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Kubi - Zur-Geschichte - Der-Sowjetunion

Stalin und seine Zeit

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Zur Geschichte der Sowjetunion

Michael Kubi:

Zur Geschichte
der
Sowjetunion

Eine totalitäre Diktatur


der Bürokraten?

Hrsg:

1
Zur Geschichte der Sowjetunion

ZIP-Kurzaufnahme der Deutschen Bibliothek:


Kubi: Geschichte der SU

Bodenfelde 2019
Herausgeber und Verleger: Zeitschrift offen-siv
Frank Flegel
Tel.u.Fax: 05572-999 22 42
Mail: [email protected]

Copyright: Februar 2019, Frank Flegel, Bodenfelde


Alle Rechte vorbehalten

Redaktionelle Betreuung: Anna C. Heinrich, Frank Flegel


Druck: Druckservice orbital, Wolfgang Lange, Rielasingen/Worblingen

Printed in Germany

ISBN 978-3-9818899-4-9

18,00 €

2
Zur Geschichte der Sowjetunion

Vorbemerkung des Herausgebers………………………………………… 5


Vorwort des Verfassers…………………………………………………… 6
1. Allgemeines zu Klasse, Staat und Bürokratie…………………………. 14
1.1. Klassen allgemein……………………………………………… 14
1.2. Klassen im Sozialismus………………………………………... 31
1.3. Der Staat……………………………………………………….. 39
1.4. Bürokratie……………………………………………………… 45
1.5. Klassenkampf im Sozialismus…………………………………. 51
1.5.1. Vorwurf Nr. 1: Stalin leugnete den Klassenkampf im
Sozialismus…………………………………………………………. 54
1.5.2. Vorwurf Nr. 2: Verschärfung des Klassenkampfes als
Rechtfertigung von Repressionen…………………………………... 82
1.5.3. Vom Abschwächen des Klassenkampfes……………………. 88
2. Die Sowjetunion und Stalin im Paradigma der 96
Totalitarismus-Doktrin……………………………………………………. 96
2.1. Totalitarismus-Doktrin: Faschismus = Kommunismus?............. 96
2.2. Die Unwissenschaftlichkeit der Totalitarismus-Doktrin………. 101
2.2.1. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 1:
Schwarzbuch des Kommunismus…………………………………... 107
2.2.2. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 2:
Nolte & Baberowski………………………………………………... 118
2.2.3. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 3:
Conquest & Solschenitzyn…………………………………………. 140
2.2.4. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 4:
Chruschtschow und Trotzki………………………………………… 154
2.2.5. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 5:
Das Elend des Popperismus………………………………………… 163
3. Trotzkismus und die Bürokratie……………………………………….. 169
3.1. Trotzki versus Lenin…………………………………………… 169
3.2. Bürokratie und Privilegien…………………………………….. 191
3.3. Trotzkis Bewertung der sowjetischen Bürokratie in "Verratene
Revolution"…………………………………………………………. 198
3.4. Trotzki und der Übergang vom Sozialismus zum
Kommunismus……………………………………………………… 212
3.5. Über Trotzkis Moralismus und über den Thermidor…………... 230

3
Zur Geschichte der Sowjetunion

4. Soziale Differenzierungen in der Sowjetunion………………………… 236


4.1. Stalin über die Lohnunterschiede……………………………… 237
4.2. Lohnunterschiede in der Sowjetunion…………………………. 243
4.3. Lohnunterschiede im Kapitalismus……………………………. 252
4.4. Weitere Aspekte der Ungleichheit…………………………….. 267
5. Von der Theorie der Bürokraten-Herrschaft zur Theorie des
Staatskapitalismus………………………………………………………… 279
5.1. Einführendes…………………………………………………… 279
5.2. Abtrünnige der Kirche des heiligen Trotzki - Shachtman,
Burnham, Rizzi……………………………………………………... 284
5.3. Von der „Theorie“ des bürokratischen Kollektivismus zur
Theorie des Staatskapitalismus in der Sowjetunion………………... 297
5.4. Über Trotzkis "Verteidigung" der Sowjetunion……………….. 311
5.5. Djilas: "Die neue Klasse" und einiges über das Eigentum…….. 319
5.6. Über Voslenskys Buch "Nomenklatura"………………………. 330
5.7. Ingo Wagner - muss man wissen!............................................... 335
5.8. Christoph Jünkes Angst vor stalinistischen Schatten………….. 338
6. Soziale Mobilität und Klassenstruktur………………………………… 342
6.1. Soziale Mobilität im Kapitalismus…………………………….. 345
6.2. Soziale Mobilität in der Sowjetunion………………………….. 358
6.3. Über die Größe des Verwaltungsapparates……………………. 380
7. Abschließende Betrachtungen…………………………………………. 395
7.1. Timasheffs "Der große Rückzug"……………………………… 395
7.2. Das kapitalistische Russland ab 1992: Alter Wein in neuen
Schläuchen?........................................................................................ 404
7.3. Die wahre Ursache der Konterrevolution……………………… 408
7.4. Trotzkismus auf Seiten der Konterrevolution - Volksfront von
Jüdäa gegen Judäische Volksfront………………………………….. 422
8. Nachwort……………………………………………………………….. 444
9. Literatur………………………………………………………………… 445
9.1. Wissenschaftliche Literatur……………………………………. 445
9.2. Video-Beiträge………………………………………………… 476
9.3. Auflistung der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin…… 476

4
Zur Geschichte der Sowjetunion

Impressum
offen-siv, Zeitschrift für Sozialismus und Frieden
Herausgeber: Frank Flegel
Geschäftsführung, Redaktion, Satz, Herstellung, Schreibbüro: A. C. Heinrich und F. Flegel
Druck: Druckservice orbital, Rielasingen/Worblingen.
Bezugsweise: unentgeltlich, Spende ist erwünscht.
Adresse: Red. offen-siv, F. Flegel, Gerhart-Hauptmann-Str. 14, 37194 Bodenfelde-Wahmbeck,
Tel.u.Fax: 05572-999 22 42, Mail: [email protected], Homepage: www. offen-siv.net
Spendenkonto:
Konto Frank Flegel bei der Sparkasse Hannover, IBAN: DE10 2505 0180 0021 8272 49,
BIC: SPKHDE2HXXX; Kennwort Offensiv.

Vorbemerkung des Herausgebers


In der Vorbemerkung zum ersten Buch, das wir von Michael Kubi verlegt haben,
„Die Sowjetdemokratie und Stalin“, schrieben wir:
Wir freuen uns sehr darüber, dass wir dieses Buch machen konnten. In unseren Son-
derheften war und ist die Geschichte des Sozialismus immer wieder Thema. Dieses
Buch setzt einen Meilenstein auf dem Weg der von uns veröffentlichten vorurteils-
freien, aber selbstverständlich für die Sache der Befreiung des Proletariats partei-
lichen und deshalb antirevisionistischen Analysen.
Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die die Lügen und Hasstiraden über Stalin
und die Sowjetunion nicht mehr glauben wollen bzw. nicht mehr hören können und
sich objektiv über diese Epoche informieren wollen. Mit den antistalinistischen
Hasstiraden wurde und wird ja nicht nur die Person Stalin in den Dreck gezogen,
sondern gleichbedeutend der gesamte Aufbau des Sozialismus, die dafür notwendige
neue staatliche Struktur, der Parteiaufbau, das Führen des inneren und äußeren
Klassenkampfes, ja selbst die Planwirtschaft!
Das stimmt auch für dieses zweite Buch von Michael Kubi. Hier geht es um die Fra-
ge, ob die Sowjetunion, „eine Diktatur der Bürokraten“, ein „degenerierter Arbeiter-
staat“ war, vielleicht gar ein „Staatskapitalismus“, der eine „neue herrschende Klasse“
hervorgebracht hat und auch darum, ob der „Stalinismus“ die Revolution verraten hat,
so dass alles in eine „totalitäre Herrschaftsform“ abglitt und was es der Anfeindungen
mehr gibt.

5
Zur Geschichte der Sowjetunion

Michael Kubi hat damit einen wichtigen Beitrag zum Kampf um die Deutungshoheit
über die Geschichte des ersten sozialistischen Staates der Welt, der Sowjetunion,
geleistet. Dieser Kampf um die Lehren aus der Vergangenheit ist zwar etwas Ge-
schichtliches, aber nichts Gestriges, sondern etwas Zukunftsweisendes, denn er ist
unerlässlich für die Orientierungen, die wir heute brauchen im Kampf um das Mor-
gen.
Unser Autor legt uns wieder eine fundierte, an historischem und aktuellem Quellen-
material vorbildlich abgesicherte Studie vor, genauso, wie wir in der Vorbemerkung
zu seinem ersten Buch bereits schrieben: „fußend auf den grundlegen Einsichten
unserer Klassiker, aber trotzdem immer historisch-konkret, so wie die Wahrheit nun
einmal ist.“
Redaktion offen-siv, Anna C. Heinrich und Frank Flegel
Spendenkonto Offensiv:
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Vorwort des Verfassers


2015 hatte ich die Möglichkeit, bei der offen-siv mein erstes Buch zu veröffentlichen:
"Die Sowjetdemokratie und Stalin".1
Wenn sicherlich auch kein "Bestseller", so gewann es doch eine gewisse Anerken-
nung und ermöglichte mir, über den Freidenkerverband in den Jahren 2015 und 2016
drei Buchvorstellungen in Köln, Bochum und Frankfurt am Main halten zu dürfen.
Zweifelsohne war die Resonanz ziemlich positiv und ermöglichte, einige Lügen über
die Stalin-Ära zu widerlegen. Natürlich hagelte es aber von antistalinistischer Seite
harsche Kritik und Verleumdungen, ähnlich wie bei den Arbeiten von Grover Furr. 2
An Inhalten mangelte es bei diesen "Kritiken" jedoch völlig. Ein gewisser Herr
Strumhoebel veröffentliche in der Zeitschrift der Freidenker (Ausgabe Nr. 1/2018)
einen Leserbrief, der attestiert, dass mein Name dem Leser nichts sage und ihm
"[b]eim Lesen des Beitrages (…) sich (…) [die] Nackenhaare [aufstellen]." Es wunde-

1
Kubi (2015)
2
Z. B. Furr (2014)

6
Zur Geschichte der Sowjetunion

re ihn, dass ein "Bewunderer Stalins" beim Deutschen Freidenkerverband zur Konfe-
renz 100 Jahre Oktoberrevolution vortragen könne. 3 "Sowjetdemokratie und Stalin"
leugne die "Verbrechen des Stalinismus", es fehle an "objektiver Information" und
habe "zweifelhafte wissenschaftliche Qualität". Im Leserbrief zitiert Sturmhoebel aus
dem Vorwort der Herausgeber und aus meinem Vorwort zum Buch. 4 Anhand dieses
Leserbriefs ist davon auszugehen, dass Herr Strumhoebel beim Lesen von "Sowjet-
demokratie und Stalin" über die erste Seite des Vorwortes nicht hinauskam. Das ist
wahrlich eine meisterhafte Leistung und ein Zeichen "wissenschaftlicher Qualität"
eines mir unbekannten Kritikers. Das ist keineswegs nur ironisch gemeint, weil die
antistalinistischen Gegner nicht mal soweit gelesen haben, geschweige denn das Buch
in der Hand hielten. Ein weiterer Antistalinist, ein gewisser KPK, Mitglied der Frei-
denker Berlin, hat sich jedoch ein wenig mehr Mühe gegeben und eine arithmetische
Leistung vollbracht, wenn er folgendes kritisiert:
"Herrn Kubis bisher einziges Werk mit wissenschaftlichem Anspruch: 'Die Sowjet-
demokratie und Stalin. Theorie und Praxis in der Sowjetunion 1917 – 1953', veröf-
fentlicht 2015 und online verfügbar, gibt Gelegenheit, die Substanz solcher Behaup-
tungen zu prüfen. Sein Literaturverzeichnis weist 154 Einträge auf. Unter diesen sind
– Primärquellen bisher geheimer Dokumente – 0 (Null)
– Veröffentlichungen russischer Autoren zwischen 1990 - 2015, die bisher geheime
Dokumente ausgewertet haben – 2 (zwei)
– Veröffentlichungen mit Erscheinungsort Moskau – 0 (Null).
Ein enormes Übergewicht hat englischsprachige Literatur und zwar betagte (Erschei-
nungsdatum überwiegend zwischen 1930 und 1953). Vieles läuft auf 'Bestätigung der
Stalin’schen Selbstauskünfte oder der klassischen Apologetik der 1950er Jahre' (Kel-
lermann) hinaus. Unvermeidliches Resultat: Unter 532 Zitaten, die dieser 'Zeichner
eines ganz anderen, differenzierteren Stalinbildes unter Verweis auf die in Moskau
inzwischen geöffneten Geheimarchive' nachweist, gibt es nicht ein einziges Zitat, das
direkt aus einer solchen Primärquelle stammt und ganze zwei, die aus Arbeiten ande-
rer russischer Autoren übernommen wurden." 5
Bekanntlich ist schlechte Werbung auch Werbung, wenn auch diese "Kritik" wie
angeberische Selbstdarstellung wirkt. Es wäre für KPK jedoch ratsam, nicht nur die
Fußnoten zu zählen, sondern auch Inhalte zu lesen, dasselbe gilt auch für das Litera-
turverzeichnis (welches übrigens 138 Einträge aufweist). Dann würde ihm vielleicht

3
Vgl. Kubi (2017)
4
Vgl. Freidenker (2018), S. 49
5
KUBI (2017A) https://offen-siv.net/wp-content/uploads/2018/05/17-09_Nov-Dez..pdf

7
Zur Geschichte der Sowjetunion

auffallen, dass die Literatur, die ich zitiere, zu einem Großteil von Historikern
stammt, die in sowjetischen Archiven forschen (z. B. J. A. Getty. R. Thurston, S.
Davies, Sh. Fitzpatrick, W. Goldmann u.v.m. - und natürlich Grover Furr, aber den
hasst KPK ja ebenso). Dass die Autoren amerikanischer bzw. britischer Herkunft
sind, ändert nichts an der Tatsache, dass diese in den Archiven forschen (und übrigens
zu den "Koryphäen" der sowj. Archiv-Forschung gehören). Dass auch "alte" Litera-
turquellen genommen wurden, hat auch den Hintergrund, dass alte Literatur nicht
unbedingt veraltet sein muss, dass auch sie wertvolle Quellen und Informationen
liefern kann, die neuere vielleicht nicht beachten (z. B. die Literatur von Rothstein
oder Baykov). Übrigens wurde eine von KPKs Lieblingsquellen, Wadim Rogowin, in
einer anderen Publikation meinerseits genauer unter die Lupe genommen und gezeigt,
dass Rogowins Quellenangaben keine wissenschaftliche Qualität besitzen. 6 KPK
moniert ja mit seiner dilettantischen Aufzählung, dass ich kein nennenswerter Histo-
riker sei, weswegen meine Arbeit über Stalin wohl keiner Beachtung bedarf - aber
wohl Beachtung genug, um darüber seinerseits zu schreiben. Offensichtlich ist, dass
KPK über die Stalinismus-Forschung, ihre Ergebnisse und ihre Methodik wenig zu
wissen scheint, sonst würde er nicht ständig Wadim Rogowin rezitieren.
Es bleibt die Frage offen, ob man denn ein Historiker sein muss, um aufrichtig über
Geschichte zu schreiben. Dieses Buch wird zeigen, dass es gerade die antikommunis-
tisch verblendeten Historiker sind, die die Geschichte fälschen. Würde man hingegen
als Historiker im imperialistischen Deutschland ein positives oder zumindest neutrales
Stalin-Bild darstellen, wäre man seinen Job als Historiker schnell los. Dabei ist es
überhaupt keine zwingende Notwendigkeit, Historiker sein zu müssen, um über Ge-
schichte zu schreiben. Der intellektuelle Wert einer Kritik wird durch den Inhalt be-
stimmt und nicht durch die Identität desjenigen, der sie äußert und noch weniger
durch dessen akademischen Abschluss. Noam Chomsky bringt es auf den Punkt:
"Bei meiner eigenen beruflichen Arbeit bin ich mit einer Vielfalt verschiedener Ge-
biete in Berührung gekommen. Ich habe zum Beispiel ohne irgendwelche professio-
nellen Ausweispapiere über mathematische Linguistik gearbeitet; auf diesem Gebiet
bin ich reinster Autodidakt, und kein allzu gut unterrichteter. Aber ich wurde häufig
von Universitäten aufgefordert, in mathematischen Seminaren und Kolloquien über
mathematische Linguistik zu sprechen. Keiner hat mich je gefragt, ob ich die ange-
messenen Legitimationen hätte, um über diese Themen zu reden; den Mathematikern
könnte es überhaupt nicht gleichgültiger sein. Was sie wissen möchten, ist lediglich,
was ich zu sagen habe. Keiner hat je Einwände gegen mein Recht zu reden erhoben
und gefragt, ob ich einen Doktorgrad in Mathematik habe oder ob ich Kurse für Fort-
geschrittene auf diesem Gebiet belegt hätte. Es wäre ihnen niemals in den Sinn ge-

6
KUBI (2017B) https://offen-siv.net/wp-content/uploads/2018/05/17-09_Nov-Dez..pdf

8
Zur Geschichte der Sowjetunion

kommen. Sie möchten wissen, ob ich recht oder unrecht habe, ob das Thema interes-
sant ist oder nicht, ob bessere Ansätze möglich sind - die Diskussion drehte sich im-
mer um den Gegenstand, nicht um mein Recht, ihn zu diskutieren.
Auf der anderen Seite wird in einer Diskussion oder Debatte über gesellschaftliche
Fragen oder amerikanische Außenpolitik, zum Beispiel Vietnam oder der Nahe Osten,
dieser Einwand ständig erhoben, häufig auf erheblich giftige Weise. Ich wurde wie-
derholt aufgefordert, meine Qualifikation nachzuweisen, oder gefragt, was für eine
Fachbildung haben Sie, die Sie berechtigt, über diese Angelegenheit zu reden. Es wird
vorausgesetzt, dass Leute wie ich, die von einem beruflichen Gesichtspunkt her Au-
ßenseiter sind, nicht berechtigt sind, über derartige Dinge zu reden. Vergleichen Sie
Mathematik und politische Wissenschaften - es ist ziemlich auffallend. In der Mathe-
matik, in der Physik beschäftigen sich Leute mit dem, was man sagt, nicht mit den
Beglaubigungen, die man hat. Aber um über gesellschaftliche Realität zu sprechen,
muss man die richtigen Zertifikate haben, insbesondere wenn man vom herrschenden
Denksystem abweicht. Ganz allgemein gesprochen, scheint es gerechtfertigt zu sein,
wenn man sagt, je reicher die intellektuelle Substanz eines Gebietes ist, desto weniger
besteht ein Interesse an Qualifikationsnachweisen und desto größer ist das Interesse
am Inhalt."7
Selbiges kann ich durch die Aussagen der oben erwähnten "Kritiker" bestätigen. Da
ich aber dennoch kein Historiker bin, ist eine kritische Betrachtung meiner Inhalte
ebenso sinnvoll und wünschenswert wie bei jedem anderen historischen Werk. Umso
bedauerlicher ist es, dass seitens der Antistalinisten solch eine Kritik nicht kam.
Tatsächlich konnte ich mich in den letzten drei Jahren in diverse Thematiken bezüg-
lich der Geschichte der Sowjetunion vertieft einarbeiten. Das Lesen weiterer histori-
scher Quellen, Werke und Darstellungen, das vertiefte Studium der Klassiker des
Marxismus-Leninismus sowie die gewinnbringenden Diskussionen mit Genossen
erlauben es, Themenbereiche meines ersten Buches zu vertiefen.
Die Geschichte der Sowjetunion ist so komplex wie auch faszinierend, dass man es
unmöglich schafft, alle Themenaspekte, sei es auch nur in Bezug auf die Ausübung
der Diktatur des Proletariats, ausreichend zu würdigen. Kann "Sowjetdemokratie und
Stalin" als ein Buch für Einsteiger angesehen werden, die einen groben Überblick
über die demokratischen Strukturen (im Sinne einer sozialistischen Demokratie, einer
Diktatur des Proletariats) der Sowjetunion während der Stalin-Ära haben wollen, ist
dieses Buch als ein erster Teil einer Intensivierung der Analyse der Sowjetgesellschaft
anzusehen. Das erfordert zum einen eine gewisse "Überlänge", zum anderen, nebst
historischer Tatsachen, auch ein intensiveres Studium der Klassiker des Marxismus-

7
CHOMSKI, N. (1981), S. 34 f., zitiert in SOKAL & BRICMONT (1999), S. 29, Fußnote 11

9
Zur Geschichte der Sowjetunion

Leninismus und ein insgesamt vertieftes Quellenstudium mit längeren Zitaten, mehr
Daten, mehr Literatur etc. (zum Unglück von "Kritikern" wie KPK ist sowohl das
Literaturverzeichnis, als auch die Anzahl der Fußnoten in diesem Werk wesentlich
länger). Dennoch habe ich mich bemüht, die Sachverhalte so klar und verständlich
wie möglich zu halten. Im Folgenden kommt eine - sehr knappe - Vorstellung der
einzelnen Kapitel.
Dieses Buch soll sich im Wesentlichen mit der Frage befassen, ob die Sowjetunion -
stellvertretend für die anderen sozialistischen Staaten - eine (totalitäre) Diktatur einer
Bürokratenklasse war oder ein sozialistischer Staat, fußend auf den Erkenntnissen von
Marx, Engels, Lenin und natürlich Stalin. Dafür, dass der Vorwurf der "Bürokraten-
diktatur" sehr schwammig und unkonkret ist, ist das Spektrum der Anhänger dieses
Vorwurfs recht groß. Aufgrund dieser Schwammigkeit und der Vielzahl ihrer Anhä-
nger sind die Themenkomplexe weit gefasst.
Es war daher notwendig, sich erst einmal eine begriffliche Klarheit zu schaffen. Da-
her befasst sich das erste Kapitel damit, wie die Grundlagen, die Begriffe Klasse,
Staat, Bürokratie und Klassenkampf marxistisch zu fassen sind. Diese Thematiken
mögen einem "erfahrenen Marxisten" vielleicht nicht neu erscheinen, dennoch halte
ich es für notwendig, diese Themen mit einzubeziehen. Zum einen wird auch in vielen
"linken" Kreisen die marxistische Lehre von der Klasse, dem Klassenkampf und dem
Staat vernachlässigt oder geleugnet, zum anderen hinkt man bürgerlichen Illusionen
hinterher. Die Unkenntnis dieser marxistischen "Binsenweisheiten" führt natürlich
auch zu falschen Schlussfolgerungen über den Charakter der Sowjetunion. Des Weite-
ren kann dieses Kapitel für den "geschulten Marxisten" auch eine gute Zusammenfas-
sung dessen sein, was unsere Klassiker herausgearbeitet haben.
Das zweite Kapitel geht der Frage der Totalitarismus-Doktrin nach. Zusammenhän-
gend mit Kampfbegriffen wie "Bürokratie", "Diktatur" und "Stalinismus" fällt immer
auch der Vorwurf des Totalitarismus - sowohl von rechter, als auch "linker" Seite. Die
Totalitarismus-Doktrin ist nichts weiter als die Gleichsetzung des Kommunismus mit
dem Faschismus. Das Kapitel stellt am Beispiel der BRD und der DDR unmissver-
ständlich dar, dass es gerade die BRD ist, die dem faschistischen Deutschen Reich
personell, materiell und auch ideologisch nahe steht und nicht die DDR. Zweifelsohne
hatten die entscheidenden Elemente des Faschismus und seiner Ideologie in den "de-
mokratischen", imperialistischen Staaten ihre Keimzellen. Diese lagen vor allem in
der Kolonialpolitik, in der Eugenik und im Rassismus der Kolonialmächte - allen
voran USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Faschismus, sei es nun
in der Form Mussolinis oder Hitlers, ist nichts weiter als die schärfste Form imperia-
listischer Ausbeutung, welche die "Traditionen" der Kolonialpolitik in die Höhe trie-
ben. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde die Totalitarismus-Doktrin zur

10
Zur Geschichte der Sowjetunion

Hauptideologie der internationalen Bourgeoisie, um die Verbindungen zwischen


Kapitalismus und Faschismus zu verwischen und den aufstrebenden Kommunismus
zu verteufeln.
Erschreckend ist jedoch festzustellen, dass es gerade Trotzki war, der in den 1930er
Jahren die Parallelen zwischen Stalin und Hitler, zwischen Nazi-Deutschland und der
Sowjetunion sah.
Durch Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurde
die kommunistische Weltbewegung nicht nur gespalten, sondern der Totalitarismus-
Theorie weitere "Bestätigung" gegeben. Anhand einiger ausgewählter Werke anti-
kommunistischer Propaganda - dem Schwarzbuch des Kommunismus, den Arbeiten
Jörg Baberowskis, Robert Conquests, Alexander Solschenitzyns und Roy Medwe-
dews - wird die Unwissenschaftlichkeit der Totalitarismus-Doktrin nachgewiesen. Ihr
gegenübergestellt werden die Arbeiten jener Historiker, die, obwohl antikommunis-
tisch, versuchen eine ehrliche, auf Fakten basierende Darstellung der sowjetischen
Geschichte aufzuzeigen. Des Weiteren folgt noch ein Abschnitt, der die philosophi-
schen Ansichten Karl Poppers über die wissenschaftliche Darstellung der Geschichte
kritisiert. Auch Popper ist Anhänger der Totalitarismus-Theorie und unterstellt der
marxistischen Geschichtsschreibung Unwissenschaftlichkeit, weil sie angeblich totali-
tär sei. Dabei ist es Popper selbst, der zum einen den zu untersuchenden Gegenstand -
den Marxismus und Hegels Dialektik - nicht kennt und zum anderen für seine Ansich-
ten dieselben Fehler begeht, die er den "Feinden der offenen Gesellschaft" unterstellt.
Als der größte "linke" Kritiker des Kommunismus und vor allem Stalins gilt Leo
Trotzki. Seine Kritik an der angeblichen bürokratischen Diktatur Stalins ist so ziem-
lich jedem geläufig. Stalin habe die Revolution verraten und Trotzki sei derjenige, der
den Lehren von Lenin folgte. Entsprechend analysiert das dritte Kapitel meines Bu-
ches Trotzkis Kritiken an der Bürokratie. Es zeigt sich, dass Lenin und Trotzki die
Bürokratie wie auch den Kampf gegen den Bürokratismus unterschiedlich bewerteten
und analysierten. Unter anderem ist es Trotzki selbst, der sich als der größte Bürokrat
beweist, so z. B. in der Diskussion um die Rolle der Gewerkschaften 1921. Trotzkis
bekanntestes Werk ist "Verratene Revolution" von 1936. Eine Analyse dieses Buches,
wie auch ähnlicher Schriften, zeigt, dass Trotzki kein klares Konzept der Bürokratie
hat, seine Darstellungen in sich widersprüchlich sind und seine Vorwürfe keine Be-
weislage haben. Trotzki behauptet etwas, ohne es nachzuweisen und man muss ihm
blind folgen. Er schreckt auch nicht davor zurück Zitate von Marx und Lenin ("Kritik
des Gothaer Programms" und "Staat und Revolution") aus dem Zusammenhang zu
reißen, um zu zeigen, dass die Sowjetunion nicht kommunistisch sei. Ohne dies lang
auszuführen (Entsprechendes steht ja in Kapitel 3): Trotzki verwischt den Unterschied
zwischen der ersten und zweiten Phase des Kommunismus (erste Phase = Sozialis-

11
Zur Geschichte der Sowjetunion

mus, zweite Phase = Kommunismus) und unterstellt der Sowjetunion aufgrund ihrer
unterentwickelten Ökonomie nach 1917, dass diese noch nicht mal den Sozialismus
erreicht habe, sondern eine Art Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozia-
lismus sei, wobei bei Trotzki unklar bleibt, ob er unter Sozialismus die erste oder
zweite Phase meint. Dabei werde die Sowjetunion nicht von der Arbeiterklasse re-
giert, sondern von einer Kaste von Bürokraten mit Stalin an der Spitze. Diese Kaste
ist aber nach Trotzki keine eigenständige Klasse, sondern die Sowjetunion sei immer
noch ein Arbeiterstaat, wenn auch degeneriert. Wie eine Bürokratie eine Diktatur
ausüben kann, ohne eine eigene Klasse sein zu können (da in einem Staat ja immer
nur eine herrschende Klasse eine Diktatur ausüben kann) und warum die Sowjetunion
trotz Unterdrückung der Arbeiterklasse ein Arbeiterstaat sein kann, diese Erklärung
bleibt uns Trotzki schuldig. Eine wissenschaftlich begründete Antwort findet sich
nicht. Trotzkis Theorien sind mehr Moralismus als Wissenschaft.
Der Vorwurf des Bürokratismus kommt immer mit der Propaganda der angeblichen
Privilegien, die die Bürokraten hatten. Tatsächlich gab es Lohnunterschiede und es
gab einzelne Privilegien. Diese erklären sich daraus, dass der Sozialismus noch eine
vergleichsweise niedrige Produktivität hat und deshalb nicht alle nach dem kommu-
nistischen Prinzip "Jedem nach seinen Bedürfnissen" versorgen kann; im Sozialismus
herrscht das Prinzip, "jedem nach seiner Leistung". Deshalb werden im vierten Kapi-
tel nicht nur die theoretischen Rechtfertigungen für die Lohnunterschiede im Sozia-
lismus ausgearbeitet, sondern diese auch konkret untersucht. Dabei werden die Lohn-
ungleichheiten (und sonstige Unterschiede in der Gesellschaft, z. B. soziale Kontakte
zwischen den Klassen etc.) nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Kapitalis-
mus analysiert. Die Schlussfolgerung: Die Ungleichheiten in der Sowjetunion waren
relativ gering, vor allem im Vergleich zu kapitalistischen Staaten.
Ausgehend von Trotzkis Theorie des degenerierten Arbeiterstaates gaben sich einige
seiner Anhänger nicht mit der These zufrieden, dass die Schicht der Bürokraten keine
eigenständige Ausbeuterklasse sei. Ihrer Ansicht nach konnte die Arbeiterklasse in
der Sowjetunion keine herrschende Klasse sein, wenn sie von den Bürokraten ausge-
beutet wurde. Folglich entstanden die ersten Theorien eines angeblichen Staatskapita-
lismus in der Sowjetunion. Der Analyse dieser Theorien widmet sich Kapitel Fünf.
Die Theorien von Max Shachtman, James Burnham, Tony Cliff, Milovan Djilas und
Michail Voslensky werden vorgestellt und untersucht. Aber auch deutsche "Theoreti-
ker", die nicht unbedingt trotzkistisch sind und nicht der Staatskapitalismustheorie
anhängen, werden kritisiert: Christoph Jünke und Ingo Wagner.
Eine ebenso nicht unwichtige Frage im Zusammenhang mit der These der Bürokratie
als einer herrschenden Klasse ist die Frage nach ihrer Rekrutierung. Wenn die Arbei-
terklasse die herrschende Klasse im Sozialismus ist, muss sie sich ihre eigene Intelli-

12
Zur Geschichte der Sowjetunion

genz schaffen, müssen die entscheidenden Stellen in Ökonomie und Politik von dieser
besetzt sein. Es ist also zu untersuchen, ob es die Arbeiterklasse im Sozialismus
schafft sich oder ihre Nachkommen in die Leitungsstellen der Gesellschaft einzuglie-
dern, bürgerliche Soziologen würden von einem Aufstieg in "Elitepositionen" spre-
chen. Diese Frage der sozialen Mobilität wird im sechsten Kapitel behandelt und
dabei ein Vergleich zum Kapitalismus gezogen. Das Ergebnis dieser Untersuchung
entspricht dem Ergebnis von Kapitel vier. Die sozialen Aufstiegschancen der Arbei-
terklasse waren in der Sowjetunion hoch, wesentlich höher als im Kapitalismus und
besonders hoch im Vergleich zum kapitalistischen Russland, in der die Arbeiterklasse
seit 1991 einen sozialen Abstieg erleidet. Am höchsten war die Sozialmobilität in der
Sowjetunion in den 1930ern und 1940ern, als eine eigene sozialistische Intelligenz
geschaffen wurde. Sie war aber auch noch bis in die 1970er Jahre recht hoch, vor
allem im Bereich der politischen und ökonomischen Leistungspositionen (z.B. Inge-
nieure, Vorarbeiter, Betriebsdirektoren, Parteifunktionäre), jedoch geringer in der rein
akademischen Intelligenz. Zum Ende der Breschnew-Zeit zeichnet sich jedoch ein
Verringern der Sozialmobilität im Vergleich zu vorherigen Jahrzehnten ab, war aber
immer noch auf relativ hohem Niveau.
Das letzte Kapitel behandelt einige abschließende Fragen. Einen besonderen Schwer-
punkt bildet die Frage, was denn die realen Ursachen der Konterrevolution waren. Da
Trotzkis Modell genauso wenig taugt wie alle anderen Bürokratismus-Vorwürfe,
werden die ökonomischen und politischen Prozesse nach dem Tode Stalins angeris-
sen, wenn auch nur sehr kurz. In den ökonomischen und politischen Reformen
Chruschtschows, Breschnews und vor allem Gorbatschows ist eher die Ursache der
Konterrevolution zu finden als in schablonenhaften Bürokratie-Vorwürfen. Es wird
auch der Frage nachgegangen, ob sich nach dem Sieg der Konterrevolution 1991 der
alte, sowjetische Staatsapparat im kapitalistischen Russland wiederfand oder ob die
"Elite" des neuen, kapitalistischen Russlands aus anderen Leuten bestand.
Einer ganz anderen Fragestellung widmet sich jener Teil, der sich mit der trotzkisti-
schen Bewegung auseinandersetzt. Die Trotzkisten sind ja diejenigen, die der Sowjet-
union vorwerfen, die Revolution verraten zu haben. Interessant ist jedoch festzuhal-
ten, dass es vor allem die Trotzkisten mit ihrer XY- Internationale waren, die sich auf
Seiten der Konterrevolution stellten.
Die Ergebnisse des Buches waren natürlich nicht nur eine reine Eigenleistung meiner
Person. Ich hatte die Möglichkeit, mich mit vielen Genossen gedanklich auszutau-
schen. Sie lasen teilweise Korrektur, diskutierten inhaltliche Fragen, gaben Verbesse-
rungsvorschläge etc. Ein Buch wie dieses ist niemals die Arbeit eines Einzelnen,
weshalb ich hier einen großen Dank an alle aussprechen möchte, die Mühe dafür
aufwandten, dass dieses Buch zustande kommt. Es ist somit das Ergebnis kollektiver

13
Zur Geschichte der Sowjetunion

Arbeit. Daher sollte es den Leser nicht verwundern, dass ich im Verlauf des Buches
nicht mehr von meiner Person spreche, sondern neutral oder im Plural (statt: "ich
weiß" "man weiß" bzw. "wir wissen").
Anmerkungen zu den Quellen und Übersetzungen
Um den Lesefluss zu erleichtern, sind die zitierten Quellen in Fußnoten angegeben.
Dort wurde nur der Autor, die Jahreszahl in Klammern und die Seitenzahl angegeben,
ggf. der Link zur Internetseite. Lediglich bei den Werken der Klassiker des Marxis-
mus-Leninismus (Marx, Engels, Lenin, Stalin) wird der Titel mit Seitenangabe sowie
die Werkausgabe genannt.
Die Klassikertexte sind alle auf der Homepage https://kommunistische-geschichte.de
als pdf-Datei zu finden. Sie entsprechen den offiziellen gesammelten Gewerken von
Marx, Engels, Lenin und Stalin aus dem Dietz-Verlag. Lediglich bei den Stalin-
Werken gibt es bei den pdf-Dateien andere Seitenzahlen als bei den Druckausgaben.
Die Seitenzahlen beziehen sich hier immer auf die pdf-Version.
Alle Quellen sind im Literaturverzeichnis zu finden. Die Auflistung der Literatur
erfolgt hier alphabetisch nach dem Nachnamen des Autors und wird nach dem Prin-
zip: "Autor (Jahr): Titel. Ort: Verlag" aufgelistet.
Die meisten Quellen sind in englischer Sprache publiziert worden. Sofern nicht an-
ders angegeben, sind alle Übersetzungen von mir gemacht worden. Sollten bei einigen
dieser Literaturquellen deutsche Übersetzungen vorhanden sein, kann es ggf. Abwei-
chungen zwischen der offiziellen Übersetzung und meiner geben. Diese Abweichun-
gen berühren jedoch nur die Auswahl der Wörter und nicht den Inhalt.

1. Allgemeines zu Klasse, Staat und Bürokratie


1.1. Klassen allgemein
Nicht selten wird in der bürgerlichen Propaganda und von bürgerlichen Sozialwissen-
schaftlern, Politikern und anderen Intellektuellen die Behauptung aufgestellt, dass in
unserer Gesellschaft eigentlich gar keine Klassen mehr existierten. Es gäbe angeblich
höchstens gewisse Schichten oder "soziale Milieus", die jedoch für alle durchlässig
seien und miteinander ein harmonisches Auskommen fänden. Die Behauptung der
Kommunisten, dass es sowas wie Bourgeoisie und Proletarier gibt, möge noch zu
Zeiten von Karl Marx gegolten haben, sei heute aber gänzlich überholt. Wer noch von

14
Zur Geschichte der Sowjetunion

der marxistischen Definition der Klasse ausgehe, sei ein unverbesserlicher Dogmati-
ker, der noch in der Vergangenheit lebe, so die gängige Meinung. Hier soll ein kurzer
Abriss darüber folgen, ob die marxistische Definition der Klasse wirklich untauglich
ist, die Gesellschaft zu analysieren.
Lenin gibt eine Definition der Klasse: "Als Klassen bezeichnet man große Menschen-
gruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich
bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (…) Verhältnis zu
den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der
Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe und des Anteils am
gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Men-
schen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Ver-
schiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirt-
schaft."8
Marx schrieb: "Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital
und die Grundeigentümer, deren jeweilige Einkommenquellen Arbeitslohn, Profit und
Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die
drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beru-
henden Gesellschaft.
In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft, in ihrer ökonomischen Gliederung,
am weitesten, klassischsten entwickelt. Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst
hier nicht rein hervor. Mittel- und Übergangsstufen vertuschen auch hier (obgleich
auf dem Lande unvergleichlich weniger als in den Städten) überall die Grenzbestim-
mungen. Indes ist dies für unsere Betrachtung gleichgültig."9
Klassen sind also "durch die Teilung der Arbeit bereits bedingt ..."10 und damit eine
objektive Einteilung von Menschen in ökonomische Kategorien. Ihre Stellung zu den
Produktionsmitteln gibt Auskunft darüber, ob sie zu den Ausgebeuteten gehören oder
selbst Ausbeuter sind. Der Privatbesitz an Produktionsmitteln (Land, Rohstoffe, Fab-
riken, Banken etc.) macht jemanden zum Ausbeuter. Verfügt man über keine Produk-
tionsmittel, gehört man zu den Ausgebeuteten. Will man also eine Gesellschaftsfor-
mation analysieren, braucht es Bestimmungskriterien. Bestimmungskriterien einer
Gesellschaftsformation sind die Produktionsverhältnisse (wem gehören sie?) und die
Produktivkräfte (wie wird produziert?). Aus diesem Verhältnis zu den Produktions-
mitteln entstehen nicht nur Klassen, sondern es kann analysiert werden, wie der

8
LENIN: Die große Initiative, LW Band 29, S. 410, vgl. auch: Kleines Wörterbuch der marxis-
tisch-leninistischen Philosophie, S.153
9
MARX: Kapital III, MEW Band 25, S. 892.
10
MARX: Deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 33

15
Zur Geschichte der Sowjetunion

Reichtum einer Gesellschaft aufgeteilt wird. Bürgerliche Theorien, die eben diese
ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft außer Acht lassen, liefern bestenfalls
eine extrem verkürzte Analyse der Gesellschaft, die sich allerhöchstens auf bestimmte
Oberflächenphänomene reduziert, ohne jedoch die Ursachen zu erkennen.
Es soll an dieser Stelle auf interessante Literatur verwiesen werden für jene, die sich
mit der Entstehung von Klassen intensiver auseinandersetzen wollen: Neben den
Werken von Marx, Engels und Lenin sind die Arbeiten von Jürgen Kuczynski, "Klas-
sen und Klassenkämpfe im imperialistischen Deutschland und in der BRD" (1972) 11,
Albert Szymanski, "Class Structure A Critical Perspective" (1983)12, die Ausgabe der
"KAZ" (1999) "Wir kennen keine Klassen mehr … oder?",13 Klaus Hesse, "Zum
Streit über die Alternative zu imperialistischer Barbarei: Sozialismus" (2013) 14, sowie
die Klassenanalyse der BRD des Karl-Marx-Forums15 zu empfehlen. Einen wertvol-
len Einstieg in diese Thematik bildet auch die Dokumentation der Kommunistischen
Initiative Deutschland "Mensch mit Klasse"16. An dieser Stelle sollen nur die wich-
tigsten Punkte wiedergegeben werden:
Ab einem bestimmten Zeitpunkt der menschlichen Entwicklungsgeschichte, als die
Arbeit den Affen zum Menschen werden ließ 17, produzierte der Mensch mehr, als er
für das tägliche Überleben brauchte; es entstand ein sogenanntes Mehrprodukt. Mit
steigendem Mehrprodukt durch Verbesserung der Produktivkräfte mussten nicht mehr
alle Menschen für den Erhalt der Gesellschaft arbeiten. Es entstand die historisch
bedingte Grundlage für Ausbeutung und die Entstehung von Klassen. In der mensch-
lichen Gesellschaftsentwicklung hatte es unterschiedliche Klassen gegeben. Ge-
schichte wird dabei von Kommunisten als Geschichte von Klassenkämpfen darge-
stellt. Marx und Engels schreiben im Manifest der Kommunistischen Partei:
"Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und
Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander,
führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf,
der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. In den früheren

11
KUCZYNSKI, J. (1972)
12
SZYMANSKI, A. (1983)
13
KAZ, KOMMUNISTISCHE ARBEITERZEITUNG (1999)
14
HESSE, K. (2013)
15
MARX-FORUM.DE: Klassenanalyse http://www.marx-forum.de/marx-
lexikon/lexikon_k/klassenanalyse.html
16
KOMMUNISTISCHE INITIATIVE (2014): Dokumentation Mensch mit Klasse - Wir bewegen die
Geschichte https://www.youtube.com/watch?v=7g6XwyuUUPs
17
ENGELS: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, MEW Band 20, S. 444 - 456

16
Zur Geschichte der Sowjetunion

Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Ge-
sellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftli-
chen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mit-
telalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in
fast jeder dieser Klassen besondere Abstufungen. Die aus dem Untergang der feuda-
len Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassen-
gegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unter-
drückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere
Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die
Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr
in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende
Klassen: Bourgeoisie und Proletariat."18
Aktuell befinden wir uns im Kapitalismus, genauer gesagt im Imperialismus, dem
höchsten und letzten Stadium des Kapitalismus. 19 Verlief die frühere Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft relativ langsam, kam es mit dem Siegeszug des Kapitalis-
mus und der industriellen Revolution zu einer Entfesselung der Produktivkräfte. Die
Produktivkräfte sind im Kapitalismus viel höher entwickelt als in vorherigen Gesell-
schaftsformationen. Das Proletariat ist freier als ein Sklave oder ein Leibeigener: Es
kann über seine Arbeitskraft frei verfügen; auch gibt es keine Sklaventreiber oder
Feudalherren mehr. Andererseits verfügt die Arbeiterklasse über keine Produktions-
mittel und muss ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen. Die Arbeiterklasse
arbeitet für den Kapitalisten z. B. in einer Fabrik, produziert Waren und erhält dafür
einen Lohn. Sie produziert aber wesentlich mehr Waren und damit Werte, als sie in
Form des Lohns ausbezahlt bekommt. Die Fähigkeit des Lohnarbeiters, mehr zu pro-
duzieren, als er zur Erhaltung seiner Arbeitskraft braucht, ergibt sich aus dem Stand
und der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität im Kapitalis-
mus. Die Wertschöpfung der Tätigkeit (lebendige Arbeit), für die die Ware Arbeits-
kraft vom Kapitalisten gekauft wird, ist also viel höher als der ihr ausbezahlte Lohn.
Was geschieht mit diesem Mehrwert? Diesen eignet sich die Bourgeoisie an. Die
kapitalistische Produktion setzt die Trennung der unmittelbaren Produzenten vom
Eigentum an den Produktionsmitteln sowie die Konzentration dieser Produktionsmit-
tel als Privateigentum der Kapitalisten voraus. Hier ist die Grundlage der kapitalisti-
schen Ausbeutung zu suchen. Die Ware Arbeitskraft schafft also unter den Bedingun-
gen der Entwicklung der Produktivkräfte ein Mehrprodukt. Dieses ist aber nicht Ei-
gentum des Produzenten (also des Arbeiters), sondern ist Eigentum des Kapitalisten
(des Eigentümers der Produktionsmittel). Im Kapitalismus sind die Lohnarbeiter öko-

18
MARX, ENGELS: Manifest der Kommunistischen Partei in MEW Band 4, S. 462
19
LENIN: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW Band 22, S. 189 - 309

17
Zur Geschichte der Sowjetunion

nomisch gezwungen, immer wieder ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkau-


fen. Arbeiter bekommen für ihre Arbeit einen Lohn, sie erhalten aber nicht alles Erar-
beitete ausbezahlt, sondern der Mehrwert wird vom Kapitalisten angeeignet. Darin
besteht die Ausbeutung. Ausbeutung wird dabei nicht als moralische Kategorie be-
wertet, sondern als objektive, rein analytische Kategorie. Sie bezeichnet nur die An-
eignung des Mehrwertes durch den Kapitalisten. Und diese Aneignung wird bei Marx
nicht als moralisches Unrecht angesehen, sondern ist im Kapitalismus ein zwangsläu-
figer Vorgang. Eine Beseitigung dieser Aneignung ist nicht durch "weniger hem-
mungsloses Verhalten der Kapitalisten möglich, sondern allein durch die Beseitigung
der kapitalistischen Produktionsweise." 20
Nun ist es jedoch so, besonders seit der Konterrevolution, dass auch unter linken
Kreisen gemeint wird, der Begriff der Klasse, wie ihn die Klassiker des Marxismus-
Leninismus gebrauchten, sei veraltet.21 Argumentiert wird dabei, dass ja immer weni-
ger Menschen in der Industrie arbeiten, es mehr studierte Leute gibt etc. Doch aus der
obigen Definition wird ersichtlich, dass der Begriff einer Klasse kein simples Berufe-
raten ist. Hier ist die Stellung zu den Produktionsmitteln das Entscheidende. Dass das
Proletariat selbst sich durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte im Kapitalis-
mus ändert, steht nicht im Widerspruch zu der oben genannten Definition. Im Kapita-
lismus kann man vier wichtige Klassen unterscheiden:
1. Zunächst ist die Bourgeoisie zu nennen. Dazu zählen eben jene Gruppen von Men-
schen, die über Produktionsmittel verfügen und andere für sich arbeiten lassen. Man
kann hier zwischen jenen Eigentümern unterscheiden, denen kleine Produktionsmittel
gehören (also Unternehmen die mehrere Arbeitskräfte einstellen, recht große Profite
erwirtschaften, die sich die Eigentümer privat aneignen und so über ein wesentlich
höheres Einkommen verfügen als die Arbeitskräfte, aber im Vergleich zu den großen
Monopolen den Markt nicht dominieren und einen geringen Einfluss auf die Welt-
wirtschaft haben) und der Monopolbourgeoisie, die über große Konzerne (inklusive
Banken) verfügen und das ökonomische und politische Geschehen somit maßgeblich
beeinflussen. Im Imperialismus ist besonders diese Monopolbourgeoisie vorherr-
schend und bildet die herrschende Klasse.
2. Zur zweiten Klasse, dem Proletariat, zählen alle lohnabhängig Beschäftigten, die
über keine Produktionsmittel verfügen. Der Begriff des Proletariats stammt aus dem
Lateinischen und heißt so viel wie Besitzloser. Keine Rolle spielt hierbei, ob sie nun
in der Industrie, im Transportwesen, im Handel oder in Versicherungen tätig sind.
Auch nicht, ob sie nun Sekretärinnen, Krankenschwestern, Kassiererinnen bei Aldi

20
KÜHNL, R. (1973), S. 71
21
Vgl. HESSE (2013), S. 250 f.

18
Zur Geschichte der Sowjetunion

sind oder am Bankschalter hocken. Und ebenso wenig, ob sie bei McDonalds
Cheeseburger verteilen, im Restaurant die Gäste bedienen, am Telefon Kundenservice
betreiben, Autos reparieren oder die Toiletten putzen. Natürlich zählen auch hierzu
Leiharbeiter, Zeitarbeiter, Ein-Euro-Jobber etc. dazu. Mit der Weiterentwicklung der
wissenschaftlich-technischen Revolution gehören die Fachkräfte im IT-Bereich, der
Chemie- oder Biotechnologie und anderer moderner Industrien auch dazu, mögen sie
ein noch so gutes Diplom haben. Wie kann es aber sein, dass so viele, völlig unter-
schiedliche Berufszweige, etwas miteinander zu tun haben? Ihnen allen gemeinsam
ist, dass sie einen Mehrwert erzeugen und somit der Ausbeutung unterliegen. Marx
unterschied dabei das Proletariat nicht nach diversen Berufsgruppen, sondern nach
qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern, die jedoch dieselbe Stellung zu den
Produktionsmitteln haben.22 Dabei ist ein höherer Lohn der qualifizierten Arbeiter
nicht ein Ausdruck für eine geringere Ausbeutung - ganz im Gegenteil. Marx schrieb
dazu in seiner Arbeit "Lohn, Preis und Profit": "Ich muss diese Gelegenheit zu der
Feststellung benutzen, dass, genauso wie die Produktionskosten für Arbeitskräfte
verschiedener Qualität nun einmal verschieden sind, auch die Werte der in verschie-
denen Geschäftszweigen beschäftigten Arbeitskräfte verschieden sein müssen. Der
Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher auf einem Irrtum, ist unerfüllbarer,
törichter Wunsch. Auf Basis des Lohnsystems wird der Wert der Arbeitskraft in
derselben Weise festgesetzt wie der jeder anderen Ware; und da verschiedene Arten
Arbeitskraft verschiedene Werte haben oder verschiedene Arbeitsmengen zu ihrer
Produktion erfordern, so müssen sie auf dem Arbeitsmarkt verschiedene Preise erzie-
len."23
Zwar kostet ein qualifizierter Arbeiter dem Kapitalisten einen höheren Lohn. Dafür
erwirtschaftet dieser einen höheren Mehrwert: "Unterschiede, (...) in der Höhe des
Arbeitslohns, beruhen großenteils auf dem schon (...) erwähnten Unterschied zwi-
schen einfacher und komplizierter Arbeit und berühren, obgleich sie das Los der Ar-
beiter in verschiedenen Produktionssphären sehr verungleichen, keineswegs den Aus-
beutungsgrad der Arbeit in diesen verschiedenen Sphären. Wird z. B. die Arbeit eines
Goldschmieds teurer bezahlt als die eines Taglöhners, so stellt die Mehrarbeit des
Goldschmieds in demselben Verhältnis auch größeren Mehrwert her als die des
Taglöhners."24

22
MARX: Kapital Band I, MEW Band 23, S. 59 und 371, zitiert nach Marx-Forum
23
MARX: Lohn, Preis und Profit, MEW Band 16, S. 131. zitiert nach Marx-Forum
24
MARX: Kapital III, MEW Band 25, S. 151. zitiert nach Marx-Forum

19
Zur Geschichte der Sowjetunion

An anderer Stelle stellte Marx fest: "Ist die Arbeit eines Goldschmieds teurer als die
eines Arbeiters, so ist die Mehrarbeitszeit des Goldschmieds im selben Verhältnis
teurer als die des Ungelernten."25
Ebenso Friedrich Engels: "Bei zwei Arbeitern, auch desselben Geschäftszweigs, wird
sich das Wertprodukt der Arbeitsstunde immer nach Intensität der Arbeit und Qualifi-
kation verschieden stellen; ..."26
Das Marx-Forum kommentiert zu diesen Zitaten von Marx und Engels: "Heute müs-
sen wir sagen: Wird die Arbeit einer Lufthansapilotin teurer bezahlt als die einer Ste-
wardess, so stellt die Mehrarbeit der Pilotin für das Kapital der Lufthansa in demsel-
ben Verhältnis auch größeren Mehrwert her als die der Stewardess." 27
Es macht auch übrigens keinen Unterschied, ob man geistig oder körperlich Arbeitet.
Folgende Untersuchungen von Karl Marx, die das Marx-Forum zusammengestellt hat,
sollen dies belegen: "Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen
Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur
Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unter-
nehmers. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer
Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis."28
"Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint der Arbeitsprozess
Kopfarbeit und Handarbeit. (...) Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem
unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das
gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d.h. eines kombinierten Arbeitspersonals,
dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehen.
Mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher
notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven
Arbeiters. Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzule-
gen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen
zu vollziehen."29
"Alle intellektuellen Arbeiten, die direkt in der materiellen Produktion konsumiert
werden“, [schloss Karl Marx ganz wie Adam Smith,] „natürlich ein in die Arbeit, die
sich fixiert und sich realisiert in einer käuflichen und austauschbaren Ware ... Nicht
nur der direkte Handarbeiter oder Maschinenarbeiter, sondern Aufseher, Ingenieur,

25
MARX: Theorien über den Mehrwert II, MEW Band 26.2, S. 386. zitiert nach Marx-Forum
26
ENGELS: Anti-Dühring. MEW Band 20, S. 186.
27
MARX-FORUM: Klassenanalyse http://www.marx-forum.de/marx-
lexikon/lexikon_k/klassenanalyse.html
28
MARX: Kapital I, MEW Band 23, S. 532.
29
MARX: Kapital I, MEW Band 23, S. 531

20
Zur Geschichte der Sowjetunion

Manager, Commis (= Geschäftsführer) etc., kurz die Arbeit des ganzen Personals, das
in einer bestimmten Sphäre der materiellen Produktion nötig ist, um eine bestimmte
Ware zu produzieren, dessen Zusammenwirken von Arbeiten (Kooperation) notwen-
dig zur Herstellung der Waren ist. In der Tat fügen sie dem konstanten Kapital ihre
Gesamtarbeit hinzu und erhöhen den Wert des Produkts um diesen Betrag."30
"Mit der Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktion, wo viele Arbeiter an
der Produktion derselben Ware zusammenarbeiten, muss natürlich das Verhältnis,
worin ihre Arbeit unmittelbar zum Gegenstand der Produktion steht, sehr verschieden
sein. Z.B. die (...) Handlanger in einer Fabrik haben nichts direkt mit der Bearbeitung
des Rohstoffs zu tun. Die Arbeiter, die die Aufseher der direkt mit dieser Bearbeitung
zu tun Habenden bilden, stehen einen Schritt weiter ab; der Ingenieur hat wieder ein
anderes Verhältnis und arbeitet hauptsächlich nur mit seinem Kopfe etc. Aber das
Ganze dieser Arbeiter, die Arbeitsvermögen von verschiedenem Werte besitzen, ...
produzieren das Resultat, das sich ... in Ware oder einem materiellen Produkt aus-
spricht; und alle zusammen, als Fabrik, sind die lebendige Produktionsmaschine die-
ser Produkte, wie sie, den gesamten Produktionsprozess betrachtet, ihre Arbeit gegen
Kapital austauschen und das Geld der Kapitalisten als Kapital reproduzieren, d.h. als
sich verwertenden Wert, sich vergrößernden Wert.
Es ist ja eben das Eigentümliche der kapitalistischen Produktionsweise, die verschie-
denen Arbeiten, also auch die Kopf- und Handarbeiten – oder die Arbeiten, in denen
die eine oder die andere Seite vorwiegt, – zu trennen und an verschiedene Personen zu
verteilen, was jedoch nicht hindert, dass das materielle Produkt das gemeinsame Pro-
dukt dieser Personen ist oder ihr gemeinsames Produkt in materiellem Reichtum ver-
gegenständlicht; was andererseits ebenso wenig hindert oder gar nichts daran ändert,
dass das Verhältnis jeder einzelnen dieser Personen das des Lohnarbeiters zum Kapi-
tal und in diesem eminenten Sinn das des produktiven Arbeiters ist. Alle diese Perso-
nen sind nicht nur unmittelbar in der Produktion von materiellem Reichtum beschäf-
tigt, sondern sie tauschen ihre Arbeit unmittelbar gegen das Geld als Kapital aus und
reproduzieren daher unmittelbar außer ihrem Lohn einen Mehrwert für den Kapitalis-
ten. Ihre Arbeit besteht aus bezahlter Arbeit plus unbezahlter Mehrarbeit."31
Desweiteren sind auch jene, die in Banken, Versicherungen und im Handel arbeiten,
dem Proletariat zugehörig. Marx bezeichnete sie als Zirkulationsarbeiter. Ziel der
Zirkulationsarbeit ist es, eine größere Menge Kapital in Profit für den Kapitalisten zu
verwandeln, als das ohne diese möglich wäre. Das heißt: Der Verkauf der Ware durch
die Zirkulationsarbeiter erhöht den Profit.

30
MARX: Theorien über den Mehrwert I, MEW Band 26.1, S. 134.
31
MARX: Theorien über den Mehrwert I, MEW Band 26.1, S. 386f.

21
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Die Zirkulationskosten als solche, d. h. die durch die Operation des Austauschs und
durch eine Reihe von Austauschoperationen verursachte Konsumtion von Arbeitszeit
oder ... Werten, sind ... Abzug entweder von der auf die Produktion verwandten Zeit,
oder von den durch die Produktion gesetzten Werten. Sie können nie den Wert ver-
mehren. Sie gehören zu den toten Kosten der ... auf dem Kapital beruhenden Produk-
tion. (...)
Insofern das Kaufmannsgeschäft und noch mehr das eigentliche Geldgeschäft diese
toten Kosten vermindern, fügen sie der Produktion zu, nicht dadurch, dass sie Wert
schaffen, sondern die Negation der geschaffenen Werte vermindern. (...) Befähigen
sie die Produzenten mehr Werte zu schaffen, als sie ohne diese Teilung der Arbeit
könnten, und zwar so viel mehr, dass ein Mehr bleibt nach Bezahlung dieser Funkti-
on, so haben sie faktisch die Produktion vermehrt. Die Werte sind dann aber ver-
mehrt, nicht weil die Zirkulationsoperationen Wert geschaffen, sondern weil sie we-
niger Wert absorbiert haben, als sie im anderen Fall getan hätten."32
"Der kommerzielle Arbeiter produziert nicht direkt Mehrwert. Aber der Preis seiner
Arbeit ist durch den Wert seiner Arbeitskraft, also deren Produktionskosten, be-
stimmt, während die Ausübung dieser Arbeitskraft, als eine Anspannung, Kraftäuße-
rung und Abnutzung, wie bei jedem anderen Lohnarbeiter, keineswegs durch den
Wert seiner Arbeitskraft begrenzt ist. Sein Lohn steht daher in keinem notwendigen
Verhältnis zu der Masse des Profits, die er dem Kapitalisten realisieren hilft.
Was er dem Kapitalisten kostet, und was er ihm einbringt, sind verschiedene Größen.
Er bringt ihm ein, nicht indem er direkt Mehrwert schafft, aber indem er die Kosten
der Realisierung des Mehrwerts vermindern hilft, soweit er, zum Teil unbezahlte,
Arbeit verrichtet."33
3. Als dritte Klasse sei das Kleinbürgertum genannt. Diese Klasse ist als Zwischen-
schicht zu den beiden oben erwähnten Klassen zu sehen. Sie zeichnet sich jedoch
dadurch aus, dass sie a) sehr inhomogen und b) politisch sehr schwankend ist. Neuer-
dings lassen sich hier zwei Untergruppen klassifizieren. Wir haben zum einen das alte
Kleinbürgertum. Diese Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie über Produktions-
mittel verfügt, jedoch auch selbst arbeitet. Das heißt, ihre Mitglieder verfügen über
Eigenschaften beider Klassen, des Proletariats (sie arbeiten selbst) und der Bourgeoi-
sie (sie verfügen über Produktionsmittel). Sie sind selbstarbeitende Eigentümer. Dazu
zählen z. B. Bauern oder Handwerker. Diese Gruppe ist in entwickelten kapitalisti-
schen Staaten im Aussterben begriffen. Entweder wurde die Bauernschaft während
der Industrialisierung im 18. Jh. in die Städte gezwungen (Akkumulation des Kapi-

32
MARX: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 42, 526f.
33
MARX: Kapital III, MEW Band 25, S. 311.

22
Zur Geschichte der Sowjetunion

tals) oder die Landwirtschaft wurde zunehmend so stark industrialisiert, dass ein so-
genanntes Landproletariat entstand: ehemalige Bauern, die über kein Land mehr ver-
fügen, aber dennoch in der Landwirtschaft tätig sind.
Mit dem Abnehmen des alten Kleinbürgertums entstand das neue Kleinbürgertum,
gerne auch als der "neue Mittelstand" oder im englischen "the new middle class"
genannt. Hierzu zählen z. B. laut Hesse (2013) und Szymanski (1983) die Staatsbeam-
ten (inklusive der Bundesregierung), die künstlerische Intelligenz (freiberufliche
Musiker, Künstler, Literaten, Schauspieler), Universitätsprofessoren, Anwälte mit
eigener Kanzlei, Ärzte mit eigener Praxis, Freiberufler und auch besonders höhere
und leitende Angestellte in Industrie und Staat 34. Mit dem Proletariat hat diese Gruppe
gemeinsam, dass sie über keine eigenen Produktionsmittel, sondern nur über ihre
Arbeitskraft verfügt. Auf der anderen Seite unterscheidet sie sich vom Proletariat
dadurch, dass viele Personen darin über ein überdurchschnittlich höheres Einkommen
verfügen und oftmals leitende Funktionen übernehmen. Durch das wesentlich höhere
Einkommen und die leitenden Funktionen in Wirtschaft und Staat haben besonders
die oberen Schichten des Kleinbürgertums eine Lebensweise und ein Bewusstsein,
welches der Bourgeoisie ähnlich ist. Solche leitenden Funktionen sind mit der zu-
nehmenden Entwicklung der Produktivkräfte für die Bourgeoisie von Bedeutung, da
sie nicht in der Lage ist, die immer komplexere Wirtschaft alleine zu organisieren. Es
bildete sich eine sogenannte Arbeiteraristokratie heraus. Sie ist eine "durch spezifi-
sche ökonomische, soziale und politische Kriterien bestehende Schicht der Arbeiter-
klasse im Kapitalismus, (…) die [sich durch] (…) höhere fachliche Qualifikation,
bessere Entlohnung, bessere soziale Stellung und häufig durch mehr oder weniger
weitgehenden Verlust des proletarischen Klassenbewusstseins [unterscheidet]."35
Aus Schichten der Arbeiteraristokratie entwickelte sich dieser neue Mittelstand. Aber
auch hier hat eine gewisse Vorsicht zu walten: Besonders in den letzten Jahrzehnten
sind viele Teile der "new middle class" zunehmend verarmt und proletarisiert. Ein
Universitätsabschluss ist lange kein Garant mehr für eine hohe leitende Stellung, und
viele Doktoranden, freischaffende Künstler, Wissenschaftler und Gelehrte können
eher dem Proletariat zugerechnet werden als der Bourgeoisie. Nicht zuletzt, weil viele
von ihnen auch am Existenzminimum nagen. Dasselbe gilt auch für pädagogisches
und medizinisches Personal, besonders wenn es nicht verbeamtet ist. Es zeigt sich
also eine Aufspaltung des Kleinbürgertums, indem der kleinere Teil, besonders jener,
der hohe leitende Funktionen in Staat und Wirtschaft übernimmt, der Bourgeoisie
näher rückt und einen wesentlich größeren Teil, der zunehmend proletarisiert wird.
Das Kleinbürgertum ist daher ein wichtiger Bündnispartner des Proletariats, ist jedoch

34
HESSE (2013), S. 302 ff., SZYMANSKI (1983), S. 85 - 86, S. 177 ff.
35
AUTORENKOLLEKTIV (1973), S. 50

23
Zur Geschichte der Sowjetunion

aufgrund seiner schwankenden Haltung und seiner kleinbürgerlichen Einstellung


nicht die führende Kraft einer proletarischen Revolution.
"In einer fortgeschrittenen Gesellschaft und durch den Zwang seiner Lage wird der
Kleinbürger einesteils Sozialist, anderenteils Ökonom, d.h. er ist geblendet von der
Herrlichkeit der großen Bourgeoisie und hat Mitgefühl für die Leiden des Volkes. Er
ist Bourgeois und Volk zugleich. Im Innersten seines Gewissens schmeichelt er sich,
unparteiisch zu sein, das rechte Gleichgewicht gefunden zu haben...
Ein solcher Kleinbürger vergöttlicht den Widerspruch, weil der Widerspruch der Kern
seines Wesens ist. Er selber ist bloß der soziale Widerspruch in Aktion." 36
"Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die
ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftli-
chen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und
bequem gemacht wird. Sie verlangen daher vor allem Verminderung der Staatsausga-
ben durch Beschränkung der Bürokratie und Verlegung der Hauptsteuer auf die gro-
ßen Grundbesitzer und Bourgeois. Sie verlangen ferner die Beseitigung des Drucks
des großen Kapitals auf das kleine durch öffentliche Kreditinstitute und Gesetze ge-
gen den Wucher (...) Um dies alles durchzuführen, bedürfen sie einer demokratischen
(...) Staatsverfassung, die ihnen und ihren Bundesgenossen, den Bauern, die Majorität
gibt. (...) Was die Arbeiter angeht, so steht vor allem fest, dass sie Lohnarbeiter blei-
ben sollen wie bisher, nur wünschen die demokratischen Kleinbürger den Arbeitern
besseren Lohn und eine gesicherte Existenz und hoffen dies durch teilweise Beschäf-
tigung von Seiten des Staates und durch Wohltätigkeitsmaßregeln zu erreichen, kurz,
sie hoffen die Arbeiter durch mehr oder minder versteckte Almosen zu bestechen und
ihre revolutionäre Kraft durch momentane Erträglichmachung ihrer Lage zu bre-
chen.(...) Diese Forderungen können der Partei des Proletariats aber keineswegs ge-
nügen."37
"Was die Kleinbürger, Handwerksmeister und Krämer betrifft, so werden sie sich
immer gleich bleiben. Sie hoffen in das Großbürgertum sich emporzuschwindeln, sie
fürchten ins Proletariat hinabgestoßen zu werden. Zwischen Furcht und Hoffnung
werden sie während des Kampfes ihre werte Haut schützen und nach dem Kampf sich
dem Sieger anschließen. Das ist ihre Natur."38
"Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der
Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem

36
MARX: Brief an Annenkow, 1846, MEW Band 4, S. 557.
37
MARX/ENGELS: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund 1850, MEW Band 7, S. 247.
38
ENGELS: Vorbemerkung zum zweiten Abdruck( 1870) der deutsche Bauernkrieg, MEW Band
16, S. 398.

24
Zur Geschichte der Sowjetunion

Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch
mehr, sie sind reaktionär, denn sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Über-
gang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünf-
tigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Pro-
letariats zu stellen."39
"Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.
Es ist selbstredend, dass sie sich weder von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern,
ihren Gegnern und Ausbeutern, befreien lassen kann, noch von den Kleinbürgern und
Kleinbauern, die, von der Konkurrenz der großen Ausbeuter erdrückt, keine andere
Wahl haben, als entweder diesen oder den Arbeitern Heeresfolge zu leisten." 40
Bezüglich der Einteilung des Kleinbürgertums gibt es zwischen den oben genannten
Autoren und der Klassenanalyse des Marx-Forums einige Diskrepanzen. 41 So macht
das Marx-Forum keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem alten und dem neu-
en Kleinbürgertum. Argumentiert wird hierbei, dass eine eigene Praxis oder eine
Anwaltskanzlei ein Eigentum an Produktionsmitteln sei. Dafür werden aber die
Staatsdiener (Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär) gesondert aufgelistet, da sie z. B.
durch Steuergelder (der Lohnabhängigen) finanziert werden. Hinzu kommen noch
private Staatsdiener, die "das Leben der Reichen verschönern" sollen. Marx bezeich-
net sie als "Bedientenklasse"42 (Hauspersonal, Chauffeure, Gärtner etc. der Bourgeoi-
sie) und unterscheidet sie von der arbeitenden Klasse. 43 Gemeinsam mit dem Proleta-
riat haben sie aber, dass sie über keine Produktionsmittel verfügen und einen Lohn
erhalten. Diese unterschiedlichen Auffassungen marxistischer Autoren sind jedoch
nur punktuell und beweisen den Übergangscharakter dieser Klasse. Tatsache bleibt
jedoch, dass das Kleinbürgertum nicht zur Bourgeoisie gehört, auch wenn sie über
eigene Produktionsmittel verfügen, da sie nicht von den Früchten der Arbeit anderer
leben können: "Zersplitterte Produktionsmittel, die den Produzenten selbst als Be-
schäftigungs- und Subsistenzmittel dienen, ohne sich durch Einverleibung fremder
Arbeit zu verwerten, sind ebenso wenig Kapital als das von seinem eigenen Produzen-
ten verzehrte Produkt Ware ist."44

39
MARX/ENGELS: Kommunistisches Manifest, MEW Band 4, S. 472.
40
ENGELS: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs von 1891. MEW Band 22,
S. 240.
41
Vgl. MARX-FORUM: Klassenanalyse Kapitel 1. Nichtproletarische Klassen
42
MARX: Kapital II, MEW Band 24, S. 481
43
MARX: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 305 Anm.
44
MARX: Kapital I, MEW Band 23, S. 731

25
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Wie verhält es sich aber dann mit selbständigen Handwerkern oder Bauern, die keine
Arbeiter anwenden, also nicht als Kapitalisten produzieren? (...) Aber ihre Produktion
ist nicht unter die kapitalistische Produktionsweise subsumiert. Es ist möglich, dass
diese Produzenten, die mit eigenen Produktionsmitteln arbeiten, nicht nur ihr Arbeits-
vermögen reproduzieren, sondern Mehrwert schaffen, indem ihre Position ihnen er-
laubt, ihre eigene Surplusarbeit [=Mehrarbeit, M. K.] oder einen Teil derselben (in-
dem ein Teil ihnen unter der Form von Steuern etc. weggenommen wird) sich anzu-
eignen. (...) Der unabhängige Bauer oder Handwerker wird in zwei Personen zer-
schnitten. (...) Als Besitzer der Produktionsmittel ist er Kapitalist, als Arbeiter ist er
sein eigener Lohnarbeiter. Er zahlt sich also seinen Salair [=Lohn] als Kapitalist und
zieht seinen Profit aus seinem Kapital, d.h. er exploitiert [=beutet] sich selbst als
Lohnarbeiter aus und zahlt sich in dem surplus value [=Mehrwert] den Tribut, den die
Arbeit dem Kapital schuldet. Vielleicht zahlt er sich noch einen dritten Teil als
Grundbesitzer (Rente) (...) Die Produktionsmittel werden nur Kapital, soweit sie als
selbständige Macht der Arbeit gegenüber verselbständigt sind. Im angegebenen Fall
ist der Produzent (...) Besitzer, Eigentümer seiner Produktionsmittel. Sie sind also
nicht Kapital, sowenig wie er ihnen gegenüber Lohnarbeiter ist. (...) Der Produzent
schafft zwar im angegebenen Fall seinen eigenen surplus value (der Fall gesetzt, dass
er seine Ware zu ihrem Wert verkauft), (...) dass er aber das ganze Produkt seiner
eigenen Arbeit sich selbst aneignen kann und es nicht von einem dritten Herrn ange-
eignet wird, (...) verdankt er nicht seiner Arbeit - die ihn nicht von anderen Arbeitern
unterscheidet -, sondern dem Besitz seiner Produktionsmittel."45
"Der Besitz der Produktionsmittel durch die einzelnen Produzenten verleiht heutzuta-
ge diesen Produzenten keine wirkliche Freiheit mehr (...) Seine Existenz ist unsicherer
als die des Proletariers, der wenigstens dann und wann ruhige Tage erlebt" 46
"In den Ländern, wo sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, hat sich eine neue
Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie
schwebt und als ergänzender Teil der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem sich
bildet, deren Mitglieder aber beständig durch die Konkurrenz in Proletariat hinabge-
schleudert werden, ja selbst mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt
herannahen sehen, wo sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich
verschwinden"47

45
MARX: Theorien über den Mehrwert I., MEW Band 26.1, S. 382-384.
46
ENGELS: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, MEW Band 22, S. 492.
47
MARX: Kommunistisches Manifest, MEW 4, 484.

26
Zur Geschichte der Sowjetunion

4. Als letzte Gruppe sei noch die Gruppe der Ausgeschlossenen genannt, Verlierer am
Rand der Gesellschaft: Langzeitarbeitslose, Drogensüchtige, Kleinkriminelle, Ob-
dachlose, Prostituierte. Marx bezeichnete sie als Lumpenproletariat.48
In der BRD betrugen die Zahlen für die einzelnen Klassen 2004, laut dem Marx-
Forum:
3% Bourgeoisie und Gutsbesitzer
77% Proletarier
7% traditionell selbstarbeitende Kleinbürger (Handwerker, Bauern, Intelligenz mit
eigenen Produktionsmitteln)
12% Staatsdiener und Privatdiener
1% Lumpenproletariat49
Unter diesem Aspekt muss noch die sog. Verelendungstheorie von Marx beleuchtet
werden. Dies ist wichtig, da von der bürgerlichen Ideologie gerne behauptet wird,
dass es der arbeitenden Klasse in der BRD materiell so viel besser geht, also eine
Verelendung nicht stattfand. Reinhard Kühnl kommentiert: "Die Absicht ist klar:
'Verelendung' wird hier als durchgängige und gradlinige Lohnverelendung gedeutet;
und in den Triumphruf, dass eine solche unter den Bedingungen der 'Wohlstandsge-
sellschaft' nicht mehr nachzuweisen sei, schwingt die stille Aufforderung mit, zu-
sammen mit der Verelendungstheorie die Lehre vom Kapitalismus, von 'Ausbeutung'
und 'Mehrwert' überhaupt ins Beinhaus der Denkgeschichte zu verweisen.'" 50
"Es zeigt sich (…), dass Marx in seinen späteren, wissenschaftlich reiferen Werken
keine absolute Verelendungstheorie vertritt, lediglich eine relative, die darin besteht,
dass die Löhne weniger rasch steigen als die Profite. (…) Und Friedrich Engels
schließlich mache (1891) zu dem Satz des Erfurter Programmentwurfs der deutschen
Sozialdemokratie 'Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier' folgende
Bemerkung: 'Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter,
ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise
einen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst ist die Unsicherheit der Exis-
tenz. Das würde ich hineinsetzen.' (…) Was die Autoren nicht verstehen, ist die
Marxsche Einsicht, dass mit der Verbesserung der materiellen Lage des Arbeiters eine
Verschlechterung seiner gesellschaftlichen Situation einhergehen kann und auch ein-
hergegangen ist. In Marx' Worten: 'Die materielle Lage des Arbeiters hat sich verbes-

48
MARX: Klassenkämpfe 1848–1850, MEW Band 7, S. 26 und Kapital I, MEW Band 23, S.
673
49
MARX-FORUM: Klassenanalyse
50
KÜHNL (1973), S. 179

27
Zur Geschichte der Sowjetunion

sert, aber auf Kosten seiner gesellschaftlichen Lage. Die gesellschaftliche Kluft, die
ihn vom Kapitalisten trennt, hat sich erweitert.'" 51
Es zeigt sich also, dass Marx‘ Analyse der Klassen auch heute ihre aktuelle Bedeu-
tung hat. Wichtig ist es hierbei jedoch, Marx nicht dogmatisch beim Wort zu nehmen,
sondern seine Klassenanalyse auf die heutige Zeit bezogen anzuwenden. Das Proleta-
riat mag zwar nicht mehr überwiegend in der Fabrik tätig sein, wie es zu Marx‘ Zeiten
war. Doch dies ist Ausdruck der Entwicklung der Produktivkräfte, also der wissen-
schaftlich-technischen Weiterentwicklung. Entscheidend ist die Stellung zu den Pro-
duktionsmitteln, und da hat sich von damals bis heute nichts geändert, außer dass die
Klassenverhältnisse - die Spaltung in Bourgeoisie und Proletariat - noch extremer
wurden.
Natürlich versucht die Bourgeoisie als herrschende Klasse den Klassencharakter des
Kapitalismus zu vertuschen. Die bourgeoise Ideologie versucht den Unterschied zwi-
schen den Klassen zu verwischen, indem sie zwar zugestehen mag, dass es einige sehr
arme und sehr reiche gibt, die meisten jedoch dem sog. Mittelstand angehören. Wenn
einige Ideologen die Unterschiede zwischen Arm und Reich anerkennen, so versu-
chen sie dies anhand des natürlichen menschlichen Verhaltens zu rechtfertigen. Die
Gesellschaft wird gerne als pluralistisch dargestellt, die frei ist von Ideologien und
dem Einfluss von Reichtum und Klasseninteresse. Die bürgerliche Soziologie ver-
sucht den marxistischen Klassenbegriff zu verwässern und ihn durch andere "Theo-
rien" zu ersetzen. Modern in der bürgerlichen Soziologie sind sogenannte Milieutheo-
rien. Der Armuts-Forscher Christoph Butterwegge schildert einen kritischen Blick auf
die bürgerliche Soziologie:
"Ein im Gefolge der Schüler- und Studentenbewegung zumindest teilweise systemkri-
tisches, Widersprüche und Interessengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft
thematisierendes Fach mutierte in relativ kurzer Zeit zu einem stärker empirisch ori-
entierten, weitgehend der angloamerikanischen Theorietradition, dem Strukturfunkti-
onalismus, der Systemtheorie und dem Positivismus verpflichteten Wissenschafts-
zweig und beschrieb höchstens noch, was seine führenden Repräsentanten vorher
aktiv mit zu verändern gesucht hatten. Der Siegener Hochschullehrer Rainer Geißler
monierte um die Mitte der 90er-Jahre, dass der gesellschaftskritische Geist aus der
neueren Sozialstrukturanalyse entwichen sei: 'Aus der kritischen Analyse ungleicher
Lebenschancen ist eine unverbindliche Analyse vielfältiger Lebensstile geworden;
sozialkritische Ungleichheitsforschung hat sich unter der Hand in 'postmoderne',
unverbindliche Vielfaltsforschung mit einer stark kultursoziologischen Orientierung
verwandelt.' Geißlers Haupteinwand gegen den Mainstream seiner Fachdisziplin gilt

51
KÜHNL (1973); S. 181

28
Zur Geschichte der Sowjetunion

bis heute, hat doch die Soziologie nie mehr zu der früheren Tiefenschärfe ihrer Sozi-
alstrukturanalyse zurückgefunden: 'Mit der unkritischen Fokussierung auf die dyna-
mische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für wei-
terhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz,
daß vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und
wegdynamisiert werden. Sie werden mit einem Schleier von Prozessen der Individua-
lisierung, Pluralisierung, Differenzierung und Dynamisierung verhüllt und unkennt-
lich gemacht.' Modernisierungs- und Individualisierungstheorien brachten nur einen
geringen Erkenntnisgewinn, wollte man verstehen, wie die Gesellschaft strukturiert
ist. Außerdem überdeckten sie die zunehmenden Marginalisierungstendenzen, welche
eher einem Rückfall in den Frühkapitalismus als einer Wohlstand für alle verheißen-
den Überwindung dieses Gesellschaftssystems ähnelten. 'Von den Individualisie-
rungstheoretikern sicherlich unbeabsichtigt, erleichtert die Betonung der Partikulari-
tät, der individuellen Verschiedenheit, der Erlebnisgesellschaft usw. die Verschleie-
rung eines gesellschaftlichen Umbaus, der die Zurückdrängung des Sozialstaates und
die Verschärfung der sozialen Unterschiede zum Inhalt hat.' Die Soziologin Eva Bar-
lösius bemerkte denn auch um die Mitte der 90er-Jahre treffend, dass fast alles, was
man damals über Armut in Deutschland wusste, einschlägigen Memoranden von
Wohlfahrtsverbänden und den meist als 'Sozialberichten' bezeichneten Dokumentati-
onen einzelner Städte zu verdanken sei, während ihre eigene Fachdisziplin, wie sie
monierte, relativ wenig zur Aufklärung darüber beitrage: 'Die bemerkenswert geringe
Aufmerksamkeit der Soziologie dem sozialen Problem Armut gegenüber hat dazu
geführt, daß es zu einem zentralen sozialen Phänomen beinahe nur Daten gibt, die aus
der sozialen Praxis und der Sozialplanung stammen. Genuin soziologische Untersu-
chungen über Armut gibt es kaum.'" 52
"Bis heute leugnen die meisten deutschen Sozialwissenschaftler/innen beharrlich,
dass sie es mit einer Klassengesellschaft zu tun haben. Dies gilt selbst für solche
Fachvertreter/innen, die sich als kritische Intellektuelle verstehen. Der Soziologe
Stephan Lessenich und der Politikwissenschaftler Frank Nullmeier sprechen bei-
spielsweise von einer 'Vervielfältigung der Konfliktlinien und Spaltungen', die mit
einer 'Vereinheitlichung der Konfliktsichten und -muster' korrespondierten: 'Die viel-
fachen Spaltungen sind Kennzeichen einer in Konkurrenzgruppen und -grüppchen
zerfallenden und sich entlang ökonomischer Kalküle immer wieder neu gruppieren-
den Gesellschaft. Deutschland erlebt die Zersplitterung einer von Konkurrenzen
durchzogenen Gesellschaft, in der jede Lage, jede Gruppe ihr Heil und Wohl in kom-
petitiver Entgegensetzung zu anderen Lagen und Gruppen sucht und suchen muss.'
Erscheint diese Schlussfolgerung schon ausgesprochen deterministisch bis defätis-

52
BUTTERWEGGE (2009), S. 161 - 162

29
Zur Geschichte der Sowjetunion

tisch, wird die Existenz von Klassen im Anschluss glattweg geleugnet: 'Die Gesell-
schaft zerfällt in Markt- und Sozialstaatslagen, die jedoch im Einzelnen bereits als so
instabil erlebt werden, dass keine dauerhafte Identifikation mit einer Rolle und Grup-
pe mehr gelingt. Statt stabiler sozialer Klassen mit relativ klar geschnittenen Klassen-
interessen gibt es nunmehr eine Fülle potenziell wechselnder Markt- und Sozialstaats-
lagen mit hochgradig situativen Konkurrenzinteressen.' Deutschland sei heute 'auf
dem Weg zu einer Konkurrenzgesellschaft', konzedieren Lessenich und Nullmeier
zwar, relativieren ihre Aussage jedoch sofort wieder, wenn sie das Bezeichnende der
gegenwärtigen Situation nicht in der Verfestigung von antagonistischen Klassenposi-
tionen sehen: 'Konkurrenz schafft eine Vielzahl von Zwischenlagen und situativen
Kontexten, zieht aber gerade nicht eine klare und feste Grenze zwischen 'Gewinnern'
und 'Verlierern' des Konkurrenzspiels.' Dass sich die sozialen Ungleichheiten, Ge-
gensätze und Spaltungen zu einander feindlich gegenüberstehenden 'politischen La-
gern' formierten, ist allerdings kein für Klassengesellschaften konstitutives Merkmal,
sondern historisch eher die Ausnahme gewesen. Hierzulande wagten es jahrzehnte-
lang fast nur Außenseiter der Wissenschaftsgemeinde, die spezifischen Formen jener
Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, welche heute kaum mehr zu übersehen
ist, auf den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit zurückzuführen. Erst seit
kurzem erlebt die Kapitalismuskritik in der Soziologie wieder eine Renaissance
(…)"53
Wir haben aber schon oben gezeigt, dass Klassen und Klassenunterschiede im Kapita-
lismus existieren; sie sind eine notwendige Folge des Privateigentums an Produkti-
onsmitteln. Daher ist die Position, diesen Zustand als "naturgegeben" darzustellen
nicht nur reaktionär, sondern auch grundfalsch. Wenn jedoch das Privateigentum an
Produktionsmitteln und die Existenz einer kleinen ausbeutenden Klasse, die von der
Arbeit der größten Mehrheit der Bevölkerung lebt, eine reale Tatsache ist, so muss
man ebenso davon ausgehen, dass solch eine Gesellschaft unmöglich "ideologiefrei"
und frei von Einflüssen durch diese ausbeutende Klasse ist. Alle wichtigen Medien
sind Privateigentum, öffentliche Einrichtungen sind von Geldern der ausbeutenden
Klasse abhängig etc. Um diesen Zustand zu überwinden, besteht die Notwendigkeit
einer revolutionären Veränderung, einer sozialistischen Revolution unter Führung des
Proletariats.
Die bürgerliche Ideologie kann es drehen und wenden wie sie will, der marxistische
Klassenbegriff kann nicht so einfach wegdiskutiert werden und hat immer noch seine
Gültigkeit.

53
BUTTERWEGGE (2009), S. 162 - 163

30
Zur Geschichte der Sowjetunion

1.2. Klassen im Sozialismus


Mit dem Sieg des Sozialismus wird die Bourgeoisie enteignet. Die Produktionsmittel
werden vergesellschaftet und die geschaffenen Werte der werktätigen Klassen kom-
men allen Werktätigen zugute. Eine sozialistische Gesellschaftsformation definiert
sich also dadurch, dass die Produktionsmittel vergesellschaftet sind. Die Wirtschaft
erfolgt nach einem gesamtgesellschaftlichen Plan, an dessen Aufstellung, Kontrolle
und Durchführung möglichst viele mitwirken. Die gesellschaftlich erzeugten Reich-
tümer (Mehrprodukt) bleiben gesellschaftlich und werden der Gesellschaft zugute-
kommen - beispielsweise zur Erhöhung der Produktivkräfte, der Errichtung eines
kostenlosen Bildungs- und Gesundheitssystems, über subventionierte Grundnah-
rungsmittel, Wohnungen etc.
Der Sozialismus ist die Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Im Sozialismus werden zwar die Ausbeuterklassen beseitigt, es werden aber noch
Klassen existieren. Und es werden aufgrund der noch nicht weit genug entwickelten
Produktivkräfte Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit bestehen,
Unterschiede zwischen Stadt und Dorf etc. Da die Produktivkraftentwicklung noch
nicht voll ausgereift ist, existiert im Sozialismus ein Unterschied der Verteilung nach
der Arbeitsleistung ("Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung").
Ausbeutung, d. h. die private Aneignung von Mehrwert durch die Arbeit anderer und
damit die Anschaffung von Kapital bleibt jedoch verboten. Der Unterschied in der
Verteilung reduziert sich nur auf die Konsumtion. Wie lange die Übergangszeit dau-
ert, wie weit sich der Sozialismus entwickeln kann, hängt von mehreren Faktoren ab:
der Stärke des kapitalistischen Lagers, der Entschlossenheit der Kommunistischen
Partei und der Stärke der revolutionären Bewegung. Die Möglichkeit einer Konterre-
volution ist, wie historisch geschehen, immer möglich. Entsprechend existiert im
Sozialismus noch der Staat in Form der Diktatur des Proletariats. Die Möglichkeit
einer Konterrevolution und einer Restauration zum Kapitalismus besteht solange
weiter, wie eine kapitalistische Umkreisung existiert.
Dies trifft im Übrigen auch auf alle Gesellschaftsformationen zu. Nach den Grundla-
gen des von Marx, Engels und Lenin ausgearbeiteten historischen Materialismus geht
eine "niedere" Gesellschaftsformation in eine "höhere" über. So gab es den Wechsel
von der Urgesellschaft zur Sklavenhaltergesellschaft, von dieser zum Feudalismus hin
und schließlich zum Kapitalismus. Der Kommunismus ist die höchste Gesellschafts-
formation, der Sozialismus ist dabei die Übergangszeit zwischen Kapitalismus und
Kommunismus. Eine höhere Gesellschaftsformation definiert sich dabei über ihre
Produktivkräfte, die Übergänge von einer Gesellschaftformation zur nächsten sind
revolutionäre Prozesse. Nun verläuft aber der Übergang zur höheren Gesellschafts-
formation nicht geradlinig. Es gibt historische Umstände, bei der einzelne "höhere"

31
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gesellschaftsformationen wieder in eine "niedere" zurückfallen können. Auch der


Kapitalismus musste so einige Niederlagen in seiner Geschichte hinnehmen und
konnte sich nicht immer sofort durchsetzen:
"In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich in den Städten Nord-
Italiens (z.B. Genua, Venedig, usw.) mit dem Verhältnis von Lohnarbeit-Kapital eine
historisch neue Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen: kapitalisti-
sche Produktionsverhältnisse. Aus einer Vielzahl von Gründen konnten sie jedoch
kein höheres Entwicklungsniveau und keine Dominanz erringen, was in einer Rück-
kehr zu feudalen Beziehungen endete. Später, im 16. Jahrhundert, ließ die Entwick-
lung kapitalistischer Beziehungen in England und in Holland die Bourgeoisie in den
Vordergrund rücken. Dies führte zu einer Reihe von bürgerlichen Revolutionen, bis
sich endlich, durch einen Prozess von Konflikten und Kompromissen mit den feuda-
len Klassen, im 19. Jahrhundert die kapitalistischen Produktionsverhältnisse etablie-
ren konnten. In der Weltgeschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR,
Bd. C2, S. 943-983, ist der Verlauf der Ausdehnung der kapitalistischen Verhältnisse
in den Städten Nord-Italien im Detail beschrieben, wie auch der Prozess ihres Zerfalls
und Sturzes, was zur Rückkehr und Dominanz der feudalen Beziehungen führte. Cha-
rakteristisch für das Ausmaß, das die kapitalistischen Verhältnisse in italienischen
Städten erreicht hatte, war die Tatsache, dass harte Klassenkonflikte, einschließlich
Streiks und Aufständen zwischen Lohnarbeitern und bürgerlichen Handwerkern,
Kaufleuten und Bankiers stattfanden. Ein besonderer Fall war der Aufstand von 4000
Arbeitern in den Textil-Manufakturen in Florenz 1343. Im 15. Jahrhundert wurden die
Manufakturen eingeschränkt und die reichen Stadtbewohner transferierten ihre Gelder
in die Landwirtschaft. Eine wichtige Tatsache, die den Rückzug der kapitalistischen
Verhältnisse belegt, ist die, dass im 13. Jahrhundert in einigen Städten die Leibeigen-
schaft abgeschafft oder gelockert wurde, in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
aber zurückkehrte. (Bd. C2, S. 962-964)"54
Daraus wird deutlich, dass ein historischer Rückschritt prinzipiell immer möglich ist.
Wenn also der Sozialismus untergeht und kapitalistischen Produktionsverhältnissen
weichen muss, heißt das nicht automatisch, dass der Kapitalismus das Ende der Ge-
schichte einleitet bzw. der Sozialismus eine Utopie ist.
Um eine Klassenanalyse des sowjetischen Sozialismus durchführen zu können, ist es
daher wichtig zu wissen, welche Klassen in der Sowjetunion existierten. Hierfür ist
das Jahr 1936 bedeutend, denn zu dieser Zeit wurden die letzten ausbeutenden Klas-

54
KKE (2008), S. 14 - 15, Anmerkung 4

32
Zur Geschichte der Sowjetunion

sen (insbesondere die sog. "Kulaken" 55) liquidiert und eine neue Verfassung prokla-
miert, die diese sozialistischen Produktionsverhältnisse festigte. Die einzigen Klassen,
die noch existierten, waren die Arbeiterklasse, die Bauern und die Intelligenz. Allen
drei ist gemeinsam, dass sie sich nicht durch die Ausbeutung fremder Arbeit berei-
chern konnten. In den 1920er Jahren hatten noch Ausbeuterklassen existiert. In der
Sowjetunion war dies die Zeit des Kriegskommunismus (1918 – 1921) und der Neuen
Ökonomischen Politik (NÖP, 1921 – 1928). Mit den Fünfjahresplänen Ende der 20er
Jahre wurden die sozialistischen Produktionsverhältnisse gefestigt. Dies wird im
Lehrbuch der Politischen Ökonomie (Kapitel 24) gut zusammengefasst:
"Die proletarische Revolution unterscheidet sich grundsätzlich von allen ihr vorange-
gangenen Revolutionen. Beim Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zur Feu-
dalgesellschaft und von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft wurde die eine
Form des Privateigentums durch eine andere ersetzt und damit die eine durch eine
andere Ausbeutermacht abgelöst. Da alle auf Ausbeutung beruhenden Gesellschafts-
formationen eine gleichartige Grundlage haben – das Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln –, reifte die neue sozialökonomische Formation allmählich im Schoß der
alten Produktionsweise heran. So beginnt die bürgerliche Revolution gewöhnlich bei
Vorhandensein mehr oder weniger fertiger Formen der kapitalistischen Ordnung, die
bereits im Schoße des Feudalismus herangewachsen und ausgereift sind. Die Haupt-
aufgabe der bürgerlichen Revolution besteht darin, dass die Bourgeoisie die Macht
ergreift, um sie mit der vorhandenen kapitalistischen Wirtschaft in Übereinstimmung
zu bringen. Die bürgerliche Revolution wird gewöhnlich mit der Machtergreifung
abgeschlossen.
Ziel der proletarischen Revolution ist das Ersetzen des Privateigentums an den Pro-
duktionsmitteln durch das gesellschaftliche Eigentum und die Beseitigung jeglicher
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Sie findet keinerlei fertige Formen
der sozialistischen Wirtschaft vor. Die sozialistische Formation, die sich auf das ge-
sellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln gründet, kann nicht im Schoße
der auf dem Privateigentum beruhenden bürgerlichen Gesellschaft heranwachsen. Die
Aufgabe der proletarischen Revolution besteht darin, die Macht des Proletariats zu
errichten und eine neue, die sozialistische Wirtschaft aufzubauen. Die Eroberung der
Macht durch die Arbeiterklasse ist nur der Beginn der proletarischen Revolution,
wobei die Macht als Hebel für die Umwandlung der alten Wirtschaft und für die Or-
ganisierung der neuen ausgenutzt wird."56

55
Kulaken waren reiche Großbauern, die andere für sich arbeiten ließen, also Ausbeuter im
ökonomischen Sinne waren.
56
AUTORENKOLLEKTIV (1955): Lehrbuch der politischen Ökonomie, Kapitel 24

33
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Auf der Grundlage der Nationalisierung der Großindustrie, des Verkehrswesens, der
Banken usw. entstehen die sozialistischen Wirtschaftsformen. Neben den sozialisti-
schen Wirtschaftsformen, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produkti-
onsmitteln beruhen, gibt es in der Übergangsperiode noch Wirtschaftsformen, deren
Bestehen sich aus der Vergangenheit herleitet und die auf dem Privateigentum an den
Produktionsmitteln beruhen. Das bedeutet, dass die Wirtschaft der Übergangsperiode
mehrere Formen aufweist. Während der Übergangsperiode bestanden in der UdSSR
folgende fünf Wirtschaftsformen: 1. die patriarchalische bäuerliche Wirtschaft, 2. die
kleine Warenproduktion, 3. der privatwirtschaftliche Kapitalismus, 4. der Staatskapi-
talismus, 5. der sozialistische Sektor. (…) Nicht in jedem Land, das den Sozialismus
errichtet, müssen fünf Wirtschaftssektoren bestehen; das war eine Besonderheit in
Sowjetrussland. Wie Lenin lehrte und wie es die Geschichte bereits bestätigt hat,
bestehen in jedem Land in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus
folgende Hauptformen der gesellschaftlichen Wirtschaft: der Sozialismus, die kleine
Warenproduktion und der Kapitalismus. Diesen Formen entsprechen die Klassen: die
Arbeiterklasse, das Kleinbürgertum und die Bourgeoisie. Diese Hauptmerkmale der
Wirtschaft, der Klassenverhältnisse und folglich auch der Grundlagen der Wirt-
schaftspolitik der Diktatur des Proletariats in der Übergangsperiode sind allen Län-
dern gemeinsam, was spezifische Besonderheiten in jedem Lande nicht ausschließt,
sondern vielmehr voraussetzt. (…) Das feste Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bau-
ernschaft ist die unerlässliche Voraussetzung für die Herstellung der richtigen öko-
nomischen Beziehungen zwischen Stadt und Dorf, zwischen Industrie und Landwirt-
schaft und damit für den Aufschwung der Landwirtschaft und ihre sozialistische Um-
gestaltung. Nur auf der Grundlage des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der Bauern-
schaft sind die Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsformen und der Sieg des
Sozialismus möglich. Die Arbeiterklasse und die Bauernschaft sind die Hauptklassen
in der Übergangsperiode. (…) Der Grundwiderspruch der Wirtschaft der Übergangs-
periode ist der Widerspruch zwischen dem gerade entstandenen, jedoch in der ersten
Zeit noch schwachen Sozialismus, dem die Zukunft gehört, und dem gestürzten, doch
zunächst noch starken Kapitalismus, der seine Wurzeln in der kleinen Warenproduk-
tion und im Kleinbürgertum hat und das Vergangene darstellt. Auf allen Gebieten des
wirtschaftlichen Lebens entbrennt in der Übergangsperiode der Kampf zwischen
Sozialismus und Kapitalismus nach dem Prinzip: ‚Wer – Wen‘. Zwischen der Arbei-
terklasse und den breiten Massen der Bauernschaft einerseits sowie der Bourgeoisie
anderseits bestehen antagonistische, unversöhnliche Gegensätze. In der Übergangspe-
riode betreibt der proletarische Staat zunächst die Politik der Einschränkung und
Verdrängung der kapitalistischen Elemente und im weiteren die Politik ihrer völligen
Liquidierung. Für die Übergangsperiode ist die Verschärfung des Klassenkampfes des
Proletariats und der werktätigen Massen gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand

34
Zur Geschichte der Sowjetunion

sich in dem Maße verstärkt, wie sich der sozialistische Aufbau entfaltet, eine gesetz-
mäßige Erscheinung."57
"Eine unerlässliche Voraussetzung für den erfolgreichen sozialistischen Aufbau in der
UdSSR war die Zurückweisung der kleinbürgerlichen Theorie, dass die Errichtung
des Sozialismus in einem Lande unmöglich und dass Russland seiner technisch-
ökonomischen Rückständigkeit wegen für den Sozialismus 'nicht reif genug' sei.
Die Kommunistische Partei ging von den Thesen Lenins aus, dass in der UdSSR alles
für den endgültigen Aufbau des Sozialismus Notwendige in ausreichendem Maße
vorhanden ist und dass die technisch-ökonomische Rückständigkeit Russlands unter
den Bedingungen der Diktatur des Proletariats vollständig überwunden werden kann.
Die historischen Erfahrungen bestätigten vollauf die Richtigkeit dieser Thesen
Lenins.
Lenins Plan des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR enthielt die Maßgabe, eine
mächtige sozialistische Industrie zu schaffen als materielle Basis des Sozialismus und
als notwendige Voraussetzung für den allmählichen Übergang der kleinen Bauern-
wirtschaften zur kollektiven Großproduktion ihre Zusammenfassung in Genossen-
schaften. Erstrangige Bedeutung im Rahmen des Leninschen Programms zum Aufbau
des Sozialismus kam dem im Jahre 1920 angenommenen Staatlichen Plan der Elektri-
fizierung Russlands zu – dem GOELRO-Plan. Das war in der Geschichte der
Menschheit der erste Perspektivplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft, darauf
berechnet, im Verlaufe von 10 bis 15 Jahren die ökonomisch-technische Basis des
Sozialismus zu schaffen.
'Der Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus, die Festigung des Sozialismus kann
erst dann als gesichert gelten, wenn die proletarische Staatsmacht, nachdem sie jeden
Widerstand der Ausbeuter endgültig gebrochen und sich vollkommene Stabilität und
völlige Unterordnung gesichert hat, die gesamte Industrie nach den Grundsätzen des
kollektiven Großbetriebs und auf Grund der modernsten Errungenschaften der Tech-
nik (Elektrifizierung der gesamten Wirtschaft) reorganisiert. Nur das wird der Stadt
die Möglichkeit geben, der zurückgebliebenen, zersplitterten Landbevölkerung eine
so radikale technische und soziale Unterstützung zu gewähren, dass durch diese Un-
terstützung die materielle Grundlage für eine gewaltige Hebung der Produktivität des
Ackerbaus und der landwirtschaftlichen Arbeit überhaupt geschaffen wird und auf
diese Weise die kleinen Landwirte durch die Macht des Beispiels veranlasst werden,
um des eigenen Vorteils willen zur kollektiven, mit Maschinen arbeitenden Groß-
landwirtschaft überzugehen.' [Lenin Werke Band 31, S. 149f.]" 58

57
AUTORENKOLLEKTIV (1955): Lehrbuch der politischen Ökonomie, Kapitel 24
58
AUTORENKOLLEKTIV (1955): Lehrbuch der politischen Ökonomie, Kapitel 24

35
Zur Geschichte der Sowjetunion

Mit der Industrialisierung, der Kollektivierung etc. wurden die letzten Ausbeuterklas-
sen in der Sowjetunion beseitigt und die Grundlagen für die sozialistische Gesell-
schaft gelegt. Stalin schrieb 1936 über die Klassen im Sozialismus bzw. der Sowjet-
union: "Somit ist jetzt der volle Sieg des sozialistischen Systems in allen Sphären der
Volkswirtschaft zur Tatsache geworden. Was aber bedeutet das?
Das bedeutet, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben,
beseitigt, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und -instrumenten
sich aber als unerschütterliche Grundlage unserer Sowjetgesellschaft durchgesetzt hat.
(Anhaltender Beifall.)
Im Gefolge aller dieser Veränderungen in der Volkswirtschaft der Sowjetunion haben
wir jetzt eine neue sozialistische Ökonomik, die keine Krisen und keine Arbeitslosig-
keit, die kein Elend und keinen Ruin kennt und die den Staatsbürgern alle Möglich-
keiten für ein wohlhabendes und kulturelles Leben gewährt.
Das sind im wesentlichen die Veränderungen, die in unserer Ökonomik in der Periode
von 1924 bis 1936 vor sich gegangen sind. Entsprechend diesen Veränderungen in der
Ökonomik der Sowjetunion hat sich auch die Klassenstruktur unserer Gesellschaft
verändert.
Die Klasse der Gutsbesitzer war bekanntlich schon mit der siegreichen Beendigung
des Bürgerkrieges liquidiert worden. Was die anderen Ausbeuterklassen betrifft, so
haben sie das Schicksal der Klasse der Gutsbesitzer geteilt. Verschwunden ist die
Kapitalistenklasse in der Industrie. Verschwunden ist die Kulakenklasse in der Land-
wirtschaft. Verschwunden sind die Händler und Spekulanten auf dem Gebiete des
Warenumsatzes. Alle Ausbeuterklassen sind somit liquidiert.
Geblieben ist die Arbeiterklasse. Geblieben ist die Klasse der Bauern. Geblieben ist
die Intelligenz.
Es wäre aber verfehlt, zu glauben, daß diese sozialen Gruppen während dieser Zeit
keine Veränderungen durchgemacht hätten, daß sie dieselben geblieben seien, die sie,
sagen wir, in der Periode des Kapitalismus waren.
Nehmen wir z. B. die Arbeiterklasse der Sowjetunion. Man nennt sie oft aus alter
Gewohnheit Proletariat. Aber was ist das Proletariat? Es ist eine Klasse, die der Pro-
duktionsmittel und -instrumente beraubt ist bei einem Wirtschaftssystem, in dem die
Produktionsmittel und -instrumente den Kapitalisten gehören und die Ka-
pitalistenklasse das Proletariat ausbeutet. Das Proletariat ist eine Klasse, die von den
Kapitalisten ausgebeutet wird. Bei uns aber ist die Kapitalistenklasse bekanntlich
schon liquidiert, die Produktionsmittel und -instrumente sind den Kapitalisten wegge-
nommen und dem Staat übergeben worden, dessen führende Kraft die Arbeiterklasse

36
Zur Geschichte der Sowjetunion

ist. Also gibt es keine Kapitalistenklasse mehr, von der die Arbeiterklasse ausgebeutet
werden könnte. Unsere Arbeiterklasse ist also der Produktionsmittel und -instrumente
nicht nur nicht beraubt, sondern im Gegenteil, sie besitzt sie gemeinsam mit dem
ganzen Volke. Da sie sie aber besitzt und die Kapitalistenklasse liquidiert ist, so ist
jede Möglichkeit ausgeschlossen, die Arbeiterklasse auszubeuten. Kann man danach
unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es ist klar, daß man das nicht kann. Marx
hat gesagt: um sich zu befreien, muß das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zer-
schmettern, den Kapitalisten die Produktionsmittel und -instrumente wegnehmen und
jene Produktionsverhältnisse abschaffen, die das Proletariat erzeugen. Kann man
sagen, daß die Arbeiterklasse der Sowjetunion diese Bedingungen ihrer Befreiung
schon verwirklicht hat? Das kann man und muß man unbedingt sagen. Was bedeutet
das aber? Das bedeutet, daß das Proletariat der Sowjetunion zu einer völlig neuen
Klasse, zu der Arbeiterklasse der Sowjetunion geworden ist, die das kapitalistische
Wirtschaftssystem abgeschafft, das sozialistische Eigentum an den Produktions-
mitteln und -instrumenten verankert hat und die Sowjetgesellschaft auf den Weg zum
Kommunismus leitet. Wie ihr seht, ist die Arbeiterklasse der Sowjetunion eine völlig
neue, von Ausbeutung befreite Arbeiterklasse, wie sie die Geschichte der Menschheit
noch niemals gekannt hat.
Gehen wir zur Frage der Bauernschaft über. Gewöhnlich sagt man, daß die Bauern-
schaft eine Klasse von Kleinproduzenten ist, deren Angehörige atomisiert, über das
ganze Land verstreut sind, sich einzeln in ihren Kleinwirtschaften mit deren rückstän-
diger Technik abrackern, Sklaven des Privateigentums sind und von Gutsbesitzern,
Kulaken, Händlern, Spekulanten, Wucherern und dergl. ungestraft ausgebeutet wer-
den. Und in der Tat, die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern ist, wenn man
ihre Hauptmasse ins Auge faßt, wirklich eine solche Klasse. Kann man sagen, daß
unsere heutige Bauernschaft, die Sowjetbauernschaft, in ihrer Masse einer solchen
Bauernschaft gleicht? Nein, das kann man nicht. Eine solche Bauernschaft gibt es bei
uns nicht mehr. Unsere Sowjetbauernschaft ist eine völlig neue. Bei uns gibt es keine
Gutsbesitzer und Kulaken, keine Händler und Wucherer mehr, die die Bauern ausbeu-
ten könnten. Also ist unsere Bauernschaft eine von Ausbeutung befreite Bauernschaft.
Weiter ist unsere Sowjetbauernschaft in ihrer erdrückenden Mehrheit eine Kollektiv-
bauernschaft, d. h. sie gründet ihr Schaffen und ihr Vermögen nicht auf Einzelarbeit
und auf eine rückständige Technik, sondern auf kollektive Arbeit und auf eine moder-
ne Technik. Schließlich liegt der Wirtschaft unserer Bauernschaft nicht das Privatei-
gentum zugrunde, sondern das kollektive Eigentum, das sich auf der Basis der kol-
lektiven Arbeit entwickelt hat. Wie ihr seht, ist die Sowjetbauernschaft eine völlig
neue Bauernschaft, wie sie die Geschichte der Menschheit noch niemals gekannt hat.
Gehen wir schließlich zur Frage der Intelligenz über, zur Frage der Ingenieure und
Techniker, der Mitarbeiter an der Kulturfront, der Angestellten überhaupt usw. Die

37
Zur Geschichte der Sowjetunion

Intelligenz hat in der vergangenen Periode ebenfalls große Veränderungen durchge-


macht. Das ist schon nicht mehr jene alte verknöcherte Intelligenz, die sich über die
Klassen zu stellen suchte, tatsächlich aber in ihrer Masse den Gutsbesitzern und Kapi-
talisten diente. Unsere Sowjetintelligenz ist eine völlig neue Intelligenz, die mit allen
Fasern mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft verbunden ist. Verändert hat sich
erstens die Zusammensetzung der Intelligenz. Die Intellektuellen adliger und bürger-
licher Herkunft machen einen kleinen Prozentsatz unserer Sowjetintelligenz aus. 8o
bis 9o Prozent der Sowjetintelligenz entstammen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft
und den anderen Schichten der Werktätigen. Geändert hat sich schließlich auch der
Charakter der Tätigkeit der Intelligenz. Früher mußte sie den reichen Klassen dienen;
denn sie hatte keinen anderen Ausweg. Jetzt muß sie dem Volke dienen; denn es gibt
keine Ausbeuterklassen mehr. Und gerade deshalb ist sie jetzt gleichberechtigtes
Mitglied der Sowjetgesellschaft, wo sie, gemeinsam mit den Arbeitern und Bauern an
demselben Strange ziehend, die neue, die klassenlose sozialistische Gesellschaft auf-
baut.
Wie ihr seht, ist das eine völlig neue, eine werktätige Intelligenz, wie ihr sie in kei-
nem Lande der Welt findet.
Das sind die Veränderungen, die in der verflossenen Zeit in der Klassenstruktur der
Sowjetgesellschaft vor sich gegangen sind. Wovon zeugen diese Veränderungen?
Sie zeugen erstens davon, daß die Grenzlinien zwischen der Arbeiterklasse und der
Bauernschaft, ebenso wie diejenigen zwischen diesen Klassen und der Intelligenz sich
verwischen, daß die alte Klassenabgeschlossenheit verschwindet. Das bedeutet, daß
der Abstand zwischen diesen sozialen Gruppen sich immer mehr verringert. Sie zeu-
gen zweitens davon, daß die ökonomischen Gegensätze zwischen diesen sozialen
Gruppen dahinschwinden, sich verwischen.
Sie zeugen schließlich davon, daß auch die politischen Gegensätze zwischen ihnen
dahinschwinden. So steht es mit den Veränderungen in der Klassenstruktur der So-
wjetunion."59

Im Verlauf der sozialistischen Entwicklung wurde Stalins Konzept der drei sowjeti-
schen Klassen - Arbeiter, Bauern und Intelligenz - weiter differenziert. Sowjetische
Soziologen wie Schkaratan, Gordon, Klopov und Mokronosov unterschieden z. B.
zwischen ungelernten Handarbeitern, Facharbeitern, Arbeitern in Verwaltung und

59
STALIN: Über den Entwurf der Verfassung der Union der SSR, Band 14, S. 42 - 44

38
Zur Geschichte der Sowjetunion

Management etc., also nach Kriterien der fachlichen Ausbildung. 60 Damit sollten auch
kulturelle und ökonomische Unterschiede aufgezeigt werden. Jedoch gingen auch all
diese Soziologen davon aus, dass die antagonistischen Klassen in der Sowjetunion
beseitigt wurden und man dazu übergehen müsse, die restlichen Differenzen zu besei-
tigen.61
Einige bürgerliche Soziologen beschweren sich darüber, dass Stalins (bzw. das sowje-
tische) System der Klasseneinteilung zu primitiv sei, da sie nicht die unterschiedli-
chen Berufsschichten erfasse. Sie neigen dazu, die drei Klassen und Schichten der
Sowjetunion - Kollektivbauern, Arbeiter und die Intelligenz - in mehrere Untergrup-
pen aufzuteilen.62 Jedoch vergessen diese Soziologen vor allem eines: das Wesen der
Definition einer Klasse, das oben dargestellt wurden.

1.3. Der Staat


Wie bei den Klassen, so gibt es auch in der bürgerlichen Ideologie Mystifizierungen
und Verschleierungen über die Rolle des Staates. Für die einen ist es ein Konstrukt,
welches über den Klassen steht, also etwas völlig Neutrales. Für andere ist jedes biss-
chen Staat gleich Sozialismus.
Der Staat ist nach marxistisch-leninistischer Definition "das entscheidende
Machtinstrument in den Händen bestimmter Klassen zur Durchsetzung ihrer Interes-
sen. Mittels des S[taates] wird in der Regel die ökonomisch herrschende Klasse zur
politisch herrschenden Klasse. Das Wesen des S[taates] wird jeweils durch das Wesen
der in ihm herrschenden Klasse bestimmt. Mittels des S[taates] übt diese Klasse ihre
Macht, ihre Diktatur aus. Sie bedient sich dazu bestimmter Mittel und Einrichtungen
der Machtausübung, so vor allem der Armee, der Polizei, des Apparates staatlicher
Beamter oder Angestellter, der Gesetzgebung und Rechtsprechung, der Steuer- und
Finanzpolitik. Der S[taat] als wichtiges Element der politischen Organisation einer
jeweiligen Gesellschaftsformation bringt die ökonomische Struktur und insbesondere
die Klassenverhältnisse dieser Formation zum Ausdruck." 63

60
SCHKARATAN (1970/1973), S. 63 - 105, SCHKARATAN, (1970A/1973), S. 10 - 21, MOKONOSOV
(1967/1973),S. 22 - 26, GORDON & KLOPOV (1970/1973), S. 27 - 46, Vgl. auch YANOWITCH, M.
(1977), S. 7
61
Z. B. SCHKARATAN (1970A/1973), S. 11, GORDON & KLOPOV (1970/1973), S. 30
62
Z. B. INKELES, A. (1950)
63
AUTORENKOLLEKTIV (1973): Kleines politisches Wörterbuch, S. 813 - 814

39
Zur Geschichte der Sowjetunion

Der Staat ist ein historisches Produkt und entstand mit der Klassenherrschaft. Mit
Verschwinden der Klassen stirbt auch der Staat ab.64 In der Urgesellschaft, also wäh-
rend der längsten Epoche der Menschheit, bestand daher kein Staat. Grundsätzlich
sollte man bei diesen Fragen niemals den Klassencharakter einer Gesellschaftsforma-
tion vergessen. Der sowjetische Staat hatte dabei entsprechende Aufgaben:
"Der Schutz des gesellschaftlichen, sozialistischen Eigentums stand und steht auch
weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Sowjetstaats. Darin liegt eine der
wichtigsten Seiten seiner ganzen Tätigkeit. Infolge des Sieges des Sozialismus nahm
die Rolle des Sowjetstaats im gesamten wirtschaftlichen und kulturellen Leben des
Landes an Bedeutung zu. Die wirtschaftliche, organisatorische und kulturellerzieheri-
sche Arbeit ist zur wichtigsten Grundlage der gesamten Tätigkeit der Staatsorgane
innerhalb des Landes geworden. In den Händen des Sowjetstaats konzentrieren sich
die Verwaltungen vieler Zehntausender sozialistischer Staatsbetriebe der Produktion,
des Transportwesens und der Landwirtschaft. Infolge des Sieges der kollektivwirt-
schaftlichen Ordnung ist die Landwirtschaft zum unlösbaren Teil der ganzen sozialis-
tischen Wirtschaft des Landes geworden. Die Organe der Staatsmacht übernahmen
die Führung von Hunderttausenden von Kollektivwirtschaften. Das alles führte zur
gewaltigen Steigerung der Bedeutung des Staates im wirtschaftlichen Leben. Der
Sowjetstaat stellt die Pläne zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der UdSSR auf
und organisiert ihre Durchführung. Er sammelt die notwendigen Mittel und verteilt
sie auf die einzelnen Wirtschaftszweige. Er leitet die Arbeit aller Betriebe, sowohl in
der Industrie als auch in der Landwirtschaft. Er organisiert den gewaltigen, in solchen
Maßstäben noch nie dagewesenen Bau neuer Werke, Fabriken, Kraftwerke, Gruben,
Eisenbahnen sowie anderer Betriebe und Einrichtungen. Die Finanzierung der
Volkswirtschaft, die Organisation des Handels, die Ausbildung des Nachwuchses der
Arbeiter und Intelligenz, die Organisation der Volksbildung, die Sorge für die Ent-
wicklung und das Aufblühen der Wissenschaft, Kunst und Kultur - das alles gehört
gleichfalls in den Wirkungsbereich der sowjetischen Staatsorgane. Unser sowjetischer
Staat ist der Organisator des gesamten wirtschaftlichen und kulturellen Lebens des
Landes. Darin liegt eine seiner wichtigsten Eigenarten als sozialistischer Staat. Die
Tätigkeit des bürgerlichen Staates besteht hauptsächlich im Schutz der kapitalisti-
schen Ordnung, die auf Privateigentum begründet ist, und im Schutz des eigenen
Territoriums oder im Kampf um dessen Ausweitung und in der Erhebung von Steu-
ern. 'Die Wirtschaft aber im eigentlichen Sinne', sagt Genosse Stalin, 'geht den kapita-
listischen Staat wenig an, sie befindet sich nicht in seinen Händen. Im Gegenteil, der
Staat befindet sich in den Händen der kapitalistischen Wirtschaft.' ('Fragen des Leni-

64
Vgl. ENGELS: Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates, MEW Band
21, S. 25 - 173

40
Zur Geschichte der Sowjetunion

nismus.') In den Ländern der Bourgeoisie verfügen die Kapitalisten über Fabriken,
Werke, Bergwerke, Erzgruben, große Güter und leiten sie auch. Die reichsten und
mächtigsten von ihnen halten den gesamten Staatsapparat in ihren Händen und zwin-
gen ihn, solche Maßnahmen durchzuführen, die für Millionäre vorteilhaft sind. Unter
diesen Bedingungen bedeutet die 'Einmischung' der bourgeoisen Staaten in das wirt-
schaftliche Leben nichts anderes als die Unterwerfung des gesamten wirtschaftlichen
Lebens dieser kapitalistischen Länder unter die Monopole, Vereinigungen der reichs-
ten Kapitalisten, und eine weitere Verstärkung der Ausbeutung der Arbeiterklasse." 65
So ist im Kapitalismus der Staat das Instrument der Kapitalistenklasse mit dement-
sprechenden Aufgaben. Jürgen Kuczynski fasste die Rolle des Staates im Kapitalis-
mus so zusammen:
"Mit Ausnahme des sowjetischen ist der Staat ein Herrschaftsinstrument der Minder-
heit über die Mehrheit gewesen. Es gab Zeiten, in denen der Staat nur eine verhält-
nismäßig geringe Rolle spielte, ja als er so gut wie ganz verschwand infolge völliger
Auflösung des gesellschaftlichen Systems – zum Beispiel in den letzten Stadien des
römischen Reiches oder während einzelner Phasen des Feudalismus im Mittelalter.
(…) Wir sehen, die Rolle, die der Staat zu einer gegebenen Zeit spielt, kann uns nicht
helfen in der Erkenntnis der Gesellschaftsform, zeigt nicht an, ob es sich um eine
antike, feudale oder kapitalistische oder nicht mehr kapitalistische Gesellschaftsform
handelt. Noch deutet die Rolle des Staates an, ob es sich um die Anfangs-, Mittel-
oder Endphase einer bestimmten Gesellschaftsformation handelt. Denn sowohl zu
Beginn wie auch zum Ende einer bestimmten Gesellschaftsformation finden wir zum
Beispiel, dass der Staat eine große Rolle spielt, wozu zu bemerken ist, dass wir beim
Ende einer Gesellschaftsformation auch eine nur sehr kleine Rolle des Staates be-
obachten können. Das Ausmaß des Eingreifens des Staates in das gesellschaftliche
Leben hängt weder von der Form einer Gesellschaft noch vom Stadium ihrer Reife
ab. Es ist vielmehr durch gewisse historische Umstände bestimmt, die in jeder höhe-
ren Form der Gesellschaft auftreten können." 66
"Wenn eine Gesellschaftsform in Gefahr ist, entweder, weil sie noch jung und bedroht
von alten gestürzten Kräften, oder weil sie schon alt und bedroht von neuen Kräften,
jedoch noch stark genug, um nicht völlig zu verfallen, oder weil sie im Krieg befind-
lich, stellen wir ein stärkeres Hervortreten des Staates fest." 67

65
AUTORENKOLLEKTIV (1950): Der gesellschaftliche und staatliche Aufbau der UdSSR, S. 97-
98
66
KUCZYNSKI (1947), S. 27
67
KUCZYNSKI (1947), S. 30

41
Zur Geschichte der Sowjetunion

Beispiele für die stärkere Rolle des Staates im Wirtschaftsleben fanden sich z. B. in
Preußen, im britischen und deutschen Staat im Ersten Weltkrieg oder im deutschen
Faschismus. Dabei spielten besonders Kriegsvorbereitungen eine wichtige Rolle. 68
Wichtig ist hierbei noch zu erwähnen, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamt-
kapitalist auftritt: "Der moderne Staat, was immer seine Form, ist eine wesentlich
kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." 69
Was ist darunter zu verstehen? Aufgabe des bürgerlichen Staates ist es, die kapitalisti-
sche Ordnung aufrechtzuerhalten. Dazu gehören das Rechtswesen, die Produktions-
bedingungen, die Medien, die Bildung, das Gesundheitssystem usw. Der Staat handelt
also im Interesse der Kapitalistenklasse, zur Not auch gegen einzelne Kapitalisten. Es
kann vorkommen, dass sich unterschiedliche Fraktionen des Kapitals bekämpfen. Der
Staat regelt entsprechend die Bedingungen, sodass die Herrschaft der Kapitalisten
insgesamt (und eventuell gegen einzelne individuelle Kapitalisten) aufrecht erhalten
wird.
Mit der Entwicklung des Kapitalismus entwickelt sich natürlich auch der Staat weiter.
Reinhard Kühnl schreibt in seinem Werk "Formen bürgerlicher Herrschaft": "Großun-
ternehmen benötigen einen starken Staat, der ihre Interessen nach außen wirksam
vertreten konnte: sowohl gegen die konkurrierenden Industrienationen als auch gegen
die Bevölkerung der Kolonialgebiete. Die Rohstoffe und Arbeitskräfte der Kolonien
konnten dauerhaft nur ausgebeutet werden, wenn diese Gebiete unter die politische
Oberhoheit des eigenen Landes gestellt wurden. Dazu bedurfte es sowohl der Bereit-
schaft als auch der Potenz des Staates, die Kolonien zu unterwerfen und seine Herr-
schaft gegen die einheimische Bevölkerung wie gegen die anderen Industriemächte zu
verteidigen. Er musste also unter der Kontrolle der Großunternehmen stehen und er
musste militärisch gut gerüstet sein. So vollzogen sich in dieser Periode eine enge
Verzahnung zwischen den ökonomischen Führungsgruppen und den politischen Ent-
scheidungsinstanzen und eine militärische Aufrüstung von bisher nicht gekannten
Ausmaßen. Diese Aufrüstung, zunächst durchaus pragmatisch als außenpolitisches
Machtinstrument gedacht, übernahm bald andere Funktionen: Die Staatsaufträge, mit
denen sie finanziert wurde, garantierten hohe und langfristig gesicherte Profite für die
mächtigsten Konzerne auf Kosten der Steuerzahler. Schließlich erwiesenen sie sich
als nützliches Instrument zur Konjuktursteuerung - eine Funktion, die freilich erst seit
den 30er Jahren Bedeutung gewann.

68
Vgl. KUCZYNSKI (1947), S. 28 - 31
69
ENGELS: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Band 19,
S. 222

42
Zur Geschichte der Sowjetunion

Ein gegenüber der liberalen Ära gestärkter Staat war aber auch aus innenpolitischen
Gründen erforderlich. Da die Konkurrenzwirtschaft entgegen der liberalen Theorie
durchaus nicht in der Lage war, die verschiedenen Interessen harmonisch auszuglei-
chen und das Wohlergehen aller zu gewährleisten, musste der Staat eingreifen, um ein
Minimum sozialer Sicherheit und Stabilität herzustellen. Das kam den Forderungen
der Arbeiterbewegung, die nicht gänzlich ignoriert werden konnten, partiell entgegen.
Es entsprach aber auch den Interessen des großen Kapitals, das auf eine langfristige
Sicherung des Gesamtsystems abzielen musste und deshalb die sozialen Konflikte in
gewissen Grenzen zu halten bestrebt war. (…) die Lohnabhängigen sollten zwar be-
friedet werden, aber keineswegs an die Hebel der Macht gelangen. Das bedeutete,
dass der Einfluss der Volksvertretung soweit wie möglich reduziert und die Macht-
stellung der Exekutive und des Verwaltungsapparats gestärkt werden musste. Regie-
rung und Bürokratie waren dem Einfluss ökonomisch mächtiger Gruppen leicht zu-
gänglich und durch die demokratische Öffentlichkeit praktisch nicht kontrollierbar.
Dieses System bot Aussichten, die Herrschaft der sozialen Oberklassen auch unter
den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts aufrechtzuerhalten, zumal mindestens
ein Teil der Arbeiterschaft von der Ausbeutung der Kolonien profitierte (…)" 70
Und Horst Schneider schreibt in seinem Buch "Hysterische Historiker": "Der sozialis-
tische Staat unterscheidet sich vom imperialistischen dadurch, dass er Gestalter und
Planer des Entwicklungsprozesses bis zu einer immer vollkommeneren Gesellschafs-
struktur sein muss. Eine Tücke besteht darin, dass damit das Schicksal des Staates in
starkem Maße von der Weitsicht und Fähigkeit der Regierung abhängt. Der Imperia-
lismus wird durch die Herrschaft der Konzerne geprägt. Die Rolle der Regierung
besteht primär darin, den nach Profit strebenden Monopolen die besten 'Rahmenbe-
dingungen' zu schaffen."71
Im Weiteren beweist Horst Schneider, dass sich die Machteliten vom Deutschen Kai-
serreich über die Weimarer Republik und den Hitlerfaschismus bis zur BRD nicht
geändert haben und es erst mit der Gründung der DDR zu Änderungen der Produkti-
ons- und Machtverhältnisse in einem Teil Deutschlands kam. Doch für unsere Frage-
stellung ist entscheidender, dass der bürgerliche Staat die Rahmenbedingungen für die
Monopole schafft.
Die oben erwähnten Tatsachen weisen darauf hin, dass die Behauptung, bei Hitler und
seiner Herrschaft handele es sich um irgendeine Art von Sozialismus, vollkommen an
den Haaren herbeigezogen ist. Ziel dieser Manipulation soll es sein, Hitler als "An-
tikapitalisten" hinzustellen, um so den kapitalistischen Charakter des Faschismus zu

70
KÜHNL (1971), S. 53 - 54
71
SCHNEIDER (2007), S. 75f.

43
Zur Geschichte der Sowjetunion

verschleiern. Mehrere Arbeiten haben jedoch darauf hingewiesen, dass Hitler und die
NSDAP vom Kapital finanziert wurde. Spätestens seit 1932 wurde die NSDAP von
allen wichtigen Kapitalkonzernen gefördert.72 Dass der Staat dabei eine größere Rolle
spielte, als vielleicht in einer bürgerlichen Demokratie, ist wie oben dargestellt, Folge
der Kriegsvorbereitungen der Bourgeoisie. Da der Staat kein klassenneutrales Kon-
strukt ist, spielt es keine Rolle, wie "stark" der Staat ist, sondern wessen Interessen er
vertritt. Es spielt hierbei auch keine Rolle, dass die NSDAP mit scheinbar "antikapita-
listischen" Parolen umher warf. Diese Rolle wird in der „Geschichte der KPdSU“
wunderbar zusammengefasst:
"Die Wirtschaftskrise verschärfte die Widersprüche des Kapitalismus nicht nur im
Fernen Osten. Sie verschärfte sie auch in Europa. Die lang anhaltende Krise der In-
dustrie und Landwirtschaft, die ungeheure Arbeitslosigkeit und die zunehmende Exis-
tenzunsicherheit der besitzlosen Klassen verstärkten die Unzufriedenheit der Arbeiter
und Bauern. Die Unzufriedenheit begann in revolutionäre Empörung der Arbeiter-
klasse umzuschlagen. Die Unzufriedenheit verstärkte sich besonders in Deutschland,
einem Lande, das durch den Krieg, die Kontributionen an die englisch-französischen
Sieger und durch die Wirtschaftskrise wirtschaftlich erschöpft war, wo die Arbeiter-
klasse das Joch nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der ausländischen, der engli-
schen und französischen Bourgeoisie zu tragen hatte. Ein beredtes Zeugnis dafür
waren die sechs Millionen Stimmen, die die Kommunistische Partei Deutschlands bei
den letzten Reichstagswahlen vor dem Machtantritt der Faschisten erhielt. Die deut-
sche Bourgeoisie sah, dass die in Deutschland noch erhalten gebliebenen bürgerlich-
demokratischen Freiheiten ihr einen bösen Streich spielen konnten, dass die Arbeiter-
klasse diese Freiheiten für die Entfaltung der revolutionären Bewegung ausnutzen
konnte. Deshalb kam sie zu dem Schluss, dass es für die Erhaltung der Macht der
Bourgeoisie in Deutschland nur ein Mittel gebe - die bürgerlichen Freiheiten zu ver-
nichten, das Parlament (den Reichstag) völlig auszuschalten und eine terroristische
bürgerlich-nationalistische Diktatur zu errichten, die imstande wäre, die Arbeiterklas-
se niederzuschlagen und unter den von Revanchestimmungen beherrschten kleinbür-
gerlichen Massen eine Basis zu finden. Und sie rief die faschistische Partei, die sich
zur Irreführung des Volkes nationalsozialistische Partei nennt, an die Macht, da sie
sehr wohl wusste, dass die Partei der Faschisten erstens den reaktionärsten und arbei-
terfeindlichsten Teil der imperialistischen Bourgeoisie darstellt und zweitens die
extremste Revanchepartei ist, die die Millionenmassen des nationalistisch gestimmten
Kleinbürgertums mit sich zu reißen vermag. Dabei halfen ihr die Verräter der Arbei-

72
Vgl. DIMITROFF (1935), KÜHNL (1971), GOSSWEILER (1988), GOSSWEILER (1982), CARLE-
BACH (1982), OPITZ (1977)

44
Zur Geschichte der Sowjetunion

terklasse, die Führer der deutschen Sozialdemokratie, die durch ihre Paktiererpolitik
dem Faschismus den Weg ebneten." 73

1.4. Bürokratie
Untrennbar verbunden mit der Frage des Staates ist die Frage der Bürokratie. Dies ist
umso wichtiger, da Stalin und der Sowjetunion der Vorwurf des Bürokratismus bzw.
einer bürokratischen Diktatur vorgehalten wird.
Bevor wir also die Frage, ob in der Sowjetunion die Bürokratie regierte, beantworten
können und uns mit Trotzkis Theorien genauer beschäftigen, müssen wir klären, was
man unter Bürokratie tatsächlich zu verstehen hat. Nach der Definition von Wikipedia
ist Bürokratie "(Herrschaft der Verwaltung) … die Wahrnehmung von Verwaltungs-
tätigkeiten im Rahmen festgelegter Kompetenzen innerhalb einer festen Hierarchie.
Eine Übersteigerung der Bürokratie wird als Bürokratismus bezeichnet."74
Dies ist eine wenig hilfreiche Definition, um ein Gesellschaftssystem zu beschreiben,
da hier der Bezug zur Klassenherrschaft fehlt. In der bürgerlichen Ideologie finden
sich die verschiedensten Definitionen und Theorien zur Bürokratie. Erwähnt sei hier
z. B. der Soziologe Max Weber und sein Konzept der Bürokratie als "rationale Form
der legalen Herrschaft".75 Dabei sei die Bürokratie, neben Monarchie, Aristokratie
und Demokratie als vierte Herrschaftsform anzuerkennen. Ein Schüler Max Webers,
Karl Löwenstein, erklärt, dass Weber unter Bürokratie "ein wissenschaftlich trainier-
tes Personal" verstand, welches "hierarchisch gegliedert" sei und über "spezielles
technologisches Wissen" verfüge und dem die "Verwaltung des Staates" anvertraut
sei.76 Nach H. H. Gerth & C. W. Mills arbeiten Bürokraten in festen, gerichtlich fest-
gelegten Gebieten und befolgen strikte Regeln. Ihre Arbeitsweise sei routiniert, ihre
Autorität begrenzt, sie hätten ein festes Gehalt und ihr Arbeitsbereich sei begrenzt auf
ihre erworbene Ausbildung und Qualifizierung. Ihre Arbeitszeit stellten sie voll und
ganz ihrer bürokratischen Tätigkeit zur Verfügung und sie seien eingewoben in ein
System von Hierarchien und müssten dessen offiziellen Dienstwege einhalten. Dabei
seien ihre Arbeitsschritte schriftlich festgelegt, die sie befolgen müssten. Eine solche
Form der Bürokratie könne jedoch nur in einem modernen Staat durchgeführt wer-
den.77

73
AUTORENKOLLEKTIV (1938): Geschichte der KPdSU - Kurzer Lehrgang, S. 227 (pdf)
74
http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrokratie
75
WEBER, M. (1922)
76
LÖWENSTEIN, K. (1966), S. 30
77
GERTH, H. H. & MILLS, C. W. (1946), S. 196 - 203

45
Zur Geschichte der Sowjetunion

Webers Konzept wird häufig als "idealer" Typ einer Bürokratie verstanden, der nicht
unbedingt auf die Realität zutrifft, vor allem auf die russische Gesellschaft nicht.78
Ludwig von Mises vertritt eine vergleichbare Definition einer (funktionierenden)
Bürokratie.79 Blau & Meyer sind etwas detaillierter und heben zusätzlich die Beson-
derheiten der Bürokratie hervor: Spezialisierung, eine Hierarchie der Autoritäten, ein
System von Regeln und Unpersönlichkeit. 80
Andere bürgerliche Ideologen, wie der deutsche Staatswissenschaftler Robert von
Mohl stellen fest, dass zwar jeder über Bürokratie rede, man sich aber wenig Gedan-
ken um dessen Inhalt mache. 81 James Q. Wilson macht eine ähnliche Beobachtung,
wenn er bemerkt, dass "Bürokratie ein komplexes und verschiedenartiges Phänomen
ist und nicht einfach eine soziale Kategorie".82 Der britische Historiker Gerald Ayl-
mer überprüft in seinem Buch "The King's Servants" 83 mehrere Konzepte zur Büro-
kratie und kommt zu dem Schluss, dass es für Historiker am sinnvollsten ist, Bürokra-
tie in Bezug zu bestimmten Formen der Verwaltung zu sehen. 84 Diese Definition
beinhaltet Eigenschaften wie "Professionalität, vorschriftsmäßige Hierarchie, Unter-
teilung in Dienststellen und ein starkes Vertrauen in schriftliche Aufzeichnungen". 85
Die meisten Theoretiker zur Bürokratie stimmen mit Aylmers universeller Definition
überein. Albrow bemerkt aber, dass es falsch wäre, "die Universalität dieser Eigen-
schaften" als "nicht-kontrovers" zu bezeichnen.86 In seinem Buch "The Political Sys-
tems of Empires" unterscheidet der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt vier
Typen der Bürokratie in Bezug zu ihren Vorgesetzten und den sozialen Schichten: (1)
die Dienstleistungsorientierten, die ihren Herrschern und bestimmten oberen sozialen
Schichten dienen, (2) die Unterwürfigen, (3) die Autonomen und zu ihrem Vorteil
Orientierten, sowie (4) die Selbstorientierten, die aber dem Volk im Allgemeinen
dienen.87 John Stuart Mill, ein bourgeoiser Philosoph des 19. Jh., charakterisiert die
Bürokratie als eine Praxis, die ihre Bürger in die Beziehung zu ihrer Regierung stellt
wie die Kinder zu ihren Vormündern.88

78
vgl. RYAVEC, K. W. (2003), S. 4, 6
79
MISES, L. VON (1983)
80
BLAU, P. M. & MEYER, M. W. (1971), S. 9
81
Vgl. ALBROW, M. (1970), S. 124
82
WILSON, J. Q. (1989), S. 10
83
AYLMER, G. (1961)
84
Vgl. ALBROW (1970), S. 99
85
Vgl. ALBROW (1970), S. 99
86
ALBROW (1970), S. 99
87
EISENSTADT, S. N. (1963)
88
MILL, J. S. (1848), Chapter 11, S. 528

46
Zur Geschichte der Sowjetunion

Nach Albrow entsprang die Idee der Bürokratie aus der Besorgnis heraus, den Beam-
ten ihren richtigen Platz in einer modernen Regierung zu geben. 89 Und Schreiber des
19. Jh. wie Mill stellen der Bürokratie die Demokratie gegenüber, weil sie bemerken,
dass öffentliche Beamte auf vielfältige Art und Weise demokratische Werte untergra-
ben.90 Das Wörterbuch der französischen Akademie von 1798 definiert Bürokratie
einfach als "Macht, Einfluss der Köpfe und der Belegschaft der Regierungsbüros." 91
Das deutsche Wörterbuch fremdsprachlicher Begriffe von 1813 sieht in der Bürokra-
tie "eine Autorität der Macht, die verschiedenen Regierungsabteilungen und ihre
Zweige für sich selbst über ihre Mitbürger beanspruchen." 92 Der deutsche Schriftstel-
ler Johann Joseph Görres beschreibt in seinem 1821 erschienenen Buch "Europa und
die Revolution" die Bürokratie als eine zivile Institution, die der Armee ähnlich sei 93
und der preußische Staatsmann Freiherr vom Stein spricht von der Bürokratie als von
einer Klasse für sich selbst.94
Eine weitere Eigenschaft, die der Bürokratie zugeschrieben wird, ist ihre Ineffizienz.
So vergleicht der Brite Walter Bagehot die Ineffizienz der Bürokratie mit der Effizi-
enz der Wirtschaft.95
Michael Croizer stellt ebenso fest, dass der Begriff der Bürokratie sehr vage ist und zu
Verwirrung stiften könnte. Er gibt ihr drei wichtige Funktionen: 1. Bürokratie ist die
Regierung durch öffentliche Ämter, die hierarchisch organisiert sind und nicht ge-
wählt, sondern von oben eingesetzt werden. D. h. folgerichtig, dass die Regierten
keinen Einfluss auf die Mitgestaltung haben. 2. Bürokratie beinhaltet die Rationalisie-
rung kollektiver Aktivitäten, eine Konzentration der Arbeitseinheiten und einen Ar-
beitsablauf nach bestimmten unpersönlichen Regeln. 3. Unvermeidbar mit der Büro-
kratie verknüpft sind die vulgären Vorstellungen von Langsamkeit, Schwerfälligkeit,
Komplikation der Prozeduren, unangemessenen Reaktionen und Frustration.96 Gerade
letzterer Punkt wird häufig mit "Bürokratie" assoziiert. Karl Ryavec bezieht sich
gerade auf diese negativen Aspekte in seinem Buch über die Bürokratie in Russland. 97
Allgemein ist Bürokratie ein sehr alter Begriff und lässt sich schon auf die Pharaonen
Ägyptens, das alte China und die Mongolei, die Inkas, das Römische Reich und die

89
ALBROW (1970), S. 106
90
ALBROW (1970), S. 106
91
ALBROW (1970), S. 17
92
ALBROW (1970), S. 17
93
ALBROW (1970), S. 30
94
ALBROW (1970), S. 19
95
ALBROW (1970), S. 23 - 24
96
CROIZER, M. (1967), S. 3 - 4
97
RYAVEC (2003), S. 1

47
Zur Geschichte der Sowjetunion

Katholische Kirche zurückführen, die nach Ludwig von Mises alle vollkommen büro-
kratisiert waren.98 Laut Blau & Meyer kommt eine Regierung grundsätzlich nicht
ohne bürokratische Methoden aus. 99
Der Begriff "Bürokratie" erreichte Russland Mitte des 19. Jh. und hat stets eine nega-
tive, niemals jedoch eine positive oder neutrale Bedeutung. 100 Die Ursprünge der
bürokratischen Praxis und Formen des imperialen Russischen Reiches entstammen
dabei verschiedenen Staaten und politischen Systemen. Wichtigen Einfluss bei der
Bildung des Russischen Reiches hatten dabei das Byzantinische Reich, das Mongoli-
sche Reich, Schweden, die Kiewer Rus und Holland, sowie die Tataren.101 Der Groß-
teil der russischen Bürokraten im zaristischen Russland waren ignorante und ängstli-
che Angestellte, die weder die Macht noch die Möglichkeit hatten Entscheidungen zu
treffen. Unter diesen Bedingungen waren sie nur bereit Schmiergelder oder Geschen-
ke anzunehmen. Hinzu kommt, dass sie eine sehr schlechte Ausbildung hatten, wes-
wegen man ihnen wenig Vertrauen schenkte.102 Diese und ähnliche Umstände sorgten
für das extrem negative Bild der Bürokratie in Russland. 1914 gab es etwa 600.000
Staatsbeamte im Russischen Reich.
Dieser kurze Exkurs zeigt die Positionen wichtiger bürgerlicher Denker zum Thema
Bürokratie. Allen gemeinsam ist, dass sie die funktionellen Aspekte der Bürokratie
beleuchten, ihren Klassencharakter jedoch stets negieren. Da die Bürokratie mit der
Herrschaft durch den Staat assoziiert und der Staat Ausdruck der Klassenherrschaft
ist, so muss die Bürokratie in ihrem Klassencharakter beleuchtet werden.
Marx behandelte das Thema der Bürokratie weniger vom Standpunkt der Administra-
tion, sondern vielmehr über ihre Rolle in der Gesellschaft. Auch wenn er nie eine
genaue Definition zur Bürokratie gab, hatte sein Verständnis über das Problem Ge-
meinsamkeiten mit dem alltäglichen Gebrauch des Wortes. 103 Dies erkennt man z. B.
in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie im Kapitel über das Staatsrecht. 104
Marx lehnte die Hegelianische Sichtweise ab, die die Bürokratie als universelle Klas-
se sah. Nach Marx repräsentieren der Staat und damit die Bürokratie nicht ein allge-
meines Interesse, sondern definiert ein allgemeines Interesse, das ihrem eigenen Inte-
resse entspricht: "Die 'Bürokratie' ist der 'Staatsformalismus' der bürgerlichen Gesell-

98
MISES (1983), S. 15 - 18
99
BALU & MEYER (1971), S. 11
100
TWISS, T. M. (2014), S. 13
101
VGL. RYAVEC (2003), S. 51 - 58 und dortige Quellen
102
RYAVEC (2003), S. 68
103
Vgl. TWISS, T. M. (2014), S. 16
104
MARX: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts.
MEW Band 1, S. 203 - 333

48
Zur Geschichte der Sowjetunion

schaft. Sie ist das 'Staatsbewußtsein', der 'Staatswille', die 'Staatsmacht', als eine Kor-
poration (das 'allgemeine Interesse' kann sich dem Besondern gegenüber nur als ein
'Besonderes' halten, solange sich das Besondere dem Allgemeinen gegenüber als ein
'Allgemeines' hält. Die Bürokratie muß also die imaginäre Allgemeinheit des besond-
ren Interesses, den Korporationsgeist, beschützen, um die imaginäre Besonderheit des
allgemeinen Interesses, ihren eigenen Geist, zu beschützen. Der Staat muß Korporati-
on sein, solange die Korporation Staat sein will), also eine besondere, geschlossene
Gesellschaft im Staat."105
"Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus
des Staats. (…) Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesell-
schaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum."106
Marx argumentiert, dass die Bürokratie auf der Trennung zwischen Staat und bürger-
licher Gesellschaft beruht: "Bürgerliche Gesellschaft und Staat sind getrennt. Also ist
auch der Staatsbürger und der Bürger, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft,
getrennt. Er muß also eine wesentliche Diremption mit sich selbst vornehmen. Als
wirklichen Bürger findet er sich in einer doppelten Organisation, der bürokratischen -
die ist eine äußere formelle Bestimmung des jenseitigen Staats, der Regierungsgewalt,
die ihn und seine selbständige Wirklichkeit nicht tangiert - der sozialen, der Organisa-
tion der bürgerlichen Gesellschaft. Aber in dieser steht er als Privatmann außer dem
Staat; die tangiert den politischen Staat als solchen nicht. Die erste ist eine Staatsor-
ganisation, zu der er immer die Materie abgibt. Die zweite ist eine bürgerliche Orga-
nisation, deren Materie nicht der Staat ist. In der ersten verhält sich der Staat als for-
meller Gegensatz zu ihm, in der zweiten verhält er sich selbst als materieller Gegen-
satz zum Staat."107
David Lovell kommentiert hierzu: "Während nach Hegel die Bürokratie ein allgemei-
nes Interesse vertritt, repräsentiert sie nach Marx jedoch ein bestimmtes Interesse. Mit
dem Verschwinden der Bürokratie würde die Allgemeinheit wiederhergestellt und die
Trennung zwischen Staat und Bürokratie wäre wieder überwunden." 108
Hier wird also deutlich, dass Marx die Bürokratie als Eigenschaft des Staates sah.
Aber die Bürokratie, wie auch der Staat, sind nicht unabhängig von der Klassenherr-
schaft, wie es Marx und Engels in "Die Deutsche Ideologie" nachweisen. 109

105
Marx, MEW Band 1, S. 248
106
Marx, MEW Band 1, S. 249
107
Marx, MEW Band 1, S. 281
108
Lovell, D. W. (1984), S. 47
109
Marx, Engels: Die Deutsche Ideologie, MEW Band 3 besonders S. 61 f.

49
Zur Geschichte der Sowjetunion

Engels sprach 1847 der deutschen Bürokratie zu, als Vermittler zwischen den politi-
schen Sphären des Adels und des Kleinbürgertums zu dienen. Für Engels war aber
klar, dass von dem Moment an, wo die Verwaltung des Staates und die Gesetzgebung
unter die Kontrolle der Bourgeoisie fallen würden, die Unabhängigkeit der Bürokratie
aufhöre zu existieren.110 Engels sah auch in der Bürokratie das Eingeständnis der
herrschenden Klasse, hauptberufliche Bürokraten einzusetzen, da die Bourgeoisie
zahlenmäßig zu schwach war, die Gesellschaft zu verwalten und die Masse der Werk-
tätigen zu ungebildet und zu wenig emanzipiert waren, ihre eigenen Bedürfnisse
selbst zu organisieren: "Die Bürokratie ist eingesetzt worden, um Kleinbürger und
Bauern zu regieren. Diese Klassen, in kleinen Städten oder Dörfer zersplittert, mit
Interessen, die nicht über den engsten Lokalkreis hinausreichen, haben notwendig
einen ihren beschränkten Lebensverhältnissen entsprechenden beschränkten Ge-
sichtskreis. Sie können keinen großen Staat regieren, sie können weder Überblick
noch Kenntnisse genug besitzen, um die verschiedenen miteinander kollidierenden
Interessen gegenseitig auszugleichen ... Die Kleinbürger und Bauern können also eine
mächtige und zahlreiche Bürokratie nicht entbehren. Sie müssen sich bevormunden
lassen, um der größten Verwirrung zu entgehen, um sich nicht durch Hunderte und
Tausende von Prozessen zu ruinieren" 111
Marx schreibt dazu im Kapital, Band 3: "Dass die Herrschaft, wie im politischen, so
im ökonomischen Gebiet, den Gewalthabern die Funktionen des Herrschens auflegt,
... – sagt Aristoteles mit dürren Worten und fügt hinzu, dass kein großes Wesen mit
dieser Aufsichtsarbeit zu machen sei, weshalb der Herr, sobald er vermögend genug
ist, die ‚Ehre‘ dieser Plackerei einem Aufseher überlässt." 112
Marx übernahm dabei Engels Konzept: Die Exekutive des Staates kann eine gewisse
Unabhängigkeit von den Klassen erreichen, wenn die gegensätzlichen Kräfte der
Klassen ausgeglichen sind. Dominiert eine Klasse, so stellt sich die Bürokratie also in
den Dienst dieser Klasse.113 Die Bürokratie steht also immer im Verhältnis zum Staat.
Ist die Arbeiterklasse gebildet genug, kann die Bürokratie abgeschafft werden. Engels
schreibt: "Gegen diese in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des
Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft,
wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen,
verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der
Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und

110
Vgl. Lovell (1984): S. 48, vgl. Engels "Status quo in Deutschland" MEW Band 4, S. 40 f.
111
ENGELS, Status quo in Deutschland, MEW Band 4, S. 53
112
MARX, Kapital III, MEW 25, 398
113
Vgl. LOVELL (1984), S. 48

50
Zur Geschichte der Sowjetunion

zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andere
Arbeiter empfingen. ... Diese Sprengung der bisherigen Staatsmacht und ihre Erset-
zung durch eine neue, in Wahrheit demokratische, ist im dritten Abschnitt des ‚Bür-
gerkriegs‘ (von K. Marx) eingehend geschildert."114
Nach marxistisch-leninistischer Definition ist Bürokratie somit ein Instrument der
herrschenden Klasse. Es handelt sich dabei also um Verwaltungs- und Leitungstätig-
keiten, die im Interesse einer herrschenden Klasse ausgeführt werden. Dabei benutzt
die herrschende Klasse den Staat als Unterdrückungsmittel gegenüber den ausgebeu-
teten Klassen. Wenn die Bürokratie ein Organ der herrschenden Klasse ist, so ist sie
keine selbstständige Kraft. Daraus ergeben sich besondere Konsequenzen. Um es mit
den Worten von Max Seydewitz zu charakterisieren: "Die Bürokratie ist nicht um
ihrer selbst willen da, sondern sie hat Aufgaben zu erfüllen, die ihr von ihrem Auf-
traggeber, der jeweils herrschenden Klasse, vorgeschrieben werden. Sie dient der
herrschenden Klasse, sie muss für die Erreichung der von der herrschenden Klasse
erstrebten Ziele wirken. Das Ziel, dem sie zustreben soll, wird je nach der herrschen-
den Klasse, in deren Auftrag sie handelt, verschieden sein. Das Ziel, das die Bürokra-
tie im kapitalistischen oder faschistischen Staat erreichen soll, ist die Aufrechterhal-
tung der Klassenherrschaft, die fortdauernde Unterdrückung und störungslose Aus-
beutung der arbeitenden Massen; das Ziel, das die Bürokratie in der Sowjetunion
unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats erreichen soll, ist die Aufhe-
bung der Klassengesellschaft, die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, die den
Staat, die Gendarmen und die Bürokratie überflüssig macht. Mit den Augen des Mar-
xisten besehen ist also in jedem Falle die Bürokratie in der Sowjetunion etwas grund-
legend anderes als die Bürokratie im kapitalistischen Staate. Die Existenz der beiden
kann nicht als etwas Gleiches gewertet werden, ihr Handeln muss mit verschiedenen
Maßen gemessen werden. Die Wandlung der Bürokratie der Sowjetunion und die
Überwindung ihrer Schwächen liegt in der Hand der über weitgehende politische und
wirtschaftliche Rechte verfügenden Arbeiter- und Bauernmassen, deren Beauftragte
die Herrschaft der Sowjetunion ausüben."115

1.5. Klassenkampf im Sozialismus


Kommunisten sehen die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen an, wie
oben geschildert. Der Klassenkampf ist die entscheidende unmittelbare Triebkraft der
gesellschaftlichen Entwicklung in allen Klassengesellschaften. Der Klassenkampf ist
die notwendige Folge des Klassenantagonismus und der daraus entspringenden ge-

114
ENGELS, Einleitung zu „K. Marx: Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW 17, S. 623
115
SEYDEWITZ, M. (1938), Kapitel 6: http://www.offen-siv.net/Lesenswertes/stal_tro.shtml

51
Zur Geschichte der Sowjetunion

gensätzlichen Klasseninteressen zwischen den Hauptklassen einer ökonomischen


Gesellschaftsformation. Er ist eine objektive Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen
Entwicklung in der Klassengesellschaft.
Die Existenz von Klassen und ihr Kampf untereinander wurde bereits vor Marx von
bürgerlichen Historikern (A. Thiers, A. Thierry, F.-P. G. Guizot) und von bürgerli-
chen Ökonomen (A. Smith, D. Ricardo) festgestellt. Was Marx entdeckte war, dass
die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Pro-
duktion gebunden ist, dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats
führt und dass diese Diktatur nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu
einer klassenlosen Gesellschaft bildet. Der Klassenkampf, den das Proletariat in der
kapitalistischen Gesellschaft um seine Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung
führt, hat drei Grundformen, die einander ergänzen und eine Einheit bilden.
1.: Der ökonomische Kampf der Arbeiterklasse ist erforderlich, um ihre materielle
Lage zu verbessern, ihre sozialen Errungenschaften zu sichern und immer mehr
Werktätige zu organisieren, ihr Klassenbewusstsein zu formen und sie an den politi-
schen Kampf heranzuführen. Doch kann der ökonomische Kampf allein die die
grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse nicht durchsetzen, weil er die Grundla-
gen der kapitalistischen Gesellschaft nicht antastet. Die Beschränkung des Klassen-
kampfs aus seine ökonomische Grundform ist für den Reformismus und den Oppor-
tunismus charakteristisch.
2.: Die entscheidende Form des Klassenkampfs ist der politische Kampf, weil nur
durch ihn die Macht der Bourgeoisie gestürzt und die Herrschaft der Arbeiterklasse
errichtet werden kann. Der politische Kampf muss bis zu diesem Ziel geführt werden,
anders kann die Arbeiterklasse ihre Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung
nicht erreichen. Der politische Kampf der Arbeiterklasse kennt viele Formen, z. B.
Demonstrationen und Streiks sowie den bewaffneten Kampf, die je nach den konkre-
ten historischen Bedingungen angewandt werden.
3.: Die Aufgabe des ideologischen Kampfes besteht darin, die bürgerliche Ideologie,
die auf die Arbeiterklasse ständigen Druck ausübt, zurückzudrängen und die Arbei-
terklasse zum Bewusstsein ihrer historischen Mission zu führen. Der ideologische
Kampf muss mit den ökonomischen und politischen Formen des Klassenkampfs eine
Einheit bilden. Hier zeigt sich, wie wichtig eine revolutionäre Theorie für den Klas-
senkampf ist.116

116
Vgl. AUTORENKOLLEKTIV (1973): Kleines politisches Wörterbuch, S. 409-411

52
Zur Geschichte der Sowjetunion

Da es im Sozialismus noch Klassen gibt, gibt es auch Klassenkampf. Was aber heißt
Klassenkampf im Sozialismus eigentlich? Der Klassenkampf im Sozialismus ist nicht
irgendeine Aufgabe bei der Errichtung der Diktatur des Proletariats, sondern ist von
der ersten Stunde des Sozialismus an entscheidend. Denn Klassenkampf heißt als
erstes einmal, dass die Kräfte der alten Gesellschaft nach der Revolution unterdrückt
werden müssen. Das bedeutet, dass das Proletariat die alte Staatsmacht zerschlagen,
die Macht ergreifen muss und nach der Revolution nicht die Waffen niederlegen kann
sondern sich gegen die Konterrevolution verteidigen muss. Das heißt, dass der Sozia-
lismus nicht überstehen kann, wenn man nicht den Klassenkampf nach der Revolution
anerkennt. Aber Klassenkampf im Sozialismus geht darüber weit hinaus. Er schließt
nicht nur den Kampf gegen die Überreste der alten liquidierten Ausbeuterklassen ein,
dessen ehemalige Vertreter die bürgerliche Ideologie zu einem großen Teil bewahren
und weitertragen.
Er beinhaltet auch den Kampf gegen die gerade am Anfang des Sozialismus immer
wieder entstehende bürgerliche Ideologie. Denn direkt nach der Revolution kann nicht
die ganze Wirtschaft, sondern nur ein Teil der Wirtschaft in Gesellschaftseigentum
umgewandelt werden. In anderen Teilen der Wirtschaft wird also noch Privateigen-
tum an Produktionsmitteln zugelassen, was eine ständige Quelle bürgerlicher Ideolo-
gie im Sozialismus ist.
Auch die kapitalistische Umkreisung ist eine ständige und mächtige Quelle der bür-
gerlichen Ideologie. Denn es ist praktisch unmöglich, dass in allen Ländern gleichzei-
tig die Revolution gelingt und so die Umkreisung wegfallen würde.
Und nicht zuletzt muss ein Kampf geführt werden um die Köpfe der Massen, um das
Bewusstsein von Millionen. Denn der Sozialismus ist eine Übergangsform, die noch
die Muttermale der alten Gesellschaft trägt.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Klassenkampf im Sozialismus gibt es über
Stalin und die Sowjetunion einige Vorurteile: die einen behaupten, Stalin habe den
Klassenkampf geleugnet, die anderen werfen ihm hingegen vor, er würde diesen Ver-
schärfen, um so die "ungerechtfertigten Repressionen" zu legitimieren. Wiederrum
wurde nach Stalins Tod in der Sowjetunion behauptet, der Klassenkampf habe im
Sozialismus keine Funktion mehr. Wir werden diese Vorwürfe nun näher untersu-
chen.

53
Zur Geschichte der Sowjetunion

1.5.1. Vorwurf Nr. 1: Stalin leugnete den Klassenkampf


im Sozialismus
Kommunisten sehen die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen an. Es gibt
jedoch Gruppen, die meinen, dass Stalin, weil er aussagte, dass es keine antagonisti-
schen Klassen mehr im Sozialismus gäbe, den Klassenkampf im Sozialismus geleug-
net habe. Sie werfen ihm vor, dass er von der Liquidierung von Klassen überhaupt,
also auch der nicht-antagonistischen, ausging. Um es mit den Worten von Harpal Brar
zu kommentieren:
"Stalin [sagt] in keiner Weise, dass Klassen in jeder Bedeutung des Begriffs eliminiert
wurden; noch weniger behauptet er, dass alle ökonomischen und politischen Wider-
sprüche in der UdSSR aufgehört haben zu existieren. Weit entfernt davon: Stalin sagt,
dass Ausbeuterklassen eliminiert wurden, aber es in der UdSSR noch zwei Klassen
gab, die Arbeiterklasse und die Bauernschaft, deren Interessen, wie Stalin betont, weit
davon entfernt sind, einander feindlich zu sein, im Gegenteil einander freundlich sind.
(…) Mit anderen Worten, was Stalin sagt, heißt, dass es im Jahre 1936 in der Sowjet-
union keine ANTAGONISTISCHEN Klassen gab (…) mit anderen Worten, Klassen
waren nicht eliminiert, obwohl die ausbeutenden Klassen beseitigt waren; dement-
sprechend war die sowjetische Gesellschaft immer noch in einer niedrigen Phase des
Kommunismus, die durch die Nichtexistenz ausbeutender Klassen, die Nichtexistenz
der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gekennzeichnet ist; sie musste
immer noch die höhere Phase des Kommunismus erreichen." 117
Eine dieser Gruppen in der BRD ist die MLPD, die zwar vorgibt, Stalin zu verteidi-
gen, ihn aber gleichzeitig verleumdet. In ihrer Schrift "Der Kampf um die Denkweise
in der Arbeiterbewegung" steht geschrieben: "Mao Tse-tung lernte aus den Erfahrun-
gen der Sowjetunion. Gegen die Verleumdungen der Revisionisten verteidigte er
Stalin, indem er zugleich aus seinen Fehlern lernte. Während sich in der alten kom-
munistischen Bewegung vor 1956 eine Tendenz zur Vernachlässigung des ideologi-
schen Kampfes um die Denkweise breitgemacht hatte, verhalf Mao Tse-tung der
proletarischen Weltanschauung wieder zu ihrem festen Platz in der Theorie und Pra-
xis des revolutionären Proletariats. Er knüpfte an die Auffassung von der Fortsetzung
des proletarischen Klassenkampfes im Sozialismus an (…) Die Fortsetzung des Klas-
senkampfes im Sozialismus ist das entscheidende Hauptkettenglied."118
Die MLPD wirft also Stalin vor, er hätte die Aufgabe der Fortführung sowie die Not-
wendigkeit des Klassenkampfes im Sozialismus nicht beachtet. Dabei wird der Klas-

117
BRAR, H. (1993), S. 519, 521
118
MLPD (1995), S. 105

54
Zur Geschichte der Sowjetunion

senkampf auf eine Art "Kampf um die Denkweise" reduziert. Der Kampf um die
Denkweise ist dabei nicht mit einem ideologischen Klassenkampf (also dem Kampf
gegen bürgerliche Ideologie) zu verstehen. Es ist ein nebulöses Konstrukt der MLPD,
welches sich nicht mit dem Inhalt der bürgerlichen Ideologie befasst, sondern um die
Art und Weise, wie gedacht werden soll. In einer Kritik an dieser "Theorie" ist folge-
richtig zu lesen: "Die eine Säule der 'Lehre von der Denkweise' kommt im folgendem
Zitat zum Ausdruck: 'So wie sich die ökonomischen Epochen der menschlichen Ge-
sellschaft nicht hauptsächlich durch das unterscheiden 'was gemacht wird, sondern
wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird' (Karl Marx, 'das Kapital, MEW Band
23, S. 194/195; zur Orientierung hier zitiert die MLPD Karl Marx, ist also ein Zitat im
Zitat), so unterscheidet sich auch das Bewusstsein dieser Epochen dadurch, wie und
auf welche Weise gedacht wird, mit welchen Denkmethoden, mit welcher Denkweise.
Die Denkweise ist wesentliches Moment der Arbeitsproduktivität sowohl in der mate-
riellen wie in der geistigen Produktion' (Kampf um die Denkweise …, S. 25). Die Art
und Weise, wie produziert wird, dies ist der Motor der ökonomischen Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft. Dies ist also der Ausgangspunkt der Marxisten-
Leninisten bei den Fragen, wie sich die ökonomischen Epochen unterscheiden, wel-
che Entwicklungsrichtung eine Gesellschaft nimmt usw. usf. und da sich die Ideen
und das Bewusstsein vom ökonomischen, materiellen Leben ableiten, ist die Produk-
tionsweise das bestimmende Moment dafür, welche Ideen sich in einer Gesellschaft
entwickeln, ist die Art der Produktion bestimmend für das Gesicht einer Epoche. Was
die MLPD nun macht, ist, dass sie diese fundamentale Erkenntnis gänzlich mecha-
nisch und vor allem auch falsch auf das menschliche Denken überträgt. Es wird ein-
fach nach Schema F gesagt, weil in der materiellen Produktion das Wie entscheidend
ist und nicht das Was, ist das im Bereich des Denkens auch so. Also anscheinend ist
nicht, was man denkt, sondern 'wie man denkt'. Dies ist aber ganz und gar falsch,
denn natürlich ist ausschlaggebend, was man denkt, also die Inhalte des Denkens, die
Inhalte der Theorien, Ideologien. So bringt jede Klasse, jede Schicht ihre eigenen
Ideologien, Theorien, Ideen hervor, die durch die jeweiligen Inhalte gekennzeichnet
sind. (…) So kommt die MLPD dann sogar zu der völlig unmaterialistischen Feststel-
lung, dass die 'Denkweise ein wesentliches Moment der Arbeitsproduktivität ist'. Aber
weder das 'Wie des Denkens', wie es die MLPD definiert, noch das Denken oder das
Bewusstsein selbst, wie es richtigerweise heißen müsste, sind 'wesentliches Moment
der Arbeitsproduktivität'! Damit bläst die MLPD in das Horn jener bürgerlichen Wis-
senschaftler, die die Geschichte der Ideen, der Wissenschaft für die entscheidende
Kraft selbst der Menschheitsgeschichte halten. Aber (…) 'neue gesellschaftliche Ideen
und Theorien entstehen erst, nachdem die Entwicklung des materiellen Lebens diese
vor neue Aufgaben gestellt hat. Aber nachdem sie entstanden sind, werden sie zu
einer höchst bedeutenden Kraft, die die Lösung der neuen, durch die Entwicklung des

55
Zur Geschichte der Sowjetunion

materiellen Lebens der Gesellschaft gestellten Aufgaben erleichtert (…) (Stalin, über
den dialektischen und historischen Materialismus, Geschichte der KPdSU, S. 146)." 119
Diese Kritiken der MLPD an Stalin entstammen der Kommunistischen Partei Chinas
(KPCh). Im neunten Kommentar vom 14. Juni 1964 "Über den Pseudokommunismus
Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt" kritisiert die KPCh Stalin
folgendermaßen: "Jedoch gibt es in der Sowjetunion, obwohl die Industrie verstaat-
licht und die Landwirtschaft kollektiviert wurde, immer noch die alte Bourgeoisie und
andere Ausbeuterklassen, die wohl gestürzt, aber noch nicht völlig vernichtet sind.
Die politischen und ideologischen Einflüsse der Bourgeoisie existieren ebenfalls
noch. In Stadt und Land sind nach wie vor die spontanen Kräfte des Kapitalismus
vorhanden. Immer wieder kommen neue bürgerliche Elemente und Kulaken auf. Auf
politischem, wirtschaftlichem und ideologischem Gebiet geht der Klassenkampf zwi-
schen Proletariat und Bourgeoisie, der Kampf zwischen dem Weg des Sozialismus
und dem Kapitalismus ununterbrochen weiter. (…) Überdies wich Stalin, als er die
Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes in der sozialistischen Gesellschaft untersuch-
te, von der marxistisch-leninistischen Dialektik ab; deshalb verkündete er, nachdem
die Kollektivierung der Landwirtschaft im wesentlichen beendet war, allzu früh, dass
es in der Sowjetunion keine antagonistischen Klassen mehr gibt, und dass die Sowjet-
union 'frei von Konflikten zwischen den Klassen sei'. Stalin betonte einseitig die Ein-
tracht innerhalb der sozialistischen Gesellschaft und vernachlässigte deren Wider-
sprüche."120
Es wird also nicht nur vorgeworfen, dass Stalin den Klassenkampf vernachlässige,
sondern eine völlig falsche Klassenanalyse gab. Was ist von diesem Vorwurf zu hal-
ten? Aus einer kritischen Analyse der Positionen der MLPD geht hervor:
"Die Haltung Lenins und Stalins in der Frage der Ausbeuterklassen im Sozialismus
ist, daß diese im Sozialismus in ökonomischer Hinsicht liquidiert werden können und
müssen. Da der Klassenbegriff aber in allererster Linie ein ökonomischer ist, heißt
das, daß es dann bei Vollendung des Aufbaus des Sozialismus keine Ausbeuterklas-
sen mehr gibt. Das war nach Einschätzung der KPdSU und Stalins 1936 in der
UdSSR der Fall (Siehe Anmerkung I). Aber in den Köpfen der übergroßen Mehrheit
der Menschen, die diese Ausbeuterklassen gebildet haben, lebt die alte bürgerliche
Ideologie noch fort und sie sind in ihrer Mehrheit erbitterte Feinde des neuen Sowjet-
staates. Daher betonten Lenin und Stalin, daß in dieser Hinsicht ein Klassenkampf
geführt werden muß und - wie wir oben ausführten (auch unter den werktätigen Mas-

119
TROTZ ALLEDEM (1997), S. 6 - 7
120
KOMMUNISTISCHE PARTEI CHINAS (1964/1970), S. 477

56
Zur Geschichte der Sowjetunion

sen lebt die alte bürgerliche Ideologie noch fort) -, ist dies längst nicht die einzige
Aufgabe im Klassenkampf beim Aufbau des Sozialismus.
Mao Tse-tung hingegen behauptete fälschlicherweise, daß es im Sozialismus - sogar
noch sehr lange - Ausbeuterklassen gäbe. Er betonte wie Lenin und Stalin, daß es im
Sozialismus Klassenkampf gibt. Aber er behauptete, daß dies so sei, weil es im Sozia-
lismus noch Ausbeuterklassen gäbe. Er band also in unzulässiger Weise die Existenz
des Klassenkampfes an die Existenz von Ausbeuterklassen. Daher warf er Stalin vor,
daß dieser den Klassenkampf vernachlässigt hätte, weil ja Stalin richtig sagte, daß es
in der Sowjetunion nach 1936 keine Ausbeuterklassen mehr gabt. Das heißt zusam-
mengefasst, daß Mao Tse-tung in der Frage im wesentlichen zwei Fehler machte:
Erstens die Existenz von Ausbeuterklassen im Sozialismus zu behaupten und zwei-
tens den Klassenkampf an die Existenz von Ausbeuterklassen zu binden.
Lenin und Stalin betonten dahingegen richtig, daß beim Aufbau des Sozialismus die
Ausbeuterklassen liquidiert werden, daß aber auch bei Erfüllung dieser Aufgabe, d.h.
nach Liquidierung der Ausbeuterklassen, der Klassenkampf auf jeden Fall weiter
geführt werden muss.
Viele der Vertreter der sogenannten Mao-Tse-tung-Ideen systematisieren die falschen
Ansichten Mao Tse-tungs und werfen Stalin vor, er hätte gar keinen Klassenkampf im
Sozialismus geführt, mit der Begründung, ‘daß er die Existenz von Klassen im Sozia-
lismus leugne’. Sie unterscheiden gar nicht zwischen Ausbeuterklassen und unter-
drückten Klassen und reden einfach nur ganz allgemein von Klassen im Sozialismus.
Dazu ist zu sagen, daß Lenin und Stalin richtig feststellten, daß es im Sozialismus
nach Liquidierung der Ausbeuterklassen noch Klassen gibt, nämlich die ehemals
unterdrückten Klassen. Sie stellten heraus, daß diese Klassen sich im Verlauf des
Sozialismus sehr stark verändern und im Laufe des Sozialismus zu befreundeten
Klassen werden und sich die Unterschiede zwischen ihnen immer mehr verwi-
schen."121
Die Grundposition dieser maoistischen Sichtweise widerspricht marxistisch-
leninistischen Erkenntnissen. Wir haben weiter oben festgestellt, wie Klassen zu defi-
nieren sind, nämlich durch die Stellung zu den Produktionsmitteln. Hierbei handelt es
sich um objektive Kriterien. Wird eine Ausbeuterklasse ihrer Produktionsmittel be-
raubt, ist sie keine Ausbeuterklasse mehr, weil ihr damit die ökonomischen Grundla-
gen für die Ausbeutung entzogen wurden. Der Maoismus geht offensichtlich davon
aus, dass auch nach der Enteignung der Ausbeuterklassen diese noch bestehen (und
zwar nicht als Individuen - ehemalige Ausbeuter - sondern als Klasse). Jedoch, so wie
im Kapitalismus ein Kapitalist "Pleite gehen" kann und somit ins Proletariat ab-

121
TROTZ ALLEDEM (1998), S. 21 - 22

57
Zur Geschichte der Sowjetunion

rutscht, ist auch im Sozialismus ein enteigneter Kapitalist kein Kapitalist mehr. Damit
verfälscht der Maoismus die marxistisch-leninistische Klassendefinition, weil er den
Klassenbegriff seiner ökonomischen Grundlage beraubt. Klasse wird so nur als ein
Denken in den Köpfen der Menschen definiert - passend zu der "Lehre" von der
Denkweise der MLPD.
Doch wie muss man mit den ehemaligen Ausbeuterklassen umgehen, da es unwahr-
scheinlich ist, dass sich die Vertreter der ehemaligen Ausbeuterklassen nur wenige
Jahre nach ihrer Enteignung mit ihrer Lage zufriedengaben und die neuen Regeln des
sozialistischen Zusammenlebens akzeptierten.
Wir präsentieren hier einige Zitate Stalins, die die bedeutung des Klassenkampfes
hervorheben. Stalin schreibt z. B. in seinem Rechenschaftsbericht auf dem XVIII.
Parteitag 1939: "Manchmal wird gefragt: 'Die Ausbeuterklassen sind bei uns auf-
gehoben, feindliche Klassen gibt es im Lande nicht mehr, es gibt niemanden mehr,
der zu unterdrücken wäre, also braucht man den Staat nicht mehr, er muss absterben -
warum tragen wir denn nicht zum Absterben unseres sozialistischen Staates bei, wa-
rum bemühen wir uns nicht, mit ihm Schluss zu machen? Ist es nicht an der Zeit,
diesen ganzen Plunder der Staatlichkeit über Bord zu werfen?' Oder auch: 'Die Aus-
beuterklassen sind bei uns bereits aufgehoben, der Sozialismus ist im wesentlichen
errichtet; wir marschieren zum Kommunismus, die marxistische Lehre vom Staat aber
besagt, daß es unter dem Kommunismus keinerlei Staat geben soll – warum tragen
wir nicht zum Absterben unseres sozialistischen Staates bei, ist es nicht an der Zeit,
den Staat in ein Museum für Altertümer abzuschieben?'
Diese Fragen zeugen davon, daß die Fragesteller einzelne Sätze der Lehre von Marx
und Engels vom Staat gewissenhaft auswendig gelernt haben. Sie zeugen aber auch
davon, daß diese Genossen das Wesen dieser Lehre nicht begriffen haben, daß sie
nicht darüber Bescheid wissen, unter welchen geschichtlichen Bedingungen die ein-
zelnen Sätze dieser Lehre ausgearbeitet wurden und daß sie insbesondere die gegen-
wärtige internationale Situation nicht verstanden haben, daß sie das Bestehen einer
kapitalistischen Umwelt und die sich daraus ergebenden Gefahren für das Land des
Sozialismus übersehen haben. In diesen Fragen kommt nicht nur die Unterschätzung
des Bestehens der kapitalistischen Umwelt zum Ausdruck. In ihnen offenbart sich
ebenso die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung der bürgerlichen Staaten und
ihrer Organe, die in unser Land Spione, Mörder und Schädlinge entsenden und nur
auf den Moment lauern, um einen militärischen Überfall auf unser Land zu unterneh-
men. Ebenso offenbart sich in ihnen die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung
unseres sozialistischen Staates und seiner Militär-, Straf- und Abwehrdienstorgane,
die zum Schutze des Landes des Sozialismus gegen Überfälle von außen notwendig
sind.

58
Zur Geschichte der Sowjetunion

Man muss feststellen, daß sich nicht nur die eben erwähnten Genossen diese Unter-
schätzung zuschulden kommen lassen. In gewissem Maße lassen wir Bolschewiki uns
alle ohne Ausnahme diese Unterschätzung zuschulden kommen. Ist es denn nicht
verwunderlich, daß wir von der Spionage- und Verschwörertätigkeit der Anführer der
Trotzkisten und Bucharinleute erst in der letzten Zeit, in den Jahren 1937 und 1938,
erfahren haben, obwohl diese Herren, wie das aus den Materialien ersichtlich ist,
schon in den ersten Tagen der Oktoberrevolution als Spione bei den ausländischen
Spionageapparaten in Dienst standen und ihre Verschwörertätigkeit ausübten? Wie
konnten wir diese ernste Tatsache übersehen? Wodurch ist dieses Versagen zu erklä-
ren? Gewöhnlich antwortet man auf diese Frage folgendermaßen: Wir konnten nicht
annehmen, daß diese Leute so tief sinken können. Das ist aber keine Erklärung, und
noch viel weniger eine Rechtfertigung; denn die Tatsache des Versagens bleibt eben
eine Tatsache. Dieses Versagen erklärt sich aus der Unterschätzung der Kraft und
Bedeutung des Mechanismus der uns umgebenden bürgerlichen Staaten und ihrer
Spionageorgane, die bestrebt sind, die Schwächen der Menschen, ihre Eitelkeit, ihre
Charakterlosigkeit auszunutzen, um sie in ihre Spionagenetze zu verstricken und diese
Netze um die Organe des Sowjetstaates zu ziehen.
Es erklärt sich aus der Unterschätzung der Rolle und Bedeutung des Mechanismus
unseres sozialistischen Staates und seines Abwehrdienstes, aus der Unterschätzung
dieses Abwehrdienstes, aus dem Geschwätz, daß der Abwehrdienst im Sowjetstaate
nebensächlich und bedeutungslos sei, daß man den sowjetischen Abwehrdienst, eben-
so wie den Sowjetstaat selber, bald in ein Museum für Altertümer abschieben müsse.
(…) Man nehme zum Beispiel die von Engels gegebene klassische Formel der Theo-
rie der Entwicklung des sozialistischen Staates: Ist diese These von Engels richtig?
'Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald
mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion be-
gründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und
Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondere Repres-
sionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als
Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktions-
mittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als
Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf
einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die
Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung
von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht 'abgeschafft', er stirbt ab.' (Friedrich
Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 283.)
Ja, sie ist richtig, jedoch nur unter einer von den beiden Bedingungen: a) wenn man
den sozialistischen Staat nur vom Standpunkte der inneren Entwicklung des Landes
studiert, dabei von vornherein vom internationalen Faktor absieht und das Land sowie

59
Zur Geschichte der Sowjetunion

den Staat zur Vereinfachung der Untersuchung isoliert von der internationalen Situa-
tion betrachtet, oder b) wenn man voraussetzt, daß der Sozialismus bereits in allen
Ländern oder in den meisten Ländern gesiegt hat, daß es statt der kapitalistischen eine
sozialistische Umwelt gibt, daß keine Gefahr eines Überfalls von außen mehr besteht
und die Stärkung der Armee und des Staates nicht mehr nötig ist.
Wie aber, wenn der Sozialismus nur in einem einzelnen Lande gesiegt hat und es
angesichts dessen in keiner Weise möglich ist, von den internationalen Bedingungen
abzusehen – was dann? Auf diese Frage gibt die Formel von Engels keine Antwort.
Engels stellt sich eigentlich auch gar nicht diese Frage, folglich konnte es bei ihm
auch keine Antwort darauf geben. Engels geht von der Voraussetzung aus, daß der
Sozialismus bereits, mehr oder minder gleichzeitig, in allen Ländern oder in den
meisten Ländern gesiegt hat. Folglich untersucht hier Engels nicht einen oder den
andern konkreten sozialistischen Staat dieses oder jenes einzelnen Landes, sondern
die Entwicklung des sozialistischen Staates überhaupt, unter der Voraussetzung, daß
der Sozialismus in den meisten Ländern gesiegt hat – nach der Formel: 'Nehmen wir
an, der Sozialismus habe in den meisten Ländern gesiegt. Es fragt sich: welche Ver-
änderungen muß in diesem Falle der proletarische, der sozialistische Staat erfahren?'
Nur durch diesen allgemeinen und abstrakten Charakter der Problemstellung ist die
Tatsache zu erklären, daß Engels bei der Untersuchung der Frage des sozialistischen
Staates von einem solchen Faktor wie den internationalen Bedingungen, der internati-
onalen Lage, völlig absieht. Daraus folgt aber, daß sich die allgemeine Formel von
Engels für das Schicksal des sozialistischen Staates schlechthin nicht auf den beson-
deren und konkreten Fall anwenden lässt, wo der Sozialismus in einem einzelnen
Lande gesiegt hat, das von einer kapitalistischen Umwelt umgeben und der Gefahr
eines kriegerischen Überfalls von außen ausgesetzt ist, und das infolgedessen von der
internationalen Lage nicht absehen kann; dieses Land muss sowohl eine gut ausgebil-
dete Armee als auch gut organisierte Straforgane und einen starken Abwehrdienst,
folglich einen genügend starken Staat haben, um in der Lage zu sein, die Errungen-
schaften des Sozialismus vor einem Angriff von außen zu schützen.
Man kann von den Klassikern des Marxismus, die von unserer Zeit durch eine Perio-
de von 45 - 55 Jahren getrennt sind, nicht verlangen, daß sie alle und jede Zickzack-
wendungen der Geschichte in jedem besonderen Lande in der fernen Zukunft hätten
voraussehen sollen. Es wäre lächerlich zu verlangen, daß die Klassiker des Marxis-
mus uns fertige Lösungen für alle und jede theoretische Fragen hätten liefern sollen,
die in jedem einzelnen Lande nach Ablauf von 50 - 100 Jahren auftauchen können,
damit wir, die Nachfahren der Klassiker des Marxismus, die Möglichkeit haben, uns
ruhig auf die Bärenhaut zu legen und fertige Lösungen wiederzukauen. (Allgemeine
Heiterkeit.)

60
Zur Geschichte der Sowjetunion

Aber wir können und müssen von den Marxisten-Leninisten unserer Zeit verlangen,
daß sie sich nicht darauf beschränken, einzelne allgemeine Sätze des Marxismus aus-
wendig zu lernen, sondern daß sie in das Wesen des Marxismus eindringen, daß sie
lernen, den Erfahrungen des zwanzigjährigen Bestehens des sozialistischen Staates in
unserem Lande Rechnung zu tragen, daß sie schließlich lernen, gestützt auf diese
Erfahrungen und ausgehend vom Wesen des Marxismus, die einzelnen allgemeinen
Sätze des Marxismus zu konkretisieren, zu präzisieren und zu verbessern. Lenin
schrieb sein berühmtes Buch 'Staat und Revolution' im August 1917, das heißt, einige
Monate vor der Oktoberrevolution und der Schaffung des Sowjetstaates. Die Haupt-
aufgabe dieses Buches sah Lenin in der Verteidigung der Lehre von Marx und Engels
vom Staat gegen die Entstellung und Verflachung seitens der Opportunisten. Lenin
beabsichtigte, einen zweiten Teil von 'Staat und Revolution' zu schreiben, in dem er
die Hauptlehren aus den Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und 19 17
ziehen wollte: Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Lenin die Absicht hatte, im
zweiten Teile seines Buches, gestützt auf die Erfahrungen der Sowjetmacht in unse-
rem Lande, die Theorie des Staates auszuarbeiten und weiterzuentwickeln. Doch
hinderte ihn der Tod an der Erfüllung dieser Aufgabe. Was Lenin aber nicht mehr zu
vollbringen vermochte, das müssen seine Schüler tun. (Stürmischer Beifall.)" 122
Nachdem er die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und die sozialen Umgestal-
tungen dargelegt hatte, sagt Stalin bei seiner Rede über die Ergebnisse des ersten
Fünfjahrplans am 7. Januar 1933 über den Kampf gegen die Feinde des Sozialismus:
"Die Ergebnisse des Fünfjahresplans in vier Jahren auf dem Gebiet des Kampfes
gegen die Überreste feindlicher Klassen:
Als Ergebnis der Verwirklichung des Fünfjahresplans auf dem Gebiet der Industrie,
der Landwirtschaft und des Handels haben wir in allen Sphären der Volkswirtschaft
das Prinzip des Sozialismus durchgesetzt und aus ihnen die kapitalistischen Elemente
vertrieben.
Wozu musste das in Bezug auf die kapitalistischen Elemente führen, und wozu hat es
in der Tat geführt? Das hat dazu geführt, dass die letzten Überreste der sterbenden
Klasse: die Privatindustriellen und ihren Anhang, die Privathändler und ihre Handlan-
ger, die ehemaligen Adligen und Popen, die Kulaken und ihre Helfershelfer, die ehe-
maligen weißen Offiziere und Landpolizisten, die ehemaligen Polizisten und Gen-
darmen, die verschiedensten bürgerlichen Intellektuellen chauvinistischer Färbung
und alle sonstigen antisowjetischen Elemente aus dem Geleise geworfen wurden.

122
STALIN: Rechenschaftbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU
(B), 10. März. 1939: Band 14, S. 123 - 126

61
Zur Geschichte der Sowjetunion

Diese 'Ehemaligen' die aus dem Geleise geworfen wurden und sich über das ganze
Gebiet der UdSSR verstreut haben, verkrochen sich in unseren Werken und Betrie-
ben, in unseren Institutionen und Handelsorganisationen, in den Eisenbahn- und
Schifffahrtsbetrieben und hauptsächlich in den Kollektiv- und Sowjetwirtschaften. Sie
verkrochen sich und versteckten sich dort unter der Maske von Arbeitern und Bauern,
wobei sich der eine oder andere von ihnen sogar in die Partei einschlich.
Was brachten sie dorthin mit? Natürlich das Gefühl des Hasses gegen die Sowjet-
macht, das Gefühl erbitterter Feindschaft gegen die neuen Wirtschafts-, Lebens- und
Kulturformen.
Gegen die Sowjetmacht direkt Attacke zu reiten sind diese Herrschaften nicht mehr
imstande. Sie und ihre Klassen haben schon einige Male solche Attacken geritten,
aber sie wurden geschlagen und zerstreut. Darum ist das einzige, was sie noch tun
können, Schaden und Unheil für die Arbeiter, die Kollektivbauern, die Sowjetmacht
und die Partei zu stiften. Und sie schaden auch, wo sie nur können, indem sie ver-
steckte Wühlarbeit betreiben. Sie stecken Lagerhäuser in Brand und beschädigen
Maschinen. Sie organisieren Sabotage. Sie organisieren Schädlingsarbeit in den Kol-
lektivwirtschaften, in den Sowjetwirtschaften, wobei manche von ihnen, unter denen
sich auch einige Professoren befinden, in ihrem Schädlingsdrang so weit gehen, dass
sie dem Vieh in den Kollektiv- und Sowjetwirtschaften die Pest, die sibirische Seuche
einimpfen, die Verbreitung der Meningitis unter den Pferden fördern usw.
Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache in der Tätigkeit dieser Ehemaligen
besteht darin, dass sie massenhaft Diebstahl und Veruntreuung staatlichen und genos-
senschaftlichen Gutes, kollektivwirtschaftlichen Eigentums organisieren. Diebstahl
und Veruntreuung in den Werken und Fabriken, Diebstahl und Veruntreuung von
Eisenbahnfrachten, Diebstahl und Veruntreuung in Lagerhäusern und Handelsbetrie-
ben - besonders aber Diebstahl und Veruntreuung in den Sowjet- und Kollektivwirt-
schaften -, das ist die Hauptform der Tätigkeit dieser Ehemaligen. Sie fühlen sozusa-
gen mit ihrem Klasseninstinkt, dass die Grundlage der Sowjetgesellschaft das gesell-
schaftliche Eigentum bildet, dass man, um der Sowjetmacht zu schaden, eben diese
Grundlage erschüttern muss - und sie bemühen sich tatsächlich, das gesellschaftliche
Eigentum dadurch zu erschüttern, dass sie Diebstahl und Veruntreuung in Massenum-
fang organisieren.
Zur Organisierung von Diebstählen nutzen sie die aus dem Privateigentum herrühren-
den Gewohnheiten und Reminiszenzen der Kollektivbauern aus, die gestern noch
Einzelbauern waren, heute aber Mitglieder der Kollektivwirtschaften sind. Sie als
Marxisten müssen wissen, dass das Bewusstsein der Menschen in seiner Entwicklung
hinter ihrer tatsächlichen Lebenslage zurückbleibt. Die Kollektivbauern sind ihrer
Lage nach nicht mehr Einzelbauern, sondern Kollektivisten, aber ihr Bewusstsein ist

62
Zur Geschichte der Sowjetunion

einstweilen noch das alte, das Bewusstsein von Privateigentümern. Und die aus den
Ausbeuterklassen stammenden Ehemaligen nutzen die aus dem Privateigentum her-
rührenden Gewohnheiten der Kollektivbauern aus, um Diebstahl an gesellschaftli-
chem Gut zu organisieren und damit die Grundlage der sowjetischen Gesellschafts-
ordnung, das gesellschaftliche Eigentum, zu erschüttern.
Viele unserer Genossen stehen diesen Erscheinungen gleichmütig gegenüber und
verstehen nicht Sinn und Bedeutung der massenhaften Diebstähle und Veruntreuun-
gen. Sie gehen wie Blinde an diesen Tatsachen vorbei, in der Annahme, dass es daran
nichts Besonderes gibt. Aber diese Genossen sind sehr im Irrtum. Die Grundlage
unserer Gesellschaftsordnung ist das gesellschaftliche Eigentum, ebenso wie die
Grundlage des Kapitalismus das Privateigentum ist. Die Kapitalisten haben das Pri-
vateigentum für heilig und unantastbar erklärt und seinerzeit eine Festigung der kapi-
talistischen Gesellschaftsordnung erreicht. Wir Kommunisten müssen umso mehr das
gesellschaftliche Eigentum für heilig und unantastbar erklären, um damit die neuen,
die sozialistischen Wirtschaftsformen auf allen Gebieten der Produktion und des
Handels zu festigen. Diebstahl und Veruntreuung gesellschaftlichen Eigentums -
gleichviel, ob es sich um Staatseigentum oder genossenschaftliches und kollektivwirt-
schaftliches Eigentum handelt zulassen und an solchen konterrevolutionären Schand-
taten vorbeigehen heißt die Untergrabung der sowjetischen Gesellschaftsordnung
fördern, die sich auf das gesellschaftliche Eigentum als ihre Basis stützt. Davon ging
unsere Sowjetregierung aus, als sie unlängst das Gesetz zum Schutz des gesellschaft-
lichen Eigentums erließ. Dieses Gesetz ist die Grundlage der revolutionären Gesetz-
lichkeit im gegenwärtigen Augenblick. Seine strengste Durchführung ist die erste
Pflicht jedes Kommunisten, jedes Arbeiters und Kollektivbauern.
Man sagt, dass sich die revolutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit durch nichts von der
revolutionären Gesetzlichkeit der ersten Periode der NÖP unterscheide, dass die revo-
lutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit eine Rückkehr zu der revolutionären Gesetzlich-
keit der ersten Periode der NÖP sei. Das ist absolut falsch. Die revolutionäre Gesetz-
lichkeit der ersten Periode der NÖP richtete sich mit ihrer Spitze hauptsächlich gegen
die Auswüchse des Kriegskommunismus, gegen die 'ungesetzlichen' Konfiskationen
und Eintreibungen. Sie garantierte dem Privateigentümer, dem Einzelbesitzer, dem
Kapitalisten die Unversehrtheit ihres Besitzes unter der Bedingung, dass sie die Sow-
jetgesetze aufs strengste einhalten. Ganz anders steht es um die revolutionäre Gesetz-
lichkeit in unserer Zeit. Die revolutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit ist mit ihrer
Spitze nicht gegen die Auswüchse des Kriegskommunismus, die schon längst nicht
mehr existieren, sondern gegen Diebe und Schädlinge in der gesellschaftlichen Wirt-
schaft, gegen Rowdys und Leute gerichtet, die das gesellschaftliche Eigentum verun-
treuen. Die größte Sorge der revolutionären Gesetzlichkeit in unserer Zeit gilt folglich
dem Schutz des gesellschaftlichen Eigentums und nichts anderem.

63
Zur Geschichte der Sowjetunion

Deshalb ist der Kampf für den Schutz des gesellschaftlichen Eigentums ein Kampf,
der mit allen Maßnahmen und Mitteln geführt wird, die uns die Gesetze der Sowjet-
macht zur Verfügung stellen, eine der Hauptaufgaben der Partei.
Eine starke und mächtige Diktatur des Proletariats, das ist es, was wir jetzt brauchen,
um die letzten Überreste der sterbenden Klassen zu vernichten und ihre Diebes-
machenschaften zu vereiteln.
Manche Genossen haben die These von der Aufhebung der Klassen, von der Schaf-
fung einer klassenlosen Gesellschaft und vom Absterben des Staates als Rechtferti-
gung für Trägheit und Gleichmütigkeit aufgefasst, als Rechtfertigung der konterrevo-
lutionären Theorie vom Erlöschen des Klassenkampfes und von der Schwächung der
Staatsmacht. Es erübrigt sich zu sagen, dass solche Leute mit unserer Partei nichts
gemein haben können. Das sind Entartete oder Doppelzüngler, die man aus der Partei
verjagen muss. Die Aufhebung der Klassen wird nicht durch das Erlöschen des Klas-
senkampfes, sondern durch seine Verstärkung erreicht. Das Absterben des Staates
wird nicht durch Schwächung der Staatsmacht erfolgen, sondern durch ihre maximale
Verstärkung, die notwendig ist, um die Überreste der sterbenden Klassen zu vernich-
ten und die Verteidigung gegen die kapitalistische Umkreisung zu organisieren, die
noch bei weitem nicht beseitigt ist und noch nicht so bald beseitigt sein wird.
Durch die Verwirklichung des Fünfjahrplans haben wir erreicht, dass wir die letzten
Überreste der feindlichen Klassen aus ihren Positionen in der Produktion endgültig
hinausgeworfen, das Kulakentum geschlagen und die Grundlage für seine Vernich-
tung geschaffen haben. Das ist das Ergebnis des Fünfjahrplans auf dem Gebiet des
Kampfes gegen die letzten Trupps der Bourgeoisie. Aber das ist noch zuwenig. Die
Aufgabe besteht darin, diese Ehemaligen aus unseren eigenen Betrieben und Instituti-
onen hinauszuwerfen und sie endgültig unschädlich zu machen.
Man kann nicht sagen, dass diese Ehemaligen durch ihre Schädlings- und Diebes-
machenschaften an der jetzigen Lage in der UdSSR irgendetwas ändern könnten. Sie
sind zu schwach und ohnmächtig, um sich den Maßnahmen der Sowjetmacht zu wi-
dersetzen. Wenn sich aber unsere Genossen nicht mit revolutionärer Wachsamkeit
wappnen und das spießbürgerlich gutmütige Verhalten zu Fällen des Diebstahls und
der Veruntreuung gesellschaftlichen Eigentums nicht aus der Praxis ausmerzen, so
können die Ehemaligen nicht wenig Schaden anrichten.
Man muss im Auge behalten, dass die wachsende Macht des Sowjetstaates den Wi-
derstand der letzten Überreste der sterbenden Klassen verstärken wird. Gerade weil
sie im Sterben liegen und ihre letzten Tage fristen, werden sie von den Vorstößen der
einen Form zu Vorstößen in anderen, schärferen Formen übergehen, an rückständige
Schichten der Bevölkerung appellieren und sie gegen die Sowjetmacht mobilisieren.

64
Zur Geschichte der Sowjetunion

Es gibt keine Gemeinheit und keine Verleumdung, zu der diese Ehemaligen in ihrem
Kampf gegen die Sowjetmacht nicht greifen und mit deren Hilfe sie nicht versuchen
würden, die rückständigen Elemente zu mobilisieren. Auf diesem Boden können die
zerschlagenen Gruppen der alten konterrevolutionären Parteien der Sozialrevolutionä-
re, Menschewiki, der bürgerlichen Nationalisten im Zentrum des Landes und in den
Randgebieten wiederaufleben und sich zu regen beginnen, können die Splitter der
konterrevolutionären Elemente aus den Reihen der Trotzkisten und der rechten Ab-
weichler wiederaufleben und sich zu regen beginnen. Das ist natürlich nicht schreck-
lich. Aber all dies muss man im Auge behalten, wenn wir mit diesen Elementen
schnell und ohne besondere Opfer Schluss machen wollen.
Deshalb ist die revolutionäre Wachsamkeit diejenige Eigenschaft, die die Bolschewiki
jetzt besonders brauchen".123
In seiner Schrift "Über die Mängel der Parteiarbeit…" schreibt Stalin: "Bei uns ist es
üblich, von der kapitalistischen Umkreisung zu schwatzen, aber man will sich weiter
keine Gedanken darüber machen, was es mit der kapitalistischen Umkreisung auf sich
hat. Kapitalistische Umkreisung - das ist keine leere Phrase, das ist eine sehr reale und
unangenehme Erscheinung. Kapitalistische Umkreisung heißt, dass es ein Land gibt,
die Sowjetunion, das bei sich die sozialistische Ordnung errichtet hat, und dass es
außerdem viele Länder, bürgerliche Länder, gibt, die weiterhin die kapitalistische
Lebensweise führen, die die Sowjetunion umgeben und auf eine Gelegenheit lauern,
sie zu überfallen, sie zu zerschmettern oder jedenfalls ihre Macht zu untergraben und
sie zu schwächen.
Diese grundlegende Tatsache haben unsere Genossen vergessen. Und doch bestimmt
gerade sie die Grundlage der Wechselbeziehungen zwischen der kapitalistischen
Umwelt und der Sowjetunion.
Nehmen wir zum Beispiel die bürgerlichen Staaten. Naive Leute mögen glauben, dass
zwischen ihnen, als zwischen Staaten vom gleichen Typ, ausschließlich gute Bezie-
hungen bestehen. Aber so können nur naive Leute denken. In Wirklichkeit sind die
Beziehungen zwischen ihnen mehr als weit entfernt von gutnachbarlichen Beziehun-
gen. Es ist bewiesen, wie zweimal zwei vier ist, dass die bürgerlichen Staaten einan-
der ihre Spione, Schädlinge, Diversanten und manchmal auch Mörder ins Hinterland
schicken und sie beauftragen, in die Institutionen und Betriebe dieser Staaten einzu-
dringen, dort ein eigenes Netz auszubreiten und 'im Bedarfsfall' das Hinterland dieser
Staaten zu zerstören, um sie zu schwächen und ihre Macht zu untergraben. So liegen
die Dinge gegenwärtig. So lagen die Dinge auch in der Vergangenheit. Nehmen wir
zum Beispiel die Staaten Europas zur Zeit Napoleons I. In Frankreich wimmelte es

123
STALIN: Die Ergebnisse des ersten Fünfjahresplanes, Werke, Bd. 13, S. 124f

65
Zur Geschichte der Sowjetunion

damals von Spionen und Diversanten aus dem Lager der Russen, der Deutschen, der
Österreicher, der Engländer. Und umgekehrt, England, die deutschen Staaten, Oster-
reich, Russland hatten damals in ihrem Hinterland keine geringere Anzahl von Spio-
nen und Diversanten aus dem französischen Lager. Agenten Englands verübten
zweimal ein Attentat auf Napoleon und zettelten mehrmals eine Erhebung der Bauern
der Vendee in Frankreich gegen die Regierung Napoleons an. Was war aber die napo-
leonische Regierung? Eine bürgerliche Regierung, die die Französische Revolution
abwürgte und nur die Ergebnisse der Revolution bestehen ließ, die für die Großbour-
geoisie vorteilhaft waren. Es braucht nicht betont zu werden, dass die napoleonische
Regierung ihren Nachbarn nichts schuldig blieb und gleichfalls ihre Diversionsmaß-
nahmen ergriff. So war es in der Vergangenheit, vor 130 Jahren. So liegen die Dinge
heute, 130 Jahre nach Napoleon. Heute wimmelt es in Frankreich und England von
deutschen Spionen und Diversanten, während umgekehrt in Deutschland wiederum
englisch-französische Spione und Diversanten am Werke sind. In Amerika wimmelt
es von japanischen Spionen und Diversanten und in Japan von amerikanischen.
Solcherart ist das Gesetz der Wechselbeziehungen zwischen den bürgerlichen Staaten.
Es fragt sich, warum sollten die bürgerlichen Staaten gegenüber dem sozialistischen
Sowjetstaat mehr Mäßigkeit an den Tag legen und sich als bessere Nachbarn verhal-
ten als gegenüber den bürgerlichen Staaten, Staaten von gleichem Typ? Warum soll-
ten sie ins Hinterland der Sowjetunion weniger Spione, Schädlinge, Diversanten und
Mörder schicken, als sie ins Hinterland der ihnen verwandten bürgerlichen Staaten
schicken? Wie kommen sie darauf? Wäre es vom Standpunkt des Marxismus aus
nicht richtiger, anzunehmen, dass die bürgerlichen Staaten ins Hinterland der Sowjet-
union doppelt und dreimal soviel Schädlinge, Spione, Diversanten und Mörder schi-
cken müssen als in das Hinterland eines beliebigen bürgerlichen Staates?
Ist es nicht klar, dass es bei uns, solange die kapitalistische Umkreisung besteht,
Schädlinge, Spione, Diversanten und Mörder geben wird, die von Agenten ausländi-
scher Staaten in unser Hinterland geschickt werden?
All das haben unsere Parteigenossen vergessen, und weil sie es vergessen haben,
wurden sie überrumpelt.
Deshalb war die Spionage- und Diversionstätigkeit der trotzkistischen Agenten der
japanisch-deutschen Geheimpolizei für manche unserer Genossen eine völlige Über-
raschung."124

124
STALIN: "Über die Mängel der Parteiarbeit…" Werke Band 14, S. 63 - 64

66
Zur Geschichte der Sowjetunion

An anderer Stelle führt Stalin aus: "Es ist notwendig, die faule Theorie zu zerschlagen
und beiseite zu werfen, dass der Klassenkampf bei uns mit jedem Schritt unseres
Vormarsches mehr und mehr erlöschen müsse, dass der Klassenfeind in dem Maße,
wie wir Erfolge erzielen, immer zahmer werde. Das ist nicht nur eine faule Theorie,
sondern auch eine gefährliche Theorie, denn sie schläfert unsere Leute ein, lockt sie in
die Falle, während sie dem Klassenfeind die Möglichkeit gibt, für den Kampf gegen
die Sowjetmacht Kräfte zu sammeln.
Im Gegenteil, je weiter wir vorwärts schreiten, je mehr Erfolge wir erzielen werden,
um so größer wird die Wut der Überreste der zerschlagenen Ausbeuterklassen wer-
den, um so eher werden sie zu schärferen Kampfformen übergehen, um so mehr Nie-
derträchtigkeiten werden sie gegen den Sowjetstaat begehen, um so mehr werden sie
zu den verzweifeltsten Kampfmitteln greifen, als den letzten Mitteln zum Untergang
Verurteilter.
Man muss im Auge behalten, dass die Reste der zerschlagenen Klassen in der UdSSR
nicht allein dastehen. Sie genießen die direkte Unterstützung unserer Feinde jenseits
der Grenzen der UdSSR. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass die Sphäre des Klas-
senkampfes sich auf das Gebiet der UdSSR beschränke. Spielt sich der Klassenkampf
mit einem Ende innerhalb der UdSSR ab, so reicht das andere Ende in das Gebiet der
uns umgebenden bürgerlichen Staaten. Das kann den Resten der zerschlagenen Klas-
sen nicht unbekannt sein. Und eben weil sie es wissen, werden sie auch künftighin
ihre verzweifelten Vorstöße fortsetzen. Das lehrt uns die Geschichte. Das lehrt uns
der Leninismus. Man muss das alles im Auge haben und auf der Hut sein. (…)
Es ist notwendig, eine fünfte faule Theorie zu zerschlagen und beiseite zu werfen, die
besagt, dass die trotzkistischen Schädlinge keine Reserven mehr hätten, dass sie an-
geblich ihre letzten Kader einsetzen. Das stimmt nicht, Genossen. Eine solche Theorie
konnten nur naive Leute ersinnen. Die trotzkistischen Schädlinge haben Reserven. Sie
bestehen vor allem aus den Resten der zerschlagenen Ausbeuterklassen in der
UdSSR. Sie bestehen aus einer ganzen Reihe von Gruppen und Organisationen au-
ßerhalb der UdSSR, die der Sowjetunion feindlich gegenüberstehen." 125
Aus einem von Stalin mitunterzeichneten Brief des ZK der KPdSU (B) an die KP
Jugoslawiens von 1948 heißt es: "Niemand bestreitet die Tiefe und den radikalen
Charakter der gesellschaftlichen Umwandlung, die in der Sowjetunion als Folge der
sozialistischen Oktoberrevolution durchgeführt wurde. Doch aus dieser Tatsache hat
die KPdSU (B) nie geschlossen, dass man in unserem Land den Klassenkampf ab-

125
STALIN: "Über die Mängel der Parteiarbeit…" Werke Band 14, S. 71-72

67
Zur Geschichte der Sowjetunion

schwächen könne oder dass die Gefahr eines Erstarkens der kapitalistischen Elemente
nicht mehr existiert."126
1929 heißt es bei Stalin in der Auseinandersetzung mit Bucharin in "Über die Rechte
Abweichung in der KPdSU": "Bisher haben wir Marxisten-Leninisten gemeint, dass
zwischen den Kapitalisten in Stadt und Land einerseits und der Arbeiterklasse ander-
seits ein unversöhnlicher Interessengegensatz besteht. Gerade darauf beruht ja die
marxistische Theorie des Klassenkampfes. Jetzt aber wird, nach der Theorie Bucha-
rins vom friedlichen Hineinwachsen der Kapitalisten in den Sozialismus, dies alles
umgekrempelt, der unversöhnliche Gegensatz der Klasseninteressen der Ausbeuter
und der Ausgebeuteten verschwindet, die Ausbeuter wachsen in den Sozialismus
hinein. (…) Aber die Diktatur des Proletariats ist die schärfste Form des Klassen-
kampfes. (…) Aber bei Bucharin ist es so, dass die Kapitalisten eben in diese Diktatur
des Proletariats hineinwachsen. Wieso verstehen Sie das nicht, Rosit? Gegen wen soll
man denn den Kampf führen, gegen wen soll man denn den Klassenkampf in seiner
schärfsten Form führen, wenn die Kapitalisten in Stadt und Land in das System der
Diktatur des Proletariats hineinwachsen? (…)Entweder besteht zwischen der Klasse
der Kapitalisten und der Klasse der Arbeiter, die an die Macht gelangt sind und ihre
Diktatur organisiert haben, ein unversöhnlicher Interessengegensatz, oder dieser Inte-
ressengegensatz besteht nicht, und dann bleibt nur eins übrig - die Harmonie der
Klasseninteressen zu verkünden. Eins von beiden: Entweder die Marxsche Theorie
des Klassenkampfes oder die Theorie des Hineinwachsens der Kapitalisten in den
Sozialismus; entweder unversöhnlicher Gegensatz der Klasseninteressen oder die
Theorie der Harmonie der Klasseninteressen. (…)
Bucharin versuchte in seiner Rede, die Theorie des Hineinwachsens des Kulakentums
in den Sozialismus durch den Hinweis auf ein bekanntes Lenin-Zitat zu bekräftigen.
Dabei behauptet er, dass Lenin dasselbe sage wie Bucharin. Das ist nicht richtig,
Genossen. Das ist eine grobe und unstatthafte Verleumdung Lenins. Hier der Text
dieses Lenin-Zitats: 'Natürlich beruht die soziale Ordnung in unserer Sowjetrepublik
auf der Zusammenarbeit zweier Klassen, der Arbeiter und der Bauern, zu der jetzt
noch die ‚NÖP-Leute', d. h. die Bourgeoisie, unter gewissen Bedingungen zugelassen
sind.' (4. Ausgabe, Bd. 33, S. 444 [deutsch in 'Ausgewählte Werke' in zwei Bänden,
Bd. II, S. 1004].)
Sie sehen, dass hier kein einziges Wort vom Hineinwachsen der Kapitalistenklasse in
den Sozialismus gesagt ist. Hier ist nur davon die Rede, dass wir zur Zusammenarbeit
der Arbeiter und Bauern 'unter gewissen Bedingungen' auch die NÖP-Leute, das heißt
die Bourgeoisie, 'zugelassen' haben.

126
Zitiert in HOXHA, E. Ausgewählte Werke Band 1, S. 739

68
Zur Geschichte der Sowjetunion

Was bedeutet das? Bedeutet das, dass wir damit die Möglichkeit des Hineinwachsens
der NÖP-Leute in den Sozialismus zugegeben haben? Natürlich nicht. So können nur
Leute, die jede Scham verloren haben, das Lenin-Zitat auslegen. Das bedeutet nur,
dass wir die Bourgeoisie jetzt nicht vernichten, dass wir ihr Eigentum jetzt nicht kon-
fiszieren, sondern ihre Existenz unter gewissen Bedingungen zulassen, das heißt unter
der Bedingung der unbedingten Unterwerfung unter die Gesetze der Diktatur des
Proletariats, die zur ständigen Einschränkung der Kapitalisten und zu ihrer allmähli-
chen Verdrängung aus dem volkswirtschaftlichen Leben führen.
Kann man die Kapitalisten verdrängen und die Wurzeln des Kapitalismus vernichten
ohne erbitterten Klassenkampf? Nein, das kann man nicht. Kann man mit der Theorie
und Praxis des Hineinwachsens der Kapitalisten in den Sozialismus die Klassen auf-
heben? Nein, das kann man nicht. Mit einer solchen Theorie und einer solchen Praxis
können die Klassen nur gehegt und verewigt werden, denn diese Theorie widerspricht
der marxistischen Theorie des Klassenkampfes. (…) Aufhebung der Klassen auf dem
Wege des erbitterten Klassenkampfes des Proletariats - das ist die Formel Lenins.
Aufhebung der Klassen auf dem Wege des Erlöschens des Klassenkampfes und des
Hineinwachsens der Kapitalisten in den Sozialismus - das ist die Formel Bucharins.
Was kann es Gemeinsames geben zwischen diesen beiden Formeln? Die Bucharin-
sche Theorie vom Hineinwachsen der Kulaken in den Sozialismus stellt somit eine
Abkehr von der marxistisch-leninistischen Theorie des Klassenkampfes dar."127
Auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 4.-12. Juli 1928 sagt Stalin: "Wir sagen oft,
dass wir die sozialistischen Wirtschaftsformen auf dem Gebiet der Industrie entwi-
ckeln. Was aber bedeutet das? Das bedeutet, dass wir, vielleicht ohne das selbst zu
bemerken, durch unseren Vormarsch zum Sozialismus Tausende und aber Tausende
kleiner und mittlerer kapitalistischer Unternehmer verdrängen und ruinieren. Kann
man annehmen, dass diese ruinierten Leute sich still verhalten, dass sie nicht versu-
chen werden, Widerstand zu organisieren? Natürlich kann man das nicht.
Wir sagen oft, dass man die Ausbeutergelüste des Kulakentums auf dem Lande ein-
schränken, dass man das Kulakentum mit hohen Steuern belegen, dass man das Pacht-
recht beschränken muss, dass man den Kulaken das Recht der Wahl in die Sowjets
nicht zugestehen darf usw. usf. Was aber bedeutet das? Das bedeutet, dass wir die
kapitalistischen Elemente des Dorfes unter Druck setzen und allmählich einengen,
dass wir sie manchmal zum Ruin bringen. Kann man annehmen, dass die Kulaken uns
dafür dankbar sein werden, dass sie nicht versuchen, werden, einen Teil der Dorfar-

127
STALIN: Über die rechte Abweichung in der KPdSU. Rede auf dem Plenum des ZK und
ZKK der KPdSU im April 1929. Stenographisches Protokoll. In SW 12, S. 21 - 23

69
Zur Geschichte der Sowjetunion

mut oder der Mittelbauern gegen die Politik der Sowjetmacht zu organisieren? Natür-
lich kann man das nicht.
Ist es nicht klar, dass unser ganzes Vorwärtsschreiten, jeder irgendwie bedeutsame
Erfolg auf dem Gebiet des sozialistischen Aufbaus, Ausdruck und Resultat des Klas-
senkampfes in unserem Lande ist?
Aber aus all dem ergibt sich, dass in dem Maße, wie wir vorwärts schreiten, der Wi-
derstand der kapitalistischen Elemente wachsen, dass der Klassenkampf sich ver-
schärfen wird; die Sowjetmacht aber, deren Kräfte mehr und mehr wachsen werden,
wird eine Politik der Isolierung dieser Elemente, eine Politik der Zersetzung der Fein-
de der Arbeiterklasse und schließlich eine Politik der Unterdrückung des Widerstands
der Ausbeuter durchführen und so die Basis für das weitere Vorwärtsschreiten der
Arbeiterklasse und der Hauptmassen der Bauernschaft schaffen.
Man darf sich die Sache nicht so vorstellen, dass die sozialistischen Formen sich
entwickeln und die Feinde der Arbeiterklasse verdrängen werden, die Feinde aber
stillschweigend zurückweichen und unserem Vormarsch den Weg freigeben werden,
dass wir dann weiter vorwärts schreiten, sie aber weiter zurückweichen werden, und
dass dann 'unerwartet' ausnahmslos alle sozialen Gruppen, sowohl die Kulaken als
auch die Dorfarmut, sowohl die Arbeiter als auch die Kapitalisten, 'plötzlich', 'un-
merklich', ohne Kampf und Erschütterungen, im Schoße der sozialistischen Gesell-
schaft angelangt sein werden. Solche Märchen gibt es nicht und kann es überhaupt
nicht geben, besonders nicht unter den Verhältnissen der Diktatur des Proletariats.
Es war niemals so und wird niemals so sein, dass die überlebten Klassen ihre Positio-
nen freiwillig aufgeben, ohne zu versuchen, Widerstand zu organisieren. Es war nie-
mals so und wird niemals so sein, dass der Vormarsch der Arbeiterklasse zum Sozia-
lismus in der Klassengesellschaft ohne Kampf und Erschütterungen vor sich gehen
kann. Im Gegenteil, der Vormarsch zum Sozialismus führt zwangsläufig dazu, dass
die Ausbeuterelemente diesem Vormarsch Widerstand entgegensetzen, der Wider-
stand der Ausbeuter aber führt zwangsläufig zur Verschärfung des Klassenkampfes.
Darum darf man die Arbeiterklasse nicht durch das Geschwätz von einer zweitrangi-
gen Rolle des Klassenkampfes einschläfern." 128
Lenin schreibt: "Die Aufhebung der Klassen ist das Werk eines langwierigen, schwe-
ren, hartnäckigen Klassenkampfes, der nach dem Sturze der Macht des Kapitals, nach
der Zerstörung des bürgerlichen Staates, nach der Aufrichtung der Diktatur des Prole-
tariats nicht verschwindet (wie sich das Flachköpfe vom alten Sozialismus und von

128
STALIN: Plenum des ZK der KPdSU(B), 4.-12. Juli 1928 Band 11, S. 92-93 pdf

70
Zur Geschichte der Sowjetunion

der alten Sozialdemokratie einbilden), sondern nur seine Formen ändert und in vieler
Hinsicht noch erbitterter wird."129
"Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus umfaßt eine ganze geschicht-
liche Epoche. Solange sie nicht abgeschlossen ist, behalten die Ausbeuter unvermeid-
lich die Hoffnung auf eine Restauration, und diese Hoffnung verwandelt sich in Ver-
suche der Restauration"130
"Theoretisch unterliegt es keinem Zweifel, daß zwischen dem Kapitalismus und dem
Kommunismus eine gewisse Übergangsperiode liegt, die unbedingt Merkmale oder
Eigenschaften dieser beiden sozial-ökonomischen Formationen in sich vereinen muß.
Diese Übergangsperiode kann nur eine Periode des Kampfes zwischen dem sterben-
den Kapitalismus und dem entstehenden Kommunismus oder, mit anderen Worten,
zwischen dem besiegten, aber nicht vernichteten Kapitalismus und dem geborenen,
aber noch ganz schwachen Kommunismus sein."131
"'Unter der Diktatur des Proletariats wird man Millionen Bauern und Kleinproduzen-
ten, Hundertausende Angestellte, Beamte, bürgerliche Intellektuelle umerziehen und
sie alle dem proletarischen Staat und der proletarischen Führung unterstellen, in ihnen
die bürgerlichen Gewohnheiten und Traditionen besiegen müssen', ebenso wie es
notwendig sein wird, 'in langwierigen Kämpfen auf dem Boden der Diktatur des Pro-
letariats, auch die Proletarier selbst umzuerziehen, die sich von ihren eigenen klein-
bürgerlichen Vorurteilen nicht auf einmal, nicht durch ein Wunder, nicht auf Geheiß
der Mutter Gottes, nicht auf Geheiß einer Losung, einer Resolution, eines Dekrets
befreien, sondern nur in langwierigen und schweren Massenkämpfen gegen den Mas-
seneinfluß des Kleinbürgertums.'" 132
In dieser Hinsicht stimmt also Stalin mit Lenin überein.
Aus diesen längeren Passagen der Ausführungen Stalins wird nicht nur deutlich, wa-
rum der Klassenkampf noch notwendig war, sondern er zeigt auch wunderbar die
schöpferische Anwendung der marxistischen Klassiker auf die konkrete historische
Situation. Der Klassenkampf beschränkte sich dabei natürlich nicht nur auf die Unter-
drückung der Ausbeuterklassen. Teil des Klassenkampfes war auch die Eliminierung
des Unterschiedes zwischen Hand- und Kopfarbeit sowie des Unterschiedes zwischen
Stadt und Dorf. Auch die politische Erziehung spielte im Klassenkampf eine wichtige

129
LENIN: Gruß an die ungarischen Arbeiter, Lenin Werke Band 29, S. 378
130
LENIN: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky Band.28, S. 252-253
131
LENIN: Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats, LW Band 30, S.
91
132
STALIN: Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swerdlow-Universität
Band 6, S. 62, Stalin zitiert hier Lenin

71
Zur Geschichte der Sowjetunion

Rolle. J. R. Campbell kommentiert hierzu: "Wieder und wieder hebt Lenin den Punkt
hervor (der gerne von Kritikern des Kommunismus vergessen wird), dass die Diktatur
der Arbeiter nicht nur Zwang, sondern auch Wiedereingliederung und Umerziehung
der ehemaligen Ausbeuter (…) bedeutet und dass dies eine lange, schrittweise und
vorsichtige Organisation erfordert.“133
Die Zeitschrift "Trotz Alledem" schreibt: "Was aber heißt Klassenkampf im Sozia-
lismus eigentlich? Der Klassenkampf im Sozialismus ist nicht irgendeine Aufgabe bei
der Errichtung der Diktatur des Proletariats, sondern ist von der ersten Stunde des
Sozialismus an entscheidend. Denn Klassenkampf heißt doch als erstes einmal, daß
die Kommunisten im Gegensatz zu den Anarchisten z.B. propagieren, daß die Kräfte
der alten Gesellschaft nach der Revolution unterdrückt werden müssen. Das bedeutet,
wie Lenin und Stalin darlegten, daß das Proletariat die alte Staatsmacht zerschlagen,
die Macht ergreifen muß und nach der Revolution nicht die Waffen niederlegen kann
sondern sich gegen die Konterrevolution verteidigen muß. Das heißt, daß wir schon
die ersten Tage des Sozialismus nicht überstehen können, wenn wir nicht den Klas-
senkampf nach der Revolution anerkennen.
Aber Klassenkampf im Sozialismus geht darüber weit hinaus. Er schließt nicht nur
den Kampf gegen die Überreste der alten liquidierten Ausbeuterklassen ein, dessen
ehemalige Vertreter die bürgerliche Ideologie zu einem großen Teil bewahren und
weitertragen. Er beinhaltet auch den Kampf gegen die gerade am Anfang des Sozia-
lismus immer wieder entstehende bürgerliche Ideologie. Denn direkt nach der Revo-
lution kann nicht die ganze Wirtschaft, sondern nur ein Teil der Wirtschaft in Gesell-
schaftseigentum umgewandelt werden. In anderen Teilen der Wirtschaft wird also
noch Privateigentum an Produktionsmitteln zugelassen, was eine ständige Quelle
bürgerlicher Ideologie im Sozialismus ist.
Auch die kapitalistische Umkreisung ist eine ständige und mächtige Quelle der bür-
gerlichen Ideologie. Denn es ist praktisch unmöglich, daß in allen Ländern gleichzei-
tig die Revolution gelingt und so die Umkreisung wegfallen würde"134
Ludo Martens schreibt in seinem Buch "Die UdSSR und die samtene Konterrevoluti-
on" über die Fortführung die Bedeutung des ideologischen Klassenkampfes: "Der
Imperialismus verfügt über höher entwickelte Produktivkräfte, er organisiert in wis-
senschaftlicher Weise die Ausbeutung der Arbeiter, er verschafft sich zusätzliche
Vorteile durch Ausplünderung der Reichtümer in der Dritten Welt. All das versetzt
ihn in die Lage, unablässig ökonomische, politische und ideologische Offensiven
gegen die sozialistischen Länder zu führen. Diese Offensiven (…) werden eher ver-

133
CAMPBELL (1939), S. 142
134
TROTZ ALLEDEM (1998): S. 19 - 20

72
Zur Geschichte der Sowjetunion

stärkt auf Grund der allgemeinen Krise des Imperialismus und dank zusätzlicher, von
der technologischen Revolution geschaffener Mittel. Im Innern der sozialistischen
Länder trifft der Imperialismus auf die Interessen der alten Reaktionäre und Kapitalis-
ten, die sich jahrzehntelang aufrechterhalten haben. Er stößt auch auf die Interessen
einer Gruppe von Bürokraten und hohen Funktionären, die nur die Wahrung ihrer
persönlichen Interessen suchen. Der Kampf für den Aufbau einer sozialistischen Ge-
sellschaftsordnung bleibt eine, zeitlich gesehen, relativ junge Aufgabe. Irrtümer und
ernste Fehler sind da unvermeidbar. Dazu kommt, dass in jeder neuen Entwicklungs-
phase neue Probleme auftauchen. Die bürgerliche Ideologie bleibt jedoch die ausge-
klügelteste, am besten dokumentierte, und sie verfügt über die mächtigsten Kommu-
nikationsmittel."135
Genosse Ludo Martens, der auh das Buch "Stalin anders betrachtet" schrieb, räumt
mit den wichtigsten Lügen gegen Stalin auf. Seine vorbildliche Arbeit enthält jedoch
auch einige unrichtige Aussagen in Bezug zum Klassenkampf. So schreibt Martens:
"Stalin kämpfte gegen spezifische Ausdrucksformen des Opportunismus und Revisio-
nismus. Er war der Meinung, dass sich der Klassenkampf auf ideologischem Gebiet
noch lange fortsetzen wird. Aber er war nicht in der Lage, eine umfassende und ver-
ständliche Theorie über seinen Ursprung und seine sozialen Grundlagen zu entwi-
ckeln. Konkret gesagt, ihm gelang es nicht, eine zusammenhängende Theorie über
den Fortbestand von Klassen und des Klassenkampfes in der sozialistischen Gesell-
schaft zu formulieren."136 Aus dieser Kritik wird leider nicht ersichtlich, was Martens
unter Fortbestand der Klassen versteht. Sind damit Ausbeuterklassen gemeint oder
Klassen allgemein? Wir haben oben festgestellt, dass die Ausbeuterklassen liquidiert
wurden, sie also keine Basis mehr haben. Andererseits war sich Stalin der weiteren
Existenz nicht-antagonistischer (!) Klassen im Sozialismus bewusst und wie wir se-
hen werden auch über die Notwendigkeit des Klassenkampfes zur Überwindung jeg-
licher Klassenunterschiede.
Unverständlich ist auch eine weitere Kritik von Ludo Martens: "Stalin hat nicht klar
genug begriffen, dass nach dem Verschwinden der ökonomischen Basis der kapitalis-
tischen und feudalen Ausbeutung in der Sowjetunion noch der Boden existiere, aus
dem bürgerliche Elemente wiederauferstehen konnten. Der Bürokratismus, die Tech-
nokratie, soziale Ungleichheiten und Privilegien wurden in bestimmten Schichten der
sowjetischen Gesellschaft eingeführt, ebenso entwickelten sich ein bürgerlicher Le-
bensstil und Bestrebungen zur Wiedereinführung gewisser Formen des Kapitalismus.
Der Fortbestand der bürgerlichen Ideologie im Schoße der Massen und unter den
Kadern wurde ein zusätzlicher Faktor, der ganze Schichten auf antisozialistische Posi-

135
MARTENS, L. (1993), S. 43
136
MARTENS, L. (1994/2014), S. 405

73
Zur Geschichte der Sowjetunion

tionen lenkte. Die Gegner des Sozialismus haben vom Imperialismus immer wichtige
Quellen sowie ideologische und materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt be-
kommen. Und dieser Imperialismus hat niemals aufgehört Geheimagenten einzu-
schleusen und Renegaten und Verräter zu kaufen, die gemeinsam alle Anstrengungen
unternahmen, die Formen des in der UdSSR existierenden Opportunismus auszunut-
zen und auszubauen. Die These von Stalin, nach der es keine Klassenbasis für die
Herrschaft der bürgerlichen Ideologie mehr gibt, ist einseitig und undialektisch. Das
hat zu Schwächen und Irrtümern in der politischen Linie geführt." 137
Hier bleibt aber die Frage offen, wo denn der Boden, also die ökonomische Basis,
noch existiere, aus dem bürgerliche Elemente wiederauferstehen können? Damit ist
wohl nichts anderes gemeint, als dass auf dem Boden der sozialistischen Ökonomie
eine neue Bourgeoisie entstehen könne. Wenn aber eine Bourgeoisie enteignet ist, ist
sie per Definition keine mehr. Dass Unterschiede in der Bezahlung oder Privilegien
bestimmter Schichten nicht unproblematisch sind, streitet auch Stalins keineswegs ab.
In seinen Schriften kritisiert er sehr häufig den Bürokratismus, wie noch an anderer
Stelle zu sehen sein wird. Martens liefert keine Analyse, sondern stützt sich auf die
Aussagen der Kommunistischen Partei Chinas. Wir haben aber oben festgestellt, dass
deren Aussagen keinerlei Fundament haben, sondern Stalin unterstellen, er habe die
Existenz einer Bourgeoisie im Sozialismus, nachdem diese enteignet wurde, ignoriert.
Sie geben aber keine konkreten Hinweise dafür an, dass solche Elemente entstehen.
Dass Bürokraten nach ihren Privilegien trachten und versuchen sie zu vergrößern ist
keine Erklärung dafür, dass die Bourgeoisie in der sozialistischen Ökonomie einfach
so (ohne Änderung der ökonomischen Basis) entsteht. Der Kampf gegen den Büro-
kratismus war aber ebenso ein Bestandteil des Klassenkampfes, wie der Kampf um
Arbeitsproduktivität, die Mobilisierung der Arbeiterklasse, die Bildung der Kader etc.
Sie waren keinesfalls nur "ideologischer" Natur. 138
Stalin setzte sich auch mit revisionistischen Positionen in der Ökonomie auseinander,
in der er die bürgerlichen Auffassungen von Warenproduktion und Wertgesetz kriti-
sierte. Die bürgerliche Ideologie, in all ihren Erscheinungsformen (inklusive Bürokra-
tismus), hat jedoch nicht ihre Wurzeln in der sozialistischen Basis, sondern in den
Muttermalen der alten Gesellschaft. Es blieben aber nicht nur die Reste der alten
Ausbeuterklassen zurück. Auch die Arbeiter, Bauern und die Intelligenz waren nicht
frei von den Muttermalen der alten Gesellschaft. Wie in anderen Kapiteln dieses Bu-
ches nachgewiesen, war das zaristische Russland nicht nur geplagt von einer ökono-
mischen und kulturellen Rückständigkeit, sondern hatte eine lange und besonders

137
MARTENS (1994/2014), S. 406
138
Mit diesen Aspekten wird sich in anderen Büchern intensiver befasst. Hier sei ein Verweis
auf Kubi (2015) hinreichend.

74
Zur Geschichte der Sowjetunion

negative Tradition des Bürokratismus. Dieser Probleme war sich die Sowjetunion und
entsprechend Stalin äußert bewusst. Weiterhin stand die Sowjetunion keineswegs
isoliert dar, sondern wurde auch ideologisch beeinflusst und unterwandert durch den
Weltkapitalismus - ein Problem, welches besonders zur Endzeit der Sowjetunion
deutlich wurde. Gerade diesen internationalen Charakter des Klassenkampfes hatte
Stalin mehrmals betont und diesen gibt ja auch Martens selbst zu. Daher wirkt es auch
unverständlich, wenn Martens unterstellt, Stalin reduzierte den Klassenkampf "aus-
schließlich auf die Spionage und die verschwörerischen Aktivitäten" der Trotzkis-
ten.139
Harpal Brar, der diese falsche Kritik anhand pseudomarxistischer Intellektueller als
Lüge entlarvt, kommentiert: "Zweitens charakterisiert Stalin, indem er die Notwen-
digkeit des Erhalts des sowjetischen Staates betont, die Veränderungen in der FORM
des Klassenkampfes in der UdSSR. Es ist dieser Kontext, in dem die obigen Bemer-
kungen aus Stalins Rede zum 18. Parteitag der KPdSU(B) erscheinen; und es sind
diese Bemerkungen, bei denen unser professioneller Fälscher, MF, sein Bestes gege-
ben hat, sie zu entstellen. In diesen Bemerkungen tut Stalin nichts anderes, als den
realen Veränderungen in der externen und internen Position der UdSSR Ausdruck zu
verleihen; er betont, daß IN DIESER ZEIT die Hauptgefahr für die Sowjetunion von
außen kam, d.h. vom faschistischen Deutschland, während intern die sowjetische
Arbeiterklasse zeitweilig siegreich aus ihrem Kampf gegen die Überreste der ehema-
ligen Ausbeuterklassen hervorgegangen war, was faktisch zu einem ZEITWEILI-
GEN, nichtsdestoweniger realen Abklingen des Klassenkampfes INTERN, d.h. in der
UdSSR, führte. Dasselbe galt jedoch nicht für die externe – die internationale – Situa-
tion der UdSSR, die sich tatsächlich als fieberhafte Intensivierung des Klassenkamp-
fes präsentierte. Konsequenterweise war es also absolut gerechtfertigt, daß Stalin den
EXTERNEN Klassenkampf betonte, eine Betonung, die so erscheinen muß, als gehe
sie zu Lasten des INTERNEN Klassenkampfs. Tatsächlich aber war sie nicht zu Las-
ten des internen Klassenkampfs gemacht. Stalin hat absolut zu Recht festgehalten, daß
UNTER DEN VORHERRSCHENDEN BEDINGUNGEN IN DIESER ZEIT, der
Weg zur Befassung mit dem EXTERNEN Klassenkampf die militärische Bereitschaft
auf der Seite der Sowjetunion war, während INTERN die beste Methode darin be-
stand, die Feinde des Sowjetregimes zu verhaften, zur Rechenschaft zu ziehen und zu
bestrafen – Spione, Attentäter, Saboteure etc. Stalin hätte tatsächlich einen Fehler
gemacht, wenn er es versäumt hätte, die Betonung vom internen zum externen Klas-
senkampf zu verschieben.
Nur weil Stalin die Veränderungen betonte, die in der FORM des Klassenkampfes
stattgefunden haben, heißt das, daß er damit die Theorie vom Abklingen des Klassen-

139
MARTENS (1994/2014), S. 406

75
Zur Geschichte der Sowjetunion

kampfes im Sozialismus vortrug? Nein, das heißt es sicherlich nicht. Nicht ein einzi-
ges Mal behauptete Stalin in seiner Rede zum 18. Parteitag oder an irgendeiner ande-
ren Stelle, daß unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats der Klassenkampf
zum Absterben bestimmt war. Ganz im Gegenteil. Stalin betonte wieder und wieder
die marxistisch-leninistische Theorie von der Intensivierung des Klassenkampfes
unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats. Die Formen dieses Kampfes
mögen sich ändern, aber der Kampf als solcher bleibt während der gesamten histori-
schen Epoche der Diktatur des Proletariats bestehen." 140
Nun kann auch der Blinde sehen, daß Stalin fest die Theorie der Fortsetzung und
Intensivierung des Klassenkampfs im Sozialismus vertrat. Diese Theorie wurde von
der KPdSU während der ganzen Stalinzeit in die Praxis umgesetzt, d.h. vor und nach
1937. Im Jahre 1937-38 wurde sie gegen den Block der Rechten und Trotzkisten
angewendet; sie wurde wieder und wieder neu formuliert in den 1920er, 1930er und
1940er Jahren und galt weiterhin als Grundposition der KPdSU(B) bis nach dem Tode
Stalins. Erst beim 20. Parteitag waren die modernen Chrustschow-Revisionisten in
der Lage, die 'faule Theorie ... daß mit jedem Fortschritt ... der Klassenkampf erlö-
sche ...' zur Anwendung zu bringen. Sie brauchten diese faule und gefährliche Theo-
rie, um das sowjetische Volk einzuschläfern, um es in die Falle zu locken, während
sie selbst sich der Aufgabe widmeten, den Kapitalismus in der UdSSR wiederherzu-
stellen.
Damit ist es vollkommen klar, daß Stalin nicht die Ansicht hatte, daß der Klassen-
kampf INNERHALB der Sowjetunion zu Ende war; im Gegenteil hielt er sich fest an
die marxistisch-leninistische Theorie der Intensivierung des Klassenkampfs im Sozia-
lismus. Und darüber hinaus hatte er ein tiefes Verständnis von der Beziehung des
Klassenkampfes innerhalb der UdSSR und der 'Verlängerung dieses Kampfes in die
bürgerlichen Staaten rundum' die UdSSR; zwischen internem und externem Klassen-
kampf. Er verstand sehr gut, daß die Sphäre des Klassenkampfes keine Grenzen hatte.
Vielleicht denkt MF, daß ungeachtet des realen, weil zeitweiligen, Abklingens des
Klassenkampfes 1939 in der UdSSR, Stalin und die Sowjetregierung und die Partei
die Funken des Klassenkampfes hätten anfachen – den Klassenkampf schüren – sol-
len? Nun, weder die sowjetische Partei und Regierung noch Stalin waren dumm ge-
nug, eine solche Politik zu verfolgen.
'Natürlich darf man unsere Politik keineswegs als eine Politik der Schürung des Klas-
senkampfes ansehen. Warum? Weil die Schürung des Klassenkampfes zum Bürger-
krieg führt. Weil wir, sobald wir an der Macht sind, sobald wir diese Macht gefestigt
und die Kommandohöhen in den Händen der Arbeiterklasse konzentriert haben, nicht

140
Brar (1993), S. 539 - 540

76
Zur Geschichte der Sowjetunion

daran interessiert sind, daß der Klassenkampf die Formen eines Bürgerkrieges an-
nimmt. Das heißt aber keineswegs, daß dadurch der Klassenkampf aufgehoben ist
oder daß er, dieser Klassenkampfn nicht die entscheidende Kraft unserer Vorwärts-
entwicklung ist. Nein, das heißt es nicht.' (Werke Bd. 11, S. 150, [S. 92 pdf])
Der Klassenkampf im Sozialismus intensiviert sich nicht durch Schüren des Klassen-
kampfes seitens der Partei und der Regierung, sondern aufgrund des objektiven Ent-
wicklungsgesetzes des Sozialismus; jeder Fortschritt des Sozialismus wird zu Lasten
der ausbeutenden Klassen erreicht – sowohl intern als auch extern – und das kann
nichts andere als ihren verzweifelten Widerstand hervorrufen. Aber es ist ebenso
wahr, daß nach der Niederlage der Ausbeuterklassen in offener Schlacht eine ZEIT-
WEILIGE Atempause erreicht werden kann; der Klassenkampf mag intern oder ex-
tern ZWEITWEILIG abklingen. Nach der Niederlage der Interventionsmächte erhielt
die Sowjetunion eine zeitweilige Atempause hinsichtlich des externen Klassenkamp-
fes, aber der interne Klassenkampf wurde schärfer und schärfer bis 1939, als wieder
einmal das Augenmerk in Richtung externen Klassenkampf verschoben werden muß-
te aufgrund der Veränderungen des Klassenkampfes im Inneren und außerhalb. Es
erübrigt sich zu sagen, daß nichts davon impliziert, 'daß der interne Klassenkampf in
der Sowjetunion 1939 zu Ende war', genauso wenig, wie die Niederlage der Interven-
tionisten das Ende des externen Klassenkampfes impliziert hatte." 141
Eine Publikation der KPD-Roter Morgen (einer Nachfolgeorganisation der ehemals
maoistischen KPD/ML) mit dem Titel "Wann und warum der Sozialismus in der
Sowjetunion scheiterte" schildert ebenfalls einige merkwürdige Ansichten. Anders als
maoistische Gruppierungen (s. u.) bezeichnen sie die Sowjetunion nach 1956 nicht als
kapitalistisch, aber auch nicht als sozialistisch, sondern als eigene Form der Ausbeu-
tergesellschaft,142 sei aber imperialistisch, wenn man den Begriff weit fasst. 143 Auch
sie versuchen ökonomische Grundlagen zu finden, wie eine neue Ausbeuterklasse
entstehen konnte. Für sie war das "politische Leitungssystem der 30er Jahre" überholt,
die staatliche Leitung sei mangelhaft gewesen, das System "überzentralisiert", die
Arbeiterklasse politisch nicht gebildet genug und die Bürokraten entfernten sich im-
mer mehr von der Kontrolle durch die Arbeiterklasse, die Privilegien der Bürokraten
waren zu hoch und sie trachteten danach herrschende Klasse zu werden (was sie nach
deren Ansicht nach dem Tode Stalins wurden). 144 Ihre Quellen stützen sich dabei
besonders auf Memoiren (z. B. des Ökonomen Eugen Varga und Stalins Tochter).

141
Brar (1993), S. 541 - 542
142
KPD - ROTER MORGEN (1995), Kapitel 17
143
KPD-ROTER MORGEN (1995), Kapitel 18
144
KPD-ROTER MORGEN (1995), besonders Kapitel 3 & 4

77
Zur Geschichte der Sowjetunion

Dass eine Gruppe, die vorgibt Stalin zu verteidigen, ähnliche Vorwürfe vorbringt, wie
es Stalin-Gegner tun, aber gleichzeitig Stalins Nachfolgern abspricht, Kommunisten
zu sein, die Sowjetunion nach 1956 (als diese Kritiker Stalins an der Macht dominant
waren) jedoch weder sozialistisch noch kapitalistisch gewesen sein soll, zeigt die
problematischen Ansätze dieses Werks. Wir überlassen es dem Leser hierüber zu
urteilen, uns interessiert hier jedoch nur eine Aussage, die in Bezug zum Klassen-
kampf steht. Auf Seite 45, im Kapitel "Fehleinschätzungen in der Staatsfrage" steht
geschrieben: "Die Fehleinschätzung der Klassenwirklichkeit [man wirft Stalin vor er
habe in den Leitungsschichten keine gesonderte Klasse oder Schicht gesehen - M. K.]
führte in der Sowjetunion auch zu einer Fehleinschätzung des Charakters und der
Funktionen der sozialistischen Staatsmacht. 1939 erklärte Stalin auf dem 18. Partei-
tag, da es keine Ausbeutung mehr gebe, habe der Staat seine Unterdrückungsfunktion
verloren: Es gebe 'daher auch niemanden, der zu unterdrücken wäre', abgesehen von
'Dieben und Plünderern des Volksguts' sowie von 'Spionen, Mördern und Schädlin-
gen', die der Imperialismus ins Land geschickt hatte. (SW 14, S. 229)
'Die Funktion der wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Ar-
beit der Staatsorgane' bleibe erhalten; der repressive Charakter der Staatsmacht aber
richte sich nur noch 'nach außen, gegen die äußeren Feinde'. (ebenda)
Das war ein krasses Verkennen der Wirklichkeit. Arbeitsbuch, Inlandspaß, Strafge-
setze gegen Verletzungen der Arbeitsdisziplin - waren das keine unterdrückenden
Funktionen des Staates, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Organisierung
der Produktion standen? Die hier zugrundeliegenden Probleme bestanden offenkundig
weder in kriminellen Neigungen noch in der Tätigkeit von Agenten des Auslands,
sondern in den sowjetischen Produktionsverhältnissen selbst. Die betreffenden repres-
siven Funktionen des Sowjetstaates waren im Ganzen gesehen notwendig, ohne Fra-
ge, und sie waren letztlich im Interesse der Arbeiterklasse." 145

Wir zitieren an dieser Stelle nochmal Stalins Aussage vollständig in ihrem Kontext:
"Der Staat entstand auf der Grundlage der Spaltung der Gesellschaft in feindliche
Klassen, er entstand, um die ausgebeutete Mehrheit im Interesse der ausbeutenden
Minderheit im Zaume zu halten. Die Machtmittel des Staates konzentrierten sich
hauptsächlich in der Armee, in den Straforganen, im Polizeiapparat, in den Gefäng-
nissen. Zwei Hauptfunktionen kennzeichnen die Tätigkeit des Staates: die innere (die
hauptsächliche) - die ausgebeutete Mehrheit im Zaume zu halten, und die äußere (die
nicht hauptsächliche) - das Territorium seiner herrschenden Klasse auf Kosten des
Territoriums der anderen Staaten zu erweitern oder das Territorium seines Staates

145
KPD-ROTER MORGEN (1995), S. 45

78
Zur Geschichte der Sowjetunion

gegen Überfälle anderer Staaten zu verteidigen. So lagen die Dinge in der Sklavenhal-
tergesellschaft und unter dem Feudalismus. So liegen die Dinge unter dem Kapitalis-
mus. (…)
Die zweite Phase ist die Periode [des sowjetischen Staates - M. K.] von der Liquidie-
rung der kapitalistischen Elemente in Stadt und Land bis zum vollen Siege des sozia-
listischen Wirtschaftssystems und der Annahme der neuen Verfassung. Die Haupt-
aufgabe dieser Periode war die Organisierung der sozialistischen Wirtschaft im gan-
zen Lande und die Liquidierung der letzten Überreste der kapitalistischen Elemente,
die Organisierung der Kulturrevolution, die Organisierung einer völlig modernen
Armee für die Verteidigung des Landes. Dementsprechend veränderten sich auch die
Funktionen unseres sozialistischen Staates. Die Funktion der militärischen Unter-
drückung innerhalb des Landes kam in Wegfall - starb ab -, denn die Ausbeu-
tung ist vernichtet, Ausbeuter gibt es keine mehr und daher auch niemanden,
der zu unterdrücken wäre. Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der
Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des
Volksguts zu schützen. Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor
Überfällen von außen blieb völlig erhalten, es blieben folglich auch die Rote Armee,
die Kriegsmarine, ebenso wie die Straforgane und der Abwehrdienst, die notwendig
sind zur Aufdeckung und Bestrafung von Spionen, Mördern und Schädlingen, die von
den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden. Die Funktion
der wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit der Staatsor-
gane blieb erhalten und kam vollauf zur Entfaltung. Jetzt besteht die Hauptaufgabe
unseres Staates im Innern des Landes in der friedlichen wirtschaftlich-
organisatorischen und kulturellerzieherischen Arbeit. Was unsere Armee, die Strafor-
gane und den Abwehrdienst anbelangt, so ist nun ihre Spitze nicht nach dem Innern
des Landes gerichtet, sondern nach außen, gegen die äußeren Feinde." 146
Der Vergleich des Zitates Stalins und der Unterstellungen der Gruppe "Roter Mor-
gen" belegen, dass Stalin die Unterdrückung auf das Prinzip der Ausbeutung anwand-
te. Wenn die ökonomischen Grundlagen der Ausbeutung durch die Vergesellschaf-
tung der Produktionsmittel beseitigt wurden, gibt es niemanden mehr auszubeuten
und damit zu unterdrücken. Stalin gibt hier lediglich die Rolle des Staates als Diktatur
der herrschenden Klasse zur Unterdrückung einer anderen wider. Er benennt entspre-
chend die neuen Aufgaben des sowjetischen Staates nach der Liquidierung der Aus-
beuterklassen. Die Aufgaben bestehen im Schutz des gesellschaftlichen Eigentums
gegen Diebe (wozu übrigens auch Personen aus den Leitungsebenen dazugehören
können!), sowie die erzieherischen Maßnahmen des Staates. Gerade die von "Roter

146
STALIN: Rechenschaftbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU
(B), 10. März. 1939: Band 14, S. 126 - 127

79
Zur Geschichte der Sowjetunion

Morgen" aufgezählten Beispiele zur Arbeitsdisziplin zählen zu den erzieherischen


Maßnahmen des Staates. 1932 wurde ein Inlandpass eingeführt, so dass Ortswechsel
durch die Behörden genehmigt werden mussten. Ab 1939 gab es ein Arbeitsbuch:
man konnte nur dann in einem neuen Betrieb eingestellt werden, wenn man im alten
ordnungsgemäß abgemeldet war. Es gab auch strengere Gesetze gegen die Verletzung
der Arbeitsdisziplin. Hier sollte man bedenken, dass der größte Teil der Arbeiter aus
der Bauernklasse kam. Massen von Bauern strömten in die Städte für ein besseres
Leben. Allerdings mussten sie an die Arbeitsdisziplin in der Fabrik gewöhnt werden.
Tatsächlich wurden diese Sanktionen zu einem großen Teil ignoriert, weil sie unkom-
fortabel waren und für das Fabrikmanagement viel unnötige Arbeit bedeuteten. Zum
anderen herrschte ein Arbeitskräftemangel, so dass Manager Arbeiter einstellten, ohne
auf ihre Vergangenheit zu achten. 147 Wer jedoch diese Gesetzgebung als drakonische
Maßnahmen des Diktators Stalin sieht, dem sei gesagt, dass die Bourgeoise in ent-
sprechenden Phasen der Industrialisierung viel drakonischere Maßnahmen anwandte:
auspeitschen, einsperren, mit glühendem Eisen brandmarken, Kinder wegnehmen, als
Sklaven verkaufen usw.148
Da diese Maßnahmen jedoch nicht der Erzeugung von Profi dienten, kann hier auch
nicht von Ausbeutung und in diesem Sinne von Unterdrückung gesprochen werden,
weswegen "Roter Morgen" hier einige Erscheinungen in ein falsches Licht rückt.
Kurt Gossweiler hat die Arbeit der Gruppe wie folgt bewertet, dem wir uns nur an-
schließen können: "Anders gehen die Genossen der KPD-Gruppe 'Roter Morgen' an
diese Frage heran. Den Auffassungen der Partei der Arbeit Albaniens folgend, die
nach ihrer Ansicht als einzige Partei von Anfang an einen konsequenten Kampf gegen
den Revisionismus in der kommunistischen Bewegung geführt hat, hat die Sowjetuni-
on und haben die europäischen sozialistischen Staaten – außer Albanien – 1956 durch
den und im Gefolge des XX. Parteitages der KPdSU aufgehört, sozialistische Staaten
zu sein.
In ihrem Buch: 'Wann und warum der Sozialismus in der Sowjetunion scheiterte'
sagen sie, die Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen, auch das Schei-
tern des Sozialismus in der Sowjetunion sei das Ergebnis des Klassenkampfes. So
weit so gut, fragwürdig jedoch sind die weiteren Ausführungen. In der Sowjetunion
sei eine neue Ausbeuterklasse herangewachsen und die habe nach Stalins Tod mit
dem XX. Parteitag die Macht an sich gerissen und eine neue Ausbeutergesellschaft
errichtet. Diese neue Ausbeuterklasse setze sich aus zwei konkurrierenden Gruppie-
rungen zusammen - zum einen die der Staats- und Parteibürokratie, zum anderen die

147
Vgl. FILTZER, D. (1986)
148
Vgl. MARX, Das Kapital, Band 1, 24. Kapitel.

80
Zur Geschichte der Sowjetunion

der Betriebsdirektoren. Die Entstehung dieser Klasse im Schoße der sozialistischen


Gesellschaft ergebe sich aus dem Charakter des Sozialismus als einer Übergangsge-
sellschaft, die noch mit Muttermalen der alten kapitalistischen Gesellschaft behaftet
sei, z.B. mit der Arbeitsteilung in leitende und ausführende Funktionen. Der sowjeti-
schen Arbeiterklasse und ihrer Partei habe eine Theorie gefehlt, welche die in den
sozialistischen Produktionsverhältnissen selbst wurzelnden klassenmäßigen Unter-
schiede wissenschaftlich analysiert.
Daher erkläre sich auch die irrige Auffassung Stalins, dass es in der Sowjetunion
keine überlebten Klassen gäbe, die einen Widerstand organisieren könnten. (Ökono-
mische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, SW15, S. 342.)
Der Hinweis auf eine noch ausstehende gründliche Analyse der Widersprüche in der
sozialistischen Gesellschaft – sowohl der untergegangenen als auch der bestehenden –
ist berechtigt und nützlich. Insgesamt aber krankt der Erklärungsversuch der Genos-
sen vom 'Roten Morgen' daran, dass an seinem Beginn das vorgefasste Schema von
der mit dem XX. Parteitag 1956 erfolgten Ablösung des Sozialismus durch eine Aus-
beutergesellschaft steht, ein Schema, in das die Tatsachen gepresst werden, soweit sie
dazu taugen, während alles, was nicht passend gemacht werden kann, nicht vor-
kommt. Die Schwierigkeiten, in die sie offenkundig selbst mit diesem ihrem Schema
geraten sind, werden am deutlichsten in ihrer Feststellung, dass ab 1956 in der Sow-
jetunion eine Ausbeutergesellschaft bestehe, dass dies aber keine kapitalistische Ge-
sellschaft sei; sie kommen nämlich nicht daran vorbei, dass der Gesellschaft in der
Sowjetunion auch nach 1956 alle Wesensmerkmale einer kapitalistischen Gesellschaft
fehlen. Da aber diese Gesellschaft auch keine Feudal- oder eine Sklavengesellschaft
war, muss es sich um einen ganz neuartigen Typ der Ausbeutergesellschaft handeln,
dessen Spezifik jedoch die Genossen des „Roten Morgen“ nicht zu beschreiben ver-
mögen.
Die andere Schwierigkeit, in die sie geraten, ergibt sich daraus, dass vor unseren Au-
gen sich 1989/90 eine wirkliche Konterrevolution und eine tatsächliche Wiederher-
stellung der Ausbeutergesellschaft in der Sowjetunion und in den europäischen sozia-
listischen Ländern vollzogen hat mit all den Merkmalen und Umstürzen, die nun
einmal untrennbar mit der Liquidierung einer sozialistischen und der Wiederkehr der
Ausbeutergesellschaft verbunden sind. Und das führt natürlich zu der Frage: Wenn
das, was wir 1989/90 erlebt haben, schon 1956 vor sich gegangen sein soll – warum
hat dann damals alles das gefehlt, was jetzt diesen Umsturz auszeichnete und warum
ist dann überhaupt eine zweite Konterrevolution und Restauration nötig gewesen?"149
Dem ist nichts hinzuzufügen.

149
GOSSWEILER, K. (1998)http://kurt-gossweiler.de/?p=788

81
Zur Geschichte der Sowjetunion

1.5.2. Vorwurf Nr. 2: Verschärfung des Klassenkampfes


als Rechtfertigung von Repressionen
Auf der anderen Seite wird interessanterweise behauptet, Stalin habe den Klassen-
kampf nicht geleugnet, sondern verschärft. Dieser Vorwurf geht auf Chruschtschows
Geheimrede auf dem XX. Parteitag zurück, die seitdem immer wieder unkritisch
wiederholt wird. Grover Furr hat in seinem Buch "Chruschtschows Lügen" diese
Lüge entlarvt: "Stalins Bericht auf diesem Plenum [dem Februar-März-Plenum des
ZK 1937 – dort wollte Chruschtschow gesehen haben, dass Stalin die Repressionen
rechtfertigen wollte – M. K.] enthielt nicht eine einzige solche theoretische Rechtfer-
tigung. Chruschtschow verfälschte Stalins Worte erheblich. Stalin hat niemals gesagt:
'Im Zuge unseres Voranschreitens zum Sozialismus muss sich der Klassenkampf
immer mehr zuspitzen.' Was er sagte war: '(…) je weiter wird voranschreiten, je grö-
ßer unsere Erfolge sind, desto größer wird die Wut der Überreste der zerschlagenen
Ausbeuterklassen sein, desto eher werden sie zu schärferen Formen des Kampfes
greifen, desto mehr werden sie versuchen den Sowjetstaat zu schädigen, desto häufi-
ger werden sie zu aussichtsloseren Möglichkeiten des Kampfes greifen, als letzten
Ausweg dem Untergang geweihter Menschen. Es muss im Gedächtnis behalten wer-
den, dass die Überreste der zerbrochenen Klassen in der UdSSR nicht allein sind. Sie
haben die direkte Unterstützung unserer Feinde jenseits der Grenzen der UdSSR.'
Stalin fuhr fort, indem er eine individuelle Herangehensweise und politische Bildung
forderte, nicht aber Repressionen oder 'Terror'. (…) Am 5. März 1937 präsentierte
Stalin noch einen anderen abschließenden Bericht auf dem Februar-März-Plenum des
ZK. Diese abschließende Rede vor dem Plenum kann keinesfalls als 'theoretische
Begründung der Politik des Massenterrors' bezeichnet werden. Stalin argumentierte
explizit, 'es muss eine individuelle, differenzierte Herangehensweise geben.' Stalin
ging später auf diesen Punkt erneut ein und argumentierte ausdrücklich gegen eine
pauschale Herangehensweise. (…) Anstatt für eine 'Massenterrorpolitik' einzutreten,
trug Stalin ein starkes Argument dagegen vor."150
In Bezug zum Klassenkampf im Sozialismus verfälschte auch Trotzki den Leninis-
mus. Trotzki kommentierte die Resolutionen des 7. Kominternkongresses von 1935
so: "Der 7. Kominternkongress versicherte in der Resolution vom 20. August 1935
feierlich, infolge der Fortschritte der nationalisierten Industrie, der Verwirklichung
der Kollektivierung, der Verdrängung der kapitalistischen Elemente und der Liquidie-
rung des Kulakentums als Klasse seien 'der endgültige und unwiderrufliche Sieg des
Sozialismus in der UdSSR und eine allseitige Festigung des Staates der Diktatur des
Proletariats erreicht' worden. Bei all seiner Entschiedenheit ist das Urteil der Komin-

150
FURR, G. (2014), S. 60 – 61

82
Zur Geschichte der Sowjetunion

tern durch und durch widersprüchlich: wenn der Sozialismus 'endgültig und unwider-
ruflich' gesiegt hat, nicht als Prinzip, sondern als lebendige Gesellschaftsordnung, so
ist die neue 'Festigung' der Diktatur offensichtlich eine Sinnlosigkeit. Und umgekehrt:
wenn die Festigung der Diktatur realen Erfordernissen des Regimes entspricht, so
heißt das, dass es mit dem Sieg des Sozialismus noch seine Weile hat. Nicht nur der
Marxist, jeder realistisch denkende Politiker muss begreifen, dass die bloße Notwen-
digkeit einer 'Festigung' der Diktatur, d.h. des staatlichen Zwangs, kein Zeugnis für
den Triumph der klassenlosen Harmonie ist, sondern für das Heranwachsen neuer
sozialer Gegensätze."151
Auch hier fälschte Trotzki ganz bewusst die Resolution der Komintern. Dort findet
sich kein Wort darüber, dass die proletarische Diktatur den staatlichen Zwang, d. h.
also die Repressionen, festigt. Alles, was gesagt wird, ist, dass mit den ökonomischen
Veränderungen, die in der Sowjetunion stattfanden, der sowjetische Staat, der Staat
der proletarischen Diktatur, gefestigt wurde. Die Aussagen der Resolution lauten wie
folgt: "4. Eine gewaltige politische Festigung des Staates der Diktatur des Proletariats
wurde erzielt. Das Land der Sowjets besitzt die allerfesteste und unerschütterlichste
politische Ordnung, ist ein Staat der vollentfalteten Demokratie, der von den Volks-
massen nicht getrennt und ihnen nicht entgegengestellt ist, sondern organisch mit
ihnen verbunden ist, ihre Interessen verteidigt, ihren Willen zum Ausdruck bringt und
durchführt. Die tiefgreifenden, radikalen Wandlungen in der sozialen Struktur der
Sowjetunion, die sich im Gefolge der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirt-
schaft, der Liquidierung der Ausbeuterklassen und des Sieges des Kollektivwirt-
schaftssystems vollzogen, haben zu einer erneuten Erweiterung und Festigung des
sozialen Fundaments der Sowjetmacht geführt. Diesen Verschiebungen entsprechend
und auf das gestiegene Vertrauen der breitesten Massen zur Diktatur des Proletariats
gestützt, hat die Sowjetmacht neue Maßnahmen von großer geschichtlicher Tragwei-
te, Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung ihrer staatlichen Ordnung getroffen:
Ersetzung der nicht vollkommenen gleichen Wahlen durch gleiche, der indirekten
durch direkte, der offenen Wahlen durch geheime; Ausdehnung des Wahlrechts auf
neue Schichten der erwachsenen Bevölkerung, Wiedergewährung des Wahlrechts an
diejenigen früheren Großbauern, die in der Tat durch ehrliche Arbeit erwiesen haben,
dass sie den Kampf gegen die Sowjetordnung eingestellt haben. Der Ausbau der Dik-
tatur des Proletariats schreitet unentwegt vorwärts auf dem Wege der ununterbroche-
nen Verstärkung und Erweiterung der unmittelbaren Verbindung des Sowjetstaates
mit den Volksmassen, mit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, auf dem
Wege der Verstärkung der allseitigen und aktiven unmittelbaren Beteiligung der

151
TROTZKI, L. D. (1936), S. 62, siehe auch:

83
Zur Geschichte der Sowjetunion

Volksmassen an der Verwaltung des Staates und an der Leitung des sozialistischen
Aufbaus."152
Schaut man sich die Aussagen der Resolution an, wird man feststellen, dass Trotzkis
Behauptung, staatliche Zwänge (also Repressionen) wären gefestigt und damit legiti-
miert worden, mit keinem Wort erwähnt wurden. Ganz im Gegenteil zeigen sich so-
gar Aussagen, die beinhalten, dass die sowjetische Demokratie durch die Erweiterung
der Verbindung der Volksmassen mit dem sowjetischen Staat und der aktiven Einbe-
ziehung der Massen an der Verwaltung des Staates verstärkt werden sollte. Aber
Trotzkis ganzes Kapitel zum Staat, ja sogar sein ganzes Buch, baut auf der Annahme
auf, der sowjetische Staat (also die Bürokratie) festige die Repressionen.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie Trotzki aus dem Kontext gerissen zitierte, finden wir
an anderer Stelle, wo Trotzki sich mit einer Rede Molotows auseinandersetzte: "In
seinem Bericht auf der Tagung des Zentralexekutivkomitees vom Januar 1936 erklär-
te der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, Molotow: 'Die Volkswirtschaft des
Landes ist sozialistisch geworden (Beifall). In diesem Sinne (?) haben wir die Aufga-
be der Liquidierung der Klassen gelöst (Beifall)'. Jedoch, aus der Vergangenheit blie-
ben noch 'uns ihrer Natur gemäß feindliche Elemente' übrig, Splitter der früher herr-
schenden Klassen. Außerdem entdeckt man unter den Kolchosmitgliedern, Staatsan-
gestellten und zuweilen auch den Arbeitern 'Schieberchen', 'Raffer von Kolchosen-
und Staatsgut', 'sowjetfeindliche Klatschbasen' usw. Woraus sich denn die Notwen-
digkeit weiterer Festigung der Diktatur ergebe. Engels zum Trotz soll der Arbeiter-
staat nicht 'einschlafen', sondern im Gegenteil immer wachsamer werden. Das Bild,
welches das Oberhaupt der Sowjetregierung entwirft, wäre im höchsten Grade beru-
higend, wenn es nicht so mörderisch widerspruchsvoll wäre. Im Lande hat der Sozia-
lismus endgültig die Herrschaft angetreten: 'In diesem Sinne' sind die Klassen ver-
nichtet (wenn sie 'in diesem Sinne' vernichtet sind, sind sie es folglich auch in jedem
anderen). Freilich wird die soziale Harmonie hier und da durch Trümmer und Splitter
der Vergangenheit gestört. Man kann doch aber nicht annehmen, dass vereinzelte
Schwärmer, die, der Macht und des Eigentums beraubt, von der Wiederherstellung
des Kapitalismus träumen, zusammen mit 'Schieberchen' (nicht einmal richtige Schie-
ber!) und 'Klatschbasen' imstande seien, die klassenlose Gesellschaft zu stürzen. Alles
steht scheinbar zum Besten. Wozu dann aber trotz alledem die eiserne Diktatur der
Bürokratie?"153
Eine Überprüfung der Rede Molotows wird auch hier zeigen, dass Trotzki unsauber
zitierte. Molotow sagte nämlich Folgendes: "Der Plan dieses Jahres gibt das Pro-

152
KOMMUNISTISCHE INTERNATIONALE (1935/1975), S. 335 - 336
153
TROTZKI (1936): S. 106 - 107

84
Zur Geschichte der Sowjetunion

gramm eines neuen großen wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Volkswirtschaft kann


sich jetzt an die Erfüllung dieses Riesenprogramms machen, denn sie ist restlos eine
sozialistische Wirtschaft geworden. In keinem Zweig der Volkswirtschaft sind bei uns
Kapitalisten übrig geblieben, es sind auch keine kleinen Kapitalisten übrig geblieben.
Wir verwirklichen erfolgreich die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans:
die Liquidierung der kapitalistischen Elemente und der Klassen überhaupt. Das be-
deutet nicht, dass nunmehr bei uns keine ihrer Klassennatur nach uns feindlichen
Elemente mehr vorhanden sind. Es sind noch ihrer nicht wenige übrig geblieben. Und
sie benützen das geringste Nachlassen der revolutionären Wachsamkeit, um uns
Schaden zuzufügen und uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Man darf auch
nicht vergessen, dass das kleinbürgerliche Element zählebig ist, dass es sogar unter
den werktätigen Bauern, den Kollektivbauern, in der Masse der Angestellten unseres
Staatsapparates und manchmal auch unter den Arbeitern leicht Vertreter findet, bald
in Gestalt verschiedener kleiner Spekulanten, bald in Gestalt von Raffern des kollek-
tivwirtschaftlichen und staatlichen Eigentums, bald in Gestalt sowjetfeindlicher
Klatschbasen usw. Wenn wir aber die jetzige soziale Basis unseres Staates betrachten,
so entspricht sie restlos der Tatsache, dass die gesamte Volkswirtschaft des Staates
sozialistisch geworden ist. (Beifall). In diesem Sinne haben wir die Aufgabe der Li-
quidierung der Klassen gelöst. (Beifall). Die Liquidierung der kapitalistischen Ele-
mente, d. h. die Vernichtung der Parasiten, die auf Kosten der Volksmassen leben, hat
es denn auch ermöglicht, alle Einkünfte des Landes den Werktätigen selbst und ihrem
Staat zur Verfügung zu stellen."154
An anderer Stelle sagte Molotow: "Wir verwirklichen erfolgreich die Aufgabe der
Liquidierung der Klassen und schreiten unentwegt vorwärts auf dem Wege der Über-
windung der Überreste des Kapitalismus in der Ökonomik und im Bewusstsein der
Menschen; aber wir müssen dessen eingedenk sein, was Lenin über die vollständige
Aufhebung der Klassen gesagt hat. Lenin sagte: 'Zur vollständigen Aufhebung der
Klassen muss man nicht nur die Ausbeuter, die Gutsbesitzer und Kapitalisten stürzen,
nicht nur ihr Eigentum aufheben, sondern man muss noch jegliches Privateigentum an
Produktionsmitteln aufheben, man muss sowohl den Unterschied zwischen Stadt und
Land, als auch den Unterschied zwischen den Menschen der körperlichen Arbeit und
den Menschen der geistigen Arbeit aufheben.' (Bd. XXIV, S. 337, russ. Ausg.)
Lenin wies darauf hin, dass dies eine schwierige und langwierige Sache ist. Diese
Hinweise Lenins sind uns jetzt besonders verständlich. Aber es muss uns auch ver-
ständlich sein, dass die Lösung der von Lenin vorgezeichneten Aufgaben vor allem an
unserer Fähigkeit abhängt, die Hebung des kulturellen und technischen Niveaus der

154
MOLOTOW, M. (1936), S. 23 – 24

85
Zur Geschichte der Sowjetunion

Arbeiterklasse und die Hebung des Kulturniveaus des kollektivwirtschaftlichen Dor-


fes zu organisieren."155
Anders als Trotzki behauptet, findet sich hier nichts Widersprüchliches. Molotow
sagte aus, dass die Ausbeuterklassen in der Sowjetunion als Klasse verschwunden
seien, auch wenn die Mitglieder dieser ehemaligen Klassen noch als Individuen exis-
tierten. Die gesamte Wirtschaft sei sozialistisch und in diesem Sinne sei die Liquidie-
rung der Klassen erreicht worden, weil es keine parasitären kapitalistischen Elemente
mehr gebe, die von der Arbeit anderer lebten. Molotow erklärte – sich auf Lenin beru-
fend – aber weiterhin, dass die komplette Beseitigung der Klassen überhaupt mehr
erfordere als die Enteignung der Ausbeuter. Sämtliche Unterschiede im Eigentum der
Produktionsmittel sowie die Unterschiede zwischen Stadt und Land wie auch zwi-
schen geistiger und körperlicher Arbeit müssten verschwinden. Erst dann seien die
Klassenunterschiede beseitigt. Auch Stalin stand dabei voll aufseiten Lenins, wie
weiter oben zitiert wurde.
Man vergleiche nun Trotzkis Aussagen mit der von Molotow und Stalin. Er zitierte
die erste These, dass die Klassen im Sinne der Ausbeuterklassen liquidiert wurden,
verschwieg aber völlig, dass damit nicht die komplette Beseitigung der Klassenunter-
schiede gemeint war. Aufgrund dieser Fälschung ließ Trotzki den Leser glauben, dass
Molotow davon ausging, dass alle Klassenunterschiede verschwunden wären. Somit
konnte Trotzki natürlich die Frage stellen, wozu denn ein Staat in der Sowjetunion
noch notwendig war. Trotzki führte weiterhin aus:
"Die reaktionären Schwärmer, sollte man meinen, sterben allmählich aus. Mit 'Schie-
berchen' und 'Klatschbasen' könnten auch erzdemokratische Sowjets spielend fertig
werden.
'Wir sind keine Utopisten', entgegnete Lenin 1917 den bürgerlichen und reformisti-
schen Theoretikern des bürokratischen Staates, 'und leugnen durchaus nicht die Mög-
lichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen einzelner Personen und ebenso
wenig die Notwendigkeit, solche Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber ... bedarf es
dazu keiner besonderen Maschine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das
wird das bewaffnete Volk selber tun und mit der gleichen Selbstverständlichkeit be-
werkstelligen, mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heu-
tigen Gesellschaft Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor Gewalt schützt'.
Diese Worte klingen, als hätte ihr Schreiber speziell die Einwände eines seiner Nach-
folger auf dem Posten des Regierungschefs vorausgesehen. Lenin wird in den Volks-
schulen der UdSSR gelehrt, aber offenbar nicht im Sowjet der Volkskommissare.

155
Molotow (1936), S. 32 – 33

86
Zur Geschichte der Sowjetunion

Anders lässt sich Molotows Entschiedenheit, mit der er unbedenklich just zu den
Argumenten greift, gegen die Lenin seine scharf geschliffene Waffe richtete, nicht
erklären. Welch schreiender Widerspruch zwischen dem Gründer und den Epigonen!
Wo Lenin meinte, selbst die Liquidierung der Ausbeuterklassen könne ohne bürokra-
tischen Apparat geschehen, findet Molotow zur Erklärung, warum nach der Liquidie-
rung der Klassen eine bürokratische Maschine die Selbsttätigkeit des Volkes erstickt,
keinen besseren Hinweis als den auf die 'Überreste' der liquidierten Klassen."156
Auch hier sehen wir, dass Trotzki Lenin nicht im Kontext zitiert. Die folgenden Aus-
sagen stammen aus Lenins "Staat und Revolution": "Beim Übergang vom Kapitalis-
mus zum Kommunismus ist die Unterdrückung noch notwendig, aber es ist das be-
reits eine Unterdrückung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Aus-
gebeuteten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Maschine zur Unterdrückung, ein
‚Staat‘ ist noch notwendig, aber es ist das bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im
eigentlichen Sinne mehr, denn die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch
die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfa-
che und natürliche Sache, daß sie viel weniger Blut kosten wird als die Unterdrü-
ckung von Aufständen der Sklaven, Leibeigenen und Lohnarbeiter, daß sie der
Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird. Und sie ist vereinbar mit der Aus-
dehnung der Demokratie auf eine so überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, daß
die Notwendigkeit einer besonderen Maschine zur Unterdrückung zu schwinden
beginnt. Die Ausbeuter sind natürlich nicht imstande, das Volk niederzuhalten ohne
eine sehr komplizierte Maschine zur Erfüllung dieser Aufgabe, das Volk aber vermag
die Ausbeuter mit einer sehr einfachen 'Maschine', ja nahezu ohne 'Maschine', ohne
einen besonderen Apparat niederzuhalten, durch die einfache Organisation der be-
waffneten Massen (in der Art der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sei
vorgreifend bemerkt).
Schließlich macht allein der Kommunismus den Staat völlig überflüssig, denn es ist
niemand niederzuhalten, 'niemand' im Sinne einer Klasse, im Sinne des systemati-
schen Kampfes gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung. Wir sind keine Utopis-
ten und leugnen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Aus-
schreitungen einzelner Personen und ebensowenig die Notwendigkeit, solche Aus-
schreitungen zu unterdrücken. Aber erstens bedarf es dazu keiner besonderen Ma-
schine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das wird das bewaffnete Volk
selbst mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen, mit
der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heutigen Gesellschaft
Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor Gewalt schützt. Zweitens wissen wir,
daß die soziale Grundursache der Ausschreitungen, die eine Verletzung der Regeln

156
Trotzki (1936), S. 107

87
Zur Geschichte der Sowjetunion

des gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, in der Ausbeutung der Massen,


ihrer Not und ihrem Elend zu suchen ist. Mit der Beseitigung dieser Hauptursache
werden die Ausschreitungen unvermeidlich 'abzusterben' beginnen. Wir wissen nicht,
wie rasch und in welcher Folge das geschehen wird, aber wir wissen, daß sie abster-
ben werden. Mit dem Absterben der Ausschreitungen wird auch der Staat abster-
ben."157
Lenin bezog sich hier, anders als Trotzki behauptete, auf die höhere Phase der kom-
munistischen Gesellschaft, nachdem alle Klassenunterschiede liquidiert worden sind.
Trotzki tat so, als ob sich Lenin auf die ehemaligen Mitglieder der Ausbeuterklassen
bezogen hätte.

1.5.3. Vom Abschwächen des Klassenkampfes


Wir haben nun also festgestellt, dass Klassen (wenn auch keine antagonistischen) im
Sozialismus noch existieren, genauso wie die Unterschiede zwischen Hand- und
Kopfarbeit, Stadt und Land und der Einfluss der bürgerlichen Ideologie und kapitalis-
tischen Staaten. Das macht den Klassenkampf zur Notwendigkeit.
Die Unterschiede zwischen Stadt und Land waren beispielsweise ein Unterschied, der
noch lange fortexistierte. Soziologische Studien aus der Sowjetunion bewiesen, dass
z. B. der Anteil der körperlich Arbeitenden im Dorfe größer war als der Anteil geistig
Arbeitender. Auch war der Bildungsstand geringer. 1979 kamen auf 1000 Stadtmen-
schen 93 mit Universitätsbildung, im Dorf waren es 25. Auch hatten Familien, die in
Städten lebten, mehr private Bibliotheken, Fernseher und Radios als Familien, die im
Dorf lebten. Außerdem war der Anteil an religiösen Menschen im Dorf größer als in
der Stadt. Auch die Parteimitgliedschaft war im Dorf geringer. 158 Der Unterschied
zwischen Hand- und Kopfarbeit bestand auch weiterhin im Sozialismus. 159 Diese
Unterschiede wurden aber richtigerweise in der Sowjetunion als nicht-antagonistische
Widersprüche gesehen, die innerhalb der Gesellschaft gelöst werden konnten. Diese
Unterschiede entstanden aus dem Arbeitsprozess, der Unterschiede in der Produktiv-
kraftentwicklung und der Arbeitsteilung. Ausbeutung bestehe in so einem System
aber nicht.160
So richtig die oben zitierten empirischen Daten von David Lane sind, so falsch waren
aber auch seine Interpretationen vom Klassenkampf. So trennte er die sozialistische

157
LENIN, "Staat und Revolution", Band 25, S. 477 - 478
158
LANE (1982), S. 43 - 45
159
LANE (1982), S. 46 f.
160
LANE (1982), S. 28 f.

88
Zur Geschichte der Sowjetunion

Phase der Sowjetunion in eine Phase der Diktatur des Proletariats, in der noch Klas-
sengegensätze und somit Klassenkampf geherrscht habe (bis in das Jahr 1936) und
eine Phase des sozialistischen Aufbaus (nach 1936), in der keine Klassengegensätze
und damit kein Klassenkampf mehr existiert habe. 161 Oben wurde festgestellt, dass
Stalin auch nach Beseitigung der antagonistischen Klassen den Klassenkampf und die
Diktatur des Proletariats für nötig hielt. Diese merkwürdige Einteilung von Lane ist
aber nicht seine Erfindung, da seit den 1960er Jahren in der Sowjetunion davon die
Rede war, dass die Diktatur des Proletariats nicht mehr nötig sei und ein Staat des
ganzen Volkes proklamiert wurde. Gerechtfertigt wurde dies damit, dass keine anta-
gonistischen Klassen mehr bestanden hätten.
Robert Steigerwald, führender Ideologe der DKP (Deutsche Kommunistische Partei),
schrieb in einer Ausgabe der Zeitschrift "Marxistisches Forum" mit dem Titel "Die
Legende von der Revisionistischen Wende": "Stalin betonte im Jahre 1936, dass die
Arbeiterklasse des Sowjetlandes kein Proletariat mehr sei, da sie die Produktionsmit-
tel besitze. Er betonte sowohl 1936 in seiner Rede über die neue sowjetische Verfas-
sung als auch in seinem Referat auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU (1939, im Ab-
schnitt über Fragen der Theorie), dass die Ausbeuterklassen verschwunden seien, und
da es keine Ausbeutung mehr gebe, gebe es auch niemanden mehr, der zu unterdrü-
cken sei. So nachzulesen auch in 'Fragen des Leninismus' (Moskau 1967, S.727). Man
habe jetzt einen völlig neuen, sozialistischen Staat, wie ihn die Geschichte noch nicht
gekannt habe (ebd., S. 728). Das ist – unabhängig von der Verfassungsrealität – of-
fensichtlich dieselbe Argumentation wie die Chruschtschows für seine These vom
'Staat des ganzen Volkes'. In der Rede zur Verfassung setzte sich Stalin in gleicher
Weise mit Vorschlägen zur Änderung des Textes auseinander. Er kommt auf die
Geistlichen, die ehemaligen Weißgardisten, alle 'Ehemaligen' und Personen, die sich
nicht mit gemeinnütziger Arbeit befassen (ebd., S. 643), zu sprechen. Es habe Zeiten
gegeben, in denen sich diese Elemente im offenen Kampf gegen die Sowjetmacht
befunden hätten. Seitdem sei nicht wenig Zeit vergangen (ebd., S. 641). Er fragte, ob
sich solche Elemente nicht in die oberen Organe des Landes einschleichen könnten
und weist diese Vermutung mit recht gründlichen Argumenten zurück." 162
Auf dem XXII. Parteitag 1961 wurde die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats
nicht mehr anerkannt und stattdessen der Staat des ganzen Volkes und die Partei des
ganzen Volkes propagiert. Ausgehend von dieser Tatsache gibt es manche politische
Strömungen, die davon ausgehen, dass damit der Sozialismus in der Sowjetunion
aufhörte zu existieren und eine neue Bourgeoisie den Kapitalismus restaurierte. Hier-
zu gehört z. B. in Deutschland die MLPD. Sie schreibt in ihrem Parteiprogramm:

161
LANE (1982), S. 9 - 10
162
STEIGERWALD, R. (2008), S. 42

89
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 ergriff eine neue Bourgeoisie
unter Führung Chruschtschows die politische Macht in der Sowjetunion. Sie propa-
gierte den modernen Revisionismus und restaurierte schrittweise den Kapitalismus.
Auf der Grundlage dieses staatsmonopolistischen Kapitalismus neuen Typs bildete
sich der sowjetische Sozialimperialismus heraus."163
Und in einem Artikel über Chruschtschow schreiben sie: "Dieser revisionistische
Staatsstreich, der mit dem XX. Parteitag der KPdSU verbunden war, bildete den
Wendepunkt. Zur Bemäntelung der kleinbürgerlichen Machtergreifung tischte
Chruschtschow den Schwindel vom 'Staat des ganzen Volkes' auf, mit dem er die
revisionistische Herrschaft als Übergang vom Sozialismus zur klassenlosen Gesell-
schaft des Kommunismus darzustellen versuchte." 164
Mit anderen Worten: Mit einem Parteitagsbeschluss konnte die Arbeiterklasse ent-
machtet werden. Doch so einfach verhält es sich nicht. Kurt Gossweiler konnte die
Absurdität solch einer Vorstellung in einem Brief an die MLPD wunderbar widerle-
gen: "Darüber, dass mit Chruschtschow ein Exponent des modernen Revisionismus
sich an die Spitze der KPdSU gemogelt hat, dessen Ziel die Restauration des Kapita-
lismus war, gibt es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten. Das argwöhnte
und befürchtete ich ziemlich bald nach dem 20. Parteitag; dessen war ich mir sicher
nach der ungarischen Konterrevolution vom Herbst 1956. Aber genau so sicher war
ich mir auch, dass die Chruschschow-Clique nicht die ganze KPdSU war;
Chruschtschows Machterschleichung bedeutete eine große Gefahr für den Sozialis-
mus, aber noch keineswegs die Liquidierung des Sozialismus und die Umwandlung
der Sowjetunion in einen kapitalistischen Staat.
Eure gegenteilige Behauptung steht im Widerspruch zu den Tatsachen, ist deshalb
auch theoretisch unhaltbar und hat die verhängnisvollsten Folgen für Eure Position im
Klassenkampf. Diese Eure Position wirft überdies Fragen auf, auf die Ihr eine über-
zeugende Antwort schuldig bleiben müsst. Nach Eurer Ansicht genügt ein Personen-
wechsel an der Spitze und ein Parteitag, um die Ergebnisse der bisher gewaltigsten
Revolution der Menschheitsgeschichte von 36 Jahren Sowjetmacht zunichte zu ma-
chen.
Wenn ich das für möglich halten soll, dann muss ich entweder an Wunder glauben,
oder aber ich muss annehmen, dass der Sozialismus vor dem 20. Parteitag bereits so

163
PARTEIPROGRAMM DER MLPD, Kapitel F Vgl. auch DICKHUT, W. (1988)
164
ROTE FAHNE NEWS (MLPD): RW 7: Wie konnte ein neuer Kapitalismus entstehen?
https://www.rf-news.de/archiv/rw-7-wie-konnte-ein-neuer-kapitalismus-entstehen/

90
Zur Geschichte der Sowjetunion

unterminiert war, dass er quasi über Nacht ohne jedwede konterrevolutionäre Gewalt-
anwendung weggepustet werden konnte. Dann wäre aber der Beginn der restaurativen
Entwicklung nicht erst beim 20. Parteitag und bei Chruschtschow anzusetzen, sondern
schon – wie das die Trotzkisten seit eh und je tun – bei Stalin.
Das wollt Ihr nicht, und das zurecht. Aber dadurch geratet Ihr in eine Art Erklärungs-
notstand. Den versucht Ihr zu überbrücken mit der Feststellung, Stalin hab einen gro-
ßen Fehler gemacht: er habe die ideologische Arbeit vernachlässigt und nicht stark
genug gegen die Bürokratie gekämpft. Damit habe er zugelassen, dass in Gestalt der
'Bürokratie neuen Typs' eine neue Bourgeoisie (!) entstanden sei, die auf dem 20.
Parteitag die Macht usurpiert und die Restauration des Kapitalismus in der Sowjet-
union durchgesetzt habe. Seitdem sei die Sowjetunion – und seien alle mit ihr ver-
bündeten Länder des RGW und des Warschauer Paktes – keine sozialistischen Länder
mehr gewesen, sondern Staaten eines neuen Typs von Kapitalismus, des 'bürokrati-
schen Kapitalismus'. Dies ist die Lehre, die Euer Klassiker Willi Dickhut verkündet
hat, und die für Euch gewissermaßen das Herzstück Eures besonderen Parteiverständ-
nisses ist.
Aber lange vor Willi Dickhut haben die Trotzkisten in der 'Sowjetbürokratie' die neue
Kapitalistenklasse 'entdeckt'. Die fatalste Konsequenz dieser Eurer Position ist es,
dass Ihr dank dieser 'Lehre' in einer Front mit dem Trotzkismus und dem Imperialis-
mus im Kampf gegen die Sowjetunion und die sozialistischen Länder standet.
Was ist das nun für ein 'neuer Kapitalismus-Typ', der in der Sowjetunion und auch bei
uns in der DDR geherrscht haben soll? Eine genaue Untersuchung ergibt zweifelsfrei,
dass dies in der Tat ein ganz neuer Typ Kapitalismus ist, einer nämlich, dem alle
wesentlichen Merkmale des Kapitalismus fehlen!" 165
Auch wenn die Parole eines "Staates des ganzen Volkes" nicht die Entmachtung der
Arbeiterklasse bedeutet, birgt sie dennoch einige ernste Gefahren. Argumentiert wur-
de in der Sowjetunion so, wie wir es oben bei Steigerwald lesen können, ohne jedoch
Stalin zu erwähnen.166 Die Ausbeuterklassen seien also liquidiert und damit sei die
Diktatur des Proletariats nicht mehr notwendig. Der "Staat des ganzen Volkes ist der
unmittelbare Nachfolger des Staates der Diktatur des Proletariats", so Tschesnakow167
und Steigerwald.

165
GOSSWEILER, K. (1994) http://kurt-gossweiler.de/?p=770 Gossweiler argumentiert auch
gegen weitere Punkte der MLPD bezüglich der Ökonomie und der Außenpolitik der sozialisti-
schen Länder. Hier ist jedoch erstmal nur die Positionen zum XX. Parteitag entscheidend. Die
Positionen der Trotzkisten zur Sowjetbürokratie werden weiter unten behandelt.
166
Vgl. z. B. TSCHESNOKOW (1965), S. 395 - 400
167
TSCHESNOKOW (1965), S. 396

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Zur Geschichte der Sowjetunion

Wir haben weiter oben Stalin zum Klassenkampf zitiert. Nur weil die Ausbeuterklas-
sen liquidiert waren, heißt es noch lange nicht, dass der Klassenkampf aufhöre zu
existieren. Es gab noch Elemente der ehemaligen Ausbeuterklassen, die versuchten,
das Rad der Geschichte zurückzudrehen. So zitiert zwar Steigerwald Stalin richtig,
aber unvollständig. Die sozialistische Umgestaltung wurde zwar vollzogen, aber die
ideologischen Klassenkämpfe dauerten viel länger an. Hinzu kam die imperialistische
Umkreisung. Auch wenn das Proletariat in der Sowjetunion die Produktionsmittel
besaß und damit als nun herrschende Klasse nicht mehr das alte Proletariat wie im
Kapitalismus war, hörten die Unterschiede mit den anderen Klassen nicht auf zu exis-
tieren. Es gab noch den Unterschied zwischen Hand- und Kopfarbeit, den Unterschied
zwischen Stadt und Land, und das Proletariat musste zunehmend politisch und ideo-
logisch geschult werden.
Die Partei der Arbeit Albaniens fasst in ihrer Broschüre "Die gefährlichen Manöver
der Chruschtschow-Gruppe im Zusammenhang mit dem sogenannten Kampf gegen
den Personenkult muss man bis zum Schluss enthüllen" die Notwendigkeit der Dikta-
tur des Proletariats und des Klassenkampfes im Sozialismus zusammen:
"Die Diktatur des Proletariates ist (…) bis zum vollständigen Sieg des Kommunis-
mus aus nachstehenden wichtigen Gründen notwendig:
1. In den sozialistischen Staaten, einschließlich der Sowjetunion, gibt es Reste der
gestürzten Ausbeuterklassen, weil die Liquidierung der Ausbeuter als Klasse keines-
wegs ihre körperliche Liquidierung bedeutet. Außerdem gibt es kapitalistische Über-
bleibsel im Bewusstsein der Menschen, die ein günstiges Terrain für die Entstehung
verschiedener antisozialistischer Elemente sind. Solange der Imperialismus existiert,
der die Gegner und die antisozialistischen Tendenzen unterstützt, ist in diesen Län-
dern der Klassenkampf unvermeidlich (…) [und] die Diktatur des Proletariates not-
wendig. (…)
2. Die Diktatur des Proletariates ist (…) bis zur endgültigen Beseitigung der Gefahr
der Wiederherstellung des Kapitalismus notwendig. Die Versicherungen N.
Chruschtschows, dass heute in der Sowjetunion keine Gefahr mehr besteht, dass der
Kapitalismus restauriert werden könnte, entbehren ihrer Grundlage, sind ein Bluff. In
Wirklichkeit existiert in jedem sozialistischen Land, auch in der Sowjetunion, die
Gefahr einer Restauration des Kapitalismus und diese Gefahr droht nicht nur von den
eventuellen Aggressionen des Imperialismus, sondern auch vom Revisionismus, der
den Sozialismus zu zerstören trachtet. (…)
3. Die Diktatur des Proletariats ist bis zum vollständigen Aufbau des Kommunismus,
solange die Klassenunterschiede, die Unterschiede zwischen Stadt und Dorf und jene
zwischen der geistigen und körperlichen Arbeit existiert, notwendig. Um die Gesell-

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Zur Geschichte der Sowjetunion

schaft unter diesen Bedingungen zum Kommunismus zu führen, ist die Führung der
Arbeiterklasse unerlässlich. Bekanntlich realisiert die Arbeiterklasse ihre führende
Rolle in erster Linie mit Hilfe des Staates der Diktatur des Proletariates und der Partei
der Proletarier. Um die Idee der Diktatur des Proletariates zu diskreditieren, verdrehen
die modernen Revisionisten ihren marxistisch-leninistischen Sinn, indem sie ihn ein-
engen und bloß auf die Gewalt reduzieren. Lenin und Stalin aber unterstrichen wie-
derholt, dass die Diktatur des Proletariates nicht nur Gewalt, sogar nicht hauptsächlich
Gewalt, sondern auch eine bessere Form der Allianz der Arbeiterklasse mit der Bau-
ernschaft und anderen Schichten der Werktätigen unter der Führung der Arbeiterklas-
se im Kampf für die Errichtung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ist.
'Die Diktatur des Proletariates, sagt Lenin in dem Werke 'Die große Initiative' bedeu-
tet, dass nur eine bestimmte Klasse, eben die der Arbeiter der Städte und im Allge-
meinen die Fabrikarbeiter, die Industriearbeiter imstande sind, die ganze Masse der
Werktätigen und der Ausgebeuteten im Kampf für die Abschüttelung des kapitalisti-
schen Joches und während des Prozesses dieses Umsturzes, im Kampf für die Erhal-
tung und Festigung des Sieges und während der Arbeit für die Schaffung der neuen
Gesellschaftsordnung, sowie im Kampf für die völlige Vernichtung der Klassen zu
führen' (…) Durch die Liquidierung der Diktatur des Proletariates und die Umwand-
lung des Sowjetstaates in einen 'Staat des ganzen Volkes' untergräbt die
Chruschtschow-Gruppe die führende Rolle der Arbeiterklasse, ohne die der Aufbau
der kommunistischen Gesellschaft nicht möglich ist."168
Die Theorie des Abschwächens des Klassenkampfes, sowie die Theorie des "Staates
des ganzen Volkes" waren auch in der Breschnew-Zeit dominant. Wir lesen bei Mar-
tens: "Breschnew verfolgte in einigen idealistischen Gedankenflügen diese Bahn. Er
zeichnete uns paradiesische Bilder einer klassenlosen Gesellschaft, die geeignet wa-
ren, einen wachsenden Unterschied zwischen sozialen Schichten zu tarnen. Er be-
glückwünschte sich zur Annäherung aller Klassen und sozialen Gruppen. (…) Mit
Breschnew wandelte sich der Marxismus-Leninismus von einer Wissenschaft des
Klassenkampfes in eine Ideologie, die die Interessen einer privilegierten, sich von den
Werktätigen trennenden Schicht zum Ausdruck bringt. Während dieser vier Partei-
kongresse hat man nie erlebt, dass Breschnew die tatsächlichen und treibenden Reali-
täten der verschiedenen Klassen, Schichten und politischen Kräfte aufgegriffen hätte,
um daraus Vorschläge für Kampf und Mobilisierung abzuleiten. Breschnew musste
gewisse zum Klassenkampf gehörende soziale Erscheinungen feststellen, war aber
unfähig, diese gründlich zu untersuchen und betrachtete sie schließlich als Rander-
scheinungen. Seine Kritiken waren rein formal und führten zu keinem konsequenten

168
PARTEI DER ARBEIT ALBANIENS (1964), S. 8 - 9 http://www.kpd-
ml.org/doc/albanien/personenkult.pdf

93
Zur Geschichte der Sowjetunion

Klassenkampf. (…) Die Entpolitisierung der Jugend geht notwendigerweise aus der
Auffassung vom Staat des ganzen Volkes hervor. Ein verkrusteter und ermüdender
Marxismus-Leninismus kann sich doch nicht im Geiste von Jugendlichen verankern.
Wir wissen aber schon seit Lenin, dass es auf ideologischem Gebiet keine Leere gibt.
Dort, wo sich die sozialistische Ideologie nicht einpflanzt, ist die bürgerliche Ideolo-
gie in vielfältigen Formen vorherrschend."169
Als ein Fazit lässt sich festhalten: Klassenkampf hört keineswegs mit der Entmach-
tung der Kapitalisten auf. Besonders der ideologische Klassenkampf muss geführt
werden, da die bürgerliche Ideologie immer noch in den Köpfen vorhanden ist. Auch
dazu braucht es die Diktatur des Proletariats, das Monopol der proletarischen, d. h.
der marxistisch-leninistischen Ideologie im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie.
Eine Abkehr von der Diktatur des Proletariats hieße nämlich auch, Tür und Tor der
bürgerlichen Ideologie besonders im Bereich der Ökonomie und der Partei zu öffnen.
Dieser Prozess trat dann in der Sowjetunion auch immer stärker hervor und erreichte
mit Gorbatschow seinen logischen "Höhepunkt". Ja, allein schon die Propagierung
des Staates des ganzen Volkes hieß, den Marxismus-Leninismus zu negieren; war
also schon bürgerliche Ideologie, da es keinen klassenneutralen Staat gibt. Und da ist
es beliebig, mit welchen pseudo-marxistischen Floskeln man diese These untermau-
ert.
Lenin stellte zurecht fest, dass "der Volksstaat ein ebensolcher Unsinn und ein eben-
solches Abweichen vom Sozialismus ist wie auch der freie Volksstaat." 170 Außerdem:
"Jedweder Staat ist 'eine besondre Repressionsgewalt' gegen die unterdrückte Klasse.
Darum ist ein jeder Staat unfrei und kein Volksstaat. Marx und Engels haben das
ihren Parteigenossen in den siebziger Jahren wiederholt auseinandergesetzt. (…) Die
Werktätigen brauchen den Staat nur, um den Widerstand der Ausbeuter niederzuhal-
ten, aber dieses Niederhalten zu leiten, in die Tat umzusetzen ist allein das Proletariat
imstande als die einzige konsequent revolutionäre Klasse, als einzige Klasse, die fähig
ist, alle Werktätigen und Ausgebeuteten im Kampf gegen die Bourgeoisie, im Kampf
um deren völlige Beseitigung zu vereinigen." 171
An anderer Stelle führt Lenin aus: "Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommu-
nismus umfasst eine ganze geschichtliche Epoche. Solange sie nicht abgeschlossen
ist, behalten die Ausbeuter unvermeidlich die Hoffnung auf eine Restauration und
diese Hoffnung verwandelt sich in Versuche der Restauration" 172 "Die Aufhebung der

169
MARTENS (1993), S. 139 - 140
170
LENIN, Staat und Revolution, Werke Band 25, S. 455
171
LENIN, Staat und Revolution, Werke Band 25, S. 410, 415
172
LENIN, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Werke Band 28, S. 252 - 253

94
Zur Geschichte der Sowjetunion

Klassen ist das Werk eines langwierigen, schweren, hartnäckigen Klassenkampfes,


der nach dem Sturz der Macht des Kapitals, nach der Zerstörung des bürgerlichen
Staates, nach der Aufrichtung der Diktatur des Proletariats nicht verschwindet (…),
sondern nur seine Formen ändert und in vielerlei Hinsicht noch erbitterter wird." 173
Michail Kilew stellt in seinem Werk "Chruschtschow und der Zerfall der UdSSR"
fest: "Lenin hatte gesagt, dass der Klassenkampf noch lange Zeit nach der Übernahme
der politischen Macht durch die Arbeiterklasse fortdauern werde. Er ergibt sich aus
den folgenden Umständen:
- Erstens versucht die Ausbeuterklasse mit allen Mitteln und ohne Unterlass, ihren
Sturz von der Macht rückgängig zu machen und ihr verlorenes Paradies wieder zu
erhalten;
- Zweitens erzeugt das Spektakel des Kleinbürgertums immer neue kapitalistische
Elemente;
- Drittens können unter dem Einfluss der Bourgeoisie politische Renegaten und neue
kapitalistische Elemente in den Reihen der Arbeiterklasse und unter den Angestellten
des öffentlichen Dienstes geboren werden;
- Viertens bewirken die externen Bedingungen die Verlängerung des Klassenkampfes
in einem sozialistischen Land, das durch den internationalen Kapitalismus eingekreist
und von ihm mit militärischer imperialistischer Intervention und Maulwurfarbeit
bedroht ist, um endlich den Zerfall des unbewaffneten sozialistischen Staates zu errei-
chen"174
Sicherlich verändert sich der Klassenkampf in seiner Form, nachdem die Ausbeuter-
klassen im eigenen Land liquidiert sind. So lange es aber noch eine kapitalistische
Einkreisung gibt, solange die Bourgeoisie versucht, durch ihre Ideologie, ihre militä-
rische Aggressivität oder ihre Spionagedienste den Sozialismus zu zerstören, so lange
ist die Diktatur des Proletariats eine zwingende Notwendigkeit!

173
LENIN, Gruß an die ungarischen Arbeiter, Werke Band 29, S. 378
174
KILEW, M. (2010), S. 84

95
Zur Geschichte der Sowjetunion

2. Die Sowjetunion und Stalin im Paradigma der


Totalitarismus-Doktrin
"Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische
Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im
schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag
sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits
Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein,
mit vollem Hass aber allein den Kommunismus bekämpfen." 175

2.1. Totalitarismus-Doktrin: Faschismus = Kommunis-


mus?
Während des Kalten Krieges wurde die Totalitarismus-Doktrin, also die unwissen-
schaftliche Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus, zum Paradigma für
die Geschichtswissenschaft. Unter einem Paradigma versteht man die grundsätzliche
Denkweise, Lehrmeinung oder Ideologie, die vorherrschend ist. Seitdem dient die
Totalitarismus-Doktrin als das Paradebeispiel der Geschichtsschreibung über die
Sowjetunion, Stalin und den Sozialismus (und damit auch anderer sozialistischer
Staaten wie die DDR) allgemein.
Vorherrschend in der BRD ist das Bild der zwei deutschen Diktaturen - des Dritten
Reichs und der DDR. Welches die schlimmere Diktatur sei, darüber streiten sich die
Herrschenden, doch es mehren sich Stimmen, dass die DDR mindestens genauso
schlimm, wenn nicht gar schlimmer war als der Faschismus. So sagte der BRD-
Kanzler Adenauer 1950: "Ich wollte, die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten
einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leute würden hören, dass
der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager,
durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ost-
zone geschieht."176
42 Jahre später verfasste der ehemalige FDP-Außenminister unter BRD-Kanzler
Helmut Kohl, Klaus Kinkel, folgende Worte: "Ich baue auf die deutsche Justiz. Es
muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine
Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und be-
haupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es unter dem Deckmantel des

175
MANN, T. (1986) in: Essays, Hg. von H.Kurzke, Frankfurt, Bd. 2, S. 311
176
Zitiert in HARTMANN (2007), S. 13

96
Zur Geschichte der Sowjetunion

Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso un-


menschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland." 177
Diese Aussagen Adenauers und Kinkels zur Gleichsetzung des Hitler-Faschismus mit
der DDR wirken grotesk, wenn man bedenkt, dass die BRD im Wesentlichen von
jenen herrschenden Teilen errichtet und geführt wurde, welche schon unter Hitler
bedeutende Posten hatten: So war Adenauers persönlicher Berater, Hans Globke,
aktives Mitglied der Nazi-Partei NSDAP und Berater im Innenministerium für jüdi-
sche Fragen, welches für die logistische Administration des Holocausts verantwort-
lich war. Außerdem war Globke Verfasser diverser antijüdischer Gesetze. Wirt-
schaftsminister unter Adenauer und zweiter Bundeskanzler war Ludwig Erhard, wel-
cher propagandistisch vom BRD-Regime als Vater des Wirtschaftswunders in
Deutschland gefeiert wird. Gerne wird dabei vertuscht, dass Erhard Mitglied der
Reichsgruppe Industrie und des Instituts für Industrieforschung war, welche vom
Monopol IG-Farben finanziert wurde. Dieses Unternehmen ist dafür bekannt, das Gas
Zyklon-B produziert zu haben. Kurt Georg Kiesinger, der dritte Bundeskanzler der
BRD und lange Zeit CDU-Chef, war seit 1933 Mitglied der NSDAP und ab 1940 im
Außenministerium des Deutschen Reichs tätig und von 1943-45 Verbindungsbeamter
mit dem Propagandaministerium unter Joseph Goebbels. Altbundespräsident Heinrich
Lübcke war mit dem Bau von Konzentrationslagern beauftragt. Hans Speidel, von
1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa bei der
NATO, war im Zweiten Weltkrieg Chef des Stabes der Heeresgruppe B. Reinhard
Gehlen, Präsident des Bundesnachrichtendienstes BND bis 1968, war Generalmajor
der Wehrmacht und dort Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost. Auch in anderen
Bereichen der BRD hatten führende Nazikader hohe leitende Funktionen, so z. B. der
Psychologe Carl Schneider, der in den Euthanasie-Programmen der Nazis involviert
war und in der BRD Präsident der psychiatrischen Klinik der Heidelberger Universität
wurde.178 Insgesamt waren bis in die 1960er Staat, Justiz und Wirtschaft von hohen
Nazi-Kadern geführt: der Bundespräsident, 20 Angehörige des Bundeskabinetts und
Staatssekretäre,189 Generale, Admirale und Offiziere in der Bundeswehr oder in den
NATO-Führungsstäben sowie Beamte im Kriegsministerium, 1118 hohe Justizbeam-
te, Staatsanwälte und Richter, 244 leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Bon-
ner Botschaften und Konsulate, 300 Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes
sowie anderer Bundesministerien179

177
Zitiert in HARTMANN (2007), S. 14
178
DE LA MOTTE & GREEN (2015), S. 19 - 21,
179
AUTORENKOLLEKTIV (1968): Braunbuch, dritte Auflage, S. 10 http://www.kpd-
ml.org/doc/partei/braunbuch.pdf

97
Zur Geschichte der Sowjetunion

In der DDR hingegen wurde umfassend "Entnazifiziert": Mit Otto Grotewohl, Walter
Ulbricht, Wilhelm Pieck, Albert Norden, Herman Axen, Hilde Benjamin und vielen
anderen wurde die Regierung der DDR von Leuten gebildet, die entweder von den
Nazis inhaftiert waren oder im Exil lebten. 180
Nun neigen einige Verteidiger der BRD dazu, zu behaupten, dass ja auch in der DDR
Nazis Karriere machen konnten. So behauptet der "Berliner Kurier", dass über ein
Drittel der ZK-Mitglieder der SED frühere Nazis gewesen seien.181 Der "Berliner
Kurier" nennt zwar keine Namen, doch ist es durchaus so gewesen, dass es ehemalige
NSDAP-Mitglieder in der DDR gab, die Staatsfunktionen ausübten. Doch im Ver-
gleich zur BRD gab es wesentliche Unterschiede. Während in der BRD führende
Nazikader und Nazi-Kriegsverbrecher ohne jegliche juristische Überprüfung in hohe
Ämter befördert wurden, wurden in der DDR ehemalige NSDAP-Mitglieder genaues-
tens auf ihre Schuld geprüft bzw. mussten sich antifaschistisch engagieren. Führende
Posten in der SED, NVA, FDGB und MfS wurden von Antifaschisten geleitet. In
einem Beschluss vom 20. Juni 1946 erklärte der Parteivorstand der SED, dass: "(…)
auch die nominellen Mitglieder der NSDAP auf Grund ihrer Mitgliedschaft zur Nazi-
partei einen Teil Schuld und Mitverantwortung für die verbrecherische Hitlerbande
auf sich geladen [haben]. In den verflossenen Jahren haben aber zahlreiche ehemalige
einfache Mitglieder der Hitlerpartei (…) loyal beim demokratischen Wiederaufbau
mitgearbeitet. Sie haben damit bekundet, dass ihre frühere Einstellung falsch war,
andere sind auf dem Wege anzuerkennen, dass sie nur durch die Eingliederung in die
demokratische Ordnung und durch eine praktische Mitarbeit wiedergutmachen kön-
nen, was sie an der Vergangenheit an Schuld auf sich geladen haben. (…) Alle frühe-
ren einfachen Mitglieder der Nazipartei, die nicht besonders belastet sind und sich als
aktive Mithelfer an der neuen demokratischen Ordnung betätigen, sollen als Staats-
bürger anerkannt und behandelt werden."182
"Allierte Kontrolldirektive Nr. 38 vom 12. Oktober 1946 (…) In Artikel IV wurde
definiert, wer minderbelastet sei: 'Wer nach dem 1. Januar 1919 geboren ist, nicht zur
Gruppe der Hauptschuldigen gehört, jedoch als Belasteter erscheint, ohne aber ein
verwerfliches oder brutales Verhalten gezeigt zu haben und nach seiner Persönlichkeit
eine Bewährung erwarten lässt.' (…) Die Sowjetische Militäradministration erließ am
16. August 1947 den Befehl Nr. 201. Nach der Feststellung, dass in der SBZ Umfas-
sendes zur Säuberung der öffentlichen Behörden, staatlichen und wichtigen Privatun-
ternehmen von ehemaligen aktiven Faschisten, Militaristen und Kriegsverbrechern

180
DE LA MOTTE & GREEN (2015), S. 17 - 18
181
BERLINER KURIER 2.10.2017: http://www.berliner-kurier.de/berlin/kiez---
stadt/forschungsprojekt-wie-alt-nazis-in-der-ddr-karriere-machten-28523826?dmcid=sm_fb_p
182
JOSEPH (2002), S. 102f.

98
Zur Geschichte der Sowjetunion

geleistet wurde, sei es nun an der Zeit, entsprechend den Bestimmungen der 4. Sit-
zung der (alliierten) Außenminister in Moskau einen Unterschied zu machen zwi-
schen ehemaligen Nazi- und Kriegsverbrechern einerseits und andererseits den 'nomi-
nellen, nicht aktiven Faschisten, die wirklich fähig sind, mit der faschistischen Ideo-
logie zu brechen und zusammen mit den demokratischen Schichten des deutschen
Volkes den allgemeinen Bemühungen zur Wiederherstellung eines friedlichen demo-
kratischen Deutschlands teilzunehmen'. Dieser Befehl stellte die nominellen Nazis mit
den übrigen Bürgern rechtlich gleich, indem er die 'Beschränkung der politischen und
bürgerlichen Rechte' aufhob und insbesondere das passive und aktive Wahlrecht ge-
währte. (…)
Das Fragwürdige begann dort, wo Nazi- und Kriegsverbrecher nicht zur Verantwor-
tung gezogen wurden und trotz (oder wegen?) ihrer nazistischen Belastung in die
politische Führung integriert wurden. In der SBZ/DDR passierte das nicht. Zwischen
1945 und 1948 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone insgesamt 520.000 Nazis
aus der öffentlichen Verwaltung und der Industrie entfernt. (…) Von 39.348 Lehre-
rinnen und Lehrern gehörten 28.179 der NSDAP an, das waren 71,1 Prozent. 28.835
Lehrerinnen und Lehrer wurden als belastet entlassen. (…) Bis zum Frühjahr 1946
waren alle belasteten Richter und Staatsanwälte aus den Ämtern entlassen."183
Horst Schneider schreibt: "Während in der BRD von 38 Gründungsgenerälen 31 ihre
Meriten in der Hitlerwehrmacht erworben hatten (keiner war Antifaschist), wirkten
beim Aufbau der NVA vier Offiziere aus den Reihen der Wehrmacht mit, die drei
1943 bei Stalingrad in Kriegsgefangenschaft geratenen Generalmajore Otto Korfes,
Arno von Lenski und Hans Wulz sowie Generalleutnant Vincenz Müller, der 1944 in
Belorussland die Sinnlosigkeit weiteren Kampfes einsah und mit Gruppen des von
ihm geführten Armeekorps kapitulierte. Diese vier hatten sich schon während des
Krieges der Bewegung 'Freies Deutschland' angeschlossen. Hinzu kamen in der
NVA-Gründergeneralität sechs weitere Wehrmachtsoffiziere (…). Sie waren allesamt
aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft mit anderen als den von den Nazis indoktri-
nierten Anschauungen heimgekehrt, zum Teil mit Erfahrungen im Fronteinsatz für
das Nationalkomitee 'Freies Deutschland'." 184
"In der Zeit von Mai 1945 bis Ende 1967 wurden in der sowjetischen Besatzungszone
und in der DDR insgesamt 16583 Personen wegen Beteiligung an Verbrechen gegen
den Frieden und die Menschlichkeit und wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Davon
wurden 12818 verurteilt, l578 freigesprochen. Die Verfahren gegen 2187 Angeklagte
wurden wegen Abwesenheit, Tod oder auf Grund des von der Sowjetischen Militär-

183
JOSEPH (2002), S. 102ff.
184
SCHNEIDER (2007), S. 137-138

99
Zur Geschichte der Sowjetunion

Administration erlassenen Amnestiebefehls Nr. 43/48 vom 18. März 1948 eingestellt,
da keine höhere Freiheitsstrafe als ein Jahr zu erwarten war. Von den 12807 gericht-
lich zur Verantwortung gezogenen Personen wurden 119 zum Tode, 239 zu lebens-
langem Zuchthaus und 5090 zu einer höheren Freiheitsstrafe als 3 Jahre verurteilt.
(…) Obwohl nach 1945 der weitaus größte Teil der Kriegs- und Naziverbrecher in die
westlichen Besatzungszonen flüchtete, wurden in der westdeutschen Bundesrepublik,
deren Bevölkerungszahl dreimal so groß ist wie die der DDR, bis zum 1. Januar 1964
nur 12457 Personen angeklagt. Bis März 1965 wurden von den Gerichten der Bundes-
republik nur 5234 Personen rechtskräftig verurteilt, in über 7000 Fällen erging Frei-
spruch, wurde das Verfahren eingestellt oder die Hauptverhandlung gar nicht erst
eröffnet. In den Fällen aber, in denen eine Verurteilung erfolgte, standen die Urteile in
der Regel in keinem Verhältnis zur Straftat. Von 5234 verurteilten Naziverbrechern
und Massenmördern wurden nur 80 zur Höchststrafe (9 zum Tode, 71 zu lebenslan-
gem Zuchthaus) verurteilt! (…) Wenn in den letzten Jahren - nach langer Pause - in
der Bundesrepublik wieder einige Verfahren gegen Nazi-Massenmörder stattfinden,
so muß dazu festgestellt werden: Erstens erfolgen sie unter dem Druck der Enthüllun-
gen durch die DDR und nur in solchen Fällen, in denen die internationale Empörung
der westdeutschen Justiz keine andere Möglichkeit läßt. Zweitens richten sie sich fast
ausschließlich gegen die untersten Chargen der SS- und KZ-Mörder, während die in
exponierten Stellungen tätig gewesenen Schreibtischmörder und Hintermänner ver-
schont bleiben. Drittens schließlich ergehen in diesen Verfahren haarsträubend milde
Urteile, so daß sogar Eichmann-Mitarbeiter, wie die SS-Führer Hunsche und Krumey,
die an der Deportation und Ermordung von Hunderttausenden ungarischer Juden
mitwirkten, 1964 in Frankfurt a. M. freigesprochen beziehungsweise mit Bagatellstra-
fen belegt wurden. Diese Verfahren ändern nichts daran, daß Westdeutschland heute
ein Paradies für Nazi- und Kriegsverbrecher ist".185
Aus diesen Tatsachen wird ersichtlich, dass, wenn "Alt-Nazis" in der DDR "Karriere"
machten, so wie es der "Berliner Kurier" verkündet, es einfache, oft junge Mitglieder
waren, die keinerlei Verbrechen schuldig waren, keine führenden Positionen im Nazi-
Staat oder in der Nazi-Wirtschaft inne hatten und sich bereit erklärten Antifaschisten
zu werden. Hinzu kamen aktive Deserteure der Wehrmacht, die sich im Nationalko-
mitee Freies Deutschland beteiligten, einem Zusammenschluss deutscher Kriegsge-
fangener mit kommunistischen deutschen Emigranten, die den Hitler-Faschismus
bekämpften und ein anderes, antifaschistisch-demokratisches Deutschland wollten. Es
waren, will man es mit heute vergleichen, Aussteiger aus der Nazi-Szene.
Die BRD hingegen wurde, wie oben gezeigt, von den höchsten Nazi-Kadern und
Nazi-Verbrechern errichtet! Es wurde eben nicht zwischen Nazi-Kriegsverbrechern

185
Braunbuch, dritte Auflage, S. 9-10

100
Zur Geschichte der Sowjetunion

und einfachen Mitläufern unterschieden. So gab es tatsächlich nicht nur eine personel-
le, sondern auch eine politische Kontinuität. Wies das "Braunbuch" die personelle
Kontinuität mit Nazi-Deutschland nach, so wurden im 1967 erschienen "Graubuch"
die Kontinuität bundesdeutscher und faschistischer Politik an ihren Zielen und Me-
thoden nachgewiesen.186
Will man, um der Argumentation willen, festhalten, dass die DDR nicht die Perfekti-
on eines demokratischen Staates war, so war das die BRD definitiv nicht. Um es mit
den Worten des Dichters Peter Hacks zu umschreiben: Die DDR war vielleicht ein
saurer Apfel, die BRD ist ein fauler. Eigentlich sehen wir hier eher eine Kontinuität
zwischen der BRD und dem Hitler-Faschismus als eine behauptete Gleichsetzung von
DDR und Drittem Reich.

2.2. Die Unwissenschaftlichkeit der Totalitarismus-


Doktrin
Aber bei der Totalitarismus-Doktrin geht es nicht um historische Wahrheit, sondern
um politische Propaganda, die noch bis heute wirkt. Ziel der Totalitarismus-Doktrin
ist es, die Verbrechen des Faschismus, der nichts weiter ist als eine besonders repres-
sive Form der kapitalistischen Herrschaft zur Unterdrückung der Arbeiterbewe-
gung,187 irgendwie dem Kommunismus in die Schuhe zu schieben. Linker und Rech-
ter Radikalismus seien wesensgleich, rot sei gleich braun. Die vielfach nachgewiesene
Unterstützung Hitlers durch das deutsche Kapital soll nicht Gegenstand der Debatte
sein. Vielmehr wird nicht nur der kapitalistische Charakter des Faschismus mystifi-
ziert, sondern die wirklichen Gegner des Kapitals, die Kommunisten, sollen dämoni-
siert werden.
Domenico Losurdo (2004) stellt fest, dass zwar viel über die Totalitarismus-Theorie
debattiert wurde, es jedoch keine etablierte Definition für diese gibt. 188
Die angebliche "Wesensgleichheit" von Kommunismus und Faschismus "beweisen"
die Totalitarismusforscher damit, dass sie einige Merkmale aufzählen, die die beiden
Systeme angeblich gemeinsam besitzen. Das Aufzählen solcher "Analogien" zeigt
nicht nur wissenschaftliche Defizite, da sich prinzipiell für alle Gesellschaftssysteme
irgendwelche Analogien finden. Gleichzeitig werden Ursachen und Bedingungen für
die Errichtungen faschistischer Regime ausgeblendet. Wortführer dieser Totalitaris-

186
Vgl. SCHNEIDER (2007), S. 82
187
Vgl. DIMITROFF (1935)
188
LOSURDO (2004), S. 25-55, S. 25

101
Zur Geschichte der Sowjetunion

mus-Doktrin waren Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski. 189 Sie fassen
folgende Merkmale totalitärer Diktaturen zusammen:
1. Eine alle wichtigen Lebensbereiche umfassende, allgemeinverbindliche, auf Schaf-
fung einer neuen Gesellschaft ausgerichtete Ideologie mit Wahrheitsanspruch und
stark utopischen Elementen
2. Eine einzige, die gesamte formelle Macht innehabende, hierarchische Massenpar-
tei, die in der Regel von einem Mann (dem Diktator) angeführt wird und die der staat-
lichen Bürokratie entweder übergeordnet oder mit ihr völlig verflochten ist.
3. Ein physisches und/oder psychisches Terrorsystem: Kontrolle und Überwachung
der Bevölkerung, aber auch der Partei selbst, durch eine Geheimpolizei. Diese be-
kämpft nicht nur tatsächliche, sondern auch potentielle Feinde.
4. Das nahezu vollständige Monopol der Massenkommunikationsmittel beim Staat.
5. Das nahezu vollständige Monopol der Anwendung der Kampfwaffen beim Staat.
6. Eine zentrale, bürokratisch koordinierte Überwachung und Lenkung der Wirtschaft.
Hiermit unterscheiden sich Friedrich und Brzezinski von anderen Klassikern des
Totalitarismus, wie Hannah Arendt, die vor allem im Terror das Wesen totalitärer
Herrschaft sah. Totalitär waren somit nach Arendt das Dritte Reich Hitlers und Stalins
Sowjetunion, nicht jedoch das faschistische Italien unter Mussolini und die Volksre-
publiken in Osteuropa.190 Auch Staaten wie Titos Jugoslawien, obwohl dort Kommu-
nisten, die Stalin gegenüber loyal waren, in Konzentrationslager gesperrt wurden,
galten nicht als totalitär, da Tito mit dem Westen kooperierte. 191 Auffällig bei Arendts
Buch ist, dass ihre drei Abschnitte (Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus)
wenig miteinander harmonieren. Losurdo (2004) bemerkt, dass bürgerliche Ideologen
wie Golo Mann kritisieren, dass der dritte Teil (Totalitarismus), welches ausschließ-
lich Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion thematisiert, wenig mit den anderen
Teilen zusammenhängt. Teil eins kritisiere hauptsächlich den Antisemitismus in
Frankreich, Teil zwei den Imperialismus des Britischen Empire. Losurdo (2004)
schlussfolgert, dass die unlogische Verbindung zwischen der Sowjetunion und dem
Dritten Reich mit dem Ausbruch des Kalten Krieges zusammenhänge. Es gebe weni-
ge Zusammenhänge und "Origins of Totalitarianism" wirke eher wie zwei Bücher
statt eines. Einige bürgerliche Historiker würdigten zwar Arendts Buch, bemängelten
jedoch ihr geringes und oberflächliches Wissen über die Sowjetunion. Arendts Ver-

189
Vgl. FRIEDRICH, C. J. (1957)
190
ARENDT, H. (1951)
191
LOSURDO (2004), S. 33 - 34

102
Zur Geschichte der Sowjetunion

such, ihre Analyse der Dritten Reiches auf die Sowjetunion zu übertragen, erweisen
sich als schwierig.192
Reinhard Kühnl belegt übrigens, dass Friedrich und Brzezinski nicht vor offensichtli-
chen Fälschungen Halt machten: "So behauptete Friedrich für beide Systeme 'die
zentrale Lenkung und Beherrschung der gesamten Wirtschaft … durch eine bürokrati-
sche Gleichschaltung aller vorher unabhängigen Wirtschaftskörper' (S. 19 ff.). Tat-
sächlich aber verfügte das Kapital im Faschismus weiterhin über Interessenorganisa-
tionen und damit über eine sozialökonomische Monopolstellung, da alle Gegenmacht
nun ja vernichtet war. Und sofern Planungs- und Lenkungsorgane im faschistischen
Staat gebildet wurden, besetzten die großen Konzerne diese im wesentlichen aus den
eigenen Reihen. Die 1936 in Deutschland gebildete Vierjahresplanbehörde ist dafür
ein anschauliches Beispiel. Weiter behauptet Friedrich, sowohl kommunistische wie
faschistische Ideologie proklamiere 'einen Endzustand der Menschheit, ein Paradies
auf Erden', den 'Traum einer klassenlosen Gesellschaft' (S. 19, 22). Tatsächlich pro-
klamiert der Faschismus genau das Gegenteil: den ewigen Kampf der Völker und
Rassen ums Dasein, das totale Recht des Stärkeren als Lebensprinzip. Eben deshalb
gilt der Kommunismus auch geistig als der Hauptfeind, weil er das Prinzip der
Gleichheit auch als soziale Gleichheit zu realisieren versprach (womit freilich kei-
neswegs ein 'Endzustand' erreicht sei, sondern nach Marx und Engels die wirkliche
Geschichte der Menschheit erst beginnen sollte). (…) Die realen historischen Akteure
z. B. des Jahres 1932 in Deutschland - die Generäle, die Industriellen usw. - hätten
sich wohl tot gelacht, wenn ihnen ein solcher Totalitarismustheoretiker gesagt hätte,
es sei doch gleichgültig, ob sie den rechten oder den linken Extremismus an die
Macht bringen, da doch beide wesensgleich seien. Die realen historischen Akteure
wussten sehr genau zu unterscheiden." 193
Wolfgang Wippermann schreibt: "Die Grenzen und Fehler des Totalitarismusmodells
wurden jedoch in den 70er und 80er Jahren sowohl von der Kommunismus- als auch
von der Nationalsozialismusforschung erkannt und offen gelegt. (…) In der National-
sozialismusforschung wurde das Totalitarismusmodell noch eher und noch entschie-
dener in Frage gestellt. Dies gilt einmal für das Theorem der Befehlswirtschaft, das
auf das Dritte Reich nicht zutrifft, weil die deutsche Wirtschaft keineswegs einer
totalen staatlichen Kontrolle unterworfen worden ist. Dies gilt zweitens für den an-
geblich monolithisch totalitären Charakter des Dritten Reiches, das nach der Meinung
verschiedener NS-Forscher tatsächlich eher polykratisch strukturiert und von zahlrei-
chen Kompetenzkämpfen gekennzeichnet war. Und dies gilt schließlich drittens für
die Erkenntnis, dass sich die nationalsozialistische Weltanschauung wegen ihrer pri-

192
LOSURDO (2004), S. 29 - 33
193
KÜHNL, R. (1999), S. 88 - 90

103
Zur Geschichte der Sowjetunion

mär rassistischen Prägung wesentlich von der marxistischen unterschieden hat, wes-
halb in beiden Regimen unterschiedliche Personengruppen von den Terrormaßnah-
men betroffen waren."194
Bezogen auf die Merkmale einer totalitären Diktatur schildert Losurdo (2004) einige
historische Tatsachen über die "westlichen Demokratien": Während des Ersten Welt-
kriegs errichtete der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson das "Committee
on Public Information", welches die Presse wöchentlich mit 22.000 Nachrichtenspal-
ten versorgte. Dabei wurde alles vorenthalten, das als suspekt eingestuft wurde oder
den Feind begünstigte. Der "Sedition Act of May 16 1918" der USA stellt Regie-
rungskritik unter Strafe. Es war verboten sich "illoyal, profan, skurril oder beleidi-
gend" über die Regierung zu äußern und man konnte mit bis zu 20 Jahren Freiheits-
strafe rechnen. Er wurde erst 1920 aufgehoben. Als 1950 der Korea-Krieg ausgebro-
chen ist, zögerte Präsident Truman keine Sekunde zu intervenieren. Dabei handelte er
unabhängig von der Entscheidung des Kongresses. Mao Tse-Tung hingegen war
gezwungen, eine starke Opposition im Politbüro zu konfrontierten und zu besiegen. 195
Wer die Wesensgleichheit zwischen Kommunismus und Faschismus durch oberfläch-
liche Analogien beweisen will, tritt nicht selten ins Fettnäpfchen. So werden ja die
Hitler-Jugend (HJ) mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der DDR gleichgesetzt,
weil beide Fackelmärsche veranstalteten, Uniformen trugen etc. Was sagen aber nun
Verfechter des Fackelmarsch-Totalitarismus zum Lichtermeer 1993 in Österreich,
organisiert von der Menschenrechtsorganisation "SOS Mitmensch" gegen das von der
faschistischen FPÖ initiierte ausländerfeindliche "Österreich Zuerst" Volksbegehren?
Nun gut das waren damals hauptsächlich Kerzen und keine Fackeln - aber Feuer
bleibt Feuer.196 Doch was ist mit dem "Fackelzug für Verfolgte Christen" in Wien,
welcher regelmäßig im Dezember stattfindet und von verschiedenen christlichen und
Menschenrechtsorganisationen durchgeführt wird? 197 Haben wir es mit der Kirche
also auch mit Kommunisten-Nazis zu tun? Doch damit nicht genug. Es sei hier noch
an die Versammlung der FDP, also der liberalen, freiheitlich demokratischen Partei
Deutschlands, im Lübecker Kolosseum 1953 erinnert. 198 Dort tritt die FDP schön
uniformiert mit Fackelmärschen und Fanfaren auf. Aber ein Markt-Totalitarismus ist
eben keiner.

194
WIPPERMANN, W. (1998), S. 75
195
LOSURDO (2004), S. 42
196
Vgl. ORF (20.01.2013): http://oesterreich.orf.at/stories/2567688
197
KATHOLISCHE KIRCHE ERZDIOZÖSE WIEN 10.12.2016: https://www.erzdioezese-
wien.at/site/home/nachrichten/article/54164.html
198
FDP Versammlung 1953 im Lübecker Kolosseum
https://www.youtube.com/watch?v=EHLDZVu51Ng

104
Zur Geschichte der Sowjetunion

Abb. 1: Screenshots der FDP Versammlung im Lübecker Kolosseum 1953


https://www.youtube.com/watch?v=EHLDZVu51Ng
Die Totalitarismus-Doktrin weist sich also als eine völlig unwissenschaftliche Metho-
dik aus, indem die verschiedenen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen und
Funktionen komplett ausgeblendet werden. Harry G. Shaffer stellt weitere Probleme
der Totalitarismustheorie dar: "Im ökonomischen Bereich waren Privatunternehmen,
wenn auch durch die Regierung kontrolliert, nicht nur erlaubt, sondern auch gefördert
und der Profit als führender Anreiz zur Produktion wurde akzeptiert (…). Im Artikel
VIII des Italienischen Arbeitsrechts von 1926 heißt es: 'Der korporative (faschisti-
sche) Staat hält fest, dass Privatunternehmen im Bereich der Produktion das effektivs-
te und brauchbarste Instrument im Interesse der Nation sind.' Auch Hitler versprach,
dass 'Deutschland sorgfältig das Prinzip des Privatunternehmens im Geschäftsleben
beschützen wird; aber, wie Mussolini vor ihm, hob er hervor, dass, wenn private Inte-
ressen den Interessen der Nation widersprechen, das Wohl der Gemeinschaft vor den
Profiten des Einzelnen komme. Demzufolge waren wirtschaftliche Unternehmen,
sowohl in Hitlers Deutschland als auch in Mussolinis Italien, Großteils in privater
Hand, wenn auch dem allgemeinen Ziel und den Diktaten des Staates untergeordnet.
Außerdem waren die Unternehmen von ihren Eigentümern innerhalb des Rahmens
der Regeln und Vorschriften, die ihnen auferlegt wurden, geleitet mit dem Ziel, Profi-
te zu erwirtschaften. (…) Selbst in Zeiten des Friedens waren die deutsche und italie-
nische faschistische Wirtschaft auf Krieg orientiert." 199
"Die besagten Ziele von Kommunisten und Faschisten sind demnach völlig unter-
schiedlich. Selbst die 'Diktatur des Proletariats' ist nur oberflächlich betrachtet in
einigen Aspekten in ihrer politischen Struktur dem Faschismus ähnlich, aber essentiell
anders in ihrer philosophischen Herangehensweise für die Lösung der Probleme der
Menschheit, in ihrer ökonomischen Struktur und in ihrem Sozialgefüge ihrer Gesell-

199
SHAFFER, H. G. (1984), S. 27 - 28

105
Zur Geschichte der Sowjetunion

schaft sowie in ihren erklärten Zielen und zumindest in einigen ihrer Gewohnheiten,
diese Hoffnungen zu erreichen." 200
Natürlich hatte sich die Totalitarismustheorie seit den 1950ern auch weiterentwickelt
- jedoch nicht zum Positiven. Dabei kommt die DDR im Vergleich zu Stalin und der
Sowjetunion richtig gut weg. Denn mit Stalin an der Spitze der KPdSU und der Sow-
jetunion steht ein Mann, der die Personifikation des Bösen darstellt; einer der in sei-
nen Verbrechen Hitler bei weitem übertreffen soll. "Heute ist der Begriff 'Stalinismus'
zu einer leeren Worthülse für Beschimpfungen geworden, um bestimmte politische
Ansichten, die man nicht teilt, zu brandmarken" konstatiert Bill Bland in seiner Studie
über den Stalinismus.201
Das online-Lexikon "wissen.de" fasst folgende Merkmale zusammen, die den "Stali-
nismus" kennzeichnen: "Verengung der marxistischen Theorie zu einem Dogmensys-
tem, das hauptsächlich der Rechtfertigung der Herrschaftsverhältnisse diente; exzes-
siver Personenkult um den obersten Führer; Monopolisierung der Machtausübung und
der Meinungsbildung bei der Kommunistischen Partei; Ausschaltung aller autonomen
Gruppen außerhalb der Partei; Beseitigung aller bürgerlichen Freiheiten und Rechts-
garantien; umfassender Terror gegen weite Bevölkerungskreise; zentralistisch-
bürokratischer Aufbau des Parteiapparats; Unterwerfung der kommunistischen Welt-
bewegung unter die außenpolitischen Interessen der UdSSR." 202
Die westliche Geschichtsschreibung sieht in Stalin einen blutrünstigen, herrschsüchti-
gen Diktator, der jede kritische Stimme beseitigte. Besonders gerne hervorgehoben
wird der Terror und das Leid, unter denen die sowjetische Bevölkerung durch den
blutrünstigen und skrupellosen Diktator zu leiden gehabt habe. Nicht selten werden
dabei Parallelen zu Hitler gezogen. Da kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von neuen
Verbrechen und Opfern des Stalinismus die Rede ist, fällt es natürlich schwer, Lüge
und Wahrheit zu unterscheiden. Nicht zuletzt, weil ein Großteil der Propaganda aus
den Fängen der Totalitarismus-Doktrin entstammt. Im Folgenden sollen einige der
wichtigsten Standardwerke der von den Anhängern der Totalitarismus-Doktrin ver-
fassten "Stalinismus"-Literatur auf ihre Methodik untersucht werden.

200
SHAFFER (1984), S. 35
201
BLAND, B. (2014) https://sascha313.wordpress.com/2014/04/22/3466/
202
WISSEN.DE: Stalinismus https://www.wissen.de/lexikon/stalinismus

106
Zur Geschichte der Sowjetunion

2.2.1. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 1:


Schwarzbuch des Kommunismus
Ein gut zu demonstrierendes Beispiel solcher historischer Verzerrungen ist das Ende
der 1990er Jahre erschienene "Schwarzbuch des Kommunismus" unter der Herausga-
be von Stephane Courtois203. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und zum
Bestseller. 2004 erschien sogar ein zweiter Band, welcher jedoch nicht so viel publi-
zistische Aufmerksamkeit erhielt wie sein Vorgänger 204. Courtois These ist einfach
und simpel. In Seinem Vorwort zieht er die Bilanz der "Opfer des Kommunismus"
und errechnet diese auf 100 Millionen, 20 Mio. davon in der Sowjetunion, 65 Mio. in
der Volksrepublik China. 205 Der Faschismus (von Courtois bewusst Nationalsozialis-
mus genannt) hatte hingegen "nur" 25 Millionen. 206 Dieser Vergleich soll suggestie-
ren, dass der Kommunismus mindestens genauso schlimm sei wie der Faschismus,
wenn nicht sogar viermal so schlimm, bezogen auf die Opferzahlen. Auch wenn
Courtois keine "makabren arithmetischen Vergleiche" aufstellen will, so "sollte [diese
einfache Feststellung] zumindest zum Nachdenken über die Ähnlichkeit anregen, die
zwischen dem NS-Regime, das seit 1945 als das verbrecherischste System des Jahr-
hunderts angesehen wird, und dem kommunistischen besteht, dessen Legitimität auf
internationaler Ebene bis 1991 unangefochten war…" 207
Man regt sich also darüber auf, dass man noch immer nicht erkannt habe, dass Kom-
munismus und Faschismus dasselbe seien. Tatsächlich ähneln sich nicht nur die Me-
thoden der Kommunisten und Nazis. Vielmehr sei es so, dass Kommunisten eine
Inspirationsquelle für die Nazis seien, da die Kommunisten "das Ausmaß und die
Techniken der Massengewaltausübung [einführten]". 208 Der Terror der beiden Ideolo-
gien sollte feindliche Gruppen auslöschen, es gebe keinen Unterschied zwischen dem
Klassengenozid der Kommunisten und dem Rassengenozid der Nazis. 209
In einem Interview mit der Zeitung "Die Zeit" unter dem Titel "Roter Holocaust"
behauptet Courtois, dass Lenin und Trotzki 1917 das System der Konzentrationslager
erfunden hätten. Hitler habe sie lediglich mit seinen Besonderheiten errichten lassen.
Doch das Modell der KZ habe also schon bei Lenin begonnen. 210 Zwar hat es auch

203
COURTOIS, S. (HRSG., 1998)
204
COURTOIS, S. ( HRSG., 2004)
205
COURTOIS (1998), Vorwort, S. 16 in COURTOIS (HRSG., 1998)
206
COURTOIS (1998), S. 27
207
COURTOIS (1998), S. 27
208
COURTOIS (1998), S. 27
209
Vgl. COURTOIS (1998), S. 28 ff.
210
ZEIT.DE (1997): http://www.zeit.de/1997/48/Der_rote_Holocaust/seite-3

107
Zur Geschichte der Sowjetunion

vorher sogenannte "concentration camps" gegeben, so z. B. während des englisch-


burischen Krieges in Südafrika 1900-1902 (und auch diese sind nicht mit den KZ der
Nazis gleichzusetzen).211 Doch Courtois geht es nicht um historische Genauigkeit,
sondern um die Brandmarkung des Kommunismus. Im Schwarzbuch kommen mehre-
re Autoren zu Wort, die meisten von ihnen Wissenschaftler und Mitarbeiter des
"Conseil National de la Recherche Scientifique" (CNRS), der französischen Akade-
mie der Wissenschaften.
Jedoch ist die Wissenschaftlichkeit des "Schwarzbuches" äußerst fragwürdig. Neben
der Gleichsetzung der beiden Ideologien wimmelt das Buch von fast Horror-Film-
ähnlichen Darstellungen über Kannibalismus. So zitiert Nicolas Werth unkommentiert
und unkritisch Berichte faschistischer(!), italienischer Diplomaten über Vorkommnis-
se von Kannibalismus in der Ukraine 1933, ohne überhaupt zu hinterfragen, ob die
Berichte des Diplomaten glaubwürdig oder überprüfbar seien. Nicht zuletzt, da Aus-
sagen eines Faschisten über das Feindesland Sowjetunion nicht zu den glaubwürdigs-
ten Quellen gehören.212
Jean-Louis Margolins Beitrag zu China schildert, dass während der Zeit des Großen
Sprungs Nach Vorn 1959-1961 Eltern ihre Kinder ausgetauscht hätten, um diese dann
zu essen, oder dass während der Kulturrevolution in Schulkantinen Menschenfleisch
angeboten wurde.213 Auch diese nur auf Gerüchte basierenden Informationen werden
als Tatsachen verkauft.
Derselbe Autor schildert in seinem Kapitel über Kambodscha - ebenfalls nur auf Ge-
rüchte basierende Informationen - über allerlei kannibalische Praktiken: angefangen
von dem Verspeisen von Föten bis hin zur Verwendung der Gallenblase als Augen-
heilmittel. Gemildert werden diese Horrorgeschichten nur dadurch, dass behauptet
wird, in Kambodscha hätte man, anders als in China, nur die bereits schon Toten
verzehrt. Es finden sich aber auch rassistische Untertöne, wenn behauptet wird, dass
kannibalische Bräuche sich in ganz Südostasien finden.214
Nordkorea wirkt dagegen fast human, denn laut Schwarzbuch-Autor Pierre Rigoulot,
sind "zur Zeit [gemeint ist die Hungernot zu Beginn der 1990er]" die "Gerüchte über
Kannibalismus" in Korea "nicht nachprüfbar."215 Ein solches Ausufern des Kanniba-
lismus, welches noch nicht mal in "Das Schweigen der Lämmer" oder in den Splatter-

211
SAHISTORY.COM: http://www.sahistory.org.za/topic/women-children-white-concentration-
camps-during-anglo-boer-war-1900-1902
212
WERTH, N. (1998), S. 184
213
MARGOLIN, J.-L. (1998), S. 520, 545, 548, 579
214
MARGOLIN, J.-L. (1998A), S. 669 f.
215
RIGOULOT, P. (1998), S. 629

108
Zur Geschichte der Sowjetunion

Horrorklassikern "Cannibal Ferox" und "Cannibal Holocaust" dargestellt wird, lässt


nicht nur an der Wissenschaftlichkeit des Buches zweifeln, sondern hat einen zusätz-
lichen propagandistischen Zweck: Kommunisten sind nicht nur die Inspiration der
Nazis gewesen, sie waren zusätzlich noch unwürdige Kannibalen oder ließen ihr Volk
durch Hunger zu Kannibalen werden.
Die Gleichsetzung des Rassengenozids mit einem sogenannten Klassengenozid ist
nichts weiter als ein billiger Taschenspielertrick. Um es mit den Worten Wolfgang
Wippermanns zu kommentieren: "Bereits in der Einleitung hat Stephane Courtois die
Hauptintention des 'Schwarzbuches' mit folgenden empathischen Satz auf den Punkt
gebracht: 'Der Tod eines ukrainischen Kulaken-Kindes, das das stalinistische Regimes
gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdischen
Kindes im Warschauer Ghetto, das dem vom NS-Regime herbeigeführten Hunger
zum Opfer fiel.' (…) Ob es wirklich 'gezielt' der 'Hungersnot überliefert' wurde, ist
nach Meinung verschiedener Historiker fraglich. Ganz sicher ist dagegen, dass es
nicht wegen seiner ukrainischen Herkunft starb. Doch genau dies geschah mit dem
'jüdischen Kind im Warschauer Ghetto'. Es wurde allein deshalb ermordet, weil es
sich um ein 'jüdisches Kind' handelte. Alle Juden, seien sie alt oder jung, männlich
oder weiblich, arm oder reich, wurden von den Nationalsozialisten als Angehörige
einer 'minderwertigen Rasse' angesehen und ohne Ausnahme umgebracht. Dies traf
nicht auf alle 'Kulaken' (die es keineswegs nur in der Ukraine gab) und natürlich nicht
auf alle Ukrainer zu. (…) Ganz abgesehen davon, dass es nach der Auffassung der
heutigen Anthropologen und Biologen gar keine menschlichen Rassen gibt, sind
Klassen etwas ganz anderes als 'Rassen' und Völker, weshalb man an Klassen auch
keinen Völkermord (Genozid) begehen kann." 216
"In der Sowjetunion hat es keine Gaskammern und Verbrennungsöfen gegeben. Das
stalinistische Gulag-System unterschied sich wesentlich von den deutschen Konzent-
rationslagern. Zu den 'Todesfabriken' in Belzec, Chelmno, Sobibor, Treblinka, Ma-
jdanek und Auschwitz-Birkenau hat es in der Sowjetunion keine Analogien gegeben.
Dennoch wird dies (…) von verschiedenen Autoren des 'Schwarzbuches' behauptet,
um die These von der 'Wesensgleichheit der totalitären Systeme' zu beweisen. (…)
Nicht genug damit können derartige Vergleiche zu einer 'strukturellen Relativierung'
des Holocaust führen, (…) Daher haben auch alle Holocaustforscher auf die Verwen-
dung des Totalitarismuskonzeptes verzichtet."217
Losurdo (2007) zitiert mehrere Berichte faschistischer Diplomaten aus Italien, die
beschreiben, dass Bauern Aufstände gegen die Kollektivierung betrieben haben: Mor-

216
Wippermann, W. (1998a), S. 106 - 107
217
Wippermann (1998), S. 80

109
Zur Geschichte der Sowjetunion

de, Explosionen von Zügen, Entführung und "Zerstückelung" von Kindern hoher
Parteifunktionäre etc.218 Die Quellen wirken zwar unglaubwürdig, da wir davon aus-
gehen können, dass faschistische Diplomaten die Situation in der Sowjetunion über-
trieben darstellten. Doch selbst diese Schilderungen zeigen nichts von einem bürokra-
tisch verübten Genozid an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die keinen Ausweg
haben. Zitiert werden folgende Feststellungen des italienischen Diplomaten:
"Denn es wurde ein Ziel verfolgt, indem man den freien Gebrauch der ukrainischen
Sprache, Kultur und Sitten begünstigt: 'Parallel zur Initiative der Zerstörung einer
jeden ukrainischen separatistischen Anwandlung hat sich die Politik einer Aufwertung
der nationalen ukrainischen Charakteristiken fortentwickelt … Man möchte also einen
separatistisch geprägten ukrainischen Nationalismus, der auf Polen blickt, durch einen
zentripetalen ersetzen, der die Ukrainer Polens zu einer möglichen oder wünschens-
werten Vereinigung mit denen der UdSSR anreizt'
'Bei der Militär- und Zivilparade vom 1. Mai marschierten zwanzig Mädchen in
prächtigen ukrainischen Nationaltrachten mit. Am Vorabend wurden im Opernhaus,
nach der Feier des roten Festes mit einer kurzen Rede, ukrainische Lieder gesungen
und auf der Bühne traditionelle ukrainische und Kosakentänze aufgeführt. Auf den
verschiedenen Versammlungen im Freien am 1. und 2. Mai sah man nicht nur moder-
ne Tänze, sondern auch und vor allem … ukrainische Tänze.'
'Um den Schulen ukrainische Lehrer zu geben, hat man entschieden, 10.000 Bauern
von den ukrainischen Kolchosen abzuziehen, um sie in Schnellkursen in ukrainische
Volksschullehrer zu verwandeln. Kurz und gut, es entsteht ein moskautreuer, ortho-
doxer ukrainischer Nationalismus, der zur Anziehungskraft für die Ukrainer Polens
wird'."219
Der deutsche "Experte" für die Politik Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sow-
jetunion, Stefan Merl, erwähnt, dass auch nicht jeder Kulak repressiert wurde: "Ohne
Zweifel haben die Bolschewiki in den ersten fünfzehn Jahren ihrer Herrschaft immer
wieder von der 'Ausrottung der Bourgeoisie' und von der 'Liquidierung der Kulaken'
gesprochen. Liquidiert werden sollten Bourgeoisie und Kulakentum 'als Klassen',
nicht aber zwangsläufig und gleichsam automatisch auch jeder einzelne Bourgeois
oder Kulak. Dieser Unterschied mag geringfügig erscheinen, ignoriert werden darf er
jedoch nicht. (…) 'Und wenn in den vehementen Kampfansagen der einen wie der
anderen Seite das Wort `Vernichtung´ auftaucht, kann auch nicht außer acht bleiben,
daß die radikale Linke darunter zumeist nicht die physische, sondern offenbar die

218
Losurdo, D. (2007), S. 254 - 255. Losurdos Quelle ist Graziosi (Hrsg., 1991), S. 70, 69, 108,
138, 148
219
Zitiert in Losurdo (2007), S. 256 f.

110
Zur Geschichte der Sowjetunion

gesellschaftliche oder historische Ausschaltung des Gegners im Auge hatte.' (…)


Während des Bürgerkrieges sprachen die Bolschewiki zwar davon, die Bourgeoisie
als Klasse vernichten zu wollen. In der Praxis zielte jedoch der 'Rote Terror' vorwie-
gend darauf, die Masse der Bevölkerung einzuschüchtern und von 'konterrevolutionä-
ren' Taten abzuschrecken. Dabei fielen ihm, u.a. bei Vergeltungsaktionen, auch Men-
schen zum Opfer, die an Kampfhandlungen nicht beteiligt waren, wohl aber einer
potentiell feindlich eingestellten Sozialgruppe zugerechnet wurden. Die große Mehr-
heit der Bourgeoisie lebte während des Bürgerkrieges in ständiger Angst vor Verhaf-
tung. Sie war Diskriminierungsmaßnahmen ausgesetzt: z.B. der Vertreibung aus der
Wohnung zur Einquartierung von Arbeitern, 'rücksichtsloser Besteuerung' und der
Abschaffung des Erbrechtes. (…) Ebenso deutlich wird jedoch, daß dem Roten Terror
eine zentrale Lenkung weitgehend fehlte, daß es sich überwiegend um Aktionen des
Pöbels oder der lokalen Tscheka-Führer handelte. Für den unvoreingenommenen
Leser wird gerade hier die Unvergleichbarkeit mit Hitlers Massenvernichtung doku-
mentiert. (…)
Zunächst ist zu beachten, daß der Begriff 'Kulak' keineswegs eindeutig definiert war.
(…) Ausschlaggebend für die Zuordnung war in erster Linie die nach dem Wert der
Produktionsmittel bestimmte Größe des Hofes, 'Ausbeutungskennzeichen' hatten nur
sekundäre Bedeutung. Obwohl zwischen der statistischen und der engeren politischen
Definition des 'Kulaken' keine Übereinstimmung bestand, bediente sich die Parteifüh-
rung dieser statistischen Erhebungen, um den Anteil der 'Kulaken' im Dorf festzule-
gen: Knapp 4 % aller Höfe und gut 5 % der Dorfbevölkerung wurden dieser 'Klasse'
zugezählt. (…) [Es gab jedoch] Willkür bei der Festlegung, welcher Hof nun als 'Ku-
lakenwirtschaft' anzusehen war. (…) Daß bei der 'Liquidierung der Kulaken als Klas-
se' nicht die Absicht, diese Personengruppe physisch zu vernichten, im Vordergrund
stand, geht bereits aus den amtlichen Anweisungen zur Durchführung der Aktion
hervor. Tatsächlich war die Besitzkonfiskation und die Vertreibung vom Hof der
einzige gemeinsame Nenner für das Schicksal aller Kulaken.
In der Praxis wurden die 'Kulakenwirtschaften' Anfang 1930 in drei Kategorien einge-
teilt, die jeweils ein unterschiedliches Maß der Repression bedeuteten: In die erste
Kategorie kamen die 'konterrevolutionären Kulaken'. 10 % aller Kulakenhöfe wurden
so eingestuft. Die Familienoberhäupter dieser Betriebe wurden von der OGPU verhaf-
tet, zu mindestens zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in den GULAG gebracht.
Die übrigen Familienmitglieder deportierte man nach Norden, ihr Besitz wurde voll-
ständig konfisziert. In die zweite Kategorie kamen 'besonders reiche Kulaken' und
'Halbgroßgrundbesitzer'. Hier erfolgte in der Regel keine Verhaftung, die Familien
unterlagen aber ebenfalls der Deportation nach Norden und der Besitzkonfiskation.
Die übrigen Kulaken - jedenfalls die meisten 'Kulakenwirtschaften' - wurden in die
dritte Kategorie eingestuft. Sie waren innerhalb ihres Heimatkreises umzusiedeln,

111
Zur Geschichte der Sowjetunion

sobald die lokalen Staatsorgane ihnen minderwertigen Boden zur Neuansiedlung


zuweisen konnten. Die notwendigsten Produktionsmittel zur Bodenbearbeitung und
knappe Vorräte bis zur nächsten Ernte sollten ihnen belassen werden, ihr übriger
Besitz unterlag der Konfiskation.
Die hohe Zahl der Opfer war eine Begleiterscheinung der Aktion, sie wurde offen-
sichtlich von der Parteiführung in Kauf genommen. Trotzdem ist aus den Umständen
ersichtlich, daß in der Sowjetunion, anders als bei den deutschen Judenmorden, von
einem vorgefaßten, systematischen Vernichtungswillen der Staatsmacht gegenüber
diesen Menschen nicht gesprochen werden kann.
Die rechtliche Diskriminierung der deportierten oder lokal umgesiedelten 'Kulaken'
endete stufenweise seit 1933. Zunächst wurde bereits 1933 'Kulakenkindern' das
Wahlrecht zurückgegeben, wenn sie 'gesellschaftlich nützliche Arbeit verrichteten
und gutwillig arbeiteten'. Seit 1934 konnten auch Familienoberhäupter, die sich als
Stoßarbeiter oder Spezialisten bewährt hatten, das Wahlrecht wie die Bürgerrechte
wiedererlangen. Mit der neuen Verfassung von 1936 verschwand der Begriff 'Kulak'
aus dem amtlichen Sprachgebrauch." 220
Sieht man von Merls antikommunistischen Hasstiraden ab, kommt er nicht zu dem
Ergebnis eines Klassengenozids.221 In einem Brief Stalins an Molotow vom 11. März
1931 erwähnt Stalin, dass unter den deportierten Kulaken nur diejenigen arbeiten, die
zu arbeiten wünschen und dass dies mit allen Rechten freiwillige Arbeit sei. 222
Immerhin scheint auch nicht jedem Antikommunisten das "Schwarzbuch" zu schme-
cken. In einer Rezension muss Hiroaki Kuromiya zugeben, dass zumindest für die
Sowjetunion die Zahl der Todesopfer inflationär sei und ein Unterschied zwischen
direkten und indirekten Todesopfern verwischt wird. Außerdem bliebe die Frage
unbeantwortet, wie hoch die Anzahl der Todesopfer sein muss, damit eine Ideologie
als "absolut böse" definiert werden kann. 223
Übrigens sind die Zahlenspielereien des Schwarzbuchs über die angeblichen 100
Millionen Opfer des Kommunismus, über die sich die Bourgeoisie und ihre Ideologen
empören, insofern faszinierend, da so die Opfer des Kolonialismus und Imperialismus
vollkommen unterschlagen werden. Noch Hannah Arendt, Pionierin der Totalitaris-
mus-Doktrin, hatte Ende der 1940er die Extermination der Ureinwohner Amerikas,
Afrikas und Australiens durch die Kolonialmächte getadelt. Tatsächlich waren in

220
MERL, S. (1987), S. 368-381 http://www.martinblumentritt.de/agr192s.htm
221
Zur Politik der Kollektivierung vgl. MARTENS, L. (1994/2014): & BRAR, H. (1992)
222
LIH, L., NAUMOW, O., CHLEWNJUK O. (1996), S. 247
223
KUROMIYA, H. (2001), S. 191-201, S. 195 & 196

112
Zur Geschichte der Sowjetunion

dieser Zeitspanne die Opfer des Kolonialismus, die aufgezählt wurden, da die Befrei-
ungsbewegungen in den Kolonien Englands und Frankreichs immer stärker wurden:
das Massaker von Sétif in Algerien kostete 45.000 Menschen das Leben, beim Mada-
gaskar-Aufstand 1947 starben 90.000, bei der Mau-Mau-Revolte in Kenia 1952 über
200.000.224 Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Besonders auffällig ist jedoch, dass
die Verbindung zwischen Kolonialismus und dem Dritten Reich gezeigt wurde, da der
Faschismus als die schrecklichste Form des Imperialismus, die die Welt gesehen
habe, betrachtet wurde.225 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Gleichsetzung
aufgrund der Opferzahlen, denn es gibt hier ebenso theoretische, wie strukturelle
Gemeinsamkeiten. Ludwig Gumplowicz, einer der führenden Ideologen und Begrün-
der der bürgerlichen Soziologie, ebenso ein ausgesprochener Sozialdarwinist, stellte
1883 dem Klassenkampf von Karl Marx sein Konzept des "Rassenkampfes" entge-
gen. Menschen diverser ethnischer Gruppen mussten entmenschlicht und zerstört
werden.226 Dies wurde in der bürgerlichen Ideologie nicht nur theoretisiert, sondern
auch praktiziert. Theodore Roosevelt wiederholte regelmäßig, dass, wenn die "niede-
ren Rassen" die "höheren Rassen" angreifen sollten, erstere mit einem "Vernichtungs-
krieg" durch die "höheren Rassen" rechnen müssen. Über Indianer sprach er wie folgt:
"Ich gehe nicht so weit zu denken, dass nur tote Indianer gute Indianer sind, aber ich
glaube, dass das für neun von zehn Indianern gilt, und was den zehnten angeht, so
will ich den Fall nicht näher untersuchen." 227
Das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner sollte bekannt sein. Es gab offen-
sichtlich theoretische und ideologische Rechtfertigungen für ihre Entrechtung, Ver-
sklavung und Vernichtung.228 Die Hottentotten in Südafrika wurden von Gumplowicz
als "Geschöpfe" angesehen, die man wie Wild erlegen dürfe.229 Die Hereros, die sich
von 1904 bis 1907 gegen den deutschen Imperialismus zur Wehr setzten, wurden
ebenso zum Abschuss freigegeben.230 So gab es auch beispielsweise keine Unter-
schiede zwischen der Kolonialpolitik von Leopold II. von Belgien im Kongo und
Mussolini in Äthiopien. Beide wollten diese Gegenden Afrikas einnehmen und zivili-
sieren, das zu einem Vernichtungskrieg gegen die dortigen Bevölkerungsgruppen
führte.231 Die Gemeinsamkeiten gehen aber noch viel tiefer: die US-amerikanischen
Ideologen sprachen von einer "ultimate solution of the American negro question", im

224
LOSURDO (2015), S. 280 - 281
225
LOSURDO (2015), S. 281
226
LOSURDO (2015), S. 282
227
VGL. LOSURDO (2015), S. 182, 184, 283
228
Vgl. z. B. LOSURDO (2015), S. 182f.
229
Vgl. LOSURDO (2015), S. 184
230
LOSURDO (2015), S. 282
231
Vgl. LOSURDO (2015), S. 284 - 285

113
Zur Geschichte der Sowjetunion

Kontext einer endgültigen und kompletten Lösung gegen jene Schwarze, die sich
gegen die Knechtung und Versklavung durch die weißen Kolonialherren zur Wehr
setzten. Hier lässt sich zweifelsohne eine Parallele zur "Endlösung der Judenfrage"
der Hitler-Faschisten ziehen.232
Zwischen 1907 und 1931 wurden in Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland, den
USA, Estland, Danzig, Schweiz, England, Bermuda, Kanada, Mexiko, Japan und
Deutschland Sterilisationsgesetze eingeführt. So wurden 1935 in 26 Bundesstaaten
der USA Zwangssterilisationsgesetze eingeführt, in 10 weiteren sollten sie noch ein-
geführt werden. In Kalifornien wurden 1935 12.000 Zwangssterilisationen auf dieser
Gesetzesgrundlage durchgeführt.233 Diese Eugenik-Gesetze in den USA und anderer
Staaten, erinnern an die Rassenhygiene der Faschisten und die Angst der "Weißen
Herrscherrasse" in den USA vor Rassenvermischung erinnert an die Blutschande der
Nazis.234 Selbst der Begriff des Untermenschen findet sich in der Literatur der bürger-
lichen Ideologen: 1922 veröffentlichte in New York Lothrop Stoddard das Buch mit
dem Titel "The Menace of Under Man", zu Deutsch: die Bedrohung durch die Unter-
menschen. "Untermensch" war typischer Sprachgebrauch der Hitler-Faschisten für die
"nicht-arischen Rassen."235
Außerdem haben wir schon oben festgestellt, dass Konzentrationslager keine Erfin-
dung der Kommunisten waren. Die Praxis der Deportation und Einsperrung in Kon-
zentrationslager ganzer Völker war z. B. in den USA durchaus typisch. Kurz nach der
Oktoberrevolution 1917 schlug ein Senator aus Tennessee, McKellar, vor, auf der
Insel Guam ein Straflager für politische Gefangene einzurichten.
Das Universum der Konzentrationslager wurde in den USA während des Zweiten
Weltkriegs zur Realität, als Roosevelt alle US-Bürger japanischen Ursprungs in Kon-
zentrationslager sperrte. 1950 wurde der "McCarran Act" durchgesetzt, der die Errich-
tung von sechs Konzentrationslagern, verstreut im Land, für politische Gefangene
durchsetzte. Unterstützt wurde der "McCarran Act" von den zukünftigen US-
Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon. 236 Die Franzosen hatten in ihrer Kolonie
Französisch-Guyana in Südamerika ebenfalls ein Konzentrationslager für politische
Gefangene errichtet, welches von 1852 - 1953 über 70.000 Deportierte aufgenommen
hat. In den schlimmsten Jahren betrug die Mortalitätsrate 75%. 237 Natürlich können

232
LOSURDO (2015), S. 285
233
MIRONIN, S. M. (2007) http://stalinism.ru/stalin-i-gosudarstvo/genetika-i-stalin.html
234
LOSURDO (2015), S. 287, 288
235
LOSURDO (2015), S. 287
236
LOSURDO (2015), S. 303
237
TOTH, S. A. (2006); VIS, K.-M. (2015) https://www.atlasobscura.com/articles/inside-the-
brutal-french-guiana-prison-that-inspired-papillon

114
Zur Geschichte der Sowjetunion

auch diese Lager der imperialistischen Mächte nicht mit den Vernichtungslagern der
Faschisten auf eine Stufe gestellt werden. Aber zumindest zeigt sich hier, dass Kon-
zentrationslager in der angeblich freien, progressiven, liberalen und demokratischen
Welt eher die Regel waren als eine Ausnahme.
Die Periode von 1890 bis in die 1920er in den USA wird gerne als "Progressive Ära"
bezeichnet, da eine Reihe "demokratischer" Reformen eingeführt wurden. Gleichzei-
tig war es jedoch auch eine sehr tragische Phase für die Schwarzen (Terror durch den
Ku-Klux-Klan) und die Ureinwohner (Ausweisung aus ihren Territorien, Homogeni-
sierung und Verlust der kulturellen Identität). Diese scheinbar paradoxe Zeitspanne
wird von einigen US-Gelehrten auch als "Herrenvolk-Demokratie" bezeichnet, eine
Bezeichnung, die stark an die "Herrenrasse" der Hitler-Faschisten erinnert.238 Diese
ideologischen Rechtfertigungen für den Massenmord an Menschen wurden während
des Faschismus unter Hitler oder Mussolini in die Höhe getrieben. Sie haben aber ihre
Ursprünge im Kolonialismus der imperialistischen Großmächte, seien es Groß-
Britannien, Frankreich, Deutschland oder die USA.
Zum Abschluss seien noch die Verbrechen der USA im Zweiten Weltkrieg genannt,
insbesondere der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki
Diese nebst anderen widerlichen Verbrechen der "westlichen Demokratien" haben
allesamt Anzeichen für Genozide. Doch im Schwarzbuch ist davon nichts zu lesen,
nicht mal in einer Fußnote.
Ungeachtet dieser Identitäten zwischen Faschismus und Kolonialpolitik der imperia-
listischen Großmächte schwadroniert das Schwarzbuch von der Wesensgleichheit von
Kommunismus und Faschismus, behauptet dass Klassengenozid gleich Rassengeno-
zid sei (obwohl gezeigt wurde, dass bürgerliche Ideologen dem Klassenkampf der
Kommunisten den Rassenkampf entgegenstellten!) und die Opfer des Kommunismus
eigentlich viel schlimmer seien als die des Faschismus. Das Ziel dieser Lüge – und
das Wort Lüge klingt hier noch verharmlosend! - ist es, die Verbrechen der imperia-
listischen Politik der Unterjochung und Ausrottung anderer Völker in Vergessenheit
geraten zu lassen. Und jegliche Verbindungen zwischen Faschismus und Imperialis-
mus sollen vernebelt werden.
Die Absurdität besteht vor allem darin, dass die Oktoberrevolution, der Kommunis-
mus, Lenin und Stalin, Mao und andere eben gegen diese Tradition der kolonialisti-
schen Unterdrückung und Ausrottung vorgegangen sind. Es ist beispielsweise schwie-
rig bei liberalen Ideologen eine Kritik dieser "Herrenvolk-Demokratie" zu finden. Es
war jedoch vor allem Lenin, der diese Kritik veröffentlichte. In seiner "Deklaration

238
LOSURDO (2015), S. 290

115
Zur Geschichte der Sowjetunion

der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" ist zu lesen: "Zum gleichen
Zweck besteht die Konstituierende Versammlung auf dem völligen Bruch mit der
barbarischen Politik der bürgerlichen Zivilisation, die den Wohlstand der Ausbeuter
in einigen wenigen auserwählten Nationen auf der Versklavung der Hunderte Millio-
nen Werktätigen in Asien, in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern
begründete."239
In seiner Schrift "Zündstoff in der Weltpolitik" machte Lenin folgende Aussage: "Die
liberalsten und radikalsten Männer des freien Britanniens, (…), werden in ihrer Rolle
als Machthaber Indiens zu wahren Dschingis-Chans und bringen es fertig, alle zur
'Beruhigung' der ihnen anvertrauten Bevölkerung dienenden Maßnahmen zu sanktio-
nieren, selbst die Auspeitschung solcher Menschen, die politischen Protest erhe-
ben!"240
Besonders auffällig ist, dass z. B. Ghandi nicht in Stalin und Hitler ein Zwillingspaar
sah, sondern in Hitler und Churchill. Er führt dies vor allem auf den Kolonialismus
und Rassismus des Britischen Empire zurück. Stalin hingegen verkörpere dagegen das
absolute Gegenteil.241
Die Oktoberrevolution 1917 war es, die es als erste vollbrachte, diese Tradition der
Ausplünderungen der Kolonialmächte und der Unterdrückung jener, die nicht zum
Herrenvolk zugehören, etwas entgegenzusetzen. Die Oktoberrevolution verwirklichte
die Gleichheit der Völker, die Gleichberechtigung der Frauen und die ökonomische
Absicherung. Das forcierte die Formen des Kampfes, die die unterdrückten Klassen in
den kapitalistischen Ländern durchführten und die die Bourgeoisie zu Zugeständnis-
sen zwangen - teilweise aus der Furcht vor der marxistischen Revolution.
Es macht also keinen Sinn, Faschismus und Kommunismus gleichzusetzen. Der Fa-
schismus steht in der Tradition des Bürgertums, des Kapitalismus, Imperialismus und
Kolonialsystems. Es war der Versuch der Bourgeoisie, sich auf den totalen Krieg
vorzubereiten, um diese Kontinuität der imperialistischen Ausplünderung ganzer
Völker beizubehalten oder gar zuzuspitzen. Die Ursprünge des Faschismus liegen also
im Kapitalismus. Die Oktoberrevolution und somit der Marxismus-Leninismus waren
für die Gleichheit der Völker und setzen der ökonomischen und politischen Unterdrü-
ckung ein Ende, bzw. boten den unterdrückten Klassen und Völker eine mächtige
Waffe.

239
LENIN: Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, Band 26, S. 425
240
LENIN: Zündstoff in der Weltpolitik, Band 15, S. 178
241
Vgl. LOSURDO (2016), S. 32 - 47

116
Zur Geschichte der Sowjetunion

Hierbei handelt es sich um etwas, das die Bourgeoisie und ihre Apologeten immer
noch nicht verzeihen können. Also starteten sie ihren Gegenangriff mit der Lüge der
Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus.
Wenn übrigens das Schwarzbuch den angeblichen Klassengenozid der Kommunisten
verurteilt, da politische Gruppen (z. B. Kulaken) angeblich ausgerottet wurden, müss-
ten dann die Schwarzbuch-Autoren nicht auch den Mord an über 1.000.000 Kommu-
nisten in Indonesien 1965-1966 durch Suhartos Militär-Diktatur (welcher übrigens
vom CIA unterstützt wurde) missbilligen? 242 Kann man von einem Genozid sprechen,
wenn in Russland nach der Konterrevolution, also mit dem Ende des Kommunismus,
die Lebenserwartung rapide gesunken ist, vor allem bei Armen, Kindern und Alten,
die aus ihrer sozialen Misere nicht entkommen können?
Losurdo (2015) erklärt: "Die ältere und arme Einzelperson kann versuchen aus ihrer
Misere zu flüchten (z. B. durch Betteln oder Diebstahl), der einzelne Soldat kann
hoffen, dass ihn seine Fähigkeit das Überleben sichert bis der Frieden erreicht ist, der
einzelne Kulak oder der einzelne Kommunist kann das Gleiche, wenn es die Zeit
erlaubt, die eigenen politischen Positionen abzuwerfen, die er zuvor übernommen
hatte. Mitglieder ethnischer Gruppen, deren Vernichtung beschlossen wurde, können
ihre eigene Identität nicht durch ihr Handeln ändern. Und das definiert einen Geno-
zid."243
Folgerichtig kann der Mord an den Kommunisten in Indonesien nicht als Genozid
angesehen werden, genauso wie die soziale Misere der Senioren im kapitalistischen
Russland. Das macht diese Verbrechen des Kapitalismus für die bourgeoise Ge-
schichtsschreibung natürlich „entschuldbar“, vor allem, weil sie von der Bourgeoise
und ihren Ideologen begangen, unterstützt und verschwiegen wurden. Für die
Schwarzbuch-Autoren liegen die Dinge klar auf der Hand: Nur die Nazis führten
einen Rassengenozid an und die Kommunisten verübten den Klassengenozid. Dabei
kamen die Kommunisten den Nazis nur zuvor und letztere sahen bei den Kommunis-
ten die Vorbilder des Völkermordes.
Das erweist sich als historische Lüge und folgerichtig kann das "Schwarzbuch des
Kommunismus" nicht ansatzweise als seriöse Geschichtswissenschaft betrachtet wer-
den.

242
MOTTAS, N. (2017) http://www.idcommunism.com/2017/09/the-forgotten-holocaust-1965-
66.html?m=1
243
LOSURDO (2015), S. 309

117
Zur Geschichte der Sowjetunion

2.2.2. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 2:


Nolte & Baberowski
Trotz der Unwissenschaftlichkeit der Totalitarismus-Doktrin wird sie regelmäßig aus
der Mottenkiste geholt. In der BRD spielte in den 1980ern, also vor der Veröffentli-
chung des Schwarzbuches des Kommunismus, der sogenannte Historikerstreit, her-
vorgerufen durch Ernst Nolte, eine ausschlaggebende Rolle. Der Historiker Ernst
Nolte veröffentliche 1986 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) den Arti-
kel "Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht
gehalten werden konnte".244 Dort forderte er, dass man den Bezug zur deutsche Ge-
schichte normalisieren müsse, da auch andere Nationen Kriegsverbrechen begangen
hättn, aber man dennoch nur von der "Schuld der Deutschen" rede; es sei eine Ver-
gangenheit, die nicht vergehen will. Damit solch eine Normalisierung der deutschen
Geschichte stattfinden kann, musste der Holocaust relativiert werden. Diese Relativie-
rung erfolgte dadurch, indem die industrielle Vernichtung der Juden als verständliche
Reaktion auf die Gewalt des Bolschewismus dargestellt wird. Nolte schrieb diesbe-
züglich:
"War nicht der 'Archipel GULag' ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der 'Klas-
senmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der
Nationalsozialisten?"245
Noltes Positionen stießen selbst bei bürgerlichen Historikern auf Ablehnung und
waren als "rechte Propaganda" diskreditiert.246 Losurdo (2015) weist übrigens nach,
dass Nolte zu Beginn seiner Karriere den Faschismus nicht mit dem Kommunismus
gleichsetzte, sondern seine Ursprünge im Sozialdarwinismus sah. 247 Es gibt jedoch
einen deutschen Historiker, der Noltes Thesen verteidigte. Es handelt sich hierbei um
Jörg Baberowski, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. In einem Artikel
von Dirk Kurbjuweit in der Zeitschrift "Der Spiegel" ist folgende Verteidigung Noltes
von Baberowski zu lesen: "'Nolte wurde Unrecht getan', sagt Baberowski. 'Er hatte
historisch Recht.' Singularität? Baberowski erforschte in den russischen Archiven,
wie grausam Stalin und seine Schergen waren. Sogenannte Konzlager gab es in Russ-
land schon 1918. Nahe Moskau zum Beispiel haben vier Leute in einem Jahr 20000
Menschen erschossen. Baberowski: 'Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tö-
tung.' Kausaler Nexus? 'Hitler war natürlich nicht unbeeinflusst von dem, was er vom

244
NOLTE, E. (1986) https://www.staff.uni-
giessen.de/~g31130/PDF/Nationalismus/ErnstNolte.pdf
245
NOLTE (1986), S. 3
246
Vgl. MOMMSEN, H. (1988)
247
LOSURDO (2015), S. 174 - 179

118
Zur Geschichte der Sowjetunion

russischen Bürgerkrieg und vom Stalinismus wusste.' Er sitzt im Café Einstein und
sagt: 'Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an sei-
nem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird. Stalin dagegen hat die Todeslisten
voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath." 248
Es lohnt an dieser Stelle eine kurze Auseinandersetzung mit den Arbeiten
Baberowskis. Dabei sollen nicht die einzelnen Lügen über Stalin widerlegt werden -
diese sind nicht großartig neu. 249 Von besonderem Interesse ist eher Baberowskis
theoretisches Konstrukt und die vertretene Ideologie, die viel mehr über ihn und seine
"Professionalität" als Historiker preisgibt als sein Hass auf Stalin.250 Baberowski
vertritt einen subjektiv-idealistischen und irrationalen Zugang zur Geschichte. So
schreibt er: "Denn es gibt keine Wirklichkeit jenseits des Bewusstseins, das sie pro-
duziert (…) Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, man könne durch die Re-
konstruktion der in den Dokumenten vermittelten Ereignisse erfahren, wie die russi-
sche Revolution wirklich gewesen ist."251 "Aber die Existenz von Sachverhalten ist an
Beobachtungen gebunden und sie erweist sich als wahr, wenn andere bestätigen, was
man selbst beobachtet hat. Wahrheiten beruhen auf Vereinbarungen zwischen Men-
schen (...) Was 'objektives Wissen' genannt wird, ist bei Lichte besehen nichts weiter
als ein intersubjektives Wissen, das auf Hypothesen beruht. Wahrheit ist, was ich und
andere für wahr halten und einander als Wahrheit bestätigen." 252 "Man könne das
Geschehen der Gegenwart nur historisch erklären. Diesen Satz halten nicht nur Histo-
riker für wahr. Er ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber das Geschehen in
der Vergangenheit ist nicht die Quelle für das Handeln der Nachkommen. Wir wissen
nicht einmal, ob und wie sich ein Ereignis zugetragen hat. Denn das Leben ist keine
Aneinanderreihung von Ereignissen, die kausal miteinander verknüpft sind. Es setzt
sich aus Augenblicken zusammen."253 "Die Wissenschaft kann nichts anderes leisten,
als dem Dargestellten Plausibilität und innere Konsistenz zu verleihen. Die Wissen-
schaftlichkeit der Geschichte besteht darin, dass sie die Prämissen erfüllt, die sie sich

248
KURBJUWEIT, D. (2014), S. 115, 116
http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/124956878
249
Einige Lügen Baberowskis werden von FURR (OHNE JAHR) behandelt
https://msuweb.montclair.edu/~furrg/research/furr-baberowski10.html
250
Eine "linke" Kritik an Baberowski findet sich in SCHWARZ, P. (HRSG. 2015). Die Autoren
sind trotzkistisch, weswegen ihre Kritik zu kurz greift. Einige ihrer Argumente - besonders in
Bezug zum Irrationalismus - sind jedoch schlüssig. Einige der Argumente fanden Eingang in
diese Abhandlung. Einige Baberowski-Zitate sind dieser Arbeit entnommen worden, jedoch mit
den Original-Zitaten verglichen und überprüft worden.
251
BABEROWSKI, J. (2013), S. 22.
252
BABEROWSKI (2013), S. 28
253
BABEROWSKI, J. (2014), S. 47.

119
Zur Geschichte der Sowjetunion

selbst gesetzt hat (…)"254 "Wir sehen jetzt ein, dass es nicht unsere Aufgabe ist, vom
Überlieferten Abstand zu nehmen. Wir haben nicht einmal eine Wahl, denn wir ste-
hen selbst in Überlieferungen. Diese Überlieferung ist nicht objektivierbar, sie ist
nicht etwas, das als Fremdes vergegenständlicht wird."255
Diese Positionen sind reinster Idealismus. Geschichte kann nach Baberowski nicht
objektiv gefasst werden, da eine objektive Wirklichkeit nicht existiere, sondern erst
durch unser Bewusstsein kreiert wird. Wahrheit sei subjektiv, Geschichte sei nicht
durch Dokumente objektiv fassbar und kausal ist Geschichte ohnehin nicht. Die Auf-
gabe der Geschichtswissenschaft sei nicht dazu da, Sachverhalte durch eine kritische
Analyse aufzuklären. Ihre einzig pragmatische Aufgabe bestehe nur darin, das bereits
Beschriebene plausibel erscheinen zu lassen. Was genau plausibel erscheinen soll ist
für Baberowski irrelevant; so kann auch die größte Geschichtslüge plausibel sein,
sofern sie für den Geschichtsschreiber plausibel erscheint! Es gibt also laut
Baberowski keine objektive Erkenntnis in der Geschichtswissenschaft.
Dieser Irrationalismus ist in der bürgerlichen Ideologie leider keine Seltenheit. Er
drückt sich nicht nur in der Religion, Esoterik oder Astrologie aus (also dem Glauben
an ein "höheres Wesen", welches die für Menschen nicht erkennbare Welt steuert),
sondern findet seinen Einzug auch in der Wissenschaft: "Der Irrationalismus ist keine
neue Erscheinung in der Geistesgeschichte der Menschheit. Stets war er ideologische
Waffe der reaktionären Kräfte der Gesellschaft. Heute ist er die reaktionäre Antwort
der Macht- und Meinungselite auf die Verschärfung der ökonomischen und gesamt-
gesellschaftlichen Krise des Imperialismus. Mit ihm soll die bereits stark verstümmel-
te, aber noch vorhandene bürgerlich-demokratische Rechtsordnung in der BRD unter-
laufen und (…) die 'natürliche Lebensordnung' eingeführt werden. (…) Er verbreitet
sich als weltanschauliche Methode, die durch die Konzipierung irrationalistischer (…)
Methoden charakterisiert ist. (…) Charakteristisch ist ihre Unkontrollierbarkeit, der
Anspruch, eine jenseits von Wissenschaft liegende, die gewöhnliche Empirie und den
Verstand 'übersteigende 'höhere Erkenntnis' zu vermitteln. Der Irrationalismus tritt in
religiöser wie auch irreligiöser Form auf, stellt der Vernunft den Willen, dem Ver-
stand den Instinkt und dem Bewusstsein das Unbewusste entgegen." 256
Zwar werden einige Messungen, Zahlen und Daten zu Rate gezogen, diese aber wis-
senschaftlich verstümmelt. Denn die Kernthese ist ja, dass eine wissenschaftliche
Anschauung nicht möglich ist, da man keine bzw. sehr begrenzte objektiven theoreti-
schen Aussagen, Theorien und Konzepte zugestehen kann. Ob man diese oder jene

254
BABEROWSKI (2013), S. 29–30.
255
BABEROWSKI (2013), S. 115
256
FROMM, E. & WRONA, V. (1978), S. 190 - 191

120
Zur Geschichte der Sowjetunion

Erklärungen für die Daten und Fakten zu Rate zieht, sei entweder privat oder subjek-
tiv. Eine wissenschaftliche Erklärung der Phänomene wird also explizit ausgeschlos-
sen. Wir haben also eine Methodik, die auf begründbare und nachprüfbare Argumen-
tation verzichtet und nicht nach Ursachen und Zusammenhängen fragt. Tatsächlich
wird schon solch eine Methodik als "totalitär" eingestuft, da sie einen Wahrheitsan-
spruch geltend mache. Wir haben es also hier mit einer anti-aufklärerischen Ideologie
zu tun, in der Wissenschaft als "Erzählung", "Mythos", oder "gesellschaftliche Kon-
struktion unter vielen" betrachtet.257
Vergleichen wir diese reaktionäre, wissenschaftsfeindliche Haltung Baberowskis mit
den Naturwissenschaften. Hier eignet sich die Evolutionsbiologie als historische Na-
turwissenschaft als passender Vergleich. Würden wir Baberowskis Thesen auf die
Evolutionsbiologie übertragen, so müssten wir feststellen (bzw. daran glauben), dass
Evolution nicht objektiv fassbar sei. Es könnten sich keine kausalen Zusammenhänge
finden, sie könnten auch nicht objektiv gefasst werden. Fossilien, DNA-Vergleiche,
Morphologie und Embryologie könnten nicht als Dokumente der Evolution gelten, da
sie in dieser „Logik“ keine kausalen Zusammenhänge darstellen etc. Kurz gesagt
wäre die Evolutionsbiologie nichts weiter als eine Tradition der Gedanken einiger
Wissenschaftler. Der unwissenschaftliche Kreationismus hingegen stelle eine andere
Tradition von Prämissen dar, die sich die Kreationisten selbst erfüllten. Wenn also
Kreationisten sagen, es gäbe keine Evolution, sei ihre Prämisse damit genauso eine
Wahrheit, die gleichberechtigt neben der Evolutionsbiologe stünde!
Nicht anders sieht es in der Geschichtswissenschaft aus. Auch hier kommt es darauf
an, Quellen zu studieren, zu vergleichen und kritisch zu überprüfen. Dieser Vergleich
zeigt hoffentlich, wie irrsinnig Baberowskis Methodik ist.
Aber hier kann man zweifelsfrei erkennen, dass die Totalitarismus-Doktrin ein Zweig
des Irrationalismus ist.
Es bleibt die berechtigte Frage offen, wenn Geschichte nicht durch Dokumente objek-
tiv fassbar, es keine kausalen Zusammenhänge und eh alles irrational ist, wie
Baberowski dann sein Dasein als Historiker rechtfertigt? Wenn Geschichte nicht
fassbar und irrational ist, welchen Zweck erfüllt dann das Geschriebene von
Baberowski? Nun ist Baberowski weniger Wissenschaftler, sondern vielmehr ein
Ideologe und seine Ideen Ausdruck der Interessen der herrschenden Klasse. Denn
wenn Geschichte nicht objektiv fassbar ist, so ist die Zukunft auch nicht veränderbar.
Der Status quo soll erhalten bleiben. Baberowskis Hauptmotiv der Geschichte ist die
Gewalt, die ein Grundbedürfnis des Menschen sei, für die es keinen Anlass und keine

257
Zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus: KOPP, H. & SEPPMANN, W.
(2002, HRSG.) sowie SOKAL, A. & BRICMONT, J. (1998)

121
Zur Geschichte der Sowjetunion

Bedingung geben muss. Gewalt sei ursachenlos. Sie ist laut Baberowski einfach nur
da und drückt sich in der Tradition der einzelnen Völker und/oder Personengruppen
aus. Menschen werden bei Baberowski also auf Sadisten und Psychopaten reduziert.
Baberowski fasst sein Weltbild in "Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt" zusam-
men: "Was immer Gewalt auch sein mag, stets wird sie als Abweichung, als Irrweg,
Abweg oder Krankheit vorgestellt, die eines Tages geheilt sein wird. Wenn Krankhei-
ten erst einmal diagnostiziert sind, so lautet das Argument der Therapeuten, können
sie auch geheilt werden: durch Zivilisierung, durch Toleranz oder soziale Gerechtig-
keit. Alle Erklärungen, die Kultur- und Sozialwissenschaftler für den Ausbruch von
Gewalt vorgetragen haben, waren immer nur Variationen dieses einen Motivs, dessen
Wirkungen sich aus dem Glauben der Machbarkeit der Verhältnisse erklären. Viel-
leicht ist der Glaube an das Ende der Gewalt die letzte Utopie, an der man sich noch
festklammern mag."258
In einem anderen Text schreibt Baberowski: "[Wer sich] den Vernichtungskrieg als
Perversion der menschlichen Natur vorstellt, hat von der Gewalt nichts verstan-
den."259
Seine Thesen kann Baberowski weder biologisch, psychologisch noch soziologisch
begründen. Dies muss er aber auch nicht, da Geschichte (stellvertretend für alle ande-
ren Wissenschaften) ihm zufolge nicht kausal fassbar sei, sondern irrational. Da er
wohl offensichtlich Gewalt als etwas Irrationales sieht, ist die Gewalt die einzig gän-
gige Prämisse, die Baberwoski plausibel erscheint.
Auch hier zeigt sich ein Charakteristikum des Irrationalismus: Es fällt den Ideologen
des Imperialismus immer schwerer, eine Vernünftigkeit der imperialistischen Ord-
nung zu begründen. Also flüchten sie in das "Natürliche", "Biologische" oder "Über-
natürliche", das keiner weiteren Begründung bedarf. Solch eine Herangehensweise
ermöglicht es, die gesellschaftliche Wirklichkeit unabhängig von den sozialökonomi-
schen Verhältnissen zu vernebeln.260
Wenn jedoch Geschichte nach Baberowski nicht kausal und objektiv fassbar ist, so
trifft das auf die Geschichte der Gewalt ebenso zu. Das heißt kurzum: Baberowski
versucht die irrationale Geschichte mit der irrationalen Gewalt, die dem Menschen
einfach so eigen sei, zu fassen. Dass aus sowas nichts wissenschaftlich Verwertbares
(also etwas Logisches, Rationales, Begründetes, argumentativ Belegtes) herauskom-
men kann, versteht sich von selbst. Er liefert somit eine willkürlich konstruierte Ge-
schichte, in der Literatur auch als Märchen bekannt.

258
BABEROWSKI, J. (2012), S. 12–13.
259
BABEROWSKI, J. (2007), S. 309.
260
VGL. FROMM & WRONA (1978), S. 191

122
Zur Geschichte der Sowjetunion

Dies zeigt sich am Beispiel von Baberowskis Werk "Verbrannte Erde". Dieses Buch
ist eine Revision seines 2003 erschienenen Buchs "Der Rote Terror", welches klas-
sisch antikommunistische Thesen vertritt. 261 In "Der Rote Terror" behauptet
Baberowski, die Gewalt und der "Rote Terror" seien eine Folge der Kultur der Ge-
walt, welche im Kaukasus vorherrschte. Da Stalin in dieser Region aufgewachsen ist,
transferierte er diese "Gewaltkultur" in die Staatsmacht. Baberowski setzte aber in
diesem Buch noch einen Trennstrich zwischen dieser barbarischen Kultur Stalins und
der eher "zivilisierten" und "europäisch geprägten" Kultur, welche andere bolschewis-
tischen Führer hatten (Lenin, Trotzki, Bucharin und andere). Doch ganz anders in
seinem neuen Buch "Verbrannte Erde". Hier gibt es keine Diskussion über Kultur, es
ist ein Buch exzessiver Gewaltfantasien. Die zentrale These des Werkes, verfasst in
einer ziemlich vulgären hasserfüllten Sprache, lautet, dass die Oktoberrevolution der
Ausgangspunkt der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sei, in dem sich
Psychopathen wie Stalin voll ausleben konnten. Über das gesamte Buch wird eine
detaillierte Gewaltdarstellung an die nächste gereiht. Der historische Kontext wird
dabei völlig außer Acht gelassen oder verfälscht, um Baberowskis absurde Gewaltfan-
tasien aufrecht zu erhalten. Folgende Textpassagen sollen einen repräsentativen Ein-
druck dieses Buches verschaffen:
"[Verbrannte Erde ist] keine Geschichte der Sowjetunion, sondern eine Geschichte
des Stalinismus [und widme sich] den gewalttätigen Exzessen des Stalinismus und der
Kultur, die sie ermöglichte."262 "Die Revolution des Jahres 1917 war eine Revolte
verbitterter und vom Krieg verrohter Menschen, die mit der alten Ordnung auch den
Geist der europäischen Zivilisation buchstäblich aus dem Land trieb".263 "Sie gewan-
nen nicht, weil sie über das attraktivere politische Programm geboten, sondern weil
sie ihren Widersachern als Gewalttäter überlegen waren und weil sich die hungernde
und abgestumpfte Bevölkerung dem Wahnsinn apathisch hingab." 264 Die Unterstützer
der Bolschewiki seien "arme Bauern, Kriminelle und Versager" 265, hungernde, um-
herziehende Bauern werden mit "Wolfsrudeln" verglichen266, "der Mensch wurde des
Menschen Feind"267 und die Sowjetunion sei "öde" und gleiche einem "industrialisier-
ten Neandertal".268 Baberowski versucht die Bolschewiki zu pathologisieren: "Der
rote Terror verband Obsessionen und Wahnvorstellungen mit der Lust an der Gewalt.

261
BABEROWSKI, J. (2003)
262
BABEROWSKI, J. (2012A), S. 15
263
BABEROWSKI (2012A), S. 49
264
BABEROWSKI (2012A), S. 58
265
BABEROWSKI (2012A), S. 178
266
BABEROWSKI (2012A), S. 82
267
BABEROWSKI (2012A), S. 306
268
BABEROWSKI (2012A), S. 21

123
Zur Geschichte der Sowjetunion

In der Person des Tschekisten brachten sie sich zur Synthese. Verrohte Matrosen und
Soldaten, die in ihrem Hass auf Brillenträger, Gebildete, Liberale und Wohlgenährte
alle Maßstäbe verloren, die sich die Welt nur als immerwährendes Spektakel der
Gewalt vorstellen konnten, Kriminelle, Hooligans und psychisch Kranke – aus diesem
Kreis rekrutierten die Tscheka und ihre Hilfstruppen ihren Nachwuchs." 269
Die Bolschewiki hätten also keinerlei politisches Programm und keinerlei Zugang zu
den Massen gehabt, sondern seien gewalttätige Psychopathen gewesen. Es ist daher
verwunderlich, warum sich bolschewistische Führer wie Lenin dann die Mühe mach-
ten, so viele politische, wissenschaftliche und philosophische Schriften zu verfassen.
Hätte Lenin doch diese Zeit lieber damit verwendet, seine Gewaltfantasien auszule-
ben, statt mit Schriften wie "Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus"
und "Materialismus und Empiriokritizismus" diese zu unterdrücken. Doch für
Baberowski musste Lenin ein Psychopath sein, denn dieser war ein "bösartiger
Schreibtischtäter, dem menschliche Tragödien, Leid und Elend nichts bedeuteten." 270
Für ihn "waren Kriege Abstraktionen, Menschen Nummern im großen Spiel der Ge-
walt, das ihm und seinesgleichen half, an die Macht zu gelangen."271 Daher also
Lenins große Schreibtischmühe!
Ulrich Schmid (2012), der an Baberowskis Werk Kritik übt, muss eingestehen, dass
die Bolschewiki durchaus ein Programm hatten: "Der Bolschewismus hat immer auf
der eigenen Wissenschaftlichkeit insistiert und seinen absoluten Wahrheitsanspruch
mit ökonomischen Theorien begründet. Deshalb lässt sich der Sowjetkommunismus
viel weniger überzeugend als etwa die Faschismen des 20. Jahrhunderts als pseudore-
ligiöses Glaubenssystem beschreiben. Demgegenüber haben sowohl Mussolini als
auch Hitler kaum je eine kohärente Ideologie ausgearbeitet und ihre Parteien eher als
'Bewegungen' verstanden – dadurch konnte einer Sakralisierung der Politik einfacher
Vorschub geleistet werden."272
Den Ersten Weltkrieg haben sich die Bolschewiki laut Baberowski sogar herbeige-
wünscht: "Die Bolschewiki brauchten nicht nur den Krieg, weil er ihnen entsprach.
Sie brauchten auch die Niederlage, damit der große Umsturz, den sie sich vorgenom-
men hatten, gelingen konnte."273 Über den Bürgerkrieg schreibt Baberowski: "Hätte
es ihn nicht gegeben, hätten sie ihn erklären müssen, um zu tun, wonach ihnen der
Sinn stand."274 Terror und Leid habe dem Wunschbild der Bolschewiken entsprochen:

269
BABEROWSKI (2012A), S. 68
270
BABEROWSKI (2012A), S. 66
271
BABEROWSKI (2012A), S. 44
272
SCHMID, U. (2012), S. 89 - 94, S. 90
273
BABEROWSKI (2012A), S. 44
274
BABEROWSKI (2012A), S. 58

124
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Der Feind lebte nur in den Köpfen der Kommunisten. Daraus bezog der bolschewis-
tische Terror seine Maßlosigkeit und Monstrosität." 275 "Der rote Terror verband Ob-
session und Wahnvorstellungen mit der Lust an der Gewalt." 276
Goebbels hätte es nicht besser machen können, um die Furcht vor den jüdisch-
bolschewistischen Weltverschwörern zu verbreiten! Natürlich befasst sich
Baberowski hauptsächlich mit Stalin, dessen psychologisches Profil er erstellt: "Nur
in einer Situation totaler Willkür und Unsicherheit konnte es Stalin gelingen, seine
Allmachtsphantasien und Gewaltgelüste Wirklichkeit werden zu lassen. Der bolsche-
wistische Feldzug gegen das alte Russland öffnete die Schleusen, aus denen sich die
Gewalt ungebremst ergießen konnte." 277
Der "Terror" der Bolschewiken hätte keine Ursachen gehabt, sondern entsprach ihren
Gewaltfantasien. Hier drückt sich nachg Baberowskis These von der Sinnlosigkeit der
Gewalt Gewalt um der Gewalt willen aus. Bolschewiken waren einfach Monster. Zur
Rechtfertigung dachten sie sich irgendwelche Feinde aus, die nie existierten. Also war
z. B. die Gefahr eines faschistischen Angriffs durch Hitler-Deutschland nicht real,
sondern wahrscheinlich tatsächlich von den blutrünstigen Bolschewiki gewollt: "Der
Terror vollzog sich in Wellenbewegungen, er nahm an Intensität zu, wenn Stalin
entschieden hatte, die Gewalt sprechen zu lassen, und er verlor an Intensität, wenn er
ihrer überdrüssig geworden war. Die Gewalt wurde weder vom System noch von
sozialen Konflikten erzeugt."278 "Gewaltexzesse folgen in ihrem Vollzug allein der
Dynamik, die sich aus ihnen selbst ergibt."279 "Für die bolschewistischen Führer war
die Gewalt nicht nur ein Mittel zum Zweck. Der Gewalt- und Tötungskult war ein
Teil des bolschewistischen Weltbildes, das den Gewalttäter als neuen Menschen aus-
wies (...) Deshalb musste der neue Mensch seinen Körper disziplinieren und ihn in
eine standardisierte, willenlose Maschine verwandeln, die nur noch dem Kollektiv
gehörte."280
Seine Konzeption des Stalinismus verbietet es ihm jedoch, eine Kontinuität zwischen
dem "Terror" Lenins und Stalins herzustellen. Entsprechend berichtet er über die Zeit,
bevor Stalin "Alleinherrscher" wurde von einem "Stalinismus vor dem Stalinis-
mus".281 Ob der Terror der zaristischen Herrschaft oder der Terror der "Weißen" im
Bürgerkrieg ein Stalinismus vor dem Stalinismus vor dem Stalinismus war, bleibt

275
BABEROWSKI (2012A), S. 63
276
BABEROWSKI (2012A), S. 68
277
BABEROWSKI (2012A), S. 131
278
BABEROWSKI (2012A), S. 217
279
BABEROWSKI (2012A), S. 219
280
BABEROWSKI (2012A), S. 136 - 138
281
BABEROWSKI (2012A), S. 61

125
Zur Geschichte der Sowjetunion

Baberowskis Geheimnis. Aber hier zeigt sich schon, dass an Baberowskis Darstellun-
gen etwas faul sein muss.
Stalin war dabei die alles entscheidende Zentralfigur: Dieser sei "ein bösartiger und
mitleidloser Gewalttäter",282 ein "Gewalttäter aus Leidenschaft"283 gewesen, der
"nicht im Frieden leben"284 konnte. Seine Gewalt habe aus Lust am Töten und ohne
tiefere Rationalität erfolgt,285 er war ein "Despot, der tötete, weil es ihm gefiel":286
"Wir müssen uns Stalin als einen glücklichen Menschen vorstellen, der sich an den
Seelenqualen seiner Opfer erfreute."287 Stalin sei ein "Psychopath" gewesen, "der die
Gewalt wie die Luft zum Atmen brauchte." 288
Um seine Gewaltfantasien Wirklichkeit werden zu lassen, rief Stalin den permanenten
Ausnahmezustand aus: "Erst im Ausnahmezustand konnte ein Psychopath wie Stalin
seiner Bösartigkeit und kriminellen Energie freien Lauf lassen." 289 Stalinismus er-
scheint daher als eine "Ordnung dauerhafter Gewalt",290 gekennzeichnet durch die
"Allgegenwart des Terrors".291 "[Nichts] deutet darauf hin, daß Stalin ein Täter war,
der ideologischen Zwängen gehorchte, als er befahl, Menschen zu foltern und zu
töten. Stalin war vielmehr ein Mörder, dem es Freude bereitete, zu zerstören und zu
verletzen, und der das ideologische Argumentationsgerüst, das ihm die kanonischen
Texte zur Verfügung stellten, dafür verwendete, seine Untaten öffentlich zu rechtfer-
tigen. Im inneren Kreis der Macht sprach er hingegen von Repressionstechniken." 292
Folglich waren Industrialisierung des Landes, die Kulturrevolution, die Bildungsof-
fensive, der Kampf gegen Analphabetentum, Entwicklung von Medizin, Kultur,
Technik und Wissenschaft sowie auch die Befreiung der Frau und der im Zarismus
unterdrückten Minderheiten von Stalin erfundene Ausnahmezustände, damit es nicht
mit dem Land und den Menschen aufwärts ging, sondern nur um Stalins Blutdurst zu
stillen. Logischerweise ist auch der Kampf gegen den Faschismus als solcher zu se-
hen: "Im Krieg waren Stalin und seine Gefolgsleute ganz bei sich, nichts hätte dem

282
BABEROWSKI (2012A), S. 188
283
BABEROWSKI (2012A), S. 124
284
BABEROWSKI (2012A), S. 238
285
BABEROWSKI (2012A), S. 218
286
BABEROWSKI (2012A), S. 392
287
BABEROWSKI (2012A), S. 249
288
BABEROWSKI (2012A), S. 476
289
BABEROWSKI (2012A), S. 10
290
BABEROWSKI (2012A), S. 15
291
BABEROWSKI (2012A), S. 16
292
BABEROWSKI (2012A), S. 315

126
Zur Geschichte der Sowjetunion

Diktator mehr gefallen, als Kriege zu führen, die er auch gewinnen konnte." 293 Diese
Gewaltbereitschaft Stalins führt Baberowski - in schon fast rassistischer Manier - auf
Stalins georgische Herkunft zurück: "Blutrachefehden, gewalttätige Auseinanderset-
zungen zwischen Bauerndörfern und Überfälle von Räubern gehörten zum Alltag des
jungen Stalin. In einer solchen Umgebung konnte nur bestehen, wer mit Gewalt dro-
hen und sich im Ernstfall auch mit Gewalt gegen Widersacher durchsetzen konnte.
(…) In Stalins georgischer Heimat hatten Freundschaft und Ehre einen anderen Klang
als im russischen Zentrum des Imperiums." 294
Tatsächlich ist es eigentlich nur Stalin und seine angeblichen psychopathischen Ge-
lüste, die bei Baberowski ein Interesse erwecken. Hatte sein früheres Buch "Der Rote
Terror" noch hier und da etwas für Kultur- und Ideologiegeschichte übrig, womit der
"Rote Terror" erklärt werden sollte, reduziert Baberowski in Verbrannte Erde alles auf
den Geisteszustand Stalins, welchen der Hobby-Psychologe Baberowski attestiert.
Diesen Aspekt muss auch Hiroaki Kuromiya (2014) in seiner Rezession über
Baberowski kritisieren, auch wenn Kuromiya versucht aus diesem Propagandawerk
etwas Positives abzugewinnen.295
Tatsächlich erscheint es so, dass Baberowskis sich regelmäßig in seinen Thesen wi-
derspricht. Wahrscheinlich ist er sich unterbewusst sicher, dass ganz ohne histori-
schen Hintergrund auch er seine Hirngespinste nicht überzeugend darstellen kann.
Also muss er teilweise doch über die Tradition der Gewalt im zaristischen und revolu-
tionären Russland berichten. So schildert er z. B. über die "Trunksucht, Habgier und
Gewalt" im russischen Dorf. 296 Außerdem seien die Bolschewiki im Dorf, wo sie
angeblich keine Macht hatten, "Gefangene", die "nicht Meister ihrer Umstände" wa-
ren, "die nur auf Zwänge antworteten".297 Andererseits reduziert er die "Gewaltor-
gien" Stalins und seiner "Mafia" auf die Erfahrungen der "Stalinisten" bei den "kau-
kasischen Räuberbanden".298
Diese "kaukasischen Räuberbanden" lebten dann ihre Gewaltorgien in den 1930ern
aus; das ist - höflich formuliert - nichts weiter als Übertreibung. Der historische Zu-
sammenhang wird keinesfalls deutlich, was aber vom Irrationalisten Baberowski, der
behauptet man könne Geschichte ohnehin nicht rational begreifen, auch nicht gewollt
ist. Daher erfindet er seine Märchen vom bösen Wolf in der Verkleidung Stalins.

293
BABEROWSKI (2012A), S. 396
294
BABEROWSKI (2012A), S. 364
295
KUROMIYA, M. (2014), S. 670-75.
296
BABEROWSKI (2012A), S. 38
297
BABEROWSKI (2012A), S. 91
298
BABEROWSKI (2012A), S. 362 F.

127
Zur Geschichte der Sowjetunion

Erklärte Baberowski in seinem "Roten Terror", dass Stalin den Berichten Jeschows
über die Verschwörungen im Lande Glauben schenkte 299, so verfängt sich
Baberowski in "Verbrannte Erde" in der Frage, ob Stalin Jeschow nun glaubte oder
nicht. Die Schilderungen Baberowskis lassen die Vermutung zu, dass Baberowski
davon ausgeht, dass Stalin Jeschow nicht glaubte. 300 Wie es zu Baberowskis Sinnes-
wandel kam, erfährt der Leser nicht, da überzeugende Argumente fehlen.
Marc Junge, Historiker aus Bochum, muss kritisch anmerken, dass Baberowski Sta-
lins Rolle bei den Säuberungen "überbetont". Einige "Opferkreise", z. B. Vertreter
ehemaliger Parteien oder Religionsgemeinschaften, seien auf Druck der lokalen Par-
tei- und NKWD-Führer erweitert worden.301 Außerdem interessierte sich Stalin im
wesentlichen für die "Verfolgung der Eliten".302 Zweifelsohne verurteilt Junge den
Stalinismus und den "Großen Terror", da "unumstritten der Terror überall wütete" 303-
ein Punkt, dem wir widersprechen - jedoch muss auch Junge zugeben, dass
Baberowskis Materialen nicht überzeugen, vor allem, "dass Stalin schon immer einen
Massenmord geplant hat" sei nicht begründbar und die "Kriegsgefahr" werde von
Baberowski ebenso nicht mit einbezogen.304 Fraglich sieht Junge auch Baberowskis
Quellenmaterial über die Rolle der Tätet. Baberowskis Quellen sind "lediglich die
Memoiren des ehemaligen Polizeichefs von Iwanowo (…) aus den 1960er Jahren." 305
Hier soll keine Analyse des "Großen Terrors" stattfinden, wir verweisen hierzu auf
die Arbeit von Thanasis Spanidis (2018a): Die sogenannten "Stalinistischen Säube-
rungen".306
Es bleibt die Frage offen, warum sich die Menschheit sich nicht schon längst selbst
ausgerottet hätte, wenn Menschen so gewaltbereite Psychopathen sind? Die Lösung
ist für Baberowski ganz einfach. Wir haben nämlich unseren schönen Staat erfunden,
der die Menschen davon abhält, sich gegenseitig zu lynchen. Wir leben nämlich in
einer "Rechtsordnung (…), in der die Verschiedenen als Gleiche behandelt werden,
und die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Einklang gebracht wird".
Der Staat sei eine "zivilisatorische Errungenschaft", die "uns voreinander schützt". 307

299
BABERWOSKI (2003), S. 164 Fußnote 5
300
BABEROWSKI (2012A), S. 240, 243, 248, 259, 302
301
JUNGE, M. (2012), S. 137 - 140, S. 138
302
JUNGE (2012), S. 139
303
JUNGE (2012), S. 137
304
JUNGE (2012), S. 138
305
JUNGE (2012), S. 139
306
SPANIDIS, T. (2018A): https://kommunistische.org/diskussion/die-sogenannten-stalinschen-
saeuberungen/
307
BABEROWSKI (2012A), S. 12

128
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Wir wollen, daß die Gewalt aufhört, unser Leben zu bestimmen. Deshalb behelfen
wir uns mit Rationalisierungsstrategien, die Gewaltexzesse mit Ideen und Motiven
verbinden. Sie helfen über die traurige Wahrheit hinweg, daß Gewaltexzesse in ihrem
Vollzug allein der Dynamik folgen, die sich aus ihnen selbst ergibt."308
Wir haben uns mit der Rolle des Staates an anderer Stelle näher auseinandergesetzt.
Doch nach Baberowskis Thesen bleibt die Frage offen, wie in grauer Vorzeit die
Menschen, die sich doch so gern gegenseitig lynchten, auf die Idee kamen, den Staat
zu kreieren, der das Natürlichste des Menschen (laut Baberowski) - nämlich seine
Gewalt - verbietet bzw. lenkt. Es bleibt auch die Frage offen, warum eine Reihe von
Naturvölkern, die kein Eigentum und keine staatlichen Strukturen haben, nicht so
gewaltbereit sind.309 Noch offener bleibt die Frage, wie die Gewalttaten des Kolonia-
lismus und Imperialismus, die ja von den angeblich "zivilisierten" Staaten ausgingen,
hier einzuordnen sind.
Der sowjetische Staat hingegen habe nach Baberowski nichts mit einem Staat zu tun:
"Die Sowjetunion wurde nicht von Bürokratien und Ämtern, sondern von Personen
und ihren Netzen regiert, die Aufträge ausführten und dafür Privilegien erhielten. In
den Apparaten regierte nicht der Geist der Gesetze, sondern das Regime persönlicher
Treue, das die Patrone und ihre Gefolgsleute zu unbedingter Loyalität verpflichte-
te."310
Interessant ist, dass Kuromiya Baberowski vorwirft, dass der sowjetische Staat eben
nicht schwach war - ohne dass Kuromiya das als Antikommunist etwa positiv
meint.311 Für Baberowski geht es aber nicht um staatliche Strukturen, sondern darum,
dass die Sowjetunion offensichtlich nur von einem Haufen Irrer gelenkt wurde. Da
können wir froh sein, einen Vertreter des Irrationalismus als Professor für Geschichte
zu haben. Offensichtlich hat für Baberowski nur der bürgerliche Staat das Recht, sich
einen Staat zu nennen, sowie nur die weiße Herrenrasse das Recht hat, sich zivilisiert
zu nennen. Der Osteuropa-Historiker Benno Ennker ist ebenfalls nicht wirklich zu-
frieden mit Baberowskis angeblichen "Staatenlosigkeit" der Sowjetunion: "Im Kon-
zept Baberowskis erhält seine 'Erzählung' über die grundlegende These zur 'Zwangssi-
tuation' hinaus ihre geschichtliche Rahmung durch den 'Raum', einmal durch den
'Gewaltraum', das andere Mal durch den 'staatsfernen Raum'. Dann wird auch vom

308
BABEROWSKI (2012A), S. 219
309
Es gibt natürlich eine Reihe von reaktionären Ideologen, die den Mythos der Gewalt und des
Krieges als Natur des Menschen verbreiten, die es auch in der Urgesellschaft gab du immer
währendes Prinzip der Natur sei. Doch dies ist eben nur eins: ein Mythos. Vgl. FRY, D. P.,
HRSG. (2013) sowie SUSSMANN, R. & CLONINGER, R., HRSG. (2011):
310
BABEROWSKI (2012A), S. 121
311
KUROMIYA (2014), S. 675

129
Zur Geschichte der Sowjetunion

'Ermöglichungsraum' gesprochen, den der Erste Weltkrieg für Gewalttäter darstellte.


Der Begriff 'Gewaltraum' wird in dem Buch als positive Wendung der Formel von
den 'staatsfernen Räumen' eingesetzt. Wie es heißt, soll damit darauf hingewiesen
werden, dass die Gewalttaten 'an historischen Orten [stattfanden], die ihre epidemi-
sche Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten' (S. 16). Konkreter wird das nicht. (…)
Man kann schwer sagen, was – nach diesem Buch – die hier gemeinten 'Gewalträume'
mehr bedeuten als ein Wort. (…) Dieser Ausschluss von Ideen, Motiven usw. aus der
Gewaltgeschichte des Stalinismus lässt keine konsistente Geschichtsdarstellung zu.
Deswegen tauchen sie wieder auf, wenn es um die mentalen Langzeitwirkungen des
'kaukasischen Milieus' auf die führenden Terrorakteure bzw. um ihre nationalen Ste-
reotypen geht (S. 342, 364)."312
"Das Verhältnis von Institutionen der Justiz zur Partei, der Übergang zu den 'außerge-
richtlichen Organen' der 'Trojkas' (Staatsanwalt, Parteisekretär und NKVD-Chef) zu
den Kampagnen des Großen Terrors ist in der wissenschaftlichen Literatur immer als
wichtiger Forschungsgegenstand angesehen worden. Es kann auch kein Zweifel be-
stehen, dass selbst die 'Trojkas' als Staats-Exekutiv-Organe zu betrachten sind. (…)
Die Neigung Baberowskis, alle Institutionen des Staates und der Partei aus dem Ak-
teurszusammenhang des Terrors herauszunehmen, zeigt sich auch daran, dass er ihre
angebliche Zerstörung bei weitem übertreibt: Er spricht von der 'Zerstörung' der Par-
tei (S. 261–294), der 'Selbstzerstörung' der Armee (S. 302ff.) usw. Vor allem ignoriert
er, dass nach dem Abbruch des Großen Terrors eine nachhaltige Institutionenbildung
neu einsetzte, die mit dem Auffüllen der Reihen der Nomenklatura verbunden wurde.
Damit hatte Stalin das Bestehen seines Staates Jahrzehnte über seinen Tod hinaus
gewährleistet. (…) Der Anspruch auf die wuchtige Durchsetzung des Stalinschen
Machtstaates wird offenbar, wenn der Beschluss zum Abbruch des Großen Terrors
vom 17. November 1938 sich auf die Sowjetverfassung beruft und fordert, sie einzu-
halten. Den gleichen Sinn hatte es, dass im Dezember 1938 der NKVD-Chef der Krim
verhaftet wurde, weil er 'Massenoperationen' auch nach Auflösung der lokalen Trojka
durchgeführt hatte (S. 356). Der staatliche Charakter des Stalinschen Terrors stand
bisher in der Forschung außer Frage. Die These von den 'staatsfernen Räumen', in
denen er praktiziert worden sei, steht dem gegenüber im Abseits." 313
Im Vergleich zum Bolschewismus bzw. Stalinismus war der Faschismus laut
Baberowski human: "Es gab kein Land, in dem die Klassengegensätze schlimmer, die
Privilegien der herrschenden Kaste größer gewesen wären, kein Land, in dem Men-
schen in solcher Angst leben mussten wie in der Sowjetunion."314

312
ENNKER, B. (2012), S. 103 - 113, S. 106
313
ENNKER (2012), S. 110 - 111
314
BABEROWSKI (2012A), S. 11

130
Zur Geschichte der Sowjetunion

In einem Text von 2009 ist Baberowski noch expliziter: "Die Unterschiede zwischen
den Systemen [des Stalinismus und Faschismus] überwiegen, wenn man ihre Vor-
kriegsgeschichte erzählt. Und aus moralischer Perspektive fällt dieser Vergleich nicht
zugunsten der Bolschewiki aus."315
Die Bolschewiken seien sogar die Vorbilder faschistischer Verbrechen gewesen: "Der
Krieg im Osten ermöglichte es ihnen, das Denkbare zu tun und ihr Vorhaben, Millio-
nen Menschen zu töten, auch zu verwirklichen. So gesehen holten Hitler und seine
Helfer nach, was Stalin und seine Gefolgsleute in der Sowjetunion bereits vollbracht
hatten."316 "Im Gegensatz zu den Nationalsozialisten führten die Bolschewiki nicht
nur Krieg gegen den äußeren Feind, sie erledigten auch den inneren." 317 Und an ande-
rer Stelle: "Innerhalb Deutschlands aber blieb die Diktatur eine Zustimmungsdiktatur,
die von der Loyalität der Bürger getragen wurde und die nur einer Minderheit Furcht
und Schrecken einjagte."318
Baberowski verharmlost dabei in der typischen Manier eines Ernst Nolte die Verbre-
chen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Schon in "Der Rote Terror" schreibt er:
"Der deutsch-sowjetische Krieg war ein Krieg, wie er Nationalsozialisten und Kom-
munisten gefiel, er war ein Krieg, in dem Feinde nicht besiegt, sondern ausgerottet
wurden."319 In "Verbrannte Erde" knüpft Baberowski an diese Position an: Hitler und
Stalin gefiel der Vernichtungskrieg, weil in ihm Feinde nicht besiegt, sondern ausge-
rottet wurden und weil er ihnen die Möglichkeit gab, ihre Untaten und Verbrechen
mit der Notwendigkeit des Krieges zu rechtfertigen." 320
Die Wehrmachtssoldaten hingegen hätten keinen "Weltanschauungskrieg" geführt,
sondern einen Krieg "dessen Dynamik sie nicht mehr entkamen. (…) Nicht weil sie
Überzeugungen hatten, verrohten die Soldaten, sondern weil ihnen die Bedingungen
keine andere Wahl mehr ließen." 321 "Hitler war schlecht beraten, Krieg gegen ein
Regime zu führen, dem die Massengewalt zur zweiten Natur geworden war und des-
sen Soldaten mit dieser Gewalt umzugehen verstanden. Gegen einen solchen Gegner
konnte die Wehrmacht auf die Dauer nicht Sieger bleiben." 322 "Gegen Partisanen, die

315
BABEROWSKI, J. (2009), S. 1026.
316
BABEROWSKI (2009), S. 1026
317
BABEROWSKI, J. & DOERING-MANTEUFFEL, A. (2006), S. 83.
318
BABEROWSKI (2009): S. 1023 - 1024
319
BABEROWSKI (2003), S. 217
320
BABEROWSKI (2012A), S. 403
321
BABEROWSKI (2012A), S. 403
322
BABEROWSKI (2012A), S. 403

131
Zur Geschichte der Sowjetunion

Dörfer überfielen und jeden töteten, der mit den Deutschen kollaborierte, konnte die
Wehrmacht nur bestehen, wenn auch sie Tod und Vernichtung in die Dörfer trug."323
Baberowski stellt also die Soldaten der Wehrmacht als "Opfer" dar, die in die "Ge-
walträume" der "psychisch kranken" Bolschewiki und ihrer Roten Armee eintraten
und entsprechend nicht anders handeln konnten. Unterschwellig soll uns die Botschaft
erreichen, dass die Wehrmacht die sowjetische Bevölkerung hätte "befreien" können,
wenn Hitler keinen Vernichtungskrieg gewollt hätte. In seinem Werk "Kriege in
staatsfernen Räumen" behauptet Baberowski sogar, weil Stalin die Lebensmittelvorrä-
te hat abtransportieren oder vernichten lassen, hätten die deutschen Soldaten sich aus
den verbliebenen Beständen ernähren müssen. So wurde der Wehrmacht "ein Krieg
neuen Typus" "aufgezwungen", der die Zivilbevölkerung nicht verschonte. 324 In Ver-
brannte Erde folgt Baberowski dieser "Logik": "Niemand sollte die Städte verlassen,
die Hitlers Armeen eroberten, denn ihre Verwaltung und Versorgung würden die
Besatzer überfordern. Nur wehrfähige Männer, Funktionäre, Wissenschaftler, Künst-
ler und andere privilegierte Personen durften von den Sicherheitsorganen aus den
Städten evakuiert werden. Menschen, so Stalins Kalkül, die zwischen die Fronten
gerieten, würden für ihr Elend nicht die Verteidiger, sondern die Angreifer verant-
wortlich machen. (…) Stalins Saat ging auf. Denn die Deutschen wollten die Bevöl-
kerung in den eroberten Gebieten nicht ernähren."325
Zusammengefasst heißt das nichts weiteres, als dass es eine Art Zusammenarbeit
zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee gab, die sowjetische Bevölkerung im
Zweiten Weltkrieg verhungern zu lassen. Dabei liege die Hauptschuld vor allem bei
Stalin, der die Wehrmacht dazu "gezwungen" habe, nicht anders handeln zu können!
Damit verkennt Baberowski eindeutig die Forschungslage. Lassen wir hierzu einige
bürgerliche Antikommunisten zu Wort kommen:
"Die längst vor dem Überfall entwickelten Absichten der deutschen Ernährungspolitik
in der besetzten Sowjetunion gehen in wünschenswerter Klarheit aus einem bereits
seit 1948 in den Nürnberger Prozessdokumenten veröffentlichten Protokoll einer
deutschen Staatssekretärssitzung vom 5. Mai 1941 hervor: Hier wird die Notwendig-
keit postuliert, die gesamte Wehrmacht aus Russland zu ernähren, und ungeschminkt
wird die Konsequenz ausgesprochen, dass infolgedessen 'zweifellos zig Millionen
Menschen verhungern' werden. Ihren Weg in Baberowskis Schreibstube hat diese
Quelle leider noch nicht gefunden.

323
BABEROWSKI (2012A), S. 415
324
BABEROWSKI (2007), S. 305
325
BABEROWSKI (2012A), S. 441

132
Zur Geschichte der Sowjetunion

Für seine Aussagen zur Evakuierungspolitik beruft er sich unter anderem auf Rebecca
Manley. Ihr Buch To the Tashkent Station. Evacuation and Survival in the Soviet
Union at War liefert allerdings keineswegs die Grundlage für Baberowskis Behaup-
tung, dass Stalin die Bevölkerung absichtsvoll in den von Besetzung bedrohten Ge-
bieten zurückgehalten habe, im Gegenteil: Manley beschreibt die Evakuierung und
Flucht nach Osten von mehr als 16 Millionen Sowjetbürgern in den Jahren 1941/42.
Die in großem Maßstab durchgeführte Verlagerung von Industriebetrieben in front-
ferne Gebiete wäre auch wohl kaum die 'logistische Meisterleistung' gewesen, als die
auch Baberowski sie anerkennt (S. 421), wenn die Anlagen abtransportiert, aber die
mit ihnen vertrauten und zum Betrieb unabdingbaren Belegschaften zurückgelassen
worden wären."326
"Baberowskis Darstellung des deutsch-sowjetischen Krieges hebt die Aspekte von
Terror und Repression auf der sowjetischen Seite hervor: die Massenerschießungen
politischer Gefangener in den frontnahen Gefängnissen durch den NKVD in den
ersten Kriegswochen, die brutale Verfolgung von echten oder vermeintlichen Deser-
teuren oder Panikmachern, die strategischen Fehlentscheidungen Stalins, die zahllose
Leben kosteten, die Fortdauer politischer Verfolgung auch im Leningrad der Blocka-
de. (…) Dass es im Zweiten Weltkrieg auch noch andere Fronten gab, die Existenz
einer Anti-Hitler-Koalition, amerikanische Land-Lease-Lieferungen, die Massenferti-
gung des überlegenen T-34-Panzers, der strategische Weitblick der sowjetischen
Generalität in den großen Schlachten von Stalingrad und Kursk – nichts davon findet
bei Baberowskis Erklärung der deutschen Niederlage an der Ostfront Berücksichti-
gung."327
"Doch noch problematischer sind Thesen, die weit hinter einen längst erreichten
Kenntnisstand über den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg zurückfallen, wie
z.B. die folgende: 'Gegen Partisanen, die Dörfer überfielen und jeden töteten, der mit
den Deutschen kollaborierte, konnte die Wehrmacht nur bestehen, wenn auch sie Tod
und Vernichtung in die Dörfer trug.' (S. 415) Nichts erfährt der Leser davon, dass
diese Art der 'Partisanenbekämpfung' nach dem Motto 'Wo der Jude ist, da ist der
Partisan' einen gleitenden Übergang zum Holocaust bildete, was spätestens seit Hel-
mut Krausnicks Einsatzgruppenstudie von 1981 bekannt ist; nichts darüber, dass die
sowjetischen Partisanen vor allem einen 'Schienenkrieg' gegen die deutschen Nach-
schubwege führten; keine Angaben über die Zahlen der Getöteten, die die insinuierte
Äquivalenz zwischen den Partisanen und den Exekutoren des Vernichtungskriegs ad
absurdum führen würden; Wehrmacht und SS werden in die Position bloß reagieren-
der Akteure – 'auch sie' – gerückt. Mit Blick auf die Kämpfe konkurrierender Partisa-

326
ZARUSKY, J. (2012), S. 121 - 126, S. 125, vgl. auch ENNKER (2012), S. 111 - 112
327
ZARUSKY, J. (2012), S. 125

133
Zur Geschichte der Sowjetunion

nenverbände ab 1943 meint Baberowski gar: 'Die Wehrmacht war in diesem Chaos
nicht mehr länger Schiedsrichter. Sie war Partei [. . .].' (S. 416) Und nebenbei auch
noch Opfer zweier Diktatoren, denn: 'Ebenso wie Stalin machte Hitler die Generäle
der Wehrmacht zu Geiseln seiner Gewaltstrategie.' (S. 395)
Aus Johannes Hürters Buch über Hitlers Heerführer hätte der Autor einiges darüber
erfahren können, wie bereitwillig diese 'Geiseln' sich nicht nur auf den Vernichtungs-
krieg 'eingelassen' hatten, sondern ihn bewusst gestalteten und noch 1945 daran
glaubten, dass die 'grundlegenden Prinzipien [. . .] gut' waren. Aber Baberowski hat
weder Hürter noch Hillgruber, weder Krausnick noch Hartmann noch Pohl, Rass oder
Wildt konsultiert, vielmehr den Großteil der älteren und der jüngeren Forschung zur
deutschen Kriegführung gegen die Sowjetunion schlicht ignoriert. Es ist mehr als
fraglich, ob sein 'Gewaltraum'-Dogma einer solchen Lektüre standgehalten hätte.
Einige ziemlich schlüpfrige Abwege hätten so indes vermieden werden können." 328
Baberowskis Aussage, die Sowjetunion habe der Wehrmacht den Vernichtungskrieg
aufgezwungen, erinnert an Hitlers Reichstagsrede Ende Januar 1939, in der er den
Juden die Schuld am bevorstehenden Krieg gab. Opferpose und Paranoia sind typi-
sche Vehikel einer ultrareaktionären Politik.
Baberowskis Gleichsetzung mit dem Faschismus reduziert sich jedoch nicht auf den
Zweiten Weltkrieg. Seine Analogien zum Faschismus finden sich auch in einer
Wortwahl, die sonst für die Historiographie für den Faschismus die Rede ist: "So wird
Lenin als 'bösartiger Schreibtischtäter' bezeichnet, eine Bezeichnung, die sonst eher
etwa für Adolf Eichmann, den Deportationsspezialisten des Reichssicherheitshaupt-
amtes, verwendet wird (S. 66). Doch es wird noch irritierender. Im Abschnitt über
'Macht und Gewalt' in 'Stalins Sklavenstaat' – eine Formulierung in Anlehnung an
Albert Speers Erinnerungen – benutzt Baberowski die Terminologie von Wolfgang
Sofskys Analyse der nationalsozialistischen Lager (S. 214–219), die nahe legt, die
Sowjetunion als ein einziges großes Konzentrationslager zu begreifen. Er verwendet
den Begriff 'dem Führer entgegenarbeiten' von Ian Kershaw umstandslos als Analy-
seinstrument (…) Zur Deportation von Tschetschenen und Inguschen habe man
'Lastwagen und Güterwaggons eingesetzt, die an der Front dringend benötigt wurden'
(S. 449). Auch hier wird eine Analogie zum Nationalsozialismus nahegelegt, denn
jeder hat schon einmal das allerdings falsche Argument gehört, die Transportmittel
der Nationalsozialisten seien in kriegsschädigender Weise in der Shoah eingesetzt
worden. "329

328
ZARUSKY, J. (2012), S. 125 - 126
329
DIECKMANN, C. (2012), S.127 - 135, S. 132

134
Zur Geschichte der Sowjetunion

Zu Wolfgang Sofsyks Konzept über die faschistischen Konzentrationslager 330 schreibt


Zarusky: "Denn Baberowski wendet Sofskys Konzept ja nicht nur auf den Gulag an
(S. 192), sondern findet darin eine generelle Erklärung für die Gewalt des Stalinis-
mus. Die Frage, ob eine solche Übertragung ohne Weiteres möglich ist, wird erst gar
nicht gestellt. Dabei wäre Vorsicht allein schon deshalb geboten, weil die NS- und
KZ-Forschung erhebliche Zweifel daran angemeldet hat, ob Sofskys Konzept für die
Analyse seines eigentlichen Gegenstandes taugt. So haben etwa Karin Orth und Mi-
chael Wildt in einer luziden Kritik festgestellt, Sofsky analysiere kein wirkliches,
sondern ein 'konstruiertes, diskursives Lager' und sein Begriff der 'absoluten Macht'
löse sich 'im Gang der Argumentation mehr und mehr von den Akteuren', bis er
schließlich selbst an deren Stelle trete und damit jeden Erklärungswert verliere. Ganz
ähnlich verfährt Baberowski, wenn er von Gewalt spricht, die 'sich [!] nicht aus Ideen,
sondern aus Situationen und Gelegenheiten' hervorbrachte. Die Gewaltsituationen und
-räume und der pathologische Stalin bilden die Pole des Spannungsfeldes, in dem der
Terror historisch verortet werden soll."331
Die antikommunistischen Ergüsse abgesehen, scheint es doch sehr aussagekräftig zu
sein, dass selbst diese Historiker Baberowski nicht zustimmen können.
Wie Baberowski seinen Heilsglauben an den bürgerlichen Staat als Quelle des Huma-
nismus bewertet, wenn man ihm die vorherigen Abschnitt zitierten Beispiele der Ver-
brechen des Kolonialismus und Imperialismus vor Augen hält? Wie verhält sich die
Tatsache des ideologisch begründeten Rassismus durch den bürgerlichen Staat mit
Baberowskis Behauptung, dass der (bürgerliche) Staat eine zivilisatorische Errungen-
schaft sei? Wohlmöglich würde er antworten, dass es ja eben der bürgerliche Staat
war, der sich von seiner barbarischen Vergangenheit gelöst habe - so als ob die
Kämpfe der unterdrückten Völker keine Rolle spielen. Oder dass die UN-Charta der
Menschenrechte von 1948 besonders unter dem Einfluss der Sowjetunion und dem
Kampf gegen den Faschismus (der ja seine Quellen in der bürgerlichen Rechtsord-
nung hatte) entstand. Von der aktuellen kriegerischen Politik vieler bürgerlicher Staa-
ten völlig abgesehen. Behaupteten nicht ohnehin bürgerliche Kolonialherren, christli-
che Missionare und Konquistadoren, dass sie den "Wilden" (oder im Sinne Hitlers:
den jüdisch bolschewistischen Untermenschen) die Zivilisation bringen, was ein mil-
lionenfaches Abschlachten zur Folge hatte? Aber wenn Baberowski als Anhänger des
Irrationalismus ohnehin nicht an eine Geschichtswissenschaft glaubt, macht es auch
keinen Sinn, mit solch einer Person über Geschichte zu diskutieren. Die ganze Sache
des Irrationalismus und seinen Abarten besteht in der Absicht, die Existenz der über-
prüfbaren objektiven Realität zu bekämpfen. Und darum geht es um den Kampf gegen

330
SOFSKY, W. (1993)
331
ZARUSKY, J. (2012), S. 122-123

135
Zur Geschichte der Sowjetunion

die Realität als solche. Die Anhänger dieses Irrationalismus betrachten die Realität als
unerfreulich und unbefriedigend. Aber stattdessen darüber zu diskutieren, wie wir
diese verbessern können, weichen sie auf den Punkt zurück die objektive Realität
vollkommen zu verwerfen und behaupten, dass alles, insbesondere die Praxis die
Realität zu entdecken und zu überprüfen - die Wissenschaft - ein zufälliges soziales
Konstrukt sei und dass eine Wahrheit als solche nicht existiere. Eventuell enden sie in
einer Art des absurden Skeptizismus und Solipsismus und erzählen einen zufälligen
Unsinn über zufälliges Zeug. Aber nichts davon erweist sich als wissenschaftlich
logisch. Genau in diese Richtung gehen Baberowskis Gewaltorgien, die zu dem ab-
surden Schluss führen, dass Stalin ein Psychopath sei, der damit ein ganzes Land
kontrollieren kann und der bürgerliche Staat (trotz seiner Geschichte der Gewalt,
Kriege und rassistischer Kolonialherrschaft mit unermesslichen Völkermorden) ein
Garant der Zivilisation sei.
Weil Baberowski ein Irrationalist ist, wettert er auch gegen die Gruppe von Histori-
kern, die als "Revisionisten" bezeichnet werden: Hierbei handelt es sich um bürgerli-
che Geschichtswissenschaftler, die der bürgerlichen Totalitarismus-Doktrin nicht
folgen und vor allem versuchen, politische, ökonomische, regionale und lokale Pro-
zesse in der Sowjetunion zu untersuchen, basierend auf Archivdaten. Sie leugnen
Stalins Rolle keineswegs, reduzieren die sowjetische Geschichte aber nicht auf den
"Allmächtigen Diktator" Stalin, sondern betrachten den "Stalinismus" als gesell-
schaftliches Phänomen. Zu diesen Historikern gehören u. a. J. Arch Getty, Sheila
Fitzpatrick und andere. Von ihnen wird im nächsten Abschnitt mehr die Rede sein.
Der fast materialistische Ansatz der sogenannten "Revisionisten" ist Baberowski
natürlich ein Dorn im Auge, folgerichtig richtet sich sein methodischer Zorn (sofern
man beim Irrationalismus überhaupt etwas Methodisches erkennen kann) gegen diese
Historiker.332
Stephan Plaggenborg hat Folgendes an der Kritik Baberowskis gegen die "Revisionis-
ten" auszusetzen: "Den 'Revisionismus' in der Stalinismusforschung lehnt Baberowski
ab, weil der die Diktatur zur Unkenntlichkeit verzerrt habe. Baberowski setzt dage-
gen: Mit der Perspektive des Stalinismus 'von unten' sei nicht zu erklären, warum sich
die Untertanen selbst terrorisiert hätten. So hat zwar kein 'Revisionist' argumentiert,
aber das macht nichts. Außerdem verkürzt die Beschränkung auf die im Kontext der
US-amerikanischen Sowjetunion-Forschung entstandenen Revisionisten den Beitrag
sozial- und kulturgeschichtlicher Stalinismusforschung (…) Der empirisch vielleicht
nicht immer glückliche, aber forschungsstrategisch notwendige 'Revisionismus' rich-
tete sich gegen die eindimensionalen Deutungen der Sowjetgeschichte der ersten
beiden Nachkriegsjahrzehnte. Dorthin möchte Baberowski zurück. Die Totalitaris-

332
BABEROWSKI (2012A), S. 18

136
Zur Geschichte der Sowjetunion

mustheorie, von fast allen Sowjethistorikern mittlerweile als überholt angesehen,


feiert plötzlich wieder Auferstehung. Vergesst die Gesellschaft, ruft Baberowski den
Historikern zu, vergesst die Interessen sozialer Gruppen, die methodischen Überle-
gungen über den Zusammenhang von Handeln und Struktur, vergesst die analytischen
Kategorien, die außerhalb der Persönlichkeit liegen. Moshe Lewin und Sheila Fitz-
patrick, um nur zwei Namen zu nennen, sie sollen uns nichts mehr zu sagen haben.
Geht zurück auf Feld eins der Sowjetforschung und ihr werdet sehen! Dieses Buch ist
wirklich ein bisschen altmodisch.
Das wäre aber kein Nachteil, wenn es zu neuen Einsichten führte, denn darauf kommt
es an. Es fällt aber schwer, Baberowski auf seinem Weg zurück zu folgen. Eigentlich
sind alle konzeptionellen Anschlüsse an den Totalitarismus Spiegelfechtereien, denn
wer das Geschehen in den Abgründen der Psychopathologie und im Gehege des
'Tollhauses' ansiedelt, braucht keine geschichtswissenschaftlichen Forschungskonzep-
te, auch keinen Totalitarismus; dem ist Stalin genug. Es versteht sich, dass unter die-
sen Umständen die Akteure der (von den 'Revisionisten' und anderen untersuchten)
sozialgeschichtlichen Prozesse der Stalin-Ära auf ähnliche Weise zu Handlangern
Stalins werden, wie die engere Umgebung des Despoten selbst. Sie erfüllten lediglich,
was der Despot ihnen auftrug. Eine soziale Dynamik des Terrors, etwa durch Stacha-
nov-Arbeiter, wird zu einer Handlungsverlängerung von Terrormaßnahmen Stalins.
Wenn die stalinistisch deformierten Soldaten im Zweiten Weltkrieg ihre Unterdrü-
ckungs-, Erniedrigungs- und Leidenserfahrungen als gewaltsamen Überschuss an
deutschen Frauen ausließen, dann handelten nicht sie selbst, sondern der Stalin in
ihnen."333
Baberowskis Unverständnis der sowjetischen Geschichte zeigt sich auch in seinem
Glauben, die sowjetische Bevölkerung habe den "Stalinismus" (natürlich ist damit der
Sozialismus gemeint) nicht verinnerlicht, sondern nutzte nur "die Sprache" der Bol-
schewiki und habe eine "Lüge" gelebt, da sie insgeheim unter der "Angst" litten ihre
persönliche Sichtweise auszudrücken. Ulrich Schmid kritisiert diesen Ansatz: "Eben-
so wendet sich Baberowski gegen die Auffassung, der Stalinismus sei eine Form der
Subjektivität, die vom Bewusstsein der Menschen Besitz ergreift. Diese Position wird
auf prominente Weise von Jochen Hellbeck und Igal Halfin vertreten. Hellbeck ent-
wickelt seine These vor allem anhand des Tagebuchs des Kulakensohns Stepan Pod-
lubnyj, der die stalinistische Rhetorik ganz verinnerlicht hatte und sein eigenes Ver-
halten rigoros überwachte; Igal Halfin untersucht die 'Seelenhermeneutik' von Partei-
mitgliedern, die ihre Selbstbeschreibung an die jeweils geltende Parteilinie anpassen
mussten. Demgegenüber behauptet Baberowski, dass der Stalinismus den Sowjetbür-
gern immer als Lüge bewusst war. Die Untertanen hätten sich eingerichtet, 'in einer

333
PLAGGENBORG, S. (2012), S. 95-102, S. 99 - 100

137
Zur Geschichte der Sowjetunion

öffentlichen Welt der Lüge und einer privaten Welt der Wahrheit zu leben' (S. 213).
Zwar zitiert Baberowski Hellbecks Kronzeugen in seinem Buch, versäumt es aber, auf
den Widerspruch hinzuweisen, den Podlubnyjs Technologie des Selbst zu seiner eige-
nen Stalinismus-Konzeption darstellt. Mehr noch: Baberowski verweist kommentar-
los auf zwei weitere Fälle, die letztlich Wasser auf die Mühle der 'Revisionisten' lei-
ten:
'Für einen Offizier des Geheimdienstes, der aus einer Adelsfamilie stammte und jah-
relang verbergen musste, woher er kam, wurde die Verstellung zur zweiten Natur, bis
die vorgetäuschte Lebensgeschichte ihn am Ende vollständig ergriff.' (S. 163)
Und bei der Schilderung des Šachty-Prozesses von 1928 erzählt Baberowski von dem
Sohn eines Angeklagten, der sich von seinem Vater lossagte und fortan nur noch den
Namen 'Šachtin' tragen wollte (S. 170). In diesen Fällen kann keine Rede von der
Ausbildung einer doppelten Identität sein – im Gegenteil, die stalinistische Indoktri-
nation ergreift den ganzen Menschen und sichert so die Macht durch eine radikale
Verinnerlichung der Staatsideologie."334
Für Baberowski - wie viele andere Antikommunisten - war es schon immer ein Rätsel
wie die sowjetische Bevölkerung zu ihrem Staat stand. Eine vollständige Analyse
kann hierzu nicht gemacht werden. Nur eines scheint offensichtlich: sie denken sich
alle möglichen Erklärungen aus: die Menschen "übernahmen" die "Sprache des Sys-
tem", hatten eine "doppelte Identität", jede "Kritik" am System sei vom Antikommu-
nismus und Hass auf die Sowjetmacht durchzogen, sie lebten eine "Lüge" usw. Doch
in ihrem Glaubensbekenntnis des Antikommunismus können sie sich eines nie vor-
stellen: dass die Menschen vom Sozialismus überzeugt waren, bzw. ihm gegenüber
nicht feindlich eingestellt waren. Denn das ist für den Antikommunisten Teufelswerk!
Selbst der Antikommunist und Historiker Christoph Dieckmann muss in seiner Re-
zension über Baberowskis "Verbrannte Erde" eingestehen, dass es eine "Hingabe und
Liebe zur Partei und Stalin" gab, was Baberowski nicht zu erklären vermag. Denn
"Angst" und "Terror" erklären nicht allein weshalb "Abermillionen Menschen in die
Kommunistische Partei eintraten und ihr mit Begeisterung dienten". 335
In einem Interview mit der "Neue Züricher Zeitung" äußert Baberowski, dass Liberal-
Konservative das angeblich bessere und realistische Menschenbild hätten: "Die radi-
kale Aufklärung ist die Emanzipation des Geistes von den Institutionen. Sie ist von
der falschen Vorstellung beherrscht, dass der Mensch der Schöpfer seiner Welt sei
und sie nach Belieben beherrschen könne. (…) Der Konservative hingegen schätzt

334
SCHMID (2012), S. 91 - 92 zum Tagebuch von Stepan Podlubnyj vgl. HELLBECK, J. (1996), S.
344–373
335
DIECKMANN (2012), S. 130

138
Zur Geschichte der Sowjetunion

Stil und Skepsis und nimmt hin, was er nicht verändern kann. Über manches sollte
man einfach lachen. Denn am Ende sind wir alle tot. Der Weltverbesserer ist gewöhn-
lich ein humorloser Philister, der von der Lächerlichkeit der Existenz keinen Begriff
hat. (…) Der Mensch steht in Überlieferungszusammenhängen, er hat einen Ort und
eine Geschichte. Der Mensch ist also nicht nur ein Meister, sondern auch ein Aus-
druck seiner Umstände, und diese kann er nicht beliebig zurichten. (…) Der Konser-
vative weiss, dass man Menschen nicht nach Belieben zurichten kann. Alle grossen
Weltverbesserungsprojekte haben nichts als Elend und Gewalt produziert, weil sie auf
menschliche Möglichkeiten keine Rücksicht genommen haben. Sie sind gescheitert,
weil das Leben sie korrigiert hat."336
Besser lässt sich Baberowskis Irrationalismus nicht als "Wissenschaft" verpacken.
Völlig unabhängig davon, dass der Marxismus den Menschen nie so verstanden hat,
dass er diesen "beliebig zurichten" könne und "Überlieferungszusammenhänge", in
die der Mensch hineinwuchs, durchaus berücksichtigt. War es doch schließlich Marx,
der den Satz "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" prägte. Doch anders als der Irrati-
onalist weiß der Marxismus, dass der Mensch sich eben mit der Geschichte ändern
kann. Wichtig ist hier anzumerken, dass Baberowski schlicht und einfach davon aus-
geht, dass der Mensch (im Wesentlichen) nicht veränderbar sei. Jedoch handelt es
sich um eine Aussage, die erst zu beweisen wäre. Denn diese "Überlieferungszusam-
menhänge", wovon Baberowski schwadroniert, sind doch selbst Produkt der Ge-
schichte und Veränderung des Menschen. Menschen sind nicht bloß passive Gegen-
stände ihrer Umwelt, tatsächlich sind es die Menschen selbst, die ihre Welt aktiv
gestalten und verändern. Der Mensch ist in seiner Tätigkeit zu fassen, er kann die
Welt erkennen und diese verändern. Davor scheuen sich die Irrationalisten, wenn sie
behaupten, dass der Mensch sich nicht "zurichten" (merkwürdige Beschreibung übri-
gens!) lasse. Denn das ist nichts weiter als das Zugeständnis, dass die Welt nicht er-
kennbar und veränderbar ist durch menschliches Handeln, verpackt in den schönen
Schein "konservativer Werte" und glauben an den "Staat", der für Baberowski nicht
das Glück bringen soll, sondern Handlungsspielräume. Diese Handlungsspielräume
hatten offensichtlich die Sklaven in den USA wie auch die Inder und Afrikaner der
englischen, französischen und deutschen Kolonien nicht. Dass Handlungsspielräume
Einzelner von ökonomischen Bedingungen abhängen, steht außer Frage - außer für
Baberowski.
Wir können also zusammenfassen, dass Baberowskis Thesen nichts mit Geschichts-
wissenschaft, ja mit Wissenschaft überhaupt zu tun haben. Sie sind allerhöchstens
subjektivistische, irrationale und postmoderne Phantastereien eines Professors für

336
NEUE ZÜRICHER ZEITUNG (30.09.2018): https://www.nzz.ch/feuilleton/der-mensch-laesst-
sich-nicht-beliebig-zurichten-ld.1419506

139
Zur Geschichte der Sowjetunion

Geschichte, der sich zum Hobbypsychologen deklariert. Alleine die Behauptung, dass
Stalin in einem so großen Land wie der Sowjetunion die angeblich barbarische und
bösartige Urgesellschaft ohne Rechts- und Staatsordnung wieder zum Leben erweckte
wirkt, umso skurriler, wenn man sich vor Augen hält, dass mit solch einem System
ein Agrarland zur Supermacht werden konnte.
Wir zitieren Dieckmann (2012): "Baberowski hat keine ausgewogene differenzieren-
de Studie vorgelegt, sondern eine über 500 Seiten lange Streitschrift, in der Attacken
und polarisierte Standpunkte formuliert werden, aber auch Widersprüche das Ver-
ständnis erschweren."337Marc Junge (2012) zieht das Fazit: "Viel Meinungsdienstleis-
tung, wenig Empirie."338

2.2.3. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 3:


Conquest & Solschenitzyn
Baberowskis Werke zeigen also die größten Perversionen antikommunistischer Pro-
paganda. Dennoch sind seine Theorien im totalitären Paradigma nicht wirklich außer-
gewöhnlich. Neu ist lediglich die Fixierung auf die psychologisierten Gewaltorgien.
Die größten internationalen Ikonen der antikommunistischen Propaganda sind jedoch
Robert Conquest (The Great Terror), Roy Medwedew (Let History Judge) und Ale-
xander Solschenitzyn (Archipel Gulag), die ihren Antikommunismus schon verbreite-
ten, als Jörg Baberowski noch in der "maoistischen K-Sekte" KBW Geld für den US-
Schergen Pol Pot sammelte.339
Zwar teilen die drei oben genannten Ikonen des Antikommunismus nicht
Baberowskis Gewaltorigen, jedoch sind sie in ihrer Methodik einander ähnlich. Alle
Autoren haben ihre Quellen aus dritter, vierter oder x-ter Hand, aus sogenannten
Klatschgeschichten und Informationen, die nicht durch Quellen und Dokumente un-
terstützt werden. Zwar gibt Baberowski vor, seine Informationen aus Primärquellen
zu beziehen, bzw. sich auf Literatur zu stützen, die sich auf Primärquellen bezieht.
Doch es kommt nicht selten vor, dass Baberowski diese Quellen aus dem Kontext
reißt und verfälscht - passend zu seinen oben dargestellten Ausführungen zur Ge-
schichtswissenschaft, die halt den Prämissen des Autors folgen soll. Medwedew und
Conquest hingegen geben zu, dass ihre "Fakten" auf solchen Tratsch beruhen. So
schreibt Medwedew: "Meine Zusammenarbeit mit den Leuten, die ich erwähnte ba-
sierte ausschließlich auf persönliche Initiative und Vertrauen. Ich hatte keine Ver-

337
DIECKMANN (2012), S. 131
338
JUNGE (2012), S. 140
339
Zur Mitgliedschaft Baberowskis im KBW siehe KURBJUWEIT (2014), S. 115

140
Zur Geschichte der Sowjetunion

wendung oder Zugriff auf Archivmaterial, 'besondere Sammlungen' oder andere zu-
gangsbeschränkte Verwahrungsorte und mir sind keine vertraut." 340 "Es liegt in der
Natur der Sache, dass es keine veröffentlichte Quelle für den Großteil der Informatio-
nen in diesem Buch gibt; es wurde von den Opfern der Repressionen oder deren
Freunde oder Verwandte weitergegeben." 341
Nicht anders sieht es bei Robert Conquest aus. Besonders interessant ist dabei
Conquest Vergangenheit. Wir können in einem Artikel von Andrea Schön lesen:
"Conquests Vergangenheit als ehemaliger Agent in der Desinformationsabteilung
(Information Research Department (IRD)) des britischen Geheimdienstes - zuständig
für das gezielte Lancieren von "Informationen" in der ausländischen Presse - wurde
am 27.1.1978 in einem Artikel des Guardian enthüllt. Das IRD wiederum erhielt
traurige Berühmtheit durch seine Verstrickung in den Rechtsextremismus, weshalb es
seine Tätigkeit 1977 einstellen mußte. Bis dahin gelang es ihm, mehr als 100 der
bekanntesten Journalisten Großbritanniens - von der Financial Times, The Times,
dem Economist, dem Daily Mail und Daily Mirror, The Express, The Guardian etc. -
mit Desinformationsmaterial zu versorgen. Robert Conquest arbeitete für den IRD bis
1956 mit der Aufgabe, zur sogenannten 'schwarzen Geschichte' der Sowjetunion bei-
zutragen. Auch nachdem Conquest offiziell den Dienst verlassen hatte, schrieb er
seine Bücher mit dessen Unterstützung. So bestand 'The Great Terror' im wesentli-
chen aus Material, das er in seiner Zeit beim Geheimdienst gesammelt hatte, und
erschien mit Unterstützung des IRD. Conquests Hauptadressaten waren nützliche
Idioten wie Universitätsprofessoren und Medienleute, die seinen Lügen ein breitest-
mögliches Publikum bescherten."342
Es fanden sich schon ab den 1970ern eine Reihe von Historikern, die die Totalitaris-
mustheorien zurückwiesen. Zu den Pionieren gehören Moshe Lewin 343 und Sheila
Fitzpatrick.344 Lewin hatte Sympathien mit dem Marxismus, unterstellte jedoch dem
"Stalinismus", dass dieser von der Bauernklasse geprägt sei und daher nicht sozialis-
tisch, da die Bauern ein rückständiges Bild hatten. Fitzpatrick verwarf Lewins "mar-
xistischen" Ansatz und arbeitet streng positivistisch. Sie sammelt viele Daten, ihr
fehlt es jedoch an einer kohärenten politischen Theorie, wodurch sie vor allem seitens

340
MEDVEDEV (1989), S. xviii
341
MEDVEDEV (1989), S. xx
342
SCHÖN, A. (2002/2007), S. 119; vgl. auch: SOUSA, M. (1998)
http://www.mariosousa.se/LiesconcerningthehistoryoftheSovietUnion.html; Artikel von "THE
GUARDIAN" (27.01.1978):
http://www.mariosousa.se/THEGUARDIANFridayJanuary271978doc.html
343
LEWIN, M. (1985)
344
Z. B. FITZPATRICK, S. (1986), S. 357-373

141
Zur Geschichte der Sowjetunion

der Totalitarismus-Anhänger heftigster Kritik unterzogen wurde. Andere Autoren wie


Stephen Kotkin untersuchen, wie sich die Bevölkerung mit dem "stalinistischen"
Regime arrangierte, indem sie trotz schlechter Lebensbedingungen versuchte den
Sozialismus (den Kotkin als Gegenzivilisation zum Kapitalismus sieht) mitzugestal-
ten. Die Menschen lernten "bolschewistisch zu sprechen".345 Die Schwäche solcher
Arbeiten ist, dass sie subjektive Identitäten mit der Klassenanalyse verwechseln.
Der Historiker J. Arch Getty gehört zu den ersten Autoren, der, basierend auf den
Archiven aus Smolensk, die schon seit dem 2. Weltkrieg für die Forschung zugäng-
lich waren, eine alternative Geschichte der Sowjetunion verfasste. Ihm folgten weitere
Historiker, die Robert Thurston und Gabor T. Rittersporn. All diese Arbeiten haben
aus marxistischer Sicht ihre Schwächen und Fehler. Doch sind sie im Vergleich zu
Conquest und anderen Totalitarismus-Anhängern eher an der historischen Wahrheit
interessiert und beziehen ihre Informationen aus Archiven und anderen Primärquel-
len.346 Diese Autoren negieren keineswegs die bedeutende Rolle, die Stalin spielte,
reduzieren die Sowjetunion jedoch nicht auf seine Person (oder im Fall Baberowskis
auf seinen Geisteszustand). Damit verwenden sie zumindest z. T. einen materialisti-
schen Ansatz.
J. Arch Getty gehört zu den größten Kritikern von Robert Conquest und verfasste in
seiner 1979 erschienenen Doktorarbeit folgendes: "Die dominante Tendenz (beim
Verfassen der 'Säuberungen') war, ohne Weiteres alles beliebige von Emigranten zu
glauben, während alle Wahrheiten über die stalinistische Seite abgeleugnet wurden.
Wenn sich jemand ein ausgewogenes Bild über Zar Iwan IV. ('Der Schreckliche')
machen möchte, würde man ja auch nicht die Beschreibungen des während der Perio-
de des russisch-polnischen Krieges in Polen im Exil lebenden Prinzen Kubisky akzep-
tieren. Wenn jemand sich ein ausgewogenes Bild über Mao Tse Tungs Regierungs-
form in China machen möchte, würde man wohl auch nicht Tschiang Kai Schecks
Version der früher 1950ger Jahre als essentiell zuverlässig betrachten. Falls der Eine
an einer solchen Sichtweise nicht interessiert sein würde, ein anderer würde es aber.
Die scheinbaren Ungeheuerlichkeiten von Stalins Verbrechen und eine Generation
von Kalten-Kriegs-Gesinnten haben dazu beigetragen zu akzeptieren, was in anderen
wissenschaftlichen Bereichen als schlampige Forschung angesehen würde. (…)
Manchmal war die 'Gelehrsamkeit' mehr als einfach nur nachlässig. Neueste Untersu-
chungen von britischen Geheimdienstaktivitäten (in der Folge von US Nach-
Watergate-Enthüllungen) legen nahe, dass Robert Conquest, Verfasser des hoch

345
KOTKIN, S. (1995)
346
Eine Darstellung ihrer Arbeitsmethoden finden sich u. a. in: FITZPATRICK, S. & VIOLA, L.
(1990)

142
Zur Geschichte der Sowjetunion

einflussreichen Großen Terror, Zahlungen von britischen Geheimdienstagenturen für


bewusst gefälschte Informationen über die Sowjetunion akzeptierte. Infolgedessen
können die Arbeiten eines solchen Individuums von seinen Kollegen in der westli-
chen akademischen Gemeinschaft kaum als zuverlässige wissenschaftliche Arbeit
berücksichtigt werden."347
"…Conquest (Terror, 754) … macht das erstaunliche Statement, dass 'Wahrheit (…)
nur in der Form von Gerüchten durchsickern [kann].' Und weiter, 'In politischen An-
gelegenheiten ist das Beste grundsätzlich – obwohl nicht unfehlbar – das Gerücht als
Quelle …' Er glaubte, dass der beste Weg, Gerüchte zu überprüfen, sei, diese mit
anderen Gerüchten zu vergleichen – eine dubiose Vorgehensweise, berücksichtigt
man die Tatsache, dass die Emigranten untereinander ihre Werke gelesen haben.
Selbstverständlich, Historiker können weder Gerüchte noch Geschichten vom Hören-
sagen als Beweise in irgendeinem anderem Gebiet der Geschichte akzeptieren." 348
Die Fußnoten 1 und 2 auf Seite 265 von Gettys Buch "Origins of the Great Purges"
bestätigen nochmal die methodischen Schwächen von Conequest und co.: "1. Die
Standardwerke über die großen Säuberungen basieren hauptsächlich auf Memoiren.
Conquest, Terror, Medvedev, History und Solzhenitsyn, the Gulag Archipelago, alle
basieren hauptsächlich auf persönliche Schilderungen. 2. Viele Dokumentierungen in
Medwedews und Solschenitsyns Arbeiten sind dieser Art, genauso auch beim Sa-
mizdad Material. Solche Dokumentierungen sind in anderen Feldern der Geschichte
methodisch nicht akzeptierbar [Getty meint damit, dass die sowjetische Geschichte
keine Tradition verantwortlicher Quellenkritik hat - M. K.]."349
"Man braucht nur die Fußnoten irgendeiner üblichen Darstellung der Großen Säube-
rung abzusuchen, um zu sehen, dass ein Großteil des Basismaterials von Spekulatio-
nen dieser widersprüchlichen und eigennützigen Quellen stammt, die nicht in der
Lage waren anderes zu berichten als Gerüchte. Die meisten westlichen Darstellungen
wurden nach dem 2. Weltkrieg geschrieben und die Autoren beriefen sich zur lebhaf-
ten Untermauerung ihrer Sichtweise auf Darstellungen von Emigranten und Deserteu-
ren. Die Unzugänglichkeit der sowjetischen Archive zu diesen Ereignissen ver-
schlimmerten diese Tendenz. Wenn man jedoch die strengen Regeln der Beweisfüh-
rung und der Quellenkritik auf diese Arbeiten anwendet und nur die Dinge akzeptiert,

347
GETTY, J. A. (1979), S. 48, zitiert in FURR, G. (2015)
https://msuweb.montclair.edu/~furrg/research/furr_conquest_obit.html
348
GETTY (1979), S. 64 in FURR (2015); vgl. auch GETTY, J. A. (1985), S. 5 & S. 222, Anmer-
kung 12
349
GETTY (1985), S. 265, Fußnoten 1 und 2

143
Zur Geschichte der Sowjetunion

die der Informant aus erster Hand berichten kann, kollabieren etliche Aspekte der
westlichen Interpretation."350
Das heißt natürlich nicht, dass Biographien und subjektive Erlebnisse keine Bedeu-
tung haben. Sie müssen dann aber entsprechend in ihrem Kontext als persönliche
Erlebnisse gesehen werden. Sie sind als zusätzliche Informationen dienlich, sind aber
keine Primärquellen und müssen mit äußerster Sorgfalt behandelt werden. Historische
Literatur, die sich fast ausschließlich auf solche subjektiven Geschichten konzentriert,
verliert nicht nur an Objektivität, sie ist auch weit vom tatsächlichen Geschehen ent-
fernt, da die Autoren solcher Literatur keinen Zugang zu den aktuellen politischen
Entscheidungen haben. Getty & Manning (1993) schreiben über die kritische Quel-
lenanalyse: "In all diesen Dingen ist es wichtig, dass wir unsere Quellen konstant
hinterfragen. (…) Man könnte den Einwand erheben, dass Dokumente und Archive
nicht unsere Hauptquelle über die Repressionen sein dürfen. Tatsächlich dürfen wir
die Möglichkeit nicht ausschließen, dass diese verändert oder gefälscht wurden.
Ängstliche, schuldige und mächtige Staatsdiener der Jahre seit 1937 könnten sicher-
lich ein Interesse an den belastenden Unterlagen haben und solche Leute waren zu
mehr fähig als die Dokumente anzupassen. Sicherlich sind die Aufzeichnungen nicht
vollständig und wir müssen eine gesunde Skepsis aller offiziellen Quellen der 1930er
aufrechterhalten. Aber einfach auf Basis von Skepsis ohne jegliche Beweise, fällt es
schwer a priori das Archivmaterial als Fälschung anzusehen. Solange nicht unabhän-
gige Historiker und Experten in der Lage sind, die sensiblen Dokumente in ihrer phy-
sischen Form und in ihrem Kontext zu begutachten, ist die Wissenschaftsgemeinde
nicht in der Position, ihren Wahrheitsgehalt - oder ihre mangelnde Glaubwürdigkeit -
endgültig festzustellen."351
Eine weiterer Historiker, Robert W. Thurston, kritisiert Conquests Unehrlichkeit in
einer Fachzeitschrift. Dort wirft er Conquest seine Unehrlichkeit und "miserablen
Beweise" vor.352 Thurston veröffentlichte einen weiteren Artikel, der zeigte, dass
während der angeblichen Jahres des "Großen Terrors 1937-1938" nur sehr wenige
Menschen "terrorisiert" wurden. 353
Nicht selten wird jedoch der Vorwurf gemacht, dass z. B. die Studien zum Holocaust
auch auf Augenzeugenberichten basieren. Warum sollten aber dann jene über Stalins
"Repressionen" weniger glaubwürdig sein? Hier kommt natürlich die alte Lamelle des
Hitler-Stalins-Vergleichs zum Vorschein. Stephen Wheatcroft gibt hierzu eine Erklä-

350
GETTY (1985), S. 220
351
GETTY (1993), S. 61
352
THURSTON, R. W. (1986), S. 238-244
353
THURSTON, R. W. (1986A), S. 214-234.

144
Zur Geschichte der Sowjetunion

rung: "Bevor ich Conquests spezifische Behauptungen bezüglich seiner literarischen


Quellen in Betracht ziehe, möchte ich nur einen Punkt über die allgemeine Zuverläs-
sigkeit von Augenzeugenbeurteilungen hinweisen, die sich aus meiner Studie über der
Holocaust-Literatur ergeben haben. Es ist offensichtlich, dass die Qualität der Augen-
zeugenberichte über den Holocaust im Vergleich zu jenen, die wir aus der Zeit von
Stalins Repressionen haben, wesentlich überlegener sind. In vielen Fällen wurden
diese von einem professionellen Rechtsdienst aufgezeichnet, die von den militäri-
schen Autoritäten der Besatzungstruppen unterstützt wurden, die diese Ermittlungen
aktiv verfolgten. Diese Ermittlungen wurden ziemlich bald nach den Vorfällen durch-
geführt. Die Ermittler hörten die Beweise nicht nur von den Gefangenen, sondern
auch die Aussagen von Lagerkommandanten und von Personen, die Schlüsselpositio-
nen in der Terror-Administration hatten."354
Nicht anders als bei Conquest sieht es mit Alexander Solschenitzyn aus, berühmt für
seinen Roman "Archipel Gulag". Über ihn lesen wir bei Andrea Schön: "Ein weiterer
berühmter 'Gulag'-Autor ist der hinlänglich bekannte Alexander Solschenizyn, der
wegen konterrevolutionärer Aktivitäten in Form von Verbreitung antisowjetischer
Propaganda 1946 zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt worden war. Er vertrat die
Ansicht, daß der Krieg gegen Nazideutschland durch einen Kompromiß mit Hitler zu
verhindern gewesen wäre, und klagte die sowjetische Regierung und Stalin an, ange-
sichts der schrecklichen Kriegsfolgen eine noch schlimmere Rolle als Hitler gespielt
zu haben. Solschenizyn machte keinen Hehl aus seinen Nazisympathien. Mit Zu-
stimmung und Hilfe Chruschtschows begann er 1962 mit der Veröffentlichung seiner
Bücher, 1970 erhielt er für seinen 'Archipel Gulag' den Nobelpreis für Literatur, 1974
emigrierte er in die Schweiz und anschließend in die USA. Dort wurde er gerne als
Vortragsreisender herumgereicht, u.a. zum AFL-CIO Gewerkschaftskongreß im Jahre
1975 geladen und am 15.7.1975 sogar vor den US-Senat zur Einschätzung der Welt-
lage. Er agitierte für eine erneute Intervention in Vietnam (nach der Niederlage der
USA!) zur Befreiung der angeblich Tausenden von gefangenen und versklavten U.S.-
Soldaten sowie für einen amerikanischen Einmarsch in Portugal angesichts der soge-
nannten Nelken-Revolution 1974. Konsequenterweise betrauerte er die Befreiung der
portugiesischen Kolonien in Afrika und propagierte die weitere Aufrüstung der USA
gegen eine Sowjetunion, die angeblich über fünf- bis siebenmal so viele Panzer und
Flugzeuge verfügte und über zwei- bis drei-, wenn nicht fünfmal so viele Atomwaf-
fen. Besonders pikant: Im spanischen Fernsehen warnte er 1976 vor demokratischen
Liberalisierungen u.a. mittels Verweis auf die 110 Millionen Opfer des russischen
Sozialismus. Solschenizyns Sympathie für das ehemalige Zarenregime, die russisch-
orthodoxe Kirche und seine pro-faschistischen Äußerungen ließen ihn als antisozialis-

354
WHEATCROFT, S. (1999)

145
Zur Geschichte der Sowjetunion

tischen Propagandisten schließlich in den Augen kapitalistischer Meinungsmacher


erheblich an Wert verlieren (vgl. Sousa)."355
Garbor T. Rittersporn, ebenfalls wie Getty und Wheatcroft ein an historischen Tatsa-
chen interessierter Historiker, schildert folgende Unwahrheiten bei Solschenitzyn:
"Wir können eine Vorstellung von Solschenitzyns Herangehensweise kriegen, wenn
wir einige Dokumente, auf die er sich bezieht, genauer unter die Lupe nehmen. So
zitiert er aus einem Dekret des Zentralen Exekutiv Komitees und dem Rat der Volks-
kommissare vom 7. April 1935, welches, seiner Meinung nach, 'Kinder ab dem 12.
Lebensjahr strafrechtlich für alle Formen der Kriminalität verantwortlich mache.' Es
ist interessant festzustellen, dass er nicht alleine damit ist, eine falsche Interpretation
dieses Gesetzes zu liefern, sondern dass auch andere dazu gebracht worden sind zu
glauben, dass bewilligt wurde, Kinder für politische Verbrechen schuldig zu spre-
chen; dies war sogar die Meinung einiger Schreiber noch bevor Archipel Gulag veröf-
fentlicht wurde. Einer genauer Blick in den besagten Text offenbart jedoch, dass die
Befugnis 'alle strafrechtlichen Sanktionen' in Anspruch zu nehmen sich nur auf Kin-
der bezieht, die 'Diebstahl, Gewalt, Körperverletzung, Verstümmelung, Mord und
versuchten Mord' begangen haben.
Solschenitzyn ist kaum strenger, wenn er schreibt, dass der Amnestie-Erlass vom 7.
Juli 1945 'all jene befreite, die in Wohnungen eingebrochen waren, Passanten ausge-
raubt, Mädchen vergewaltigt, Minderjährige verdorben, Kunden betrogen, Ganoven
gespielt, die Wehrlosen entstellt, Wälder und Gewässer geplündert, Bigamie betrie-
ben, Wucher und Erpressung betrieben, Bestechungsgeld angenommen, geschwindelt,
verleumdet, Falschaussagen gemacht hatten … Frauen zur Prostitution gezwungen
hatten, deren Fahrlässigkeit und Ignoranz zum Verlust von Menschenleben führte.'
(…) Abgesehen von der Tatsache, dass der Amnestie-Erlass explizit jene ausschloss,
die 'mehr als einmal wegen Veruntreuung, Diebstahl, Raub und Rowdytum verurteilt
wurden' sowie all jene die sich für 'konterrevolutionäre' Verbrechen, Aneignung von
öffentlichem Eigentum, organisiertes Verbrechen, vorsätzlichen Mord und bewaffne-
ter Raubüberfall schuldig gemacht haben (…)
Man könnte ausführlich auf die Ungenauigkeiten eingehen, die in Solschenizyns
Arbeit erkennbar sind, von denen viele das Schicksal der Hauptdarsteller im Gulag
betreffen. (…) Aber er ist noch ungerechter, wenn er Menschen in Gefangenschaft
verschwinden lässt, und wir dann feststellen, dass sie, obwohl sie vielleicht verhaftet
und in ein Gefangenenlager gebracht wurden, dort nicht lange verweilten. So zitiert er
z. B. die Verhaftung von Kuskova, Prokopovich und Kishkin, den Mitgliedern eines

355
SCHÖN (2002/2007), S. 119, vgl. auch SOUSA (1998); PROGRESSIVE LABOUR PARTY (1974):
http://www.plp.org/display/Search?moduleId=19686214&searchQuery=solzhenitsyn

146
Zur Geschichte der Sowjetunion

Hilfskomitees für die Hungersnot von 1921. Jedoch verschweigt er die Tatsache, dass
Kuskova und Prokopovich 1922 aus dem Lande verwiesen wurden und Kishkin, der
schon 1919 wegen einer Verschwörung angeklagt und anschließend begnadigt wurde
und von 1923 bis zu seinem Tode im Volkskommissariat für Gesundheit der Russi-
schen Föderation tätig war. (…)
Unser Autor [Solschenitzyn] irrt sich auch in der Behauptung dass der Biologe Lorkh
im Jahre 1931 mit einem 'Strom' von Agronomen nach Kasachstan 'abtransportiert'
wurde, deren einziges Verbrechen es war den 'Direktiven' Lysenkos zu widerspre-
chen. Wir wissen, dass Lorkh kein ergebener Anhänger von Lysenkos Theorien war.
Wir wissen aber auch, dass, bevor er den Stalin-Preis entgegengenommen hat, er von
1931 bis 1941 in einem Forschungsinstitut nahe Moskau gearbeitet hat. Auf jeden Fall
war 1931 Lysenko nicht in der Position Direktiven zu erlassen, die zum Ergebnis
führten, dass ein 'Strom' von Agronomen in die Lager verbannt werden konnte. (…)
An anderer Stelle spricht Solschenitzyn von fünf verhafteten Historikern im Jahr
1929. Jetzt sind die Biographien von vier dieser Historiker bekannt und wir finden
heraus, dass drei von ihnen ins Exil in eine weit entfernte provinziale Institution zum
Arbeiten verbannt wurden und die beiden anderen die meiste Zeit in den 1930ern in
Freiheit lebten. Einer der letzten, Gote, wurde 1939 in die Akademie der Wissen-
schaften gewählt. Einem anderen, Tarle, wurde in den 1940ern dreimal der Stalin-
Preis verliehen. Auf die gleiche Weise können wir das Leben von acht Menschen
nachvollziehen, die Solschenizyn als Gefangene aufführt, (…), um herauszufinden,
dass, obwohl sie zwar verhaftet wurden, alle mit Ausnahme einer Person, die ins Exil
verbannt wurde, in den 1930ern und 1940ern eine wissenschaftliche Karriere absol-
vierten. (…) Offensichtlich ist es schwierig die Genauigkeit von Augenzeugenberich-
ten zu überprüfen, aus denen Solschenitzyn so viele Details und Schlussfolgerungen
zieht."356
Die größten Lügen bei Conquest, Solschenitzyn du Medwedew zeigen sich jedoch in
der Gesamtzahl der "Opfer des Stalinismus". Andrea Schön (2002) gibt dazu folgende
Bemerkung: "Conquest, Solschenizyn sowie der ebenfalls hinlänglich bekannte 'An-
tistalinist' Roy Medwedew verwendeten für ihre Opferzählungen statistisches Materi-
al aus der Sowjetunion, z.B. nationale Volkszählungen. Auf diese wurde ungeachtet
der konkreten Situation im Lande noch ein statistischer Bevölkerungszuwachs ge-
schlagen. Daraus ergab sich eine Soll-Einwohnerzahl für die jeweils betreffenden
Jahre. Die Differenz zu den Ist-Zahlen bedeutete danach entweder Tod oder Gefan-
genschaft. Tottle beschreibt diese Methode an folgendem Beispiel: 'Nimmt man die
Angaben der Volkszählung des Jahres 1926 (...) und diejenigen der Erfassung vom

356
RITTERSPORN, G. (1991), S. 231-235

147
Zur Geschichte der Sowjetunion

17. Januar 1939 (...) sowie einen jährlichen Wachstumsdurchschnitt vor der Kollekti-
vierung (2,36%), so kann errechnet werden, daß die Ukraine (...) im Zwischenzeit-
raum dieser beiden Volkszählungen 7,5 Millionen Menschen verloren hat' (zit. n.
Martens, S. 122). Es ist klar, daß jeder halbwegs ernst zu nehmende westliche Wis-
senschaftler sich gegen eine solche Methode verwahren würde – ginge es nicht um die
Sowjetunion. (Die Ukraine hatte im Jahre 1939 nicht einmal die gleichen Grenzen wie
1926, abgesehen von weiteren Faktoren wie Geburtenrückgang infolge des Interven-
tionskrieges, Wechsel von eingetragener Nationalitätszugehörigkeit, Migrationen etc.)
Conquest errechnete auf diese Weise 1961 6 Millionen Hungertote in der Sowjetunion
zu Beginn der 30er Jahre und erhöhte diese Zahl 1986 auf 14 Millionen. Für die Mos-
kauer Prozesse allein errechnete er sieben Millionen Gefangene 1937-38 und eine
Gesamtzahl von 12 Millionen politischen (!) Gefangenen in den Arbeitslagern im
Jahre 1939 (im Jahre 1950 soll es abermals 12 Millionen politische Gefangene in der
SU gegeben haben). Die gewöhnlichen Kriminellen haben nach Conquest diese Zahl
noch bei weitem übertroffen, so daß in den Arbeitslagern angeblich 25-30 Millionen
Gefangene saßen. Von den politischen Gefangenen seien zwischen 1937 und 1939
eine Million ermordet worden, weitere zwei Millionen seien Hungers gestorben. Ein-
schließlich 'statistischer Anpassungen' kam Conquest auf insgesamt 12 Millionen
getötete politische Gefangene zwischen 1930 und 1953. Zusammen mit den Hunger-
toten der dreißiger Jahre ergibt das 26 Millionen Todesopfer auf das Konto der Bol-
schewiken (Stalin)."357
Die antikommunistischen Medien hatten diesen Zahlen weitgehend Glauben ge-
schenkt. Mit der Öffnung der sowjetischen Archive durch Gorbatschow, der für diese
statistischen Milchmädchenrechnungen einen dokumentarischen Beweis liefern woll-
te, wurde der Opferlegende jedoch ein Ende gesetzt, weil sie die hohe Zahl der Opfer
nicht bestätigt. 1993 wurde in der Zeitschrift "American Historical Review" die Ar-
beit über die "Opfer des sowjetischen Straflagersystems" veröffentlicht. 358 An dieser
Stelle kann und soll keine detaillierte Diskussion um die Opferzahlen erfolgen (wir
werden dies in einem der späteren Bücher genauer untersuchen). Die wichtigsten
Punkte fasst Schön (2002) zusammen:
"Aus diesen Zahlen läßt sich eine Reihe von Schlußfolgerungen ableiten:
Zunächst kann man sie mit den Daten von Robert Conquest vergleichen. Wir erinnern
uns, daß nach Conquests Behauptung im Jahre 1939 12 Millionen politische Gefan-

357
SCHÖN (2002/2007), S. 120, vgl. auch SOUSA (1998)
358
Vgl. GETTY, J. A., RITTERSPORN, G. T., ZEMSKOV, V. N. (1993):
http://www.mariosousa.se/The%20American%20Historical%20Review%20October%201993
%20Soviet%20Union%20penal%20system.pdf

148
Zur Geschichte der Sowjetunion

gene in den Arbeitslagern gewesen und davon 3 Millionen in der Zeit von 1937 bis
1939 ums Leben gekommen sind.
Und Conquest spricht in diesem Zusammenhang ausschließlich von politischen Ge-
fangenen!
Im Jahre 1950 gab es nach Conquest ebenfalls 12 Millionen politische Gefangene.
Wie man nun ersehen kann, stimmen seine Daten nicht einmal entfernt mit den re-
cherchierten Archivdaten überein. 1939 betrug die Gesamtzahl aller Gefangenen in
allen Formen des Gewahrsams insgesamt 2 Millionen. Von diesen waren 454.000
politischer Verbrechen für schuldig befunden – nicht 12 Millionen wie Conquest
behauptet, und rund 165.000 starben zwischen 1937 und 1939 im Arbeitslager – nicht
etwa 3 Millionen; das sind in diesem Zeitraum 5,3% aller Arbeitslagerinsassen. (…)
Insgesamt lebten im angegebenen Zeitraum 2,5 Millionen Sowjetbürger in Gefangen-
schaft, d.h. 2,4% der erwachsenen Bevölkerung - sicherlich keine geringe Zahl und
ein Indikator für die noch bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft. Trotzdem
lag die Zahl noch unter der der imperialistischen Hauptmacht. Ein Vergleich mit den
Daten aus den USA: 1996 gab es im reichsten Land der Welt 5,5 Millionen Gefange-
ne, d.h. 2,8% der erwachsenen Bevölkerung.
Nun zur Frage der Todesopfer. Der prozentuale Anteil der im Arbeitslager Verstorbe-
nen variiert im angegebenen Zeitraum zwischen 0,3% und 18%. Die Todesursachen
waren im wesentlichen auf die allgemeine Mangelsituation im Lande zurückzuführen,
insbesondere die medizinische Versorgungslage zur Bekämpfung von Epidemien. Das
betraf damals allerdings wie erwähnt nicht nur die Sowjetunion, sondern auch alle
entwickelten Länder. Erst mit der Erfindung des Penicillin während des Zweiten
Weltkrieges wurde ein wirksames Mittel gegen ansteckende Krankheiten geschaffen.
Tatsächlich waren es wiederum die Kriegsjahre, in denen die Hälfte aller Todesfälle
im untersuchten Zeitraum zu verzeichnen war. Nicht zu vergessen die 25 Millionen
Todesopfer, die "in Freiheit" starben. Der systematische Rückgang der Todesopfer
nach dem Zweiten Weltkrieg (nominal und prozentual) ist denn auch auf die verbes-
serte medizinische Versorgung zurückzuführen.
Todesurteile und Hinrichtungen
Robert Conquest behauptet, die Bolschewiken hätten 12 Millionen politische Gefan-
gene in den Arbeitslagern zwischen 1930 und 1953 getötet. Davon sei 1 Million bei
den Säuberungen 1937 und 1938 umgekommen. Solschenizyn spricht gar von zig
Millionen Toten in den Arbeitslagern, davon 3 Millionen allein 1937/38. Diese Zahl
wurde im Zuge der "Wer bietet mehr?"-Kampagne unter Gorbatschow noch weit
übertroffen. So nennt die Russin Olga Schatunowskaja etwa 7 Millionen Tote wäh-
rend der 1937/38 Säuberungen.

149
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die Daten aus diversen Archiven sprechen hingegen eine andere Sprache: Man muß
dabei berücksichtigen, daß die Forscher sich verschiedener Quellen bedienten und
diese miteinander abglichen. Dabei waren Doppelzählungen sicherlich nicht zu ver-
meiden. So wurden beispielsweise nach Dimitri Wolkogonow, von Jeltzin als Ver-
antwortlicher für die Sowjetarchive ausersehen, 30.514 Personen bei Militärtribunalen
in den Jahren vom 1.10.1936 bis 30.9.1938 zum Tode verurteilt. Eine andere Zahl
stammt vom KGB: Nach Informationen, die im Februar 1990 der Presse freigegeben
wurden, sind in den 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen
Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 681.692 in den
Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der Überprüfung. Nach
den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa die Zahl der tatsäch-
lich vollstreckten Todesurteile 1937-38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in
Haftstrafen umgewandelt worden bzw. basierten auf Verbrechen wie Mord oder Ver-
gewaltigung.
Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in
einem Arbeitslager. Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Ein-
druck, daß ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager nicht überlebte bzw.
endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, daß die Strafzeit in der
Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten
nach der American Historical Review 82,4% der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre
1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6% zwischen 5 und 10 Jahren. Von den
politischen Gefangenen erhielten 44,2% Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7% zwi-
schen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen
vor: 95,9% bis zu 5 Jahre, 4% zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1% über 10 Jahre." 359
Trotz vieler Historiker, die in den Archiven forschen - sie werden Anhänger der "revi-
sionistischen Schule" genannt, weil sie das Konzept des Totalitarismus, mit Stalin als
alleinigen psychopathischen Herrscher an der Spitze, ablehnen - werden diese von der
"Community der Kalten Krieger" mit diversen Vorwürfen belastet. Da sie sich dem
Dogma des Totalitarismus nicht anpassen wollen und Wissenschaft betreiben, werden
sie als "Stalinisten" denunziert. Damit soll ihnen unterstellt werden, dass sie versu-
chen, Stalin reinzuwaschen. Rittersporn bringt in seinem Buch "Stalinist Simplifica-
tions and Soviet Complications" zum Ausdruck, dass er ein Gegner des Kommunis-
mus sei und dass er die 'sehr realen Schrecken der untersuchten Epoche nicht leugnen
könne und dass er sich zweifellos unter den ersten befinden würde, alles ans Tages-
licht zu fördern, wenn sich das noch als notwendig erweisen würde.' 360

359
SCHÖN (2002/2007), S. 124 - 125, vgl. auch SOUSA (1998)
360
RITTERSPORN (1991), S. 39, zitiert in MARTENS, L. (1994/2014), S. 198 - 199

150
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Wenn man schüchtern die Analyse von fast vollständig ignorierten Materialien öf-
fentlich zu machen und in ihrem Lichte die sowjetische Geschichte seit den 30er
Jahren und die Rolle, die Stalin dabei spielte, neu zu interpretieren versucht, wird man
entdecken, dass die offizielle Meinung die Infragestellung der verinnerlichten Ideen in
viel engeren Grenzen als zu vermuten war, akzeptiert. (...)
Das traditionelle Bild des 'stalinschen Phänomens' ist in Wirklichkeit so mächtig und
die Urteile über die politischen und ideologischen Werte, die ihm zugrunde liegen,
sind von einem so emotionalen Charakter, dass jeder Versuch, dieses Bild zu korrigie-
ren, fast unvermeidlich als die Einnahme einer Gegenposition im Verhältnis zu den
allgemein akzeptierten Normen, die es impliziert, erscheinen muss. (...) Sich der Auf-
gabe widmen zu wollen, aufzuzeigen, dass die traditionelle Darstellung der Stalin-
schen Epoche in vieler Hinsicht sehr ungenau ist, kommt dem Versuch einer verzwei-
felten Herausforderung nicht nur gegenüber heiligen Denkrastern und Denkmustern
gleich, nach denen es über sowjetische Realitäten zu argumentieren üblich ist, son-
dern widerspricht auch den gewöhnlichen sprachlichen Praktiken. (...)
Ein Problem, das eine Untersuchung dieser Art rechtfertigen kann, ist vor allem die
extreme Widersprüchlichkeit, