sie zeigen die Neuerung der Sprache, sie zeigen
aber auch das bewußte Festhalten aus Gründen der Identität. Entwicklungen verlau-
fen manchmal auch anders, als man es erwartet hätte.

Jakob Ebner: Vom Beleg zum Wörterbuchartikel -


Lexikographische Probleme zum österreichischen Deutsch.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 198-207

Matthias Wermke

(Mannheim)

Austriazismen im gemeinsprachlichen
Wörterbuch des Deutschen, dargestellt an
DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch (DDUW),
2. Auflage 1989

1. Vorbemerkung
Wenn gemeinsprachliche Wörterbücher des Deutschen auch nur in Teilen des
Sprachgebietes geltende lexikalische Einheiten verzeichnen, dann geschieht dies
heute nicht mehr vorrangig in sprachpflegerischer Absicht1, sondern in dem Bestre-
ben, die synchrone Vielschichtigkeit der Sprache und insbesondere ihrer Lexik gerade
auch in diatopischer Hinsicht wenigstens ansatzweise zu dokumentieren. Wör-
terbücher können nicht davon abstrahieren, daß das Deutsche ein Kontinuum ist, in
dem die Varietäten des sogenannten Substandards zum Teil erhebliche sprachliche
Relevanz haben. Dieses lexikographische Ziel ist für das Deutsche von besonderem
Belang und offenbar auch nicht unproblematisch, als sich das Sprachgebiet über
mehrere politisch souveräne Staaten erstreckt und die politischen Verhältnisse und
das mit ihnen einhergehende nationale Eigenbewußtsein zwangsläufig auf die Spra-
che und besonders den Wortschatz einwirken. Zwar zerfällt die Einheit der Sprache
dadurch nicht, aber es entwickeln sich dennoch Unterschiede, die die Kommuni-
kation in bestimmten Bereichen erschweren können. Solche werden schon ganz vor-
dergründig augenfällig bei den Namen von politischen Institutionen und Amtsträgern
(in der ehemaligen DDR Volkskammer, Staatsratsvorsitzender; in Österreich
Landeshauptmann; in der Schweiz Kantonsgericht, Landsgemeinde, Landammann),
um nur ein Beispiel genannt zu haben.
Die Aufnahme von Austriazismen und anderer, nur in Teilen des deutschen
Sprachraums verbreiteter lexikalischer Einheiten ins gemeinsprachliche Wörterbuch
rechtfertigt sich aber daneben auch durch die aus den außersprachlichen Bedingun-

1
In der 9. Auflage des Österreichischen Wörterbuches, mittlere Ausgabe 1951, heißt es im Vorwort
zum Beispiel noch zu den entsprechend markierten Wörtern der ”österreichischen Umgangssprache
und der österreichischen Mundarten”: ”Damit werden die Benutzer des Wörterbuches von der
Verwendung der Umgangssprache oder der Mundart in der gehobenen Sprache ausdrücklich
gewarnt und zugleich zu den guten gemeindeutschen Formen hingeleitet.” (Hugo Moser zit. nach
Rizzo-Baur, Hildegard: Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Österreich und in
Südtirol. Duden-Beiträge, Heft 5. Mannheim 1962, S. 13).
-199-

gen der modernen Zeit resultierenden Benutzeranforderungen. Politische und wirt-


schaftliche Verflechtungen über die Staatsgrenzen hinweg, der allgemeine Zugriff auf
Medien aller Art, insbesondere aber auf Kabel- und Satellitenfunk, schließlich auch
der Massentourismus erhöhen den Nachschlagebedarf der Wörterbuchbenutzer auch
im Hinblick auf den regionalen Wortschatz. Zusammen mit veraltenden und fach-
und sondersprachlichen Wörtern sind es gerade die Regionalismen in einem weiteren
Sinne, die oftmals dazu beitragen, daß die Verständigung gestört oder das Verständnis
eines Textes blockiert ist 2.
Diese Verflechtung führt dazu, daß Wörter, die vormals eher regional begrenzte
Gültigkeit hatten und im Wörterbuch entsprechend markiert waren, nun ganz ohne
oder mit modifizierter pragmatischer Auszeichnung stehen, weil sie mehr und mehr
allgemein gebräuchlich geworden sind. Maut ist im DDUW zum Beispiel um die
Angabe bes. österr. ergänzt, womit durchaus angedeutet wird, daß das Wort auch
schon im Binnendeutschen geläufig ist. Unter sprachökonomischen Gesichtspunkten
ist Maut dem amtssprachlich-schwerfälligen Straßen- bzw. Brückenbenutzungs-
gebühr deutlich überlegen, schon allein deshalb, weil es sich leicht zu Wortbildungen
heranziehen läßt (Mautstelle, Mautstraße), für die eine Beschränkung auf den
bairisch-österreichischen Raum längst nicht mehr geltend gemacht werden kann. In
der Sprachkartei der Dudenredaktion finden sich Belege für Maut nicht nur aus der
Wiener Zeitschrift ”auto touring”, sondern auch aus der ”Augsburger Allgemeinen
Zeitung” und der ”Neuen Zürcher Zeitung”. Mautabfertigung, Mauthaus, Mautner,
Mautsystem sind in der ”ADAC Motorwelt” belegt, die zu den auflagenstärksten
Zeitschriften in Deutschland zählt. Das Adjektiv mautpflichtig findet sich dort wie in
der ”Augsburger Allgemeinen Zeitung” und der ”Berliner Morgenpost”.
In den folgenden kurzen Ausführungen soll ausschnitthaft gezeigt werden, wie
sich lexikalische Besonderheiten der deutschen Sprache in Österreich im DDUW nie-
derschlagen. Das DDUW ist ein gemeinsprachliches Bedeutungswörterbuch der
deutschen Gegenwartssprache. Wie alle Dudenwörterbücher ist es als Gebrauchs-
wörterbuch konzipiert, das sich an den sprachlichen Äußerungen der überwiegenden
Mehrheit der Deutschsprechenden orientiert. Die Untersuchung bezieht sich auf die
2. Auflage von 1989. Genauer analysiert wurden die willkürlich ausgewählten
Alphabetstrecken A und G. Bezogen auf den gemeinsprachlichen Ansatz des
Deutschen Universalwörterbuches können nur die eigentlich standardsprachlichen
und die umgangssprachlichen Besonderheiten Berücksichtigung finden. Die Um-
gangssprache ist deshalb relevant, weil die Grenzen zwischen Standard- und Um-
gangssprache im Gegenwartsdeutsch offen sind. Genuin Mundartliches, das im
Wörterbuch nur gelegentlich aufscheint, scheidet aus.

2. Austriazismen im Deutschen Universalwörterbuch


2.1 Diatopische Markierungen im allgemeinen

2
Vgl. dazu: Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage, Mannheim 1989, S. 7.

Matthias Wermke: Austriazismen im gemeinsprachlichen


Wörterbuch des Deutschen, dargestellt am DUDEN.
-200-

Das DDUW folgt dem lexikographischen Usus, Wörter und Wortverwen-


dungsweisen, die gemeinsprachlich sind, grundsätzlich nicht zu markieren. Diato-
pische Auszeichnungen erfolgen demnach bei Wortschatzelementen, die nur in Tei-
len des deutschen Sprachraums gebräuchlich sind. Das DDUW unterscheidet dabei
die Angabe ”regional” für Wörter und Verwendungsweisen, die in einem größeren
Teil des deutschen Sprachraums verbreitet sind, für die aber ein übergreifender
hochsprachlicher Ausdruck fehlt (Beispiele: fegen, kehren, allerenden, Napf,
Schuhband). Ist die Zuordnung zu einem bestimmten Verbreitungsgebiet gesichert, so
wird dieses genannt (Beispiele: Feudel nordd.; Juchart, Juchert südwestd.; Plagge
nordd.). In diese Gruppe gehören auch alle echten Austriazismen und Helvetismen
wie Agentie, amtshandeln, aufpicken, Ausnahmsfall, Garconnière, Gehalts-
vorrückung; für das Schweizerdeutsche respektive Ammann, Traktandenliste,
parkieren, Parkingmeter, Znüni u. a. m. Wenn sich das Geltungsgebiet schließlich
nicht genau abgrenzen läßt, dann steht der Hinweis ”landschaftlich”3.
Die Auszeichnungspraxis in Wörterbüchern ist wiederholt kritisiert worden.4
Dabei ist jedoch zu bedenken, daß gerade auch die diatopischen Markierungen die
räumliche Verbreitung eines Wortes oder einer Wendung oder einer Wortbedeutung
nur andeuten können, der Tatsache aber, daß jene ”wandern”, nie ganz gerecht wer-
den. Sie sind aber in der Tat im DDUW nicht immer einheitlich gesetzt. So steht zwar
beim oben genannten Beispiel fegen/kehren jeweils der Hinweis ”regional”, aber
schon im Falle von Samstag/Sonnabend ist die Systematik durchbrochen. Hier heißt
es einmal ”bes. westd., südd., österr., schweiz.”, im anderen Fall wird eingeschränkt
”regional, bes. nordd.”. Diese ebenso ausführliche wie platzraubende Information zur
räumlichen Verbreitung von Samstag deutet auf ein grundsätzliches Dilemma der
deutschen Lexikographie hin. Offenbar empfindet man die Notwendigkeit, Rücksicht
auf das Identitätsgefühl der österreichischen und Schweizer Benutzer zu nehmen und
weicht deshalb bei bestimmten Wörtern ab von der auf ein rein sprachlich definiertes
Gebiet bezogenen einfachen Markierung ”regional” (im Sinne von ‘großräumig’), um
diese durch die auch politisch im weitesten Sinne auszulegenden Marker ”österr.”
und ”schweiz.” zu ersetzen, mit der Konsequenz, daß der süddeutsche und
westdeutsche Sprachraum zusätzlich genannt werden müssen. Dabei gilt aber gerade
für Samstag, daß es sich bei diesem Wort weder um einen besonderen Austriazismus,
noch um einen Helvetismus, noch um ein speziell süd- oder westdeutsches Lexem
handelt. Samstag ist ein großräumig verbreiteter Regionalismus im besten Sinne des
Wortes, der, weil es allein um Sprache geht, eigentlich auch getrost als solcher
ausgezeichnet werden dürfte.

3
Vgl. dazu ebenda S. 9.
4
Vgl. dazu z. B.: Hausmann, Franz Josef: Lexikographie. In: Handbuch der Lexikologie. Hrsg. von
Christoph Schwarze u. Dieter Wunderlich. Königstein/Ts. 1985, S. 367 - 411. Besch, Werner: Zur
Kennzeichnung sprachlandschaftlicher Wortvarianten im Duden-Wörterbuch und im Brockhaus-
Wahrig. In: Wortes anst, verbi gratia. Donum natalicum Gilbert A. R. De Smet. Hrsg. von H. L. Cox,
V. F. Vanacker, E. Verhofstadt. Leuven 1986, S. 47-64.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-201-

Schwierigkeiten treten auch auf, wenn ein zunächst nur regional gebräuch-
liches Wort in die Gemeinsprache übergeht. Wird das ebenfalls schon genannte Feu-
del im Deutschen Universalwörterbuch noch als ”nordd.” apostrophiert, so muß man
doch feststellen, daß das Wort zwischenzeitlich auch in den Gemeinwortschatz Ein-
gang gefunden hat und zwar als Kurzform des in den 70er und 80er Jahren bei
Schülern und Studenten so beliebten Palästinenserfeudels, der im Deutschen Univer-
salwörterbuch nicht verzeichnet ist, wohl aber im Großen Wörterbuch der deutschen
Sprache (3. Auflage 1993-1995) und dort als ”salopp abwertend” - also mit einer
Stilschichtangabe - markiert ist. Die Schwierigkeit bei der diatopischen Auszeichnung
von Wörterbucheinträgen belegen auch Angaben wie ”bes. österr.” im Falle von An-
rainer (b) (‘Anlieger’) oder aspirieren (1) (‘sich um etwas bewerben’), die suggerie-
ren, daß das betreffende Lemma bzw. die betreffende Wortbedeutung auch gemein-
sprachlich ist, oder Angaben wie ”landsch., bes. österr.” wie im Falle von aufpelzen
(aufbürden), die einerseits einen nicht genau einzugrenzenden Geltungsraum an-
zeigen, andererseits aber ein klar umgrenztes Geltungsgebiet nennen.
Wenn viele diatopische Markierungen auf der einen Seite nur annähernde Aus-
sagen über den Geltungsbereich einer sprachlichen Einheit machen können, so zei-
gen sie auf der anderen Seite aber sehr deutlich die Zusammengehörigkeit bestimm-
ter sprachlicher Räume, verweisen bei aller sprachlichen Unterschiedlichkeit zwi-
schen den Regionen doch auf ein gutes Stück Einheitlichkeit innerhalb der Lexik. Das
gilt für das schon genannte Beispiel pelzen, aber auch für Fälle wie apern (südd.,
österr., schweiz.), auflassen (5 a) (‘[einen Betrieb o. ä.] aufgeben, auflösen’: landsch.,
bes. südd., österr.), Galtvieh (bayr., österr., schweiz.)5 oder auch Geiß (südd., österr.,
schweiz., westmd.).
2.2 Austriazismen im einzelnen
Die besonderen Ausprägungen des Deutschen in Österreich sind auf vier
sprachlichen Ebenen angesiedelt, nämlich auf der Ebene der Lexik (Wörter, die nur
in Österreich gebräuchlich sind), der Semantik (Wortbedeutungen, die nur in Öster-
reich gebräuchlich sind), auf der Ebene der Grammatik (z. B. Unterschiede im Arti-
kelgebrauch [der Abszeß vs. österr. das Abszeß]; hierzu könnten auch Unterschiede in
der Wortbildung gezählt werden [österr. Adventkranz vs. Adventskranz], die wir hier
aber der Lexik zuschlagen) und auf der Ebene der Aussprache (Geschoß vs. österr.
Geschoß).

5
Um den linguistisch nicht geschulten Wörterbuchbenutzer nicht zu überfordern, werden
Besonderheiten des Bairischen nicht wie fachintern üblich mit ”bair.”, sondern mit ”bayr.”
ausgezeichnet. Der Hinweis ”bayr.” ist also nicht politisch, sondern sprachlich aufzufassen.

Matthias Wermke: Austriazismen im gemeinsprachlichen


Wörterbuch des Deutschen, dargestellt am DUDEN.
-202-

2.3 Auswahlkriterien
Wie für alle Stichwörter, die im Deutschen Universalwörterbuch verzeichnet
sind, gilt auch für die Austriazismen in erster Linie das Auswahlkriterium der Au-
thentizität. Damit ist gesagt, daß nur solche Austriazismen ins Wörterbuch Eingang
finden, die in den zugrundeliegenden schriftlichen Quellen belegt sind, wobei gilt,
daß eine Mehrfachbelegung gegeben sein sollte in Quellen unterschiedlicher Prove-
nienz (Streuung). Ein Wort, das zwar häufig, aber z. B. nur in Belegen aus der
”Neuen Kronen Zeitung” dokumentiert ist, ist demnach noch nicht ”wörterbuchreif”.
Zu den Quellen, die die Dudenredaktion bei ihrer lexikographischen Arbeit nutzt,
gehört in erster Linie die große Sprachkartei, die derzeit mehrere Millionen Sprach-
belege aus den unterschiedlichsten schriftlichen Quellen enthält. Das Quellenkorpus
umfaßt ein möglichst repräsentatives Textsortenspektrum, das von einfachen Ge-
brauchstexten (Bedienungsanleitungen für technische Geräte o. ä.) über Zeitungs-
und Zeitschriftenartikeln bis hin zu literarischen Texten reicht. Prägungen gespro-
chener Sprache kommen praktisch nicht in Betracht, es sei denn in verschriftlichter
Form über literarische Texte. Österreichische Quellen sind zu etwa 5 % enthalten.
Das Korpus ist variabel. Alle Texte stammen aus der Zeit zwischen 1900 und heute.
Für die Sprachkartei ausgewertet wurden und werden u. a. eine ganze Reihe österrei-
chischer Zeitungen und Zeitschriften, so z. B. ”auto touring” (Wien), ”Dolomiten”
(Bozen), ”Express” (Wien), ”Kronen-Zeitung” bzw. die ”Neue Kronen Zeitung”
(beide Wien), die ”Salzburger Nachrichten” (Salzburg), die ”Tiroler Tageszeitung”
(Innsbruck), die ”Oberösterreichischen Nachrichten” (Linz) u. v. a. m. Hinzu treten
die Werke wichtiger österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie Joseph
Roth, Heimito von Doderer, Ilse Aichinger. Aus dem ”Kurier” und der ”Neuen Kronen
Zeitung” stammen z. B. Belege für Gefangenenhaus; Gleichenfeier ist dokumentiert in
Exzerpten aus der Zeitschrift ”Profil” (Wien) und wieder dem ”Kurier”. Für Animo
gibt es einen Beleg aus den ”Oberösterreichischen Nachrichten” wie aus der in
München erscheinenden Zeitschrift ”Wiener” usw. Schließlich profitiert auch das
DDUW von den Arbeiten Jakob Ebners zum österreichischen Wortschatz, wie sie ins
Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten6 Eingang gefunden haben.
Aufnahme finden im allgemeinen solche Wörter, die im österreichischen
Sprachgebrauch standardsprachlichen oder umgangssprachlichen Charakter haben
und nicht der reinen Mundart angehören. Beispiele hierfür sind aus den untersuch-
ten Buchstabenstrecken A und G Akquisitor (gemeinspr. Akquisiteur), Animo
(‘Schwung, Vorliebe’), Gleichenfeier (Richtfest), assanieren (‘gesund machen,
verbessern’) oder gustiös (gemeinspr. appetitlich), aber auch die österreichisch-
umgangssprachlichen Wörter Grätzel (‘Teil eines Wohnviertels, Häuserblock’), Goder
(‘Doppelkinn’), äußerln (‘einen Hund auf die Straße führen’) u. a. m. Gleiches gilt für
spezifische Wortbedeutungen, die zu Wörtern des allgemeinen deutschen

6
Ebner, Jakob: Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten. 2.,
vollst. überarb. Auflage. Mannheim 1980.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-203-

Wortschatzes als österreichische Besonderheiten hinzutreten. Hier seien stellver-


tretend für viele die Beispiele Adjustierung (1. das Adjustieren; 2 a: [österr.] Uniform;
2 b: [österr. scherzh.] Aufmachung) und gustieren (1. goutieren; 2. [österr.] kosten,
probieren) genannt.

3. Analyseergebnis
3.1 Der quantitative Befund
Das Deutsche Universalwörterbuch liegt der Dudenredaktion in einem elek-
tronischen, nach inhaltlichen Kriterien in SGML7 ausgezeichneten Format vor. Dieser
Datenbestand umfaßt rund 116 000 Stichworteinträge. Von diesen enthalten 2 074
die diatopische Angabe ”österr.”, das entspricht einem Anteil von 1,8 %. Die Zahl der
im DDUW enthaltenen Austriazismen entspricht damit genau ihrem Anteil im deut-
schen Gesamtwortschatz. So beziffert Wiesinger die lexikalischen Eigenheiten des
österreichischen Deutsch auf ”rund 4 000 Wörter von durchschnittlich 220 000 ge-
samtdeutschen Wörtern.”8 Zum Vergleich: Helvetismen sind in einer Größenordnung
von 1,1 % vertreten, süddeutsche Einheiten mit 0,6 %, norddeutsche mit 0,5 %; als
”landschaftlich” markiert sind 2,2 % aller Einträge und als ”regional” nur 0,05 %,
nämlich genau 67 Fälle. Entsprechend des gemeinsprachlichen Ansatzes des
Wörterbuches sind diatopische Varianten also generell nur am Rande berücksichtigt,
wobei neben den als ”landschaftlich” markierten, geographisch nicht genau zuzu-
ordnenden Einheiten insbesondere die Austriazismen eine größere Rolle spielen.
Von den 2 074 genannten Fällen entfallen 149 (= 7,2 %) auf grammatische An-
gaben. In der Regel werden hier Aussagen zum spezifischen Artikelgebrauch und zu
besonderen, (nur) in Österreich gebräuchlichen Flexionsformen gemacht.

Beispiele: Abszeß, der; österr. auch: das ...


Aspik, der (österr.: das, auch: der) ...
Gulasch, das, auch: der; -[e]s, -e u. s, österr. nur: das; -[e]s, -e
Angesicht, das; -[e]s, -er u. (österr.:) -e
Granat, der; -[e]s, -e, österr.: -en, -en

Zum Vergleich: Mit dem Hinweis ”südd.” werden im DDUW grammatische


Angaben nur in 66 Fällen (= 0,05 % gerechnet auf 117 500 grammatische Angaben
insgesamt), mit ”landsch.” nur 40 Fälle (= 0,03 %), mit ”regional” wird gar kein Fall
ausgezeichnet. In 51 Fällen (= 2,45 %) zeigt das Universalwörterbuch auch die von
der gemeindeutschen Standardsprache in Österreich abweichende Aussprache an.

Beispiele: Abteilung: 2. [österr.: 'apt...] ... Anis [österr. nur: 'a:nis]

7
SGML = Standard Generalized Markup Language (ISO 8879: 1986).
8
Wiesinger, Peter: Standardsprache und Mundart in Österreich. In: Deutsche Gegenwartssprache.
Tendenzen und Perspektiven. Hrsg. von Gerhard Stickel. IdS Jahrbuch 1989. Berlin/New York 1990.
S. 218 - 232.

Matthias Wermke: Austriazismen im gemeinsprachlichen


Wörterbuch des Deutschen, dargestellt am DUDEN.
-204-

Agiotage [österr.: ...'ta ] ... Bacchus [österr. auch: 'bakus ...


Algebra [österr.: ...'ge:bra] ... Gibraltar [österr.: 'gi: ...] ...
Zum Vergleich: Die Markierung ”schweiz.” kommt in phonetischen Kommen-
taren nur elfmal vor (= 0,08 % gerechnet auf 12 563 phonetische Angaben insge-
samt). Die Markierung ”landsch.” steht in diesem Zusammenhang gerade dreimal (=
0,02 %). Da das DDUW in erster Linie ein Bedeutungswörterbuch ist, sollen dieje-
nigen österreichischen Besonderheiten, die sich auf die Phonetik und die Grammatik
beziehen, nicht weiter betrachtet werden.
Bezogen auf die Buchstabenstrecken a - Azzuris und G - Gyttja ergibt sich da-
nach folgendes Bild:

Tabelle 1
Markierung Subst. Verb Adj. sonst. Summe
österr. 44 14 5 2 65
österr. ugs. 6 5 2 1 14
(bes.) österr. Amtsspr. 2 1 3
südd., österr. 13 5 1 19
südd., auch österr. 1 1
südd., österr. ugs. 2 1 1 1 5
südd., österr. salopp (abwertend) 1 1 2
österr., schweiz. 5 1 1 1 8
bes. österr., schweiz. 2 1 3
südd., österr., schweiz. mundartl. 1 1
südd., österr., selten schweiz. 1 1
südd., österr., schweiz., westmd. 1 1
landsch., bes. österr. 1 1
landsch., österr. veraltet, schweiz. 1 1
bayr., österr. 2 2
bes. bayr., österr. 1 1
bayr., österr. ugs. 2 2
bes. bayr., österr. ugs. 1 1
bayr., österr., schweiz. 1 1 2
österr. mundartl. 1 1

Für die restlichen Belege gilt, daß es sich hier gar nicht um Austriazismen in ei-
nem engeren Sinne handelt, sondern um sprachliche Besonderheiten, die ”auch in
Österreich” vorkommen, daneben aber ebenso im Süddeutschen (15,3 %), im
Schweizerdeutschen (6 %), im Süddeutschen und Schweizerdeutschen (3,3 %) und
auch im Bairischen (und Schweizerdeutschen; 5,5 %).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-205-

Tabelle 2
Markierung Subst. Verb Adj. sonstige Summe
österr. 13 8 21 21
österr., sonst veraltet,
Amtssprache 1 1
österr. ugs. 1 3 4
österr. ugs., bes. wiener. 1 1
österr. Amtsspr. 2 1 3
bes. österr. 2 2 4
südd., österr. ugs. 1 1
südd., österr. scherzh. 1 1
österr., schweiz. 1 1
bes. österr., schweiz. 1 1
südd., österr., schweiz. 1 1
landsch., bes. österr. 1
landsch., bes. südd., 1
österr. 1 1
bayr., österr. 2 2
bes. ostösterr. 1 1
schweiz., bes. westösterr. 1 1

3.2 Der qualitative Befund


Folgt man den Angaben in der Literatur9, dann liegen die Schwerpunkte öster-
reichischer Besonderheiten in der Lexik in folgenden Bereichen:

1. Küche 5. Verkehrswesen
2. Amts- und Militärwesen inkl. Titel 6. Beruf
3. Schulwesen 7. Praktisches Leben, alltägliche Dinge
4. Politik und Verrichtungen
Außerdem soll sich die österreichische Lexik durch Fremdwörter, die im Bin-
nendeutschen durch deutsche Wörter ersetzt wurden, auszeichnen (Ebner) sowie
durch viele alte oder internationale Wörter (Mentrup).
Berücksichtigt man nur die zuvor als genuin bezeichneten Belege, dann ergibt
sich für eine Gesamtsumme von 81 Wörtern, die als ”österreichisch” oder
”österreichisch umgangssprachlich” markiert sind, folgendes Ergebnis:

9
z. B. Rizzo-Baur, Hildegard vgl. 1; Ebner, Jakob vgl. 4; Mentrup, Wolfgang und Kühn, Peter:
Deutsche Sprache in Österreich und in der Schweiz. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik.
Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand. 2., vollst. neu bearb. und
erweiterte Auflage. Tübingen 1980. S. 527 - 536.

Matthias Wermke: Austriazismen im gemeinsprachlichen


Wörterbuch des Deutschen, dargestellt am DUDEN.
-206-

Tabelle 3
Bereich Anz. % Beispiele
Küche 12 14,3 Aschanti(nuß), Gansljunge, Gedünstete, Gerebelte,
Gerstelsuppe, Grießschmarren, Gustostückerl, abre-
beln, abschmalzen, ausschroten, geschmackig, gu-
stiös
Amts- und 8 9,5 Ärar, Gestionsbericht, Amtskanzlei, Ausbildner, Ge-
Militärwesen bietskrankenhaus, Gefangenenhaus, Grindel, ausfol-
gen
Schulwesen 1 1,2 Aufnahmsprüfung
Verkehrswesen 1 1,2 gassenseitig
Prakt. Leben / 42 50 Absteigquartier, Adventkranz, Anbot, Aß, Aufsitzer,
Alltägliches Ausreibtuch, Ganeff, Gaudee, Guckerschecken, Go-
der ... antauchen, anpicken, ausplauschen, aus-
schoppen, äußerln, auswerkeln, grapsen, geblumt,
gehaut, gefinkelt
Beruf 7 8,3 Almer, Ausnehmer, Auszugsbauer, Gehaltsvor
rückung, Gerüster, Gleiche(nfeier)
Politik 0 0
Fremdwörter 8 9,5 Agentie, Ambo, Animo, Assanierung, Garçonnière,
agentieren, assanieren, außertourlich
alte/intern. 2 2,4 Akquisitor, Aviso
Wörter

Natürlich kann gegen diese Zusammenstellung insofern Kritik erhoben werden,


als die Zuordnung der Wörter zu den einzelnen Bereichen schwierig ist und Dop-
pelwertungen denkbar wären. Dennoch ergibt sich im Hinblick auf die Berücksich-
tigung österreichischer Lexik im DDUW ein einigermaßen differenziertes Bild. Wie
zu erwarten, überwiegt derjenige Ausschnitt aus dem Wortschatz, der dem alltäg-
lichen Leben zuzuordnen ist. Die Bereiche Küche, Amts- und Militärwesen und Beruf
sind relativ gleichmäßig vertreten. Insofern werden die Erwartungen, die durch die
zitierten Aussagen in der Literatur geweckt werden, durchaus erfüllt. Dies gilt auch
hinsichtlich der Fremdwörter, die im Binnendeutschen durch deutsche Wörter ersetzt
sind.
Aber hier wird es ebenso problematisch wie hinsichtlich der Sparte
”alte/internationale Wörter”. Neben österr. Agentie tritt gemeindeutsch Agentur, ne-
ben österr. Assanierung und assanieren gemeindeutsch und sanieren, wenn auch mit
je anderer Bedeutung. Dem österreichischen Akquisitor entspricht im Bin-
nendeutschen der Akquisiteur, dem Aviso das Avis. Das gemeindeutsche und das
österreichische Deutsch unterscheiden sich in diesen Fällen eben nicht hinsichtlich

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-207-

des Gebrauchs von Fremdwörtern oder von deutschen Wörtern. Fremdwortgut liegt
in beiden Varietäten des Deutschen vor. Nur erscheinen diese Fremdwörter in unter-
schiedlicher Form.
Völlig unterrepräsentiert sind in den Auswahlstrecken schließlich die Bereiche
Schule, Politik und Verkehr. Es darf aber angenommen werden, daß sich ihr Anteil an
den im DDUW enthaltenen Austriazismen auch bei der Berücksichtigung einer grö-
ßeren Teilstrecke nicht wesentlich erhöhen würde.

4. Austriazismen oder nicht?


In manchen Fällen werfen die diatopischen Markierungen, auch die Kennung
”österr.”, Fragen auf. Das gilt vor allem für Wörter aus den Bereichen Küche, Ämter
und Militär, Schul- und Verkehrswesen, aber auch für die Auszeichnung bei be-
stimmten Fremdwörtern.
Hierzu abschließend noch einige Anmerkungen: Als Beispiel seien die Begriffe
aus dem Bereich Küche herangezogen. Jede Landschaft hat ihre kulinarischen Spe-
zialitäten. So gibt es im Elsaß und in der Pfalz den Saumagen, der im DDUW keines-
wegs mit ”südd.” oder ”südwestd.” gekennzeichnet ist. Er gilt schlicht als Begriff aus
der Kochkunst und enthält die für solche Fälle vorgesehene Bereichsangabe. Gleiches
gilt für den Eintrag Labskaus, ein typisches Seemannsgericht, das man im Süden
Deutschlands nicht auf den Speisekarten findet. Gleiches sollte demnach auch für den
über Österreich hinaus bekannten und beliebten Kaiserschmarren oder die
Palatschinke gelten. Beide firmieren als solche in vielen Kochbüchern, woraus jedoch
nicht zu schließen ist, daß beim Simplex Schmarren auf die diatopische Markierung
verzichtet werden könnte. Die Printe, eine typische Spezialität aus Aachen und ein
ähnlich problematischer Fall, steht im DDUW überhaupt ohne Angabe und wird nur
definiert als mit verschiedenen Gewürzen, Sirup, Kandiszucker u. a. hergestelltes,
dem Lebkuchen ähnliches Gebäckstück, während die Leckerli wieder unter
”schweiz.” laufen, obwohl sie eben auch - wenigstens zur Weihnachtszeit - längst
nicht mehr nur in Basel gebacken und geschätzt werden.
Ähnlich sieht es bei den Bezeichnungen für Ämter und Amtsträger aus. Das
schon eingangs zitierte Landeshauptmann ist nach seinen Bestandteilen und der Art
der Wortbildung völlig unauffällig ebenso wie Bundeskanzler, Volkskammerprä-
sident oder Hofrat. Das Universalwörterbuch setzt beim Landeshauptmann zwei
Bedeutungen an, nämlich
1. - und dann als Teil der Erläuterungsphrase kursiv gesetzt und in runden Klam-
mern -: (in Preußen bis 1933) Leiter der Verwaltung einer Provinz;
2. - und dann eben nicht analog, sondern mit der vorangestellten, gerade gesetzten
und in runden Klammern stehenden diatopischen Angabe (österr.): Regierungs-
chef, Vorsitzender einer Landesregierung eines Bundeslandes. In diesem Fall
wäre der diatopischen Auszeichnung eine parallel zur ersten Bedeutungsphrase
verfaßte Erklärung angemessen gewesen. Es hätte also durchaus heißen können:

Matthias Wermke: Austriazismen im gemeinsprachlichen


Wörterbuch des Deutschen, dargestellt am DUDEN.
-208-

3. Regierungschef, Vorsitzender einer Landesregierung eines österreichischen Bun-


deslandes bzw. eines Bundeslandes in Österreich.
Bei den vergleichbaren Helvetismen und ”Teutonismen” - wäre analog zu ver-
fahren. Kanton wird ohne diatopische Angabe zunächst erklärt als ”...1. Bundesland
der Schweiz”. Entsprechend müßten die nach ihren Bestandteilen und der Wort-
bildung hinsichtlich des standardsprachlichen Systems ebenfalls nicht auffälligen
Wörter Kantonsgericht und Kantonsbürgerrecht eigentlich auch nur definiert werden
und zwar als höchstes ordentliches Gericht eines Schweizer Kantons und Recht, das
jmdm. die Zugehörigkeit zu einem Schweizer Kanton sichert. Hingegen würde der
Kantönligeist mit seinem offenkundig mundartlichen Bestimmungswort auch
weiterhin als echter Helvetismus im Wörterbuch geführt werden können und ent-
sprechend ausgezeichnet sein müssen.
Letztendlich geht es also darum festzulegen, was als diatopische Besonderheit
im Wörterbuch eigentlich markiert werden muß. Sicherlich sind es, bezogen auf die
deutsche Sprache in Österreich, die oben an wenigen Beispielen dargestellten phone-
tischen und grammatischen Besonderheiten. Auch alle Simplizia, für die es kein
übergeordnetes gemeinsprachliches Wort gibt (Agentie, fesch, Gleiche, Almer)
müssen entsprechend gekennzeichnet werden. Zu prüfen ist aber in jedem Einzelfall,
ob dies auch bei Komposita (und ggfs. Ableitungen, aber das wurde nicht näher un-
tersucht) der Fall sein muß oder darf, die in der außersprachlichen Wirklichkeit in
der Schweiz oder in Deutschland ggfs. keine Entsprechung haben, oder ob es hier
nicht geboten wäre, den Hinweis auf die im gegebenen Falle österreichische Beson-
derheit dort anzuführen, wo er eigentlich hingehört, nämlich in der Definiton. Be-
zogen auf ein Einzelwort gilt, daß es aufhört, ein genuiner Austriazismus zu sein,
wenn auch nichtösterreichische Deutschsprecher gar nicht darum herum kommen,
das entsprechende Wort zu benutzen, wenn sie über die damit bezeichnete Sache
reden wollen. Dies wäre in erster Schritt aus dem oben beschriebenen Dilemma.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 208-234

Rudolf Muhr

(Graz)

Grammatische und pragmatische Merkmale des


österreichischen Deutsch

1. Einleitung
In Publikationen, die Aussagen zu den linguistischen Merkmalen des ÖD
machen, findet sich meistens der Hinweis, daß es in bezug auf die Grammatik nur
sehr wenige Unterschiede zum Bundesdeutschen gibt. In der Regel wird auf die
Perfektbildung mit sein der Verben liegen, sitzen und stehen und auf einige wenige
andere Punkte verwiesen.
Mich interessierte die Frage, auf welcher theoretischen und empirischen Basis
diese Aussagen zustandekamen und ob es tatsächlich nur so wenige Unterschiede in
diesem Bereich gibt. Darüber hinaus möchte ich auch auf einige grundsätzliche
Probleme der Beschreibung plurizentrischer Sprachen eingehen, um dann einen
kurzen Überblick über bisher bekannte und bisher noch nicht bekannte
grammatische Merkmale des ÖD zu präsentieren, ohne jedoch den Anspruch der
Vollständigkeit zu erheben. Im zweiten Teil der Arbeit sollen dann auch einige
wichtige pragmatische Merkmale des ÖD vorgestellt werden. Das Vorhandensein
solcher Unterschiede wurde immer wieder angedeutet1, sodaß es sinnvoll schien,
auch dieser Frage nachzugehen. Erste Teilergebnisse liegen in drei meiner
Publikationen (Muhr, 1987f, 1993, 1994) vor. Allerdings kann nur ein erster
Überblick über die wichtigsten Punkte der beiden Bereiche gegeben werden, eine
auch nur annähernde Vollständigkeit zu erreichen, ist derzeit nicht möglich

2. Einige theoretische Fragen: Zur Problematik der


Beschreibung grammatischer und pragmatischer Merkmale
von Varianten einer plurizentrischen Sprache
Wenn man der weiter oben gestellten Frage nach der theoretischen und em-
pirischen Basis der bisherigen Aussagen zu den grammatischen Merkmalen des ÖD
nachgeht, zeigt sich, daß diese ausschließlich auf der Basis der Analyse geschriebener
Sprache zustandekamen2. Dieser Umstand ist in mehrfacher Weise problematisch, da
Standardsprachen durchaus auch eine gesprochene Variante haben, deren gramma-
tische Regeln nicht unbedingt mit jenen der geschriebenen identisch sein müssen.

1
Z.B. Moser (1989).
2
Rizzo-Baur (1962); Ebner (1980) usw.
-210-

Hinzu kommt, daß es sprachliche Formen gibt, die herkömmlicher Weise als nicht
standardsprachlich gelten, aber weit verbreitet sind und als typisch für eine Variante
zu werten sind. Ich habe in mehreren Publikationen außerdem auf das
Vorhandensein eines "Standards-nach-Innen"3 verwiesen, der in der
Innenkommunikation verwendet wird und ebenfalls Zielpunkt von Identifikation und
sozialer Orientation ist und damit die Neubestimmung des Begriffs "Standardsprache"
in plurizentrischen Sprachen notwendig macht4. Diese Variante ist überwiegend
gesprochene Sprache und als großregionale, innerösterreichische Ausgleichvariante
(Ost-, Westösterreichisch) anzusehen. Sie wurde bisher in der Kodifizierung nicht
bzw. nur dann berücksichtigt, wenn lexikalische Ausdrücke über die Sprache sog.
seriöser Zeitungen bzw. über den Sprachgebrauch führender sozialer Gruppen zum
Teil der öffentlichen Sprache wurde. Typisches Beispiel ist der Ausdruck Pickerl, das
noch vor 20 Jahren als typisches Dialektwort galt, heute aber allgemein für alle
Klebeetiketten steht und darüber hinaus noch eine Spezialbedeutung bekommen hat:
Es bezeichnet jene (grüne/weiße) Etikette, die man auf die Windschutzscheibe
geklebt bekommt, wenn man sein Kraftfahrzeug zur jährlichen Sicherheits-
überprüfung gebracht hat und alles in Ordnung war. Also das, was man in der BRD
als TÜV bezeichnet. Ein weiteres Beispiel ist der Abschiedsgruß Baba (gesprochen
['b!a:'b!a:]), der ursprünglich der Kindersprache angehörte und sich Anfang des 80-iger
Jahre über die Studentensprache von Graz ausgehend nach Wien und von dort über
die Medien im ganzen Land verbeitete. Beide Ausdrücke sind Beispiele für die
endogene Erneuerung des österreichischen Deutsch. Bezüglich ihrer Kodifizierung
werden eine Reihe grundsätzlicher Fragen aufgeworfen:
1. Was ist der sprachtheoretische Ausgangspunkt der vergleichenden Analyse
zwischen Varianten einer plurizentrischen Sprache? Ist der Schriftstandard,
Gebrauchsstandard, beides?
2. Inwieweit kann die gesprochene Sprache miteinbezogen werden und welche
ihrer Merkmale sind zu berücksichtigen?
3. Was ist mit "typischen" Merkmalen, die nicht kodifiziert, aber weit verbreitet
sind?
4. Welches Textkorpus ist der Analyse und dem Vergleich zugrunde zu legen? Eine
Analyse auf der Basis von Zeitungstexten ergibt andere Ergebnisse als ein Korpus
der Literatursprache.
5. Welchen Begriff von Grammatik legt man zugrunde?
Die derzeitige Praxis der Kodifizierung beruht ausschließlich auf geschriebenen
Texten. Das ist für die österreichische Situation mehr als problematisch, da damit die
Standard-nach Innen-Variante praktisch als "Dialekt" ausgeschlossen wird und alle
ihre grammatischen Merkmale in keinem Kanon gültiger grammatischer Merkmale
aufscheinen. Allerdings gibt es ein kleines Schlupfloch in Form der Zeitungssprache,
wobei die sog. "Boulevardzeitungen" eine ganz besonders große Rolle spielen. Diese

3
Vgl. dazu Muhr (1987/1990)
4
Für einige Ansätze dazu vgl. Muhr (1991)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-211-

Sprache ist der gesprochenen relativ nahe und wirkt damit als Erneuerungsquelle der
geschriebenen Sprache. Dieser empirischen Tatsache steht allerdings der Umstand
entgegen, daß diese Sprache in der Meinung von Spracharbeitern verschiedener
Branchen ein außerordentlich niedriges Prestige hat. Eine zweite Quelle der
Erneuerung sind die auch Werke von Schriftstellern, die sich in ihren Werken mit
der sozialen Realität Österreichs auseinandersetzen. Diese heute fast ausgestorbene
Spezies verwendet bei der Darstellung ihrer Charaktere Formulierungen, die dem
aktuellen Sprachgebrauch, vielfach auch gebrochen durch schriftsprachliche Über-
setzungsregeln, sehr nahe sind. Dazu gehört z.B. Thomas Bernhard, der in seinem
Furor vielfach gesprochene Sprache verschriftet hat und diese durch seine Prominenz
vor dem Zugriff bundesdeutscher Lektoren erhalten konnte. Bei Bernhard kommen
z.B. Belege des sog. "passé surcomposé" (Doppeltes Perfekt/Plusquamperfekt) vor, die
andernorts sicher als falsch korrigiert worden wären. Beispiel:
1. [...] eine Unverschämtheit, die mich an ihnen schon immer abgestoßen gehabt
hat. Fast alle zu dem Nachtmahl Gekommenen hatten noch ihre [...]
(Bernhard:Holzfällen 32:26)
2. Allein das Wort lungenkrank hatte mich immer entsetzt gehabt. Jetzt hatte ich es
den ganzen Tag so oft zu hören bekommen, daß ... (Bernhard:Atem 105:25)
Diese Struktur kommt in der gesprochenen Sprache auch in Deutschland vor,
wie ich selbst an Sprechern in Mannheim mehrmals feststellen konnte. Sie wird dort
allerdings (wie in Österreich) als nicht-standardsprachliche Erscheinung betrachtet.
Wissenschaftlich abgehandelt wurde sie von Eroms (1989).
Daran ist erkennbar, daß sich die derzeitige Diskussion um die Merkmale der
Varianten des Deutschen gewissermaßen im präskriptiven Korrekturkreis dreht: Was
kodifiziert wurde, erscheint in den Texten und was nicht kodifiziert ist, wird aus
diesen entfernt. Die so gereinigten Texte, besonders literatursprachlicher Herkunft,
dienen wiederum als Grundlage für die Kodifizierung, wodurch die Schere zwischen
gesprochener und geschriebener Sprache und damit die Diskrepanz zwischen der
kodifizierten Sprache und der gesprochenen Sprachwirklichkeit immer größer wird.
Für Österreich ist dieser Umstand doppelt bedeutsam, da die typischsten
österreichischen Sprachmerkmale gerade in der gesprochenen, überregionalen
Sprache zu finden sind, diese aber oft als "nicht-standardsprachlich" vermieden
werden. Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt ist der Grammatikbegriff, den man der
Analyse zugrundelegt. Herkömmlicher weise besteht die Grammatik ja aus der Lexik,
Syntax und Morphologie, d.h. aus den syntagmatischen und paradigmatischen Kom-
binationsregeln, den Reihefolgeregeln (Wort- und Satzgliedstellung), den damit
verbundenen morphosyntaktischen Formationsregeln bzw. der Wortbildung. Die
Semantik steht in diesem traditionellen Modell immer ein wenig abseits und wird als
solche implizit im Bereich der Wortartendarstellung miteinbezogen. Ein Blick auf die
empirischen Daten zum ÖD zeigt aber, daß gerade in der Semantik große Unter-
schiede zu finden sind, die eine Reihe grammatischer Phänomene nach ziehen. Zur

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-212-

Verdeutlichung sollen die Wörterbucheinträge "angreifen" und "anfassen" aus dem


Duden Universalwörterbuch (1989) in Auszügen als Beispiel dienen.

angreifen «st. V. hat» anfassen «sw. V.; hat»:


1a.[in feindlicher Absicht] den Kampf mit 1a. mit der Hand berühren, ergreifen, mit
jmdm., gegen etw. beginnen: mit den Fingern befühlen: den warmen
Panzern, Geschützen a. im Tiefflug a. Ofen, etw. mit spitzen Fingern,
vorsichtig a.; sie läßt sich nicht gern
a.;
b. im sportlichen Wettkampf gegenüber b. (landsch.) bei der Hand nehmen: die
dem Gegner die Initiative ergreifen, Mutter faßt das Kind an; c) «a. + sich»
die Führung übernehmen: der Sturm sich in einer bestimmten Weise
der Fußballmannschaft griff planlos anfühlen: der Stoff faßt sich glatt, wie
und hektisch an. Wolle an.
2. heftig kritisieren, zu widerlegen su- 2. auf eine bestimmte Art u. Weise be-
chen, attackieren: jmdn., jmds. handeln: jmdn. verständnisvoll, zart,
Standpunkt, Rede, öffentlich, scharf a. rücksichtslos, hart a.
3. (landsch.) a) anfassen, berühren: du 3a.bei etw. zupacken, helfen: der Korb
darfst hier nichts a. ist schwer, faß doch mal [mit] an!; b)
[in bestimmter Weise] in Angriff
nehmen, anpacken, anfangen: eine
Arbeit, eine Sache, ein Problem klug,
geschickt, geschickt, mit Eifer a.
4a.« + sich» sich in bestimmter Weise b. (geh.) anwandeln, befallen, packen:
anfühlen: der Stoff greift sich weich, Angst, Schrecken, Sehnsucht faßte
rauh, derb an. ihn an.
In Deutschland hat das Verb angreifen hat nicht die Bedeutung berühren. An
seiner Stelle wird "anfassen" verwendet. Daneben hat "anfassen" noch eine Reihe
anderer Bedeutungen, die alle in Österreich nicht in Gebrauch sind. Denn weder ist
es möglich und üblich zu sagen Faß doch mal [mit] an noch Schrecken, Sehnsucht
faßte ihn an. Man sagt stattdessen vielmehr Hilf bitte mit/Nimm den Korb etc. Der
Satz Schrecken, Sehnsucht faßte ihn an ist zwar im Duden Universalwörterbuch als
"gehoben" gekennzeichnet, in Österreich aber schlicht ungrammatisch. Man könnte
zwar sagen, "Angst/Sehnsucht ergriff/übermannte ihn", doch wären diese
Substantive nicht mit "fassen" kombinierbar. Fassen hat in Österr. hauptsächlich die
Bedeutung erwischen bzw. grob berühren: "Die Polizei hat den Dieb gefaßt." / "Der
Hund hat ihn am Bein gefaßt/erwischt".
Der folgende Ausschnitt aus dem Duden Universalwörterbuch (1989:462)
verdeutlicht jedoch, daß das Wort erwischen im Bundesdeutschen (wie
Österreichischen) genau diese Bedeutung hat. Das Wort ist aber als
"umgangssprachlich" markiert, während "fassen" keine Markierung hat und daher
laut Duden als standardsprachlich zu betrachten ist. Diese Markierung ist für
Österreich aber wiederum unzutreffend.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-213-

erwischen «sw. V.; hat» [mhd. erwischen] (ugs.):5


1a) nach einem Vergehen o.~ä. fassen, 2a) gerade noch fassen, zu fassen be-
ergreifen: die Polizei hat die Täter kommen: ich habe sie am Rockzipfel
erwischt; erwischt;
b) bei einem Vergehen o.~ä. ertappen: b) gerade noch antreffen, erreichen: er
jmdn. beim Stehlen e.; er wurde er- hat den Zug noch erwischt; ich habe
wischt, als er die Tür aufbrach; laß dich den Chef heute nicht mehr erwischt;
nicht e. !

Daran läßt sich ein typisches und bisher übersehenes Merkmal nationaler
Varianten zeigen: Es sind dies Präferenzunterschiede, die durch die Wahl
unterschiedlicher lexikalischer Mittel innerhalb desselben Ausdrucksfeldes entstehen.
Weiters besteht zwischen den einzelnen Ausdrücken semantisch vielfach nur
Teilsynonymie, die Unterschiede bei der Selektion der Kollokationselemente bewirkt.
Die verschiedene semantische Basis führt auf diese Weise zu divergierenden
grammatischen Systemen. Wie subtil diese Unterschiede sind, zeigt sich am Stichwort
bekommen im Duden-Universalwörterbuch:

bekommen «st. V.»


1. «hat» a) von jmdm. etw. als Geschenk, 2. «hat» a) (durch eigenes Bemühen) zu
Belohnung, Auszeichnung o.~ä. er- etw. kommen; sich verschaffen: keine
halten: zum Geburtstag ein Buch b.; Arbeit, eine [neue] Stellung b.; b)
100 DM Finderlohn b.; einen Orden, kaufen können, (gegen Geld) er-
einen Preis b. halten: das Buch ist nicht mehr zu b.;
er hat die Sachen billig bekommen; ...
c) jmdm. zugestellt, übermittelt o.~ä. d) zu einem bestimmten Verhalten o.~ä.
werden: Post, einen Brief, eine bringen: ich habe ihn nicht aus dem
Nachricht b.; er hat Bescheid Bett bekommen (er ist trotz meiner
bekommen, daß ...; Aufforderung nicht aufgestanden);
jmdn. zum Reden b.; e) erreichen,
daß jmd., etw. in einen bestimmten
Zustand versetzt wird: sie konnte die
Schuhe nicht sauber b.;
d) von etw. befallen werden; als Folge e) erreichen, daß etw. an eine be-
einer physischen od. psychischen stimmte Stelle kommt: etw. in die
Veränderung haben: Wut, Angst, Hand b.; etw. zu Papier b.; die Män-
Heimweh b.; allmählich Hunger b.; er ner bekamen das Klavier nicht durch
hat einen furchtbaren Schrecken die Tür; etw. in den Magen b. (ugs.;
bekommen; einen roten Kopf, Falten, zu essen)
eine Glatze b.;

5
Duden Universalwörterbuch 1989:462

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-214-

7) *~es nicht über sich b. «hat» (sich f) jmdm. [nicht] zuträglich sein;
nicht zu einer [für die eigene oder [un]günstig für jmdn., etw. sein «ist»:
eine andere Person] unangenehmen das Essen ist mir [gut] bekommen;
Handlung entschließen können): sie wohl bekomm's!
hatte es nicht über sich bekommen,
ihn zu betrügen.

In Österreich sind lediglich die Grundbedeutungen 1) und 2) gebräuchlich:


"Jmd. wird von jmd. anderen etw. übergeben." Er/Sie ist Betroffener (Patiens), der
durch das Präpositionalobjekt verursachten Handlung ist bzw. Zielpunkt des direkten
Objekts ist: Ich bekomme einen Apfel./ Ich bekomme von dir eine Antwort (= mir
wird von dir etwas gegeben). Wesentlich ist, daß die Handlung konkret faßbar und
nicht abstrakt ist. Das Patiens-Subjekt hat eine vollkommen passive Rolle.
Die Bedeutung 1f) einen Schrecken bekommen ist daher unter diesem Ge-
sichtspunkt ausgeschlossen. An dieser Stelle steht kriegen. Kriegen hat zwar auch die
Bedeutung gegeben werden, bedeutet daneben aber auch noch erlangen, schaffen.
Aufgrund dieser zweiten Bedeutungskomponente kann in Ö. bei den Belegen 2)-7)
jeweils nur kriegen stehen oder eine aktivische Struktur mit einem Vollverb: Ich habe
mich geschreckt. / Ich habe das Klavier nicht durch die Tür gebracht. / Das hat mir
nicht gut getan. etc.
Daran zeigt sich zweierlei:
1. Die Bedeutungsunterschiede bei Verben führen in erster Konsequenz zu Unter-
schieden in der semantischen Valenz und in der Selektion der Aktanten.
2. Um ein und denselben Inhalt auszudrücken, führen die Bedeutungsunterschiede
zur Wahl anderer Verben innerhalb des Wortfeldes und damit auch zur Ver-
wendung anderer Strukturen.
3. Verschiedene Formulierungen werden hie wie dort als "fremd", "unpassend" bzw.
"ungrammatisch" empfunden. Man hat zwar das Gefühl, daß Deutsch ge-
sprochen wird, es kommen darin aber immer wieder unklare oder falsch klin-
gende Formen vor.
4. Die Beschreibung der grammatischen Strukturen von Varianten einer plurizen-
trischen Sprache muß daher einen stark semantisch orientierten Ausgangspunkt
haben. Es genügt nicht, bloß die syntagmatische Ebene zu betrachten.
5. Die Ursache für die meisten grammatischen Unterschiede sind, zumindestens
zwischen dem Österreichischen und dem Bundesdeutschen, auf der Ebene der
Kollokationen bzw. auf der Ebene der Selektionsbeschränkungen aufgrund einer
divergierenden semantischen Basis zu finden.
6. Die Einbeziehung der gesprochenen Standardsprache bzw. des überregionalen
Standard-nach-Innen steht noch aus und wäre dringend notwendig.

Leider läßt es des die knapp bemessene Zeit nicht zu, auf die theoretische Seite
der Analyse weiter einzugehen. Im folgenden soll nun ein kurzer Überblick über

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-215-

wichtige grammatische Merkmale des ÖD gegeben werden, wobei ich mich auf die
weniger oder nicht bekannten Merkmale konzentrieren möchte. In den
nachfolgenden Tabellen und Aufstellungen stehen in der linken Spalte jeweils die
österreichischen Formen und in der rechten die bundesdeutschen.
6
3. Grammatische Merkmale des ÖD
3.1 Grammatische Kategorien - Genusunterschiede bei
Substantiven

1.1 Unterschiede im Genus der Substantive (Auswahl)


Abszeß, das der Abszeß Raster, das der / das Raster
Akt, der (Gerichts- die Akte Schnitzel, das das/der Schnitzel
akt) (Papierschnitzel)
Cola, das die Cola Schranken, der die Schranke
Einser, der die Eins Service, das der Service
Gehalt, der/das das Gehalt Sulz, das die Sülze
Gulasch, das der/der Gulasch Virus, der das/der Virus
Gummi, der das / der Gummi Zubehör, das der/das Zubehör
Prospekt, das der Prospekt usw.

1.2 Einige Kurzformen haben ein anderes Genus


Akt, der Akte, die Spalt, der Spalte, die
Eck, das/Ecke, die Ecke, die Spitz, der Spitze, die
Ritz, der Ritze, die Zeck, der Zecke, die

2. Artikelgebrauch
2.1 Eigennamen werden mit Artikel bzw. auch ohne gebraucht:

Der Franz hat... Franz hat...


Der Müller hat ... / Der Herr Müller ... Herr Müller hat...
Aber: Die Familie Müller Die Müllers / Die Familie Müller
Die Personennamen werden in Österreich generell mit Artikel gebraucht. Ein-
zige Ausnahme: Im höchsten geschriebenen Register wird dies eher vermieden.
Umgekehrt ist es in Österreich völlig ungebräuchlich und sogar höchst unhöflich
statt "(Die) Familie Müller", "Die Müllers" zu sagen, wie dies z.B. besonders in
Norddeutschland üblich ist. Es gilt in Österreich als unhöflich.

6
In den nachfolgenden Tabellen und Aufstellungen finden sich in der linken Spalte die österreichischen
Ausdrücke und in der rechten die bundesdeutschen.

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-216-

2.2 Ländernamen: Der Name des "Iran" wird ohne Artikel


gebraucht

Der Iran hat bekanntgegeben, daß Iran hat bekanntgegeben, daß


Im Duden wird zwar angegeben, daß Iran "meist mit Artikel" steht. In den deut-
schen Medien wird das Wort jedoch generell ohne Artikel verwendet, während es in
Österreich ausschließlich mit Artikel gebraucht wird.
3.2 Morphologie
In der Morphologie gehen die meisten der (bekannten) Unterschiede auf einige
wenige Quellen zurück.
1. Bestimmte phonologische Merkmale der Basissprache, die sich durch Entlehnung
erhalten haben.
Dazu gehören die sog. Umlautvermeidung des Oberdeutschen (besonders vor
der Affrikate [ts] und vor [kt]) bzw. auch Umlautung von umlautfähigen Vokalen.
Letzteres ist besonders dann der Fall, wenn umlautfähige Vokale in der Position vor
[r] / [l] + [Plosiv] <lt>, <lb>, <rb>, <r>, <l> stehen. Sie sind im ÖDt. (fast immer)
umgelautet, im BDt. in der Regel nicht umgelautet:
• färbig, einfärbig <> farbig, einfarbig; einzöllig <> einzollig; fetthältig <> fetthaltig;
ausständig <> ausstehend;
• Bögen, die <> Bogen, die; Erlässe, die <> die Erlasse; Generäle, die <> die Generale;
Mägen, die <> Magen, die; Kräne, die <>Krane/Kräne, die; Kästen, die (auch:
Kasten) <> Kästen, die usw.
• backt <> bäckt; bratet <> brät; geblumt <> geblümt; die; nutzen <> nützen; raten -
ratest - ratet <> raten - rätst - rät; stoßen - stoßt - stoßt <> stoßen - stößt - stößt;
saufen - saufst - sauft <> saufen - säufst - säuft, Sulz, das <> Sülze usw.
2. Eine Reihe von Morphemen, die in Form von Präfixen, Suffixen und einfachen
Wortbildungmorphemen zu neuen Ableitungen und Wortneubildungen geführt
haben. (In Auswahl.)
2.1 Das -er Suffix: der Einser, der Zweier, der Dreier, ... der Zwölfer <> die Eins, die
Zwei, die Drei, ... die Zwölf usw.
2.2 er/-erer/ -ler Suffix bei Substantiven, das sehr produktiv ist:
Raunzer, der (mißmutiger Mensch); Finanzer, der (Finanzbeamter); Streberer,
der (Streber, der); Greißler, der (Lebensmittelhändler /-geschäft); Haberer, der
(Busenfreund) usw.
2.3 Diminuitiva auf -el / -erl / -eln / -ern / -erln (teilw. lexikalisiert)
-el Ableitungen: Brettel, das <> Brettchen, das; Hendl, das <> Hähnchen, das;
Würstel, das <> Würstchen, das/Wurst, die; Krügel, das/Krügerl, das <> Maß,
die; Reindl, das/Rein, die <> Topf, der usw.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-217-

-erl Ableitungen: bisserl <> bißchen; Busserl, das <> Küßchen, das; Salzstangerl,
das <> Salzstange, die; Schwammerl, das <> Pilz, der; Tratscherl, das <>
Plauderei, die; Pickerl, das <> Klebeetikette, die; Zuckerl, das <> Bonbon, das;
Kipferl, das <> Hörnchen, das usw.;
-erln Ableitungen: äußerln (den Hund auf die Straße führen); fensterln (nachts
durchs Fenster zur Geliebten gehen) usw.;
-eln Ableitungen: brandeln (etw. anzünden); packeln (etw. hinterrücks aus-
machen); zündeln (anzünden); fratscheln; ausfratscheln (ausfragen) usw.;
-ert Suffix in der gespr. Sprache: patschert (unbeholfen); schlampert
(schlampig); teppert (blöde); hatschert (hinkend); wacklert (wacklig) usw.;
2.4 Fugenmorpheme -s -Ø -e
-s Morphem: Aufnahmsprüfung/Aufnahmeprüfung; Fabriksbesitzer; -sarbeiter;
-sdirektor; Zug-sverkehr; -sverbindung; -sunglück <> Zugverkehr; -
verbindung; -unglück; Überfallskommando/Überfallkommando; Gelenksent-
zündung/Gelenkentzündung usw.;
-Ø Morphem: Mausfalle <> Mausefalle; Taglohn <> Tagelohn; Taglöhner <>
Tagelöhner
2.5 Die Ableitungen mit -ieren bei Verben
delogieren <> rauswerfen; exekutieren <> Auftrag ausführen; pragmatisieren
<> fest anstellen; tranferieren <> versetzen; refundieren <> ersetzen; vidieren
<> beglaubigen; strichlieren <> stricheln; eruieren <> herausfinden
2.6. Verschiedene Suffixe bei Adjektiven und Adverbien mit teilweisen
Bedeutungsunterschieden
grauslich <> grausig; brenzlich <> brenzlig; durchwegs <> durchweg
2.7 Lateinisches Genitiv-i der II. Deklination bei Feiertagsnamen und Kirchenbauten
vs. -s Morphem.

Stefanitag Stephanstag Stephansturm


Martinigans Martinsgans Jakobskirche Jakobikirche
Josefitag Josefstag Nikolauskirche Nikolaikirche

3. Wortbildungsunterschiede durch unterschiedliche


Kombination von Präpositionen mit Verben
Die Unterschiede in diesem Bereich sind zahlreich und führen in der Regel zu relativ
starken Unterschieden, da diese teilweise tief ins Sprachsystem eingreifen. Dabei sind
drei Kategorien von Unterschieden festzustellen:
1. Ein Basisverb wird mit unterschiedlichen Suffixen oder Präfixen (meistens Präpo-
sitionen) kombiniert. Die jeweiligen Wörter haben dieselbe Basisbedeutung und
drücken prinzipiell denselben Inhalt aus.

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-218-

aufdrehen (Licht) andrehen, ein- ausstecken; "es ist herausstecken


schalten; ausgesteckt"
aufliegen (Listen) ausliegen ausspotten verspotten
aufscheinen erscheinen, auf- absammeln einsammeln
tauchen,
aufzahlen (auch zuzahlen, darauf- beheben (Geld, abheben, abholen
sdt.) zahlen Post)
ausfolgen verabfolgen, aus- auflassen aufgeben (Fabrik)
stellen; offen lassen (Fen-
aushändigen; ster)
ausfolgen aushändigen; beistellen bereitstellen
ausschnaufen / verschnaufen beiziehen zu Rate ziehen
verschnaufen
auskommen entkommen, entfallen ausfallen
entwischen
auslassen (auch loslassen, freilassen daherbringen herbeibringen
sdt.)
ausreden sich herausreden drauskommen aus der Fassung kom-
men
ausreden sich aussprechen, überkühlen (kurz) abkühlen
ausrinnen (auch herausrinnen übertrocknen (kurz/leicht) ab-
sdt.) trocknen
inbegriffen einbegriffen übertragen abgetragen
inliegend einliegend, anbei unterkommen vorkommen, ge-
schehen
niederstoßen umstoßen, umwer- verköstigen beköstigen
fen
allseits/allerseits allerseits Draufgabe Zugabe

2. Eine Präposition oder ein Adverb wird mit unterschiedlichen Verben kombiniert.
Die jeweiligen Wörter haben dieselbe Basisbedeutung und drücken prinzipiell
denselben Inhalt aus.

absperren (Tür) abschließen ausständig ausstehend,


fehlend
anstehen auf jm./ angewiesen sein; beflegeln beschimpfen
Hilfe benötigen

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-219-

ausheben (Brief- ausnehmen, lee- beischließen beilegen


kasten) ren,
auslangen ausreichen, langen einbekennen eingestehen: be-
kennen
ausrasten sich ausruhen sich einlangen eintreffen

3. Zwei Präfixverben haben annähernd dieselbe Bedeutung, sie unterscheiden sich


jedoch sowohl hinsichtlich des Basisverbs, als auch hinsichtlich des Präfixes.

aufnehmen (Arbei- anstellen; einstellen niedersetzen sich sich setzen


ter)
auskommen mit jm. sich gut verstehen zurücklegen (Amt) niederlegen, auf
geben
niederlegen sich schlafen legen beistellen bereitstellen

4) Im ÖD gibt es eine Reihe von Präfixverben und Neubildungen, die im Bdt. keine
direkte Entsprechung haben

aufsitzen jm. schikanieren/be- einringeln (Text) anstreichen


nachteiligen
auflassen stillegen übertauchen Krankheit durch-
stehen
erstrecken verlängern neuerlich erneut / wieder
holt
allfällig eventuell jedweder jeder / jeglicher
ehebaldigst baldmöglichst dazukommen Gelegenheit haben
jüngst neulich weiters weiterhin
nachhinein hinterher fallweise gelegentlich
vorhinein im voraus

3.5 Eine Reihe von Präfixverben sind in manchen Haupt- und


Nebenbedeutungen in Österreich nicht in derselben Bedeutung
in Verwendung bzw. überhaupt nicht bekannt.
Dazu einige Beispiele aus einer derzeit laufenden Untersuchung, bei der in
einem Vortest insgesamt 10 Informanten Testsätze vorgelegt wurden, die aus dem
Duden stammen und die Bedeutung/Valenz bzw. die möglichen Kollokationen der
betreffenden Verben verdeutlichen sollen. Die folgenden Tabellen zeigen mit der den
jeweiligen bundesdeutschen Testsatz (= mit der ganzen Zahl 49., 50. etc. numeriert),
auf den ein oder auch mehrere österreichisch geprägte Testsätze folgen (49.1, 49.2,
50.1 etc.). Die Numerierung des Fragebogens wurde beibehalten. Die regionale
Zugehörigkeit der Sätze war im Fragebogen nicht angegeben. Die Informanten wurde

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-220-

lediglich die Aufgabe gestellt, zu beurteilen, ob der jeweilige Testsatz von ihnen für a)
unmöglich (Spalte 1); b) möglich, aber nicht üblich (Spalte 2); c) möglich und üblich
(Spalte 3) gehalten wird.
Obwohl die Anzahl der Testpersonen sehr gering ist, zeigten sich in sehr vielen
Fällen ganz eindeutige Ergebnisse. Die Besprechung der Testsätze mit fachkundigen
Kollegen bestätigte darüber hinaus die (vorläufigen) Untersuchungsergebnisse, die
derzeit an einer großen Zahl von Gewährspersonen überprüft werden.7
1. Das Verb abfallen hat in Österreich nicht die Bedeutung "einen Anteil bekom-
men". Stattdessen steht "bekommen" bzw. "überbleiben".
unmögl mögl./ mögl.+
nicht übl. üblich

49. Für sie fiel auch noch eine Bluse ab. 3 4 3


49.1. Sie bekam noch eine Bluse. 0 0 10
49.2. Für sie blieb auch noch eine Bluse über. 0 1 9
50. Für die Kinder fällt eine Kleinigkeit ab. 2 4 3
50.1. Die Kinder bekommen auch eine Kleinigkeit. 0 0 10

2. Das Verb abessen gibt es in Ö. nicht. Stattdessen steht aufessen.

38. Iß deinen Teller ordentlich ab! 7 2 0


38.1. Iß deinen Teller ordentlich auf! 1 2 6

3. Das Verb beibiegen gibt es in Ö. nicht. Stattdessen steht beibringen bzw. erklären.

74. Die Formel hat er ihm endlich beigebogen. 10 0 0


74.1. Die Formel hat er ihm endlich beigebracht. 0 0 10
76. Kannst du es ihr mal auf ein nette Art beibiegen. 9 0 1
(=erklären)
76.1 Kannst du es ihr auf ein nette Art erklären. 0 0 10
Wie die Testergebnisse zeigen, wird der Testsatz 74 zu 100% für
ungrammatisch gehalten. Im Duden Universalwörterbuch wird diese Bedeutung
jmdm. einen Wissensstoff immer wieder klarzumachen, zu erklären versuchen, zwar
mit "salopp" markiert, Rückfragen bei deutschen Kollegen ergaben jedoch, daß dieses
Verb durchaus häufig in Gebrauch ist. Um so bemerkenswerter ist, daß es in
Österreich völlig unbekannt ist. Das gilt auch für die Bedeutung "jmdm. (etw.
Unangenehmes) mit diplomatischem Geschick sagen (erklären)".

7
Die Untersuchung wird fortgesetzt und voraussichtlich 1996 publiziert werden. Ich danke Jana
Hlaèinova herzlich für die Mithilfe.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-221-

4. Das Verb vorbinden gibt es in Ö. nicht. Es wird zwar für möglich, aber nicht
üblich gehalten. Stattdessen steht umbinden.

91. Sie band sich deshalb eine Schürze vor. 2 8 0


91.2. Sie hat eine Schürze umgebunden 0 0 10

5. Das Verb aufbringen gibt es in Ö. nicht in der Bedeutung auf eine Fläche
streichen. Stattdessen steht "streichen".

127. Er bringt Farbe auf die Wände auf. 4 5 1


127.1. Er streicht Farbe an die Wände. 3 4 3
127.2. Er streicht Farbe auf die Wände. 0 1 9
Die Ergebnisse zeigen, daß passive Kenntnisse der Struktur "bringt ... auf"
duchaus vorhanden sind. Ein knappes Drittel der österreichischen Informanten ist
durchaus bereit, auch die Struktur "streicht ... an die Wand" als akzeptabel
anzusehen. Für so gut wie alle Informanten ist aber "streicht ... auf die Wand" die
"richtige" Form, was auf die schon erwähnten Unterschiede im Gebrauch der
Präpositionen hindeutet.
6. Das Verb nachbleiben gibt es in Ö. nicht. Stattdessen steht nachgehen/zu-
rückbleiben".

41. Die Uhr bleibt nach (= ist zu langsam) 9 0 0


41.1. Die Uhr geht nach. 0 1 8
41.2. Die Uhr bleibt hinten. 3 2 4
Das Wort "nachbleiben" ist im Duden zwar als "landschaftlich" markiert, wird
in Norddeutschland aber häufig verwendet und kommt, wie ich festgestellt habe,
auch in DaF-Lehrbüchern vor, wo es unmarkiert und damit als "Standard" dargestellt
wird. Das ist sicherlich unrichtig, da es in Österreich vollkommen unbekannt ist.
7. Das Verb abfahren hat in Österreich nicht die Bedeutung wegbringen.
Stattdessen steht wegführen oder wegbringen.

192. Sie haben den Müll abgefahren. 9 1 0


192.1. Sie haben den Müll weggefahren. 1 5 3
192.2. Sie haben den Müll weggeführt. 0 1 9
Die Ergebnisse sind auch hier eindeutig, denn die für Österreich einzig
akzeptable und übliche Form ist das Verb wegführen. Dieses Wort hat laut Duden -
Universalwörterbuch im Bundesdeutschen nur die Bedeutung "1. fortführen. 2. sich
in seinem Verlauf, seiner Richtung von einem bestimmten Ort entfernen: der Weg

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-222-

führt von der Siedlung weg", also nicht die Bedeutung "etw. Schweres
abtransportieren".
8. Das Verb "abbringen" hat in Österreich nicht die Bedeutung "lösen/von einer
Oberfläche lösen". Stattdessen steht "wegbringen".

123. Bringst du den Fleck nicht vom Tischtuch ab? 8 1 1


123.1. Bringst du den Fleck nicht vom Tischtuch weg? 0 1 9

Auch hier sind die Ergebnisse wiederum sehr eindeutig. Im österreichischen


Deutsch ist die Präposition "ab" nicht in der Bedeutung "von einer Oberfläche weg-
(nehmen)" in Gebrauch. Stattdessen wird "weg" verwendet. Das und die Testbeispiele
9 und 10 zeigen, daß auch die Richtungsadverbien einen unterschiedlichen
Gebrauchsumfang haben.
9. Das Adverb "fort" wird in Österreich nicht mit Bewegungsverben verbunden. Es
hat eher lokal-statische Bedeutung. Stattdessen steht "weg".

134. Sie brachten ihn in ein Krankenhaus fort. 5 4 1


134.1. Sie brachten ihn ins Krankenhaus. 0 0 10
135. Man konnte sie nicht vom Schaufenster fortbringen. 3 6 1
135.1. Man konnte sie nicht vom Schaufenster wegbringen. 0 0 10

Wie die Testsätze 134ff zeigen, ist in Österreich die Verwendung eines
zusätzlichen Richtungsadverbs bei Verben der Fortbewegung ganz offensichtlich
nicht notwendig. Darüber hinaus kann das Verb "bringen" nur mit "weg" und nicht
mit "fort" kombiniert werden, da dieses die schon erwähnte lokal-statische Bedeutung
hat (Er ist fort. = Er ist nicht da/hier.).

10. Das Adverb "hoch" hat in Österreich nicht die Bedeutung "hinauf". Stattdessen
steht "hinauf" oder kein Adverb.

205. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den ersten Stock hoch. 3 7 0


205.1. Er fuhr mit dem Lift in den ersten Stock. 0 0 10

11. Das Verb "vorbringen" hat in Österreich nicht die Bedeutung "nach vorne/in den
vorderen Teil eines Ortes bringen". Es hat lediglich die abstrakte Bedeutung
"erklären/vortragen".

20. Er bringt die Waren in den Laden vor. 6 3 1


20.1. Er bringt die Waren ins Geschäft nach vorn(e). 0 6 3
20.2. Er bringt die Waren vom Lager ins Geschäft. 0 0 10

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-223-

4. Unterschiede bei Adverbien


4.1 Die Kurzformen von Richtungsadverbien, die mit her-,
hin- etc. gebildet werden, werden gemieden bzw. sind in
ihrer Bedeutung verschieden.

1. rüber vs. herüber


85. Sie brachten uns Obst rüber. 1 5 3
85.1. Sie brachten uns Obst herüber. 0 3 6

2. ran vs. Ø (Entfall)


Er brachte eine ganze Kiste Getränke ran. 3 6 0
Er brachte eine ganze Kiste Getränke (her). 0 0 9

4.2 Bei den Richtungsadverbien mit hin- und her- gibt es


unterschiedliche Blickpunkte. In Ö. wird deutlich zwischen
der Bewegung vom Sprecher weg bzw. zum Sprecher hin
unterschieden.

1. da vs. dort
(Jemand war gestern in Berlin.) In Deutschland ist es möglich und üblich, zu
sagen: "Ich war gestern da", wenn sich jemand zu einem späteren Zeitpunkt auf
diesen Ort bezieht und sich dort nicht mehr befindet. In Österreich ist in diesem Fall
hingegen die Verwendung von "dort" üblich: "Ich war gestern dort." Dahinter steht
die deutliche Unterscheidung zwischen sprechereigenen und sprecherfremden Ort.

2. heraus bringen vs. hinaus bringen

137. Er bringt die Gäste heraus. (d.h. an die Haustür) (=Der 6 3 0


Sprecher ist im Haus.)
137.1. Er bringt die Gäste hinaus. (d.h. zur Haustür) (=Der Sprecher 0 0 9
ist im Haus.)

3. herunter bringen vs. hinunter bringen

141. Das bringe ich im Leben nicht herunter. (= ist zuviel/unge- 6 3 1


nießbar)
141.1. Das bringe ich im Leben nicht hinunter. 1 2 7
142. Sie brachte keinen Bissen herunter. 5 3 2
142.1. Sie brachte keinen Bissen hinunter. 0 0 10
4. hineinbringen vs. hinunterbringen

97. Du wirst doch wenigstens diese eine Scheibe Brot 7 1 2


hineinbringen! (d.h. essen können)

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-224-

97.1. Du wirst doch wenigstens dieses eine Stück Brot 0 0 10


hinunterbringen!

Faßt man diese exemplarischen Beispiele zusammen, ergibt sich folgendes Bild:
1. Die Bedeutungs- und Gebrauchsunterschiede ergeben sich vor allem aus der
Verwendung lokaler Präpositionen wie "ab", "bei", "auf" etc., in der Bedeutung
"Kontakt mit einer Fläche" bzw. "Richtung auf einen Punkt hin".
2. Eine besonders große Wirkung haben die Präpositionen "ab" und "aus" in der
Bedeutung "weg" bzw. "Richtung auf einen Punkt hin".
3. Dasselbe gilt für Adverbien wie "fort", "hoch" etc., die in Österreich geringe bis
keine Richtungsbedeutung, sondern eher lokal-statische Bedeutung haben.
4. Bei den Richtungsadverbien gibt es Unterschiede in der Bedeutung und in der
Kombinationsfähigkeit mit Verben.

5. Syntaktische Unterschiede
In der Fachliteratur werden nur wenige grammatische Merkmale angeführt.
Dazu gehören die schon erwähnte Bildung des Perfekts mit "sein" bei den Verben
"stehen, sitzen, liegen" sowie der weitgehende Entfall des Präteritums zugunsten des
Perfekts als Erzählzeit in der gesprochenen Sprache. Tatsächlich gibt es wesentlich
mehr syntaktische Unterschiede als diese. Der folgende Überblick gibt Hinweise auf
andere grammatische Unterschiede, die bisher nicht beachtet wurden. Der Überblick
ist keineswegs vollständig.
5.1 Die Wahl der Präpositionen in Präpositionalgruppen in
der Funktion von Lokalbestimmungen der Unterkategorie
"Punktuelle Lokalität mit Kontakt"

Österreich Deutschland
Auf dem Baum sind noch Äpfel. An dem Baum sind ...
auf : an Sie sind/studieren auf der Uni. an der Uni sein/studieren.
Auf der Uni/auf der Polizei war An der Uni/bei der Polizei
viel los. lossein.
Alles liegt auf dem Boden. .. am Boden liegen.
auf : am Aber: Er ist nervlich am Boden. ... am Boden sein.
Wir leben auf dem Land. ... am Land leben.
Zornig sprang er auf/an die an die Zimmerdecke sprin-
auf : an Zimmerdecke. gen.
Sie starrten auf die Zimmer- an die Zimmerdecke starren.
decke.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-225-

Der Bus fährt beim (am) am Bahnhof vorbeifahren.


bei(m) : Bahnhof vorbei.
am/an Ich gehe bei der Bibliothek an der Bibliothek vorbei-
vorbei. gehen.
Sei müssen bei der Kreuzung an der Kreuzung abbiegen.
rechts abbiegen.
beim : am Der Tisch steht beim Fenster. am Fenster stehen.
von ... ab :ab fährt heute von Bahnsteig 10 ab. fährt Bahnsteig 10 ab.
von ...an : ab fährt vom Signal 3 an schneller. fährt ab Signal 3 schneller.
auf:zur Er geht auf die Meisterschule. zur Meisterschule gehen.
in:zur Er geht in die Schule. zur Schule gehen.
zum : an Wir setzen uns zum Tisch. an den Tisch setzen.
Inf. : zu Wir gehen essen. gehen zu Tisch.
zum : an/zu Wir rücken den Stuhl zum ans Fenster rücken.
Fenster. an den Rhein gehen.
Wir gehen zum Rhein.

Alle Belege haben eine semantische Gemeinsamkeit: Die ausgedrückte Lokalität


gehört zur Unterkategorie "Kontakt mit einer (horizontalen oder vertikalen) Fläche".
Hier zeigen sich dieselben Unterschiede wie schon weiter oben bei den Präfixverben.
D.h., daß diese Unterschiede in der Wahl der Präpositionen nicht zufällige bzw.
willkürliche Abweichungen von der sog. "Standardnorm" sind, sondern auf systema-
tische Unterschiede in der semantischen Basis zurückgeführt werden müssen. Der
systematische Charakter dieser Unterschiede wird noch dadurch unterstrichen, daß
dieselben Unterschiede bei temporalen Adverbialen auftreten, wenn diese zeitliche
Punktualität ausdrücken, wie die Beispiele und Belege unter Pkt. 5.2 zeigen. Zu den
Lokalbestimmungen noch einige Belege aus der bundesdeutschen Mediensprache.
1. Mit dieser (alten) Flugtechnik würden wir keinen Fuß an die Erde bringen. (HR3
27.5.90) Öst.: keinen Fuß auf die Erde bringen. (Abstrakt-Oberfläche vs.
lokal/konkret)
2. Fehlende Leitplanken auf der Fahrbahnmitte ließen höhere Geschwindigkeiten
nicht zu. (HR3, Nachrichten 2.7.90) Öst.: Leitplanken in der Fahrbahnmitte .
(Die "Fahrbahnmitte wird in Ö als Raum aufgefaßt und nicht wie in der BRD als
Punkt).
3. Ich wollte zur Schule. (ZDF, 23.5.91) Öst.: auf die Schule/in die Schule;
(In Österreich differenziert man hier in zweierlei Hinsicht: a) Schule als Ort, den
man betreten kann; b) Schule als abstrakter Begriff. Diese Differenzierung ist in
BRD offensichtlich aufgehoben. "Schule" gilt dort als "abstrakte Fläche".)

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-226-

4. Du stehst mir erst wieder zum Abendessen auf. (HR1 25.5.90) Öst.: beim/zum
Abendessen auf.
3. Da haben wir Frau E. gefragt, Ernährungswissenschaftlerin bei der Bundesanstalt
für Ernährungswissenschaft. (SWF1 Baden aktuell, 20.6.90) Öst.: an der
Bundesanstalt. In Ö wird durch "an" stärkere (lokale) Affiliation ausgedrückt, je-
doch nur bei "abstrakten" Objekten (wie Institutionen).

