6.
überarbeitete Auflage
E.Hellwig /J.Klimek /T.Attin
Einführung in die
Zahnerhaltung
Prüfungswissen Kariologie, Endodontologie
und Parodontologie
Deutscher Zahnärzte Verlag
E.Hellwig/J.Klimek/T.Attin
Einführung in die Zahnerhaltung
E.Hellwig /J.Klimek /T.Attin
Einführung in die
Zahnerhaltung
Prüfungswissen Kariologie, Endodontologie
und Parodontologie
6. überarbeitete Auflage
Mit 225 Abbildungen in 410 Einzeldarstellungen und 63 Tabellen
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5 4 3 2 1 0 / 612
V
Vorwort
Zahnerhaltende Maßnahmen sind die Grundlage der täglichen zahnärztlichen Praxis. Somit
nimmt die Fächergruppe Zahnerhaltung auch eine zentrale Stellung in der Ausbildung der
Zahnmedizin-Studierenden ein. Mit der 6. Auflage der Einführung in die Zahnerhaltungs-
kunde sollen in bewährter Art und Weise die Bereiche Kariologie, Endodontie und Parodon-
tologie präsentiert werden. Dabei verzichtet das Werk nach wie vor auf die Darstellung noch
nicht ausgereifter Materialien und Methoden und soll dabei gleichzeitig Anregung sein, sich
mit Einzelbereichen ausführlicher zu beschäftigen. Die Autoren danken dem Deutschen
Zahnärzte Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit und den Leserinnen und Lesern für
die anregende Kritik und die Verbesserungsvorschläge.
Freiburg, Gießen, Zürich, 2013
VII
Inhaltsverzeichnis
I Therapie der Karies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1 Zahnschmelz – 3
1.1.1 Chemische Struktur – 3
1.1.2 Histologische Struktur – 5
1.2 Dentin – 8
1.2.1 Chemische Struktur – 8
1.2.2 Histologische Struktur – 9
1.3 Wurzelzement – 11
1.3.1 Chemische Struktur – 11
1.3.2 Histologische Struktur – 12
1.4 Morphologische Unterschiede zwischen Milch- und bleibenden Zähnen – 14
2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer
Zahnhartsubstanzdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.1 Karies 15
2.1.1 Ätiologie – 15
2.1.2 Histologie der Schmelzkaries – 31
2.1.3 Histologie der Dentinkaries – 36
2.1.4 Wurzelkaries (Zementkaries) – 38
2.1.5 Milchzahnkaries – 39
2.1.6 Spezielle Kariesformen – 39
2.1.7 Epidemiologie – 41
2.2 Erosion – 56
2.3 Mechanische Abnutzung der Zähne – 61
2.3.1 Keilförmiger Defekt – 61
2.3.2 Attrition – 62
2.3.3 Abrasion – 63
2.3.4 Dentinhypersensitivität – 65
2.4 Odontogene Resorptionen – 65
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne – 68
2.5.1 Erworbene Hypoplasien der Zahnhartsubstanzen – 68
2.5.2 Genetisch bedingte Fehlbildungen der Zähne – 76
3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.1 Basisuntersuchung – 79
3.1.1 Orientierendes zahnärztliches Gespräch – 80
3.1.2 Orientierende allgemeine und spezielle Anamnese – 80
VIII Inhaltsverzeichnis
3.1.3 Präventionsanamnese – 84
3.1.4 Orientierende extraorale Untersuchung – 84
3.1.5 Orientierende Untersuchung der Mundhöhle und der angrenzenden
Regionen – 86
3.1.6 Orientierende Untersuchung der Zähne und der Kaufunktion – 86
3.1.7 Orientierende Aufklärung und Beratung – 87
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen, zur
konservierend- und prothetisch-restaurativen Versorgung sowie zum Zustand
des Endodonts (Zahnstatus) – 88
3.2.1 Kariesdiagnose – 94
3.2.2 Bestimmung der Kariesaktivität und des Kariesrisikos – 103
3.3 Spezielle Untersuchungen – 106
3.4 Therapieplanung – 108
4 Kariesprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung – 117
4.1.1 Grundlagen – 117
4.1.2 Bestimmung der Zahngefährdung durch Nahrungsmittel – 119
4.1.3 Durchführung der Ernährungsberatung und -lenkung – 121
4.1.4 Kalorische und nicht kalorische Süßungsmittel – 121
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen – 124
4.2.1 Fluoridzufuhr, Fluoridaufnahme und Fluoridmetabolismus – 124
4.2.2 Fluoride als Kariostatika – 127
4.2.3 Reaktion von Fluoriden mit Zahnhartsubstanzen und Plaque – 133
4.2.4 Kariostatischer Wirkungsmechanismus von Fluoriden – 137
4.2.5 Wirksamkeit fluoridhaltiger Kariostatika – 143
4.2.6 Toxikologie der Fluoride – 145
4.3 Fissurenversiegelung – 147
4.3.1 Indikationen – 148
4.3.2 Materialien – 150
4.3.3 Leitlinie Fissurenversiegelung – 151
4.4 Mundhygiene, chemische Plaquekontrolle, Entfernung von Zahnverfärbungen,
Mundgeruch – 154
4.5 Zusätzliche kariespräventive Maßnahmen – 157
4.6 Konsequenzen für die Therapie – 163
5 Grundlagen der invasiven Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
5.1 Allgemeine Präparationstechnik – 165
5.2 Präparationsinstrumentarium – 170
5.2.1 Rotierende Instrumente – 170
5.2.2 Handinstrumente – 172
5.2.3 Oszillierende und ultraschallgetriebene Instrumente – 172
5.2.4 Andere Präparationsverfahren – 173
5.3 Finieren und Kavitätentoilette – 174
5.4 Auswirkungen der Präparation auf die Pulpa-Dentin-Einheit – 174
5.5 Indirekte Überkappung – CP- (Caries profunda-) Behandlung mit
Kalziumhydroxidpräparaten – 175
Inhaltsverzeichnis IX
5.6 Dentinwundversorgung – 180
5.6.1 Lacke und Liner – 182
5.6.2 Zemente – 182
5.7 Vorbereitung des Arbeitsfeldes – 186
5.7.1 Relative Trockenlegung – 187
5.7.2 Absolute Trockenlegung (Kofferdam) – 187
6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
6.1 Kompositrestaurationen – 193
6.1.1 Materialkunde der Komposite – 195
6.1.2 Neuere Kompositmaterialien – 207
6.1.3 Schmelzkonditionierung (Schmelz-Ätz-Technik) – 213
6.1.4 Dentinkonditionierung – Dentinhaftvermittler (Dentinbonding) – 218
6.1.5 Biokompatibilität der Kompositmaterialien – 230
6.1.6 Frontzahnrestaurationen mit Komposit – 232
6.1.7 Seitenzahnrestaurationen mit Komposit – 246
6.1.8 Weitere Indikationsgebiete für die Anwendung von
Kompositmaterialien – 254
6.1.9 Bewertung der Kompositrestaurationen – 255
6.1.10 Reparatur von Kompositrestaurationen – 257
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen – 257
6.2.1 Materialkunde – 257
6.2.2 Präparation und Kavitätenkonditionierung – 260
6.2.3 Haftmechanismus – 261
6.2.4 Pulpaverträglichkeit – 262
6.2.5 Indikationen für die Anwendung von Glasionomerzementen – 262
6.2.6 Präparation und Kavitätenkonditionierung bei Klasse-V-Kavitäten – 264
6.3 Goldhämmerfüllung – 264
6.4 Restaurationen mit Amalgam – 266
6.4.1 Werkstoffkunde – 266
6.4.2 Indikation für Amalgamrestaurationen – 271
6.4.3 Klasse-II-Kavitäten – 272
6.4.6 Matrizentechnik – 276
6.4.7 Trituration und Kondensation des Amalgams – 276
6.4.8 Schnitztechnik und Politur – 279
6.4.9 Amalgamtoxizität – 281
6.5 Korrekturfüllung – 285
7 Restaurationen mit Einlagefüllungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
7.1 Vorbereitende Maßnahmen – 291
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen – 292
7.2.1 Präparation – 292
7.2.2 Abformung und Modellherstellung – 297
7.2.3 Anprobe und Einzementieren – 301
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen – 303
7.3.1 Präparationstechnik – 304
X Inhaltsverzeichnis
7.3.2 Indikationen und Kontraindikationen für zahnfarbene
Einlagefüllungen – 306
7.3.3 Komposit-Einlagefüllungen – 307
7.3.4 Keramik-Einlagefüllungen – 308
7.3.5 Provisorische Versorgung der Kavität – 310
7.3.6 Anprobe und Eingliederung – 311
7.3.7 Kritische Wertung – 316
II Endodontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
8 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
9 Strukturen der Pulpa und des umgebenden Gewebes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
9.1 Topografie der Pulpa – 323
9.2 Grundsubstanz, Bindegewebe und Zellen der Pulpa – 324
9.3 Gewebezonen der Pulpa – 325
9.4 Funktionen der Pulpa – 326
9.5 Regressive Veränderungen der Pulpa – 328
9.6 Strukturen des apikalen Parodontiums – 329
10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
10.1 Pulpitis – 331
10.2 Pathogenese der Pulpitis – 332
10.3 Pulpanekrose – 334
10.4 Internes Granulom – 335
10.5 Ätiologie der Pulpitis – 336
10.5.1 Infektiöse Pulpitis – 336
10.5.2 Traumatische Pulpitis – 338
10.5.3 Iatrogene Pulpitis – 339
10.6 Parodontitis apicalis – 340
10.6.1 Ätiologie und Pathogenese der Parodontitis apicalis – 341
10.6.2 Formen der apikalen Parodontitiden – 346
11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa . . . . . . . . 351
11.1 Endodontische Schmerzsymptomatik – 351
11.1.1 Hypersensibilität des Dentins – 352
11.1.2 Symptomatische Pulpitis und Parodontitis apicalis – 352
11.1.3 Differenzialdiagnose pulpaler und periapikaler Schmerzen – 354
11.2 Klinische Diagnostik – 355
11.2.1 Allgemeinmedizinische Anamnese – 355
11.2.2 Zahnmedizinische Anamnese – 355
11.2.3 Klinische Untersuchung – 356
11.3 Therapiemaßnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa – 362
11.3.1 Indirekte Pulpaüberkappung – 362
11.3.2 Direkte Pulpaüberkappung – 362
11.3.3 Vitalamputation – 364
Inhaltsverzeichnis XI
12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
12.1 Foramen apicale – 365
12.2 Wurzelkanalkonfiguration – 366
12.3 Altersbedingte Veränderungen des Wurzelkanals – 367
12.4 Die einzelnen Zahntypen – 367
12.4.1 Der mittlere und seitliche obere Schneidezahn – 367
12.4.2 Der mittlere und seitliche untere Schneidezahn – 368
12.4.3 Der obere Eckzahn – 369
12.4.4 Der untere Eckzahn – 369
12.4.5 Der erste obere Prämolar – 370
12.4.6 Der zweite obere Prämolar – 370
12.4.7 Der erste und zweite untere Prämolar – 371
12.4.8 Der erste und zweite obere Molar – 372
12.4.9 Der erste und zweite untere Molar – 373
13 Die Wurzelkanalbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
13.1 Behandlungsplanung – 375
13.1.1 Indikationen zur Wurzelkanalbehandlung – 375
13.1.2 Kontraindikationen zur Wurzelkanalbehandlung – 376
13.1.3 Indikationen zur Revision von Wurzelkanalbehandlungen – 376
13.2 Vorbereitende Maßnahmen – 376
13.2.1 Kofferdam – 376
13.2.2 Präparation und Rekonstruktion des Zahnes – 377
13.3 Zugangskavität und Lokalisation der Wurzelkanaleingänge – 378
13.3.1 Prinzipien der Zugangskavität – 378
13.3.2 Lokalisation der Kanaleingänge – 381
13.3.3 Vorgehen bei den verschiedenen Zahntypen – 382
13.4 Sondierung des Wurzelkanalsystems und Bestimmung der Arbeitslänge – 383
13.4.1 Sondierung des Wurzelkanalsystems – 383
13.4.2 Röntgenologische Längenbestimmung – 384
13.4.3 Endometrie – 386
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals – 388
13.5.1 Handinstrumente – 388
13.5.2 Geräte und Instrumente zur maschinellen Aufbereitung des
Wurzelkanals – 393
13.5.3 Hilfsmittel zur Längeneinstellung und zur Aufbewahrung der
Wurzelkanalinstrumente – 397
13.6 Allgemeine Richtlinien der Wurzelkanalaufbereitung – 398
13.7 Spülung des Wurzelkanals – 399
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung – 401
13.8.1 Apikal-koronale Methoden – 402
13.8.2 Koronal-apikale Methoden – 407
13.8.3 Maschinelle Wurzelkanalaufbereitung – 409
13.9 Medikamentöse Einlagen zur Desinfektion des Wurzelkanals – 412
13.10 Provisorischer Verschluss – 413
13.11 Voraussetzungen vor der definitiven Wurzelkanalfüllung – 414
XII Inhaltsverzeichnis
13.12 Wurzelkanalfüllung – 415
13.12.1 Wurzelkanalfüllmaterialien – 415
13.12.2 Instrumente zur Wurzelkanalfüllung – 419
13.12.3 Wurzelkanalfülltechniken – 420
13.13 Endodontische Behandlung bei nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum – 426
13.13.1 Apexifikation – 426
13.14 Endodontische Notfalltherapie – 428
14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
14.1 Endodontische Behandlungen im Milchgebiss – 431
14.1.1 Indirekte und direkte Überkappung – 432
14.1.2 Pulpotomie – 432
14.1.3 Pulpektomie – 434
14.1.4 Grenzen der endodontischen Behandlung im Milchgebiss – 435
14.2 Bleichen verfärbter wurzelkanalgefüllter Zähne – 436
14.2.1 Bleichmittel – 437
14.2.2 Bleichtechniken – 437
14.3 Restauration wurzelkanalgefüllter Zähne – 439
14.3.1 Versorgung von Frontzähnen – 439
14.3.2 Versorgung von Seitenzähnen – 442
14.4 Verletzungen der Zähne – 443
14.4.1 Diagnostische Maßnahmen bei Verletzungen der Zähne – 444
14.4.2 Verletzungen des Zahnhartgewebes – 445
14.4.3 Luxationsverletzungen der Zähne – 448
14.4.4 Schienentherapie nach dentoalveolären Traumata – 450
14.4.5 Spätfolgen bei Verletzungen der Zähne – 450
III Parodontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
15 Anatomie des Parodonts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
15.1 Gingiva – 455
15.1.1 Makroskopische Anatomie der Gingiva – 455
15.1.2 Mikroskopische Anatomie der Gingiva – 457
15.2 Desmodont – 463
15.3 Alveolarfortsatz – 465
15.4 Gingivaler Sulkus – 466
15.5 Abwehrmechanismen der Gingiva – 467
16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
16.1 Primärer Ursachenkomplex – 470
16.1.1 Dentaler Biofilm (Plaque) – 470
16.1.2 Pathogenese der entzündlichen Parodontalerkrankungen – 478
16.1.3 Abwehrreaktion des Wirtsorganismus – 481
16.2 Sekundärer Ursachenkomplex – 490
16.3 Verhaltensbedingte und allgemeinmedizinische Risikofaktoren für
Parodontalerkrankungen – 491
16.4 Weitere allgemeinmedizinische Bedeutungen parodontaler Erkrankungen – 494
Inhaltsverzeichnis XIII
17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
17.1 Plaque-Indizes – 495
17.1.1 Modifizierter Plaque-Index nach Quigley und Hein – 496
17.1.2 Plaque-Index (PI) nach Silness und Löe – 496
17.1.3 Modifizierter Plaque-Index (PI) nach Mombelli – 497
17.1.4 Modifizierter Approximalraum-Plaque-Index (API) nach Lange
et al. – 497
17.1.5 Plaque-Formations-Rate-Index (PFRI) nach Axelsson – 498
17.1.6 Plaque-Control-Record-Index (PCR) nach O’Leary et al. (auch
simplifizierter Plaque-Index: PI-S) – 499
17.2 Gingiva-Indizes bzw. Entzündungs-Indizes – 499
17.2.1 Bleeding on Probing (Bluten nach Sondierung) – 499
17.2.2 Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Mühlemann und Son – 500
17.2.3 Modifizierter Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Lange – 500
17.2.4 Modifizierter Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Mombelli – 500
17.2.5 Papillen-Blutungs-Index (PBI) nach Saxer und Mühlemann – 501
17.2.6 Gingiva-Blutungs-Index (GBI) nach Ainamo & Bay (auch simplifizierter
Gingiva-Index: GI-S) – 501
17.2.7 Parodontaler Screening-Index (PSI) – 502
17.2.8 Zahnstein-Index – 503
17.3 Bestimmung der Sulkusflüssigkeits-Fließrate (SFFR; sulcus fluid flow rate) – 505
17.4 Epidemiologische Daten zum Auftreten parodontaler Entzündungen – 505
18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . 509
18.1 Anamnese und Befund – 509
18.1.1 Anamnese – 509
18.1.2 Befund – 510
18.2 Diagnose – 520
18.2.1 Gingivopathien – 524
18.2.2 Chronische Parodontitis – 529
18.2.3 Aggressive Parodontitis – 530
18.2.4 Parodontitis als Manifestation systemischer Erkrankungen – 532
18.2.5 Nekrotisierende Parodontalerkrankungen – 534
18.2.6 Abszesse des Parodonts – 535
18.2.7 Parodontitis im Zusammenhang mit endodontalen Läsionen – 535
18.2.8 Entwicklungsbedingte oder erworbene Deformitäten und
Zustände – 536
18.3 Periimplantäre Erkrankungen – 538
18.4 Mundgeruch (Foetor ex ore, Halitosis) – 539
18.5 Deutscher Parodontalstatus – 541
19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
19.1 Antibiotische Abschirmung bei immunsupprimierten Patienten und Patienten
mit Endokarditisrisiko – 547
19.2 Behandlungsablauf der systematischen Parodontalbehandlung – 550
19.3 Initialtherapie – 554
19.3.1 Patientenmotivation, -instruktion und Kontrolle der Mitarbeit – 556
XIV Inhaltsverzeichnis
19.3.2 Zahnputztechniken – 557
19.3.3 Hilfsmittel für die Mundhygiene – 560
19.3.4 Zahnpasta – 562
19.3.5 Supra- und subgingivale Plaque- und Zahnsteinentfernung – 565
19.3.6 Instrumente zur Zahnreinigung und Entfernung von Zahnstein durch
den Zahnarzt – 566
19.3.7 Beseitigung der die Plaqueablagerung fördernden Faktoren – 571
19.4 Korrektive Therapie – 572
19.4.1 Grundlagen der Parodontalchirurgie – 572
19.4.2 Parodontalchirurgische Eingriffe – 581
19.4.3 Methoden zur Behandlung von Zähnen mit
Furkationsbeteiligung – 605
19.4.4 Behandlung parodontal-endodontaler (Paro-Endo-) Läsionen – 609
19.4.5 Transplantate und Implantate zur Behandlung von
Knochentaschen – 609
19.4.6 Parodontale Heilung – 611
19.4.7 Schienungstherapie – 612
19.5 Medikamente in der Parodontologie – 613
19.5.1 Lokal angewendete Medikamente – 613
19.5.2 Systemisch angewendete Medikamente – 617
19.6 Zusammenwirken verschiedener Teilgebiete in der Parodontaltherapie – 623
19.6.1 Parodontologie und Kieferorthopädie – 623
19.6.2 Parodontologie und Zahnerhaltung – 624
19.6.3 Parodontologie und Prothetik – 625
19.7 Behandlung verschiedener Krankheitsformen – 627
19.7.1 Gingivitis – 627
19.7.2 NUG/NUP – 627
19.7.3 Chronische Parodontitis – 627
19.7.4 Lokalisierte und generalisierte aggressive Parodontitis – 628
19.7.5 Parodontitis bei Vorliegen eines Diabetes mellitus – 628
19.7.6 HIV-assoziierte Parodontopathien – 628
19.7.7 Periimplantäre Erkrankungen – 629
19.8 Foetor ex ore – 630
19.9 Unterstützende Parodontitistherapie – 630
19.10 Arbeitsgebiet der zahnmedizinischen Fachassistentin (ZMF) oder der
Dentalhygienikerin (DH) – 634
20 Literaturnachweis und weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
20.1 Therapie der Karies – 635
20.2 Endodontologie – 639
20.3 Parodontologie – 641
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
I Therapie der Karies
Kapitel 1 3
1 Mikroskopische Anatomie der
Zahnhartsubstanzen 1
! Die Kenntnis der Anatomie der Zahnhartsubstanzen, des Endo-
donts und des Parodonts ist Voraussetzung für präventive und in-
vasive zahnerhaltende Maßnahmen.
So bestimmen die Anatomie und die Struktur der Zahnhartsubstanzen
die Präparationsinstrumente, die Kavitätenform und -gestaltung und
die Wahl des Restaurationsmaterials. Im Folgenden werden nur die
wichtigsten histologischen Merkmale der Zahnhartsubstanzen zusam-
mengefasst. Für eine detaillierte Beschreibung der Anatomie und Histo-
logie der Zähne sei auf spezielle Lehrbücher der Anatomie hingewiesen.
1.1 Zahnschmelz
1.1.1 Chemische Struktur
Zahnschmelz wird von den Ameloblasten gebildet. Diese scheiden eine Präeruptive
Schmelzmatrix aus, die mineralisiert und ausreift. Die während der Mi- Schmelzreifung
neralisation stattfindende Kristallisation von Kalzium-Phosphat-Verbin-
dungen und das anschließende Wachstum der Kristalle werden als prä-
eruptive Schmelzreifung bezeichnet. Dabei verbleiben Mikroporositä-
ten zwischen den Kristallen und Ionendefekte in ihren Gitterstrukturen.
Nach dem Zahndurchbruch werden diese Porositäten und Fehlstel- Posteruptive
len durch die posteruptive Schmelzreifung weitestgehend ausgegli- Schmelzreifung
chen. Dabei kommt es zu einer Aufnahme von Mineralien (insbeson-
dere von Kalzium und Phosphat) aus dem umgebenden Milieu (Spei-
chel, Nahrungsmittel). Der Zahnschmelz unterliegt nach seiner Bildung
keinem zellulären Reparaturmechanismus.
Ausgereifter Zahnschmelz ist die härteste Substanz des menschli-
chen Körpers.
Seine mittlere Dichte schwankt je nach „Reifezustand“, chemischer Zu- Dichte
sammensetzung und Stelle der Analysenentnahme zwischen 2,8 und
3,0.
Seine Härte liegt im Durchschnitt zwischen 250 KHN (Knoop-hard- Härte
ness numbers) an der Schmelz-Dentin-Grenze und 390 KHN an der
Schmelzoberfläche.
4 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
Bestandteile Der Hauptbestandteil des Zahnschmelzes ist anorganischer Na-
tur, wobei die Angaben über die Menge der anorganischen Verbindun-
gen je nach Analysemethode und analysierter Probe zwischen 93 und
98 Gew.% schwanken. Die zweitgrößte Fraktion ist Wasser, hier schwan-
ken die Mengenangaben zwischen 1,5 und 4 Gew.%. Die restliche Sub-
stanz setzt sich aus organischen Verbindungen wie Proteinen und Lipi-
den zusammen.
Zusammen- Die Zusammensetzung des Schmelzes wird durch Ernährung, Alter
setzung und zahlreiche andere Faktoren beeinflusst. Die Hauptbestandteile sind
Kalzium, Phosphor, Karbonat, Magnesium und Natrium. Insgesamt
wurden bisher über 40 Spurenelemente im Zahnschmelz nachgewiesen.
Einige dieser Spurenelemente gelangen erst durch zahnärztliche Maß-
nahmen in die Mundhöhle, andere (z.B. Blei und Strontium) können als
Indikatoren für verstärkte Umweltbelastung angesehen werden.
Es gibt Unterschiede in der Schmelzzusammensetzung an verschie-
denen Stellen eines einzelnen Zahnes. Diese lassen sich durch Konzen-
trationsschwankungen einzelner Elemente erklären. So nimmt die Kon-
zentration von Fluorid, Eisen, Zinn, Chlor und Kalzium von der
Schmelzoberfläche zur Schmelz-Dentin-Grenze ab. Die Fluoridkonzen-
tration steigt allerdings direkt an der Schmelz-Dentin-Grenze wieder an.
Die Konzentration von Wasser, Karbonat, Magnesium und Natrium
nimmt hingegen von der Schmelz-Dentin-Grenze zur Schmelzoberflä-
che hin ab.
Es scheint eine Korrelation zwischen Magnesium- und Karbonatge-
halt des Schmelzes und erniedrigten Werten für die Schmelzdichte zu
geben. An Stellen mit erhöhter Magnesiumkonzentration in der Nähe
der Dentinhörner und direkt unter den zentralen Fissuren der Zähne ist
eine geringere Dichte festzustellen als z.B. an den stark mineralisierten
Zonen der bukkalen und lingualen Zahnflächen.
Kalzium und Phosphor liegen in einem Verhältnis von 1 : 1,2 als
Apatitverbindung (Ca10–xPO6–x) × X2 × H2O in Form kleiner Kristalle
vor. Es handelt sich dabei nicht um stöchiometrische Verbindungen der
Formel Ca10(PO4)6(OH)2. Durch ein Defizit von Kalzium-, Phosphat-
und Hydroxylionen sowie das Vorhandensein von Karbonat und Hy-
drogenphosphat ist Schmelz aus nicht stöchiometrischen Apatitkristal-
len aufgebaut. Durch interne Substitutionsreaktionen kann es zur Aus-
bildung von Fluorapatit oder fluoridiertem Hydroxylapatit kommen,
das eine stabilere Kristallgitterstruktur aufweist als Hydroxylapatit. Es
kann jedoch auch zum Einbau von Karbonat in das Schmelzmineral
kommen. Karboniertes Apatit ist gegenüber einem kariösen Angriff we-
niger resistent als Hydroxylapatit. Neben den genannten Verbindungen
lassen sich in geringem Maß eine Reihe nicht apatitisch gebundener
Kalzium-Phosphat-Verbindungen wie z.B. Oktakalziumphosphat fin-
den.
Wasser kommt im Zahnschmelz in zwei verschiedenen Formen vor.
Ein Teil ist kristallin als Hydrationsschale, der andere lose, hauptsäch-
1.1 Zahnschmelz Kapitel 1 5
lich an organische Materie gebunden. Das lose gebundene Wasser kann
bei Erwärmung verdampfen. Schmelz kann jedoch auch bei Feuchtig- 1
keitszufuhr Wasser aufnehmen. Diese Eigenschaft macht man sich bei
der Erklärung bestimmter physikalischer Phänomene bei der Kariesent-
stehung bzw. -prävention zunutze. Zahnschmelz funktioniert wie ein
Molekularsieb bzw. Ionenaustauscher, da mit dem Flüssigkeitsstrom
auch Ionen in den und aus dem Zahnschmelz gelangen.
Die kleine Menge organischen Materials besteht im ausgereiften
Schmelz aus Proteinen (ca. 58%), Lipiden (ca. 40%) und Spuren von
Kohlenhydraten, Zitrat und Laktat. Der größte Teil des organischen Ma-
terials liegt im inneren Drittel des Schmelzmantels in Form von
Schmelzbüscheln.
1.1.2 Histologische Struktur
Die Apatitkristalle des Schmelzes sind im Querschnitt annähernd hexa- Apatitkristalle
gonal und stellen sich in der Seitenansicht als kleine Stäbchen dar (Abb.
1.1).
Ein einheitliches Charakteristikum der Schmelzkristalle ist ihre – im Schmelzprismen
Vergleich zu anderen biologischen Hartgeweben – erhebliche Größe. Sie
sind durchschnittlich 160 nm lang, 40–70 nm breit und 26 nm dick. Die
Gestalt und Größe der Schmelzkristalle kann allerdings je nach Reife-
grad des Schmelzes oder Lokalisation im Schmelzmantel von dieser ein-
heitlichen Größe abweichen. Etwa 100 Schmelzkristalle liegen im Quer-
schnitt zusammengefügt und bilden die sog. Schmelzprismen bzw.
Abb. 1.1: Schematische Dar-
stellung eines Hydroxylapa- 40 nm
titkristalls. Der Kristall ist
annähernd sechseckig und Kristall-
besitzt eine Hülle von ad- oberfläche
sorbierten Ionen, Proteinen,
Lipiden und Wasser (Hydra-
tionsschale, nach Nikiforuk Kristall-
1985). kern
160 nm
adsorbierte
Ionen
Hydrations-
schale
6 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
Abb. 1.2: Ausrichtung der
Schmelzkristalle innerhalb
der Schmelzprismen. Im
Prismenzentrum verlaufen
die Kristalle parallel zur
Prismenlängsachse. Zur
Prismenperipherie hin fie-
dern sie immer mehr auf
und der Winkel zur Prismen-
längsachse nähert sich 90°.
Schmelzstäbe, die sich von der Schmelz-Dentin-Grenze bis fast zur
Schmelzoberfläche erstrecken. Der Verlauf der Prismen ist sowohl in ho-
rizontaler als auch in vertikaler Richtung wellenförmig. Die Kristalle im
Kern der Prismen sind dabei mit ihrer Längsachse parallel zur Längs-
achse des entsprechenden Prismas ausgerichtet. Je mehr sie zum Rand
der Prismen gelegen sind, umso mehr fiedern sie aus und bilden einen
mehr oder weniger großen Winkel zur Prismenlängsachse (Abb. 1.2).
Alle Kristalle besitzen eine Hydrationsschale (s. Abb. 1.1) und sind
von einer Schicht aus Proteinen und Lipiden umgeben. Die Prismen als
Organisationsstruktur der Kristalle liegen wiederum eingebettet in einer
zwischenprismatischen Substanz, die aber auch aus Schmelzkristallen
gebildet wird. Die Kristalle der interprismatischen Substanz liegen aller-
dings ungeordneter und bilden mit der Längsachse der Prismen einen
Winkel von annähernd 90°.
Man unterscheidet Prismenverbände, die in einer Art Schlüssel-
lochstruktur geordnet sind, von solchen, die als Pferdehuftyp oder zy-
lindrischer Typ beschrieben werden (Abb. 1.3).
An der Oberfläche menschlicher Zahnkronen befindet sich häufig
eine 20–30 µm dicke Schicht prismenfreien Schmelzes. Die Kristallite
liegen hier dicht gepackt parallel zur Oberfläche.
Prismenfreier Schmelz wird bei allen Milchzähnen und in den Fis-
suren bzw. im Zervikalbereich der Zähne Erwachsener gefunden.
Räumliche Aufgrund der verschiedenen räumlichen Anordnung der Schmelzpris-
Anordnung men zueinander lassen sich im licht- und polarisationsmikroskopischen
Bild eine Reihe histologischer Charakteristika beschreiben.
Die Hunter-Schreger-Faserstreifung tritt als polarisationsoptisches
Phänomen in Zahnschliffen auf. Im Längsschnitt lassen sich in den in-
neren zwei Dritteln des Zahnschmelzes von koronal nach zervikal ab-
1.1 Zahnschmelz Kapitel 1 7
1
Schlüssellochtyp
Schmelz
Dentin
Pulpa
Hufeisentyp
Zement
zylindrischer Typ
a b
Abb. 1.3: Schematische Darstellung des histologischen Aufbaus menschlichen Zahnschmelzes. Die
Schmelzhaube des Zahnes besteht aus Prismen, die in gewundener Form von der Schmelz-Dentin-Grenze
bis zur Schmelzoberfläche verlaufen. Die Prismen erscheinen im Querschnitt in verschiedenen Formen. Die
3 häufigsten Konfigurationen sind (von oben nach unten): Schlüssellochtyp, Hufeisentyp, zylindrischer Typ
(nach Höhling 1966).
wechselnd dunkle und helle Streifen unterscheiden. Da die Schmelz-
prismen sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung ge-
schwungen verlaufen, werden sie im Schnitt an einigen Stellen quer, an
anderen längs zur Verlaufsrichtung getroffen. So entsteht im polarisa-
tionsmikroskopischen Bild die angesprochene Streifung.
Im Längsschnitt (Abb. 1.4) lassen sich an der Zahnoberfläche Vertie-
fungen (Perikymatien) erkennen.
Ihre Anzahl nimmt von zervikal nach koronal ab. Es handelt sich
hier um Linien, die bei Zähnen Jugendlicher sehr gut auch makrosko-
Perikymatien
Dentin
Pulpa
a b
Abb. 1.4: Schematische Darstellung eines Längsschnitts durch eine Zahnkrone.
a) Im Zahnschmelz sind Wachstumslinien (Retzius-Streifen) zu erkennen, die im
zervikalen Bereich zur Schmelzoberfläche hin auslaufen. Im koronalen Bereich ste-
hen sie halbkreisförmig auf dem Dentinkern. b) In der Ausschnittsvergrößerung
des mit dem Pfeil markierten Bereichs lässt sich erkennen, dass die Retzius-Strei-
fen auf der Schmelzoberfläche in Vertiefungen (Perikymatien) enden (nach Mjör
und Fejerskov 1979).
8 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
pisch am getrockneten Zahn sichtbar werden. Bei älteren Menschen
sind sie aufgrund der Attrition nur noch selten zu diagnostizieren. Im
Bereich der Approximalkontakte zwischen den Zähnen treten im Be-
reich der Perikymatien Vertiefungen („micro pits“) auf, die einen
Schlupfwinkel für Mikroorganismen darstellen. Sie können daher Aus-
gangspunkt für die Entstehung von Karies sein.
Die Retzius-Streifen (s. Abb. 1.4) lassen sich im Durchlichtmikro-
skop erkennen. Sie sind der Ausdruck periodischer Ruhephasen der
Ameloblasten während der Schmelzbildung, vorstellbar wie die Jahres-
ringe eines Baumes. Sie sind meistens hypomineralisierte Bereiche.
Schmelzober- Die Schmelzoberfläche frisch durchgebrochener Zähne ist von einer
häutchen ca. 0,1–5 µm dicken Membran bedeckt, die gegen äußere Einflüsse wie
z.B. Säureeinwirkung sehr widerstandsfähig ist. Sie ist primär die Rest-
substanz des schmelzbildenden Epithels (Cuticula dentis, primäres
Schmelzoberhäutchen). Diese Membran wird in der Mundhöhle beim
Kauen schnell abradiert. Sie wird jedoch durch ein erworbenes
Schmelzoberhäutchen (acquired pellicle) ergänzt oder ersetzt.
1.2 Dentin
1.2.1 Chemische Struktur
! Der größte Teil des menschlichen Zahnes besteht aus Dentin.
Dentin umgibt die Pulpa. Das koronale Dentin ist von Schmelz,
das Wurzeldentin von Zahnzement bedeckt.
Auch wenn man heute von einer funktionellen Einheit der Pulpa und
des Dentins ausgeht, so wird aus Gründen der Übersichtlichkeit im Fol-
genden Dentin als Einzelkomponente beschrieben.
Dentin ist im Gegensatz zu Schmelz ein lebendes, weniger stark mi-
neralisiertes Gewebe.
Bestandteile Es besteht zu 70 Gew.% aus anorganischem und zu 20 Gew.% aus orga-
nischem Material. Der Rest ist Wasser.
Der größte Teil des organischen Anteils sind Kollagen und kolla-
genartige Verbindungen (91–92%).
Der anorganische Anteil besteht ebenso wie der des Zahnschmelzes
hauptsächlich aus Phosphat und Kalzium. Es gibt aber auch im Dentin
verschiedene Spurenelemente.
Das anorganische Material liegt ebenso wie im Zahnschmelz, Zahn-
zement und im Knochen in kristalliner Form als Apatit bzw. amorphes
Kalziumphosphat vor. Die Kristalle des Dentins sind allerdings erheb-
lich kleiner und dünner als im Zahnschmelz (Länge: 20 nm; Breite:
18–20 nm; Dicke: 3,5 nm). Sie liegen zudem nicht in Prismenform ge-
1.2 Dentin Kapitel 1 9
ordnet, sondern sind je nach Art des Dentins mehr oder weniger dicht
gepackt. 1
Dentin ist hochelastisch und verformbar. Es ist weniger hart als
Schmelz und besitzt eine gelbliche Farbe. Da Dentin sehr „porös“
ist, weist es eine wesentlich höhere Permeabilität als Schmelz auf.
1.2.2 Histologische Struktur
Dentin wird von Odontoblasten gebildet. Die Odontoblastenkörper be- Dentinkanälchen
finden sich in der Zahnpulpa. Es ist bisher nicht geklärt, ob ihre Zellfort-
sätze das gesamte Dentin bis zur Schmelz-Dentin-Grenze durchziehen,
oder ob sie nur bis zu einem Drittel in dem Dentin-Kanälchen zu finden
sind. Die Odontoblastenfortsätze werden von 5–8 nm großen Filamen-
ten durchzogen. Sie liegen in den Dentinkanälchen und unterhalten
das Dentin auch nach Abschluss der Zahnbildung physiologisch. Die
Odontoblastenfortsätze weisen 0,35–0,6 µm dicke Seitenäste (Mikro-
villi) auf, die tief in das intertubuläre Dentin hineinziehen und mit be-
nachbarten Mikrovilli in Verbindung stehen. Die Dentinkanälchen sind
im koronalen Bereich eines Zahnes s-förmig gekrümmt, im Wurzelbe-
reich verlaufen sie geradlinig nach außen (Abb. 1.5).
Im Querschnitt ergeben sich für das pulpanahe Dentin und das pul-
paferne Dentin verschiedene Werte für Anzahl und Dichte der Dentin-
inter-
tubuläres Manteldentin
Schmelz Dentin
peri-
Dentin odonto- zirkum-
blastischer pulpales
Raum Dentin
Pulpa
peri-
tubuläres
Dentin
Zement Zwischen-
Odonto- dentin
blasten- altes
fortsatz
Prädentin
junges
Odontoblast
a b
Abb. 1.5: Schematische Darstellung der Dentinstruktur und der Dentinkanälchen. a) Die gestrichelten Linien
geben den Verlauf der Dentinkanälchen wieder. Sie verlaufen im koronalen Bereich s-förmig von der Pulpa
bis zur Schmelz-Dentin-Grenze. b) Das Dentin lässt sich in verschiedene Zonen einteilen. Die Odontoblasten
liegen an der Pulpa-Dentin-Grenze. Es folgt nach peripher das nicht mineralisierte Prädentin, das Zwischen-
dentin mit der Mineralisationsfront, das zirkumpulpale Dentin und anschließend bis zur Schmelz-Dentin-
Grenze das Manteldentin, das viele Verzweigungen der Dentinkanälchen enthält. Die Dentinkanälchen ent-
halten den Odontoblastenfortsatz und den periodontoblastischen Raum, der mit Flüssigkeit gefüllt ist. Im
zirkumpulpalen Dentin und im Manteldentin sind die Kanalwände von dicht mineralisiertem, peritubulärem
Dentin ausgekleidet. Zwischen den Dentinkanälchen liegt das intertubuläre Dentin.
10 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
kanälchen. Der Durchmesser und das Volumen der Dentinkanälchen
hängen natürlich auch vom Alter des untersuchten Zahnes ab. Bei Zäh-
nen junger Menschen wird in der Literatur als durchschnittlicher Wert
für den Durchmesser der pulpanahen Dentinkanälchen 4–5 µm angege-
ben. Ungefähr 80% der Gesamtquerschnittsfläche des Dentins bestehen
pulpanah aus den Lumen der Dentinkanälchen. Peripher beträgt dieser
Wert nur etwa 4% (im entkalkten Präparat). Absolute Zahlen zum
Durchmesser, zur Dichte und Häufigkeit der Dentinkanälchen müssen
immer kritisch betrachtet werden, da sie individuell sehr unterschied-
lich sind und zudem sehr stark von den angewendeten Untersuchungs-
parametern abhängen. Die angegebenen Relationen sind für pulpana-
hes und -fernes Dentin jedoch prinzipiell richtig.
In den Kanälchen sind die Odontoblastenfortsätze häufig von Flüs-
sigkeit und organischen Strukturelementen umgeben (periodontoblasti-
scher Raum). Nervenfasern lassen sich nur in einzelnen Tubuli des Prä-
dentins nachweisen. Im peripheren Dentin befinden sich keine Nerven-
endigungen.
Dentinschichten An der Grenze zur Pulpa liegt das nicht vollständig ausgereifte, hy-
pomineralisierte Prädentin.
Es folgen nach außen eine Zone der Mineralisation (Zwischendentin),
das zirkumpulpale Dentin und das weniger stark mineralisierte Mantel-
dentin. Dieses bildet mit dem Zahnschmelz eine arkadenförmige Grenzli-
nie und ist sehr stark von Seitenästen der Dentinkanälchen durchzogen.
Die Dentinkanälchen sind von peritubulärem Dentin umgeben.
Dieses kleidet die Kanalwände aus. Es ist homogen, dicht und am stärks-
ten von allen Dentinstrukturen mineralisiert. Es kann im Alter durch
Apposition zunehmen (sklerosiertes Dentin). Durch Einengung der
Dentinkanälchen ist jedoch auch die Möglichkeit für die Pulpa gegeben,
sich vor äußeren Reizen zu schützen. Intertubuläres Dentin trennt die
Dentinkanälchen voneinander. Es ist weniger dicht mineralisiert und
besteht zu über 50% aus kollagenem Flechtwerk.
Dentin wird während der gesamten Lebensdauer eines Zahnes ge-
bildet. Das Dentin, welches bis zum Abschluss des Wurzelwachs-
tums entsteht, wird Primärdentin genannt. Wird Dentin anschlie-
ßend regulär gebildet, so heißt es Sekundärdentin. Tertiärdentin
(Reizdentin, irreguläres Sekundärdentin, Reparationsdentin) wird
aufgrund eines Reizes (z.B. Attrition, Erosion, Karies, iatrogene
Schäden) lokal als Abwehrbarriere gebildet.
Strukturmerk- Weitere wichtige histologische Strukturmerkmale des Dentins sind:
male des Dentins D Die Ebner-Linien (Wachstumslinien, Konturlinien). Es handelt sich
um hypomineralisierte Bereiche, welche die Ruhephasen der Odon-
toblasten während der Dentinentwicklung widerspiegeln. Sie ver-
laufen im zirkumpulpalen Dentin parallel zur Schmelz-Dentin-
Grenze bzw. Dentin-Pulpa-Grenze.
1.3 Wurzelzement Kapitel 1 11
D Owen-Linien sind verbreiterte, stärker hypomineralisierte Wachs-
tumslinien. Sie spiegeln Allgemeinerkrankungen im Kindesalter wi- 1
der, die mit verminderter Mineralisationsleistung der Odontoblas-
ten korreliert sind.
D Bei Milchzähnen und im koronalen Bereich der ersten Molaren tritt
als spezielle Form der durch Hypomineralisation entstandenen
Wachstumslinien die Neonatallinie auf. Sie entspricht einer länge-
ren Ruhepause der Odontoblasten (ca. 15 Tage). Die peripher liegen-
den Konturlinien, meist im koronalen zirkumpulpalen Dentin, wei-
sen oft kugelförmige, stark hypomineralisierte Bereiche auf (Inter-
globulardentin). Die Dentinkanälchen besitzen in diesen Bereichen
kein peritubuläres Dentin. Es handelt sich wahrscheinlich um nicht
regulär mineralisierte Dentinbereiche.
D Im Manteldentin der Zahnwurzel befinden sich kleine, im Zahn-
schliff körnerartige Strukturen, die der Zahnoberfläche folgen und
nicht an den Wachstumslinien orientiert sind (Tomes-Körner-
schicht). Sie sind auch hypomineralisiert und ähneln dem Interglo-
bulardentin.
Während der Dentinentwicklung werden zudem zahlreiche nicht kolla-
gene Proteine und Wachstumsfaktoren in die Dentinmatrix eingebaut.
Es handelt sich dabei um eine Vielzahl von phosphorylierten und nicht
phosphorylierten Matrixproteinen, Proteoglykanen, Metalloproteina-
sen und Wachstumsfaktoren, wie z.B. Transforming Growth Factor
Beta 1 (TGF-β1), Fibrobast Growth Factor (FGF-2), Insulin-Like Growth
Factor (IGF-I, IGF-II), Platelet-Derived Growth Factor (PDGF) und Vascu-
lar Endothelial Growth Factor (VEGF) sowie zahlreiche andere Proteine.
Charakteristische Moleküle für das Dentin sind dabei Dentine Sialopro-
tein (DSP) und Dentine Sialophosphoprotein (DSPP). Diese Moleküle
spielen eine Rolle in der Dentinmineralisation und bei Reparaturvor-
gängen in der Pulpa-Dentin-Einheit.
1.3 Wurzelzement
1.3.1 Chemische Struktur
! Zement bedeckt die Wurzeloberfläche der Zähne und Teilbereiche
der apikalen Wurzelkanalwände.
Nur selten findet man Zementinseln und -zungen auch auf der Schmelz-
oberfläche menschlicher Zähne (meistens im zervikalen Bereich). Auch
in den Fissuren noch nicht durchgebrochener Zähne ist dieser Zement-
typ zu beobachten. Es handelt sich dabei um azellulär-afibrilläres Ze-
ment. Die Schmelz-Zement-Grenze ist nicht immer einheitlich konfigu-
riert. Während in 30% der Fälle Schmelz und Zement direkt aneinan-
12 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
Schmelz Schmelz
Dentin
Zement
Pulpa
azelluläres
Faserzement
dento-alveoläre
Fasern
zelluläres
Faserzement
a b
Abb. 1.6: a) Lokalisation und Verteilung des zellulären und des azellulären Faserzements auf der Wurzelober-
fläche im Zahnlängsschnitt. b) Das Zement kann nach koronal direkt an den Zahnschmelz angrenzen, einen
kleinen Dentinbereich unbedeckt lassen oder den Schmelz überlappen (nach Mjör und Fejerskov 1979).
derstoßen, liegt in 10% der Zähne ein kurzer Bereich des Dentins frei.
Bei 60% der Zähne ist das Zement dem zervikalen Schmelz überlappend
aufgelagert (Abb. 1.6).
Struktur und Das Zement ähnelt in seiner Struktur und Härte (30–50 KHN) dem
Härte menschlichen Knochen, ist im Gegensatz zu ihm jedoch nicht vaskula-
risiert. Zement gehört zum Zahnhalteapparat, da an ihm die Parodon-
talfasern haften, die die Zähne in der Alveole beweglich befestigen.
Zusammenset- Zement ist in seiner Zusammensetzung und Dicke weniger konstant
zung und Dicke als Schmelz und Dentin. Es ist die am wenigsten mineralisierte Zahn-
hartsubstanz. Sein Mineralgehalt beträgt ungefähr 65 Gew.%, die orga-
nische Komponente 23 Gew.%, der Rest ist mit 12 Gew.% Wasser. Der
anorganische Anteil besteht vornehmlich aus Kalzium und Phosphat in
Form von Apatitkristallen oder amorphen Kalziumphosphaten (vor-
nehmlich bei neu gebildetem Zement). Der organische Anteil besteht zu
über 90% aus Kollagen. Die genaue Zusammensetzung der restlichen or-
ganischen Substanz ist bisher nicht geklärt.
1.3.2 Histologische Struktur
Wie andere Stützgewebe des Körpers ist auch Zement aus Zellen
und interzellulärer Substanz zusammengesetzt.
Zonen Die Dentinoberfläche ist mit einer Schicht stark mineralisierten Ze-
ments bedeckt (bis 10 µm dick). Nach außen folgen lamellenförmig
stärker und weniger stark mineralisierte Zonen, die Ausdruck periodi-
scher Zementbildungsphasen und Ruhephasen sind.
1.3 Wurzelzement Kapitel 1 13
Im koronalen Drittel der Zähne befindet sich azelluläres, fibrilläres Sharpey-Fasern
Zement (Faserzement, s. Abb. 1.6a). Es enthält keine Zellen, jedoch 1
zahlreiche kollagene Fibrillen, die homogen mineralisiert sind und na-
hezu senkrecht zur Dentinoberfläche verlaufen. Sie sind Ausdruck der
inserierenden parodontalen Fasern (Sharpey-Fasern). Die Fasern kön-
nen ihre Verlaufsrichtung zwischen den einzelnen Wachstumslinien
verändern. Diese Richtungsänderungen kommen durch posteruptive
Zahnbewegungen bei gleichzeitigem Zementanbau zustande. Senkrecht
zu den einstrahlenden parodontalen Fasern liegen die zementeigenen
Fasern, welche die Insertion unterstützen. Die Wachstumslamellen sind
wenig stark ausgeprägt, da die Zementbildung und -neubildung sehr
langsam stattfindet. Die Oberfläche azellulären Faserzements ist stärker
mineralisiert als die mittleren Zementschichten. Ihr liegt eine 3–8 µm
dicke unstrukturierte Zone, das Zementoid, auf, in dem sich Zemento-
blasten befinden können.
Auch im apikalen Bereich der Zahnwurzeln und im Bereich der Bi- Apikaler Bereich
und Trifurkationen mehrwurzeliger Zähne ist das Zement von senkrecht
zur Zahnoberfläche einstrahlenden Fasern und dickeren Faserbündeln
durchzogen, die jedoch weniger mineralisiert sind. Senkrecht zu den ein-
strahlenden Sharpey-Fasern finden sich wieder zahlreiche Fasern und Fa-
serbündel, die parallel zur Wurzeloberfläche liegen. In Zementlakunen
liegen Zementozyten, deren Fortsätze sich in Zementkanälchen befin-
den und in alle Richtungen ausstrahlen. In diesem zellulär-fibrillären
Zement können schwach mineralisierte Zonen mit stark mineralisierten
Zonen abwechseln. Es gibt auch Schichten azellulär-fibrillären Zements.
Peripher findet man wieder ein Zementoid mit Zementoblasten.
Zement wird zeitlebens gebildet und aufgelagert.
Es kann im Verlauf von 60 Jahren seine Dicke verdreifachen; dabei ge-
hen die Zementozyten der inneren Schichten zugrunde und es entste-
hen leere Zementlakunen.
Neben der regulären Zementbildung gibt es verschiedene Gründe Zusätzliche
für die zusätzliche Zementbildung: Zementbildung
D Wird bei Zahnresorptionen im bleibenden Gebiss die Ursache für die
Resorption beseitigt, so kann es zu einer Art Reparatur durch zellulä-
res Zement kommen.
D Auch nach Wurzelfrakturen kann es nach entsprechender Behand-
lung zur „Ausheilung“ des Defekts durch Zementanlagerung zwi-
schen den Fragmenten kommen.
D Durch Verlust des Kontakts zwischen zwei antagonistischen Zähnen
kann es zum Zahnwachstum aus der Alveole kommen. Dabei wird
kompensatorisch Zement im apikalen Bereich aufgelagert.
D Durch eine Parodontitis wird der Zahnhalteapparat oft zerstört. Un-
ter günstigen Voraussetzungen bildet sich nach entsprechender Be-
handlung neues Zement und neuer Knochen.
14 1 Mikroskopische Anatomie der Zahnhartsubstanzen
D Unter speziellen Bedingungen kann die Zementbildung die physio-
logischen Grenzen überschreiten. Man spricht dann von einer Hy-
perzementose. Sie kann an einzelnen Zähnen und generalisiert vor-
kommen. Die lokalisierte Form kann u.a. infolge einer chronischen
Entzündung im periapikalen Bereich, während einer kieferorthopä-
dischen Behandlung und bei retinierten Zähnen auftreten. Die ge-
nerelle Hyperzementose wird im Zusammenhang mit systemischen
Erkrankungen beobachtet (Morbus Paget).
D Zementikel sind kleine mineralisierte Körper, die fest auf der Ze-
mentoberfläche aufgelagert oder frei im Desmodont anzutreffen
sind. Sie entstehen durch Mineralisation von degenerierten epithe-
lialen Resten oder thrombosierten Blutgefäßen.
D Im apikalen Bereich des Zements findet man manchmal eine
Schicht irregulär ausgebildeten, mineralisierten Zements (Zwi-
schenzement). Es liegt zwischen dem Dentin und dem regulär gebil-
deten Zement und ist Ausdruck einer Entwicklungsstörung.
D Schmelzperlen in den Furkationen der Molaren sind oft von Ze-
ment bedeckt.
1.4 Morphologische Unterschiede zwischen Milch- und
bleibenden Zähnen
Milchzähne und bleibende Zähne unterscheiden sich in erster Linie be-
züglich Größe und Form voneinander. So sind die Kronen der Schneide-
zähne kürzer, kleiner und meißelförmig. Alle Milchfrontzähne haben ei-
nen dünnen, bläulich-weißen Schmelzmantel. Zervikal findet sich eine
starke Einziehung im Bereich der Krone.
Bei Milchmolaren konvergieren die Kronen vom Äquator zur Okklu-
salfläche sehr stark. Der Abstand des Zahnäquators zur Schmelzzement-
grenze beträgt etwa 2 mm. Milchmolaren weisen einen zervikalen
Schmelzwulst auf, der insbesondere bei ersten Milchmolaren bukkal be-
sonders ausgeprägt ist. Zervikal dieses Schmelzwulstes findet sich eine
starke Einziehung. Im Vergleich zu den bleibenden Molaren sind die
Approximalkontakte flächiger und zudem weisen Milchmolaren eine
dünnere Schmelz- und Dentinschicht auf.
An der Oberfläche der Milchzähne findet man eine 30–100 µm dicke
aprismatische Schmelzschicht. Im aprismatischen Schmelz finden sich
jedoch regelmäßig auch prismatische Bereiche. Milchzähne sind etwas
weniger mineralisiert (86–88 Vol% Mineralgehalt). Sie besitzen zudem
ein Porenvolumen von 1–5%. Milchzähne zeigen eine geringere Abra-
sionsresistenz und sind schlechter anätzbar als bleibende Zähne. Auch
das Dentin ist weniger klar strukturiert als bei bleibenden Zähnen. Das
bedeutet, dass Dentintubuli ungleichmäßiger verteilt sind und häufiger
zusätzliche Kanäle vorkommen.
Kapitel 2 15
2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der
Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
2
2.1 Karies
2.1.1 Ätiologie
! Die häufigste Erkrankung der Zahnhartsubstanzen ist die Karies.
Zahnkaries ist eine lokalisierte Erkrankung der Zahnhartgewebe,
die durch das Zusammenwirken potenziell pathogener Mikroor-
ganismen und potenziell pathogener ökologischer Faktoren ent-
steht. Karies äußert sich je nach Schweregrad in unterschiedlicher
Symptomatik (Abb. 2.1). Wie bei anderen Erkrankungen kann
auch die kariöse Erkrankung durch Phasen der Stagnation, Remis-
sion und Progression gekennzeichnet sein.
Es gibt zahlreiche Theorien zur Ätiologie der Karies. Die von Miller
(1898) erstmals vorgestellte und später von anderen Wissenschaftlern
verifizierte und erweiterte chemoparasitäre Theorie ist heute die allge-
mein akzeptierte Theorie der Kariesentstehung. Dabei geht man von der
Vorstellung aus, dass kariogene Mikroorganismen der Mundhöhle
(Plaque) bei einem Überangebot an kariogenem Substrat (speziell nie-
dermolekulare Kohlenhydrate) organische Säuren produzieren. Wirken
diese lange genug auf die Zahnhartsubstanzen (Wirt) ein, so entminera-
lisieren sie diese (Abb. 2.2).
Neben diesen drei Hauptfaktoren der Kariesentstehung gibt es zahl-
reiche sekundäre Faktoren (z.B. Speichelfluss und -zusammensetzung,
Abb. 2.1: Karies kann sich in ver-
schiedenen Symptomen äußern. Mineralverlust
Sie reichen von submikroskopischer
Veränderung im Kristallgitterbe- totale
reich über mikroskopisch nachweis- Zerstörung
bare Oberflächendestruktionen bis
hin zu klinisch diagnostizierbaren Kavitation
Veränderungen und offenen Kavi-
täten.
klinisch
Schmelz- sichtbar
karies
Licht-
mikroskopie klinisch
nicht sichtbar
Elektronen-
mikroskopie
Zeit
16 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
genetische
Zahnarzt Variablen
Gesundheits- soziales
verhalten Umfeld
Wirt
Zahnmorphologie Substrat
Zahnstellung Nahrungsmittel-
chemische Zusammensetzung zusammensetzung
der Zahnhartsubstanzen Häufigkeit der
Speichelmenge Nahrungsaufnahme
Speichelqualität xxx Eliminationszeit
immunologische xxxx Karies
Faktoren xxxxx
Plaque Ein-
Bildung kommen
Plaquebildungsrate
Bakterienspezies
Erwartungshaltung
Gesundheits-
politik Nationalität
Abb. 2.2: Schematische Darstellung der wichtigsten ätiologischen Faktoren, die für die Entstehung einer
Karies verantwortlich sind. Erst das Zusammenwirken der 3 Hauptfaktoren führt zur Zerstörung der Zahn-
hartgewebe.
pH-Wert und Pufferkapazität des Speichels, Dauer und Häufigkeit der
Substratzufuhr, Immunabwehr, bisher nicht bekannte genetische Fakto-
ren, sozioökonomische und verhaltensbezogene Komponenten, Zahn-
fehlstellungen und -bildungen, Einstellung des behandelnden Zahnarz-
tes), welche die Entstehung und Progression einer kariösen Läsion be-
einflussen können.
Plaque
Plaque ist ein strukturierter, zäher, verfilzter Zahnbelag (Biofilm) aus
Speichelbestandteilen, bakteriellen Stoffwechselprodukten, Nahrungs-
resten und Bakterienzellen (s. auch Kap. 16.1).
Supragingivale Die supragingivale Plaque ist primär an den habituell unsauberen
Plaque Bereichen der Zähne (Kariesprädilektionsstellen, Abb. 2.3) lokalisiert.
Diese besonders kariesdisponierten Bereiche sind die Zahnfissuren und
-grübchen, Approximalflächen der Zähne, das zervikale Drittel der
sichtbaren Zahnkronen und freiliegende Wurzeloberflächen.
2.1 Karies Kapitel 2 17
Abb. 2.3: Schematische Dar-
stellung der besonders ka-
riesgefährdeten Bereiche
(Kariesprädilektionsstellen).
An den angegebenen Zahn-
flächen heften sich aus ana- 2
tomischen und morphologi-
schen Gründen vermehrt
Plaquebakterien an (habitu-
ell unsaubere Zonen).
Die Entwicklung der Zahnplaque vollzieht sich in mehreren Schritten: Entwicklung der
D Auf einer gründlich gereinigten Zahnoberfläche adsorbiert ein un- Zahnplaque
strukturierter azellulärer Film (acquired pellicle, sekundäres Zahn-
oberhäutchen). Dieses Häutchen (0,1–1 µm) besteht in erster Linie
aus den Proteinen des Speichels (saure prolinreiche Proteine, Glyko-
proteine, Serumproteine, Enzyme, Immunglobuline), die aufgrund
ihrer Eigenladungen an die Kalzium- und Phosphatgruppen des
Apatits der Zahnhartsubstanzen elektrostatisch binden können. Die
Pellikel ist semipermeabel, d.h., sie steuert in einem gewissen Aus-
maß die Austauschvorgänge zwischen Mundhöhlenmilieu, Plaque
und Zahn. Sie befeuchtet zudem den Zahn und schützt ihn so beim
Essen vor Abrasion.
D An diese Membran heften sich innerhalb weniger Stunden als Früh-
besiedler selektiv zuerst grampositive Kokken (Streptococcus saliva-
rius, Streptococcus oralis, Streptococcus mitis) und Aktinomyzeten
an. Später folgen weitere Streptokokken und Veillonellen, aber auch
Prevotella, Eikenella spp., Capnocytophaga spp., Haemophilus spp.
und Propionibacterius spp. Stäbchen und Filamente überwiegen in
einer 7–14 Tage alten Plaque.
D Die Plaque wächst dann durch Teilungsvorgänge bzw. Akkumula-
tion weiterer Bakterien über spezifische Adhäsions- und Kohäsions-
phänomene, durch direkten Zellkontakt oder mit Hilfestellung
durch Plaquematrixkomponenten. Typische Spätbesiedler sind bei-
spielsweise Aggregatibacter actinomycetemcomitans, Treponema
denticola, Porphyromonas gingivalis und Prevotella intermedia.
Frühbesiedler koaggregieren mit verschiedenen anderen Frühbesied-
lern, aber nicht mit Spätbesiedlern. Spätbesiedler koaggregieren
kaum untereinander. Fusobacterium nucleatum besitzt die Eigen-
schaft, mit Früh- und Spätbesiedlern zu koaggrigieren, und daher
kommt diesem Mikroorganismus eine extrem wichtige Brücken-
funktion zu. Es ist die häufigste Bakterienspezies unter den oralen
gramnegativen Spezies. Die Abbildung 2.4. zeigt eine typische Mo-
mentaufnahme eines supragingivalen Biofilms.
D Mit zunehmendem Alter gewinnt die Plaque eher anaeroben Cha-
rakter. Die Bakterienadhäsion und Plaquebildung kann durch ver-
18 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Eubacterium
spp. A. actino-
mycetem-
S. flueggei comitans
P. gingi-
T. denticola valis
V. dispar
Capnocyto- A.
phaga isralii H. pylori
sputigena
P. denti- P. inter-
Actino- cola media
myces Fusobacterium
naes- nucleatum
luncii Strepto-
coccus subsp. nucleatum
C. gingi-
P. loe- valis
scheii
Fuso- H. para-
bacterium influ-
nucleatum enzae
subsp. S. gor-
nucleatum donii
Actino-
myces Capnocyto-
serovar phaga
S. gor- ochracea
V. aty- donii A. isralii
pica S.
oralis
S.
mitis
Pellikel
Zahn
Abb. 2.4: Typisches Adhäsionsverhalten oraler Mikroorganismen bei der Bildung eines supragingivalen Bio-
films (nach Kolenbrander et al. 1999)
schiedene Faktoren gehemmt oder gefördert werden. Diese Faktoren
können endogener oder exogener Genese sein (Abb. 2.5).
Bestandteile Ausgereifte Plaque besteht aus dicht gepackten Bakterien (60–70 Vol%),
die in ein amorphes Material, die Plaquematrix, eingebettet sind. Die
Matrix ermöglicht den Zusammenhalt der Bakterien und die Haftung
des Biofilms an Oberflächen. Sie besteht aus extrazellulären, polymeren
Substanzen, wie z.B. geladenen (vorwiegend anionischen) oder auch
neutralen Proteinen, Polysacchariden, Nukleinsäuren und Lipiden. Der
Stoffwechsel der Bakterien innerhalb des Biofilms differiert sehr stark.
Die Bakterien an der Biofilmoberfläche sind normal groß und sehr stoff-
wechselaktiv. Ihnen stehen ausreichend Nahrung und Sauerstoff zur
Verfügung. Sie zeigen ähnliche Eigenschaften wie planktonische Bakte-
rien. Die Bakterien der tieferen Biofilmschichten haben einen reduzier-
ten Stoffwechsel und ein reduziertes Nahrungsangebot. Sie befinden
2.1 Karies Kapitel 2 19
hemmend fördernd
antimikrobielle Substanzen adhäsions- und wachstumsfördernde
im Speichel (z.B. Immunglobuline, Substanzen im Speichel und in der Nahrung
Lactoferrin) oder in der Nahrung (z.B. Saccharose, Kalzium, Spurenelemente)
(z.B. Konservierungsmittel) bakteriell produzierte Substanzen 2
Mundhygiene (z.B. Lipoteichonsäure, Glykosyltransferase)
Soft-Chemotherapie verminderter Speichelfluss
lokale ökologische Gegebenheiten
Oberflächen- Co-Aggregation, spezifische
Abscher- phänomene Co-Adhäsion, und
kräfte Bildung Oberflächen-
(Benetzung, rauigkeiten unspezifische
(z.B. Kauen) Hydrophobie) intermikrobieller Adhäsion
Matrix
Bildung von oberflächenaktiven Substanzen, Schmelz-
die für andere Bakterien oberhäutchen
wachstums- oder adhäsionshemmend sind
Abb. 2.5: Die bakterielle Besiedelung von Zahnoberflächen ist neben einer passiven Retention in mikrosko-
pischen und makroskopischen Zahnvertiefungen und -unregelmäßigkeiten durch komplexe Adhäsions-
phänomene gekennzeichnet. Neben physiko-chemischen Adhäsionskräften (z.B. van der Waal-Bindungs-
kräften) können sich Bakterien auch über spezifische Bindungsmoleküle (Adhäsine) an Rezeptoren der Pel-
likel binden. Aber auch lokale ökologische Faktoren (z.B. Speichelbestandteile) und von Bakterien
exprimierte Substanzen (z.B. Teichonsäure, Glykosyltransferase) erlauben eine Anheftung.
sich häufig in einer ruhenden Phase, zeigen eine geringe Zellteilungs-
rate und ihre Größe ist geringer.
Die Plaque ist in diesem Zustand durch die Selbstreinigungskräfte
der Mundhöhle nicht mehr vom Zahn zu entfernen. Dabei variiert die
bakterielle Besiedelung an verschiedenen Stellen der Mundhöhle und
sogar an verschiedenen Flächen eines Zahnes. Auch die Zusammenset-
zung der Plaquematrix ist variabel. Sie hängt von Speichelzusammen-
setzung, Ernährung und Syntheseleistung der verschiedenen Plaque-
bakterien ab.
Plaque ist ein notwendiger Faktor für die Kariesentstehung. Ihre
Metaboliten sind für die Demineralisation der Zahnhartsubstanzen
verantwortlich.
Im Tierversuch konnte nachgewiesen werden, dass Streptococcus mu- Streptococcus
tans aufgrund seiner Stoffwechselleistungen eine herausragende Rolle mutans
bei der Kariesentstehung spielt (Abb. 2.6).
Man unterscheidet unterschiedliche Spezies in der Mutans-Gruppe.
Bei Menschen spielen die Arten St. mutans, St. sobrinus, St. cricetus und
20 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Saccharose Glukose
Glykosyl- PEP- PEP-
transferase PTS PTS
Fruktose Saccharose-6-P
Fruktose Glukose-6-P
extrazelluläre
Polysaccharide Synthese intrazellulärer
Polysaccharide
PEP Glykolyse
PTS
organische Säuren
(z.B. Milchsäure)
Abb. 2.6: Saccharosestoffwechsel von Streptococcus mutans. Durch die Bildung von klebrigen extrazellulä-
ren Polysacchariden wird den Plaquebakterien eine zusätzliche Möglichkeit der Adhäsion an der Zahnober-
fläche ermöglicht. Die Bildung von organischen Säuren führt zur Demineralisation von Zahnhartsubstan-
zen (PEP-PTS = Phosphoenolpyruvat-Phosphotransferasesystem).
St. rattus für die Kariesentstehung eine Rolle. Am häufigsten werden St.
mutans und St. sobrinus in einer kariogenen Plaque angetroffen. Die Fä-
higkeit, extrazelluläre Polysaccharide (Glukane) in Anwesenheit von
Zucker (Saccharose) mithilfe spezifischer Glukosyltransferasen zu syn-
thetisieren, erlaubt eine feste Anhaftung dieses Mikroorganismus an
Zahnoberflächen und die Etablierung einer adhäsiven und hochgradig
kariogenen Plaque. Durch anaerobe Glykolyse kann St. mutans organi-
sche Säuren bilden (z.B. Laktat, Pyruvat), die bei längerer Einwirkzeit die
Zahnhartsubstanzen demineralisieren. Die Bildung von intrazellulären
Polysacchariden als Speicherkohlenhydrate erlaubt dem Mikroorganis-
mus, auch in Zeiten geringer Substratzufuhr seinen Stoffwechsel auf-
rechtzuerhalten. Aber auch verschiedene andere orale Mikroorganis-
men sind in der Lage, intrazelluläre Polysaccharide zu synthetisieren.
So geht man heute davon aus, dass bis zu 1000 unterschiedliche
Bakterienarten die Mundhöhle kolonisieren können. Mit neuen gen-
technischen Verfahren wurden in den letzten Jahren Mikroorganismen
entdeckt, die in der bisherigen Nomenklatur noch nicht eingeordnet
sind. Zusätzlich gibt es von zahlreichen Bakterienstämmen unterschied-
liche Klone. Man kann also davon ausgehen, dass neben den bekann-
2.1 Karies Kapitel 2 21
ten, sogenannten Leitkeimen der Kariesentstehung eine Vielzahl ande-
rer Mikroorganismen sowohl an der Säurebildung als auch am Aufbau
des Biofilms beteiligt sind.
Mutans-Streptokokken und Streptokokken sanguis kommen in der 2
Mundhöhle nur auf festen Unterlagen, d.h. nach Zahndurchbruch vor.
Es müssen zudem spezielle ökologische Bedingungen vorhanden sein,
damit sich diese Keime etablieren. Einige Bakterien siedeln sich in spe-
ziellen, bestimmten Altersstufen in der Mundhöhle an. So spricht man
heute von einem Fenster der Infektiosität, welches bei Mutans-Strepto-
kokken zwischen 19 Monaten und 3 Lebensjahren liegt.
St. mutans ist aber nicht nur azidogen, sondern auch säuretolerant.
Er kann auch unter sauren mikroökologischen Bedingungen, bei denen
andere orale Mikroorganismen zugrunde gehen, in der Plaque existieren
(pH < 5,5) und Säuren bilden, da er es schafft, sich gegen die saure Um-
gebung abzuschotten und gegen den Konzentrationsgradienten Säure
aus dem Zellinneren aktiv auszuschleusen.
Die wichtigsten Thesen zur herausragenden Rolle von St. mutans bei Rolle von St.
der Kariesentstehung lassen sich (nach Krasse 1986) folgendermaßen mutans bei der
zusammenfassen: Kariesentstehung
D St. mutans induziert im Tierexperiment Karies.
D Es besteht eine Korrelation zwischen der Anwesenheit von St. mu-
tans im Speichel und in der Plaque und dem Auftreten von Karies.
D Die Besiedelung der Zahnoberfläche mit St. mutans geht zumeist der
Entwicklung einer Karies voraus und ist auf kariös demineralisierten
Zahnflächen höher als auf gesunden Zahnflächen.
D Bei Patienten mit hoher Kariesprävalenz sind mehr Zahnflächen mit
St. mutans besiedelt als bei Patienten mit niedriger Prävalenz.
D Gegen St. mutans gerichtete antimikrobielle Maßnahmen reduzie-
ren die Inzidenz der Karies drastisch.
Aus den genannten Gründen wird heute St. mutans als wesentlicher Ini-
tiator der Karies betrachtet. Jedoch muss festgehalten werden, dass St.
mutans nicht das einzige Karies verursachende Bakterium ist. Ebenso-
wenig muss das Vorhandensein von St. mutans in der Mundhöhle im-
mer mit Karies verbunden sein.
Nach heutigem Kenntnisstand gehört St. mutans nicht zur norma-
len Bakterienflora der Mundhöhle.
Wie andere Infektionserreger wird Streptococcus mutans von
Mensch zu Mensch übertragen.
Die Übertragung erfolgt mittels des Speichels und zumeist ist die Mutter Übertragung
oder eine andere Bezugsperson die Infektionsquelle. Aus diesen Er-
kenntnissen leiten sich die Maßnahmen ab, die heute als Primär-Pri-
märprävention beschrieben werden.
22 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Von den anderen in der Mundhöhle vorhandenen Mikroorganis-
men wird besonders den Laktobazillen und Actinomycesarten eine
wichtige Rolle bei der Pathogenese der Karies zugeschrieben.
Laktobazillen Laktobazillen vermehren sich zwar relativ langsam, werden aber
gerade im sauren Milieu metabolisch aktiv.
Die Zahl der Laktobazillen in der Mundhöhle korreliert in gewissem
Umfang mit der Aufnahme von Kohlenhydraten. Hohe Laktobazil-
lenzahlen können auch als Indikator für offene kariöse Läsionen
gelten.
Aktinomyzeten Aktinomyzeten sind relativ schwache Säurebildner. Einige Actinomy-
cesarten, wie Actinomyces viscosus, werden besonders mit der Entste-
hung der Wurzelkaries in Verbindung gebracht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen:
D Karies ist keine monospezifische Infektion, da die Koch-Postulate für
eine infektiöse Erkrankung – Isolation aus dem Krankheitsherd, Kul-
tivierbarkeit, Reinfektion mit Auslösung der Krankheit – zwar für
Streptococcus mutans gelten, aber auch von einer Reihe anderen Mi-
kroorganismen erfüllt werden. Außerdem ist die reine Infektion mit
St. mutans ohne entsprechende Einwirkung von Kofaktoren (z.B.
Nahrungsaufnahme) nicht Karies auslösend.
D Die wichtigsten Eigenschaften kariogener Mikroorganismen sind
Säurebildung, Säuretoleranz und die Synthese extrazellulärer und
intrazellulärer Polysaccharide.
D Die kariogene Wirkung der Mikroorganismen ist an eine entspre-
chende Substratzufuhr (vergärbare Kohlenhydrate, speziell Saccha-
rose) gebunden.
D Die Vermehrung kariogener Mikroorganismen wird durch Wirtsfak-
toren (z.B. Speichel) und durch lokale Faktoren selektiv begünstigt
(opportunistische Plaquehypothese). Die Mikroorganismen können
sich dabei gegenseitig beeinflussen.
Die sogenannte residente Mikroflora unterliegt üblicherweise nur gerin-
gen Veränderungen (mikrobielle Homöostase). Ökologische Verände-
rungen, zum Beispiel durch Ernährungsumstellungen, können aller-
dings dazu führen, dass eine Prädisposition für orale Erkrankungen (z.B.
Karies, Gingivitis oder Parodontitis) entsteht (ökologische Entstehungs-
hypothese der Karies, Abb. 2.7).
Bei der Kariesprogression in Zement und Dentin spielen proteolyti-
sche Enzyme (Proteasen, Peptidasen, Kollagenasen u.a.) verschiedener
Mikroorganismen eine wichtige Rolle. Es kommt durch sie nach der De-
mineralisation der anorganischen Substanz zu einem Abbau der organi-
schen Makromoleküle.
Zahnstein Durch Einlagerung anorganischer Substanzen (Mineralien) in die
Plaque entsteht Zahnstein. Die Mineralisierung der supragingivalen
2.1 Karies Kapitel 2 23
Zahnoberfläche Biofilm Ökologische Bedingungen
De- und Remineralisation Nicht kariogener Biofilm Geringe Aufnahmefrequenz
im Gleichgewicht.
Gesunde Zahnoberfläche
(überwiegend Streptokok-
ken und Aktinomyceten)
niedermolekularer Kohlen-
hydrate und Stärke =
2
geringe Säureproduktion
Vermehrte Aufnahme von
niedermolekularen Kohlen-
hydraten und/oder Stärke. Verstärkte Säureproduktion
Möglicherweise verringerte
Speichelfließrate
Initiation und/oder Adaption des Biofilms
Progression von durch phänotypische
kariösen Läsionen Veränderungen der Mikro-
organismen, dadurch er-
höhte Azidogenität.
Genotypische Veränderung
der Mikroflora = Selektion
azidurischer Keime
Progression vorhandener Ausbildung eines säure- Bei weiterhin hochfre-
Kariesläsionen toleranten und azidogenen quenter Zufuhr nieder-
Biofilms mit S. mutans, molekularer Kohlenhydrate
Laktobazillen und Bifido- lang andauernder stärkerer
bakterien als Leitkeime pH-Wert-Abfall
Abb. 2.7: Ökologische Veränderungen als Ursache für die Ausbildung eines kariogenen Milieus und der da-
durch bedingten Demineralisationserscheinungen der Zahnhartsubstanzen
Plaque erfolgt vornehmlich im Bereich der Ausführungsgänge der gro-
ßen Speicheldrüsen, d.h. an den lingualen Flächen der Unterkieferfront-
zähne und den bukkalen Flächen der ersten Molaren. Es gibt starke und
weniger starke Zahnsteinbildner.
Die Mineralisation erfolgt über den Speichel, der eine kalziumüber-
sättigte Lösung ist. Die Gründe für die Präzipitation der anorganischen
Substanzen sind bisher nicht bekannt. Die Bildung von Kalziumphos-
phat-Kristalliten (Brushit = CaHPO4 × 2 H2O) beginnt meist in der Pla-
quematrix durch Ausfällung (Kristallisationskeime). Später „verkalken“
auch die Bakterienzellen selbst. In jungem Zahnstein findet man auch
Oktakalziumphosphat [Ca8(HPO4)2(PO4)4], das sich zum Teil durch Um-
wandlung aus Brushit bildet. Auch Whitlockit [Ca3(PO4)2] wurde analy-
siert. Sowohl Oktakalziumphosphat als auch Whitlockit können sich,
speziell in Anwesenheit von Fluorid, in Apatit umwandeln. Alter Zahn-
stein ist lamellenförmig strukturiert, d.h., er wird offensichtlich peri-
odisch gebildet und aufgelagert. Zahnstein ist oft von einer Plaque-
schicht bedeckt.
24 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Substrat
! Qualität und Quantität der menschlichen Nahrung und die Häu-
figkeit der Nahrungsaufnahme sind entscheidende Faktoren bei
der Kariesentstehung.
Die Abkehr von der Aufnahme naturbelassener Nahrung und die gleich-
zeitige Entwicklung neuer Energieträger durch verfeinerte technologi-
sche Möglichkeiten der Nahrungszubereitung führten zu erheblichen
Veränderungen in der Nahrungsmittelzusammensetzung und -qualität
in den industrialisierten Ländern. Obwohl die Nahrung grundsätzlich
während der Zahnentwicklung systemisch die Mineralisation und
Struktur der Zahnhartgewebe beeinflussen kann, konnte bisher keine
eindeutige Korrelation zwischen Mangelernährung und Kariesbefall
nachgewiesen werden. Im Gegenteil, die Menschen der hoch industria-
lisierten Länder weisen i.d.R. eine höhere Kariesmorbidität auf als die
der weniger wohlhabenden Länder. Schlecht mineralisierte Zähne sind
keineswegs grundsätzlich mit einem höheren Kariesrisiko behaftet als
normal ausgebildete.
Nach Durchbruch der Zähne haben die zugeführten Nahrungsmit-
tel keine systemische, sondern nur noch lokale Bedeutung für die
Kariesentstehung.
Es bestehen allerdings geringe Einflüsse auf die Speichelzusammenset-
zung und die Speichelfließgeschwindigkeit, deren Wertigkeit aber letzt-
lich nicht geklärt ist.
Ein entscheidender Faktor bei der Kariesentstehung ist die häufige
Zufuhr vergärbarer Kohlenhydrate (Saccharose, Oligosaccharide, Glu-
kose, Fruktose, Laktose und Stärke), die durch die Mikroorganismen der
Plaque verstoffwechselt werden können. Die meisten Mikroorganismen
der supragingivalen Plaque gewinnen ihre Energie aus dem Abbau nie-
dermolekularer Kohlenhydrate. Hierbei entstehen organische Säuren
(z.B. Laktat, Propionat, Butyrat und Valerianat), die den pH-Wert in der
Plaque so weit absenken können, dass es zu einem Mineralverlust aus
der Zahnoberfläche kommt (Stephan-Kurve, Abb. 2.8). Der kritische
pH-Wert beträgt für Zahnschmelz 5,2–5,7, für Zahnzement und Wurzel-
dentin 6,2–6,7.
Saccharose Die Saccharose spielt hierbei aus verschiedenen Gründen eine be-
sonders wichtige Rolle. Saccharose kann leicht in Zahnplaque diffundie-
ren und ist hoch löslich. Bei ihrer Spaltung entstehen zwei Monozucker
(Fruktose und Glukose), die in den Bakterienzellen abgebaut werden
können. Zudem wird bei der Spaltung der alpha-glykosidischen Bin-
dung von Saccharose Energie frei, die wiederum zum Aufbau von Poly-
sacchariden verwendet wird. Dabei entstehen extrazelluläre wasserun-
lösliche Polysaccharide vom Glukantyp (10%) bzw. wasserunlösliche
2.1 Karies Kapitel 2 25
Abb. 2.8: Typischer pH-Verlauf in der Plaque nach ei-
ner 10%igen Glukosespülung bei Personen mit gerin- pH
Glukose
ger und erhöhter Kariesaktivität. Der pH-Wert ist in geringe
metabolisch inaktiver Plaque relativ konstant. Er un- 7,0 Kariesaktivität
terscheidet sich jedoch zwischen kariesaktiven und
-inaktiven Personen. Nach der Glukosespülung sinkt
erhöhte
2
der Plaque-pH-Wert innerhalb weniger Minuten bis Kariesaktivität
zum „kritischen Wert“ oder darunter. Erst nach 6,0
30–60 Minuten erreicht er wieder den Ausgangs-
wert (Stephan-Kurve). Der Kurvenverlauf ist unter
anderem das Resultat der Zuckerdiffusionsgeschwin-
digkeit, der Säureproduktion in der Plaque, der Neu- 5,0 kritischer
tralisation durch Speichel- und Plaquepuffer und der pH-Bereich
Säurediffusionsgeschwindigkeit.
0
0 10 20 30 40 50 60
Minuten
Reservekohlenhydrate. Aber auch Einfachzucker können, wenn auch
langsamer und nur unter Energieeinsatz der Mikroorganismen, zum
Aufbau extrazellulärer Polysaccharide verwendet werden. Die klebrigen
Dextrane beeinträchtigen bei einer etablierten Plaque den Zutritt von
Speichel und damit die rasche Neutralisation der Säuren durch Speichel-
puffer. Speichel kann zudem nur sehr begrenzt bis zur Zahnoberfläche
durch die Plaque diffundieren. Einige Mikroorganismen sind in der
Lage, intrazelluläre Polysaccharide aufzubauen. Bei häufiger Saccharose-
zufuhr mit entsprechend häufiger Säurebildung wird in der Plaque ein
selektives Wachstum säuretoleranter Polysaccharidbildner gefördert,
d.h., der Kariesentstehung Vorschub geleistet. Wie bereits im Abschnitt
„Plaque“ erwähnt, bedeutet säuretolerant, dass die Mikroorganismen
auch bei niedrigem pH-Wert die Säureproduktion fortsetzen können.
Stärke ist weniger kariogen als Zucker bzw. Stärke und Zucker zu- Stärke
sammen. Stärke ist ein Polysaccharid der Glukose und liegt in Pflanzen
in einer unlöslichen Form vor. Rohe Stärke kann nur sehr langsam
durch die Amylase des Speichels gespalten werden. Ein Erhitzen der
Stärke durch Kochen oder Backen verursacht einen teilweisen Abbau zu
einer löslichen Form, in der die Stärke dann schneller durch Amylase zu
Monosacchariden gespalten werden kann. Während die Polysaccharid-
moleküle der rohen Stärke zu groß sind, um in die Plaque diffundieren
zu können, kann gespaltene Stärke von den Plaquebakterien verstoff-
wechselt werden. Die Aufnahme von roher Stärke führt deswegen nur
einen geringen pH-Wert-Abfall in der Plaque herbei, die von erhitzter,
löslicher Stärke dagegen führt zu einem pH-Wert-Abfall, der zumeist nur
geringfügig kleiner ist als der nach Zuckerzufuhr.
Die Rolle des Zuckers (Saccharose) als wichtiger kausaler Faktor bei
der Kariesentstehung ist in Studien vielfach dokumentiert worden.
26 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Hierzu gehören:
D Studien über die Geschichte und geografische Unterschiede der Ka-
riesprävalenz in Zusammenhang mit dem Zuckerkonsum.
D Beobachtungen an isolierten Bevölkerungsgruppen, für die sich die
Umweltbedingungen geändert haben.
D Beobachtungen an Patienten mit hereditärer Fruktoseintoleranz, die
Saccharose nicht vertragen und trotz normaler Zivilisationskost fast
kariesfrei leben.
D Klinische und experimentelle Studien bei Tieren und Menschen.
Beispielsweise war während der beiden Weltkriege bei stark einge-
schränktem Zuckerkonsum eine erhebliche Verringerung der Karies-
morbidität festzustellen. Auf der kleinen Atlantikinsel Tristan da Cunha
war so lange eine niedrige Kariesprävalenz vorhanden bis Zucker als
Nahrungsbestandteil eingeführt wurde. Die Kariesprävalenz stieg an-
schließend in kurzer Zeit von 5% auf 30% DMF-S (Begriffsdefinition s.
Kap. 2.1.7). In Japan wurde festgestellt, dass die Kariesrate erheblich an-
stieg, als der durchschnittliche Zuckerkonsum 10 kg/Individuum pro
Jahr überstieg. Andererseits hat Japan immer noch einen deutlich gerin-
geren Zuckerkonsum als andere industrialisierte Länder und dabei eine
auffällig hohe Kariesprävalenz. Dies wird damit erklärt, dass nur in sehr
geringem Umfang Fluoridierungsmaßnahmen durchgeführt werden.
Aufgrund der Überlagerungen durch kariesprophylaktische Maß-
nahmen, speziell der Verwendung fluoridhaltiger Kariostatika (z.B. in
Zahnpasten), fällt es heute insgesamt schwer, eine streng lineare Korre-
lation zwischen Zuckerkonsum und Kariesbefall nachzuweisen.
Es muss betont werden, dass offensichtlich nicht der Gesamtkoh-
lenhydrat- oder Zuckergehalt der Nahrung, sondern die häufige Zu-
fuhr leicht metabolisierbarer Kohlenhydrate bei gleichzeitigem Vor-
handensein von Plaque zu einem erhöhten Kariesrisiko führt.
Einige Mikroorganismen der Plaque sind in der Lage, aus Nahrungs-
und Speichelbestandteilen unter Einwirkung der Urease Ammoniak
(NH3) und Schwefelwasserstoff (H2S) zu produzieren. Ammoniak wird
hauptsächlich aus Harnstoff des Speichels gebildet und kann die organi-
schen Säuren in der Plaque begrenzt neutralisieren. Schwefelwasserstoff
kann mit Schwermetallen – z.B. von Füllungswerkstoffen – unter Sulfid-
bildung reagieren. Weitere Zusammenhänge zwischen Ernährung und
Karies sind in Kapitel 4.1 dargestellt.
Wirt
Speichel Es gibt große individuelle Unterschiede bei der Kariesentstehung und
-progression. Zahnfehlstellungen, Mikrodefekte der Zahnoberfläche, be-
stimmte Zahnhartsubstanzanomalien, die mit einer verstärkten Plaque-
retention einhergehen, und andere lokale Faktoren begünstigen die
2.1 Karies Kapitel 2 27
Entstehung kariöser Läsionen. Insbesondere Speichel spielt als Kofaktor
eine entscheidende Rolle bei der Kariesentstehung bzw. -prävention.
In seiner Gesamtheit stellt der Speichel ein wichtiges natürliches
Schutzsystem dar und übt zahlreiche Funktionen aus, die in der Tabelle 2
2.1 in Übersichtsform dargestellt sind. Zudem ist Speichel ein wichtiger
Faktor für die Anfeuchtung und Durchmischung der Nahrung und zu-
dem unentbehrlich für die Geschmacksempfindung. Dabei werden
Nahrungskomponenten im Speichel gelöst und können so mit den Re-
zeptoren in den Geschmacksknospen interagieren. In diesem Zusam-
menhang wurde die karbonische Anhydrase IV als Mediator für diese
Funktion beschrieben.
Die drei großen paarigen Speicheldrüsen sezernieren gemeinsam mit
den kleinen Speicheldrüsen täglich eine Gesamtmenge von ca. 0,7 l
(0,5–1,0 l) Speichel. Der Speichel kleidet die Mundhöhle mit einem
dünnen Film aus (0,1 µm). Der Speichelfluss unterliegt im Tagesablauf
einem zirkadianen Rhythmus und wird durch emotionale, psychische
und Umweltfaktoren beeinflusst. Durch Kautätigkeit und Reizung der
Geschmacksrezeptoren oder Sinnesnerven wird der Speichelfluss ange-
regt. Zu einer Verminderung (Oligosalie, Xerostomie) kann es durch
Einnahme zahlreicher verschiedener Medikamente (z.B. Psychophar-
maka, Appetitzügler, blutdrucksenkende Mittel, Antihistaminika, Di-
uretika, Zytostatika), systemische Erkrankungen (z.B. Sjögren-Syndrom,
Diabetes mellitus, neurologische Erkrankungen, Speicheldrüsenerkran-
kungen), Bestrahlungstherapie bei Tumoren im Kopf-Hals-Bereich, psy-
chogene Störungen und vermindertes Kauvermögen kommen.
Der Primärspeichel in der Speicheldrüse entspricht in seiner Zusam-
mensetzung weitestgehend dem Blutplasma. Während der Sekretion
ändert sich allerdings die Ionenkonzentration.
Die Sekretionsraten, der pH-Wert und die Pufferkapazität in Ruhe
und nach Stimulation sind in der Tabelle 2.2 dargestellt.
In Abhängigkeit von der Speichelfließrate werden Kohlenhydrate
und Säuren aufgelöst und beseitigt (Clearance).
Der Gesamtspeichel besteht aus Wasser (99%) und anorganischen Zusammen-
oder organischen Substanzen, deren Konzentration individuell stark va- setzung
riiert. Die wichtigsten anorganischen Bestandteile sind Natrium, Ka-
Tab. 2.1: Funktion des Speichels und einzelner Speichelkomponenten
Funktion Beteiligte Speichelkomponenten
1. Spülfunktion Gesamtflüssigkeit
2. Pufferung von Säuren Bikarbonat, Phosphat, Proteine
3. (Re-)Mineralisation Fluorid, Phosphat, Kalzium, Statherin
4. Beschichtung Glykoproteine, Muzin
5. Antibakterielle Aktivität Antikörper, Lysozym, Laktoferrin, Laktoperoxidase
6. Andauung von Nahrung Amylase, Proteasen
28 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Tab. 2.2: Sekretionsrate, pH-Wert und Pufferkapazität von Speichel verschie-
dener Personen im Alter zwischen 15 und 55 Jahren, normale und sehr nied-
rige Werte
Ruhespeichel Stimulierter Speichel
Sekretionsrate ml/min
Normal 0,25–0,35 1–3
Sehr niedrig < 0,1 < 0,7
pH
Normal 6,5–6,9 7,0–7,5
Sehr niedrig < 6,3 < 6,8
Pufferkapazität*
Normaler End-pH 4,25–4,75 5,75–6,5
Sehr niedriger End-pH < 3,5 <4
* Test nach Ericsson 1959
Quelle: Nikiforuk, G.: Understanding Dental Caries. Karger, Basel 1985.
lium, Kalzium, Phosphat, Chlorid, Magnesium, Hydrogenkarbonat und
Fluorid. Die großen Drüsen sezernieren Speichel mit unterschiedlichen
Elektrolytkonzentrationen. In der Mundhöhle sammeln sich neben
dem sezernierten Speichel auch Sulkusflüssigkeit, Nahrungsreste, zellu-
läre Bestandteile (Epithelzellen, Granulozyten) und Bakterien an.
Die Zusammensetzung hängt letztlich von der Sekretionsrate, dem
Stimulationsgrad, der Stimulationsart und -dauer, der vorherr-
schenden Drüse und diätetischen Einflüssen ab.
Puffersysteme Der Speichel besitzt zwei wichtige Puffersysteme, den Bikarbonatpuffer
und den Phosphatpuffer. Der Phosphatpuffer ist während der Säurebil-
dungsphasen der Plaque weniger wichtig. Der Bikarbonatpuffer hinge-
gen spielt eine wichtige Rolle während einer kariogenen Attacke. Bikar-
bonat entstammt hauptsächlich der Gl. parotis und der Gl. submandi-
bularis. Bei steigender Speichelsekretion ist der Bikarbonatgehalt im
Speichel erhöht, und der Speichel-pH-Wert steigt an. Das wiederum hat
Auswirkungen auf den Plaque-pH-Wert, wenn das Speichelstimulans
(z.B. Nahrung) nicht gleichzeitig exzessive Zuckermengen enthält. Bi-
karbonat diffundiert nämlich durch die Plaque und neutralisiert organi-
sche Säuren. Damit wird der Zeitraum verlängert, in dem eine Remine-
ralisation bereits demineralisierter Zahnbereiche durch den Speichel
stattfinden kann.
Speichel ist eine kalzium- und phosphatübersättigte Lösung.
Er ist somit eine natürliche Remineralisationslösung, d.h., er kann Kal-
zium- und Phosphationen, die während der Demineralisationsphasen
2.1 Karies Kapitel 2 29
aus der Zahnoberfläche verloren gehen, während der Remineralisations-
phasen (zwischen den Mahlzeiten) wieder einlagern (s.a. nicht invasive
Kariestherapie).
Speicheldrüsen können Ausscheidungsorgane für Schwermetalle 2
sein, wenn diese in großen Mengen in den menschlichen Körper gelan-
gen.
Die wichtigsten organischen Bestandteile des Speichels sind Pro- Organische
teine (Muzine, Glykoproteine, Enzyme, Immunglobuline), Kohlenhy- Bestandteile
drate (Mono- und Disaccharide, Glukosaminoglykane), Lipide (Choles-
terin und seine Ester, freie Fettsäuren), nicht proteinogene Stoffverbin-
dungen, Vitamine und zyklische Nukleotide. Daneben finden sich auch
organische Komponenten mit niedrigem Molekulargewicht wie Glu-
kose, Harnstoff, Aminosäuren, Ammoniak, Kreatinin, cAMP und Korti-
kosteroide. In der Tabelle 2.3 sind die wichtigsten antimikrobiell wirksa-
men Proteine des Speichels dargestellt.
So gibt es Enzyme wie z.B. Lysozym, welche Bakterienzellwände zer-
stören und Bakterien auflösen können. Laktoferrin ist ein Eisen binden-
des Enzym. Es besitzt einen wachstumshemmenden Einfluss auf Mikroor-
ganismen, die Eisen für ihr Wachstum benötigen (z.B. Candida albicans).
Das Lactoperoxidase-Thiocyanat-Wasserstoffperoxid-System be-
sitzt antibakterielle Eigenschaften. Die Lactoperoxidase stammt aus zel-
lulären Elementen der Mundhöhle (z.B. Granulozyten), das Thiocyanat
gelangt aus dem Blut über die Speicheldrüsen in die Mundhöhle, und
das Wasserstoffperoxid wird von bestimmten Mikroorganismen gebil-
Tab. 2.3: Wichtigste antimikrobiell wirksame Proteine des Speichels (nach Te-
novuo 1998)
Protein Wichtigste Zielfunktion
Lysozym Grampositive Bakterien, Candida
Laktoferrin Grampositive und negative Bakterien
Peroxidase Antimikrobielle Wirkung, Aufspaltung von
H2O2
Agglutinine Agglutinierung/Aggregation von unter-
• Parotisspeichel-Glykoproteine schiedlichen Mikroorganismen
• Muzine
• β2-Mikroglobulin
• Fibronektin
α-Amylase
Histidinreiche Proteine (Histatine) Antibakterielle, antifungale Wirkung
Cystatine Antivirale Wirkung
Immunglobuline
• Sekretorisches IgA Inhibition der Adhäsion
• IgG Steigerung der Phagozytose
• IgM Steigerung der Phagozytose
30 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
det (z.B. Streptococcus mitis). Aus Thiocyanat (SCN–) wird in Anwesen-
heit von Lactoperoxidase und Wasserstoffperoxid Hypothiocyanat
(OSCN–) und Wasser gebildet. Das gebildete Hypothiocyanat besitzt an-
tibakterielle Wirksamkeit.
Daneben gibt es in der Gruppe der Enzyme noch die α-Amylase, die
den Abbau von Stärke und Glykogen in der Mundhöhle einleitet. So
wird zum Beispiel Stärke in Maltose, Maltotriose und Dextrine zerklei-
nert. Maltose kann dann durch orale Mikroorganismen weiter metabo-
lisiert werden und auch Maltotriose kann zu Glukose hydrolisiert wer-
den. Amylase kann zudem mit den unterschiedlichen oralen Mikroor-
ganismen interagieren und dabei die Adhäsion von Bakterien
modulieren. Da die Speichel-α-Amylase im sauren Bereich des Gastroin-
testinaltraktes inaktiviert wird, ist ihre Wirkung ausschließlich auf die
Mundhöhle begrenzt. Im Magen und Intestinaltrakt wird der Abbau
von Stärke in erster Linie durch die Pankreasamylase eingeleitet.
Daneben gibt es zahlreiche unterschiedliche, makromolekulare, ka-
tionische und anionische sowie phosphorhaltige Glykoproteine, wie
z.B. Muzin, Statherin oder saure prolinreiche Proteine sowie Agglute-
nine, histidinreiche Proteine, Cystatine, Defensine und Immunglobu-
line. Die prolinreichen Proteine (PRPs) sind eine organische Hauptkom-
ponente des Speichels. Sie scheinen durch Bindung von Kalzium dafür
Sorge zu tragen, dass sich keine Kalziumkristalle an der Zahnoberfläche
anlagern. Es wurden bisher mehr als 20 unterschiedliche, prolinreiche
Proteine charakterisiert.
Die makromolekularen Glykoproteine sind für die Viskosität des
Speichels hauptverantwortlich. Sie enthalten zudem Blutgruppenanti-
gene. Die kationischen und phosphorhaltigen Proteine sind an der Bil-
dung des erworbenen Schmelzoberhäutchens beteiligt. Die anionischen
Glykoproteine besitzen eine Schutzwirkung gegen Viren. Statherin wirkt
der Ausfällung von Kalziumphosphaten aus dem Speichel entgegen. Ag-
glutinine reagieren mit nicht angehefteten Bakterien und verklumpen
diese, sodass sie leicht mit dem Speichel verschluckt werden können.
Cystatine inhibieren spezielle bakterielle Proteasen und Proteasen, wel-
che von lysierten Leukozyten stammen. Sie haben anti-virale Aktivität
und behindern gleichzeitig die Kalziumphosphat-Präzipitation.
Speicheldrüsen produzieren und sezernieren Wachstumsfaktoren,
wie Epidermal Growth Factor (EGF) und Nerve Growth Factor (NGF).
Zudem gelangen über Diffusion aus den Geweben der Mundhöhle wei-
tere Wachstumsfaktoren und Zytokine wie Transforming Growth Factor
α und β (TGF-α, TGF-β), Insulin-Like Growth Factors 1 und 2 (IGF-I,
IGF-II), Fibroblast Growth Factor (FGF-II), Interleukin-1, Interleukin-6
und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) in den Speichel. Diese Hormone
und Zytokine spielen wahrscheinlich bei der Wundheilung eine Rolle.
Die Speicheldrüsen geben sterilen Speichel in die Mundhöhle ab.
Dieser Speichel wird jedoch sofort von den oralen Mikroorganismen
kontaminiert. Die Mikroflora des Speichels reflektiert in gewisser Weise
2.1 Karies Kapitel 2 31
die Zusammensetzung der angehefteten Mikroflora der Mundhöhle.
1 ml Gesamtspeichel (Mundhöhlenflüssigkeit) beinhaltet 108–109 Mi-
kroorganismen. Täglich werden ca. 1–3 g Bakterien verschluckt. Spei-
chel übt jedoch nicht nur protektive Funktionen aus, Speichel kann 2
auch als Nahrungsmedium für Mikroorganismen dienen. Insbesondere
Speichelglykoproteine können von Mikroorganismen metabolisiert
werden. So können bestimmte Speichelstreptokokken Muzine verstoff-
wechseln. Speichel allein, ohne Zufuhr von fermentierbaren Kohlenhy-
draten, führt zu einer Selektion von nicht kariogenen Mikroorganismen
in der Mundhöhle.
Speichel wird heute auch bei unterschiedlichen Erkrankungen als
diagnostische Flüssigkeit verwendet. So können Digitalisvergiftungen,
unterschiedliche Hormone, DNA-Anteile, Alkohol-, Nikotin- und Dro-
genkonzentrationen sowie die Ausscheidung verschiedener Medika-
mente bestimmt werden. Zudem können unterschiedliche Parodontitis-
marker, wie z.B. Interleukin-1β, Interleukin-6, Tumornekrosefaktor-α,
Prostaglandin-E2 und Biomarker des Knochen- und Kollagen-Metabolis-
mus wie Matrix-Metalloproteinase-8, Kollagenase-2 und Osteoprotege-
rin (OPG) nachgewiesen werden.
2.1.2 Histologie der Schmelzkaries
Entfernt man Plaque, die längere Zeit bestimmte Schmelzareale bedeckt
hat, so wird oft eine weißliche, opake Veränderung der Schmelzoberflä-
che beobachtet. Fährt man mit einer zahnärztlichen Sonde über diese
weißen Schmelzflecken (incipient lesion, white spot, aktive initiale
Kariesläsion), so kann der Schmelz eventuell leicht aufgeraut sein, die
Oberflächenkontinuität ist jedoch nicht unterbrochen.
Schon früh versuchte man die chemischen Vorgänge und histologi-
schen Veränderungen bei der Entstehung dieser initialen Läsionen zu er-
kennen und zu beschreiben. Dabei machte man von der Möglichkeit Ge-
brauch, Schmelzläsionen in vitro zu produzieren, welche dieselben Cha-
rakteristika aufweisen wie natürlich in der Mundhöhle entstandene
Kariesläsionen. In lichtmikroskopischen und polarisationsmikroskopi-
schen Untersuchungen an Dünnschliffen von Zahnschmelz, der eine ini-
tiale Läsion aufweist, werden meist vier verschiedene Zonen gefunden.
Diese Zonen sind jedoch nie gleichzeitig erkennbar, da ihr Erscheinen im
polarisationsmikroskopischen Bild vom Imbibitionsmedium bzw. von
den Doppelbrechungseigenschaften des Zahnschmelzes abhängt.
Wird ein Dünnschliff einer Läsion vor dem Mikroskopieren in Wasser
eingelegt, so erkennt man an der Schmelzoberfläche eine pseudointakte
Schicht und darunter liegend einen Läsionskörper. Benutzt man jedoch
ein öliges Imbibitionsmedium (z.B. Chinolin), so lassen sich eine translu-
zente Zone im Inneren des Schmelzes, zur Dentinseite hin gelegen, und
darüber in Richtung Läsionskörper eine dunkle Zone erkennen (Abb. 2.9).
32 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
200 mm
Schmelzprismen
transluzente Zone
dunkle Zone
Läsionszentrum
intakte" Oberflächenschicht
Retzius-Streifen
Abb. 2.9: Schematische Darstellung einer initialen kariösen Schmelzläsion. Im polarisationsmikroskopi-
schen Bild von Schmelzdünnschliffen erkennt man eine „intakte“ Oberflächenschicht, ein Läsionszentrum,
eine dunkle Zone und eine transluzente Zone. Die Retzius-Streifen sind im Bereich des Läsionszentrums ak-
zentuiert.
Zonen der Die transluzente Zone ist die Zone der fortschreitenden Deminera-
Schmelzkaries lisation. Sie ist durch die Entstehung bzw. Vergrößerung von Poren im
Zahnschmelz bedingt. Sie besitzt ein Porenvolumen von ca. 1%. Gesun-
der Zahnschmelz besitzt im Vergleich dazu ein Porenvolumen von
0,1%. Die Poren entstehen initial wahrscheinlich durch Herauslösen
von „leicht“ säurelöslichem Karbonat aus dem Apatitgitter.
Die dunkle Zone hat ein Porenvolumen von 2–4%. Die Poren sind
jedoch aufgrund von Remineralisationserscheinungen an den Apatit-
kristallen kleiner als die Poren der transluzenten Zone.
Der Läsionskörper ist die Zone des größten Mineralverlustes. Das
Porenvolumen beträgt zwischen 5 und 25%. In diese Poren können
Speichelbestandteile wie Wasser und Proteine eindringen. Die Retzius-
Streifen und die Querstreifung der Prismen werden innerhalb des Lä-
sionskörpers deutlicher sichtbar als im gesunden Schmelz.
Die Oberflächenschicht weist einen Mineralverlust von 1–10% auf,
obwohl sie im mikroskopischen Bild intakt erscheint. Sie besitzt ein Po-
renvolumen von weniger als 5%.
2.1 Karies Kapitel 2 33
Mit der Entwicklung der Elektronenmikroskopie ließen sich in den Ultrastrukturelle
letzten Jahren ultrastrukturelle Charakteristika beschreiben, die mit Charakteristika
dem Licht- und Polarisationsmikroskop nicht zu erkennen waren. Es
zeigte sich, dass durch Demineralisationsvorgänge die interkristallinen 2
Räume im Vergleich zum gesunden Schmelz vergrößert sind. Das ist das
Ergebnis von Mineralverlusten an der Kristalloberfläche bzw. aus dem
Zentrum der Schmelzkristalle. Die Prismengrobstruktur bleibt jedoch
noch sehr lange erhalten.
Die Kristalle des Läsionskörpers (10–30 nm) und der transluzenten
Zone (25–30 nm) sind kleiner als die Kristalle des gesunden Zahn-
schmelzes. In der dunklen Zone und in der „intakten“ Oberflächen-
schicht sind häufiger größere Kristalle zu finden als im gesunden Zahn-
schmelz. Das liegt an Remineralisations- und Repräzipitationsvorgän-
gen in diesen Bereichen.
Man weiß heute, dass die ersten Demineralisationsvorgänge schon Submikroskopi-
stattfinden, bevor eine mikroskopisch sichtbare Läsion mit einer „intak- sche Veränderun-
ten“ Oberflächenschicht festzustellen ist. Diese submikroskopischen gen der Schmelz-
Veränderungen der Schmelzoberfläche resultieren aus Demineralisa- oberfläche
tionserscheinungen im molekularen Bereich und sind „Anätzvorgän-
gen“ vergleichbar (frühe initiale Läsion). Sie führen, wenn die karioge-
nen Bedingungen an der Schmelzoberfläche anhalten, zu irregulären
Oberflächendestruktionen bzw. prismatischen Zerstörungsmustern mit
Vergrößerung der zwischenprismatischen Räume, die dann ideale Diffu-
sionswege für die bakteriell gebildeten organischen Säuren darstellen.
Die initiale Kariesläsion ist ein Produkt von De- und Remineralisati-
onsphasen an der Zahnoberfläche, wobei die Demineralisation
überwiegt. Ihre Entstehung hängt von Art und Menge der Bakterien
in der Plaque, ihren Metaboliten und ihrer Säureproduktionsrate ab.
Substratzufuhr über Nahrungsmittel und Speichel spielt ebenso eine
wichtige Rolle wie Konzentrationsgradienten und Transportgeschwin-
digkeiten verschiedener chemischer Verbindungen in der Plaque und
im Zahnschmelz.
Man kann die Vorgänge, die zur Entstehung der histologischen Cha- Entstehung einer
rakteristika einer initialen Schmelzläsion führen, vereinfacht wie folgt initialen Schmelz-
beschreiben (Abb. 2.10). läsion
D Ein Schutzfilm aus adsorbierten Proteinen (erworbenes Schmelz-
oberhäutchen) befindet sich auf dem Zahnschmelz.
D Fluoridanreicherungen reduzieren primär die Schmelzlöslichkeit.
D Es bildet sich eine Plaque auf dem Schmelzoberhäutchen.
D Kariogene Mikroorganismen produzieren aus Nahrungskohlenhy-
draten organische Säuren (Milchsäure, Essigsäure, Propionsäure u.a.,
Schritt 1: HL). Ein geringer Teil der Säuren dissoziiert (H+ L–) und
führt zu interprismatischen Auflösungserscheinungen an der
Schmelzoberfläche (frühe initiale Läsion).
34 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Pellikel
Hydroxylapatit
intakte
Oberflächenschicht
1 2
HL HL L H
+
Zucker
H+ Ca
2+
+ HPO42 -+ H2O
CaHPO4 L
3
CaHPO4
Ca2+ + HPO42-
Plaque
transluzente Zone
Abb. 2.10: Vereinfachte Darstellung der chemischen Vorgänge bei der Entstehung
einer initialen Schmelzkaries mit Ausbildung einer „intakten“ Oberflächenschicht.
Die einzelnen Reaktionsschritte 1–3 sind im Text erklärt.
D Es entsteht außerdem ein Konzentrationsgradient, der dazu führt,
dass die schwachen organischen Säuren in den Zahnschmelz diffun-
dieren (Schritt 2). Dabei dienen hauptsächlich die interprismati-
schen Bereiche als Diffusionswege.
Speziell die wässrigen Hüllen um die Schmelzkristalle sind ideale Diffu-
sionskanäle. Die Säuren dissoziieren im Schmelzinneren langsam und
geben dabei kontinuierlich H+-Ionen ab. Die Wasserstoffionen greifen
die Schmelzkristalle an, und zwar speziell ihren verwundbaren Kristall-
bereich, in denen CO32– und Mg2+ gebunden sind. Es werden dabei
Ca2+-, OH-, PO43-, F-, CO32-, Na+- und Mg2+-Ionen aus dem Kristallgitter
frei und diffundieren in die wässrige Phase um die Kristalle. Diese Ionen
und ihre Verbindungen diffundieren dann entsprechend ihrem Kon-
zentrationsgradienten durch die erweiterten Schmelzporen zur
Schmelzoberfläche und von dort in die Plaque (Schritt 3).
Die Demineralisation hält so lange an, wie genügend Säuren produ-
ziert werden. Kalzium und Phosphat gehen also verloren.
Zur Schmelzoberfläche nimmt allerdings die Diffusionsgeschwindigkeit
ab, da der Diffusionsgradient zur Plaque bzw. zum Speichel gering ist.
2.1 Karies Kapitel 2 35
Kalzium und Phosphat repräzipitieren und bilden entweder neue Kris-
talle (CaHPO4) oder lagern sich an der Oberfläche bereits geschädigter
Kristalle an. So entsteht eine pseudointakte Oberfläche, durch die Säu-
ren in die Tiefe diffundieren und zu weiteren Auflösungserscheinungen, 2
hauptsächlich im Läsionskörper, aber auch in der transluzenten Zone
führen. Die Oberfläche gibt zum einen Kalzium- und Phosphationen in
die Umgebung ab, sie wird aber ständig durch Repräzipitation erneuert.
Auch die größeren Kristalle der dunklen Zone sind das Ergebnis von Re-
kristallisationsvorgängen.
Möglicherweise spielen bei diesen Rekristallisationsvorgängen auch
Moleküle der Pellikel eine Rolle, die zu einer spontanen und selektiven
Präzipitation von Kalziumphospaten bzw. zum Kristallwachstum beitra-
gen. Als Inhibitoren kommen Makromoleküle, wie zum Beispiel prolin-
reiche Proteine und Statherin in Betracht.
Die Schmelzkaries an Glattflächen besitzt die Form eines Kegels, Formen
dessen Spitze in Richtung Dentin gerichtet ist. Die Fissurenkaries be-
ginnt als Glattflächenkaries an beiden Wänden der Fissur (Abb. 2.11).
Fissuren- Schmelz approximale approximale
karies Schmelz- Dentinkaries
karies
a Tertiärdentin Pulpa Tertiärdentin Pulpa b
Abb. 2.11: a) Ausbreitungsform der Fissuren- und Approximalkaries. Die Fissuren-
karies beginnt wie eine Glattflächenkaries an den beiden Wänden der Fissur. Sie
nimmt jedoch nach Erreichen der Schmelz-Dentin-Grenze eine breitbasige, stark
unterminierende Form an. Die Dentinkanälchen stehen in diesem Bereich meis-
tens parallel zueinander. Die Pulpa antwortet auf den kariösen Reiz mit Bildung
von Tertiärdentin. b) Die approximale Schmelzkaries beginnt in der Regel etwas
unterhalb des Kontaktpunktes benachbarter Zähne. Sie hat die Form eines Kegels
mit der Basis zur Schmelzoberfläche. Erreicht die Karies das Dentin, breitet sie sich
unterminierend nach lateral aus. Zur Pulpa hin nimmt sie wieder kegelförmige
Gestalt an. Durch die S-Form der Dentinkanälchen findet die Tertiärdentinbildung
etwas versetzt statt.
36 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Wird der Demineralisation nicht Einhalt geboten, kommt es auch
zu Demineralisationserscheinungen im Dentin. Bei Beseitigung der
kariogenen Noxen kann eine kariöse Schmelzläsion bei entspre-
chenden Prophylaxemaßnahmen zum Stillstand kommen (arre-
tierte Läsion) oder remineralisieren.
Der Begriff „initiale Karies“ wird sowohl für die meist mit Plaque be-
deckte aktive initiale Schmelzkaries als auch für die inaktive, arretierte
und ruhende Schmelzkaries verwendet.
Klinik Klinisch stellt sich eine aktive Karies des Schmelzes wie oben be-
schrieben als kreidige Verfärbung der Schmelzoberfläche dar, ohne dass
die Kontinuität der Oberfläche unterbrochen ist. Eine arretierte Läsion
besitzt eine glänzende, glatte, sehr harte und oft bräunlich verfärbte
Oberfläche. Die Verfärbungen entstehen während der Remineralisati-
onsphasen durch Einlagerung exogener Farbstoffe, z.B. aus Tabak, Tee
oder verschiedenen Nahrungsmitteln. Man kann vereinfacht formulie-
ren, dass eine arretierte, inaktive Kariesläsion eine „Narbe“ im Zahn-
hartgewebe ist, da selbst unter optimalen Bedingungen in den tieferen
Schichten der Läsion kein vollständiger Ersatz des verloren gegangenen
Minerals stattgefunden hat.
2.1.3 Histologie der Dentinkaries
Bei Erreichen der Schmelz-Dentin-Grenze verläuft die Karies dann im
Manteldentin nach lateral und unterminiert den Zahnschmelz. Im Den-
tin folgt sie den Dentinkanälchen. Es resultiert somit wieder eine kegel-
förmige Gestalt mit der Basis an der Schmelz-Dentin-Grenze (s. Abb.
2.11).
Die Fissurenkaries breitet sich stark unterminierend aus und erreicht
oft in ihrer gesamten Breite rasch die Pulpa. Schon die Schmelzkaries,
aber noch mehr die Dentinkaries resultiert in einer Reaktion der Pulpa-
Dentin-Einheit. Das histologische Bild der Dentinkaries ist u.a. das Er-
gebnis dieser Reaktion (Abb. 2.12).
Reaktion Schon vor einer Kavitätenbildung kann die Karies das Dentin errei-
chen, und durch die Schmelzläsion diffundieren bakterielle Toxine, En-
zyme usw. in das Dentin. Es bildet sich an der Pulpa-Dentin-Grenze Re-
aktionsdentin (Tertiärdentin).
Sklerosierung Nach außen folgt eine Schicht normalen Dentins, dann skleroti-
sches Dentin. Das sklerotische Dentin entsteht durch Obliteration der
Dentinkanälchen. Peritubuläre Dentinanlagerung, Zurückweichen und
teilweise Mineralisation der Odontoblastenfortsätze kennzeichnen die-
sen Schutzmechanismus.
Nach peripher folgt dann eine Zone, in der keine Odontoblasten-
fortsätze mehr vorhanden sind und die nicht mehr mit der Pulpa kom-
2.1 Karies Kapitel 2 37
Zone der Zone der
Demineralisation Demineralisation
dead tract Zone der dead tract
Penetration
Zone der
Sklerose
Zone der
Sklerose
Zone der Nekrose 2
Pulpa Pulpa Pulpa
Schmelz- Tertiärdentin Schmelz- Tertiärdentin
karies karies
normales normales
a Dentin b Dentin c
Abb. 2.12: Schematische Darstellung der verschiedenen Stadien der Dentinkaries: a) Schon vor der Schmelz-
kavitation reagiert die Dentin-Pulpa-Einheit auf den kariösen Reiz mit histopathologischen Veränderun-
gen. An der Pulpa-Dentin-Grenze entsteht Tertiärdentin. Nach peripher folgen eine Schicht normalen Den-
tins, die Zone der Sklerose, der „dead tracts“ und an der Schmelz-Dentin-Grenze die Zone der Demineralisa-
tion. b) Nach der Schmelzkavitation dringen Mikroorganismen in die Dentinkanälchen vor (Zone der
Penetration). Die kariöse Entmineralisierung in der Zone der Demineralisation wird stärker. Die Karies brei-
tet sich an der Schmelz-Dentin-Grenze unterminierend aus. c) Im fortgeschrittenen Stadium sind die Den-
tinkanälchen massiv infiziert. In der Zone der Nekrose findet man zerfallenes und verflüssigtes Dentin so-
wie Bakterien mit vornehmlich proteolytischer Aktivität. Die „dead tracts“ sind oft nicht mehr vorhanden.
Es gibt dann auch keine Schicht normalen Dentins mehr über der Pulpa (nach Schröder 1991).
muniziert (dead tract). Diese Strukur besitzt eine höhere Permeabilität
als normales Dentin.
Zur Schmelz-Dentin-Grenze hin schließt sich die Zone der Demine- Demineralisation
ralisation an. Diese Zone erscheint im lichtmikroskopischen Bild un-
verändert. Derartige Dentinläsionen lassen sich meist im approximalen
Bereich der Zähne röntgenologisch diagnostizieren. Sie können bei Be-
seitigung der kariogenen Noxen zum Stillstand kommen und sogar par-
tiell remineralisieren. Werden die Ursachen nicht beseitigt, schreitet die
Karies weiter voran. Es kommt zur Kavitätenbildung, und Bakterien
dringen in die Tiefe und zerstören durch proteolytische Enzyme auch
die organischen Bestandteile des Schmelzes und des Dentins. Die Reak-
tion der Pulpa hängt von der Progressionsgeschwindigkeit und von der
bakteriellen Invasion im Dentin ab.
Eine fortgeschrittene Dentinkaries weist zu den oben genannten Penetration
noch zwei weitere histologische Zonen auf. Peripher zur Zone der Demi-
38 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
neralisation folgt die Zone der Penetration. Hier sind Bakterien (vor-
nehmlich grampositive Mikroorganismen, z.B. Laktobazillen) in die
Dentinkanälchen eingedrungen. Ihre Anzahl nimmt nach außen zu.
Die Stoffwechselprodukte der Bakterien führen zu lokalen Auftreibun-
gen der Dentinkanälchen (Ampullen) und im Bereich der Wachstums-
linien (Spalten). Liegen mehrere Ampullen untereinander, spricht man
von einer Rosenkranzstruktur.
Nekrose Während die Dentinstruktur in diesem Bereich noch relativ intakt
erscheint, folgt nach peripher eine Zone der Nekrose, in der das Dentin
erweicht bzw. verflüssigt ist. Diese Zone besteht aus nekrotischem Den-
tin (fettige Degeneration), vitalen und toten Mikroorganismen sowie
deren Enzymen (speziell Esterasen und Peptidasen) und Stoffwechsel-
produkten.
2.1.4 Wurzelkaries (Zementkaries)
Im Verlauf entzündlicher Parodontalerkrankungen oder nach deren
Therapie liegen oft Wurzeloberflächen frei. Aber auch bei älteren Men-
schen kann durch atrophische Vorgänge Zahnzement freiliegen. Die
Wurzelkaries ist bei Patienten, die das 60. Lebensjahr überschritten ha-
ben, häufig festzustellen (40–90%).
Die Wurzelkaries beginnt meistens an den koronalen Abschnitten
freiliegender Wurzeloberflächen.
Entstehung Mikroorganismen und deren Stoffwechselprodukte dringen in das azel-
luläre Faserzement ein. Es werden Mineralien aus dem Zement herausge-
löst, während die Kollagenfasern noch bestehen bleiben. Primär ver-
bleibt eine dünne, hypermineralisierte „intakte“ Oberflächenschicht
(10–15 µm) im äußeren Zementbereich. Die dünne Zementschicht wird
allerdings bei anhaltend kariogenen Bedingungen rasch zerstört. Schon
während der parodontalen Vorgeschichte reagiert das Dentin auf die ein-
wirkenden Reize mit Sklerosierung. Trifft die Karies nun nach Durchdrin-
gen des Zements auf das sklerosierte Dentin, schreitet der kariöse Prozess
langsamer voran. Hinzu kommt, dass Wurzeldentin weniger Kanälchen
enthält als koronales Dentin. Die Läsionen bleiben daher primär relativ
flach, breiten sich jedoch oft zirkulär um die Wurzel aus. Die Dentinka-
ries im Wurzelbereich gleicht histologisch der koronalen Dentinkaries.
Aktive Wurzel- Man kann aktive von inaktiven Läsionen unterscheiden. Aktive
karies Wurzelkaries ist häufig durch eine klar definierte, erweichte Stelle auf
der Wurzeloberfläche mit hell- bis gelb-brauner Farbe charakterisiert.
Die Läsion ist meist mit einer sichtbaren Plaque bedeckt. Eine langsam
verlaufende Wurzeloberflächenkaries kann auch braun bis dunkelbraun
verfärbt sein und besitzt eine eher lederartige Konsistenz, wenn man sie
mit moderatem Druck sondiert.
2.1 Karies Kapitel 2 39
Eine arretierte (inaktive) Wurzelkaries besitzt eine glatte, glän- Inaktive Wurzel-
zende Oberfläche, die sich beim Sondieren mit moderatem Druck hart karies
anfühlt. Meist sind inaktive Läsionen nicht von einer Plaque bedeckt.
Selbstverständlich gibt es zwischen diesen Formen unterschiedliche Ma- 2
nifestationen der Karies, die Übergangsformen zwischen aktiven und
inaktiven Läsionen darstellen. Bei der Unterscheidung zwischen aktiver
und inaktiver Läsion ist die Oberflächenhärte entscheidender als die
Farbbestimmung.
2.1.5 Milchzahnkaries
Milchzähne besitzen eine geringere Hartgewebemasse als permanente
Zähne. Die Karies erreicht also bei gleicher Ausbreitungsgeschwindig-
keit schneller die Pulpa.
Die Milchzahnkaries unterscheidet sich aber weder ätiologisch
noch histologisch von der Karies bleibender Zähne.
2.1.6 Spezielle Kariesformen
Unter Sekundärkaries versteht man neue kariöse Defekte im Randbe- Sekundärkaries
reich von zahnärztlichen Restaurationen. Sie besitzt alle histologischen
Charakteristika kariöser Läsionen.
Ursachen sind meistens Spalt- und Stufenbildungen zwischen Res-
taurationsmaterial und Zahnhartsubstanz. Ist ein Spalt zwischen Fül-
lungsmaterial und Zahnhartsubstanz vorhanden, dringen auch hier
Bakterien ein und es kommt sowohl im Zahnschmelz am Füllungsrand
als auch im Dentin zu kariösen Defekten (Abb. 2.13).
Unter Kariesrezidiv versteht man das „Wiederaufflammen“ oder die Kariesrezidiv
Progression einer Karies, die während der zahnärztlichen Behandlung
(Exkavation) nicht ausreichend entfernt wurde. Es wird entweder kli-
nisch am Füllungsrand (dann nicht von einer Sekundärkaries zu unter-
scheiden) oder röntgenologisch unter einer Restauration diagnostiziert
(s. Abb. 2.13).
Klinisch erscheinen ruhende Kariesläsionen (arrested caries, Caries arrested caries
sicca) braun pigmentiert und oberflächlich hart. Sie können entstehen,
wenn kariöse Noxen beseitigt werden, regelmäßig kariespräventive
Maßnahmen erfolgen und somit die ökologischen Bedingungen in der
Mundhöhle als wenig kariogen zu bezeichnen sind. Die ursprüngliche
chemische und histologische Struktur von Zahnschmelz oder Dentin
wird jedoch nicht wiederhergestellt.
Durch radiologische Therapie von Tumoren im Kiefer-Gesichtsbe- Strahlenkaries
reich kann es zur partiellen oder vollständigen Zerstörung der Speichel-
drüsen kommen. Folgen sind ein verminderter Speichelfluss (Xerosto-
40 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Plaque
Füllung Sekundärkaries
Kariesrezidiv Schmelz
Dentin
Pulpa
Plaque äußere Läsion
Kavitätenwand-
überstehender läsion
Füllungsrand
Dentinläsion
Schmelz
b Spalt
Abb. 2.13: Schematische Darstellung einer Sekundärkaries und eines Kariesrezi-
divs. Unter Kariesrezidiv versteht man das Fortschreiten oder Wiederaufflammen
einer bereits bestehenden Karies (z.B. unter Restaurationen, wenn nicht ausrei-
chend exkaviert wurde). Die Sekundärkaries ist eine neu entstandene Karies, die
meistens am Füllungsrand klinisch oder röntgenologisch zu diagnostizieren ist.
Häufigste Ursachen sind über- und unterkonturierte Restaurationen und Rand-
spalten zwischen Restauration und Zahnhartsubstanz mit nachfolgender Plaque-
bildung (sekundäre Kariesprädilektionsstellen). Dabei entsteht eine äußere Lä-
sion, die alle histologischen Merkmale einer beginnenden Karies aufweist. Ist ein
Randspalt vorhanden, entsteht eine Kavitätenwandläsion. An der Schmelz-Den-
tin-Grenze entwickelt sich eine unterminierende Dentinläsion.
mie) und eine Veränderung der Speichelzusammensetzung (Elektrolyte,
Proteine u.a.). Sowohl die Schutzfunktion des Speichels als auch die Re-
mineralisationswirkung gehen verloren. Gleichzeitig kommt es zu einer
vermehrten Besiedelung der Mundhöhle mit kariogenen Mikroorganis-
men. Es entstehen also extrem kariogene Bedingungen, unter denen es
zu einer sehr raschen Kariesentstehung und Kariesprogression kommt.
Aber auch andere Erkrankungen und Faktoren wie Tumoren der
Speicheldrüsen, Autoimmunerkrankungen, spezielle Arzneimittel usw.
können zu Mundtrockenheit und erhöhter Kariesgefährdung führen.
Kleinkindkaries Bei Kleinkindern diagnostiziert der Kinderarzt sehr oft schon in den
beiden ersten Lebensjahren einen rapiden Zerfall der oberen Schneide-
zähne, eine rasch fortschreitende Kleinkindkaries („nursing bottle syn-
drom“, „early childhood caries“). Grund dafür ist der ständige, nicht
kontrollierte Gebrauch von Nuckelflaschen, die mit zuckerhaltigen Ge-
tränken (Tee, Fertiggetränke, Fruchtsäfte u.a.), aber auch Milch gefüllt
sind. Auch Sauger, die mit Honig, Zucker oder Sirup bestrichen werden,
um Kleinkinder zu beruhigen, führen zu rascher Zerstörung der Milch-
zähne. Bei fortschreitendem Alter sind auch andere Milchzähne betrof-
2.1 Karies Kapitel 2 41
fen. Die unteren Milchschneidezähne sind relativ lange gesund, da sie
durch die Zungenbewegung und die unteren Speicheldrüsenausfüh-
rungsgänge eine weniger kariogene Umgebung als die oberen Schneide-
zähne besitzen. Bei Einhaltung üblicher nahrungsmittelfreier Intervalle 2
zwischen den Mahlzeiten führt Flaschennahrung nicht zu einer erhöh-
ten Kariesdisposition bei Kleinkindern.
Die Early-Childhood-Caries (ECC) wird üblicherweise in drei Early-Childhood-
Schweregrade unterteilt: Caries (ECC)
D Typ 1 (mild bis moderat):
Isolierte kariöse Läsionen an Molaren oder Inzisivi
D Typ 2 (moderat bis schwer):
Oberkieferinzisivi weisen labial und lingual kariöse Läsionen auf.
Auch Milchmolaren können, je nach Alter des Kindes, involviert
sein. Die Unterkieferfrontzähne sind noch nicht kariös erkrankt.
D Typ 3 (schwere ECC):
Kariöse Läsionen an nahezu allen Zähnen inklusive der unteren
Frontzähne. Es handelt sich um eine rasch fortschreitende Karies,
die auch Zahnflächen betrifft, die üblicherweise nicht kariös erkran-
ken.
Neben dem nicht kontrollierten Gebrauch von Nuckelflaschen oder
Trinkbechern mit kleiner Öffnung sind natürlich auch schlechte Mund-
hygiene und überlanges und zu häufiges Stillen als Gründe für eine
Kleinkindkaries zu nennen.
2.1.7 Epidemiologie
Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Untersuchung der Häufig-
keit, der Verteilung und den Ursachen von Erkrankungen, den physio-
logischen Variablen und sozialen Krankheitsfolgen in menschlichen Be-
völkerungsgruppen sowie den Faktoren, die diese Verteilung beeinflus-
sen. Epidemiologische Studien werden also durchgeführt, um den
Gesundheitsstatus von Populationen zu beschreiben, die Ätiologie einer
Erkrankung zu klären oder um Voraussagen über die Wirkung oder das
Ergebnis von bestimmten Einflüssen oder Interventionen zu machen.
Definition epidemiologischer Grundbegriffe
Es gibt unterschiedliche Ansätze, epidemiologische Studien durchzu-
führen.
Mit deskriptiven epidemiologischen Studien werden z.B. das Auf- Deskriptive
treten, die Verteilung und die Determinanten einer Erkrankung be- Epidemiologie
schrieben, um daraus eine entsprechende Krankheitshypothese abzulei-
ten.
Die analytische Epidemiologie erforscht aufgrund spezifischer Hy- Analytische
pothesen die ätiologischen Faktoren und den Einfluss verschiedener Epidemiologie
42 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Faktoren auf spezielle Erkrankungen. Während in der deskriptiven Epi-
demiologie in erster Linie Querschnittsuntersuchungen Anwendung
finden, beschäftigt sich die analytische Epidemiologie meist mit Longi-
tudinalstudien.
Experimentelle Die experimentelle Epidemiologie befasst sich mit Studien, bei
Epidemiologie denen aufgrund statistischer Versuchsplanung die Effektivität von spe-
ziellen Maßnahmen oder Interventionen unter kontrollierten Bedin-
gungen auf Erkrankungen untersucht wird. Es kann sich dabei um Un-
tersuchungen handeln, bei denen eine Versuchsgruppe z.B. eine karies-
präventive Maßnahme erhält, während die andere Versuchsgruppe
(Kontrollgruppe) keine Behandlung erfährt. Die Kontrollgruppe kann
jedoch auch mit einem Plazebo „behandelt“ werden.
Studien Im Rahmen der experimentellen Kariesepidemiologie werden häufig
Untersuchungen durchgeführt, bei denen zwei kariespräventive Maß-
nahmen miteinander verglichen werden. Dabei werden die Probanden
der verschiedenen Gruppen sorgfältig ausgewählt und randomisiert auf
die Untersuchungsgruppen verteilt. Die Probanden sollen dabei nicht
wissen, welche Behandlung (z.B. fluoridierte Zahnpasta) ihnen verab-
reicht wird. Unter diesen Bedingungen handelt es sich um eine Ein-
fach-Blind-Studie. Wenn weder Untersucher noch Patient wissen, wel-
che Behandlung in welcher Gruppe erfolgte, handelt es sich um eine
Doppel-Blind-Studie. Dabei werden die entsprechenden Substanzen
von einer Person verteilt, die nicht direkt an der Untersuchung beteiligt
ist (Studienleiter).
Bei experimentellen Studien zur Karieshemmung lässt sich häufig
ein sogenannter Hawthorne-Effekt nicht vermeiden. Dabei ändert sich
das Verhalten der Untersuchungsteilnehmer allein durch das Bewusst-
sein, an einer Studie teilzunehmen und in bestimmten Zeitabständen
untersucht zu werden.
Wird eine epidemiologische Studie von verschiedenen Untersu-
chern durchgeführt, müssen diese vorher bezüglich ihrer diagnosti-
schen Leistungen kalibriert werden, um die Zuverlässigkeit der Ergeb-
nisse zu gewährleisten (Reliabilität). Bei repräsentativen epidemiologi-
schen Untersuchungen muss vorher geklärt werden, ob die
Zusammensetzung der untersuchten Gruppe repräsentativ für einen be-
stimmten Bevölkerungsteil ist.
Epidemiologische Studien zur Karieshäufigkeit sind aus unterschied-
lichen Gründen wichtig. Auf der Grundlage verlässlicher Daten zur Ka-
rieshäufigkeit und -verbreitung lassen sich gesundheitspolitische Ent-
scheidungen treffen. Anhand experimenteller epidemiologischer Stu-
dien lassen sich die Auswirkungen unterschiedlicher präventiver
Maßnahmen beurteilen. Es können zudem Kosten-Wirksamkeits- oder
Kosten-Nutzen-Analysen durchgeführt werden. Auf der Basis von epide-
miologischen Daten kann man auch beurteilen, ob die Art und Schwere
einer Erkrankung beim Einzelindividuum sich von dem üblichen
Krankheitsbild unterscheidet. Auch der Erfolg einer Behandlung lässt
2.1 Karies Kapitel 2 43
sich häufig nur auf der Basis einer epidemiologischen Studie voraus-
sagen.
Zur Erhebung epidemiologischer Daten über die Ausbreitung und Erhebung epi-
Häufigkeit der Karies werden in erster Linie Querschnittsuntersuchun- demiologischer 2
gen durchgeführt. Diese sammeln retrospektiv oder aktuell Daten zu Daten
einem bestimmten Zeitpunkt. Demgegenüber erstrecken sich Longitu-
dialstudien über einen definierten Zeitraum, vergleichen also die Krank-
heitshäufigkeit zu Anfang mit der am Ende eines Untersuchungszeit-
raums. Bei diesen Untersuchungen werden häufig die Begriffe Kariesin-
zidenz (Kariesbefall = Anzahl neuer Kariesläsionen in einem definierten
Zeitraum) und Kariesprävalenz (Karieshäufigkeit in einer Population
zu einem definierten Zeitpunkt) verwendet. In epidemiologischen Stu-
dien werden meistens nur die klinisch sichtbaren Auswirkungen der Ka-
ries, selten auch die radiologisch zu erkennenden Symptome erfasst.
Zur Beurteilung der Krankheitsentwicklung in einer Population wer- Beurteilung der
den i.d.R. Stichproben untersucht. In diesem Zusammenhang muss Krankheits-
darauf hingewiesen werden, dass Zahnarztpatienten oder gar Klinikpa- entwicklung
tienten nicht den Anforderungen genügen, die an eine Stichprobe bei
epidemiologischen Untersuchungen gestellt werden. Sie sind nicht re-
präsentativ.
Zur Messung der Kariesinzidenz bzw. -prävalenz werden Indizes ver- Indizes
wendet. Dabei hat sich international der DMF-S- bzw. DMF-T-Index
durchgesetzt. Der DMF-S-Index beurteilt die Anzahl von Zahnflächen
(Surfaces) im bleibenden Gebiss, die zerstört (Decayed), aufgrund von
Karies extrahiert (Missing) oder gefüllt (Filled) wurden. Der DMF-T-In-
dex summiert in gleicher Weise die Anzahl der Zähne (Teeth). Im Milch-
gebiss wird der dmf-s- bzw. dmf-t-Index verwendet. Statt m wird oft der
Buchstabe e (= indicated for extraction bzw. extracted) verwendet. Im
Wechselgebiss wird der Index für bleibende Zähne verwendet. Bei Sei-
tenzähnen werden fünf Zahnflächen, bei Frontzähnen vier Flächen be-
rechnet. Im vollständigen bleibenden Gebiss werden die Weisheits-
zähne nicht mitgezählt. Der DMF-T-Wert kann also einen Maximalwert
von 28, der DMF-S-Wert von 128 annehmen. Da im Wechselgebiss der
M-Faktor schwer zu beurteilen ist (es können Zähne aus kieferorthopä-
dischen Gründen verloren gegangen sein), wird in epidemiologischen
Studien oft nur der DF-Index verwendet. Werden in Studien Röntgen-
bilder zur Beurteilung der Approximalkaries angefertigt, kann der D-
Faktor unter Berücksichtigung der Größe der Kariesläsion in die Unter-
gruppen D1 bis D4 aufgeteilt werden (s. Kap. 3.4).
Der DMF-S-Index ist ein kumulativer Index. So bedeutet z.B. ein
DMF-S von 20 entweder 20 offene kariöse Kavitäten, die versorgt wer-
den müssen, oder dass alle vorhandenen Zähne gesund sind, vier Mola-
ren aber vorzeitig extrahiert wurden bzw. nicht angelegt sind. Deshalb
werden die Einzelkomponenten des Index oft getrennt angegeben.
Auch der DMF-T-Index ist ein arithmetischer Index, der kumulativ die
kariöse Zerstörung des Gebisses aufsummiert. Dabei werden allerdings
44 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
auch Zahnverluste aus anderen Gründen, z.B. durch Parodontalerkran-
kungen, mitgezählt.
Um die Gruppe von Patienten zu charakterisieren, welche die
höchste Anzahl kariöser Läsionen aufweisen, wurde der Significant Ca-
ries Index (SiC-Index) in die Epidemiologie eingeführt. Der Index ist
folgendermaßen definiert:
Als SiC-Index wird der mittlere DMFT-Wert definiert, den ein Drit-
tel der Bevölkerungsgruppe aufweist, die den höchsten Kariesbefall
auf sich vereint. Dieser Wert soll nach Definition der WHO im Jahre
2015 bei den 12-Jährigen < 3 betragen.
Häufig wird in Untersuchungen der Begriff Sanierungsgrad verwendet.
Er wird oft in Prozent angegeben und errechnet sich dann nach der For-
mel (F/D+F) × 100.
Will man Aussagen über die Wirksamkeit kariesprophylaktischer
Maßnahmen machen, wird meist eine Testgruppe, bei der die kariespro-
phylaktischen Maßnahmen durchgeführt wurden, mit einer Kontroll-
gruppe verglichen. Dabei müssen die untersuchten Gruppen relativ
gleich zusammengesetzt und die Untersuchungsbedingungen standar-
disiert sein. Die DMF-S-Werte der einzelnen Versuchspersonen werden
am Ende der Untersuchung meistens addiert und durch die Anzahl der
Versuchspersonen dividiert, sodass Mittelwerte (z.B. mittlere Karies-
häufigkeiten bzw. mittlerer Karieszuwachs) verglichen werden.
Betrachtet man die Ergebnisse von solchen Studien bei Kindern, so
stellt man fest, dass die Anzahl kariöser, gefüllter oder fehlender Zähne
bzw. Zahnflächen bei den untersuchten Gruppen häufig nicht normal
verteilt ist. Das bedeutet, viele Kinder besitzen keine oder wenige ka-
riöse oder gefüllte Zahnflächen, während wenige Kinder eine große An-
zahl zerstörter Zähne aufweisen. Da der Mittelwert in einem solchen
Fall die Ergebnisse der Untersuchung verzerrt, wird üblicherweise statt
eines Mittelwertes der Medianwert als statistische Größe verwendet
(Abb. 2.14).
Der Medianwert ist derjenige Wert, der eine nach Rängen geordnete
Messreihe halbiert.
Karies ist keine Erkrankung der Neuzeit. Schon in prähistorischer Zeit
litten Menschen an Karies. So fand man bei Schädelfunden aus Grie-
chenland, die auf das Jahr 2300 v. Chr. datiert sind, noch keine kariöse
Zerstörung der Zähne. Im Jahre 1700 v. Chr. hingegen waren bereits
10% der Zähne kariös. Dieser Zustand hielt offensichtlich über einen
langen Zeitraum an. Erst um 300 n. Chr. begann ein Kariesanstieg, der
sich ab dem Mittelalter beschleunigte. Ähnliche Befunde wurden auch
in Europa, z.B. für Schlesien, beschrieben. Vor einigen Jahren konnte
man noch lesen, dass ca. 99% der Bevölkerung unter Karies leide. Dies
2.1 Karies Kapitel 2 45
Kinder mit
neuen Läsionen (%)
20 2
15
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
DF-S
Abb. 2.14: Ergebnisse einer Untersuchung zur Kariesinzidenz im Zeitraum von 2
Jahren bei 12- bis 14-jährigen Schulkindern (n = 117). Dargestellt ist der Anteil der
Kinder (in %), die im Untersuchungszeitraum 0, 1, 2 usw. neue kariöse Läsionen
entwickelten. Die Grafik verdeutlicht, dass ein großer Prozentsatz von Kindern nur
wenige neue Läsionen aufwies, während bei wenigen Kindern viele neue Läsionen
zu finden waren. Die Resultate entsprechen also nicht einer Normalverteilung.
Durchschnittlich (arithmetisches Mittel) ließen sich 5,02 neue Läsionen feststel-
len. Bei einer derartigen Verteilung ist es üblich, den Medianwert (hier 4,26) als
statistische Größe anzugeben (nach Klimek et al. 1985).
gilt heute nur noch mit Einschränkungen. In den westlichen Industrie-
nationen ist der Kariesbefall speziell bei Kindern und Jugendlichen
mehr oder weniger stark zurückgegangen. Diese Aussage soll nachfol-
gend anhand der epidemiologischen Untersuchung zum Kariesbefall in
Deutschland nachvollzogen werden. Der Kariesrückgang bezieht sich in
erster Linie auf Glattflächen- und Approximalkaries. Bei der Fissurenka-
ries ist nur ein begrenzter Rückgang zu verzeichnen.
Mundgesundheit in Deutschland
Epidemiologie der koronalen Karies: In Deutschland wurden in den letz-
ten zwei Jahrzehnten zahlreiche epidemiologische Untersuchungen zur
Kariesprävalenz durchgeführt. Es handelt sich meistens um regionale
Studien in Kindergärten und Schulen bzw. bei Wehrpflichtigen und an-
deren fest umrissenen Gruppen. Die letzte bevölkerungsrepräsentative
Studie wurde 2005 vom Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) durch-
geführt. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e.V.
(DAJ) führt seit 1994 aufgrund von Rahmenempfehlungen der Spitzen-
verbände der Krankenkassen und der Bundeszahnärztekammer in Ab-
ständen von drei Jahren in verschiedenen Bundesländern Untersuchun-
gen bei 6- bis 7-jährigen, 12-jährigen und 15-jährigen Schülern durch.
Verglichen werden können diese neueren Daten mit den früher bereits
durchgeführten Untersuchungen, die auf Patientenstichproben basie-
46 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
ren. Auch für ältere Patientengruppen liegen aus der Studie des IDZ aus
dem Jahre 1997 repräsentative Daten vor.
Während für Vorschulkinder bisher keine repräsentativen Zahlen
vorliegen, so kann doch aus Einzelstudien abgeleitet werden, dass es
hier in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer Verbesserung der Mund-
gesundheit gekommen ist. In einzelnen Gegenden Deutschlands lässt
sich bei kleineren Kindern allerdings eine Stagnation des Kariesrück-
gangs bzw. ein erneutes Ansteigen der Kariesprävalenz feststellen.
6- bis 7-Jährige Wie die DAJ-Studie aus dem Jahre 2004 zeigen konnte, ist in den
meisten Bundesländern bei den 6- bis 7-Jährigen ein mittlerer dmft-
Wert von unter 3 festzustellen. Davon weicht nur das Bundesland Bre-
men mit einem Wert von 3,04 ab. In den Bundesländern Schleswig-Hol-
stein, Bremen, Westfalen-Lippe und Hessen kam es zu einer Stagnation
der mittleren DMFT-Werte. In Berlin, Brandenburg und Thüringen trat
sogar eine Verschlechterung im Vergleich zum Jahre 2000 ein (Tab. 2.4).
Auch der Anteil der Schulanfänger mit kariesfreien Milchzähnen er-
höhte sich im Zeitraum von 1994/1995 bis 2004. Wiesen 1994/1995
zwischen 20 und 45,9% der Kinder in den verschiedenen Bundeslän-
dern naturgesunde Milchzähne auf, so lagen die entsprechenden Werte
2004 zwischen 34,9 und 59,6%. Der Anteil der nicht sanierten Milch-
zähne betrug in Bremen 60%, der Prozentsatz lag in Thüringen bei
Tab. 2.4: Kariesreduktion bei 6- bis 7-Jährigen und 12-Jährigen im Zeitraum
1994–2004 (nach Pieper 2005)
Bundesland/Landesteil Zeit seit erster Kariesreduktion in % bezogen auf
Untersuchung dmf-t DMF-T
(in Jahren) 6- bis 7-Jährige 12-Jährige
Schleswig-Holstein 11 32,4 61,3
Bremen 9 11,0 53,3
Hamburg 10 31,9 61,7
Hessen 10 26,4 62,1
Rheinland-Pfalz 10 28,2 60,0
Baden-Württemberg 10 34,1 70,0
Nordrhein 9,5 29,3 62,2
Westfalen-Lippe 9 24,3 51,4
Berlin 9 11,6 61,2
Mecklenburg-Vorpommern 9 35,5 59,4
Thüringen 9 25,9 54,6
Sachsen-Anhalt 8 23,8 51,5
Brandenburg 7 – 42,6
Niedersachsen 4 10,6 20,9
2.1 Karies Kapitel 2 47
45,3%. Das bedeutet, dass nach wie vor ca. die Hälfte aller Milchzähne
nicht mit einer intakten Füllung versorgt war. Die mittleren DMFT-
Werte für 6- bis 7-Jährige nahmen von 2,89 im Jahre 1994/1995 auf 2,16
im Jahre 2004 ab. Seit 2004 sind dabei Bayern, das Saarland und Sach- 2
sen in die DAJ-Studie mit einbezogen.
Heute findet man in allen Bundesländern bei mehr als der Hälfte der 12-Jährige
untersuchten 12-Jährigen naturgesunde bleibende Zähne. Die DAJ-Stu-
die kann mit einer repräsentativen Studie aus dem Jahre 2005 des Insti-
tuts der Deutschen Zahnärzte verglichen werden (Abb. 2.15). Danach
findet man bei 12-Jährigen einen DMF-T-Wert von 0,7 (in den alten
Bundesländern 0,7, in den neuen Bundesländern 1,1). Bei dieser Dar-
stellung werden allerdings nur die kariösen Defekte berücksichtigt, die
klinisch erfassbar sind und bis in das Dentin reichen, sowie gefüllte und
extrahierte Zähne. In der Altersgruppe der 12-Jährigen weisen 0,9 Zähne
zusätzlich bereits demineralisierte Schmelzareale (aktive und inaktive
Initialläsionen) auf, die sich ohne präventive Maßnahmen möglicher-
weise zu manifesten Kariesläsionen weiterentwickeln können. Hier-
IDZ-Gesamt 0,7
IDZ-Ost 1,1
IDZ-West 0,7
DAJ-Gesamt 0,98
Baden-Württemberg 0,71
Saarland 0,71
Nordrhein-Westfalen 0,87
Hamburg 0,88
Hessen 0,89
Niedersachsen 0,91
Schleswig-Holstein 0,93
Bremen 0,98
Berlin 1,01
Sachsen 1,03
Rheinland-Pfalz 1,04
Westfalen-Lippe 1,07
Brandenburg 1,17
Thüringen 1,18
Bayern 1,2
Sachsen-Anhalt 1,26
Mecklenburg-Vorpommern 1,42
0 0,5 1 1,5
DMFT
Abb. 2.15: Mittlerer dmft-Wert bei 12-Jährigen in einzelnen Bundesländern im Vergleich zur repräsentativen
IDZ-Studie aus dem Jahre 2005 (nach Pieper 2005 und nach Micheelis und Schiffner 2006)
48 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
durch wird deutlich, dass eine alleinige Diagnose von kariösen Defek-
ten, die bereits eine Kavitätenbildung zeigen, zu einer Unterschätzung
der Gesamtkariesprävalenz führt.
Es ist im Rahmen einer individuellen zahnärztlichen Diagnose in
der Praxis unabdingbar, auch die Initialläsionen zu dokumentieren
und gegebenenfalls zu beobachten bzw. präventiv oder invasiv zu
therapieren.
Auch bei 12-Jährigen zeigt sich, dass nicht alle kariösen Zähne saniert
sind. So sind bei 78% der Untersuchten mit Karieserfahrung die er-
krankten Zähne gefüllt. Es gibt bei den 12-Jährigen eine sogenannte Po-
larisierung des Kariesbefalls. So weisen 10,2% der Untersuchten 61,1%
der Karieserfahrung ihrer Altersgruppe auf. Noch stärker ist die Polarisa-
tion bezüglich des Kariesbehandlungsbedarfs. Lediglich 8,7% der Kin-
der haben sämtliche zu sanierende Zähne ihrer Altersgruppe. Der SiC-
Wert (das Drittel der jeweiligen Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten
Kariesbefall) beträgt 2,1 und unterschreitet damit das von der WHO de-
finierte Ziel von < 3. Auch die für das Jahr 2020 für 12-Jährige formulier-
ten Ziele, einen DMF-T-Wert von 1,0 zu unterschreiten und den Anteil
der Kinder mit mehr als 2 DMFT auf weniger als 15% zu senken, sind be-
Tab. 2.5: Entwicklung der SiC-Indizes bei 12-Jährigen in den verschiedenen
Bundesländern (nach Pieper 2005)
Bundesland/Landesteil 1994/95 1997 2000 2004
Schleswig-Holstein 5,15 4,34 3,42 2,63
Bremen 4,95 3,60 3,37 2,72
Hamburg 5,44 4,88 3,62 2,50
Niedersachsen – – 3,10 2,64
Nordrhein 5,18 4,35 3,20 2,52
Westfalen-Lippe 4,88 4,08 3,28 2,99
Hessen 5,19 4,16 3,01 2,55
Rheinland-Pfalz 5,59 4,42 3,34 2,87
Baden-Württemberg 5,31 3,79 2,90 2,13
Mecklenburg-Vorpommern 6,41 5,53 3,82 3,77
Berlin 5,41 4,93 3,40 2,83
Brandenburg – 4,47 3,74 3,15
Sachsen-Anhalt 5,27 5,07 4,06 3,40
Thüringen 5,16 4,39 3,70 3,14
Saarland – – – 2,12
Bayern – – – 3,29
Sachsen – – – 2,85
2.1 Karies Kapitel 2 49
reits im Jahr 2005 erreicht worden. Beim Vergleich mit früheren Jahren
wird deutlich, dass selbst die 12-Jährigen, die eine hohe Kariesaktivität
aufweisen, vom Kariesrückgang profitieren (Tab. 2.5).
Wie bereits im Rahmen der DAJ-Studie 2004 wurden auch in der 15-Jährige 2
DMS-IV erstmalig die 15-Jährigen untersucht. Bei der DAJ-Studie zeigte
sich, dass diese Altersgruppe zwischen 31,1% (Mecklenburg-Vorpom-
mern) und 55,7% (Baden-Württemberg) naturgesunde Gebisse aufwie-
sen. Bundesweit zeigt sich bei den 15-Jährigen eine niedrige Kariesprä-
valenz mit einem durchschnittlichen DMF-T-Wert von 1,8 (alte Bundes-
länder 1,7, neue Bundesländer 2,2). Zusätzlich wurden im Mittel 2,1
Zähne mit demineralisierten oder kariösen Schmelzarealen gefunden.
Der SiC-Index ergab einen Wert von 4,7 DMFT. Dabei zeigte sich auch,
dass innerhalb dieses Drittels der 15-Jährigen mit den höchsten DMF-
Befunden deutliche Zusammenhänge zur sozialen Schichtzugehörigkeit
und zu Verhaltensparametern bestehen. Der Sanierungsgrad beträgt bei
den 15-Jährigen 79,8%. Auch in dieser Altersgruppe besteht insgesamt
eine starke Polarisierung der Karies. So weisen 26,8% der Jugendlichen
79,2% aller DMF-Zähne ihrer Population auf.
In der Tabelle 2.6 sind die DMF-T-Werte für die Altersgruppe der 35- 35- bis 44-Jährige
bis 44-Jährigen dargestellt. Es handelt sich dabei um Werte aus repräsen-
tativen Studien des IDZ aus den Jahren 1989, 1991, 1997 und 2005. Es
wird ersichtlich, dass der bei den Kindern und Jugendlichen konsta-
tierte Kariesrückgang auch bei den Erwachsenen (allerdings in geringe-
rem Maße) festzustellen ist. So beträgt der DMF-T-Wert für alle unter-
suchten zusammen 14,5. Insbesondere ist die Anzahl kariesbedingt ex-
trahierter Zähne von 3,9 auf nunmehr 2,4 zurückgegangen. Auch der
DMF-S-Wert verringerte sich von 54,7 im Jahre 1997 auf einen Wert von
38,2. Das entspricht einer Reduktion von 30%. 0,7% der 35- bis 44-Jäh-
rigen haben ein naturgesundes Gebiss (DMFT = 0). 49% der untersuch-
ten Erwachsenen weisen 64,9% aller DMF-Zähne auf. Es besteht somit
eine mäßige Polarisierung des Kariesbefalls. Das ändert sich jedoch,
wenn man nur den Anteil sanierungsbedürftiger Zähne (DT-Kompo-
nente) herausgreift. Sämtliche sanierungsbedürftigen kariösen Defekte
sind bei 24,2% der Erwachsenen anzutreffen. Mit durchschnittlich
95,6% ist ein hoher Sanierungsgrad bei den Erwachsenen festzustellen.
Die durchschnittliche Anzahl der Zähne mit Initial- oder Schmelzkaries
beträgt 2,3 Zähne. Damit ergibt sich wie bei Jugendlichen ein hoher Prä-
Tab. 2.6: DMF-T-Werte sowie Anteile naturgesunder Gebisse (%) bei 35- bis
44-Jährigen aus den Jahren 1989 (IDZ West), 1992 (IDZ Ost), 1997 (IDZ West
und Ost) und 2005 (IDZ West und Ost) (nach Micheelis und Schiffner 2006)
Studie IDZ (W) IDZ (O) IDZ (W) IDZ (O) IDZ (W) IDZ (O)
Jahr 1989 1992 1997 1997 2005 2005
DMF-T 16,7 13,4 16,1 16,0 14,4 15,0
Naturgesunde Gebisse 0,9 0,0 1,0 0,0 0,7 0,7
50 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
ventionsbedarf, damit diese Läsionen nicht fortschreiten und keine wei-
teren Initialläsionen entstehen.
65- bis 77-Jährige Bei Senioren (65- bis 77-jährig) lässt sich im Vergleich zu früheren
Untersuchungen mit einem DMF-T-Wert von 22,1 und einem DMF-S-
Wert von 83,2 zwar auch eine Tendenz zu einer Verbesserung der Zahn-
gesundheit erkennen, es ist jedoch weiterhin ein unverändert hoher Ka-
riesbefall zu konstatieren. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, dass
die Anzahl extrahierter Zähne im Vergleich zur letzten deutschen
Mundgesundheitsstudie (1997) um ca. 20% von 17,6 auf 14,1 stark zu-
rückgegangen ist. Gegenläufig hierzu ist die Anzahl gefüllter Zähne
deutlich gestiegen. Die Senioren, die verschiedene Hilfsmittel zur
Mund- und insbesondere Interdentalraumhygiene verwenden, zeigen
eine wesentlich niedrigere Karieserfahrung als diejenigen Senioren, die
keine adäquate Approximalraumhygiene betreiben. Der Sanierungsgrad
beträgt bei bezahnten Senioren 94,8%. Dieser hohe Sanierungsgrad geht
einher mit einer unverändert geringen Anzahl von 0,3 unversorgten ka-
riösen Läsionen. Die durchschnittliche Anzahl der Zähne der Initial-
oder Schmelzläsionen beträgt bei Senioren 0,8. Auch dies unterstreicht
die Notwendigkeit einer adäquaten Kariesprävention.
Zur eingehenden Beschäftigung mit den epidemiologischen Daten
zur Mundgesundheit in Deutschland sei an dieser Stelle auf die weiter-
führende Literatur verwiesen.
Epidemiologie der Wurzelkaries: Wurzelkaries nimmt ihren Ausgang an
Zement- bzw. Dentinoberflächen freiliegender Zahnhälse. Liegt eine
Wurzeloberflächenkaries subgingival, so ist sie meistens mit einer Gin-
givahypertrophie vergesellschaftet, d.h., sie hat dann ihren Ausgang su-
pragingival genommen und ist erst sekundär von Gingivagewebe über-
deckt worden.
Die Wurzelkariesprävalenz korreliert mit der Anzahl derartiger „Risi-
koflächen“. Bei älteren Menschen liegen aufgrund physiologischer
Atrophievorgänge mehr Wurzeloberflächen frei als bei jüngeren Men-
schen. Daher ist die Wurzelkaries hier wesentlich häufiger als im jünge-
ren Lebensalter. Wenn zukünftig aufgrund präventiver Interventionen
mit zunehmendem Alter vermehrt Zähne im Mund verbleiben, dann
nimmt die Anzahl der Zahnflächen zu, die an Wurzelkaries erkranken
können.
Meistens wird die Wurzelkariesmorbidität (in Prozent) auf die An-
zahl der untersuchten Probanden bezogen angegeben. Man findet je-
doch auch in Anlehnung an den DMF-S-Wert für koronale Karies die
Angabe als durchschnittlichen oder prozentualen RDF-Wert (R = Root,
D = Decayed, F = Filled; Abb. 2.16).
Gesichtspunkte Diese Angaben sind jedoch ungenau, da viele Untersuchungspara-
meter nicht mit eingehen. Zudem werden bei diesem Index auch alle
Zähne berücksichtigt, die keine freiliegenden Wurzeloberflächen besit-
zen. Nach Katz (1990) sollten in epidemiologischen Studien zur Wurzel-
2.1 Karies Kapitel 2 51
Abb. 2.16: Untersuchungen
zur Wurzelkariesprävalenz.
Hazen et al.
Aufgrund der unterschiedli-
1972 39
chen Struktur der unter-
suchten Bevölkerungsgrup- Sumney et al.
pen resultieren erhebliche 1973 44 2
Unterschiede (zwischen 15 Sumney et al.
und 87%). Der RDF-Wert 1973 59
(Anzahl der kariösen und
gefüllten Wurzelflächen) in Hix u. O'Leary
Prozent der untersuchten 1976 45
Zähne berücksichtigt nicht Hix u. O'Leary
die Risikoflächen (surfaces 1976 58
at risk) und ist daher unge-
nau, da die Wurzeloberflä- Lohse et al.
1977 15
chen aller vorhandenen
Zähne mit eingehen. Ältere Banting et al.
Patienten besitzen jedoch 1980 83
oft weniger Zähne als junge
Patienten, sodass hier hohe Ravald und
Hamp 1981 87
Prozentzahlen resultieren,
obwohl tatsächlich genauso Beck et al.
viele Wurzeloberflächen er- 1985 63
krankt sind wie bei jünge-
Günay et al.
ren Patienten (nach Geurt-
1987 41
sen und Heidemann 1993).
Künzel et al.
1990 41
0 20 40 60 80 100
RDF-Wert (%)
kariesprävalenz bzw. -inzidenz folgende Gesichtspunkte beachtet wer-
den:
D Unterscheidung in aktive und inaktive Wurzelkaries.
D Die koronale Karies ist unbedingt gesondert zu erfassen.
D Koronale Restaurationen, die in den Wurzelbereich extendieren,
sind nur dann als gefüllte Wurzeloberfläche zu erfassen, wenn sie die
Schmelz-Zement-Grenze mindestens 3 mm überschreiten.
D Kronen, die im Wurzelbereich enden, werden nicht als gefüllte Wur-
zelflächen gezählt.
D Eine Füllung im Wurzelbereich ist mehrflächig, wenn sie mindes-
tens ein Drittel von zwei aneinander grenzenden Flächen einnimmt.
D Sekundärkaries an Füllungs- und Kronenrändern wird gesondert er-
fasst. Sie wird nicht zur Wurzeloberflächenkaries gezählt.
D Die so gewonnenen Daten beziehen sich auf freiliegende Wurzel-
oberflächen, d.h. Risikoflächen.
Probleme ergeben sich jedoch auch bei Berücksichtigung dieser Prämis- Erhebungs-
sen. So lässt sich bei reinen Prävalenzstudien nicht immer feststellen, ob problematik
eine gefüllte Wurzelfläche vorher kariös war oder ob eine Erosion bzw.
Zahnbürstenabrasion der Grund für eine Restauration war. Hier liefern
ausschließlich Inzidenzstudien verlässliche Daten. Ein international an-
erkannter Index, der die Anzahl vorhandener freier Wurzeloberflächen
52 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Abb. 2.17: Wurzelkaries bei
Alters- 437 Patienten verschiedener
gruppe Altersgruppen. Der RCI
Männer (Root Caries Index) berück-
20 29 Frauen sichtigt die Risikoflächen
Gesamt (Erklärung im Text). Es wird
deutlich, dass mit zuneh-
mendem Alter die Wurzel-
30 39 kariesprävalenz zunimmt.
Die Abnahme bei den 60-
bis 64-Jährigen kann mit ei-
40 49 ner Zunahme des Zahnver-
lustes erklärt werden (nach
Katz et al. 1982).
50 59
60 64
0 5 10 15 20 25
RCI-Wert (%)
(surfaces at risk) berücksichtigt, ist der Root-Caries-Index (RCI) nach
Katz (1982). Er errechnet sich nach folgender Formel
RD + RF
× 100,
RD + RF + RN
wobei RN als gesunde freiliegende Wurzeloberfläche (sichtbare Wurzel-
oberfläche apikal der Schmelz-Zement-Grenze), RD als kariöse freilie-
gende Wurzeloberfläche und RF als gefüllte freiliegende Wurzeloberflä-
che definiert ist (Abb. 2.17).
Der RCI drückt also das Verhältnis von erkrankten und sanierten
Wurzeloberflächen zur Anzahl freiliegender Flächen als Prozent-
wert aus.
Ursachen Alle Untersuchungen zur Wurzelkariesprävalenz zeigen, dass ihre Ent-
stehung an die allgemein bekannten Faktoren der Kariesätiologie ge-
bunden ist. Speziell der häufige Konsum niedermolekularer Kohlen-
hydrate korreliert mit einem erhöhten Wurzelkariesrisiko. Außerdem
korrelieren eine hohe koronale Kariesprävalenz und gingivaler Attach-
mentverlust sowie eine niedrige Zahnputzfrequenz und ein unregelmä-
ßiger Zahnarztbesuch mit einer erhöhten Wurzelkariesprävalenz.
Zusätzlich kann es bei älteren Menschen aus unterschiedlichen
Gründen zu einer Verminderung des Speichelflusses und damit verbun-
den zum Verlust der Schutzwirkung des Speichels kommen (z.B. Allge-
meinerkrankungen, Medikamente, hormonelle Veränderungen u.a.).
Auch Patienten, die im Kiefer-Gesichtsbereich eine Strahlentherapie
erhalten, leiden oft unter extremer Mundtrockenheit (Xerostomie).
Nach Radiatio wird häufig ein rapider Anstieg der Wurzelkaries beob-
2.1 Karies Kapitel 2 53
achtet, da diese Patienten, zusätzlich zur fehlenden Schutzwirkung des
Speichels, aufgrund einer bestehenden Mukositis überwiegend weiche
und damit klebrige Nahrung aufnehmen.
Aber auch bei jüngeren Patienten lässt sich, wenn auch weniger häu- 2
fig, Wurzelkaries diagnostizieren. Der Grund für freiliegende Wurzel-
oberflächen sind hier meistens Parodontopathien mit entsprechendem
Attachmentverlust.
Zur Diagnostik der approximalen Wurzelkaries reicht oft die klini-
sche Untersuchung nicht aus. Die röntgenologische Diagnostik ist
jedoch problematisch und führt meist erst zum richtig positiven Er-
gebnis, wenn die Karies sich bereits im fortgeschrittenen Stadium
befindet.
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zur Prävalenz der Wurzelkaries. Studien-
Diese Untersuchungen wurden jedoch bei definierten kleinen Gruppen ergebnisse
durchgeführt, sodass die Ergebnisse sich nur bedingt auf die Gesamtbe-
völkerung eines Landes übertragen lassen. Mit der dritten und vierten
deutschen Mundgesundheitsstudie des IDZ liegen repräsentative Daten
zum Wurzelkariesbefall bei Erwachsenen und Senioren vor (Tab. 2.7).
Der RCI-Wert der untersuchten 35- bis 44-Jährigen betrug 2005
8,8%. Die Prävalenz der Wurzelkaries hat sich von 1997 bis zum Jahr
2005 (DMS-IV) etwa verdoppelt, sodass 21,5% der Untersuchten min-
destens eine kariöse oder gefüllte Wurzeloberfläche aufwiesen. Dies
steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der reduzierten Anzahl ex-
trahierter Zähne in dieser Altersgruppe, da auf diese Weise mehr Zähne
mit Wurzelkaries in der Mundhöhle verbleiben. In den alten Bundeslän-
dern weisen 19,9% der Erwachsenen Wurzelkaries auf, in den neuen
Bundesländern 28,9%. Für die Wurzelkariesprävalenz besteht eine deut-
liche Abhängigkeit von der sozialen Schichtzugehörigkeit, die im Jahr
2005 stärker ausgeprägt war als in 1997. Im Gegensatz zum stark gestie-
genen Anteil der von Wurzelkaries betroffenen Personen ist der durch
den RCI ausgedrückte Anteil freiliegender Wurzeloberflächen mit ver-
sorgter oder nicht versorgter Wurzelkaries praktisch unverändert geblie-
ben. Während in 1997 dieser Wert 9,9% betrug, liegt er nunmehr bei
8,8%.
Tab. 2.7: RCI-Werte bei Erwachsenen (a: 35–44 Jahre) und Senioren (b: 65–74
Jahre) (nach Micheelis und Schiffner 2006)
Gesamt Deutschland Geschlecht
Ost West Männlich Weiblich
a) n = 580 n = 115 n = 465 n = 305 n = 275
8,8% 11,2% 8,2% 10,2% 7,2%
b) n = 712 n = 155 n = 557 n = 351 n = 361
17% 15,2% 17,5% 16,5% 17,4%
54 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Bei Senioren (65- bis 74-jährig) betrug der RCI-Wert 1997 12,6%. Bis
zum Jahre 2005 nahm er auf 17,0% zu. Auch die Wurzelkariesprävalenz
stieg insgesamt an. Fast jeder Zweite (45%) der 65- bis 74-jährigen Senio-
ren hat mindestens eine kariöse oder gefüllte Wurzelfläche. Dies stellt im
Vergleich zu 1997 eine Verdreifachung der Wurzelkariesprävalenz dar.
Mundgesundheit im internationalen Vergleich
Die WHO hat für 12-Jährige Kategorien des Kariesbefalls definiert (Tab.
2.8). Bezieht man die zuletzt erhobenen Daten auf Deutschland (IDZ-
Studie, DAJ-Studie), so kann man den Schluss ziehen, dass in Deutsch-
land bei den 12-Jährigen ein sehr niedriger Kariesbefall vorliegt.
Europa Das wird auch beim direkten Vergleich mit anderen Ländern, für die
repräsentative Daten vorliegen, deutlich. Ein Vergleich der Kariespräva-
lenz verschiedener europäischer Länder (Abb. 2.18) muss jedoch be-
rücksichtigen, dass das Datenmaterial unter sehr unterschiedlichen Be-
dingungen gesammelt wurde.
Die WHO und die FDI (Fédération Dentaire Internationale) haben
für das Jahr 2020 Mundgesundheitsziele definiert, die für Deutschland
durch die Bundeszahnärztekammer modifiziert wurden. Demzufolge
sollen im Jahre 2020 bei 6- bis 7-Jährigen 80% der Gebisse kariesfrei sein
und bei 12-Jährigen sollte der mittlere DMF-T-Wert < 1 liegen. Von der
Vorgabe für die 6- bis 7-Jährigen ist man in Deutschland noch relativ
weit entfernt.
Bei den 12-Jährigen hingegen ist mit einem durchschnittlichen
DMF-T-Wert von 0,98 in der DAJ-Untersuchung und 0,7 in der DMS-IV-
Studie der Schwellenwert bereits unterschritten. Auch im internationa-
len Vergleich liegt Deutschland bezüglich der mittleren DMF-T-Werte
für 12-Jährige (gemeinsam mit Dänemark 0,9 DMFT, Großbritannien
0,9 DMFT und den Niederlanden 0,8 DMFT) sehr gut.
Ein wichtiges Ergebnis sollte nicht unerwähnt bleiben: Sowohl im
Milchgebiss als auch im bleibenden Gebiss ist in Ländern mit niedriger
Kariesprävalenz (d.h. DMF-T-Wert < 2) seit Beginn der 90er-Jahre nur
noch eine unwesentliche Kariesreduktion zu verzeichnen. Die Polarisie-
rung des Kariesbefalls und die große Zahl kariöser Initialläsionen ver-
deutlichen zudem, dass noch ein erheblicher präventiver Interventions-
bedarf vorhanden ist, um die Mundgesundheit zu verbessern. Bei dem
Tab. 2.8: Klassifizierung des Kariesbefalls bei 12-Jährigen durch die WHO (1984)
DMF-T Beurteilung
< 1,2 Sehr niedrig
1,2–2,6 Niedrig
2,7–4,4 Moderat
4,5–6,5 Hoch
> 6,5 Sehr hoch
2.1 Karies Kapitel 2 55
Deutschland (2005) 0,7
Großbritannien (2000–2001) 0,9
Dänemark (2003) 0,9 2
Schweiz (Kanton Zürich, 2000) 0,9
Österreich (2002) 1
Irland (2002) 1,1
Spanien (2000) 1,1
Schweden (2002) 1,1
Belgien (2001) 1,1
Finnland (2000) 1,2
Italien (2003) 1,2
Norwegen (2000) 1,5
Griechenland (2000) 2,2
Tschechien (2002) 2,5
Lettland (2002) 3,5
Litauen (2001) 3,6
Polen (2000) 3,8
0 1 2 3 4
DMFT
Abb. 2.18: Mittlere dmft-Werte bei 12-Jährigen in Europa (nach Micheelis und Schiffner 2006)
Kariesbefall im SiC-Index liegen die 12-Jährigen im Vergleich zu anderen
Ländern, bei denen der SiC-Index erhoben wurde, an erster Stelle.
Auch bei den 15-Jährigen nimmt Deutschland eine Spitzenposition
ein, wobei lediglich China und die Schweiz noch günstigere Werte auf-
weisen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass für die Schweiz
nur Daten für den Kanton Zürich vorhanden sind, die nicht auf die Ge-
samtschweiz hochgerechnet werden sollten.
Bei Erwachsenen (35–44 Jahre) lassen sich die in zahlreichen Län-
dern erhobenen Daten (WHO-Datenbank) nur sehr schwer vergleichen,
da die Index-Werte nicht einheitlich erhoben wurden. Der von der WHO
vorgegebene Wert für die Kategorie „Moderater Kariesbefall“ (DMFT
9,0–13,9) ist zurzeit noch nicht erreicht. Somit befindet sich Deutsch-
land, wie viele andere Länder, in der Kategorie „Hoher Kariesbefall“.
Auch bei Senioren ist ein Vergleich aufgrund der unterschiedlichen
Erhebungsmodi in einzelnen Ländern sehr schwierig. Die deutschen Se-
nioren zeigen allerdings im Vergleich zu anderen europäischen Ländern
den niedrigsten Wert. Für die Wurzelkaries liegt die Spannbreite des
RCI-Wertes zwischen 11,9% und 28%, wenn man unterschiedliche Län-
der vergleicht. Dabei liegt Deutschland mit einem RCI-Wert von 17,0%
etwa im Mittelfeld.
Die Kariesprävalenz ist in Entwicklungsländern unterschiedlich Entwicklungs-
hoch. Während sie in einigen Ländern sehr niedrig ist, steigt sie mit länder
56 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung (sogenannte Schwellenlän-
der) an. Dies wird auf eine Zunahme des Zuckerkonsums bei gleichzei-
tig mangelhafter zahnärztlicher Versorgung und fehlenden Präven-
tionsmaßnahmen, z.B. Fluoridierung, zurückgeführt. In den Industrie-
nationen sinkt die Kariesrate zwar, hier gilt es aber besonders, die
Patienten mit erhöhtem Kariesrisiko zu erkennen und intensivprophy-
laktisch zu betreuen.
Neben Prophylaxemaßnahmen gibt es natürlich auch andere Ein-
flüsse auf die Kariesmorbidität. So werden z.B. bevölkerungsspezifische
Anlagen berichtet, sie sind jedoch fraglich. Wahrscheinlich sind hier
eher die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren maßgebend.
Familiäre Kinder von Eltern mit geringem Kariesbefall weisen i.d.R. weniger Ka-
Faktoren ries auf als der Durchschnitt ihrer Altersgruppe. Genetische Faktoren wie
Zahnmorphologie, Okklusion, Speichelzusammensetzung u.a. spielen si-
cherlich eine Rolle bei der Kariesentstehung. Sie werden jedoch durch
Umweltfaktoren wie Ernährung, Zahnpflege u.a. signifikant überlagert,
sodass sie in epidemiologischen Studien kaum Berücksichtigung finden.
Für alle Zähne gibt es gleichermaßen nach dem Zahndurchbruch
eine Periode der erhöhten Kariesanfälligkeit. Diese nimmt je nach Zahn
zwei bis vier Jahre nach Zahndurchbruch wieder ab. Dieses Phänomen
wird mit der posteruptiven Schmelzreifung und dem damit verbunde-
nen erhöhten Fluorideinbau in die Zahnoberfläche erklärt.
Auch die einzelnen Zähne zeigen unterschiedliche Kariesanfälligkei-
ten. Am stärksten gefährdet sind die ersten und zweiten Molaren (hier
speziell die Fissuren). Es folgen die oberen Prämolaren, der zweite un-
tere Prämolar, die oberen Schneidezähne, die oberen Eckzähne, der erste
untere Prämolar, die unteren Schneidezähne und der untere Eckzahn.
In den westlichen Industrienationen findet man bereits bei 1–5%
der Einjährigen kariöse Defekte der Milchzähne. Am Ende des zweiten
Lebensjahres hat sich die Anzahl der kleinen Patienten mit kariösen
Zähnen bereits verdoppelt. Mit fünf Jahren findet man dann bei 57%
der Kinder kariöse Läsionen. Ähnlich wie im permanenten Gebiss domi-
niert zuerst die Fissurenkaries. Mit zunehmendem Alter nehmen jedoch
auch im Milchgebiss die approximalen Kariesläsionen zu.
2.2 Erosion
! Erosionen entstehen durch häufige direkte Säureeinwirkung auf
saubere Zahnhartsubstanzen.
Entstehungs- Die Säuren lösen die Zahnoberfläche durch Demineralisation auf. Ist die
mechanismen Säureeinwirkung kurz und selten, kann die Zahnoberfläche durch die
Mineralien des Speichels weitgehend natürlich remineralisiert werden,
und es entsteht kein bleibender Defekt. Bei längerer und/oder häufiger
Säureeinwirkung, vor allem durch starke Säuren, entstehen irreversible
2.2 Erosion Kapitel 2 57
Zahnhartsubstanzverluste. Durch saure Chelatbildner (z.B. Zitrat) kann
zusätzlich die natürliche Remineralisation durch den Speichel vermin-
dert sein. Erosionen entstehen im Gegensatz zu kariösen Läsionen nicht
durch die Stoffwechseltätigkeit oraler Mikroorganismen. 2
Die einzelnen chemischen Vorgänge, die zu einer Zahnerosion füh-
ren, sind komplex. Wenn eine Flüssigkeit mit der Zahnoberfläche in Be-
rührung kommt, muss sie zunächst das erworbene Schmelzoberhäut-
chen durchdringen. Eine gerade entstandene, sogenannte junge Pellikel
kann kaum als Diffusionsbarriere gegenüber einer erosiven Flüssigkeit
dienen. Wenn jedoch die Pellikel gereift ist und eine bestimmte Dicke
erreicht hat, kann sie den Diffusionsprozess herabsetzen. Erst nach di-
rektem Kontakt mit Zahnschmelz kann die entsprechende Säure die
Kristalle auflösen oder, wenn es sich um eine chelatbildende Substanz
handelt, Kalzium komplexieren. Das Herauslösen von Ionen aus der
Zahnhartsubstanz (hauptsächlich Kalzium und Phosphat) führt auto-
matisch zu einer pH-Wert-Anhebung an der Zahnoberfläche und der
Säureangriff kann gestoppt werden, wenn keine neueren Säuren oder
chelatierende Substanzen nachgeliefert werden. Spülen mit einer sauren
Lösung erhöht den Auflösungsprozess, weil die saure Lösung an der
Zahnoberfläche regelmäßig erneuert wird. Zudem wird der erosive Cha-
rakter eines sauren Getränks noch durch die Menge an vorhandenem
Speichel modifiziert. Im Dentin wird die Diffusion der demineralisieren-
den Flüssigkeit in tiefere Schichten durch die organische Dentinmatrix
behindert. Außerdem übt die organische Matrix einen Puffereffekt aus.
Deshalb führt eine chemische oder mechanische Degradation der Den-
tinmatrix zu einer vermehrten Demineralisation.
Es gibt nur sehr wenige epidemiologische Erhebungen zur Prävalenz Epidemiologie
oder Inzidenz von Erosionen. Die Morbidität wird mit 18–50% angegeben.
Man unterscheidet Frühläsionen von Spätläsionen. Die Frühläsion Früh-/Spät-
ist klinisch schwer diagnostizierbar. Die typische Schmelzstruktur ist da- läsionen
bei verändert. So fehlen auch beim Jugendlichen in diesem Bereich die
Perikymatien. Der Zahnschmelz sieht glatt und matt glänzend aus. Bei
der Spätläsion ist bereits das Dentin freigelegt.
Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Progredienz. Es gibt Progredienz
ruhende, latente und aktive progrediente Formen. Bei aktiven, progre-
dienten Läsionen laufen die Schmelzränder gegen das freigelegte Den-
tin flach aus, und die Oberfläche weist histologisch eine Honigwaben-
struktur auf, die an das Ätzmuster erinnert, welches bei der Schmelz-
Ätz-Technik entsteht (s. Kap. 6.1.3). Bei der ruhenden Läsion findet
man häufig wulstige Schmelzränder, und die Honigwabenstruktur fehlt.
Die erosiven Zahnhartsubstanzveränderungen werden nach Eccles Kategorien
(1979) klinisch in drei Kategorien unterteilt:
D Klasse I: oberflächliche Läsionen, ausschließlich im Schmelz
D Klasse II: lokalisierte Läsionen mit Dentinbeteiligung. Das freilie-
gende Dentin nimmt weniger als ein Drittel der Gesamterosions-
oberfläche ein.
58 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
D Klasse III: generalisierte Läsionen. Die Dentinbeteiligung beträgt
mehr als ein Drittel der Gesamtläsionsoberfläche.
Die Frühläsion entspricht demnach Stadium I, die Spätläsion den Sta-
dien II und III.
Der erosionsbedingte Zahnhartsubstanzverlust ist für die Patienten
primär nicht sichtbar. Erst im fortgeschrittenen Stadium mit Dentinfrei-
legung kann sich die Erosion durch exogen mit der Nahrung zugeführte
Farbstoffe verfärben und als ästhetisch störend empfunden werden. Zu
Schmerzsensationen kommt es meistens erst mit zunehmender Defekt-
tiefe im Dentin, dabei wechseln sich oft Schmerzintervalle (aktive
Phase) mit schmerzfreien Intervallen (ruhende Läsion) ab. Befinden
sich Erosionen im Kauflächenbereich der Zähne, wird der Zahnhartsub-
stanzverlust durch Attrition und Abrasion beschleunigt.
Ursachen Die Säureexposition kann verschiedene Ursachen haben (Abb.
2.19). Selten sind industriell bedingte Säuredämpfe. Exzessiver Konsum
säurehaltiger Fruchtsaftgetränke, Sportlergetränke, Limonaden (z.B.
Cola-Getränke) und anderer säurehaltiger Lebensmittel (z.B. Ascorbin-
säure, Essig, Fruchtbonbons) sind häufige Ursachen von Erosionen.
Werden Zitrusfrüchte mehr als zweimal täglich konsumiert, steigt das
Erosionsrisiko um das 30- bis 40-Fache.
Der pH-Wert, der Kalzium- und Phosphatgehalt und in geringerem
Ausmaß auch der Fluoridgehalt von Getränken oder Nahrungsmitteln
Erziehung
Patienten
toren sei
Fak te A
llg
Ess-, Trinkgewohnheiten
säurehaltige
.
Ge
Nahrungsmittel
n
Zahnreinigung Reflux/Erbrechen
sun
alte
säurehaltige
dhe
Getränke
Verh
Medikamente Weichgewebe
Früchte
it
Jogurt
Speichel Essig Pellikel
Zeit
Zahn Zahn
Säuretyp (pK) Adhäsion
G ew
i ss e
pH Phosphat
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n
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Pufferung Fluorid
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Fa Kalzium e
kt o s e it
ren
Ern ähru ng s
Be s ch ä fti g un g
Abb. 2.19: Ursachenkomplex bei der Entstehung von Erosionen (nach Lussi 2005)
2.2 Erosion Kapitel 2 59
sind wichtige Faktoren, die das Ausmaß des erosiven Angriffs mitbe-
stimmen. So können saure Lösungen, die mit Kalzium und Phosphat
übersättigt sind, durchaus eine geringe oder keine erosive Wirkung auf-
weisen. Diese Erkenntnis führte dazu, dass verschiedene Fruchtsäfte mit 2
Kalzium und Phosphat angereichert werden und somit weniger erosiv
agieren.
Je höher die Pufferkapazität eines sauren Getränks oder eines Nah-
rungsmittels ist, desto länger dauert es, bis der Speichel oder die heraus-
gelösten Kalziumphosphationen die Säure neutralisiert haben. Insofern
ist es weniger der pH-Wert, als die Pufferkapazität eines Nahrungsmit-
tels, der für seine Erosivität verantwortlich ist.
Speziell bei Menschen, die sich „gesund“ ernähren wollen und
gleichzeitig eine exzessive Mundhygiene bei falscher Putztechnik be-
treiben, werden Zahnhartsubstanzdefekte beobachtet, die primär auf
Erosionen zurückzuführen sind. Diese sind dann aber durch die Zahn-
putzabrasion überlagert und weisen mehr die Charakteristika eines keil-
förmigen Defekts auf (Abb. 2.20).
Aber auch häufiges Erbrechen des sauren Mageninhaltes, z.B. bei
Refluxerkrankungen, Essstörungen (Bulimie), Schwangerschaft und Al-
koholismus, führt zu erosiven Veränderungen der Zahnhartsubstanzen.
Die Adhärenz einer Säure bzw. eines Chelatbildners auf der Zunge oder
an den Schleimhäuten kann eine lang andauernde erosive Wirkung auf
die Glattflächen der Zähne zur Folge haben.
Es gibt biologische Faktoren, die den erosiven Prozess beeinflussen Bedeutung des
können. Hier sind der Speichel, die chemische Zusammensetzung der Speichels
Zahnhartsubstanzen, die Zahnstruktur, die Anatomie des Zahnes und
die anatomischen Gegebenheiten der Mundhöhle ausschlaggebend.
a b c
Abb. 2.20: Schematische Darstellung der unterschiedlichen Morphologie von erosiven Schmelzdefekten (a),
keilförmigen Defekten (b) und initialen kariösen Läsionen im Zahnhalsbereich (c) (nach Binus et al. 1987)
60 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Unter normalen physiologischen Bedingungen wird die Säure durch
den Speichel rasch (innerhalb von ca. 10 Minuten eliminiert). Dabei
verbleibt nach exogener Säurezufuhr der pH-Wert an der Zungenspitze
nur zwei Minuten im extrem sauren Bereich. Sind die Speichelfließrate,
die Speichelpufferkapazität und der Speichel-pH-Wert jedoch reduziert,
so erhöht sich das Erosionsrisiko. Die erosionsprotektiven Eigenschaf-
ten des Speichels beinhalten die Verdünnung und die Clearance der ero-
siven Noxen aus der Mundhöhle, die Neutralisation und die Pufferung
der Säuren, die Aufrechterhaltung einer mit Kalzium und Phosphat
übersättigten Umgebung an der Zahnoberfläche, die Bereitstellung von
Kalzium, Phosphat und möglicherweise auch Fluorid für die Reminera-
lisation.
Aber auch die Ausbildung einer säureprotektiven Schutzschicht aus
Proteinen gehört zu den protektiven Funktionen des Speichels. Eine
Entfernung des Speicheloberhäutchens oder eine Reduzierung der Dicke
der Pellikel vermindert die protektiven Eigenschaften und erhöht damit
gleichzeitig die Möglichkeit eines erosiven Prozesses. So können Zähne-
putzen mit abrasiven Zahnpasten, die Anwendung professioneller
Zahnreinigungspasten, Bleichvorgänge, die Pellikel entfernen und da-
mit den Zahn säureanfälliger machen.
Sind die Speichelfließrate, die Speichelpufferkapazität und der Spei-
chel-pH-Wert reduziert, so erhöht sich damit das Erosionsrisiko.
Dem Speichel kommt eine entscheidende Bedeutung bei der Entste-
hung erosiver Veränderungen zu. Sowohl qualitative als auch quan-
titative Speicheldefizite begünstigen das Entstehen einer Erosion.
Lokalisationen Das Auftreten von Erosionen ist unabhängig vom Alter und Geschlecht
der Patienten. Die Läsionen können jedoch in Abhängigkeit von der Ur-
sache unterschiedlich lokalisiert sein. So sind Erosionen bei Patienten
mit häufigem Erbrechen primär an den Palatinalflächen der Oberkiefer-
frontzähne lokalisiert. Später findet man sie auch auf den Okklusalflä-
chen der Seitenzähne.
Nach dem exzessiven Genuss säurehaltiger Nahrungsmittel werden
generalisierte Erosionen diagnostiziert. Besonders betroffen sind häufig
die Bukkalflächen und im Oberkiefer die Labial- und Palatinalflächen.
Bei beruflicher Exposition kommt es meistens zu erosiven Verände-
rungen an den Labialflächen der Frontzähne. Erosionen beginnen bei
Patienten mit keiner oder geringgradiger Gingivaretraktion auf den
Glattflächen oberhalb des Zervikalbereichs der Zähne.
Die bei den meisten Patienten vorhandenen zervikalen Plaquean-
sammlungen scheinen die Demineralisation des Zahnschmelzes
durch exogene Säuren zu verhindern. Ein typisches Merkmal leich-
ter und mittelschwerer Erosionen ist daher das Vorhandensein ei-
ner mehr oder weniger intakten zervikalen Schmelzzone.
2.3 Mechanische Abnutzung der Zähne Kapitel 2 61
Okklusale und inzisale Erosionen weisen im Höcker und Inzisalbereich
dellenartige Vertiefungen im Dentin auf. Diese entstehen wahrschein-
lich in Verbindung mit Attrition und Abrasion. Im Gegensatz zu Schliff-
facetten zeigen Erosionen jedoch keine scharf begrenzten oder ausge- 2
zackten Begrenzungen.
Abrasion von erodierter Zahnhartsubstanz: Klinisch sichtbare
Erosionen sind vermutlich die Folge von drei aufeinander folgenden
Vorgängen:
1. Fehlen der schützenden Pellikel auf der Zahnoberfläche
2. Mineralverluste an der Zahnoberfläche durch Einwirken einer sau-
ren Noxe
3. Abtrag der erodierten oberflächlichen Zahnschicht durch biomecha-
nische und physikalische Einflüsse oder mechanische Reibung, z.B.
durch Lippen, Wangen, Zunge, Nahrung und Zahnbürste. Insbeson-
dere häufiges Zähneputzen führt zwar zu einer Verringerung kariö-
ser Läsionen, gleichzeitig kommt es aber zu einer Zunahme von Ero-
sio-Abrasionen.
Die Abrasion durch das Zähnebürsten wird durch den Anpressdruck der
Bürste, die Bürstbewegung und die verwendete Zahnpasta beeinflusst.
Dabei spielen die Härte und die chemische Zusammensetzung sowie das
strukturelle Gefüge der Zahnhartsubstanz eine Rolle. Die Abrasivität ei-
ner Zahnpasta wiederum hängt von der Form, Größe und Härte der in
der Zahnpasta vorhandenen Abrasivstoffe ab.
2.3 Mechanische Abnutzung der Zähne
2.3.1 Keilförmiger Defekt
! Der keilförmige Defekt ist primär im Zahnschmelz lokalisiert, und
zwar meistens im labialen und bukkalen, zervikalen Bereich der
Schneidezähne, Eckzähne und Prämolaren, wobei die ersten Prä-
molaren sehr häufig betroffen sind.
Keilförmige Defekte ähneln bei oberflächlicher Betrachtung morpholo-
gisch den Erosionen.
Nach Schröder entsteht der keilförmige Defekt meist in unmittelba-
rer Nähe der Schmelz-Zement-Grenze.
Die Form des keilförmigen Defekts ist im Zahnlängsschnitt annä- Form
hernd dreieckig (s. Abb. 2.20) mit einer kurzen Fläche im koronalen Be-
reich.
Die Einkerbung reicht manchmal bis tief in das Dentin und besitzt
eine glatte, glänzende Oberfläche. Dabei ist der koronale Schmelz
manchmal leicht unterminiert. Im Dentin lassen sich mikroskopisch
häufig horizontale Rinnen und Schleifspuren erkennen. Die koronale
62 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Zahnhartsubstanzverlust
durch Abnutzung
Attrition Abrasion
(direkter Kontakt (Abnutzung
antagonistischer bzw. durch Fremdstoffe)
benachbarter Zahnflächen) Demastikation
physiologisch (Nahrungsmittel)
(Schlucken, Sprechen u.a.) andere Stoffe
pathologisch (Staub, Zahnpasta u.a.)
(Knirschen, Pressen)
Abb. 2.21: Verschiedene Formen der Zahnabnutzung (nach Hickel 1993)
freiliegende Dentinfläche weist eher offene, die zervikale eher geschlos-
sene Dentintubuli auf.
Ätiologie Die Ätiologie der keilförmigen Defekte ist bisher nicht abschließend
geklärt. So wird ein mechanisch-abrasiver Vorgang als Ursache angege-
ben. Durch falsche Zahnputztechnik (horizontales Schrubben) und Ver-
wendung stark abrasiver Zahnpasta kommt es demnach zur Entstehung
des Defektes. Schon vorhandene Erosionen oder inaktive kariöse Läsio-
nen im Zahnhalsbereich begünstigen diesen Vorgang, da hier die Zahn-
hartsubstanzen bereits oberflächlich demineralisiert („erweicht“) sind.
Als weiterer kausaler Faktor kommt eine Fehlbelastung der betroffe-
nen Zähne in Betracht (stress- oder anders bedingtes häufiges Zähne-
knirschen, okklusale Störkontakte, Balancehindernisse u.a.), die zu ei-
ner Biegebelastung oder Zugbelastung im Bereich der Zahnhälse führt
(Drehpunkt des Zahnes). Durch extreme mechanische Überbelastung
kommt es dann in diesem Bereich zu mikroskopisch oder makrosko-
pisch sichtbaren Schmelzaussprengungen. Es soll dabei auch zu Verän-
derungen in der Kristallstruktur des Schmelzes mit nachfolgend erhöh-
ter Löslichkeit kommen.
Die mechanische Abnutzung der Zähne geschieht durch Attrition
und Abrasion (Abb. 2.21).
2.3.2 Attrition
! Attrition ist definiert als Abrieb der Zahnhartsubstanzen durch di-
rekten Kontakt antagonistischer oder benachbarter Zahnflächen.
Ursachen Die antagonistischen Zahnkontakte entstehen beim Kauen, Schlucken
usw. (ca. 1500-mal/Tag). Attrition ist somit eine spezielle, physiologi-
sche Form der Abrasion mit meist geringem Zahnhartsubstanzverlust.
Folgen Mit zunehmendem Alter treten die Folgen der Attrition jedoch
deutlich zutage. Durch physiologische Zahnbeweglichkeit kommt es
auch im Approximalbereich zum Abrieb benachbarter Zahnflächen. Da-
2.3 Mechanische Abnutzung der Zähne Kapitel 2 63
durch werden die primär vorhandenen „punktförmigen“ Approximal-
kontakte flächenförmiger. Durch gleichzeitige Mesialwanderung (8–10
mm in 40 Lebensjahren) der Zähne kommt es zur Verstärkung des Ap-
proximalkontaktes. 2
Eine Reihe von Faktoren führt jedoch zu wesentlich ausgeprägteren
pathologischen Abnutzungserscheinungen der Zahnhartsubstanzen. So
verleiten psychogene Ursachen wie Stress, Ärger u.a. Patienten zu häufi-
gen und lang anhaltenden Zahnkontakten (Parafunktionen), die oft mit
Knirschen und Pressen (Bruxismus) verbunden sind.
Aber auch falsch gestaltete Kauflächen zahnärztlicher Restauratio-
nen (z.B. Vorkontakte, Balancehindernisse) sind ausgeprägte Triggerfak-
toren für Abnutzungsvorgänge.
Außerdem sind neuromuskuläre Störungen im Kiefer-Gesichtsbe-
reich sowie Stellungsanomalien der Zähne ätiologische Faktoren für pa-
thologische Abnutzungserscheinungen an den Zähnen.
Klinisch erkennt man an den Zähnen anfangs im Zahnschmelz, spä- Klinik
ter auch im freigelegten Dentin glatte, plane Flächen (Schlifffacetten),
die teilweise auch winklig aufeinander stehen und nach koronal scharf-
kantig begrenzt sind. Bei Lateralbewegungen des Unterkiefers gleiten
die Antagonisten genau auf diesen Flächen aneinander vorbei. Sind die
Abnutzungsvorgänge stark ausgeprägt, so gehen erhebliche koronale
Anteile der entsprechenden Zähne verloren, die durch sogenannte ok-
klusale Drifts (Herauswachsen der Zähne aus den Alveolen bis zum er-
neuten Zahnkontakt) ausgeglichen werden.
2.3.3 Abrasion
! Obwohl es sich bei den genannten Abnutzungsvorgängen durch-
aus auch um abrasive Vorgänge handelt, ist Abrasion als Zahn-
hartsubstanzverlust definiert, der durch Fremdkörperabrieb verur-
sacht wird.
Dieser Abrieb kann durch Nahrungsmittel erfolgen (Demastikation)
oder berufsbedingt sein (z.B. Staub bei Bergarbeitern).
Der Abrieb durch Demastikation ist abhängig von der Abrasivität der Demastikation
täglichen Nahrung. Bei Naturvölkern ist die Nahrung meistens abrasiver
als in Industrieländern mit moderner Zivilisationskost (Hamburger, Fer-
tiggerichte).
Davon müssen sogenannte „Habits“ abgegrenzt werden. Es handelt Habits
sich hierbei um gewohnheitsmäßiges Aufbeißen auf Gegenstände (z.B.
Fäden bei Schustern und Schneidern) oder das häufige Halten von Ge-
genständen (z.B. Pfeife, Kugelschreiber, Nägel) mit immer den gleichen
Zähnen. Derartige Abrasionen werden auch Usuren genannt.
Neben den genannten Abrasionsvorgängen gibt es Abrasion durch Mundhygiene-
Mundhygienemaßnahmen. Wie bereits oben erwähnt, sind dabei maßnahmen
64 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Zahnpasten mit stark abrasiven Putzkörpern in Verbindung mit falscher
Putztechnik die Hauptursache. Aber auch die Verwendung anderer abra-
siver Substanzen für die Mundhygiene wie z.B. Meersalz und Holzkohle
führen zu Abrasionen.
Attrition und Abrasion führen zusammen zu Zahnhartsubstanzver-
lusten.
So können im Lauf des Lebens die Perikymatien und der prismenfreie
Schmelz verloren gehen. Die Zahnkronen können kürzer werden und
Formveränderungen unterliegen.
Mit dem „Toothwear Index“ steht ein epidemiologisches Instru-
ment zur Verfügung, mit dem Zahnhartsubstanzverluste aufgrund von
Tab. 2.9: Modifizierter „Tooth Wear Index“ (TWI) (nach Donachin und Walls
1996)
Zahnfläche
Kategorie Bukkal, lingual und Inzisal Zervikal (Wurzel-
okklusal (Zahnkrone) oberfläche)
0 Kein Verlust der typi- Kein Verlust der typi- Keine Veränderung
schen Charakteris- schen Charakteristika der Zahnkontur
tika der Schmelz- der Schmelzoberfläche
oberfläche
1 Verlust der typischen Verlust der typischen Minimaler Verlust
Charakteristika der Charakteristika der der Zahnkontur
Schmelzoberfläche Schmelzoberfläche
2 Verlust des Zahn- Verlust von Zahn- Defekt mit einer
schmelzes mit Den- schmelz, dabei Dentin- Tiefe < 1 mm
tinexposition von exposition
weniger als 1/3 der
Oberfläche
3 Verlust des Zahn- Verlust von Zahn- Defekt mit einer
schmelzes mit Den- schmelz und starker Tiefe von 1–2 mm
tinexposition von Dentinverlust ohne Ex-
mehr als 1/3 der position von Sekundär-
Oberfläche dentin oder Pulpa
4 Kompletter Verlust Verlust von Zahn- Defekt 2–3 mm
des Schmelzes oder schmelz und starker tief oder Exposi-
Freilegung von Se- Dentinverlust mit Expo- tion von Sekundär-
kundärdentin sition von Sekundär- dentin
dentin
5 Kompletter Verlust Verlust von Zahn- Defekt > 3 mm tief
von Zahnschmelz schmelz und starker oder Pulpaexposi-
und Pulpaexposition Dentinverlust mit Pul- tion
paexposition
2.4 Odontogene Resorptionen Kapitel 2 65
Erosionen, Abrasionen oder Attritionen epidemiologisch klassifiziert
werden können. Der ursprüngliche Index wurde modifiziert und verfei-
nert und beinhaltet die in der Tabelle 2.9 aufgeführten Kriterien.
2
2.3.4 Dentinhypersensitivität
Wird Dentin durch einen erosiven oder abrasiven Vorgang freigelegt, so
kann es zu Schmerzsensationen an dem entsprechenden Zahn kom-
men. Häufig entsteht nach fazial-zervikaler Freilegung von Dentin eine
Hypersensitivität. Man nimmt an, dass chemische oder physikalische
Noxen zur Eröffnung der Dentintubuli führen. Entsprechend der hydro-
dynamischen Theorie der Schmerzentstehung kommt es dann durch ei-
nen Stimulus zur Flüssigkeitsbewegung in den Dentintubuli, die zu ei-
ner Veränderung des Drucks an den Mechanorezeptoren der Aβ-Aδ-Fa-
sern führt. Der Patient verspürt dann einen hellen, scharfen Schmerz.
2.4 Odontogene Resorptionen
! Neben der physiologisch stattfindenden Resorption der Milch-
zahnwurzeln durch die bleibenden Zähne gibt es sowohl im
Milchgebiss als auch im bleibenden Gebiss andere, meistens pa-
thologische Formen der Resorption.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die betroffenen Zähne vital oder devital
sind. Es können alle Zahnhartsubstanzen betroffen sein. Bei den patho-
logischen Resorptionsvorgängen unterscheidet man externe von inter-
nen Wurzelresorptionen (Abb. 2.22).
a b c
Abb. 2.22: Schematische Darstellung der verschiedenen Formen externer odontogener Resorptionen:
a) oberflächliche, flache externe Resorption mit deutlich erkennbarem Desmodontalspalt, b) tiefe externe
Substitutionsresorption mit Ankylose, c) entzündlich bedingte, schüsselförmige externe Resorption
66 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Sie entstehen durch dentoklastische (odontoklastische) und/oder
osteoklastische Aktivität.
Externe Wurzel- Die externen Wurzelresorptionen gehen vom Desmodont aus.
resorption Dentoklasten (mehrkernige Riesenzellen) entkalken die Wurzeloberflä-
che, lösen sie enzymatisch auf und phagozytieren losgelöste Partikel. Es
entstehen Resorptionslakunen, die jedoch transient sein können und
dann durch Einlagerung von Zahnzement repariert werden. Durch die-
sen Reparaturmechanismus kann es bei kleinen Lakunen zur Wieder-
herstellung der anatomischen Zahnform kommen. Derartige Vorgänge
kommen aufgrund des physiologischen Zementumbaus regelmäßig vor.
Oft wird jedoch nur die Funktion wiederhergestellt (Erneuerung des
desmodontalen Faserapparates), und die Lakunen verbleiben röntgeno-
logisch nicht sichtbar an der Wurzeloberfläche und können bei ent-
zündlichen Parodontalerkrankungen mit Mikroorganismen besiedelt
sein, die zu Rezidiven beitragen.
Pathologische Wurzelresorptionen lassen sich erst ab einer bestimm-
ten Größe (2 mm3, 1 mm Tiefe) röntgenologisch diagnostizieren. Ätio-
logisch kommen Traumata, Luxationen, Replantationen, periapikale
und parodontale Entzündungen, orthodontische Behandlung u.a. in
Betracht. Resorptionen werden klinisch selten bemerkt, da sie ohne er-
kennbare Schmerzsymptomatik auftreten.
Formen der exter- Nach Andreasen (1988) gibt es vier Formen der externen Resorption:
nen Resorption D Oberflächliche, flache Resorption an der lateralen oder/und api-
kalen Wurzeloberfläche: Die laterale Form ist teilweise oder voll-
ständig reversibel. Sie betrifft impaktierte Zähne, Zähne mit akuten
Parodontalerkrankungen bei gleichzeitigem raschem Knochenab-
bau. Sie kommt auch nach Zahnluxation und Zahnreplantation vor.
Auslösend sind lokalisierte Traumatisierungen des Desmodonts bzw.
Aktivierung einzelner Dento- und Osteoklasten. Der Desmodontal-
spalt ist röntgenologisch durchgängig erkennbar. Die apikale Form
kann zusätzlich zu diesen Entstehungsfaktoren bei periapikalen Ent-
zündungsprozessen, orthodontischer Therapie und idiopathisch
(meist bei mehrwurzeligen Zähnen) vorkommen. Die idiopathische
Form der Resorption kann zur irreversiblen Verkürzung (1–4 mm)
einzelner Wurzeln führen (selten bei Milchzähnen).
D Tiefe Substitutionsresorption mit Ankylose: Bei retinierten, anky-
losierten Zähnen (speziell Milchmolaren), stark luxierten, replan-
tierten und transplantierten Zähnen kommt es zu dieser nicht re-
versiblen Resorptionsform. Durch starke Traumatisierung wird das
Desmodont devital. Osteoklasten resorbieren den benachbarten
Knochen, das Wurzelzement und das Dentin. Osteoblasten ersetzen
die resorbierte Zahnhartsubstanz durch Knochen. Es kommt zu ei-
ner Verbindung der Zahnhartsubstanz mit Knochen. Der entspre-
chende Zahn verliert seine physiologische Beweglichkeit.
D Entzündlich bedingte, schüsselförmige Resorption: Durch schwere
Luxation, Re- und Transplantation mit nachfolgenden entzündli-
2.4 Odontogene Resorptionen Kapitel 2 67
chen Reaktionen im periapikalen und pararadikulären Bereich und
durch primäre periapikale Entzündungen kommt es zu diesen teil-
weise rasch fortschreitenden Resorptionen. Es kommt dabei zu scha-
len- bzw. schüsselförmigen Resorptionserscheinungen im Wurzel- 2
dentinbereich und evtl. im angrenzenden Knochen. Primär entste-
hen durch lokale Traumatisierung des Desmodonts oberflächliche,
flache Resorptionen. Diese stehen über Dentinkanälchen mit einer
infizierten, nekrotisierten Pulpa oder einer undichten Wurzelfüllung
in Kontakt. Toxische Substanzen oder Bakterien treten dann aus
dem Wurzelkanal in das laterale parodontale Gewebe aus und lösen
dort eine Entzündung aus. Es kommt damit zur Aktivierung der re-
sorbierenden Prozesse. Oft sind die Resorptionslakunen und die
Knochendefekte von Granulationsgewebe ausgefüllt. Schon nach
wenigen Monaten kann die Zahnwurzel vollständig aufgelöst sein.
D Externes Granulom (cervical inflammatory root resorption): Sel-
tener peripherer parapulpärer Resorptionsprozess unbekannter Ätio-
logie. Das externe Granulom geht wahrscheinlich von chronisch
entzündetem Gewebe in der parodontalen Tasche aus. Es handelt
sich um wucherndes, gefäßreiches Granulationsgewebe, das Dento-
klasten aktiviert und zu einer mottenfraßähnlichen Struktur im Lä-
sionsbereich führt. Das Granulationsgewebe dringt nach einiger Zeit
auch in die Pulpa ein. Wenn das externe Granulom die klinische
Krone unterminiert, schimmert es ähnlich wie das interne Granu-
lom rosa durch den Zahnschmelz. Differentialdiagnostisch lässt es
sich jedoch durch die Anfertigung einer mesial- und distalexzentri-
schen Röntgenaufnahme vom internen Granulom abgrenzen, wel-
ches dabei seine Form und Lage nicht verändert.
Die interne (innere) Resorption wird auch internes Granulom (Pulpi- Interne Wurzel-
tis chronica granulomatosa clausa) genannt. Sie geht vom Pulpagewebe resorption
des nicht eröffneten Pulpenkavums bzw. Wurzelkanals aus (s. Kap.
10.4).
Die Milchzahnresorption ist genetisch determinert. Es ist jedoch Milchzahn-
bisher nicht geklärt, welche Vorgänge Wachstum und Durchbruch der resorption
Ersatzzähne einleiten und steuern. Die Milchzahnresorption findet pri-
mär in Bereichen statt, die den Zahnkronen des bleibenden Keims am
nächsten liegen (Eckzähne – Wurzelspitze, Inzisivi – orale Seite des api-
kalen Wurzeldrittels, Milchmolaren – interradikulärer Raum). Die Kno-
chenschicht zwischen Milchzahnwurzel und Zahnkeim wird abgebaut.
Durch dentoklastische Tätigkeit kommt es zur lakunären Resorption.
Aber auch lineare Resorption kommt gleichzeitig vor. Die Resorption
der Milchzähne verläuft nicht kontinuierlich, sondern schubweise. In
den Ruheperioden kommt es zu reparativen Vorgängen in Form von la-
mellenförmigen Zementauflagerungen. Die Milchzahnpulpa ist an den
resorptiven Vorgängen nicht beteiligt.
68 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne
2.5.1 Erworbene Hypoplasien der Zahnhartsubstanzen
! Erworbene Hypoplasien entstehen präeruptiv während der Zahn-
hartsubstanzbildung. Da bei den bleibenden Zähnen mit dem
achten Lebensjahr die präeruptive Schmelzentwicklung abge-
schlossen ist, können Schmelzhypoplasien nur bis zu diesem Zeit-
punkt entstehen.
Schmelzhypoplasien
Ursachen Werden während der Schmelzentwicklung Ameloblasten beschädigt
oder in ihrer metabolischen Aktivität gestört, so resultieren in der Regel
irreversible Schmelzdefekte. Hierbei müssen allgemeine Störungen des
Mineralstoffwechsels (meistens Kalzium-Phosphat-Stoffwechsel) von
lokalen Traumata (physikalisch, infektiös) unterschieden werden.
Allgemeine Störungen des Mineralstoffwechsels können durch
Magen-Darm-Infektionen mit nachfolgenden Resorptionsstörungen
(z.B. Salmonelleninfektion), allgemeine Infektionserkrankungen (z.B.
Röteln, Lues), Stoffwechselstörungen (z.B. Hypovitaminosen A, C, und
D), hormonelle Störungen (z.B. Hypoparathyreoidismus, mütterliche
Diabetes) und andere schwerwiegende Allgemeinerkrankungen (z.B.
Erythroblastom mit Kernikterus, Nephrosen, Down-Syndrom, Gluten-
zöliakie) verursacht werden. Auch durch die Einwirkung von Pharmaka
(z.B. Tetrazyklin, Fluorid) können Schmelzhypoplasien entstehen. Un-
ter dem Begriff Schmelzhypoplasien werden zahlreiche verschiedene
Veränderungen der Zahnhartsubstanzen zusammengefasst.
Klinik Klinisch erkennt man weiße oder gelblich-braun verfärbte Flecken,
oft in Verbindung mit Opazitäts- und Formveränderungen der Zähne.
Fleckige Veränderungen sind meistens ein Kennzeichen für Störungen
während der Schmelzreifung.
Formdefekte Treten Formdefekte auf, so ist häufig eine Störung der Schmelzbil-
dung die Ursache. Langfristig einwirkende Noxen haben große, flächen-
förmige Defekte zur Folge, kurzfristige Einflüsse bewirken eher horizon-
tale Furchen, Bänder oder Rillen.
Schmelzflecken Schmelzflecken (Opazitätsveränderungen) wurden früher mit ei-
nem Index erfasst, der alle Hypoplasien unabhängig von der Entste-
hungsursache aufsummierte. Heute versucht man zwischen Schmelzfle-
cken, die durch Fluorideinwirkung entstanden sind, und Hypoplasien,
die andere Ursachen haben, zu unterscheiden. Tatsächlich lassen sich je-
doch idiopathische Schmelzhypoplasien, deren Ursache nicht geklärt ist,
klinisch nur schwer von fluoridinduzierten oder durch Allgemeinerkran-
kungen hervorgerufenen Schmelzopazitäten abgrenzen. Einziges klini-
sches Unterscheidungskriterium ist die Lokalisation. So findet man idio-
pathische Schmelzhypoplasien (unterschiedlich große, weiß-opake, flä-
chenförmige Schmelzveränderungen) oft nur auf Einzelzähne begrenzt.
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne Kapitel 2 69
Allgemeine Störungen des Mineralstoffwechsels haben symme-
trisch verteilte Schmelzhypoplasien zur Folge; dabei bestimmen die
Intensität, die Dauer und der Zeitpunkt der schädigenden Einwir- 2
kung Art und Form der Hypoplasien.
Im Folgenden werden die wichtigsten Ursachen für Schmelzhypopla-
sien beschrieben. Für detaillierte Ausführungen zu diesem Thema muss
auf Lehrbücher der oralen Pathologie verwiesen werden.
Kommt es während der zweiten Hälfte einer Schwangerschaft zur In- Hutchinson-
fektion des Fetus mit Treponema pallidum (konnatale Syphilis), so resul- Zähne
tieren neben anderen Erkrankungen Strukturanomalien der bleibenden
Schneidezähne und der Sechsjahrmolaren. Die Mikroorganismen verursa-
chen eine Entzündung im Bereich des Schmelzorgans, und es kommt zur
Verformung der Ameloblastenreihe bei diesen Zähnen. Da die Milchzahn-
kronen bereits partiell mineralisiert sind, hat die Erkrankung keinen Ein-
fluss auf sie. Die oberen bleibenden mittleren Schneidezähne sind dann
später tonnenförmig mit eingekerbter oder halbmondförmiger Einbuch-
tung der Schneidekante (Hutchinson-Zähne). Zusätzlich findet man an
den Sechsjahrmolaren Hypoplasien. Die Höcker sind so verändert, dass sie
als knospen- oder maulbeerförmige Molaren bezeichnet werden. Bei den
infizierten Kindern findet man zudem eine Trübung der Hornhaut (Kera-
titis parenchymatosa) und Innenohrschwerhörigkeit (Hutchinson-Trias).
Erkranken Mütter in den ersten Schwangerschaftswochen an Rö- Röteln
teln, kann es zu einem intrauterinen Infekt des Embryos kommen
(Embryopathia rubeolosa). Neben einer Anzahl unterschiedlicher Er-
krankungen (z.B. Katarakt, Mikrophthalmie, Innenohrschwerhörigkeit)
werden später beim Kind auch mehr oder minder ausgeprägte Schmelz-
hypoplasien, Hypodontien, Veränderungen der Zahnmorphologie und
verzögerter Milchzahndurchbruch beobachtet.
Aufgrund der Inkompatibilität zwischen mütterlichem und väterli- Rhesusfaktor
chem Rhesusfaktor entsteht am Ende einer Schwangerschaft oder wäh-
rend der Geburt beim Kind eine hämolytische Anämie (fetale Erythro-
blastose). Die dabei frei werdenden Blutfarbstoffe (Bilirubin, Biliverdin)
reichern sich in den Zähnen an und führen neben Strukturveränderun-
gen im Zahnschmelz auch zu Grün-, Grau- oder Gelbverfärbung der
Zähne des Milch- und des bleibenden Gebisses.
Die Anwendung von Tetrazyklinen während der Schwangerschaft Tetrazykline
und bei Kindern bis zum achten Lebensjahr führt bei Milchzähnen und
im permanenten Gebiss zu grauen und gelben Verfärbungen, bei hohen
Dosierungen auch zu hypoplastischen Veränderungen im Zahnschmelz.
Die Verfärbung betrifft entweder einzelne Bereiche von Zähnen, die sich
während der Applikation gerade in der Entwicklung befanden, oder die
gesamte Zahnkrone. Tetrazykline bilden mit Kalzium komplexe Verbin-
dungen und werden so während der Zahnhartsubstanzbildung irreversi-
bel in den Zahnschmelz oder das Dentin eingelagert.
70 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Eine Tetrazyklinmedikation sollte während der Schwangerschaft
und bei Kindern bis zum achten Lebensjahr unterbleiben.
Fluorose Die systemische Applikation von chronisch toxischen Fluoridmengen
(z.B. Fluoridkonzentrationen > 0,05 mg/kg Körpergewicht pro Tag) oder
die einmalige kurzfristige Einwirkung hoher Fluoridkonzentrationen
(10 µmol/ml Fluorid im Blutplasma) an den Ameloblasten beeinträchti-
gen während der Zeit, in der sich die Zahnkronen entwickeln (bis zum
achten Lebensjahr), die Schmelzbildung und Schmelzreifung. Die Fol-
gen sind Schmelzveränderungen, die unter dem Begriff Fluorose zusam-
mengefasst werden.
Mit zunehmender Konzentration der chronisch erhöhten Fluorid-
zufuhr nehmen die Anzahl und der Schweregrad der gefundenen
Schmelzveränderungen zu (Abb. 2.23).
Dabei ist es unwichtig, wie es zu einer erhöhten Fluoriddosierung
kommt. Alle Formen der Fluoridapplikation (z.B. Trinkwasserfluoridie-
rung, Fluoridtabletten, fluoridhaltige Zahnpasten) können bei relativer
Überdosierung zu Fluorose führen (Abb. 2.24).
Speziell die unkontrollierte Kombination der verschiedenen Fluori-
dierungsmaßnahmen stellt in diesem Zusammenhang ein Problem dar
(zur Fluoriddosierung und -toxikologie s. Kap. 4.2.6). Die gesamte tägli-
che Fluoridaufnahme über einen längeren Zeitraum ist für die Entste-
hung von fluorotischen Schmelzveränderungen risikobestimmend. Es
handelt sich bei den Schmelzveränderungen histologisch um mehr oder
weniger stark ausgeprägte Porösitäten und Strukturdefekte unterhalb der
Schmelzoberfläche bei gleichzeitiger Akzentuierung der Retzius-Streifen
und der Perikymatien. Der Protein- und Fluoridgehalt ist im fluorotisch
veränderten Zahnschmelz gegenüber intaktem Zahnschmelz erhöht.
Klinisch erkennt man weiße, opake Flecken und Streifen, die sich bei
stärkeren Porösitäten durch exogene Einlagerung von Farbstoffen (z.B.
durch Nahrungsmittel) braun verfärben können. Oberflächendefekte
Abb. 2.23: Zusammenhang
Fluorose-Index Fci zwischen Trinkwasserfluo-
ridgehalt (log-Werte) und
schwer 4 Community index of dental
3 fluorosis (Fci) (nach Hodge
moderat
1950)
mild 2
sehr mild 1
0,1 1,0 10,0
ppm Fluorid
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne Kapitel 2 71
Abb. 2.24: Verteilung unter-
schiedlicher Schweregrade Zähne mit Fluorose
der Dentalfluorose bei Kin-
dern, die in einer Gegend 10 TWF II
mit fluoridhaltigem Trink- schwer
wasser (1–1,5 ppm Fluorid) 9 2
leben, im Vergleich zu einer moderat
Kontrollgruppe. Die Kinder 8
der Gruppe TWF II erhielten mild/
zusätzlich Fluoridtabletten, fraglich
7
da den behandelnden Zahn-
ärzten die Fluoridkonzentra-
6
tion des Trinkwassers nicht TWF I
bekannt war.
5
4
Kontrolle
3
Kontrolle
2
und Verlust von Zahnschmelz („pitting“) wie sie bei schweren fluoroti-
schen Schmelzveränderungen zu diagnostizieren sind, entstehen erst
sekundär posteruptiv durch mechanische Belastung in der Mundhöhle.
Im Milchgebiss sind fluorotisch bedingte Schmelzhypoplasien sel-
tener zu finden als im bleibenden Gebiss. Die Schmelzveränderungen
sind in der Mundhöhle verschieden verteilt. Sie nehmen von anterior
nach posterior zu und sind im Unterkiefer bukkal häufiger zu finden als
lingual. Bei leichter chronischer Fluoridüberdosierung mit geringfügi-
gen fluorotischen Schmelzveränderungen ist die Verteilung etwas an-
ders. Hier sind die mittleren Schneidezähne und die ersten Molaren we-
niger betroffen als die Prämolaren und zweiten Molaren. Es scheint so,
als ob die Zähne, die zuerst mineralisiert werden, weniger fluorotische
Veränderungen aufweisen.
Klinisch sind fluorotische Schmelzveränderungen nicht mit isolier-
ten oder idiopathischen Hypoplasien zu verwechseln, da sie sym-
metrisch auftreten und bestimmte Charakteristika aufweisen. Früher
wurden alle Schmelzflecken unter dem Begriff „mottling“ subsumiert,
sodass auf der Grundlage der so entwickelten Indizes der Anteil fluoro-
tischer Schmelzveränderungen falsch diagnostiziert wurde.
1938 wurde von Dean et al. ein Fluorose-Index entwickelt und 1942 Fluorose-Index
leicht modifiziert. Er zählte noch alle Schmelzopazitäten mit. Dieser In-
dex fängt in seiner Bewertung jedoch erst beim Auftreten kosmetisch
störender Schmelzopazitäten an. Er umfasst nicht die initialen, sehr
leichten Fluoroseerscheinungen. Der Fluorose-Index nach Dean (eigent-
lich Mottling-Index) findet heute noch häufig Verwendung, da er leicht
zu handhaben ist und bei epidemiologischen Studien auf adäquate Be-
leuchtung und extreme Trocknung der Zahnoberfläche verzichtet. Auf-
72 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Tab. 2.10: Der Fluorose-Index (besser Mottling-Index) nach Dean (community
index of dental fluorosis) eignet sich für epidemiologische Studien zur Fluo-
roseprävalenz. Er bewertet entweder ausgewählte Zähne (z.B. Frontzähne)
oder das gesamte Gebiss. Dabei werden allerdings nur die beiden am
schwersten befallenen Zähne in die Wertung einbezogen. Der Index berech-
net sich nach folgender Formel:
Fci = n x w
N
Dabei steht N für die Anzahl aller untersuchten Personen, n für die Anzahl
der Personen mit positivem Fluorosebefund und w für den ermittelten
Schweregrad.
Bewertung Beschreibung Schweregrad
Normal Keine Schmelzveränderungen 0
Fraglich Einzelne weiße Flecken 0,5
Sehr mild Kleine opake, weiße Schmelzareale, die weniger als 1,0
25% der Zahnfläche einnehmen
Mild Weiße Opazitäten, die bis zu 50% der Zahnoberflä- 2,0
che bedecken
Moderat Umschriebene braune Verfärbungen, die mehr als 3,0
50% der Zahnoberfläche einnehmen
Schwer Braune Verfärbung; der Zahn ist hypoplastisch ver- 4,0
ändert und erodiert bzw. abradiert
grund der Klassifikation von Dean entstand der community index of
dental fluorosis (Fci, Tab. 2.10).
Der 1978 von Thylstrup und Fejerskov eingeführte Index (TF-Index)
umfasst auch die ersten biologisch sichtbaren fluorotischen Erscheinun-
gen auf der Schmelzoberfläche und zählt dabei nur die symmetrisch
vorkommenden Schmelzveränderungen (Abb. 2.25). Hier ist ein ent-
sprechender Lichteinfall nach sorgfältiger Trocknung der Zahnoberflä-
che Voraussetzung.
Während in den USA und Kanada von einem Ansteigen leichter
fluorotischer Schmelzflecken berichtet wird, gibt es in Deutschland
keine Anzeichen einer steigenden Fluoroseprävalenz.
Durch Sauerstoffmangel (Asphyxie) z.B. während der Geburt (speziell
bei Frühgeburten) entstehen symmetrische Hypoplasien der Milch-
zähne und der bleibenden Molaren.
Neonatallinie Eine besondere Form dieses metabolischen Traumas ist die Neona-
tallinie, die bei allen Milchmolaren und den Sechsjahrmolaren auftre-
ten kann. Es handelt sich um eine klinisch nicht sichtbare, interne Hy-
poplasie (5–25 µm breite, treppenstufenartige Linie), die im histologi-
schen Schnitt gut darstellbar ist.
Hypokalzämie Ein weiteres metabolisches Trauma, das zu Schmelzhypoplasien füh-
ren kann, ist die Hypokalzämie. Auslöser für eine Hypokalzämie kön-
nen chronische Diarrhö im Säuglings- und Kleinkindalter, chronischer
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne Kapitel 2 73
Normaler Schmelz mit glänzender,
Grad 0: transluzenter Oberfläche ohne Defekte.
2
Nach sorgfältiger Trocknung erkennt man auf der
Schmelzoberfläche im Verlauf der Perikymatien dünne, opake,
Grad 1: weiße Linien. An den Inzisalkanten bzw. Höckerspitzen kann
es zu einer leichten Ausprägung des Schneekappenphänomens
kommen. Diese Bereiche sind dann weißlich opak verändert.
Die opaken, weißen Linien treten deutlicher hervor und
Grad 2: verlaufen manchmal zu kleinen, wolkigen Veränderungen,
die über die gesamte Schmelzoberfläche verstreut sein
können. Das Schneekappenphänomen tritt nun gehäuft auf.
Die weißen Linien verschmelzen zu größeren, wolkigen
Grad 3: Arealen, welche die gesamte Schmelzoberfläche bedecken.
Zwischen den opaken Bereichen lassen sich weiterhin weiße
Linien diagnostizieren.
Die gesamte Zahnoberfläche ist opak oder kreidig-weiß verändert.
Nur die Flächen, die in Abnutzungsbereichen (z.B. Attrition) liegen,
Grad 4: scheinen weniger betroffen zu sein. Tatsächlich ist hier der porös
veränderte Zahnschmelz rasch verloren gegangen.
Grad 5: Die gesamt Oberfläche ist opak. Man erkennt kleine, runde
Schmelzverluste (focal pits) mit einem Durchmesser von
weniger als 2 mm.
Die Schmelzverluste nehmen die Form kleiner Furchen an.
Grad 6: Die Breite dieser Bänder ist kleiner als 2 mm.
Die Höckerspitze bzw. Inzisalkante kann ebenfalls einen
Zahnhartsubstanzverlust von weniger als 2 mm aufweisen.
Die Schmelzoberfläche ist von irregulären Substanzverlusten
Grad 7: unterbrochen. Der Hartsubstanzverlust beträgt allerdings
weniger als die Hälfte der Zahnoberfläche. Der restliche
Zahnschmelz ist opak verändert.
Grad 8: Wie Grad 7, allerdings nimmt der Schmelzverlust jetzt mehr
als die Hälfte der Zahnoberfläche ein.
Es kommt zum Verlust großer Teile des Zahnschmelzes.
Grad 9: Die anatomische Form des Zahnes wird dadurch
verändert. Zervikal bleibt meistens ein halbmond-
förmiger Bereich opaken Schmelzes stehen.
Abb. 2.25: Einteilung der Zahnfluorose nach unterschiedlichen Schweregraden entsprechend dem TF-Index
(nach Thylstrup und Fejerskov 1978)
74 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Vitamin-D-Mangel der Mutter oder des Kindes, Rachitis u.a. sein. Es
können isolierte Schmelzflecken, bei schwerer Form jedoch auch sym-
metrisch verteilte Formdefekte resultieren.
Lokale Traumata Lokale Traumata während der Zahnentwicklung bzw. Mineralisation
können an einem oder mehreren Zähnen Hypoplasien und Formverän-
derungen hervorrufen. Kommt es bei einem Unfall durch Intrusion,
Kontusion, Luxation oder Avulsion der Milchzähne zu einem lokalen
mechanischen Trauma des Keims der Zuwachszähne (meistens mittlere
obere Schneidezähne), resultieren je nach Schweregrad des Traumas
und Entwicklungsstand des Zahnkeims unterschiedlich stark aus-
geprägte Schmelzveränderungen bzw. Zahnbildungsstörungen. Die
Schmelzhypoplasien reichen von weißen und gelbbraunen Verfärbun-
gen über Formdefekte (Einkerbungen im Schmelz) bis zu Abknickungen
der Krone gegenüber der Zahnwurzel (Dilazeration). Auch chirurgi-
sche Eingriffe während der Entwicklungsphase der Zähne können der-
artige Schäden hervorrufen. Durch mechanische Traumata werden am
Ort der Einwirkung die Ameloblasten zerstört, und der entsprechende
Zahn bleibt an dieser Stelle auf der erreichten Entwicklungsstufe stehen.
Kommt es beim Unfall zu Gewebeblutungen in unmittelbarer Um-
gebung des Zahnkeims, lagern sich Blutfarbstoffe in den unreifen Zahn-
schmelz ein und verfärben ihn gelbbraun.
Ein weiteres lokales Trauma kann die Einwirkung ionisierender
Strahlung (z.B. im Rahmen einer Tumorbehandlung) sein. Je nach
Strahlendosis und Entwicklungsstand der betroffenen Zahnkeime resul-
tieren wieder unterschiedliche Defekte (Hypoplasien, Mikrodontie, voll-
ständige Zerstörung des Zahnkeims).
Infektion Eine lokale Infektion einer Milchzahnpulpa (z.B. durch Karies)
kann zu einer Pulpanekrose mit anschließender Ausbildung eines chro-
nischen oder akuten periapikalen Entzündungsgeschehens führen.
Wird dabei die Knochenwand zwischen Milchzahn und Zahnkeim der
Zuwachszähne abgebaut, kann das entzündungsbegleitende Ödem
Druck auf das Schmelzorgan ausüben und damit den Zahnkeim schädi-
gen.
Die Entzündung kann sich jedoch auch auf den Zahnkeim ausbrei-
ten und so direkt schädigen. Es resultieren je nach Schweregrad der
Schädigung Schmelzhypoplasien, unvollständige oder deformierte Kro-
nen und Wurzeln. Diese Defekte treten häufig bei unteren Prämolaren
auf. Oberkiefer-Prämolaren und Schneidezähne sind seltener betroffen.
In der Literatur wird ein derartig geschädigter Zahn als Turner-Zahn be-
zeichnet. Er ist kleiner als die normalen Zähne, mit eingedellten Inzisal-
kanten bzw. verkleinerten Höckern und weist flächenförmige Schmelz-
defekte auf, die oft von Zement bedeckt sind.
Molaren-Inzi- Eine besondere Form einer Mineralisationsstörung bei bleibenden
siven-Hypo- Zähnen ist die sogenannte Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation
mineralisation (MIH). Sie betrifft zum einen die 6-Jahr-Molaren und häufig weniger
ausgeprägt die Inzisiven. Dabei sind die Oberkiefer-Inzisiven eher befal-
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne Kapitel 2 75
len als die Unterkiefer-Inzisiven. Die Mineralisationsstörung kann auf
einzelne Höcker beschränkt sein oder aber über die gesamt Glattfläche
oder das Fissurenrelief bis nach zervikal reichen. Die Mineralisationsstö-
rungen reichen von weiß-gelblichen oder gelb-braunen, unregelmäßi- 2
gen Opazitäten bis zu schwersten Hypomineralisationen mit abgesplit-
terten oder fehlenden Schmelz- und/oder Dentinarealen unterschiedli-
chen Ausmaßes.
Die Ätiologie dieser Mineralisationsstörung ist nicht genau geklärt.
So werden als mögliche Ursachen Dioxin oder polychloriertes Biphenyl
(PCB) in der Muttermilch und mehr als neun Monate langes Stillen,
Frühgeburt und Sauerstoffmangel bei der Geburt oder später, respirato-
rische Erkrankungen der frühen Kindheit (rezidivierende Bronchitiden,
Asthma bronchiale), Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Scharlach,
Mumps und Masern während der ersten drei Lebensjahre, Störungen im
Mineralhaushalt (Hypoparathyreoidismus, Malnutrition, Malabsorp-
tion, Zöliakie, Vitamin-D-Hypovitaminose) genannt.
Neben einer Intensiv-Kariesprophylaxe sollten die Defekte wenn
möglich mit adhäsiv befestigten Restaurationen versorgt werden. Bei
ausgeprägtem Substanzverlust kann eine konfektionierte Stahlkrone
oder später auch eine normale Überkronung stattfinden. Es kann zudem
bei extremer Ausprägung die symmetrische Extraktion der 6-Jahr-Mola-
ren mit anschließender kieferorthopädischer Behandlung notwendig
sein. Die Prävalenz dieser Erkrankung liegt bei 10–19%.
Dentinhypoplasien
Gemeinsam mit den Schmelzhypoplasien treten oft auch Dentinhypo-
plasien auf. Sie haben die gleichen Ursachen und äußern sich in einer
Akzentuierung der Owen-Linien, gehäuftem Auftreten von Interglobu-
lardentin und unregelmäßigem Verlauf der Dentinkanälchen. Sie tre-
ten klinisch nicht in Erscheinung, sondern sind erst im histologischen
Schnittbild zu erkennen.
Paraplasien
! Unter dem Begriff Paraplasien werden verschiedenartige zusätzli-
che Zahnauflagerungen oder -anlagerungen zusammengefasst.
Echte Schmelzperlen sind runde Gebilde, die allein aus Zahnschmelz
bestehen und der Zahnwurzel aufsitzen (meistens bei Molaren).
Zusammengesetzte Schmelzperlen bestehen aus einem Pulpaan-
teil, Dentin und einer Schmelzkappe. Sitzen echte Schmelzperlen im Be-
reich der Bi- und Trifurkationen der Zähne, so werden sie auch Schmelz-
tropfen genannt. Im Bereich der Furkationen findet man auch flache
Schmelzinseln, die manchmal die gesamte Furkation bedecken.
Schmelzsporne sind lanzettartige zervikale Verlängerungen des ko-
ronalen Schmelzes, die ebenfalls bis in die Furkationen reichen können.
76 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
Schmelzparaplasien können Plaqueretentionsstellen sein und so-
mit die Entstehung und Progression von Parodontopathien und
Wurzelkaries begünstigen.
Erhöht wird die Gefahr durch Auflagerung irregulärer, rauer Zementfor-
mationen.
Zementparaplasien können als Zementzungen und Zementinseln
im zervikalen Bereich dem Zahnschmelz aufliegen (azellulär-afibrilläres
Zement). Sie entstehen vor oder während des Zahndurchbruchs.
2.5.2 Genetisch bedingte Fehlbildungen der Zähne
! Zahnanomalien sind seltene Erkrankungen. Sie treten oft als ein
begleitendes Phänomen bei Syndromerkrankungen auf.
Anomalien der Zahnzahl und -form
Zahnüberzahl Zahnüberzahl (Hyperdontie) kommt im Milchgebiss und im perma-
(Hyperdontie) nenten Gebiss vor. Männliche Patienten sind häufiger betroffen als
weibliche.
Im Milchgebiss treten die Zähne normal durch. Meistens tritt ein zu-
sätzlicher Milchzahn im Oberkiefer-Frontzahnbereich auf.
Im permanenten Gebiss sind die zusätzlichen Zähne oft kleiner als
die normalen Zähne und irregulär geformt. Sie kommen häufig im Be-
reich der mittleren Oberkiefer-Frontzähne und Oberkiefer-Molaren vor.
Der Mesiodens ist ein zapfenförmiger Zahn mit konischer Krone
und kurzer Wurzel. Er befindet sich meistens palatinal verlagert zwi-
schen den mittleren Oberkiefer-Frontzähnen. Er kann auch retiniert
und verlagert sein. Es handelt sich wahrscheinlich um einen zusätzli-
chen Zahnkeim. Ein autosomal-dominanter Erbgang wird diskutiert.
Als Zapfenzahn wird ein zusätzlicher Zahn bezeichnet, wenn er sich
zwischen mittlerem und seitlichem Oberkiefer-Schneidezahn befindet.
Distomolaren entstehen aus der verlängerten Zahnleiste distal der
dritten Molaren (vierter und fünfter Molar sind möglich). Es sind kleine
molarenähnliche Zähne. Treten sie bukkal zwischen den normalen Mo-
laren auf, werden sie Paramolaren genannt.
Zusätzliche Eckzähne (hauptsächlich im Oberkiefer) bzw. Prämola-
ren (vornehmlich im Unterkiefer) sind häufig retiniert und nur röntge-
nologisch zu diagnostizieren.
Bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKG) und Dys-
ostosis cleidocranialis treten Hyperdontien häufiger auf als bei ande-
ren Patienten. In Einzelfällen können bei der Geburt eines Kindes oder
wenig später bereits untere zentrale Schneidezähne vorhanden sein (na-
tale, neonatale Zähne). Es sind dann aber oft keine zusätzlichen Zähne,
sondern zu früh durchgebrochene normale Milchzähne. Sie sind häufig
2.5 Entwicklungsstörungen der Zähne Kapitel 2 77
nicht regelrecht mineralisiert und stark gelockert (Gefahr der Exfolia-
tion, verbunden mit Aspiration).
Anlagebedingtes Fehlen von Zähnen ist definiert als Anodontie Anodontie
(vollständiges Fehlen aller Zähne), Oligodontie (partielle Anodontie) Oligodontie 2
und Hypodontie (Fehlen einzelner Zähne). Diese Anomalien sind häu- Hypodontie
fig assoziiert mit autosomal-dominant vererbter ektodermaler Dyspla-
sie, Down-Syndrom, LKG, otofazialer Dysostose u.a.
Extreme Ausprägungen der Zahngröße werden als Makrodontie
bzw. Mikrodontie (laterale Schneidezähne im Oberkiefer, dritte Mola-
ren) bezeichnet.
Rhizomegalie bezeichnet die Ausbildung extrem langer Wurzeln Rhizomegalie
(Oberkiefer-Eckzähne), Rhizomikrie die Ausbildung extrem kurzer Rhizomikrie
Wurzeln (zentrale Inzisivi im Oberkiefer, dritte Molaren, Prämolaren).
Als Taurodontismus wird eine seltene Anomalie der Zahnform be- Taurodontismus
zeichnet, bei der sich das Pulpenkavum von Molaren oder Prämolaren
sehr weit bis in den Wurzelbereich zieht. Die Wurzel stellt sich dabei als
massiver, breiter Körper ohne Verzweigungen dar. Die Zahnhartsub-
stanz ist histologisch normal aufgebaut.
Unter Gemination (Zahnkeimpaarung) versteht man stark verbrei- Gemination
terte Zähne (Zahnkrone erscheint oft doppelt so groß wie normal) mit
einer Furche oder Kerbe in der Zahnmitte. Es liegt nur eine Pulpakam-
mer vor, die sich jedoch nach koronal verzweigen kann. Es handelt sich
dabei um einen gescheiterten, inkompletten Teilungsversuch des Zahn-
keims. Ist der Teilungsversuch erfolgreich, so entsteht ein zusätzlicher
Zwillingszahn (Schizodontie).
Es kommt jedoch auch vor, dass zwei benachbarte Zahnkeime im
Wurzel- oder Kronenbereich partiell oder total verschmelzen (Fusion).
Auch Wurzeln einzelner Zähne können verschmelzen.
Davon schwer abzugrenzen sind Zahnverwachsungen im Zementbe-
reich eng benachbarter Zähne.
Eine spezielle Fehlbildung eines einzelnen Zahnes ist die Invagina-
tion, d.h. die Einstülpung der Zahnoberfläche während der Zahnent-
wicklung.
Genetisch bedingte Anomalien der Zahnhartsubstanzbildung
Die erblich bedingten Dysplasien werden folgendermaßen eingeteilt:
D Schmelzanomalien
D Dentinanomalien
D Anomalien, bei denen beide Zahnhartsubstanzen betroffen sind
Für die genaue Beschreibung der einzelnen Erkrankungen und ihrer
Auswirkungen auf das klinische Erscheinungsbild der Zähne muss auf
Lehrbücher der Pathologie oraler Gewebe verwiesen werden, da sie den
Rahmen dieser Einführung sprengen würde.
Bei diesen qualitativen oder/und strukturellen Anomalien sind im-
mer alle Zähne betroffen. Dabei werden die Zahnhartsubstanzen oder
78 2 Ätiologie, Histologie und Epidemiologie der Karies und anderer Zahnhartsubstanzdefekte
die organische Matrix der Zahnhartsubstanzen irregulär gebildet. In
Verbindung mit verschiedenen Syndromen treten unterschiedliche Er-
scheinungsformen mit unterschiedlichem Erbgang auf.
Schmelz- Bei den Amelogenesis-imperfecta-Formen ist die Funktion und/
anomalien oder die Differenzierung des Schmelzbildungsorgans gestört. Pulpa und
Dentin sind normal ausgebildet. Die Morbidität beträgt 1:12 000–14 000.
Man unterscheidet hypoplastische Formen von Formen mit unrei-
fem Schmelz (Hypomaturation) und Formen mit mindermineralisier-
tem Schmelz (Hypomineralisation, Hypokalzifikation). Es gibt zudem
partielle Formen und aplastische Formen. Die einzelnen Krankheitsbil-
der jeder Formengruppe sind neben definierten klinischen und röntge-
nologischen Kriterien auch an den Nachweis des Erbganges geknüpft.
Hypoplastische Formen weisen eine geringere Schmelzdicke bei
normaler Härte auf. Bei Hypomaturation produzieren die Ameloblas-
ten Schmelzmatrix in normaler Größenordnung, die präeruptive
Schmelzreifung (z.B. Wasserrückresorption) ist jedoch gestört. Der
Schmelz ist normal dick, jedoch an der Oberfläche weicher als üblich.
Bei Hypomineralisation ist der gesamte Schmelz extrem weich, da
die Kristallbildung mangelhaft ist. Bei Schmelzaplasien ist der Zahn von
einer dünnen Schicht Zement bedeckt.
Oft kommt es erst posteruptiv durch mechanische Beanspruchung zum
Verlust von Schmelzanteilen. Bei Hypoplasie und Aplasie des Schmelzes
schimmert das Dentin gelblich-braun durch. Aplastische Zähne weisen oft
eine Obliteration der Dentinkanälchen als Reaktion der Dentin-Pulpa-Ein-
heit auf. Es resultiert dann trotz Fehlen der schützenden Schmelzschicht
eine relative Unempfindlichkeit gegenüber exogenen Reizen.
Dentinanomalien Die erblich bedingten Veränderungen des Dentins werden in Denti-
nogenesis-imperfecta-Formen und Dentindysplasie unterteilt. Auch
hier gibt es verschiedene Varianten. Primär wird im Bereich des Mantel-
dentins normales Dentin gebildet. Später erfolgt eine atypische Dentin-
bildung mit einer geringeren Anzahl Dentinkanälchen und vermehrtem
Anteil organischer Substanz, manchmal mit totaler Obliteration der
Pulpa (diagnostisches Merkmal).
Der Zahnschmelz ist zwar normal strukturiert, das Dentin schim-
mert jedoch blaugrau bzw. graubraun durch.
Der Zahnschmelz kann teilweise von der Unterlage absplittern.
Wurzellose Zähne (shell teeth) fallen klinisch meistens durch starke
Lockerung auf. Sie besitzen unauffällige, normal ausgebildete Kronen,
und es sind keine Resorptionserscheinungen (Lakunen) zu diagnostizie-
ren. Auch hier ist das Pulpenkavum oft obliteriert.
Kronenlose Zähne (Capdepont-Zähne) entstehen durch starke und
rasche Abrasion von Zähnen, bei denen sowohl Schmelz als auch Den-
tin nicht regelrecht strukturiert sind. Es resultieren schmerzfreie, grau-
braune Dentinstümpfe.
Kapitel 3 79
3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen
der Kariestherapie
! Grundlage jeder medizinischen Therapie ist die richtige Diagnose
der zu behandelnden Erkrankung.
Zur Sicherung der Diagnose und Abgrenzung gegenüber anderen Er-
krankungen mit teilweise ähnlicher Symptomatik (Differenzialdiag-
nose) gehört eine umfassende und systematische Untersuchung und Be-
funderhebung.
Die Untersuchung und Befunderhebung sollte das Auftreten einer
oralen Erkrankung (Prävalenz, Schweregrad), den Grund der Erkran-
kung (ätiologische Faktoren) und Art und Güte bereits durchgeführter
Interventionen berücksichtigen. Die verwendeten diagnostischen Me-
thoden und Kriterien sollten durch Validität (reflektiert die Diagnose
den tatsächlichen Zustand?) und Reliabilität (ist die Diagnose reprodu-
zierbar, eventuell auch durch mehrere Behandler?) gekennzeichnet sein.
Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
(DGZMK) hat gemeinsam mit der Bundeszahnärztekammer und der Kas-
senzahnärztlichen Bundesvereinigung im Rahmen der Neubeschreibung
einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in die-
sem Zusammenhang einen Vorschlag für eine systematische Befunderhe-
bung vorgelegt, die diesen Forderungen Rechnung tragen soll. Dabei wird
eine Basisuntersuchung von einer weiterführenden, vertiefenden Un-
tersuchung unterschieden. Davon abzugrenzen ist die symptomorien-
tierte Untersuchung, die sich auf den zahnärztlichen Akut-Notfall be-
zieht und nur die diagnostischen Maßnahmen beinhaltet, die zielgerich-
tet für die Notfallbehandlung erforderlich sind. Auch bei Untersuchungen
im Rahmen der unterstützenden Nachsorge (individuelle risikoadaptierte
Langzeitbetreuung, Recall) werden häufig nur Einzelbestandteile der Ba-
sisuntersuchung oder der erweiterten Untersuchung erforderlich sein.
3.1 Basisuntersuchung
! Die Basisuntersuchung ist die Grundlage für weiterführende Un-
tersuchungen. Mit ihr soll festgestellt werden, ob und welche wei-
teren diagnostischen und gegebenenfalls zahnärztlich-therapeuti-
schen Maßnahmen durchgeführt werden müssen. Sie berücksich-
tigt im Sinne eines Screenings möglichst viele Zahn-, Mund- und
Kieferkrankheiten.
80 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.1: Maßnahmen der Basisuntersuchung
Merkmal Therapie und Verlauf
• Orientierendes zahnärztliches Gespräch (Erwartungen/Persönlichkeitsstruk-
tur des Patienten)
• Orientierende allgemeine und spezielle Anamnese, Präventionsanamnese
(Anlass des Zahnarztbesuches, Anamnese- und Gesundheitsfragebögen)
• Orientierende extraorale Untersuchung
• Orientierende Untersuchung der Mundhöhle und angrenzender Regionen
• Orientierende Befunde der Zähne und der Kaufunktion
– Befunde zum Zahnbestand
– Befunde zu den Zahnhartsubstanzen (kariesbedingte und nicht kariesbe-
dingte Veränderungen)
– Befunde zur konservierend- und prothetisch-restaurativen Situation
– Befunde zum Endodont
– Befunde zur parodontalen Situation
– Funktionsbefunde
– KFO-Befunde
• Orientierende Aufklärung und Beratung
Ausgehend von der Basisuntersuchung schließt sich bei unklaren oder
pathologischen Befunden sowie bei Feststellung einer Behandlungsnot-
wendigkeit eine weiterführende Untersuchung an. Diese ist auf das Ge-
biet begrenzt, in dem die jeweiligen Auffälligkeiten gefunden wurden.
Die Basisuntersuchung beinhaltet die in der Tabelle 3.1 aufgeführten
Maßnahmen.
3.1.1 Orientierendes zahnärztliches Gespräch
Während des Gesprächs soll sich der Zahnarzt einen Eindruck über die
Einstellung des Patienten zur zahnärztlichen Behandlung machen und
möglichst auch dessen psychischen Status einschätzen. Das Ergebnis ei-
nes ärztlichen Gesprächs ist vom Einfühlungsvermögen und vom Ge-
schick des Untersuchers ebenso abhängig wie von der Einstellung des
Patienten, dessen Intelligenz und Kooperationsbereitschaft (Compli-
ance). Durch das Gespräch soll ein Vertrauensverhältnis zwischen
Zahnarzt und Patient begründet werden, das eine nicht zu unterschät-
zende Grundlage für den Erfolg der zahnärztlichen Therapie darstellt.
3.1.2 Orientierende allgemeine und spezielle Anamnese
Allgemein- Die Allgemeinanamnese soll in einem kurzen Überblick den allgemei-
anamnese nen Gesundheitszustand des Patienten erfassen. Dabei wird der Patient
3.1 Basisuntersuchung Kapitel 3 81
beobachtet. Die Motorik, Hautfärbung (z.B. zyanotisch), Atemtätigkeit
(z.B. rasselnde Atemgeräusche) usw. können bereits Hinweise auf beste-
hende Allgemeinerkrankungen geben (s. Lehrbücher der inneren Medi-
zin). Mit der Allgemeinanamnese können Einflüsse von Allgemeiner-
krankungen auf die Zahngesundheit erkannt und spezielle Behand-
lungsrisiken im Bereich der Kariestherapie ausgeschlossen werden.
Hier sind besonders das Anästhesierisiko (Herzerkrankungen,
3
Schilddrüsenerkrankungen u.a.), vermehrte Blutungsneigung, Endokar-
ditisrisiko, Erkrankungen, die zu einer begrenzten Behandlungsdauer
führen (z.B. Diabetes mellitus, Anorexia nervosa), Erkrankungen mit ei-
ner Verminderung der Speichelsekretion und Allergien zu nennen.
Um diese Risiken abzuklären, werden die Patienten anhand eines
standardisierten Fragebogens befragt. Die Patienten füllen diesen Bo-
gen selbst aus und bestätigen mit ihrer Unterschrift die Vollständigkeit
und die Richtigkeit der Angaben.
Es ist wichtig, dass sich jeder neue Behandler vom Gesundheitssta-
tus des Patienten selbst überzeugt. Sind Patienten über längere Zeit
nicht zur Behandlung in der Praxis gewesen, muss die Allgemeina-
namnese erneut erhoben werden, da neue Erkrankungen aufgetre-
ten sein können.
Eine spezielle Familienanamnese ist erforderlich, wenn der Verdacht Familien-
erblich bedingter Erkrankungen vorliegt (Zahnhartsubstanzanomalien, anamnese
Dysgnathien, Tumorerkrankungen, Gerinnungsstörungen).
Die schriftliche Selbstauskunft der Patienten wird durch eine münd-
liche Befragung und evtl. durch allgemeinärztliche Befunde (Hausarzt,
Internist, Allergologe u.a.) ergänzt.
An die Allgemeinanamnese schließt sich die spezielle Anamnese Spezielle
an. Sie beinhaltet eine Befragung des Patienten zu seinem speziellen Be- Anamnese
schwerdebild im Bereich des Kauorgans.
Dabei wird die Mehrzahl der Patienten Zahnschmerzen oder Zahn-
fleischbluten angeben. Frakturierte oder herausgefallene Füllungen,
schlecht sitzende Prothesen, Zahnverfärbungen, ästhetische Probleme
u.a. sind häufige Gründe für einen Zahnarztbesuch. Die Patienten su-
chen die zahnärztliche Praxis jedoch auch zu Vorsorge- und Kontrollun-
tersuchungen auf.
Sie sollten, wenn sie vorher von einem anderen Zahnarzt behandelt
wurden, nach evtl. schon vorhandenen Röntgenaufnahmen oder spe-
ziellen Untersuchungsunterlagen befragt werden.
Bei Schmerzpatienten wird die Schilderung des Patienten durch ge- Schmerz-
zielte Fragestellungen gelenkt, und auch hier werden die Antworten do- anamnese
kumentiert.
So sind Lokalisation, zeitlicher Verlauf, Intensität und Qualität des
Schmerzes sowie schmerzauslösende Faktoren wichtige Hinweise auf
die vorhandene Erkrankung. Man muss sich jedoch darüber im Klaren
82 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
sein, dass Patienten subjektive Eindrücke schildern, die auch bei glei-
cher Erkrankung individuell sehr unterschiedlich sein können und da-
her nicht allein zur Absicherung einer Diagnose ausreichen. So können
Schmerzen übertragen (z.B. vom Oberkiefer auf den Unterkiefer) oder
projiziert werden (Schmerzempfindung wird in einem anderen Bereich
des Versorgungsgebietes eines Nervs verspürt als am Entstehungsort).
Bei ausstrahlenden Schmerzen lässt sich der Entstehungsort oft nicht lo-
kalisieren. Auch mit zunehmender Schmerzintensität nimmt die Loka-
lisierbarkeit ab. Zahnschmerzen können zudem desmodontalen oder
pulpalen Ursprungs sein. Auch hier ist oft subjektiv keine sichere Tren-
nung möglich.
Die Frage nach Beginn und Dauer von Zahnschmerzen lässt eine
grobe Unterteilung in akutes und chronisches Geschehen zu. Ein länger
bestehender Schmerz mit geringer Intensität weist auf chronische Er-
krankungen, ein starker kurzer Schmerz auf akute Erkrankungen hin.
Pochende Schmerzen weisen oft auf akutes purulentes Entzün-
dungsgeschehen hin, dabei lindert Kälte den Schmerz manchmal (zur
Schmerzqualität als diagnostischem Hilfsmittel, s. Teil II Endodontolo-
gie). Dauerschmerzen sind eher Anzeichen einer serösen Entzündung
der Pulpa, dumpfe Schmerzen und Aufbissempfindlichkeit deuten auf
eine desmodontale Problematik hin. Entlastungsschmerz tritt oft bei
Zahninfraktionen auf.
Beispiel für einen allgemeinen Anamnesebogen
(mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Dr. Staehle, Heidelberg)
Was ist Ihr Hauptanliegen, weshalb Sie uns aufsuchen?
Haben Sie momentan Zahnschmerzen? 첸 ja 첸 nein
Wurden Sie überwiesen? 첸 ja 첸 nein Wenn ja, von wem?
Welche Probleme/Erkrankungen stehen für Sie im Vordergrund?
첸 Karies 첸 Probleme mit der vorhandenen Versorgung 첸 Zahnfleischprobleme 첸 Angst vor Behandlung
첸 Verletzungen 첸 Kiefergelenksprobleme/gestörte Kaufunktion 첸 Aussehen der Zähne
Sonstiges:
Wie beschreiben Sie – unabhängig von Ihren Zähnen – Ihren allgemeinen Gesundheitszustand?
첸 sehr gut 첸 gut 첸 zufrieden stellend 첸 weniger gut 첸 schlecht
Waren Sie vor kurzem oder stehen Sie zurzeit noch in ärztlicher Behandlung/Kontrolle?
첸 ja 첸 nein 첸 unbekannt
Wenn ja: welche Fachrichtung(en)? (bei vielen Ärzten: bitte Auflistung auf gesondertem Blatt)
Name und Adresse des Hausarztes:
3.1 Basisuntersuchung Kapitel 3 83
Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein? 첸 ja 첸 nein
Wenn ja: welche? (bei vielen Medikamenten: bitte Auflistung der Präparate auf gesondertem Blatt)
Bestehen Allergien (z.B. gegen Latex)?
Wenn ja: gegen welche Stoffe (Allergiepass?)
Traten jemals Komplikationen bei zahnärztlichen Behandlungen auf? 첸 ja 첸 nein
Wenn ja: welche? 3
Bestehen oder bestanden bei Ihnen die folgenden Krankheiten/Beschwerden?
첸 ja
첸 Herz-Kreislauf-Erkrankung 첸 Infektionskrankheiten (z.B. Hepatitis, AIDS)
Wenn ja, welche? 첸 Hämatologische Erkrankungen
첸 Herzschrittmacher 첸 Lebererkrankung
첸 Künstliche Herzklappe 첸 Organtransplantation
첸 Hoher Blutdruck (Hypertonie) 첸 Immunsuppression
첸 Niedriger Blutdruck 첸 Gelenkverschleiß (Arthrose)
첸 Gehirnmangeldurchblutung/Schlaganfall 첸 Osteoporose
첸 Blutgerinnungsstörung 첸 Rheuma/Rheumatoide Arthritis
첸 Dialyse 첸 Schilddrüsenerkrankung
첸 Sonstige Nierenerkrankungen 첸 Unfälle/Verletzungen
첸 Asthma bronchiale 첸 Anfallsleiden/Epilepsie
첸 Sonstige Atemwegs-/Lungenerkrankungen 첸 Psychische Erkrankung (z.B. Depression)
첸 Magen-/Darmerkrankungen 첸 Sucht- oder Abhängigkeitserkrankung
첸 Tumorerkrankung (Bestrahlung, Chemotherapie) 첸 Migräne
첸 Glaukom (erhöhter Augendruck) 첸 Kloßgefühl im Hals
첸 Sehstörungen 첸 Mund-/Zungenbrennen
첸 Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) 첸 Mundtrockenheit
Wenn ja, welcher Typ? 첸 Würgereiz
Sind andere Ihnen wichtig erscheinende Erkrankungen/Beschwerden bekannt? 첸 ja 첸 nein
Wenn ja: welche?
Wann waren Sie das letzte Mal beim Zahnarzt?
Name/Ort des Zahnarztes
Was ist das letzte Mal gemacht worden?
Wann wurden Sie das letzte Mal im Zahn-/Kieferbereich geröntgt?
Name/Ort des Zahnarztes
Bei Frauen im gebärfähigen Alter: Besteht eine Schwangerschaft? 첸 ja 첸 nein
Wenn ja: seit wann?
Sonstige Bemerkungen
Unterschrift des Patienten Unterschrift des Zahnarztes Datum
Bei erneutem Ausfüllen des Bogens:
Hat sich Ihre Anschrift/Telefon-/Handy-Nummer geändert? Wenn ja, bitte eintragen
84 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Kommt es durch externe Reize wie Kälte oder osmotische Verände-
rungen („Zuckerlösungen“) zu Zahnschmerzen, so können u.a. Rand-
spalten, Karies oder fehlende Unterfüllungen bei Metallrestaurationen
bzw. frei liegende Zahnhälse der Grund sein.
Die spezielle Anamnese schließt Fragen zum letzten Zahnarztbe-
such, zu bisherigen Behandlungsversuchen und den dabei angewende-
ten therapeutischen Verfahren ein.
3.1.3 Präventionsanamnese
Die spezielle Anamnese schließt auch eine Präventionsanamnese ein.
Dabei wird nach Zahnfleischbluten (beim Essen, Zähneputzen oder
spontan), Mundhygienegewohnheiten (Art der Zahnbürste, Zahnputz-
frequenz, Interdentalreinigung), Fluoridprophylaxe, Ernährungsge-
wohnheiten und Konsum von Genussmitteln (z.B. Rauchen und Alko-
holgenuss) gefragt.
Ein spezieller Ernährungsfragebogen kann erforderlich sein, wenn
sich nach der Befunderhebung als Verdachtsdiagnose ein erhöhtes Ka-
riesrisiko herausstellt.
Alle anamnestischen Angaben sind subjektiv. Sie werden durch eine
Kombination aus standardisierter Fragestellung und freier Gesprächs-
führung erhoben.
Beim Zahnarzt kann die Reihenfolge von Allgemeinanamnese und
spezieller Anamnese auch umgekehrt sein. Bei einem neuen Patienten
ist es oft wichtig, sich erst die Gründe für den Zahnarztbesuch schildern
zu lassen und sich dann erst einen Überblick über den allgemeinen Ge-
sundheitszustand zu verschaffen.
Die anamnestischen Angaben werden durch objektivierbare Be-
funde ergänzt. Dabei muss der Untersucher zwischen biologischen
Variationen und pathologischen Abweichungen unterscheiden.
Diese Schwierigkeit kann z.T. dadurch bewältigt werden, dass die Be-
funde zweier Kieferhälften miteinander verglichen werden. Pathologi-
sche Befunde treten bis auf wenige Ausnahmefälle (z.B. fluorotische
Schmelzhypoplasien) einseitig auf. Werden bei einem Patienten keine
pathologischen Veränderungen festgestellt, so ist diese Tatsache auch
als Befund zu dokumentieren (o.B. = ohne Besonderheiten, kein patho-
logischer Befund).
3.1.4 Orientierende extraorale Untersuchung
Die orientierende extraorale Untersuchung beinhaltet Inspektion, Pal-
pation und eine orientierende Prüfung der Sensibilität und Motorik.
3.1 Basisuntersuchung Kapitel 3 85
Beispiel für einen ergänzenden Gesundheitsfragebogen (Präventionsanamnese)
(mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Dr. Staehle, Heidelberg)
I. Mundhygiene
Wie oft reinigen Sie Ihre Zähne? 첸 weniger als 1 x täglich 첸 1–2 x täglich 첸 mehr als 2 x täglich
Wie lange dauert der längste Putzvorgang? 첸 weniger als 1 Minute 첸 1–2 Minuten 첸 über 2 Minuten
Spülen Sie nach dem Zähneputzen Ihren Mund mit Wasser? 첸 ja 첸 nein
Welche Zahnbürste verwenden Sie? 첸 Handzahnbürste 첸 Elektrische Zahnbürste 3
Welche Bürstbewegungen bevorzugen Sie? 첸 eher schrubbend 첸 eher kreisend 첸 sonstige
Wie oft tauschen Sie jährlich Ihre Zahnbürste aus? Wann haben Sie zuletzt Ihre Zahnbürste ausgetauscht?
Welche Zahnpaste verwenden Sie? Enthält sie Fluorid? 첸 ja 첸 nein 첸 nicht bekannt
Blutet es beim Zähneputzen? 첸 ja, immer 첸 ja, gelegentlich 첸 nie oder sehr selten
Besteht – selbst oder von anderer Seite
bemerkter – Mundgeruch? 첸 ja, häufig 첸 ja, gelegentlich 첸 nie oder sehr selten
Verwenden Sie weitere Hilfsmittel zur Mundhygiene? 첸 ja, täglich 첸 ja, gelegentlich 첸 nie oder sehr selten
Wenn ja, welche? 첸 Zahnseide 첸 Interdentalraumbürste 첸 Sonstige
Ist die Handhabung problematisch? 첸 ja 첸 nein Wenn ja: 첸 mit Zahnseide 첸 mit Interdentalraumbürste
Bei Prothesenträgern: Spezialmittel zur Prothesenreinigung
II. Fluoridangebot
Verwenden Sie spezielle Fluorid-Präparate? 첸 ja 첸 nein 첸 wenn ja: welche?
Verwenden Sie regelmäßig Mundspüllösungen/Mundwässer? 첸 ja 첸 nein 첸 wenn ja: welche?
Trinken Sie häufig Schwarztee? 첸 ja 첸 nein
Trinken Sie häufig fluoridhaltige Mineralwässer? 첸 ja 첸 nein 첸 nicht bekannt
Nehmen Sie mit fluoridiertem Kochsalz zubereitete Speisen zu sich? 첸 ja 첸 nein 첸 nicht bekannt
Sonstige Bemerkungen zum Fluoridangebot
III. Ernährung
Wie häufig essen Sie über den Tag verteilt zuckerhaltige Produkte? 첸 1 x oder seltener 첸 2–5 x
첸 6–10 x 첸 über 10 x
Wie häufig trinken Sie über den Tag verteilt zuckerhaltige Getränke? 첸 1 x oder seltener 첸 2–5 x
첸 6–10 x 첸 über 10 x
Essen oder trinken Sie sehr häufig über den Tag verteilt Obst oder Jogurt-Produkte? 첸 ja 첸 nein
Bevorzugen Sie überwiegend sog. Vollwert-Kost? 첸 ja 첸 nein
Sind Sie Vegetarier? 첸 ja 첸 nein
Bestehen überempfindliche Zahnhälse? 첸 ja 첸 nein
Kauen Sie Kaugummis? 첸 nie 첸 gelegentlich 첸 täglich 1–3 x 첸 täglich mehr als 3 x
Leiden Sie unter häufigem Erbrechen? 첸 ja 첸 nein
Besteht eine Ess-Störung (Bulimie, Anorexia nervosa)? 첸 ja 첸 nein
Sonstige Angaben zu besonderen Ernährungsgewohnheiten:
IV. Rauchen
Rauchen Sie zurzeit? 첸 ja 첸 nein Wenn ja: Wie viele Zigaretten/Zigarren rauchen Sie pro Tag?
Rauchten Sie früher? 첸 ja 첸 nein Wenn ja: von bis wie viele Zigaretten/Zigarren pro Tag?
V. Allgemeines
Familienstand:
Schul-/Berufsabschluss: 첸 Kein Schulabschluss 첸 Hauptschule 첸 Mittlere Reife
첸 Abitur 첸 abgeschlossenes Studium
Erlernter Beruf Derzeit ausgeübter Beruf 첸 Derzeit nicht berufstätig
VI. Sonstige Bemerkungen
Unterschrift des Patienten Unterschrift des Zahnarztes Datum
Bei erneutem Ausfüllen des Bogens: Hat sich Ihre Anschrift/Telefon-/Handy-Nummer geändert?
Wenn ja, bitte eintragen
86 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Dabei soll im Kopf-Hals-Bereich festgestellt werden, ob durch Be-
funde wie z.B. Schwellungen, Hautveränderungen, palpierbare Lymph-
knoten, schmerzhafte Nervenaustrittspunkte usw. die Notwendigkeit ei-
ner weiterführenden Untersuchung gegeben ist.
3.1.5 Orientierende Untersuchung der Mundhöhle und der
angrenzenden Regionen
Inspektion und Bei der orientierenden Untersuchung der Mundhöhle gewinnt der
Palpation Zahnarzt durch Inspektion und Palpation der Mundschleimhäute, des
Mundbodens und des Rachenraums Informationen über Verletzun-
gen, Schwellungen, Blutungen, Erhebungen, Entzündungszeichen,
Farbveränderungen, Erosionen, Ulzerationen, Beläge, Oberflächenver-
änderungen usw. Die intraorale Palpation umfasst auch die knöchernen
Strukturen sowie die Weichgewebe der Wange, Zunge (Zungengröße,
-motorik, -veränderungen) und des Mundbodens.
Ein besonderes Augenmerk sollte bei der intraoralen Untersuchung
auf die Speichelsekretionsrate gerichtet werden.
Speichelfluss- Eine Speichelflussverminderung ist vermutlich vorhanden, wenn
verminderung während der Untersuchung kein Speichelsee auf dem Mundboden zu
finden ist, die Spiegelrückseite oder die Finger des Untersuchers nicht
auf der Schleimhaut gleiten oder ein ungewöhnlich hoher Plaque- und
Kariesbefall vorliegt.
Foetor ex ore Foetor ex ore kann auf verschiedene Erkrankungen hinweisen wie
z.B. Infektionen des Mund-Rachen-Raums, Erkrankungen der Luft- und
Speiseröhre, Stoffwechselerkrankungen.
3.1.6 Orientierende Untersuchung der Zähne und der
Kaufunktion
Mit diesen Untersuchungen werden Befunde zum Zahnbestand (z.B.
überzählige und fehlende Zähne, Zahnlücken usw.) und Befunde zu den
Zahnhartsubstanzen (Vorhandensein kariesbedingter und nicht karies-
bedingter Läsionen bzw. von Zahnfrakturen, Veränderungen der Zahn-
form, -farbe, -oberflächenstruktur) erhoben. Sie beinhalten zudem Be-
funde zur konservierend-restaurativen und prothetisch-restaurativen
Versorgung (Fissurenversiegelungen, Füllungen, Kronen, Implantate,
Brücken, Prothesen). Dabei soll insbesondere festgehalten werden, ob
und welche Mängel vorliegen und ob diese eine zahnärztliche Maß-
nahme erfordern.
Daneben sind auch Befunde zum Zustand des Endodonts, z.B. in
Form einer Sensibilitätstestung bei Zähnen mit großen Restaurationen,
3.1 Basisuntersuchung Kapitel 3 87
zu erheben. Die Befunde zur parodontalen Situation werden mit dem
Parodontalen Screening-Index (PSI) erhoben. Orientierende Funk-
tionsbefunde (z.B. Schmerzen im orofazialen Bereich, instabile Okklu-
sionsverhältnisse) und orientierende kieferorthopädische Befunde
(Größen- und Lageanomalien der Kiefer, Zahnfehlstellungen und Stö-
rungen im Zahnwechsel) gehören ebenso zur orientierenden Untersu-
chung.
3
3.1.7 Orientierende Aufklärung und Beratung
Im Anschluss an die Basisuntersuchung wird der Patient über das Ergeb-
nis aufgeklärt und, falls erforderlich, auf die Notwendigkeit einer erwei-
terten Untersuchung hingewiesen. Eine detaillierte Beratung über an-
stehende zahnärztliche Behandlungsmaßnahmen kann aber in der Re-
gel erst nach erfolgter erweiterter Untersuchung stattfinden.
Die weiterführenden Untersuchungen erfolgen – wie oben bereits
beschrieben – nur dann, wenn sich in der Basisuntersuchung An-
haltspunkte dafür ergeben, dass in einem bestimmten Bereich pa-
thologische oder zweifelhafte Befunde resultieren.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, die erweiterten Untersu-
chungen für die einzelnen Fachgebiete (z.B. weiterführende Befunde zur
Funktion des Kausystems, zu Traumata, zur ästhetischen Situation, zur
kieferorthopädischen Situation, zur chirurgischen Situation usw.) dar-
zustellen.
Es werden deshalb im Folgenden nur die generellen Prinzipien der
weiterführenden Befunderhebung für den Bereich Zahnerhaltung dar-
gestellt. Dabei wird eng umschrieben auf die Untersuchungen der Zahn-
hartsubstanzen und des Zustands der restaurativen Versorgung einge-
gangen. Die Aufzeichnung der Befunde (Dokumentation) erfolgt indivi-
duell unterschiedlich. Es kann daher nicht Aufgabe dieses Buches sein,
allgemein gültige, standardisierte Formblätter für die Befunderhebung
in der Zahnerhaltung zu präsentieren. Deshalb sind nur die bei den Ver-
fassern gebräuchlichen Dokumentationshilfen beispielhaft aufgeführt.
Entsprechend der didaktischen Einteilung des Buches wird in Teil II und
III auf die speziellen Untersuchungsmethoden im Rahmen der Endo-
dontologie und Parodontologie eingegangen. Da die Patienten jedoch
den Zahnarzt meist nicht nur aufgrund eines isolierten kariologischen,
endodontischen bzw. parodontologischen Gesundheitsproblems aufsu-
chen, ergänzen sich die Einzelbefunde. Eine exakte Diagnose und aus-
reichende Therapieplanung ist dann nur unter Berücksichtigung des
Gesamtbefundes möglich.
88 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der
Zahnhartsubstanzen, zur konservierend- und
prothetisch-restaurativen Versorgung sowie zum
Zustand des Endodonts (Zahnstatus)
Wird bei der Basisuntersuchung festgestellt, dass eine erweiterte Unter-
suchung der Zahnhartsubstanzen gegebenenfalls inklusive der restaura-
tiven Versorgung bzw. des Endodonts erforderlich ist, so wird diese wie
in der Tabelle 3.2 dargestellt vorgenommen.
Dabei sind Maßnahmen, welche in der Regel zu erbringen sind, von
Maßnahmen und Methoden zu unterscheiden, die fakultativ sind
oder befundbezogen zu erbringen sind.
Tab. 3.2: Bestandteile der erweiterten Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen, zur kon-
servierend- und prothetisch-restaurativen Versorgung sowie zum Zustand des Endodonts nach ei-
nem Konzept von DGZMK, KZBV und BZÄK im Rahmen der Neubeschreibung einer präventionsori-
entierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Zahnstatus) (nach Hellwig, Lauer und Staehle). Be-
fundbezogene Maßnahmen sind farbig unterlegt.
In der Regel zu Methoden Ergänzende Maßnah- Erläuterungen
erbringende men und Methoden
Maßnahmen (fakultativ)
1. Weiterfüh- Unstruktu- Aufzeichnung durch Detaillierte Erfassung des Anliegens des Patienten
rendes riertes oder Medien wie z.B. Ton- unter Berücksichtigung seiner psychosozialen Le-
ärztliches strukturier- band/Video für wei- benssituation; Einschätzung seiner Compliance, sei-
Gespräch tes Inter- terführende diagnos- nes Gesundheitsbewusstseins und seiner Erwar-
view tische Auswertungen tungshaltung
2. Weiterfüh- Unstruktu- Verwendung von Soziale Anamnese
rende all- riertes oder fachspezifischen Anmerkung: z.B. Angaben über Ausbildung, Berufs-
gemeine strukturier- Frage- und Testbögen, tätigkeit, frühere oder geplante Wohnortwechsel,
und spe- tes Inter- Aufzeichnung durch besondere berufliche Expositionen/Lebensbedin-
zielle view Medien wie z.B. Ton- gungen
Anamnese band/Video für wei- Familienanamnese
terführende diagnos- Anmerkung: z.B. Angaben über familiäre Risikofak-
tische Auswertungen toren für besondere Erkrankungen im Zahn-, Mund-
und Kieferbereich
• Bei Kindern: soziales Umfeld, familiäre Betreu-
ungssituation
Allgemeine Anamnese
Anmerkung: z.B. Angaben über allgemeinmedizini-
sche Erkrankungen und Besonderheiten (einschl.
Konzentrationsvermögen, manuelle Geschicklich-
keit, Sehfähigkeit)
• Bei Kindern: z.B. Angaben des Körpergewichts
Auf der Basis des weiterführenden ärztlichen Ge-
sprächs und der weiterführenden allgemeinen
Anamnese ist – ggf. unter Einbeziehung von Testbö-
gen – auch eine Erhebung des psychischen Befun-
des bzw. ein psychosomatisches Screening möglich
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 89
Tab. 3.2: Fortsetzung
In der Regel zu Methoden Ergänzende Maßnah- Erläuterungen
erbringende men und Methoden
Maßnahmen (fakultativ)
Spezielle Anamnese
Anmerkung: z.B. Angaben über Beschwerden des
Patienten, frühere zahnärztliche Behandlungen, Al- 3
ter der restaurativen Versorgung bzw. des Zahner-
satzes, Kau- und Sprachvermögen
Schmerzanamnese
Lokalisation, Schmerzintensität, Schmerzqualität,
Dauer, Häufigkeit, akuter vs. chronischer Schmerz,
Einfluss nehmende Faktoren, tageszeitliche Abhän-
gigkeit
• Bei Kindern: Angstanamnese (motorische Auffäl-
ligkeiten, mimische Zeichen, Sprachstörungen,
physiologische Indikatoren, verbale Äußerungen)
3. Weiterfüh- Unstruktu- Verwendung fachspe- Erfassung von individuellen Risikofaktoren für
rende Prä- riertes oder zifischer Frage- und orale Erkrankungen, z.B. Ernährungsanamnese,
ventions- strukturier- Testbögen, Aufzeich- Raucheranamnese, Mundhygienegewohnheiten
anamnese tes Inter- nung durch Medien
view wie z.B. Tonband/Vi-
deo für weiterfüh-
rende diagnostische
Auswertungen
4. Weiterführende extraorale Untersuchung
Weiterfüh- Visuelle Indiziert z.B. bei Fazialisparese, Trigeminusschädi-
rende Be- Diagnostik, gung
funde zu Sen- Palpation,
sibilität und Erfassung
Motorik im der Reaktion
Gesichts-/ auf äußere
Kopf-/Halsbe- Reize, moto-
reich rische Funk-
tionsprü-
fung
Erfassung des Visuelle Visuelle Diagnostik Zur Feststellung von Neubildungen, Asymmetrien,
äußeren Er- Diagnostik unter Einsatz von Ver- Hautverfärbungen usw., extraoraler Teil des „Ästhe-
scheinungs- größerungshilfen tikstatus“, z.B. Beurteilung von Weichteilprofil, Ent-
bildes (ein- (Lupe/Mikroskop), blößung der Zahnreihen/Gingiva beim Sprechen
schl. extra-/ Fotografie (extraoral/ und Lachen, Verlauf der Gingivagirlanden, Beurtei-
intraoraler enoral) zur weiteren lung der Lippenmorphologie (Lippenschlusslinie,
Übergangs- diagnostischen Aus- Lachlinie)
bereich) wertung, • Bei Kindern: Weichteilschwellung, Verletzungen,
visuelle Diagnostik Effloreszenzen der Haut, Exanthem, weitere
nach diagnostischer Symptome von Allgemeinerkrankungen in der
Formkorrektur von Mundhöhle (Infektionserkrankungen, Blutkrank-
Zähnen oder Facial-/ heiten, Hauterkrankungen), Fistelbildungen
Dental-Imaging
90 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.2: Fortsetzung
In der Regel zu er- Methoden Ergänzende Maßnahmen Erläuterungen
bringende Maß- und Methoden (fakultativ)
nahmen
5. Weiterführende Untersuchung der Mundhöhle und angrenzender Regionen
Beurteilung des Visuelle Di- Mikrobiologische/biochemi- Bestimmung der Speichelfließrate ist
Speichels und der agnostik, Be- sche Analysen, z.B. indiziert bei gering befeuchteten
Mundflüssigkeit stimmung Bestimmung der Pufferkapa- Schleimhäuten und bei der Versorgung
des Spei- zität der zahnlosen Kiefer mit Totalprothesen
chelflusses
Untersuchung Visuelle Sondierung, Motorische Farbe, Durchblutung, Veränderungen
zahnloser Bereiche Diagnostik, Funktionsprüfung von Oberfläche und Konsistenz, Impres-
einschl. Mundbo- Palpation sionen, Ulzera, Fistelungen
den, Vestibulum, Bei Zunge zusätzlich:
Zunge,Wange, Größe, Mobilität, Beläge
Gaumen, Mukosa, Bei Alveolarknochen ggf.: Atrophiegrad
Alveolarknochen
Beurteilung der Erfassung Mikrobiologische/biochemi- Indiziert z.B. bei Patienten mit Foetor ex
Atemluft sensorischer sche Analysen, Chemische ore
Signale Testungen zur Zusammen-
setzung der Atemluft
6. Weiterführende Untersuchung der Zähne (erweiterter Zahnstatus)
Weiterführende Visuelle Z.B. Beurteilung von Lückenbildungen,
Befunde zum Diagnostik Kippungen, Drehungen, Elongationen,
Zahnbestand Farben, Formen, Strukturmerkmalen
(Verfärbungen, Transparenzen, Oberflä-
chentexturen, Rissbildungen) von Zäh-
nen, Pfeileranzahl und -verteilung, Kau-
ebene, Art und Ausmaß von Parafunktio-
nen/Habits
Beurteilung der Überprüfung der individuel- Wenn erforderlich zur Beurteilung der
Mundhygiene len Einsatzmöglichkeiten präventiven Initialbehandlung oder bei
und des Plaque- von Mundhygienehilfsmit- Patienten, die nicht an der präventiven
aufkommens teln (Anwendungstest) Initialbehandlung teilgenommen haben
Weiterführende Visuelle Visuelle Diagnostik unter Ein- Z.B. flächenbezogene Erfassung von Ka-
Befunde zur Situa- Diagnostik, satz von Vergrößerungshilfen ries, Erosionen, Attritionen, Abrasionen,
tion der Zahnhart- Sondierung (Lupe, Mikroskop), fiberopti- freiliegenden Zahnhälsen, keilförmigen
substanzen (ka- sche Transillumination (FOTI), Defekten, Opazitäten, Hypoplasien, Ano-
ries- und nicht ka- Laserfluoreszenzmessung, malien der Zahnentwicklung
riesbedingte elektrische Widerstandsmes- flächenbezogene Beurteilung von Art
Veränderungen sung, taktile Beurteilung von und Qualität, Hygienisierbarkeit vorhan-
mit Angaben zu Approximalkontakten (z.B. dener Restaurationen einschließlich der
Art und Ausdeh- Testung mit Zahnseide oder Restaurationsränder (positive/negative
nung) sowie zur Matrizenband), visuelle Ap- Stufe, Spaltbildung)
konservierend- proximalraumdiagnostik Besonderheiten bei der Beurteilung pro-
restaurativen und nach Separation, Testung thetischer Versorgungen:
prothetisch-res- mittels chemischer Marker perioprothetische Gestaltung, horizon-
taurativen Versor- (z.B. Färbelösungen), Abfor- tale/vertikale Kieferrelation, Brücken-
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 91
Tab. 3.2: Fortsetzung
In der Regel zu er- Methoden Ergänzende Maßnahmen Erläuterungen
bringende Maß- und Methoden (fakultativ)
nahmen
gung (mit Anga- mung/Modellerstellung zur zwischenglieder, Verblendung, Halte-,
ben zu Art, Aus- weiteren diagnostischen Stütz- und Verbindungselemente, Sattel-
dehnung und Auswertung (s. Modul Abfor- ausdehnung, Zahnaufstellung, Prothe- 3
Qualität von Res- mung), diagnostische Form- senhalt, Kauebene, Prothesenhygiene
taurationen) korrektur,Wax up/Set up;
Dental-Imaging, intraorale
Fotografie zur weiteren diag-
nostischen Auswertung, Ma-
terialgewinnung zur werk-
stoffkundlichen Analyse von
Restaurationsmaterialien
Radiologische Diagnostik Allgemeine Anmerkungen zur radiologi-
(Orthopantomogramm, Ein- schen Diagnostik:
zelaufnahmen, Bissflügel) Sie ist z.B. indiziert, wenn die klinische
Diagnostik zu einem Verdacht auf pa-
thologische Befunde führte und vor um-
fangreichen restaurativen Maßnahmen.
Sie dient u.a. zur Feststellung und Gra-
duierung kariöser und nicht kariöser
Zahndefekte und zur qualitativen Beur-
teilung von Restaurationen bzw. prothe-
tischen Versorgungen
Speziell zu Bissflügelnahmen:
Sie sind z.B. indiziert bei klinisch nicht di-
agnostizierbarer Karies und bei Verdacht
auf Restaurationsdefekte, insbesondere
im nicht einsehbaren Approximalraum
und für die Beurteilung der Zahnhart-
substanzen unter einer Restauration
Weiterführende Visuelle Di- Erfassung sensorischer Sig- Weiterführende endodontische Befunde
endodontische agnostik zur nale, Testung mit fara- werden erhoben bei Verdacht auf endo-
Befunde Beurteilung dayschem Strom, thermi- dontologische Problematik
von Farbe, sche Sensibilitätstestung
Transparenz (Wärmetest), selektive Anäs-
und Translu- thesie, Testkavität/Probetre-
zenz, ther- panation, Aufbiss-/Entlas- Aufbiss- und Entlastungstest ist indi-
mische Sen- tungstest ziert bei Verdacht auf Zahninfraktur
sibilitätstes-
tung
(Kältetest),
Perkussion
(horizon-
tal/vertikal),
Palpation
Sondierung
92 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.2: Fortsetzung
In der Regel zu er- Methoden Ergänzende Maßnah- Erläuterungen
bringende Maß- men und Methoden
nahmen (fakultativ)
Einsatz bildgeben- Einsatz bildgebender Verfahren ist in-
der Verfahren diziert z.B. bei Verdacht auf Resorption,
(Röntgeneinzel- apikale Parodontitis (einschließlich pe-
zahnaufnahmen, riradikulärer Läsionen), Paro-Endo-Pro-
ggf. besondere bleme, zur Beurteilung vorhandener
Projektionen) Wurzelfüllungen, Wurzelfrakturen; zur
Beurteilung von Zahn-, Wurzelanato-
mie einschl. umgebender Strukturen
Weiterführende s. Lehrbücher Pa- s. Lehrbücher Parodon- bei PSI > 2
parodontologi- rodontologie tologie
sche Befunde (s.
Lehrbücher Paro-
dontologie)
Weiterführende s. Lehrbücher s. Lehrbücher Funktions- Indiziert z.B. bei Parafunktionen, Vor-
Funktionsbefunde Funktionsdiag- diagnostik kontakten in habitueller oder zentri-
und Bewertung nostik scher Okklusion, Interferenzen in dyna-
der Okklusion (s. mischer Okklusion, deutlicher Ände-
Lehrbücher Funk- rung der Vertikaldimension, vor/nach
tionsdiagnostik) umfangreichen Restaurationen oder
funktioneller Vorbehandlung
7. Synoptische Bestimmung von Indi- Bewertung der Behandlungsbedürftig-
Auswertung der zes, Vornahme von Gra- keit nach Standards (soweit vorhan-
Ergebnisse von duierungen, Score-Ein- den) unter Würdigung der Gesamtsi-
ärztlichem Ge- stufungen, Zuordnung tuation von Zahnhartsubstanzen, res-
spräch, Anamnese zu Klassifikationen, Er- taurativer Versorgung, Endodont und
und Befundung stellung von Risikoprofi- ggf. weiteren relevanten Merkmalen
len, Bewertung weiterer wie z.B. Parodont oder Funktion, Ge-
Aspekte außerhalb des genüberstellung der Wünsche, Bedürf-
ZMK-Bereichs (z.B. aller- nisse, Erwartungen und Voraussetzun-
gologischer, toxikologi- gen des Patienten mit den Ergebnissen
scher und/oder psycho- der vorgenommenen Diagnostik, Pla-
somatischer Art) nach nung und Beratung
Überweisung an den
Spezialisten/Facharzt
Die Tabelle 3.2 wurde der Neubeschreibung einer präventionsorien-
tierten Zahnheilkunde entnommen. Nachfolgend wird im Text eine
vereinfachte klinische Vorgehensweise bei der erweiterten Untersu-
chung beschrieben. Sie beschränkt sich weitestgehend auf den Punkt 6
der Tabelle; dabei wird auf einzelne Maßnahmen speziell eingegangen.
Grundsätzlich erfolgt die Dokumentation der Befunde auf einem
Formblatt oder EDV-gestützt (Zahnstatus). Ein vereinfachtes Formblatt
ist in der Abbildung 3.1 dargestellt.
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 93
Patient: geb. am: Datum der Befundaufnahme:
Sofortmaßnahmen: Mundbefund (insbes. Parodontalbefund):
Bemerkungen:
Erosion/Abrasion (1= ohne/2 = mit Dentinbeteiligung)
Zahnlockerung (I III)
Sondierungstiefen (bei Blutung rot unterstreichen)
Sensibilitätstest (+/ )
18 17 16 15/ 55 14/ 54 13/ 53 12/ 52 11/ 51 21/ 61 22/ 62 23/ 63 24/ 64 25/ 65 26 27 28
Restaurationsart 3
R 8 7 6 5 4 3 2 1 1 2 3 4 5 6 7 8 L
Sonstiges (z.B. Finieren, Polieren):
48 47 46 45/ 85 44/ 84 43/ 83 42/ 82 41/ 81 31/ 71 32/ 72 33/ 73 34/ 74 35/ 75 36 37 38
Bissflügel-Röntgenaufnahme:
Speichel verändert
d 17 m d 16 m d 15 m d 14 m m 24 d m 25 d m 26 d m 27 d klinisch
d 47 m d 416 m d 45 m d 44 m m 34 d m 35 d m 36 d m 37 d subjektiv
ja nein
Kariesausdehnung: D1 D4; Fläche wegen Überlappung nicht beurteilbar: X; Kariesrezidiv: R;
überstehender Füllungsrand: ÜF; Sekundärkaries: Sek; Randspalt: RS
Fissurenkaries: FK; Wurzelkaries: W
Abb. 3.1: Standardisierter zahnärztlicher Befundbogen im Rahmen der Kariestherapie. In den Zahnstatus
werden folgende Befunde (bzw. Verdachtsdiagnosen) eingetragen:
D Karies und Zahnhartsubstanzdefekte, die invasiv behandelt werden müssen: rote Markierung der ent-
sprechenden Zahnflächen
D Vorhandene Füllungen: blaue Markierung der entsprechenden Zahnflächen
D Erneuerungsbedürftige Füllungen (z.B. Sekundärkaries, Kariesrezidiv, Randspalt, Füllungsfraktur usw.):
rote Umrandung der blau markierten Flächen
D Initialkaries: grün
D Krone: K, Brückenglied: B
D Erneuerungsbedürftige Krone: mit roter Markierung
D Zu extrahierender Zahn: X
D Fehlender Zahn: ≡
D Restaurationsart: C = Komposit, A = Amalgam, G = Gold, K = Keramik, P = Provisorium, Aufbaufüllung,
AV = andere Versorgung, Fiss = Fissurenversiegelung
D Zahn im Durchbruch: i.D.
Die Befunde der Bissflügel-Röntgenaufnahmen werden entsprechend in das dafür vorgesehene Schema
eingetragen. Alle Röntgenbefunde, die eine invasive Behandlung erfordern, werden anschließend in den
Zahnstatus übertragen (rote Markierung). Die Graduierung der Kariesausdehnung D1–D4 ist in Kapitel 3.2.1
„Kariesdiagnose“ und in Abbildung 3.3 erklärt. Rein präventiv zu behandelnde Karies kann gesondert ein-
getragen werden. Weitere Zahnhartsubstanzdefekte (Erosionen, keilförmige Defekte usw.) sind ebenfalls
gesondert aufzuzeichnen. In die Zeile Erosion/Abrasion können dann die Lokalisation (v = vestibulär, o =
okklusal, p = palatinal, l = lingual) und der Schweregrad eingetragen werden.
94 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Präventive Zur Untersuchung müssen die Zähne sauber sein, d.h. störende
Initialbetreuung Plaque und Zahnstein werden vor der eingehenden Untersuchung ent-
fernt (präventive Initialbetreuung). Die Zähne werden mit Watterol-
len trocken gelegt und mit einem Luftbläser getrocknet.
Klinische - Die klinische Untersuchung der Zähne erfolgt systematisch mit Spie-
Untersuchung gel, Sonde, Parodontalsonde und Zahnseide. Man beginnt i.d.R. mit dem
letzten Zahn im ersten Quadranten (von 18 nach 11), untersucht dann
den zweiten Quadranten (von 21 nach 28), fährt mit dem dritten Qua-
dranten fort (von 38 nach 31) und beendet die Untersuchung mit dem
vierten Quadranten (von 41 nach 48). Es ist dabei auf eine ausreichende
Ausleuchtung der Mundhöhle und eine adäquate Position des Behand-
lungsstuhls zu achten. Der Spiegel sollte vorher angewärmt werden, um
ein Anlaufen durch die Atemluft zu vermeiden. Während man allgemein
im medizinischen Bereich streng zwischen Befund und Diagnose trennt,
wird bei der klinischen Aufnahme des Zahnstatus vom erfahrenen Zahn-
mediziner oft die Diagnose gleich im Befundblatt vermerkt. So wird z.B.
bei einer Karies nicht der Befund „dunkle, erweichte Zahnhartsubstanz-
veränderung mit eingebrochener Oberfläche“ notiert, sondern die Diag-
nose „manifeste, behandlungsbedürftige Karies“ aufgezeichnet.
3.2.1 Kariesdiagnose
! Der kariöse Prozess weist Phasen der Progression, Stagnation oder
sogar Remission auf. Es ist daher heute die Aufgabe des Zahnarz-
tes, nicht nur kariöse Läsionen von gesunder Zahnhartsubstanz,
sondern auch aktive Kariesläsionen von inaktiven zu unterschei-
den.
Die Kariesdiagnose sollte idealerweise auch die Progression einer kariö-
sen Demineralisation und die Kariesaktivität bzw. das Kariesrisiko ei-
nes Patienten berücksichtigen. Anhand dieser diagnostischen Kriterien
wird anschließend eine Behandlungsplanung für die jeweilige Zahnflä-
che erstellt, wobei prinzipiell zwischen invasiven und nicht invasiven
Vorgängen unterschieden wird.
Fissuren- und Für die Diagnose der Fissuren- und Grübchenkaries stehen fol-
Grübchenkaries gende Methoden zur Verfügung: Inspektion (mit bloßem Auge oder Ver-
größerungshilfe), Sondierung (stumpfe Sonde), Röntgen (Bissflügelauf-
nahme), Transillumination (Faseroptiktransillumination), Messung des
elektrischen Widerstandes (Kariesmeter), Laserfluoreszenz-System
(Diagnodent).
Prinzipiell wird bei der Kariesdiagnose heute keine spitze Sonde
mehr verwendet, da bei üblicher Sondierung die Oberflächen-
schicht einer bestehenden Initialkaries verletzt oder eingedrückt
werden kann.
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 95
Das Haken einer Sonde in einer Fissur ist zudem kein Hinweis auf das
Vorhandensein einer Karies, sondern spiegelt in erster Linie die Fissu-
renmorphologie wider. Eine spitze Sonde findet nach wie vor Verwen-
dung zur Überprüfung der Kariesfreiheit bei der Exkavation, bei der Son-
dierung von Restaurationsrändern (Verdacht auf Sekundärkaries) und
bei Sondierung im nicht einsehbaren Bereich (subgingival bei Verdacht
auf Wurzelkaries).
3
Während eine offene Kavität leicht mit dem Auge zu erkennen ist,
ist die Kariesdiagnose bei nicht eingebrochener Oberfläche schwierig.
Während dunkelbraun oder schwarz verfärbte Fissuren bei Kindern und
Jugendlichen nicht selten auf eine manifeste Dentinkaries hinweisen,
trifft dies für Erwachsene nicht zu. Breitflächig entkalkte Zonen am Fis-
sureneingang sind jedoch relativ oft mit einer Dentinkaries verbunden,
und Opazitäten am Fissurenfundus stellen ebenfalls einen guten Indika-
tor für Dentinkaries dar (Tab. 3.3).
Die Eignung eines entsprechenden Instrumentariums für die Diag- Vier-Felder-Tafel
nose wird üblicherweise anhand einer Vier-Felder-Tafel berechnet. Da-
bei werden die Sensitivität, Spezifität, der positive Vorhersagewert und
der negative Vorhersagewert berechnet.
Eine hohe Sensitivität bedeutet z.B., dass die Prognose behand-
lungsbedürftige Dentinkaries sich tatsächlich nach dem Aufziehen z.B.
einer Fissur auch verifizieren lässt. Eine hohe Spezifität liegt vor, wenn
man gesunde Flächen tatsächlich auch als gesund erkannt hat (Abb.
3.2). Anhand dieser statistischen Berechnungen lassen sich die verschie-
denen Methoden zur Kariesdiagnostik für die Fissuren beurteilen (s. Tab.
3.3). Wie man erkennen kann, lässt sich durch reine Inspektion (gleich-
gültig, ob mit Sonde oder mit Vergrößerungshilfe) eine Karies selten
richtig diagnostizieren. Eine Inspektion und die Zuhilfenahme von Biss-
flügelaufnahmen erhöhen die Diagnosesicherheit erheblich. Berück-
sichtigt man dann eine entsprechende Verfärbung bzw. Entkalkung in
der Fissur nach sorgfältiger Plaqueentfernung mit einer stumpfen Sonde
Tab. 3.3: Spezifität, Sensitivität und richtige Entscheidungen bei der Diag-
nose scheinbar intakter Okklusalflächen (nach Lussi et al.)
Spezifität Sensi- Richtige
tivität Diagnose
Inspektion 93% 12% 57%
Inspektion mit Vergrößerungshilfe 89% 20% 56%
Inspektion und Sonde 93% 14% 58%
Inspektion und Bitewing-Röntgenbilder 87% 49% 67%
Bitewing-Röntgenbilder 83% 45% 63%
Elektrischer Widerstand 77% 93% 83%
Deutliche Entkalkung der Fissuren 60% 71% 65%
Braune oder schwarze Verfärbung der Fissur 17% 68% 40%
96 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Abb. 3.2: 4-Felder-Tafel zur
Die Krankheit Berechnung von Sensitivi-
liegt liegt tät, Spezifität sowie positi-
Der Test vor nicht vor ven und negativen Vorher-
positiver sagewerten
ist Vorher-
richtig falsch sage-
positiv positiv wert
positiv
A B =
A
A+B
negativer
falsch richtig Vorher-
negativ negativ sage-
negativ wert
C D =
D
C+D
Sensitivität Spezifität
A D
= =
A+C B+D
und sorgfältiger Trockenlegung, so erhöht sich die Sensitivität weiter.
Gleichzeitig würden jedoch zahlreiche gesunde Fissuren als krank er-
kannt, und es würde eine Überbehandlung erfolgen (Abnahme der Spe-
zifität).
Laserfluoreszenz Mit dem Laserfluoreszenz-System (Diagnodent) steht ein weiteres
Instrument zur Kariesdiagnose zur Verfügung. Dabei wird ein gepulstes
Licht mit einer definierten Wellenlänge (655 nm) abgegeben, das etwa
1 mm in die Zahnoberfläche eindringt. Sobald veränderte Zahnhartsub-
stanzen von dem ausgesandten Licht angeregt werden, fluoreszieren sie
mit dem Licht einer anderen Wellenlänge. Karies fluoresziert stärker als
gesunder Schmelz und gesundes Dentin und wird dadurch deutlich er-
kennbar. Somit ist dieses Instrumentarium als zusätzliches Mittel bei
Verdacht auf Fissurenkaries einsetzbar. Es ist allerdings bisher nicht ge-
nau geklärt, welche Bestandteile der kariös veränderten Zahnhartsub-
stanz fluoreszieren. Man nimmt an, dass es sich um spezielle „Farbmo-
leküle“ (Chromophore) handelt.
Da auch Zahnstein und Plaque beim Einsatz von Diagnodent fluo-
reszieren können, müssen die Fissuren vor der Messung möglichst
sauber sein.
Den Fluoreszenzsignalen sind bestimmte Zahlenwerte zugeordnet. So
entsprechen Werte von 0 bis 20 gesundem Zahnschmelz. Bei Werten
von über 20 bis 30 muss man von einer Karies ausgehen, die je nach Ka-
riesaktivität des Patienten entweder noch mit intensiven Prophylaxe-
maßnahmen oder restaurativ behandelt werden sollte. Ab einem Wert
von 30 kann man davon ausgehen, dass eine restaurative Therapie er-
forderlich ist.
Diagnodent sollte eingesetzt werden, wenn bei der Untersuchung
ein Kariesverdacht vorliegt, der sich visuell nicht verifizieren lässt. Bei
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 97
einer augenscheinlich gesunden Fissur ist der Einsatz von Diagnodent
nicht erforderlich.
Bei In-vitro-Untersuchungen konnte mit Diagnodent eine Sensitivi-
tät von 76–78% und eine Spezifität von 87–100% erreicht werden. Ähn-
liches gilt für Geräte, die den elektrischen Widerstand bzw. die Impe-
danz messen (ECM = elektrisches Caries-Meter). Bei einer abwartenden
(nicht invasiven) Therapie der Fissurenkaries muss natürlich die Repro-
3
duzierbarkeit der unterschiedlichen diagnostischen Systeme gewährleis-
tet sein. Diese liegt bei den neuen Verfahren wesentlich höher als bei
rein visueller oder röntgenologischer Beurteilung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zur Kariesdiagnose im ICDAS
Okklusalbereich eine sorgfältige visuelle Prüfung der Fissuren nach
Entfernung der Plaque und Trockenlegung erfolgen sollte. Der klinische
Befund kann dann wie in der Tabelle 3.4. dargestellt erfolgen. Eine ähn-
liche Graduierung findet man auch beim sogenannten ICDAS (Interna-
tional Caries Detection and Assessment System), welches von einer
Gruppe internationaler Kariologen und Kliniker für die visuelle Karies-
diagnostik entwickelt wurde. Dieses System unterscheidet 6 unter-
schiedliche Grade, wobei die Grade 1–3 nahezu identisch mit den Ek-
strand-Kriterien sind. Grad 4 im ICDAS-System entspricht der gräuli-
chen Verfärbung im Ekstrand-System, Grad 5 des ICDAS ist bei Exstrand
als Grad 4 beschrieben und Grad 6 des ICDAS bedeutet eine ausge-
dehnte Karies mit exponiertem Dentin, die bis nahe an die Pulpa reicht.
Die Befunde nach ICDAS gelten auch für Zahnflächen im Approxi-
mal- und Glattflächenbereich. Sie beinhalten zudem eine Beurteilung
von vorhandenen Restaurationen und Wurzelkaries. Dabei bestehen die
Grade beim ICDAS aus zwei Ziffern, wobei die erste den Versorgungsgrad
des Zahnes wiedergibt (keine Versorgung, partielle Fissurenversiegelung,
vollständige Fissurenversiegelung, zahnfarbene Restaurationen, Amal-
gamfüllungen, Stahlkrone, Keramik-, Gold- oder Verblendkrone, Veneer,
frakturierte oder verlorene Restauration, provisorische Versorgung). Die
zweite Ziffer bezieht sich dann auf die oben beschriebene Ausprägung
kariöser Läsionen. Besondere Aspekte wie nicht vitale Zähne, Zähne mit
Bändern oder Brackets, überzählige Zähne, Milch- und bleibende Zähne
in demselben Bereich, Zähne mit vollständigen Restaurationen (Vollkro-
nen), Zähne mit Metallversorgung (Inlay, Teilkrone), multiple Läsionen
innerhalb einer Zahnfläche und kariös zerstörte Zähne werden gesondert
vermerkt. Für eine intensive Beschäftigung mit diesem Diagnosesystem
wird die Internetadresse http://icdas.org bzw. das E-learning-Trainings-
programm http://icdas.smile-on.com empfohlen, das auch verwendet
werden kann, um sich unabhängig vom Diagnosesystem mit den unter-
schiedlichen klinisch sichtbaren Kariessymptomen vertraut zu machen.
Während zahlreiche, insbesondere epidemiologisch orientierte
Zahnmediziner die Vorteile des ICDAS-Systems für eine systematische
Diagnose herausheben, gibt es auch Studien, die anderen Verfahren den
Vorzug geben.
98 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.4: Graduierung bei der visuellen Kariesdiagnostik in der Fissur (nach
Ekstrand 2004)
Grad Klinischer Befund Histologischer Infektionsgrad
Befund der Schmelz-
Dentin-Grenze
0 Keine oder geringfügige Verän- Keine oder sehr Keine Infektion
derung der Schmelztransluzenz oberflächliche De-
nach intensiver Trocknung mineralisation
(> 5 s) mit dem Luftbläser
1 Opazität oder kaum sichtbare Schmelzdeminerali- Keine Infektion
Verfärbung, die nach Trock- sation begrenzt auf
nung deutlich hervortritt die äußere
1a Weiße Verfärbung = Hinweis Schmelzhälfte
auf aktive Läsion
1b Braune Verfärbung = Hinweis
auf arretierte Läsion
2 Opazität bzw. Verfärbung ohne Demineralisation, Leichte Infektion
Trocknung deutlich sichtbar die 50% des
2a Weiße Verfärbung = Hinweis Schmelzes und bis
auf aktive Läsion zu 1/3 des Dentins
betreffen kann
2b Braune Verfärbung = Hinweis
auf arretierte Läsion
3 Lokalisierter Schmelzeinbruch Demineralisation, Moderate Infek-
im opak veränderten oder ver- die das mittlere tion
färbten Schmelz und/oder Dentindrittel einbe-
graue Verfärbung ausgehend zieht
vom darunter liegenden Dentin
4 Kavitätenbildung im opaken Demineralisation, Starke Infektion
oder verfärbten Schmelz, dabei die das innere Den-
Dentinfreilegung tindrittel einbezieht
Es empfiehlt sich, vorhandene Bissflügelaufnahmen auch sorgfäl-
tig auf Aufhellungen im Bereich der Fissur zu untersuchen. Ist eine Ka-
ries bereits bis ins Dentin vorgedrungen, so ist ein abwartendes Verhal-
ten nur in Ausnahmefällen angezeigt (s. S. 111). Bei unsicherem Befund
können zusätzlich moderne Diagnosegeräte eingesetzt werden.
Man sollte zudem berücksichtigen, dass ca. 15% der vorhandenen
Dentinläsionen im Bereich einer Fissur eine „intakte“ Oberfläche
besitzen (versteckte Karies).
Approximalkaries Zur Diagnose der Approximalkaries dienen die klinische Untersu-
chung, Bissflügelröntgenaufnahmen und die Fiberoptiktransillumi-
nation (FOTI). Eine ausgeprägte approximale Dentinkaries kann bei der
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 99
klinischen Untersuchung oft durch eine opake Verfärbung des Randleis-
tenbereichs erkannt werden. Eine offene Kavität mit Einbruch der Rand-
leiste ist selbstverständlich auch klinisch gut zu erkennen. Eine approxi-
male Schmelzkaries oder kleinere Dentinläsionen lassen sich klinisch
aber nur erkennen, wenn der Nachbarzahn fehlt oder die Zähne sepa-
riert worden sind. Man kann heute davon ausgehen, dass nur etwa jede
dritte Approximalkaries mit Dentinbeteiligung klinisch erkannt wird.
3
Lassen sich die Approximalkontakte der Zähne klinisch nicht beur-
teilen (geschlossene Zahnreihe), so ist die Anfertigung entsprechen-
der Röntgenaufnahmen zur Befunderhebung und Sicherung der Di-
agnose kaum zu umgehen.
In zahlreichen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass
eine alleinige klinische Diagnose auch mit zusätzlicher Durchleuchtung
der Approximalkontakte durch eine Faseroptik (FOTI) häufig nicht aus-
reicht. Empfohlen werden kann der Einsatz von FOTI besonders für Si-
tuationen, in denen die Anfertigung von Röntgenbildern nicht möglich
ist, oder als zusätzliches Hilfsmittel in der Praxis zur Diagnosesicherung.
Zur Kariesdiagnostik werden i.d.R. Bissflügelaufnahmen (Parallel- Röntgen
technik) beider Kieferhälften angefertigt (Abb. 3.3). Dabei muss der Zen-
tralstrahl orthoradial durch den Interdentalraum der Zähne gehen, um
Überlagerungen zu vermeiden (Abb. 3.4). Oft werden daher von jeder
Seite zwei Bissflügelaufnahmen angefertigt, eine von den Molaren (Zen-
tralstrahl zwischen dem ersten und zweiten Molaren) und eine zweite
von den Prämolaren (Zentralstrahl zwischen den beiden Prämolaren).
Als Alternative zum konventionellen Zahnfilmröntgen stehen seit
einigen Jahren digitale Röntgenverfahren zur Verfügung. Bei diesen
Systemen wird entweder anstelle des Röntgenfilms ein Sensor verwen-
det, der einen CCD-Chip enthält und durch ein Kabel mit einem Rech-
ner verbunden ist oder eine Speicherfolie, deren Informationen nach
der Belichtung im Laserscanner abgetastet werden. Die Vorteile dieser
Systeme sind, dass die Strahlendosis gegenüber dem konventionellen
Röntgen bis zu 50% reduziert werden kann und die chemische Entwick-
lung entfällt. Ein Nachteil der Sensorsysteme ist die geringe Größe des
aktiven Feldes, das nur der eines Kinderzahnfilms entspricht. Im Rönt-
genbild lassen sich grundsätzlich Sekundärkaries, Randundichtigkeiten
und Überhänge an Füllungsrändern und Konkremente im Approximal-
raum sowie Kariesrezidive unter Restaurationen beurteilen.
Die Ausdehnung einer initialen Kariesläsion wird anhand der Biss-
flügelaufnahme grundsätzlich unterschätzt (Abb. 3.5).
Die Befunde der Bissflügelaufnahmen werden entsprechend ausgewer- Auswertung
tet (s. Abb. 3.3) und die Befunde in den Zahnstatus (s. Abb. 3.2) einge-
tragen. Die Befundung der Röntgenbilder wird manchmal durch strah-
100 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Kariesrezidiv Sekundärkaries D3
Alveolar-
knochen
Pulpa
Dentin
Zahnschmelz
Füllung
D2 überstehender D4 D1 D2
a Füllungsrand
Burn-out-Effekt D1
D1 D2 Karies- Unter-
b rezidiv füllung
Abb. 3.3: Bissflügel-Röntgenaufnahmen werden im Rahmen der Kariestherapie angefertigt, um den Zahn-
zustand im nicht einsehbaren Approximalraum zu untersuchen. Dabei wird die Ausdehnung der Approxi-
malkaries wie folgt beurteilt:
D D0 = keine approximale Karies zu erkennen (es kann jedoch histologisch durchaus eine frühe initiale Lä-
sion vorliegen)
D D1 = Radioluzenz in der äußeren Schmelzhälfte (entspricht histologisch initialer kariöser Läsion)
D D2 = Radioluzenz bis zur inneren Schmelzhälfte (entspricht histologisch fortgeschrittener, initialer Lä-
sion, Schmelzoberfläche kann noch „intakt“ sein)
D D3 = Radioluzenz bis zur äußeren Dentinhälfte
D D4 = Radioluzenz bis zur inneren Dentinhälfte (entspricht histologisch einer Caries profunda)
Abb. 3.4: Bei falscher Rönt-
gentechnik kommt es zu
Verzerrungen und Überla-
gerungen der Zähne. Spe-
ziell im Approximalraum
sind die Zahnflächen dann
nicht mehr einwandfrei be-
urteilbar. Es empfiehlt sich
daher, in beiden Kieferhälf-
ten je 2 Bissflügelaufnah-
men anzufertigen (eine im
Molarenbereich und eine im
Prämolarenbereich).
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 101
Histologie Mikroradiographie Bissflügel-
Röntgenaufnahme
D0
3
D1
Abb. 3.5: Bestimmung der Ausdehnung einer kariösen Schmelzläsion im histologischen Bild, anhand einer
Mikroradiographie eines Zahndünnschliffs und mit einer Bissflügel-Röntgenaufnahme. In der Bissflügel-
Röntgenaufnahme wird die tatsächliche Ausdehnung grundsätzlich unterschätzt.
lengeometrische und anatomische Faktoren erschwert (s. Abb. 3.4). Eine
falsche Einstellung des Zentralstrahls kann zu Überlagerungen und Ver-
zerrungen führen, die falsche Größe und Ausdehnung kariöser Läsionen
vortäuschen. Zahnhalsregionen werden als Aufhellungszonen im Rönt-
genbild sichtbar (Burn-out-Effekt), die dann als Kariesläsionen fehlin-
terpretiert werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine D1- und
D2-Läsion sowohl klinisch als auch radiologisch schwieriger zu diagnos-
tizieren ist als eine Läsion, die sich bereits im Dentin befindet.
Zur Abwägung der Therapiemöglichkeiten ist es wichtig zu wissen,
ob eine Kavitätenbildung vorliegt, da eine Läsion mit makrosko-
pisch intakter Schmelzoberfläche bessere Chancen für eine nicht
invasive (abwartende) Therapie bietet.
Dabei ergibt sich folgendes Bild: Bei dem radiologischen Befund D1
fand sich nie eine Kavitätenbildung, bei dem Befund D2 in 10–20% der
Fälle, bei D3 in 40–80% und bei D4 in allen Fällen. Kavitäten fanden
sich häufiger bei Molaren als bei Prämolaren. Diese Daten gelten jedoch
nur bei Patienten mit niedriger bzw. moderater Kariesaktivität. Bei Pa-
tienten mit hoher Kariesaktivität sind bereits mehr als 50% der D2-Lä-
sionen und 90–100% der D3-Läsionen eingebrochen. Die Reproduzier-
barkeit einer Röntgendiagnose im Approximalbereich liegt bei ca. 80%,
wenn die Karies das Dentin bereits erreicht hat (D3, D4).
102 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Mittlerweile ist auch ein Diagnodent-System für die Kariesdiagnos-
tik im Approximalbereich verfügbar. Eine ausreichende klinische Vali-
dierung dieses Systems steht allerdings noch aus.
Orale und buk- An oralen und bukkalen Glattflächen lässt sich relativ einfach be-
kale Glattflächen urteilen, ob eine beginnende Kariesläsion mit oder ohne Kavitätenbil-
dung vorliegt. Nach entsprechender Zahnreinigung kann man mit visu-
eller Inspektion entweder weißlich opake Veränderungen (Zeichen
einer fortgeschrittenen initialen Karies mit hoher Aktivität) oder bräun-
liche Verfärbungen (Zeichen für eine inaktive, arretierte Karies) diagnos-
tizieren. Auch hier ist für den Einsatz invasiver Maßnahmen wieder von
Bedeutung, ob die Schmelzoberfläche bereits Defekte (Einbrüche) auf-
weist oder nicht. Mit hoch sensiblen Methoden (quantitative lichtindu-
zierte Fluoreszenz = QLF) lassen sich in diesen Bereichen heute auch be-
ginnende initiale Läsionen diagnostizieren. Es ist damit möglich, über
längere Zeit ein Monitoring dieser Bereiche vorzunehmen, um Remine-
ralisation oder weitere Demineralisation (Kariesaktivität) zu erkennen.
Diese Methoden sind jedoch noch nicht für die Praxis ausgereift.
Wurzelkaries Die Diagnose der Wurzelkaries erfolgt überwiegend durch Inspek-
tion und Sondierung. An approximalen Flächen lokalisierte Wurzelka-
ries kann auch mit Bissflügelröntgenbildern dargestellt werden. Bei der
Inspektion werden die Lokalisation der Läsion, die Kontur der Oberflä-
che und die Farbe beurteilt, bei der Sondierung wird die Konsistenz der
Läsion bestimmt.
Während die Farbe einer solchen Läsion (gelb, hellbraun bzw. dun-
kelbraun) wenig darüber aussagt, ob die Karies aktiv oder inaktiv ist,
ist die Bewertung der Oberfläche nach den Kriterien hart, ledern
oder weich von großer Bedeutung.
Durch Abtasten der Oberfläche mit einer stumpfen Sonde kann die
Oberflächenhärte bestimmt werden. Läsionen mit harter Oberfläche
enthalten deutlich weniger Mikroorganismen als Läsionen mit lederner
oder weicher Oberfläche und zeigen histologisch oft einen hohen Grad
an Mineralisation, zuweilen sogar eine Hypermineralisation. Läsionen
mit weicher Oberfläche gelten als aktiv und progredient, Läsionen mit
harter Oberfläche als inaktiv und arretiert. Während weiche, aktive Lä-
sionen i.d.R. am Gingivalsaum lokalisiert sind, finden sich harte, inak-
tive Läsionen häufig in größerer Entfernung vom Gingivalsaum.
Der standardisierte Zahnstatus enthält i.d.R. folgende Angaben (s.
Abb. 3.1):
D fehlende und ersetzte Zähne
D behandlungsbedürftige kariöse Zahnflächen, unterschieden in rein
präventiv und invasiv zu therapierende Läsionen
D zerstörte und zu extrahierende Zähne
D teilretinierte Zähne, im Durchbruch befindliche Zähne
D Kronen und Brücken
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 103
D Ergebnisse des Sensibilitätstests
D Lockerungsgrade
D Sondierungstiefen bzw. PSI
D gefüllte Zahnflächen mit Art und Zustand der Restauration
Sekundärkaries und -defekte bzw. überstehende Füllungsränder werden
gesondert eingezeichnet.
3
Weitere Zahnhartsubstanzdefekte und Befunde sind schriftlich als
zusätzliche Information gesondert festzuhalten.
Die Bissflügelaufnahmen können durch ein Orthopantomogramm
(OPG) ergänzt werden, auf dem retinierte und verlagerte Zähne, osteo-
lytische Prozesse im Kieferbereich, Zahnanlagen, Wurzelreste und ande-
res beurteilt werden können. Bei schmerzenden Zähnen, in der Endo-
dontologie und in der Parodontologie sind für einen Röntgenbefund
Einzelaufnahmen des Zahnes erforderlich.
Die Diagnostik der Pulpa (Sensibilitätstest mit Kälte, s. Kap. Endo- Pulpa
dontologie) ist schwierig. Man geht davon aus, dass vorhandene Kälte-
sensibilität mit der Vitalität der Pulpa korreliert, fehlende Sensibilität je-
doch nicht gleich fehlende Vitalität bedeutet. Hier sind dann zusätzli-
che Sensibilitätstests (Strom, Probetrepanation) erforderlich. Bei
schmerzenden Zähnen ist zusätzlich ein Perkussionstest erforderlich.
Zu einem vollständigen Zahnstatus gehört auch die Erhebung eines
adäquaten Gingiva- und Plaqueindex. Sie geben einen groben Über-
blick über die Mundhygienegewohnheiten und die parodontalen Ver-
hältnisse. Dabei gilt heute die Erfassung des PSI-Index als obligat.
3.2.2 Bestimmung der Kariesaktivität und des Kariesrisikos
! Wie bereits oben erwähnt, befasst sich die moderne Kariesdiag-
nostik nicht ausschließlich mit dem Feststellen des Status quo,
sondern versucht durch die Bestimmung der Kariesaktivität bzw.
des Kariesrisikos beim jeweiligen Patienten die Prognose nicht in-
vasiver (präventiver) und invasiver Maßnahmen zu bestimmen.
Während der Begriff Kariesaktivität einen aktuellen Zustand be- Kariesaktivität
schreibt, ist der Begriff Kariesrisiko auf die Zukunft gerichtet und soll
beschreiben, ob zukünftig ein niedriges oder hohes Risiko für die Patien-
ten besteht, kariöse Läsionen zu entwickeln.
Für den Zahnarzt ist es einfacher, die aktuelle Kariesaktivität zu er-
kennen als das zukünftige Kariesrisiko vorauszusagen. Die Kariesaktivi-
tät gibt allerdings einen Hinweis auf ein mögliches Kariesrisiko. In die-
sem Zusammenhang hat die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend-
zahnpflege e.V. (DAJ) vorgeschlagen, bei Kindern und Jugendlichen die
zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegenden Kariesläsionen als gro-
ben Indikator für das zukünftige Kariesrisiko zu verwenden (Tab. 3.5).
104 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.5: Kariesrisikoabschätzung anhand bereits vorhandener Kariesläsionen
(nach DAJ)
Alter Erhöhtes Kariesrisiko, wenn
bis 3 Jahre nicht kariesfrei: dmf(t) > 0
bis 4 Jahre dmf(t) > 2
bis 5 Jahre dmf(t) > 4
6–7 Jahre dmf/DMF(t/T) > 5 oder D(T) > 0
8–9 Jahre dmf/DMF(t/T) > 7 oder D(T) > 2
10–12 Jahre DMF(S) an Approximal-/Glattflächen > 0
Die Kariesaktivität eines Patienten kann starken Schwankungen unter-
liegen. In einem bestimmten Lebensabschnitt oder -zeitraum (z.B. im
Kindesalter) kann die Kariesaktivität sehr hoch sein, zu einem anderen
Zeitpunkt kann vielleicht aktuell keine Kariesaktivität vorliegen.
Die Kariesaktivität ergibt sich aus dem Zusammenspiel von schüt-
zenden und kariogenen Faktoren in der Mundhöhle.
Kariesrisiko Die Tabelle 3.6 gibt einen Überblick über die Risikofaktoren für Karies.
Sucht der Patient seinen Zahnarzt regelmäßig auf, so bereitet es häufig
keine Probleme, eine aktuell hohe Kariesaktivität zu erkennen. Hinweis
darauf sind zahlreiche aktive kariöse Läsionen, die eine Tendenz zur ra-
schen Progression zeigen. Die exakte Bestimmung des aktuellen Karies-
risikos ist jedoch häufig schwierig.
Neben der Erhebung eines Ernährungsfragebogens (Ernährungs-
anamnese z.B. in Form eines Dreitageprotokolls) kann die quantitative Er-
fassung der Zahnplaque z.B. durch die 24-Stunden-Plaque-Bildungsrate
Tab. 3.6: Faktoren, die auf erhöhtes Kariesrisiko hindeuten (nach Reich 2000)
Kinder/Jugendliche Erwachsene
• ≥ 2 kariöse Läsionen im vergange- • ≥ 2 kariöse Läsionen in den letzten
nen Jahr drei Jahren
• Frühere Glattflächenkaries • Frühere Wurzelkaries oder
• Erhöhte Streptococcus mutans- • Große Anzahl freiliegender Zahn-
Werte hälse
• Tiefe Grübchen und Fissuren • Erhöhte Streptococcus mutans-
• Keine/kaum systemische und lokale Werte
Fluoridanwendung • Tiefe Grübchen und Fissuren
• Schlechte Mundhygiene • Schlechte Mundhygiene
• Häufiger Süßigkeitenverzehr • Häufiger Süßigkeitenverzehr
• Unregelmäßiger Zahnarztbesuch • Unzureichende lokale Fluoridan-
• Zu geringer Speichelfluss wendung
• Zu lange Babyflaschen-Ernährung • Unregelmäßiger Zahnarztbesuch
oder Stillen (Kleinkinder) • Zu geringer Speichelfluss
3.2 Erweiterte Untersuchung zur Situation der Zahnhartsubstanzen Kapitel 3 105
(Plaque-Formation-Rate-Index) bestimmt werden. Da die Plaquebildungs-
rate mehr oder weniger von allen Faktoren beeinflusst wird, die in der Ka-
riesätiologie eine Rolle spielen, hat dieser Test eine hohe Aussagekraft. Zu-
sätzlich können qualitative mikrobielle Speicheltests zur groben Ein-
schätzung des individuellen Kariesrisikos herangezogen werden. Hier ist
in erster Linie die Bestimmung der Streptococcus-mutans- und Laktoba-
zillenzahl im Speichel anhand spezieller Tests (z.B. Karies-Risiko-Test =
3
CRT) geeignet. Man geht bei dem Einsatz dieser Testmethoden davon aus,
dass es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Mutans-Strepto-
kokken und der Laktobazillen im Speichel und dem Kariesbefall gibt.
Die Einteilung erfolgt grob in vier Klassen (nach Kolonien bildenden
Einheiten = kbE/ml Speichel). Dazu wird meistens ein mit Speichel be-
netzter und bebrüteter Nährboden (37 °C) mit einem Standard vergli-
chen. Als Stellenwert für eine überdurchschnittliche Kariesgefährdung
wird ein Wert von über 250 000 kbE Mutans-Streptokokken pro ml Spei-
chel angegeben. Ein besonders hohes Kariesrisiko sollen Patienten mit
Werten über 1 000 000 kbE pro ml Speichel haben. Die Tests lassen sich
allerdings bei realistischer Einschätzung nur in einer Richtung interpre-
tieren: Patienten mit geringen Keimzahlen im Speichel haben eine ge-
ringere Wahrscheinlichkeit, eine Karies zu entwickeln, als solche mit
hohen Keimzahlen. Hohe Laktobazillenwerte gelten als Zeichen für ei-
nen hohen und häufigen Kohlenhydratkonsum und damit wieder indi-
rekt als Indikator für ein hohes Kariesrisiko.
Als weitere Parameter zur Abschätzung des Kariesrisikos werden die
Bestimmung der Speichelfließrate (3–5 min paraffinstimulierter Spei-
chel) und die der Speichelpufferkapazität (anhand eines pH-Indikators
5 min nach Speichelstimulation) angegeben. Der Normalwert für die
Speichelfließrate liegt bei 1 ml pro Minute. Zeigt das mit Säure impräg-
nierte Indikatorpapier einen pH-Wert von 6,0 an, so liegt eine hohe
Speichelpufferkapazität vor.
Erst die Berücksichtigung aller vier Parameter und der Plaquebil-
dungsrate, des momentanen Kariesbefalls und des Konsums kario-
gener Zwischenmahlzeiten zusammen erlaubt eine grobe Einschät-
zung des individuellen Kariesrisikos. Die alleinige Bestimmung der
Bakterienzahlen im Speichel dient in erster Linie der Motivation
und Remotivation im Rahmen individualprophylaktischer Maß-
nahmen.
Zur relativen Einschätzung, wie hoch das Risiko eines Patienten ist, eine Bewertung
neue Kavität zu entwickeln, gibt es ein spezielles Computerprogramm
mit dem Namen Cariogram. Dieses Programm erlaubt die Eingabe der
oben beschriebenen klinischen Parameter, fasst diese auf der Grundlage
kariesepidemiologischer Daten für das jeweilige Land zusammen und
berechnet dann das entsprechende Kariesrisiko. Das Programm kann
kostenfrei aus dem Internet heruntergeladen und verwendet werden.
106 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Als weiteres Kariesrisiko-Screening-Verfahren ist ein Test erhältlich,
mit dem die Säurebildungskapazität der Mikroflora auf dem Zungen-
rücken bestimmt wird (ClinproCario-L-Pop). Bei diesem Verfahren
wird ein mit Saccharose getränktes Stäbchen auf dem Zungenrücken
mehrfach gedreht. Sind kariogene Mikroorganismen in der Mundhöhle
vorhanden, wird die Saccharose in Milchsäure umgesetzt und diese
dann über eine chemische Reaktion als blaue Verfärbung des Stäbchens
sichtbar. Anhand der Intensität der Verfärbung soll man dann den
Patienten in die entsprechende Risikogruppe kategorisieren können.
Dieses Verfahren ist für ein grobes Screening der Patienten sicherlich gut
einsetzbar, es fehlen aber entsprechende Studien zur tatsächlichen
Kariesentwicklung im Vergleich zur Einschätzung des Kariesrisikos an-
hand des Tests.
3.3 Spezielle Untersuchungen
Bei Vorliegen erosiver Zahnhartsubstanzdefekte kann das BEWE- (Ba-
sic-Erosive-Wear-Examination-) Bewertungssystem eingesetzt werden
(Tab. 3.7). Dabei wird das Gebiss in Sextanten eingeteilt und alle Zähne
des jeweiligen Sextanten auf erosive Veränderungen untersucht. Dabei
werden die Erosionen nach ihrem Schweregrad klassifiziert. Anschlie-
ßend wird der höchste Wert pro Sextant erfasst und dann zu einem Wert
aufsummiert. Je nach Schweregrad der Erosionen wird dann eine ent-
sprechende Behandlungsstrategie empfohlen (s. Kap. 3.4.).
Parodontalstatus Bei Verdacht auf parodontale Erkrankungen und bei aufwändigen
Sanierungen (speziell mit Einlagefüllungen, Kronen und Brücken) ist
der übliche Befund durch einen exakten Parodontalstatus zu ergänzen
Tab. 3.7: Einteilung der erosiven Defekte anhand ihres Schweregrades. Es wird
immer nur der höchste Wert pro Sextant dokumentiert und aufsummiert.
Grad Klinisches Erscheinungsbild
0 Kein erosiver Zahnhartsubstanzverlust
1 Beginnender Verlust der Oberflächenstruktur
2* Klar ersichtlicher Verlust von Zahnhartsubstanz; < 50% der Oberfläche
3* Ausgeprägter Verlust von Zahnhartsubstanz; > 50% der Oberfläche
* Bei Grad 2 und 3 ist oft Dentin exponiert.
BEWE-Erfassung
Höchster Grad Höchster Grad Höchster Grad
1. Sextant (17–14) 2. Sextant (13–23) 3. Sextant (24–27)
Höchster Grad Höchster Grad Höchster Grad
6. Sextant (44–47) 5. Sextant (33–43) 4. Sextant (37–34) Summe
3.3 Spezielle Untersuchungen Kapitel 3 107
(s. Kap. 18.4). Die Anfertigung von Situationsmodellen und eine Foto-
dokumentation können zur Diagnosesicherung und Therapieplanung
beitragen.
Die klinische Untersuchung wird bei Patienten mit Myoarthropa-
thien und bei Verdacht auf Funktionsstörungen sowie bei geplanten
umfangreichen zahnerhaltenden und prothetischen Maßnahmen
durch eine klinische und instrumentelle Funktionsdiagnostik abge-
3
rundet.
Bei der klinischen Funktionsdiagnostik wird neben dem extraora- Klinische Funk-
len und intraoralen Muskelbefund als einfachste Methode die statische tionsdiagnostik
und dynamische Okklusion der Zähne nach entsprechender Entspan-
nung der Kaumuskulatur (ggf. nach Schienenvorbehandlung) beurteilt.
Dabei dienen speziell eingefärbte Okklusionsfolien zur Orientierung.
Bei maximaler Interkuspidation (nach Auftasten aus der Ruhe-
Schwebe-Lage) soll ein gleichzeitiger und gleichmäßiger Kontakt zwi-
schen den Ober- und Unterkieferzähnen vorhanden sein. Vorkontakte
zeichnen sich bei Verwendung der Okklusionsfolie als stärkere und grö-
ßere Färbung ab. Protrusion, Laterotrusion und Mediotrusion werden
ebenso mithilfe der gefärbten Folien überprüft. Man geht im Idealfall
von einer Front-Eckzahnführung aus. Gruppenführung auf der Arbeits-
seite wird bei gleichmäßiger Belastung der Zähne toleriert. Balancehin-
dernisse sind durch Einschleifen oder entsprechend gestaltete Restaura-
tionen zu beseitigen.
Liegen Anzeichen für Störungen der statischen und dynamischen Instrumentelle
Okklusion vor, die nicht mehr nur klinisch zu beurteilen sind, wird eine Funktions-
instrumentelle Funktionsanalyse notwendig. Dazu werden Gips- diagnostik
modelle in einen teil- oder volljustierbaren Artikulator eingebracht.
Mindestanforderung ist dabei die Verwendung eines Schnellübertra-
gungsbogens (arbiträre Scharnierachsenbestimmung). Es empfiehlt sich
jedoch, die Scharnierachse individuell zu bestimmen und die Grenzbe-
wegungen individuell zu registrieren. Die Modelle werden dann in ei-
nen voll justierbaren Artikulator eingebracht, in dem die Funktionsdi-
agnostik erfolgt. Der klinische Befund wird durch Auskultation und Pal-
pation des Kiefergelenks, Mobilitätsmessungen des Unterkiefers usw.
ergänzt (Einzelheiten zur Funktionsdiagnostik sind entsprechenden
Lehrbüchern zu entnehmen).
Nach der vollständigen zahnärztlichen Befunderhebung wird die
Diagnose und, wenn notwendig, die Differenzialdiagnose gestellt. Es
schließt sich eine Therapieplanung an (Abb. 3.6), die mit dem Patienten
durchgesprochen werden muss. Es sollte dabei auch auf mögliche an-
dere Therapiemöglichkeiten eingegangen werden (Differenzialthera-
pie). Bei umfangreichen Sanierungsmaßnahmen schließt sich eine
schriftliche Fixierung der geplanten Therapie und deren voraussichtli-
chen Kosten (Heil- und Kostenplan) an. Der Patient erklärt sich schrift-
lich mit der gewählten Therapieform und der Kostenübernahme einver-
standen.
108 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Behandlungsplan
Prophylaxemaßnahmen erforderliche invasive Kontrollmaßnahmen
Behandlungsmaßnahmen
Maßnahme Datum Behandlungs- Zahn Fläche Therapie Mundhygiene:
reihenfolge
Datum:
PI/ PBI:
Datum:
PI/ PBI:
Datum:
PI/ PBI:
Datum:
PI/ PBI:
Datum:
PI/ PBI:
Mundhygiene (Mot + Inst), prof. Zahnreinigung (PZR) AgF, Comp, GIZ, WF, Aufbaufüllung,
Ernährungsberatung (EB), Mundhygienekontrolle (MH-Ktrl) Inlay (Keramik, Gold)
CHX-Therapie (CHX), Fluoridierung (F) Teilkrone (Keramik, Gold)
Füllung nacharbeiten (Fin), Fissurenversiegelung (FV)
Kariesmonitoring (KM)
Patient konservierend durchsaniert am:
Abb. 3.6: Standardisierter Bogen für die Behandlungsplanung im Rahmen der Kariestherapie
Es empfiehlt sich grundsätzlich, die Patienten über geplante zahn-
ärztliche Maßnahmen und die Folgen der Unterlassung der geplan-
ten Maßnahmen aufzuklären und das Einverständnis des Patienten
zu dokumentieren (Aufklärungspflicht).
3.4 Therapieplanung
! Die allgemeinen Grundsätze der Planung im Rahmen der Thera-
pie von Zahnhartsubstanzdefekten unterliegen sehr stark indivi-
duellen Entscheidungen des Zahnarztes. Diese wiederum sind ab-
hängig von seinen therapeutischen Möglichkeiten und Fähigkei-
ten.
Nicht selten werden von verschiedenen Zahnärzten beim gleichen Pa-
tienten unterschiedliche Diagnosen gestellt. Konsequenterweise sind
auch die Therapieentscheidungen uneinheitlich. Gründe dafür sind:
D unterschiedliche Untersuchungsbedingungen
D unterschiedlicher physischer und emotionaler Status des jeweiligen
Untersuchers, Apriori-Erwartungen des Untersuchers beeinflussen
das Ergebnis (Übertragungseffekt aus früheren Untersuchungen an
demselben oder anderen Patienten)
D Ausbildung und Weiterbildung sind unterschiedlich.
D Es besteht Unsicherheit über die Erfolgsaussichten einer Interven-
tion.
3.4 Therapieplanung Kapitel 3 109
Entscheidungspfade sind oft intuitiv und informell, wobei allerdings
diese Probleme durch die klinische Expertise aufgrund langjähriger Be-
rufsausübung wettgemacht werden können. So können durch die un-
terschiedlichen Diagnosen und die unterschiedlichen Therapieent-
scheidungen auch unterschiedliche Maßnahmen für den Patienten re-
sultieren, wobei diese völlig unterschiedlichen Therapiemaßnahmen
möglicherweise zu einem ähnlichen Langzeiterfolg (bei allerdings un-
3
terschiedlichen Kosten) führen können. Es kann jedoch auch sein, dass
bei gleicher Diagnose und gleicher Therapieentscheidung unterschiedli-
che Erfolge resultieren.
Grundsätzlich sollte ein Mediziner sich nie dazu verleiten lassen,
Therapien anzuwenden, die er nicht gänzlich beherrscht. Natürlich ist
die Entscheidung für ein bestimmtes Verfahren im Rahmen der Karies-
therapie auch von Patientenparametern abhängig. Allgemeingesund-
heitszustand, parodontale und funktionelle Gebissverhältnisse und die
Notwendigkeit weiterer prothetischer Maßnahmen sind nur einige Pa-
rameter, welche in die Therapieplanung mit einbezogen werden müs-
sen. Für die Entscheidung, welche zahnerhaltenden Maßnahmen not-
wendig und sinnvoll sind, gibt es einige grobe Regeln, die nachfolgend
schematisch aufgeführt sind.
Die Entscheidung, ob ein invasives oder nicht invasives Vorgehen
bei der Kariestherapie erforderlich ist, hängt von folgenden Faktoren ab:
D Kariesaktivität (-risiko)
D Kariesprogression
D Patientenalter (je älter der Patient, desto geringer ist i.d.R. die Karies-
progression)
D Zustand der entsprechenden Zahnoberfläche (eingebrochen, nicht
eingebrochen)
D Tiefe der Karies
D Patientencompliance
Für die Entscheidung, welche zahnerhaltenden Maßnahmen notwen-
dig und sinnvoll sind, gibt es einige Regeln, die nachfolgend aufgeführt
sind.
Bei der Approximalkaries kann bei Patienten mit guter Compliance Approximalkaries
(optimale Mundhygiene, ausreichende Prophylaxe, regelmäßiger Zahn-
arztbesuch) und geringer Kariesaktivität bei D1- und D2-Läsionen ein
Kariesmonitoring vorgenommen werden. Man versteht darunter ein ab-
wartendes Verhalten mit regelmäßiger Kontrolle und Bissflügelaufnah-
men im Abstand von ein bis zwei Jahren. Sollte sich dabei herausstellen,
dass die Karies nicht progredient ist, reichen Röntgenbilder in größeren
Abständen (Abb. 3.7).
Bei einer D3-Karies ist ein Vergleich mit bereits früher angefertigten
Röntgenbildern erforderlich. Auch hier ist bei geringer Kariesaktivität
und dann, wenn die Zahnoberfläche noch intakt ist, ein abwartendes
Verhalten mit präventiver Vorgehensweise möglich. Es sollte bei diesen
110 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Radiologische Demineralisation Zustand der Approximalfläche Therapieoptionen
Diagnostik
Kariesprogression
D4
offene Kavität
Läsion Invasive Therapie + nicht
D3 wahrscheinlich invasive (präventive)
nicht arretierbar Betreuung
D3 bei geringer Nicht invasive (präventive)
Kariesaktivität Läsion eventuell Betreuung +
D2 bei erhöhter arretierbar Kariesmonitoring
Kariesaktivität eventuell Kariesinfiltration
Keine Kavität
D2 bei geringer Läsion Nicht invasive (präventive)
Kariesaktivität arretierbar Betreuung oder keine
D1 Therapie
Zeit
Abb. 3.7: Diagnose und Therapieplanung bei Kariesläsionen im Approximalraum. Die Zuordnung der radio-
logischen Befunde zum Zustand der Approximalfläche (Kavität/keine Kavität) basiert auf epidemiologi-
schen Daten. So kann es im Bereich der dunkelblauen Kurve durchaus schon zur Mikrokavitätenbildung ge-
kommen sein, die eine Progression beschleunigen kann, da eine Entfernung des Biofilms nicht mehr mög-
lich ist (modifiziert nach Mejare und Mjör 2003).
Patienten aber grundsätzlich auf eine ausgezeichnete Approximalraum-
hygiene geachtet werden.
In einer Longitudinalstudie bei Zahnmedizinstudenten, welche
hoch motiviert waren, zeigte sich, dass 20% der C3-Läsionen mit primär
intakter Oberflächenschicht schon nach 1,5 Jahren einen Einbruch auf-
wiesen.
Bei D3-Läsionen mit eingebrochener Oberfläche und bei einer
D4-Karies ist ein invasives Vorgehen nicht zu vermeiden. Dabei sollte
möglichst wenig gesunde Zahnhartsubstanz geopfert werden. Die ent-
standenen Defekte können i.d.R. mit klassischen Füllungsmaterialien
(Komposit- bzw. Amalgamrestaurationen) versorgt werden.
Bei hoher Kariesaktivität bzw. rapider Kariesprogression ist neben
einem engen Recall mit entsprechender präventiver Therapie eine inva-
sive Behandlung der entsprechenden Läsionen bereits ab Kariesgrad D3
indiziert. Grundsätzlich sollen alle invasiven Maßnahmen von einer
entsprechenden präventiven Therapie flankiert sein.
Bei schlechter Compliance und hoher Kariesaktivität sind aufwändige
Restaurationen (z.B. Einlagefüllungen) nicht indiziert (bei wurzelkanalbe-
handelten Zähnen ist hier eine Vollkrone einer Teilkrone vorzuziehen).
Fissurenkaries Eine Fissur wird invasiv behandelt, wenn eine deutliche Entkalkung
im Bereich der Fissuren festzustellen ist und anhand neuerer diagnosti-
scher Methoden (z.B. Diagnodent, ECM) die Verdachtsdiagnose Karies
mit Dentinbeteiligung bestätigt wird. In diesem Fall ist nicht selten kli-
nisch eine intakte Oberfläche vorzufinden. Auch hier wird minimalin-
vasiv (kleine Eröffnung) vorgegangen und je nach Ausmaß der Karies
eine entsprechend zierliche Restauration mit anschließender Fissuren-
versiegelung angestrebt. Eine Aufhellung im Bereich der Fissur auf
3.4 Therapieplanung Kapitel 3 111
einer Bissflügelaufnahme bzw. einem Einzelröntgenbild gibt immer
Hinweis auf eine tiefe Dentinkaries. Hier sollte invasiv vorgegangen
werden. Bei verfärbten Fissuren mit begrenzten Entkalkungen ohne
Aufhellung im Röntgenbild und bei Fissuren, die mit üblichen Mund-
hygienemaßnahmen (z.B. Zahnbürste) nicht gesäubert werden können,
sind Fissurenversiegelungen angezeigt.
Eine Glattflächenkaries wird nur dann invasiv behandelt, wenn Glattflächen-
3
großflächige Einbrüche vorhanden sind. karies
Bei einer Wurzelkaries hängt die Therapie davon ab, wo sie lokali- Wurzelkaries
siert ist, ob es sich um eine Primär- oder Sekundärkaries handelt und in
welchem Zustand sie sich befindet. Bei einer weichen Oberfläche kann
man nach entsprechender Politur mit prophylaktischen Maßnahmen
eine Inaktivierung erreichen. Dabei sollten grundsätzlich erst antibakte-
rielle Maßnahmen und anschließend Fluoridierungsmaßnahmen erfol-
gen. Es kann jedoch aus ästhetischen Gründen und aufgrund der Pro-
gredienz einer Karies erforderlich sein, diese invasiv zu behandeln und
den resultierenden Defekt anschließend mit einem adäquaten Restaura-
tionsmaterial (z.B. Komposit, Kompomer) zu verschließen.
Keilförmige Defekte werden, so lange sie keine Beschwerden verur- Defekte
sachen, ästhetisch nicht stören und eine bestimmte Tiefe nicht über-
schritten haben, nicht invasiv behandelt (Umstellung der Putztechnik,
d.h. keine vertikale Bürsttechnik, Ausschalten von Fehlbelastungen). Bei
ausgeprägten Defekten kann eine restaurative Therapie erwogen werden.
Bei Erosionen (speziell im Glattflächenbereich) kommen je nach
BEWE-Klassifikation unterschiedliche Behandlungsoptionen in Be-
tracht (Tab. 3.8). Dabei werden die in der Tabelle 3.9 aufgeführten Ein-
Tab. 3.8: Empfehlung für das Management von Erosionspatienten auf der Basis des BEWE-Index
Schweregrad Summe aller Management
der Erosionen Sextanten
nihil ≤2 • Aufklärung und Überwachung
• Wiederholung der BEWE alle 3 Jahre
gering 3–8 • Mundhygieneinstruktion; Ernährungsabklärung und Beratung, Reflux?
Aufklärung und Überwachung; momentane Situation mit Modellen
und Fotos festhalten
• Wiederholung der BEWE alle 2 Jahre
mittel 9–13 • wie oben
• zusätzlich Empfehlung von Fluoridierungsmaßnahmen; Erhöhung der
Widerstandsfähigkeit der Zahnhartsubstanz
• Restaurative Maßnahmen in Betracht ziehen
• Wiederholung der BEWE alle 6 bis 12 Monate
hoch ≥ 14 • wie oben
• zusätzlich spezielle Betreuung bei schnellem Fortschreiten der Erosio-
nen; restaurative Maßnahmen
• Wiederholung der BEWE alle 6 bis 12 Monate
112 3 Befunderhebung und Diagnose im Rahmen der Kariestherapie
Tab. 3.9: Therapie erosiver Zahnhartsubstanzveränderungen (mit freundli-
cher Genehmigung von Frau Prof. Dr. Ganss, Gießen)
Merkmal Therapie und Verlauf
Kausale Therapie Identifikation und Vermeidung der sauren Noxe durch:
• Reduktion saurer Mahlzeiten
• Kombination von sauren mit kalzium- und phosphatrei-
chen Lebensmitteln (z.B. Obst mit Jogurt, Fruchtsaft mit
hohem Kalziumgehalt)
• Verzehr von Getränken mit einem Strohhalm
Symptomatische Therapie
Hoch dosierte Applikation von Fluorid:
• 2 x wöchentlich Fluoridgel und/oder mehrmals täglich Fluoridspüllösung
Bei schweren Befunden mit generalisierter Dentinbeteiligung außerdem Ver-
meidung zusätzlicher mechanisch bedingter Zahnhartsubstanzverluste durch:
• Wenig abrasive Zahnpasta
• Geringen Putzdruck
• Putzen vor den Mahlzeiten; bei endogener Ätiologie nach dem Erbrechen nur
Spülen
zelmaßnahmen eingesetzt. Bei großflächigen Erosionen mit entspre-
chender Abnutzung auch im Kauflächenbereich sind oft nur noch inva-
sive Maßnahmen, häufig sogar prothetische Maßnahmen indiziert.
Zahnhartsubstanzverluste anderer Genese wie z.B. Amelogenesis imper-
fecta, erfordern zumeist eine umfangreiche prothetische Versorgung,
um die verbleibende Zahnhartsubstanz vor weiterem „Zerfall“ zu schüt-
zen. Im Milchgebiss ist hier die Anfertigung von Stahlkronen indiziert.
Dieses Behandlungsraster dient der groben Orientierung. Es ist in
diesem Rahmen nicht möglich, für jeden denkbaren Fall eine Therapie
vorzuschlagen. In den folgenden Kapiteln wird auf die einzelnen Thera-
piemöglichkeiten genauer eingegangen.
Es gibt grundsätzlich also drei mögliche Therapievarianten der
Karies. Bei kooperationsbereiten, präventionswilligen Patienten
ohne Kariesaktivität muss eventuell überhaupt nicht behandelt
werden. Bei Patienten mit geringer Kariesaktivität bzw. kleinen
kariösen Läsionen ohne Kontinuitätsunterbrechung der Schmelz-
oberfläche ist eine reine präventive Vorgehensweise indiziert. Als
dritte Option bleibt das invasive Vorgehen, wobei zwischen mini-
mal invasiver Therapie und konventioneller Kariestherapie unter-
schieden werden kann. Grundsätzlich sollten alle invasiven thera-
peutischen Maßnahmen durch entsprechende präventive Vorge-
hensweise ergänzt werden.
3.4 Therapieplanung Kapitel 3 113
Diagnose und Therapieverfahren sollten möglichst evidenzbasiert sein
(Tab. 3.10). Dies bedeutet, dass die Verfahren auf gut angelegten klini-
schen Studien mit entsprechender statistischer Bearbeitung basieren
sollten. Diese als externe Evidenz bezeichnete Grundlage muss aller-
dings mit der individuellen klinischen Expertise kombiniert werden
und es müssen zudem die Wünsche und grundlegenden Charakteristika
des Patienten (Alter, finanzielle Grundlage etc.) miteinbezogen werden.
3
Als Rahmen für Therapieentscheidungen können die Empfehlungen der
Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, na-
tionale und internationale Leitlinien sowie Metaanalysen und syste-
matische Reviews wie z.B. des Cochrane-Instituts (http://www.update-
software.com/publications/cochrane/) dienen.
Tab. 3.10: Definition der Evidenzstärke von diagnostischen bzw. therapeuti-
schen Verfahren
Kriterium Evidenz-Typ
A Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter, kontrollierter
Studien
Evidenz aufgrund mindestens einer randomisierten, kontrollierten
Studie
B1 Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, kontrollierten
Studie ohne Randomisierung
Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experi-
mentellen Studie
B2 Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht experimenteller, deskripti-
ver Studien (z.B. Querschnittsstudien)
C Evidenz aufgrund von Berichten/Meinungen von Expertenkreisen,
Konsensuskonferenzen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter
Autoritäten, Fallstudien
Kapitel 4 115
4 Kariesprophylaxe
4
! Der heutige Wissensstand zur Ätiologie und Pathogenese der Ka-
ries ist so gut, dass durch den Einsatz präventiver Maßnahmen ein
deutlicher Kariesrückgang erzielt werden kann.
Die Anzahl klinisch diagnostizierbarer Kariesläsionen ist in Deutschland
in den letzten 25 Jahren bei Kindern und Jugendlichen deutlich gesun-
ken. Bei einzelnen Personen ist jedoch nach wie vor eine hohe Karies-
prävalenz festzustellen (Kariesrisikogruppen). Auch bei Erwachsenen ist
die Kariesprävalenz sehr hoch. Es gibt zudem in allen Altersgruppen
zahlreiche kariöse Initialläsionen. Das liegt u.a. daran, dass der Karies-
entstehung auch eine biosoziale Komponente zugrunde liegt.
Die Kariesentstehung unterliegt kulturellen, technologischen und
ökonomischen Einflüssen unserer Gesellschaft. Einer der Hauptgründe
für die weiterhin hohe Kariesmorbidität ist die mangelnde Bereitschaft
bei einzelnen Menschen, bestimmte krankheitsfördernde Gewohnhei-
ten zu ändern. Hinzu kommen jedoch zahlreiche gesellschaftlich be-
dingte Einflüsse. So erwartet der Patient vom Zahnarzt, dass er „aktiv“
(restaurativ) tätig wird. Obwohl die zahnmedizinische Ausbildung ver-
mittelt, dass häufig präventive Maßnahmen ausreichend wären, wird
der Zahnarzt aufgrund dieser Zwänge restaurativ tätig. Wirtschaftliche
Überlegungen unterstützen diesen Trend. Lokalanästhesie, bequeme Be-
handlungsweise und der Einsatz sogenannter ästhetischer Restaurati-
onsmaterialien lassen Kariesprävention als Zielvorstellung für den Pa-
tienten in den Hintergrund treten. Das zentrale Problem im öffentli-
chen Gesundheitswesen und in der Praxis ist also die Entscheidung, ob
und wie Prävention besser in die zahnärztliche Behandlung integriert
werden kann.
Karies ist eine multifaktoriell bedingte Erkrankung, was den Einsatz
variabler Präventionsmaßnahmen impliziert.
Die primären Präventionsmaßnahmen zielen darauf ab, Neuerkran- Primärprävention
kungen zu verhindern. Das wird im Allgemeinen durch gesundheitsför-
dernde und protektive Maßnahmen erreicht (z.B. Fluoridapplikation,
Ernährungsumstellung).
Im Rahmen der sekundären Prävention sollen Schäden früh diag- Sekundär-
nostiziert werden (z.B. initiale Kariesläsionen durch Bissflügelaufnah- prävention
men) und damit die Anzahl der Manifestationen neuer Erkrankungen
116 4 Kariesprophylaxe
reduziert bzw. der Zahnhartsubstanzverlust begrenzt werden (Reminera-
lisation, Fissurenversiegelung).
Tertiärprävention Auf der tertiären Präventionsebene wird durch spezielle Behand-
lungsmaßnahmen (z.B. minimalinvasive Restaurationstechnik) scha-
densgerecht therapiert. Gleichzeitig wird dabei einer weiteren Schädi-
gung vorgebeugt (z.B. Vermeidung überhängender Füllungsränder
durch Verwendung von Matrizen).
Aus didaktischen Gründen wird sowohl in Lehrbüchern als auch im
studentischen Unterricht zwischen präventiven und restaurativen Maß-
nahmen unterschieden. Die Patienten sollen letztlich jedoch eine inte-
grierte Gesundheitsfürsorge erhalten. Dabei spielen u.a. Präventionsver-
halten und Präventionserwartung, familiäre und soziale Situationen,
momentane Kariesaktivität, Ernährungsgewohnheiten, Fluoridanwen-
dung und Einstellung zu Fluoridierungsmaßnahmen, Mundhygienever-
halten, Alter usw. eine Rolle.
Gruppenprophylaktische Maßnahmen (wie Speisesalzfluoridierung,
Zahnputzprogramme usw.) müssen durch Individualprophylaxe (Zahn-
arzt, Dentalhygienikerin) ergänzt werden.
Nicht für jeden Menschen kann die optimale Lösung die richtige
Lösung sein. Es müssen individuelle Ziele formuliert werden, die für
den einzelnen Patienten erreichbar sind.
Prophylaktische und restaurative Maßnahmen bilden also eine Einheit,
auch wenn sie in den folgenden Kapiteln einzeln dargestellt werden.
Pfeiler der Die vier tragenden Pfeiler der Kariesprävention sind:
Kariesprävention D Ernährungsumstellung
D Anwendung fluoridhaltiger Kariostatika
D Fissurenversiegelung
D Mundhygienemaßnahmen (Abb. 4.1)
Abb. 4.1: Für den größten
Kariesprophylaxe Teil der Bevölkerung sind
Fluoridierungsmaßnahmen
und die Fissurenversiege-
Patient Zahnarzt lung als Basisprophylaxe im
Kariesaktivität
minimal- Rahmen der Kariespräven-
Speichel- invasive tion ausreichend. Mit zu-
stimulation Maßnahmen nehmender Kariesaktivität
müssen weitere Maßnah-
Ernährungs- Ernährungs- men (Intensivprophylaxe)
umstellung beratung ergriffen werden, um die
verstärkte Plaque- Entstehung und Progression
Mundhygiene kontrolle kariöser Läsionen zu verhin-
(professionelle ZR) dern (ZR = Zahnreinigung).
antibakterielle antimikrobielle
Spüllösungen Maßnahmen
Fluoridierung Fissurenversiegelung
Speisesalz, Zahnpasta, Fluoridierung
Tabletten, Spüllösung Fluoridlack, Fluoridgel
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung Kapitel 4 117
Hinzu kommen eine Reihe zusätzlicher Präventivmaßnahmen, die jedoch
in ihrer Wirksamkeit zum Teil noch kritisch beurteilt werden müssen.
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung
4.1.1 Grundlagen
Grundsätzlich können bei der Betrachtung des Einflusses von Ernäh- 4
rungsverhalten auf die Zahnkaries systemische Effekte von lokalen Ef-
fekten unterschieden werden. Systemisch kann extreme Mangel- oder
Fehlernährung indirekt die Kariesgefährdung durch Störung der Mine-
ralisation, des Speichelflusses oder der Speichelzusammensetzung erhö-
hen. Insgesamt können diese möglichen Zusammenhänge jedoch nicht
durch sichere Daten belegt werden.
Nach dem Zahndurchbruch kann nach dem heutigen Kenntnis-
stand jeder systemische Einfluss der Ernährung auf die Entstehung
von Karies weitestgehend ausgeschlossen werden.
Dennoch kann durch eine zweckmäßige zahngesunde Ernährung die Kohlenhydrate
Kariesmorbidität erheblich reduziert werden. In zahlreichen tierexperi-
mentellen Studien konnte nämlich gezeigt werden, dass ohne bakteriell
abbaubare Kohlenhydrate und ohne Kontakt der Nahrung mit plaque-
bedeckten Zähnen keine Karies entsteht.
Es gibt zwar keine spezielle Diät, die Karies vollständig verhindert,
durch die Reduktion des Konsums zuckerhaltiger Nahrungs- und Genuss-
mittel kann ihre Entstehung jedoch wesentlich eingeschränkt werden.
Es liegt letztlich in der Entscheidung jedes erwachsenen Menschen,
ob er sich gesund ernähren will; der Zahnarzt steht jedoch in der Pflicht,
die Patienten zu beraten und ihnen Alternativen zum bisherigen Ernäh-
rungsverhalten aufzuzeigen. Ergänzend sollten Erziehungspersonen wie
Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer usw. sowie Pflegepersonal (speziell
in der Altenfürsorge) instruiert und motiviert werden, auf eine zahnge-
sunde Ernährung bei den zu betreuenden Personen zu achten.
Aus zahlreichen Statistiken geht hervor, dass mit zunehmendem Zu-
ckerverbrauch die Kariesmorbidität in der Gesamtbevölkerung steigt.
Andererseits lässt sich aber heute in vielen Ländern ein Kariesrück-
gang bei nahezu gleich bleibendem Zuckerkonsum verzeichnen. Die
meisten Kenntnisse über die kariogene Bedeutung der Saccharose sind
aus Extremsituationen abgeleitet, und die einfache Relation „viel Zu-
cker gleich viel Karies“ gilt heute nicht mehr automatisch und für alle
Individuen, da Ernährungsfehler durch eine Vielzahl von Prophylaxe-
maßnahmen kompensiert werden können. Entscheidender für die Ka-
riesentstehung ist vielmehr die Zeitspanne pro Tag, in der sich leicht
metabolisierbare Kohlenhydrate in der Mundhöhle befinden. In klassi-
118 4 Kariesprophylaxe
Abb. 4.2: Karieszunahme bei
Anzahl neuer
kariöser Flächen einer Versuchsgruppe (48
Männer) der Vipeholm-Stu-
die. Die Männer nahmen im
5 Jahr A die übliche zuckerhal-
B tige Ernährung zu sich. Im
4 Jahr B bekamen sie zusätzlich
24 Toffees pro Tag in Form
3 von Zwischenmahlzeiten
(nach Nikiforuk 1985). Zur Ka-
2 riesentstehung tragen alle
vergärbaren Kohlenhydrate
1 A wie Saccharose, Glukose,
Fruktose, Maltose, Laktose,
weiterverarbeitete Stärke u.a.
0 bei, wenn auch die Saccha-
normale süße Zwischen- rose eine Sonderstellung ein-
Ernährung mahlzeiten
(24 Toffees) nimmt, da sie von kariogenen
Mikroorganismen bevorzugt
Vipeholm-Studie abgebaut wird.
schen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Häufigkeit der Zu-
ckerzufuhr eng mit der Kariesinzidenz korreliert (Abb. 4.2).
Die kleinste Menge Saccharose, die zu einer zahnmedizinisch rele-
vanten Säurebildung in der Plaque führt, beträgt ca. 15 mg. Mit 150–500
mg Saccharose kann eine maximale Säurebildung innerhalb der Plaque
erreicht werden.
Süße Zwischenmahlzeiten, die eine Kombination aus hohem Zu-
ckergehalt und häufiger Aufnahme darstellen, sind als besonders
kariesfördernd einzustufen.
Insgesamt betrachtet ist aber die relative Kariogenität eines Nahrungs-
mittels schwer zu bewerten.
Produktbezogene Als produktbezogene Faktoren spielen der Typ und die Menge der
Faktoren Kohlenhydrate, die chemische Zusammensetzung (Fett-, Proteinanteil
usw.), physikalische Eigenschaften (Klebrigkeit, Festigkeit) und mögli-
cherweise schützende Bestandteile eine Rolle.
Individuumbezo- Von den individuumbezogenen Faktoren sind neben der Häufig-
gene Faktoren keit auch die Reihenfolge der Aufnahme, die „oral clearance rate“ (Eli-
mination aus der Mundhöhle pro Zeiteinheit in Minuten) und die
Mundhygiene zu nennen. Die „oral clearance rate“ wiederum hängt
von Faktoren wie Speichelfluss, Zahnstellung u.a. ab.
Aufgrund dieser zahlreichen Faktoren liegen wenig verlässliche Da-
ten über die relative Kariogenität von Nahrungsmitteln vor. Die Kario-
genität von Nahrungsmitteln hängt in erster Linie von ihrem Gehalt
leicht vergärbarer niedermolekularer Kohlenhydrate ab.
Neben allen zuckerhaltigen Speisen und Getränken gelten aber auch
Produkte, die Zucker in Kombination mit weiterverarbeiteter Stärke
enthalten, als besonders kariogen.
Es lässt sich also festhalten, dass es wünschenswert ist, die Gesamt-
menge niedermolekularer Kohlenhydrate, speziell von Saccharose, in
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung Kapitel 4 119
der Nahrung zu reduzieren. Dabei sollte insbesondere die Frequenz der
Zwischenmahlzeiten, die niedermolekulare Kohlenhydrate enthalten,
gesenkt werden.
Zu den empfehlenswerten Zwischenmahlzeiten gehören z.B.
Milch und Milchprodukte, Quark, Obst und Gemüse, Säfte und Nüsse,
sofern ihnen kein Zucker zugesetzt wird. Es ist jedoch darauf hinzuwei-
sen, dass auch diese Nahrungsmittel bei zu häufiger Zufuhr zahnschäd-
lich sein können. Insbesondere der wiederholte Genuss saurer Frucht-
säfte kann zu Erosionen der Zahnhartsubstanzen führen. 4
Mit diesen Vorgaben wird dem modernen Verständnis der Kariesent-
stehung Rechnung getragen. Es kommt selten, und wenn, dann zeitlich
limitiert, zu Demineralisationsattacken auf die Zahnhartsubstanzen. Für
die Remineralisation durch den Speichel stehen dadurch lange Zeit-
räume zur Verfügung.
4.1.2 Bestimmung der Zahngefährdung durch Nahrungsmittel
In Deutschland beträgt der durchschnittliche Verbrauch von Zucker Zucker
(Saccharose) nach Angaben der Zuckerindustrie 34,6 kg/Jahr. Zusätzlich
werden 4,9 kg Glukose, 1,0 kg Isoglukose und 1,4 kg Honig pro Person
verbraucht. Den meisten Menschen ist die Zuckerkonzentration, die
verschiedene Lebensmittel besitzen, kaum bekannt (Tab. 4.1).
Tab. 4.1: Zuckergehalt verschiedener kariogener Nahrungsmittel, die als Zwi-
schenmahlzeiten ungeeignet sind (nach Schraitle und Siebert 1987)
Lebensmittel Zuckergehalt in g/100 g
Süßwaren
• Bonbons 90
• Schokolade 60
• Eiscreme 20
• Butterkekse 20
Brotaufstriche
• Honig 75
• Marmelade 60
• Nuss-Nougat-Creme 50–60
Obstkonserven 16–44
Fruchtsäfte
• gesüßt 10–20
Frischobst
• Bananen 18
Trockenfrüchte 40–64
Cola-Getränke 8–11
Tomatenketchup 28–30
120 4 Kariesprophylaxe
Tab. 4.2: Getränke mit niedrigem pH-Wert, deren häufiger Genuss zu Erosio-
nen der Zahnhartsubstanzen führen kann (nach Hickel 1993)
Getränk pH-Wert
Zitronensaft 2,0
Cola 2,5
Orangensaft 3,5
Apfelsaft 3,5
Buttermilch 4,4
Mineralwasser mit
• viel Kohlensäure 5,2
• wenig Kohlensäure 6,3
Säure Man darf jedoch nicht vergessen, dass auch durch säurehaltige
Nahrungsmittel Zahnschäden entstehen können (Erosionen). Wäh-
rend beim Genuss kariogener Nahrungsmittel die häufige Bildung orga-
nischer Säuren durch die Plaquebakterien im Vordergrund steht, bewir-
ken säurehaltige Nahrungsmittel eine direkte Demineralisation der
Zahnoberfläche. Auch derartige Säureschäden gilt es durch entspre-
chende Beratung zu vermeiden (Tab. 4.2).
Dabei müssen die Häufigkeit des Genusses und die Verweildauer
saurer Nahrungsmittel reduziert werden, damit auch hier dem Speichel
genügend Zeit zum Abpuffern und zur Remineralisation zur Verfügung
steht. Es sollte beachtet werden, dass auch Fruchtsäfte, Vitaminpräpa-
rate, Buttermilch u.a., die prinzipiell als gesunde Nahrungsmittel be-
trachtet werden, bei exzessivem Genuss Erosionen erzeugen können.
Beurteilung der Um die Kariogenität von Nahrungsmitteln zu beurteilen, wurden
Kariogenität zahlreiche Testverfahren entwickelt. In-vitro-Studien oder Tierstudien
unter gut protokollierten Bedingungen sind als Screening-Test geeignet,
können aber Studien beim Menschen letztlich nicht ersetzen. Beim
Menschen können Langzeit- oder gut kontrollierte Kurzzeitstudien
durchgeführt werden, sofern sie ethisch vertretbar sind.
Als besonders geeignet gelten heute die intraorale Plaque-pH-Wert-
Bestimmung oder die Bestimmung des Demineralisationsgrades von in
der Mundhöhle fixierten Schmelzproben. Mit der intraoralen Plaque-pH-
Wert-Messung wird die potenzielle Kariogenität bestimmt. Fällt der pH-
Wert in der Plaque nach Gabe eines Nahrungsmittels (beinhaltet auch Ge-
tränke) unter den kritischen pH-Wert, wird das Produkt als potenziell ka-
riogen eingestuft. Als zahnschonend wird ein Nahrungsmittel bezeichnet,
wenn der pH-Wert in der interdentalen Plaque bis zu 30 min nach dem
Verzehr nicht unter 5,7 fällt. Der Begriff relative Kariogenität versucht zu
beschreiben, wie stark oder schwach kariogen ein Nahrungsmittel ist.
Da bisher kein einzelnes verlässliches Testverfahren bekannt ist, ver-
sucht man die relative Kariogenität durch Kombination der genannten
Methoden zu bestimmen.
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung Kapitel 4 121
4.1.3 Durchführung der Ernährungsberatung und -lenkung
Wie bei jeder ärztlichen Maßnahme benötigt man auch hier eine ge- Ernährungs-
naue Anamnese. Diese besteht aus einem adäquaten, validen und ver- protokoll
trauenswürdigen Ernährungsprotokoll. Dieses Protokoll sollte mindes-
tens drei Tage lang geführt werden. Es kann in standardisierter vorgefer-
tigter Form zum Ankreuzen mitgegeben werden oder wird vom
Patienten nach entsprechenden groben Vorgaben selbst angefertigt (s.
Kap. 3). 4
Aufgrund dieses Ernährungsprotokolls analysiert der Zahnarzt die
Ernährungsgewohnheiten und die Nahrungsmittelzusammensetzung.
In einer speziell anberaumten Sitzung wird der Zusammenhang zwi-
schen den speziellen Zahnproblemen des Patienten und seinen Ernäh-
rungsgewohnheiten erklärt. Grafische Darstellungen des Zusammen-
hangs helfen bei der Aufklärung. Dem Patienten muss dabei erklärt
werden, welche kariogenen „Zuckerarten“ es gibt (Glukose, Fruktose,
Saccharose usw.). Der Patient wird dann aufgefordert, Vorschläge zu ma-
chen, wie er die hohe Frequenz der Zuckeraufnahme reduzieren kann.
Der Zahnarzt macht seinerseits Vorschläge, wie die kariogenen Zwi-
schenmahlzeiten durch nicht kariogene ersetzt werden können. Das
kann durch Verzicht auf Süßigkeiten zu den Zwischenmahlzeiten oder
durch die Verwendung nicht kariogener Süßungsmittel geschehen.
Eine spezielle Ernährungsberatung sollte bei Schwangeren durch- Schwangerschaft
geführt werden. Der unüberwachte, ständige Genuss kariogener Ge-
tränke und Nahrungsmittel, speziell in Saugerflaschen aus Kunststoff,
führt bei Kleinkindern zu einer extrem raschen Zerstörung der durch-
brechenden Milchzähne mit der Folge des Zahnverlustes (nursing
bottle caries, early childhood caries = EEC). Selbst der ständige Ge-
nuss von Milch aus Saugerfläschchen, speziell während der Nacht, kann
zu einer solchen Karies führen.
Bei Zahnerosionen wird auf die Rolle saurer Getränke (z.B. Soft-
drinks), von Zitrusfrüchten, sauren Nahrungsmitteln, Vitaminproduk-
ten, Medikamenten (z.B. ASS) usw. hingewiesen. Eine wenig abrasive
Zahnputztechnik wird ebenfalls eingeübt.
4.1.4 Kalorische und nicht kalorische Süßungsmittel
Zucker ist billig, leicht in reiner Form herzustellen und kalorienreich. Er
ist angenehm süß, findet Verwendung als Konservierungsmittel, Füll-
stoff, Verzierung usw. Allein aus diesen Gründen ist es schwierig, auf Zu-
cker zu verzichten bzw. einen Zuckerersatz- oder -austauschstoff zu fin-
den. Die Suche nach einem solchen Stoff ist nicht nur aus zahnmedizi-
nischer Sicht, sondern auch aus allgemeinmedizinischer Sicht wichtig.
Immer mehr Menschen leiden nämlich an Diabetes und Übergewicht
mit entsprechenden Folgeerkrankungen.
122 4 Kariesprophylaxe
Ein zuckerfreies Süßungsmittel sollte nur langsam oder überhaupt
nicht von kariogenen Mikroorganismen abgebaut werden können,
ungefähr die Süßkraft des Zuckers besitzen und nicht teurer als Zu-
cker sein.
Man unterscheidet heute zwischen kalorischen und nicht kalorischen
Süßungsmitteln.
Kalorische - Unter die Rubrik kalorische Süßungsmittel lassen sich Mannit, Sor-
Süßungsmittel bit, Xylit u.a. einordnen. Sie werden auch als Zuckeraustauschstoffe be-
zeichnet.
Xylit kommt in Beeren und Gemüsen vor, wird kommerziell jedoch
aus harten Hölzern wie Birke extrahiert. Da Xylit im Magen-Darm-Trakt
nur teilweise absorbiert wird, kann es bei Genuss von mehr als 50 g pro
Tag bei Erwachsenen (30 g bei Kindern) zu Diarrhö kommen. Xylit ist
ein nicht kariogenes Süßungsmittel (Abb. 4.3).
In neueren Untersuchungen wird Xylit sogar eine antikariogene
Wirksamkeit zugesprochen, deren genauer Mechanismus bisher aller-
dings nicht bekannt ist. So soll Xylit eine Plaque reduzierende Wirkung
besitzen und zudem die Streptococcus-mutans-Zahlen im Speichel und
in der Plaque reduzieren. Es soll zudem die Remineralisation von initia-
len Kariesläsionen verbessern und zur Selektion einer Mutanspopula-
tion mit geschwächter Virulenz beitragen.
Auch Sorbit ist Bestandteil vieler Pflanzen. Es wird durch Hydroge-
nation aus Glukose industriell gewonnen. Seine Süßkraft ist halb so
groß wie die von Glukose (Tab. 4.3). Es wird langsam und unvollständig
im Intestinaltrakt absorbiert, sodass es bei häufigem Genuss, ähnlich
wie bei Xylit, zu Durchfallerkrankungen kommt. Sorbit wird zwar ge-
Abb. 4.3: Kariesreduktion
DMF-S
durch Verringerung der täg-
lichen Zuckeraufnahme. In
14 12,8 der Turku-Studie wurden
Personen, die den Süßstoff
12 Xylitol zum Süßen fast aller
Nahrungsmittel verwende-
10 ten, mit einer Kontroll-
gruppe verglichen, die „nor-
male“ zuckerhaltige Ernäh-
8 rung erhielt (nach Scheinin
und Makinen 1975).
6
2 1,1
0
Kontrolle Xylitol-Gruppe
Turku-Studie
4.1 Ernährungsberatung und -lenkung Kapitel 4 123
Tab. 4.3: Relative Süßkraft von verschiedenen Zuckern und anderen Süßungs-
mitteln (die Süßkraft von Saccharose wurde mit dem Wert 1 zugrunde gelegt)
Laktose 0,16
Galaktose 0,32
Sorbitol 0,54
Mannitol 0,57
Glukose 0,74
Saccharose 1,00 4
Invertzucker (G + F) 1,30
Fruktose 1,73
Natriumzyklamat 30–80
Aspartam (L-aspartyl-L-phenylalaninmethylester) 150–200
Saccharin 200–700
Monellin 3000
ringfügig von Streptococcus-mutans-Stämmen metabolisiert, es resul-
tiert jedoch ein geringer pH-Abfall, sodass sorbitgesüßte Süßigkeiten als
zahnschonend gelten.
Als nicht kalorische Süßungsmittel finden hauptsächlich Saccharin, Nicht kalorische
Cyclamat und Aspartam (Phenylalanin) Verwendung. Diese Stoffe be- Süßungsmittel
sitzen eine extrem hohe Süßkraft, sodass sie sich nicht als Füllstoff, z.B.
beim Backen, eignen. Sie senken den interdentalen Plaque-pH-Wert
nicht, sodass sie als nicht kariogen eingestuft werden können. Die nicht
kalorischen Süßungsmittel sind immer wieder wegen angeblicher Ge-
sundheitsgefährdung in die Diskussion geraten, sodass z.B. Cyclamat in
den USA nicht mehr verwendet werden darf.
Es gibt zudem zahlreiche andere pflanzliche Süßungsmittel, die je-
doch aufgrund ihrer extremen Süßkraft nur selten, z.B. bei der Herstel-
lung von Pharmazeutika, Verwendung finden.
Moderne Ernährungsberatung und -lenkung in der Zahnmedizin
berücksichtigt die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kariesent-
stehung. Es kann daher nicht darum gehen, den Zuckerkonsum
vollständig zu unterbinden. Mäßiger Zuckergenuss während oder
nach den Hauptmahlzeiten mit nachfolgender Mundhygiene und
damit verbundener Speichelstimulation ist aus kariologischer Sicht
dann nicht bedenklich, wenn auf kariogene Zwischenmahlzeiten
verzichtet wird.
124 4 Kariesprophylaxe
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen
! Fluoride nehmen eine zentrale Rolle in der Kariesprophylaxe ein.
Wenige Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge wur-
den so intensiv, über einen so langen Zeitraum und unter derartig
verschiedenen wissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht
wie die Anwendung der Fluoride bei der Kariesprävention.
Der Metabolismus, die Toxikologie und die Effektivität verschiedener
Fluoridverbindungen gelten heute als wissenschaftlich weitestgehend
erforscht. Die exakten Mechanismen der Karies reduzierenden Wirkung
der Fluoride konnten bisher allerdings trotz zahlreicher Experimente
nur in Teilbereichen geklärt werden.
4.2.1 Fluoridzufuhr, Fluoridaufnahme und Fluoridmetabolismus
Vorkommen Fluorid kommt im Trinkwasser, im Erdboden (80–100 ppm), in der Luft
(0,1–1,3 µg/m3) und in Nahrungsmitteln in unterschiedlich hoher Kon-
zentration vor (ppm = parts per million; 1000 ppm entsprechen 0,1% bzw.
1000 mg/kg oder 1000 mg/l; Fluorid hat ein Molgewicht von 18,99 g).
So liegt der Trinkwasserfluoridgehalt in Deutschland zwischen
0,02 und 1,8 mg/l. Er erreicht allerdings nur in einigen Gebieten Werte
über 0,5 ppm. In der Trinkwasserverordnung ist eine Höchstgrenze von
1,5 ppm F– festgelegt. Einige Mineralwässer weisen erheblich höhere
Fluoridgehalte auf, die dann jedoch entsprechend kenntlich gemacht
werden müssen (ab 5 ppm mit Warnhinweis).
Der erwachsene Mensch nimmt mit der täglichen Nahrung durch-
schnittlich 0,5–0,8 mg Fluorid auf (Tab. 4.4).
In Gegenden mit hohem Teekonsum, hohem Anteil von Seefisch in der
täglichen Nahrung und fluoridiertem Trinkwasser kann die Fluoridzu-
fuhr höher sein.
Zu dem mit der Nahrung aufgenommenen Fluorid kommt die über
fluoridhaltige Kariostatika aufgenommene Menge hinzu. Sie ist je nach
angewandtem Mittel und der Menge des dabei verschluckten Fluorids
unterschiedlich hoch.
Aufnahme und Man muss allerdings zwischen Fluoridaufnahme und -resorption,
Resorption d.h. Bioverfügbarkeit, unterscheiden. Etwa 60–80% des Nahrungsfluo-
rids gelangen über den Verdauungstrakt in das Blut und sind damit bio-
verfügbar. Wird anorganisches Fluorid im Rahmen der Kariesprophy-
laxe zugeführt, so werden 80–100% der verschluckten Fluoridmenge re-
sorbiert.
Die Fluoridresorption ist behindert, wenn die Fluoride in schwer lös-
licher Form, z.B. als Kalziumfluorid, vorliegen. Der Fluoridgehalt des
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 125
Tab. 4.4: Fluoridaufnahme bei Erwachsenen über die tägliche Nahrung
(mg/Tag). Die Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) stam-
men von 1980. Aufgrund verbesserter Analysemethoden mussten die Werte
später nach unten korrigiert werden. Von den aufgeführten Fluoridmengen
sind allerdings nur etwa 60–80% bioverfügbar (nach Oehlschläger 1982).
DGE Oehlschläger
Fleisch, Fisch 0,222 0,058
Eier, Milch, Fett 0,102 0,035
Backwaren, Nährmittel 0,156 0,098 4
Gemüse, Kartoffeln 0,056 0,057
Obst 0,020 0,023
Zucker, Süßwaren 0,008 0,004
feste Nahrung gesamt 0,564 0,265
Getränke 0,238 0,175
insgesamt ohne Trinkwasser 0,802 0,440
Trinkwasser 0,130
gesamt 0,802 0,570
Blutplasmas (ionisches Fluorid) beträgt in der Regel 0,7–2,4 µM/l (1 µM
= 0,019 ppm).
Nach peroraler Fluoridaufnahme steigt die Plasmakonzentration
kurzfristig an. Abhängig vom metabolischen Zustand des Körpers, pH-
Wert des Urins und von der Höhe der Fluoridapplikation kommt es
nach einer bestimmten Zeit wieder zum Absinken auf normale Werte.
Unter Normbedingungen beträgt die Halbwertszeit – je nach Indivi-
duum und Höhe der applizierten Fluoriddosis – im Plasma 2–9 h.
Fluorid hat eine spezielle Affinität zum Knochen und zu Zahnhart-
geweben. Es wird im Knochen in Abhängigkeit von der Bioverfügbar-
keit und Häufigkeit der Aufnahme unterschiedlich hoch angereichert.
Das Skelett ist der entscheidende Faktor für die Homöostase von Fluorid
im Blut. Bei plötzlicher hoher Fluoridzufuhr ist das Skelett Auffang- und
Ausgleichsreservoir. Ein kleiner Teil des täglich aufgenommenen Fluo-
rids wird allerdings dauerhaft im Knochen retiniert. Der Fluoridgehalt
des Knochens nimmt daher im Lauf des Lebens zu und erreicht mit 50
bis 60 Jahren ein Plateau. Der Fluorideinbau im Knochen bewirkt eine
Vergrößerung der Apatitkristalle, mindert die Löslichkeit und stabilisiert
das Skelettsystem.
Während der Wachstumsphase besteht meistens eine positive Fluo- Fluoridbilanz
ridbilanz. Etwa 45% des zugeführten Fluorids werden retiniert. 1% wird
mit dem Schweiß, 1% mit dem Speichel, 49% werden über die Nieren
und 4% über die Fäzes ausgeschieden.
Beim Erwachsenen herrscht meistens eine ausgeglichene Fluorid-
bilanz, d.h., es werden etwa 30% des resorbierten Fluorids in den Kno-
chen eingelagert, der gleiche Anteil jedoch auch wieder durch osteoklas-
126 4 Kariesprophylaxe
tische Tätigkeit freigesetzt. Letztlich wird dann die gleiche Menge Fluo-
rid wieder ausgeschieden, die auch aufgenommen wurde (94% davon
über die Nieren).
Bei Zufuhr hoher Fluoridkonzentrationen über einen längeren Zeit-
raum wird vermehrt Fluorid in den Knochen eingebaut; so erfolgt wie-
der die Einstellung der Homöostase im Blutplasma mit ausgeglichener
Fluoridbilanz.
Wird anschließend die Fluoriddosierung wieder herabgesetzt,
kommt es über einen bestimmten Zeitraum zu einer negativen Fluorid-
bilanz, d.h., es wird vermehrt Fluorid aus dem Knochen freigesetzt und
ausgeschieden, um schließlich wieder in einer ausgeglichenen Bilanz zu
enden. Im menschlichen Körper ist Fluorid in einer Größenordnung
von 10 g fest eingebaut.
Durch die hohe Affinität von Fluorid zu Zahnhartgeweben kommt
es während der primären Mineralisation und mehr noch während der
präeruptiven Reifungsmineralisation zur Fluorideinlagerung in die
Zahnhartgewebe (Abb. 4.4). Dabei wird Fluorid vornehmlich in das Kris-
Fluoridwirkung
lokal
Zahnpasten systemisch
Gele Tabletten
Lacke Trinkwasser
Lösungen Kochsalz
Direkte direkte
Wirkung Verschlucken Verschlucken
Einwirkung
posteruptiv präeruptiv
Abb. 4.4: Möglichkeiten der Fluoridprophylaxe und ihre Wirkung auf Zahnhart-
substanzen. Bei sogenannten systemischen Fluoridierungsmaßnahmen wird die
gesamte applizierte Fluoridmenge verschluckt und Fluorid kann sich während der
präeruptiven Schmelzbildung und -reifung in die Zahnhartsubstanzen einlagern.
Gleichzeitig kommt es aber auch während der Aufnahme über den Speichel zur
lokalen Fluoridierung bereits durchgebrochener Zähne. Umgekehrt können lokale
Fluoridierungsmittel auch eine systemische Wirkung besitzen, wenn sie ver-
schluckt werden. Die Hauptwirkung aller Fluoridierungsmittel liegt jedoch in der
Beeinflussung von De- und Remineralisationsvorgängen an der Zahnoberfläche.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 127
Fluorid (ppm) Fluorid (ppm)
300 4000
200 3000
2000
100
1000
0 0
4
Schmelz Dentin
Abb. 4.5: Fluoridprofil im Zahnschmelz und Dentin frisch durchgebrochener Zähne
tallgitter des Hydroxylapatits eingebaut. Bei frisch durchgebrochenen
Zähnen findet man an der Schmelzoberfläche die höchste Fluoridkon-
zentration. Sie nimmt zu den inneren Schmelzbereichen hin ab und
steigt zur Schmelz-Dentin-Grenze hin wieder an (Abb. 4.5).
Der präeruptive Fluorideinbau reicht jedoch nicht aus, um den
Zahn vor Karies zu schützen.
Nach Zahndurchbruch bewirken die in der Abbildung 4.4 genannten
Fluoridierungsmaßnahmen eine weitere Zunahme der Fluoridkonzen-
tration an der Oberfläche der Zahnhartgewebe.
4.2.2 Fluoride als Kariostatika
In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts stellten Black und McKay
fest, dass in Gebieten mit einem erhöhten Trinkwasserfluoridgehalt
(0,7–1 ppm Fluorid) bei überdurchschnittlich vielen Kindern und Ju-
gendlichen weiße Schmelzflecken diagnostiziert werden konnten.
Gleichzeitig wiesen diese Personen jedoch einen geringeren Kariesbefall
auf als Kinder aus anderen Gebieten mit geringerem Trinkwasserfluorid-
gehalt. Es entstand die Vermutung, dass ein Trinkwasserfluoridgehalt in
einer Größenordnung von 1 ppm eine kariesprophylaktische Wirksam-
keit besitzt.
Diese Theorie wurde von Dean 1938 in epidemiologischen Untersu-
chungen unterstützt. Er fand, dass es bei einem Trinkwasserfluoridge-
halt von 0,6 ppm zu einer Kariesreduktion von 50% (bei 1,2 ppm von
60%) im Vergleich zu Gebieten mit 0,2 ppm kam. Zahlreiche epidemio-
logische Untersuchungen in Gebieten mit natürlich und „künstlich“
fluoridiertem Trinkwasser kamen zu ähnlichen Ergebnissen.
Es konnte jedoch auch gezeigt werden, dass die Karies reduzierende
Wirkung bei den Glattflächen der Zähne am höchsten war, gefolgt von
den Approximalflächen. Die niedrigste Kariesreduktion (unter 40%)
128 4 Kariesprophylaxe
ließ sich in den Fissuren und Grübchen feststellen. Jugendliche, die seit
Geburt in Gebieten mit einem optimalen Trinkwasserfluoridgehalt le-
ben, weisen weniger kariöse Zahndefekte auf als solche, die nur kurze
Zeit in solchen Gebieten leben.
Anfangs ging man davon aus, dass der präeruptive Fluorideinbau in
den Zahnschmelz der Grund für die kariesprophylaktische Wirkung von
Fluorid sei. Heute weiß man allerdings, dass die posteruptive, lokale
Wirkung von Fluorid eine größere Rolle spielt. Insofern ist der Begriff
Fluoridsupplementierung für die Gabe von Fluoridtabletten oder für die
Verwendung fluoridierten Speisesalzes irreführend, da es sich genau ge-
nommen auch um eine lokale Fluoridierungsmaßnahme handelt. Da
der Begriff jedoch nach wie vor in der Literatur zu finden ist, wird er
nachfolgend für diese Fluoridierungsmaßnahmen verwendet.
Heute leben etwa 400 Millionen Menschen in Gebieten mit fluori-
diertem Trinkwasser. In Deutschland hat sich die Trinkwasserfluoridie-
rung aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht etabliert.
Tabletten- Als alternative „systemische“ Fluoridierungsmaßnahmen stehen die
fluoridierung Tablettenfluoridierung und die Salzfluoridierung zur Verfügung. Bei
der Tablettenfluoridierung ist in Abhängigkeit vom Alter und von ande-
ren Fluoridierungsmaßnahmen die Dosierung unterschiedlich zu gestal-
ten. Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, ob die Patienten in Gebie-
ten mit natürlich erhöhtem Trinkwasserfluoridgehalt leben, fluoridhal-
tiges Speisesalz verwenden oder fluoridhaltige Mineralwässer zu einer
erheblichen Fluoridaufnahme beitragen (Tab. 4.5a).
Tabletten enthalten meistens Natriumfluorid (2,2 mg NaF = 1 mg F–).
Grundsätzlich sollte nur eine Form der Fluorid„supplementierung“
gewählt werden, also Salz- oder Tablettenfluoridierung. Es ist sicher-
zustellen, dass die Gesamtzufuhr von Fluorid bestimmte Grenzen
nicht überschreitet (Tab. 4.5b).
Speisesalz- Fluoridiertes Speisesalz ist seit 1991 in Deutschland erhältlich und
fluoridierung wird seit 1992 auch in Deutschland produziert. Es enthält 250 mg Fluo-
rid pro kg Salz. In 4 g Salz ist also 1 mg Fluorid enthalten. Selbst bei ex-
Tab. 4.5a: Altersabhängige Dosierung von Fluoridtabletten (mg Fluorid/Tag;
s. Text) (Quelle: Stellungnahme der DGZMK 2000)
Alter Fluoridkonzentration im Trinkwasser (Mineralwasser), mg/l
< 0,3 0,3–0,7 > 0,7
0–6 Monate – – –
6–12 Monate 0,25 – –
ab 1 – unter 3 Jahre 0,25 – –
ab 3 – unter 6 Jahre 0,50 0,25 –
> 6 Jahre 1,00 0,50 –
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 129
Tab. 4.5b: Geschätzte Gesamtfluoridaufnahme (mg/Tag) bei Einsatz unter-
schiedlicher Supplementierungsverfahren. Die Zahlen in Klammern geben
die Fluoridmenge in mg pro kg Körpergewicht pro Tag an (nach Bergmann
und Bergmann 1995).
Fluorid- Fluoridiertes Salz (250 mg/kg)
tabletten Haushaltssalz inkl. Brot Empfohlene
Tagesdosis
Vorschulkinder 0,940 0,343 0,518 1,0–2,5
(0,047) (0,017) (0,026) (0,05–0,125) 4
Schulkinder 1,230 0,453 0,748 1,5–2,5
Jugendliche, 1,500 0,695 1,240 1,5–4,0
Erwachsene
zessiver Salzaufnahme ist eine Überdosierung im Sinne einer akuten In-
toxikation ausgeschlossen.
Die pränatale Gabe von Fluoridsupplementen bietet nach heutigem
Wissensstand keinen vermehrten Kariesschutz für das Kind, wohl aber
für die Mutter.
Statt oder neben der „systemischen“ Fluoridgabe stehen heute zahl- Lokale
reiche Methoden zur lokalen Fluoridierung der Zähne zur Verfügung. Fluoridierung
Gebräuchliche Fluoridverbindungen für die lokale Fluoridierung sind
Natriumfluorid, Natriummonofluorphosphat, Aminfluorid und Zinn-
fluorid. Sie finden Anwendung in fluoridhaltigen Zahnpasten, Mund-
spüllösungen, Fluoridgelen und Fluoridlacken. Die Fluoridkonzentra-
tionen einiger gebräuchlicher Fluoridierungsmittel sind der Tabelle 4.6
zu entnehmen.
Bei der Anwendung der Fluoride gilt es, einerseits die optimale ka-
riesprophylaktische Wirkung auszunutzen, anderseits das Risiko einer
fluorotischen Schmelzschädigung während der Zahnentwicklung so ge-
ring wie möglich zu halten. Leichte fluorotische Veränderungen des
Zahnschmelzes können allerdings auch schon bei relativ niedriger Fluo-
riddosierung festgestellt werden. Sie müssen als kosmetisches „Pro-
blem“ in Kauf genommen werden, wenn man auf eine optimale Karies-
prävention mit Fluoriden nicht verzichten will. Es sollte aber darauf ge-
achtet werden, dass nicht über längere Zeit chronisch-toxische Dosen
verabreicht bzw. durch Verschlucken nach lokaler Fluoridapplikation
kurzzeitige Höchstkonzentrationen im Blutplasma erreicht werden. Der
Zahnarzt muss hier entsprechende Dosierungsempfehlungen formulie-
ren (Abb. 4.6). Dabei wird eine Aufnahme von 0,05 mg Fluorid pro kg
Körpergewicht als optimale Konzentration angegeben.
Die Bundeszahnärztekammer hat gemeinsam mit der Kassenzahn-
ärztlichen Bundesvereinigung und der Zahnärztlichen Zentralstelle für
Qualitätssicherung im Institut der Deutschen Zahnärzte eine Leitlinie
zu Fluoridierungsmaßnahmen publiziert. Diese basiert auf einem Re-
view aller verfügbaren klinischen Studien mit der Zielvariable Kariesre-
duktion im Milchgebiss und im bleibenden Gebiss
130 4 Kariesprophylaxe
Tab. 4.6: Fluoridkonzentrationen üblicher fluoridhaltiger Kariostatika (1 mg
NaF = 0,45 mg F–; 1 mg F–/l = 1 ppm [parts per million]; 1% F– = 10 000 ppm
Fluorid)
Fluoridkonzentration einiger Mittel zur Kariesprophylaxe
Kochsalzfluoridierung
(4 g Salz tgl. = 1 mg Fluorid) 250 ppm F– = 250 mg F–/kg
Zahnpasten
Erwachsenenzahnpasten 0,1–0,15% F– = 1000–1500 ppm
Kinderzahnpasten 0,05% F– = 250–500 ppm
Mundspüllösungen
Tägliche Anwendung 0,05% NaF = 0,0225% F–
Wöchentliche Anwendung 0,2–0,5% NaF = 0,09–0,225% F–
Zur Touchierung 2% NaF = 0,9% F–
Gelees
Elmex Gelee 20% Aminfluorid, 80% NaF 1,25% F– = 12 500 ppm
Pro Schmelz Fluoridgelee 1,25% F–
Elmex Fluid als Aminfluorid 1% F– = 10 000 ppm
Duraphat-Lack 5 Gew.% NaF = 2,3% F– = 23 000 ppm,
pH-Wert neutral
Fluorprotektor 0,1% F– = 1000 ppm (Fluorsilan in Po-
lyurethanlack), pH-Wert 3,5
Trinkwasserfluoridierung 1 mg F–/l = 1 ppm F–
Tägliche Aufnahme mit der Nahrung ca. 0,5 mg F–
PTD (probably toxic dose) 5 mg F–/kg Körpergewicht bei Kindern
CTD (certainly toxic dose) 32–64 mg F–/kg Körpergewicht
Empfehlungen zu Fluoridierungsmaßnahmen
Zahnpasten
1. Die Verwendung von fluoridhaltiger Zahnpasta mit mindestens
1000 ppm Fluorid ist eine breitenwirksame und effektive kariesprä-
ventive Maßnahme, deren Wirksamkeit ab dem Schulalter nachge-
wiesen ist. Daher soll ab dem Durchbruch der bleibenden Zähne mit
einer Zahnpasta geputzt werden, die einen Fluoridgehalt von min-
destens 1000 ppm Fluorid enthält.
2. Der kariespräventive Effekt steigt mit zunehmender Fluoridkonzen-
tration in der Zahnpasta. Zahnpasta mit einem Fluoridgehalt
< 500 ppm sollte nicht verwendet werden. Zahnpasta mit einem
Fluoridgehalt von mehr als 1000 ppm wird für Kinder vor dem
Schulalter nicht empfohlen. Da Kinder in Deutschland auch ande-
ren Fluoridquellen ausgesetzt sind, und um das Fluoroserisiko zu be-
grenzen, soll bei Kindern im Vorschulalter ab Durchbruch der ersten
Milchzähne bis zum Durchbruch der ersten bleibenden Zähne eine
Zahnpasta mit 500 ppm Fluorid verwendet werden.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 131
Fluoridierungsmaßnahmen - Basisprophylaxe
Jahre 0 2 4 6* 8 10 12
1 x tägl. 2 x täglich 2 x täglich
Fluoridzahnpasta Fluorid-Kinderzahnpasta Fluorid-Zahnpasta für Erwachsene
und
fluoridiertes Speisesalz
regelmäßige Verwendung (Haushalt, Gemeinschaftsverpflegung)
4
alternativ auch möglich
Fluoridfreie Fluorid-
Zahnpasta Kinderzahnpasta Fluorid-Zahnpasta für Erwachsene
Fluoridzahnpasta
und
Fluoridtabletten
nach ärztlicher/zahnärztlicher Verordnung; 1 x täglich lutschen
Mögliche zusätzliche Fluoridierungsmaßnahmen, insbesondere bei erhöhtem Kariesrisiko
Jahre 0 2 4 6* 8 10 12
Häusliche Anwendung:
Fluorid-Gel wöchentlich nur bei Gel
oder alternativ
Fluorid-Spüllösung mehrmals wöchentlich nur bei Spüllösung
Anwendung durch Zahnarzt
bzw. unter zahnärztlicher
Kontrolle:
Fluorid-Lack
oder alternativ 2 x jährlich
bei erhöhtem Risiko > 2 x jährlich
Fluorid-Gel
* Bei Kindern unter 6 Jahren soll die tägliche Fluorid-Gesamtaufnahme 0,05-0,07 mg F/kg Körpergewicht nicht überschreiten
Abb. 4.6: Empfehlungen zur Fluoridprophylaxe
(Fluoridgehalt des Trinkwassers < 0,3 ppm)
3. Die Effektivität der Anwendung fluoridhaltiger Zahnpasta nimmt
mit einer Erhöhung der Zahnputzfrequenz von einmal auf zweimal
täglich zu. Das Gleiche gilt für überwachtes Putzen gegenüber un-
überwachtem Putzen. Daher sollen unter Berücksichtigung des Fluo-
roserisikos in den beiden ersten Lebensjahren einmal pro Tag die
Zähne mit einer geringen Menge (smear) Zahnpasta geputzt werden.
Danach soll das Zähneputzen bis zum Durchbruch der bleibenden
Zähne zweimal pro Tag erfolgen.
4. Wird regelmäßig eine relevante Menge an fluoridiertem Speisesalz
zugeführt (die Aufnahme von mind. 1 g fluoridiertem Haushaltsalz
pro Tag entspricht 0,25 mg Fluorid) und regelmäßig fluoridhaltige
Zahnpasta verwendet, soll die Gabe von Fluoridtabletten entfallen.
Fluoridiertes Speisesalz
1. Eine kariesprophylaktische Wirksamkeit der Speisesalzfluoridierung
ist beschrieben.
132 4 Kariesprophylaxe
2. In Ländern mit bereits bestehendem hohem Niveau in der Karies-
prävention ist der zusätzliche Effekt der Verwendung von fluoridhal-
tigem Speisesalz quantitativ nicht nachweisbar.
Fluoridtabletten
1. Fluoridtabletten sind kariespräventiv wirksam.
(Für das Milchgebiss gibt es allerdings nur eine schwache Evidenz)
2. Eine Fluoridtabletteneinnahme der schwangeren Frau hat keinen
kariespräventiven Effekt auf das Milchgebiss des Kindes.
Fluoridlackapplikation
1. Bei Kindern und Jugendlichen, vor allem solchen mit erhöhtem Ka-
riesrisiko, soll zweimal jährlich eine Applikation eines fluoridhalti-
gen Lackes erfolgen. Die lokale Fluoridlackapplikation kann unab-
hängig von bereits durchgeführten, breitenwirksamen Fluoridie-
rungsmaßnahmen durchgeführt werden. Bei Patienten mit stark
erhöhtem Kariesrisiko soll die Frequenz der Fluoridapplikation mehr
als zweimal (in der Regel viermal) pro Jahr betragen, weil dann eine
verbesserte Karies reduzierende Wirkung zu erwarten ist.
Fluoridgele
1. Fluoridgele sollen unabhängig von bereits bestehenden Basisfluori-
dierungsmaßnahmen, wie z.B. fluoridhaltige Zahnpasta, verwendet
werden.
2. Da der kariespräventive Effekt von Fluoridgelen unabhängig von der
Art der Applikationsmethode ist (zahnärztliche Applikation vs. Ap-
plikation durch den Patienten; Trayapplikation vs. Einbürsten), soll
die Art der Applikation individuell gewählt werden.
3. Bei kariesaktiven Patienten soll eine mehrmalige Applikation fluo-
ridhaltiger Gele erfolgen, da der kariespräventive Effekt mit der Ap-
plikationsfrequenz und der Applikationsintensität pro Jahr (Fre-
quenz x Fluoridkonzentration) korreliert.
Fluoridhaltige Mundspüllösungen
1. Bei Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem Kariesrisiko führt die
tägliche überwachte Anwendung von Mundspüllösungen (in einer
Konzentration von 0,05% NaF) bzw. die einmal wöchentliche über-
wachte Anwendung einer Mundspüllösung (0,2% NaF) zu einer deut-
lichen Reduktion des Kariesanstiegs. Da dieser Effekt unabhängig
von der Anwendung anderer fluoridhaltiger Präparate wie z.B. Zahn-
pasten ist, soll bei Kindern und Jugendlichen mit erhöhtem Kariesri-
siko die Anwendung einer fluoridhaltigen Mundspüllösung erfolgen.
2. Aufgrund der vorliegenden Studienlage kann davon ausgegangen
werden, dass fluoridhaltige Spüllösungen bei Jugendlichen (insbe-
sondere wenn eine kieferorthopädische Behandlung mit festsitzen-
den Geräten durchgeführt wird) zur Kariesprävention beiträgt.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 133
3. Kinder unter 6 Jahren sollten keine fluoridhaltigen Mundspüllösun-
gen verwenden, um zu vermeiden, dass toxikologisch relevante
Fluoridmengen verschluckt werden.
Bei hohem Fluoridgehalt des Trinkwassers oder dem regelmäßigen Kon-
sum von Mineralwässern mit hohem Fluoridgehalt erfolgt keine zusätz-
liche Fluoridierung im Kindesalter.
Für die Wirksamkeit der unterschiedlichen Fluoridpräparate im Er-
wachsenenalter gibt es nur wenige Untersuchungen. Diese zeigen aber, 4
dass die regelmäßige, tägliche Verwendung einer fluoridhaltigen Zahn-
pasta kariesprophylaktisch wirksam ist und auch die lokale Applikation
fluoridhaltiger Präparate eine wichtige Säule der Kariesprävention darstellt.
Stellt der Zahnarzt eine hohe Kariesaktivität bzw. ein hohes Kariesri-
siko fest, so müssen zusätzliche Maßnahmen erfolgen, um die Kariesge-
fährdung zu senken. Hierzu zählen insbesondere eine individuelle Er-
nährungsberatung sowie die Anwendung von keimreduzierenden La-
cken, Gelen oder Spüllösungen.
4.2.3 Reaktion von Fluoriden mit Zahnhartsubstanzen und Plaque
Bei fast allen anorganischen und organischen Fluoridverbindungen ist
das Fluoridion das eigentliche kariesprophylaktische Agens. Bei der Be-
schreibung der Schmelz-Fluorid-Wechselwirkung nach lokaler Fluo-
ridapplikation müssen dennoch verschiedene Parameter, wie pH-Wert,
Fluoridkonzentration, Kontaktzeit mit der Zahnhartsubstanz, Art der
Trägersubstanz, Kationenwirkung und lokale Zusammensetzung der
Zahnhartsubstanz berücksichtigt werden.
Die Reaktion von Fluorid mit Zahnschmelz ist sehr genau unter- Fluorid und
sucht, die Ergebnisse lassen sich jedoch auch auf die anderen Zahnhart- Zahnschmelz
substanzen übertragen, da es sich fast ausschließlich um eine Reaktion
mit Hydroxylapatit handelt.
Bei der Interaktion von lokal appliziertem Fluorid mit Zahnschmelz
unterscheidet man vier grundsätzliche Reaktionsmechanismen:
D initiale Auflösung des Schmelzminerals an der Schmelzoberfläche
und Repräzipitation eines kalziumfluoridhaltigen Niederschlags
D initiale Auflösung des oberflächlichen Schmelzes und Repräzipita-
tion von fluoridiertem Hydroxylapatit bzw. Fluorapatit
D Diffusion in den Zahnschmelz und spezifische Adsorption von Fluo-
ridionen an freie Bindungsstellen (z.B. OH–, Ca2+ und HPO32–) der
Kristalloberflächen im Zahnschmelz
D Diffusion in den Zahnschmelz und unspezifische Bindung, z.B. in
der wässrigen Hülle um die Kristalle
Das unter dem ersten Punkt beschriebene kalziumfluoridhaltige Präzipi-
tat löst sich anschließend wieder auf und die frei werdenden Fluoridio-
134 4 Kariesprophylaxe
Fluorid-
applikation Speichel Saccharose
F-
F-
Plaque
Fin-
+
H
H
F-
in
+
F-
in
Fin-
Kristall Kristall
Fluorid-
hülle
a
Speichel Saccharose
Plaque
H+
H+
F (HAP) F (HAP)
b
Abb. 4.7: Bei häufiger Applikation niedrig dosierter Fluoridverbindungen oder
nach Auflösung eines Fluoriddepots (z.B. Kalziumfluorid) in der Mundhöhle dif-
fundieren Fluoridionen in die Zahnoberfläche. Sie verteilen sich in der Flüssigkeit
zwischen den Kristallen der Zahnhartsubstanzen (F–in) und umgeben die Kristalle
mit einer Schicht adsorbierter Ionen (entweder in der Hydrationshülle um die
Kristalle oder als CaF2). Dadurch verleihen sie dem Hydroxylapatit (HAP) fluorapa-
titähnliche Eigenschaften. Bei kariösen Angriffen werden die so geschützten Kris-
talle nicht aufgelöst (a). Bei einem Fluoriddefizit hingegen wird die Kristallober-
fläche während einer kariösen Attacke partiell oder vollständig aufgelöst (b), auch
wenn im Kristall Fluoridionen fest eingebaut sind.
nen erhöhen die Fluoridkonzentration im Speichel bzw. diffundieren in
den Zahnschmelz und adsorbieren an den Kristalloberflächen.
Die adsorbierten Fluoridionen umgeben die Schmelzkristalle wie ein
schützender Schirm und werden langfristig in das Kristallgitter inte-
griert. Sie sollen dann allerdings ihre Schutzfunktion verlieren (Abb.
4.7).
Nach Applikation von Natriummonofluorphosphat (kovalent ge-
bundenes Fluorid) verläuft die Reaktion mit Zahnschmelz anders als
bei den ionisch gebundenen Fluoriden:
D Monofluorphosphat diffundiert in den Zahnschmelz und wird ge-
gen Phosphat ausgetauscht.
D Hydrolyse des Monofluorphosphats durch Speichel- und Plaqueen-
zyme bzw. Säuren und anschließende Reaktion der freien Fluoridio-
nen mit dem Zahnschmelz, wie bei anderen ionischen Fluoriden.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 135
Alle Fluoridierungsmittel führen primär zu einer Fluoridanreicherung
im Oberflächenschmelz, da die Diffusion von Fluorid in tiefere
Schmelzschichten Zeit benötigt. Monofluorphosphat diffundiert sehr
viel langsamer in den Schmelz als freies Fluorid, deshalb ist eine Fluorid-
anreicherung im Oberflächenschmelz nach lokaler Applikation geringer
als nach Applikation ionisch gebundener Fluoride.
Die Anreicherung von Fluorid an der Oberfläche gesunden Zahn-
schmelzes ist ohnehin nur von kurzer Dauer, da das Fluorid relativ
schnell wieder in den Speichel zurück diffundiert. 4
Im demineralisierten Schmelz einer beginnenden Kariesläsion wird
nach lokaler Applikation von Fluoridverbindungen erheblich mehr
Fluorid aufgenommen als im gesunden Schmelz. Dabei spielt die
Art der verwendeten Fluoridverbindung keine entscheidende Rolle.
Bei der Applikation ionisch gebundener Fluoride kommt es jedoch im
Gegensatz zu Monofluorphosphat genau wie im gesunden Schmelz zur
Ausbildung einer kalziumfluoridhaltigen Schicht an der Schmelzober-
fläche. Diese ist im demineralisierten Schmelz jedoch erheblich dicker
als im gesunden Schmelz. Aber genau wie im gesunden Schmelz geht
ein großer Teil des einmal an der Schmelzoberfläche gebundenen Fluo-
rids relativ schnell wieder verloren.
Um den kariostatischen Effekt von Fluoriden auszunutzen, ist es
also erforderlich, entweder erhebliche Mengen Kalziumfluorid zu etab-
lieren (die Kalziumfluoridschicht dient anschließend als eine Art Depot,
aus dem Fluoridionen abgegeben werden) oder kleine Fluoridmengen
häufig zu applizieren (z.B. in Form von Zahnpasten).
Der Fluoridgehalt von Plaque ist in Gegenden mit erhöhtem Trink- Fluorid und
wasserfluoridgehalt (2 ppm F–) höher als in Gebieten mit niedrigem Plaque
Trinkwasserfluoridgehalt. In mehrere Tage alter Plaque ist nach regelmä-
ßiger Fluoridapplikation ein erhöhter Fluoridgehalt festzustellen.
Der Fluoridgehalt von Plaque kann wesentlich höher sein als der
Fluoridgehalt von Speichel. Der physiologische Normalwert ist abhän-
gig von der Speichelsekretionsrate, zugeführter Nahrung oder Geträn-
ken (0,5–2,5 µM = 0,01–0,05 ppm). Der mittlere Fluoridgehalt von
Plaque schwankt je nach Untersucher und angewandter Analyseme-
thode und wird mit 55–85 ppm (bezogen auf Trockengewicht) und 5–25
ppm (bezogen auf Nassgewicht) angegeben. Plaque kann also Fluorid
speichern.
Dabei muss zwischen ionisiertem, ionisierbarem (schwach gebunde-
nem) und fest gebundenem Fluorid unterschieden werden. Die fest ge-
bundene Fluoridfraktion ist an Zellen oder an andere organische Be-
standteile der Plaque gebunden. Der ionisierbare Anteil liegt überwie-
gend in Form von Kalzium-Phosphat-Fluorid-Komplexen vor. Ionisiert
liegt in einer ruhenden Plaque nur ein sehr kleiner Anteil (unter 1 ppm)
vor. Bei fallendem pH-Wert wird allerdings ein erheblicher Teil des ioni-
136 4 Kariesprophylaxe
Abb. 4.8: Nach lokaler Appli-
2F- kation von Fluorid kommt
Speichel Ca2+ es, abhängig von der Fluo-
ridkonzentration und dem
CaF2 pH-Wert der Fluoridlösung,
zur Ausbildung eines mehr
oder weniger starken CaF2-
Ca2+ Präzipitats auf der Zahn-
Zahn-
schmelz oberfläche (a). Dieses Präzi-
pitat wird anschließend von
Proteinen und Phosphat aus
dem Speichel bedeckt. Aus
der Kalziumfluoridschicht
a diffundieren jedoch geringe
Mengen Fluorid in den
Zahnschmelz (b). Wird diese
Speichel HPO42- Proteine Kalziumfluoridschicht von
einer metabolisch aktiven
Plaque bedeckt, kommt es
CaF2 unter der Einwirkung der
gebildeten organischen
F- F- Säuren zum Verlust der
Zahn- schützenden Protein-Phos-
schmelz phat-Schicht und zur ver-
mehrten Auflösung von Kal-
ziumfluorid. Die austreten-
den Fluoridionen werden
mit dem Speichel abtrans-
b portiert oder reichern sich
in der Plaque bzw. im
metabolisch Schmelz (z.B. als fluoridier-
F- aktive tes Hydroxylapatit) an (c).
Speichel Plaque Nach Plaqueentfernung
(pH: 5)
bzw. pH-Wert-Anstieg auf-
grund der Pufferung durch
CaF2
den Speichel wird die ver-
ringerte CaF2-Schicht wie-
F (HAP) der mit Phosphat und Pro-
Zahn-
schmelz teinen aus dem Speichel be-
deckt (d).
Plaque-
entfernung
c (pH-Anstieg)
Speichel
HPO42- Proteine
CaF2
F-
Zahn-
schmelz
d
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 137
sierbaren Fluorids frei und kann in den Speichel oder in den Zahn-
schmelz diffundieren.
Plaque reichert jedoch nicht nur Fluorid aus der Nahrung an, son-
dern auch aus dem Zahnschmelz. Gerade unter kariogenen Bedingun-
gen kann eine stoffwechselaktive Plaque ein vorhandenes Fluoridreser-
voir (Kalziumfluorid) auf der Schmelzoberfläche rasch auflösen (Abb.
4.8).
Fluorid reichert sich auch unter bestimmten Bedingungen in Bakte-
rienzellen der Plaque an. Versuche mit Streptococcus-mutans- und 4
Streptococcus-sanguis-Stämmen konnten nachweisen, dass die Fluorid-
aufnahme in die Bakterienzellen von einem pH-Gradienten und nicht
von einem Energie fordernden Prozess abhängig ist. So gelangt Fluorid
bei niedrigem extrazellulärem pH-Wert als Fluorwasserstoff durch einfa-
che Diffusion in das basische Zellinnere. Wird das extrazelluläre Milieu
wieder basisch, kehrt sich die Diffusion um. Die Anreicherung erreicht
relativ rasch (zwei Minuten) ihr Maximum und steigt dann kaum noch.
Es ist allerdings bisher nicht bekannt, wo sich das Fluorid im Zellinne-
ren bindet.
4.2.4 Kariostatischer Wirkungsmechanismus von Fluoriden
Zahnhartsubstanzen
Der kariostatische Wirkungsmechanismus von Fluorid konnte bisher
nicht vollständig aufgeklärt werden. Es handelt sich um einen multifak-
toriellen Mechanismus, bei dem allerdings zahlreiche Details bekannt
sind. Da sich die meisten Studien zum Wirkungsmechanismus der Fluo-
ride mit Zahnschmelz beschäftigen, beziehen sich die folgenden Passa-
gen auf die Resultate dieser Untersuchungen. Die Wirkprinzipien sind
jedoch ebenso auf die anorganischen Bestandteile von Dentin und Ze-
ment anwendbar.
Die antikariogene Wirkung der Fluoride bezüglich der Zahnhart-
substanzen beruht auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen Prinzi-
pien: Verminderung der Säurelöslichkeit und Hemmung der Demi-
neralisation bzw. Förderung der Remineralisation.
Verminderung der Säurelöslichkeit durch den festen Einbau von Verbesserung der
Fluorid in das Kristallgitter der Zahnhartsubstanzen: Der anorgani- Kristallinität
sche Anteil der Zahnhartsubstanzen besteht zu einem großen Teil aus
nicht stöchiometrischem Apatit. Außerdem besitzen viele Kristalle De-
fekte und Fehlstellen. Beides bewirkt eine Erhöhung der Löslichkeit.
Durch den Einbau von Fluorid während der präeruptiven Schmelzbil-
dung und mehr noch während der präeruptiven Schmelzreifung wird
die Kristallgitterstruktur stabiler und die Löslichkeit des Apatits herabge-
setzt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Verbesse-
138 4 Kariesprophylaxe
rung der Kristallinität, d.h., die Kristalle sind in ihrer Gitterstruktur
perfekter aufgebaut, und sie sind größer.
Dabei besetzen die Fluoridionen jedoch nicht nur vakante Stellen
im Kristallgitter, sondern werden auch in einer Substitutionsreaktion
gegen Hydroxylionen ausgetauscht. Es war nahe liegend, den kariosta-
tischen Wirkungsmechanismus der Fluoride mit der präeruptiven Bil-
dung von Fluorapatit und der damit einhergehenden Säurelöslichkeits-
verminderung zu erklären. Es galt daher lange das Dogma, dass eine
hohe präeruptive Fluorideinlagerung die beste kariostatische Wirksam-
keit vermittelt. Später stellte sich jedoch heraus, dass nur etwa 10% der
Hydroxylionen des Apatits biologisch tatsächlich durch Fluoridionen
substituiert werden.
Die Bildung von Fluorapatit während der Zahnentwicklung trägt also
nur zu einem kleinen Teil zur Karieshemmung durch Fluoride bei.
Ein großer Teil des im Zahn vorhandenen Fluorids wird erst posterup-
tiv während der sekundären Schmelzreifung und später nach lokalen
Fluoridierungsmaßnahmen auf und in der Zahnoberfläche abgelagert.
Man versuchte nun, durch die lokale Applikation hoher Fluoridkonzen-
trationen eine Umwandlung von Hydroxylapatit in Fluorapatit zu errei-
chen. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Höhe der Fluoridanreiche-
rung in den oberflächlichen Schichten der Zähne nicht mit der erreich-
ten Karieshemmung korreliert.
De- und Remine- Man geht daher heute davon aus, dass der Hauptwirkungsmechanis-
ralisation mus der Fluoride in einer Hemmung der Demineralisation bzw. einer
Förderung der Remineralisation zu suchen ist. Die Zahnoberfläche
unterliegt in der Mundhöhle ständigen Veränderungen. Sie wird sofort
nach Durchbruch in die Mundhöhle mehr oder weniger stark von Mi-
kroorganismen besiedelt. Deren metabolische Aktivität kann bei ent-
sprechender Substratzufuhr zu einem pH-Wert-Abfall und damit zu Pe-
rioden der Demineralisation führen. Diese können wiederum von Zeit-
räumen der Remineralisation gefolgt sein, wenn durch Abtransport der
Metaboliten und der Substrate durch den Speichel (Clearance) der pH-
Wert wieder ansteigt.
Man kann also vereinfacht formulieren, dass an der Zahnoberfläche
ein dynamisches Gleichgewicht herrscht, das in die eine oder die an-
dere Richtung verschoben werden kann (Abb. 4.9).
Ist Fluorid in der flüssigen Phase zwischen und um die Kristalle an
der Zahnoberfläche vorhanden, wird der Demineralisationsprozess mo-
difiziert. Während der Demineralisationsperioden schützen an die Kris-
talloberfläche adsorbierte Fluoridionen die Kristalle, indem sie ihnen Ei-
genschaften von Fluorapatit verleihen. Die Löslichkeit der Kristalle wird
dadurch herabgesetzt. Neuerdings geht man davon aus, dass die Kris-
talle teilweise von Kalziumfluorid bedeckt sind, das ihnen einen ähnli-
chen Schutz verleiht.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 139
Bakterien
und Substrat
Säuren Fluoride
4
Demineralisation
gesunder kariöser
Zahnschmelz Zahnschmelz
Remineralisation
Kalzium
Säurepuffer Fluoride und Phosphor
Speichel
Abb. 4.9: An der Zahnoberfläche herrscht ein dynamisches Gleichgewicht zwi-
schen De- und Remineralisation. Bei Nahrungsaufnahme (Substrat) entstehen in
der Plaque organische Säuren, die das Gleichgewicht in Richtung Entmineralisie-
rung verschieben. Durch die Pufferkapazität und die Übersättigung des Speichels
mit Phosphat- und Kalziumverbindungen wird das Gleichgewicht wiederherge-
stellt. Fluoride greifen in dieses Gleichgewicht ein, indem sie die Demineralisation
hemmen und die Remineralisation bereits entmineralisierter Bereiche fördern.
Steigt nach einer kariösen Attacke der pH-Wert wieder an, so fällt in
Anwesenheit von Fluoridionen zunächst wegen seiner geringeren Lös-
lichkeit Fluorapatit in kristalliner Form aus. Erst später, wenn der pH-
Wert weiter angestiegen ist, fallen auch Hydroxylapatit und andere Apa-
titformen aus.
Die Anwesenheit von Fluorid bedeutet also auch eine Verkürzung
der Demineralisationperioden, da Mineralien wieder früher repräzipitie-
ren. Die Erhöhung des Fluorapatitanteils an der Zahnoberfläche erhöht
die Resistenz gegenüber nachfolgenden kariösen Attacken.
Bei lang andauernder oder/und heftiger Demineralisation und kur-
zer Remineralisationszeit resultiert insgesamt ein Mineralverlust und
damit eine klinisch sichtbare kariöse Initialläsion (white spot). Wird
nun durch Einsetzen einer optimalen Mundhygiene die Plaque beseitigt
und durch Ernährungsumstellung nur noch wenig kariogenes Substrat
zugeführt, so schreitet die kariöse Läsion nicht weiter voran. Der Mine-
ralverlust aus der Zahnoberfläche stagniert, und es können sich sogar
Mineralien aus dem Speichel, der mit Hydroxylapatit bzw. Fluorapatit
gesättigt ist, einlagern (Remineralisation). Frühe initiale Läsionen kön-
140 4 Kariesprophylaxe
Abb. 4.10: In einer Studie an
Start nach Kindern stellte sich heraus,
gesamt
(8-Jährige) 7 Jahren dass von 184 bukkalen
Zahnflächen 72 initiale ka-
74 riöse Läsionen (white spots)
gesund 93 111 aufwiesen. Bei einer Kon-
37 trolluntersuchung, die 7
Jahre später durchgeführt
wurde, waren 37 dieser Lä-
15 sionen remineralisiert und
Initialläsion 72 41 klinisch nicht mehr nachzu-
weisen, sodass die Anzahl
26
gesunder Bukkalflächen in
diesem Zeitraum anstieg
(nach Backer-Dirks 1966).
4
Kavität 9
19 32
19
nen sich so zurückentwickeln (caries reversal) und sogar klinisch ver-
schwinden (Abb. 4.10).
Allerdings findet eine komplette Remineralisation mit vollständi-
gem Einbau verloren gegangener Mineralien außerordentlich selten
statt.
Histologie Histologisch lassen sich mehr oder weniger starke poröse und entmine-
ralisierte Bereiche diagnostizieren. Tatsächlich handelt es sich um inak-
tive, partiell remineralisierte Läsionen (arrested lesion), die sich später
durch Einlagerung exogener Farbstoffe (z.B. Lebensmittel, Tee, Teer
usw.) braun verfärben können (brown spot). Auch in den Remineralisa-
tionsprozess greifen Fluoride ein. Bei der Remineralisation bilden sich
neue Kristalle, die in Anwesenheit von Fluorid größer und stabiler sind
als die ursprünglichen Kristalle. Außerdem begünstigt Fluorid das
Wachstum partiell entmineralisierter Kristalle. Dabei entsteht erneut
Fluorapatit bzw. fluoridiertes Hydroxylapatit. Läsionen mit reminerali-
sierter Oberfläche besitzen daher eine erhöhte Resistenz gegenüber spä-
teren kariösen Angriffen.
Die physiologische Speichelfluoridkonzentration (0,01–0,05 ppm)
reicht jedoch nicht aus, um eine Remineralisation zu fördern. Erst ab ei-
ner Konzentration von 0,1 ppm Fluorid in einer hydroxylapatitübersät-
tigten Lösung wird das Kristallwachstum gefördert.
Häufige Applikation niedrig dosierter Fluoridverbindungen (Zahn-
pasta, Fluoridtabletten, Spüllösungen) oder die Etablierung eines
Fluoridreservoirs, aus dem über längere Zeit Fluoridionen abgege-
ben werden (z.B. Kalziumfluorid), resultieren in einer ausreichen-
den Fluoridkonzentration im Speichel.
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 141
Ist die Konzentration des applizierten Fluorids sehr hoch (z.B. Gele, La- Konzentration
cke), kommt es primär zu einer Remineralisation in der Läsionsperi-
pherie, da sich das Fluorid vornehmlich als Kalziumfluorid auf der
Schmelzoberfläche ablagert und somit die Poren für die Diffusion der
Speichelmineralien verstopft. Es kann dann über lange Zeit zu einer Dif-
fusion von Fluorid auch in die Tiefe der Läsion mit nachfolgender Mi-
neraleinlagerung in diesen Bereichen kommen.
Nach Applikation niedriger konzentrierter Fluoridierungsmittel
kommt es in vitro primär zu einer Remineralisation im Läsionskörper. 4
In-vivo-Studien konnten allerdings auch unter diesen Bedingungen
(z.B. Trinkwasserfluoridierung) keine vollständige Remineralisation ini-
tialer kariöser Läsionen feststellen. Neuere Untersuchungen konnten
zudem zeigen, dass es unter extrem kariogenen Bedingungen nicht zu
einer Behinderung der Progression kariöser Läsionen kommt.
Plaquebeseitigung und Ernährungsumstellung sind also weiterhin
wichtige Säulen der Kariesprophylaxe. Fluoride entfalten ihre höchste
kariesprophylaktische Wirksamkeit nämlich bei geringer bis mittlerer
Kariesaktivität.
Speichel und Fluorid bilden zusammen einen wichtigen natürli-
chen Abwehrmechanismus gegen Karies, indem sie den Zahnhart-
substanzen eine Adaptationsfähigkeit gegenüber kariösen Angriffen
ermöglichen.
Wird diese Adaptationsfähigkeit jedoch durch ständige kariöse Angriffe
ohne die notwendigen Erholungsphasen überschritten, so erfolgt eine
Kavitätenbildung, die entsprechende Restaurationsmaßnahmen nach
sich zieht.
Plaque
Der Karies hemmende Effekt von Fluorid ist jedoch nicht nur auf Zahn-
hartsubstanzen beschränkt. Fluoride können modifizierend in die Ad-
härenz, das Wachstum und den Metabolismus von Plaquebakterien ein-
greifen.
Mit steigender Fluoridkonzentration wird dabei zuerst die metaboli-
sche Aktivität der Mikroorganismen beeinflusst, dann ihr Wachstum ge-
hemmt, und zum Schluss werden die Mikroorganismen abgetötet. In
der Plaque der menschlichen Mundhöhle werden allerdings nie Fluorid-
konzentrationen erreicht, die zum Zelltod der Mikroorganismen füh-
ren.
Das Wachstum verschiedener Plaquebakterien wird durch unter- Wachstumshem-
schiedliche Fluoridkonzentrationen gehemmt. Dabei spielen der pH- mung von Mikro-
Wert der Umgebung und die Anwesenheit von Kationen eine ent- organismen
scheidende Rolle. Während das Wachstum einiger Streptokokken-
Stämme bei pH 7 erst durch 100–200 µg/ml Fluorid in der Suspension
gehemmt wird, liegt die hemmende Wirkung im pH-Bereich 5,5–6,0 bei
142 4 Kariesprophylaxe
15 µg/ml. Für Laktobazillen müssen bei neutralem pH-Wert 6000 µl/ml
Fluorid, bei pH 4,4 100 µl/ml Fluorid vorhanden sein, um das Wachs-
tum zu hemmen. Für eine bakterizide Wirkung ist die 30-fache Konzen-
tration nötig.
Es gibt offensichtlich eine Korrelation zwischen Säuretoleranz der
Bakterien und ihrer Fluoridverträglichkeit (Fluoridresistenz). Je säureto-
leranter sie sind, umso schwieriger ist es, ihr Wachstum durch Fluoridie-
rungsmaßnahmen zu hemmen. Das gilt ebenso für Bakterien, die kei-
nen oder nur einen geringen Kohlenhydratmetabolismus besitzen (z.B.
einige Actimomyces-Stämme). Neben Fluorid besitzen Kationen eine
wachstumshemmende Wirkung. So sind Metallionen, wie Zinn, Kupfer
und Quecksilber, schon in geringen Konzentrationen für zahlreiche Mi-
kroorganismen stark toxisch.
Adaptation von Zahlreiche Mikroorganismen können sich, auch wenn sie anfangs
Mikroorganismen noch sensibel auf Fluorid reagieren, an hohe Fluoridkonzentrationen
adaptieren. Sie verlieren diese Fähigkeit wieder, wenn sie nicht mehr mit
Fluorid in Kontakt kommen. Diese Adaptation und die damit verbun-
dene Fluoridresistenz ermöglicht ihnen ein Überleben und Wachstum
unter den physiologischen Bedingungen der menschlichen Mundhöhle
auch bei wiederholter Fluoridapplikation. Dabei verändert sich jedoch
ihre metabolische Aktivität; ihre Kapazität, niedermolekulare Kohlenhy-
drate zu verstoffwechseln, nimmt ab. Der pH-Wert-Abfall in der Plaque
nach Zufuhr dieser Kohlenhydrate ist weniger stark und kürzer. Das wie-
derum hat zur Folge, dass säuretolerante Mikroorganismen wie Strepto-
coccus mutans und Laktobazillen ihren ökologischen Vorteil gegenüber
anderen, weniger kariesaktiven Mikroorganismen verlieren und sich
nicht so stark vermehren, wie sie es ohne Fluorideinwirkung könnten.
Fluorid hat demnach unter physiologischen Bedingungen einen ge-
ringen wachstumshemmenden Effekt auf Plaquebakterien. Über eine
Beeinflussung der Stoffwechselaktivität kann sich jedoch die mikro-
bielle Zusammensetzung der Plaque verändern.
Metabolismus- Fluorid nimmt an verschiedenen Stellen Einfluss auf den Metabolis-
hemmung mus von Plaquebakterien. Besonders betroffen ist der Kohlenhydratme-
tabolismus und hier speziell die Glykolyse. Hier wird das Enzym Eno-
lase in seiner Aktivität gehemmt. Unter der Einwirkung von Enolase
wird 2-Phosphoenolglycerat zu Phosphoenolpyruvat umgewandelt. Die
Enolase ist ein magnesiumabhängiges Enzym. Fluorid geht mit Magne-
sium eine Verbindung ein und hemmt so die enzymatische Aktivität.
Durch Fluorid wird zudem der Transport von Glukose in die Bak-
terienzelle gehemmt. Streptokokken können Glukose über zwei Trans-
portwege in die Zelle einschleusen. Über das Phosphoenolpyruvat-
Phosphotransferase-System (PEP-PTS) wird Glukose zu Glukose-6-
Phosphat phosphoryliert und in die Zelle eingeschleust. Das aktivierte
Phosphat entstammt dabei dem Phosphoenolpyruvat.
Bei niedrigem pH-Wert (< 6,0), in starken Wachstumsphasen und
bei extrem hohem Substratüberschuss gelangt Glukose durch einen pro-
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 143
tonengetriebenen Transport in die Zelle, das PEP-PTS wird dann abge-
schaltet. Dieser protonenabhängige Transport der unphosphorylierten
Glukose wird durch einen elektrochemischen Protonengradienten ver-
mittelt. Membrangebundene, Protonen ausschleusende ATPase-Aktivi-
tät und die Ausschleusung des Glykolyse-Endprodukts Laktat führen zu
einem Protonenüberschuss im extrazellulären Raum und zu einem Pro-
tonenunterschuss im intrazellulären Raum und damit zu dem Proto-
nengradienten, der die treibende Kraft für den Glukoseeinstrom in die
Zelle ist. 4
Fluorid hemmt, wie bereits oben beschrieben, die Bildung von Phos- Hemmung der
phoenolpyruvat. Damit wird indirekt die Phosphorylierung der Glukose Bakterien-
behindert und somit das PEP-PTS außer Kraft gesetzt. Bei niedrigem pH- adhärenz
Wert geht Fluorid eine Bindung mit den Protonen im Extrazellularraum
ein und dringt dann als Fluorwasserstoff (HF) in die Zelle ein. Der Pro-
tonengradient wird geringer und der Glukosetransport dadurch vermin-
dert. Durch die Dissoziation von Fluorwasserstoff (HF) im Zellinneren
kommt es zu einer pH-Absenkung. Da die Enzyme der Glykolyse ihr pH-
Optimum im alkalischen Bereich haben, findet auch auf diesem Wege
eine Hemmung des Bakterienstoffwechsels statt.
Fluorid hemmt außerdem die Bildung von Lipoteichonsäure und
greift so hemmend in die Bakterienadhärenz ein.
Die intrazelluläre Polysaccharidsynthese wird durch Fluorid ge-
hemmt, indem das zum Aufbau notwendige Glukose-6-Phosphat nicht
oder nur vermindert gebildet wird (Hemmung des PEP-PTS). Der Ab-
bau der intrazellulären Speicherkohlenhydrate wird jedoch nicht beein-
flusst.
Fluoride haben keinen nachweislich hemmenden Effekt auf die Syn-
these extrazellulärer Kohlenhydrate bzw. auf die dazu notwendigen
membrangebundenen Glukosyltransferasen.
4.2.5 Wirksamkeit fluoridhaltiger Kariostatika
Die kariesprophylaktische Wirksamkeit von Fluorid wurde in epidemio-
logischen Querschnittsuntersuchungen, randomisierten klinischen
Longitudinalversuchen und Feldstudien nachgewiesen. Sie ist für lokal
applizierte Fluoride nicht bei allen Zahnflächen gleich hoch. So werden
frei zugängliche Glattflächen durch Fluoridapplikation besser geschützt
als Glattflächen im Approximalraum. Bei Grübchen und Fissuren ist die
Karies hemmende Wirkung von Fluorid am geringsten ausgeprägt.
Der präeruptive kariostatische Effekt durch „systemische“ Fluoridga-
ben ist geringer einzuschätzen als der posteruptive Kariesschutz durch
lokale Fluoridierungsmaßnahmen.
Der kariespräventive Effekt hängt von der Art und der Häufigkeit
der Fluoridapplikation ab. So konnte in diesem Zusammenhang im
Konzentrationsbereich zwischen 1000 und 2800 ppm Fluorid bei Zahn-
144 4 Kariesprophylaxe
pasten eine Dosis-Wirksamkeits-Relation gefunden werden, d.h. je hö-
her die Konzentration ist, umso höher ist die Kariesreduktion. Zahnpas-
ten mit Fluoridkonzentrationen über 1500 ppm sind in Deutschland je-
doch nicht für den freien Verkauf zugelassen. Je länger im Leben Karies-
prophylaxe mit Fluoriden betrieben wird, umso höher ist der Karies
reduzierende Effekt, bezogen auf das Gesamtgebiss. Die einzelnen Fluo-
ridierungsmaßnahmen resultieren natürlich in unterschiedlichen Ka-
ries hemmenden Effekten.
Man muss bei der Beurteilung der Effektivität der verschiedenen
Fluoridierungsmaßnahmen jedoch beachten, dass die untersuchten
Patienten eine sehr unterschiedliche Kariesaktivität aufwiesen. Insofern
sind die nachfolgenden Kariesreduktionsraten nur relativ grobe An-
haltspunkte. Die Verwendung unterschiedlicher Fluoridpräparate
macht es zudem heute außerordentlich schwierig, die Effektivität einer
einzelnen Maßnahme zu bestimmen.
Tabletten So wird durch Tablettenfluoridierung in kontrollierten Studien
eine Kariesreduktion zwischen 28 und 61% angegeben. Die große Streu-
breite erklärt sich u.a. durch unterschiedliche Compliance selbst in die-
sen kontrollierten Studien.
Trinkwasser Die meisten Untersuchungen zur Trinkwasserfluoridierung resul-
tierten in einer Karieshemmung von 50–60%.
Salz Ähnliche Reduktionsraten werden bei der Salzfluoridierung er-
reicht. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass bereits
Kleinkinder, die nicht mehr gestillt werden bzw. keine Milchersatznah-
rung mehr bekommen, etwa 1,4 g Salz, bezogen auf 1000 kcal Nah-
rungsmittel, aufnehmen (US Health and Nutrition Survey).
Fluorid- Durch Fluoridspüllösungen (Natriumfluorid, Zinnfluorid, Amin-
spüllösungen fluorid) wird ein Karies hemmender Effekt zwischen 20 und 45% er-
reicht. Es gibt Hinweise darauf, dass ein zusätzlicher Karies hemmender
Effekt kaum noch festzustellen ist, wenn die untersuchten Patienten re-
gelmäßig ihre Zähne mit fluoridhaltiger Zahnpasta pflegen und eine
niedrige Kariesaktivität aufweisen.
Fluoridhaltige Die Karies reduzierende Wirkung durch fluoridhaltige Zahnpasten
Zahnpasten ist zwar unbestritten, es liegen jedoch stark abweichende Ergebnisse un-
terschiedlicher Studien vor. Man muss davon ausgehen, dass bei un-
überwachtem Gebrauch fluoridhaltiger Zahnpasten die Karies hem-
mende Wirkung 20% kaum übersteigen dürfte. Untersuchungen zur
Wirksamkeit fluoridhaltiger Zahnpasten beziehen sich meistens auf
Zeiträume von zwei bis drei Jahren. Es ist daher durchaus möglich, dass
bei lebenslanger Verwendung fluoridhaltiger Zahnpasta eine deutlich
höhere Kariesreduktion resultiert.
Fluoridlösungen Auch die Verwendung hoch konzentrierter Fluoridlösungen und
und -gele -gele zum Einbürsten führt je nach Art und Häufigkeit der Anwendung
zu einer sehr unterschiedlichen Karieshemmung. So wird in der Litera-
tur eine Karieshemmung zwischen 3 und 48% (Mittelwert 22%) be-
schrieben. Die professionelle Applikation dieser hoch konzentrierten
4.2 Kariesprophylaxe mit Fluoridverbindungen Kapitel 4 145
Fluoride resultiert jedoch in einer deutlich erhöhten Karies hemmenden
Wirkung. Durch zwei- bis viermalige Löffelapplikation kann eine Karies-
hemmung zwischen 20 und 40% erzielt werden.
Für die professionelle Applikation fluoridhaltiger Lacke werden Ka- Lacke
riesreduktionsraten zwischen 20 und 75% (für Duraphat: Mittelwert
38%), je nach Häufigkeit der Applikation, gemessen.
4.2.6 Toxikologie der Fluoride 4
! Fluorid ist in therapeutischer Dosis für den menschlichen Orga-
nismus unschädlich.
Wie bei jeder Substanz, die dem menschlichen Körper zugeführt wird,
kann Fluorid jedoch bei Überdosierung auch Vergiftungserscheinungen
hervorrufen. Dabei ist zwischen akuter Toxizität und latenter (chroni-
scher) Toxizität zu unterscheiden.
Wird Fluorid in großen Mengen zugeführt, so kommt es zu akuten
Vergiftungserscheinungen mit einer Reihe von Symptomen bis zum
tödlichen Ausgang. Wird während der Zahnentwicklung kontinuierlich
Fluorid in einer Dosis verabreicht, die über der empfohlenen Tages-
menge liegt, resultieren Veränderungen der Zahnhartsubstanzen (Zahn-
fluorose). Werden extrem hohe Dosen über Jahre verabreicht, kann es
zur Skelettfluorose (Verkrüppelungen, Verkalkungen von Bändern und
Gelenken, Wachstumshemmung) kommen.
Die akute letale Dosis für Fluorid ist von zahlreichen Variablen ab- Überdosierung
hängig, wie der Art des Fluorids und dessen Löslichkeit, der Resorptions-
geschwindigkeit im Magen-Darm-Trakt, dem Säure-Basen-Haushalt und
dem pH-Wert des applizierten Fluorids. Sie wird mit 32–64 mg Fluorid/
kg Körpergewicht für Erwachsene angegeben. Diese Dosis wird heute als
sichere toxische Dosis (Certainly Toxic Dose = CTD) angesehen. Man
sollte daraus jedoch nicht schließen, dass es nicht zu tödlichen Vergif-
tungserscheinungen kommt, wenn man knapp unter dieser Grenze
bleibt. Aufgrund von einigen Vergiftungserscheinungen mit tödlichem
Ausgang bei Kleinkindern kann man eine wahrscheinlich toxische Do-
sis (Probably Toxic Dose = PTD) von 5 mg Fluorid/kg Körpergewicht
für Kinder annehmen. Ab dieser Dosis sollten Notfallmaßnahmen er-
griffen werden. Bei einem dreijährigen Kind von 15 kg Körpergewicht
entspräche diese Dosis 150 Tabletten à 0,5 mg. Man sollte daher nie
mehr als 100 Fluoridtabletten in altersabhängiger Dosis verschreiben.
Diese Dosis wird erreicht, wenn man 75 Liter Wasser mit einem Fluorid-
gehalt von 1 ppm oder 243 g fluoridiertes Salz zu sich nähme.
Ein Zahnarzt sollte immer bei Verwendung lokaler Fluoridierungs-
mittel die Menge applizierten Fluorids und den Sicherheitsabstand
zur wahrscheinlich toxischen Dosis kennen.
146 4 Kariesprophylaxe
Alle fluoridhaltigen Kariesprophylaktika sind bei sachgerechter Anwen-
dung auch im Hinblick auf die PTD unproblematisch.
Kinder dürfen fluoridhaltige Produkte nicht unbeaufsichtigt an-
wenden.
So bedeutet der Verzehr einer Tube Erwachsenenzahnpasta (100 g) mit
einer Fluoridkonzentration von 1000 ppm die Aufnahme von 100 mg
Fluorid. Das hieße für ein 15 kg schweres Kind (drei Jahre) eine Über-
schreitung der PTD um 33%.
Für hoch dosierte Fluoridpräparate gilt: Sie sollten nur vom Zahn-
arzt oder von ausgebildetem Hilfspersonal unter der Aufsicht eines
Zahnarztes appliziert werden.
Dabei müssen die Patienten unter Aufsicht bleiben. Es sollten keine
überschüssigen Mengen appliziert werden, und die Patienten müssen
gut ausspucken, um wenig Fluorid zu verschlucken.
Vergiftungs- Die Charakteristika der akuten Vergiftung sind Übelkeit, Erbre-
symptome chen und Schmerzen im Abdominalbereich schon wenige Minuten
nach Einnahme eines überdosierten Fluoridpräparats. Allgemeine Ver-
giftungssymptome wie exzessiver Speichelfluss, Tränenfluss, Kopf-
schmerz, kalte feuchte Hände usw. können auftreten. Nachfolgend
kommt es zur generellen Schwächung, zu Spasmen und zur Tetanie.
Diese Symptome treten aufgrund des fallenden Kalzium- und des stei-
genden Kaliumgehalts im Plasma auf (Indikation für Zelltod). Der Puls
rast und ist nicht mehr tastbar, Herzarrhythmien, Blutdruckabfall und
Depression des Atemzentrums mit respiratorischer Azidose sind die Folge-
symptome. Es kann dann innerhalb weniger Stunden zum Tod kommen.
Maßnahmen bei Zur Reduzierung der Fluoridresorption im Magen-Darm-Trakt wird
Überdosierung als Sofortmaßnahme mit einem Emetikum Erbrechen eingeleitet. Dann
wird eine kalziumhaltige Lösung wie z.B. Kalziumchlorid oder Kalzi-
umglukonat (wenn nicht vorhanden, Milch) verabreicht. Der Patient
sollte rasch in ein nahe gelegenes Krankenhaus eingeliefert werden. Ist
der Schluckreflex behindert oder krampft der Patient (Aspirationsge-
fahr), sollte man Maßnahmen, die zum Erbrechen führen, nicht durch-
führen.
Vorsichts- Um der Gefahr subletaler, aber gefährlicher Dosen zu entgehen, soll-
maßnahmen ten bei der professionellen Applikation von hochprozentigen Gelen
(1,25% Fluorid) individuelle Löffel verwendet werden. Dabei kommen
etwa 2 ml Gel pro Tray in Betracht. Mit einem Speichelsauger wird lin-
gual und bukkal überflüssiges Fluoridgel abgesaugt, und die Patienten
sitzen aufrecht im Stuhl. Anschließend wird der Patient aufgefordert,
mehrfach auszuspucken.
Nebenwirkungen Bei täglicher Fluoridzufuhr von mehr als 1,5 mg/Tag bis zum Alter
von acht Jahren kann es zu fluorotischen Schmelzflecken im bleiben-
4.3 Fissurenversiegelung Kapitel 4 147
Abb. 4.11: Durchschnittliche
durchschnittliche Menge
Zahnpastamenge, die nach verschluckter Zahnpasta (g)
einmaligem Zähneputzen in
unterschiedlichen Alters-
gruppen verschluckt wird. 0,3 2–4 Jahre
Damit erhielten 2- bis 4-Jäh-
rige bei Verwendung einer
Erwachsenenzahnpasta mit 0,2
einer Fluoridkonzentration 5–7 Jahre
von 1000 ppm eine Dosis 0,1 11–13 Jahre
von 0,3 mg Fluorid (nach 20–35 Jahre
Barnhart et al. 1974).
0
4
0 4 8 12 16 20 24 28
Alter (Jahre)
den Gebiss kommen. Diese Schmelzflecken bedeuten jedoch keine
Gefahr für die betreffenden Zähne, sie stellen ausschließlich eine kosme-
tische Beeinträchtigung dar. Aber auch wiederholte oder einmalige Spit-
zenwerte (Verschlucken von Zahnpasta) können fluorotische Schmelz-
flecken zur Folge haben. Aus diesem Grund wurde die Dosis für fluorid-
haltige Kinderzahnpasten auf 500 ppm Fluorid gesenkt (Abb. 4.11).
Eine Fluoridzufuhr von 0,05 mg/kg Körpergewicht/Tag ist aus toxi-
kologischer Sicht völlig unproblematisch. Skelettfluorose als Folge
chronischer Fluoridintoxikation tritt in Gebieten mit einem Trinkwas-
serfluoridgehalt von über 8 mg/l auf. Ab 4 mg/l Trinkwasser lassen sich
jedoch die ersten Anzeichen einer Skelettveränderung diagnostizieren,
wenn Menschen jahrelang in diesem Gebiet leben.
4.3 Fissurenversiegelung
! Grübchen und Fissuren der Zähne sind kariesanfälliger als andere
Zahnbereiche.
Während okklusale Zahnflächen nur 12,5% aller Zahnflächen ausma-
chen, entstehen mehr als 50% aller kariösen Defekte bei Schulkindern
in diesem Bereich, d.h., schon zwei bis vier Jahre nach Zahndurchbruch
werden die Fissuren kariös.
Bei sieben- bis neunjährigen Kindern sind bereits bis zu 80% der Morphologie
bleibenden Molaren kariös oder gefüllt. Dabei beträgt der Anteil der Ok-
klusalkaries 70–100%. Ein Grund für die extreme Kariesanfälligkeit ist
die Morphologie der Grübchen und Fissuren. Im Querschnitt von Sei-
tenzähnen lassen sich unterschiedliche Fissurenformen und -tiefen er-
kennen (Abb. 4.12).
Oft reicht der Fissurenboden bis nahe an die Schmelz-Dentin-
Grenze, sodass eine beginnende Karies rasch in das Dentin vordringen
und sich unterminierend ausbreiten kann. Bei einigen Fissurentypen
kann die Zahnbürstenborste nicht bis zum Boden der Fissur gelangen,
sodass sich bakterielle Plaque, Speisereste und Zellbestandteile ansam-
148 4 Kariesprophylaxe
Abb. 4.12: Unterschiedliche
Fissurenformen im Zahn-
querschnitt. Bei tiefen
spaltförmigen und ampul-
lenförmigen Fissuren ist die
Zahnreinigung extrem er-
schwert und damit die Ka-
riesanfälligkeit stark er-
höht.
meln können. Die Puffer- und Remineralisationswirkung des Speichels
nach kariösen Attacken ist dementsprechend reduziert. Die Entstehung
und Progression der Fissurenkaries kann zudem durch Fluoridierungs-
maßnahmen nur sehr begrenzt beeinflusst werden, da Fluoride nach lo-
kaler Applikation nur schlecht durch die Fissurenplaque hindurch dif-
fundieren können. Selbst bei Bevölkerungsgruppen, die fluoridiertes
Trinkwasser erhalten, ist Fissurenkaries weiterhin ein zahnmedizini-
sches Problem.
Ziel der Fissurenversiegelung ist es, die Grübchen und Fissuren spe-
ziell der Seitenzähne dicht zu verschließen, sodass kariogene Mikro-
organismen und kariogenes Substrat keinen Zugang mehr finden
können. Zudem sollen noch vorhandene Mikroorganismen unter
dem Fissurenversiegler zugrunde gehen.
4.3.1 Indikationen
Die Basis für eine Fissurenversiegelung ist die Kariesdiagnostik mittels
stumpfer Sonde und Spiegel, gegebenenfalls mit Röntgenaufnahmen
und/oder die laseroptische Untersuchung. Die Indikation zur Fissuren-
und Grübchenversiegelung wird vorzugsweise an den bleibenden Mola-
ren gestellt.
Prophylaktische Eine prophylaktische Fissurenversiegelung wird bei kariesfreien
Fissuren- Zähnen und gefährdeten, tief zerklüfteten Fissuren und Grübchen bei
versiegelung gerade durchgebrochenen Seitenzähnen durchgeführt. Weiterhin kann
eine Fissurenversiegelung bei einem hohen allgemeinen Kariesrisiko,
z.B. bei Patienten mit einem bereits vorangegangenen Kariesbefall, Pa-
tienten mit kieferorthopädischen Apparaturen, bei Kindern und Ju-
gendlichen mit bestimmten Allgemeinerkrankungen bzw. Behinderun-
gen indiziert sein. Weiterhin können Fissuren und Grübchen versiegelt
werden, bei denen bereits eine beginnende, auf den Zahnschmelz be-
grenzte Karies zu finden ist.
4.3 Fissurenversiegelung Kapitel 4 149
Darüber hinaus kann, insbesondere bei einem bestehenden Kariesri-
siko, die zusätzliche Versiegelung von Milchmolaren, Prämolaren sowie
Grübchen an Front- und Eckzähnen angezeigt sein.
Man kann eine sogenannte prophylaktische Fissurenversiegelung,
eine Fissurenversiegelung mit vorherigem prophylaktischem Ausschlei-
fen der Fissur und eine erweiterte Fissurenversiegelung (Abb. 4.13) un-
terscheiden.
Wird bei der Untersuchung eine braune, schwarze oder kreidige
Verfärbung der Fissur mit einer fraglichen Karies diagnostiziert, kann 4
dieser Fissurenabschnitt mit einem dünn auslaufenden oder sehr klei-
nen kugelförmigen Diamanten erweitert werden. Ist anschließend keine
kariöse Erweichung des Fissurenbodens festzustellen, wird in üblicher
Art und Weise eine Fissurenversiegelung durchgeführt.
Abb. 4.13: Die prophylakti-
sche Fissurenversiegelung
(a) wird kurz nach Durch- Fissuren-
bruch der bleibenden Sei- versiegler
tenzähne bei kariesgefähr-
deten Fissuren durchge-
führt. Bei verfärbten
Fissuren mit der Verdachts-
diagnose Karies wird die Fis-
sur prophylaktisch aufge-
schliffen. Wird anschließend
keine manifeste Karies diag-
nostiziert, erfolgt eine Fis-
surenversiegelung (b). Wird a
jedoch in umschriebenen
Abschnitten des Fissurenre-
liefs eine Karies diagnosti-
ziert, so kann eine erwei- Fissuren-
terte Fissurenversiegelung versiegler
durchgeführt werden (c). Im
Bereich der Exkavation wird
eine kleine Kompositfüllung
gelegt. Anschließend wird
das Fissurensystem versie-
gelt.
Fissuren-
versiegler
Komposit
Adhäsiv-
system
c
150 4 Kariesprophylaxe
Erweiterte Fissu- Lässt sich jedoch nach dem Ausschleifen der Fissur eine Karies diag-
renversiegelung nostizieren und muss diese bis ins Dentin exkaviert werden, kann eine
erweiterte Fissurenversiegelung angezeigt sein. Grundvoraussetzung ist
dabei, dass die Exkavation der Karies möglich wird, ohne dass eine
breite Kavität im Schmelz präpariert werden muss.
Die Patienten müssen bereit sein, sich in ein Recall-System aufneh-
men zu lassen (Compliance), damit eine halbjährliche Kontrolle der
versiegelten und der unversiegelten Zahnflächen erfolgen kann. Die Pa-
tienten sollten zudem lokale Fluoridierungsmaßnahmen durchführen
und eine gute Approximalraumhygiene betreiben, um kariöse Defekte
an anderen Stellen der Zähne zu vermeiden. Die Fissurenversiegelung ist
bei Patienten mit Allergie auf die Bestandteile des Fissurenversieglers
kontraindiziert.
Weite, gut zu säubernde Fissuren und Zähne, die länger als vier
Jahre kariesfrei sind, werden nicht versiegelt.
Da die Fissurenversiegelung im Kindesalter durchgeführt wird, müssen
die Eltern über die Notwendigkeit weiterer prophylaktischer Maßnah-
men und regelmäßiger zahnärztlicher Kontrollen der versiegelten
Zähne aufgeklärt werden.
4.3.2 Materialien
Als Versiegler finden heute allgemein Kunststoffmaterialien Verwen-
dung. Es handelt sich dabei um ungefüllte Grundsubstanzen entspre-
chender Komposite (BISGMA, Urethandimethacrylat usw.). Es werden
jedoch auch niedrig visköse Komposite mit geringem Fülleranteil ver-
wendet. Neben den lichthärtenden Versieglern gibt es autopolymerisie-
rende Materialien, die vor Applikation angerührt werden müssen.
Unabhängig von diesen Eigenschaften können Fissurenversiegler klar,
durchsichtig oder opak (Farbstoffpigmente) sein. Die opaken Versiegler
lassen sich in der Regel besser auf Randdichtigkeit und Defekte kontrollie-
ren. Neuere Komposite zur Fissurenversiegelung geben Fluorid ab.
Auch Glasionomerzemente wurden als Versiegler eingesetzt. Sie ge-
hen zwar eine chemische Haftung mit Schmelz ohne Anwendung der
Schmelz-Ätz-Technik ein, sind jedoch gerade bei engen Fissuren auf-
grund ihrer hohen Viskosität schlecht zu applizieren. Sie sind daher den
bewährten Kunststoffversieglern nicht überlegen.
Die Fissurenversiegler sind u.a. wegen ihrer geringen Abrasionsfes-
tigkeit nicht als Füllungsmaterial geeignet. Bei der Durchführung einer
erweiterten Fissurenversiegelung werden daher im Bereich der exkavier-
ten Karies Feinpartikelhybridkomposite als Füllungsmaterial verwen-
det. Die nichtkariösen Fissuren werden anschließend in üblicher Weise
mit kompatiblen Versieglern verschlossen.
4.3 Fissurenversiegelung Kapitel 4 151
Auch zur Fissurenversiegelung gibt es eine Leitlinie, deren Langfas-
sung auf der Homepage der Zahnärztlichen Zentralstelle für Qualitätssi-
cherung zu finden ist. Diese Leitlinie führte zu den nachfolgenden Emp-
fehlungen, wobei der Grad der Empfehlung wieder auf die Graduierung
in der Tabelle 3.8 zurückgeht.
4.3.3 Leitlinie Fissurenversiegelung
4
Die Indikation zur FV sollte erst nach einer kariesdiagnostischen Unter-
suchung gestellt werden. Für gesunde sowie von einer Schmelzläsion
betroffene Fissuren und Grübchen ist die Indikation zur präventiven FV
gegeben. Demgegenüber sollten okklusale Dentinläsionen exkaviert
und im Sinne der therapeutischen (erweiterten) FV oder minimalinvasi-
ven Füllungstherapie restauriert werden.
Empfehlungsgrad: A
Bei Patienten mit einem hohen Kariesrisiko sowie bei gesunden Zähnen
mit kariesanfälligem Fissurenrelief sollte der frühzeitigen FV Priorität
nach vollständigem Durchbruch der Okklusalfläche eingeräumt wer-
den. Ziel ist die Umgestaltung eines plaqueretentiven Fissurenreliefs in
eine prophylaxefähige Oberfläche.
Empfehlungsgrad: A
Kontraindikationen zur FV sind ausgedehnte okklusale Dentinläsionen,
unvollständig durchgebrochene Zähne und Milchmolaren, deren phy-
siologischer Zahnwechsel unmittelbar bevorsteht.
Empfehlungsgrad: A
Für den klinischen Einsatz stehen heute chemisch härtende und mit Materialien
sichtbarem Licht auszuhärtende Versiegelungsmaterialien zur Verfü-
gung. Der Vergleich zwischen auto- und lichtpolymerisierenden Mate-
rialien offenbarte für Lichtpolymerisate mit zunehmender Liegedauer
ein tendenziell günstigeres Retentionsverhalten. Untersuchungen, wel-
che auf den direkten Vergleich zwischen auto- und lichtpolymerisieren-
den Materialien abzielten, beobachteten jedoch keine signifikanten
Unterschiede in Bezug auf die Retentionsrate. Fluorid freisetzende Ver-
siegelungssysteme erbrachten im Vergleich zu auto- bzw. lichtpolymeri-
sierenden Materialien ähnliche Resultate; allerdings fehlen für diese
Materialgruppe noch Langzeitergebnisse. Da Lichtpolymerisate im Ver-
gleich zu chemisch härtenden FV als Einkomponenten-Materialien zeit-
sparender und einfacher zu applizieren sind, sollte diesen im klinischen
Alltag der Vorzug gegeben werden.
Empfehlungsgrad: B
152 4 Kariesprophylaxe
Aufgrund des besseren Fließverhaltens sollten niedrigstvisköse Materia-
lien bei der präventiven FV bevorzugt eingesetzt werden. Fließfähige
Komposite (Flowables) sind bei der erweiterten FV bzw. minimalinvasi-
ven Füllungstherapie aufgrund der besseren Abrasionsfestigkeit und ge-
ringeren Schrumpfung indiziert. Glasionomerzemente sind aufgrund
hoher Retentionsverluste zur FV wenig geeignet.
Empfehlungsgrad: B
Trockenlegung Vergleichende klinische Untersuchungen zwischen absoluter Trockenle-
gung mit Kofferdam und relativer mit Watterollen zeigten zwar teils hö-
here Retentionsraten für unter Kofferdam applizierte Versiegelungen, die
Mehrzahl aller Vergleichsuntersuchungen konnte aber keine signifikanten
Unterschiede nachweisen. Daher kann die relative Trockenlegung als aus-
reichend angesehen werden; Voraussetzung für den Behandlungserfolg
unter relativer Trockenlegung ist das sogenannte vierhändige Arbeiten.
Empfehlungsgrad: B
Reinigung Die Fissurenreinigung vor der Schmelz-Ätz-Technik wird mit einem ro-
tierenden Bürstchen oder Pulverstrahlgerät empfohlen. Anschließend
Konditionierung erfolgt die Konditionierung der unpräparierten Schmelzoberfläche mit
etwa 35%igen Phosphorsäure-Gelen für etwa 60 Sekunden am bleiben-
den Zahn und für etwa 120 Sekunden am Milchzahn. Nach gründli-
chem Absprayen des Ätzgels für mindestens 10 Sekunden und forcierter
Trocknung muss eine kreidig-weiße Schmelzoberfläche sichtbar sein.
Empfehlungsgrad: B
Polymerisation Zur Vermeidung okklusaler Vorkontakte und ggf. eines nachfolgenden
Materialverlustes, ist das Versiegelungsmaterial grazil im Fissurenrelief
zu applizieren. Zur Lichtpolymerisation werden Halogenlampen mit
ausreichender Intensität genutzt; die produktabhängige Polymerisa-
tionszeit von 20 bis 40 Sekunden ist zu beachten. Bei neueren Plasma-
und LED-Lampen muss neben der Intensität auch das Spektrum (Wel-
lenlängenbereich) berücksichtigt werden. Zur Entfernung der oberfläch-
lichen Sauerstoffinhibitionsschicht wird die Politur der FV empfohlen.
Okklusions- Nach der Versiegelerapplikation ist eine Okklusionskontrolle erfor-
kontrolle derlich; interferierende Überschüsse müssen korrigiert werden. Die Re-
mineralisation geätzter, aber nicht versiegelter Schmelzareale wird
durch die Lokalapplikation eines Fluoridpräparates begünstigt.
Empfehlungsgrad: B
Recall Eine erste Nachkontrolle der applizierten FV sollte innerhalb von 6 Mo-
naten erfolgen. Die weiteren Kontrollen sollten sich an den in Abhän-
gigkeit vom Kariesrisiko festgelegten Recall-Intervallen orientieren. Im
Fall eines Retentionsverlustes ist nach Ausschluss einer kariösen Läsion
die Nachversiegelung indiziert.
Empfehlungsgrad: B
4.3 Fissurenversiegelung Kapitel 4 153
Es werden heute auch selbstätzende Primer/Adhäsivpräparate für die
Fissurenversiegelung angeboten. Zu den Erfolgsquoten der Fissurenver-
siegelungen mit diesen Materialien liegen bisher jedoch keine ausrei-
chenden klinischen Studien vor.
Wird nach prophylaktischem Aufschleifen einer Fissur keine Karies
diagnostiziert, eignen sich niedrig visköse Komposite als Versiegler.
Bei der erweiterten Fissurenversiegelung wird nach Exkavation der Vorgehen erwei-
Karies und Konditionierung ein Adhäsionssystem appliziert (das genaue terte Fissuren-
Verfahren wird in Kap. 6 beschrieben). Im Bereich der exkavierten Ka- versiegelung 4
ries wird ein Feinpartikelhybridkomposit eingebracht und mit einem
Lichtpolymerisationsgerät für mindestens 40 s ausgehärtet. Anschlie-
ßend erfolgt eine Fissurenversiegelung des gesamten Fissurensystems.
Die Übergänge zu einer Klasse-I-Restauration mit Komposit sind
fließend. Bei einem derartigen Vorgehen erspart man den Patienten ei-
nen erheblichen Zahnhartsubstanzverlust, der z.B. beim Legen einer
Amalgamfüllung unausweichlich wäre. Werden bei der Okklusionskor-
rektur oder später Luftblasen im Versiegler freigelegt oder geht Versieg-
ler verloren, so kann dieser nach entsprechender Schmelzkonditionie-
rung ergänzt werden.
Nicht diagnostizierte beginnende Kariesläsionen in den Fissuren
werden durch die Versieglerapplikation inaktiviert. Die Substratzu-
fuhr für Mikroorganismen wird unterbunden, die Mikroorganis-
men gehen zugrunde. Bei der erweiterten Fissurenversiegelung
kann die Kavitätengröße und damit der Zahnhartsubstanzdefekt
sehr gering gestaltet werden, und die restlichen Fissuren werden vor
Karies geschützt.
Bei gut kooperierenden Kindern lässt sich eine Fissurenversiegelung
auch bei Milchmolaren durchführen.
Die Fissurenversiegelung ist eine non-destruktive und schmerzlose
Maßnahme, die zur Verhinderung oder Reduktion von Fissurenka-
ries beiträgt, wenn regelmäßige Nachkontrollen eingehalten wer-
den und verloren gegangener Versiegler vom Zahnarzt ergänzt wer-
den kann.
Die Effektivität der Versiegelungsmaßnahme hängt von der adäquaten Effektivität
Verarbeitungstechnik und der Recallfrequenz der Probanden ab. Findet
keine Erneuerung defekter Fissurenversiegler statt, so beträgt die Karies-
reduktion für okklusale Kavitäten nach einem Jahr ca. 80% und fällt in-
nerhalb der nächsten vier Jahre auf 58% ab. Wird der Fissurenversiegler
in regelmäßigen Abständen kontrolliert und werden verloren gegan-
gene Anteile erneuert, so beträgt die kariesprophylaktische Effektivität
100%.
154 4 Kariesprophylaxe
4.4 Mundhygiene, chemische Plaquekontrolle,
Entfernung von Zahnverfärbungen, Mundgeruch
Die Beurteilung des Plaquebefalls, die Motivation und Instruktion zur
zweckmäßigen Mundhygiene und die Durchführung der entsprechen-
den Mundhygienemaßnahmen werden in Kapitel 19.3 im dritten Teil
dieses Buches ausführlich dargestellt. Durch eine optimale Mundhy-
giene wird der Entstehung einer kariogenen Plaque vorgebeugt, gleich-
zeitig wird durch die Applikation fluoridhaltiger Zahnpasten eine lokale
Fluoridierungsmaßnahme der Zahnhartsubstanzen vorgenommen.
Richtige und regelmäßige Zahnpflege (besonders Approximalraumhy-
giene) ist gleichermaßen eine karies- und parodontalprophylaktische
Maßnahme.
Mundhygienemaßnahmen dienen auch der Prävention und Entfer-
nung von extrinsischen Zahnverfärbungen.
Intrinsische Zahn- Man unterscheidet zwischen intrinsischen und extrinsischen Zahnver-
verfärbungen färbungen. Intrinsische Zahnverfärbungen entstehen während der
Zahnentwicklung, z.B. durch Stoffwechselerkrankungen, Trauma oder
andere systemische Ursachen, sowie nach Zahndurchbruch durch hä-
morrhagische Produkte der Pulpa (z.B. nach einer Vitalexstirpation der
Pulpa), Wurzelfüllmaterialien, Wurzelresorption und Alterung. Intrinsi-
sche Zahnverfärbungen können durch Bleichen der Zähne (siehe dazu
auch Kapitel 14.2) entfernt werden.
Extrinsische Zahn- Extrinsische Zahnverfärbungen entstehen durch Chromogene, die
verfärbungen über Nahrungsmittel, Genussmittel, Medikamente, Spüllösungen usw.
an die Zahnoberfläche gelangen und sich in der Pellikel bzw. auf der
Zahnoberfläche direkt ablagern. Farbe, Zusammensetzung, Bildungsme-
chanismus und Klebrigkeit variieren je nach Grund der Verfärbung. Bei-
spiele für chromogenhaltige Nahrungs- und Genussmittel sind zum Bei-
spiel Kaffee, Tee, Rotwein, Gewürze, Speisen (Curry), Beeren, Tabak, Me-
talle, chromogene Bakterien und kationische Desinfektionsmoleküle
(z.B. CHX). Extrinsische Zahnverfärbungen werden durch professio-
nelle Zahnreinigungen beseitigt. Um einer Neuentstehung vorzu-
beugen, werden häufig Zahnpasten mit einem RDA-Wert über 100
empfohlen. Diese Zahnpasten sollen 2- bis 3-mal wöchentlich die
Mundhygiene mit einer normalen Zahnpasta ersetzen. Während eine
Anwendung dieser sogenannten „Whitening“-Zahnpasten auf gesun-
dem Schmelz keine Probleme verursacht, sollten Patienten mit frei-
liegenden Zahnhälsen und exponierten Wurzeloberflächen diese
Zahnpasten nicht verwenden, da sie im Dentin zu einem vermehrten
Zahnhartsubstanzverlust führen. Auch Patienten mit erhöhtem Ero-
sionsrisiko sollten derartige Zahnpasten nicht benutzen.
Whitening Der Begriff „Whitening Zahnpasta“ ist missverständlich, da bei Ver-
Zahnpasta wendung dieser Zahnpflegemittel nur die natürliche Zahnfarbe wieder
4.4 Mundhygiene, chemische Plaquekontrolle, Entfernung von Zahnverfärbungen, Mundgeruch Kapitel 4 155
hergestellt wird und die Zähne keineswegs heller werden. Es gibt jedoch
auch einige wenige Zahnpasten, die eine aufhellende Wirkung haben.
So ist einem Produkt zum Beispiel Zitronensäure und Papain zugesetzt.
Papain ist ein Fleckenlösemittel, welches eine aufhellende Wirkung be-
sitzt.
Für extrinsische Zahnverfärbungen gibt es eine Einteilung nach Nat-
hoo, die auf der unterschiedlichen Reaktion der verfärbenden Substan-
zen mit der Zahnoberfläche beruht. So ist bei Verfärbungen vom N1-
Typ die Farbe des Chromogens mit der Zahnverfärbung identisch. Das 4
bedeutet, dass das gefärbte Material direkt mit der Zahnoberfläche oder
der Pellikel reagiert. So sind zum Beispiel Tannine aus Polyphenolen zu-
sammengesetzt, deren konjugierte Doppelbindung für die charakteristi-
sche Farbe verantwortlich ist. Bei Verfärbungen vom N2-Typ lagern sich
Pigmente und Moleküle in die Pellikel ein und erfahren anschließend
eine Farbveränderung. Diese Farbveränderung beruht auf einer Akku-
mulation oder chemischen Modifikation der Pellikelproteine durch Säu-
ren oder Detergentien. Auch Tee- und Kaffeeverfärbungen können se-
kundär in dieser Weise verändert werden und dann durch Kalzium- oder
Magnesiumbrücken stabilisiert werden und sind deshalb häufig
schlechter entfernbar.
Bei Verfärbungen vom N3-Typ binden primär farblose Substanzen
an die Zahnoberfläche und erfahren eine Transformation im Sinne einer
chemischen Veränderung. Dabei reagieren häufig Aminosäuren mit re-
duzierten Zuckern und über mehrere Zwischenstufen entstehen braune
pigmentartige Substanzen (Maillard-Reaktion, nicht enzymatische
Bräunungsreaktion). Diese Reaktion entspricht in etwa der Bräunungs-
reaktion, die entsteht, wenn man einen Apfel durchschneidet. Eine sol-
che Reaktion entsteht auch bei der Verwendung von chlorhexidinhalti-
gen Mundspüllösungen.
Eine spezielle Verfärbung, die man hauptsächlich im Milchgebiss Black stain
findet, wird durch farbstoffbildende Bakterien erzeugt. Sie wird als
„black stain“ bezeichnet, ist nicht schädlich, sondern allenfalls kosme-
tisch störend.
Intrinsische Zahnverfärbungen können nur durch Bleichen entfernt
werden. Für das Bleichen vitaler Zähne stehen verschiedene Produkt-
gruppen zur Verfügung.
Das „home bleaching“ ist die am häufigsten angewendete, externe Bleichen
Methode zur Aufhellung von Zähnen. Nach Abformung durch den
Zahnarzt wird eine Kunststoffschiene angepasst und der Patient instru-
iert. Zu Hause füllt der Patient ein Bleichmittel in die Schiene und trägt
dieses über einen definierten Zeitraum. Während des Tragens wird H2O2
freigesetzt, welches in Sauerstoffradikale zerfällt. Diese Radikale sorgen
letztlich für die Aufhellung der Verfärbungen. Je nach Produkt liegt die
Konzentration des Inhaltstoffes Carbamidperoxid zwischen 10–35%.
Daraus resultiert eine Freisetzung von Wasserstoffperoxid in einer Grö-
ßenordnung von 3–12%. Beim sogenannten „waiting room (in-office)
156 4 Kariesprophylaxe
bleaching“ wird ein Bleichgel über eine individuell für den Patienten
hergestellte Schiene appliziert. Der Patient sollte aber aufgrund der ho-
hen Konzentration des entsprechenden Bleichgels in der Zahnarztpraxis
verbleiben. Die Konzentration des Carbamidperoxids liegt in der Regel
bei 35%. Das Verfahren kann mit dem „home bleaching“ kombiniert
werden. Bei dem sogenannten „chairside bleaching“ wird das Bleich-
mittel vom Zahnarzt direkt auf die Zähne aufgetragen. Diese Methode
kann durch Licht unterstützt werden. Sie ist die schnellste Methode und
ideal für das Aufhellen eines einzelnen Zahnes. Die Peroxidkonzentra-
tion beträgt 38%. Während bei beiden obengenannten Methoden das
Bleichgel vom Zahnarzt empfohlen bzw. appliziert wird, gibt es soge-
nannte „over the counter“-Produkte, die von den Verbrauchern in Apo-
theken oder Drogerie-Märkten käuflich zu erwerben sind. Dabei unter-
scheidet man auch bei diesen Produkten Schienensysteme (z.B. ein Ein-
mal-Kombi-Tray-System) mit einer Peroxidkonzentration von 10% von
dünnen flexiblen Kunststoffstrips, die mit einem wasserstoffperoxidhal-
tigen Gel beschichtet sind. Diese Streifen werden für einen definierten
Zeitraum auf den Zahn aufgelegt. Dabei beträgt die H2O2 Konzentration
5,3%. Mit einem relativ neuen System wird zu Hause zweimal täglich
für 15 Minuten ein Gel auf die Zähne aufgetragen. Die Wasserstoffper-
oxidkonzentration beträgt dabei 5,9%.
Aus zahnmedizinischer Sicht sollte grundsätzlich eine Diagnose und
Überwachung der unterschiedlichen Bleichverfahren stattfinden, um
z.B. ein Überbleichen zu vermeiden. Es muss zudem gewährleistet sein,
dass die Patienten die entsprechenden Präparate richtig anwenden und
zudem nicht versuchen, externe Verfärbungen durch Bleichen zu ent-
fernen.
Mundgeruch Etwa 25% der Menschen leiden ab und zu oder dauerhaft unter
(Halitosis) Mundgeruch. Meistens nehmen die Betroffenen selbst nicht wahr, dass
sie aus dem Mund riechen (Foetor ex ore). Es gibt jedoch auch Men-
schen, die glauben, unter Mundgeruch zu leiden, obwohl dies faktisch
nicht der Fall ist. Die Ausatemluft des Menschen enthält etwa 78%
Stickstoff, 17% Sauerstoff, 4% Kohlendioxyd und nur etwa 1% andere
Gase. Diese können flüchtige Schwefelverbindungen, Indol, Skatol, Ka-
daverin und Pudreszin enthalten, welche unangenehm riechen. In fast
90% aller Fälle entsteht Mundgeruch aufgrund der bakteriellen Zerset-
zung organischer Materialien in der Mundhöhle. Insbesondere durch
den Metabolismus gramnegativer, anaerober Mikroorganismen, welche
sich auf der Zungenoberfläche befinden, kommt es zur Entstehung der
oben genannten gasförmigen Stoffe. Insofern ist der Zungenbelag ein
wichtiger ätiologischer Faktor für Halitosis. Weitere Ursachen sind Paro-
dontitiden, Karies, lokale Infektionen sowie abnehmbarer Zahnersatz,
der nicht ausreichend gereinigt wird. Zudem können seltene orale Er-
krankungen wie Tumoren und spezielle Schleimhauterkrankungen zu
Mundgeruch führen. Als Kofaktoren für die Entstehung von Mundge-
ruch werden eine reduzierte Speichelfließrate, Stress, Rauchen, hoher
4.5 Zusätzliche kariespräventive Maßnahmen Kapitel 4 157
Kaffeekonsum, Mundatmung, einseitige Ernährung, Zungenpiercing,
Alkoholkonsum, Fleischkonsum sowie ein geringer Wasserkonsum ver-
antwortlich gemacht. Als weitere Ursachen kommen Erkrankungen im
HNO-Bereich (5–8% der Halitosis-Patienten) und dabei mit 60–70% die
Tonsilitis und mit 20% die Sinusitis vor. Magen-Darm-Probleme spielen
mit weniger als 0,1% eine untergeordnete Rolle. Patienten mit einem
schlecht eingestellten Diabetes mellitus haben einen erhöhten Aceton-
gehalt in der Ausatemluft. Auch spezielle Medikamente können zu
Mundgeruch führen. Die flüchtigen Schwefelverbindungen (Volatile 4
Sulphur Compounds) entstehen durch die Hydrolyse von Peptiden und
Proteinen und die nachfolgende Spaltung der dadurch entstehenden
Aminosäuren. Als verursachende Bakterien kommen unter anderem
Porphyromonas gingivalis, Prevotella intermedia, Fusobacterium nu-
cleatum, Treponema denticola, Prevotella melaninogenica sowie Veillo-
nella alcalescens und Klebsiella pneumoniae in Betracht.
Als einfache Diagnostikmethode hat sich das organoleptische Ver-
fahren bewährt. Der Schweregrad 3 entspricht Mundgeruch in einem
Meter Abstand vom Patienten, der Schweregrad 2 im Abstand von
30 cm und der Schweregrad 1 im Abstand von 10 cm. Zusätzlich kann
mit speziellen Messgeräten instrumentell eine Messung vorgenommen
werden, wobei diese das organoleptische Verfahren nicht ersetzen, son-
dern ergänzen soll. Selbstverständlich müssen neben diesen Verfahren
eine umfassende intraorale Diagnostik und eine gute Anamneseerhe-
bung erfolgen. Dabei spielen die Speichelfließrate, die Beachtung des
Zungenbelags und die Inspektion des Waldeyerschen Rachenrings ne-
ben der Parodontaldiagnostik eine wesentliche Rolle. Nach Beseitigung
aller parodontal und kariologisch sowie restaurativ bedingten Gründe
wird auf jeden Fall eine mechanische Reinigung der Zunge mit entspre-
chenden Hilfsmitteln (spezieller Zungenreiniger) empfohlen. Zusätzlich
wird zweimal täglich für eine Woche mit 0,2% CHX oder einer Zink-
chloridlösung gespült. Anschließend findet eine erneute Diagnose statt
und dann kann bei einer Besserung der Symptomatik die mechanische
Zungenreinigung weitergeführt sowie eine dauerhafte chemische Un-
terstützung z.B. mittels eines zinnchloridhaltigen Produktes empfohlen
werden (Abb. 4.14.)
4.5 Zusätzliche kariespräventive Maßnahmen
Neben den klassischen Methoden der Kariesprävention wurde in den
letzten Jahren sowohl im Bereich der Beeinflussung des mikrobiellen
Biofilms als auch bei der Förderung der Remineralisation initialkariöser
Läsionen versucht, neue Wege zu beschreiten.
Betrachtet man Karies als eine Infektionserkrankung mit den Leit-
keimen Streptococcus mutans und Laktobazillen, so ergibt sich zwangs-
läufig der Gedanke an Immunisierung. Es gibt zahlreiche Versuche, eine
158 4 Kariesprophylaxe
Orale Ursache: ausschließlich ursachenbezogene Therapie
Mundtrockenheit Gingivitis, Parodontitis, Defekte Kronen-/ Zungenbelag
Je nach Ursache Ernäh- Mundhygiene Füllungsränder, Karies Mechan. Reinigung
rungsberatung, symp- Hygienephase durch Je nach Ursache Ernäh- und 0,2% Chlorhexin-
tomatische Therapie, DH, Instruktion, rungsberatung, symp- Spülung 2-mal täglich
Medikamente Motivation tomatische Therapie, für eine Woche zur Di-
Medikamente agnosesicherung
Keine Besserung: Überweisung an HNO/Internisten Kontrolle nach 1 Woche
Erneute Kontrolle nach 1 Woche Besserung
Chlorhexidin absetzen
Nur noch mechanische
Unvollständige Besserung Vollständige Besserung Zungenreinigung
Chemische Unterstützung Mechanische Zungenreinigung
(derzeit: meridol HALITOSIS)
Langfristige Recalls: im 1. Jahr alle 3–4 Monate
Abb. 4.14: Halithosis-Therapiekonzept nach Filippi (2009)
„Impfung“ gegen Streptococcus mutans zu entwickeln. Da Karies je-
doch nicht allein durch einen Keim der Mundhöhle verursacht wird,
war Immunisierung als kariespräventive Maßnahme bisher erfolglos.
Infektions- Es scheint jedoch möglich, in gewissem Umfang eine Infektionspro-
prophylaxe phylaxe zu betreiben. So sollten kariesaktive Mütter eine Übertragung
ihrer kariogenen Keime über den Speichel, z.B. durch Ablecken der Sau-
gerflasche o.Ä., vermeiden. Derartige Vorschläge erscheinen jedoch we-
nig realistisch, da durch den innigen Kontakt zwischen Kindern und
Müttern eine Übertragung dieser Keime fast unausweichlich ist.
Primär-Primär- Sinnvoller ist es, wenn man die kariesätiologisch relevanten Keime
prävention schon bei der werdenden Mutter bekämpft. Dies geschieht durch Fest-
stellung des Infektionsgrades und – falls notwendig – durch intensivpro-
phylaktische Maßnahmen einschließlich einer Sanierung der Mund-
höhle. Diese Maßnahmen werden heute insgesamt als Primär-Primär-
prävention bezeichnet.
Chlorhexidindi- Liegt einmal eine Infektion vor, ist man bestrebt, die Keimzahlen in
glukonat-Lack der Mundhöhle zu verringern. Neben den schon beschriebenen prophy-
laktischen Maßnahmen wird heute versucht, die Keimzahlen durch das
Auftragen von Chlorhexidindiglukonat-Lack in den Fissuren und Ap-
proximalräumen zu verringern.
Auch wenn bisher noch groß angelegte Studien zur Kariesreduktion
durch derartige Maßnahmen fehlen, scheinen erste Resultate vielver-
sprechend zu sein. Während des Zahndurchbruchs kann häufig keine
adäquate Trockenlegung und damit keine Fissurenversiegelung durch-
geführt werden. Bis zur vollständigen Zahneruption kann mit einer
4.5 Zusätzliche kariespräventive Maßnahmen Kapitel 4 159
Tab. 4.7: Indikationen und Anwendungsformen von chlorhexidinhaltigen
Präparaten (CHX-Konzentration in %; nach Splieth 2002)
Indikation Anwendungsform Anwendung
Mundhygieneunfähige Spüllösung (0,1–0,2%) 14 Tage, zweimal täglich
Patienten, z.B. Behinderte oder Gelschiene Vierteljährlich
Initialläsionen Lack (1% oder 40%) Vierteljährlich
Molaren im Durchbruch Lack (1% oder 40%) Vierteljährlich
Kleinkinder Lack (1%) Viertel- bis halbjährlich 4
Intensivprophylaxe Gelschiene oder -ein- 14 Tage, einmal täglich
bürstung, Lack (1% oder Viertel- bis halbjährlich
40%) oder 3-mal in 14 Tagen
vierteljährlichen Applikation von CHX-Lack einer Fissurenkaries vorge-
beugt werden.
Bei hoher Kariesaktivität kann neben den üblichen Prophylaxe- Chlorhexidin-
maßnahmen eine sogenannte Chlorhexidintherapie erfolgen. Dabei therapie
wird über einen Zeitraum von 14 Tagen ein 1%iges Chlorhexidingel in
einem Medikamententräger (Tiefziehschiene) für täglich fünf Minuten
appliziert. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme kann mit einem mikro-
biellen Speicheltest auf Mutans-Streptokokken überprüft werden. Sollte
die Keimzahl nach der Anwendung des Gels erneut ansteigen, wird die
Maßnahme wiederholt. In einer klinischen Studie, die über drei Jahre
durchgeführt wurde, konnte die Karies reduzierende Wirkung dieser
Therapie nachgewiesen werden (Tab. 4.7).
Wie bereits erwähnt, sind orale mikrobielle Biofilme aufgrund ihrer
Struktur häufig resistent gegen übliche antimikrobielle Maßnahmen. Es
wurde daher versucht, mit neuen Ansätzen die Kariogenität des Biofilms
zu verringern.
Ein Verfahren geht auf die in der Humanmedizin angewandte pho-
todynamische Therapie (PDT) zurück, mit der Tumorerkrankungen
oder andere Gewebsveränderungen behandelt werden. Dabei wird ein
Farbstoff auf den Biofilm appliziert. Dieser Fotosensibilisator lagert sich
an die Bakterienzellmembran an und wird anschließend mit einem La-
serlicht bestrahlt. Dabei werden aus vorhandenem Sauerstoff Sauerstoff-
radikale (Singulett-Sauerstoff) abgespalten. Diese führen zu einer oxida-
tiven Zerstörung der Bakterienmembranen. Dabei werden üblicherweise
als Fotosensibilisator Toloniumchlorid oder Methylenblau verwendet.
Als Laser wird ein Diodenlaser der Wellenlänge 625–660 nm eingesetzt.
Diese als photoaktivierte Desinfektion (PAD) erhältlichen Systeme
werden insbesondere in der Parodontologie eingesetzt. Dabei gelten sie
als ergänzende antimikrobielle Maßnahmen, wenn konventionelle me-
chanische Maßnahmen der Biofilmentfernung nicht ausreichen. Beim
supragingivalen Biofilm ist allerdings kaum einzusehen, warum ein der-
artiges Verfahren Einsatz finden soll, wenn man mit klassischen profes-
sionellen Zahnreinigungen den Biofilm weitestgehend beseitigen kann.
160 4 Kariesprophylaxe
Zudem ist auch nicht geklärt, ob die Farbstoffe tatsächlich weit genug in
den Biofilm penetrieren, um ihn dann anschließend mit dem Laser
auch deaktivieren zu können.
Einsatz von Ozon Eine weitere Möglichkeit, die Bakterienzahl zu vermindern und das
Fortschreiten einer Karies aufzuhalten, ist der Einsatz von Ozon. Dabei
kann entweder ozonförmiges Gas oder ozoniertes Wasser verwendet
werden. Ozon oxidiert Bestandteile der Bakterienwand, sodass die Bak-
terien zugrunde gehen. In der Zahnmedizin wird Ozon sowohl zur
„Desinfektion“ von Fissuren vor Versiegelungen als auch zur Behand-
lung von offenen kariösen Läsionen nach Kariesexkavation bzw. zur Be-
seitigung von möglichen Restbakterien in Wurzelkanälen angewandt.
In Gasform benutzt man es in einer Konzentration von etwa 2000 ppm,
wobei ein spezielles Gerät angewendet wird, welches verhindert, das
Ozongas während der Applikation (20–40 Sekunden) in den Mund bzw.
in die Umwelt abgegeben wird. Es gibt bisher nur sehr spärliche Ergeb-
nisse aus klinischen Untersuchungen, die zudem noch widersprüchlich
sind.
Bakterieller Weitere Ansatzpunkte zur Veränderung des bakteriellen Biofilms
Biofilm sind die Anwendung von Pflanzenextrakten bzw. synthetischen, anti-
mikrobiellen Peptiden, der Einsatz von Probiotika (z.B. Laktobazillen-
spezies), die Entwicklung von Anti-Quorum-Sensing-Molekülen und
die sogenannte Replacement-Therapie, bei der weniger azidogene
Streptokokken im Biofilm S. mutans verdrängen sollen. Die Anzahl pro-
biotischer Produkte auf dem Markt steigt kontinuierlich. Diese Produkte
enthalten lebende Bakterien, denen positive gesundheitliche Effekte zu-
gerechnet werden. Lange Zeit fokussierten sich viele Studien auf den
Einsatz und den Nutzen probiotischer Bakterien im Verdauungstrakt.
Aber auch die gesundheitliche Bedeutung derartiger Mikroorganismen
in der Mundhöhle rückt mehr und mehr ins Augenmerk des Interesses.
Die meisten probiotischen Produkte beinhalten Laktobazillen bzw. Bifi-
dobakterien. Ein kontrovers diskutierter Effekt probiotischer Bakterien
in der Mundhöhle ist die Reduktion sogenannter Mutans-Streptokok-
ken. Infolgedessen wird eine Kariesinhibition durch probiotische Bakte-
rien in Betracht gezogen. Auch die Reduktion parodontalpathogener
Keime sowie die Sekretion proinflammatorischer Zytokine werden als
positive Effekte diskutiert. Sie werden zudem bei der Behandlung der
Halitosis eingesetzt. Es muss betont werden, dass bisher die meisten Er-
gebnisse auf In-vitro- oder kurzen In-situ-Pilotstudien beruhen. Außer-
dem werden aufgrund der Azidität und somit Kariogenität mancher
probiotischer Bakterien warnende Stimmen in der Fachwelt laut, da
nach einer Besiedlung der Mundhöhle mit aziden probiotischen Bakte-
rien ein Anstieg der Kariesprävalenz nicht ausgeschlossen werden kann.
Die Evidenz für eine kariespräventive Wirkung probiotischer Produkte
muss nach heutigem Kenntnisstand als gering bezeichnet werden. Auch
die anderen Verfahren befinden sich noch im Versuchsstadium und
sind bisher nicht Gegenstand größerer klinischer Untersuchungen.
4.5 Zusätzliche kariespräventive Maßnahmen Kapitel 4 161
Eine Sonderstellung bei den präventiven Maßnahmen zur Demine-
ralisationshemmung und damit zur Verhinderung der Progression einer
bereits bestehenden initialen Karies nimmt die sogenannte Kariesinfil- Kariesinfiltration
tration ein. Als Indikation werden approximale Kariesläsionen mit in-
takter Oberfläche, die entweder schmelzbegrenzt sind oder höchstens
bis in das erste Drittel des Dentins reichen, genannt. Vor einer Kariesin-
filtration im approximalen Bereich sind also in der Regel Bissflügel-
Röntgenaufnahmen erforderlich. Das Verfahren kann auch bei initial-
kariösen Läsionen im Glattflächenbereich (z.B. nach kieferorthopädi- 4
scher Bebänderung) angewendet werden, wenn die Schmelzoberfläche
nicht eingebrochen ist. Kontraindikationen für das Verfahren sind kli-
nisch sichtbare Einbrüche der Schmelzoberfläche und Karies, die über
das erste Drittel des Dentins hinausreicht. Ebenso scheint der Einsatz
bei älteren, inaktiven initialkariösen Läsionen nicht sinnvoll zu sein, da
hier die Oberfläche stark mineralisiert ist. Ziel des Verfahrens ist es, die
Poren, die während der Bildung einer initialkariösen Läsion entstanden
sind, zu verschließen und damit die verbliebene Schmelzstruktur so zu
stabilisieren, dass kariesauslösende Säuren nicht mehr in den Zahn pe-
netrieren können.
Der erste Schritt der Kariesinfiltration besteht in einer Reinigung der
entsprechenden Zahnoberfläche mit Polierpaste und Zahnseide. Dann
wird Kofferdam angelegt, um den Zahn vor Speichelkontakt und die
Gingiva vor Säurekontakt zu schützen. Der Approximalbereich wird mit
einem Keil leicht geöffnet und eine Applikationsfolie mit einem
15%igen Salzsäuregel eingebracht. Mit diesem Gel wird die Zahnober-
fläche zwei Minuten angeätzt, danach gründlich abgespült und die Flä-
che anschließend mit Luft bzw. Alkohol getrocknet. Es erfolgt dann das
Einbringen eines Applikators, der den Infiltranten (hydrophile Mono-
mere) enthält. Die Infiltration des Kunststoffes erfolgt für drei Minuten,
dann werden die Überschüsse entfernt und der Infiltrant durch Lichtpo-
lymerisation gehärtet. Es erfolgt eine Wiederholung der Infiltration mit
erneuter Überschussentfernung und Polymerisation. Das Verfahren
wird mit einer Endpolitur abgeschlossen. Da das Infiltrationsmaterial
nicht röntgenopak ist, sollten die behandelten Zahnflächen gut doku-
mentiert werden (Infiltrationspass).
Aus Tierexperimenten ist bekannt, dass Milch antikariogen wirkt.
Dabei zeigen insbesondere Caseine eine bakterienadhäsionshemmende
Wirkung und zudem eine Affinität zu Kalzium und Phosphat. Eine aust-
ralische Arbeitsgruppe synthetisierte daraufhin einen Casein-Phosphor-
Peptid- (CPP-) Kolloidkomplex, der so klein ist, dass er durch vergrö-
ßerte Schmelzporen einer initialen kariösen Läsion diffundieren kann.
Zudem kann CPP Kalzium- und Phosphat-Ionen in Lösung stabilisieren.
Das hat zur Folge, dass unter alkalischen Bedingungen Kalzium- und
Phosphat-Ionen als amorphes Kalziumphosphat (ACP) in Anwesenheit
von CPP in einer metastabilen Lösung vorliegen. Vereinfacht dargestellt
könnte also CPP als Nanocarrier für Kalzium-Phosphat-Verbindungen
162 4 Kariesprophylaxe
dienen und diese rasch und in großen Mengen in eine initiale Karieslä-
sion hineintransportieren.
CPP-ACP-Nanokomplexe werden heute unter dem Markennamen
Recaldent in Kaugummis, Spüllösungen, Zahnpasten und speziellen
Prophylaxepasten (MI-Paste, Tooth Mousse) angeboten. Zahlreiche In-
situ-Studien und auch einige wenige klinische Studien konnten eine re-
mineralisationsfördernde Wirkung für Recaldent aufzeigen. Es gibt aber
auch neuere Untersuchungen, die sich insbesondere mit initialen kariö-
sen Läsionen nach Entfernung von Brackets beschäftigen und die kei-
nen Vorteil von CPP-ACP gegenüber der üblichen Mundhygiene mit ei-
ner fluoridhaltigen Zahnpasta bezüglich einer remineralisierenden Wir-
kung finden konnten. Neuerdings wird CPP-ACP in Kombination mit
Fluorid in Pastenform angeboten und eine synergistische Wirkung der
beiden Inhaltsstoffe propagiert. Insgesamt kann man aufgrund der Stu-
dienlage zwar von einer möglichen remineralisationsfördernden Wir-
kung ausgehen. Es ist jedoch nicht geklärt, ob CPP-ACP im Vergleich zu
Fluoridierungsmaßnahmen die Remineralistaion verbessert und ob
diese Präparate unter hochkariogenen Bedingungen zu einer Hemmung
der Demineralisation von Zahnhartsubstanzen beitragen. Eine Behand-
lung der Schmelzoberfläche mit CPP-ACP zur Vermeidung von Erosio-
nen führte nicht zum gewünschten Erfolg. Der Zusatz von CPP-ACP zu
sauren Getränken hingegen vermindert deren erosive Wirkung.
Neben diesem Remineralisationsansatz, zu dem es immerhin zahl-
reiche Studien mit allerdings unterschiedlichen Ergebnissen gibt, wurde
auch mit anderen kalziumphosphathaltigen Präparaten (z.B. Ca-Na-
Phosphosilikat = bioaktives Glas) versucht, die Remineralisation initial-
kariöser Läsionen zu verbessern. Letztlich fehlt aber auch bei diesen Prä-
paraten die Evidenz aus randomisierten, kontrollierten klinischen Stu-
dien.
Ähnliche Wege gehen sogenannte biomimetische Ansätze, mit de-
nen submikrometergroße Defekte an der Schmelzoberfläche mit Na-
nopartikeln ausgekleidet werden sollen. Dazu werden z.B. karbonathal-
tige Hydroxylapatitpartikel mit einer durchschnittlichen Größe von
20–100 nm in Zahnpasten und Mundspüllösungen angeboten, die an-
geblich derartige Nanodefekte reparieren können. Allerdings stehen zur
remineralisierenden Wirkung auch für diese Präparate randomisierte,
prospektive Langzeitstudien aus. Es sei deshalb an dieser Stelle noch ein-
mal darauf hingewiesen, dass ein unbedachter Einsatz nicht fluoridhal-
tiger Produkte für die Remineralisation initialer Kariesläsionen nicht
empfehlenswert ist.
4.6 Konsequenzen für die Therapie Kapitel 4 163
4.6 Konsequenzen für die Therapie
Die Kenntnis, dass unter dem Einsatz von Fluoriden in der Kariespro-
phylaxe bei niedrigem und mittlerem Kariesrisiko (Patienten mit weni-
gen offenen kariösen Läsionen, hoher Speichelpufferkapazität und
-fließrate, guter Compliance, Einschränkung kariogener Zwischenmahl-
zeiten und optimaler Interdentalraumhygiene) kariöse Initialläsionen
nicht weiter fortschreiten und z.T. remineralisieren bzw. arretieren kön-
nen, hat Konsequenzen bezüglich der Therapie. 4
Man wendet sich heute von dem Prinzip „Nur eine Füllung schützt
vor weiterer Karies“ ab zugunsten einer primär atraumatischen Behand-
lung bzw. minimalinvasiven Therapie mit entsprechender Kontrolle der
kariesgefährdeten Flächen.
Dabei gilt es natürlich auch, eine entsprechende präventive Über-
therapie zu vermeiden. Es ist daher erforderlich, auch in diesem Bereich
eine Ermittlung der notwendigen individuellen Prophylaxemaßnah-
men in der Zahnarztpraxis vorzunehmen (Abb. 4.15).
Befunderhebung
Kariesbefall inkl. Initialkaries
MH-Indizes
Ernährungsanamnese
Fluoridanamnese
relativ günstige ungünstige
Prognose Prognose
zusätzlich
Speicheltests und
weitere Untersuchung
zur Bestimmung
der Kariesaktivität
relativ günstige ungünstige
Prognose Prognose
Basisprophylaxe Intensivprophylaxe
häusliche Mundhygiene MH-Instruktion
inkl. Fluoridierung Fluoridierung
Fissurenversiegelung Ernährungsberatung
2 Kontrolltermine/Jahr Fissurenversiegelung
zur Remotivation und CHX-Therapie
Lokalfluoridierung häufiger Recall
regelmäßige Neubeurteilung
Abb. 4.15: Bestimmung der Notwendigkeit von individuellen Prophylaxemaßnah-
men in der zahnärztlichen Praxis
164 4 Kariesprophylaxe
Keine restaurative Maßnahme ist im eigentlichen Sinne eine hei-
lende Maßnahme. Durch Karies, Erosion oder Zahnhartsubstanz-
abnutzung verloren gegangene Zahnhartsubstanz (und damit ver-
bunden auch immer gesunde Zahnhartsubstanz) wird nicht durch
körpereigenes Gewebe ersetzt. Zudem gibt es kein Restaurationsma-
terial, das zeitlebens die Zahnhartsubstanz randdicht vor weiteren
destruktiven Prozessen schützt.
Das Prinzip einer medizinisch eingebetteten Zahnheilkunde muss also
in erster Linie Schutz vor Destruktion sein, in zweiter Linie minimalin-
vasive Frühbehandlung, und erst zum Schluss als Ultima ratio kann die
Restauration stehen, die zudem wieder unter dem Gesichtspunkt der
Tertiärprophylaxe durchzuführen ist.
Aus allen bekannten Untersuchungen wird deutlich, dass zudem
Frühläsionen mit den Maßnahmen der Primärprävention kontrolliert
werden können. Dabei kann der Zahnarzt aus der Untersuchung seiner
Patienten durchaus beurteilen, wie es um dessen Kariesaktivität steht,
um adäquate Behandlungsmaßnahmen einzuleiten. Ärztliche Hand-
lungsweise hängt in großem Maße davon ab, wie gut und wie lange
man seine Patienten schon kennt. Insofern lassen sich nur begrenzt all-
gemeingültige starre Behandlungsrichtlinien formulieren. Mechanisti-
sche Denkweisen verhindern zudem die Anpassung der medizinischen
Behandlung an sich verändernde Lebenssituationen der Patienten.
Kapitel 5 165
5 Grundlagen der invasiven Therapie
! Kann durch nicht invasive Maßnahmen die kariöse Zerstörung ei-
nes Zahnes nicht verhindert werden oder wird bereits eine mani-
feste, behandlungsbedürftige Karies diagnostiziert, so muss die ka- 5
riöse Zahnhartsubstanz entfernt werden.
Der resultierende Defekt wird mit einem adäquaten Füllungsmaterial Invasive Karies-
restauriert. Auch andere Zahnhartsubstanzschäden können bei entspre- therapie
chender Indikationsstellung restaurativ angegangen werden. Die Fül-
lung wird i.d.R. nach Präparation einer Kavität in den Zahn eingeglie-
dert. Sie soll die ursprüngliche Form des Zahnes wiederherstellen.
Zudem soll der defekte Zahnbereich wieder mit üblichen Mundhygiene-
hilfsmitteln gereinigt werden können (Wiederherstellung der Hygiene-
fähigkeit). Die Präparation der Kavität muss möglichst zahnhartsub-
stanzschonend erfolgen. Gleichzeitig soll jedoch die Restauration dau-
erhaft verankert werden können. Sie darf das marginale Parodont, die
Pulpa und den Gesamtorganismus nicht schädigen und zudem soll der
Entstehung einer neuen Karies vorgebeugt werden.
Das Ziel der restaurativen Zahnheilkunde ist es, gesunden Schmelz
und Dentin zu erhalten und die Pulpa zu schützen. Gleichzeitig sollten
die Zahnform und die Zahnfunktion (Zahnform, Approximalkontakt
und Okklusion) wiederhergestellt werden. Als zusätzliche Forderung
wird heute im sichtbaren Bereich eine möglichst unsichtbare Restaura-
tion (ästhetische Zielvorgaben) angestrebt.
5.1 Allgemeine Präparationstechnik
Black teilte in Anlehnung an die Kariesprädilektionsstellen die Kavitä- Klassifikation Prä-
ten in fünf Klassen ein: dilektionsstellen
D Klasse I: Kavitäten im Bereich der Grübchen und Fissuren
D Klasse II: Kavitäten im Bereich approximaler Flächen im Seitenzahn-
bereich
D Klasse III: Kavitäten im Bereich der Approximalflächen von
Schneide- und Eckzähnen, wobei die inzisale Kante intakt bleibt
D Klasse IV: Kavitäten im Bereich der Approximalflächen von
Schneide- und Eckzähnen unter Einbeziehung der Schneidekante
D Klasse V: Kavitäten der bukkalen und lingualen Glattflächen, meis-
tens im gingivalen Drittel der Zahnkrone liegend (Abb. 5.1)
166 5 Grundlagen der invasiven Therapie
Klasse I Klasse II
Klasse III Klasse IV Klasse V
Abb. 5.1: Einteilung der Kavitäten in 5 Klassen (nach Black)
Primär- Es gibt im Prinzip drei Möglichkeiten der Verankerung von Restaurati-
präparation onsmaterialien im Zahn: Makroretentive, mikroretentive und che-
misch-adhäsive Restaurationstechnik. Selbstverständlich sind auch
Mischformen möglich. Bei der Kavitätenpräparation für rein makrore-
tentiv verankerte Restaurationen mit konventioneller Präparation sind
die von Black postulierten Präparationsregeln in modifizierter Form ein-
zuhalten.
Bei der Primärpräparation sind Umrissform, Widerstandsform, Re-
tentionsform, Erleichterungsform und Extensionsform zu beachten.
Die Umrissform (und Extensionsform) wird in erster Linie durch die
Ausdehnung der Karies und die Auswahl des Restaurationsmaterials vor-
gegeben.
Das Ziel Blacks, die Präparationsränder in die Zone der natürlichen
Selbstreinigung bzw. in kariesimmune Bereiche zu legen („extension for
prevention“), ist heute nur noch eingeschränkt gültig. Man ist heute be-
müht, die Kavitätenränder in Bereiche zu legen, die der Mundhygiene
zugänglich sind. Dabei muss besonders der Lage des approximal-zervi-
5.1 Allgemeine Präparationstechnik Kapitel 5 167
kalen Randes der Restauration Beachtung geschenkt werden. Es wird an-
gestrebt, die Präparationsgrenze in diesem Bereich supra- bzw. äquigin-
gival zu legen, um der Entstehung von Parodontopathien vorzubeugen.
Durch die Widerstandsform soll gewährleistet sein, dass weder die
Restauration noch die Zahnhartsubstanz unter der Kaubelastung fraktu-
rieren.
Durch die Retentionsform einer Kavität soll verhindert werden,
dass die Restauration durch Abzugskräfte verloren geht.
Die Erleichterungsform soll in erster Linie gewährleisten, dass die
Karies leicht entfernt und die Restauration problemlos in die Kavität
eingebracht werden kann. 5
Zur Primärpräparation gehört auch das Entfernen der Karies (Exka-
vieren).
Die Präparationsregeln von Black sind bei Anwendung mikroreten-
tiver und chemisch-adhäsiver Verfahren, aber auch für einzelne makro-
retentive Verfahren, abhängig vom Restaurationsmaterial und -typ,
modifiziert worden. Auf Details und Abweichungen von den ursprüng-
lichen Präparationsformen wird in den einzelnen Kapiteln zur Füllungs-
therapie eingegangen. Ein Grundprinzip dieser häufig auch als mini-
malinvasiv bezeichneten Präparationstechnik ist die weitestgehende
Schonung gesunder Zahnhartsubstanz, d.h. ihre Defektorientierung.
Werden minimalinvasive Präparationsverfahren mit der Adhäsiv-
technik kombiniert, so ergeben sich neue Kavitätenkonfiguratio-
nen, die sich nicht immer an der Einteilung von Black orientieren.
Es gibt aber bisher keine allgemein gültige neue Einteilung, die alle
möglichen Präparationsformen festen Kategorien zuordnet.
Die invasive Kariestherapie setzt eine genaue Kenntnis der Zahn-
hartgewebe, der Pulpa und deren Reaktionspotenzial voraus. So be-
stimmt gesunder Zahnschmelz im Randbereich der Kavität die Art der
Präparationsinstrumente, die Arbeitsweise dieser Instrumente, die Kavi-
tätenform und deren Randgestaltung. Die Lokalisation, Größe und
Form der Kavität wird zusätzlich von der Lage und Größe des kariösen
Defekts bestimmt.
Bei der Kavitätenpräparation entstehen definierte Flächen und
Grenzbereiche, in denen diese Flächen aneinander stoßen. Im Einzel-
nen unterscheidet man bei einer standardisierten mehrflächigen Seiten-
zahnkavität die in der Abbildung 5.2 aufgezeigten Flächen.
Im Rahmen der Primärpräparation wird, wie bereits erwähnt, die Ka- Hilfsmittel zur
ries entfernt. Dies kann mit langsam rotierenden Werkzeugen (Rosen- Kariesentfernung
bohrer) oder Handinstrumenten (Löffelexkavatoren) erfolgen. Dabei
sollten i.d.R. entkalkter opaker Schmelz und erweichtes Dentin voll-
ständig entfernt werden.
Im Bereich der Kavitätenränder und an der Schmelz-Dentin-Grenze
wird häufig Karies bzw. demineralisiertes Zahnhartgewebe übersehen.
168 5 Grundlagen der invasiven Therapie
distale linguale
Kavitätenwand Kavitätenwand
Kavitätenboden Zahnoberfläche
linguale
Kavitätenrand Extensionsfläche
pulpale gingivale
(pulpoaxiale) (zervikal-approximale)
Kavitätenwand Stufe
Abb. 5.2: Anatomische Details einer Klasse-II-Kavität
Hier kann eine 1%ige Säurerotlösung in Propylenglykol (Kariesdetek-
tor) hilfreich sein. Diese Lösung färbt im kariösen Gebiet die Zone der
Nekrose und Penetration an, während die Zone der Demineralisation,
„dead tracts“, die Zone des sklerotischen Dentins und unverändertes
Dentin nicht angefärbt werden. Allerdings gibt es diesen postulierten
scharfen Übergang von der Zone der Penetration zu der Zone der Demi-
neralisation klinisch nicht, sodass bei vollständiger Entfernung des ge-
samten angefärbten Dentins möglicherweise eine Überexkavation resul-
tiert, die in Pulpanähe vermieden werden sollte. Üblicherweise wird kli-
nisch jedoch bei der Kariesentfernung mit spitzer Sonde und leichtem
Druck überprüft, ob das verbliebene Dentin hart ist (Abb. 5.3). Mehrere
Studien zeigen, dass in einem solchen Fall mit der Härte des gesunden
Dentins Bakterienfreiheit erreicht wird.
Knoop-
Härte
äußeres inneres gesundes inneres Pulpa
kariöses Dentin kariöses Dentin Dentin
infiziert nicht infiziert
nicht remine- remine-
60 ralisierbar ralisierbar
verfärbtes trans-
50 parente
Dentin
Zone
40 Zone der
bakteriellen
Penetration
30
20
Schmelz- 1 mm 2 mm 3 mm
Dentin-
Grenze
Exkavation keine Exkavation
Abb. 5.3: Schematische Darstellung der Knoophärte im kariösen Dentin. Die
Kariesexkavation sollte die Zone der bakteriellen Penetration mit einschließen.
Verfärbtes Dentin kann belassen werden. Klinisch ist es bisher nicht möglich,
diese Grenze genau zu definieren (nach Ogawa et al. 1983).
5.1 Allgemeine Präparationstechnik Kapitel 5 169
Verfärbtes, jedoch sondenhartes Dentin darf in der Kavität belassen
werden.
Allerdings wird bei einem solchen Vorgehen auch gesundes oder remi-
neralisierbares Dentin entfernt und gerade bei Zähnen jugendlicher Pa-
tienten besteht bei tiefen Kariesläsionen die Gefahr einer Pulpaeröff-
nung. Dentin kann remineralisieren, wenn die Tertiärstruktur des Kolla-
gens intakt ist und Kristallisationskeime vorhanden sind. Daher reicht
eine Exkavation bis zum Übergang von denaturiertem zu intaktem Kol-
lagen eigentlich aus. Doch diese Grenze ist klinisch kaum zu erkennen. 5
Daher war man bemüht, Hilfsmittel zu entwickeln, mittels derer eine
Überexkavation vermieden werden kann. Dazu gehören verschiedene
Fluoreszenzverfahren (z.B. Vistaproof, SIROInspect), mit denen kariöse
Bereiche zu einer stärkeren Fluoreszenz angeregt werden als gesunde Be-
reiche. Dabei werden Fluorophore durch eine energiereiche Lichtstrah-
lung definierter Wellenlänge (z.B. 405 nm) angeregt. Derartige Fluoro-
phore sind z.B. Porphyrine, die sich in bakteriell besiedelten Gebieten
anreichern. Sie nehmen die Lichtenergie auf und ein Teil der Energie
wird dann mit einer anderen Wellenlänge (andere Farbe) wieder abge-
strahlt. Es ist also möglich, mit einem derartigen Verfahren die Exkavak-
tion zu kontrollieren. Bei einem aktiven fluoreszenzkontrollierten Sys-
tem wird die Exkavation mit einem speziellen Winkelstück und Rosen-
bohrer gestoppt, wenn der entsprechende fluoreszierende Bereich im
Dentin entfernt wurde.
Daneben gibt es Rosenbohrer aus Polymeren (smart bur), die nicht
mehr schneiden, wenn sie auf Dentin einer bestimmten Härte (ca. 60%
des gesunden Dentins) treffen. Sie sollen insbesondere bei weicher, pul-
panaher Karies eingesetzt werden, wenn der entsprechende Zahn symp-
tomlos ist, um eine Pulpaeröffnung zu vermeiden.
Als weiteres Hilfsmittel zur Kariesentfernung gibt es eine eingefärbte
Lösung, welche die kariöse Zahnhartsubstanz anlöst (Carisolv), sodass
sie anschließend relativ leicht mit entsprechenden Handinstrumenten
entfernt werden kann. Diese Lösung besteht aus 5%igem Natriumhypo-
chlorit und drei Aminosäuren (Glutamin, Leucin, Lysin, Natriumchlo-
rid, Erythrosin [E127], CMC, Wasser, Natriumhydroxid, pH = 11). An-
dere Lösungen mit ähnlichem Anspruch enthalten Pepsin oder Papain.
Mit diesen minimalinvasiven Ansätzen lassen sich sicherlich Über-
exkavationen und zahlreiche überflüssige Pulpaeröffnungen vermei-
den. Allerdings wird eine demineralisierte, nicht entfernte Dentinzone
im Röntgenbild als Aufhellung sichtbar sein und möglicherweise als Ka-
riesrezidiv interpretiert werden.
Der Kavitätenzugang muss weiterhin mit den üblichen rotierenden
Instrumenten hergestellt werden und pulpafernes Dentin lässt sich ra-
scher mit den üblichen Hartmetall- oder Keramikrosenbohrern entfer-
nen. Zudem ist bis heute nicht geklärt, ob die Reparaturmechanismen
170 5 Grundlagen der invasiven Therapie
der Pulpa (Tertiärdentinbildung, Sklerose der Dentinkanälchen) bzw.
die Remineralisation des Dentins z.B. durch die Anwendung entspre-
chender Kalzium-Phosphat-Zemente nach der Exkavation schnell ge-
nug eingreifen und ausreichend sind, um die Penetration möglicher
bakterieller Toxine und schädlicher Abbauprodukte der Dentinmatrix
in die Pulpa zu verhindern (s. Kap. 5.4). Es gibt zudem Hinweise darauf,
dass Matrix-Metallo-Proteinasen (MMP) bei einer Dentinkaries Kollagen
zerstören. Verbleiben diese Moleküle nach der Exkavation, können sie
möglicherweise die Hybridschicht auflösen, die durch die Anwendung
von Adhäsivsystemen im Rahmen der Füllungstherapie mit Komposi-
ten für die mikromechanische Retention der Füllung verantwortlich ist.
Sekundär- Grundsätzlich kommt es bei der Primärpräparation mit höchsttouri-
präparation gen Instrumenten zu Gefügeerschütterungen und Aussprengungen im
Schmelz des Kavitätenrandbereichs. Deshalb muss ein Nachbearbeiten
der Schmelzränder mit superfeinen Diamantfinierern bei mittleren bis
hohen Umdrehungszahlen bzw. Handinstrumenten oder oszillierenden
Instrumenten erfolgen. Diese Maßnahme erfolgt im Rahmen der Sekun-
därpräparation. Dabei werden die Kavitätenwände und -ränder geglät-
tet. Bei Kavitäten für Restaurationen, bei denen eine Unterfüllung gelegt
wird, erfolgt die Sekundärpräparation erst im Anschluss an diese Maß-
nahme. Die Sekundärpräparation für adhäsiv befestigte Restaurationen
ist in dem jeweiligen Kapitel beschrieben.
5.2 Präparationsinstrumentarium
! Für die Präparation und die Fertigstellung einer Kavität steht eine
Vielzahl unterschiedlicher Instrumente zur Verfügung. Man kann
diese grob in Handinstrumente, rotierende Instrumente und os-
zillierende Instrumente einteilen (Tab. 5.1).
5.2.1 Rotierende Instrumente
Rotierende Instrumente werden in Hand- und Winkelstücken bei unter-
schiedlichen Drehzahlen eingesetzt. Die einzelnen Arbeitsschritte bei
der Kavitätenpräparation und der Ausarbeitung und Politur der Restau-
rationen erfordern unterschiedliche Instrumente und unterschiedliche
Drehzahlen. Es gilt dabei die Maximaldrehzahl für bestimmte rotierende
Instrumente zu beachten (siehe Herstellerangaben). Außerdem ist zu be-
rücksichtigen, dass bei hohen Umdrehungszahlen und starkem Druck
erhebliche Wärme entstehen kann, die wiederum schädliche Auswir-
kungen auf die vitale Pulpa haben kann. Deshalb ist hier besonders auf
eine gute Wasserkühlung und tupfende Arbeitsweise zu achten.
Drehzahlen Man unterscheidet höchsttourige (120 000–400 000 Umdrehungen
pro Minute), hochtourige (20 000–45 000 Umdrehungen pro Minute),
5.2 Präparationsinstrumentarium Kapitel 5 171
Tab. 5.1: Instrumentarium für die Kavitätenpräparation (nach Heidemann 1998)
Antriebe Drehzahlen Rotierende Instrumente
Primärpräparation
Turbine bis 400 000 U/min Diamantschleifer
Schnelllauf-Winkelstücke Hartmetallfräsen
• rot oder orange markiert (mit
Wasserkühlung)
Kariesentfernung
Winkelstücke bis 4500 U/min Rosenbohrer
• grün markiert Fissurenbohrer
• (ohne Wasserkühlung) Kegel 5
Sekundärpräparation
Winkelstücke
• grün markiert (trocken) bis 10 000 U/min feinkörnige Diamanten
Hartmetallfinierer
• blau markiert (Wasserkühlung) bis 45 000 U/min Arkansassteinchen
Zusätzlich werden Handinstrumente (Schmelzmeißel, Gingivalrandschräger
u.a.), oszillierende und ultraschallgetriebene Instrumente verwendet.
mitteltourige (4500–45 000 Umdrehungen pro Minute) und niedrigtou-
rige (500–4500 Umdrehungen pro Minute) Drehzahlbereiche.
Während Turbinen im Bereich der höchsttourigen Instrumente ar-
beiten, kann durch unterschiedlich übersetzte Winkelstücke mit Mikro-
motoren der Drehzahlbereich von 500–160 000 U/min abgedeckt wer-
den.
Während die Primärpräparation und das Finieren von Kavitäten-
wänden im hoch- und höchsttourigen Drehzahlbereich erfolgt,
werden die Exkavation, das Finieren und Anschrägen von Schmelz-
rändern sowie die Politur der Restaurationen im niedrig- und mit-
teltourigen Bereich vorgenommen.
Mikromotoren lassen sich über Fußschalter, elektronische Tastaturen
und Handschalter in ihrer Drehzahl regulieren.
Man unterscheidet bei den rotierenden Instrumenten Bohrer, Bohrer
Schleifer, Steine, Scheiben und schleifmittelbelegte Silikon- bzw. Gum-
mipolierer. Bohrer sind schneidende Werkzeuge (eigentlich Fräsen), die
aus Stahl oder Hartmetall (Wolframkarbid) gefertigt werden. Die Schnei-
den können gerade, gewendelt oder kreuzverzahnt sein. Auch die An-
zahl der Schneiden kann verschieden sein. Zu dieser Gruppe zählen u.a.
Rosenbohrer, Hartmetallbohrer/-finierer und Fissurenbohrer. Es gibt
auch Rosenbohrer aus Zirkondioxid.
Schleifinstrumente sind Stahlinstrumente, an denen Diamantsplit- Schleif-
ter mit definierter oder nicht definierter Körnung gebunden sind. Aber instrumente
auch andere Schleifmittel (z.B. Aluminiumoxid, Siliziumkarbid usw.)
172 5 Grundlagen der invasiven Therapie
können auf Scheiben oder Gummipolierern befestigt sein und zum Po-
lieren und Finieren verwendet werden. Die Größe und Anordnung der
Abrasivstoffe und Schneiden ist maßgebend für die Schneid- bzw.
Schleifleistung und den Glättungseffekt der einzelnen Instrumente.
Bohrer und Schleifer gibt es in unterschiedlichen Formen. Die ge-
bräuchlichsten sind Rosenbohrer, Zylinder, Kegel, umgekehrter Kegel,
kugelförmige, konische, birnenförmige, flammenförmige und torpedo-
förmige Bohrer und Schleifer. Grundsätzlich wird ab Drehzahlen von
4500 aufwärts immer mit Wasser präpariert und geschliffen.
Beim Einsatz des rotierenden Instrumentariums ist auf eine gute
Abstützung zu achten, um bei Ausweichbewegungen des Patienten
Verletzungen der Weichteile zu vermeiden und Präparationsfehlern
vorzubeugen.
5.2.2 Handinstrumente
Bei der Kavitätenherstellung finden heute nur noch wenige Handinstru-
mente Anwendung.
Kariesentfernung So werden Exkavatoren (löffelförmige, scharfe Instrumente) zur Ka-
riesentfernung verwendet.
Finieren Gingivalrandschräger und Schmelzmeißel sowie hauenförmige
Instrumente finden beim Finieren der Kavitätenränder und dort, wo ro-
tierende Instrumente Schäden an den Nachbarzähnen erzeugen könn-
ten, Anwendung.
Die Handinstrumente sind oft paarig ausgelegt (mesial, distal). Ihre
Handhabung wird bei den einzelnen Kavitätenklassen beschrieben.
Es dürfen nur scharfe Handinstrumente angewendet werden, d.h.,
sie müssen regelmäßig nachgeschliffen werden. Auch bei der Anwen-
dung der Handinstrumente ist eine sichere Abstützung derjenigen
Hand, welche die Instrumente führt, absolut notwendig.
5.2.3 Oszillierende und ultraschallgetriebene Instrumente
Nach zahnhartsubstanzschonender Präparation mehrflächiger Kavitä-
ten im Seitenzahnbereich verbleiben oft im Bereich der Extensionsflä-
chen und an der approximal zervikalen Stufe Schmelzbereiche, die sich
ohne Schädigung des Nachbarzahnes mit rotierenden Instrumenten
nicht beseitigen lassen.
Oszillierende Mit oszillierenden Instrumenten, z.B. diamantierten Feilen, die in
Instrumente einem speziellen Winkelstück befestigt werden (PrepControl), lassen
sich diese Schmelzpartien sauber und glatt entfernen. Da die Feilen nur
einseitig mit Diamantsplittern belegt sind, wird der Nachbarzahn nicht
beschädigt. Der Hub des Winkelstückkopfes beträgt dabei 0,4 mm, die
5.2 Präparationsinstrumentarium Kapitel 5 173
Feilen gibt es in unterschiedlichen Körnungen (25 mm, 40 mm). Die os-
zillierenden Instrumente sind eine Alternative zu den üblichen Handin-
strumenten für die Kavitätenrandbearbeitung.
Für die Primärpräparation im Rahmen minimalinvasiver Therapie Sonoerosives -
und zum Abschrägen von Kavitätenrändern eignet sich auch ein soge- Verfahren
nanntes sonoerosives Verfahren, bei dem speziell geformte, selektiv be-
legte Diamantansätze in einem speziellen luftgetriebenen Handstück in
Schwingungen versetzt werden.
Mit diesen Instrumenten kann eine Nachbarzahnverletzung weitest-
gehend vermieden werden. Diese Instrumente sind jedoch nicht univer-
sell einsetzbar, da im Vergleich zu herkömmlichen Schleifinstrumenten 5
ein geringerer Substanzabtrag erfolgt und zudem keine Füllungen ent-
fernt werden können.
5.2.4 Andere Präparationsverfahren
Laserpräparation spielt bisher in der Zahnerhaltung nur eine unterge- Laserpräparation
ordnete Rolle, da der Zahnhartsubstanzabtrag geringer ist als beim Ein-
satz rotierender Instrumente. Zudem lassen sich Füllungsmaterialien
mit der Lasertechnologie noch nicht aus einer Kavität entfernen.
Unter kinetischer Kavitätenpräparation versteht man die Bearbei- Kinetische Kavitä-
tung von Zahnhartsubstanzen mit Pulverstrahlgeräten, bei denen Alu- tenpräparation
miniumoxidpartikel (Al2O3) in einer Größe von 27–50 µm hoch be-
schleunigt werden. Die Kavitätenpräparation erfolgt wie beim Einsatz
des Lasers berührungslos. Ähnlich wie beim Laser lassen sich jedoch
auch mit dieser Technik nicht alle Kavitätenformen präparieren. Insbe-
sondere größere Kavitäten und die Entfernung von Füllungsmaterialien
stellen weiterhin Probleme dar.
Sowohl beim Einsatz von Laser als auch bei der Anwendung von Nachteile
Sandstrahlgeräten müssen Patient, Zahnarzt und Hilfspersonal ge-
schützt werden (z.B. Augenschutz). Bei beiden Präparationstechniken
müssen die erzielten Kavitäten i.d.R. mit rotierenden Instrumenten
nachgearbeitet werden.
Bei beiden Präparationsverfahren fehlt die taktile Kontrolle wäh-
rend der Präparation. Der Einsatz beider Verfahren ist daher auf die
Behandlung kleiner, primärer Kariesläsionen im Approximalbe-
reich der Frontzähne, der Fissuren und der Glattflächen (Klasse-I-,
-III- und -V-Kavitäten) begrenzt.
174 5 Grundlagen der invasiven Therapie
5.3 Finieren und Kavitätentoilette
! Kavitäten müssen finiert werden, um einen günstigen Kavitäten-
rand zu erhalten, an dem das Füllungsmaterial in einem Winkel
von 90–118° endet.
Finieren Es handelt sich dabei um Idealvorstellungen, bei denen sowohl der Ka-
vitätenrandbereich als auch das Füllungsmaterial eine optimale Wider-
standskraft gegenüber Kaudruck aufweisen. Beim Finieren werden ge-
lockerte und von Dentin nicht mehr unterstützte Schmelzbereiche ent-
fernt. Zudem werden die Präparationsgrenzen genau definiert. Im
Frontzahnbereich gilt dieses Prinzip nur noch eingeschränkt, da hier die
einwirkenden Kräfte geringer sind als im Seitenzahnbereich.
Kavitäten- Im Anschluss an die Präparation werden Blut-, Dentin- und
reinigung Schmelzreste mit Wasserspray entfernt. Mit Chlorhexidindiglukonat
(0,2%), Wasser oder physiologischer Kochsalzlösung und Wattepellets
wird eine zusätzliche Kavitätenreinigung vorgenommen. Andere desin-
fizierende Medikamente sind zur Kavitätentoilette nicht erforderlich.
Zudem ist ihre Pulpafreundlichkeit nicht gewährleistet. Anschließend
erfolgt eine kurze Trocknung der Kavität, die jedoch nicht zur Dehy-
drierung und damit Pulpaschädigung führen sollte.
Schmierschicht Nach der Präparation der Zahnhartgewebe entsteht auf dem Dentin
eine Schmierschicht (smear layer) aus Zelltrümmern, Bakterien, Zahn-
hartgewebetrümmern, Dentinliquor u.a. Diese Schmierschicht ist zwi-
schen 1 und 5 µm dick und nicht mit Wasserspray oder Wattepellets zu
entfernen. Die Erfahrung lehrt, dass sie bei zahlreichen Restaurations-
techniken auch nicht entfernt werden muss. Sie schützt vor Eindringen
von Füllungsmaterialbestandteilen, wie z.B. Monomeren bei Komposit-
füllungen oder Quecksilber bei Amalgamfüllungen. Andererseits kann
die Schmierschicht natürlich eine gute Adaptation bestimmter Restau-
rationsmaterialien verhindern.
Bei modernen Restaurationstechniken in der Zahnerhaltung (Adhä-
sivtechnik) wird die Schmierschicht teilweise oder vollständig mit
Komplexbildnern bzw. Säuren entfernt oder sie wird modifiziert,
um eine bessere Benetzung der Dentinoberfläche zu erreichen.
5.4 Auswirkungen der Präparation auf die Pulpa-Dentin-
Einheit
! Die Kavitätenpräparation hat Auswirkungen auf die Pulpa-Den-
tin-Einheit. Die Reizintensität hängt von der Dicke des verblei-
benden Dentins, der Art der rotierenden Werkzeuge und deren
Drehzahlbereich, der Effektivität der Spraykühlung und der Nach-
behandlung (wie Trocknung, Kavitätentoilette u.a.) ab.
5.5 Indirekte Überkappung – CP-Behandlung mit Kalziumhydroxidpräparaten Kapitel 5 175
Werden physiologische Reize überschritten, so kann es zu einem
Trauma kommen, das zu einer Odontoblastenaspiration und/oder Ver-
lagerung von Erythrozyten in die Dentinkanälchen führt.
Die Aspiration der Odontoblastenzellkerne ist Ausdruck einer
Flüssigkeitsverschiebung aus der Pulpa in Richtung Peripherie durch
z.B. ungenügende Kühlung oder Austrocknung des Dentins.
Ist der Reiz nur kurz und wenig traumatisch, heilt die Pulpa norma-
lerweise wieder aus. Bei wiederholtem Reiz und/oder extremen Reizen
kann sich aber eine Pulpitis oder Nekrose entwickeln, die zum Unter-
gang des gesamten Pulpengewebes führt.
Ist nach Exkavation der Karies nur noch eine geringe Dentinschicht 5
vorhanden, so kann eine indirekte Überkappung (CP-Behandlung)
durchgeführt werden.
5.5 Indirekte Überkappung – CP- (Caries profunda-)
Behandlung mit Kalziumhydroxidpräparaten
! Nach einer Stellungnahme der DGZMK versteht man unter einer
CP-Behandlung die Versorgung einer bis in das pulpennahe Den-
tin reichenden Kavität zum Schutz des vitalen Zahnmarks nach
Entfernung einer tiefen Karies (auch indirekte Überkappung ge-
nannt). Das Ziel ist, die Pulpa vor exogenen Noxen zu schützen
und sie gesund zu erhalten oder die Voraussetzung für die Heilung
einer reversiblen Entzündung zu schaffen.
Das erweichte, infizierte Dentin wird exkaviert (evtl. Kontrolle mit ge-
eigneten Maßnahmen).
Das verbliebene Dentin kann verfärbt sein, muss jedoch auf Sonden-
härte überprüft werden. Diese Überprüfung kann auch mit einem schar-
fen Exkavator vorsichtig vorgenommen werden.
Bei der Exkavation einer Caries profunda werden Dentinbezirke frei- Indirekte Über-
gelegt, die aufgrund der anatomischen Struktur des Dentins besonders kappung
durchlässig sind. Da viele Restaurationsmaterialien irritierend auf die
Pulpa wirken können, wird empfohlen, diese Bezirke mit einem erhär-
tenden Kalziumhydroxid- oder Kalziumsilikatpräparat (im Engl. „sub-
base“) zur Schonung der Pulpa abzudecken, welches sowohl eine akute
Reaktion der Pulpa-Dentin-Einheit verhindern als auch einen reparati-
ven Prozess auslösen soll.
Als Kalziumsilikatzement kommen Mineral-Trioxid-Aggregat
(MTA) oder andere Zemente in Betracht. Mineral-Trioxid-Aggregat be-
steht als Derivat des Portlandzementes aus Trikalziumsilikat, Trikal-
ziumaluminat, Kaliumoxid und Siliziumoxid. Daneben sind andere mi-
neralische Oxide, wie z.B. Wismutoxid zur Erhöhung der Radioopazität,
enthalten. Das Pulver wird mit destilliertem Wasser in einem Mi-
schungsverhältnis von 3 : 1 (1 g MTA : 0,35 g H2O) angemischt. Zunächst
176 5 Grundlagen der invasiven Therapie
entsteht ein kolloidartiges Gel, welches innerhalb von zwei bis drei
Stunden aushärtet und danach nicht mehr löslich ist. Auch bei MTA
wird Kalziumhydroxid während der Aushärtereaktion ins Dentin freige-
setzt, wobei allerdings die Pulpareaktion auf MTA rascher einsetzt und
gleichzeitig weniger entzündliche Reaktionen hervorrufen soll.
Während Kalziumhydroxidpräparate und MTA zur punktuellen Ab-
deckung der tiefsten Bereiche nach einer Exkavation empfohlen wer-
den, werden neuere Zemente auch zum Auffüllen des gesamten entfern-
ten Dentinbereichs propagiert (z.B. Biodentine).
Anschließend wird die Kavität definitiv mit ggf. einer Unterfüllung
und einer Restauration verschlossen. Im Rahmen der Adhäsivtechnik
bei der Restauration mit Kompositen wird häufig auf eine Unterfüllung
verzichtet, dann muss allerdings darauf geachtet werden, dass die appli-
zierte Säure die tiefsten Stellen der Kavität ausspart (Abb. 5.4).
Als weiterer Grund für diese Form der indirekten Überkappung wird
angegeben, dass manchmal auch nach sorgfältigster Exkavation nicht
mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass nicht doch
noch infiziertes Dentin zurückgeblieben ist.
Vorgehen Das klinische Vorgehen in Stichworten:
indirekte D vollständige Exkavation des kariösen Dentins
Überkappung D Aufbringen einer dünnen Schicht eines erhärtenden Kalziumhydro-
xid- oder Kalziumsilikatpräparats auf die pulpanahen Bezirke
D Unterfüllung
D Deckfüllung
Es wird in regelmäßigen Abständen eine Nachkontrolle (Vitalitätsprobe,
Inspektion, Perkussion) durchgeführt. Die Prognose ist bei richtiger In-
dikationsstellung gut.
Bei Anzeichen einer Pulpanekrose wird eine Wurzelkanalbehand-
lung eingeleitet. Kann die Kavität nicht korrekt verschlossen werden
Abb. 5.4: Versorgung einer
Restauration Kavität nach Exkavation ei-
ner Caries profunda (Cp-Be-
handlung, indirekte Über-
Unterfüllung
kappung). Als Überkap-
pungsmaterial wird
Kalzium- punktuell an der tiefsten
hydroxid- Stelle der Kavität ein Kalzi-
Präparat umhydroxidmaterial (sub-
base) aufgebracht. Eine Un-
terfüllung (base) deckt das
Pulpa freiliegende Dentin ab. Erst
darüber liegt die Deckfül-
lung.
5.5 Indirekte Überkappung – CP-Behandlung mit Kalziumhydroxidpräparaten Kapitel 5 177
und bestehen Zeichen einer irreversiblen Pulpitis, ist die beschriebene
Behandlungsmethode kontraindiziert.
In der Literatur wird in diesem Zusammenhang eine schrittweise Schrittweise
Entfernung der Karies beschrieben. Dabei wird bei einem symptomlo- Entfernung
sen (schmerzfreien) Zahn nach Teilexkavation im pulpanahen Bereich der Karies
ein möglichst umschriebenes Areal erweichten Dentins belassen und
mit einem Kalziumhydroxid- oder Kalziumsilikatpräparat überdeckt.
Die Kavität wird dann zwischenzeitlich für 2–3 Monate verschlossen,
um eine Reizdentinbildung abzuwarten. Das Präparat soll Folgendes be-
wirken:
D Abtötung verbliebener Mikroorganismen 5
D Neutralisation von Kariessäuren
D Härtung und Austrocknung des erweichten Dentins
D Anregung der von Reaktions- (Sklerosierung der Dentinkanälchen)
und Reparaturdentin (Tertiärdentin)
Nach diesem Zeitraum wird der Zahn auf Sensibilität geprüft, die Res-
tauration wieder entfernt und die Restkaries exkaviert. Anschließend
wird der Zahn mit einer endgültigen Restauration versorgt.
In neueren Studien konnte bestätigt werden, dass es bei Anwendung
dieser Methode sehr viel seltener zur Eröffnung der Pulpa kommt als bei
der einzeitigen Exkavation. Nahezu ausgeschlossen werden kann eine
ungewollte Pulpaeröffnung, wenn in der ersten Sitzung nur das stark er-
weichte Dentin entfernt und nach entsprechender Versorgung erst nach
6–12 Monaten die endgültige Exkavation der Restkaries durchgeführt
wird.
Die schrittweise Kariesentfernung wird hauptsächlich zur Behand-
lung stark kariöser erster Molaren bei jugendlichen Patienten empfohlen.
Das klinische Vorgehen in Stichworten: Klinisches Vorge-
1. Sitzung: hen schrittweise
D klinische und röntgenologische Untersuchung mit Sensibilitätsprü- Kariesentfernung
fung des betroffenen Zahnes
D Exkavation des kariösen Dentins bei Belassung einer kleinen Menge
kariösen Dentins in Pulpanähe
D Auftragen eines weich bleibenden Kalziumhydroxidpräparats auf
das belassene kariöse Dentin
D Unterfüllung
D Deckfüllung
2. Sitzung:
D Sensibilitätsprüfung
D Entfernen der Deckfüllung und Unterfüllung
D Exkavation des belassenen kariösen Dentins
D Abdeckung des pulpanahen Bezirks mit einem erhärtenden Kalzi-
umhydroxid- oder Kalziumsilikatpräparat in dünner Schicht
178 5 Grundlagen der invasiven Therapie
D Unterfüllung
D Deckfüllung
Man ist dabei auf eine hundertprozentige Mitarbeit des Patienten ange-
wiesen. Kommt der Patient nach der ersten Exkavation nicht wieder in
die Praxis, weil er keine Schmerzen verspürt, führt die belassene kariöse
Zahnhartsubstanz möglicherweise zu einem Kariesrezidiv und nachfol-
gend häufig zu einer Pulpitis.
Wirkung von Bei einer indirekten Überkappung wird Kalziumhydroxid oder Kalzi-
Kalziumhydroxid umsilikat eingesetzt, da man eine Alkalisierung des Dentins erreichen
will. Außerdem wirkt Kalziumhydroxid vorübergehend bakterizid.
Durch die Anwendung des Kalziumhydroxids wird die Reaktionslage
der Pulpa verbessert und ein möglicher Säureschub durch eine anschlie-
ßend aufgebrachte saure Unterfüllung aufgefangen.
Kalziumhydroxid ist bis zu einem gewissen Grad wasserlöslich, es
dissoziiert dabei und wirkt alkalisch. Aufgrund der Ionenabgabe besitzt
es einen antimikrobiellen Effekt, der jedoch bei Austrocknung verloren
geht. Gibt man zu einem ausgetrockneten Präparat wieder Wasser
hinzu, so wird die antimikrobielle Wirksamkeit erneut hergestellt.
Mit dem Kohlendioxid der Luft kann Kalziumhydroxid partiell Kal-
ziumkarbonat bilden und damit inaktiviert werden. Wird Kalziumhy-
droxid auf das Dentin aufgebracht, so diffundiert es durch die Dentin-
kanälchen und wirkt bei einer dünnen Dentinschicht auch auf das Pul-
pagewebe. Mit zunehmender Liegedauer kommt es jedoch zu einer
Diffusionshemmung durch Ausfällung schwer löslicher Kalziumsalze in
den Dentinkanälchen.
Sowohl bei Kalziumhydroxidpräparaten als auch bei kalziumsilikat-
haltigen Produkten werden bioaktive Moleküle aus dem Dentin he-
rausgelöst (z.B. TGF β 1). Diese stimulieren den natürlichen Heilungs-
prozess des Zahnes entweder indem sie Odontoblasten aktivieren, die
extrazelluläre Matrix für die Anreicherung von Kalzium und Phosphat
zu stimulieren (direkte Reaktion), oder indem sie nach Diffusion in das
Pulpagewebe entsprechende Vorläuferzellen zu einer Differenzierung in
Odontoblasten anregen, die dann atubuläres Fibrodentin oder sogar
reguläres tubuläres Dentin im Rahmen eines länger andauernden repa-
rativen Prozesses bilden. Außerdem führen die bei dieser Prozedur frei-
gesetzten Kalziumionen zu einer Expression von Osteopontin, Osteocal-
cin und Bone Morphogenetic Protein (BMP-II) durch osteoblastenähnli-
che Zellen und Fibroblasten in der Pulpa. Zudem versucht man, mit
kalziumhaltigen Zementen die Mineralisation von freiliegendem, aber
noch mineralisierbarem Kollagen in der Kavität zu beschleunigen.
Ähnliche Prozesse können auch durch Säuren bzw. EDTA ausgelöst
werden. Dabei ist allerdings die Grenze zwischen stimulierenden und
schädigenden Prozessen auf die Pulpazellen von zahlreichen Faktoren
abhängig, wie z.B. dem Entzündungsgrad der Pulpa, der Dauer und
Stärke der Säurewirkung usw.
5.5 Indirekte Überkappung – CP-Behandlung mit Kalziumhydroxidpräparaten Kapitel 5 179
Suspension Zement
Wasser Säure
Kombinationen
mit verschiedenen Kalziumhydroxid Öle Kitt
Zementen
Monomer Lack
5
lichthärtende
Ca(OH)2-Präparate Liner
Abb. 5.5: Einteilung der verschiedenen Kalziumhydroxidmaterialien nach ihrer Zu-
sammensetzung (nur Hauptbestandteile) (nach Staehle 1990)
Kalziumhydroxid gibt es in unterschiedlichen Präparateformen Präparateformen
(Abb. 5.5).
Wässrige Lösungen (Hypocal, Calxyl) werden aus Kalziumhydro-
xidpulver und Wasser bzw. Kochsalzlösung hergestellt. Das Pulver wird
zum Teil von Herstellern zusätzlich mit Kalziumchlorid, Kaliumchlorid,
Natriumchlorid und Natriumbikarbonat versetzt (Calxyl). Es können
zusätzlich Röntgenkontrastmittel (wie z.B. Titanoxid) beigemischt sein.
Die rein wässrigen Kalziumhydroxid-Lösungen sind zum Teil schlecht
applizierbar. Es wird ihnen deshalb bei industrieller Herstellung ein Ver-
dickungsmittel zugefügt. Fertige Kalziumhydroxid-Lösungen und Kalzi-
umhydroxidpulver müssen in gut verschließbaren Behältern aufbe-
wahrt werden, damit sich kein Kalziumkarbonat durch Einwirkung des
Luftkohlendioxids bildet.
Unter Linern (Hydroxyline, Tubulitec) versteht man Kavitätenlacke,
die mit Kalziumhydroxid versetzt sind.
Kitte (z.B. Gangraena Merz) sind ölhaltige Substanzen, die mit Kal-
ziumhydroxid versetzt sind. Durch Verseifung entstehen bei der Reak-
tion Glyzerin und schwer lösliche Kalziumsalze der Fettsäure. Als Bei-
spiel für ein auf dem Markt befindliches Produkt ist die Verbindung von
Rinderklauenöl mit Kalziumhydroxid zu nennen.
Zemente (Dycal, Kerr-Life) sind Säuren, die mit Kalziumhydroxid
gemischt werden. Es handelt sich bei den gängigen Produkten um einen
Salizylatester, welcher mit Kalziumhydroxid eine Chelatbindung ein-
geht. Es entsteht dabei Kalziumsalizylatzement. Zusätzlich können in
diesen Produkten Füllstoffe, plastifizierende Substanzen (z.B. Ethyltolu-
olsulfonamid) und Farbpigmente enthalten sein. Es handelt sich bei
diesen Zementen meistens um Paste/Paste-Produkte, die nach Zusam-
menrühren aushärten.
Kunststoffpräparate (sog. lichthärtende Kalziumhydroxidpräpa-
rate): Als Hauptbestandteil dieser Präparate ist die Matrixsubstanz Uret-
180 5 Grundlagen der invasiven Therapie
handimethacrylat zu nennen. Man wollte mit diesen Präparaten die
chemische Beständigkeit der Kalziumsalizylatzemente verbessern. Dabei
wurde jedoch die Ionenabgabe so weit herabgesetzt, dass diese Präparate
praktisch keine Kalziumhydroxid-Wirkung mehr aufweisen.
Zahlreiche Untersuchungen konnten zeigen, dass die Kalzium- und
Hydroxylionenabgabe bei den verschiedenen Präparaten unterschied-
lich hoch ist. Bei weich bleibenden Pasten ist sie am größten. Bei den
Zementen ist sie schon erheblich geringer und bei den Linern, Kitten
und Kunststoffpräparaten lässt sich eine Kalzium- und Hydroxylionen-
abgabe kaum noch feststellen.
Auch wenn bei den Kalziumsalizylat-Präparaten von Zementen ge-
sprochen wird, eignen sich diese nicht als Einheitsunterfüllung.
Da sie nur eine geringe Druckfestigkeit aufweisen und sich auch unter
Füllungen auflösen, dürfen sie nur kleinflächig im Bereich der indirek-
ten Überkappung appliziert werden. Unter Kompositfüllungen ließen
sich zudem Farbveränderungen dieser Präparate feststellen, die zu äs-
thetischen Problemen führten. Bei der Anwendung lösungsmittelhalti-
ger Dentinadhäsive (z.B. Azeton) können Kalziumhydroxidpräparate
angelöst werden.
Kombinationen Es gibt außer den genannten Präparaten weitere Kombinationen
von Kalziumhydroxid mit anderen Materialien. Als Beispiel sei hier die
Mischung eines Kalziumsalizylatzements mit Zinkoxid-Eugenol-Zement
(Cp-Cap) genannt. Die Druckfestigkeit dieser Präparate liegt jedoch
nicht über denen des Kalziumsalizylatzements. Sie lassen sich also auch
nicht als Unterfüllungsmaterial verwenden.
Beim Einsatz von Kompositmaterialien in Verbindung mit Adhäsiv-
systemen (totale Adhäsivtechnik) wird auch bei tiefen Kavitäten
häufig auf einen Pulpaschutz mit einem Kalziumhydroxid-Material
verzichtet. Man geht heute davon aus, dass durch den bakterien-
dichten Verschluss der Dentinwunde die Pulpa ausreichend ge-
schützt ist.
5.6 Dentinwundversorgung
! Nach der Exkavation einer Karies und der Präparation einer Kavi-
tät resultiert eine mehr oder weniger große Dentinwunde, die mit
einem geeigneten Dentinwundverband abgedeckt werden muss.
Der Dentinwundverband soll die Pulpa schützen und gleichzeitig
den Ausstrom von Dentinliquor aus den Dentinkanälchen unter-
binden.
5.6 Dentinwundversorgung Kapitel 5 181
Mit zunehmender Tiefe der Kavität nimmt die Wundfläche zu.
Bei tiefen Kavitäten und bei makroretentiv verankerten Restauratio-
nen wird die Wundfläche mit einer Unterfüllung abgedeckt.
Bei der minimalinvasiven Präparationstechnik, speziell in Verbin-
dung mit der Adhäsivtechnik, ist keine Unterfüllung erforderlich.
Die Unterfüllung muss folgende Anforderungen erfüllen: Anforderungen
D Sie soll die Pulpa vor chemischen, thermischen und bakteriellen Rei-
zen schützen.
D Sie soll alle zur Pulpa gerichteten Kavitätenwände abdecken. 5
D Sie muss biokompatibel sein.
D Sie soll im Seitenzahnbereich druckfest sein.
D Im Mundhöhlenmilieu soll sie eine geringe Löslichkeit besitzen.
D Bei Anwendung adhäsiv befestigter Materialien muss sie zudem säu-
refest sein und darf kein Eugenol enthalten.
Unterfüllungsmaterialien werden oft auch zum Ausblocken unter sich
gehender Stellen bzw. als Aufbaumaterial für Kronenpräparationen ver-
wendet. Bei großen Kompositrestaurationen lässt sich mit einer Unter-
füllung die verwendete Kompositmenge verringern. Die Unterfüllung
ermöglicht zudem eine restlose Entfernung einer zahnfarbenen Restau-
ration ohne die Gefahr einer iatrogenen Pulpaeröffnung.
Kalziumhydroxidpräparate eignen sich nicht als alleinige Unterfül-
lung, da sie durch den Dentinliquor desintegriert werden.
Es resultiert dann die Fraktur der Deckfüllung. Sie werden ausschließ-
lich im Sinne einer direkten und indirekten Überkappung in sehr be-
grenzten Bereichen aufgebracht und müssen von einem druckfesten
und/oder säurefesten Unterfüllungsmaterial überdeckt werden.
Es sollte nie Zahnhartsubstanz geopfert werden, um Platz für ein
Unterfüllungsmaterial zu schaffen.
Die bekannten Dentinwundverbände für den oben genannten Indika-
tionsbereich lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Lacke/Liner und
Zemente. Adhäsivsysteme (Dentinhaftvermittler), die in Verbindung
mit Kompositmaterialien als Dentinwundverband Anwendung finden,
werden in Kapitel 6.1.4 beschrieben, da sie gleichzeitig die Aufgabe ha-
ben, als Haftvermittler zwischen Restaurationsmaterial und Dentin zu
dienen.
182 5 Grundlagen der invasiven Therapie
5.6.1 Lacke und Liner
Unter Lacken versteht man in der restaurativen Zahnheilkunde Harze,
die in einem organischen Lösungsmittel gelöst sind.
Nach Aufbringen des Lacks verdunstet das Lösungsmittel und es ver-
bleibt das Harz zurück. Liner haben außerdem therapeutische Zusätze,
wie Kalziumhydroxid, Zinkoxid u.a. Da Lacke und Liner allenfalls tem-
porär die Dentinpermeabilität verringern und sich zudem leicht im
Speichel auflösen, finden sie heute nur noch selten bei flachen Kavitä-
ten und geringer Dentinwundfläche Anwendung.
Es muss zudem berücksichtigt werden, dass die Lösungsmittel der
Lacke und Liner nicht als pulpafreundlich einzustufen sind (z.B. Cavity-
Liner, Copalite).
5.6.2 Zemente
Zemente sind Stoffgemische, die in Pulverform vorliegen und mit
Wasser oder wässrigen Lösungen angemischt werden (Tab. 5.2).
Es entsteht eine plastische Masse, die anschließend aushärtet. Einige Be-
standteile der Zemente verbleiben dabei ohne Reaktion in der ausgehär-
teten Masse. Die Zemente lassen sich einteilen in Zinkoxid-Phosphatze-
ment, Silikatzement, Steinzement, Zinkoxid-Eugenolzement, Ethoxi-
benzoesäurezement, Carboxylatzement und Glasionomerzement (Tab.
5.3).
Zinkoxid- Zinkoxid-Phosphatzement findet als Unterfüllungs- und Befesti-
Phosphatzement gungszement Anwendung. Er besitzt eine hohe Druckfestigkeit. Bei
richtiger Anwendung ist eine mäßige Pulpareaktion zu beobachten, die
jedoch reversibel ist.
Zinkoxid-Phosphatzemente reagieren nach dem Anmischen stark
sauer. Erst nach Stunden wird ein neutraler pH-Wert erreicht. Je dünner
angemischt wird, desto länger dauert die Neutralisation und damit die
Pulpareizung. In tiefen Kavitäten sollte daher grundsätzlich an der
tiefsten Stelle vor Anwendung des Zements ein Kalziumhydroxidpräpa-
rat im Sinne einer indirekten Überkappung (CP-Behandlung) einge-
bracht werden, um die Säureeinwirkung auf die Pulpa zu reduzieren.
Das Pulver des Zinkoxid-Phosphatzements besteht zu 80–90 Ge-
wichtsprozent aus Zinkoxid und – je nach Produkt unterschiedlichen –
Tab. 5.2: Einteilung der Zemente nach ihren Hauptbestandteilen
Pulver Flüssigkeit
Phosphorsäure Polyacrylsäure
Zinkoxid Phosphatzement Carboxylatzement
Glas Silikatzement Glasionomerzement
5.6 Dentinwundversorgung Kapitel 5 183
Tab. 5.3: Physikalische Eigenschaften gebräuchlicher Zemente im Vergleich
zu Dentin und Amalgam (nach Eichner 2008)
Wärmeleit- Abbinde- Druckfes- Löslichkeit Filmdicke
fähigkeit zeit bei tigkeit nach 24 h (μm)
(W/K x m) 37 °C (min) (N/mm2) (Masse%)
Zinkphosphat- 1,3–3,1 6–9 80–140 0,05–0,2 10–60
zement
Zinkoxid- 1,7 – 14–40 0,02–0,1 25
Eugenolzement
EBA-Zement – 6–10 70–100 0,05 25–42
Carboxylat- 1,0 – 40–120 0,03–0,8 15–30
5
zement
Glasionomer- – 5 140–180 0,3–5 25
zement
Dentin 0,6–2,2 – 200–350 – –
Amalgam 21 150 300–500 – –
zusätzlichen Beimengungen. Meistens wird bis 10% Magnesiumoxid zu-
gegeben, um die Druckfestigkeit des Zements zu erhöhen. Als Füllstoffe
werden u.a. Siliziumoxid und andere Oxide zugesetzt. Zusätzlich ent-
hält das Pulver Pigmente zur Farbgebung.
Die Flüssigkeit besteht zu 52–56 Gewichtsprozent aus Orthophos-
phorsäure (H3PO4) und Zusätzen von Zink und Aluminium zur Puffe-
rung. Der Rest der Flüssigkeit ist Wasser.
Die Verarbeitung des Zements ist ein wichtiger Faktor für dessen
qualitative Eigenschaften. Es sollte immer, gleichgültig ob der Zement
sahnig zum Einsetzen von Kronen oder in dicker Konsistenz als Unter-
füllungsmaterial angerührt wird, eine pulverreiche Mischung gewählt
werden. Dazu wird der Zement auf einer leicht gekühlten Glasplatte an-
gerührt, um die Reaktionswärme abzuleiten. Das Pulver wird portions-
weise in die Säure eingemischt, bis die richtige Konsistenz erreicht ist
(Pulver immer in Säure einrühren und nicht umgekehrt). Wurden Pul-
ver und Flüssigkeit aus den entsprechenden Gefäßen entnommen, so
sind diese sofort wieder zu verschließen, um eine Wasseraufnahme
durch die Säure (Hygroskopie) zu verhindern. Durch die Wasserauf-
nahme würde sonst die Abbindegeschwindigkeit gesteigert, und es kann
weniger Zementpulver in die Säure eingerührt werden. Bleibt das Pulver
offen stehen, so reichert es sich mit Kohlendioxid aus der Luft an. Beim
Anmischen entstehen dann Gase, die zu einem stark porösen Zement
führen.
Nach dem Anmischen ist für einige Zeit noch freie Phosphorsäure
im Zement vorhanden, die eine Wirkung auf die Pulpa besitzt. Über
mehrere Vorstufen entsteht beim Abbinden bei den magnesiumoxid-
und aluminiumoxidhaltigen Zementen nach 24 Stunden tertiäres
184 5 Grundlagen der invasiven Therapie
Phosphat. Das tertiäre Phosphat bestimmt die Eigenschaften des abge-
bundenen Zements wesentlich, da es nur gering wasserlöslich ist. Die
Abbindereaktion ist exotherm. Die Abbindezeit liegt normalerweise
zwischen 5 und 9 min. Durch schnelle Pulverzugabe wird die Abbinde-
zeit erheblich verkürzt. Die Filmdicke eines adäquat angerührten Zink-
oxid-Phosphatzements, der zwischen zwei Glasplatten ausgepresst
wurde, beträgt zwischen 15 und 40 µm. Es wurden allerdings auch
kleinste Werte von 5 µm gemessen.
Da Zinkoxid-Phosphatzement in der Mundhöhle löslich ist, müs-
sen beim Zementieren von Gussobjekten möglichst kleine Zement-
spalten angestrebt werden.
Beim Abbinden schrumpft der Zinkoxid-Phosphatzement (0,03–0,06%
in sieben Tagen im feuchten Milieu; 2% im trockenen Milieu). Phos-
phatzement ist somit nicht als Füllungsmaterial bzw. Dauerprovisorium
geeignet, da es Kavitäten nicht bakteriendicht verschließen kann.
Die Wärmeleitfähigkeit entspricht etwa der des Dentins, somit ist
auch die Schutzwirkung des Zements vor thermischen Reizen nicht sehr
ausgeprägt. Aufgrund seiner hohen Druckfestigkeit eignet sich Zink-
oxid-Phosphatzement jedoch als Unterfüllungsmaterial im Seiten-
zahnbereich.
Silikat- und Da Silikat- und Steinzemente aufgrund ihrer Pulpatoxizität und ih-
Steinzemente rer mangelhaften physikalischen Eigenschaften (hohe Löslichkeit, ge-
ringe Druckfestigkeit) in der restaurativen Zahnheilkunde nur noch
eine untergeordnete Rolle spielen, werden sie hier nicht dargestellt.
Zinkoxid- Das Pulver der Zinkoxid-Eugenolzemente enthält 70 Gewichtspro-
Eugenolzemente zent Zinkoxid und 29 Gewichtsprozent Harze, denen unterschiedliche
Zinkverbindungen beigemischt sind.
Die Flüssigkeit ist bei diesen Zementen Eugenol (38 Gewichtspro-
zent), ein Phenolderivat. Zinkoxid-Eugenolzemente werden gewöhn-
lich in der Zahnarztpraxis frisch angerührt, es gibt jedoch auch vorge-
fertigte Zemente.
Zinkoxid-Eugenolzemente werden vornehmlich als provisorische
Verschlussmaterialien und zum provisorischen Einsetzen von Kro-
nen und Brücken verwendet.
Beim Abbinden entsteht Zinkeugenolat in Form nadelförmiger Kris-
talle. Beim Anmischen wird eine pulverreiche Mischung angestrebt. Es
entsteht keine exotherme Reaktion, d.h., es ist genügend Zeit vorhan-
den, das Material adäquat anzumischen. Im Mund wird das Material
aufgrund der Körperwärme schnell hart.
Zinkoxid-Eugenolzemente besitzen eine geringere Druckfestigkeit
als Zinkoxid-Phosphatzemente. Sie eignen sich daher nicht als Unterfül-
lungsmaterial. Eugenol kann bei Kontakt mit Kunststoffen als Weich-
5.6 Dentinwundversorgung Kapitel 5 185
macher wirken. Es hemmt zudem die Polymerisation von Kompositma-
terialien. Zinkoxid-Eugenolzemente sind daher als provisorische Versor-
gung vor der Anwendung von Kompositen, Dentinhaftvermittlern,
Kompositklebern usw. kontraindiziert.
Zinkoxid-Eugenolzemente sind primär dichte provisorische Ver-
schlussmaterialien. Die Dichtigkeit nimmt jedoch schon nach wenigen
Tagen signifikant ab. Eugenol ist zu 25–50% aus dem abgebundenen Ze-
ment verfügbar. Es besitzt einen bakteriziden Effekt und ist in geringen
Konzentrationen pulpasedierend. Dieser lokalanästhesierende Effekt
ist jedoch nur bei entsprechend dicker Dentinmasse bzw. sehr pulver-
reich angerührten Zementen zu erzielen. 5
Eugenol ist als Phenolderivat zytotoxisch und neurotoxisch. Es kann
zudem Kontaktallergien erzeugen, da Eugenol auch in Parodontalver-
bänden und Wurzelfüllpasten vorhanden ist.
Eugenolhaltige Zemente sollten im Rahmen der Kariestherapie nur
sehr begrenzt angewendet werden (z.B. Zahn teilexkaviert und aus
zeitlichen Gründen nicht endgültig zu versorgen).
Um die Festigkeit der Zinkoxid-Eugenolzemente zu erhöhen, wurden Ethoxibenzoe-
dem Pulver Methylmethacrylat und Aluminiumoxid zugesetzt. Die säurezemente
Flüssigkeit wurde mit Ethoxybenzoesäure (ethoxybenzoicacid) versetzt.
Es entstehen so Ethoxibenzoesäurezemente (EBA-Zemente) mit ver-
ringerter Löslichkeit und hoher Druckfestigkeit, die sich als provisori-
sche Verschlussmaterialien eignen.
Zinkoxid-Eugenolzemente sind nicht als Material für direkte Über-
kappungen indiziert, da eine Dentinbrückenbildung unterbleibt
und eine bestehende Pulpaentzündung insistiert.
Die Pulverzusammensetzung der Carboxylatzemente entspricht im We- Carboxylat-
sentlichen denen der Zinkoxid-Phosphatzemente. Die Flüssigkeit be- zemente
steht zu 40–50 Gewichtsprozent aus Polyacrylsäure. Die Polyacrylsäure
ist visköser als die Phosphorsäure (Molekulargewicht 15 000–150 000).
Daher ergeben sich Probleme beim Mischen des Zements.
Es sollte immer die Dosierungsvorschrift eingehend studiert werden,
um die richtige pulverreiche Mischung zu erzielen, da sonst starke
Schrumpfung und schlechte physikalische Eigenschaften resultieren. Es
gibt Produkte, bei denen die Säure gefriergetrocknet wurde und dem
Pulver im richtigen Mengenverhältnis beigefügt ist. Diese Produkte wer-
den mit Wasser angerührt.
Carboxylatzemente härten unter Kettenbildung aus, dabei entsteht
ein Metallionenkomplex mit Zink. Die Polyacrylsäure kann jedoch auch
an das Kalzium der Zahnhartsubstanz binden und chemisch haften.
Carboxylatzemente sind besser pulpaverträglich als Zinkoxid-Phos-
phatzemente, da die Säure aufgrund der Molekülgröße nur langsam in
186 5 Grundlagen der invasiven Therapie
Richtung Pulpa diffundiert. Außerdem ist die Menge freier Säure gerin-
ger. Die Schrumpfung des Zements ist jedoch um ein Mehrfaches hö-
her als bei Zinkoxid-Phosphatzementen, die Druckfestigkeit geringer.
Die Löslichkeit der Carboxylatzemente entspricht der Löslichkeit
von Phosphatzementen. Sie eignen sich jedoch aufgrund ihrer geringen
Festigkeit nicht für Bereiche, die großen Belastungen ausgesetzt sind.
Carboxylatzemente besitzen keine chemische Haftung an Gold
und Platin und sind wegen der starken Schrumpfung den Phosphatze-
menten beim Einsetzen von Goldrestaurationen nicht überlegen.
Glasionomer- Glasionomerzemente werden nicht nur als Unterfüllungsmateria-
zemente lien, sondern auch als Füllungsmaterialien verwendet (s.a. Kap. 6.2). Sie
eignen sich als Unterfüllungsmaterialien unter Amalgam-, Komposit-
und Keramikrestaurationen.
Unterfüllungsmaterialien werden nach dem Anmischen mit abge-
rundeten oder planen Stopfern in die Kavität eingebracht. Dabei muss
die Kavität trocken gehalten werden. Sie härten je nach Material ver-
schieden lang aus und können anschließend mit Finierern geglättet
werden. Um Unterfüllungsreste an den nicht zur Pulpa gerichteten Ka-
vitätenwänden zu entfernen, empfiehlt es sich daher, Kavitäten erst
nach Einbringen der Unterfüllungen definitiv zu finieren. Unterfül-
lungsmaterialien dürfen nicht den dichten Verschluss einer Kavität be-
hindern. Wurde beim Einbringen der Kavitätenrand mit einem Unter-
füllungsmaterial kontaminiert, so muss dieses grundsätzlich vor Fül-
lungstherapie entfernt werden.
Die Anwendung von Zementunterfüllungen beschränkt sich heute
bei plastischen Füllungsmaterialien auf tiefe Kavitäten.
Sie erfüllen damit neben ihrer Funktion des Dentin- und Pulpaschutzes
auch die Aufgabe, die einzubringende Menge an Füllungsmaterial zu re-
duzieren. Dies gilt auch für Einlagefüllungen. Hier werden sie aber zu-
sätzlich zum Ausblocken unter sich gehender Stellen und zum Aufbau
verloren gegangener Zahnhartsubstanz verwendet. Bei flachen und
mitteltiefen Kavitäten, insbesondere bei minimalinvasiver Therapie
von Primärläsionen, lassen sich auch Adhäsivsysteme (s. Kap. 6.1.4) zur
Dentinwundversorgung anwenden. Bei richtiger Anwendung verschlie-
ßen sich die Dentinkanälchen und können sowohl mit der Zahnhart-
substanz als auch mit Kompositmaterialien eine Bindung eingehen.
5.7 Vorbereitung des Arbeitsfeldes
Bei zahlreichen invasiven Behandlungsmaßnahmen muss das Arbeits-
feld trocken gehalten werden. Kontamination mit der Mundflüssigkeit
verändert die Eigenschaften der Füllungswerkstoffe und behindert de-
ren Insertion und Adaptation. Speichel enthält zudem unterschiedliche
5.7 Vorbereitung des Arbeitsfeldes Kapitel 5 187
orale Mikroorganismen, die z.B. im Rahmen einer endodontischen Be-
handlung den Wurzelkanal besiedeln und zu einer Infektion des peria-
pikalen Gewebes beitragen können. Es könnten zahlreiche andere
Gründe für die Notwendigkeit einer optimalen Trockenlegung aufge-
führt werden. Es soll hier jedoch darauf verzichtet werden, da diese bei
den einzelnen therapeutischen Maßnahmen im Detail erläutert werden.
5.7.1 Relative Trockenlegung
Bei guter Mitarbeit des Patienten lassen sich die Exkavation kariöser Be- 5
zirke und konventionelle Füllungstherapie bei relativer Trockenlegung
mit Watterollen gut durchführen. Dazu werden Watterollen je nach Be-
handlungssituation im Oberkiefer im Vestibulum und im Unterkiefer
im Vestibulum und im Sublingualraum eingelegt. Haben sich die Watte-
rollen mit Speichel voll gesogen oder werden sie mit Wasserspray voll-
ständig durchnässt, müssen sie während der Behandlung gewechselt
werden. Trockene Watterollen kleben an den Mundschleimhäuten. Es
kann beim Entfernen dieser Watterollen zu breitflächigen Verletzungen
der Mundschleimhaut kommen, daher müssen sie vorher mit Wasser-
spray durchfeuchtet werden.
5.7.2 Absolute Trockenlegung (Kofferdam)
Bei der Mehrzahl der restaurativen Maßnahmen empfiehlt sich das Le-
gen von Kofferdam (absolute Trockenlegung).
Kofferdam wurde bereits 1894 von S.C. Barnum in die Zahnheil-
kunde eingeführt. Dennoch findet die Technik der absoluten Trockenle-
gung mit Kofferdam in den deutschen Zahnarztpraxen bisher wenig
Gegenliebe. Sie bietet aber gerade dem restaurativ tätigen Zahnarzt her-
vorragende Arbeitsbedingungen, weil sie einerseits eine saubere Verar-
beitung von Füllungsmaterialien unter optimaler Sicht erlaubt, anderer-
seits den Patienten vor Aspiration und Verschlucken von Instrumenten
und Materialien schützt.
Dem angeblich erhöhten Zeitaufwand, der beim Anlegen von Kof-
ferdam im Vergleich zum Legen von Watterollen notwendig ist, kann
eine erhebliche Zeitersparnis gegenüberstehen. So fallen z.B. das zeitauf-
wändige Sichern endodontischer Kleininstrumente, der Zeitaufwand
beim Wechseln der Watterollen und unnötige Unterbrechungen wäh-
rend der Behandlung durch „gesprächige“ Patienten weg. Eine genaue
Kenntnis des Instrumentariums und der Applikationstechniken ermög-
licht es, die Kofferdam-Technik als Routineverfahren in die tägliche
zahnärztliche Praxis Eingang finden zu lassen.
Folgende Gründe, die absolute Trockenlegung mit Kofferdam zu Indikationen
wählen, lassen sich anführen:
188 5 Grundlagen der invasiven Therapie
D Spezifische Eigenschaften eines zu verarbeitenden Werkstoffs, die
nur unter absoluter Trockenlegung zu realisieren sind. Dies gilt z.B.
für die adhäsive Restaurationstechnik mit Kompositmaterialien. So
muss die konditionierte Schmelz- oder Dentinoberfläche vor Blut-
und Speichelkontamination geschützt werden. Nur dann ist eine in-
nige Verzahnung (Adhäsion) zwischen Komposit und Zahnhartsub-
stanz möglich.
D Gänzlich andere Überlegungen indizieren die Verwendung von Kof-
ferdam z.B. in der Endodontologie oder bei der Behandlung von Pa-
tienten mit infektiösen Erkrankungen. Bei der endodontischen Be-
handlung steht die Keimfreiheit bzw. Keimarmut des Operationsfel-
des bei der Wurzelkanalaufbereitung und -füllung im Vordergrund.
Gleichzeitig bietet der Kofferdam aber auch Schutz vor Verschlucken
und Aspiration der endodontischen Kleininstrumente.
D Bei der Behandlung infektiöser Patienten mit rotierenden Instru-
menten ist der Kofferdam der effektivste Schutz für den Behandler
vor speichelkontaminierten Aerosolen.
D Aber auch in der allgemeinen Füllungstherapie, z.B. beim Zementie-
ren von Gussfüllungen, kann die Anwendung von Kofferdam der
Garant für einen dauerhaften Erfolg der eingebrachten Restauration
sein.
Kontra- Es gibt natürlich auch Behandlungssituationen, in denen kein Koffer-
indikationen dam gelegt werden kann. Dazu zählen schwere obstruktive Atemwegs-
erkrankungen, Klaustrophobie, in manchen Fällen Epilepsie, geistige
und/oder körperliche Behinderungen.
Da moderne adhäsive Materialien heute nicht selten selbst hydro-
phile Bestandteile enthalten, kann man in Einzelsituationen auch
auf Kofferdam verzichten, wenn durch relative Trockenlegung ver-
hindert werden kann, dass Blut oder Speichel während der Behand-
lung in die Kavität fließt.
Grund- Das Grundinstrumentarium (Abb. 5.6) für die Kofferdam-Technik be-
instrumentarium steht aus Kofferdam-Gummi, Kofferdam-Lochzange, Lochschablone,
Kofferdam-Klammern, Kofferdam-Klammerspannzange, Zahnseide,
Heidemann-Spatel, Schere und Kofferdam-Spannrahmen.
Kofferdam- Kofferdam-Gummi wird in vorgefertigten Stücken oder als Rolle ge-
Gummi liefert. Es ist in unterschiedlichen Farben (Beige, Braun, Grün, Blau,
Rosa) und in fünf Stärken (dünn: 0,15 mm, mittel: 0,20 mm, stark:
0,25 mm, extrastark: 0,30 mm und spezialstark: 0,37 mm) erhältlich.
Das für eine restaurative Behandlung vorbereitete Kofferdam-Stück
sollte eine Seitenlänge von mindestens 15 cm haben. Dunkles Koffer-
dam-Gummi bietet einen hohen Farbkontrast zu den Zähnen. Beigefar-
benes Kofferdam-Gummi hat nur geringen Farbkontrast zum Zahn und
lässt tiefer liegende Weichteile des Mundes noch durchscheinen. Es er-
5.7 Vorbereitung des Arbeitsfeldes Kapitel 5 189
5
2 3
1
4
5
15 cm
4 cm
15 cm
d
Abb. 5.6: Instrumentarium für die Kofferdamapplikation: a) Auswahl unterschiedlicher Klammern, b) Kof-
ferdamlochzange, c) Klammerspannzange, d) Kofferdamgummi mit vorgestanzten Löchern für Restaura-
tionen der Oberkiefer-Frontzähne
leichtert damit die Entfernung des Gummis nach erfolgter Behandlung
ohne die Gefahr der Verletzung von Lippe oder Zunge. Dünnes und mit-
telstarkes Kofferdam-Gummi lässt sich leichter applizieren, reißt jedoch
auch eher als starkes Gummi. Starkes Gummi legt sich besser an die
Zähne an und besitzt eine stärkere Retraktionswirkung auf die Gingiva
190 5 Grundlagen der invasiven Therapie
als dünnes Gummi. Für die Routinebehandlung in der restaurativen
Zahnheilkunde eignet sich Kofferdam-Gummi der Stärke 0,25 mm. Es
gibt spezielles latexfreies Kofferdamgummi für Patienten mit Latexaller-
gie.
Kofferdam ist gegen bestimmte Lösungsmittel wie Azeton und Chlo-
roform nicht beständig. Gerade in der zahnmedizinischen Behandlung
verwendete Produkte können diese oder ähnliche Lösungsmittel bein-
halten.
Um vorzeitiges „Altern“ des Kofferdams zu vermeiden, sollte er vor
Lichteinwirkung geschützt und kühl gelagert werden.
Lochschablonen Im Dentalhandel sind verschiedene Lochschablonen erhältlich, auf
denen stilisiert die Zahnreihen des Ober- bzw. Unterkiefers aufgezeich-
net sind. Legt man das Kofferdam-Gummi auf diese Schablonen, so las-
sen sich die Zähne, für die Löcher in das Gummi gestanzt werden sollen,
auf dem Gummi markieren. Es gibt für diesen Zweck auch vorgefertigte
Stempel, mit denen die Zahnreihen des Oberkiefers und Unterkiefers
auf das Gummi gedruckt werden können.
Lässt die Zahnstellung des Patienten diese Vorgehensweise nicht zu,
Spannrahmen kann man das Gummi auf den Spannrahmen aufspannen und die
Zähne direkt am Patienten markieren.
Kofferdam- Anschließend wird mit der Kofferdam-Lochzange für jeden zu iso-
Lochzange lierenden Zahn ein Loch entsprechender Größe gestanzt.
Die Kofferdam-Lochzange besitzt eine Trommel mit 5–6 Lochgrößen
(0,5–2,2 mm). Das größte Loch eignet sich im Allgemeinen für große
Molaren, Prämolaren, Canini und obere Inzisivi, das drittgrößte Loch
für die oberen, seitlichen und die unteren mittleren und seitlichen Inzi-
sivi.
Kofferdam- Kofferdam-Klammern gibt es in vielen Variationen. Aus Praktikabi-
Klammern litätsgründen sollte man sich auf ein begrenztes Sortiment beschränken.
So benötigt man für alle Zahngruppen meist nur 1–2 Klammervariatio-
nen. Zusätzlich sollten für endodontische Maßnahmen noch „tief grei-
fende“ Klammern verfügbar sein. Natürlich lassen sich die im Dental-
handel erhältlichen Klammern individuell auf den Behandlungsfall mo-
difizieren.
Vor der Kofferdam-Applikation müssen die approximalen Kontakt-
punkte der entsprechenden Zähne mit Zahnseide auf Durchgängig-
keit überprüft werden.
Anschließend wird die ausgewählte Kofferdam-Klammer auf ihren Sitz
am Zahn überprüft. Sie muss am Zahn unterhalb des anatomischen
Äquators einen Vierpunktkontakt aufweisen und darf weder wackeln
noch vom Zahn abgleiten.
Kofferdam- Es empfiehlt sich, die Klammer bei der Anprobe mit Zahnseide zu
Applikation sichern, um zu verhindern, dass der Patient die Klammer verschluckt,
falls sie versehentlich aus der Kofferdam-Klammerspannzange rutscht.
5.7 Vorbereitung des Arbeitsfeldes Kapitel 5 191
Die Klammer wird zur Anprobe mit der Kofferdam-Klammerspann-
zange in den dafür vorgesehenen Löchern gefasst und so weit aufge-
spannt, dass sie unter leichtem Kontakt zum Zahn nach zervikal gescho-
ben werden kann. Ein Überdehnen der Klammer ist zu vermeiden.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, Kofferdam zu applizieren. Man kann
nach Platzieren der Klammer das Kofferdam-Gummi über die Klammer
stülpen. Es ist jedoch auch möglich, erst das Kofferdam-Gummi und an-
schließend die Klammer zu platzieren. Die effektivste Methode ist je-
doch die dritte Möglichkeit. Man platziert außerhalb der Mundhöhle
das Gummi über den distalen Klammerbügel und appliziert dann die
Klammer mit dem Gummi gemeinsam. Anschließend wird das Gummi 5
mit geschlossener Pinzette oder einem Kugelstopfer über die mesialen
Klammerfortsätze gebracht. Manchmal ist es auch möglich, statt einer
Kofferdam-Klammer spezielle Gummibänder (Wedjets) zur Fixierung
des Kofferdams zu verwenden. Die dehnbaren Gummibänder werden
dabei wie Zahnseide in den Approximalraum eingebracht und halten
dort aufgrund ihrer Spannung das Kofferdam-Gummi in Position.
Bei restaurativen Maßnahmen empfiehlt es sich jedoch, ganze Zahngruppen
Zahngruppen aus der Mundhöhle zu isolieren. Dabei werden die Klam-
mern, soweit möglich, nicht auf die zu behandelnden Zähne gesetzt, da-
mit sie bei der Behandlung des Zahnes (z.B. beim Legen einer Matrize)
nicht stören.
So wird man bei Behandlung der Oberkiefer-Frontzähne das Koffer-
dam-Gummi vom rechten Prämolar bis zum linken Prämolar applizie-
ren. Dabei werden auf die Prämolaren die entsprechenden Klammern
appliziert und das Gummi an den Canini und Inzisivi durch eine Liga-
tur mit gewachster Zahnseide fixiert. Das Kofferdam-Gummi sollte da-
bei in den Sulkus eingestülpt werden, um einen sicheren Sitz und eine
optimale Abdichtung im Bereich des Zahnhalses zu gewährleisten.
Es gibt spezielle Techniken, die es auch bei Vorhandensein von Brü-
ckenkonstruktionen in der Mundhöhle erlauben, eine Abdichtung mit
Kofferdam-Gummi zu erzielen.
Die Entfernung des Kofferdam-Gummis muss ebenso sorgfältig er- Entfernung
folgen wie die Applikation. Es empfiehlt sich, nach Abnahme der Klam-
mern zunächst die Gummistege zwischen den Zähnen mit einer Schere
zu durchtrennen und erst dann das Gummi zu entfernen. Dabei wird
vermieden, dass Gummireste im Sulkus verbleiben, die anschließend
Ursache für eine akute lokale Entzündungsreaktion sein können.
Der auf Qualität bedachte Zahnarzt wird nach kurzer Eingewöh-
nungsphase auf die Anwendung von Kofferdam in der täglichen
restaurativen Praxis kaum noch verzichten wollen, garantiert die
Anwendung von Kofferdam doch ein effizientes Arbeiten bei Erhö-
hung des Behandlungskomforts für den Patienten.
192 5 Grundlagen der invasiven Therapie
Gleichzeitig kann eine Verbesserung der Qualität restaurativer Maßnah-
men gewährleistet werden. Oft lässt sich bei endodontisch zu behan-
delnden Zähnen keine Kofferdam-Klammer applizieren, weil der Zahn
bis zum Gingivalsaum zerstört ist. Dann muss dieser vor der Behand-
lung so aufgebaut werden, dass Kofferdam gelegt werden kann. Es kann
sogar in Ausnahmefällen eine Kronenverlängerung durch eine modifi-
zierte Lappenoperation erforderlich sein.
Ergibt sich nach Legen des Kofferdams eventuell ein minimales
Leck, weil die Löcher zu weit auseinander gestanzt wurden, so lässt sich
dieses mit Cavit (provisorisches Füllungsmaterial aus Zinksulfat, Zink-
oxid in Verbindung mit Calciumsulfat-Hemihydrat) abdichten. Dieses
provisorische Füllungsmaterial ist hygroskopisch. Bei größeren Undich-
tigkeiten muss jedoch die Kofferdam-Applikation wiederholt werden.
Beim Umgang mit Kofferdam können auch unter Anwendung der
erforderlichen und nötigen Sorgfalt Komplikationen auftreten. Dazu
zählen Traumatisierung von Zahnhartsubstanzen und Weichgeweben,
Lösen und Beschädigen von Restaurationen wie Verblendkeramik, Frak-
turen von Kofferdamklammern, Zahnfrakturen.
Neuentwicklungen von Kofferdamsystemen sollen eine klammer-
freie Applikation ermöglichen.
Flüssiger Es gibt zudem sogenannte Gingivaprotektoren (flüssiger Koffer-
Kofferdam dam), die unter anderem bei Zahnaufhellungsmaßnahmen (Bleaching)
verwendet werden. Sie eignen sich auch zum Abdichten kleiner Undich-
tigkeiten am klassischen Kofferdam. Der Gingivaprotektor wird direkt
auf die Gingiva aufgebracht, erstarrt dort und bietet so einen gewissen
Schutz vor Chemikalien.
Kapitel 6 193
6 Restaurationen mit plastischen
Füllungsmaterialien
Für die Restauration kariös bedingter Zahnhartsubstanzdefekte stehen
heute zahlreiche Materialien zur Verfügung. Sie lassen sich, wie in der
Tabelle 6.1 aufgeführt, einteilen. Die Indikation für das jeweilige Fül-
lungsmaterial kann zahnbezogen (z.B. Größe und Lage des kariösen De-
fektes, Primärversorgung, Ersatzfüllung) oder patientenbezogen (z.B. ge-
sundheitliche und toxikologische Risiken, Bruxismus, Ästhetik, finan-
6
zielle Situation) gestellt werden. Die Materialeigenschaften müssen
dabei immer Berücksichtigung finden (Abb. 6.1).
6.1 Kompositrestaurationen
Der Wunsch nach zahnfarbenen Füllungsmaterialien, speziell für den
Frontzahnbereich, führte anfangs zum Einsatz von Polymethylmeth-
acrylaten (PMMA), die bei Mundtemperatur polymerisierten. Diese
waren jedoch nicht ausreichend abrasionsstabil, besaßen eine hohe
Polymerisationsschrumpfung und waren aufgrund des hohen Restmo-
nomergehaltes pulpaschädigend. Außerdem traten schon nach kurzer
Liegezeit Verfärbungen auf.
Auf der Suche nach einem Material mit besseren physikalischen und
chemischen Eigenschaften entwickelte Bowen (1962) das Additionspro-
dukt eines Epoxidharzes und der Methylmethacrylsäure als Matrix für
Komposit Amalgam Inlay Teilkrone
Zahnhart- gering
substanz- hoch
verlust
gering
Defekt- hoch
orientierung
weniger
geeignet
Primär- geeignet
versorgung
Sekundär- geeignet
versorgung
weniger
geeignet
Abb. 6.1: Indikationsbereich von Restaurationstechniken (nach Petschelt et al.
2002)
194
Tab. 6.1: Klassifizierung plastischer Füllungsmaterialien
Material Härtung Komponenten Haftung Handling Physikalische
Eigenschaften
Zahnfarben Komposite
• Hybridkomposite Lichthärtung Ein-Komponen- Mikromechanisch Techniksensitiv Hohe thermische
• Makrofüllerkomposite (selten chemische ten-Materialien Adhäsivsystem erfor- (Kofferdam) Expansion
• Mikrofüllerkomposite Härtung oder Dual- (Ausnahme: che- derlich Schichttechnik Polymerisations-
• Nanofüllerkomposite härtung) mische oder dual- Feuchtigkeitsemp- schrumpfung
• niedrig visköse („flowable“) härtende Mate- findlichkeit
Komposite rialien:
• Poly(mer)glass 2 Komponenten
• Ormocere zum Anmischen)
• Kompomere
• fließfähige Kompomere
• Silorane
Glasionomerzemente (GIZ)
Konventionelle GIZ Chemische Härtung 2 Komponenten Chemisch (= adhäsiv) Initiale Feuchtigkeits- Thermische Expansion/
Hoch visköse GIZ Säure-Basen-Reaktion zum Anmischen und mikromechanisch Empfindlichkeit Kontraktion ähnlich
Zahnhartsubstanzen
Hybridionomere Lichthärtung und 2 Komponenten Chemisch (= adhäsiv) Verringerte Hohe thermische Expan-
(= resinmodifizierte GIZ) chemische Härtung zum Anmischen und mikromechanisch Feuchtigkeitsemp- sion/Kontraktion Poly-
findlichkeit merisationsschrumpfung
Metallfarben Amalgam Chemisch 2 Komponenten Makromechanisch Wenig feuchtigkeits-
zum Anmischen empfindlich
Stopfgold – 1 Komponente Makromechanisch Sehr feuchtigkeits-
empfindlich
Metallverstärkte GIZ Siehe GIZ Siehe GIZ Siehe GIZ Siehe GIZ Siehe GIZ
(Cermet-Zemente)
6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 195
ein neuartiges Füllungsmaterial. Dieses aromatische Dimethacrylat
(Bisphenol-A-Diglycidylmethacrylat = Bis-GMA) wurde von Bowen mit
anorganischen Füllerpartikeln (Quarzmehl) versehen, die ihrerseits mit
einer Silanverbindung überzogen waren. Die Silanschicht sollte eine
chemische Bindung sowohl mit der organischen Matrix als auch mit
den anorganischen Füllern eingehen, um diese beiden Phasen mitei-
nander zu verbinden.
Komposite werden in sehr unterschiedlichen Indikationsbereichen
eingesetzt. Neben ihrer Anwendung als Restaurationsmaterial und als
Fissurenversiegler werden sie auch für die Anfertigung von Aufbaufül-
lungen, Inlays, Onlays, Kronen, provisorischen Restaurationen, als Ze-
mente im Bereich festsitzender prothetischer Versorgungen und zum
Befestigen von Brackets in der Kieferorthopädie sowie als Wurzelkanal-
sealer und in faserverstärkter Form auch als Wurzelkanalstifte verwen-
6
det.
6.1.1 Materialkunde der Komposite
Unter Kompositen versteht man dem Wortsinn nach zusammenge-
setzte Werkstoffe. Es kann sich dabei also um unterschiedliche Materia-
lien im Bereich der Zahnmedizin und in anderen Bereichen handeln.
In der Zahnmedizin werden unter Kompositen zahnfarbene, plasti-
sche Füllungswerkstoffe verstanden, die nach Einbringen in eine
Kavität chemisch oder durch Energiezufuhr aushärten.
Tab. 6.2: Typische Hauptbestandteile eines Komposit-Restaurationsmaterials
Bestandteile Abkürzung – Chemische Bezeichnung
Kunststoffmatrix Kurzbeschreibung
Monomer Bis-GMA Bisphenol-A-Diglycidyl-Methacrylat
sog. Bowen-Kunststoff
UDMA Urethandimethacrylat
Komonomer TEGDMA Triethylen-Glycol-Dimethacrylat
EGDMA Ethylen-Glycol-Dimethacrylat
Initiator (Autopolymerisat) Peroxide Benzoylperoxid
Initiator (Photopolymerisat) Kampferchinon
Akzelerator z.B. Dihydroxyethyl-p-Toluidin
Stabilisator BHT Butyliertes Hydroxy-Toluol
Haftvermittler
Haftvermittler Silan z.B. Methacryloxypropyl-trimethoxysilan
Füllkörper
Makrofüller Quarz, Glas, Keramik Lithium-Aluminium-Silikat
Mikrofüller Feinstteiliges SiO2 z.B. pyrogenes SiO2
196 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Abb. 6.2: Gebräuchliche Monomere in Kompositen
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 197
Moderne zahnärztliche Kompositmaterialien bestehen aus einer Viel- Hauptbestand-
zahl unterschiedlicher Komponenten, welche die Eigenschaften des teile
Werkstoffs beeinflussen. Die drei Hauptbestandteile sind die organische
Matrix, die disperse Phase (Füller) und die Verbundphase (Silane, Kopo-
lymere). Die typischen Bestandteile eines Komposits sind in der Tabelle
6.2 dargestellt.
Organische Matrix
Die organische Matrix besteht im nicht ausgehärteten Zustand aus Mo-
nomeren, Initiatoren, Stabilisatoren, Farbstoffen, Pigmenten und ande-
ren Additiva.
Bei den verwendeten Monomeren handelt es sich fast ausschließlich Monomere
um mehrfunktionelle Methacrylate mit der vereinfachten Grundformel:
MA-R-MA (Abb. 6.2). Das mit R bezeichnete organische Zwischenglied
6
können aliphatische Ketten, Urethanpräpolymere, aromatische Ringe
und Polyäther sein. MA steht für die Methacrylsäureester-Reste. Diese
Kompositmatrixmoleküle weisen eine relativ hohe Reaktivität auch bei
niedrigen Temperaturen, gute physikalische Eigenschaften, eine relative
Farbstabilität und geringe toxische Wirkungen auf. Sie sind toxikologisch
unbedenklicher als reine Methacrylate, geruchs- und geschmacksneutral.
Das zentrale Molekül (R) ist für die mechanischen Eigenschaften,
die Wasseraufnahme, die Schrumpfung, den Polymerisationsgrad, die
Viskosität und zahlreiche andere Eigenschaften verantwortlich. Besit-
zen diese Molekülanteile viele Sauerstoffatome oder Hydroxylgruppen,
so ist die Wasseraufnahme der Kompositmatrix hoch. Sind die Mono-
mere langkettig, so wird beim Aushärten die Schrumpfung geringer sein
als bei kurzkettigen Molekülen. Da aber langkettige Monomermoleküle
zu einer erhöhten Viskosität führen, werden oft Verdünnermonomere
(z.B. TEGDMA oder EGDMA) für eine bessere Verarbeitbarkeit hinzuge-
geben. Diese führen jedoch, da sie kurzkettiger sind, wieder zur erhöh-
ten Schrumpfung des Materials.
Unter Initiatoren versteht man Matrixbestandteile, die durch Akti- Initiatoren
vierung (chemischer Aktivator, physikalischer Aktivator) in energierei-
che Moleküle (Radikale) zerfallen, die mit den Doppelbindungen der
Monomere reagieren. Diese bilden dann Polymerketten. Die Reaktions-
freudigkeit der Initiatoren ist für die vollständige Aushärtung (Polyme-
risationsgrad, Konversionsgrad der Doppelbindungen) entscheidend.
Je höher der Umsetzungsgrad der Monomermoleküle ist, umso bes-
ser sind die mechanischen und physikalischen Eigenschaften der
Kompositmatrix zu bewerten.
Gleichzeitig sind die Initiatoren für die Farbstabilität eines Komposit-
materials von Bedeutung. So können sie eine Eigenfarbe aufweisen, die
sich während der Polymerisationsreaktion verbraucht, oder Nebenpro-
dukte bilden, die das Kompositmaterial verfärben.
198 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Stabilisatoren Stabilisatoren (Inhibitoren) sind zumeist sterische Phenole, wie z.B.
Hydrochinomonomethyläther. Sie reagieren mit vorzeitig entstehenden
Radikalen in der Monomerpaste und verhindern so eine vorzeitige Poly-
merisation. Sie erhöhen damit die Lagerfähigkeit der Füllungsmaterialien.
Pigmente Organische und anorganische Pigmente werden den Kompositen
zugesetzt, um unterschiedlich gefärbte Materialien produzieren zu kön-
nen. Als Farbpigmente werden heute oft Eisenoxide verwendet.
Additiva In die Kategorie anderer Additiva sind Weichmacher, Lichtschutz-
mittel und optische Aufheller einzuordnen.
Für die Komposite auf dem Dentalmarkt kommt eine Vielzahl unter-
schiedlicher Kombinationen von Monomeren zum Einsatz. Es ist daher
schwierig, die exakten Eigenschaften der Monomermatrix für unter-
schiedliche Kompositgruppen vorherzusagen. Man kann jedoch fest-
stellen, dass die Volumenschrumpfung umso kleiner ist, je größer die
entsprechenden Matrixmoleküle sind.
Disperse Phase (Füller)
Die Kunststoffmatrix ist niedrig viskös und wird aufgrund ihrer guten
Fließfähigkeit als Fissurenversiegler (meist gefärbt) oder als Schmelz-
haftvermittler (ungefärbt) bei der Insertion von Kompositrestauratio-
nen verwendet (Bonding).
Um die physikalischen und mechanischen Eigenschaften der
Kunststoffmatrix zu verbessern, werden ihr anorganische Füller zu-
gesetzt.
Damit sollen die Druck- und Zugfestigkeit, das Elastizitätsmodul und
die Verschleißfestigkeit des Materials verbessert werden (Tab. 6.3).
Gleichzeitig sollen die Polymerisationsschrumpfung, der lineare
thermische Expansionskoeffizient und die Wasseraufnahme verringert
Tab. 6.3: Physikalisch-chemische Eigenschaften verschiedener Füllungsmaterialien nach Hickel. Die
Haftwerte bei Komposit und Kompomer entstanden in Verbindung mit den jeweils zugehörigen Pri-
mern/Adhäsiven. Die Fluoridabgaben sind kumulative Werte nach 90 Tagen. Man beachte die ähnli-
chen Werte für Mikrofüllerkomposite und Kompomere.
Materialgruppe Zugfes- Biegefes- Druckfes- Vickers- E-Modul Schmelz- Dentin- Fluorid-
tigkeit tigkeit tigkeit härte (GPa) haftung haftung abgabe
(MPa) (MPa) (MPa) (kg/cm2) (MPa) (MPa) (μg/cm2)
Amalgam 45–65 110–150 350–520 (120) 25–60 0 0 0
Hybridkomposit 35–60 100–145 280–480 70–130 10–25 20–28 12–25 0–10
Mikrofüllerkomposit 35–45 40–90 350–500 50–60 3–7 18–25 12–25 0–10
Kompomer 35–40 90–125 200–260 50–60 5–8 14–22 12–22 30–60
Hybridionomere = 20–400 30–60 100–200 35–45 5–20 6–20 5–18 50–600
lichthärtende GIZ
Hoch visköse GIZ 12–15 30–35 140–220 60–90 12–20 3–12 2–8 150–600
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 199
konventionelle Mikrofüller Mikrofüller-
Makrofüller (pyrogenes SiO2) komplexe
Verbundphase
(Silane / Kopolymerisation)
organische Matrix
6
homogenes inhomogenes
konventionelles Hybrid- Mikrofüller- Mikrofüller-
Komposit komposit komposit komposit
(KK) (HK) (HMK) (IMK)
a b c d
Abb. 6.3: Einteilung der Komposite nach Art der Füller: a) Konventionelle Komposite mit Makrofüllern aus
Quarz, Glas oder Keramik. Die mittlere Teilchengröße beträgt je nach Komposit 5–10 μm. b) Hybridkompo-
site mit Makrofüllern und Mikrofüllern aus SiO2. Die mittlere Teilchengröße beträgt je nach Komposit mehr
als 10 μm, zwischen 2 und 10 μm bzw. weniger als 2 μm. Bei modernen Feinpartikelhybridkompositen lie-
gen die mittleren Füllergrößen unter 1 μm. c) Homogene Mikrofüllerkomposite mit Teilchengrößen von
0,007–0,04 μm. d) Inhomogene Mikrofüllerkomposite mit splitterförmigen und kugelförmigen Vorpoly-
merisaten (100–200 μm) bzw. Mikrofülleragglomeraten.
200 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
werden. Als anorganische Füllstoffe werden Quarz, Keramik und Sili-
ziumdioxid verwendet. Die gängige Klassifikation der Kompositmateria-
lien basiert heute auf der Art und Größe der verwendeten Füllkörper
(Abb. 6.3).
Makrofüller- Es gibt konventionelle Komposite, die Makrofüller enthalten. Die
komposite rein anorganischen Partikel sind splitterförmig und bestehen aus Quarz,
Glas oder Keramik. Die Gläser können zudem schwermetallhaltig sein
(Barium-, Strontiumglas), um eine Röntgenopazität zu erzielen. Bei den
heutigen konventionellen Kompositmaterialien finden Füllkörper in ei-
nem Größenbereich zwischen 0,1 und 100 µm Verwendung.
Die durchschnittliche Füllkörpergröße liegt zwischen 5 und 10 µ,
der Füllstoffgehalt bei ca. 75 Gew.-%. Konventionelle Komposite enthal-
ten also Makrofüller, deren Größe über der Wellenlänge des Lichts
liegt. Sie sind daher für das menschliche Auge erkennbar. Der Härteun-
terschied zwischen Füller und Matrix führt bei gleichzeitiger Hydrolyse
der Verbundphase zum Herausbrechen der Füllkörper aus der Matrix.
Die Oberfläche wird nach einer Politur rasch wieder rau. Konventionelle
Komposite lassen sich also nicht polieren; damit ist eine Plaqueanlage-
rung begünstigt. Gleichzeitig bedeutet der Verlust der oberflächlichen
Füllkörper, dass die weiche Kompositmatrix ungeschützt den Abrasions-
vorgängen in der Mundhöhle ausgesetzt ist. Konventionelle Komposite
besitzen demnach ein schlechtes Verschleißverhalten. Die Wasserauf-
nahme liegt bei 0,5%.
Bei modernen Materialien mit kleineren Makrofüllern ließ sich ein
höherer Füllungsgrad erreichen. Diese Materialien haben eine geringe
Schrumpfung, einen niedrigen thermischen Expansionskoeffizienten
und eine geringe Wasseraufnahme. Aber auch diese Materialien behal-
ten nach einer Politur ihren Hochglanz nicht. Röntgenkontrastmittel-
zusätze in den entsprechenden anorganischen Füllkörpern führen zu
einer erhöhten Löslichkeit und damit zu einer Abgabe von Schwerme-
tallionen in die Mundhöhle.
Mikrofüller- Mikrofüllerkomposite enthalten Füllstoffe, deren Partikelgröße un-
komposite ter 1 µm liegt. Die gängigen Mikrofüllerkomposite enthalten hochdis-
perse Kieselsäuren (Siliziumdioxid) mit einer Größenverteilung zwi-
schen 0,007 und 0,04 µm und einer mittleren Teilchengröße von 0,05
µm. Der Füllstoffgehalt von homogenen Mikrofüllerkompositen beträgt
50%. Die Einzelpartikel sind kugelförmig und werden durch Hydrolyse
von Siliziumtetrachlorid in einer Knallgasflamme gewonnen. Die Mi-
krofüller haben eine große spezifische Oberfläche (50–400 m2/g) und er-
höhen bei Zugabe in eine organische Matrix die Viskosität sehr rasch.
Inhomogene Um dennoch einen akzeptablen Füllergehalt zu erreichen, wurden
Mikrofüller- inhomogene Mikrofüllerkomposite von den Herstellern entwickelt.
komposite Dazu werden mikrogefüllte Kompositmaterialien zermahlen und man
erhält splitterförmige Vorpolymerisate. Ein anderer möglicher Weg ist
die Herstellung von Vorpolymerisaten in Kugelform, die man dann der
Kompositmatrix zusammen mit weiteren Mikrofüllern zusetzt. Damit
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 201
erhöht man den Füllstoffanteil, ohne dass die Konsistenz so zähflüssig
wird, dass ein solches Material nicht mehr zu verarbeiten wäre. Ein wei-
terer Weg ist die Sinterung der Siliziumdioxidteilchen und die anschlie-
ßende Zerkleinerung in gröbere Partikel. Werden derartige Mikrofüller-
agglomerate der Matrix zugesetzt, lässt sich ein Füllstoffgehalt von 70
bis 80% realisieren.
Die mikrogefüllten Kompositmaterialien sind polierbar und behal-
ten ihren Oberflächenglanz. Ihr Durchmesser ist kleiner als die Wellen-
länge des sichtbaren Lichts. Deshalb werden bei Füllerverlusten auf der
Oberfläche keine Rauigkeiten sichtbar. Sie sind verschleißfester als die
makrogefüllten Komposite, da die Partikel gleichmäßiger an der Ober-
fläche verteilt sind und abrasive Nahrung die weiche Matrix kaum an-
greifen kann.
Mikrofüllerkomposite sind jedoch nicht röntgenopak und zeigen
6
eine höhere Wasseraufnahme sowie schlechtere physikalische Eigen-
schaften als makrogefüllte Materialien. Sie besitzen nur 50 Gew.-% Füll-
körperanteil (Ausnahme agglomerierte Mikrofüller) und damit eine er-
höhte Polymerisationsschrumpfung, eine geringere Biegefestigkeit
und Vickershärte und ein geringeres Elastizitätsmodul als konventio-
nelle Komposite. Sie sind jedoch in der Regel druckfester als diese. Ein
Nachteil ist weiterhin, dass es an den Grenzflächen der splitterförmigen
Vorpolymerisate zur Matrix während Kaubelastung oder während der
Polymerisation zu Rissen kommt. Diese Risse führen zu einer sekundär
verringerten Verschleißfestigkeit dieser Materialien im Seitenzahnbe-
reich.
Will man die positiven Eigenschaften beider Kompositsysteme mit- Hybridkomposite
einander verbinden, so muss man die Füllkörperpartikel in einem Mate-
rial kombinieren. Dabei entstehen sog. Hybridkomposite. Bei den Hy-
bridkompositen sind etwa 85–90 Gew.-% der Füllkörper Makrofüller
und 10–15 Gew.-% Mikrofüller. Der Füllkörpergehalt des gesamten Ma-
terials lässt sich so auf bis zu 85% steigern. Die Hybridkomposite lassen
sich röntgenopak gestalten und verfügen über hervorragende physikali-
sche Eigenschaften.
Durch Weiterentwicklung im Bereich der Füllkörpertechnologie
können heute Feinpartikelhybridkomposite mit Füllkörpern bis zu
5 µm Korngröße von Feinstpartikelhybridkompositen (Korngröße bis
zu 3 µm) und Submikrometerhybridkompositen (mittlere Korngröße
unter 1 µm) unterschieden werden.
Die Feinstpartikelhybridkomposite sind polierbar. Die Abriebfes-
tigkeit ist geringer als bei konventionellen Kompositen und mit der von
Mikrofüllermaterialien vergleichbar.
Durch Modifikation der Matrix wurden sogenannte stopfbare Kom-
posite entwickelt. Sie sollen sich ähnlich wie Amalgam stopfen und
schnitzen lassen, bieten aber im Vergleich zu den anderen Hybridkom-
positen keinen nennenswerten Vorteil. Aufgrund der hohen Viskosität
sind sie nicht für die Restauration kleiner Kavitäten geeignet.
202 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Fließfähige - Durch Verringerung des Füllstoffanteils oder Zusatz von verdünnen-
Komposite den Matrixbestandteilen (z.B. TEGDMA) entstehen fließfähige Kom-
posite. Sie sind insbesondere im Rahmen der minimalinvasiven Thera-
pie für die oft schwer zugänglichen approximal-zervikalen Bereiche und
für erweiterte Fissurenversiegelungen geeignet. Die mechanischen Fes-
tigkeitswerte von fließfähigen Kompositen sind schlechter als die der
Hybridkomposite und die Polymerisationsschrumpfung ist höher. Zu-
dem beträgt das Elastizitätsmodul nur 50% der Feinpartikelhybridkom-
posite und auch Transparenz, Vickershärte und Röntgenopazität sind
verringert. Sie sind daher für die routinemäßige Verwendung im Front-
oder Seitenzahnbereich, speziell in Bereichen, die Kaudruck ausgesetzt
sind, nicht geeignet.
Sie bieten jedoch die Möglichkeit, im Rahmen einer speziellen Füll-
technik (CBF = Composite-bonded-to-flowable) im Bereich der zervikal-
gingivalen Stufe einer Klasse-II-Kavität zunächst eine dünne Schicht
Komposit anfließen zu lassen. Damit wird die Adaptation der Füllung
verbessert. Bei dieser Technik ist es unerlässlich, dass die verwendeten
niedrig viskösen Komposite eine ausreichende Röntgenopazität besit-
zen, damit etwaige Überschüsse erkannt werden. Gleichzeitig wird da-
mit verhindert, dass ein entsprechend gefüllter Zahn im Röntgenbild
einen virtuellen zervikalen Spalt aufweist, der als Sekundärkaries inter-
pretiert wird. Manchen fließfähigen Kompositen sind zudem Benet-
zungsmittel beigefügt, damit verhindert man eine zu starke Reduktion
des Füllergehaltes. Es gibt zudem flowable Komposite, die adhäsive Mo-
nomere beinhalten. Sie basieren auf dem traditionellen Methacrylatsys-
tem, enthalten jedoch saure Monomere, wie sie üblicherweise in Adhä-
sivsystemen zu finden sind, wie z.B. Glycerophosphat-Dimethacrylat.
Für plastische Restaurationen der Klassen I, II, III, IV und V lassen
sich heute Feinpartikelhybridkomposite routinemäßig verwenden.
Die marginale Adaptation und die Volumenbeständigkeit, das äs-
thetische Erscheinungsbild, Röntgenopazität, Abriebfestigkeit und
die Verarbeitbarkeit sprechen eindeutig für die Verwendung dieser
Materialgruppe.
Für Aufbaufüllungen werden i.d.R. chemisch oder dual härtende
Komposite verwendet.
Verbundphase (Silane, Kopolymere)
Die Silanisierung von Füllstoffen ist ein entscheidender Faktor für den
Verbund zur organischen Matrix. Als Silanisierungsmittel wird i.d.R.
3-Methacryloyloxypropyltrimetoxisilan verwendet. Es kommt dabei zu
einer Hydrophobisierung des Füllstoffs und anschließend zu einer Poly-
merisation der Monomere mit dem Methacrylsäurerest des Silans.
Durch die Einbindung des Füllstoffs in die Matrix werden die me-
chanischen Werte (Biegefestigkeit, Druckfestigkeit, Vickershärte) deut-
lich erhöht. Der Verbund zwischen Füllkörper und Matrix ist jedoch
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 203
weiterhin eine Schwachstelle aller Kompositmaterialien. Durch saure
Hydrolyse kann der chemische Verbund gelöst werden, und es kommt
anschließend zu einem Verlust der Füllkörper und damit verbunden zu
einem höheren Verschleiß der Materialien.
Während der Polymerisation werden nicht alle Doppelbindungen
der Kompositmaterialien umgesetzt (Konversion). Es verbleiben bis zu
45% Restdoppelbindungen. Das deutet auf einen bestimmten Prozent-
satz von Restmonomeren hin. Gleichzeitig entstehen während der Po-
lymerisation neue Reaktionsprodukte, die im Ursprungsmaterial nicht
vorhanden waren. Zugleich verbleiben Initiatoren und Stabilisatoren,
z.T. unreagiert, in der Kunststoffmatrix enthalten. Diese Substanzen
können ein toxikologisches Potenzial besitzen. Besonders der Restmo-
nomergehalt, kann zu Pulpairritationen führen. Es gibt jedoch keine
Hinweise darauf, dass es bei Zähnen, die mit Kompositrestaurationen
6
versorgt wurden, bei richtiger Anwendung der entsprechenden Materia-
lien in Verbindung mit der Adhäsivtechnik zu einem über das normale
Maß hinausgehenden Vitalitätsverlust kommt. Über die allergisierende
und allgemein toxische Wirkung der Einzelkomponenten im ausgehär-
teten Material gibt es bisher nur wenige Untersuchungen. Das toxikolo-
gische Risiko lässt sich daher nicht abschätzen.
Moderne Kompositmaterialien zeigen eine Polymerisations- Polymerisations-
schrumpfung zwischen 1 und 3 Vol.-%. Dadurch entstehen während schrumpfung
der Polymerisation im Material Spannungen, gleichzeitig kommt es zur
Randspaltbildung, Randverfärbungen, Sekundärkaries, Fraktur dünner
Füllungsränder im Bereich des Kavitätenrandes und damit verbunden
postoperativer Empfindlichkeit. Die Spannungen können zu Rissen ent-
lang der Füllkörperoberfläche und damit zum Verlust der Füllkörper
führen. Das führt zu einem erhöhten Verschleiß des Füllungswerkstof-
fes. Diese besonderen Materialeigenschaften erfordern eine spezielle In-
sertionstechnik bei der Verarbeitung von Kompositen.
Grundsätzlich lassen sich chemisch härtende und lichthärtende
Kompositmaterialien bei der Füllungstherapie einsetzen. Man ging bis-
her davon aus, dass die chemisch härtenden Materialien beim Aushär-
ten zum Mittelpunkt hin schrumpfen, während die Polymerisations-
schrumpfung bei den lichthärtenden Materialien zur Lichtquelle bzw.
zum angeätzten Schmelz gerichtet ist. Neuere Untersuchungen zeigen
jedoch, dass es offensichtlich nur minimal unterschiedliche Schrump-
fungsrichtungen bei chemisch oder lichthärtenden Kompositen gibt.
Die Schrumpfungsrichtung scheint vielmehr vom Kavitätendesign
und von der Art der Haftung an den Zahnhartsubstanzen abhängig zu
sein.
Unabhängig von der Art der Aushärtung wird die Polymerisation
durch Anregung eines Initiatormoleküls eingeleitet. Dieses kann durch
energiereiche Strahlung (Licht) oder durch einen chemischen Aktivator
in Radikale umgesetzt werden (Abb. 6.4). Die Radikale starten den Ver-
netzungsvorgang der Monomergruppen.
204 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Abb. 6.4: Für die Polymerisa-
tion von Kompositmateria-
Initiator lien wird ein Initiator durch
chemische Aktivierung bzw.
Bestrahlungsenergie in ein
Radikal umgewandelt.
chemischer Lichtenergie Durch Einwirkung des Radi-
Aktivator (h .n) kals kommt es zur Vernet-
zungsreaktion der Mono-
mermoleküle.
Radikal
Monomer Polymer
Vernetzung
Chemisch här- Chemisch härtende Komposite enthalten als Initiator meistens
tende Komposite Benzoylperoxid, das durch einen Akzelerator (tertiäres Amin) beim An-
mischen aktiviert wird; dabei werden Radikale freigesetzt. Um das Kom-
posit lagerfähig zu halten, werden spontan entstehende Radikale durch
Inhibitoren (z.B. 4-Methoxyphenol) abgefangen.
Bei chemisch härtenden Kompositen müssen zwei Pasten zusam-
mengerührt werden. Dabei kommt es zum Einmischen von Luftblasen
in das Material. Beim Aushärten werden diese als Poren sichtbar, die zu
einer Verfärbung des Komposits führen.
Die Abrasionsfestigkeit des Materials nimmt durch das Einmischen
dieser Porositäten ab. Außerdem ist der Polymerisationsgrad (Konversi-
onsgrad) geringer als bei lichthärtenden Materialien. Das führt zu einem
erhöhten Restmonomergehalt mit verringerter Pulpaverträglichkeit.
Andererseits härtet bei chemischer Polymerisation das Material ohne
weitere Energiezufuhr in der gesamten Dicke aus. Die Durchhärtungs-
zeit beträgt 4–5 min.
Es gibt zusammengesetzte Systeme, die sowohl licht- als auch che-
misch härtend sind (duale Systeme).
Lichthärtende Bei lichthärtenden Kompositen kann man zwischen UV-Licht-här-
Komposite tenden und Halogenlicht-härtenden unterscheiden. Da UV-Licht die
Netzhaut schädigt und eine nur geringe Tiefenpolymerisation erlaubt,
werden heute fast ausschließlich Halogenlicht-härtende Materialien
verwendet. Als Photoinitiator findet dabei in der Regel ein Diketon
(z.B. Kampferchinon) Verwendung. Das Diketon (Absorptionsmaxi-
mum bei 468 nm Wellenlänge) wird durch die Energie der Lichtquanten
angeregt und geht mit einem Reduktionsagens (aliphatisches Amin)
eine Reaktion ein. Es entsteht ein angeregter Komplex, der in Radikale
zerfällt und die Reaktion startet.
Kampferchinon und tertiäre Amine sind der Monomermatrix in
einer Menge von 0,1–0,4 Massenprozent zugesetzt. Als weiterer Fotoini-
tiator ist manchen Kompositen das Acylphosphinoxyd Lucerin TPO zu-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 205
gesetzt. Dieses absorbiert Licht bei einer Wellenlänge von 370–380 nm
und besitzt eine weniger gelbe Färbung als Kampferchinon.
Bei UV-Licht-Härtung wird Benzoinmethyläther als Photoinitiator
verwendet. Der Photoinitiator muss auf die Wellenlänge des verwende-
ten Lichts abgestimmt sein. Das Intensitätsmaximum sollte bei dieser
Wellenlänge liegen.
Einen neuen Weg der Aushärtungsreaktion findet man bei Silora-
nen. Es handelt sich hier um eine kationische Polymerisation (s. Kap.
6.1.2).
Bei lichthärtenden Materialien ist der Polymerisationsgrad (umge-
setzte Methacrylatgruppen) bei direkter Bestrahlung besser, die Aushär-
tung hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab.
Die Art der Lichtquelle (Intensität, Wellenlänge), der Abstand der
6
Lichtquelle, die Zusammensetzung des Komposits und dessen Farbe
haben Einfluss auf die Polymerisation.
Ein dunkles bzw. opaques Komposit lässt sich nicht so tief aushärten wie
ein helles oder transparentes. Mikrofüllerkomposite besitzen aufgrund
des Lichtstreuungseffekts der kleinen Füllkörper und der damit verbun-
denen Absorption eine schlechtere Konversion als konventionelle Kom-
posite. Das gilt auch für die modernen Feinstpartikel-Hybridkomposite.
Die Lichtintensität ist umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfer-
nung Lichtaustrittsfenster – Füllungsoberfläche. Man sollte daher mit
der Polymerisationsleuchte möglichst nahe an das Restaurationsmate-
rial herangehen. Bestrahlungsstärke und Belichtungszeit haben eben-
falls einen Einfluss auf die Durchhärtungstiefe. Die Konversionsrate
(Anzahl der in die Polymerisation eingehenden Doppelbindungen) be-
trägt 35–77%.
Komposite zeigen nach der Lichthärtung in einem Zeitraum von 24
Stunden eine Nachhärtung.
Sauerstoff ist ein Polymerisationsinhibitor. Aber auch andere Be-
standteile aus Unterfüllungs- oder provisorischen Verschlussmaterialien
können als Inhibitoren wirken (z.B. Eugenolreste). Eine Polymerisa-
tionsinhibition an den Innenflächen der Restaurationen bedeutet einen
erhöhten Restmonomergehalt und damit eine Gefährdung des Pulpage-
webes.
Die zur Aushärtung von Kompositmaterialien angebotenen Polyme- Polymerisations-
risationslampen emittieren in der Regel Licht der Wellenlänge zwischen lampen
400 und 500 nm. Insbesondere Halogenlampen decken dabei ein brei-
tes Wellenlängenspektrum ab. Zahlreiche LED-Geräte (LED = Light
Emitting Diode) haben ihr Intensitätsmaximum in einem eng definier-
ten Wellenlängenspektrum und können daher möglicherweise nicht
alle Kompositmaterialien oder Adhäsivsysteme ausreichend polymeri-
sieren. Sie weisen zudem eine erhebliche Lichtstreuung auf. Neuere Ge-
räte besitzen Lichtleiter oder Linsen, welche das Licht bündeln und sind
206 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
mit LEDs bestückt, die auch Komposite mit anderen Photoinitiatoren
als Kampherchinon aushärten können. In der Tabelle 6.4 sind unter-
schiedliche Lichtgeräte mit ihrer Lichtleistung dargestellt. Da auch in
diesem Bereich ständig neue Geräte auf den Markt kommen, erhebt
diese Tabelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Halogenlampen sind robust und härten alle Kompositmaterialien
zuverlässig aus. Die Lebensdauer der Glühbirne ist allerdings begrenzt
(etwa 6 Monate). Sie lassen sich aber meistens einfach und kostengüns-
tig auswecheln. LED-Lampen sind kostengünstige, meistens kabellose,
handliche Geräte und besitzen eine lange Lebendauer (LEDs halten bis
etwa 5 Jahre).
Die marktüblichen Lichtgeräte lassen sich in Direktgeräte und Ge-
räte mit glasfaserhaltigen, flexiblen Lichtleitern unterteilen.
Die Direktgeräte besitzen einen starren Lichtleiter und einen Pisto-
lengriff mit integrierter Lichtquelle. Sie sind robust und leicht zu hand-
haben. Bei LED-Lampen gibt es auch stabähnliche Gehäuse. Bei den fle-
xiblen Lichtleitern kann es zu Frakturen der Glasfasern kommen. Da-
mit nimmt die Lichtmenge im Austrittsfenster ab. Eine vollständige
Aushärtung der Komposite ist dann nicht mehr gewährleistet. Eine
nicht ausreichende Polymerisation von Kompositmaterialien führt zu
schlechten mechanischen Eigenschaften, Mikroleakage und einer mög-
lichen Abgabe von Monomerbestandteilen aus der Kompositmatrix. Es
wurde in den letzten Jahren versucht, mit energiereichen Lampen (z.B.
Plasmabogenlampen, veränderten Halogenleuchten, Argonlasern usw.)
die Polymerisationszeit massiv zu verkürzen. Dabei zeigte sich jedoch,
Tab. 6.4: Auswahl von unterschiedlichen Polymerisationsgeräten. Die ange-
gebene Lichtleistung entspricht den Herstellerangaben (nach Schmalz und
Arenholt-Bindslev 2005).
Lichttyp Gerät/Hersteller Leistung (mW/cm2)
LED Elipar Free Light I/3M ESPE 400
Elipar Free Light II/3M ESPE 1000
LUXoMAX/Akeda 300
GC e-Light/GC 350/750
Halogen Astralis 5/Ivoclar Vivadent 530
Blue Light/Mectron srl 880
Elipar Highlight/3M ESPE 800
Translux Energy/Heraeus Kulzer 900
Optilux 501/Demetron 1100
Astralis 10/Ivoclar Vivadent 1200
Plasmabogenlampe Aurys/degré K 1650
ADT 1000 PAC/ADT 1200
Apollo 95 E/DMDS 1600
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 207
dass es dann sehr häufig während der Polymerisation der Kompositma-
terialien zu einem erheblichen Spannungsaufbau kam, der entweder
zum Versagen des Komposit-Zahnhartsubstanz-Verbundes oder aber zu
Rissen im Kompositmaterial selbst führte. Zudem ist die Hitzeentwick-
lung dieser Lampen häufig so stark, dass entweder Schäden in der Pulpa
oder aber der Gingiva befürchtet werden müssen.
Für die Überprüfung der Lichtintensität gibt es zahlreiche Prüfgeräte
auf dem Markt, die allerdings den tatsächlichen Wert nicht anzeigen.
Verwendet man jedoch in der Praxis immer das gleiche Messgerät, kann
man einen Leistungsabfall des täglich verwendeten Lichtgerätes sehr ein-
fach erkennen. Für die Aushärtung direkter Kompositfüllungen sollte die
Lichtintensität der entsprechenden Polymerisationslampe 400 mW/cm2
oder mehr betragen. Bei der Aushärtung von Kompositzementen bei in-
direkten Füllungen und Stiftbefestigungen sollte eine Lichtintensität von
6
mindestens 800 mW/cm2 verwendet werden. Komposite sollten für eine
gute Konversion ca. 16 000 mWs/cm² Belichtung erhalten. Daraus ergibt
sich z.B., dass selbst eine 1000 mW-Lampe während der Polymerisation
einer Restauration mindestens 16 Sekunden im Einsatz sein sollte.
Polymerisationslampen sollten in festgelegten Zeiräumen kontrol-
liert werden. Dabei sollte insbesondere die Bestrahlungsstärke gemessen
und das Lichtaustrittsfenster auf Verunreinigungen untersucht werden.
Auch Halogenlicht (Blaulicht) gefährdet die Augen. Neben Blend-
wirkung werden auch Verletzungen der Retina beobachtet. Man sollte
daher während der Lichtpolymerisation nie direkt in das Licht schauen
bzw. einen Lichtschutz auf dem Lichtleiter oder eine Schutzbrille mit
Filterwirkung verwenden.
Mit lichthärtenden Kompositen ist eine Schichttechnik möglich.
Sie erlaubt eine optimale Farbgebung, eine bessere Gestaltung der Fül-
lungsmorphologie und eine gute marginale Adaptation.
6.1.2 Neuere Kompositmaterialien
! Die neueren Kompositmaterialien sind Modifikationen der ur-
sprünglichen Fein- und Feinstpartikelhybridkomposite. Zu ihnen
zählen die Kompomere, die Ormocere, Nanofüllerkomposite, Po-
lymergläser und Silorane.
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es sich dabei kaum um we-
sentliche Verbesserungen in den Materialeigenschaften handelt.
Die neu entwickelten Materialien bedeuten somit keinen „Quanten-
sprung“ in der Füllungstherapie. Die Polymerisationsschrumpfung der
Kompositfüllungswerkstoffe erfordert nach wie vor eine Konditionie-
rung von Schmelz und Dentin, um eine adäquate Lebensdauer zu garan-
tieren. In der Tabelle 6.5 sind die Indikationen für die verschiedenen
208 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Tab. 6.5: Indikation für die Verwendung zahnfarbener plastischer Füllungs-
materialien
Indikation Klasse Klasse Klasse Klasse Klasse Klasse Milch-
I II s II d III IV V molar
Hybridkomposit (inkl. Na- + + (+)* + + + +
nofüllerkomposit, Ormo-
cere)
Siloran + + (+)* – – – +
Kompomer + ? ? (+) – + +
Hybridionomer – – – – – + +
Hoch visköse GIZ –? –? –? – – + +
* wenn gute Trockenlegung möglich ist und die Präparationsgrenze gut zugänglich ist
s = schmelzbegrenzt
d = dentinbegrenzt
Materialgruppen zusammengefasst dargestellt. Dabei sind auch die in
dem Kapitel 6.2 beschriebenen Glasionomerzemente mit einbezogen.
Nanofüllerkomposite
Unter diesem Begriff werden heute unterschiedliche Weiterentwicklun-
gen von Kompositen zusammengefasst. Es handelt sich dabei um Mate-
rialien mit Füllkörpern, die eine ähnliche mittlere Teilchengröße wie
Mikrofüller besitzen. Allerdings entspricht der Füllkörpergehalt häufig
dem von Hybridkompositen, sodass entsprechend gute mechanische Ei-
genschaften resultieren. Diese Komposite sind sehr gut zu polieren und
behalten den dabei erzielten Glanz langfristig. Durch physikalische und
chemische Veränderungen können freie, nicht agglomerierte Mikrofül-
ler in die Matrix eingebaut werden. Dies war bei den konventionellen
Mikrofüllerkompositen nicht möglich, da sie sofort agglomerierten. Na-
nofüllerkomposite weisen aufgrund des hohen Füllstoffgehalts bessere
physikalische Eigenschaften als reine Mikrofüllerkomposite auf.
Kompomere
Kompomere (Polyalkensäure modifizierte Komposite) sind lichthär-
tende Komposite, die durch Glasionomerzement-Komponenten modifi-
ziert wurden. Während Glasionomerzemente angerührt werden müssen
und anschließend aufgrund einer Säure-Basen-Reaktion aushärten, han-
delt es sich bei Kompomeren i.d.R. um Ein-Komponenten-Materia-
lien, die erst nach Lichtzufuhr polymerisieren. Die von den Herstellern
anfangs postulierte Glasionomerzement-Reaktion kann ausschließlich
an Grenzflächen erfolgen, die mit feuchten Medien (Wasser, Speichel,
Dentinflüssigkeit) in Berührung kommen. Es handelt sich dabei also um
eine Reaktion, die nur in sehr dünnen Schichten abläuft.
Neben Kompomer-Füllungsmaterialien gibt es auch Werkstoffe zur
Befestigung von Restaurationen und orthodontischen Apparaturen.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 209
Diese sind selbst- bzw. dualhärtend. Es gibt zudem auch niedrig visköse,
„flowable“ Kompomere, zu denen bisher keine relevanten Studien be-
kannt sind.
Die Matrix der auf dem Markt befindlichen Kompomere enthält zu- Matrixbestand-
sätzlich zu der bei Kompositen üblichen Mischung verschiedener Di- teile
methacrylate säuremodifizierte Monomere, die aufgrund ihrer Hydro-
xylgruppen hydrophil sind. Die Wasseraufnahme von Kompomeren ist
dadurch wesentlich höher als die der üblichen Komposite.
Im Unterschied zu konventionellen Glasionomerzementen besitzen
die Karbonsäuren der Kompomere jedoch vernetzbare Doppelbindun-
gen. Aufgrund dieser Zusammensetzung sollten die beiden möglichen
Reaktionen – radikalische Polymerisation wie bei Kompositen und che-
mische Säure-Base-Reaktionen wie bei Glasionomerzement – ermöglicht
werden. Da Kompomere jedoch in nicht abgebundener Form kein Was-
6
ser enthalten, kann die Säure-Base-Reaktion erst dann induziert werden,
wenn das Material Wasser aufnimmt. Während der radikalischen Poly-
merisation muss das Material allerdings vor Wasserzutritt geschützt wer-
den.
Kompomere sind aufgrund der werkstoffkundlichen Eigenschaften
ähnlich zu verarbeiten wie Komposite.
Kompomere besitzen wie Hybridkomposite einen hohen Füllstoffanteil Füllstoffanteil
(bis 80 Gew.-%). Die Füllpartikel entstammen sowohl der Glasionomer-
zement- als auch der Komposittechnologie. Es handelt sich um ver-
schiedene Fluorosilikatgläser, die zum Teil silanisiert sind. Es können
sich jedoch auch disperse Siliziumdioxid-Partikel und andere Füllkör-
per, wie z.B. Ytterbiumfluorid und Strontiumfluorid, im Kompomer be-
finden. Die Füllkörper haben eine unterschiedliche Partikelgröße
(0,1 µm bis zu 10 µm). Da die Füllstoffe zum Teil mit Schwermetallen
versetzt sind, weisen Kompomere eine Röntgenopazität auf. Aus der
Komposittechnologie sind zudem Pigmente, Initiatoren und Stabilisato-
ren in der Matrix zu finden.
Kompomere werden, ähnlich wie Komposite, mit Adhäsivsystemen Verarbeitung
verarbeitet. Dabei empfehlen führende Hersteller Präparate mit selbst-
konditionierenden Primern.
Wie man der Tabelle 6.3 entnehmen kann, ähneln Biege-, Zug- und Mechanische -
Druckfestigkeit von Kompomeren den entsprechenden Werten für Mi- Eigenschaften
krofüllerkomposite. Kompomere schrumpfen um ca. 2–3 Vol.-%. Eine
anschließende Wasseraufnahme führt zu einer gewissen Quellung der
Materialien. Sie weisen ein ähnliches Elastizitätsmodul auf wie die Mi-
krofüllerkomposite. Sie sind daher speziell für Restaurationen indiziert,
bei denen es auf eine erhöhte Biegebeanspruchung ankommt (Klasse-V-
Restaurationen). Kompomere sind nach dem bisherigen Stand der For-
schung im Vergleich zu Hybridkompositen weniger abrasionsstabil. In
einem sauren Umgebungsmilieu wird der Abrasionswiderstand zusätz-
210 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
lich geschwächt. Bedenkt man, dass es bei Milchzähnen im Verlauf der
Jahre zu erheblichen Abrasionen der Zahnhartsubstanz kommt, so kön-
nen Kompomere eventuell aufgrund dieser Tatsache speziell für Restau-
rationen im Milchgebiss gut geeignet sein. Bisher ist ungeklärt, ob
man, ähnlich wie bei Kompositmaterialien, vor Aufbringen der entspre-
chenden Schmelz- und Dentinhaftvermittler mit Säure konditionieren
sollte. Kompomere werden häufig mit selbstkonditionierenden Adhä-
sivsystemen verwendet.
Eine Weiterentwicklung der Kompomermaterialien macht es nach
Herstellerangaben auch möglich, diese im kaudruckbelasteten Seiten-
zahnbereich anzuwenden. Allerdings liegen hierzu bisher nur begrenzte
klinische Daten vor.
Fluorid- Kompomerfüllungen können Fluorid freisetzen. Diese Fluoridfrei-
freisetzung setzung beruht in erster Linie auf dem Fluoridgehalt der beigefügten
Füllkörper. Es ist bisher für die In-vivo-Situation nicht geklärt, in welcher
Höhe und wie lange Fluorid aus einer Kompomeroberfläche freigesetzt
wird. Es konnte bisher auch in klinischen Studien nicht nachgewiesen
werden, ob die propagierte Fluoridfreisetzung tatsächlich zu einer, im
Vergleich zu anderen Füllungsmaterialien, verminderten Sekundärka-
riesrate führt. Da die Restaurationstechnik der von Kompositen nahezu
identisch ist, wird auf eine spezielle Beschreibung verzichtet.
Ormocere
Matrix Ormocere sind organisch modifizierte Keramikmaterialien (organically
modified ceramic = Ormocere). Im Gegensatz zu herkömmlichem Kom-
posit besteht die Matrix bei diesem neuen Füllungsmaterial zum Teil aus
einem anorganischen, bereits „vorpolymerisierten“ Netzwerk, das mit
organischen Methacrylatgruppen „versetzt“ ist, die nach dem Polymeri-
sationsstart vernetzen. Diese Reaktion wird wie bei anderen Kompositen
mit Licht initiiert.
Der Ormocer-Matrix sind Füllstoffe und Additiva sowie zur besseren
Verarbeitung Moleküle aus der ursprünglichen Komposittechnologie
(Dimethacrylate) zugesetzt.
Die bisher erhältlichen Materialien sind nach Herstellerangaben in
allen Indikationsbereichen, die bisher durch Kompomere, Komposite
und Amalgam abgedeckt wurden, einzusetzen.
Aufgrund der speziellen Chemie lassen sich nach Aushärtung aus
dem Füllungsmaterial weniger Restmonomere eluieren. Dies würde
bedeuten, dass die toxikologischen Nebenwirkungen geringer wären. An-
dererseits müssen auch Füllungsmaterialien auf Ormocerbasis mit einem
entsprechenden Adhäsivsystem verarbeitet werden, sodass das allergolo-
gische und toxikologische Potenzial des Gesamtkomplexes Matrix, wei-
tere Bestandteile, Füller und Adhäsivsystem betrachtet werden muss.
Füllstoff Als Füllstoff ist der Matrix neben Bariumglas ein modifiziertes Apa-
tit zugesetzt. Die auf dem Markt befindlichen Materialien setzen zudem
wie die Kompomere Fluorid frei.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 211
Nach Herstellerangaben sind Abrasion und Polymerisations- Polymerisations-
schrumpfung geringer als bei den üblichen Kompositmaterialien. Eine schrumpfung
abschließende Beurteilung des Füllungswerkstoffs ist jedoch erst nach
Vorliegen von klinischen Langzeitergebnissen möglich. Man weiß je-
doch heute, dass die Schrumpfung im Bereich moderner Feinpartikelhy-
brid-Komposite liegt.
Poly(mer)gläser
Ein weiteres Kompositmaterial basiert auf sogenannten Poly(mer)glä- Matrix
sern. Die Matrix dieses Materials besteht aus tetra- bis hexafunktionel-
len Molekülen, die eine höhere Vernetzungsdichte aufweisen als die
Matrix herkömmlicher bifunktioneller Monomere (z.B. Bis-GMA,
TEGMA). Der Hersteller bezeichnet diese Matrix als organische Glas-
matrix bzw. Matrix aus mehrfunktionellen vitroiden Polygläsern.
6
Dieser Matrix sind Fluorid freisetzende, volumenvergrößernde, po-
lyglobuläre Füllstoffe zugesetzt, die einen Volumenanteil von 92%
(65 Gew.-%) ausmachen. Es handelt sich um infiltrierbare Silikat-Gläser
mit einer durchschnittlichen Partikelgröße von 8–11 µm. Die Partikel
sollen infiltrierbar sein, d.h., sie sollen einen Teil der Polyglasmatrix auf-
nehmen können. Als weitere Füllkörper sind herkömmliche Ba-Al-Si-F-
Gläser (mittlere Größe 0,7 µm), Al-Si-F-Gläser (mittlere Größe 1 µm)
und Sr-F-Gläser (mittlere Größe < 1 µm) enthalten.
Vom Hersteller werden die gute Stopfbarkeit und die Standfestigkeit Anwendung
des Materials bei der Modellation hervorgehoben.
Die infiltrierbaren Füllkörper nehmen allerdings Farbpigmente auf,
sodass der Volumenanteil nachfolgend wiederum deutlich reduziert
werden musste. Die porösen Füllkörper sind zudem anfällig gegen Er-
müdungsbelastungen, sodass es bei der klinischen Anwendung nicht
selten zu Randfrakturen kommt.
Das Material wird wie andere „stopfbare“, hoch gefüllte Komposite
verarbeitet.
Silorane
Üblicherweise wird die Polymerisationsschrumpfung von Kompositma- Polymerisations-
terialien durch Optimierung des Füllkörperanteils reduziert. Da der Füll- reaktion
körperanteil jedoch nicht beliebig erhöht werden kann, versucht man
heute mit neuen Monomermolekülen, die sich bei der Polymerisations-
reaktion nicht verkürzen, die Schrumpfung zu reduzieren. Es gibt in die-
ser Gruppe bisher ein kommerziell verfügbares Komposit, bei dem sich
das Matrixsystem grundlegend von den bisher üblichen Monomeren
unterscheidet. Diese Stoffgruppe wird als Siloran bezeichnet, wobei es
sich um die Kombination der chemischen Bestandteile Oxiran und Silo-
xan handelt. Oxirane sind im Prinzip Epoxide, das heißt sehr reaktions-
fähige, zyklische organische Verbindungen. Das Grundgerüst ist wie bei
den Ormoceren eine Polysiloxan-Skelettstruktur (Abb. 6.5). Die Vernet-
zung der Silorane erfolgt über eine Polymerisation der Oxirangruppen.
212 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Abb. 6.5: Chemische Grundstruktur der Siloran-Matrix
Abb. 6.6: Kationische Polymerisation (nach Weinmann et al. 2005)
Dabei benötigt man keine Radikale, sondern Kationen für den Reakti-
onsstart. Durch die Anlagerung eines sauren Kations an den Oxiranring
wird dieser geöffnet (Expansion) und gleichzeitig bildet sich ein neues
Kation (ein sogenanntes Carbokation), sodass die Polymerisation weiter
fortschreiten kann (Abb. 6.6).
Adhäsivsystem Aufgrund dieser Reaktion sind Silorane nicht mit den klassischen,
radikalisch initiierten Kompositwerkstoffen kompatibel und man benö-
tigt für diese Komposite ein speziell entwickeltes Adhäsivsystem. Silo-
rane sind sehr hydrophob, wodurch die Wasseraufnahme stark verrin-
gert sein soll. Gleichzeitig verlangt diese Eigenschaft, dass das Siloranad-
häsivsystem eine hydrophile (Bindung zum Dentin) und eine
hydrophobe Komponente (Bindung zum Komposit) aufweist. Beide
Schichten werden jeweils getrennt mit Licht ausgehärtet.
Fotoinitiator- Die kationische Polymerisation der Silorane erfordert auch ein
system neues Fotoinitiatorsystem. Dieses besteht aus drei Komponenten: ei-
ner lichtabsorbierenden Komponente (z.B. Kampherchinon), einem
Elektronendonator (z.B. einem Amin) und einer dritten Komponente
(z.B. einem Iodoniumsalz, Abb. 6.7). Durch die Zufuhr von Lichtenergie
wird wie üblich Kampherchinon angeregt. Dieses angeregte Kampfer-
chinon reagiert mit einem Elektronendonor und übernimmt von die-
sem ein Elektron. Der positiv geladene Elektronendonator spaltet an-
schließend ein Proton ab, wodurch das Iodoniumsalz in ein Kation und
ein Anion zerlegt wird. Das Kation startet die kationische Polymerisa-
tion, die aber erst dann beginnt, wenn eine bestimmte Menge Kampher-
chinon mit dem Elektronendonator reagiert hat. Es ist damit auch ge-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 213
Abb. 6.7: 3 Komponenten für die lichtaktivierte kationische Polymerisation
lungen, die Verarbeitungszeit unter Raumlichtbedingungen erheblich
zu verlängern (bis zu 8 Minuten). Bei der Polymerisation entsteht keine
Sauerstoffinhibitionsschicht. Diese ist aber auch bei diesen Materialien
6
nicht erforderlich, da sich die unterschiedlichen Inkremente bei
Schichttechnik verbinden, weil immer Kationen für das Kettenwachs-
tum erhalten bleiben und auch an der jeweiligen Schichtoberfläche zur
Verfügung stehen. Da die kationische Polymerisation langsamer abläuft
als die radikalische Polymerisation, entstehen während der Aushärtung
weniger Polymerisationsspannungen.
Das bisher verfügbare Material auf Siloranbasis weist im Gegensatz
zu den üblichen Mikro- und Nanohybridkompositen eine geringe Rönt-
genopazität auf und ist bislang auch nicht für Frontzahnrestaurationen
geeignet, da die entsprechende Farbgebung fehlt. Die neue Chemie ver-
spricht jedoch Komposite mit einer geringeren Schrumpfung, einer ver-
minderten Wasseraufnahme sowie einer verbesserten Reparaturmög-
lichkeit und längeren Verarbeitungszeit. Das auf dem Markt erhältliche
Material enthält 76% Füllkörper, 23% Siloranmatrix, 1% Initiatoren,
Stabilisatoren und Pigmente.
Neben dieser gänzlich neuen Matrixtechnologie für Komposite
wurde auch versucht, mit einer Vergrößerung des Molekulargewichts
der entsprechenden Monomere das Schrumpfungsverhalten zu verän-
dern. Dabei wurden modifizierte Urethandimethacrylatmoleküle bzw.
dimere saure Monomere verwendet.
Es wurden zudem Komposite entwickelt, die antibakterielle Agen-
tien enthalten. Die antibakterielle Effektivität dieser Materialien nach
Polymerisation ist jedoch stark eingeschränkt.
6.1.3 Schmelzkonditionierung (Schmelz-Ätz-Technik)
! Kompositrestaurationsmaterialien gehen keine chemische Ver-
bindung mit Zahnhartsubstanzen ein.
Aufgrund der Polymerisationsschrumpfung kommt es beim Aushärten
zu einem Volumenverlust. Ein Randspalt zwischen Kompositfüllung
214 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
und Zahnhartsubstanz ist die Folge. Der unterschiedliche thermische
Ausdehnungskoeffizient und andere chemische und physikalische Ei-
genschaften der Komposite sind weitere Kofaktoren für die Entstehung
von Randspalten. In diese Spalten können Mikroorganismen der Mund-
höhle mit dem Speichel eindringen. Unter Belastung wird die Mund-
höhlenflüssigkeit regelrecht in den sich weiter öffnenden Randspalt
„gepumpt“ (Perkolation). Es kommt zu marginalen Verfärbungen der
Restauration und zu Sekundärkaries. Diese mangelnde Randadaptation
der Komposite lässt sich durch makromechanische Retentionen nicht
kompensieren.
Damit sich Kompositmaterialien dauerhaft mit dem Zahnschmelz
verbinden, wird er vor Einbringen des Füllungsmaterials konditio-
niert. Durch die Schmelzvorbehandlung werden eine bessere Be-
netzbarkeit, eine Oberflächenvergrößerung und ein Mikroreten-
tionsrelief erzielt.
Es kommt zu einem verbesserten Kontakt zwischen Komposit und
Zahnhartsubstanz.
Die Schmelz-Ätz-Technik geht auf Buonocore (1955) zurück, der ver-
suchte, mit dieser Technik einen niedrig viskösen Fissurenversiegler am
Zahnschmelz dauerhaft und randdicht zu verankern.
Schmelzkonditionierung beinhaltet mehrere aufeinander folgende
Schritte:
Reinigung D Der Zahnschmelz wird mit einer Prophylaxepaste gereinigt, um or-
ganische und anorganische Auflagerungen zu entfernen.
Anschrägung D Die Kavität wird im Schmelzrandbereich angeschrägt. Damit soll er-
reicht werden, dass die Schmelzprismen senkrecht angeschnitten wer-
den. Die Ätzwirkung ist bei senkrecht angeschnittenen Schmelzpris-
men besser als bei lateral getroffenen. Gleichzeitig werden durch die
Schmelzanschrägung bei jugendlichen Zähnen eventuell vorhandene
aprismatische Schmelzbereiche entfernt. Aprismatischer Schmelz er-
gibt kein retentives Ätzmuster. Im Zahnhalsbereich, bei Milchzähnen
und in Fissuren ist aus diesem Grund eine Schmelzätzung oft nur ein-
geschränkt möglich. Im Seitenzahnbereich wird bei Anwendung der
Adhäsivtechnik insbesondere bei größeren Kavitäten im gesamten
Füllungsrandbereich auf eine ausgeprägte Anschrägung verzichtet.
Die Gründe dafür sind in den entsprechenden Kapiteln genannt.
Trockenlegung D Durch eine adäquate Trockenlegung muss die Zahnoberfläche vor
Speichel und Blut geschützt werden. Mit der Verwendung von Kof-
ferdam lässt sich diese Anforderung sicher erfüllen.
Ätzung D Der Zahn wird im angeschrägten Schmelzbereich mit 37%iger Phos-
phorsäure für mindestens 30 Sekunden angeätzt.
Spülung D Anschließend muss die Säure ausreichend lang mit einem ölfreien
Wasserspray abgesprüht und der Zahn anschließend sorgfältig ge-
trocknet werden. Es resultiert klinisch eine weiße opake Ätzzone.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 215
Abb. 6.8: Die Adhäsionskraft
von Komposit am angeätz- Adhäsionskraft (kg/cm2)
ten Zahnschmelz nimmt 100
mit zunehmender Konzen- 30%
tration der Phosphorsäure 20%
80 40%
zu. Gleichzeitig geht mehr 60%
Kalzium in Lösung. Ab einer 50%
Säurekonzentration von 60
10%
40% nimmt die Adhäsions-
kraft wieder ab, da Kalzium- 40
Phosphat-Präzipitate auf 1%
der Schmelzoberfläche aus- 20
fällen (nach Ohsawa 1972).
0
0 400 500 600 700 800 900 1000
gelöste Menge Kalzium (ppm)
6
Orthophosphorsäure zwischen 30 und 40 Gew.-% zeigt eine konstante
Ätzwirkung (Abb. 6.8).
Säurekonzentrationen unter 30% führen zur Ablagerung von Säure-
schwer löslichem Brushit (CaHPO4 × 2 H2O) auf dem Zahnschmelz. konzentration
Diese Verbindung lässt sich mit Wasserspray schlecht entfernen und be-
hindert den Verbund von Komposit mit Zahnschmelz.
Säurekonzentrationen über 40% führen zur raschen Präzipitation
von Kalziumphosphatverbindungen, die eine Konditionierung des
Schmelzes behindern. Aber auch beim Ätzen mit 30- bis 40%iger Ortho-
phosphorsäure kommt es zu Kalziumphosphatpräzipitaten auf dem
Schmelz, die anschließend sorgfältig weggesprüht werden müssen.
Auch Säurereste können den Verbund zwischen Adhäsiv und Zahn-
hartsubstanz stören. Sie müssen daher nach der Schmelzätzung sorgfäl-
tig entfernt werden.
Bei der Schmelzätzung entsteht ein mikroretentives Relief durch
die unterschiedliche Auflösung der Schmelzprismen bzw. der interpris-
matischen Substanz (unterschiedliche räumliche Orientierung).
D Werden die Schmelzprismen angelöst, so erhält man Ätztyp I. Ätztypen
D Wird die Peripherie (zwischenprismatische Substanz) durch die
Säure angeätzt, so erhält man Ätztyp II.
D Werden Schmelzprismen und zwischenprismatische Substanz in
ähnlicher Art und Weise angeätzt, so entsteht ein Mischtyp (Typ
III) mit geringerer Retentionswirkung für Komposit (Abb. 6.9).
Beim Ätzen geht eine Schmelzschicht von ca. 10 µm irreversibel verlo-
ren. Die histologischen Veränderungen (Gruften, Gruben, Spalten) rei-
chen bis in eine Tiefe von 30–50 µm. Wie bereits oben erwähnt, werden
durch Konditionierung eine Oberflächenvergrößerung, eine Erhö-
hung der Reaktionsfähigkeit der Schmelzstrukturen und eine Verbes-
serung der Benetzbarkeit (um bis zu 400%) erreicht. Wird ein derartig
veränderter Zahnschmelz mit einem niedrig viskösen Kompositmaterial
bzw. mit einem Schmelzhaftvermittler (Bonding) benetzt, so dringt die-
216 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
zwischenprismatische Schmelzprismen
Substanz
a b c
Abb. 6.9: Nach Schmelzkonditionierung entsteht ein retentives Ätzmuster im Zahnschmelz. Durch die
räumliche Ausrichtung der Schmelzkristalle entstehen unterschiedliche Ätzmuster: a) Ätztyp I: vornehm-
lich Prismenzentren weggelöst, b) Ätztyp II: vornehmlich zwischenprismatische Substanz weggelöst, c) Ätz-
typ III: Mischtyp.
ser in die schwammartigen Strukturen ein und haftet mikromechanisch
am Zahnschmelz aufgrund rheologischer und geometrischer Effekte
(Abb. 6.10). Es resultiert nach dem Aushärten eine typische Schichtung,
die bei einem Schnitt durch den Kavitätenrand im Mikroskop erkennbar
ist (Abb. 6.11).
Durch Konditionierung des Zahnschmelzes und Anwendung eines
geeigneten niedrig viskösen Adhäsivs kommt es zu einer randspalt-
freien Restauration aufgrund mikromechanischer Verankerung.
Chemische Adhäsion im Sinne einer ionischen oder kovalenten Bin-
dung ist zwischen Kompositmaterialien und Zahnhartsubstanzen bis-
her nicht nachgewiesen worden.
Abb. 6.10: Nach Benetzung
niedrig- einer konditionierten
visköses Schmelzoberfläche mit ei-
Adhäsiv
(z.B. nem niedrig viskösen
Schmelz- Schmelzhaftvermittler
bonding) (Bonding) kommt es beim
Aushärten zu einer mikro-
Schmelz mechanischen Haftung
a durch geometrische Effekte
(a) bzw. zum Aufschrump-
fen des Adhäsivs auf die
niedrig- Schmelzzotten (rheologi-
visköses scher Effekt) (b) (nach Lutz
Adhäsiv et al. 1976).
(z.B.
Schmelz-
bonding)
retentives
Ätzmuster
b
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 217
Abb. 6.11: Ein Schnitt durch a
den Randbereich einer Kom- 5 mm
positrestauration lässt typi-
sche Schichten erkennen:
a) Die Zone der kompakten b
Schicht (entspricht der Ver- 1030 mm
sieglerschicht auf dem
Zahnschmelz). b) Die Zone
der Zotten entsteht durch
Penetration des Versieglers c
in die weggelösten 020 mm
Schmelzanteile. Die ausge-
härteten Adhäsivausläufer
werden auch als „tags“ bezeichnet. Sie sind für die mikromechanische Haftung
des Adhäsivs am Zahnschmelz verantwortlich. c) Die Zone der Durchmischung
entsteht nach Anätzen von Kristallen der Prismen und zwischenprismatischen
Substanz. Anschließend vermischen sich Adhäsiv und Kristalle. Diese Schicht ver-
bleibt auch nach Verlust einer Kompositfüllung im Randbereich einer Kavität und
muss bei erneuter Füllungstherapie durch Wegschleifen entfernt werden (nach
6
Lutz et al. 1976).
Fluorotischer, fluoridreicher und aprismatischer Zahnschmelz las-
sen sich nicht im gleichen Maße konditionieren, da aufgrund der verän-
derten Löslichkeitseigenschaften kein ideales Ätzmuster entsteht.
Angeätzter Schmelz, der im Rahmen der Füllungstherapie nicht mit
Kunststoff bedeckt wurde, kann sich leicht durch Eindringen exogener
Farbstoffe (Kaffee, Tee, Teer) verfärben. Durch die Politur der Komposit-
füllungen wird angeätzter, nicht bedeckter Zahnschmelz im Randbe-
reich einer Kavität jedoch meistens entfernt. Außerdem werden verse-
hentlich angeätzte Bereiche durch Kalziumphosphatpräzipitate aus dem
Speichel mineralisiert, und es lagern sich Proteine des Speichels im Be-
reich dieser rauen Zahnoberflächen auf.
Fluoridierungsmaßnahmen nach erfolgter Kompositrestauration
unterstützen die Remineralisation versehentlich angeätzter Berei-
che.
Das hydrophobe Komposit geht mit feuchtem Dentin keine Verbindung
ein, und es entsteht beim Auspolymerisieren ein Randspalt mit den be-
kannten Folgen. Um dennoch zahnfarbene plastische Füllungsmateria-
lien in diesen Problembereichen anwenden zu können, muss auch Den-
tin adäquat vorbehandelt werden.
218 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
6.1.4 Dentinkonditionierung – Dentinhaftvermittler
(Dentinbonding)
! Die chemische und strukturelle Zusammensetzung des Dentins
(Dentinkanälchen mit Dentinliquor, organische Bestandteile,
Schmierschicht) lässt eine mikromechanische Haftung eines hy-
drophoben Kompositmaterials nicht zu. Aufgrund der physikali-
schen und chemischen Eigenschaften der Komposite kommt es
daher bei Anwendung des Materials zur Ausbildung eines Rand-
spalts mit den bekannten Folgeerscheinungen (z.B. Sekundärka-
ries).
Für Kompositrestaurationen, die im Dentin verankert werden sollen,
muss demnach ein Haftvermittlersystem verwendet werden, das es er-
laubt, ein hydrophobes Material an einem hydrophilen Substrat (Den-
tin) zu befestigen.
Chemische Zu- Daher wurden Dentinhaftvermittler entwickelt, die eine chemische
sammensetzung Bindung mit dem organischen bzw. anorganischen Anteil des Dentins
eingehen sollen. Ein solcher Dentinhaftvermittler lässt sich prinzipiell
mit der Formel M-R-X darstellen. Dabei verkörpert M eine Methacrylat-
gruppe, R einen Distanzhalter und X eine funktionelle Gruppe, die
mit dem Dentin reagieren soll. Es gibt dabei prinzipiell zwei unter-
schiedliche Möglichkeiten. So kann die funktionelle Gruppe als Phos-
phatester mit dem Kalzium des Hydroxylapatits im Dentin reagieren.
Eine zweite Möglichkeit besteht in der Reaktion einer funktionellen
Gruppe mit den Amino- bzw. Hydroxylgruppen der organischen Kom-
ponenten, z.B. dem Kollagen des Dentins. Zahlreiche Untersuchungen
konnten zeigen, dass eine derartige chemische Haftung mit dem Dentin
unwahrscheinlich ist.
Erste Generation Deshalb kommt heute den Dentinhaftvermittlern der ersten Ge-
neration klinisch keine Bedeutung mehr zu.
Zweite Generation Auch bei den Systemen der zweiten Generation, welche die
Schmierschicht modifizierten, war die Haftung gering (Abb. 6.12).
Dritte Generation Es wurden daher neue Adhäsivsysteme entwickelt, die eine mikro-
mechanische Verankerung des hydrophoben Kompositmaterials mit
der feuchten Dentinoberfläche ermöglichen. Dazu muss das Dentin
durch Säureeinwirkung demineralisiert werden. Dabei wird das Kolla-
gen mehr oder weniger stark freigelegt. Es kommt zu einem irreversiblen
Verlust von Dentin im Bereich von 10 µm. Das Kollagennetzwerk wird
zusätzlich in einer Tiefe bis ca. 30 µm frei gelegt. Das frei gelegte Kolla-
gen wird dann von einem Primer, welcher ein hydrophiles Monomer
enthält, durchdrungen und anschließend durch ein Dentinadhäsiv sta-
bilisiert (Abb. 6.13). Je nach Adhäsivsystem ist zusätzlich noch die Ap-
plikation eines speziellen Schmelzbondings (Schmelzadhäsivs) erfor-
derlich.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 219
Erhaltung der Auflösung
Schmierschicht der Schmierschicht
infiltrierter Dentinadhäsiv
Schmier-
pfropfen
Infiltration des
Schmelz- Dentinhaftvermittlers
haft- in das Kollagen
vermittler A B C des intertubulären
(Bonding) Dentins
Dentin-
adhäsiv B
infiltrierte Deminerali-
Schmier- C sationstiefe
schicht (ca. 30 mm)
Schmier-
propfen
tag
6
intertubuläres
Dentin
peritubuläres
Dentin I II
Dentin-
tubulus
Ausmaß der Demineralisation
Abb. 6.12: Schematische Darstellung des Komposit-Dentin-Verbundmechanismus nach Vorbehandlung mit
unterschiedlichen Dentinhaftvermittlern: a) Dentinhaftvermittler (hydrophile Monomere) infiltrieren und
verstärken die Schmierschicht (Entanglement). Diese Form der Dentinhaftung wurde verlassen, da die Haf-
tung zu gering war. b) Dentinhaftvermittler mit demineralisierenden Bestandteilen (z.B. Maleinsäure) lö-
sen die Schmierschicht auf und demineralisieren das Dentin minimal. Ein Teil der Schmierschicht repräzipi-
tiert. Es entstehen eine infiltrierte Schmierschicht, infiltrierte Schmierpfropfen und eine Verbindung zum
oberflächlich freigelegten Kollagen des intertubulären Dentins. c) Nach Konditionierung mit einem
Cleanser (EDTA, Säuren) kommt es zur vollständigen Auflösung der Schmierschicht. Die Dentintubuli sind
geöffnet und das intertubuläre Dentin wird demineralisiert (I). Dabei wird Kollagen frei gelegt. Bei einigen
Mitteln wird auch das peritubuläre Dentin demineralisiert (II). Nach Einsickern des Dentinadhäsivs ent-
steht eine Hybridschicht aus hydrophilen Monomeren und Kollagen. Es entstehen zudem „tags“ in den
Dentintubuli (nach van Meerbeck et al. 1992).
Ein modernes Adhäsivsystem besteht aus einem Konditionierer
(Säuren, Komplexbildner), einem Primer (hydrophiles Monomer in
einem Lösungsmittel) und einem Adhäsiv (verschiedene Mono-
mere).
Als Säuren werden dabei Zitronensäure (10%ig), Phosphorsäure (10- bis
40%ig), Salpetersäure (4%ig), Maleinsäure (2- bis 4%ig) verwendet. Zu-
sätzlich können auch Komplexbildner (EDTA, 5–16%) zur Konditionie-
rung verwendet werden.
In Primern findet man wasserlösliche Mono- und Dimethacrylate
wie z.B. Hydroxyethylmethacrylat (HEMA), Hydroxypropylmethacrylat
(HPMA), Biphenyl-dimethacrylat (BPDM), Polyethylen-glycol-dimetha-
crylat (PEGDMA) sowie phosphonierte Mono-, Di- und Polymethacrylate
wie z.B. Dipentaerytritolpentamethacryloyloxyphosphat (PENTA) sowie
Säuremonomere und Lösungsmittel wie Wasser, Aceton und Alkohol.
220 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Abb. 6.13: Schematische
freigelegtes Kollagen Darstellung der Dentinhaft-
des intertubulären Dentins
vermittlung nach Anwen-
dung dentinkonditionieren-
der Adhäsivsysteme: a)
Nach Auftragen einer Säure
(isoliert oder im Primer-Ad-
peri- häsiv-System enthalten)
tubuläres kommt es zur Demineralisa-
Dentin
tion des oberflächlichen
Dentins und Freilegung von
Dentin- Kollagen. Dieses Kollagen
liquor ist aufgerichtet, solange
Feuchtigkeit vorhanden ist.
Gleichzeitig wird das peritu-
a buläre Dentin der Tubuliein-
gänge „angeätzt“. b) An-
schließend wird ein Primer
Primer mit einem hydrophilen Mo-
nomer aufgebracht, der in
das Kollagen und das
„feuchte“ Dentin einsickert.
Der Primer bereitet das
Dentin für die Aufnahme ei-
nes Dentinadhäsivs vor,
welches anschließend appli-
ziert wird. c) Nach Lichthär-
tung wird dieses gesamte
b System stabilisiert. Es ent-
steht eine Hybridschicht
Dentin- aus Kollagen, Primer und
adhäsiv Adhäsiv.
Hybrid-
schicht
Das Dentinadhäsiv besteht aus amphiphilen Mono- und Dimeth-
acrylaten wie z.B. 4-Methacryloyloxyethyl-trimellitat-anhydrit (4-META),
N-Phenyl-glycin-glycidyl-methacrylat (NPGGMA) sowie Polymethyl-
methacrylat (PMMA) und phosphonierte Mono-, Di- und Polymethacry-
late. Zusätzlich können Bisphenol-A-diglycidyl-methacrylat (Bis-GMA),
Triethylenglycol-dimethacrylat (TEGDMA) bzw. Urethan-dimethacrylat
(UDMA) enthalten sein. Als Lösungsmittel können wieder Wasser, Ace-
ton oder Alkohol dienen. Auch Dentinadhäsive können wasserlösliche
Mono- und Dimethacrylate wie HEMA und PEGDMA enthalten.
Als Schmelzadhäsiv wird ein ungefülltes, niedrig visköses Dimeth-
acrylat verwendet.
Klinisch kann das Grundprinzip der Realisierung einer Dentinadhä-
sion auf verschiedene Art und Weise erreicht werden. Dabei wird nach-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 221
folgend nur sehr allgemein auf die klinische Vorgehensweise eingegan-
gen, da eine Vielzahl von Systemen auf dem Markt ist.
Selektive Schmelzätzung und selektive Dentinkonditionierung (dritte
Generation)
Zunächst ging man noch davon aus, dass es nach Applikation von Phos- Wirkprinzip
phorsäure auf Dentin zur Pulpaschädigung kommt. Daher wurde der
Schmelz selektiv mit Phosphorsäure in üblicher Art und Weise kondi-
tioniert. Anschließend wurde das angeschliffene Dentin mit einem Pri-
mer vorbehandelt, der eine milde Säure (z.B. Maleinsäure, Glutarsäure,
Dicarbonsäuren oder anorganische Säuren) enthielt (selbstkonditio-
nierender Primer, Abb. 6.14a). Durch Aufbringen des Primers wurde
die Schmierschicht aufgelöst und das Dentin oberflächlich deminerali-
siert, wobei das Kollagen frei gelegt wurde. Im Primer befinden sich
6
gleichzeitig hydrophile Monomere (z.B. HEMA), die in die Dentintubuli
und in das frei gelegte Kollagen eindringen. Damit das frei gelegte Kol-
lagen nicht kollabiert, kann dem Primer Wasser als Lösungsmittel zuge-
fügt sein. Der Primer soll nach einer Einwirkzeit von zirka 30 Sekunden
verblasen werden, um das Lösungsmittel (Wasser, Aceton, Alkohol) zu
entfernen. Nach Trocknen des Primers fällt die Schmierschicht partiell
wieder aus.
Anschließend wird ein Dentinadhäsiv aufgetragen, das Methacry-
late enthält. Das Adhäsiv dient als Vermittler zwischen dem hydrophi-
len Dentin und dem hydrophoben Komposit (Amphiphilie). Das Adhä-
siv kann zusätzlich Fixierungsmittel wie z.B. Glutaraldehyd enthalten.
Es folgt bei einer derartigen Vorgehensweise das Aufbringen eines
Schmelzbonders. Das Dentinadhäsivsystem und der Schmelzbonder
werden nach dem Auftragen kurz ausgehärtet, um eine hohe initiale
Haftfestigkeit des Dentinhaftvermittlers zu garantieren.
Anschließend erfolgt die Insertion des Kompositmaterials. Durch
die Infiltration der aufgebrachten Primer in das frei gelegte Kollagen
kommt es zur Ausbildung einer sogenannten Hybridschicht zwischen
Komposit und Dentinfläche. Gleichzeitig dringen Primer und Teile des
Dentinadhäsivs in die Dentinkanälchen ein und bilden hier nach Aus-
härtung Zapfen („tags“). Man nimmt heute an, dass die Haftung der
Dentinadhäsive in erster Linie auf einer mikromechanischen Retention
im Bereich des intertubulären Dentins beruht und nicht auf der Ausbil-
dung von „tags“ in den Dentinkanälchen.
Diese klassischen Mehr-Flaschen-Systeme führten in vitro zu rela- Bewertung
tiv guten Haftwerten im Dentin und haben sich auch klinisch bewährt.
Die Anwendung derartiger Systeme ist jedoch sehr kompliziert, sodass
der Wunsch nach einfacherer Verfahrensweise zur Entwicklung neuer
Verfahren führte. Zusätzlich war relativ schnell klar, dass eine selektive
Schmelzätzung klinisch sehr schwierig zu erreichen ist, da die Phos-
phorsäure insbesondere bei der Restauration minimalinvasiver Defekte
häufig auch das Dentin benetzt.
222 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Etch-and-Rinse-Technik (Total-Ätz-Technik)
Vierte Generation Bei der totalen Ätz-Technik (Abb. 6.14b) werden Schmelz und Dentin si-
multan mit einer Säure geätzt (vierte Generation). Bei der Etch-and-
Rinse-Technik werden etwa 5–8 µm des intertubulären Dentins vollstän-
dig demineralisiert. Die gängigen Systeme verwenden dazu 20- bis
37%ige Phosphorsäure. Bei einer sogenannten Überätzung des Dentins
kommt es jedoch nicht zu einem entsprechenden Haftverbund; daher
wird die Phosphorsäure erst auf den Zahnschmelz (Einwirkzeit 30 s) und
anschließend auf das Dentin aufgebracht. Hier wirkt die Säure ca.
15–20 s ein und wird dann insgesamt abgesprüht. Die Schmierschicht
wird bei diesem Vorgang vollständig entfernt. Es kommt genau wie bei
den selbstätzenden Primern zu einer Demineralisation des Dentins, wo-
bei wiederum Kollagen frei gelegt wird. Damit dieses Kollagengeflecht
nicht kollabiert, sollte das Dentin nicht übertrocknet werden. Bei eini-
gen Systemen, bei denen der nachfolgend aufgebrachte Primer Azeton
enthält, ist es sogar erforderlich, dass das Dentin regelrecht feucht bleibt
(wet bonding, moist bonding). Darunter ist jedoch nicht zu verstehen,
dass das konditionierte Dentin bzw. der konditionierte Schmelz mit Blut
oder Speichel in Berührung kommen dürfen.
Um sicherzustellen, dass der Schmelz ausreichend geätzt wurde, ist
man bestrebt, die Schmelzränder so lange zu trocknen, bis das oben ge-
nannte weißlich-opake Erscheinungsbild sichtbar wird. Dabei kollabiert
das Kollagengeflecht unweigerlich und es muss bei der Anwendung aze-
tonbasierter Adhäsivsysteme ein sogenanntes „re-wetting“ erfolgen.
Dabei wird mit einem angefeuchteten Applikationsbürstchen (Wasser,
Chlorhexidin) die Kavität wieder befeuchtet. Beim Aufbringen des aze-
tonhaltigen Primers wird anschließend das Wasser aus dem Kollagenge-
flecht verdrängt und verdunstet gemeinsam mit dem Lösungsmittel. Bei
nicht ausreichender Penetration des Adhäsivsystems kommt es zur Aus-
bildung eines sogenannten „Nanoleakage“. Man versteht darunter
nicht infiltrierte Bereiche des Kollagengeflechts.
Bei der Anwendung wasser- und wasser/alkoholbasierter Adhäsivsys-
teme besteht das Problem des Übertrocknens nicht. Hier verdunstet al-
lerdings das Wasser nach Aufbringen des Primers erst durch Verblasen.
Dabei kann die aufgebrachte Schicht sehr dünn werden und letztlich
aufgrund der Sauerstoffinhibition nicht mehr adäquat aushärten. Einige
Adhäsivsysteme der dritten Generation werden heute auch als Etch-
and-Rinse-Systeme angewandt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die genannten Präpa-
rate für die Etch-and-Rinse-Technik außerordentlich techniksensi-
bel sind und daher immer genau nach Herstellerangaben verarbei-
tet werden müssen.
Da bei der Total-etch-Technik sowohl Zahnschmelz als auch Dentin
gleichzeitig mit einem Haftvermittlersystem versiegelt werden, ist es ei-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 223
Adhäsivsysteme mit selektiver Schmelzätzung
Schmelz Dentin Präparat
Konditionierung Konditionierung Primer Adhäsiv
z. B. Prisma Universal Bond 3
1 2 3 (3 Flaschen)
dentinkonditionierender z. B. A.R.T. Bond
1 2 (self-etching) 3 (3 Flaschen)
Primer
dentinkonditionierender
1 2 (self-etching) 3
Primer z. B. Syntac Classic
(3 Flaschen)
4
Schmelzbonding a
6
Adhäsivsysteme für die Etch-and-Rinse-Technik (Total-etch-Technik)
Schmelz Dentin Präparat
Konditionierung Konditionierung Primer Adhäsiv
z. B. Optibond FL
1 2 3
z. B. Prime and
self-priming Adhäsiv
1 2x auftragen Bond NT
(1-Flaschen-System)
z. B. One step
1 self-priming Adhäsiv
(1-Flaschen-System)
1x auftragen
b
Adhäsivsystem ohne separate Ätzung (no-rinse Systeme)
Schmelz Dentin Präparat
Konditionierung Konditionierung Primer Adhäsiv
self-etching Primer 1 2 z. B. Clearfil Liner Bond 2V
(zum Anmischen, 2 Flaschen)
z. B. AdheSE
self-etching Primer
(gebrauchsfertig, 1 Flasche)
1 2 Optibond Solo Plus
z. B. Adper Prompt L-Pop
self-etching/self-priming Adhäsiv (zum Anmischen, 2 Flaschen)
= All-in-one Adhäsive One Up-Bond F
self-etching/self-priming Adhäsiv (gebrauchsfertig, 1 Flasche)
z. B. Xeno V
= All-in-one Adhäsive i-Bond
c
Abb. 6.14: Anzahl der Applikationsschritte bei der Anwendung verschiedener Adhäsivsysteme. Die Präpa-
rate stellen eine selektive Auswahl der auf dem Markt befindlichen Adhäsivsysteme dar.
224 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
gentlich in diesem Zusammenhang nicht richtig, von einem Dentinad-
häsiv zu sprechen. Hier ist der Begriff (kombiniertes Schmelz-Dentin-)
Adhäsivsystem sicherlich angebrachter.
Im Anschluss an die Schmelz- und Dentinkonditionierung wird bei
den Mehr-Komponenten-Adhäsiven wieder ein Primer (hydrophil) und
dann ein Schmelz-/Dentinadhäsiv (hydrophob) aufgebracht.
Fünfte - Bei Primer-Adhäsiv-Gemischen (selbstprimende Adhäsive) han-
Generation delt es sich um sogenannte Ein-Komponenten-Materialien (fünfte Ge-
neration). Dabei wird das Primer-Adhäsiv-Gemisch zweimal appliziert.
Die erste Schicht wirkt dabei eher als Primer, der zweiten Schicht kann
man die Aufgabe des Adhäsivs zuschreiben.
Sechste - Noch einen Schritt weiter gehen Systeme, bei denen sogenannte
Generation selbstkonditionierende, selbstprimende Adhäsive (Abb. 6.14c) Verwen-
dung finden (sechste Generation). Dabei müssen Schmelz und Dentin
vor der Anwendung der entsprechenden Adhäsivsysteme nicht im
Sinne einer Säureätzung konditioniert werden. Die selbst konditionie-
renden, selbstätzenden Adhäsivsysteme sind anwenderfreundlich und
weniger aggressiv in ihrem Demineralisationsverhalten im Dentin.
Durch Aufbringen eines sauren Primer-Adhäsiv-Gemisches kommt es zu
einer Konditionierung von Schmelz und Dentin (Non-Rinse-Technik).
Durch eine zweite Schicht dieses Gemisches werden dann eine Stabili-
sierung der erzielten Hybridschicht, eine Bindung an den Zahnschmelz
und eine Bindung an das Komposit ermöglicht. Diese Adhäsivsysteme
enthalten in der Regel selbstätzende, adhäsive Monomere und zusätz-
lich quervernetzende und monofunktionelle Monomere. Die erste
Gruppe soll die Schmelz- und Dentinoberfläche selbsttätig anätzen, in
die Dentintubuli eindringen und die angeätzte Oberfläche optimal be-
netzen. Sie ist daher sauer.
Man unterscheidet dabei heute Präparate mit einem pH-Wert von
über 2,5 (ultramild) von milden, selbstätzenden Adhäsivsystemen (pH
ca. 2), mittelstarken (pH 1–2) und sehr sauren (pH < 1) Systemen. Mit
den stark sauren Präparaten wird das Dentin – ähnlich wie bei den Etch-
and-Rinse-Systemen – stark demineralisiert. Allerdings wird das gelöste
Kalzium nicht abgesprüht, sondern bleibt nach der Polymerisation ein-
gebettet im Adhäsiv vorhanden und führt zu einer Destabilisierung der
Hybridschicht. Deshalb wird heute empfohlen, eher milde Adhäsivsys-
teme zu verwenden. Um eine ausreichende Schmelzhaftung zu garan-
tieren, sollte eine selektive Schmelzätzung vor Auftragen des entspre-
chenden selbstkonditionierenden, selbstprimenden Adhäsivsystems
vorgenommen werden. Es wird zudem gefordert, dass diese Monomere
rasch mit dem freigelegten Kollagen des Dentins reagieren. Die Mono-
mere müssen über eine saure adhäsive Gruppe (HX-), einen Spacer (R-)
und eine polymerisierbare (COOH-) Gruppe, die mit dem Adhäsiv oder
Restaurationsmaterial eine chemische Verbindung eingeht, verfügen
(HX-R-COOH). Als saure Gruppen werden Phosphorsäure oder saure
Phosphatester verwendet. Den Phosphorsäureesterverbindungen wird
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 225
aber nachgesagt, dass sie nicht hydrolysestabil sind und der Verbund
zum Dentin möglicherweise nicht langfristig garantiert werden kann.
Die quervernetzenden Monomere (funktionelle Methacrylate) be-
stimmen die Eigenschaften des Adhäsiv (z.B. Viskosität, Benetzbarkeit,
Wasseraufnahme usw.). Hier wird meistens HEMA (Hydroxymethyl-
acrylat) verwendet. Aber auch Bis-GMA, UDMA und TEGDMA finden
Verwendung. Die Methacrylate sind alle in sauren, wässrigen Lösungen
nicht hydrolysestabil und daher nur für 2-Flaschen-/2-Schritt-Systeme
geeignet. Bei 1-Flaschen-Systemen auf Wasserbasis werden deswegen
neue Monomere, wie z.B. bifunktionelle Acrylamide, eingesetzt. Auch
die üblicherweise in den lichthärtenden Adhäsiven vorhandenen
Kampferchinon-Amin-Systeme stellen ein Problem dar, da die Amin-
komponente mit den sauren Monomeren reagiert. Daher müssen ent-
weder die Aminkonzentration exakt an die Säurekonzentration ange-
6
passt, andere Fotoinitiatoren verwendet oder die Initiatorbestandteile
mit speziellen Applikationssystemen voneinander getrennt dargereicht
werden. Bei selbstätzenden Adhäsivsystemen wird meistens Wasser als
Lösungsmittel verwendet, da sie ja auf hydrophilem Dentin aufgebracht
werden. Zusätzlich wird häufig Ethanol beigemischt, da vor der Polyme-
risation das Wasser mit dem Luftbläser gut verblasen werden muss. Ver-
bliebenes Wasser würde nämlich die Polymerisation des Adhäsivsystems
beeinträchtigen.
Manche Adhäsivsysteme enthalten Farbstoffe, die das richtige Mi-
schungsverhältnis bei 2-Flaschen-Systemen anzeigen. Zugleich lässt
sich mit ihnen kontrollieren, ob die Zahnoberfläche gleichmäßig von
dem Adhäsivsystem bedeckt ist. Die Farbe verschwindet nach der Licht-
polymerisation.
Für diese modernen Adhäsivsysteme liegen zurzeit noch keine aus-
reichenden klinischen Langzeiterfahrungen vor. Auch die Schmelzhaf-
tung ist bisher nicht ausreichend klinisch überprüft. Sie scheinen je-
doch in Verbindung mit Kompomerrestaurationen zu guten Ergebnis-
sen zu führen. Da Kompomere aufgrund ihrer Eigenschaften ein
anderes Schrumpfungsverhalten besitzen als Hybridkomposite, sind
wahrscheinlich nicht so hohe Haftwerte der Adhäsivsysteme erforder-
lich. Bei neuen Adhäsiven der VI. Generation wird nur noch eine Pri-
mer-Adhäsivschicht aufgetragen.
Bei der Anwendung von Adhäsivsystemen sollte immer darauf ge-
achtet werden, dass dem Präparat genügend Zeit gelassen wird
(mindestens 10 s), um das Kollagen des Dentins und den angeätz-
ten Schmelz zu penetrieren. Zusätzlich sollte darauf geachtet wer-
den, dass das Haftvermittlersystem nicht zu dünn ausgeblasen wird,
da es sonst nicht zu einer ausreichenden Haftvermittlung zwischen
Dentin und Komposit kommt.
226 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Im Prinzip findet durch die Anwendung von Adhäsivsystemen im Den-
tin eine Art Tissue Engineering statt. So wird aus einer feuchten, kristal-
linen, hydrophilen, säureanfälligen Oberfläche eine weichere, hydro-
phobe, trockenere Schicht, die säureresistent ist.
Stressabsorber Da die Adhäsive nach dem Einbringen 20–40 s lichtgehärtet werden,
entsteht an der Oberfläche eine sauerstoffinhibierte Zone. Ist der auf-
gebrachte Film zu dünn, besteht der auf dem Dentin liegende Film fast
ausschließlich aus nicht polymerisierten Adhäsivbestandteilen, die
keine Haftung ermöglichen. Neue Überlegungen gehen dahin, dass Ad-
häsivsysteme auch als eine Art Stressabsorber dienen können. Man ver-
sucht daher, durch Beimengung von Füllstoffen zum Haftvermittlersys-
tem eine gewisse Schichtdicke nach dem Aushärten zu erreichen.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen zur Qualität unterschiedlicher
Bondingsysteme. Während einige Studien zu dem Schluss kommen,
dass auch selbstkonditionierende Adhäsivsysteme Haftwerte erreichen,
die mit konventionellen Systemen vergleichbar sind, so zeigen doch an-
dererseits viele Untersuchungen, dass die herkömmlichen Drei-Kompo-
nentensysteme bezüglich Haftung und Randschluss den neuen Syste-
men überlegen sind. Wenn selbstkonditionierende Adhäsivsysteme
zum Einsatz gebracht werden, sollte Zweiflaschensystemen der Vorzug
gegeben werden, da zahlreiche Untersuchungen die Überlegenheit ge-
genüber Einflaschensystemen aufzeigen.
Dentinhaftung Für die Haftung der Kunststoffmonomere am Dentin ist die Stabili-
tät einer kompakten und homogenen Hybridschicht unabdingbar. Die
klinische Dauerhaftigkeit der Hybridschicht ist von physikalischen und
chemischen Einflussfaktoren abhängig. So können z.B. Kaukräfte, ther-
mische Expansion und Kontraktion sowie der Einfluss saurer chemi-
scher Substanzen die Stabilität der Verbundzone beeinflussen. Auch
bakterielle Stoffwechselprodukte können zum Abbau oder zur Hydro-
lyse von Kunststoffmonomeren beitragen. Dabei können die organische
Dentinmatrix, verbliebene Hydroxylapatitkristalle, Kunststoffmono-
mere und Lösungsmittel von den Abbauvorgängen betroffen sein.
Etch-and-Rinse- So kann zum Beispiel bei Etch-and-Rinse-Systemen eine Auflösung
Systeme der Kollagenfasern oder eine Hydrolyse von Kunststoffmonomeren in-
nerhalb der Hybridschicht stattfinden. Insbesondere bei hydrophilen,
sauren Systemen, wie sie bei selbstätzenden Adhäsiven Anwendung fin-
den, kann es zu einer erheblichen Wassersorption und dadurch bedingt
zu einer Kunststoffhydrolyse kommen. Man kann also feststellen, dass
Hydrophilie des Adhäsivs, Wassersorption und der nachfolgende hydro-
lytische Abbau miteinander korrelieren.
„water trees“ Im Prinzip fungieren die Hybridschichten, welche bei der Verwen-
dung von hydrophilen und ionischen Kunststoffmonomeren entste-
hen, wie semipermeablen Membranen. So kommt es sogar noch nach
Polymerisation aufgrund ihrer Permeabilität zu sogenannten „water
trees“ (Wasserbäumchen). Es handelt sich dabei um Wasserkanäle an
der Oberfläche der Hybridschicht, die sich bis in die Adhäsivschicht hi-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 227
nein erstrecken. Es können auch Wasserbläschen über der Adhäsiv-
schicht entstehen. Bei Etch- and Rinse-Systemen muss ein Überätzen
des Dentins vermieden werden, damit nach dem Konditionierungsvor-
gang alle freigelegten Kollagenfasern vom Adhäsivsystem ummantelt
werden können. Ist dies nicht der Fall, so können diese ungeschützten
Kollagenfasern möglicherweise hydrolytisch oder enzymatisch abge-
baut werden und damit eine Schwächung der Hybridschicht resultieren.
Auch körpereigene Proteasen können innerhalb der Dentinmatrix
diesen Abbau beschleunigen. Dieses als intrinsische kollagenolytische
Aktivität bezeichnete Phänomen kann durch spezifische Proteaseinhi-
bitoren gehemmt werden. So kann bereits durch eine niedrige Chlorhe-
xidinkonzentration eine vollständige Hemmung dieser Enzyme erzielt
werden. Man geht heute davon aus, dass die Matrix-Metalloproteina-
sen (MMPs) während der Zahnentwicklung innerhalb der mineralisier-
6
ten Dentinmatrix eingeschlossen werden. Die Freisetzung und anschlie-
ßende Aktivierung dieser endogenen Enzyme im Verlauf der unter-
schiedlichen Verarbeitungsschritte von Dentinadhäsiven können für
den Abbau der Hybridschicht verantwortlich sein.
Um die Hybridschicht zu schützen, wurden mehrere klinische Vor- Schutz der
gehensweisen vorgeschlagen, welche die Monomerinfiltration verbes- Hybridschicht
sern sollen und das Ausmaß der Wassersorption sowie den Abbau des
Kollagens vermindern können. Zu diesen Maßnahmen gehören der Ein-
satz einer zusätzlichen Schicht hydrophoben Kunststoffes sowie das
Aufbringen mehrerer Schichten des jeweiligen Adhäsivsystems, ver-
stärktes Entfernen von Lösungsmitteln durch Verdunstung, verlängerte
Aushärtungszeiten und die Anwendung von MMP-Hemmern. Insbeson-
dere führt die Verlängerung der Polymerisationszeit von Adhäsivsyste-
men sowie die Vorbehandlung des Dentins mit Chlorhexidinlösung zu
einer Verbesserung der Langlebigkeit der Hybridschicht. Auch eine ver-
längerte Applikationszeit und ein energisches Einmassieren der Adhä-
sivsysteme bewirken eine bessere Imprägnierung des Dentins.
Bei der Anwendung von Komposit mit Adhäsivsystemen gilt es da- C-Faktor
rauf zu achten, dass keine kastenförmigen Kavitäten präpariert werden.
Hier kann es nämlich aufgrund von Polymerisationsspannungen zum
Abriss des Materials im Randbereich kommen. Bei flachen und keilför-
migen Kavitäten ist diese Problem geringer, da das Restaurationsmate-
rial nur auf einer freien Fläche „klebt“ und von der Außenfläche beim
Polymerisieren nachfließen kann. Dieses Phänomen wird mit dem soge-
nannten C-Faktor (configuration factor) beschrieben. Er sagt aus, dass
die Höhe der Schrumpfungskräfte vom Verhältnis der gebundenen zu
den freien Kompositoberflächen abhängt. Je mehr gebundene Oberflä-
chen vorhanden sind, desto größer wird der C-Faktor (Abb. 6.15).
Grundsätzlich kann man bei Polymerisation von Kompositen fest- Polymerisations-
stellen, dass es zu einer sogenannten Stressentwicklung kommt. Diese spannungen
Stressentwicklung kann dazu führen, dass es zu Spaltbildungen zwi-
schen Restaurationsmaterial und Kavitätenwand kommt. Solche De-
228 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Abb. 6.15: Der C-Faktor ergibt sich aus dem Verhältnis von freier zu gebundener
Oberfläche. Während im linken Teil der Grafik 5 Flächen des Würfels frei schrump-
fen können, liegt in der rechten Grafik nur eine freie Oberfläche vor. Bei gleichem
Volumen kommt es im rechten Beispiel zu wesentlich höheren Kontraktionskräf-
ten, da die Fließvorgänge durch die große Kontaktfläche behindert sind (nach
Braga et al. 2005).
fekte können zum einen die Folge von thermisch und mechanisch be-
dingter Ermüdung sein, sie können aber auch bereits während des res-
taurativen Verfahrens selbst entstehen.
Die Ausbildung dieser Defekte hängt nicht nur vom C-Faktor der Ka-
vität ab, sondern auch vom sogenannten viskoelastischen Verhalten des
entsprechenden Komposits. Die während der Polymerisation von Kom-
positen auftretende Volumenschrumpfung führt zu Spannungen im
Kompositmaterial. Diese Spannungen werden zu Beginn der Polymeri-
sation durch Fließvorgänge (visköses Verhalten) ausgeglichen. Bei licht-
härtenden Kompositen wird allerdings schon relativ rasch ein soge-
nannter Gelpunkt erreicht, bei dem ein Ausgleich der auftretenden
Kontraktionsspannungen durch Nachfließen noch nicht polymerisier-
ter Monomere nicht mehr möglich ist. Bei der weiteren Polymerisation
kommt es zu sogenannten Post-Gelkontraktionen, die zu Spannungen
im Material und an den Kavitätenwänden führen (Abb. 6.16). Das Kom-
posit verhält sich nach Überschreiten des Gelpunktes überwiegend elas-
tisch. Um den Aufbau dieser Spannungen zu minimieren, wurden ver-
schiedene Wege beschritten. Zur Reduktion der Polymerisationsrate zur
Verlängerung der Zeit bis zum Erreichen des Gelpunktes, wurden z.B.
Softstartpolymerisationslampen mit reduzierter Lichtintensität entwi-
ckelt. Eine zweite Möglichkeit der Stressrelaxation wurde durch die An-
wendung unterschiedlicher Inkrementtechniken gesehen. Ein dritter
Weg wird dadurch beschritten, dass man im Bereich der Kontaktfläche
zu den Zahnhartsubstanzen eine Schicht hochelastischen Materials
(hochgefüllte Adhäsivsysteme oder flowable Komposite) einbringt.
Diese als elastische Kavitätenwand bezeichnete Technik soll die Span-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 229
6
Abb. 6.16: Während der Polymerisation entsteht aufgrund des Kettenwachstums
und der Quervernetzung zwischen den Molekülketten ein dreidimensionales
Netzwerk. Damit nimmt die Viskosität zu. Ist der Gelpunkt erreicht, können Fließ-
vorgänge die Kontraktionsspannung nicht mehr ausgleichen. Es kommt zu Span-
nungen zwischen Füllungsmaterial und Zahnhartsubstanz bzw. innerhalb des Fül-
lungsmaterials (nach Braga et al. 2005).
nung zwischen Komposit und Kavitätenwand reduzieren. Alle drei
Maßnahmen beruhen in erster Linie auf theoretischen Überlegungen
bzw. in-vitro-Studien, sodass bisher keine verlässliche Aussage zu deren
klinischer Effizienz möglich ist.
Die Pulpaverträglichkeit der neuen Adhäsivsysteme wird als gut be- Pulpaverträg-
zeichnet. Das Aufbringen der Adhäsive nach Schmelz- und Dentinät- lichkeit
zung verringert die postoperative Sensibilität. Diese lang andauernde
Schmerzsensation entsteht nach versehentlichem Ätzen frei gelegten
Dentins und anschließendem Ausstrom von Dentinliquor und damit
verbundenen Reizungen der Nervenendigungen. Durch das Aufbringen
des Haftvermittlers wird die Flüssigkeitsbewegung blockiert. Es werden
auch Erfolge bei der Behandlung überempfindlicher Zahnhälse mit Ad-
häsivsystemen beschrieben.
Adhäsivsysteme haben die Aufgabe, eine sichere Haftung der Kom-
positmaterialien an den Zahnhartsubstanzen zu garantieren, eine
stabile Randdichtigkeit zu gewährleisten und postoperative Hyper-
sensibilitäten zu vermeiden.
Neuentwicklungen im Bereich der Adhäsivsysteme berücksichtigen
nicht nur eine vereinfachte Anwendungstechnik (One-bottle-bon-
dings), sondern auch die Integration von Bestandteilen mit desinfizie-
render Wirkung. Dabei können den Haftvermittlersystemen unter-
schiedliche Substanzen beigefügt werden, die zumindest während des
Einwirkens antibakteriell wirksam sind. Es ist aber nicht geklärt, inwie-
weit diese Systeme auch nach dem Aushärten noch eine antibakterielle
230 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Wirkung zeigen, die über die hinausgeht, welche dem Adhäsivsystem
selbst zugeschrieben wird.
Beim Einsetzen von zahnfarbenen Einlagefüllungen (Keramik-
und Kompositinlays, Keramikkronen, Keramikbrücken) wird natürlich
nach Aufbringen eines entsprechenden Adhäsivsystems mit großer
Schichtstärke keine separate Lichthärtung vorgenommen, da die ent-
sprechenden Restaurationen sonst aufgrund der entstehenden Filmdi-
cke nicht passen würden. Hier erfolgt die Aushärtung der Haftvermitt-
lersysteme zusammen mit dem entsprechenden Befestigungskomposit.
Mit der Entwicklung neuer, selbstätzender Kompositzemente soll die
Technik beim Einsetzen von zahnfarbenen Einlagerestaurationen noch
einfacher werden. Zu diesen Produkten gibt es aber bisher keine aussa-
gekräftigen, klinischen Erfahrungen.
Aufgrund der hohen Techniksensitivität und des erhöhten Zeitauf-
wandes bei der Herstellung von Kompositrestaurationen sind zahlreiche
Hersteller bestrebt, die Füllungstechnik zu vereinfachen (Fast-Track-
Füllungstechnik). Dabei sollen die vereinfachten Adhäsivsysteme (all-
in-one-Adhäsive) zusammen mit sogenannten schrumpfungsarmen
Kompositmaterialien Verwendung finden. Gleichzeitig werden Lichtpo-
lymerisationsgeräte mit hoher Intensität (bis 1200 mW/cm2) verwen-
det, bei denen mit einer Polymerisationsdauer von 10 s große Schichten
ausgehärtet werden können. Durch die Verwendung schrumpfungsar-
mer Kompositmaterialien kann dann auch auf die zeitintensive Schicht-
technik verzichtet werden. Zur klinischen Bewährung dieses Verfahrens
liegen allerdings bisher noch keine ausreichenden klinischen Langzeit-
erfahrungen vor.
6.1.5 Biokompatibilität der Kompositmaterialien
Die Verträglichkeit (Biokompatibilität) von Restaurationsmaterialien
bezieht sich auf lokale Schädigungsmöglichkeiten (Pulpa, Gingiva,
Mundschleimhaut) und auf systemische Nebenwirkungen.
Lokale - Weder die verwendete Phosphorsäure noch die Restaurationsmate-
Auswirkungen rialien wirken bei flachen und mitteltiefen Kavitäten direkt pulpato-
xisch, wenn sie richtig angewendet werden. Durch das Ätzen des Den-
tins werden jedoch Dentinkanälchen so eröffnet, dass Mikroorganis-
men leicht in das pulpale Gewebe gelangen und dort eine Entzündung
hervorrufen können. Daher ist die korrekte Anwendung der Adhäsiv-
technik unabdingbar, um die Dentinkanälchen dicht zu versiegeln.
Zur Anwendung von Adhäsivsystemen und Kompositmaterialien in
tiefen Kavitäten mit geringer Restdentindicke liegen unterschiedliche
Untersuchungen vor. So wurden beim Menschen Entzündungsreaktio-
nen der Pulpa nach Aufbringen der entsprechenden Materialien gefun-
den. Es konnte auch eine Immunsupression durch Monomere nachge-
wiesen werden, wobei hierzu systematische Untersuchungen fehlen. Es
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 231
gilt daher nach wie vor, einen direkten Kontakt von Adhäsivsystemen
bzw. Kompositen mit der Pulpa zu vermeiden.
Komposite binden in einer exothermen Reaktion ab. Dies führt in-
nerhalb von wenigen Sekunden zu einer Temperaturerhöhung um bis
zu 12 °C. Bei Lichtpolymerisation erfolgt zusätzliche eine Erwärmung
durch die Polymerisationslampe, sodass je nach Lampentyp insgesamt
Temperaturerhöhungen zwischen 8 und 19 °C auftreten. Bei LED-Lam-
pen ist die Wärmeentwicklung allerdings geringer als bei Halogenlam-
pen. Diese Temperaturerhöhungen führen letztlich je nach Restdentin-
dicke auch zu einer Erhöhung der Temperatur in der Pulpa. Es ist daher
nicht auszuschließen, dass bei sehr energiereichen Halogenlampenty-
pen eine entsprechende Gewebeschädigung erfolgen kann.
Adhäsivsysteme können, insbesondere wenn sie einen niedrigen
pH-Wert besitzen, die Gingiva kurzfristig schädigen (weißliche Verände-
6
rungen) und dabei eine Schmerzempfindung beim Patienten auslösen.
Diese Veränderungen sind jedoch reversibel.
Kompositbestandteile können zudem für eine vermehrte Bakterien-
adhäsion verantwortlich sein. Die erhöhte Bakterienadhärenz führt
auch zu einem erhöhten Entzündungsgrad der Gingiva, wenn keine
adäquate Mundhygiene betrieben wird.
Systemische Effekte können unterschiedlicher Art sein. So können Systemische -
theoretisch mehrere der zahlreichen Inhaltsstoffe von Kompositmate- Auswirkungen
rialien und Adhäsivsystemen mutagene, kanzerogene, toxische oder all-
ergene Wirkung entfalten.
Da bei der Aushärtung von Kompositen keine 100%ige Konversions-
rate erzielt wird, werden Restmonomere und andere Substanzen an-
schließend in der Mundhöhle freigesetzt, die eine biologische Wirkung
entfalten können. Dabei besteht eine gute Korrelation zwischen der
Konversionsrate und der Eluation von Restmonomerbestandteilen
durch organische Extraktionsmittel, wie z.B. Methanol. So lassen sich
mit Methanol zwischen 5 und 11% Monomere, bezogen auf das Aus-
gangsgewicht, eluieren. Insbesondere BisGMA und TEGDMA wurden
dabei nachgewiesen. Aber auch Bestandteile der Füllkörper, wie z.B. Ba-
rium oder Silizium können nachgewiesen werden. Die Art der freigesetz-
ten Monomere und Füllkörperbestandteile hängt selbstverständlich von
der Zusammensetzung der untersuchten Kompositmaterialien ab. Di-
rekt nach der Polymerisation kann aus der sauerstoffinhibierten Zone
einer Kompositoberfläche auch Formaldehyd freigesetzt werden.
Kompositbestandteile, welche aus nicht abgebundenen Materialien
bzw. der Polymerisation eluierbar sind, können eine zytotoxische Wir-
kung aufweisen. Speziell TEGDMA und HEMA können die Synthese von
Entzündungsmediatoren wie Interleukin 1, 6 oder TNF-α steigern. Frei-
gesetzte Monomere aus Kompositmaterialien können verschluckt und
verstoffwechselt werden. Dabei können Intermediate z.B. in der Leber
entstehen, die als kanzerogen und mutagen gelten (z.B. 2,3 Epoxy-
Methacrylsäure). Es konnte zudem an humanen Lymphozyten ein mu-
232 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
tagenes bzw. kanzerogenes Potenzial für TEGDMA, HEMA, Bis-GMA
und UDMA nachgewiesen werden. Diese und zahlreiche andere Ergeb-
nisse aus Zellversuchen lassen sich jedoch nicht direkt auf den Men-
schen übertragen. Dazu muss bekannt sein, welche Menge eines Mono-
mers freigesetzt und dann resorbiert wird. Zudem müsste auch klar sein,
ab welcher Grenze Schäden entstehen können. So sind die beschriebe-
nen toxischen Wirkungen auf zellulärer Ebene erst bei wesentlich höhe-
ren Konzentrationen festgestellt worden, als sie nach Freisetzung aus
Kompositfüllungen in den Speichel zu messen sind.
Es wurde behauptet, dass aus bis BisGMA- bzw. BisDMA-haltigen Fis-
surenversieglern Bisphenol A freigesetzt würde, die eine östrogene Wir-
kung zeigt. Nach dem heutigen Kenntnisstand gibt es aber bei der Ver-
wendung von Fissurenversieglern und Kompositfüllungswerkstoffen, die
BisGMA enthalten, keine klinisch relevanten östrogenen Wirkungen.
Zur Mutagenität von Kompositbestandteilen gibt es einige wenige
Studien, die jedoch häufig mit Konzentrationen durchgeführt wurden,
die weit über den Werten liegen, die beim Patienten erwartet werden.
Es gibt zwar bisher nur wenige Beschreibungen allergischer Reak-
tionen auf Komposite, Adhäsivsysteme bzw. deren Inhaltsstoffe, man
geht jedoch davon aus, dass diese zukünftig aufgrund der vermehrten
Anwendung zunehmen könnten. Bei Verdacht auf eine Allergie muss
der Patient zur Durchführung eines Allergietests zum Allergologen über-
wiesen werden.
Da Allergien auf Dentalmaterialien nicht nur beim Patienten, son-
dern auch beim zahnärztlichen Personal auftreten können, sollte der di-
rekte Hautkontakt mit den Restaurationsmaterialien unterbleiben. In
diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass Einzelkomponen-
ten (speziell hydrophile Monomere) Schutzhandschuhe durchdringen
können. Das Aufbringen von Überschüssen (insbesondere von Adhäsiv-
systemkomponenten) auf die Gingiva oder die Mundschleimhaut sollte
ebenfalls unterbleiben. Die Verwendung von Kofferdam kann auch in
diesem Zusammenhang empfohlen werden.
Weitere systemische Nebenwirkungen von Kompositen oder Adhä-
sivsystemen sind bisher nicht nachgewiesen.
Die bisherigen Daten zu Biokompatibilität von Kompositmaterialien
geben keinen Hinweis auf eine Indikationseinschränkung. Da Kompo-
site jedoch sehr komplex zusammengesetzte Materialien sind, sind bis-
her nicht alle Details bezüglich lokaler Toxizität und Gewebeverträg-
lichkeit geklärt.
6.1.6 Frontzahnrestaurationen mit Komposit
Klasse-III-Kavitäten
Primär- Die Primärpräparation für die Versorgung von Klasse-III-Kavitäten mit
präparation Komposit beschränkt sich darauf, die Karies darzustellen und zu entfer-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 233
Abb. 6.17: Bei der Primärprä-
paration einer Klasse-III-Kavi-
tät für Kompositrestauratio-
nen wird ein kleiner Zugang
zum kariösen Defekt von oral
präpariert. Dabei wird ein
kleiner kugelförmiger Dia-
mant oder ein oszillierendes
Instrument unter Schonung
des gesunden Schmelzes
schräg in Richtung des kariö-
sen Defekts geführt.
nen. Vor der Präparation werden die entsprechenden Zähne mit einer
Prophylaxepaste und einem Bürstchen gereinigt. Aus ästhetischen
Gründen wird der Zugang zur Kavität von palatinal bzw. lingual ge-
wählt. Mit einem kleinen kugelförmigen Diamantschleifer wird der ka-
6
riöse Defekt dargestellt (Abb. 6.17).
Es empfiehlt sich, keine höchsttourigen Präparationsinstrumente zu
verwenden, um das Schmelzgefüge nicht unnötig aufzulockern und die
Zugangskavität möglichst zierlich zu gestalten. Für die Präparation eig-
nen sich daher auch oszillierende (z.B. SonicSys) Instrumente. An-
schließend wird mit einem Rosenbohrer die Karies entfernt.
Besondere Beachtung gilt hierbei der inzisalen Ausdehnung an der
Schmelz-Dentin-Grenze. Hier zieht sich die Karies oft bis weit nach in-
zisal. Die rotierenden Instrumente werden so geführt, dass sie schräg in
Richtung Pulpa zeigen. Sind die Kavitäten im zervikalen Bereich ze-
ment- bzw. dentinbegrenzt, endet der Kavitätenrand entweder recht-
winklig zur Zahnachse auf der Zahnoberfläche oder es ergibt sich nach
der Kariesexkavation ein unter sich gehender Bereich im Sinne einer zu-
sätzlichen Makroretention. Eine schwalbenschwanzförmige Veranke-
rung auf der Palatinalfläche ist obsolet, da hier grundlos gesunde Zahn-
hartsubstanz geopfert werden muss. Es wird eine möglichst kleine Kavi-
tätenöffnung angestrebt, der gesunde Zahnschmelz bleibt erhalten.
Nach Entfernung der Karies erfolgt die Farbbestimmung. Bei der
Farbbestimmung spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle.
Die Farbempfindung des Behandlers ist ebenso zu berücksichtigen
wie die Lichtverhältnisse und die Zahnbeschaffenheit.
Vorgefertigte Farbringe der Komposithersteller sind meistens wenig
hilfreich, da sie die tatsächlichen Farben selten widerspiegeln und nach
mehrmaligem Desinfizieren ihren Farbton verändern. Ist man sich
nicht sicher, kann man zum Farbvergleich eine kleine Portion des aus-
gewählten Kompositmaterials auf dem Zahn polymerisieren. Der Zahn
sollte bei der Farbbestimmung feucht sein, da ausgetrocknete Zähne
heller wirken.
Anschließend werden die zu behandelnden Zähne mit Kofferdam
absolut trockengelegt.
234 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Bei tiefen Kavitäten kann die Behandlung der Dentinwunde mit ei-
nem dichten Unterfüllungsmaterial erfolgen. Hier eignen sich Carboxy-
lat-, Zinkoxid-Phosphat- und Glasionomerzemente mit einer kurzen
Aushärtungsdauer (5 min). Diese Maßnahme dient in erster Linie der
Verringerung der eingesetzten Kompositmenge. Als weiterer Grund wird
häufig angegeben, dass der vollständige Austausch einer Kompositfül-
lung besser möglich ist, wenn in der Tiefe der Kavität eine (kontrastrei-
che) Unterfüllung vorzufinden ist. Bei sehr tiefen Kavitäten kann vor
Legen der Unterfüllung eine Dentinwundversorgung mit einem Kalzi-
umhydroxid- oder Kalziumsilikatpräparat erfolgen. Meistens wird heute
jedoch ausschließlich ein Adhäsivsystem als Dentinwundverband ver-
wendet.
Sekundär- Nach Legen einer Unterfüllung bzw. vor Anwendung eines Adhäsiv-
präparation systems schließt sich eine Sekundärpräparation mit Diamantfinierern
an. Dabei wird der Schmelzrand in einem Bereich von 0,5–1,0 mm
angeschrägt. Es entsteht eine sogenannte Adhäsivpräparation (Abb.
6.18).
Ist der labiale Kavitätenrand noch im Approximalkontakt zum
Nachbarzahn, kann in diesem Bereich mit einem schleifmittelbelegten
Metallstreifen (Stahl-Karbo-Streifen) angeschrägt werden. Man vermei-
det so eine nach labial durchgängige Präparation mit rotierenden Werk-
zeugen und eine Verletzung des Nachbarzahnes.
Die adhäsive Präparation erfolgt an konkaven Flächen mit einer Ku-
gel oder Knospe. An den Labialflächen, falls die Kavität bis dorthin
reicht, wird mit einer Flamme oder einem Finierer präpariert.
Palatinalfläche Labialfläche
Schmelz-
anschrägung
a b c
Abb. 6.18: Verschiedene Präparationsformen einer Klasse-III-Kavität: a) Bei der klassischen Präparation er-
folgt der Zugang von oral. Die Karies wird exkaviert und eine 0,5 mm breite Schmelzanschrägung mit Dia-
mantfinierern angelegt. Der labiale Schmelz bleibt erhalten und wird z.B. mit einem schleifmittelbelegten
Stahlband (z.B. Stahl-Karbo-Streifen) angeschrägt. Dabei wird gleichzeitig der Kontaktpunkt zum Nachbar-
zahn minimal aufgehoben. Nach Konditionierung der Zahnhartsubstanz wird je nach Material ein entspre-
chendes Adhäsivsystem aufgetragen. Dieser Bereich ist nach erfolgter Füllungstherapie versiegelt und da-
mit vor Sekundärkaries geschützt. b) Bei Klasse-III-Kavitäten, die zervikal im Zahnzement bzw. Dentin en-
den, wird im schmelzbegrenzten Bereich genauso präpariert, im zervikalen Bereich erfolgt jedoch keine
Abschrägung. c) Bei labial liegenden kariösen Defekten bzw. alten Füllungen, die eine labiale Begrenzung
besitzen, wird der Zugang zur Kavität von labial gewählt und eine zirkuläre Abschrägung präpariert.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 235
Die Adhäsivpräparation zeichnet sich durch folgende Charakteris- Präparations-
tika aus: kriterien
D minimale Kavitätengröße (d.h. geringe Füllungsoberfläche)
D Exkavation des erweichten Dentins
D Schonung des gesamten noch strukturierten Schmelzes
D breite Haftflächen am Zahnschmelz
Die adhäsive Restauration führt in Verbindung mit der Adhäsiv-
technik zu dichteren Füllungsrändern als andere Präparationsarten
(Abb. 6.19).
Die weitere Vorgehensweise richtet sich nach dem anschließend zur Fül- Alleinige
lung verwendeten Kompositmaterial, speziell dem entsprechenden Ad-
häsivsystem. Bei der alleinigen Schmelzätzung wird eine 30- bis
Schmelzätzung
6
40%ige gefärbte Phosphorsäure auf den angeschrägten Zahnschmelz
aufgebracht. Säure in Gelform verbleibt am Applikationsort und fließt
nicht in die Kavität oder in andere Bereiche, die nicht konditioniert
werden sollen. Ein gefärbtes Gel erlaubt zudem eine ausgezeichnete
Kontrolle während der Applikation. Nach 30–60 s wird die Säure abge-
sprüht und der Zahnschmelz getrocknet.
% perfekter Rand
100
vor
Thermocycling
80 nach
Thermocycling
60
40
20
Zahnschmelz
Adhäsiv- 45°-Abschrägung
präparation (Bevel) 90° Hohlkehle
Abb. 6.19: Die Adhäsivpräparation zeichnet sich durch eine kleine Kavitätenöffnung, unter sich gehende
Stellen im Dentin und breite Haftflächen am Zahnschmelz aus. Andere Präparationsformen wie eine 45°-
Abschrägung, eine Hohlkehlpräparation bzw. eine scharfkantig auslaufende Präparation (90°-Winkel mit
der Schmelzoberfläche) führen zu einer schlechteren Randadaptation, die nach thermischer Wechselbe-
handlung weiter abnimmt (nach Lutz 1984).
236 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Total-etch- Im Rahmen der sogenannten Total-etch-Technik werden Schmelz
Technik und Dentin gemeinsam mit einer Säure vorbehandelt, wobei meistens
die Säure erst auf den Schmelz und dann auf das Dentin aufgebracht
wird, um ein „Überätzen“ des Dentins zu vermeiden. Der Kontakt der
Säure zum Dentin beträgt dann ca. 15–20 s.
Es empfiehlt sich, bereits hier eine Kunststoffmatrize zwischen den
Zähnen mit einem Holz- oder Kunststoffkeil zu verkeilen, um die Nach-
barzähne vor Säurekontakt zu schützen. Außerdem werden die Zähne
durch das Verkeilen aufgrund ihrer physiologischen Eigenbeweglichkeit
auseinander gedrückt, sodass nach Fertigstellung der Restauration ein
guter Approximalkontakt resultiert. Man kann den Keil bereits vor dem
Exkavieren applizieren (pre-wedging) und ihn dann vor der Insertion
des Restaurationsmaterials noch einmal fest nachdrücken.
Entfernung alter Bei Entfernung alter Füllungen, bei gedrehten Zähnen und ent-
Füllungen sprechender Lage der Karies muss eine Klasse-III-Kavität manchmal
auch von labial eröffnet werden. Es gelten jedoch unabhängig von der
Lage der Kavität die gleichen Präparationsprinzipien.
Nach Konditionierung wird ein entsprechendes Adhäsivsystem mit
einer Kugel, einem Pinsel oder einem Schaumstoffschwämmchen auf
die angeätzte Oberfläche aufgetragen. Bei den meisten Adhäsivsyste-
men erfolgt dabei eine Aushärtung der Einzelkomponenten nach kurzer
Einwirkzeit (Penetration in das Mikrorelief des Schmelzes und die frei
gelegte Kollagenstruktur des Dentins). Dann wird das ausgewählte Ma-
terial in die Kavität eingebracht und mit einem Instrument (z.B. Heide-
mann-Spatel) angedrückt.
Eine verkeilte Matrize separiert dabei die Zähne so, dass nach Ab-
schluss der Behandlung ein guter Approximalkontakt resultiert. Die An-
wendung einer Matrize hilft zudem, unnötige Überschüsse zu vermei-
den, wobei speziell Überschüsse im zervikalen Bereich später schwierig
zu beseitigen sind. Es erfolgt zudem eine Konturierung der Füllungs-
oberfläche (Abb. 6.20). Als Matrizenbänder eignen sich Polyamid-, Poly-
Keilchen
Restauration
Matrize
Abb. 6.20: Bei der Insertion von Komposit bei Klasse-III-Kavitäten wird eine Kunst-
stoffmatrize verwendet, die interdental verkeilt ist. Dabei werden zervikale Über-
schüsse vermieden und die Morphologie der Füllungsoberfläche dem Zahn ange-
passt.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 237
ester- und PVC-Folien. Bei kleinen Kavitäten erfolgt die Aushärtung in
einem Arbeitsgang. Dazu wird die Matrize fest um den Zahn gelegt, so-
dass man mit der Polymerisationslampe sehr nah an das Füllungsmate-
rial gelangt. Bei tiefen Kavitäten werden ca. 1–2 mm starke Schichten
aufgetragen und ausgehärtet. Die sauerstoffinhibierte Zone (s. Kap.
6.1.1) auf der ausgehärteten Oberfläche jeder Schicht erlaubt eine Anpo-
lymerisation der nächsten Schicht, da sie nicht vollständig umgesetzte
Monomerbestandteile enthält (5–100 µm). Die letzte Schicht wird wie-
der unter Anlegen der Matrize ausgehärtet. Dabei entsteht keine sauer-
stoffinhibierte Schicht.
Bei der Restauration von Klasse-III-Kavitäten finden in der Regel Mi- Klasse-III-
krofüller- und Feinpartikel-Hybridkomposite (bzw. Nanofüllerkompo- Kavitäten
site) Anwendung. Sie sind hochglanzpolierbar und daher für ästhetisch
sensible Bereiche indiziert. Es gibt Karpulensysteme, mit denen das ent-
6
sprechende Komposit in die Kavität eingebracht werden kann. Mit ih-
nen lässt sich das Material exakt und sauber platzieren.
Bei großen Kavitäten empfiehlt es sich, ein opakes Material als
Dentinersatz zu verwenden und darüber ein transluzentes Material zu
schichten. Im Zweifelsfall ist ein dunklerer Farbton einem helleren vor-
zuziehen, da dieser im Schatten des Approximalraums ästhetisch weni-
ger störend wirkt. Bei stark verfärbten Zähnen kann eine Schichtung
von zervikal nach inzisal notwendig sein, um eine ästhetisch anspre-
chende Wirkung zu erzielen. Es empfiehlt sich nicht, verschiedenfar-
bige lichthärtende Kompositmaterialien zu mischen, um den richtigen
Farbton zu erzielen. Dabei werden nämlich, wie bei chemisch härten-
den Materialien, Porositäten durch Einrühren von Luftbläschen erzeugt.
Während der Verarbeitung muss lichthärtendes Material mit einem Verarbeitung
umgedrehten gefärbten Dappenglas oder einem speziellen Träger mit
Lichtschutzdeckel geschützt werden. Aus hygienischen Gründen sollten
Kompositmaterialien nicht direkt portionsweise aus den Tuben ent-
nommen und in die Mundhöhle des Patienten gebracht werden. Es soll-
ten nie Schichtdicken über 1–2 mm in die Kavität eingebracht werden.
Die Mindestbestrahlungszeit mit einer konventionellen Halogen-
lampe beträgt sowohl von palatinal als auch von labial jeweils 40 s. Da-
bei sollte die Lichtquelle möglichst ruhig gehalten werden. Bei großflä-
chigen Restaurationen muss mehrmals überlappend bestrahlt werden.
Mit modernen Hochleistungs- und mit LED-Lampen kann die Bestrah-
lungszeit eventuell verringert werden. Hier ist jedoch zurzeit noch Vor-
sicht geboten, da über mögliche Begleiterscheinungen wie z.B. Hitzeent-
wicklung und Spannungsaufbau im Kompositmaterial noch keine aus-
reichenden Untersuchungen vorliegen. Insbesondere ist darauf zu
achten, dass die Anregungswellenlänge, mit der die entsprechende
Lampe arbeitet, tatsächlich in dem Bereich liegt, in dem der Initiator des
Komposits bzw. Adhäsivsystems angeregt werden kann, sonst polymeri-
siert möglicherweise das Material nicht aus.
238 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Vorteile lichthär- Die Vorteile lichthärtender Komposite sind:
tender Komposite D Der Anmischvorgang entfällt.
D Es besteht eine relativ lange Verarbeitungszeit.
D Sie sind für Schichttechnik geeignet.
D Es kommt bei richtiger Anwendung zu einer schnellen und guten
Durchhärtung.
Nachteile Nachteilig ist, dass es zu einem unkontrollierten Polymerisationsbeginn
durch Tageslicht oder OP-Leuchte kommen kann und dass die Durch-
härtungstiefe begrenzt ist.
Komposite werden mit leichtem Überschuss in die Kavität einge-
bracht, damit bei der Ausarbeitung und Politur keine Unterschüsse ent-
stehen.
Die Instrumente für die Ausarbeitung und Politur sind so aufeinan-
der abgestimmt, dass ihre Schleifleistung abnimmt, der Glättungs-
effekt gleichzeitig zunimmt und weder Kompositmaterial noch
Zahnhartsubstanzen beschädigt werden.
Es empfiehlt sich, die Ausarbeitung und Politur in zwei getrennten Sit-
zungen vorzunehmen, auch wenn dies bei lichthärtenden Hybridkom-
positen vom Hersteller nicht empfohlen wird. Da nach der Insertion
über mehrere Tage eine Wasseraufnahme erfolgt und damit nicht diag-
nostizierte hauchdünne Überschüsse aufquellen, werden sie erst in der
zweiten Sitzung erkannt. Diese Überschüsse können ein Grund für mar-
ginale Verfärbungen von Kompositrestaurationen sein, da sich hier exo-
gene Farbstoffe einlagern können.
Erste Sitzung In der ersten Sitzung erfolgen Überschussentfernung, Konturie-
rung und Finieren der Füllung. Für diese Arbeitsschritte eignen sich bei
konkaven Flächen kugel- oder knospenförmige Diamantfinierer mit 30
bzw. 15 µm Korngröße. Überschüsse können auch mit schneidenden
Handinstrumenten (Spezialinstrumente, scharfe Scaler, gebogene Skal-
pelle) entfernt werden. An konvexen und Glattflächen werden vorzugs-
weise flexible Scheiben (grob, mittel, fein) eingesetzt. Rotierende Stein-
chen sind nicht geeignet, da es zu einer Zertrümmerung der Schmelz-
ränder kommen kann. Für das Finieren eignen sich auch spezielle
Hartmetallinstrumente, die aber eine geringe Schneidleistung haben.
Bei der Ausarbeitung mit Diamantfinierern wird mitteltourig mit Was-
serkühlung gearbeitet.
Zweite Sitzung Die Politur wird in einer zweiten Sitzung mit extrafeinen flexiblen
Scheiben oder Silikonpolierern (nicht für alle Kompositmaterialien ge-
eignet) oder Siliziumkarbid beschichteten Bürstchen durchgeführt.
Wird aus den Scheiben ein kleiner Keil ausgeschnitten, lässt sich auf-
grund des Stroboskopeffekts der Zahn hinter der Scheibe bei der Politur
erkennen. In der zweiten Sitzung erfolgt zudem eine erneute Kontrolle
des Federrandes (Anfärben mit Erythrosin). Für den approximalen Be-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 239
reich gibt es schleifmittelbelegte Streifen (Zirkoniumsilikat, Aluminium-
oxid) in vier verschiedenen Körnungen. Sie sollten einen unbelegten
Mittelteil besitzen, den man in den Zahnzwischenraum einführen
kann, ohne den Approximalkontakt zu zerstören.
Die Erwärmung beim Ausarbeiten einer Kompositfüllung führt zur
Nachpolymerisation des Materials.
Bei der Politur von konventionellen Kompositen und Hybridkom- Politur
positen mit groben Füllkörpern sollten keine gewöhnlichen Polierpas-
ten für die Endpolitur verwendet werden, weil dabei Füllkörper aus der
Oberfläche herausgerissen werden und einer schnelleren Desintegration
der Füllung Vorschub geleistet wird. Nach der Politur werden die behan-
delten Zähne mit einem neutralen Fluoridierungsmittel fluoridiert, da-
mit versehentlich angeätzte Bereiche, die nicht von einem Komposit be-
deckt sind, schneller remineralisieren.
6
Bei richtiger Verarbeitung von Kompositen und durch die Anwen-
dung der Adhäsivtechnik werden ästhetisch zufriedenstellende
Klasse-III-Restaurationen erzielt. Durch die Adhäsivpräparation
lässt sich ein allmählicher Übergang von der Füllung zum Zahn rea-
lisieren. Die Adhäsivtechnik führt zudem zu einer Verbesserung der
Randdichtigkeit von Kompositfüllungen und verhindert damit die
Entstehung von Sekundärkaries.
Klasse-IV-Kavitäten
Durch Traumata oder große kariöse Defekte kann es zum Verlust der
Schneidekante bzw. von Ecken der Schneide- und Eckzähne kommen.
Für die Restauration dieser großflächigen Kavitäten gelten die gleichen
Regeln wie für Klasse-III-Restaurationen.
Die Primärpräparation beseitigt scharfe Kanten und stark untermi- Präparation
nierte, frakturgefährdete Schmelzareale. Nach Exkavation der Karies er-
folgen die Farbbestimmung und das Legen von Kofferdam. Der Dentin-
wundverschluss erfolgt je nach Größe des frei gelegten Dentinareals
und Tiefe der Kavität mit einer Unterfüllung (Carboxylatzement, Zink-
oxid-Phosphat-Zement, Glasionomerzement) oder einem Adhäsivsys-
tem. Falls das Dentin pulpennah frei gelegt wurde, kann vorher punktu-
ell ein härtendes Kalziumhydroxid- oder Kalziumsilikatpräparat aufge-
bracht werden. Mit Diamantfinierern wird anschließend eine breite
Anschrägung (1–2 mm) im Zahnschmelz präpariert (Abb. 6.21).
Für die oralen, konkaven Flächen werden knospenförmige Präpara-
tionsdiamanten, für die labialen und approximalen Flächen flammen-
förmige Diamanten verwendet. Dabei wird der Rand leicht wellenför-
mig angeschrägt, damit später der Übergang zwischen Restauration und
Zahnschmelz nicht mehr erkennbar ist. Da die Restauration mithilfe der
Adhäsivtechnik retentiv am Zahnschmelz verankert wird, erübrigt sich
i.d.R. das Anbringen einer Makroretention, wie z.B. parapulpärer Stifte.
Endet die zervikale Begrenzung im Zahnzement bzw. im Dentin, gelten
240 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
e
Abb. 6.21: Versorgung einer Frontzahnfraktur (Klasse-IV-Kavität): Nach einem
Frontzahntrauma werden die Bruchflächen (a) mit Diamantfinierern geglättet.
Dabei wird durch Anschrägen (1–2 mm) eine breite Haftfläche am Zahnschmelz
angelegt (b). Nach Aufbringen einer Unterfüllung bzw. eines Adhäsivsystems (c)
kann die Kompositrestauration mithilfe einer vorgefertigten, adaptierten Kunst-
stoffkrone (d) bzw. einer Kunststoffmatrize (e) erfolgen.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 241
die gleichen Regeln wie bei Klasse-III-Kavitäten. Bei sehr großen Defek-
ten kann eine Überkronung des Zahnes indiziert sein.
Nach Konditionierung und Aufbringen des Adhäsivsystems folgt die Insertion des
Insertion des Kompositmaterials. Da Klasse-IV-Restaurationen großen Be- Komposit-
lastungen ausgesetzt sind, sollen Hybrid-Komposite verwendet werden. materials
Bei der Insertion kann eine vorgefertigte Kunststoffhülse verwendet
werden (s. Abb. 6.21d). Diese gibt es in verschiedenen Größen und ver-
schiedenen Zahnformen. Sie wird mit einer Schere entsprechend zu-
recht geschnitten und inzisal perforiert, damit beim Einbringen das
überschüssige Komposit nach koronal abfließen kann. Die Kunststoff-
krone wird mit Komposit gefüllt, über den Zahn geschoben und ver-
keilt. Anschließend werden die überquellenden Kompositüberschüsse
mit einem Spatel entfernt. Lichthärtende Komposite lassen nur eine be-
grenzte Durchhärtung zu. Eine vorgefertigte Hülse kann daher bei Ver-
6
wendung von lichthärtenden Kompositen nur bei kleinen Defekten
bzw. nach vorherigem Aufbau des Füllungskerns verwendet werden. Bei
großen Defekten sollten bei Verwendung der vorgefertigten Kronen im
Rahmen einer Notfallbehandlung chemisch härtende Materialien be-
vorzugt verwendet werden.
Alternativ lassen sich große Ecken- und Schneidekantenaufbauten Aufbauten
mit lichthärtenden Materialien frei modellieren. Dazu wird wie bei
Klasse-III-Kavitäten ein Kunststoffmatrizenband zwischen den Zähnen
verkeilt. Mit Feinstpartikelhybridkompositen und Nanofüllerkomposi-
ten wird zunächst ein opaker Kern aufgebaut, der von labial und inzisal
mit einem transluzenten Komposit überschichtet wird. Aus kosmeti-
schen Gründen ist manchmal eine Schichtung von zervikal nach inzisal
erforderlich. Die einzelnen Schichtdicken sollten 2 mm nicht überschrei-
ten. Jede Schicht wird mindestens 40 s von oral und labial bestrahlt. Aus-
arbeitung und Politur erfolgen wie bei Klasse-III-Restaurationen.
Ist nach einer unkomplizierten oder komplizierten Kronenfraktur Wiederbefesti-
das entsprechende Zahnfragment noch vorhanden, so kann dies im gung eines
Einzelfall wiederbefestigt werden. Dabei bewirken eine zirkuläre Zahnfragments
Schmelzanschrägung des Fragments und der Frakturfläche des traumati-
sierten Zahnes eine größere Retentionsfläche für das Befestigungskom-
posit und eine deutliche Verbesserung der Haftfestigkeit, wobei die
Haftwerte einer Kompositrestauration bzw. die Frakturstabilität eines
gesunden Zahnes nicht erreicht werden. Werden allerdings Schmelzker-
ben bzw. Schmelzrinnen im Bereich des Frakturspalts präpariert bzw.
eine interne Dentinpräparation angelegt, so können nach Wiederbefes-
tigung mit einem Kompositmaterial Haftwerte erreicht werden, die de-
nen einer Kompositrestauration entsprechen.
Zur Präparationsform fehlen allerdings klinische Langzeitstudien,
sodass die Entscheidung für die entsprechende Präparation nur im Ein-
zelfall getroffen werden kann. Abschrägungen im Schmelzrandbereich
empfehlen sich insbesondere dann, wenn bereits Absprengungen an
den Frakturflächen vorliegen, die in die Präparation mit integriert wer-
242 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
a b c d
Abb. 6.22: Unterschied-
liche Formen der Prä-
paration von Fraktur-
flächen bei Wieder-
befestigung von
Zahnfragmenten nach
einem Trauma (nach
Wiegand et al. 2005):
a) keine Präparation,
b) zirkuläre Schmelzan-
schrägung, c) externe
V-förmige Schmelz-
kerbe, d) oberflächliche
Verbreiterung des Frak-
turspalts mit anschlie-
e f g
ßender leichter Über-
konturierung des Be-
festigungskomposites, e) interne Dentinpräparation, f) interne V-förmige Schmelzkerben, g) Kombination
aus externer und interner V-förmiger Schmelzkerbe
den können. Nach Applikation eines Komposits wird dann der eigentli-
che Frakturspalt gut maskiert, sodass anschließend ein ästhetisch an-
sprechendes Resultat garantiert werden kann. Interne Retentionen in
Schmelz und Dentin bieten sich an, wenn die Frakturflächen eine opti-
male Passung aufweisen oder wenn aufgrund endodontischer Maßnah-
men zusätzliche Präparationen der Zahnhartsubstanzen notwendig wer-
den (Abb. 6.22).
Zum Befestigen der Fragmente werden die üblichen Adhäsivsysteme
und Kompositmaterialien verwendet. Wurde das frakturierte Fragment
länger als 24 Stunden trocken gelagert, so sollte es anschließend für 24
Stunden in Wasser gelagert werden, um die gleichen Haftwerte wie bei
nicht ausgetrockneten Fragmenten zu erzielen.
Ein Unterfüllungsmaterial ist bei Anwendung der Adhäsivtechnik
meistens nicht erforderlich.
Klasse-V-Kavitäten
Restaurationen im zervikalen Glattflächenbereich sind aus unterschied-
lichen Gründen indiziert. Erosive Veränderungen, keilförmige Defekte
und Karies sind Gründe für Zahnhartsubstanzverluste in diesem Bereich.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 243
Bei Erosionen und keilförmigen Defekten wird primär ein nicht in- Nicht invasives
vasives Vorgehen angestrebt. Umstellung der Ernährung (wenig erosive Vorgehen
Nahrung), Veränderung der Putzgewohnheiten (z.B. Stillmann-Technik)
und Ausschaltung von Überbelastungen während der Kaufunktion (Ein-
schleifen, Beseitigung von Hyperbalancen und Vorkontakten) stehen
hier im Vordergrund. Erst wenn die Schmerzsymptomatik oder ästheti-
sche Aspekte restaurative Maßnahmen erfordern, ist ein invasives Vor-
gehen indiziert.
Im Wurzelzement bzw. -dentin kann auch beim Vorliegen einer
manifesten Karies durch Prophylaxemaßnahmen die Progression ver-
hindert werden.
Bei flachen kariösen Defekten wird ausschließlich die Karies ent-
fernt (mit Exkavator, Rosenbohrer oder Carisolv) und anschließend mit
hoch dosierten Fluoridlacken oder -gelen fluoridiert. Es erfolgt ein enges
6
Recall mit erneuter professioneller Fluoridapplikation in vierteljährli-
chen Intervallen. Die tägliche Anwendung antibakterieller Spüllösun-
gen (z.B. Zinnfluorid kombiniert mit Aminfluorid) ist indiziert.
Manifeste progrediente kariöse Defekte, speziell kariöse Läsionen im
Schmelzbereich, bei denen die Oberfläche eingebrochen ist, werden res-
taurativ behandelt.
Eine reine Zement- und Dentinkaries, die sich in den Approximal-
bereich erstreckt, lässt sich häufig nur noch durch Anfertigung einer
Krone therapieren. Bei Klasse-V-Kavitäten, die ausschließlich im Wur-
zelzementbereich liegen, werden häufig Glasionomerzemente als Res-
taurationsmaterial verwendet. In der Regel werden jedoch auch bei
Klasse-V-Kavitäten Kompositfüllungen angefertigt.
Bei der Präparation (Abb. 6.23) ist zu berücksichtigen, dass der Ab- Präparation
stand zur Pulpa im Zahnhalsbereich nur gering ist. Die Kavitätenpräpa-
ration folgt daher der Krümmung der Zahnoberfläche. Die primäre Ka-
vitätenpräparation beschränkt sich auf ein Minimum. Meistens ist nur
eine Kariesentfernung erforderlich. Die Umrissform folgt entsprechend
der Kariesausbreitung dem Verlauf der Gingiva, d.h., die Kavität ist an-
nähernd nierenförmig. Durch die Exkavation der Karies ergibt sich zer-
vikal meist automatisch ein leicht unter sich gehender Bereich, der für
eine zusätzliche makromechanische Verankerung sorgt.
Im schmelzbegrenzten Bereich erfolgen anschließend mit knospen- Anschrägung
förmigen oder kleinen spitzen Diamantfinierern eine Anschrägung des ge-
samten Kavitätenrandes (koronal mindestens 0,5 mm; lateral ist die
Schmelzabschrägung nur dünn zu gestalten) und eine Konditionierung der
Zahnhartsubstanzen wie oben beschrieben. Bei Zahnhalsdefekten, deren
zervikaler Rand im Zahnzement bzw. -wurzeldentin liegt, wird kein speziel-
les Kavitätendesign angestrebt. Während der Kavitätenrandbereich bei
Erosionen häufig nach zervikal abfallend ist, ergibt sich nach einer Karies-
exkavation häufig ein Unterschnitt im zervikalen Bereich (s. Abb. 6.23).
Die Applikation von Kofferdam gestaltet sich bei Klasse-V-Kavitäten Trockenlegung
oft schwierig. Man muss Klammern verwenden, die eine Retraktion der
244 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
angeätzter
Bereich Erosion
Schmelz- Wurzel-
anschrägung karies
Wurzel-
a zement b c d
Abb. 6.23: Kavitätengestaltung bei unterschiedlichen
Klasse-V-Kavitäten: a) Bei einer rein schmelzbegrenzten
Kavität kann die Kompositrestauration nach zirkulärer
Anschrägung mit der Adhäsivtechnik erfolgen. b) Liegt
der zervikale Kavitätenrand im Wurzelzement bzw.
-dentin, erfolgt nur koronal eine Schmelzanschrägung.
c) Eine Erosion wird nur bei ausgeprägter Form oder
aus ästhetischen Gründen invasiv behandelt. Dabei er-
folgt keine zusätzliche Präparation, sondern nur die An-
Kavitäten- wendung eines entsprechenden Adhäsivsystems. d) Bei
boden einer Wurzelkaries ergeben sich häufig nach der Exka-
vation zusätzlich makromechanische Retentionen.
Gingiva erlauben (z.B. Ivory SA 212). Nicht selten muss vorher durch
eine chirurgische Maßnahme der zervikale Rand der Kavität erst frei ge-
legt werden.
Ist Kofferdam nicht anwendbar (Latexallergie, Asthma, Würgereiz),
kann alternativ eine spezielle Zahnhalsmatrize verwendet werden
(Abb. 6.24b). Diese Matrize wird in den Sulkus geschoben, und von au-
ßen wird ein Schmelzhaftvermittler im Bereich des Gingivalsaums auf-
gebracht und ausgehärtet. Es resultiert eine dichte und fest sitzende Ma-
trize, die einen glatten, stufenlosen Übergang der Füllung zur Wurzel-
oberfläche garantiert. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich, wenn die
Präparationsgrenze äquigingival oder leicht subgingival liegt. Dann
kann durch Legen eines Retraktionsfadens die zervikale Grenze darge-
stellt und trocken gehalten werden.
Ein Unterfüllungsmaterial ist bei Anwendung der Adhäsivtechnik
meistens nicht erforderlich.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 245
Halte-
dorn
6
a b
Abb. 6.24: Bei der Insertion des Kompositmaterials können unterschiedliche Zervikalmatrizen angewendet
werden (a). Endet die Kavität zervikal am Gingivalrand und lässt sich kein Kofferdam applizieren, so wird
ein speziell geformtes Matrizenband in den Sulkus geschoben (b). Von außen wird Bonding mit einer Kugel
aufgebracht und ausgehärtet. Es resultiert eine dichte und fest sitzende Matrize, die einen glatten, stufen-
losen Übergang der Füllung zur Wurzeloberfläche garantiert.
Zur Vermeidung des zervikalen Randspalts wird bei großen und tie- Insertion des
fen Kavitäten das Komposit in zwei Schichten eingebracht, wobei jede Komposits
Schicht ausreichend (mindestens 40 s lang) polymerisiert werden muss.
Für die Restauration von Klasse-V-Kavitäten eigenen sich auch fließfä-
hige (flowable) Komposite. Für die Konturierung der Restauration kön-
nen lichtdurchlässige Matrizen, die mit einer Pinzette an einem Halte-
dorn festgehalten werden, Verwendung finden (Abb. 6.24a).
Die Ausarbeitung der Restauration erfolgt mit flammenförmigen Ausarbeitung
oder spitzen, feinen und extrafeinen Diamantfinierern und flexiblen
Scheiben, wie bei Klasse-III- und -IV-Restaurationen. Auf eine hoch-
glanzpolierte Restauration ohne Überschüsse muss aus karies- und paro-
dontalprophylaktischen Gründen besonders geachtet werden.
Bei rein erosiven Veränderungen sind die Defekte im Zahnhalsbe-
reich schüsselförmig (s. Abb. 6.23). Hier erfolgt in der Regel keine Präpa-
ration. Nach Reinigung der Dentinoberfläche kann die Restauration mit
der Adhäsivtechnik verankert werden. Die Haftfestigkeit von Adhäsi-
onssystemen scheint in diesem speziellen Fall aufgrund des geringen C-
Faktors ausreichend.
Als Alternativen zu Kompositrestaurationen bieten sich die reine Alternativen
Glasionomerzementfüllung, die Goldstopffüllung und verschiedene
Einlagerestaurationen (Keramik, Komposit, Gold) an, die heute jedoch
in der Regel keine Anwendung finden.
246 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
6.1.7 Seitenzahnrestaurationen mit Komposit
! Kompositmaterialien werden im Seitenzahnbereich für kleine
und mittelgroße Klasse-I- und -II-Kavitäten verwendet. Die An-
wendung bei Klasse-II-Kavitäten ist eingeschränkt, wenn der ap-
proximal-zervikale Kavitätenrand schlecht erreichbar und damit
eine Trockenlegung über den gesamten Behandlungszeitraum
nicht gewährleistet ist.
Es muss zudem gewährleistet sein, dass der Patient den Füllungsrandbe-
reich im Rahmen der täglichen Mundhygiene gut reinigen kann.
Klasse-I-Kavitäten
Primär- Die Primärpräparation für eine Klasse-I-Kavität erfolgt mit einem kugel-
präparation förmigen, birnenförmigen oder zylindrischen Diamanten. Die Kavitä-
tenform wird allein durch die Größe des kariösen Defekts bestimmt
(Abb. 6.25). Die Zugangskavität muss so groß sein, dass die Karies pro-
blemlos unter guter Sicht entfernt werden kann. Überhängende, nicht
von Dentin unterstützte Schmelzareale werden dann entfernt, wenn sie
frakturgefährdet sind. Nach Farbauswahl und absoluter Trockenlegung
erfolgt die Entfernung der Karies mit einem Rosenbohrer.
Unterfüllung Bei tiefen Kavitäten kann anschließend eine Unterfüllung (Phos-
phatzement, Carboxylatzement, Glasionomerzement) gelegt werden,
um zum einen die Pulpa vor eventuell austretenden Monomerbestand-
teilen aus der Kompositfüllung zu schützen und zum anderen das Ge-
samtvolumen des eingebrachten Komposits zu verringern.
In der Regel wird heute ein rein adhäsives Vorgehen (Total-etch-
Technik, total bonding) bevorzugt.
Die Schmelzränder werden mit Handinstrumenten bzw. kleinen spitzen
Diamantschleifern minimal angeschrägt. Dabei werden Schmelzberei-
che, deren Gefüge durch die Präparation geschädigt wurde, entfernt.
Eine breite Anschrägung ist im okklusalen Bereich nicht indiziert, da bei
der anschließenden Restauration dünn auslaufende Kompositränder im
okklusalen Kontaktbereich resultieren und damit einem deutlichen Ver-
schleiß unterliegen.
Wie bereits oben erwähnt, erfolgt eine Präparation nur in den Fissu-
renabschnitten, die tatsächlich kariös sind. Das an die Kavität angren-
zende Fissurenrelief kann nach erfolgter Restauration mit einem Fissu-
renversiegler vor Karies geschützt werden. Die adhäsive Präparation ist
auch hier durch minimalen Zahnhartsubstanzverlust und kleine Fül-
lungsoberfläche gekennzeichnet.
Konditionierung Nach Einbringen der Unterfüllung erfolgt die Konditionierung der
Zahnhartsubstanzen. Anschließend wird ein zum Füllungsmaterial ge-
hörendes Adhäsivsystem aufgetragen und das Kompositmaterial mit ei-
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 247
Schmelz-
anschrägung
Unter-
füllung
oder Adhäsiv-
system
a b
Abb. 6.25: Verschiedene Umrissformen von Klasse-I-Kavitäten für Kompositrestau-
rationen. Bei kleinem Kavitätenzugang und konvergenten Kavitätenwänden er-
folgt eine zierliche Schmelzanschrägung der Kavitätenränder, dabei werden die
Schmelzprismen zwischen 45 und 90° angeschnitten (a). Bei größeren Kavitäten
und parallelen oder leicht divergierenden Wänden ist keine Anschrägung erfor-
derlich (b).
nem planen Stopfer in Schichtstärken von 1–2 mm eingebracht und po-
lymerisiert (Abb. 6.26).
Eine akzeptable Modellation kann mit speziellen Komposit-Model- Modellation
lierinstrumenten durchgeführt werden. Es ist dabei darauf zu achten,
dass speziell bei hoch viskösen Hybridkompositen keine Luftein-
schlüsse „eingearbeitet“ werden. Diese Porösitäten führen zu einer er-
höhten Desintegration und damit erhöhtem Verschleiß der Komposit-
oberfläche beim Kauen. Auf der Kompositoberfläche entsteht eine sau-
erstoffinhibierte Zone. Eine geringfügige Überkonturierung der
Füllung ist daher unumgänglich, um genügend Material zum Ausarbei-
ten und Polieren zur Verfügung zu haben.
248 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Kugelstopfer
2. Schicht Planstopfer
1. Schicht
Instrumente
zur ana-
Unter- tomischen
füllung Gestaltung
oder
Adhäsiv
Abb. 6.26: Instrumente zum Füllen und Konturieren von okklusalen Kompositrestaurationen. Das Komposit
wird in Schichttechnik eingebracht und polymerisiert.
Ausarbeitung Die Ausarbeitung und Politur erfolgt je nach Art der zu bearbeiten-
und Politur den Flächen mit unterschiedlichen Instrumenten. Konvexe Flächen
(z.B. zugängliche Anteile der Approximalflächen) können mit schleif-
mittelbelegten Scheiben ausgearbeitet und poliert werden. Struktu-
rierte, anatomisch geformte Areale (z.B. Kauflächen) werden mit kegel-
förmigen Diamantfinierern ausgearbeitet und mit Hartmetallfinierern
geglättet. Die Politur kann mit diamantbeschickten Filzscheiben bzw.
Siliziumkarbid belegten Bürstchen erfolgen. Dabei wird die sauerstoffin-
hibierte Schicht entfernt. Einige Autoren empfehlen abschließend das
Auftragen eines Bondingmaterials, das in frei gelegte Porösitäten und
Mikrorisse eindringt und damit zu einer Oberflächenverbesserung
führt. Da oft nicht das gesamte Fissurensystem in die Präparation mit
einbezogen wird, kann anschließend auf die Füllung und nach Anätzen
auf die Fissuren ein Fissurenversiegler aufgebracht werden. Er erfüllt den
gleichen Zweck wie das Bondingmaterial.
Klasse-II-Kavitäten
Primär- Auch bei der Primärpräparation für Klasse-II-Kavitäten wird gesunde
präparation Zahnhartsubstanz so weit wie möglich geschont. Bei frei zugänglichen
approximalen Kavitäten (z.B. im Wechselgebiss) erfolgt die Restauration
wie bei Klasse-V-Kavitäten mit einem röntgensichtbaren Komposit.
Bei kleinen, rein approximalen Kavitäten und geschlossener Zahn-
reihe wird eine sogenannte Slot-Präparation durchgeführt (Abb.
6.27c). Die okklusale Struktur bleibt vollständig erhalten. Die Größe der
approximalen Kavität wird erneut ausschließlich durch die Kariesaus-
dehnung vorgegeben. Oft ist eine Separation des Nachbarzahnes durch
ein Keilchen indiziert, um ein versehentliches Anschleifen zu vermei-
den. Mit kleinen kugel- oder birnenförmigen Diamantschleifern wird
die approximale Karies von okklusal dargestellt. Dabei kann zunächst
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 249
Schmelz-
anschrägung
Schmelz-
anschrägung
1 mm
a b
c
Abb. 6.27: Klasse-II-Kavitäten für Kompositrestaura-
tionen. Der approximal-zervikale Kavitätenrand birnenförmiger
sollte gut zugänglich sein (möglichst im Schmelz Diamantschleifer
liegen) (a und b). Bei einer rein approximalen Karies
wird bei einer Primärversorgung eine Slot-Präpara-
tion ohne Einbeziehung der Fissuren durchgeführt
(c). Bei der Präparation für eine mehrflächige Kom-
positrestauration (Klasse-II-Kavität) wird zur Scho-
nung des Nachbarzahnes zunächst eine Schmelz-
lamelle stehengelassen (d). Nach Entfernung dieser
approximalen Lamelle wird die zervikale Stufe mit
einem stirnbelegten Diamantschleifer finiert. Die
Extensionsflächen und der Randbereich der zervika-
len Stufe werden mit oszillierenden Instrumenten
bearbeitet (e).
e
250 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
eine approximale Schmelzlamelle stehen bleiben (Abb. 6.27d). Diese
kann dann mit einem Diamantfinierer, der nur an der Stirnfläche belegt
ist, oder oszillierenden Instrumenten entfernt werden (Abb. 6.27e).
Approximal- Lage und Morphologie der Approximalkontakte bestimmen die Aus-
kontakte dehnung der bukkalen und oralen Extensionen. Die Approximalkon-
takte sind beim Jugendlichen eher punktförmig, beim älteren Patienten
flächenförmig, da es durch die physiologische Zahnbeweglichkeit zum
Einschleifen der Kontaktflächen benachbarter Zähne kommt. Sie liegen
im Oberkiefer mehr bukkal und im Unterkiefer zentral der Verbindungs-
linie der Hauptfissuren.
Sekundär- Nach Exkavation der Karies, Farbbestimmung, absoluter Trockenle-
präparation gung und evtl. Unterfüllung erfolgt die Sekundärpräparation. Der ap-
proximale Kontakt wird dabei falls erforderlich aufgehoben. Liegt zu-
gleich eine okklusale Fissurenkaries vor, so wird diese mit einbezogen
(Abb. 6.27b). Ging man früher davon aus, dass der Isthmus im Idealfall
nur so breit sein sollte, dass eine Schmelzabstützung der antagonisti-
schen Kontakte gewährleistet ist, so ist es heute aufgrund der besseren
Abrasionsresistenz der Hybridkomposite auch erlaubt, bei Einzelzähnen
größere Restaurationen herzustellen, wenn nicht die gesamte Okklusion
auf Kompositrestaurationen abgestützt ist. Die okklusalen Kavitäten-
ränder werden wie bei Klasse-I-Kavitäten gestaltet. Alle internen Kavitä-
tenwinkel sind abgerundet.
Matrizen- Nach erfolgter Präparation muss in der Regel eine Matrize adaptiert
Adaptation werden. Dabei können verschiedene Techniken angewendet werden.
Matrizen sind Formgebungshilfen und dienen der Wiederherstel-
lung der äußeren Zahnform. Sie schützen das marginale Parodont vor
überstopften Restaurationsmaterialien und damit vor Parodontopa-
thien. Aber auch bei Unterkonturierung von Füllungsmaterialien kann
es zu parodontalen Veränderungen kommen, da sich Plaque ansam-
melt. Außerdem kann eine Sekundärkaries in diesem Bereich entstehen.
Anforderungen Matrizen müssen folgenden Anforderungen genügen:
D Sie müssen dem Kondensationsdruck beim Füllen der Kavität stand-
halten.
D Sie dürfen beim Kondensieren nicht stören.
D Sie müssen nach Anlegen an den Zahn eine konische Form besitzen
(zervikal enger als okklusal).
D Sie müssen so adaptierbar sein, dass der Kontaktpunkt zum Nach-
barzahn wiederhergestellt werden kann. Die Dicke des Matrizenban-
des sollte 50 µm nicht überschreiten.
Systeme Alle diese Forderungen erfüllt das Tofflemire-Matrizen-System (Abb.
6.28a).
Als Alternative bieten sich Matrizensysteme ohne Halter, z.B. das
Automatrixsystem, an, welches bei besonders ausladenden Zahnformen
oder dann, wenn ein Matrizenhalter stört, Anwendung findet (Abb.
6.28c). Beim Anlegen einer Matrize kann es zu einer Verformung der
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 251
a b
c d
Abb. 6.28: Für die Insertion des Komposits bei einer Klasse-II-Kavität muss eine Matrize gelegt werden. Da-
bei kommen Metallmatrizen in speziellen Matrizenhaltern (Tofflemire-System) (a), Metall- und Kunststoff-
bänder ohne speziellen Halter (c) oder Teilmatrizensysteme, die mit einem Metallring adaptiert werden (d)
zur Anwendung. Die Matrizen müssen approximal-zervikal gut adaptiert werden (Keil), um ein Überstop-
fen von Füllungsmaterial zu verhindern (b).
Höcker kommen, deshalb darf das Matrizenband nicht zu stark angezo-
gen werden.
Besonders geeignet sind Teilmatrizensysteme, bei denen bleitote,
formbare, sehr dünne Metallbänder in den Zahnzwischenraum einge-
bracht und dort mit einem speziellen Haltesystem (Metallring) fixiert
werden. Bei Verwendung dieser Matrizen kann ein guter Approximal-
kontakt erzielt werden. Sie eignen sich speziell bei minimalinvasiven
Kavitätenformen (Abb. 6.28d).
Zudem werden auch Systeme angeboten, die vorkonturierte Kunst-
stoffmatrizenbänder verwenden, die in einen üblichen Matrizenhalter
(z.B. Tofflemire) eingespannt werden können. Da die Matrizenhalter je-
doch aus Metall sind, ziehen sie das Matrizenband aufgrund ihres Ge-
wichtes sehr leicht nach koronal vom Zahn ab. Bei einem anderen Ma-
trizensystem wird die Kunststoffmatrize durch eine Metallvorrichtung
am Zahn festgeklemmt. Auch hier ist eine optimale Adaptation nicht
gewährleistet. Man kann bei kleinen Kavitäten jeweils mesial und distal
gekürzte Matrizenbänder für Frontzähne zwischen den Zähnen verkei-
len. Damit lässt sich jedoch kein stufenloser Übergang der Restauration
252 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
zur Zahnoberfläche an den Extensionsflächen erzielen. Kunststoffmatri-
zen sind zudem relativ dick, sodass bei ihrer Verwendung die Erzielung
eines ausreichenden Approximalkontakts erschwert ist.
Adaptation Bei keinem Matrizensystem liegt das Matrizenband so dicht am
Zahn, dass ein Überstopfen des Füllungsmaterials sicher verhindert wer-
den kann. Die zervikale Adaptation der Matrize mit einem Interdental-
keil ist daher unumgänglich (Abb. 6.28b). Er separiert dabei die benach-
barten Zähne um Matrizenbandstärke, sodass nach Entfernen der
Matrize durch die Rückstellbewegung der Zähne ein satter Approximal-
kontakt resultiert. Interdentalkeile sind im Querschnitt der Anatomie
des Interdentalraums angepasst. Sie sind in verschiedenen Größen und
aus unterschiedlichem Material erhältlich.
Da Interdentalkeile mit Pinzetten schlecht zu fassen sind und damit
die Gefahr der Aspiration besteht, sollten entsprechend geformte Zan-
gen (z.B. How-Zange) zur Applikation und Entfernung der Interdental-
keile verwendet werden.
Unter bestimmten Bedingungen (zu großer oder zu kleiner Interden-
talraum, Einziehungen im Wurzelbereich) müssen die Keilchen mit
Compound-Masse oder einem lichthärtenden, gummiartigen Kunst-
stoff individualisiert werden.
Nach Verkeilen der Matrize wird mit der Sonde überprüft, ob sie im
Bereich der approximal-zervikalen Stufe dicht anliegt. Das Band über-
ragt dabei die Stufe nur geringfügig.
Zur anatomischen Gestaltung des Approximalkontaktes wird das
Matrizenband mit einem Kugelstopfer an den Nachbarzahn anrotiert.
Der Anatomie des Kontaktpunktareals muss dabei Rechnung getragen
werden. Der Kontaktpunkt liegt im oberen Drittel der Approximalbe-
reiche. Bei älteren Patienten findet man eine Approximalfläche, die me-
sial konkav und distal konvex ist.
Entfernung Das Matrizenband sollte nach dem Legen der Füllung vom Matri-
zenhalter gelöst und separat entfernt werden können, um eine Fraktur
der frisch gelegten Füllung zu vermeiden. Bei umfangreichen Kavitäten
müssen die Matrizenbänder individualisiert werden.
Bei der Verwendung von Metallmatrizen kann das Kompositmate-
rial beim Einbringen nur von okklusal polymerisiert werden. Nach Ab-
nehmen des Matrizenbandes muss daher die fertige Restauration noch
einmal von allen Seiten für 40 s nachpolymerisiert werden.
Häufig wird bei der Arbeit mit Kunststoffmatrizen die Verwendung
von seitlich reflektierenden Keilen empfohlen. Sie sollen das Licht in
den Zahnzwischenraum leiten und damit die Schrumpfung des Kompo-
sits nach zervikal lenken. Neuere Untersuchungen bezweifeln diese Wir-
kung.
Einbringen des Das Einbringen des Komposits erfolgt grundsätzlich in Schichttech-
Komposits nik, um die Polymerisationsschrumpfung zu minimieren. Dabei kön-
nen unterschiedliche Techniken angewendet werden (Abb. 6.29). Bei
der zentripedalen Schichttechnik wird zunächst matrizennah eine
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 253
4 4
3
2 3
2
1 1
a b
Abb. 6.29: Zur Verringerung der Poly-
merisationsschrumpfung und wegen 6
der begrenzten Durchhärtungstiefe
4
wird das Kompositmaterial in kleinen
Schichten in die Kavität eingebracht
und ausgehärtet. Die Schichtung kann
horizontal (a), schräg aufeinander zu- 3 1
laufend (oblique) (b) oder zentripedal
erfolgen (c).
2
dünne Wand eingebracht und auspolymerisiert. Dann können weitere
Schichten horizontal oder mit obliquer Schichttechnik eingebracht
werden. Fließfähige Komposite werden in Kunststoffkompulen gelie-
fert. Sie können dann direkt in die Kavität „eingespritzt“ werden. Bei
sorgfältiger Insertion entstehen dabei keine Lufteinschlüsse, die bei der
Anwendung zäher Hybridkompositmaterialien in kleinen, unter sich
gehenden Kavitäten kaum zu vermeiden sind. Sie sind daher für die Res-
tauration kleiner Klasse-II-Restaurationen (Slot-Präparation) und als
erste, dünne (zervikale) Schicht bei größeren, unter sich gehenden Prä-
parationen geeignet.
Die Ausarbeitung und Politur erfolgt okklusal wie bei Klasse-I-Res- Ausarbeitung
taurationen. Linguale, bukkale und zervikale Überschüsse lassen sich und Politur
gut mit schneidenden Handinstrumenten (gebogenes Skalpell, Scaler,
Spezialinstrumente) entfernen. Anschließend lassen sich diese Bereiche
mit flammenförmigen Diamantfinierern und Polierscheiben so kontu-
rieren, dass kein Übergang zwischen Restauration und Zahnhartsub-
stanz zu tasten ist. Besondere Aufmerksamkeit gilt Füllungsüberschüs-
sen im Approximalraum. Sie müssen vollständig entfernt werden, um
Parodontalerkrankungen vorzubeugen. Bei richtiger Farbgebung ist eine
Ausarbeitung und Politur im okklusalen Bereich sehr schwierig. Die Res-
tauration lässt sich dann oft nicht von der Zahnhartsubstanz unter-
scheiden.
254 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Eine sorgfältige Kontrolle der statischen und dynamischen Okklusion
sowie eine Fluoridierung mit einem neutralen Fluoridierungsmittel
schließen die Behandlung ab. Da es bei mehrflächigen Kompositrestaura-
tionen aufgrund der Materialeigenschaften im Verlauf der Jahre häufig zu
sogenannten Chipping-Frakturen im Breich der Randleisten kommt, soll-
ten die Okklusalflächen so gestaltet werden, dass keine oder nur schwa-
che antagonistische Kontrakte auf den Randleisten zu liegen kommen.
Große Komposit- Nach Entfernung einer Amalgamfüllung ist die Kavität oft approxi-
restauration mal-zervikal nicht mehr schmelzbegrenzt bzw. im Bereich des okklusa-
len Isthmus zu groß. In diesem Fall ist eine Kompositrestauration nur
nach sorgfältiger Abwägung indiziert. Der zervikal-approximale Kavitä-
tenrand sollte gut zugänglich und eine adäquate Trockenlegung mög-
lich sein.
Aufgrund der verbesserten physikalischen Eigenschaften der Kompo-
sitmaterialien und der verfeinerten Insertionstechniken lassen sich
heute in Einzelfällen auch große Restaurationen mit Höckerersatz her-
stellen. Allerdings sollten nicht große Höckeraufbauten aus Komposit an
mehreren Zähnen eines Quadranten angefertigt werden, da der Abrieb
von Kompositmaterialien insbesondere im Abrasionsgebiss nach wie vor
nicht unerheblich ist. Bezüglich der physikalischen Eigenschaften stellt
das E-Modul nach wie vor die Schwachstelle der Komposite dar. Ein ge-
ringes E-Modul bedeutet eine erhöhte Deformation der Materialien beim
Kauen, die zu einer Rissbildung und erhöhter Abrasion führen kann.
6.1.8 Weitere Indikationsgebiete für die Anwendung von
Kompositmaterialien
Ausgedehnte Frontzahnfüllungen, Verfärbungen und Strukturanoma-
lien des Zahnschmelzes können zu erheblichen ästhetischen Proble-
men führen, wenn diese Veränderungen speziell an oberen Frontzäh-
nen die gesamte Fazialfläche betreffen. Komposite in Verbindung mit
der Adhäsivtechnik ermöglichen ästhetische Korrekturen von Schmelz-
defekten und Schmelzverfärbungen und die Schließung von Diaste-
mata. Dabei können direkte und indirekte Verblendungen (Veneers)
Anwendung finden (Abb. 6.30).
Direkte Verblend- Nach adäquater Schmelzpräparation wird bei der direkten Verblend-
technik technik nach Konditionierung die gewünschte Korrektur mit Komposit-
materialien in einer Sitzung vorgenommen.
Indirekte Ver- Bei der indirekten Verblendtechnik wird nach Abformung und Mo-
blendtechnik dellerstellung eine zahnfarbene Verblendschale aus Komposit herge-
stellt. Die Befestigung der Schale im Mund des Patienten erfolgt mit ei-
nem sogenannten Kompositkleber unter absoluter Trockenheit. Bei ver-
färbten Zähnen kann vorher ein gefärbtes niedrig visköses Komposit
(Opaker) auf die verfärbte Fläche aufgetragen und ausgehärtet werden.
Hier wird auf weiterführende Literatur verwiesen.
6.1 Kompositrestaurationen Kapitel 6 255
Dentin 6
Schmelz
Bonding
opakes transluzentes
Opaker Kernmaterial Verblendmaterial
Komposit
a b
Abb. 6.30: a) Diastemaschluss mit direkter Verblendtechnik, b) approximale Aufsicht auf einen Zahn mit ei-
nem Veneer
Temporäre Schienungen nach Zahnfrakturen bzw. temporäre Lü-
ckenversorgungen nach Zahnextraktionen lassen sich ebenso mit der
Adhäsivtechnik und Kompositen durchführen wie der semipermanente
Aufbau einer therapeutischen Eckzahnführung und die Eingliederung
von Klebebrücken (sog. Maryland-Brücken).
Der Einsatz im Milchgebiss unterliegt den gleichen Indikationen Einsatz im
wie im Erwachsenengebiss. Das verwendete Kompositmaterial muss Milchgebiss
röntgenopak sein, eine ausreichende Zug- und Druckfestigkeit besitzen
und verschleißfest sein. Im Seitenzahnbereich werden daher aufgrund
ihrer physikalischen Eigenschaften Feinpartikelhybrid-Komposite ver-
wendet. Da während des Füllens weder Blut noch Speichel in die Kavi-
tät eindringen darf, empfiehlt sich die Anwendung von Kofferdam.
6.1.9 Bewertung der Kompositrestaurationen
! Die Anwendung von Kompositen in Verbindung mit Adhäsiv-
technik führt bei richtiger Indikation zu randspaltfreien und äs-
thetisch anspruchsvollen Restaurationen.
Ein eingeschränkter Indikationsbereich liegt dann vor, wenn Präpara- Indikations-
tionsgrenzen von Klasse-II-, -IV- und -V-Kavitäten zervikal im Zahnze- bereich
ment bzw. -dentin enden.
Bei reiner Wurzelkaries, okklusionstragenden Klasse-II-Kavitäten
und bei approximalen Seitenzahnläsionen, die zervikal-approximal ze-
256 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
mentbegrenzt sind, ist die Anwendung von Kompositmaterialien nach
heutiger Ansicht limitiert.
Kontra- Falls Einziehungen im zervikalen Bereich das sichere Anlegen einer
indikationen Matrize nicht mehr ermöglichen und somit die Gefahr des Überstopfens
von Füllungsmaterial gegeben ist und wenn die Wiederherstellung eines
Approximalkontakts zum Nachbarzahn durch eine Kompositrestaura-
tion nicht erzielt werden kann, sind Kompositrestaurationen kontrain-
diziert.
Abrasionsgebiss Im Abrasionsgebiss ist die Anwendung von Komposit für Klasse-II-
Kavitäten in der Regel nur selten indiziert; hier müssen auch im Rah-
men einer Bisshebung nicht selten Teilkronen angefertigt werden.
Mit Entwicklung der adhäsiven Präparationstechnik sind die Black-
Präparationsregeln nur noch eingeschränkt gültig.
Kavitätenränder Es wird nicht mehr angestrebt, die Kavitätenränder in die Zonen der
Selbstreinigung bzw. aus kariesprophylaktischen Gründen in den gingi-
valen Sulkus zu legen. Eine eigene Retentionsform wird überflüssig, da
das Restaurationsmaterial mikromechanisch an den Zahnhartsubstan-
zen haftet. Einzig die Übersichtsform und die Widerstandsform gelten
weiterhin. Die kariöse Läsion muss bei guter Sicht exkaviert werden
können, und weder Zahn noch Füllung sollten unter Kaubelastung frak-
turieren bzw. übermäßig abradieren.
Komposit ist nach wie vor kein ideales Restaurationsmaterial für die
Routineversorgung von Seitenzahnkavitäten. Durch Hydrolyse der Si-
lanverbindungen kommt es zum Füllerverlust und damit zu verstärk-
tem Substanzverlust im okklusalen (Attrition) und approximalen Kon-
taktpunktbereich. Im okklusionstragenden Bereich ist der Materialver-
lust ca. dreimal größer als im okklusionsfreien Bereich (Abrasion durch
Nahrungsaufnahme).
Polymerisations- Die Polymerisationsschrumpfung führt zusätzlich zu inneren
schrumpfung Spannungen und damit zur Ausbildung von Mikrorissen, die für eine
Desintegration des Materials mitverantwortlich sind. Da eine Konver-
sion aller vorhandenen Doppelbindungen bei der Aushärtung nicht er-
folgt, nimmt das Material in der Mundhöhle Wasser auf und quillt.
Farbstabilität Eine Farbstabilität kann nicht sicher gewährleistet werden.
Zeitaufwand Der Zeitaufwand bei der Restauration von Klasse-II-Kavitäten mit
Kompositen ist in der Regel größer als bei Verwendung von Amalgam.
Lebensdauer Mit modernen Feinpartikelhybridkompositen lassen sich heute je-
doch bei richtiger Indikationsstellung und richtiger Verarbeitung Res-
taurationen herstellen, deren Lebensdauer an die von Amalgamfüllun-
gen heranreicht. Kompositrestaurationen zeigen bei entsprechender In-
dikation geringe jährliche Versagensraten von ungefähr 2% über einen
Zeitraum von 10–20 Jahren. Die Hauptgründe für das Versagen von
Kompositrestaurationen sind Sekundärkaries und Füllungsfrakturen.
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen Kapitel 6 257
6.1.10 Reparatur von Kompositrestaurationen
Bei der Erneuerung einer Kompositrestauration ergeben sich zwei Pro-
bleme: Sie ist sehr zeitaufwändig, da das Restaurationsmaterial sich
farblich häufig kaum von der Zahnhartsubstanz unterscheidet und man
bei adhäsiv befestigten Restaurationen am Boden tiefer Kavitäten sehr
vorsichtig vorgehen muss, um die Pulpa nicht zu eröffnen. Zudem hat
sich gezeigt, dass der Zahnhartsubstanzverlust bei Entfernung einer
Kompositrestauration häufig erheblich größer ist als beim Austausch ei-
ner Amalgamrestauration.
Da Kompositrestaurationen aufgrund einer Sekundärkaries oder einer Verbund
Füllungsfraktur häufig nur teilweise entfernt werden müssen, stellt sich
die Frage, ob sich der neue Restaurationsteil ausreichend mit dem noch
vorhandenen verbindet. Es steht fest, dass diese Verbindung nicht immer
6
sicher herzustellen ist. Man kann allerdings im Einzelfall die Komposit-
fläche des noch verbliebenen Füllungsteils mit einem Steinchen oder mit
einem Sandstrahlgerät aufrauen, die Kavitätenwände im zu erneuernden
Bereich nachpräparieren und dann wie üblich den neuen Füllungsteil ad-
häsiv verankern. Es gibt allerdings bisher nur wenige aussagekräftige
Langzeitstudien zum Verbund der beiden Restaurationsteile.
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen
6.2.1 Materialkunde
! Glasionomerzement (Polyalkenoatzement) besteht aus den für
Dentalzemente typischen Komponenten Pulver und Flüssigkeit,
welche durch eine Säure-Basen-Reaktion aushärten.
Konventionelle Glasionomerzemente
Bei den konventionellen Glasionomerzementen finden Polycarbon- Bestandteile
säuren (Polymere der Alkensäuren) wie z.B. die Polyacrylsäure und
heutzutage deren Kopolymere mit Itakon- oder Maleinsäure Verwen-
dung. Diese neueren Kombinationen setzen die Viskosität der Flüssig-
keitskomponente herab, verhindern ein vorzeitiges Gelieren (hierdurch
verlängerte Lagerungsmöglichkeit) und verbessern die Abbindege-
schwindigkeit.
Durch Gefriertrocknung ist es darüber hinaus möglich, diese An-
teile dem Pulver bereits zuzugeben, wodurch eine exakte Dosierung der
Flüssigkeits- und Pulveranteile erleichtert wird.
Der Flüssigkeitsanteil dieser sogenannten wasserhärtenden Glasio-
nomerzemente besteht aus destilliertem Wasser bzw. wässriger Wein-
säure.
Der Pulveranteil besteht aus Kalzium-Aluminium-Silikat-Glas mit
eingesprengten kalziumfluoridreichen kristallisierten Tröpfchen, die
258 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
beim Schmelzvorgang der Ausgangskomponenten als Flussmittel dien-
ten. Die Fluoride werden nach dem Legen der Füllung über einen länge-
ren Zeitraum an die Umgebung abgegeben und sollen so einen begrenz-
ten Kariesschutz im Füllungsrandbereich bieten.
Der Silikatanteil wurde inzwischen leicht modifiziert, um optimal
mit der Säurekomponente reagieren zu können. Durch Vorbehandlung
der gemahlenen Gläser mit mineralischer Säure entsteht an der Oberflä-
che eine ca. 100 nm dicke Kieselgelschicht. Diese Schicht muss nach
dem Anrühren des Zements von der Säure durchdrungen werden. Hier-
durch verlängert sich die Verarbeitungszeit und verringert sich die Erhär-
tungszeit. Gleichzeitig wird die Wasserempfindlichkeit stark vermindert.
Abbindereaktion Die Abbindereaktion der beiden Hauptkomponenten verläuft in drei
Schritten (Abb. 6.31): Durch die Säure werden aus dem Silikatglas Kal-
zium- und Aluminiumionen herausgelöst (I). Da die Kalziumionen
schneller gelöst werden, reagieren diese zuerst mit der Säure. Durch Ver-
netzung der Polyacrylsäure über Kalziumbrücken entsteht ein Kalzium-
polykarboxylatgel (II), welches extrem empfindlich gegenüber Feuch-
tigkeit und Austrocknung ist. Die Folge einer initialen Feuchtigkeitskon-
tamination sind verzögerte Abbindung, reduzierte Druckfestigkeit und
Härte, Verlust der Transluzenz, poröse und raue Oberflächen und be-
schleunigte Erosion der Füllung. Die Austrocknung hat zur Folge, dass
Glasionomerzemente matt-opak aussehen, dass sie krakelieren und eine
erhöhte Abbindekontraktion aufweisen. Deshalb muss durch Lacke,
Versiegler (Bonding) oder Matrizen ein Schutz erfolgen.
Stabilisierung Erst im Lauf von Stunden kommt es anschließend zur zusätzlichen
Einlagerung von Aluminiumionen in die Matrix, wodurch ein wasser-
unlösliches Kalzium-Aluminium-Karboxylat-Gel entsteht (III). Durch
Einlagerung von Wasser erfolgt über einen längeren Zeitraum eine wei-
tere Stabilisierung des Zementgefüges.
Cermetzemente
Durch Sinterung ist es möglich, in die Glaspartikel Metall einzuschmel-
zen. Das dabei überwiegend verwendete Silber dient als Stressabsorber
und ermöglicht eine erhöhte Biege- und Abriebfestigkeit. Werden derar-
tig veränderte Gläser verwendet, spricht man von Cermetzementen (Ce-
ramik-Metall-Glasionomerzemente).
Hoch visköse Glasionomerzemente
Als Weiterentwicklung der konventionellen Glasionomerzemente sind
sogenannte hoch visköse (stopfbare) Glasionomerzemente entwickelt
worden. Alle drei Gruppen haben ihr Indikationsspektrum bei der Ver-
sorgung von Klasse-V-Kavitäten (speziell im Dentin), bei der Versorgung
von Klasse-II-Kavitäten in Milchzähnen bzw. zur Interimsversorgung
bei bleibenden Zähnen und bei der sogenannten ART-Technik (atrau-
matic restorative treatment). Diese Restaurationsart wird in Entwick-
lungsländern verwendet, da es hier häufig aufgrund fehlender Technik
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen Kapitel 6 259
I Glaspulver Anmischen
Polycarbonsäure
O H2O
Ca
Si C C
-
Al O O HO O
F H+
5 10 Minuten
II Ionisierung Fluorokomplexe Kalziumpolycarboxylat
6
Al CaF +
O C C
Ca O - O O - O
Si F
Ca 2+ Ca 2+
Al O - O O - O
H2O F O H+
H C C
III
24 Stunden
Aluminiumcarboxylat
Al F 2+
F C C C
Al F 2+
O F O - O O - O O - O
H2O Ca Si Al3+ Al3+
Si
Al
O - O O - O O - O
O H+
H C C C
Abb. 6.31: Aushärtungsreaktion von Glasionomerzement
nicht möglich ist, adäquate Kavitäten zu präparieren bzw. eine vollstän-
dige Exkavation der Karies vorzunehmen. Die Fluoridabgabe der Glasio-
nomerzemente soll dann Kariesrezidiven bzw. einer Sekundärkaries vor-
beugen.
Kunststoffmodifizierte Glasionomerzemente
Als vierte Gruppe sind lichthärtende Glasionomerzemente (kunststoff- Bestandteile
modifizierte Glasionomerzemente, resin-modified glass ionomers, Hy-
260 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
bridionomere) auf dem Markt, die in der Flüssigkeit neben Säure zusätz-
liche Bestandteile, wie z.B. hydrophile Monomere (Hydroxyäthylmeth-
acrylat = HEMA), Bis-GMA und Fotoakzeleratoren, enthalten. Den Poly-
acrylsäuremolekülen werden zusätzliche Methacrylatgruppen ange-
hängt.
Durch lichtgesteuerte Kopolymerisation des Methacrylats mit den
angehängten Gruppen der Polyacrylsäure kommt es zu kovalenten und
ionischen Bindungen und damit zur Erhärtung des Materials. Die Poly-
merisation der zugesetzten Monomere überlagert dabei die Polyacryl-
säure-Glas-Reaktion.
Seit es möglich geworden ist, die Carboxylgruppen der Polyacryl-
säure aus dem initialen Polymerisationsprozess herauszuhalten, ermög-
lichen auch einzelne lichthärtende Glasionomerzemente eine chemi-
sche Bindung an die Zahnhartsubstanz.
Indikation Auch diese Materialgruppe ist in erster Linie für Klasse-V-Kavitäten
und die Versorgung von Milchzahnkavitäten geeignet.
Vorteil Der Vorteil gegenüber den anderen Glasionomerzementen ist ihre
geringere Krakelierung. Sie müssen während des Aushärtens nicht mit
einer Schutzschicht (z.B. Bonding) versehen werden.
Nachteile Nachteilig ist, dass sie in kleinen Schichten auspolymerisiert werden
müssen und dass aufgrund der relativ großen Füllkörper eine Hoch-
glanzpolitur noch nicht möglich ist. Hybridionomere expandieren in
den ersten 24 h durch Wasseraufnahme (bis 5%). Die Polymerisations-
schrumpfung liegt in einem Bereich von 7%. Randundichtigkeiten bis
hin zum Haftungsverlust resultieren aus diesem Verhalten.
Lebensdauer Klinische Langzeiterfahrungen zur Haltbarkeit lichthärtender
Glasionomerzemente liegen bisher nicht vor. Für alle Glasionomer-
zemente sollten die nachfolgend aufgeführten Richtlinien für die Präpa-
ration befolgt werden.
6.2.2 Präparation und Kavitätenkonditionierung
Neben der Feuchtigkeitsänderung werden die Materialeigenschaften der
Glasionomerzemente entscheidend durch das Mischungsverhältnis
Pulver/Flüssigkeit beeinflusst. Das Anrühren sollte innerhalb von 30 s
mit einem speziellen beschichteten Hartmetallspatel oder einem nicht-
metallischen Instrument erfolgen. Das Zement sollte nach dem Anmi-
schen eine hochglänzende Oberfläche aufweisen, nur so ist die ausrei-
chende Benetzung der Zahnhartsubstanz und damit genügend hohe
Haftung gewährleistet.
Dosierung Die Auswirkungen von Dosierungsfehlern sind gravierend. Ist der
Pulveranteil zu hoch, so resultieren eine verringerte Verarbeitungszeit,
erhöhte Viskosität, verringerte Benetzung der Kavitätenwände, gerin-
gere Haftung an den Zahnhartsubstanzen und eine erhöhte Opazität.
Bei zu niedrigem Pulveranteil sind Abbindekontraktion, Wasserlös-
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen Kapitel 6 261
lichkeit und Abrasion erhöht, während Oberflächenhärte und Erosions-
resistenz verringert sind. Um die Fehlerquoten zu verringern, helfen an
dieser Stelle vordosierte Kapselsysteme und die sog. wasserhärtenden
Zemente. Bei diesen muss vorher das Gefäß sorgfältig aufgeschüttelt
werden, damit später die pulverisierte Säure und die Gläser im richtigen
Mischungsverhältnis vorliegen. Nach dem Applizieren des Materials
kann das Zement durch Anlegen einer Matrize vor Austrocknung be-
wahrt werden.
Ist die Applikation einer Matrize nicht praktikabel, so gibt es drei un- Dehydratation
terschiedliche Möglichkeiten, das Material vor Dehydratation und und Feuchtigkeits-
Feuchtigkeitskontamination zu schützen: kontamination
D Von den Herstellern wird oft ein mitgelieferter Lack empfohlen.
Diese Lacke haben den Nachteil, dass nach Verdunstung des Lö-
sungsmittels keine dichte homogene Schicht auf der Oberfläche ver-
6
bleibt. Sie sind daher ungeeignet.
D Als preisgünstige Alternative wird Vaseline empfohlen, die jedoch
aufgrund von Körperwärme und Reibung schnell wieder verloren
geht.
D Am besten geeignet sind Bondingmaterialien, die, direkt nach der
Zementapplikation aufgetragen, nicht polymerisieren, den initialen
Feuchtigkeitszutritt verhindern und bei der Entfernung grober Über-
schüsse als Gleitmittel für das rotierende Werkzeug dienen. Nach
Abschluss der Konturierung wird erneut Bondingmaterial aufgetra-
gen und polymerisiert, um das Wassergleichgewicht innerhalb des
Glasionomerzements bis zum endgültigen Aushärten zu erhalten.
Die Kombination von weichem Polycarboxylatgel und hartem Silikat- Politur
glas macht die Politur von Glasionomerzementfüllungen unmöglich.
Die beste Oberfläche resultiert nach Anwendung einer Matrize. So wird
auch die erforderliche Ausarbeitung der Füllung auf ein Minimum redu-
ziert. Ist die Bearbeitung mit rotierenden Instrumenten notwendig,
dann sollte sie niedertourig, ohne Spraykühlung und unter Verwen-
dung von Bonding oder Vaseline als Dehydratationsschutz durchge-
führt werden. Nach dem endgültigen Aushärten (24 h) kann dann die
Ausarbeitung mit Wasser und Feinkorndiamantfinierern sowie mit alu-
miniumoxidbeschichteten Scheiben abnehmender Körnung erfolgen.
6.2.3 Haftmechanismus
! Glasionomerzemente können eine chemische Verbindung mit
Zahnhartsubstanzen eingehen.
Dabei spielen sowohl ionische als auch kovalente Bindungen zwischen
den Carboxylgruppen der Polyacrylsäure und anorganischen Schmelz-
bzw. Dentinbestandteilen eine Rolle. Eine Bindung an das Kollagen des
262 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Dentins ist bisher nicht bewiesen. Beachtenswert ist, dass die Haftungs-
kräfte am Schmelz doppelt so hoch sind wie am Dentin. Die Verbin-
dung Kunststoff/Schmelz nach Adhäsionstechnik ist jedoch sechsmal
höher als zwischen Glasionomerzement und Zahnschmelz.
Für den einwandfreien chemischen Verbund zwischen Glasiono-
merzement und Zahnhartsubstanz muss eine saubere, glatte und gut be-
netzbare Oberfläche vorliegen. Außerdem ist eine ausreichend niedrige
Viskosität des Zements Grundvoraussetzung. Um eine entsprechende
Zahnoberfläche zu erzielen, sollte die Kavität mit Diamantfinierern oder
Poliermitteln, welche keine Schmierschicht erzeugen (Bimsmehl), vor
der Füllungstherapie bearbeitet werden. Eine kurze Konditionierung der
Kavität mit Polyacrylsäure für 10 s entfernt eine eventuell vorhandene
Schmierschicht und verbessert damit die Haftung.
6.2.4 Pulpaverträglichkeit
Wird Glasionomerzement direkt auf die Pulpa aufgebracht, so wir-
ken sowohl der Zement selbst als auch seine Einzelkomponenten
pulpatoxisch.
Diese Toxizität verringert sich jedoch erheblich, wenn zwischen Zement
und Pulpa eine Dentinbarriere liegt, wenn das Material abgebunden ist
und wenn ein wasserhärtendes Glasionomerzement verwendet wird.
Bei tiefen Kavitäten mit einer vermuteten Restdentinschicht von
weniger als 1 mm sollte ein punktueller Pulpaschutz mit einem Kalzi-
umhydroxidpräparat vorgenommen werden.
Klinisch beobachtete Hypersensibilität nach Anwendung von Glas-
ionomerzementen wird auf chemisch-toxische Einflüsse des Zements
und auf mangelnde antibakterielle Eigenschaften zurückgeführt.
6.2.5 Indikationen für die Anwendung von
Glasionomerzementen
! Die materialspezifischen Eigenschaften der Glasionomerzemente
führen zwangsläufig zu einem eng definierten Indikationsspek-
trum. Hauptanwendungsgebiet ist die reine zement- bzw. dentin-
begrenzte Wurzeloberflächenkaries. Aber auch Klasse-V-Kavitä-
ten, deren zervikale Begrenzung im Wurzelzement bzw. -dentin
endet, werden als Indikation angegeben.
Im kariesaktiven Gebiss und in der Kinderzahnheilkunde werden die
Glasionomerzemente aufgrund ihrer Fluoridabgabe eingesetzt. Die Ent-
stehung und die Progredienz von Sekundärkaries kann auf diese Weise
reduziert werden.
6.2 Restaurationen mit Glasionomerzementen Kapitel 6 263
Die Verwendung von Glasionomerzement bei Klasse-II-Kavitäten
von Milchmolaren wird größtenteils positiv beurteilt. Aufgrund der ge-
ringen Kanten- und Abrasionsfestigkeit sollten größere Kavitäten je-
doch weiterhin mit anderen Restaurationsmaterialien, z.B. Konfektions-
kronen, versorgt werden.
Da die positiven Materialeigenschaften in sehr hohem Maße von der
einwandfreien Verarbeitung abhängig sind, muss die ausschließliche
Verwendung von Glasionomerzementen in der Füllungstherapie bei
Milchzähnen weiterhin in Frage gestellt werden.
Wenn keine vollständige Trockenlegung der Kavität aufgrund ana-
tomischer Gegebenheiten oder mangelnder Patientencompliance
gewährleistet werden kann, ist das Ergebnis hinsichtlich Qualität
und Verweildauer in der Mundhöhle fraglich.
6
Untersuchungen zeigen, dass bei Klasse-II-Kavitäten im Milchgebiss be-
reits nach einem Jahr 10% der Füllungen erneuerungsbedürftig waren.
Dabei wurden die Restaurationen unter Beachtung der Verarbeitungs-
vorschriften gelegt. Bei Noncompliance dürfte die Zahl der erneue-
rungsbedürftigen Füllungen stark ansteigen.
Als weitere Indikationsgebiete für Glasionomerzemente werden ap-
proximale Mikrokavitäten, Reparaturen defekter Kronen und Füllungs-
ränder (provisorische Versorgung bis zur Erneuerung) und Aufbaufül-
lungen genannt.
Die Aufbaufüllungen sollten in einer gesonderten Sitzung vor end-
gültiger Präparation (z.B. für eine Teilkrone) erfolgen, da die Härte des
Materials im Lauf der Zeit deutlich zunimmt. Verwendet werden sollten
in erster Linie Glasionomerzemente, die eine Röntgenopazität besit-
zen. Große Stumpfaufbauten aus Glasionomerzement sind jedoch auf-
grund der geringen Biegefestigkeit des Materials abzulehnen.
Da Glasionomerzement auch als Befestigungs- und Unterfüllungs-
material angeboten wird, ergeben sich weitere Indikationen wie Befesti-
gung von Kronen, Brücken und kieferorthopädischen Bändern.
Die Befestigungszemente werden als Glasionomerzement Typ I be-
zeichnet und besitzen meist die Endung „-cem“.
Füllungszemente sind Typ-II-Zemente und durch die Endung „-fill“
gekennzeichnet.
Unterfüllungszemente gibt es in verschiedenen Konsistenzen. Sie
sind an der Endung „-bond“ (Typ III) zu erkennen. Dabei gibt es schnell
härtende Versionen, die sich schon nach 5 min Härtungszeit bearbeiten
lassen. Aufgrund mangelnder Transluzenz sind Glasionomerzementfül-
lungen für ästhetisch auffällige Restaurationen kontraindiziert. Bei
chronischen Mundatmern sollten sie aufgrund der Austrocknungsge-
fahr nicht verwendet werden. Für Klasse-II-Kavitäten im bleibenden Ge-
biss sind Restaurationen aus Glasionomerzement aufgrund mangelnder
Abrasionsstabilität nicht geeignet.
264 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
6.2.6 Präparation und Kavitätenkonditionierung bei Klasse-V-
Kavitäten
Kavitäten- Bei der Verwendung von Glasionomerzementen bei zervikalen Läsio-
präparation nen muss auf eine ausreichende Feuchtigkeitskontrolle (Kofferdam)
geachtet werden. Da Glasionomerzement eine geringe Kantenfestig-
keit besitzt, sollte die Kavität keine fein auslaufenden Ränder besitzen.
Es wird eine möglichst rechtwinklige Präparation mit einer mindestens
1 mm tiefen zirkulären Stufe angestrebt. Unter sich gehende Bereiche
werden lediglich für Aufbaufüllungen sowie Klasse-II-Füllungen an
Milchmolaren empfohlen. Makro- und Mikroretentionen sind nur in
den genannten Fällen notwendig.
Unterfüllung Eine zusätzliche Unterfüllung ist im Allgemeinen nicht erforder-
lich und würde nur die notwendige Bindungsfläche Dentin/Glasiono-
merzement verringern.
Lediglich bei sehr tiefen Kavitäten, wenn die Dentinschicht vermut-
lich < 1 mm beträgt, wird das punktuelle Aufbringen von Kalziumhy-
droxid-Präparaten angeraten. Verbleibt nach der Präparation eine
Schmierschicht auf dem Dentin, ist die Benetzbarkeit stark reduziert.
Mit 25%iger Polyacrylsäure kann das Dentin wie oben bereits beschrie-
ben konditioniert werden. Die Touchierung für 10 s bewirkt sowohl eine
Reinigung als auch eine erhöhte Benetzbarkeit der Oberfläche, ohne die
Dentinkanälchen zu eröffnen.
Keilförmige Keilförmige Defekte weisen bereits glatte Oberflächen auf, sodass
Defekte eine zusätzliche Präparation nicht erforderlich ist. Die dem Zahn auflie-
gende Schicht aus Speichelproteinen muss jedoch entfernt werden, da
sie Benetzbarkeit und Haftung herabsetzt. Hier kann mit rotierenden
Bürstchen und Bims eine besser benetzbare Oberfläche erzielt werden.
Aufgrund der geringen Biegefestigkeit von Glasionomerzementen sind
sie jedoch für die Restauration von keilförmigen Defekten nur bedingt
geeignet. Es wird heute empfohlen, bei keilförmigen Defekten eine Stufe
im zervikalen Randbereich von 0,5–1 mm niedrigtourig mit einem um-
gekehrten Kegel zu präparieren.
Die oben erwähnte Problematik beim Anmischen von Glasionomer-
zementen entfällt bei der Verwendung vordosierter Kapselpräparate. Bei
richtiger Indikationsstellung und exaktem klinischen Vorgehen sind
Glasionomerzemente in zervikalen Bereichen, da sie ästhetisch unauf-
fällig sind, durchaus als Füllungsmaterial geeignet (Abb. 6.32). Sie sind
hier jedoch aufgrund der „einfacheren“ Anwendbarkeit in den letzten
Jahren in diesem Indikationsgebiet von Kompomeren verdrängt worden.
6.3 Goldhämmerfüllung
! Unter einer Goldhämmerfüllung versteht man eine Füllung aus
direkt im Zahn verdichtetem Gold.
6.3 Goldhämmerfüllung Kapitel 6 265
Glasionomer-
zement
Kalzium-
a b hydroxid c 6
d e f
Abb. 6.32: Restauration einer Klasse-V-Kavität mit Glasionomerzement (a): Nach Exkavation und Reinigung
der Kavität wird der Kavitätenrand rechtwinklig präpariert (b). Auslaufende dünne Ränder werden vermie-
den. An der tiefsten Stelle wird ein Kalziumhydroxid-Präparat aufgetragen und anschließend der Glasiono-
merzement eingebracht (c). Nach Aushärten unter einer Zervikalmatrize (d), die auch der Konturierung
dient (5–10 min), wird ein Bonding aufgebracht und mit rotierenden Instrumenten werden trocken die
Überschüsse entfernt (e). Anschließend wird erneut ein Schmelzbonding aufgebracht und ausgehärtet (f).
Dabei finden hoch reine Goldpellets (24 Karat) Verwendung. Eine Gold- Eigenschaften
hämmerfüllung ist eine hochwertige Füllung, die sich durch dauerhafte,
optimale Wandständigkeit, Randdichtigkeit und Oberflächenpolierbar-
keit auszeichnet. Sie zeigt ein chemisch neutrales Verhalten in der
Mundhöhle, ist gewebefreundlich gegenüber der Gingiva, zeigt keine
Korrosion und ist auch nach Jahren noch nachpolier- und nachkontu-
rierbar.
Goldhämmerfüllungen sind für kleine kariöse Defekte in Grüb- Indikationen
chen und Fissuren (Black-Klasse I) sowie für Zahnhalsdefekte (Black-
Klasse V) indiziert.
Grundbedingungen für die Anwendung dieser aufwändigen Restau- Voraussetzungen
rationstechnik sind gute Mundhygiene, geringe Kariesaktivität und ent-
sprechende Patientencompliance.
266 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Kontra- Goldhämmerfüllungen sind bei großen kariösen Defekten, pulpana-
indikationen hem Kavitätenboden, im okklusionstragenden Bereich, bei starken Ab-
rasionsflächen, bei nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum, bei paro-
dontal geschädigten Zähnen (ab Lockerungsgrad 2) und beim Ver-
schluss von großen Trepanationsdefekten an Kronen kontraindiziert.
Durch die Weiterentwicklungen im Bereich der adhäsiven Restaura-
tionstechnik hat die Goldhämmerfüllung nur noch eine geringe Bedeu-
tung. Auf eine ausführliche Darstellung wird daher verzichtet.
6.4 Restaurationen mit Amalgam
6.4.1 Werkstoffkunde
! Silberamalgam wird seit über 100 Jahren als Füllungsmaterial ver-
wendet. Amalgam entsteht, wenn Feilungspulver (Alloy) und
Quecksilber vermischt werden.
Amalgamformen Das Alloy besteht aus einer Silber-Zinn-Kupfer-Legierung mit Zusätzen
von Zink und Quecksilber. Es kann auf verschiedenen Wegen hergestellt
werden. Die Legierungsbestandteile werden abgewogen, eingeschmol-
zen und in Formen gegossen. Nach Erkalten werden die Barren zerspant.
Es entstehen nadelförmige Teilchen unterschiedlicher Größe (Splitter-
amalgam). Die Schmelze kann jedoch auch in einer Schutzgasatmo-
sphäre verdüst werden. Beim plötzlichen Erkalten entstehen dabei
kugelförmige (Kugelamalgam) oder tropfenförmige Partikel (sphäroi-
dales Amalgam). Es gibt zudem Alloys, die sowohl splitterförmige als
auch kugelförmige Partikel verschiedener Zusammensetzung enthalten
(Mischamalgame, Blendamalgame).
Die Form und Größenverteilung der Späne wirkt sich auf das Schütt-
volumen der Alloys aus (Volumenbedarf von 100 g Feilung in cm3). Das
Schüttvolumen ist wiederum wichtig für das Mengenverhältnis von
Quecksilber und Alloy beim Anmischen. Das Verhältnis sollte bei der
Anwendung von Dosiergeräten zum Mischen immer entsprechend den
Herstellerangaben eingestellt werden. So besitzen Kugelamalgame ein
niedrigeres Schüttvolumen bei geringerer spezifischer Oberfläche als
Splitteramalgame. Sie benötigen daher weniger Quecksilber zum Amal-
gamieren.
Nach dem Zerspanen oder Verdüsen enthalten die Metallpartikel
innere Spannungen. Es kommt nach dem Anmischen mit Quecksilber
zu einer raschen Reaktion und damit kurzen Verarbeitungszeit. Durch
künstliche Alterung (Wärmebehandlung unter Schutzgas bzw. Beizung
mit verdünnten Säuren) kann die Reaktionsgeschwindigkeit gesteuert
und die Lagerungsdauer verlängert werden.
Eigenschaften Die Eigenschaften der Amalgame haben sich durch die Einführung
sog. gamma-2-freier Legierungen oder Alloys mit erhöhtem Kupferge-
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 267
Tab. 6.6: Einteilung der marktüblichen Amalgame
Konventionell Gamma-2-frei
Splitteramalgam Geringer Kupferanteil Bis 25% erhöhter Kupferanteil
(lathe cut)
Mischamalgam Konventionelle Split- Konventionelle Splitter und ein
(blend) ter und ein geringer Drittel Silber-/Kupferkugeln
Silber-/Kupferanteil (72%/28%), Splitter und Kugeln
mit erhöhtem Kupferanteil
Kugelamalgam Geringer Kupferanteil Erhöhter Kupferanteil bis 25%
(sphärisch)
Kugelartiges Amalgam Erhöhter Kupferanteil bis 25%
(sphäroidal)
6
halt verbessert. Diese Amalgame zeigen eine erhöhte Korrosionsresis-
tenz und damit verbesserte klinische Eigenschaften. Die Einteilung er-
folgt nach der Morphologie und der Zusammensetzung des Alloys (Tab.
6.6).
Die Zusammensetzung der Ausgangslegierung schwankt je nach Typ Zusammen-
in einem breiten Bereich. Wurden ursprünglich Amalgame mit einem setzung
Silbergehalt von mindestens 65%, einem Kupfergehalt von maximal
6%, einem Zinngehalt von maximal 29% und einem Zinkgehalt von
maximal 2% hergestellt (ADA-Spezifikation Nr. 1), so ist die Zusam-
mensetzung der modernen gamma-2-freien Legierungen mit einem
Kupfergehalt zwischen 12 und 30% und einem Silbergehalt zwischen 40
und 70% erheblich verändert worden.
Wird ein Feilungspulver mit Quecksilber vermischt, so entsteht eine Abbindege-
plastische Masse, die bei Zimmertemperatur erhärtet. Die Plastizität, die schwindigkeit
zum Stopfen nötig ist, geht jedoch schon innerhalb von 10 bis 20 min
verloren. Die Abbindegeschwindigkeit des Amalgams hängt von der
Zusammensetzung der Legierung, der Partikelform, der Partikelgröße
und dem Ausmaß der natürlichen und künstlichen Alterung ab. Nach
10 h hat Amalgam eine Härte erreicht, die sich nur noch unwesentlich
ändert (90% der Endhärte). Mit steigendem Silbergehalt steigt die
Quecksilberaufnahmefähigkeit an. Mit niedrigerem Silbergehalt ist die
Erhärtungszeit verlängert.
Im Folgenden wird der Reaktionsmechanismus der verschiedenen
Legierungspulver mit Quecksilber beschrieben (Abb. 6.33). Dabei blei-
ben Alloybestandteile, die nur in Spuren enthalten sind, unberücksich-
tigt, da sie keinen Einfluss auf den prinzipiellen Reaktionsmechanismus
besitzen.
Konventionelle Alloys
Bei den konventionellen Alloys (I) mit einem Kupfergehalt von weniger
als 6% bestehen die Metallpartikel aus zwei homogenen metallischen
Phasen, der Gamma-Phase (Ag3Sn) und der Epsilon-Phase (Cu3Sn). Auf-
268 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
(Kugeln)
Verdüsen
Ag g1
Hg
Ag Sn Cu g
I Zerspanen
Sn g2
e
(Splitter)
g = Ag3 Sn
g1 = Ag5 Hg6
g2 = Sn8 Hg
e = Cu3 Sn
Ag Sn Cu (Splitter)
Zerspanen g1
Ag
Hg Ag
g
Ag Cu E
II Verdüsen
Sn h'
(Kugeln)
e g2
(temporär)
E = Ag/Cu-Eutektikum
h' = Cu6 Sn5(Bronze)
Ag Sn Cu Ag g1
Zerspanen Hg Sn
III
g2
(Splitter)
e
h'
(temporär)
(sphärisch)
Ag
g1
Hg Sn
Ag Sn Cu
IV Verdüsen
h'
e
(Kugeln)
Abb. 6.33: Reaktionsmechanismus unterschiedlicher „Amalgamfeilungen“ mit Quecksilber. Bei Typ I ent-
steht Gamma-2-haltiges, konventionelles Amalgam, bei Typ II Gamma-2-freies Blendamalgam, bei Typ III
Gamma-2-freies Splitteramalgam und bei Typ IV sphärisches bzw. sphäroidales Gamma-2-freies Amalgam.
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 269
grund des geringen Kupfergehalts der Alloypartikel kann die Epsilon-
Phase bei der Reaktion mit Quecksilber vernachlässigt werden.
Bei Quecksilberzugabe werden Silber und Zinn aus den Partikeln Quecksilber-
herausgelöst, und es bilden sich die Gamma-1-Phase (Ag5Hg6) und die zugabe
Gamma-2-Phase (Sn8Hg). Das Mischungsverhältnis von Alloypulver
und Quecksilber beträgt i.d.R. 1:1. Da aber eigentlich etwa die doppelte
Menge Quecksilber notwendig wäre, um eine vollständige Umsetzung
der Phasen zu erzielen, bleiben in der abgebundenen Legierung unrea-
gierte Feilungspartikel (Gamma-Phase) in einer Gamma-1-Matrix einge-
schlossen. In dieser Matrix befindet sich jedoch auch die Gamma-2-
Phase, die korrosionsanfällig ist.
Bei der Korrosion bilden sich unlösliche Zinnoxide auf der Oberflä- Korrosion
che der Füllung. Das während der Korrosionsvorgänge frei werdende
Quecksilber diffundiert zum Teil in die Tiefe des Füllungsmaterials und
6
bildet zusammen mit dem Silber aus den noch vorhandenen Ursprungs-
partikeln erneut eine Gamma-1-Phase. Dabei expandiert die Füllung,
die Füllungsränder wölben sich auf und frakturieren letztlich unter Kau-
druck (merkuroskopische Expansion). Aufgeworfene und frakturierte
Füllungsränder können eine Prädilektionsstelle für Sekundärkaries sein.
Gamma-2-freie Amalgame
Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung Gamma-2-freier Amalgame Erhöhung des
(II). Durch Erhöhung des Kupfergehalts auf 12% oder mehr gelingt es, Kupfergehalts
die Gamma-2-Phase zu unterdrücken oder sie innerhalb kurzer Zeit wie-
der aufzulösen. Bei den ersten Legierungen dieser Art wurde den Alloyp-
artikeln aus konventioneller kupferarmer Silber-Zinn-Legierung ein
Drittel fein verdüster Kugeln zugemischt. Diese Kugeln bestehen aus ei-
nem Silber-Kupfer-Eutektikum (72% Silber und 28% Kupfer). Sie besit-
zen unterschiedliche Größen bis maximal 30 µm.
Bei Reaktion von Quecksilber mit den konventionellen Feilungspar- Erste Reaktion
tikeln entstehen wie oben beschrieben eine Gamma-1- und eine
Gamma-2-Phase. Es wird jedoch auch aus der oberflächlichen Schicht
der Silber-Kupfer-Kugeln Silber herausgelöst und eine Gamma-1-Phase
gebildet.
In einer zweiten Reaktion kann das Kupfer aus den kugelförmigen Zweite Reaktion
Partikeln mit dem Zinn aus der Gamma-2-Phase reagieren und die stabi-
lere η’-Phase (Cu6Sn5) bilden. Diese Festkörperreaktion dauert ca. vier
Wochen. Danach ist die Gamma-2-Phase vollständig aufgebraucht. Die
η’-Phase liegt im abgebundenen Amalgam um die kugelförmigen Silber-
Kupfer-Eutektika. Sie wird auch als Asgar-Mahler-Reaktionszone be-
zeichnet. Zwischen dieser Bronzezone und dem Silber-Kupfer-Eutekti-
kum liegen zudem Gamma-1-Inseln.
Gamma-2-freie Amalgame lassen sich auch dann erzielen, wenn bei Erhöhung des
Einzelpartikeln des Alloys der Kupfergehalt auf Kosten des Silbergehalts Kupfergehalts,
massiv erhöht wird (III). Dabei muss man zwischen Partikeln unter- Verringerung des
scheiden, bei denen sich die Metallphasen relativ gut voneinander tren- Silbergehalts
270 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
nen lassen, und solchen, bei denen herstellungsbedingt eine gleichmä-
ßige Durchmischung verschiedener Metallphasen vorliegt.
So entstehen bei der Herstellung splitterförmiger hochkupferhalti-
ger Alloys nach dem Vergießen der Einzelbestandteile und anschließen-
dem Zerspanen Partikel, die eine Gamma-Phase und Epsilon-Phase in
einem Mengenverhältnis von 1,5 : 1 enthalten (ternäre Legierung). Bei
der Reaktion dieser Alloypartikel mit Quecksilber kommt es zur Ausbil-
dung einer Gamma-1-Phase und temporär zu einer Gamma-2-Phase.
In einer Sekundärreaktion zwischen der Gamma-2-Phase und der
Epsilon-Phase der Einzelpartikel entsteht erneut eine η’-Phase an der
Oberfläche der Einzelpartikel, d.h., die Epsilon-Phase (Cu3Sn) nimmt
Zinn aus der Gamma-2-Phase (Sn8Hg) auf und bildet die η’-Phase
(Cu6Sn5). Nach zehn Tagen ist diese Festkörperreaktion abgeschlossen.
Lässt sich herstellungsbedingt (schnelles Abkühlen) keine deutliche
Trennung zwischen der Gamma- und Epsilon-Phase in den Einzelparti-
keln mehr feststellen, so erhält man eine Alloygruppe, bei der schon di-
rekt nach der Reaktion mit Quecksilber keine Gamma-2-Phase mehr
festzustellen ist (IV). Zu dieser Gruppe gehören in erster Linie kugelar-
tige (sphäroidale) und kugelförmige (sphärische) Alloys. Der Kupferge-
halt schwankt zwischen 13 und 25%. Bei der Reaktion mit Quecksilber
werden an der Partikeloberfläche aus der Gamma-Phase wieder Silber
und Zinn herausgelöst. Es bildet sich zwischen Silber und Quecksilber
die Gamma-1-Phase, zwischen Zinn und Quecksilber kommt es jedoch
nicht zu einer Reaktion. Das Zinn wird direkt von der Epsilon-Phase auf-
genommen, und es bildet sich erneut Bronze (η’-Phase).
Die Gamma-2-freien Amalgame sind weniger korrosionsanfällig,
polierbeständiger, sie weisen eine geringere oder keine merkurosko-
pische Expansion auf und sind damit randdichter.
Volumen Während der Erhärtung ändert sich das Volumen der meisten Amal-
game. Es gibt Amalgame, die ausschließlich kontrahieren, andere, die in
den ersten zwei bis drei Stunden kontrahieren, dann expandieren, und
solche, die schon zu Beginn der Aushärtung expandieren. Die kontra-
hierende Oberflächenspannung des Quecksilbers führt beim Eindringen
in Risse und Spalten der noch nicht vollständig abgebundenen Legie-
rung zur Anfangskontraktion.
Anschließend kommt es durch Kristallwachstum der Gamma-1-
Phase zur Expansion und durch „Ausheilung von Poren“ zur Kontrak-
tion. Silberreiche Amalgame neigen mehr zur Expansion als silberär-
mere. Die Expansion nimmt mit kleiner Korngröße, höherem Stopf-
druck, geringerem Quecksilbergehalt und verlängerter Anmischzeit ab.
Eine geringfügige Expansion von 20 µm pro cm ist erwünscht, um ei-
nen guten Randschluss zu gewährleisten, ohne dass ein zu großer Druck
auf die Kavitätenwände erfolgt.
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 271
Die physikalischen Eigenschaften der Gamma-2-freien Amalgame Physikalische
unterscheiden sich erheblich von denen Gamma-2-haltiger. Um ver- Eigenschaften
schiedene Amalgame miteinander vergleichen zu können, wurden von
der American Dental Association (ADA), der International Organisation
for Standardisation (ISO) und dem Deutschen Institut für Normung
(DIN) bestimmte Anforderungen definiert.
So darf der Flow-Wert nicht mehr als 3% betragen. Unter Flow ver-
steht man die Längenabnahme eines Amalgamprüfzylinders von 4 mm
Durchmesser und 8 mm Höhe bei einer Belastung von 10 MPa für 21 h
bei 37 °C.
Der Creep-Wert muss unter 3% liegen. Dazu wird ein sieben Tage al-
ter Prüfzylinder gleicher Größe für 4 h bei 37 °C mit 36 MPa belastet. Die
Längenabnahme muss nach 3 h unter 3% liegen. Es gibt eine Korrela-
tion der Zahl und Größe von Randeinbrüchen mit dem Creep-Wert.
6
Ein weiterer häufig benannter physikalischer Wert ist die Druckfes-
tigkeit. Erneut wird ein standardisierter Amalgamzylinder (s.o.) nach
24 h einer Druckbelastung ausgesetzt, bis der Körper bricht. Der Min-
destdruck muss dabei 300 MPa betragen.
6.4.2 Indikation für Amalgamrestaurationen
! Amalgam wird heute nur noch eingeschränkt als plastisches Fül-
lungsmaterial für den Seitenzahnbereich eingesetzt. Seine Indika-
tion ist auf große okklusionstragende Klasse-II-Füllungen be-
grenzt, wenn andere Restaurationsmaterialien nicht in Betracht
kommen. Klasse-I-Kavitäten lassen sich hartsubstanzsparend und
relativ einfach mit Kompositrestaurationen versorgen.
Speziell Klasse-II-Kavitäten, die nicht allseits schmelzbegrenzt sind, wer- Indikationen
den nach wie vor häufig mit Amalgam restauriert, wenn Einlagerestau-
rationen kontraindiziert sind oder vom Patienten abgelehnt werden.
Der Anteil von Amalgamfüllungen an der Gesamtzahl der in einem Jahr
in Deutschland angefertigten Restaurationen beträgt etwa 15–20%.
Obwohl es keine toxikologisch begründeten Fakten gibt, die ein ge- Kontra-
sundheitliches Risiko durch Amalgam belegen (mit Ausnahme selten indikationen
vorkommender Allergien gegen Amalgam und seine Bestandteile), sollte
Amalgam bei Kindern und Schwangeren sowie bei Patienten mit Nie-
renerkrankungen nicht angewendet werden. Ebenso ist Amalgam im di-
rekten Kontakt zu Metallrestaurationen (Inlays, Teilkronen, Kronen)
kontraindiziert, weil durch elektrogalvanische Korrosion eine erhöhte
Quecksilberfreisetzung zu erwarten ist.
Es wird auch diskutiert, ob Amalgam bei Frauen im gebärfähigen Al-
ter nicht mehr empfohlen werden kann, obwohl keine Anhaltspunkte
für eine Schädigung des Fötus durch Quecksilber vorliegen.
272 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Durch eine materialspezifische Präparations- und Verarbeitungs-
technik lassen sich kaufunktionell anspruchsvolle und langlebige
Restaurationen herstellen.
6.4.3 Klasse-II-Kavitäten
Eine approximale Karies wird bei Seitenzähnen, die in einer geschlosse-
nen Zahnreihe stehen, von okklusal eröffnet. Die resultierende Kavität
ist also immer mehrflächig, wobei der okklusale Anteil in Abhängigkeit
von der Kariesausdehnung unterschiedlich groß gestaltet wird.
! Die Primärpräparation umfasst die Herstellung der Umrissform,
Retentionsform und Widerstandsform. Sie kann mit einem einzi-
gen Diamantschleifer hergestellt werden.
Kavitätenformen Dabei soll die von Black postulierte Extensionsform (extension for pre-
vention) nicht exakt befolgt werden. Im Okklusalbereich lassen sich
nicht alle Fissuren und Parafissuren in die Präparation einbeziehen. So
werden heute ausschließlich die kariösen Hauptfissuren und Grübchen
aufgezogen und nur die wichtigsten kariesgefährdeten Nebenfissuren
mit einbezogen (Abb. 6.35a, b, c).
Der okklusale Teil der Kavität hat eine Mindesttiefe von 2–2,5 mm
und ist leicht unter sich gehend. Dabei sind die Übergänge zwischen Ka-
vitätenwand und Kavitätenboden abgerundet, damit bei Belastung der
Restauration keine Spannungen in diesem Bereich entstehen, die zu Hö-
ckerfrakturen führen könnten (Abb. 6.34a). Bei einer zweiflächigen Ka-
vität darf im Bereich der Randleiste nicht unter sich gehend präpariert
werden, da die Randleiste sonst zu stark geschwächt wird. Alle Bereiche,
die nicht von Dentin unterstützt sind, müssen entfernt werden, da sie
bei Kaubelastung frakturieren. Im Unterkiefer muss bei der Präparation
die Kronenflucht der Zähne berücksichtigt werden. Die Breite der Kavi-
tät sollte so gewählt werden, dass Höckerfrakturen vorgebeugt wird. Sie
beträgt im Bereich der Dreieckswülste höchstens die Hälfte der Höcker-
breite. Eine Zahnhartsubstanz schonende Präparation umfährt die Drei-
eckswülste und lässt die Randleiste intakt. Ein Aufziehen der großen
bukkalen oder palatinalen Fissuren der Molaren ist nur notwendig,
wenn sie kariös sind. Dabei bleiben wichtige Zahnstrukturen, wie die
Crista transversa der Oberkiefermolaren, intakt, wenn sie nicht kariös
unterminiert sind (Abb. 6.35c).
Zugang Der Zugang zur approximalen Karies erfolgt mit einem birnenförmi-
gen Diamantschleifer. Dabei muss der intakte Nachbarzahn vor einem
Präparationstrauma geschützt werden. Das kann durch Anlegen einer
Matrize um den Nachbarzahn, Einlegen eines Stahlstreifens oder ge-
schickte Präparationstechnik gewährleistet werden. Der Präparations-
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 273
Kavitäts-
boden
2 mm Schmelz pulpale
Wand
Extensions-
flächen
Dentin
Pulpa approximal-
zervikale
Stufe
richtig
a b
Abb. 6.34: Präparation einer Kavität für eine Amalgamfüllung: Mit einem birnenförmigen Diamantschleifer 6
wird eine intern abgerundete, leicht unter sich gehende Kavität (Retentionsform) präpariert (a). Damit
werden Kerbspannungen zwischen Kavitätenboden und Kavitätenwand vermieden, die zu Infrakturen füh-
ren könnten Bei der Präparation einer mehrflächigen Amalgamfüllung (Klasse-II-Kavität) weist der appro-
ximale Kasten eine eigenständige Retentionsform auf (b).
diamant wird von okklusal in die jeweilige Randleiste eingeführt und
unter leichten Lateralbewegungen versenkt. Dabei bleibt eine Schmelz-
lamelle zum Nachbarzahn stehen, die anschließend mit einem Hand-
instrument (Exkavator, Schmelzmeißel) herausgebrochen wird. Der
Kontakt zum Nachbarzahn wird vollständig aufgehoben, um den ap-
proximal-zervikalen Kavitätenrand nicht in den Bereich der Kariesprä-
a b
c d
Abb. 6.35: Die Kavitätengröße richtet sich nach der Kariesausdehnung. Es werden
bei guter Mundhygiene und guter Patientencompliance nicht alle Fissuren in die
Präparation mit einbezogen.
274 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
dilektionsstelle zu legen. Außerdem lässt sich so später die Matrize bes-
ser einbringen und adaptieren.
Nach Aufheben des Approximalkontakts werden Konkremente, die
evtl. trotz parodontologischer Vorbehandlung noch vorhanden sind,
entfernt und vorhandene Füllungen an den Nachbarzähnen kontrol-
liert bzw. nachgearbeitet. Der approximale Kasten weist nach der Präpa-
ration eine eigenständige Retentionsform auf (Abb. 6.34b).
Supragingivaler Die Forderung, den Füllungsrand in den Sulkus („kariesimmune
Füllungsrand Zone“) zu verlegen, wird heute nicht mehr befolgt. Aus parodontalpro-
phylaktischen Gründen wird ein supragingivaler Füllungsrand ange-
strebt. Bei einer tief reichenden Karies muss evtl. vorher der approximal-
zervikale Kavitätenrand durch eine parodontalchirurgische Maßnahme
freigelegt werden.
Die Kavität wird anschließend nach bukkal und oral gerade so weit
extendiert, dass die Kavitätenränder auch hier mit Mundhygienemit-
teln erreicht werden können. Die Präparationsgrenzen liegen also nicht
– wie von Black gefordert – in den Zonen der Selbstreinigung (außer
beim kariesaktiven Patienten). Der Kontakt zum Nachbarzahn wird da-
a b
0,5 mm
90×
90×
c d
Abb. 6.36: Mit Gingivalrandschrägern bzw. Schmelzmeißeln werden die Ränder an der approximal-zervika-
len Stufe und an den Extensionsflächen gebrochen (a und b). Es resultiert eine Kavität, deren approximale
Extensionen in einem Winkel von 90° auf die Zahnoberfläche zulaufen und in Bereichen enden, die der
Mundhygiene zugänglich sind (0,5 mm Abstand zum Nachbarzahn, c und d).
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 275
her nur ca. 0,5 mm aufgehoben. Dies lässt sich ohne Verletzung des
Nachbarzahnes jedoch nur mit Handinstrumenten bzw. oszillierenden
Präparationswerkzeugen bewerkstelligen (Abb. 6.36).
Die approximal-zervikale Stufe ist senkrecht zur Kronenachse aus- Approximal-
gerichtet, plan oder leicht von außen nach innen abfallend. Nach zervikale Stufe
Kariesexkavation werden alle Kavitätenbereiche finiert. Die Extensions-
flächen und der approximal-zervikale Kavitätenrand werden mit Hand-
instrumenten oder oszillierenden Feilen leicht gebrochen. Die Exten-
sionsflächen laufen in einem Winkel von 90° auf die Zahnoberflächen
zu. Eine Anschrägung der Stufe ist bei Amalgam kontraindiziert, da das
Material sonst unter Kaudruck wie auf einer schiefen Ebene aus der
Kavität in den Sulkus „kriechen“ würde und letztlich Füllungsrandfrak-
turen resultieren würden. Außerdem lässt sich das Material in diesen Be-
reichen nicht dicht adaptieren. Schmelzbereiche, die nicht genügend
6
von Dentin unterstützt sind, müssen entfernt werden (Widerstands-
form).
Zusammenfassend lassen sich für die Präparation von Klasse-II-Kavi- Kriterien
täten für Amalgamrestaurationen folgende Kriterien festlegen:
D Die Kavitätengröße wird durch die Kariesausbreitung vorgegeben.
D Die Präparationsgrenzen liegen in Bereichen, die der Mundhygiene
zugänglich sind.
D Alle Kavitätenbereiche sind selbstretentiv.
D Nach der Primärpräparation werden die Kavitätenwände finiert.
D In den Bereichen, wo rotierende Instrumente nicht angewendet
werden können (z.B. bei zierlichen Kavitäten), werden Handinstru-
mente eingesetzt.
D Alle Übergänge zwischen horizontalen und vertikalen Kavitätenflä-
chen sind abgerundet, um Kerbspannungen zu vermeiden.
Nach Kariesentfernung werden alle Kavitätenwände mit einem Dia- Sekundär-
mantfinierer feinster Körnung (15 µm) hochtourig finiert (bis höchs- präparation
tens 120 000 Umdrehungen pro Minute). Alternativ können gewendelte
Hartmetallfinierer verwendet werden. Die Finierer weisen die gleiche
Form auf wie die Diamantschleifer. Es werden abgerundete bzw. birnen-
förmige Präparationsinstrumente verwendet.
Die Karies gibt die Kavitätengröße und Kavitätentiefe vor. Bei tiefen Unterfüllung
Kavitäten wird vor der Sekundärpräparation (Finieren) eine Unterfül-
lung aus einem druckfesten Material (Phosphatzement) eingebracht
und anschließend finiert. Man erhält einen glatten Kavitätenboden mit
gleichmäßiger Kavitätentiefe. Die Unterfüllung dient zum Ausblocken
der Unregelmäßigkeiten im Kavitätenboden nach erfolgter Kariesentfer-
nung.
276 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
6.4.6 Matrizentechnik
! Bei mehrflächigen Amalgamfüllungen ist die Anwendung eines
adäquaten Matrizensystems obligat.
Bei der Insertion mehrflächiger Amalgamfüllungen hat sich das Toffel-
mire-Matrizen-System bewährt (s. Kap. 6.1.7).
6.4.7 Trituration und Kondensation des Amalgams
Die Trituration (Anmischen) des Amalgams kann in unterschiedlicher
Form durchgeführt werden.
Beim Anmischen ist die genaue Dosierung von Feilung und Queck-
silber wichtig.
Wird zu viel Quecksilber verwendet, so resultieren schlechtere mechani-
sche und chemische Eigenschaften der fertigen Füllung (Anstieg des
Creeps, erhöhte merkuroskopische Expansion, Randfrakturen). Wird zu
wenig Quecksilber verwendet, kommt es zu erhöhter Porösität, be-
schleunigter Korrosion und schlechterer Adaptation des Materials. Das
genaue Mischungsverhältnis ist den jeweiligen Herstellerangaben zu
entnehmen. Als grobe Richtlinie gilt, dass frisch angemischtes Amalgam
nicht bröckelig zerfallen darf, sondern mit einem Spatel durchgeschnit-
ten werden kann (Marzipankonsistenz).
Dosier- und Bei Dosier- und Mischgeräten (Amalgamatoren) werden Pulver und
Mischgeräte Quecksilber in eine aufgeschraubte Mischkapsel in entsprechender
Menge gegeben und trituriert. Dabei müssen die Triturationszeiten nach
Herstellerangaben genau befolgt werden. Wird zu kurz trituriert, so wer-
den die Alloypartikel nicht vollständig mit Quecksilber benetzt. Bei zu
langer Trituration wird das Amalgam so stark erhitzt, dass es bereits kris-
tallisiert und eine bröckelige Konsistenz erhält. Eine reguläre Kondensa-
tion in der Kavität ist dann nicht mehr möglich. Die kombinierten Do-
sier- und Mischgeräte haben den Nachteil, dass die aufgeschraubte Kap-
sel undicht wird (speziell die Dichtung) und dass beim Einfüllen
Quecksilber verschüttet werden kann. Außerdem müssen die Kapseln
regelmäßig gereinigt werden.
Tabletten Das Alloy kann auch in Tablettenform und damit bereits vordosiert
vorliegen. Diese Tabletten werden in einem „Dispenser“ (Dosiervor-
richtung) mit der entsprechenden Menge Quecksilber in eine ver-
schraubbare Kapsel gegeben. In einem Amalgamvibrator (Schüttelau-
tomat) erfolgt dann die Trituration. Auch hier ist die Quecksilberhy-
giene beim Einfüllen in das Dosiergerät und beim Dosieren nicht
optimal. Die Kapseln werden zudem nach mehrmaligem Gebrauch un-
dicht.
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 277
Moderne Gamma-2-freie Amalgame werden i.d.R. heute vordosiert Kapseln
in Kapseln angeboten. Im Prinzip lassen sich dabei zwei Kapselsysteme
unterscheiden. Bei aktivierbaren Kapseln muss vor der Trituration eine
Trennhaut zwischen Alloy und Quecksilber durchstoßen werden. Bei
selbstaktivierenden Kapseln durchdringt ein Pistill während des An-
mischvorgangs diese dünne Trennwand zwischen den beiden Kam-
mern. Die Kapselsysteme garantieren eine relativ gleichmäßige Dosie-
rung von Alloy und Quecksilber.
Verschraubbare und verschweißte Systeme sind i.d.R. dichter als Verschraubbare
andere Kapseln. Während der Trituration tritt kaum noch Quecksilber- und verschweißte
dampf aus. In der Praxis entfällt die Manipulation mit reinem Quecksil- Systeme
ber.
Auch bei den Kapselsystemen müssen die Triturationszeiten entspre-
chend Herstellerangaben genau eingehalten werden. Sie sind je nach
6
Anmischgerät unterschiedlich lang, da diese mit unterschiedlichen
Schüttelfrequenzen und -bewegungen arbeiten.
Die Kondensation (Stopfen) des Amalgams erfolgt nach Trockenle- Kondensation
gung und Säuberung der Kavität. Auch hier bietet Kofferdam eine Ar-
beitserleichterung. Durch eine Kontamination mit Speichel werden die
werkstoffkundlichen Eigenschaften des Amalgams verschlechtert. Das
Amalgam wird nach Trituration in einem glattwandigen Metall- oder
Glasgefäß zum Patienten gebracht und dort mit einer Amalgampistole
aufgenommen (Abb. 6.37a).
Ein Kontakt mit dem Finger ist obsolet (Quecksilberkontamination
der Haut, Kontamination des Amalgams mit Schweiß u.Ä.).
Die Pistolen sollen leicht zu reinigen und zu sterilisieren sein. Das Amal-
gam wird portionsweise in die Kavität eingebracht und kondensiert. Die
Verarbeitungszeit beträgt je nach Produkt zwischen 3 und 10 min. Die
ersten Portionen werden sorgfältig im Approximalraum verdichtet, die
Okklusalfläche wird zuletzt gefüllt. Die Stopfer besitzen ein planes Ar-
beitsende und sind im Querschnitt rund-, rhomboid- oder trapezförmig
(Abb. 6.37b).
Gerade im Bereich der Extensionsflächen (Kontakt Matrizenband-
Zahn) entsteht ein Winkel, in dem das Amalgam mit rautenförmigen
Instrumenten besser verdichtet werden kann. Durch die Kondensation
sollen eine gute Adaptation des Amalgams an die Kavitätenwand ohne
Poren, ein geringer Restquecksilbergehalt und eine hohe Endhärte der
Füllung erzielt werden.
Als Stopfdruck werden Werte zwischen 1 und 2 N/mm2 angegeben. Stopfdruck
Für Kugelamalgam wird ein niedrigerer Stopfdruck (niedrig visköser) an-
gegeben als für Blendamalgame. Die Kondensation kann manuell (mit
Handstopfer) oder maschinell erfolgen.
Unter standardisierten Bedingungen muss sich die Auswahl der
Kondensationsmethode nach dem jeweiligen Amalgam richten, d.h., es
278 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
b
Abb. 6.37: Amalgam wird mit einer Amalgam-
pistole aus einem Metallgefäß entnommen (a)
und portionsweise in die Kavität eingebracht.
Mit Handstopfern (b) wird das Amalgam ap-
proximal und mit maschinellen Stopfern (c) ok-
Amalgam klusal verdichtet.
Unterfüllung
kann nicht allgemein formuliert werden, dass eine Stopfmethode über-
legen ist. Der Vorteil maschineller Kondensation liegt jedoch in einer
gleichmäßigen Verdichtung des Amalgams auch in schwer zugängli-
chen Bereichen der Mundhöhle.
Die maschinelle Kondensation kann mit pneumatisch angetriebe-
nen Geräten (Speedomatic), Ultraschallgeräten oder Vibratoren (Win-
kelstückeinsätzen) durchgeführt werden.
Ultraschall- Die Ultraschallkondensation wird wegen schlechter Verdichtung,
kondensation Porenbildung durch Kavitationseffekt und hoher Quecksilberdampfab-
gabe nicht empfohlen.
Pneumatische Bei der pneumatischen Verdichtung wird mit gedämpften Impul-
Verdichtung sen (bis 1700/min) das Arbeitsende vertikal bewegt. Pneumatische Kon-
densation führt zu ähnlich guten Ergebnissen wie Handkondensation.
Ansätze für Winkelstücke gibt es in unterschiedlichen Formen (Bergen-
dahl, J. S. Vibrator, Intra-Kondensierkopf u.a.). Sie sollen bei Gamma-2-
freien Amalgamen niedertourig eingesetzt werden (Abb. 6.37c). Eine zu
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 279
starke Quecksilberverringerung während des Stopfens ist zu vermeiden,
um eine ausreichende Reaktion des Materials zu gewährleisten. Das
Amalgam wird überstopft, um einen Überschuss für die Gestaltung der
Kaufläche zur Verfügung zu haben.
6.4.8 Schnitztechnik und Politur
! Die Kauflächengestaltung nimmt bei der Amalgamfüllungstech-
nik eine zentrale Rolle ein.
Durch Beseitigung von Überschüssen und Wiederherstellung einer phy- Ziele
siologischen Kaufläche werden die antagonistische Kontaktpunktbe-
ziehung und die reguläre, dynamische Okklusion der restaurierten
6
Zähne wiederhergestellt. Dabei wird Kaufunktionsstörungen und Kie-
fergelenksproblemen prophylaktisch entgegengewirkt. Außerdem wird
ein glatter, stufenloser Übergang zwischen Füllungsmaterial und Zahn-
hartsubstanz gewährleistet. Vorkontakte und Hyperbalancen sind bei
der Füllungstherapie zu vermeiden. Die Amalgamfüllungen dürfen je-
doch auch nicht so tief ausgeschnitzt werden, dass der entsprechende
Zahn in Infraokklusion steht und später durch Extrusion eine neue Ok-
klusionsbeziehung „sucht“. Auf die Wichtigkeit der approximalen Kon-
taktpunktbeziehung zum Nachbarzahn wurde bereits im vorherigen Ka-
pitel hingewiesen.
Eine genaue Kenntnis der Zahnanatomie und der Höcker-Fossa-
Beziehung bzw. Höcker-Randleisten-Beziehung ist Grundlage jeglicher
Füllungstherapie. Da die Zahnanatomie und Funktion des Kauorgans
wichtige Bestandteile des vorklinischen Unterrichts und ein eigenstän-
diger Bestandteil des prothetischen Teilgebiets sind, muss an dieser
Stelle auf Fachbücher aus diesem Bereich verwiesen werden.
Bei großen Amalgamfüllungen müssen die Randleistenkomplexe,
die Höckerabhänge und andere wichtige anatomische Strukturen
wie die Crista transversa bei Oberkiefermolaren durch Schnitzen
entsprechend herausgearbeitet werden.
Die wichtigsten Haupt- und Nebenfissuren werden gleichzeitig darge-
stellt. Durch ein systematisches Vorgehen lässt sich das Schnitzen ein-
fach und zeitsparend durchführen. Die Zeitspanne, in der Amalgam
schnitzbar ist, beträgt zwischen 15 und 20 min.
Noch während die Matrize liegt, werden mit einem groben Schnitz-
instrument (z.B. Frahminstrument) die tiefsten Stellen der Restauration
(mesiale, distale, zentrale Gruben) herausgearbeitet (Abb. 6.38a). An-
schließend wird mit einem scharfen Scaler die Randleiste gestaltet. An-
haltspunkt ist die Höhe des Randleistenkomplexes am Nachbarzahn. Der
Scaler fährt dabei schräg abfallend an der Matrize entlang (Abb. 6.38b).
280 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Scaler
Matrize
Keil
a b
Sichelscaler
Burnisher
Cleoid
Discoid
c d
Abb. 6.38: Die Okklusalfläche einer Amalgamfüllung wird mit Schnitzinstrumenten funktionell gestaltet
(Erklärung s. Text).
Anschließend werden der Holzkeil, der Matrizenhalter und die Ma-
trize vorsichtig entfernt. Der Holzkeil und das Band lassen sich mit der
bereits erwähnten How-Zange sicher fassen. Füllungsüberschüsse im
Bereich der Extensionsflächen und am zervikalen Füllungsrand werden
mit einem scharfen, schmalen Sichelscaler entfernt (Abb. 6.38c). An-
schließend werden mit kleinen Frahminstrumenten und Cleoid- bzw.
Discoidinstrumenten die Grübchen und Fissuren sowie Parafissuren
angelegt (Abb. 6.38d).
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 281
6.4.9 Amalgamtoxizität
Ausgehärtetes Amalgam ist eine Legierung des Quecksilbers mit anderen
Metallen und besteht aus unterschiedlichen metallischen Phasen.
Amalgamfüllungen geben Metallionen in die Mundhöhle ab.
Dabei wird dem frei werdenden Quecksilber die toxikologisch bedenk-
lichste Rolle zugeschrieben. Quecksilber kommt in verschiedenen Aggre-
gatzuständen vor und tritt in Form unterschiedlicher Verbindungen auf.
Elementares Quecksilber ist bei Raumtemperatur flüssig, geht aber
bereits in Dampfform über (Hg0).
Quecksilber geht mit zahlreichen Metallen Verbindungen ein. Dabei
kann es in einwertiger (Hg22+) und in zweiwertiger (Hg2+) ionischer
Organische
Quecksilber-
6
Form vorliegen. In der Natur kommen außerdem organische Quecksil- verbindungen
berverbindungen (z.B. Methylquecksilber) vor.
Quecksilber findet sich überall in der Umwelt. Durch Vulkanismus,
Verwitterung, Bodenerosionen und durch industrielle Freisetzung wer-
den jährlich zwischen 5000 und 10 000 t Quecksilber freigesetzt (WHO).
Die industrielle Verwendung von Quecksilber ist rückläufig, sodass die
Umweltbelastung mit dem Schwermetall abnimmt. Der jährliche
Quecksilberverbrauch für Dentalamalgame beträgt 20 t.
Über die Nahrungskette gelangt Quecksilber meist in organischer
Form (Fisch, Fleisch) in den menschlichen Organismus. Aber auch
anorganisches Quecksilber wird aufgenommen. Die Angaben über
die tägliche Quecksilberaufnahme differieren je nach geografischer
Lage und Ernährungsgewohnheiten.
Während die WHO eine durchschnittliche Aufnahme von 4,3 µg pro WHO-Richtlinien
Tag anorganisches Quecksilber und 2,4 µg pro Tag Methylquecksilber
aus Fischverzehr angibt, werden die Werte für Deutschland mit
10–20 µg Gesamtquecksilber pro Tag angegeben. Der Anteil organi-
schen Quecksilbers beträgt dabei 1,6–2,4 µg pro Tag.
Die wöchentliche Quecksilberaufnahme mit der Nahrung sollte laut
WHO-Richtlinien nicht mehr als 350 µg betragen. Der Anteil organi-
schen Quecksilbers sollte dabei 200 µg nicht übersteigen. Diese Zahlen
sind empirisch abgeleitet; dabei wird unterstellt, dass bei Zufuhr dieser
Quecksilbermenge keine Zeichen einer chronischen oder akuten Intoxi-
kation auftreten. Sie gelten jeweils für eine 70 kg schwere Person.
Bei der Bearbeitung und beim „Tragen“ von Amalgamfüllungen er- Quecksilber-
folgt eine Belastung des Patienten mit Quecksilber in unterschiedlicher dampf
Form. Metallisches, flüssiges Quecksilber, wie es bei der Trituration
verwendet wird, hat toxikologisch nur geringe Bedeutung. Dampfför-
miges, elementares Quecksilber hingegen tritt bei der Verarbeitung
und beim Herausbohren von Amalgam auf. Aber auch aus fertig abge-
282 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
bundenem Amalgam treten kleine Mengen Quecksilberdampf aus, die
eingeatmet werden können. Das inhalierte Quecksilber gelangt über die
Lungen ins Blut (ca. 80%). Es wird dort zu Hg2+ oxidiert. Es kann jedoch
auch in elementarer Form die Blut-Hirn-Schranke passieren und so in
das Gehirn gelangen und dort erst oxidiert werden. Es gelangt dann
nicht mehr über die Blut-Hirn-Schranke in das Blut zurück.
Das resorbierte Hg0 wird in ionisierter Form (Hg2+) über die Nieren
und zum Teil über den Stuhl wieder ausgeschieden. Die durchschnittli-
che Halbwertszeit beträgt 60 Tage.
In den Nieren und in bestimmten Arealen des Gehirns erfolgt eine
Quecksilberakkumulation.
Magen-Darm- Quecksilberionen treten bei Korrosionsprozessen, beim Kauen (Abrasion)
Trakt und beim Herausbohren von Amalgamfüllungen auf. Sie werden mit dem
Speichel verschluckt. Im Magen-Darm-Trakt wird zwischen 7 und 10%
der verschluckten Menge resorbiert. Quecksilberionen sind nicht lipidlös-
lich, sie haben jedoch eine hohe Affinität zu Sulfhydril-Gruppen. Anorga-
nisches Quecksilber reichert sich daher intrazellulär in Leber und Nieren
an. Anorganisches Quecksilber wird nach Aufnahme nicht methyliert.
Methyliertes Quecksilber wird ausschließlich über die Nahrung
aufgenommen und zu 90% im Magen-Darm-Trakt resorbiert. Es ist lipo-
phil, wird an Erythrozyten gebunden und verteilt sich nahezu gleich-
mäßig über den gesamten Körper. Es wird zum Teil in den Organen zu
Hg2+-Ionen demethyliert.
Methylquecksilber ist wesentlich toxischer als anorganisches Queck-
silber.
Zielorgan ist auch hier wieder das Gehirn.
Quecksilberintoxikationen werden in akute und chronische Formen
unterschieden.
Akute Quecksil- Akute Quecksilberintoxikationen sind selten. Die akute Quecksilber-
berintoxikationen vergiftung ist je nach Quecksilberverbindung von charakteristischen
Symptomen begleitet. Bei akuter Vergiftung mit Quecksilberdampf ist
in erster Linie die Lunge betroffen. Quecksilbersalze schädigen vor-
nehmlich den Gastrointestinaltrakt und die Nieren, organische Queck-
silberverbindungen das Zentralnervensystem. Parästhesien, Bewe-
gungs-, Sprach- und Hörstörungen sind die Folge.
Durch Verzehr von extrem quecksilberhaltigem Tunfisch kam es in
Japan in den 50er-Jahren zu einer Massenvergiftung (Minimata-Er-
krankung). Durch den Genuss von quecksilberhaltigem Saatgetreide er-
krankten in Pakistan und im Irak zahlreiche Menschen.
Chronische Bei chronischen Quecksilbervergiftungen ist eine eindeutige Zuord-
Quecksilber- nung der Exposition zu Krankheitssymptomen schwierig. Insbesondere
vergiftungen lässt sich nicht mehr nachvollziehen, welche Expositionsform im Ein-
6.4 Restaurationen mit Amalgam Kapitel 6 283
zelnen zu den festgestellten Symptomen führte (Amalgamfüllungen,
Fischverzehr u.a.). Die chronische Quecksilbervergiftung ist durch ob-
jektivierbare Symptome gekennzeichnet:
D Tremor mercurialis: Intentionstremor der Finger, Augenlider, Lip-
pen
D Erethismus: Persönlichkeitsveränderungen, die durch Reizbarkeit,
Befangenheit, Stimmungslabilität, Gedächtnisschwund u.a. gekenn-
zeichnet sind
D Psellismus: verwaschene Sprache
D Nephritis und Proteinurie
Bei milderer Ausprägung spricht man von einem unspezifisch, asthe-
nisch-vegetativen Syndrom (Mikromerkurialismus). Die Symptome
können jedoch auch bei Personen ohne Quecksilberexposition auftre-
6
ten (Schwächegefühl, schnelle Ermüdbarkeit, Abgeschlagenheit, Appe-
titmangel, Nervosität, schlechte Merkfähigkeit, Kopfschmerzen, Arbeits-
unlust u.a.). Die weiter oben angegebenen Grenzwerte für die Quecksil-
beraufnahme (WHO) dienen daher der Prävention derartiger Schäden.
Für beruflich exponierte Personen, nicht jedoch für die Langzeitex- Berufliche
position der Bevölkerung mit Quecksilber wurden arbeitsmedizinisch Exposition
tolerierbare Grenzwerte definiert, bei deren Überschreitung mit einer
chronisch-toxischen Symptomatik gerechnet werden muss. So beträgt
die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) 100 µg/m3, der
biologische Arbeitsstofftoleranzwert (BAT-Wert) 200 µg/l Urin bzw.
50 µg/l Blut. Es gibt neuerdings Hinweise darauf, dass bei empfindli-
chen Personen erste Auswirkungen einer erhöhten Quecksilberexposi-
tion ohne erkennbare Krankheitssymptomatik bereits bei niedrigeren
Werten erkennbar sind, wenn diese Personen beruflich dauerhaft expo-
niert sind. Eine exakte Dosis-Wirkungs-Beziehung lässt sich nicht ange-
ben.
In einzelnen Fällen kann es durch Amalgamfüllungen zu allergi- Allergien
schen Reaktionen (Kontaktallergie) kommen. Dabei können generali-
sierte Reaktionen der Haut (z.B. Ekzem, Dermatitis), allgemeine Krank-
heitssymptome (z.B. Gastroenteritiden) bzw. Schleimhautreaktionen
(z.B. Gingivostomatitis) auftreten. Die Symptome treten kurz nach
Legen bzw. Entfernen einer Amalgamfüllung auf und klingen i.d.R.
nach zwei bis drei Wochen wieder ab.
Bei einer Allergie gegen anorganische Quecksilbersalze bzw. organi-
sches Quecksilber liegt nicht immer gleichzeitig eine Allergie gegen
Amalgam vor. Eine Allergie lässt sich durch Epikutantest beim Allergo-
logen nachweisen (0,1% HgCl2-Lösung, 5% Hg-Präzipitatsalbe, metalli-
sches Quecksilber aus abgebundenem Amalgam). Bei nachgewiesener
Amalgamallergisierung sollten keine neuen Amalgamfüllungen gelegt
werden.
284 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
Immer mehr Patienten führen Beeinträchtigungen des allgemeinen
Gesundheitszustandes auf die toxikologische Wirkung von Amal-
gam bzw. Quecksilber zurück. Zahlreiche Studien konnten nach-
weisen, dass es sich dabei meistens um psychosomatische Probleme
handelt, die natürlich unabhängig von ihrer tatsächlichen Ursache
ernst genommen werden müssen.
Entfernung Es ist bisher nicht geklärt, ob bei diesen Patienten eine Besserung des
von Amalgam- Allgemeingesundheitszustandes nach Entfernen der Amalgamfüllungen
füllungen von Dauer ist. In seltenen Fällen kann der Kontakt zu Amalgamfüllun-
gen zu lokalen Schleimhautreaktionen (lichenoide Veränderungen)
führen.
Durch Korrosion und durch Verletzungen der Schleimhaut beim
Entfernen von Amalgamfüllungen kann es zur Einlagerung von Amal-
gampartikeln in die Mundschleimhaut kommen (Amalgamtätowie-
rung). Sie stellen eine ästhetische Beeinträchtigung dar.
Bei Kontakt von Amalgam zu anderen metallischen Werkstoffen,
aber auch beim Kontakt von frisch gelegtem Amalgam zu alten Amal-
gamfüllungen kann es zu „metallischem“ Geschmack und elektrischen
Empfindungen aufgrund kurzfristiger elektrochemischer Vorgänge
kommen (oral galvanism). Nach Passivierung der Füllungsoberfläche
klingen diese meistens ab.
Die Quecksilberkonzentration im Blut und Urin korreliert mit der
Zahl der Amalgamfüllungen und mit der Zahl der Füllungsflächen
(pro Füllungsfläche wird eine durchschnittliche Erhöhung des
Urinwertes um 0,07 µg/l diagnostiziert).
Nach Legen von Amalgamfüllungen steigt der Quecksilberspiegel um ei-
nige µg/l im Blut und Urin an. Nach einigen Wochen werden wieder
Ausgangswerte erreicht. Nach Entfernen aller Amalgamfüllungen
kommt es nach einigen Monaten zu einer Verringerung des Quecksil-
berspiegels im Blut und Urin um einige µg Quecksilber pro Liter.
Therapie Bei der Behandlung von akuten und chronischen Quecksilberintoxi-
kationen werden Komplexbildner (z.B. Dimaval = Natriumsalz der 2,3-
Dimercapto-1-Propansulfonsäure) verwendet. Sie binden mit SH-Grup-
pen an Schwermetalle, die dann mit dem Urin ausgeschieden werden.
Die Messung der Quecksilberkonzentration im Urin (24-h-Sammelurin)
erlaubt einen Rückschluss auf die Quecksilberbelastung der jeweiligen
Person. Der Rückschluss auf daraus resultierendes Krankheitsgeschehen
ist nur dann in begrenztem Maße gerechtfertigt, wenn es sich um ein
spezifisches Symptom einer Quecksilbervergiftung handelt.
Quecksilber- Quecksilberkonzentrationen im Blut korrelieren mit der Quecksil-
konzentrationen berluftkonzentration (bei beruflicher Exposition) und mit dem Queck-
im Blut silbergehalt im Urin. Normalwerte sind weniger als 5 µg Quecksilber/l
6.5 Korrekturfüllung Kapitel 6 285
Blut und weniger als 5 µg Quecksilber/l Harn (ohne Differenzierung
nach Patienten mit oder ohne Amalgamfüllungen). Nach neuesten Un-
tersuchungen tragen Amalgamfüllungen zur Quecksilberbelastung des
Menschen bei. Berufliche Exposition oder vermehrte Quecksilberauf-
nahme mit der Nahrung oder durch andere Quellen können den Queck-
silberspiegel im Blut und Urin vollständig überlagern. Die Quecksilber-
werte im Blut und Urin bei Menschen, die angeblich gesundheitliche
Schäden durch Amalgamfüllungen beklagen, unterscheiden sich nicht
signifikant von denen einer Kontrollgruppe. Sie liegen zudem im Streu-
bereich der Normalbevölkerung.
Bei Autopsiepräparaten findet sich eine Korrelation des Quecksil-
bergehalts in den untersuchten Geweben (Gehirn, Niere, Leber) zur
Zahl der Amalgamfüllungen und zur Anzahl der Füllungsflächen.
6
Dabei sind die Quecksilberdepots der Niere in erster Linie durch Amal- Quecksilber-
gamfüllungen bedingt. Quecksilber scheint als relativ untoxischer Se- depots der Niere
lenkomplex in den Lysosomen gespeichert zu sein. Die Quecksilberkon-
zentration in den einzelnen Organen liegt jedoch im Normalbereich
und unterhalb der Konzentration von Patienten mit gesicherter Queck-
silbervergiftung. Die Depots können zum Teil durch oben genannten
Komplexbildner abgebaut werden, d.h., sie sind partiell reversibel ge-
bunden.
Auch wenn Amalgamfüllungen zu einem erheblichen Teil an der
Aufnahme anorganischen und elementaren Quecksilbers beteiligt
sind, gibt es bisher keinen Hinweis auf ein gesundheitliches Risiko,
wenn Amalgamfüllungen sorgfältig verarbeitet werden.
Während früher ein durch berufliche Exposition bei Zahnärzten und
Helferinnen bedingter erhöhter Quecksilbergehalt im Blut, Urin und in
verschiedenen Geweben festgestellt werden konnte, dürfte heute bei Be-
achtung aller Verarbeitungsrichtlinien eine erhöhte Aufnahme nicht
mehr zu finden sein.
Die Entsorgung von Amalgam ist durch Gesetze geregelt (Amalgam- Entsorgung
abscheider, Recycling der Amalgamreste u.a.), sodass auch ökologische
Risiken minimiert wurden.
6.5 Korrekturfüllung
Korrekturfüllungen werden in der Literatur unterschieden in Füllungs-
reparaturen (Polituren oder okklusale Adjustierungen) und Reparatur-
füllungen, bei denen zusätzliche Präparationsmaßnahmen durchge-
führt werden. Sie können auch indiziert sein, wenn Farbkorrekturen
vorhandener Restaurationen nach Bleichtherapie erforderlich sind bzw.
286 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
wenn aus zeitlichen Gründen (Kinderzahnheilkunde, Alterszahnheil-
kunde) aufwändige Restaurationsmaterialien nicht vollständig erneuert
werden können. Als Reparaturmaterialien kommen insbesondere Hy-
bridkomposite in Betracht. Diese können je nach Defekt als stopffähiges
oder fließfähiges Komposit verwendet werden.
Reparatur einer Bei der Reparatur einer Amalgamfüllung sollte primär Amalgam ver-
Amalgamfüllung wendet werden, auch wenn die Grenzfläche von zwei unterschiedlichen
Amalgamen für korrosive Prozesse anfällig ist. Dabei sollten Unter-
schnitte präpariert werden und die „alte“ Füllungsoberfläche mit einem
Karbidsteinchen angeraut werden. Wird bei Amalgamrestaurationen
Komposit als Reparaturwerkstoff verwendet, so wird die gleiche Technik
verwendet, wie bei der Reparatur von Kompositrestaurationen.
Reparatur einer Bei der Reparatur einer Kompositrestauration im zentralen Anteil,
Kompositfüllung d.h., wenn die zu reparierende Stelle allseits von Komposit umgeben ist,
wird die Oberfläche des Restaurationsmaterials hochtourig mit einem
Diamantschleifer angefrischt und defekte Füllungsbereiche entfernt.
Anschließend wird die Kompositoberfläche mit einem Aluminiumoxid-
pulver (Partikelgröße 50 µm – mindestens für 4 s bei einem Druck von
60–70 psi) abgestrahlt. Es folgt ein Absprühen der Füllungsoberfläche
mit Wasser, eine Trocknung der Oberfläche und das Auftragen eines auf
das Restaurationskomposit abgestimmten Adhäsivs.
Grenzen Zahnhartsubstanzen an die Reparaturfüllung an, so werden
diese wie beim Einbringen einer Kompositrestauration angeschliffen
und anschließend wird die präparierte Kompositfläche abgestrahlt und
Zahnhartsubstanzen wie bekannt konditioniert.
Reparatur Bei Edelmetall- und Nicht-Edelmetallrestaurationen wird ein Unter-
von Einlage- schnitt in den zu reparierenden Defekt präpariert. Anschließend wird
restaurationen durch sogenannte tribochemische Vorbehandlung die Oberfläche des
und Kronen Metalls silikatisiert und damit eine retentive Oberfläche geschaffen.
Dies kann z.B. mit dem CoJet-System geschehen. Dabei werden silizi-
umbeschichtete Aluminiumoxidpartikel für 15 s mit einem Druck von
30–40 psi auf die Oberfläche gestrahlt. Diese verschmelzen mit kerami-
schen oder metallischen Oberflächen und erzeugen eine silikatisierte
Schicht. Die angrenzenden Zahnhartsubstanzen werden wie üblich ge-
ätzt und dann wird ein Silan auf die Metalloberfläche aufgetragen. Es er-
folgt die Einbringung eines Adhäsivsystems und die Applikation des
entsprechenden Reparaturkomposites.
Keramische Restaurationen sollten auch mit einem Diamantschleifer
vorpräpariert werden und Unterschnitte eingearbeitet werden. Die Kera-
mikoberfläche sollte optimalerweise mit der Flusssäure konditioniert
werden. Das Einbringen von Flusssäure in die Mundhöhle wird jedoch
aufgrund der damit verbundenen Gefahren in der Regel nicht empfoh-
len. Als Alternative kann ein angesäuertes Phosphatfluoridgel (1,23%
Fluorid) für 10 min aufgetragen werden. Ein Aufrauen und eine Silikati-
sierung der keramischen Oberfläche führt zu ähnlichen Ergebnissen. Das
weitere Vorgehen entspricht der Reparatur bei Metallrestaurationen.
6.5 Korrekturfüllung Kapitel 6 287
Während der Reparaturfüllung sollte unbedingt Kofferdam gelegt
werden, um eine Kontamination der Füllungsoberfläche mit Speichel
und Blut zu verhindern. Zudem werden die Mundschleimhäute und die
Atemwege vor Schädigungen durch das entsprechende Abstrahlmittel
Keramik Aluminium-
Metall
Komposit Amalgam ohne Schmelz oxidverstärkte
EM/NEM
und Metall Keramik
Präparation Präparation
Anschrägung einer einer Anschrägung Anschrägung
im Schmelz der Keramik im Schmelz
Minikavität Minikavität
6
Abstrahlen Abstrahlen Abstrahlen Abstrahlen Abstrahlen
mit mit mit mit mit
Aluminium- Aluminium- Siliziumoxid Siliziumoxid Siliziumoxid
oxid oxid (CoJet) (CoJet) (CoJet)
Abspülen Verblasen
Schmelz-/ Schmelz-/ Schmelz-/ Schmelz-/
Dentinkondi- Dentinkondi- Dentinkondi- Dentinkondi-
tionierung * tionierung * tionierung * tionierung *
Silan Silan Silan
auftragen auftragen auftragen
Adhäsiv auf
Reparatur- Adhäsiv auf Adhäsiv auf Adhäsiv auf
oberfläche, Schmelz Schmelz Schmelz
Schmelz (und Dentin) (und Dentin) (und Dentin)
(und Dentin)
ggf. Lichthärten
Komposit/fließfähiges Komposit
* Je nach Adhäsiv unterschiedlich, i.d.R. Phosphorsäure-Ätzung und Abspülen
Abb. 6.39: Möglichkeiten der Korrekturfüllungen mit Kompositrestaurationsmaterialien (nach Foitzik und
Attin 2004). Vorhandene kariöse Bereiche müssen dabei sicher exkaviert und Folgeschäden vom Zahn ab-
gewendet werden können.
288 6 Restaurationen mit plastischen Füllungsmaterialien
geschützt. Grundsätzlich sollten während der Behandlung, sowohl der
Patient als auch die Behandler Schutzbrillen tragen, um Verletzungen
der Augen zu vermeiden.
Bei richtiger Indikation lässt sich durch Korrekturfüllungen die Le-
bensdauer einer primären Restauration erheblich verlängern. Grund-
sätzlich erreichen aber Füllungsreparaturen nicht die Langzeitergeb-
nisse von Restaurationen, die aus einem Material hergestellt wurden. So
ist die Verbundfestigkeit von Reparaturkomposit an bereits vorhande-
nem Komposit reduziert. In der Abbildung 6.39 ist ein Fließschema zur
Durchführung von Korrekturfüllungen dargestellt. Im Einzelfall lässt
sich die Indikation für eine Korrekturfüllung nur nach Anfertigen eines
Röntgenbildes zur Sicherung der Diagnose stellen. Bei mehrflächigen
Restaurationen muss zudem gewährleistet sein, dass bei Verlust von ap-
proximalen Restaurationsteilen eine Matrize gelegt werden kann.
In manchen Fällen ist die Anfertigung einer neuen Restauration mit
weniger Aufwand verbunden als das Anfertigen einer Korrekturfüllung.
Kapitel 7 289
7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
! Einlagerestaurationen sind solide Körper, die in einer Kavität mit
einem konventionellen Zement oder adhäsiv mit einem Kompo-
sitzement befestigt werden (Metall-, Keramik- und Kompositres-
taurationen).
Sie werden direkt (im Mund des Patienten) oder indirekt (z.B. im zahn-
technischen Labor) hergestellt. Es gibt zusätzlich für zahnfarbene Res-
taurationen semidirekte Verfahren (z.B. CAD-CAM-Verfahren). Die Her- 7
stellung von Einlagerestaurationen ist aufwändig; sie sind daher in der
Regel teurer als direkte plastische Füllungen.
Die Indikation für Einlagerestaurationen ist eng umrissen. Sie sind Indikationen
bei mittelgroßen und großen Klasse-II-Kavitäten indiziert. Wenn die
Ausdehnung des approximalen Defekts zervikal die Schmelz-Zement-
Grenze überschreitet und die gingivale Stufe so schlecht zugänglich ist,
dass eine sichere Matrizentechnik bei der Anfertigung von Restauratio-
nen aus plastischen Füllungsmaterialien nicht mehr möglich ist, sind in
der Regel Einlagerestaurationen aus Metall indiziert. Einlagerestauratio-
nen sind auch dann indiziert, wenn mit plastischen Füllungen kein aus-
reichender Approximalkontakt mehr herzustellen ist.
Grundvoraussetzungen für die Eingliederung von Einlagerestaura- Voraussetzungen
tionen sind eine optimale Mundhygiene des Patienten, geringe momen-
tane Kariesaktivität und parodontal gesunde bzw. sanierte Verhältnisse.
Auch bei Allergien gegen plastische Füllungsmaterialien und deren Be-
standteile finden Einlagerestaurationen Anwendung.
Mit kauflächendeckenden Metall- bzw. Keramikrestaurationen las-
sen sich Okklusionskorrekturen durchführen. Sie sind daher oft im
Rahmen funktionstherapeutischer Maßnahmen indiziert.
Nach einer Wurzelkanalbehandlung werden bei großen mehrflä-
chigen Kavitäten im Seitenzahnbereich wegen der erhöhten Frakturan-
fälligkeit kauflächendeckende Restaurationen gefordert. Hier sind Teil-
kronen aus Metall oder Keramik indiziert.
Einlagerestaurationen sind formstabiler als Restaurationen aus plas-
tischen Füllungsmaterialien und besitzen bei richtiger Indikationsstel-
lung und sorgfältiger Anfertigung eine hohe Lebensdauer (Tab. 7.1).
290 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Tab. 7.1: Indikation restaurativer Maßnahmen in Abhängigkeit von der okklusalen bzw. approxima-
len Defektausdehnung (modifiziert nach Klaiber et al. 1992)
Okklusale Defektausdehnung Approximale Defektausdehnung
klein mittel groß Höcker- zervikal zervikal weit weit buk-
ersatz Schmelz Dentin apikal kolingual
Amalgamfüllung –+ + – –(+) + + – –
Goldguss:
• Inlay – + – – + + + +
• Teilkrone – – + + + + + +
Direkte Komposit- + + (+) –(+) + (+) –(+) –(+)
füllung
Adhäsiv befestigtes – + + + + (+) – +
Inlay aus Keramik (Keramik)
bzw. Komposit
+ geeignet
– ungeeignet
(+) bedingt geeignet
Für die Herstellung von Einlagerestaurationen muss allerdings in
vielen Fällen mehr Zahnhartsubstanz geopfert werden als für plasti-
sche Füllungsmaterialien. Bei der Versorgung primärer kariöser De-
fekte ist daher eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile
von Einlagerestaurationen vorzunehmen.
Lässt sich aufgrund der kariösen Zerstörung der Zahnhartsubstanz (z.B.
große Zahnhalsdefekte, Fehlen des bukkalen bzw. lingualen Kronenan-
teils) oder aus anatomischen Gründen keine ausreichende Verankerung
der Einlagerestauration an der Zahnhartsubstanz erzielen, ist die Anfer-
tigung einer Krone indiziert. Bei kleinen okklusalen und approximalen
Defekten muss bei der Anfertigung von Einlagerestaurationen zu viel
Zahnhartsubstanz entfernt werden. Hier sollte plastischen Füllungsma-
terialien der Vorzug gegeben werden.
Definitionen Unter dem Überbegriff Einlagerestaurationen sind Inlays, Onlays
und Overlays zusammengefasst (Abb. 7.1).
D Ein Inlay ist eine rein intrakoronal fixierte Einlagerestauration. Da-
bei wird die Kaufläche eines Zahnes nicht bedeckt.
D Ein Onlay bedeckt die gesamte Kaufläche eines Zahnes.
D Ein Overlay fasst mindestens einen Höcker, meist aber alle Höcker,
wobei beide Approximalflächen in die Präparation mit einbezogen
werden. Der Übergang zur Teilkrone ist fließend.
D Für die Präparation von Kavitäten für adhäsiv befestigte Keramikres-
taurationen sind variable Formen möglich, die sich nicht mehr in
diese Klassifizierungen einordnen lassen.
7.1 Vorbereitende Maßnahmen Kapitel 7 291
oral vestibulär
a b c d
Abb. 7.1: a) Rein intrakoronal fixierte Einlagerestaurationen (Inlays) erhalten ihre Retention durch eine ok-
klusale bzw. approximale Kastenverankerung. b) Ein Onlay bedeckt die gesamte Kaufläche, erhält jedoch
nur durch okklusale und approximale Kastenverankerung Retention. c) Bei Overlays werden meist nur die
okklusionstragenden Höcker gefasst, dabei hat sich die Stufe mit Abschrägung bewährt. Die nicht tragen-
den Höcker sind mit einem Außenschliff versehen, die retentive Verankerung erfolgt so zusätzlich durch
perikoronale Verankerung. Ein spezielles Augenmerk ist auf mögliche Allergien gegen Metalle, Zemente
und Kunststoffe zu richten. d) Bei Keramikrestaurationen sind die Begriffe Overlay und Onlay in der ur-
sprünglichen Form nicht mehr verwendbar, da hier der Übergang beider Präparationsformen fließend ist
und aufgrund der adhäsiven Befestigung auf eine makroskopische perikoronale Verankerung verzichtet
werden kann. 7
7.1 Vorbereitende Maßnahmen
Vor der Anfertigung von Einlagerestaurationen, insbesondere bei der
Neugestaltung bzw. Wiederherstellung von Kauflächen, sind bestimmte
Vorbehandlungsmaßnahmen erforderlich.
Primär werden wie bei jedem anderen Patienten eine Anamnese
und ein Befund erhoben.
Neben der intraoralen zahnärztlichen Untersuchung wird ein Funk-
tionsbefund (z.B. Krough-Poulson) aufgezeichnet. Bei auffälligen Be-
funden können eine Schienenvorbehandlung und eine Einschleifthera-
pie indiziert sein.
Es wird je nach Patient eine unilateral balancierte Okklusion (Grup-
penführung) oder eine organische Okklusion mit Front-Eckzahn-Füh-
rung angestrebt. Rekonturierung von Restaurationen, parodontale
Sanierung und evtl. kieferorthopädische Vorbehandlung sind weitere
vorbereitende Maßnahmen. Eine detaillierte Darstellung der Vorbe-
handlung würde jedoch den Rahmen dieser Einführung sprengen. Es
wird daher auf entsprechende Lehrbücher verwiesen.
Die Herstellung diagnostischer Gipsmodelle, die mit einem Ge-
sichtsbogen in einen halbindividuellen Artikulator montiert werden, ist
hilfreich. Mit ihnen kann eine genaue Planung und evtl. eine diagnos-
tische Präparation erfolgen.
Grundsätzlich erfolgt zuerst die Entfernung kariöser Zahnsubstanz
und, falls notwendig, die Anfertigung von Aufbaufüllungen (Glasiono-
merzement, Komposit). Oft lässt sich dann erst endgültig klären, ob ein
Inlay oder eine Teilkrone erforderlich ist, endodontische Vorbehand-
lungen notwendig sind oder eine Verlängerung der klinischen Krone
vorgenommen werden muss. Auch ästhetische Gesichtspunkte können
jetzt berücksichtigt werden, und besonders bei Oberkieferprämolaren
292 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
kann die Versorgung mit zahnfarbenen Restaurationsmaterialien (Kera-
mikinlay) erwogen werden.
Die Herstellung optimaler Mundhygieneverhältnisse vor Anferti-
gung von Einlagerestaurationen ist eine selbstverständliche Maß-
nahme.
Anhand der Anamnese, des zahnärztlichen Befundes, des Funktionsbe-
fundes und mithilfe der diagnostischen Modelle kann die endgültige
Planung erfolgen, die mit dem Patienten durchgesprochen wird.
Bei der Herstellung und Eingliederung von Einlagerestaurationen
und Teilkronen entstehen erhebliche Kosten. Eine detaillierte, schriftli-
che Kostenaufstellung sollte daher dem Patienten vor Beginn der Be-
handlung ausgehändigt werden. Es wird außerdem eine schriftliche
Einverständniserklärung des Patienten zu den geplanten Behand-
lungsmaßnahmen eingeholt. Der Zahnarzt fixiert dann den detaillier-
ten Behandlungsplan mit entsprechenden Terminvorgaben.
Bei der Präparation für Einlagerestaurationen und Teilkronen steht,
wie bei allen restaurativen Maßnahmen, die Erhaltung der gesunden
Zahnhartsubstanz im Vordergrund. Bei gegossenen metallischen Einla-
gerestaurationen muss zusätzlich durch entsprechende Präparation für
eine Retention gesorgt werden, die eine Lockerung bzw. ein Abgleiten
des Gussobjektes bei Kaubelastung verhindert. Bei adhäsiv befestigten
Keramik- bzw. Kompositinlays tritt dieser Gesichtspunkt eher in den
Hintergrund.
Auf einen guten Randschluss und genügende Stabilität ist bei allen
Einlagerestaurationen zu achten.
Zu den vorbereitenden Maßnahmen gehört in erster Linie bei der
Herstellung von Teilkronen auch die Abformung der vorbereiteten
Zähne mit einem Silikon. Diese Abformung wird nach erfolgter Präpara-
tion für die Herstellung von Kunststoffprovisorien verwendet. Die Her-
stellung dieser Provisorien kann auch mithilfe einer Tiefziehschiene, die
mithilfe des Planungsmodells primär hergestellt wurde, erfolgen.
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen
7.2.1 Präparation
Klasse-II-Kavität Bei der Präparation für Klasse-II-Kavitäten werden die Präparationsre-
geln für plastische Füllungsmaterialien in modifizierter Form berück-
sichtigt.
Die Primärpräparation wird mit einem zylindrischen oder leicht ko-
nischen Diamanten mit abgerundeten Kanten durchgeführt. Die Kavitä-
tentiefe beträgt mindestens 1,5 mm. Der Kavitätenboden ist plan. Die
Umrissform der Kavität umfasst die Hauptfissuren. Die Inlaybreite darf
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen Kapitel 7 293
Abb. 7.2: Kavitätenpräparation von
Klasse-II-Kavitäten für Metall-Einlage- a
restaurationen: Die Breite der okklusa-
len Kavität darf maximal die Hälfte des
max.
transversalen Höckerabstandes betra- a/2
gen. a) Die Kavitätentiefe beträgt min-
destens 1,5 mm. b) Bei flachen Kavitäten
divergieren die Kavitätenwände leicht
(ca. 10°). Wird eine Abschrägung ange-
legt, so ist sie kurz und beträgt ca. 20%
zur Einschubrichtung. c) Bei tieferen Ka-
vitäten wird das obere Drittel stärker di-
vergierend präpariert. Der Rand wird
nicht abgeschrägt.
b c
bei einem dreiflächigen Inlay (MOD) okklusal nicht mehr als die Hälfte
des Höckerabstandes betragen, da sonst eine Keilwirkung resultiert und
damit kein ausreichender Schutz gegen eine Höckerfraktur vorhanden ist
(Abb. 7.2a). Die Kavitätenwände sind bei flachen Kavitäten leicht diver-
gierend (Abb. 7.2b), sie können bei tiefen Kavitäten jedoch im oberen
Drittel stärker divergieren (Abb. 7.2c). Durch diese Präparation soll er-
reicht werden, dass die Metallfüllung einerseits leicht in die Kavität ein-
gebracht werden kann, andererseits jedoch genügend Retention gegen
Abzugskräfte aufweist. Alle inneren Kanten der Kavität sind leicht abge-
rundet. Es sind keine unter sich gehenden Stellen vorhanden.
Es wird häufig empfohlen, den okklusalen Randbereich der Kavität
abzuschrägen. Im Abrasionsgebiss ist diese Abschrägung breiter als bei
steiler verlaufenden Höckern im jugendlichen Gebiss. Die Abschrägung
wurde früher unter anderem angelegt, um mit entsprechenden Instru-
menten weiche Goldlegierungen anfinieren zu können. Nach heutigen
Erkenntnissen führt ein derartiger Finiervorgang jedoch klinisch nach
einer gewissen Tragedauer zu schlechteren Randbedingungen, da die
dünn auslaufenden Metallränder unter Kaubelastung abbrechen. Man
verzichtet daher heute i.d.R. auf den okklusalen Federrand.
Die Restaurationsränder sollen nicht im Bereich statischer Okklu-
sionskontakte liegen.
294 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Der antagonistische Kontakt darf auf keinen Fall in Bereichen der Res-
tauration liegen, die einen dünn auslaufenden Rand aufweisen. Der
Rand wird sonst durch die mechanische Belastung beschädigt. Antago-
nistische Kontakte müssen entweder vollständig auf dem Zahnschmelz
oder auf der Metallfläche der Restauration liegen.
Der approximale kariöse Defekt gibt die Ausdehnung des approxi-
malen Kastens vor. Bei der Präparation werden die Kontakte zum Nach-
barzahn ausreichend aufgehoben. Die Extensionsflächen divergieren
leicht in okklusaler Richtung und laufen bei idealer Präparation in ei-
nem Winkel von 40° auf die äußere Zahnwölbung aus. Die zervikal-ap-
proximale Stufe bleibt wenn möglich supragingival.
Die Divergenz der Kavitätenwände hängt von der Tiefe der Kavität
ab. Um ausreichend Retention für die Einlagerestauration zu bieten, be-
trägt sie bei flachem approximalem Kasten ca. 10°. Bei langen Approxi-
malflächen ist sie größer, um eine ausreichende Einschubmöglichkeit
zu gewährleisten. Zur Randgestaltung des approximalen Kastens und
der Extensionsflächen gibt es unterschiedliche Ansichten (Abb. 7.3).
Es kann ein Kasten mit Hohlschliff angelegt werden, der sowohl
die approximal-zervikale Stufe als auch die Extensionsflächen einbe-
zieht. Weiterhin ist die Präparation eines Kastens mit nur approximal-
zervikaler Abschrägung möglich. Die Extensionsflächen werden dabei
im Randbereich nicht angeschrägt. Ihre auslaufenden Kanten werden
nur mit einem Handinstrument gebrochen.
Die früher häufig propagierte Scheibenschliffpräparation hat sich
nicht durchgesetzt, da bei dieser Präparationsform approximal zu weit
extendiert wird.
Aus kariesprophylaktischer Sicht sollte ein möglichst kleiner Spalt
zwischen Restauration und Zahnhartsubstanz angestrebt werden
(< 50 µm).
Dies lässt sich sowohl mit der Hohlschliffpräparation als auch mit der
Stufenpräparation mit entsprechender Abschrägung erreichen. Abschrä-
a b c
Abb. 7.3: Randgestaltung des approximalen Kastens bei mehrflächigen Metall-Einlagerestaurationen:
a) Kasten mit Hohlschliffpräparation, b) Kasten mit zervikaler Abschrägung, c) Kasten mit Scheibenschliff
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen Kapitel 7 295
Abb. 7.4: Zweiflächige Einla-
gerestaurationen werden
durch Schwalbenschwanz-
präparation oder zusätzli-
che Zapfenbohrung veran-
kert. Schwalben-
schwanz-
präparation
Zapfen-
bohrung
gungen und Hohlschliffpräparationen müssen so angelegt werden, dass
eine deutlich sichtbare Präparationsgrenze resultiert. Die Abschrägun-
gen liegen, wie auch bei den Kronen beschrieben, zwischen 30 und 45°. 7
So resultiert ein geringer Zementspalt und damit eine gute Passgenauig-
keit im Randbereich.
Während bei dreiflächigen Inlays i.d.R. genügend Retention vor-
handen ist, muss ein zweiflächiges Inlay durch eine okklusale Schwal-
benschwanzpräparation oder durch zusätzliche Retentionselemente
(z.B. Zapfenverankerung) gegen einwirkende Abzugs- oder Kippkräfte
gesichert werden (Abb. 7.4).
Nach der Primärpräparation erfolgt ein Finieren der Kavitäten-
wände und des Kavitätenbodens mit formgleichen Diamantfinierern.
Durch das Legen einer Unterfüllung/Aufbaufüllung z.B. aus einem
Zement oder Komposit kann bei tiefen Kavitäten eine Reduktion des
Gesamtvolumens der späteren Restauration erfolgen. Leicht unter sich
gehende Stellen können mit Unterfüllungsmaterial ausgeblockt wer-
den.
Bei größeren kariösen Defekten, die eine Unterminierung und Overlay-/Onlay-
Schwächung der Zahnhartsubstanz erzeugt haben, bei Okklusionskor- Präparation
rekturen im Rahmen funktionsverbessernder Maßnahmen und bei der
Versorgung von wurzelkanalbehandelten Prämolaren und Molaren sind
Inlays kontraindiziert. Hier erfolgt eine Overlay- bzw. Onlaypräpara-
tion.
Die Erkenntnis, dass es nach Restauration mehrflächiger Kavitäten
mit gegossenen Metallrestaurationen häufig zu Dentininfrakturen bzw.
Höckerfrakturen kommt, ließ die Indikation für rein intrakoronal veran-
kerte Restaurationen immer mehr in den Hintergrund treten. Vielfach
wird heute bei der oralen Rehabilitation mit metallischen Einlagerestau-
rationen gänzlich auf Inlays verzichtet. Es werden ausschließlich Over-
lays und Teilkronen angefertigt.
Die Vorteile liegen dabei in der Vermeidung von Antagonistenkon-
takten im Füllungsrandbereich und der Verhinderung elastischer Defor-
mationen durch Kaukräfte.
296 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Abb. 7.5: Bei der Overlay-Prä-
paration wird bei den okklu-
sionstragenden Höckern
eine Stufe mit Abschrägung
präpariert, die Scherhöcker
werden mit einem einfa-
chen Außenschliff überkup-
palatinal bukkal pelt.
Bei der Overlaypräparation wird die MOD-Kavität einer Inlaypräpa-
ration angelegt. Die zu überdeckenden okklusionstragenden Höcker
werden i.d.R. in Form einer Stufenpräparation mit Abschrägung, die zu
überdeckenden nicht tragenden Höcker mit einem einfachen Außen-
schliff gefasst (Abb. 7.5).
Die Präparationsgrenze liegt bei den tragenden Höckern meistens
im Bereich des Zahnäquators, umfasst aber auf jeden Fall vorhandene
bukkale bzw. linguale Grübchen (Plaqueretentionsstellen), um einer Se-
kundärkaries vorzubeugen. Die Stufe ist ca. 1 mm breit und wird abge-
schrägt.
Die Präparationsform hängt jedoch von den anatomischen Gege-
benheiten, der Tiefe des okklusalen Defekts und der Lage der Karies ab.
So können bei sehr weiten und tiefen okklusalen Kavitäten dünne, spitz
auslaufende Kavitätenwände resultieren. Dann werden auch die tragen-
den Höcker nur mit einem einfachen Außenschliff versehen.
Während für die Reduktion der tragenden Höcker sowie die Präpara-
tion der approximalen Kästen und des Isthmus zylindrische bzw. koni-
sche Diamantschleifer und -finierer verwendet werden, werden für die
Abschrägung des approximalen Kastens und der Stufe an den tragenden
Höckern meist schlanke, flammenförmige Diamantfinierer oder entspre-
chend gestaltete oszillierende Instrumente verwendet (Abb. 7.6, systema-
tisches Vorgehen bei der Präparation eines Overlays bzw. einer Teilkrone).
Beim Onlay wird die gesamte Kaufläche in die Präparation mit ein-
bezogen. Dies erfordert eine Reduktion der Okklusalfläche um mindes-
tens 1 mm. Ansonsten gelten die gleichen Präparationsregeln wie bei
Overlays. Es wird jedoch keine Stufe mit Abschrägung bzw. ein Außen-
schliff präpariert.
Stark zerstörte Zähne lassen primär keine klassische Kavitätenprä-
paration zu. Oft muss dann vor der Präparation durch einen Kernaufbau
aus plastischen Füllungsmaterialien (z.B. Glasionomerzement oder
Komposit) erst die Möglichkeit für eine Präparation geschaffen werden.
Alle Ränder der Metalleinlagerestauration müssen dann aber auf je-
den Fall im Bereich gesunder Zahnhartsubstanz liegen. Sie dürfen
nicht im Aufbaumaterial enden.
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen Kapitel 7 297
okklusale Abdachung
Reduktion des tragenden
Höckers
a b
Stufe am Isthmus Abdachung des
tragenden Höcker nicht tragenden
Höckers
Flanke
c d
Abb. 7.6: Die Teilkronenpräparation (Overlay) erfolgt mit wenigen Instrumenten:
a) Die Okklusalfläche wird mit abgerundeten, konischen Diamantschleifern um
1–1,5 mm gekürzt. b) Der tragende Höcker wird anschließend abgedacht, wobei
auf einen ausreichenden Substanzabtrag geachtet werden muss. c) Mit einem ko-
nischen, abgeflachten Diamantschleifer wird an der Außenfläche des tragenden
Höckers eine 1 mm breite Stufe präpariert. d) Mit dem gleichen Instrument wer-
den der Isthmus und die Approximalkästen angelegt. Anschließend werden die
approximalen Flanken und die Abschrägung approximal-zervikal und an der ok-
klusalen Stufe mit einem flammenförmigen Diamanten oder mit oszillierenden
Instrumenten präpariert. Der Außenschliff an den nicht tragenden Höckern kann
ebenfalls mit einer Flamme präpariert werden. Alle Kavitätendetails werden mit
den entsprechenden Diamantfinierern nachgearbeitet. Natürlich richtet sich die
Größe der Diamantschleifer nach der Zahngröße.
Nach endodontischer Behandlung kann eine Verankerung des Kernauf-
baus mit einem adhäsiv befestigten intrakanalären Stift (z.B. Glasfa-
serstift) oder die Anfertigung eines gegossenen Stiftaufbaus erforderlich
sein.
7.2.2 Abformung und Modellherstellung
Nach der Präparation wird das Operationsgebiet mit Watterollen und
approximal mit Wattepellets trocken gelegt. Liegt die Präparations-
grenze supragingival, sind keine weiteren Maßnahmen notwendig.
Bei äquigingivaler und gering subgingivaler Präparation müssen vor Fäden
der Abformung Baumwollfäden zur leichten Eröffnung des Sulkus ge-
legt werden. Die Fäden werden mit einem Heidemann-Spatel vorsichtig
298 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
in den Sulkus appliziert. Dabei wird eine Traumatisierung soweit wie
möglich vermieden. Damit die Fäden vor der Abdrucknahme schnell
entfernt werden können, ragt ihr Ende aus dem Sulkus heraus. Der
Baumwollfaden nimmt die Sulkusflüssigkeit auf und kann Blutungen
verhindern, wenn er vorher mit einem Hämostatikum (z.B. Alumi-
nium-Kalium-Sulfat, Aluminiumchlorid) getränkt wurde. Bei tief rei-
chender Karies wird elektrochirurgisch oder mittels parodontalchirurgi-
scher Maßnahmen (s. Teil III, Parodontologie) die Präparationsgrenze
frei gelegt.
Abdrucklöffel Es folgt anschließend die Auswahl des passenden Abdrucklöffels.
Werden konfektionierte Löffel (z.B. Rim-Lock-Löffel bei Korrekturabfor-
mung) verwendet, so sollten diese individualisiert werden (distale Ab-
dämmung mit thermoplastischem Material). Bei der Verwendung gum-
mielastischer Abformmaterialien bzw. einzeitigen Abdrucktechniken
sollten individuelle Löffel aus Kunststoff verwendet werden, um eine
gleichmäßig dicke Abformmassenschicht zu erhalten. Sie dürfen aber
erst nach vollständiger Auspolymerisierung (24 h) verwendet werden,
sonst führen sie zu einer Deformierung der Abformung.
Die Abformung muss den präparierten Zahn, alle anderen Zähne
und die angrenzenden Weichgewebe exakt und blasenfrei wiederge-
ben.
Die Löffelinnenwände werden mit einem Adhäsiv bestrichen, damit
das Abformmaterial zum Löffel hin schrumpft. Das Adhäsiv muss gut
trocken sein, sonst haftet das Abformmaterial nicht an der Löffelwand.
Abformmaterial Das Abformmaterial sollte biokompatibel sein und eine geringe
Schrumpfung während der Aushärtung und anschließenden Lagerung
aufweisen. Neben der primären Dimensionsstabilität muss das Material
mit gängigen Abformdesinfektionsmitteln desinfizierbar sein, ohne
seine Dimension zu verändern.
D Hydrokolloide sind umständlich zu verarbeitende Abformmateria-
lien. Man benötigt spezielle Abformlöffel. Man benötigt auch spe-
zielle Geräte zum Erwärmen und zum Kühlen der Abformmasse. Die
Abformung muss nach Entfernen aus der Mundhöhle kurzfristig in
Kaliumsulfatlösung eingelegt und spätestens 15 min später ausge-
gossen werden.
D Additionsvernetzende Silikone eignen sich sehr gut für die ver-
schiedenen Abformtechniken im Rahmen der Gussfüllungstherapie.
D Polyäther stehen im Dimensionsverhalten den Silikonen nicht
nach. Sie sind verhältnismäßig schwer aus der Mundhöhle und vom
Modell zu entfernen, wenn Unterschnitte vorhanden sind.
D Polysulfide finden heute im Rahmen der Gussfüllungstechnik keine
Anwendung mehr. (Zu den werkstoffkundlichen Parametern von
Abdruckmaterialien sollten Lehrbücher der Werkstoffkunde zurate
gezogen werden.)
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen Kapitel 7 299
Als Abformtechnik werden heute entweder die Korrekturabformung
(zweizeitig) bzw. Ergänzungsabformung oder die Doppelmischabfor-
mung (einzeitig) bzw. der Einphasenabdruck angewendet.
Bei der Korrekturabformung wird nach Legen der Retraktionsfäden
eine Situationsabformung mit einem knetbaren, zähplastischen Silikon
(putty) genommen. Anschließend werden alle unter sich gehenden Stel-
len ausgeschnitten und nach Entfernen des Retraktionsfadens mit ei-
nem dünn fließenden Silikon bei der Korrekturabformung (Korrektur)
genommen.
Um zu verhindern, dass bei der Korrekturabformung das Putty-Ma- Korrektur-
terial verdrängt wird und anschließend „zurückfedert“, muss genügend abformung
ausgeschnitten und müssen Abflussrillen geschaffen werden. Eine
Rückstellung bedingt ein enges Abdrucklumen und damit zu kleine Mo-
dellstümpfe. Das bedeutet schlecht passende Einlagerestaurationen. Ein
zu starker Druck während der Aushärtung ist daher zu vermeiden. Die
Abformung wird nur kurz nach Einsetzen der Korrekturmasse fest ange- 7
drückt, dann unter leichtem Druck bis zur endgültigen Erstarrung ge-
halten.
Die Doppelmischabformung ist ein einzeitiges Verfahren. Der prä- Doppelmisch-
parierte Zahn wird mit einem dünn fließenden Silikonmaterial um- abformung
spritzt. Während das Material noch fließfähig ist, erfolgt eine Situati-
onsabformung mit einer zähflüssigen Abdruckmasse. Nach Abbinden
des Abformmaterials (siehe Herstellerangaben) wird der Abdrucklöffel
rasch in Richtung der Längsachse der Zähne entfernt (also nicht abge-
kippt). Anschließend erfolgen eine gründliche Reinigung mit Wasser
(Blut und Speichel sollten vollständig entfernt werden) und eine Desin-
fektion. Das Desinfektionsbad sollte ein großes Keimspektrum abde-
cken, besonders Tuberkulosebakterien und HI- bzw. Hepatitis-Viren.
Die Abformung wird im Labor mit einem Spezialhartgips blasenfrei
ausgegossen. Einfache Verarbeitung, gute Detailwiedergabe und gutes
Dimensionsverhalten (Abbindeexpansion < 0,1%) zeichnen diesen Gips
aus. Die Herstellung des Meistermodells soll hier nicht im Einzelnen
dargestellt werden. Hier muss auf die Lehrbücher der Prothetik und
Werkstoffkunde verwiesen werden.
Es ist empfehlenswert, ein zweites, ungesägtes Modell herzustellen,
auf dem die Approximalkontakte der fertigen Einlagerestauration kon-
trolliert werden können.
Nach der Abformung wird je nach Patientenfall eine individuelle
Registrierung der Kaubewegung (Kiefergelenkaktion) mit anschließen-
der Übertragung in einen voll justierbaren Artikulator durchgeführt
oder ein arbiträrer Gesichtsbogen angelegt, mit dessen Hilfe das Ober-
kiefermodell schädelbezüglich in einen teiljustierbaren Artikulator ein-
artikuliert wird. Dabei wird rosa Wachs oder thermoplastisches Material
erwärmt und auf eine Bissgabel gebracht. Der aufrecht sitzende Patient
beißt vorsichtig in die weiche Masse, sodass die Höckerspitzen abge-
drückt werden. Anschließend wird der Gesichtsbogen angelegt. Der Pa-
300 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
tient hält währenddessen die Bissgabel, indem er auf Watterollen beißt.
Das Oberkiefermodell muss exakt in die entstandenen Impressionen
passen.
Die Zuordnung des Unterkiefermodells erfolgt mit einem Registrat
(Wachs, Gipsschlüssel, Kunststoffregistrat). Mithilfe von Protrusions-
und Laterotrusionsregistraten kann der Artikulator teiljustiert werden.
Bissnahme Bei Einzelzahnpräparationen bedeckt ein Wachsbiss den präparier-
ten Zahn. Es wird erweicht, und der Patient beißt zu. Das Wachs härtet
aus und kann anschließend mit einer Zinkoxid-Eugenol-Paste „unter-
füttert“ werden. Dabei wird die habituelle Interkuspitation in den Arti-
kulator übernommen. Es gibt heute auch spezielle Silikonmaterialien,
die man für die Bissregistrierung verwenden kann. Nach dem Einartiku-
lieren wird die Okklusion im Artikulator überprüft. Sie muss mit der im
Mund des Patienten übereinstimmen. Es ist daher sinnvoll, die intraora-
len Okklusionskontakte auf einem vorgefertigten Okklusionsschema zu
markieren.
Nach der Abformung werden die präparierten Zähne mit einem
Kunststoffprovisorium auf Methacrylatbasis geschützt. Das Proviso-
rium kann u.a. mit einer primär über die unpräparierten Zähne gewon-
nenen Silikonabformung direkt hergestellt werden. Auch Tiefziehfo-
lien, die über das Studien-(Planungs-)modell gezogen wurden, können
dazu dienen. Es kann jedoch auch indirekt nach Abformung im Labor
hergestellt werden. Dieses Verfahren wird selten praktiziert, da es auf-
wändig und teuer ist.
Die provisorische Versorgung sollte randdicht sein, den Zahn vor
Kippung und Extrusion schützen und die Kaufunktion bis zur Ein-
gliederung garantieren. Sie sollte zudem glatt poliert sein und darf
die Gingiva nicht reizen, muss haltbar sein und genügend Reten-
tion besitzen. In bestimmten Bereichen der Mundhöhle (z.B. Ober-
kieferprämolaren) sollte sie zudem ästhetisch unauffällig sein.
Das Material wird bei der individuellen, direkten Herstellung angerührt
und mit der oben angesprochenen Primärabformung in den Mund ein-
gesetzt. Wenn es gummiartig wird, muss es aus der Mundhöhle heraus-
genommen werden und nach grober Trimmung mit einer Schere zurück
auf den präparierten Stumpf gesetzt werden, da es schrumpft. Nach der
endgültigen Aushärtung wird es mit einer Fräse getrimmt, poliert, ange-
passt und mit einem provisorischen Zement eingesetzt.
Die Einlagerestauration wird im Labor nach kaufunktionellen Ge-
sichtspunkten aufgewachst und anschließend gegossen. Um bei der spä-
teren Anprobe die Gussfüllungsränder nicht zu verletzen, werden Ab-
zugshilfen mit anmodelliert. Für die Anprobe sind die Kauflächen mat-
tiert, um die Okklusions- und Artikulationskontakte besser überprüfen
zu können.
7.2 Einlagefüllungen aus metallischen Werkstoffen Kapitel 7 301
7.2.3 Anprobe und Einzementieren
Die Gussrestauration wird im Labor ausgebettet und gesäubert. Die Po- Politur
litur erfolgt mit adäquaten Schleif- und Polierinstrumenten (z.B. Alumi-
niumoxidsteinchen, Sandpapierscheiben, Gummipolierern). Eine Poli-
tur der Metalloberfläche ist erforderlich, da sie nach dem Ausbetten
rau ist und damit Plaqueanlagerung und nachfolgend Sekundärkaries
begünstigen würde. Gussperlen an der Innenseite werden mit einem
kleinen Rosenbohrer bzw. kugelförmigen Diamanten entfernt. Das
Gussstück muss auf dem Arbeitsstumpf randdicht passen. Die Approxi-
malkontakte werden auf dem ungesägten Modell überprüft. Artikula-
tion und Okklusion werden im Artikulator eingeschliffen.
Vor der Anprobe am Patienten sollten die Kauflächen und Approxi- Anprobe
malflächen noch nicht hochglanzpoliert werden. Die statische und dy-
namische Okklusion sowie die Approximalkontakte lassen sich dann
beim Patienten besser kontrollieren. Alle anderen Bereiche, speziell die 7
Übergänge zum Zahn, sollten hochglanzpoliert sein.
Die Anprobe beim Patienten erfolgt, wenn möglich, ohne Anästhe-
sie. Nur so ist ein ausreichender Tastsinn beim Aufbeißen gewähr-
leistet.
Nach Entfernen des Provisoriums und Reinigung der Kavität wird das
Gussobjekt beim Patienten anprobiert. Zuerst werden störende Appro-
ximalkontakte entfernt. Beim Test mit Zahnseide bzw. einem Metall-
matrizenband (z.B. Tofflemire) muss ähnlicher Widerstand zu spüren
sein wie bei den natürlichen Approximalkontakten. Anschließend kann
mit einem dünn fließenden Silikon die Innenpassung kontrolliert wer-
den. Klemmstellen drücken sich durch und sind nach Abnehmen des
Gussobjektes als glänzende Metallstellen sichtbar, die entfernt werden
müssen. Ist die Innenfläche von einem gleichmäßig dünnen Silikonfilm
bedeckt, der an den Rändern „abgeschnitten“ erscheint, und lässt sich
klinisch kein Randspalt oder Metallüberhang mehr erkennen (visuell
und taktil mit der Sonde), so werden die statische und dynamische Ok-
klusion mit Okklusionsfolie überprüft.
Bei der Anprobe sollte der Patient wenn möglich sitzen, um ein Ver-
schlucken oder Aspirieren des Gussobjekts zu vermeiden und die Okklu-
sionskontrolle regelrecht durchführen zu können. Bei Oberkiefermola-
ren ist diese Forderung jedoch unrealistisch. Aus Sicherheitsgründen
sollte hier eine Mullgaze locker auf den Zungengrund appliziert werden.
Nach erfolgter Anprobe werden die Abzugsknöpfchen entfernt. Eingliederung
Nach Hochglanzpolitur erfolgt die Eingliederung des Gussobjektes. Bei
aufwändiger Sanierung mit Metallkronen empfiehlt sich ein Probetra-
gen über mehrere Wochen. Auf den mattierten Kauflächen sieht man
dann glatte Schliff-Facetten im Bereich okklusaler Indifferenzen. Diese
lassen sich vor dem Eingliedern beseitigen. Wurden Okklusionskorrek-
302 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
turen mit Metallkronen durchgeführt, empfiehlt sich eine Remontage
(siehe Lehrbücher der Gnathologie).
Befestigungs- Die Gussrestaurationen werden mit einem Zement in der Kavität be-
materialien festigt. Zinkoxid-Phosphat-Zement, Carboxylatzement und Glasiono-
merzement sind die bevorzugten Befestigungsmaterialien.
D Zinkoxid-Phosphat-Zement hat sich über Jahrzehnte zur Befesti-
gung von Einlagerestaurationen bewährt. Er ist druckfest, ermög-
licht einen geringen Zementierungsspalt (geringe Filmdicke), kann
jedoch aufgrund seines niedrigen pH-Wertes (3,5) Pulpairritatio-
nen mit anschließenden lang andauernden Kälteempfindlichkeiten
(Hyperämie, reversible Pulpitis) erzeugen. Durch eine Vorbehand-
lung der pulpanahen Wände (wenn z.B. keine Unterfüllung gelegt
wurde) mit einem Adhäsivsystem kann die pulpairritierende Wir-
kung reduziert werden.
D Carboxylatzement haftet schlecht an Edelmetalllegierungen, ist je-
doch pulpafreundlicher. Wegen der geringen Druckfestigkeit wird er
seltener verwendet.
D Glasionomerzemente weisen insgesamt gute Eigenschaften auf.
Aufgrund ihrer großen Endhärte sind sie jedoch nach dem Zemen-
tieren schwierig zu entfernen. Da sie Fluoridionen abgeben, können
sie eine kariostatische Wirksamkeit im Randbereich der eingesetzten
Restauration entfalten. Klinische Langzeitstudien zur Beständigkeit
von Glasionomerzement stehen jedoch noch aus.
Da Zinkoxid-Phosphat-Zement als Standardmaterial zum Einzementie-
ren von Metalleinlagerestaurationen gilt, wird daher an dieser Stelle nur
auf das Einsetzen von Gussrestaurationen mit diesem Zement eingegan-
gen.
Relative (Watterollen) oder absolute Trockenlegung (Kofferdam)
sind Grundvoraussetzung für das Zementieren von Einlagerestaura-
tionen.
Befestigung Die Kavität wird vor dem Einsetzen mit Chlorhexidindiglukonat gerei-
nigt, getrocknet und wenn notwendig mit einem Dentinhaftvermittler
vorbehandelt. Der Zinkoxid-Phosphat-Zement wird anschließend nach
Herstellerangaben bis zu einer sahnigen Konsistenz angerührt. Übli-
cherweise wird erst eine kleine Portion Zementpulver mit der Säure ver-
rührt und eine Minute gewartet, bis die Säure neutralisiert ist („sla-
cken“). Dann wird das Zement bis zur gewünschten Konsistenz ange-
rührt. Mit einem Pinsel werden die Innenseite der Gussrestauration und
die Kavität gleichmäßig dünn mit Zement beschickt. Das Gussobjekt
wird anschließend unter Druck langsam in die Kavität eingebracht. Der
Patient beißt zum Schluss mit kontinuierlich ansteigendem Druck auf
ein Holzstäbchen, das bis zum endgültigen Aushärten des Zements un-
ter Kaudruck belassen werden kann.
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 303
Nach Aushärten des Zements erfolgt die sorgfältige Entfernung aller
Zementreste mit Scalern und im Approximalbereich mit Zahnseide.
Vielfach werden heute auch Einlagerestaurationen aus Metall mit Kom-
positzementen adhäsiv befestigt. Dazu müssen die Innenflächen der
Restauration entweder mit Aluminiumoxidpulver abgestrahlt und dann
mit Alkohol gereinigt oder mit einem speziellen Primer (Alloy-Primer)
vorbehandelt werden.
Anschließend werden sie nach entsprechender Konditionierung der
Kavität mit einem autopolymerisierenden Kompositzement eingeglie-
dert. Häufig wird dabei ein Adhäsivsystem verwendet, dass die Polyme-
risation des Kompositzements erst in Gang setzt. Daher sollte man nach
dem Einbringen des entsprechenden Adhäsivs die Unterseite der Res-
tauration mit Kompositzement beschicken und nicht die Kavität mit
dem Material füllen, um zu verhindern, dass es während der Insertion 7
des Werkstückes aushärtet.
Nach einer letzten Okklusionskontrolle kann der Patient entlassen
werden.
Gegossene Einlagerestaurationen weisen bei richtiger Indikation Lebensdauer
und Anfertigung i.d.R. eine lange Lebensdauer auf. In Langzeitstudien
werden durchschnittliche Erfolgsquoten von 10 bis 15 Jahren beobach-
tet. Eine längere Lebensdauer ist im Einzelfall keine Seltenheit.
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen
Einlagerestaurationen
Aus toxikologischen, ökologischen und ästhetischen Bedenken lehnen
zahlreiche Patienten Amalgamfüllungen und gegossene Metall-Einlage-
restaurationen ab. Der Wunsch nach ästhetisch anspruchsvollen Sei-
tenzahnrestaurationen steht dabei im Vordergrund. Komposite sind
aufgrund ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften im Sei-
tenzahngebiet nicht universell einsetzbar, daher sollen häufig Keramik-
und Komposit-Einlagerestaurationen den ästhetischen Ansprüchen der
Patienten Rechnung tragen.
Grundlage für den Einsatz zahnfarbener Einlagerestaurationen ist
die Beherrschung der Adhäsivtechnik und der Kofferdamapplikation.
Die Grundregeln für die Kavitätenpräparation unterscheiden sich bei
Einlagerestaurationen aus Komposit und Keramik nur unwesentlich, sie
werden daher gemeinsam beschrieben.
304 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
7.3.1 Präparationstechnik
Aufbaufüllung Wie bei allen anderen Restaurationsmaterialien wird primär durch Prä-
paration mit diamantierten Schleifern die Karies dargestellt. Nach Exka-
vation der kariösen Zahnhartsubstanz wird häufig eine adhäsiv veran-
kerte Aufbaufüllung (GIZ oder Komposit) gelegt. Damit kann das Den-
tin bis zum Einsetzen der Restauration geschützt und die Stärke der
Keramik so gestaltet werden, dass die Lichtstärke für die Polymerisation
des Kompositzements beim Eingliedern der Restauration ausreicht.
Es empfiehlt sich, nach Grobpräparation und Entfernung der kariö-
sen Zahnhartsubstanz den gesamten Defekt unter Zuhilfenahme einer
Matrize vollständig mit dem Aufbaumaterial aufzufüllen und anschlie-
ßend nach Aushärten die eigentliche Präparation mit konischen Dia-
mantschleifern, die an der Stirnfläche abgerundet sind, durchzuführen.
Die Präparationgrenzen müssen im gesamten Bereich in der gesunden
Zahnhartsubstanz liegen. Ist keine Aufbaufüllung notwendig, ist es häu-
fig sinnvoll, das Dentin mit einem Adhäsivsystem zu versiegeln und
dann die Schmelzanteile der Kavität zu finieren. Bei mehrflächigen Ka-
vitäten muss der Approximalkontakt sowohl im Bereich der Exten-
sionsflächen als auch an der approximal-zervikalen Stufe zum Nachbar-
zahn aufgehoben werden.
Kavitätenränder Die Ränder der Kavität sollten, da die Einlagerestaurationen adhäsiv
befestigt werden, gut zugänglich (möglichst schmelzbegrenzt) sein. Die
okklusale Kavität muss eine Tiefe und Breite von mindestens 1,5–
2,0 mm aufweisen. Die Kavitätenwände divergieren leicht nach okklu-
sal (6°–10°). Die approximalen Kästen und alle internen Winkel sind
leicht abgerundet. Die okklusalen Kavitätenränder sollen nicht im Be-
reich der statischen Okklusion liegen. Daher ist es sinnvoll, vor der Prä-
paration die Okklusion mit entsprechenden Okklusionsfolien zu kenn-
zeichnen.
Die Kavitätenränder dürfen nicht abgeschrägt werden, da die Res-
taurationen sonst mit dünn auslaufenden Rändern hergestellt werden
müssten, die sehr bruchgefährdet wären. Die Kavitätenränder müssen
für Mundhygienemaßnahmen gut zugänglich sein. Genau wie bei ande-
ren Restaurationen werden nach erfolgter Präparation alle Kavitätende-
tails mit einem Diamantfinierer gleicher Konfiguration finiert.
Komposit- oder Keramikinlays benötigen in der Tiefe eine Mindest-
stärke von 1,5 mm, da sie sonst frakturieren. Für die Isthmusbreite
wird eine Mindestausdehnung von 2 mm empfohlen. Spitze Win-
kel im Bereich der Extensionsflächen sind bei der Präparation zu
vermeiden (Abb. 7.7).
Approximaler Im Bereich des approximalen Kastens muss die gingivale Stufe eine Min-
Kasten destdicke von 1 mm aufweisen. Mit keramischen Einlagerestaurationen
kann auch ein Höckerersatz vorgenommen werden (Teilkrone). So soll-
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 305
Abb. 7.7: Die Kavität für
Komposit- und Keramik-Ein- 1,5 mm
lagefüllungen muss min-
destens 2 mm breit und 1,5
mm tief sein. Die Kavitäten-
ränder werden nicht abge-
schrägt. Die Kavitäten-
wände divergieren leicht 1,5 mm
nach okklusal (6–10°). Die
Extensionsflächen laufen in
einem Winkel von 90° auf
die Außenfläche des Zahnes Unter-
zu. füllung
ten bei einer Präparation die verbliebenen Kavitätenwände eingekürzt
werden, wenn sie nur noch 2 mm stark sind. Nach der Präparation muss
auch im Bereich der abgetragenen Höcker einer Keramikschichtstärke 7
von mindestens 1,5 mm Rechnung getragen werden (Abb. 7.8b).
Grundsätzlich wird auch bei einer Teilkronenpräparation eine abgerun-
dete Präparationsform im Bereich der bukkalen oder lingualen Stufe
empfohlen (Abb. 7.8a). Dazu kann ein knospenförmiger Diamantschlei-
fer verwendet werden. Die Präparation eines einfachen horizontalen
Plateaus führt häufig zu ästhetischen Problemen, weil sich die Farbe der
Keramik abrupt von der Farbe der Restzahnhartsubstanz absetzt. Es ist
daher besser, eine abgerundete Außenkante oder eine ausgeprägte Hohl-
kehle zu präparieren (Abb. 7.8).
Die Präparationsmöglichkeiten sind vielfältig, da mit Keramikeinla-
gerestaurationen auch Höcker- und Zahnteile ersetzt werden können (s.
Abb. 7.2). Es ist sogar möglich, abradierte Kau- und Führungsflächen na-
hezu ohne Präparation durch Aufkleben neu zu gestalten (table tops
bzw. okklusale Veneers).
1,5 mm
2 mm
a b
Abb. 7.8: Bei einer Keramikteilkrone werden die Übergänge zum Zahn abgerundet
(a) oder in Form einer Hohlkehle (b) präpariert. Dabei muss anschließend die Kera-
mikdicke gleichmäßig mindestens 1,5 mm betragen. Die verbliebenen bukkalen
oder lingualen Kavitätenwände sollten eine Mindestdicke von 2 mm aufweisen (b).
306 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Abb. 7.9: Nach einer Wurzelkanalbe-
handlung kann die fehlende Zahnhart-
substanz mit einer vollkeramischen En-
dokrone aufgebaut werden.
Für Veneers im Frontzahnbereich sollte eine Mindeststärke von
0,6–1,0 mm angestrebt und eine ausgeprägte Hohlkehle im zervikalen
Bereich präpariert werden. Mit neuen Keramiken ist es heute auch mög-
lich, zierliche Restaurationen anzufertigen, da nach Herstellerangaben
die Frakturanfälligkeit nicht mehr so hoch ist. Zu diesen Materialien
gibt es allerdings bisher nur wenige Untersuchungen.
Eine besondere Form der Keramikrestauration ist die Endokrone, die
nach Wurzelkanalbehandlung im ehemaligen Pulpakavum mit veran-
kert wird (Abb. 7.9). Nach der Präparation erfolgt eine Farbbestimmung
mit speziellen Farbringen.
7.3.2 Indikationen und Kontraindikationen für zahnfarbene
Einlagefüllungen
! Keramik- und Komposit-Einlagerestaurationen sind in erster Linie
für die Restauration mittelgroßer und großer Klasse-II-Kavitäten
geeignet und speziell im ästhetisch sichtbaren Prämolarenbereich
eine Alternative zu gegossenen Metallrestaurationen.
Voraussetzungen Voraussetzung für den Einsatz zahnfarbener Einlagerestaurationen ist
wie bei Kompositrestaurationen die gute Zugänglichkeit der approxi-
mal-zervikalen Stufe. Der adhäsive Verbund zwischen dem Komposit-
zement, der zum Eingliedern verwendet wird, und der Zahnhartsub-
stanz ist nur zu gewährleisten, wenn die Kavität während des Einglie-
derns absolut trocken gehalten werden kann.
Große Klasse-II-Kavitäten mit geringer Dicke der Kavitätenwände
(< 2 mm) sollten mit einer kauflächendeckenden Restauration ver-
sorgt werden.
Indikationen Zur Indikationsstellung verschiedener Restaurationstechniken wurde
von Klaiber et al. (1992) die in der Tabelle 7.1 (s.o.) dargestellte Ent-
scheidungshilfe formuliert. Zusätzlich lassen sich auch ästhetische Kor-
rekturen im Frontzahnbereich mit Keramikveneers (s. auch Abb. 6.30)
vornehmen.
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 307
Kontraindikationen für zahnfarbene Seitenzahnfüllungen sind okklu- Kontra-
sale Interferenzen, wie z.B. Bruxismus, ungenügende Restzahnhartsub- indikationen
stanz, stark verfärbte Restzahnhartsubstanz, zu kurze Zähne und zu kleine
Defekte, bei denen bevorzugt plastische Füllungsmaterialien verwendet
werden sollten. Komposit- und Keramikinlays sollten nicht bei Zähnen
Verwendung finden, an denen eine Klammerprothese befestigt wird.
7.3.3 Komposit-Einlagefüllungen
Komposit-Einlagerestaurationen werden i.d.R. aus hoch gefüllten Fein-
partikelhybridkompositen hergestellt. Die Herstellung erfolgt entwe-
der direkt im Mund des Patienten oder nach vorheriger Abformung und
Modellherstellung indirekt im zahntechnischen Labor.
Bei der direkten Herstellung wird nach der Präparation die Kavität Direkte
mit einem speziellen Mittel isoliert. Anschließend wird mit einem licht- Herstellung 7
härtenden Komposit eine Füllung in Schichttechnik „modelliert“.
Bei mehrflächigen Kavitäten wird vorher eine Matrize gelegt und gut
verkeilt. Die statische und dynamische Okklusion kann direkt am Pa-
tienten eingeschliffen werden. Das fertige Inlay wird aus der Kavität ent-
fernt, poliert und anschließend mit Licht oder Hitze bzw. einer Kombi-
nation aus beidem nachvergütet. Dabei wird eine zusätzliche Konver-
sion von Monomerbestandteilen in eine Polymerstruktur erreicht. Die
Anzahl freier Bindungsstellen nimmt dabei ab. Nachvergütete Einlage-
restaurationen aus Komposit weisen eine maximale Polymerisation,
keine Polymerisationsschrumpfung, verbesserte physikalische Eigen-
schaften (Elastizitätsmodul, Biegefestigkeit, Härte) und verringerte Was-
seraufnahme auf. Gleichzeitig werden bei der Nachvergütung Material-
spannungen abgebaut.
Bei größeren Restaurationen ist die indirekte Technik rationeller. Indirekte
Im Artikulator lassen sich die statische und dynamische Okklusion op- Herstellung
timal gestalten. Die Approximalkontakte werden auf einem ungesägten
Approximalkontaktmodell überprüft. Bei dem ersten auf dem Markt er-
hältlichen System (SR-Isosit) wurde das Inlay unter Druck- und Hitze-
einwirkung polymerisiert. Heute werden auch im zahntechnischen La-
bor meistens lichthärtende Feinpartikelhybridkomposite zur Herstel-
lung von Komposit-Einlagerestaurationen verwendet und anschließend
nachvergütet (z.B. lang andauernde Lichteinwirkung in einer Lichtbox).
Im Einzelfall entscheidet das Praxiskonzept über den Herstellungsweg.
Während bei der direkten Methode das Inlay in einer langen Sitzung
hergestellt wird, muss der Patient bei der indirekten Methode zwei Be-
handlungstermine wahrnehmen.
Eine Zwischenstellung nehmen Systeme ein, bei denen zwar eine
Abformung der Kavität erfolgt, die Herstellung jedoch „chair-side“ in
der Zahnarztpraxis an einem Modell aus Silikon mit großer Endhärte er-
folgt. Diese „semidirekte“ Technik hat sich jedoch nicht durchgesetzt.
308 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Werkstoffe Rein heiß polymerisierte Komposite zeigen eine Konversionsrate
von 90%. Das bedeutet jedoch auch, dass nur wenige Doppelbindungen
verbleiben, an die anschließend das Befestigungskomposit anbinden
kann. Schon nach wenigen Monaten lassen sich bei diesen Systemen im
Bereich der Kompositfuge Defekte erkennen.
Rein lichtgehärtete Kompositinlays weisen eine geringere Konver-
sionsrate mit einem Restdoppelbindungsgehalt von 25 bis 40% auf. Hier
ist die Anbindung an das Befestigungskomposit besser.
Obwohl die Komposit-Einlagerestaurationen adhäsiv befestigt wer-
den, soll auch hier eine gute primäre Passgenauigkeit angestrebt wer-
den, da die Kompositfuge weniger abrasionsstabil ist als das Komposi-
tinlay bzw. der Zahnschmelz. Randimperfektionen, Randverfärbungen
und Plaqueanlagerungen können die Folge sein. Sowohl bei direkt als
auch bei indirekt hergestellten Kompositinlays zeigt sich eine große Va-
riationsbreite in der Passgenauigkeit (Zementspaltbreite zwischen 20
und 120 µm).
Vergütete Feinpartikelhybridkomposit-Einlagerestaurationen wei-
sen bei richtiger Indikation primär eine gute Abrasionsstabilität auf. Es
zeigte sich jedoch, dass mit zunehmender Tragedauer ein rascherer Sub-
stanzverlust zu beobachten ist als bei Amalgamfüllungen. Gleichzeitig
kommt es aufgrund des hohen thermischen Expansionskoeffizienten
von Komposit im Vergleich zu Zahnschmelz in relativ kurzer Zeit zu
Qualitätsverschlechterungen im Randbereich (Kompositfuge).
Kompositinlays sollten ausschließlich für Einzelzahnrestaurationen
verwendet werden, wenn die Okklusion ausreichend auf gesunder
Zahnhartsubstanz abgestützt ist. Für den Ersatz von tragenden Hö-
ckern sind Komposit-Einlagerestaurationen nicht geeignet.
7.3.4 Keramik-Einlagefüllungen
Die Indikation für Keramik-Einlagerestaurationen entspricht im Prinzip
der für Komposit-Einlagerestaurationen. Man kann jedoch aufgrund der
physikalischen Eigenschaften der Keramik die Indikation auch auf ok-
klusionstragende Overlays (Teilkronen) ausdehnen.
Die gebräuchlichen Keramiken und Glaskeramiken sind bezüglich
ihrer Härte, des Elastizitätsmoduls und des thermischen Expan-
sionskoeffizienten dem Zahnschmelz ähnlicher als Komposite.
Die Plaqueanlagerung ist im Vergleich zur natürlichen Zahnoberfläche
verringert und die ästhetischen Belange können mit Keramik-Einlage-
restaurationen besser berücksichtigt werden als mit Komposit-Einlage-
restaurationen.
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 309
Bei den in der Zahnerhaltung üblicherweise verwendeten Kerami-
ken lassen sich Sinterkeramik, gegossene und gepresste Glaskeramik un-
terscheiden.
Die üblichen Sinterkeramiken bestehen aus Quarz, Feldspat und Sinterkeramiken
Kaolin. Durch das Mischungsverhältnis und die Sintertemperatur (660–
980 °C) wird die Art des Endprodukts bestimmt (s. Lehrbücher der Werk-
stoffkunde). Beim Sintern bildet sich eine Glasmatrix, in die verschie-
dene Kristalle eingebettet sind. Wird der Kristallanteil durch Beimi-
schung von z.B. Aluminiumoxid erhöht, entstehen mechanisch opti-
mierte Dentalkeramiken mit verringerter Tendenz zur Rissbildung.
Nach Abformung der präparierten Kavität werden im Labor ein Herstellung
Meistermodell und ein Dupliermodell aus feuerfesten Stümpfen herge-
stellt. Die feuerfesten Stümpfe müssen eine hohe Kantenfestigkeit besit-
zen. Die thermische Expansion der Stumpfmassen muss auf die entspre-
chende Keramikmasse abgestimmt sein, um die Spannungsbildung in
der Keramik beim Brennen zu verringern. 7
Das Modell mit den feuerfesten Stümpfen kann in einem Artikula-
tor fixiert werden, sodass funktionelle Gesichtspunkte beim Aufbren-
nen berücksichtigt werden können. Die Keramik wird schichtweise auf-
getragen und gebrannt, um die Sinterschrumpfung zu minimieren.
Nach Fertigstellung wird die Stumpfmasse abgestrahlt und die Einlage-
restauration auf dem Meistermodell angepasst.
Laborgefertigte, gesinterte Keramikrestaurationen weisen eine gute
primäre Passung (Kompositfuge: 45–70 µm) auf. Es lässt sich eine indivi-
duell adaptierte Kaufläche bei guter bis sehr guter Farbgebung erreichen.
Hydroxylapatit- und Glaskeramik werden im Gussverfahren Hydroxylapatit-
(1350 °C) hergestellt. Im Labor aufgewachste Inlays werden in einem und Glaskeramik
Schleuderguss dabei in Glas überführt. Der durchsichtige, amorphe
Glaskörper wird anschließend durch eine Wärmebehandlung (über
1000 °C, 6 h) in einen halbkristallinen Zustand überführt (keramisiert).
Spezielle Verunreinigungen in Glas (z.B. Magnesiumfluorid) wirken da-
bei als Kristallisationskeime.
Bei der Glaskeramik liegen schließlich 55 Vol.-% in kristalliner Form
vor. Durch die Kristallstruktur werden Mikrorisse beim Belasten aufge-
fangen und pflanzen sich nicht in das Innere des Inlays fort. Die Frak-
turanfälligkeit nimmt somit ab.
Gegossene Glaskeramik sieht weißlich opak aus, kann jedoch durch
Keramikmalfarben individuell umgestaltet werden.
Das Abrasionsverhalten entspricht dem von Zahnschmelz.
Beim IPS-Empress-Verfahren wird eine vom Hersteller vorgefertigte IPS-Empress-
leucitverstärkte Glaskeramik (IPS Empress Estethic) verwendet. Auch Verfahren
hier erfolgt nach Wachsmodellation eine Überführung in Keramik. Da-
bei werden die vorgefertigten Rohlinge bei 1050–1180 °C und einem
Druck von 5 bar in eine Hohlform gepresst.
Anschließend können Farbgebung und Glasur erfolgen. Auch diese
Inlays zeichnen sich durch ein schmelzähnliches Abrasionsverhalten
310 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
und gute werkstoffkundliche Parameter aus. Die primäre Passgenauig-
keit liegt im Bereich von gegossenen Metallrestaurationen. Die Weiter-
entwicklung des Verfahrens führte zu Lithium-Disilikat-Keramiken
mit einer hohen Kristalldichte, mit denen auch dünne Veneers (Dicke
< 0,3 mm) und kleinere Inlays (Dicke: 1 mm) hergestellt werden kön-
nen.
Neben diesen formgebenden Verfahren gibt es Herstellungsverfah-
ren, bei denen der Inlaykörper aus einem bereits vorgefertigten Kerami-
krohling durch Abtrag hergestellt wird.
CEREC-Verfahren So wird beim CEREC-Verfahren (CAD-CAM-Verfahren) in semidirek-
ter Technik ein Inlay hergestellt. Die präparierten Kavitäten werden
nach Auftragen eines weißen Puders mit einer speziellen Videokamera
optisch „abgeformt“. Bei der neusten Weiterentwicklung des CEREC-
Verfahrens ist diese Maßnahme nicht mehr erforderlich.
Durch Aufnahme und Transformation der Profildaten nach dem
Prinzip der aktiven Triangulation (Verzerrung eines auf den Zahn pro-
jizierten Streifenmusters) entsteht ein dreidimensionales Videostand-
bild der Präparation auf einem Computermonitor. Die Software des
CEREC-III-Verfahrens schlägt dann Grenz- und Rahmenrichtlinien (Prä-
parationsgrenze, Äquator, Randleiste, Fissur) vor. Diese Konstruktions-
elemente können anschließend individuell verändert werden. Mit dem
CEREC-III-Verfahren ist es zudem möglich, eine virtuelle Kaufläche zu
gestalten und im Modus „Antagonist“ auch die statische und dynami-
sche Okklusion mit einzubeziehen. Das entsprechende Inlay wird dann
automatisch von einem Computer berechnet und anschließend werden
die Konstruktionsdaten an eine mikroprozessorgesteuerte Schleifma-
schine weitergeleitet. Aus Vollkeramikblöcken (Feldspatkeramik, leuzit-
verstärkte oder Lithium-Disilikat-Keramik) wird dann anschließend die
am Monitor konstruierte Restauration in einer Schleifeinheit herausge-
arbeitet. Die okklusale Feinjustierung erfolgt erst nach dem Einsetzen
durch den Zahnarzt mit Diamantschleifern. Mit dem CEREC-III-Gerät
lassen sich heute hochwertige keramische Restaurationen erstellen, die
über eine lange Lebensdauer verfügen.
Es gibt weitere CAD/CAM-Systeme zur Herstellung von Keramikres-
taurationen, auf die aber hier nicht näher eingegangen werden soll.
7.3.5 Provisorische Versorgung der Kavität
Wie bei gegossenen Metallrestaurationen muss auch bei zahnfarbenen
Einlagerestaurationen eine mundbeständige, provisorische Versorgung
der Kavität erfolgen. Auch hier wird vorher über den unpräparierten
Zahn eine Vorabformung mit Silikon hergestellt (alternativ Tiefzieh-
schiene von einem Planungsmodell).
Aus selbsthärtendem Acrylharz (z.B. Protemp) kann dann ein provi-
sorisches Inlay hergestellt werden, indem die Abformung im Bereich des
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 311
präparierten Zahnes mit der angerührten, noch weichen Masse gefüllt
und in den Mund zurückgesetzt wird. Wenn das Material eine gummi-
elastische Konsistenz erreicht, wird es entfernt, mit einer Schere ge-
trimmt und anschließend in die Kavität zurückgesetzt.
Eine Nachhärtung im heißen Wasserbad verbessert die werkstoff-
kundlichen Eigenschaften. Anhand des Provisoriums kann auch ermit-
telt werden, ob eine genügende Kavitätentiefe und -breite präpariert
wurde. Das Provisorium wird mit einem eugenolfreien Zement oder ei-
nem selbsthärtenden Kalziumhydroxidpräparat in der Kavität befes-
tigt.
Eugenolhaltige Zemente sollten nicht verwendet werden, da später
beim Einsetzen der zahnfarbenen Einlagerestauration die Polymeri-
sation des lichthärtenden Befestigungskomposits durch verbliebene
Eugenolreste behindert würde.
7
Als Alternative werden weich bleibende, lichthärtende Kunststoffe an-
geboten, die direkt in die Kavität eingebracht und ausgehärtet werden.
Ein Zementieren ist dabei nicht nötig. Diese Materialien eignen sich al-
lerdings nicht für die Herstellung von Langzeitprovisorien, da sie rasch
bakteriell besiedelt werden und nicht dicht sind.
7.3.6 Anprobe und Eingliederung
Die Anprobe zahnfarbener Einlagerestaurationen erfolgt nach Entfer-
nen des Provisoriums und Reinigung der Kavität. Dabei müssen alle Ze-
mentreste vollständig entfernt werden. Für diesen Arbeitsschritt wird
z.B. die Anwendung eines Pulverstrahlgerätes (z.B. Rondoflex) empfoh-
len.
Zunächst wird die Überprüfung der Passgenauigkeit eines Kompo- Kontrollen
sit- bzw. Keramikinlays vorgenommen. Dabei lässt sich eine bessere
Farbkontrolle durchführen, da die Zähne nicht ausgetrocknet sind und
ihre Ursprungsfarbe besitzen. Die Einlagerestauration muss ohne Druck
vorsichtig in die Kavität eingebracht werden. Zur besseren Handhabung
kann okklusal eine Abnehmhilfe aus lichthärtendem Kunststoff aufge-
bracht sein. Es gibt jedoch auch spezielle plane Instrumente, an denen
eine doppelseitige Klebefolie angebracht ist, an die das Inlay angeklebt
werden kann (Accu-Placer). Aber auch mit Klebewachs oder plastischen
provisorischen Kunststoffen können Keramikrestaurationen an einem
Kugel- oder Planstopfer befestigt werden.
Neben der Passgenauigkeit (Silikonprobe) werden die Approximal-
kontakte überprüft. Falls notwendig, kann an der Innenfläche und an
den Approximalflächen mit einem feinkörnigen Finierdiamanten (z.B.
Composhape) entsprechend eingeschliffen werden. Beschliffene Appro-
ximalflächen müssen anschließend mit einem speziellen Keramikpolie-
312 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
rer oder mit flexiblen Schleifscheiben (z.B. Sof-Lex-Polierscheiben) po-
liert werden, um einer Plaqueanlagerung vorzubeugen.
Die Randdichtigkeit wird mit einer spitzen Sonde kontrolliert. Da-
bei muss die Kontur zwischen Inlay und Zahn übergangslos sein.
Eine Okklusionskontrolle darf zu diesem Zeitpunkt nicht durchge-
führt werden, da bei zu starken Okklusionskontakten oder Vorkontak-
ten die zahnfarbene Einlagerestauration frakturieren kann.
Anschließend wird Kofferdam gelegt und werden die zu versorgen-
den Zähne mit einer möglichst fluoridfreien Polierpaste gereinigt und
erneut gesäubert.
Absolute Trockenlegung mit Kofferdam ist beim adhäsivem Einset-
zen zahnfarbener Einlagerestaurationen empfehlenswert.
Auch wenn es kleine Unterschiede beim Einkleben der Komposit- und
Keramik-Einlagerestaurationen gibt, ist die Technik prinzipiell ähnlich
und wird hier vereinfacht gemeinsam dargestellt.
Sowohl Keramik- als auch Komposit-Einlagerestaurationen werden
an der Innenseite vorbehandelt, um eine bessere Verbundfestigkeit zum
Befestigungskomposit zu erzielen. Komposit-Einlagerestaurationen wer-
den dazu sandgestrahlt bzw. mit einem Diamantfinierer aufgeraut.
Ätzvorgang Keramik-Einlagerestaurationen werden mit einer speziellen Säure
angeätzt und anschließend silanisiert. Diese Arbeitsschritte dürfen erst
nach der Anprobe erfolgen. Sie sollten vom Zahnarzt selbst durchge-
führt werden und nicht vom Zahntechniker, um dem Patienten eine
weitere Sitzung zu ersparen. Als Ätzmittel wird i.d.R. Flusssäure (5%)
verwendet. Für die einzelnen Keramiken werden von den Herstellern
verschiedene Ätzzeiten angegeben. Für Leuzit-Glaskeramik (IPS Empress
Esthetic) wird 1 min Ätzzeit, für Lithium-Disilikat-Glaskeramik 20 Se-
kunden Ätzzeit empfohlen. Bei Sinterkeramiken wird eine Zeit von
2 min bei Ätzung mit Flusssäure angegeben.
Eine Benetzung der äußeren Keramikoberfläche beim Ätzen ist zu
vermeiden. Nach Absprühen des Ätzmittels (mindestens 1 min) wird
das Inlay gründlich getrocknet. Dabei kann die Benetzung mit 96%igem
Alkohol hilfreich sein. Eine Kontamination anderer Keramikflächen
(z.B. Waschbecken) mit Ätzgel ist zu vermeiden. Die Ätzung kann mit ei-
nem thixotropen Gel gezielter erfolgen als mit einer Flüssigkeit, da es
nach Auftragen nicht verläuft. Der Ätzvorgang sollte immer getrennt
von anderen Maßnahmen am Patienten erfolgen, da das Ätzgel hochgif-
tig ist. Das Tragen einer Schutzbrille ist ratsam.
Durch den Ätzvorgang entsteht ein retentives Ätzmuster an der
Unterseite der Keramik-Einlagerestauration bei gleichzeitig erhöhter Be-
netzbarkeit. Die Unterfläche darf anschließend nicht kontaminiert wer-
den. Da zwischen Keramik und Kompositkleber keine chemische Ver-
bindung entsteht, wird das angeätzte Keramikinlay mit einem „Haftsi-
lan“ beschickt. Auch hier gibt es zahlreiche Präparate, wobei den
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 313
Ein-Komponenten-Materialien wegen der einfachen Handhabung der
Vorzug gegeben wird.
Silan geht sowohl mit dem Keramikinlay (hydrophiler Anteil) als Silanisierung
auch mit dem Kompositkleber (hydrophober Anteil) eine Bindung ein.
Die Silanflüssigkeit wird mit einem Einmalpinsel auf die Unterfläche
des Inlays aufgetragen, verblasen und anschließend über einen Zeit-
raum von 3–5 min am besten in einem Wärmeschrank getrocknet.
Eine Kontamination der nunmehr hoch reaktiven Oberfläche, z.B.
mit Speichel, ist unbedingt zu vermeiden. Flüssigkeitskontamina-
tion führt zu hydrolytischer Spaltung des Verbundes zwischen Silan
und Keramik.
Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass durch die Silanisierung der
Verbund zwischen Befestigungskomposit und Keramik-Einlagerestaura-
tion deutlich verbessert wird. 7
Auch Komposit-Einlagerestaurationen können vor dem Einsetzen
noch einmal mit Alkohol entfettet werden. Von einigen Herstellern
wird auch die Ätzung der aufgerauten Unterfläche mit Phosphorsäure
zur Verbesserung der Benetzbarkeit empfohlen.
Nach der Vorbereitung der Einlagerestauration werden der Zahn- Konditionierung
schmelz und das Dentin konditioniert (s. Kap. 6.1.4 Dentinhaftvermitt- von Schmelz und
ler) und ein entsprechendes Adhäsivsystem aufgetragen. Dabei werden Dentin
die Nachbarzähne mit einer verkeilten Matrize geschützt. Das Adhäsiv-
system richtet sich nach dem zur adhäsiven Befestigung gewählten
Komposit. Wird ein Adhäsivsystem verwendet, das nach Aushärten zu
einer erhöhten Schichtstärke führen würde, so sollte vor dem Einbrin-
gen des Kompositklebers diese Schicht nicht ausgehärtet werden, da
sonst die Einlagefüllung nicht passt.
Anschließend erfolgt die eigentliche Befestigung der Einlagerestau- Befestigung
ration in der Kavität. Sie kann mit unterschiedlichen Befestigungskom-
positen (Kompositklebern) erfolgen. Es gibt niedrig visköse und mittel
bzw. hoch visköse Mikrofüller- bzw. Feinpartikelhybridkomposite.
Wichtig ist, dass eine vollständige Aushärtung des Befestigungskompo-
sits gewährleistet ist.
Für die adhäsive Befestigung von Keramikrestaurationen werden Befestigungs-
dualhärtende (chemisch und lichthärtend) und rein lichthärtende komposite
Komposite angeboten (Tab. 7.2). Bei Keramikinlays, deren Schicht-
stärke 2–3 mm nicht überschreitet, können fotopolymerisierende
Komposite verwendet werden, bei dunkler Zahnfarbe bzw. größeren
Schichtdicken empfiehlt es sich nach wie vor, Kompositkleber zu ver-
wenden, die nach Fixierung des Inlays durch Lichtpolymerisation eine
lichtunabhängige chemische Umsetzung der Monomerbestandteile
auch in tieferen Kavitätenabschnitten garantieren.
Auch bei dualhärtenden Befestigungszementen ist allerdings eine
ausreichende Lichtzufuhr erforderlich, um eine genügende Polymerisa-
314 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
Tab. 7.2: Beispiele unterschiedlicher Kompositzemente zum Einsetzen für Ke-
ramikinlays
Adhäsiv Zement Produktbeispiel
Etch-and-rinse-Adhäsiv dualhärtend Syntac classic/Variolink
Selbstätzendes/ chemisch härtend Multilink Primer A + B/
selbstkonditionierendes Multilink Automix
Adhäsiv selbstadhäsiv, dualhärtend Rely X
tion zu erreichen. Die rein chemische Abbindereaktion bei den dualhär-
tenden Zementen ist häufig mit einer geringeren Konversionsrate ver-
bunden als die reine Lichtpolymerisation. Die chemische Aushärtung
kann zudem nur dann erfolgen, wenn durch die Lichtpolymerisation
nicht bereits eine zu hohe Vernetzung des Materials erzielt wurde.
Es gibt heute selbstadhäsive duale Befestigungssysteme, bei denen
die Zahnhartsubstanzen nicht konditioniert werden müssen. Sie wer-
den nach Reinigung der Kavität entweder auf die Unterseite der vorbe-
reiteten Keramikrestauration oder in die Kavität eingebracht und dann
anschließend mit Lichtpolymerisation gehärtet. Zusätzlich kommt es zu
einer chemischen Polymerisationsreaktion. Die Schmelzhaftung dieser
Materialien ist allerdings schlechter als nach Konditionierung mit Phos-
phorsäure. Ein Anätzen des Zahnschmelzes mit Phosphorsäure verbes-
sert die Haftung dieser Zemente am Schmelz. Zudem werden Randver-
färbungen beschrieben, die wahrscheinlich auf den Anteil hydrophiler
Monomere im Material zurückzuführen sind.
Feinpartikelhybridkomposite besitzen bessere physikalische Eigen-
schaften und sind daher zum Befestigen von Keramikrestaurationen
sehr gut geeignet. Bei einer sehr guten primären Passung führen je-
doch niedrig visköse Kompositkleber zu besseren Ergebnissen, da die
Schichtdicke und damit die Kompositfuge gering gehalten werden
kann. Auf die Anwendung von Matrizen beim Einsetzen kann bei rich-
tiger und rascher Arbeitsweise verzichtet werden.
Befestigungskomposite gibt es in verschiedenen Farben. Bei guter
primärer Passung spielt jedoch die Farbauswahl der Kompositkleber
eine untergeordnete Rolle. Interessant sind Befestigungskomposite, bei
denen es nach dem Aushärten zu einem Farbumschlag kommt.
Das jeweilige Komposit wird auf der Unterseite der Einlagefüllung
bzw. in die Kavität eingebracht. Es gibt adhäsive Befestigungssysteme,
bei denen das Adhäsiv die Polymerisation des Kompositzements nach
dem Kontakt beim Einsetzen initiiert. Bei Anwendung dieser Systeme
sollte der Kompositzement immer auf die Unterseite der Restauration
und nicht in die Kavität appliziert werden, um ein vorzeitiges Aushärten
während der Einsetzphase zu vermeiden. Die Einlagerestauration wird
mit vorsichtigem Druck in Position gebracht und mit einem Kugelstop-
fer festgehalten. Während des Eingliederns sollte die OP-Leuchte nicht
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 315
auf die Restauration gerichtet sein, um eine vorzeitige Polymerisation
des Befestigungskomposits zu vermeiden.
Bei der Verwendung mittel visköser Kompositkleber werden Über-
schüsse mit Heidemann-Spatel, Scaler, Sonde, Zahnseide oder Schaum-
stoffpellet entfernt. Dabei ist darauf zu achten, dass kein Material aus
der Fuge gezogen wird.
Bei niedrig viskösen Kompositklebern ist die Überschussentfernung
im Approximalraum mit Zahnseide schwierig. Dabei wird das Material
oft verschmiert.
Um eine Sauerstoffinhibition während der Polymerisation zu ver-
meiden, wird die Kompositfuge mit einem Glyzeringel bedeckt, und es
erfolgt anschließend die Lichthärtung von okklusal und von approxi-
mal für jeweils 40–60 s.
Hoch visköse (hoch gefüllte) Kompositkleber lassen sich mit einer
speziellen Technik ebenfalls zum Einsetzen von zahnfarbenen Einlage-
restaurationen verwenden. Dabei wird das Komposit nach Anmischen 7
mit einem Heidemann-Spatel appliziert, das Inlay eingebracht und mit
einem Ultraschallgerät mit kunststoffbeschichtetem Arbeitsende in die
endgültige Position gebracht. Das primär starre Komposit wird durch
die Ultraschallschwingung niedrig viskös und erlaubt damit eine Posi-
tionierung der Einlagerestauration. Bei dieser Technik lassen sich Über-
schüsse vor dem Aushärten sehr gut entfernen, sodass sich eine weitere
Ausarbeitung auf wenige Arbeitsschritte reduzieren lässt.
Die Ausarbeitung und die Beseitigung von okklusalen Interferenzen Ausarbeitung
erfolgen mit fein- und feinstkörnigen Diamantfinierern. Dabei ist auf
die Beseitigung überschüssiger Kompositfahnen besonderes Augenmerk
zu richten. Speziell im Approximalbereich können diese zu Gingivare-
aktionen Anlass geben. Die approximalen Randbereiche können mit
diamantbelegten Feilen (Proxoshape) feinster Körnung ausgearbeitet
werden. Mit den aus der Frontzahnfüllungstechnik bekannten Finier-
und Polierstreifen kann anschließend eine Politur in diesem Bereich er-
folgen. Für die Politur frei zugänglicher Kavitätenabschnitte stehen alu-
miniumoxidbeschichtete Scheiben (Sof-Lex) verschiedener Körnung
und Silikonpolierer zur Verfügung. Eine abschließende Politur kann mit
Hochglanzpolierpaste (Diamantpaste) erfolgen.
Bei Anwendung des CEREC-Systems wird mit Diamantschleifern
die Kaufläche erst im Mund des Patienten und nach dem Einsetzen ge-
staltet, anschließend ausgearbeitet und poliert.
Nach Fertigstellung der Einlagerestaurationen werden die entspre-
chenden Zähne mit einem Fluoridlack oder -gel lokal fluoridiert.
Mithilfe der Adhäsivtechnik können in ähnlicher Art und Weise Ke-
ramik-Verblendschalen (Veneers) zur kosmetischen Korrektur im Front-
zahnbereich eingesetzt werden.
316 7 Restaurationen mit Einlagefüllungen
7.3.7 Kritische Wertung
Der Einsatz zahnfarbener Einlagerestaurationen ist auf Patienten
mit guter Mundhygiene, geringer Kariesanfälligkeit und guter Com-
pliance begrenzt.
Die Patienten müssen zudem bereit sein, den Mehraufwand und damit
die Mehrkosten einer solchen Behandlung zu tragen.
Die Bedingungen der bisher durchgeführten klinischen Langzeitun-
tersuchungen zu Keramikinlays lassen sich häufig nicht auf die Praxis-
situation übertragen. Sie wurden von hoch qualifizierten Spezialisten
durchgeführt, die bei der Anfertigung der Restaurationen unbegrenzt
Zeit hatten. Die Untersuchungen fanden ohne wirtschaftliche und zeit-
liche Begrenzung an einem selektiven Patientengut statt.
Aus diesen Untersuchungen lässt sich jedoch ableiten, dass bei ge-
eigneter Indikationsstellung die Prognose von zahnfarbenen Einlagefül-
lungen gut sein dürfte und bei Beachtung der angegebenen Indikation
und der notwendigen Sorgfalt bei der Insertion sogar die Lebensdauer
anderer Restaurationen übertreffen kann (Tab. 7.3).
Keramik- und Komposit-Einlagerestaurationen sind eine Alterna-
tive zu gegossenen Restaurationen, keinesfalls jedoch als Amalgam-
ersatz zu betrachten.
Will man Amalgam mit einem anderen Restaurationsmaterial ersetzen,
muss bei gleicher Behandlungsdauer und bei gleichen Kosten eine Res-
Tab. 7.3: Jährliche Versagensrate (Medianwert in %) von unterschiedlichen
Restaurationen aus Longitudinal- und Querschnittsstudien (nach Hickel und
Manhart 2002)
Restaurationstyp Jährliche Versagensrate (%)
Alle Alle Longitu- Quer-
Studien Studien dinal- schnitts-
(Bereich) (Median- studien studien
werte) (Median- (Median-
werte) werte)
Amalgamrestaurationen 0–7,0 3,3 1,1 3,7
Direkte Kompositrestauration 0–9,0 2,2 2,1 3,3
Glasionomerzementrestauration 1,4–14,4 7,7 7,7 –
Komposit-Inlays und -Onlays 0–11,8 2,0 2,3 0,6
Keramik-Inlays und -Onlays 0–7,5 1,6 1,3 3,2
CAD/CAM-Inlays und -Onlays 0–4,4 1,1 1,1 –
Goldguss-Inlays und -Onlays 0–5,9 1,2 1,0 1,3
7.3 Restaurationen mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen Kapitel 7 317
tauration gleicher Güte resultieren. Dies ist beim Einsatz zahnfarbener
Einlagerestaurationen nicht der Fall.
Zu den positiven Eigenschaften gehören: Vorteile
D schmelzähnliche Abrasion von Keramikrestaurationen
D Fehlen von Korrosion und Galvanismus
D geringe Löslichkeit der Werkstoffe
D ästhetische Kompatibilität
D geringe thermische Leitfähigkeit
Demgegenüber sind zahlreiche Aspekte des Einsatzes von zahnfarbenen Fragliche Aspekte
Einlagerestaurationen nicht geklärt:
D Biokompatibilität der Einzelkomponenten des adhäsiven Systems
D lang andauernde Randdichtigkeit
D Dentinadhäsion
D vollständige Entfernung überschüssigen Kompositmaterials, speziell
im Approximalraum 7
D Hydrolyseanfälligkeit der Silanverbindungen
D Anschrägen des Kavitätenrandbereichs vor dem Anätzen. Während
einerseits die bessere Anätzbarkeit der Schmelzprismen nach An-
schrägung nicht geleugnet werden kann, resultiert andererseits eine
breite Kompositfuge mit den bekannten Problemen. Bei Keramikres-
taurationen wird dabei meist der Verbund zwischen Zahnschmelz
und Kompositfuge zerstört, da sie den Kaudruck auf die Fuge über-
tragen. Bei Komposit-Einlagerestaurationen resultieren Randdefekte
eher zwischen Restauration und Befestigungskomposit.
Diese Problembereiche bedürfen weiterer wissenschaftlicher Klärung.
Eine eingeschränkte Indikation liegt vor: Eingeschränkte
D wenn keine adäquate Trockenlegung möglich ist Indikation
D wenn der zervikale Rand unzugänglich ist.
Ein Ausweg könnten hier konventionell zementierbare, hochfeste Ke-
ramiken sein. Diese finden jedoch bei der Herstellung von Keramikin-
lays und -teilkronen bisher noch selten Anwendung.
II Endodontologie
Kapitel 8 321
8 Einleitung
! Die Endodontologie beschäftigt sich mit Form und Funktion des
Endodonts und der Ätiologie, Epidemiologie, Pathologie, Präven-
tion, Diagnose und Behandlung von Erkrankungen des Endo-
donts.
Da Zahnpulpa und umgebendes Dentin entwicklungsgeschichtlich eine
anatomisch-funktionelle Einheit bilden, wird der Begriff Endodont für
diese gesamte Einheit verwendet.
Vom klinisch-praktischen Standpunkt aus steht neben Ätiologie und
Diagnose von Zahnschmerzen die Behandlung der erkrankten Pulpa im 8
Vordergrund. Da besonders die Wurzelkanalaufbereitung und Wurzel-
kanalfüllung hohe Ansprüche an die manuelle Geschicklichkeit stellen,
soll hierauf besonders ausführlich eingegangen werden.
Das Endodont steht über das Foramen apicale der Wurzelspitze und
auch über akzessorische Wurzelkanäle mit dem Parodontium in Verbin-
dung. Erkrankungen der Pulpa greifen deshalb häufig, besonders im Be-
reich des Periapex, auf das Parodontium über. Aus diesem Grund befasst
sich die Endodontologie auch mit der Ätiologie und Behandlung von
Erkrankungen der periapikalen Region.
Ziele jeder endodontischen Behandlung sind die Erhaltung des er-
krankten Zahnes und die dauerhafte Verhütung von schädlichen Aus-
wirkungen auf den Gesamtorganismus, die von einem erkrankten Zahn
ausgehen könnten.
Zu den endodontischen Behandlungsmaßnahmen zählen auch
die postendodontischen Maßnahmen, die hier kurz beschrieben wer-
den, und die endochirurgischen Maßnahmen, die nicht Gegenstand
dieses Buches sind.
In der zahnärztlichen Praxis gewinnt nicht nur die Gesunderhaltung
der Zähne, sondern auch der Erhalt erkrankter Zähne durch Wurzelka-
nalbehandlungen immer mehr an Bedeutung. Den KZBV-Jahrbüchern
lässt sich entnehmen, dass in den alten Bundesländern die Anzahl von
Wurzelkanalbehandlungen bzw. Wurzelkanalfüllungen im Zeitraum
von 1970–2008 von 3,2 auf 6,4 Mio. zugenommen hat. Im gleichen
Zeitraum ging die Anzahl der Extraktionen von 17,2 auf 11,1 Mio. zu-
rück.
Die Prävalenz wurzelkanalbehandelter Zähne dürfte in Deutsch-
land momentan bei etwa 4–5% liegen. Mit höherem Alter steigt die Prä-
valenz und in Studien aus der Schweiz und Schweden wurde für ent-
322 8 Einleitung
sprechende Altersgruppen eine Prävalenz von 10–20% wurzelkanalbe-
handelter Zähne berichtet. Bei Berücksichtigung des demografischen
Wandels zu einer alternden Gesellschaft ist dies ein Hinweis darauf, dass
in Deutschland zukünftig noch mit einem weiteren Zuwachs von Wur-
zelkanalbehandlungen zu rechnen ist.
Langzeiterfolge für Wurzelkanalbehandlungen werden in der inter-
nationalen Literatur mit etwa 70–95% angegeben. Aufgrund unter-
schiedlicher Studiendesigns sind die meisten Studien mit Angaben zur
Erfolgsquote endodontischer Behandlungen nur schwer miteinander
vergleichbar. Bei der Mehrzahl der Studien handelt es sich um Fallkon-
trollstudien mit Beobachtungszeiten zwischen 1 und 5 Jahren und eher
niedrigem Evidenzniveau. Die Erfolgsraten liegen mit 85–95% am
höchsten, wenn Wurzelkanalbehandlungen bei Zähnen mit irreversib-
ler Pulpitis oder Pulpanekrose ohne assoziierte periapikale Läsion durch-
geführt werden. Über die niedrigsten Erfolgsraten wird nach Revisionen
wurzelkanalbehandelter Zähne mit infiziertem Endodont und assoziier-
ter periapikaler Läsion berichtet. Das Alter der Patienten, der Zahntyp
und die Zahl der Wurzelkanäle spielen per se bei der Prognose keine
Rolle. Ein signifikanter Einfluss spezieller Behandlungstechniken oder
neuer Materialien auf die klinische Erfolgsquote konnte bisher nicht
nachgewiesen werden.
Obwohl dies insgesamt bisher nicht schlüssig bewiesen worden ist,
geht man doch davon aus, dass technische Merkmale der Wurzelkanal-
füllung wie Homogenität, Wandständigkeit, Überfüllung, Unterfüllung
sowie die Qualität der postendodontischen Versorgung die Prognose be-
einflussen. So konnte in einer jüngeren Metaanalyse eine um 29% nied-
rigere Erfolgsquote bei Überfüllung im Vergleich zu 0–1 mm über dem
radiologischen Apex endenden Wurzelkanalfüllungen nachgewiesen
werden. In Untersuchungen aus Deutschland wurde die technische
Qualität von Wurzelkanalfüllungen nahezu übereinstimmend zu 60%
als unzureichend bewertet. In Querschnittsstudien aus verschiedenen
Ländern in den Jahren von 1986–2003 variierte der Prozentsatz tech-
nisch zufriedenstellender Wurzelkanalfüllungen zwischen 14 und 58%.
Dies verdeutlicht letztlich, wie wichtig es ist, die technisch korrekte
Durchführung einer Wurzelkanalbehandlung im Studium zu erlernen.
Darüber hinaus müssen aber sicherlich die erlernten Grundfähigkeiten
im Lauf der Praxistätigkeit erweitert und vertieft werden.
Kapitel 9 323
9 Strukturen der Pulpa und des umgebenden
Gewebes
9.1 Topografie der Pulpa
Der Weichgewebekern eines Zahnes wird als Zahnpulpa oder Zahn-
mark bezeichnet und besteht aus gut vaskularisiertem und innerviertem
Bindegewebe.
Der Raum, den das Pulpagewebe ausfüllt, wird Pulpakammer ge-
nannt. Topografisch kann man Kronenkavum und Wurzelkanäle und
entsprechend Kronenpulpa und Wurzelpulpa unterscheiden. Die Pul-
pakammer ist von Dentin umgeben und ihre Ausdehnung entspricht in
verkleinerter Form dem jeweiligen Zahnumriss.
Die Kronenpulpa hat inzisale bzw. okklusale Ausweitungen, die als
Pulpahörner bezeichnet werden und von ihrer Form den Kauflächen- 9
höckern entsprechen. Die Dentinschicht, die das Kronenkavum be-
deckt, wird als Pulpadach bezeichnet.
Das Pulpagewebe kommuniziert durch das Foramen apicale, die Sei-
tenkanäle, akzessorische Kanäle und Pulpaperiodontalkanäle mit
dem Parodontium (Abb. 9.1). Aufgrund seiner Lage kann die Pulpa vom
praktisch-klinischen Standpunkt als Endorgan ohne kollaterale Zirkula-
tion bezeichnet werden.
Pulpa und Dentin bilden zusammen eine strukturell-funktionelle
Einheit, die zumeist als Pulpa-Dentin-Einheit oder Pulpa-Dentin-Sys-
tem bezeichnet wird.
Abb. 9.1: Nomenklatur und
Topografie des Endodonts Pulpa-
kammer-
dach
Pulpa-
horn
Pulpa-
kammer
Kronen- Pulpa-
pulpa kammer-
boden
Pulpa-
periodontal-
Wurzel- kanal
pulpa Seiten-
kanal
apikales
Delta
Foramen
apicale
324 9 Strukturen der Pulpa und des umgebenden Gewebes
9.2 Grundsubstanz, Bindegewebe und Zellen der Pulpa
Grundsubstanz Die Grundsubstanz der Pulpa hat eine gelartige Konsistenz und dient als
Matrix, in die Zellen, Fasern und Blutgefäße eingebettet sind. Sie enthält
neben anderen molekularen Komponenten in der Hauptsache Glykos-
aminoglykane bzw. Proteoglykane.
Bindegewebe In der ganzen Pulpa verteilt finden sich Kollagenfasern, die ein
Netzwerk bilden. Elastische Fasern finden sich nur in den Wänden grö-
ßerer Blutgefäße.
Zellen Die charakteristischen Zellen der Pulpa sind die Odontoblasten, ne-
ben denen sich in verschieden großer Anzahl Fibroblasten, Ersatzzellen
und Abwehrzellen finden lassen.
Die dentinbildenden Odontoblasten bedecken dicht gepackt das
Prädentin. Während sich die Zellkörper im Bereich der Kronenpulpa
säulenförmig mit basal liegendem Kern darstellen, ändert sich die Form
im mittleren und apikalen Wurzelabschnitt zu kubischer und flach-
länglicher Form.
Zum Prädentin hin scheinen die Zellwände verdickt und ohne Un-
terbrechung von Zelle zu Zelle zu sein. Diese mikroskopische Struktur
entspricht aber nicht einer echten Membran, sondern ist nur Ausdruck
der dichten Packung und Verschachtelung der Odontoblasten. Obwohl
die Zellen im histologischen Bild als übereinander geschichtet erschei-
nen, besitzt doch jede Zelle einen Zytoplasmafortsatz (Odontoblasten-
fortsatz), der in die Dentinkanälchen hereinragt und sich bis zur Peri-
pherie des Dentinmantels erstreckt.
Die Fibroblasten sind der häufigste Zelltyp der Pulpa und sind für
die Produktion der Grundsubstanz und der Kollagenfasern verantwort-
lich. Ihre Form ist flach und spindelartig und sie sind nahezu gleichmä-
ßig über das gesamte Pulpagewebe verteilt.
Als Ersatzzellen werden undifferenzierte Mesenchymzellen bezeich-
net. Diese Zellen werden für multipotenziell gehalten. Nach entsprechen-
der Stimulation sollen sich ihre Tochterzellen zu jedem in der Pulpa vor-
kommenden Zelltyp, auch Odontoblasten, entwickeln können. Besondere
Beachtung finden in letzter Zeit die aus der Gruppe der undifferenzierten
Mesenchymzellen stammenden pulpalen Stammzellen (dental pulp stem
cells). Aus ihnen können sich Zellen entwickeln, die auf Markerproteine
reagieren, die auch in Endothelzellen, Myozyten, Osteozyten, Chondrozy-
ten, neuronalen Zellen und epithelialen Stammzellen gefunden werden.
Neben den genannten, häufig vorkommenden Zelltypen finden sich
in der Pulpa stets Zellen wie Makrophagen, dendritische Zellen, Granu-
lozyten sowie T- und B-Lymphozyten, die dem Abwehrsystem zuzurech-
nen sind. Die Abwehrreaktion der Pulpa wird bei jedem Kontakt mit
fremden Antigenen aktiviert. Sie setzt sich wie die allgemeine immuno-
logische Abwehrreaktion aus der zellulären und der humoralen Abwehr
zusammen. Zu der spezifischen zellulären Abwehr gehören T- und B-
Lymphozyten, während an der unspezifischen zellulären Abwehr Ma-
9.3 Gewebezonen der Pulpa Kapitel 9 325
krophagen, dendritische Zellen sowie eosinophile und basophile Gra-
nulozyten beteiligt sind. Die spezifische humorale Abwehr umfasst die
Produktion spezifischer Antikörper durch Plasmazellen, welche sich
nach Antigenkontakt aus B-Lymphozyten differenzieren. Die unspezifi-
sche humorale Abwehr besteht aus dem kaskadenartigen Enzymkom-
plex des Komplementsystems.
9.3 Gewebezonen der Pulpa
! Das Pulpagewebe ist nicht einheitlich strukturiert, sondern zeigt
besonders im Bereich der Kronenpulpa einen schichtartigen Auf-
bau (Abb. 9.2).
Ein Bindegewebestrang, in dem zentral Blutgefäße und Nervenfasern
verlaufen, wird von einer Zone umgeben, die reich an undifferenzierten
Zellen und Fibroblasten ist. Diese Zone wird als kernreiche oder bipolare
Zone bezeichnet. Hier finden sich auch starke Verzweigungen des zen-
tralen Nervenbündels, die als Raschkow-Plexus bezeichnet werden.
Zur Pulpaperipherie hin schließt sich die kernarme oder Weil-Zone 9
an. Diese Zone ist zwar auffallend zellarm, enthält aber doch zytoplas-
matische Fortsätze der Fibroblasten der kernreichen Zone und auch
Endäste der Nervenfasern.
Zwischen der Weil-Zone und dem Prädentin befindet sich die Odon-
toblastenschicht.
Abb. 9.2: Schematische Dar-
stellung der Gewebezonen
der Pulpa (nach Avery 1973) Dentin
Prädentin
Odonto-
blasten
Weil-
Zone
bipolare
Zone
Rasch-
kow-
Nerven-
plexus
326 9 Strukturen der Pulpa und des umgebenden Gewebes
9.4 Funktionen der Pulpa
! Das Pulpagewebe führt die vier Basisfunktionen aller lockeren
Bindegewebe aus:
D formative Funktion
D nutritive Funktion
D sensorische Funktion
D defensive Funktion
Formative Die formativen Funktionen bestehen typischerweise aus der Bildung
Funktionen von Dentin durch die Odontoblasten. Odontoblasten synthetisieren ne-
ben Typ-I- und Typ-III-Kollagen auch nicht kollagene Bausteine der or-
ganischen Dentinmatrix wie Proteoglykane, Glykosaminoglykane, Gly-
koproteine, Phosphoproteine und Osteokalzin. Als physiologisch anzu-
sehen sind die Bildung von Primärdentin (Orthodentin) und die
alterungsbedingte Sekundärdentinbildung, die während des gesamten
Zahnlebens erfolgt. Durch die Sekundärdentinbildung kommt es zu ei-
ner zunehmenden Verkleinerung der Pulpakammer und damit auch des
Wurzelkanallumens.
Die Bildung von Tertiärdentin (Reizdentin) gehört zu den defensi-
ven Funktionen.
Nutritive Die nutritive Funktion wird durch das Gefäßsystem und seine Inner-
Funktion vation gewährleistet. Die Pulpa ist sehr gut vaskularisiert und bildet in
ihrer Gesamtheit ein funktionelles Endstromgebiet.
Die größeren Gefäße entsprechen von ihrem Durchmesser Arterio-
len und Venolen. Eine kleine Anzahl von Arteriolen tritt durch das Fora-
men apicale und auch durch akzessorische Kanäle in die Pulpakammer
ein. Innerhalb der Pulpa bilden die großen Gefäße ein zentrales, stamm-
artiges Bündel und verlaufen in dieser Form bis in die Kronenpulpa.
An der Peripherie der Wurzel- und Kronenpulpa bilden Äste der Ar-
teriolen einen dichten Kapillarplexus, über den Odontoblasten und
andere Pulpazellen ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt
werden können.
Ausgehend von diesem Kapillarplexus sammelt sich das abfließende
Blut in venösen Gefäßen zunehmender Größe. Die größten Venolen
verlaufen mittelständig und sind weitlumiger und in größerer Anzahl
vorhanden als Arteriolen. Für die Regulation des Blutflusses sorgen Fa-
sern des autonomen Nervensystems.
Unabhängig vom peripheren Kapillarplexus finden sich in der Wur-
zel- und Kronenpulpa zahlreiche arterio-venöse Anastomosen. Diese
direkten Verbindungen zwischen Arteriolen und Venolen spielen eine
wichtige Rolle bei der Regulation des pulpalen Blutflusses, weil so syste-
misch bedingte Blutdruckschwankungen, die die Pulpa schädigen
könnten, ausgeglichen werden können. Ein jeweils unterschiedlicher
Blutfluss in ganz eng umschriebenen Regionen der Pulpa kann auch
durch den Effekt von Sphinktern aus glatter Muskulatur zwischen den
9.4 Funktionen der Pulpa Kapitel 9 327
terminalen Arteriolen und den Kapillaren erreicht werden. Auch Zellen
aus der Umgebung können unter Einbeziehung von Signalmolekülen
auf die Sphinkter und damit auf den Blutfluss einwirken.
Neben dem Blutgefäßsystem besteht ein System aus dünnwandigen
Lymphgefäßen. Die prinzipielle Verlaufsform und die Anordnung der
Lymphgefäße ähneln denen der Blutgefäße.
Die sensorische Funktion wird durch die afferenten Nerven der Sensorische
Pulpa, die Schmerzsensationen weiterleiten, gewährleistet. Es kommen Funktion
A-Beta-, A-Delta- und C-Fasern vor. Die A-Fasern, bei denen es sich
überwiegend um A-Delta-Fasern handelt, entstammen dem Nervus
trigeminus, sind myelinisiert und umgeben von Schwann-Zellen. Die
C-Fasern sind nicht myelinisiert. Insgesamt ist der Anteil der nicht
myelinisierten deutlich höher als der der myelinisierten Nervenfasern.
Weiterhin finden sich unmyelinisierte Nervenfasern, die zum vegetativ-
autonomen Nervensystem gehören und an der Regulation des Blutflus-
ses beteiligt sind.
Die A-Delta-Fasern haben den größten Durchmesser und die
höchste Leitungsgeschwindigkeit (> 30 m/s). Die dünnen C-Fasern ha-
ben eine Leitungsgeschwindigkeit von < 2 m/s.
Die Nervenfasern treten gemeinsam mit den Blutgefäßen in Bündeln 9
durch das Foramen apicale in die Pulpakammer ein. Während es in der
Wurzelpulpa nur wenige Verzweigungen gibt, kommt es im Bereich der
Kronenpulpa zu ausgedehnten Verzweigungen. Beim Erreichen der peri-
pheren Randzone verlieren die Nervenfasern ihre Myelinscheide.
Unterhalb der zellreichen Zone bildet sich der Raschkow-Plexus,
der aus einer großen Anzahl hauptsächlich nicht myelinisierter Nerven-
axone besteht. Vom Raschkow-Plexus aus erreichen einige sensible
Fasern – ohne ihre Myelinscheide, aber noch innerhalb der Schwann-
Zellen – die Odontoblastenschicht. In diesem Bereich verlieren die ter-
minalen Axone auch ihre Schwann-Zellen und gelangen benachbart zu
den Odontoblastenfortsätzen bis in das Prädentin.
Vereinzelte Faserenden gelangen bis in das mineralisierte Dentin,
möglicherweise sogar bis zur Schmelz-Dentin-Grenze. Die Anzahl der
Endäste ist im Bereich der Pulpahörner am größten und nimmt in der
Wurzelpulpa nach apikal zunehmend ab.
Für die Dentinempfindlichkeit sind die A-Fasern verantwortlich.
Sie werden wahrscheinlich durch Flüssigkeitsbewegung in den Dentin-
tubuli (hydrodynamische Theorie) aktiviert. C-Fasern können durch
thermische, mechanische oder chemische Reize aktiviert werden und
ihre funktionellen Charakteristika weisen auf eine wichtige Rolle bei der
Entwicklung von Schmerzsymptomen bei der Pulpitis hin.
Die sensorischen Nervenfasern der Pulpa spielen auch eine wichtige
Rolle bei der Regulation des pulpalen Blutflusses. Sie werden bei Irrita-
tionen der Pulpa-Dentin-Einheit aktiviert und setzen vasoaktive Neuro-
peptide frei. Diese Neuropeptide induzieren eine Vasodilatation mit
nachfolgender Erhöhung des Gewebedrucks. Der erhöhte Gewebedruck
328 9 Strukturen der Pulpa und des umgebenden Gewebes
verhindert eine Diffusion von toxischen Substanzen aus den Dentinka-
nälchen in die Pulpa.
Defensive Die defensive Funktion besteht aus den zellulären und humoralen Ab-
Funktion wehrleistungen der Pulpa und letztlich auch der Pulpa-Dentin-Einheit.
Als wichtigste Abwehrleistung wird die Bildung von Reizdentin
durch die Odontoblasten nach Einwirkung unphysiologischer Reize
wie karies- oder nicht kariesbedingten Zahnhartsubstanzverlust be-
trachtet.
Reizdentin wird auch als Tertiärdentin, irreguläres Dentin, Osteoden-
tin, Reaktionsdentin oder reparatives Dentin bezeichnet. Die Dentintu-
buli sind irregulär, verschlungen oder können ganz fehlen. Die Minera-
lisation ist unregelmäßig.
Die Bildung von Reizdentin erfolgt immer im Bereich der Reizein-
wirkung. Geht durch Verletzung ein Teil der Odontoblastenschicht ver-
loren, ist die Pulpa grundsätzlich in der Lage, den Defekt mit neu gebil-
deten Odontoblasten zu füllen.
Die Antwort der Pulpa-Dentin-Einheit auf eine infektiöse Pulpitis
wird in Kapitel 10.5.1 näher beschrieben.
9.5 Regressive Veränderungen der Pulpa
Mit zunehmendem Alter kommt es zu Veränderungen in der Pulpa.
Kontinuierliche Bildung von Sekundärdentin bewirkt eine Verkleine-
rung der Pulpakammer. Dies kann die Eröffnung, das Auffinden und das
Erschließen des Wurzelkanalsystems deutlich erschweren. Die regene-
rative Leistungsfähigkeit der Pulpa nimmt mit zunehmendem Alter
ab. Bei Zähnen älterer Patienten kann die Odontoblastenschicht sehr
stark reduziert sein.
Arterioskle- Weitere altersbedingte Veränderungen des Pulpagewebes sind die
rotische Ver- Abnahme der Fibroblastendichte, die Zunahme der kollagenen Fasern
änderungen und die Abnahme der Gefäßdichte. Arteriosklerotische Veränderun-
gen können zu einer Verkalkung kleiner Gefäße führen und auch Ner-
venendigungen können verkalken. Bei Verkalkung der Nervenendigun-
gen kommt es zu einer Abnahme der Sensibilität.
Dentikel Regressive Veränderungen der Pulpa treten nicht nur altersbedingt,
sondern auch traumatisch bedingt, bei Heilungsvorgängen oder nach
zahnärztlichen therapeutischen Eingriffen auf. In der gesamten Pulpa
kann es zu diffusen Verkalkungen kommen, die häufig zuerst in Nach-
barschaft der Blutgefäße lokalisiert sind. Zu den regressiven Verände-
rungen wird auch überwiegend die Bildung von Dentikeln gerechnet.
Dentikel (Pulpasteine) bilden sich häufiger in der Kronenpulpa als
in der Wurzelpulpa. Dentikel können entsprechend ihrer Lokalisation
(frei, adhärent, interstitiell) oder entsprechend ihrer histologischen
9.6 Strukturen des apikalen Parodontiums Kapitel 9 329
Struktur (echt, falsch) klassifiziert werden. Isoliert im Pulpagewebe auf-
tretende freie Dentikel können bei zunehmender Dentinbildung mit
der inneren Dentinwand verwachsen (adhärent) oder von Dentin einge-
bettet werden (interstitiell).
Echte Dentikel sind selten und treten überwiegend im apikalen Be-
reich der Wurzelkanäle auf. Sie ähneln von der Struktur dem Primärden-
tin und werden durch dislozierte Zellnester der Hertwig-Epithelscheide,
die odontogene Potenz besitzen, gebildet.
Falsche Dentikel kommen sehr häufig vor und treten vorwiegend
in der Kronenpulpa auf. Degeneriertes Pulpagewebe bildet hierbei die
Matrix für die Ablagerung konzentrischer Lagen verkalkten Gewebes.
Klinisch können Dentikel aber durch Verlegung oder Einengung der
Wurzelkanäle bei der praktischen Behandlung Probleme bereiten. Die
Dentikelbildung in der Kronenpulpa kann so weit voranschreiten, dass
fast das gesamte Lumen des Pulpakavums bis auf spaltförmige Reste aus-
gefüllt wird. Dentikel und andere diffuse Verkalkungen sind in der Regel
asymptomatisch, durch Druck auf die Pulpanerven beim Wachstum kön-
nen aber gelegentlich neuralgieforme Beschwerden ausgelöst werden.
9
9.6 Strukturen des apikalen Parodontiums
! Das apikale Parodontium ist der Teil des Parodontiums, der die
Wurzelspitze umgibt. Es enthält drei verschiedene Gewebearten:
das Zement, das Desmodont und den Alveolarknochen. Das des-
modontale Gewebe bildet den etwa 0,1–0,2 mm breiten Parodon-
talspalt.
Neben den zement- und knochenbildenden Zementoblasten und Os-
teoblasten finden sich verschiedene andere Zelltypen wie Fibroblasten,
Mastzellen und Makrophagen. Die Fibroblasten bilden die Bindegewe-
befasern und die Grundsubstanz des Desmodonts. Im Bindegewebe fin-
den sich regelmäßig die aus den Resten der Hertwig-Epithelscheide
stammenden Malassez-Epithelreste.
Das apikale Parodontium ist gut vaskularisiert und besitzt eine hohe
Regenerationsfähigkeit. Im Gegensatz zur Pulpa verfügt das Parodon-
tium über einen gut entwickelten Kollateralkreislauf. Lymphgefäße
folgen den Blutgefäßen und münden in regionale Lymphknoten.
Im Desmodont finden sich sowohl myelinisierte wie auch nicht
myelinisierte Nervenfasern. Das sensorische System entstammt dem
Trigeminus. Die Nervenendigungen sind sowohl propriozeptiv wie
schmerzempfindlich und reagieren schnell auf schon geringe Anstiege
des Gewebedrucks.
Bei einer Erkrankung der Pulpa reagiert das Desmodont relativ früh-
zeitig mit einer Entzündungsreaktion als Folge der in der Pulpa frei ge-
setzten denaturierten Proteine und Bakterientoxine.
Kapitel 10 331
10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
! Die gesunde Pulpa reagiert auf Irritationen in der Regel mit einer
Entzündung, der Pulpitis. Bei anhaltenden Reizen können sich
verschiedene Formen der Pulpitis ausbilden, die letztlich zu einer
Nekrose der Pulpa und nachfolgend zu Erkrankungen des periapi-
kalen Gewebes führen können.
10.1 Pulpitis
Auf genügend starke Irritationen reagiert die Pulpa mit einer Entzün-
dung. Prinzipiell verläuft eine Pulpitis nach den gleichen Gesetzmäßig-
keiten wie Entzündungen in anderen Bindegeweben des Körpers. Aller-
dings verursacht die besondere Topografie, die Ummantelung der Pulpa
mit Hartgewebe, charakteristische Verlaufsformen.
Der Beginn jeder Entzündung ist durch eine Hyperämie, eine Dila- Entstehung
10
tation der Gefäße, gekennzeichnet. Aus der vermehrten Durchblutung und Verlauf
resultiert eine Rötung (Rubor) des Gewebes.
Wird der einwirkende Reiz jetzt nicht vermindert, folgt aufgrund er-
höhter Permeabilität der postkapillären Venolen die Plasmaextravasa-
tion und damit die Schwellung (Tumor) des betroffenen Gewebes. Da
eine räumliche Ausdehnung des Pulpagewebes aufgrund der genannten
Umstände nicht möglich ist, führen sowohl Vasodilatation wie auch
Plasmaextravasation zu einem erhöhten Gewebedruck.
In den klassischen Theorien wurden diese Gesichtspunkte in den Vor-
dergrund gestellt, und man nahm an, dass es durch die Druckerhöhung
und die damit verbundene Kompression der Venolen zu einer Strangula-
tion und in der Folge zu einer Nekrose der Pulpa kommen müsse.
Neuere Forschungsergebnisse können die Strangulationstheorie aber
nicht unterstützen. Selbst ernste entzündliche Veränderungen von um-
schriebenen Pulpaarealen müssen nicht mit einem kompletten Verlust
der Blutzirkulation verbunden sein. In modernen Theorien wird die Hä-
modynamik der Pulpitis folgendermaßen beschrieben:
Die gesunde Pulpa hat einen relativ hohen Blutfluss, der nicht maß-
geblich durch vasodilatatorische Substanzen beeinflusst wird. Bei gene-
ralisiertem oder lokalisiertem Druckanstieg können arteriovenöse Anas-
tomosen eine rasche Umverteilung des Blutflusses bewirken.
Beim Auftreten einer Entzündung kommt es nur zu einem relativ ge-
ringen Anstieg des Blutflusses, und zwar nur im Bereich des entzünde-
332 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
ten Gebiets. Die aktive Steigerung der Kapillarpermeabilität spielt eine
größere Rolle als der Anstieg des Blutflusses.
Für den Abtransport von ödematösen Flüssigkeiten aus dem ent-
zündeten Gebiet gibt es zwei Möglichkeiten:
D über das Lymphsystem
D über Blutgefäße im benachbarten, nicht entzündeten Gewebe
Ein generalisiertes Ödem der Pulpa während einer Entzündung kann
aus folgenden Gründen verhindert werden:
D weil der Anstieg des Gewebedrucks auf das Entzündungsgebiet be-
schränkt ist,
D weil eine erhöhte Drainage durch Zunahme des Lymphflusses erfolgt,
D weil eine Absorption der Flüssigkeiten in die Kapillaren des benach-
barten gesunden Gewebes möglich ist.
Die Pulpa reagiert also i.d.R. auf Irritationen mit einer lokalen Ent-
zündung, die auf das Gebiet des einwirkenden Reizes beschränkt ist.
Lokal kann eine solche Entzündung für lange Zeit, manchmal für Jahre,
bestehen, wenn der Reiz mild ist. Nach Entfernung des Reizes, z.B. einer
Karies, kann die Entzündung ausheilen. Die Widerstandsfähigkeit der
Pulpa ist erstaunlich groß. Nur wenn ein Reiz nicht nur lange anhält,
sondern auch intensiv genug ist, kann sich die Entzündung auf die
ganze Pulpa ausbreiten. In den meisten Fällen schreitet der Prozess dann
von der Peripherie her langsam zur zentralen Pulpa und Wurzelpulpa
fort. Dem Entzündungsprozess kann dann schrittweise eine Nekrose des
Gewebes bis zum Apex folgen.
10.2 Pathogenese der Pulpitis
! Die Pulpitis entwickelt sich pathogenetisch wie jede andere Ent-
zündung eines Gewebes.
Zelluläre Phase Die zelluläre Phase wird zuerst von neutrophilen Granulozyten domi-
niert. Lymphozyten, Makrophagen und Plasmazellen erscheinen später,
wenn die Entzündung einen eher chronischen Charakter annimmt.
Vaskuläre Phase Die vaskuläre Phase wird, wie beschrieben, charakterisiert durch ei-
nen leichten Anstieg des Blutflusses, Dilatation und erhöhte Permea-
bilität der Kapillaren und durch die Ansammlung von Flüssigkeit im
Gewebe. Die Wanderung der Leukozyten aus den Gefäßen an den Reak-
tionsort wird durch chemokinetische und chemotaktische Faktoren re-
guliert. Wenn zu diesem frühen Zeitpunkt der ursächliche Reiz entfernt
werden kann, kommt es i.d.R. zur Ausheilung.
Wenn der Reiz anhält, wandern möglicherweise mehr neutrophile
Granulozyten ein. Diese Zellen haben eine kurze Lebensdauer und setzen
10.2 Pathogenese der Pulpitis Kapitel 10 333
nach ihrem Absterben toxische zelluläre Komponenten und proteolyti-
sche Enzyme frei, die ihrerseits dann andere Zellen, Bindegewebefasern
und Grundsubstanz der Pulpa zerstören können. Bei starker Gewebezer-
störung stellt sich dies klinisch bei Eröffnung der Pulpa als Eiter (Pus) dar.
Wenn dieser Prozess insgesamt langsam verläuft, kann sich ein abge-
kapselter eitriger Abszess bilden. Es ist nicht bekannt, ob in diesem Sta-
dium noch eine Heilung möglich ist.
Wenn eine Entzündung vom akuten in den chronischen Zustand Chronischer
übergeht, wird die Szene nicht länger von neutrophilen Granulozyten Zustand
beherrscht, sondern es treten Lymphozyten und später Makrophagen
und Plasmazellen auf.
Die Lymphozyten repräsentieren die humorale und zellvermittelte
Immunantwort.
Antigene Substanzen in der Pulpa können komplexiert und ihrer-
seits durch Makrophagen phagozytiert werden.
Lymphozyten und Makrophagen können wiederum durch zytoto-
xische Aktivität oder durch die Bildung von Zytokinen zu Gewebezer-
störungen führen.
Die Immunantwort kann also der entzündeten Pulpa eine weitere
Schädigung zufügen. Diese Gewebezerstörungen in der chronischen
Phase können zu wiederum erhöhter chemotaktischer Aktivität und zur
Anziehung von neutrophilen Granulozyten führen.
Auf die chronische Entzündung kann so eine akute Entzündung auf-
10
gepfropft werden. Dies kommt wahrscheinlich sehr häufig vor, und
vielfach wird so eine akute Episode durch einen neuen starken Reiz ver-
ursacht.
Insgesamt betrachtet, ist also die Entzündung der Pulpa ein dyna-
mischer Prozess, wobei häufig verschiedene Entzündungsstadien
nebeneinander in verschiedenen Bezirken der Pulpa beobachtet
werden können.
Diese Ausführungen machen klar, dass die klassische Einteilung der Pul-
pitiden in
D Hyperämie
D Pulpitis serosa partialis und totalis
D Pulpitis purulenta partialis und totalis
nicht nur diagnostisch, wie später gezeigt wird, sondern auch pathoge-
netisch problematisch ist.
Selbst akute und chronische Stadien können schwer voneinander
abgegrenzt werden, da sie häufig nebeneinander existieren.
Ohne Behandlung breitet sich die Entzündung der Pulpa immer
mehr nach apikal aus und kann letztlich zur Nekrose der Pulpa führen
(Abb. 10.1).
Eine verhältnismäßig selten auftretende Form der Pulpitis kann sich Offene ulzerie-
dann entwickeln, wenn es zur spontanen oder traumatischen Eröffnung rende Pulpitis
334 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Abb. 10.1: Schema-
mikrobiologischer tische Darstellung
und/oder traumatisch der Entzündungs-
physikalisch- bedingte
chemisch- Gefäßruptur
abfolge einer Pul-
toxischer Reiz pitis (nach einem
Vorschlag der
deutschen Hoch-
schullehrer für
Hyperämie Zahnerhaltungs-
kunde, Raab 1993)
primär
Pulpitis acuta Chronifizierung nicht-infizierte
serosa Nekrose
Pulpitis acuta
purulenta
primär infizierte sekundär infizierte
Nekrose Nekrose
entzündliche Erkrankungen
des apikalen Parodonts
der Pulpakammer kommt. Es entwickelt sich dann eine offene ulzerie-
rende Pulpitis (Pulpitis chronica ulcerosa aperta), die in eine proliferie-
rende Verlaufsform, die Pulpitis chronica aperta granulomatosa (Pulpa-
polyp), übergehen kann.
Dies kommt vorwiegend bei Milchzähnen und seltener bei bleiben-
den Zähnen vor. Pulpapolypen können das ganze Lumen eines tief zer-
störten Zahnes ausfüllen oder sogar aus der Kavität herauswachsen. Die
Oberfläche ist normalerweise von einer nekrotischen Schicht bedeckt,
kann aber auch bei langer Verweildauer epithelisiert sein. Pulpapolypen
sind nicht schmerzhaft, gerade Jüngere neigen aber bei Berührung zu
starker Blutung.
10.3 Pulpanekrose
! Unter Nekrose versteht man den lokalen Zelltod.
Genese Zu Nekrosen kann es in der Pulpa als Konsequenz einer partiellen Ent-
zündung in umschriebenen Bereichen oder in der gesamten Kronen-
und Wurzelpulpa kommen. Eine Nekrose der Pulpa kann nicht nur ent-
zündungsbedingt entstehen, sondern auch dann, wenn aus traumati-
schen Gründen die Blutversorgung unterbrochen wird.
10.4 Internes Granulom Kapitel 10 335
Bei der durch Bakterien oder bakterielle Produkte verursachten Kol-
liquationsnekrose kommt es zu einer Verflüssigung des Gewebes durch
Autolyse.
Eine traumatische Unterbrechung der Blutzufuhr führt zu einer
Ischämie und nachfolgender Koagulationsnekrose des Gewebes.
Während normalerweise eine Pulpanekrose schmerzlos ist, sind Klinik
Schmerzhaftigkeit und übler Geruch (Gangrän) häufig mit dem Auftre-
ten von bestimmten Bakterien, speziell Bacteroides-Arten, verbunden.
10.4 Internes Granulom
Eine sehr selten auftretende Form (Morbidität: 0,1–1,6%) der Pulpaer- Entstehung
krankung ist das interne Granulom (Pulpitis chronica granulomatosa und Verlauf
clausa). Interne Granulome werden mit einer lange bestehenden chro-
nischen Pulpitis in Verbindung gebracht. Voraussetzung ist wahrschein-
lich die bakterielle Infektion und Nekrose eines koronalen Anteils der
Pulpa, wobei dann bakterielle Produkte durch Dentinkanälchen vitales,
i.d.R. weiter apikal gelegenes Pulpagewebe erreichen.
Ausgehend von einer chronisch granulomatösen Pulpitis kommt es
zu einer sich meist zentrifugal ausbreitenden Resorption des umgeben-
den Dentins (Abb. 10.2). In Extremfällen kann es zu einem Durchbruch
nach außen und zur Fraktur des betroffenen Zahnes kommen.
10
Das Granulationsgewebe ist gefäßreich und mit Lymphozyten, Ma- Histologie
krophagen, Plasmazellen und neutrophilen Granulozyten durchsetzt. In
den umgebenden Dentinwänden lassen sich Dentoklasten nachweisen.
Klinisch lässt sich ein internes Granulom, wenn es im sichtbaren Be- Klinik
reich des Zahnes lokalisiert ist, durch seine rötliche, durchscheinende
Abb. 10.2: Internes Granu-
lom (innere Resorption) bei
einem oberen Schneide-
zahn
336 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Farbe erkennen. Die betroffenen Zähne reagieren auf eine Sensibilitäts-
prüfung zumeist positiv.
Röntgenologisch stellen sich interne Granulome i.d.R. deutlich als
rundliche Vergrößerung der Pulpahöhle dar.
10.5 Ätiologie der Pulpitis
! Entzündungen der Pulpa können durch zahlreiche natürliche
oder iatrogene Ursachen ausgelöst werden.
Die möglichen Ursachen für eine Pulpitis sind in der Tabelle 10.1 darge-
stellt. Alle zeitlebens erlittenen kleinen Irritationen oder Schädigungen
der Pulpa-Dentin-Einheit können akkumulieren und letztlich zu einer
irreversiblen Schädigung der Pulpa führen. Aus klinisch-praktischen
Gründen bietet sich folgende grobe Klassifizierung an:
D infektiöse Pulpitis
D traumatische Pulpitis
D iatrogene Pulpitis
10.5.1 Infektiöse Pulpitis
Infektiöse Pulpitiden werden hauptsächlich durch Karies verursacht.
Histologisch lässt sich manchmal schon bei einer fortgeschrittenen
Schmelzkaries eine erste Reaktion der Pulpa nachweisen. In der Regel
kommt es aber erst zur Reaktion der Pulpa-Dentin-Einheit, wenn die Ka-
ries das Dentin erreicht hat und durch die Dentinkanälchen ein Weg zur
Pulpa offen steht. So lange die Karies die Pulpa nicht erreicht hat, lösen
hauptsächlich bakterielle Stoffwechselprodukte einen Reiz aus. Erst in
sehr fortgeschrittenem Stadium, wenn der kariöse Prozess die Pulpa er-
reicht hat, richtet sich die Reaktion direkt gegen eindringende Bakte-
rien. Eine bakterielle Besiedlung der Pulpakammer ist aber erst möglich,
wenn die Pulpa nekrotische Bezirke aufweist. Die ursächliche Rolle der
Tab. 10.1: Übersicht zu den Ursachen der Pulpaerkrankungen
Infektiös-toxisch Traumatisch Iatrogen
Karies Kronenfrakturen Präparatorische Maßnahmen
Parodontopathien Wurzelfrakturen Reinigung, Trocknung der
Kavität
Nicht kariesbedingter Kontusion, Luxation, Andere restaurative
Zahnhartsubstanzverlust Infraktion Maßnahmen
Hämatogen Traumatische Kieferorthopädische
Okklusion Behandlung
10.5 Ätiologie der Pulpitis Kapitel 10 337
Bakterien und ihrer Produkte für die Auslösung einer Pulpitis konnte ex-
perimentell eindeutig nachgewiesen werden.
Die bakterielle Invasion des Dentins weist zwei Zonen auf:
D In der ersten, pulpanahen Zone finden sich hauptsächlich grampo-
sitive Laktobazillen und Stäbchen.
D In der zweiten Zone, der sekundären Welle, liegt eine bunte Misch-
infektion vor.
Bei den bakteriellen Produkten, die durch die Dentinkanälchen zur Pulpa Bakterielle
gelangen, handelt es sich um Enzyme, Endotoxine (Lipopolysaccharide), Produkte
Peptide, somatische Antigene, Mitogene, Chemotaxine, Immunkomplexe,
organische Säuren und andere vergleichbare Substanzen. Neben diesen
bakteriellen Produkten spielen möglicherweise auch Speichelbestandteile
oder Abbauprodukte der zerstörten Zahnhartsubstanz eine Rolle.
Die Pulpa-Dentin-Einheit reagiert auf diesen Reiz
D im Dentin mit einer tubulären Sklerose,
D an der Pulpa-Dentin-Grenze mit der Bildung von Tertiärdentin,
D in der Pulpa mit einer Entzündung.
Bei der ersten Reaktion, der Sklerosierung der Dentintubuli, kommt es Sklerosierung
durch Zunahme des peritubulären Dentins zu einer Verengung der Ka-
nälchen. Durch intratubuläre Ausfällung von Kalziumphosphatkristal-
10
len (Apatit, Whitlockit, Oktakalziumphosphat) kann es zu einem voll-
ständigen Verschluss der Dentinkanälchen kommen.
Schon sehr früh wird bei einem entsprechenden Reiz Tertiärdentin Bildung von
gebildet. Wenn sich ein kariöser Prozess bis in das Tertiärdentin ausge- Tertiärdentin
breitet hat, ist aufgrund der irregulären Struktur des Tertiärdentins keine
Sklerosierung mehr möglich.
In der Pulpa treten erste Veränderungen in der Odontoblasten- Entzündung
schicht und den peripheren Pulpazonen auf. Die Anzahl und Größe der
Odontoblasten scheint reduziert, die Palisadenanordnung ist gestört.
Der weitere Ablauf der Entzündung entspricht den vorhergehenden Er-
läuterungen und kann individuell sehr unterschiedlich verlaufen.
Seltener können auch Parodontalerkrankungen zur Entstehung ei-
ner Pulpitis beitragen oder allein verantwortlich sein.
Marginale Parodontopathien können aufgrund des parodontalen Parodonto-
Attachmentverlusts und besonders nach Verlust der Zementschicht zu pathien
einer geringgradigen bakteriellen Invasion der Pulpa führen. Auch
durch Seitenkanäle kann ein Zugang zur Pulpa bestehen. Ist eine pro-
funde Parodontitis bis an die Wurzelspitze vorgedrungen, kann über
den Parodontalspalt und das Foramen apicale eine bakterielle Invasion
der Pulpa erfolgen (retrograde Pulpitis).
Aufgrund der topografischen Verhältnisse sollen in seltenen Fällen
Entzündungen der Kieferhöhle auf die Seitenzähne des Oberkiefers
übergreifen können. Dieser Übertragungsweg ist aber sehr fragwürdig.
338 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Anachorese Nach einer Bakteriämie können über die Blutbahn Bakterien in die
Pulpa gelangen. Dieser Infektionsweg wird als Anachorese bezeichnet
und ist unter anderem für Tuberkelbazillen und Aktinomyzeten be-
schrieben worden. Klinisch spielt die Anachorese keine wichtige Rolle.
Die Exposition von Dentin zur Mundhöhle aufgrund von Attrition,
Abrasion und Erosion führt nur in seltenen Fällen zu ernsthaften Pulpi-
tiden. Es ist möglich, dass Bakterien oder bakterielle Produkte durch die
frei liegenden Dentinkanälchen zur Pulpa vordringen können und dort
eine milde Entzündungsreaktion auslösen. In der Regel wird dies aber
durch Sklerosierung und Bildung von Tertiärdentin verhindert.
10.5.2 Traumatische Pulpitis
Dentinfrakturen Traumatische Verletzungen der Zähne können in Abhängigkeit vom
Ausmaß zu Pulpitiden oder zur Nekrose der Pulpa führen. Während
Schmelzsprünge oder Schmelzrisse zu keiner nachweislichen Reaktion
führen, kann durch Dentinsprünge oder Infraktion dann eine Reak-
tion der Pulpa ausgelöst werden, wenn Bakterien in das Dentin eindrin-
gen. Eine besonders starke Gefährdung der Pulpa liegt vor, wenn durch
die Dentinfraktur ein direkter Zugang zur Pulpa besteht.
Kronenfraktur Bei einfachen Kronenfrakturen ohne Eröffnung der Pulpahöhle
kann in schweren Fällen durch die Eröffnung zahlreicher Dentinkanäl-
chen eine akute Pulpitis ausgelöst werden und posttraumatisch eine Ne-
krose der Pulpa entstehen. Bei komplizierten Kronenfrakturen mit Er-
öffnung des Pulpakavums bildet sich rasch ein Blutgerinnsel, das als
idealer Nährboden für Bakterien dienen kann. Bereits nach 24 Stunden
zeigt die Pulpa Anzeichen einer akuten Entzündung, und eine totale
Pulpanekrose konnte in Einzelfällen schon nach einer Woche nachge-
wiesen werden.
In jedem Fall hängt das Ausmaß der auftretenden Schädigung von
Zeitpunkt und Art der zahnärztlichen Versorgung ab.
Wurzelfrakturen Wurzelfrakturen, deren Bruchspalt nicht in Verbindung mit der Mund-
höhle steht, können nach Bildung eines Blutgerinnsels und einer vorü-
bergehenden Entzündung der Pulpa spontan ausheilen. Die Fragmente
werden hierbei durch Kallusbildung wiedervereinigt. Bei einer stärkeren
Dislokation der Fragmente ist mit einer Unterbrechung der Blutzufuhr
und mit einer nachfolgenden ischämischen Nekrose des koronalen
Fragments zu rechnen.
Kontusion oder Ähnlich verhält es sich bei Kontusion oder Luxation von Zähnen.
Luxation Bei ernster Schädigung der Blutgefäße im Bereich des Apex kommt es zu
einer Unterbrechung der Blutzirkulation mit kompletter ischämischer
Nekrose der Pulpa. Wenn sekundär keine Infektion auftritt, kann der
Zustand über lange Zeit unverändert beibehalten werden.
10.5 Ätiologie der Pulpitis Kapitel 10 339
Die beste Prognose für die Pulpa besteht bei Zähnen mit nicht abge-
schlossenem Wurzelwachstum, weil dann unter günstigen Umständen
eine Revaskularisierung der Pulpa möglich ist.
10.5.3 Iatrogene Pulpitis
Zahnärztliche präparative oder restaurative Maßnahmen, die an vi-
talen Zähnen vorgenommen werden, können eine mehr oder weni-
ger große Irritation der Pulpa verursachen.
Eine Einschätzung der ursächlichen Wirkung ist zumeist sehr schwer, da
die behandelten Zähne zumeist in einem diagnostisch nicht verifizier-
baren Maß durch eine Karies vorgeschädigt sind.
Die bei zahnärztlichen Maßnahmen auftretenden Irritationen sind
grundsätzlich physikalischer oder chemischer Natur.
Zu den physikalischen Ursachen gehören:
D präparatorische Maßnahmen
D Trocknung der Kavität
D diagnostische Applikation von Kälte oder Wärme
D mechanisches Einbringen von Füllungsmaterialien und Abformun-
gen
10
Zu den chemischen Ursachen zählt die Anwendung von Reinigungs-,
Desinfektions- und Trocknungsmitteln, Lacken, Linern, Unterfüllungs-
materialien, Füllungsmaterialien, Säuren und adhäsiven Mitteln.
Besonders häufig entstehen Schädigungen der Pulpa bei der Kronen-
und Kavitätenpräparation. Schädigend wirken können hierbei:
D Vibration
D Druck
D Temperaturerhöhung
D Austrocknung des Dentins
Bei der Präparation des Dentins werden oft großflächig Dentinkanäl- Präparation
chen eröffnet. Durch die Durchtrennung der Odontoblastenfortsätze
können Entzündungsmediatoren frei gesetzt werden, die eine vaskuläre
Reaktion in der Pulpa auslösen.
Ungenügende Wasserkühlung bei der Präparation führt zu Über- Überhitzung und
hitzung und Austrocknung des Dentins. Da Dentin ein schlechter Tem- Austrocknung
peraturleiter ist, ist die Temperaturänderung an der pulpalen Dentin-
wand in Abhängigkeit von der Restdentindicke wesentlich geringer als
die von außen einwirkende Temperatur. Bei trockener Kavitätenpräpara-
tion kann es in der Pulpa zu einer Temperaturerhöhung von 2–3 °C
kommen, die aber allein für sich nicht schädigend sein muss. Nachweis-
lich führt erst ein Temperaturanstieg in der Pulpa von ca. 10 °C zu einer
irreversiblen Schädigung im Sinne einer Nekrose.
340 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Als besonders problematisch wird die Austrocknung des Dentins
angesehen. Durch Flüssigkeitsentzug und Veränderung der Druckver-
hältnisse in den Dentinkanälchen können Odontoblastenkerne in die
Kanälchen gesaugt werden. Dieser Vorgang wird häufig als Odontoblas-
tenaspiration bezeichnet. Wenn keine ernsthafteren Schädigungen er-
folgen, ist die resultierende Entzündungsreaktion der Pulpa allerdings
weitgehend reversibel.
Zahnärztliche Zahlreiche gebräuchliche zahnärztliche Materialien können die
Materialien Pulpa irritieren, wobei Dauer und Intensität der Reizwirkung und die
Dicke und Beschaffenheit der Restdentinschicht den Grad der Schädi-
gung stark beeinflussen. Besonders bei dünner Restdentindicke sollte
zum Beispiel auf die Anwendung von chemisch aktiven Reinigungs-,
Desinfektions- und Trocknungsmitteln verzichtet werden. Während die
biologische Verträglichkeit von klassischen Unterfüllungsmaterialien
wie Zinkoxid-Phosphat-Zement und von Füllungsmaterialien wie Amal-
gam weitgehend bekannt ist, herrscht besonders hinsichtlich einiger
Matrixbestandteile zahnfarbener Materialien wie Kompositen noch Un-
sicherheit.
Vorsichtshalber sollte unter nicht ausreichend geprüften Materia-
lien immer ein bekanntermaßen nicht schädigend wirkendes Mittel
zum Pulpaschutz eingebracht werden.
Kieferortho- Eher selten können kieferorthopädische Behandlungen, wenn zu
pädische große Kräfte zur Anwendung kommen, zu einer Schädigung der Pulpa
Behandlungen führen. In Extremfällen kann die in die Pulpa laufende Gefäßversor-
gung am Foramen apicale gestaucht oder sogar abgerissen werden, was
eine Nekrose der Pulpa zur Folge haben kann.
10.6 Parodontitis apicalis
! Unter Parodontitis apicalis versteht man eine Entzündung des
apikalen Gewebes, die zur Resorption des den Apex umgebenden
Knochen und zur reaktiven Bildung von Granulomen oder Zysten
führen kann. Das Pulpagewebe ist über das Foramen apicale und
Seitenkanäle direkt mit dem apikalen Parodont verbunden. Eine
Parodontitis kann sich nicht nur im Bereich des Apex, sondern
auch an den Mündungen von Seitenkanälen und Pulpa-Periodon-
talkanälen entwickeln. In den meisten Fällen geht deswegen einer
Parodontitis apicalis eine unbehandelte Pulpitis voraus. Weitere
Ursachen können Traumen, Parodontopathien oder endodonti-
sche Behandlungsmaßnahmen sein. Letztlich entsteht erst eine
Parodontitis apicalis, wenn eine Infektion der Pulpa bzw. bakte-
rielle Besiedlung des Wurzelkanals vorliegt.
10.6 Parodontitis apicalis Kapitel 10 341
Im Parodont bestehen günstigere Abwehrchancen als in der Pulpa. Des-
wegen stellt sich häufig ein Gleichgewicht zwischen Angriff und Ab-
wehr ein und es kommt zu chronischen Verlaufsformen. Die Ausbil-
dung einer periapikalen Läsion kann auch als Abwehrreaktion gegen
eine pathogene Mischflora im Wurzelkanal verstanden werden. Hierbei
ist es das Ziel der Körperabwehr, die Infektion auf den Wurzelkanal zu
begrenzen.
Vereinfacht lassen sich apikale Parodontitiden in folgende Formen Einteilung
unterteilen:
D Parodontitis apicalis acuta
D Parodontitis apicalis chronica (Granulom, Zyste)
D akuter apikaler Abszess
D chronischer apikaler Abszess
Häufig wird auch die eher selten auftretende sklerotische Ostitis (Osteo-
sklerose, condensing ostitis) als eigene Klasse aufgeführt.
Apikale Parodontitiden müssen differenzialdiagnostisch abgegrenzt Differenzial-
werden zu spezifischen Erkrankungen, die in keinem Zusammenhang diagnose
mit vorausgegangenen Erkrankungen der Pulpa stehen. Hierzu können
die periapikale Osteofibrose, das Zementoblastom, das sklerosierende Fi-
brom und als unspezifische Erkrankungen das zentrale Riesenzellgranu-
lom und Neoplasien zählen.
10
10.6.1 Ätiologie und Pathogenese der Parodontitis apicalis
Die möglichen Ursachen einer Parodontitis apicalis sind in der Tabelle
10.2 dargestellt. In den meisten Fällen entsteht eine Parodontitis apicalis
in der Folge einer Pulpitis. Wenn sich eine unbehandelte Entzündung
der Pulpa durch den Apex in das Parodont ausbreitet, können nebenei-
nander eine Pulpitis und eine Parodontitis apicalis acuta existieren.
Röntgenologisch lassen sich dann oft schon eine Erweiterung des Röntgen
Parodontalspalts und klinisch eine starke Aufbissempfindlichkeit des
Tab. 10.2: Übersicht zu den Ursachen der Parodontitis apicalis
Pulpitis/Pulpanekrose
mit Infektion des Wurzelkanals
Trauma
akut, chronisch, traumatische Okklusion
Parodontopathien
Endodontische Behandlungsmaßnahmen
Überinstrumentierung, Perforationen
• Überpressen von Spüllösung
• Überfüllen des Wurzelkanals
• Unvollständige Aufbereitung und Füllung des Wurzelkanals
342 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
betroffenen Zahnes diagnostizieren. Häufig befindet sich die Pulpitis
dann aber schon in einem Übergangsstadium zur Pulpanekrose. Wenn
Mikroorganismen in die periapikale Region gelangen, entwickelt sich
eine akute Parodontitis periapicalis.
Ursachen Häufig sind auch endodontische Behandlungsmaßnahmen die
Ursache für eine akute Parodontitis apicalis. Wenn der Wurzelkanal in-
fiziert ist und Wurzelkanalinstrumente über den Apex hinausgeschoben
werden, kann auf diesem Weg das zuvor gesunde periapikale Gewebe in-
fiziert werden. Insgesamt kann jede endodontische Behandlungsmaß-
nahme, bei der Instrumente oder Materialien in das periapikale Gewebe
gelangen, wie das Überpressen von Spüllösungen und Medikamenten,
eine Überfüllung des Wurzelkanals oder eine Perforation der Wurzel,
eine entsprechende Reaktion auslösen.
Wenn der Wurzelkanal nicht infiziert ist, halten die Irritationen des
apikalen Gewebes, die durch zahnärztliche Behandlungsmaßnahmen
ausgelöst werden, i.d.R. nur kurze Zeit an.
Ein durch einen Stoß oder Schlag ausgelöstes Trauma, zu hohe Res-
taurationen oder übergroße kieferorthopädische Kräfte können zu ei-
ner zumeist reversiblen Schädigung der apikalen Parodontalfasern füh-
ren. Tritt keine Infektion ein, kann bei Abklingen oder Beseitigung des
Reizes mit einer raschen Heilung gerechnet werden.
Wie unter 10.5.1 beschrieben, können Parodontopathien eine Pul-
pitis und so auch nachfolgend eine Parodontitis apicalis auslösen.
Ist die Pulpa nekrotisch geworden, aber nicht oder noch nicht bak-
teriell infiziert, enthält die Pulpakammer abgestorbene Zellen und Ge-
webe, stagnierende Gewebeflüssigkeit und zelluläre Abbauprodukte.
Viele dieser Abbauprodukte sind zytotoxisch und können einen Reiz auf
das gesunde periapikale Gewebe auslösen. Solange allerdings keine Be-
siedelung der Pulpakammer mit Bakterien stattgefunden hat, bleibt der
Reiz mild und der Zahn klinisch unauffällig.
Nach heutigem Kenntnisstand kann eine sterile Pulpanekrose keine
Parodontitis apicalis auslösen.
Infektion des Voraussetzung für die Infektion des Wurzelkanals ist eine Verbindung
Wurzelkanals zur Mundhöhle. Diese Verbindung kann verschiedene Ursachen ha-
ben, so z.B. undichte Restaurationen und Dentinrisse, oder über paro-
dontale Taschen und Seitenkanäle erfolgen. In seltenen Fällen kann
auch nicht ausgeschlossen werden, dass eine Infektion auf hämatoge-
nem Weg (Anachorese) erfolgt.
In grundlegenden neueren Untersuchungen konnte gezeigt werden,
dass eine apikale Parodontitis fast immer durch Bakterien im Wurzel-
kanal ausgelöst wird. Der nekrotische Inhalt des Wurzelkanals und
möglicherweise eindringender Speichel bilden das Substrat für die Bak-
terien, die der normalen Mundhöhlenflora entstammen. Die Bakterien
können schon Auslöser der Pulpanekrose gewesen sein, können aber
10.6 Parodontitis apicalis Kapitel 10 343
auch aufgrund der günstigen Bedingungen den Wurzelkanal erst später
besiedelt haben.
Wenn der Zugang zwischen Mundhöhle und Wurzelkanal weit offen
ist, entwickelt sich im Wurzelkanal zumeist noch keine Bakterienflora,
die destruktive Vorgänge im apikalen Parodont auslöst. Erst wenn der
Zugang nach erfolgter Infektion weitgehend verschlossen ist, entwickelt
sich oft eine besonders pathogene Flora. Im Wurzelkanal können sich
Biofilme ausbilden, die den einzelnen Mikroorganismen einen ausge-
zeichneten Schutz bieten und es ihnen ermöglichen, sich auf veränderte
Lebensbedingungen einzustellen. So steigt z.B. die Toleranz gegenüber
extremen pH-Werten sowie gegenüber Bakteriziden.
Die in infizierten Wurzelkanälen vorkommenden Bakterien stellen
im Vergleich zur Gesamtflora der Mundhöhle nur ein beschränktes
Spektrum dar. Die Tabelle 10.3 gibt einen Überblick über Bakterien-
stämme und Spezies, die häufig aus infizierten Wurzelkanälen bei einer
bestehenden Parodontitis apicalis isoliert werden konnten. Die speziel-
len ökologischen Verhältnisse im Wurzelkanal führen zu einem selekti-
ven Wachstum bestimmter Bakterienspezies. Je länger ein Wurzelkanal
infiziert ist, desto mehr dominieren die Anaerobier. Etwa 90% aller in
infizierten Wurzelkanälen gefundenen Bakterien sind obligat anaerob.
Bestimmte Bakterien entwickeln sich erst im Zusammenwirken mit an-
deren.
Ein infizierter Wurzelkanal kann 103–108 Bakterienzellen und 10–20
10
Phyla bzw. Spezies beherbergen. Zähne mit großen apikalen Läsionen
weisen häufiger mehr verschiedene Bakterienarten auf und haben auch
eine höhere Bakteriendichte. Die Bakterien, die am häufigsten sowohl
in akuten als auch in chronischen primären Infektionen des Wurzelka-
Tab. 10.3: Bakterienstämme und ihre häufigsten Repräsentanten im Wurzelkanal bei endodonti-
schen Infektionen (nach Siqueira 2011)
Gramnegative Bakterien Grampositive Bakterien
Anaerobier Fakultative Anaerobier Anaerobier Fakultative Anaerobier
Stäbchen
Dialister Capnocytophaga Actinomyces Actinomyces
D. invisus C. gingivalis A. israelii A. naeslundii
D. pneumosintes C. ochracea A. gerencseriae
unkultivierte Phylotypen A. meyeri
A. odontolyticus
Porphyromonas Eikenella Pseudoramibacter Corynebacterium
P. endodontalis E. corrodens P. alactolyticus C. matruchotii
P. gingivalis
Tannerella Aggregatibacter Filifactor Lactobacillus
T. forsythia A. aphrophilus F. alocis L. salivarius
A. actinomycetemcomi- L. acidophilus
tans L. paracasei
344 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Tab. 10.3: Fortsetzung
Gramnegative Bakterien Grampositive Bakterien
Anaerobier Fakultative Anaerobier Anaerobier Fakultative Anaerobier
Stäbchen
Prevotella Eubacterium
P. intermedia E. infirmum
P. nigrescens E. saphenum
P. tannerae E. nodatum
P. denticola E. brachy
P. multissacharivorax E. minutum
P. baroniae
unkultivierte Phylotypen
Fusobacterium Mogibacterium
F. nucleatum M. timidum
F. periodonticum M. pumilum
unkultivierte Phylotypen M. neglectum
M. vescum
Campylobacter Propionibacterium
C. rectus P. acnes
C. gracilis P. propionicum
C. curvus
C. showae
Synergistes Eggerthella
unkultivierte Phylotypen E. lenta
Pyramidobacter Olsenella
P. piscolens O. uli
O. profusa
unkultivierte Phylotypen
Jonquetella Bifidobacterium
J. anthropi B. dentium
Catonella Solobacterium
C. morbi S. moorei
unkultivierte Phylotypen
Lactobacillus
L. catenaformis
Kokken
Veillonella Neisseria Parvimonas Streptococcus
V. parvula N. mucosa P. micra S. mitis
unkultivierte Phylotypen N. sicca S. sanguinis
S. gordonii
S. oralis
Megasphaera Peptostreptococcus Enterococcus
unkultivierte Phylotypen P. anaerobius E. faecalis
P. stomatis
unkultivierte Phylotypen
10.6 Parodontitis apicalis Kapitel 10 345
Tab. 10.3: Fortsetzung
Gramnegative Bakterien Grampositive Bakterien
Anaerobier Fakultative Anaerobier Anaerobier Fakultative Anaerobier
Kokken
Anaeroglobus Finegoldia Granulicatella
A. geminatus F. magna G. adiacens
Peptoniphilus
P. asaccharolyticus
P. lacrimalis
Anaerococcus
A. prevotii
Streptococcus
S. anginosus
S. constellatus
S. intermedius
Gemella
G. morbillorum
Spirochäten
Treponema
T. denticola
T. socranskii
T. parvum 10
T. maltophilum
T. lecithinolyticum
T. medium
nals entdeckt werden, gehören zu verschiedenen Genera von gramnega-
tiven Bakterien (Fusobacterium, Dialister, Porphyromonas, Prevotella,
Tannerella, Treponema, Campylobacter und Veillonella) und gramposi-
tiven Bakterien (Parvimonas, Filifactor, Pseudoramibacter, Olsenella,
Actinomyces, Peptostreptococcus, Streptococcus, Propionibacterium
und Eubacterium).
Die in jüngerer Zeit angewandten molekularbiologischen Methoden
haben das Wissen um die Bakterienvielfalt in endodontischen Infektio-
nen erweitert. Viele schwer zu kultivierende Spezies konnten so als
potenzielle Pathogene identifiziert werden. Beispiele hierfür sind Tanne-
rella forsythia, Dialister species, Filifactor alocis, Prevotella baroniae,
Olsenella uli und Treponema-Spezies. Mit molekularbiologischen Me-
thoden konnten auch Zusammenhänge zwischen der Entstehung apika-
ler Parodontitiden und dem gehäuften Vorkommen bestimmter, beson-
ders pathogener Bakterien gesichert werden. Beispiele hierfür sind Fuso-
bacterium nucleatum, Parvimonas micra, Porphyromonas endodontalis
und gingivalis, Prevotella intermedia und nigrescens sowie Pseudorami-
bacter alactolyticus, die alle in molekularbiologischen Studien in höhe-
rer Prävalenz entdeckt werden konnten als mit klassischen Methoden.
346 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Bei auch nach mehrmaliger Behandlung persistierender apikaler
Parodontitis wird oft eine von der Primärinfektion abweichende Flora
mit geringerer Diversität gefunden. Am häufigsten wurde Enterococcus
faecalis mit einer Prävalenz von bis zu 90% in zuvor schon wurzelkanal-
behandelten Zähnen entdeckt.
Damit Bakterien in wurzelkanalbehandelten Zähnen überleben kön-
nen, müssen sie über bestimmte Eigenschaften verfügen. Hierzu gehö-
ren hauptsächlich folgende Fähigkeiten:
D Besiedlung des Wurzelkanals und Bildung dichter Aggregate oder
Biofilme
D Penetration in die Dentintubuli bis in große Tiefe als Schutz vor en-
dodontischen Maßnahmen
D Resistenz gegen herkömmliche Desinfektionsmittel des Wurzelkanals
Chronische Bei chronischen apikalen Parodontitiden lassen sich selten Bakterien in-
apikale Paro- nerhalb der periapikalen Läsion finden. Die Bakterien im Wurzelkanal
dontitiden sind zumeist durch eine dichte Ansammlung neutrophiler Leukozyten
oder durch Epithelzellen am Foramen apicale von der periapikalen Re-
gion getrennt.
Wenn Bakterien jenseits des Apex gefunden werden, handelt es sich
klinisch i.d.R. um akute Verlaufsformen wie akute apikale Abszesse.
Abszesse In Abszessen herrschen zu 90–100% anaerobe Bakterien vor. Typi-
scherweise handelt es sich um Kombinationen von anaeroben gramne-
gativen Stäbchen, grampositiven Kokken und fakultativ anaeroben
Streptokokken.
10.6.2 Formen der apikalen Parodontitiden
Apikale Parodontitiden werden vorrangig nach histologischen Gesichts-
punkten in akute und chronische Formen eingeteilt. Die häufigsten For-
men sind in der Abbildung 10.3 schematisch dargestellt.
Berücksichtigt man mehr die klinischen Gesichtspunkte, bietet sich
eine Einteilung nach schmerzhaften und nicht schmerzhaften Parodon-
titiden an.
a b c d
Abb. 10.3: Formen der apikalen Parodontitis: a) akute Parodontitis apicalis, b) chronische Parodontitis apica-
lis, c) wahre Zyste, d) Taschenzyste (nach Nair 2008)
10.6 Parodontitis apicalis Kapitel 10 347
Eine klinisch akute Entzündung ist i.d.R. kurz dauernd und mit star-
ken Schmerzen und anderen klinischen Entzündungszeichen verbun-
den. Eine klinisch chronische Entzündung verläuft sehr langsam und
kann ohne klinische Symptome über Jahre bestehen.
Zwischen der histopathologischen Einteilung und dem klinischen
Erscheinungsbild besteht häufig keine Übereinstimmung.
Parodontitis apicalis acuta
Eine akute apikale Parodontitis ist eine lokalisierte Entzündung des peri-
apikalen Desmodonts und der direkt benachbarten Knochenmarkräume.
Histopathologisch ist die akute Entzündung durch Gefäßerweite- Histopathologie
rung, perivaskuläres Ödem und ein zelluläres Exsudat aus überwiegend
polymorphkernigen neutrophilen Leukozyten und Makrophagen ge-
kennzeichnet.
Röntgenologisch sind akute Parodontitiden meist unauffällig, Röntgen
wenn auch manchmal eine geringe Verbreiterung des apikalen Desmo-
dontalspalts diagnostiziert werden kann.
Klinisch bestehen zumeist starke Schmerzen. Typisch sind das Ge- Klinik
fühl der Zahnelongation und Schmerzen bei axialer Belastung. Wenn der
ursächliche Reiz beseitigt wird, kann die Entzündung narbig ausheilen.
Bei anhaltendem Reiz erfolgt eine Überführung in andere Formen
der Parodontitis.
10
Parodontitis apicalis chronica
Die chronische apikale Parodontitis ist eine zumeist abgekapselte Ent-
zündung des periapikalen Parodonts (Abb. 10.4a und b).
Sie ist gewöhnlich in direkter Nachbarschaft zum Foramen apicale Lokalisation
lokalisiert, kann in Ausnahmefällen aber auch im Bereich der Mündung
lateraler Kanäle entstehen. Der chronische Verlauf erfolgt, wenn sich
ein Gleichgewicht zwischen bakterieller Irritation und Körperabwehr
einstellt.
a b
Abb. 10.4: a) Parodontitis apicalis bei einem unteren ersten Molaren in Form einer diffusen Radioluzenz um
die mesiale Wurzelspitze, b) Parodontitis apicalis bei einem unteren Prämolaren in Form einer umschriebe-
nen Radioluzenz. Ursächlich ist eine undichte Wurzelkanalfüllung mit einem Silberstift.
348 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Klinik Klinisch ist die chronische Parodontitis meist unauffällig.
Röntgen Röntgenologisch zeigt sich neben der Erweiterung des Desmodon-
talspalts eine variabel große Knochenläsion.
Ursachen Neben den genannten möglichen anderen Ursachen geht die Ent-
stehung der Läsion zumeist vom infizierten Wurzelkanal aus. Die Mi-
kroflora im Wurzelkanal bildet Antigene und Toxine, die über den Apex
hinaus auf das apikale Gewebe einwirken und dort zu einer Abwehrre-
aktion führen.
Die Rolle, die die verschiedenen, im Wurzelkanal vorhandenen Bak-
terien für die Pathogenese spielen, ist noch weitgehend unklar. Einige
Bakterien lösen direkt toxische Effekte durch Enzyme und Zytotoxine
aus. Große Bedeutung wird auch der Aktivierung des Immunsystems
durch bakterielle Antigene zugeschrieben.
Da die Körperabwehr die im Wurzelkanal lokalisierten Mikroorga-
nismen nicht erreichen kann, führen Entzündung und Immunreaktion
nicht zur Ausheilung, sondern der Prozess wird in Abhängigkeit von
speziellen Eigenschaften der bakteriellen Flora und dem Abwehrvermö-
gen des Wirtes in verschiedene Verlaufsformen überführt.
Apikales Granulom
Bei anhaltendem chronischem Verlauf wird das ursprüngliche Gewebe
im apikalen Bereich durch Granulationsgewebe ersetzt.
Um das Foramen apicale kommt es zu einer kugelförmigen An-
sammlung von Granulationsgewebe, dem Granulom. Durch das Wachs-
tum des Granuloms kommt es zur Knochen- und – in geringem Um-
fang – Wurzelresorption.
Das Granulationsgewebe enthält Gefäße, Nerven und Fibroblasten
und ist von einer Kollagenfasern enthaltenden Bindegewebekapsel um-
geben. Im meist kernförmigen Infiltrat dominieren Makrophagen ne-
ben Lymphozyten, Plasmazellen und neutrophilen Granulozyten.
Manchmal finden sich von Malassez-Epithelresten abstammende
proliferierende Epithelstränge.
Apikale Zyste
Histopathologie Eine Zyste ist ein mit flüssiger oder breiiger Substanz gefüllter pathologi-
scher Hohlraum, der von einem mehrschichtigen Plattenepithel ausge-
kleidet und von einer Kapsel aus Granulationsgewebe umgeben ist. Zu-
meist als Folgeerscheinung eines Granuloms kann sich durch Zellprolife-
ration im Entzündungsgebiet eine apikale (radikuläre) Zyste entwickeln.
Entstehung Eine wahre Zyste entsteht, wenn durch anhaltenden Reiz Granula-
tionsgewebe nekrotisch wird und Epithelzellen, die den Malassez-Epi-
thelresten entstammen, zur Proliferation angeregt werden und den ent-
standenen Hohlraum auskleiden. Die Zellproliferation wird vermutlich
durch bakterielle Antigene angeregt. Der flüssige oder breiige Zystenin-
halt enthält nekrotische Zellen, neutrophile Granulozyten, Makropha-
10.6 Parodontitis apicalis Kapitel 10 349
gen und Cholesterinkristalle. Etablierte Zysten können Größen von ei-
nigen Millimetern bis zu 1,5 cm Durchmesser haben.
Die zum Wurzelkanal offene Taschenzyste soll durch eine blasenar-
tige Extension des infizierten Wurzelkanals in den Periapex entstehen.
Ein mehrschichtiges Plattenepithel kleidet das blasenähnliche Lumen
aus und bildet einen Epithelkragen um die Wurzelspitze.
Durchschnittlich große Zysten können röntgenologisch nicht von Röntgen
Granulomen unterschieden werden.
Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass periapikale Läsionen
nicht, wie früher angenommen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 1
einer der beiden Formen zugeordnet werden können, sondern radiku-
läre Zysten tatsächlich nur ca. 15% aller entzündlichen periapikalen
Veränderungen ausmachen. Sowohl Granulom wie auch Zyste sind
i.d.R. die Antwort der Abwehrkräfte auf Reize, die durch die Infektion
des Wurzelkanals ausgelöst werden.
Beseitigt man die Ursache durch eine Wurzelkanalbehandlung,
kann gewöhnlich mit einer Ausheilung gerechnet werden.
Nur wahre Zysten, deren Inzidenz in der Gruppe der radikulären Zysten
unter 10% liegt, können vermutlich nicht durch eine konventionelle
endodontische Therapie ausgeheilt werden.
10
Sklerosierende Ostitis
Eine sklerosierende Ostitis stellt sich im Röntgenbild als lokalisierte Os-
teosklerose des Knochens im periapikalen Bereich dar (Abb. 10.5). Man
vermutet, dass die klinisch symptomlose Sklerosierung durch schwache,
lang anhaltende Reize, die von einer Pulpitis oder Parodontitis apicalis
ausgehen, ausgelöst wird.
Abb. 10.5: Sklerosierende
Ostitis bei einem unteren
Prämolaren
350 10 Erkrankungen der Pulpa und des Periapex
Die Verdichtung (engl.: condensing apical periodontitis) kommt
durch Anlagerung von Knochen auf Kosten der Markräume zustande.
Nach Beseitigung des Reizes normalisiert sich die Knochenstruktur lang-
sam wieder.
Akuter und chronischer apikaler Abszess
Wenn der Reiz, der zur Auslösung einer Parodontitis apicalis führt, beson-
ders groß oder die körpereigene Abwehr reduziert ist, kann es zu einer ex-
trem schmerzhaften, akuten eitrigen Entzündung kommen. Hierbei wer-
den nekrotisches Gewebe und abgestorbene Entzündungszellen verflüssigt.
Ursachen Verursacht werden apikale Abszesse zumeist durch Invasion patho-
gener Bakterien.
Akute Abszesse können auf der Basis einer chronischen apikalen Pa-
rodontitis entstehen, wenn sich die Virulenz der Bakterien oder die Ab-
wehrlage ändert (Phönixabszess). Häufig werden iatrogene Ursachen
(Überinstrumentierung, Überfüllung) als Ursache angegeben.
Fast immer lassen sich aus Abszessen Bakterien isolieren, die aus der
Flora des Wurzelkanals stammen.
Verlauf Der entstandene Eiter kann vom Wirtsorganismus nicht abgebaut
werden, sondern muss nach außen abfließen können. Der Durchbruch
eines Abszesses nach außen, der oft mit einer Verminderung der starken
Schmerzen verbunden ist, erfolgt zumeist auf dem kürzesten Weg in die
umgebenden Weichteile.
Bei besonders heftigem Verlauf und ungünstiger Ausbreitung des Abs-
zesses kann es zu ernsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen.
Bei chronischem Verlauf kann es zur Abkapselung des Abszesses und
zur Ausbildung einer Fistel kommen, durch die der Eiter abgeführt wer-
den kann. Diese Verlaufsform eines Abszesses ist für die Patienten selten
schmerzhaft.
Bei Beseitigung des ursächlichen Reizes kann es zur Ausheilung der
Knochenläsion und zur Rückbildung der Fistel kommen (Abb. 10.6a
und b).
a b
Abb. 10.6: a) Parodontitis apicalis chronica mit dargestellter Fistel (eingeführter Guttaperchastift) bei ei-
nem oberen Prämolaren, b) Zustand 9 Monate später nach erfolgter Wurzelkanalfüllung
Kapitel 11 351
11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und
Behandlung der erkrankten Pulpa
! Eine korrekte Diagnose ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche
Therapie. Besonders bei unklaren Schmerzbildern sind ein syste-
matisches Vorgehen und die Kombination aller erhobenen Be-
funde erforderlich.
11.1 Endodontische Schmerzsymptomatik
! Schmerz ist ein subjektives Phänomen, das durch Reizung der
Nervenendigungen ausgelöst wird.
Der Nervenimpuls wird durch physische, emotionelle und kulturelle
Faktoren modifiziert. Dies bedeutet, dass vergleichbare Reize von ver-
schiedenen Personen sehr unterschiedlich empfunden werden können.
Die Angaben der Patienten über Art und Intensität von Schmerzen kön-
nen also nur mit Einschränkungen bei der Diagnosestellung helfen.
Für die Schmerzvermittlung eines hellen, umschriebenen Schmer- Schmerz- 11
zes, wie er bei hypersensiblem Dentin auftritt, werden die schnellen A- vermittlung
Delta-Fasern verantwortlich gemacht. Dumpfe Schmerzen wie bei einer
symptomatischen Pulpitis werden in Verbindung mit den C-Fasern ge-
bracht.
Als Mechanismus für die Schmerzauslösung bei einer Pulpitis wer- Schmerz-
den hauptsächlich zwei Wege diskutiert: Eine direkte Erregung freier auslösung
Nervenendigungen durch mikrobielle Endotoxine (Lipopolysaccharide)
oder eine durch die angeborene bzw. die erworbene Immunantwort
(bei chronischen Infektionen) vermittelte Reaktion. Hierbei werden
über Mediatoren (Kinine, Prostaglandine u.a.) eine Vasodilatation und
eine Plasmaextravasation ausgelöst, die dann zu einer Erhöhung des lo-
kalen Gewebedrucks, zum Abfall des pH-Wertes und damit zur Erniedri-
gung der Schwelle der Nozizeptoren führen. Entzündungsmediatoren
können aber auch direkt eine Reizung freier Nervenendigungen verursa-
chen. Durch Entzündung und Gewebeschädigung werden die C-Fasern,
die eine hohe Reizschwelle haben, erregt.
Bei wiederholten Reizen kann es zum Einsprießen von neuen Ner-
venendigungen im Bereich der Reizeinwirkung kommen. Dies kann in-
nerhalb eines Zeitraums von wenigen Tagen zu einer Verstärkung der
Schmerzsensationen führen.
352 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
Aus klinischer Sicht bietet sich bei pulpitischen Schmerzen eine
Unterteilung in reversible und irreversible Pulpitis an. Davon abzu-
grenzen ist die Hypersensibilität des Dentins.
11.1.1 Hypersensibilität des Dentins
Wenn der Zahnschmelz als Schutzmantel der Pulpa und des Dentins aus
physiologischen oder unphysiologischen Gründen verloren geht oder
Wurzeldentin zur Mundhöhle exponiert ist, können schon geringe
Reize zu einer erheblichen Schmerzempfindung führen. Beispiele hier-
für sind frei liegende Zahnhälse, keilförmige Defekte, Erosionen, Karies
oder undichte Füllungen. In den meisten Fällen ist die Pulpa eines hy-
persensibel reagierenden Zahnes gesund und entzündungsfrei.
Schmerzaus- Zu den schmerzauslösenden Reizen zählen thermische, mechani-
lösende Reize sche, osmotische und elektrische Reize. Obwohl eine Beziehung zwi-
schen neuralen Strukturen und Odontoblasten demonstriert werden
konnte, ist der genaue Mechanismus der Schmerzübertragung vom
Dentin auf die neuralen Strukturen der Pulpa nicht ganz geklärt.
Schmerz- Theorien, die von einer direkten Nervenstimulation ausgehen oder
entstehung dem Odontoblastenfortsatz eine Rezeptorfunktion zuschreiben, konnten
bisher nicht erhärtet werden. Am besten lässt sich die Schmerzentste-
hung mit der hydrodynamischen Theorie erklären. Danach wird der
Schmerz durch mechanische Stimulation der Nerven im zirkumpulpalen
Dentin und in den peripheren Pulpabereichen ausgelöst. Der Reiz wird
durch Flüssigkeitsbewegung in den Dentinkanälchen verursacht. Pulpa
und Dentinkanälchen enthalten Gewebeflüssigkeit mit einem hydrosta-
tischen Druck von etwa 30 mm Quecksilbersäule und damit ein Druck-
gefälle nach außen. Die Flüssigkeit in den Dentinkanälchen ist durch Ka-
pillarkräfte fixiert. Durch physikalische, chemische oder osmotische
Reize kann eine Flüssigkeitsbewegung ausgelöst werden. Typische Ursa-
chen für die Auslösung von Flüssigkeitsbewegungen in die eine oder an-
dere Richtung sind das Trockenpusten der Kavität, Applikation von Kälte
oder Wärme oder die Einwirkung osmotisch aktiver Substanzen wie z.B.
Zucker. Charakteristisch für diesen reizabhängigen Zahnschmerz ist der
offensichtliche Zusammenhang zwischen auslösendem Reiz und
Schmerzempfindung. Die Wahrnehmung des Schmerzes tritt spontan
oder nur leicht verzögert auf und verschwindet relativ schnell wieder, so-
dass die Schmerzen die Zeit der Reizeinwirkung nur wenig überdauern.
11.1.2 Symptomatische Pulpitis und Parodontitis apicalis
! Eine Entzündung der Pulpa oder des apikalen Parodonts kann mit
Schmerzen verbunden sein oder völlig asymptomatisch verlaufen.
11.1 Endodontische Schmerzsymptomatik Kapitel 11 353
Tab. 11.1: Schmerzsymptome bei reversiblen und irreversiblen Pulpitiden
Reversible Pulpitis Irreversible Pulpitis
stechend pulsierend, pochend
kurz dauernd (Sekundenschmerz) anhaltend
reizabhängig auf heiß, kalt, süß oder sauer reizüberdauernd
Schmerzen auf Wärmereiz
Nachtschmerz
lokalisiert ausstrahlend
Wenn pulpitische Beschwerden auftreten, können diese durch eine
akute Pulpitis oder die Exazerbation einer chronischen Pulpitis verur-
sacht worden sein.
Für die weiteren Therapiemaßnahmen ist es zuerst einmal zweckmä-
ßig, aufgrund der vorliegenden Schmerzsymptomatik eine Abgrenzung
zwischen einer reversiblen und irreversiblen Pulpitis vorzunehmen
(Tab. 11.1).
Der Begriff reversible Pulpitis beschreibt eher klinische Erfahrungs-
werte als eine wirkliche Diagnose des Zustands der Pulpa. Am ehesten
möglich ist eine Ausheilung, wenn das Stadium der Hyperämie noch
nicht überschritten ist, aber auch in späteren Stadien ist eine Defekthei-
lung oder zumindest Schmerzfreiheit nicht ausgeschlossen (s. Kap. 10.2).
Klinisch wird die Diagnose reversible Pulpitis dann gestellt, wenn Reversible
bei einwirkenden Reizen wie heiß, kalt, süß oder sauer die Schmerzemp- Pulpitis
findung die Reizeinwirkung nicht oder nur kurz überdauert. Die
Schmerzqualität wird oft als stechend beschrieben und die Schmerzen 11
können i.d.R. einem bestimmten Zahn zugeordnet werden. Oft findet
sich ein solches Schmerzbild auch bei undichten Restaurationen und
bei einer Dentinkaries. Eine Abgrenzung zur Hypersensibilität des Den-
tins ist schwierig, da sich die Schmerzbilder stark ähneln.
Die Schmerzqualität bei einer irreversiblen Pulpitis wird oft als an- Irreversible
haltend, dumpf, ausstrahlend, pulsierend oder bohrend beschrieben. Pulpitis
Häufig kann der Pulpaschmerz nicht richtig lokalisiert werden. In der
Regel kann vom Patienten zumindest eine Gruppe von Zähnen als Aus-
gangsort der Schmerzen angegeben werden. Als besonders charakteris-
tisch wird auch der reizunabhängig auftretende Nachtschmerz bezeich-
net.
Traditionell werden anhaltende Schmerzen nach einem Kältereiz
mit einer akuten serösen Entzündung in Verbindung gebracht. Bei eit-
rigen Entzündungsformen erhöht Wärme die Schmerzen, und Kälte
verschafft Linderung.
Die so gestellte klinische Diagnose steht aber in den meisten Fällen
nicht in Übereinstimmung mit dem histologischen Befund, wie vielfach
deutlich gezeigt werden konnte.
In der Anfangsphase einer akuten Parodontitis apicalis kann es
schwierig sein, anhand der Symptome zwischen pulpalem oder periapi-
kalem Schmerz zu differenzieren.
354 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
Das typische Schmerzbild der akuten Parodontitis apicalis ist dann
dadurch gekennzeichnet, dass der betroffene Zahn berührungsempfind-
lich wird und vom Patienten beim Zubeißen als zu hoch empfunden
wird. Dies wird verursacht, weil das entzündungsbedingte Ödem den
Zahn aus der Alveole drückt. Diagnostisch weisen Schmerzen bei der
vertikalen Perkussion des Zahnes, z.B. mit dem Griff eines zahnärztli-
chen Instruments, auf eine Entzündung des apikalen Parodonts hin.
Die apikale Entzündung kann primär akut sein, oder es kann sich
um die Exazerbation eines chronischen Prozesses handeln. Wenn ein
akuter apikaler Abszess entsteht, kommt es zumeist bis zum Durchbruch
des Abszesses nach außen zu sehr intensiven, anhaltenden Schmerzen.
11.1.3 Differenzialdiagnose pulpaler und periapikaler Schmerzen
! Schmerzen, die durch eine Pulpitis oder Parodontitis apicalis ver-
ursacht werden, müssen differenzialdiagnostisch von zahlreichen
anderen vergleichbaren, Schmerzen verursachenden Erkrankun-
gen abgegrenzt werden.
Parodontal- Besondere Probleme kann die Abgrenzung zu parodontalen Erkrankun-
abszess gen, wie einem Parodontalabszess, machen. Die klinische Untersu-
chung, die eine Sensibilitätsprüfung und Sondierung des Parodontiums
beinhalten muss, und das Röntgenbild können Aufschluss über die Art
der Erkrankung geben. Liegt isoliert ein Parodontalabszess vor, ist die
Pulpa in der Regel vital.
Es können aber auch Formen von kombinierten parodontalen und
periapikalen Läsionen auftreten.
Vorkontakte Eine Restauration, die Vorkontakte aufweist, kann zur Überlastung
und Schädigung der parodontalen Strukturen bzw. zur traumatischen
Okklusion führen. Infolge der Gewebeschädigung kann es zu einer ste-
rilen Entzündung und zu Schmerzen kommen, die bei Beseitigung der
Störung reversibel sind. Klinisch gekennzeichnet sind solche Fälle häu-
fig durch eine kürzlich angefertigte Restauration, Schliff-Facetten auf
der Restauration und Perkussionsempfindlichkeit in Richtung der Über-
belastung.
Sinusitis Bei einer bestehenden Sinusitis maxillaris werden vom Patienten oft
maxillaris Überempfindlichkeit auf kalte Reize und Perkussionsempfindlichkeit
mehrerer benachbarter Zähne angegeben. Neben der Vitalitätsprüfung
sollte auf typische Sinusitissymptome – Schmerzen beim Vornüberbeu-
gen des Kopfes, Schmerzen bei Druck auf die Suborbitalregion oder die
Fossa canina, Erkältungskrankheiten – geachtet werden.
Benachbarte Ausstrahlende Schmerzen von den Zähnen benachbarter Strukturen
Strukturen können mit Zahnschmerzen verwechselt werden. Hierzu zählen vom
Kiefergelenk ausgehende Schmerzen beim temporomandibulären
Schmerzdysfunktionssyndrom, neurologische Schmerzen bei einer Tri-
11.2 Klinische Diagnostik Kapitel 11 355
geminusneuralgie oder Neuritis und ausstrahlende Schmerzen aufgrund
von Otitis, Osteomyelitis, Zysten und Neoplasien, Erkrankungen der
Speicheldrüse, Migräne, Phantomschmerzen u.a.m.
Eine Abgrenzung muss auch zu Dentininfrakturen sowie Wurzel-
und Kronenfrakturen aufgrund eines Traumas vorgenommen werden.
11.2 Klinische Diagnostik
! Zur Untersuchung des Patienten gehören vor der operativen Be-
handlung:
D allgemeinmedizinische und spezielle zahnmedizinische Anam-
nese
D Schmerzanamnese
D extraorale und intraorale klinische Untersuchung
D Sensibilitätsprüfung, Perkussionstest
D Röntgendiagnostik
Zu Beginn der operativen Behandlung:
D intraoperativer Befund
11.2.1 Allgemeinmedizinische Anamnese
Die allgemeinmedizinische Anamnese soll Klarheit verschaffen, ob der
Gesundheitszustand des Patienten durch die zahnärztliche Behandlung 11
oder aber der Behandlungsverlauf durch den Gesundheitszustand be-
einflusst werden kann. Der Patient soll in schriftlicher Form Auskunft
geben, ob Herz- und Kreislauferkrankungen, Stoffwechselerkrankungen,
Allergien oder Infektionserkrankungen – speziell Hepatitis und HIV-In-
fektion – vorliegen und ob zurzeit Medikamente eingenommen werden
(s. auch Kap. 3.1.2).
Zur Vermeidung einer infektiösen Endokarditis ist es beim Vorliegen
bestimmter schwerer Erkrankungen erforderlich, die Behandlung unter
Antibiotikaschutz vorzunehmen. Hierzu zählen insbesondere Patien-
ten mit angeborenen, erworbenen und chirurgisch korrigierten Herz-
und Gefäßerkrankungen, Patienten mit Organtransplantationen und
Patienten nach Radiatio im Kopfbereich. In vielen Fällen ist selbst bei
schwereren Allgemeinerkrankungen die endodontische einer chirurgi-
schen Therapie aufgrund der geringeren Belastung vorzuziehen.
11.2.2 Zahnmedizinische Anamnese
Wenn der Patient Beschwerden hat, sollen nicht nur die aktuellen Be-
schwerden, sondern auch die in der Vergangenheit aufgetretenen Be-
schwerden und Therapiemaßnahmen erfragt werden.
356 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
Schmerz- Die Schmerzanamnese beinhaltet folgende Fragen:
anamnese D Wann und unter welchen Einflüssen traten die Schmerzen erstmals
auf?
D Wodurch wird der Schmerz ausgelöst oder gelindert (Kälte, Wärme,
Druck), oder tritt er spontan auf?
D Wie lange hält der Schmerz an?
D Wie ist die Schmerzqualität (hell, dumpf, pulsierend usw.)?
D Sind die Schmerzen lokalisierbar, diffus oder ausstrahlend?
Bei der Erhebung der Schmerzanamnese ist zu berücksichtigen, dass
die vorhergehende Einnahme von Analgetika, Barbituraten oder
Psychopharmaka das Schmerzempfinden deutlich verändern kann.
Fragen zur Schmerzqualität müssen immer kritisch bewertet werden, da
Schmerzen individuell oft sehr unterschiedlich empfunden und be-
schrieben werden.
11.2.3 Klinische Untersuchung
Die allgemeine klinische Untersuchung erfolgt extra- und intraoral.
Extraorale Bei der extraoralen Untersuchung wird vor allem auf folgende
Untersuchung Punkte geachtet:
D Asymmetrien
D Schwellungen in der Kopf- und Halsregion
D Lymphknoten
D Nebenhöhlen
D Kiefergelenk
Intraorale Die intraorale Untersuchung umfasst:
Untersuchung D Oralhygiene
D Schleimhäute
D Zähne
D Parodont
D Qualität und Quantität von Restaurationen
D Schwellungen
D Fisteln
D Zahninfrakturen und Zahnfrakturen
Endodontische Zu den speziellen endodontischen Untersuchungen gehören Palpation,
Untersuchung Perkussion, Prüfung der Zahnbeweglichkeit, Sondierung des Parodonts,
Prüfung der Okklusionsverhältnisse, Sensibilitätstest und Röntgenunter-
suchung. In seltenen Fällen können die Transillumination, die Testkavi-
tät, der Aufbisstest und die selektive Lokalanästhesie angewendet werden.
Von den genannten Tests sind die Perkussionsprobe und die Sensibi-
litätstestung zumeist die wichtigsten Maßnahmen.
11.2 Klinische Diagnostik Kapitel 11 357
Perkussionstest
Der Perkussionstest ist besonders wichtig zur Abgrenzung und Diagnose
einer Parodontitis apicalis. Die Perkussionsempfindlichkeit eines Zah-
nes wird mit der Fingerkuppe oder, wenn kein Resultat auftritt, mit dem
Griff eines zahnärztlichen Instruments durchgeführt. Ein Beklopfen der
Kauflächen wird als vertikale Perkussion, ein Beklopfen der Seitenflä-
chen als horizontale Perkussion bezeichnet. Zu Vergleichszwecken soll-
ten benachbarte Zähne ebenfalls mit untersucht werden.
Ein positives Ergebnis bei vertikaler Perkussion weist zumeist auf
eine apikale Parodontitis, bei horizontaler Perkussion auf parodon-
tale Ursachen hin.
Auch eine gelockerte Füllung, ein desmodontales Trauma oder vertikale
Zahnfrakturen und Zahninfrakturen können zu positiven Resultaten
führen.
Sensibilitätsprüfung
Die bekanntesten Verfahren zur Sensibilitätsprüfung der Pulpa sind die
Anwendung von Kälte, Wärme und Strom. Die Verfahren basieren da-
rauf, dass eine gesunde Pulpa auf die einwirkenden Reize normal rea-
giert, während eine entzündete Pulpa überempfindlich und eine nekro-
tische Pulpa unempfindlich reagiert. Bei der thermischen Sensibilitäts-
prüfung kommt es aufgrund der schnellen Temperaturänderung zu
einer Flüssigkeitsbewegung in den Dentinkanälchen und nachfolgender 11
Stimulation der A-Delta-Fasern.
Für den Kältetest ist die Anwendung von Kohlensäureschnee Kältetest
(–78,5 °C) oder Dichloridfluormethan (ca. –25 °C) üblich. Die Anwen-
dung von Kohlensäureschnee gilt als sicherste Methode.
Die Kälte soll möglichst an Stellen des Zahnes aufgebracht werden,
die der Pulpa nahe sind (Abb. 11.1). Bei korrekter, kurzzeitiger Applika-
tion ist mit keiner Schädigung der Pulpa oder der Zahnhartsubstanz zu
rechnen. Nach Anwendung von Kohlensäureschnee für wenige Sekun-
Abb. 11.1: Vorgehen bei der
Sensibilitätsprüfung mit
Kohlensäureschnee
358 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
den kommt es zu einer Temperaturveränderung von nur ca. 2,5 °C an
der Pulpa-Dentin-Grenze.
Wärmetest Der Wärmetest wird in der Regel mit heißer Stangen- oder Platten-
guttapercha durchgeführt. Der Test eignet sich mit Einschränkungen
zur Diagnose einer eitrigen Pulpitis. Die Reizschwelle für Wärme ist al-
lerdings sehr hoch, sodass dieses Testverfahren mit großen Ungenauig-
keiten verbunden ist. Insgesamt werden die thermischen Testverfahren
durch Faktoren wie Dicke des Dentins und Sekundärdentins und die
Empfindlichkeit des Patienten beeinflusst.
Elektrische Werden elektrische Impulse durch den Zahn geleitet, wird ein
Testung Schmerz verspürt. Zur elektrischen Testung sind monopolare oder bipo-
lare Gerätearten verwendbar. Bei den für die Praxis besser geeigneten
monopolaren Geräten wird der Stromkreis über den Zahnarzt geschlos-
sen.
Die zu testenden Zähne werden trockengelegt und mit einem leiten-
den Medium, zum Beispiel Zahnpasta, benetzt. Bei Berührung der Zahn-
oberfläche ist darauf zu achten, dass kein Kontakt der Elektrode zu
Nachbarzähnen, Restaurationen, Gingiva oder Schleimhaut der Wange
oder Lippe vorhanden ist, da dies zu falschen Resultaten führen kann.
Die Spannung wird nun kontinuierlich aufgebaut, bis der Patient bei
positiver Antwort ein leichtes Kribbeln verspürt. Als negative Antwort
wird gewertet, wenn die Skala des Geräts ein Maximum erreicht hat,
ohne dass der Patient einen Reiz verspürt hat.
Trotz zahlreicher Faktoren, die zu falsch-positiven oder falsch-nega-
tiven Ergebnissen führen können, gelten elektrische Testverfahren als
sinnvolle Hilfsmittel, besonders zur Diagnose einer Pulpanekrose.
Röntgendiagnostik
! Die Anfertigung von Röntgenbildern ist ein wichtiger Bestandteil
der endodontischen Diagnostik, und ein qualitativ hochwertiges
Röntgenbild – möglichst mit der Langtubustechnik angefertigt –
hat einen hohen Informationswert (Abb. 11.2).
Abb. 11.2: Diagnostisches
Röntgenbild: unvollständige
Wurzelkanalfüllung bei ei-
nem unteren Molaren
11.2 Klinische Diagnostik Kapitel 11 359
Abb. 11.3: a) Strahlengang bei orthoradialer, distal
und mesial exzentrischer Projektion, b) Darstellung
der Wurzeln und Wurzelkanäle der Prämolaren und
Molaren des Ober- und Unterkiefers bei orthograder,
distal und mesial exzentrischer Projektion (nach
Goerig und Neaverth 1987)
mesial
distal exzentrisch
exzentrisch
orthoradial a
Z
Z Z P
B P P B P BPB
P B
B
P P
B B
orthoradial mesial exzentrisch distal exzentrisch
B B B B
L L L
11
L B B L
orthoradial mesial exzentrisch distal exzentrisch
Z = Processus zygomatikus B = bukkal
P = palatinal L = labial b
Die diagnostische Aussagekraft eines einzelnen Bildes ist dadurch limi-
tiert, dass ein dreidimensionales Objekt zweidimensional dargestellt
wird. So kann es in bestimmten Fällen empfehlenswert sein, Bilder aus
verschiedenen Projektionsrichtungen anzufertigen. Man unterschei-
det hierbei das orthograde, mesial oder distal exzentrische Bild (Abb.
11.3).
Das Röntgenbild kann folgende Informationen liefern:
D Ausdehnung kariöser Defekte und Füllungen in Relation zur Pulpa
D Ausdehnung des Pulpakavums
D Ausmaß der Sekundär- und Tertiärdentinbildung
D Verkalkungen oder größere Dentikel im Pulparaum
D annähernde Zahnlänge
D Anatomie der Wurzeln und Wurzelkanäle
D Wurzelkrümmung in möglichst allen Richtungen
360 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
D Lokalisation des Foramen apicale
D Wurzelresorptionen
D periapikale Läsionen
D Zustand des Parodonts
D Perforationen
D Zahnfrakturen
Als unerlässlich gilt die Röntgenuntersuchung zur Diagnostik der Pulpa
und des apikalen Parodontiums bei der Erstuntersuchung:
D zur Bestimmung der Arbeitslänge bei der Wurzelkanalbehandlung
D bei Verdacht auf Via falsa
D nach Abschluss der Wurzelkanalbehandlung
Bei der Beurteilung von Röntgenbildern muss bedacht werden, dass die
Interpretation abhängig vom Betrachter und von den Umständen ist.
Die Interpretation variiert sowohl zwischen verschiedenen Betrachtern
wie auch bei einzelnen Betrachtern zwischen verschiedenen Zeitpunk-
ten.
Digitale Röntgen- Als Alternative zum herkömmlichen Röntgenbild hat die digitale
technik Röntgentechnik zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Vorteile der digitalen Röntgentechnik sind die geringere Dosisbelas-
tung (Reduktion von 50–80%), schnellere Verfügbarkeit der Aufnahme,
variable Bilddarstellung, der Verzicht auf Chemikalien sowie die Mög-
lichkeit der elektronischen Archivierung mit Einbindung in Netzwerke.
Grundsätzlich kann man zwischen direkten und indirekten digita-
len Röntgentechniken unterscheiden. Bei den direkten Systemen wan-
delt ein Sensor, der einen CCD-Chip enthält, im Mund des Patienten
die auftreffenden Röntgenstrahlen in ein elektronisches Signal. Der Sen-
sor ist durch ein Kabel mit einem Computer verbunden, und das digi-
tale Röntgenbild kann sofort auf dem Monitor betrachtet werden.
Nachteilig an den direkten Systemen sind die geringe Größe des Sen-
sors, die nur einem Kinderzahnfilm entspricht, und die manchmal stö-
rende Kabelverbindung.
Beim indirekten Verfahren dient eine Speicherfolie (Phosphor-
schicht, Bariumfluorid, Brom) als Bildzwischenspeicher. Die Speicherfo-
lien entsprechen von ihrer Größe etwa den üblichen Zahnfilmen.
Durch Röntgenstrahlen wird die Halogenidschicht angeregt. Anschlie-
ßend wird in einem Scanner die Oberfläche mit einem Laserstrahl abge-
tastet, und das resultierende Signal wird in ein digitales Bild umgewan-
delt.
Insgesamt ist bei den digitalen Systemen die Ortsauflösung gegen-
über den konventionellen Mundfilmen (Stufe D) noch etwas verringert.
Dieser Nachteil wird aber durch die zahlreichen Möglichkeiten zur Bild-
nachbearbeitung (z.B. Helligkeits- und Kontrastkorrekturen, 3-D-Dar-
stellung, Dichte-, Abstands- und Winkelmessung, Pseudocolorierung)
weitgehend wieder aufgehoben.
11.2 Klinische Diagnostik Kapitel 11 361
Intraoperativer Befund
Nach der Entfernung von insuffizienten Restaurationen und/oder der
Exkavation kariösen Dentins wird der Kavitätenboden sorgfältig inspi-
ziert. Ein geschlossener, harter, oft auch verfärbter Kavitätenboden weist
auf eine nicht infizierte Pulpa und eine reversible Pulpitis hin. Reicht
das kariöse, infizierte Dentin bis zur Pulpa, liegen in der Regel eine In-
fektion der Pulpa und eine irreversible Pulpitis vor. Finden sich Risse
und Infrakturen des Dentins, können diese die Ursache einer Pulpitis
sein. Wenn ein Zugang zur Pulpa besteht und das Gewebe nekrotisch
oder eitrig ist, kann eine Wurzelkanalbehandlung in der Regel nicht
mehr umgangen werden.
Übersicht zur Differenzialdiagnose nach klinischen Gesichtspunkten
D Gesunde Pulpa und symptomlose Pulpa: Die Pulpa ist vital,
schmerzlos und reagiert normal auf die Sensibilitätsprüfung. Kli-
nisch ist es nicht möglich, zwischen einer gesunden Pulpa und einer
symptomlosen Pulpitis zu unterscheiden.
D Reversible – irreversible Pulpitis: Die beiden Formen können an-
hand der klinischen Untersuchung nicht sicher voneinander unter-
schieden werden, und beide Formen können asymptomatisch oder
symptomatisch sein. Wichtig: Krankengeschichte und Schmerz-
symptomatik (s. Tab. 11.1). Sensibilität: i.d.R. (+), Perkussion: i.d.R.
(–), Röntgen: o.B.
D Pulpanekrose: Voraussetzung: Die Pulpanekrose kann asymptoma-
tisch oder symptomatisch sein, wobei in der Regel die sterile Pulpa- 11
nekrose schmerzlos und die infizierte Pulpanekrose schmerzhaft ver-
läuft.
D Sterile Pulpanekrose: Sensibilität: (–), Schmerzen: (–), Perkussion:
(–), Röntgen: o.B.
D Infizierte Pulpanekrose: Sensibilität: (–), Schmerzen: stark (+), Per-
kussion: stark (+), Palpation: oft (+), Röntgen: o.B. oder schwach er-
weiterter Parodontalspalt.
D Akute, symptomatische Parodontitis apicalis: Die akute, schmerz-
hafte apikale Parodontitis ist häufig mit einer Pulpitis verbunden.
Das typische klinische Zeichen ist die Perkussionsempfindlichkeit
des Zahnes. Lässt sich bei der röntgenologischen Untersuchung eine
apikale Läsion darstellen, handelt es sich um die akute Exazerbation
einer chronischen Parodontitis apicalis. Sensibilität: (–) oder (+),
Schmerzen: stark (+), Perkussion: stark (+), Palpation: (+), Zahnbe-
weglichkeit oft erhöht, Röntgen: o.B. oder schwach erweiterter Paro-
dontalspalt.
D Chronische, asymptomatische Parodontitis apicalis: Die chroni-
sche apikale Parodontitis zeigt in der Regel keine oder nur geringe
klinische Symptome. Röntgenologisch lässt sich aber eine periapi-
kale Läsion nachweisen. Sensibilität: (–), Schmerzen: (–), Perkussion:
(–), Palpation: (–), Röntgen: apikale Aufhellung.
362 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
D Akuter apikaler Abszess: Diagnostische Sicherheit besteht dann,
wenn Pus durch den Wurzelkanal abfließt oder ein subperiostaler
bzw. submuköser Abszess auftritt. Sensibilität: (–), Schmerzen: stark
(+), Perkussion: stark (+), Palpation: (+), Röntgen: apikale Aufhellung.
D Chronischer apikaler Abszess: Bei der chronischen Verlaufsform
tritt oft eine Fistel auf. Der Fistelgang kann nach Einführung eines
Guttaperchapoints oft röntgenologisch dargestellt werden. Sensibili-
tät: (–), Schmerzen: (–), Perkussion: (–), Palpation: (–) oder (+), Rönt-
gen: apikale Aufhellung, Fistelgang.
11.3 Therapiemaßnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa
! Die Erhaltung der vitalen Pulpa ist eines der wichtigsten Anliegen
der zahnärztlichen Therapie.
Folgende endodontische Maßnahmen dienen der Erhaltung oder der
teilweisen Erhaltung der Vitalität der Pulpa:
D indirekte Pulpaüberkappung
D direkte Pulpaüberkappung
D Vitalamputation
11.3.1 Indirekte Pulpaüberkappung
Voraussetzung für eine indirekte Pulpaüberkappung ist, dass die Pulpa
noch nicht eröffnet, vital und asymptomatisch ist. Der Begriff „indi-
rekte Pulpaüberkappung“ wird verschiedenartig ausgelegt.
! Man versteht unter indirekter Pulpaüberkappung entweder die
Maßnahme der zweiphasigen, schrittweisen Kariesentfernung oder
die gezielte Abdeckung pulpanahen Dentins nach einzeitiger kom-
pletter Exkavation bei vorliegender Caries profunda. (s. Kap. 5.5).
11.3.2 Direkte Pulpaüberkappung
! Unter der direkten Pulpaüberkappung versteht man die Abde-
ckung der akzidentiell frei gelegten Pulpaoberfläche.
Zu einer Eröffnung der Pulpa kann es bei zahnärztlichen Maßnahmen
wie der Kariesentfernung und der Kronenpräparation oder im Zusam-
menhang mit einem Trauma kommen.
Indikation Die Indikation für eine direkte Überkappung besteht bei Zähnen, de-
ren Pulpa klinische Symptomfreiheit oder nur dezente Hinweise auf
das Bestehen einer geringgradigen, reversiblen Entzündung zeigt. Ent-
11.3 Therapiemaßnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa Kapitel 11 363
zündungsfreiheit der Pulpa kann besonders dann angenommen wer-
den, wenn die Pulpa im gesunden Dentin eröffnet wurde. Typische Bei-
spiele sind hierfür die akzidentelle Eröffnung der Pulpa bei der Präpara-
tion oder bei einer komplizierten Kronenfraktur.
Weniger Einfluss auf die Prognose als früher angenommen scheinen Prognose
die Größe der Perforationsstelle und das Alter der Patienten zu besitzen.
Die Forderung, die maximale Größe der Perforation solle einen Durch-
messer von 1 mm nicht überschreiten, ist nach neuerer Auffassung
nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch ein fortgeschrittenes Alter der Pa-
tienten kann nicht als Kontraindikation gelten, obwohl dann die Hei-
lungsprozesse, bedingt durch eine allgemein reduzierte restitutive Po-
tenz des Gewebes, verzögert ablaufen können.
Wird die Pulpa durch ein Trauma frei gelegt, sollte die Überkappung
möglichst rasch, maximal aber zwei Tage nach dem Trauma vorge-
nommen werden, da sonst mit einer Infektion des Pulpagewebes
gerechnet werden muss.
Wird die Pulpa im Rahmen der Exkavation kariösen Dentins eröffnet,
ist die Prognose sehr unsicher. Wenn das kariöse, infizierte Dentin bis zur
Pulpa reicht, muss angenommen werden, dass eine Entzündung vorliegt.
Wird um die Eröffnungsstelle kariöses Dentin belassen, ist mit einer zu-
sätzlichen Wundinfektion mit sehr ungünstiger Prognose zu rechnen.
Obwohl viele verschiedene Materialien und Techniken, wie z.B. Kalziumhydroxid
Cyanoacrylate, Kalzium-Phosphat-Keramiken, Zytokine, Dentinbon- 11
dingsysteme, Mineral Trioxide Aggregate oder Laserstrahlung, zur Pul-
paüberkappung erprobt worden sind, wird heute fast ausschließlich
Kalziumhydroxid verwendet. Kalziumhydroxid ist stark alkalisch (pH
> 12) und gibt Hydroxylionen ab.
Nach Aufbringen von Kalziumhydroxid auf die Wundfläche kommt
es zu einer scharf begrenzten Gewebenekrose an der Berührungsfläche.
Im darunter liegenden Gewebe zeigt sich eine leichte Entzündungsreak-
tion, und es kommt durch erhöhte Stoffwechselaktivität zu zahlreichen
Kapillarneubildungen.
Die nekrotische Zone induziert pulpawärts eine Differenzierung von
Fibroblasten und Mesenchymzellen zu Hartsubstanz bildenden Zellen
und die Bildung eines kollagenen Faserwerks. Dieses Faserwerk wird zu
Fibrodentin mineralisiert.
Schon nach sieben Tagen ist eine Hartsubstanzbarriere nachweisbar.
Nach ein bis zwei Monaten entsteht sekundär tubuläres Dentin, das sich
pulpawärts an das Fibrodentin anschließt.
Die besten Erfolgsaussichten bestehen, wenn das Überkappungs-
mittel direkt auf das Gewebe gelegt werden kann, ohne dass sich an
der Eröffnungsstelle ein Blutgerinnsel gebildet hat. Sehr wichtig ist
auch der dauerhaft dichte Verschluss der Kavität.
364 11 Schmerzsymptomatik, Diagnostik und Behandlung der erkrankten Pulpa
Obwohl es nicht immer zur Ausbildung einer Tertiärdentinschicht
kommt, sind die in klinischen Studien ermittelten Erfolgsquoten für die
direkte Überkappung sehr hoch (70–95%).
Klinisches Das klinische Vorgehen in Stichworten:
Vorgehen D absolute Trockenlegung des Zahnes mit Kofferdam
D Reinigung und Trocknung der Kavität
D drucklose Applikation eines weich bleibenden Kalziumhydroxid-
Präparats
D Überschichtung mit einem erhärtenden Kalziumhydroxid-Präparat
D Unterfüllung
D Deckfüllung
11.3.3 Vitalamputation
! Unter der Vitalamputation oder Pulpotomie versteht man die teil-
weise Entfernung der vitalen Pulpa.
Indikation Eine Indikation für diese Maßnahme besteht bei einer nur partiellen
Pulpitis oder bei großflächig akzidentiell frei gelegter Pulpa aufgrund
zahnärztlicher Maßnahmen oder einer komplizierten Kronenfraktur.
Bei permanenten Zähnen gilt die Vitalamputation nur dann als
Methode der Wahl, wenn das Wurzelwachstum des betroffenen Zahnes
nicht abgeschlossen ist und somit keine reguläre Wurzelkanalbehand-
lung durchgeführt werden kann. Dies impliziert, dass die Vitalamputa-
tion oft als semipermanente Maßnahme bis zum Abschluss des Wurzel-
wachstums durchgeführt wird.
Die Kronenpulpa wird mit sterilen Instrumenten, vorzugsweise Ex-
kavator und Rosenbohrer, im Bereich der Wurzelkanaleingänge oder ei-
nige Millimeter im Wurzelkanal (hohe Amputation) entfernt. Die Stil-
lung der Blutung erfolgt mit physiologischer Kochsalzlösung, und die
weitere Versorgung der Amputationswunde wird im Sinne der direkten
Überkappung durchgeführt.
Prognose Die Prognose der Vitalamputation ist deutlich schlechter als die ver-
gleichbarer endodontischer Maßnahmen. Deswegen sollen in kurzen
Zeitabständen (drei, sechs und zwölf Monate) klinische und röntgeno-
logische Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden.
Klinisches Das klinische Vorgehen in Stichworten:
Vorgehen D absolute Trockenlegung des Zahnes mit Kofferdam
D Desinfektion des gesamten Arbeitsfeldes
D Entfernung der Kronenpulpa mit sterilen Instrumenten
D Stillung der Blutung mit physiologischer Kochsalzlösung
D weiteres Vorgehen wie bei der direkten Überkappung (s.o.)
Kapitel 12 365
12 Anatomische Grundlagen für die
Wurzelkanalbehandlung
! Die genaue Kenntnis der Anatomie der Zähne und speziell des
Wurzelkanalsystems ist Voraussetzung für die erfolgreiche Durch-
führung von Wurzelkanalbehandlungen.
Die Wurzeln weisen typischerweise verschiedene Krümmungen auf, die
Wurzelkanäle haben verschiedenartige Querschnitte, und neben dem
Hauptkanal finden sich mehr oder wenig häufig Seitenkanäle.
Seitenkanäle, die senkrecht oder schräg zum Hauptkanal stehen,
werden oft als laterale oder sekundäre Kanäle bezeichnet.
Wenn sie den Hauptkanal im Bereich des Apex in schräger Richtung
verlassen, werden sie als akzessorische Kanäle bezeichnet.
Bei mehrwurzeligen Zähnen sind sekundäre Kanäle sehr häufig am
Pulpakammerboden im Bereich der Bifurkation oder Trifurkation anzu-
treffen. Sie werden auch als Pulpaperiodontalkanäle bezeichnet.
12.1 Foramen apicale
12
! Das Foramen apicale bildet den natürlichen Zugang zur Pulpa-
höhle.
Vielfach gibt der Wurzelkanal im apikalen Teil zahlreiche akzessorische
Kanäle ab, sodass ein sog. apikales Delta (apikale Ramifikation) ent-
steht.
Die engste Stelle des Wurzelkanals am Apex wird als physiologi- Physiologischer
scher Apex (Foramen physiologicum), apikale Konstriktion oder endo- Apex
dontischer Apex bezeichnet. An dieser Stelle findet sich i.d.R. die Ze-
ment-Dentin-Grenze, das Desmodont beginnt und das Pulpagewebe
geht in ein pulpo-parodontales Mischgewebe über. Der Durchmesser des
Wurzelkanals beträgt an dieser Stelle etwa 0,15–0,25 mm, wobei sich die
Konstriktion mit zunehmendem Alter verengt.
Tatsächlich existiert aber eine große anatomische Vielfalt im Bereich
des apikalen Wurzeldrittels und Konstriktionen können nicht nur
punktförmig, sondern auch streckenförmig, parallel oder sogar multipel
vorhanden sein. Durch pathologische Prozesse wie eine chronische Pa-
rodontitis apicalis kann die Konstriktion durch Resorptionen an der
Wurzelspitze auch ganz verloren gehen.
366 12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung
Abb. 12.1: Anatomie und To-
Dentin pographie der Wurzelspitze
Zement
anatomischer
Apex
A Foramen
physiologicum
Foramen apicale
B
röntgeno-
logischer
C Apex
AB = Distanz
For. physiologicum For. apicale
AC = Distanz
For. physiologicum röntgenologischer Apex
Anatomischer Die anatomische Wurzelspitze wird als anatomischer Apex bezeich-
Apex net, und die Stelle des Zahnes, die sich im Röntgenbild als Wurzelspitze
darstellt, wird als röntgenologischer (radiologischer) Apex bezeichnet.
Der Abstand vom Foramen physiologicum zum Foramen apicale
(Strecke AB) beträgt gewöhnlich 0,5–1,0 mm, der Abstand vom Foramen
physiologicum zum röntgenologischen Apex (Strecke AC) beträgt
0,5–2,0 mm. Die Abstände vergrößern sich mit dem Alter, da die apikale
Zementapposition zunimmt (Abb. 12.1). Aufgrund der großen Variabili-
tät der anatomischen Strukturen ist es sehr schwierig, ein exaktes Maß
zur Lage der apikalen Konstriktion anzugeben.
12.2 Wurzelkanalkonfiguration
Innerhalb einer Wurzel bestehen zahlreiche Kombinationsmöglichkei-
ten hinsichtlich der Lage und Form der Wurzelkanäle. Man kann die Ka-
nalkonfigurationen grob in vier Grundtypen einteilen (Abb. 12.2, Tab.
12.1). Diese Klassifikation von Weine wird oft um einen Typ V mit drei
separaten Wurzelkanälen ergänzt. Von anderen Autoren wurden auch
Klassifikationen mit 6, 8 oder sogar 10 Typen der Kanalkonfiguration
beschrieben.
Tab. 12.1: Grundtypen der Kanalkonfiguration innerhalb einer Wurzel
Typ I 1 Kanal
Typ II 2 Kanäle, die sich vor dem Apex vereinigen
Typ III 2 Kanäle mit getrennten apikalen Foramina
Typ IV 1 Kanal, der sich im mittleren oder apikalen Wurzelabschnitt in 2 Kanäle
verzweigt
12.4 Die einzelnen Zahntypen Kapitel 12 367
Abb. 12.2: Die 4 verschiede-
nen Typen der Wurzelkanal-
konfiguration in einer Wur-
zel (nach Weine 1989)
Typen der
Wurzelkanalkonfiguration
12.3 Altersbedingte Veränderungen des Wurzelkanals
Bei noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum findet sich ein weites
Lumen des Wurzelkanals. Im frühen Entwicklungsstadium ist die api-
kale Öffnung größer als das Wurzelkanallumen und verkleinert sich mit
Fortschreiten des Wachstums. Während des Alterungsprozesses wird
fortwährend Sekundärdentin angelagert, und das Lumen der Pulpa-
höhle und der Wurzelkanäle nimmt kontinuierlich ab. In Extremfällen
kann es zu einer teilweisen oder vollständigen Obliteration des Wurzel- 12
kanals kommen, die eine Aufbereitung unmöglich macht.
12.4 Die einzelnen Zahntypen
Zur Längenbestimmung bei der Wurzelkanalbehandlung kann es
hilfreich sein, Informationen über durchschnittliche Zahnlängen zu be-
sitzen. Alle Angaben zur Zahnlänge sind aber sehr behutsam zu betrach-
ten, da die Variationsbreite sehr groß ist. Sie kann zwischen dem kleins-
ten und größten Wert oft 10 mm betragen.
12.4.1 Der mittlere und seitliche obere Schneidezahn
Beide Zähne haben nur eine Wurzel und einen zumeist rundlich ovalen
Wurzelkanal. Die Wurzel des mittleren Schneidezahnes verläuft fast im-
mer gerade, während der seitliche Schneidezahn oft eine Wurzelkrüm-
mung nach distal bzw. palatinal aufweist (Abb. 12.3 und 12.4).
368 12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung
durchschnittliche
Zahnlänge: 23 mm
Anzahl der Wurzeln: 1
Anzahl der Wurzelkanäle: 1
vesti-
bulär
vesti- mesial distal
mesial distal bulär oral
oral
Abb. 12.3: Der mittlere obere Schneidezahn: Schnitt in mesio-distaler und oral-vestibulärer Richtung und in
okklusaler Ansicht mit Darstellung der Zugangskavität
durchschnittliche
Zahnlänge: 22 mm
Anzahl der Wurzeln: 1
Anzahl der Wurzelkanäle: 1
vesti-
bulär
vesti- mesial distal
mesial distal oral
bulär
oral
Abb. 12.4: Der seitliche obere Schneidezahn
12.4.2 Der mittlere und seitliche untere Schneidezahn
Die unteren Schneidezähne haben eine Wurzel, die in mesio-distaler
Richtung stark abgeplattet ist (Abb. 12.5). Der Wurzelkanal hat einen
ovalen bis hantelförmigen Querschnitt. Besonders stark abgeplattete
Wurzeln können zwei Kanäle haben, die in einem gemeinsamen Fora-
men apicale münden (Konfigurationstyp II).
12.4 Die einzelnen Zahntypen Kapitel 12 369
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl
vesti- der Wurzeln: 1
oral Anzahl
bulär
der Wurzelkanäle: 1 häufig
2 selten
vesti- vesti-
mesial distal oral
bulär bulär
mesial distal
oral
Abb. 12.5: Der mittlere und seitliche untere Schneidezahn
12.4.3 Der obere Eckzahn
Der obere Eckzahn hat eine Wurzel und einen zumeist ovalen Wurzelka-
nal (Abb. 12.6). Im apikalen Bereich ist die Wurzel oft nach labial oder
palatinal gekrümmt. Die manchmal extreme Länge des Zahnes (bis weit
über 30 mm) kann technische Schwierigkeiten bei der Aufbereitung mit
sich bringen.
durchschnittliche
Zahnlänge: 26 mm
Anzahl der Wurzeln: 1
Anzahl der Wurzelkanäle: 1
12
vesti-
bulär
mesial distal
vesti-
mesial distal oral oral
bulär
Abb. 12.6: Der obere Eckzahn
12.4.4 Der untere Eckzahn
Der untere Eckzahn hat i.d.R. eine Wurzel und einen Wurzelkanal (Abb.
12.7). Selten finden sich in einer Wurzel zwei Kanäle (meist Konfigura-
tionstyp II) oder zwei eigenständige Wurzeln. Die Morphologie des Zah-
nes entspricht insgesamt dem oberen Eckzahn.
370 12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung
durchschnittliche
Zahnlänge: 24 mm
Anzahl
vesti- der Wurzeln: 1 häufig
oral
bulär 2 sehr selten
Anzahl
der Wurzelkanäle: 1 häufig
2 selten
vesti-
vesti- bulär
mesial distal oral
bulär
mesial distal
oral
Abb. 12.7: Der untere Eckzahn
12.4.5 Der erste obere Prämolar
Der erste obere Prämolar kann eine (40%) oder zwei (60%) und in selte-
nen Fällen sogar drei Wurzeln haben (Abb. 12.8). Bei zweiwurzeligen
Zähnen finden sich eine bukkale und eine palatinale Wurzel. Einwurze-
lige Zähne haben i.d.R. zwei Wurzelkanäle variabler Konfiguration. Die
Wurzeln sind häufig gekrümmt. Die Wurzelspitzen können bei mehr-
wurzeligen Zähnen sehr zierlich sein. Die bukkale Wurzel hat oft eine
stark konkave Form, was die Perforationsgefahr bei der Wurzelkanalauf-
bereitung erhöht.
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 2 häufig
1 weniger häufig
Anzahl der Wurzelkanäle: 2 sehr häufig
1 selten
vesti-
bulär
distal mesial
vesti-
distal mesial oral bulär
oral
Abb. 12.8: Der erste obere Prämolar
12.4.6 Der zweite obere Prämolar
Der zweite obere Prämolar hat zu etwa 90% eine Wurzel und zu 30% in
dieser Wurzel zwei Kanäle variabler Konfiguration (Abb. 12.9). Bei den
12.4 Die einzelnen Zahntypen Kapitel 12 371
meisten zweiwurzeligen Zähnen trennen sich die Wurzeln erst im unte-
ren Drittel. Die Grundform der Wurzel ähnelt der des ersten Prämola-
ren.
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 1 sehr häufig
2 selten
Anzahl der Wurzelkanäle: 1 häufig
2 selten
vesti-
vesti- bulär
oral
bulär
distal mesial
distal mesial vesti- oral
oral
bulär
Abb. 12.9: Der zweite obere Prämolar
12.4.7 Der erste und zweite untere Prämolar
Beide untere Prämolaren haben fast immer nur eine Wurzel (Abb.
12.10). Der erste Prämolar weist zu 25% mehr als einen Wurzelkanal
auf, der zweite nur in seltenen Fällen. Wenn zwei Kanäle vorliegen, fin- 12
durchschnittliche
Zahnlänge: 21,5 mm
Anzahl der Wurzeln: 1 sehr häufig
2 selten
Anzahl der Wurzelkanäle: 1 häufig
2 selten
vesti-
distal mesial oral
bulär
vesti- oral
bulär vesti-
bulär
mesial distal
oral
Abb. 12.10: Der erste und zweite untere Prämolar
372 12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung
den sie sich bukkal und lingual, wobei der linguale Kanal häufig erst im
unteren Wurzeldrittel abzweigt. Bei der Präparation der Zugangskavität
muss in besonderem Maß auf die Kronenflucht geachtet werden.
12.4.8 Der erste und zweite obere Molar
Die ersten und zweiten oberen Molaren haben i.d.R. drei Wurzeln, die
mesio-bukkal, disto-bukkal und palatinal lokalisiert sind (Abb. 12.11
und 12.12). Beim zweiten Molaren finden sich zu 20% zweiwurzelige
Zähne. Die mesio-bukkale Wurzel hat eine abgeplattete Form, die bei-
den anderen Wurzeln eine rundlich-ovale Form. Die mesio-bukkale
Wurzel ist meist nach distal gekrümmt, die palatinale Wurzel kann nach
bukkal gekrümmt sein, und die distale Wurzel ist i.d.R. gerade.
Während die disto-bukkale und die palatinale Wurzel fast immer
nur einen Wurzelkanal haben, finden sich sehr häufig (40–90%) zwei
Kanäle in der mesio-bukkalen Wurzel. Zumeist münden die beiden Ka-
näle in ein gemeinsames Foramen apicale (Konfigurationstyp II). Oft ist
die Dentinschicht zwischen den beiden Wurzelkanälen so dünn, dass es
bei der Aufbereitung zu einer Vereinigung der beiden Kanäle mit dann
hantelförmigem Querschnitt kommt.
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 3
Anzahl der Wurzelkanäle: 3 häufig
4 sehr häufig
vestibulär
vesti- oral distal mesial
bulär
distal mesial
oral
Schnitt Schnitt Eröffnungskavität
mesio-distal oral-vestibulär
Abb. 12.11: Der erste obere Molar
12.4 Die einzelnen Zahntypen Kapitel 12 373
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 3 häufig
2 weniger häufig
Anzahl der Wurzelkanäle: 3 sehr häufig
4 weniger häufig
vestibulär
vesti- oral
bulär
distal mesial
distal mesial
oral
Schnitt Schnitt Eröffnungskavität
mesio-distal oral-vestibulär
Abb. 12.12: Der zweite obere Molar
12.4.9 Der erste und zweite untere Molar
Die unteren Molaren haben fast immer zwei Wurzeln, die mesial und
distal lokalisiert sind (Abb. 12.13 und 12.14). Während die mesiale Wur-
zel meistens eine distale Krümmung aufweist, verläuft die distale Wur-
zel fast immer gerade und ist nur in seltenen Fällen nach distal ge-
krümmt. 12
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 2 sehr häufig
3 selten
Anzahl der Wurzelkanäle: 3 häufig
2 selten
4 selten
distal mesial
vestibulär
vesti- oral
bulär
mesial distal
oral
Schnitt Schnitt Eröffnungskavität
mesio-distal oral-vestibulär
Abb. 12.13: Der erste untere Molar
374 12 Anatomische Grundlagen für die Wurzelkanalbehandlung
durchschnittliche
Zahnlänge: 21 mm
Anzahl der Wurzeln: 2 sehr häufig
1 selten
3 sehr selten
Anzahl der Wurzelkanäle: 3 häufig
2 selten
distal mesial
vestibulär
vesti- oral
bulär
mesial distal
oral
Schnitt Schnitt Eröffnungskavität
mesio-distal oral-vestibulär
Abb. 12.14: Der zweite untere Molar
Die mesiale Wurzel enthält überwiegend (ca. 85%) zwei Wurzelka-
näle, die sehr häufig dem Konfigurationstyp III entsprechen. Die distale
Wurzel hat zumeist nur einen Wurzelkanal. Beim zweiten Molaren fin-
det man häufiger als beim ersten Molaren nur einen Wurzelkanal in der
mesialen Wurzel.
Kapitel 13 375
13 Die Wurzelkanalbehandlung
13.1 Behandlungsplanung
! Eine Wurzelkanalbehandlung umfasst die Aufbereitung und Fül-
lung des Wurzelkanalsystems nach sachgerechter Vorbereitung.
Der prinzipielle Ablauf einer Wurzelkanalbehandlung ist in der
Tabelle 13.1 dargestellt.
Tab. 13.1: Prinzipieller Ablauf einer Wurzelkanalbehandlung
Klinischer und röntgenologischer Befund
↓
Lokalanästhesie (falls erforderlich)
↓
Anlegen von Kofferdam
↓
Kariesentfernung, Aufbaufüllung (falls erforderlich)
↓
Zugangskavität
↓
Lokalisation der Kanaleingänge
↓
Sondierung des Wurzelkanals
↓
Längenbestimmung (Röntgenmessaufnahme)
↓
Aufbereitung des Wurzelkanals, Spülung, Trocknung
13
↓
Medikamentöse Einlage, Provisorischer Verschluss (falls erforderlich)
↓
Wurzelkanalfüllung
↓
Röntgenaufnahme
↓
Provisorische oder definitive Füllung
13.1.1 Indikationen zur Wurzelkanalbehandlung
Eine Wurzelkanalbehandlung kann grundsätzlich bei allen Patienten aus-
geführt werden, die auch andere zahnärztliche Maßnahmen tolerieren.
Spezifische Indikationen sind:
D eine irreversibel geschädigte oder nekrotische Pulpa mit oder ohne
klinische und/oder röntgenologische Hinweise auf eine Beteiligung
periradikulärer Gewebe
376 13 Die Wurzelkanalbehandlung
D die intentionelle Devitalisation, um beispielsweise einen Wurzelstift
verankern zu können, ein zweifelhafter Pulpazustand vor restaurati-
ven Maßnahmen, drohende Pulpaeröffnung während der Präpara-
tion eines Zahnes (mit Fehlstellung) und eine geplante Wurzelresek-
tion oder Hemisektion
13.1.2 Kontraindikationen zur Wurzelkanalbehandlung
D Zähne, die nicht funktionell wiederhergestellt oder restauriert wer-
den können
D Zähne mit ungenügendem parodontalen Halt
D Zähne mit schlechter Prognose, nicht kooperative Patienten oder
Patienten, bei denen eine zahnärztliche Behandlung ausgeschlossen
ist (z.B. ein Allgemeinzustand Grad IV/ASA)
D Zähne von Patienten mit einem mangelhaften Mundgesundheitszu-
stand, der innerhalb eines adäquaten Zeitraums nicht verbessert
werden kann
13.1.3 Indikationen zur Revision von Wurzelkanalbehandlungen
D Zähne mit unzureichender Wurzelkanalfüllung und röntgenologi-
schen Befunden und/oder Symptomen
D Zähne mit unzureichender Wurzelkanalfüllung, wenn die koronale
Restauration erneuert werden muss oder die Zahnkrone gebleicht
werden soll
13.2 Vorbereitende Maßnahmen
13.2.1 Kofferdam
Bei der Wurzelkanalbehandlung ist das Anlegen von Kofferdam ob-
ligatorisch.
In der Regel muss nur der zu behandelnde Zahn mit Kofferdam isoliert
werden. Der Zeitaufwand für diese Maßnahme ist sehr gering, die Effek-
tivität sehr hoch.
Vorteile Kofferdam bietet folgende Vorteile:
D Schutz des Patienten vor Verschlucken oder Aspiration der Wurzel-
kanalinstrumente
D Schutz des Behandlers vor infektiösen Erkrankungen (Hepatitis,
Aids) des Patienten
D Schutz des Weichgewebes (Gingiva, Zunge, Lippe, Wange, Mundboden,
Gaumen), besonders bei der Anwendung desinfizierender Lösungen
13.2 Vorbereitende Maßnahmen Kapitel 13 377
D aseptisches, absolut trockenes Arbeitsfeld
D ungestörtes, stressfreies Arbeiten
13.2.2 Präparation und Rekonstruktion des Zahnes
Vor Beginn einer Wurzelkanalbehandlung müssen vorhandene ka-
riöse Läsionen grundsätzlich exkaviert werden. Jedes Belassen von
kariösem Material kann dazu führen, dass Bakterien in den Wurzel-
kanal verschleppt werden.
Bei Zähnen, deren Krone weitgehend zerstört ist, ist manchmal keine
absolute Trockenlegung mit Kofferdam ohne vorbereitende Maßnah-
men möglich.
Besonders häufig treten Probleme auf, wenn der approximale Kavi-
tätenrand nach Entfernung der Karies unterhalb des Gingivaniveaus
liegt. In solchen Fällen muss der Zahn vor Beginn der Behandlung mit
einer Aufbaufüllung versehen werden. Eine Aufbaufüllung bietet auch
den Vorteil, dass so ein verlässlicher Referenzpunkt für die Längenbe-
stimmung gefunden werden kann.
Bei der Herstellung einer Aufbaufüllung muss beachtet werden, dass
schon frei gelegte Wurzeleingänge nicht verlegt werden dürfen. Zu die-
sem Zweck werden die Kanaleingänge mit einem leicht wieder zu entfer-
nenden Material, z.B. einem provisorischen Füllungsmaterial, abge-
deckt (Abb. 13.1).
Weiterhin sollte beachtet werden, dass die Krone achsengerecht
wieder aufgebaut wird, da es sonst bei gekippten Zähnen zu einer Des-
orientierung über die Lage der Kanaleingänge kommen kann.
13
Abb. 13.1: Aufbaufüllung mit
Abdeckung der Wurzelka-
naleingänge als vorberei-
tende Maßnahme für die Aufbau
Wurzelkanalbehandlung bei -
tief zerstörten Zähnen
Gingiva-
niveau
leicht
entfern-
bares
Material
378 13 Die Wurzelkanalbehandlung
13.3 Zugangskavität und Lokalisation der
Wurzelkanaleingänge
13.3.1 Prinzipien der Zugangskavität
Die Zugangskavität muss grundsätzlich folgende Anforderungen erfül-
len:
Die Zugangskavität muss so gewählt werden, dass das Pulpakam-
merdach vollständig entfernt werden kann.
D Die Neigung der Wände soll so gewählt werden, dass eine voll-
ständige Übersicht über den Pulpakammerboden besteht, die
Kanaleingänge lokalisiert werden können und für einen späte-
ren (provisorischen) Verschluss Retention geboten wird.
D Die Zugangskavität muss so gestaltet sein, dass Wurzelkanalin-
strumente spannungsfrei eingeführt werden können.
Das empfohlene Instrumentarium zur Anfertigung und Gestaltung der
Eröffnungskavität ist in der Abbildung 13.2 dargestellt.
Eröffnung Die Eröffnung der Kavität wird mit kugelförmigen Diamanten oder
vergleichbaren Instrumenten bis tief in das Dentin vorgenommen (Abb.
13.3a und 13.4a). Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss Kofferdam ange-
legt werden.
Das Pulpakammerdach wird dann mit einem Rosenbohrer eröff-
net. Bei besonders tiefen Kavitäten ist die Verwendung von überlangen
Rosenbohrern sinnvoll. Das Pulpakammerdach wird von innen nach
außen abgetragen, um einen vollständigen Abtrag zu gewährleisten
(Abb. 13.3b und 13.4b).
Gestaltung Zur endgültigen Gestaltung der Zugangskavität sind Battbohrer
mit unbelegter Spitze empfehlenswert, weil so eine Beschädigung des
Pulpakammerbodens vermieden werden kann (Abb. 13.4c).
Abb. 13.2: Instrumente zur
Eröffnung und Gestaltung
der Zugangskavität: kugel-
förmiger Diamant, überlan-
kugelförmiger Diamant ger Rosenbohrer und Batt-
bohrer mit unbelegter
Spitze
überlanger Rosenbohrer
Battbohrer
13.3 Zugangskavität und Lokalisation der Wurzelkanaleingänge Kapitel 13 379
a b
Abb. 13.3: Präparation der Zugangskavität bei Frontzähnen: a) Eröffnung der Kavi-
tät bis tief in das Dentin mit einem kugelförmigen Diamanten, b) Eröffnung der
Pulpakammer und Abtragung des Pulpakammerdachs von innen nach außen mit
einem Rosenbohrer
a b c 13
Abb. 13.4: Präparation der Zugangskavität bei Seitenzähnen: a) Eröffnung der Kavi-
tät bis tief in das Dentin mit einem kugelförmigen oder zylindrischen Diamanten,
b) Eröffnung der Pulpakammer und Abtragung des Pulpakammerdachs von innen
nach außen mit einem Rosenbohrer, c) Formgebung der Kavität unter Schonung
des Pulpakammerbodens mit einem Battbohrer
Eine Beschädigung des Pulpakammerbodens soll vermieden werden.
Typische Fehler beim Anlegen der Zugangskavität entstehen, wenn die
Zahnachse nicht beachtet oder falsch eingeschätzt wird und wenn nicht
genügende Kenntnisse über die anatomischen Verhältnisse vorhanden
sind (Abb. 13.5).
Besonders beim mesio-bukkalen Kanal der oberen Molaren ist der
direkte Zugang zum Wurzelkanal oft durch Dentinüberhänge versperrt.
In diesen Fällen ist es sinnvoll, zur Erleichterung des Zugangs vor der
Sondierung des Kanals die entsprechenden Übergänge vorsichtig abzu-
tragen (Abb. 13.6).
380 13 Die Wurzelkanalbehandlung
a b c
Abb. 13.5: Typische Fehler bei der Trepanation eines Zahnes: a) Nichtbeachtung der Zahnachse, b) Perfora-
tion des Pulpakammerbodens im Bereich der Furkation, c) falsche Einschätzung der Zahnachse bei über-
kronten Zähnen
Abb. 13.6: Erleichterung des
Zugangs zum mesio-bukka-
len Kanal oberer Molaren
durch Abtragung von Den-
tinüberhängen im Bereich
des Kanaleingangs
Stabilität Die Entfernung des Pulpakammerdachs bedeutet für den betreffen-
den Zahn den Verlust einer wichtigen Querverstrebung und damit eine
verminderte Stabilität. Dem ist bei Prämolaren und Molaren mit gro-
ßen MOD-Kavitäten Rechnung zu tragen, indem die verbliebenen An-
teile der Zahnkrone eingeschliffen bzw. gekürzt werden.
Nach Abschluss der Wurzelkanalbehandlung müssen solche Zähne
mit einem Overlay oder einer Krone versorgt werden.
Praktisches Praktisches Vorgehen:
Vorgehen D Trepanation bis tief in das Dentin mit einem kugelförmigen Dia-
manten
D Anlegen des Kofferdams und Desinfektion des Arbeitsfeldes
D Trepanation des Pulpakammerdachs mit einem Rosenbohrer
D Entfernung des gesamten Pulpakammerdachs mit dem Rosenbohrer
von innen nach außen
13.3 Zugangskavität und Lokalisation der Wurzelkanaleingänge Kapitel 13 381
D Gestaltung des Kavitätenumrisses mit einem Battbohrer oder ver-
gleichbarem Instrument unter Schonung des Pulpakammerbodens
D Entfernung der koronalen Pulpa vorrangig mit einem Exkavator (bei
vitaler Pulpa) oder mit einem Rosenbohrer (bei nekrotischer Pulpa)
D Stillung der Blutung, z.B. mit physiologischer Kochsalzlösung, Rei-
nigung und Trocknung der Kavität
13.3.2 Lokalisation der Kanaleingänge
Die Lokalisation der Kanaleingänge sollte immer unter guter Sicht erfol-
gen und die Pulpakammer muss sauber und trocken sein. Gewebereste
und Bohrstaub werden durch Spülen mit einer geeigneten Lösung ent-
fernt. Gelegentlich kann die Anfärbung des Pulpakammerbodens mit ei-
ner Farbstofflösung helfen, die Kanaleingänge sichtbar zu machen. Be-
sonders geeignet zum Austasten ist eine doppelendige, gerade Endo-
sonde mit zwei verschiedenen Abwinklungen oder ein Micro-Opener.
Der Pulpakammerboden bietet bei der Suche nach den Kanaleingän-
gen zahlreiche Orientierungshilfen. Auf der Höhe der Schmelz-Zement-
Grenze liegt die Pulpakammer immer zentral im Zahn. Die Wände der
Pulpakammer sind normalerweise konzentrisch zur äußeren Kronen-
kontur angeordnet. Der Pulpakammerboden stellt sich immer dunkler
dar als die Wände der Pulpakammer. Die Eingänge der Wurzelkanäle lie-
gen in der Regel am Übergang von Pulpakammerboden zu den aufstei-
genden Wänden der Pulpakammer.
Können die Kanaleingänge aufgrund von Verkalkungen, Dentikeln
oder Dentinüberhängen nicht sicher lokalisiert werden, empfiehlt sich
die Abtragung von Dentin im Bereich der Kanaleingänge mit einem
kleinen Rosenbohrer mit überlangem Schaft oder einem Müller-Bohrer. 13
Um Perforationen zu vermeiden, sollte in besonders schwierigen Fällen
ein zusätzliches Röntgenbild angefertigt werden. Geringere Perfora-
tionsgefahr besteht, wenn verlegte Kanaleingänge mit speziellen, mit
Ultraschall angetriebenen Ansätzen freigelegt werden. Sehr hilfreich
kann in solchen Fällen auch der Einsatz eines Operationsmikroskops
sein (Abb. 13.7).
Besondere Vorteile des Operationsmikroskops (OPM) sind die varia-
ble 2–25-fache Vergrößerung, die schattenfreie Ausleuchtung des Ar-
beitsfeldes und die Möglichkeit einer ergonomisch vorteilhaften Be-
handlungsposition. Das OPM ermöglicht eine leichte Differenzierung
zwischen zahnfarbenen Restaurationsmaterialien, regulärem Wurzel-
dentin und irregulärem Dentin. Die plastisch wirkende Detaildarstel-
lung und die feinen farblichen Nuancen erlauben in der Regel ein pro-
blemloses Auffinden der Wurzelkanaleingänge. So gelingt z.B. das Auf-
finden eines zweiten mesio-bukkalen Kanals beim oberen ersten
Molaren mithilfe eines Operationsmikroskops deutlich häufiger. Wei-
tere wichtige Einsatzgebiete für das OPM sind auch Revisionen von
382 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Abb. 13.7: Darstellung des ersten und zweiten mesio-bukkalen Kanals eines oberen
Molaren mithilfe des Operationsmikroskops vor und nach der Entfernung von
Dentinspänen
Wurzelkanalbehandlungen sowie die Entfernung frakturierter Instru-
mente.
13.3.3 Vorgehen bei den verschiedenen Zahntypen
Trepanation der Die Trepanation der Schneide- und Eckzähne erfolgt immer von der
Schneide- und oralen Seite her, vom Tuberkulum ausgehend nach inzisal bei Erhal-
Eckzähne tung der Schneidekante. Es ist besonders darauf zu achten, dass das ge-
samte Pulpadach entfernt und die Kronenpulpa gründlich ausgeräumt
wird, da verbleibendes Gewebe zu kosmetisch unerwünschten Verfär-
bungen der Zahnkrone führen kann.
Trepanation der Die Trepanation der Seitenzähne erfolgt immer von okklusal. Bei den
Seitenzähne Prämolaren, die i.d.R. zwei Wurzelkanäle haben, wird die Zugangskavität
in vestibulär-oraler Richtung bis kurz vor die Höckerspitzen ausgedehnt.
Findet sich bei gewöhnlich einwurzeligen Zähnen ein Kanalein-
gang nicht direkt unterhalb der zentralen Fissur, sondern nach ves-
tibulär oder oral versetzt, muss nach einem zweiten Kanal gesucht
werden.
Erste untere Beim ersten unteren Prämolaren ist besonders darauf zu achten, dass der
Prämolaren zierliche linguale Höcker nicht zu sehr geschwächt wird.
Obere Molaren Das Zentrum der Zugangskavität befindet sich bei oberen Molaren
im mesialen Anteil der okklusalen Fläche. Die Kavität wird distal
durch die Crista transversa und mesial durch den Randwulst begrenzt.
Eingang zum Der Eingang zum mesio-bukkalen Kanal (ein oder zwei Kanäle) fin-
mesio-bukkalen det sich i.d.R. sehr weit mesio-bukkal lokalisiert, der Eingang des palati-
Kanal nalen Kanals findet sich etwas unterhalb des großen mesio-palatinalen
Höckers, der Eingang des distalen Kanals etwas versetzt nach bukkal vor
der Crista transversa. Bei falscher Präparation der Zugangskavität (zu
weit distal) kann es passieren, dass der distale Kanaleingang für den me-
13.4 Sondierung des Wurzelkanalsystems und Bestimmung der Arbeitslänge Kapitel 13 383
sio-bukkalen Kanaleingang gehalten und dann die Zahnkrone distal
perforiert wird.
In schwierigen Fällen kann es sinnvoll sein, für einen besseren direk-
ten Einblick den mesio-bukkalen Höcker zu kürzen.
Die Kanaleingänge der unteren Molaren liegen im mesialen und Kanaleingänge
zentralen Teil der Krone. Um beide mesialen Kanäle darstellen zu kön- der unteren
nen, muss die Kavität mesial vor allem nach bukkal erweitert werden, Molaren
sodass die Form eines Dreiecks mit der Basis nach mesial und der Spitze
nach distal entsteht.
Der distale Anteil darf nicht spitz, sondern muss abgerundet sein, da
sonst ein manchmal vorkommender zweiter distaler Kanal übersehen
wird.
Auch bei den unteren Molaren kann es hilfreich sein, den mesio-
bukkalen Höcker zur Verbesserung der Sichtverhältnisse zu kürzen.
13.4 Sondierung des Wurzelkanalsystems und
Bestimmung der Arbeitslänge
! Vor Beginn der Sondierung des Wurzelkanalsystems und der Län-
genbestimmung sollte ein diagnostisches Röntgenbild vorliegen,
das Informationen über die Form und Krümmung der Wurzeln
und die Länge des Zahnes liefert. Vor der Wurzelkanalaufberei-
tung ist es unbedingt erforderlich, die Zahnlänge möglichst genau
zu bestimmen und den Punkt festzulegen, bis zu dem der Wurzel-
kanal aufbereitet und gefüllt werden soll.
Idealerweise sollen Wurzelfüllungen an der apikalen Konstriktion (Fo-
ramen physiologicum) oder sehr kurz davor enden. Die apikale Kon- 13
striktion liegt in der Regel 0,5–2,0 mm vom röntgenologischen Apex
entfernt. So wird bei Zähnen mit einer vitalen Pulpa vermieden, dass
das gesunde Gewebe jenseits der Konstriktion mechanisch oder che-
misch traumatisiert wird und bei Zähnen mit infizierter Pulpa eine Ver-
schleppung von Keimen in das nicht infizierte periapikale Gebiet ver-
hindert. Bei einer unnötigen Erweiterung der Konstriktion entsteht zu-
sätzlich das Problem einer möglichen Überfüllung des Kanals.
13.4.1 Sondierung des Wurzelkanalsystems
! Eine erste Sondierung des Kanalsystems verschafft Informationen
über Weite und Krümmung sowie über mögliche Hindernisse im
Wurzelkanal.
Ein erfahrener Behandler kann durch Austasten auch eine Teilung des
Kanals im Sinne des Konfigurationstyps IV feststellen.
384 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Instrumente Die Größe des zur Sondierung ausgewählten Instruments (Reamer
oder K-Feile) hängt von der Anatomie des betreffenden Zahnes ab. Bei
Wurzelkanälen mit relativ weitem Lumen erfolgt die Sondierung mit ei-
nem Instrument der Größe 15, bei engen oder gekrümmten Kanälen
werden Instrumente der Größe 08 oder 10 gewählt.
Die Sondierung soll immer mit einem vorgebogenen Instrument
erfolgen. So können Unregelmäßigkeiten und Einengungen umgangen
werden, und es wird vermieden, dass schon bei der ersten Sondierung
eine später nicht mehr zu überwindende Stufe erzeugt wird.
Vorgehen Das Instrument wird ohne Druck mit vorsichtigen, alternierenden
Rotationsbewegungen von maximal 90° bis in die Nähe des Apex ein-
geführt. Ein Herausschieben des Instruments über den physiologischen
Apex (Überinstrumentierung) ist unbedingt zu vermeiden. Wenn das
Sondierungsinstrument bis in die Nähe des Apex gebracht werden kann
und eine leichte Klemmpassung aufweist, kann es zur Anfertigung ei-
ner Röntgenmessaufnahme verwendet werden.
13.4.2 Röntgenologische Längenbestimmung
! Die Längenmessung und Festlegung der Arbeitslänge kann rönt-
genologisch oder mithilfe der Endometrie erfolgen.
Instrumente Folgende Instrumente werden für die röntgenologische Längenbestim-
mung (wird auch gerne als Nadelmessaufnahme bezeichnet) benötigt
(Abb. 13.8 und 13.9):
Abb. 13.8: Röntgenologische
Bestimmung von Zahn-
länge und Arbeitslänge. Das
in den Wurzelkanal einge-
führte Instrument ist mit ei-
nem Stopper versehen.
Arbeits-
länge
Zahn-
länge
13.4 Sondierung des Wurzelkanalsystems und Bestimmung der Arbeitslänge Kapitel 13 385
Abb. 13.9: Messlehre zur
Längeneinstellung von Wur-
zelkanalinstrumenten 30
25
20
15
10
D Reamer, K-Feile oder Silberstift (meist der Größe 15)
D röntgensichtbare Stopper aus Metall oder Silikon
D Messlineal oder Messblock
Das für die Röntgenmessaufnahme verwendete Instrument ist so auszu-
wählen, dass einerseits ohne Kraftaufwand ein Punkt nahe des endo-
dontischen Apex erreicht werden kann, andererseits eine leichte
Klemmpassung vorhanden ist, damit das Instrument während des
Röntgens nicht verrutschen kann.
Um zu gewährleisten, dass auch die Spitze des Instruments auf dem
Röntgenbild deutlich sichtbar ist, müssen Reamer oder Feilen mindes-
tens Größe 15 haben. Wenn Instrumente mit kleinerem Querschnitt
verwendet werden, kann es zu Fehlinterpretationen kommen, da die
Spitze dann nicht deutlich dargestellt wird. Als Ausweg bietet sich hier 13
in besonderen Fällen die Verwendung von Silberstiften an.
Der Stopper soll festen Halt auf dem Wurzelkanalinstrument haben
und muss in Kontakt zu einem sicher wieder auffindbaren koronalen
Referenzpunkt stehen. Je nach Erfahrung wird die Länge des Instru-
ments mit einem Sicherheitsabstand von 1–3 mm zum endodonti-
schen Apex entsprechend dem vorliegenden diagnostischen Röntgen-
bild eingestellt. Bei Oberkiefermolaren, bei denen die palatinale Wurzel
zumeist am stärksten verzerrt dargestellt ist, misst man die Länge der
bukkalen Wurzeln und addiert für die palatinale Wurzel 1 mm.
Nach Anfertigung der Messaufnahme wird die Lage des Instruments
im Wurzelkanal beurteilt (Abb. 13.10a–c).
Findet sich die Spitze des Instruments 1 mm vor dem röntgenologi- Beurteilung
schen Apex, ist die Arbeitslänge gefunden. Bei einer Abweichung von bis
zu 3 mm kann die Länge korrigiert werden, bei Abweichungen von mehr
als 3 mm soll zur Sicherheit eine zweite Messaufnahme angefertigt werden.
Da auch bei orthoradialer Projektion besonders bei gekrümmten
Wurzeln noch mit einem Projektionsfehler zu rechnen ist, wird vielfach
386 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Abb. 13.10: a) Korrekte Messaufnahme zur röntge-
nologischen Längenbestimmung mit röntgensicht-
barem Stopper bei einem unteren Prämolaren,
b) korrekte Messaufnahme mit röntgensichtbaren
Stoppern bei einem unteren Molaren mit 4 Wurzel-
kanälen, c) misslungene Messaufnahme bei falscher
Einschätzung der Zahnachse
empfohlen, zur Sicherheit bei der endgültigen Festlegung der Arbeits-
länge noch einmal 0,5 mm abzuziehen.
13.4.3 Endometrie
! Bei der Endometrie wird der elektrische Widerstand zwischen ei-
nem in den Wurzelkanal eingeführten Instrument und einer Ge-
genelektrode bestimmt (Abb. 13.11).
Die Konstruktion dieser Geräte beruht auf der Erkenntnis, dass der elek-
trische Widerstand zwischen Mundschleimhaut und Desmodont unab-
hängig von Zahntyp und Alter des Patienten immer konstant ist. Wenn
eine Messsonde in den Wurzelkanal eingeführt wird und mit dem Des-
modont in Berührung kommt, stellt sich immer ein bestimmter Wider-
13.4 Sondierung des Wurzelkanalsystems und Bestimmung der Arbeitslänge Kapitel 13 387
Abb. 13.11: Schematische
Darstellung der Längenbe-
stimmung mithilfe der
Endometrie. Das Endome-
triegerät misst die Poten-
zialdifferenz zwischen Des-
modont und Mundschleim-
haut.
stand ein. Die handelsüblichen Geräte sind nun so geeicht, dass sie kurz
vor oder bei Erreichen dieses Widerstandes ein Signal geben.
Seit den 1960er-Jahren hat sich die elektrische Lagebestimmung der
apikalen Konstriktion zu einem Verfahren mit immer höherer Messge-
nauigkeit entwickelt. Bei den ersten Gleichstrom- und Wechselstrom-
Messgeräten führte Feuchtigkeit im Wurzelkanal, die sich nahezu nie
ganz beseitigen lässt, zu unzuverlässigen Ergebnissen. Ebenso war keine
zuverlässige Messung möglich, wenn die desmodontalen Fasern durch
eine Parodontitis apicalis zerstört waren oder das Wurzelwachstum
noch nicht abgeschlossen gewesen ist.
Bei Geräten der neuesten Generation wird der Impedanzenquo-
tient ermittelt. Hierbei werden gleichzeitig die Wechselstromwider-
stände bei zwei unterschiedlichen Frequenzen gemessen. Durch dieses 13
Messprinzip kann der elektrolytische Einfluss von Feuchtigkeit oder
Flüssigkeiten im Wurzelkanal vernachlässigt werden. Auch entzündli-
che Veränderungen des Desmodonts oder ein weites Foramen apicale
stören die Messung nicht mehr, da das Desmodont nicht mehr als Refe-
renzgewebe für die Widerstandsmessung dient. Eine weitere Verbesse-
rung der Messgenauigkeit konnte durch die empirische Kalibrierung der
Messskalen der Endometriegeräte an extrahierten Zähnen erreicht wer-
den.
Die Vorteile der endometrischen Längenbestimmung bestehen in
der Hauptsache in dem stark verringerten Zeitaufwand und der feh-
lenden Strahlenbelastung. Weiterhin können die Geräte hilfreich sein,
fragliche Perforationen während der Behandlung abzuklären.
Die Endometriegeräte der neuesten Generation weisen eine Messge-
nauigkeit von 90 bis nahezu 100% bei der Lokalisation des Apex auf.
Neuere Studien haben aber gezeigt, dass nicht die apikale Konstriktion,
sondern lediglich ein Punkt zwischen apikaler Konstriktion und Foramen
apicale bestimmt wird. Dies ist durch das Messverfahren bedingt, welches
388 13 Die Wurzelkanalbehandlung
auf der Isolation des Messinstrumentes durch das Wurzeldentin basiert.
Es wird letztlich der Punkt bestimmt, an dem sich der Kanaldurchmesser
erweitert und ein Stromfluss in alle Richtungen möglich wird.
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals
! Die mechanische Reinigung und Formgebung des Wurzelkanals
erfolgt mit Handinstrumenten und/oder maschinengetriebenen
Instrumenten.
Legierung Wurzelkanalinstrumente werden aus verschiedenen Rohlegierungen
hergestellt. Üblich sind heute Chrom-Nickel-Edelstahl, Titan und Ni-
ckel-Titan. Die Legierungen haben unterschiedliche physikalische Ei-
genschaften und unterscheiden sich besonders deutlich hinsichtlich ih-
rer Elastizität.
Querschnitte Die Querschnitte der Instrumente können dreieckig, viereckig,
rhombisch, rund oder S-förmig sein. Die Querschnitte beeinflussen
ebenfalls die physikalischen Eigenschaften. Die Schneidekante eines
Wurzelkanalinstruments entsteht entweder durch Drehen entlang der
Achse oder durch Fräsen des Rohmaterials. Gedrehte Instrumente mit
dreieckigem Querschnitt sind flexibler als Instrumente mit viereckigem
Querschnitt. Bei gefrästen Instrumenten bestimmt die Tiefe der Schnei-
dekanten bzw. die Dicke des Kerns die Flexibilität und Bruchgefähr-
dung. In der Regel sind gefräste Instrumente bruchgefährdeter als ge-
drehte Instrumente.
Auswahl Die Auswahl der Instrumente ist abhängig von der Aufbereitungs-
technik, Form und Krümmung der Wurzel und letztlich den Vorlieben
des Behandlers.
13.5.1 Handinstrumente
Normierung
Länge des Ein Handinstrument besteht aus Griff, Schaft und Arbeitsteil. Die Grö-
Arbeitsteils ßenangabe für ein Instrument bezieht sich auf den Durchmesser in
Hundertstel Millimeter in 1 mm Abstand von der Instrumentenspitze
(D1-Wert). Die Länge des Arbeitsteils beträgt immer 16 mm.
Durchmesser Der Durchmesser nimmt bei jedem Instrument kontinuierlich von
der Spitze (D1) zum Ende des Arbeitsteils (D2) um 0,32 mm zu. Ein In-
strument mit der Größe 15 hat also bei D1 einen Durchmesser von 0,15
mm und bei D2 von 0,47 mm (Abb. 13.12).
Schaft Der Schaft ist variabel zwischen 5 und 15 mm lang, woraus sich In-
strumentenlängen von 21, 25, 28 und 31 mm ergeben. Kurze Instru-
mente sind gut geeignet zur Behandlung von Molaren, besonders lange
Instrumente werden zur Behandlung von Eckzähnen gebraucht.
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals Kapitel 13 389
Griff Schaft Arbeitsteil
5 15 mm 16 mm
+ 0,32 mm
D2 D1
Abb. 13.12: Maße für Wurzelkanalinstrumente entsprechend der ISO-Norm: D1 =
Durchmesser des theoretisch bis zur Spitze verlängerten Kegels des Arbeitsteils.
Der Durchmesser bei D1 entspricht der ISO-Stärke des Instruments in 1/100 mm.
D2 = Durchmesser am Ende des 16 mm langen Arbeitsteils. D2 = D1 + 0,32 mm.
Die Griffe sind entsprechend der Größe farbig markiert und zusätz-
lich mit der Größennummer versehen. Einige Hersteller markieren den
Kopf der Griffe mit einem Symbol in dreieckiger, quadratischer oder
runder Form, was die Instrumententypen Reamer, K-Feile und Hed-
ström-Feile kennzeichnet (Abb. 13.13).
Die Handgriffe sind von Größe 15–40 systematisch mit den Farben Handgriffe
Weiß, Gelb, Rot, Blau, Grün und Schwarz gekennzeichnet. Die Unter-
größen 6, 8 und 10 sind Rosa, Grau und Violett gekennzeichnet. Zwi-
schen den Nummern 10 und 60 beträgt der Zuwachs des Instrumenten-
durchmessers an der Spitze jeweils 0,05 mm, ab Größe 60 jeweils 0,10
mm. Von einigen Herstellern sind Reamer und Feilen auch in Zwischen-
größen (Gr. 12, 17, 22 usw.) erhältlich. Die Form der Handgriffe unter-
scheidet sich geringfügig zwischen den verschiedenen Herstellern, wo-
bei ergonomische Gesichtspunkte eine Rolle spielen.
Grundformen
der Handinstrumente
Reamer 13
K-Feile
Hedström-Feile
Sonderformen
Battspitze
seitliche
Führungsflächen
Abb. 13.13: Grundformen der Handinstrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals
mit Darstellung des Schneidekantenwinkels und typische Merkmale neu entwi-
ckelter Instrumente. Die Grundinstrumente sind auf dem Kopf des Handgriffs mit
Symbolen gekennzeichnet.
390 13 Die Wurzelkanalbehandlung
D3 041 047 053
D1 035 035 035
Konizität 2% 4% 6% progressiv
Abb. 13.14: Die Konizität der Instrumente nach ISO-Norm beträgt immer 2%. Neu
entwickelte Instrumente werden mit Konizitäten von 4% und 6% oder sogar 12%
und 20% sowie progressiver Konizität innerhalb jeder einzelnen Feile angeboten.
Konizität Die Konizität der Instrumente nach ISO-Norm beträgt immer 2%.
Für die Aufbereitung mit koronal-apikalen Methoden wurden Instru-
mente mit größeren Konizitäten entwickelt. Hauptsächlich werden sol-
che Instrumente in maschinellen Aufbereitungssystemen verwendet, es
sind aber auch Handinstrumente mit Konizitäten von 4 oder 6% erhält-
lich (Abb. 13.14).
Standardinstrumente
Exstirpations- Exstirpationsnadeln (Synonyme: Pulpaexstirpatoren, Nervnadeln)
nadeln sind mit kleinen Haken versehene Instrumente, die dazu dienen sollen,
die Pulpa in einem Arbeitsgang aus dem Wurzelkanal zu exstirpieren.
Die Pulpa wird bei Verwendung dieses Instruments abgerissen und
nicht abgeschnitten, was als Nachteil betrachtet werden kann.
Grundsätzlich kann auf die Verwendung dieses Instruments verzich-
tet werden, da es in vielen Fällen, wie z.B. bei gekrümmten Kanälen,
seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Empfohlen werden Exstirpationsna-
deln von manchen Autoren zur Entfernung von Papierspitzen oder
Fremdkörpern aus dem Wurzelkanal.
Reamer und Reamer (Synonyme: Erweiterer, Räumer, Kerr-Bohrer) und K-Feilen
K-Feilen (Synonyme: Kerr-Feile, Trepan-Feile) werden aus Rohlingen mit dreiecki-
gem oder viereckigem Querschnitt durch Verwinden hergestellt (s. Abb.
13.13). Hauptsächlich unterscheiden sich Reamer und K-Feilen durch die
Anzahl von Windungen pro Längeneinheit und dadurch auch durch den
Schneidekantenwinkel (auch Tangentenwinkel, Winkel der Schneide zu
seiner Längsachse). Die Reamer besitzen mit einer halben bis einer ganzen
Verwindung pro Millimeter des Arbeitsteils weniger Windungen pro Län-
geneinheit als die K-Feilen. Instrumente mit geringem Durchmesser haben
mehr Windungen als solche mit großem Durchmesser. Je nach Stärke des
Instruments weisen Reamer acht bis 16 Schneiden, Feilen 24 bis 36 Schnei-
den auf. Kleine Instrumentengrößen werden aus Gründen der Stabilität
gerne aus Rohlingen mit quadratischem Querschnitt, größere Instrumente
aus Rohlingen mit dreieckigem Querschnitt gefertigt. Der Schneidekan-
tenwinkel beträgt für Reamer etwa 10–30° und für K-Feilen etwa 25–40°.
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals Kapitel 13 391
Hedström-Feilen werden aus runden Rohlingen durch Herausfräsen Hedström-Feilen
hergestellt. Die Anzahl der spiralförmig umlaufenden Schneiden beträgt
etwa 14 bis 31 und ist bei kleineren Instrumentengrößen höher als bei
größeren. Der Schneidekantenwinkel beträgt für Hedström-Feilen
etwa 60–65°.
Merkmale
Charakteristisch sind für jedes Instrument Querschnitt, Spanraum und
Kern (Abb. 13.15) sowie der Schneidekantenwinkel (s. Abb. 13.13).
Schneidleistung, Bruchsicherheit und Flexibilität eines Instru- Querschnitt
ments werden vom Querschnitt beeinflusst. Dreikantige Instrumente
schneiden i.d.R. besser und sind flexibler, vierkantige Instrumente sind
bruchsicherer.
Die Größe des Spanraums entscheidet, wie viel Material aus dem Spanraum
Wurzelkanal heraustransportiert werden kann. Einen großen Spanraum
weisen Reamer und Hedström-Feilen auf, einen kleinen K-Feilen.
Die Größe des Kerns beeinflusst neben der Qualität des verwendeten Kern
Stahls die Flexibilität und Stabilität der Instrumente. Den kleinsten
Kern weisen Hedström-Feilen auf, wodurch bei den kleinen Größen die-
ser Instrumente eine erhöhte Bruchgefahr gegeben ist.
Schneid- oder Schabwirkung werden vom Schneidekantenwinkel Schneidekanten-
bestimmt. Hedström-Feilen weisen die höchste Schneidleistung auf, K- winkel
Feilen die geringste. Aus dem Schneidekantenwinkel und dem daraus
resultierenden Arbeitsvektor, der senkrecht zur Tangente steht, ergibt
sich die Arbeitsweise der verschiedenen Instrumente. Reamer sollen dre-
hend-schabend verwendet werden, wobei eine viertel bis eine halbe
Drehung im Uhrzeigersinn empfohlen wird. K-Feilen können ebenfalls
drehend-schabend oder nur im Sinne einer zirkulären Feilung angewen-
det werden. Hedström-Feilen dürfen ausschließlich ziehend verwendet 13
werden.
Abb. 13.15: Querschnitt,
Spanraum und Kern bei Spanraum Querschnitt Kern
Reamer, K-Feile und Hed-
ström-Feile
Reamer Reamer Hedström-
oder K-Feile oder K-Feile Feile
mit quadra- mit drei-
tischem eckigem
Querschnitt Querschnitt
392 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Flexible Instrumente aus Edelstahl
Um unerwünschte Formabweichungen vom ursprünglichen Kanalver-
lauf bei der Aufbereitung zu vermindern, wurden Instrumente aus Edel-
stahl mit geringeren Biegemomenten und höherer Flexibilität entwi-
ckelt. Dies gelang durch Veränderungen der Querschnitte und die Ver-
wendung von Spezialstählen, wie z.B. mehrfach im Hochvakuum
verschmolzenem Chrom-Nickel-Stahl. Die meisten Instrumente wie die
Flexicut-Feilen, Flexoreamer und K-Flexofeilen weisen dreieckige Quer-
schnitte auf. K-Flex-Feilen weisen einen rhombischen Querschnitt
auf. Beim Verdrillen entstehen so abwechselnd hohe und niedrige Win-
dungen.
Durch diese Querschnittsformen kann bei drehend-schabender Ar-
beitsweise eine höhere Abtragsleistung erreicht werden. Durch den
vergleichsweise geringen Kerndurchmesser ist allerdings die Bruchfes-
tigkeit vermindert. Obwohl es bei Anwendung dieser flexiblen Instru-
mente zu weniger Formabweichungen kommt, kann doch bei stärker
gekrümmten Wurzelkanälen trotzdem keine ideale Kanalform erreicht
werden.
Bei weiter gehenden Entwicklungen wurde die Spitzengeometrie der
Instrumente verändert, da die scharfen Schneidekanten an der Spitzen-
schulter hauptsächlich für unerwünschte Formabweichungen bei der
Aufbereitung verantwortlich gemacht werden. Die Flex-R-Feile sowie
der Flexoreamer und die K-Flexofeile weisen nicht schneidende Spit-
zen auf, die analog zum Battbohrer modifiziert worden sind. Die para-
bolisch oder kuppenartig geformte Spitze sorgt für eine bessere zentri-
sche Führung der Instrumente im Wurzelkanal und hilft, Stufenbildun-
gen zu vermeiden.
Als Nachteil der Flex-R-Feile ist anzusehen, dass sie durch Fräsen her-
gestellt werden und gegenüber verdrillten Feilen ungünstigere Torsi-
ons- und Deflexionswerte aufweisen. Insgesamt werden aber die flexi-
blen Instrumente mit nicht schneidender Spitze als entscheidende Ver-
besserung gegenüber den herkömmlichen Instrumenten angesehen.
Instrumente aus Titanlegierungen
Nickel-Titan- Nickel-Titan-Legierungen (NiTi) bestehen aus etwa 55% Nickel und 45%
Legierungen Titan. Der Elastizitätsmodul von NiTi beträgt nur ein Fünftel des ent-
sprechenden Wertes für Chrom-Nickel-Stahl, das Biegemoment ist ge-
ringer und die Torsionsfestigkeit größer. Die Instrumente besitzen ein
pseudoelastisches Verhalten. In einem gekrümmten Wurzelkanal wer-
den sie nicht irreversibel verbogen, sondern nehmen nach der Verfor-
mung wieder ihre Ausgangsgestalt an (memory effect). Dies bedeutet
aber auch, dass NiTi-Instrumente nicht vorgebogen werden können.
Die Instrumente werden durch Fräsung der Rohlinge hergestellt. Da
NiTi schwer zu bearbeiten ist, resultieren oft Instrumentenschneiden
von geringer Güte. Hergestellt werden K-Feilen, H-Feilen sowie S- und
U-Feilen sowohl für die manuelle wie auch für die maschinelle Anwen-
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals Kapitel 13 393
dung. Im Vergleich zu Instrumenten aus Edelstahl ist die Schneidleis-
tung der NiTi-Instrumente geringer.
Die neu entwickelten Mikrotitan-Instrumente bestehen aus 95% Ti- Mikrotitan-
tan und 5% Aluminium. Sie haben bei vergleichbarer Schneidleistung Instrumente
und ähnlicher Frakturresistenz eine höhere Flexibilität als Edelstahlin-
strumente. Allerdings hat das Material keine Pseudoelastizität.
Instrumente mit verkürztem Arbeitsteil
Bei diesen Instrumenten wurde die Länge des Arbeitsteils, das nach ISO-
Norm 16 mm lang sein soll, auf 1–5 mm verkürzt. Konzipiert wurden
diese Instrumente ausschließlich zur Aufbereitung gekrümmter Wur-
zelkanäle. Die Instrumente besitzen i.d.R. eine nicht schneidende
Spitze und einen dünnen, zylindrischen Schaft, der sehr flexibel ist.
13.5.2 Geräte und Instrumente zur maschinellen Aufbereitung
des Wurzelkanals
Da die Aufbereitung und Formgebung des Wurzelkanals mit Handin-
strumenten mühsam und zeitaufwändig ist, wurden zahlreiche maschi-
nell angetriebene Geräte entwickelt, die zu einer Erleichterung und Zeit-
ersparnis führen sollen.
Eine Klassifikation kann nach der Art des Antriebssystems und den
Eigenschaften der verwendeten Aufbereitungsinstrumente erfolgen.
Grundsätzlich können spezielle Endodontologiewinkelstücke, Schallvi-
brationssysteme und Ultraschallsysteme unterschieden werden.
Geräte mit rotierender Arbeitsweise
Gates-Glidden, Peeso- und Canal-Master-Bohrer können bei langsamen 13
Umdrehungszahlen in herkömmlichen Winkelstücken eingesetzt wer-
den, um den koronalen, geraden Teil eines Wurzelkanals zu erweitern.
Das gebräuchlichste Instrument ist der Gates-Glidden-Bohrer, der aus ei-
nem langen Schaft, einem kurzen, länglich ovalen Kopf und einer stump-
fen, selbst zentrierenden Spitze besteht. Die Instrumente sind in verschie-
denen Größen (1–6) erhältlich. Diese und vergleichbare Instrumente wer-
den häufig auch nur zur Erweiterung der Kanaleingänge eingesetzt.
Maschinelle Nickel-Titan-Systeme
In letzter Zeit wurden viele verschiedene Instrumente und Systeme auf Konstruktions-
Nickel-Titan-Basis für die maschinelle Aufbereitung eingeführt. Wich- merkmale
tige Konstruktionsmerkmale sind nach Hülsmann (2002):
D Nicht schneidende Instrumentenspitzen (Battspitze):
Die Ausformung der abgerundeten Spitze bewirkt, dass die Instru-
mente besser im Wurzelkanal zentriert bleiben. Hierdurch werden
Häufigkeit und Ausmaß einer Kanalbegradigung sowie das Risiko
von Perforationen reduziert (s. Abb. 13.13).
394 13 Die Wurzelkanalbehandlung
D Variierende Konizitäten:
Während die Konizität der Instrumente nach ISO-Norm immer 2%
über 16 mm Länge beträgt, werden neu entwickelte NiTi-Instru-
mente mit Konizitäten von 2, 4 und 6% oder sogar 12 und 20%
angeboten. Neuere Systeme verfügen über Instrumente mit variie-
renden Konizitäten innerhalb eines Instruments (s. Abb. 13.14). Die
Flexibilität der Instrumente mit großen Konizitäten ist aber einge-
schränkt. Deshalb sollen Instrumente ab einer Konizität von 6% in
stark gekrümmten Kanälen nicht jenseits der Krümmung eingesetzt
werden, um Instrumentenfrakturen und Kanalverlagerungen zu ver-
meiden. Optimale Flexibilität besteht bei einer Konizität von 2%.
D Variierende Länge des Arbeitsteils:
Einige Systeme verfügen über separate Instrumente für die Aufberei-
tung des koronalen, mittleren und apikalen Kanalanteils. Zur Redu-
zierung der einwirkenden Kraft haben Instrumente mit sehr großen
Konizitäten zur Erweiterung des koronalen Kanalanteils ein stark
verkürztes Arbeitsteil. Zur Aufbereitung der tieferen Kanalteile
nimmt die Konizität der Instrumente ab und die Länge des Arbeits-
teils zu.
D Besondere Schneidengeometrie:
Nicht schneidende Instrumente haben breite seitliche Führungsflä-
chen (radial lands) und dazwischen u-förmige Gruben auf den Au-
ßenflächen (Abb. 13.16a). Die breiten seitlichen Führungsflächen
sollen eine besonders gute Zentrierung bewirken und eine Begradi-
gung des Wurzelkanals verhindern. Schneidende Instrumente ha-
ben keine seitlichen Führungsflächen und der Querschnitt ähnelt ei-
nem Dreikant mit konvexen Außenflächen oder ist einfach bzw.
mehrfach s-förmig. Sie verfügen auch über eine gute Zentrierung im
Wurzelkanal und bewirken keine nennenswerte Begradigung. Die
schneidenden Instrumente werden auch als aktiv, die nicht schnei-
denden als passiv bezeichnet (Abb. 13.16b). Bei Instrumenten mit
breiten seitlichen Führungsflächen besteht eine große Kontaktflä-
che zum Dentin der Wurzelkanalwand. Dadurch ist die Friktion er-
höht und die Frakturgefahr steigt. Zudem ist der Kerndurchmesser
dieser Instrumente kleiner als bei den Instrumenten mit aktiven
Schneidekanten, wodurch die Frakturgefahr zusätzlich erhöht ist.
a b c
Abb. 13.16: Schneidekantengeometrie von Nickel-Titan-Instrumenten: a) u-förmi-
ger Querschnitt mit seitlichen Führungsflächen (radial lands), b) konvexer Drei-
kant-Querschnitt, c) s-förmiger Querschnitt
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals Kapitel 13 395
D Einschraubender Effekt:
Besonders bei aktiven Instrumenten mit konstanter Konizität,
Ganghöhe und Schneidekantenwinkel besteht die Gefahr eines Ein-
schraubens in die Kanäle. Dieser Effekt konnte bei neueren Instru-
menten durch alternierende Schneidekanten, Modifikationen der
Schneidekantenwinkel und der Ganghöhe sowie variable Konizitä-
ten vermindert werden.
Die zuerst eingeführten NiTi-Systeme zur maschinellen Aufbereitung Systeme
des Wurzelkanals entsprechen von ihrer Schneidengeometrie dem in
der Abbildung 13.16a dargestellten Typ mit zumeist breiten seitlichen
Führungsflächen und u-förmigen Gruben auf den Außenflächen. Zu
den gängigen Systemen dieses Typs zählten LightSpeed, ProFile und GT
Rotary. Neuere NiTi-Systeme entsprechen von ihrer Schneidengeome-
trie zumeist dem in den Abbildungen 13.16b und c dargestellten Typ
mit einem konvexen Dreikant-Querschnitt oder S-Form. Zu den be-
kannteren Systemen dieses neueren Typs zählen ProTaper, FlexMaster,
Hero 642, RaCe-System, Mtwo und Reciproc. Als Vorteile gegenüber den
älteren NiTi-Systemen werden zumeist eine höhere Schneidleistung, ge-
ringerer Reibungswiderstand, reduzierte Torsionsbelastung, ein stabile-
rer Instrumentenkern sowie vereinfachte Arbeitsabläufe genannt.
Eine systematische Ordnung der verschiedenen Systeme ist annä-
hernd möglich, wenn die Art der Aufbereitungstechnik in den Vorder-
grund gestellt wird:
D Crown-down-Technik: z.B. ProFile, GT Rotary, Hero 642, FlexMas-
ter und ProTaper
D Single-Length-Technik (Verwendung der Instrumente in nur ei-
ner Länge): z.B. Mtwo
D Single-File-Technik (Verwendung von nur einer einzigen Feile): 13
z.B. Reciproc und WaveOne
Bei allen NiTi-Instrumenten zur maschinellen Aufbereitung muss
auf die systemspezifische Umdrehungszahl geachtet werden. Über-
höhte Umdrehungszahlen oder abrupte Wechsel der Drehzahl er-
höhen das Frakturrisiko der Instrumente.
Für NiTi-Systeme übliche Motoren haben eine programmierbare indivi-
duelle Torquekontrolle für das jeweilige NiTi-System oder -Instrument.
Bei Erreichen des vorgegebenen Grenzwertes bleibt der Motor stehen
oder ändert die Drehrichtung.
Wie schon bei den älteren Endodontie-Winkelstücken werden jetzt
für NiTi-Systeme Motoren angeboten, die reziprok arbeiten. Das Instru-
ment bewegt sich zunächst rotierend in Schneidrichtung und wird an-
schließend durch Umkehr der Drehrichtung wieder freigegeben. Eine
komplette Umdrehung setzt sich aus mehreren reziproken Bewegungen
zusammen. Der Drehwinkel in die schneidende Richtung ist größer als
396 13 Die Wurzelkanalbehandlung
der in die Gegenrichtung, wodurch das Instrument kontinuierlich in
den Kanal vordringt. Die Gefahr des Feilenbruchs und des Einschrau-
bens soll dadurch vermindert werden.
Endodontie-Winkelstücke
Ältere Endodontie-Winkelstücke führen zumeist eine reziproke Rotati-
onsbewegung und/oder eine Hubbewegung aus. Bekannte Beispiele
hierfür sind Giromatic, Endolift und Racer.
Später entwickelte Geräte wie Canal-Finder oder Excalibur arbeiten
mit komplizierten Bewegungsabläufen. Beim Excalibur werden Feilen in
multilaterale Pendelbewegungen (aleatorische Schwingungen) versetzt,
beim Canal-Finder ist eine gesteuerte Hubbewegung mit der Möglich-
keit freier Rotation bei Friktion der Instrumente kombiniert.
Bei den älteren Modellen war die Kanalreinigung schlechter als bei
der manuellen Aufbereitung, und es bestand eine erhöhte Gefahr von
Stufenbildung und Perforation. Bei neueren Systemen konnten bes-
sere Ergebnisse erreicht werden.
Allen Endodontie-Winkelstücken ist aber der Verlust des Tastgefühls
gegenüber der manuellen Aufbereitung gemeinsam. In der Regel kann
keine Zeitersparnis durch Verwendung dieser Instrumente nachgewie-
sen werden.
Insgesamt haben diese Endodontie-Winkelstücke aufgrund der neu
entwickelten NiTi-Systeme zur maschinellen Aufbereitung sehr an Be-
deutung verloren.
Ultraschallsysteme
Ultraschallsysteme zur Aufbereitung und Reinigung des Wurzelkanals
erzeugen hochfrequente Schwingungen im Bereich von 25 000–40 000
Hz. Die Installation der Geräte ist aufwändig, da i.d.R. ein spezieller Ge-
nerator erforderlich ist.
Der Effekt von Ultraschallsystemen soll gleichzeitig auf mechani-
scher Bewegung, physikalischer Kavitation und chemischer Spülmittel-
wirkung beruhen. Hauptsächlich wird die Reinigung des Wurzelkanals
wohl dadurch bewirkt, dass Flüssigkeitspartikel um die schwingende
Feile in schnelle Bewegung versetzt werden.
Bei gekrümmten Wurzelkanälen besteht bei der Anwendung von
Ultraschallsystemen eine erhöhte Gefahr der Stufenbildung. Hier
sollten Schallvibrationssysteme sicherer sein.
Allgemein können Ultraschallsysteme nützlich sein bei der Entfernung
von Wurzelstiften, Silberstiften, frakturierten Instrumenten und harten
Pastenfüllungen.
13.5 Instrumente zur Aufbereitung des Wurzelkanals Kapitel 13 397
Schallvibrationssysteme
Schallvibrationssysteme arbeiten in einem Frequenzbereich von 1500–
6500 Hz und können direkt an die Behandlungseinheit gekoppelt wer-
den.
Bei beiden Systemen ist die kontinuierliche Zufuhr von Wasser, phy-
siologischer Kochsalzlösung oder 0,5- bis 3%iger Natriumhypochlorit-
Lösung erforderlich. Als größter Vorteil dieser Systeme wird insgesamt
die verbesserte Reinigungswirkung besonders im Zusammenhang mit
der Verwendung von Natriumhypochlorit-Lösungen gesehen. Häufig
werden diese Systeme als Ergänzung zur manuellen Aufbereitung
empfohlen.
13.5.3 Hilfsmittel zur Längeneinstellung und zur Aufbewahrung
der Wurzelkanalinstrumente
! Alle Instrumente, die zur Aufbereitung und Reinigung des Wur-
zelkanals verwendet werden, müssen eine definierte Längenmar-
kierung aufweisen.
Auf Handinstrumente können Stopper aus Metall, Silikon oder Gummi
aufgesetzt werden. Den sichersten Sitz haben Metallstopper. Vorzugs-
weise sollen Stopper röntgensichtbar sein. Alternativ zu den aufsetzba-
ren Stoppern sind Instrumente mit Messgriffen erhältlich.
Zur Längeneinstellung eignen sich Messlehren, Messlineale oder
Messblöcke.
Messblöcke haben den Vorteil, dass damit auch wenig zeitaufwändig
Papierspitzen und Guttaperchapoints längenmarkiert werden können.
Zur Aufbewahrung und Bereithaltung der Wurzelkanalinstrumente 13
stehen zahlreiche verschiedene Modelle sog. Endoboxen zur Verfü-
gung. In einigen dieser Boxen kann ein umfangreicher Satz von Instru-
menten unterschiedlicher Größe und Länge nebst Hilfsmitteln für die
Wurzelkanalfüllung untergebracht werden. Kleine Boxen bieten nur
Platz für einen ausgewählten Instrumentensatz für eine geplante Be-
handlung.
Sehr geeignet zur Ablage der Instrumente bei der Behandlung sind
kleine, mit desinfizierender Lösung gefüllte Töpfchen, bei denen mit-
hilfe eines Klemmringes ein Stück Gaze oder Kofferdamgummi einge-
spannt werden kann.
Insgesamt soll der endodontische Arbeitsplatz nach ergonomischen
Gesichtspunkten aufgebaut sein. Ein schneller Zugriff auf die vorberei-
teten Instrumente, eine kontrollierte Ablage und eine klare Trennung
von sterilem und unsterilem Instrumentarium sind anzustreben.
398 13 Die Wurzelkanalbehandlung
13.6 Allgemeine Richtlinien der
Wurzelkanalaufbereitung
! Unter dem Begriff „Aufbereitung“ werden hier die Arbeitsgänge
Erweiterung, Reinigung und Formgebung des Wurzelkanals zu-
sammengefasst. Wird die instrumentelle, mechanische Aufberei-
tung mit gleichzeitiger Anwendung von Spüllösungen vorgenom-
men, spricht man von „biomechanischer Aufbereitung“. In
jüngster Zeit werden diese Arbeitsvorgänge auch unter dem Be-
griff „Präparation des Wurzelkanalsystems“ zusammengefasst.
Ausgehend vom Zustand der Pulpa, kann man zwischen der Pulpekto-
mie der vitalen Pulpa (Vitalexstirpation) und der nicht vitalen Pulpa un-
terscheiden. Der Zustand der Pulpa hat aber prinzipiell keinen Einfluss
auf die Vorgehensweise bei der Aufbereitung.
Ziele Die Ziele der Wurzelkanalaufbereitung sind (nach Grossman 1988):
D vollständige Entfernung von vitalem und nekrotischem Pulpage-
webe
D mechanische Entfernung von Mikroorganismen aus dem Wurzelka-
nal und der Wurzelkanalwand
D Erhöhung der desinfizierenden Wirkung von Spüllösungen durch
Vergrößerung des Wurzelkanallumens
D Formgebung des Wurzelkanals zur Ermöglichung der vollständigen
Obturation des Wurzelkanalsystems
Die Arbeitsgänge Erweiterung, Reinigung und Formgebung laufen über-
wiegend parallel zueinander ab. Die Reinigung des Wurzelkanals ist viel-
leicht von größter Bedeutung, da alles im Wurzelkanal verbliebene orga-
nische Material das Wachstum von Bakterien fördern könnte.
Die Aufbereitung des Wurzelkanals beginnt, wenn die Arbeitslänge
festgelegt und das Arbeitsfeld entsprechend vorbereitet worden ist.
Die Arbeitslänge entspricht i.d.R. der Zahnlänge minus 1 mm. Dies
ist unabhängig davon, ob die Pulpa vital oder nekrotisch ist. Die endgül-
tige Formgebung des Wurzelkanals hängt davon ab, nach welcher Me-
thode später das Wurzelkanalsystem gefüllt werden soll.
Anforderungen Folgende Anforderungen sollen bei der Formgebung aber immer
an die Form- erfüllt werden:
gebung D Der aufbereitete Wurzelkanal muss den ursprünglichen Wurzelkanal
vollständig einschließen.
D Die apikale Konstriktion muss erhalten bleiben.
D Der aufbereitete Wurzelkanal muss apikal eine Verengung oder
Schwelle aufweisen, gegen die die Wurzelkanalfüllung kondensiert
werden kann.
D Der Wurzelkanal soll von der Krone zum Apex insgesamt eine koni-
sche Form haben.
13.7 Spülung des Wurzelkanals Kapitel 13 399
Unabhängig von der Methode muss der Wurzelkanal – ausgehend
vom ersten im Kanal bindenden Instrument – um drei bis fünf Grö-
ßen erweitert werden, um den mechanischen Abtrag infizierten
Materials von der Wurzelkanalwand zu gewährleisten.
Bei der Bearbeitung der Wurzelkanalwände ist die spezielle anatomische Bearbeitung der
Form der Wurzeln zu beachten, um eine zu große Schwächung der Den- Wurzelkanal-
tinwand oder sogar eine seitliche Perforation der Wurzel zu vermeiden. wände
Bei stark gekrümmten Wurzeln soll stets versucht werden, die kon-
kave Wand stärker zu bearbeiten als die konvexe Wand. Auch bei Beach-
tung dieser Empfehlung kommt es oft durch Begradigung des Kanals zu
einer Verkürzung der Arbeitslänge, die 0,5 mm oder sogar mehr betra-
gen kann. Um eine Überinstrumentierung zu vermeiden, muss die Ar-
beitslänge in diesen Fällen entsprechend verkürzt werden.
Um eine gründliche Reinigung zu erreichen, erfolgt die Aufberei-
tung im feuchten Milieu. Dies erfordert die häufige Spülung mit einer
geeigneten Spüllösung.
13.7 Spülung des Wurzelkanals
! Um sicherzustellen, dass durch die Aufbereitung auch Gewebe-
reste, Detritus und Bakterien, die in den Dentinkanälchen, Seiten-
kanälen oder anderen unzugänglichen Bezirken zurückgeblieben
sind, beseitigt werden, muss eine unterstützende Spülung mit ge-
eigneten Lösungen erfolgen.
Zu diesem Zweck wird der Einsatz von verschiedenen Mitteln (wie z.B. 13
NaCl, H2O2, NaOCl, CHX, EDTA), organischen Säuren oder Alkohol
empfohlen. Ein geeignetes Mittel zur Spülung soll folgende Eigenschaf-
ten haben:
D geringe Toxizität
D bakterizide Wirkung
D Auflösung des organischen und anorganischen Materials
D niedrige Oberflächenspannung
D Schmiereffekt
Zusätzlich werden manchmal die Entfernung der Schmierschicht und
ein Bleicheffekt gefordert.
Kein Mittel kann alle Aufgaben gleichermaßen gut erfüllen, sodass Natrium-
zumeist indikationsbezogen eine Kombination von Spülmitteln emp- hypochlorit
fohlen wird. Das einzige Mittel, das die oben genannten Anforderungen
zumindest weitgehend erfüllt, ist das Natriumhypochlorit (NaOCl).
Die aktive Wirkung von Natriumhypochlorit beruht auf seinem Gehalt
400 13 Die Wurzelkanalbehandlung
an undissoziierten HOCl-Molekülen, die eine oxydierende und chlorie-
rende Wirkung haben.
Üblicherweise wird Natriumhypochlorit in wässrigen Lösungen von
0,5–5,0% angewendet. Die antibakterielle Wirkung ist in diesem Kon-
zentrationsbereich annähernd gleich stark.
Die gewebelösenden Eigenschaften von Natriumhypochlorit sind
sehr gut. Sowohl vitales wie auch nekrotisches Pulpagewebe wird bei ei-
nem Überschuss von Natriumhypochlorit weitgehend abgebaut.
Chelat- Die dem Dentin aufliegende Schmierschicht kann aber allein mit
verbindungen Natriumhypochlorit nicht entfernt werden. Hier sind Chelatverbin-
dungen wie EDTA oder z.B. Zitronensäure besonders effektiv. Ob es
sinnvoll und notwendig ist, die Schmierschicht vor der Wurzelkanalfül-
lung zu entfernen, ist allerdings nicht geklärt.
Der Zusatz oberflächenaktiver Substanzen zur Verminderung der
Oberflächenspannung hat sich nicht bewährt. Es konnte auch kein Vor-
teil durch alternierende Spülungen mit Wasserstoffperoxid (H2O2) zur
Erzeugung naszierenden Sauerstoffs nachgewiesen werden.
Chlorhexidin Aufgrund der hohen Substantivität und der guten antimikrobiellen
Wirkung auch gegenüber endodontischen Problemkeimen wird oft eine
abschließende Spülung mit einer bis zu 2%igen Chlorhexidindigluco-
natlösung empfohlen. Da CHX Gewebe im Wurzelkanal nur unzurei-
chend auflösen kann, soll es nur ergänzend zum Natriumhypochlorid
eingesetzt werden.
MTAD In dem neu eingeführten Spülmittel MTAD wird eine hohe antimi-
krobielle Wirkung durch Tetrazyklin mit der Entfernung der Schmier-
schicht durch Zitronensäure kombiniert. Das Potenzial von MTAD als
zusätzliche Spüllösung, insbesondere in Fällen von therapieresistenter,
persistierender Parodontitis apicalis, scheint vielversprechend, ist aber
noch nicht abschließend geklärt.
Die Effektivität der Spülungen hängt in der Hauptsache von der
Eindringtiefe in den Wurzelkanal und damit von dem Lumen des Ka-
nals, der eingebrachten Menge und einer angemessenen Einwirkdauer
ab.
Die Spülung erfolgt mit Einwegspritzen, die mit einer zierlichen,
stumpfen Kanüle bestückt sind. Oft ist es sinnvoll, die Kanüle in einem
leichten Winkel vorzubiegen. Der Druck muss so dosiert werden, dass
ein tiefes Eindringen der Lösung in den Wurzelkanal gewährleistet ist,
wobei allerdings ein Überpressen der Lösung über den Apex ausge-
schlossen werden muss.
Das unbeabsichtigte Überpressen von NaOCl-Lösung in das periapi-
kale Gewebe löst bei Patienten ohne Anästhesie heftige, brennende
Schmerzen aus. Gelangen größere Volumina in das periapikale Gewebe,
kann es zu einer starken Blutung aus dem Wurzelkanal, Schwellung der
entsprechenden Gesichtsareale, Blutungen im Unterhautgewebe (Ek-
chymose) und in schweren Fällen zu begrenzten Gewebenekrosen kom-
men. Um die Symptomatik abzumildern, werden intensive Spülungen
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 401
mit physiologischer Kochsalzlösung und eine Anästhesie zur Linderung
der akuten Schmerzen empfohlen. In schweren Fällen kann in der Folge
eine chirurgische Therapie notwendig sein.
Eine Irritation der Mundschleimhaut oder ein Verschlucken der Lö-
sung kann ausgeschlossen werden, da die Behandlung unter Kofferdam
erfolgt.
Mithilfe einer passiven Ultraschallspülung kann die Reinigungs- Ultraschall-
und Desinfektionswirkung von Spüllösungen verbessert werden. Hier- spülung
bei werden kleine Feilen oder feine Drähte verwendet, die im Wurzelka-
nal frei oszillieren können und die Energie auf das Spülmedium übertra-
gen. Auf diese Weise wird eine größere Menge an organischem und an-
organischem Material, Mikroorganismen und Dentindebris aus dem
Wurzelkanal entfernt als bei einer herkömmlichen Spülung.
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung
Die Methoden der manuellen Wurzelkanalaufbereitung können an-
hand der verwendeten Instrumente, nach der angestrebten Form des
Wurzelkanals oder nach der Art des Vorgehens unterschieden werden.
Vorwiegend von den Instrumenten ausgehend, können die Räum-
methode und die Feilmethode unterschieden werden.
Nach Art des Vorgehens können die Methoden grob in zwei Grup-
pen eingeteilt werden.
! Apikal-koronale Methoden: Hier wird nach Festlegung der Ar-
beitslänge der gesamte Wurzelkanal sukzessiv mit zunehmenden
Instrumentengrößen konisch in koronaler Richtung aufbereitet.
Koronal-apikale Methoden: Hier wird der koronale Anteil des 13
Wurzelkanals zuerst erweitert, bevor die endgültige Arbeitslänge
festgelegt wird. Erst anschließend wird die Arbeitslänge bestimmt
und konisch in apikaler Richtung aufbereitet.
Zur Formgebung des apikalen Kanalabschnitts wird häufig in Kombina-
tion mit einer der Methoden die Step-back-Technik angewendet. Eine
klare Abgrenzung zwischen den vielen in der Literatur beschriebenen
Techniken ist schwer möglich, da oft Kombinationen verschiedener
Techniken empfohlen werden.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die konventionellen apikal-ko-
ronalen Methoden bei Verwendung von Reamern eher für die Aufberei-
tung gerader, rundlicher Wurzelkanäle geeignet sind; die weiterentwi-
ckelten apikal-koronalen Methoden wie die konische Aufbereitungs-
technik unter Verwendung von Feilen für leicht gekrümmte Kanäle
und die koronal-apikalen Methoden sind letztlich besonders für die
Aufbereitung stark gekrümmter Kanäle geeignet.
402 13 Die Wurzelkanalbehandlung
13.8.1 Apikal-koronale Methoden
Konventionelle Techniken
Bei der konventionellen Technik wird der Wurzelkanal in voller Arbeits-
länge mit Instrumenten aufsteigender Größe bearbeitet. Die Technik
kann allein mit Reamern oder wechselseitiger Verwendung von Rea-
mern und Hedström-Feilen durchgeführt werden.
Räummethode Arbeitet man mit den Instrumenten stoßend-drehend, spricht man
von der Räummethode.
Ein kleiner Reamer wird in den Kanal eingeführt, unter Beachtung
der Arbeitslänge eine viertel bis eine halbe Umdrehung rotiert, wieder
aus dem Kanal entfernt und gereinigt. Dieser Arbeitsvorgang wird wie-
derholt, bis der Reamer widerstandslos bis zur Arbeitslänge eingeführt
werden kann. Mit Instrumenten aufsteigender Größe wird der Vorgang
wiederholt, bis die gewünschte Kanalgröße erreicht ist.
Häufig wird empfohlen, bei dieser konventionellen Technik wechsel-
seitig Reamer und Hedström-Feilen gleicher Größe zu benutzen. Bei der
Anwendung von Feilen ist sicherzustellen, dass es nicht zur Ansamm-
lung von Spänen im apikalen Drittel des Kanals und damit zu einer Ver-
bolzung des Weges kommt. Dies kann durch die sog. Rekapitulation
verhindert werden. Hierbei wird ein ein oder zwei Größen kleinerer Rea-
mer in den Kanal eingeführt, um die Späne nach oben zu transportieren.
Als Vorteil der konventionellen Methode wird angesehen, dass der
fertig aufbereitete Kanal einen runden Querschnitt besitzt und damit di-
rekt geeignet ist zur Aufnahme eines genormten Guttaperchapoints.
Weiterhin kann gegenüber anderen Methoden ein leichter Zeitvorteil
erreicht werden.
Dem gegenüber stehen aber zahlreiche Nachteile. Bei Kanälen mit
ovalem oder hantelförmigem Querschnitt können bei weitem nicht alle
Bereiche der Wurzelkanalwand erreicht werden. Würde man versuchen,
die gesamte Kanalwand in die runde Aufbereitungsform einzubeziehen,
bestünde die große Gefahr einer seitlichen Perforation.
Wird diese Methode bei gekrümmten Wurzeln angewendet, besteht
schon in der ersten Phase der Instrumentierung die Gefahr der Stu-
fenbildung oder der Abweichung vom ursprünglichen Kanal im
apikalen Drittel (Abb. 13.17 und 13.18).
Während der Aufbereitung kann es durch den Ausschlag der Instrumen-
tenspitze bei Drehungen zur Ausbildung des sog. „Elbow-Zip“-Effekts
kommen, der eine korrekte Wurzelkanalfüllung nahezu unmöglich
macht. In welchem Ausmaß eine Trichter- oder Sanduhrform entsteht,
hängt vom Ausmaß der Wurzelkrümmung, von der Größe und Flexibi-
lität der Instrumente und der Art des Vorgehens ab (Abb. 13.19).
Feilmethode Werden zur Aufbereitung überwiegend Feilen benutzt, mit denen
schabend und ziehend gearbeitet wird, spricht man von der Feilmethode.
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 403
Abb. 13.17: Abweichung vom
ursprünglichen Kanal im
apikalen Drittel bei der ers-
ten Phase der Instrumentie-
rung
Abb. 13.18: Abweichung vom
ursprünglichen Wurzelkanal
durch falsche Aufberei-
tungstechnik
Abb. 13.19: Elbow-Zip-Effekt
bei der Instrumentierung
gekrümmter Kanäle. Die
Verwendung nicht genü- Zip
gend flexibler oder nicht Elbow
vorgebogener Instrumente
führt dazu, dass nahe dem
Apex ein Trichter (Zip) ent-
steht und nach diesem eine
Einengung (Elbow). 13
Als erstes Instrument wird eine dünne Feile in den Kanal eingeführt,
die ohne Widerstand bis zur Arbeitslänge gelangen muss. Die Kanal-
wand wird so lange bearbeitet, bis die nächst größere Feile wiederum
ohne Widerstand bis zur Arbeitslänge eingeführt werden kann. Durch
zirkuläres Feilen kann nun auch die gesamte Kanalwand von Wurzel-
kanälen mit unregelmäßigem Querschnitt bearbeitet werden (Abb.
13.20 und 13.21).
Bis zu welcher Instrumentengröße aufbereitet wird, hängt von den
anatomischen Verhältnissen und der geplanten Wurzelfülltechnik ab.
Die besonderen Vorteile dieser Methode sind die intensive Reini-
gung des Wurzelkanals und die Möglichkeit, auch unregelmäßig ge-
formte Kanäle problemlos aufzubereiten.
404 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Abb. 13.20: Problematik der konventionellen Aufbe- Abb. 13.21: Zirkuläres Feilen: Mithilfe dieser Technik
reitungstechnik: Ist der Kanalquerschnitt nicht an- können auch bei unregelmäßig geformten Kanälen
nähernd rund, werden zum einen Teilbereiche nicht alle Bereiche bearbeitet werden.
aufbereitet, zum anderen wird viel gesundes Den-
tin geopfert.
Als Nachteil ist anzusehen, dass Feilen das gelöste Material nicht so
gut aus dem Kanal abtransportieren und somit zur Verhinderung einer
Verbolzung häufige Rekapitulationen notwendig sind. Weiterhin erfor-
dert der unregelmäßige Querschnitt des aufbereiteten Kanals eine auf-
wändigere Füllungstechnik.
Step-back-Technik
Den oben genannten Anforderungen an die richtige Formgebung des
Wurzelkanals kann man in den meisten Fällen mit der konventionellen
Technik nicht gerecht werden.
Eine konische Kanalform des apikalen Wurzelkanaldrittels, die die An-
fertigung einer exakten Wurzelkanalfüllung erleichtert, kann zumeist
nur mit der Step-back-Technik erreicht werden. Da die Step-back-
Technik aber nur das apikale Wurzelkanaldrittel betrifft, gilt sie weni-
ger als eigenständige Aufbereitungstechnik, sondern ist Bestandteil
verschiedener apikal-koronaler und auch koronal-apikaler Methoden.
Hierbei werden nach der Aufbereitung des apikalen Kanalabschnitts um
drei bis fünf Größen nach dem ersten klemmenden Instrument die fol-
genden Instrumente nicht mehr in voller Arbeitslänge eingeführt, son-
dern die Länge wird sukzessiv verkürzt. Je nach Weite des Wurzelka-
nals erfolgen so drei bis fünf Schritte mit zunehmend verkürzter Arbeits-
länge. Während kleine Schritte von je 0,5 mm bei geraden Kanälen
angebracht sind, werden bei gekrümmten Kanälen Schritte von je 1 mm
bevorzugt (Abb. 13.22).
Vorteil Ein Vorteil der Step-back-Technik gegenüber der konventionellen
Technik ist auch darin zu sehen, dass die mit zunehmender Größe im-
mer weniger flexiblen Instrumente nicht im Bereich der größten Krüm-
mung zum Einsatz kommen. Somit kann auch der einseitige Abtrag von
Material an einer Kanalseite und damit die Ausbildung des Elbow-Zip-
Effekts weitgehend verhindert werden.
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 405
Abb. 13.22: Konische Wurzel-
kanalaufbereitung mit der
Step-back-Technik
Konische Wurzelkanalaufbereitung
Aus der breiten Palette der Aufbereitungstechniken wird nachfolgend
die konische Wurzelkanalaufbereitung ausführlicher beschrieben, da
diese Technik häufig in der Studentenausbildung als Standardmethode
eingesetzt wird.
Das erste Instrument, das bis zur vorher bestimmten Arbeitslänge Initialfeile
eingebracht wird und dort bindet, wird als Initialfeile (initiale apikale
Feile) bezeichnet. Je nach Durchmesser des Wurzelkanals kann es sich
dabei z.B. um ein Instrument der ISO-Größe 15 oder bei sehr weiten Ka-
nälen um ein Instrument der ISO-Größe 35 handeln.
Von der initialen Feile ausgehend, erfolgt die Erweiterung des Ka- Erweiterung
nals um drei bis fünf Größen. Um eine dichte Füllung des Wurzelka-
nals zu ermöglichen, soll der apikale Anteil des Wurzelkanals i.d.R. zu-
mindest bis zur ISO-Größe 30 oder 35 aufbereitet werden.
Die zuletzt in voller Arbeitslänge eingebrachte Feile wird als apikale
Masterfeile (gebräuchliche Abkürzungen: AMF, MAF oder MAI) bezeichnet.
Anschließend erfolgt die konische Aufbereitung des apikalen Wur- Konische
zelkanaldrittels nach der Step-back-Technik. Die nachfolgenden drei Aufbereitung 13
bis vier jeweils größeren Instrumente werden in um jeweils 1 mm ver-
kürzter Länge verwendet. Das letzte dieser Instrumente wird als Final-
feile (FF) bezeichnet.
Abschließend wird das koronale Wurzelkanaldrittel mit Gates-Glid-
den-Bohrern so weit erweitert und geglättet, bis durchgehend eine koni-
sche Form des Wurzelkanals entstanden ist.
Der gesamte Aufbereitungsvorgang wird im feuchten Milieu durch-
geführt. Dies bedeutet regelmäßige Spülungen mit Natriumhypo-
chlorit zu Beginn und zwischen den Arbeitsgängen.
Um besonders bei gekrümmten Kanälen eine Verbolzung von Spänen in
Apexnähe zu vermeiden, ist eine häufige Rekapitulation erforderlich.
Bei besonders engen Kanälen wird neben den Spülungen der Einsatz ei-
nes Gleitmittels (z.B. RC-Prep) empfohlen. Zusätzlich kann die Aufbe-
reitung solcher Kanäle erleichtert werden, wenn Instrumente in Zwi-
schengrößen eingesetzt werden.
406 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Grundsätzlich sollen bei engen, stark gekrümmten Kanälen beson-
ders flexible Feilen eingesetzt werden, die ohne apikalen Druck verwen-
det werden (Abb. 13.23a und b).
Spülung Nach dem letzten Aufbereitungsschritt wird der Wurzelkanal noch
einmal gründlich mit Natriumhypochlorit gespült. Manchmal wird
eine zusätzliche abschließende Spülung mit 95%igem Alkohol empfoh-
len, um die Trocknung des Kanals zu beschleunigen.
Trocknung Die Trocknung des Kanals erfolgt mit genormten und auf die Ar-
beitslänge minus 1 mm eingestellten sterilen Papierspitzen. Die Papier-
spitzen werden entsprechend der Längenmarkierung ohne Druck in den
a I II III IV V
b I II III IV V
Abb. 13.23: a) Arbeitsschritte bei der Wurzelkanalaufbereitung entsprechend einer apikal-koronalen Me-
thode (konische Methode): I. Ursprüngliche Kanalform, II. Erweiterung des gesamten Wurzelkanals um 3–4
Größen, III. Step-back-Präparation des apikalen Drittels, IV. Erweiterung des koronalen Drittels mit Gates-
Glidden-Bohrern, V. präparierter Wurzelkanal. b) Arbeitsschritte bei der Wurzelkanalaufbereitung entspre-
chend einer koronal-apikalen Methode (Step-down-Technik): I. Erweiterung des Wurzelkanals mit Handin-
strumenten um wenige Größen bis zum Anfang der Krümmung, II. konische Präparation des erweiterten
Anteils mit Gates-Glidden-Bohrern, III. Aufbereitung des apikalen Drittels, IV. Step-back-Präparation des
apikalen Drittels, V. präparierter Wurzelkanal.
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 407
Kanal eingeführt. Durch genaue visuelle Prüfung der Papierspitzen muss
sichergestellt werden, dass der Kanal völlig trocken ist.
Anschließend erfolgt entweder eine provisorische Einlage oder die
definitive Wurzelkanalfüllung.
13.8.2 Koronal-apikale Methoden
Die koronal-apikalen Methoden haben grundsätzlich folgende Vorteile Vorteile
(Stock et al. 1997):
D Durch die frühe Ausräumung des voluminösen koronalen An-
teils des Wurzelkanals kann eine Verschleppung von Bakterien
in apikaler Richtung weitgehend vermieden werden.
D Die frühe koronale Erweiterung ermöglicht eine bessere Pene-
tration von Spüllösungen. Dadurch wird eine Verstopfung des
Wurzelkanals weniger wahrscheinlich.
D Die frühe koronale Erweiterung verkürzt die gesamte Wurzelka-
nallänge. Hierdurch können Fehler bei der Abschätzung der Ar-
beitslänge reduziert werden, und es wird eine effektivere apikale
Kontrolle der Wurzelkanalinstrumente ermöglicht.
Für Ungeübte enthalten aber auch die koronal-apikalen Methoden ei- Nachteile
nige Risiken. So kann es besonders bei engen, gekrümmten Kanälen zur
Begradigung, zur Präparation eines Sanduhreneffekts oder zu einer Per-
foration kommen.
Zu den bekanntesten koronal-apikalen Methoden zählen die Step-
down-, Double-flared- und Crown-down-pressureless-Techniken. Die
Beschreibung dieser Methoden erfolgt hier nur in stark verkürzter Form. 13
Grundprinzipien der Wurzelkanalaufbereitung, wie regelmäßiges
Einbringen von Spüllösungen (z.B. Natriumhypochlorit) und häufi-
ges Rekapitulieren, müssen auch bei der Anwendung dieser Metho-
den eingehalten werden.
Bei der Step-down-Technik (s. Abb. 13.23b und 13.24) wird nach Über- Step-down-
prüfung der Durchgängigkeit der koronale Anteil des Wurzelkanals mit Technik
Hedström-Feilen oder K-Feilen der Größen 15, 20 und 25 bis zu einer
Tiefe von etwa 16–18 mm oder bis an den Anfang der Wurzelkanal-
krümmung erweitert. Danach wird der erweiterte Anteil des Wurzelka-
nals mit Gates-Glidden-Bohrern der Größen 1–3 geglättet, wobei der
Bohrer der Größe 3 nur 1–2 mm in den Wurzelkanal eindringen sollte.
Erst jetzt wird die Arbeitslänge bestimmt und mit der Step-back-Technik
der apikale Anteil des Wurzelkanals aufbereitet.
Bei der Crown-down-pressureless-Technik erfolgt die komplette Crown-down-pres-
Instrumentierung in koronal-apikaler Richtung mit K-Feilen. Zunächst sureless-Technik
408 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Double-flared-Technik
Referenzpunkt
35 50
–5 mm
30 45
–4 mm
25 40
–3 mm
20 35
–2 mm
15 30
–1 mm
10 10 15 20 25
Arbeitslänge
Step-down-Technik
Referenzpunkt
G III
7–9 mm
G II
10–12 mm
F F F GI
13–15 mm
F 15 20 25
15–17 mm
10
16–18 mm
F
F 45
–4 mm
F 40
–3 mm
F 35
–2 mm
F F F F 30
–1 mm
10 15 20 25
Arbeitslänge
Abb. 13.24: Schematische Darstellung der Step-down-Technik und der Double-flare-Technik. Bei der Step-
down-Technik kommen in der ersten Phase der Erweiterung bis zur Kanalkrümmung Hedström- oder K-Fei-
len (F) sowie Gates-Bohrer (G I bis III) zur Anwendung. Bei der Double-flare-Technik werden nur K-Feilen
verwendet (nach Kockapan 2003).
wird bis zu einer Länge von etwa 16 mm ein Instrument der Größe 35
eingeführt. Ist dies nicht möglich, muss die Durchgängigkeit mit kleine-
ren Instrumenten bis zu dieser Länge hergestellt werden. Anschließend
wird der Wurzelkanal mit abnehmenden Instrumentengrößen bis zu ei-
ner provisorisch festgelegten Arbeitslänge etwa 3 mm vor dem röntge-
nologischen Apex aufbereitet. Hierzu erfolgen mit den Feilen ohne api-
kalen Druck jeweils maximal zwei Rotationsbewegungen. Nach Errei-
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 409
chen der provisorischen Arbeitslänge wird die tatsächliche Arbeitslänge
bestimmt und, ausgehend von Instrumenten zunehmender Größe (40,
45, 50), werden die Arbeitsvorgänge wiederholt.
Mit dieser Methode kann die ursprüngliche Lage des Wurzelkanals
relativ genau aufrechterhalten werden, allerdings erfolgt die Reinigung
des Wurzelkanals nicht so effizient wie bei den Methoden, die mit fei-
lenden Bewegungen arbeiten.
Bei der Double-flared-Technik erfolgt die Aufbereitung des Wurzel- Double-flared-
kanals ebenfalls mit K-Feilen. Zuerst wird ein feines Instrument ohne Technik
feilende Bewegungen eingeführt und die Arbeitslänge bestimmt. Dann
wird eine Feile, die locker im Wurzelkanal liegen soll, bis zu einer Länge
von etwa 14 mm oder bis kurz vor der beginnenden Kanalkrümmung
eingeführt. Mit den Instrumenten werden nur feilende Bewegungen
ausgeführt. Folgend werden immer kleinere Instrumente jeweils 1 mm
tiefer eingebracht, bis die Arbeitslänge erreicht ist. Abschließend erfolgt
die endgültige Formgebung mit der Step-back-Technik.
Bei Anwendung dieser Methode wird der Wurzelkanal sehr gut gerei-
nigt, und eine Verlagerung von abgetragenem Material nach apikal
kann minimiert werden.
Nicht geeignet ist diese Methode für weite Wurzelkanäle und Zähne
mit weit offenem Foramen apicale.
Insgesamt bieten die koronal-apikalen Methoden speziell für die Aufbe-
reitung stark gekrümmter Wurzelkanäle für den erfahrenen Behandler
viele Vorteile gegenüber den apikal-koronalen Methoden und erfreuen
sich zunehmender Beliebtheit.
13
13.8.3 Maschinelle Wurzelkanalaufbereitung
Es sind zahlreiche Methoden zur Wurzelkanalaufbereitung beschrieben
worden, die nur mit maschinengetriebenen Instrumenten oder durch
Kombination von maschinengetriebenen Instrumenten, Schallsyste-
men und Ultraschallsystemen mit Handinstrumenten durchgeführt
werden. Besonders Ultraschallgeräte werden häufig als Hilfsmittel für
die Reinigung des Wurzelkanals in Kombination mit Handinstrumen-
ten empfohlen. Zum Einsatz von Laserstrahlen als Hilfsmittel zur Aufbe-
reitung und Reinigung liegen bisher nur wenig Erfolg versprechende Re-
sultate vor, sodass ein routinemäßiger Einsatz solcher Geräte bisher
nicht empfohlen werden kann.
In der Praxis ergeben sich insbesondere bei der Aufbereitung ge- Komplikationen
krümmter und enger Wurzelkanäle oft Probleme. Komplikationen wie
Kanalbegradigung, Verlust der Arbeitslänge, strichförmige Perforation
im mittleren Kanalanteil, trichterförmige Erweiterung im apikalen Ka-
nalanteil, Verlagerung des Foramen apicale oder Instrumentenfraktur
410 13 Die Wurzelkanalbehandlung
sind nicht selten. Viele dieser Probleme können darauf zurückgeführt
werden, dass es bei der Behandlung zu einem Verlust der „Fingerkon-
trolle“ kommt und unkontrolliert Dentin abgetragen wird.
Durch neuere Entwicklungen von maschinengetriebenen Instru-
menten mit modifizierter Geometrie und höherer Flexibilität sollen
aber die meisten dieser Probleme überwunden worden sein. Über alle
Systeme wird berichtet, dass bei sachgerechter Anwendung eine zufrie-
denstellende Aufbereitung des Wurzelkanals ohne Abweichungen vom
ursprünglichen Kanalverlauf erzielt werden kann.
Bei den meisten NiTi-Systemen wird ein Vorgehen nach der Crown-
down-Technik empfohlen. Voraussetzung ist immer ein möglichst
gradliniger Zugang zum Wurzelkanalsystem.
Bei vielen Aufbereitungssystemen wird die Präparation eines
Gleitpfades mit Handinstrumenten vor der Anwendung der maschinel-
len Instrumente empfohlen oder verlangt. Der Gleitpfad wird in der Re-
gel mit konventionellen Handfeilen aus Edelstahl oder NiTi (Konizität
von 2%) der ISO-Größe 10, 15 oder 20 präpariert und reduziert den me-
chanischen Stress der maschinellen NiTi-Instrumente.
Zumeist wird auch die Anwendung von Gleitmitteln empfohlen.
Diese sollen ein Verklemmen der Feilen im Kanal verhindern und damit
die Frakturgefahr reduzieren, die Schmierschicht entfernen und ein er-
leichtertes Vordringen der Instrumente in den Kanal ermöglichen.
Im Folgenden soll als Beispiel in Kurzform die Wurzelkanalaufberei-
tung mit ProTaper, FlexMaster und Mtwo beschrieben werden.
ProTaper Aufbereitung mit ProTaper: Zur Aufbereitung von Wurzelkanälen
mit dem ProTaper-System werden in der Regel nur drei Instrumente be-
nötigt, zwei Shaping Files und eine Finishing File. Zur Grundausstat-
tung gehören zusätzlich eine stark konische Shaping File zur Erweite-
rung des koronalen Drittels und weitere Finishing Files für Kanäle mit
großem apikalem Durchmesser. Zu Beginn muss mit einer Handfeile
ISO-Größe 15 ein reproduzierbarer Gleitweg geschaffen werden. Die
Shaping Files werden mit bürstenden Bewegungen verwendet. Nach An-
wendung der Shaping File S1 wird die Arbeitslänge bestimmt und die
Shaping File S2 eingesetzt, bis die Arbeitslänge erreicht ist. Anschlie-
ßend wird die Finishing File F1 mit nicht bürstender Bewegung bei jeder
Einführung tiefer als beim vorigen Mal eingebracht, bis die Arbeitslänge
erreicht ist. Mit Handfeilen wird der Durchmesser des Foramens gemes-
sen. Wenn eine zusätzliche Erweiterung notwendig ist, wird die geeig-
nete Finishing File (F2–F5) mit derselben nicht bürstenden Bewegung
eingesetzt. Soll der koronale Abschnitt des Kanals zusätzlich erweitert
werden, wird die Feile SX mit bürstender Bewegung verwendet.
FlexMaster Aufbereitung mit FlexMaster: Die Aufbereitung der Wurzelkanäle
erfolgt nach den Grundsätzen der Crown-down-pressureless-Methode.
Die Erstpenetration des Wurzelkanals sollte mit einer sehr feinen K-Feile
oder einem vergleichbaren Handinstrument erfolgen. Danach wird mit
einer Introfeile (Konizität .11) ein gerader Zugang geschaffen. Zunächst
13.8 Methoden der Wurzelkanalaufbereitung Kapitel 13 411
wird der koronale Kanalanteil mit dicken Instrumenten größerer Koni-
zität erweitert, dann erst dringen die dünneren Instrumente tiefer in
den Wurzelkanal ein. Nach Festlegung der exakten Arbeitslänge erfolgt
abschließend die apikale Aufbereitung mit Instrumenten der Konizität
.02 in zunehmender Größe. Für die Aufbereitung können entsprechend
der ursprünglichen Kanalanatomie (weit, mittel, eng) unterschiedliche
Aufbereitungssequenzen angewendet werden. FlexMaster-Instrumente
sollten bei konstanten Drehzahlen zwischen 150 und 300 Umdrehun-
gen pro Minute mit einem Motor mit Drehmomentbegrenzung verwen-
det werden.
Aufbereitung mit Mtwo: Die Aufbereitung der Wurzelkanäle erfolgt Mtwo
nach den Grundsätzen der Single-Length-Technik. Dabei werden alle
Instrumente in der vollen Arbeitslänge angewandt. Zu Beginn muss
auch bei dieser Methode mit einer Handfeile ISO-Größe 6–15 ein repro-
duzierbarer Gleitweg geschaffen werden. Danach erfolgt die Bestim-
mung der Arbeitslänge. Nach Festlegung der exakten Arbeitslänge wird
der Gleitpfad mit zwei Instrumenten der Konizität .04 und .05 der
Größe 10 und 15 (10/.04 und 15/.05) erweitert. Die Instrumente werden
mit einer bürstenden Feilenbewegung schrittweise und ohne Druck auf
die volle Arbeitslänge gebracht. Zur Basissequenz gehören noch die fol-
genden Instrumente der Größen 20/.06 und 25/.06. Nach Abschluss der
Basisfrequenz erfolgt das Ausmessen des Kanaldurchmessers auf Arbeits-
länge durch Einführen eines Handinstrumentes ISO 30 in den Wurzel-
kanal. Kann dieses Handinstrument bis auf 1 mm vor Arbeitslänge ge-
bracht werden, ist keine zusätzliche Erweiterung des apikalen Bereichs
notwendig. Kann das Handinstrument bis auf Arbeitslänge eingeführt
werden, ist eine größere apikale Aufbereitung zweckmäßig. Hierfür ste-
hen bei Bedarf Instrumente der Größen 45/.04, 50/.04 und 60/.04 zur
Verfügung. 13
Zu den maschinellen Aufbereitungssystemen, die eine drehmo- Bewertung
mentbegrenzte Rotation von Nickel-Titan-Instrumenten bewirken, lie-
gen für eine endgültige Beurteilung noch zu wenige Untersuchungen
vor. Die Entwicklungen sind bisher zu keinem Ende gekommen und die
Zahl der maschinellen NiTi-Systeme nimmt immer noch weiter zu. Ein-
deutige Hinweise auf die Überlegenheit eines bestimmten Systems lie-
gen bisher nicht vor. Auch bei sachgerechter Anwendung besteht aber
wohl immer noch gegenüber der Aufbereitung mit Handinstrumenten
ein erhöhtes Frakturrisiko. Deswegen ist es vor der klinischen Anwen-
dung neuer rotierender Aufbereitungssysteme unbedingt erforderlich,
in adäquatem Umfang Übungen an extrahierten Zähnen durchzufüh-
ren. Die Anwendungshäufigkeit jedes Instruments muss sorgfältig do-
kumentiert werden und je nach Belastung müssen die Instrumente
nach wenigen Einsätzen bis hin zu einer einmaligen Anwendung ausge-
sondert werden.
412 13 Die Wurzelkanalbehandlung
13.9 Medikamentöse Einlagen zur Desinfektion des
Wurzelkanals
! Eine temporäre oder desinfizierende Einlage mit nachfolgendem
provisorischem Verschluss ist dann notwendig, wenn die Wurzel-
kanalbehandlung nicht in einer Sitzung abgeschlossen werden
kann.
Dies kann aus organisatorischen oder zeitlichen Gründen erforderlich
sein, weil der Wurzelkanal durch aufsteigendes Exsudat nicht getrock-
net werden kann oder weil eine zusätzliche desinfizierende Wirkung er-
zielt werden soll. Besonders umstritten sind die Notwendigkeit und der
Sinn einer desinfizierenden Einlage.
Mit der beschriebenen mechanischen Aufbereitung des Wurzelka-
nals unter Anwendung von Natriumhypochlorit als Spülmittel kann
eine weitgehende Reduzierung der Keimzahlen erreicht werden. Nach
neueren Untersuchungen sind nach Spülung mit Natriumhypochlorit
ca. 50% der Wurzelkanäle vollständig bakterienfrei, nach zusätzlicher
Verwendung von Ultraschall sogar bis zu 70%.
Vielfach geht man davon aus, dass ein anschließend definitiv gefüll-
tes Wurzelkanalsystem den verbliebenen Bakterien keine Gelegenheit
bietet, eine neue Flora aufzubauen, die in der Lage ist, einen bestehen-
den pathogenen Prozess weiterhin zu unterhalten oder auszulösen.
Trotz dieser gesicherten Erkenntnisse werden zahlreiche Medika-
mente angeboten, die als desinfizierende Zwischeneinlage verwendet
werden sollen.
Phenole Die bekanntesten Stoffgruppen sind die Phenole und Aldehyde. Zu
den Phenolen oder phenolhaltigen Präparaten gehören Chlorphenol-
Kampfer-Menthol (ChKM), Chlorphenol-Kampfer-Thymol und Jodo-
formpaste, die aus einer Mischung von Jodoform und ChKM besteht.
Aldehyde Zu den Aldehyden oder verwandten Verbindungen zählen Formal-
dehyd, Formokresol und Trikresol-Formalin.
Kortikoid-Anti- Neben diesen Präparaten wird auch manchmal die Anwendung von
biotika-Präparate Kortikoid-Antibiotika-Präparaten empfohlen.
Der Nutzen all dieser Medikamente ist sehr zweifelhaft und die An-
wendung gilt heute eher als kontraindiziert. Gegenüber manchen dieser
Präparate kann eine Sensibilisierung und Überempfindlichkeitreaktion
auftreten oder eine Antigenität durch Bindung an Körpereiweiß ausge-
löst werden. Als Ausnahme wird die kurzzeitige Anwendung von Korti-
koid-Antibiotika-Präparaten im Rahmen der endodontischen Schmerz-
therapie gesehen.
Als Mittel der Wahl für eine Zwischeneinlage gilt Kalziumhydroxid.
Kalziumhydroxid- Bei den Kalziumhydroxidpräparaten, die temporär in den Wurzelkanal
präparate eingebracht werden, handelt es sich gewöhnlich um pastenartige, wäss-
13.10 Provisorischer Verschluss Kapitel 13 413
rige Suspensionen. Sie zeigen im Vergleich zu anderen Zubereitungsar-
ten die stärkste alkalisierende und bakterizide Wirkung.
Fertigpräparate enthalten Zusätze zur Erzielung von Röntgensicht-
barkeit und zur Verbesserung der Verarbeitbarkeit. Das bekannteste Fer-
tigpräparat ist das Calxyl. Wichtig ist bei diesen Präparaten, dass sie
dicht verschlossen aufbewahrt werden, um die Carbonatbildung zu ver-
meiden.
Kalziumhydroxid ist wirksam, biokompatibel und hinreichend er-
forscht. Wenn Wurzelkanäle nach beschriebener Methode aufbereitet
und gespült worden sind und dann für einige Tage mit Kalziumhydro-
xid gefüllt wurden, konnte in fast 100% der Fälle Bakterienfreiheit
nachgewiesen werden.
Die antibakterielle Wirkung von Kalziumhydroxid hängt von der
Konzentration der verfügbaren Hydroxylionen ab. Da dissoziierte Hy-
droxylionen durch Reaktion verbraucht werden, sollte ein genügender
Überschuss zur Verfügung stehen, um einen anhaltenden Effekt zu ge-
währleisten.
Kalziumhydroxid-Paste wird mithilfe eines Lentulos oder mit Hand-
instrumenten ohne Überfüllung des Kanals in ausreichender Menge
eingebracht. Danach erfolgt ein dichter temporärer Verschluss der Kavi-
tät.
13.10 Provisorischer Verschluss
! Ein dichter provisorischer Verschluss der Zugangskavität ist not-
wendig, um sicherzustellen, dass es zu keiner Reinfektion des ge-
säuberten Wurzelkanals kommen oder eindringende Mundflüs-
sigkeit als Substrat für verbliebene Bakterien dienen kann. 13
Provisorische Füllungsmaterialien sollen folgende Anforderungen er- Anforderungen
füllen:
D Undurchlässigkeit für Bakterien und Mundflüssigkeit
D leichte und drucklose Applizierbarkeit
D hohe mechanische Festigkeit
D leichte Entfernbarkeit
Diesen Anforderungen werden plastische Fertigpräparate wie Cavit oder
IRM weitgehend gerecht.
Cavit besteht aus einer Mischung von Kalziumsulfat, Zinkoxid, Cavit
Zinksulfat, Glykolacetat, Polyvenylacetat und Triäthanolanin. Es ent-
hält kein Eugenol. Cavit ist leicht applizierbar und erhärtet rasch unter
Feuchtigkeitszutritt. Die Undurchlässigkeit ist für etwa ein bis zwei Wo-
chen gewährleistet, wenn die Schichtstärke mindestens 3 mm beträgt.
IRM ist ein Zinkoxid-Eugenol-Zement mit Polymerverstärkung. Die IRM
Liegedauer dieses Präparats kann mehrere Wochen betragen.
414 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Um die Wurzelkanaleingänge nicht zu verlegen, können vor Ein-
bringen des Provisoriums die Kanaleingänge mit einem kleinen Poly-
urethan-Schaumstoffpellet oder einem anderen geeigneten Material ab-
gedeckt werden. Bei großen, mehrflächigen Zugangskavitäten ist eine
korrekte Gestaltung des Approximalraums erforderlich.
In diesen Fällen kann z.B. ein Glasionomerzement oder ein einfa-
ches Komposit bei Verwendung einer Matrize als provisorischer Ver-
schluss in die Kavität eingebracht werden.
Sehr wichtig ist es, eine genaue Okklusionskontrolle durchzufüh-
ren. Ein zu hohes Provisorium kann gerade bei Zähnen mit einer endo-
dontischen Problematik Schmerzen auslösen oder vorhandene Schmer-
zen verstärken.
13.11 Voraussetzungen vor der definitiven
Wurzelkanalfüllung
Folgende Voraussetzungen sollen erfüllt sein, bevor eine definitive Wur-
zelkanalfüllung durchgeführt wird:
D komplette Aufbereitung entsprechend den genannten Kriterien
D Symptomlosigkeit des Zahnes
D trockener Wurzelkanal
So lange ein Zahn noch aufbissempfindlich ist oder bei Palpation
im Bereich des Apex eine Druckempfindlichkeit besteht oder eine
Schwellung tastbar ist, soll keine definitive Füllung vorgenommen
werden.
Kann abgegrenzt werden, dass der ursprüngliche Schmerz von einer
Pulpitis ohne Beteiligung des apikalen Parodonts ausging, kann eine
Füllung direkt durchgeführt werden. Wenn dann nach einer technisch
gelungenen Wurzelkanalfüllung weiterhin Schmerzen bestehen, kön-
nen diese besser mit der Verabreichung von Analgetika als mit einer er-
neuten Eröffnung des Wurzelkanals kontrolliert werden. Häufig wird
empfohlen, nur nach einer Vitalexstirpation in der gleichen Sitzung
den Wurzelkanal zu füllen.
Liegt nekrotisches, infiziertes Pulpagewebe vor, soll eine tempo-
räre Einlage mit einem Kalziumhydroxidpräparat erfolgen. Durch klini-
sche Studien kann diese Empfehlung allerdings nicht belegt werden.
Eine bestehende Fistel ist grundsätzlich keine Kontraindikation für
eine Wurzelkanalfüllung. In vielen Fällen kommt es zu einer Ausheilung
der ursächlichen periapikalen Läsion und zum Verschluss des Fistelganges.
Um eine gute Adaptation des Füllungsmaterials zu erzielen, muss
der Wurzelkanal vor der Füllung vollständig trocken sein. Wenn eine
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 415
Trocknung mit Papierspitzen nicht möglich ist, da immer wieder Exsu-
dat aufsteigt, muss eine temporäre Einlage vorgenommen werden. Hier
empfiehlt sich wiederum das Einbringen eines Kalziumhydroxidpräpa-
rats. Als Alternative kann man den Wurzelkanal leer lassen, ein kleines
Schaumstoffpellet auf den Kanaleingang legen und einen dichten provi-
sorischen Verschluss der Kavität vornehmen.
13.12 Wurzelkanalfüllung
! Das Ziel einer Wurzelkanalfüllung ist es, das gesamte Kanalsystem
auf Dauer hermetisch zu verschließen, um das Eindringen von
Mikroorganismen oder Flüssigkeiten zu verhindern.
Hierzu müssen nicht nur der apikale und der koronale Bereich des
Kanals dicht verschlossen sein, sondern auch Seitenkanäle, akzesso-
rische Kanäle und offen liegende Dentintubuli müssen verschlossen
werden. Eine Überfüllung des Kanals über den physiologischen
Apex hinaus ist unbedingt zu vermeiden, weil alle Wurzelkanalma-
terialien im periapikalen Gewebe mehr oder weniger eine Fremd-
körperreaktion auslösen können.
13.12.1 Wurzelkanalfüllmaterialien
Ein ideales Füllmaterial für Wurzelkanäle soll die in der Tabelle 13.2 be-
schriebenen Anforderungen erfüllen.
Tab. 13.2: Anforderungen an Wurzelkanalfüllmaterialien 13
Biologische Anforderungen
• biokompatibel
• bakteriostatisch oder bakterizid
• nicht resorbierbar
Physikalische Anforderungen
• dimensionsstabil
• porenfrei
• unlöslich in Gewebeflüssigkeiten
• undurchlässig für Flüssigkeiten
• Haftung an der Zahnhartsubstanz
Praktische Anforderungen
• ausreichende Verarbeitungszeit
• leicht applizierbar
• leicht entfernbar
• radioopak
• keine Verfärbung der Zahnhartsubstanz
416 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Die Forderung, dass ein dichter, dreidimensionaler Verschluss des
Kanals möglich sein muss, beinhaltet die dauerhafte Erhärtung und
die Porenfreiheit des ausgehärteten Materials.
Kein Wurzelkanalfüllmaterial kann diese Anforderungen allein
komplett erfüllen, sodass eine Kombination zwischen cremigem,
erhärtendem Material und einem Stift üblich ist.
Klassifikation Versucht man eine Klassifikation der Materialien, so bietet sich, ob-
wohl die Definitionen nicht einheitlich sind, folgende Unterteilung an:
D erhärtende Pasten oder Zemente
D plastische oder semiplastische Materialien
D feste Materialien
Pasten Unter Pasten versteht man zumeist Materialien, die als alleiniges Fül-
lungsmaterial in den Wurzelkanal eingebracht werden sollen. Tech-
nisch ist es aufgrund der physikalischen Eigenschaften der Materialien
nicht möglich, nur mit einer Paste das Wurzelkanalsystem dauerhaft
und bakteriendicht zu verschließen. Die meisten Pasten schrumpfen bei
der Erhärtung, weisen Porösitäten auf und werden aufgelöst oder resor-
biert. Zusätzlich ist die Gefahr der Überfüllung des Kanals sehr groß.
Deshalb sind Pasten allein für eine definitive Wurzelkanalfüllung nicht
geeignet.
Erhärtende Materialien, die dem Zweck dienen, den Zwischenraum
zwischen einem Stift und der Wurzelkanalwand zu füllen, werden übli-
cherweise als Wurzelkanalzemente oder Sealer bezeichnet.
Sealer Ein Sealer hat folgende Aufgaben:
D Ausgleich kleiner Unebenheiten entlang der Kanalwand
D Verschluss lateraler, akzessorischer Kanäle und offen liegender Den-
tintubuli
D Herstellung einer dichten Verbindung zwischen Stift und Kanal-
wand
Eine medikamentöse Wirkung des Sealers ist überflüssig und uner-
wünscht. Die Präparate, die den gewünschten Anforderungen weitge-
hend gerecht werden, können folgendermaßen eingeteilt werden:
D Zinkoxid-Eugenol-Basis
D Kunstharz-Basis
D Kalziumhydroxid-Basis
D Glasionomerzemente
Alle Sealer werden in cremig-pastiger Form in den Wurzelkanal einge-
bracht und erhärten dort nach einer gewissen Zeit. Die Verarbeitungs-
zeit ist variabel lang, und die Erhärtungszeit reicht von weniger als einer
Stunde bis zu zwei Tagen. Eine lange Erhärtungszeit erleichtert eine
möglicherweise notwendige Korrektur der Wurzelkanalfüllung.
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 417
Während die Zusammensetzung der Sealer insgesamt sehr unter-
schiedlich ist, enthalten alle Metallsulfate oder vergleichbare Substan-
zen zur Erzielung eines Röntgenkontrasts.
Präparate auf Zinkoxid-Eugenol-Basis werden schon sehr lange an- Zinkoxid-Euge-
gewendet. Obwohl sie nach Aushärtung eine leicht poröse Substanz bil- nol-Präparate
den und sich zum Teil in Gewebeflüssigkeit lösen, zeigen sie bei klini-
schen Studien gute Resultate.
Zu den bekanntesten Präparaten auf Kunstharzbasis zählen AH 26 Kunstharz-
bzw. das Folgeprodukt AH Plus und Diaket. AH 26 ist ein Epoxidharz, präparate
das nach dem Mischen mit einem Aktivator sehr langsam erhärtet. Bei
AH Plus wurde die Zusammensetzung modifiziert. Der Inhaltsstoff He-
xamethylentetramin, der für eine kurzfristige Freisetzung von Formal-
dehyd verantwortlich gemacht wurde, ist jetzt nicht mehr enthalten.
Diaket ist eine Mischung aus Vinylpolymerisaten, die je nach Konsis-
tenz des angemischten Zements mehr oder weniger schnell abbindet.
Diese Sealer weisen ein sehr gutes Abdichtungsvermögen und eine gute
Volumenbeständigkeit auf. Insgesamt werden Sealer auf Epoxidharz-Ba-
sis als besonders empfehlenswert eingestuft.
Bekannte Präparate auf der Basis von polymerem Methylsalicylat in Kalziumhydroxid-
einer Mischung mit Kalziumhydroxid sind Sealapex und Apexit. Diese präparate
Sealer weisen eine gute Biokompatibilität auf. Trotz des Gehalts an Kal-
ziumhydroxid soll die Löslichkeit in Gewebeflüssigkeit vergleichbar ge-
ring sein, wie bei anderen Materialien. Auch Dichtigkeit und Volumen-
beständigkeit werden als gut bewertet. Es steht allerdings noch der
Nachweis aus, ob eine längerfristige Exposition gegenüber Gewebeflüs-
sigkeiten nicht zu Auflösungserscheinungen oder Desintegration führt.
Als neuere Entwicklung stehen Sealer auf der Basis von Glasiono- Glasionomer-
merzement (z.B. Ketac-Endo) mit verlängerter Abbindezeit zur Verfü- zement
gung. Die Haftung dieses Materials an der Dentinoberfläche ist dann am 13
größten, wenn die Schmierschicht vorher entfernt worden ist. Erste Be-
richte deuten auf ein klinisch akzeptables Abdichtungsverhalten hin.
Alle genannten Materialien werden hinsichtlich ihrer Biokompatibi-
lität und physikalischen Eigenschaften positiv beurteilt.
In jüngster Zeit wurden Materialien vorgestellt, die mithilfe adhäsi- Adhäsive
ver Technologien am Wurzeldentin haften und auf diese Weise eine bes- Materialien
sere Versieglung des Wurzelkanalsystems erzielen sollen. Am häufigsten
untersucht wurde das thermoplastische Material Resilon auf Polyester-
basis. Nach entsprechender Vorbehandlung wird hierbei mit einem
niedrig viskösen Sealer ein adhäsiver Verbund zwischen dem Dentin der
Wurzelkanalwand und dem Resilonstift hergestellt. Idealerweise bildet
sich ein den Wurzelkanal dicht verschließender Monoblock aus. Dies
soll zu einer besonders guten Abdichtung des Wurzelkanalsystems so-
wie zu einer Erhöhung der Frakturfestigkeit wurzelkanalbehandelter
Zähne führen. Es wird allerdings bezweifelt, ob die adhäsive Versieglung
des Wurzelkanals dauerhaft ist, da es zu einer enzymatischen Degrada-
tion des Materials kommen kann, das Schrumpfungsverhalten des Ma-
418 13 Die Wurzelkanalbehandlung
terials im Wurzelkanal ungünstig ist und die Haftungswerte insgesamt
eher niedrig sind. Zurzeit liegen noch zu wenige Studien vor, um eine
Empfehlung für Systeme auf Resilonbasis zur Wurzelkanalfüllung aus-
sprechen zu können.
Stifte werden grundsätzlich in Verbindung mit einem Sealer in den
Wurzelkanal eingebracht und bilden den Kern der Wurzelkanalfül-
lung.
Stifte Das erprobteste Material für Stifte ist Guttapercha. Daneben werden
auch Metallstifte aus Silber, Titan oder vergleichbaren Metallen angebo-
ten.
Guttaperchastifte (Guttaperchapoints) bestehen aus Guttapercha
(ca. 20%) als Matrix, Zinkoxid als Füllstoff und enthalten zusätzlich in
kleinen Mengen Wachse oder Kunststoff zur Erhöhung der Plastizität
und Metallsulfate als Röntgenkontrastmittel. Guttapercha ist der einge-
dickte Milchsaft tropischer Bäume und dem Kautschuk verwandt.
Guttapercha ist biokompatibel, inert und bei Temperaturen von ca.
60 °C plastisch verformbar.
Bei niedrigeren Temperaturen ist es dimensionsstabil. Guttapercha
kann in zwei kristallinen Phasen (α und β) und in einer amorphen
Phase vorliegen. Die frisch gewonnene Guttapercha befindet sich meis-
tens in der α-Phase und wird in diesem Stadium, z.B. bei den Thermafil-
Stiften, verwendet. Konventionelle Guttaperchastifte befinden sich in
der β-Phase, die durch Erwärmen auf 42–49 °C in die α-Phase überführt
werden kann. Bei anhaltender Erwärmung auf 53–59 °C oder noch hö-
heren Temperaturen wird Guttapercha in eine amorphe Phase überge-
leitet. Eine routinemäßige Abkühlung der Masse führt wieder überwie-
gend zur Bildung von β-Guttapercha. Da eine Veränderung der Phasen
mit einer Volumenänderung verbunden ist, kann dies bei Füllungstech-
niken, bei denen Guttapercha erwärmt wird, eine Rolle spielen.
Je höher die Erwärmung, desto stärker ist die Schrumpfung bei Ab-
kühlung.
Guttapercha ist in organischen Lösungsmitteln wie Chloroform oder
Xylol löslich. Guttaperchastifte werden in allen ISO-Größen ab Größe
15 entsprechend den Aufbereitungsinstrumenten und in einer stärker
konischen Form als akzessorische Stifte angeboten.
Je nach spezieller Zusammensetzung unterscheiden sich Guttaper-
chaspitzen verschiedener Hersteller hinsichtlich für die Verarbeitung
wichtiger Parameter wie Festigkeit, Elastizität und Flexibilität.
Metallstifte sind gegenüber Guttaperchaspitzen auch in kleinen
Größen sehr fest und können gut in enge Kanäle eingeführt werden. Sie
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 419
können allerdings nicht dem zumeist unrunden Querschnitt des Wur-
zelkanals angepasst werden.
Silberstifte neigen zur Korrosion und sollten deshalb nicht mehr
verwendet werden.
Titanstifte sind biokompatibel und korrosionsresistent. Ihre An-
wendung kann z.B. empfohlen werden, wenn ein enger, gekrümmter
Kanal nicht so weit aufbereitet werden kann, dass eine Füllung mit Gut-
taperchastiften erfolgen kann.
13.12.2 Instrumente zur Wurzelkanalfüllung
Der Lentulo (Synonyme: Wurzelfüller, Füllspirale) ist eine linksdre- Lentulo
hende Spirale zur Verwendung im Winkelstück, mit der Pasten oder Ze-
mente in den Wurzelkanal eingebracht werden können (Abb. 13.25).
Lentulos werden in verschiedenen ISO-Größen (meist 25–60) und ver-
schiedenen Längen angeboten.
Um eine Paste in den Wurzelkanal einzubringen, wird die Spitze des
Lentulos mit Material beschickt, das Instrument vorsichtig bis zur Ar-
beitslänge in den Kanal eingebracht und bei Umdrehungszahlen von
maximal 800 U/min langsam rechtsdrehend aus dem Kanal gezogen.
Lentulos können zum Einbringen eines Kalziumhydroxidpräparats
als temporäre Einlage oder zum Beschicken der Wurzelkanalwände mit
einem Sealer verwendet werden.
Spreader (Spreizinstrumente) werden im Zusammenhang mit der Spreader
lateralen Kondensationstechnik verwendet. Sie sind glattwandig mit ei-
ner stumpfen Spitze und entsprechen von ihrer Konizität und Dicke
den Aufbereitungsinstrumenten (s. Abb. 13.25). Sie sind entsprechend
13
Abb. 13.25: Instrumente, die
bei der Wurzelkanalfüllung
verwendet werden können:
Lentulo (Wurzelfüller),
Spreader (Spreizinstru- Lentulo (Wurzelfüller)
ment), Plugger (Stopfinstru-
ment), Kompaktor (Gutta-
Kondensor)
Spreader (Spreizinstrument)
Plugger (Stopfinstrument)
Kompaktor (Gutta-Kondensor)
420 13 Die Wurzelkanalbehandlung
den ISO-Größen normiert und farbkodiert. Spreader sind als Finger-
oder Handinstrument in verschiedenen ISO-Größen (meist 20–35) und
verschiedenen Längen erhältlich.
Plugger Plugger (Stopfinstrumente) dienen zur Verdichtung von Guttaper-
cha und werden bei verschiedenen Wurzelkanalfülltechniken angewen-
det. Sie sind glattwandig, zylindrisch oder leicht konisch und haben ein
planes Funktionsende (s. Abb. 13.25). Plugger sind als Finger- oder
Handinstrumente in den ISO-Größen 30–140 erhältlich. Als besonders
praktisch haben sich doppelendige Handinstrumente erwiesen. Für spe-
zielle Techniken sind Plugger mit Längenmarkierungen erhältlich.
Kompaktor Ein Kompaktor ist ein maschinengetriebenes Instrument, das dazu
dient, Guttapercha im Wurzelkanal bei 8000–10 000 U/min durch Rei-
bungswärme zu plastifizieren und zu kondensieren (s. Abb. 13.25). Der
McSpadden-Kompaktor (Gutta-Kondensor) ähnelt einer linksdrehen-
den, umgekehrten Hedström-Feile.
Ein vergleichbares Instrument ist der Engine-Plugger, der einem um-
gekehrten Reamer ähnelt. Die Instrumente sind in verschiedenen ISO-
Größen erhältlich.
13.12.3 Wurzelkanalfülltechniken
Aus den schon genannten Gründen sollen Wurzelkanalfüllungen mit
festen Materialien, i.d.R. Guttapercha, in Verbindung mit einem Sealer
durchgeführt werden.
Methoden, die nicht allgemein anerkannt sind, wie z.B. die Pasten-
füllung, werden hier nicht beschrieben.
Zur erfolgreichen Durchführung einer Wurzelkanalfüllung muss
während aller Behandlungsschritte wie bei der Aufbereitung eine
sorgfältige Längenkontrolle erfolgen.
Hierzu wird die festgelegte Arbeitslänge auf Papierspitzen und Guttaper-
chastift übertragen (Abb. 13.26).
Auch bei der Verwendung eines Lentulos oder Spreizinstruments ist
eine Längenkontrolle sicherzustellen.
Die Fülltechniken mit Guttapercha kann man folgendermaßen
unterteilen:
D Zentralstift-Technik
D laterale Kondensation kalter oder erwärmter Guttapercha
D vertikale Kondensation erwärmter Guttapercha
D thermoplastische Guttapercha auf einem harten Kern
D thermomechanische Kondensation
D thermoplastische Injektion
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 421
Abb. 13.26: Längenkontrolle
bei der Aufbereitung und
Füllung des Wurzelkanals.
Neben den Aufbereitungs-
instrumenten müssen auch
Papierspitzen und Gutta- apikale Masterfeile
perchaspitzen deutlich län-
genmarkiert sein.
Papierspitze
Guttaperchapoint
Zentralstift-Technik
Voraussetzung für die Anwendung der Zentralstift-Technik ist ein nach Voraussetzung
konventioneller Technik aufbereiteter Wurzelkanal, der möglichst kom-
plett der Form des zuletzt verwendeten Aufbereitungsinstruments ent-
sprechen soll.
Ziel ist es nun, einen genau passenden Guttaperchastift (oder in sel- Ziel
tenen Fällen Metallstift) in Kombination mit einem Sealer so in den Ka-
nal einzubringen, dass der gesamte Raum dicht gefüllt ist. Die Bereiche
des Kanals, bei denen der Stift nicht randständig ist, sollen vom Sealer
aufgefüllt werden.
Entsprechend der Größe und Arbeitslänge des letzten Aufberei- Vorgehen
tungsinstruments wird ein passender genormter Guttaperchastift ausge-
wählt. Der korrekte Sitz des Stiftes kann röntgenologisch überprüft wer-
den.
Der Stift wird nun entweder mit Sealer beschickt, oder der Sealer
wird mit einem Reamer oder Lentulo auf die Kanalwände gebracht. 13
Nach einer abschließenden Röntgenkontrollaufnahme wird überschüs-
siges Guttapercha am Kanaleingang mit einem heißen Kugelstopfer
oder einem vergleichbaren Instrument abgeschmolzen und überschüs-
siger Sealer aus dem Kronenkavum entfernt.
Der größte Nachteil dieser Technik besteht darin, dass bei allen Ka- Nachteil
nälen, die nicht genau der Form der genormten Guttaperchastifte ent-
sprechen, der Sealeranteil an der Füllung unverhältnismäßig groß wird.
Dies kann besonders im mittleren und koronalen Kanaldrittel zu großen
Porösitäten im Sealer und mangelnder Randständigkeit durch Schrump-
fung des Sealers beim Abbinden führen.
Ein weiterer Nachteil ist darin zu sehen, dass keine Kondensation
des Füllungsmaterials stattfindet und so Unebenheiten in der Kanal-
wand und Seitenkanäle nur ungenügend gefüllt werden.
Laterale Kondensation
Die laterale Kondensation soll immer angewendet werden, wenn der Indikation
Wurzelkanal konisch mit der Step-back- oder einer vergleichbaren Tech-
422 13 Die Wurzelkanalbehandlung
nik aufbereitet wurde. Die laterale Kondensation kann aber auch nach
konventioneller Aufbereitungstechnik angewendet werden und gilt
i.d.R. als die Methode der Wahl.
Ziel Das Ziel der lateralen Kondensation ist es, den Wurzelkanal vollstän-
dig mit möglichst viel Guttapercha und möglichst wenig Sealer dicht zu
füllen.
Vorgehen Ein genormter Guttaperchastift wird entsprechend der Größe der
apikalen Masterfeile ausgewählt. Der Stift soll etwa 0,5 mm über dem
physiologischen Apex enden und im apikalen Kanaldrittel satt sitzen.
Zur Kontrolle wird die erforderliche Länge des Stiftes gemessen und
markiert. Kann der Stift nicht bis zur gewünschten Länge eingebracht
werden, muss entweder ein Stift der nächst kleineren Größe ausgewählt
oder aber der Wurzelkanal eine Größe weiter aufbereitet werden.
Der letztlich korrekt passende Stift wird als Masterpoint bezeichnet.
Besonders bei gekrümmten Wurzeln oder mehrwurzeligen Zähnen
ist die Anfertigung einer Röntgenkontrollaufnahme mit eingeführtem
Masterpoint empfehlenswert.
Der Masterpoint wird dann bis zum Referenzpunkt gekürzt oder
stark abgewinkelt und z.B. durch Einlegen in 5%ige Natriumhypochlo-
rit-Lösung für eine Minute desinfiziert.
Die apikale Hälfte des Masterpoints wird dann mit Sealer beschickt.
Mit leicht pumpenden Bewegungen wird der Masterpoint bis zur mar-
kierten Länge in den Wurzelkanal eingeführt.
Ein Spreader, dessen Größe vom Lumen des Kanals abhängig ist,
wird nun neben den Masterpoint in den Kanal eingeführt. Um ein Über-
pressen von Material zu vermeiden, sollte der Spreader etwa 3–4 mm
kürzer als die Arbeitslänge eingeführt werden. Mit dem Spreader wird
Masterpoint Fingerspreader 2. Guttaperchastift 3. Guttaperchastift
(Guttapercha-
hauptstift) Finger-
spreader
I II III IV
Abb. 13.27: Laterale Kondensationstechnik: I. Einbringen des Masterpoints, II. Einführen eines Fingersprea-
ders, III. Einbringen einer zweiten, kleineren Guttaperchaspitze und erneute Einführung eines Fingersprea-
ders, IV. Einbringen einer weiteren, kleineren Guttaperchaspitze
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 423
der Masterpoint kräftig gegen eine Kanalwand gepresst und dabei ver-
formt. Der ausgeübte Druck ist allerdings so zu dosieren, dass eine Frak-
tur der Wurzel ausgeschlossen werden kann. Eine dosierte Kraftanwen-
dung gelingt besser mit einem Finger als mit einem Handspreader. Der
Spreader wird nun aus dem Kanal gezogen, und der entstandene Raum
wird unverzüglich mit einem zur Größe des Spreaders passenden Gutta-
perchastift gefüllt. Bei stark konischen Kanälen eignen sich hierzu die
akzessorischen Guttaperchastifte besonders gut (Abb. 13.27).
Dieser Vorgang wird so oft wiederholt, bis sich ein kleiner Spreader
nur noch weniger als zur Hälfte in den Kanal einführen lässt. Mit einem
heißen Kugelstopfer oder Exkavator wird überschüssige Guttapercha am
Kanaleingang abgeschmolzen, und Sealerreste werden aus dem Pulpen-
kavum entfernt. Da es besonders im koronalen Bereich leicht zu einer
Auffächerung der Guttaperchastifte kommt, ist es zweckmäßig, die Wur-
zelkanalfüllung mit einem Plugger zu verdichten. Hierzu wird mit ei-
nem zum Kanalquerschnitt passenden Plugger in vertikaler Richtung
Druck ausgeübt. Diese Maßnahme ist am effektivsten, wenn die Gutta-
percha durch das Abschmelzen noch leicht erwärmt und damit gut ver-
formbar ist.
Nach dieser zusätzlichen vertikalen Kondensation ist der Wurzelka-
nal i.d.R. dicht verschlossen (Abb. 13.28).
Zum Abschluss der Behandlungsmaßnahme wird eine Röntgenkon- Röntgenkontroll-
trollaufnahme angefertigt, und die Kavität wird provisorisch oder mit aufnahme
einer definitiven Füllung verschlossen.
13
b
Abb. 13.28: a) Wurzelkanalfüllung bei einem oberen
Prämolaren (konische Aufbereitung, laterale Kon-
densationstechnik), b) Wurzelkanalfüllung bei ei-
nem unteren Molaren mit weitem Kanallumen (ko-
nische Aufbereitung, laterale Kondensationstech-
nik), c) Wurzelkanalfüllung bei einem unteren
dritten Molaren mit stark gekrümmter mesialer
Wurzel (konische Aufbereitung, laterale Kondensa-
tionstechnik)
c
424 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Varianten Neben der beschriebenen Technik der lateralen Kondensation wer-
den auch Methoden beschrieben, bei denen der Spreader in erwärmtem
Zustand in den Kanal eingebracht wird. Ein Beispiel hierfür ist das En-
dotec-Gerät. Die Anwendung dieser Methode, die zu sehr guten Resulta-
ten führen kann, erfordert aber spezielle Kenntnisse und viel Übung.
Vertikale Kondensation
Bei der vertikalen Kondensationstechnik nach SCHILDER wird der Mas-
terpoint bis zum Kanaleingang gekürzt, mit Wärmeträgern erhitzt und
mit kalten Pluggern, oft mit einer Millimeterskala versehen, nach apikal
kondensiert. Als erstes wird das apikale Drittel (down packing) konden-
siert. Anschließend werden das mittlere und koronale Drittel (back pa-
cking) sukzessiv abgefüllt. Hierzu können kleine Stücke Guttapercha,
die ebenfalls erwärmt und kondensiert werden, oder thermoplastische
Injektionstechniken verwendet werden. Die Verwendung einer kleinen
Menge Sealer wird auch hier empfohlen.
Vorteile Mit dieser Technik kann im Idealfall das ganze Wurzelkanalsystem
einschließlich Seitenkanälen mit Guttapercha gefüllt werden. Da die
Wurzelkanalfüllung unter Druck erfolgt, werden Guttapercha und der
Sealer mehr oder weniger kontrolliert in die Seitenkanäle hereingepresst.
Nachteile Dabei kommt es oft ungewollt oder gewollt zu einer Überpressung
in das laterale oder apikale Desmodont. Diese Überpressungen werden
als Puffs bezeichnet. Als problematisch ist anzusehen, dass i.d.R. zur
Kontrolle des Kondensationsvorgangs mehrere Röntgenaufnahmen er-
forderlich sind. Es konnte bisher auch durch keine kontrollierte Studie
bewiesen werden, dass die Erfolgsraten der Wurzelkanalbehandlung
nach vertikaler Kondensation höher sind als nach lateraler Kondensa-
tion. Somit ist fragwürdig, ob der besonders hohe Aufwand gerechtfer-
tigt ist.
Thermoplastische Guttapercha auf einem harten Kern
Grundlage dieser Systeme ist ein zumeist mit α-Guttapercha ummantel-
ter Träger, der aus Edelstahl, Titan oder Kunststoff besteht. Am bekann-
testen ist das Thermafil-System (Abb. 13.29).
Voraussetzung Wie bei allen Techniken mit erwärmter Guttapercha muss als Vo-
raussetzung der Wurzelkanal konisch aufbereitet sein und einen apika-
Abb. 13.29: a) Thermafil-Stift
mit montiertem Gummi-
50 stopper, b) entsprechendes
Prüfinstrument (Verifier)
a
V50
b
13.12 Wurzelkanalfüllung Kapitel 13 425
len Stopp aufweisen. Der Übergang vom mittleren zum apikalen Kanal-
drittel soll fließend sein, um den Vorschub der erwärmten Guttapercha
nicht zu behindern.
Die Thermafil-Stifte sind genormt und haben farbkodierte Hand- Vorgehen
griffe. Eine Längeneinstellung lässt sich mit einem montierten Gummi-
stopper durchführen. Der passende Stift wird mithilfe eines in den fer-
tig aufbereiteten Wurzelkanal eingebrachten Prüfinstruments (Verifier)
oder einem nicht mit Guttapercha ummantelten Träger ausgewählt. Als
Weiterentwicklung wurden die Thermafil-Stifte auf die neuen NiTi-In-
strumente mit größeren Konizitäten abgestimmt. In einem speziellen
Ofen wird der Stift dann kurz erhitzt und in einem Zug in den zuvor mit
einer kleinen Menge Sealer beschickten Wurzelkanal eingebracht. Zu-
letzt wird der Stift mit einem rotierenden Instrument am Kanaleingang
abgetrennt.
Die Dichtigkeit von Wurzelkanalfüllungen mit dem Thermafil-Sys-
tem soll etwa gleichwertig wie bei Anwendung der lateralen Kondensa-
tion sein. Als Problem ist jedoch anzusehen, dass es leicht zu Überpres-
sungen von Sealer über den Apex kommen kann.
Thermomechanische Kondensation
Die erfolgreiche Anwendung der thermomechanischen Kondensation Voraussetzung
und der thermoplastischen Injektion setzt voraus, dass der Wurzelkanal
konisch aufbereitet und das Foramen apicale eng und unversehrt ist.
Bei der thermomechanischen Kondensation wird ein speziell ange- Vorgehen
passter Guttaperchastift im Kanal durch Reibungswärme eines rotieren-
den Kompaktors bei ca. 8000–10 000 U/min plastifiziert. Die Guttaper-
cha wird hierdurch nach apikal und an die Kanalwand getrieben.
Innerhalb kürzester Zeit kann im Idealfall so das ganze Wurzelkanal-
lumen randständig mit Guttapercha gefüllt werden. Am leichtesten las- 13
sen sich Erfolge bei relativ geraden, weiten Kanälen erzielen. Besonders
schwierig zu füllen sind Seitenzähne mit gekrümmten Wurzeln.
Beim Fehlen eines guten apikalen Stopps besteht die Gefahr der
Überfüllung. Die Handhabung dieser Instrumente ist recht schwierig
und erfordert viel Übung.
Thermoplastische Injektion
Auch bei dieser Methode werden die plastischen Eigenschaften erwärm-
ter Guttapercha ausgenutzt. Beispiele hierfür sind das Obtura- und das
Ultrafil-System.
Bei beiden Systemen wird die Guttapercha außerhalb des Mundes er-
wärmt und in plastischem Zustand mit einer Injektionsspritze in den
Wurzelkanal eingebracht.
Besonders schwierig ist es bei dieser Methode, den Wurzelkanal in
korrekter Länge abzufüllen. Die Anwendung erfordert die Anschaffung
spezieller Geräte und das Erlernen der Technik.
426 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Sowohl die Methoden der thermoplastischen Kondensation wie
auch die der thermoplastischen Injektion zeigen in Untersuchun-
gen keinen nennenswerten Vorteil hinsichtlich des Abdichtungs-
vermögens von Wurzelkanälen gegenüber der vielseitig anwendba-
ren lateralen Kondensation.
13.13 Endodontische Behandlung bei nicht
abgeschlossenem Wurzelwachstum
! Bei Zähnen mit noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum
kann keine reguläre Wurzelkanalbehandlung und Füllung durch-
geführt werden.
Ist die Pulpa durch ein Trauma frei gelegt und entzündungsfrei, erfolgt
eine direkte Überkappung oder Vitalamputation.
Bleibt die Wurzelpulpa vital, kommt es zu einer normalen Weiter-
entwicklung der Wurzel. Insgesamt werden die Techniken, die auf den
Erhalt der Vitalität der Restpulpa und auf weiterführendes Wurzel-
wachstum abzielen, als Apexogenese bezeichnet.
Wird das Wurzelwachstum durch Absterben der Pulpa unterbro-
chen, findet sich apikal keine Konstriktion, sondern ein weit offener
Apex. Je nach Entwicklungszustand können die apikalen Wände der
Wurzel stark divergieren, und das Wurzeldentin kann apikal dünn aus-
laufen. Technisch ist es dann nicht möglich, den Wurzelkanal konisch
aufzubereiten und die Wurzelkanalfüllung gegen einen apikalen Stopp
zu kondensieren.
13.13.1 Apexifikation
Das therapeutische Ziel der Apexifikation ist, die Bildung eines api-
kalen Abschlusses durch kalzifiziertes Gewebe zu induzieren.
Die besten Resultate können erzielt werden, wenn die Hartgewebebil-
dung durch Kalziumhydroxid angeregt wird. Wie schon bei der direk-
ten Überkappung ausgeführt, induziert Kalziumhydroxid die Hartge-
webebildung und wirkt durch den hohen pH-Wert desinfizierend. In
histologischen Nachuntersuchungen konnte gezeigt werden, dass das
neu gebildete Gewebe meist zementartig ist und Einlagerungen von
Bindegewebe vorhanden sind. Vereinzelt lässt sich auch irreguläres
Dentin nachweisen.
Vorgehen Der betreffende Wurzelkanal wird zirkulär feilend bis 1–2 mm vor
dem Kanalende aufbereitet, mit Natriumhypochlorit gespült und ge-
trocknet. Bei der Aufbereitung ist darauf zu achten, dass die dünne api-
13.13 Endodontische Behandlung bei nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum Kapitel 13 427
Abb. 13.30: Apexifikation bei
Zähnen mit nicht abge-
schlossenem Wurzelwachs-
tum und weit offenem
Apex. Die Kalziumhydroxid-
Einlagen werden so lange
durchgeführt, bis röntgeno- Kalzium-
logisch eine Einengung im hydroxid-
Apexbereich nachweisbar Paste
ist.
leicht
entfernbare
provisorische
Füllung
feste
provisorische
Füllung
kale Dentinwand nicht unnötig geschwächt wird. Eine Überinstrumen-
tierung und ein Überpressen von Spüllösung müssen vermieden wer-
den, um eine Beeinträchtigung des apikalen Gewebes auszuschließen.
Kalziumhydroxid wird dann in Form einer wässrigen Suspension
mit einem Lentulo in den Wurzelkanal eingebracht. Der Kanal muss da-
bei dicht gefüllt werden.
Der provisorische Verschluss des Zahnes erfolgt am besten mit ei-
nem haltbaren Material, z.B. einem Glasionomerzement (Abb. 13.30).
In der Regel verbleibt die Einlage für drei Monate im Wurzelkanal;
danach erfolgt eine röntgenologische Kontrolle. Bei einer breiten Kon-
taktfläche zum apikalen Gewebe kann es sinnvoll sein, einen ersten Ein-
lagewechsel schon nach drei bis vier Wochen durchzuführen.
Die Maßnahme ist erfolgreich verlaufen, wenn röntgenologisch und
beim Austasten des Kanals mit einem Instrument festgestellt werden 13
kann, dass eine feste Barriere am Apexbereich entstanden ist. Ist dies
nicht der Fall, erfolgt wiederum eine Einlage für drei Monate, bis das
Ziel erreicht ist.
Abschließend wird eine definitive Wurzelkanalfüllung mit der late-
ralen Kondensationstechnik vorgenommen.
In jüngerer Zeit wurde über die erfolgreiche Anwendung von Mine- Mineral Trioxide
ral Trioxide Aggregate (MTA) zur Unterstützung der Apexifikation be- Aggregate
richtet. Die chemische Zusammensetzung von MTA ist weitgehend
identisch mit Portlandzement. Hauptbestandteile sind Trikalziumsilikat
und Wismutoxid, welches als Röntgenkontrastmittel dient. Der voll-
ständig ausgehärtete MTA-Zement weist eine geringe Löslichkeit auf
und hat einen pH-Wert von 12–13, was dem pH-Wert einer Kalziumhy-
droxidsuspension entspricht.
Nach Aufbereitung erfolgt zunächst zur intensiven Desinfektion des
Wurzelkanals eine einwöchige Einlage mit Kalziumhydroxid. In einer
zweiten Sitzung wird nach Spülen und Trocknen des Wurzelkanals mit
einem Plugger oder einer speziellen Applikationshilfe MTA in den api-
428 13 Die Wurzelkanalbehandlung
kalen Wurzelkanalabschnitt eingebracht und dort kondensiert. Der api-
kale MTA-Stopfen sollte eine Mindeststärke von 4 mm aufweisen. Für
die Dauer von mindestens 4 Stunden bis zum vollständigen Abbinden
des MTA-Zements wird der Wurzelkanal temporär verschlossen. Danach
kann eine definitive Wurzelkanalfüllung in üblicher Weise erfolgen.
Tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass mit MTA schneller eine
apikale Hartgewebsbildung erreicht werden kann als mit Kalziumhydro-
xid. Mineral Trioxide Aggregate wird als Reperaturzement auch zum
Verschluss von Perforationen empfohlen und kann als retrogrades
Verschlussmaterial bei Wurzelspitzenresektionen dienen.
Der klinische Erfolg dieser Behandlungsmethode wird als sehr gut
beurteilt.
13.14 Endodontische Notfalltherapie
Die endodontische Notfalltherapie spielt aufgrund der Bekämpfung
akuter Schmerzen eine zentrale Rolle in der Zahnarztpraxis, obwohl im
Praxisalltag i.d.R. nur begrenzte Zeit zwischen festen Terminen zur Ver-
fügung steht.
Die Therapiemaßnahmen müssen sich nach der zur Verfügung ste-
henden Zeit richten, wobei allerdings das Wohlbefinden der Patien-
ten immer im Vordergrund stehen muss.
Bei vitalen Zähnen sind überwiegend eine akute Karies oder die Folgen
einer Karies die Ursache für die notwendige Behandlung. Nur in etwa
10% der Fälle sind Traumen, traumatische Okklusion oder zur Mund-
höhle exponiertes Dentin die Ursache.
In den meisten Fällen besteht also der erste Behandlungsabschnitt
immer in der Entfernung des kariösen Dentins und/oder der insuffizien-
ten Füllung. Bei einer symptomatischen Pulpitis ohne Eröffnung des
Pulpenkavums hängt die Weiterbehandlung davon ab, ob es sich um
eine reversible oder irreversible Form der Pulpitis handelt.
Liegt eine wahrscheinlich reversible Form der Pulpitis vor, wird der
Zahn mit einem dichten Provisorium versorgt. Bevorzugt wird Zink-
oxid-Eugenol-Zement, da das Eugenol eine schmerzstillende Wirkung
hat.
Wenn alle Symptome für eine irreversible Schädigung der Pulpa
sprechen oder wenn nach der Exkavation das Pulpenkavum so weit er-
öffnet ist, dass keine direkte Überkappung mehr möglich ist, sind je
nach verfügbarer Zeit folgende Therapiemaßnahmen möglich:
Steht wenig Zeit zur Verfügung:
D Trepanation, Legen eines schmerzstillenden Medikaments auf die
offene Pulpa, dichter provisorischer Verschluss
13.14 Endodontische Notfalltherapie Kapitel 13 429
D Trepanation, Pulpotomie, Legen eines schmerzstillenden Medika-
ments in die Pulpakammer, dichter provisorischer Verschluss
Zu vermeiden sind die Instrumentation der Wurzelkanäle ohne exakte
Längenbestimmung (Gefahr von Stufenbildung, Begradigung, Verblo-
ckung und Überinstrumentierung) sowie die Verwendung chlorphenol-
oder formaldehydhaltiger Präparate.
Steht viel Zeit zur Verfügung:
D Pulpektomie (Vitalexstirpation), Aufbereitung der Wurzelkanäle,
temporäre Wurzelkanalfüllung mit einem Kalziumhydroxidpräpa-
rat, dichter provisorischer Verschluss.
Alle genannten Maßnahmen sollen bei angelegtem Kofferdam und
unter Lokalanästhesie erfolgen.
Führt die Lokalanästhesie nicht zu einer ausreichenden Schmerzdämp-
fung, kann zusätzlich Anästhetikum direkt in die Pulpakammer ge-
spritzt werden. Besteht dann immer noch keine Möglichkeit, die Pulpa
zu amputieren oder zu exstirpieren, begnügt man sich für kurze Zeit mit
dem Legen eines schmerzstillenden Medikaments.
Zur Schmerzstillung werden häufig Kortikoid-Antibiotika-Präpa-
rate empfohlen. Solche Medikamente sollen aber nur sehr kurzfristig
eingesetzt werden.
Grundsätzlich soll immer ein dichter Verschluss der Kavität erfol-
gen, um eine Infektion des Wurzelkanals zu vermeiden.
Wenn die Symptome auf eine symptomatische apikale Parodontitis
oder einen apikalen Abszess hinweisen, muss das erste Ziel der Behand- 13
lung sein, den Gewebedruck zu vermindern. Liegt schon ein submukö-
ser Abszess vor, ist neben der Eröffnung des Wurzelkanals eine Inzision
des Mukoperiostes unter Lokalanästhesie indiziert.
Nach Eröffnung des Pulpenkavums kommt es oft spontan zum Ab-
fluss von eitrigem Exsudat aus dem Wurzelkanal. In besonders schweren
Fällen ist es sinnvoll, die Patienten dann so lange in der Praxis zu hal-
ten, bis der spontane Ausfluss endet. Lässt der Ausfluss von Exsudat
nach 15–20 Minuten nicht nach, kann in seltenen Fällen der Zahn für
einen Tag offen gelassen werden. Der fehlende Verschluss zur Mund-
höhle birgt aber die Gefahr in sich, dass eine zusätzliche Infektion durch
eindringende Bakterien aus dem Speichel eintritt und sich so die Situa-
tion verschlechtert oder zumindest die Behandlung verlängert.
Der Wurzelkanal muss auf jeden Fall aufbereitet und gründlich ge-
spült werden, um die Ursache der apikalen Parodontitis zu beseiti-
gen.
430 13 Die Wurzelkanalbehandlung
Anschließend wird der Kanal mit einer temporären Einlage, i.d.R. einem
Kalziumhydroxidpräparat, versehen und provisorisch verschlossen.
Bei starker Aufbissempfindlichkeit kann der Zahn leicht aus der
Okklusion geschliffen werden. Da die Schmerzen oft nicht spontan
nachlassen, ist die Verordnung eines Analgetikums für ein bis zwei Tage
angezeigt. Zur Weiterbehandlung werden die Patienten nach wenigen
Tagen wieder einbestellt.
Kapitel 14 431
14 Spezielle endodontische und
postendodontische Maßnahmen
14.1 Endodontische Behandlungen im Milchgebiss
Milchzähne weisen einige physiologische und morphologische Beson-
derheiten auf, die spezielle Maßnahmen bei der endodontischen Thera-
pie erfordern. Eine besondere Rolle spielt die Pulpotomie, die bei vitaler
oder zuvor devitalisierter Pulpa durchgeführt werden kann. In der Ta-
belle 14.1 werden die bei endodontischen Behandlungen im Milchge-
biss gebräuchlichen Begriffe kurz erläutert.
Folgende Besonderheiten müssen im Milchgebiss beachtet werden: Besonderheiten
D Aufgrund der physiologischen Wurzelresorption ist die Reaktionsbe-
reitschaft des Pulpagewebes auf Reize altersabhängig vermindert
und die Bildung von Tertiärdentin nicht gewährleistet.
D Der Schmelz- und Dentinmantel ist dünner als bei den bleibenden
Zähnen.
D Das Pulpenkavum ist größer und besitzt ausgeprägte Pulpahörner.
D Wurzeln und Wurzelkanäle sind oft irregulär geformt. Die Wurzeln
können sehr zierlich und die Wurzelkanäle altersabhängig sehr eng
sein. Es besteht eine enge räumliche Beziehung zu den Zahnkeimen
der bleibenden Zähne.
Die Diagnostik von Erkrankungen der Milchzahnpulpa kann aus ver- Diagnostik
schiedenen Gründen problematisch sein. Fragen zur Schmerzqualität
können von Kindern häufig nicht exakt beantwortet werden.
Der Perkussionstest kann aufgrund der physiologischen Zahnbe-
14
weglichkeit bei bevorstehender Exfoliation falsch beurteilt werden und
Vitalitätsproben sind oft wenig aussagefähig, da die Antwort auf Kälte
und Wärme mit der physiologischen Wurzelresorption abnimmt.
Tab. 14.1: Bei endodontischen Behandlungen im Milchgebiss gebräuchliche
Begriffe
Pulpotomie (Synonym: Pulpaamputation):
• Chirurgische Entfernung des koronalen Anteils der Pulpa
• Vitalamputation: Pulpotomie der vitalen Pulpa
• Mortalamputation: Pulpotomie nach Devitalisation der Pulpa
Pulpektomie (Synonym: Pulpaexstirpation):
• Vollständige Entfernung der Pulpa
• Vitalexstirpation: vollständige Entfernung der vitalen Pulpa
• Mortalexstirpation: vollständige Entfernung der Pulpa nach vorausgegange-
ner chemischer Devitalisation
432 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
Am aussagefähigsten ist ein diagnostisches Röntgenbild, das Infor-
mationen über das Ausmaß der kariösen Zerstörung, zu Form und
Lage der Wurzeln in Bezug auf die bleibenden Zähne, Stand der
physiologischen Wurzelresorption und mögliche innere und äu-
ßere Resorptionen liefert.
Weiterhin kann die korrekte technische Durchführung der geplanten
Maßnahmen aufgrund begrenzter Belastbarkeit der kleinen Patienten
problematisch sein.
14.1.1 Indirekte und direkte Überkappung
Die indirekte Überkappung ist indiziert, wenn nach der Exkavation pul-
panah intaktes, nicht kariös verändertes Dentin vorliegt. Der Arbeits-
ablauf entspricht weitgehend dem beschriebenen Vorgehen beim blei-
benden Zahn. Auch beim Milchzahn ist das einphasige Vorgehen dem
zweiphasigen, der schrittweisen Kariesentfernung, vorzuziehen.
Während in den vergangenen Jahrzehnten die vollständige Karies-
exkavation (harter, unverfärbter Kavitätenboden, Sondenklirren) un-
strittig war, wird jetzt häufig ein zurückhaltendes Vorgehen empfohlen,
um eine Exposition der Pulpa zu vermeiden. Bei Sicherstellung eines
dichten Kavitätenverschlusses kann kariös-erweichtes Dentin in pulpa-
nahen Arealen belassen werden. Es wird empfohlen, den Endpunkt der
Exkavation unter Berücksichtigung der Läsionsaktivität zu definieren.
Bei aktiven Dentinläsionen (feuchtes, erweichtes, gering verfärbtes Den-
tin) wird eine ledrige Dentinkonsistenz als Endpunkt der Kariesexkava-
tion akzeptiert. Bei Vorliegen einer chronischen Karies (braun bis
schwarz verfärbtes Dentin) ist es ausreichend, die Karies bis zum harten,
dunkel verfärbten Kavitätenboden zu exkavieren. Die Kavitätenränder
müssen unabhängig von der Wahl des definitiven Füllungsmaterials im
kariesfreien Schmelz bzw. Dentin liegen.
Bei einer minimalen, akzidentellen Eröffnung der Pulpa ist
grundsätzlich eine direkte Überkappung mit Kalziumhydroxid oder
MTA-Zement in der schon beschriebenen Art möglich. Obwohl die
Milchzahnpulpa grundsätzlich reaktionsfähig ist, muss berücksichtigt
werden, dass altersabhängig häufig keine Bildung von Fibrodentin er-
folgt.
14.1.2 Pulpotomie
! Liegt eine großflächige oder multiple Eröffnung der Pulpa vor
oder reicht das kariöse Dentin bis zur Pulpa, ist im Milchgebiss die
Pulpotomie (Pulpaamputation) die Methode der Wahl.
14.1 Endodontische Behandlungen im Milchgebiss Kapitel 14 433
Das Vorgehen bei der Pulpotomie der vitalen Pulpa wird in Kapitel Vorgehen
11.3.3 „Vitalamputation“ beschrieben. Das Ziel dieser Maßnahme ist,
die Wurzelpulpa vital zu erhalten. Auch im Milchgebiss sollte diese
Maßnahme unbedingt unter Kofferdam durchgeführt werden.
Das Abdecken der Amputationswunde erfolgt i.d.R. mit einem Kal-
ziumhydroxidpräparat oder MTA-Zement. Wird das Präparat in Sus-
pensionsform aufgebracht, ist eine Abdeckung mit einem aushärtenden
Kalziumhydroxidmaterial oder mit Zinkoxid-Eugenol-Zement empfeh-
lenswert. Nach Einbringen der Unterfüllung wird eine Deckfüllung oder
eine konfektionierte Milchzahnkrone angefertigt (Abb. 14.1). Ein dich-
ter Kavitätenverschluss hat für den Behandlungserfolg höchste Priorität.
Mit einer erweiterten Indikationsstellung zur Behandlung von Mortal-
Milchzähnen mit entzündeter Pulpa wird häufig die Mortalamputa- amputation
tion empfohlen. Darunter versteht man das Abtragen der Kronenpulpa
nach Devitalisierung der Pulpa mit chemischen Mitteln. Die zurück-
bleibende Wurzelpulpa soll sich nach Durchtränkung mit lang wirken-
den, eiweißfällenden Mitteln in fixiertes, vom Körper toleriertes Ge-
webe umwandeln. Es wird die Anwendung von Präparaten empfohlen,
die Formaldehyd oder Glutaraldehyd enthalten. Am meisten verbreitet
ist Formokresol, das Formaldehyd (19%) und Kresol (35%) enthält.
Nach Einwirken von Formokresol kommt es je nach Dauer der Ap-
plikation zu einer partiellen oder totalen Verlederung bzw. Fixierung der
Wurzelpulpa.
Obwohl diese und vergleichbare Methoden klinisch als erfolgreich
beschrieben worden sind, sind sie wissenschaftlich doch sehr umstrit-
ten.
Die sogenannte Verlederung der Pulpa beruht auf einer partiellen
oder totalen Devitalisierung. Vitales, angrenzendes Gewebe zeigt Zei-
chen einer chronischen Entzündung, und es kommt keinesfalls zu einer
Ausheilung oder entzündungsfreien Pulpa.
Prinzipiell ist die Eindringtiefe der Wirkstoffe nicht kalkulierbar,
und es besteht die Gefahr, dass benachbartes Gewebe tangiert wird und
14
eine apikale oder interradikuläre Nekrose entsteht.
Abb. 14.1: Versorgung eines
Milchmolaren nach Pulpek-
tomie (Vitalamputation) Restauration
Unterfüllung
Calcium-
hydroxid
Pulpa
434 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
Die Applikation von Formokresol oder ähnlichen Präparaten auf die
frei liegende Pulpa bewirkt eine Ausbreitung des Formaldehyds über den
Apex hinaus und damit in den ganzen Körper. Hieraus können poten-
ziell Überempfindlichkeitsreaktionen oder andere, bisher nicht defini-
tiv nachgewiesene Schäden für den Gesamtorganismus resultieren. In
diesem Zusammenhang werden mögliche immunogene, mutagene, kar-
zinogene und andere toxische Wirkungen diskutiert.
Aus den genannten Gründen sollte deshalb auf den Einsatz dieser
Präparate ganz verzichtet werden.
14.1.3 Pulpektomie
! Eine Pulpektomie ist dann angezeigt, wenn anamnestische, klini-
sche und röntgenologische Kriterien auf eine totale Pulpitis oder
Pulpanekrose schließen lassen. Abgeraten werden muss von einer
Pulpektomie bei erhöhter Zahnlockerung mit röntgenologisch
sichtbaren periapikalen Veränderungen. Die Wurzelkanalbehand-
lung ist an einwurzeligen Milchschneide- und Milcheckzähnen
aufgrund der reguläreren Wurzelkanalanatomie im Vergleich zu
Milchmolaren prognostisch günstiger einzuschätzen.
Bei vorliegender Kooperationsbereitschaft des Kindes, die das Anle-
gen von Kofferdam und das Setzen einer Lokalanästhesie zulässt, ist
bei einer totalen Pulpitis eine Vitalexstirpation einer Mortalexstir-
pation vorzuziehen.
Längen- Bei der Wurzelkanalbehandlung macht die physiologische Wurzelre-
bestimmung sorption eine korrekte Längenbestimmung unmöglich. Eine Überinstru-
mentierung muss aber unbedingt vermieden werden, da es sonst zu ei-
ner Schädigung des nachrückenden Zahnkeimes kommen kann. Aus
diesen Gründen ist es angezeigt, die Aufbereitungslänge in einem groß-
zügig bemessenen Sicherheitsbereich festzulegen. Dies kann bedeuten,
dass der Kanal nur zu etwa zwei Drittel aufbereitet und gefüllt wird.
Aufbereitung Bei der Aufbereitung, die nach konventioneller Technik erfolgt, ist
bei Milchmolaren besonders darauf zu achten, dass die Instrumente
stark vorgebogen werden, da die Gefahr einer Perforation der Wurzel
besonders interradikulär sehr groß ist.
Da die Milchzahnwurzeln oft eine irreguläre Form aufweisen und
viele akzessorische Kanäle haben, soll gründlich mit Natriumhypo-
chlorit gespült werden.
Wurzelkanal- Die Wurzelkanalfüllung darf nur mit einem resorbierbaren Material er-
füllung folgen. Dazu eignen sich Kalziumhydroxid-Jodoform-Pasten (Jodaller-
14.1 Endodontische Behandlungen im Milchgebiss Kapitel 14 435
gien sind vorher auszuschließen), wässrige Kalziumhydroxidsuspensio-
nen oder Sealer auf Kalziumsalicylatbasis.
Die abschließende Versorgung wird in Abhängigkeit vom Umfang
des Zahnhartsubstanzdefekts mit einer direkten Füllung oder mit einer
Konfektionskrone vorgenommen.
Ist eine Vitalexstirpation nicht möglich, wird im Milchgebiss häufig Mortal-
eine Mortalexstirpation empfohlen. Die Mortalexstirpation erfordert exstirpation
das Einbringen eines Devitalisationsmittels auf Paraformaldehydbasis.
Das bekannteste Präparat ist Toxavit, das auf die offene Pulpa gelegt
wird. Der Zahn wird dann mit einem dichten Provisorium verschlossen,
und nach fünf Tagen wird das Präparat wieder entfernt. Die Weiterbe-
handlung erfolgt im Sinne einer Amputation oder einer Wurzelkanalbe-
handlung.
Aus den schon genannten Gründen muss grundsätzlich von der Ver-
wendung solcher Präparate abgeraten werden. Vielfach wird die Mortal-
amputation und Mortalexstirpation aber als Kompromissbehandlung
nach wie vor empfohlen, besonders wenn der Zeitpunkt der Exfoliation
nahe liegt.
14.1.4 Grenzen der endodontischen Behandlung im Milchgebiss
Allgemeine Kontraindikationen für endodontische Maßnahmen im
Milchgebiss sind neben fehlender Kooperationsbereitschaft des Kindes
stark vernachlässigte Gebisse und nicht mehr restaurierbare Zahnkro-
nen, physiologische Wurzelresorption von mehr als einem Drittel der
Wurzellänge, erhöhte Zahnbeweglichkeit und starke interradikuläre
oder apikale Aufhellungen.
Auch wenn das Allgemeinbefinden des Kindes erheblich beeinträch-
tigt ist, ist oft die Extraktion der betreffenden Zähne mit entsprechender
Nachversorgung der einzige Ausweg.
Kinder mit unterschiedlichen Allgemeinerkrankungen unterliegen
14
spezifischen Risiken, die bei der Indikation endodontischer Behand-
lungsmaßnahmen zu berücksichtigen sind. Die Indikationsstellung ist
kritisch abzuwägen, wenn die Behandlung nur in Sedierung bezie-
hungsweise Allgemeinanästhesie durchgeführt werden kann. Die mög-
lichen Therapiemaßnahmen sollten zumindest für ein Jahr eine erneute
Behandlung in Allgemeinanästhesie ausschließen. Dies betrifft insbe-
sondere Kinder mit einem erhöhten Endokarditisrisiko, mit einem er-
höhten Infektionsrisiko in Phasen der Immunsuppression, mit Blutge-
rinnungsstörungen und mit Schwer- bzw. Schwerstbehinderungen, da
ein Misserfolg mit einem erhöhten Infektionsrisiko und allgemeinmedi-
zinischen Behandlungsaufwand einhergeht.
436 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
14.2 Bleichen verfärbter wurzelkanalgefüllter Zähne
! Als Folge eines Traumas oder endodontischer Therapiemaßnah-
men kann es zu internen Verfärbungen der Zähne kommen.
Die hier beschriebenen internen Bleichverfahren setzen voraus, dass der
betreffende Zahn eine Wurzelkanalfüllung hat. Diagnostisch abgegrenzt
werden müssen andere Ursachen der Zahnverfärbung wie extrinsische
Faktoren, durch Tetrazyklin bedingte Verfärbungen oder Verfärbungen
aufgrund von Zahnbildungs- und Mineralisationsstörungen.
Ursachen von Bei einem Trauma oder durch eine Vitalexstirpation kann Blut aus
Verfärbungen der Pulpa in die Dentinkanälchen austreten. Blutabbauprodukte wie
Hämosiderin, Hämin, Hämotoidin und Hämatoporphyrin können in
die Dentintubuli hinein diffundieren und Eisen als Farbstoff freisetzen.
Das Eisen kann eine Verbindung mit durch Bakterien frei gesetzten
Schwefelwasserstoff eingehen. Die dann entstandenen Eisensulfide füh-
ren zu einer dunklen Verfärbung des Dentins. Auch Zerfallsstoffe von
Proteinen einer nekrotischen Pulpa können zu einer Verfärbung beitra-
gen, z.B. wenn bei unsachgemäßem Vorgehen bei der Wurzelkanalbe-
handlung Pulpareste im Pulpenkavum verblieben sind.
Zahnverfärbungen in den verschiedensten Schattierungen können
aber auch durch die bei endodontischen Behandlungen gebräuchliche
Medikamente und Wurzelfüllungsmaterialien verursacht werden.
Um Verfärbungen vorzubeugen, soll bei der Wurzelkanalbehand-
lung das Pulpenkavum immer sorgfältig ausgeräumt werden. Bei der
Anfertigung einer Wurzelkanalfüllung ist unbedingt darauf zu achten,
dass kein Füllungsmaterial in der Kronenpulpa verbleibt. Bei Schneide-
zähnen mit frei liegendem Dentin im Zahnhalsbereich ist es sinnvoll,
die Wurzelkanalfüllung ca. 2 mm unterhalb des Kanaleinganges enden
zu lassen und den verbliebenen Raum mit einem Unterfüllungsmaterial
aufzufüllen.
Indikation Bei der Indikationsstellung zum Bleichen müssen die Qualität der
Wurzelkanalfüllung und der Zerstörungsgrad der klinischen Krone be-
rücksichtigt werden. Insuffiziente Wurzelkanalfüllungen müssen vor
dem Bleichen revidiert werden. Wenn bei Schneidezähnen beidseitig
sehr große approximale Füllungen vorhanden sind, kann der Zahn
durch zusätzliche Entfernung von Dentin so geschwächt werden, dass
die Gefahr einer Kronenfraktur besteht und nur noch eine Überkronung
des Zahnes möglich wäre. Grundsätzlich soll also eine Entfernung ge-
sunden, verfärbten Dentins vermieden werden. Schmelzsprünge und
Infrakturen sprechen ebenfalls gegen eine Bleichtherapie.
Prognose Überwiegend wird über gute Resultate unmittelbar nach der Bleich-
therapie berichtet. In der Folgezeit kann es aber auch zu einem Nach-
dunkeln der Zähne kommen. Als wesentliche Ursache hierfür vermutet
man undichte Restaurationen, die eine Diffusion von Farbstoffen und
Bakterien aus der Mundhöhle zulassen.
14.2 Bleichen verfärbter wurzelkanalgefüllter Zähne Kapitel 14 437
14.2.1 Bleichmittel
Als internes Bleichmittel werden Peroxidverbindungen verwendet, die
durch Abspaltung von aktivem Sauerstoff eine Oxidation der eingela-
gerten Farbmoleküle bewirken sollen. Gebräuchlich sind Wasserstoff-
peroxid und Natriumperborat.
Am häufigsten wird eine Kombination von Natriumperborat mit
Wasserstoffperoxid empfohlen. Entsprechend neuerer Untersuchungen
soll der Effekt einer wässrigen Natriumperborat-Lösung vergleichbar gut
sein.
Von der Anwendung von 30%igem Wasserstoffperoxid als alleini-
gem Bleichmittel ist abzuraten, da der niedrige pH-Wert dieser Lö-
sung mit möglichen Schädigungen des Zahnhartgewebes in Verbin-
dung gebracht wird.
Als besonders kritisch ist die Entstehung von externen zervikalen Re-
sorptionen anzusehen, die vermutlich durch über die Dentintubuli
nach außen diffundierendes Wasserstoffperoxid ausgelöst werden kön-
nen.
14.2.2 Bleichtechniken
Man unterscheidet die thermokatalytische Technik und die Walking-
bleach-Technik.
Bei der thermokatalytischen Technik wird das Bleichmittel im koro- Thermokataly-
nalen Pulpenkavum erwärmt, um eine beschleunigte chemische Reak- tische Technik
tion auszulösen. So wird versucht, in einer Sitzung einen befriedigenden
kosmetischen Effekt zu erzielen. Von der Methode wird aber besonders
wegen der Gefahr der Auslösung externer Resorptionen vermehrt abge-
raten.
14
Bei der Walking-bleach-Technik wird das Bleichmittel für einige Walking-bleach-
Tage im koronalen Pulpenkavum belassen (Abb. 14.2). Technik
Das Vorgehen bei der Walking-bleach-Technik:
D Überprüfung der Wurzelkanalfüllung sowie Kontrolle bestehender
Restaurationen und der Zahnhartsubstanz
D Anlegen von Kofferdam
D Wiedereröffnung der Zugangskavität
D Entfernung von Füllungsresten und nekrotischen Pulpaanteilen aus
dem koronalen Pulpenkavum
D Reduzierung der Wurzelkanalfüllung bis kurz unter den Kanalein-
gang
D Abdeckung der Wurzelkanalfüllung mit einer dichten Füllung, die
koronal in Höhe des epithelialen Attachments bzw. der Schmelz-Ze-
ment-Grenze endet
438 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
Abb. 14.2: Das Bleichen wur-
zelkanalgefüllter Zähne mit
Natriumperborat entspre-
chend der Walking-bleach-
Technik
Wurzelkanal-
füllung
andersfarbenes
Komposit
Natrium-
perborat
provisorischer
Verschluss
D Einbringen des Bleichmittels
D Dichter provisorischer Verschluss
D Entfernung des Bleichmittels nach drei bis vier Tagen
Abschließend wird die Kavität sorgfältig gereinigt und der Effekt kon-
trolliert. Bei kosmetisch unbefriedigendem Resultat kann der Vorgang
2–3-mal wiederholt werden. Optional kann zur Alkalisierung des Kro-
nenkavums vor der definitiven Füllung für 1–2 Wochen eine Einlage
mit Kalziumhydroxid vorgenommen werden. Die definitive Versorgung
der gesamten Kavität erfolgt mit einer adhäsiven Restauration.
Carbamid- In jüngerer Zeit wird auch die erfolgreiche Anwendung von exter-
peroxidgel nen Bleichtechniken oder die Kombination von externem und inter-
nem Bleichen mit dem für die Vitalbleichung empfohlenem Carbamid-
peroxidgel beschrieben. Das Bleichgel wird entweder mithilfe einer
Schiene appliziert, wobei das Pulpenkavum des zu bleichenden Zahnes
nicht eröffnet wird, oder die Schiene wird bei offenem Pulpenkavum
eingesetzt, wodurch das Bleichgel in das Kavum gepresst werden soll.
Externes Bleichen alleine kann sinnvoll sein bei avitalen Zähnen mit
obliteriertem Wurzelkanal oder zusätzlich zur Optimierung des Ergeb-
nisses. Bleichen bei Offenlassen der Zugangskavität birgt das Risiko, dass
Bakterien in das Dentin gelangen können oder es sogar zu einer koro-
nal-apikalen Passage von Bakterien entlang der Wurzelkanalfüllung
kommt.
14.3 Restauration wurzelkanalgefüllter Zähne Kapitel 14 439
14.3 Restauration wurzelkanalgefüllter Zähne
! Nach Abschluss der Wurzelkanalbehandlung soll möglichst um-
gehend eine definitive postendodontische Versorgung durchge-
führt werden. Der dichte Verschluss der Kavität besitzt eine be-
sonders hohe Priorität für den Erfolg der Wurzelkanalbehand-
lung. Mehrmonatige Wartezeiten, die mit Langzeitprovisorien
überbrückt werden, sollten die Ausnahme sein, weil dadurch das
Risiko einer Reinfektion und einer Fraktur erhöht wird. Der post-
endodontische Verschluss der Kavität erfolgt in der Regel mit der
Adhäsivtechnik.
Für die Restauration wurzelkanalgefüllter Zähne wurde früher oft die
komplette Entfernung der klinischen Krone mit nachfolgender Versor-
gung mit einer stiftverankerten Krone favorisiert. Durch Wurzelstifte
sollte der versprödete und strukturell geschwächte Zahn stabilisiert wer-
den. Heute steht, wenn immer möglich, der Erhalt der verbliebenen
Zahnhartsubstanz im Vordergrund.
Nach einer Wurzelkanalbehandlung sind besonders oft Seitenzähne
strukturell geschwächt, da durch die Zugangskavität das Pulpakammer-
dach entfernt wird und so eine wichtige Querverstrebung verloren geht.
Diese strukturelle Schwächung schließt eine Versorgung mit nicht adhä-
siven Materialien und zwei- oder dreiflächigen Goldinlays aus. In neue-
ren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass sich die physikali-
schen Werte von Dentin nach einer Wurzelkanalbehandlung kaum än-
dern und dass keine wesentliche Austrocknung oder Versprödung des
Dentins mit nachfolgendem Stabilitätsverlust auftritt.
Versorgungen mit konventionell zementierten Inlays oder mit
Amalgamfüllungen sind kontraindiziert.
Die postendodontische Versorgung richtet sich generell nach dem Grad
14
der Zerstörung der Zahnkrone und kann allein mit adhäsiven Restaura-
tionstechniken oder mit adhäsiven Aufbautechniken und nachfolgen-
der Teilkrone oder Krone erfolgen.
14.3.1 Versorgung von Frontzähnen
Sind neben der Zugangskavität nur kleinere approximale Füllungen
bzw. Defekte vorhanden, wird die Kavität komplett mit einer adhäsiven
Kompositfüllung versorgt. Bei ausgedehnten, mehrflächigen approxi-
malen Kavitäten soll in der Regel nach Anfertigung einer adhäsiven Auf-
baufüllung die Versorgung mit einer Keramikkrone oder, bei hierfür ge-
eigneten Fällen, mit Veneers erfolgen.
440 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
Genügt die verbliebene Zahnhartsubstanz nicht zur Verankerung ei-
nes Kompositaufbaus (vertikale Dentinwand kleiner als 2 mm), ist die
Versorgung mit einem Stiftaufbau und einer Krone vorzuziehen.
In Abhängigkeit vom Ausmaß des Zahnhartsubstanzverlustes der
Zahnkrone wird folgendes Vorgehen bei Frontzähnen empfohlen:
D Geringer Substanzverlust (kleinere approximale Füllungen oder De-
fekte): Kompositfüllung
D Mittlerer Substanzverlust (ausgedehnte, mehrflächige approximale
Kavitäten): Kompositaufbau und nachfolgend Veneer oder Keramik-
krone
D Starker Substanzverlust (weitgehender Verlust der klinischen Zahn-
krone): Glasfaserstift, Kompositaufbau, Keramikkrone
Versorgung mit einer Kompositfüllung
Die Behandlung erfolgt insgesamt nach den anerkannten Regeln der
Adhäsivtechnik. Nach gründlicher Reinigung der Kavität und der adhä-
siven Technik entsprechender Vorbehandlung des Dentins mit einem
Dentinadhäsiv kann die Wurzelkanalfüllung im Bereich des Kanalein-
gangs mit einem andersfarbigen Komposit abgedeckt werden, um ein
Wiederauffinden des Kanaleingangs zu erleichtern. Häufig werden
hierzu fließfähige Komposite empfohlen. Die Versorgung der Kavität er-
folgt dann komplett mit Komposit nach üblicher Vorgehensweise für
eine definitive Restauration.
Versorgung mit einer Aufbaufüllung und Krone
Stehen wenig Retentionsflächen für einen adhäsiven Aufbau zur Verfü-
gung, kann der koronale Anteil der Wurzelkanalfüllung etwa 2 mm aus-
geschachtet werden. Der Aufbau erfolgt schichtweise in der erforderli-
chen Dimension nach den anerkannten Regeln der Adhäsivtechnik mit
einem geeigneten Material, in der Regel einem Komposit (Abb. 14.3).
Krone oder Keramikkrone
Teilkrone
Komposit-
adhäsiver aufbau
Komposit-
aufbau 2 mm
andersfarbenes
Komposit
adhäsiv
befestigter
Wurzelkanal- Glasfaserstift
füllung
Wurzelkanal-
füllung
a b
Abb. 14.3: Versorgung eines wurzelkanalgefüllten Zahnes a) mit Kompositaufbau und Krone, b) zusätzlich
mit einem adhäsiv befestigten Glasfaserstift
14.3 Restauration wurzelkanalgefüllter Zähne Kapitel 14 441
Ist die Versorgung mit einer Krone vorgesehen, empfiehlt es sich zur
besseren Abschätzung der verbliebenen Dentinwandstärke, zunächst
mit der zirkulären Präparation für die vorgesehene Restauration zu be-
ginnen. Das Ziel ist die Präparation eines mindestens 2 mm breiten
Dentinsaums apikal des Aufbaus, der später von der Krone umfasst wird.
Dieses als Fassreifen-Design (ferrule design) bezeichnete Gestaltungs-
prinzip besitzt einen stabilisierenden Effekt für die Zahnwurzel.
Aufbau mit Wurzelkanalstift
Ist die klinische Krone so weitgehend zerstört, dass die verbliebene ver- Indikation
tikale Dentinwand weniger als 2 mm beträgt und auch eine adhäsive
Aufbaufüllung keinen Halt mehr findet, muss ein Wurzelkanalstift zur
Verankerung des plastischen Aufbaus eingebracht werden.
Üblich sind heute Stifte aus faserverstärkten Kunstharzen in Ver- Materialien
bindung mit Kompositaufbauten. Metallstifte in Kombination mit ge-
gossenen Aufbauten oder Keramikstifte werden nur noch selten ver-
wendet, da deren hohe Steifigkeit nicht mit dem relativ elastischen
Wurzeldentin harmonisiert und die Gefahr für Wurzelfrakturen erhöht
ist. Karbonfaserstifte haben aus ästhetischen Gründen an Bedeutung
verloren. Bei den faserverstärkten Stiften werden Glas- oder Quarzfasern
in eine Matrix aus Komposit oder Epoxidharz eingebettet. Die Hauptbe-
standteile dieser Glasfasern sind Siliziumoxid (ca. 50–60%) sowie Kal-
zium-, Bor-, Natrium- und Aluminiumoxide. Für die Kunstharzmatrix
werden Epoxidharze verwendet, die über freie Radikale einen chemi-
schen Verbund mit BIS-GMA-haltigen Adhäsivsystemen eingehen kön-
nen.
Die Form der Stifte ist zumeist durchgehend konisch oder hat wech- Vorgehen
selnde Konizitäten. Der Stift soll nicht im Kanal klemmen, sodass eine
gleichmäßige, umlaufende Klebefuge für das Befestigungskomposit vor-
handen ist. Eine Verankerung des Stiftes im Wurzelkanal bis zur halben
Wurzellänge ist i.d.R. ausreichend. Als apikale Versieglung soll von der
vorhandenen Wurzelkanalfüllung ein Anteil von ca. 4 mm erhalten
14
bleiben. Zum Einsetzen der Stifte werden aufgrund der geringen effekti-
ven Lichtintensität in den tiefen Bereichen des Wurzelkanals dual oder
chemisch härtende Befestigungskomposite verwendet.
Adhäsiv befestigte Stifte ermöglichen es, die verbliebene Zahnhart-
substanz weitgehend zu schonen. Dünn auslaufende Dentinwände kön-
nen durch Kompositmaterial unter Einsatz der Adhäsivtechnik verstärkt
werden und unter sich gehende Bereiche können als zusätzliche reten-
tive Flächen genutzt werden.
Das Einbringen eines Stiftes für sich allein genommen führt nicht
zu einer Stabilisierung des Zahnes, sondern eher zu einer Schwächung.
Eine Stabilisierung wird erst erreicht, wenn die zur endgültigen Versor-
gung angefertigte Krone die verbliebene Zahnsubstanz sicher umfasst.
442 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
14.3.2 Versorgung von Seitenzähnen
Bei Prämolaren oder Molaren, die MOD-Kavitäten haben, ist die Gefahr
einer Höckerfraktur nach einer Wurzelkanalbehandlung besonders
groß. Ein nahezu aussichtsloser Zustand, der zur Extraktion des Zahnes
führt, tritt dann ein, wenn bei mehrwurzeligen Zähnen die Frakturlinie
zwischen den Wurzeln verläuft.
In Abhängigkeit vom Ausmaß des Zahnhartsubstanzverlustes der
Zahnkrone wird folgendes Vorgehen bei Seitenzähnen empfohlen:
D Geringer Substanzverlust (ein- oder zweiflächige Kavität): Komposit-
füllung
D Mittlerer Substanzverlust (dreiflächige Kavität): Kompositfüllung,
Kompositaufbau und nachfolgend Keramikinlay/Keramikteilkrone
oder Goldteilkrone/Goldoverlay
D Starker Substanzverlust (teilweise erhaltene Dentinwände): Kompo-
sitaufbau und nachfolgend Teilkrone oder Vollkrone aus Keramik
oder Gold, Keramikteilkrone ohne Kompositaufbau
D Starker Substanzverlust (weitgehender Verlust der klinischen Zahn-
krone): Glasfaserstift mit Kompositaufbau, Keramikkrone
Versorgung mit einer plastischen Füllung
Zähne mit nur ein- oder zweiflächigen Füllungen und ausreichender
Dentinwandstärke können direkt mit einer Kompositfüllung versorgt
werden, die nach den Regeln der Adhäsivtechnik angefertigt wird. Das
Vorgehen ist entsprechend wie bei Frontzähnen. Eine Versorgung mit
Amalgam oder anderen zahnfarbenen plastischen Materialien ist kont-
raindiziert.
Versorgung mit einer Einlagefüllung
Je nach Zerstörungsgrad der klinischen Krone kann die Versorgung mit
einer Teilkrone (Gold oder Keramik) oder Vollkrone erfolgen. Durch
die Umfassung der Höcker kann dann eine Fraktur ausgeschlossen wer-
den. In der Regel wird zuvor eine adhäsive Aufbaufüllung aus Kompo-
sit nach der beschriebenen Vorgehensweise angefertigt. In den meisten
Fällen ist es auch bei relativ stark zerstörten Prämolaren oder Molaren
möglich, einen Kompositaufbau sicher zu verankern. Als Grenzwert
wird hierbei eine verbliebene vertikale Dentinwand von mehr als
2 mm angegeben. Durch Ausschachten des Wurzelkanals bis zu einer
Tiefe von etwa 2 mm können die Kanaleingänge als zusätzliche Reten-
tionsfläche für die adhäsive Verankerung genutzt werden.
Wenn die Kavitätenform dafür geeignet ist, kann die Versorgung
auch mit einer Keramikteilkrone ohne vorausgehenden Kompositauf-
bau erfolgen.
Bei einer Einzelzahnrestauration kann bei einer entsprechenden
Ausgangssituation auch ein adhäsiv befestigtes Keramikinlay ohne Ab-
tragen und Umfassen der Höcker eingegliedert werden. Am ehesten
14.4 Verletzungen der Zähne Kapitel 14 443
kann eine solche Versorgung bei Zähnen mit ein- oder zweiflächigen
Kavitäten in Erwägung gezogen werden. Es bleibt aber festzustellen,
dass zu dieser Art der Versorgung noch wenig langzeitige Erfahrungen
vorliegen.
Aufbau mit Wurzelkanalstift
Aufgrund der oft komplizierten Wurzelanatomie sollen Wurzelstifte bei
Seitenzähnen nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Das Risiko ei-
ner Perforation der Wurzel oder einer Wurzelfraktur ist hoch. Nur wenn
die klinische Krone so weitgehend zerstört ist, dass die verbliebene ver-
tikale Dentinwand weniger als 2 mm beträgt und eine adhäsive Aufbau-
füllung nicht mehr genug Halt finden würde, muss ein Wurzelkanal-
stift zur Verankerung des plastischen Aufbaus eingebracht werden. Die
Aufbereitungslänge sollte bei Berücksichtigung der Wurzelkrümmung
und des Wurzelquerschnitts etwa der geplanten Höhe des Aufbaus ent-
sprechen.
Wurzelkanalstifte sollen wenn möglich in die Wurzeln eingebracht
werden, die aufgrund ihrer anatomischen Form besonders gut geeignet
sind. Dies ist bei unteren Molaren meist die distale Wurzel und bei obe-
ren Molaren die palatinale oder disto-bukkale Wurzel. Beim Ausschach-
ten des Wurzelkanals muss besonders darauf geachtet werden, dass es zu
keiner seitlichen Perforation der Wurzel kommt.
Das Einbringen und Befestigen der Wurzelkanalstifte sowie die An-
fertigung der adhäsiven Aufbaufüllung entspricht dem bei den Front-
zähnen beschriebenen Vorgehen.
14.4 Verletzungen der Zähne
Verletzungen der bleibenden Zähne kommen vor allem im Kindes- und Frontzahntrauma
Jugendalter vor und haben nach Studien aus verschiedenen Ländern
eine Prävalenz von etwa 20–30%. Am häufigsten sind Schneidezähne
14
betroffen und die häufigsten Ursachen sind Unfälle beim Spielen, beim
Sport und im Straßenverkehr. In jüngerer Zeit soll die Prävalenz solcher
Verletzungen auch bei Erwachsenen zugenommen haben, weil mehr Ri-
sikosportarten ausgeübt werden. Der Begriff Frontzahntrauma wird zu-
sammenfassend für alle Arten von Verletzungen des Zahnhartgewebes
und der umgebenen Weichgewebe sowie des Knochens verwendet.
Eine gute Übersicht zur Behandlung von dentalen Traumata findet
man auf der Webseite http://www.dentaltraumaguide.org. Hier wird die
evidenzbasierte Behandlung dentaler Traumata von international aner-
kannten Wissenschaftlern in interaktiver Form präsentiert.
444 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
14.4.1 Diagnostische Maßnahmen bei Verletzungen der Zähne
Nach Unfällen ist aus versicherungsrechtlichen und forensischen Grün-
den immer eine sehr genaue Dokumentation erforderlich. Die diagnos-
tischen Maßnahmen bei Verletzungen der Zähne beginnen mit der
Anamnese, wobei nach Unfällen neben einer Allgemeinanamnese (s.
Kap. 3.1.2) zuerst nach Wo, Wann und Wie gefragt werden muss. Der
Ort, der Zeitpunkt und die näheren Umstände, die zu dem Unfall ge-
führt haben, lassen Rückschlüsse über eine mögliche Kontamination
der Wunde, die Zeitspanne zwischen Unfall und Behandlung sowie
möglichen Begleitverletzungen zu. Wenn der geschilderte Unfallher-
gang nicht zu den Verletzungen passt, muss geprüft werden, ob andere
Ursachen wie z.B. Kindesmisshandlung zugrunde liegen können. Bei of-
fenen Verletzungen sollte der Status der Tetanus-Immunisierung er-
fragt werden.
Klinische Die klinische Untersuchung umfasst eine extraorale und eine in-
Untersuchung traorale Inspektion. Bei der extraoralen Untersuchung wird zuerst der
Allgemeinzustand des Patienten beurteilt. Es muss abgeklärt werden, ob
Hinweise auf ein Schädel-Hirn-Trauma vorliegen. Speziell muss unter-
sucht werden, ob Verletzungen der Haut oder Lippen vorhanden sind.
Grundsätzlich muss erfragt und geprüft werden, ob Okklusionsstörun-
gen vorliegen. Ist die Okklusion gestört, kann dies ein Hinweis auf
Zahnluxationen, Alveolarfortsatzfrakturen, Kieferfrakturen oder eine
Luxation des Kiefergelenks sein. Die intraorale Untersuchung kann sys-
tematisch entsprechend der ZEPAG-Klassifikation (Ebeleseder und
Glockner 1999) durchgeführt werden (Tab. 14.2).
Je nach Art des Traumas wird die Inspektion ergänzt durch Palpa-
tion, Perkussion und Sensibilitätstestung. Eine erhöhte Zahnbeweglich-
keit kann ein Hinweis auf eine Störung der Blutversorgung des Zahnes
sein. Die Mobilität von Zahngruppen ist ein Hinweis auf eine Alveolar-
fortsatzfraktur. Eine erhöhte Perkussionsempfindlichkeit weist auf eine
Verletzung des Parodonts hin. Sensibilitätstests können bei der Erstun-
Tab. 14.2: ZEPAG-Klassifikation der Verletzungen der dento-alveolären Einheit
Gewebeeinheit Verletzungen
Z Zahnhartsubstanz Infrafraktur oder Fraktur von Schmelz und Dentin
E Endodont Erschütterung, Quetschung, Ruptur oder Eröffnung der
Pulpa
P Parodont Erschütterung, Quetschung, Ruptur der Parodontal-
fasern
A Alveolarknochen Quetschung, Aussprengung, Fraktur der Alveolarwand,
Blutung, Fremdkörper
G Gingiva Abriss, Ablederung, Rissquetschwunde, Blutung,
Fremdkörper
14.4 Verletzungen der Zähne Kapitel 14 445
tersuchung wichtige Informationen zur neurovaskulären Versorgung ei-
nes Zahnes geben, sind aber häufig schwer durchzuführen und können
direkt nach einem Trauma auch zu Fehlinterpretationen führen.
Als Röntgenuntersuchung genügt zumeist die Anfertigung einer
Zahnfilmaufnahme, die Aufschluss über Wurzelfrakturen oder eine Dis-
lokation geben kann. Zusätzliche Informationen kann eine Oberkiefer-
aufbissaufnahme liefern.
14.4.2 Verletzungen des Zahnhartgewebes
Verletzungen des Zahnhartgewebes können ausschließlich die Krone, Formen
die Krone und Wurzel oder alleine die Wurzel betreffen (Abb. 14.4). Im
Bereich der Zahnkrone kann als sehr leichte Verletzung eine Schmelz-
a b c
14
d e f
Abb. 14.4: Verletzungen des Zahnhartgewebes: a) Schmelzfraktur, b) unkomplizierte
Kronenfraktur: Schmelz und Dentin sind betroffen, c) komplizierte Kronenfraktur:
Schmelz, Dentin und Pulpa sind betroffen, d) unkomplizierte Kronen-Wurzel-Fraktur:
Schmelz, Dentin und Wurzeldentin sind betroffen, e) komplizierte Kronen-Wurzel-
Fraktur: Schmelz, Dentin, Wurzeldentin und Pulpa sind betroffen, f) Wurzelfraktur
446 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
fraktur, als leichte Verletzung eine unkomplizierte Kronenfraktur oder
als schwerere Verletzung eine komplizierte Kronenfraktur auftreten. Bei
einer unkomplizierten Kronenfraktur sind Schmelz und Dentin, aber
nicht die Pulpa betroffen. Bei einer komplizierten Kronenfraktur sind
Schmelz, Dentin und Pulpa betroffen.
Nach entsprechendem Muster unterscheidet man auch zwischen
unkomplizierten und komplizierten Kronen-Wurzel-Frakturen. Bei der
unkomplizierten Kronen-Wurzel-Fraktur führt die Frakturlinie bis in das
Wurzeldentin, die Pulpa ist aber nicht eröffnet. Bei der komplizierten
Kronen-Wurzel-Fraktur ist zusätzlich die Pulpa eröffnet.
Bei Wurzelfrakturen wird zwischen Frakturen im koronalen, mittle-
ren oder apikalen Wurzeldrittel unterschieden.
Therapie Schmelzfraktur: Bei den leichtesten Zahnverletzungen handelt es
sich um eine Infraktur (Schmelzriss) ohne Substanzverlust oder eine
Schmelzfraktur mit einem Substanzverlust, der sich ausschließlich auf
den Zahnschmelz beschränkt. Schmelzrisse sind in der Regel symp-
tomlos und es ist keine Therapie notwendig. Nach Schmelzfrakturen
können temporär Überempfindlichkeiten auftreten. Bei kleinen
Schmelzfrakturen genügt als Therapie oft eine Glättung mit nachfolgen-
der Fluoridapplikation. Größere Schmelzverluste werden mit Komposit
restauriert.
Unkomplizierte Kronenfraktur: Wenn Dentin betroffen ist, muss
grundsätzlich zum Schutz der Pulpa eine restaurative Versorgung vorge-
nommen werden. Ist dies nicht sofort möglich, sollte eine provisorische
Versorgung vorgenommen werden, die ein Eindringen von Bakterien in
die offenen Dentinkanälchen verhindert. Bleibt eine Dentinwunde län-
gere Zeit unversorgt, kann dies möglicherweise eine Infektion der Pulpa
begünstigen.
Ist das Zahnfragment noch vorhanden und unbeschädigt, kann es
nach Anschrägen von Zahn und Fragment adhäsiv wiederbefestigt wer-
den. Bei tiefreichenden Dentinfrakturen mit einer Restdentindicke von
weniger als 1 mm sollte pulpanah die Applikation eines Kalziumhydro-
xidpräparates erfolgen. Die Restauration erfolgt entsprechend 6.1.6
Klasse-IV-Kavitäten.
Komplizierte Kronenfraktur: Bei einer Eröffnung der Pulpa muss
zuerst abgeschätzt werden, ob eine Vitalerhaltung der Pulpa möglich
und erwünscht ist. Die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche
Therapie liegen vor, wenn vor dem Unfall keine entzündlichen Verän-
derungen vorlagen und durch den Unfall die Gefäßversorgung der
Pulpa nicht beeinträchtigt worden ist.
Prinzipiell kann eine direkte Überkappung oder eine partielle Pul-
potomie durchgeführt werden. Es ist bisher unklar, welches Vorgehen zu
höheren Erfolgsraten führt. Eine direkte Überkappung wird empfohlen,
wenn die Versorgung innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Unfall
vorgenommen wird, die Pulpaeröffnung nicht zu groß ist und direkt an-
schließend eine definitive restaurative Versorgung vorgenommen wird.
14.4 Verletzungen der Zähne Kapitel 14 447
Eine partielle Pulpotomie wird empfohlen, wenn die Versorgung
erst mehr als 24 Stunden nach dem Unfall vorgenommen werden kann
und die Pulpa vermutlich infiziert ist oder die Pulpaeröffnung sehr groß
ist. Eine partielle Pulpotomie kann an jeder beliebigen Stelle der Pulpa
vorgenommen werden. Es wird empfohlen, die Kronenpulpa unter ab-
soluter Trockenlegung ca. 2 mm auszuräumen und dann im Sinne einer
direkten Überkappung abzudecken. Das praktische Vorgehen bei der di-
rekten Pulpaüberkappung und der Pulpotomie (Vitalamputation) wird
bei 11.3.2 und 11.3.3 beschrieben.
Unkomplizierte Kronen-Wurzel-Fraktur: Bei Kronen-Wurzel-Frak-
turen wird das Fragment oft durch das Saumepithel festgehalten. In der
Regel ist aber der betreffende Zahn aufgrund der Mobilität des Frag-
ments beim Kauen schmerzhaft. Bei fehlender Mobilität kommt es zu-
meist durch Plaqueanlagerung im Frakturspalt zu einer Entzündung der
Gingiva. Nach kompletter Entfernung des Fragments muss geprüft wer-
den, welche Art der Restauration möglich ist. Gelegentlich kann das
ganze Fragment wieder adhäsiv eingesetzt werden. Bei geringem Sub-
stanzverlust im Bereich der Wurzel kann der subgingivale Anteil auch
ohne Restauration bleiben. Eine Heilung durch Ausbildung eines neuen
Saumepithels soll möglich sein. Alternativ kann die subgingivale Bruch-
fläche durch Gingivektomie, Osteotomie oder durch chirurgische oder
orthodontische Extrusion des Restzahnes freigelegt werden. Danach
kann eine Versorgung wie bei der unkomplizierten Kronenfraktur erfol-
gen.
Komplizierte Kronen-Wurzel-Fraktur: Wenn die Umstände es zu-
lassen, erfolgt wie bei der komplizierten Kronenfraktur eine direkte
Überkappung oder partielle Pulpotomie. Häufig ist die verbleibende
Zahnhartsubstanz aber nicht mehr ausreichend für eine Restauration
mit plastischen Füllungsmaterialien oder einer Krone. Dann bleibt nur
eine Vitalexstirpation der Pulpa mit nachfolgender Wurzelkanalbe-
handlung zur Ermöglichung einer Stiftverankerung.
Wurzelfrakturen: Infraalveoläre Wurzelfrakturen kommen relativ
14
selten vor und werden zumeist durch eine horizontale Krafteinwirkung
verursacht. Es liegt immer eine kombinierte Verletzung der Pulpa, des
Desmodonts, des Wurzeldentins und des Zements vor, die eine Aushei-
lung kompliziert. Die Heilung hängt davon ab, ob die Pulpa durch das
Trauma nur gedehnt oder aber durchtrennt worden ist und ob Bakterien
in den Frakturspalt eingedrungen sind.
Der Versuch einer Heilung ist sinnvoll bei Frakturen im apikalen
oder mittleren Wurzeldrittel. Liegt die Fraktur im koronalen Drittel,
wird das koronale Fragment entfernt. Unabdingliche Voraussetzung für
eine mögliche Ausheilung sind eine gute Adaptation der Frakturenden
sowie eine möglichst geringe Mobilität des koronalen Fragments. Emp-
fohlen wird die Versorgung mit einer rigiden Schiene für 1–3 Monate.
Bei fortgesetzter Mobilität kann es zu Resorptionen und zu einer Abrun-
dung der Frakturenden kommen.
448 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
a b c d
Abb. 14.5: Heilungsmöglichkeiten nach Wurzelfrakturen (nach Andreasen u. Andreasen): a) Wundheilung
mit Hartgewebsbildung, b) Wundheilung mit Ausbildung von Bindegewebe zwischen den Fragmenten,
c) Wundheilung mit Einlagerung von Bindegewebe und Knochen zwischen den Fragmenten, d) Misserfolg
durch Einsprossung von entzündlichem Granulationsgewebe
Entsprechend den Voraussetzungen und unter speziellen Umstän-
den sind verschiedene Heilungsverläufe möglich (Abb. 14.5): Bei intak-
ter Pulpa und guter Adaptation der Frakturenden kommt es nach eini-
gen Wochen zur Ausbildung eines Dentinkallus zwischen den Fragmen-
ten und zur Zementapposition. Ist die Pulpa zerrissen, kann es zur
Einlagerung von Bindegewebe oder Knochen und Bindegewebe zwi-
schen den Fragmenten kommen. Kommt es zur Einsprossung von ent-
zündlichem Bindegewebe, muss dies als Heilungsmisserfolg betrachtet
werden.
Kommt es im koronalen Fragment zur Nekrose der Pulpa, ist eine
Wurzelkanalbehandlung des Fragments bis zum Frakturspalt indiziert.
Der apikale Verschluss des Wurzelkanals im koronalen Fragment wird
wie bei der Apexifikation (s. Kap. 13.13.1) erzielt. Die weiteren Maßnah-
men entsprechen dem üblichen Vorgehen.
14.4.3 Luxationsverletzungen der Zähne
Luxationsverletzungen oder Dislokationstraumen der Zähne reichen
von einer leichten Prellung bis zur vollständigen Avulsion des Zahnes
(Tab. 14.3).
Formen Bei allen Dislokationstraumen kann die Pulpa mehr oder weniger
schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Prognose für die Ge-
sunderhaltung der Pulpa ist in der Regel gut, wenn es lediglich zur Kon-
kussion oder Subluxation eines Zahnes gekommen ist. Die für kurze
Zeit vorhandene Perkussionsempfindlichkeit eines solchen Zahnes ist
in der Regel parodontal bedingt und darf nicht als Zeichen für eine
Schädigung der Pulpa interpretiert werden. Die Therapie besteht, wenn
14.4 Verletzungen der Zähne Kapitel 14 449
Tab. 14.3: Unterschiedliche Luxationsverletzungen
Verletzungstyp Definition
Konkussion, Kontusion Prellung ohne Lockerung
Subluxation Lockerung ohne Stellungsänderung
Extrusion axial-inzisale Dislokation
Laterale Luxation horizontale Dislokation
Intrusion axial-apikale Dislokation
Avulsion vollständige Luxation
notwendig, aus der Beseitigung okklusaler Interferenzen und der Ver-
ordnung von weicher Kost für etwa 2 Wochen. Obwohl dies nicht zwin-
gend notwendig ist, kann eine Schienung des Zahnes für 2 Wochen er-
folgen.
Bei einer Extrusion, lateralen Luxation oder Intrusion des Zahnes
kommt es je nach Schweregrad des Traumas zur Quetschung, Zerrung
oder zum Abriss der Pulpa am Apex. Die Therapie besteht in der Regel in
einer behutsamen, möglichst atraumatischen Reposition des Zahnes
und anschließender Schienung mit einer flexiblen Schiene für etwa 3
Wochen. Bei intrudierten Zähnen mit abgeschlossenem Wurzelwachs-
tum erfolgt eine kieferorthopädische Reposition.
Eine Vitalerhaltung der Pulpa gelingt am ehesten bei Zähnen mit
noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum. Unter günstigen Um-
ständen ist aber auch bei Zähnen mit abgeschlossenem Wurzelwachs-
tum eine Revaskularisierung möglich. Die Prognose zur Vitalerhaltung
der Pulpa ist bei Intrusionen am ungünstigsten. Die Vitalitätsbeurtei-
lung nach Traumen ist oft schwierig, da die Pulpa vorübergehend oder
sogar dauerhaft auf eine Sensibilitätsprobe negativ reagieren kann, ob-
wohl die Blutversorgung intakt ist. Verlaufskontrollen sollten nach 3
Wochen sowie nach 3 und 6 Monaten durchgeführt werden. Sichere
Zeichen für eine Pulpanekrose, die eine Wurzelkanalbehandlung not-
14
wendig macht, sind eine Verfärbung des Zahnes und eine röntgenolo-
gisch darstellbare apikale Aufhellung.
Nach der Avulsion eines Zahnes kann eine Replantation mit einer Replantation
flexiblen Schiene für etwa 1–2 Wochen durchgeführt werden. Unter
sehr günstigen Umständen kann eine dauerhafte Heilung bei Vitalerhal-
tung der Pulpa erreicht werden. Eine Revaskularisation und Reinnerva-
tion der Pulpa ist möglich, wenn Zahn und Alveole möglichst geringfü-
gig geschädigt sind, der Zahn noch kein abgeschlossenes Wurzelwachs-
tum hatte und das verbliebene Gewebe auf der Wurzeloberfläche vital
ist. Das Gewebe auf der Wurzeloberfläche kann vital erhalten werden,
wenn der avulsierte Zahn für nur wenige Stunden in einem geeigneten
Medium wie physiologischer Kochsalzlösung oder H-Milch bis zur Re-
plantation aufbewahrt worden ist. Eine längere Aufbewahrung für etwa
einen Tag ist in einem zellphysiologischen Medium möglich.
450 14 Spezielle endodontische und postendodontische Maßnahmen
Zumeist benötigen aber auch replantierte Zähne mit nicht abge-
schlossenem Wurzelwachstum in der Folgezeit eine Wurzelkanalbe-
handlung. Das Vorgehen entspricht den Behandlungsschritten bei der
Apexifikation (s. Kap. 13.13.1). Für Zähne mit abgeschlossenem Wurzel-
wachstum und vitalem Desmodont wird empfohlen, die Wurzelkanal-
behandlung kurz vor Entfernung der Schiene einzuleiten. Werden nicht
adäquat gelagerte Zähne mit nekrotischen Desmodontalzellen replan-
tiert, erfolgt die Wurzelkanalaufbereitung und Füllung vor der Replanta-
tion außerhalb des Mundes. Um Resorptionen vorzubeugen, wird die
Wurzeloberfläche von desmodontalen Zellen und Fasern gereinigt und
mit geeigneten Lösungen, wie z.B. einer physiologischen Kochsalzlö-
sung mit Doxycyclin oder einer sauren Natriumfluoridlösung, gespült.
14.4.4 Schienentherapie nach dentoalveolären Traumata
Wesentlicher Bestandteil der Erstversorgung bei Wurzelfrakturen und
Luxationsverletzungen ist das Schienen der betroffenen Zähne für eine
bestimmte Zeit. Schienen sollen einfach herzustellen sein, für eine adä-
quate Fixation sorgen, nicht stören und eine indikationsbezogene Rigi-
dität (Starrheit) haben. Die Rigidität der Schienen wird in Abhängigkeit
von der Art und dem Schweregrad des Traumas ausgewählt und kann
von hoch (rigide Schiene) bis niedrig (flexible Schiene) rangieren. Rigide
Schienen sorgen für eine starre Fixation und Immobilisation und sind
bei Wurzelfrakturen und Alveolarfortsatzfrakturen indiziert. Bei Dislo-
kationsverletzungen der Zähne können sie jedoch Komplikationen wie
Ankylose und Resorption nach sich ziehen. Bei Lockerungen und Dislo-
kationen sind deshalb flexible Schienen indiziert.
Als Schienensysteme werden zumeist Kompositschienen ohne oder
mit Verstärkungsmaterialien und Bracketschienen verwendet. Die allei-
nige Schienung mit Komposit ist nur als Notfallmaßnahme indiziert.
Nachteile sind Schienungsbrüche und mangelnde Hygienefähigkeit.
Zur Verstärkung können Glasfasermatten und Drähte oder die Titan-
ringklebeschiene und der Titanium Trauma Splint (TTS-Schiene) ge-
nutzt werden. Die Rigidität der Schiene kann durch die Wahl des Ver-
stärkungsmaterials und die Ausdehnung der Kompositklebepunkte ge-
steuert werden. Bei der Bracketschiene erfolgt die Fixierung der Drähte
über Knopf- oder Edgewisebrackets, die mit der Adhäsivtechnik am
Zahn befestigt werden. Je nach Auswahl des Drahtes können diese
Schienen rigide oder flexibel gestaltet werden.
14.4.5 Spätfolgen bei Verletzungen der Zähne
Besonders nach schweren Luxationsverletzungen wie einer lateralen Lu-
xation, Intrusion oder Avulsion sind Reparations- und Umbauvorgänge
14.4 Verletzungen der Zähne Kapitel 14 451
im Bereich des Desmodonts notwendig. Hierbei kommt es oft zu exter-
nen, odontogenen Resorptionen, die in Kapitel 2.4 beschrieben sind.
Im Bereich des Pulpenkavums können als Spätfolge eines Traumas
resorptive oder appositionelle Vorgänge ablaufen. Interne Resorptionen
werden als Konsequenz eines nicht ersetzbaren Verlustes von Odonto-
blasten gedeutet. Wenn im Rahmen einer röntgenologischen Kontroll-
untersuchung eine interne Resorption erkannt wird, kann der Prozess
durch eine Wurzelkanalbehandlung in der Regel gestoppt werden.
14
III Parodontologie
Kapitel 15 455
15 Anatomie des Parodonts
! Das Parodont (par = um, herum; odontos = der Zahn) besteht aus
der Gingiva, dem Wurzelzement, dem Desmodont und dem Al-
veolarfortsatz. Seine Hauptaufgaben sind die Verankerung des
Zahnes im Knochen, die Dämpfung der Kaukräfte, die Abwehr äu-
ßerer Noxen und die Trennung zwischen Mundhöhlenmilieu und
Zahnwurzel (Sicherung der Kontinuität der Oberflächenausklei-
dung der Mundhöhle). Die Kenntnis des Baus und der Funktion
des gesunden Parodonts ist Voraussetzung für das Verständnis pa-
thologischer Veränderungen und deren Therapie (Abb. 15.1).
15.1 Gingiva
15.1.1 Makroskopische Anatomie der Gingiva
Die Mundschleimhaut wird in die mastikatorische, die spezielle
und die auskleidende Mukosa unterteilt.
Als spezielle Mukosa wird die Schleimhaut des Zungenrückens, als mas-
tikatorische Mukosa werden die Gaumenschleimhaut und die Gingiva
bezeichnet. Die auskleidende Mukosa beschreibt die nicht keratinisierte
Alveolarknochen
Desmodont 15
Alveolarmukosa
Mukogingivallinie
befestigte Gingiva
gingivale Furche
freie Gingiva
a b
Abb. 15.1: Anatomische Strukturen des Parodonts: a) Darstellung in der Aufsicht, b) vertikaler Schnitt
456 15 Anatomie des Parodonts
Schleimhaut des Vestibulums, der Wangen und Lippen, des Mundbo-
dens und weichen Gaumens sowie der Zungenunterseite.
Der koronale Gingivasaum verläuft girlandenförmig ca. 0,5–2 mm
koronal der Schmelz-Zement-Grenze der Zähne. Im Unterkiefer und im
vestibulären Bereich des Oberkiefers geht die Gingiva an der mukogin-
givalen Grenzlinie (Linea girlandiformis) kontinuierlich in die ausklei-
dende Mukosa über. Die Gaumenschleimhaut und die Gingiva des
Oberkiefers hingegen sind nur verschiedene Formen der mastikatori-
schen Schleimhaut. Deshalb ist klinisch palatinal keine Linea girlandi-
formis zu erkennen.
Einteilung Die Gingiva lässt sich folgendermaßen unterteilen:
D freie marginale Gingiva
D befestigte Gingiva
D interdentale Gingiva
Die Grenze zwischen der freien und der befestigten Gingiva liegt in
Höhe der Schmelz-Zement-Grenze und ist bei 30 bis 40% der Erwachse-
nen meist vestibulär als gingivale Furche sichtbar.
Freie und befestigte Gingiva besitzen eine feste Konsistenz und sind
blassrosa, bei dunkelhäutigen Personen ist die Gingiva physiologisch
bräunlich pigmentiert. Eine pathologische dunkle Gingivaverfärbung
findet man bei Metallintoxikationen (z.B. Pb, Bi) oder bei Tätowierung
der Gingiva durch Amalgam.
Freie Gingiva Die freie Gingiva läuft koronal meist flach aus. Sie besitzt eine glatte
Oberfläche und ist 0,8–2,5 mm breit. Die Oberfläche der befestigten
Gingiva erscheint bei ca. 40% der Erwachsenen gestippelt.
Befestigte - Die befestigte Gingiva ist ca. 1–9 mm breit, wobei eine Zunahme der
Gingiva Breite im Alter beobachtet werden kann. Sie ist über Bindegewebefasern
fest mit dem Alveolarknochen und Wurzelzement verbunden. Deshalb
lässt sie sich im Gegensatz zu der sich apikal anschließenden dunkelro-
ten Alveolarmukosa nicht gegen ihre Unterlage verschieben.
Interdentale - Die Gingiva, die den Raum zwischen zwei Zähnen füllt, wird als in-
Gingiva terdentale Gingiva bezeichnet. Sie besitzt einen oralen und vestibulären
Papillenzipfel, zwischen denen sich eine sattelförmige Einsenkung be-
findet, die als Col (= Sattel) bezeichnet wird (Abb. 15.2).
Der Col ist als Verschmelzung des unten beschriebenen Saumepi-
thels zweier Nachbarzähne zu verstehen.
Er besitzt daher im Gegensatz zur Gingiva kein keratinisiertes Epithel.
Die Breite der interdentalen Gingiva ist durch die Form der Zähne vor-
gegeben. Sie ist daher zwischen den Frontzähnen schmaler als zwischen
den Seitenzähnen. Nach der Regel von Tarnow et al. füllt die interden-
tale Papille bei parodontal gesunden Zähnen den Raum unterhalb des
Kontaktpunktes benachbarter Zähne vollständig aus, wenn der Abstand
des Approximalkontaktes zum interdentalen Knochenseptum < 5 mm
15.1 Gingiva Kapitel 15 457
Abb. 15.2: Vertikaler Schnitt
durch die interdentale Gin-
giva
Papillen-
zipfel
Col
beträgt. Beträgt diese Distanz > 7 mm, so findet sich meist kein vollstän-
dig mit Papille ausgefüllter Interdentalraum.
Grundsätzlich lassen sich ein flach verlaufender und ein ausgeprägt
skallopierender (geschwungener) gingivaler Biotyp unterscheiden. Beim
flach verlaufenden Biotyp liegen eine dicke bukkale marginale Gingiva,
eine kurze Papille, eine dicke bukkale Knochenkortikalis und ein gerin-
ger Höhenunterschied von ca. 2 mm zwischen interdentalem und buk-
kalem Knochenniveau vor. Die Frontzähne dieser Patienten sind meist
kürzer und breiter gestaltet als bei Patienten mit ausgeprägt skallopie-
renden Biotyp, bei denen lange und schmale Frontzähne vorliegen. Bei
ausgeprägt skallopierendem Gingivaverlauf sind die bukkale marginale
Gingiva und der bukkale Knochen meist dünn. Die marginale Gingiva
liegt oft apikal der Schmelz-Zement-Grenze. Es zeigen sich hohe,
schlanke Papillen. Der Höhenunterschied zwischen interdentalem und
bukkalem Knochenniveau beträgt mehr als 4 mm.
Die Blutversorgung der Gingiva erfolgt über die Arteria alveolaris Blutversorgung
superior posterior und die Arteria alveolaris inferior, die auch die
Zähne versorgen. Sie erreichen die Gingiva über das Desmodont (Arteria
dentalis) und interdentale Knochensepten (Arteriae interalveolares und
interradiculares). Eine weitere Blutversorgung erfolgt über periostale
Äste der Arteria lingualis, Arteria buccalis, Arteria mentalis und Arteria
palatina, die vom Vestibulum, Mundboden und Gaumen in die Gingiva 15
einstrahlen. Diese verschiedenen arteriellen Zuflüsse stellen die ausrei-
chende Blutversorgung der Gingiva während parodontalchirurgischer
Eingriffe sicher.
Das Schmerz-, Druck- und Berührungsempfinden der Gingiva wird Innervation
über afferente Fasern des Nervus trigeminus vermittelt.
15.1.2 Mikroskopische Anatomie der Gingiva
! Das Gingivaepithel wird unterteilt in das dem Zahn zugewandte
orale Sulkusepithel (OSE), das der Mundhöhle zugewandte orale
Epithel (OE) und das Saumepithel.
458 15 Anatomie des Parodonts
Abb. 15.3: Topografie der
verschiedenen Gingivaepi-
thelien
orales
Sulkus-
epithel
orales
Epithel
Saum-
epithel
Orales Sulkusepithel und orales Epithel
Diese beiden Epithelien sind mehrschichtige, verhornte Epithelien
(Abb. 15.3). In diese Epitheldecke stülpt sich das darunter liegende Bin-
degewebe zapfenartig ein. Dadurch bilden sich an der dem Bindegewebe
zugewandten Seite Epithelleisten, welche die Stippelung der Oberflä-
che im Bereich der befestigten (attached) Gingiva hervorrufen. Eine Ba-
salmembran trennt das Bindegewebe vom Epithel.
Epithelschichten Das Epithel besteht aus vier Schichten:
D Stratum basale
D Stratum spinosum
D Stratum granulosum
D Stratum corneum
Zellumsatzrate Die Zellumsatzrate (turnover time) wird für die Gingiva mit zehn bis
zwölf Tagen angegeben. Neben Keratozyten finden sich innerhalb des
Epithels zu 10% atypische Zellen (clear cells), wie z.B. Melanozyten,
Langerhans-Zellen und unspezifische Zellen.
Die keratinisierte Gingiva lässt sich im Gegensatz zur auskleidenden
Mukosa und zum Saumepithel nicht mit Schiller-Jodlösung anfärben.
Die Schiller-Jodlösung färbt das in oberen Zellschichten gespeicherte
Glykogen der Mukosa und des Saumepithels an. Die Alveolarmukosa
besitzt ein nicht keratinisiertes dreischichtiges Epithel (Stratum basale,
Stratum spinosum, Stratum superficiale).
Saumepithel
! Das Saumepithel dient der Anheftung der Gingiva an die Zahn-
oberfläche.
Es liegt kragenförmig um die Zähne herum und reicht von der Schmelz-
Zement-Grenze bis zum Boden des Gingivalsulkus. Dort geht es konti-
15.1 Gingiva Kapitel 15 459
nuierlich in das orale Sulkusepithel über. Es ist mit dem lateral von ihm
liegenden Bindegewebe nicht verzapft.
Das Saumepithel entwickelt sich durch Umwandlung aus dem redu-
zierten Schmelzepithel (Abb. 15.4).
Diese Umwandlung beginnt nach Abschluss der Schmelzmatrixbil-
dung und ist ca. zwölf bis 14 Monate nach Beginn des Zahndurchbruchs
abgeschlossen. Das mitotisch inaktive reduzierte Schmelzepithel setzt
sich aus zwei Schichten zusammen: Der Zahnkrone zugewandt ist die
Schicht der resorbierenden reduzierten Ameloblasten, ihr aufgelagert
sind Zellen aus dem ehemaligen Stratum intermedium des Schmelzor-
gans.
Die Ameloblasten produzieren eine Basallamina, die der Zahnkrone
aufliegt.
D Diese interne Basallamina setzt sich aus einer dem Zahn zugewand- Interne
ten Lamina densa und einer Lamina lucida zusammen. Die Basalla- Basallamina
mina stellt eine unlösliche Schicht aus kollagenen Proteinen, Pro-
teoglykanen, Fibronectin und Laminin dar. Die reduzierten Amelo-
blasten sind mit der internen Basallamina durch Hemidesmosomen
verknüpft. Diese Anheftung an den Zahn wird als primärer Epithel-
ansatz bezeichnet.
D Zum umgebenden Bindegewebe hin ist das reduzierte Schmelzepi- Externe
thel durch eine externe Basallamina getrennt. Während des Zahn- Basallamina
durchbruchs vereinigt sich das reduzierte Schmelzepithel koronal
reduziertes
Schmelzepithel
orales
Epithel
externe
Schmelz Basal-
lamina
interne Zellen des
Basal- ehemaligen 15
lamina Stratum intermedium
reduzierte
Ameloblasten a
orales
Epithel
Saumepithel
b
Abb. 15.4: Entwicklung des Saumepithels aus dem reduzierten Schmelzepithel (nach Lindhe et al. 1997):
a) präeruptives Stadium, b) eruptives Stadium
460 15 Anatomie des Parodonts
mit dem oralen Sulkusepithel. Die Zellen des reduzierten Schmelz-
epithels werden in Zellen des Saumepithels umgewandelt, und der
primäre Epithelansatz wird zum sekundären Epithelansatz.
Der Anheftung des Saumepithels an der Zahnoberfläche liegen he-
midesmosomale Verknüpfungen der Epithelzellen mit der internen
Basallamina zugrunde (Abb. 15.5).
Die interne Basallamina befindet sich zwischen den Epithelzellen und
der Zahnoberfläche. Sie liegt dabei dem Zahnschmelz direkt adhäsiv
auf. Sie kann aber auch dem Wurzelzement, afibrillären Zementzungen
auf dem Schmelz oder der Cuticula dentis aufgelagert sein. Die interne
Basallamina vereinigt sich an der Schmelz-Zement-Grenze mit der ex-
ternen Basallamina. Die externe Basallamina stellt zusammen mit in das
Bindegewebe reichenden Ankerfasern die Basalmembran dar, die das
gingivale Bindegewebe vom Saumepithel trennt.
Beim Zahndurchbruch bleibt die Haftung an die Zahnoberfläche er-
halten, sodass zu keinem Zeitpunkt eine Wunde entsteht.
Die ehemaligen Zellen des Stratum intermedium werden wieder mito-
tisch aktiv, die ehemaligen reduzierten Ameloblasten werden nach wei-
terer Differenzierung am Sulkusboden exfoliiert.
desmosomale
Interzellular-
verbindung
interne
Basal- Basal-
orales Schmelz lamina membran
Sulkus-
epithel
orales
Epithel
Saum-
epithel
Schmelz-
Dentin-
Grenze
Binde-
gewebe
Lamina Saum- Anker-
lucida epithel- fibrillen
zelle
Lamina Hemi- Binde-
densa desmosom gewebe
Abb. 15.5: Anheftung des Saumepithels an die Zahnoberfläche. Die Saumepithelzellen sind über Hemides-
mosomen mit der internen Basallamina verknüpft, die dem Zahn adhäsiv aufliegt.
15.1 Gingiva Kapitel 15 461
Zwölf bis 24 Monate nach dem Zahndurchbruch ist die Umwand-
lung des reduzierten Schmelzepithels in das Saumepithel abgeschlossen.
Das Saumepithel besteht nun aus zwei Schichten:
D dem ein bis drei Zellreihen breiten, mitotisch aktiven, apikalen Stra-
tum basale
D dem 15 bis 18 Zellreihen breiten, koronalen Stratum suprabasale
Das Saumepithel ist schließlich koronal ca. 150 µm dick.
Während der Wanderung vom Stratum basale zum Sulkusboden flachen
die kubischen Zellen ab und orientieren sich parallel zur Zahnoberfläche.
Die Zellumsatzrate des Saumepithels beträgt nur ca. sechs Tage. Dies
spiegelt die hohe Reparaturfähigkeit des Epithelansatzes wider.
Die Oberfläche der Zellen des Saumepithels wird nur zu 3 bis 5% von Oberfläche
zellverbindenden Desmosomen besetzt. Die Dichte der Desmosomen ist
damit nur etwa halb so groß wie die anderer oraler Epithelien. Zwischen
den Zellen des Saumepithels befinden sich weite Interzellularräume.
Diese lockere Struktur des Saumepithels ermöglicht sowohl externen
Noxen als auch Abwehrzellen eine rasche Penetration.
Innerhalb des Saumepithels befinden sich vom Bindegewebe einge-
wanderte Leukozyten (neutrophile Granulozyten, Makrophagen) sowie
Lymphozyten. Sie stellen neben den teilweise phagozytosefähigen Zel-
len des Saumepithels die zelluläre Abwehr des Saumepithels dar.
Gingivales Bindegewebe und seine Faserbündel
! Das gingivale Bindegewebe setzt sich hauptsächlich aus Bindege-
webefasern, Fibroblasten, Proteoglykanen und Blutgefäßen zu-
sammen. Sein ausgeprägter Faserapparat verleiht der Gingiva ihre
feste Konsistenz (Abb. 15.6).
Die Bindegewebefasern gruppieren sich zu Faserbündeln, die mehrheit-
lich aus kollagenen Fasern bestehen. Oxytalanfasern werden seltener, 15
elastische Fasern meist perivaskulär gefunden. Das gingivale Bindege-
webe wird schneller umgesetzt als das Bindegewebe der Dermis, sodass
eine schnelle Reparatur möglich ist.
Der supraalveoläre Faserapparat setzt den desmodontalen, infraal- Supraalveolärer
veolären Faserapparat der Zähne nach koronal fort. Die Faserbündel Faserapparat
werden entsprechend ihrer Verlaufsrichtung unterschieden:
D Dentogingivale Fasern ziehen vom supraalveolären Wurzelzement
fächerförmig in die Gingiva. Sie werden in koronal, horizontal und
apikal verlaufende Faserzüge unterschieden.
D Dentoperiostale Fasern verlaufen vom supraalveolären Wurzelze-
ment über den Alveolarknochenkamm zum bukkalen bzw. oralen
Periost des Alveolarknochens.
462 15 Anatomie des Parodonts
intergingivale transseptale interpapilläre
Fasern Fasern Fasern
semizirkuläre transgingivale zirkuläre
a Fasern Fasern Fasern
dentogingivale Fasern (koronal)
alveologingivale Fasern
dentogingivale Fasern (horizontal)
dentogingivale Fasern (apikal)
dentoperiostale Fasern
desmodontaler Faserapparat
Alveolarknochen
b
Abb. 15.6: Schematische Darstellung des Verlaufs der gingivalen Faserbündel: a)
horizontaler Schnitt in Höhe der Schmelz-Zement-Grenze, b) vertikaler Schnitt
D Zirkuläre Fasern umfassen ringförmig den supraalveolären Bereich
der Zahnwurzel.
D Semizirkuläre Fasern verlaufen bukkal bzw. oral bogenförmig von
der einen zur anderen approximalen Wurzeloberfläche desselben
Zahnes.
D Transseptale Fasern verlaufen vom approximalen Wurzelzement ei-
nes Zahnes über das interdentale Knochenseptum zum Wurzelze-
ment des Nachbarzahnes. Sie sind für die Aufrechterhaltung des
Zahnbogens von großer Bedeutung und werden nach einer Exzision
rasch wieder aufgebaut.
D Transgingivale Fasern ziehen vom Wurzelzement eines Zahnes zur
Gingiva des Nachbarzahnes und schließen sich dort häufig den se-
mizirkulären Fasern an.
D Intergingivale Fasern verlaufen entlang der bukkalen bzw. oralen
marginalen Gingiva.
D Alveologingivale Fasern ziehen vom Alveolarkamm in die Gingiva.
D Interpapilläre Fasern durchqueren die interdentale Gingiva in ves-
tibulo-oraler Richtung.
Zellpopulation Die Zellpopulation des Bindegewebes besteht zu 65% aus Fibroblasten,
die u.a. für die Kollagensynthese verantwortlich sind. Daneben finden
15.2 Desmodont Kapitel 15 463
sich eine Reihe von Abwehrzellen, wie z.B. polymorphkernige Granulo-
zyten, Monozyten und Lymphozyten. Zahlreiche Makrophagen befin-
den sich in einer zellreichen Zone des Bindegewebes, die direkt dem
Saumepithel angelagert ist. In dieser Zone liegt auch ein anastomosie-
rendes Gefäßsystem (gingivaler Plexus). Dieser Plexus wird bei entzünd-
lichen Reaktionen äußerst permeabel. Der an das Saumepithel angren-
zenden Zone wird daher eine wichtige Rolle bei der Abwehr externer
Noxen zugeschrieben.
Die epitheliale und bindegewebige Anheftung an der Zahnoberflä-
che durch das Saumepithel und das gingivale Bindegewebe wird in sei-
ner Gesamtheit als sogenanntes weichgewebliches Attachment oder
auch als biologische Breite bezeichnet. Die Höhe dieser Anheftung be-
trägt ca. 2–3 mm.
15.2 Desmodont
! Das Desmodont oder parodontale Ligament ist ein gut vaskulari-
siertes, zell- und faserreiches Bindegewebe, das den Parodontal-
spalt zwischen Wurzeloberfläche und Alveolarknochen füllt.
Es endet koronal ca. 1–2 mm unterhalb der Schmelz-Zement-Grenze
und geht kontinuierlich in das Bindegewebe der befestigten Gingiva
über. Der desmodontale Zahnhalteapparat stellt eine syndesmotische
Verbindung zwischen Zahn und Kieferknochen dar (Abb. 15.7).
Der Desmodontalspalt ist ca. 0,25 mm breit. Er ist koronal und api-
kal breiter als in der Mitte (Sanduhrform). Die Breite nimmt bei funktio-
neller Belastung der Zähne zu und mit zunehmendem Alter ab.
Das Desmodont zeigt wie das Saumepithel und das gingivale Binde-
gewebe eine höhere Umsatzrate als die Dermis und weist daher eben-
falls eine hohe Umbaukapazität und Anpassungsfähigkeit auf. Als sti-
mulierend wirkt eine kaufunktionelle Belastung. Mit höherem Alter
nehmen die Umsatzrate und damit die Anpassungsfähigkeit des Desmo-
donts ab. 15
Wichtiges Strukturmerkmal des Desmodonts sind Bindegewebefa-
sern, die in primäre und sekundäre Fasern unterschieden werden.
Die primären Faserbündel sind mehrheitlich kollagene Fasern, die Primäre -
von wenigen Oxytalanfasern begleitet werden und vom Alveolarkno- Faserbündel
chen zum Wurzelzement verlaufen. Der in die Hartgewebe eingelassene
Teil der primären Faserbündel wird als Sharpey-Fasern bezeichnet.
Während der Entstehung der primären Faserbündel kommt es zu einer
gitterartigen Verflechtung von aus dem Knochen und aus dem Zement
in den Periodontalspalt einstrahlenden Fasern. Erst nach dem Zahn-
durchbruch erreichen die primären zementoalveolären Faserbündel
ihre endgültige Ausrichtung in horizontale, schräg verlaufende, apikale
und interradikuläre Faserbündel.
464 15 Anatomie des Parodonts
Scharpey-
Fasern
b
Abb. 15.7: a) Verlauf der desmodontalen Fasern eines unteren Molaren, b) Detaildarstellung des desmodon-
talen Fasergeflechts in Beziehung zum Alveolarknochen und zum Wurzelzement
Sekundäre Die sekundären Fasern liegen ungebündelt in zufälliger Ausrichtung
Faserbündel im Desmodont oder umgeben Blutgefäße und Nerven. Sie enthalten
mehrheitlich kollagene, aber auch elastische Fasern.
Dichte und Durchmesser der Faserbündel sind bei funktionell belas-
teten Zähnen größer als bei funktionslosen.
Die Dichte der Faserbündel funktionsloser Zähne beträgt nur ca.
10% der Faserbündeldichte belasteter Zähne.
Die primären Faserbündel besitzen keine Dehnbarkeit. Da sie in gewell-
ter Form vorliegen, nimmt man einerseits an, dass es bei Belastungen
der Zähne zu einer Streckung der Faserbündel kommt. Andererseits geht
man von der Vorstellung aus, dass das gefäßreiche Desmodont eine Puf-
ferfunktion wie ein flüssigkeitsgefüllter Raum besitzt. Belastungen der
Zähne führen dann zu einer Verschiebung des nur wenig komprimier-
15.3 Alveolarfortsatz Kapitel 15 465
baren Flüssigkeitspolsters in Knochenmarksräume bzw. zu einer Auf-
dehnung des koronalen Anteils des Periodontalspalts.
Die Zellpopulation des Desmodonts besteht mehrheitlich aus Fibro- Zellpopulation
blasten. Sie sind für die im Vergleich zu anderen Geweben deutlich er-
höhte Umsatzrate des desmodontalen Kollagens verantwortlich. Dane-
ben finden sich Osteoblasten, Osteoklasten, Zementoblasten, Malassez-
Epithelzellen und Leukozyten.
Das dichte, anastomosierende Blutgefäßnetz des Desmodonts erhält Blutversorgung
seine Versorgung aus denselben Quellen wie die Gingiva. Apikal und in-
terradikulär befinden sich die sog. Wedl-Gefäßknäuel. Sie sind eine Di-
rektverbindung zwischen Arteriolen und Venolen und stellen ein Stau-
chungsreservoir des Desmodonts bei Belastungen dar.
Die Innervation des Desmodonts erfolgt über Fasern des Nervus tri- Innervation
geminus. Somatosensible Fasern aus dem Ganglion trigeminale vermit-
teln das bewusste Schmerz-, Druck- und Berührungsgefühl. Propriozep-
tive Fasern des Nucleus mesencephalicus sind Bestandteil unbewusster
Reflexbögen, in die im Desmodont befindliche Mechanorezeptoren
(Ruffini-Körperchen) eingeschaltet sind. Diese Reflexbögen können ein
Öffnen der Zahnreihen beim plötzlichen Zubeißen auf harte Gegen-
stände auslösen.
15.3 Alveolarfortsatz
! Der Alveolarfortsatz ist der Teil des Ober- bzw. Unterkiefers, in
den die Zähne eingelassen sind. Er unterliegt einer ständigen
Funktionsanpassung im Sinne einer Remodellation durch Osteo-
klasten, Osteoblasten und Osteozyten und bildet sich nach Zahn-
verlust zurück.
Die Zahnalveolen sind mit einer dünnen, durchlöcherten Alveolenin-
nenkortikalis ausgekleidet (Lamina cribriformis). Durch die zahlreichen
Öffnungen (Volkmann-Kanäle) ziehen Blutgefäße und Nerven zum Des-
modont. 15
Radiologisch stellt sich die Innenkortikalis gegenüber der umge-
benden Knochenspongiosa als eine verdichtete Linie (Lamina dura) dar
(Abb. 15.8).
Der Alveolarknochen endet 1–2 mm apikal der Schmelz-Zement-
Grenze. Die interdentalen Septen sind im Frontzahngebiet pyramiden-
förmig, im Seitenzahngebiet abgeflacht. Die Außenkortikalis der Alveo-
larfortsätze ist im Oberkiefer und im anterioren Unterkiefer vestibulär
dünner als oral. Dort liegen im Bereich prominenter Wurzeln häufig
Knocheneinziehungen (Dehiszenzen) oder Knochenfenster (Fenestra-
tionen) vor.
466 15 Anatomie des Parodonts
Abb. 15.8: Röntgendarstel-
lung eines unteren Molaren.
Die Alveoleninnenkortikalis
stellt sich als Lamina dura
(Pfeil) röntgendicht dar.
15.4 Gingivaler Sulkus
! Die Vertiefung zwischen Gingivalsaum und Zahnoberfläche wird
als gingivaler Sulkus bezeichnet. Der gingivale Sulkus wird zentral
von der Schmelzoberfläche bzw. dem Wurzelzement, lateral
durch das orale Sulkusepithel und apikal durch die freie Oberflä-
che des Saumepithels begrenzt.
Der gingivale Sulkus ist 0,1–0,5 mm tief. Dennoch werden aber auch
beim gesunden Patienten fälschlicherweise Sulkustiefen bis zu 3 mm ge-
messen. Die Messsonde durchstößt dabei das Saumepithel teilweise bis
zu den an der Schmelz-Zement-Grenze inserierenden Fasern. Der Epi-
thelansatz am Zahn bleibt dabei erhalten, sodass der Riss im Saumepithel
innerhalb von fünf bis sieben Tagen wieder repariert wird (Abb. 15.9).
Die Sulkusflüssigkeit ist ein Serumexsudat aus dem Gefäßplexus un-
terhalb des Saumepithels, das durch das Saumepithel sickert und am
Sulkusboden austritt. Bei klinisch gesunder Gingiva findet sich keine
oder nur sehr wenig Sulkusflüssigkeit, während sie mit zunehmender
Entzündung der Gingiva vermehrt auftritt.
Sulkusflüssigkeit Die Sulkusflüssigkeit besitzt eine mechanische Spülfunktion, stellt
ein Substrat für die Mikroorganismen der subgingivalen Plaque dar und
hat aufgrund der in ihr vorhandenen Immunglobuline und Abwehrzel-
len eine antimikrobielle Wirkung. Ihre physiologische Fließrate beträgt
ca. 20µl/h. Bei einer Entzündung ist sie 3- bis 4-mal höher.
Daneben enthält die Sulkusflüssigkeit nicht zelluläre Bestandteile
wie Elektrolyte, Plasmaproteine, Fibrin, fibrinolytische Faktoren und
Enzyme sowie zelluläre Bestandteile wie Mikroorganismen und desqua-
mierte Epithelzellen.
15.5 Abwehrmechanismen der Gingiva Kapitel 15 467
Abb. 15.9: Schematische
Darstellung des intraepithe-
lialen Einrisses des Saum-
Sondenende
epithels durch Sondierung
bei Vorliegen einer gesun-
den Gingiva
Saumepithel
dento-
gingivale
Fasern
15.5 Abwehrmechanismen der Gingiva
! Die feste Konsistenz des Faserapparats und die Keratinisierung des
oralen Gingivaepithels gewährleisten den Schutz der Gingiva vor
chemischen, thermischen und mechanischen Verletzungen.
Das Saumepithel kann durch seine hohe Umsatzrate und die Anwesen-
heit von Leukozyten einer bakteriellen Invasion Widerstand leisten.
Von der Lamina propria der Gingiva werden zelluläre und humorale
Komponenten der Immunabwehr bereitgestellt.
15
Kapitel 16 469
16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
! Unter dem Begriff Parodontopathien werden entzündlich be-
dingte und nicht entzündlich bedingte Erkrankungen der Gin-
giva und des Zahnhalteapparates zusammengefasst. Bei der Ätio-
logie entzündlicher Parodontopathien kann zwischen einem pri-
mären und einem sekundären Ursachenkomplex unterschieden
werden.
Der primäre Ursachenkomplex beschreibt die im Biofilm Zahn-
plaque vorhandenen Pathogene und die plaquebedingten ent-
zündlichen Reaktionen des Parodonts.
Der sekundäre Ursachenkomplex umfasst lokale und systemi-
sche Faktoren, die den primären Ursachenkomplex beeinflussen
können.
Die Pathogenese der entzündlich bedingten Erkrankungen des Paro-
donts stellt sich als ein komplexes Ineinandergreifen verschiedener Fak-
toren dar, die sich z.T. gegenseitig beeinflussen und zur klinischen Ma-
nifestation einer Parodontitis mit Attachmentverlust der betroffenen
Zähne führen können (Abb. 16.1).
Erworbene und äußere Risikofaktoren
Antikörper Zytokine Klinische 16
PMNs Zeichen der
Entzündungs- Prosta- Knochen-
Antigene Parodontitis
Parodontaler und Immun- glandine und Binde- Zeit
und
Biofilm Virulenz- antwort des Proteasen: gewebsmeta-
Progression
faktoren: Wirts MMPs etc. bolismus
der
LPS etc. Erkrankung
Genetische Risikofaktoren
Abb. 16.1: Pathogenesemodell zur Entstehung und Progression entzündlicher Parodontalerkrankungen
(modifiziert nach Page und Kornman 1997)
470 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
16.1 Primärer Ursachenkomplex
16.1.1 Dentaler Biofilm (Plaque)
Das Vorhandensein von Mikroorganismen ist eine notwendige Be-
dingung für das Entstehen entzündlicher Parodontalerkrankungen.
Allerdings führt die Anwesenheit parodontalpathogener Keime
nicht zwangläufig und bei jedem Menschen zu einer Parodontaler-
krankung.
Dentaler Biofilm Potenziell parodontalpathogene Keime finden sich im Speichel, auf den
Schleimhäuten des Zungenrückens und der Tonsillen sowie organisiert
als Biofilm auf den Zahnoberflächen. Die Zahl der Bakterienspezies in
der Mundhöhle wird auf ca. 1000 geschätzt. Mikroorganismen können
in der Mundhöhle in einer planktonischen Phase (frei schwimmend,
nicht angeheftet) oder in einem ortständigen Biofilm (Plaque) vorliegen.
Der Biofilm Zahnplaque stellt sich bei ausreichender Dicke klinisch als
ein weicher, strukturierter, zäher Zahnbelag dar, der mit Wasserspray
nicht entfernbar ist. Grundsätzlich werden Biofilme als bakterielle Popu-
lation definiert, die in einer selbst produzierten Matrix aus extrazellulä-
ren polymeren Substanzen – bestehend aus Polysacchariden, Proteinen,
Lipiden und Nukleinsäuren – eingeschlossen sind. Sie stellen eine typi-
sche Lebensform von Bakterien dar. Diese bakteriellen Populationen haf-
ten an Oberflächen, Grenzflächen sowie untereinander. Eine Vorausset-
zung für die Bildung eines Biofilms ist das Vorhandensein von Grenzflä-
chen und die ausreichende Versorgung mit Wasser und Nährstoffen. In
einer Umgebung, in der starke Scherkräfte vorliegen, wie z.B. in fließen-
den Rohrsystemen, entwickeln sich kompaktere Formen des Biofilms.
Biofilme setzen sich aus Mikrokolonien zusammen, die aus verschie-
denen Bakterienspezies zusammengesetzt sind. Zwischen den Einzelko-
lonien befinden sich Poren und wasserführende Kanäle, die dem Aus-
tausch von Nähr- und Botenstoffen sowie Stoffwechselprodukten die-
nen. Dabei können die Bakterien in einem Biofilm Nahrungsketten
aufbauen, indem Stoffwechselprodukte der einen Bakterienart (nur)
von einer anderen Bakterienart metabolisiert werden können. Biofilme
werden daher auch als funktionelle Organismen beschrieben. Die Orga-
nisation der Mikroorganismen in einem hochkomplexen Biofilm
schützt die Bakterien vor äußeren Einflüssen, kann zur Steigerung der
Pathogenität der vorhandenen Bakterien beitragen und gewährleistet
das Wachstum und Überleben der Bakterien. So kann die Resistenz ge-
genüber Antibiotika und antibakteriellen Lösungen von Mikroorganis-
men, die in einem Biofilm organisiert sind, bis zu 500-fach höher sein
als von planktonischen Bakterien. Dabei spielt neben der klassischen
Resistenz von Bakterien auch die physikalische Barriere eine wichtige
Rolle. Von einem reifen Biofilm können sich Fetzen ablösen und an an-
deren Orten des Körpers etablieren (sloughing).
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 471
Zwischen den Bakterienzellen besteht ein Informationsaustausch,
der als Quorum sensing bezeichnet wird. Dabei werden von der Bakte-
rienzelle Signalmoleküle in das Umgebungsmilieu ausgeschüttet. Über-
schreitet die Konzentration an Signalmolekülen einen von der Zell-
dichte abhängigen bestimmten Schwellenwert, führt dies in den Bakte-
rienzellen zur Bildung spezifischer Genprodukte. Dies kann zur
gezielten Änderung der Funktion der Mikroorganismen im Biofilmver-
bund führen.
In 1 g adhärentem Biofilm befinden sich ca. 1010–1011 Bakterien. In
der planktonischen Phase sind es ca. 108–109 Bakterien pro Gramm. Die
Tabelle 16.1 gibt eine Übersicht über die wichtigsten isolierten Bakterien
der Plaque. Die Plaqueentstehung ist in Kapitel 2 detailliert erläutert.
Als Materia alba wird ein Belag auf den Zähnen, der Gingiva und Materia alba
der Plaque bezeichnet, der im Gegensatz zur Plaque mit Wasserspray
entfernbar ist. Materia alba ist eine weißliche, unstrukturierte Masse aus
locker aggregierten Bakterien, Leukozyten und Epithelzellresten.
Andere weiche Beläge sind food debris (= Speisereste) und food im-
paction (= eingeklemmte Speisereste). Diese Speisereste sind selbst
nicht pathogen, stellen aber Retentionsstellen für die Zahnplaque dar.
Externe Zahnverfärbungen entstehen posteruptiv und liegen der Externe Zahn-
Zahnoberfläche festhaftend auf. Sie sind aber durch eine Politur wieder verfärbungen
entfernbar. Häufig sind es Auflagerungen von chromogenen (farbgeben-
den) Bestandteilen aus Nahrungs- und Genussmitteln (Tee, Tabak, Kaf-
fee, Rotwein) oder Medikamentenlösungen (Chlorhexidindigluconat,
Zinnfluorid). Grundlage für die Anlagerung der Chromogene sind meist
bakterielle Besiedlungen der Zahnoberfläche. In manchen Milch- und
Wechselgebissen anzutreffende, dunkle Verfärbungen (sogenannter
black stain) werden durch Anlagerungen von pigmentbildenden Bakte-
rien (vermutlich Bacteroides melaninogenicus) hervorgerufen. Diese
Verfärbung ist ohne pathologische Bedeutung, liegt oft am Gingiva-
saum girlandenförmig in einer schmalen Linie vor und verschwindet
nach Eintritt in die Pubertät durch Änderung der oralen Bakterienzu-
sammensetzung spontan.
Interne Zahnverfärbungen entstehen während der präeruptiven Interne Zahn-
Mineralisation der Zähne und werden durch Einlagerung von Farbstof- verfärbungen
fen (z.B. Tetrazyklin) oder Entwicklungsstörungen der Zähne (z.B. Fluo- 16
rose) hervorgerufen.
Kontrollierte Studien, die den Einfluss der Plaque auf die Entste-
hung entzündlicher Parodontopathien verdeutlichten, konnten
zeigen, dass beim Verzicht auf Mundhygienemaßnahmen bereits
innerhalb von wenigen Tagen erste leichte Entzündungszeichen der
Gingiva auftreten.
Nach fünf bis sieben Tagen tritt klinisch eine Gingivitis, d.h. eine akute
oder chronische Entzündung der Gingiva auf (Abb. 16.2). Wird die
472 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Tab. 16.1: Klassifikation der wichtigsten Mikroorganismen in der Mundhöhle (fett: Pathogene mit
sehr starker Assoziation zu Parodontalerkrankungen, unterstrichen: Pathogene mit starker bis gerin-
ger Assoziation zu Parodontalerkrankungen). Sowohl die Gruppe der nicht klassifizierten Spirochä-
ten als auch T. denticola und A. actinomycetemcomitans werden von manchen Autoren zu den Pa-
thogenen mit sehr starker Assoziation gezählt.
Grampositiv (+) Gramnegativ (–)
Fakultativ anaerob Anaerob Fakultativ anaerob Anaerob
Kokken Streptococcus Peptostreptococcus Neisseria Veillonella
S. mutans P. micros V. parvula
S. sanguis
S. salivarius
S. milleri
S. mitis
S. intermedius
Stomatococcus
Stäb- Actinomyces Actinomyces Aggregatibacter Porphyromonas
chen A. naeslundii A. israeli A. actinomycetemco- P. gingivalis
A. viscosus A. odontolyticus mitans P. endodontalis
Corynebacterium Eubacterium Capnocytophaga Tannerella
C. matruchotii E. nodatum C. ochracea T. forsythia
Rothia Propionibacterium C. sputigena Prevotella
R. dentocariosa C. gingivalis P. intermedia
Lactobacillus Eikenella P. nigrescens
L. acidophilus E. corrodens P. melaninogenica
L. casei Haemophilus Fusobacterium
F. nucleatum
Leptotrichia
L. buccalis
Campylobacter
C. rectus
Selenomonas
S. sputigena
Spirochäten und weitere Mikroorganismen
Nicht klassifizierte Spirochäten*, Mycoplasma, Trichomonas, Candida Treponema
C. albicans T. sokranskii
T. denticola
T. pectinovorum
* Neben obligat anaeroben Spirochäten (Treponemen) gibt es noch weitere pathogene, nicht klassifizierte Spirochäten,
die nur über molekularbiologische Methoden nachweisbar und nicht anzüchtbar sind. Daher werden diese Spirochä-
ten nicht der Klassifikation fakultativ anaerob bzw. obligat anaerob zugeordnet.
Mundhygiene wieder aufgenommen, geht die Entzündungsreaktion
wieder zurück.
Tierversuche haben gezeigt, dass sich bei einer länger dauernden An-
wesenheit der Plaque aus einer bestehenden Gingivitis eine Parodonti-
tis entwickeln kann. Auch nur bei 10–15% der Menschen geht eine Gin-
givitis in eine schwere Parodontitis über, wenn die bakterielle Belastung
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 473
Gingiva-Index Gingivitis Reinigung Plaque-Index
1,5 3,0
1,0 2,0
0,5 1,0
0 0
0 1 2 3 4 5 7 9 11 13 21 1 2 3 5 7 9
Tage
Kokken Stäbchen Spirillen
Filamente Spirochäten
Abb. 16.2: Experimentelle Gingivitis (nach Renggli 1984). Mit zunehmender Dauer der Plaqueakkumulation
(–) nimmt die Gingivitis (– –) zu. Nach professioneller Plaqueentfernung und Wiederaufnahme der Mund-
hygienemaßnahmen geht die Gingivitis zurück. Die Gingiva wird wieder gesund. Mit Beginn der Plaqueak-
kumulation etablieren sich Kokken, später erscheinen Stäbchen und Filamente, schließlich Spirillen und
Spirochäten.
länger andauert. Als Parodontitis wird eine entzündliche Erkrankung
des Zahnhalteapparats mit Alveolarknochenabbau bezeichnet.
Die koronal des Gingivasaums liegende Plaque wird als supragingi- Supragingivale
vale Plaque bezeichnet. Sie stellt bei gesunder Gingiva einen dünnen Plaque
Zahnbelag dar, der sich zu 75% aus grampositiven, fakultativ anaeroben
Kokken und Stäbchen zusammensetzt.
Breitet sich die supragingivale Plaque in den Sulcus gingivae aus, Subgingivale
spricht man von subgingivaler Plaque. Dabei ändern sich durch ver- Plaque
schiedene Faktoren die Zusammensetzung und Struktur der Plaque. Be-
einflussende Faktoren für die Änderung der Plaquezusammensetzung
können z.B. vorhandene Blutprodukte oder das in tiefen Taschen vorlie-
gende niedrige Redoxpotenzial sein. Das sauerstoffarme Milieu des Sub-
gingivalraums begünstigt die Entwicklung anaerober Keime. Die Zusam-
mensetzung der subgingivalen Flora des gesunden Parodonts besteht
überwiegend aus nichtbeweglichen Mikroorganismen (Kokken und ge-
rade Stäbchen). Das Verhältnis von unbeweglichen zu beweglichen Mi- 16
kroorganismen beträgt beim gesunden Parodont 40–49 : 1.
Bei einem entzündeten Parodont liegt in der subgingivalen Plaque
ein großer Anteil fusiformer bzw. filamentöser Mikroorganismen, be-
weglicher Stäbchen und Spirochäten vor. Das Verhältnis unbeweglicher
zu beweglichen Mikroorganismen beträgt hier 1 : 1–3. Die subgingivale
Plaque setzt sich aus einem der Zahnoberfläche anhaftenden, struktu-
rierten Biofilm und einem locker vorliegenden, nicht adhärenten Bakte-
rienanteil (planktonische Bakterien) zusammen. Die Substratzufuhr
der subgingivalen Plaque erfolgt vornehmlich durch die Sulkusflüssig-
keit. Die Menge an schwimmender Plaque nimmt mit zunehmender
474 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Tiefe der Zahnfleischtasche (s.u.) zu. Ihre mehrheitlich gramnegativen
Mikroorganismen werden für den beschleunigten Verlauf parodontaler
Entzündungen verantwortlich gemacht.
Zahnstein Die anhaftende subgingivale Plaque kann verkalken und als Zahn-
stein die Wurzeloberfläche bedecken. Kein Zahnstein findet sich auf ei-
nem ca. 0,5 mm breiten Saum der Wurzeloberfläche am Boden der
Zahnfleischtasche. Subgingivale verkalkte Wurzelauflagerungen werden
auch als Konkremente bezeichnet. Dieser subgingivale Zahnstein ist
aufgrund eingeschlossener Blutbestandteile dunkel. Er ist härter und
schwieriger zu entfernen als der supragingivale Zahnstein.
Weder subgingivaler noch supragingivaler Zahnstein lösen trotz
der rauen Oberfläche ursächlich entzündliche Vorgänge im Parodont
aus. Zahnstein spielt aber als Retentionsstelle für die Kolonisation mit
Mikroorganismen eine wichtige Rolle.
Bakterien Die Bakterien der Plaque werden vereinfacht nach drei Kriterien
der Plaque klassifiziert:
D Morphologie: Kokken, Stäbchen, fadenförmige Bakterien und Fila-
mente, Spirochäten, beweglich/unbeweglich, gerade/gebogen
D Zellwandaufbau: Entsprechend der Farbreaktion bei der Gramfär-
bung (grampositiv/-negativ)
D Stoffwechselverhalten: aerob/anaerob
Eine Plaque ist umso parodontopathogener einzustufen, je mehr bewegli-
che, gramnegative und anaerobe Erreger in ihr zu finden sind (Abb. 16.3).
Die parodontopathogenen Plaquebakterien verfügen über verschie-
dene Eigenschaften (Virulenzfaktoren), welche die Destruktion des Pa-
rodonts beschleunigen können. Von den Mikroorganismen produzierte
Enzyme lösen die Interzellularsubstanz bzw. das kollagene Stützgerüst
auf und erleichtern damit das Eindringen der Mikroorganismen ins Ge-
webe. Zu diesen Enzymen zählen Kollagenasen zum Abbau von Binde-
gewebe (unter anderem von Porphyromonas gingivalis produziert),
Hyaluronidasen, Chondroitinsulfatasen, Neuraminidasen und verschie-
dene Proteasen und Peptidasen sowie alkalische und saure Phosphata-
sen. Bei weiteren Virulenzfaktoren, die vor allem den Bakterien des ro-
ten Komplexes (s. unten) und Aggregatibacter actinomycetemcomitans
zugesprochen werden, handelt es sich z.B. um Adhäsine zur Anlagerung
Abb. 16.3: Merkmale für
hohe Parodontopathogenität eine vorhandene Parodon-
topathogenität der Plaque-
bakterien (nach Plagmann
beweglich gramnegativ anaerob 1999)
unbeweglich grampositiv aerob
niedrige Parodontopathogenität
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 475
an Zellen, Invasine zum Eindringen in Epithelzellen, Gingipaine mit
proteolytischer Aktivität, Lipopolysaccharide (LPS) zur Hemmung der
Diapedese der polymorphkernigen Granulozyten und Zytotoxine, die
unter anderem eine Hemmung der Phagozytose bewirken können. Da-
rüber hinaus greifen Stoffwechselendprodukte der Bakterien wie Am-
moniak, Indol, Schwefelwasserstoff oder Fettsäuren das Gewebe direkt
an. Einige dieser Produkte können wiederum von anderen Bakterien
weiterverwertet werden, wodurch die Zusammensetzung der Plaque be-
einflusst werden kann.
Verschiedene Bakterien entwickeln spezifische Toxine, die in Endo- Endo- und
und Exotoxine unterschieden werden. Endotoxine sind Lipopoly- Exotoxine
saccharide (LPS) aus der Wand gramnegativer Bakterien, die eine gestei-
gerte entzündliche Abwehrreaktion hervorrufen. Exotoxine sind Anti-
gene, die von Bakterien sezerniert werden. Zu ihnen zählt u.a. das von
Aggregatibacter actinomycetemcomitans ausgeschüttete Leukotoxin,
das den Zerfall polymorphkerniger Granulozyten verursacht.
Die entzündlichen Parodontopathien wurden lange Zeit als die Unspezifische
Folge einer unspezifischen Plaqueinfektion (unspezifische Plaquehy- Plaquehypothese
pothese) angesehen. Man ging davon aus, dass allein die Quantität der
Plaque die entzündlichen Vorgänge des Parodonts bestimme.
Die Entdeckung spezifischer Bakterienarten in Verbindung mit be- Spezifische
stimmten Formen der entzündlichen Parodontopathien (s. Kap. 18.2) Plaquehypothese
ließ dann die Vermutung aufkommen, dass es sich hierbei um spezifi-
sche Infektionen (spezifische Plaquehypothese) im Sinn der Koch-
Postulate handelt. Robert Koch hatte zu Ende des letzten Jahrhunderts
vier Postulate aufgestellt, die zusammengefasst sagen, dass bestimmte
Infektionen von der Anwesenheit eines definierten, isolier- und an-
züchtbaren Mikroorganismus abhängig sind und eine Übertragung die-
ses Mikroorganismus auf einen anderen Organismus zu der analogen Er-
krankung führt. Die spezifische Plaquehypothese geht also davon aus,
dass die Qualität der Plaque einen entscheidenden Einfluss auf die Art
der Erkrankung hat.
Eine Anpassung der Kochschen Postulate an die Besonderheiten von
entzündlichen Parodontalerkrankungen wurde von Socransky vorge-
nommen. Die Kriterien für parodontale Pathogene lauten wie folgt:
D Assoziation: Ein Pathogen sollte häufiger und in höheren Mengen 16
an erkrankten Regionen als an gesunden Stellen gefunden werden
können.
D Elimination: Eine Elimination des Pathogens sollte mit einer Elimi-
nation oder einem Rückgang der Erkrankung verbunden sein.
D Wirtsantwort: Es sollte eine spezifische Wirtsantwort (z.B. Antikör-
perproduktion) auf das Pathogen erkennbar sein, die mit einem Ge-
webeschaden einhergeht.
D Virulenzfaktor: Das Pathogen sollte Eigenschaften (z.B. Produktion
gewebsschädlicher Stoffwechselprodukte) aufweisen, die (aktiv) ei-
nen Gewebeschaden auslösen können.
476 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
D Tierstudien: Die Fähigkeit des Pathogens eine Erkrankung hervorzu-
rufen, sollte in Tierstudien belegt sein. Die Übertragung des Patho-
gens auf ein gesundes Tier sollte zu einer destruktiven Parodontaler-
krankung führen.
Von den parodontal bedeutsamen Pathogenen erfüllen Aggregatibacter
actinomycetemcomitans sowie Porphyromonas gingivalis und Tanne-
rella forsythia diese Kriterien von Socransky am deutlichsten. Auch ver-
schiedene Spirochätenarten (z.B. Treponema denticola) weisen eine
hohe Assoziation auf. Allerdings lassen sich Spirochäten nur schlecht
kultivieren, sodass ihr pathogenes Potenzial im Vergleich zu den drei
anderen genannten Bakterienarten schlechter darstellbar ist. Die Bedeu-
tung bestimmter Spirochätenarten in der Pathogenese entzündlicher
Parodontalerkrankungen ist daher noch lange nicht geklärt.
Heute wird darüber hinaus angenommen, dass bei bestimmten Pa-
rodontitisformen eine Spezifität der Bakterien vorgetäuscht wird, indem
sich bereits in der Plaque befindliche Bakterien unter exogenen oder en-
dogenen Einflüssen mehr entfalten und andere Bakterien verdrängen.
Daher werden die entzündlichen Parodontopathien heute als eine
opportunistische Infektion angesehen, bei der es neben der Anwe-
senheit pathogener Keime auf ein für die Vermehrung dieser Keime
günstiges Milieu (z.B. anaerobe Nische, veränderte Wirtsabwehr)
ankommt.
Tab. 16.2: Vermutete pathogene und stabilisierende Mikroorganismen
Vermutete Pathogene Vermutete stabilisierende
Standortflora
Aggregatibacter actinomycetemcomitans Actinomyces sp.
(früher Actinobacillus actinomycetemcomitans)
Tannerella forsythia (früher Bacteroides forsythus) Streptococcus mitis
Porphyromonas gingivalis Streptococcus sanguis
Prevotella intermedia Veillonella parvula
Prevotella nigrescens Capnocytophaga ochracea
Eikenella corrodens
Fusobacterium nucleatum
Peptostreptococcus micros
Campylobacter rectus
Selenomonas ssp.
Eubacterium nodatum
Treponema denticola
Nicht klassifizierte Spirochäten
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 477
Dabei wird auch die Abwesenheit von bestimmten, stabilisierenden Bakte-
rien der Plaque als mögliche Ursache für die parodontale Destruktion an-
gesehen (Tab. 16.2). Haben sich die parodontopathogenen Keime in einer
parodontalen Tasche etabliert, so sind die stabilisierenden Bakterien wie
z.B. Streptococcus sanguis kaum mehr in der Lage, diese zurückzudrängen.
Im subgingivalen Biofilm liegen verschiedene Bakterien in gemein-
samen Komplexen zusammen (Abb. 16.4). Zu dem sogenannten „roten
Komplex“ zählen:
D P. gingivalis
D Tannerella forsythia
D Treponema denticola
Die Keime dieses Komplexes werden häufiger in parodontalen Läsionen
als an parodontal gesunden Stellen gefunden.
Ebenso wie kariespathogene Keime können auch parodontopatho-
gene Mikroorganismen von parodontal erkrankten Elternteilen auf die
Kinder übertragen werden (vertikale Transmission). Ab dem Wechselge-
biss können über den Speichel im Sinne einer Schmierinfektion A. acti-
nomycetemcomitans und P. gingivalis von Kindern akquiriert werden.
Eine Übertragung ist auch zwischen erwachsenen Partnern möglich
(horizontale Transmission).
A. viscosus
S. mitis
V. parvula
S. oralis
A. odontolyticus
S. sanguis
C. rectus
Streptococcus sp.
S. gordonii C. gracilis
S. intermedius P. intermedia
P. nigrescens
P. micros P. gingivalis
F. nuc. vincentii T. forsythia
E. nodatum
S. constellatus F. nuc. nucleatum T. denticola
F. nuc. polymorphum
F. periodonticum
E. corrodens
C. gingivalis C. showae
C. sputigena
C. ochracea S. noxia
16
C. concisus
A. actino. a
A. actinomycetemcomitans b
Abb. 16.4: Die Bakterien in der Mundhöhle sind nach Komplexen organisiert. Die Anordnung von links nach
rechts entspricht dabei in etwa der zeitlichen Abfolge der Kolonisation. Actinomyces viscosus, Selenomo-
nas noxia sowie der hoch toxische A. actinomycetemcomitans Serotyp b sind eher Einzelgänger. Der rechte
Komplex mit P. gingivalis wird als roter Komplex, der mit P. intermedia als oranger Komplex bezeichnet.
Diese beiden Komplexe plus A. actinomycetemcomitans beinhalten den Hauptteil der parodontopathogen
wichtigen Keime. Die übrigen Komplexe bakterieller Gemeinschaften und deren Spezies werden vor allem
als vorbereitend für diese beiden Komplexe angesehen. Ein Einzelnachweis dieser Keime ist als relativ un-
bedeutend zu werten (nach Socransky und Haffajee 2002).
478 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
16.1.2 Pathogenese der entzündlichen Parodontalerkrankungen
Die Genese der plaquebedingten Entzündungen des Parodonts vollzieht
sich histologisch in vier Schritten. Man unterscheidet nach Page und
Schroeder:
D die initiale Läsion
D die frühe Läsion
D die etablierte Läsion
D die fortgeschrittene Läsion (Abb. 16.5)
Abb. 16.5: Histologische Veränderungen bei der
Entwicklung einer parodontalen Läsion (nach
Schmelz Renggli 1990): a) Gesunde Gingiva, gesundes Paro-
dont. b) Initiale Läsion: Durch marginale ödema-
Plaque töse Schwellung entsteht ein subgingivaler Raum.
c) Frühe Läsion: Beginnende Zerstörung des gingi-
Saumepithel valen Kollagens und Einriss des Saumepithels am
Sulkusboden. d) Etablierte Läsion: Entstehung einer
Schmelz- gingivalen Tasche. e) Fortgeschrittene Läsion: Ent-
Zement- stehung einer parodontalen Tasche mit einsetzen-
Grenze der Knochendestruktion.
Wurzelzement
Plaque
Lymphozyten
erweiterte
Gefäße
b c
Plasmazellen
d e
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 479
Initiale und frühe Läsion beschreiben den Zustand einer klinisch ma-
nifesten akuten Gingivitis, die etablierte Läsion den Zustand einer
chronischen Gingivitis. Die fortgeschrittene Läsion stellt den Über-
gang von der chronischen Gingivitis in eine Parodontitis dar. Dabei
muss festgehalten werden, dass eine chronische Gingivitis auch bei wei-
terhin bestehender Plaqueakkumulation nicht zwangsläufig in eine Pa-
rodontitis übergehen muss. Es wird vielmehr angenommen, dass neben
der fortbestehenden Plaqueakkumulation noch andere (teilweise unge-
klärte) Faktoren einen Einfluss auf die Ausprägung der entzündlichen
Parodontalerkrankung haben. Die unterschiedlichen Läsionstypen ei-
ner Parodontopathie können in einem Gebiss gleichzeitig auftreten. So
kann ein gesundes Parodont direkt benachbart zu einem Parodont mit
schwersten Destruktionen liegen.
Parodontopathien sind als Erkrankung des einzelnen Parodonts an-
zusehen. Dabei können aktive von inaktiven Phasen unterschieden
werden. In den aktiven Phasen lassen sich in der subgingivalen
Plaque des betroffenen Parodonts vermehrt parodontopathogene
Erreger nachweisen.
Initiale Läsion
Die initiale Läsion entwickelt sich nach einer Plaqueneubildung inner-
halb von zwei bis vier Tagen aus einer klinisch gesunden Gingiva. Die-
ser Zustand ist vollständig reversibel. Klinisch sind bei dieser frühen
histologisch darstellbaren Läsion noch keine Entzündungszeichen zu
erkennen. Daher ist dieser Zustand als physiologisch anzusehen.
Die Kennzeichen der initialen Läsion sind: Kennzeichen
D Akut entzündliche Reaktion der Gefäße des Gefäßplexus unter-
halb des Saumepithels. Durch ausgeschüttete vasoaktive Mediatoren
(Histamin, Serotonin) werden die interendothelialen Zellverbindun-
gen zwischen den Endothelzellen gelöst, sodass die Permeabilität
der Gefäße erhöht wird. Die gleichzeitige Dilatation der Gefäße und
der erhöhte Blutdurchfluss führen dann zu einer entzündlich-öde-
matösen Schwellung der Gingiva.
D Flüssigkeitsexsudat aus dem Gingivalsulkus
D Verstärkte Migration von neutrophilen Granulozyten in das Saum- 16
epithel und den Gingivalsulkus. Durch neu gebildete Adhäsions-
moleküle der Endothelzellen werden die Leukozyten zu einer ver-
langsamten, rollenden Bewegung auf dem Endothel veranlasst. Die
Bildung der Adhäsionsmoleküle wird durch verschiedene Entzün-
dungsmediatoren (z.B. TNF-α, s. unten) ausgelöst. Nach Adhäsion
an der Endotheloberfläche ist die Diapedese von Leukozyten durch
die Gefäßwand erleichtert.
D Auftreten von Serumproteinen, speziell von Fibrin im Gingivalsulkus
D Auflockerung des koronalen Anteils des Saumepithels und teilweise
Auflösung des dortigen Epithelansatzes. Durch die gleichzeitige
480 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Schwellung der Gingiva kann ein subgingivaler Raum entstehen, in
den die supragingivale Plaque eindringen kann.
D Abbau des perivaskulären Kollagens
Frühe Läsion
Die frühe Läsion entwickelt sich innerhalb von 14 Tagen aus einer un-
beeinflussten initialen Läsion.
Kennzeichen Neben der verstärkten Ausprägung der Kennzeichen der initialen Lä-
sion hat sie folgende zusätzliche Merkmale:
D Ansammlung von Abwehrzellen im Infiltrat des gingivalen Binde-
gewebes, das direkt an das Saumepithel angrenzt. Es finden sich 70
bis 90% Lymphozyten (mehrheitlich T-Lymphozyten), 7 bis 16% ak-
tivierte Makrophagen.
D Zytopathische Veränderung der ortsständigen Fibroblasten, die
möglicherweise aus einer Wechselwirkung mit den Lymphozyten re-
sultiert.
D Weiterer Kollagenverlust, insbesondere des dentogingivalen und
zirkulären Faserwerks. Verglichen mit nicht entzündlich veränder-
tem Bindegewebe beträgt der Kollagenverlust ca. 70%.
D Beginnende Proliferation des Saumepithels lateral ins Bindege-
webe mit Ausbildung von epithelialen Reteleisten (fingerförmige
Ausstülpungen ins Gewebe)
Etablierte Läsion
Beim Erwachsenen stellt sich die etablierte Läsion innerhalb weniger
Wochen nach einer frühen Läsion ein und scheint wie die initiale und
frühe Läsion bei optimaler Mundhygiene noch vollständig reversibel
zu sein. Sie ist immer an das Vorhandensein einer subgingivalen Plaque
gebunden. Die Kennzeichen der akut entzündlichen Vorgänge der frü-
hen Läsion sind weiterhin vorhanden.
Kennzeichen Weitere Merkmale sind:
D Dominanz von B-Lymphozyten ohne Anzeichen von Knochen-
schwund
D Auftreten von extravaskulären Immunglobulinen im Bindege-
webe und im Saumepithel
D nahezu vollständige Auflösung des gingivalen Stützgewebes
D apikal und lateral gerichtete Proliferation des Saumepithels
Ferner kann es zur Ausbildung einer auf die Gingiva beschränkten 2–3
mm tiefen Tasche und zum Beginn der Umwandlung des Saumepithels
in ein keratinisiertes Taschenepithel kommen. Die genauen Mechanis-
men, die während der Ausdehnung der supragingivalen Plaque in den
subgingivalen Raum zur Loslösung des Saumepithels vom Zahn führen,
sind nicht hinreichend geklärt.
Bei Kindern und Jugendlichen sind die klinischen Entzündungszei-
chen deutlich geringer ausgeprägt. Eine etablierte Läsion findet sich in
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 481
dieser Altersklasse erst, wenn mechanisch bedingte Veränderungen der
Taschenwand (z.B. durch Füllungsränder) zusätzlich zur Anwesenheit
pathogener Keime vorliegen.
Fortgeschrittene Läsion
Die fortgeschrittene Läsion stellt einen destruktiven Prozess des Paro-
donts dar. Durch alleinige Mundhygienemaßnahmen kommt es dann
nicht mehr zu einer Restitutio ad integrum. Die entzündlichen Destruk-
tionsprozesse stellen keine gleichmäßig verlaufende Erkrankung dar.
Vielmehr finden sich Perioden der Exazerbation (akut) und Stagnation
(chronisch).
Neben einem Fortbestehen der Vorgänge der etablierten Läsion wer- Kennzeichen
den folgende Merkmale beobachtet:
D Ausdehnung der Läsion auf den Alveolarknochen und das Desmo-
dont mit einhergehendem Knochenabbau. Dabei ist der interden-
tale Knochen häufiger und frühzeitiger betroffen als der bukkale,
linguale oder interradikuläre Knochen.
D anhaltender Kollagenverlust unterhalb des Saum- bzw. Taschenepi-
thels mit gleichzeitiger Fibrose im peripheren Gingivabereich
D Auftreten zytopathisch veränderter Plasmazellen, Fehlen veränder-
ter Fibroblasten
D Ausbildung einer parodontalen Tasche als Ergebnis der entzündli-
chen Abwehrmechanismen
D Umwandlung tieferer Knochenmarkbereiche in fibröses Bindege-
webe
D ausgedehnte entzündliche und immunologische Gewebereaktion
Das Saumepithel hat seine ursprüngliche Position nach apikal verscho-
ben (epitheliales Tiefenwachstum). Auch in tiefen Taschen wird die Ver-
siegelung am Taschenboden durch einen geringen Anteil des Saumepi-
thels weiter aufrechterhalten.
16.1.3 Abwehrreaktion des Wirtsorganismus
16
! Zur Abwehr der parodontopathogenen Bakterien und ihrer To-
xine wird vom Wirtsorganismus eine entzündliche Abwehrreak-
tion ausgelöst, sodass ein Wechselspiel zwischen Bakterienangriff
und Wirtsabwehr resultiert. Die bei der Wirtsabwehr ablaufenden
Mechanismen tragen ebenfalls zur Destruktion des Parodonts bei.
Entzündungsreaktion
Mediatoren der Entzündungsreaktion vermitteln die Kommunikation
zwischen den Zellen und sind Bestandteil eines Netzwerks zur Regula-
tion der Wirtsabwehr (Tab. 16.3).
482 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Tab. 16.3: Auswahl verschiedener, an der parodontalen Entzündungsreaktion
beteiligter Faktoren. Die aufgelisteten Funktionen stellen ebenfalls nur eine
Auswahl der vom jeweiligen Faktor ausgelösten Reaktionen dar.
Faktor Direkte oder vermittelte Funktion während Entzündung
Leukotriene Erhöhung der Gefäßpermeabilität
Histamin Erhöhung der Gefäßpermeabilität, Schmerzauslösung
Serotonin Vasoaktive Arteriolendilatation und -konstriktion
Bradikinin Erhöhung der Gefäßpermeabilität, Schmerzauslösung
PGE Vasodilatation, Erhöhung der Gefäßpermeabilität,
Schmerzauslösung
PGE2 Osteoklastenaktivität
IL-1 Osteoklastenaktivität
IL-2 Stimuliert Wachstum der T- und B-Lymphozyten
IL-6 Differenzierung und Wachstum von T- und B-Lympho-
zyten, Osteoklastenbildung
IL-8 Chemotaxis
INF-γ Immunregulation, Granulozytenaktivierung
TNF-α Knochendestruktion, Induktion von Akute-Phase-Pro-
teinen
MMP Kollagendestruktion, Gewebedestruktion
PDGF, NGF, EGF, IGF-1, TGF Knochenumbauvorgänge, Knochendestruktion
Immunglobuline (Ig) Antigen-/Enzymaktivierung, Aktivierung von Komple-
mentsystem, Aggregation von Mikroorganismen,
Mastzellaktivierung (IgE)
Sie können aus der humoralen Abwehr (z.B. Komplementstücke)
oder aus Zellen frei gesetzt werden. Ihre Ausschüttung kann auch direkt
durch Lipopolysaccharide (LPS) bestimmter Bakterien angeregt werden.
Neben den weiter unten erwähnten Mediatoren wie z.B. Histamin
und Serotonin sind v.a. Prostaglandine, Leukotriene, Bradykinin, Zyto-
kine und Matrix-Metalloproteinasen für die parodontale Entzündungs-
reaktion von Bedeutung.
Mediatoren Prostaglandine (PGE) sind Derivate der Arachidonsäure (Bestand-
teil der Zellmembran), die von verschiedenen Zellen (Makrophagen, eo-
sinophilen Granulozyten, Fibroblasten usw.) synthetisiert werden kön-
nen. Es sind verschiedene Klassen von Prostaglandinen bekannt. Ihre
Produktion wird z.B. von Histamin und Serotonin gefördert und von
Acetylsalicylsäure gehemmt.
Zu ihren Funktionen zählen:
D Vasodilatation von Gefäßen
D Erhöhung der Gefäßpermeabilität
D Regulation der Thrombozytenaggregation
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 483
D Stimulation von Osteoklasten, vor allem durch Prostaglandin-E2
(PGE2)
D Auslösung von Fieber und Schmerzen
Leukotriene sind ebenfalls wie die Prostaglandine Derivate der Arachi-
donsäure. Sie werden u.a. von Mastzellen und basophilen Granulozyten
synthetisiert. Die zu ihnen zählende slow reacting substance of anaphy-
laxis (SRS-A) verfügt über eine Fähigkeit zur Steigerung der Gefäßper-
meabilität, die tausendfach größer ist als die von Histamin.
Bradykinin entsteht im Plasma aus der Spaltung von Kininogen
durch Kallikrein. Es erhöht die Gefäßpermeabilität und ist an der
Schmerzauslösung beteiligt.
Zytokine werden die aus Zellen freigesetzten Mediatoren mit einer
Peptidstruktur genannt. Lymphokine stammen aus Lymphozyten. Zu
den Zytokinen werden die Interleukine, Tumor-Nekrose-Faktoren (TNF-
α und -β) und Interferone gezählt.
Interleukine (IL-1 bis 13) sind wichtige immunregulatorische Pro-
teine, deren vielfältige Aufgaben an dieser Stelle nur kurz dargestellt
werden können:
D Interleukin-1 (IL-1) wird u.a. von Makrophagen synthetisiert, die
Antigene phagozytiert haben. Es kann z.B. die Aktivität von Osteo-
klasten fördern oder Fieber auslösen. IL-1 bindet an T-Lymphozyten
und induziert so die Ausbildung von Rezeptoren für Interleukin-2
(IL-2).
D Interleukin-2 (IL-2) wird von Lymphozyten mit Antigenkontakt pro-
duziert. Durch Anbindung von IL-2 an IL-2-Rezeptoren wird die mi-
totische Aktivität von T-Lymphozyten ausgelöst.
D IL-1 und IL-2 steuern darüber hinaus die Reifung und mitotische Ak-
tivität von B-Lymphozyten.
D Interleukin-8 (IL-8) wird von Monozyten und Makrophagen, aber
auch von Gewebezellen ausgeschüttet. Es induziert die zellspezifi-
sche Chemotaxis und aktiviert neutrophile Granulozyten.
Tumor-Nekrose-Faktoren werden von Makrophagen und T-Zellen syn-
thetisiert. TNF-α ist u.a. an der Knochenresorption beteiligt und akti-
viert Phagozyten. TNF-α induziert auch die Bildung der in der Leber pro- 16
duzierten Akute-Phase-Proteine (z.B. C-reaktives Protein, Fibrinogen),
die bei akut entzündlichen Prozessen oder in der akuten Phase chroni-
scher Erkrankungen die Infektionsabwehr durch Opsonierung, Komple-
mentaktivierung, Förderung der Blutgerinnung oder T-Zell-Inhibition
unterstützen.
Interferone (INF) werden von verschiedenen Zellen gebildet. So
schütten T-Zellen oder natürliche Killerzellen INF-γ aus. Dieses wirkt im-
munmodulatorisch auf die Antikörperproduktion sowie die Ausschüt-
tung und Aktivierung bestimmter Interleukine. INF-α wird von virenbe-
484 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
fallenen Monozyten gebildet und kann die Aktivität von natürlichen
Killerzellen erhöhen. Zudem löst INF-α in virusinfizierten und nicht in-
fizierten Zellen die Bildung schützender Proteine aus.
Bei der Phagozytose eines Mikroorganismus kommt es nach dessen
Verdauung durch lysosomale Enzyme zur Freisetzung enzymatischer
Substanzen, sogenannte Matrix-Metalloproteinasen (z.B. Kollagena-
sen, Gelatinasen, Elastasen) in das umgebende Gewebe. Durch Aus-
schüttung von Zytokinen können Makrophagen auch Gewebezellen,
wie z.B. Epithelzellen, zur Synthese von Matrix-Metalloproteinasen
(MMP) anregen. Diese Proteasen spielen grundsätzlich eine Rolle bei der
physiologischen Gewebserneuerung, können aber auch zur Auflösung
von Gewebestrukturen und zur parodontalen Destruktion beitragen.
Matrix-Metalloproteasen werden im Gewebe durch Anwesenheit von
TIMP (tissue inhibitor of metalloproteinase) reguliert. Sie benötigen die
Anwesenheit von Metallionen, wie Kalzium, Magnesium oder Zink, um
aktiv zu sein.
Wachstumsfaktoren sind lokal produzierte und wirkende Faktoren,
die Zellaktivitäten beeinflussen können. Platelet-derived growth factor
(PDGF), nerve growth factor (NGF), epidermal growth factor (EGF), in-
sulin-like growth factor (IGF-1) und transforming growth factor (TGF)
scheinen in der Knochendestruktion eine vermittelnde Rolle zu spielen.
Die oben beschriebenen Zytokine und Chemokine weisen je nach
vorliegender Konzentration einen stabilisierenden oder zerstörenden
Einfluss auf die parodontale Gesundheit aus (Abb. 16.6).
Immunabwehr
Die Immunabwehr kann in eine unspezifische und eine spezifische Re-
aktion unterteilt werden. Bei der unspezifischen Antwort können zellu-
läre (z.B. Makrophagen) und humorale, d.h. nicht zelluläre Reaktionen
(z.B. Komplementsystem) unterschieden werden. Diese Unterscheidung
gilt ebenso für die spezifische Abwehr, mit einer zellulären (T-Lympho-
zyten) und humoralen (Antikörper) Komponente.
Abb. 16.6: Einfluss der
Zytokine/Chemokine auf die paro-
parodontale parodontale dontale Gesundheit. Eine parodon-
Zerstörung Stabilität tale Zerstörung ist mit einer hohen
Konzentration an Interleukin-1β (IL-
1β), Interferon-γ (INF-γ), Prostaglan-
din E2 (PGE2), Tumor-Nekrose-Fak-
IL-1b, TNF-a, IFN-g, PGE2, MMPs tor-α (TNF-α) und Matrix-Metallo-
Proteinasen (MMPs) verbunden. Bei
parodontaler Gesundheit liegen
hohe Spiegel an Interleukin-10 (IL-
10), Transforming-Growth-Factor-β
(TGF-β), Interleukin-1-Rezeptoranta-
IL-10, TGF-b, IL-1ra, TIMPs gonist (IL-1ra) und Gewebeinhibito-
ren der MMPs (TIMPs) vor.
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 485
RANKL exprimierend
Osteoblasten
T-Lymphozyten
Knochenmarkstromazellen
Tumorzellen
u.a. Knochenabbau
OPG exprimierend
Osteoblasten
Chondrozyten Aktivierter
Stromazellen Osteoklast
Reife Osteoklasten
RANKL Aktivierung
Apoptosehemmung
OPG Osteoklasten-
Vorläufer
RANK RANKL/RANK/OPG-System
Abb. 16.7: Das RANKL/RANK/OPG-System steuert die Differenzierung von Osteoklasten-Vorläuferzellen zu
Osteoklasten. Gleichzeitig löst die Bindung von RANKL in löslicher oder zellgebundener Form an RANK eine
Aktivierung reifer Osteoklasten aus und hemmt deren Apoptose. Durch diese Prozesse wird der Knochen-
abbau gefördert. Durch Bindung von OPG an RANKL kann den durch RANKL ausgelösten Effekten entge-
gengewirkt werden.
Das RANKL/RANK/OPG-System stellt einen wichtigen Mechanismus RANKL/RANK/
für die Knochenremodellation dar und steuert auch den Knochenum- OPG-System
bau und -abbau im Rahmen einer Parodontitis durch Aktivierung von
Osteoklasten (Abb. 16.7).
Das System beinhaltet den „receptor activator of nuclear factor-
kappa beta“ (RANK), den zugehörigen RANK-Ligand (RANKL) und Os-
teoprotegerin (OPG). RANK ist ein Rezeptor, der auf der Oberfläche von
Osteoklastenvorläuferzellen zu finden ist. An diesen Rezeptor kann der
Ligand RANKL binden, der unter anderem von Osteoblasten und T-
Lymphozyten sezerniert wird oder an deren Oberfläche gebunden vor-
liegt. Durch diese RANK/RANKL-Bindung werden die Osteoklastenrei-
fung und damit der Knochenabbau gefördert. Auch der lösliche Rezep-
tor Osteoprotegerin wird von Osteoblasten exprimiert. OPG hat die 16
Aufgabe, RANKL zu neutralisieren und einem übermäßigen Knochenab-
bau entgegenzuwirken. Es konnte gezeigt werden, dass an erkrankten
Parodontien das Niveau von RANKL höher und das von OPG niedriger
war als an gesunden Parodontien.
Gefäßreaktion und unspezifische Abwehr
Eine akute Entzündung ist durch eine Erhöhung der Gefäßpermea-
bilität und eine unspezifische Abwehr der Bakterien durch Leukozy-
ten gekennzeichnet.
486 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Die Gefäßreaktion des unter dem Saumepithel gelegenen Gefäßplexus
wird durch Substanzen ausgelöst, die aus dem Blutplasma (Bradykinin,
Kallikrein, Plasminogenaktivator, Komplementfragmente, Fibrinpro-
dukte) stammen oder vom Gewebe bzw. von Zellen ausgeschüttet wer-
den (Histamin, Serotonin, Prostaglandine, lysosomales Material, Lym-
phokine).
Zelluläre Antwort: Aufgrund der erhöhten Durchlässigkeit der Gefäße kommt es zu ei-
Phagozytose nem Anstieg der Sulkusflüssigkeitsfließrate und einer verstärkten
Wanderung von Leukozyten, vor allem polymorphkernigen neutrophi-
len Granulozyten (PMN-Granulozyten), durch das Saumepithel. PMN-
Granulozyten haben die Fähigkeit, Mikroorganismen zu phagozytieren
und abzutöten bzw. zerstörte Zelltrümmer zu verdauen. Die Erkennung
und Aufnahme dieser Substanzen wird durch Opsonine (Antikörper,
Komplementteilchen) erleichtert, die sich an der Oberfläche der zu ver-
dauenden Substanzen anlagern. Die PMN-Granulozyten verfügen über
spezifische Rezeptoren zur Anbindung an diese Opsonine. Sie enthalten
in ihrem Zytoplasma Granula (Lysosomen) mit verschiedenen Enzy-
men und antibakteriellen Substanzen. Zur Abtötung kommen in den
PMN-Granulozyten auch Sauerstoffradikale (ROS = radical oxygen spe-
cies) zum Einsatz. Die Erkennung verschiedenster Moleküle bakteriellen
Ursprungs (sogenannte PAMPs: pathogenassoziierte Molekülmuster) er-
folgt mit Pattern-Recognition Receptors (PRR), die auf der Zelloberflä-
che von PMN-Granulozyten vorhanden sind. Zu diesen PRR zählen
auch Toll-like Rezeptoren, die unter anderem die Phagozytosekapazität
oder die Freisetzung von Sauerstoffradikalen fördern.
Chemotaxis Die zielgerichtete Wanderung der Granulozyten zu einem Antigen
wird als Chemotaxis bezeichnet. Die Granulozyten können durch en-
dogene und exogene chemotaktische Faktoren angelockt werden. Exo-
gene chemotaktische Faktoren sind z.B. von Bakterien frei gesetzte Pep-
tide, endogene chemotaktische Faktoren stammen vom Wirtsorganis-
mus selbst (z.B. Kinine, Prostaglandine, Leukotriene, Lymphokine,
Komplementteilchen, Fibrin- und Kollagenfragmente). Die Chemotaxis
der PMN-Granulozyten kann durch Faktoren eingeschränkt werden, die
von Aggregatibacter actinomycetemcomitans, Prevotella melaninogeni-
cus und anderen gramnegativen Bakterien ausgeschüttet werden.
Darüber hinaus werden Defekte der Chemotaxis- bzw. Phagozytosefä-
higkeit der PMN-Granulozyten bei verschiedenen Allgemeinerkrankun-
gen (Diabetes mellitus, zyklische Neutropenie, Chediak-Higashi-Syndrom
etc.) beobachtet. Dies gilt ebenso für die lokalisierte aggressive Parodonti-
tis (Sonderform der Parodontitis, die im jugendlichen Alter beginnt).
Humorale Ant- Das Komplementsystem (Abb. 16.8) ist ein wichtiger Bestandteil
wort: Komple- der unspezifischen, humoralen Abwehr und besteht aus einem Kom-
mentsystem plex von 17 verschiedenen Proteinen, der im Serum vorliegt. Nach sei-
ner Aktivierung durch Immunkomplexe wird eine Kaskade von Protei-
ninteraktionen ausgelöst. Die einzelnen Faktoren werden bei der Akti-
vierung in größere Bruchstücke (b) und kleinere Bruchstücke gespalten
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 487
klassischer Weg alternativer Weg
Antigen-
Antikörper-
Komplexe
C1q,r,s
C4 C2
C1
Endotoxin, Mg2+
Properdin (P)
Komplement-
C3 C3 faktoren B, D
C2b + C4a C2a4b
C5
C3a C2a4b3b C3bBbP
C5a C5b C6 + C7 + C8 + C9
C5b6789
Abb. 16.8: Vereinfachtes Schema der Komplementkaskade. Aktivierte Faktoren sind mit einem Balken ge-
kennzeichnet. Antigen-Antikörper-Komplexe lösen beim klassischen Weg die Umwandlung der Faktoren
C1q,r,s zum aktivierten Faktor C1 aus, der die Spaltung der Faktoren C4 und C2 bewirkt. Der aus den Bruch-
stücken C2a4b zusammengesetzte aktivierte Komplex fördert die Spaltung von C3 usw. Beim alternativen
Weg erfolgt die Spaltung von C3 z.B. durch ein Zusammenspiel bakterieller Endotoxine, des Serumproteins
Properdin und der Faktoren B und D. Der aus den Bruchstücken resultierende Komplex spaltet C5. An das
Bruchstück C5b lagern sich dann – wie beim klassischen Weg – die Faktoren C6, C7 und C8 ohne Spaltung
an. 16
(a). Zwischen- oder Endprodukte können z.B. die Gefäßpermeabilität er-
höhen (Faktor C1), die Chemotaxis neutrophiler Granulozyten auslö-
sen (C3a, C5a, C5b67), die Opsonisierung und Phagozytose von Bakte-
rien erleichtern (C3b, C5b), die Gefäßpermeabilität durch Freisetzung
von Histamin aus Mastzellen erhöhen (C3a, C5a), B-Lymphozyten akti-
vieren (C3b) oder die Lyse von Erythrozyten und gramnegativen Bakte-
rien hervorrufen (C5b6789 = lytischer Komplex). Die klassische Kaskade
besitzt eine Latenzzeit von fünf bis sieben Tagen. Sie kann durch be-
stimmte Antigen-Antikörper-Komplexe oder Endotoxine gramnegativer
488 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Bakterien verkürzt werden, indem direkt der Faktor C3 aktiviert wird.
Durch diesen alternativen Weg (Bypass-Aktivierung, Properdin-Weg)
kann die entzündliche Reaktion beschleunigt werden.
Spezifische Immunabwehr
Die unspezifische Abwehrreaktion ist nicht gegen alle antigenen Sub-
stanzen vollständig wirksam. Deshalb wird meist zusätzlich das spezifi-
sche Immunabwehrsystem aktiviert. Dieses wird, wie die unspezifische
Abwehr, in ein humorales und zelluläres System unterteilt. Die für die
Vorgänge beider Systeme verantwortlichen B- und T-Lymphozyten ent-
stammen den gleichen Stammzellen des Knochenmarks (Abb. 16.9).
Humorale Ant- Die B-Lymphozyten des humoralen Systems reifen nach Antigen-
wort: Antikörper- kontakt zu Plasmazellen heran, die spezifische Antikörper, d.h. Immun-
produktion globuline verschiedener Klassen, produzieren. Verschiedene Mikroorga-
nismen besitzen die Eigenschaft, B-Lymphozyten zur Bildung von Im-
munglobulinen anzuregen, die nicht spezifisch gegen das Antigen
gerichtet sind. Durch diese sogenannte polyklonale B-Lymphozyten-
aktivierung werden von den T-Lymphozyten Lymphokine ausgeschüt-
tet, die weitere Entzündungsreaktionen und Knochenresorptionen aus-
lösen können (s.u.).
Die unterschiedlichen Klassen der Immunglobuline besitzen ver-
schiedene Aufgaben. Immunglobuline der Klasse IgG heften sich an
Bakterien an (Opsonisierung) und erleichtern so deren Phagozytose
durch Leukozyten. Das sekretorische sIgA des Speichels hemmt die An-
heftung von Bakterien auf Mundhöhlenoberflächen. Bei Erstkontakt
des Wirts können sich gegen bestimmte Antigene gerichtete IgE an
Mastzellen oder basophile Granulozyten anheften. Beim Zweitkontakt
dieser Zellen mit dem Antigen kommt es dann zur Degranulierung der
Zellen und zur Ausschüttung von Histamin, Heparin und Leukotrienen,
wodurch Gefäßreaktionen hervorgerufen werden. Darüber hinaus kann
ein chemotaktischer Faktor zur Anlockung von eosinophilen Leukozy-
ten frei gesetzt werden (ECF). Durch die Reaktion von Immunglobuli-
nen der Klassen IgG und IgM mit Antigenen entstehen Antigen-Anti-
körper-Komplexe. Durch Agglutination und Präzipitation der Komplexe
können die Antigene neutralisiert werden. Antigen-Antikörper-Kom-
plexe können das Komplementsystem aktivieren.
Zelluläre Antwort: Bei der zellulären Immunantwort führt der Kontakt von T-Lym-
T-Lymphozyten phozyten mit einem spezifischen Antigen zur Aktivierung der T-Lym-
phozyten. Aktivierte T-Lymphozyten schütten Lymphokine aus, die
verschiedene Funktionen besitzen:
D chemotaktische Anlockung, Verhinderung der Abwanderung, Akti-
vierung oder Inhibition von Makrophagen
D Regulation der Antikörperproduktion von B-Lymphozyten
D Regulation der Proliferation von T-Lymphozyten
D chemotaktische Anlockung und Verhinderung der Abwanderung
von PMK-Granulozyten
16.1 Primärer Ursachenkomplex Kapitel 16 489
pluripotente Stammzelle
im Knochenmark
Thymus Bursa-
äquivalent
Antigen
T-Lymphozyt B-Lymphozyt
T-Lympho- B-Lympho-
blast blast
Gedächtnis- Gedächtnis-
zellen zellen
Lymphokine Effektor- Suppressor- Helfer- Plasma- Lymphokine
Interleukine T-Zellen T-Zellen T-Zellen zellen
Killer-
Zellen Antikörper
zelluläre Abwehr humorale Abwehr
Abb. 16.9: Entwicklung der B- und T-Lymphozyten. Die Prägung der Vorläuferzellen zu T-Lymphozyten er-
folgt im Thymus, die Prägung zu B-Lymphozyten in der Bursa fabricii (bei Vögeln) bzw. einem bei Säugern
nicht genau bekannten Bursa-Äquivalent. Nach Antigenkontakt reifen die Lymphozyten zu Lymphoblasten.
Aus den T-Lymphoblasten gehen die Zellen der zellulären Abwehr hervor. Die Aktivität der T-Helfer-Zellen
wird durch die T-Suppressor-Zellen reguliert. T-Helfer-Zellen wiederum unterstützen die B-Lymphoblasten
bei ihren Aufgaben. Die B-Lymphoblasten proliferieren zu antikörperbildenden Plasmazellen. Sie werden
16
der humoralen Abwehr zugerechnet.
D Regulation der Fibroblastenproliferation und Kollagensynthese
D Aktivierung von Osteoklasten
D unspezifische Zytolyse von Wirtszellen (Lymphotoxin)
D Verhinderung einer Virusvermehrung (Interferon)
T-Helferzellen unterstützen die humorale Immunantwort der B-Lym-
phozyten. Die Regulation der T-Helferzellen erfolgt über einen von T-
490 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
Suppressorzellen ausgeschütteten Faktor. Zytotoxische T-Killerzellen
können körperfremde oder virusinfizierte Zellen abtöten.
16.2 Sekundärer Ursachenkomplex
! Die Faktoren des sekundären Ursachenkomplexes können allein
keine entzündlichen Parodontopathien auslösen. Sie begünstigen
aber die Retention der Zahnplaque oder die von der Zahnplaque
verursachten Mechanismen des primären Ursachenkomplexes. Es
lassen sich lokale und systemische Faktoren unterscheiden. Die
systemischen Faktoren und Erkrankungen, die mit gingivo-paro-
dontalen Symptomen einhergehen, sind in Kapitel 18 beschrie-
ben.
Zahnstein Supra- und subgingivaler Zahnstein ist als der Versuch des Organis-
mus anzusehen, die parodontopathogenen Bakterien durch Mineralisa-
tion zu inaktivieren.
Die raue Oberfläche des Zahnsteins fördert aber gleichzeitig wieder
die Retention von Bakterien.
Zahnanatomie Das Mineralisationsgerüst erleichtert der Plaque das Vordringen in tie-
fere Zervikalabschnitte. Die Zahnanatomie kann in Form von Schmelz-
perlen bzw. -projektionen auf der Wurzeloberfläche, Einziehungen der
Zahnkronen und -wurzeln (vorzugsweise palatinal an den oberen Inzi-
sivi, mesial an den oberen ersten Prämolaren), Furkationen und rauen
Zahnoberflächen (Amelogenesis imperfecta, Schmelzsprünge, Hypopla-
sien) die Zahnreinigung erschweren.
Zahnstellungen Auch bestimmte Zahnstellungen, wie Zahnengstand, Kippungen
und Drehungen der Zähne, können die Selbstreinigung der Zähne ein-
schränken und die Zahnreinigung erschweren. Es ist umstritten, ob in
diesem Zusammenhang beobachtete prominente Wurzeln die Ausbil-
dung von Knochendehiszenzen und -fenestrationen begünstigen.
Ebenso ist es nicht geklärt, ob anormale Okklusionsverhältnisse allein
parodontopathogen wirksam sind. Offene kariöse Läsionen stellen ein
Bakterienreservoir dar und erleichtern die Plaqueretention.
Mundatmung Bei Mundatmung wird durch das Fehlen der antibakteriellen Wir-
kung von Sulkusflüssigkeit und Speichel (sIgA, IgE fehlen) und der Spül-
funktion des Speichels die Plaqueakkumulation vor allem an den Ober-
kieferinzisivi gefördert. Ist die Mundhygiene gleichzeitig mangelhaft,
wird die Ausbildung einer entzündlichen Parodontopathie begünstigt.
Weichgewebe Durch die Anatomie des Weichgewebes kann die Zahngesundheit
ebenso beeinflusst werden. Frenula und Muskelbänder, die in der Gin-
giva oder in interdentalen Papillen inserieren, fördern die Trennung
von Gingiva und Zahn. Dadurch entstehen Nischen, die die Plaqueak-
16.3 Verhaltensbedingte und allgemeinmedizinische Risikofaktoren für Parodontalerkrankungen Kapitel 16 491
kumulation erleichtern. Eine ausreichende Breite der keratinisierten
Gingiva unterstützt die Resistenz des parodontalen Halteapparates ge-
genüber mechanischen (Zähneputzen, Speisen) und mikrobiellen Ein-
flüssen. Hyperplasien der Gingiva sind primär entzündungsfrei. Sie stel-
len aber eine Nische für die Plaqueakkumulation dar.
Fehlerhafte konservierende und prothetische Restaurationen, wie Restaurationen
überhängende Kronen- und Füllungsränder, überkonturierte Zahnfor-
men, unpolierte bzw. poröse Restaurationen und Prothesenklammern,
die nahe des Gingivarandes verlaufen, sind Sammelstellen für Speise-
reste und bakterielle Zahnbeläge. Übergroße Approximalkontakte füh-
ren zu einer Verdrängung der Papille und erschweren die Interdentalhy-
giene. Bei zu schwach gestalteten Approximalkontakten kommt es zum
Einklemmen faseriger Nahrungsbestandteile, an die sich Bakterien anla-
gern können. An unterkonturierten Zahnformen gleiten Nahrungsbe-
standteile ab, sodass die Gingiva irritiert wird.
Treffen okklusale Kräfte unphysiologisch auf einen Zahn auf, Okklusale Kräfte
spricht man von einem okklusalen Trauma. Als Folge der Adaptation
des Zahnhalteapparates an die traumatogene Okklusion werden histolo-
gische Veränderungen des Desmodonts und der Oberfläche der Kno-
chenalveole (Thrombosen, Hämorrhagien, hyaline Degenerationen)
ausgelöst. Dies führt zu einer erhöhten Zahnbeweglichkeit. Röntgeno-
logisch sind eine Verbreiterung des Desmodontalspalts, eine Kribrosie-
rung der Alveoleninnenkortikalis und trianguläre Osteolysen im margi-
nalen Alveolenbereich erkennbar. Nach Ausschalten der traumatogenen
Okklusion kommt es zu einer Restitutio ad integrum. Das okklusale
Trauma allein kann keine entzündliche Parodontopathie auslösen. Die
Vorstellung, dass das okklusale Trauma bei einer bereits bestehenden
Entzündung die parodontale Destruktion beschleunigt, ist umstritten.
Durch Ernährungsfehler, insbesondere häufige kariogene Zwi- Ernährung
schenmahlzeiten, wird die Plaqueentstehung begünstigt. Bestehende
pathologische Verhältnisse, wie gingivale und parodontale Taschen,
stellen Nischen dar, die der Mundhygiene nur schlecht zugänglich sind.
Die Konsistenz, Zusammensetzung und Menge des Speichels ist von Speichel
Bedeutung für die Spülfunktion des Speichels und seine antibakterielle
Wirkung (Immunglobuline, Leukozyten).
16
16.3 Verhaltensbedingte und allgemeinmedizinische
Risikofaktoren für Parodontalerkrankungen
Tabakkonsum wird als der wichtigste einzelne Risikofaktor bei der
Entwicklung und Progression parodontaler Erkrankungen angesehen.
Bei Rauchern werden im Vergleich zu Nichtrauchern eine vermehrte Rauchen
Plaquebildung, ein gehäuftes Auftreten von Gingivitiden sowie ausge-
prägtere Verluste des Zahnhalteapparates, d.h. des klinischen Attach-
492 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
ments, beobachtet. Die Geschwindigkeit der Zerstörung korreliert dabei
mit der Dauer und Intensität der Tabakgewöhnung (sogenannte Pa-
ckungsjahre = Zahl der pro Tag gerauchten Zigarettenschachteln multi-
pliziert mit der Anzahl der Jahre des Rauchens). Raucher besitzen ein
um den Faktor 5–6 erhöhtes Risiko an einer fortgeschrittenen Parodon-
titis zu erkranken. Im Besonderen bei jüngeren Patienten bis ca. 35 Jah-
ren begründet der Nikotinkonsum einen bedeutenden Anteil (bis 50%)
der in dieser Altergruppe vorliegenden Patienten mit Parodontitis.
Mögliche Ursachen stellen die bei Rauchern vorliegende einge-
schränkte Funktion der polymorphkernigen Granulozyten (Lebens-
dauer, Phagozytose, Chemotaxis), die eingeschränkte Antikörperbil-
dung, erniedrigte Anzahl an T-Helferzellen, gesteigerte Osteoklastenak-
tivität, verringerte Osteoblastenproliferation und die verminderte
Speichelsekretion dar. Es wird zudem angenommen, dass durch die bei
Rauchern beobachtete Hyperkeratinisierung des Gingivaepithels Ab-
wehrmechanismen der Gingiva negativ beeinflusst werden. Außerdem
zeigt Nikotin eine gefäßverengende Wirkung und schädigt in höheren
Dosen Fibroblasten, sodass der Heilungsprozess nach chirurgischen und
nicht chirurgischen Parodontalbehandlungen beeinträchtigt wird. Glei-
ches gilt für den toxischen Effekt des Tabaks auf Endothelzellen, der den
Heilungsverlauf negativ beeinflusst. Bei Rauchern finden sich häufiger
parodontopathogene Keime (P. gingivalis, T. forsythia, A. actinomyce-
temcomitans) als bei Nichtrauchern. Zudem ist die Menge an subgingi-
valem Zahnstein bei Rauchern größer als bei Nichtrauchern. Diagnos-
tisch ist von Bedeutung, dass aufgrund der suppressiven Wirkung des
Rauchens eine Entzündung der Gingiva klinisch nicht direkt bemerkt
wird. Der Erfolg einer Parodontaltherapie ist bei Rauchern zumeist deut-
lich schlechter als bei Nichtrauchern, auch treten häufiger refraktäre,
d.h. nach Therapie wiederkehrende, Parodontitiden auf. Es ist noch
nicht geklärt, ob nicht chirurgische Parodontaltherapien bei Personen,
die mit dem Rauchen aufgehört haben, einen gleichen Erfolg haben,
wie bei Nichtrauchern. Der Einfluss des Rauchens auf die Ausbildung ei-
ner Gingivitis ist allerdings nicht nachgewiesen. So führte in Experi-
menten der vorübergehende Verzicht auf Mundhygienemaßnahmen
bei Rauchern und Nichtraucher ohne vorliegende stark erhöhte Sondie-
rungstiefen nicht zu Unterschieden in der Ausprägung gingivitischer
Veränderungen oder der Zusammensetzung der Plaque.
Diabetes mellitus Diabetiker mit schlecht eingestelltem Blutzucker haben ein deut-
lich (ca. 3-mal) höheres Parodontitisrisiko als Nichtdiabetiker. Dies be-
deutet, dass eine Parodontitis bei nicht gut glykämisch eingestellten
Diabetikern häufiger vorkommt, stärker ausgeprägt ist, schneller voran-
schreitet und eine schlechtere Therapieantwort zeigt. Glykämisch gut
eingestellte Diabetiker besitzen kein erhöhtes Risiko für eine Parodonti-
tis. Es wird angenommen, dass Endprodukte der Glykierung, soge-
nannte AGE (advanced glycation end products), Entzündungszellen sti-
mulieren, sodass die Knochendestruktion und der Bindegewebeabbau
16.3 Verhaltensbedingte und allgemeinmedizinische Risikofaktoren für Parodontalerkrankungen Kapitel 16 493
verstärkt wird. Zusätzlich führen AGEs zu einer verbesserten Vernetzung
des Kollagens, sodass dieses Gewebe schlechter regeneriert. Bei überge-
wichtigen Diabetikern wird die parodontale Destruktion zusätzlich
durch Adipokine verstärkt, die bei Adipositas vermehrt aus dem Fettge-
webe freigesetzt werden. Adipokine können ebenfalls Entzündungs-
und Wundheilungsprozesse beeinflussen (weitere Hinweise s. Kap.
18.2.1). Es liegt aber ein bidirektionaler Zusammenhang zwischen Paro-
dontitis und Diabetes mellitus vor. Dies bedeutet, dass auch die Einstel-
lung des Diabetes von einer nicht behandelten Parodontitis beeinflusst
wird und das Risiko von diabetesassoziierten Begleiterkrankungen (z.B.
Nephropathie, koronare Herzerkrankung) bei Vorhandensein einer Pa-
rodontitis erhöht ist. Das Vorhandensein einer systemischen Entzün-
dung, zu der eine Parodontitis beitragen kann, führt zu einer Hemmung
des Insulinrezeptors, sodass der insulinabhängige Glukosetransport von
Zellen negativ beeinflusst wird. Durch eine effektive Parodontitisthera-
pie kann der Blutglukosespiegel von Diabetikern gesenkt werden; dies
gilt insbesondere für Typ-2-Diabetiker.
Reduzierte Östrogenspiegel bei Frauen können zu Osteoporose, d.h. Osteoporose
lokalisierter oder universeller Verminderung von Knochengewebe, füh-
ren. Die parodontale Gewebedestruktion ist bei Frauen mit Osteoporose
höher als bei gleichaltrigen Frauen ohne dieses Krankheitsbild.
Als Risiko steigernd werden auch genetische Faktoren beschrieben, Genetische
durch die z.B. die individuelle Immunantwort eines Patienten gesteuert Faktoren
wird. Hiervon können Polymorphismen (Basenpaarvertauschungen)
in Genclustern von Zytokinen (z.B. IL-1), Mediatoren und Zellrezepto-
ren betroffen sein. Bei ca. 30% der Bevölkerung wurden Polymorphis-
men in IL-1-a- und -b-Genen gefunden. Liegen diese beiden Polymor-
phismen vor, veranlassen sie den Körper, mehr IL-1 zu produzieren,
wenn der Körper durch parodontogene Bakterien stimuliert oder provo-
ziert wird. Bei Kombination eines solchen positiven Genotyps und star-
kem Nikotinabusus steigt das Parodontitisrisiko zusätzlich sehr stark.
Schwere Infektionserkrankungen (z.B. HIV-Infektion), Allgemeiner-
krankungen (z.B. akute Leukämien) oder chronischer Stress sind weitere
begleitende Faktoren, die einer Parodontalerkrankung zugrunde liegen
können (s. Kap. 18.1). Bei vorliegendem psychosozialem Stress kommen
Verhaltensänderungen (Ernährung, Mundhygiene, Rauchen) sowie Än- 16
derungen in der Immunregulation als auslösende Faktoren in Betracht.
Stress fördert die Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine.
In weiteren Untersuchungen konnte eine Assoziation zwischen Fett- Fettleibigkeit
leibigkeit (Adipositas) und dem Auftreten von Parodontitis beobachtet
werden. Die genauen Zusammenhänge dieses gemeinsamen Auftretens
sind aber noch nicht geklärt, erörtert werden die oben genannten entzün-
dungsfördernden Adipokine als auslösender Faktor. Diskutiert werden
auch Faktoren wie Stress, Insulinresistenz, relativer Mangel an bestimm-
ten Ernährungskomponenten (z.B. Kalzium) oder das Vorliegen von Dia-
betes mellitus, die bei Übergewichtigen gehäuft auftreten können.
494 16 Ätiologie entzündlicher Parodontopathien
16.4 Weitere allgemeinmedizinische Bedeutungen
parodontaler Erkrankungen
! Die mögliche Gesamtgröße der Wundfläche (Tascheninnenseite)
in einem Gebiss bei Vorliegen einer Parodontitis wird auf ca.
5–15 cm2 geschätzt, sodass systemische Implikationen nicht aus-
geschlossen werden können.
So gibt es Hinweise, dass kardiovaskuläre Erkrankungen, wie z.B. Apo-
plex und koronare Herzerkrankungen, in einem Zusammenhang zu chro-
nischen Infektionen stehen. Die Hauptursache für kardiovaskuläre Erkran-
kungen ist die Atherosklerose, die auf dem Boden eines verletzten Endo-
thels entsteht. Die Endothelschädigung kann unter anderem von im Blut
zirkulierenden parodontalpathogenen Mikroorganismen verursacht wer-
den. Diese Keime sind auch in der Lage, die Bildung von Autoantikörpern
gegen Endothelzellen zu aktivieren. Auch wird verstärkt diskutiert, dass
eine Parodontitis über Mediatoren zu einer systemischen Entzündung bei-
trägt, die das Risiko für das Entstehen einer Atherosklerose erhöht. Ferner
konnte in arteriosklerotischen Veränderungen und Gefäßablagerungen
(Plaques) die DNA parodontopathogener Mikroorganismen (A. actinomy-
cetemcomitans, P. gingivalis, P. intermedia) nachgewiesen werden.
Durch eine Parodontitistherapie kann die Endothelfunktion verbes-
sert werden. Es ist aber nicht geklärt, ob eine Parodontitistherapie auch
zu Verbesserungen führt, wenn eine fortgeschrittene Atherosklerose
oder eine kardiovaskuläre Erkrankung bereits manifest ist.
Parodontale Erkrankungen der werdenden Mutter werden als Risi-
kofaktor für die verfrühte Geburt eines untergewichtigen Neugebo-
renen (< 2500 g) angesehen.
Mediatoren, wie Prostaglandin-E2 oder Tumor-Nekrose-Faktor-α (TNF-α),
die am Ablauf der Geburt beteiligt sind, können bei Vorliegen einer In-
fektion des Parodonts erhöht sein und das vorzeitige Auslösen von We-
hen begünstigen. Entzündungsmediatoren und parodontalpathogene
Keime können ins Fruchtwasser gelangen und dort zu Wachstumsein-
schränkungen des Fetus führen.
Parodontitis wird auch als Risikofaktor für chronisch obstruktive
Lungenerkrankungen und Osteoporose diskutiert. Allerdings haben
Parodontitis und manche der oben genannten Erkrankungen z.T. ge-
meinsame pathogenetische Faktoren, sodass die ursächlichen Einflüsse
in Studien nicht immer eindeutig zugeordnet werden konnten.
Es wird auch ein bidirektionaler Zusammenhang zwischen Parodon-
titis und rheumatoider Arthritis beschrieben. Die rheumatoide Arthri-
tis wird durch eine systemische Entzündung und Knochenverlust cha-
rakterisiert. Auch hier beeinflusst die Behandlung der einen Erkrankung
die andere Erkrankung positiv.
Kapitel 17 495
17 Epidemiologie entzündlicher
Parodontopathien
! In epidemiologischen Studien erfolgt die objektive Erfassung der
Mundgesundheit und der Plaque- und Zahnsteinausdehnung
mithilfe von Indizes. Neben der Verwendung in epidemiologi-
schen Studien dienen Indizes der Beurteilung der Mundgesund-
heit einzelner Personen und der Kontrolle von Therapieerfolgen.
Der Zahnarzt kann dem Patienten mithilfe der Indizes demonstrieren,
in welchen Bereichen der Mundhöhle Entzündungen vorliegen und die
Mundhygiene verbessert werden muss. Er kann darüber hinaus die Mit-
arbeit des Patienten im Behandlungsverlauf abschätzen. An einen guten
Index und an verlässliche diagnostische Maßnahmen werden be-
stimmte Anforderungen gestellt:
D quantitative (evtl. qualitative) Aussagen
D hohe Sensitivität und Spezifität
D hoher positiver/negativer Vorhersagewert
D Einfachheit und Reproduzierbarkeit
D rasche, praktische Anwendung und Ausrechnung (insbesondere in
der zahnärztlichen Praxis)
D einfache Handhabung auch durch nicht speziell geschulte Zahn-
ärzte bzw. geschultes zahnmedizinisches Fachpersonal
Die Indizes werden üblicherweise an allen Zähnen eines Gebisses erho-
ben. In Ausnahmefällen kann die Untersuchung auch nur an den sog.
Ramfjord-Zähnen erfolgen. Die Ramfjord-Zähne (16, 21, 24, 36, 41, 44)
werden als repräsentativ für das gesamte Gebiss angesehen.
Der jeweilige Index für den einzelnen Patienten wird meistens er-
rechnet, indem die Summe der Messwerte oder Ja-/Nein-Entscheidun-
gen durch die Anzahl der Messorte dividiert wird.
Formel:
Summe der Messwerte
Index =
Summe der Messorte
17
17.1 Plaque-Indizes
Neben den nachfolgend beschriebenen Indizes werden auch gravime-
trische Verfahren (Bestimmung des Gewichts der vorliegenden Plaque)
496 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
und planimetrische Verfahren (Bestimmung der plaquebedeckten
Zahnflächen mithilfe von Fotografien) angewendet.
Zur Sichtbarmachung der Zahnplaque werden häufig Plaquefärbe-
mittel (Revelatoren) herangezogen. Sie werden in Form von Lösungen
und Kautabletten angewendet. Nach der Anfärbung werden sie vom Pa-
tienten gründlich ausgespült. Die angefärbten Plaqueareale werden an-
schließend beurteilt. Plaquerevelatoren sind Lebensmittelfarbstoffe
(Erythrosin, Patentblau V) oder fluoreszierende Farbstoffe, die sich kurz-
zeitig in die Plaque einlagern. Durch Erythrosin wird junge Plaque rot,
durch Patentblau V ältere, reife Plaque blau angefärbt.
17.1.1 Modifizierter Plaque-Index nach Quigley und Hein
! Der Plaque-Index nach Quigley und Hein (QHI) wird heute meist
in der von Turesky und Mitarbeitern modifizierten Form ange-
wendet. Er bewertet den Plaquebefall der koronalen Zahnober-
flächen. Die approximale und sulkuläre Plaque wird nur unzurei-
chend beurteilt.
Bewertung Vor der Erhebung werden die vestibulären und lingualen Oberflächen
aller Zähne mit Plaquerevelatoren eingefärbt.
Folgende sechs Schweregrade werden unterschieden (Abb. 17.1):
D Grad 0: keine Plaque
D Grad 1: vereinzelte Plaqueinseln
D Grad 2: deutliche, zusammenhängende, bis zu 1 mm breite Plaque-
linie am Gingivarand
D Grad 3: Plaqueausdehnung im zervikalen Zahndrittel
D Grad 4: Plaqueausdehnung bis ins mittlere Zahndrittel
D Grad 5: Plaqueausdehnung bis ins koronale Zahndrittel
Abb. 17.1: Bewertungsgrade
(0–5) des Plaque-Index nach
Quigley und Hein (QHI)
Grad 0 1 2 3 4 5
17.1.2 Plaque-Index (PI) nach Silness und Löe
! Der Plaque-Index nach Silness und Löe bewertet den Plaquebefall
und die Plaquedicke im Zahnhalsbereich unter Berücksichtigung
des Sulkus, der Zahnoberfläche und des Gingivarandes.
Die Untersuchung erfolgt mit Spiegel und Sonde an allen zuvor sorgfäl-
tig getrockneten Zahnflächen, ohne dass die Plaque angefärbt wird.
17.1 Plaque-Indizes Kapitel 17 497
Es werden folgende vier Schweregrade unterschieden: Bewertung
D Grad 0: keine Plaque durch Inspektion und Sondierung zu erkennen.
D Grad 1: nicht sichtbarer, dünner Plaquefilm, der nur durch Abscha-
ben mit der Sonde zu erkennen ist.
D Grad 2: mäßige Plaqueablagerung, die mit bloßem Auge zu erken-
nen ist; die Plaque füllt den Interdentalraum nicht aus.
D Grad 3: dicke Plaqueablagerung, die den Interdentalraum ausfüllt
17.1.3 Modifizierter Plaque-Index (PI) nach Mombelli
! Der modifizierte Plaque-Index nach Mombelli bewertet die Pla-
queakkumulation um Implantate. Die Plaque wird vorher nicht
angefärbt.
Es werden folgende vier Schweregrade unterschieden: Bewertung
D Grad 0: keine Plaque durch Inspektion und Sondierung zu erkennen.
D Grad 1: Ansammlung von Plaque, die nur durch das Sondieren im
Sulkus mit einer Sonde, aber nicht mit dem Auge sichtbar
ist.
D Grad 2: sichtbare Plaqueablagerung.
D Grad 3: massive Plaqueablagerung
17.1.4 Modifizierter Approximalraum-Plaque-Index (API) nach
Lange et al.
! Nach Anfärben der Plaque wird beurteilt (Ja-/Nein-Entscheidung),
ob im Approximalraum Plaque vorhanden ist. Die Beurteilung der
Approximalraumplaque erfolgt beim API im ersten und dritten
Quadranten oral und im zweiten und vierten Quadranten vesti-
bulär. Der Index wird in Prozent angegeben.
Die Beseitigung der Plaque im Approximalraum erfordert vom Patien-
ten eine besonders gründliche Mundhygiene. Deshalb kann durch die
Kontrolle der Approximalraumplaque die Mitarbeit des Patienten gut
abgeschätzt werden.
Formel:
positive Plaquemessungen × 100
17
API =
Summe der Approximalraum-Messpunkte
Der API wird folgendermaßen eingeteilt: Bewertung
D API < 25% entspricht einer optimalen Mundhygiene
D API 25–39% entspricht einer guten Mundhygiene
D API 40–69% entspricht einer mäßigen Mundhygiene
D API 70–100% entspricht einer unzureichenden Mundhygiene
498 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
Im Rahmen einer Parodontalbehandlung wird ein API von 35% und we-
niger als Ausdruck einer guten Mitarbeit des Patienten gewertet.
17.1.5 Plaque-Formations-Rate-Index (PFRI) nach Axelsson
! Der PFR-Index dient der quantitativen Erfassung der Bedingun-
gen zur Plaqueentstehung. Er erlaubt zusammen mit anderen
Tests (s. Kap. 17.2) eine Einschätzung des individuellen Kariesrisi-
kos.
Die Plaqueneubildungsrate ist abhängig von:
D Gesamtzahl der Bakterien in der Mundhöhle
D Zusammensetzung der oralen Mikroflora
D Menge und Häufigkeit der Aufnahme fermentierbarer Kohlenhy-
drate
D Speichelfließrate und Speichelzusammensetzung
D Verwendung fluoridhaltiger Kariostatika
D Anatomie und Oberflächenbeschaffenheit der Zähne und Restaura-
tionen
Vorgehen Beim PFRI wird die Plaquebildungsrate 24 h nach einer professionellen
Zahnreinigung an sechs definierten Messstellen jedes Zahnes bestimmt.
Die Plaque wird angefärbt und mesio-bukkal, mesio-lingual, bukkal, lin-
gual, disto-bukkal und disto-lingual erfasst. Der Index wird in Prozent
angegeben.
Formel:
positive Plaquemessungen × 100
PRFI =
Zahnzahl × 6
Bewertung Der PFRI wird folgendermaßen eingeteilt:
D Grad 1: PFRI < 10%
D Grad 2: PFRI 11–20%
D Grad 3: PFRI 21–30%
D Grad 4: PFRI 31–40%
D Grad 5: PFRI > 40%
Ein Vorliegen von Grad 3, 4 oder 5 weist auf ein erhöhtes Kariesrisiko
hin. Eine sichere Beurteilung des Kariesrisikos erfolgt als eine Kombina-
tionswertung aus weiteren Tests und Parametern:
D Speichelsekretionsrate
D Anzahl von Streptococcus mutans und Laktobazillen im Speichel
D Mundhygienegewohnheiten
D Pufferkapazität des Speichels
D häufiger Konsum kariogener Süßwaren
D Anzahl gefüllter Zahnflächen (vor allem im Frontzahngebiet)
17.2 Gingiva-Indizes bzw. Entzündungs-Indizes Kapitel 17 499
D Prävalenz und Inzidenz kariöser Zahnflächen
D Fluoridanamnese
17.1.6 Plaque-Control-Record-Index (PCR) nach O’Leary et al.
(auch simplifizierter Plaque-Index: PI-S)
! Der PCR-Index stellt eine einfache, dichotome Ja-/Nein-Bewer-
tung des Vorhandenseins von Plaque dar. Er wird häufig gemein-
sam mit dem Gingiva-Blutungs-Index nach Ainamo & Bay in der
zahnärztlichen Routinepraxis eingesetzt.
Beim PCR-Index wird nach Anfärben mit einem Revelator die Plaque in Vorgehen
der dentogingivalen Region an vier (mesial, bukkal, distal und oral) oder
an sechs (mesio-bukkal, bukkal, disto-bukkal, mesio-oral, oral und
disto-oral) Stellen jedes Zahnes erhoben. Der Anteil der Flächen mit an-
gefärbter Plaque wird prozentual zur Gesamtzahl aller bewerteten Zahn-
flächen angegeben.
positive Plaquemessungen × 100
PCR =
Zahnzahl × 6
17.2 Gingiva-Indizes bzw. Entzündungs-Indizes
! Gingiva-Indizes dienen der Beurteilung des Entzündungsgrades
der Gingiva.
Man geht davon aus, dass der Entzündungsgrad der Gingiva neben
dem Auftreten von ödematösen Schwellungen und Rötungen vor allem
mit der Blutungsneigung der Gingiva nach stumpfem Sondieren mit
einer Parodontalsonde korreliert.
Bei gleichzeitiger Erhebung eines Plaque-Index kann der Zahnarzt
überprüfen, ob der Patient dauerhaft eine gute Mundhygiene betreibt
oder ob er nur vor dem jeweiligen Zahnarztbesuch seine Zähne gründ-
lich reinigt. Das ist der Fall, wenn ein hoher Entzündungsgrad der Gin-
giva bei einem niedrigen Plaque-Index vorliegt.
17.2.1 Bleeding on Probing (Bluten nach Sondierung)
17
Die Überprüfung der Neigung des Parodonts zur Blutung bei vorsichti-
ger Sondierung stellt keinen Index im eigentlichen Sinne dar, wird aber
in der klinischen Situation häufig zur Einschätzung der parodontalen
Gesundheit verwendet. Wenn es bei vorsichtiger Sondierung des api-
kalsten Teils des gingivalen Sulkus oder der parodontalen Tasche mit ei-
ner Kraft von 0,25 N nach Entfernung der Sonde zu einer Blutung
500 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
kommt, wird diese Zahnfläche als bleeding on probing- (BoP-) positiv
gewertet. Die Blutung wird als Zeichen einer vorliegenden Entzündung
sowie des Vorhandenseins subgingivaler Beläge interpretiert.
17.2.2 Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Mühlemann und Son
! Die Beurteilung erfolgt ca. 30 s nach schonendem Ausstreichen
des Sulkus mit einer Parodontalsonde.
Bewertung Folgende Entzündungsgrade werden unterschieden:
D Grad 0: normal aussehende Gingiva, keine Blutung bei Sondierung
D Grad 1: normal aussehende Gingiva, Blutung bei Sondierung
D Grad 2: entzündliche Farbveränderung der Gingiva, Blutung bei
Sondierung
D Grad 3: wie Grad 2, zusätzlich leichte ödematöse Gingivaschwel-
lung
D Grad 4: wie Grad 3, zusätzlich schwere entzündliche Gingiva-
schwellung
D Grad 5: wie Grad 4, zusätzlich spontane Blutungen und evtl. Ulze-
rationen der Gingiva
17.2.3 Modifizierter Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Lange
! Es wird nur das Vorhandensein einer Blutung nach vorsichti-
gem Ausstreichen des Sulkus in Form einer Ja-/Nein-Entscheidung
bewertet. Die Abschätzung von Therapieerfolgen ist deshalb nur
sehr grob möglich. Die Erhebung erfolgt im ersten und dritten
Quadranten vestibulär und im zweiten und vierten Quadranten
oral. Der modifizierte SBI wird in Prozent angegeben (Anzahl der
Stellen mit Blutung dividiert durch die Anzahl der gemessenen
Stellen).
Die Beurteilung kann in der Praxis mit dem API kombiniert vorgenom-
men werden.
17.2.4 Modifizierter Sulkus-Blutungs-Index (SBI) nach Mombelli
! Dieser Index dient als klinisch-diagnostischer Index zur Beurtei-
lung von Entzündungen bei Implantaten.
Bewertung Folgende Bewertungen werden unterschieden:
D Grad 0: keine Blutung auf Sondierung
D Grad 1: isolierte sichtbare Blutung auf Sondierung
17.2 Gingiva-Indizes bzw. Entzündungs-Indizes Kapitel 17 501
D Grad 2: linienförmige sichtbare Blutung auf Sondierung im Sulkus-
bereich
D Grad 3: starke Blutung auf Sondierung
17.2.5 Papillen-Blutungs-Index (PBI) nach Saxer und Mühlemann
! Beim PBI wird lediglich das Auftreten einer Blutung im Papillen-
bereich nach vorsichtigem Ausstreichen des Sulkus mit einer
stumpfen Parodontalsonde im Papillenbereich beurteilt. Die Son-
dierung erfolgt – wie beim API – im ersten und dritten Quadran-
ten oral und im zweiten und vierten Quadranten vestibulär. In je-
der Sitzung wird die Summe der Bewertungen für jeden Quadran-
ten getrennt und für das Gesamtgebiss notiert.
Unter relativer Trockenlegung wird der Sulkus von der Papillenbasis aus- Vorgehen
gehend bis zur Papillenspitze vorsichtig ausgestrichen. Dabei wird die
Sonde in einem Winkel von 45° (nicht parallel!) zur Zahnachse schräg
in den Sulkus geführt. Die Blutung wird nach ca. 20 s beurteilt.
Mithilfe des PBI kann der Verlauf einer entzündlichen Parodon-
talerkrankung auf einfache Weise kontrolliert werden.
Folgende Bewertungen werden unterschieden (Abb. 17.2): Bewertung
D Grad 0: keine Blutung
D Grad 1: Auftreten eines Blutungspunktes
D Grad 2: Auftreten mehrerer Blutungspunkte oder einer Blutlinie
D Grad 3: Ausfüllen des interdentalen Dreiecks mit Blut
D Grad 4: profuse Blutung nach der Sondierung; Blut fließt über den
Zahn oder die Gingiva
Abb. 17.2: Bewertungsgrade
(0–4) des Papillen-Blu-
tungs-Index (PBI)
Grad 0 1 2 3 4
17.2.6 Gingiva-Blutungs-Index (GBI) nach Ainamo & Bay (auch
simplifizierter Gingiva-Index: GI-S)
17
! Der GBI-Index stellt eine Ja-/Nein-Bewertung des Vorhandenseins
einer Blutung der Gingiva dar. Er wird häufig gemeinsam mit dem
PCR nach O’Leary et al. eingesetzt.
Beim GBI wird mit dem stumpfen Ende einer Parodontalsonde der Sul- Vorgehen
kus ausgestrichen und nach ungefähr 10 Sekunden überprüft, ob eine
Blutung ausgelöst werden konnte oder nicht. Die Bewertung erfolgt an
502 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
vier (mesial, bukkal, distal und oral) oder sechs (mesio-bukkal, bukkal,
disto-bukkal, mesio-oral, oral und disto-oral) Stellen jedes Zahnes. Der
Anteil der Flächen mit Blutung wird prozentual zur Gesamtzahl aller be-
werteten Zahnflächen angegeben.
Stellen mit Blutung × 100
GBI =
Zahnzahl × 6
17.2.7 Parodontaler Screening-Index (PSI)
! Mithilfe des PSI kann bei jedem Patienten unabhängig vom Le-
bensalter eine eventuelle parodontale Behandlungsbedürftig-
keit festgestellt werden. Der Index sollte Bestandteil jeder Basis-
untersuchung sein.
Das Indexsystem kann zur Früherkennung und in der unterstützen-
den Nachsorge der Patienten eingesetzt werden. Er ist eine Weiterent-
wicklung des Community Periodontal Index of Treatment Needs
(CPITN). Im Gegensatz zu diesem wird bei Erwachsenen der PSI an allen
Zähnen ermittelt. Bei Kindern und Jugendlichen beschränkt sich die
Untersuchung auf die Inzisivi (11, 31) und die ersten Molaren. Die Mes-
sung erfolgt mit der WHO-Sonde, deren Spitze aus einer kleinen Kugel
(0,5 mm Durchmesser) besteht und die im Bereich von 3,5–5,5 mm Son-
dierungstiefe schwarz markiert ist (Abb. 17.3).
Vorgehen und Zur Erhebung wird das Gebiss des Erwachsenen in Sextanten einge-
Bewertung teilt, die jeweils getrennt untersucht werden. Jeweils die beiden Molaren
und Prämolaren bilden einen Seitenzahnsextanten, die Frontzähne einen
weiteren Sextanten. Innerhalb jedes Quadranten werden alle Zähne an
sechs Stellen (mesio-bukkal, bukkal, disto-bukkal, mesio-lingual, lingual,
disto-lingual) sondiert und der höchste Codewert (0–4) des Sextanten in
Abb. 17.3: WHO-Sonde: Das
kugelförmige Ende eignet
sich zur Diagnostik von
überhängenden Restaurati-
onsrändern sowie zum Er-
tasten von Konkrementen.
11,5 mm
8,5 mm
5,5 mm
3,5 mm
0,5 mm
17.2 Gingiva-Indizes bzw. Entzündungs-Indizes Kapitel 17 503
Grad 0 Grad 1 Grad 2 Grad 3 Grad 4
Abb. 17.4: Bewertungsgrade (Code 0–4) des parodontalen Screening-Index (PSI)
einer Sechsfeldertafel notiert (Abb. 17.4). Wird an einer Stelle der Code-
wert 4 ermittelt, so kann direkt zum nächsten Sextanten übergegangen
werden. Zusätzlich sollte der entsprechenden Codezahl ein Sternchen bei-
gefügt werden, falls weiter klinische Auffälligkeiten (z.B. Furkationsbefall)
festgestellt werden. Zahnlose Sextanten werden im PSI-Schema mit einem
X versehen. Den entsprechenden Codewerten sind individuelle Therapie-
empfehlungen zugeordnet (Tab. 17.1). Die höchste Bewertungszahl aller
Sextanten bestimmt den Behandlungsbedarf des gesamten Gebisses.
17.2.8 Zahnstein-Index
! Der VM-Index nach Volpe und Manhold (Abb. 17.5) wurde entwi-
ckelt, um in longitudinalen Studien die Menge an supragingiva-
lem Zahnstein zu bestimmen. Dabei wird der Zahnstein an den
lingualen Flächen der Unterkieferfrontzähne für jeden Zahn in
Millimetern an drei Messstellen ermittelt und zu einem Wert für
jeden Zahn summiert.
Die Summe der Einzelzahnmesswerte, dividiert durch die Anzahl der
Zähne, ergibt den VM-Index.
Formel:
Summe Einzelzahnmesswerte
VM =
Anzahl Zähne
17
Abb. 17.5: Zur Bestimmung
des VM-Index wird die brei- a a
teste mediane (a) und late- b b
rale (b und c) Ausdehnung
des Zahnsteins in Millime- c c
tern gemessen.
504 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
Tab. 17.1: Definition des Codes des parodontalen Screening-Index (PSI) mit
dem zugehörigen Befund, dem Hinweis auf die vorliegende Erkrankung und
der jeweiligen Therapiekonsequenz
PSI-Code Befund Therapiekonsequenz
0 Das schwarze Band der Sonde bleibt am tiefs- Keine therapeutischen
ten Sulkus des Sextanten vollständig sichtbar. Interventionen not-
Kein Zahnstein, keine defekten Restaurations- wendig.
ränder. Erneute Kontrolle
Gingivagewebe ist gesund, keine Blutung nach 0,5 Jahren1.
nach vorsichtiger Sondierung.
→ Gesunde Parodontalverhältnisse
1 Das schwarze Band der Sonde bleibt an der Keine zusätzlichen di-
höchsten Sondierungstiefe des Sextanten agnostischen Maß-
vollständig sichtbar. nahmen notwendig.
Kein Zahnstein, keine defekten Restaurations- Motivation zur effi-
ränder zienten Mundhygiene.
Blutung nach vorsichtiger Sondierung Erneute Kontrolle
→ Gingivitis nach 0,5 Jahren1.
2 Das schwarze Band der Sonde bleibt an der Wie bei Code 1.
höchsten Sondierungstiefe des Sextanten Zusätzlich subgingi-
vollständig sichtbar. vale Zahnsteinentfer-
Supra- und subgingivale Beläge oder defekte nung und ggf. Entfer-
Restaurationsränder. nung iatrogener/loka-
→ Gingivitis ler Reizfaktoren.
Erneute Kontrolle
nach 0,5 Jahren1.
3 Das schwarze Band der Sonde ist an der Systematische Paro-
höchsten Sondierungstiefe des Sextanten dontalbehandlung mit
zum Teil sichtbar. ausführlicher Diag-
→ Mittelschwere bis schwere Parodontitis nostik und Therapie
4 Das schwarze Band der Sonde verschwindet
vollständig (Sondierungstiefe > 5,5 mm).
→ Mittelschwere bis schwere Parodontitis
* Codezahl wird mit Sternchen versehen z.B. bei Furkationsbefall, Zahn-
lockerung, mukogingivalen Problemen sowie bei Rezessionen, die den
schwarz eingefärbten Bereich der Sonde oder mehr erreichen.
X Zahnloser Sextant
1 In Deutschland ist der PSI gemäß Gebührenordnung (BEMA) nur alle 2 Jahre abrech-
nungsfähig.
17.4 Epidemiologische Daten zum Auftreten parodontaler Entzündungen Kapitel 17 505
17.3 Bestimmung der Sulkusflüssigkeits-Fließrate
(SFFR; sulcus fluid flow rate)
! Die Sulkusflüssigkeit ist ein entzündliches Exsudat, dessen Auftre-
ten mit dem Entzündungsgrad des Parodonts korreliert.
Zur Messung der SFFR werden genormte Filterpapierstreifen ca. 30 s an Vorgehen
den Eingang des Sulkus bzw. der Zahnfleischtasche gelegt. Die Streifen
kommen anschließend in eine 0,2%ige Ninhydrin-Lösung. Die durch
das Ninhydrin blau gefärbte Strecke des Streifens wird mit einer Mess-
lupe ausgemessen und bewertet. Sie beträgt bei einer histologisch ge-
sunden Gingiva 0 mm, bei einer klinisch entzündungsfreien Gingiva 3
mm. Werte über 3 mm sind Ausdruck einer gingivalen oder parodonta-
len Entzündung.
Die Bestimmung der SFFR kann auch mit einer digitalen Messstation Digitale
vorgenommen werden, welche die absorbierte Flüssigkeitsmenge volu- Messstation
metrisch erfasst. Dabei entfällt die umständliche Anfärbung mit Ninhy-
drin-Lösung, sodass das Verfahren in der zahnärztlichen Praxis zur Ver-
laufskontrolle parodontaler Erkrankungen gut eingesetzt werden kann.
17.4 Epidemiologische Daten zum Auftreten
parodontaler Entzündungen
Zahlreiche epidemiologische Untersuchungen zur Prävalenz entzündli-
cher Parodontopathien sind in verschiedenen Ländern durchgeführt
worden. Die dabei gefundenen unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich
teilweise durch voneinander abweichende Kriterien bei der Befunderhe-
bung erklären. Darüber hinaus war die Auswahl der untersuchten Perso-
nen in den verschiedenen Studien nicht einheitlich.
In der Mehrzahl der Studien allerdings stellt sich die Altersvertei-
lung der Gingivitis und Parodontitis wie in der Abbildung 17.6 dar. Es
zeigt sich eine Zunahme der Gingivitisprävalenz bis zum 13. Lebens-
jahr, sodass bei ca. 50–80% der Kinder dieses Alters eine Gingivitis beob-
achtet werden kann. Mit fortschreitendem Alter tritt eine Abnahme der
Gingivitisprävalenz ein, die aber in neueren Studien nicht immer beob-
achtet werden konnte. Gleichzeitig kommt es zu einer Zunahme der Pa-
rodontitisprävalenz mit Vorhandensein von Sondierungstiefen > 4 mm
an mindestens einem Parodontium, die ab dem 35.–40. Lebensjahr auf
17
nahezu 90–100% ansteigt.
Dabei ist zu bedenken, dass Parodontitiden zusätzlich meist mit
dem Vorhandensein von gingivitischen Veränderungen vergesell-
schaftet sind. Schwere Parodontitiden, bei denen Zahnverluste auftre-
ten, machen dabei einen Anteil von 20 bis 40% aus. Sonderformen wie
die lokalisierte aggressive Parodontitis (0,1–0,4%) und generalisierte ag-
gressive Parodontitis (2–5%) kommen in der Bevölkerung selten vor.
506 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
Prävalenz (%)
80
60
40
Gingivitis
20
0
a 0 2 4 6 8 10 12 14 16
Alter (Jahre)
Prävalenz (%)
100
Parodontitis
80
60
40
20 Gingivitis
0
13-15 16-18 19-22 23-26 27-30 31-34 35-39 40-45 46-60 61
Alter (Jahre)
b
Abb. 17.6: a) Anteil von Kindern zwischen 2 und 16 Jahren mit Gingivitis, b) Gingivi-
tis- und Parodontitis-Prävalenz in verschiedenen Altersgruppen (modifiziert nach
Page und Schroeder 1982). Die fehlende Übereinstimmung der beiden Graphen in
der Altersgruppe 13–15 kann mit der unterschiedlichen Zusammensetzung der un-
tersuchten Gruppen erklärt werden.
Die Ursache für eine Zahnextraktion mit fortschreitendem Alter
ist zunehmend eine Parodontalerkrankung, Karies bleibt aber auch
im Alter immer noch die Hauptursache für einen Zahnverlust.
In der Bundesrepublik Deutschland konnten 2005 in einer repräsentati-
ven Studie bei 4% der 12-jährigen Kinder, 7% der Jugendlichen (15
Jahre), 7% der Erwachsenen (35–44 Jahre) und 7% der Senioren (65–74
Jahre) entzündungsfreie Verhältnisse (PBI = 0) festgestellt werden. Er-
höhte Sondierungstiefen von ≥ 4 mm an mindestens einem Parodon-
tium lagen bei 74% der Erwachsenen und 88% der Senioren vor. In Be-
zug auf die Schwere von Parodontitiden lagen die für die Bundesrepu-
blik ermittelten Werte im internationalen Vergleich vor allem bei den
Senioren an der oberen Grenze der Verteilung. Die Ausbreitung und
Schwere der parodontalen Erkrankungen in Deutschland werden durch
den Extent- und Severity-Index verdeutlicht (Tab. 17.2).
17.4 Epidemiologische Daten zum Auftreten parodontaler Entzündungen Kapitel 17 507
Tab. 17.2: Ausbreitung und Schwere der parodontalen Erkrankungen in der
Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2005. Der Extent-Index (Ausbreitung)
besagt, dass 42 bzw. 73% der Zahnflächen in der jeweiligen Altersklasse einen
Attachmentverlust > 2 mm aufwiesen. Beim Severity-Index (Schwere) werden
nur die Flächen betrachtet, die einen Attachmentverlust von > 2 mm zeigen.
Der mittlere Attachmentverlust dieser Flächen betrug 3,9 bzw. 4,7 mm.
Index 35- – 44-Jährige 65- – 75-Jährige
Extent 42% 73%
Severity 3,9 mm 4,7 mm
Prävalenzdaten geben meist wenig Auskunft über den Schweregrad
der parodontalen Destruktion und der Behandlungsbedürftigkeit. Mit-
hilfe des CPI (Community Periodontal Index) durchgeführte Studien
(Abb. 17.7) gaben Aufschluss darüber, dass der überwiegende Teil der
Untersuchten parodontale Destruktionen (CPI-Grad 1 bis 3) aufwies, die
durch eine Verbesserung der Mundhygiene und eine Entfernung des su-
pra- und subgingivalen Zahnsteins zu therapieren waren. Nur bei einem
geringen Teil der Untersuchten waren die Destruktionen (Grad 4) so
stark, dass komplexe parodontalchirurgische Therapien indiziert waren.
Das Lebensalter und die damit verminderte Regenerationskraft der
Patienten besitzt nur einen geringen Einfluss auf den Schweregrad der
Parodontalerkrankung. Es zeigt sich, dass immer nur eine Minderheit
der älteren Bevölkerung starke Destruktionen an einzelnen Zähnen auf-
weist, wohingegen der Großteil nur leichte Parodontopathien hat.
%
70 70
60
50 52 53
48
40 40
30 33
29
20 21
13 14
10 12
1 2 1 1 1 7
4
0
0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 CPI-Grad 17
12 Jahre 15 Jahre 35–44 Jahre 65–74 Jahre Altersklasse
Abb. 17.7: Prävalenz des maximalen CPI in verschiedenen Altersklassen in der Bun-
desrepublik Deutschland (nach Micheelis und Schiffner 2006). CPI-Grade:
0 = keine Krankheitssymptome nach Sondierung mit WHO-Sonde
1 = Blutung nach Sondierung
2 = Blutung nach Sondierung, Vorliegen von supra- und subgingivalem Zahnstein,
Sondierungstiefe nicht über 3 mm
3 = Sondierungstiefe 4–5 mm
4 = Sondierungstiefe 6 mm und mehr
508 17 Epidemiologie entzündlicher Parodontopathien
Bei Männern treten häufiger gingivitische und parodontitische Er-
krankungen auf als bei Frauen. Eine Ausnahme bildet v.a. die lokalisierte
aggressive Parodontitis, die im Verhältnis von 2–4:1 häufiger bei Mäd-
chen als bei Jungen vorzufinden ist.
Die ethnische Herkunft der Menschen scheint nach neuerer Auffas-
sung keinen Einfluss auf die Schwere und Häufigkeit von Parodontaler-
krankungen zu haben. Eine Ausnahme bilden evtl. die lokalisierte ag-
gressive Parodontitis und die nekrotisierende ulzerative Gingivitis, die
beide bei dunkelhäutigen Personen häufiger als bei Weißen auftreten.
Zwischen Menschen verschiedener Herkunft beobachtete Unterschiede
in der Prävalenz von Parodontopathien lassen sich wahrscheinlich mit
Ernährungsgewohnheiten (evtl. Mangelernährung) und dem sozialen
Umfeld der Untersuchten erklären.
Kapitel 18 509
18 Anamnese, Befund und Diagnose bei
parodontalen Erkrankungen
18.1 Anamnese und Befund
! Anamnese und Befunderhebung sind Bestandteile jeder ärztli-
chen oder zahnärztlichen Untersuchung und Voraussetzungen,
um eine Diagnose stellen zu können. Erst nachdem eine Diagnose
gewissenhaft gestellt ist, kann die Therapie geplant werden.
Im Folgenden soll nur auf die im Rahmen einer Parodontalbehandlung
wichtigen Punkte der Anamneseerhebung und Befunderhebung einge-
gangen werden. Zur weiteren Vertiefung anamnestischer Fragestellun-
gen und spezieller Befunde (z.B. Funktionsbefund, Mundschleimhauter-
krankungen) wird auf einschlägige Lehrbücher der Chirurgie und Pro-
thetik verwiesen.
18.1.1 Anamnese
Die Anamnese wird in eine Familienanamnese, eine allgemeine und Familien-
eine spezielle Eigenanamnese unterteilt. Da bei einigen parodontologi- anamnese
schen Erkrankungen eine genetische Disposition diskutiert wird, sollte
in der Familienanamnese geklärt werden, ob familiär gehäuft bestimmte
systemische Erkrankungen vorliegen. Dabei sollte gezielt nach den in
Kapitel 18.2 beschriebenen Erkrankungen gefragt werden, bei denen
gingivo-parodontale Manifestationen vorliegen können (z.B. Down-
Syndrom, Papillon-Lefèvre-Syndrom, Albright-Syndrom usw.).
Bei der Einnahme verschiedener Arzneimittel und dem Vorliegen Eigenanamnese
bestimmter Allgemeinerkrankungen werden häufig Krankheitssymp-
tome am Parodont beobachtet. Deshalb sollte der Patient in der allge-
meinen Eigenanamnese gezielt nach der Einnahme bestimmter Arznei-
mittel (v.a. Nifedipin, Cyclosporin A, Hydantoin-Präparate und Kontra-
zeptiva) und dem Vorliegen von Allgemeinerkrankungen (Diabetes
mellitus, Osteoporose, Osteopenie, Bluterkrankungen, HIV-Infektion,
Ernährungsmängel, Schwermetallintoxikationen, blasenbildende Der- 18
matosen usw.) befragt werden. Bei weiblichen Patienten ist das Vorlie-
gen einer Schwangerschaft abzuklären. Das Vorliegen eines Endokardi-
tisrisikos oder kardiovaskulärer Erkrankungen sollte abgefragt werden.
In der speziellen Eigenanamnese wird der Patient nach subjektiven Spezielle
Beschwerden, seinen Mundhygienegewohnheiten, dem Vorliegen von Eigenanamnese
510 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Zahnfleischblutungen, der bisher erfolgten zahnärztlichen (speziell pa-
rodontologischen) Behandlung, seinen Lebensgewohnheiten (Stress,
Hektik) und nach seinem Rauchverhalten, d.h. Zigarettenkonsum be-
fragt.
18.1.2 Befund
Extraoraler Der Befund wird in einen extra- und intraoralen Befund unterteilt. Im
Befund Rahmen des extraoralen Befundes sind Lippenhaltung und Lippen-
schluss hinsichtlich des Vorliegens einer Mundatmung zu kontrollie-
ren. Es erfolgt eine Palpation der Lymphknoten (vor allem submandi-
bulär), die bei akuten entzündlichen Parodontopathien druckschmerz-
haft und vergrößert sein können.
Intraoraler Der intraorale Befund beinhaltet neben dem allgemeinen Zahnbe-
Befund fund grundsätzlich einen Inspektionsbefund der Lippen, Schleim-
häute, Zunge und des Mundbodens. Bei allen Patienten wird der Paro-
dontale Screening-Index (PSI), ebenso wie ein Inspektionsbefund der
Gingiva erhoben. Dadurch wird verhindert, dass parodontale Läsionen
übersehen werden. Beim allgemeinen Zahnbefund wird zuerst notiert,
ob fehlende, ersetzte, überkronte, kariöse und gefüllte Zähne bzw. abste-
hende Füllungs- und Kronenränder vorliegen. Des Weiteren wird kon-
trolliert, ob supragingivaler Zahnstein vorliegt. Darüber hinaus sollte
eine Sensibilitätsprüfung aller Zähne, vor allem aber der Zähne, bei de-
nen parodontale oder endodontale Probleme vermutet werden, erfol-
gen.
Inspektionsbefund der Gingiva
Es werden Form, Farbe, Verlauf, Konsistenz, Oberfläche und Breite
der Gingiva kontrolliert und mit den typischen Merkmalen einer
gesunden Gingiva verglichen (s. Kap. 15.1.1).
Die freie und die befestigte Gingiva besitzen normalerweise eine feste
Konsistenz und sind blassrosa. Die freie Gingiva läuft koronal meist
flach aus. Sie besitzt eine glatte Oberfläche und ist 0,8–2,5 mm breit. Die
Oberfläche der befestigten Gingiva erscheint bei vielen Patienten ge-
stippelt (gefleckt). Die befestigte Gingiva ist ca. 1–9 mm breit und lässt
sich nicht gegen ihre Unterlage verschieben.
Rezessionen Bei der Kontrolle des Verlaufs der Gingiva sollte überprüft werden,
ob parodontale Rezessionen vorliegen. Liegt der Gingivarand direkt
auf der Schmelz-Zement-Grenze, kann bereits von einer Rezession von
ca. 2 mm ausgegangen werden. Rezessionen werden oral und vestibulär
mit einer Parodontalsonde gemessen. Die Rezession wird als Distanz
zwischen Gingivarand und Schmelz-Zement-Grenze in Millimetern an-
gegeben.
18.1 Anamnese und Befund Kapitel 18 511
Neben der Frage, ob Rezessionen vorliegen, ist zu kontrollieren, ob Schwellung
eine Schwellung der Gingiva vorhanden ist. Der Gingivarand kann bei
entzündlich oder hyperplastisch bedingter Schwellung der Gingiva
deutlich nach koronal verschoben sein. Die Breite der keratinisierten,
attached Gingiva kann durch Anfärben der Mukosa mit 5%iger Schiller-
Jodlösung (ein Teil Jod, zwei Teile Kaliumjodid ad Aqua dest.) dargestellt
werden.
Patienten, die bei der Erhebung des PSI einen Code-3- oder Code-4- Parodonto-
Befund aufweisen, werden einer systematischen Parodontalbehandlung logische
zugeführt. Dazu wird eine spezielle parodontologische Untersuchung Untersuchungs-
vorgenommen, die folgende Maßnahmen umfasst: maßnahmen
D Bestimmung des Attachmentverlustes
D Bestimmung der Zahnbeweglichkeit
D Bestimmung der Furkationsbeteiligung
D Mukogingivalbefund
D Röntgenbefund
D evtl. Anwendung weiterer diagnostischer Testsysteme
In der Initialtherapie einer systematischen Parodontalbehandlung
und bei der Behandlung von Patienten, die einen PSI-Code 1 oder 2 auf-
weisen, wird eine Bestimmung der Mundhygiene des Patienten und des
Entzündungszustandes der Parodontien vorgenommen (s. Kap. 19.3).
Attachmentverlust
! Ein wichtiger Parameter zur Bewertung parodontaler Erkrankun-
gen ist die Frage, ob ein Attachmentverlust des gingivo-parodon-
talen Stützapparates vorliegt oder nicht. Auch für die Beurteilung
von Therapieerfolgen ist die Bestimmung des Attachmentniveaus
von großer Bedeutung.
Der Attachmentverlust ist definiert als die Distanz zwischen der
Schmelz-Zement-Grenze und dem Boden der Zahnfleischtasche.
Als Zahnfleischtasche wird ein parodontologisch-pathologisch verän- Einteilung Zahn-
derter Sulkus verstanden, wie er bei der etablierten bzw. fortgeschrittenen fleischtaschen
Läsion vorliegt. Zahnfleischtaschen werden folgendermaßen eingeteilt:
D Pseudotaschen
D supraalveoläre Zahnfleischtaschen
D infraalveoläre (Knochen-)Taschen (Abb. 18.1)
18
Die Tiefe der sondierbaren Zahnfleischtasche wird mit einer Parodontal- Sondierung
sonde ermittelt, die in die Zahnfleischtasche bzw. (bei gesunder Gin-
giva) in den Sulkus eingeführt wird. Die Messung wird an jedem Paro-
dont an mindestens vier Messpunkten (mesio-bukkal, bukkal, disto-
bukkal und oral) durchgeführt. Bei einer Erstuntersuchung eines
512 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
a b c
Abb. 18.1: Taschenformen: a) Pseudotasche: entzündlich oder hyperplastisch ge-
schwollene Gingiva mit Erhalt der epithelialen Anheftung am Zahn, b) supraal-
veoläre Zahnfleischtasche mit horizontalem Höhenabbau des Knochens, c) infra-
alveoläre Knochentasche mit vertikalem Seitenabbau des Knochens
Patienten sollte zur genaueren Befundung zusätzlich mesio-oral und
disto-oral sondiert werden (Sechs-Punkt-Messung). Aufgrund der Ver-
letzlichkeit des gingivo-parodontalen Stützapparates dringt die Sonde
leicht über den Taschenboden ins Gewebe ein. Daher wird nicht von Ta-
schentiefe, sondern von Sondierungstiefe gesprochen. Die Parodontal-
sonden weisen Farbmarkierungen (z.B. WHO-Sonde) oder Millimeter-
Skalierungen (z.B. Williams-Fox-Sonde) auf. Mit diesen Skalierungen
kann die sondierbare Taschentiefe am Gingivarand abgelesen werden.
Ein vom Patienten toleriertes vorsichtiges Sondieren (gentle probing)
erfolgt mit einer Kraft von ca. 0,25 N.
Die Sondierung des Sulkus sollte bei Implantaten vorsichtig erfol-
gen. Bei Implantaten fehlt der beim Zahn vorhandene Faserapparat, der
ein zu weites Eindringen der Sonde bremst. Somit sind die Sondierungs-
tiefen bei Implantaten meist höher als bei natürlichen Zähnen. Um die-
sen Fehler auszugleichen, werden etwas dickere, am besten druckkali-
brierte Kunststoffsonden verwendet.
Das Bluten nach Sondierung bis auf den sondierbaren Boden der Ta-
sche (Bleeding on Probing, BoP) weist auf das Vorhandensein von
subgingivaler Plaque und dem Vorliegen einer Entzündung hin. Da-
her sollte das Vorhandensein einer Blutung nach Sondierung zu-
sätzlich zur Sondierungstiefe notiert werden. Allerdings weisen die
klinischen Parameter „Blutung nach Sondierung“ sowie das Vorlie-
gen von eitrigem Taschenexsudat nur eine geringe Sensitivität (ca.
30%) bzw. Spezifität (ca. 70%) hinsichtlich der Erkennung schwerer
Parodontopathien auf.
Druckkalibrierte Zu beachten ist, dass vor allem beim unbehandelten Patienten Konkre-
Sonden mente den Tascheneingang verlegen und die Messung erschweren kön-
nen. Mithilfe druckkalibrierter Sonden soll ein standardisierter Druck
18.1 Anamnese und Befund Kapitel 18 513
beim Sondieren garantiert werden. Druckkalibrierte Sonden liegen als
einfache, mechanische, druckreduzierte (z.B. Click-Probe) oder elektro-
nische, computergestütze Sonden (Florida-Probe, Interprobe, Peri-
Probe) vor. Die Messung und Erfassung der Daten erfolgt bei elektroni-
schen, druckkalibrierten Sonden mit einem Computer. Versuche haben
allerdings gezeigt, dass diese Sonden zwar eine bessere Auflösung (mög-
liche Bestimmung in 1/10-mm-Schritten) als die manuellen Sonden be-
sitzen. Sie sind den manuellen Sonden aber hinsichtlich der Reprodu-
zierbarkeit der Messergebnisse nicht überlegen.
Die Sondierungstiefe hängt neben dem Sondierungsdruck vom Sondierungstiefe
Entzündungsgrad des Parodonts, der Dicke der Sonde, dem Anstellwin-
kel der Sonde zum Zahn, dem Lockerungsgrad des Zahnes und der Posi-
tion der Sonde am Zahn ab. Bei einer entzündeten Gingiva oder einem
gelockerten Zahn dringt die Parodontalsonde leichter in das aufgelo-
ckerte Gewebe am Boden der Zahnfleischtasche ein. Die Sondierungs-
tiefe ist daher größer als die histologische Taschentiefe. Im Rahmen der
Behandlung einer entzündlichen Parodontopathie beobachtet der
Zahnarzt neben dem Rückgang der Entzündung häufig eine Reduktion
der Sondierungstiefe. Es ist dann schwierig zu beurteilen, ob tatsächlich
eine Verringerung der histologischen Taschentiefe und des Attachment-
verlustes eingetreten sind. Die verringerte Sondierungstiefe kann
ebenso durch den erhöhten Gewebewiderstand beim Sondieren im nun
weniger entzündeten Parodont bedingt sein.
Zahnbeweglichkeit
! Zahnbeweglichkeit kann manuell oder mithilfe verschiedener
Messapparaturen ermittelt werden. Man unterscheidet zwischen
statischer und dynamischer Zahnbeweglichkeit.
Unter statischer Beweglichkeit wird die Auslenkung eines Zahnes (in Statische
mm) nach Einwirkung einer Kraft bezeichnet. Bei der manuellen Mes- Beweglichkeit
sung der statischen Zahnbeweglichkeit wird der Zahn mit zwei stabilen
Instrumentengriffen sowohl horizontal als auch vertikal bewegt. Die
Auslenkung wird visuell beurteilt.
Folgende Grade werden entsprechend der Deutschen Gesellschaft
für Parodontologie unterschieden:
D Grad 0: physiologische, nicht erhöhte Zahnbeweglichkeit
D Grad 1: erhöhte Zahnbeweglichkeit, spürbar oder sichtbar bis 1 mm
horizontal
D Grad 2: erhöhte Zahnbeweglichkeit, sichtbar über 1 mm horizontal 18
D Grad 3: erhöhte Zahnbeweglichkeit, beweglich auf Lippen- und
Zungendruck und/oder in axialer Richtung
Unter dynamischer Beweglichkeit eines Zahnes versteht man hingegen Dynamische
die Fähigkeit des Parodonts, impulsartig auftreffende Kräfte abzu- Beweglichkeit
514 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
bremsen. Die dynamische Beweglichkeit eines Zahnes kann mit dem
Periotest-Gerät ermittelt werden. Dabei trifft ein Stößel impulsartig auf
einen Zahn auf und wird abgebremst. Die Kontaktzeit des Stößels wird
von einer Messapparatur aufgezeichnet. Diese Kontaktzeiten werden be-
stimmten Periotest-Werten (–8 bis +50) zugeordnet, die mit manuell er-
mittelten Beweglichkeitsmessungen korrelieren. Die Messapparaturen
zur Zahnbeweglichkeitsmessung besitzen wie die elektronischen Paro-
dontalsonden eine hohe Messauflösung, zeigen aber wie diese Sonden
eine schwankende Reproduzierbarkeit der Messergebnisse.
Die Zahnbeweglichkeit spielt bei der Prognose eines Zahnes aber
nur eine untergeordnete Rolle. Die Prognose eines gelockerten Zah-
nes wird vielmehr vom Entzündungszustand des Parodonts, von
der Mundhygiene des Patienten und von der Akzeptanz des Patien-
ten, lockere Zähne zu tolerieren, bestimmt.
Bei einem entzündungsfreien Parodont kann ein Zahn trotz erhöhter
Lockerung und vorliegendem Attachmentverlust über Jahre hinweg
(eingeschränkt) funktionstüchtig im Mund verbleiben.
Furkationsbeteiligung der parodontalen Läsion
! Bei fortgeschrittenen Parodontalerkrankungen wird zunehmend
ein Knochenabbau (Osteolyse) im Furkationsbereich mehrwurze-
liger Zähne beobachtet.
Diese sog. Furkationsbeteiligung der parodontalen Läsion wird mithilfe
spezieller, gebogener Sonden (z.B. Sonde nach Nabers) kontrolliert. Mit
diesen Sonden wird der Eingang der Furkation horizontal sondiert und
die Durchgängigkeit der Furkation geprüft.
Folgende Grade der Furkationsbeteiligung werden entsprechend der
Deutschen Gesellschaft für Parodontologie klinisch unterschieden
(Abb. 18.2):
D Grad I: Furkation bis 3 mm horizontal sondierbar
D Grad II: Furkation mehr als 3 mm horizontal sondierbar, jedoch
nicht durchgängig
D Grad III: Furkation durchgängig sondierbar
Mukogingivalbefund
! Beim Mukogingivalbefund werden der Ansatz von Lippen-, Wan-
gen- und Zungenbändchen und die Tiefe des Vestibulums kon-
trolliert.
Hoch ansetzende, in die Gingiva einstrahlende Frenula und ein flaches
Vestibulum können über die umgebende Muskulatur einen Zug auf die
18.1 Anamnese und Befund Kapitel 18 515
Grad I Grad II Grad III
Spitze der
Furkationssonde
b
Abb. 18.2: a) Einteilung des Furkationsbefalls Grad I–III, dargestellt an einem unte-
ren Molaren, b) verschiedene Möglichkeiten der Befunderhebung zum Vorliegen
eines Furkationsbefalls bei einem oberen Molaren
Gingiva ausüben. Dies kann zu gingivalen Rezessionen führen. Darüber
hinaus schränken hoch ansetzende Frenula und ein tiefes Vestibulum
die Mundhygienefähigkeit des Patienten ein.
Röntgenbefund
! Der Röntgenbefund hilft abzuklären, ob parodontal bedingte
Knochendestruktionen, apikale Osteolysen, Wurzelfüllungen,
überstehende Kronen- und Füllungsränder, Konkremente und
Veränderungen der Zahnhartsubstanz vorliegen.
Zur Darstellung aller Parodontitiden eines Gebisses sind je nach Anzahl Darstellung
und Lage der vorhandenen Zähne bis zu 14 intraorale Summations-Ein-
zelaufnahmen erforderlich. Um Unschärfen und Überlagerungen zu
vermeiden, ist der Röntgenstatus in Rechtwinkeltechnik (z.B. nach
Rinn) zu erstellen.
Eine Schichtaufnahme, wie z.B. das Orthopantomogramm (OPG),
genügt nicht, um feine Knochenstrukturen hinreichend genau darzu-
stellen. Projektionsbedingt lassen aber auch die Einzelaufnahmen nur
eine Beurteilung des interdentalen und interradikulären Knochens zu.
Der vestibuläre bzw. orale Knochen kann nicht beurteilt werden.
Mithilfe der Röntgenaufnahmen kann die Furkationsbeteiligung
der parodontalen Läsion zusätzlich zum klinischen Sondieren abge- 18
schätzt werden. Die definitive Abklärung des Furkationsbefundes ist je-
doch meist erst im Rahmen eines parodontalchirurgischen Eingriffs bei
direkter Sicht auf die Furkation möglich.
Bei der Beurteilung des Fortschreitens eines Knochenverlustes wird Beurteilung
in der klinischen Praxis meist ein visueller Vergleich von Röntgenbil-
516 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
dern vorgenommen, die zu verschiedenen Zeitpunkten erstellt wurden.
Es ist bekannt, dass ein Unterschied von 30 bis 50% beim Mineralgehalt
des Knochens erforderlich ist, damit eine Veränderung von ossären
Strukturen bei der Interpretation von Röntgenbildern erkannt werden
kann. Daher werden in klinischen Studien computergestützte Verfahren
(z.B. digitale Subtraktionsradiographie) eingesetzt, bei denen die verän-
derten Knochenstrukturen verdeutlicht dargestellt werden. Anhand der
Röntgenbilder kann kontrolliert werden, ob ein horizontaler Knochen-
abbau (Höhenabbau) oder ein vertikaler Knochenabbau (Seitenabbau)
mit infraalveolären Knochentaschen vorliegt (s. Abb. 18.1). Bei den
infraalveolären Knochentaschen unterscheidet man:
D einwandige Knochentasche
D zweiwandige Knochentasche
D dreiwandige bzw. kombinierte Knochentasche (Abb. 18.3)
Auch hier ist die definitive Abklärung, welche Form der Knochentasche
vorliegt, erst bei direkter Sicht intra operationem möglich. Darüber hi-
naus ist im Röntgenbefund zu kontrollieren, ob der Desmodontalspalt
normal konfiguriert oder erweitert ist oder ob der Knochen am Alveolar-
eingang trianguläre Aussprengungen aufweist. Ein erweiterter Desmo-
dontalspalt oder trianguläre Knochendefekte deuten auf eine okklusale
oder funktionelle Fehlbelastung eines Zahnes hin.
Neben der klassischen zweidimensionalen Röntgentechnik hat mit
der dreidimensionalen Röntgendiagnostik mithilfe der digitalen Volu-
mentomographie (DVT) eine Methode zunehmend Verbreitung erfah-
ren, mit der eine gute Bildqualität und Genauigkeit zur Bestimmung pa-
rodontaler Knochendefekte erzielt werden kann. Eine DVT-basierte
Diagnostik weist ein hohes Maß an Übereinstimmung mit intraoperati-
ven Befunden, wie z.B. dem Ausmaß einer Furkationsbeteiligung, auf.
Berücksichtigt werden sollten allerdings die im Vergleich zur herkömm-
lichen Röntgendiagnostik höheren Kosten und die höhere Strahlenbe-
lastung.
2 1 2 1 1
3
a b c d
Abb. 18.3: Einteilung der Knochentaschen: a) dreiwandige, b) zweiwandige, c) einwandige, d) schüsselför-
mige Knochentasche
18.1 Anamnese und Befund Kapitel 18 517
Abschließend sollten Gipsmodelle beider Kiefer hergestellt werden,
die alle Zähne, Verlauf und Form der Gingiva und inserierende Bänder
exakt wiedergeben. Bei vorhandenem herausnehmbarem Zahnersatz
sollten zusätzlich Modelle mit eingegliedertem Zahnersatz hergestellt
werden.
Diagnostische Testsysteme
! Diagnostische Tests geben ergänzend zum klinischen und röntge-
nologischen Befund zusätzliche Informationen über die Art der
Infektion, Prognose, Progredienz und den Therapieerfolg.
Diese Tests dienen als Hilfsmittel, eine klinische Diagnose zu überprü-
fen und eine Verlaufskontrolle einer Therapie durchzuführen. Sie erset-
zen nicht den klinischen Befund. Mit verfeinerten Diagnosemaßnah-
men ist es allerdings möglich, geringe Veränderungen der parodontalen
Gesundheit frühzeitiger zu erfassen.
Diagnostische Tests lassen sich unterteilen in
D mikrobiologische Untersuchungen
D Marker der Wirtsantwort
D humangenetische Tests
Wenn Unsicherheiten bei der Diagnosestellung bestehen oder schwierig Mikrobiologische
zu therapierende Parodontalerkrankungen vorliegen, ermöglichen mi- Untersuchungen
krobiologische Untersuchungen der Plaque eine Absicherung der Ver-
dachtsdiagnose. Darüber hinaus sind eine mikrobiologische Untersu-
chung der Plaque und ein Antibiogramm unbedingt erforderlich, wenn
ein Antibiotikum über einen längeren Zeitraum verordnet wird. Mit-
hilfe dieser Bestimmungen kann dann das Antibiotikum ausgewählt
werden, auf das die speziellen Bakterien empfindlich reagieren. In der
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (Mikro-
biologische Diagnostik in der Parodontitistherapie) wird die Indikation
zur mikrobiologischen Analyse nur bei Parodontitiden gesehen, bei de-
nen eine systemische Antibiotikatherapie indiziert ist. Hierzu zählen die
folgenden Erkrankungen:
D aggressive Parodontitis
D schwere, chronische Parodontitis
D Parodontitiden, die trotz vorangegangener Therapie progrediente
Attachmentverluste aufweisen
D mittelschwer bis schwere Parodontitiden bei systemischen Erkran-
kungen 18
D Zustände, die die Funktion des Immunsystems beeinträchtigen
Die Entnahme der subgingivalen Plaque erfolgt dabei mit einer sterilen
Kürette oder mit sterilen Papierspitzen. Bei sehr starken Blutungen und
starkem Pusaustritt können die nachzuweisenden Bakterien verdünnt
518 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
werden. In diesem Fall sollte die Probenentnahme erst nach einer ersten
Vorbehandlungssitzung erfolgen. Für die klinische Routinediagnostik
wird i.d.R. eine Entnahme von der tiefsten parodontalen Tasche in je-
dem Sextanten entnommen. Die bis zum Taschenfundus eingescho-
bene Papierspitze verbleibt dabei für ca. 10 Sekunden. Bei der „Multi-
site-Variante“ werden alle Papierspitzen in ein gemeinsames Transport-
gefäß überführt, bei der „Single-site-Variante“ kommt jede Spitze in ein
separates Gefäß. Zur Bestimmung der Bakterien kann eine Bakterienkul-
tur auf Selektivnährböden angezüchtet werden. Bei dieser Form der Be-
stimmung ist zu berücksichtigen, dass nur ca. 50% der oralen Mikro-
flora über Standardverfahren kultivierbar sind. Zudem können nur vi-
tale Mikroorganismen verwendet werden. Insbesondere anaerobe
Keime sterben aber häufig auf dem Transportweg ab.
Neben der Kultivierung ist eine mikroskopische Bestimmung der Pla-
quebakterien möglich. Dabei kann eine differenzierte Darstellung der
Bakterien u.a. mit Färbemethoden oder durch Anheftung fluoreszieren-
der Antikörper an bestimmte Bakterien (Immunfluoreszenz) erfolgen.
Mithilfe der Dunkelfeldmikroskopie kann die Zusammensetzung
der Plaque hinsichtlich der morphologischen Typen der Bakterien
(Form, Größe und Motilität) ermittelt werden.
Der ELISA-Test (Enzyme-Linked Immunosorbent Assay) stellt eine
weitere immunologische Untersuchung dar, bei der spezifische Antikör-
per gegen bakterielle Antigene zur Identifizierung von Mikroorganis-
men genutzt werden. Dabei bindet zunächst ein Antikörper an einen
Mikroorganismus. Dieser Antikörper wird dann durch einen zweiten
Antikörper nachgewiesen, der mit einem Enzym gekoppelt ist, das eine
Farbreaktion auslöst. Diese Farbreaktion kann durch fluoreszierende
Farbstoffe verdeutlicht werden. Eine differenzierte Auswertung ist dann
mithilfe von speziellen Geräten möglich. So können mithilfe von FACS-
Geräten (fluorescence acvtivated cellsorter) unterschiedliche Fluores-
zenzintensitäten berücksichtigt werden.
Beim Latexagglutinationstest sind bakterienspezifische Antikörper
an Latexkügelchen gebunden. Bei Kontakt mit bakteriellem Antigen
kommt es zur Agglutination (Verklumpung) der Kügelchen, sodass eine
Beurteilung möglich ist.
Des Weiteren können mit einer DNA-Hybridisierung (= Identifizie-
rung) bestimmte Plaquebakterien nachgewiesen werden. Dabei wird
überprüft, ob sich die von Laborstämmen gewonnenen komplementä-
ren, radioaktiv oder enzymatisch markierten DNA-Sequenzen bestimm-
ter Bakterien (= DNA-Sonden) an DNA-Sequenzen der Plaquebakterien
anlagern. Durch die Anlagerung entsteht dann eine neue doppelsträn-
gige, ebenfalls markierte DNA. Durch einen Vergleich mit Standardlö-
sungen kann somit die Bakterienzahl in der entnommenen Plaqueprobe
quantifiziert werden. Die Nachweisgrenze bei Verwendung dieser DNA-
Sonden liegt mit ca. 103 Mikroorganismen unter der Nachweisgrenze
von Kulturverfahren. Zurzeit liegen u.a. DNA-Sondentests vor, mit de-
18.1 Anamnese und Befund Kapitel 18 519
nen es möglich ist ca. 20 potenzielle Pathogene semiquantitativ zu
ermitteln. Besonderes Augenmerk aller modernen Tests liegt auf der Er-
kennung der Anwesenheit von Aggregatibacter actinomycetemcomi-
tans, Porphyromonas gingivalis, Tannerella forsythia, Treponema denti-
cola und anderen möglichen Pathogenen, wie z.B. Prevotella interme-
dia.
Dies gilt auch für den Nachweis von Bakterien mit der Polymerase-
kettenreaktion (PCR). Dabei werden unter Zuhilfenahme spezifischer
Oligonukleotidprimer kleine Abschnitte der DNA bestimmter Bakterien
durch Labormethoden in kurzer Zeit vervielfältigt. Dazu wird der Bakte-
rien-DNA-Doppelstrang zunächst durch Schmelzen (95 °C) in zwei
DNA-Einzelstränge aufgespalten. An diese Einzelstränge binden spezifi-
sche Oligonukleotid-Sequenzen (Primer). Sie dienen als Startpunkt für
ein spezielles Enzym (Taq-Polymerase). Unter Zugabe der zum Aufbau
der Doppelhelix notwendigen Triphosphate wird ein komplementärer
Zweitstrang in Verlängerung des Primers mithilfe der Polymerase poly-
merisiert.
Dieser gesamte Verdoppelungszyklus wird wiederholt und führt
schließlich zu millionenfach vermehrten DNA-Abschnitten. Diese kön-
nen dann mit einer Gelelektrophorese ausgewertet werden. Mit der
PCR-Methode können Bakterienspezies sehr spezifisch nachgewiesen
werden. PCR-Verfahren können bereits 10 bis 100 Zellen nachweisen.
Die bisher genannten molekularbiologischen Nachweisverfahren erlau-
ben aber keine oder nur eine eingeschränkte Quantifizierung der Keime.
Mit der weiterentwickelten „Real-time“-PCR ist eine exakte Quanti-
fizierung der untersuchten Bakterien möglich. Bei diesem Verfahren
wird zusätzlich zur klassischen PCR ein weiterer Primer (Tagman-Sonde)
an den aufgespaltenen DNA-Einzelstrang angelagert. Die Tagman-Sonde
wird bei der Verdoppelung des Strangs durch die Polymerase zerstört,
wobei ein Fluoreszenzsignal freigesetzt wird. Dieses Signal wird durch
eine Laserdetektion gemessen. Die Stärke des Signals ist ein Maß für die
Menge duplizierter DNA-Stränge und damit proportional zu der Aus-
gangsmenge des gesuchten Bakterienkeimes.
Mit enzymatischen Schnelltests kann man direkt am Behand-
lungsstuhl Daten erheben. Dabei wird das Vorliegen von Enzymen in
der Sulkusflüssigkeit untersucht, die von bestimmten Bakterien bei ei-
ner parodontalen Destruktion ausgeschüttet werden. Derzeit liegt u.a.
ein Test vor, der das von Porphyromonas gingivalis, Prevotella interme-
dia, Treponema denticola und Tannerella forsythia ausgeschüttete En-
zym Benzoyl-Arginin-Naphthylamid-Hydrolase (BANA) nachweisen
kann. 18
Weitere Tests untersuchen das Vorliegen körpereigener Enzyme, die Marker der
bei der Destruktion des Parodonts in der Sulkusflüssigkeit nachgewiesen Wirtsantwort
werden können.
Dabei kann mit einem Schnelltest z.B. das Vorliegen von Aspartat-
aminotransferase (AST) überprüft werden, das beim Zelluntergang von
520 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Gewebezellen frei wird. Auch der Nachweis von Matrixmetalloprotei-
nen (Kollagenase) oder alkalischer Phosphatase (z.B. von Osteoblas-
ten) ist mit Testsystemen möglich. Andere während der parodontalen
Entzündung erhöhte Faktoren der Wirtsantwort, wie z.B. Prostaglandin-
2, TNF-α oder Interleukine können im Gingivaexsudat mit geeigneten
Methoden nachgewiesen werden.
Humangene- Die Anwendung humangenetischer Tests kann bei manifestierten,
tische Tests besonders aggressiven Parodontalerkrankungen angezeigt sein. Derzeit
liegt ein Test vor, mit dem vorliegende Polymorphismen im Interleu-
kin-1-Genkomplex nach Entnahme eines Mundhöhlenabstrichs nach-
gewiesen werden können. Bei Vorliegen dieses Genpolymorphismus
kommt es bei diesen Personen bei chronischen Entzündungen zu einer
verstärkten Ausschüttung an Interleukin-1, was eine verstärkte Gewebe-
reaktion zur Folge hat.
18.2 Diagnose
Anhand der Befunddaten kann die Diagnose der vorliegenden Erkran-
kung erfolgen. Häufig ist es aber zu Beginn einer Behandlung nur mög-
lich, eine Verdachtsdiagnose zu äußern. Die Diagnose und Verdachtsdi-
agnose müssen gegenüber möglichen Differentialdiagnosen kritisch ab-
geschätzt werden. Die Diagnose ist zunächst für jeden Zahn einzeln zu
stellen.
! Aus den Einzeldiagnosen ergibt sich die Gesamtdiagnose. Erst
dann sind eine definitive Zuordnung der Erkrankung entspre-
chend der Klassifizierung der Parodontalerkrankungen und eine
gezielte Therapie möglich (Tab. 18.1).
Die in der Tabelle 18.1 dargestellte, 1999 international aufgestellte Klas-
sifizierung löst die bisher gültige Nomenklatur der Deutschen Gesell-
schaft für Parodontologie aus dem Jahre 1988 ab. Die neue Klassifika-
tion beschreibt entsprechend klinischer, radiographischer und an-
amnestischer Kriterien eigenständige Formen der Parodontitis und
orientiert sich nicht an der früheren Art der Einteilung, die aufgrund des
Alters des Patienten bei der Erstdiagnose erfolgte.
Im Folgenden werden die Erkrankungsformen anhand der neuen
Klassifizierung definiert und kurz beschrieben. Zum erleichterten Ver-
gleich der neuen Klassifikation mit der alten Nomenklatur sind (soweit
möglich) die ehemaligen Krankheitsbezeichnungen als Synonyme auf-
geführt (s. Tab. 18.1).
18.2 Diagnose Kapitel 18 521
Tab. 18.1: Klassifizierung parodontaler Erkrankungen (nach Müller und Armi-
tage). Die fett hervorgehobenen Definitionen (I–VIII) werden als Hauptgrup-
pen bezeichnet.
I Gingivopathien (G)
A Durch dentale Plaque induzierte Gingivopathien
1. Ausschließlich mit Plaque assoziierte Gingivitis
a Ohne andere lokale Faktoren
b Mit lokal verstärkenden Faktoren
2. Systemisch verstärkte Gingivopathien
a Endokrine Faktoren
1) Pubertätsgingivitis
2) In Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus
3) In Zusammenhang mit einer Schwangerschaft
a) Schwangerschaftsgingivitis
b) Granuloma pyogenicum
4) In Zusammenhang mit Diabetes mellitus
b In Zusammenhang mit hämatologischen Erkrankungen
1) Leukämie
2) Andere
3. Medikamentös verstärkte Gingivopathien
a Medikamentös beeinflusste Gingivavergrößerungen
b Medikamentös beeinflusste Gingivitis
1) Orale Kontrazeptiva
2) Andere
4. Durch Mangel- und/oder Fehlernährung beeinflusste Gingivopathien
a Ascorbinsäuremangel
b Andere
B Nicht durch dentale Plaque induzierte Gingivopathien
1. Gingivopathien bei spezifischen bakteriellen Infektionen
a Infektionen mit Neisseria gonorrhoea
b Infektionen mit Treponema pallidum
c Infektionen mit Streptococcus spp.
d Andere
2. Gingivopathien bei spezifischen Viruserkrankungen
a Herpesvirus-Infektionen
1) Primäre Gingivostomatitis herpetica
2) Rezidivierender oraler Herpes
3) Infektionen mit dem Varicella-Zoster-Virus
b Infektionen mit anderen Viren
3. Gingivopathien bei spezifischen Pilzinfektionen
a Infektionen mit Candida spp.
1) Generalisierte gingivale Candidose 18
b Lineares gingivales Erythem
c Histoplasmose
d Andere
522 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Tab. 18.1: Fortsetzung
4. Gingivopathien genetischen Ursprungs
a Hereditäre Gingivafibromatose
b Andere
5. Gingivale Manifestationen systemischer Erkrankungen
a Mukokutane Veränderungen
1) Lichen planus
2) Pemphigoid
3) Pemphigus vulgaris
4) Erythema multiformis
5) Lupus erythematodes
6) Medikamentös induzierte mukokutane Erkrankungen
7) Andere
b Allergische Reaktionen
1) Zahnärztliche Restaurationsmaterialien
a) Quecksilber
b) Nickel
c) Kunststoffe
d) Andere
2) Reaktionen auf
a) Zahnpasten
b) Mundspüllösungen
c) Kaugummizusätze
d) Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittelzusätze
3) Andere
6. Traumatische Läsionen (unbeabsichtigt, iatrogen, unfallbedingt)
a Chemisch
b Mechanisch
c Thermisch
7. Fremdkörperreaktion
8. Anderweitig nicht spezifiziert
II Chronische Parodontitis (CP)
A Lokalisiert
B Generalisiert
III Aggressive Parodontitis (AP)
A Lokalisiert
B Generalisiert
IV Parodontitis als Manifestation systemischer Erkrankungen (PS)
A Bluterkrankungen
1. Erworbene Neutropenie
2. Leukämien
3. Andere
18.2 Diagnose Kapitel 18 523
Tab. 18.1: Fortsetzung
B Genetische Erkrankungen
1. Heriditäre oder zyklische Neutropenie
2. Down-Syndrom
3. Leucocyte-Adhesion-Deficiency-Syndrome (LADS)
4. Papillon-Lefèvre-Syndrom
5. Chediak-Higashi-Syndrom
6. Histiocytose-Syndrom oder eosinophiles Granulom
7. Glykogenspeicher-Syndrom
8. Infantile genetische Agranulozytose
9. Cohen-Syndrom
10. Ehlers-Danlos-Syndrom, Typen IV und VIII AD
11. Hypophosphatasie
12. Andere
C Anderweitig nicht definiert
V Nekrotisierende Parodontalerkrankungen (NP)
A Nekrotisierende ulzerierende Gingivitis (NUG)
B Nekrotisierende ulzerierende Parodontitis (NUP)
VI Abszesse des Parodonts
A Gingivaler Abszess
B Parodontaler Abszess
C Perikoronaler Abszess
VII Parodontitis im Zusammenhang mit endodontalen Läsionen
A Kombinierte Paro-Endo-Läsion
VIII Entwicklungsbedingte oder erworbene Deformitäten und Zustände
A Lokalisierte zahnbezogene Faktoren, die plaqueinduzierte Gingivopathien/
Parodontitis modifizieren oder fördern
1. Zahnanatomie
2. Zahnärztliche Restaurationen, kieferorthopädische Geräte
3. Wurzelfrakturen
4. Zervikale Wurzelresorptionen und zervikaler Zementabriss
B Mukogingivale Deformitäten und Zustände im Bereich von Zähnen
1. Weichgewebs-/gingivale Rezession
a Fazial und lingual
b Interproximal (papillär)
2. Fehlen keratinisierter Gingiva
3. Verminderte Tiefe des Vestibulums
4. Fehlansetzende Frenula bzw. Muskelzüge
5. Gingivale Vergrößerungen 18
a Pseudotasche
b Unregelmäßiger Gingivarandverlauf
c Exzessiver gingivaler Effekt
d Gingivawucherungen (s. I A 3/I B 4)
6. Abnorme Farbe
524 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Tab. 18.1: Fortsetzung
C Mukogingivale Deformitäten und Zustände am zahnlosen Alveolarkamm
1. Vertikaler und/oder horizontaler Verlust des Alveolarknochens
2. Fehlen von Gingiva bzw. keratinisiertem Gewebe
3. Gingiva- bzw. Weichgewebewucherungen
4. Fehlansetzende Frenula bzw. Muskelzüge
5. Verminderte Tiefe des Vestibulums
6. Abnorme Farbe
D Okklusales Trauma
1. Primäres okklusales Trauma
2. Sekundäres okklusales Trauma
18.2.1 Gingivopathien
Durch dentale Plaque induziert
! Plaqueinduzierte Gingivitis kann an Parodontien mit und ohne
Attachmentverlust auftreten, der jedoch nicht progredient ist. Als
charakteristisches Zeichen finden sich dentale Plaqueanlagerun-
gen im Bereich des Gingivarandes.
Ausschließlich mit Plaque assoziierte Gingivitis
Das klinische Bild der Gingivitis ist durch eine Rötung, Schwellung und
evtl. Ulzerationen der Gingiva gekennzeichnet. Es liegen eine erhöhte
Fließrate der Sulkusflüssigkeit (= Exsudation), eine erhöhte Temperatur
im Sulkus, eine Blutung nach Sulkussondierung und eine erhöhte Son-
dierungstiefe ohne Attachmentverlust, d.h. Pseudotaschen, vor. Die Pa-
tienten klagen häufig über Zahnfleischbluten.
Nach Beseitigung der ursächlichen Plaque verschwinden die ent-
zündlichen Symptome. Lokale Faktoren, wie überhängende Restaurati-
onsränder oder Zahnengstand, können eine Plaqueretention begünsti-
gen. Bei einer Gingivitis liegt in der reifen Plaque neben der vorherr-
schenden Flora grampositiver, fakultativ-anaerober Kokken und
Stäbchen eine im Vergleich zum gesunden Parodont erhöhte Anzahl
gramnegativer Kokken und Stäbchen vor.
Systemisch verstärkte Gingivopathien
Die entzündliche Reaktion der Gingiva auf die Plaquebakterien
kann unter dem Einfluss endokriner Faktoren, wie z.B. Sexualhor-
monen, verstärkt sein.
Endokrine, hor- Dabei kann die Entzündung auch bei einer relativ geringen Menge an
monelle Ursachen Plaque auftreten. Die unter hormonellem Einfluss entstehende Puber-
tätsgingivitis ist häufig mit einer Mundatmung verbunden. Die Puber-
18.2 Diagnose Kapitel 18 525
tätsgingivitis tritt auf, wenn bei Mädchen der Östradiolspiegel und bei
Jungen der Testosteronspiegel erhöht ist.
Die im Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus auftretende
Gingivitis entsteht unmittelbar vor der Ovulation. Während der Ovula-
tion ist die Menge an Sulkusexsudat erhöht.
Bei der Schwangerschaftsgingivitis liegen die während einer
Schwangerschaft ausgeschütteten Hormone Östrogen und Progesteron
verstärkt in der Sulkusflüssigkeit vor. Sie bewirken, dass das gingivale
Gewebe auf eine bakterielle Invasion empfindlicher reagiert. Die Hor-
mone erhöhen u.a. die Gefäßpermeabilität, die Ödembildung und die
Synthese von Prostaglandinen und anderen Entzündungsmediatoren.
Vor allem ab dem zweiten Schwangerschaftstrimenon sind häufig spon-
tane Blutungen der Gingiva zu beobachten. Bei der Schwangerschafts-
gingivitis ist die Menge an vorliegender Plaque im Vergleich zu gesun-
den Patienten nicht erhöht. Vielmehr kann eine Veränderung der
Plaquezusammensetzung beobachtet werden. So liegt ein gehäuftes Auf-
treten bestimmter Bakterien (Prevotella intermedia, Prevotella melani-
nogenica, Bacteroides subspecies) in der Plaque vor. Diese Bakterien,
insbesondere P. intermedia, können den für sie wichtigen Nährstoff
Naphthochinon durch die Schwangerschaftshormone in der Sulkusflüs-
sigkeit substituieren. Teilweise ist die Schwangerschaftsgingivitis mit ei-
nem exophytisch wachsenden Granulom (Granuloma pyogenicum,
„Schwangerschaftstumor“) vergesellschaftet, das meist interdental und
im Oberkiefer zu finden ist.
Beim schlecht eingestellten Diabetes mellitus findet man, wie be- Diabetes
reits beschrieben, eine Interaktion mit entzündlichen Parodontopa-
thien. Die Hyperglykämie kann neben anderen Auswirkungen auch zu
einer Erhöhung der Glukose in der Sulkusflüssigkeit und im Speichel
führen. Dadurch wird das Wachstum von subgingivalen Plaquebakte-
rien gefördert, die parodontale Veränderungen auslösen. Ein grundsätz-
licher Unterschied in der bakteriellen Flora zwischen Diabetikern und
Nichtdiabetikern besteht nicht. Tendenziell werden aber vermehrt Cap-
nocytophaga-Spezies, anaerobe, bewegliche Stäbchen, Spirochäten und
fusiforme Bakterien in der Plaque schlecht eingestellter Diabetiker ge-
funden. Weitere Faktoren, die die Bildung einer entzündlichen Erkran-
kung fördern, sind: erhöhte endogene Kollagenaseaktivität, Alteration
der Funktion (Phagozytose, Chemotaxis) der neutrophilen Granulozy-
ten, Mikroangiopathien und Xerostomie (weitere ausführliche Hin-
weise s. Kap. 16.3).
Vor allem bei akuten Formen der lymphatischen Leukämie (tritt Leukämie
meist im Kindesalter auf) und der myeloischen Leukämie (meist im Er- 18
wachsenenalter) liegen intraorale Frühsymptome vor. Bei den chroni-
schen Formen sind die Symptome weniger ausgeprägt. Allgemeine
Krankheitssymptome sind Blässe, Infekt- und Blutungsneigung. Intra-
orale Leitsymptome akuter Leukämien sind Nekrosen (Ulzerationen),
Gewebevermehrung der Gingiva und Blutungen. Beim Auftreten von
526 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
zwei der drei genannten Kardinalsymptome muss vom Zahnarzt drin-
gend eine internistische Untersuchung veranlasst werden.
Medikamentös verstärkte Gingivopathien
Gingivaver- Medikamentös beeinflusste Gingivavergrößerungen haben eine geneti-
größerungen sche Prädisposition. Die Gingivaläsionen finden sich bevorzugt im Be-
reich der Frontzähne, wobei vor allem die Papillenbereiche betroffen
sind. Die medikamentös bedingte Gingivahyperplasie kann als Begleit-
erscheinung bei der Einnahme bestimmter Medikamente (Phenytoin,
Cyclosporin A, Nifedipin) auftreten. Diesen Medikamenten ist gemein-
sam, dass sie den zellulären Kalziumstoffwechsel beeinflussen. Der pa-
thogenetische Einfluss auf die Gingiva ist aber nicht geklärt.
Antiepileptika, wie Phenytoin (z.B. Dilantin), verhüten oder dämp-
fen die anfallsweisen Leiden der meisten Epilepsieformen. Die Gingiva-
vergrößerung tritt nur bei hoher Dosierung des Medikaments auf und
wird bei ca. 50% der Patienten beobachtet. Die Gingivavergrößerung ist
bei guter Mundhygiene deutlich reduziert.
Immunsuppressiva wie Cyclosporin A (z.B. Sandimmun) werden
z.B. bei Organtransplantationen oder Autoimmunerkrankungen beglei-
tend verordnet und führen bei ca. 30% der Patienten zu Gingivavergrö-
ßerungen. Die Ausprägung der Gingivahyperplasien ist dosisabhängig
und bei guter Mundhygiene reduziert.
Kalziumantagonisten, wie Nifedipin (Adalat) oder Verapamil wer-
den bei koronaren Herzkrankheiten und Bluthochdruck verordnet.
Etwa 20–50% der Patienten entwickeln Gingivavergrößerungen.
Gingivitis Bei der medikamentös beeinflussten Gingivitis während der Ein-
nahme oraler Kontrazeptiva (Pillengingivitis) liegt eine verstärkte Ent-
zündungsreaktion auf dentale Plaque zugrunde. Das klinische Bild äh-
nelt der Schwangerschaftsgingivitis. Die Pillengingivitis tritt meist auf,
wenn stark progesteronhaltige Kontrazeptiva verabreicht werden.
Durch Mangel- und/oder Fehlernährung beeinflusste Gingivopathien
Durch Mangel- und/oder Fehlernährung kann es zu einer einge-
schränkten Immunabwehr kommen, wodurch die entzündliche Reak-
tion auf die dentale Plaque verstärkt wird.
Chronischer Ascorbinsäuremangel (Skorbut, Vitamin-C-Avitami-
nose) mit Beeinträchtigung der Kollagensynthese (Blutungen), Ernäh-
rungsstörungen, wie Kwashiorkor (in Entwicklungsländern auftretende
Eiweißmangelerkrankung) sowie Mangelernährung bei Anorexia ner-
vosa (Magersucht) oder chronischem Alkoholabusus wirken sich auf die
Reaktion des Parodonts aus.
Nicht durch dentale Plaque induzierte Gingivopathien
Bakterielle Verschiedene spezifische bakterielle Infektionen führen ohne Plaquebe-
Infektionen teiligung zu oralen Infektionen.
18.2 Diagnose Kapitel 18 527
Die Infektion mit Neisseria gonorrhoea kann zu meist symptomlo-
sen Enanthemen (Schleimhautveränderungen) führen.
Alle drei Stadien der Infektion mit Treponema pallidum können in
der Mundhöhle Veränderungen auslösen:
D Primäraffekt: Ulcus durum mit Lymphadenopathie
D sekundäre Lues: fleckförmiges orales Enanthem, sog. Plaque mu-
queuses
D tertiäre Lues: Gummen am harten und weichen Gaumen
Durch β-hämolysierende Streptokokken ausgelöste Infektionen kön-
nen orale Symptome zeigen. So finden sich z.B. beim Scharlach ein sehr
stark geröteter Rachen und weicher Gaumen.
Verschiedene spezifische Viruserkrankungen weisen ebenfalls orale Virusinfektionen
Symptome auf. Infektionen mit Herpesviren (HSV-1 und -2; HHV-3, -4
und -5) gehen häufig mit einer akuten, schmerzhaften Symptomatik
einher.
Die Gingivostomatitis herpetica ist eine meist mit Fieber einherge-
hende Erstinfektion mit Herpes-simplex-Viren (HSV-1 oder -2), die bei
Kindern im Alter von zwei bis vier Jahren, selten bei Erwachsenen, auf-
tritt. Im gesamten Mundraum finden sich Herpes-Bläschen, die nach
dem Aufplatzen aphthenähnliche Läsionen hinterlassen. Der rezidivie-
rende orale Herpes wird durch Viren (HSV-1 oder -2) ausgelöst, die in
sensorischen Ganglien latent persistieren. Eine lokale Exazerbation mit
hoch kontagiösen Bläschen an der Lippe oder Gingiva kann durch Im-
munreduktion, Stress, Ekel, UV-Bestrahlung oder andere Reize ausgelöst
werden.
Herpes-zoster-Läsionen sind im Ausbreitungsgebiet eines Nervs (z.B.
N. trigeminus) durch das Varicella-Zoster-Virus (HHV-3) hervorgeru-
fene Effloreszenzen in Form von konfluierenden Bläschen. Die Erkran-
kung erfolgt als eine Reinfektion nach kindlichen Varizellen (= Windpo-
cken) mit ausgebildeter Teilimmunität. Sie kann aber auch von Viren
ausgelöst werden, die nach kindlicher Varizelleninfektion in einem
Ganglion latent vegetieren, sodass es bei älteren oder geschwächten Pa-
tienten zu einem Ausbruch der Erkrankung kommen kann.
Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (HHV-4, Auslöser der in-
fektiösen Mononukleose, Pfeiffer-Drüsenfieber) oder Zytomegalievirus
(HHV-5) können zu oralen Symptomen führen. Orale Symptome kön-
nen auch vorliegen bei viralen Infekten wie Masern (Koplick-Flecken:
weiße Schleimhautstippen der Wange mit rotem Hof) und Röteln (fle-
ckiges Rachenenanthem) oder bei Infektionen durch Papillomaviren
(Schleimhautwarzen). 18
Bei immunsupprimierten Patienten, Patienten unter Antibiotika-
therapie oder bei Vorliegen lokaler Reize (schlecht sitzende Prothe-
sen) können Pilzinfektionen mit Candida spp., meist C. albicans,
auftreten.
528 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Pilzinfektionen Als Symptom der oralen Candidiasis finden sich u.a. weiße, abwisch-
bare Beläge (Soor, Pseudomembranen), unter denen sich eine hochrote
leicht blutende Schleimhaut befindet. Im Rahmen systemischer Erkran-
kungen wie z.B. Diabetes mellitus oder HIV-Infektion liegt eine orale
Candidiasis ebenfalls gehäuft als opportunistische Infektion vor.
Als lineares gingivales Erythem wird die bei HIV-Seropositiven oft
vorliegende starke Rötung der marginalen Gingiva bezeichnet. Eine His-
toplasmose (Histoplasma-Mykose) wird ebenfalls vorwiegend bei im-
mungeschwächten Patienten gefunden.
Die hereditäre Gingivafibromatose ist eine generalisierte oder auf
Zahngruppen begrenzte derbe, fibröse Verdickung der Gingiva. Sie wird
häufig im Tuber- und Gaumenbereich der Molaren symmetrisch ange-
troffen. Die fibrös verdickte Gingiva ist primär entzündungsfrei, von
normaler oder eher blasser Farbe mit gestippelter, manchmal leicht gra-
nulierter Oberfläche. Durch Ausbildung von Pseudotaschen kommt es
häufig sekundär auch zu entzündlichen Veränderungen der Gingiva.
Gingivale Manifestationen systemischer Erkrankungen können als
Ausdruck dermatologischer Grunderkrankungen zu mukokutanen
Veränderungen der oralen Schleimhaut führen.
Autoimmun- Lichen planus ist eine Autoimmunerkrankung, die mit oralen hyperke-
erkrankungen ratotischen Effloreszenzen unterschiedlichen Aussehens (netzartig =
Wickham-Streifung, flächig oder erosiv) der oralen Mukosa einhergeht.
Eine maligne Transformation tritt bei ca. 2% der Fälle auf. Eine liche-
noide Reaktion kann auch durch zahnärztliche Materialien (z.B. Amal-
gam) ausgelöst werden.
Schleimhautpemphigoid, Pemphigus vulgaris und Erythema ex-
sudativum multiforme sind Dermatosen, deren vorliegende Verände-
rungen der Gingiva auch dem Formenkreis der desquamativen Gingivi-
tiden zugeordnet werden. Als desquamative Gingivitiden werden selten
auftretende Gingivaerkrankungen zusammengefasst, bei denen eine
nur dünne, hellrote Epithelschicht vorliegt, die sich leicht vom subepi-
thelialen Bindegewebe abheben lässt. Dabei können Blasenbildungen
der Gingiva vorliegen oder mit dem Luftbläser hervorgerufen werden.
Beim Lösen der Blasen bleiben schmerzhafte Erosionen oder Ulzeratio-
nen zurück. Das Schleimhautpemphigoid und der Pemphigus vulgaris
sind Autoimmunerkrankungen unklarer Genese. Beide Erkrankungen
werden häufiger bei Frauen als bei Männern diagnostiziert. Beim Ery-
thema exsudativum multiforme werden eine symptomatische Genese
infolge einer Arzneimittelunverträglichkeit und eine idiopathische Ge-
nese unterschieden.
Als Lupus erythematodes wird eine Autoimmunerkrankung mit
Bildung von Antikörpern gegen verschiedene Zellbestandteile bezeich-
net, die bei schwerer Verlaufsform Organbeteiligungen zeigt. Die oralen
Läsionen ähneln einer Leukoplakie oder dem Lichen planus.
18.2 Diagnose Kapitel 18 529
Allergische Reaktionen auf Bestandteile zahnärztlicher Restaura- Allergien
tionsmaterialien sind Kontaktallergien (Typ-IV-Reaktion: verzögerte Im-
munreaktion) mit lichenoiden Läsionen. Nach Entfernung des Mate-
rials verschwindet die Läsion. Allergische Reaktionen auf Bestandteile
von Zahnpflege- oder Nahrungsmitteln stellen eine Typ-I-Reaktion vom
Soforttyp dar. Dabei treten akute Gingivaentzündungen und Ulzeratio-
nen auf.
Orale traumatische Läsionen können unbeabsichtigt, iatrogen Traumata
oder unfallbedingt entstehen. Bei einer chemischen Traumatisierung
kann z.B. eine lokale Applikation von Medikamenten (z.B. Acetylsalicyl-
säure) die Ursache sein. Mechanische Verletzungen können durch un-
sachgemäße Anwendung von Mundhygienehilfsmitteln oder thermi-
sche Schädigungen durch heiße Nahrungsmittel ausgelöst sein.
Unter einer Fremdkörperreaktion wird eine Entzündung z.B. der
Gingiva auf eingebrachtes Fremdmaterial (z.B. verbliebenes Nahtmate-
rial) verstanden.
18.2.2 Chronische Parodontitis
! Die chronische Parodontitis ist eine entzündliche, durch bakte-
rielle Beläge verursachte Erkrankung aller Anteile des marginalen
Parodonts, d.h. der Gingiva, des Desmodonts, des Wurzelzements
und des Alveolarknochens, mit fortschreitendem Verlust an Stütz-
gewebe.
Kardinalsymptome sind die Taschenbildung und/oder Rezessionen. Symptome
Die chronische Parodontitis (früher: langsam fortschreitende Erwachse-
nenparodontitis; AP = adult periodontitis) entwickelt sich meist ab dem
30. bis 35. Lebensjahr. Eine chronische Parodontitis kann aber auch bei
Kindern und Jugendlichen auftreten. Die Mundhygiene der Patienten
ist meist unzureichend. Es finden sich große Mengen an Plaque und su-
pra- bzw. subgingivalem Zahnstein, sodass i.d.R. eine Gingivitis vorliegt.
Zusätzlich zeigt das klinische Bild der chronischen Parodontitis Kno-
chenabbau, Abszesse, Zahnwanderungen und -kippungen sowie Zahn-
fleischtaschen mit Attachmentverlust. Als Spätsymptom sind erhöhte
Zahnbeweglichkeiten zu beobachten. Die Erkrankung ist als Erkrankung
des einzelnen Parodonts zu verstehen. Sie zeigt eine langsame oder mä-
ßige Progression und verläuft schubweise. Phasen der erhöhten paro-
dontalen Destruktion wechseln mit Phasen der Stagnation. Akute Exa-
zerbationen mit aktiven Taschen finden sich neben ruhenden, inakti- 18
ven Taschen.
Als aktive Taschen werden Zahnfleischtaschen bezeichnet, welche
die typischen Entzündungszeichen (Blutung, Exsudat etc.) aufwei-
sen.
530 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Mikrobielle Zu- Die subgingivale Plaque in nicht aktiven, ruhenden Taschen setzt sich
sammensetzung aus einer Mischflora zusammen, die im Vergleich zu einem gesunden
Parodont vermehrt gramnegative anaerobe Mikroorganismen und Spi-
rochäten aufweist. In den aktiven Taschen kann die Zusammensetzung
der subgingivalen Plaque der Zusammensetzung bei den aggressiven Pa-
rodontitiden ähneln (Porphyromonas gingivalis, Aggregatibacter acti-
nomycetemcomitans, Tannerella forsythia usw.).
Eine chronische Parodontitis spricht nicht immer auf die eingeleiteten
Therapiemaßnahmen an und erweist sich zum Teil als therapieresistent.
Befall Die klinischen Symptome können an einzelnen oder allen Zähnen
eines Gebisses vorliegen. Bei der lokalisierten chronischen Parodonti-
tis sind weniger als 30% der Flächen betroffen. Die generalisierte Form
zeigt einen Befall von über 30% der Flächen.
Die Schwere der Erkrankung kann für einzelne Flächen, einzelne
Zähne oder die gesamte Dentition angegeben werden:
D leicht: 1–2 mm Attachmentverlust
D mäßig: 3–4 mm Attachmentverlust
D schwer: > 5 mm Attachmentverlust
18.2.3 Aggressive Parodontitis
! Bei einer aggressiven Parodontitis werden schwere parodontale
Destruktionen mit raschem Attachmentverlust beobachtet. Die
aggressive Parodontitis kann ohne Behandlung innerhalb kurzer
Zeit (ein bis zwei Jahre) zu einem fast vollständigen Verlust des
parodontalen Stützapparates der befallenen Zähne führen.
Klinik Die Gingiva der Patienten weist oft keine oder nur geringe Entzün-
dungszeichen auf. Die geringe Menge an supra- und subgingivaler
Plaque und Zahnstein korreliert nicht mit dem Grad der parodontalen
Destruktion. Der schnell fortschreitende Knochenabbau verläuft in Zy-
klen. In den aktiven Destruktionsphasen entleert sich häufig eitriges Ta-
schensekret. Eine familiäre Häufung ist vorhanden.
Mikrobielle Zu- Vor allem in der nicht adhärenten, schwimmenden subgingivalen
sammensetzung Taschenflora dominiert der Anteil an gramnegativen anaeroben Mikro-
organismen und Spirochäten. Insbesondere finden sich erhöhte Men-
gen an Porphyromonas gingivalis, Prevotella intermedia, Aggregati-
bacter actinomycetemcomitans, Fusobacterium nucleatum, Capnocyto-
phaga-Species, Campylobacter rectus und Eikenella corrodens. Vor
allem Porphyromonas gingivalis wird für die schweren Destruktionen
(parodontaler Breakdown) verantwortlich gemacht, indem es die
Funktion der neutrophilen Granulozyten behindert. Auch Aggregati-
bacter actinomycetemcomitans, der die Fähigkeit besitzt, ins Weichge-
webe einzudringen, wird eine entscheidende Bedeutung bei der Ent-
wicklung einer aggressiven Parodontitis beigemessen. Der Nachweis
18.2 Diagnose Kapitel 18 531
dieser Bakterien konnte aber nicht bei allen Patienten mit aggressiver
Parodontitis erbracht werden. Darüber hinaus weisen viele Patienten
mit einer aggressiven Parodontitis Defekte (Chemotaxis, Migration) der
neutrophilen Granulozyten und Monozyten auf. Auch ist es den neu-
trophilen Granulozyten nicht möglich, Aggregatibacter actinomyce-
temcomitans nach Phagozytose abzutöten. Es kann auch ein hyperreak-
tiver Makrophagen-Phänotyp mit vermehrter Ausschüttung gewebede-
struierender Faktoren (PGE-2, IL-1b) vorliegen. Es wird vermutet, dass
die Defekte der Leukozyten vererbt werden.
Die aggressive Parodontitis kann lokalisiert oder generalisiert auftreten.
Die lokalisierte aggressive Parodontitis (früher: juvenile lokalisierte Lokalisierte
Parodontitis, LJP) ist eine entzündliche Parodontalerkrankung, die aggressive
etwa während der Pubertät im Alter von zehn bis 13 Jahren be- Parodontitis
ginnt.
Die anfänglich hohe Destruktionsaktivität kann später verlangsamen
oder sistieren. Das klinische Bild zeigt parodontale Läsionen, die vor-
nehmlich auf die mittleren Inzisivi und ersten Molaren beschränkt sind
und gewöhnlich eine im Gebiss symmetrische Verteilung haben. Ein ap-
proximaler Attachmentverlust findet sich bei mindestens zwei bleiben-
den Zähnen, wobei einer davon ein erster Molar ist. Der Serumantikör-
pertiter gegen nachweisbare bakterielle Agenzien ist stark erhöht.
Deshalb sollte auch bei den pubertären Patienten, welche auf den
ersten Blick ein parodontal gesundes Gebiss aufweisen, eine Sondierung
der Molaren und Inzisivi erfolgen. Wird eine lokalisierte aggressive Pa-
rodontitis diagnostiziert und therapiert, kann die Progredienz der Er-
krankung meist erfolgreich gestoppt werden.
Die generalisierte aggressive Parodontitis (früher: schnell fortschrei- Generalisierte
tende Parodontitis, RPP = rapid progressive periodontitis) beginnt aggressive
meist vor dem 35. Lebensjahr. Die Patienten weisen keine allgemei- Parodontitis
nen systemischen Erkrankungen auf.
Die Erkrankung weist phasenweise Destruktionen auf und kann aus ei-
ner lokalisierten aggressiven Parodontitis hervorgehen. Es findet sich
ein generalisierter approximaler Attachmentverlust an mindestens drei
Zähnen, die nicht die ersten Molaren oder Inzisivi sind. Risiko erhö-
hend für das Auftreten einer generalisierten aggressiven Parodontitis
sind z.B. Zigarettenkonsum und Stress. Im Gegensatz zur lokalisierten
aggressiven Parodontitis ist der Serumantikörpertiter gegen nachweis- 18
bare bakterielle Agenzien nur schwach erhöht.
Eine vor der Pubertät auftretende lokalisierte Parodontitis kann
chronisch oder aggressiv verlaufen und wird dann den entsprechenden
Kategorien zugeordnet. Generalisierte, präpubertär auftretende Formen
sind meist Manifestationen systemischer Erkrankungen.
532 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
18.2.4 Parodontitis als Manifestation systemischer Erkrankungen
! Bei einer großen Zahl von Allgemeinerkrankungen kann es auch
zu krankhaften Veränderungen an der Gingiva oder am Parodon-
tium kommen. Diese Veränderungen müssen von den plaquebe-
dingten Formen der Gingivitis und Parodontitis unterschieden
werden. Da bei diesen Erkrankungen aber häufig die Mundhy-
giene beeinträchtigt ist, kommt es fast immer sekundär auch zu
plaquebedingten entzündlichen Veränderungen.
Blut- Verschiedene Bluterkrankungen zeigen intraorale Symptome. Dazu zäh-
erkrankungen len:
D Erworbene Neutropenie, Agranulozytose: Durch Arzneimittel be-
dingte Granulozytopenie mit Schleimhautnekrosen und schweren
allgemeinen Krankheitssymptomen bei stark verminderter Zahl
neutrophiler Granulozyten.
D Leukämie: Maligne Entartung und Reifungsstörung der Leukozyten
(lymphatische L.: Lymphozyten betreffend, myeloische L.: andere
Leukozyten betreffend). Mit Nekrosen und Gingivavergrößerung
einhergehende parodontale Läsionen (s. Kap. 1.2: Systemisch ver-
stärkte Gingivopathien).
Genetische Zurzeit werden folgende genetischen Erkrankungen beschrieben, mit
Erkrankungen denen parodontale Läsionen assoziiert sind:
D Hereditäre oder zyklische Neutropenie: Angeborene Neutrozyto-
penie (neutrophile Granulozyten < 1500/µl) mit bakteriellen Infek-
tionen. Chronischer Verlauf mit fortgeschrittener generalisierter Pa-
rodontitis.
D Beim Down-Syndrom (Trisomie 21) handelt es sich um eine num-
merische autosomale Chromosomenaberration (dreifaches Chro-
mosom 21), die u.a. mit geistiger Retardierung, rundlichem Min-
derwuchs, Hypertelorismus, offenem Mund (Mundatmung) und
Herzfehlern einhergeht. Die generalisierten, schweren, rasch fort-
schreitenden Parodontitiden beginnen bereits in der ersten Denti-
tion. Als ätiologische Faktoren werden, neben der eingeschränkten
Mundhygiene und der vorliegenden Mundatmung, Chemotaxisde-
fekte der neutrophilen Granulozyten vermutet.
D Leucocyte-Adhesion-Deficiency-Syndrom (LADS): Seltene Erkran-
kung mit defekter Expression von Adhärenzproteinen der neutro-
philen Granulozyten, sodass die Neutrophilenauswanderung durch
die Blutgefäße stark unterdrückt ist.
D Lazy-Leukocyte-Syndrom: Immundefekt mit Migrations- und Che-
motaxisdefekt der neutrophilen Granulozyten, verbunden mit
schweren allgemeinen Infektionen.
D Papillon-Lefèvre-Syndrom: Seltene, autosomal-rezessiv vererbte
Hyperkeratose, vorwiegend an Hand- und Fußflächen, mit schweren
18.2 Diagnose Kapitel 18 533
Parodontitiden. Die Milchzähne und bleibenden Zähne der Erkrank-
ten gehen aufgrund des raschen Knochenverlusts meist schon früh-
zeitig verloren. Die entzündliche Gingiva weist den bei Vorliegen
systemischer Allgemeinerkrankungen häufig beobachteten hochro-
ten Gingivalsaum auf.
D Chediak-Higashi-Syndrom: Seltene hereditäre Stoffwechselanoma-
lie mit Pigmentstörungen der Haut und Störungen der zellulären
Immunität (Enzymopathie). Migrations- und Chemotaxisdefekte
der Granulozyten; reduzierte Fähigkeit zur intrazellulären Abtötung
von Bakterien.
D Histiozytose: Von den Langerhans-Zellen ausgehende schwere All-
gemeinerkrankung mit Bildung von Granulationsgewebe im Kno-
chen und den Weichgeweben. Man unterscheidet bei den Histio-
zytosen das Abt-Letterer-Siwe-Syndrom (bei Säuglingen/Kindern,
fatale Prognose), die Hand-Schüller-Christian-Erkrankung (bei Kin-
dern/Jugendlichen, ungünstige Prognose) und den Langerhans-Zell-
tumor (= eosinophiles Granulom), der die mildeste Verlaufsform
darstellt. Das klinische Bild ähnelt dem der lokalisierten aggressiven
Parodontitis. Als Besonderheit finden sich aber deutliche Schleim-
hauteinziehungen der Gingiva. Die Diagnosesicherung kann nur
histologisch erfolgen.
D Glykogenspeicher-Syndrom: Erkrankung mit gesteigerter Glyko-
genspeicherung in vielen Organen, Neutropenie und eingeschränk-
ter Funktion neutrophiler Granulozyten.
D Infantile genetische Agranulozytose: Sehr seltene, schwere Neu-
tropenie mit generalisierter Parodontitis des Milchgebisses.
D Cohen-Syndrom: Erkrankung mit Adipositas, schwerer geistiger Be-
hinderung, Mittelgesichtsfehlbildungen und Neutropenie.
D Ehlers-Danlos-Syndrom: Bindegewebsschwäche durch defekte Kol-
lagensynthese (z.B. Überstreckbarkeit der Gelenke). Zehn verschie-
dene Erkrankungsformen. Bei den Typen IV und VIII zum Teil be-
reits in der ersten Dentition beginnende schwere Parodontalerkran-
kungen.
D Hypophosphatasie (Rathbun-Syndrom): Autosomal-rezessiv ver-
erbter Mangel an alkalischer Phosphatase mit schweren Mineralisa-
tionsstörungen des Skeletts und frühzeitigem Zahnverlust.
D Albright-Syndrom: Form der Osteodystrophia fibrosa unilateralis,
bei der zusätzlich Pigmentstörungen der Haut und Pubertas praecox
auftreten. Die Osteodystrophia fibrosa unilateralis stellt eine Stö-
rung der Knochenentwicklung dar, bei der das Knochenmark durch
zellarmes, faserreiches Bindegewebe ersetzt wird. Sie beginnt zwi- 18
schen dem fünften und 15. Lebensjahr und geht mit Knochen-
schmerzen und Spontanfrakturen einher.
D Pelger-Huet-Kernanomalie: Autosomal-dominant erbliche Kern-
anomalie der Granulozyten mit Migrations- und Chemotaxisdefek-
ten.
534 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
D Morbus Crohn (Enteritis regionalis Crohn): Granulomatöse Ent-
zündung mit Bindegewebevermehrung und sekundären Ulzeratio-
nen, die alle Abschnitte des Magen-Darm-Trakts befallen kann.
D Antikörper-Mangelsyndrom: Mangel bzw. Fehlen der Immunglo-
buline mit rezidivierenden, meist bakteriellen Infektionen.
18.2.5 Nekrotisierende Parodontalerkrankungen
Nekrotisierende ulzerative Gingivitis (NUG)
Klinik Die NUG (Synonym: Plaut-Vincent-Gingivitis) beginnt meist schlagartig
mit einer schmerzhaften Entzündung der interdentalen Gingiva (Col).
Später ist auch die übrige Gingiva betroffen. Es finden sich Nekrosen und
Ulzerationen zunächst der interdentalen, später auch der übrigen Gin-
giva. Nach Abheilen der NUG bleiben interdentale Krater der Gingiva zu-
rück. Die befallene Gingiva besitzt keine Epitheldeckschicht mehr und ist
von einer schmierigen, gelblichen Membran überzogen. Beim Entfernen
dieser Pseudomembran aus Fibrin und Zellresten treten starke Schmerzen
und Blutungen auf. Die nekrotische Gingiva wird durch eine rötliche Li-
nie von der nicht befallenen, gesunden Gingiva abgegrenzt. Die meist
jüngeren Patienten (18–30 Jahre) klagen häufig über einen starken Foetor
ex ore, Lymphknotenschwellungen und in seltenen Fällen über Fieber.
Prävalenz/DD Die Prävalenz der Erkrankung beträgt 0,2–6%. Differentialdiagnos-
tisch muss die NUG gegen eine Gingivostomatitis herpetica abgegrenzt
werden.
Ätiologie Die Ätiologie ist durch das Vorliegen folgender Faktorentrias ge-
kennzeichnet:
D schlechte Mundhygiene (bereits bestehende Gingivitis)
D Rauchen
D emotionaler Stress
Die NUG wird häufig in Entwicklungsländern im Zusammenhang
mit einer Mangelernährung der Patienten beobachtet. Eventuell
stellt sie in diesen Ländern als nekrotisierende Stomatitis eine Form
der Noma-Erkrankung dar. Sie tritt auch mit zunehmender Häufig-
keit in industrialisierten Ländern, vor allem als orale Manifestation
bei HIV-Erkrankten, auf.
HIV-Infektion Die HIV-Infektion ist eine durch das HI-Virus I verursachte Immun-
schwäche. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung finden sich
u.a. folgende parodontale bzw. orale Symptome:
D therapierefraktäre NUP-ähnliche Parodontitis
D Pilz- und Herpes-zoster-Infektionen
D Neoplasmen (Kaposi-Sarkome, Non-Hodgkin-Lymphome, Burkitt-
Lymphome, Papillome)
D Haarleukoplakie an Rand oder Unterseite der Zunge
18.2 Diagnose Kapitel 18 535
Die NUG kann auch bei geschwächten Patienten, bei Patienten mit Mikrobiologie
Blutkrankheiten, bei immunsupprimierten Patienten und im Rahmen
von Avitaminosen auftreten. Mikrobiologisch liegt bei der NUG eine
Infektion mit rasch ins Gewebe eindringenden Spirochäten und Fuso-
bakterien sowie einer oberflächlichen Schicht von Porphyromonas gin-
givalis, Kokken und Bakteroides-Stämmen vor.
Als Manifestation einer schweren systemischen Abwehrschwäche NUP
kann sich eine nekrotisierende ulzerative Parodontitis (NUP) entwi-
ckeln. Die Nekrosen greifen dabei auch auf das parodontale Ligament
und den Alveolarknochen über. Es tritt ein rascher Attachmentverlust
häufig ohne Ausbildung tiefer Taschen ein. Eine Sequesterbildung des
Knochens kann beobachtet werden. Häufig liegt eine fortgeschrittene
HIV-Erkrankung vor (AIDS).
18.2.6 Abszesse des Parodonts
Beim Gingivaabszess handelt es sich um einen akut-entzündlichen Pro- Gingivaabszess
zess an der Gingiva mit Bildung von Pus. Es liegt kein Attachmentver-
lust vor. Gingivaabszesse werden nach Keimbesiedlung traumatischer
Verletzungen, im Rahmen hormonell verstärkter Gingivitiden (z.B. bei
Pillengingivitis) oder bei medikamentös beeinflussten Gingivavergröße-
rungen beobachtet.
Der Parodontalabszess stellt eine akute Exazerbation einer beste- Parodontal-
henden Parodontitis dar. Vor allem P. gingivalis, P. intermedia, T. forsy- abszess
thia, F. nucleatum sind subgingival erhöht. Häufig ist der Taschenein-
gang verlegt. Parodontalabszesse treten verstärkt bei lokaler oder allge-
meiner Abwehrschwäche auf. Sie können bei Diabetes mellitus auch
multipel vorliegen.
Perikoronale Abszesse können bei Durchbruchstörungen der Weis- Perikoronaler
heitszähne im Unterkiefer auftreten. Je nach Stadium kann das Allge- Abszess
meinbefinden reduziert sein (Fieber, Lymphknotenschwellung). Der
Prozess kann sich in benachbarte Regionen bzw. Logen ausbreiten.
18.2.7 Parodontitis im Zusammenhang mit endodontalen
Läsionen
Zwischen dem Parodont und dem Endodont besteht eine enge Wechsel-
beziehung. Durch das Foramen apicale und durch Seitenkanäle der
Pulpa sind diese beiden Bereiche miteinander verbunden. Deshalb kön- 18
nen entzündliche Prozesse des einen Bereichs auf den anderen Bereich
übergreifen. Häufig kann die eigentliche Ursache vorliegender Be-
schwerden dann nur schwer festgestellt werden.
536 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Klassifikation Auf dem Röntgenbild können die parodontale und endodontale Lä-
sion konfluieren. Es werden folgende Klassen parodontal-endodontaler
Läsionen unterschieden:
D Klasse I: primär endodontische Probleme: Die entzündlichen Verän-
derungen der Pulpa haben auf das Parodont übergegriffen. Die Pulpa
ist in diesem Fall fast immer devital. Dies kann zu einer apikalen Pa-
rodontitis, einem Parodontalabszess oder auch einer Osteolyse im
Furkationsbereich führen.
D Klasse II: primär parodontale Probleme: Die entzündlichen Verän-
derungen des Parodonts haben auf die Pulpa übergegriffen. Über das
Foramen apicale kann auf diesem Wege eine retrograde Pulpitis ent-
stehen.
D Klasse III: kombinierte parodontal-endodontale (Paro-Endo) Pro-
bleme: Die parodontale und endodontale Läsion sind unabhängig
voneinander entstanden. Der betroffene Zahn ist devital.
Reagiert der betroffene Zahn devital, so ist eine endodontische Behand-
lung indiziert. Im Frühstadium ist der Ansatz der Parodontalfasern im
noch gesunden Zement intakt. Daher kann die endodontische Behand-
lung bei Klasse-I-Läsionen auch zu einer Restitutio ad integrum der pa-
rodontalen Knochenläsion führen. Bei Klasse-II- bzw. Klasse-III-Läsio-
nen muss im Anschluss an die erforderliche endodontische Behandlung
unverzüglich eine Parodontaltherapie erfolgen. Die Prognose von Zäh-
nen mit Klasse-II-Läsionen mit tiefen parodontalen Defekten und insbe-
sondere von Zähnen mit Klasse-III-Läsionen ist fraglich.
18.2.8 Entwicklungsbedingte oder erworbene Deformitäten und
Zustände
Lokalisierte Faktoren, die eine Plaquanlagerung begünstigen
Die Plaqueanlagerung kann durch verschiedene sekundäre lokale Fakto-
ren, wie Zahnanatomie, zahnärztliche Restaurationen, kieferorthopädi-
sche Geräte, Wurzelfrakturen, zervikale Wurzelresorptionen oder zervi-
kale Zementabrisse gefördert werden.
Wurzellängsfrakturen werden meist bei endodontisch behandelten
Zähnen beobachtet. Nicht endodontisch behandelte Zähne sind selte-
ner betroffen. Die Keimbesiedelung des Frakturspalts führt dann sekun-
där zu einer starken parodontalen Destruktion. An diesen Zähnen liegt
dann oft eine stark erhöhte Sondierungstiefe vor, die ausschließlich auf
den Bereich des Frakturspalts begrenzt ist.
18.2 Diagnose Kapitel 18 537
Weichgewebsrezession
Die Weichgewebs- bzw. gingivale Rezession ist eine meist auf die
orale oder/und vestibuläre Wurzeloberfläche eines Zahnes be-
grenzte, klinisch entzündungsfreie Rückbildung des Parodontiums.
Es finden sich auf der vestibulären, selten auf der oralen Seite eines Zah- Klassifikation
nes frei liegende Wurzeloberflächen. Rezessionen lassen sich nach der
Klassifikation von Miller in vier Klassen einteilen:
D Klasse I: Die Rezession reicht nicht bis zur mukogingivalen Grenze.
Es liegt kein interdentaler Alveolarknochen- und Gingivaverlust vor.
D Klasse II: Die Rezession reicht bis an die mukogingivale Grenze he-
ran oder überschreitet diese. Es liegt kein interdentaler Alveolarkno-
chen- und Gingivaverlust vor.
D Klasse III: Die Rezession reicht bis an die mukogingivale Grenze he-
ran oder überschreitet diese. Es liegt eine leichte Zahnfehlstellung
und/oder ein leichter interdentaler Alveolarknochen- und Gingiva-
verlust vor.
D Klasse IV: Die Rezession reicht bis an die mukogingivale Grenze he-
ran oder überschreitet diese. Es liegt eine Zahnfehlstellung und/oder
ein schwerer interdentaler Alveolarknochen- und Gingivaverlust
vor.
Im Bereich der Rezession weist die Gingiva meist keine klinischen Ent- Klinik
zündungszeichen und keine erhöhten Sondierungstiefen auf, ist aber
manchmal in Form von McCall-Girlanden wulstig verdickt. Die betrof-
fenen Zähne besitzen überwiegend keine erhöhte Zahnbeweglichkeit.
Als Vorläufer einer beginnenden Rezession liegen häufig Stillman-Spal-
ten der Gingiva vor (Abb. 18.4).
Über die Ursachen der Rezessionen herrscht in der Literatur Unei- Ursachen
nigkeit. Folgende ätiologische Faktoren werden diskutiert:
Abb. 18.4: Gingivale Rezes-
sionen Stillmansche Rezession Mc Callsche
Spalte Girlande
18
538 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
D Dehiszenzen und Fenestrierungen eines meist dünnen vestibulären
Knochens
D prominente Wurzeln
D horizontales, zu kräftiges Zähneputzen mit harten Bürsten und/oder
abrasiver Zahnpasta
D Zug der beweglichen Schleimhaut durch zu hoch ansetzende Frenula
D zu schmale, angeheftete Gingiva
D kieferorthopädische Zahnbewegungen nach vestibulär
D Überbelastung der Zähne durch Funktionsstörungen (Gleithinder-
nisse, Bruxismus)
Es werden die singuläre und die generalisierte parodontale Rezession
unterschieden. Die singuläre parodontale Rezession ist eine parodontale
Rezession an einem Zahn oder einigen Zähnen. Die generalisierte Rezes-
sion dagegen betrifft nahezu alle Zähne.
Okklusales Trauma
Das okklusale Trauma (desmodontale Trauma) bezeichnet eine trauma-
tische, abakteriell-entzündliche Destruktion des tiefen parodontalen
Stützgewebes (zum klinischen Bild und zur Ätiologie s. Kap. 16.2). Als
primäres okklusales Trauma wird die parodontale Schädigung durch
Über-/Fehlbelastung eines Zahnes bei normalem Zahnhalteapparat be-
zeichnet. Das sekundäre okklusale Trauma stellt die parodontale Schä-
digung als Folge normaler oder exzessiver Kräfte bei reduziertem Paro-
dont dar. Okklusale Kräfte allein können keine plaqueassoziierte Paro-
dontalerkrankung oder Attachmentverluste hervorrufen.
18.3 Periimplantäre Erkrankungen
Außer im Bereich des natürlichen Zahnhalteapparates können entzünd-
liche Veränderungen auch im Bereich der biologischen Strukturen um
Zahnimplantate auftreten.
Die entzündlichen Veränderungen im periimplantären Weichge-
webe werden als Mukositis (ohne Knochenverlust) bezeichnet. Bei
fortschreitender Entzündung und Taschenbildung (mit Knochen-
abbau) spricht man von Periimplantitis.
Morphologie Bei gesunden periimplantären Verhältnissen liegt, ähnlich wie beim
Saumepithel, eine kragenförmige, dichte Epithelanlagerung im Bereich
der Durchbruchsstelle des Implantats durch die Gingiva vor. Das subepi-
theliale Bindegewebe umschlingt das Implantat ringförmig als Narbe,
seine Fasern verlaufen parallel zur Implantatoberfläche. Der Weichge-
webeabschluss oberhalb des Knochens besitzt einen hohen Faseranteil
und wenige Fibroblasten und Gefäße.
18.4 Mundgeruch (Foetor ex ore, Halitosis) Kapitel 18 539
Für entzündliche Vorgänge im periimplantären Gewebe werden vor Ursachen
allem bakterielle Angriffe verantwortlich gemacht. Kaufunktionelle
Überbelastungen der Implantatversorgung bei gleichzeitiger Anwesen-
heit von Plaque können eine weitere Ursache für eine gesteigerte peri-
implantäre Knochenresorption sein.
Die Abwehrreaktionen der gingivalen und periimplantären Mukosa
zeigen ähnliche immunologische Antworten auf bakterielle Angriffe.
Dennoch ist bei vorliegenden Entzündungen die Progredienz der De-
struktion im Weichgewebe und Knochen bei Implantaten ausgeprägter
als an natürlichen Zähnen. Das entzündliche Infiltrat an Implantaten
breitet sich direkt bis zum Knochen aus und bleibt nicht wie bei der Paro-
dontitis ca. 1 mm vom krestalen Knochen entfernt. Nikotinkonsum oder
das Vorhandensein systemischer Einflussfaktoren, wie z.B. ein schlecht
eingestellter Diabetes mellitus, stellen sowohl für die Parodontitis als
auch für die Periimplantitis ein deutlich erhöhtes Risiko dar. Implantate
werden je nach Material und Oberflächenbeschaffenheit unterschiedlich
schnell von Plaquebakterien besiedelt. Dabei weist Titan aufgrund des
hohen elektrischen Bindungspotenzials der Passivierungsschicht eine
höhere Affinität zur Plaque auf als Keramik. Freiliegende raue Implantat-
oberflächen scheinen eine Periimplantitis zu begünstigen.
Die mikrobielle Flora der Mukositis ist der Flora der Gingivitis (über- Mikrobiologie
wiegend grampositive, fakultativ-anaerobe Bakterien) sehr ähnlich.
Ebenso weist die Keimbesiedelung bei der Periimplantitis große Ähn-
lichkeiten mit der Besiedelung bei einer fortgeschrittenen Parodontitis
(Aggregatibacter actinomycetemcomitans, Porphyromonas gingivalis,
Prevotella intermedia) auf. Allerdings lassen sich bei der Periimplantitis
höhere Anteile grampositiver Bakterien und z.T. geringere Keimzahlen
als bei der Parodontitis isolieren. Als wichtiger Ausgangspunkt für pa-
thogene Keime werden die vorhandene Restbezahnung, tiefe Taschen
an benachbarten Zähnen, der Speichel und die Schleimhäute sowie bei
zahnlosen Patienten bakterienbesiedelte Nischen (z.B. Zungenfurchen)
in der Mundhöhle angesehen.
18.4 Mundgeruch (Foetor ex ore, Halitosis)
Beim Mundgeruch lässt sich zwischen dem Foetor ex ore und der Hali-
tosis unterscheiden. Dieser Unterschied wird nicht von allen Autoren
getroffen, sodass die beiden Begriffe oft synonym verwendet werden.
Beim Foetor ex ore liegt ein Ausatmungsgeruch vor, dessen Ursache
in der Mundhöhle und/oder den unmittelbar angrenzenden Gebieten 18
liegt. Er ist nur im Mundatem feststellbar und betrifft ca. 85–90% aller
Fälle mit schlechtem Atem. Der Mundgeruch wird dabei durch bakte-
rielle Zersetzung organischen Materials in der Mundhöhle ausgelöst.
Die Halitosis beschreibt einen Ausatmungsgeruch, dessen Ursache
in Organbereichen außerhalb der Mundhöhle liegt. Er ist im Mund-
540 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
und/oder Nasenatem feststellbar und betrifft ca. 10% aller Fälle mit
schlechtem Atem.
Foetor ex ore Der bei parodontal erkrankten Patienten häufig anzutreffende
Mundgeruch wird meist durch flüchtige Schwefelverbindungen (z.B.
H2S, CH3SH), sogenannte „volatile sulfur compounds“ (VSC), hervorge-
rufen. Diese VSC entstehen durch Proteolyse und Hydrolyse S-haltiger
Polypeptide und Aminosäuren aus Mundflüssigkeit, Sulkusfluid, Blut,
desquamierten Zellen und toten Mikroorganismen meist unter Beteili-
gung gramnegativer, proteolytischer Bakterien.
Dabei sind nicht nur bakterielle Zahnbeläge, sondern oftmals auch
eine Belagsbildung auf dem Zungenrücken die Ursache. Der Anteil an
flüchtigen Schwefelverbindungen in der Atemluft kann durch Messun-
gen mit einem elektronischen Gerät (Halimeter) objektivierbar be-
stimmt werden. Die organoleptische Bewertung durch die Nase des Be-
handlers erlaubt eine subjektive Beurteilung, die in drei Grade eingeteilt
werden kann:
D Grad 1: Geruch erst bei 10 cm Abstand wahrnehmbar
D Grad 2: Geruch nur bei 30 cm Abstand wahrnehmbar
D Grad 3: Geruch bei einem Meter und mehr Abstand wahrnehmbar
Neben den bakteriellen Zahn- und Zungenbelägen können auch andere
lokale pathologische Ursachen (z.B. chronische Tonsillitis, ulzerierende
Tumore, Gingivitis oder ANUG) Foetor ex ore auslösen. Die Stagnation
von Mundflüssigkeit in der Nacht, Rückstände von Nahrungsresten
oder eine schlechte Prothesenhygiene können nicht pathologische Ur-
sachen für Foetor ex ore darstellen. Diese letztgenannten Formen wer-
den auch als temporärer Mundgeruch eingeordnet.
Halitosis Neben diesem oralen, bakteriell bedingten Foetor ex ore kann der
Mundgeruch (Halitosis) auch durch lokale pathologische Ursachen aus-
gelöst werden. Diese Ursachen liegen meist im Tätigkeitsbereich der
Hals-, Nasen- und Ohrenmedizin (chronische Sinusitis, atrophische
Ozanea bzw. medikamentöse Rhinitis) und sind seltener gastrointesti-
nal, wie z.B. durch Reflux oder Ösophagusblindsäcke, bedingt. Sehr sel-
ten wird die Halitosis durch systemische Erkrankungen (z.B. Diabetes
mellitus, Urämie, Nierenversagen, Lungenabszesse, Lebererkrankungen,
Trimethylurämie = Fischgeruchskrankheit) hervorgerufen. Die Abat-
mung von Nahrungsmetaboliten (z.B. Knoblauch, Alkohol oder Zwie-
beln) stellt eine nicht pathologische Ursache der systemisch bedingten
Halitosis dar.
Die Pseudohalitosis und die Halitophobie sind von der Halitosis ab-
zugrenzen. Bei diesen beiden Formen kann der Mundgeruch durch diag-
nostische Maßnahmen nicht eindeutig nachgewiesen werden.
Bei der Pseudohalitosis leiden die Betroffenen unter Mundgeruch,
der aber nur von ihnen selbst wahrgenommen wird. Diese Patienten
können durch eine objektivierbare Diagnose in der Regel von dem
Nichtvorhandensein des Mundgeruchs überzeugt werden.
18.5 Deutscher Parodontalstatus Kapitel 18 541
Im Gegensatz dazu lassen sich Patienten mit Halitophobie von ih-
rer übertriebenen Angst, andere Menschen mit ihrem Mundgeruch zu
belästigen, auch durch objektivierbare Diagnosemaßnahmen nicht von
ihrer Vorstellung abbringen. Die Halitophobie wird daher in den Be-
reich der psychischen Angststörungen eingeordnet.
18.5 Deutscher Parodontalstatus
Wenn bei einem in einer gesetzlichen Krankenkasse versicherten Patien- Initialtherapie
ten eine systematische Parodontalbehandlung durchgeführt werden
soll, muss ein Antrag auf Genehmigung dieser Behandlung bei der Kran-
kenkasse gestellt werden, um eine Kostenerstattung genehmigt zu be-
kommen. Voraussetzung für die Antragstellung ist eine Vorbehandlung
des Patienten in der ersten Phase der Initialtherapie (s. Kap. 19.3).
Vor Durchführung der als subgingivales Scaling/Kürettage bezeich-
neten Maßnahme (zweite Phase der Initialtherapie) sollte dann ein
entsprechender Antrag eingereicht werden. Nach vertraglicher Verein-
barung mit den Krankenkassen ist eine systematische Parodontal-
behandlung nur indiziert, wenn ein PSI-Code von 3 oder 4 oder eine
Sondierungstiefe von 3,5 mm und mehr festgestellt worden ist. Grund-
sätzlich sollte eine systematische Parodontaltherapie nur dann durchge-
führt werden, wenn der Patient in der ersten Phase der Initialtherapie
eine ausreichende Mitarbeit gezeigt hat. Sind nach der Durchführung
der bewilligten Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt Therapieer-
gänzungen notwendig, so können diese unter Ausfüllen von Blatt 1 des
Parodontalstatus nachbeantragt werden.
Zur Antragstellung muss der Krankenkasse das Original eines ausge- Parodontalstatus
füllten Parodontalstatus (Abb. 18.5a–d) zur Genehmigung vorgelegt
werden. Darüber hinaus ist ein Röntgenbefund beizufügen, der nicht äl-
ter als 6 Monate sein darf. Weitere Angaben sind nicht bei der Kranken-
kasse vorzulegen. I.d.R. sind aber weitere Eintragungen und die Anferti-
gung von Gipsmodellen beider Kiefer zur Planung der Therapie sinn-
voll. In der Abbildung 18.5d sind allgemein akzeptierte Regeln für
weitere Eintragungen angegeben, die sinnvollerweise vom Zahnarzt no-
tiert werden sollten. Die systematische Parodontalbehandlung von Pa-
tienten, die bei privaten Krankenkassen versichert sind, bedarf keiner
vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse. Der Behandelnde
sollte aber selbstverständlich auch bei diesen Patienten seine parodon-
tologische Befunderhebung in einen Parodontalstatus eintragen.
Neben dem hier abgebildeten, offiziellen Parodontalstatus sind indivi- 18
duelle, andere Schemata zum Eintrag der im Rahmen einer Parodontalbe-
handlung erhobenen Befunde sinnvoll. Damit kann eine detailliertere Dar-
stellung der Befunde (z.B. Attachmentniveau, Blutung auf Sondierung etc.)
erfolgen. Der Rahmen des Buches würde aber mit weiteren, über den offi-
ziellen Parodontalstatus hinausgehenden Darstellungen, überschritten.
542 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Abb. 18.5: Der deutsche Parodontalstatus (nach Vordruck Z 501 1.04, SCHÜTZDRUCK, Han-
nover): a) Vorderseite mit Patientenstammdaten, Kurzanamnese und Diagnose
18.5 Deutscher Parodontalstatus Kapitel 18 543
Abb. 18.5: Der deutsche Parodontalstatus (Fortsetzung): b) Rückseite mit Befund- bzw. Planungsteil und Ab-
rechnungsteil
Erklärungen zu den Gebührennummern:
4: Befundaufnahme und Erstellen eines Heil- und Kostenplanes bei Erkrankungen der Mundschleim-
haut und des Parodontiums
P200: Systematische Behandlung von Parodontopathien (supra- und subgingivales Debridement), ge- 18
schlossenes Vorgehen, je behandeltem einwurzeligen Zahn
P201: wie P200, bei mehrwurzeligem Zahn
P202: Systematische Behandlung von Parodontopathien (chirurgische Therapie), offenes Vorgehen, je be-
handeltem einwurzeligen Zahn
P203: wie P202, bei mehrwurzeligem Zahn
108: Einschleifen des natürlichen Gebisses zum Kauebenenausgleich und zur Entlastung, je Sitzung
111: Nachbehandlung im Rahmen der systematischen Behandlung von Parodontopathien, je Sitzung
544 18 Anamnese, Befund und Diagnose bei parodontalen Erkrankungen
Abb. 18.5: Der deutsche Parodontalstatus (Fortsetzung): c) Hinweise zum Ausfüllen
der Befunde, die zur Vorlage bei der Krankenkasse erhoben werden müssen
18.5 Deutscher Parodontalstatus Kapitel 18 545
freiliegende Zahnhälse Karies Füllungen Stiftkronen Kronen, Brücken Erg. d. ViPr., marktot
in mm Wurzel- vital apic. Erkr.
füllungen Nischen-
überstehende
Krone bildung
Die Belastung der Zähne bei der Artikulation:
a) bei der Vorschubstellung des UK b) bei der Seitenverschiebung des UK um c) bei der Seitenverschiebung des UK um
um 1 2 mm 1 2 mm nach rechts 1 2 mm nach links
nur mittleres Feld ausfüllen nur linkes Feld ausfüllen nur rechtes Feld ausfüllen
Hat ein Zahn in allen oder zwei Bißstellungen Kontakt, so sind alle oder zwei Felder auszufüllen.
Vorzeitiger Kontakt Gleithindernis Diastema Wanderung, Lücke geschlossen Elongation
Kippung
Der ungefähre Verlauf des
knöchernen Limbus alveolaris
nach dem Röntgen-Status.
Jede Hilfslinie entspricht
2 mm.
Behandlungsplan
Tasch.
Ther.
Ist eine TASCHENTHERAPIE geplant, so wird das wurzelnächste Feld an- Proth.
gekreuzt. Ganz links in der Spalte Gesamt wird die Zahl der zu behandelnden Vers.
Parodontien angegeben. Schie-
nung
Die PROTHETISCHE VERSORGUNG oder SCHIENUNG wird in den zuge-
hörigen Feldern angegeben. Dazu benutzt man die üblichen Abkürzungen oder
auch Klartext.
Ein weiteres Feld steht für eigene Eintragungen zur Verfügung. Dort können
z.B. zur schnellen Orientierung während der Behandlung die geplanten
Methoden (z.B. zu legende Füllungen) oder auch Behandlungsdaten zur
Ve r e i n f a c h u n g d e r s p ä t e r e n A b r e c h n u n g e i n g e t r a g e n w e r d e n .
Zu EXTRAHIERENDE ZÄHNE werden im Schema durchgekreuzt.
Abb. 18.5: Der deutsche Parodontalstatus (Fortsetzung): d) Die hier dargestellten Befunde kön-
nen dem Zahnarzt bei seiner weiteren Planung helfen. Die Eintragungen können in Blau (z.B.
fehlende Zähne) oder Rot (hier: blass, z.B. geplante Extraktionen) vorgenommen werden, um
pathologische bzw. therapiebedürftige Befunde deutlich zu machen.
18
Kapitel 19 547
19 Therapie der entzündlichen
Parodontopathien
! Bei der Therapie entzündlicher Parodontopathien werden eine
vollständige Gesundung des Gewebes und eine Wiederherstel-
lung der anatomischen und physiologischen Verhältnisse ange-
strebt.
Mit verschiedenen Methoden wird versucht, eine solche Restitutio ad
integrum des Gewebes zu erzielen. Sie ist aufgrund des teilweise vorhan-
denen hohen Zerstörungsgrades des Gewebes aber nur bei wenigen Pa-
rodontalerkrankungen tatsächlich möglich (z.B. Gingivitis, medika-
mentös bedingte Gingivavergrößerung, hyperplastische Gingivitiden).
Ein weiteres langfristiges Ziel ist es, den erreichten gesunden Zustand
dauerhaft zu erhalten.
Behandlungsziele sind also:
D keine Blutung auf Sondierung (d.h. Elimination der Entzündung)
D Elimination der Taschenaktivität
D Reduktion/Elimination der Sondierungstiefe
D klinischer Attachmentgewinn bzw. Verhinderung eines weiteren At-
tachmentverlusts
D Stabilisierung/Verbesserung der Zahnbeweglichkeit
19.1 Antibiotische Abschirmung bei immunsupprimier-
ten Patienten und Patienten mit Endokarditisrisiko
Bei zahnärztlich chirurgischen Maßnahmen tritt eine Ausschwemmung
von Bakterien in den Blutkreislauf (Bakteriämie) auf. Die Bakteriämie-
Inzidenz bei intraoralen Behandlungsmaßnahmen beträgt bis zu 87%.
Vor allem Zahnextraktionen, parodontale Operationen, Entfernen von
Zahnstein, aber auch das Kauen harter Nahrung und die Verwendung
von Wasserstrahlgeräten führen zu einer erhöhten Bakteriämie. Daher
müssen Patienten mit Endokarditisrisiko, immunsupprimierte Patien-
ten (z.B. nach Organtransplantationen) und Patienten mit reduzierter
Abwehrlage (z.B. nach Radiatio im Kopfbereich bzw. während der Che-
motherapie bei Tumorbehandlungen) antibiotisch abgeschirmt werden.
Die Antibiose soll eine Streuung der Bakterien im Organismus und den 19
Übergriff auf andere Organe verhindern. Bei Patienten mit Gelenkpro-
thesen (z.B. Hüfte, Knie) kann im Einzelfall auch eine antibiotische Ab-
schirmung erforderlich sein.
548 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Endokarditisrisiko Bei Patienten mit Endokarditisrisiko kann es durch bakterielle Besie-
delung vorgeschädigter Herzklappen zu einer Entzündung des Endo-
kards bzw. der Herzklappen kommen. Akute Endokarditiden werden
u.a. durch Staphylokokken, subakute Endokarditiden (E. lenta) durch
Streptococcus viridans und Haemophilus parainfluenzae verursacht.
Eine Abschirmung sollte bei Zahnextraktionen, Zahnsteinentfer-
nung, parodontalchirurgischen Eingriffen, endodontischer Instru-
mentation bzw. Chirurgie, subgingivaler Applikation von Antibioti-
kafäden, initialer Applikation von kieferorthopädischen Bändern,
intraligamentärer Anästhesie und voraussichtlicher Blutung bei
Zahnreinigungen bzw. Befunderhebung (Taschensondierung) erfol-
gen. Auch bei intraligamentärer Injektion und Reimplantation von
Zähnen ist eine Abschirmung angezeigt.
Die Grunderkrankungen, bei denen eine Endokarditisprophylaxe vor-
genommen werden sollte, sind in der Tabelle 19.1 dargestellt.
Nach Organ- Bei Patienten nach Organtransplantation sind in den ersten drei
transplantation Monaten nach Transplantation zahnärztliche Behandlungsmaßnah-
men mit Bakteriämierisiko kontraindiziert. Eine Ausnahme stellt das
Vorliegen einer vitalen Indikation dar. Dann kann in Einzelfällen nach
Absprache mit dem Transplantationszentrum eine notwendige Behand-
lung unter Antibiose erfolgen.
Keine antibiotische Abschirmung ist bei restaurativen Behandlun-
gen mit und ohne Retraktionsfaden, Injektionen von Lokalanästhetika
(nicht intraligamentär), Applikation von Kofferdam, postoperativer
Nahtentfernung, Platzierung von herausnehmbaren Prothesen oder kie-
ferorthopädischen Geräten, Abdrucknahme, Fluoridbehandlung, radio-
logischer Diagnostik, Anpassung von Prothesen und der einfachen Ex-
traktion von Milchzähnen erforderlich.
Immun- Für Patienten mit Immunsuppression gelten ebenfalls die als Stan-
suppression dardprophylaxe angegebenen Dosierungen. Bei Hinweisen auf hohe
Keimzahlen oder auf eine anaerobe Infektion sollte bei diesen Patienten
zusätzlich zur Penicillingabe Metronidazol (400 mg) verabreicht wer-
den. Kinder sollten kein Metronidazol erhalten.
Das Vorgehen bei endokarditisgefährdeten Patienten und Patienten
mit Immunsuppression sollte folgenden Richtlinien folgen:
D Antibiotikagabe nach einem anerkannten Schema (s. Tab. 19.1)
D enge Zusammenarbeit zwischen Zahnarzt und Hausarzt
D Durchführung der präoperativen Antibiotikaprophylaxe unter Auf-
sicht in der zahnärztlichen Praxis
D Chlorhexidindesinfektion der Mundhöhle
D zügiges Durchführen der Behandlung
D 14-tägiger Abstand zwischen den Behandlungen
19.1 Antibiotische Abschirmung bei immunsupprimierten Patienten Kapitel 19 549
Tab. 19.1: Grunderkrankungen, bei denen ein Endokarditisrisiko vorliegt, und
Empfehlungen für die Endokarditisprophylaxe (mg/kg KG = mg pro Kilo-
gramm Körpergewicht) bei oraler Einnahme eines Antibiotikums (American
Heart Association 1997, DGZMK). Die höchste Einzeldosis bei Kindern soll die
Dosierung bei Erwachsenen nicht überschreiten.
Hohes Risiko Mäßiges Risiko Geringes Risiko
• Mechanische und • Die meisten ande- • Isolierter Vorhofseptumdefekt
biologische Herz- ren kongenitalen (vom Sekundumtyp)
klappenprothese Herzfehler • Chirurgisch korrigierte Vitien
• Zustand nach bak- • Rheumatische und (Vorhof- oder Ventrikelseptum-
terieller Endokar- andere erworbene defekt, offener Ductus Botalli)
ditis Klappenvitien ohne bleibende Residuen
• Komplexe konge- • Mitralklappenpro- (nach sechs Monaten)
nitale zyanotische laps mit Mitralin- • Herzschrittmacher und im-
Herzfehler (wie suffizienz plantierte Defibrillatoren
Transposition der • Hypertrophe ob- • Zustand nach aorto-korona-
großen Arterien, struktive Kardio- rem Bypass
Fallot-Tetralogie) myopathie • Mitralklappenprolaps ohne
Mitralinsuffizienz
• Funktionelle Herzgeräusche
• Zustand nach rheumatischem
Fieber oder Kawasaki-Syndrom
ohne Klappenfehler
Antibiotische Abschirmung erforderlich Keine antibiotische Abschirmung
erforderlich
Standardprophylaxe: Amoxicillin
(oral, 1 h vor dem Eingriff)
Erwachsene: 2 g (< 70 kg) bis 3 g (> 70 kg)*
Kinder: 50 mg/kg KG*
Bei Penicillinallergie: Clindamycin
(oral, 1 h vor dem Eingriff)
Erwachsene: 600 mg*
Kinder: 20 mg/kg KG**
* Bei komplizierten oder länger dauernden operativen Eingriffen sollte bei Patienten mit
hohem Risiko nach 6 h eine zweite Verabreichung in halber Dosierung (z.B. Erwachsene
1 g Amoxicillin) erfolgen.
** Bei komplizierten oder länger dauernden operativen Eingriffen sollte bei Kindern mit ho-
hem Risiko alternativ 20 mg/kg KG Vancomycin max. 1 g i.v. (Infusionsbeginn 90–60 min
vor Eingriff) verabreicht werden.
Eine davon leicht abweichende Antibiotikagabe wird für Patienten mit Gelenkprothesen
Gelenkprothesen empfohlen. Oberflächen von Gelenkprothesen kön-
nen durch hämatogene Streuung von Bakterien im Sinne einer Spätin-
fektion besiedelt werden. Frühinfektionen haben ihre Ursache i.d.R. in
perioperativen Keimbesiedelungen des Wundgebietes. Als Spätinfektio- 19
nen hingegen werden Infektionen bezeichnet, die zwei Jahre oder spä-
ter nach Implantation auftreten. Dabei spielt der β-Lactamase bildende
Keim Staphylococcus aureus eine bedeutsame Rolle. Daher sollte bei ei-
550 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Tab. 19.2: Befunde, bei denen eine erhöhtes Risiko für eine hämatogene Pro-
theseninfektion vorliegt, empfohlene Antibiotikaprophylaxe für eine 70 kg
schwere Person (Rossi et al. für die Schweizerische Gesellschaft für Infektio-
logie 2004)
Patienten mit erhöhtem Risiko für eine hämatogene Protheseninfektion
• Implantation einer Gelenkprothese innerhalb der letzten 12 Monate
• Rheumatoide Arthritis unter Immunsuppression
• Rheumatoide Arthritis mit zusätzlichen Risiken (Diabetes mellitus, Wechsel
einer Prothese)
• Hämophilie
Verabreichung: Standardprophylaxe: Bei Penicillinallergie:
Amoxicillin/Clavulansäure Clindamycin
1 h vor Eingriff 2g 600 mg
4 h nach Eingriff 1g 600 mg
ner evtl. Antibiose eine Penicillingabe mit der Verabreichung eines β-
Lactamase-Inhibitors (z.B. Clavulansäure) kombiniert werden. Auch ist
es möglich, penicillinasefeste Penicilline oder Cephalosporine einzuset-
zen. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 15% der Spätinfektionen von
Gelenkprothesen durch ausgeprägte Bakteriämien bei zahnärztlichen
Eingriffen ausgelöst werden. Infektionen von Gelenkprothesen gehen
mit einer hohen Morbidität, Letalität und großen Kosten einher. Daher
wird zur Vermeidung von Spätinfektionen bei zahnmedizinischen Ein-
griffen in besonderen Fällen eine antibiotische Infektionsprophylaxe
empfohlen. Dabei sind Patienten mit einem erhöhten Risiko für eine
hämatogene Protheseninfektion bei Durchführung eines Eingriffs mit
erhöhtem Bakteriämierisiko antibiotisch abzuschirmen (Tab. 19.2).
19.2 Behandlungsablauf der systematischen
Parodontalbehandlung
! Die systematische Parodontaltherapie gliedert sich in drei große
Abschnitte (Abb. 19.1):
D Phase I: Initialtherapie (auch als kausale Therapie oder Hy-
gienephase bezeichnet)
D Phase II: korrektive Therapie
D Phase III: unterstützende Parodontitistherapie
Vorgehensweise Patienten sollten als Sanierungspatienten gesehen werden und da-
entsprechend des her entsprechend des PSI-Befundes (s. Kap. 17.2.4) vor Durchfüh-
PSI-Befundes rung evtl. notwendiger restaurativer, orthodontischer oder sonsti-
ger Maßnahmen zunächst einer bestimmten parodontalen oder
präventiven Therapie zugeführt werden.
19.2 Behandlungsablauf der systematischen Parodontalbehandlung Kapitel 19 551
Abb. 19.1: Behandlungs-
schema für die Parodontal- Befund mit
therapie. Die Pfeile verdeut- vorläufiger Diagnose
lichen, dass die parodontale und Prognose
Gesundheit und die Mitar-
beit des Patienten während
der verschiedenen Behand- Initialtherapie
lungsphasen ständig kon- 1. Phase
trolliert werden müssen
und gegebenenfalls eine
Zuweisung des Patienten in
eine bestimmte Therapie-
Kontrolle
phase erfolgen kann.
Initialtherapie
2. Phase
Reevaluation
korrektive Therapie
unterstützende
Parodontitistherapie
Vorgehensweisen entsprechend des PSI-Befunds des betreffenden Pa-
tienten:
D Patienten mit einem PSI = 1 werden gewöhnlich ausschließlich mit
Maßnahmen der ersten Phase der Initialtherapie behandelt.
D Patienten mit PSI = 2 werden meist ausschließlich mit Maßnahmen
der ersten und ggf. zweiten Phase der Initialtherapie versorgt.
D Patienten mit PSI = 3 oder 4 werden der systematischen Parodontal-
therapie zugeführt, als deren Basis die Maßnahmen der ersten und
zweiten Phase der Initialtherapie nach gründlicher Befundung und
Diagnose durchgeführt werden.
Zunächst werden eine klinische Anamnese und Befunderhebung, evtl.
anstehende Notfallbehandlung, vorläufige Diagnose und Prognose vor-
genommen. Bei Verdacht auf Vorliegen einer systemischen Erkrankung
wird der Patient zu einem Fachkollegen (z.B. Internisten) überwiesen.
Für eine weitere, synoptische Behandlungsplanung ist die Einschät-
zung einer Einzelzahnprognose auf der Basis der gesamten Befundsituation
erforderlich. Daraus lassen sich verschiedene Therapieoptionen ableiten.
Die Zähne werden dabei in drei Kategorien eingeteilt (s. Kap. 19.6.3):
1. sicher
2. zweifelhaft
3. hoffnungslos 19
Als hoffnungslos eingeteilte Zähne werden in der Regel bereits in einer
frühen Phase der Parodontaltherapie extrahiert.
552 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Initialtherapie Der parodontal erkrankte Patient wird zu Beginn der Behandlung in die
Initialtherapie aufgenommen. Am Ende der ersten Phase der Initialthera-
pie steht eine Kontrolle des Therapieerfolges und ggf. eine erneute Befund-
erhebung. In Deutschland wird zu diesem Zeitpunkt ggf. ein Parodontal-
antrag bei einer gesetzlichen Krankenversicherung zur Kostenübernahme
gestellt. Nach der zweiten Phase der Initialtherapie erfolgt eine Reevalua-
tion der Primärdiagnose. Aufgrund des Erfolgs der bis zu diesem Zeitpunkt
erfolgten Therapie wird eine endgültige Diagnose, Prognose und Behand-
lungsplanung erstellt. Sind die Ziele der Initialtherapie nicht erreicht und
kann festgestellt werden, dass der Patient nicht ausreichend motiviert ist,
wird der Patient wieder in die Initialtherapie aufgenommen.
Korrektive Phase Nur wenn die Ziele der Initialtherapie beim Patienten erreicht sind, aber
dennoch Parodontien vorhanden sind, die bei Sondierung bluten und
keinen Rückgang der Sondierungstiefen aufweisen, wird der Patient in
die chirurgische Therapie der korrektiven Phase übernommen. Ab-
schließender Bestandteil der korrektiven Therapie kann u.a. die Anferti-
gung definitiver Restaurationen sein.
Die Initialtherapie bzw. Hygienephase war erfolgreich, wenn fol-
gende Kriterien nach Abschluss der Phase erfüllt sind:
D Plaqueindex (API) ≤ 25%
D Blutung auf Sondierung (BOP) ≤ 25%
D kein Pusabfluss aus dem Sulkus
D Stagnation: besser Reduktion der Sondierungstiefen
D keine harten Konkremente auf der Wurzeloberfläche
D kein Fortschreiten der Zahnbeweglichkeit
Unterstützende Sind die Ziele der Initialtherapie erreicht und liegen keine entzündungs-
Parodontitis- aktiven Parodontien vor, wird der Patient (nach Durchführung evtl.
therapie notwendiger restaurativer Maßnahmen) direkt in die unterstützende
Parodontitistherapie (= unterstützende Nachsorge, Recall) aufgenom-
men. In dieser Phase wird der Behandlungserfolg ständig neu überprüft
(Recall) und der Patient gegebenenfalls wieder der Initialtherapie oder
der chirurgisch-korrektiven Phase zugewiesen (s. Kap. 19.3 und 19.4).
Die unterstützende Parodontitistherapie erfolgt je nach Schwere-
grad und Prognose der Erkrankung unterschiedlich häufig pro Jahr
(zwischen zwölf- und einmal).
Notfall- In der Notfallbehandlung wird eine Schmerzbehandlung von z.B. ka-
behandlung riösen Prozessen, Pulpitiden, akuten und chronischen apikalen Paro-
dontitiden und Parodontalabszessen durchgeführt. Gehen die diagnos-
tizierten Beschwerden von nichterhaltungswürdigen Zähnen aus oder
liegen sogenannte hoffnungslose Zähne vor, sollten diese Zähne im
Rahmen der Notfallbehandlung extrahiert werden. Die Einschätzung,
ob es sich um einen nichterhaltungswürdigen Zahn handelt, richtet
sich nach verschiedenen Parametern (Tab. 19.3).
19.2 Behandlungsablauf der systematischen Parodontalbehandlung Kapitel 19 553
Tab. 19.3: Auswahl allgemeiner und lokaler Risikofaktoren für die Progression
einer marginalen Parodontitis, die bei der Frage nach der Erhaltungswürdig-
keit eines Zahnes zu berücksichtigen sind. Um einen Zahn als nicht erhal-
tungswürdig einzuschätzen, müssen in der Regel mehrere der genannten Pa-
rameter gleichzeitig vorliegen.
Beispiele zu berücksichti- Ungünstige Prognose Günstige Prognose
gender Faktoren
Allgemein
Allgemeinzustand des Pa- Risikopatient Gesund
tienten
Tabakkonsum Bedeutend Nein
Einnahme von Medikamen- Cyclosporine, Phenytoin, Nein
ten Kalziumantagonisten
Genetische Anfälligkeit Vorhanden Nicht vorhanden
Stress Bedeutend erhöht Unbedeutend
Lokal
Bakterienflora Pathologisch Physiologisch
Attachmentverlust, Kno- Fortgeschritten in be- Leicht oder mäßig fort-
chenabbau reits jungen Jahren geschritten in mittle-
(Knochenverlust: > 50%) rem/höherem Alter
(Knochenverlust < 50%)
Taschenaktivität Blutung, Pus Physiologisch
Krankheitsverlauf Akut Chronisch
Bereits vorhandener Zahn- Ja Nein
verlust durch Parodontitis
(Cave: Extraktionsgrund ge-
nau eruieren)
Furkationsbefall Vorhanden (v.a. Grad II Nicht vorhanden
oder III)
Zahnbeweglichkeit Deutlich erhöht Physiologisch
Plaquekontrolle durch Pa- Ungenügend Angemessen
tienten
Krone-Wurzel-Verhältnis Ungünstig Günstig
Okklusales Trauma, Para- Vorhanden Nicht vorhanden
funktion
Zahnstellung Fehlstellung Gut
Kaufunktionelle Bedeutung Gering Hoch
Strategische Bedeutung im Unbedeutend Bedeutend
Rahmen prothetischer
Maßnahmen
19
Restaurationsmöglichkeit Schwierig Einfach
Endodontische Situation Kompliziert Günstig
554 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Ein definitiver Extraktionsplan sollte aber erst in der Reevaluation
aufgestellt und in der korrektiven Phase durchgeführt werden. Eine lo-
kale Taschenbehandlung schmerzender Parodontien beinhaltet eine
Zahnstein- und Konkremententfernung, Spülung der Tasche mit einer
antibakteriellen Spüllösung und gegebenenfalls die Instillation einer
antiphlogistisch-antibakteriell wirksamen Paste in die entzündete Ta-
sche (s. Kap. 19.5).
Liegt ein Abszess parodontaler Ursache vor, so wird eine Drainage
via Tascheneingang oder Inzision vorgenommen.
19.3 Initialtherapie
! Das Ziel der Initialtherapie ist es, gingivitische Veränderungen zu
beseitigen, das Fortschreiten der bestehenden Erkrankung zu
stoppen und plaque- bzw. zahnsteinfreie orale Verhältnisse zu
schaffen.
Es ist bekannt, dass es durch wiederholte gründliche Entfernung der su-
pragingivalen Beläge auch zu Veränderungen der Zusammensetzung der
subgingivalen Flora kommen kann. Im Idealfall kommt es in der Initi-
altherapie je nach vorliegender Erkrankung zur vollkommenen Gesun-
dung des parodontalen Gewebes. In der Initialtherapie werden Mund-
hygienemaßnahmen vom Patienten und vom Zahnarzt durchgeführt.
Erste Phase Die erste Phase der Initialtherapie umfasst:
D Patientenmotivation und -instruktion
D Kontrolle der Patientenmitarbeit
D Intensivierung der Mundhygiene des Patienten
D Entfernung bakterieller Schlupfwinkel und marginaler (iatrogener)
Irritationen (z.B. überstehende Restaurationsränder)
D supragingivale Zahnstein- und Plaqueentfernung
D Entfernung eventuell vorhandener subgingivaler, erreichbarer Beläge
D Reduktion des Risikofaktors Rauchen
D gegebenenfalls Antragstellung bei der gesetzlichen Krankenkasse
Zweite Phase Die zweite Phase der Initialtherapie umfasst:
D subgingivale Plaque- und Zahnsteinentfernung (Scaling) und Wur-
zelglättung (root planning) in geschlossenem Vorgehen
D evtl. Weichteilkürettage
D evtl. Beseitigung von Okklusions- und Artikulationsstörungen
D evtl. provisorische Restaurationen
D evtl. Endodontie, funktionelle Therapie, medikamentöse Therapie,
Zahnschienungen
Die erforderlichen Behandlungssitzungen können in der Initialtherapie
wie folgt unterteilt werden:
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 555
1. Sitzung: Behandlungs-
D Bestimmung API/PBI sitzungen
D supragingivale Zahnstein- und Plaqueentfernung, Politur der Zähne
D Systematik des Zähneputzens (dabei behält der Patient zunächst
seine bisher gewohnte Technik bei)
D Fluoridierung mit Fluoridlack
2. Sitzung:
D Bestimmung API/PBI
D Entfernung marginaler Retentionsstellen
D Beseitigung subgingival erreichbarer Beläge
D Anleitung zu bestimmter Zahnputztechnik
D Anleitung zur Interdentalhygiene (Zahnseide, Interdentalraum-
bürste, Zahnstocher)
D Aufklärung über Risikofaktor Rauchen
D Fluoridierung
3. Sitzung:
D Bestimmung API/PBI
D erneute Instruktion
D Überprüfung, ob weiterhin aktive Taschen/Blutung auf Sondierung
vorliegen
D ggf. Fertigstellung des Parodontalantrags für die Krankenkasse
4. Sitzung:
D Bestimmung API/PBI
D wenn nötig, ggf. subgingivales Scaling und root planning (kann auf
mehrere Sitzungen aufgeteilt werden oder im Rahmen der „full-
mouth-disinfection“ durchgeführt werden (s. Kap. 19.3.5)
D erneute Instruktion
5. Sitzung:
D Bestimmung API/PBI
D Reevaluation
Eine Kostenerstattung durch eine gesetzliche Krankenversicherung für
das subgingivale Scaling verlangt in Deutschland, dass nach Durchfüh-
rung einer Vorbehandlung in der Initialtherapie, ein Antrag bei dem
Versicherungsgeber gestellt und genehmigt worden ist. Daher ist es
sinnvoll, diesen Antrag nach der Überprüfung der Ergebnisse der ersten
Phase der Initialtherapie vorzunehmen.
Zwischen der vierten und fünften Sitzung sollte mindestens ein Ab-
stand von zwei Wochen liegen. 19
Ein wichtiges Ziel der Initialtherapie ist es, den Patienten so zu mo-
tivieren, dass er durch eigene Mundhygienemaßnahmen einen API
≤ 25% erreicht. Daneben sollten die oben genannten Kriterien der er-
556 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
folgreichen Initialtherapie angestrebt werden. In der Sitzung, die der
Reevaluation dient, werden erneut die Sondierungstiefen, Zahnlocke-
rung und das Vorliegen einer Entzündung überprüft und mit dem Aus-
gangsbefund verglichen.
19.3.1 Patientenmotivation, -instruktion und Kontrolle der
Mitarbeit
Aufklärung Der Patient wird vom Zahnarzt über die Ursachen seiner Erkrankung in-
formiert. Er wird auf die Bedeutung der gründlichen Entfernung der
bakteriellen Plaque hingewiesen. Das Rauchverhalten des Patienten
sollte erfragt werden und die Bedeutung des Rauchens als Risikofaktor
erläutert werden. Ebenso sollte der Patient auf den Faktor Stress als Risi-
kofaktor hingewiesen werden. Es sollte eine Aufklärung über weitere Ri-
sikofaktoren wie Medikamente (z.B. Immunsuppressiva) oder internisti-
sche Erkrankungen (Diabetes mellitus) erfolgen.
Indizes Anhand der Erhebung eines Entzündungs-Index (z.B. PBI) und ei-
nes Plaque-Index (z.B. API) wird der Patient auf mögliche Mängel bei
der Mundhygiene hingewiesen. Die Einfärbung der Zähne mit einem
Plaquerevelator erschwert die Kontrolle der Gingivablutung nach Son-
dierung. Daher sollte der Blutungsindex immer vor dem Plaque-Index
erhoben werden. Die Befunde des Plaque- und Blutungsindex werden
zu Beginn der Behandlung und als Verlaufskontrolle während der Ini-
tialtherapie in ein spezielles Befundblatt eingetragen (Abb. 19.2).
Mundhygiene- Der Patient wird besonders auf die Stellen im Mund hingewiesen,
maßnahmen bei denen ein Mundhygienedefizit vorliegt. Ferner werden dem Patien-
ten die Systematik des Zähneputzens, Zahnputztechniken, Möglichkei-
ten der Interdentalhygiene und Hilfsmittel zur Durchführung der
Mundhygiene erklärt. Bei Patienten mit verstärkter Belagsbildung auf
dem Zungenrücken, sollten auch Instruktionen zur Reinigung der
Zunge mit speziellen Zungenbürsten erfolgen.
Die verschiedenen Mundhygienemaßnahmen werden dem Patien-
ten an Modellen vorgeführt. Dabei sollte in der ersten Sitzung nicht
gleich auf alle möglichen Mundhygienemaßnahmen eingegangen wer-
den. Um den Patienten nicht zu überfordern und seine Mitarbeit den-
noch zu fördern, sollte schrittweise in jeder Sitzung etwas Neues erlernt
werden. Das neu Erlernte wird in der nächsten Sitzung kontrolliert.
Die Initialtherapie beinhaltet außerdem eine Ernährungsberatung
des Patienten. Er wird auf die Schädlichkeit niedermolekularer Kohlen-
hydrate im Zusammenhang mit der Plaquebildung und dem Plaqueme-
tabolismus hingewiesen. Falls erforderlich, sollte der Patient zur Über-
prüfung seiner Ernährungsgewohnheiten ein Ernährungstagebuch anle-
gen.
Die Kontrolle der Mundhygieneunterweisung erfolgt je nach Schwe-
regrad der Erkrankung ein- bis zweimal wöchentlich.
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 557
I Oberkiefer rechts 1 II Oberkiefer links
2
3
4 1 2
API PBI 3
5 4
I oral II buccal I oral II buccal
6 5
6
7
7
8 8
Summe Summe
Sitzungen 5 4 3 2 1 1 2 3 4 5 5 4 3 2 1 1 2 3 4 5 Sitzungen
Summe Summe
8
8
7
6 7
5 IV buccal III oral IV buccal III oral 6
4
3 5
2 1 4
3
IV Unterkiefer rechts 1 2 III Unterkiefer links
API (%) PBI (Summe)
Datum I II III IV gesamt
1
2
3
4
5
Abb. 19.2: Schema zur Befunderhebung und Verlaufskontrolle von API und PBI
19.3.2 Zahnputztechniken
Durch das Zähneputzen wird die bukkale, linguale und okklusale, teil-
weise auch die interdentale Plaque entfernt. Dabei steht nicht die Häu-
figkeit, sondern die Gründlichkeit des Zähneputzens im Vordergrund.
Da es 24–36 h dauert, bis sich eine reife Plaque etabliert hat, ist es bei
äußerst gründlicher Pflege ausreichend, die Zähne einmal täglich zu 19
putzen.
558 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Es ist für den Patienten nahezu unmöglich, die Plaque von allen
Zähnen vollständig in einem Putzvorgang zu entfernen. Daher wird
angeraten, nach jeder Mahlzeit die Zähne zu putzen und zumindest
einmal am Tag eine besonders intensive Zahnpflege zu betreiben. Es
ist wichtig, dass sich der Patient beim Zähneputzen eine Systematik
zur Gewohnheit macht, um alle Zahnflächen zu reinigen (Abb.
19.3).
9 7
4 6
OK
UK
3 1
2
10 12
11
Abb. 19.3: Systematik des Zähneputzens nach Rateitschak (1989). Zuerst werden
die schwer zugänglichen Lingualflächen und anschließend die Bukkalflächen der
Zähne Zahn für Zahn einzeln gebürstet. Die Zahnbürste beschreibt dabei im
Mund einen Kreis, sodass lingual im Unterkiefer mit dem Bürsten begonnen und
bukkal im Unterkiefer geendet wird. Abschließend werden die Okklusalflächen
geputzt.
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 559
Zur Reinigung der einzelnen Zähne werden je nach vorliegender Erkran-
kung und vorliegenden anatomischen Verhältnissen verschiedene
Zahnputztechniken empfohlen. Bei allen Techniken wird die Zahn-
bürste an den Lingualflächen der Schneidezähne senkrecht angesetzt.
An allen anderen Zahnflächen wird die Zahnbürste waagerecht ange-
setzt, und es werden zehn bis 15 Bewegungen pro Zahn durchgeführt.
Die okklusalen Flächen werden in einer leicht kreisenden Bewegung
kräftig gebürstet.
Meist wird die modifizierte Bass-Technik (Abb. 19.4a) empfohlen. Bass-Technik
Sie eignet sich sowohl bei gesunden als auch bei krankhaft veränderten
Parodontalverhältnissen zur Reinigung. Die modifizierte Bass-Technik
wird ferner empfohlen, wenn die Interdentalpapille weitgehend erhal-
ten ist und die marginale Gingiva nahe der Schmelz-Zement-Grenze en-
det.
Die Charters-Methode (Abb. 19.4b) wird Patienten mit bestehen- Charters-Technik
den Resttaschen und freien Interdentalräumen empfohlen.
Die modifizierte Stillman-Methode ist für Patienten geeignet, die Stillman-Technik
ein gesundes Parodont oder gingivale Rezessionen aufweisen. Durch in-
termittierend ausgeübten Druck auf die Gingiva kommt es zu einer Sti-
mulation der Gingiva durch Blutdrainage. Die Borstenenden einer wei-
chen Zahnbürste werden im Bereich der Gingiva angesetzt. Es erfolgt
eine Auswischbewegung vom Zahnfleisch zum Zahn („von Rot nach
Weiß“). Dabei wird die Zahnbürste um ihre Längsachse gleichzeitig ge-
dreht und es werden, wenn es die Geschicklichkeit des Patienten er-
laubt, Rüttelbewegungen durchgeführt.
Die Fones-Technik wird Kindern und Patienten empfohlen, die Fones-Technik
nicht die manuelle Geschicklichkeit besitzen, die obigen Techniken zu
erlernen. Die bukkalen Zahnflächen werden dabei bei geschlossener
Zahnreihe mit kleinen kreisenden Bewegungen gebürstet. Mit den glei-
chen Bewegungen werden dann die lingualen und okklusalen Zahnflä-
chen gereinigt.
45°
45°
a BASS -Technik CHARTERS -Technik b
Abb. 19.4: Zahnputztechniken: a) Bass-Technik: Die Zahnbürste wird im Winkel von 45° zur Zahnlängsachse
gleichzeitig auf den Zahn und die Gingiva aufgesetzt. Der Andruck der Bürste ist so stark, dass sich die 19
Borsten zu biegen beginnen. Es werden pro Zahnfläche 10–15 senkrecht rüttelnde bzw. leicht kreisende
Bürstbewegungen durchgeführt. b) Charters-Technik: Die Bürste wird in einem Winkel von 45° von unten
an die Gingiva angelegt. Es werden kleine kreisende Bewegungen durchgeführt, bei denen die Borstenen-
den in die Interdentalräume gestoßen werden.
560 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
19.3.3 Hilfsmittel für die Mundhygiene
Handzahnbürste Die Zahnbürste sollte einen kurzen Bürstenkopf (ca. 2,5 cm Länge) mit
elastischen, geraden, an den Enden abgerundeten Kunststoffborsten besit-
zen. Die Dicke der Borsten sollte 0,18–0,25 mm, die Länge der Borsten
10–12 mm betragen. Die Borsten sollten mittelhart und zu Büscheln von
je 20–40 Borsten (multi-tufted) angeordnet sein. Sind die Borsten zu hart
oder die Enden nicht abgerundet, kann es leicht zu Zahnfleischverletzun-
gen durch den Patienten kommen. Bei Zahnbürsten mit einem planen
Borstenfeld besteht das Problem, dass die Borsten bei einem planen Aufset-
zen der Bürste auf die vestibulären/oralen Zahnflächen nur unzureichend
in die interdentalen Einziehungen eindringen. Das vestibulär/orale Aufset-
zen in einem schrägen Winkel oder die Verwendung von Bürsten mit un-
terschiedlichen Filamentlängen können diesem Problem abhelfen. Letz-
tere Bürsten zeichnen sich auch durch eine Reduzierung des Verletzungsri-
sikos für die Gingiva aus. Diese Vorteile konnten teilweise in kontrollierten
Langzeitstudien nachgewiesen werden. Allerdings scheint die Akzeptanz
der Zahnbürste durch den Anwender die größere Bedeutung für die indivi-
duelle Effizienz der Reinigung zu haben als die Art der verwendeten Bürste.
Eine Zahnbürste ist nach ca. vier Wochen oder bei einem Umbiegen der
Borsten auszutauschen. Nach Infektionen im Mund- und Rachenbereich
muss die Zahnbürste ebenfalls erneuert werden, da es durch eine bakte-
rielle Besiedelung der Bürste zu einer Reinfektion kommen kann.
Mit der Zahnbürste ist es nicht möglich, den Interdentalraum frei
von Plaque und Speiseresten zu halten.
Elektrische Zahnbürsten können je nach Bewegung des Bürstenkopfes
in zwei Gruppen klassifiziert werden:
D drehend-oszillierende Bürsten (ggf. mit zusätzlicher pulsierender Be-
wegung)
D schallaktive Bürsten (Schwingung: 250–350 Hz)
Elektrische Durch den Gebrauch elektrischer Zahnbürsten kann eine effektivere
Zahnbürste Zahnreinigung erreicht werden als durch eine Handzahnbürste. Für eine
gute Reinigungsleistung sollte die Amplitude der Bürstenkopfbewegung
bei schallaktiven Bürsten ca. 3–4 mm betragen. Um bei Bürsten mit aus-
schließlich oszillierend-rotierender Bewegung eine größere Effektivität
als mit der Handzahnbürste zu erreichen, muss der Gebrauch dieser
Zahnbürsten dem Patienten vom Zahnarzt eingehend demonstriert
werden. Auch bei Verwendung elektrischer Bürsten ist es wichtig, dass
der Patient bei der Reinigung ein systematisches Vorgehen einhält und
dabei die einzelnen Zahnflächen ausreichend sorgfältig reinigt. Wie bei
den Handzahnbürsten sollte dazu eine Putzdauer von ca. fünf Minuten
für das gesamte Gebiss eingehalten werden. Häufig wird beobachtet,
dass die Zahnpflege bei der Verwendung einer neu erworbenen elektri-
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 561
schen Zahnbürste anfänglich intensiver betrieben wird. Dieser positive
Effekt des „neu Erworbenen“ lässt dann aber mit der Zeit oft wieder
nach. Schallaktive Zahnbürsten führen durch Mikroströmungen im
Zahnpasta-Speichel-Gemisch zu Scherkräften. Dadurch können auch
Bakterien von der Zahnoberfläche abgelöst werden, die bis zu mehreren
Millimetern von den Borstenenden entfernt sind. Durch diesen Effekt
wird auch die Reinigung der Approximalräume unterstützt und ein ver-
besserter Transport von Fluorid aus der Zahnpaste in die Zahnzwischen-
räume bewirkt. Es sollte beachtet werden, dass elektrische Zahnbürsten
zu einem stärkeren Abtrag erodierter, d.h. erweichter Zahnoberflächen
führen als Handzahnbürsten. Allerdings ist es bisher nicht abschließend
geklärt, ob elektrische Zahnbürsten im Vergleich zu Handzahnbürsten
auch zu einem stärkeren Abtrag gesunder Zahnhartsubstanz beitragen.
Ein wichtiges Instrument zur Reinigung des Approximalbereichs der Zahnseide
Zähne und der Interdentalräume ist die Zahnseide. Darüber hinaus er-
kennen der Zahnarzt und der Patient durch das Auffasern ungewachster
Zahnseide, dass Imperfektionen an Restaurationen oder kariöse Restau-
rationen im Interdentalbereich vorliegen.
Die Zahnseide kann mit Daumen und Zeigefinger oder einem Zahn-
seidenhalter gespannt werden. Die Zahnseide wird dann vorsichtig über
den Approximalkontakt in den Interdentalraum gezogen. Durch vor-
sichtige Auf- und Abbewegungen wird zunächst die Approximalfläche
des einen und dann die Approximalfläche des anderen Zahns gereinigt.
Breite Interdentalräume, Brückenglieder oder verblockte Zahn-
zwischenräume können mit spezieller Zahnseide gereinigt werden (z.B.
Superfloss, elmex multifloss), die im Mittelteil ein bauschiges Faden-
stück enthält. Sie ist an einem Ende versteift. Dieses versteifte Ende
kann unterhalb eines nichtdurchgängigen Kontaktpunktes durch den
Interdentalraum geschoben werden. Mit dem bauschigen Mittelteil
kann der Interdentalraum oder die Unterseite des Brückenzwischenglie-
des dann gereinigt werden.
Zahnseide gibt es in gewachster und ungewachster Form. Die Be-
wegung ungewachster Zahnseide auf einem sauberen Zahn führt zu ei-
nem quietschenden Geräusch. Am Auftreten dieses Geräusches kann
der Patient die Effektivität seiner Bemühungen kontrollieren.
Der Vorteil gewachster Zahnseide ist, dass der ungeübte Patient
seine Interdentalpapille nicht so leicht verletzen kann und die ge-
wachste Zahnseide mit weniger Kraftaufwand über den Approximalkon-
takt zu ziehen ist. Allerdings können Wachsreste im Interdentalraum
verbleiben. Patienten mit starken Approximalkontakten sollten keine
Zahnseiden auf Nylonbasis, sondern bandförmige Zahnseiden auf Poly-
tetrafluorethylenbasis verwenden, da bei diesen Zahnseiden ein gerin-
gerer Kraftaufwand für die Kontaktflächenpassage erforderlich ist. 19
Die Anwendung von Interdentalraumbürstchen stellt die wirk- Interdental-
samste Methode zur Reinigung der Interdentalräume sowie freiliegen- raumbürstchen
der Furkationen dar. Insbesondere Zahneinziehungen an Oberflächen
562 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
im Bereich des Approximalraumes werden mit Interdentalbürstchen ef-
fektiv gesäubert. Es stehen Interdentalraumbürsten in verschiedenen
Größen und Formen zur Auswahl. Dem Patienten sollte je nach Größe
des Interdentalraumes individuell eine Bürstenform bzw. -größe emp-
fohlen werden, um Schäden an der Gingiva oder der Zahnhartsubstanz
zu vermeiden.
Zahnhölzer Zahnhölzer sind zur Entfernung des bakteriellen Belags nicht geeig-
net. Sie eignen sich aber zur Entfernung impaktierter Speisereste.
Zungenreiniger Als Zungenreiniger eignen sich spezielle Schaber oder Bürsten, mit
denen der bakterielle Belag vom Zungenrücken entfernt werden kann.
Mundduschen Wasserstrahlgeräte (Mundduschen) erleichtern die Entfernung von
eingeklemmten Speiseresten und lose anhaftender Plaque. Fest angehef-
tete Plaque kann nicht mit dem Wasserstrahlgerät, sondern muss me-
chanisch mit Bürsten und Hölzern entfernt werden. Am effektivsten
und gleichzeitig schonendsten sind pulsierend arbeitende Wasserstrahl-
geräte mit mehrstrahligen Düsen. Mit dem Wasserstrahl kann die Gin-
giva massiert und stimuliert werden. Dadurch kann eine Festigung der
Gingiva erreicht werden. Darüber hinaus können gezielt antibakterielle
Spüllösungen durch den Patienten appliziert werden. Ohne Anwen-
dung einer Munddusche ist die Wirkung einer Mundspüllösung auf den
supragingivalen Bereich beschränkt. Bei Anwendung einer Munddu-
sche schafft es die Spüllösung aber, in die marginale Hälfte der parodon-
talen Tasche zu gelangen. Dabei darf kein zu harter Strahl verwendet
werden, da dies zur Streuung von Bakterien in entzündlich aufgelo-
ckerte Gewebeabschnitte führen kann.
Endokarditisrisikopatienten (s. Kap. 19.1) dürfen keine Munddu-
schen anwenden, da dies zu einer Bakteriämie führen kann.
Zur Kontrolle seiner Mundhygienemaßnahmen sollte der Patient bei
der häuslichen Zahnpflege Plaquerevelatoren in Form von Kautablet-
ten verwenden.
19.3.4 Zahnpasta
Zahnpasten sind ein wirksames Mittel zur Karies- und Gingivitisprophy-
laxe. Sie erfüllen im Wesentlichen drei Aufgaben:
D eine kosmetische Aufgabe durch Säubern und Polieren der Zahn-
oberfläche und Erfrischung des Atems
D eine therapeutische Aufgabe durch Entfernen der Plaque
D eine pharmakologische Aufgabe durch Einbringen pharmakologisch
wirksamer Substanzen
Abrasivstoffe Zahnpasten sind kosmetische Mittel und unterscheiden sich von Arz-
neimitteln. Zahnpasten dürfen maximal 0,15% Fluoridionen enthalten
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 563
und setzen sich aus verschiedenen Einzelbestandteilen zusammen: Je
nach Zahnpasta liegen 15–55% Abrasivstoffe (Putzkörper) in einer
Zahnpasta vor. Sie erleichtern die Entfernung der Plaque und die Politur
der Zahnoberflächen.
Die Abrasionswirkung hängt neben Partikelform, Partikelgröße,
Härte und Anzahl der Partikel auch von der angewandten Zahnputz-
technik und der beim Putzen angewendeten Kraft ab. Die Beschaffen-
heit und Borstenhärte der verwendeten Zahnbürste besitzen nur einen
untergeordneten Einfluss auf die Abrasivität von Zahnhartsubstanz.
Als Putzkörper werden Carbonate, Phosphate (Dicalciumphosphat
[DCP], Dicalciumphosphat-Dihydrat [DCPD], Natriummetaphosphat
[IMP]), Kieselgele, feindisperse Kieselsäure, Aluminiumoxidhydrate und
Kunststoffe verwendet.
Als aussagefähigste Messmethode zur Bestimmung der Abrasivität
einer Zahnpasta gilt die Bestimmung des Abriebs von radioaktiv markier-
tem Dentin (RDA: Relative Dentin Abrasion) bzw. Schmelz (REA: Relative
Enamel Abrasion). Dabei wird der durch die jeweilige Zahnpaste verur-
sachte Abrieb ins Verhältnis zu dem Abtrag gesetzt, den ein Standardab-
rasivmedium hervorruft. Zahnpasten mit einer hohen Abrasivität weisen
einen hohen RDA- bzw. REA-Wert auf. Aufgrund methodisch bedingter
Schwankungen zwischen verschiedenen Testlaboratorien ist aber nur
eine grobe Einteilung der Zahnpasten möglich (RDA 0–19: sehr tief, RDA
20–39: tief, RDA 40–79: mittel, RDA 80–99: hoch, RDA ≥ 100: sehr hoch).
Tenside (z.B. Natriumlaurylsulfat, Aminfluorid) verringern die Tenside
Oberflächenspannung des Speichel-Zahnpasta-Gemischs. Sie besitzen
aufgrund ihrer chemischen Struktur die Eigenschaft, sich an Oberflä-
chen anzulagern. Ferner erzielen sie eine schäumende Wirkung (Na-
triumlaurylsulfat) und lösen Plaquebakterien und Speisereste ab. Hohe
Dosierungen von Natriumlaurylsulfat können zu Schädigungen der
Gingiva führen. Die Konzentration sollte daher 2% nicht überschreiten.
Zur Aromatisierung werden Geschmacksstoffe wie Pfefferminz und Geschmacksstoffe
Menthol zugesetzt. Sie sollen die Akzeptanz von Zahnpasten fördern.
Nicht kariogene Süßstoffe (Saccharin, Xylit) runden den Geschmack der
Zahnpasta ab. Der Zuckeraustauschstoff Xylit soll ferner den Stoffwech-
sel kariogener, zuckerabbauender Mikroorganismen beeinflussen und
zur Verdrängung dieser Bakterien führen. Den Zahnpasten können ver-
schiedene Wirkstoffe zugesetzt sein.
Als Kariostatika sind den Pasten seit etwa 40 Jahren Fluoride beige- Wirkstoffe
mischt. Heute besitzen ca. 70% der erhältlichen Zahnpasten 0,1–0,15%
Fluorid. Kinderzahnpasten sind höchstens 0,05% Fluorid zugesetzt. Den
Zahnpasten sind Fluoride in Form von Zinnfluorid, Natriumfluorid, Na-
triummonofluorphosphat und Aminfluorid zugefügt.
Plaquehemmende Wirkstoffe, wie Chlorhexidin, Sanguinarin oder 19
die Enzyme Amyloglucosidase/Glucoseoxidase, besitzen antimikro-
bielle Eigenschaften. Sie wirken auf den Metabolismus und das Wachs-
tum der supragingivalen Plaquebakterien.
564 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Die Kombination von Phenolen, z.B. Triclosan und Co-Polymer, mit
dem Metallsalz Zinkzitrat zeigte in neueren Untersuchungen einen
hemmenden Einfluss auf parodontalpathogene Keime.
Zahnsteininhibitoren, wie Pyrophosphate, Polyphosphate, Phos-
phonate und Zinkzitrat hemmen die Ausfällung von Kalziumsalzen aus
dem Speichel und beugen so der Kristallisation und supragingivalen
Zahnsteinbildung vor.
Pflanzliche Extrakte, wie z.B. Chamazulen, wirken antiphlogis-
tisch. Vitamin A wird vom Gingivagewebe resorbiert und fördert die
Zellproliferation und damit die Bildung einer ausreichend keratinisier-
ten Gingiva.
Hilfsstoffe Feuchthaltemittel verhindern das Austrocknen der Zahnpasta. Sie
sind in Form von Glycerol, Sorbitol oder Propylenglycol den Zahnpas-
ten beigemischt.
Bindemittel (Hydroxyethylcellulose, Methylcellulose, kolloidales
Magnesium- und Aluminiumsilikat) sind hydrophile, kolloidale Sub-
stanzen. Sie bilden hochvisköse Gele und binden die Abrasivstoffe.
Konservierungsstoffe (z.B. Hydroxybenzoesäureester) verhindern
die mikrobielle Zersetzung der Zahnpasta und garantieren ihre Haltbar-
keit.
Desensibilisie- Zur Desensibilisierung hypersensibler Zähne werden u.a. Fluorid-
rung hyper- verbindungen, Strontiumchlorid, Arginin, Kalziumkarbonat, Apatite
sensibler Zähne oder Kalzium-Natrium-Phosphosilikat den Zahnpasten zugesetzt. Diese
Wirkstoffe sollen die Dentinkanälchen durch Mineralisierung, Ablage-
rung von Präzipitaten oder Imprägnierung verschließen. Das in kalium-
nitrathaltigen Pasten verfügbare Kalium bewirkt eine Modifikation oder
Blockade der Antwort der Pulpanerven. Die Erregbarkeit der Nerven
wird durch einen Konzentrationsanstieg extrazellulären Kaliums und
Depolarisation der sensorischen Nerven reduziert. Die genauen Mecha-
nismen, die zur Desensibilisierung bei Verwendung dieser Zahnpasten
führen, sind aber noch nicht abschließend geklärt. Häufig finden sich
widersprüchliche Aussagen zur Wirksamkeit der verschiedenen Sub-
stanzen. Hypersensible Zahnpartien liegen im Bereich freiliegender
Zahnhälse oder bei freiliegenden Wurzeloberflächen vor. Sie finden sich
auch nach parodontalchirurgischen Maßnahmen, wenn es zu einer Re-
traktion der zuvor ödematös geschwollenen Gingiva kommt. Da das
dünne Wurzelzement infolge von Mundhygienemaßnahmen oder
durch erosive bzw. abrasive Nahrung leicht beschädigt wird, haben die
Odontoblastenfortsätze via Dentinkanälchen Kontakt mit der Mund-
höhle. Mechanische, thermische und chemische Reize können dann
vom Patienten als sehr schmerzhaft empfunden werden.
Durch den Zahnarzt angewendete Dentinadhäsive stellen eine wei-
tere Alternative zum Verschluss freiliegender Dentintubuli und damit
zur Reduzierung der Schmerzempfindlichkeit hypersensibler Zähne dar.
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 565
19.3.5 Supra- und subgingivale Plaque- und
Zahnsteinentfernung
! Die Aufgabe des Zahnarztes in der ersten Phase der Initialtherapie
ist es, eine professionelle Zahnreinigung durchzuführen.
Die professionelle Zahnreinigung umfasst: Erste Phase
D Darstellung der supragingivalen Beläge
D vollständige Entfernung der supra- und subgingival erreichbaren Be-
läge
D Politur und Fluoridierung der Zahnoberflächen
Vor der Entfernung bakterieller Beläge sowie vor oralchirurgischen Ein-
griffen sollte eine Keimreduktion in der Mundhöhle durch das Spülen
mit oralen Desinfizienzien (z.B. Chlorhexidindiglukonat) erfolgen. Zur
Herstellung hygienischer Mundverhältnisse und um dem Patienten Vo-
raussetzungen zu schaffen, die eine optimale Zahnpflege ermöglichen,
muss der Zahnarzt die supragingivalen Beläge zusammen mit Verfär-
bungen durch Tee-, Rotwein- oder Tabakkonsum entfernen. Verfärbun-
gen der Zähne stellen einen Nährboden für Mikroorganismen dar und
werden vom Patienten als ästhetisch beeinträchtigend empfunden. Ne-
ben den supragingivalen Belägen werden erreichbare subgingivale Be-
läge z.B. mit speziellen Ultraschallscalern (s.u.) beseitigt.
In der zweiten Phase der Initialtherapie werden eventuell vorhan- Zweite Phase
dene, schwer erreichbare, subgingivale Beläge in einer konservativ ge-
schlossenen Therapie durch subgingivales Scaling entfernt. In diese
Therapie ist meist eine Weichgewebskürettage eingeschlossen. Diese
Therapiephase ist vor allem dann notwendig, wenn trotz gründlicher
Durchführung der ersten Phase, weiterhin Taschen mit einer Tiefe von
mehr als 3 mm Entzündungszeichen und/oder Weichgewebsschwellung
aufweisen.
Bei flachen Taschen mit Sondierungstiefen < 3 mm kann das sub-
gingivale Scaling zu einem Attachmentverlust führen und ist daher
an solchen Stellen nicht indiziert.
In der Initialphase werden die Maßnahmen zur Beseitigung der subgin-
givalen Konkremente ohne ein Zurückklappen der Gingiva und ohne
Lappenbildung vorgenommen. Die dabei angewendeten Verfahren wer-
den bei den chirurgischen Parodontaltherapien beschrieben (s. Kap.
19.4.1).
In dieser Phase der Therapie kann das Verfahren der sogenannten
„full-mouth-disinfection“ von Vorteil sein (Tab. 19.4). Dies gilt insbe- 19
sondere bei Vorliegen einer chronischen Parodontitis. Dabei wird eine
Behandlung aller Parodontitiszähne innerhalb von 24 Stunden vorge-
nommen. Dadurch soll eine bakterielle Rekolonisation bereits behan-
566 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Tab. 19.4: Behandlungsregeln bei Anwendung der Full Mouth Disinfection
• Behandlung des Unterkiefers erfolgt vor dem Oberkiefer.
• Subgingivales Scaling aller Zähne mit Parodontitis innerhalb von 24 Stunden.
• Supragingivale Reinigung und Politur aller Zähne.
• Bürsten des Zungenrückens (60 Sekunden) mit 1% Chlorhexidingel.
• Mundspülung (2-mal, je 30 Sekunden) mit 0,2% Chlorhexidinlösung, während
der letzten 10 Sekunden Gurgeln zur Desinfektion der Tonsillen.
• Applikation von 3% Chlorhexidingel für 10 Minuten in die Parodontaltaschen.
• Wiederholung nach 8 Tagen.
• Patient spült zu Hause für 14 Tage (2-mal täglich, je 1 Minute) mit 0,2% Chlor-
hexidinlösung.
delter Taschen in der Phase zwischen den Behandlungssitzungen ver-
mieden werden. Bei der „full-mouth-disinfection“ wird die mechani-
sche Wurzeloberflächenbearbeitung mit einer antibakteriellen Therapie
mit Chlorhexidindiglukonat (s. Kap. 19.5.1) kombiniert.
19.3.6 Instrumente zur Zahnreinigung und Entfernung von
Zahnstein durch den Zahnarzt
Scaler Zur Entfernung von harten Belägen und zur Grobdepuration werden
Scaler verwendet. Sichelscaler besitzen einen dreieckigen Querschnitt,
zwei schneidende Kanten und laufen an ihrem Ende spitz zu (Abb.
19.5). Aufgrund ihrer Spitze und Größe ist ein subgingivales Arbeiten
ohne Verletzung der Gingiva nicht möglich. Gerade Scaler sind im ge-
samten Ober- und Unterkieferbereich einsetzbar, gebogene Scaler eig-
nen sich zur Entfernung von Zahnstein im Interdentalbereich.
Hoe-Scaler besitzen ein hauenförmiges bzw. hakenförmiges Arbeits-
ende. Mit ihnen können auch subgingivale Konkremente ohne Zurück-
klappen der Gingiva entfernt werden. Aufgrund ihrer Form erreichen sie
aber nicht den Taschenboden. Durch ihre scharfen Kanten kann es
leicht zu tiefen Kratzern auf der Wurzeloberfläche kommen.
Küretten Küretten werden zur Entfernung subgingivaler Konkremente, nekro-
tischen, infizierten Wurzelzements und zur Entfernung des Granula-
tionsgewebes und des Taschenepithels verwendet. Sie besitzen eine zier-
liche Form mit abgerundetem Ende. Es werden Universalküretten (z.B.
Columbia, Langer) und Spezialküretten (z.B. Gracey) unterschieden. Für
besonders schmale oder tiefe Zahnfleischtaschen sind Spezialküretten
mit einem kürzeren Arbeitsende (Mini Five) oder längerem unteren
Schaft (After Five) vorhanden.
Universalküretten können aufgrund ihrer Form an allen Quadran-
ten eines Gebisses und dort an allen Zahnflächen eingesetzt werden. Sie
sind auf beiden Seiten ihres löffelartigen Arbeitsendes scharf geschliffen.
Spezialküretten sind nur einseitig scharf geschliffen. Es muss immer
das Instrument gewählt werden, das sich der Wurzeloberfläche am bes-
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 567
90° 70°
Universalkürette Gracey-Kürette
1 2
Instrument 1/2
Leicht abgewinkelt:
Frontzähne, alle Flächen
3 4
Instrument 3/4
Stärker abgewinkelt:
Frontzähne und Prämolaren, alle Flächen
5 6
Instrument 5/6
Leicht abgewinkelt:
Frontzähne und Prämolaren, alle Flächen
7 8
Instrument 7/8
Stärker abgewinkelt:
Prämolaren und Molaren, faszial und oral
Instrument 9/10 9 10
Stark abgewinkelt, langer Schaft:
Prämolaren und Molaren,
faszial und oral (speziell: kleine Mundöffnung)
11 12
Instrument 11/12
Abgewinkelt:
Prämolaren und Molaren, mesial
13 14
Instrument 13/14
Stark abgewinkelt:
Prämolaren und Molaren, distal
Instrument 15/16 15 16
Stark abgewinkelt: Molaren, mesial
(speziell: verlagerte Zähne, kleine Mundöffnung)
Instrument 17/18 17 18
Stärker abgewinkelt:
Molaren, distale und posteriore Flächen, b
tiefe Taschen
gebogener
Sichelscaler
gerader
Sichelscaler c
Hoe-Scaler
d 19
Abb. 19.5: Instrumente zur Zahnsteinentfernung: a) Unterschiedliche Winkel zwischen Schneide und Schaft
von Universalküretten und Gracey-Küretten, b) Kodierung und Einsatzgebiet der Gracey-Küretten, c) und d)
Scaler mit schematischer Darstellung der jeweiligen Schneide (Arbeitsende)
568 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
ten anlegen lässt. Der Anstellwinkel zwischen Arbeitskante und Zahn-
oberfläche sollte ca. 80° betragen.
Der Winkel zwischen dem Schaft des Handinstrumentes und der Ar-
beitskante beträgt bei Universalküretten 80°, bei Spezialküretten 60–70°.
Die Spezialküretten vom Typ Gracey (s. Abb. 19.5a) besitzen eine Zah-
lencodierung, die es ermöglicht, dass genau das Instrument ausgewählt
werden kann, das sich am besten der jeweiligen Zahnoberfläche anlegen
lässt (s. Abb. 19.5b).
Meißel Meißel (z.B. Zerfing-Meißel) werden hauptsächlich zur interdenta-
len Zahnsteinentfernung im Front- bzw. vorderen Seitenzahnbereich
eingesetzt.
Arbeitshaltung Die beschriebenen Handinstrumente werden in einem modifizier-
ten Schreibfedergriff gehalten. Der Mittelfinger dient immer der Abstüt-
zung an der Zahnreihe. Ohne diese Abstützung kann nicht die erforder-
liche Kraft, die zur Zahnsteinentfernung notwendig ist, aufgebracht
werden. Zum anderen verhindert die Abstützung ein Abrutschen des In-
strumentes und eine Verletzung des Patienten und des Behandelnden
mit dem scharfen Instrument.
Mit Meißeln wird stoßend, mit Scalern und Küretten von apikal nach
koronal ziehend gearbeitet. Manchmal kann mit der instrumentenfüh-
renden Hand nicht ausreichend Druck auf das Instrument und damit auf
den Zahn ausgeübt werden. Dann kann das Instrument am Schaft mit-
hilfe der Finger der anderen Hand zusätzlich gestützt und geführt werden.
Schärfen Nur mit scharfen Handinstrumenten für die Zahnstein- und Konkre-
mententfernung ist eine effektive Depuration der Zähne in angemesse-
ner Zeit möglich. Deshalb müssen die Instrumente nach jedem Ge-
brauch nachgeschärft werden. Das Schärfen geschieht mittels Abziehen
des Instruments über Steine. Sehr stumpfe oder beschädigte Instru-
mente werden mit groben Steinen (India) vorgeschliffen. Das feine Auf-
schleifen wird mit Arkansas-Steinen vorgenommen. Zur Schonung des
Steins und um eine größere Hitzeentwicklung zu vermeiden, wird spe-
zielles Schleiföl auf den Stein aufgetragen. Das Aufschleifen ist von
Hand und mit Aufschleifmaschinen möglich. Die einseitig scharfen In-
strumente (z.B. Gracey-Küretten) werden an der Außenfläche, die zwei-
seitig scharfen Instrumente (z.B. Scaler) an Außen- und Innenfläche ge-
schärft. Die Oberfläche des Abziehsteins und die Oberfläche der
Schneide bilden einen Winkel von 100–110°. Das Schärfen geschieht
durch Auf- und Abziehen des Steins am fixierten Instrument. Um Schar-
ten am Instrument zu vermeiden, sollte zum Schluss ein Abwärtszug er-
folgen. Die Schärfe kann an einem Plexiglasstäbchen kontrolliert wer-
den. Scharfe Instrumentenkanten reflektieren kein Licht.
Schall- und Ultra- Neben den beschriebenen Handinstrumenten kommen Schall- und
schallgeräte Ultraschallgeräte zur Entfernung von Zahnstein und subgingivalen
Konkrementen zum Einsatz.
Die durch ihren Einsatz erzielbaren klinischen Therapieergebnisse
werden in der neuesten Stellungnahme der DGZMK („Schall- und Ultra-
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 569
schallscaler in der Parodontitistherapie“) als gleichwertig im Vergleich
zur Handinstrumentierung eingeschätzt. Herkömmliche Ultraschallin-
strumente werden nur bei zurückgeklappter Gingiva eingesetzt. Ultra-
schallinstrumente sollten nicht zur Entfernung von weichen Belägen
eingesetzt werden, da es bei ihrem Einsatz leicht zu Verletzungen der
Zahnhartsubstanzen kommen kann.
Magnetostriktiv bzw. piezoelektrisch arbeitende Ultraschallgeräte
wandeln elektrischen Strom in mikroskopisch kleine Stöße von
20 000–45 000 Schwingungen pro Sekunde um. Bei magnetostriktiv
angetriebenen Geräten wird ein Eisen- oder Nickelstahlkern in einer
Wechselstromspule in eine Längsschwingung versetzt. Die resultierende
Schwingungsform der Arbeitsspitze ist ellipsoid bis kreisförmig. Bei den
piezoelektrisch angetriebenen Geräten werden Quarzkristalle in einem
Wechselfeld deformiert. Dadurch leiten sie die Schwingungen auf das
Arbeitsende weiter. Das Arbeitsende führt lineare, d.h. auf eine Ebene
begrenzte Bewegungen senkrecht zur Arbeitsspitzenlängsachse aus.
Sogenannte Airscaler werden über den Turbinenanschluss am Be-
handlungsstuhl durch Luft angetrieben. Sie erreichen maximal 8000
Schwingungen pro Sekunde und arbeiten damit nicht im Ultraschallbe-
reich, der durch Schwingungen oberhalb von ca. 20 000 Hz definiert ist.
Die Hauptwirkung von Schall- und Ultraschallscalern resultiert durch
direkten Kontakt der hämmernd-klopfenden bzw. schabenden Arbeits-
spitze mit der Zahnoberfläche. Durch die Schwingungen der Arbeitsen-
den werden auch Mikroströmungen in dem für die Kühlung notwendi-
gen Kühlungsmedium hervorgerufen. Ohne diese Kühlung kann es zu
thermischen Schädigungen der Zahnhartsubstanz und des Weichgewe-
bes kommen (bis 195 °C). Die Mikroströmungen können zu einem Kavi-
tationseffekt beitragen. Ein direkter Einfluss des Kavitationseffektes mit
einer möglicherweise stattfindenden Implosion von Bakterien ist bisher
nicht belegt.
Als Kühlmittel werden meist Wasser oder pharmakologisch wirk-
same Lösungen (z.B. Chlorhexidindiglukonat) verwendet. Der Einsatz
von Antiseptika bietet aber keine klinisch relevanten Vorteile im Thera-
pieerfolg. Er reduziert aber möglicherweise die im Spraynebel vorhande-
nen Bakterien. Durch die Schwingungen der Arbeitsenden kann es zu
Zahnhartsubstanzkavitationen von 0,1 mm Tiefe kommen. Dies trifft
sowohl für schall- als auch für ultraschallgetriebene Geräte zu. Eine Ka-
vitation kann vor allem dann beobachtet werden, wenn die Arbeits-
spitze mit Druck auf eine Stelle des Zahnes aufgesetzt wird. Die Effizienz
oszillierender Scaler wird in erster Linie durch die Instrumentierungs-
zeit, die angewandten Auflagekräfte und den Anstellwinkel der Arbeits-
spitze zur Zahnoberfläche bestimmt. Dahingegen bewirkt eine Erhö-
hung der Leistungseinstellung am Gerät nur eine geringe Steigerung der 19
Effizienz. Zum weitgehend schonenden Arbeiten sollten die Arbeitsspit-
zen in kontinuierlicher Bewegung parallel zur Zahnoberfläche mit An-
presskräften von 0,5–1 N angewendet werden. Daher sollte immer inter-
570 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
mittierend, mit geringem Druck und unter Verwendung abgerundeter
Instrumentenspitzen gearbeitet werden. Das Arbeitsende sollte flächig
an die Zahnoberfläche angelegt werden.
Aufgrund des notwendigen Kühlvorgangs ist der Einsatz herkömm-
licher, für die supragingivale Zahnsteinentfernung vorgesehener Ultra-
schallgeräte in tiefen Taschen nicht möglich. Dazu eignen sich speziell
geformte, sehr schlanke Arbeitsansätze (Slimline), bei denen die Kühl-
flüssigkeit durch eine interne Zufuhr bis zur Instrumentenspitze geführt
wird. Dadurch wird es neben der Entfernung von Konkrementen gleich-
zeitig möglich, Bakterien und bakterielle Toxine in der parodontalen Ta-
sche und auf der Wurzeloberfläche zu reduzieren. Ein weiterer paro-
dontaltherapeutischer Effekt der Schall- und Ultraschallwellen besteht
im Zerreißen des in der Zahnfleischtasche und auf der Wurzeloberfläche
befindlichen bakteriellen Biofilms. Die klinische Wirksamkeit eines
gründlichen Schall- oder Ultraschallscalings ist der Anwendung von
Handinstrumenten ebenbürtig. In Furkationsbereichen mehrwurzeliger
Zähne ist mit diesen Instrumenten eine gegenüber Handinstrumenten
effizientere Zahnsteinentfernung möglich.
Beim Vector-System handelt es sich um eine modifizierte Ultra-
schalltechnologie, bei der die Arbeitsspitze des Instruments rein verti-
kale Schwingungen ausführt. Auf diesem Weg kann auch in tiefe Ta-
schen zielgerichtet Flüssigkeit appliziert werden. Die Arbeitsenden wer-
den ohne Druck in der Tasche entlang der Wurzeloberfläche bewegt.
Durch Hydroxyapatitpartikel in der Spülsuspension kommt es zu einer
Abrasion und damit Reinigung der Wurzeloberfläche. Umfassende klini-
sche Resultate zu dieser Technik stehen aber noch aus.
Nicht eindeutig geklärt ist, ob durch die subgingivale Anwendung
von ultraschallgetriebenen Instrumenten das Bakteriämierisiko im
Vergleich zu Handinstrumenten erhöht wird.
Vorsicht ist bei der Verwendung von Ultraschallinstrumenten bei
Patienten mit Herzschrittmachern geboten. Durch elektromagneti-
sche Einflüsse oder aber auch durch die Vibration kann es zu einer
Beeinflussung des Schrittmachers kommen. Diese Interferenzen
sind nicht für Schallscaler nachgewiesen. Für beide oszillierenden
Scalertypen gilt zu beachten, dass es zur Entwicklung eines mit Kei-
men kontaminierten Aerosols kommt (Cave: infektiöse Patienten).
Pulver-Wasser- Pulver-Wasserstrahl-Geräte dienen der Reinigung von Fissuren und
strahl-Geräte der Entfernung von Verfärbungen. Das druckluftbetriebene Gemisch
von Wasser und Natriumbikarbonatpulver kann beim Auftreffen auf die
Gingiva zu Epithelverletzungen führen. Eine Anwendung im Bereich
freiliegenden Wurzelzements oder Dentins bzw. im Bereich von Kompo-
sitfüllungen wird aufgrund schädigender Einflüsse nicht empfohlen.
Die Verwendung neuer, weicher, biokompatibler Partikel auf Glycinba-
sis haben vielversprechende Ergebnisse bei der Entfernung des subgingi-
19.3 Initialtherapie Kapitel 19 571
valen Biofilms vor allem in der unterstützenden Parodontitistherapie
(s. Kap. 19.9, Seite 630) gezeigt. Die Anwendung dieser Partikel ermög-
licht eine optimale Entfernung des weichen Biofilms unter größtmögli-
cher Schonung der Wurzeloberfläche. Glycin ist biologisch inert und
führt weder zu einer Entzündungsantwort noch zu einer Beeinträchti-
gung der parodontalen Heilung. Mit speziellen Düsen kann mit glycin-
basierten Pulver-Wasserstrahl-Anwendungen auch der subgingivale Bio-
film bis zu einer Sondierungstiefe von 3–4 mm effektiv entfernt werden.
Allerdings ist bei subgingivaler Verwendung von Pulver-Wasserstrahl-
Geräten aufgrund einer möglichen Emphysembildung Vorsicht gebo-
ten.
Die abschließende Politur der Zahnoberfläche und vollständige Ent- Politur
fernung von Verfärbungen erfolgt mit maschinell getriebenen rotieren-
den weichen Bürstchen oder Gummikelchen. Zur Reinigung der Inter-
dentalflächen werden dünne, flexible, flache Kunststoff- oder Holzan-
sätze des EVA-Systems verwendet. Beim EVA-System wird ein Arbeiten
im Interdentalraum durch eine vibrierende Längsbewegung eines Ar-
beitsendes ermöglicht. Eine weitere Möglichkeit zur Belagentfernung
besteht im Einsatz von aluminiumoxidbeschichteten Polierstreifen, wie
sie zur Politur von Kompositfüllungen verwendet werden.
Werden Polierpasten verwendet, sollte darauf geachtet werden, dass
sie keine zu stark abrasive Wirkung besitzen. Als Polierpasten können
auch Zahnpasten herangezogen werden. Die Fluoridierung der Zahn-
oberflächen sollte nicht mit harzhaltigen Fluoridlacken erfolgen, da
sich diese beim parodontal geschädigten Patienten leicht in den Zahn-
fleischtaschen festsetzen können.
19.3.7 Beseitigung der die Plaqueablagerung fördernden
Faktoren
! Der Zahnarzt muss in der Initialphase Retentionen und Nischen
beseitigen, sodass für den Patienten die Mundhygiene vereinfacht
wird.
Zu diesem Zweck müssen überhängende Füllungsränder abgetragen und
unpolierte bzw. ungenügend konturierte Füllungen rekonturiert und
poliert werden. Ist eine Rekonturierung und Politur nicht möglich, müs-
sen die Füllungen erneuert werden.
Lokale sekundäre Ursachen wie Zahneinziehungen, Schmelzprojek-
tionen oder enge Furkationseingänge werden in Form einer Odonto-
plastik so verändert, dass die Plaque keine Retentionsstellen mehr be-
sitzt. Furkationseingänge werden so erweitert, dass die freiliegende Fur- 19
kation mit kleinen Bürstchen durch den Patienten zu reinigen ist. Zur
Entfernung überstehender approximaler Füllungen werden einseitig be-
legte diamantierte Spitzen des EVA-Systems oder diamantierte Interden-
572 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
talstreifen verwendet. Die bearbeiteten Flächen müssen abschließend
mit feinen belegten Ansätzen oder Streifen poliert werden.
Eine Odontoplastik wird mit feinen Diamantschleifern (Körnung
15–75 µm) oder diamantierten grazilen Ultraschallansätzen durchge-
führt. Im Anschluss an eine Odontoplastik muss immer eine Fluoridie-
rung der Zahnoberflächen erfolgen.
19.4 Korrektive Therapie
! Nach erfolgter Initialtherapie wird der Patient, falls erforderlich,
in die korrektive Therapie übernommen. Sind noch Parodontien
vorhanden, die bei Sondierung bluten und keinen Rückgang der
Sondierungstiefen aufweisen, werden zunächst chirurgisch-kor-
rektive Maßnahmen durchgeführt.
Maßnahmen Die korrektive Therapiephase umfasst je nach Indikation folgende Be-
handlungen:
D chirurgische Interventionen
D Extraktionen
D endodontische Versorgungen
D die Anfertigung definitiver Restaurationen
D funktionelle Therapie, orthodontische Therapie usw.
19.4.1 Grundlagen der Parodontalchirurgie
Ziele Ziele der chirurgischen Parodontaltherapie in der korrektiven Phase sind:
D Behandlung residualer Läsionen unter weitgehend visueller Kon-
trolle
D Etablierung eines weitgehend entzündungsfreien Parodonts
D Reduzierung der Sondierungstiefen
D teilweise oder vollständige Auffüllung von Knochentaschen mit kör-
pereigenem Gewebe
D Regeneration parodontaler Strukturen
D ggf. Erzielung einer physiologischen Morphologie der Zähne, der
Gingiva und des Alveolarknochens
D im Idealfall: Festigung gelockerter Zähne
Indikationen für parodontalchirurgische Maßnahmen
D Aktive Resttaschen: Chirurgisch-korrektive Maßnahmen werden
durchgeführt, wenn die Ziele der Initialphase weitgehend erreicht
sind, aber dennoch weiterhin aktive Resttaschen vorliegen. Aktive
Taschen sind durch ein Bluten bei vorsichtiger Sondierung gekenn-
zeichnet. Die Blutung deutet darauf hin, dass noch subgingivale Be-
läge vorhanden sind.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 573
D Tiefe, schwer zugängliche Defekte: Wurzeloberflächen in Taschen
bis zu 5 mm Tiefe können meist mit geeigneten Instrumenten auch
ohne Zurückklappen der Gingiva gesäubert werden. Daher sind
überwiegend bei Taschen, die tiefer als 5 mm sind und einen er-
schwerten Zugang haben sowie bei Furkationsbeteiligung, parodon-
talchirurgische Maßnahmen mit Lappenbildung indiziert.
D Verbesserung der Hygienefähigkeit: Liegt ein eingeschränkter Zu-
gang für die häusliche Mundhygiene durch die Morphologie der
Hart- und Weichgewebe vor, sollte ggf. durch chirurgische Maßnah-
men (z.B. Gingivektomie, Reduktion von Zahnfleischtaschen Besei-
tigung von Gingivaabberationen) die Hygienefähigkeit ermöglicht
werden.
D Kronenverlängerung: Dieser Eingriff kann vor restaurativen Maß-
nahmen zur Erhaltung der biologischen Breite erforderlich sein (s.
Kap. 19.6.2).
Der Patient muss in der initialen Hygienephase seine Kooperations-
bereitschaft zur aktiven Mitarbeit bei der Plaquekontrolle gezeigt
haben. Nur dann sind chirurgische Maßnahmen durchzuführen
und sinnvoll. Die chirurgischen Eingriffe werden nur an den Zäh-
nen durchgeführt, die aktive Resttaschen besitzen und erhaltungs-
würdig sind.
Da die Eingriffe auch immer ein lokales Trauma setzen, sind die übrigen
Zähne, wenn möglich, nicht in den chirurgischen Eingriff einzubezie-
hen. Die Therapien sind recht aufwändig und für den Behandler anstren-
gend. Daher werden die chirurgischen Maßnahmen in vier bis sechs Sit-
zungen durchgeführt. Das Gebiss wird dabei in Quadranten bzw. Sextan-
ten eingeteilt. Epidemiologische Studien (s. Abb. 17.7) haben gezeigt,
dass chirurgisch-korrektive Maßnahmen nur bei höchstens einem Vier-
tel aller Patienten angezeigt sind. Beim überwiegenden Teil der Patienten
sind die Maßnahmen der Initialtherapie ausreichend, um die in der chi-
rurgischen Therapie angestrebten Ziele zu verwirklichen.
Die chirurgischen Eingriffe werden folgendermaßen eingeteilt:
D parodontalchirurgische Eingriffe
D mukogingivalchirurgische Eingriffe
D kombiniert parodontal-mukogingivalchirurgische Eingriffe
D Methoden zur Behandlung von Zähnen mit Furkationsbeteiligung
Antibiotische Abschirmung
Eine peri- bzw. postoperative Antibiose ist nur bei Patienten mit be-
stimmten Grunderkrankungen oder speziellen Verlaufsformen der Paro-
dontopathien notwendig. Sie wird nicht routinemäßig verordnet. Vor 19
dem operativen Eingriff sollte der Patient zur Bakterienreduktion mit ei-
ner antimikrobiellen Spüllösung (z.B. Chlorhexidin) den Mund gut aus-
spülen. In der postoperativen Phase empfiehlt sich zur Unterstützung
574 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
der Mundhygienemaßnahmen des Patienten ebenfalls die Anwendung
antimikrobieller Spüllösungen.
Vorliegen einer Antikoagulanzientherapie
Es sollte bei allen chirurgischen Maßnahmen beachtet werden, ob die
Patienten gerinnungshemmende Medikamente (Antikoagulanzien) ein-
nehmen. In diesem Fall können starke, unstillbare Blutungen während
der Parodontalbehandlung auftreten. Als Maß für die Blutgerinnung
wird der INR-Wert (International Normalized Ratio) angesehen. Dieser
Wert besagt, um wie viel mal länger das Blut eines Patienten im Ver-
gleich zu einer Normalperson zur Gerinnung benötigt. Die DGZMK
empfiehlt folgende Grenzen zu beachten, oberhalb derer die jeweilige
zahnärztlich-chirurgische Therapie nicht durchgeführt werden sollte:
D Zahnextraktion, unkomplizierte Osteotomie: INR: 2,0–3,5
D umfangreiche Eingriffe mit schwieriger Blutungsstillung:
INR: 1,6–1,9
Der aktuelle INR-Wert sollte präoperativ am Operationstag bestimmt
worden sein. Bei Vorliegen einer Antikoagulantientherapie sollte die
Möglichkeit der zahnärztlich-chirurgischen Behandlung bzw. die ggf.
erforderliche Veränderung der gerinnungshemmenden Therapie zuvor
in jedem Fall mit dem behandelnden Internisten abgeklärt werden.
Lokalanästhesie
Parodontalchirurgische Eingriffe erfordern eine Lokalanästhesie. Dabei
sollten Anästhetika mit niedrigem Vasokonstringens-Zusatz (z.B. Adre-
nalin) verwendet werden. Durch das Vasokonstringens entsteht ein blut-
armes Operationsgebiet, sodass die Übersicht erleichtert wird. Darüber
hinaus wird durch das Vasokonstringens die Anästhesiedauer verlängert.
Die absoluten Kontraindikationen für die Anwendung von Adre-
nalin (paroxysmale Tachykardie, Tachyarrhythmie, Zustand nach In-
farkt, schwere Hypertonie, Angina pectoris, Hyperthyreose, Engwinkel-
glaukom, Medikation mit Antidepressiva) sind zu beachten.
Oberkiefer Bei Eingriffen im Oberkiefer wird bukkal eine Infiltrationsanästhe-
sie (Nn. alveolares superiores) und palatinal eine Leitungsanästhesie
am Foramen palatinum (N. palatinus major) bzw. am Foramen incisi-
vum (N. nasopalatinus) vorgenommen.
Unterkiefer Im Unterkiefer ist vor allem im Frontzahngebiet ebenfalls eine In-
filtrationsanästhesie bukkal und lingual ausreichend. Für den Seiten-
zahnbereich des Unterkiefers können eine Leitungsanästhesie am Fora-
men mandibulae (N. lingualis/N. alveolaris inferior) und eine Blockade
des N. buccalis notwendig sein.
Schnittführungen
Horizontale Zur Mobilisation der Gingiva und Mukosa sind horizontale bzw. verti-
Inzisionen kale Inzisionen notwendig (Abb. 19.6).
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 575
marginaler paramarginaler
Horizontalschnitt Horizontalschnitt
paramediane Vertikalinzision
interdentale Vertikalinzision
para- mediane Vertikalinzision
marginaler
Horizontal- Dreieckslappen
schnitt
intra-
sulkulärer
Schnitt
marginaler
Horizontalschnitt
a c
Abb. 19.6: Horizontalinzisionen im Längsschnitt (a) und in der Aufsicht (b), Vertikalinzisionen in der Auf-
sicht (c)
Bei den horizontalen Inzisionen werden marginale, paramarginale
und intrasulkuläre Inzisionen unterschieden.
Marginale und intrasulkuläre Inzisionen trennen das Saum- bzw.
Taschenepithel vom Zahn. Bei diesen Schnittführungen tritt nahezu
kein Höhenverlust der Gingiva auf, sodass nach der Operation weniger
freiliegende Wurzeloberflächen resultieren. Beide Inzisionen eignen
sich daher besonders im Frontzahnbereich beim Vorliegen von Zahn-
fleischtaschen mit geringer Sondierungstiefe (bis 4 mm).
Paramarginale Inzisionen verlaufen in einem Abstand von 1–2 mm
zum Zahn. Durch sie wird das entzündete Taschengewebe in Form einer
internen Gingivektomie scharf kürettiert.
Vertikale Inzisionen dienen als Entlastungsschnitte, wenn größere Vertikale
Schleimhautlappen mobilisiert werden müssen. Sie liegen im günstigs- Inzisionen
ten Fall paramedian oder werden in Form eines Dreieckslappens aus-
geführt. Die Bildung eines Dreieckslappens ist vor allem dann sinnvoll,
wenn Knochentaschen oder Krater interdental lokalisiert sind. Wegen
der Gefahr postoperativer Nekrosen und Schrumpfungen sollten inter-
dentale oder mediale Vertikalinzisionen unterlassen werden. Bei palati-
nal oder lingual liegenden vertikalen Inzisionen müssen die anatomi-
schen Gegebenheiten (z.B. Aa. palatinae) beachtet werden, um Schäden
zu vermeiden.
Aus ästhetischen Gründen und bei der Implantation von autogenen Papillenerhal- 19
oder alloplastischen Materialien sind häufig papillenerhaltende Schnitt- tende Schnitt-
führungen und Maßnahmen indiziert. Dazu eignen sich die schräge in- führungen
terpapilläre Inzision oder die Mobilisation der gesamten, vollständig
576 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Abb. 19.7: Papillenerhal-
tende Maßnahmen: schräge
Inzision und bogenförmige
Inzision zur Mobilisation
der vollständig erhaltenen
Interdentalpapille
intrasulkuläre schräge bogenförmige
Inzision Inzision Inzision
erhaltenen Interdentalpapille (Abb. 19.7). Voraussetzung für diese Maß-
nahmen ist ein ausreichend weiter Approximalraum, wie er z.B. bei kro-
nenstumpfpräparierten oder parodontal geschädigten Zähnen vorliegt.
Nähte, Nahtmaterial und Nahttechniken
Die bei der Parodontalchirurgie mobilisierten Schleimhaut- bzw. Muko-
periostlappen müssen durch eine Naht wieder am Zahn adaptiert werden.
Die Gingiva sollte dabei den Knochen wieder vollständig überdecken.
Nahtmaterial Es wird atraumatisches, in der Regel nichtresorbierbares, syntheti-
sches Nahtmaterial der Stärke 3-0 bis 6-0 verwendet, das nach acht bis
zehn Tagen wieder entfernt wird. Bei längerer Liegedauer sind mono-
file Fäden zu bevorzugen, da die Plaqueakkumulation an monofilem
Nahtmaterial geringer ist als an polyfilem Material. In ästhetisch an-
spruchsvollen Bereichen sollte feinem Nahtmaterial (Stärke 5-0 oder
6-0) der Vorzug gegeben werden.
Nahttechniken Ist eine Vertikalinzision vorgenommen worden, so wird diese mit
Knopf- oder Matratzennähten (Abb. 19.8c) verschlossen. Die Fixation der
Gingiva am Zahn erfolgt mit Interdentalnähten, bei denen die jeweilige
orale und vestibuläre Papille miteinander vernäht werden (Abb. 19.8a).
Zahnumschlingungsnähte werden erforderlich, wenn die Mobili-
sation der Gingiva nur oral oder vestibulär erfolgt ist oder wenn der
orale und der vestibuläre Lappen auf unterschiedlicher Höhe adaptiert
werden sollen (Abb. 19.8b).
Für die Interdentalnähte werden meist gerade Nadeln verwendet,
die übrigen Nähte werden mit gebogenen Nadeln vorgenommen.
In der Regel werden alle Knoten bukkal gelegt, da die linguale Lage
für den Patienten störend ist. Die Knotentechniken bei der Naht sind
Lehrbüchern der Chirurgie zu entnehmen.
Gewebekleber Zur Fixation können auch Gewebekleber vom Cyanoacrylat-Typ
verwendet werden. Sie dürfen aber auf keinen Fall zwischen den Lappen
und die knöcherne oder bindegewebige Unterlage kommen, sondern
dürfen nur die Wundränder verschließen.
Wundverbände, Infektionsprophylaxe
Die Adaptation der Lappen und die postoperative Schonung des Wund-
gebietes können durch Zahnfleischverbände unterstützt werden. Die
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 577
a b c
Abb. 19.8: Nahttechniken: a) interdentale Papillennaht im Vertikalschnitt, b) Zahnumschlingungsnaht in
der Aufsicht (oben) und im Vertikalschnitt (unten), c) vertikale Matratzennaht in der Aufsicht (oben) und
im Vertikalschnitt (unten)
Wundverbände können darüber hinaus zu einer Schienung der Zähne
in der postoperativen Phase beitragen. Es werden heute ausschließlich
Zinkoxid-Eugenol-freie Materialien (z.B. Coe-Pac, Peri-Pac) oder licht-
härtende weiche Kunststoffe empfohlen.
Die Applikation der klebrigen, noch nicht abgebundenen, selbst-
härtenden Verbandmaterialien kann mit einer Einmalspritze erfolgen.
Der Verband wird dann mit angefeuchtetem oder mit Vaseline einge-
cremtem Finger an die Zahnoberfläche angedrückt. Das Verbandmate-
rial darf nicht zwischen Lappen und Knochen geraten. Um dies zu ver-
meiden, kann eine interdentale Abdeckung mit einer dünnen Zinnfolie
teilweise erforderlich sein. Die Zinnfolie verhindert ferner ein Verkleben
des Verbandmaterials mit dem Nahtmaterial. Der Verband darf die Mu-
kogingivalgrenze nicht überschreiten, da er sonst vom Patienten als stö-
rend empfunden wird und sich bei Bewegungen löst.
Der Verband klebt an den Zahnoberflächen und greift in unter sich
gehende Zahnbereiche. Dadurch wird ein ausreichender Halt des zäh-
plastisch erhärteten Materials erzielt. Die Tragezeit eines Verbandes be-
trägt sieben bis zehn Tage.
Den Verbandmaterialien ist häufig eine bakteriostatische Kompo-
nente (z.B. Chlorthymol) zugesetzt, die das Bakterienwachstum in der
Wundregion hemmen soll. Nach Entfernung des Verbandes führt der
Zahnarzt eine vorsichtige, aber gründliche Reinigung des Wundgebietes
und eine Politur der Zähne durch.
Postoperativ sollte eine Infektionsprophylaxe erfolgen. Eine me- 19
chanische Mundhygiene kann nur in den nicht operierten Bereichen er-
folgen. Daher sollten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wieder eine effektive
Zahnreinigung mit der Zahnbürste möglich ist (ca. nach vier bis sechs
578 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Wochen) zweimal täglich Mundspülungen mit 0,1–0,2% Chlorhexidin-
diglukonat-Lösung durchgeführt werden.
Instrumentarium für die Parodontalchirurgie
Im Folgenden wird nur das spezielle Parodontalinstrumentarium und
sein Einsatzgebiet dargestellt (zu Scalern und Küretten s. Kap. 19.3.6).
Beschreibungen des üblichen zahnärztlich-chirurgischen Bestecks (z.B.
Nadelhalter, Raspartorium, Wundhaken, Pinzetten, Gingivascheren,
chirurgisches Handstück mit Kochsalzkühlung, Knochenfräsen) kön-
nen speziellen Lehrbüchern entnommen werden.
Spezielle Instrumente für die Parodontalchirurgie (Abb. 19.9) sind
z.B.:
D Taschenmarkierungspinzette (z.B. Crane-Kaplan-Pinzette): zur Mar-
kierung des Taschenfundus bei der externen Gingivektomie
D Universal-Gingivektomiemesser: im Winkel verstellbares Messer für
die Gingivektomie
D Parodontalbeile, Papillenmesser: zur Gingivektomie, Abtrennung
gingivektomierter Papillen, Gingivoplastik
D sichelförmige Skalpelle: zur Gingivektomie und für Schnittführun-
gen im Molarenbereich; Nr. 12 nur Innenschliff, Nr. 12b Innen- und
Außenschliff
D gerade Skalpelle: zur Schnittführung im Frontzahnbereich; Nr. 11,
spitzes Ende; Nr. 15, abgerundetes Ende
Elektrochirurgie
! Die Elektrochirurgie bezeichnet chirurgische Maßnahmen am
Weichgewebe, die mit Hochfrequenzstrom (1–4 MHz) vorgenom-
men werden.
Der früher oft gewählte Begriff der Kauterisierung sollte in diesem Zu-
sammenhang nicht gewählt werden. Die Kauterisierung bezeichnet die
Beeinflussung von Gewebe mit direkter Hitze (Glühkauter).
Prinzip Bei der Hochfrequenzchirurgie (HF-Chirurgie) werden kalte Aktiv-
elektroden verwendet. Im Bereich der Aktivelektrode kommt es zu ei-
nem erhöhten Stromfluss, der eine lokale Hitzeentwicklung im Gewebe
aufgrund der elektrischen Widerstandswärme bewirkt.
Elektrodenfor- Es kommen verschiedene Aktivelektrodenformen zum Einsatz: Na-
men/Stromarten del-, Stab-, Kugel- und Schlingenelektroden. In der Elektrochirurgie
kommen verschiedene oszillierende Stromarten zur Anwendung. Sie
können für die verschiedenen Maßnahmen gezielt eingesetzt werden.
Als Faustregel gilt: Je höher die pro Zeiteinheit gewählte Spitzenspan-
nung, desto eher treten unerwünschte Funkenbildungen an den Elek-
troden und laterale Hitzeeinwirkungen im Gewebe auf. Die heutigen
modernen Geräte erlauben eine monoterminale Anwendung, d.h., es
muss keine Neutralelektrode am Patienten angelegt werden. Von den
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 579
Gingivabeil
Papillenmesser
Taschenmarkierungspinzette
Skalpellklingen
10 11 12 12D 15
Gingivektomiemesser
mit verstellbarem
Klingenanstellwinkel
Abb. 19.9: Spezielle Instrumente für die Parodontalchirurgie
verschiedenen möglichen Maßnahmen kommen in der Parodontologie
die Elektrotomie und die Elektrokoagulation zur Anwendung.
Die Elektrokoagulation kann zum Verschluss blutender Gefäße ver- Elektro-
wendet werden. Dabei kommen meist Kugelelektroden zum Einsatz. koagulation
Das blutende Gefäß kann aber auch mit einer Arterienklemme oder Pin-
zette gefasst und der Strom durch Kontakt der Aktivelektrode mit dem 19
Instrument fortgeleitet werden.
580 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Elektrotomie Die Elektrotomie bezeichnet das Schneiden mit HF-Strom. Es kann
zur primären Schnittführung (Nadelelektrode) oder zur Gingivamodel-
lation (Schlingenelektrode) herangezogen werden.
Die Elektrodesikkation (Gewebezerstörung durch Dehydratation)
und die Elektrofulguration (oberflächliche Gewebeverbrennung durch
Funkenentladung) finden keinen Einsatz in der Zahnheilkunde.
Vorteile Vorteile der Elektrochirurgie sind: Die geringe Blutung bei der
Schnittführung, die Möglichkeit drucklosen Schneidens auf weicher
Gewebeunterlage und die verringerte Bakteriämie bei der Wundset-
zung.
Nachteile Nachteile sind: Der unangenehme Geruch beim Arbeiten und die
Gefahr von Pulpen- und Knochenschädigungen durch Hitzeeinwir-
kung. Zahn- und Knochenkontakte mit der Aktivelektrode sind daher
zu vermeiden.
Die Hochfrequenzschwingungen können zu Störungen von Herz-
schrittmachern im Umkreis von 2,8 m Entfernung zur Elektrode füh-
ren. Die HF-Chirurgie ist daher vor allem bei Patienten mit Schrittma-
chern älteren Typs kontraindiziert.
Laser in der Parodontalbehandlung
Zur Anwendung des Lasers in der Parodontologie liegt eine Empfehlung
der DGZMK vor. Mit der Mehrzahl der gängigen Lasertypen ist eine ge-
zielte Entfernung von Zahnstein und Konkrementen schwierig um-
zusetzen. Allerdings kann z.B. die Anwendung eines Nd:YAG-Lasers
(Neodym-gesättigte Yttrium-Aluminium-Granat-Kristalle) oder Er:YAG-
Lasers (Erbium-gesättigte YAG-Kristalle) eine vorübergehende Keimre-
duktion in der Tasche bewirken. Dieser Effekt wird zum überwiegenden
Teil auf die Hitzeentwicklung zurückgeführt. Insbesondere Laserlicht im
nahen Infrarot- oder sichtbaren Spektralbereich dringt tief in Weich- und
Hartgewebe ein. Grundsätzlich steigt die Eindringtiefe von Laserlicht in
Gewebe mit zunehmender Wellenlänge (sichtbarer Bereich: 380–750
nm, naher Infrarotbereich: 750–1400 nm). Die fehlende Kontrolle über
die Tiefenwirkung des Laserstrahls und die Hitzeentwicklung kann zu ir-
reversiblen Schäden und Wundheilungsstörungen führen. Eine interes-
sante Entwicklung stellt die Kombination eines Er:YAG-Lasers mit einer
fluoreszenzbasierten Rückkopplung zum Nachweis von bakteriellen Auf-
lagerungen dar. Ziel dieses Systems ist es, die Laserapplikation gezielt auf
Bereiche zu begrenzen, die bakteriell besiedelt sind. Die Effizienz dieses
Systems ist aber klinisch noch nicht hinreichend gesichert.
CO2-Laser können in der Weichgewebschirurgie zur blutungsarmen
Entfernung von Gingivavergrößerungen verwendet werden. Nach heu-
tigem Kenntnisstand bringt der Einsatz von Lasern gegenüber her-
kömmlichen Methoden in der Parodontalbehandlung keine Vorteile,
sodass weitere Untersuchungen abgewartet werden müssen.
Im Gegensatz zu den oben genannten chirurgischen Lasertypen mit
einer Energie > 1 W arbeiten Niedrig-Energie-Laser (low level laser) im
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 581
Milliwattbereich. Entscheidend ist aber die auf die bestrahlte Fläche
wirkende Leistungsdichte, die bei diesen Lasern zwischen 10-2 und
10 W/cm2 liegt. Niedrig-Energie-Laser (z.B. GaAlAs-Dioden) arbeiten
mit Wellenlängen im roten oder nahinfrarotem Spektrum, mit denen
intrazelluläre Photorezeptoren (z.B. endogene Porphyrine) stimuliert
werden. So konnte gezeigt werden, dass auf diesem Wege ein angeregter
Zellmetabolismus und eine verstärkte Kollagensynthese durch Anre-
gung von Fibroblasten erzeugt werden kann. Die Laser-Phototherapie
kann durch Verwendung von Photosensibilisatoren zur antimikrobiel-
len Photodynamischen Therapie (aPDT) eingesetzt werden. Bei den
Photosensibilisatoren handelt es sich um Farbstoffe (z.B. Methylenblau,
Phenothiazinchlorid), die sich an Bakterienoberflächen anlagern.
Durch die Bestrahlung mit dem Laser entsteht reaktiver Singulettsauer-
stoff, der durch Zerstörung der Bakterienwand bakterizid wirkt. Ein Vor-
teil der aPDT gegenüber einer Antibiotikatherapie ist, dass keine syste-
mischen Nebenwirkungen oder Resistenzbildungen der Bakterien ein-
treten. Klinische Studien mit hohen Patientenzahlen fehlen aber noch,
sodass der Nutzen dieser Therapie nicht abschließend beurteilt werden
kann.
19.4.2 Parodontalchirurgische Eingriffe
Der subgingivale Zahnstein stellt eine Retentionsfläche für Plaquebakte-
rien dar. Daher wird bei allen parodontalchirurgischen Eingriffen im
Rahmen der Parodontaltherapie eine gründliche Säuberung und ggf.
Glättung der Wurzeloberflächen (root planing) vorgenommen. Das
Ziel der Oberflächenbearbeitung ist es, eine biologisch akzeptable Wur-
zeloberfläche zu erzielen.
Eine physiologisch glatte Wurzeloberfläche erschwert die Bakterien-
anheftung und verbessert die Regenerationsfähigkeit des Parodonts.
Die Säuberung und Glättung der Wurzeloberfläche wird durch den
Einsatz von Handinstrumenten (Küretten) und rotierenden bzw. oszil-
lierenden Instrumenten erreicht. Der Einsatz von rotierenden bzw. os-
zillierenden Instrumenten ist auch in schlecht zugänglichen Bereichen
zu empfehlen.
Es gibt nur wenige kontrollierte Studien, bei denen verschiedene
Operationstechniken an demselben Patienten durchgeführt und an-
schließend der Langzeiterfolg der Methoden verglichen wurde. Daher
ist es schwierig, eine Bewertung der vielen beschriebenen parodontal-
chirurgischen Eingriffe zu geben. Im Folgenden werden die meistver-
breiteten Verfahren dargestellt.
19
Subgingivales Scaling, geschlossene klassische Kürettage
Das subgingivale Scaling beschreibt das Entfernen von tief liegenden
Konkrementen auf der Wurzeloberfläche. Dabei kommt es zwangsläu-
582 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
fig zu einer Anfrischung und Glättung des Wurzelzements sowie der
Entfernung subgingivaler bakterieller Beläge. Das subgingivale Scaling
wird heute vielfach als Maßnahme während der zweiten Phase der Ini-
tialtherapie angesehen. Es kann aber auch als operative Maßnahme in
der chirurgisch-korrektiven Phase eingesetzt werden. Das subgingivale
Scaling ist meist mit einer geschlossenen Kürettage des Weichgewebes
verbunden, sodass sich die beiden Verfahren in der Darstellung und
Durchführung nicht klar trennen lassen. Als Kürettage wird die Entfer-
nung des entzündeten, bakterieninfizierten Bindegewebes und des Ta-
schenepithels bezeichnet.
Indikation Die Indikation für das subgingivale Scaling und die geschlossene
Kürettage besteht in der Behandlung echter parodontaler Taschen,
wenn nach der Vorbehandlung und der Entfernung der erreichba-
ren subgingivalen Beläge (erste Phase der Initialbehandlung) noch
ödematöse entzündliche Gingivaveränderungen vorliegen.
Vorgehen Das Vorgehen ist bei parodontalen Taschen mit einer Tiefe von mehr
als 3 mm indiziert. Flache Taschen mit einer Tiefe ≤ 3 mm sollten nicht
mit subgingivalem Scaling behandelt werden, da in diesem Fall Attach-
mentverlust und Rezessionen die Folge sein können.
Das subgingivale Scaling mit geschlossener klassischer Kürettage
wird ohne Lappenbildung und ohne Zuhilfenahme eines Skalpells
durchgeführt. Die Entfernung der Konkremente erfolgt bei nicht zu-
rückgeklappter Gingiva mit Küretten oder oszillierenden Arbeitsspitzen
(Schall- oder Ultraschallgeräte). Wenn eine gleichzeitige Kürettage des
entzündeten Weichgewebes erfolgen soll, empfiehlt sich die Verwen-
dung von Universalküretten.
Zum Abschluss der Behandlung muss die Gingiva fest an die Zahn-
oberflächen angedrückt werden. Dadurch wird die Bildung eines Blut-
koagulums verhindert. Nötigenfalls müssen ein Gingivaverband oder/
und interdentale Wundnähte die Adaptation der Gingiva unterstützen.
Vor-/Nachteile Die Kürettage führt zu einer Schrumpfung des Gewebes, sodass
freiliegende Wurzeloberflächen resultieren können. Die Schrumpfung
kommt nach etwa 30 Tagen zum Stillstand.
Ein Nachteil des subgingivalen Scalings mit geschlossener klassi-
scher Kürettage ist, dass die Wurzelreinigung ohne Sicht durchgeführt
werden muss. Dieser Vorgang ist selbst für den erfahrenen Praktiker
schwierig durchzuführen. Häufig stellt sich das Problem, dass das ent-
zündete Gewebe sehr weich und nachgiebig ist, wodurch ein Ausschä-
len der Tascheninnenwand meist recht schwierig ist. Verschiedene Au-
toren empfehlen deshalb, mit Fingerdruck einen leichten Gegendruck
von außen auf die Gingiva zu erzeugen. Ein Vorteil der klassischen Kü-
rettage ist, dass die Gingivaschrumpfung geringer ist als bei der Küret-
tage mit Lappenbildung (offene Kürettage).
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 583
Teilmobilisierte Lappenoperation
! Lappenoperationen sind Maßnahmen, bei denen eine Inzision
durchgeführt und ein Schleimhaut- oder Schleimhaut-Periost-
Lappen gebildet wird.
Die Bildung eines Lappens ermöglicht eine Bearbeitung der Wurzelober-
fläche unter direkter Sicht. Es können zudem gegebenenfalls Korrektu-
ren am Alveolarknochen vorgenommen werden. Je nach Schnittfüh-
rung und Ausdehnung des Lappens werden verschiedene Methoden un-
terschieden. Die heute gebräuchlichsten Formen werden in Verfahren
mit teilmobilisiertem Lappen (modifizierte offene Kürettage nach Kirk-
land, modifizierter Widman-Lappen) und vollmobilisiertem Lappen un-
terteilt.
„Excisional new attachment procedure“ (ENAP): Die Indikation Indikation
für diese offene Kürettage ist eine nach der Initialbehandlung vorlie-
gende gering verdickte Gingiva mit echten supraalveolären Taschen. Sie
eignet sich vor allem zur Behandlung von interdental vorliegenden loka-
lisierten Parodontitiden im Frontbereich. Durch ihren geringen Gewebe-
verlust werden post operationem kaum freiliegende Wurzeloberflächen
beobachtet. Das schonende Verfahren der ENAP-Operationstechnik
führt daher zu keinen ästhetischen Beeinträchtigungen des Patienten.
Ein Vorteil gegenüber der geschlossenen Kürettage besteht in der Vorteile
scharfen „Kürettage“ des infizierten Weichgewebes mit einem Skalpell.
Gleichzeitig ist bei der Schnittführung eine interne Gingivektomie, d.h.
eine Ausdünnung der Gingiva, möglich. Der Margo gingivae verläuft
postoperativ nahezu in gleicher Höhe wie präoperativ. Die modifizierte
offene Kürettage entspricht häufig nur der Bildung eines schmalen Pa-
pillenlappens. Die Gingiva wird bukkal bzw. oral dabei nicht abge-
klappt, wenn dort keine Zahnfleischtaschen vorliegen.
Nachteilig ist bei Anwendung der ENAP-Technik die fehlende voll- Nachteile
ständige Einsicht auf die Wurzeloberfläche und den Knochen. Tiefe
oder unregelmäßig konturierte Knochentaschen können nicht bearbei-
tet werden. Durch die ENAP-Technik wird das entzündete Taschenepi-
thel entfernt, aber selten eine Verringerung der Taschentiefen erreicht.
Vorgehen bei der ENAP-Technik (Abb. 19.10): Zunächst wird die Ta- Vorgehen
schentiefe z.B. mit einer Parodontalsonde ermittelt und auf die äußere
Gingivaseite übertragen. Die Markierung des Taschenfundus kann auch
mit einer Taschenmarkierungspinzette (Crane-Kaplan-Pinzette) erfol-
gen. Dann wird ein intrasulkulärer Marginalschnitt durchgeführt. Dabei
wird das Taschenepithel scharf mit einem Skalpell entfernt (= küret-
tiert). Die Gingiva wird vorsichtig retrahiert, sodass die Zahnwurzeln
dargestellt sind. Es wird möglichst kein Knochen freigelegt. Die Wurzel- 19
oberflächen werden von Konkrementen gereinigt und geglättet. An-
schließend wird die Gingiva mit interdentalen Nähten in ihrer ur-
sprünglichen Position fixiert.
584 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Abb. 19.10: Vorgehen bei der
ENAP-Operationstechnik:
1 2 a) Markierung des Taschen-
fundus und Übertragung
auf die orale Gingiva, b) in-
tragingivale Inzision bis
zum Taschenfundus
3
a b
Modifizierter Widman-Lappen: Diese Operationstechnik wurde
1974 von Ramfjord und Nissle beschrieben und wird daher in manchen
Lehrbüchern als Ramfjord-Technik bezeichnet. Sie stellt das heute ge-
bräuchlichste Verfahren dar. Bei der Lappenbildung wird darauf geach-
tet, dass der teilmobilisierte Mukoperiostlappen nur möglichst gering
über den Knochenrand hinaus mobilisiert wird.
Die Bildung eines vollständig mobilisierten Mukoperiostlappens ist
zur Darstellung der supragingivalen Konkremente und vorliegen-
den Knochentaschen nicht notwendig.
Mit zunehmender Mobilisation eines Mukoperiostlappens steigt die Ge-
fahr von Knochenresorptionen. Bei der modifizierten Widman-Opera-
tion wird eine Taschenreduktion mit einem möglichst großen Erhalt der
parodontalen Strukturen angestrebt. Die vollständige Entfernung der
Taschen steht nicht im Vordergrund der operativen Maßnahmen. Es
werden keine Korrekturen am Knochen vorgenommen. Durch die Ent-
fernung der pathologischen Einflüsse (Konkremente, Granulationsge-
webe) wird erhofft, dass sich Knochendefekte wieder von allein regene-
rieren. Der Unterschied zu anderen chirurgischen Verfahren liegt in der
dreiteiligen Schnittführung.
Indikationen Die modifizierte Widman-Operation wird eingesetzt, wenn beim
Patienten Knochentaschen vorliegen, die ohne Sichtkontrolle nur un-
zureichend vom Zahnarzt gesäubert werden können. Eine weitere Indi-
kation liegt im Vorliegen einer verdickten Gingiva bei gleichzeitigem
Vorhandensein tiefer Knochentaschen. Die modifizierte Widman-Ope-
ration dient häufig als Eingangsoperation (= Schnittführung) zu weite-
ren chirurgischen Verfahren (z.B. Operationen mit voll mobilisiertem
Lappen).
Die modifizierte Widman-Operation ist ein schonendes Verfahren,
bei dem postoperativ geringe Schmerzen beobachtet werden. Ein weite-
rer Vorteil besteht in dem geringen Gewebeverlust durch das operative
Verfahren. Die Wurzelreinigung kann unter Sicht vorgenommen wer-
den.
Nachteile Ein Nachteil des Verfahrens liegt im Auftreten von Gewebeschrump-
fungen, die postoperativ zu freiliegenden Zahnhälsen führen können.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 585
Eine Kontraindikation für die Durchführung der modifizierten Wid- Kontraindikation
man-Operation ist das Vorliegen einer dünnen, befestigten Gingiva
oder das Fehlen einer befestigten Gingiva.
Vorgehen bei der modifizierten Widman-Operation (Abb. 19.11): Vorgehen
D Erste Inzision (interne Gingivektomie): Die erste Inzision wird in
Form einer paramarginalen Inzision parallel zur Zahnlängsachse
durchgeführt. Der Abstand der Inzision vom Gingivarand beträgt
0,5–2 mm. Der Schnitt wird bis zum Limbus alveolaris geführt. Er
verläuft kragenförmig um die Zähne herum und folgt dem ge-
schwungenen Verlauf der Gingiva.
D Lappenbildung: Der marginale Anteil der Gingiva wird gerade bis
zum Knochenrand mit einem Raspartorium mobilisiert. Es wird nur
so viel Gingiva mobilisiert, wie nötig ist, um eine direkte Sicht auf
die Wurzeloberfläche und den Knochenrand zu erhalten.
D Zweite Inzision: Hier wird ein marginaler, intrasulkulärer Schnitt
vorgenommen, der zwischen Zahnhartsubstanz und Gingiva liegt.
1. Schnitt
(paramarginal) mobilisierter
Schleimhautlappen
a b
2. Schnitt
(marginal)
3. Schnitt
(horizontal)
19
c d
Abb. 19.11: Schnittführungen und Lappenmobilisation bei der modifizierten Wid-
man-Operation
586 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Er löst das Taschen- und Saumepithel bis zum Taschenfundus vom
Zahn ab.
D Dritte Inzision (horizontale Inzision): Das nun manschettenförmig
um den Zahn anliegende erkrankte Gewebe wird durch diese hori-
zontale Inzision abgelöst. Das erkrankte Gewebe kann dann in Form
eines zusammenhängenden Exzisats von allen Zähnen gelöst wer-
den. In manchen Lehrbüchern werden die zweite und dritte Inzision
nicht mehr konsequent gefordert. Stattdessen wird die Abtrennung
des am Zahn haftenden Gewebes nach der ersten Inzision mit schar-
fen Scalern oder Küretten empfohlen.
D Wurzelglättung unter Sicht: Die Wurzelflächen werden bis zum Ta-
schenfundus mit Küretten gereinigt und geglättet. Das Granulati-
onsgewebe wird aus den Knochentaschen entfernt. Zur besseren
Entfernung der gelösten Konkremente und Bakterien wird die Wur-
zeloberfläche zusätzlich mit Spüllösungen (z.B. isotonische 0,9%ige
Kochsalzlösung) gespült.
D Lappenadaptation: Der Lappen wird mit Interdentalnähten so
adaptiert, dass kein Knochen freiliegt. Der girlandenförmige Verlauf
der Gingiva bleibt erhalten. Zusätzlich kann ein Wundverband an-
gelegt werden. Es muss darauf geachtet werden, dass die Gingiva den
Zähnen fest anliegt. Dadurch wird die Bildung eines Blutkoagulums
zwischen Zahn und Gingiva vermieden. Die Bildung eines Blutko-
agulums würde die postoperativ angestrebte Anheftung der Gingiva
an die Zahnoberfläche verhindern.
Vollmobilisierte Lappenoperation
Ein vollmobilisierter Lappen ist bei Vorliegen echter Taschen, bei
denen gleichzeitig eine Osteoplastik vorgenommen werden muss,
indiziert.
Indikationen Weitere Indikationen sind parodontale Läsionen mit gleichzeitigem
Furkationsbefall, Wurzelamputationen oder die Glättung von Knochen-
kanten nach einer Extraktion.
Prinzip Bei vollmobilisierten Lappenoperationen wird im Gegensatz zu teil-
mobilisierten Lappenoperationen ein Mukoperiostlappen gebildet. Es
wird also ein Gewebelappen aus Gingiva, Periost und Alveolarschleim-
haut mobilisiert, sodass neben der Bearbeitung der Wurzeloberfläche un-
ter Sicht auch Korrekturen am Knochen vorgenommen werden können.
Wird der mobilisierte Gewebelappen durch die Nähte nach apikal
verschoben, spricht man von einer apikalen Verschiebeplastik oder
apikalen Gingivareposition. Dadurch ist es möglich, subgingival gele-
gene Füllungsränder, überhängende Restaurationsränder und kariöse
Läsionen zu kontrollieren. Der apikale Verschiebelappen sollte mit Auf-
hängenähten so fixiert werden, dass kein Knochen im Bereich des Lim-
bus alveolaris freiliegt.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 587
Der Vorteil des vollmobilisierten Lappens liegt in der Herstellung gu- Vorteile
ter Sichtverhältnisse, vor allem bei Vorliegen tiefer infraalveolärer Läsio-
nen. Ein weiterer Vorteil liegt in der Möglichkeit, den Lappen postope-
rativ nach apikal, lateral oder koronal zu verschieben, sodass eine neue
Gingivakontur erzielt werden kann.
Als Nachteile sind postoperativ auftretende Ödeme und Schmerzen, Nachteile
die beschriebene Schrumpfung der Gingiva und entblößte hypersensi-
ble Zahnhälse zu nennen. Ferner werden Resorptionen des freigelegten
Knochens beobachtet.
Vorgehen bei der vollmobilisierten Lappenoperation: Zusätzlich zu Vorgehen
den bei der offenen Kürettage oder modifizierten Widman-Operation
beschriebenen Schnittführung werden vertikale Inzisionen durchge-
führt. Mit einem kleinen Raspartorium wird ein Mukoperiostlappen ge-
bildet. Dabei werden die Knochenstrukturen, die modelliert werden sol-
len, freigelegt.
Die Osteoplastik oder Ostektomie wird mit langsam rotierenden,
sterilen Rosenbohrern unter konstanter Berieselung mit einer sterilen
Lösung vorgenommen. Die Bearbeitung der Wurzeloberflächen erfolgt
wie oben beschrieben. Die Vertikalinzisionen werden mit Matratzen-
nähten oder Knopfnähten fixiert. Dabei wird die Lage des Lappens in
apikaler Richtung festgelegt. Zuletzt wird durch interdentale oder Zahn-
umschlingungsnähte die endgültige Fixierung vorgenommen. Abschlie-
ßend kann ein Parodontalverband angelegt werden.
Distale Keilexzision
! Die Behandlung von parodontalen Taschen distal endständiger
Molaren wird häufig durch das Vorhandensein von fibrösem Bin-
degewebe erschwert. Diese im Unterkiefer retromolar bzw. im
Oberkiefer im Tuberbereich liegende derbfaserige Verdickung
kann mit einer distalen Keilexzision (= Distal-wedge-Operation)
entfernt werden.
Die Exzision kann separat oder in Verbindung mit einer Lappenopera-
tion erfolgen. Neben der Entfernung der fibrös verdickten Gingiva dis-
tal endständiger Molaren kann die Keilexzision zur Eliminierung von
Taschen frei stehender Zähne verwendet werden.
Vorgehen bei der distalen Keilexzision: Es erfolgt zunächst eine keil- Vorgehen
förmige (V-förmige) Inzision distal des letzten Molaren. Die Spitze des
Keils zeigt nach distal. Der Keil wird mit einer Kürette entfernt. Im zwei-
ten Schritt (interne Gingivektomie) wird eine unter sich gehende Inzi-
sion zur Ausdünnung der bukkalen und lingualen Lappenanteile vorge-
nommen. Durch eine dritte, horizontale Inzision wird das Gewebe so 19
gelöst, dass es in toto entfernt werden kann. Die Wurzeloberflächen
können nun geglättet werden. Abschließend wird eine straffe Naht zur
optimalen Adaptation der Lappen vorgenommen (Abb. 19.12).
588 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
primärer Schnitt
unterminierende
Keilexzision
a b
Abb. 19.12: Schnittführungen bei der distalen Keilexzision: a) primärer keilförmiger Schnitt, b) unterminie-
rende Keilexzision zur Ausdünnung der bukkalen und lingualen Gingiva
Gingivektomie
Durch eine Gingivektomie sollen supraalveoläre Taschen eliminiert
und Gingivavergrößerungen (hormonell, medikamentös) abgetra-
gen werden. Auch bei dem Vorliegen einer Gingivafibromatose und
dem Vorhandensein von Pseudotaschen ist die Operationsmethode
indiziert.
Die Gingivektomie bezeichnet die Exzision der Gingiva zur vollständi-
gen Entfernung einer parodontalen Tasche. Wird die Gingivektomie
dazu verwendet, um eine vorliegende anomale Gingivakontur korrekt
umzugestalten, spricht man von Gingivoplastik.
Kontra- Die Gingivektomie wird nicht bei einer schmalen oder vollständig
indikationen fehlenden angehefteten Gingiva durchgeführt. Weitere Kontraindika-
tionen sind das Vorliegen infraalveolärer Taschen und Knochenverdi-
ckungen.
Man unterscheidet zwei Arten der Gingivektomie:
D Die externe Gingivektomie findet als alleinige chirurgische Maß-
nahme Anwendung.
D Die interne Gingivektomie ist meist Bestandteil offener Lappenope-
rationen.
Externe Gingivektomie: Bei der externen Gingivektomie wird der Ver-
lauf des Taschenbodens mit einer Taschenmarkierungspinzette mar-
kiert. Der gerade Schenkel der Pinzette wird bis zum Taschenboden ge-
führt. Beim Zusammendrücken der Pinzette wird die Gingiva perforiert.
Der dadurch gesetzte Blutungspunkt markiert den Taschenboden. Die
Inzision verläuft 1–2 mm apikal der Blutungspunkte auf der Gingiva.
Die Inzision wird in einem Winkel von 45° zur Zahnlängsachse vorge-
nommen.
Diese schräge externe Gingivektomie ist auf den Taschenboden hin
ausgerichtet. Eine horizontal durchgeführte Inzision hätte eine balkon-
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 589
artige, unphysiologische Ausformung der Gingiva zur Folge (Abb.
19.13a). Dadurch würde postoperativ die Ausprägung eines Rezidivs ge-
fördert.
Die Inzision kann mit einem Gingivektomiebeil, sichelförmigen
Skalpellen oder speziellen Gingivektomiemessern erfolgen. Der inter-
dentale Schnitt kann mit einem Papillenmesser vorgenommen werden.
Die nun freiliegende Wurzeloberfläche wird gründlichst geglättet. Ab-
schließend wird die Inzisionskante gebrochen. Dies geschieht am bes-
ten mit Schlingenansätzen des Elektrotoms.
Die Blutung wird durch das Aufpressen von sterilen Tupfern gestillt,
bis ein dünnes Blutkoagulum die Wundfläche bedeckt. Die Wundfläche
wird abschließend mit einem Verband für acht Tage geschützt. Auf die-
ses dünne Blutkoagulum wird ein Zahnfleischverband adaptiert.
Das Blutkoagulum wird durch einsprossendes Granulationsgewebe
ersetzt. Nach ein bis zwei Tagen beginnt eine Epithelisierung der Wund-
fläche durch Einwanderung von Basal- und Suprabasalzellen der an-
grenzenden Wundränder. Histologisch ist die Reepithelisierung mit ke-
ratinisiertem Epithel erst nach vier Wochen beendet. Klinisch lässt sich
schon nach zehn bis 14 Tagen eine bedeckende Epithelschicht erken-
nen, die aber noch leicht verletzlich ist. Das Saumepithel wird nach
einer Gingivektomie neu gebildet, indem Zellen des oralen Gingivaepi-
thels zunächst in Richtung dento-gingivale Grenze migrieren. Diese Zel-
len entwickeln dann unter Einfluss des darunter liegenden Bindegewe-
bes die Eigenschaften des Saumepithels (Anheftung an Zahnoberfläche,
Zwei-Schichtung, keine Keratinisierung). Der Patient ist auf eine vor-
sichtige, aber gründliche Mundhygiene hinzuweisen.
Interne Gingivektomie: Als interne Gingivektomie wird ein Vorge-
hen bezeichnet, bei dem im Rahmen einer Lappenoperation oder als al-
leinige Maßnahme die Gingivahöhe durch einen Marginalschnitt redu-
ziert wird.
Die interne Gingivektomie ist als alleinige Maßnahme bei stark ver-
dicktem Zahnfleisch im Molarengebiet indiziert.
Um die Gingiva anschließend wieder optimal am Zahn adaptieren
zu können, muss sie mit einer keilförmigen Exzision ausgedünnt wer-
den (Abb. 19.13b). Der so gekürzte und ausgedünnte Lappen wird mit
Interdental- oder Zahnumschlingungsnähten wieder auf dem Alveolar-
knochen reponiert. Dieses Verfahren ist im Vergleich zur externen Gin-
givektomie für den Patienten schmerzärmer, da postoperativ keine
freien Wundflächen vorhanden sind. Die Reduktion der Gingiva ist aber
geringer als bei der externen Gingivektomie.
Regenerative Parodontaltherapie, gesteuerte Geweberegeneration
Die Bildung eines langen Saumepithels oder die Etablierung von Anky- 19
losen bzw. Wurzelresorptionen verhindern eine desmodontale Regene-
ration. Die Fixierung des Zahnes über ein langes Saumepithel ist der des-
modontalen Aufhängung aber mechanisch unterlegen. Durch Neuin-
590 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Taschen-
markierungs-
pinzette
Schnitt
externe
Gingivektomie
primärer
Schnitt unterminierende
Keilinzision
interne
Gingivektomie
b
Abb. 19.13: Schnittführungen bei der Gingivektomie: a) externe Gingivektomie: links: Markierung der Ta-
schentiefe mit einer Taschenmarkierungspinzette, rechts: Schnitt ca. 1 mm apikal der gesetzten Blutungs-
punkte, b) interne Gingivektomie: links: primärer Schnitt, rechts: unterminierende Keilexzision zur Ausdün-
nung der Gingiva
fektion kann diese Epithelmanschette leicht wieder aufgelockert wer-
den. Die Proliferation vitaler, apikal befindlicher Desmodontalzellen
nach koronal wird in der Heilungsphase durch das schnell nach apikal
wachsende Saumepithel unterdrückt. Bei der Wundheilung bildet sich
ein Blutgerinnsel unter dem Lappen aus. Ist der Fibrinfilm stabil genug,
kann die apikal gerichtete Proliferation des Saumepithels verhindert
werden. Allerdings reißt der auf der Wurzeloberfläche befindliche Fi-
brinfilm in aller Regel während der Heilungsphase durch Zugkräfte
leicht ab. Eine Stabilisierung des Fibrinfilms wird in neuester Zeit durch
fibronectinhaltige Gewebekleber versucht.
Zur erfolgreichen Regeneration parodontaler Knochendefekte soll-
ten folgende Bedingungen erfüllt sein:
D Vorliegen einer toxinfreien, instrumentierten Wurzeloberfläche
D Raumschaffung, um die koronale Migration von desmodontalen
Vorläuferzellen zu ermöglichen
D Erzielung einer Wundstabilität, um das Fibrinkoagulum zu schützen
D Sicherung der primären Wundheilung durch spannungsfreien, kom-
pletten Wundverschluss
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 591
Zur Stabilisierung des Fibrinfilms und um die konkurrierenden Zel- Gesteuerte
len des Saumepithels und Desmodonts in der Heilungsphase voneinan- Gewebe-
der zu trennen, wird seit Beginn der 1980er-Jahre das Verfahren der ge- regeneration
steuerten Geweberegeneration (GTR: Guided Tissue Regeneration) an-
gewendet. Dadurch wird dem Desmodont eine stabile Besiedelung der
Wurzeloberflächen ermöglicht.
Dabei wird in einem parodontalchirurgischen Eingriff mit Lappen-
bildung eine Membran manschettenartig über die bestehende Kno-
chentasche gelegt und der Lappen wieder adaptiert. Während der Liege-
dauer der Membran können die Desmodontalzellen die Wurzeloberflä-
che besiedeln, und die Knochentasche wird mit knochenähnlichem
Gewebe aufgefüllt. Dadurch kann es zu einer Wiederherstellung des des-
modontalen Halteapparates kommen.
Für die gesteuerte Geweberegeneration geeignete Membranen sollen
folgende Anforderungen erfüllen:
D Biokompatibilität: gute Gewebeverträglichkeit
D Zellokklusivität: Verhinderung des Einwachsens unerwünschter Zel-
len für mindestens vier Wochen
D Gewebeintegration: schnelle Inkorporation in das umliegende Ge-
webe
D Platzhalterfunktion: ausreichende Steifigkeit und Formstabilität zur
Aufrechterhaltung eines Hohlraums, in dem sich ein Blutkoagulum
bilden und die Regeneration ungestört ablaufen kann
D einfache klinische Handhabung
Neben den früher verwendeten nicht resorbierbaren Membranen sind Resorbierbare
nun auch Membranen aus resorbierbarem Material im Einsatz. Die Membran
nicht resorbierbaren Membranen bestehen aus e-PTFE (expandiertes Po-
lytetrafluorethylen, Gore Tex). Sie müssen vier bis sechs Wochen nach
dem Ersteingriff in einer zweiten Operation entfernt werden. Dieser
Zweiteingriff entfällt bei den resorbierbaren Membranen.
Es stehen resorbierbare Membranen aus natürlichen Biomaterialien
vom Tier und Menschen (z.B. Kollagen Typ I bzw. III oder Dura mater)
und synthetisch hergestellten Polymeren (z.B. Polylaktidsäure, Glyko-
lid-Laktid-Copolymere) zur Verfügung. Die Resorptionszeit beträgt ca.
3–6 Monate.
Zudem sind Barrierematerialien erhältlich (Polymer aus Poly-DL-
Laktid und N-Methyl-2-Pyrrolidon), die in fließfähiger Form vorliegen.
Diese Barrierematerialien erlauben intra operationem die individuelle
Anfertigung einer Membran oder können in Kombination mit Kno-
chenersatzmaterialien direkt in den Defekt eingebracht werden. Neuere
Studien lassen vermuten, dass die resorbierbaren Membranen den nicht
resorbierbaren Membranen bei der gesteuerten Geweberegeneration 19
nicht unterlegen sind.
592 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Das Verfahren der gesteuerten Geweberegeneration kann mit vor-
hersehbar gutem Erfolg bei der Therapie von zwei- bis dreiwandigen
infraalveolären Knochentaschen eingesetzt werden.
Dabei regenerieren tiefe (> 3 mm), schmale intraossäre Knochentaschen
besser als flache (< 3 mm), schüsselförmige Defekte. Darüber hinaus ist
mit einem guten Erfolg bei der Behandlung furkationsbefallener Zähne
Grad II sowie gingivaler Rezessionen (s. Kap. 18.1.2) zu rechnen.
Negative Einflussfaktoren auf das Ergebnis der gesteuerten Regene-
ration sind systemische Patientenfaktoren, wie z.B. schlecht eingestell-
ter Diabetes mellitus Typ I, nicht kooperative Patienten und das Rauch-
verhalten der Patienten.
Vorgehen der ge- Vorgehen der gesteuerten Geweberegeneration bei infraalveolären
steuerten Gewe- Knochentaschen (Abb. 19.14): Es werden ein intrasulkulärer Schnitt
beregeneration und vertikale Entlastungsinzisionen angelegt. Die Papillen sollten dabei
möglichst erhalten bleiben. Nach Präparation eines Mukoperiostlap-
pens wird anhaftendes Taschenepithel von der inneren Seite des Lap-
pens entfernt. Die Wurzeloberflächen werden gründlich gereinigt und
geglättet. Das Granulationsgewebe aus der Knochentasche wird voll-
ständig entfernt. Die Membran wird so zurechtgeschnitten, dass sie den
Rand des Knochendefekts um ca. 3 mm überragt und keine scharfen
Kanten aufweist. Die Membran wird nun mit Umschlingungsnähten an
den Zähnen befestigt. Dabei ist auf einen dichten koronalen Abschluss
zu achten.
Bei resorbierbaren Membranen wird resorbierbares Nahtmaterial
verwendet. Dann wird der Lappen wieder spannungsfrei vernäht, wobei
manchmal eine Periostschlitzung zur Mobilisation notwendig sein
kann. Der Lappen soll die Membran vollständig ca. 2 mm überdecken.
intrasulkuläre
Inzision
vertikaler
Entlastungs-
schnitt
a
c d
Abb. 19.14: Gesteuerte Geweberegeneration bei der Behandlung infraalveolärer Knochentaschen:
a) Schnittführung, b) Lappenmobilisation, c) Adaptation der Membran, d) Naht
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 593
Der Patient wird darauf hingewiesen, dass er im operierten Gebiet
für vier bis sechs Wochen nur eine sehr vorsichtige Zahnreinigung mit
einer weichen Zahnbürste durchführen darf. Zur Plaquehemmung wird
die Mundspülung mit Chlorhexidin-Präparaten empfohlen. Auf die Ap-
plikation eines Verbandes wird verzichtet, um die Lagestabilität der
Membran nicht zu beeinflussen. Die postoperative Anwendung syste-
mischer oder lokaler Antibiotika ist nicht erforderlich.
In manchen Fällen kommt es während der Einheil- bzw. Liegephase Komplikationen
der Membran zu einer Exposition der Membran oder begleitenden loka-
len Infektion. Bei nicht resorbierbaren Materialien sollte dann die vor-
zeitige Entfernung der Membran in Betracht gezogen werden. Bei resor-
bierbaren Membranen sollte der Patient angehalten werden, in diesem
Bereich zweimal täglich ein Chlorhexidindiglukonat-Gel aufzutragen.
Zur Entfernung einer nicht resorbierbaren Membran wird durch
eine intrasulkuläre Inzision Zugang zur Membran geschaffen. Bei der
Entfernung der Membran darf das regenerierte Gewebe nicht verletzt
werden.
Eine weitere Möglichkeit zur gesteuerten Parodontitistherapie stellt Schmelz-Matrix-
die Anwendung von Schmelz-Matrix-Proteinen (Emdogain) dar, die Proteine
aus der Zahnanlage von Schweinen gewonnen werden. Diese Protein-
komplexe bestehen zu 90% aus Amelogenin und sind beim Menschen
nicht immunogen. Sie stimulieren die Proliferation und Anheftung von
Desmodontalzellen, fördern in den Desmodontalzellen die Bildung von
Wachstumsfaktoren, unterstützen die Zementogenese und verhindern
eine Epithelproliferation. Zusätzlich konnte für das auf dem Markt be-
findliche Gel eine antimikrobielle Wirkung nachgewiesen werden, die
aber vermutlich auf den Gelträger zurückzuführen ist. Die Matrix-Pro-
teine werden während einer Lappenoperation auf die gereinigte und
mit EDTA konditionierte Wurzeloberfläche aufgetragen. Histologische
Untersuchungen konnten zeigen, dass die Behandlung intraalveolärer
Knochentaschen mit diesen porcinen Amelogeninen zur Bildung von
zellulärem und azellulärem Zement mit inserierenden Kollagenfasern
sowie neuem Alveolarknochen führt. Dies gilt aber nur für die Anwen-
dung von Schmelz-Matrix-Proteinen im Rahmen parodontalchirurgi-
scher Maßnahmen. Dabei war in klinischen Untersuchungen der er-
zielte Attachmentgewinn deutlich höher ist als bei konventioneller Lap-
penoperation allein. Im Gegensatz dazu führt die Applikation von
Schmelz-Matrix-Proteinen im Rahmen einer nicht chirurgischen Paro-
dontaltherapie histologisch zu keiner Regeneration. Schmelz-Matrix-
Proteine führen bei der Behandlung von (mandibulären) Klasse-II-Fur-
kationsdefekten zu ähnlich guten klinischen Ergebnissen wie die GTR
mit Membranen. Die Kombinationstherapie von Schmelz-Matrix-Pro-
teinen mit GTR oder mit Knochenersatzmaterialien bringt bessere Er- 19
gebnisse als die jeweilige Einzeltherapie. Der Einsatz von Schmelz-Ma-
trix-Proteinen im Rahmen von chirurgischen Verfahren zur Deckung
freiliegender Rezessionen wird zur Zeit untersucht.
594 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Thrombozyten- In der regenerativen Parodontalchirurgie wird in neuerer Zeit aus Ei-
reiches Plasma genblut des Patienten gewonnenes thrombozytenreiches Plasma (PRP
= platelet-rich-plasma) eingesetzt. Durch die darin enthaltene hohe
Konzentration der drei Wachstumsfaktoren an PDGF, TGF-β1 und -β2
wird die Knochenregeneration und die Bildung von parodontalem Ge-
webe stimuliert.
Mukogingivalchirurgie
! Als Mukogingivalchirurgie werden Verfahren bezeichnet, die der
Deckung von Rezessionen, der Verbreiterung der befestigten und
keratinisierten Gingiva, der Ausschaltung von Zugbeeinflussun-
gen durch einstrahlende Frenula- und Muskelfasern und der
Schaffung eines ausreichend tiefen Vestibulums dienen.
Ein ausreichend tiefes Vestibulum ist notwendig, um eine optimale
Mundhygiene durchführen zu können.
In der Literatur besteht Uneinigkeit hinsichtlich der ausreichenden
Gingivabreite. Einige Autoren fordern eine Mindestbreite an keratini-
sierter Gingiva von 2 mm. Da von diesem Betrag noch 1 mm freie Gin-
giva abgezogen werden muss, entspricht dies einer befestigten Gingiva
von 1 mm Breite. Andere Autoren haben in klinischen Studien gezeigt,
dass es keine bestimmte Minimalbreite keratinisierter Gingiva gibt, die
zum Erhalt parodontaler Gesundheit notwendig wäre. Verschiedene Au-
toren sehen einen Einsatz mukogingivalchirurgischer Verfahren als ge-
rechtfertigt an, wenn die befestigte Gingiva so schmal ist, dass es bei
kräftigem Zug an Lippen- und Wangenschleimhaut zu einem Lösen der
Gingiva vom Zahn kommt.
Ein gängiges Behandlungskonzept zur Therapie von gingivalen Re-
zessionen und ihren Ursachen sieht daher nicht die Verbreiterung der
befestigten Gingiva als ihr Hauptziel an.
Ein wichtiges Ziel der Mukogingivalchirurgie ist es, progredient
fortschreitende Rezessionen zu stoppen.
Indikationen Parodontale Rezessionen stellen für viele Patienten einen Grund dar, ei-
nen Zahnarzt aufzusuchen. Sie fürchten meist einen frühzeitigen Zahn-
verlust des befallenen Zahnes. Aufgabe des Zahnarztes ist, den Patienten
zu erklären, dass durch gingivale Rezessionen allein kein Zahnverlust re-
sultiert.
Ein weiterer Grund, der zum Einsatz mukogingivalchirurgischer Ver-
fahren zwingt, sind Hypersensibilitäten freiliegender Wurzeln. Diese
Hypersensibilitäten stören den Patienten beim Essen und führen dazu,
dass er häufig die Mundhygienemaßnahmen im Bereich der Rezessio-
nen nur unzureichend durchführen wird. Die eingeschränkte Mundhy-
giene führt dann häufig zu sekundären Entzündungserscheinungen.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 595
Wird eine Deckung freiliegender Wurzeloberflächen mit Transplan-
taten aus Bindegewebe oder Schleimhaut vorgenommen, so ist darauf
zu achten, dass eine klinisch entzündungsfreie Gingiva und Sondie-
rungstiefen unter 2 mm vorliegen.
Neben den chirurgischen Verfahren zur Rezessionsdeckung kann
dem Patienten zum Schutz der freiliegenden Wurzeloberfläche und zur
Verbesserung der Ästhetik vom Zahnarzt eine herausnehmbare Gingiva-
maske aus weich bleibendem Kunststoff eingegliedert werden.
Zur Mukogingivalchirurgie zählen folgende Eingriffe:
D Entfernung von Lippen-, Wangen- und Zungenbändchen
D Gingivaextension mit freiem Schleimhauttransplantat (FST)
D Methoden zur Deckung freiliegender Wurzeloberflächen
Zuvorderst sollten bei einem Patienten mit gingivalen Rezessionen eine
gründliche Zahnreinigung und eine Umstellung der Putztechnik erfol-
gen. Der Patient sollte mit der modifizierten Stillman-Technik mit einer
mittelharten bis weichen Zahnbürste putzen. Das Ausmaß der Rezessio-
nen sollte gemessen und in regelmäßigen, anfangs kurzen Intervallen
überprüft werden. Wird eine progressive Zunahme der Rezession beob-
achtet, sind mukogingivalchirurgische Eingriffe indiziert. Dem Patien-
ten muss erklärt werden, dass man durch Umstellung der Putztechnik
keine Heilung der Rezession erzielen kann. Durch eine Umstellung der
Putztechnik kann aber das Fortschreiten einer Rezession gestoppt wer-
den. Manche Autoren sehen Fehlbelastungen von Zähnen als Ursache
für Rezessionen an. Daher sollten grobe Fehlkontakte bei Artikulation
und Okklusion ebenfalls beseitigt werden, ehe zu chirurgischen Maß-
nahmen übergegangen wird.
Korrektur einstrahlender Schleimhautbänder
Bei der Entfernung einstrahlender, störender Frenula wird zwischen ei-
ner Frenotomie und einer Frenektomie unterschieden.
Die Frenotomie bezeichnet die reine Durchtrennung eines Frenu- Frenotomie
lums.
Bei der Frenektomie wird das störende Bändchen durch Loslösung Frenektomie
und Verlagerung entfernt. Die Frenektomie kann durch eine VY-Ver-
schiebung oder eine Z-Plastik vorgenommen werden.
Vorgehen bei der VY-Verschiebung (Abb. 19.15): Die Lippe oder
Wange wird stark gespannt und das Bändchen V-förmig umschnitten.
Die Spitze des V entspricht der Spitze des Bändchens. Der Schnitt durch-
trennt nur die Mukosa, nicht das Periost. Der dreieckige Mukosalappen
wird vom Periost mit einem Raspartorium vorsichtig gelöst. Muskelzüge
im Wundbereich werden unterminierend mit einer Schere durchtrennt.
Das Läppchen wird in das Vestibulum verschoben und dort in Höhe der 19
Umschlagfalte vernäht. Dabei sollte bei Zug an der Wange oder Lippe
eine Fixation so erfolgen, dass eine Faltenbildung des Läppchens aus-
bleibt. Durch die Verschiebung ergibt sich eine y-förmige Konfiguration
596 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Lippenbändchen V-förmiger Schnitt Naht Periost
a b
Abb. 19.15: VY-Plastik: a) v-förmige Schnittführung, b) Zustand nach Verschieben und Festnähen des Lappens
der Wunde. Der senkrechte Schenkel dieser Wunde wird in aller Regel
nicht vernäht. Die rhomboide Periostwunde kann der Heilung über eine
freie Granulation überlassen oder durch ein kleines Schleimhauttrans-
plantat gedeckt werden. Sollte keine Schleimhautdeckung erfolgen, ist
zur Vermeidung postoperativer Beschwerden ein Wundverband anzule-
gen. In Kontrollsitzungen wird die Wunde gesäubert, bis die Epithelisie-
rung abgeschlossen ist.
Die Z-Plastik (Abb. 19.16) stellt aufgrund ihrer komplizierten
Schnittführung und schwierigen Nahttechnik das anspruchsvollere Ver-
fahren dar. Die Z-Plastik zur Verlängerung von Frenula hat gegenüber der
VY-Plastik den Vorteil, dass nach der Verschiebung und Vernähung der
entstehenden Läppchen kein Periost freiliegt. Darüber hinaus ist die er-
zielte Verlängerung größer als bei der VY-Plastik. Die Verlängerung kann
bei der Z-Plastik bis zu zwei Drittel der ursprünglichen Länge betragen.
Gingivaextension mit freiem Schleimhauttransplantat
! Liegt eine progressive Rezession an einzelnen oder wenigen Zäh-
nen vor oder ist die befestigte Gingiva stark reduziert, so ist die
Gingivaextension mit freiem Schleimhauttransplantat ein ge-
bräuchliches Verfahren (Abb. 19.17).
A
A
A* B*
C A* D
C D
B*
B
B
a b
Abb. 19.16: Z-Plastik: a) z-förmige Schnittführung. b) Die Lappen A* und B* werden gegeneinander ausge-
tauscht. Dabei wird A* nach D und B* nach C verschoben.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 597
a Schnitt
Periost Naht b
Abb. 19.17: Freies Schleimhauttransplantat:
a) Schnittführung,
b) Apikalverschiebung und Fixation der beweg-
lichen Schleimhaut,
c) Fixation des Transplantats
c Transplantat
Die keratinisierte Gingiva wird durch ein Schleimhauttransplantat ver- Prinzip
breitert. Dadurch wird ein Gewebereservoir bereitgestellt und der Zug
der beweglichen Mukosa auf die befestigte Gingiva abgefangen. Die zu
transplantierende Schleimhaut wird meist dem Gaumen entnommen.
Sie wird in ein vorbereitetes Empfängerbett verpflanzt. Darüber hinaus
ist eine Entnahme von Schleimhaut aus dem Tuberbereich oder aus dem
Bereich zahnloser Kieferabschnitte möglich. Am Gaumen kann ein ge-
nügend großes Stück Schleimhaut entnommen werden. Dabei ist es je-
doch nachteilig, dass die Schleimhaut am Gaumen blasser ist als die
normale befestigte Gingiva. Dadurch können sich ästhetische Probleme
nach der Transplantation im Frontzahngebiet ergeben. Nach Einwach-
sen des Transplantats ist es möglich, die nun verbreiterte Gingiva in
Form eines koronalen Verschiebelappens zur Deckung freiliegender Re-
zessionen heranzuziehen.
Häufig wird aber nach der Durchführung eines freien Schleimhaut-
transplantats eine koronale Migration der Gingiva von bis zu 2 mm be-
obachtet, ohne dass weitere chirurgische Verfahren angewendet wur-
den. Man spricht in einem solchen Fall von Creeping attachment. Bei
entzündungsfreien Verhältnissen findet sich nach einem Creeping at-
tachment keine erhöhte Sondierungstiefe.
Vorgehen bei der Gingivaextension: Vorgehen
D Präparation des Empfängerbettes: Es erfolgt zunächst eine genaue
Bestimmung der mukogingivalen Grenzlinie durch Schiller-Jodlö-
sung. Dann wird eine Horizontalinzision nahe entlang der Linea gir- 19
landiformis in der befestigten Gingiva durchgeführt. Der Schnitt
läuft beidseitig leicht bogenförmig nach apikal aus. Bei diesem
Schnitt wird das Periost nicht durchtrennt. Der Schnitt wird so ge-
598 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
legt, dass man eine schräg angeschnittene Schnittfläche erhält. Wird
der Rand des Transplantats später auf dieser Schnittfläche adaptiert,
ergibt sich ein nahezu fließender Übergang zwischen Transplantat
und bestehender befestigter Gingiva. Anschließend wird ein Muko-
salappen in apikaler Richtung präpariert. Ein solcher Lappen, der
Schleimhaut und Submukosa, aber kein Periost enthält, wird als
Spaltlappen bezeichnet. Wenn Schwierigkeiten bei der Präparation
der Mukosa bestehen sollten, kann eine Injektion von Lokalanästhe-
tikum hilfreich sein. Durch die Injektionsflüssigkeit wird die Mu-
kosa vom Periost abgehoben, sodass deren Separation erleichtert ist
(Vorsicht: N. mentalis, Bichat-Fettpfropf). Der so mobilisierte
Schleimhautlappen wird apikal am Periost vernäht. Dies sollte mit
resorbierbaren Nähten mit stark gebogenen Nadeln erfolgen, da die
Entfernung der Nähte postoperativ sehr schmerzhaft ist. Das Wund-
bett wird mit einem in physiologischer Kochsalzlösung getränkten
Tupfer gedeckt und das Transplantat entnommen.
D Transplantatentnahme und -adaptation: Um die Größe des Trans-
plantats zu bestimmen, wird eine Zinnfolie zurechtgeschnitten, die
auf die Größe und Form des Empfängerbettes abgestimmt ist. Zwi-
schen dem Transplantat und der apikal vernähten Mukosa sollte ein
ca. 2 mm breiter Streifen von Periost frei bleiben. Dadurch wird ein
Verschieben und Anheben des Transplantats durch die wieder hoch-
wachsende bewegliche Schleimhaut während der Einheilungsphase
vermieden. Die getrimmte Zinnfolie wird auf den harten Gaumen
gelegt und mit einem Skalpell ca. 1 mm tief umschnitten. Die Ent-
nahmestelle sollte keine Rugae palatinae aufweisen und nicht bis in
den beweglichen Gaumen extendiert werden. Mit einem Gingivek-
tomiebeil und/oder einem Skalpell wird ein ca. 1 mm dickes Trans-
plantat entnommen. Die auf das Empfängerbett angepassten Trans-
plantate werden an der marginalen Gingiva vernäht. Die Nähte wer-
den interdental befestigt. Es ist auch möglich, das Transplantat an
den Wundrändern mit Gewebekleber zu fixieren. Das Transplantat
wird nun für ca. 2–3 min mit einer feuchten Gaze auf die Empfän-
gerstelle gedrückt. Dadurch wird die Bildung eines Blutkoagulums
verhindert. Ein Parodontalverband ist nicht notwendigerweise an-
zulegen. Dem Patienten wird angeraten, das Wundgebiet ca. acht
Tage nicht mechanisch zu säubern. Der Bereich der Entnahmestelle
kann ebenfalls mit Gewebekleber oder mit einem Zahnfleischver-
band geschützt werden. Ferner ist das Anlegen einer Verbandplatte
aus Kunststoff (Miniplast) möglich.
Mukotom Eine weitere Möglichkeit der Transplantatentnahme besteht in der Ver-
wendung eines Mukotoms. Das mechanische Mukotom nach Mör-
mann gewährleistet dabei gleichmäßig dicke Präparate. Bei den handge-
triebenen Mukotomen ist es, wie bei den mit Skalpellen gewonnenen
Transplantaten, häufig notwendig, das Präparat vorsichtig auszudün-
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 599
nen. Dabei sollte das Transplantat mit einer Schere oder einem Skalpell
von Drüsen und Fettgewebe befreit werden. Die mit Mukotomen ge-
wonnenen Transplantate sind rechteckig. Sie müssen der Form des
Empfängerbettes angeglichen (getrimmt) werden. Sie werden auf einem
mit physiologischer Kochsalzlösung getränkten sterilen Brett ausgebrei-
tet und zurechtgeschnitten.
Ist das Transplantat für das zu bedeckende Empfängerbett zu klein, Meshgraft-
kann es durch die Meshgraft-Technik verbreitert werden. Bei der Technik
Meshgraft-Technik wird das Transplantat so eingeschnitten, dass es zieh-
harmonikaartig gespreizt werden kann. Dieses gespreizte Transplantat
wird auf die Empfängerstelle adaptiert. Die freien Flächen zwischen den
Transplantatschenkeln epithelisieren sekundär mit keratinisierter Gingiva.
Die Wundheilung im Spendergebiet verläuft über eine sekundäre Wundheilung
Epithelisierung, die von den epithelialen Wundrändern ausgeht. Epi- Spendergebiet
theliale Lippen schieben sich zwischen das sichtbare Blutkoagulum und
das bestehende Bindegewebe. Die Fusion der Epithellippen ist manch-
mal erst nach mehreren Wochen abgeschlossen. Erst nach der Fusion
setzt die mitotische Aktivität der Epithelzellen wieder ein, sodass das zu-
nächst dünne Epithel dicker wird und sich zu einem Oberflächenepithel
differenziert.
Die Wundheilung des Transplantats im Empfängergebiet lässt sich Wundheilung
in drei Phasen unterteilen: Empfängergebiet
D In der initialen Phase (bis dritter Tag) ist das Transplantat mit ne-
krotischen Epithelresten belegt. Dieser regelmäßig zu findende
weißliche Belag darf nicht mit einer Wundheilungsstörung verwech-
selt werden. Die oberflächlichen Zellen des Transplantats werden ab-
gestoßen, die Basalzellen überleben. Das Transplantat wird durch
eine „plasmatische Zirkulation“ ernährt. Eine Revaskularisierung ist
noch nicht vorhanden. Transplantaten, die teilweise auf freien Wur-
zeloberflächen platziert sind, fehlt die bindegewebige bzw. perios-
tale Unterlage. Daher werden häufig Probleme bei der Einheilung
von Transplantaten auf Wurzeloberflächen beobachtet. Der Teil des
Transplantats, der auf der Wurzeloberfläche aufliegt, sollte demzu-
folge möglichst klein gehalten werden.
D In der zweiten Phase (Revaskularisierung; zweiter bis elfter Tag)
kommt es zur Ausbildung von Anastomosen zwischen bestehenden
Gefäßen des Transplantats und des Empfängerbettes. Die bede-
ckende Epithelschicht wird von den überlebenden Basalzellen des
Transplantats und den Epithelzellen des benachbarten Gewebes neu
organisiert.
D In der dritten Phase (Reifungsphase; elfter bis 42. Tag) ist die Bluter-
nährung des Transplantats endgültig gewährleistet. Die zunächst
noch dünne Epithelschicht wird wieder verdickt. Sie ist nach ca. ei- 19
nem Monat wieder keratinisiert und besitzt eine typische blassrosa
Farbe. Erst nach ca. vier Monaten ist die Einheilung histologisch
vollständig abgeschlossen.
600 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Während der gesamten Einheilungsphase sind Schrumpfungen der
Transplantate zu beobachten. Die Schrumpfung kann bis zu 25% der
Ursprungsbreite betragen. Das Transplantat sollte noch genügend sub-
epitheliales Bindegewebe enthalten, damit eine Revaskularisierung er-
folgen kann. Dünne Transplantate werden besser vaskularisiert als di-
cke. Ist das Transplantat allerdings zu dünn, treten postoperativ ver-
stärkt Schrumpfungen auf. Ein Transplantat, das nur aus Epithel
besteht, wird abgestoßen. Ein solches Transplantat würde wieder durch
das gleiche Gewebe ersetzt werden, das schon zuvor an der Empfänger-
stelle vorlag.
Methoden zur Deckung freiliegender Wurzeloberflächen
Zur Deckung freiliegender Wurzeloberflächen werden zahlreiche Ver-
fahren beschrieben, sodass im Folgenden nur die gebräuchlichsten
Techniken erläutert werden. Je nach vorliegendem Grad der Rezession
(Klassifikation nach Miller) werden unterschiedliche chirurgische The-
rapien präferiert:
D Klasse I:
koronaler Verschiebelappen
D Klasse II, III:
– lateral verschobene Lappen
– freie autogene Gingiva- bzw. Bindegewebstransplantate
– gesteuerte Geweberegeneration
D Klasse IV:
konventionelle Parodontitistherapie
Koronaler Verschiebelappen: Die Methode des koronalen Verschiebe-
lappens kann mit oder ohne vorherige Verbreiterung der keratinisierten
Gingiva durch ein Schleimhauttransplantat durchgeführt werden. Ein
koronaler Verschiebelappen nach freiem Schleimhauttransplantat wird
vor allem beim Vorliegen von gruppierten Rezessionen empfohlen. Der
Eingriff wird frühestens acht bis zehn Wochen nach der Transplantation
vorgenommen.
Vorgehen Vorgehen: Bei der Technik des koronalen Verschiebelappens wird
zunächst ein Mukoperiostlappen gebildet. Die vertikalen Inzisionen
verlaufen nach apikal leicht divergierend. Der dadurch entstehende Tra-
pezlappen gewährleistet die arterielle Versorgung des Lappens aufgrund
seiner breiten Basis. Die horizontale Inzision verläuft girlandenförmig
am Zahn entlang. Im Bereich der Papillen liegt der Schnitt apikal der Pa-
pillenspitze. Der Abstand zwischen der Inzisionslinie und der Papillen-
spitze entspricht dem Betrag, um den der Lappen nach koronal verscho-
ben werden soll. An der verbliebenen Papillenspitze wird das Epithel ab-
getragen, um ein Wundbett für den nach koronal zu verschiebenden
Lappen zu bilden. Der Mukoperiostlappen wird gelöst und das Periost
an der Lappenbasis geschlitzt. Durch diese Periostschlitzung ist eine
spannungsfreie Verschiebung des Lappens möglich. Abschließend wird
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 601
Transplantat entepithelisierte Periost-
Inzision Papille schlitzung
Inzision
entepi-
thelisierte
Papille
Naht
Um-
schlingungs-
naht
a b
Abb. 19.18: Koronaler Verschiebelappen nach freiem Schleimhauttransplantat (a) und ohne Transplantat
(b). Oben: Schnittführung und Entepithelisierung der Papillen. Es kann vor allem bei ausgeprägten Rezes-
sionen erforderlich sein, die „Papillenspitzen“ des Lappens zu kürzen. Der Mukoperiostlappen schließt das
Transplantat mit ein. Unten: Fixation des Lappens
der Lappen mit Nähten in seiner angestrebten koronalen Position fi-
xiert.
Multiple Rezessionen können auch mit einem koronalen Verschie-
belappen gedeckt werden. Dies ist sowohl mit als auch ohne vorherige
Verbreiterung der keratinisierten Gingiva mit einem freien Schleim-
hauttransplantat möglich. (Abb. 19.18).
Lateraler Verschiebelappen: Bei der Methode der Rezessionsde-
ckung mit einem lateralen Verschiebelappen wird die denudierte Wur-
zeloberfläche mit keratinisierter Gingiva aus dem Nachbarbereich ge-
deckt. Voraussetzungen sind, dass eine lokalisierte schmale Rezession
vorliegt und die keratinisierte Gingiva des Nachbarbereiches gesund so-
wie und ausreichend breit und dick ist. Da dies nur selten der Fall ist,
wird der laterale Verschiebelappen heute meist mit einer Bindegewebs-
transplantation kombiniert.
Klassisches Vorgehen ohne Bindegewebstransplantation: Die beste- Vorgehen
hende Rezession wird umschnitten und angefrischt. Am benachbarten
Zahn wird ein Zahnfleischrandschnitt und am übernächsten Zahn eine
paramediane Vertikalinzision vorgenommen (Abb. 19.19). Der dadurch
gebildete Lappen wird an der zur Rezession angrenzenden Seite als
Mukoperiostlappen präpariert. Der Teil des Lappens, der an die Entnah-
mestelle grenzt, wird als Mukosalappen präpariert. Dies hat zur Folge, 19
dass bei der Verschiebung des Lappens die Rezession mit einem Muko-
periostlappen gedeckt wird und an der Entnahmestelle eine periostbe-
deckte Wunde verbleibt, die sekundär epithelisiert.
602 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Schnitt Periost Naht
Abb. 19.19: Lateraler Verschiebelappen zur Rezessionsdeckung. Das um die Rezession gelegene Mukoperi-
ost wird entfernt und der Lappen seitlich über die Rezession und den entblößten Knochen verschoben.
Einen neuen, vielversprechenden Ansatz stellt die Kombination ei-
nes Verschiebelappens mit Anwendung von Schmelz-Matrix-Proteinen
auf der zuvor gründlich gereinigten Wurzeloberfläche dar.
Rezessionsdeckung mit freiem autogenen Schleimhaut- oder
Bindegewebetransplantat: Die denudierte Wurzel kann durch ein
freies Schleimhauttransplantat (FST) auch direkt gedeckt werden. Die
Technik ist bei gänzlich fehlender oder sehr schmaler keratinisierter
Gingiva indiziert. Das freie Schleimhauttransplantat wird, wie oben be-
schrieben, meist aus der Gaumenschleimhaut entnommen. Die Gingiva
im Bereich der Rezession wird entepithelisiert und angefrischt und die
Wurzeloberfläche gründlich gesäubert. Manche Autoren empfehlen die
Vorbehandlung der Wurzeloberfläche durch dreiminütiges Einreiben
mit 1%iger Zitronensäure (pH-Wert 1,0). Der Nutzen dieser Vorbehand-
lung ist aber umstritten.
Zur Deckung von Rezessionen ist die Verwendung freier Schleim-
hauttransplantate weitestgehend durch den Einsatz von Bindegewebe-
transplantaten abgelöst worden. Diese Transplantate werden unterminie-
rend aus dem Gaumen entnommen und können auch zur Aufpolsterung
atrophischer Kieferkammareale z.B. im Bereich von Brückenzwischen-
gliedern verwendet werden.
Entnahme Die Entnahme des Bindegewebetransplantats vom Gaumen erfolgt,
nachdem die Empfängerstelle entsprechend vorbereitet ist (Abb. 19.20).
Zunächst wird dazu eine erste Inzision senkrecht zum Alveolarfortsatz
ca. 2–3 mm paramarginal parallel zur Zahnreihe, bevorzugt im Bereich
der Prämolaren, ausgeführt. Die mesio-distale Ausdehnung der Inzision
ist etwas länger als die benötigte Länge des Transplantats. Um die Ent-
nahme zu erleichtern, kann mesial eine vertikale Entlastungsinzision
erfolgen. Dann wird, ausgehend von der ersten Inzisionslinie, eine
weitere Inzision in apikaler Richtung durchgeführt. Dabei wird unter-
minierend die bedeckende Mukosa vom unterliegenden Bindegewebe
gelöst. Die Mukosa sollte nicht zu sehr ausgedünnt werden, da sonst die
Gefahr einer Nekrose besteht. Mit einer abschließenden Inzision wird
das freigelegte Bindegewebe umschnitten und mit einem Raspartorium
vom Alveolarknochen gelöst. Der Mukosalappen wird abschließend ver-
näht.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 603
Exzision
Inzision
vertikaler Inzision
a Entlastungsschnitt b
Abb. 19.20: Entnahme eines freien Bindegewebetransplantats aus dem Gaumen in der Aufsicht (a) und im
Schnitt (b)
Der Vorteil der Bindegewebetransplantate ist, dass das Epithel im Vorteile
Gaumenbereich weitestgehend unverletzt bleibt und der Patient keine
offene Wundfläche zurückbehält.
Bei der sogenannten Envelope-Technik wird im Empfängergebiet die Envelope-Technik
Rezession angefrischt und durch eine unterminierende Präparation ein
Hohlraum erzeugt. In diesen Hohlraum kann das Bindegewebetrans-
plantat eingeschoben werden. Das Bindegewebetransplantat wird auf
die vorbereitete, gesäuberte Wurzeloberfläche gepresst und mit dünnem
(4-0 oder 5-0), resorbierbarem Nahtmaterial koronal an den Papillen be-
festigt. Der apikale Teil des Transplantats wird durch den darüber liegen-
den Lappen fixiert. Überkreuzte Nähte helfen den nicht vom Lappen
bedeckten Teil des Transplantats an die Wurzeloberfläche zu pressen
(Abb. 19.21). Das Transplantat wird mit Ausnahme vom Bereich der
Wurzeloberfläche von zwei Seiten ernährt: vom Periost und vom bede-
ckenden Lappen. Der Teil des subepithelialen Bindegewebetransplan-
tats, der nicht vom Lappen gedeckt ist, epithelisiert innerhalb von ca.
drei Wochen. Die Morphodifferenzierung geht vom Bindegewebe aus,
es übernimmt die Charakteristika des Herkunftsortes (Gaumen). Man-
che Autoren empfehlen, einen 1–2 mm breiten epithelisierten Rand-
streifen bei der Präparation am Bindegewebetransplantat zu belassen.
Dieser Randstreifen kann postoperativ die marginale Gingiva darstellen.
Die Tunnel-Technik eignet sich zur gleichzeitigen Deckung mehre- Tunnel-Technik
rer benachbarter Rezessionen. Es wird an jedem der zu behandelnden
Zähne eine unterminierende Präparation durchgeführt. Dadurch wird
ein Hohlraum geschaffen, in den ein größeres Transplantat eingescho-
ben wird, das alle benachbarten freiliegenden Wurzeloberflächen be-
deckt (Abb. 19.22). 19
Bindegewebetransplantate mit koronalem oder lateralem Ver-
schiebelappen: Bindegewebetransplantate werden zunehmend mit ko-
ronalen oder lateralen Verschiebelappen kombiniert, die auf das Trans-
604 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Inzision mit
Epithelentfernung
a b
c Bindegewebetransplantat d
Abb. 19.21: „Envelope-Technik“ zur Deckung von parodontalen Rezessionen: a) und
b) Schnittführung mit einer unterminierenden Präparation, c) Platzierung des Bin-
degewebetransplantats in die unterminierten Bereiche, d) Fixierung des Trans-
plantats mit überkreuzten Nähten
a b
c d
Abb. 19.22: Tunneltechnik zur Deckung parodontaler Rezessionen:
a) und b) Schnittführung mit unterminierender Tunnel-Präparation ohne Durch-
trennung der Interdentalpapille, c) Platzierung des Transplantates in den „Tunnel“,
d) Fixierung des Transplantates
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 605
plantat platziert werden. Dieses Verfahren bietet ästhetisch gute Ergeb-
nisse bei der Deckung mäßig ausgeprägter Rezessionen.
Gesteuerte Geweberegeneration zur Deckung parodontaler Re-
zessionen: Durch die Anwendung der gesteuerten Geweberegeneration
bei der Deckung von Rezessionen wird über die Abdeckung der Wurzel
mit Weichgewebe angestrebt, eine Regeneration von Wurzelzement,
Desmodont und Alveolarknochen zu erzielen. Zur Unterstützung der
Regeneration empfehlen manche Autoren die zusätzliche Behandlung
der Wurzeloberfläche mit Schmelz-Matrix-Proteinen. Der Vorteil des
Verfahrens liegt darin, dass nur in einem Operationsgebiet gearbeitet
wird. Allerdings zeigen die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse eine
hohe Variabilität und damit ungünstigere Prognose im Vergleich zur
Bindegewebstransplantation.
Vorgehen: Die Bildung des Lappens entspricht dem Vorgehen beim Vorgehen
koronalen Verschiebelappen. Die Membran wird so zurechtgeschnitten,
dass sie an der Schmelz-Zement-Grenze beginnend die entblößte Wur-
zel ca. 2–3 mm allseitig überlappt. Die Fixierung der Membran am Zahn
erfolgt mit einer Umschlingungsnaht. Der periostgeschlitzte, mobili-
sierte Lappen wird dann nach koronal verschoben, sodass die gesamte
Membran bedeckt ist. Wurde eine nicht resorbierbare Membran ver-
wendet, wird diese nach ca. vier bis sechs Wochen entfernt. Dazu wird
ein intrasulkulärer Schnitt durchgeführt und die Membran vorsichtig
nach koronal herausgezogen.
Die Erfolgschancen der oben beschriebenen Techniken variieren
zum Teil erheblich. Auch Studien, bei denen dieselbe Technik angewen-
det wurde, zeigen stark divergierende Ergebnisse. Das Ziel einer Rezes-
sionsdeckung sollte die vollständige Bedeckung der Wurzeloberfläche
sein. Dieses Ziel wird nach heutigem Erkenntnisstand am besten durch
die Verwendung freier Bindegewebstransplantate oder Verschiebelap-
pen in Kombination mit Schmelz-Matrix-Proteinen erreicht. Aber auch
diese beiden Methoden führen durchschnittlich nur in 60–70% der be-
handelten Fälle zu einer vollständigen Deckung einer Rezession.
19.4.3 Methoden zur Behandlung von Zähnen mit
Furkationsbeteiligung
! Liegt an einem Zahn ein Furkationsbefall vor, entsteht in diesem
Bereich eine Nische, in der sich Plaque akkumulieren kann. Die
Reinigung im Furkationsbereich ist für den Patienten erschwert
oder unmöglich.
Darüber hinaus weist die Gingiva im Bereich des Furkationseingangs 19
häufig eine zusätzliche entzündete „Papille“ auf.
Das Ziel der verschiedenen Methoden der Furkationsbehandlung
liegt darin, die Kontur der Gingiva zu harmonisieren und optimale ana-
606 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Tab. 19.5: Furkationsbehandlung
Grad des Furkationsbefalls Therapie
Grad I • Scaling
• Wurzelreinigung
• Furkationsplastik
Grad II • Furkationsplastik
• Gesteuerte Geweberegeneration, Einsatz von
Schmelzmatrixproteinen
• Tunnelierung
• Wurzelresektion/-amputation
• Prämolarisierung
• Zahnextraktion
Grad III • Tunnelierung
• Wurzelresektion/-amputation
• Zahnextraktion
tomische Verhältnisse zu schaffen, die dem Patienten eine korrekte Hy-
giene ermöglichen. Je nach Grad des Furkationsbefalls werden verschie-
dene Behandlungsformen unterschieden (Tab. 19.5).
Diese Verfahren eignen sich gut zur Behandlung von furkationsbe-
fallenen Molaren. Furkationsbefallene Prämolaren sind weitaus schwie-
riger zu therapieren und vom Patienten zu kontrollieren. Je nach Befall
ist dort die Extraktion vorzuziehen.
Geschlossene Eine geschlossene Kürettage mit Wurzelglättung ist beim Furkati-
Kürettage mit onsgrad I meist ausreichend. Als besonders effektiv hat sich die Furka-
Wurzelglättung tionsreinigung mit Schall- oder Ultraschallscalern erwiesen. Die Säube-
rung kann natürlich je nach Behandlungsform der Nachbarzähne auch
mit einer Lappenoperation kombiniert werden. Selbst unter Sicht ist es
aber oft sehr schwierig, alle Nischen und Einziehungen auf der Wurzel-
oberfläche gründlich zu säubern.
Furkationsplastik Daher wird bei weiter reichenden Furkationsbefällen eine Odonto-
plastik bzw. Furkationsplastik vorgenommen. Dabei wird im Rahmen
einer Lappenoperation der Furkationseingang mit feinen Diamant-
schleifern oder ultraschallgetriebenen diamantierten Präparationsspit-
zen geglättet. Dadurch werden z.B. Schmelzprojektionen und Zahnein-
ziehungen eingeebnet und die Bildung und Entzündung einer zusätzli-
chen „Papille“ verhindert.
Vor allem bei Grad-II-Furkationsbefall können gute Ergebnisse mit
der gesteuerten Geweberegeneration (s. Kap. 19.4.2) erzielt wer-
den. Ebenso können gute Ergebnisse mit der Anwendung von
Schmelz-Matrix-Proteinen allein oder in Verbindung mit GTR er-
zielt werden.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 607
Grad-II-Defekte sind insbesondere dann gut mit der GTR-Methode zu GTR-Methode
behandeln, wenn das Knochenniveau am Furkationseingang bis zu
3 mm höher ist als interfurkal. Bei oberen Molaren ist die GTR-Behand-
lung von Furkationsdefekten Grad II nur an den bukkalen Eingängen
Erfolg versprechend. Die GTR-Behandlung von Furkationsdefekten
Grad III führt grundsätzlich nur zu minimalen Verbesserungen.
Beim operativen Vorgehen (Abb. 19.23) wird bei der Lappenpräpa-
ration durch einen intrasulkulären Schnitt und papillenerhaltende
Maßnahmen angestrebt, möglichst wenig Gingiva zu verlieren. Zusätz-
lich werden vertikale Entlastungsschnitte angelegt. Nach der Bildung
des Lappens werden die Wurzeloberfläche und der Furkationsbereich
des Zahnes gründlich gesäubert und geglättet. Anschließend wird eine
Membran zurechtgeschnitten und mit einer Umschlingungsnaht am
Zahn befestigt. Die Membran sollte zervikal dicht am Zahn anliegen,
keine Überlappungen oder Falten aufweisen und den Knochendefekt
allseitig um ca. 3 mm überragen. Der Mukoperiostlappen wird durch in-
terdentale Knopfnähte koronal fixiert. Abschließend werden die verti-
kalen Entlastungsschnitte vernäht. Der Lappen sollte die Membran
mindestens 2–3 mm überdecken.
Eine Tunnelierung (Tunnelung) wird fast ausschließlich bei unteren Tunnelierung
Molaren angewendet. Auch hier wird zunächst ein Lappen gebildet. Die
Furkation wird mit feinen Diamantschleifern erweitert, und gegebenen-
falls werden kleine Korrekturen am Alveolarknochen (Osteoplastik) vor-
genommen. Die Tunnelierung muss vorsichtig erfolgen, um eine Verlet-
zung der Pulpa zu vermeiden. Nach der Adaptation des Lappens liegt
dann ein erweiterter, in bukko-lingualer Richtung durchgängiger Tun-
nel vor, der vom Patienten mit feinen Bürstchen gereinigt werden kann.
intrasulkäre vertikaler Furkationsdefekt
Inzision Entlastungs-
schnitt
a
Abb. 19.23: Gesteuerte Geweberegeneration bei der b
Furkationsbehandlung: a) Schnittführung, b) Lap-
penmobilisation und Adaption der Membran, c)
Naht
19
c
608 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Die erweiterte Furkation ist in regelmäßigen Abständen vom Zahnarzt
zu kontrollieren und zu fluoridieren, um der Entstehung einer Karies ge-
zielt vorzubeugen.
Vorteile der Tunnelierung sind, dass im Gegensatz zur Prämolarisie-
rung bzw. Hemisektion keine prothetische Versorgung oder Wurzelka-
nalbehandlung des Zahnes notwendig ist.
Prämolarisierung Bei der Prämolarisierung wird ein furkationsbefallener Molar in
einwurzelige Prämolaren umgestaltet. Voraussetzungen für diesen
Eingriff sind genügend weit auseinander liegende Wurzeln und eine
möglichst koronal gelegene Furkation. Der Zahn wird zunächst wurzel-
behandelt und dann im Furkationsbereich durchtrennt. Es darf kein
Überhang der ehemaligen Furkation zurückbleiben, da diese Nische
sonst erneut bakteriell besiedelt wird. Daher muss die Trennstelle geglät-
tet werden, sodass ein glatter Übergang von der Wurzeloberfläche zur
Zahnkrone entsteht. Die neu entstandenen Stümpfe müssen nachfol-
gend mit Kronen versorgt werden. Dem Patienten ist dann eine ausrei-
chende Interdentalhygiene möglich.
Bei der Resektion einer Wurzel wird der Zahn wie bei der Prämolari-
sierung durchtrennt. Dann werden eine oder mehrere Wurzeln extra-
hiert. Bei unteren Molaren spricht man dabei von einer Hemisektion.
Um zu entscheiden, welche Wurzeln extrahiert werden sollen, sind
neben dem parodontalen Zustand der Einzelwurzeln noch weitere Ent-
scheidungskriterien zu beachten. Der periapikale Zustand der belassenen
Wurzel muss unauffällig sein. Ferner sollte die Wurzel einen möglichst
geraden, weiten Wurzelkanal besitzen, sodass eine korrekte Wurzelkanal-
füllung und eine spätere Versorgung mit Stiftaufbauten möglich sind. Da-
her bietet sich bei Unterkiefermolaren meist der Erhalt der distalen Wur-
zeln und bei Oberkiefermolaren der Erhalt der palatinalen Wurzeln an.
Ein Nachteil beim Erhalt der oberen, palatinalen Wurzel ist, dass
diese Wurzel etwas versetzt zum oberen Zahnbogen steht. Dadurch kann
die Statik von prothetischen Rekonstruktionen beeinträchtigt werden.
Wurzel- Unter einer Wurzelamputation versteht man die Entfernung einer
amputation Zahnwurzel ohne Durchtrennung der Zahnkrone des Zahnes. Das Ziel
ist die Umwandlung eines dreiwurzeligen Zahnes mit Furkationsbeteili-
gung in einen zweiwurzeligen Zahn ohne Furkationsbeteiligung.
Die Wurzelamputation kann daher bei oberen, furkationsbefallenen
Molaren angewendet werden. Dabei wird meist eine der beiden bukka-
len Wurzeln im Bereich der Schmelz-Zement-Grenze abgetrennt. Es
muss ebenso wie bei der Resektion und Prämolarisierung darauf geach-
tet werden, dass keine Überhänge und Nischen zurückbleiben. Die Am-
putationsstelle muss mit einem Füllungswerkstoff (z.B. Glasionomerze-
ment) verschlossen werden.
Zahnextraktion Die Zahnextraktion als Therapie furkationsbefallener Zähne ist
sinnvoll, wenn der Zahn keine Wurzel besitzt, die ausreichend von Al-
veolarknochen umgeben ist oder Probleme bei der endodontischen
Therapie zu erwarten sind.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 609
19.4.4 Behandlung parodontal-endodontaler (Paro-Endo-)
Läsionen
Bei der Therapie von Paro-Endo-Läsionen erfolgt zunächst eine Behand-
lung der devitalen Pulpa mit medikamentösen Wurzelkanaleinlagen
(z.B. Kalziumhydroxid). Dies kann bei Läsionen der Klasse I, die primär
endodontischen Ursprungs sind, zu einer fast vollständigen Ausheilung
der parodontalen Entzündungsmerkmale führen. Eine evtl. notwendige
Parodontaltherapie erfolgt erst nach einer Beobachtungszeit, in der sich
der desmodontale Faserapparat regenerieren kann. Eine zu frühzeitige
Bearbeitung der Wurzeloberflächen würde in diesem Zeitraum die Fa-
sern, die noch regenerierbar sind, endgültig zerstören. Sollte es durch
die Wurzelkanalbehandlung nicht zu einer Besserung der parodontalen
Beschwerden kommen, muss vermutet werden, dass es sich bei der vor-
liegenden Läsion um eine Paro-Endo-Läsion der Klassen II oder III han-
delt. In einem solchen Fall ist eine Parodontalbehandlung (evtl. Lap-
penoperation) durchzuführen.
Die Prognose von Zähnen mit Paro-Endo-Läsionen der Klassen II
und III ist fraglich. Die kombinierte Therapie ist als Behandlungsver-
such zu verstehen, um ästhetisch oder topografisch wichtige Zähne zu
erhalten. Häufig ist die Extraktion des Zahnes notwendig.
19.4.5 Transplantate und Implantate zur Behandlung von
Knochentaschen
! Unter der Transplantation versteht man die Übertragung von vi-
talem Gewebe (z.B. Knochen, Schleimhaut). Die Implantation be-
zeichnet das Einbringen nicht vitalen Gewebes oder Materials.
Es wird zwischen autogenen (vom gleichen Individuum, früher: auto- Grundlagen
log), isologen (von Individuen mit gleichem genetischem Code, d.h.
Zwillinge), allogenen (von Individuen gleicher Spezies, z.B. Mensch)
und xenogenen (von Individuen verschiedener Spezies) Transplantaten
unterschieden.
Unter Lyophilisierung versteht man die Gefriertrocknung von Ge-
webe zur Verlängerung der Haltbarkeit. Die Übertragung von körper-
fremdem (synthetischem) Material wird als Alloplastik bezeichnet. Als
Osteokonduktion wird ein Prozess beschrieben, bei dem Knochen um
ein in den Knochen eingebrachtes Material im Sinne einer Apposition
wächst. Unter Osteoinduktion wird eine Anregung des umgebenden
Knochens zur Osteogenese (Knochenneubildung) durch das einge-
brachte Material verstanden. 19
In der Parodontologie werden Transplantate oder Implantate meist
verwendet, um zwei- oder dreiwandige Knochentaschen aufzufüllen.
Um eine Ortsständigkeit des implantierten Materials sicherzustellen,
610 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
können die implantierten Materialien mit einer Membran abgedeckt
werden.
Autogener Autogene Knochentransplantate können in Form von Zylindern
Knochen mit kleinen Trepanbohrern aus unbezahnten Kieferabschnitten ent-
nommen werden. Dabei eignen sich der Tuberbereich oder vier Monate
alte Extraktionsbereiche als Entnahmestellen. Entnahmen aus dem Be-
ckenkamm sind ebenfalls möglich, werden aber aufgrund des chirurgi-
schen Aufwandes und Risikos nicht als Standardverfahren empfohlen.
Vom entnommenen Knochen wird nur die Spongiosa übertragen, da sie
die bessere Einheilung verspricht. Der Knochen wird zu Spänen zerklei-
nert und mit Blut vermischt. Dieser Knochenbrei wird dann in den Kno-
chendefekt eingebracht. Eine weitere Möglichkeit zur Knochengewin-
nung besteht in der Verwendung von Knochenfiltern. Knochenfilter
sind in die Absauganlage integriert und sammeln Knochenspäne, die
beim Fräsen von Knochen anfallen.
Autogener Knochen wird als das beste Implantationsmaterial für
den Wiederaufbau von Knochen angesehen. Er weist denselben Aufbau
wie der den Defekt umgebende Knochen auf und ist aus immunologi-
scher Sicht unbedenklich. Die in ihm enthaltenen Proteine (z.B. bone
morphogenic proteins, BMP) verfügen über osteogenetisches Potenzial.
Häufig werden nach der Implantation von Knochen Wurzelresorp-
tionen oder Ankylosen der betroffenen Zähne beobachtet. Dies tritt
insbesondere dann auf, wenn die Wurzeloberflächen nicht mehr mit vi-
talen Desmodontalzellen oder einer schützenden Zementschicht be-
deckt sind.
Allogener Allogener Knochen wird von Knochenbanken als demineralisierter,
Knochen gefriergetrockneter Knochen angeboten. Demineralisiertem allogenem
Knochen wird eine osteoinduktive Wirkung zugesprochen. Er hat wie
alle nicht autogenen Materialien den Vorteil, dass am Patienten keine
Knochenentnahme notwendig ist. Ein diskutierter Nachteil ist es, dass
eine Übertragung von Infektionskrankheiten nicht ausgeschlossen
werden kann. Um Infektionen zu vermeiden, wird allogener Knochen
daher z.T. speziell aufbereitet (AAA-Knochen: autolysierter, antigenex-
trahierter, allogener Knochen), ohne dass seine osteoinduktive Wirkung
verloren geht.
Xenogener Xenogene Knochenersatzmaterialien werden z.B. von Rindern,
Knochenersatz Schweinen oder Korallen gewonnen. Bei vielen dieser Materialien wer-
den durch spezielle Verfahren alle organischen Bestandteile entfernt. Sie
sind daher osteokonduktiv, dienen also als Leitschiene für den ortsstän-
digen Knochen und sind nicht osteoinduktiv. Auch bei diesen Materia-
lien ist nicht abschließend geklärt, ob Infektionserkrankungen oder
Krankheitserreger, insbesondere Prionen, übertragen werden können.
Alloplastischer Als alloplastische Knochenersatzmaterialien kommen z.B. Kalzi-
Knochenersatz umphosphat- und Glaskeramiken, aber auch Polymere, bioaktive Gläser
oder ölige Kalziumhydroxidsuspensionen zum Einsatz. Sie verfügen
über osteokonduktive, aber nicht über osteoinduktive Eigenschaften.
19.4 Korrektive Therapie Kapitel 19 611
Die Kalziumphosphatkeramiken können in Hydroxylapatite und α-
bzw. β-Trikalziumphosphate eingeteilt werden. Hydroxylapatite werden
entweder synthetisch oder durch Sinterung aus xenogenem Gewebe ge-
wonnen und werden nur sehr langsam durch Osteoklasten abgebaut.
Dabei ist im Besonderen die Biodegradierbarkeit synthetisch hergestell-
ter Hydroxylapatite sehr eingeschränkt. In neueren Produkten kommt
ungesintertes, nanokristallines Hydroxylapatit zum Einsatz. Durch die
Nanostruktur besitzen diese Materialien eine große Oberfläche, wo-
durch die Resorbierbarkeit verbessert ist. Trikalziumphosphate hinge-
gen sind im Körper gut löslich, sodass diese durch ortsständigen Kno-
chen ersetzt werden.
An der Oberfläche bioaktiver Glaskeramiken (Biogläser) können
komplexe Vorgänge zur Bildung einer Schicht aus Siliziumgel und Kal-
ziumphosphaten führen, in die organische Komponenten eingebaut
werden können. Bei Biogläsern tritt eine Auflösung erst langsam über
Jahre hinweg ein.
19.4.6 Parodontale Heilung
! Voraussetzung für eine parodontale Regeneration ist, dass vitale
Desmodontalzellen auf der Wurzeloberfläche erhalten sind. Nur
dann kann eine Reorganisation der Zahnaufhängung über seinen
Faserapparat am Alveolarknochen erfolgen.
Fehlt das Desmodont und kommt die Zahnoberfläche mit Bindegewebe
der Gingiva oder dem Alveolarknochen in Kontakt, treten Ankylosen
oder Wurzelresorptionen der Zähne auf. Nach parodontalchirurgischen
Eingriffen werden verschiedene Formen der Ausheilung beobachtet. Da-
bei konkurrieren unterschiedliche Gewebeanteile (Epithelzellen, Des-
modontalzellen, Bindegewebezellen und Knochenzellen) miteinander
um die Anheftung an der bearbeiteten Wurzeloberfläche. Das Saumepi-
thel besitzt dabei das schnellste Wachstumspotenzial, sodass meist ein
langes, bis zum Taschenfundus reichendes Saumepithel die Zahnober-
fläche bedeckt.
Es wird allgemein zwischen einer Wiederanhaftung (reattachment), Formen
einer Regeneration (new attachment) und einer reparativen Heilung (re-
pair) unterschieden.
„Reattachment“ bedeutet, dass traumatisch oder operativ zeitweise
voneinander getrennte Gewebe sich wieder zu einer funktionellen Ein-
heit zusammenschließen. Eine solche Wiederanheftung ist nur in apika-
len Wurzelbereichen zu erwarten, in denen das Desmodont nicht infi-
ziert ist. Ein epitheliales „Reattachment“ wird nicht beobachtet. 19
Beim „new attachment“ geht man davon aus, dass die funktionelle
Einheit des Gewebes von Zellen des Randgebietes des Defektes wieder
neu aufgebaut wird. Die Bildung eines zum Taschenfundus reichenden
612 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Saumepithels, ausgehend von noch intakten Basalzellen, wird als epi-
theliales „new attachment“ bezeichnet.
Der Begriff der reparativen Heilung (repair) besagt, dass die zerstör-
ten Gewebeanteile unter Ausnutzung verschiedener Möglichkeiten re-
parativ ersetzt werden. Es kommt bei der Wund- und Defektauffüllung
zu Heilungs-, Substitutions- oder Regenerationsprozessen. Diese Form
der Heilung stellt das wahrscheinlichste Behandlungsergebnis nach pa-
rodontalchirurgischen Eingriffen dar. Sie führt nicht zu einer parodon-
tal-desmodontalen Regeneration, obwohl das Gewebe, klinisch entzün-
dungsfrei, straffe und verringerte Sondierungstiefen aufgrund narbiger,
epithelialer oder resorptiver bzw. ankylotischer Prozesse aufweist.
19.4.7 Schienungstherapie
! Stark gelockerte Zähne können im Rahmen einer PAR-Behand-
lung durch Schienen verblockt und temporär stabilisiert werden.
Durch die Schienung wird keine Festigung eines durch parodon-
tale Ursachen gelockerten Zahnes, sondern ausschließlich eine
Ruhigstellung bewirkt.
Prinzip Diese Ruhigstellung kann postoperativ oder nach akuten Traumen die
Heilung positiv beeinflussen. Die Schienung verbessert den Kaukomfort
für den Patienten und verhindert Zahnkippungen und -wanderungen.
Kaukräfte, die auf einen Schienenverband auftreffen, werden auf alle in
den Verband integrierten Zähne verteilt. Das bedeutet aber, dass ein-
zelne Zähne unter Umständen größere Kaukräfte auffangen müssen als
ohne Schienung. Darüber hinaus sollten nur Zähne mit gleicher Mobi-
lität verblockt werden. Andernfalls kann es leicht zur Fraktur der
Schiene und Lockerung der ursprünglich festeren Zähne kommen.
Zähne, die durch ein okklusales Trauma gelockert sind, sollten durch se-
lektives Einschleifen und nicht durch Schienung behandelt werden.
Schienungsarten Grundsätzlich wird zwischen folgenden Schienen unterschieden:
D temporäre Schienen
D semipermanente Schienen
D permanente Schienen
Als temporäre Schienungen (Tragedauer von einigen Tagen bis zu we-
nigen Wochen) werden z.B. fortlaufende Drahtligaturen, Drahtbogen-
Kunststoffschienen, oder Miniplastschienen verwendet. Auch ein
Wundverband, der nach einer Woche gewechselt wird, kann zur Schie-
nung ausreichend sein. Eine temporäre Schienung ist bei Vorliegen von
Zähnen mit erhöhter Beweglichkeit, an denen offene Methoden der Pa-
rodontalbehandlung geplant sind, indiziert.
Ziel der temporären Schienung ist es, eine vorübergehende weitere
Erhöhung der Beweglichkeit als Folge des Behandlungstraumas abzu-
19.5 Medikamente in der Parodontologie Kapitel 19 613
fangen. Semipermanente Schienen (Tragedauer von einigen Wochen bis
zu einigen Monaten) werden heute mit Kompositen in Schmelz-Ätz-
Technik hergestellt. In der einfachsten Form können Zähne ohne Präpa-
ration einer Kavität approximal miteinander verblockt werden. Auch
kann eine Schienung mit adhäsiv befestigten Fasernetzen vorgenom-
men werden.
Semipermanente Schienungen sind indiziert, wenn erhaltungs-
würdige Zähne vorliegen, die wegen einer stark erhöhten Beweglichkeit
den Patienten beim Kauen und Sprechen behindern. Ferner können sie
bei kombiniert parodontologisch-kieferorthopädischer bzw. parodonto-
logisch-kieferorthopädisch-prothetischer Behandlung zur Retention der
Zähne herangezogen werden (Tragedauer über mehrere Wochen bis
Jahre).
Als permanente Schienen (Tragedauer über viele Jahre) werden fest-
sitzende Schienungen (z.B. Brücken, Stege) und abnehmbare Schienun-
gen (z.B. Hybridprothesen, Elbrecht-Schienen) verwendet. Permanente
Schienungen sind bei gelockerten und/oder nur noch wenigen Pfeiler-
zähnen mit stark reduziertem Parodontium indiziert.
Wichtig ist, dass die Form einer Schiene die Parodontalhygiene
nicht behindert.
19.5 Medikamente in der Parodontologie
! Der Einsatz von Medikamenten dient in der parodontologischen
Therapie immer nur als Adjuvans zur mechanischen Lokalbe-
handlung. Sie ersetzen nicht die Beseitigung der primären und se-
kundären Ursachen, die zur Entstehung einer Parodontopathie
führen.
Antimikrobielle Agenzien sollen parodontopathogene Keime spezifisch
und effektiv bekämpfen, geringe Nebenwirkungen und eine gute Halt-
barkeit bei Raumtemperatur besitzen.
Darüber hinaus ist eine hohe Substantivität wichtig. Die Substanti-
vität beschreibt die Retentionsdauer eines Medikaments am Wirkungs-
ort (Mundhöhle, Sulkus). Die Medikamente werden in lokal und syste-
misch angewendete Medikamente unterschieden.
19.5.1 Lokal angewendete Medikamente
Lokal angewendete Mittel werden meist in Form von Spüllösungen, 19
Salben oder Pasten angeboten. Auch in Zahnpasten können lokal wirk-
same Medikamente vorliegen. Im Folgenden werden die gebräuchlichs-
ten und wichtigsten lokalen Therapeutika beschrieben. Daneben finden
614 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
noch weitere antibakterielle bzw. antiphlogistische Wirkstoffe (z.B. Lis-
terine, Triclosan, Cetylpyridiniumchlorid (CPC), Hexetidin, Zuckerer-
satzstoffe, Sanguinarin, Acetylsalicylsäure-Lösungen) Anwendung. Bei
der lokalen Anwendung von Präparaten in eine entzündete Tasche ist zu
beachten, dass die Sulkusfließrate bei Vorliegen einer Entzündung deut-
lich erhöht ist. Daher ist hier die Depotfunktion von Präparaten beson-
ders wichtig.
Chlorhexidin Chlorhexidin (CHX) ist ein Biguanid. Es wird meist als Chlorhexi-
dindiglukonat-Salz in 0,06- bis 0,2%ige Mundspüllösung verwendet.
Chlorhexidin wirkt antibakteriell und hemmt in hohen Konzentratio-
nen (0,2%) die Plaquebildung. Es wirkt bakteriostatisch und bakterizid
gegen grampositive Bakterien, in höheren Dosierungen auch bakterizid
gegen gramnegative Bakterien.
CHX besitzt eine hohe Substantivität. Seine kationischen Gruppen
binden elektrostatisch an die negativ geladenen Oberflächen von Zäh-
nen, Gingiva und Mukosa sowie Plaque. Daher überdauert die Wirkung
des CHX die Spülzeit und steht als Reservoir für einen „slow release“ zur
Verfügung. Durch seine starke Affinität zu Anionen ist CHX zudem be-
fähigt, Bindungsstellen der oralen Mikroorganismen an den Zähnen zu
blockieren, wodurch seine Anti-Plaque-Wirksamkeit begründet ist. Zu-
dem führt CHX zu einer Zerstörung der Permeabilitätsfunktion der Zell-
wände, sodass der Zutritt der Substanz in das Zellinnere ermöglicht
wird. Es kommt dann aufgrund des Verlustes des osmotischen Gleichge-
wichts zur Präzipitation des Zytoplasmas. CHX ist ferner befähigt, mem-
brangebundene ATPasen zu inhibieren und in den Glukosestoffwechsel
von Zellen einzugreifen.
Eine lang dauernde Anwendung in Form einer hoch konzentrierten
CHX-Spüllösung ist aufgrund des Auftretens lokaler Nebenwirkungen
nur in Ausnahmefällen indiziert. Bei der Anwendung von Chlorhexidin
als Mundspüllösung treten verschiedene Nebenwirkungen auf:
D Geschmacksirritationen, die bis zu 8 h anhalten können
D reversible braune Farbauflagerungen der Zähne und Schleimhäute
D Desquamation von Epithelzellen der Schleimhaut aufgrund einer
beschleunigten Zellalterung
D Wundheilungsstörungen bei Anwendung hoher Konzentrationen
und bei freiliegendem Knochen (Hemmung der Osteogenese)
D verstärkte Zahnsteinbildung
Höher konzentrierte Präparate sollten aufgrund dieser Nebenwirkungen
nur kurzfristig (bis zu sechs Wochen) zur Mundspülung eingesetzt wer-
den. Im Sinne einer Soft-Chemo-Prävention wird Chlorhexidin daher
bei ggf. dauerhafter Anwendung in niedrigen Konzentrationen (z.B.
0,06%) verwendet. Zur Wirkungsverbesserung sind dann häufig andere
antibakteriell wirksame Substanzen (z.B. CPC) der Lösung beigefügt.
Verschiedene Studien konnten nachweisen, dass Chlorhexidin zu einer
ca. 45%igen Reduktion von Gingivitiden beitragen kann. Zur lokalen
19.5 Medikamente in der Parodontologie Kapitel 19 615
Taschenbehandlung kann Chlorhexidin in Form von Spülungen mit
stumpfer Kanüle oder als gebrauchsfertiges Gel in die Tasche appliziert
werden.
Bei Anwendung von CHX-Präparaten muss bedacht werden, dass
CHX und die meisten am Markt befindlichen Zahnpasten interagie-
ren können und es dabei zu einer Inaktivierung des CHX kommt.
Dies gilt für alle Zahnpasten, die Natriumlaurylsulfat in Konzentratio-
nen bis 2% als Schäumerzusatz verwenden. Bei Kontakt von CHX mit
anionischen Molekülen tritt eine Präzipitation der Reaktionspartner zu
schwer löslichen Verbindungen ein und führt zur Inaktivierung des
CHX. Bei Gebrauch anionischer, tensidhaltiger Zahnpasten sollte daher
eine Wartezeit von 30 min bis 2 h bis zur CHX-Spülung eingehalten
werden. Spülungen mit CHX können unmittelbar vor oder nach der
Anwendung von Zahnpasten mit Aminfluoriden oder ausschließlich
nichtionischen Netzmitteln erfolgen. Hierbei wird die Wirkung des
CHX nicht beeinflusst.
Wasserstoffperoxid (H2O2) besitzt aufgrund der Sauerstoffabspal- Wasserstoff-
tung und Schaumbildung eine reinigende mechanische und desinfizie- peroxid
rende Wirkung. Durch die Sauerstofffreisetzung besitzt es einen hem-
menden Einfluss auf anaerobe Keime. Es wird in 3- bis 10%iger Lösung
zur lokalen Therapie vom Zahnarzt eingesetzt. Mundspüllösungen kön-
nen in 0,3- bis 0,5%iger Dosierung vom Patienten bei der häuslichen
Therapie verwendet werden.
Bei Polyvidon-Jod (PVP-Jod) handelt es sich um einen Komplex, Polyvidon-Jod
der in 0,1- bis 1% Konzentration eine antimikrobielle Wirkung gegen
grampositive und gramnegative Bakterien sowie Pilze, Viren und Proto-
zoen aufweist. Das wasserlösliche, synthetische, nicht antigene und ato-
xische Polymer PVD dient als Trägersubstanz für das eigentlich nur
schwer wasserlösliche Jod. Das Jod ist aus diesem Komplex über Stun-
den verfügbar und für die antimikrobielle Wirkung des Komplexes ver-
antwortlich. PVD-Jod-Lösungen sind kontraindiziert bei Patienten mit
Jodallergie und Schilddrüsenüberfunktion sowie in Schwangerschaft
und Stillzeit. Der längerfristige Gebrauch kann eine Schilddrüsendys-
funktion auslösen. Die Substantivität von PVD-Jod ist geringer als von
CHX. Die Anwendung von PVD-Jod kann ebenso wie CHX zu reversi-
blen Verfärbungen der Zähne, Zunge und Schleimhäute sowie zu Ge-
schmacksirritationen führen.
Zinnfluoridhaltige Lösungen (z.B. Meridol) haben in klinisch kon- Zinnfluoridhal-
trollierten Studien mehrfach gezeigt, dass sie einen Einfluss auf paro- tige Lösungen
dontale Erkrankungen besitzen. Durch das Zinnkation wird eine Bakte-
rienhemmung erreicht. Die Fluoridionen besitzen zudem einen karies- 19
protektiven Effekt. Als Nebenwirkungen werden reversible Zahn- und
Schleimhautverfärbungen beobachtet.
616 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Zinkhaltige Zinkhaltige Präparate eignen sich zur Behandlung von Halitosis.
Präparate Die positive Wirkung des Zinks beruht dabei auf der Eigenschaft, dass es
mit flüchtigen Schwefelverbindungen (VSC) nicht flüchtige Zink-
Schwefel-Verbindungen eingeht.
Glukokortikoide Glukokortikoide (z.B. Dontisolon: Prednisolon) besitzen antiphlo-
gistische, antiallergische, antiproliferative und analgetische Wirkung.
Sie steigern die Glukoneogenese, wirken katabol, unterdrücken das lym-
phatische Gewebe und die Immunreaktion und verringern die Gefäß-
permeabilität. Glukokortikoide werden in Form von Cremes oder Sal-
ben mit verschiedenen Antibiotika-Zusätzen angeboten (Terracortril:
Hydrocortison + Oxytetracyclin). Durch das applizierte Glukokortikoid
werden die Schmerzsensationen des Patienten gelindert und die eigent-
liche Ursache der Entzündung verschleiert. Durch den Antibiotika-Zu-
satz kann die Ausbildung von Bakterienresistenzen und Allergien geför-
dert werden. Deshalb sollten diese Präparate nur kurzzeitig zur
Schmerzlinderung bei lokalen Taschenbehandlungen oder in der Initial-
behandlung der NUG angewendet werden.
Applikationsarten Die Instillation von Spüllösungen in eine Zahnfleischtasche mit ei-
ner Spülkanüle zeigt meist nur geringe Wirkung, da die Verweildauer
des Medikaments nicht ausreichend ist und der Taschenboden nicht in
jedem Fall erreicht wird.
Seit einiger Zeit wird zur effektiven Beseitigung der subgingivalen
Bakterien die Applikation von medikamentengetränkten Fäden (25%
Tetrazyklin), Gelatinechips (34% CHX) oder aushärtenden, resorbier-
baren Polymeren (10% Doxyzyklin) in entzündete Zahnfleischtaschen
empfohlen. Diese Applikationsformen erlauben eine kontrollierte Frei-
setzung des jeweiligen Wirkstoffs über eine längere Zeit. Daneben fin-
den noch metronidazolhaltige (25%) oder doxyzyklinhaltige (14%)
Gele oder Präparate mit Minozyklin-Mikrosphären Anwendung, bei de-
nen eine verzögerte Wirkstofffreisetzung eintritt.
Als kritisch wird bei der lokalen Anwendung von Antibiotika aller-
dings gesehen, dass es nicht hinreichend geklärt ist, ob auch die lokale
Instillation von sehr hoch konzentrierten Präparaten zu einer vermehr-
ten Resistenzentwicklung der Bakterien und zur Ausbildung von Aller-
gien beitragen kann. Lokal applizierte antimikrobielle Medikamente
sollten daher nur gezielt bei Problempatienten Anwendung finden. So
kann bei tiefen, therapieresistenten Taschen in Kombination mit Sca-
ling und Wurzelglättung die zusätzliche lokale Applikation von Antibio-
tika indiziert sein. Bei schwer zu eliminierenden, invasiven Mikroorga-
nismen (z.B. A. actinomycetemcomitans) ist die lokale Antibiotikathe-
rapie nicht ausreichend. In der unterstützenden Parodontitistherapie
kann die lokale Applikation antimikrobieller Wirkstoffe bei erneut auf-
flammenden aktiven Taschen eingesetzt werden. Um eine Schädigung
der Wurzeloberfläche durch wiederholtes Scaling zu vermeiden, kann
diese Maßnahme in Einzelfällen auch ohne gründliche Bearbeitung der
Wurzeloberfläche erfolgen.
19.5 Medikamente in der Parodontologie Kapitel 19 617
19.5.2 Systemisch angewendete Medikamente
Neben den noch in der Erprobung befindlichen nichtsteroidalen An-
tiphlogistika (z.B. Fluorbiprofen; Hemmung der Prostaglandinsyn-
these) werden vor allem Antibiotika zur systemischen Therapie von Pa-
rodontopathien mit schweren Verlaufsformen eingesetzt. Liegen lokale
Probleme vor, ist der Einsatz lokaler Antibiotikamaßnahmen in Erwä-
gung zu ziehen. Zum Einsatz von Antibiotika in der Parodontologie
liegt eine aktuelle Stellungnahme („Adjuvante Antibiotika in der Paro-
dontitistherapie“) der DGZMK vor.
Um bei einer parodontalen Infektion Antibiotika erfolgreich einzu-
setzen, muss die systemische Antibiotikagabe im Allgemeinen mit
einer instrumentellen Reinigung kombiniert werden.
Die instrumentelle Therapie kann in Form von subgingivalem Scaling
oder auch in Form einer Lappenoperation erfolgen. Die alleinige An-
wendung von Antibiotika zeigt meist nur eine geringe Wirkung, da die
Antibiotika nur eingeschränkt in die Biofilm-Struktur der Plaque ein-
dringen können und somit die Bakterien auf der Wurzeloberfläche
nicht erreicht werden. Bei hohen Bakterienkonzentrationen in der paro-
dontalen Tasche werden die Antibiotika zudem schnell aufgebraucht.
Dadurch können sich schneller Resistenzen ausbilden. Um eine mög-
lichst effiziente Wirkung zu erreichen, sollen die Antibiotika also am
besten nach Desintegration des Biofilms, d.h. direkt nach Abschluss des
supra- und subgingivalen Debridement verabreicht werden.
Falls die instrumentelle Reinigung in mehreren Behandlungssitzun-
gen erfolgt, so sollte die Einnahme des Antibiotikums mit der ersten Sit-
zung beginnen. Die nachfolgenden Sitzungen sollten zügig angeschlos-
sen werden, sodass eine zeitliche Nähe zur Antibiotikatherapie besteht.
Die systemische Antibiotikatherapie sollte durch eine zeitgleich durch-
geführte supragingivale antimikrobielle Therapie (z.B. CHX-Spülungen)
unterstützt werden.
Die Antibiotika können zur Unterstützung der mechanischen Lo- Indikationen
kaltherapie indiziert sein bei:
D aggressiven Parodontitiden
D therapieresistenten chronischen Parodontitiden (mit evtl. progressi-
ven Attachmentverlusten)
D generalisierter, schwerer Parodontitis
D mittelschweren bis schweren Parodontitiden bei systemischen Er-
krankungen (Dysfunktion neutrophiler Granulozyten, Diabetes
mellitus, HIV-Infektion mit CD4 < 200 mm3)
D Parodontalabszess mit Ausbreitungstendenz und reduziertem Allge- 19
meinzustand
D NUG bzw. NUP
618 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Der Einsatz der Antibiotika erfolgt dabei immer erst nach Durchführung
von Scaling und root planning und kompletter Entfernung des supra-
und subgingivalen Biofilms. Er sollte über einen Zeitraum von mindes-
tens 7 Tagen erfolgen.
Die Gabe von Antibiotika dient ferner als Abschirmung im Rahmen
operativer Eingriffe bei infektionsgefährdeten Patienten (z.B. Endokar-
ditis) und Patienten mit reduzierter Abwehrlage. Manche Autoren emp-
fehlen sie auch als perioperative Maßnahme bei der gesteuerten Gewe-
beregeneration. Ebenfalls wird von verschiedenen Autoren empfohlen,
eine eventuelle Antibiotikatherapie im Rahmen einer Parodontalbe-
handlung bei Rauchern gegenüber der üblicherweise angegebenen Ein-
nahmedauer zu verlängern.
Vorbereitung Um eine optimale Wirkung zu erzielen und die Ausbildung von Bakte-
rienresistenzen zu vermeiden, sollte vor der Verabreichung eine mikrobio-
logische Bestimmung der subgingivalen Plaque vorgenommen werden.
Dazu bieten sich DNA-Sondentests an. Der Nachweis einer Antibiotikaresis-
tenz respektive die Anfertigung eines Antibiogramms ist erst nach einer vo-
rausgegangenen klinisch nicht erfolgreichen Antibiotikatherapie sinnvoll.
Bei Notfallmaßnahmen, wie der Behandlung von Parodontalabszes-
sen oder NUG/NUP kann die Antibiose auch ohne vorherige Keimbe-
stimmung erfolgen.
Bei Vorliegen einer aggressiven Parodontitis und bei schweren
chronischen Parodontitiden mit systemischen Erkrankungen sollte die
mikrobiologische Diagnostik vor Beginn der Behandlung durchgeführt
werden (Abb. 19.25). Bei therapieresistenten chronischen Parodontiti-
den erfolgt die mikrobiologische Diagnostik, wenn progrediente At-
tachmentverluste während der unterstützenden Parodontitistherapie
festgestellt werden (Abb. 19.24). Eine mikrobiologische Analyse der
subgingivalen Mikroflora wird auch relevant, wenn persistierende Blu-
tungen oder eitriges Exsudat auf Sondierung belegen, dass eine auf die
Entfernung der subgingivalen Plaque abgestellte, rein mechanische Pa-
rodontalbehandlung keinen ausreichenden Erfolg zeigt.
Das Vorliegen anderer, systemischer Erkrankungen sollte immer
überprüft werden, wenn
D nach dem Einsatz systemischer Antibiotika kein Therapieerfolg
eintritt oder
D die parodontalen Defekte nicht mit dem Vorliegen einer spezifi-
schen Infektion in Zusammenhang gebracht werden können.
Die Antibiotika sollten die für die Progression der Parodontopathien
verantwortlichen Keime (wie Aggregatibacter actinomycetemcomitans,
Porphyromonas gingivalis, Prevotella intermedia, Tannerella forsythia)
eliminieren. Meist werden Tetrazykline, Metronidazol oder die Kombi-
nation von Metronidazol mit Breitspektrumpenicillinen verwendet
(Tab. 19.6 und 19.7).
19.5 Medikamente in der Parodontologie Kapitel 19 619
chronische Parodontitis
Initialtherapie
ggf. chirurgisch-
korrektive Therapie
unterstützende
Parodontitistherapie
therapieresistente schlecht
Parodontitis? ja
Mundhygiene?
progressiver
Attachmentverlust? gut
nein lokale
ja
lokales Problem? Antibiotika-
therapie
nein
mikrobiologische
Diagnostik
andere nein
spezifische Infektion?
Erkrankung?
ja
nein
instrumentelle
ja Behandlung und
Erfolg? systemische
Antibiotikatherapie
Abb. 19.24: Entscheidungsbaum für eine mögliche Therapie einer chronischen Parodontitis unter Einsatz
systemischer oder lokaler Antibiotikatherapie. Unter instrumenteller Therapie können je nach vorliegen-
den Defekten subgingivales Scaling oder auch weitergehende chirurgische Maßnahmen verstanden wer-
den. Auch die lokale Antibiotikatherapie schließt meist eine subgingivale Reinigung mit ein.
Tetrazykline sind Breitspektrumantibiotika, die gegen grampositive Tetrazykline
und gramnegative Bakterien durch Hemmung der Proteinsynthese bak-
teriostatisch wirksam sind. Sie wirken auch gegen Aggregatibacter acti-
nomycetemcomitans.
Doxycyclin und Minozyklin sind Tetrazyklinderivate, die dem Te- 19
trazyklin-HCl in der Wirkung auf gramnegative fakultative Anaerobier
überlegen sind. Tetrazyklin-HCl und Doxycyclin weisen nach systemi-
scher Gabe in der Sulkusflüssigkeit eine zwei- bis viermal höhere Kon-
620 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
aggressive Parodontitis
Initialtherapie
1. Phase
mikrobiologische
Diagnostik
nein
spezifische Infektion?
ja
instrumentelle
Behandlung und instrumentelle
systemische Behandlung
Antibiotikatherapie
nein schlecht
Erfolg? Mundhygiene?
ja gut
nein andere
lokales Problem? Erkrankung?
ja
unterstützende lokale
Parodontitistherapie Antibiotikatherapie
Abb. 19.25: Entscheidungsbaum für eine mögliche Therapie einer aggressiven Parodontitis unter Einsatz
systemischer oder lokaler Antibiotikatherapie. Unter instrumenteller Therapie können je nach vorliegen-
den Defekten subgingivales Scaling oder auch weitergehende chirurgische Maßnahmen verstanden wer-
den. Auch die lokale Antibiotikatherapie schließt meist eine subgingivale Reinigung mit ein.
zentration als im Blut auf und eignen sich daher für die Antibiose sub-
gingivaler Bakterien. Minozyklin erreicht sogar eine fünffach höhere
Konzentration in der Sulkusflüssigkeit als im Blut. Doxycyclin und Mi-
nozyklin weisen also gegenüber reinem Tetrazyklin-HCl überlegene Ei-
genschaften auf und werden daher heute bei systemischer Anwendung
in der Parodontaltherapie bevorzugt.
Tetrazykline verfügen über eine gute Substantivität, haften gut an der
Wurzeloberfläche und behindern dadurch die Anheftung von Mikroor-
ganismen an der Wurzeloberfläche. Durch Tetrazykline wird die Kollage-
naseaktivität und die Chemotaxis neutrophiler Granulozyten gehemmt.
Dadurch wirken Tetrazykline auch lokal entzündungshemmend.
Als Nebenwirkungen der Tetrazykline können unter anderem foto-
toxische Reaktionen von sonnenbestrahlten Hautarealen auftreten.
19.5 Medikamente in der Parodontologie Kapitel 19 621
Tab. 19.6: Systemische Antibiotika-Dosierungen (per os) bei Erwachsenen
(70 kg) im Rahmen der adjuvanten Parodontitistherapie bei speziellen Ver-
laufsformen parodontaler Erkrankungen und Vorliegen der genannten spezi-
fischen Keime. Diese Dosierungen entsprechen weitgehend den Empfehlun-
gen der DGZMK.
Wirksamkeit gegen Wirkstoff Tägliche Dosierung
A. actinomycetemcomitans, P. gingivalis, Doxycyclin 1. Tag: 1 x 200 mg
P. intermedia, T. forsythia, T. denticola 18 Tage: 1 x 100 mg
Minozyklin* 21 Tage: 1 x 200 mg
nicht wirksam gegen: Capnocytopha- Tetrazyklin 21 Tage: 4 x 250 mg
gen, Eikenella corrodens
A. actinomycetemcomitans Amoxicillin 14 Tage: 3 x 500 mg
P. gingivalis, P. intermedia, T. forsythia Metronidazol 7 Tage: 3 x 400 mg
Ornidazol 10 Tage: 2 x 500 mg
P. gingivalis, P. intermedia, T. forsythia, Amoxicillin + 7 Tage: 3 x 500 mg
T. denticola und A. actinomycetemcomi- Metronidazol + 3 x 400 mg
tans
Alternativanwendungen:**
A. actinomycetemcomitans Ciprofloxacin*** 10 Tage: 2 x 500 mg
P. gingivalis, P. intermedia, T. forsythia, Ciprofloxacin + 7 Tage: 2 x 500 mg
T. denticola und A. actinomycetemcomi- Metronidazol + 2 x 400 mg
tans
P. gingivalis, P. intermedia, T. forsythia, Clindamycin**** 7 Tage: 4 x 300 mg
T. denticola
* Die Gabe von Minozyklin ist nicht Bestandteil der Empfehlung der DGZMK.
** Wegen Nebenwirkungen und Gefahr der Resistenzentwicklung nicht routinemäßig
anzuwenden.
*** Als Ersatz für Amoxicillin bei Penicillinunverträglichkeit oder Nachweis einer Super-
infektion, da gut wirksam gegen weitere fakultativ anaerobe gramnegative Problem-
keime (z.B. Pseudomonas aeroginosa). Die Dosierung von Ciprofloxacin weicht von der
Empfehlung der DGZMK ab, in der 2 x 250 mg pro Tag angeraten werden.
**** Nur als Ersatz bei Unverträglichkeit der übrigen Antibiotika.
Tetrazykline binden an Kalziumionen. Daher kann es bei Verabrei-
chung während der präeruptiven Zahnmineralisation zu Zahnverfär-
bungen kommen. Ihre Verordnung ist daher während der Schwanger-
schaft, der Stillzeit und bei Kindern bis zum achten Lebensjahr kontra-
indiziert. Weitere Kontraindikationen sind Überempfindlichkeit gegen
Tetrazykline sowie Leber- und Niereninsuffizienzen.
Bekannte Präparate sind Hostacyclin (Tetrazyklin-HCl), Klinomycin
(Minozyklin) und Vibramycin (Doxycyclin).
Metronidazol und Ornidazol sind Nitroimidazol-Chemotherapeu- Nitroimidazol-
tika, die vor allem gegen gramnegative Anaerobier und Spirochäten Chemo- 19
durch Hemmung der Nukleinsäuresynthese wirksam sind. Sie sind ge- therapeutika
gen Aggregatibacter actinomycetemcomitans nicht effektiv.
622 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Tab. 19.7: Wirkungsweise von Antibiotika bzw. Glukokortikosteroiden zum
adjuvanten Einsatz in der Parodontaltherapie
Wirkstoff Wirkmechanismus bzw. Wirkung auf Bakterien
pharmakologische Wirkung
Tetrazyklin, • Hemmung der bakteriel- • Bakteriostatisch
Doxycyclin, len Proteinsynthese • „Breitspektrumantibiotikum“
Minozyklin • Reduzierung der Kollage-
naseaktivität
Penicillin, Hemmung der Zellwandsyn- • Bakterizid
Amoxicillin these • „Breitspektrumantibioti-
kum“, nicht wirksam gegen
β-Laktamase bildende Keime
Metronidazol, Hemmung der Nukleinsäu- • Bakterizid
Ornidazol resynthese • Gegen obligat anaerobe Bak-
terien
Ciprofloxacin • Gyrasehemmung • Bakterizid
• Beeinflussung der Nukle- • Gegen gramnegative aerobe
insäuresynthese und fakultativ anaerobe Bak-
terien
Clindamycin Hemmung der bakteriellen • Bakteriostatisch/bakterizid
Proteinsynthese • Gegen gramnegative obligat
anaerobe Bakterien
• Gegen grampositive Keime,
Streptokokken, Staphylokok-
ken
Glukokortiko- • Inhibition der Vasodilata- Keine eindeutig nachgewiesene
steroide tion, Ödembildung direkte Wirkung auf Bakterien
• Hemmung der Synthese
von Prostaglandin-2, TNF-
α und IL-1
• Katabole Wirkung (u.a.
Hemmung der Bindege-
websproliferation, Kolla-
genbildung)
Mögliche Nebenwirkungen sind Alkoholunverträglichkeiten, aller-
gische Reaktionen und zentralnervöse und gastrointestinale Störungen.
Nitroimidazole haben im Tierversuch ein mutagenes und karzinogenes
Risiko gezeigt. Gegenanzeigen sind u.a. Leberschäden, Störungen der
Hämatopoese, Erkrankungen des zentralen bzw. peripheren Nervensys-
tems, zeitgleiche Antikoagulanzien und Lithiumtherapie, Schwanger-
schaft und Stillzeit. Ihre Anwendung sollte aufgrund der erwähnten
Probleme sehr eingeschränkt erfolgen.
Ein bekanntes Metronidazol-Präparat ist Flagyl, ein bekanntes Orni-
dazol-Präparat ist Tiberal.
19.6 Zusammenwirken verschiedener Teilgebiete in der Parodontaltherapie Kapitel 19 623
Amoxicillin ist ein Breitspektrumpenicillin, das gegen grampositive Penicillin
und gramnegative Bakterien wirksam ist. Es eignet sich zur antibiotischen
Abschirmung bei Patienten mit Herderkrankungen (Endokarditisprophy-
laxe) oder mit reduzierter Abwehrlage (immunsupprimierte Patienten).
Zur Beeinflussung parodontopathogener Keime wird Amoxicillin in
Kombination mit Metronidazol empfohlen. Diese Kombination ist auch
gegen Aggregatibacter actinomycetemcomitans wirksam. Man spricht
daher von einer synergistischen Wirkung der beiden Präparate. In der
Verabreichung mit 3 × 375 mg Amoxicillin und 3 × 250 mg Metronida-
zol über 8 Tage wird sie als van-Winkelhoff-Cocktail bezeichnet. Amo-
xicillin ist nicht gegen β-Laktamase-bildende Bakterien (z.B. P. interme-
dia, Eikenella corrodens) wirksam. Allerdings reagieren β-Laktamase-po-
sitive Keime gegenüber Clavulansäure empfindlich. Neuerdings wird in
der Kombinationstherapie mit Metronidazol daher verstärkt Amoxicil-
lin mit Clavulansäure (Augmentan) anstelle von alleinigem Amoxicillin
(Clamoxyl) verabreicht.
Clindamycin ist ein Lincomycinderivat das gute Wirkung gegen paro- Lincosamide
dontitisassoziierte Keime und eine gute Penetration in Knochen zeigt. Un-
ter Clindamycintherapie kommt es aber zu einem Überwachsen von Clo-
stridium difficile im Darm und der daraus resultierenden lebensbedrohli-
chen pseudomembranösen Colitis. Daher ist Clindamycin nur als Präparat
der zweiten Wahl anzusehen und sollte auf Fälle beschränkt sein, die nicht
mit Tetrazyklin oder Metronidazol erfolgreich behandelt werden können.
19.6 Zusammenwirken verschiedener Teilgebiete in der
Parodontaltherapie
! In der Initialtherapie und vor allem in der korrektiven Phase wer-
den Maßnahmen durchführt, bei denen ein Zusammenwirken
verschiedener Teilgebiete der Zahnheilkunde erforderlich ist.
Das Zusammenwirken bei der Durchführung endgültiger restaurativer,
funktionstherapeutischer und kieferorthopädischer Maßnahmen wird
im Folgenden kurz erklärt. Details sind speziellen Lehrbüchern zu ent-
nehmen. Hinsichtlich der funktionellen Behandlung myoarthropathi-
scher Beschwerden wird ebenfalls auf spezielle Fachbücher verwiesen.
19.6.1 Parodontologie und Kieferorthopädie
Kleine kieferorthopädische Maßnahmen können in der korrektiven
Phase der systematischen Parodontaltherapie durchgeführt werden, um 19
ästhetische, funktionelle oder präprothetische Verbesserungen zu errei-
chen. Dabei können Zahnfehlstellungen, die die Mundhygiene er-
schweren, korrigiert werden.
624 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Die kieferorthopädische Behandlung setzt eine erfolgreich abge-
schlossene Initialtherapie und (wenn erforderlich) chirurgische
Therapie voraus.
Es ist zu bedenken, dass Zähne durch eine kieferorthopädische Behand-
lung vorübergehend gelockert werden können. Daher ist eine kieferor-
thopädische Therapie bei Zähnen, die aufgrund parodontaler Erkran-
kung eine stark erhöhte Beweglichkeit aufweisen, nicht indiziert. Auch
kleinere kieferorthopädische Zahnbewegungen müssen exakt geplant
werden, damit keine unerwünschten Probleme (z.B. Okklusionsvorkon-
takte, Artikulationshindernisse) auftreten.
Aus parodontologischer Sicht ist besonders die Aufrichtung von in
bestehende Lücken gekippten Molaren interessant. Die mesial häufig
vorliegende erhöhte Sondierungstiefe dieser Molaren kann durch eine
kombiniert parodontal-kieferorthopädische Therapie mit Aufrichtung
des Zahnes bei guter Gewebereaktion deutlich reduziert werden. Um ei-
nen dauerhaften Erfolg der kombinierten Therapien zu erzielen, müssen
die neuen Zahnstellungen meist durch Retentionsmaßnahmen (Retai-
ner, Schienung) gesichert werden.
19.6.2 Parodontologie und Zahnerhaltung
Die Füllungstherapie kariöser Zähne, Erneuerung insuffizienter Füllun-
gen und notwendige Wurzelkanalbehandlungen erfolgen in der Initial-
phase. Kariöse Läsionen stellen Nischen für die Plaqueakkumulation dar,
die in der Hygienephase beseitigt werden müssen. Zähne, deren Prog-
nose unsicher ist, sollten mit provisorischen, randdichten und gut kon-
turierten Füllungen bzw. provisorischen Wurzelkanalfüllungen versorgt
werden. Die endgültige Versorgung kann dann in der korrektiven Phase
erfolgen. Zähne mit guter Prognose werden in der Initialphase mit defi-
nitiven, plastischen Füllungen versehen. Eine Therapie mit Einlagefül-
lungen und Teilkronen wird in der korrektiven Phase nach erfolgreich
abgeschlossener parodontologischer Behandlung durchgeführt.
Aus parodontalprophylaktischen Gründen ist ein supra- oder äqui-
gingival gelegener Füllungsrand anzustreben. Etwa 0,5 mm subgin-
gival liegende, intrakrevikuläre Restaurationsränder sind akzeptabel.
Biologische Breite Bei der Lage des Restaurationsrandes muss die Einhaltung der biologi-
schen Breite beachtet werden. Die biologische Breite bezeichnet den Ab-
stand zwischen Restaurationsrand und Limbus alveolaris, bei dem die
Integrität des supraalveolären Faserapparates und Saumepithels nicht
beeinträchtigt ist. Zwischen Restaurationsrand und Limbus alveolaris
sollte daher ein Mindestabstand von 2–3 mm vorliegen. Die Einhaltung
19.6 Zusammenwirken verschiedener Teilgebiete in der Parodontaltherapie Kapitel 19 625
dieser biologischen Breite von 2–3 mm verhindert die Auflockerung des
Zahnhalteapparates und die Migration von Bakterien ins Parodont.
Ist dieser Abstand nicht einzuhalten, muss im Rahmen einer chirur-
gischen Parodontaltherapie mit Lappenbildung eine Reduzierung des
Limbus alveolaris durch eine Osteoplastik im Sinne einer sogenannten
Kronenverlängerung vorgenommen werden. Der Limbus alveolaris wird
dabei unter Kühlung mit steriler Kochsalzlösung zunächst mit Fräsen so
reduziert, dass noch eine dünne Knochenlamelle auf der Wurzeloberflä-
che zurückbleibt. Unter Schonung der Wurzeloberfläche kann diese La-
melle dann mit Handinstrumenten entfernt werden. Ist eine indirekte
Restauration geplant, so muss nach der Nahtentfernung mit den weite-
ren Arbeitschritten (Präparation, Abformung) ca. 8–12 Wochen gewar-
tet werden. Bis zum Abschluss der Heilung der Hart- und Weichgewebe
werden die Zähne am besten mit ideal passenden laborgefertigten Pro-
visorien versorgt.
19.6.3 Parodontologie und Prothetik
Endgültige prothetische Maßnahmen werden in der korrektiven Phase
vorgenommen. Die Einbeziehung von Zähnen mit einer parodontalen
Erkrankung in eine prothetische Rekonstruktion erfolgt je nach Prog-
nose des Einzelzahnes (Tab. 19.8). Es hat sich gezeigt, dass ein reduzier-
Tab. 19.8: Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Prothetik und Werk-
stoffkunde (2010) zur Einzelzahnbewertung vor Anfertigung prothetischer
Rekonstruktionen im parodontal geschädigten, sanierten Gebiss.
Prognose Befunde Therapieoptionen
Sicher Zahn mit gutem dentalen und parodon- Erhalt und Einbezie-
talen Zustand, sodass ein dauerhafter Er- hung als protheti-
halt anzunehmen ist (z.B. Knochenver- scher Pfeiler sicher
lust < 50%, Furkationsgrad ≤ Grad I). möglich.
Zweifelhaft Zahn mit fraglichem dentalen und/oder Präprothetische pa-
parodontalen Zustand, aber in strate- rodontale Behand-
gisch wichtiger Position. Im Rahmen der lung notwendig. Da-
parodontalen Vorbehandlung sollte ver- nach Entscheidung,
sucht werden, den Zahn in einen siche- ob sicherer oder
ren Zustand zu überführen (z.B. Knochen- hoffnungsloser Zu-
verlust > 50%, Furkationsgrad: Grad II/III). stand erreicht ist.
Hoffnungslos Zahn mit schlechtem dentalen und/oder Keine Einbeziehung
parodontalen Zustand. Erhalt medizi- als prothetischer
nisch nicht möglich bzw. nur mit über- Pfeiler. Entfernung
mäßigem Aufwand zu realisieren, sodass oder ggf. Erhaltungs- 19
es nicht sinnvoll ist, diesen zu erhalten therapie.
(z.B. Knochenverlust > 75%, Furkations-
grad: Grad III).
626 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
tes, aber parodontal saniertes Gebiss langfristig erfolgreich mit festsit-
zenden prothetischen Rekonstruktionen versorgt werden kann. Dies gilt
auch für Zähne mit (moderat) erhöhter Mobilität. Für alle Formen des
herausnehmbaren und festsitzenden Zahnersatzes zur Rekonstruktion
bei Patienten im parodontal reduzierten Gebiss gilt, dass die Konstrukti-
onselemente sich nicht von denen für Patienten ohne Parodontaler-
krankungen unterscheiden.
Sollten Zahnextraktionen schon in der Initialphase notwendig sein,
können herausnehmbare Interims- oder Immediatversorgungen ein-
gegliedert werden. Bei diesen Interimsversorgungen, so wie bei dem
endgültigen herausnehmbaren Zahnersatz, ist auf eine Schonung des
marginalen Parodonts zu achten.
Restaurationsränder von Kronen und Brückenankern sollten, wie
bei konservierenden Restaurationen beschrieben, supra- oder äqui-
gingival liegen. Die ausreichende biologische Breite ist einzuhalten.
Eine zu kurze klinische Krone des Zahnes bietet der Restauration zu we-
nig Retentionsfläche. In einem solchen Fall ist häufig eine Kronenver-
längerung durch eine Osteoplastik im Rahmen einer Lappenoperation
mit apikalem Verschiebelappen notwendig. Dieser Eingriff dient auch
der Einhaltung der biologischen Breite. Die Konturierung der Kronen-
außenflächen und die Gestaltung des Approximalkontaktes müssen
physiologischen Formen entsprechen und eine effektive Reinigung
(Zahnseide, Interdentalbürste) erlauben.
Brückenzwischenglieder sollten dem Kieferkamm nur kleinflächig
aufliegen und an der Unterseite konvex gestaltet sein, sodass eine Reini-
gung der Unterseite mit Super Floss möglich ist. Der Übergang vom Zwi-
schenglied zum Brückenanker muss so geöffnet sein, dass dieser Raum
mit einer Interdentalbürste gereinigt werden kann. Es hat sich dabei als
günstig erwiesen, Brückenzwischenglieder in Tangentialform und nicht
als Schwebeglieder herzustellen, sodass ein künstlicher Approximal-
raum entsteht. Dadurch kann bei der Reinigung der marginalen Gingiva
im entstandenen Approximalraum die Interdentalbürste sicher und mit
genügendem Druck auf den Brückenanker geführt werden.
Bei der Präparation von Kronen sollte die Gingiva möglichst nicht
traumatisiert werden. Deshalb sollten am besten schon während der
Präparation Maßnahmen (Retraktionsfäden, spezielle Gingivaabhalte-
instrumente) ergriffen werden, um die Gingiva von der Präparations-
grenze zu verdrängen.
Für weitere spezielle unter parodontologischen Aspekten bedeut-
same Gesichtspunkte in der Prothetik und Implantologie wird auf ent-
sprechende Lehrbücher verwiesen.
19.7 Behandlung verschiedener Krankheitsformen Kapitel 19 627
19.7 Behandlung verschiedener Krankheitsformen
Bei therapieresistenten Parodontitiden und Patienten ohne Compliance
(Mitarbeit) erfolgt eine palliative Behandlung. Bei diesen Patienten werden
regelmäßig professionelle Zahnreinigungen und Kontrollen des Parodon-
talzustands der Zähne vorgenommen. Neben den in obigen Kapiteln dar-
gelegten allgemeinen Grundsätzen der Parodontaltherapie, soll nachfol-
gend noch auf spezielle Behandlungsmaßnahmen hingewiesen werden.
19.7.1 Gingivitis
Im Vordergrund der Gingivitistherapie steht die effektive Beseitigung
der bakteriellen Beläge durch den Zahnarzt und durch den Patienten.
Als lokal unterstützende Therapeutika können zwei- bis dreimal tägli-
che Mundspüllösungen (z.B. mit Chlorhexidin-Präparaten) im An-
schluss an das Zähneputzen vorgenommen werden. Der Patient wird
zur Kontrolle wöchentlich einbestellt. Die Reevaluation erfolgt vier Wo-
chen nach der letzten Sitzung.
19.7.2 NUG/NUP
Die bakteriellen Beläge werden vorsichtig mechanisch entfernt. Die Rei-
nigung ist für die Patienten meist sehr schmerzhaft, sodass eine vollstän-
dige Beseitigung der Beläge nicht in der ersten Sitzung möglich ist. Daher
wird der Patient in kurzen Abständen (zwei bis vier Tage) zur Belagsent-
fernung und Kontrolle (Differentialdiagnose: Leukämie!) einbestellt. Die
Zahnreinigung wird durch Spülungen mit Wasserstoffperoxid (3%) un-
terstützt. Zur Eliminierung der anaeroben Keime kann dem Patienten zur
häuslichen Anwendung eine niedrig konzentrierte Wasserstoffperoxid-
Spüllösung (0,3%) verschrieben werden. Bei schweren Verlaufsformen
kann die systemische Gabe von Metronidazol (dreimal 400 mg pro Tag
für sieben Tage) verabreicht werden. Erst nach Abheilung der Ulzeratio-
nen sind erforderliche chirurgische Maßnahmen durchzuführen.
19.7.3 Chronische Parodontitis
Die Patienten werden nach Durchführung der Initialtherapie und evtl.
notwendigen Maßnahmen in der korrektiven Therapie in die unterstüt-
zende Parodontitistherapie (Recall) übernommen und regelmäßig kon-
trolliert. Eine Verabreichung von Medikamenten ist in der Regel nicht 19
erforderlich (s. Kap. 19.5.2). Nur bei sehr schweren oder therapieresis-
tenten Verlaufsformen ist der perioperative Einsatz von Antibiotika bei
Nachweis einer spezifischen Infektion notwendig.
628 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
19.7.4 Lokalisierte und generalisierte aggressive Parodontitis
Bei rechtzeitiger Therapie reagieren die Parodontalgewebe bei Patienten
mit generalisierter aggressiver Parodontitis mit guter Heilung auf eine
systematische Parodontaltherapie. In der Initialphase werden die Pa-
tienten engmaschig ein- bis zweimal wöchentlich kontrolliert.
Bei Patienten mit einer lokalisierten aggressiven Parodontitis ist
manchmal die Extraktion der stark befallenen Sechsjahrmolaren unum-
gänglich. Durch eine Transplantation eines Weisheitszahnes ist es mög-
lich, die Lücke zu schließen. Sollte das Wurzelwachstum des Transplan-
tats noch nicht vollständig abgeschlossen sein, kann mit einer Revasku-
larisierung der Pulpa gerechnet werden. Da sich die Erkrankung vor
allem auf die mittleren Inzisivi und Sechsjahrmolaren beschränkt, sind
chirurgische Verfahren nach erfolgreich durchgeführter Initialbehand-
lung meist nur an diesen Zähnen notwendig.
Bei Nachweis einer spezifischen Infektion werden bei aggressiven
Parodontitiden begleitend zu chirurgischen Maßnahmen perioperativ
Antibiotika verordnet (s. Kap. 19.5).
19.7.5 Parodontitis bei Vorliegen eines Diabetes mellitus
Die Parodontitis insulinabhängiger Diabetiker wird in der zweiten Phase
der Initialtherapie mit routinemäßigen, lokalen Maßnahmen (Küret-
tage, Wurzelglättung) behandelt. Das entzündete Granulationsgewebe
muss sorgfältig entfernt werden. Chirurgische Maßnahmen können
mit Verabreichung von Tetrazyklinen unterstützt werden. Dabei hat
sich vor allem Minozyklin aufgrund des hohen Spiegels in der Sulkus-
flüssigkeit als wirksam erwiesen. Tetrazykline hemmen die bei Diabeti-
kern erhöhte parodontaldestruktive Kollagenaseaktivität.
19.7.6 HIV-assoziierte Parodontopathien
Während der Initialphase sollten zur Unterstützung der häuslichen
Mundhygienemaßnahmen Chlorhexidin-Präparate (0,2%) verordnet
werden. Da die Patienten oft eine NUG-ähnliche Symptomatik aufwei-
sen, ähneln die Behandlungsmaßnahmen den in Kapitel 9.7.2 beschrie-
benen Therapien.
Die mechanische Reinigung sollte bei Patienten in fortgeschrittenen
Erkrankungsstadien der HIV-Infektion durch Antibiotikagabe (Metro-
nidazol) unterstützt werden. Dabei muss beachtet werden, dass durch
die Antibiotikaverordnung andere opportunistische Mikroorganismen
oder Pilze überwuchern können, was den gleichzeitigen Einsatz von An-
timykotika-Lösungen (z.B. Nystatin) erforderlich macht. Bei chirurgi-
schen Eingriffen sollte eine antibiotische Abschirmung mit Breitspek-
19.7 Behandlung verschiedener Krankheitsformen Kapitel 19 629
trumpenicillin zur Vermeidung einer Bakteriämie vorgenommen wer-
den.
19.7.7 Periimplantäre Erkrankungen
Begleitend zu den unten aufgeführten Maßnahmen wird kontrolliert,
ob etwaige Fehlbelastungen des Implantats vorliegen. Diese werden ge-
gebenenfalls durch Einschleifmaßnahmen therapiert.
Bei Vorliegen einer periimplantären Mukositis wird eine lokale Periimplantäre
Therapie mit antimikrobiellen Substanzen (0,2% Chlorhexidin-Spül- Mukositis
lösung oder -Gel) durchgeführt. Zusätzlich sollte nach Abnahme der Su-
prakonstruktion eine schonende Reinigung des Implantatkopfes, z.B.
mit Pulver-Wasserstrahl-Geräten mit Glycinpulver erfolgen. Zahnstein-
ablagerungen, periimplantäres Taschenepithel und Granulationsge-
webe können mit speziellen Küretten (z.B. aus Karbonfasern) entfernt
werden, mit denen die Implantatoberfläche nicht beschädigt wird.
Liegt eine Periimplantitis mit erhöhten Sondierungstiefen vor, Periimplantitis
kann zusätzlich zu den Maßnahmen bei der Mukositis eine systemische
oder lokale antibiotische Therapie nach Durchführung eines Antibio-
gramms erforderlich werden. Ist die Infektion nach dieser Therapie
deutlich reduziert (Rückgang der Schwellung, kein eitriges Exsudat),
sollte nach chirurgischem Zugang eine mechanische Reinigung freilie-
gender Implantatoberflächen mit Pellets und Kochsalzlösung vorge-
nommen und der periimplantäre Knochen angefrischt werden. Eine er-
folgreiche Detoxikationen der Implantatoberfläche ist bei Anwendung
von Lasern (z.B. Dioden-, CO2- oder Er:YAG-Laser) beschrieben. Dabei
wurden mit diesen Lasern die Implantatoberflächen nicht beschädigt.
Suprakrestal liegende Implantatoberflächen können auch durch Be-
schleifen und Glätten mit rotierenden Steinchen bearbeitet werden.
Gummipolierer sind zu vermeiden, da der Abrieb in das umliegende Ge-
webe gelangen könnte. In speziellen Fällen kann versucht werden, ver-
loren gegangenen Knochen mit regenerativen Maßnahmen (GBR =
Guided Bone Regeneration) unter Zuhilfenahme von Membranen und
autogenem Knochen oder Knochenersatzmaterialien wieder aufzu-
bauen. Allerdings wird die Möglichkeit einer Reosseointegration bei An-
wendung dieser Verfahren von vielen Autoren infrage gestellt. Wenn
zusätzlich zur marginalen Entzündung eine bewegliche periimplantäre
Mukosa vorliegt, sollte eine Zone keratinisierter, fest angewachsener
Schleimhaut durch ein freies Schleimhauttransplantat hergestellt wer-
den.
Eine Explantation ist erforderlich, wenn das Implantat mobil ist Explantation
oder die Infektion nicht kontrolliert werden kann (Sondierungstiefe 19
> 8 mm, Knochenverlust > 2/3 der Implantatlänge, eitriges Gingivaexsu-
dat).
630 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
19.8 Foetor ex ore
Bei Vorliegen oral bedingten Mundgeruchs (Foetor ex ore) sollte bei
dem Patienten eine Reduktion der intraoralen Bakterien durch mecha-
nische und ggf. spezielle antibakterielle Therapien im Vordergrund der
Behandlung stehen. Zur Reduktion der intraoralen Bakterienlast ist die-
sen Patienten neben dem Gebrauch von Zahnbürste und einer Inter-
dentalraumhygiene die Verwendung von Zungenreinigern zu empfeh-
len. Vor allem antibakterielle Spüllösungen, aber auch Zahnpasten mit
Chlorhexidin, CPC, Triclosan und insbesondere Zink als Inhaltsstoff
zeigen gute Wirkungen. Auch ist die Verwendung von antibakteriellen
Gelen (z.B. CHX-Gele) zur Applikation auf die Zunge effektiv.
19.9 Unterstützende Parodontitistherapie
! Die unterstützende Parodontitistherapie (früher: Erhaltungsthera-
pie, unterstützende Nachsorge, Recall) ist essenzieller Bestandteil
der Parodontaltherapie. Erst eine gewissenhaft durchgeführte unter-
stützende Parodontitistherapie (= wiederholte supra- und subgingi-
vale Plaquekontrolle) ermöglicht den dauerhaften Erfolg des in der
initialen und korrektiven Phase erzielten Behandlungsergebnisses.
In der unterstützenden Parodontitistherapie sollen die Keimzahlen un-
ter einem Schwellenwert gehalten werden, bei dem es nicht zu Entzün-
dung und Attachmentverlust kommt.
Parodontalerkrankte Patienten müssen als chronisch erkrankte Pa-
tienten angesehen werden, die einer ständigen Kontrolle und Re-
motivation bedürfen.
Studien haben gezeigt, dass durch regelmäßige Kontrollen ein weiterer
Attachmentverlust gestoppt und kariöse Läsionen vermieden werden
können. Ohne regelmäßige Kontrolle und unterstützender Parodonti-
tistherapie wird nach erfolgreicher initialer und korrektiver Therapie
eine weitere Progression des Attachmentverlusts beobachtet. Durch die
unterstützende Parodontitistherapie werden sowohl Neuinfektionen als
auch Reinfektionen verhindert. Die Anzahl an jährlichen Behandlungs-
sitzungen in der unterstützenden Parodontitistherapie sollten an das in-
dividuelle Parodontitisrisiko des Patienten angepasst sein und je nach
Schweregrad der Erkrankung, Prognose, Rezidivwahrscheinlichkeit,
Vorliegen systemischer Faktoren, Vorliegen schwierig zu reinigender
restaurativer Versorgungen etc. zwei- bis zwölfmal pro Jahr erfolgen. Für
die Mehrzahl der Patienten sind ein bis vier Sitzungen pro Jahr ausrei-
chend. Zur Risikoabschätzung haben Lang und Tonetti ein Modell ent-
wickelt, mit dem das Risikoprofil eines Patienten in der unterstützenden
19.9 Unterstützende Parodontitistherapie Kapitel 19 631
Parodontitistherapie anschaulich dargestellt werden kann (Abb. 19.26).
Obwohl das gesamte „Puzzle“ der Einflussfaktoren auf die Entstehung
bzw. das Rezidiv einer Parodontalerkrankung längst noch nicht hinrei-
chend zusammengesetzt ist, ermöglicht dieses Modell eine Zuordnung
der Patienten gemäß eines hohen, mittleren oder niedrigen Risikos. Da-
bei werden folgende Parameter erhoben und bewertet:
D Blutung nach Sondierung (BOP): Zeigen mehr als 25% der unter-
suchten Stellen ein positiven BOP, so besteht ein erhöhtes Risiko für
ein Rezidiv. Patienten mit weniger als 10% positiver BOP weisen ein
geringes Risiko für ein Rezidiv auf.
D Sondierungstiefen > 5mm: Dieser Faktor hat in erster Linie Bedeu-
tung für das Risikoprofil, wenn er mit anderen Parametern (BOP, Ex-
sudation) auftritt. Zähne mit residual erhöhten Sondierungstiefen
können auch über lange Zeit stabil bleiben. Patienten mit bis zu 4
Residualtaschen weisen ein geringes Risiko für ein Rezidiv auf, Pa-
tienten mit mehr als 8 Residualtaschen ein hohes Risiko.
D Zahnverlust (ohne Weisheitszähne): Die Anzahl verloren gegangener
Zähne gibt einen Hinweis auf frühere Erkrankungen oder Traumata.
Wenn mehr als 8 Zähne fehlen, ist hinzu die Kaufunktion beeinträch-
tigt. Patienten, bei denen bis zu 4 Zähne fehlen, weisen ein geringes Ri-
siko auf, Patienten mit mehr als 8 fehlenden Zähnen ein hohes Risiko.
D Knochenverlust/Alter-Index: Das Ausmaß und die Häufigkeit von
Verlust an parodontalem Stützgewebe im Verhältnis zum Alter des
Patienten stellen einen sehr wesentlichen Indikator für das Risiko ei-
nes Rezidivs dar. Es konnte gezeigt werden, dass die am meisten be-
troffene Stelle im Seitenzahngebiet die Historie des gesamten Gebis-
ses im Hinblick auf parodontale Destruktionen widerspiegelt. Der In-
dex wird daher wie folgt erhoben: An einem Röntgenbild wird an
dem am stärksten betroffenen Seitenzahn der Knochenabbau in Rela-
tion zur Wurzellänge bestimmt (in Prozent) und durch das Alter des
Patienten dividiert. Sollten nur Bissflügelaufnahmen vorliegen, so er-
folgt eine Schätzung: 1 mm = 10%. Ein Index-Wert unter 0,5 weist
auf ein niedriges Risiko, ein Wert über 1 auf ein hohes Risiko hin.
D Systemische und genetische Faktoren: Verschiedene Faktoren
können einen Einfluss auf die Entstehung oder den Verlauf von Pa-
rodontalerkrankungen haben. Dazu zählen u.a. der schlecht einge-
stellte Diabetes mellitus, HIV-Infektionen, systemische Erkrankun-
gen mit gingivalen oder parodontalen Manifestationen, Interleukin-
1β-Polymorphismen. Liegt keiner der Faktoren vor, so weist der
Patient ein niedriges Risiko auf, bei Vorliegen eines oder mehrerer
Faktoren besteht ein hohes Risiko (s. auch Kap. 16.3).
D Tabakkonsum (Rauchen): Nichtraucher und ehemalige Raucher
(mit seit mehr als 5 Jahren Verzicht) verfügen über ein niedriges Ri- 19
siko für ein Rezidiv auf. Gelegentliche (< 10 Zigaretten/Tag) und mo-
derate (10–19 Zigaretten/Tag) Raucher weisen ein mittleres Risiko
auf, starke Raucher (20 und mehr Zigaretten/Tag) ein hohes Risiko.
632 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
blutende Zahnflächen in % (BOP)
50
36
25
Umweltfaktoren Sondierungstiefe
(Rauchen) 5 mm
16
>12
R 20 10
R<20 9 8
R<10 6
ER 4 4
gering NR 2
mäßig
2
hoch 0,25 4
6
0,5 8
10
0,75
12
systemische/genetische
Faktoren Zahnverlust
1,0
1,25
>1,5
a Knochenabbau/Alter
blutende Zahnflächen in % (BOP)
50
36
25
Umweltfaktoren Sondierungstiefe
(Rauchen) 5 mm
16
>12
R 20 10
R<20 9 8
R<10 6
ER 4 4
gering NR 2
mäßig
2
hoch 0,25 4
6
0,5 8
10
0,75
12
systemische/genetische
Faktoren Zahnverlust
1,0
1,25
>1,5
b Knochenabbau/Alter
Abb. 19.26: a) Diagramm zur Erstellung eines Risikoprofils (nach Lang und Tonetti),
b) Beispiel eines Patienten mit mittlerem Risiko (BOP: 9%; 6 Residualtaschen mit
Sondierungstiefen > 5 mm; 4 fehlende Zähne; Knochenverlust/Alter-Index: 0,75;
Patient hat Diabetes mellitus Typ I; Nichtraucher)
19.9 Unterstützende Parodontitistherapie Kapitel 19 633
Mithilfe des Schemas kann dann das patientenbezogene Risiko bestimmt
werden. Diesem Risiko kann eine Anzahl jährlich empfohlener Termine
zur unterstützenden Parodontitistherapie (UPT) zugeordnet werden.
D Niedriges Risiko → 1 UPT/Jahr: Patient mit höchstens einem Para-
meter in einer mäßigen Risiko Kategorie
D Mittleres Risiko → 2 UPT/Jahr: Patient mit mindestens zwei Para-
metern in einer mäßigen Risiko Kategorie, aber höchstens einem Pa-
rameter in einer hohen Risiko Kategorie
D Hohes Risiko → 2–4 UPT/Jahr: Patient mit mindestens zwei Parame-
tern in einer hohen Risiko Kategorie
Neben diesen patientenbezogenen Risikofaktoren können auch zahnbe-
zogene oder lokale parodontale Risikofaktoren definiert werden, deren
Vorliegen die Häufigkeit von UPT-Maßnahmen beeinflussen kann.
Das zahnbezogene Risiko wird beeinflusst durch die Position/Stel-
lung der Zähne, das Vorliegen eines Furkationsbefalls, iatrogene Fakto-
ren wie z.B. Füllungsüberhänge, das Vorliegen eines reduzierten Paro-
donts oder einer erhöhten Zahnbeweglichkeit. Die Prognose von Zäh-
nen mit einer erhöhten Beweglichkeit oder einem reduzierten Parodont
nach erfolgreicher Therapie ist aber nicht reduziert, sodass diese Zähne
in prothetische Planungen mit einbezogen werden können.
Das lokale parodontale Risiko wird durch das (wiederholte) Vorlie-
gen einer Blutung auf Sondierung, die Sondierungstiefe bzw. dem Attach-
mentverlust und dem Vorliegen von Exsudation nach erfolgreicher Paro-
dontaltherapie beeinflusst. Insbesondere die Kombination dieser drei Para-
meter an einem Parodont deuten auf eine schlechtere Prognose für diesen
Zahn hin (zur Beurteilung der Prognose von Zähnen s. auch Tab. 19.3).
Eine Behandlungssitzung in der unterstützenden Parodontitisthe-
rapie kann wie folgt gestaltet sein:
D Erhebung einer aktuellen Anamnese
D Erhebung eines Entzündungs- und Plaqueindex
D ggf. mikrobiologische Diagnostik
D Remotivation des Patienten
D Belag- und Zahnsteinentfernung mit Politur
D ggf. subgingivales Scaling
D Fluoridierung
D Festlegung des nächstens Termin für die UPT
Alle sechs bis zwölf Monate:
D Kontrolle der Sondierungstiefen
D Furkationsdiagnostik
D Erhebung eines Kariesbefundes
19
Alle drei bis vier Jahre:
D Erhebung eines Röntgenbefundes
D Vitalitätsprüfung der Zähne
634 19 Therapie der entzündlichen Parodontopathien
Entsprechend den vorliegenden Befunden kann an einzelnen Parodon-
tien eine Rezidivbehandlung (subgingivales Scaling/Lappenoperation,
lokale Applikation von Antibiotika) notwendig sein. Bei Sondierungstie-
fen über 3 mm und gleichzeitigem Bluten nach Sondierung wird ein
subgingivales Scaling vorgenommen. Subgingivales Scaling in flacheren
Taschen führt zu Attachmentverlust und sollte daher nicht erfolgen.
Darüber hinaus kommt es beim Scaling immer zum Substanzabtrag der
Wurzeloberfläche, woraus Überempfindlichkeiten und eine Schwä-
chung der Zahnwurzel resultieren können. Die subgingivale Belagsent-
fernung und Zerstörung des subgingivalen Biofilms wird deshalb heute
überwiegend mit speziellen Schall- oder Ultraschallinstrumenten vorge-
nommen. Auch können Pulver-Wasser-Strahl-Geräte mit wenig abrasi-
vem, biokompatiblem Pulver zur regelmäßigen Entfernung des subgin-
givalen Biofilms verwendet werden (s. Kap. 19.3.6).
Bei manchen Patienten ist aufgrund mangelnder Mitarbeit und ge-
neralisiertem Rezidiv eine erneute Aufnahme in die Initialtherapie er-
forderlich. Sollten bei Patienten mit guter Mitarbeit Parodontien vorlie-
gen, bei denen komplexere parodontalchirurgische Maßnahmen erfor-
derlich sind, werden diese Patienten wieder in die korrektive Therapie
aufgenommen. Dabei ist ggf. zu überprüfen, ob eine systemische Anti-
biotikatherapie begleitend einzuleiten ist (s. Abb. 19.24). Die chirurgi-
sche Behandlung erfolgt dann nach genauer Diagnose in einer separa-
ten Sitzung. Eine lokale Antibiotikatherapie sollte bei Vorliegen einzel-
ner aktiver Taschen und guter Plaquekontrolle durch den Patienten in
Erwägung gezogen werden.
19.10 Arbeitsgebiet der zahnmedizinischen Fachassis-
tentin (ZMF) oder der Dentalhygienikerin (DH)
In der Initialphase und in der unterstützenden Parodontitistherapie
können bestimmte Maßnahmen von speziell geschultem zahnärztli-
chem Hilfspersonal (z.B. ZMF, DH) durchgeführt werden. Zu diesen
Maßnahmen zählen u.a.:
D Zahnreinigung, einschließlich Entfernung supragingivaler und sub-
gingival klinisch sichtbarer (ZMF, ZMP) bzw. erreichbarer Ablagerun-
gen (DH) mit Handinstrumenten und Ultraschallgeräten
D Belaganfärbung
D lokale Fluoridierung
D Ernährungs- und Mundhygieneberatung
D Eliminieren lokaler Reizfaktoren (z.B. Füllungspolitur)
D orientierende Befunderhebung (Index-Erhebungen, Situationsmo-
delle)
Kapitel 20 635
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645
Stichwortverzeichnis
24-Stunden-Plaque-Bildungsrate 104 – sphäroidales 266
Amalgampistole 277
A Amalgamrestaurationen, Indikation 271
α-Amylase 30 Amalgamtätowierung 284
Abbindereaktion 258 Amalgamtoxizität 281
Abdrucklöffel 298 Amelogenesis-imperfecta-Formen 78
Abflussrillen 299 Amelogenin 593
Abformmaterial 298 Amine, tertiäre 204
Abformung 297 Amoxicillin 623
Abrasion 63 Amphiphilie 221
Abrasionsfestigkeit 204 Analyse, mikrobiologische 618
Abrasionsgebiss 256 Anamnese 80
Abrasivität einer Zahnpasta 563 Anatomie der Gingiva 455
Abrasivstoffe 563 Ankylose 610
Abschirmung, antibiotische 549 Anodontie 77
Abschrägung 293 Anprobe 301
Abwehr, unspezifische 485 Antibiogramm 618, 629
Abwehrleistungen der Pulpa 328 Antiepileptika 526
acquired pellicle 8, 17 Antigen-Antikörper-Komplexe 487
Acrylamide 225 Antikoagulanzien 574
Additiva 198 Antikörper-Mangelsyndrom 534
Adhäsion, chemische 216 Antimykotika 628
Adhäsive, selbstprimende 224 Antiphlogistika, nichtsteroidale 617
Adhäsivpräparation 234 Apex
Adhäsivsystem 224 – anatomischer 366
AGE 492 – röntgenologischer 366, 383
Agranulozytose 532 Apexifikation 426
– infantile genetische 533 Apexogenese 426
Airscaler 569 Aplasie 78
Aktinomyzeten 22 Approximalkaries 98, 109
Aktivelektroden 578 Approximalkontakte 250
Aktivität, intrinsische kollagenolytische 227 Approximalraum-Plaque-Index (API), modifi-
Akute-Phase-Proteine 483 zierter nach Lange et al. 497
Albright-Syndrom 533 Arbeitsplatzkonzentration, maximale 283
Allergien 283 Arkansas-Steine 568
allogen 609 arrested caries 39
Alloplastik 609 arrested lesion 140
Alloy 266 ART-Technik 258
– konventionelles 267 Ascorbinsäuremangel 526
Alloy-Primer 303 Asgar-Mahler-Reaktionszone 269
Alveolarfortsatz 465 Aspartataminotransferase (AST) 519
Amalgam 266 Aspiration der Odontoblastenzellkerne 175
– Gamma-2-freies 269 Assoziation 475
– Kondensation 276 Ätiologie der Karies 15
646 Stichwortverzeichnis
Attachmentverlust 511, 565 Bleichtechniken 437
Attrition 62 Blendamalgame 266
Ätztyp I 215 Bluten nach Sondierung 499
Ätztyp II 215 Blutungsneigung 499
Ätzvorgang 312 Blutversorgung 457, 465
Aufbaufüllung 304 Bohrer 171
Aufbaufüllungen 291 Bradykinin 483
Ausarbeitung 315 Breite, biologische 624
Auslenkung 513 brown spot 140
Auswirkungen Bruchsicherheit 391
– lokale 230 Burn-out-Effekt 101
– systemische 231 Bürsten
autogen 609 – drehend-oszillierende 560
– schallaktive 560
B
Bakteriämie 547, 629
C
Bakterien im Wurzelkanal 342 Calxyl 413
Bakterienkultur 518 Candida 527
Bakterienresistenzen 618 Candidiasis 528
Basallamina 459 Capdepont-Zähne 78
– externe 459 Carbamidperoxid 155
– interne 459 Carboxylatzemente 185
Basisuntersuchung 79 Cariogram 105
Bass-Technik, modifizierte 559 CEREC-Verfahren 310
Battbohrer 378 Cermetzemente 258
Battspitze 393 Certainly Toxic Dose 145
Befestigung 313 C-Faktor 227
Befestigungskomposite 313 chairside bleaching 156
Befestigungsmaterialien 302 Chediak-Higashi-Syndrom 533
Befunderhebung 79 Chlorhexidindiglukonat-Lack 158
Behandlungen im Milchgebiss, endodontische Clindamycin 623
431 ClinproCario-L-Pop 106
Benzoylperoxid 204 CO2-Laser 580
Bestandteile 257 Cohen-Syndrom 533
BEWE 106 Col 456
Bewertung der Kompositrestaurationen 255 Community index of dental fluorosis 72
Bikarbonatpuffer 28 Community Periodontal Index of Treatment
Bindegewebe und seine Faserbündel, gingiva- Needs (CPITN) 502
les 461 Compliance 80, 627
Bindegewebetransplantat 602 CP-Behandlung 175
Biofilm 16 CPP-ACP-Nanokomplexe 162
Biogläser 611 Creeping attachment 597
Biokompatibilität der Kompositmaterialien Creep-Wert 271
230 Crown-down-pressureless-Technik 407
Biotyp, gingivaler 457 Crown-down-Technik 395
Bis-GMA 195 Cyanoacrylat 576
Bissflügelröntgenaufnahmen 98
Bissnahme 300 D
Black stain 155, 471 dead tract 37
Bleeding on Probing 499 Defekt, keilförmiger 61, 111
Bleichen 155, 436 Dehiszenzen 465
Bleichmittel 437 Delta, apikales 365
Stichwortverzeichnis 647
dental pulp stem cells 324 EEC 121
Dentikel Effekt, einschraubender 395
– echte 329 Ehlers-Danlos-Syndrom 533
– falsche 329 Eigenschaften, mechanische 209
Dentin 8 Eingliederung 301
– intertubuläres 10 Einlagefüllungen 289
– peritubuläres 10 – aus metallischen Werkstoffen 292
– sklerotisches 36 Einsatz im Milchgebiss 255
– zirkumpulpales 10 Einzelzahnbewertung 625
Dentinadhäsiv 218, 220 Ekstrand-Kriterien 97
Dentinbonding 218 Elbow-Zip-Effekt 402
Dentindysplasie 78 Elimination 475
Dentinempfindlichkeit 327 ELISA-Test 518
Dentinhaftung 226 Emdogain 593
Dentinhaftvermittler 218 Empfehlungen zu Fluoridierungsmaßnahmen
– erste Generation 218 130
– zweite Generation 218 Endoboxen 397
– dritte Generation 218 Endodont 321
– vierte Generation 222 Endodontie-Winkelstücke 396
– fünfte Generation 224 Endokarditis 618
– sechste Generation 224 Endokarditisrisiko 549
Dentinhypersensitivität 65 Endometrie 386
Dentinhypoplasien 75 Endosonde 381
Dentinkanälchen 9 Enterococcus faecalis 346
Dentinkaries 36 Entfernung der Karies, schrittweise 177
Dentinkonditionierung 218 Entwicklungsstörungen der Zähne 68
– selektive 221 Entzündungs-Index 556
Dentinogenesis imperfecta 78 Enzyme 29
Dentinwundversorgung 180 Epidemiologie 41
Desinfektion, photoaktivierte (PAD) 159 – der koronalen Karies 45
Desmodont 463 – der Wurzelkaries 50
Devitalisationsmittel 435 – experimentelle 42
Devitalisierung der Pulpa 433 Epidermal growth factor (EGF) 484
Diabetes mellitus 525 Epikutantest 283
Diagnose 79, 107 Epithel, orales 458
Differenzialdiagnose 107 Epithelansatz
Dilazeration 74 – primärer 459
Distal-wedge-Operation 587 – sekundärer 460
Distomolaren 76 Epithelisierung, sekundäre 599
DMF-S-Index 43 Epithelschichten 458
DMF-T-Index 43 Epstein-Barr-Virus 527
DNA-Hybridisierung 518 Er:YAG-Laser 580
Doppelmischabformung 299 Erbrechen 59
Double-flared-Technik 407 Erkrankungen, kardiovaskuläre 494
Down-Syndrom 532 Erleichterungsform 167
Doxycyclin 619 Ernährungsberatung 117, 556
Dreieckslappen 575 Ernährungsfragebogen 84
Dunkelfeldmikroskopie 518 Ernährungsprotokoll 121
Erosion 56
E Erosionen 111
early childhood caries 40 Ersatzzellen 324
Ebner-Linien 10 Erythem, lineares gingivales 528
648 Stichwortverzeichnis
Erythema exsudativum multiforme 528 Flexibilität 391
Etch-and-Rinse-Systeme 226 Flow-Wert 271
Etch-and-Rinse-Technik 222 Fluorapatit 138
Ethoxibenzoesäurezemente 185 Fluorid 124, 563
EVA-System 571 – und Plaque 135
Evidenz 113 Fluoridaufnahme 124
Exazerbation 481 Fluoridbilanz 125
Excisional new attachment procedure (ENAP) Fluoridgele 132
583 Fluoridierung, lokale 129
Exkavatoren 172 Fluoridlackapplikation 132
Explantation 629 Fluoridmetabolismus 124
Exsudation 524 Fluoridtabletten 132
Extensionsflächen 294 Fluoridverbindungen 129
Extensionsform 166 Fluoridzufuhr 124
Extent-Index 507 Fluorose 70
Extraktionsplan 554 Fluorose-Index 71
Foetor ex ore 539
F food debris 471
Farbringe 233 food impaction 471
Farbstabilität 197, 256 Foramen physiologicum 365, 383
Faserapparat, supraalveolärer 461 Förderung der Remineralisation 138
Faserbündel Formdefekte 68
– primäre 463 Formgebung des Wurzelkanals 398
– sekundäre 464 Fremdkörperreaktion 529
Fasern Frontzahnrestaurationen 232
– alveologingivale 462 Füller 198
– dentogingivale 461 Füllkörpergröße 200
– dentoperiostale 461 full-mouth-disinfection 565
– elastische 324 Füllungsrand, supragingivaler 274
– intergingivale 462 Füllungsreparaturen 285
– interpapilläre 462 Funktionsbefund 291
– semizirkuläre 462 Funktionsdiagnostik 107
– transgingivale 462 Furche, gingivale 456
– transseptale 462 Furkationsbefall 605
– zirkuläre 462 Furkationsbehandlung 606
Fassreifen-Design 441 Furkationsbeteiligung 514
Fast-Track-Füllungstechnik 230 Fusion 77
Fehlbelastungen 629 Fusobacterium nucleatum 17
Feilen, zirkuläres 403
Feinpartikelhybridkomposite 201 G
Feinstpartikelhybridkomposite 201 Gamma-1-Phase 269
Fenestrationen 465 Gamma-2-Phase 269
ferrule design 441 Gates-Glidden-Bohrer 393
Feuchthaltemittel 564 Gemination 77
Fiberoptiktransillumination 98 Geweberegeneration, gesteuerte 589
Fibrinogen 483 Gingiva 455
Fibroblasten 324 – befestigte 456, 510
Finieren 174, 238 – freie 456, 510
Fissurenkaries 94, 110 – interdentale 456
Fissurenversiegelung 147, 151 – keratinisierte 594
– erweiterte 150 Gingiva- und Plaqueindex 103
Fistel 350, 414
Stichwortverzeichnis 649
Gingiva-Blutungs-Index (GBI) nach Ainamo & – der Demineralisation 138
Bay 501 Herpes, oraler 527
Gingivafibromatose, hereditäre 528 Herzschrittmacher 570, 580
Gingiva-Index, simplifizierter (GI-S) 501 HF-Chirurgie 578
Gingivektomie 588 Histiozytose 533
– externe 588 Histologie der Schmelzkaries 31
– interne 589 Histoplasmose 528
Gingivektomiemesser 578 Hochfrequenzchirurgie 578
Gingivitis, nekrotisierende ulzerative (NUG) home bleaching 155
534 How-Zange 280
Gingivopathien 524 Hunter-Schreger-Faserstreifung 6
Gingivostomatitis herpetica 527 Hutchinson-Trias 69
Glasionomerzemente 186 Hutchinson-Zähne 69
– hoch visköse 258 Hybridkomposite 201
– Indikationen 262 Hybridschicht 221
– konventionelle 257 Hydrationsschale 6
– kunststoffmodifizierte 259 Hydrokolloide 298
Glaskeramik 309, 611 Hydroxylapatit 4
Glattflächen 102 Hydroxylapatitkeramik 309
Glattflächenkaries 111 Hyperdontie 76
Gleitmittel 405, 410 Hypersensibilität 594
Gleitpfad 410 – des Dentins 352
Glycinpulver 629 Hyperzementose 14
Glykogenspeicher-Syndrom 533 Hypodontie 77
Goldhämmerfüllung 264 Hypokalzämie 72
Gore Tex 591 Hypophosphatasie 533
Gracey 568 Hypoplasie 68, 78
Grade 513
– der Furkationsbeteiligung 514 I
Granulom ICDAS 97
– apikales 348 IgE 488
– externes 67 IgG 488
– internes 67, 335 IgM 488
Granuloma pyogenicum 525 Immediatversorgungen 626
Granulozyten, polymorphkernige neutrophile Immunabwehr, spezifische 488
486 Immunfluoreszenz 518
Grübchenkaries 94 Immunsuppressiva 526
Guided Tissue Regeneration (GTR) 591 Indikationsbereich 255
Guttapercha 418 Initialbetreuung, präventive 94
Guttaperchastifte 418 Initiatoren 197
Injektion, thermoplastische 425
H Inlay 290
Halitophobie 541 Innervation 457, 465
Halitosis 156, 539, 616 INR-Wert 574
Hämodynamik der Pulpitis 331 Instrumente
Hämostatikum 298 – oszillierende 172, 233
Handinstrumente 172 – rotierende 170
Hawthorne-Effekt 42 – ultraschallgetriebene 172
Heilung, reparative 612 Insulin-like growth factor (IGF-1) 484
Hemisektion 608 Interdentalkeil 252
Hemmung Interferone (INF) 483
– der Bakterienadhärenz 143 Interglobulardentin 11, 75
650 Stichwortverzeichnis
Interimsversorgungen 626 Kleinkindkaries 40
Interleukin-1 483 Knochentaschen, infraalveoläre 516
Interleukin-2 483 Koch-Postulate 475
Interleukin-8 483 Kofferdam 187, 376
Interleukine 483 – -Applikation 190
International Normalized Ratio 574 – -Gummi 188
IPS-Empress-Verfahren 309 – -Klammern 190
isolog 609 – -Lochzange 190
Kohlenhydrate 24, 117
J Kollagenfasern 324
Juvenile lokalisierte Parodontitis (LJP) 531 Komplex, roter 477
Kompomere 208
K Komposite
Kalzium-Aluminium-Karboxylat-Gel 258 – chemisch härtende 204
Kalziumantagonisten 526 – fließfähige 202
Kalziumphosphatkeramiken 611 – konventionelle 200
Kalziumpolykarboxylatgel 258 – lichthärtende 204
Kampferchinon 204 – stopfbare 201
Kanäle Kompositmaterialien, neuere 207
– akzessorische 323, 365 Kompositrestauration 193
– laterale 365 – große 254
– sekundäre 365 Kompositschienen 450
Karies 15 Kondensation 277
Kariesaktivität 94, 103 – laterale 421
Kariesdetektor 168 – thermomechanische 425
Kariesdiagnose 94 – vertikale 424
Kariesinfiltration 161 Konditionierung von Schmelz und Dentin
Kariesinzidenz 43 313
Kariesprädilektionsstellen 165 Konizitäten 394
Kariesprävalenz 43 Konkremente 474
Kariesprophylaxe 115 Konstriktion, apikale 383
Kariesrezidiv 39 Kontaktallergien 529
Kariesrisiko 94, 104, 498 Kontraindikationen 256
Kariestherapie, invasive 165 Kontrazeptiva, orale 526
Kariogenität 120 Konturierung 238
Kariostatika 563 Koplick-Flecken 527
Kauterisierung 578 Korrekturabformung 299
Kavitätenpräparation, kinetische 173 Korrekturfüllung 285
Kavitätenränder 304 Kortikoid-Antibiotika-Präparate 429
Kavitätenreinigung 174 Kronenfraktur
Kavitätenwand, elastische 228 – komplizierte 446
Keilexzision, distale 587 – unkomplizierte 446
Keramik-Einlagefüllungen 308 Kronenpulpa 323
Klasse-I-Kavitäten 246 Kronenverlängerung 573, 625
Klasse-II-Kavitäten 248, 272 Kronen-Wurzel-Fraktur
– von Milchmolaren 263 – komplizierte 447
Klasse-III-Kavitäten 237 – unkomplizierte 447
Klasse-IV-Kavitäten 239 Kugelamalgam 266
Klasse-V-Kavitäten 242 Kunststoffprovisorium 292, 300
Klassifikation von Miller 537 Kürettage 582
Klassifizierung parodontaler Erkrankungen
521
Stichwortverzeichnis 651
L Materialien, Zinkoxid-Eugenol-freie 577
Materialkunde der Komposite 195
Lacke und Liner 182
Matrix, organische 197
Lactoperoxidase-Thiocyanat-Wasserstoffper-
Matrix-Metalloproteinasen 227
oxid-System 29
Matrixmetalloproteine 520
Laktobazillen 22
Matrize 236
Lamina cribriformis 465
Matrizen-Adaptation 250
Lamina dura 465
Matrizentechnik 276
Längenbestimmung 383
McCall-Girlanden 537
– röntgenologische 384
Meißel 568
Längeneinstellung 397
Menstruationszyklus 525
Lappenoperation 583
Meshgraft-Technik 599
– vollmobilisierte 586
Mesiodens 76
Laserfluoreszenz 96
Metabolismushemmung 142
Laserpräparation 173
Methacrylate, funktionelle 225
Läsion
Methoden
– etablierte 479
– apikal-koronale 401
– fortgeschrittene 479
– koronal-apikale 401
– frühe 479
Methylquecksilber 281
– frühe initiale 33
Metronidazol 621
– initiale 479
Micro-Opener 381
Läsionskörper 32
Mikrodontie 77
Latenzzeit 487
Mikrofüllerkomposite 200
Latexagglutinationstest 518
– inhomogene 200
Lazy-Leukocyte-Syndrom 532
Mikromerkurialismus 283
Leitlinie Fissurenversiegelung 151
Milchzähne 14
Leucocyte-Adhesion-Deficiency-Syndrom 532
Milchzahnkaries 39
Leukämie 525, 532
Milchzahnresorption 67
Leukotriene 483
Mineral Trioxide Aggregate (MTA) 427
Lichen planus 528
Mineral-Trioxid-Aggregat (MTA) 175
Limbus alveolaris 624
Minimata-Erkrankung 282
Linea girlandiformis 456
Miniplast 598
Lipopolysaccharide (LPS) 475, 482
Minozyklin 619
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten 76
Mischamalgame 266
Lochschablonen 190
Mischtyp 215
Lokalisation der Kanaleingänge 381
Modellherstellung 297
Longitudinalstudien 42
moist bonding 222
Lückenversorgung 255
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH)
Lupus erythematodes 528
74
Luxationsverletzungen 448
Moleküle, bioaktive 178
Lyophilisierung 609
Monomere 197
Lysosomen 486
Morbus Crohn 534
Lysozym 29
Mukogingivalbefund 514
M Mukogingivalchirurgie 594
Mukoperiostlappen 586
magnetostriktiv 569
Mukosa
Makrodontie 77
– auskleidende 455
Makrofüller 200
– mastikatorische 455
Makrofüllerkomposite 200
– spezielle 455
Malassez-Epithelreste 348
Mukositis 538
Manteldentin 10f.
– periimplantäre 629
Masern 527
Mundgeruch 154, 156
Masterpoint 422
652 Stichwortverzeichnis
Mundgesundheit 45 Owen-Linien 11, 75
Mundhygiene 154 Ozon 160
Mundspüllösungen, fluoridhaltige 132
P
N Packungsjahre 492
Nachpolymerisation 239 Papierspitzen 406
Nachsorge 79 Papillen-Blutungs-Index (PBI) nach Saxer und
Nachtschmerz 353 Mühlemann 501
Nadelmessaufnahme 384 Papillenmesser 578
Nahtmaterial, resorbierbares 592 Papillomaviren 527
Nanofüllerkomposite 208 Papillon-Lefèvre-Syndrom 532
Nanoleakage 222 paramedian 575
Nanopartikel 162 Paramolaren 76
Natriumhypochlorit 412 Paraplasien 75
Natriumperborat 437 Parodont 455
Nd:YAG-Laser 580 Parodontalantrag 552
Neisseria gonorrhoea 527 Parodontalbeile 578
Neonatallinie 11, 72 Parodontaler Screening-Index (PSI) 502
Nephritis 283 Parodontalstatus 106
Nerve growth factor (NGF) 484 Parodontaltherapie, regenerative 589
Nerven der Pulpa 327 Parodontitis
Neutropenie – aggressive 530
– erworbene 532 – apicalis 340f.
– hereditäre 532 – acuta 347
– zyklische 532 – chronica 347
New attachment 611 – chronische 529
NiTi-Systeme 395 – nekrotisierende ulzerative (NUP) 535
– persistierende apikale 346
O – schnell fortschreitende 531
Oberfläche 461 Parodontitistherapie, unterstützende 630
– der Zellen des Saumepithels 461 Parodontopathien 469
Oberflächenschicht 32 Pathogenassoziierte Molekülmuster (PAMPs)
Odontoblasten 9, 324 486
Odontoblastenaspiration 340 Pattern-Recognition Receptors (PRR) 486
Odontoblastenschicht 325 Pelger-Huet-Kernanomalie 533
Odontoplastik 571 Pemphigus vulgaris 528
Okklusionskorrekturen 289 Periimplantitis 538, 629
Oligodontie 77 Perikymatien 7
Onlay 290 Periotest-Gerät 514
Operationsmikroskop 381 Perkolation 214
Opsonine 486 Perkussionstest 357
Ormocere 210 Phase
Ornidazol 621 – disperse 198
Orthopantomogramm 103 – initiale 599
Orthophosphorsäure 215 Phönixabszess 350
Osteoinduktion 609 Phosphatase, alkalische 520
Osteokonduktion 609 Phosphatpuffer 28
Osteoplastik 626 Phosphoenolpyruvat-Phosphotransferasesys-
Osteoprotegerin (OPG) 485 tem 20
Ostitis, sklerosierende 349 Phosphorsäureester 224
Östrogenspiegel 493 Photodynamische Therapie, antimikrobakte-
Overlay 290 rielle (aPDT) 581
Stichwortverzeichnis 653
Photoinitiator 204 Probiotika 160
pH-Wert, kritischer 24 Prognose des Einzelzahnes 625
piezoelektrisch 569 Projektionsfehler 385
Pigmente 198 Prostaglandine 482
Pilzinfektionen 527 Protein, C-reaktives 483
Plaque 16 Proteinurie 283
Plaque-Control-Record-Index (PCR) nach Psellismus 283
O’Leary et al. 499 Pseudohalitosis 540
Plaquefärbemittel 496 PSI-Index 103
Plaque-Formations-Rate-Index (PFRI) nach Pubertätsgingivitis 524
Axelsson 498 Puffersysteme 28
Plaque-Index 556 Pulpaamputation 431f.
– nach Mombelli (PI), modifizierter 497 Pulpadach 323
– nach Quigley und Hein (QHI) 496 Pulpa-Dentin-Einheit 323
– nach Silness und Löe 496 Pulpaexstirpation 431
– simplifizierter (PI-S) 499 Pulpahörner 323
Plaquekontrolle, chemische 154 Pulpakammer 323
Plaque-pH-Wert-Bestimmung, intraorale 120 Pulpakammerboden 381
Plaquerevelatoren 496, 562 Pulpanekrose 334, 358
Plasma, thrombozytenreiches 594 Pulpaperiodontalkanäle 323
Platelet-derived growth factor (PDGF) 484 Pulpapolyp 334
Platelet-rich-plasma (PRP) 594 Pulpaüberkappung
Plaut-Vincent-Gingivitis 534 – direkte 362
PMN-Granulozyten 486 – indirekte 362
Polarisierung des Kariesbefalls 54 Pulpaverträglichkeit 229
Polierpasten 571 Pulpektomie 431, 434
Politur 238, 279, 301 Pulpitis 331
Poly(mer)gläser 211 – eitrige 358
Polyäther 298 – iatrogene 339
Polymerasekettenreaktion (PCR) 519 – infektiöse 336
Polymerisationsinhibitor 205 – irreversible 353
Polymerisationslampen 205 – Pathogenese der 332
Polymerisationsschrumpfung 203 – reversible 353
Polymerisationsspannungen 227 – traumatische 338
Polymethylmethacrylate 193 Pulpotomie 364, 431f.
Polymorphismen 493 Pulver-Wasserstrahl-Geräte 629
Polysaccharide, extrazelluläre 20 Putzkörper 563
Polysulfide 298
Prädentin 10 Q
Präparationsgrenze 296 Quecksilber, elementares 281
Präparationsinstrumentarium 170 Quecksilberdampf 281
Präparationsregeln 166 Quecksilberintoxikationen, akute 282
Präparationstechnik 165 Quecksilberverbindungen, organische 281
Prävalenz wurzelkanalbehandelter Zähne 321 Quorum sensing 471
pre-wedging 236
Primärdentin 10 R
Primärpräparation 166, 232 Ramfjord-Zähne 495
Primärprävention 115 Randspalt 213
Primär-Primärprävention 158 RANKL/RANK/OPG-System 485
Primer 218f. Rapid progressive periodontitis (RPP) 531
– selbstkonditionierender 221 Raschkow-Plexus 325
Probably Toxic Dose 145 RDF-Wert 50
654 Stichwortverzeichnis
Reaktion S
– allergische 529
Saccharose 24
– auf Komposite 232
Sanierungsgrad 44
– von Fluoriden 133
Sattel 456
Reattachment 611
Sauerstoffradikale (ROS) 486
Rechtwinkeltechnik 515
Saumepithel 458
Reevaluation 552
Säuren 219
Reifungsphase 599
Säuretoleranz 142
Reizdentin 328
Scaling, subgingivales 565
Rekapitulation 402, 405
Schallvibrationssysteme 397
Relative Dentin Abrasion (RDA) 563
Schichttechnik 252
Reliabilität 79
Schienen, permanente 613
Relief, mikroretentives 215
Schienentherapie 450
Repair 612
Schienung 255, 612
Reparatur
– semipermanente 613
– einer Amalgamfüllung 286
– temporäre 612
– einer Kompositfüllung 286
Schiller-Jodlösung 458, 597
– von Einlagerestaurationen und Kronen
Schizodontie 77
286
Schleiföl 568
– von Kompositrestaurationen 257
Schleimhautpemphigoid 528
Reparaturfüllungen 285
Schleimhauttransplantat, freies (FST) 602
Resistenz 470
Schlifffacetten 63
Resorption 65
Schmelz, prismenfreier 6
– entzündlich bedingte 66
Schmelzadhäsiv 220
– oberflächliche 66
Schmelz-Ätz-Technik 213
Restaurationen
Schmelzätzung, selektive 221
– mit Glasionomerzementen 257
Schmelzbonding 218
– mit zahnfarbenen Einlagerestaurationen
Schmelzdichte 4
303
Schmelzflecken 68
Restmonomere 203
Schmelzfraktur 446
Retentionsform 167
Schmelzkonditionierung 213
Retzius-Streifen 8
Schmelzoberhäutchen 8
Revaskularisierung 599
Schmelzperlen 14, 75
re-wetting 222
Schmelzprismen 5
Rezessionen 594
Schmelzreifung
Rhesusfaktor 69
– posteruptive 3
Rhizomikrie 77
– präeruptive 3
Rigidität 450
Schmelzsporne 75
Risiko
Schmierschicht 174
– lokales parodontales 633
Schneidekantenwinkel 390
– zahnbezogenes 633
Schneidengeometrie 394
Röntgen 99
Schneidleistung 391
Röntgenbefund 515
Schnelltest, enzymatischer 519
Röntgendiagnostik 358
Schnitztechnik 279
Röntgenkontrollaufnahme 422
Schrumpfungsrichtung 203
Röntgenopazität 209
Schutz der Hybridschicht 227
Röntgenverfahren, digitales 99
Schwalbenschwanzpräparation 295
root planing 581
Schwangerschaftsgingivitis 525
Root-Caries-Index (RCI) 52
Schwefelverbindungen, flüchtige (VSC) 157,
Röteln 69, 527
616
Ruhigstellung 612
Schwere der Erkrankung 530
Stichwortverzeichnis 655
Sechs-Punkt-Messung 512 Streptokokken, β-hämolysierende 527
Seitenkanäle 323 Stressabsorber 226
Sekundärdentin 10, 328 Stressentwicklung 227
Sekundärkaries 39 Stufe
Sekundärpräparation 170, 234 – approximalzervikale 275
Sekundärprävention 115 – zervikal-approximale 294
Sensibilitätsprüfung 357 Submikrometerhybridkomposite 201
Sensitivität 95 Substantivität 613
Severity-Index 507 Substanz, zwischenprismatische 6
Sharpey-Fasern 13, 463 Substitutionsresorption 66
shell teeth 78 Substrat 24
sIgA 488 Sulkus, gingivaler 466
Significant Caries Index (SiC-Index) 44 Sulkus-Blutungs-Index (SBI)
Silane 202 – nach Lange, modifizierter 500
Silanisierung 313 – nach Mombelli, modifizierter 500
Silberstifte 419 – nach Mühlemann und Son 500
Silikat- und Steinzemente 184 Sulkusepithel, orales 458
Silikone, additionsvernetzende 298 Sulkusflüssigkeit 466
Silorane 211 Sulkusflüssigkeits-Fließrate 505
Single-File-Technik 395 Süßungsmittel
Single-Length-Technik 395, 411 – kalorische 122
Sinterkeramiken 309 – nicht kalorische 123
Skelettfluorose 145, 147
Sklerosierung 337 T
sloughing 470 table tops 305
slow release 614 Tablettenfluoridierung 128
Socransky 475 tags 221
Soft-Chemo-Prävention 614 Taschenmarkierungspinzette 578, 588
Softstartpolymerisationslampen 228 Taschenzyste 349
Sonde nach Nabers 514 Taurodontismus 77
Sondierung des Wurzelkanalsystems 383 Teilmatrizensysteme 251
Sorbit 122 Tertiärdentin 10, 36, 337
Spannrahmen 190 Tertiärprävention 116
Spannungen 228 Tetrazykline 69
Speichel 26 Theorie, hydrodynamische 352
Speichelfließrate 105 Therapie, photodynamische 159
Speichelfluoridkonzentration 140 Therapieplanung 108
Speichelpufferkapazität 105 Thermafil-System 424
Speicheltest 105 Titanium Trauma Splint 450
Speisesalz, fluoridiertes 131 Titanstifte 419
Speisesalzfluoridierung 128 Tofflemire-Matrizen-System 250
Spezifität 95 Toothwear Index 64
Splitteramalgam 266 Torquekontrolle 395
Spülung des Wurzelkanals 399 Total-Ätz-Technik 222
Stabilisatoren 198 Toxikologie der Fluoride 145
Stärke 25 Transforming growth factor (TGF) 484
Step-back-Technik 404 Transmission
Step-down-Technik 407 – horizontale 477
Stephan-Kurve 25 – vertikale 477
Stillman-Spalten 537 Transplantat 598
Stopper 385, 397 Trauma, okklusales 538
Streptococcus mutans 19 Tremor mercurialis 283
656 Stichwortverzeichnis
Treponema pallidum 527 Vorteile lichthärtender Komposite 238
Triangulation, aktive 310 VY-Verschiebung 595
Trinkwasserfluoridgehalt 124
Trituration 276 W
Trockenlegung, relative 187 Wachstumsfaktoren 484
Tumor-Nekrose-Faktoren 483 waiting room (in-office) bleaching 155
Turner-Zahn 74 Wasserstoffperoxid 437
Wasserstrahlgeräte 562
U water trees 226
Überkappung Wedjets 191
– direkte 364 Weichgewebskürettage 565
– indirekte 175 Weil-Zone 325
Überschussentfernung 238 Wertung, kritische 316
Ultraschallkondensation 278 wet bonding 222
Ultraschallspülung, passive 401 white spot 31
Ultraschallsysteme 396 Whitening Zahnpasta 154
Umrissform 166 WHO 54
Unterfüllung 275 WHO-Sonde 502
Untersuchung, klinische 94 Widerstandsform 167, 275
Usuren 63 Widman-Lappen, modifizierter 583f.
UV-Licht-Härtung 205 Wiederbefestigung eines Zahnfragments 241
Wirksamkeit fluoridhaltiger Kariostatika 143
V Wirkung
Validität 79 – synergistische 623
van-Winkelhoff-Cocktail 623 – von Kalziumhydroxid 178
Varicella-Zoster-Virus 527 Wirkungsmechanismus von Fluoriden 137
Vector-System 570 Wirt 26
Veneers 254 Wirtsantwort 475
– okklusale 305 Wurzelfrakturen 447
Verblendtechnik Wurzelkanal, infizierter 348
– direkte 254 Wurzelkanalaufbereitung 398
– indirekte 254 – maschinelle 409
Verbundphase 202 Wurzelkanalbehandlung 289
Verdichtung, pneumatische 278 – Indikationen 375
Verfahren – Kontraindikationen 376
– gravimetrische 495 Wurzelkanaleinlagen 609
– organoleptische 157 Wurzelkanalfüllmaterialien 415
– planimetrische 496 Wurzelkanalkonfiguration 366
– sonoerosives 173 Wurzelkanalstift 441
Verfärbungen, marginale 214 Wurzelkaries 38, 102, 111
Verschiebelappen Wurzelpulpa 323
– koronaler 600 Wurzelresorption 610
– lateraler 601 – externe 66
Verschiebeplastik, apikale 586 Wurzelzement 11
Versorgung der Kavität, provisorische 310
Versorgung, postendodontische 439 X
Vier-Felder-Tafel 95 xenogen 609
Virulenzfaktor 474f. Xerostomie 27, 39
Vitalamputation 364 Xylit 122
VM-Index nach Volpe und Manhold 503
Volkmann-Kanäle 465
Vorgehen, nicht invasives 243
Stichwortverzeichnis 657
Z Zementkaries 38
Zementoid 13
Zahnbeweglichkeit 513
Zementparaplasien 76
Zahndurchbruch 460
Zentralstift-Technik 421
Zähne, neonatale 76
ZEPAG-Klassifikation 444
Zahnfleischverbände 576
Zinkoxid-Eugenolzemente 184
Zahnfluorose 145
Zinkoxid-Phosphatzement 182
Zahnpasten 130
Zinnfolie 577
Zahnplaque 470
Zone
Zahnschmelz 3
– der Demineralisation 37
Zahnstein 22
– der Nekrose 38
– subgingivaler 474
– der Penetration 38
– supragingivaler 474
– der Schmelzkaries 32
Zahnsteininhibitoren 564
– dunkle 32
Zahnumschlingungsnähte 576
– sauerstoffinhibierte 226
Zahnverfärbungen 154
– transluzente 32
– extrinsische 154
Z-Plastik 595
– intrinsische 154
Zucker 119
Zapfenzahn 76
Zungenreiniger 630
Zeitaufwand 256
Zusammensetzung des Schmelzes 4
Zellpopulation 465
Zwischendentin 10
Zellumsatzrate 458
Zwischenzement 14
Zement 182
Zyste, apikale 348
– azellulär-afibrilläres 11
Zytokine 483
– azelluläres, fibrilläres 13
Zytomegalievirus 527
– zellulär-fibrilläres 13
Zementikel 14