5.2 Unterschiede in der Wahl der Präposition bei


Präpositionalgruppen mit der Funktion "Temporale
Adverbialbestimmung" der Unterkategorie Zeitpunktan-
gaben/punktuelle Sachverhalte

Österreich Deutschland
am:zum am Ende vorigen Jahres. zum Ende vorigen Jahres.
am Wochenende. zum Wochenende
am 25. Jahrestag der Gründung zum 25. Jahrestag.
von/ Es passierte in der Nacht vom in der Nacht zum Sonntag.
vom : zum Sonntag. (= die Nacht von Sams-
tag auf Sonntag).
auf : zum Ich war in der Nacht auf Montag zum Montag
dort.
Auch zu den Temporalbestimmungen möchte ich noch einige Belege aus der bundes-
deutschen Mediensprache anführen:

1. Die Witterungsbeständigkeit nimmt in der Nacht zum Sonntag ab. (SDR Nach-
richten 15.5.91). Öst.: nimmt in der Nacht auf Sonntag ab.
2. Die sind zu Tausenden nach Italien gereist, nachdem man zu Anfang keinen
Heller auf die junge Mannschaft setzte. (SWF1, Bericht über WM-Fans, 30.6.90).
Öst.: nachdem man am Anfang keinen Heller auf die junge Mannschaft setzte.
3. Spitzenvertreter der Regierung kommen am Mittag mit der SPD zusammen. (HR1
29.5.) Öst.: kommen zu Mittag/in der Mittagszeit zusammen. In Österreich ist
"am" nur kombinierbar mit Substantiven, die das semantische Merkmal "+ lokal"
tragen.
4. Es ist spät am Tag. (SWF, 22.5.90, Morgenmagazin). Öst.: Es ist bereits spät/oder
Zeitpunktnennung.
5. Meine Mutter ist schon fast in die 60. (HR3 19.6.90) Öst.: ist schon fast 60
(Jahre alt). In Ö "in" + Zeitpunktangabe nicht möglich, sondern hat primär nur
lokale Bedeutung.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-227-

5.3 Unterschiede in der Wahl der Präposition bei


Präpositionalgruppen mit der Funktion Modalbestimmungen bzw.
Prädikative
In diesem Bereich kommen vor allem Präpositionalgruppen vor, die in Form
und Bedeutung in Österreich ungebräuchlich und in der Regel als phraseologische
Einheiten aufzufassen sind. Die Belege zeigen auch hier, daß sich der Gebrauch der
Präpositionen zwischen dem Norden und dem Süden des deutschen Sprachraums in
einer Reihe von Punkten unterscheidet.

Österreich Deutschland
1. Man muß alles händisch machen. 1. Man muß alles von Hand machen.
Adjektiv vs. Präpositionalgruppe (ARD-Fernsehshow 22.5. 21'55)
2. Er wohnt als Untermieter schwarz. 2. Er wohnt schwarz zur Untermiete.
(Abstrakt/ apersonal vs. personal) (HR1, Aktuell 28.5.90)
3. Üblich: Wir liegen mit der Zeit ganz 3. Wir sind ganz gut in der Zeit. (ZDF,
gut. Wir liegen ganz gut in der Zeit. Sportübertragung 19.6.90)
(Möglich aber nicht sehr üblich.)
4. Da ist einer schwer beim Arbeiten. 4. Da ist einer am Schaffen dran.
("Bei" gegenüber "am" in Verbindung (Mannheim, Aussage eines Mitarbeiters
mit Verbalabstrakta, die aus über einen Arbeitskollegen)
Tätigkeitsverben gebildet wurden.)

5.4 Rektion und Valenz von Verben

1. vergessen auf etw. (tschech./slow. vergessen etw.


Einfluß)
2. erinnern an/auf erinnern an
3. mit jm. sprechen / reden Jm. sprechen (= jm. kontaktieren)
4. etw. kommt jm. unter etw. passiert
5. sich eine anrauchen/anzünden eine anzünden
(Zigarette)
6. jm. nachhause führen/nachhause Jm. nachhause fahren
bringen

5.5 Die verstärkte Verwendung des Reflexivpronomens "sich"


Auf diese Erscheinung wurde wiederholt hingewiesen. Sie geht vermutlich auf
tschechisch/slowakischen Einfluß zurück.

Österreich + sich Bundesdeutsch -sich

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-228-

Es lohnt sich nicht. Es lohnt nicht.


Das geht sich nicht aus. Das reicht nicht. / Das ist zu wenig.
Er soll sich nicht zuviel erwarten. Er soll nicht zuviel erwarten.
Da hört sich doch alles auf. Das ist zuviel. / Jetzt reichts.
Da läßt sich nichts machen. Da kann man nichts machen.
Er soll sich nicht spielen. Er soll aufpassen. (Warnung)
Er soll sich niederknien. Er soll niederknien.
Es spießt sich. Es gibt Probleme. / Es stockt.

5.6 Perfektbildung mit haben oder sein

Das Perfekt der folgenden Verben wird in Ö. mit "sein" in Dtld. überwiegend
mit "haben" gebildet: liegen, stehen, sitzen, hängen, knien, lehnen, schweben, stecken.
Im Süddeutschen und im Schweizerischen ist die Perfektbildung dieser Verben
ähnlich wie im Österreichischen, sie wird jedoch in Deutschland sehr oft als
"umgangssprachlich" angesehen.
5.7 Die Vergangenheitstempora
5.7.1 Das Präteritum
Das Präteritum wird in Österreich in der gesprochenen Sprache selbst in den
sozial höchsten Registern und in der öffentlichen Sprache sog gut wie nicht
verwendet, sondern durch das Perfekt ersetzt. Vermieden werden insbesondere die
Präteritumsformen der starken Verben. Die einzige Präteritumsform, die häufig
verwendet wird, ist das Präteritum von "sein" - "war", das vielfach mit den
entsprechenden Perfektformen "bin - gewesen" konkurriert. Anders ist es in der
geschriebenen Sprache, wo das Präteritum sehr wohl vorkommt und wie sonst im
gesamten dt. Sprachraum als Erzähltempus zum Erzählen von zurückliegenden und
abgeschlossenen Ereignissen dient.
5.7.2 Das Perfekt
Das Perfekt ist in Ö das universielle Vergangenheitstempus, das alle unmittelbar
vor dem Sprecherzeitpunkt liegenden, entweder abgeschlossenen oder nicht ab-
geschlossenen Ereignisse darstellt. Es ist - wie schon erwähnt - der Ersatz für das
Präteritum und (in Verbindung mit Temporaladverbien) teilweise auch für das
Plusquamperfekt.
5.7.3 Das Plusquamperfekt
Es wird in der gesprochenen Sprache (außer im formalen Diskurs und im
höchsten Register) faktisch nicht verwendet und kommt sowohl mit "hatte", als auch
mit "war" nur in der geschriebenen Sprache vor, dort allerdings den kodifizierten
schriftsprachlichen Normen gemäß.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-229-

5.7.3. Doppeltes Perfekt und Doppeltes Plusquamperfekt als


Ersatzformen für fehlendes Plusquamperfekt
Da es aber unbedingt notwendig ist, vergangene Ereignisse kenntlich zu ma-
chen, die bereits vor einem anderen vergangenen Ereignis liegen, hat das ÖD eine
Ersatzform entwickelt: das sog. "Doppelte Perfekt" oder "Passé surcomposé", das in der
gesprochenen und mitunter auch in der geschriebenen Sprache vorkommt. Es besteht
aus der finiten Verbform von haben/sein + Part. II eines Vollverbs + Part. II von
haben. Dazu einige weitere Belege aus der österreichischen Literatursprache, die
zeigen, daß diese Struktur mit dem englischen "Past Perfekt continous" semantisch
sehr viel gemeinsam hat.
1. eine Versicherung habe der Nachbar nicht abgeschlossen gehabt, so daß er alles
habe allein bezahlen müssen. (G. Roth:Stille Ozean 107:15)
2. dann war noch, als sie die beiden ersten Kinder schon "herausgewurstelt" gehabt
hatte und bald vielleicht sogar ein wenig Zeit für sich gehabt hätte, das dritte
Kind ... (Wolfgruber:Herrenjahre 214:15)
3. die Joana auf einem Dachbalken über dem Vorhauseingang befestigt gehabt hat.
Die Landärzte sind nicht zimperlich, dachte ich. (Bernh:Holzfällen 59:6)
4. dieser Preis ein sehr hoher Preis ist, daß ich aber auch einen viel höheren Preis
hätte zu bezahlen gehabt unter Umständen, ... (Bernhard:Holzfällen 12:11)
5. geleistet, und eine Versicherung habe der Nachbar nicht abgeschlossen gehabt, so
daß er alles habe allein bezahlen müssen. (Roth:Stille Ozean 107:16)
6. Unverschämtheit, die mich an ihnen schon immer abgestoßen gehabt hat. Fast
alle zu dem Nachtmahl Gekommenen hatten ... (Bernhard:Holzfällen 32:26)
7. hatte unter ihrem Mann zeitlebens nichts zu lachen gehabt, sie hat sich aber mit
ihrer bescheidenen Rolle, die ... (Bernhard: Holzfällen 35:21)
8. Allein das Wort lungenkrank hatte mich immer entsetzt gehabt. Jetzt hatte ich es
den ganzen Tag so oft zu hören bekommen, daß es ... (Bernhard:Atem 105:25)
5.7.4 Vermeiden des Plusquamperfekts mit "sein", das
besonders in Norddeutschland üblich ist und die
Gleichzeitigkeit zweier vergangener Handlungen ausdrückt.

Dazu einige Belege aus dem Mannheimer Korpus:


1. Züpfner kannte fast jedermann in der Stadt, vor allem wegen seines Vaters, den
die Nazis rausgeschmissen hatten; er war Studienrat gewesen und hatte es
abgelehnt, nach dem Kriege als Oberstudiendirektor an dieselbe Schule zu
gehen. (Böll: Ansichten eines Clowns:48) (Mannheimer Korpus)
2. Rothe hieß eigentlich anders, er war 1905 bei der ersten finnischen Revolution
kurze Zeit Minister gewesen, dann von den Russen interniert worden,
(Grzimek, Serengeti darf nicht sterben:56) (Mannheimer Korpus)

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-230-

3. ein Drittel war vor der Geburt Röntgenstrahlen ausgesetzt gewesen, 31 dieser
Kinder entwickelte bis zum Alter von 15 Jahren Krebs. (Handbuchkorpus:
Mannheimer Korpus)
5.8. Die Reihenfolge der verbalen Elemente im sog.
Schlußfeld des Satzes
Flemming Stubkjär von der Univ. Odense kommt das Verdienst zu, auf die Un-
terschiede in der Abfolge der Verbformen im sog. Schlußfeld des Satzes aufmerksam
gemacht zu haben (Stubkjär, 1993), die in der folgenden Übersicht dargestellt sind.

Österreich: V2, V0, V1 vs. Deutschland V0, V2, V1


V2/V0 V0/V2 V1
Ö der die illegalen Geschäfte auffliegen hatte lassen
D der die illegalen Geschäfte hatte auffliegen lassen
Ö keine Kredite gewähren hätten dürfen.
D keine Kredite hätten gewähren dürfen.
Ö sie etwas sagen hatte wollen
D sie etwas hatte sagen wollen
Ö die zur Verurteilung Worms führen hätte können
D die zur Verurteilung Worms hätte führen können

Der Unterschied zwischen dem ÖDt. und dem Bundesdeutschen besteht darin,
daß beim Aufeinandertreffen von drei Verbformen im Schlußfeld von Nebensätzen in
Österreich zuerst der Infinitiv des Vollverbs und erst dann das finite Verb steht,
während es sich im bundesdeutschen Standard genau umgekehrt verhält. Stubkjär
(1993:48) weist darauf hin, daß in der österreichischen Variante "erreicht wird, daß
das Hauptverb in nächstem Kontakt zu seinen nominalen Gliedern steht" und es sich
damit um keine Verletzung der Reihenfolgennorm handelt, sondern um eine
alternative Anordnung, in der "die mitzuteilende, grundlegende Proposition, d.h. das
Hauptverb mit seinen nominalen Ergänzungen und Angaben, zuerst innerhalb des
Satzbogens zu Ende geführt wird."

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-231-

6. Einige pragmatische Merkmale des österreichischen


Deutsch
In diesem Abschnitt werden lediglich einige Punkte aufgelistet und im übrigen
auf die bereits genannten Publikationen verwiesen.
1. Das Anredeverhalten (Unterschiede bei Anredeformen und in
der Verwendung von Titeln)
Der bekannteste Unterschied ist der in Österreich häufige Gebrauch
akademischer Titel (Dr., Magister, Professor) und Funktionsbezeichnungen (Minister,
Präsident etc.). Der (akademische) Titel ist gesetzlich als Bestandteil des Namens
verankert und ersetzt diesen nicht selten bei direkter Anrede: "Lieber Herr Doktor".
Der starke Gebrauch von Berufstiteln konzentriert sich vor allem auf Titeln aus dem
akademischen Bereich (Magister, Doktor, Ingenieur, Diplomingenieur, Professor,
Dozent) sowie auf Titeln, die hohe Positionen in der staatlichen Bürokratie
kennzeichnen (Sektionschef, Ministerialrat, Hofrat). Häufig ist auch die Verwendung
von Titeln, die Ränge in Interessensorganisationen (Kommerzialrat) oder politische
Funktionen bezeichnen (Minister, Abgeordneter, Kammerrat etc.). Darüber hinaus ist
die Titulierung von hohen Funktionsträgern in Vereinen und sonstigen
Organisationen (Herr Präsident, Obmann/Obfrau etc.) üblich. Dahinter steht eine
stärkere Markierung hierarchischer sozialer Beziehungen, die in der BRD nicht so
deutlich bzw. auf andere Weise ausgeprägt ist. Die Verwendung der Titel ist
Nichtösterreichern allerdings nur dann zu empfehlen, wenn man sich ihres
Gebrauchs sicher ist, da sonst eher peinliche Situationen entstehen können.
Unterschiede gibt es auch bei den Gruß- und Verabschiedungsformeln, die
allerdings auch innerhalb Österreichs regional variieren. In ganz Österreich ist der
auch in Bayern gebräuchliche Willkommensgruß Grüß Gott verbreitet. Einzige
Ausnahme ist Wien, wo diese Grußform vermieden und allgemein durch Guten Tag
oder die Kurzformel Tag ersetzt wurde. Hier wirkt noch die starke antiklerikale
Einstellung der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit nach. Im persönlichen
Verkehr stehen allgemein die Begrüßungsformeln Servus und Grüß Dich (dial. Grias
di) in Verwendung, die auch als Verabschiedungsformeln eingesetzt werden.
Daneben stehen noch das ital. Chiao, das bdt. Tschüss und das dialektale Pfiat di in
Gebrauch. Die Neuschöpfung Baba [ba'ba:] wurde bereits erwähnt. Bei formelleren
Beziehungen werden Auf Wiederschaun bzw. Auf Wiedersehen als
Verabschiedungsformeln gebraucht, nicht jedoch Guten Tag, das nur als
Willkommensgruß eingesetzt werden kann.
2. Sprechaktrealisierungsverhalten
Für das Verhalten in Kommunikationssituationen lassen sich bereits auf der
Ebene der Gesprächsvorannahmen Unterschiede feststellen. In Österreich sind die
Faktoren Personalisierung, Hierarchisierung, Harmonieerhaltung,
Gesichtsbewahrung, Situationshandeln, Normenambivalenz,

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-232-

Wirklichkeitsmanipulation und Humor wichtige gesprächssteuernde Elemente. Dem


stehen in Deutschland Sachbezogenheit, persönliche Leistung, Prinzipienhandeln,
Normentreue, Konstanz, Wirklichkeitsüberhöhung und Ernsthaftigkeit als
handlungsleitende Vorannahmen gegenüber. Auf einer noch tieferliegenden Ebene
lassen sich für Österreich Alterorientierung und Personenorientierung als zentrale
Handlungskategorien annehmen, d.h. daß Ausgehen von/Einbeziehen der
Wünsche(n) des anderen, bei gleichzeitiger Zurückhaltung mit eigenen Forderungen
und Schützen des Gesichts des Anderen wichtige Kulturstandards darstellen. Bei
(west-)deutschen Sprechern kann demgegenüber archetypisch die Egoorientierung
und Sachorientierung als zentrale Handlungskategorie vermutet werden, d.h., daß
dort das Ausgehen von den eigenen Wünschen, die direkte Äußerung von
Forderungen und Wünschen sowie Selbstpräsentation und Schützen des eigenen
Gesichts grundlegende Handlungskategorien darstellen.8 Auf österreichischer Seite
ergibt sich daraus das zentrale Ziel der Konfliktvermeidung, Harmonieerhaltung
sowie nur verdecktes Äußern von Kritik und indirektes (ironisches)
Abwertungsverhalten. Besonders westdeutsche Sprecher neigen dagegen viel eher zu
offener Konfliktaustragung, Norm- und Zielerhaltung, zu offen geäußerter, direkter
Kritik und zu direktem Abwertungsverhalten. Die Gründe für diese Unterschiede
sind, wie soziologische und politologische Untersuchungen zeigen, im viel stärkeren
Individualismus und der damit verbundenen starken Leistungsorientiertheit in der
BRD (West) zu suchen9, dem eine ausgeprägte Gruppenorientierung
(Hierarchisierung) und ein kollektivistischer Individualismus auf der Basis eines
"hierarchischen Kollektivismus"10 in Österreich gegenübersteht. Diese
Grundhaltungen lassen sich auch der sehr abstrakten makropragmatischen Ebene
staatlich-politischen Handelns feststellen, wenn man an die österreichische
Sozialpartnerschaft denkt. Im einzelnen sei auf Muhr 1993, 1995c verwiesen.
2.1 Unterschiede in der Verwendung von sog.
"illokutionsmodifizierenden" Elementen wie Modalpartikeln
etc.
Im Deutschen kann mit Hilfe von Ausdrücken wie "einmal", "mal", "ja", "doch",
"eben" etc. und Kombinationen aus Modalpartikeln, Adverbien und anderen modalen
Elementen die Sprecherabsicht modifiziert oder völlig verändert werden. In
Österreich unterscheidet sich der Gebrauch dieser Elemente sehr stark, d.h., daß viele
dieser Elemente nicht dieselbe Wirkung erzielen wie in Deutschland und in der Regel

8
Vgl. dazu ausführlich Muhr (1995c).
9
Nach Plasser/Ulram (1993:43) wird diese Haltung von der Sozialforschung als "competitiver
Individualismus" bezeichnet.
10
Plasser/Ulram (1993:43)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-233-

gerade nicht dazu verwendet werden können, die Äußerung freundlicher/höflicher


zu machen. Die Wirkung der Modalpartikeln habe ich in Muhr (1987) empirisch
untersucht. Österreichische Sprecher verwenden im Vergleich zu deutschen
Sprechern demnach a) insgesamt deutlich weniger illokutionsmodifizierende
Elemente, b) weniger Modalpartikel, c) andere Modalpartikel und d) andere
Kombinationen zwischen modifizierenden Elementen.
So wird die MP "etwa" zum Ausdruck des Erstaunens bzw. der gegenteiligen
Erwartung praktisch nur in der geschriebenen Sprache und Kombinationen wie
"denn etwa" oder "etwa immer noch nicht" als unhöflich vermieden. Stattdessen
stehen "denn" oder "vielleicht". Geradezu gegenläufig ist der Gebrauch der Partikel
"mal" und Kombinationen davon in Aufforderungen. Während sie von deutschen
Sprechern als Höflichkeitssignal eingesetzt werden, wirkt die Partikel für
österreichische Gesprächspartner insistierend und teilweise sogar autoritär. Das gilt
besonders für Kombinationen wie "eben mal" "doch mal", gerade mal", "nicht schon
mal", "doch schon mal", die alle als "forsch" und "fordernd" empfunden werden.
Ähnliches gilt für die MP-Kombinationen "schon ruhig" und "gleich eben". Nicht
gebräuchlich sind in Österreich auch die MP-Kombination "eben mal", "nun mal"
zum Ausdruck von Einschränkung. Stattdessen steht "halt", das sich zwischenzeitlich
auch in Deutschland ausgebreitet hat.
2.2 Entschuldigungsverhalten
In Muhr (1994) konnte ich zeigen, daß österreichische Sprecher in
Entschuldigungs-Situationen eine signifikant größere Bereitschaft zur expliziten
Hörerzuwendung zeigen, als dies bei deutschen Sprechern der Fall ist. Das äußert
sich vor allem in der verstärkten Verwendung von Anredeformeln, Exklamativen und
gesprächseröffnenden Partikeln sowie in Heischeformeln (Hören Sie; Wie Sie ja
wissen...). Weiters stellte sich heraus, daß die österreichischen Gewährspersonen
signifikant mehr Entschuldigungen, insbesondere aber mehr "externe" (Es tut mir
sehr leid.), mehr verstärkte und mehr explizit performative Entschuldigungsformeln
(leider, es tut mir (sehr) leid etc.) verwenden. Weiters tendieren die österreichischen
Sprecher dazu, deutlich mehr gesichtsbewahrende Explikationen für
entschuldigungsträchtige Verstöße zu verwenden, die aber die direkte Nennung des
Problems vermeiden. Die deutschen Sprecher des untersuchten Korpus neigen
demgegenüber hochsignifikant dazu, sog. gesichtsbedrohende Explikationen oder
garkeine zu verwenden. Das deutet auf direktere Interaktionsformen in Deutschland
und auf indirektere in Österreich hin. Zu betonen ist jedoch, daß die deutschen
Sprecher deshalb nicht von vornherein "unhöflicher" sind, sondern lediglich
innerhalb ihrer Kultur andere Kuturstandards und darauf basierende
Gesprächsregeln befolgen.
2.3 Bitten- und Aufforderungsverhalten

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
-234-

Gemäß den weiter oben dargestellten Unterschieden in den Kulturstandards, ist


zu erwarten, daß in den potentiell gesichtsbedrohenden Aufforderungs- und
Bittensituationen Unterschiede auftreten werden. Dies ist auch der Fall, wie ich in
Muhr (1993) anhand eines kleines Ausschnitts aus einem großen Belegkorpus zu
zeigen versucht habe. Die Äußerungen der untersuchten österreichischen
Gewährspersonen sind demzufolge durch stärkere Explikation/Begründung der
Aufforderung, größere lexikalische Ausgestaltung und einen größeren Drang nach
Absicherung gekennzeichnet, während bei den deutschen Gewährspersonen all diese
Kategorien signifikant geringer ausgeprägt sind. Österreichischerseits will man bei
Konflikten "sicher gehen" und baut möglichen Einwänden bereits vor bzw. sieht es als
ein Gebot der Höflichkeit an, trotz des offensichtlichen Regelverstoßes auf der
Hörerseite, die Gründe für seine Forderungen jedenfalls anzugeben. Für viele
Deutsche wirken Verlangen und Aufforderungen von Österreichern daher
umständlich und sogar unklar, da diese gewohnt sind, geradeheraus ihre Wünsche
zu äußern und erwarten, daß der Gesprächspartner ebenfalls offen sagt, was er
davon hält. Demgegenüber wollen Österreicher ihrem Gesprächspartner "nicht nahe
treten" und entschuldigen sich bereits im Voraus lang und breit für ihr Verlangen,
um erst dann zur Sache zu kommen, während es bei deutschen Sprechern genau
umgekehrt ist. Man kann daher von einer Gegenläufigkeit der Gesprächsstrategien
sprechen, die auf der einen Seite den Eindruck von Aufdringlichkeit und Arroganz
und auf der anderen Seite den Eindruck von Inkompetenz, Umständlichkeit, ja sogar
der Hinterhältigkeit hinterlassen. Ein wesentlicher Unterschied im
Kommunikationsverhalten zwischen Österreich und Deutschland ist,
zusammenfassend gesagt, der Grad der ausgedrückten Direktheit. Dabei gilt die
folgende Grundregel: Österreichische Sprecher sind im Vergleich zu deutschen in der
öffentlichen Kommunikation eher indirekter, im privaten Kontext aber wesentlich
direkter. Insgesamt bevorzugen österreichische Sprecher aber eher indirektere
Formen der Kommunikation.
Literatur:
Ebner, Jakob (1980): Deutsch in Österreich. [Nachwort zu "Wie sagt man in
Österreich?"] Mannheim/Wien: Duden Verlag, S. 207-231.
Eder, Alois (1975): Eh-Pragmatik. In: Wiener Linguistische Gazette 9/1975, S. 39-
57.
Eroms, Hans-Werner: Die doppelten Perfekt- und Plusquamperfektformen im
Deutschen. In: Studia Linguistica et Philologica. S. 353-365.
Held, Gudrun (1981): Die Abtönungspartikel "halt" in der österreichischen
Komödiensprache. In: Europäische Mehrsprachigkeit. Festschrift zum 70.
Geburtstag von M. Wandruszka. Niemeyer: Tübingen, S. 257-265.
Moser, Hans (1990): Deutsche Standardsprache: Anspruch und Wirklichkeit. In: Der
Internationale Deutschlehrerverband (IDV). Tagungsbericht der IX,
Internationalen Deutschlehrertagung, Wien 31.7.-4.8.1989. S. 17-31.
Muhr, Rudolf (1987f): "Regionale Unterschiede im Gebrauch von Beziehungs-
indikatoren zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Österreich und ihre

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-235-

Auswirkungen auf den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache - dargestellt am


Beispiel der Modalpartikel." In: Götze, Lutz (Hg.): Deutsch als Fremdsprache -
Situation eines Faches. Bonn-Bad Godesberg. 1987. S. 144-156.
Muhr, Rudolf (1987g): "Materialien zu den Unterschieden im
Modalpartikelgebrauch zwischen Österreich und der BRD." In: Grazer Arbeiten
zu Deutsch als Fremdsprache (GRADaF), 1/1987, S. 41-49.
Muhr, Rudolf (1987/1990): "Deutsch in Österreich - Zur Begriffsbestimmung und
Normfestlegung der Standardsprache in Österreich." In: Grazer Arbeiten zu
Deutsch als Fremdsprache (GRADaF), 1/1987, S. 1-23. 2. verb. Aufl. 1990. (Mit
Anhang A: Texte zur gesprochenen Sprache in Österreich - Transkripte und
Transliterationen; Anhang B: Phonologische Entsprechungsregeln zwischen
Standard nach Innen und dem Standard nach Außen).
Muhr, Rudolf (Hrsg.) (1993b): Pragmatische Unterschiede in der deutschsprachigen
Kommunikation. Österreich - Deutschland. In: Ders. (Hrsg.) (1993):
Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und seinen nachbar-
sprachlichen Bezügen. Wien. S. 26-38.
Muhr, Rudolf (1994): Entschuldigen Sie Frau Kollegin: Sprechaktrealisierungs-
unterschiede an Universitäten in Österreich und Deutschland. In: Gudrun
Bachleitner-Held (Hrsg.): Verbale Interaktion. Verlag Dr. Kovac. Hamburg.
1994. S. 128-144. (erschienen 1995)
Muhr, Rudolf (1995c): Kulturstandards und Fremdheitserfahrung in Österreich,
Deutschland und der Schweiz im Vergleich - Sprache und Kultur in
plurizentrischen Sprachen. In: Wierlacher, Alois (1995): Akten des 4.
internationalen Symposions der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik,
Düsseldorf, 1994. München. (im Druck)
Plasser, Fritz/Peter A. Ulram: Staatsbürger oder Untertanen? Politische Kultur
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Vergleich. Frankfurt/M. 1992, 2.
unver. Aufl. 1993.
Stubkjær, Flemming Talbo (1993): Zur Reihenfolge der Verbformen des Schlußfeldes
im österreichischen Deutsch. In: Muhr, Rudolf (Hrsg.) (1993): S. 39-52.
Valta, Zdenek (1974): Die österreichischen Prägungen im Wortbestand der
deutschen Gegenwartsprache. Prag. masch.

Rudolf Muhr: Grammatische und pragmatische


Merkmale des Österreichischen Deutsch.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 236-247

Michael Bürkle

(Innsbruck)

Österreichische Standardaussprache:
Vorurteile und Schibboleths

0. Vorbemerkungen
Zur österreichischen Aussprache gibt es viele Meinungen, aber nur relativ
wenig Empirie – neben Luick (1923) sind aus in jüngerer Zeit vor allem die Arbeiten
von Sylvia Moosmüller und meine Beiträge zu erwähnen; das österreichische Beiblatt
zum Siebs ist wohl kaum unter die empirisch fundierten Beiträge zu rechnen.
Es gibt allerdings viele Ansichten darüber, an welchen kennzeichnenden
Merkmalen (Schibboleths) man österreichische Sprecher erkennt. Manche dieser
vermeintlichen Schibboleths stellen sich als Fehl- oder Vorurteile heraus. Manche
Vorurteile über das österreichische Deutsch erweisen sich dagegen – zumindest
teilweise – als stimmig. (Vorurteile sind ja nicht unbedingt falsch; sie sind lediglich
auf verkürztem Weg gewonnen.) Von den verschiedenen "Meinungen" zur Aus-
sprache des österreichisches Deutsch (ö.D.) und ihrer Deckung in der Realität bzw.
Empirie handelt dieser Beitrag.
Ein Grund, warum es zwar viele Meinungen, aber so wenig Empirie über die
Aussprache des ö.D. gibt, ist, daß das ö.D. immer, in jeder Situation, in verschiedenen
Registern auftreten kann. Die Wahl des sprachlichen Registers ist in Österreich nicht
allein durch die Kommunikationssituation bestimmt; umgekehrt kann also eine Situa-
tion in Österreich nicht durch die Wahl des Registers beschrieben werden. In jeder
Situation kann aus stilistischen, rhetorischen, ästhetischen, also jedenfalls pragma-
tischen Gründen das Register mehrfach gewechselt werden – intentional bei routi-
nierten/kompetenten Sprechern, akzidentell bei unroutinierten bzw. in Bezug auf
den Standard weniger kompetenten Sprechern. Ich nenne hier zwei Beispiele:
a) In einer Podiumsdiskussion an der Universität Innsbruck zum Thema
"Zerstört der Tourismus die Umwelt?" äußert Herr K., ein redeerfahrener und in
gewissem Sinn auch redegewandter Tourismusmanager: "Ich nenne nur das Beispiel
Mieders. Mieders im Stubaital […]". Dabei ist die erste Nennung des Ortsnamens
Mieders gekennzeichnet durch einen standardsprachlichen Langvokal [i:], während
die zweite Nennung einen Diphthong [iÇ], also dialektal-umgangssprachlichen Ein-
schlag zeigt. (Außerdem sind im zweiten Satz auch andere dialektal-umgangs-
-237-

sprachliche Merkmale zu finden, wie z.B. stark velarisierte a-Vokale.) Ein und das-
selbe Wort wird in direkter Folge zweimal verschieden gesprochen. Ist Herr K. ein
schlechter Redner, nicht in der Lage, das standardsprachliche Register durchzu-
halten? Oder ist der Diphthong österreichischer Standard? Beiden Fragen ist mit
"Nein!" zu antworten. Meine Interpretation: Herrn K.´s abstrakte Argumentation
findet im (österreichischen) Standard statt; der Wechsel auf die exemplarische Ebene
wird mit einem Wechsel des Registers verbunden. Es handelt sich letztlich um ein
(vermutlich nicht völlig bewußt eingesetztes) rhetorisches Mittel. Solche rhetorischen
Registerwechsel sind – meiner Beobachtung nach – in ganz Österreich völlig normal.
b) In einem gemeinsamen linguistischen Seminar der Institute für Germanistik
der Universitäten Augsburg und Innsbruck wird Prof. M., ein Österreicher, genauer:
ein Tiroler, in einem längeren, in österreichischem Standard vorgetragenenen Dis-
kussionsbeitrag durch eine Frage einer Studentin unterbrochen. Prof. M. antwortet
mit: ”Desisch doch kloar” und führt danach seinen Redebeitrag im standardsprach-
lichen Register fort. Am Schluß der Diskussion thematisierte ich Prof. M.´s Verhalten
im Seminar und frage die Augsburger Studierenden, ob ihnen ähnliche Verhaltens-
weisen aus Lehrveranstaltungen in Augsburg geläufig sind. Die einhellige Antwort:
Nein, das sei völlig unüblich.
Österreichische Aussprache erscheint in der Praxis also fast immer in Register-
mischungen; es mischen sich deshalb in alltagstheoretische Meinungen und wissen-
schaftliche Befunde über den österreichischen Standard Meinungen und Befunde
über tiefere Register des ö.D. Weil die Frage nach der Aussprache des Standards
innerhalb des ö.D. also von pragmatischen Fragestellungen um- und überlagert wird,
bin ich froh darüber, das Thema Aussprache im Rahmen der Grazer Tagung in
pragmatische Zusammenhänge eingebettet zu sehen.

1. Meinungen über das österreichische Deutsch /


österreichische Standardaussprache
1.1. Vorurteile über das österreichische Deutsch (anhand des
Siebs-Beiblatts)
- (Wiener) Monophthongierung (Siebs-Beiblatt I.3)
- keine stimmhaften Konsonanten
- "weiche" Konsonanten
- volle Nebensilben (Siebs-Beiblatt I.4)
- Nasalierung von Vokalen durch folgende Nasalvokale (Siebs-Beiblatt I.3)
- Beeinflussung von Vokalen durch ein aufgelöstes [ r ] (Siebs-Beiblatt I.3)
- fehlende Unterscheidung von runden und ungerundeten Vokalen (Siebs-Beiblatt
I.3)
- Rundung von Vokalen durch nachfolgendes [ l ] (Siebs-Beiblatt I.3)
- zu dunkle bzw. zu helle a (Bairisch vs. Vlbg., Siebs-Beiblatt I.3)

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-238-

- Kurzvokale sind geschlossen (Siebs-Beiblatt I.4)


- verschiedene l-Konsonanten (Siebs-Beiblatt II.1)
- zu weit gehende Lautassimilationen bei n
- Zungenspitzen-r
- zu wenig Unterscheidung zwischen ich- und ach-Lauten
- -ig soll mit ich-Laut gesprochen werden
1.2. Alltagstheorien1
- Das ö. D. klingt angenehm, obwohl (bzw. weil) es schlampig /nachlässig gespro-
chen wird.
- Das ö.D. ist "weicher" – harter Vokaleinsatz fehlt
- Das ö.D. ist durch Monophthonge gekennzeichnet
- Keine Stimmbeteiligung bei Konsonanten
- Verschleifungen bei Nebensilben – tw. richtig
- Lipold: Vorurteil: Der Knacklaut / Glottisverschluß entfalle in Ö. nur in "lässiger
Sprechweise" (vgl. Lipold 1988:41).

2. Potentielle Merkmale österreichischer


Standardaussprache
Ich vergleiche im folgenden Ergebnisse von G. Lipold bzw. S. Moosmüller und
W. U. Dressler mit Daten, die ich im Rahmen meiner Dissertation zum österreich-
ischen Standard2 ermittelt habe und ergänze einige Aspekte vor allem im Vergleich
mit dem Atlas von Werner König. Moosmüller/Dressler beziehen sich dabei auf
Forschungen anhand von Nachrichtensprechern, Universitätsprofessoren und
Lehrern im verlautbarter bzw. geplanter Rede – also auf relativ professionelle und
geschulte Sprecher. Meine Daten beziehen sich – in Analogie zu den Daten W. Königs
– auf das Verlesen von Wortlisten durch ungeschulte Gewährspersonen aus ganz
Österreich.3

1
Die alltagstheoretischen Formulierungen sind in der Regel von weniger Fachvokabular
gekennzeichnet. Ich fasse hier zusammen und kürze, indem ich übersetze.
2
Erschienen als Bürkle(1995). In der Arbeit, die als Paralleluntersuchung zu W. Königs ”Atlas zur
Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland” konzipiert war, wird – wie bei
König – das Corpus durch das Vorlesen von Wortlisten gewonnen. Es handelt sich also um
Vorlesesprache und Laborsprache. Mir ist klar, daß meine Ergebnisse deshalb nicht naiv auf
tatsächlich gesprochene österreichische Deutsch übertragen werden können.
3
Die Versuchsanordnung entsprach der von W. König. Jede Gewährsperson las eine im wesentlichen
mit der Liste W. Königs identische Liste von ca. 1500 Wörtern auf Band. Es handelte sich um 15
Gewährspersonen (davon 11 Frauen) aus fast allen österreichischen Bundesländern (2 aus Wien, 3
aus Niederösterreich, 2 aus der Steiermark, 1 aus Kärnten, 2 aus Oberösterreich, 1 aus Salzburg, 2
aus Tirol und 2 aus Vorarlberg). Keine Gewährsperson war als Sprecher geschult, alle gehörten aber
der Bildungsschicht an, hatten insbesondere Matura und waren zwischen 1954 und 1965 geboren.
Im Rahmen meiner Dissertation habe ich allerdings lediglich die Verhältnisse in den unbetonten
Silben ausgewertet.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-239-

2.1. - 2.5. Kennzeichen der österreichischen Aussprache nach


Lipold
In seinem Aufsatz "Die österreichische Variante der deutschen Standardaus-
sprache" (= Lipold 1988) gibt Günter Lipold auf den Seiten 39 bis 47 eine kurze
Übersicht österreichischer "Aussprachebesonderheiten" (Lipold 1988:41). Leider sind
Lipolds Bemerkungen in ihren Formulierungen sehr allgemein gehalten,4 beziehen
sich fast generell auf Einzelwörter und gehen nicht auf vergleichbare bundesdeutsche
Verhältnisse ein, ja beziehen sich auf eine "Standardlautung", die "der […]
Fachliteratur, besonders den Aussprachewörterbüchern" zu entnehmen sei (Lipold
1988:40).
2.1. Lang- und Kurzvokale
Der Unterschied zwischen bundesdeutscher und österreichischer Aussprache
im Bereich der Vokale liegt demnach vor allem in der Wahl von Kurz- bzw. Langvo-
kal in einer ganzen Reihe von Wörtern (Lipold 1988:40-45). Diesen Befunden kann
– als Teil einer Beschreibung deutsch-österreichischer Aussprachedifferenzen ver-
standen – wohl zugestimmt werden; das Spektrum der Unterschiede ist allerdings
damit keineswegs ausgelotet.
Eine der wenigen Aussagen, in denen sich Lipold nicht auf Einzelwörter bezieht,
ist die, daß "eine Gruppe von Nachsilben […],nämlich -bar, -sal, -sam, -tum, -tüm-
lich[…] dann einen kurzen Vokal [hat], wenn die unmittelbar vorausgehende Silbe
einen betonten kurzen Vokal aufweist, oder weitere Ableitungs- oder Flexionssilben
angehängt sind" (Lipold 1988:45). Diesem Befund kann ich aufgrund des von mir
untersuchten Corpus nur bedingt zustimmen.5 So habe ich in meinem Corpus in 75
Artikulationen von Wörtern mit Suffix -sam in 57 Fällen (oder ca. 76%) Kurzvokal
gefunden und in 17 Fällen (oder ca. 23%) eine Halblänge, obwohl keine von Lipolds
Bedingungen gegeben war (vgl. Bürkle 1995:129f.). Beim Suffix -sal verhielt es sich
anders: von insgesamt 30 Beispielen waren immerhin 14 lang, 10 halblang und
immer noch 6 kurz (Bürkle 1995:130f.); im Suffix -tum war Halblänge mit ca. 65%
die bei weitem häufigste Realisierung (vor Kürze mit ca. 14% und Länge mit ca. 11%,
vgl. Bürkle 1995:141f.), und zwar offensichtlich ohne Zusammenhang mit der Länge
des Vokals der vorausgehenden Silbe.
2.2. Stimmbeteiligung bei Konsonanten
Im Bereich der Konsonanten nennt Lipold den Verlust der Stimmhaftigkeit der
Lenes [b d g z] ohne "Fortisierung" als wichtige österreichische Aussprachebeson-

4
Die Regel […] gilt auch in Österreich, nicht jedoch bei lässiger Sprechweise”, ”Langvokale […]
können […] auch gekürzt werden”, ”[…] sind oft anders verteilt als in der [Standardlautung]” (alle
Formulierungsbeispiele aus Lipold 1988, S.41.)
5
Ich gebe dabei gerne zu, daß gerade in solchen Argumentationen mein Corpus seine inhärenten
Schwächen offenbart: verlesene Wortlisten unflektierter Wörter können manches nicht greifen.

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-240-

derheit; sie gelte "im größten Teil Österreichs" (vgl. Lipold 1988:45). Tatsächlich
stelle ich in meinem Corpus für ganz Österreich fest, daß stimmhafte Lenes in unbe-
tonten Silben in jeder Position sehr bzw. äußerst selten sind: beim B mit etwa 4%
(Bürkle 1995:165f.), beim D mit etwa 10% (Bürkle 1995:170f.), beim G mit 0%
(Bürkle 1995:174) und beim S mit etwa 11% (Bürkle 1995,S. 184ff.).
2.3. Die Nachsilbe -ig
Bezüglich der Aussprache der Nachsilbe -ig mit Verschlußlaut meint Lipold
(1988:46), daß sie "heute […] in Österreich immer häufiger gebraucht" werde. Ich
stelle in meinem Corpus praktisch generelle Aussprache mit Verschlußlaut fest
(Bürkle 1995:190f.).
2.4. R-Vokalisierung
Lipold nennt noch eine gewisse R-Vokalisierung als systematische Aussprache-
besonderheit des österreichischen Deutsch. Tatsächlich stelle ich weitestgehende
Vokalisierungen von R-Lauten sogar in meinem laborsprachlichen Corpus fest (vgl.
Bürkle1995:201ff.).
2.5. Nasalierung vorausgehender Vokale
Eine generelle Auswirkung von Nasalen (vgl. Lipold 1988:46) konnte ich
dagegen in keiner Weise beobachten.
2.6.-2.10. Hochlautung in Österreich nach Moosmüller und
Dressler
Sylvia Moosmüller und Wolfgang U. Dressler beschreiben in einem Aufsatz
über "Hochlautung und soziophonologische Variation in Österreich” 7 ”Variablen",
die mehr oder minder typisch für österreichisches Deutsch sind:
2.6. Regressive Nasalassimilation (folgender Konsonant führt
zur Assimilation eines Nasals, Typ: fünf –> fümf)
Sie ist nach Moosmüller / Dressler "weitgehend generalisiert" (Moosmüller /
Dressler 1988:87), durch Lehrer zu ca. 96%, durch Universitätsprofessoren zu ca.
91%, in Nachrichtensendungen zu ca. 72%. An der Wortgrenze ist die Assimilation
seltener (in Nachrichten nur mehr bei 24%, in Vorlesungen und im Unterricht immer
noch bei etwa 75% bzw. 82%).
Diese Befunde kann ich aufgrund meines Corpus nicht bestätigen. Mir stehen
45 einschlägige Transkripte zur Verfügung (Wörter: Ankunft, Sänfte, zukünftig);
lediglich in 4 Fällen kommt es dabei zu einer Assimilation.6

6
Durch die Untersuchungsmethode – Vorlesesprache, Laborsprache – tendiert mein Corpus
höchstwahrscheinlich dazu, im Vergleich zum tatsächlich gesprochenen Standard zu ”korrekte”
Aussprache zu liefern. Andrerseits nehme ich an, daß Abweichungen ”nach unten”, die bereits in
meinem Corpus vorkommen, als typisch und generalisiert anzunehmen sind.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-241-

2.7. Progressive Nasalassimilation (Konsonant führt bei


folgendem Nasal zur Assimilation, Typ: Alpen–> Alpm)
Die Progressive Nasalassimilation ist bei Moosmüller/Dressler ein "generali-
sierter Prozeß"; auch in meinem Corpus ist sie eine zumindest häufige Erscheinung.
Während bei Moosmüller und Dressler Nachrichtensprecher auf ca. 87%, Professo-
ren und Lehrer auf ca. 92% kommen, stelle ich progressive Assimilation nach Ver-
schlußlauten in ca. 70% aller Fälle fest (Bürkle 1995:78f.), nach Reibelauten (Typ:
helfen –> helfm) allerdings nur in etwa 22% der Transkripte (vgl.
Bürkle>1995:72ff.).
2.8. Tilgung des Lenisplosivs nach progressiver
Nasalassimilation (Typ: haben –> habm –> ha:m), wohl nur in
” eigentlich intervokalischer" Position
Die Tilgung des Lenisplosivs ist bei Moosmüller / Dressler bereits wesentlich
seltener (Lehrer zu ca.52%, Professoren zu ca. 34%, Nachrichtensprecher zu ca. 4%)
als die Prozesse a) und b). Das Phänomen kommt in meinem Corpus so nicht vor.
Allerdings stelle ich durchaus bei Vorliegen einer Assimilation eine Veränderung des
Artikulationsverhaltens bei den Verschlußlauten fest: sie bekommen "Implosions-
charakter", d.h. der Verschluß wird zwar gebildet, aber erst nach Einsetzen des
assimilierten Nasals geöffnet. Dies trifft in 293 von 308 Fällen zu (vgl. Bürkle
1995:78).
Da beim Verlesen einer Wortliste jedes Wort betont wird, ist zu erwarten, daß
ein Prozeß, der "in satzunbetonten Positionen favorisiert" wird (Moosmüller /
Dressler 1988:88), in meinem Corpus weniger häufig auftritt als bei Corpora, die
sich zusammenhängender Rede bedienen. Allerdings ist auch nicht auszuschließen,
daß hier verschiedene Transkriptionssmaßstäbe das Bild verzerren: wo einer nur
mehr velaren Nasal hört, schreibt ein anderer noch Verschlußlaut mit
Implosionszeichen und anschließendem Velarnasal.
2.9. Intervokalische Lenisierung von Fortisplosiven (Typ:
sowjetisch –> sowjedisch)7
Sie ist bei Moosmüller und Dressler eine Variable mittlerer Häufigkeit, "in
Nachrichtensendungen seltener realisiert als im Unterricht oder Vorlesungen"
(Moosmüller/Dressler 1988:88), die Prozentsätze sind ca. 43% vs. 79% bzw. 70%.
In meiner Perspektive stellt sich eine gewisse Lenisierung von Fortisplosiven als
allgemeines Phänomen der österreichischen Standardsprache dar. (Unter "einer
gewissen Lenisierung" ist dabei nicht der Zusammenfall der Fortis mit der jeweiligen
Lenis zu verstehen, Näheres s.u.). Tatsächlich finde ich bei bilabialen Fortes (P-Laute)
in ca. 19% aller Fälle einen Laut, der als Lenis bezeichnet werden könnte (vgl. Bürkle
1995:168f.), bei dentalen Fortes (T-Laute) machen lenisierte Varianten sogar etwa

7
Dieses Merkmal ist in kabarettistischem Kontext allerdings als Schibboleth genützt worden; zwar
nicht in bezug auf die österreichische Gemeinsprache, wohl aber in Anspielung auf den ehemaligen
Außenminister Mock, der hier wirklich Großes geleistet hat.

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-242-

43% der Fälle aus (Bürkle 1995:172f.). Das hängt damit zusammen, daß in meinem
Corpus beim bilabialem Verschluß die (allenfalls schwache) Aspiration eine relativ
geringe Rolle spielt (insgesamt ca. 31% der Fälle), während die Phonemopposition im
dentalen Bereich weit stärker noch durch die (allenfalls schwache) Aspiration getra-
gen wird (ca. 55% der Fälle).8 An beiden Artikulationsstellen wird allerdings nicht
nur dort lenisiert, wo die Fortis intervokalisch steht. Wörter mit Doppelkonsonant-
Schreibung tendieren auch in intervokalischer Position nicht zur Lenisierung; auch
sonst finde ich Lenes in intervokalischer Position nicht häufiger als in anderen
Positionen.
2.10. Intervokalische Spirantisierung des bilabialen
Lenisplosivs (Typ: aber –> awer)
Auch sie ist bei Moosmüller und Dressler von mittlerer Häufigkeit, selten (mit
ca. 6%) in Nachrichten, häufiger (mit ca. 62% bzw. 41%) im Unterricht und in
Vorlesungen. In meinem Corpus tritt dieses Phänomen nicht auf; es könnte sich
einerseits um ein dezidiert ostösterreichisches Phänomen handeln; und es dürfte auch
im Osten Österreichs praktisch nur in der unbetonten Wörtern auftreten, wie auch
das bei Moosmüller / Dressler gegebene Beispiel nahelegt. Ist es ein Merkmal, das an
unbetonte Wörter gebunden ist, so erklärt das weitgehend sein Nicht-Auftreten in
meinem Corpus.
Moosmüller und Dressler geben ohne weitere Kommentare noch Zahlen für
zwei Artikulationsmerkmale im Übergang zwischen Wörtern an, nämlich für die
"Konsonantentilgung im Auslaut vor anlautenden, nicht-homorganen Konsonanten"
(Typ: und Bürger –> un Bürger –>um Bürger) - ca. 13% bei Nachrichten, ca. 52% im
Unterricht und ca. 48% in Vorlesungen – und für die "Absorption homorganer
auslautender Konsonanten" (Typ: in Streik getreten –> inStreiketreten), die mit ca.
62% in Nachrichten, ca. 95% im Unterricht und ca. 78% in Vorlesungen ein sehr
häufiges Phänomen ist. Es liegt in der Natur der Sache, daß beim Vorlesen einer
Wortliste Variablen, die den Übergang von Wort zu Wort betreffen – wie es die
beiden letzten bei Moosmüller und Dressler sind – nicht beobachtet werden können;
ich kann hier also keine Zahlenwerte ergänzen.
2.11.-2.16. Weitere Merkmale des österreichischen Deutsch9

8
An der velaren Artikulationsstelle (G vs. K) sieht es noch viel deutlicher aus: hier spielt – zumindest
in meinem Corpus, auch bei den Gewährspersonen aus Wien und Niederösterreich – der
Spannungsgrad praktisch keine relevante Rolle bei der Unterscheidung von Lenis und Fortis. Das
Merkmal Affrizierung ([k] vs. [kx]; der Verschluß wird an der gleichen Artikulationsstelle in einen
Reibelaut übergeführt) trägt hier mit ca. 70% aller Realisierungen bei den theoretischen ”Fortes” (vgl.
Bürkle 1995, S.175f.) die Phonemopposition zwischen theoretischer "Lenis” und ”Fortis”.
Die tägliche Praxis in der öffentlichen Rede beweist, daß die von mir hier geortete Phonemopposition
bei vielen Personen aus Ostösterreich immer wieder eingeebnet wird. Es wird noch anderer
Untersuchungen bedürfen, um zu klären, ob beispielsweise wienerisches ”glauben” für klauben etc.
mehrheitlich als österreichischer Standard akzeptiert werden kann oder ob es sich bei solchen
Ausprachevarianten nicht um ein Switching in etwas tiefere Register handelt.
9
Nach Bürkle (1995).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-243-

2.11. Der Murmelvokal


Es gibt in Österreich drei relevante, für einen Siebs´schen Murmelvokal
tatsächlich eintretende Varianten (vgl. Bürkle 1995:100f., genauer S. 69ff.):
1. ein leicht zentralisiertes, tendenziell offenes E (= [EW]) in der Nachsilbe;
2. die "Null-Variante", der Ausfall der Artikulation des Murmelvokals.
3. ein leicht zentralisiertes, "helles", geschlossenes E(= [[eW ] ), hauptsächlich im Präfix;
Ein irrelevantes, lediglich marginales Phänomen ist in Österreich - zumindest in
dem von mir erhobenen Material - ein vollzentralisierter Murmelvokal, wie ihn Siebs
wünscht.
Variante 3 ist in ihrem Bereich (im Präfix) ohne echte Konkurrenz, zumindest
nicht in der Vorlesesprache des Labors. Varianten 1 und 2 konkurrieren offensicht-
lich miteinander: in vielen Fällen sind beide denkbar und kommen auch tatsächlich
vor.
Variante 1 ist im Auslaut praktisch obligatorisch. Weiters ist sie obligatorisch
bei ”gleichartigen” Lauten in der Umgebung des Murmelvokals (z.B. Murmelvokal
zwischen Nasalen). Der meines Erachtens für österreichische Ohren schnell bundes-
deutsch klingende Typus [de:n] bzw. [kEn] (mit allenfalls gelängten Nasalen) für
dehnen bzw. kennen tritt im untersuchten Material nicht auf.
Die Variante 2, die "Null-Variante", dominiert dagegen alle übrigen Artikula-
tionstypen, und zwar meistens eindeutig. Sie kann aber praktisch immer durch Vari-
ante 1 ersetzt werden, z.B., wenn es die Deutlichkeit der Artikulation oder die Rhe-
torik gebieten. Variante 1 tritt vor allem dann relativ zahlreich anstelle von Variante
2 auf, wenn vor und nach dem Murmelvokal gleichartige oder zumindest – was die
”Schallfülle” betrifft - ”ähnliche” Laute stehen.
Neben diesen 3 Varianten gibt es noch den Spezialfall des Murmelvokals vor R-
Laut. Geschriebenes -er wird in der Regel durch ein zentralisiertes A realisiert. Es sind
schöne Minimalpaare denkbar: <nette> / Fem. (bzw. Positiv) gegen <netter> /
Mask. (bzw.Komparativ) u.ä.
2.12. Vokalqualitäten (vgl. Bürkle 1995:162f.)

– E-Vokale
Es kommt beim E - wie bei allen jeweils "benachbarten" Vokalphonemen - zu
"Überlappungserscheinungen". Alle Transkripte zwischen neutralem und geschlos-
senem [e] geben mögliche Artikulationen von Siebs´schen kurzen offenen, kurzen
geschlossenen oder langen geschlossenen E-Vokalen wieder. Es ist z.B. der praktisch
völlige Zusammenfall von kurzem offenen [E] und kurzem (theoretisch geschlos-
senen) [e] (in Wörtern wie lebendig) festzustellen (vgl. Bürkle 1995:115ff.).
Kurze, offene E-Vokale treten nach Siebs bei einigen Wörtern im Wortinneren,
dazu in Wörtern mit den Präfixen ver-, zer-, er- und ent- auf. In allen Fällen wird
der gleiche Vokal als Aussprachenorm empfohlen; die Realität sieht anders aus. Beim

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-244-

ent- ist festzuhalten, daß der Vokal generell als (evtl.) leicht zentralisiertes, neutrales
bis geschlossenes E realisiert wird. Beim ver- ist die bei weitem dominierende Artiku-
lation (ca. 75%) einfach ein vollzentralisierter Vokal mit A-Färbung (Typ: verändern
–> vaändern). Beim zer- sind derartige Realisierungen mit ca. 50% seltener; Spielar-
ten mit Diphthong-Charakter werden etwas häufiger. Beim er- dagegen werden
diphthongische Varianten mit über 80% dagegen dominierend. Der deutliche
Unterschied in der Aussprache der Präfixe ver- (bzw. zer-) und er- findet in den
Aussprachewörterbüchern übrigens keinerlei Niederschlag.
– Die I-Vokale (vgl. Bürkle 1995:103ff., bes. S. 111f.)
Es zeigt sich schnell, daß eine Analyse der Aussprachegewohnheiten am besten
nach Suffixen getrennt zu erfolgen hat.
Die Suffixe -ig und -lich (sowie -igkeit) verhalten sich ähnlich. Sie zeigen in
etwa einem Viertel aller Fälle leicht zentralisierte Artikulation ([ iW ]), in etwa drei
Viertel der Fälle nicht-zentralisierte ("voll-vokalische") Aussprache. Innerhalb der
”vollen” Realisierungen sind in Bezug auf ihren Öffnungsgrad neutrale die größte
Gruppe, tendenziell offene dagegen nur etwa halb so häufig.
Bei -nis und -ling sind leicht zentralisierte Varianten mit 41% bzw. 34% etwas
häufiger; gleichzeitig sind innerhalb der vollen Varianten die offenen fast gleich
häufig (beim -nis mit 28% vs. 31%) oder sogar noch etwas häufiger (beim -ling mit
35% vs. 31%) als die neutralen.
Eine Zwitterstellung nimmt -isch ein, in dem der Vokal zwar auch in drei Vier-
tel der Fälle voll (also nicht-zentralisiert) artikuliert wird; trotzdem ist eine relativ
starke Tendenz zur Öffnung zu bemerken (41% offene vs. 35% neutrale Varianten).
Es ist festzuhalten, daß Artikulationen, die auf eine Rolle des Schwa-Lauts als
General-Allophon hindeuten, äußerst selten sind. Entsprechende Varianten eines I-
Vokals kommen in keinem Fall auf 2% der Artikulationen.
Zwischen langem und kurzem Vokal gibt es auch hier typische "Überlap-
pungen": Kurzer und langer I-Vokal haben einige Transkripte gemeinsam; jede neu-
trale bis offene bzw. kurze bis halblange I-Variante könnte im wesentlichen eine
Realisierung des kurzen oder des langen I-Phonems sein. Zwar bleibt die phonolo-
gische Opposition Kürze vs. Länge auch in unbetonter Stellung zumindest rudimentär
erhalten: einerseits dadurch, daß Zentralisierung häufiges Merkmal (um ca. 25%)
unbetonter kurzer I-Vokale und nur von eher marginaler Bedeutung (um ca. 2%) bei
unbetonten langenI-Vokalen ist, andererseits durch den Umstand, daß Dehnung
mindestens bis zur Halblänge für ein "eigentlich" langes I der Normalfall (bei etwa
75%), für ein kurzes I aber (mit unter 1%) eine überaus seltene Erscheinung ist.
Anders formuliert: die phonologische Opposition /kurz/ vs. /lang/, die in den
Aussprachewörterbüchern durch das zusätzliche Merkmal [offen] vs. [geschlossen]
gestützt wird, ist in den von mir beobachteten Nebensilben im wesentlichen noch

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-245-

vorhanden, wird aber weit eher durch das Merkmal [zentralisiert] vs. [nicht-
zentralisiert] gestützt als durch verschiedene Öffnungsgrade des Vokals.

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-246-

2.13. Flache Diphthonge ei / ai bzw. au


Die auftretenden Artikulationen habe ich mit den Bezeichnungen
"monophthongisch", "leicht diphthongisch" und "deutlich diphthongisch" beschrie-
ben. Als "leicht diphthongische” Artikulation wurden jene klassifiziert, in der der
Abglitt des Diphthongs im Transkript als reduziert bzw. als flüchtig transkribiert
wurde.
Eine generelle Monophthongierung des Diphthongs ist nicht festzustellen. Tat-
sächlich sind monophthongische Realisierungen bei den Gewährspersonen aus
Ostösterreich etwas häufiger als im Westen (wo nur eine Tiroler Gewährsperson
fallweise Monophthonge spricht). Aber nicht einmal für den Osten (oder im spezi-
ellen für Wien) sind überwiegend Monophthonge zu beobachten.
In der Silbe -lein dominieren die "leicht diphthongischen" Varianten des Vokals.
Echte Monophthonge (inkl. zentralisierte Vokale) machen etwa ein Viertel der Belege
aus, deutliche Diphthonge etwa ein Fünftel. Ein relativ großer Teil der artikulierten
Monophthonge (7 der beobachteten 18) stammt aus dem Wort Fräulein.
2.14. Der Diphthong eu / äu
Dieser Vokal liefert ein Maximum an Variantenvielfalt, einen Variantenreich-
tum, der ähnlich schon bei Harth (1984:180) nachzulesen ist, wo für Realisierungen
dieses Vokals durch Rundfunksprecher insgesamt 17 "Phonemvarianten" in Form von
API-Transkripten angegeben werden. Hier werden 4 Artikulations-"Modelle" für
diesen Diphthong angegeben:
- Modell 1: Typ [O/] bzw. [Oy], sowohl An- als auch Abglitt sind gerundet;
- Modell 2: Anglitt des Vokals ist gerundet, Abglitt nur halbgerundet;
- Modell 3: Typ [OE] bzw.[OI], Anglitt des Vokals ist rund, Abglitt nicht;
- Modell 4: Typ[A/], Anglitt des Vokals ist nicht rund, der Abglitt aber schon.

Modell 1 ist das einzige, das in den Aussprachewörterbüchern von Duden und
Siebs erwähnt wird, wobei der Duden sich für das Transkript [OY] entscheidet, wäh-
rend Siebs sich mit dem WdA auf dieVariante [O/] festlegt.
Modell 1 als die am ehesten den Normen der Aussprachewörterbücher gerecht
werdende Variante ist die seltenste Realisierung. Die Modelle 2 und 3, die beide
durch eine Entrundung des Abglitts gekennzeichnet sind, machen etwa die Hälfte
aller Realisierungen aus. Modell 4, das bisher kaum beschrieben wurde – auch Harth
(1984) und König (1989:60f.) führen es nicht – ist fast im gesamten öst. Bun-
desgebiet vertreten(lediglich aus Wien und aus der Steiermark sind keine Belege
vorhanden) und kommt so auf ein knappes Drittel der Gesamtbeleganzahl.
(Werden die Artikulationen des Modells 2 ebenfalls als korrekt aufgefaßt, steigt
der Anteil an "richtigen" Artikulationen auf etwas über 50%; immer noch relativ
wenig, wenn man an die zu starker Normierung tendierende Aufnahmesituation
denkt.)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-247-

2.15. Die Konsonanten in den unbetonten Silben


– Bilabiale Verschlußlaute (b/p)
Stimmhafte (inkl. schwach stimmhafte)Varianten machen bei den von mir be-
obachteten bilabialen Lenis-Plosiven gerade etwa 4% aller Realisierungen aus.
Wichtigste Realisierung ist die stimmlose Lenis: inklusive der wenigen Varianten mit
Implosionscharakter und der Varianten mit gelockertem Verschluß kommt sie auf
etwa 70%.
Das Spektrum der für eine Siebs´sche Fortis zu beobachtenden Artikulationen
reicht von der unbehauchten, stimmlosen Lenis bis zur mehr oder weniger behauch-
ten Fortis. Der Schwerpunkt der Verteilung liegt bei Aussprachevarianten mittleren
Spannungsgrads; (allenfalls nur schwach ausgeprägte) Aspiration tritt in etwa einem
Drittel aller Fälle ein.
Wie beim Vergleich von Kurz- und Langvokalen tritt auch hier der Fall ein, daß
ein guter Teil der Transkripte für die Fortes auch als Transkripte für die Lenes vor-
kommt. Es kommt also auch hier zu umfangreichen Überlappungen. Die phonolo-
gische Opposition /B/ vs. /P/ ist zwar aufrecht; sie ist aber hauptsächlich durch den
Spannungsgrad (/schwach/ vs./mittelstark/) getragen und kann durch den Einsatz
von Aspiration notfalls verdeutlicht werden.
2.16. Velare Verschlußlaute (g/k)
Die velare Lenis wird zu noch geringerem Anteil (2%) mit Stimmbeteiligung
gesprochen als die anderen Lenis-Verschlüsse.
Anders als die bilabialen und dentalen Fortes verhält sich die velare Fortis: nur
etwas weniger als ein Viertel aller entsprechenden Realisierungen sind als einiger-
maßen ”harte" anzusehen. "Weiche" Realisierungen sind mindestens so häufig wie
mittlere. Das System bricht allerdings nicht zusammen, denn sogar weiche Ver-
schlüsse werden in der Regel aspiriert oder gar affriziert, wenn sie ein geschriebenes
k akustisch umsetzen sollen.
Die Gewährspersonen nützen hier ein "Loch" im Phonemsystem. Während bi-
labiale und dentale Verschlußlaute noch in einem paradigmatischen Verhältnis mit
den jeweiligen Affrikaten (/b/ : /p/ : /pf/ bzw. /d/ : /t/ : /ts/) stehen, gibt es die
entsprechende velare Affrikate phonologisch nicht, sodaß sie – als aspirierte bzw.
affrizierte Lenis –die Rolle des harten Verschlußlauts übernehmen kann (/g/ : /k =
gx/).
– Dentale Reibelaute(s/sch)
Die ungerillten Lenes sind nur zu etwa 10% (wenigstens leicht) stimmhaft.
Dort, wo sie vorgesehen wären, treten aber auch recht "scharfe" und keineswegs
stimmhafte Varianten auf. Das Spektrum der verwendeten Transkripte umfaßt auch
alle Transkripte, die auch für die theoretisch stimmlose Fortis eintreten. Zwar liegt
der Median der Transkripte für die theoretische Lenis beim zweiten (von fünf) Forti-
sierungsgraden und damit einen Grad niedriger als für die theoretische Fortis, aber in

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
-248-

Anbetracht der geringen Rolle der Stimmbeteiligung und des artikulatorischen Feh-
lens von Aspiration bzw. Affrizierung als möglichem unterstützenden Merkmal muß
man in diesem (meines Erachtens dem einzigen!) Bereich fast schon von einem
Zusammenbruch dieser phonologischen Opposition sprechen.

3. Zusammenfassung
Es zeigt sich, daß manche vermeintlichen Merkmale des ö.D. jedenfalls nicht in
allen seinen Registern auftreten. Ob die tatsächlich auftretenden Merkmals als Schib-
boleths dienen können, kann nur im Vergleich zu bundesdeutschen oder schweize-
rischen (oder anderen) Varianten des Deutschen überprüft werden. Ein Vergleich mit
dem König´schen Ausspracheatlas und anderen empirisch fundierten Arbeiten über
”deutsches Deutsch” legt den Verdacht nahe, daß nur sehr wenige phonetische
Eigenheiten des ö.D. ausschließlich in Österreich vorkommen und damit als Schibbo-
leths im engeren Sinn dienen könnten. (Verlust der Stimmhaftigkeit bei Konsonanten
gibt es auch im Süden Deutschlands10; ebenso relativ flache Diphthonge11 usw. usf.).
Ein eindeutiges phonetisches Merkmal als Schibboleth des ö.D. kann ich nicht anbie-
ten. Ein Analogon zum "s-pitzen S-tein" für – ja, wofür eigentlich: für Hamburg, für
Hamburg-Umgebung, für ganz Norddeutschland, für bestimmte Soziolekte aus dieser
Gegend ? – gibt es nicht.
Es ist aber festzustellen: bei der Frage nach Schibboleths ist nicht nur danach zu
fragen, wo ein phonetisches Merkmal auftritt, sondern auch, wie häufig es wo auf-
tritt. Damit bleiben als funktionierende sprachliche Erkennungsmerkmale Bündel,
Kombinationen mehrerer der hier beschriebenen phonetischen Merkmale.

Literatur:
Bürkle, Michael (1995): Zur Aussprache der unbetonten Silben im österreichischen
Standarddeutschen. Die unbetonten Silben. Frankfurt/M., Berlin, Bern etc. (=
Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 17).
Bürkle, Michael (1993a):Sprechen Sie Österreichisch? Österreichisches Deutsch aus
phonetischer Sicht. In: ÖDaF-Mitteilungen 1, S. 9-19.
Bürkle, Michael (1993b): Zur Aussprache des österreichischen Standards. Öster-
reich-Typisches im Bereich der unbetonten Silben. In: Rudolf Muhr, Hg.: Inter-
nationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und seinen nachbarsprach-
lichen Bezügen. Wien.(= Materialien und Handbücher zum österreichischen
Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache Bd. 1). S. 53-66.
König, Werner (1989): Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesre-
publik Deutschland. 2 Bde. Ismaning.
Lipold, Günter (1988): Die österreichische Variante der deutschen Standardaus-
sprache. In: Peter Wiesinger, Hg.: Das österreichische Deutsch. (= Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12). S.31-54.

10
Vgl. z.B. die Karten S.2,S.3, S.5 bei König (1989, Bd. 2, S. 242ff.)
11
Vgl. z.B. die Karte EI.1 bei König (1989, Bd. 2, S. 143)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-249-

Luick, Karl (1923): Deutsche Lautlehre. Mit besonderer Berücksichtigung der


Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer. 2.Aufl. Leipzig-Wien.
Moosmüller, Sylvia (1987a): Soziophonologische Variation im gegenwärtigen Wiener
Deutsch. Eine empirische Untersuchung. Stuttgart. (= ZDL Beiheft 56)
Moosmüller, Sylvia (1987b): Soziophonologische Variation bei österreichischen
Politikern. In: Zs. f. Germanistik 4, S.429-439.
Moosmüller, Sylvia, Wolfgang U. Dressler (1988): Hochlautung und soziophonolo-
gische Variation in Österreich. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik
20/2. S. 82-90.
Österreichisches Beiblatt zu Siebs ”Deutsche Hochsprache -Bühnensprache”. o.O. (=
eig. Wien 1957).

Michael Bürkle: Österreichische Standardaussprache:


Vorurteile und Schibboleths.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.250-268

Flemming Talbo Stubkjær

(Odense)

Überlegungen zur Standardaussprache in


Österreich

1. Einleitung
Die folgenden Überlegungen zur Standardaussprache in Österreich gehen von
der Annahme aus, daß das österreichische Deutsch generell als eine nationale
Varietät der deutschen Sprache gewertet werden kann. Dieser Varietätenstatus läßt
sich in der Morphologie, in der Aussprache und in vielen Bereichen der Syntax und
der Pragmatik nachweisen. Was die Aussprache angeht, ist die österreichische
Varietät durch eigenständige phonematische bzw. phonetische Realisierungen des im
großen und ganzen einheitlichen, deutschen Phonemsystems gekennzeichnet, die als
österreichische Gebrauchsnormen sich erheblich von den präskriptiven Normen
Siebsscher Prägung abheben.
Meine Überlegungen bauen auf den Diskussionen und den Ergebnissen der
österreichischen Sprachwissenschaft der letzten 25 Jahre auf und reflektieren - ohne
sie hier einzeln behandeln zu können - sowohl die Erkenntnisse in bezug auf die
Erfassung des sprachlichen Kontinuums im österreichischen Deutsch (d.h. die
variierenden, situativen Register der lautlichen Realisierung) als auch die
Unterschiede in der Bewertung der Ausspracheformen als Gebrauchsnormen
und/oder Zielnormen. Ich begnüge mich mit einem Hinweis auf die Arbeiten von
Ingo Reiffenstein, Peter Wiesinger, Hans Moser, Rudolf Muhr, Sylvia Moosmüller,
Günter Lipold, Hermann Scheuringer, Franz Patocka, Michael Bürkle und dem Kreis
um Wolfgang Dressler.
Den Einstieg zum Thema bilden zwei Anstöße: Zum einen steht angesichts der
von der Wissenschaft allgemein anerkannten Plurizentrizität der deutschen Sprache
die Auslandsgermanistik vor neuen Problemen, nicht zuletzt da die Plurizentrizität
die Anerkennung einer nicht nur regionalen, sondern einer staatlichen, nationalen
Aussprachevarietät impliziert. Wo die Auslandsgermanistik in der Forschung
prinzipiell die Aufgaben und Methoden der Germanistik in den deutschsprachigen
Staaten teilt, steht die auslandsgermanistische Lehre - und ich spreche jetzt nur von
der sprachwissenschaftlichen Dimension des Germanistikstudiums - vor dem
Problem, daß sie nicht nur der Vermittlung einer wissenschaftlich fundierten,
synchronen Deskription der deutschen Sprache verpflichtet ist (und dazu gehört die
-251-

Beschreibung der regional variierenden Realisierung eines so ziemlich einheitlichen


Phonemsystems im deutschen Sprachraum), sondern auch der Vermittlung einer
sprachlichen Norm. (Im Unterschied zur Auslandsanglistik, die in der Lehre
jahrelang konsequent zwischen z.B. British English und American English
unterschieden hat, hat die Germanistik aus dem plurizentrischen Charakter der
deutschen Sprache keine ähnlichen Konsequenzen gezogen, vor allem weil die
deutschsprachigen Staaten dies aus kulturpolitischen Gründen nicht für zweckmäßig
oder sinnvoll gehalten haben). In einer gerade erschienenen, von Jens Erik Mogensen
geschriebenen "Tysk fonetik", Kopenhagen 1994, einem Lehrbuch für dänische
Germanistikstudenten im ersten Semester, wird in bezug auf die Aussprache des
Deutschen diese Problematik folgendermaßen formuliert (meine Übersetzung):
"Es muß betont werden, daß es für den Ausländer zweckmäßig ist, nach einer
Beherrschung der offiziellen Norm zu streben, nicht zuletzt weil diese in allen
deutschsprachigen Gebieten akzeptiert ist und zudem in Wörterbüchern
beschrieben ist, die man in Zweifelsfällen konsultieren kann. Unter allen
Umständen ist es wichtig festzuhalten, daß den Schülern der Volksschule und des
Gymnasiums eine Aussprache präsentiert wird, die einheitlich ist - und z.B. keine
unreflektierte Vermischung von verschiedenen regionalen und dialektalen Zügen.
Der Lehrer muß die akzeptierte Aussprachenorm kennen. Als Grundlage der
Darstellung dient im folgenden die Siebssche Aussprachenorm mit Bemerkungen
zu den wichtigsten Abweichungen". (Mogensen, 1994:17.)
So weit ein dänischer Kollege.
Sieht man von den kulturpolitischen Implikationen solcher Aussage ab, muß
dem Verfasser insofern recht gegeben werden, als eine präskriptive
Standardaussprache für das österreichische Deutsch nicht vorliegt, ja nicht einmal
ein österreichisches Aussprachewörterbuch, das in deskriptiver Weise die tatsächlich
vorkommenden Ausspracheformen der österreichischen Standardaussprache festhält.
(An dieser Stelle sei ausdrücklich betont, daß eine eindeutige und allgemein
anerkannte Festlegung des Begriffes "österreichische Standardaussprache" nicht
vorliegt - was wohl letzten Endes das Fehlen der Darstellungen und Wörterbücher
begründet!). Schon deshalb ist es nicht überraschend, daß Mogensen für die
gemäßigte Hochlautung, wie sie etwa bei Duden beschrieben wird, als die im
Germanistikstudium zu vermittelnde Aussprachenorm des Deutschen plädiert. Was
sollte er sonst wählen?
Und dennoch gibt es zweifellos eine österreichische Standardaussprache, die
sich auch in der emotiven Einschätzung von der der deutschen unterscheidet. Dazu
ein persönliches Erlebnis: Als ich Anfang der achziger Jahre am Institut für
Germanistik in Wien arbeitete, hatte ich meine Familie mit dabei. Meine Söhne
konnten kein Wort Deutsch, als sie nach Wien kamen, aber mein jüngerer Sohn -
damals wohl etwa 9 Jahre alt nach zwei bis drei Jahren in Wien - sagte zu mir, als er
ein Gespräch zwischen mir und einem Kollegen verfolgt hatte: "Du sprichst allzu

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-252-

Deutsch!" In dieser Aussage drückten sich die Identifizierung des


"Wahlwienerkindes" mit seiner neuen sprachlichen Umgebung aus und gleichzeitig
das intuitive Wissen um Unterschiede in dem Umgang mit der deutschen Sprache.
Sein Umgang mit der Sprache, in der Schule, mit den Freunden und vor dem
Fernseher, hatte ihn zu einem Wissen um die Eigenständigkeit des österreichischen
Deutsch verholfen. Ich mußte mich fragen, woran er das "allzu Deutsche" erkannte.
Die Antwort ist einfach: phonetische Realisierung und Intonation.
Durch meine Arbeit im universitären Unterricht habe ich prinzipiell ähnliche
Erlebnisse gehabt. Dänische Germanistikstudenten identifizieren sich nicht mit
Österreich, aber sie sind sehr wohl im Stande, das gesprochene österreichische
Deutsch zu identifizieren - auch ohne Vorkenntnisse aus Phonetik- oder
Dialektübungen. Und wiederum geschieht es hauptsächlich über phonetische
Realisierung und Intonation. Damit stellt sich auch für die auslandsgermanistische
Lehre die Aufgabe, diese österreichische Varietät in ihrer phonetischen Realisierung
zu thematisieren.
Zum anderen habe ich eine Bemerkung bei Hans Moser für meine
Überlegungen zum Anlaß genommen. Moser schreibt (1989: 22):
"Es müssen so rasch als (sic!) möglich die österreichischen Gebrauchsnormen der
Aussprache in ihren regionalen/situativen Abschattungen beschrieben werden. In
einem zweiten Schritt müßte dann im Blick auf diese Gebrauchsnormen einerseits
und auf die übernationalen Normen der Bühnensprache andererseits eine eigene
Zielnorm für öffentliches Sprechen in Österreich festgelegt werden."
Ähnlich hat sich Reiffenstein geäußert.
Diese Forderung stellt sich zunächst als eine interne österreichische Aufgabe -
mit ihren sprach- und kulturpolitischen Implikationen. Das Einlösen der Forderung
ist aber die Bedingung dafür, daß z.B. im dänischen Germanistikstudium die
österreichische Standardaussprache als eine echte Alternative zur gemäßigten
Hochlautung in Deutschland gelten könnte. Dies heißt nicht, daß ich in allem Ernst
damit rechne, daß eines Tages - nach getaner Arbeit - die österreichische
Standardaussprache im dänischen Schulsystem und in der Ausbildung dänischer
Germanisten die deutsche Norm ersetzen wird. Als Kulturnation haben wir Dänen
aber eine Verpflichtung, im eigenen Land ein fundiertes Wissen über eine
Sprachvarietät zu besitzen, der sich ein uns wirtschaftlich, politisch und kulturell
nahestehender Staat bedient. Aber das setzt z.B. ein österreichisches
Aussprachewörterbuch voraus.

2. Das Große Dänische Aussprachewörterbuch


In dieser Situation habe ich in den letzten Semestern mit meinen dänischen
Germanistikstudenten und -studentinnen überlegt, wie vielleicht ein
Aussprachewörterbuch für die österreichische Standardaussprache als Ausdruck der
Eigenständigkeit des österreichischen Deutsch im Bereich der Aussprache aufgebaut

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-253-

werden könnte, und zwar ohne daß wir erst abwarten müßten, daß die Österreicher
zu einem Konsensus über die Akzeptanz bestimmter Ausspracheformen als
präskriptiver Normen kommen. Den methodischen Ausgangspunkt bildete die
Beschreibung der Aussprache unserer eigenen Muttersprache, des Dänischen. Dabei
waren wir uns natürlich völlig bewußt, daß es erhebliche Unterschiede in dem
Existenzmodus (wenn ich es so nennen darf) zwischen dem österreichischen Deutsch
und dem Dänischen gibt: So gibt es z.B. außerhalb Dänemarks keine Sprache, deren
lautliche Realisierung eine Überdachungsfunktion einnehmen könnte. Dennoch
glaube ich, daß es berechtigt ist, sich mit den Methoden des Großen Dänischen
Aussprachewörterbuchs auseinanderzusetzen. Im folgenden werde ich einen Einblick
in den Aufbau und die Methodik dieses Werkes vermitteln und zeigen, wie diese
Erkenntnisse für die Arbeit mit einem österreichischen Aussprachewörterbuch
vielleicht vom Nutzen sein könnten.
In Dänemark gibt es für die Orthographie und für das grammatische System
präskriptive Normen, festgehalten in Rechtschreibewörterbüchern und
Grammatiken. Diese Normen sind von der Schule und von der öffentlichen
Verwaltung zu befolgen, und sie werden es auch: Normbrüche in diesen Bereichen
sind deklassierend. Dagegen ist die Aussprache nicht normiert. Es liegt kein
Aussprachewörterbuch vor, das etwa von einem Minister sanktioniert wäre und
dessen Ausspracheformen als Zielnorm gelten. Das bedeutet aber nicht, daß jede
Aussprache denselben Status hat und daß in der Sprachgemeinschaft kein impliziter
Konsensus existiert über die ungefähre Standardaussprache des Dänischen - die
sogenannte Rigsmålsudtale -, wenn auch zugegeben werden muß, daß die
konsensuelle Toleranzbreite relativ groß ist. Die Rigsmålsudtale ist die Aussprache, die
in den Lehrerausbildungen im Hinblick auf den schulischen Unterricht vermittelt
wird. Sie ist kein "Kunstprodukt", sondern historisch gesehen aus der Sprache in
Kopenhagen entstanden. Die Kopenhagener Ausspracheformen haben sich verbreitet,
so daß alle Formen überall in Dänemark gehört werden können, aber nie als
Gesamtheit bei einem einzelnen Individuum, es sei denn daß es in der Hauptstadt
aufgewachsen ist. Die Rigsmålsudtale wird als die in jeder Hinsicht neutrale, nicht
regional gebundene Varietät verstanden, der sich auch der Rundfunk und das
Fernsehen, das klassische Theater und der Pfarrer bedienen, es sei denn daß
besondere Effekte erreicht werden sollen. Trotz des Fehlens einer präskriptiven Norm
erschien dennoch im Jahre 1991 "Den Store Danske Udtaleordbog", eine
Jahrhundertleistung der dänischen Phonetiker - aber in einer knapp 10-jährigen
Arbeit entstanden.
Das Große Dänische Aussprachewörterbuch ist deskriptiv und nicht
normativ/präskriptiv, ja es kann es nicht sein. Daß es indirekt vielleicht eine
präskriptive Wirkung haben kann, ist unzweifelhaft, aber nicht beabsichtigt. Das
Wörterbuch berücksichtigt die tatsächlichen Ausspracheformen in Dänemark
außerhalb der eigentlichen dialektalen Aussprache. Daß z. B. in Nordjütland im
Dialekt [Uk] gesprochen wird statt standardsprachlich [UD], wird nicht registriert,

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-254-

auch weil die stimmlose Klusilaussprache wahrscheinlich die Realisierung eines ganz
anderen Phonems als die stimmhafte Spirantaussprache der Standardaussprache
darstellt.
Das Große Dänische Aussprachewörterbuch beantwortet somit nicht die Frage:
Welche Aussprache ist korrekt? - weil diese Frage für sinnlos gehalten wird. Sie gibt
nur Sinn, wenn sie in bezug auf eine bestimmte sprachliche Varietät präzisiert wird.
Was in Westjütland korrekt ist, ist nicht notwendigerweise in Odense korrekt.
Präzisieren wir die Frage: "Welche Aussprache ist in der Varietät X beim Wort
Kartoffel korrekt?", verschwindet das Problem: Jede Aussprache vom Wort Kartoffel,
die in X auffindbar ist, ist in X korrekt. Oder wie die Verfasser das
Korrektheitsproblem umschreiben: Ist der afrikanische Elefant korrekter als der
indische?
Das Wörterbuch beschreibt die dänische Standardaussprache, einschließlich
der regional gefärbten Aussprachen. Dabei werden sowohl soziolinguistische als
regionale Parameter einbezogen: Einmal der Unterschied zwischen der Aussprache in
Kopenhagen und den größeren Städten auf Seeland auf der einen Seite und der
Provinz auf der anderen, und zum anderen der Unterschied zwischen Aussprachen,
die sozial korrelliert sind. Hier werden nur zwei Varianten angesetzt: Hoch (H)
versus Niedrig (L = lav). Die Begründung für diese Parameter liegt darin, daß die
Standardaussprache als eine nicht lokalisierbare Aussprache aufgefaßt wird und daß
eine solche Aussprache mit dem Merkmal "Hoch" sich - so die Verfasser - tatsächlich
nur in Kopenhagen und in den größeren Städten auf Seeland findet. (Durch diese
Festlegung wird klar, daß nicht jede Ausspracheform, die bei Kopenhagenern gehört
werden kann, eine Rigsmåls-Aussprache ist. Es gibt eben andere Kopenhagener
Soziolekte mit anderen Ausspracheformen). Über diese Parameter hinaus werden
folgende Faktoren berücksichtigt: altersbedingte Faktoren, der Faktor Distinktheit
(formell - informell) und kontextbedingte Faktoren.
Der Aufbau der einzelnen Einträge sieht wie folgt aus: Die erste Form, die
notiert wird, ist die Distinktheitsaussprache (= D), d.h. eine Aussprache, die Personen
mit höherem Sozialstatus, die um 1930 in Kopenhagen geboren sind, als ihre
deutlichste in spontaner Rede benutzen. Diese Aussprache hat im ganzen Land
denselben Status. Sie ist druckstark und von der Aussprache anderer Wörter in
demselben Satz unbeeinflußt. Sie ist aber keine Diktieraussprache, sondern eben
spontan. Der Begriff Distinktheitsebene definiert das Wörterbuch selbst
folgendermaßen (S. 33):
"[Die] Distinktheitsebene [ist eine] Deutlichkeitsebene. Jeder Sprecher verfügt über
eine Skala von Distinktheitsebenen, von der sehr hohen (z.B. in Rufen) bis zur
sehr niedrigen (z.B. beim monologischen Murmeln). Mit jeder Distinktheitsebene
stimmt beim Sprecher eine bestimmte Reduktionsebene bezüglich der einzelnen
Wörter der Äußerung überein, aber nicht dieselbe.Unter Reduktionsharmonie

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-255-

wird verstanden, daß Reduktionen nicht unabhängig von einander eintreten,


sondern der betreffenden Distinktheitsebene angepaßt werden."
Nach der D-Form folgt die H-Form (= Hauptform). Diese Aussprache ist die
neutrale Aussprache, d.h. die weder speziell deutliche, noch undeutliche Aussprache
bei Kopenhagenern, die um 1930 geboren sind und die in sozialer Hinsicht mit dem
Faktor H korrellieren. Diese Hauptform findet sich auch in allen Teilen Dänemarks,
wenn auch mehr oder weniger regional gefärbt - nicht zuletzt was die Intonation
angeht.
Die im Großen Dänischen Aussprachewörterbuch verwendete Lautschrift ist
Dania. In einem Kapitel über die Definition der gebrauchten Zeichen werden die
Dania-Notationen mit der IPA-Notation verglichen. Im deutschen Sprachraum ist das
IPA-System das am meisten verbreitete System. Für ein Aussprachewörterbuch des
österreichischen Deutsch würde ich für IPA plädieren, wobei die genauen
phonetischen Werte der benutzten Zeichen angegeben werden müssen. Dies kann
über eine Normierung der Notation geschehen, z.B. lassen sich die Vokale in Jones´
Schema über Kardinalvokale einordnen. Dadurch läßt sich eine Anhäufung von
Diakritika bei fast allen Zeichen vermeiden, was die Leserfreundlichkeit fördert.
Betrachten wir aber in der Praxis, wie das aussieht!
In der Beilage I habe ich einige Beispiele ausgewählt, nicht ganz zufällig, denn
ich habe Phänomene berücksichtigt, die auch im österreichischen Deutsch eine Rolle
spielen.
Das erste Beispiel ist das Substantiv Dame. Die hochgestellte 1 bedeutet nur, daß
es eine zweite Eintragung Dame gibt, u.zw. das englische Wort wie in Dame Edna.
Die D-Aussprache unterscheidet sich von der Hauptform (der zweiten notierten
Aussprache) nur durch den Schwa-Vokal. Der Punkt unter m in der H-Form zeigt,
daß der Konsonant silbenbildend ist. Schließlich wird eine dritte Ausspracheform
registriert, die als sprachliche Witzform gelten kann (mit einem tiefen a-
Laut).Worauf ich aber hier aufmerksam machen will, ist die kleine hochgestellte 1
nach der Hauptform. Sie verweist auf einen großen Abschnitt hinten im Wörterbuch,
benannt "Nummerhinweise". Insgesamt gibt es auf 15 Seiten 82 Nummerhinweise.
Prinzipiell sind die Nummerhinweise eingehende wissenschaftliche Kommentare zu
tatsächlich vorkommenden Ausspracheformen der Lexeme, d.h. sie sind prinzipiell
wortspezifisch. Demgegenüber enthält das Wörterbuch einen 42 Seiten langen, 86
Paragraphen umfassenden Abschnitt, benannt "Generelle Wechselverhältnisse", in
dem - eben - nicht lexemspezifische, sondern generelle Bemerkungen zur lautlichen
Realisierung gemacht werden, aber auch zum Einfluß der Betonung und der
Silbenstruktur auf die Realisierung der Einzellaute.
Obwohl kaum zu bestreiten ist, daß es im Einzelfall schwierig zu verstehen sein
kann, warum ein bestimmtes Problem in den Nummerhinweisen behandelt wird und
nicht in dem Abschnitt "Generelle Wechselverhältnisse", scheint mir die Methodik
klar und vorteilhaft. Man braucht nicht bei jedem einzelnen Lexem die ganze Palette

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-256-

von Ausspracheformen anzuführen, denn Parallelerscheinungen werden in einem


der beiden Kapitel behandelt. So z.B. unter Nummer 1 (s. Beilage II) - und das ist bei
weitem der längste Artikel unter den Nummerhinweisen - das Phänomen [K]-
Assimilation. Einleitungsweise heißt es hier:
"Hier wechselt [K] mit [K] - Assimilationsform. [K] ist die distinktivere Aussprache
und dazu üblicher bei Älteren als bei Jüngeren. Wenn die D-Form mit [K] -
Assimilation notiert ist, ist [K] ungeheuer selten und nur bei Älteren zu finden."
Danach wird das Phänomen phonetisch beschrieben:
"[K] - Assimilation ist eine Entwicklung, bei der statt [K] ein silbenbildender Laut
eintritt, u.z. der der Nachbarlaute von [K] mit der größten Sonorität."
Die Sonoritätsabfolge wird erklärt, und es folgt eine eingehende Beschreibung der
"[K] - Assimilation in bestimmten phonetischen Umgebungen: nach [h], zwischen
Vokoiden u.a. Auch wird der Einfluß der [K] - Assimilation auf die Syllabizität und
die Betonung eingehend behandelt, und es folgen Bemerkungen zu
Besonderheiten im Jütländischen."
Das zweite Beispiel (s. Beilage I) ist das Verb lØbe, dt. laufen. Man sieht hier, wie
neben der Distinktheitsform sofort die Hauptform angeführt wird, wiederum mit
einem Hinweis auf die Assimilationsformen. Gleichzeitig werden Ausspracheformen
der Flexionsformen angeführt, so z.B. der Imperativ und das Präsens lØber. Fast alle
Präsensformen gehen im Dänischen auf -er aus, und sowohl für die Distinktheitsform
als für die Hauptform gilt die Aussprache [O] für die Buchstabenfolge -er in
unbetonter Silbe (so auch bei Substantiven). Man sieht, wie diese Aussprache gilt
unabhängig davon, ob das [b] im Stammauslaut spirantisiert wird oder nicht. Es wird
auf die Nummer 11 verwiesen, wo es heißt (vgl. Beilage II):
"Hier wechseln [ò] (oft zentralisiert und ungespannt), das ältere [å] und - vor
Pause und stimmlosem Laut - das weit ältere [år]."
Neben der Distinktheitsform steht die Hauptform [l Øw!w!], die informeller ist.
Phonetisch gesehen handelt es sich hier um eine postvokalische Spirantisierung des
Klusils [b]. Dieser umgangssprachliche Zug, der im Rahmen der natürlichen
Phonologie gut beschreibbar ist, war (ist?) in der guten Bürgerstube so ziemlich
verpönt, weil er - so wurde angenommen - mit niedrigerem Sozialstatus korrelliert.
Entscheidend ist aber, daß diese Aussprache am häufigsten vorkommt - auch bei
Kopenhagenern mit H-Status. Es folgen einige Zusatzbemerkungen zur Verteilung
der [w]-Formen. Die Nummern 5 und 3 behandeln Regionalvarianten der
Buchstabenfolge -et in unbetonter Silbe, bzw. Assimilationserscheinungen von [ Kn] >
[bm]. (Vgl. hierzu Beilage II).
Dieses Beispiel veranlaßt mich zu einer generellen Bemerkung. Die
Orthographie der Präsensform - aber auch des Substantivs lØber mit der
Mehrheitsform lØbere - könnte es nahelegen anzunehmen, daß es wohl eine
Distinktheitsform mit [R]-Aussprache gebe. Das ist aber nicht der Fall; sie wäre eine

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-257-

Diktieraussprache, oder besser: Das, was wir oft glauben, in unserer distinkten
Aussprache zu realisieren, realisieren wir bei spontaner Rede gar nicht. Dies zeigt
wiederum, daß der Phonetiker schlecht beraten ist, wenn er beabsichtigt, für
Aussprachewörterbuchzwecke seine eigene, vermeintliche Aussprache durch
Introspektion zu notieren, denn er weiß nicht genau, wie er in spontaner Rede
spricht. Die Wörterbucharbeit muß auf umfassenden, empirischen Untersuchungen
aufbauen. Das Beispiel zeigt natürlich auch ein Problem in bezug auf die Relation
zwischen Schrift und Laut auf. Man muß sich wundern, daß es den meisten Kindern
gelingt, einigermaßen korrekt zu buchstabieren. Die Ursache liegt darin, daß das
orthographische System vielen anderen Regeln als Zuordnungsregeln zwischen Laut
und Graphem unterliegt, z.B. Regeln zur morphologischen und etymologischen
Konstanz. Die neuen Vorschläge zur Orthographiereform im Deutschen zeigen
weithin dasselbe.
Beispiel 3 in Beilage I ist das Substantiv kØkken, dt. Küche. Die D-Form zeigt
eine assimilierte Form mit [n] als Träger der zweiten Silbe. Daneben steht die
Hauptform, versehen mit dem Nummerhinweis 3. Unter Nummer 3 (vgl. Beilage II)
heißt es:
"Hier wechselt das alte, sehr distinkte [Kn] mit [n] (durch K-Assimilation) und [ K ]
(nach [ g, N ]) oder [m] (nach [b, m]) oder [m] (nach [f, v])."
Es sind solche präzisen Beschreibungen der tatsächlichen Aussprache der
Standardsprache, die Sprachpfleger etwas aufgeregt haben. Sie sehen in der
"verknappten" Aussprache, d.h. in dem typischen Schwa-Schwund und in der
Velarisierung des Nasals - eine Folge von Fernassimilation - einen Verfall der
Sprachkultur. Es läßt sich aber zeigen, daß die Sprachpuristen in spontaner Rede die
Assimilationen selbst mitmachen. Sonst wäre eine D-Form ohne Assimilation hier
angeführt! Das Beispiel ist deshalb in sich selbst ein gutes Argument für ein
deskriptives Aussprachwörterbuch auf wissenschaftlicher Basis: Die
Sprachwirklichkeit zeigt, was als Distinktheitsform und Hauptform gilt - und nicht
was als vermeintliche präskriptive Norm zu gelten habe, nachdem man auf die
tatsächlich vorkommenden Buchstaben im Wort hingewiesen hat.
Beispiel 4 (Vgl. Beilage I) soll Tendenzen in der Entwicklung der dänischen
Aussprache verdeutlichen. Alle Homonyme vom Wort ret (dt. Recht, Gericht,
Gerechtigkeit, Anspruch, rechte Seite, gerade, recht) haben als D-Form [ ä ]-
Aussprache. Der Hinweis auf Nummer 44 (vgl. Beilage II) lehrt uns aber, daß die
Aussprache [ rA ] sehr häufig vorkommt, sowohl in allen L-korrellierten Aussprachen
als auch bei dem Teil der Kopenhagener Jugend, der sonst eine H-Varietät benutzt.
Das bedeutet, daß diese Aussprache, die von Gebildeten naserümpfend zur Kenntnis
genommen wird, die Zukunft in sich trägt (s. zur generellen Entwicklungsgrundlage
der dänischen Standardaussprache Brink/Lund). Man könnte meinen, daß diese
Aussprache zu einer Vermehrung von Homonymen führt, in casu zu einem
Zusammenfall mit dem Substantiv rat, dt. Steuerrad, und das ist richtig, aber darum

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-258-

kümmert sich die Sprache offenbar nicht, denn der Kontext sorgt für die korrekte
Disambiguierung.
Schließlich zeigt Beispiel 5 (vgl. Beilage I) storebror, dt. älterer Bruder das
Phänomen der [R]-Vokalisierung. Als D-Form findet man im ersten
Zusammensetzungselement keine [R]-haltige Form. In den Nummerhinweisen 9 und
12 (vgl. Beilage II) werden die Auswirkungen der [R]-Vokalisierung eingehend
behandelt, z.B. die Auswirkungen auf den Stoßton und die Länge bzw. die Kürze der
vokalischen Amalgierung.
Ich habe einen kleinen Eindruck von den Arbeitsmethoden und - techniken
vermitteln wollen, die dem Großen Dänischen Aussprachewörterbuch
zugrundeliegen. Ich füge hinzu: Vor dem eigentlichen Wörterbuchteil finden wir auf
etwa 100 Seiten eine Anleitung für den Benutzer, eine Darstellung der Prinzipien des
Wörterbuchs (20 Seiten), Terminologie und Abkürzungen (12 Seiten), ein Kapitel für
den nicht dänischlesenden Benutzer: "Introduction and Terminology & Abbreviations"
(43 Seiten), die Definiton der phonetischen Zeichen (10 Seiten) und eine besondere
Darstellung des dänischen Lautsystems (20 Seiten). Die Eintragungen selbst umfassen
etwa 1.460 Seiten. Nach den Nummerhinweisen und den generellen
Wechselverhältnissen folgt der Versuch, das dänische Flexionssystem auf
phonetischer Grundlage darzustellen (knapp 30 Seiten). Insgesamt umfaßt das Werk
1.659 Seiten. Das Aussprachewörterbuch ist eine wissenschaftliche Darstellung des
Varietätenreichtums, wobei die allerkleinsten Nuancen bei der Realisierung der Laute
angeführt werden. Das führt dazu, daß das Wörterbuch in vollem Umfang nur von
Experten benutzt werden kann. Aber auf der Grundlage des Wörterbuchs sind schon
benutzerfreundlichere Aussprachewörterbücher erschienen, die konsequent die
Distinktheitsformen bzw. sowohl Distinktheits- als auch Hauptformen, aufnehmen.
Es ist aber festzuhalten, daß diese Aussprachewörterbücher prinzipiell keine
präskriptiven Normen angeben, obwohl sie wahrscheinlich als solche - nicht zuletzt
im Ausland - gewertet werden.

3. Ein österreichisches Aussprachewörterbuch?


Was die Arbeit an der Universität Odense über die Standardaussprache des
österreichischen Deutsch betrifft, haben wir aus der Beschäftigung mit dem Großen
Dänischen Aussprachewörterbuch Lehren gezogen. Gleichzeitig gehen wir von
Anregungen in Arbeiten von Rudolf Muhr aus, indem wir seine Trennung zwischen
einem Standard nach außen und einem Standard nach innen als Arbeitshypothese
übernehmen. Dadurch wird vermieden, daß die Verteilung der beiden Standardtypen
(bei den Typen handelt es sich vor allem um wissenschaftliche Hilfsbegriffe, die der
Beschreibung der Sprechwirklichkeit dienen sollen) von vornherein vom sozialen
Status des Sprechers abhängig ist. Im Gegenteil wird der Tatsache Rechnung
getragen, daß die Österreicher - meistens - über mehrere Gebrauchsnormensysteme
verfügen und diese je nach Situation, Thema, Kommunikationspartner, emotionaler

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-259-

Verfassung und Region einsetzen können. Uns kommt es darauf an zu versuchen, die
Merkmale des Standards nach außen in seiner Distinktheitsform zu erfassen,
während die Ausspracheformen des Standards nach innen, die ja in hohem Grade
regionale Färbungen tragen (unter Umständen sind sie mit der Dialektaussprache
identisch), schon erfaßt, aber in einem systematisch angelegten Kommentarteil des
Wörterbuchs beschrieben werden sollen. Wir verfügen über keine ausreichenden
Kenntnisse der tatsächlich vorkommenden regionalen Varietäten, und es wäre also
vermessen, wenn wir uns darüber eigene Meinungen bilden würden.
An dieser Stelle möchte ich im Hinblick auf unser Thema zur
Variationslinguistik sagen: Bei der Untersuchung von gesprochener Sprache geht es
um Klassifikationen, und somit auch um Generalisierungen und Abstraktionen. Ein
methodischer Weg besteht darin, seinen Ausgangspunkt in den tatsächlichen
Ausspracheformen zu nehmen und zu versuchen, sie verschiedenen Typen von
Schichten zuzuordnen. Bei diesem Vorgang bilden Faktoren wie lokale Gebundenheit
und Verbreitung der Formen, eventuell soziologische, altersbedingte,
geschlechtsspezifische oder andere außersprachliche Bindungen der Formen
letztendlich die Entscheidungsgrundlage dafür, ob bestimmte Formen einer
bestimmten Schicht zuzuordnen sind oder einer anderen, wobei die Grenzziehungen
im oberen Teil des Schichtenmodells immer problematischer werden. So ist es
beispielsweise ein (sprachwissenschaftliches Beschreibungs-) Problem, daß die
Entwicklung von Regionalsprachen tendenziell das hierarchisch aufgebaute
Schichtensystem abbaut: so schätzt z.B. ein Däne, der die ostjütländische
Regionalsprache spricht, diese Regionalsprache als Standardsprache ein; gleichzeitig
werden dialektnähere Sprachformen eher zu Soziolekten, weil sie mit L-Status
verbunden sind. Ich sehe in Österreich eine vergleichbare Situation. Ein anderer
Ausgangspunkt liegt - wie bei Muhr - darin, die Standardaussprache nach außen an
Hand von außersprachlichen Merkmalen zu definieren. Erst in einem zweiten Schritt
wird untersucht, welche tatsächlichen Ausspracheformen in den relevanten
Sprechsituationen vorkommen. Obwohl es evident erscheint, daß die beiden Eingänge
verschieden sind, kommt es mir vor, als werde bei der letztendlichen Entscheidung
darüber, ob die Standardaussprache diese oder jene Ausspracheform kennt oder ob
diese oder jene Ausspracheform standardsprachlich ist, von beiden Richtungen
ähnlich argumentiert und als würden so ziemlich gleiche Ergebnisse erreicht. Für den
Nicht-Österreicher, der mit den sozialpsychologischen Implikationen bestimmter
Ausspracheformen nicht völlig vertraut sein kann, scheint aber der Einstieg in die
standardsprachliche Problematik des österreichischen Deutsch leichter zu sein, wenn
die empirische Basis Auspracheformen sind, die als +öffentlich, +institutionalisiert
und +optimale Reichweite bewertet werden können.
Wir haben in Odense den Versuch aus folgender einfacher Überlegung gewagt:
So wie das Dänische keine präskriptive Norm kennt und somit versucht werden muß,
eine D-Form, eine Hauptform und andere Ausspracheformen herauszukristallieren,
die mit regionalen, sozialen und anderen Faktoren korrellieren, muß das

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-260-

österreichische Deutsch nicht auf eine deutsche Norm rekurrieren, um seine


Distinktheitsformen herauszufinden. Wir gehen von der These aus, daß der Begriff
"Distinktheitsform", die wir ja vom Großen Dänischen Aussprachewörterbuch
übernommen haben, mit dem Standard nach außen verwandt ist, dessen
wesentlichste außersprachliche Merkmale +Öffentlichkeit und +überregionale
Sprechsituation sind.
Unser Untersuchungsmaterial besteht aus einer ganzen, stattlichen Reihe von
Tonbandaufnahmen. Den Aufnahmen gemeinsam ist, daß die Sprecher und
Sprecherinnen in einer "öffentlichen Situation im institutionellen Kontext" (Muhr)
sprechen. Sie sprechen spontan mit dem Ziel, möglichst überregional
durchzukommen. Wir haben ganz bewußt von geschulten Sprechern wie Ansagern
und Ansagerinnen im Rundfunk und Fernsehen abgesehen, nicht weil sie nicht
Österreicher und Österreicherinnen wären, sondern weil man vermuten kann, daß
ihre Aussprache - bewußt oder unbewußt - an der deutschen hochsprachlichen
Aussprachenorm orientiert ist. (Die dänischen Rundfunk- und Fernsehsprecher
haben meistens R-Realisierung. Sie werden im Großen Dänischen
Aussprachewörterbuch nicht berücksichtigt!). Zu den Sprechern zählen Heinz
Fischer, Franz Vranitzky, Jörg Haider, Heide Schmidt, Hugo Portisch, Professoren und
Primarien in Expertenrollen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die
es schon verstehen, ihre Sprache so zurechtzulegen, daß sie maximal verständlich ist
und überregional wirkt. Einige der Aufnahmen sind Interviews mit dem dänischen
Fernsehen, wo eine besondere Distinktivität und überhaupt eine nach außen
gerichtete Standardaussprache - vielleicht sogar eine an die deutsche Hochsprache
angelehnte Ausspracheform - zu erwarten wären. Wir sind uns bewußt, daß Politiker
dazu neigen können - auch wenn sie überregional wirken wollen -, eine besondere
"volksnahe" Aussprache zu wählen. Diese Ausspracheformen bleiben aber
definitorisch innerhalb des Standards nach außen.
Wir haben erst einmal von Betonungs- und Intonationsverhältnissen absehen
müssen, weil uns kein vertrauter, aber vor allem intersubjektiv überprüfbarer
Beschreibungsapparat zur Verfügung steht. Im übrigen verweise ich auf die Arbeit
von Lipold (1988), in der die meisten Abweichungen von der deutschen
hochsprachlichen Betonung gesammelt sind. Eine nachvollziehbare Darstellung der
Intonation des österreichischen Standards nach außen ist ein Desideratum.
In einem ersten Schritt haben wir die Aussprachen mit der Hochlautungsnorm
Siebsscher Prägung verglichen. Dabei haben wir besonders nach "Zwillingen"
gesucht, d.h. nach Lexemen, die von demselben Sprecher verschiedenartig realisiert
werden, (z.B. "haben" ohne und mit Velarisierung des a-Lauts). Die Varietät, die der
Hochlautungsnorm des Deutschen am nächsten kommt - oder mit ihr identisch ist -
haben wir versuchsweise für die Distinktheitsform gehalten. Die andere, davon
abweichende, haben wir tentativ als Hauptausspracheform charakterisiert.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-261-

Der Vorteil bei dieser Vorgangsweise liegt auf der Hand: Die Studenten und
Studentinnen, mit denen ich gearbeitet habe, sind alle älteren Semesters; sie sind
schon von der Volksschule und vom Gymnasium - und vor allem vom Deutschen
Fernsehen, das überall in Dänemark gesehen werden kann - mit der präskriptiven
Norm in Deutschland vertraut; sie haben einen Phonetikkurs hinter sich und in fast
allen Fällen auch einen mindestens einsemestrigen Aufenthalt an einer deutschen
Universität. Deshalb fallen ihnen Abweichungen von der Dudennorm sofort auf,
auch wenn sie vielleicht nicht im Stande sind, die Unterschiede präzise zu
charakterisieren. Nicht nur können sie die Unterschiede registrieren, sondern sie
stehen den Varietäten völlig vorurteilslos gegenüber: keine der Varietäten ist
stigmatisiert. Im Gegenteil: Wenn der österreichische Bundeskanzler im Fernsehen so
oder so sagt, muß das wohl als eine ganz normale, nicht-deklassierende
Ausspracheform bewertet werden!
Im folgenden behandle ich nur einen kleinen Teil der Beobachtungen, die wir
im österreichischen Standard nach außen gemacht haben. Gleichzeitig zeige ich, wie
wir uns vorstellen, daß Kommentare zu den Ausspracheformen angeführt werden
können. Die Beobachtungen sind - nicht überraschend - dieselben, wie sie in den
Forschungsarbeiten vorliegen, aber vielleicht verleihen wir ihnen einen anderen
Stellenwert als üblich.
Die Vokale
Wir behaupten, daß der Aussprache der Vokale im österreichischen
Standarddeutsch größere Aufmerksamkeit zukommen müßte, als es allgemein in der
Forschung der Fall ist. Die Realisierungen der Vokale sind wichtige Signale: Hier
spricht ein Österreicher!
Die traditionelle Aufstellung des Vokaldreiecks, bzw. Vierecks, zeigt für die
deutsche Norm, daß bei den hochgestellten Vokalen ein Unterschied im
Öffnungsgrad zwischen beispielsweise dem langen [i:] und dem kurzen [I] besteht:
Der Langvokal ist höhergestellt. Entsprechend bei den Vokalen mit mittlerem
Öffnungsgrad. Soweit es unsere Untersuchungen angeht, arbeiten wir mit der These,
daß alle hochgestellten Vokale denselben, hochgestellten Öffnungsgrad besitzen, d.h.
wir transkribieren auch die kurzen i-, y- und u-Laute mit kleinen Buchstaben, um die
Qualitätsgleichheit mit den Langvokalen zu markieren. Ob diese Aussprache der
Kurzvokale in betonter Silbe mit Gespanntheit verbunden ist - so daß der Unterschied
zwischen 'gespannt' - 'ungespannt', der im Deutschen mit den
Quantitätsunterschieden einhergeht, zu Gunsten der Dimension 'Gespanntheit'
aufgehoben ist -, läßt sich endgültig nur mit technischem Gerät untersuchen. Wir
vermuten aber, daß im österreichischen Deutsch der Abstand zwischen den Polen
'gespannt-ungespannt' kleiner ist als im Deutschen.
Auch bei den mittelgestellten Palatalvokalen stellen wir für die Kurzvokale [E]
und [(] eine etwas geschlossenere, d.h. höhergestellte Aussprache als bei Duden fest.
Sie ist nicht so signifikant wie bei den hochgestellten Vokalen, und wir haben uns auf

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-262-

eine geeignete Transkription nicht geeinigt. (Dabei ist zu überlegen, ob eine


Transkription möglich ist, die durch diakritische Zeichen die kleinsten
Abweichungen von einer absoluten Festlegung eines phonetischen Zeichensystems
deutlich macht - oder ob einfachere Zeichen gewählt werden sollen, deren
Realisierungen im österreichischen Deutsch exemplarisch auf einem das Wörterbuch
begleitenden Tonband gehört werden können - wie im Falle des Großen Dänischen
Aussprachewörterbuchs - und deren genaue phonetische Werte im Vorwort über
eine Normierung festgelegt worden sind. Man kann für beide Positionen
argumentieren; ich bin schon für die zweite eingetreten!).
Was das deutsche Phonem /ä:/ angeht, haben wir vor allem in spontaner Rede
die [e:]-Aussprache festgestellt. Ich verweise im übrigen auf Patocka (1988), der
jedoch vor allem die Aussprache im Rundfunk untersucht hat. Eine Aussprache des
langen /ä:/-Phonems als langen a-Laut halten wir nicht für eine
Standardrealisierung nach außen.
Wir sprechen von einer Umverlagerung der phonetischen Besetzung der
Kurzvokale in betonter Silbe im Vergleich zum deutschen System. Im österreichischen
Deutsch werden sie vergleichsweise höher angesetzt. Im Grunde finden wir das auch
bei der Realisierung des /a/-Phonems. Natürlich finden wir als D-Form eine
zentralisierte Aussprache des niedriggestellten Vokals, aber als H-Form müssen wir
die velarisierte - und damit gerundete und etwas höhergestellte - Aussprache
betrachten, die bis hin zur [K]-Aussprache führen kann. Es ist lexikalisch festgelegt,
welche Wörter diese Velarisierung nicht mitmachen, sondern einen "hellen" a-Laut
haben, d.h. eine eher palatale Realisierung des a-Lauts.
Für uns ist im vokalischen Bereich ein Phänomen aufgefallen, das in der
Literatur kaum Erwähnung findet (mit Ausnahme von Sylvia Moosmüller, 1991). In
der Standardaussprache finden wir bei den Kurzvokalen eine ausgesprochene
Tendenz zu halblanger Realisierung. Wie sie beschrieben werden soll, ist etwas
unklar: Ist sie Ausdruck einer gewissen Gespanntheit bei den Kurzvokalen (und somit
ein Reflex der im Deutschen üblichen Korrelation zwischen Länge und
Gespanntheit); hat es mit losem bzw. festem Anschluß etwas zu tun - und damit
letzten Endes mit der historischen Entwicklung der Silbenstruktur im österreichischen
Deutsch? Unser "Höreindruck" führt uns jedenfalls dazu, daß wir in einem zu
schreibenden österreichischen Aussprachewörterbuch eine Behandlung und
Berücksichtigung dieses Phänomens erwarten.
Die [K]-Assimilation ist im österreichischen Deutsch ein derart verbreitetes
Phänomen, daß wir sie ohne Bedenken auch bei den D-Formen annehmen. Dabei gibt
es natürlich Nuancierungen. Bürkles Arbeiten zeigen, wie präzise vorgegangen
werden kann in der Charakterisierung des Schwa-Lauts (und der R-Vokalisierung)
bis hin zur völligen Assimilation. Nicht überraschend ist die Qualität des Lauts von
der lautlichen Umgebung abhängig. Dies veranlaßt mich zu einer Bemerkung: Wenn
wir in der Lautschrift den Schwa-Laut durch ein auf den Kopf gestelltes "e", bzw. "a"

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-263-

ausdrücken, bezeichnet dieses Zeichen normalerweise keine sehr präzise


Vokalqualität. Es gibt eben eine gewisse Streuung in der Aussprache des Schwa-
Phonems. Im Grunde genommen sind die meisten phonetischen Notationen des
Schwa-Lauts Phonemnotationen. Das Problem läßt sich beheben, wenn in einem
eigenen Abschnitt über die phonetische Notation diese Problematik behandelt wird.
Ähnliches gilt bei dem Phänomen der R-Vokalisierung: Nehmen wir die beiden
Wörter größer und größere, wäre eine Transkription des ersten Wortes mit einem R-
haltigen Element als phonetische Form falsch. Dagegen kann in irgendeiner
abstrakten Strukturbedeutung dafür argumentiert werden, daß im Wort ein R-
Phonem und ein Schwa-Phonem vorhanden sind. Im Hinblick auf ein
Aussprachewörterbuch, dessen Eintragungen die Aussprache zeigen sollen und nicht
eine eventuell dahinterliegende Phonemstruktur, muß dafür plädiert werden, daß nur
größer angeführt wird (ohne R-Element) und in einem eigenen Kommentar
Flexionsformen mit R-Element behandelt werden - oder aber, daß beide Wörter
angeführt werden.
Die Distinktheitsformen der Diphthonge sind im österreichischen
diphthongisch, aber der Abstand zwischen den Polen ist geringer als in der deutschen
Standardaussprache. Der Erstlaut in den drei genuinen Diphthongen ist im Vergeich
zum Deutschen etwas höhergestellt. Die wienerische Monophthongierung betrachten
wir nicht als eine Standardrealisierung nach außen.
Dasselbe trifft bei den Entrundungserscheinungen zu. Sie sind natürlich - wie
die regionale Monophthongierung der Diphthonge - im Kommentarteil zu
behandeln.
Obwohl wir für die D-Aussprache keine l-Vokalisierung annehmen, suchen wir
nach Wegen, die auch in der Standardaussprache zu registrierende, weniger
konsonantische Aussprache zu kennzeichnen. Totale l-Vokalisierungen (mit
dazugehörigen Rundungserscheinungen) sind als Regionalvarianten zu betrachten.
Die Konsonanten
R- und l-Vokalisierungen sind schon bei der Besprechung der Vokallaute
behandelt. (Die dadurch entstandene Aufstockung des Phoneminventars wird hier
ausgeklammert). Hier werde ich mich deshalb um die Phänomene konzentrieren, die
wir im Bereich des übrigen Konsonantismus für österreichische Standardaussprachen
halten. Was nicht erwähnt wird, teilt das österreichische Deutsch mit der deutschen
Standardlautung (Details ausgenommen!)
Was die s-Laute angeht, haben wir nur in ganz wenigen Fällen eine
Stimmbeteiligung feststellen können. Wir sehen deshalb keinen Grund dazu, bei
Distinktheitsformen stimmhafte s-Laute in ein österreichisches
Aussprachewörterbuch aufzunehmen. Auf eine mögliche Stimmhaftigkeit der s-Laute
nach der deutschen Norm kann im Kommentarteil hingewiesen werden.

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-264-

Die Aussprache der Klusillaute ist ein besonders schwieriges Kapitel. Die in der
deutschen hochsprachlichen Norm vorkommende Kombination von drei Merkmalen
bei jedem Klusillaut (Stimmhaftigkeit, Intensität und Aspiration) liegt in derselben Art
und Weise in der österreichischen Standardlautung nach außen nicht vor. Wir sind
der Auffassung, daß eine gerechte Festlegung der Ausspracheformen in Österreich
jeden einzelnen Laut separat behandeln muß und bei jedem einzelnen Laut dessen
Aussprache in den Basispositionen (Anlaut, Inlaut und Auslaut). Generell meinen wir,
daß eine fehlende Stimmhaftigkeit bei den Klusilen im Anlaut auch für die
Distinktheitsformen anzunehmen ist. Unseren Untersuchungen nach bleiben in der
distinktiven Aussprache die Lenisklusile im Anlaut Lenes, während die Fortisklusile
als Halblenes realisiert werden. Einen völligen Zusammenfall der beiden Reihen in
der Intensitätsdimension haben wir in einigen Fällen registriert, aber nicht generell.
(Vgl. dazu Moser, 1989, S. 15) Wir nehmen an, daß eine Neutralisierung der
Intensitätsopposition mit regionalen und/oder situativen Parametern, vielleicht auch
mit sozialen (?), korrelliert. Was die Aspirationsdimension angeht, sind wir mit
unseren eigenen Untersuchungen nicht weit gekommen. Das Beschreibungsproblem
liegt darin, daß die in der deutschen Normaussprache aspirierten Fortisklusile nicht
nur in verschiedenen Basispositionen mit oder ohne Aspiration ausgesprochen
werden können, sondern auch in verschiedenen Typen von Clustern. Als
Spezialproblem steht die Standardaussprache des Ableitungsmorphems -ig.
Überhaupt ist eine umfassende, empirische Arbeit notwendig, damit die Realisierung
der Klusillaute in der Standardlautung nach außen korrekt erfaßt werden kann.
Im folgenden zeige ich an Hand einiger Beispiele, wie wir uns vorstellen, daß
Wörterbuchartikel aufgebaut werden können. Dabei sollen die Sternchen für Zahlen
stehen, die auf Paragraphen im Kommentarteil hinweisen. Ein Punkt nach Vokal
deutet Halblänge an. Halbfortis ist in der Transkription nicht markiert.

singen, Vb. D: siNKn, H: siNn* *>[ K ]-Assimilation


Sinn, Subst. D: sin
sind, Vb. D: sind* *> reg./soz. sa:n
Teilnehmer, Subst. D: 'tE'l"ne:mA*** *> gen. Halbfortis
*> Real. von Diphth.
*> -er Realisierung
Plan, Subst. D: pla:n* *> gen. Halbfortis
Doktor, Subst. D: 'dOg"dO*** *> gen. Halbfortis
*> -tor in Nebensilben
*> R-Vokalisierung
Tritt, Subst. D: tri.d** *> gen. Halbfortis
*> Verlängerung der Kurzvokale

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-265-

wurde, Vb. D: vuÄdK** *> R-Vokalisierung


*> Schwa
haben, Vb. D: ha:bKn, H: hO:bn* *> a-Velarisierung
*> [K]-Assimilation
bunt, Adj. D: bu.nt* *> Verlängerung der Kurzvokale
Verfassung, Subst. D: fER'fa suN* *> do.
ankommen, Vb. D: 'a nkOmKn* *> do.

Literatur (in Auswahl):


BasbØll, Hans/Wagner, Johannes (1985): Kontrastive Phonologie des Deutschen und
Dänischen. Segmentale Wortphonologie und -phonetik. Tübingen. (= Linguisti-
sche Arbeiten 160).
Brink, Lars/Lund, JØrn/Heger, Steffen/Normann JØrgensen, J. (under medvirken af
Harry Andersen, Ebbe Nielsen og Suzanne Strange) (1991): Den Store Danske
Ud-taleordbog. Kopenhagen.
Brink, Lars/Lund, JØrn (1985): Dansk Rigsmål 1-2. Kopenhagen.
Bürkle, Michael (1993): Zur Aussprache des österreichischen Standards. Österreich-
Typisches im Bereich der unbetonten Silben. In: Muhr, Rudolf (Hrsg.):
Internationale Arbeiten zum österreichischen Deutsch und seinen
nachbarsprachlichen Bezügen. Graz. (= Materialien und Handbücher zum
österreichischen Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache 1), S. 53-66.
Lipold, Günter (1988): Die österreichische Variante der deutschen
Standardaussprache. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.): Das österreichische Deutsch.
Wien/Köln/Graz. S. 31-54.
Mogensen, Jens Erik (1994): Tysk fonetik. Kopenhagen.
Moosmüller, Sylvia (1991): Hochsprache und Dialekt in Österreich. Soziophono-
logische Untersuchungen zu ihrer Abgrenzung in Wien, Graz, Salzburg und
Innsbruck. Wien, Köln, Weimar. (= Sprachwissenschaftliche Reihe 1).
Moosmüller, Sylvia/Dressler, Wolfgang U. (1988): Hochlautung und soziophono-
logische Variation in Österreich. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik,
Jahrgang XX, Heft 2. S 82-90.
Moser, Hans (1989): Österreichische Aussprachenormen - Eine Gefahr für die
sprachliche Einheit des Deutschen? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik,
Jahrgang XXI, Heft 1. S. 8-25.
Muhr, Rudolf (1990): Deutsch in Österreich - Österreichisch: Zur
Begriffsbestimmung und Normfestlegung der Standardsprache in Österreich. In:
Grazer Arbeiten zu Deutsch als Fremdsprache und Deutsch in Österreich, hrg.
von der "Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache" am Institut für Germanistik
der Universität Graz, Band 1/1987, 2. verb. Aufl. 1990. S. 3-22.
Patocka, Franz (1988): Norm und Realität. Zur Aussprache des Phonems /ä:/ im
österreichischen Rundfunk. In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis
und Dokumentation 3. S. 226-239.
Reiffenstein, Ingo (1975): Hochsprachliche Norm und Sprachnormen. In: Grazer Lin-
guistische Studien 1, S. 126-134.

Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
-266-

Reiffenstein, Ingo (1982): Hochsprachliche Norm und regionale Varianten der Hoch-
sprache: Deutsch in Österreich. In: Moser, Hans (Hrsg.): Zur Situation des Deut-
schen in Südtirol. Innsbruck. S. 9-18.
Scheuringer, Hermann (1987): Anpassung oder Abgrenzung? Bayern und Österreich
und der schwierige Umgang mit der deutschen Standardsprache. In: Deutsche
Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation 2. S. 110-121.
Wiesinger, Peter (1988): Die deutsche Sprache in Österreich. Eine Einführung. In:
Ders. (Hrsg.): Das österreichische Deutsch. Wien/Köln/Graz. (= Schriften zur
deutschen Sprache in Österreich 12). S. 9-30.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
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Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Flemming Talbo Stubkjær: Überlegungen


zur Standardaussprache in Österreich.
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Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.271-279

Eva Wächter-Kollpacher

(Wien)

Die Sprecherschulung im ORF

1. Einleitung
Ich bin zu dieser Tagung eingeladen worden, weil die Veranstalter aus
naheliegenden Gründen der Meinung waren, der Österreichische Rundfunk hätte
eine sehr wichtige Funktion im Zusammenhang mit dem "österreichischen Deutsch",
wenn es überhaupt einen solchen Begriff gäbe. Da ich als Chefsprecherin für die
Sprechausbildung im ORF zuständig bin, wäre es interessant, Sprachnormen, die dort
den Sprechern in meinem Auftrag vermittelt würden, näher unter die Lupe zu
nehmen. Ich habe zugesagt, aber ich verhehle nicht: mit etwas gemischten Gefühlen.
Als Angehöriger eines Mediums hat man sich daran gewöhnt, bei jeder sich
bietenden Gelegenheit und zu jeder Sachfrage einen Teil der allgemeinen
"Medienschelte" abzubekommen. Außerdem kann ein Massenmedium es halt einfach
- auch bei der Sprache - nicht allen rechtmachen. Und auch aus etlichen
Wortmeldungen bei dieser Tagung wurde klar: Jeder findet in der Sprache von
Rundfunk und Fernsehen sein sprachliches Interessensgebiet manifestiert und zwar
meistens in Negativbeispielen. Diesen Umstand zu beklagen, hieße, von der Sache
nichts zu verstehen, denn Sprache teilt im allgemeinen das Schicksal aller guten
dienstbaren Geister: man nimmt sie nur wahr, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Und
es gibt natürlich im ORF-Alltag immer wieder genug sprachliche Abweichungen,
Fehler: größere, kleinere, punktuelle aber auch tendenzielle, diesem Umstand
verdanke ich ja auch meine Funktion, und die lautet: bei den ORF-Mitarbeitern am
Mikrofon und vor der Kamera für möglichst korrekte Sprache zu sorgen. Aber da
drängt sich sofort die Frage auf : korrekte Sprache, bitteschön, was ist das? Lassen Sie
mich also ein bißchen weiter ausholen.

3. Die Veränderlichkeit der Sprache


Der ORF hat sich in den letzten Jahren immer rasanter verändert, gerade in den
vergangenen Monaten hat er wieder einen kräftigen Innovationsschub bekommen.
Wenn Sprache also etwas so Lebendiges ist, wie das, wofür wir sie alle halten, müssen
sich diese Veränderungen auch auf das Sprechen dort und die Zielsetzungen der
Sprechausbildung im ORF auswirken und das tun sie natürlich längst. Und
selbstverständlich wirkt sich die in den elektronischen Medien stattfindende Sprache
auf uns alle stark aus, das war auch früher so, die Radio- und Fernsehsendungen, die
-272-

wir seit unserer Kindheit gehört haben, bilden einen erheblichen Teil unserer
Vorstellungen von offizieller Sprache. Es wird auch immer darauf hingewiesen, die
Sprache des Österreichischen Rundfunks nach 1945 habe die österreichische
Identität entscheidend mitgeprägt. Ob wir das also wollen oder nicht, die
elektronischen Medien, denen sich im Sog des Infotainments auch kaum jemand
mehr entziehen will, werden sich wahrscheinlich - auch auf die Sprache - mehr
auswirken, als wir wahrhaben wollen und sicher auch in Bereichen, an die wir noch
gar nicht denken.

4. Die Programmvielfalt
Und da wird eben viel gesprochen, auch in den deutschsprachigen Programmen
des ORF, in den beiden Fernsehkanälen ORF1 und ORF2, im Kultursender
Österreich1, in Österreich2, das sind die Lokalradios der Bundesländer, von denen im
Großraum Wien sogar drei zu hören sind, außerdem in dem bei der jüngeren
Generation so beliebten Sender Ö3. Seit kurzem gibt es zusätzliche deutschsprachige
Sendungen auf Blue Danube Radio, und vergessen wir auch nicht das Programm, das
Radio Österreich International auf Kurzwelle ausstrahlt, hier nehmen wir schon seit
vielen Jahren in deutscher Sprache Kontakt mit der ganzen Welt auf, in einer
deutschen Sprache, wie sie bei uns in überregionaler Form gepflegt wird. Gleiches gilt
für unseren österreichischen Anteil am Satellitenprogramm 3sat. Das sollte jetzt
natürlich keine Leistungsschau sein, ich wollte Ihnen nur vor Augen führen oder ins
Gedächtnis rufen, wieviel an deutschem Wort hier tagtäglich rund um die Uhr
realisiert und verbreitet wird, in unserem relativ kleinen Land und natürlich immer
auch über die Grenzen hinaus. Und vieles an Sprache, vor allem im Fernsehbereich,
denken Sie an Filme, Serien, Trickfilme, Werbung, ist in den seltensten Fällen in
Österreich hausgemacht. Sprechen wir also vom restlichen Teil der Sendungen, und
der ist immer noch ansehnlich genug.

5. Der Kulturauftrag und der Markt


Der ORF als öffentlich rechtliches Medium mit Kulturauftrag hat sicher auch in
sprachlicher Hinsicht große Verantwortung, nur: er kann sich grundsätzlich nicht als
Oberlehrer der Nation verstehen und daher auch nicht als deren Sprachschule.
Sprachliche Inhalte, die das Elternhaus bereits anders vermittelt und die auch die
Schulen nicht mehr nachdrücklich aufgreifen, kann das Massenmedium nicht
normierend nachreichen. In den vielen verschiedenen Sendungen, an denen der ORF
außerdem als modernes Medium auch schon sehr oft das Publikum selbst aktiv
teilnehmen läßt, findet auch die sprachliche Vielfalt der Gesellschaft ihren Ausdruck.
Daraus nun aber abzuleiten, daß damit grundsätzlich sprachlicher Niedergang und
der Verlust der hochsprachlichen Ebene in den elektronischen Medien verbunden sei,
hieße die Gesetze sprachlicher Kommunikation und die Gesetze des Marktes völlig
außer acht zu lassen. Der ORF auf seinem oft zitierten Weg "vom Monopol zum

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-273-

Marktführer" ist äußerst daran interessiert, Produkte bester Qualität zu erzeugen.


Was er produziert, ist allerdings nicht Sprache, sondern sind Sendungen.

6. Sprache als Layout


Jede Sendung hat neben ihrem Inhalt auch die ihr entsprechende Form, ihr
spezielles Profil, womit sie ihr Zielpublikum am besten erreicht; es versteht sich von
selbst, daß auch die Sprache zu dieser Form gehört und damit zur Attraktivität der
Sendung entscheidend beiträgt. (Störungen in diesem Bereich müßten daher sogar in
die Kategorie Managementfehler fallen.) Jemand, der Produkte mit Erfolg auf dem
Markt placieren will, muß sie gut erkennbar machen, und auch schon in ihrem
Layout überzeugend. Wenn dann auch noch viele unterschiedliche Produkte eines
Anbieters gegen die Konkurrenz bestehen sollen, muß jedes Produkt der Palette auch
unübersehbar das gemeinsame Markenzeichen tragen. Es geht also um das ORF-Logo,
sprachlich aufgefaßt!

7. Die ” oberste” Sprechebene


Bekanntlich wird der höchsten Sprechebene von der Gesellschaft automatisch
auch das höchste Prestige zugeordnet. Ein Medium, das sich seinem Publikum
vertrauenserweckend und kompetent präsentieren will, wird also auf diese oberste
Sprechebene grundsätzlich nicht verzichten können, allerdings wird es die
Hochsprache situationsbedingt unterschiedlich einsetzen, nie aber den Eindruck eines
souveränen Umgangs mit ihr verschenken wollen. Welche sogenannte Hochsprache
aber? In unserem Fall muß es eine sein, die den ORF für Österreicher sofort
erkennbar macht und unterscheidbar von den übrigen deutschsprachigen
Programmen. Gäbe es diese Sprache nicht schon längst, ein als österreichische
Hochsprache empfundenes Deutsch, man müßte sie eigentlich sogar erfinden. Daß
ausländische Filme und Serien selbst innerhalb der ORF-Programme, auch die
Trickfilme für Kinder fast ausschließlich von Sprechern aus Deutschland
synchronisiert und viele populäre Serien ohnehin in Deutschland gedreht sind,
gehört zu den fixen Gegebenheiten unseres Kulturraums, sie sind dem Österreicher
vom Kino her längst vertraut, in diesen "theatralischen Zusammenhängen" scheint
ihm mangelnde Sprachidentität den Genuß nicht sonderlich zu trüben. Ganz anders
ist seine Einstellung aber gegenüber den Sendungen seines österreichischen
Rundfunks, da reagieren viele Menschen empfindlich auf fremde Töne. So geht es
zumindest aus vielen Briefen, die bei mir einlangen, hervor. Österreichische
Sprachidentität hier nun aber sofort durch regionale, oder sogar dialektgefärbte
Sprache in allen Sendungen schaffen zu wollen, hieße für den ORF, die so wichtige
neutrale ”hochsprachliche” Ebene, auf der Sachlichkeit, Kompetenz, aber auch
österreichische Gemeinsamkeit vermittelt wird, zu überspringen.

Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-274-

8. Österreichisches Deutsch
Das sinnvollste Sprachlogo für den ORF kann daher - völlig ideologiefrei und
ganz pragmatisch gesehen - nur bedeuten: österreichisches Deutsch. Ich habe das
ominöse Bestimungswort "hoch" jetzt aus einem guten Grund weggelassen. Ich
möchte damit gegen die Begriffe der Sprachschichtung "oben" und "unten"
ankämpfen und sie durch die Begriffe "Ferne" und "Nähe" ersetzen. Den immer
wieder in der Fachliteratur beschriebenen Sprachebenen mit ihrer vertikalen
Ausrichtung an den sozialen Gegebenheiten entsprechen in der Kommunikation und
somit in der medialen Wirklichkeit meiner Meinung nach aber eher horizontale
Muster: Je weiter die hochsprachliche Ebene verlassen wird, desto näher kommt der
Sprechende zum Zuhörer (auch der Personenkreis, der dabei angesprochen wird, ist
kleiner). Auf dem Weg von der Hochsprache zum Dialekt ändert sich die
Sprechsituation allmählich vom Offiziellen zum Privaten hin, vom Allgemeinen zum
Persönlichen.

9. Die Sprech - ” Rollen”


Wie im oft beschriebenen Umgang zwischen Menschen im Alltag auch, ist in
Österreich dieses Wechseln zwischen den Sprachebenen kein scharfer Bruch, es gibt
aber Grenzen, und sie werden dann besonders deutlich wahrgenommen, wenn
Unvereinbarkeiten zwischen der Situation und der gewählten Sprechebene bestehen.
In der Kommunikation stimmt dann etwas nicht, auf die Sprache in einer Sendung
bezogen heißt das: hier hat jemand seine Rolle nicht richtig erkannt oder er kann sie
akustisch nicht glaubhaft machen. Denn in den verschiedenen Sendungen mit ihrem
speziellen Profil - nicht nur im Unterhaltungssektor in Shows, im Literaturbereich im
Hörspiel, im Fernsehspiel, in Lesungen, sondern auch in vielen sachlichen Bereichen -
treten sprechende Menschen in den unterschiedlichsten "Rollen" auf, je nach Grad
der beabsichtigten persönlichen Zuwendung zum Hörer oder Zuschauer, oder auch
was ihre Stellung zum behandelten Thema betrifft. Der neutrale Ansager einer
Sendung hat eine andere Rolle als der Moderator, der sich stark mit dem Hörer
identifizieren muß, eine andere Rolle spielt der Journalist, der das Thema mit großem
persönlichem Einsatz gründlich recherchiert und aufgearbeitet hat und nun das
Ergebnis seiner Arbeit selbst vermittelt. Wieder eine andere Rolle spielt der Reporter,
der sich unmittelbar von einem Schauplatz meldet und mit den Betroffenen spricht.
Daß ein zusammenfassender Kommentar wieder aus einer anderen Sprechsituation
erfolgt, versteht sich von selbst, und damit ist die Rollenverteilung noch längst nicht
abgeschlossen.

10. Medienpersönlichkeiten
Diese jeweils passenden Sprechebenen nun lautlich voneinander deutlich
abzugrenzen und genau vorzuschreiben, wäre absurd: Jemand, der seine ”Rolle”
richtig erkannt hat, also sein Zielpublikum entsprechend wahrnimmt und mit dem

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-275-

jeweiligen Thema verantwortungsvoll umgeht, wird von sich aus ganz automatisch
das Richtige tun: an der korrekten Lautung oder am Tonfall (natürlich auch am
Satzbau und der Wortwahl) etwas ändern und damit die richtige, nämlich
beabsichtigte Wirkung erzielen, vorausgesetzt, er kann mit Sprache umgehen.
Jemand, der bewußte Registerwechsel nicht gut beherrscht, soll daher auch nur für
die Sprechebene eingesetzt werden, die ihm liegt. Wir erleben die meisten Menschen
in den elektronischen Medien somit nur in einer bestimmten Rolle, ein Umstand, den
das elektronische Medium von heute sehr forciert, Rolle und auftretende Person
sollen möglichst zur Medienpersönlichkeit verschmelzen. Personality erleichtert die
dringend erwünschte Hörerbindung. Hörerbindung verspricht dokumentierte
Einschaltziffern und ergibt letztlich Werbeeinnahmen, ohne die kein Medium
heutzutage mehr auskommt. Auch das vom Management scheinbar weit entfernte
Thema Sprache muß vor diesem realen Hintergrund gesehen werden.

11. Die Abgrenzungen des ” Österreichischen Deutsch”


Welches Deutsch ist also in Radio und Fernsehen in Österreich gefragt: Auch in
der "höchsten Ebene" keines, das an bundesdeutsches Idiom anklingt. Und Deutsch,
das dem Theater zugehörig ist, nur in einschlägigen Literatursendungen. Diese
Abgrenzungen - nennen wir sie: "nach außen" und "nach oben" - auf die der heutige
Österreicher deutlich reagiert (Westösterreicher möglicherweise weniger stark),
müßten meiner Meinung nach von Sprachwissenschaftlern dringend erforscht, nicht
von ihnen festgelegt werden. Wortwahl, Satzbau, vor allem aber der phonetische
Bereich müßten viel genauer in den unterschiedlichen Sprachschichten untersucht
werden; nur zwischen Hochsprache und Dialekt zu unterscheiden, halte ich für
unzureichend. Solche sprachschichtspezifische Einschätzungen als Richtlinien für das
Sprechen im ORF eigenhändig vorzunehmen, käme mir äußerst anmaßend vor. Denn
erst die Ergebnisse solider Untersuchungen können eine ernstzunehmende Grundlage
für sinnvolle Sprecherziehung in Österreich sein.

12. Die Entstehung der Gebrauchssprache im


Österreichischen Rundfunk
Diesseits der österreichischen Theatersprachgrenze erstreckt sich im ORF nun in
weiten Teilen die nach Rollenverständnis differenziert eingesetzte Gebrauchssprache.
Sprechtraining im ORF setzt nun da an, wo jemand für seine situationsabhängige
Berufssprache noch etwas dazulernen muß (wie er im Privatleben spricht, oder
außerhalb des ORF; ist ihm ja unbenommen). Sprecher im Hauptberuf, meistens freie
Mitarbeiter (angestellte Sprecher gibt es heutzutage nur mehr ganz selten, wie wir
hören werden), werden also in puncto Sprechtechnik nicht mehr auszubilden sein,
unerfahrene allenfalls in die jeweilige Sprechsituation "eingewiesen". Diese Form der
Ausbildung war für Jahrzehnte im klassischen Rundfunk der Normalfall, mehr
Schulung war auch nicht nötig. "Rundfunksprecher" war ein hochangesehener Beruf,
Sprechausbildung wurde vorausgesetzt, nach bestandenem Vorsprechen wurde der
Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-276-

Betreffende angestellt. Die hochprofessionelle Tätigkeit bestand dann darin, z. B.


Musikstücke jeder Art - eventuell mit ein paar verbindenden Worten - anzusagen (in
ganz frühen Zeiten selbstverständlich alles live, und von Studio zu Studio eilend) und
natürlich die Texte, die von Redakteuren und Fachexperten mit den verschiedensten
Inhalten und in unterschiedlichsten Formen geliefert wurden, vorzutragen. Im
eigenen Selbstverständnis, ohne Anweisung distanzierten sich die damaligen Sprecher
des Österreichischen Rundfunks von der Bühnensprache, jeder auf seine Art,
Richtlinien zur Modifizierung der Siebsschen Ausspracheregeln wurden eher
mündlich weitergegeben, oft ergaben sie sich ganz von selbst aus der täglichen Praxis
und der beruflichen Routine, und auf genau diesem traditionellen Aspekt basiert auch
heute noch die Sprechausbildung im ORF.

13. Die Sprecher in Radio und Fernsehen


Auch das frühere Berufsbild des Sprechers lebt in der Vorstellung des Publikums
weiter: hinter jeder Stimme, vom Starmoderator bis zum Reporter und
Beitragsgestalter vermuten Fernsehzuschauer und Radiohörer hochbezahlte
Vollprofi-"Sprecher". Es gehört immer zu den größten Überraschungen, wenn
Außenstehende erfahren, daß es sich bei den Medienprofis in Bild und Ton in den
meisten Fällen um Redakteure handelt, die korrektes Sprechen mehr oder weniger
spät oder nebenbei erst für ihren Einsatz im Radio oder im Fernsehen gelernt haben.
Ausnahmen gibt es natürlich immer: z.B. die Fernsehansagerinnen, die
Nachrichtensprecher der klassischen Nachrichten in Österreich 1 und einige
Präsentatoren klassischer Konzerte. Damit wird nun langsam die ganze Thematik und
Problematik des Sprechens und der Sprechausbildung im ORF klar. Die
Personengruppe, die für ein Training in Frage kommt, besteht in erster Linie aus
Redakteuren und redaktionellen Mitarbeitern, die vielfach wegen ihrer
journalistischen Kompetenz, nach dem sogenannten Autorenprinzip, auch selbst
sprechen sollen.

14. Die Journalisten am Mikrofon


Dazu ist noch ein kurzer historischer Hinweis wichtig, er betrifft das
Gegenstück zum Rückgang des klassischen Sprecherberufes in den letzten ca. 25
Jahren. Ende der 60er-Jahre begannen alle elektronischen Medien ihren Siegeszug,
vor allem das Fernsehen, das Informationszeitalter begann, und natürlich ergriffen
auch im ORF die Journalisten das Szepter. Auch früher schon hatten begabte
Profisprecher ihre Hochsprache den jeweiligen Inhalten formal untergeordnet. Nun
aber übermittelte plötzlich eine alltägliche Reporterstimme z. B. die Zustände auf dem
von Panzern überrollten Prager Wenzelsplatz direkt ins Wohnzimmer. Realität oder
besser: ihr Anschein wurde faszinierend. Klang- und Sprechästhetik eines
hochsprachlichen Kommentators konnten dabei leicht zu distanziert, wie künstliche
Attitüde, wie hohle Phrase wirken. Authentizität war also angesagt von da an, und
medienhistorisch gesehen ist dieser Prozeß, so schmerzlich er für viele war, sicher

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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auch sprachlich von entscheidender Bedeutung. Der Verlautbarungston wurde


obsolet, parallel zum Infragestellen institutionaler Autoritäten wollte man vom Radio
und Fernsehen nicht mehr aufgerufen, erzogen, oder belehrt, sondern unterhalten
und informiert werden, ein Thema, das potentielle Kulturpessimisten meistens in tiefe
Resignation stürzt, pädagogisch begabte Medienmacher aber längst als reizvolle
Herausforderung sehen.

15. Der Zeitgeist


Wenn man an diese gravierenden Veränderungen der letzten Jahre denkt, ist
die Sprache, die heute das Publikum erwartet, die von demjenigen, der sie sich
aneignen muß, angestrebt wird, und - aufs Produkt Sendung bezogen - die effektive
Sprache, sicher in vielen Details anders als früher. Viele entscheidende Faktoren
haben sich geändert. Zum Beispiel ist die Welt schneller geworden. Was früher legato
gesprochen wurde, muß heute schon wenigstens portato genommen werden,
früheres portato ist zu staccato beschleunigt. (Sensible Moderatoren stellen sich im
Idealfall natürlich auch auf älteres Publikum ein und regulieren ihr inneres
Metronom entsprechend, da wir wissen, daß diese allgemeine Beschleunigung für
ältere Menschen ein großes Problem darstellt.) Das höhere Sprechtempo greift aber
natürlich stark in den Artikulationsprozeß ein. Laute mit größerem
Artikulationsaufwand, wie zum Beispiel das gerollte Zungenspitzen-r, einstmals
wichtiger Bestandteil der "korrekten Aussprache", wird im raschen, natürlichen
Sprechduktus ohne größere Sprechgestik, vor allem in kurzen Silben nach Vokalen,
immer häufiger als störendes Geräusch wahrgenommen und sehr oft schon
regionalen Lauteigenheiten zugeordnet. Ein weiteres untrügliches Zeichen für das
höhere Tempo: die Nachsilben -en werden zunehmend nasaliert (in Österreich
natürlich nie nach Nasalen oder in der Verkleinerungssilbe -chen). Spricht man sie
voll aus, im besten Fall als verkürzten Schwa-laut, wirken sie schon irritierend: sie
werden entweder als "deutsche Aussprache" empfunden oder wirken künstlich
überhöht. Der Kabarettist Josef Hader hat unlängst bei einem Österreich 1-Fest die
Nachrichtensprecher karikiert mit den Worten: Hier ist der österreichische
Rundfunk, die Nachrichtänn. Noch vor nicht allzulanger Zeit haben Sprechtrainer
mit ihren Schülern die Wörter natürlich in ihrer Normalform geübt: ge-ben, tre-ten,
tra-gen und nach alter Tradition darauf vertraut, die ominösen Nachsilben würden
sich schon im Alltag auf ein bekömmliches Maß reduzieren. Leider war das sehr oft
nicht der Fall, das Angelernte, nicht Abgeschliffene blieb Fremdkörper und wurde
wieder abgestoßen. Auch auf den Demokassetten, die das Sprecherbüro des ORF vor
einigen Jahren als Behelf für ein Sprechtraining im Selbststudium produziert hatte,
waren die Wörter in ihrer Vollform aufgesprochen. Die Kassetten mußten schließlich
wieder eingezogen werden, die Mißverständnisse bei den Benützern, die ja keine
Sprechprofis sind, waren zu groß.

Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
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16. Die Voraussetzungen für Sprechtraining im ORF


Alle diese Umstände charakterisieren die Ausgangssituation für das
Sprechtraining im ORF recht gut. Menschen, die sich nicht voll auf ihre
Sprechausbildung konzentrieren können, daher auch nicht viel üben können,
trotzdem aber rasch zu einer bekömmlichen professionellen Gebrauchssprache
kommen müssen, muß man anders ausbilden als gewohnt. Dazu kommt, daß unsere
finanziellen Mittel für Sprechausbildung innerhalb der Ausbildungsabteilung des
ORF äußerst gering sind. Das Gießkannenprinzip - für jeden ein bißchen - mußte
abgeschafft werden, Prioritäten müssen gesetzt werden. Das bedeutet für Mitarbeiter,
die schon länger da sind: Es kann nur dort in Sprechtraining investiert werden, wo
Aussicht auf Erfolg besteht. Für neue Mitarbeiter ist seit drei Jahren grundsätzlich ein
Mikrofontest vorgesehen, der stimmlich allzu Untalentierte ausscheidet.

17. Der Ablauf und die Auswirkungen des Sprechtrainings


Beim Training selbst ist dann die effizienteste Form zu wählen, meistens ist
intensives Einzeltraining am sinnvollsten, und schon durch die Auswahl des Trainers
und seiner Methode wird die Hauptrichtung des Trainings klar. Sehr oft ist
grundlegende Stimmbildung erforderlich, erst dann kann Artikulationstraining
beginnen oder Unterweisung in Agogik. Manchmal scheint es auch angebracht,
mehrere Trainer für verschiedene Bereiche zu empfehlen. In jedem Fall wird das
Sprechtraining von mir nicht nur sehr minutiös individuell konzipiert, sondern auch
konsequent überwacht, um den Eifer bei Schüler und Trainer nicht erlahmen zu
lassen. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen durchaus erfreulich. Sehr oft betonen
die Mitarbeiter, das Erwerben dieser professionellen Sprechfähigkeit hätte einen
neuen Menschen aus ihnen gemacht. Bei einer erfolgreichen Ausbildung der Stimme
kann man diese zusätzliche Dimension in der Persönlichkeit auch als Außenstehender
wahrnehmen, manche Kollegen freuen sich nach ihrer Ausbildung auch sehr über
die zusätzliche Möglichkeit, dialektfrei sprechen zu können. Nicht verschwiegen darf
aber werden, daß aus vielen schon genannten Gründen sehr oft das Training
trotzdem im Halben stecken bleibt. Und manchmal muß der Betreffende dann aus
Gründen des Redaktionsdienstplanes trotzdem ans Mikrofon, obwohl seine
mangelhafte Sprechleistung allen bewußt ist.

18. Das Aufeinanderprallen von Gebrauchs- und


Bühnenaussprache
Im Gegensatz zu dieser grassierenden Gebrauchssprache, die auch sehr oft
unter dem angestrebten Standard bleibt, und deren Benützern und Trainern man
manchmal raten könnte, ihre Latte nicht zu hoch zu legen, unter dem Motto: lassen
wir’s doch bei Umgangssprache bewenden, tritt aber in den letzten Jahren
zunehmend ein anderes Phänomen auf. In den verschiedensten Sendungen im Radio
und im Fernsehen wünschen sich die Verantwortlichen manche Texte von Profis
gelesen, und das oft aus unterschiedlichsten Gründen, meistens weil sie an einer

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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bestimmten Stelle den attraktiven Klang einer gut ausgebildeten Stimme brauchen.
Diese Profis, die oft im Hauptberuf Bühnenschauspieler sind, werden dann für eine
bestimmte Sprechaufgabe engagiert, und es ist diese Gruppe von Sprechern, die -
auch in den Werbespots - Bühnenaussprache weiterhin ins Medium hereintragen.
Dadurch werden manche eventuell überhöhte Aussprachedetails - möglicherweise
nur unterschwellig - weiter im Bewußtsein der Zuhörer gehalten, diese Subinhalte
werden sehr oft durch bestechende Stimmqualität auch noch besonders positiv
besetzt. Auch das ist Sprachrealität im ORF.

19. Die Trainingsunterlagen


Nun zu den Aufträgen an die Trainer und die immer wieder von verschiedenen
Stellen angeforderten Aussprachegrundlagen in schriftlicher Form. Die ca. 15
Trainer, die in meinem Auftrag arbeiten, die meisten sind schon seit vielen Jahren in
den Diensten des ORF, haben vollkommen freie Hand auch in der Wahl ihrer
Unterrichtsbehelfe. Allein die Tatsache, daß sie wissen, was korrekte Sprache in den
verschiedenen Sprechsituationen innerhalb des ORF bedeutet (so gut wie alle von
ihnen sind oder waren hier am Mikrofon), gewährleistet, daß sie sich der diversen
Sprecherziehungsbücher sinnvoll bedienen. Kein Sprachunterrichtsbehelf, weder
"Aderhold", "kleiner Hey", "Balser-Eberle" usw. und auch nicht das vom ORF selbst
herausgebrachte Sprechtrainingsbuch können für die unterschiedlichsten
Anforderungen eins zu eins unterrichtet werden. Meistens werden die Übungen aus
den verschiedenen Unterlagen kombiniert, oft nur einzelne Teile benützt, manchmal
im Dialog mit dem Schüler auch einiges auf den aktuellen Stand gebracht. (Die
"Böörse" in den früheren Auflagen der Balser-Eberle mußte man immer schon
augenzwinkernd übergehen, die letzten Auflagen führen Börse bereits mit kurzem
”ö”).

20. Allgemeine Richtlinien für das Training


Neben individuellen Schwerpunkten gelten für alle Trainer im
Artikulationstraining folgende Prinzipien:
1. Auch die Lautbildung muß für den Einsatz am Mikrofon auf Klang aufgebaut
werden.
• Vokale haben somit Priorität gegenüber Konsonanten.
• Sehr wichtig ist die korrekte Bildung der Diphthonge, sie tragen in den
meisten Gegenden Österreichs einen erheblichen Teil der Dialektfarbe.
2. Über die Artikulation ist Deutlichkeit im Dienste der Eindeutigkeit von Wörtern
anzustreben.
• Dabei hilft vor allem der Stimmneueinsatz, der gut geübt zu unmittelbarer
Klarheit führt und jeden übertriebenen Artikulationsaufwand unnötig macht.

Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
-280-

• Bei Wort- und Silbenfugen ist auf den geschmeidigen Übergang zwischen
Konsonanten zu achten, da der Eindruck von Künstlichkeit unbedingt
vermieden werden soll, Deutlichkeit aber erwünscht ist.
• Im Sinn der Eindeutigkeit von Wörtern ist vor allem bei "e", "o" und "ö" auf
die Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen großer Wert zu legen.
3. Das lange "Umlaut-a" darf nicht zu offen werden.
4. Was den Umgang mit dem "r" in seinen verschiedenen Positionen betrifft,
entscheidet der Trainer selbst, je nach artikulatorischer Ausgangslage des
Konsonanten beim Schüler, ob und wo Zungenspitzen-r oder Gaumen-r zu
erarbeiten ist.
5. Es muß genau geprüft werden, ob die Vermittlung des stimmhaften anlautenden
"s" und die Aussprache der Endsilbe "-ig" als "-ich" in der beabsichtigten
Sprechebene sinnvoll ist, im Zweifelsfall werden diese "höchstsprachlichen"
Details nicht ins Programm aufgenommen.
21. Agogik und Stimmbildung
Ein wichtiger Bereich des Trainings betrifft natürlich auch die Sinnvermittlung.
Vom journalistischen Anliegen ausgehend ist sie wichtiger als jeder andere Inhalt,
aber am schwersten zu vermitteln, hier plagen wir uns alle sehr, den Leuten die in
der Schule oft falsch anerzogene Lesesprache auszutreiben. Vor allem aber geht es im
Sprechtraining des ORF um die Ausbildung der Sprechstimme!

22. Grundsätzliches zur gut sitzenden Sprechstimme


An dieser Stelle möchte ich wieder einmal mein Generalanliegen zur Sprache
bringen, das sich mir im Umgang mit jungen Leuten bei unseren Mikrofontests und
anderen Aufnahmeverfahren immer wieder aufdrängt. Es stimmt natürlich, daß
Menschen, die Hochsprache beherrschen, anderen gegenüber einen gewissen
Startvorteil haben, natürlich erst recht, wenn sie in einem elektronischen Medium
arbeiten wollen, wo sie auch selbst sprechen müssen. Ich appelliere auch immer an
angehende Journalisten, ihre Sprechausbildung bereits parallel zum Studium zu
machen, später, schon im Job, ist alles um so viel schwieriger. Sehr oft aber ist das
Beherrschen der hochsprachlichen Lautung noch keine Garantie für ausreichende
Medienpräsenz, die größte Hürde für die Arbeit am Mikrofon ist in den meisten
Fällen die Stimmgebung. Abgesehen von der stimmfeindlichen phonetischen
Ausgangslage mancher Basisdialekte muß dieser Bereich schon sehr früh über die
Familie entwickelt werden, und was hier alles im argen liegt, läßt sich nur über die
österreichische Seele und viele damit verbundenen problematischen
Erziehungsmuster erklären. Faktum ist, daß meistens junge Frauen, aber auch viele
Männer überhaupt keine verbale Präsenz entwickeln können. Wenn sie zu uns

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-281-

kommen, ist es für diesen Bereich dann auch meistens schon zu spät, mit normalen
stimmbildnerischen Mitteln ist hier nichts mehr auszurichten. Das mündige
Familienmitglied oder wenigstens der mündige Schüler, der seine Meinung mit gut
sitzender, frei klingender Stimme vertreten lernt, wäre ein großes Anliegen von
meiner Seite; und wenn man das eher über Dialektsprache im Unterricht erreicht,
soll es mir recht sein. Stimmlich präsente Menschen können ein eventuelles Manko in
der hochsprachlichen Lautbildung später viel besser ausgleichen, viel leichter
artikulatorisch dazulernen, weil sie über guten Stimmsitz ausreichend
Sprechspannung entwickelt haben. Was nun Hochsprache, Umgangssprache oder
Dialekt als Unterrichtssprache betrifft, so habe ich nie verstanden, warum man nicht
auch im Unterricht zwischen Sprechebenen switchen lernen kann, ohne daß deshalb
die ”Hochsprache” künstlich oder elitär werden muß und die heimatlich gefärbte
Sprache zur häßlichen und falschen abgewertet. Statt der oft angefeindeten
Aufforderung: "jetzt sprich schön" sollte es also vielleicht besser heißen: "jetzt sprich
anders".
In diesem nicht wertenden sondern funktionalen Zusammenhang sehe ich das
österreichische Deutsch: auch variantenreich innerhalb der Sendungen des ORF.

Eva Wächter-Kollpacher:
Die Sprechausbildung im ORF.
In: R.Muhr, R.Schrodt,, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 282-286

Otto Back

(Wien)

Überlegungen zu einer österreichischen


Standardlautung
des Deutschen

1. Einleitung
1.1 Die Kodifikation der deutschen Aussprache1 beruht zu einem bedeutenden
Teil auf Festlegungen, die den oberdeutschen Raum und damit auch Österreich nur
unzureichend berücksichtigt haben. Daraus ergibt sich ein Zustand, wo
Ausspracheweisen, die in Österreich aufgrund langer Tradition einem hohen
Stilniveau zugerechnet werden, nach Maßstäben der gegenwärtig allein
systematisierten deutschen Aussprachenormen lediglich als "gemäßigte Hochlautung"
oder "Umgangslautung" gelten. Aber eine solche Situation entspricht nicht dem
plurizentrischen2 Charakter der "mehrstaatigen" Sprache Deutsch und führt zu dem
Gedanken,3 daß längst bestehende österreichische Merkmale einer kultivierten
Aussprache der gemeinsamen deutschen Schriftsprache auch in einer formell
anerkannten österreichischen Lautungskodifikation zum Ausdruck gelangen sollten.4
1.2 Falls es dazu kommt, hätte man es zum Teil bloß mit der Sanktionierung von
schon Bestehendem zu tun, zum Teil aber auch mit Akten von Sprachplanung,
insofern als ein Normengefüge zu schaffen wäre, das hinsichtlich der Auswahl und
der Kombination seiner Bestandteile etwas Neues darstellte. Aller
Kodifikationstätigkeit hätten Erhebungen des Gebrauches und seiner
gesellschaftlichen Einschätzung vorauszugehen; auch wo die Daten schon bekannt
sind, bedürften sie der Bestätigung und der Präzisierung.
1.3 Der sprachplanerische Vorgang der Aussprache- oder Orthoepie-
Kodifikation steht in Wechselbeziehung zu dem der Schreibungs- oder
Orthographie-Normung: Hat diese sich, nebst anderem, nach Lautungsgegebenheiten

1
Siebs (1969); GWDA (1982); Duden Ausspr.-Wtb. (1990). Geschichtliches: Ursula Stötzer in Agricola
u. a. (Hrsg.) (1970), S. 825- 833.
2
Clyne (1990).
3
Moser (1989a).
4
Kritik an Siebs (1969): Reiffenstein (1982), S. 11-12; (1983), S. 21. – Übrigens verzeichnet unter den
in Anm. 1 genannten Wörterbüchern Siebs (1969) am häufigsten auch die österreichischen
Aussprachevarianten.
-283-

zu richten, so bildet beim Gestalten orthoepischer Normen eine vorgegebene


Orthographie das Bezugssystem.

2. Leseaussprache
Auszugehen wäre von den einzelnen regionalen Leseaussprachen als den
Ergebnissen des Verlautlichens (Phonisierens) schriftsprachlicher Wortgestalten.5 Die
theoretische Stellung von "Leseaussprache" gegenüber "Dialekt" und
"Umgangssprache" einerseits, "Standardlautung" andrerseits läßt sich wie folgt
kennzeichnen: Einiges aus dem Lautstand der Basisdialekte6 findet sich gefiltert im
Lautstand der Verkehrsdialekte; dieser wiederum ist teilweise in den Lautstand der
Umgangssprachen eingegangen. Und die umgangssprachliche Lautung, angewendet
auf Formen der geschriebenen Standardsprache, bildet eine wesentliche Komponente
der Leseaussprachen. Demzufolge sind österreichische Leseaussprachen den
einzelnen Verkehrsräumen7 Österreichs zugeordnet. Dabei kann das
donauösterreichische Areal als eine Einheit gesehen werden: Oberösterreich,
Niederösterreich, Wien und das nördliche Burgenland. Besondere Eigenständigkeit
kennzeichnet Vorarlberg, Tirol und Kärnten. Eine aus österreichischen
Leseaussprachen integrierte Standardlautung Österreichs wäre ein Gegenstück zu der
Standardlautung mittel- und norddeutscher Prägung, wie sie den bisher vorliegenden
Aussprachewörterbüchern des Deutschen (s. Anm. 1) zu entnehmen ist.
8
3. Österreichische Aussprachebesonderheiten
Unterschiede zwischen österreichischen Leseaussprachen einerseits und der
Aussprache mittel- und norddeutsch bestimmter Kodifikation andrerseits rühren von
mehreren Ursachen her: regionale Lautverhältnisse; Schultraditionen; Ambiguität
mancher orthographischer Strukturen hinsichtlich der ihnen zuzuordnenden
Lautung. Im folgenden einige sich daraus ergebende typische Erscheinungen als
Beispiele (wobei "D" = Standardlautung nach Duden Ausspr.-Wtb., s. Anm. 1 ; "Ö" =
in österreichischen Leseaussprachen vorherrschend) :
3.1 Einige Unterschiede in Laut-Inventar und/oder -
Distribution:

5
Wiesinger (1985), S. 1940: "Lesesprache als Ablesung schriftsprachlicher Texte". – Schmeller
(1821), S. 21: "Die Aussprache der Gebildeten ist gewöhnlich ganz passiv nach dem Buchstaben der
einmal zum Gesetz gewordenen Orthographie gemodelt, doch so, daß fast überall die Hauptfarben
des Provincial-Dialekts durchscheinen." "(...) von der provinciellen Art und Weise, das
Schriftdeutsche zu lesen (...)".
6
Wiesinger (1988), S. 18-22.
7
Wiesinger (1985), S. 1941-1942.
8
"Österreichisches Beiblatt zu Siebs", entstanden unter der Redaktion von Felix Trojan vermutlich
zwischen 1953 und 1957 (Siebs [1969], S. 15; Lipold [1988], S. 54), nennt zahlreiche österreichische
Aussprache-Spezifika, auch von standardsprachlichem Rang, aber bezeichnet sie als "auch
zulässig" neben den Siebsschen Aussprachevarianten.

Otto Back: Überlegungen zu einer österreichischen


Standardlautung des Deutschen.
-284-

3.1.1 Kurzes i, ü, u in geschlossener Silbe, z.B. mich, fünf, muß: D - offen


(ungespannt); Ö - geschlossener (gespannter).9
3.1.2 Auslautendes unbetontes o, z.B. also, Auto: D - geschlossen; Ö - halboffen
bis offen.
3.1.3 e in den Präfixen be-, ge-: D - Schwa-Vokal; Ö - kurzer e-Vokal, eher
geschlossen, bisweilen leicht zentralisiert. - e in nachtonigen Silben, z.B. heute,
Ebene, kommen (soweit nicht mit Null-Aussprache, z.B. sitzen): D - Schwa-Vokal; Ö -
kurzer e-Vokal, eher offen, bisweilen leicht zentralisiert.10
3.1.4 b, d, g, s im Anlaut und zwischenvokalisch, z.B. bleibe, Lade, Glogau,
sosehr: D - stimmhafte, Ö - stimmlose Leniskonsonanten.11
3.1.5 b, d, g, s im Inlaut vor l: D - Unterscheidung, ob (1) im selben Morphem,
z.B. Handlung, Regler, (mit Morphemfusion:) Vöglein, oder (2) vor Morphemgrenze
zu einem mit l anlautenden Suffix, z.B. Liebling, freundlich, möglich, Weglein,
löslich; im Fall (1) - stimmhaft, im Fall (2) - schwach behauchtes p, t, k, stimmloses s.
Ö - keine solche Unterscheidung, in beiden Fällen stimmlose Lenis-Konsonanten.12
3.1.6 Nur erwähnt seien einige weitere hierher gehörende Themen:
Vortonvokale (Politik, Pollution); Vokalnasalierung13 (rein gegenüber Reih'n);
Aussprache von ng (eng, langsam, Ungarn, ungern, englisch, Anglistik) und chs
(Fuchs, Buchstabe, höchstens, nächste); apiko-alveolares und apiko-palatales l-
Allophon ("il-Laut" und "al-Laut", z.B. Wille, Wolle)14.
3.2 Fälle von Schriftbildaussprache (spelling pronunciation)15 in "Ö":
Diminutivsuffix -chen: D - Schwa-Vokal; Ö - kurzes offenes e. Ähnlich: adjektivische
Dat.-Sg.-Endung -em, Partizip-Präsens-Suffix -end, -ende-.
3.3 Wortausgang -ig, z.B. ewig, König: D - mit ich-Laut; Ö - mit [k] (was auch
in Deutschland verbreitet ist). Umgekehrt in österreichischen dialektnahen
Umgangssprachen auch mit ich-Laut.16
3.4 Vokalquantität: Vokal vor rd, rt, st im selben Morphem, z.B. Erde, werden,
Art, Bart, Husten: In "D" mehr Wörter mit Vokallänge als in "Ö".
3.5 Akzentstelle: Betonungsunterschiede zwischen ”D” und "Ö" häufiger bei
Fremdwörtern als im heimischen Wortschatz, z.B. Mathematik, Kaffee; Abteilung.17

9
Luick (1932), S. 19, 73.
10
Bürkle (1993a), S. 16 -17; (1993b), S. 2, 4; (1995).
11
Luick (1932), S. 84 - 91; Moser (1989b), S. 24-26.
12
Luick (1932), S. VII , 68-69, 90.
13
Luick (1932), S. 19-20, 71-72.
14
Luick (1932), S. 22, 78-79 ("helles" und "dunkles" l).
15
Man verwechsle nicht "Leseaussprache", die sich auf eine gesamte Sprache oder Sprachvarietät
bezieht (s. Abschnitt 2), und "Schriftbildaussprache" eines einzelnen Lexems. Begreiflicherweise
enthält Leseaussprache meist auch Fälle von Schriftbildaussprache.
16
Luick (1932), S. 92.
17
Lipold (1988), S. 47-49.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-285-

4. Auswahlkriterien
Soll eine österreichische Aussprachekodifizierung von teilweise divergenten
Leseaussprachen österreichischer Landschaften (vgl. Abschnitt 2) ausgehen, so sind
Kriterien nötig, die bei der Selektion zwischen konkurrierenden Systemteilen
orientieren können.
4.1. Zu diesen Kriterien sollten zählen: Verbreitung des betreffenden
Aussprachemerkmals nach Sprecherzahl und nach räumlicher Streuung;
gesellschaftliche Akzeptanz; auditive Deutlichkeit; Leichterwerbbarkeit im Sinne von
Ableitbarkeit aus dem vorgegebenen orthographischen Schriftbild; Übereinstimmung
mit erkennbaren Entwicklungstendenzen; nicht zuletzt: Wahrung des
Zusammenhaltes mit Aussprachekodifikationen des übrigen deutschen
Sprachraumes. All dies setzt umfangreiche Forschungsarbeit zur Faktenerhebung
voraus. Und da solche Kriterien bei der Anwendung unvermeidlicherweise
miteinander in Konflikt geraten, werden dafür Präzedenzregeln vorzusehen sein.
4.2. So könnten vorbereitende Untersuchungen möglicherweise ergeben, daß
zwar alle betonten Kurzvokale (außer a) in österreichischen Leseaussprachen relativ
geringen Öffnungsgrad haben, daß dieser jedoch bei e, ö, o als nicht so akzeptabel
bewertet wird wie bei i, ü, u.
Diphthongenverflachung oder gar Monophthongierung wird trotz vielleicht
starken Sprecherrückhaltes aufgrund mehrerer anderer Kriterien ausgeschlossen
bleiben. Auf die Behauchung von p, t wird man wahrscheinlich nicht verzichten
wollen, ungeachtet des raumfremden Ursprunges der aspirierten Aussprache.
Stimmhafte Aussprache von b, d, g, s kann zwar kaum allgemein gefordert, aber auch
nicht generell ausgeschlossen werden. Die Unterscheidung eines "dunklen" (hinteren)
und eines "hellen" (vorderen) a-Phonems (z.B. Name, Dame), entsprechend einer
analogen Opposition in den bayrisch-österreichischen Dialekten, läßt sich trotz ihres
vermutlich starken Identifikationseffekts wohl nicht übernehmen: Sie ist auf ihrem
Areal im Rückzug begriffen und ohne Dialektkenntnis schwer erlernbar, weil in der
Orthographie nicht abgebildet.18 Den in Abschnitt 3 genannten Falltypen
österreichischer Abweichung von den Siebs/Duden/GWDA-Normen könnte die
Rezeption in eine österreichische Lautungskodifikation sicher sein.

5. Andere Themenbereiche von Lautungskodifikation


Die Wortformen des Deutschen lassen sich nach ihren graphisch-phonischen
Problemen in ein Schema aus vier Feldern einordnen; die bisher erörterten Fragen
betreffen nur eines davon. Für das Schema sind die Merkmale "sprachliche Herkunft"
und "Regelhaftigkeit des Verhältnisses Schreibung/Lautung" bestimmend. Es ergeben
sich folgende Felder:

18
Luick (1932), S. 73-74; Reiffenstein (1968), S. 692-693; Moser (1989a), S. 23.

Otto Back: Überlegungen zu einer österreichischen


Standardlautung des Deutschen.
-286-

A. Der hier vorrangig behandelte Normalfall: Wörter heimischer Herkunft und


mit weitgehend generell geregelter Umsetzung von Schreibung in Lautung.
B. Heimische Herkunft und eher wortspezifische Schreibungs-Lautungs-Regeln:
Hierher zählen Personen- und geographische Namen19 mit wenig bekannten
Graphem-Phonem-Entsprechungen, wie z.B. Seggau /-k-/, Vitis /f-/, Mieming
/-iK-/, Pyhrn /-i-/, Bülow /-o/, Duisburg /-y:/. Hier besteht einiger Informations-
und Korrekturbedarf.
C. Fremde Herkunft und relativ verläßliche Vorhersagbarkeit der Aussprache
aus der Schreibung kennzeichnen die aus dem Lateinischen und dem Altgriechischen
stammenden Wörter und Wortbildungselemente. Unterschiedliche Schultraditionen
haben in manchen Wörtern zu verschiedenen Lautwertzuordnungen für ch im
Anlaut vor Vokal geführt, z.B. Chirurg: D - ich-Laut, Ö - /k-/; für ei: D - /ai/, Ö -
/ei/. Diskutabel ist die Reichweite der ü-Aussprache von y.
D. Fremde Herkunft und geringe Vorhersagbarkeit der Aussprache aus der
Schreibung: Dies gilt für einen großen Teil der praktisch unbegrenzten Menge von
Wörtern und Namen aus lebenden Fremdsprachen. Probleme betreffen hier vielfach
die Entscheidung über das Maß an Originaltreue einerseits und lautlicher Anpassung
ans Deutsche andrerseits.20
Die unter B, C und D genannten, zum Teil nicht Österreich-spezifischen
Problembereiche sollten ebenfalls Inhalt einer Aussprachekodifikation sein.

6. Ausblick
Mit welchen Schwierigkeiten, neben denjenigen der Arbeit selbst, ist zu
rechnen? Geringes Interesse in der Öffentlichkeit: Mit Rechtschreibung haben viele
sich herumzuschlagen, Orthoepie bereitet wenig Kopfzerbrechen. Aussprache ist eine
Form der persönlichen Stilisierung, sie ist schwer bewußt zu machen und meist nur
indirekt zu beeinflussen. Feine Aussprachenuancen sind schriftlich nicht
vermittelbar.
Der Weg ist umlagert von Mißverstehern, Mißdeutern und Hanswursten. Wer
nicht weiß, was es mit der gegenwärtigen Lautungskodifikation auf sich hat, mag sich
bei der Nachricht von ihrer österreichischen Neugestaltung bestenfalls nichts, eher
aber alles mögliche Unsinnige oder Spassige vorstellen.
Gestörtes Verhältnis zur Schrift: So wie viele Laien ihre Aussprache für ein
getreues Abbild der Orthographie halten, so meinen – auf höherer Ebene – nicht
wenige Lautschriftkundige aus den IPA-Notierungen die Lautverhältnisse der eigenen
Sprachvarietät herauszuhören. Gestörtes Verhältnis zu Standardisierung in
sprachlichen Dingen: ein weit verbreitetes linguistisches Leiden.

19
Hornung (1988).
20
Duden-Ausspr.-Wtb. (1990), S. 97; Back (1977).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-287-

Aber das wirklich Ernste: Ist es nicht etwa schon zu spät? Betritt Österreich
nicht bereits den Weg Süddeutschlands, wo das Fortleben der Dialekte nicht hindert,
daß in die Ränge von Standardsprache, ja von Umgangssprache raumfremde,
norddeutsch geprägte Varietäten einrücken? Lohnt es noch den Rettungsversuch für
das österreichische Deutsch? Die Antworten werden verschieden ausfallen: je nach
Wissen um den Stand der Dinge – aber auch je nach Bewertung von Sprache (und sei
es nur mit ihrer phonetischen Oberflächenstruktur) als Mittel staatsnationaler
Identitätsstiftung.

Literatur:
Agricola, Erhard (Hrsg.) (l970): Die deutsche Sprache. 2 Bde. Leipzig (Bibliograph.
Inst.).
Back, Otto (l977): Zur Frage der Aussprache fremder Namen. In: Österreichische
Namenforschung, 5, H. 1, S. 3 - 14.
Bürkle, Michael (l993a): Sprechen Sie Österreichisch? In: ÖDaF Mitteilungen
(Informationen d. Vereins "Österr. Lehrerverband Deutsch als Fremdsprache), H.
1 /1993.
Bürkle, Michael (l993b): (Ein) Deutsch lernen? Vortragsmanuskript X. Internationale
Deutschlehrer-Tagung Leipzig l993.
Bürkle, Michael (l995): Deutsche Standardaussprache in Österreich im Bereich der
Nebentonsilben. (= Schriften zur deutschen Sprache in Österreich, l7.) Frankfurt
(Peter Lang).
Clyne, Michael (l990): Die österreichische Nationalvarietät im [sich] wandelnden
internationalen Kontext. In: GRADaF (Grazer Arbeiten zu Deutsch als
Fremdsprache und Deutsch in Österreich), 1/199O, S. 4 - 8.
Duden Ausspr.-Wtb. (1990): Duden Aussprachewörterhuch. Wörterbuch der
deutschen Standardaussprache. Bearbeiter: Max Mangold. 3. Aufl. Mannheim
(Duden).
GWDA (l982): Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache. Hrsg. Ursula Stötzer,
Eva-Maria Krech u. a. Leipzig(VEB Bibliogr. Inst.).
Hornung, Maria (l988): Die richtige Aussprache von Namen in Österreich. In:
Wiesinger, Peter (Hrsg.), S. 55 - 7O.
Lipold, Günter (l988): Die österreichische Variante der deutschen
Standardaussprache. In: Wiesinger, Peter (Hrsg.), S. 31 - 54.
Luick, Karl (l932): Deutsche Lautlehre mit besonderer Berücksichtigung der
Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer. Wien (Deuticke). (1.
Auflage: l904.)
Moser, Hans (l989a): Österreichische Aussprachenormen – Eine Gefahr für die
sprachliche Einheit des Deutschen? In: Jahrbuch für internationale Germanistik,
21, H. 1, S. 8 - 25.
Moser Hans (l989b): Deutsche Standardsprache – Anspruch und Wirklichkeit. In: IX.
Internationale Deutschlehrertagung Wien l989, Tagungsbericht, S. 17 - 3O.
Reiffenstein, Ingo (1968): Zur phonetischen Struktur der Umgangssprache. In:
Verhandlungen des Zweiten Internationalen Dialektologenkongresses
Marburg/Lahn 1965 (Hrsg. L. E. Schmitt). Wiesbaden (Steiner). (= Zeitschrift
für Mundartforschung, Beih. 4.) Bd. II, S. 687 - 698.

Otto Back: Überlegungen zu einer österreichischen


Standardlautung des Deutschen.
-288-

Reiffenstein, Ingo (l982): Hochsprachliche Norm und regionale Varianten der


Hochsprache: Deutsch in Österreich. In: Moser, Hans (Hrsg.): Zur Situation des
Deutschen in Südtirol. Sprachwissenschaftliche Beiträge zu den Fragen von
Sprachnorm und Sprachkontakt. Innsbruck (AMOe). (= Innsbrucker Beiträge
zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, 113.) S. 9 - 18.
Reiffenstein, Ingo (l983): Deutsch in Österreich. In: Ders., Heinz Rupp, Peter v.
Polenz, Gustav Korlen: Tendenzen, Formen und Strukturen der deutschen
Standardsprache nach l945. Marburg/Lahn(Elwert). (= Marburger Studien zur
Germanistik, 3.) S. 15 - 27.
Schmeller, Joh. Andreas (l82l): Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt.
München (Thienemann). Neudruck: München (Hueber) l929.
Siebs (l969): Siebs. Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit
Aussprachewörterbuch. Hrsg. Helmut de Boor, Hugo Moser, Christian Winkler.
19. Auflage. Berlin (de Gruyter).
Wiesinger, Peter (l985): Die Entwicklung des Verhältnisses von Mundart und
Standardsprache in Österreich. In: Bruno Besch, Oskar Reichmann, Stefan
Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte, 2. Halbband. Berlin (de Gruyter). (= HSK
2.2.) S. 1939 - 1949.
Wiesinger, Peter (l988): In: Wiesinger, Peter (Hrsg.) (l988), S. 9 - 30.
Wiesinger, Peter (Hrsg.) (l988): Das österreichische Deutsch. Wien, Köln, Graz
(Böhlau). (= Schriften zur deutschen Sprache in Österreich, 12.)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S.289-305

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber

(Bozen)

Die deutsche Standardsprache in Südtirol

Sprachforschung wird in Südtirol, wo es keine eigenen universitären Strukturen


gibt, in erster Linie mit didaktischen Zielsetzungen verbunden und vorwiegend unter
dem Aspekt der Erforschung des Sprachgebrauchs vorangetrieben. Dies gilt auch für
die folgenden Ausführungen:
Wir legen das Thema breiter an, als es das Sektionsthema erwarten läßt und
versuchen die Standardsprache in Südtirol auf dem Hintergrund von
soziolinguistischen und didaktischen Fragestellungen und auch mit Blick auf die
gegebene Mehrsprachigkeit zu beschreiben. Daß es sich dabei nur um "Fenster"
handeln kann, die geöffnet werden, mögen die Leser und Leserinnen beherzigen.
Franz Lanthaler geht in Teil 1 auf die Sprachsituation ein, er führt von einer
kritischen Sichtung der Forschungsrezeption der letzten zwanzig Jahre ausgehend
hin zu sich abzeichnenden Tendenzen im Bereich des Wortschatzes und der
Aussprache. Annemarie Saxalber schwenkt in Teil 2 den Blick deutlich auf die Schule,
um deren Verständnis von Standardsprache und Sprachkompetenz zu beleuchten.

1. Italienisches Deutsch in Südtirol?


Die Arbeit von G. Riedmann (Riedmann 1972) hat die Diskussion um die
deutsche Sprache in Südtirol ausgelöst und sie lange Zeit bestimmt. Kramer (Kramer
1981) u. Tyroller zitieren ihn einfach oder übernehmen seine Hypothesen, die
öffentliche Diskussion in Südtirol ist zwei Jahrzehnte lang auf dieser Schiene
abgelaufen. Riedmanns Hauptthesen:
• Südtiroler tun sich schwer mit der Hochsprache;
• Die Südtiroler Umgangssprache könne keinen Ausgleich bilden, weil sie "nicht
zeitnahe" sei;
• Das Italienische sei der bestimmende Faktor: eine sehr große Anzahl von
Interferenzen im Lexikon, aber auch in Phonologie, Schreibung, Syntax, im
rhetorischen Bereich.
Wenn man Riedmann liest, könnte man sich im ersten Moment fragen: Wer
kann nördlich des Brenners so ein Kauderwelsch überhaupt noch verstehen? Unsere
Frage wird jedoch lauten: Wie konnte es zu dieser Einschätzung kommen?
-290-

Unserer Meinung nach sind es zum einen wohl die Quellen; zum andern die
damalige Art, Kontaktphänomene zu beschreiben, und erst drittens die tatsächlichen
Gegebenheiten.
• Die Quellen: Stark von "echter" Zweisprachigkeit geprägte Bozner Kreise, eine
sprachlich nicht besonders gebildete Beamtenschicht der ersten
Nachkriegsgeneration; amtliche Quellen, deren Primärtexte wohl fast sämtlich
italienisch verfaßt waren.
• Der Stand der Wissenschaft: Man beschreibt damals Kontaktphänomene als
Beeinträchtigungen des Systems – ohne auf die Dynamik des Geschehens näher
einzugehen und pragmatische Aspekte näher zu durchleuchten. Wenn ich nicht
auch sage, wer, wann, mit wem eine solche (kontaminierte) Sprache spricht, wie
häufig die Phänomene auftreten und welchen kommunikativen Charakter sie
haben, ist es schwer, ihre Bedeutung einzuschätzen. Das gilt herauf bis zu K.
Pernstichs – übrigens sehr ausgewogener – Darstellung der italienischen
Interferenzen in den deutschen Medien Südtirols (Pernstich, 1985). Sehr viele
ihrer Beispiele kann man als Zitate oder als Bezeichnungen für Institutionen und
Dinge klassifizieren, für die es keine deutschen Entsprechungen gibt. Das Zitat
aber hat eine ganz andere Ursache und Wirkung als die unbewußte Verwendung
von anderssprachigen Elementen. Man hat damals nach Interferenzen gesucht:
das, was mit dem übrigen deutschen Sprachraum übereinstimmte, also das
Nichtmarkierte, hat man nicht notiert. Diese Defizitorientierung hat die Arbeit
erleichtert, hat aber oft zu einem falschen Bild geführt.
• Die Situation damals: es gab damals noch größere Unsicherheit im Gebrauch der
Hochsprache in Südtirol, es gab noch kein gut funktionierendes Übersetzungsamt
bei der Südtiroler Landesregierung, es gab viele Beamte, die keine deutsche Schule
besucht hatten, die deutsche Oberschule war gerade im Aufbau begriffen, die
Kontakte zum übrigen deutschen Sprachraum waren damals viel spärlicher als
heute, die Medienlandschaft war eine völlig andere, alle Auswirkungen von Krieg
und Faschismus waren noch stärker zu spüren.
J. Kramer findet in Südtirol eine Hochsprache bundesrepublikanischer Prägung,
eine hochsprachliche Variante österreichischer Prägung, eine Südtiroler Koiné neben
den Ortsdialekten vor. Er bringt für den Wortschatz relativ wenige bundesdeutsche
Belege, für die Phonologie kaum welche, andere Bereiche sind überhaupt nicht
belegt. (Es gibt sie, z. B. hinauf, rauf, runter, rein, mal etc.; doof, Knilch und ähnliche,
die er nennt, sie können allerdings Zitate sein).
Mit dem Satz: ”Die Hochsprache österreichischer Prägung ist als die
traditionelle Normsprache Südtirols zu betrachten.”, haben wir eine gewisse Mühe.
Schriftlich und mündlich? Diese Tradition ist wohl durch den Faschismus und den
Krieg unterbrochen worden, aber dazu später. Im Gefolge Riedmanns behauptet
Kramer, die Hochsprache österreichischer Prägung in Südtirol sei antiquiert. Dafür
bringt er keine Belege. Wie überhaupt die Behauptung Riedmanns, die Südtiroler

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-291-

Umgangssprache sei "nicht zeitnahe", nicht leicht zu belegen sein dürfte. Wann ist
eine Sprache zeitnahe?
Die Südtiroler Koiné sei eine regionale Umgangssprache bairisch-
österreichischen Typs, durch Trennung habe sie eigenständige Züge herausgebildet.?
Unseres Erachtens ist derzeit eine dialektale Koiné im Entstehen. Die Zunahme
bundesdeutscher Züge ist wohl nicht in dem von Kramer gewünschten und
prognostizierten Ausmaß eingetreten, wenn sie auch feststellbar ist.
Wenn jemand die Behauptung aufstellt, das Normitalienische komme dem
Südtiroler mehr entgegen als das Hochdeutsche; die Phonologie des Italienischen
bereite den Südtirolern weniger Schwierigkeiten als die des Standarddeutschen, der
hat nie Südtiroler Kinder aus entlegenen Tälern Italienisch sprechen hören. Vollends
widersprüchlich ist der Satz: ”So kommt es, daß viele Südtiroler sich grammatisch in
der italienischen Hochsprache viel sicherer fühlen als im Hochdeutsch, wo sie
wortschatzmäßig sich viel leichter ausdrücken können.” Die Logik hinter diesen
Feststellungen wäre nämlich: die Südtiroler tun sich mit deutscher Phonologie und
Grammatik besonders schwer, haben aber einen recht gut ausgebauten deutschen
Wortschatz – deswegen bauen sie viele italienische Wörter in ihre Rede ein!
Der Einfluß des Italienischen habe das Südtiroler Deutsch der deutschen
Normsprache im Fall des stimmhaften s genähert. Wir stellen dieses Phonem nur bei
”echten” Zweisprachigen und in Deutschland trainierten RAI-Journalisten - auch bei
manchen Geistlichen vielleicht noch - fest.
In der Syntax seien die "italienischen Einflüsse ungewöhnlich hoch", und zwar
um so höher, je hochsprachlicher die Sprachebene, besonders ausgesetzt sei die
Amtssprache. (Im wesentlichen handle es sich um Unsicherheiten im
Präpositionengebrauch, Schwierigkeiten bei der Wortstellung, falschen
Kasusgebrauch, überlanges Periodisieren, die Du-Anrede in der Werbung.)
Der stärkste Einfluß gehe auf den Wortschatz aus. Jedoch gebe es nur wenige
Luxuslehnwörter; als Beispiele nennt er operatore, calcolatore, programmatore,
entrata, uscita. Ich kenne viele andere lexikalische Interferenzen, diese jedoch habe
ich alle noch nie in deutschsüdtiroler Mund gehört oder irgendwo geschrieben
gefunden. Wenn schon, dann setzt man auch bei uns wie im übrigen deutschen
Sprachraum die englischen Bezeichnungen ein.
Viele Thesen Riedmanns, die von anderen übernommen werden, waren damals
übertrieben und sind heute nicht mehr haltbar. Einerseits steht dahinter ein elitäres
Sprachbewußtsein, andererseits hat es seit den späten 70er Jahren große
Veränderungen gegeben. Von einem Polyzentrismus der deutschen Sprache war
damals noch keine Rede. Als hochsprachlich wurde nur die Siebs-Aussprache
anerkannt, deshalb die Bemerkung Kramers zum stimmhaften s. Das mühsame
Erlernen der Hochsprache durch Südtiroler wird immer wieder betont. Wir wissen
inzwischen, daß dies bei uns nicht viel anders ist als anderswo. Im deutschsprachigen
Ausland herrscht oft heute noch die Meinung vor, daß die deutsche Sprache in

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-292-

Südtirol auf allen Ebenen mehr oder weniger stark mit Italianismen durchsetzt sei.
Vor einigen Tagen hat mich eine Studentin angerufen, die an der Uni Innsbruck eine
Diplomarbeit über den Einfluß des Italienischen auf den Südtiroler Dialekt schreiben
soll, und hat mir berichtet, daß man am Institut für Linguistik der Auffassung sei, da
müsse es doch ”zahllose Beispiele” geben.
Häufig werden Auffälligkeiten in Kontaktsituationen vorschnell dem Kontakt
zugeschrieben. So etwa auch Phänomene, die wir eindeutig als lernersprachlich
bedingt (z.B. als Übergeneralisierungen) bezeichnen können, wie etwa die
"schwache" Flexion "starker" Verben (Riedmann 1972). Daß sich sehr vieles geändert
hat seit den 70er Jahren, zeigt eine kleine Probe, die ich vor einigen Monaten mit den
bei Moser/Putzer (Moser/Putzer1980) aufgezählten italienischen Interferenzen in
der deutschen Sprache der Städte angestellt habe. In meinem näheren Bekanntenkreis
- alles in der Stadt lebende Südtiroler (Lehrerkollegen, Schüler, Studenten etc.) - habe
ich nur einen ganz geringen Teil davon registrieren können, meistens die
Speisenbezeichnungen.
Die aus dem Italienischen stammenden Wörter, die sich in der Schriftsprache
durchgesetzt haben, sind vergleichsweise gering an der Zahl, aber es gibt sie
natürlich: Zone (= Fläche, Gebiet), Patronat (gewerkschaftl. Sozialfürsorge),
konventioniert mit (durch eine Vereinbarung verbunden?), Fraktion (Ortsteil),
Inspektorat (z.B. Arbeitsinspektorat) für Aufsichtsbehörde; ferner eine Reihe von
Lehnbildungen, wie Wettbewerb (Bewerbung um eine öffentliche Stelle mit
Punkteranglisten), Dringlichkeitsbesetzung, Dringlichkeitsbeschluß (aber im Duden:
Dringlichkeitsanfrage, -antrag). Früher wurden oft auch Wörter als Interferenzen
angesehen, die heute nicht mehr auf Südtirol beschränkt sind: Kollaudierung (im
Duden als österr., schweiz. registriert), Präfektur (inzwischen auch vom Duden
unmarkiert registriert). Melanzani wird häufig zu den aus dem Italienischen
übernommenen Speisenbezeichnungen gezählt; ein Blick ins ÖWB oder in das
Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten zeigt, daß die Übernahme nicht in
Südtirol stattgefunden hat. Der Nationalfeiertag ist inzwischen auch bei uns eher ein
Staatsfeiertag geworden, der Funktionär zum Beamten. Ab und zu taucht noch der
Hydrauliker auf; er ist inzwischen aber auch (zumindest redaktionsintern) zum
Wasserinstallateur avanciert.
Ein kurzes Fazit: Es gab zunächst ein massives Eindringen von Italianismen in
die Umgangssprache und vor allem in die amtliche Hochsprache in Südtirol. Dann
gab es ein Aufbäumen, eine Sensibilisierung (hier noch so ein Begriff) fand statt.
Heute noch anfällig sind gewisse Bereiche der Amtssprache (vor allem in Bereichen,
für die der Staat weiterhin zuständig ist), die Jugendsprache (als altersbedingte
Phasen, vor allem in Städten), stark zweisprachig geprägte Kreise (aber auch hier
handelt es sich heute viel öfter um Zitate als um unbewußte Verwendung),
Benennung von Dingen, die es im deutschen Sprachraum nicht oder so nicht gibt.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-293-

2. Österreichisches Deutsch in Südtirol?


Die bei Riedmann und Kramer angeführte Behauptung, der Standard in Südtirol
sei die österreichische Hochsprache, ist so nicht haltbar, hat aber eine Grundlage.
Austriazismen sind in der in Südtirol gebrauchten Standardsprache anzutreffen, sie
sind allerdings nicht sehr häufig. So findet man sicher: Jänner, Erlagschein, Mure,
Moos, Kranewitter, Matura, temperiert, Ordination, inskribieren, die Partei (in der
Wohnung) und ab und zu auch den Parteienverkehr (öfter jedoch schon die
Amtsstunden oder noch eher die Öffnungszeiten); weiters den Kooperator, den
Finanzer, das Schöpserne und die Marille. Während also derzeit obgenannte Wörter
noch massiv aufscheinen, ist der Kondukteur inzwischen schon vom Schaffner
abgelöst worden, die Hetschepetsch ist zur Hagebutte geworden; den Karfiol, weil z.
T. dialektgestützt, gibt es noch. Daneben dringt allerdings auch schon, sogar in den
Dialekt, der Blumenkohl ein. Dann haben wir auch noch den Ansitz, den Polster als
Kissen, die Zugeherin, leider auch die Maut und den Saltner. Letzterer ist im
Aussterben begriffen, weil man ihn nicht mehr braucht. Die Häuserin kommt
praktisch nur noch in engster Verbindung mit dem Widum vor.
Z. T. gibt es aber auch im Gemeinsamen Unterschiede: Während Finanzer in
Österreich einfach der Zöllner ist, gibt es in Südtirol den Finanzer (Finanz-, Steuer-
und Grenzpolizei) und den Zöllner (nichtmilitärischer Zollbeamter).
Während in Österreich wohl generell der Kommissär gilt, ist dieser in Südtirol
vor allem Mitglied einer Prüfungskommission; kriminalistische Untersuchungen
werden dort allerdings vom Kommissar vorgenommen – wie im ZDF.
Für die Hochsprache in Südtirol gilt auch, daß sie sicher weniger
Dialektentlehnungen enthält als die österreichische Hochsprache. Während nördlich
des Brenners "Busserl, Plausch, wurzen" u. ä. gängig sind, sind sie in Südtirol weder
in geschriebenem noch in gesprochenem Hochdeutsch zu erwarten.
Interessant scheint mir die Tatsache zu sein, daß wir im Dialekt und in der
Umgangssprache der Städte die österreichischen Varianten benutzen, sie aber nicht
schreiben. Wir gehen Erdäpfel kaufen und schreiben auf den Einkaufszettel
Kartoffeln, wir kommen ins Spital und schreiben aus dem Krankenhaus, wir haben
Advokaten und lassen die Rechtsanwälte Mahnbriefe schreiben, wir sagen
miteinander und schreiben zusammen, unser Kind hat sich verkühlt, und wir
schreiben ihm eine Entschuldigung wegen Erkältung.
In vielen Fällen haben sich bei uns binnendeutsche oder oberdeutsche Varianten
gegenüber österreichischen Angeboten durchgesetzt: Kaminkehrer, und Tomate.
Letztere ist inzwischen auch im Dialekt heimisch; meine Mutter sagte noch (und wir
in unserer Jugend natürlich auch) Paradeis, und Paradeispaschta, wenn sie mich um
”doppio concentrato di pomodoro” ins Geschäft schickte etc.
Viele österreichische Besonderheiten sind in Südtirol nicht anzutreffen. So sind
die -erl-Diminutiva verpönt (nach Auskunft von Moser auch in Westösterreich, weil

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-294-

als ostösterreichisch markiert). Busserl kann also in Südtirol nicht hochsprachlich


sein, Bussl wird als dialektal empfunden; uns bleibt also nur der Kuß übrig.
Einen Vorteil hat unsere Situation für Rechtschreibunsichere bei
österreichischen Variantenangeboten zur Getrennt- und Zusammenschreibung. Der
Südtiroler braucht nicht nachzudenken, und hat doch immer die richtige gewählt –
außer ein dudenstrenger Deutschlehrer oder Chefredakteur streicht sie ihm an.
Unsere Erklärung für diesen Zustand wäre folgende: Es gibt eine mündliche
Tradition, die als Brücke zu altösterreichischer Umgangs- und Gemeinsprache dient.
Im Schriftlichen jedoch hat es durch den Faschismus, der der deutschen Sprache das
Öffentlichkeitsrecht nahm, einen Bruch gegeben. Nach dem Krieg gab es einen
Neuanfang mit vielen Unsicherheiten. Der Duden gab Sicherheit; aus ihm wurden
immer die unmarkierten Varianten gewählt (in Schule, Ämtern,
Zeitungsredaktionen). Man glaubte, nur die Hochsprache könne die Identität der
Südtiroler erhalten und festigen. Der Dialekt wurde gering geachtet. Man hatte Angst
vor der Verelsässerung (Ausbau- und Abstandsprache). Dem Purismus, der das
Italienische aus der deutschen Sprache austreiben wollte, ist auch alles Regionale und
Dialektale zum Opfer gefallen, und damit auch ein Gutteil der österreichischen
Varianten in der Hochsprache. Der Prozeß dieser Ablösung ist in der folgenden Skizze
dargestellt:

mündlich schriftlich
Binnendt. österr. Deutsch österr. Deutsch Binnendt.

1918–1945

1995
Ein Schuldirektor hat mir einmal stolz erzählt, wie die Lehrer seiner Schule in
einer konzertierten Aktion die Kinder dazu gebracht hätten, statt Paterbichl
"Paterbühel" zu sagen und zu schreiben. Der deutsche Feriengast, die Stille Hilfe, das
Kulturwerk für Südtirol, vor allem aber bundesdeutsche Massenmedien, auch die
Anpassung der Südtiroler Autoren an den größeren Markt, haben das ihre zu dieser
Entwicklung beigetragen. Das hat auch zu einer gewissen Verarmung der in Südtirol
gebrauchten Schriftsprache und des mündlichen Standards geführt. Man hat sich so

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-295-

der Möglichkeit benommen, Lokalkolorit hereinzubringen, mit den Registern zu


spielen, Ironie und Personencharakterisierung durch Sprache zu ermöglichen.

3. Lokalkolorit und neue Töne


Die mündliche Hochsprache in Südtirol ist bei vielen Sprechern geprägt von
einem Lokalkolorit, das zuweilen bei Außenstehenden auch den Eindruck erwecken
mag, als würde hier kein ”richtiges” Deutsch gesprochen. Inzwischen wird allerdings
in anderen deutschsprachigen Regionen ein regionaler Akzent als standardsprachlich
akzeptiert.
Die Südtiroler Besonderheiten sind wenige, aber markante. Durchgehend
stimmloses s, die stimmlose Lenis b im Anlaut, merkliche Entrundung aller Umlaute,
<sch> [ S ] statt s vor p, t, k auch in Fremdwörtern und Entlehnungen, keine
Unterscheidung zwischen ich- und ach-Laut. Die individuelle lautliche Realisierung,
kann in Südtirol eine Spannweite aufweisen wie wohl kaum in einer anderen
deutschsprachigen Region. So kann man etwa bei einem Fernsehsprecher ein <sch>
mit extremer Lippenrundung feststellen, bei einer Radio-, Fernsehsprecherin ein
beinahe ins Rheinland verweisendes spirantisiertes <r>, bei einem Teil der Zunft
durchgehend stimmloses, bei anderen betont stimmhaftes <s> im Silbenanlaut. Bei
Geistlichen sind mir, sowohl in Predigten und Grabreden als auch in verlesenen
Gebeten, häufig aspirierte Plosiva aufgefallen, also der ”thod”, das ”gebeth”, ”vather
unser”, die ”phest”. Ich weiß nicht, ob es da eine entsprechende Schulung gibt. Was
man in Südtirol allenthalben noch antreffen kann, ist die Aussprache des
Reduktionslautes <K> im gedeckten Auslaut als <e>, wohl eine Überkompensation.
Seit einigen Jahren setzt sich in bestimmten Kommunikationssituationen bei
einer zunächst begrenzten Sprecherschicht, die sich jedoch sehr schnell ausweitet,
ein neues Zwischenregister durch, das einerseits an österreichische
umgangssprachliche Traditionen anknüpft, andererseits jedoch bestimmte
Eigenheiten entwickelt, die als südtirolspezifisch bezeichnet werden könnten. Es
handelt sich bei den Trägern dieser Varietät, wenn man sie so nennen kann, um
Personen des öffentlichen Lebens; die Situationen sind öffentliche Auftritte, vor allem
in den Medien.
Da ist einmal ein Hauptmerkmal die Verdumpfung von kurz <a> zu <å>, also:
Er håt, er såggt, ån, åb, gepråcht. Weiters ist da die Entrundung aller Umlaute: also
<ö> zu <e>, <ä> zu <e>, <ü> zu <i>.
Ein weiteres Charakteristikum ist die Realisierung von <s> vor den Plosiva p, t,
k. Hier scheiden sich die Geister. Nur mehr eine Minderheit unter den Beobachteten
spricht dieses Phonem in allen Silbenpositionen als <sch>, also: ”gaschtschpiel”,
”erschtns”, ”isch(t)”, ”Öschterreich”, ”feschtschtelln”.
Es kommt, wenn auch seltener, die morphosyntaktisch bedeutsame
Vertauschung von <m> durch <n> vor, etwa jn. ”in den Glaubm lossn”.

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-296-

Die – auch in Leserzuschriften angeprangerte – Verwirklichung der Endung <-


en> (meist nach Diphthong) als -dn, also ”fraudn, baudn” usw. kommt bei der
beobachteten Personengruppe kaum vor.
Daß der stimmhafte Verschlußlaut <b> im Anlaut eher stimmlos gesprochen
wird, ist ein Phänomen, das nicht nur Südtirol betrifft, sondern auch Teile
Österreichs, also ”gepiet, pubm”. Die österreichische Aussprache von <d> als
stimmlose Lenis wird allerdings von diesen Sprechern nicht mitvollzogen.
Einen Sonderfall bildet die Verdumpfung von langem <â> zu langem offenem
<å>. Dieses Phonem kommt in den ursprünglichen Tiroler Dialekten praktisch nicht
vor, außer vielleicht bei <getåñ> (mit starker Nasalierung) und als Exotikum in
einzelnen, meist isolierten, dialektalen Kleinräumen. Hochdeutsch langem <â>
entspricht in den Südtiroler Dialekten durchwegs geschlossenes langes <o>, also für
”fahren, zahlen, Paar, bar (Geld)” steht dann fôrn, zôln, pôr, pôr. In der hier
beschriebenen Varietät nun werden die langen <â> zu <å> verdumpft, wofür es im
Dialekt keine Grundlage gibt. Genug der Aufzählungen.
An einer Reihe von Beispielen aus dem Fernsehen: Informationssendungen,
Pressekonferenzen, Talk-Shows, die wir letzten Herbst aufgezeichnet haben, sollen
die beschriebenen Phänomene belegt werden:
1. (LP, m): Ich will auch går niemand entschuldign, åber wenn der
Låndeshaupmånn in Europa, in Brissl oubm wår und, um Sitiroul in Europa
oubm mehr Gewicht zu gebm, oder wenn der Låndesråt fir Låntwirtschåft in
Rom untn wår, um un då gipt es ebm Regierunsmigglieder …
2. (OP, m): … isch des leider nicht durchgegången und zur Folge hot des in
Zukunft, daß voraussichtlich … nur mit einer einzigen Lischte kandidiern …
3. (OP, m): In Sitirol wird es dann so sein, daß die Bevölkerung aus allen
Kandidaten auswehln kann, die sich um ein Mandat bewerbm.
4. (LP, m): … denn Heide Schmidt, so sehr ich sie schätze – verstehn Sie mich nicht
fålsch – håt fir Südtirol bis jetzt nichts getån.
5. (ehem. LP, m): Ja natürlich kann ich als Sozialdemokrat nur bedauern, daß die
Genossen in Öschterreich so stark verlorn habm. … ein Trend nach rechts, der
månchmal auch beunruhigende Formen annimmt.
6. (LP, m): Ich glaub, dås wår nicht richtig, und aus dem Grund wird sich die
Låndesregierung dafür einsetzn, daß öffentlicher Rundfunk aufrecht erhåltn
pleibt. … eine eigene Redaktion zu håbm, einen eigenen Chefredakter zu håbm,
und letztn Endes auch eine eigene Struktur zu håbm.
… sondern der Großteil, und zwår der weitaus gröschte Teil, ca. neunzig Prozent
… und das Lånd dürfte nicht ållzuviel pelåschtet werdn.
7. (Sozialwissenschaftler, m): … ebmso die Charaktere, das Wertesischtem, der
Umgång, den die Leute pflegn, … könnte ich keinen Unterschied feschtschtelln.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Im teglichn Lebm isch ebm das Steuersischtem in Nortirol ein anderes, als es in
Sitirolisch.
8. (Gewerkschaftler, m): … ålso, das würde bedeutn: weniger Årbeitsplätze,
weniger Gelt und weniger Chonsn fir die Jugnt, weniger Gelt fir den Pereich
Gesundheit. Wir kennen uns diese Måßnåmen nicht piatn låssn, und deshålb …
(LP = Landespolitiker, OP = Lokalpolitiker)

Judith Bertagnolli hat diese Sprache in ihrer Diplomarbeit eingehend


beschrieben und sie in Anlehnung an Mattheier als ”unfeines Hochdeutsch” definiert.
Sie bringt in ihrer Arbeit eine Reihe von Beispielen zu den von uns auch gesammelten
Phänomenen. Sie weist unter anderem nach – und das bestätigen unsere
Beobachtungen und Aufnahmen –, daß nicht nur die politische Prominenz diese
Sprache spricht, sondern daß auch die mittleren Kader, also Bürgermeister,
Vereinsfunktionäre, lokale Parteigrößen dieses Register bevorzugen.
Unseres Erachtens hat Bertagnolli recht, wenn sie dieses Register als ”unfeines”
Hochdeutsch, also einen als standardsprachlich intendierten Substandard bezeichnet.
Obwohl nämlich alle Charakteristika dieses Registers – bis auf eines – ihre Grundlage
im Dialekt haben, also das Phoneminventar gemäßigter Südtiroler Dialekte nutzen,
sind die bei Bertagnolli zitierten Äußerungen ebenso wie die Beispiele, die wir selbst
gebracht haben, zum größten Teil als standardgerichtet zu betrachten. Zum einen
handelt es sich fast durchgehend um öffentliche Diskussionen und Interviews in den
Massenmedien; weiters geht es um Themen von allgemeinem, öffentlichem Interesse,
und schließlich ist das völlige Fehlen aller dialekttypischen fallenden Diphthonge –
ebenso wie das Vorkommen des im Dialekt praktisch nicht vorhandenen Phonems
<å> – ein weiteres Systemindiz für die Sprecherintention, sich in Hochsprache oder
in einer dieser nahestehenden Variante auszudrücken.
Judith Bertagnolli konnte schließlich auch feststellen, daß ein erheblicher
Prozentsatz von Sprachteilhabern dieses "unfeine" Deutsch akzeptiert, wobei
allerdings erhebliche Unterschiede zwischen den Domänen gemacht werden. So
würden etwa zwei Drittel der Oberschicht den Gebrauch des unfeinen Deutsch in der
Kirche akzeptieren; bei offiziellen Anlässen würden 85% der Unterschicht und 70%
der Mittelschicht das "unfeine" Deutsch als angemessen betrachten, aus der
Oberschicht allerdings nur 55%. Der Gebrauch dieser Varietät in den Medien – wo
sie so massiv anzutreffen ist – wird schon mehrheitlich abgelehnt, paradoxerweise
vor allem von der Oberschicht, deren Vertreter sie am meisten verwenden. Etwa 30%
der Befragten glaubte auch, ein "feineres" Hochdeutsch zu sprechen. Rund die Hälfte
der Mittel- und Unterschicht und ein Viertel der Oberschicht glauben, nicht so "fein"
sprechen zu können. Von über 70% der Befragten wird dieses Deutsch als "eine Art
Südtiroler Hochdeutsch", "Tiroler Hochdeutsch", "österreichisches Hochdeutsch",
"Hochdeutsch mit dialektalem Einschlag", einmal auch als "schlechtes Hochdeutsch"
bezeichnet, von niemandem jedoch als "richtiges Hochdeutsch". Gelegentlich wird es

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-298-

auch – wohl eher von politisch Andersdenkenden – als Parteideutsch apostrophiert.


Für viele im Lande hat es eine starke Ähnlichkeit mit dem nicht allseits beliebten
Bozner Deutsch (siehe Moser, 1982). Das betont offene lange <å> hat beim
bewußten Dialektsprecher eine eher abschreckende als anheimelnde Wirkung; es
wird ab und zu als "gscheart" bezeichnet, was in gutes Deutsch übersetzt etwas mit
Snobismus zu tun hat. Als Sprecher dieser Sprache werden vor allem drei Kategorien
genannt: Politiker, hohe Beamte, die "oberen Zehntausend", vor allem die Bozner
Oberschicht ist hier gemeint. Als Beweggründe für den Gebrauch dieser Varietät
nennen die von Frau Bertagnolli Befragten: "Unfähigkeit, Gewohnheit oder
Anbiederung".
Kollegen und Freunde, mit denen wir über das Phänomen diskutiert haben,
meinten, die jahrzehntelange Medienpräsenz des früheren Landeshauptmannes habe
wohl dieses Register hoffähig gemacht. Er sei aufgrund seines Charismas "angekom-
men" und seine "Erben" machten sich nun dieses Medium zunutze. Die mittleren
Chargen wiederum nehmen sich ein Vorbild an der Führung usw. Kurz
zusammengefaßt: In der Dynamik der sprachlichen Veränderungen schälen sich zwei
Bewegungen heraus:
Neben einer Bewegung von unten nach oben, von den Einzeldialekten in
Richtung auf eine dialektale Koiné, eine Bewegung von oben nach unten. Unter der
Hochsprache, die immer noch für weite Kreise in einer regionalen aber über die
Region hinaus als Standard anerkannten Form Gültigkeit hat, nistet sich ein
Substandard ein, der von einem Teil der Oberschicht gesprochen, über die Medien
verbreitet wird und aufgrund des Prestiges und der starken Medienpräsenz der
Sprecher auch für einen Teil der Bevölkerung Vorbildcharakter erhält oder
zumindest eine gewisse Akzeptanz genießt; wird das der zukünftige mündliche
Standard in Südtirol sein? Klaus Mattheier hat vor einiger Zeit das Entstehen eines
Südtiroler Standards prognostiziert. Wollen wir hoffen, daß sich nicht die hier
skizzierte Varietät durchsetzt.

2. Standardsprache in der Schule und Erziehung zu


Mehrsprachigkeit
Die oben angeführten Beobachtungen zur Sprache in Südtirol von Franz
Lanthaler sind im Rahmen schulischer Initiativen entstanden. Das dahinterstehende
Forschungsinteresse ist demnach ein auf Anwendung hin fokussiertes. Solch
anwendungsorientierte Forschung, wie sie die didaktische Forschung bietet, ist an
sich nicht unproblematisch, wir glauben aber, daß sie in einem kleinräumigen Gebiet
wie Südtirol und bei Abwesenheit größerer Forschungseinrichtungen einen wichtigen
Beitrag zu Sprachbeschreibung wie zu Sprachentwicklung leisten kann.
2.1 Sprache und Bildungskonzept
Das Schulsystem in Südtirol ist konkreter Ausdruck einer sprachplanerischen
Maßnahme zum Schutze einer sprachlichen Minderheit. In Südtirol gibt es für jede

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Sprachgruppe eigene Schulen, das bedeutet also deutsche und italienische Schulen
und die sogenannte paritätische Schule für die ladinische Sprachgruppe. Die
Autonome Provinz Südtirol hat in Schulfragen sekundäre Zuständigkeiten inne, dies
bringt mit sich, daß unter Einhaltung der Rahmenbedingungen des Staates eigene
Lehrpläne sowie Lehrmaterialien entwickelt und Fortbildungsinitiativen ergriffen
werden können, die auf die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten der
jeweiligen Sprachgruppe eingehen.
Die Bemühungen der letzten 15 Jahre besonders im Bereich der
muttersprachlichen Erziehung der deutschen Schule haben zu eigenen Lehrplänen
(Lehrplanentwürfen) in allen Schulstufen geführt. In diesen Lehrplänen wird ein
Bildungskonzept verfolgt, das in sprachpolitischer und didaktischer Hinsicht mehrere
sich ergänzende Ziele verfolgt. Zum einen geht es um den Anschluß der
Spracherziehung in Südtirol an die fachdidaktische Diskussion im übrigen deutschen
Sprachraum. Dies ist umso notwendiger, als bis vor ca. 15 Jahren die Lehrpläne sehr
zentralstaatlich ausgerichtet und vielfach noch einem sehr veralteten
Bildungskonzept verpflichtet waren. Zum anderen werden Ziele angestrebt, die in
Anbetracht der Kleinräumigkeit des Landes oder der Minderheitensituation der
deutschen Sprachgruppe in kompensatorischem wie autonomisierendem Sinne
wichtig erscheinen. Darüber hinaus wird unter der Perspektive einer gemeinsamen
Spracherziehung aber auch angestrebt, daß die Leistungen des
Muttersprachunterrichts für das Erlernen der anderen Sprachen und umgekehrt
besser nutzbar gemacht werden sollen. Ein solchermaßen komplexes
Sprachbildungskonzept umzusetzen macht die Zusammenarbeit aller LehrerInnen
notwendig. Spracherziehung ist gemeinsames Anliegen aller Fächer.
Dazu ein Auszug aus dem Bildungskonzept der Südtiroler Oberschulen:
"Diese vielfältigen Leistungen von Sprache müssen in allen Fächern
wahrgenommen werden. Sprachförderung ist Prinzip und Anliegen des gesamten
Unterrichts und will Sprachfähigkeit, Sprachhandlungskompetenz und
Sprachbewußtsein aufbauen."
Die Spracherziehung in der deutschen Schule nimmt sich der inneren wie der
äußeren Mehrsprachigkeit an. Sie sind in den Zielvorgaben der muttersprachlichen
lehrpläne verankert. Dazu einigevAuszüge aus dem Lehrplanentwurf Deutsch im
Triennium/Oberschule (11.-13.Schj.):
Ziel I/6 Sprechen und Verstehen
"Innere Mehrsprachigkeit als Ausdruck von Identität und sozialer Zugehörigkeit
und die Sprachvarietäten situationsgerecht einsetzen."
Ziel IV/6 Einsicht in Sprache
"Das Bewußtsein der inneren Mehrsprachigkeit als einer Erscheinungsform von
Sprache und der äußeren Mehrsprachigkeit in Sprachgrenzgebieten vertiefen. Die

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-300-

sprachlichen Besonderheiten in Südtirol erkennen und Einstellungen zu Sprache


und Kultur, Identität und Zusammenleben reflektieren."
Nicht im gleichen Maße thematisiert wird die Polyzentrizität der
Muttersprache. In den meisten Zielformulierungen der Lehrer und Lehrerinnen wird
lediglich von normgerechtem Gebrauch der deutschen Sprache gesprochen, was
immer das auch heißen mag. Eine etwas konkretere Aussage finden wir im
erwähnten Bildungskonzept der Oberschule:
"Es ist Ziel der Schule, die Verwendung einer süddeutsch geprägten mündlichen
Standardsprache und damit die überregionale Verständigung zu fördern."
Absicht dieser Zielvorgabe ist, den Unterrichtenden Orientierung im
Mündlichen zu geben. Darüber hinaus könnte man diese - einmalige -
Lehrplanaussage auch dahingehend verstehen, daß die Südtiroler Schule ihre
sprachlichen Besonderheiten nicht nur gegenüber der römischen Zentrale geltend
macht, sondern in Anbetracht kultureller Bindungen und der Vielfalt des Deutschen
auch bewußt eine Hinwendung zum süddeutsch-österreichischen Raum markiert.
2.2 Zur Sprache im Schulalltag
In soziolinguistischen Arbeiten wird immer wieder hervorgehoben, daß die
Schule in Südtirol eine der wenigen Domänen der Hochsprache ist. Hochsprache ist
"Zielsprache" für die zu 90% im Dialekt aufwachsenden SchülerInnen, ist
Unterrichtssprache und erwünschte Kommunikationsform zwischen den
SchülernInnen und den ebenfalls im Dialekt beheimateten LehrerInnen. Über viele
Jahre hinweg wurde seitens der Schulbehörde zu Beginn des Schuljahres die
Verwendung der Hochsprache immer wieder angemahnt. Es war die Zeit, in der
sprachliche Fähigkeiten allein mit Hochsprachekompetenz und überregionaler
Verständigung gleichgesetzt wurden und diese über systematischen Sprachunterricht,
im Umgang mit sog. E-Literatur und über künstlich hergestellte hochsprachliche
Kommunikationssituationen im Klassenzimmer erreicht werden sollten. Heute weiß
man aus lernerorientierten pädagogischen Konzepten, daß eine einseitig
ausgerichtete fehlerorientierte Didaktik zu einer indirekten Abwertung der
Ausgangssprache der Kinder führen kann und daß dadurch das Anknüpfen an
wertvolle kommunikativ-sprachliche Kompetenzen, die die Kinder sich
primärsprachlich, d.h. dialektal, bereits angeeignet haben, vernachlässigt wird. Dazu
kommt, daß die LehrerInnensprache in vielem - auch mangels fehlender Schulung in
der Ausbildung - und allen Zielformulierungen zum Trotz gar nicht
normgerecht/hochsprachlich ist. Die Untersuchung von Beatrix Christanell in den
achtziger Jahren über die Lehrersprache in Südtirol legt hier einiges offen. Diese
Arbeit trug wesentlich dazu bei, unter den LehrerInnen die Diskussion, was
angemessenes sprachliches Verhalten überhaupt ist, zu fördern.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-301-

2.3 Die Lehrer- und Lehrerinnensprache


Lehrer und Lehrerinnen sind diejenigen SprecherInnen, die ein Kind während
der Schulzeit am intensivsten und am andauerndsten zu hören bekommt. Lehrer und
Lehrerinnen geben ihr Wissen und ihre Erfahrung, aber auch ihre normativen
Einstellungen und ihre kommunikativ - soziale Sensibilität sprechend an die Kinder
weiter. Daß dabei bevorzugt das hochsprachliche Register verwendet werden soll -
um so mehr als es außerschulisch wenig hochsprachliche Übungsfelder gibt - steht
bei den LehrernInnen außer Frage. Sie nützen darüber hinaus aber auch andere
Sprachregister: beim Rollenspiel, um außerschulisches sprachliches Verhalten zu
überprüfen, als Behelfssprache, z.B. zum Paraphrasieren, als Arbeitssprache in der
Kleingruppe oder wenn es darum geht, Schüler zu loben, zu tadeln, also die
Beziehungsebene angesprochen wird. Veränderte Arbeitsformen und Sozialstile im
Unterricht haben die Hochsprache als Distanzsprache verstärkt ins Bewußtsein
gebracht. Die Sprache der Nähe wird genutzt, um einen unbefangenen Umgang in
der mündlichen Kommunikation und ein Sich Identifizieren mit der Sprache zu
ermöglichen oder um die SchülerInnen die ganze Breite der sprachlichen Varianten
in ihren Wirkungen kennenlernen zu lassen.
Die Diskussion um das Ausmaß der Thematisierung oder Verwendung von
unterschiedlichen Sprachregistern im Unterricht ist eine nicht abgeschlossene. Das ist
auch richtig so, denn damit sind so grundlegende Überlegungen verknüpft wie das
Selbstverständnis des Lehrers als Vorbild, die lebensweltliche Wirksamkeit von Schule
bis hin zur Frage, inwiefern Schule auch sprachbewahrend wirken soll.
Tendenzmäßig beobachtet man einen sog. ”weichen” Einstieg in die Hochsprache in
Kindergarten und Grundschule, eine starke Hochspracheorientierung in der
Mittelschule und eine aufeinander eingespielte Lehrer- und Schülersprache in der
Oberschule. Im Sinne einer spiralförmigen sprachlichen Erziehung ist es wichtig,
wenn SchülerInnen dazu befähigt werden, Emotionales auch in der Standardsprache
auszudrücken, ohne dabei ein Gefühl der Uneigentlichkeit zu haben, und umgekehrt
sich über fachsprachliche Themen außerhalb der Schulmauern angemessen
unterhalten zu können. In einem diglossischen Gebiet heißt sprachkompetent sein,
sprachliche Fähigkeiten in einem breiten innersprachlichen Kontinuum zu besitzen.
Ganz allgemein gilt für die Lehrersprache, daß sie Modellsprache für einen
angemessenen Umgang mit Beziehungen, aber auch im Darstellen und Gestalten der
Welt, wie sie die Fachsprache uns vermittelt, sein soll. Zu vermeiden ist, daß die
Lehrersprache zur Schaffung von neuen Diskontinuen beiträgt.
Das untenangeführte Beispiel soll verdeutlichen, was gemeint ist. Der
Turnlehrer (L), der im Beispiel mit einem seiner Schüler (S) kommuniziert, verwendet
phonologische unbd grammatische Muster, die weder in der Hochsprache, noch in
einer Umgangssprache und auch nicht im Dialekt gängig sind. Es handelt sich um
künstliche Konstruktionen, die in einer an sich hochsprachlich intendierten Situation
entstanden sind, die auf Normangemessenheit hin geprüft - auch solchen der

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
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Mündlichkeit - aber unangemessen sind. Es handelt sich hier um eine Art


Mischsprache, die mit der Lernersprache von SchülerInnen verglichen werden kann.
Auszug aus einer Turnstunde in einer Südtiroler Mittelschule (7. Schuljahr):
L.: (Liest) Zähle mir einige Milchprodukte auf!
S.: Pudding.
L.: Nein, weil da muscht du auch Puddingpulver dazutun und donn hosch an
Pudding, verstehsch? Nicht was man mit der Milch macht, welches Gericht,
sondern was aus Milch gemacht wird, damit wir ganz ein anderes Produkt habm,
also nur mit Milch und eventuell ebm mit Bakterien oder durch irgendeine andere
chemische Einwirkung. Also des - donn kömmer alles aufzähln, wos mit Milch
gmocht wird: jo, Ding, Omlettn, und wos weiß i wos olles. Also das alles nicht, ja?
Das sind nicht Milchprodukte!
L.: Ja, denn es ischt natürlich ein Unterschied - net- welchn Müll man beseitigen will,
aber wir kommen zu dem ja noch zurück, net, do konnst dos donn noch einmol
sogn, was du do .. wann war denn das?
L.: So - weil du die lauteste stimme hasch.
L.: Nicht den Ball berührn, wenn er hinausfallt, ja, aber, sie isch angangen
L.: Jetzt tut euch frei aufstelln, donn tummer einturnen kurz!
2.4 Die Fachsprache
Unter phonologisch - lexikalischen oder grammatischen Gesichtspunkten
unangebrachte Mischformen treten in der Lehrersprache vor allem im
Zusammenhang mit fachsprachlichen Erklärungen auf. Man beobachtet sie gehäuft
in sog. Sachfächern und besonders dann, wenn LehrerInnen frei sprechen, also sich
vom Schulbuch oder von den Referatsunterlagen entfernen. Die an sich löbliche
Unterrichtsform des freien Sprechens zwingt den Lehrer oder die Lehrerin, einen
Begriff oder einen fachlichen Zusammenhang, den er/sie in Gedanken in einer
wissenschaftlich konzipierten Formulierung/Textsorte rezipiert und gespeichert hat,
nun in eine mündlich kommunikative Form und in eine altersgemäße Fachsprache
überzuführen. Dabei können Brüche entstehen. Das hier ausgewählte Beispiel hat
gehäufte Elemente spontaner Rede an sich, welche der erstrebten Eindeutigkeit einer
sachbezogenen Erklärung in gewissem Sinne zuwiderlaufen.
In der Fachsprache der Lehrer und Lehrerinnen geht es an sich um ein
Doppeltes: Einmal muß Fachsprachliches in Alltagssprachliches umgesetzt werden,
damit das Kind sich dem Sachthema induktiv nähern und es sich auf authentische Art
und Weise aneignen kann, zum anderen aber müssen sprachliche Modelle und
Vorbilder angeboten werden, die dem Heranwachsenden zeigen, wie konkrete
sprachliche Erfahrungen in einer abstrakteren Form und unter einer eindeutig
fachwissenschaftlichen Perspektive gefaßt werden können. Die Tatsache, daß die
schulische Alltagssprache mit der außerschulischen nicht zusammenfällt erschwert
dieses Ziel noch zusehends.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-303-

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Lehrbücher und
die dort vertretene Lehrbuchsprache. Ein großer Teil der in Südtirol verwendeten
Lehrbücher kommt auch heute noch aus dem deutschsprachigen Ausland, aus
Deutschland und aus Österreich, wobei die österreichischen Verlage in den letzten 10
Jahren bedeutend an Boden gewonnen haben. Der Rest sind Eigenproduktionen, oft
auch in enger Zusammenarbeit mit deutschen oder österreichischen Verlagen
entstehend. Die Herstellung von Unterrichtsmaterialien, die in Fächern wie
Rechtskunde und Handelstechnik usw. benötigt werden und in denen eindeutig auf
italienische Unterlagen, weil z.B. die Rechts- und Verwaltungssprache betreffend,
Bezug genommen werden muß, erfordert großen Einsatz. Hier ist eine enorme
Übersetzungsarbeit zu leisten, die die menschlichen und fachlichen Ressourcen im
Lande sehr beanspruchen.
Die Deutschdidaktik in Südtirol hat sich in letzter Zeit besonders auf Aspekte
der inneren Mehrsprachigkeit und dort vor allem auf die Fachsprache konzentriert.
Dies auch deshalb, weil die IEA-Studie zu den Lesefertigkeiten der
PflichtschulabgängerInnen in Südtirol im Bereich der Sachtexte einen leichten
Rückstand gegenüber italienischen, deutschen und schweizer SchülerInnen
festgestellt hat.
Die Frage, nach welchen deutschen Standards sich die Fachsprache in Südtirol
nun aber ausrichtet, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Eigene Instanzen, wie
sie Schulbuchkommissionen in Deutschland oder Österreich darstellen und indirekt
auch eine sprachnormierende Funktion ausüben, gibt es in Südtirol nicht.
Diskussionen unter LehrerInnen über die sprachliche Angemessenheit von
Lehrbüchern werden normalerweise mehr unter pädagogischen als unter
Gesichtspunkten der Sprachangemessenheit oder gar Sprachplanung geführt.
Feststellen läßt sich aber, daß die Tendenz zur sprachinternen Internationalisierung
und zur allgemeinen Internationalisierung besonders im fachsprachlichen Bereich in
einem Sprachkontaktgebiet wie Südtirol besonders aufmerksam wahrgenommen
wird. Auch bauen mehrere postsekundäre Ausbildungslehrgänge bereits auf
mehrsprachigem Unterricht auf. Die Normenfrage wird unter diesem Gesichtspunkt
nicht nur innerhalb einer Sprache, sondern auch zwischen den Sprachen
ausgehandelt werden müssen.
2.5 Die Normenfrage
Wie überall auf der Welt sind auch bei uns Lehrer und Lehrerin - und im
besonderem SprachlehrerInnen - die von der Gesellschaft akzeptierten
Normenwächter über die Sprache. Nachdem in unserem Unterricht in den letzten
Jahren einiges in Bewegung geraten ist, insgesamt eine Aufwertung des
kommunikativen, d.h. auf menschliche Verständigung ausgerichteten Unterrichts
und des Sprachunterrichts an sich (gegenüber dem Literaturunterricht) stattgefunden
hat, bedeutet dies auch, Normvorstellungen, die bisher nur am Sprachsystem oder
evtl. sogar an der Literatursprache ausgerichtet waren, zu überdenken. Aus

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-304-

schulischer Sicht kann es dabei weniger darum gehen, unsere beschränkten


fachlichen Kräfte für die Schaffung neuer oder südtirolspezifischer Normkodices zu
verwenden, als vielmehr, mit den SchülerInnen eine Basis für gemeinsame
Normenreflexion zu schaffen. So kann man z.B. im Deutschunterricht die
Auswirkungen von Normenwandel auf das Schreiben hinterfragen, die Einflüsse der
gesprochenen Sprache reflektieren, über Regionalismen, Italianismen und
Austriazismen sowie über die Auswirkungen von Sprachkontakten in
Sprachgrenzgebieten diskutieren oder sich über sog. Voll- und Halbzentren des
Deutschen informieren. Es gilt dabei, das Ziel „sprachliche Vielfalt“ (auch innerhalb
der Sprachebenen) wahrzunehmen und anzustreben und gleichzeitig mit einem
erhöhten Normbewußtsein zu verknüpfen.
Bis dahin ist noch ein langer didaktischer Weg zurückzulegen. Insgesamt
gesehen beobachten wir bei den korrigierenden SprachlehrerInnen eine eher rigide
Fokussierung auf Textoberflächenprobleme (grammatische und orthographische), ein
Bewerten nach sprachsystematischen Auswahlkriterien und eine - wenn man so will
- freiwillige Unterwerfung unter monozentristische Normvorgaben, wie sie
letztendlich durch den DUDEN signalisiert werden.
Ein vorsichtiges Aufbrechen dieser Ausrichtung nach nur einem
Sprachenzentrum zeichnet sich im Literaturunterricht ab, den wir hier nicht weiter
verfolgen können. Ursula Oberschmied hat in ihrer 1994 erschienenen Diplomarbeit
nachgewiesen, daß sich die LehrerInnen in Südtirol in ihrer Lektüreauswahl - obwohl
es keinen offiziellen Kanon gibt - auf wenige Autoren und Werke konzentrieren, in
letzter Zeit aber sich vermehrt österreichischen AutorInnen zuwenden. Dies mag
zum Teil auch eine Folge des neuen Lehrplanentwurfs sein. Die
LehrplanmacherInnen messen der regionalen Literatur zunehmende Bedeutung bei;
dahin aber, daß man die Literaturgeschichte auch aus österreichischer Sicht aufrollen
sollte, haben sie sich doch nicht entschließen können.
Im Zusammenhang mit der Normenfrage wäre auch interessant, auf das
Normenbewußtsein der SchülerInnen einzugehen. Die SchülerInnen stellen an die
Sprache und ihre Varietäten andere und in sich unterschiedliche Ansprüche. Man
bedenke nur die Bandbreite der Normansprüche und der Funktion der Jugendsprache
oder der individuelle Umgang der SchülerInnen mit Sachtexten, z.B. bei sog.
Zettelarbeiten. Über das individuelle und gruppenspezifische Normenbewußtsein der
SchülerInnen mehr zu wissen, würde die Spracherziehung wesentlich voranbringen.
Deutlich würde dabei auch, daß in einer zeitgemäßen Schule die Normdiskussion
und die Konsenssuche ein demokratischer Prozeß sein müssen, an dem alle Parteien
beteiligt sind und daß Sprachentwicklung und Normenentwicklung immer Hand in
Hand voranschreiten. Aussagen zur Sprachentwicklung und zur Lernerstufe eines
Kindes sind immer auch Aussagen über das Normverständnis.

3. Sprache und Identität


Identitätsbildung ist eines der großen Bildungsziele einer jeden Schule. In einer

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-305-

Minderheitenschule gilt dies ganz besonders, es kann sogar vorkommen, daß


Identitätsbildung mit sprachgruppenspezifischer Identität und Loyalität
kurzgeschaltet wird. Die Identität eines Menschen bildet sich aber nicht auf dem
Hintergrund eines Abgrenzungsverhaltens heraus, sondern entwickelt sich in einem
anhaltenden Prozeß, bei dem Eigenes und Fremdes wahrgenommen und subjektive
und intersubjektive Anforderungen aufeinander abgestimmt werden. Unser
kulturelles Empfinden spielt sich auf mehreren Ebenen ab, und bei vielen Menschen
wirkt ihre Identität in der Gesamtheit ihrer sprachlichen Äußerungsformen nach
außen. Dazu kommt noch, daß in unserer Kultur und selbst in unserer
Einsprachigkeit eine Reihe von Elementen vorhanden sind, die wir mit den
Nachbarkulturen gemeinsam haben. Folgerichtig wird die sprachliche Identität - was
die Muttersprache betrifft - auf mehreren Wegen über die innere Mehrsprachigkeit
aufgebaut, und läßt sich nicht nur über die Orientierung an der Standardsprache an
sich absichern.
Was Identität und äußere Mehrsprachigkeit betrifft, gibt es vorsichtige
Tendenzen, den gemeinsamen regionalen Raum hervorzuheben, in dem die
Ausformungen von Einzelsprachen (und ihre Teilidentitäten) ihren Platz haben
sollen. Abschließend kann gesagt werden:
Die Alltags- wie die Schulsprache in Südtirol leben und nehmen aufeinander
Bezug. Das Bewußtsein für die Vielfalt der Sprachen, insbesondere der Muttersprache
unter den SpracherziehernInnen in Südtirol nimmt zu. Die Kleinräumigkeit einerseits
und das Fehlen von normsetzenden Instanzen andererseits tragen dazu bei, daß sich
die Schule bei ihrer Normorientierung voraussichtlich noch lange nach den
Vorgaben der großen Sprachzentren richten wird und wohl auch richten wird
müssen. In den didaktischen Diskussionen verstärkt sich die Sichtweise, daß
Normenreflexion für wichtiger denn unhinterfragte Normenübernahme zu sehen ist
und daß in der Normausrichtung prinzipiell mehrere Sprachzentren in Frage
kommen können. Laut Selbsteinschätzung der Südtiroler LehrerInnen werden die
meisten standardsprachlichen Abweichungen im lexikalischen und grammmatischem
Bereich als regionalsprachliche Varianten oder Besonderheiten eingestuft. Langfristig
wird es nicht mehr ausreichen, sich nach den Normvorstellungen einer Einzelsprache
zu richten. Es sollten verstärkt auch Normfragen zur Mehrsprachigkeit ins Spiel
gebracht werden. Identitätsbildung und Individualisierung einerseits, sowie
überregionale und "inter" - sprachliche Ausrichtung andererseits, sollen sich die
Waage halten. Die Zeit wird weisen, inwieweit diese sprachplanerischen Akzente der
deutschen Schule als Normorientierungshilfen von anderen in spracherzieherischer
Hinsicht relevanten Institutionen akzeptiert werden und vor allem inwieweit die
Eltern, die die freie Schulwahl haben, diese als zukunftsträchtig für ihre Kinder
einstufen.

Franz Lanthaler und Annemarie Saxalber:


Die deutsche Standardsprache in Südtirol.
-306-

Literatur
Aufschnaiter, Werner von (1982): Sprachkontaktbedingte Besonderheiten der
deutschen Gesetzes- und Amtssprache in Südtirol. In: Germanistische
Mitteilungen 16. Brüssel.
Egger, Kurt (1977): Zweisprachigkeit in Südtirol. Probleme zweier Volksgruppen an
der Sprachgrenze. (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes, Bd. 5). Bozen.
Egger, Kurt (Hg.) (1982): Dialekt und Hochsprache in der Schule. Beiträge zum
Deutschunterricht in Südtirol. Bozen.
Eisermann, Gottfried (1981): Die deutsche Sprachgemeinschaft in Südtirol.
Minoritäten, Medien und Sprache, Bd. 2 (= Bonner Beiträge zur Soziologie, Bd.
18). Stuttgart.
Kramer, Johannes (1981): Deutsch und Italienisch in Südtirol (= Reihe Siegen.
Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 23). Heidelberg.
Kühebacher, Egon (1976): Deutsch und Italienisch in Südtirol. In: Südtiroler
Rundschau 5/1976. S. 6–10.
Lanthaler, Franz und Annemarie Saxalber (1992): Zwischen innerer und äußerer
Mehrsprachigkeit. Zum muttersprachlichen Unterricht in Südtirol. In: Der
Deutschunterricht (DU) 44/6. S. 70–83.
Lanthaler, Franz und Annemarie Saxalber (1994): Deutschunterricht in Südtirol –
Sprachdidaktik für den kleinen Raum. In: Peter Klotz/Peter Sieber (Hgg.):
Vielerlei Deutsch, Stuttgart.
Mattheier, Klaus J. (1994): Vom und „feinen“ vom „unfeinen Deutsch“. In: Lanthaler,
F. (Hg.): Dialekt und Mehrsprachigkeit. Beiträge eines internationalen
Symposiums. Bozen. S. 89–99.
Moser, Hans (Hg.) (1982): Zur Situation des Deutschen in Südtirol.
Sprachwissenschaftliche Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und
Sprachkontakt (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschft, Germanistische
Reihe, 13). Innsbruck.
Moser, Hans (1982): Zur Untersuchung des gesprochenen Deutsch in Südtirol. In:
Moser (Hg.): Zur Situation des Deutschen in Südtirol. Sprachwissenschaftliche
Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und Sprachkontakt (= Innsbrucker
Beiträge zur Kulturwissenschft, Germanistische Reihe, 13). Innsbruck. S. 75–90.
Moser, Hans/Putzer Oskar (1980): Zum umgangssprachlichen Wortschatz in
Südtirol: italienische Interferenzen in der Sprache der Städte. In: Wiesinger, P.
(Hg.): Sprache und Name in Österreich. Festschrift für Walter Steinhauser zum
95. Geburtstag. Wien. S. 139–172.
Riedmann, Gerhard (1972): Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in
Südtirol (= Duden Beiträge, Sonderreihe: Die Besonderheiten der deutschen
Schriftsprache im Ausland, 39). Mannheim.
Tyroller, Hans (1986): Trennung und Integration der Sprachgruppen in Südtirol. In:
Hinderling, R. (Hg.). Europäische Sprachminderheiten im Vergleich. Deutsch
und andere Sprachen. Deutsche Sprache in Europa und Übersee, Bd. 11.
Stuttgart.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 307-312

Anthony R. Rowley

(München)

Bavarismen. Das Bayerische Deutsch

1. Einleitung
Dieser Bericht soll als Vergleichsgrundlage für die Beschäftigung mit dem
österreichischen Deutsch die Besonderheiten der regionalen Schriftsprache in einem
anderen deutschsprachigen Land vorstellen, nämlich in Österreichs Nachbarland
Bayern.
Auf zwischenstaatlicher Ebene steht nun nach dem "plurizentrischen"
Normmodell von Michael Clyne (1984) außer Frage, daß in einzelnen
deutschsprachigen Staaten, insbesondere in Österreich, der Schweiz und
Deutschland, eigene Staatsvarianten der deutschen Standardsprache nachzuweisen
sind. Aber die Norm ist auch innerhalb dieser Gebilde nicht einheitlich. So sieht sich
etwa das Österreichische Wörterbuch laut Vorwort mit der durchschlagenden
sprachlichen Ausstrahlung Wiens sowie mit ausgeprägten lexikalischen
Besonderheiten Vorarlbergs konfrontiert (Österreichisches Wörterbuch, S. 15). Es
kann also nicht überraschen, daß auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland
die Standardsprache kein streng normiertes und einheitliches Gebilde ist. Einzelne
Regionen Deutschlands haben nicht nur ihre Dialekte, sondern auch regional
geprägte Varianten der Standardsprache. So auch Bayern, wie Löffler (1994:150)
vorsichtig anerkennt: "Ja selbst eine bayerische Variante des Hochdeutschen scheint
es zu geben, auch wenn sie innerbayerisch kaum bewußt ist und von außen vielfach
bezweifelt wird".
Regionale Normvarianten gibt es wohl keineswegs nur im Freistaat Bayern; aber
in Bayern ist man sich dessen mit Sicherheit am stärksten bewußt. Hier bekommt die
regionale Variante der Schriftsprache in einigen Kreisen direkt eine
identitätserhaltende Funktion zugeschrieben: als Kampfmittel gegen "sprachliche
Überfremdung" oder gar "Borussifizierung", wie es Bekh (1983:14) in seinem
"Handbuch der bayerischen Hochsprache" ausdrückt. Es gibt eine bairische Variante
der Standardsprache. Entgegen der zitierten Auffassung von Löffler gibt es in Bayern
durchaus ein gewisses Bewußtsein für diese eigene Variante; zugestandenermaßen ist
dieses Bewußtsein nicht besonders stark ausgeprägt.
-308-

2. Bavarismen aus sprachgeographischer Sicht


Welche sind die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Bayern?
Welche Bereiche des Sprachsystems sind betroffen? Beschränken sich die
Besonderheiten auf "Altbayern", also etwa auf das Gebiet des Churfürstentums im
Heiligen Römischen Reich, oder ist der gesamte heutige Freistaat betroffen? - Sind die
Bavarismen angesichts der sehr ähnlichen dialektalen Grundlagen in Altbayern und
dem benachbarten Österreich auch gleichzeitig Austriazismen?
Bavarismen gibt es vor allem in Phonologie und Lexik. Morphologische und
syntaktische Besonderheiten finden sich sicher auch, doch scheinen solche Fälle in
der Regel eher großräumig - etwa über den gesamten Süden des deutschen
Sprachraums - verbreitet zu sein, wie in Fällen wie ich bin gesessen, gestanden
(nördliche Variante habe gesessen usw.) oder die Wägen, Bögen als Plurale zu
Wagen, Bogen (nördliche Variante die Wagen, Bogen). Im folgenden werde ich mich
auf die viel häufigeren lautlichen und lexikalischen Besonderheiten beschränken. Im
Bereich der Aussprachebesonderheiten sind zwei Erscheinungen besonders auffällig.
Erstens verwenden in Deutschland nur bayerische Sprecher auch in der
Standardaussprache Zungen-r und nicht Zäpfchen-r. Dem Aussprache-Atlas von
König (1989:176) ist zu entnehmen, daß sich die Neuerung Zäpfchen-r nur im
Freistaat Bayern nicht durchgesetzt hat. Der abweichende Informant aus Simbach am
Inn ist auch für diesen Ort völlig untypisch.1 Bayern bleibt also - wohl mit Österreich
und Teilen der Schweiz - bei der ursprünglichen Siebs'schen Norm vor der
aufgeweichten neunzehnten Neuauflage von 1969. Die zweite auffällige Entwicklung
ist die Aussprache des a. In Wörtern wie Affe, Sache, Halm oder Ader erreicht der
Anteil an dunklen Varianten des Vokals in den Aufnahmeorten von Königs (1989:96,
Karte A1) nur in Altbayern, hier aber regelmäßig, 80%. Franken und Schwaben sind
diesmal nicht betroffen. Es handelt sich hier um das Merkmal der regionalen Variante
in Altbayern schlechthin: "Niemand wird einen Bayern dahin bringen, Asien so
auszusprechen wie "Vater", so Bekh (1983:84). Es gibt durchaus noch andere Karten
im Atlas von König (1989), die weitere lautliche Bavarismen veranschaulichen - etwa
im Bereich postvokalischer r-Vokalisierungen oder bei geschlossenem o vor r in Korb.
Die hier vorgestellte Auswahl hat gezeigt, daß Bavarismen sowohl im gesamten
Freistaat als auch nur in dessen altbayerischem Teil gelten können.
Auch im Bereich des Wortschatzes muß eine charakteristische Auswahl an
Bavarismen genügen. Das Material ist vor allem dem "Atlas der deutschen
Umgangssprachen" von Eichhoff (1977-1993) entnommen. Damit allerdings die
Bavarismen im richtigen Verhältnis gesehen werden, muß vorausgeschickt werden,
daß regionale Phänomene in der deutschen Standardsprache keinen großen
Prozentsatz des gesamten Sprachkorpus einnehmen; nach einer Einschätzung von
Scheuringer (1989:52) höchstens 2%, Niebaum (1983) zählte in einem laufenden

1
Nach meinen eigenen Erhebungen sowie einer freundlichen Mitteilung Herrmann Scheuringers.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-309-

Wörterbuch 3,5%, allerdings sind viele Fälle Erscheinungen gesprochener


Umgangssprache; in gesprochener Alltagssprache wird man vielleicht über 4% gehen
können; ferner wäre die Auszählung Munskes (1983:1015) zu berücksichtigen,
derzufolge mehr als die Hälfte des bei Eichhoff (1977-1993) kartierten Materials
eine Nord-Süd-Trennung aufweist, das heißt, daß in sehr vielen Fällen Bayern nicht
allein steht, sondern mit Österreich, mit Schwaben, Württemberg, Baden, der
Schweiz und Teilen Frankens zusammengeht - so etwa bei Bub, heuer oder Samstag.
Diese Fälle mit innerdeutschem Anschluß werden im folgenden nicht berücksichtigt,
sondern nur die wenigeren, wo Bayern innerhalb Deutschlands allein steht.
Außerhalb Deutschlands übrigens erscheinen Bavarismen oft auch in Österreich als
regionale Besonderheit.
In folgenden Fällen setzt sich ein Austriazismus deutscherseits im gesamten
Freistaat fort. Dies ist synchron gesehen die lexikalische Entsprechung zum oben
erwähnten Zungen-r:
Kren 'Meerrettich', ratschen 'sich unterhalten', Servus 'Abschiedsgruß' (Eichhoff
1977-1993:Karten 2-90, 3-7, 1-48) u.a.. Umgangssprachliche Staatsbavarismen wie
ratschen und Servus gelten übrigens, wenn sie Franken und Schwaben umfassen,
gleich auch in der einst bayerischen Rheinpfalz.
Austriazismen, die nur in Altbayern Geltung haben, sind etwa: auf
Wiederschauen 'Abschiedsgruß', Schulpack und Schultasche (zunächst wohl sachlich
unterschieden), Schnackler 'Schluckauf'. In einigen Fällen ist das weniger klar. Stopsel
etwa (Eichhoff 1977-1993:Karte 2-76) gilt außer in Bayern auch in Schwaben und
Teilen Österreichs (Tirol, Vorarlberg).
Die Zahl der gesamtbairischen Besonderheiten, die keine Austriazismen sind,
scheint geringer zu sein; hierher zu zählen sin etwa: Brotzeit (wiederum mit der
Rheinpfalz), sich schicken 'sich beeilen' (Eichhoff 1977-1993:Karte 1-36f., 3-42).
Altbairische schriftsprachliche Besonderheiten ohne Anschluß in den
Nachbarlandschaften sind nach Auseis von (Eichhoff 1977-1993) sehr selten. Es
handelt sich meist um Dialektwörter, die mangels eindeutiger schriftsprachlicher
Synonyma umgangssprachlich geworden sind: Fangermandl' 'Fangen (Kinderspiel)',
Staunze 'Stechmücke'. (Eichhoff 1977-1993:Karte 1-49, 2-101), nach DUDEN noch
schnackeln 'mit den Fingern schnellen'.
3. Lexikographische Klassifizierung
Manche der lexikalischen Bavarismen sind als Regionalismen mehr oder
weniger unangefochten hochsprachlich - je größer die Verbreitung in deutschen
Sprachraum ist, umso klarer scheint in der Regel die Zugehörigkeit zur Hochsprache,
recht deutlich etwa bei den großräumig üblichen Lexemen Bub, Grüß Gott, Metzger,
Stadel. Ferner gibt es unangefochtene Sachbavarismen, schriftsprachliche
Benennungen für Sachen, die aus Bayern stammen oder vorwiegend in Bayern
anzutreffen sind: Bockbier, Leberkäse, Krachlederne, Weißwurst. Einige wenige Fälle

Antony Rowley: Bavarismen.:


Das Bayerische Deutsch.
-310-

sind sogar Verwaltungsbavarismen: panaschieren (Besonderheit bei der Auszählung


von Wahlen). Dieser letztgenannte Bereich ist zwischen den einzelnen
deutschsprachigen Staaten wesentlich stärker ausgebaut als innerhalb eines Staates.
Als weitere Gruppe finden wir Wörter, die früher hochsprachlich waren und heute
in Deutschland verdrängt werden - Erdapfel, Rahm, Topfen; hierher gehören auch
die zahlreichen, vorzugsweise französischen Fremdwörter wie Etage, Logis, Parterre,
Portemonnaie, Trottoir, vis-à-vis und aus dem Englischen Tram. Wörter, die in allen
oder vielen Sprachlandschaften anzutreffen sind. Als letzte Gruppe bleiben dialektale
Lexeme, die hochsprachlich geworden sind: aper, Fasching, Gaudi, Schneid -
zuweilen gar in dialektnaher Verschriftung: deppert, Dirndl, gschert, gspaßig, Haferl,
Marterl, Radi, Schmankerl, Schwammerl, Schnaderhüpferl.
Die Behandlung dieser Bavarismen in den Grammatiken und Wörterbüchern
hat in Bayern immer wieder Anlaß zu Kritik gegeben. Ich selber finde diese Kritik oft
etwas überzogen. Zum Beispiel scheint mir die Klage von W. J. Bekh (1983:50) "Der
Duden ist nicht bayernfreundlich" zumindest arg polemisch. Der DUDEN versteht
sich bekanntlich als deskriptives Wörterbuch der deutschen Sprache. Die Redaktion
hat sich auch Mühe gegeben, solchen Regionalwortschatz in vertretbarem Rahmen
zu berücksichtigen. In großen DUDEN sind immerhin 3,5% der Einträge nach
Niebaum (1983: 325) diatopisch markiert. Typischerweise verzeichnen also Großer
Duden und Rechtschreibduden unsere regionalen Besonderheiten und versehen sie
mit Bemerkungen wie "südd.", was laut Niebaum (1983) klar Zugehörigkeit zur
Hochsprache signalisiert, "landsch.", oder "bayr.", letzteres in Fällen wie Bißgurn,
Brezen, eh, gelbe Rüben, Gugelhupf, Haxen, hutschen, Knödel, Rein, Schmankerl,
Schnaderhüpferl, Schweinsbraten (statt Schweine-). Die regionalen Eingrenzungen
sind freilich nicht immer ganz zuverlässig, ja "die Tauglichkeit der
Arealbezeichnungen lasse, so Besch (1986:59) "entschieden zu wünschen übrig".
Brotzeit etwa nennt DUDEN "landsch.", Servus schlicht "südd." Bei Brösel, Fuchtel 'alte
Frau', Graffel, Kipferl, Kletzen oder Surfleisch erkennt der Duden nur österreichische
Verbreitung an, obwohl die Wörter auch in Altbayern mindestens auf der gleichen
Sprachstufe wie in Österreich gebräuchlich sind. Wenn man's ihnen allerdings wie
W.J. Bekh unter die Nase reibt, wird in der nächsten Auflage brav "bayr."
dazugeschieben - so bei hutschen (Korrespondenz abgedruckt in Bekh (1983)).
Erwähnenswert sind auch Wörter, die ohne Normdeckung durch den DUDEN in
Bayern schriftsprachlich sind, auf Speisekarten gang und gebe (auch außerhalb
Altbayerns), etwa Bärwurz, Obatzter, Reiberdatschi, Salatschüssel,Wammerl.
Insgesamt scheinen die Wörterbücher also durchaus Regionalismen und
Besonderheiten der Staatsvarianten zu akzeptieren und somit zu kodifizieren. Dabei
schneidet Österreichisches im übrigen unverhältnismäßig gut ab. Alle drei von
Niebaum (1983) auf Regionalismen untersuchten Wörterbücher hatten um die 25%
"österr." Besonderheiten als stärkste Größe nach der mit dem sehr vagen Wort
"landsch." bezeichneten Gruppe und nur etwa 15% als "südd." und 15% als "schweiz."

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-311-

klassifizierte Fälle. Die Bavarismen und andere Regionalismen sind also in den
Wörterbüchern erfaßt, aber nicht vollständig und zuweilen fehlerhaft oder unrichtig.
Für Österreich und einige andere deutschsprachige Staaten und Regionen gibt
es nun Wörterbücher, die die regionalen Besonderheiten zusammenfassen (für
Österreich natürlich Ebner, 1980). Für die deutsche Bundesrepublik gibt es übrigens
bezeichnenderweise kein solches Wörterbuch (vgl. Ammon, 1994).2
Auf eine konkrete Anfrage hin zeigte die Duden-Redaktion an einem derartigen
Werk für Bayern kein Interesse (Zehetner 1995a:257). Nach meinem Fazit oben wäre
eine solche Sammlung aus lexikographischer Sicht nützlich, etwa um den
Wörterbüchern genauere und fehlerfreie Verbeitungsangaben zu ermöglichen. Der
Regensburger Germanist Ludwig Zehetner gerade ein solches Werk vor, ein "Lexikon
der deutschen Sprache in Altbayern". Nach seinen bisherigen Äußerungen ist seine
Zielsetzung nicht zuletzt auch eine sprachpolitische. Er schreibt: "Der deutsche Süden
kann nicht tatenlos duldend zusehen, wie seine eigene Sprache zunehmend
verfremdet wird" (Zehetner 1995a:257); Ziel des Werks sei deswegen:
"Bewußtmachung der Eigenart des südlichen Deutsch und Stärkung eines
oberdeutschen Sprachbewußtseins" (1995b:2). Sprachpolitische Zielsetzungen
können natürlich nicht an den Bedürfnissen einzelner linguistischer Teildisziplinen
gemessen werden. Aber Arbeiten zur bayerischen Variante der Schriftsprache sind
auch aus sprachpolitischer Sicht meines Erachtens grundsätzlich zu begrüßen. Hier
folge ich Hermann Scheuringer, der (1989:51f.) die Frage stellt "nach dem
wünschenswerten Maß an Regionalität in einer gesamtdeutschen Standardsprache
und natürlich nach den realistischen Möglichkeiten, dieses Maß an Regionalität zu
wahren, denn Regionalität scheint eine großflächige Kultursprache wie das Deutsche
heute noch zu verlangen, um sich nicht zu weit von den Sprachträgern zu entfernen
Um diese Ausgewogenheit zwischen Anpassung und Abgrenzung [er meint: im
Vergleich Bayern und Österreich] zu erreichen, müßte man nun Bayern ein größeres
Maß an Abgrenzungswillen zugestehen, da ja die Möglichkeiten zur Durchsetzung
oder auch nur zur Behauptung sprachlicher Regionalität ungleich schwächer sind als
in Österreich".
Zu diesem sprachpolitischen Standpunkt gibt es allerdings eine
Gegenauffassung. Gegen die Liebhabertendenz, die Vielfalt wie Scheuringer
(1989:52) als "Symptome sprachlicher Vitalität" zu verstehen, steht der bürokratische
Zentralismus, dem jegliche regionale Abweichung, auch sprachlicher Art, ein Dorn
im Auge ist. Nachdem nun der bundesdeutsche Sprachraum durch
Wiedervereinigung noch gravierender nordlastig geworden ist als vorher, befürchtet
etwa Ludwig Zehetner eine Verstärkung der ohnehin vorhandenen "übereifrige[n]

2
Vielleicht sollte man auch eine Anregung von Ammon (ebd.) aufgreifen, der geradezu ein
Wörterbuch der norddeutschen Besonderheiten wie Apfelsine, Mótor, Sahne, Sonnabend, oder
Chemie vorschlägt. Es ist ja wirklich so, daß der Süden Deutschlands die Mitte des Sprachraums ist
und daß man nicht immer gerade ihn als den abweichenden Teil verstehen muß.

Antony Rowley: Bavarismen.:


Das Bayerische Deutsch.
-312-

sprachliche[n] Vereinheitlichungstendenzen um den deutschen Süden dann vollends


auszuschalten" (1995a:257). Es ist schon was dran. Ein namhafter Verlag in
München zum Beispiel lehnte Zehetners Lexikon als partikularistisch und deswegen
als (Zitat) "derzeit nicht opportun" ab! Und auch Ulrich Ammon gönnt nur Staaten
eigene Varianten der Schriftsprache und nennt Austriazismen, die auch in Bayern
üblich sind, "Substandard" (Ammon, 1994:63). Aber schon lange vor der
Wiedervereinigung nahm man in Bonn keine Rücksicht auf süddeutsche
Sonderwünsche. So beanstandete zum Beispiel die Bayerische Staatsregierung die
Bonner Handwerkerordnung von 1965, welche einzelne Handwerkerberufs-
bezeichnungen deutschlandweit verbindlich festlegen wollte (Besch, 1972).
München erließ deswegen 1966 mittels Ministerialentschließung einige
Sonderregelungen für Bayern, um u.a. die Benennungen Kaminkehrer, Metzger und
Schreiner als amtliche Formen zuzulassen. Nicht immer haben Münchner
Zentralbehörden so viel Verständnis. Marmelade heißt im Lebensmittelgesetz
Konfitüre, obwohl auf vielen Verpackungen das auch in Bayern übliche Wort
Marmelade für Österreich mit angeführt wird. Und Wolfgang Johannes Bekh druckt
in seiner Streitschrift eine Korrespondenz ab, die zeigt, daß das Bayerische
Landwirtschaftsministerium nicht einmal verstanden hat, daß es ein berechtigtes
Anliegen geben könnte, für Stiere die Bezeichnung Stier beizubehalten und nicht
durch Bulle zu ersetzen. Originalbegründung von Ministerialrat Rinderle: "Bulle
werde doch im ganzen Bundesgebiet vielfach gebraucht" (Beck 1993:93). Auch auf
privatwirtschaftlicher Ebene kenne ich in München und Augsburg Firmen, deren
Telefonistinnen die Anweisung haben, sich am Telefon mit "Guten Tag" zu melden
und "Grüß Gott" zu vermeiden. Keineswegs sind das nur süddeutsche Dependencen
gesamtdeutscher Unternehmen. In Augsburg zum Beispiel handelt es sich um einen
lokalen Rundfunksender und eine Lokalzeitung.
Diese Fälle dokumentieren eine ernstzunehmende Bedrohung der bayerischen
Normvariante. Neben ihr hat die allogene Variante bundesweit Prestige, und sogar
bayerische Sprecher halten den Akzent der Hansestadt Hamburg für "akzentfreies
Deutsch" - wie Markus Hundt (1992:66f.) gezeigt hat. "Da die hamburgische
Sprechprobe" so Hundt (1992:69) "ebensoviele dialektale Merkmale wie die anderen
enthielt, fragt es sich, weshalb gerade diese Merkmale nicht gehört bzw. als
"normales Hochdeutsch" aufgenommen wurden". Hundt fährt fort: "Da linguistische
Kriterien unerheblich sind, kommen nur gesellschaftlich-kulturelle Faktoren in
Betracht". Das heißt wohl: Die nördliche Variante genießt schlicht größeres Prestige.
Als vor einigen Jahren nach einem Bankräuber gesucht wurde, dessen Worte "lang'Se
mal das Geld '8übo8" auf Band festgehalten werden konnten, verkündete der
Bayerische Rundfunk: "Täter spricht hochdeutsch". In dieser Situation kann es kaum
wirksame Sanktionen gegen "fremdregionale Standardformen" (Zehetner,
1995a:259) geben. Wörter wie Karotte, Kartoffel oder tschüs, die noch von
Bavaropuristen bekämpft werden, sind inzwischen dermaßen stark integriert, daß
man sie als eingebürgerte Lehnwörter auch in der bayerischen Schriftsprache wird

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-313-

akzeptieren müssen. Die bayerischen Puristen haben also viel zu tun. In der neuesten
Nummer vom Rundbrief des Fördervereins Bairische Sprache und Dialekte e.V., der
mit der Zielsetzung gegründet wurde, das regionale Deutsch zu stärken, werden zwei
amtliche und eine private Stelle diesmal zum Ziel der Sprachkritik. Das
Kultusministerium wird kritisiert, weil es stets nur von Jungen, nicht von Buben
spricht, im Bayerischen Rundfunk wird das Zäpfchen-r angeprangert; und einem
uneinsichtigen Traunsteiner Kinderhort, der sich den Namen "Die Murmel" gegeben
hat, wird erklärt, daß man in Bayern "Der Schusser" sagen muß.
Die wachsende Integration in die restliche Bundesrepublik zeitigt sprachliche
Folgen. Schon Adolf Hitlers Abschaffung der byeerischen Eigenständigkiet mußte die
mußte die sprachliche Situation in Bayern beeinflussen. Das von Wolfgang Johannes
Bekh ausgemachte Heer von annähernd drei Millionen freiwillig aus dem
deutschsprachigen Norden zugezogenen Neusiedlern fast noch mehr. Österreich
hatte nach dem letzten Krieg Anlaß, seine sprachlichen Besonderheiten zu einer
Absetzbewegung vom Reichsdeutschen weg zu bündeln, Bayern dagegen eher Anlaß
zu einer Integration mit den anderen Ländern des Bundes. Das Überleben oder
Absterben der lokalen Normvarianten wird uns zeigen, wie ernst es die Deutschen
mit dem Föderalismus nehmen.
Ich schließe mit einem kurzen Fazit. Es gibt eine für Bayern charakteristische
Ausprägung der deutschen Standardsprache vor allem in Aussprache und Wortwahl.
Einige Besonderheiten umfassen den ganzen Freistaat, andere nur Teile davon,
insbesondere Altbayern. Vor allem in Altbayern besteht auch ein gewisses Bewußtsein
für die identitätsstiftende Funktion dieser Variante.

5. Überblick über Bavarismen


Gesamtoberdeutsch: Bub, heuer, Samstag und viele andere mehr.
Bavarismen: Auf Wiederschauen (Altb.), Brezen, Brotzeit, hutschen (Altb.), Knödel
(Altb.), Kren, ratschen, sich schicken, schnackeln (Altb.), Schnackler (Altb.),
Schultasche (Altb.), Servus, Stopsel.
Sachbavarismen: Bockbier, Leberkäse, Krachlederne, Weißwurst.
Hochsprachlich gewordene bairische Dialektwörter: aper, Dirndl, Fasching, Gaudi,
Haferl, Marterl, Radi, Schmankerl, Schnaderhüpferl, Schneid, Schwammerl.
Oft geschrieben, nicht in Wörterbüchern: Bärwurz, Musi, Obatzter, Reiberdatschi,
Schlachtschüssel, Wammerl, Watten.
Literatur:
Ammon, Ulrich (1994): Über ein fehlendes Wörterbuch "Wie sagt man in
Deutschland" und den übersehenen Wörterbuchtyp "Nationale Varianten einer
Sprache". In: Deutsche Sprache 22, S. 51-65.
Bekh, Wolfgang Johannes (1983): Richtiges Bayerisch. Ein Handbuch der
bayerischen Hochsprache. Eine Streitschrift gegen Sprachverderber, München. 3.
Aufl.

Antony Rowley: Bavarismen.:


Das Bayerische Deutsch.
-314-

Besch, Werner (1986): Zur Kennzeichnung sprachlandschaftlicher Wortvarianten


im Duden-Wörterbuch und im Brockhaus Wahrig. In: H. L. Cox u.a. (Hg.),
Wortes anst, verbi gratia. Donum natalicuium A. R. De Smet,
Leuven/Amersfoort, S. 47-64.
Brenner, Oskar (1890): Mundarten und Schriftsprache in Bayern, Bamberg.
Clyne, Michael (1984): Language and Society in the German-speaking Countries,
Cambridge.
Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden,
Mannheim/Wien/Zürich. 1976-81.
Duden - Rechtschreibung der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich. 20.
Aufl. 1991.
Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich. Wörterbuch der österreichischen
Besonderheiten, Mannheim. 2. Aufl.
Eichhoff, Jürgen (1977-1993): Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, 3 Bde.
Bern.
Hundt, Markus (1992): Einstellungen gegenüber dialektal gefärbter Standardsprache,
Stuttgart.
König, Werner (1989): Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der
Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde Ismaning.
Löffler, Heinrich (1994): Germanistische Soziolinguistik, Berlin. 2. Aufl.
Munske, Horst-Haider (1982): Umgangssprache als Sprachkontakterscheinung. In:
W. Besch u.a. (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen
Dialektforschung, Berlin/New York 1982-83, S. 1002-1018.
Niebaum, Hermann (1983): Die lexikographische Behandlung des landschafts-
gebundenen Wortschatzes in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwarts-
sprache. In: Germanistische Linguistik 1-3. S. 309-360.
Österreichisches Wörterbuch. Herausgegeben im Auftrag des Bundesministeriums
für Unterricht und Kunst, Wien. 37. Aufl. 1992.
Scheuringer, Hermann (1989): Zum Verhältnis Bayerns und Österreichs zur
deutschen Standardsprache. In: Hans-Werner Eroms (Hg.), Probleme regionaler
Sprachen. Hamburg, S. 37-52.
Siebs, Theodor (1969): Deutsche Aussprache, Berlin. 19. Aufl.
Zehetner, Ludwig (1995a): Ein Wörterbuch der deutschen Sprache in Altbayern.
Warum und wie es entsteht. In: R. Harnisch u.a. (Hg.), "im Gefüge der Sprachen".
Festschrift für Robert Hinderling zum 60. Geburtstag. Stuttgart, S. 251-268.
Zehetner, Ludwig (1995b): Ein Wörterbuch der deutschen Sprache in Altbayern. In:
Förderverein bairische Sprache und Dialekte e.V. Rundbrief 15, S. 2-7.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 315-323

Mária Papsonová

(Prešov)

Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen

1. Einleitung
Meinen Ausführungen zum angegebenen Thema sollen zwei Präzisierungen
vorausgeschickt und im folgenden kurz begründet werden.
1. Es ist nicht das Ziel dieses Beitrages, die österreichischen Bestandteile im
Slowakischen genau aufzulisten bzw. diese geographisch und soziologisch
einzuordnen - bei der Behandlung des Themas wird vom breiteren Kontext der
slowakischen-deutschen Sprachkontakte ausgegangen und erst vor deren
Hintergrund versucht, auf den Einfluß der österreichischen bzw. der bairisch-
österreichischen Gebiete hinzuweisen.
2. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht die Beeinflussung des
Slowakischen und dessen Mundarten (Maa.) durch das Deutsche, die umgekehrte
Einwirkung wurde außer Acht gelassen.
Anmerkung: Der Begriff "Slowakisch" steht überdachend sowohl für die
Schriftsprache als auch für deren Mundarten, während unter der Bezeichnung
"deutsch" zusammenfassend vor allem die (auch in der heutigen Slowakei historisch
wie gegenwärtig gesprochenen) deutschen Mundarten zu verstehen sind. Ähnlich
wird die Bezeichnung "Deutsche" für alle Sprecher dieser Mundarten verwendet, die
verschiedene Sprachlandschaften der zentralen Gebiete des Deutschen, also auch den
geschlossenen österreichischen Raum, repräsentieren. Dementsprechend werden
unter "Germanismen" sowohl Teutonismen als auch Austriazismen verstanden.
Zu 1. Die dauerhaften Spuren, die das Deutsche im Slowakischen hinterlassen
hat, ergeben sich nicht nur aus den frühmittelalterlichen wechselseitigen Kontakten
der Slawen mit den Germanen, auch nicht nur aus der bis heute andauernden
Nachbarschaft der österreichischen und slowakischen Sprachgemeinschaft. Sie sind
vielmehr Ergebnis der spezifischen gesellschaftlich-historischen Entwicklung der
mittelalterlichen Slowakei, der direkten Kontakte der slowakischen und deutschen
Bevölkerung und ihres Zusammenlebens und hängen mit dem Kolonisationsprozeß
der umfangreichen Gebiete des damaligen Oberungarns eng zusammen.
Die mittelalterliche Besiedlung der heutigen Slowakei, die im größeren Umfang
an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vom ostmitteldeutschen Raum her
-316-

einsetzte und bis ins 15. Jahrhundert durch Kolonisten aus schlesischen und bairisch-
österreichischen Gebieten fortgeführt wurde (Schwarz 1935:292ff.; Kuhn 1967:20-
35), erreichte im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt - die Zahl der Deutschen wird
auf 200 000 bis 250 000 (etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung, vgl. Grothe
1943:25) geschätzt.
Die Einwanderer, die auf Einladung ungarischer Herrscher kamen, angelockt
v.a. durch günstige rechtliche und wirstchaftliche Bedingungen, waren in ihrem
Heimatland Zeugen der intensiven Entfaltung des städtischen Lebens und bemühten
sich, Elemente und Formen dieses prosperierenden Prozesses auch in der neuen
Heimat wirksam werden zu lassen. Bereits kurz nach ihrer Niederlassung nahmen sie
führende wirtschaftlich-politische Stellungen ein, die es ihnen ermöglichten, einen
wichtigen Beitrag zur Städtegründung, zur Entfaltung des Städtewesens, Bergbaus,
Handels, der Handwerke und der Landwirtschaft zu leisten. Aufgrund der durch die
umfangreichen Rechte bedingten Reife und Organisation verdrängten die Deutschen
auf mehrere Jahrhunderte die ursprüngliche slowakische bzw. später angesiedelte
ungarische Bevölkerung aus den wichtigsten Sphären. Nicht nur in den
zusammenhängend besiedelten Gebieten (Oberzips und Zipser Gründe,
mittelslowakisches Bergbaugebiet, ostslowakische Bergstädte, die an das
niederösterreichische Sprachgebiet angrenzende Südwestslowakei), sondern auch in
allen bedeutenden Städten und Orten, deren Patriziat überwiegend Deutsche
bildeten, wurde ihre Sprache zur zweiten Amtssprache.
Mit den entwickelteren Arbeitstechniken und Arbeitsweisen, mit neuen Formen
des städtischen Lebens übernehmen die Slowaken von den deutschen Einwanderern
auch die in ihrer Sprache meist nicht bestehenden Benennungen. Die mitgebrachte
ausgereifte Organisation der Zünfte und Handwerke, des Handels und Bergbaus
sowie der öffentlichen Verwaltung wirkt sich sowohl auf die gesprochene als auch
auf die geschriebene Sprache der einheimischen Bevölkerung stark aus. Aus keiner
anderen Sprache wurde ins Slowakische so viel übernommen wie aus dem
Deutschen, das auch bei den meisten Entlehnungen lateinischer Herkunft die Rolle
der Mittlersprache spielt. Durch den deutschen Filter gelangen darüber hinaus
Wörter aus dem Französischen, Italienischen, Spanischen u. a. m. in den
slowakischen Wortbestand. Neben den das wirtschaftliche und öffentliche Leben
bzw. ihre Organisation betreffenden Wörtern wurden in der langen Zeit des
Sprachkontakts auch viele Benennungen integriert, die mit den Dingen und
Erscheinungen des Alltagslebens zusammenhängen. Diese Integration wurde darüber
hinaus von verschiedenen außersprachlichen Faktoren begünstigt, so von der
Migration bestimmter Sozialgruppen der einheimischen Bevölkerung (Handwerker,
Kaufleute, Tagelöhner, Dienstpersonal, Militärdienst in der Armee der k. u. k.
Monarchie, Auswanderung), die aus der deutschsprachigen Umgebung neue Wörter,
oft spezielle Ausdrücke aus dem Bereich ihrer Erwerbstätigkeit und des
gesellschaftlichen Lebens, mitbringen. Auf diesen Wegen gelangen im 19. und
anfangenden 20. Jahrhundert besonders Wörter aus dem Bereich des Amt- und

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-317-

Militärwesens, der Küche, Mode, Hauseinrichtung sowie viele Benennungen für


Gegenstände des täglichen Gebrauchs aus dem Österreichischen ins Slowakische.
Zu 2. Abgesehen davon, daß bis heute keine Arbeiten vorliegen, die die
Beeinflussung des österreichischen Deutsch vom Slowakischen zum Gegenstand
hätten, wird man bei der Untersuchung der im Österreichischen existenten Einflüsse
der umliegenden Sprachgemeinschaften ebenfalls nicht nur vom engen
slowakistischen, sondern eher vom slawistischen Standpunkt ausgehen und sämtliche
(west- und südslawische) Nachbarsprachen berücksichtigen müssen.

2. Zum Stand der Erfassung


Daß das Deutsche unter den Sprachen, mit denen die Slowaken in ihrer
Geschichte in Kontakt kamen, eine besondere Stellung einnimmt, bezeugen auch die
(eher bescheidenen) Ergebnisse der slowakischen Mundart-Lexikographie. In den
Wörterbüchern zu dialektologischen Arbeiten werden die deutschen Entlehnungen
mit dem Hinweis auf ihre Herkunft angeführt (S. Czambel 1906; F. Buffa 1953; G.
Horák 1955) bzw. wird dieser Schicht der Lexik auch ein besonderes Kapitel
gewidmet (J. Matejèík 1975; I. Ripka 1981, R. Krajèoviè 1988). Diese ist zum Teil
auch im Atlas der slowakischen Mundarten (Atlas slovenského jazyka IV. Lexika, A.
Habovštiak 1984), im sechsbändigen Wörterbuch der slowakischen Sprache (Slovník
slovenského jazyka I.-VI., Ed. Š. Peciar 1959-1965) sowie im Kurzen Wörterbuch der
slowakischen Sprache (Krátky slovník slovenského jazyka = KSSJ, Ed. J. Kaèala 1987)
berücksichtigt worden. Die hier festgehaltenen Germanismen werden meist als
"umgangssprachlich", "mundartlich" oder "veraltend" qualifiziert.
Wie die Vorbereitungsstudien zum dreibändigen, im Sprachwissenschaftlichen
Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Ivor
Ripka erstellten gesamtslowakischen Mundartwörterbuch sowie die bis dato
erschienenen Bände (Probeband 1980, 1. Band /A-K/ 1995) zeigen, ist ein
beträchtlicher Teil der hier erfaßten Lexik deutscher Herkunft. Das gilt besonders für
den Bereich der Handwerke, wo die deutschen Benennungen eindeutig gegenüber
den einheimischen überwiegen. Auch wenn man nur die allgemein bekannten und
gebräuchlichen in Betracht zieht, stellen die Bezeichnungen von Berufen,
Arbeitsgeräten, Werkstoffen, Handwerkserzeugnissen und ihren Teilen die
umfangreichste Gruppe des entlehnten Wortguts dar. Daneben existiert besonders bei
den ältesten Handwerkern noch eine spezielle Terminologie, bei der sich infolge des
gesellschaftlichen Fortschritts, der maschinellen Produktion und des Wegfalls
mancher Produktionstätigkeiten die Notwendigkeit, sie durch einheimische Wörter
zu ersetzen, nicht so stark herausgebildet hat wie in anderen Bereichen
(landwirtschaftliche Produktion und Geräte, Familienleben, Ernährung, Bekleidung,
Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Verwaltung, Handel). Die Kartei dieses
Differenzialwörterbuchs, das nur einen Bruchstück des im Rahmen mehrerer
umfangreicher Erhebungen gesammelten mundartlichen Materials erfassen kann, ist

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
-318-

vor allem in Bezug auf diese schnell untergehende spezielle Terminologie eine
Fundgrube, die man für germanistische Untersuchungen exploitieren müßte.
Sowohl in den bis jetzt gedruckten als auch in den wohl zahlreicheren, nur in
Maschinenschrift vorliegenden Arbeiten (Diplom-, Doktorarbeiten, Dissertationen)
sowie den in philologischen Fachzeitschriften und Sammelbänden verstreuten
Beiträgen kann man wiederholt den Versuchen begegnen, das fremde Wortgut seiner
Herkunft nach einzuordnen und zu erklären. Dabei werden die zum großen Teil nur
in der gesprochenen Sprache (Mundart, Ma.) bestehenden Lexeme meist den
Benennungen der deutschen Gegenwartssprache gegenübergestellt und die
Abweichungen und Veränderungen, die das Lehnwort gegenüber der
schriftsprachlichen Lautung aufweist, als Ergebnis der Adaptierung und der
Interferenz der umliegenden slowakischen Mundart(en) beurteilt.
Einen Beweis dafür, daß der Prozeß der Übernahme viel komplizierter ist, nicht
nur die historische Entwicklung der beteiligten Kontaktsprachen und deren
Mundarten, sondern auch der Nachbarsprachen und die gesellschaftlich-politische
Entwicklung des untersuchten Sprach- und Zeitraums, die Kulturgeschichte im
breiten Kontext berücksichtigen muß, bringt Rainer Rudolf in seiner 1991 in Wien
erschienenen Monographie Die deutschen Lehn- und Fremdwörter in der
slowakischen Sprache. Da sich der Autor bei der Zusammenstellung des Wörterbuchs
auf die bis jetzt gedruckten Arbeiten gestützt hat, stellen die von ihm aufgelisteten
fast 4.000 germanisch-deutschen Lehnwörter keineswegs die vollständige
Bestandsaufnahme dar. So ist z. B. der Anteil der Wörter deutscher Herkunft in den
bis heute lexikographisch nicht erschlossenen slowakischen Mundarten der Oberzips
und der Zipser Gründe, in denen die Kontaktsituation bis ins 20. Jahrhundert
aufrechterhalten blieb, sehr hoch.

3. Deutsche Lehnwörter in der slowakischen


Gegenwartssprache
3.1. Eine zahlenmäßig kleinere Gruppe von Entlehnungen aus dem Deutschen
(abgesehen von Internationalismen wie Boxer, Kontrast bzw. von Fachtermini wie
Ablaut, Röntgen usw.) ist zu einem festen Bestandteil des Grundwortschatzes der
slowakischen Schriftsprache geworden - fast restlos diejenigen, die in den älteren
Etappen des Sprachkontakts übernommen worden und in der Arbeit von Rudolf in
den Gruppen a) Urgermanisch bis h) Alt- oder Mittelhochdeutsch aufgelistet sind,
vgl. z. B.:
brva (Augen)braue; cie¾¾ - Ziel; drôt - Draht; dazu: drotár < Drahtbinder;
drotova - 'Küchengeschirr mit Draht zusammenbinden, flicken'; drôtovòòa -
Drahtwerk; falošný - falsch; garbiar - Gerber; klenot - Kleinod; knôt - Docht (zu
mhd. knote); lano - Seil (mhd. lanne); majster - Meister; mašta¾¾ - Stall (ahd. marstal);
mýto - Maut; olovrant - zu (slowak.) "Halberabend" (slovak. Zwischenmahlzeit am
Nachmittag); plech - Blech; richtár - Richter; rukova - zum Präsenzdienst einrücken;
spori - sparen; sporák (ma. šparhet, šparhert) - Sparherd; šikovný - geschickt; šinde¾¾

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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- Schindel; š¾¾achta - Adel (ahd. slahta = Geschlecht; Herkunft, Stamm); šopa -


Schuppen; šupina, šupa - Schuppe; tanec - Tanz; šnurova - schnüren; rytier - Ritter;
truhla - Truhe usw.
3.2. Eine besonders hohe Frequenz weisen die Wörter deutscher Herkunft vor
allem in den Mundarten bzw. in der Umgangssprache auf, wo sie - genauso wie die
lexikalischen Germanismen der Schriftsprache - als systemhafte Elemente und als
Basis für weitere Derivation fungieren. Hierbei handelt es sich um die jüngere,
zahlemäßig viel stärkere Schicht des entlehnten Wortguts (bei R. Rudolf Gruppe i)
Mittelhochdeutsch bis m) Jüngeres Neuhochdeutsch), die sich aus der spezifischen
Entwicklung der spätmittelalterlichen Slowakei und den darauffolgenden
Jahrhunderten des Zusammenlebens von Slowaken und Deutschen in diesem Raum
erklärt. Im Unterschied zu lexikalischen Germanismen der ersten Gruppe, deren
fremder Herkunft sich der Sprachträger kaum bewußt ist, stehen in den Mundarten
neben den entlehnten, oft schon als Archaismen empfundenen Wörtern meist
einheimische Äquivalente. Bei diesen handelt es sich entweder um die parallel mit
dem fremden Wortgut bzw. in bestimmten Gebieten von altersher verwendeten
Lexeme oder um Neubildungen, v. a. für Lehnwörter terminologischen Charakters.
Viele dieser Entlehnungen gehen gegenwärtig zurück - was bei Angehörigen
der ältesten Generation noch üblicher Sprachgebrauch ist, wird von Jüngeren durch
Neues ersetzt bzw. merkmalhaft (meist emotionell beladen - scherzhaft, pejorativ,
abschätzig) verwendet. So stehen nebeneinander:
big¾¾ajs - Bügeleisen žehlièèka; foršus - Vorschuß zálohat; hamova - hemmen
(nur in der Bed. 'bremsen') brzdi; fedrova - fördern (nur in der Bed. 'unterstützen');
podporova, hand¾¾ova (sa) - handeln, verhandeln; vyjednáva, krenkova sa - sich
kränken - trápi sa; krochma¾¾ - Kraftmehl, Wäschestärke - škrob; kunèèaft -
Kundschaft - zákazníci; rínok - Ring, Hauptplatz - námestie; Hauptplatz - námestie
(slowak.) p¾¾ac - Marktplatz - trhovisko; špitál - Spital - nemocnica; šurc - Schürze -
zástera; štok - Stockwerk - poschodie; šanova, šanova(sa) - (sich) schonen - šetri
(sa); varštat - Werkstatt - stolárska dielò òa; cimerman, tišliar - Zimmermann, Tischler
- stolár; šuster - Schuster - obuvník; šregom - schräg - naprieèè, furt - fortwährend -
stále; priamo - direkt ; echtovný - echt - pravý, by štont - imstande sein; by v stave,
to ma netanguje - das tangiert mich nicht, geht mich nicht an - to sa ma netýka u. a.
m.
Nicht selten kann man auch in der Sprache der Presse umgangssprachlichen
Lehnwörtern und Wortverbindungen begegnen wie:
fortie¾¾, fortie¾¾ny - zu "Vorteil " (in der Bed. 'die Art und Weise können, wie
etwas zu machen ist', die dem englischen "know-how" entspricht); šturmova - zu
stürmen (`vor der Fertigstellung der Arbeit hastig arbeiten`); dazu šturmovština -
hastige Arbeit; zglajchšaltova - gleichschalten; robi kšefty - Geschäfte machen, by
paf - baff sein; by hin - hingerissen, begeistert sein; handrkova sa s niekým - mit
jdm. hadern; necha niekoho v štichu - jdn. im Stich lassen; úradný šime¾¾ -

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
-320-

"Büroschimmel/Amtsschimmel" ('Bürokratie'); urobi štichpróbu - eine Stichprobe


machen, prepás šancu - eine Chance verpassen, ma mindráky -
Minderwertigkeitskomplexe haben, robi do foroty - auf Vorrat arbeiten; da si bacha
- wach sein, aufpassen; nema o nieèèom ani dunstu - keinen Dunst von etw. haben;
nema o nieèèom šajn - keinen Schein, keine Vorstellung von etw. haben; ís na štrich -
auf den Strich gehen; ma resty - Reste haben ('etw. nachzuholen haben'); chytá ho
rape¾¾ - er kriegt einen Rappel; by švorc - schwarz sein ('kein Geld haben') u. a.
3.2.1. Die meisten Entlehnungen dieser Gruppe sind auf dem ganzen Gebiet der
Slowakei im Gebrauch und benötigen keiner besonderen Erklärung. Es zeigt sich im
Gegenteil, daß es oft Probleme bereitet, schriftsprachliche Äquivalente (Simplizia) zu
solchen umgangssprachlichen Wörtern zu finden wie:
fajront - Feierabend; fusák - Fußsack; portviš - Bartwisch; špagát - Spagat;
heftova - heften; endlova - endeln; štopka - (Strümpfe) stopfen; štepova - steppen;
šmirg¾¾ova - schmirgeln; trafi - treffen; štilka - Stielkamm, aber auch 'elektrische
Handsäge' (nach der Herstellungsfirma STIHL; dann verallgemeinert für alle Geräte
dieser Art) u. ä.
Bei anderen Wörtern deutscher Herkunft läßt sich ihr Verbreitungsgebiet durch
Isolexeme abgrenzen. So sind z. B. für Kartoffeln, slow. zemiaky in den slow. Maa.
mehrere, aus den deutschen Mundarten entlehnte bzw. nach den Gebieten, aus
denen die Kartoffeln höchstwahrscheinlich während des Dreißigjährigen Krieges
mitgebracht worden sind, gebildete Benennungen festzustellen: švábky, gru¾¾e (als
gruln, gru¾¾i in die zipserdt. Maa. rückentlehnt, vgl. J. Valiska 1980, 116; 1982, 215),
bandurky, krump¾¾e/grumple, balky, erdep¾¾e.
Besonders viele Lexeme dieser Gruppe sind in den Gebieten festzustellen, in
denen die deutschen Reliktmundarten bis heute gesprochen werden, so in der Zips
bzw. der Ostslowakei. Nachstehend einige wenige Beispiele:
Neben den auch schriftsprachlichen Verwanschaftsbezeichnungen švagor,
švagriná - Schwager, Schwägerin und deren Ableitungen (švagrovci, švagrovský,
švagrovstvo, Hypokoristika švagrík, švagorko, švagrinka, (vgl. KSSJ, S. 452) und
umgangssprachlichen Benennungen foter - Vater (pejorativ oder scherzhaft); frajer -
Freier ('der mehr oder weniger feste Freund', daneben auch 'Angeber', 'Prahler');
frajerka - '(feste) Freundin' (die Hypokoristika frajáreèèka, frajerôèèka sind besonders
in Volksliedern häufig; frajerkár ist aber schon ein Schürzenjäger), sind in der
ganzen Ostslowakei auch brauta für Braut; brojtigam, brajdiger, brajdžžiger, bralï ïijan
für Bräutigam bzw. auch für einen ernsthaften Bewerber (in dieser Bedeutung auch
fešák, fešak) allgemein verbreitet, während gótka, gudy für Taufpatin und potek für
den Paten auf die Zips beschränkt sind. Nur in der Ostslowakei ist die Bezeichnung
kera, kiera, kier, kyra für Kurve (Kehre, mhd. kêre, kêr) sowie das abgeleitete Verb
kerovac, zakerovac 'ein Fahrzeug lenken'; 'in eine Richtung fahren', mhd. kern)
gebräuchlich, die Bezeichnung kernièèka, kernicka für Butterfaß ist wiederum vor
allem für die Zips charakteristisch (mhd. kern; in der dt. Ma. von Dobschau di kiern

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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(vgl. J. Valiska) u. a.) kremfy - Krämpfe, klej - Klee, kirbis - Kürbis, lancuch - Kette,
mhd. lanne, lenèèa - Linse, štiglic - Stieglitz, majkefer, makaber - Maikäfer).
3.2.2. Die genannten Beispiele lassen erkennen, daß die Wörter deutscher
Herkunft in einzelnen Mundarten z. T. sehr unterschiedlich adaptiert wurden und
verschiedene Laut- und Formenvarianten (z. B. árešt, arešt, harešt, hárešet, herešt -
Arrest; hajcer, hajcér, hajcier, hajacér, hajèèár, hajcár - Heizer; tiract, tirarc, tirac,
tiras, tijarc, iarc, tilarc, tiralc, tira¾¾c - Tierarzt), oft auch unterschiedliche
Bedeutungen aufweisen. So sind z. B. die Bedeutungen des maskulinen Substantivs
koch mindestens zwei Homonymen zuzuordnen (Lipták, 1980:125), wobei sich aber
ihre Verbreitungsgebiete nicht decken:

koch1 1. offener Herd im Bauernhaus oder in der Schmiede (Ostslow.)


2. Einrichtung, die den Rauch vom offenen Herd in den Raum unter dem
Dach abführt (Mittelslow.)
3. Schornstein auf dem Haus bzw. der Fabrikschornstein (West-Liptau)
4. Lokomotive/Zug (Ost-Liptau)
koch2 1. Reis- (Nuß-, Kartoffel)auflauf, Napfkuchen (West- u. Mittelslow.)
2. Napfkuchenform (Mittelslow.)
3. altes Maß der Ölschläger (Westslow.)
In der Ostslowakei ist allerdings für den Hefekuchen die Bezeichnung kuch, für
den auf der Herdplatte gebackenen Fladen in der nördlichen Zips auch kusek üblich.
Bei dem Bedeutungswandel, den die entlehnten Wörter gegenüber der
ursprünglichen bzw. der in der deutschen Gegenwartssprache relevanten Bedeutung
aufweisen, ist am häufigsten die Bedeutungsverengung, oft aber auch die
Bedeutungsverschiebung und -übertragung zu verzeichnen.
So bedeutet das schriftsprachliche Wort bzw. der fachsprachliche Terminus
ciacha nur dasjenige Zeichen, das die Richtigkeit von Maßen, Waagen und
Meßgeräten bestätigt, das abgeleitete Verb ciachova - Meßgeräte kontrollieren; die
umgangssprachliche Verbindung niekoho ocajchova bedeutet 'jdm. ein Zeichen,
einen Makel anheften'.
Ostslow. ofera, ofiara - Opfer bzw. oferova - opfern werden nur im
Zusammenhang mit der Geldspende in der Kirche verwendet, ostslow. ferta¾¾ - Viertel
nur im Zusammenhang mit der Uhrzeit (tri ferta¾¾e - drei Viertel).
Das Verb rajba bedeutet in der West- und Mittelslowakei 'den Fußboden (mit
einem Schrubber) scheuern', in der Mittelslowakei auch 'etw. auf einem Reibeisen
zerkleinern', in der Ostslowakei hat es nur die Bedeutung 'Wäsche waschen', rajbaèèka
ist dann das Waschbrett.
Auf die frühe Zeit der Übernahme deuten die Bedeutungen des Pluraltantums
graty, das in den ostslowakischen Mundarten in der Bedeutung 'Küchengeschirr', in

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
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der Mittelslowakei als 'Kleidung' allgemein bekannt ist und auf den Plural des hd.
Neutrums "Gerät" hinweist, seiner heutigen Bedeutung aber kaum entspricht. Die in
den slow. Maa. festgehaltenen Bedeutungen dieser Entlehnung gehen auf mhd.
Substantiv gerâde zurück, das 'die fahrende Habe der Frau, Hausrat und Kleider'
bezeichnet (in dieser Bedeutung auch im Polnischen graty, im Alttschech. grad,
gerad, gród (vgl. Machek, 1957:117).
Vereinzelt dienen Lautvarianten dazu, verschiedene Bedeutungen des
entlehnten Wortes auseinanderzuhalten: tragar - Träger, Stützbalken / troger
Gepäckträger; flek - Fleck, in übertragener Bedeutung auch 'eine (gute) Arbeitsstelle';
f¾¾ak, f¾¾aky - Därme, Innereien; šiba - Fensterscheibe / šajba - Scheibe, šajbovec -
Scheibenbürste; bei ¾uft - Luft; ¾oft - 'Entlüftungsloch im Keller' liegt
höchstwahrscheinlich auch Kontamination vor.

4. Zum österreichischen Einfluß


Die unterschiedlichen Varianten und Bedeutungen von Wörtern deutscher
Herkunft im Slowakischen sind auf zwei eng miteinander zusammenhängende
Tatsachen zurückzuführen: einerseits werden von den Sprechern der deutschen
Mundarten bereits unterschiedliche Formen übernommen, andererseits unterliegen
sie im Prozeß der eigentlichen Entlehnung und unter dem Einfluß verschiedener
Faktoren unterschiedlichen formalen Laut- bzw. auch Systemveränderungen der
jeweiligen Mundart.
Dementsprechend sind nicht alle Abweichungen und Veränderungen, die die
Germanismen gegenüber der deutschen Gegenwartssprache aufweisen, als Ergebnis
der Adaptierung und der Interferenz zu beurteilen - oft handelt es sich vielmehr um
Beibehaltung der älteren oder ursprünglichen (deutschen) mundartlichen Lautung.
Denn die von den Ansiedlern gesprochenen, durch Sprecher verschiedener zentraler
Gebiete repräsentierten deutschen Mundarten befinden sich bei diesem ständigen
und ununterbrochenen Geben und Nehmen auch in Entwicklung, stellen also kein
normiertes Sprachgebilde dar. Es zeigt sich daher als unumgänglich, bei der
Untersuchung der Entlehnungen und ihrer Interferenzen nicht nur von synchroner
Betrachtungsweise auszugehen, sondern auch den diachronen Aspekt heranzuziehen.
Auch wenn manche Veränderungen weder aus dem Deutschen noch aus dem
Slowakischen zu erklären, sondern auf Analogie, Kontamination mit einheimischen
Wörtern, Einfluß von anderen Nachbarsprachen (Ungarisch, Polnisch, Ukrainisch),
Verstümmelungen und verschiedene außersprachliche Faktoren zurückzuführen
sind, läßt die heutige Lautgestalt von deutschen Lehnwörtern besonders in der
Stammsilbe Spuren dieser Entwicklung erkennen. Im folgenden soll unter
Heranziehung des diachronen Standpunkts versucht werden, anhand einiger
Erscheinungen aus dem Bereich der Lautlehre und der Wortbildung den Einflüssen
des österreichischen Sprachraumes nachzugehen.
4.1 Stammsilbe

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-323-

Bei unseren Betrachtungen gehen wir von der These aus, daß für ein voll
adaptiertes, also entlehntes Wort (im Unterschied zum Fremdwort) nur diejenige
lexikalische Einheit fremder Herkunft gehalten werden kann, die sich der
einheimischen Mundart maximal angepaßt hat und in ihrem Wortbestand als
systemhaftes Element funtioniert (Bartko 1980:91). Diese kann also keine Phoneme,
Phonemkombinationen bzw. Realisierungsformen solcher Lautgesetze enthalten, die
im einheimischen Sprach- bzw. Mundartsystem nicht vorkommen.
4.1.1. Wenn man in Betracht zieht, daß (abgesehen von ihrer Aussprache) das
Deutsche und Slowakische das gleiche Inventar von nicht umgelauteten Vokalen
besitzen, folglich also im Prozeß der Übernahme kein Grund zur Interferenz bestand,
dann sind die meisten Veränderungen dieser Laute in der Stammsilbe nicht als
Ergebnis der Adaptation, sondern als Besonderheiten der im betreffenden Gebiet
gesprochenen deutschen Mundarten zu erklären. Ihre Umlaute sowie Diphthoge
müssen dagegen dem einheimischen Lautsystem, das keine gerundeten Vokale und
fallenden Diphthonge kennt, angepaßt werden.
So sind neben den Belegen, die das mhd. bzw. schriftsprachliche a/â bewahren,
oft solche zu finden, die den ma. Wandel a > o aufweisen:
mhd. a: dufart - Durchfahrt; dach - Dach; gánok, ganek - zu "Gang" ('gangartiger
Hofbalkon'; vgl. slow. pavlaèèe - öst. Pawlatschen); hantlager - Handlanger;
firhag, firhanga - Vorhang (nur in der Bed. 'Gardine'); macher - Fachmann;
übertr. 'Prahler'; šma¾¾ec - Schmalz, Schweinefett; pakova (sa) - einpacken;
übertr. 'abhauen' (pakuj sa! - hau' ab!)
mhd. â: š¾¾afrok - Schlafrock; ratuš, ratús - Rathaus; harnad¾¾a - Haarnadel; jarmok/
jarmak/jarmark - Jahrmarkt; hák - Haken; krám - Kram; übertr. 'Geschäft'.
a > o: boks - Wachs (nur für 'Schukreme'); krochma¾¾ - Kraftmehl; bodvanka -
Badewanne; ponk - Bank (nur für 'Arbeitstisch in der Tischlerwerkstatt'); spori
/ špori / šporova - sparen; sporite¾¾ò a < Sparkasse; sporák - Sparherd; šor -
Schar (nur in der Bed. 'Reihe'); stodola - Stadel.
â > o: blajbok - Bleiwaage; drôt/drot - Draht; ferš¾¾ok - Verschlag; fajront -
Feierabend; gróf/grof - Graf; fjerš¾¾ok, ferš¾¾ok - Verschlag, Kiste; grodseg¾¾a -
Gratsäge; švagor / švager / švoger - Schwager; škop, škopok, škopec -
Holzschaff, Melkschaff.
Da dieser mundartliche Wandel in frühneuhochdeutscher Zeit sowohl
oberdeutsch (obd.) als auch mitteldeutsch (md.) bezeugt ist (V. Moser 1929, §§ 69,
75, 2), kann man ihn m. E. nicht nur dem direkten Einfluß des bairisch-
österreichischen Raumes zuschreiben. Ähnlich ist die Senkung von mhd. e (ä) schon
mhd. in vielen Gebieten des Oberdeutschen und im gesamten Ostmitteldeutschen
(Omd.) verbreitet (V. Moser 1929, §§ 71, 2; 76, 2) :
e(ä) > a: gepe¾¾/gápe¾¾ - Göpelwerk (mhd. gebel); fo¾¾vark - Vorwerk (meist als Flur-
bzw. Ortsname); plech/b¾¾acha - Blech; rachova - rechnen; rachunek -

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
-324-

Rechnung; ratova - retten; švablik - Schwefelholz; trafi - treffen;


verkštat/varkštat/varštat - Tischlerwerkstatt.
Daneben überwiegen weit Entlehnungen, in denen sowohl für den Primär-, als auch
für den Sekundärumlaut ein offener e-Laut steht:
cvek - Zweck, deke¾¾ - Deckel, drešer - Drescher, hebama - Hebamme, heftova -
heften, kelòòa - Kelle, krenkova sa - sich kränken, necova - netzen, knüpfen,
šte¾¾ova - stellen, štempe¾¾ - Stempel, šteker - Stecker, verklík - Werkel,
Leierkasten; ge¾¾ender - Geländer, hek¾¾ova - häkeln, heknad¾¾a - Häkelnadel,
bekeraje - Bäckereien ('feines Gebäck'), kšeft - Geschäft, drejbonk - Drehbank
(zu mhd. draejen) usw.
Auf die Beeinflussung durch die obd. Mundarten könnte der mangelnde Umlaut
hinweisen; andererseits kann es sich in den Fällen, in denen die slowakischen Maa.
ein a statt des Sekundärumlauts (nhd. e, ä) bzw. o und u an Stelle des nhd. Umlauts
aufweisen, auch um Bewahrung der älteren mittelhochdeutschen Form handeln, von
der erst sekundär, nach der Übernahme, die Derivate mit einfachem Vokal gebildet
worden sind. Vgl.:
farba, farbi - Farbe, färben (mhd. varwe, varwen), falošný, falšova - falsch,
fälschen (mhd. valsch, velschen), hamova - hemmen (mhd. hamen), g¾¾anc,
g¾¾ancova - Glanz, glänzen (mhd. glanz, glenzen), hand¾¾ova (sa) - handeln,
verhandeln, handliar - Händler (mhd. handeln, handeler, handler, hendeler),
šacova - schätzen (mhd. schatzen, schetzen), šafe¾¾, šaflik - Scheffel, öst.
Schaffel, šmak, šmakova - Geschmack, schmecken (mhd. smac, smacken),
šamerlik - Schemel, öst. ma. Schamerl (mhd. schamel, schemel), tragar/troger -
Träger (mhd. trager, treger), hozentrag¾¾e - Hosenträger; fošner - Förster (mhd.
auch forstaere), dazu foršta - Fußbodenbrett, koperdeka - Körperdecke, mordár
- Mörder zu Mord, dazu mordova - morden; štuke¾¾ - Stückel (mhd. auch
stuckel), dazu štuk¾¾ova - stückeln, p¾¾undrova - plündern, rukova - einrücken
(mhd. auch rucken), ¾uftova - lüften zu Luft, kušnier - Kürschner, buksa -
Büchse;
Viel öfter sind aber anstelle der Umlaute der Hochsprache (ö, ü) die einfachen
Vokale e und i anzutreffen. Bei der Entrundung der labialisierten Vokale (und
Diphthonge), die sich bereits in mhd. Zeit in weiten Gebieten des Obd. und Omd.
vollzogen hatte (V. Moser 1929, § 65; Paul/Moser/Schröbler 1975, § 22b), wird in
den slowakischen Maa. das Streben mitgewirkt haben, die in ihrem System nicht
immanenten Phoneme bzw. Phonemkombinationen zu beseitigen:
cugeher - Zubehör; kvelb - Gewölbe; letova - löten; letkolbòòa - Lötkolben;
mebe¾¾, meb¾¾e - Möbel; reklik - Röcklein (nur für 'Babyjäckchen'); fedrova -
fördern; ¾ tirštok - Türstock; fruštik/frištik - Frühstück;
gurtòòa/girt¾¾a - Gurt; Gürtel; ¾ ¾  - Bügeleisen, bügeln; bína -
Bühne; minca - Münze; mincier - Münzer; Schnellwaage; - zurück; kýbe¾¾

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-325-

- Kübel; kríge¾¾ - Krügel; kripe¾¾ - Krüppel; dinstova - dünsten; vinšova -


wünschen; fi¾¾fas - Füllfaß usw.
Wie im Obd. wird für den Diphthong eu/äu (ähnlich wie für ei)) aj, viel
seltener oj gesprochen - durch die Jotierung des zweiten Vokals des fremden
Diphthongs wird dieser zur Verbindung Vokal + Konsonant (vgl. die Silbentrennung:
ma-jer, fa-jer-man):
ei: b¾¾ajvas - Bleiweiß ('Bleistift'); krajda - Kreide; špajza, špajs - Speisekammer;
g¾¾ajcha - Gleiche; šajta - Holzscheit; rajtova - reiten; rajtky - Reithose;
štemajzòòa - Stemmeisen; cajger - Uhrzeiger; majster - Meister; majer -
Meierhof,-Gut; šmajch¾¾ova - schmeicheln; šlajer - Schleier; puceraj - Putzerei
(in der Bed. 'Schimpferei', 'Schikane'); vajdlik, vandlik - Weidling ('weites,
schüsselartiges Küchengeschirr') usw.
eu/äu: fajerman/fojerman - Feuerwehrmann; fajermur - Feuermauer; bajta - md.
Beute, Nudelbrett; lajtnant - Leutnant; vercajk - Werkzeug; cajgmajster -
Zeugmeister; fraj¾¾a -Fräulein ('Frau mit schlechtem Ruf'); krajštich - Kreuzstich;
zašprajcova - verspreizen (mhd. spriuzen); krajzupa/grajcupa - 'beim
Schweineschlachten entstandene Blutsuppe mit Graupen' (Grütze, mhd. griuze).
4.1.2. Auf die Beeinflussung durch die bairisch-österreichischen
Sprachlandschaften weisen eindeutig einige Besonderheiten aus dem Bereich des
Konsonantismus.
So ist der bairische Lautwandel b- > p- auf dem ganzen Gebiet der Slowakei in
jeder Stellung (vor Vokal und Konsonant) sowohl im absoluten wie auch im
mittelbaren Anlaut verbreitet. Formen mit b- und p- stehen oft nebeneinander, doch
scheinen die letztgenannten in der vom Niederösterreichischen stark beeinflußten
Westslowakei häufiger zu sein:
bajerpank - Beyerbank; waagerechter Dachbalken, westslow. pocheraje /
ostslow. bekeraje - Bäckereien; pedinterka, pedintrova - Bedienerin, bedienen;
baksa, buksa/piks¾¾a - Büchse; brusliak/prusliak - Brustlatz; putòòa, putko -
Butte; pankhart - Bankert; brutvanka - Bratblech; putika - Budike ('Kneipe');
pánt - Türband; puke¾¾ - Buckel; bruch/pruh - Bruch; pác, pacova - Beize,
beizen usw.
Zu belegen sind darüber hinaus Varianten mit anlautenden dr- > tr-
(dreksler/treksler - Drechsler, drelich/trelich - Drillich, vgl. Moser § 142, 1), Reste
des grammatischen Wechsels, des bairischen Wandels b > w (seltener kommt auch
der umgekehrte Wandel w > b vor) bzw. des alem.-bair.-ostfr. Wechsels zwischen b
und f:
šraubciger, šravenciger - Schraubenzieher; šrubova, šrofuva - schrauben;
iberciger - Überzieher; nitenciger - Nietenzieher; šulciger - Schuhanzieher;
šuplik/šuflik/šuf¾¾ada - Schublade, Fach; vartáš/vachtar/bachtar/bachar -
Wächter; bachtareò ò - Wächterhaus; švab¾¾e, švab¾¾iky - Schwefelhölzer,

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
-326-

Streichhölzer; b¾¾ajvas, blajvas/klajbas - Bleiweiß; halva - Hälfte, halbes Stück;


hever - Heber; presvuršt/presburšt - Preßwurst, Wurst.
Obd. Einfluß könnte auch die Palatalisierung von inlautendem s vor t zugeschrieben
werden: koštova - kosten; aber: kost - Kost; kumšt - Kunst; kumštir - Künstler;
kumštova - 'spekulieren, überlegen'; vuršt - Wurst; rošt - Rost; aber restova - rösten.
4.2 Nebensilben
Die fremden Affixe werden im Prozeß der Entlehnung in der Regel durch
entsprechende Wortbildungsmorpheme des Slowakischen ersetzt bzw. diesen
angepaßt. Nur resthaft haben sich ursprüngliche nominale Präfixe erhalten, die aber
nicht als solche, sondern als Bestandteil des Stamm-Morphems empfunden werden,
vgl. urlap - Urlaub, umš¾¾ak/umšlag - Umschlag, durš¾¾ak/druš¾¾ak/driš¾¾ak -
Durchschlag, fartuch/firtuch/fertucha/fjertoch - Vortuch, Fürtuch.
Durch den besonders für oberdeutsche Maa. charakteristischen Vorgang sind
Formen mit dem synkopierten Präfix ge- zu erklären, dessen g- (nach der
Assimilation vor s/š k-, vgl. Moser § 148, Anm. 2) zum Anlaut der Wurzelsilbe wird:
gvalt/kvalt - Gewalt ('Eile', 'Hast'); dazu kvaltova - 'sich sehr beeilen, hastig
arbeiten'; gver/kver - Gewehr; gvint - Gewinde; gvintborer - Gewindebohrer;
gvintaky - 'Schlittschuhe; die man an die Schuhe angeschraubt hat', ksicht -
Gesicht; kšeft - Geschäft; gmina - zips. Gemeinde; gzims - Gesims; kvelb -
Gewölbe; kvicht - Gewicht; graty - Geräte.
Nur in der vom Md. stärker beeinflußten Nord- und Ostslowakei haben sich
vereinzelt auch Formen mit ge- erhalten wie gevicht, ge¾¾ajza - Gleis; ('Radspur', mhd.
geleise), ge¾¾atka - Geleit, gezelšaft - Gesellschaft.
Von der Beeinflussung durch den österreichischen Usus zeugen auch diejenigen
Entlehnungen, in denen das Diminutiv-Morphem -erl, -l in adaptierter Form erhalten
blieb. Während aber die Wörter mit -erl die diminutive Bedeutung z. T. bewahren
(die Formen auf -¾¾ik), hat -l dieses Merkmal verloren und ist mit dem nominalen
Suffix -el zusammengefallen:
štamper¾¾ik - Stamperl, Schnaps-,Likörglas; nokerle, noker¾¾iky - Nockerl;
krache¾¾, kracher¾¾ik - Kracherl; puserliky - Busserl, Kokosbusserl; štangerliky
(Nuß)stangerl; kiflik, kifer¾¾ik - Kipferl;
bich¾¾a - (dickes) Buch; piks¾¾a - Büchse; šnuptich¾¾a - Schnupftuch; štrumpad¾¾a -
Strumpfband; fusek¾¾a - Fußsocke; virš¾¾a - Wurst; oring¾¾a - Ohrring; pant¾¾a -
Haarband; gerš¾¾a - Gerste; pajzel - Beisel; Beisl; kid¾¾a - Kittel ('Rock'); strúd¾¾a -
Strudel; kned¾¾a - Knödel; kurb¾¾a - Kurbel; kape¾¾us - Kappe, süddt. Kappel; hajzel
- Häusel ('Abort'); pajšle - Beuschel ('Lunge'); šnic¾¾a - Schnitzel; erdep¾¾e -
Erdäpfel; vinke¾¾ - Winkel .
Aus dem Gesagten ist ersichtlich, daß der Einfluß des Österreichischen auf das
Slowakische unverkennbar ist. Es zeigt sich gleichzeitig, daß er nicht eindeutig von
den Einflüssen der übrigen Zentrallandschaften zu isolieren ist. Bei dem Versuch,

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-327-

diese getrennt und unabhängig voneinander zu behandlen, würde man dieselbe


Gefahr laufen, wie bei den wenig überzeugenden Versuchen, die in der Slowakei
gesprochenen deutschen Mundarten mit denen der Zentralgebiete genetisch zu
verbinden - die mitgebrachten Mundarten haben auf der einen Seite untereinander
verwickelte Mischungs- und Integrierungsprozesse durchgemacht, auf die hier nicht
eingegangen werden konnte (dazu vgl. Hutterer 1968; 1985; 1995), andererseits
waren sie dem Einluß der umliegenden slowakischen Lokalmundarten ausgesetzt. In
beiden beteiligten Sprachen (Mundarten) hatte die Berührung Veränderungen
verschiedener Art zur Folge, besonders deutlich und auffällig ist jedoch die
gegenseitige Beeinflussung des Wortschatzes.

Literatur:
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der Wörter fremder Herkunft im mundartlichen Wörterbuch]. In:
Dialektologický zborník I. Bratislava. S. 89-93.
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von Dlhá Lúka/Langenau im Kreis Bardejov/Bartfeld]. Bratislava.
Czambel, Samuel (1906): Slovenská reè a jej miesto v rodine slovanských jazykov
[Die slowakische Sprache und ihre Stelle in der Familie der slawischen
Sprachen]. Turèiansky Sv. Martin.
Grothe, Hugo (1943): Das deutsche Volkstum in der Slowakei in Vergangenheit und
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slowakischen Sprache. IV. Lexik]. Bratislava.
Horák, Gejza (1955): Náreèie Pohorelej [Die Mundart von Pohorelá]. Bratislava.
Hutterer, Claus Jürgen (1968): Mischung, Ausgleich und Überdachung in den
deutschen Sprachinseln des Mittelalters. In: Zeitschrift für Mundartforschung
(Wiesbaden), 3 - 4. S. 399-405 (neu aufgelegt: Hutterer 1991, 87-92).
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Karpatenbecken (Am Beispiel der Sprachentwicklung). In: Ritter, Alexander
(Hrsg.): Kolloquium zu den volkskundlichen Bedingungen der Kultur bei den
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Hutterer, Claus Jürgen (1991): Aufsätze zur deutschen Dialektologie. Budapest.
Hutterer, Claus Jürgen (1995): Über die mehrsprachige Konvergenz in der
Entwicklung des Deutschen in der Zips. In: Švorc, Peter (Hrsg.): Die Zips in der
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Kaèala, Ján et al. (1987): Krátky slovník slovenského jazyka [Kurzes Wörterbuch der
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Krajèoviè, Rudolf (1988): Vývin slovenského jazyka a dialektológia [Die Entwicklung
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Lipták, Štefan (1980): O výskume remeselníckej terminológie a jej zaradení do
náreèového slovníka [Über die Erforschung der Handwerksterminologie und

Mária Papsonová: Zum gegenseitigen Einfluß des


österreichischen Deutsch und des Slowakischen.
-328-

deren Aufnahme in ein Mundartwörterbuch]. In: Dialektologický zborník I.


Bratislava. S. 121-129.
Machek, Václav (1957): Etymologický slovník jazyka èeského a slovenského
[Etymologisches Wörterbuch der tschechischen und slowakischen Sprache].
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Matejèík, Ján (1975): Lexika Novohradu. Vecný slovník [Die Lexik von
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Moser, Virgil (1929, 1951): Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. I/1; Bd. I/3.
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Paul, Hermann/Moser, Hugo/Schröbler, Ingeborg (1975): Mittelhochdeutsche
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Rudolf, Rainer (1991): Die deutschen Lehn- und Fremdwörter in der slowakischen
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Schwarz, Ernst (1935): Sudetendeutsche Sprachräume. München.
Valiska, Juraj (1980): Nemecké náreèie Dobšinej. Príspevok k výskumu zanikania
náreèí enkláv [Die deutsche Mundart von Dobšiná/Doschau. Ein Beitrag zur
Erforschung des Untergangs von Inselmundarten]. Rimavská Sobota.
Valiska, Juraj (1982): Nemecké náreèia horného Spiša. Príspevok k výskumu
reliktných náreèí v pokroèilom štádiu ich vývoja [Die deutschen Mundarten der
Oberzips. Ein Beitrag zur Erforschung von Reliktmundarten im fortgeschrittenen
Stadium ihrer Entwicklung]. Stará ¼ubovòa.
Valiska, Juraj (o. J.): Slovník nemeckých reliktných náreèí v Gemeri a na dolnom Spiši
[Wörterbuch der deutschen Reliktmundarten in Gömör und in der Unterzips].
(Maschinschrift.)

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 329-353

Libuše Spáèilová

(Olomouc)

Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen


und des österreichischen Deutsch in näherer
Geschichte
und Gegenwart

1. Einleitung
Das langjährige Zusammenleben der Tschechen mit den Österreichern in der
multinationalen habsburgischen Monarchie beeinflußte ohne Zweifel in vielen
Hinsichten die Gewohnheiten beider Völker. Als Beweis dafür kann die Sprache
dienen, denn die Sprache, und hier besonders der Wortschatz, spiegelt die
Lebensrealität wider. Die gegenseitige Beeinflußung beider Sprachen begann bereits
mit den ersten Handelsbeziehungen beider Völker.
Ich komme aus Olomouc, und in dieser mährischen Stadt war die Situation
noch deswegen spezifisch, weil hier von der Gründung der Stadt im 13. Jahrhundert
(vorher gab es hier bereits eine ältere slawische Ansiedlung) bis zum Jahre 1945 die
tschechische und deutsche Bevölkerung zusammenlebte. Die ersten sprachlichen
Kontakte sind viel älter. Nach Müller ist ”der mögliche Beginn slawisch-deutscher
lexikalischer Beziehungen im Ostalpengebiet sowie im ehemaligen Böhmen und
Mähren etwa mit dem 7. Jahrhundert datiert.”1 Die ältesten im Olmützer Archiv
bewahrten schriftlichen Quellen aus dem 15. Jahrhundert, die uns über
Handelsbeziehungen informieren, wurden im Frühneuhochdeutschen verfaßt. Diese
Archivalien sind sprachgeschichtlich sehr bedeutend, weil sie erweisen, daß das
Olmützer Deutsch durch die bairisch-österreichische Variante beeinflußt wurde. Seit
Anfang des 16. Jahrhunderts lieferten die Augsburger und Nürnberger ihre
"Kramerwaren" nach Olomouc. Unter diesem Begriff hat man sich Luxusartikel
vorzustellen, die für wohlhabende Olmützer Bürger bestimmt waren. Besonders
intensiv waren diese Kontakte zwischen den genannten bayrischen Städten und
Olomouc bis zu den 30er Jahren desselben Jahrhunderts.2 Die gleiche Intensität
erreichte der Handel mit Wien und Linz3 seit Ende des 15. Jahrhunderts bis zur
Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg.

1
Müller (1974), S. 109.
2
Kameníková (1980), S. 104.
3
Ebenda, S. 108.
-330-

Nicht nur die Beziehungen reicher Kaufleute, sondern auch die Kontakte ihrer
Faktoren, Fuhrmänner und Diener beeinflußten den Wortschatz, und nicht allein an
den Beziehungen für luxuriöse Waren wird dieser Einfluß deutlich.

2. Die gegenseitigen sprachlichen Kontakte in der


Vergangenheit
In den auf deutsch verfaßten Hinterlassenschaftsbüchern der Olmützer Bürger
aus dem 16. Jahrhundert kommen sehr oft Wörter vor, die für das bairisch-
österreichische Sprachgebiet typisch sind. Oft vermachten wohlhabende Olmützer
Fleischer ihren Nachkommen die Fleischbänke.4 Dieses einen Verkaufstisch für
Fleisch bezeichnende Wort wurde gerade im bairisch-österreichischen Sprachgebiet
verwendet, heute wird es im Österreichischen für veraltet gehalten.
Die Quellen geben aber auch Aufschluß darüber, in welcher Weise die
tschechische und die deutsche Sprache voneinander beeinflußt wurden. In den
Hinterlassenschaftsbüchern wurden ausführliche Warenlisten sowie Verzeichnisse
der Vermögen der reichen Olmützer Kaufleute gemacht. Man findet die
verschiedensten Ausdrücke, wie z. B. das Wort Zibebe,5 einen Ausdruck für "große
Rosine", der aus dem Italienischen stammt und im erwähnten Sprachgebiet üblich
war. In hannakischer Mundart6 wurde noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
das Äquivalent cibéba verwendet. Ein anderer Begriff aus dieser Sprachlandschaft,
der in den Hinterlassenschaftsbüchern vorkommt, gehört zum Alltagsvokabular: die
Bezeichnung Zieche7 im Sinne von Bettüberzug verwendet. Das tschechische Wort
cícha gehört zur tschechischen Schriftsprache.8 In den Olmützer Quellen erscheinen
jedoch nicht nur Begriffe, die aus dem erwähnten Sprachgebiet stammen. Man kann
auf den Seiten dieser meistens auf deutsch verfaßten Bücher auch Ausdrücke
slawischer Abstammung lesen, die ein paar Jahrhunderte später geläufig waren und
bis heute in der österreichischen Variante vorkommen. Als Beispiel kann das Wort
Tuchent 9 dienen, das in den Olmützer Quellen auch als Duchne oder im Plural als
Duchnen10 zu finden ist. Das Wort Tuchent ist slawischer Herkunft,11 und deshalb
besteht die Frage, ob dieses Wort und auch ähnliche Wörter (z. B. Kren) nicht gerade
über das Tschechische in das bairisch-österreichische Deutsch gekommen sind. Sie
werden bis heute in der österreichischen Schriftsprache verwendet, was man damit
erklären kann, daß das bairisch-österreichische Deutsch damals keine heimischen
Bezeichnungen für diese Gegenstände hatte.

4
Z. B. Archiv der Stadt Olomouc (weiter ASO), Bücher, Sign. 138, f. 41r, 197r; Sign. 164, f. 24v.
5
Z. B. ASO, Bücher, Sign. 122, f. 124v
6
Das Hanna-Gebiet ist ein Teil Mährens.
7
ASO, Bücher, Sign. 120, f. 28v.
8
Slovník spisovné èeštiny pro školu a veøejnost. Praha (1978), S. 51.
9
ASO, Bücher, Sign. 120, 121, 122, passim.
10
ASO, Bücher, Sign. 120, f. 26v, 28v.
11
Vgl. Machek (1971), S. 133-134, weiter Holub - Kopeèný (1952), S. 110.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-331-

Die Beziehungen der böhmischen Länder, besonders Mährens, zu den


österreichischen Gebieten entwickelten sich auch in der Zeit nach der Schlacht am
Weißen Berg. Eine außergewöhnliche Intensität erreichten die Beziehungen ohne
Zweifel im 19. Jahrhundert, als eine hohe Anzahl von Bewohnern Böhmens und
Mährens ihrem Broterwerb in Österreich, vor allem in Wien, nachging. Lassen wir
die Zahlen sprechen. Der Statistik zufolge lebten im Jahre 1880 in Wien 25 186
Tschechen, im deutschsprachigen Habsburgerreich 60 390 Tschechen; im Jahre
1900 sogar 103 546 Tschechen in Wien und 129 546 in ganz Deutsch-Österreich.12
Durch diese Tatsachen wurde auch die Sprache der Wiener beeinflußt. Zur Blütezeit
der böhmischen Kultur in Wien hatte Tschechisch einen großen Einfluß auf die
Wiener Umgangssprache. Tschechische Phraseologismen wurden direkt und
wortwörtlich übersetzt. Diese Einflüsse sind noch heute sichtbar, und deshalb
erscheinen im Wiener Deutsch solche Wendungen, wie z.B. auf lepschi gehen in zwei
Bedeutungen - "einen Seitensprung machen" oder "sich einen guten Tag machen",
weiter auf d´letzt - "zum letztenmal" oder das steht nicht dafür. Dieses letzte Idiom ist
eine wörtliche Übersetzung der tschechischen Wendung und bedeutet "das lohnt sich
nicht". In Wien oder im ostösterreichischen Gebiet ist sogar die mährische Form des
tschechischen Wortes pomalu (pomali) - ”langsam” - zu hören. Heimito von Doderer
verwendete sie z. B. in seinem Werk "Die Dämonen". Er schreibt: "Wir sind schön
pomali dahingezogen."13 Alle erwähnten Wendungen blieben jedoch nur auf das
Wiener Deutsch beschränkt und haben die österreichische Schriftsprache nicht
beeinflußt.14
Bei den erwähnten engen Beziehungen kamen ins Tschechische mittels des
österreichischen Deutsch Wörter fremder, meistens französischer oder italienischer
Herkunft, die in der österreichischen Sprachvariante üblich waren.15 Ein solches
Wort ist z. B. Karfiol, dessen Herkunft in den italienischen Ausdrücken cavolo und
fiore zu suchen ist und das in der österreichischen und süddeutschen Sprachvariante
um 1600 heimisch wurde. Im Tschechischen wird das Wort karfiol heute weniger
verwendet, es gilt jedoch nicht als veraltet. Aus derselben Sprache stammt auch das
Wort Trafik, im Italienischen traffico (Handel), das im Tschechischen bis heute das
verwendbare Äquivalent trafika hat. Ein anderes Wort italienischer Abstammung ist
Spagat (im Binnendeutsch Schnur, Bindfaden). Der im Tschechischen verwendete
Ausdruck špagát gehört zu den Slangwörtern. Aus der italienischen Soldatensprache
her kam das Wort Kavalett (einfaches Bettgestell), heute im österreichischen Deutsch
veraltet, im Tschechischen gehört das Wort kavalec ebenfalls zu der
Militärterminologie. In der Soldatensprache wurde auch das Wort Montur
eingedeutscht. Es stammt aus dem Französischen und bedeutet Uniform. Im

12
Valta (1974), S. 69.
13
Vgl. Ebner (1980), S. 143.
14
Es gibt viele Studien, die sich mit dem Slawischen bzw. Tschechischen im Wienerischen
beschäftigen. Als Beispiel kann z. B. Steinhauser (1962) dienen.
15
Valta (1974), S. 66ff.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-332-

Tschechischen gebraucht man diesen Ausdruck der Gemeinsprache mundúr als


Synonym für Uniform oder sonderbare Kleidung. Aus dem Französischen kam das
Wort Partezettel (französisch donner part) mittels des österreichischen Deutsch ins
Tschechische. Die in Österreich verwendete gekürzte Form Parte wurde ins
Tschechische übertragen. Heute ist es zwar ein veralteter, aber in der
Umgangssprache immer noch verwendbarer Ausdruck. Auf dem Gebiet der Mode
wurde das Wort Dragoner (bdt. Rückenspange, z. B. am Mantel), ins Tschechische
übertragen. Ursprünglich wurde so ein Reitersoldat bezeichnet. Das Tschechische
kennt beide Bedeutungen.
Nicht nur Wörter fremder Herkunft, die vermittelt durch die österreichische
Sprachvariante ins Tschechische kamen, sondern auch manche österreichischen
Wörter oder Wendungen beeinflußten den tschechischen Wortschatz. Dieser Einfluß
wird deutlich vor allem im Wortschatz jener sozialen Gruppen, in denen die Kontakte
zwischen beiden Völkern besonders rege waren. Dazu gehörte etwa die Armee.
Österreichische und tschechische Soldaten lebten miteinander, und deshalb weist die
österreichische Soldatensprache viele Ausdrücke und Wendungen auf, die auch in
unserem Land verwendet wurden, die heute aber meist nur umgangssprachlich sind.
Eine reichhaltige Quelle solcher Wörter ist Hašeks Werk "Die Abenteuer des braven
Soldaten Schvejk". In dem weltberühmten Roman finden wir eine mit zahlreichen
Austriazismen angereicherte tschechische Gemeinsprache. Deshalb wissen die
meisten Leser dieses Werks, wer ein Feldkurat ist (bdt. Militärgeistlicher), und
verstehen auch österreichische Militärbefehle - z. B. das Kommando Habt acht! (bdt.
Achtung), das im Gemeintschechischen - mit verstümmelter Aussprache - als hapták
verwendet wurde.
Ein anderer Bereich, in den der österreichische Wortschatz eingedrungen ist,
war die Sprache der Handwerker. Statistiken zeigen, daß der Anteil der Wiener
Gesellen, die aus Böhmen und Mähren stammten, seit den 20er Jahren des 19.
Jahrhunderts rasch stieg. Während z. B. im Jahre 1820 16,8% aller Wiener
Tischlergesellen aus Böhmen und Mähren stammten, erreichte dieser Anteil im Jahre
1869 eine Höhe von 58,7%.16 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
dominierten in Wien tschechische Schneider und Schuster. Wenn wir bei Schneidern
und Schneiderinnen bleiben, entdecken wir manche Vokabeln in unserem
Wortschatz, die noch im heutigen österreichischen Deutsch verwendet werden. Das
Wort endeln, im Tschechischen entlovat, bedeutet "Ränder eines Gewebes einfassen."
In der tschechischen Schriftsprache verwendet man das Wort špendlíky, das seine
Herkunft im österreichischen Begriff Spendeln hat; im Binnendeutsch verwendet man
dafür das Wort Stecknadeln. Ähnlich ist es auch mit dem Terminus Zipp oder
Zippverschluß, im Binnendeutsch Reißverschluß, der im Tschechischen
umgangssprachlich in seiner gekürzten Form als Zip bis heute vorkommt.

16
John, - Lichtblau (1990), S. 19.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-333-

Zu weiteren Termini des Handwerks, deren Herkunft von österreichischen


Wörtern abgeleitet werden kann, gehören viele, heute veraltete Begriffe oder
Slangausdrücke. So kann z. B. das Wort Dachgleiche mit der Bezeichnung der
tschechischen Slangsprache glajcha identifiziert werden. Das Binnendeutsch ersetzt
diesen Terminus durch eine Beschreibung - ”Fertigstellung des Hausbaus bis zum
Aufsetzen des Dachstuhls”. Beim Bau eines Hauses verwenden die österreichischen
Zimmerleute Tramen (Sg. Tram), in der tschechischen Schriftsprache gibt es für
dieses Wort dasselbe Äquivalent - trám. Wenn man einen schweren Gegenstand nicht
aufheben kann, verwenden die Handwerker einen Beißer; im Tschechischen gibt es
einen umgangssprachlichen Ausdruck pajzr; im Binnendeutschen hat dieser
Ausdruck zwei Bedeutungen - Brechstange oder ein bissiges Tier.
Die Tatsache, daß im Jahre 1880 46,8% der Frauen aus Böhmen und Mähren in
Wien als Hausgesinde oder Dienstmädchen tätig waren,17 beeinflußte auch den
Wortschatz, mit dem die Einrichtung des Haushaltes beschrieben wird. Die Frauen,
die nach ein paar Jahren in die Heimat zurückkamen, brachten viele österreichische
Ausdrücke mit. Der österreichische Ausdruck Bartwisch kam ins Gemeintschechische
als portviš. Im Binnendeutsch gibt es das Äquivalent Handbesen oder Handfeger. Alte
Stoffreste wurden im österreichischen und bairischen Deutsch mit dem Begriff Hader
bezeichnet. Ins Tschechische wurde dieses Wort entlehnt, dabei kam es zur Synkope
des -e. Interessanterweise gibt es zwei Äquivalente für diesen österreichischen
Ausdruck: in Böhmen hadr (Maskulinum), in Mähren hadra (Femininum). Beim
Aufräumen wurde in Österreich auch der Pracker - Teppichklopfer verwendet. Im
mährischen Dialekt gibt es bis heute das Wort prakr. Das österreichische Wort Speis
(ursprünglich Speise, es kam zum Abfall des Ende-e) in der Bedeutung Speisekammer
ist es heute in Österreich veraltet (in Bayern noch im Dialekt gebräuchlich); im
Tschechischen gibt es einen umgangssprachlichen Ausdruck špajz, der in demselben
Sinne verwendet wird. Von Möbeln können wir z. B. Stockerl nennen (bdt. Hocker),
das in der mährischen Gemeinsprache bis heute štokrle heißt.
Der Umstand, daß so viele böhmische und mährische Frauen in Österreich - vor
allem in Wien - arbeiteten, hat ganz besonders den Wortschatz der Kochkunst -
freilich auch diese selbst - beeinflußt. Bis heute gibt es eine Reihe von kulinarischen
Ausdrücken, die in beiden Sprachen fest eingebürgert sind, ohne daß die Benutzer
ihre Herkunft kennen.

3. Der gegenseitige Einfluß im Bereich der


Speisebezeichnungen und der Küchensprache
In der Olmützer Universitätsbibliothek gibt es einige Kochbücher, die nicht nur
ihrer feinen Rezepte, sondern auch der Lexik wegen interessant sind. Das älteste von
ihnen ist Anna Rosenmüllers "Die praktische Köchin. Ein Kochbuch auf jahrelangen
Erfahrungen gegründet und leicht faßlich für Jedermann." Es erschien im Jahre 1855

17
Ebenda, S. 19.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-334-

in Tábor in Südböhmen, also in dem Gebiet, das vom österreichischen Deutsch stark
geprägt wurde, und möglicherweise war die Autorin Österreicherin. Verwendet aber
wurde dieses Kochbuch wahrscheinlich auf unserem Territorium.
Österreichische Ausdrücke finden wir gleich bei der Charakteristik des
Geschirrs. Wichtige Hilfsmittel in der Küche werden durch österreichische und
bairische Ausdrücke benannt wie Walker bzw. Nudelwalker (bdt. Nudelholz, im
Tschechischen umgangssprachlich válek na nudle) oder Reindl (bdt. kleiner
Kochtopf, in der tschechischen Schriftsprache gibt es das Wort rendlík). Bei der
Beschreibung der Arbeitsverfahren erscheint das Verb sprudeln (bdt. quirlen), in den
mährischen Mundarten verwendet man bis heute das Verb šprudlovat oder das
Substantiv šprudlák (im Österreichischen Sprudler), ein Küchengerät, mit dessen
Hilfe man sprudelt. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den Speisen zuwenden, so
finden wir unter den Kochrezepten z. B. Rindsuppe (bdt. Fleischbrühe), Eingetropftes
in die Suppe (bdt. flüssiger Teig, den man durch ein Sieb als Einlage in eine kochende
Suppe tropfen läßt) oder eine gelbe Einbrenn (bdt. Mehlschwitze). Von Fleischsorten
kann man das Wort Lungenbraten nennen (bdt. Lendenbraten). Bei Obst und Gemüse
entdecken wir andere, in Österreich gebräuchliche Wörter, wie Karfiol (bdt.
Blumenkohl, im Tschechischen das heute wenig verwendete Wort karfiól), Fisolen
(bdt. grüne Bohnen, in der tschechischen Schriftsprache fazole), Marillen (bdt.
Aprikosen, in der tschechischen Schriftsprache meruò òky), Ribisel (bdt.
Johannisbeeren, in der tschechischen Schriftsprache rybíz), Paradieser (bdt. Tomaten,
in der tschechischen Schriftsprache rajžata), Erdäpfel (bdt. Kartoffeln, in den
mährischen Mundarten erteple), Kohl (bdt. Wirsing, in der hannakischen Mundart
kél) oder das Wort Kren (bdt. Meerrettich, in der tschechischen Schriftsprache køen),
das wie schon erwähnt slawischer Abstammung ist. Interessant ist auch der Ausdruck
Schmetten (bdt. Sahne), der im Ostmitteldeutsch verwendet wurde und vom
slawischen Wort smetana (Sahne) abgeleitet werden kann.18 In diesem Kochbuch
fehlt natürlich nicht ein Rezept für böhmische Kolatschen (die Bezeichnung wurde
vom tschechischen Wort Kolo - Rad abgeleitet, tschechisch koláèe) - kleine gefüllte
Hefebackstücke. Allerdings sollten die Kolatschen nach diesem Kochrezept nicht aus
Germ, sondern aus Hefe gebacken werden. Nicht zuletzt für die Feinschmecker sei
noch eine andere Mehlspeise erwähnt: die Dalken (kleine Fladen mit Marmelade).
Dieses Wort entstand aus dem tschechischen Wort vdolky. Anna Rosenmüllers
Kochbuch belegt eine gegenseitige Beeinflußung der tschechischen Sprache und des
österreichischen Deutsch; einerseits wurden österreichische Ausdrücke, die im
Tschechischen entlehnt wurden, andererseits Wörter tschechischer Herkunft
verwendet.
Elisabeth Stöckels Buch "Die bürgerliche Küche oder neuestes österreichisches
Kochbuch für Haushaltungen, welche einen schmackhaften Tisch lieben" erschien im
Jahre 1861 in Wien. Betrachten wir nun nur diejenigen Ausdrücke der

18
Müller (1974), S. 117.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-335-

österreichischen Sprachvariante - entweder heimischer oder fremder Herkunft - die


auch ins Tschechische entlehnt wurden. Unter Fleischspeisen steht z. B. Fleisch-Sulze;
wobei in Klammern auch das Synonym Aspic angeführt wird, im Tschechischen
verwendet man den umgangssprachlichen Ausdruck sulc. Der österreichische
Ausdruck Beuschel (bdt. Lungen von Tieren) hat in der tschechischen
Umgangssprache eine ähnliche Bezeichnung - pajšl. Der Konsonant b im Anlaut
wurde zu p. Faschiertes Fleisch hat in der Umgangssprache, vor allem in Mähren,
auch einen entsprechenden Ausdruck - fašírka. Empfohlen wurden der Köchin auch
Schinkenfleckerl, die in der tschechischen Umgangssprache šunknfleky (Schinken -
šunka) heißen, in der Schriftsprache gibt es die Bezeichnung flíky,19 die aus dem
zweiten Teil des Kompositums abgeleitet ist.
Die linguistische Analyse läßt sich an den Bezeichnungen für Obst und Gemüse
fortsetzen. Der österreichische Ausdruck Zeller heißt im Tschechischen entsprechend
celer. Interessant ist auch das Wort Agras. Heute gilt das Wort Agrasel (bdt.
Stachelbeeren) als ostösterreichisch, mundartlich. Im Tschechischen gibt es bis heute
das Wort angrešt. Auch vielen anderen österreichischen Wörtern entsprechen
tschechische Äquivalente, die sehr ähnlich sind; z. B. Zwetschken erinnern an das
tschechische Wort švestky.
Unter Mehlspeisen findet man Brioche-Teig (bdt. Brioche - ein mürbes Gebäck);
in Böhmen und Mähren werden auch Briochen, die sog. briošky, gebacken. Das
Kompositum Mandel-Busserl (aus dem Wort Bussi, im Tschechischen pusinka) wird
wie im Tschechischen im übertragenen Sinne als Bezeichnung für ein sehr kleines
süßes Schneegebäck verwendet.
In Stöckels Kochbuch finden wir ebenfalls viele Ausdrücke, die aus dem
Tschechischen stammen. Unter den Kochrezepten sind Rezepte für Zwetschken-
Powidl (bdt. Pflaumenmus, tschechisch švestková povidla), Dalkerl (tschechisch
vdolky) und böhmische Kolatschen.
Das dritte untersuchte Material ist kein Buch im wahren Sinne des Wortes. Es
geht um ein auf deutsch verfaßtes Manuskript eines Kochbuches, das aus Olomouc
stammt und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Hier findet man
wieder ein buntes Gemisch österreichischer und tschechischer Ausdrücke: das schon
erwähnte Wort Schmetten, weiter Semmelbrösel (Paniermehl), Kipferl (Hörnchen),
Zibeben, Eingesottenes oder Eierklar (bdt. Eiweiß). Den österreichischen Einfluß
erkennt man auch an Deminutivformen auf -erl: Becherl, drei Taferl Schokolade, ein
Stamperl, drei ganze Nägerl (bdt. Nelkengewürz). Fast in jedem Rezept finden wir das
Verb abtreiben. Es hat in der österreichischen Küche auch eine andere Bedeutung als
im Binnendeutschen - "zu Schaum machen". Einige österreichische Wörter kommen
in veränderten Formen vor - Garm statt Germ, Kugelhopf statt Gugelhupf, Häupl statt
Häuptel oder Semmel-Baba statt Semmelschmarren.

19
Slovník spisovné èeštiny pro školu a veøejnost (1978), S. 102.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-336-

Auch das 1911 in Wien von Heintz herausgegebene Kochbuch belegt den
gegenseitigen Einfluß auf dem Gebiet des Wortschatzes. Vom Austausch der Rezepte
zeugen viele böhmische Speisen, manchmal sogar durch ihre geographischen
Bezeichnungen, z. B. die Brünner Suppe, Erbsen auf böhmische Art, böhmische
Knödel u. a. Wir finden im Buch auch die Powidltascherln, Kartoffelndalken,
Liwanzen (im Tschechischen sind lívance eine Mehlspeise aus gegossenem Teig, die
in einer Pfanne zubereitet wird) mit Powidln, gefüllte Buchteln mit Powidln oder
echte böhmische Dalken mit Germ. Zu anderen Spezialitäten gehören z.B.
österreichischer Plunderteig, der in der tschechischen Schriftsprache als plundrové
tììsto bekannt ist, weiter Kremschnitte, bei uns umgangssprachlich kremšnýty
genannt, oder Pischingertorte (Oblatentorte), die unter dem umgangssprachlichen
Wort pišingr besonders in Böhmen bekannt ist.
Das enge Zusammenleben der Österreicher und Tschechen in der ehemaligen
Monarchie läßt sich nicht zuletzt anhand der Kochkunst illustrieren; und ihre
Sprachen - gerade die dazugehörige Lexik zeigt den gegenseitigen Einfluß der
österreichischen Variante des Deutschen und des Tschechischen. Die meisten
entlehnten Wörter sowohl im österreichischen Deutsch als auch im Tschechischen
gehören allerdings nur zur Umgangssprache oder sind mundartlich begrenzt. Diese
Beschränkung hatte auf tschechischer Seite einen nationalpolitischen Grund. Man
versuchte die tschechische Sprache aus Angst vor einer Beeinträchtigung der eigenen
Sprache gegen jeden größeren deutschen Einfluß abzuschirmen. Diese Tendenzen
wurden nach der Schlacht am Weißen Berge stärker und kulminierten im 19.
Jahrhundert.20 Sie betrafen die deutsche Sprache als Ganzes, d. h. auch die
österreichische Sprachvariante. Nur wenige entlehnte Wörter österreichischer oder
auch französischer und italienischer Herkunft, die über das österreichische Deutsch
in die Böhmischen Länder gekommen waren, wurden in die tschechische
Schriftsprache aufgenommen, wenn es noch kein heimisches Äquivalent gab. Solche
Wörter dienten überwiegend als Basis für einen neuen Ausdruck, an dem man jedoch
bis heute Spuren der fremden Herkunft erkennen kann (z. B. Marille - meruò òka).
Ähnlich war es aber auch bei der Entlehnung tschechischer oder slawischer Wörter
im österreichischen Deutsch. Die meisten entlehnten Ausdrücke gehören zur
Umgangssprache oder werden nur mundartlich verwendet. Nur in den Fällen, in
denen österreichische Begriffe fehlten, wurden tschechische oder slawische Wörter in
die österreichische Schriftsprache erhoben (Kren - køøen).

20
Man denke an die puristischen Tendenzen, die mit der sog. nationalen Wiedergeburt in den
Böhmischen Ländern verbunden sind.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-337-

4. Die gegenseitigen Einflüsse zwischen dem


österreichischen Deutsch und dem Tschechischen in der
Gegenwart
Die gegenseitigen Einflüsse sind durch den unterbrochenen Kontakt zwischen
1949 und 1989 noch daraufhin zu untersuchen, wie viel davon und in welcher
Weise in Gebrauch ist. Bei dieser Analyse kann man zwecks leichterer Orientierung
zwei größere Gruppen bilden. Zu der einen gehören Wörter nichtdeutschsprachiger
Herkunft, die vor allem aus dem Lateinischen, Französischen oder aus dem
Italienischen entlehnt wurden; zur anderen Wörter deutscher Abstammung. Ein Teil
der ins Tschechische aufgenommenen Wörter ist nicht nur in Österreich, sondern
auch in Bayern, Süddeutschland oder in der Schweiz in Gebrauch. Deshalb wird im
folgenden bei jedem Ausdruck angegeben, wo er in Verwendung steht. Dabei ist ein
Vergleich nicht nur mit dem tschechischen, sondern auch mit dem binnendeutschen
Äquivalent durchzuführen, so daß sich folgendes Schema ergibt:
I. Wörter nichtdeutscher Herkunft:
a) der Ausdruck kommt in der österreichischen eventuell in der süddeutschen,
bairischen oder schweizerischen Variante vor, in Binnendeutsch ist er jedoch
veraltet;
b) der Ausdruck kommt in der österreichischen eventuell in der süddeutschen,
bairischen oder schweizerischen Variante vor, in Binnendeutsch wurde er nie
verwendet;
c) der Ausdruck hat in der süddeutschen, bairischen oder schweizerischen Variante
im Unterschied zur binnendeutschen eine andere Bedeutung;
d) der Ausdruck ist in der österreichischen Variante veraltet und auch in
Binnendeutsch gilt er veraltet;
II. Wörter deutscher Herkunft:
a) der Ausdruck in der österreichischen (bairischen, süddeutschen oder
schweizerischen) Variante entspricht einem anderen Ausdruck in Binnendeutsch;
b) der Ausdruck hat in der österreichischen (bairischen, süddeutschen oder
schweizerischen) Variante eine andere Bedeutung als in Binnendeutsch;
c) der Ausdruck ist in der österreichischen (bairischen, süddeutschen oder
schweizerischen) Variante und auch in Binnendeutsch veraltet.
Betrachtet man tschechische Äquivalente, so findet man darunter viele
umgangssprachliche, expressive, saloppe oder mundartliche Ausdrücke.
Zu I. Wörter nichtdeutscher Herkunft:

a) Der Ausdruck kommt in der österreichischen eventuell in


der süddeutschen, bairischen oder schweizerischen Variante
vor, in Binnendeutsch ist er jedoch veraltet:

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-338-

der Advokat:
das Wort aus der Rechtswissenschaft, das aus dem Lateinischen (advocatus) im 14.
Jh. entlehnt wurde, verwendet man in Österreich und in der Schweiz. In
Binnendeutsch wurde es im 19. Jh. durch den Ausdruck Rechtsanwalt ersetzt und ist
heute für veraltet oder wird für abwertend gehalten. Im Tschechischen entspricht
dem österreichischen Wort das Äquivalent advokát;
das Fauteuil:
das Wort wurde aus dem Altfränkischen (faldistol = Faltstuhl) ins Französische
(fauteuil) und im 18. Jh. wieder ins Deutsche übernommen. Es wird vor allem in
Österreich verwendet, sonst ist es veraltet. In Binnendeutsch entspricht ihm der
Ausdruck Sessel (bequemer Polstersessel mit Armlehnen); im Tschechischen ist das
Wort fotel als teilweise veralteter Ausdruck der Gemeinsprache zu bezeichnen;
das Goal:
die Bezeichnung aus der englischen sportlichen Terminologie (goal) wird in
Österreich und in der Schweiz gebraucht, in Binnendeutsch ist es ein veralteter
Ausdruck, üblich ist das Wort Tor. Im Tschechischen ist das Wort gól auch teilweise
veraltet, trotzdem bis heute in der Umgangssprache verwendbar, in der
Schriftsprache wurde es durch das Wort branka (= Tor) ersetzt;
insultieren:
dieses Verb hat seine Herkunft im Lateinischen (insultare) und ist bis heute in der
Schweiz aktuell. In Binnendeutsch ist es veraltet, stattdessen ist "beleidigen" üblich.
Im Tschechischen gehört das Wort insultovat zur Bildungssprache;
das Pennal:
der im schulischen Milieu übliche Ausdruck wurde Ende des 15. Jh. aus dem
Lateinischen (penna) ins Deutsche entlehnt. In Binnendeutsch wird das Wort
Federbüchse verwendet. In dieser Sprachvariante, wo das Wort Pennal in der
erwähnten Bedeutung für veraltet gehalten wird, hat es noch eine andere - auch
veraltete - Bedeutung: eine höhere Schule. Im Tschechischen gehört das Wort penál
zur Gemeinsprache (in derselben Bedeutung wie in Österreich). Das Wörterbuch der
tschechischen Schriftsprache bezeichnet es nicht als veraltet, sein Gebrauch ist jedoch
eher bei der älteren Generation üblich;
das Spital:
das lateinische Wort hospes stand am Anfang der Entwicklung dieses Substantivs, das
heute in Österreich und in der Schweiz zum medizinischen Milieu gehört. Diesem in
Binnendeutsch veralteten Ausdruck entspricht das binnendeutsche Äquivalent
Krankenhaus. Im Tschechischen wird die Bezeichnung Špitál als veraltet angesehen,
in der Umgangssprache wird es jedoch bis heute verwendet, sehr oft im pejorativen
Sinne;
die Tabatiere:
dieser bis heute verwendete österreichische Ausdruck wurde im 17. Jh. aus dem

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Französischen (tabatiere) entlehnt und ist in Binnendeutsch veraltet, früher bedeutete


er jedoch in dieser Sprachvariante Schnupftabakdose. In Österreich bedeutet
Tabatiere einerseits Tabakdose, andererseits Zigarettenetui. Beide Bedeutungen hat
das tschechische Wort tabatììrka;
die Tschinelle (meist Pl. -n):
aus dem italienischen Wort cinelli entstand das österreichische und süddeutsche
Wort. In Binnendeutsch wurde die veraltete Bezeichnung durch das Äquivalent
Becken ersetzt. Im Tschechischen entspricht ihm das Wort èinely, das in Böhmen aus
dem Deutschen entlehnt wurde.

b) Der Ausdruck kommt in der österreichischen eventuell in


der süddeutschen, bairischen oder schweizerischen Variante
vor, in Binnendeutsch wurde er nie verwendet:
der Adjunkt:
das Wort stammt aus dem Lateinischen adiunctum, und bedeutet es einen
Beamtentitel (Amtsgehilfe). Im Tschechischen wurde es früher sehr häufig verwendet
(adjunkt), heute gilt es für teilweise veraltet;
der Automatenbüffet (veraltete österr. Schreibung Buffet):
aus dem französischen Wort buffet, in Binnendeutsch wird das Äquivalent
Schnellimbiß gebraucht, im Tschechischen gibt es zwei Ausdrücke mit derselben
Bedeutung: automat oder bufet. Es gibt noch andere Bedeutungen - Schanktisch oder
Geschirrkasten;
der Billeteur:
aus dem Französischen (billet). In Binnendeutsch gibt es den Ausdruck Platzanweiser.
Im Tschechischen ist das Wort biletáøø ein umgangssprachlicher Ausdruck. Es ist noch
auf die schweizerische Bedeutung aufmerksam zu machen. In der Schweiz bedeutet
das Wort Billeteur dasselbe wie Schaffner;
der Brimsen:
das Wort könnte aus dem Rumänischen (brinza) stammen. Einige Quellen führen an,
es wurde von den Walachen übernommen. Oft wird es in der Zusammensetzung
Brimsenkäse verwendet. Das binnendeutsche Äquivalent ist Schafmilchkäse. Im
Tschechischen ist das Wort brynza bekannt;
die Buchtel:
aus dem tschechischen Ausdruck buchta, in Binnendeutsch bedeutet es ein gefülltes
Hefegebäck;
das Dekagramm:
dieser Ausdruck ist zwar in Binnendeutsch bekannt, er wird jedoch nicht verwendet.
In binnendeutschen Gebieten wird das Gramm als Maßeinheit gebraucht, während
das Dekagramm in Österreich, Böhmen und Mähren üblich ist. In der Alltagssprache
wird üblicher die Kurzform Deka, im Tschechischen der Sg. deko, der Pl. deka;

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-340-

die Fisole:
aus dem Lateinischen phaseolus, in Binnendeutsch grüne Bohne. Im Tschechischen
gibt es das Äquivalent fazole;
garagieren:
das französische Wort garage wurde zur Basis für diesen österreichischen und
schweizerischen Ausdruck, der in Österreich heute nicht mehr in Gebrauch ist. Die
binnendeutsche Umschreibung das Fahrzeug in die Garage einstellen ist etwas länger.
Im Tschechischen ist das Äquivalent garážovat bis heute aktuell;
die Garçonniére:
dieses Wort hat seine Herkunft im französischen Wort garçon. In Österreich ist dieser
Ausdruck bis heute üblich, in Binnendeutsch wird das Äquivalent
Einzimmerwohnung verwendet. Im Tschechischen ist das Wort garsoniéra, in der
Umgangssprache garsonka ganz üblich. Es ist jedoch keine Einzimmerwohnung,
sondern nur ein Zimmer mit Zubehör (es ist ein Typ von kleinen Wohnungen für
ledige oder alleinstehende Leute);
der Grasel:
es ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der in Binnendeutsch Äquivalente wie
Halunke oder Gauner hat. Im Prager Pitaval von Egon Erwin Kisch wird der
Räuberhauptmann Hans Georg Grasel erwähnt, der aus Mähren stammte und in
Niederösterreich lebte. Dieser Mann wurde im Jahre 1815 gefangen, zu Tode
verurteilt und am 31. 1. 1818 am Neuen Tor in Wien hingerichtet.21 Im
Tschechischen wird der vulgäre Ausdruck grázl verwendet;
die Kaluppe:
diesem österreichischen Ausdruck diente das tschechische Wort chalupa als Basis.
Während es im Tschechischen ein kleineres Haus auf dem Lande (früher ein Gebäude
mit einem kleineren Feldstück, heute eher ein der städtischen Bevölkerung zur
Erholung dienendes Wochenendhaus) bezeichnet, erwarb das Wort im
österreichischen Deutsch eine andere Bedeutung, die mit baufälliges altes Haus
umschrieben werden könnte;
der Karfiol:
das Wort hat den Ursprung in den italienischen Ausdrücken cavolo und fiore, es wird
in Österreich und Süddeutschland gebraucht. Das Wort wurde um 1600
eingedeutscht. Das tschechische Äquivalent karfiól (in Binnendeutsch Blumenkohl),
das heute aktiv weniger verwendet wird, gilt jedoch nicht als veraltet;
die Karniese:
der Ausdruck wurde aus dem Spanischen übernommen (cornisa). Er wird in
Österreich für das binnendeutsche Wort Gardinenleiste gebraucht. Im Tschechischen

21
Siehe Kisch, Egon Erwin: Praský pitaval. Praha (1964), S. 208-212.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-341-

hält man das Wort garnýž ýž für teilweise veraltet, es gibt jedoch kein besseres
tschechisches Äquivalent;
die Klobasse:
das Wort ist slawischer (tschechischer oder slowakischer) Abstammung. Im
Alttschechischen kann man zwei Varianten dieses Wortes finden - koblása oder
klobása, heute nur klobása. Den Ausdruck verwendet man in Österreich. Er
entspricht der binnendeutschen Bezeichnung eine Art grober, gewürzter Wurst;
die Kolatsche:
in allen slawischen Sprachen vorhanden, stammt das Wort von dem Ausdruck kolo
(Rad). Im Alttschechischen war die ursprüngliche Bedeutung des Wortes koláèè ein
Geschenk oder eine Bestechung. Im österreichischen Deutsch dürfte es in der Zeit
erschienen sein, in der Köchinnen aus Böhmen und Mähren nach Österreich kamen.
Sie brachten ihre eigenen tschechischen Fachausdrücke mit und dürften in Wien mit
diesem in Böhmen und Mähren beliebten Gebäck Erfolg gehabt haben. Das
binnendeutsche Äquivalent wird in der Umschreibung ein kleines, gefülltes
Hefegebäckstück ausgedrückt;
kollaudieren, die Kollaudation:
das Wort wurde aus dem Lateinischen (laudare) entlehnt und gehört heute zur
österreichischen und schweizerischen Amtssprache. In Binnendeutsch gibt es nur
eine Umschreibung - amtliche Überprüfung eines Bauwerkes. Im Tschechischen
gehört das Äquivalent kolaudovat, kolaudace zur Fachsprache;
die Konsumation:
lateinisch consumare; dieses Wort in der österreichischen und schweizerischen
Variante entspricht dem binnendeutschen Ausdruck Verzehr. Das tschechische Wort
konzumace ist als Ausdruck der Bildungssprache zu bezeichnen;
die Korrespondenzkarte:
aus dem Lateinischen (respondere). In Österreich nicht mehr in Gebrauch, wohl aber
in der Schweiz, im Binnendeutschen geht es um eine Postkarte mit aufgedrucktem
Wertzeichen. Im Tschechischen wird die umgangssprachliche Bezeichnung
korespondenèní lístek gebraucht;
der Kren:
das Wort stammt aus dem slawischen Ausdruck chrøn. In Binnendeutschen wird der
Ausdruck Meerrettich gebraucht. Die österreichische und süddeutsche Form
entspricht dem tschechischen Wort køen;
der Kukuruz:
dieser Ausdruck dürfte südslawischer Abstammung sein. Im Serbischen gibt es
kukuruz, im Ukrainischen kukuruza. Das Wort Kukuruz verwendet man in
Österreich und Süddeutschland. In Österreich existiert noch ein landschaftliches
Synonym der Türken. Beide Bezeichnungen haben ihre Äquivalente im

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-342-

Tschechischen, und zwar einen Ausdruck in der Schriftsprache kukuøøice und ein
mundartliches Äquivalent turkyò, das veraltet ist und vor allem in Mähren verwendet
wurde. In Binnendeutsch entspricht dem Wort Kukuruz Mais;
die Liwanze:
dieses Wort wurde aus dem Tschechischen übernommen (lívanec) und wurde von
böhmischen und mährischen Köchinnen nach Wien gebracht. Im Binnendeutschen
kann man die Umschreibung Mehlspeise aus gegossenem Teig, die auf einer Pfanne
zubereitet wird, verwenden;
lizitieren:
der Ausdruck stammt aus dem Lateinischen (licitari) und ist nur in Österreich üblich.
Interessant ist es, das dieser Ausdruck im Duden nicht angeführt ist. Man kann ihn
jedoch im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache22 finden. In Binnendeutsch
entspricht ihm das Äquivalent versteigern. Die Tschechen verwenden das Wort
licitovat;
der Malter (< aus dem Italienischen malta):
dieser Ausdruck dient als umgangssprachliche Bezeichnung des binnendeutschen
Wortes Mörtel. Im Tschechischen gibt es malta. Dieses Wort (der oder das Malter)
kann auch der Name des heute nicht mehr verwendeten Hohlmaßes für Getreide
oder Raummaßes für Holz sein. (Mhd. malter = Getreidemaß.) Das tschechische
Äquivalent zu dieser Bedeutung ist mìø
ìø , korec;
ìøice
die Marille:
das Wort wurde aus dem Italienischen armellino (im Lateinischen gibt es armeriaca)
entlehnt. In Binnendeutsch existiert das Äquivalent Aprikose. Das tschechische Wort
meruka ist dem österreichischen ähnlich;
die Matrikel:
lat. matricula, der Ausdruck aus der österreichischen Amtssprache entspricht dem
binnendeutschen Wort Personenstandregister, tschechisch matrika. In der
binnendeutschen Variante hat der Ausdruck noch eine andere Bedeutung - ein
amtliches Personenverzeichnis (z. B. an der Universität). In dieser Bedeutung ist das
tschechische Äquivalent auch verwendbar;
die Matura:
das lateinische Wort maturus bedeutet reif. In Österreich hat sich der Ausdruck
Matura und in der Schweiz Matur eingebürgert. In Binnendeutsch verwendet man
für diese Prüfung den Ausdruck Abitur, Abiturprüfung. Mit dem tschechischen
Äquivalent maturita wird dieselbe Prüfung an jeder Mittelschule bezeichnet.
Abgeleitete Wörter Maturant (in Binnendeutsch Abiturient) und maturieren (das
Abitur ablegen) entsprechen den tschechischen Ausdrücken maturant und
maturovat;

22
Klappenbach, Ruth /Steinitz, Wolfgang (1969) S. 2385.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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die Palatschinke:
dieser Ausdruck, der aus dem Ungarischen (palacsinta) oder Rumänischen (placinta)
stammt, kann als Beweis für die Vermischung des Wortschatzes der Kochkunst in der
alten Monarchie dienen. In Binnendeutsch geht es um einen dünnen Eierkuchen, der
zusammengerollt und mit Marmelade gefüllt wird. Ins Tschechische ist das Wort
palaèèinka aus der Slowakei gekommen;
paprizieren:
das Wort ungarischer Abstammung wird ebenfalls in der österreichischen Kochkunst
verwendet. In Binnendeutsch wird es umschrieben - mit Paprika würzen. Das
tschechische Äquivalent paprikovat ist (aktuell;
der Partezettel:
der Ausdruck wurde aus dem Französischen (donner part) entlehnt, in der
österreichisch Sprachvariante kommt öfter seine Kurzform die Parte vor. In
Binnendeutsch entspricht diesem Wort die Bezeichnung Todesanzeige, und im
Tschechischen wird noch heute das schon veraltete umgangssprachliche Äquivalent
parte gebraucht;
der Powidl:
ist tschechischer Herkunft povidla, das die österreichische Kochkunstterminologie
bereichert hat. Unter diesem Begriff versteckt sich der binnendeutsche Ausdruck
Pflaumenmus;
die Pawlatsche:
diese Vokabel, die aus dem Tschechischen entlehnt wurde pavlaèè, ist in der
österreichischen Sprache ein umgangssprachlicher Ausdruck. In Binnendeutsch wird
die Umschreibung offener Gang an der Hofseite eines Hauses gebraucht. Außer dieser
Bedeutung, die mit der im Tschechischen identisch ist, kann man noch auf andere
Bedeutungen hinweisen: baufälliges Haus oder Bretterbühne;
petschiert sein:
im Tschechischen gibt es den Ausdruck peèe (im Deutschen Petschaft, Siegel). Die
erwähnte Wendung ist in Österreich umgangssprachlich und bedeutet in
Binnendeutsch den Nachtteil haben, in einer schwierigen Situation sein. Den
Ursprung dieser Verbindung könnte man in der Zeit finden, in der das Haus wegen
Schulden verpfändet und versiegelt wurde;
die Pogatsche:
das Wort kommt aus dem Ungarischen (pogácsa), in Binnendeutsch kann man nur
die Umschreibung flacher Eierkuchen mit Grieben verwenden. Das tschechische
Diminutivum pagáèèek ist veraltet und mundartlich;
der Präsenzdienst:
der aus dem Lateinischen stammende Ausdruck (praesens) gehört zur
österreichischen Amtssprache. In Binnendeutsch bedeutet er Grundwehrdienst.

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-344-

Dementsprechend wird das tschechische Äquivalent prezenèèní vojenská služžba


verwendet;
der Primararzt, der Sekundararzt:
beide Wörter sind in die österreichische Sprachvariante unter dem Einfluß des
Lateinischen (primarius, secundarius) gekommen und werden bis heute auch in
ihren Kurzformen (Primar, Sekundar) gebraucht. Die binnendeutsche Variante hat
eigene Äquivalente gebildet - Oberarzt/Chefarzt und Assistenzarzt. Die
tschechischen Ausdrücke primáøø, sekundáøø entsprechen den erwähnten
österreichischen Kurzformen;
die Ramassuri, Remasuri:
aus dem Rumänischen ramasuri, in Binnendeutsch bedeutet diese Bezeichnung ein
großes Durcheinander, ausgelassenes Vergnügen. Das Wort remazúra wird im
Tschechischen umgangssprachlich verwendet;
die Regiekarte:
für diesen österreichischen Ausdruck, der aus dem Französischen (régie) entlehnt
wurde, setzt das Binnendeutsch die Umschreibung verbilligte Fahrkarte ein. Es
bedeutet, daß Betriebsangehörige der Eisenbahn gratis oder ermäßigt fahren können.
Im Tschechischen gibt es die umgangssprachliche Vokabel reží, in der Schriftsprache
režijní jízdenka;
rekommandierter Brief:
aus dem Lateinischen comendo, gehört zu den Termini des österreichischen
Postwesens, ist heute aber kaum mehr in Verwendnung. Dementsprechend wird das
binnendeutsche Äquivalent Einschreiben verwendet. Im Tschechischen existiert das
umgangssprachliche veraltete Wort rekomando;
die Ribisel:
dieser aus dem italienischen Wort ribes (das ist aus arabisch ribas entlehnt)
stammende Ausdruck hat in Binnendeutsch das Äquivalent Johannisbeere. Das
tschechische Wort rybíz entspricht der österreichischen Form;
die Sanität:
das angeführte Wort (Basis ist die lateinische Vokabel sanitas) hat in der
österreichischen sowie der schweizerischen Sprachvariante zwei Bedeutungen, denen
die binnendeutschen Bezeichnungen militärisches Gesundheitswesen bzw.
Sanitätstruppe oder umgangsprachlich Sanitätswagen, Unfallwagen entsprechen. Das
tschechische Wort sanitka ist eine Bezeichnung für Unfallwagen, die erste Bedeutung
wird im Tschechischen nur selten verwendet;
sekkieren:
das Wort ist italienischer Herkunft (seccare), üblich ist es in der österreichischen
Variante, in Binnendeutsch wird es nur in der Bildungssprache verwendet und

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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bedeutet belästigen, quälen. Im Tschechischen ist der Ausdruck sekýrovat


umgangssprachlich;
die Sezession:
im Lateinischen das Wort secessio, bdt. Jugendstil, im Tschechischen secese;
skartieren:
dieses Verb entwickelte sich aus dem italienischen Ausdruck scarto, der ursprünglich
ein Terminus des Kartenspiels war. In Österreich wird das Verb in der Amtssprache
verwendet. In Binnendeutsch gibt es die Umschreibung alte Schriftstücke
ausscheiden. Der Terminus skartovat wird im Tschechischen von Archivaren
gebraucht;
die Skubanki, auch Skuwanki:
das Wort tschechischer Abstammung (škubánky) ist wieder ein Beweis der
Beeinflußung der österreichischen Kochkunstterminologie im 19. Jahrhundert durch
die tschechische. Unter dieser Bezeichnung verbirgt sich eine Mehlspeise, die aus
Kartoffelteig mit einem Löffel herausgeschnitten, in gesalzenem Wasser gekocht, mit
Mohn und Pulverzucker bestreut und mit zerlassener Butter übergossen wird;
der Spagat:
dieser Ausdruck wurde aus dem Italienischen übernommen (spaghetto) und ist in der
österreichischen und schweizerischen Sprachvariante aktuell. In Binnendeutsch
werden anstatt dessen die Begriffe Schnur, Bindfaden verwendet. Das tschechische
Äquivalent ist das Wort der Gemeinsprache špagát. Es ist jedoch noch eine Bedeutung
zu erwähnen, die ihren Ursprung im italienischen Wort spaccata hat. Sowohl in
Binnendeutsch als auch in der österreichischen Variante bedeutet es ein
akrobatisches Kunststück. Im Tschechischen kommt das Slangwort špagát vor;
Spompande(l)n (Pl.):
it. spampanata, im österreichischen Deutschen gibt es diesen umgangssprachlichen
Ausdruck für das binnendeutsche Sperenzchen. Das im Tschechischen veraltete Wort
der Gemeinsprache špumprnákle wird selten gebraucht;
die Trafik:
das Wort italienischer Herkunft (traffico) wird in Österreich eingesetzt. In
Binnendeutsch entspricht ihm das Äquivalent Tabakladen. Der tschechische
Ausdruck trafika ist bis heute üblich. Ähnlich ist es mit der Ableitung Trafikant, im
Tschechischen auch trafikant;
die Tramway (Kurzform Tram, auch in Bayern verwendet):
dieses englische Wort (tram + way) hat sich nicht nur in der österreichischen und
schweizerischen Variante (seit dem 19. Jh.), sondern auch im Tschechischen
eingebürgert, wo ihm die tschechisch geschriebene Form tramvaj entspricht. In
Binnendeutsch wird der deutsche Ausdruck Straßenbahn verwendet;

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
-346-

die Tuchend:
das Wort stammt aus den slawischen Sprachen. Bis heute wird es in Bayern und
Österreich verwendet. Die binnendeutsche Variante setzt den Ausdruck Federbett ein.
Das tschechische Wort duchna wird bis heute in Mähren gebraucht;
die Watsche (lat. facies ?):
es geht um einen umgangssprachlichen in Österreich und Bayern verwendeten
Ausdruck, in Binnendeutsch kommt das Äquivalent Ohrfeige vor, im Tschechischen
das aus dem Deutschen entlehnte Wort facka;
der Zeller (lat. selinum):
ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für die binnendeutsche Sellerie. Im
Tschechischen gibt es das Wort celer.

c) Der Ausdruck hat in der süddeutschen, bairischen oder


schweizerischen Variante im Unterschied zur binnendeutschen
eine andere Bedeutung:
adaptieren (lat. adaptare):
bedeutet in der österreichischen Sprachvariante ein Gebäude oder eine Wohnung
herrichten. Dieselbe Bedeutung ist auch im Tschechischen aktuell (adaptovat). In
Binnendeutsch wird dieses Verb in einer anderen Bedeutung verwendet - als
anpassen. Auch das Tschechische kennt diese Bedeutung;
die Agenden (Pl.), lat. agenda:
Im österreichischen Deutsch nur im Plural im Sinne zu erledigende Aufgaben,
Obliegenheiten verwendet. Im Tschechischen wird das Wort agenda in dieser
Bedeutung im Singular gebraucht. In Binnendeutsch hat das Wort im Singular
(Agende) zwei Bedeutungen: 1. Buch, in dem Ritus, Gebete u. a. für den Gottesdienst
aufgezeichnet sind (diese Bedeutung gibt es auch im Tschechischen), 2.
Gottesdienstordnung;
die Akademie (aus dem Griechischen):
die Akademie war ein Ort in Athen, der dem Heros Akademos geweiht wurde und wo
Platon unterrichtet hat). In Österreich hat dieser Begriff drei Bedeutungen: 1.
literarische oder musikalische Veranstaltung, 2. eine Hochschule, 3. Vereinigung von
Gelehrten. Alle drei Bedeutungen beinhaltet der im Tschechischen verwendete
Ausdruck akademie. In Binnendeutsch versteht man unter diesem Ausdruck einerseits
eine wissenschaftliche Gesellschaft oder ein Gebäude, in dem eine Akademie ihren
Sitz hat, andererseits eine Hochschule;
die Evidenz (lat. evidentia):
dieser Begriff gehört zur österreichischen Amtssprache und bedeutet registrieren, im
Auge behalten. In derselben Bedeutung wird er auch im Tschechischen gebraucht
(evidence) vor allem die Wendung etwas in Evidenz halten (registrieren, im Auge

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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behalten, im Tschechischen vést nìco v evidenci). In Binnendeutsch wird das Wort in


anderer Bedeutung eingesetzt: Gewißheit, Deutlichkeit;
die Expositur (lat. ex positus):
die Bedeutungen dieses Wortes in Österreich sind folgende: 1. auswärtige Zweigstelle
eines Geschäftes (im Tschechischen wird der Ausdruck expozitura vor allem im
Bankwesen verwendet) und 2. Teil einer Schule, der in einem anderen Gebäude
untergebracht ist. In der binnendeutschen Variante versteht man unter diesem Wort
in der katholischen Kirche einen abgegrenzten, selbständigen Seelsorgebezirk einer
Pfarrei;
der Hader (Pl. -n):
der österreichische und süddeutsche Ausdruck für das binnendeutsche Wort
Stoffreste, Stoffabfälle. Dem österreichischen Begriff entspricht das tschechische Wort
hadr oder hadra (in Böhmen Maskulinum, in Mähren Femininum). In Binnendeutsch
bedeutet das Substantiv der Hader Streit;
die Kontumaz (lat. contumacia):
in der österreichischen Amtssprache hat dieses Wort dieselbe Bedeutung wie
Quarantäne, Verkehrssperre für Menschen und Haustiere als
Seuchenschutzmaßnahme. In Binnendeutsch wird heute die Bedeutung "das
Nichterscheinen einer Partei vor Gericht" für veraltet gehalten. Im Tschechischen
sind beide Bedeutungen bekannt (kontumace). Die erste Bedeutung gilt jedoch nur
für Tiere, nicht für Menschen, die andere (aus dem Gerichtswesen) wird selten
gebraucht;
das Kupee, Coupé (fr. coupé):
in Österreich bezeichnet dieses Wort ein Eisenbahnabteil, ist aber bereits veraltet. Die
Tschechen verwenden in diesem Sinne bis heute das Wort kupé. Sowohl in
Binnendeutsch als auch in der österreichischen Variante hat jedoch dieses Wort noch
eine andere - modernere - Bedeutung: geschlossener zweisitziger
Personenkraftwagen mit sportlicher Karosserie;
die Ordination (lat. ordinatio):
im österreichischen Deutsch ärztlicher Behandlungsraum, dasselbe ist auch für das
tschechische Wort ordinace gültig. Die Bedeutung in Binnendeutsch ist anders:
ärztliche Verordnung, veraltet auch Sprechstunde eines Arztes oder in der
katholischen Kirche sakramentale Weihe eines Priesters oder Bischofs;
der Professor (lat. professor):
kann in Österreich entweder Titel eines Lehrers an einem Gymnasium
(Gymnasialprofessor) sein oder der höchste akademische Titel, der einem
Hochschullehrer verliehen wird. Beide Bedeutungen werden auch im Tschechischen
verwendet (profesor). In Binnendeutsch ist Professor inzwischen nur mehr höchster
akademischer Titel;

Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des


österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
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Realitäten (aus dem französischen Wort réalité):


sind in Österreich Immobilien. Der Begriff Realitäten ist in Binnendeutsch selten, der
Singular (Realität) hat in beiden Varianten eine andere Bedeutung - es ist ein
Synomym für Wirklichkeit. Im Tschechischen wird das Wort reality im Sinne von
Immobilien für teilweise veraltet gehalten, trotzdem wird es bis heute verwendet, der
Singular hat dieselbe Bedeutung, wie erwähnt wurde (Wirklichkeit);
die Restauration (fr. restaurant, restauratio):
in der österreichischen Sprache bedeutet das Wort in Zusammensetzungen wie z. B.
Bahnhofsrestauration ähnlich wie im Tschechischen (restaurace) ein Wirtshaus. In
beiden Varianten des Deutschen sowie im Tschechischen bedeutet das Wort auch
Wiederherstellung (in Binnendeutsch jede Wiederherstellung [Epochenbegriff] -
genauso im Tschechischen, in Österreich überwiegend die Wiederherstellung eines
künstlerischen Werkes);
der Siphon (fr. siphon):
in Österreich ein umgangssprachlicher Ausdruck für das binnendeutsche Wort
Sodawasser, im Tschechischen - in Mähren gebraucht - gibt es in dieser Bedeutung
den Ausdruck sifon. In Binnendeutsch hat das Wort Siphon andere Bedeutungen: 1.
Ausschankgefäß mit Schraubverschluß, 2. Geruchsverschluß oder 3. dicht
verschlossenes Gefäß, in dem kohlensäurehaltige Getränke hergestellt werden. Alle
diese Bedeutungen kann man für das Wort sifon auch im Tschechische finden;
der Student (lat. studere):
in der österreichischen Sprachvariante und auch sonst bereits veraltet, steht der
Ausdruck für Schüler einer höheren Schule. Auch im Tschechischen bezeichnet
dieses Wort (student) jeden, der eine höhere Schule besucht. Außerdem bezeichnet
dieses Wort im Tschechischen, im österreichischen Deutsch sowie in der
binnendeutschen Variante jemanden, der an einer Hochschule studiert. Aus dem
gerade erwähnten Unterschied zwischen der österreichischen und binnendeutschen
Variante ergibt sich auch ein häufiger Verstoß gegen die binnendeutsche Lexik. Die
tschechischen Lerner, die eine Mittelschule besuchen, schreiben oft in ihrem
Lebenslauf, daß sie Studenten sind, was aus binnendeutscher Sicht nicht stimmt;
der Zins (lat. census):
dieser im Plural verwendete Ausdruck (Zinsen) bedeutet in beiden Sprachvarianten
einen nach Prozenten berechneten Betrag, den jemand von der Bank für seine Einlage
erhält oder den er für ausgeliehenes Geld bezahlen muß. In der österreichischen,
süddeutschen und schweizerischen Variante bedeutet das Wort Zins im Singular
Miete. Im Tschechischen gibt es für dieselbe Bedeutung ein ähnliches Wort èinže.
d) Der Ausdruck ist in der österreichischen Variante
teilweise veraltet, auch in Binnendeutsch wird er für
veraltet gehalten oder wurde nie verwendet:
die Absenz (lat. absentia):

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Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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dieser Ausdruck wurde durch deutsche Äquivalente Abwesenheit oder


Schulversäumnis ersetzt. Im Tschechischen ist das Wort absence bis heute aktuell;
der Ärar (lat. aerarium):
das Wort gehört zur österreichischen Amtssprache. Im Österreichischen Wörterbuch
wird dieser Ausdruck für veraltet erklärt. Er wurde durch die Äquivalente
Staatseigentum oder -vermögen ersetzt. Im Tschechischen ist das Wort erár veraltet
und wirkt expressiv;
die Assentierung (lat. assensio):
bedeutet Musterung. Das abgeleitete Verb assentieren entspricht dieser Bedeutung
(auf Tauglichkeit zum Militärdienst prüfen). Im Tschechischen gibt es den veralteten
Ausdruck asent, bis heute erscheint dieses Wort in alten Volksliedern;
der Kondukteur (fr. conducteur):
dieses Wort ist heute nur noch in der Schweiz aktuell. In Österreich und in
Deutschland wurde es durch das Äquivalent Schaffner ersetzt. Im Tschechischen ist
das Wort konduktér auch veraltet;
das Kriminal (lat. crimen):
der Ausdruck hat die Äquivalente Zuchthaus oder Strafanstalt. Der Duden bezeichnet
dieses Wort für das österreichische Sprachgebiet als veraltend23, was jedoch nach
Rückfrage bei österreichischen Kollegen nicht zutrifft. Im Tschechischen ist der
expressive Ausdruck kriminál veraltet.

Zu II. Wörter deutscher Herkunft:

a) Der Ausdruck in der österreichischen (bairischen,


süddeutschen oder schweizerischen) Variante entspricht einem
anderen Ausdruck in Binnendeutsch:

abkrageln:
dieses Verb entstammt der Wiener Gaunersprache. In der deutschen Schriftsprache
bedeutet dieses Wort kaltmachen, erledigen. Im Tschechischen gibt es den vulgären
Ausdruck odkráglovat;
der Bartwisch:
für dieses bairische und österreichische Wort werden in Binnendeutsch die
Bezeichnungen Handbesen oder Handfeger verwendet. Im Tschechischen ist das
Wort portviš auch veraltet;
das Beis(e)l:
dieser österreichische Ausdruck hat seine Herkunft in Jiddisch (bajis =
Gastwirtschaft). In Binnendeutsch entspricht diese Bedeutung den Wörtern Kneipe

23
Duden. Deutsches Universal Wörterbuch A-Z. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim 1989, S.
901.
Libuše Spáèilová: Der gegenseitige Einfluß des Tschechischen und des
österreichischen Deutsch in näherer Geschichte und Gegenwart.
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oder einfaches Gasthaus, die tschechische Sprache verfügt über den vulgären
Ausdruck pajzl;
das Beusch(e)l:
bdt. Lungenhaschee, im Tschechischen gibt es ein teilweise veraltetes Wort der
Gemeinsprache pajšl;
das Bischofsbrot:
ist eine gebackene Mehlspeise, im Tschechischen wird die wortwörtliche Übersetzung
biskupský chlebíèèek verwendet;
das Buckerl:
es geht um einen ironischen umgangssprachlichen Ausdruck, der als unterwürfige
Verbeugung umschrieben werden kann. Das veraltete Wort des
Gemeintschechischen pukrle wird heute eher ironisch verwendet;
das Busserl:
in der binnendeutschen Variante Kuß (in Österreich und Bayern auch familiär Bussi),
tschechisch pusa), der Ausdruck kann noch eine andere Bedeutung haben - ein sehr
kleines süßes Gebäck (z. B. Kokosbusserl), das auch im Tschechischen bekannt ist. Als
Äquivalent wird das tschechische Diminutivum pusinka gebraucht;
die Dachgleiche, die Dachgleichenfeier:
bdt. Richtfest, im Tschechischen ein Slangwort glajcha;
die Eismänner:
für diese Bezeichnung wird in der binnendeutschen Sprachvariante der Ausdruck
Eisheilige verwendet (vom 12. bis 14. Mai). Im Tschechischen gibt es nur die
wortwörtliche Übersetzung der österreichischen Bezeichnung (ledoví muži);
das Endel, endeln:
österreichischer und süddeutscher Ausdruck, in Binnendeutsch bedeutet das Verb die
Ränder eines Gewebes einfassen. Im Tschechischen sagt man umgangssprachlich
entlovat, entl;
faschieren:
aus dem österreichischen mundartlichen Ausdruck Fasch = Farce (aus gehacktem
Fleisch hergestellte Füllung). Aus dem Verb (in bdt. durch den Fleischwolf drehen)
entstand das Substantiv das Faschierte, das folgenden binnendeutschen Äquivalenten
entspricht: Hackfleisch und aus Hackfleisch hergestellte Speise. Im Tschechischen
verwendet man den gemeinen Ausdruck fašírovat, fašírka;
der Feldkurat:
bdt. Militärgeistlicher, im Tschechischen ist das Wort vor allem durch Jaroslav
Hašeks Buch Die Abenteuer des braven Soldaten Švejk bekannt (feldkurát);
die Flachse:

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bairisch und österreichisch für die binnendeutsche Sehne. Das Wort flaksa gilt im
Tschechischen als umgangsprachlich;
der Fratz (frühnhd. fratze - ital. frasca):
der süddeutsche, österreichische und schweizerische Ausdruck für bdt. ungezogenes
Kind. Im Tschechischen gilt das Wort fracek als salopp;
das Herrenhemd:
in Binnendeutsch wird das Wort Oberhemd verwendet, im Tschechischen die
wortwörtliche Übersetzung der österreichischen Bezeichnung pánská košile;
die Hetz:
in der österreichischen Sprachvariante ein umgangssprachlicher Ausdruck für das
binnendeutsche Wort Spaß oder fröhliches Treiben. Der tschechische
umgangssprachliche Ausdruck hec ist expressiv (im Sinne von provozieren);
der Hubertusmantel:
es geht um die Bezeichnung eines Mantels, der ursprünglich von Jägern getragen und
nach dem Schutzherrn der Jäger, dem Bischof Hubertus (+728), genannt wurde. In
Binnendeutsch gibt es den Ausdruck Lodenmantel, im Tschechischen wird die
Kurzform hubertus verwendet;
die Maut:
binnendeutsch Straßen- oder Brückenzoll, im Tschechischen mýto;
der Mistkübel:
binnendeutsch Abfalleimer, im Tschechischen gibt es das ausdrucksvolle Äquivalent
kýbl;
das Neugewürz:
es geht um den österreichischen Ausdruck für das binnendeutsche Wort Piment
(Nelkenpfeffer). Im Tschechischen ist die wortwörtliche Übersetzung nové koøøení
aktuell;
der Nudelwalker:
das Wort wird in Österreich und in Bayern gebraucht. In Binnendeutsch entspricht
ihm das Äquivalent Nudelholz, im Tschechischen das umgangssprachliche Wort
válek na nudle;
die Pipe:
ist ein umgangssprachlicher österreichischer Ausdruck für den Faßhahn, im
Tschechischen gibt es das Wort pípa;
der Pracker:

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es ist ein österreichischer umgangssprachlicher Ausdruck für das binnendeutsche


Wort Teppichklopfer. Das Tschechische kennt das alte mundartliche Wort prakr, das
vor allem in Mähren verwendet wurde;

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Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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das Reindl:
ein süddeutscher und österreichischer Ausdruck für den binnendeutsche Begriff
kleiner Kochtopf, im Tschechischen umgangssprachlich rendlík;
die Spendel:
binnendeutsch Stecknadel, im Tschechischen špendlík;
spreizen:
das bairische und österreichische Verb hat in Binnendeutsch das Äquivalent stützen,
im Tschechischen enspricht diesem Wort der gemeinsprachlicher Ausdruck
zašprajcovat;
das Stamperl:
dieses Substantiv ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für das binnendeutsche Wort
Schnapsglas. In Böhmen und Mähren wird der mundartliche Ausdruck štamprle bis
heute verwendet;
das Stockerl:
für das binnendeutsche Wort Hocker gibt es diesen umgangssprachlichen
österreichischen Ausdruck. Das Wort der tschechischen Gemeinsprache štokrle
entspricht der österreichischen Form;
die Teeschale:
ist ein rundes oder ovales oben offenes Gefäß, im Tschechischen ist das Wort šálek
üblich;
der Tram:
der österreichische Ausdruck für das binnendeutsche Wort Balken. Im Tschechischen
gibt es die sehr ähnliche Form: trám;
die Wichsleinwand:
binnendeutsch Wachstuch, die tschechische teilweise veraltete Form ist vikslajvant;
das Wimmerl:
das Wort ist ein bayrischer, österreichischer und schweizerischer Ausdruck für den
binnendeutschen Pickel, Pustel. Im Tschechischen das teilweise veraltete Wort vimrle;
die Zieche:
das Wort stammt aus dem mhd. Begriff zieche. Es ist ein aktueller Ausdruck in
Österreich und Süddeutschland, im Tschechischen entspricht ihm das Wort cícha, in
Binnendeutsch Bettbezug, -überzug.
der Zipp:
der (heute ungebräuchlich gewordene) österreichische Ausdruck für den
Reißverschluß, im Tschechischen zip(s).

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b) Der Ausdruck hat in der österreichischen (bairischen,


süddeutschen oder schweizerischen) Variante eine andere
Bedeutung als in Binnendeutsch:
der Beißer:
im österreichischen Deutsch bedeutet dieses Wort eine längere Eisenstange zum
Lockern und Heben schwerer Gegenstände (im Tschechischen umgangssprachlich
pajzr). Im Wienerischen bedeutet dieses Wort auch derber, aggressiver Kerl. In
Binnendeutsch hat das Wort zwei Bedeutungen - Brechstange oder ein bissiges Tier;
der Polster (österr. auch das):
im österreichischen Deutsch Kissen (Kopf- oder Bettpolster), binnendeutsch 1. mit
festem Stoff versehene elastische Auflage auf Sitz- und Liegemöbel; 2. in ein
Kleidungsstück eingearbeitetes, festes Teil zur modischen Betonung der betreffenden
Partie. Im Tschechischen entspricht das Wort polštáø der österreichischen Bedeutung.

c) Der Ausdruck ist in der österreichischen (bairischen,


süddeutschen oder schweizerischen) Variante und auch in
Binnendeutsch veraltet:
der Feschak:
dieses ostösterreichische saloppe Wort, das in Binnendeutsch einen feschen Mann
bezeichnet, ist aus dem englischen Wort fashionable entlehnt. Im Tschechischen wird
das umgangssprachliche Wort fešák verwendet;
der Schamster:
binnendeutsch Bewerber (im Sinne von um ein Mädchen freien), im Tschechischen
entspricht diesem Wort der teilweise veraltete Ausdruck der Gemeinsprache šamstr.
Betrachtet man die erwähnten österreichischen Wörter vor dem Hintergrund
ihrer tschechischen Äquivalente aus thematischer Sicht, dann stellt man fest, daß die
meisten Vokabeln zum Thema Kochen, Lebensmittel, Obst und Gemüse gehören. Die
zweitgrößte Gruppe wird von Wörtern der Amtssprache gebildet, und an dritter
Stelle stehen die Ausdrücke aus dem Gebiet der Wohnkultur (z. B. Möbel oder
Haushalt). Im Zentrum des Interesses für den österreichischen Wortschatz muß nicht
nur die Bedeutung der Wörter stehen. Beachtet man z. B. die Form der
österreichischen Vokabeln, dann findet man ebenfalls Erscheinungen, die dem
Tschechen gut bekannt sind, denn sie erinnern ihn an die Form in der Muttersprache.
Diese Ähnlichkeiten können vorkommen:
a) bei Ableitungsformen der Fremdwörter:

österr. bdt. tsch.


die Faktura Faktur faktura
die Kassa Kasse kasa (veraltet)
die Schlamastik Schlamassel šlamastika (ugs.)
disziplinär disziplinatorisch disciplinární

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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b) beim Wegfall des Ende-e:

österr. bdt. tsch.


obligat obligatorisch obligátní (ugs., Fachspr.)
die Brosch Brosche broš (broše ist veraltet)
der Virtuos Virtuose virtuos
der Schamott Schamotte šamot (Fachausdruck)

c) bei umlautlosen Bildungen:

österr. bdt. tsch.


der Luster Lüster lustr
der Sulz Sülze sulc (gemein)
die Butte Bütte putna

Diese Gemeinsamkeiten in der Lexik sind nicht nur linguistisch interesssant,


sondern auch für Deutschlehrer, die in Österreich oder in der Tschechischen
Republik leben und ihren Schülern Deutsch beizubringen versuchen. Sie sollten
wissen, daß das österreichische Deutsch, infolge des Austausches mit den slawischen
Nachbarn, in seinem Vokabular eine Reihe von Ähnlichkeiten hat, die den Lernern
bei ihrer Arbeit behilflich sein können. Auf einige dieser Ähnlichkeiten und ihren
derzeitigen Sellenwert aufmerksam zu machen, war das Ziel dieses Artikels.

Literatur:
Duden - Deutsches Universalwörterbuch (1989): 2. völlig neu bearbeitete Auflage.
Mannheim.
Ebner, Jakob: Wie sagt man in Österreich? Mannheim 1980. 2., vollständig
überarbeitete Auflage.
Glettler, Monika: Böhmisches Wien. Wien/München 1985.
Heintz, J. M.: Die Wiener Bürger-Küche. Wien 1911.
Holub, Josef - Kopeèný, František: Etymologický slovník jazyka èeského.
(Etymologisches Wörterbuch der tschechischen Sprache.) Praha 1952.
John, Michael - Lichtblau, Albert: Schmelztigel Wien einst und jetzt. Zur Geschichte
und Gegenwart von Zuwanderungen und Minderheiten. Wien/Köln 1990.
Kameníková, Libuše: Dìjiny obchodu v Olomouci v období pøechodu od feudalismu
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Stanko Žepièè

(Zagreb)

Das österreichische Deutsch in Zagreb und


Osijek -
Zur Geschichte der deutschen Sprache in
Kroatien

1. Einleitung
Kulturhistorische Beziehungen zwischen Kroaten und Österreichern beginnen
noch viel früher, als es ein kroatisches oder österreichisches Staatsgebilde gegeben
hat, in der Zeit, als der erste dem Namen nach bekannte deutsche Dichter Otfried von
Weißenburg in der Widmung seiner Evangelienharmonie an den fränkischen König
Ludwig über ihn dichtet: er ostarrochi rihtit al, so Frankono kuning scal. Das Wort
ostarrochi bezeichnet den Osten des Fränkischen Reiches, das nach dem Vertrag in
Verdun unter den drei Enkeln Karls des Großen, Karl dem Kahlen, Lothar und Ludwig
dem Deutschen, geteilt wurde. Der Ostfränkische Staat verbreitete seine Gebiete auch
auf einen Teil des Balkans, wo die Kroaten lebten, und erreichte jene Grenzen, die das
Oströmische von dem Weströmischen Reich trennten und die bis zum heutigen Tag
die Grenze zweier so verschiedener Zivilisationen markieren. Das Fränkische Reich
brachte durch seine Ausbreitung nach Osten den kroatischen und anderen Heiden
die Christianisierung katholischer Provenienz, während aus dem Byzantinischen
Reich das orthodoxe Christentum nach Westen vordrang. Im Ostfränkischen Reich
waren verschiedene germanische Stämme vereinigt, unter ihnen auch die Bayern, die
den Österreichern die dialektale Grundlage für die spätere österreichische Sprache
lieferten. Kontakte der Kroaten und Österreicher aus dieser Zeit bleiben im Bereich
der Sagen und lassen sich nur an interessanten archäologischen Funden nachweisen.1
Kontakte zwischen Österreich und Kroatien als Kontakte zwischen der
österreichischen deutschen Sprache und der kroatischen Sprache sind nur eine
kontinuierliche Fortsetzung der Beziehungen aus der vorgeschichtlichen Zeit der
noch ungeteilten Sprachfamilien der Germanen und der Slawen, später dann der
nach Sprache und geographischer Ausbreitung erkennbaren Ost-, Nord- und
Westgermanen, dann der Goten und der altdeutschen Stämme mit bereits getrennten

1
Die kroatische Schriftstellerin und Germanistin Camilla Lucerna versucht aufgrund historischer
Quellen und archäologischer Funde Verbindungen zwischen Dalmatien und Kärnten in dieser Zeit zu
beweisen. Vgl. Lucerna (1935).
-358-

Ost-, West- und Südslawen bis hin zu Kontakten zwischen verschiedenen slawischen
Sprachgemeinschaften und verschiedenen deutschsprachigen Stämmen. All das
hinterließ Spuren in zahlreichen historischen Schichten der Lehnwörter, mehr in den
slawischen Sprachen aus dem Germanischen, weniger Slawisches in den
germanischen Sprachen. Die Entlehnung ist immer ein Geben und Nehmen, eine
höher stehende (mächtigere) Zivilisation gibt mit den Gegenständen der allgemeinen
Kultur und Zivilisation auch die dazugehörigen Namen. Neben den Wörtern der
Profankultur werden aber auch abstrakte Begriffe der Geisteskultur übermittelt.
Deshalb darf der deutsche Einfluß auf Kroatien, und das bedeutet vor allem der Ein-
fluß Österreichs, mit dem wir eine lange gemeinsame Geschichte teilen, nicht nur als
grobe und unbarmherzige Germanisierung interpretiert werden, wie dies bis in die
neueste Zeit üblich war.2 Ohne diese Germanisierung befänden wir uns in einer Si-
tuation, die der deutsche Indogermanist Hermann Hirt bei seinen ethnologischen
Untersuchungen in Bosnien vorfand und im Jahr 1898 aufzeichnete:
"Im Altertum wohnten hier die Illyrier, mit denen die Römer manchen harten Kampf
zu bestehen hatten, bis sie sich auch ihr Land völlig unterworfen haben. Schon
damals waren die Bewohner in der Kultur zurück. Die römische Herrschaft hat
manche Spuren hinterlassen, aber sie hat sicher nicht vermocht, die durch die Natur
gebotene Wirtschaftsform zu verändern. Ackerbau konnte nur wenig betrieben
werden, und die Viehzucht bildete daher die Hauptwirtschaftsform. Manche Stürme
sind später über das Land dahingebraust, das nach der Völkerwanderungszeit
allmählich von den Serben besetzt wurde. Auch die Serben waren ein einfaches, nach
unseren Begriffen primitives Volk, das aus Gegenden kam, die der Einfluß der
Mittelmeerkultur kaum berührt hatte. Die germanische Kultur, wie sie uns Tacitus
schildert, hatten sie schwerlich erreicht. Das Land konnte nicht dazu beitragen, sie zu
höherer Gesittung zu führen. Die Eroberung dieser Gegenden durch die Türken
bewirkte einen völligen Abschluß gegen die nordeuropäischen Einflüsse. Nur von der
dalmatinischen Küste, auf die Venedig Einfluß gewann, sind Einwirkungen
ausgegangen, die sich noch heute in dem interessanten Kunstgewerbe des Landes
zeigen. Erst seit der österreichischen Besitzergreifung ist das Land seinen natürlichen
Verhältnissen wiedergegeben. Wenn Österreich seinerseits nach diesem Besitze
streben mußte, so ist es für das Land erst recht ein Bedürfnis gewesen, mit dem
Norden Fühlung zu erhalten. Obgleich jetzt 19 Jahre seit der Besetzung verstrichen
sind, obgleich mit Anstrengung aller Kräfte gearbeitet ist, um das Land zu heben, so
fühlt man sich doch noch in eine andere Welt versetzt, wenn man bei Brod die Save
überschritten hat. In ganz Kroatien wird man kaum daran erinnert, daß man das
deutsche Sprachgebiet verlassen hat, steht es doch seit Jahrhunderten unter dem

2
Als Beispiel für die ältere Literatur sei das informative Büchlein von Velimir Deželiè (1901) erwähnt.
Für die neuere Literatur kann z.B. die knapp dargestellte Geschichte der Kroaten in der
Jugoslawischen Enzyklopädie dienen, wo österreichische Politik Kroatien gegenüber nur als
Germanisierung dargestellt wird, ohne daß kulturelle Beziehungen überhaupt erwähnt werden. Von
kommunistischen Geschichtsbüchern für Schulen ganz zu schweigen.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-359-

Einfluß der deutschen Kultur; aber mit dem Betreten des bosnischen Bodens befindet
man sich im Orient."3
Dieses Zeugnis Hermann Hirts können wir für eine objektive Darstellung der
Situation halten, weil es unwahrscheinlich ist, daß er irgendwelche subjektiven Zu-
neigungen oder Abneigungen Österreich, Kroatien oder den Serben gegenüber hatte.
Das einzige, was aus seiner Darstellung nicht klar hervorgeht, ist die Unterscheidung
der bosnischen Serben, Kroaten oder Moslems, wenn ein solcher Unterschied damals
überhaupt eine Rolle spielte. Viel wahrscheinlicher scheint es jedoch, daß dieser
Unterschied im Laufe des 20. Jahrhunderts künstlich geschaffen wurde und heute
zur Katastrophe führte, für die nicht so sehr die jahrhundertelange Türkenherrschaft
als vielmehr die mitten durch den Balkan verlaufende Grenze zwischen östlicher und
westlicher Welt verantwortlich ist. Diese Grenze der Zivilisation ist zugleich eine
Grenze des sprachlichen Einflusses, die wir als sprachlich-zivilisatorische Grenze
durch die ganze Geschichte verfolgen können.

2. Historischer Überblick
In der tiefen noch vorösterreichisch-kroatischen Vergangenheit lassen sich an
einer ersten Schicht von Lehnwörtern Kontakte der Germanen und Slawen
nachweisen als Folge ihrer nachbarlichen Begegnungen im Frieden und in
kriegerischen Auseinandersetzungen. Besonders diese letzteren haben Spuren
hinterlassen, die auf die von Slawen übernommene militärische Organisation der
Germanen hinweisen. Bis zum heutigen Tag sind im Kroatischen (teilweise nur noch
im kajkawischen Dialekt) Wörter gebräuchlich, die auf diese uralten Begegnungen
zurückgehen: dt. Volk ist aus dessen germ. Form ins Slaw. übernommen als plúkú, kr.
puk; kr. knez "Fürst" ist dasselbe Wort wie dt. König; kr. cesar und car "Kaiser" ist
höchstwahrscheinlich entlehnt aus der gotischen Entsprechung des heutigen Wortes
Kaiser, dieses geht wiederum zurück auf den Namen des römischen Heerführers und
Schriftstellers Caesar (dessen Name im klassischen Latein kaisar lautete); dt. walten
und kr. vladati "herrschen" gehören zu derselben Entlehnungsschicht wie kr. maèè
"Schwert", šljem "Helm", bradva "Bartaxt" und viele andere. Auf friedliches
Zusammenleben weisen folgende Wörter hin: kr. hljeb "Brot" aus got. hlaibs; kr.
kupiti "kaufen" aus got. kaupon zu lat. caupo "Gastwirt, Händler"; kr. kajkawisches
Wort penezi "Geld" ist dasselbe Wort wie dt. Pfennig, kr. pila "Säge" ist dt. Feile, kr.
postiti "fasten" ist dt. fasten, kr. pop ist dt. Pfaffe, kr. škrinja "Truhe" ist d. Schrein und
kr. hižža "(kleines) Haus" ist das Haus. Die Lautgestalt eines Lehnworts verrät die Zeit,
in der das Wort entlehnt wurde, und die Sprache oder den Dialekt, aus dem entlehnt
wurde. Das Lehnwort bewahrt die Lautgestalt, die das Wort in der anderen Sprache
hatte, und entwickelt sich weiter nach den Gesetzen der eigenen Sprache, wie z.B. das
Wort šrinja, das aus dem Deutschen zu der Zeit entlehnt wurde, als das heutige Wort
Schrein scroni lautete (ahd. Lehnwort aus lat. scrinium.)

3
Zitiert nach Hirt (1940: 228).

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
-360-

Die verhältnismäßig kurze fränkische Episode auf kroatischem Boden zog keine
bemerkenswerten Folgen nach sich. Erst einige Jahrhunderte später, Anfang des 13.
Jahrhunderts, als deutsche Hospites sich an der Gründung kroatischer Städte
beteiligen, beginnt eine kontinuierliche Verbindung mit der deutschsprachigen
Bevölkerung, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger intensiv
andauert. Als erste Stadtgründung mit deutschen Siedlern wird Varaždin erwähnt.4
Deutsche Siedler in den Städten verstärken wirtschaftliche und kulturelle
Beziehungen zum deutschsprachigen Raum, und der deutsche Einfluß breitet sich bis
zur Küste aus. Da es sich aber um keine systematische Ansiedlung handelt, erwähnt
werden einzelne deutsche Handwerker in dalmatinischen Städten, weicht der
deutsche Einfluß an der Adria vor dem venezianischen zurück und bleibt auch hier
eine Episode ohne nennenswerte Folgen.5
Erst das 16. Jahrhundert bedeutet den Anfang einer festen und dauernden
Verbindung zwischen Österreich und Kroatien, als im Jahr 1527 Ferdinand der I.
König von Kroatien wurde. Diese Verbindung dauerte in den stürmischen Perioden
von Reformation, Gegenreformation, Aufklärung und Absolutismus bis zum endgül-
tigen Zusammenbruch 1918. Im 16. Jahrhundert wurden auch die Grundlagen für
die zukünftige Militärgrenze geschaffen, die nicht nur für die Verteidigung des
Westens vor dem immer weiteren Vordringen der Türken von großer Bedeutung war,
sondern eine wichtige kulturhistorische Rolle in der Verbreitung deutscher Einflüsse
in Kroatien spielte. Die Reformation war keine günstige Periode für eine weitere
Entwicklung kultureller Beziehungen zu Kroatien, weil eine kontinuierliche
Ansiedlung deutscher Handwerker und Kaufleute aus den protestantischen deutschen
Gebieten im katholischen Kroatien des 16. und 17. Jahrhunderts fast völlig abbrach.
Erst durch den Sieg der Gegenreformation in Süddeutschland und Österreich setzte
sich die Zuwanderung der deutschsprachigen Bevölkerung in Kroatien weiter fort.
Auch die soziale Struktur deutscher Muttersprachler veränderte sich zu dieser Zeit.
Während es im Anfang vorwiegend Bürger waren, Handwerker und Kaufleute, so
waren es jetzt Angehörige adeliger Familien. Auch der kroatische Adel knüpfte enge
Beziehungen zum österreichischen Adel an, was eine Ausbreitung und Festigung der
deutschen Sprache in adeligen Kreisen zur Folge hatte.
Obwohl die Zahl der Zugewanderten aus dem deutschen Sprachgebiet
verhältnismäßig gering war, und obwohl sie sich der einheimischen kroatischen
Bevölkerung sehr schnell assimilierten, kann angenommen werden, daß wegen der
Kontinuität der Ansiedlung (die sich in Matrikeln der Pfarren verfolgen läßt) eine
deutsche Kolonie Bestand hatte, deren Angehörige nicht nur Handwerker und

4
Angaben zur Geschichte der deutschen Beziehungen zu Balkanvölkern sind u.a. Valjavec (1958)
entnommen.
5
In dem Gedicht Lanci Alamani (Deutsche Landsknechte) des Dubrovniker Dichters Mavro Vetranoviæ
(1482-1576) kommen deutsche Lehnwörter vor, die die vor den Türken geflüchteten deutschen
Siedler, die sog. Sachsen, nach Dubrovnik gebracht haben. Sie waren Gründer der seit der Mitte des
13. Jahrhunderts in Bosnien und Serbien bestehenden Bergbaukolonien.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-361-

Kaufleute waren, sondern allmählich auch Ärzte, Apotheker und Beamte, die der
deutschen Sprache in Kroatien, und das bedeutet vor allem in den Städten, Dauer und
Festigung sicherten. Die Zahl der Zuwanderer erhöhte sich Ende des 17.
Jahrhunderts erheblich. Hier muß vor allem die Zuwanderung der sog.
"Donauschwaben" erwähnt werden, die verwüstete und menschenleere Gebiete in
Südungarn und Slawonien besiedelten, nachdem aus ihnen die Türken vertrieben
worden waren. Diese Siedler sind Bauern, ihre Sprache ist nicht österreichischer
Herkunft, sie brachten hierher eine ganz andere dialektale Zugehörigkeit, als es
vorher bei dem einheimischen Deutsch der Fall war. Sie kamen aus Bayern, Franken,
Hessen, Schwaben und brachten ihren alemannischen und fränkischen Dialekt mit,
der in kroatischen Gegenden ganz neu war. Ihre homogenen Dorfgemeinschaften,
die sich gegen die Vermischung mit einheimischen Völkerschaften dieser Gegenden
behaupten konnten, blieben bis zum zweiten Weltkrieg von allen politischen
Veränderungen weitgehend unberührt.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der deutschen Sprache in
Kroatien immer mehr zu. Deutsch wurde sogar zur Sprache einer überregionalen
Kommunikation und nimmt in der sozialen Gesellschaftsstruktur einen festen Platz
ein: Latein war immer noch die Sprache der Politik und der Wissenschaften, Deutsch
war die Umgangssprache höherer Gesellschaftsschichten, Kroatisch dagegen (in
nördlichen Gebieten Kajkawisch) wurde als Sprache der Kommunikation mit der Die-
nerschaft und den Angehörigen niedriger Gesellschaftsschichten gebraucht.6
Soziolinguistisch handelt es sich in Kroatien um einen Fall des Bilinguismus (oder
Trilinguismus, wenn Latein mitgerechnet wird), der in allen Habsburgischen Ländern
Parallelen haben muß, weil die soziopolitische Situation (vielleicht nur mit Ausnahme
Ungarns) überall gleich war. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts oder genauer
seit 1770 verstärkte Deutsch seine Position und verdrängte in den Städten Latein,
aber auch das Kroatisch-Kajkawische. Selbst in der Zeit der Illyrischen Bewegung7
verstärkte Deutsch immer mehr seine Position, weil die deutsche Umgangssprache in
der Kontroverse um die Einführung einer gemeinsamen kroatischen Literatursprache

6
Diese Behauptung darf natürlich nicht den Eindruck erwecken, daß Kroatisch nur die Sprache der
Kammerzofen und der Reitknechte war. Eine reichhaltige Literatur seit der Renaissance und noch
ältere religiöse Texte im kroatisierten Altkirchenslawischen sind Zeugen einer am südöstlichen Rand
des europäischen Westens existierenden Kultur. Durch politische und dialektale Zerspaltung des
kroatischen Gebietes bedingt, entfalteten sich drei voneinander weitgehend unabhängige und in
verschiedenen historischen Perioden unterschiedlich stark hervortretende Literaturen und
Literatursprachen: in Dubrovnik und an der Adriaküste Èakavisch, in Slawonien Štokawisch und im
kroatischen Nordwesten um Zagreb und Varaždin Kajkawisch, die sich erst im 19. Jahrhundert zu
einer gemeinsamen Literatursprache auf štokawischer Grundlage vereinigen.
7
"Ilirski preporod" (Illyrische nationale Wiedergeburt) versuchte nicht nur alle Kroaten, sondern auch
alle Südslawen in einer nationalen Volksgemeinschaft und in einem Staat zu vereinigen. Eine erste
Voraussetzung dafür war eine gemeinsame Sprache, frei von jeder dialektalen Spaltung, die jedoch
von vielen abgelehnt wurde. Die Serben wollten auf ihren Volksnamen nicht verzichten, zumal sie mit
Vuk Stefanoviæ Karadžiæ als linguistischem Theoretiker und Praktiker an der Spitze der Meinung
waren, daß es keine Kroaten gibt, sondern daß sie "Serben katholischen Glaubens" sind. Tragische
Ereignisse der jüngsten Vergangenheit auf dem Balkan haben ihre Wurzeln in politischen
Auseinandersetzungen des angehenden 19. Jahrhunderts.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
-362-

auf štokawischer Grundlage mit der Verdrängung des Kajkawischen das einzige
allgemein verständliche Kommunikationsmittel unter Gebildeten blieb. Herausgege-
ben wurden Zeitungen und Zeitschriften in deutscher Sprache, die erste war bereits
Ende des 18. Jahrhunderts Kroatischer Korrespondent in Zagreb. Die Vertreter der
Illyrischen Nationalbewegung schrieben und dichteten deutsch, sie veröffentlichten
ihre Arbeiten auch in der Zagreber deutschen Zeitschrift Luna. Alle diejenigen, deren
Verdienst (oder Schuld) ist, daß der štokawische Dialekt zur Staatssprache in Kroatien
erhoben worden ist (mit Ljudevit Gaj an der Spitze), waren deutsch erzogen, sie
sprachen und schrieben ihre literarischen Werke deutsch. So verfaßte Ljudevit Gaj
noch als Schüler ein Büchlein Die Schlösser bei Krapina. Antun Mihanoviæ (Dichter
der kroatischen Nationalhymne) veröffentlichte eine linguistische Untersuchung Zu-
sammenstellung von 200 laut- und sinnverwandten Wörtern des Sanscrites und
Slavischen. Ivan Kukuljeviæ, Politiker, Schriftsteller und Historiograph, auch einer der
Führer der Illyrischen Bewegung, schrieb deutsche Gedichte, obwohl behauptet
wurde, daß er als Student der Philosophie noch kein Deutsch konnte. Ebenso wurde
behauptet, daß er sein Drama Juran i Sofija, das als erste Theatervorstellung in kroati-
scher Sprache aufgeführt wurde, zuerst deutsch geschrieben, dann ins Kroatische
übersetzt hat, und zwar sehr schlecht, so daß Vjekoslav Babukiæ, Professor für
kroatische Sprache und Verfasser einer "illyrischen Grammatik" (Ilirska slovnica, d.h.
Kroatische Grammatik), seinen Text verbessern mußte.8 Graf Janko Draškoviæ, auch
einer der Gründer der Illyrischen Bewegung, wandte sich 1838 mit einer
propagandistischen Schrift an kroatische vaterlandsliebende Frauen. Damit er aber
verstanden wird, schrieb er deutsch: Ein Wort an Iliriens hochherzige Töchter. Seit
1848 kann Kroatien für zweisprachig gehalten werden. Erst seit 1860, nach der
zehnjährigen Dauer des Bachschen Absolutismus, nahm die gesellschaftliche Bedeu-
tung der deutschen Sprache immer mehr ab, trotzdem aber blieb das Deutsche ein
Statussymbol höherer Gesellschaftsschichten.9 Miroslav Krleža hat den Menschen
dieser Gesellschaftsschicht mit seinen Glembays ein Denkmal errichtet und sie mit
ihrer deutsch-kroatischen Mischsprache auch sprachlich charakterisiert.
Diese Sprache war in den ersten Jahren der jugoslawischen Ära nach dem
ersten Weltkrieg ein lebendiges Idiom im Umgang der Intellektuellen, weil ohne
deutsche Sprachkenntnisse Krležas Dramen für das Theaterpublikum unverständlich
gewesen wären. Erst durch eine feindliche Haltung der jugoslawischen, d.h.
serbischen Regierung in Belgrad der deutschen Sprache und dem deutschsprachigen
Schulwesen gegenüber verlor das Deutsche in wenigen Jahrzehnten an Bedeutung.10

8
Über die Entwicklung des Kroatischen informiert Vince (21990)
9
Über die Bedeutung der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert in Kroatien vgl. Kessler (1984a).
10
Kessler (1984b: 179) betont, daß Probleme der deutschen Minderheit noch heute kontrovers
beurteilt werden. "Die einen sehen vor allem die 'fünfte Kolonne' des Nationalsozialismus, die
anderen beklagen den nicht gewährten Gruppenrechte und verurteilen den andersnationalen Staat
wegen seiner 'entnationalisierenden' Politik".

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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3. Das Deutsche im Kroatischen


Die historische Anwesenheit der deutschen Sprache auf kroatischem Boden hat
unverwischbare Spuren im Kroatischen hinterlassen, ähnlich wie die oben erwähnten
slawo-germanischen Beziehungen, aber noch stärker und tiefgreifender. Daß diese
Sprache tatsächlich die Sprache der österreichischen Kultur und Zivilisation war,
beweisen Lehnwörter, die dem österreichischen Wortschatz entnommen sind und die
im "preußischen", "deutschen" Deutsch nicht vorkommen. Es seien nur einige
erwähnt: forcimer "Vorzimmer", trafika "Trafik", tumplati (cipele) "Schuhe besohlen"
aus österr. doppeln, rajngla oder rajndla "Reindl", štokrl "Stockerl", kramp "Krampen",
žemlja "Semmel", fotelj "Fauteuil", hauser "Hausherr" (aus der Zeit, als Häuser noch
Privatbesitz waren, der jüngeren Generation dürfte das Wort nach 50 Jahren
Kommunismus kaum bekannt sein), kifl "Kipfel", škanicl "Stanitzl", melšpajs
"Mehlspeis", knedl "Knödel", packati "patzen" vorwiegend in der Bedeutung
"klecksen", selten "Fehler machen", fuš "Pfusch" in der Bedeutung "Schwarzarbeit",
šlag "Schlagobers" und "Apoplexie", nah(t)kasl "Nachtkastl", prezli "Brösel", glatko
brašno "glattes Mehl", grifik brašno "griffiges Mehl", šercl "Scherzel" vorwiegend in
der Bedeutung "Endstück des Brotlaibes". Diese und Hunderte anderer Lehnwörter
sind ein wichtiger Bestandteil der kajkawischgefärbten kroatischen Umgangssprache.
Aber nicht nur Einzelwörter, auch Redewendungen wurden aus dem
Österreichischen als eine Art Lehnübersetzungen übernommen wie imati putra na
glavi kroat. (Butter auf dem Kopf haben "ein schlechtes Gewissen haben"), razvlaèèiti
se k'o štrudeltajk (sich ziehen wie ein Strudelteig "sehr lange dauern, sich lange Zeit
lassen"), kak f'knjigi piše (wie's im Büchel steht "ein Musterbeispiel"), novca kao blata
(Geld wie Mist, im "deutschen" Deutsch: Geld wie Heu). Diese Beispiele zeigen, daß es
sich vorwiegend um Wörter und Wendungen des - wie unsere štokawischen
Linguisten formulieren würden - kajkawisch-kroatischen Substandards handelt.
Trotzdem aber ist dies einer der wesentlichen Bestandteile des Kroatischen, den
Miroslav Krleža in seinen Kindheitserinnerungen11 hervorhebt:
"Fünf Elemente mischten sich in der Sprache dieser Periode:
1. Das klassische Kajkawisch von Jambrešiæ und Belostenec ...
2. Die Sprache der Gasse und der Küche, 'Agramerski küchenkroatischpalavatsch'
(so im kroatischen Original).
3. Amtssprache der siebziger Jahre ...
4. Die Sprache der Lektüre (Šenoa) ...
5. Die Sprache des Zehnsilblers, des Volksliedes und des Zmajjova (der serbische
Dichter Zmaj Jovan Jovanoviæ).
Daneben auch der Einfluß der deutschen Sprache und (deutscher)

11
Krleža (1952).

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
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Redewendungen"12
Diese mit österreichischen Lehnwörtern durchsetzte Sprache ist noch heute die
Umgangssprache der alteingesessenen Zagreber Bevölkerung. Und es ist deshalb kein
Zufall, daß der amerikanische Slawist Thomas Magner13 deutsche Lehnwörter ver-
zeichnet hatte, als er in den fünfziger Jahren den Zagreber kajkawischen Dialekt
untersuchte. Als bereits klassisches Beispiel des Zagreber Kroatischen wird der von
Magners Informanten geäußerte Satz zitiert: Bedinerica klopfa tepihe v lihthofu, in
dem kein kroatisches Lexem vorkommt, der aber trotzdem kroatisch ist, weil die
grammatische Struktur kroatisch ist. Die Existenz dieser Sprache ist heute bedroht,
weil Zagreb seit dem zweiten Weltkrieg mit Zuwanderern aus nichtkajkawischen
Gebieten überschwemmt ist, die sich sprachlich sehr schwer assimilieren. Das
Zagreber Kajkawische ist heute noch mehr in Gefahr, eine tote Sprache zu werden,
weil Zagreb eine Stadt voll von Flüchtlingen und Neuzugezogenen geworden ist, was
ganz bestimmt für die autochthone Sprache Zagrebs dauerhafte Folgen haben wird.
Auch schriftliche Quellen, vor allem Wörterbücher und Grammatiken,
beweisen, daß die deutsche Sprache in Kroatien immer ein österreichisches Deutsch
war. Sie enthalten einen typischen Wortschatz sowie Ausspracheregeln, die genau
das österreichische Umgangsdeutsch beschreiben.14 Die Kontinuität der Aussprache
läßt sich verfolgen vom ersten gedruckten kroatischen Wörterbuch mit deutschen
Äquivalenten, Dictionarium quinque nobilissimarum Europae linguarumvon Faustus
Verantius aus dem Jahr 1595, über Lexicon latinum von Sušnik und Jambrešiæ aus
dem Jahr 1742 bis zu zahlreichen Grammatiken und Lehrbüchern der deutschen
Sprache, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von kroatischen Verfassern
geschrieben wurden. Auch in kroatischen Grammatiken für deutsche Mutter-
sprachler wird auf die deutsche Aussprache hingewiesen, damit die Aussprache des
Kroatischen "kontrastiv" erleichtert wird. Typische Merkmale der österreichischen
Aussprache lassen sich schließlich auch an Lehnwörtern zeigen, die im Kroatischen
so gesprochen werden, wie sie die Angehörigen der kroatischen Sprachgemeinschaft
gehört haben. Es sind vor allem ungerundete Vokale (e statt ö, i statt ü, ei statt eu:
knedli, kroat. - Knödel, frištik - Frühstück, fajercajk - Feuerzeug), a als o švorc -
schwarz, keine Unterscheidung stimmhafter und stimmloser Okklusive (puter -
Butter, tumplati - doppeln, kramlpogaèèni - Grammelpogatschen). Erst in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in Österreich und Anfang des 19. Jahrhunderts in
Kroatien beginnt eine Unifizierung der deutschen Sprache, zuerst orthographisch,
dann auch phonetisch, die durch die Autorität Gottscheds und seines Nachfolgers
Adelung aus dem protestantischen Norden in den österreichischen Sprachraum
importiert wurde. Aber die Bürger der österreichischen Kronländer sprechen auch
weiterhin die österreichische Umgangssprache, die mit den Muttersprachen der in

12
Krleža (1952: 370).
13
Vgl. dazu: Magner (1960).
14
Vgl. zum folgenden: Žepiæ (1991, 1992a, 1992b, 1993).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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der Monarchie vereinigten Völker seltsame Mischsprachen produziert, wie sie z.B.
Krleža in seiner Agramer Kindheit Anfang des 20. Jahrhunderts festhält:
"U doba kada su po sobama svijetlile hengelampe, a hausfrau ni dala popraviti
ausgus ili štenge ili fensterštok na lihthofu, a kod Palancegerov je bil majandaht,
a placmuzika Zehcenerska je svirala na Zrinjiplacu ili na Francjozefplacu, a
gospon oberlajtnant je kod jegerhorna bil na gablecu i pojel par virštlov
(ajnšpener) i popil krigl pive, a dinsman jednoj hercig frajlici ni donesel na
banhof kofer, a filarke su klafrale da je kod korskomande opal raufankirer z
lojtrah, kad je htel popraviti gezims na fajermaueru, a u uèioni milosrdnicah je
bil bešerung, a na kristbaumu su blistale kugle od meršauma, a hauzmajster ni
dobil tringelda i to zakaj je haustor fernahlesigal, a v pajzlu švajnsbraten s
pajšlom je jako skup, a kiršnštrudl ima šercle, a vajnšato se zmufal, to su bili
dnevni gangovi na špajskartama za nadobudne gospodi~iše s tašngeldom, u
escimerima sa calkelnerom ili s kasafrajlama kao poslugom."15
Diese von Krleža mit feinem Gespür für die sprachliche Kennzeichnung des
bürgerlichen Milieus Zagrebs festgehaltene Sprache lebt weiter in der Intimsphäre
der Familie. Eine Fundgrube des "Küchenkroatischpallawatschs" sind Omas
handgeschriebene Kochbücher, die Kochrezepte enthalten, von denen sich auch die
heutige Generation inspirieren läßt. Diese Hommage auf das österreichische Deutsch
in Kroatien möge noch mit einem Rezept illustriert werden, das um 1930 in Samobor
(einer kleinen Stadt in der Nähe von Zagreb) aufgezeichnet wurde:

15
Krleža (1952: 369 f.) Der Text lautet in Übersetzung:
"In der Zeit als in den Zimmern Hängelampen leuchteten, und die Hausbesitzerin den Ausguß oder
die Treppen oder den Fensterstock zum Lichthof nicht reparieren ließ, und bei den Barmherzigen
Brüdern die Maiandacht war, und die Platzmusik der Sechzehner auf dem Zrinyi-Platz oder dem
Franz-Joseph-Platz spielte, und der Herr Oberleutnant beim Jägerhorn zum Gabelfrühstück war und
ein Paar Würstchen (Einspänner) aß und ein Krügl Bier trank, und der Dienstmann einem herzigen
Fräulein den Koffer nicht zum Bahnhof brachte, und die Marktweiber tratschten, daß bei der
Korpskommandantur der Rauchfangkehrer von der Leiter herunterfiel, als er das Gesims an der
Feuermauer reparieren wollte, und im Lehrzimmer der Barmherzigen Schwestern die Bescherung
war, und am Christbaum Meerschaumkugeln glänzten, und der Hausmeister kein Trinkgeld bekam,
weil er das Haustor vernachlässigt hatte, und im Beisel der Schweinsbraten mit Beuschel sehr teuer
ist, und der Kirschenstrudel Scherzel hat, und das Weinchaudeau muffelt, das waren tägliche Gänge
auf Speisekarten für hoffnunungsvolle junge Herren mit Taschengeld, in Eßzimmern mit einem
Zahlkellner oder mit Kassafräulein als Bedienung."
Nicht ohne weiteres durchsichtige Lehnwörter: kr. štenge, auch štinge aus mhd. stege, stiege mit
einem eingeschobenen n, das durch Nasalierung von g in obliquen Kasus (stegen zu stengn)
phonetisch durchaus verständlich ist, kr. Palancegeri eine Verballhornung des Adj. barmherzig als
Bezeichnung für Angehörige eines Laienordens (Barmherzige Brüder), die seit 1804 das Zagreber
Krankenhaus im Stadtzentrum leiteten; kr. filarka "Marktfrau" vermutlich abgeleitet von kleiner
Geldeinheit filir, aus ung. fillér; das ung. Wort wird zurückgeführt auf d. Vierer, wahrscheinlicher aber
ist eine Entlehnung aus d. Heller; kr. klafrati "tratschen" zu d. klaffen, kläffen. Da es sich aber um ein
altes Wort handelt, ist eine Ableitung vom mhd. klafferer, klefferer "Schwätzer" möglich, oder wegen
der onomatopoetischen weitverbreiteten Wurzel mit k- im Anlaut sogar auch eine unabhängige
Entwicklung im Deutschen und Slawischen denkbar.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
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Dampfnudeli
7 dk putra, 4 dk šeæera sa 5 žumanjaka flaumig abtrajbat. Dinar
germa dampfel, malo soli, 1/2 l brašna, mlijeko po potrebi da je loker
tijesto, klopfat, kad je rahlo pustiti da se zide, onda dasku štaubat i sa
kavskom `licom ausštehat i opet shajat. Onda u rajndlu dati mlijeka,
cukra i putra, kad se šmelca onda nutra slagati i opet pustiti shajati.
Onda u ror.16

4. Osijek und Zagreb


Die Geschichte der deutschen Sprache in Osijek verlief jedoch ganz anders als in
Zagreb. Die Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklung reichen bis ins 16.
Jahrhundert zurück, als die Türken im Jahr 1526 nach der Schlacht bei Mohács
einen großen Teil Kroatiens besetzten, und als nur ein kleiner Rest (die sog. reliquiae
reliquiarum) im Nordwesten des Landes mit Zagreb als Hauptstadt unter
habsburgischer Oberhochheit verblieb. Seit dieser Zeit blieben Slawonien und
Syrmien 150 Jahre unter der türkischen Herrschaft. Die katholische Bevölkerung
wurde von den Türken vertrieben, ins Land wurden Mohammedaner und orthodoxe
Serben geholt. Die Folge war ein kultureller und zivilisatorischer Rückgang, der erst
Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem die Zurückeroberung der von den Türken
besetzten Gebiete eingesetzt hatte, aufgehalten werden konnte. Und da macht sich
schon der erste große Unterschied zwischen Zagreb und Osijek bemerkbar. In Zagreb
besteht eine Kontinuität der deutschen Sprache, die in Osijek für anderthalb
Jahrhunderte unterbrochen wurde, weil die Türken Osijek erst 1687 verlassen. Die
nach Slawonien eingewanderte deutschsprachige Bevölkerung schwand mit der
türkischen Besetzung völlig, während die nachtürkische Kolonisation ganz anders
verlief als die Kolonisation im nichttürkischen Teil Kroatiens.17 Nicht mehr einzelne
Bürger, sondern ganze bäuerliche Familien kamen ins Land. Wie oben bereits
erwähnt, wurden sie angesiedelt, damit das nach der Vertreibung der Türken
verödete Land wieder bebaut werden konnte. Für den Wiederaufbau der verwüsteten
Städte und Festungen wurden Bauleute, für die Belebung der Wirtschaft Handwerker
und Kaufleute geholt. Die meisten Siedler stammten aus dem Südwesten des
deutschen Sprachgebiets, deswegen hat sich der Ausdruck "Donauschwaben"
eingebürgert. Im Zuge dieser Kolonisierung gründeten die Siedler aus Württemberg
im Jahr 1792 einen neuen Stadtteil Osijeks: die Neustadt (zu den schon bestehenden
Oberstadt, Unterstadt und Festung). Hiermit ist auch der Grundstein gelegt worden
für eine neue soziale Struktur, für eine soziolinguistische Schichtung der Bevölkerung

16
Der Text in Übersetzung: Dampfnudeln. 7 dkg Butter, 4 dkg Zucker mit 5 Dottern flaumig abtreiben.
Dampfl von 1 Dinar Germ, etwas Salz , 1/2 l Mehl, Milch nach Bedarf, damit der Teig locker ist,
klopfen, wenn es locker ist, aufgehen lassen, dann das Brett stauben und mit einem Kaffeelöffel
ausstechen und wieder aufgehen lassen. Dann in ein Reindl Milch, Zucker und Butter geben, und als
es geschmolzen ist, (Nudeln) hineinlegen und wieder gehen lassen. Dann ins Rohr.
17
Vgl. zum folgenden Oberkersch (1972).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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der Stadt Osijek, wodurch sich Osijek im wesentlichen von Zagreb unterscheidet. In
Zagreb ist Deutsch die Sprache der Handwerker, Kaufleute, Beamten, Gelehrten (d.h.
Geistlichen), die Sprache des Militärs und des Adels. In Osijek auch, aber mit dem
großen Unterschied, daß Osijek dazu noch ein deutschsprachiges Proletariat hat, das
von Arbeitern und kleinen Handwerkern bis hin zu Landstreichern, Dieben und
Prostituierten reicht. Mit dem Zerfall der Monarchie und mit der Gründung
Jugoslawiens beginnt ein allgemeiner und endgültiger Verfall der deutschen Kultur,
mit der Unterdrückung der deutschen Sprache, Schließung der deutschen Schulen bis
hin zur Katastrophe im und nach dem zweiten Weltkrieg. Das will aber nicht heißen,
daß das Zusammenleben der deutschsprachigen und einheimischen Bevölkerung
immer unbetrübt verlief. Kritische, aber auch feindliche Stimmen der deutschen
Sprache gegenüber standen immer im engsten Zusammenhang mit dem politischen
Kräfteverhältnis in Kroatien zwischen dem österreichischen und dem ungarischen
Teil der Monarchie. Das Ansehen der deutschen Sprache erreichte den Tiefststand in
der Ära Bach, und der uneingeschränkte Gebrauch der deutschen Sprache endete mit
dem ungarisch-kroatischen Ausgleich 1868, als Kroatien in den inneren
Angelegenheiten autonom wurde und den Gebrauch der kroatischen Sprache
durchsetzte. Die neue politische Lage war für das deutschsprachige Bürgertum
insofern anders geworden, als die Gefahr für dessen Bestand jetzt nicht mehr von den
kroatischen Vertretern im Parlament, sondern von einer immer mehr
deutschfeindlichen öffentlichen Meinung kam. In den kroatischen Zeitungen, die
nach der offiziellen Durchsetzung der kroatischen Sprache überall gegründet
werden, wird in ständigen Kolumnen, meist unter dem Titel "švapèarenje", gegen
einzelne "Vaterlandsverräter" gewettert, die sich der deutschen Sprache auch weiter
öffentlich bedienten. Im Parlament war jedoch die "deutsche Frage" kein wichtiges
Thema mehr, weil die kroatischen Abgeordneten, die sich schon immer um die
öffentliche Anerkennung der kroatischen Sprache bemüht hatten, jetzt andere
Prioritäten hatten. Nach dem Ausgleich mit Ungarn mußten sie die staatsrechtliche
Stellung Kroatiens gegen den immer stärkeren ungarischen Druck in der Regierung
des überall verhaßten Banus Khuen-Héderváry verteidigen.
Trotzdem bleibt Deutsch auch weiterhin die Sprache der Kommunikation
innerhalb bürgerlicher Familien. Ein Beispiel möge den Charakter dieser Sprache
wenigstens teilwiese demonstrieren. Es handelt sich um einen Brief der damals etwa
65jährigen Großmutter einer kinderreichen Zagreber jüdischen Familie in genauer
Wiedergabe.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
-368-

Agram den 20ten Jully 1884!


Lib und gute Adel! ich danke dir Härtzlich vir deine liben Zeillen grade dise
wochen wahr ich so aufgeregt wegen der l Mutter die mir der l Irma Schreiben
liß das Sie vr Tage daß Bethütten muste dan hattn wir etwas unangenes zu
erwarten mit unsern l Ludwig nemlich der Josipowitsch hatte den Ludwig in der
zeittung beleidigt und muste Ihn vordern Als ofizir und da wahr gestern daß duel
zum Glik wahr der l. fater hir Ludwig hatte 2 offizire zu Sekundantten Sein
gegner Jullijus Jelluschits und D Herkowitsch aber Gotseis dank is Inen Kenen
nichtz geschehn Sie haben Sich Beide die Hende gereicht - der l vater wahr von 2
Ur bis 11 nacht Irer bei Im dukanst dir denken wie ich Gottgedankt Hab daß die l
Muter in Welden in Bad ist der l vater der erscht Heinte nach Roitsch gefarn hat
der l Mutter den ganzen hergang geschriben und der l Ludwig wirt Sie dise
Woche besuchen, daß alles mus ich mit machen wo ich ohnehin so maht bin wen
mich nur Got erfreien mächt daß meine Gutte Tini gantz Gesund wurd, grüße
mir die l Lina so wie die l Hirschfeldischen samt l Kinder sowie dich Grist deine
dich Libende Groß Mutter Katy Deitsch.
Es muß angemerkt werden, daß die Tochter, damals etwa 45jährig, und die
Enkelin, etwa 25jährig, ein einwandfreies Hochdeutsch schreiben. Es läßt sich aber
vermuten, daß sie ebenfalls wie die Großmutter ein dialektal gefärbtes Deutsch
sprechen. Es kann angenommen werden, daß dieselbe deutsche Sprache auch die
vornehmen Osijeker Bürger sprechen, nicht jedoch die den Donauschwaben
entstammenden Deutschen der Osijeker Vorstadt. Ein Zeugnis davon liefert die
deutschschreibende Osijeker Schriftstellerin Wilma von Vukelich in ihren Memoiren:
"Das Esseker Deutsch, auf das die Einheimischen nicht weniger stolz waren als auf
ihr bazillenhaltiges Drauwasser und ihre berühmten Staub- und Morastmeere, war
überhaupt keine Sprache, sondern ein Sprachgemisch, das sich kaum wiedergeben
läßt, und nur von den dort Geborenen und Aufgewachsenen von einer Maut bis zur
anderen gesprochen und verstanden wurde. Es ist ein Idiom mit verschluckten
Endsilben, Konsonanten und Vokalen, kein reiner Ton, sondern alles wie in einem
Nebel. Kein Satz, in dem sich nicht ein paar fremdartige Elemente mischen, keine
Spur von Syntax, Grammatik oder Orthographie. Das, was man dort Sprache nennt,
ist ein Konglomerat aus dem vom Wiener Handwerker noch zuzeiten Maria
Theresiens und des seligen Kaiser Joseph importierten Hernalser Deutsch und den
württembergisch-hessischen Elementen des schwäbischen Bauern. Dazu das vom
Musikfeldwebel der 78er hierher verpflanzte Böhmische, zahlreiche
Jargonausdrücke, die dem Wortschatz des jüdischen Hausierers entstammten, das
Rotwelsch der Landstreicher und Wanderburschen, die ihren Weg über Budapest,
Prag und München nahmen, der serbische Einschlag der Unterstädter autochtonen
Bevölkerung, das verdorbene Beamtendeutsch und -kroatisch der nahen
Militärgrenze, der schlechte Stil der deutschen Lokalblätter und das falsche
Bühnenpathos der zugewanderten Theatertruppen aus Olmütz und Preßburg.
Ich selbst lernte dort unten das schönste Essekerisch, das mir zeitlebens im Ohr blieb
und das ich auch später nicht so leicht wieder loswurde und zwar trotz der
deutschen Fräuleins meiner deutschen Unterrichtsstunden bei dem evangelischen

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-369-

Pastor Pindor, der das reinste Deutsch in der Monarchie, das Schlesische, sprach.
Zwei Jahre ging ich in Wien in die Schule, absolvierte die Fortbildungsklassen mit
vorzüglichem Erfolg, und dennoch blieben mir Brocken hängen, die direkt aus der
Podravina und dem Langen Hof stammten. Sie mischten sich auch in meinen
schriftlichen Stil, und gerade das habe ich immer als größten Nachteil empfunden,
habe jahrelang dagegen angekämpft und versucht, die aus meiner Kindheit
herstammende Esseker Sprachbarbarei zu überwinden. Und erst nach vielen Jahren
Abwesenheit ist es mir teilweise gelungen. Ich gebe zu, daß meine Eltern nicht ganz
unrecht hatten, wenn sie mir den Verkehr mit den Leuten im Langen Hof zu
erschweren oder ganz unmöglich zu machen versuchten. Denn abgesehen von dem
schlechten Esseker Deutsch, das ich mir dort aneignete, gab es unten eine Menge
zweifelhafter Elemente. Das Laster gedieh neben der Aufopferung, das Gute neben
dem Bösen, es gab Trinker, Diebe und Raufbolde. Es gab Krankheit, Hunger und
Schmutz. Aber so tragisch dies alles auch war, stellte es doch ein unverfälschtes Stück
Leben dar, das ich auf diese Weise früh kennenlernte. " 18
Diese Sprache lebte auch weiter in dem neugegründeten jugoslawischen Staat
bis zu dem Augenblick, als Hitler im Jahr 1939 "in einer aufsehenerregenden Rede"19
einen "zwischenstaatlich organisierten Bevölkerungsaustausch" empfahl, der eine
"neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse" in Europa herbeiführen würde,
wodurch die Nationalitätenkonflikte beseitigt worden wären. Unter dem zynischen
Euphemismus "ethnische Flurbereinigung" begann die zwanghafte Umsiedlung von
Hunderttausenden Deutschen, Serben, Kroaten, Slowenen und Juden, die dann nach
dem Sieg des Kommunismus 1945 den endgültigen Abschluß fand in der
Vernichtung der zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung, vorwiegend Frauen und
Kinder, die vertrieben, liquidiert oder für mehrere Jahre in Konzentrationslagern
eingesperrt wurden.
Die deutsche Sprache in Zagreb schwindet aus der Öffentlichkeit noch viel
früher als in Osijek, mit der Gründung Jugoslawiens. Von der festen Verankerung des
Deutschen im Zagreber Bürgertum zeugt auch die Gründung der Zagreber
Germanistik 1895, die nach dem Muster der Grazer Germanistik als
muttersprachliche Philologie organisiert wurde. Alle Studenten der damaligen Zeit
sprachen Deutsch als Muttersprache oder als Zweitsprache. Erst nach dem Zerfall der
Monarchie und mit der beginnenden Serbisierung Kroatiens verliert die deutsche
Sprache ihre jahrhundertealte Position in der kroatischen Hauptstadt und versinkt zu
einer immer weniger wichtigen Fremdsprache, besonders nach dem zweiten
Weltkrieg, als sie für die kommunistischen Machthaber nichts anderes war als
Sprache des faschistischen Feindes.

18
Vukelich (1992: 95f).
19
Die folgenden Zitate sind Wehlen (1980: 68, 74) entnommen.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
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Die deutsche Sprache der gesellschaftlichen Oberschicht in Osijek war ein


normales österreichisches Deutsch, wie es die hiesigen deutschschreibenden
Schriftsteller Anfang des 20. Jahrhunderts, der bekannteste unter ihnen Roda Roda,
geschrieben haben. Die Sprache des Osijeker Proletariats, die Wilma von Vukelich
mit vorhin zitierten Worten so treffend charakterisiert hatte, verewigte zwischen den
Jahren 1929 und 1938 der Osijeker Publizist Lujo Plein, der diese Sprache in fünf
schmalen Heften in einer eigenartigen kroatischen Orthographie festgehalten hatte.20
Das ist vorläufig das einzige größere Korpus, an dem das Osijeker Deutsch untersucht
werden kann. Mit der Gründung des neuen unabhängigen kroatischen Staates haben
sich auch für wenige verbliebene Osijeker Deutsche die Verhältnisse grundlegend
verändert, so daß sie sich wieder zu ihrem Deutschtum frei bekennen durften. Der
Osijeker Germanist Velimir Petroviæ 21hat sich alle Mühe gegeben, sie ausfindig zu
machen und sie zu befragen. Und wie es sich gezeigt hat, mit Erfolg.
Freundlicherweise hat er mir drei Aufnahmen zur Verfügung gestellt, so daß jetzt
auch eine phonetische Auswertung des Osijeker Deutsch möglich ist.
Das Abhören dieser Aufnahmen zeigt zunächst, daß Lujo Plein mit
bewundernswerter Genauigkeit das Osijeker Deutsch aufgezeichnet hat, soweit dies
ohne zusätzliche Zeichen der phonetischen Schrift möglich war. Außerdem
bestätigen die Texte das Urteil der Schriftstellerin Wilma von Vukelich, daß das
Osijeker Deutsch ein Konglomerat ist aus ganz verschiedenen Quellen, die sie
ziemlich genau aufgezählt hatte. Nur irrt sie natürlich als linguistischer Laie, wenn
sie sagt, daß diese Sprache keine Spur von Syntax, Grammatik oder Orthographie
aufweist. Ob diese Texte von Plein auf den Gassen der Peripherie und in Beiseln
abgelauscht oder von ihm selbst mit erstaunlicher Einfühlung in das Leben der
kleinen Leute künstlerisch nachempfunden wurden, mag dahingestellt bleiben. Auf
jeden Fall verdienen sie eine linguistische Analyse. Die Texte (1) und (2), - der
Anfang eines Männer- und eines Frauengesprächs-, sind Beispiele für lexikalische
Besonderheiten dieser Sprache (es hätte aber auch jeder andere beliebige Abschnitt
als Beispiel herangezogen werden können).

Lujo Plein: Die essekerische Sprechart:

Text 1 - Šnopsbudik

"Hajde Naci šik hea nouha a Šprica, ton kema oba ham."
"Host jo Cajt, vu laufst šun hin?"
"Cu majna Oldn, sunst kipc a muria. Pasnua auf, klajh veats to sajn. Ton veast hean a
gagaraj."
"Au pist tu a Rousgoutas, pik iara ani afta Papm, tas sa sihs meak, vea ta gazda is."

20
Plein (1929 - 1938).
21
Für alle Informationen und Unterlagen über das Osijeker Deutsch dankt der Verfasser dem verehrten
und lieben Kollegen Velimir Petroviæ sehr herzlich.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-371-

"To nuct niks, to konst rajnflahn vi ina kronkas Rous, ti Koušn ket ia vi'a Koafrajtog -
Raèn.
Hinweise zu Text 1: "kr. hajde "auf, los"; ung. muri "Radau, Spektakel"; ung. gazda "
Herr, Chef", auch kr. gazda "Herr, reicher Mann, Arbeitgeber"

Text 2 - Jo, ti Konkurenc!


"Kens, ten Klehupsa, ten šebign hajrot si? No, štear aut jo aus vi a puklatiga Majkefa!"
"Oba mous hoda, majn Libe!"
"No, sou fil Mous kent tear Èamponja koar net hobm, tas ih im a Pusl kebat af sajna
slinava Labuš."
"Jo, vema a gebrehlihe Natuar hot unt klajh am Rikn folt, sou šaut ma net vi ear
ausšaut. Visns, vima sogt: 'In da Noht sajn ole Ki švoarc!"
"Kens, to mus ma šun a Mogn hobm"
Jo, majne libe Greta, von ma Sajdn Štrimf und Sajdn Pidžamije trogn vil ton tearf ma
net sou velariš sajn."
Hinweise zu Text 2: Èamponja, vermutlich von ung. csámpás "Krummbein" + kr.
Suffix -onja (zur Bildung pejorativer Personenbezeichnungen); slinava Labušš"
sabberndes Maul" zu kr. slina "Speichel" und fr. la bouche

Die Wörter sind typisch österreichisch-süddeutsch, und es läßt sich vermuten,


daß dieser Wortschatz auch in der Umgangssprache Wiensvorkam: Spritzer "Wein
mit Sodawasser", Pappen "Mund", flacken "schlagen", jmdm. eine picken "ohrfeigen,
jmdm. eine kleben", Goschen "Maul", Karfreitagsratschen, "geschwätzige Frau", Bussel
"Kuß".
Andere vermutlich dem Wienerischen nachempfundene Wörter kommen in
nachfolgenden Einzelsätzen von Text (3) vor: der Peter Zapfl "ein unbedeutender
Jemand", Mischkulanz "Durcheinander, Betrügerei", mordstrumm, trumm "gewaltig
groß", Schasdesn "wörtl. "Furzgefäß", "dummer Mensch"", pumperlgesund
"kerngesund", Kreuzköpfl "kluger Kopf", nach Teuschl (1990) "dummer Mensch",
stier "ohne Geld".

Text 3
Tes kenans ten Pedacapfl faceln.
Pa mia mohns kane Miškulanc.
Si sogt mida muac’trum Nodl homs ia an Inikcijon im Pauh kštouhn.
Te oldi Šastezn hoda Štrumfsakl mit Silbaguln faèukt im Šifoneakostn und voa ima
trauf kseisn via Truthen.
Cum bajšpil ava Duaf prauhns ka Hebamin kan Doukta unt ti Menèn sajn
pumprlksund.
Sigst to voa ta Kolumbuš a kšajdara az mi. Tos voa Bogamu njegovog a krajckeipfl.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
-372-

Štia ima nua štia via Kiahnmaus.


"Tešik", sogih, "nemans te trulje val homs mih e beganeft."
Sogta ma: "Mohns ka gezeres entveda coln, oda rufih ten Konštabla."
No, to prauhns inan net fauèdalni!

Hinweise zu Text 3: Faèèukt "versteckt", ver + csuk + en (ung. csuk "schließen"),


šifoneakostn zu fr. chiffonnière entlehnt ins Kr. in der Bedeutung "Wäscheschrank";
kr. Bogamu njegovog wörtlich: "ihm seinen Gott" (das Verb ist zu ergänzen); ung.
tessék "bitte"; kr. trulje "Fetzen, schlechte Kleidung"; faèèudalni "sich wundern" ver +
csodál + ni (ung. csodál "bewundern", csodálom "ich wundere mich", ni
Infinitivendung).

Eingestreute Fremdwörter, vorwiegend kroatische bzw. serbische und


ungarische, sind der zweite integrierende Bestandteil dieses Vokabulars: hajde, muri,
gazda, èamponja, slinava labuš, tešik, trulje, konštabla, šifonearkostn, bogamu
njegovog (sie sind im Text erklärt worden). Zahlreich sind auch die in der deutschen
Umgangssprache häufig vorkommenden Wörter aus dem Jiddischen, hier im Text
Moos, beganeft, Geseires. Eine "Spezialität" der Osijeker Sprache sind Wörter, deren
Konstituenten Morpheme aus verschiedenen Sprachen sind. Ein solches Beispiel ist
das schon erwähnte èamponja (ung. Lexem, kr. Wortbildungsmorphem). In den
angeführten Beispielsätzen ist dies das Partizip faèèukt "versteckt", vom Verb faèèukn
(ver + ung. csuk + en, ung. csuk "schließen") und im Satz No, to prauchns inan net
faèèudalni!, wo der ungarische Infinitiv das deutsche Präfix ver- hat (csodál
"bewundern", csodálom "ich wundere mich", ni Infinitivendung).
Die phonetischen Eigenschaften dieser Osijeker deutschen Sprache lassen sich
an den von Herrn Petroviæ aufgenommenen Gesprächen und Erzählungen teilweise
genau erkennen, aber mit einer Einschränkung. Die heutigen Sprecher waren ein
halbes Jahrhundert aus der Sprachgemeinschaft ausgeschlossen, so daß nur bei
wenigen, die in der Familie untereinander Deutsch gesprochen haben, die
sprachliche Kontinuität besteht. Die angeführten Sätze in phonetischer Umschrift von
Text (4) und (5) stammen von zwei Frauen, Mutter und Tochter, die im privaten
Umgang bis zum heutigen Tag immer nur Deutsch reden.

Text 4 - Marija Centner, 81 Jahre alt.

iç ge: iç bin tsu main tKUxtÄ kOmK draisiç jOÄr kKUxn"


Ich geh ich bin zu meiner Tochter gekommen, dreißig Jahre, kochen

vi zi dOonfaNkt tsOÄaitn" di EinkjskindÄ hOb iç aufgKtsKUgn"


wie sie da anfängt zu arbeiten. Die Enkelskinder habe ich aufgezogen,

ole tsva: un fu:n mai Einkj di kla:ni hob iç a: tsva: jOÄr khi:t
alle zwei, und von meinem Enkel die Kleine habe ich auch zwei Jahre gehütet.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Text 5 - Ana Varga, 59 Jahre alt

daz ist a kla:nes dUÄf a gOsn" nu:Ä un di gOsn"


(Kisdarda), das ist ein kleines Dorf, eine Gasse nur, und die Gasse

va: sKU ka ’asfalt kanK Sta:nK fi:l Staup un da hamÄ ziç hOt kSpi:lt
war so, kein Asphalt, keine Steine, viel Staub, und da haben wir sich halt gespielt.
Ihr Sprachrepertoire ist viel größer als das der anderen Informanten, die in
ihren deutschen Erzählungen und Gesprächen auf kroatische Übersetzung
ausweichen mußten, weil in ihrem muttersprachlichen Vokabular beträchtliche
Lücken entstanden sind. Außerdem scheint ein Unterschied zu bestehen zwischen der
Sprache der ländlichen Bevölkerung aus der näheren Umgebung und der Sprache der
Städter. Auf dem Lande wurde das alte, ursprüngliche Deutsch bewahrt, in der Stadt
scheint sich der Einfluß einer österreichischen Umgangssprache bemerkbar zu
machen. Die phonetischen Besonderheiten sind in der nachfolgenden Tabelle
angeführt.

[a] [O] Wald [vOlt]


[a:] [O:] Tag [tO:k]
[e] [ei] [E] schenken [Seinkn", Senkt]
[e:] [ei] [e:] Nebel [neipl", ne:pl"]
[(] [ei] [e] Köpfe [kheipf, kEpf]
[/:] [ei] [e] schön [Sein, Se:n]
<ä> Dem. [a] [a:] Fäßlein [fasj], Schemel [Sa:ml"]
Plur. [E] [e:] Tage [te:k], Zähne [tsent], Käse [kha:s]
<ar> [OÄ] arm [OÄm], Haar [hO:Ä]
[i ] [i ] bitter [pitÄ]
[i:] [i:] Lieder [li:dÄ]
[O] [KU] [O] hoffen [hOUfn", hOUft]
[o:] [KU] [o:] Vogel [fKUgl", fo:gl"]
<or> [UÄ] Dorf [dUÄf]
[U] [U] husten [hUstn"]
[u:] [u:] rufen [ru:fn"]
<ü> [i ] [i:] Sünde [sint], süß [si:s]
<ei> mhd. ei [a:] Stein [Sta:n], Teil [ta:l]
mhd. î [ai] reiten [raitn"]
<eu> [ai] deutsch [taitS]
<au> mhd. û [au] Maus [maus]

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
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mhd. ou in Baum [pa:m]


[p, t, k] [ph, th, kh ]
[b, d, g] [p, t, k ]
[s] [s], assimiliert auch [z]
[-ig] [-iç] Honig [hKUniç]

Als Vergleichsgrundlage dient das Standarddeutsch. Die meisten Abweichungen


vom deutschen Standard sind, wie gewöhnlich in allen Dialekten, im Vokalismus. Das
sind: Verdumpfung von kurzem und langem a, Entrundung, Fehlen des Umlauts von
a (d.h. Senkung von ä zu a), aber Umlaut als Pluralsignal, geschlossene Aussprache
von o als u und die Diphthongierung von e und o (auch ursprüngliche Kürzen und
entrundete ö-Laute). Diese Diphthongierung scheint ein wesentliches Merkmal des
Vokalismus zu sein, das bei Sprechern, die unter dem Einfluß des österreichischen
Standards stehen, nicht mehr so ausgeprägt ist. Der Diphthong ei ist zu a:
monophthongiert, wenn das mhd. ei vorliegt, der Diphthong au anscheinend nur im
Wort Baum (pa:m). In der Gruppe Vokal + r ist der Vibrant vokalisiert.
Verschlußlaute p, t, k, sind (wenigstens in der Sprache der zwei angeführten
Informantinnen) stark aspiriert; b, d, g sind gewöhnlich als stimmlose Lenes realisiert.
Der Spirant s ist immer stimmlos, wenn keine Assimilierung vorliegt. Das Suffix -ig
wird mit dem iç-Laut realisiert.
Das kann als vorläufige phonetische Beschreibung gelten. Es bedarf noch einer
genauen Klärung, unter welchen Bedingungen einzelne Lautvarianten vorkommen
(Dehnung, Diphthongierung, r-Laute in verschiedenen Umgebungen, Allegro-
Formen u.a.). Außerdem muß bestimmt werden, inwieweit noch "donauschwäbische"
(oder ganz allgemein gesagt: fränkische und schwäbische) Eigenschaften erkennbar
sind, die sonst in ländlichen Gebieten Slawoniens, insbesondere aber in der Vojvodina
noch vorkommen.22 In Osijek scheint es zu einem Ausgleich zugunsten einer
österreichischen Umgangssprache gekommen zu sein, wodurch sich auch sonst die
Stadtsprachen von den Mundarten unterscheiden. Das Osijeker Deutsch ist ein
wertvolles Relikt aus der Zeit der Monarchie, das noch weiter untersucht werden
muß.
Heute, fast 100 Jahre nach Krležas Kindheit in Zagreb und Wilma von
Vukelichs Jugend im deutschen Osijek, 80 Jahre nach dem Zusammenbruch der
Monarchie, als die natürliche Bindung der kroatischen und deutschen Sprache aufge-
hört hat zu bestehen, 50 Jahre nach der Katastrophe, die Europa in Kommunisten und
Nichtkommunisten gespalten hat, und als in unseren Gegenden Deutsch für lange
Zeit als Sprache der Nazisten und Okkupanten anathematisiert wurde, als Sprache,
die uns in der langen Geschichte nur Nachteiliges und Schlechtes gebracht hat, heute
in ganz anderen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen ist unsere Pflicht,

22
Vgl. Popadiæ (1978) und Grubaèiæ (1971).

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-375-

die geschichtliche Rolle der deutschen Sprache in Kroatien nüchtern und objektiv
darzustellen. Und dies war das Ziel dieses Artikels.

Literatur
Deželiæ, Velimir (1901): Iz njemaèkog Zagreba. Prinos kulturnoj povjesti Hrvata.
(Aus dem deutschen Zagreb. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Kroaten).
Zagreb.
Grubaèiæ, Emilija (1971): "Kniæanin / Banat". In: Phonai, Monographien 10,
Tübingen.
Hirt, Hermann (1940): "Volksleben und Sitten in Bosnien und der Herzegowina". In:
H. Hirt, Indogermanica, ausgewählt und herausgegeben von H. Arntz, Halle, S.
228 f.
Kessler, Wolfgang (1984a): "Aus der Dominanz in die Marginalität. Einige
Bemerkungen zur Rolle der deutschen Sprache in Kroatien im 19. Jahrhundert."
In: Die deutsche Sprache in Südosteuropa, München.
Kessler, Wolfgang (1984b): "Zwischen den Völkern. Das Schulwesen der
deutschsprachigen Minderheit Jugoslawiens in der Zwischenkriegszeit." In:
Deutscher Einfluß auf Bildung und Wissenschaft im östlichen Europa, Köln -
Wien.
Krleža, Miroslav (1952): "Djetinjstvo u Agramu 1902-3". In: Republika 8, Buch II,
Nr.12.
Lucerna, Cammila (1935): "Tragovi saobraæaja izmeðu Karantanije i Dalmacije u
doba Karloviæa" (Spuren der Beziehungen zwischen Kärnten und Dalmatien in
der Karolingerzeit). In: Prilog Vjesniku arheološkog društva, XVI.
Magner, Thomas F. (1960): A Zagreb Kajkavian Dialect, Pennsylvania.
Oberkersch, Valentin (1972): Die Deutschen in Syrmien, Slawonien und Kroatien bis
zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der
Donauschwaben. Stuttgart.
Plein, Lujo (1929 - 1938): Die essekerische Sprechart. Gesammelte Gespräche aus
den Osijeker Gassen und Peripherie, 5 Hefte, Osijek.
Popadiæ, Hanna (1978): "Deutsche Siedlungsmundarten aus Slawonien /
Jugoslawien", Phonai - Monographien 10, Tübingen.
Teuschl, Wolfgang (1990): Wiener Dialektlexikon, Wien.
Valjavec, Fritz (1958): Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu
Südosteuropa, München.
Vince, Zlatko (21990): Putovima hrvatskoga knjiæevnog jezika (Auf den Wegen der
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Vukelich, Wilma von (1992): Spuren der Vergangenheit. Osijek um die
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Wehlen, Hans-Ulrich (1980): Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche
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Žepiæ, Stanko (1991): "Wortschatz und Lehnbeziehungen in kroatischen und
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Znanstvena revija 1, Maribor.

Stanko Žepiè: Das österreichische Deutsch in Zagreb und Osijek -


Zur Geschichte der deutschen Sprache in Kroatien.
-376-

Žepiæ, Stanko (1992a): "Njemaèki dio Sušnik-Jambrešiæeva rjeènika 'Lexicon


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Žepiæ, Stanko (1992b): "Deutsche Sprache im Dictionarium von Faustus Verantius".
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Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 377-379

Renata Horvath-Dronske

(Zagreb)

Die Übernahme von Lehnwörtern aus dem


österreichischen-deutschen Sprachraum im
kajkawischen Dialekt von Hrvatsko Zagorje
(Kroatien)

1. Vorbemerkung
Der vorliegende Artikel versteht sich als Bestandteil einer Lehnwortforschung,
die sich aufgrund von konkreten Untersuchungen in einem klar umgrenzten Raum
(hier: das Gebiet von Hrvatsko zagorje, bzw. die Gemeinde Krapina1) mit dem hier
aktuell vorhandenen Lehnwortschatz auseinandersetzt. Dieser Arbeit liegt eine in
dem genannten Gebiet durchgeführte Untersuchung zugrunde, die ich vor zwei
Jahren mit 32 ZagorijanerInnen aus unterschiedlichen Alters- und Bildungsgruppen
durchgeführt habe und auf deren Grundlage eine Liste mit etwa 1000 aus dem
österreichisch/deutschen Sprachraum stammenden Lehnwörtern zusammengestellt
werden konnte. Diese Arbeit beschäftigt sich insbesondere mit den unterschiedlichen
Formen der phonetischen, morphologischen und semantischen Anpassung des
Lehnwortbestandes an den kajkawischen Dialekt.
Gleich zu Beginn sei auf folgendes hingewiesen: Ein bedeutender Teil der auf
dem Gebiet von Hrvatsko zagorje gebrauchten Lehnwörter verfügt über Merkmale,
die auf einen österreichischen bzw. süddeutschen Ursprung hinweisen, z.B.:
štamperlin - Stamperl; buhtlin - Buchtel; škarnicl - Stanitzel.
Die Herkunft aus dem österreichischen bzw. süddeutschen Raum ist nicht nur
aufgrund der selbst in der Zielsprache erhaltenen typischen Diminutivform
erkennbar, sondern auch, weil viele Ausdrücke im norddeutschen Sprachraum
unbekannt bzw. ungebräuchlich sind. Die Übernahme der Lehnwörter hängt generell
mit der Zeit der politischen, kulturellen und ökonomisch-technischen Dominanz der
k.u.k.-Monarchie in diesem Raum zusammen. Dies läßt sich auch durch Wörter
belegen, die, wie z.B. hauzierac - Hausierer, hauzierati - hausieren Berufe oder
Tätigkeiten bezeichnen, die es heutzutage gar nicht mehr gibt, bzw. die heute anders

1
Hrvatsko zagorje umfaßt den nordwestlich der Hauptstadt Zagreb gelegenen Teil Kroatiens bis zur
kroatisch-slowenischen Grenze.
-378-

benannt werden (dem alten Hausierer, der seine Ware an der Haustür anbietet und
verkauft, entspricht heute eventuell der Vertreter).
Eine kleinere Gruppe der deutschen Lehnwörter wurde in neuerer Zeit
übernommen, und zwar entweder unter dem Einfluß der kroatischen Gastarbeiter -
als Beispiele können wir in diesem Zusammenhang folgendes erwähnen: baustela -
Baustelle; autoban - Autobahn; urla(u)b - Urlaub; Oder unter dem Einfluß des
Fremdenverkehrs (z.B. luftmadrac - Luftmatratze) und wirtschaftlicher Kontakte
zwischen den beiden Sprachgemeinschaften, wobei das Kroatische/Kajkawische
Ausdrücke wie ratkapa - Radkappe; šiberdah - Schiebedach; tankati - tanken aus der
deutschen Sprache übernommen hat. Deutlich ist dabei, daß diese Ausdrücke mit der
modernen (auto)mobilen Zeit zusammenhängen.
Übernommen und eingebürgert wurden nicht nur Wörter, die mit der
technischen Überlegenheit des deutschsprachigen Raumes zusammenhingen und für
die es in der kroatischen Sprache noch keinen entsprechenden Ausdruck gab,
sondern sogar Schimpfwörter. Dies stellt eine äußerst interessante Erscheinung dar,
denn es ist wohlbekannt, daß unter den europäischen Völkern bzw. Sprachen gerade
die slawische Sprachfamilie (darunter auch das Kroatische) einen geradezu
unermeßlichen Reichtum an Schimpfwörtern aufweist. Sie werden auch heute noch
parallel zu den kroatischen Schimpfwörtern verwendet:

hohstapler - Hochstapler; trotljin/trotljinhaba - Trottel


huncut2- hunzen ferfljuhta - verflucht
krampus - Krampus napraviti sajze - Scheiße bauen

Der Einfluß des deutschsprachigen Raums ist auch im Bereich der Spitznamen
spürbar. So nennt man etwa wegen seiner schwachen Körperkonstitution meinen
Großvater Spac - Spatz und meinen Onkel wegen seiner geschickten und vor allem
schnellen Aufgabenerfüllung Šus - Schuß.
Nicht nur einzelne Wörter wurden übernommen, sondern in selteneren Fällen
auch ganze Phrasen, wie z.B. ide k najgi oder biti na najgi - zur Neige gehen.
Wortwörtlich übernommen wurde auch hier mit einer eindeutigen Anpassung
an das kroatische Deklinationssystem nur das Nomen najga - Neige; doch die
einheimischen Wörter, die die Präposition und das Verb ersetzen, orientieren sich am
deutschen Vorbild (Verwendung derselben Wortarten), vor allem in der ersten
Variante: ide k najgi: ide = geht, k = zur, najga = Neige.3

2 (Benehmen, das witzig, aber auch verletzend ist.)


3
Sehr häufig begegnen wir bei den SprecherInnen des kajkawischen Dialekts einer Satzkonstruktion,
in der ein Sachverhalt in einer für die deutsche Sprache typischen Weise negiert wird: Ja sam nije jel
= Ich habe nicht gegessen (kroatisch: Ja nisam jeo). Entlehnt ist hier eine ganze grammatische
Struktur, doch ihre Elemente werden durch einheimische ersetzt. Dadurch wird eine Lehnsyntax
gebildet.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-379-

2. Formen der Lehnwortanpassung


Die entlehnten Wörter wurden in die Zielsprache (oder besser: in den
Zieldialekt) inkorporiert und dadurch bestimmten phonetischen, morphologischen
wie auch manchmal semantischen Anpassungen und Veränderungen unterzogen.
2.1. Lautbild der Lehnwörter
Auf den rein phonetischen Aspekt der lautlicher Veränderungen sei hier nur am
Rande hingewiesen. Ein dabei wirksames Grundprinzip, das auch für die deutschen
Lehnwörter im Gebiet der Gemeinde Krapina durchweg Gültigkeit besitzt, leitet sich
daraus ab, daß sich der Lautvorrat einer Sprache niemals völlig mit dem einer
anderen deckt. Bereits Hermann Paul hat deshalb darauf hingewiesen, daß ein
Sprecher, der ein phonetisch von der eigenen Sprache abweichendes Wort einer
anderen Sprache adaptiert, in der Regel statt der fremden Laute die
nächstverwandten seiner eigenen Muttersprache einsetzen wird. Dies heißt vor
allem, daß in der Regel diejenigen Monophtonge und Diphtonge des Deutschen, die
in der kajkawischen Dialektvariante nicht vorkommen, durch die Vokale ersetzt
werden, die lautlich den zu ersetzenden am nächsten kommen: curik - zurück; kiler -
Kühler. Dazu noch zwei Bemerkungen:
1. Bei keinem entlehnten Verb, wohl aber bei einem geringeren Teil der entlehnten
Nomen, beim größten Teil der entlehnten Adjektive, bei vielen entlehnten Wörtern
aus anderen Wortarten bleibt die ursprüngliche phonetische Form erhalten; z.B.:
ciferblat - Zifferblatt; blond - blond, wobei morphologisch relevante Bestandteile
des Ausgangwortes (z.B. -er bei cener) ihren morphologischen Wert naturgemäß
verlieren.
2. Der weit überwiegende Teil der festgestellten Nomen, alle Verben und ein
geringerer Teil der Adjektive (allerdings kaum ein entlehntes Wort aus den
anderen Wortarten) verändert sein ursprüngliches Lautbild aufgrund
phonetischer und/oder morphologisch bedingter Überarbeitungen, d.h. die
deutschen bzw. österreichisch-bayrischen Ausgangswörter werden dem
kajkawischen Flektionssystem sowie den kajkawischen phonetischen Mustern
angepaßt: bogunzek - Bogensäge; fajront - Feierabend; frezati - fräsen.
2.2. Morphologische Aspekte
Die Anpassung an das kajkawische Flektionssystem sowie an andere Merkmale
der Wortbildung bedeutet für die verschiedenen Wortarten folgendes:
1. Die übernommenen Verben erscheinen in vier verschiedenen
Varianten des Infinitivs und werden dementsprechend
konjugiert.
a) die überwiegende Anzahl der Verben bildet den Infinitiv auf -ati (dihtati -dichten);
b) eine weitere Verbgruppe, die in der deutschen Variante auf -ieren endet, bildet
ihren Infinitiv auf -irati (hofirati - hofieren);

Renata Horvath-Dronske: Die Übernahme von Lehnwörtern


aus dem österreichischen-deutschen Sprachraum im kajkawischen Dialekt
-380-

c) in geringerer Menge vorhanden sind schließlich Verben, die ihren Infinitiv auf -iti
bilden (faliti - fehlen);
d) lediglich zwei Verben (curiknuti se, kroat. - sich rückwärts bewegen,
zurücksetzen; cugnuti - einmal einen kräftigen Schluck nehmen) bilden den
Infinitiv auf -nuti.
2. Bei den entlehnten Nomen ergibt sich folgendes
Erscheinungsbild:
a) Die überwiegende Anzahl der entlehnten Wörter sind Nomen, die zudem
weitgehend in ihrer ursprünglichen phonetischen Form in den Lehnwortbestand
der SprecherInnen aus der Gemeinde Krapina eingegangen sind ( z.B. anker -
Anker, brener - Brenner, ciferblat - Zifferblatt). Diese Wörter wie auch phonetisch
stärker überarbeitete Entlehnungen sind gleichermaßen dem Deklinationsschema
für Maskulina unterworfen.
b) Auffällig ist, daß die auf -e auslautenden deutschen Nomen mit Ausnahme von
cange - Zange und dilje - Diele entweder diese Endung verlieren (bajlag - Beilage,
ceh - Zeche, luftmadrac - Luftmatratze) oder aber, was wesentlich häufiger
vorkommt, auf -a enden und folglich weiblichen Geschlechts sind; z.B. felga -
Felge; jakna - Jacke; špalta - Spalte.
c) Relativ selten sind kroatische Nominalisierungen, die folglich dem neutralen
Deklinationsmuster folgen: sparanje - sparen; heklanje - häkeln; strikanje -
stricken.
d) Zusammengesetzte Nomen, sofern sie nicht vollständig - abhängig von etwaigen
phonetischen Veränderungen - übernommen werden (z.B. ajeršpajz - Eierspeise,
ajzenban - Eisenbahn, balansštanga - Balancierstange) verlieren als Lehnwort ihr
Grundwort, werden folglich entweder auf das Bestimmungswort reduziert
(dreš für Dreschmaschine, centimetar für Zentimetermaß, gater für Gattersäge,
freza für Fräsmaschine, rikverc für Rückwärtsgang, špajza für Speisekammer
usw.) oder aber das Bestimmungswort wird durch die Endung -ica ergänzt
(borerica für Bohrmaschine, štoperica für Stoppuhr, ziherica für Sicherheitsnadel).
e) Deutlich seltener ist demgegenüber die Erscheinung, daß die deutsche
Wortzusammensetzung als Lehnwort allein durch das Grundwort vergegenwärtigt
wird (so z.B. bei dem Wort šmeker für Feinschmecker, beim Wort stok für
Türstock, oder aber hauba für Motor- bzw. Kühlerhaube oder Trockenhaube).
3. Auch Adjektive wurden seltener entlehnt.
Unter den ca. 1000 Entlehnungen, die als Ergebnis meiner Untersuchung auf
dem Gebiet der Gemeinde Krapina identifiziert werden konnten, sind nur etwa 15
Adjektive.
a) Lediglich drei Adjektive falièni - von: fehlen = mit einem Mangel, friški -frisch,
glat/glatki - glatt sind vollständig adaptiert, d.h. sie erscheinen sowohl in
prädikativer (meso je friško - Das Fleisch ist frisch) und z.T. adverbialer als auch

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-381-

attributiver Stellung (friško meso - frisches Fleisch) und werden dabei den
jeweiligen kroatischen Deklinationsregeln unterworfen.
b) Bei der Mehrzahl der restlichen Adjektiven (blond - blond, braun - braun, faj -
fein, falj - wohlfeil, fertik - fertig, fest/fijest - fest, knap - knapp, fraj - frei, slank -
schlank, ziher - sicher) ist eine attributive Verwendung ausgeschlossen und nur
eine prädikative (sutra sam fraj - morgen bin ich frei), z.T. auch eine adverbiale
möglich (z.B. ofarbat æu se na blond - Ich werde mein Haar blond färben lassen).
Im prädikativen oder adverbialen Gebrauch werden diese Wörter nicht dekliniert.
c) Eine weitere Sonderstellung beanspruchen die Adjektive res - resch und srek -
schräg. Das aus dem österreischen Sprachraum stammende Wort reš (resch) wird
nicht attributiv und gemeinhin auch nicht als Ergänzung zu sein gebraucht,
sondern - stets undekliniert - nur in adverbialer Stellung (meso je reš peèeno - das
Fleisch ist resch gebraten). Das Adjektiv šrek wird ohne Deklinationsendung in
prädikativer bzw. adverbialer Stellung nur zusammen mit den Präpositionen po -
auf, an oder na - auf, an benutzt (slika visi na srek - Das Bild hängt schräg).
2.3. Semantische Aspekte
Die Wortbedeutung(en) eines Lehnwortes dürfte(n) schon aus prinzipiellen
sprachtheoretischen Überlegungen nie mit der/den ursprünglichen zusammenfallen,
läßt sich doch der Sinn eines Wortes - auch wenn es dem Sprachbewußtsein so
erscheint - nicht aus einer linearen Beziehung zu einem außersprachlichen
Referenten herleiten. Vielmehr - so jedenfalls de Saussure - ist der Inhalt eines Wortes
"richtig bestimmt nur durch das mitwirken dessen, was außerhalb seiner vorhanden
ist" (Saussure, S.138), und folglich Ausdruck einer Positionierung innerhalb der
Totalität eines bestimmten sprachlichen Systems.
Abgesehen von dieser generellen Einschränkung lassen sich auf einem
pragmatischeren Niveau folgende Aussagen über die semantischen Relationen
zwischen Lehnwörtern und ihren deutschen Entsprechungen formulieren.4
1. Homonyme oder polysemische Wörter werden in der Regel auf eine
Bedeutung reduziert. Dies gilt allerdings nicht oder nur begrenzt für die Lehnwörter
slag in der Bedeutung Schlaganfall und Schlagobers/Sahne, cuk in der Bedeutung
Eisenbahn, Durchzug und in der Wendung einen guten Zug haben (viel trinken)
einen guten Zug haben (viel trinken) > cuk (kroat.) oder etwa koštati in der
Bedeutung einen Preis haben - kosten und schmecken/probieren - kosten. Bei
mehrdeutigen Wörtern werden gewöhnlicherweise nicht die figurativen
Komponenten Bestandteil der Lehnwortbedeutung, sondern nur die

4
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß hier nur die aktuelle Lehnwortbedeutung mit dem
aktuellen deutschen/österreichischen verglichen werden kann. Von daher könnte es durchaus sein,
daß bereits relativ früh entlehnte Wörter die ursprüngliche Bedeutung beibehalten haben. da sie den
neueren Bedeutungswandel im österr./bundesdt. Deutsch nach der Adaption nicht mitgemacht
haben.

Renata Horvath-Dronske: Die Übernahme von Lehnwörtern


aus dem österreichischen-deutschen Sprachraum im kajkawischen Dialekt
-382-

Grundbedeutungen übernommen. Dies gilt z.B. nicht für das Wort bremzati, das
auch im figurativen Sinne von "jdn. hindern, hemmen, jdm. Einhalt gebieten"
verwendet wird.
2. Das Lehnwort "bank" bedeutet zum einen "(Sitz)bank", bezeichnet zum
zweiten "den von allen (Glücks-)Spielern gesetzten Einsatz" und zum dritten den
"Verkaufstisch in kleineren Geschäften". Der zweite und dritte Wortinhalt von "bank"
zeigt typische Formen der Bedeutungsänderungen, denen die Lehnwörter
unterworfen sind.
a) Die zweite Bedeutung von "bank" weist eine leichte semantische Verschiebung
gegenüber der deutschen Wendung "die Bank halten" (= gegen alle Mitspieler
spielen, setzen) auf. Im selben Sinne bedeutet žljajfati außer schleifen auch
bremsen/abbremsen. Demgegenüber weist das Wort šenkati die deutsche
Grundbedeutung schenken nicht auf, sondern wird nur in der Bedeutung etwas
billig oder billiger verkaufen gebraucht.
Eine solche geringe semantische Umwandlung finden wir auch bei jenen
Lehnwörtern, die den deutschen Ausgangsbedeutungen eine pejorative (drek
bedeutet auch schlichtweg Scheiße) oder eine positivere Wendung geben. So hat
das Wort frajer nicht den heute geläufigen deutschen Wortinhalt Kunde einer
Prostituierten, sondern bezeichnet im Unterschied zur aktuellen deutschen
Grundbedeutung allgemein einen in jeder Hinsicht attraktiven (und meist
unverheirateten) jungen Mann, und das Verb kocati ließe sich mit dem Wort
aufstoßen ins Deutsche rückübersetzen.
b) Die dritte Bedeutung von bank (Verkaufstisch oder Ladentisch) hält sich nicht
mehr im Rahmen kleinerer semantischen Abweichungen, auch wenn ein gewisser
assoziativer Zusammenhang zwischen der deutschen Ausgangsbedeutung und
demgegenüber stark veränderten Lehnwortbedeutung vorhanden ist. Letzteres gilt
auch für dilje, das nur im Sinne von Dachspeicher verwendet wird, und rampa,
das neben der im Deutschen geläufigen Bedeutung Laderampe auch die Schranken
an einem Bahnübergang bezeichnet. Hier hat sich der Zusammenhang mit der
Ausgangsbedeutung noch weiter aufgelöst.
Die wenigen Beispiele, die in diesem Zusammenhang genannt wurden, mögen
die Wichtigkeit des aus dem österreichischen bzw. (süd-)deutschen Sprachraum
stammenden Lehnwortbestandes für das Gebiet von Hrvatsko Zagorje belegen. Im
alltäglichen Sprachgebrauch wie auch in den Fachsprachen einzelner
Industriezweige (hier vor allem Holz- und Textilindustrie) sind viele dieser Wörter
fast unersetzlich. In all dem wird die bis heute wirksame kulturelle und politische
Verflechtung zwischen Österreich und Hrvatsko Zagorje deutlich.

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 383-402

Sachregister
Abstandsprinzip 7 in der Pressesprache 179
Abwehrhaltungen der Österreicher zum Kenntnisse englischer Universitätsgerma-
eigenen Deutsch 88 nisten 135
Akzent Verwendung bei Prüfungen 138
der Hansestadt Hamburg 310 zugleich Bavarismen 306
Alemannismen 143 Austriazismenprotokoll 124
Apokope des Endungs - e im Alem. 143 Austromasochismus (soziale Haltung) 32
in Vorarlberger Zeitungen 180 Bavarismen 306ff;
Diminutivsuffix -le 144 Behandlung in Grammatiken und Wörter-
Alleinvertretungsanspruch, deutscher 115 büchern 308
Alltagsauffassung von Sprachen 53 gesamtbairische 314
Altbayern 306 lexikalische, Klassifizierung 314
American English 249 in Phonologie 306
Anschluß, sprachlicher durch EU 128 Sachbavarismen 314
Anpassungsdruck 86, 145 Verwaltungsbavarismen 315
Arealbezeichnungen von Lexik 308 Bayerisches Deutsch 305
Assimilationspolitik im Königreich Ungarn 29 Aussprache 306
Asymmetrie des ÖDt. zum Bundesdeutschen Aussprache 313
77 des [a] in Bayern 306
Aufklärung und Staatsräson in der Habs- d. Zungen-r 313
burgermonarchie 21 Altbayern 313
Ausbauprinzip 7 identitätsstiftende Funktion
Auslandsgermanistik 133ff; 248 der bayr. Variante 311
Auslandsjahr englischer Germanistik- Bedrohung der bayerischen Normvariante
studenten 307
Österreich als Zielland 133 Bewußtmachung des südlichen Deutsch
praktische Schwierigkeiten 133 309
Sprachliche Schwierigkeiten während Borussifizierung 305
des Aufenhalts 136 Belege
Auslandslektoren, österreichische 11; 129 Pressebelege 179
Auslandsösterreichisch, Verlust 141 Beurteilung 180
Außendeutsch 116 Berufssprecher 113
Außennormen, Markierung in Wörterbüchern Bildungsideologie und Sprachnationalismus
13 in Deutschland 199
Aussprache → Standardaussprache Fehlen bei Sonnenfels 25
postvokalische r-Vokalisierungen in Bayern Binnendeutsch 116; 127
306 Binnendiglossie 141
Umgangslautung 280 Bonner Handwerkerordnung von 1964
Aussprachewörterbuch, österreichisches 250 Sonderregelungen für Bayern 310
Möglicher Aufbau von Wörterbuchartikeln British English 249
262 Bühnensprache
Australisches Englisch 12 Distanzierung der ORF-Sprecher 274
Austriazismen 116 Bundesdeutsch 132
Abbau 142 Corpusplanung 7
Arten 179 Aufgaben 100
Behandlung in den Duden-Wörterbüchern cultural cringe
178 in abhängigen Nationen 33
Gleichstellung in der EU 125 D(ominierende) ~ A(ndere) Nationen
im Duden 197 Hackordung 77
im Slowakischen 313 Spracheinstellungen 8
in der Literatur 180 deutscher Block 123
-384-

Deutsche Standardsprache situationsbedingt unterschiedlicher Einsatz


Ausbildung in der Habsburgermonarchie 271
21 Hollandisierung 91
in Südtirol 293 Identifizierung
Dialekt 166 durch Sprache 8
dialektaler Duktus 182 Identität
Dialektinterferenzen 138 doppelte Identität der Österreicher 100
Distinktheitsform 262 Mehrfache Identität 8
Dogma des guten und einheitlichen Deutsch Mehrfache oder einfache Identität 99
95 nationale Identität in Österreich
Donauschwaben 359; 363 Defizit 129
Doppeltes Perfekt und Doppeltes Plusquam- Identitätsambivalenz 89
perfekt 228 Imageproblem des österreichischen Deutsch
Dudenredaktion 116 81
Duden-Universalwörterbuch (DDUW) 159, Jägersprache 166
198ff Jakobinerprozesse; Folgen 28
Einheitssprache 166 Josephinismus 21
Ethnos und Demos Josephinisches Trauma 28
als Mittel der Selbstdefinition 18 Kodex
Europareife, Österreichs 122 amtliche Gültigkeit 113
EU Kodifikationsproblem, des ÖDt. 94
Amtssprachen der EU 123 Kohärentes Normensystem
Arbeitssprachen der EU 123 als Basis der Definition von nat. Varietäten
EU-Abstimmung 122 102
EU-Beitritt Konnotationen, gruppenspezifische von Aus-
Erhebung typisch österreichischer Aus- drücken 52
drücke 123 Kontakte zwischen Österreich und Kroatien
Protokoll Nr. 10 130 363
Europareife, Österreichs 123 Kontaktphänomene, ÖDt. ~ Bdt. 78
Generalklausel für Gleichwertigkeit der Korpusdefinition 166
Austriazismen im EU-Recht 127 Korrektheitsproblem in der Aussprache 252
für Verwendung d. ÖDt. in d. EU 124 Kulturnation 111
Fugenmorpheme -s -Ø -e 216 Lehnwörter, deutsche, österreichische
Gebrauchsnormen im Kroatischen 357ff; 375ff
österreichische, in der Aussprache 248 Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern
Gebrauchsstandard 105 309
Germanismen/Austriazismen linguistische Schizophrenie 64, 82ff, 138
im Slowakischen 314ff Linguistischer Konstruktivismus 55
Geschichtstraditionen in Österreich; Macquarie Dictionary 12
Verschweigen 30 Markierungsbezeichnungen
Goethe Arealbezeichnungen, von Lexik 308
Protest gegen Sonnenfels 23 f. österr. Lexik 196
Grammatikalisierung Mehrfache Identität 8
pragmatischer Faktoren 55 Mehrfache oder einfache Identität 98
Grenze zwischen Pragmatik und Gram- Militärgrenze, zum türkischen Reich 357
matik 56 Minderheitssprachen in Österreich 11
Großdeutsche Haltungen 91 Mindertwertigkeitskomplexe, österreichische
Großes Dänisches Aussprachewörterbuch gegenüber Deutschen 31; 80
250 Möbel-Bezeichnungen
Habsburgischen Mythos 40 in Werbekatalogen 148
Handbuch der bayerischen Hochsprache 305 Modellschreiber 113
Hauptvarietät 60 Modellsprecher 113
Helvetismen 117 monozentrisches Sprachverständnis 127
Historikerstreit 92
Hochsprache

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-385-

Multilinguismus im Kroatien der Monarchie Bitten- und Aufforderungsverhalten 232


358 Definitionsmöglichkeiten 166
Mundarten, österreichische Diminuitiva auf -el / -erl / -eln / -ern / -
Aufnahme ins Wörterbuch 158 erln 215
Nation 110 Eigenständigkeit 51, 250
Nation vs. Staat im dt. Sprachraum 99 Einfluß auf die Dialekte des Kroatischen
nationale Frage in Deutschland 20 Lehnwörter 374
Nationale Nonstandardvarietäten 111 Einfluß auf und vom Slowakischen 314ff
Nationale Halbzentren 112 Einfluß auf und vom Tschechischen 328ff
Nationale Varianten des Deutschen 65, 112ff Einfluß in Kroatien 379
Bekanntheitsgrad nicht-bundesdt. Entschuldigungsverhalten 232
N.Varianten im Ausland 133 Fugenmorpheme -s -Ø -e 216
Definition 100 Gebrauchssprache im ORF 279
Diskussion 75 Erforschung 70
Ungeklärte Fragen ihrer Beschreibung 77 EU-Beitritt 122
Typen 117 Fehleinschätzungen durch ausländische
Typologie 110ff Germanisten 138
Nationale Varietät 66; 111 Fehlen als Begriff in Schulbüchern 166
Standardvarietät 102; 111 Grammatische und pragmatische Merk-
Nationale Zentren male 209ff
Typologie 110ff Imageproblem des ÖDt.
Nationale Halbzentren 112 im Ausland 79
Nationale Vollzentren 112 im Inland 81
Nationales Sprachzentrum 112 in Südtirol 291
Nationalitäts-Purismus 99; 115 in Zagreb und Osijek 354
Nationalspitznamen 117 Kodifikationsproblem
Nebenvarietäten, des Deutschen 60 des ÖDt. 95
Nichtüberdachung, des ÖDt. 96 Korpus 178
Nord-Süd-Trennung, in der deutschen Lexikographische Probleme 178
Sprache 307 Mangel an Kodifizierung
Orthographische Dubletten 164 Folgen für ausländische Studenten 138
Orthographie-Duden 159 Morphologie 215
Österreichbewußtsein 33; 92 Perfektbildung mit haben oder sein 227
Entwicklung 30 pragmatische Merkmale 230
Herausbildung in den Erblande 22 Redewendungen als Lehnübersetzungen im
Österreichisch 123; 129 Kroatischen 360
als Eigenname für das öDt. 52 Rektion und Valenz von Verben 226
Österreichische Literatur 38ff Schibbolethdefinition 166
Österreichische Literatur; Literaturgeschichte Sprachlogo für den ORF 272
38ff Sprechaktrealisierungsverhalten 230
Österreichische Sprachpolitik, Syntax 223ff
Ansätze 10 Unterschiede bei Adverbien 222
Österreichisches Beiblatt zum Siebs 239 Vergangenheitstempora 227
Österreichisches Deutsch Vermeiden des Plusquamperfekts mit
Artikelgebrauch 214 "sein" 228
Abgrenzungen 273 Verwendung des Reflexivpronomens "sich"
Anerkennung durch englische Prüfer 134 227
Anredeverhalten 230 Verwendung in Prüfungsarbeiten im Aus-
Asymmetrie zum Bundesdeutschen 78 land 134
Aussprache → Standardaussprache Verwendung von Modalpartikeln 231
Bedeutungsunterschiede zum Bdt. 138 Wahl der Präpositionen in Präpositional-
Bedeutungsunterschiede bei Präfixverben gruppen 223
218 Wortbildungsunterschiede 216
Bewertung 137 Österreichisches Sprachdiplom 129

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-386-

Österr./tschech. Einfluß, gegenseitiger 336ff Schweizer Rechtschreibbuch für Schule und


Österreichisches Wörterbuch 100; 114; 159ff Praxis 159
35. Auflage Selbstdefinition
Kennzeichnung der Sprach- und Stil- von Gesellschaftsgruppen 18
ebenen 160 Selbstdefinitionsmangel Österreichs 93
Mitherausgeber 158 Selbstidentfikation, sprachnationale
37. Auflage in Europa nach 1880 30
Wortschatzerweiterung 160 Selbstidentifikation, österreichische 32
Kompromiß 159 Selbstidentifikation
orthographische Regeln 158 Hindernisse in der Monarchie 22
Toleranz gegenüber Varianten 163 semantic muddle 157
umgangssprachliche und mundartliche methodische Folgen 99
Wörter 159, 162 Siebssche Ausspracheregeln
westösterreichischer Sonderwortschatz Modifizierung durch Berufssprecher 280
167 Slang 166
Wien-und Ostösterreich-Lastigkeit 162 Slowakisch 314ff
Österreichselbstbewußtsein 91 Soziale Orientierung 76
Phäakenvolk 129 Sozialpartnerschaftliche Ästhetik 42
plurinational Sprache, als Layout von Mediensendungen
Begriff 111 271
plurinationale Variablen 111 Sprache und Identität
plurinationale vs. plurizentrische Sprache in Österreich 75f
113 Sprachenfrage innerhalb des EU-Über-
Plurizentrische Sprachen setzungsdienstes 121
Definition 7 Sprachenpolitik Österreichs
Beschreibung plurizentrischer Sprachen Absenz 128
Grundlagen 7ff, 100f Sprachexperten 114
Plurizentrischer Status des Deutschen Sprachgebrauch als Basis der Kodifikation 99
Auswirkungen auf Deutschunterricht im Sprachgemeinschaft 110
Ausland 132 Sprachkodex 113
Plurizentrismus Sprachkodifizierung, autoritative
symmetrisch/asymmetrisch 9; 10; 77 im Deutschen Reich 30
Präferenzunterschiede Sprachkritik, Entstehen in Österreich 27
bei der Wahl lexikalischer Mittel 212 Sprachliche Entäußerung 83
Pragmatische Funktionen Sprachliche Schizophrenie 65, 138
Sprachlicher Formen und Regeln 57 Sprachliche Überfremdung 312
Predigtkritiken zur Zeit der Aufklärung 28 Sprachlicher Druck des Bundesdeutschen auf
Prestige des österreichischen Deutsch 129 d. ÖDt. 86
Preussifizierungsgefahr 125 Sprachnation 111
Protokoll Nr. 10 121, Sprachnationalismus
Text 130 in Deutschland des frühen 19. Jhds. 19
Provinzialausdrücke Zur Zeit Josephs II, Reaktionen 22
Empfehlungen von Sonnenfels 25 Sprachnormautoritäten 113
Pseudosynonymie 151 Sprachpatent Josephs II., Folgen 21
Purifizierung der österreichischen Literatur- Sprachplanung 10
sprache 84 für das österreichische Deutsch 14, 106
Realpolitik 20 Sprachpolitik, in Australien 12
Reformabsolutismus in Österreich 21 Sprachsituation, in Österreich 75ff
Reformation 357 Merkmale 78
Register, sprachliche 133 Sprachstandardisierung, österreichische
Reichsdeutsch (Begriff) 311 von unten 26
Schweizer Deutsch 133 Sprechausbildung im ORF 281ff
Schweizerhochdeutsch 111 Ablauf 282
Schwyzertütsch 111, 141 oberste Sprechebene in den Medien 277

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-387-

Sprecherschulung im ORF 275 Standardsprache vs. Standardvarietät 111


situationsbedingt unterschiedlicher Einsatz Standardsprachebegriff
277 schriftsprachennaher Standard oder (auch)
Richtlinien 283 Gebrauchsstandard 103
Stimmbildung 284 Statusplanung
Trainingsunterlagen 283 Ziele 9
Voraussetzungen 282 Südtirol, deutsche Standardsprache
Staat 111 Aussprache 293
Staatsnation 111 Einfluß des Italienischen im Wortschatz
Deckungsgleichheit mit Sprachnation 18 295
Standard nach außen 105ff 260 Erziehung zu Mehrsprachigkeit 302
Standard nach innen 105ff 260 Hochsprache österreichischer Prägung 294
Standardaussprache Lehrbuchsprache 308
in Österreich 253ff; 287ff Normenfrage 308
Aussprachebesonderheiten 287 Sprache im Schulalltag 304
Aussprachekodifizierung 289 Sprache und Identität 310
Distinktheitsaussprache 256, 257 Spracherziehung, innere und äußere Mehr-
Gemäßigte Hochlautung 280 sprachigkeit 303
Leseaussprache 287 sprachplanerische Maßnahmen 302
Meinungen 239, 240 Südtiroler Koiné 295
österreichische Merkmale Synchronisisation
Assimilation des Schwa 264 von Filmen und Serien durch deutsche
Konsonanten 266 Sprecher 277
Potentielle Merkmale 241 Tabuisierung der Zusammenhänge zwischen
Stimmbeteiligung bei Konsonanten 242 Sprache und Nation 78
Vokale 264; 287 Teutonismen 118; 128
österreichische, Aussprache des Mor- Theresianische Schulreform
phems -ig 282 Unterricht ethnischer Sprachen 21
österreichische, Konsonanten b, d, g, s Tirolerisch 129
282 Umgangssprache
österreichische l-Allophone 282 in Österreich 163
österreichische Vokalquantität 282 österreichische 160
postvokalische r-Vokalisierungen in Unösterreichische Formulierung 184
Bayern 306 Unösterreichische Wörter 164
Umgangslautung 280 Urmeter, des Literaturmaßstabes 44
Standardaussprache nach außen Varianten/Varietäten: 100
Definition anhand von außersprachlichen Verbreitungsproblem, des ÖDt. 94
Merkmalen 104, 261 Verunsicherung, sprachliche
Standardformen, fremdregionale 318 der Österreicher 30
Standardisierung von Sprache 77 Vielsprachigkeit, in der EU 123
Standardsprache Volk 20
als Schnittmenge der nationalen Varianten Weltanschauung 20
98 Westösterreich
Ausbildung in der Habsburgermonarchie Kodifizierung d. ÖDt. 169ff
21 Wörterbuch der bairischen Mundarten in
Definition 112 Österreich 115
in der BRD 312 Wortschatzschibboleths 184
in plurizentrischen Sprachen 75ff Zensur unter Metternich
mit vielen Zitaten aus anderen Sprach- Zungenspitzen-r 281
schichten 182

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


In: R.Muhr, R.Schrodt, P.Wiesinger (Hrsg.) (1995): Österreichisches Deutsch. Linguistische,
sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. S. 388-402

Wortregister
Der folgende Index verzeichnet die in den Beiträgen angeführten sprachlichen Ausdrücke zu den
einzelnen nationalen und regionalen Varianten/Varietäten. Die österreichischen Ausdrücke
stehen jeweils an erster, die bundesdeutschen/schweizerischen etc. an nachfolgender Stelle. Die
österreichischen Ausdrücke sind unmarkiert. Die Markierung „öst.“ wird nur dort angeführt,
wenn ein Ausdruck auch in anderen Regionen des dt. Sprachraums außerhalb Österreichs
vorkommt. Das Tildenzeichen [ ~ ] hat hier die Bedeutung „entspricht“ (Ausdruck A ~
Ausdruck B). Die Zeichen [ > ] [ < ] bedeuten wie sonst in der Linguistik üblich „wurde zu“ bzw.
„wurde aus/von“. Bei manchen Ausdrücken ist das Doppelzeichen [<>] angeführt, wenn der
Ausdruck z.B. im österreichischen Deutsch oder im Tschechischen vorkommt, aber aus einer
anderen Sprache als diesen beiden entlehnt wurde. In Klammern gesetzte Ausdrücke sind
Bedeutungserläuterungen. Sofern Ausdrücke auch in Nachbarsprachen vorkommen, wurden
diese unter dem österreichischen Stichwort angeführt, stehen aber noch einmal gesondert in der
alphabetischen Liste.

A Alpe, die (wöst.) Alm 169


Alzerl (ein bißchen) 192
Abitur, das ~ Matura, die 116, 142 am Land / Markt 139
abkrageln (umbringen) > odkráglovat (tsch.) am/auf dem Boden / Klo 139
347 Ambo 205
Ablaut (slowak.) 323 Ammann (schweiz.) 199
abrebeln 205 amtshandeln 199
absammeln ~ einsammeln 217 Amtskanzlei, die 205
abschmalzen 205 Anbot, das 205
Absenz (Abwesenheit) > absence (tsch.) 347 anfangen ~ beginnen 80
absperren (Tür) ~ abschließen 217 Angesicht, das 202
Absteigquartier 205 angreifen ~ anfassen 88, 210
Abszeß, das ~ Abszeß, der 203; 200 angrešt < Agras/Agrasel (Stachelbeere)
Abteilung (Ausspr.) 203 (tsch.) 333
abtreiben (zu Schaum machen) 333 Animo (Lust, Schwung, Vorliebe) 202; 205
Abwasch ~ Spüle 87; 155 Anis (Ausspr.) 203
adaptieren (Gebäude herrichten) > adaptovat Anken alem. (Butter) 192
(tsch.) 344 Anker > anker (kroat.) 377
Adel (Jauche) 181 Anlage, die 163
Adjustierung (Aufmachung) 202 anlassig (ausgelassen, sexuell aktiv) 190
Adventkranz ~ Adventskranz 200, 200 anpatzen 183
Advokat 189 anpicken 205
Advokat > advokát (tsch.) 337 Anrainer (Anlieger) 200
Advokaten (südti.) 291 Anrand, der 'Anlauf' 162
Agenden > agenda (tsch.) 344 Anschnitt, der (bdt.) 171
Agentie ~ Agentur 202; 206; 207 anschütten 183
agentieren 205 Ansitz (südti.) 291
Agiotage (Ausspr.) 203 anstehen auf jm./ Hilfe benötigen ~ ange-
Agras/Agrasel (Stachelbeere) > angrešt (tsch.) wiesen sein 218
333 Ansuchen ~ Gesuch 62
Akademie > akademie (tsch.) 344 antauchen 205
Akquisitor (Akquisiteur) 201, 205 aper (wösterr. bayr.) 114; 308, 310
Akt, der (Gerichtsakt) ~ die Akte 88, 139, 214 apern (südd., österr., schweiz.) 200
Algebra (Ausspr.) 203 Apfelsine (norddt.) 163, 309
allerenden (bdt.) 209 Aprikosen ~ Marillen 86,124, 163, 175
Alles Powidl, dem 10er sei Dank 128 Aprikosennektar ~ Marillennektar 86
allfällig ~ eventuell 83, 218 Ärar 205
allseits/allerseits ~ allerseits 217 Ärar (Staatseigentum) † > erár (tsch.) † 347
Almer 206; 207 Aschanti(nuß), die 205
-389-

aspirieren (um etwas bewerben) 200 ausreden sich ~aussprechen, 217


Aspik, der (österr. das) 202 Ausreibtuch, das 205
Aß, das 205 ausrinnen (auch sdt.) ~ herausrinnen 217
assanieren (verbessern) ~ sanieren 201, 207 ausschnaufen / verschnaufen ~ verschnaufen
Assanierung/Sanierung ~ Assanierung 217
(bdt.) 206, 207 ausschoppen 205
Assentierung (Musterung) > asent (tsch.) † ausschroten 205
347 äußerln (den Hund auf die Straße führen) 203,
Aubergine, die 163 205, 217
auf d´letzt (zum letztenmal) 329 außerorts (vlbg.) 170
auf die Schule./in die Schule ~ zur Schule außertourlich 205
225 ausspechteln (ausspionieren) 192
auf lepschi gehen (einen guten Tag machen) < ausspotten ~ verspotten 217
(tsch.) 329 ausstallieren (beanstanden) 192
auf Urlaub gehn ~ in Urlaub gehn 71 ausständig ~ ausstehend, fehlend 217
Auf Wiederschaun 'Abschiedsgruß' 230 ausstecken 217
Auf Wiederschauen (bayr.) 307 Austro- 188
Auf Wiedersehen 230 Austro-Berserker 188
aufdrehen (Licht) ~ andrehen 217 Austro-Chinese 188
aufessen ~ abessen 219 Austrofaschist 188
auflassen ~ stillegen ([Betrieb o. ä.] aufgeben, Austro-Kicker 188
auflösen) 200, 218 Austro-Krimi 188
auflassen ~ offen lassen 220 Austropop 188
aufliegen (Listen) ~ ausliegen 217 Austro-Popper 188
Aufnahmsprüfung 205 Austro-Slowenen 188
aufpelzen (aufbürden) 200 Austromasochismus 188
aufpicken 171; 209 auswerkeln 205
aufreißen, sich jmd. ~ anmachen jmd. 88 Auszugsbauer, der 205
aufscheinen ~ erscheinen, auftauchen 217 Autobahn > autoban (kroat.) 375
aufsitzen jm. ~ schikanieren/benachteiligen Aviso, das ~ Avis 205, 207
218
Aufsitzer 205
aufzahlen (auch sdt.) ~ zuzahlen, darauf- B
zahlen 217 Baba (Abschiedsgruß) 209, 230
aus Bestemm (aus Prinzip) 192 Bacchus (Ausspr.) 203
ausbandeln/ausbeineln (die Knochen auslö- Bächle (alem. bdt. ) ~ Bächlein 143
sen) 193 bachtareò < Wächterhaus (slowak.) 324
Ausbildner 205 Bäckerei ~ Bäckergeschäft/süßes Kleingebäck
ausfolgen ~ verabfolgen, ausstellen 205, 217 61, 111
fratscheln 220 bekeraje < Bäckereien ('feines Gebäck')
Ausgedinge, das 187 (slowak.) 322
ausheben (Briefkasten) ~ ausnehmen, leeren pocheraje/ostslow. bekeraje < Bäckereien
218 (slowak.) 323
auskommen ~ entkommen, entwischen 217 Badewaschl (Bademeister) 190
auskommen mit jm. ~ sich gut verstehen Bagstall 'Zaunstütze' 162
218 bajerpank < Beyerbank 323
auslangen ~ ausreichen, langen 218 bajlag < Beilage (kroat.) 377
auslassen (auch sdt.) ~ loslassen, freilassen) bajta < md. Beute, Nudelbrett (slowak.) 323
217 baksa, buksa/piks¾¾a < Büchse (slowak.) 323
Ausnahmsfall 199 bakschierlich (niedlich) 192
Ausnehmer, der 205 Balancierstange > balansstanga (kroat.) 377
ausplauschen 205 balky (slowak.) 318
ausrasten sich ~ ausruhen sich 218 ballestern (Fußball spielen) 190
ausreden sich ~ sich herausreden 217 bandurky - Kartoffel (slowak.) 325

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-390-

bärig 191 bisserl ~ bißchen 217


Bartwisch (Handbesen) (oöst.) ~ Kehrwisch bißle (bdt. alem.) ~ bißchen 143
62, 171 Bißgúrn (österr. bayr.) 308
portviš < Bartwisch (slowak.) 325 bißle (bdt. alem.) ~ bißchen 144
portviš < Bartwisch (tsch.) 331, 347 bllajbok < Bleiwaage (slowak.) 321
Bärwurz (bayr.) 308 b¾¾ajvas < Bleiweiß (Bleistift) (slowak.) 323
Bauchfleck 183 blond > blond (kroat.) 378, 377
Baustelle > baustela (kroat.) 375 blutwenig 190
Becher, der bdt. 88 Bockbier (österr. bayr.) 307
Becherl, das 333 bodvanka < Badewanne (slowak.) 321
Bedienerin, die (oöst.) 171 Bogensäge > bogunzek (kroat.) 377
beflegeln ~ beschimpfen 218 boks < Wachs (nur für 'Schukreme') (slowak.)
beibringen (erklären) ~ beibiegen 219 321
Beilage (zu einem Brief) 163 borerica für Bohrmaschine (kroat.) 377
Beilage > bajlag (kroat.) 387 Boxer (slowak.) 317
Beiried ~ Roastbeef 130 brandeln (etw. anzünden) 217
Beisl ~ Kneipe 139 braun > braun (kroat.) 378
Beis(e)l > pajzel < Beisel (tsch.) 325, 333, brauta < Braut (slowak.) 379
348 bremzati (kroat.) (hindern, hemmen, Einhalt
Beiz, die für Beisel (vlbg.) 170 gebieten) < bremsen 388
beischließen ~ beilegen 221 brenn-, brennrot; brennheiß 192
Beißer (längere Eisenstange) >pajzr (tsch.) Brenner > brener (kroat.) 387
360 brenzlich ~ brenzlig 217
beistellen ~ bereitstellen 218; 218 Brettel, das ~ Brettchen, das 215
beiziehen ~ zu Rate ziehen 217 Brezen, die (österr. bayr.) 308
Beiz, die für Beisel (vlbg.) 170 Brimsen (Käsesorte) < brynza (tsch.) 345
bekeraje < Bäckereien ('feines Gebäck') Brioche > briošky (tsch.) 341
(slowak.) 322 Bröckerl, das 172
bekommen ~ abfallen 219 brodeln langsam arbeiten) 193
bekommen ~ kriegen 212 brojtigam < Bräutigam (slowak.) 318
Belangsendung 185 Brösel (österr. bayr.) 308
benützen ~ benutzen 138 Brösel > prezli (kroat.) 360
Besen, der 171 Brotkante/-rinde, die (bdt.) 171
bestoßen (wöst.) (Alm) 168 Brotzeit (bayr.) 308; 308
Beuschel, das 124 bruch/pruh < Bruch (slowak.) 323
pajšle < Beuschel ('Lunge') (slowak.) 325 brummlig (alem., bdt.) ~ brummelnd,
pajšl < Beusch(e)l (Lungenhaschee) (tsch.) mürrisch 144
333, 348 brusliak/prusliak < Brustlatz (slowak.) 323
bich¾¾a < (dickes) Buch (slowak.) 324 brutvanka < Bratblech (slowak.) 323
Bichl, der 164 brva < (Augen)braue (slowak.) 317
Bifang, der (mda.) (Ackerstreifen), 162, 172 Bub ~ Junge 85, 136; 138
big¾¾ajs < Bügeleisen (slowak.) 317 Bub (bayr.) 307, 311
big¾¾ajs, big¾¾ova Bügeleisen, bügeln Buchtel < buchta (tsch.) 337, 345
(slowak.) 323 Buchtel > buhtlin (kroat.) 374
Billeteur (Platzanweiser) > biletáøø (tsch.) 337 Buckerl, das (Verbeugung) > pukrle (tsch.)
billig/billiger verkaufen > senkati, (kroat.) 348
379 Budel, die (Theke) 191
Bim, die 187 Büerle (alem., bdt.) ~ Weißbrötchen 144
bína < Bühne (slowak.) 323 buksa < Büchse (slowak.) 329
Binkel, der 164 Bulle, der (norddt.) 175, 310
Bippeleskäs (alem., bdt.) ~ Quark 144 Burenwurst, die 124
Birnbrot (vlbg.) 172 Busserl, das (Kuß) ~ Küßchen, das 216, 291,
Bischofsbrot (Mehlspeise) > biskupský 368
chlebíèèek (tsch.) 348 Busserl (Kuß) >pusa (tsch.) 348

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-391-

Bussel, das 377 Kartoffelndalken 334


Bussl (südti.) 292 Dalken (Mehlspeise) < vdolky (tsch.) 332
pusinka (tsch.) < Busserl (Kleingebäck) dank + Dat. 164
341, 348 das steht nicht dafür < tsch. das lohnt sich
puserliky < Busserl, Kokosbusserl nicht 329
(slowak.) 324 Dati (Vater) 192
Butte > putna (tsch.) 352 dazukommen ~ Gelegenheit haben 218
Büttel mda. 172 deftig 175
Butter, der (die) 140 Dekagramm > deko/deka (tsch.) 337
Butter > puter (kroat.) 360 deke¾¾ < Deckel (slowak.) 322
Butter auf dem Kopf haben (ein schlechtes Delle, die (bdt.) 175
Gewissen haben) > imati putra na glavi delogieren ~ rauswerfen 217
(kroat.) 369 deppert (österr. bayr.) 308
Butz, der (wöst.) Kobold 168 der Peter Zapfl (ein unbedeutender Jemand)
by hin < hingerissen, begeistert sein (slowak.) 368
318 dichten > dihtati (kroat.) 377
by paf < baff sein (slowak.) 318 die Krot werd' ma schluck'n müssen 128
by švorc < schwarz sein (slowak.) 318 Diele, die > dilje (kroat.) 377
by v stave, to ma netanguje < das tangiert Diele, Dachspeicher > dilje (kroat.) 379
mich nicht (slowak.) 317 dinstova < dünsten (slowak.) 323
byt < imstande sein (slowak.) 317 dir/di 137
Dirndl, das (österr. bayr.) 308
C disziplinär > disciplinární (tsch.) 351
doppeln > tumplati, (kroat.) 351
cajger < Uhrzeiger (slowak.) 323 dort ~ da 222
cajgmajster < Zeugmeister (slowak.) 323 Dragoner, der > dragoner (Rückenspange am
Causa, die 187 Mantel) (tsch.) 330
centimetar für Zentimetermaß 377 drahn/drehen (die Nacht zum Tag machen)
Chemie (Aussprache) (norddt.) 309 193
Chiao (Gruß) 230 Draufgabe ~ Zugabe 217
chytá ho rape¾¾ < er kriegt einen Rappel drauskommen ~ aus der Fassung kommen 217
(slowak.) 318 drejbonk < Drehbank (slowak.) 322
ciachova < Meßgeräte kontrollieren (slowak.) drek (kroat.) (Scheiße) < Dreck 379
319 dres für Dreschmaschine (kroat.) 377
cie¾¾ < Ziel (slowak.) 317 drešer < Drescher (slowak.) 322
cimerman, tišliar < Zimmermann, Tischler - Dringlichkeitsbesetzung (südti.) 290
stolár (slowak.) 317 drôt < Draht (slowak.) 317
Cola, das ~ die Cola 214 drôt/drot < Draht (slowak.) 321
Couch ~ Sitzecke 86 drotár < Drahtbinder (slowak.) 317
Crêpe 187 drotova < flicken (slowak.) 317
cugeher < Zubehör (slowak.) 323 drôtovòa
òa < Drahtwerk (slowak.) 317
curik < zurück (slowak.) 323 Drusch, der mda. 172
cvek < Zweck (slowak.) 322 Dubel (alem., bdt.) ~ Dummkopf 144
dufart < Durchfahrt (slowak.) 321
durchfretten (mit Mühe durchbringen) 191
D durchwegs ~ durchweg 72; 217
durš¾¾ak/druš¾¾ak/driš¾¾ak < Durchschlag
da si bacha < wach sein, aufpassen (slowak.)
(slowak.) 324
318
D-Züge 162
dach < Dach (slowak.) 321
Dachgleiche (Richtfest) > glajcha (tsch.) 331,
339 E
Dackel (alem., bdt.) ~ Narr 144
daherbringen ~ herbeibringen 217 echtovný < echt (slowak.) 317
Dalken, die Eck, das/Ecke, die ~ die Ecke 214

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-392-

eh (österr. bayr.) 308 fajerman/fojerman < Feuerwehrmann


ehebaldigst ~ baldmöglichst 218 (slowak.) 323
Eierklar (bdt. Eiweiß) 333 fajermur < Feuermauer (slowak.) 323
Eierschwammerl ~ Pfifferlinge 122; 130 fajront < Feierabend (slowak.) 319; 321
Eierschwammerlsoße mit Knödeln ~ Pfif- fajercajk < Feuerzeug (kroat.) 361
ferlingtunke mit Klößen 121 Faktura > faktura (tsch.) 351
Eierspeise > ajerspajz (kroat.) 377 falicni /faliti (kroat.) < fehlen (mit einem
einbekennen ~ eingestehen Mangel) > 378, 377
bekennen 218 fallweise ~ gelegentlich 218
Einbrenn (Mehlschwitze) > (tsch.) 332 falošný < falsch (slowak.) 317
Eingesottenes 333 falošný, falšova < falsch, fälschen (slowak.)
Eingetropftes > (tsch.) 332 322
einlangen ~ eintreffen 218 Fangermandl (bayr.) 307
einmal ~ mal (Modalp.) 88 farba, farbi < Farbe, färben (slowak.) 322
einringeln (Text) ~ anstreichen 218 färbig 138
Einser, der ~ die Eins 87; 214 Faschiertes ~ Hackfleisch 96; 130
aufnehmen (Arbeiter) ~ anstellen 218 Faschiertes > fašírka (tsch.) 333, 348
Eisbein (bdt.) 128 fašírovat (tsch.) < faschieren 348
Eisenbahn > ajzenban (kroat.) 377 Fasching (österr. bayr.) 308
Eisenbahn/Durchzug > cuk (kroat.) 378 Fasnacht, die (wöst.) Fasching 169
Eiskasten, der 114 Fauteuil ~ Polstersessel 85
Eismänner (Eisheilige) > ledoví mužži (tsch.) Fauteuil ~ Sessel 150ff
348 Fauteuil > fotel (tsch.) 337
endeln (Ränder einfassen) > entlovat (tsch.) Fauteuil > fotelj (kroat.) 360
330, 348 Fechsung, die mda. 172, 170
endlova < endeln (slowak.) 318 Federbüchse (bdt.) 337
entfallen ~ ausfallen 217 Federpennal, das
Erdäpfel ~ Kartoffeln 128, 130, 136; 138 Pennal > penál (tsch.) 337
Erdapfel (bayr.) 308 Federschachtel für Federpennal (vlbg.) 170
Erdäpfel (südti.) 291 fedrova < fördern (slowak.) 323, 317
erteple < Erdäpfel (böhm.) 332 fegen (bdt.) 199
erdep¾¾e < Edäpfel (slowak.) 318, 332 Feierabend > fajront (kroat.) 377
geröstete Erdäpfel 83 Feinschmecker > smeker (kroat.) 377
Erdäpfelsalat ~ Kartoffelsalat 129 Feldkurat > feldkurát (Militärgeistlicher)
Ergetag 'Dienstag' 162 (tsch.) 330, 348
erinnern an/auf ~ erinnern an 227 Felge > felga (kroat.) 377
Erkältung (südti.) 291 fensterln (nachts durchs Fenster zur Geliebten
Erlagschein ~ Zahlkarte/Zahlschein 62; 138 gehen) 217
Erlagschein (südti.) 291 Ferner, der (wöst.), Gletscher 167
erstrecken ~ verlängern 218 ferš¾¾ok < Verschlag (slowak.) 321
eruieren ~ herausfinden 217 ferta¾¾ < Viertel (slowak.) 319
erwischen 211 fertig > fertik (kroat.) 378
Etage (bayr.) 308 fešák < ernsthafter Bewerber (slowak.) 318
evidence (tsch.) < Evidenz (registrieren) 344 fesch 207
exekutieren ~ Auftrag ausführen 217 Feschak (fescher Mann) < fešák (tsch.) 351
Expositur > expozitura (tsch.) 345 fest > fest/fijest (kroat.) 378
Fetzen, der (oöst.) 171
F Feudel, der (ndt.) 200, 200
Palästinenserfeudels 200
facka (tsch.) < Watsche 320 Feuerzeug > fajercajk (kroat.) 361
Fahrrad ~ Velo schweiz. 120 fi¾¾fas < Füllfaß (slowak.) 323
fahrt/fährt ~ fährt 137 Finanzer, der (öst.) 215, 291
faj (kroat.) < fein 378 Finanzer, der ~ Zöllner/Steuer- und
Grenzpolizei (südti.) 291

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-393-

firhag, firhanga < Vorhang (slowak.) 321 gánok, ganek < Gang 321
Fisolen, die ~ Grüne Bohnen 128, 130 Gansljunge, das 205
Fisole > fazole (tsch.) 332, 338 gar (zu Ende) 192
fjerš¾¾ok, ferš¾¾ok < Verschlag, Kiste (slowak.) garagieren > garឞovat (tsch.) 338
321 garbiar < Gerber (slowak.) 317
Flachse, die 164 Garconniere 199, 205
Flachse (Sehne) > flaksa (tsch.) 348 Garçonniére (Einzimmerwohnung) > gar-
f¾¾ak, f¾¾aky < Därme, Innereien (slowak.) 327 soniéra (tsch.) 338
Fleischbänke, die 320 Gardine, die (bdt.) 163
Fleischer, der (bdt.) 171 garen 175
Fleischhacker, der (oöst.) 171 Gasse, die Gassn, die 138
Fleischhauer (älter Fleischhacker) ~ Metzger gassenseitig 205
61, 139; 162, 171 gater für Gattersäge (kroat.) 377
flek < Fleck, auch 'eine (gute) Arbeit' (slowak.) Gaudee, die 205
320 Gaudi (österr. bayr.) 308
Flittchen, das 175 Gebietskrankenhaus 205
Florianijünger, der (Feuerwehrmann) 189 geblumt ~ geblümt 205
fo¾¾vark < Vorwerk (slowak.) 322 Gedünstetes, das 205
forcimer (kroat.) < Vorzimmer 360 Gefangenenhaus 202; 205
foršta < Fußbodenbrett (slowak.) 322 gefinkelt 205
foršus < Vorschuß (slowak.) 317 Gefrorenes 114
fortie¾¾, fortie¾¾ny < zu Vorteil (slow.) 317 Gehalt, der/das ~ das 214
fošner < Förster (slowak.) 322 Gehaltsvorrückung 199, 205
foter < Vater (slowak.) 318 gehaut 205
fraj¾¾a < Fräulein ('Frau mit schlechtem Ruf') Gehsteig ~ Bürgersteig 138
(slowak.) 323 geht sich nicht aus ~ reicht nicht 227
frajer < Freier (slowak.) 318 Geiß (südd., österr., schweiz., westmd.) 200
frajerka < '(feste) Freundin' (slowak.) 318 gelbe Rübe (wöst.) 171, 308
Fraktion (Ortsteil) (südti.) 290 gelbe Rüben (wösterr. bayr.) 315
fräsen > frezati (kroat.) 377 Geld wie Mist (bdt. Geld wie Heu) > novca
Fratz (ungez. Kind) > fracek (tsch.) 349 kao blata (kroat.) 360
frei > fraj (kroat.) 378 Geldtasche, die 138
Freier > frajer (kroat.) (attraktiver, junger ge¾¾ajza < Gleis (slowak.) 324
Mann) 379 ge¾¾atka < Geleit (slowak.) 324
freza für Fräsmaschine (kroat.) 377 ge¾¾ender < Geländer (slowak.) 322
frezati (kroat.) < fräsen 377 Gelse, die ~ Stechmücke 84
frisch > friski (kroat.) 378 gemähte Wiese/gmahte Wiesn etwas ohne
Frischgefangte (Berufsanfänger[in]) 190 Anstrengung Erreichtes) 193
Frühstück > frištik (kroat.) 361 gepe¾¾/gápe¾¾ < Göpelwerk (slowak.) 329
fruštik/frištik < Frühstück (slowak.) 323 geraten (gelingen) 194
Fuchtel 'alte Frau' (österr. bayr.) 308 Gerebelte 207
furt < fortwährend - stále (slowak.) 317 gerš¾¾a < Gerste (slowak.) 325
fusák < Fußsack (slowak.) 318 Gerstelsuppe 205
fusek¾¾a < Fußsocke (slowak.) 325 Gerüster, der 205
geschmackig 205
G Geschoß ~ Geschoß (Ausspr.) 200
Gespritzter 195
Gabelfrühstück, das (oöst.) 171 Gestionsbericht, der (schweiz.) 205
gach (jäh) 192 Gewinnst 114
Galimathias 162 gezelšaft < Gesellschaft (slowak.) 324
Galtvieh, das (bayr., österr., schweiz.) 200 gführig 195
Gand, der (wöst.) Schutthalde im Gebirge Ghörtsich 195
168 ghupft wie gsprungen 195
Ganeff, der (Gauner) 205 Gibraltar (Ausspr.) 203

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-394-

g¾¾anc, g¾¾ancova < Glanz, glänzen (slowak.) Gschropp, der 195


322 gspaßig (österr. bayr.) 308
glatt > glat/glatki (kroat.) 378 Gspusi, das 195
glattes Mehl > glatko brašno (kroat.) 360 Gstanzl, das 195
Gleiche 207 Guckerschecken 205
Gleichenfeier (Richtfest) 201, 203, 205 Gugelhupf (österr. bayr.) 308
g¾¾ajcha < Gleiche (slowak.) 323 Gugelhupf > Kugelhopf (tsch.) 334
glajcha (tsch.) < Dachgleiche (Richtfest) Gulasch, das ~ der/das 202, 214
331, 348 Gülle, die (wöst.) Jauche 168
Glumpert, Klumpert (Gelumpe) 166, 195 Gummi, der ~ das / der 214
Gluscht 195 gurtò
òa/girt¾¾a < Gurt (slowak.) 323
gmina < zips. Gemeinde (slowak.) 324 gustieren (kosten, probieren) 202
Goal > gól (tsch.) 337 gustiös ( appetitlich) 201, 205
Goalie, der 189 Gustostückerl 205
Goder, das (Doppelkinn) 201, 205 Guten Tag 230
Gote, die 190 gvalt/kvalt < Gewalt (Eile) (slowak.) 324
gótka, gudy < Taufpatin (slowak.) 318 gver/kver < Gewehr (slowak.) 324
Goiserer, die (Bergschuh) 162, 190 gvint < Gewinde (slowak.) 321
Goschen, die (Maul) 368 gvintaky < 'Schlittschuhe (slowak.) 324
gotikeit (gewissermaßen) 162 gvintborer < Gewindebohrer (slowak.) 324
Gouvernal 189 gzims < Gesims (slowak.) 324
Graffel, das (österr. bayr.) 308
Grammeln, die ~ Speckgrieben 96, 130 H
Grammelknödel, die 125
Grammelschmalz, das 125 Haberer, der 184, 215
Granden, die 185 Haberei, die 187
Gewerkschaftsgranden 185 Habt acht! (bdt. Achtung) > hapták (tsch.) 330
ÖIAG-Granden 185 Hackel, das 170
ORF-Granden 185 hackeln, Hackler ([manuelle] Arbeit) 192
VP-Granden 185 Hader, die (Stoffreste) > hadr (böhm.) 331,
grapsen (grapschen) 205 335
Grasel (Halunke) > grázl (tsch.) 338 Häfenurlaub, der 184
graty < 'Küchengeschirr/Kleidung' (slowak.) Häferl, das ~ Becher 87, 171
320 Haferlschuh (fester Halbschuh) 162, 190
graty < Geräte (slowak.) 324 hajzel < Häusel ('Abort') (slowak.) 325
Grätzel (Wohnviertel, Häuserblock’) 191, 201 hák < Haken (slowak.) 321
Grätzlfest 191 häkeln > heklanje (kroat.) 377
grauslich ~ grausig 217 Halbmittag (Jause) (wöst.) 171
Greißler, der 191, 193, 218 halva < Hälfte (slowak.) 324
Greißlersterben 190 Häme, die 163
Grießschmarren, der 205 hamova < hemmen (slowak.) 317, 322
griffiges Mehl > grifik brašno (kroat.) 360 handliar < Händler (slowak.) 322
Grindel, das 205 handrkova sa s niekým < mit jdm. hadern
Griß, das 195 (slowak.) 318
grodseg¾¾a < Gratsäge (slowak.) 321 hängen (sein) 227
gróf/grof < Graf (slowak.) 321 Hansl (Rest im Bierglas) 190
gru¾¾e < Kartoffel (slowak.) 318 hantlager < Handlanger (slowak.) 321
Grüß Dich 230 harnad¾¾a < Haarnadel (slowak.) 321
Grüß Gott (öst. bayr.) 230 hatschert (hinkend) 217
Verwendung in Bayern 307, 310 Haube, die Motor~; Kühler~ 377
Gscherr, das 195 Häuptel (Salatkopf) Häupl 334
gschert (österr. bayr.) 308 Hauptplatz <> námestie (slowak.) 317
gschmackig 195 Häuserin, die (südti.) 291
Gschnas, das 195 Hausherr > hauser (kroat.) 360

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Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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hausieren > hauzierati (kroat.) 374 Indian 113


Hausierer > hauzierac (kroat.) 374 inliegend ~ einliegend 217
Hausmeister ~ Hauswart 138 inskribieren (südti.) 291
Haxen, die (Fuß, Bein) (österr. bayr.) 308 Inspektorat (Z. B. Arbeitsinspektorat) ~ Auf-
hebama < Hebamme (slowak.) 322 sichtsbehörde (südti.) 290
heftova < heften (slowak.) 319; 322 insultieren > insultovat (tsch.) 337
Heidelbeere, die 170 Intrigantenstadel 183
heiligs Blechle (alem., bdt.) 144 ís na štrich < auf den Strich gehen (slowak.)
hek¾¾ova < häkeln (slowak.) 322 318
heknad¾¾a < Häkelnadel (slowak.) 322
Hendl, das ~ Hähnchen 146; 215
Herrenhemd (Oberhemd) > pánská košile
(tsch.) 357 J
herüber ~ rüber 222
Hetschepetsch für Hagebutte 163; 171; Jacke > jakna (kroat.) 377
(südti.) 291 Jänner ~ Januar 138
Hetz (Spaß) > hec (tsch.) 349 Jänner (südti.) 291
heuer ~ dieses Jahr 62, 135 jarmok/ jarmak/jarmark < Jahrmarkt
heuer (bayr.) 307 (slowak.) 321
hever < Heber (slowak.) 324 Jause ~ Brotzeit 61
hižža (kroat). ((kleines) Haus) < Haus 357 Jause, die (vorm.) 171
Hickhack, das 175 jedweder ~ jeder / jeglicher 218
hinauf ~ hoch 221 jenisch (mda.) 172
hinaufgehen, ~steigen ~ hochgehen, ~steigen jmdm. eine picken (ohrfeigen, jmdm. eine
163 kleben) 368
hinaus bringen ~ heraus bringen 222 Joghurt (Genera) 164
hinunter bringen ~ herunter bringen 222 Josefitag ~ Josefstag 217
hinunterbringen (Brot) ~ hineinbringen 223 Juchart, Juchert (südwestd.) 201
hinzus (alem., bdt.) 144 Jungen 311
hljeb (kroat.) (Brot) < got. hlaibs 357 jüngst ~ neulich 218
Hochstapler, der > hohstapler, (kroat.) 375
hofieren > hofirati (kroat.) 377 K
Hofrat, der 207
Hörnchen, das ~ Kipferl, das 86 Kaffeesieder (Kaffehausbesitzer) 190
hozentrag¾¾e < Hosenträger (slowak.) 322 Kaiser-, Bezirkskaiser; VÖEST-Kaiser; Be-
Hubertusmantel (Lodenmantel) > hubertus triebskaiser 185
(tsch.) 349 Kaiserschmarren 207
Huder, der (wöst.) 171 Kakanien 187
Hüferl, das~ Hüfte, die 130 kakanisch 187
Hühnchen, das 145 Kaluppe (baufälliges Haus) < chalupa (tsch.)
hunzen > huncut (kroat.) 375 338
hutschen (österr. bayr.) 308 Kamerad Schnürschuh 117
Hydrauliker (Wasserinstallateur) (südti.) 290 Kaminfeger, der (wöst.) 171
Kaminkehrer 68, 163; 170, 171, 174, 177; 310
I Kaminkehrer (südti.) 291
Kämpe 162
iberciger < Überzieher (slowak.) 324 Kanton, der 209
IC, EC 162 Kantönligeist (schweiz.) 207
Ich habe einen Durst 182 Kantonsgericht (schweiz.) 198; 207
Illegaler ein 187 kape¾¾us < Kappe, süddt. Kappel (slowak.) 325
im vorhinein ~ im nachhinein 189 Karenzurlaub, der / Mutterschaftsurlaub, der
in der Früh ~ am Morgen 87 ~ Babypause 88
in der Nacht auf Sonntag ~ zum Sonntag 225 Karfiol, der~ Blumenkohl 72; 110, 118; 129,
inbegriffen ~ einbegriffen 217 137

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


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Karfiol (südti.) 291 Klub, der 185


Karfiol > karfiól (tsch.) 332, 329, 338 Klubobfrau 17
Karfreitagsratschen, ( geschwätzige Frau), Klubobmann 185
368 Klubsitzung 185
Karniese > garnýžž (tsch.) 338 Klubzwang 185
Karotte, die (oöst.) 171 knap (kroat.) < knapp 378
Karotte (bayr.) 310 knez (kroat.) < (Fürst/König) 357
Kartoffel (bayr.) 311 knien (sein) 227
Kartoffeln (südti.) 291 Knödel ~ Kloß 62, 308
Käsesahnetorte, die 163 Knödel (bayr.) 308
Kassa > kasa † (tsch.) 351 Knödel > knedli (kroat.) 360, 361
Kasten, der 139; 149 Knödel > kned¾¾a (slowak.) 325
Kasten ~ Schränke 86 knôt < Docht (slowak.) 317
Kasten ~ Kiste/Schrank 153 Kohl/Kelch (bdt. Wirsing) > kél (böhm.) 332
alter Kasten 153 Kohlsprossen ~ Rosenkohl 130
etwas auf dem Kasten haben 154 Kolatsche (Gebäck) < koláè (tsch.) 332, 339
Geigenkasten 153 kollaudieren (Baubegutachtung) > kolaudo-
Geldschrank 153 vat (tsch.) 339
Karteikasten, der 153 Kollaudierung (österr., schweiz.)
Wandschrank 153 (Baubegutachtung) (südti.) 290
Werkzeugkasten 153 Kombinesch, die (Unterkleid) 193
Katzelmacher 186; 185 Kommissar, der 139
Kavalett, das > kavalec (einfaches Bettgestell) Kommissar (Kriminalbeamter) (südti.) 291
(tsch.) 329 Kommissär (südti.) 291
kehren ~ fegen 62, 199 komplett (voll besetzt) 191
Kehrwisch, der (wöst.) 171 Kondukteur † > konduktér (tsch.) † 347
Keks (Uniformstern) 191 Kondukteur (südti.) 291
kelò
òa < Kelle (slowak.) 322 Konfitüre, die 310
kera, kiera, kier, kyra < Kurve (slowak.) 319 Konsumation (Verzehr) > konzumace (tsch.)
kerovac, zakerovac (ein Fahrzeug lenken) 339
(slowak.) 319 Kontrast, der 317
kernièèka, kernicka < Butterfaß (slowak.) 319 Kontumaz (Quarantäne) > kontumace (tsch.)
Kiberer (Kriminalbeamter) 190 345
kid¾¾a < Kittel ('Rock') (slowak.) 325 konventioniert mit (durch eine Vereinbarung
kiefeln (kauen) 191 verbunden) (südti.) 290
Kipferl ~ Hörnchen, das 138, 216, 333 Kooperator (südti.) 291
kiflik, kifer¾¾ik < Kipferl (slowak.) 324 koperdeka < Körperdecke (slowak.) 322
Kipfel > kifl (kroat.) 360 Körberlgeld, das 184
Kipferl (bayr.) 308 Körberlgeld (Nebenverdienst) 191
kirbis < Kürbis (slowak.) 319 Koriandoli (mda.) 172
Kirchn 138 Korken, der 173
kirre (bdt.) 175 Korrespondenzkarte > korespondenèèní lístek
kirren mda. 172 (tsch.) 339
Kirtag/Kirchtag 192 Korridor, der (bdt.) 175
klammheimlich 163 kost < Kost (slowak.) 324
Klamsch (geistiger Defekt) 190 koštova < kosten (slowak.) 324
klej < Klee (slowak.) 319 kostati (kroat.) (einen Preis haben,
Klempner, der (bdt.) 163 schmecken/probieren) < kosten 379
klenot < Kleinod (slowak.) 317 krache¾¾, kracher¾¾ik < Kracherl (slowak.) 324
Kletzen, die (österr. bayr.) 308 Krachlederne (bayr.) 307
klieben krajda < Kreide (slowak.) 323
Kliebhacke, die 194 krajštich < Kreuzstich (slowak.) 323
Klobasse (gewürzte Wurst) < klobása (tsch.) krám < Kram (slowak.) 321
339 Krampen > (kramp) (kroat.) 360

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Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
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Krampus > krampus (kroat.) 375 lancuch < Kette (slowak.) 319
Kranewitter (südti.) 291 Landammann (schweiz.) 197
Krankenhaus (südti.) 291 Landesfürst 185
kremfy < Krämpfe (slowak.) 319 Landeshauptmann 198; 207
Kremschnitte > kremšnýty (tsch.) 334 Landsgemeinde (schweiz.)197
Kren ~ Meerrettich 63; 132; 139 langgehen 163
Kren < chøøen/køøen (tsch.) 328, 332, 339 lano < Seil (slowak.) 317
Kren (bayr.) 307 läßt sich nichts machen ~ kann man nichts
krenkova sa < sich kränken (slowak.) 318 machen 227
Kreuzköpfl (kluger Kopf) 368 Leberkäse (österr. bayr.) 307
kriegen ~ bekommen 82 lehnen (sein) 227
kríge¾¾ < Krügel (slowak.) 323 Leich(e) (Begräbnis) 192
Kriminal (Zuchthaus) > kriminál (tsch.) 347 Leckerli (schweiz.) 207
kripe¾¾ < Krüppel (slowak.) 323 lenèèa < Linse (slowak.) 319
Kripperlroas 192 letkolbò òa < Lötkolben (slowak.) 323
krochma¾¾ < Kraftmehl (slowak.) 317, 321 liegen (sein) 227
Krügel, das/Krügerl, das <> Maß, die 215 liegen + sein ~ haben 139
krumple/grumple < Kartoffel (slowak.) 318 Liwanze (Mehlspeise) < lívance (tsch.) 340,
kšeft < Geschäft (slowak.) 323; 324 334
ksicht < Gesicht (slowak.) 324 lizitieren (versteigern) < licitovat (tsch.) 340
kuch < Hefekuchen (slowak.) 319 Logis (bayr.) 308
Kugel/Kugerl, das (oöst.) 171 lohnt sich nicht ~ lohnt nicht 227
Kühler > kiler (kroat.) 377 ¾oft < 'Entlüftungsloch im Keller' (slowak.)
Kukuruz 134 320
Kukuruz (Mais) <> kukuøøice (tsch.) 339 ¾uftova < lüften (slowak.) 322
kumšt < Kunst (slowak.) 324 lukrieren 189
kumštir < Künstler (slowak.) 324 ¾uft < Luft (slowak.) 320
kumštova < 'spekulieren, überlegen' Luftmatratze > luftmadrac (kroat.) 376; 377
(slowak.) 324 lukrieren 187f
Kundmachung ~ Bekanntmachung, 62 lummelig (bdt. alem) ~ schlaff 144
Kupee (Eisenbahnabteil) > kupé (tsch.) 345 Lungenbraten > (bdt. Lendenbraten) > (tsch.)
kupiti (kroat.) (kaufen) < got. kaupon 357 332
Kurator, der 187 Luster (Lüster) > lustr (tsch.) 352
ORF-Kurator 187 Lutscher, der (wöst.) 171
kurb¾¾a < Kurbel (slowak.) 325
kušnier < Kürschner (slowak.) 322 M
kvaltova < 'sich sehr beeilen, hastig arbeiten
(slowak.) 322 ma mindráky < Minderwertigkeitskomplexe
kvelb < Gewölbe (slowak.) 324; 324 haben (slowak.) 318
kvicht < Gewicht (slowak.) 324 ma resty < Reste haben (slowak.) 318
kýbe¾¾ < Kübel (slowak.) 323 macher < Fachmann (slowak.) 321
Machthaberer 184
L Maiensäß, das (wöst.) Voralpe 169
majer < Meierhof, Gut (slowak.) 323
Labskaus (bdt.) 207 majkefer, makaber -< Maikäfer (slowak.) 319
Lache, die 175 majster < Meister (slowak.) 317; 323
Laderampe/Bahnschranken > rampa (kroat.) mal ~ einmal 163
379 Malter, das (Mörtel) > mìøøice (tsch.) 340
Lagerhaus 162 Männle (bdt. alem.) ~ Männlein 143
Laib 194 Marende, die (wöst.) Zwischenmahlzeit am
Laberl 194; 194 Nachmittag 168
Laibchen, Laiberl, Loaberl 194 Marille ~ Aprikose 62, 119, 128, 130
lajtnant < Leutnant (slowak.) 323 Marille (südti.) 291
Lampe, die ~ Leuchte 155

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


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Marillen > meruò òky/meruò òka (tsch.) 332, mordova < morden (slowak.) 329
340 mordstrumm, trumm (gewaltig groß) 368
Marillenmarmelade 125 Mótor (norddt.) 309
Marmelade ~ Konfitüre (bayr.) 310 Mozartkugel 124
Marterl, das (österr. bayr.) 308 Mulatschag (ausgelassenes Fest) 191
Martinigans ~ Martinsgans 217 Müll ~ Mist 15, 163
Maschekseite, die (Hintertür) 191 mulmig 175
Mascherl, das ~ Fliege, die 68 Mure (südti.) 291
mašta¾¾ < Stall (slowak.) 317 Murks, der 171
Matrikel, die (Personenstandregister) > ma- Murmel, die (bdt.) 171
trika (tsch.) 340 Mus (Schmarren) 192
Matura, die ~ Abitur, das 62 Musikantenstadel 183
Matura (südti.) 291 mýto < Maut (slowak.) 317
Matura > maturita (tsch.) 340 mýto < Maut (tsch.) 349
maturieren > maturovat (tsch.) 340
Mausfalle ~ Mausefalle 217 N
Maut, die (Wegzoll) 62, 198
Maut (südti.) 291 nachgehen/zurückbleiben (Uhr) ~ nach-
Mautabfertigung, Mauthaus 198 bleiben 220
Mautner 198 nachhause führen/nachhause bringen ~
Mautplatz; Streckenmaut; Videomaut 188 nachhause fahren 227
mautpflichtig 198 nachhinein ~ hinterher 218
Mautstelle, Mautstraße, Mautsystem 198 Nachtkastl, das > nah(t)kasl (kroat.) 360
mýto < Maut (slowak.) 317 Nachtmahl, das 82
mýto < Maut (tsch.) 349 Nachzipf, der (Wiederholungsprüfung) 191
mebe¾¾, meb¾¾e < Möbel (slowak.) 323 Naderer, der 184
Mehlspeise > melšpajs (kroat.) 360 Nägerl (bdt. Nelkengewürz) 333
Melanzani ~ Aubergine 131; 138, 163 Napf, der 199
Melanzani (südti.) 290 Nationalfeiertag (südti.) 290
Meldezettel ~ Meldeschein 138 Nationalrat ~ Bundestag 61
Metzger, der (wöst.) Fleischhauer 68, 168, 171, Nebelsuppe (dichter Nebel) 191
175; 310 necha niekoho v štichu < jdn. im Stich lassen
Metzger (bayr.) 307 (slowak.) 318
Metzgerei, die (wöst.) Fleischhauerei 168 necova < netzen (slowak.) 322
Millirahmstrudel 192 nema o nieèèom ani dunstu < keinen Dunst
minca < Münze (slowak.) 323 von etw. haben (slowak.) 318
mincier < Münzer, Schnellwaage (slowak.) neuerlich ~ erneut 218
323 Neugewürz (Piment) > nové koøøení (tsch.)
mir/mi 137 349
Mischkulanz, die (Durcheinander, Betrügerei) Neuner, der (wöst.) 171
368 niederlegen sich ~ schlafen legen 218
Missionar, der 139 niedersetzen sich ~ sich setzen 218
Mistkübel, der 14 niederstoßen ~ umstoßen, umwerfen 217
Mistkübel > kýbl (tsch.) 349 niekoho ocajchova - 'jdm. ein Zeichen, einen
Mistschaufel, die ~ Kehrschaufel 61 Makel anheften (slowak.) 319
miteinander (südti.) 291 nitenciger < Nietenzieher (slowak.) 324
Moar 192 nokerle, noker¾¾iky < Nockerl (slowak.) 324
Möbelpolster/Sitzauflage 154 Nudelwalker > válek na nudle (tsch.) 332,
Möhre, die (oöst.) 134, 171 349
Monocolore, die 189 nuf ( bdt. alem) ~ hinauf 144
Montur, die > mundúr (tsch.) 329 nullkommajosef (verstärkend für nichts) 191
Moos (südti.) 291 Nuß, die (Fleischsorte) ~ Kugel 130
Moosbeere, die (wöst.) 170 Nutte, die 175
mordár < Mörder (slowak.) 322

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-399-

O Patronat (gewerkschaftl. Sozialfürsorge)


(südti.) 290
Obatzter (bayr.) 308 Paterbichl 297
Obers ~ Sahne 63; 130 patschert (unbeholfen) 217
obligat > obligátní (tsch.) 352 patzen (klecksen) > packati, (kroat.) 360
ofera, ofiara < Opfer (slowak.) 319 Pawlatsche (Bretterbühne) 191
oferova < opfern (slowak.) 319 pavlaèe, (slowak.) 321
pavlaè
Ohrwaschel, die 187 pavlaèè (tsch.) 341
odkráglovat < abkrageln (umbringen) (tsch.) pecken (picken) 191
339 pedinterka, pedintrova < Bedienerin, be-
olovrant < Zwischenmahlzeit am Nachmittag dienen (slowak.) 323
(slowak.) 327 pelzen 200
Omelett 189 penezi (kroat.) (Geld) < Pfennig 357
Orange, die ~ Apfelsine 61 perlustrieren ~ durchsuchen 147
Ordination ~ Sprechstunde/Arztpraxis 138 petschiert sein (den Nachtteil haben) < peèe
Ordination (südti.) 291 (tsch.) 341
Ordination (Arztpraxis) > ordinace (tsch.) Pfannkuchen, der 189
345 Pfiat di (Gruß) 230
oring¾¾a < Ohrring (slowak.) 325 Pfinztag (mda.) (Donnerstag) 162
Out, das 179 Pflanzerei, die (Neckerei) 191
Pfusch (Schwarzarbeit) > fuš (kroat.) 360
pfuschen 192
P Pfütze, die (bdt.) 175
Pickel, die (bdt.) 175
pác, pacova < Beize, beizen(slowak.) 323 picken ~ kleben 68
Packelei, die 184 Pickerl ~ Aufkleber/Prüfplakette 67, 104;
packeln (etw. hinterrücks ausmachen) 184, 209, 217
217; Packler 184 Autobahnpickerl 192
pajšle < Beuschel ('Lunge') (slowak.) 325 Parkpickerl; Josefstadt-Pickerl; Pickerl-
pakova (sa) < einpacken (slowak.) 321 besitzer; Pickerlregelung 187
pakuj sa! < hau' ab! (slowak.) 321 Piefke, die 118; 185; 185
Palatschinke, die ~ Pfannkuchen 124, 140; piks¾¾a < Büchse (slowak.) 332
190; 206, pila (kroat.) (Säge) <> dt. Feile 357
Palatschinke <> palaèèinka (tsch.) 341 pinkeln (bdt.) 175
panaschieren (bayr.) 307 Pipe (Faßhahn) > pípa (tsch.) 349
pankhart < Bankert (uneheliches Kind) Pischingertorte (Oblatentorte) > pišingr
(slowak.) 323 (böhm.) 334
pannonisch 187 pissen (bdt.) 175
pánt < Türband (slowak.) 323 pitzeln (westö. mda.) (auf der Haut) pricklen
pant¾¾a < Haarband (slowak.) 325 168
Pappen (Mund) 368 p¾¾undrova < plündern (slowak.) 322
paprizieren > paprikovat (tsch.) 341 Plane, die 175
Paradeis (südti.) 291 Plausch, der 201
Paradeiser ~ Tomate 96, 118, 130, 135 plech < Blech (slowak.) 317
Paradeispaschta (südti.) 291 plech/b¾¾acha < Blech (slowak.) 322
Paradieser > rajžžata (tsch.) 332 Plunderteig > plundrové tìsto (tsch.) 334
parkieren (schweiz.) 199 podporova (slowak.) 317
Parkingmeter (schweiz.) 199 Pogatsche (Kleingebäck)< (pogácsa ung.) >
Parlament ~ Bundeshaus 62 pagáèèek (tsch.) 341
Partei, die (in der Wohnung) (südti.) 291 Grammelpogatschen > kramlpogaèèni
Parteienverkehr ~ Amtsstunden/ Öffnungs- (kroat.) 361
zeiten (südti.) 291 Polster, der ~ Polster, das/Kissen 82, 138, 154
Parterre (österr. (bayr.) 308 Polster (südti.) 291
Partezettel, der/Parte > Parte (tsch.) 330, 341
Patriarch, der; Bezirkspatriarch 185

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-400-

Polster (Kissen/Sitzauflage) > polštáøø R


(tsch.) 352
pomali (langsam) 192 rachova < rechnen (slowak.) 322
pomali < pomalu (tsch.) (langsam) 329 rachunek < Rechnung (slowak.) 322
ponk < Bank (Arbeitstisch des Tischlers) Radi (österr. bayr.) 308
(slowak.) 321 Radio/Fernsehen etc. zum Anfassen bdt. 87
pop (kroat.) < Pfaffe 357 Radkappe > ratkapa (kroat.) 367
Portemonnaie (bayr.) 308 Rahm (bayr.) 308
postiti (kroat.) 357 rajbaèèka < Waschbrett (slowak.) 320
potek < Paten (slowak.) 318 rajtky < Reithose (slowak.) 323
Pouvoir 187 rajtova < reiten (slowak.) 323
Powidl ~ Pflaumenmus 128, 130 Ramassuri, Remasuri > remazúra (tsch.) 342
Powidl < povidla / švestková povidla Raster, das ~ der / das 214
(tsch.) 333, 341 ratova < retten (slowak.) 322
Powidltascherln 334 ratschen 'sich unterhalten' (österr. bayr.) 307
Pracker (Teppichklopfer) > prakr (böhm.) 331, ratuš, ratús < Rathaus (slowak.) 321
349 Rauchfang ~ Kamin 62
Präfektur (südti.) 290 Rauchfangkehrer, der (oöst.) 139; 162, 171
pragmatisieren ~ fest anstellen 217 Raumpflegerin, die 171
präpotent, Präpotenz, die 184 Raunzer, der 215
Präsenzdiener, der 162 Realitäten (Immobilien) > reality (tsch.) 345
Präsenzdienst (Grundwehrdienst) > pre- Rechen ~ Harke 62
zenèèní vojenská služžba (tsch.) 341 reden 138
Präsidiale, die 185 refundieren ~ ersetzen 217
prepás šancu < eine Chance verpassen Regiekarte (verbilligte Fahrkarte) > režžijní
(slowak.) 318 jízdenka (tsch.) 342
presvuršt/presburšt < Preßwurst, Wurst Reiberdatschi (bayr.) 308
(slowak.) 324 Reibtuch, das (oöst.) 171
Preuße 185 Reichshälfte, die rote, schwarze, linke, rechte
Primar-, Sekundararzt > primáøø, sekundáøø 185
(tsch.) 342 Rein, die (österr. bayr.) 308
Printe (bdt.) 208 Reindl, das/Rein, die (kleiner Topf) 215
Professor > profesor (tsch.) 345 Reindl > rajngla/rajndla, (kroat.) 360
Prospekt, das ~ der Prospekt 214 Reindl > rendlík (tsch.) kleiner Kochtopf)
Psyche (Frisiertoilette mit Spiegel) 191 332, 350
puceraj < Putzerei (in der Bed. 'Schimpferei', Reisige 162
'Schikane') (slowak.) 323 reklik < Röcklein (slowak.) 323
puke¾¾ < Buckel (slowak.) 323 rekommandierter Brief > rekomando (tsch.)
pumperlgesund (kerngesund) 368 342
puserliky < Busserl, Kokosbusserl (slowak.) rennen ~ laufen 82
324 resch (knusprig) > res (kroat.) 378
putika < Budike ('Kneipe') (slowak.) 323 ressortieren 185
putòa, putko < Butte (slowak.) 323 Restauration > restaurace (tsch.) 347
Putzerei ~ Chemische Reinigung 138 restova < rösten (slowak.) 324
Putzerin, die (wöst.) 171 Ribisel, die~ Johannesbeere, die 62, 130, 138,
Putzfrau, die 171, 174 162
Putzlappen (bdt.) 171 rybíz < Ribisel (tsch.) 33; 342
Putzlumpen, der (wöst.) 171 richtár < Richter (slowak.) 317
Riese, der; der rote, grüne Riese 187
Q rikverc für Rückwärtsgang (kroat.) 377
rínok < Ring (slowak.) 317
Quargel (Genera) 164 Ritz, der ~ die 214
Quark 125; 129; 163 robi kšefty < Geschäfte machen (slowak.) 325
Quarktaschen 128 Röntgen (slowak.) 317

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-401-

rošt < Rost (slowak.) 324 Schlagobers/Schlaganfall > šlag (kroat.)


Rostbraten ~ Hochrippe 95,130 360, 378
rote Beete 129 Schlagsahne, die 175
rukova < einrücken (slowak.) 317, 322 Schlamastik > šlamastika (tsch.) 351
rytier < Ritter (slowak.) 317 schlampert (schlampig) 217
Schlecker, der (Lutscher) (oöst.) 171
S schliefen (schlüpfen, kriechen)
Schlieferl, Ohrenschlief (Ohrenschüpfer)
Säckelwart 189 194
Sackl 138 schlitzig mda. 172
šacova < schätzen (slowak.) 322 Schlögel ~ Keule 130
Safaladi (Wurstart) 162 Schluckauf, der 171
šafe¾¾, šaflik < Scheffel, öst. Schaffel (slowak.) schlutzig (wöst.) schlitzig, schlüpfrig 169
322 Schlutzkrapfen (wöst.) eine Mehlspeise
Sahne, die (bdt.) 116, 163, 175, 309 168
šajba < Scheibe (slowak.) 320 Schmäh, der 194
šajbovec < Scheibenbürste (slowak.) 320 Lavendelschmäh; Schmähbruder; Schmäh
šajta < Holzscheit (slowak.) 323 führen; Schmähführer; schmähstad
Salär, der 189 192
šálek < Teeschale (tsch.) 350 Schmankerl, das (österr. bayr.) 308
Saltner, der (südti.) 291 Schmarren, der (Süßspeise) 207
Salzamt, das (unerreichbare Instanz) 191 Schmetten, die (bdt. Sahne) < smetana (slaw.)
Salzstangerl, das ~ Salzstange, die 219 332
šamerlik < Schemel, öst. ma. Schamerl Schmuckbandel, das 170
(slowak.) 322 schnackeln (mit den Fingern schnellen)
šamstr (tsch.) 360 (bayr.) 307
Samstag ~ Sonnabend 61, 199 Schnackerl, der (Schluckauf) (oöst.) 170, 171
Samstag (bayr.) 307 Schnackler (Schluckauf) (bayr.) 307
Sandler (Obdachloser) 192 Schnackl, das (wöst.) 171
Sanität (militärisches Gesundheitswesen) > Schnackler, der (wöst.) 171
sanitka (tsch.) 342 Schnaderhüpferl (österr. bayr.) 308
šanova (sa) < (sich) schonen - (slowak.) 317 Schnäppchenpreise (bdt.) 87
Saumagen (bdt.) 207 Schneid, die (österr. bayr.) 308
Schaffel, das (Scheffel) 324 Schnitzel, das ~ das/der 214
Schamerl, das (Schemel) ma. öst. 327 šnic¾¾a < Schnitzel (slowak.) 324
Schamott, das (Feuerziegel) > šamot (tsch.) Schnürriemen, der (Schuhband) (bdt.) 171
352 Schnürsenkel, der (bdt.) 171
Schamster (Bewerber) > šamstr (tsch.) 351 Schokoladenkonfekt ~ Praline 125
Schasdesn (Furzgefäß) 368 Schöpserne, das (südti., öst.) (Schaffleisch)
Schaub, der mda. 172 291
Scheiße > drek (kroat.) 379 Schornsteinfeger, der (bdt.) 171
Scheiße bauen > napraviti sajze (kroat.) 375 Schotten, der (wöst.) Topfen 168
Scheiten, die/ Schaten, die (Holzscheite) schräg (schief)> srek (kroat.) 378
Hobelscheiten; 194 Schrank, der 150; 163
schellen (wöst.) klingeln, läuten 168 Schranken, der ~ die Schranke 214
Scherz(e)l, das ( Endstück des Brotlaibes) Schreiner, der 310
(oöst.) 171 Schrofen, der (wöst. ugs.) ( zerklüfteter Fels)
šercl (kroat.) < Scherzel 360 168
Schiebedach > šiberdah (kroat.) 375 Schuhband, das (oöst.) 171, 199
schiech/ schiach (häßlich, gemein) 194 Schuhbändel, das (wöst.) 171
Schinkenfleckerl > šunknfleky (tsch.) 333 Schuhbandl, das* (oöst.) 171
Schlachtschüssel (bayr.) 311 Schuhe doppeln (besohlen) > tumplati (cipele)
schlaft/schläft ~ schläft 137 (kroat.) 360
Schlagobers ~ Sahne 96, 135 Schuhlitze, die (wöst.) 171

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-402-

Schuhriemen, der (wöst.) 171 šlag (kroat.) < Schlagobers 379


Schulpack (bayr.) 307 slank (kroat.) < schlank 378
Schultasche (bayr.) 307 šlajer < Schleier (slowak.) 323
Schusser, der (der bayr.) ~ Murmel 311 šljem (kroat.) < Helm 357
Schwammerl, das ~ Pilz, der 217 šma¾¾ec < Schmalz (slowak.) 328
Schwammerln (brocken) ~ Pilze sammeln šmajch¾¾ova < schmeicheln (slowak.) 323
147 šmak, šmakova < Geschmack, schmecken
Schwarzbeere, die (oöst.) 170, 171 (slowak.) 322
schweben (sein) 227 šmeker < Feinschmecker (kroat.) 377
Schwedenbombe, die (öst.) ~ Mohrenkopf šmirg¾¾ova < schmirgeln (slowak.) 318
(bdt./schweiz) 117 šnic¾¾a < Schnitzel (slowak.) 325
Schweinsbraten statt Schweine- (österr. bayr.) šnuptich¾¾a < Schnupftuch (slowak.) 324
14, 308 šnurova (slowak.) 317
Schwob (schwdt.:) 117 Sonnabend, der (norddt.) 163, 309
Seiherl, das 170 šopa < Schuppen (slowak.) 317
sekkieren > sekýrovat (tsch.) 342 šor < Schar (slowak.) 321
Semikolon, das 175 Spagat > špagát (tsch.)
Semmel > žemlja (kroat.) 360 Spagat, der (Schnur) > špagát (tsch.) 329, 343
Semmelbrösel (Paniermehl) 333 špagát < Spagat (slowak.) 325
Semmeln ~ Weckle (alem. bdt.) 143 špajza, špajs(Speisekammer) < (Speis)
Service, das ~ der Service, (bdt.) 88, 139, 214 (slowak.) 330
Servus 230 spajza (kroat.) < Speis 387
Servus (bayr.) 308, 309 Spalt > špalta (kroat.) 387
Sessel, der (Stuhl) 138 Spalt, der ~ Spalte, die 217
Sezession > secese (tsch.) 343 sparen > šparanje (kroat.) 387
šiba < Fensterscheibe (slowak.) 320 Sparherd, der > sporák (slowak.)
sich nicht spielen ~ aufpassen 227 Specker, der (wöst.) 173
sich nicht zuviel erwarten ~ nicht zuviel er- Speis, die (Speisekammer) 193
warten 227 špajza, špajs (slowak.) < Speis 323
sich niederknien ~ niederknien 227 spajza (kroat.) < Speis 377
sich schicken (bayr.) 307 špajz (tsch.) < Speis (Speisekammer) 331
sich verkühlen (südti.) 291 Spendel (Stecknadel) > špendlík (tsch.) 350
sich verkühlen ~ sich (v)erkälten 62, 138 spendeln (Stecknadeln) > špendlíky (tsch.)
sich ziehen wie ein Strudelteig (sehr lange 330
dauern) > razvlaèèiti se k'o štrudeltajk Spengler, der ~ Klempner 70
(kroat.) 360 sperren 138
sicher > ziher (kroat.) 378 spießt sich ~ stocken 227
šikovný < geschickt (slowak.) 317 Spital (südti.) 291
Simperl, das (Brotkörbchen) mda. 170, 172, Spital ~ Krankenhaus 138
193 špitál < Spital - nemocnica (slowak.) 317
šinde¾¾ < Schindel (slowak.) 317 špitál < Spital(tsch.) 337
Siphon (Sodawasser) > sifon (tsch.) 347 Spitz, der ~ Spitze, die 214
sitzen (sein) (bayr.) 307 Spompande(l)n, die (Sperenzchen) > špum-
sitzen + sein ~ haben 149, 227 prnákle (tsch.) 343
š¾achta
š¾ < Adel (slowak.) 318 sporák < Sparherd (slowak.) 318; 321
š¾afrok < Schlafrock (slowak.) 321 spori / špori / šporova < sparen (slowak.)
škarnicl (kroat.) < Stanitzel 329 321
skartieren (alte Schriftstücke ausscheiden) > spori (slowak.) 317
skartovat (tsch.) 351 sporite¾ò¾ò - Sparkasse (slowak.) 321
¾òa
škop, škopok, < Holzschaff (slowak.) 329 sprechen / reden, mit jm ~ sprechen Jm. 227
škrinja, (kroat.) (Truhe) < dt. Schrein 365 Spreck (Tick) 192
škrob, kunèèaft < Kundschaft (slowak.) 324 spreizen (stützen) > zašprajcovat (tsch.) 350
Skubanki (Mehlspeise) < škubánky (tsch.) Sprengel 187
351 Schul-, Wahl-, Seelsorgssprengel 185

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-403-

Spritzer (Wein mit Sodawasser) 368 Stotz, der (wöst. mda.) niedriges, bottich-
sprudeln (bdt. quirlen) > šprudlovat (tsch.) artiges Holzgefäß 168
332 Straßen- bzw. Brückenbenutzungsgebühr
Sprudler (Quirl) > šprudlák (tsch.) 332 198
špumprnákle (tsch.) < Spompande(l)n, die Streberer, der 215
343 streichen auf (Farbe) ~ aufbringen 220
šraubciger, šravenciger < Schraubenzieher strichlieren ~ stricheln 217
(slowak.) 324 stricken > štrikanje (kroat.) 377
šregom < schräg - naprieè (slowak.) 317 Strizzi (Gauner) 191
šrek (kroat.) < schräg (schief) 378 Strotter (Obdachloser) 191
šrubova, šrofuva < schrauben (slowak.) 324 strúd¾¾a < Strudel (slowak.) 325
Staatsratsvorsitzender (DDR.) 197 štrumpad¾¾a < Strumpfband (slowak.) 325
Staatssäckel, der 189 Student > student (tsch.) 347
stad, hackenstad (arbeitslos) 191 Stuhl, der 152ff
Stadel (bayr.) 307 Bauernstuhl, der, elektrischer Stuhl 150
staken (bdt.) 175 Fauteuil 151
Stamperl 333 Heiliger Stuhl, Lehrstuhl 150
štamper¾¾ik < Stamperl, Schnaps-, Likörglas Liegestuhl 151
(slowak.) 324 Polstersessel 152
štamprle (tsch.) < Stamperl 350 Polsterstuhl 152
štamperlin (kroat.) < Stamperl 374 Rollstuhl , Schaukelstuhl 150
štangerliky < Nußstangerl (slowak.) 332 Sesselkleber 150
Stanitzel > skarnicl/skanicl (kroat.) 360, 374 Sessellift 150
Staunze (bayr.) 314 sich zwischen alle Stühle setzen 150
šte¾¾ova < stellen (slowak.) 322 štuk¾¾ova < stückeln (slowak.) 322
stecken (sein) 227 štuke¾¾ < Stückel (slowak.) 322
Stefanitag ~ Stephanstag 217 stuppen mda. 172
stehen + sein ~ haben 139, 227 šturmova < zu stürmen (slowak.) 317
stehen (sein) (bayr.) 307 šturmovština < hastige Arbeit (slowak.) 318
¾ 323 Suchtgift 185
šteker < Stecker (slowak.) 322 Suchtgiftfahnder 185
Stelze ~ Eisbein 128 šulciger < Schuhanzieher (slowak.) 324
štemajzòa < Stemmeisen (slowak.) 323 Sulz, das ~ die Sülze 214
štempe¾¾ < Stempel (slowak.) 329 Sulz, das > sulc (tsch.) 352
štepova < steppen (slowak.) 322 šupina, šupa < Schuppe (slowak.) 314
stichhältig ~ stichhaltig 139 šuplik/šuflik/šuf¾¾ada < Schublade (slowak.)
stickel (wöst.) ein stickliger (steiler) Weg 168 324
Stiege, die ~ Treppe, die 82; 138 šurc < Schürze - zástera (slowak.) 317
stier (ohne Geld) 368 Surfleisch (österr. bayr.) 308
Stier ~ Bulle 310 šuster < Schuster - obuvník (slowak.) 317
štiglic < Stieglitz (slowak.) 319 švab¾¾e, švab¾¾iky < Schwefelhölzer, Streich-
štilka < Stielkamm, aber auch 'elektrische hölzer (slowak.) 322
Handsäge' (slowak.) 318 švábky < Kartoffel (slowak.) 322
Stockerl (Hocker) > štokrle (tsch.) 332; 350 švablik < Schwefelholz (slowak.) 322
štokrl (kroat.) < Stockerl 360 švagor, švagriná - Schwager, Schwägerin
štodola < Stadel (slowak.) 321 (slowak.) 318
stok (kroat.) < Türstock 377 švorc < schwarz(kroat.) 361
štoperica für Stoppuhr (kroat.) 377
štopka < (Strümpfe) stopfen (slowak.) 318 T
Stoppel, der (oöst.) 171
Stopsel, der ∼ Stöpsel (Korken) (westöst, sdt.) Tabatiere (Schnupftabakdose) > tabatìrka
67, 170, 171 (tsch.) 337
Stopsel, der (bayr.) 307 Tachinierer (Faulenzer) 191
Stöpsel, der 171 Taferl, das 333

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“


-404-

Tag (Gruß) 230 U


Taglohn; Taglöhner ~ Tagelohn 217
tanec < Tanz (slowak.) 317 überkühlen ~ (kurz) abkühlen 217
tanken > tankati (kroat.) 375 übertauchen ~ Krankheit durchstehen 217
Taschenfeitel, der 191 übertragen ~ abgetragen 217
Taschlzieher (Taschendieb) 191 übertrocknen ~ (kurz/leicht) abtrocknen 217
Teeschale > šálek (tsch.) 350 umbinden (Schürze) ~ vorbinden 220
temperiert (südti.) 291 umš¾¾ak/umšlag < Umschlag (slowak.) 324
teppert (blöde) 217 unbetamt (unerfahren, naiv, unelegant) 192
tirštok < Türstock (slowak.) 323 Untam (unförmiger, ungehobelter Mensch)
Tischler ~ Schreiner 61 192
Tomate 163 unterkommen ~ vorkommen, geschehen 217
Tomate (südti.) 291 unterkommen jm. ~ passieren 227
Topfen ~ Quark 52, 96; 118; 121; 128, 130 úradný šime¾¾ < Büroschimmel/ Amts-
Topfen (bayr.) 308 schimmel (slowak.) 318
Topfenkolatschen ~ Quarktaschen 121 urassen (verschwenden) 192
Topfenkuchen 163 urlap < Urlaub (slowak.) 324
Topfenneger (Mensch mit ungebräunter urla(u)b > (kroat.) 375
Haut) 191 urobii štichpróbu < eine Stichprobe machen
trafi < treffen (slowak.) 318, 360 (slowak.) 318
Trafik, die (Tabakgeschäft) 138
trafika < Trafik (kroat.) 360
trafika < Trafik (tsch.) 338; 351
V
Trafikant 138
trafikant < Trafikant (tsch.) 343 vajdlik, vandlik < Weidling (große Schüssel)
tragar < Träger, Stützbalken (slowak.) 320 (slowak.) 323
Traktandenliste (schweiz.) 199 varštat < Werkstatt (slowak.) 317
Tram, der (österr. bayr.) 308 vartáš/vachtar/bachtar/bachar < Wächter
Tramdecke (Balken) 192 (slowak.) 324
trám < Tram (Balken) (tsch.) 331, 350 verbandelt 184
Tramway <> tram, tramvaj (tsch.) 343 vercajk < Werkzeug (slowak.) 323
transferieren ~ versetzen 217 verflucht > ferfljuhta (kroat.) 375
Tratscherl, das ~ Plauderei, die 217 vergessen auf etw. ~ vergessen 227
tri ferta¾¾e < drei Viertel (slowak.) 319 verhabert 184
troger < Gepäckträger (slowak.) 320 Verhaberung 184
Tröpferlbad (öffentliches Bad) 191 verklík < Werkel, Leierkasten (slowak.) 322
Trottel > trotljin/trotljin haba (kroat.) 375 verköstigen ~ beköstigen 217
Trottoir, das (österr. bayr.) 308 verkštat/varkštat/varštat < Tischlerwerkstatt
trotz + Dat. 164 (slowak.) 322
truhla < Truhe (slowak.) 317 Verlängerte, der 162
Trumm, das (großes Stück) 191 Vernaderer, der (denunzieren) 184
Tschick, der (Zigarette) 191 vernadern, Vernaderung 184
Tschinelle >èèinely (tsch.) 337 Verstaatlichte, die 185
Tschockel, der (wöst.) Holzschuh, Hutquaste Verstaatlichtenkrise, Verstaatlichtenmi-
nister, Verstaatlichtensprecher 185
168
vidieren ~ beglaubigen 217
tschüs (bayr.) 311
Vifzack (intelligenter Mensch 191
Tschusch, der (Schimpfwort) 185; 185
Vignette, die (Klebeetikette) 103
Tuchend (Federbett) <duchna (tsch.) 328, 344
vinke¾¾ < Winkel (slowak.) 325
tumplati (cipele) (kroat.) < (Schuhe) doppeln
vinšova < wünschen (slowak.) 323
(besohlen) >361
virš¾¾a < Wurst (slowak.) 325
Türklinke, die 174
Virtuos, der > virtuos (tsch.) 352
Türschnalle 114
Virus, der ~ das/der 214
Türstock > stok (kroat.) 377
vis-á-vis (österr. bayr.) 308
Typ, der 175
vladati (kroat.) (herrschen) < dt. walten 357

Michael Clyne: Sprachplanung in einer plurizentrischen Sprache:


Überlegungen zu einer österreichischen Sprachpolitik aus internationaler Sicht.
-405-

Vogerlsalat ~ Feldsalat 130 Würstel, das <> Würstchen, das/Wurst, die


Volkskammer (DDR.) 197 215
Volkskammerpräsident (bdt. DDR) 207
vorbringen (bdt.) 221 Z
Vorgangsweise ~ Vorgehensweise 70
Vorhang, der ~ Gardine, die 138 Zange > cange (kroat.) 377
firhag, firhanga < Vorhang (slowak.) 321 zašprajcova < verspreizen (mhd. spriuzen)
vorhinein ~ im voraus 218 (slowak.) 323
Vorschuß > foršus (slowak.) 324 Zeche, die > ceh (kroat.) 377
Vorzimmer > forcimer (kroat.) 360 Zeck, der ~ Zecke, die 214
vuršt < Wurst (slowak.) 324 Zeller (Sellerie) > celer (tsch.) 333, 344
zerspeilen mda. 172
W zersprageln (sich die Füße wundlaufen) 192
Zeugl, das (Kutsche mit Pferd) 191
wacklert (wacklig) 217 zglajchšaltova < gleichschalten (slowak.) 318
Wägen ~ Wagen 138 Zibebe (große Rosine) > cibéba (tsch.) 328, 333
Wägen, Bögen (bayr.) 307 Zieche > cícha (tsch.) 328, 350
während + Dat. 164 Zieger, der (wöst.) ein Käse 169
Wammerl (bayr.) 307; 311 Zifferblatt > ciferblat (kroat.) 377; 377
Wappler (eigenartiger Mensch) 191 ziher (kroat.) < sicher 377
Watsche >facka (tsch.) 344 ziherica für Sicherheitsnadel (kroat.) 377
Watten, der (wöst.)(ein Kartenspiel) 169 Zimmerin, die (wöst.) Stubenmädchen 169
Watten (bayr.) 311 Zins (Miete) >èèinžže (tsch.) 347
Weckerl,das 144 Zipfel, das (wöst.) 171
Weckle (bdt. alem.) 143 Zipp (Zippverschluß) > Zip (tsch.) 330, 350
weg ~ fort 221 Zivildiener 162
wegbringen (Fleck) ~ abbringen 221 Znüni (schweiz.) 199
wegen + Dat. 164 Zone (= Fläche, Gebiet) (südti.) 290
wegen + Dativ, trotz, statt + Dativ ~ Ge- Zubehör, das ~ der/das 213
netiv 135 Zuckerl, das ~ Bonbon, das 18, 215
wegführen/wegbringen ~ abfahren 220 Zugeherin, die (wöst.) 169, 170
Weichseln ~ Sauerkirschen 130 Zugeherin (südti.) 291
Weidling (große Schüssel) > vajdlik, vandlik Zugehfrau, die (landsch. wöst.) Bedienerin
(slowak.) 323 169, 170
Weißwurst (bayr.) 307 Zügenglöcklein mda. 171
weiters ~ ferner 147 zündeln (anzünden) 215
weiters ~ weiterhin 228 zur Neige gehen > ide k najgi/biti na najgi
Wettbewerb (concours) (südti.) 290 (kroat.) 374
Wichsleinwand † (Wachstuch) > vikslajvant zurück > curik (kroat.) 375
(tsch.) 350 zurücklegen ~ niederlegen, aufgeben 217
Widum, das (wöst.) (Pfarrhof) 169 zusammen (südti.) 290
Widum (südti.) 297 Zwetschken > švestky (tsch.) 332
wie's im Büchel steht (ein Musterbeispiel) > Zwischenmahlzeit 170
kak f'knjigi piše (kroat.) 360 zwo für öst. zwei 15
wilde(r) Abgeordnete(r) 185
Wimmerl (Pickel, Pustel) > vimrle † (tsch.)
350
Wimmerl ~ Pickel 138
Wirtshaus ~ Gasthof 138
wohlfeil > falj (kroat.) 378
Wortspende 184
Wuchtlkicker (Fußballer) 191
Wunderwuzzi (Mensch mit bes. Fähigkeiten)
191

Wortregister zum Sammelband „Österreichisches Deutsch ...“

Common questions

Auf Basis von KI

The distinction between Austrian and German literature is crucial for understanding the intertextuality in Austrian literature, as Austrian authors often engage in a unique dialogue with their German counterparts, consciously distinguishing themselves through references and themes specific to Austria's historical and social contexts. This intertextual aspect provides deeper insights into the Austrian literary tradition and its divergence from the German mainstream .

Austrian literature is seen as aesthetically pioneering yet politically escapist. This duality is seen in the works of authors like Joseph Roth whose literature is critiqued as displaying 'false consciousness' due to its dreamy reflection on past glories rather than engaging with present realities. This paradox has been used to describe the literature's evasion of contemporary political engagement while still achieving high levels of aesthetic sophistication .

The concept of the 'Habsburg myth' is pivotal in understanding Austrian literature as it became particularly potent when the real basis, the Austrian monarchy, ceased to exist in 1918. The texts of authors like Hofmannsthal, Kraus, Schnitzler, Andrian, Roth, and Musil reflect escapism, showing Austrian literature as politically regressive and aesthetically advanced. This paradox underlines the myth's ongoing influence and highlights a form of false consciousness, aligning with Marxist critiques like those of Lukács .

The discussion highlights challenges such as the lack of a clearly defined standard for Austrian German, which leads to feelings of linguistic inadequacy and identity tension among Austrians. These challenges are exacerbated in international contexts where Austrian linguistic peculiarities must navigate between being seen as regional oddities or as legitimate variations of Standard German, impacting how Austrians perceive their cultural and national identity .

There is a claim of a seamless continuity in Austrian literature from the Biedermeier period to the present, characterized by a withdrawal from politics and a preference for aesthetic form over substance. Greiner and others critique this notion, noting the ignored disruptive elements and resistant traditions, like those of Anzengruber and Kraus, which contradict the idea of a passive continuity .

Linguistic identity and language policy are central to Austrian cultural identity, as debates over the norms of Austrian Standard German reveal a tension between adhering to broader German standards and celebrating unique linguistic features. This tension influences how Austrians perceive their language in relation to German, impacting their cultural identity and sense of belonging within the German-speaking world .

Post-1945 Austrian literature is shaped by a need to reconcile with the past while forging a new identity separate from Germany. The focus on harmonization and avoidance of stark contrasts reflects a national desire for social partnership and compromise, as discussed in Menasse's exploration of social partnership aesthetics. This shaping of consciousness is seen in the continuity of themes from past Austrian literature, underlying a unique cultural dialogue .

Austrian literature is distinguished from German literature by its unique sociopolitical context and its response to historical events like the fall of the Habsburg Monarchy. Authors like Musil, Zweig, and Bernhard write from perspectives shaped by Austrian social and historical conditions, making their work distinct in thematic opposition pairs like city versus country and war versus peace, which are reflective of the nation's identity rather than aligned with broader German narratives .

Austrian linguistic policies impact the perception of Austrian identity by fostering awareness of a distinct national variant of German, yet causing confusion due to fluctuating standards and international comparisons. Domestically, this results in mixed perceptions of linguistic adequacy, while internationally it challenges Austria's cultural distinctiveness within the German-speaking world, necessitating careful policy navigation to maintain both domestic identity and international relations .

The document argues for the uniqueness of Austrian literary tradition through its emphasis on motifs like the anti-hero, the stylized retreat from political engagement, and prioritizing language over content. These motifs reflect Austria's historical and cultural specificities, creating a distinct tradition that is both influenced by and distinct from German literary norms. Analysis of these motifs allows for a deeper understanding of Austria's unique narrative style and its contributions to the broader literary landscape .

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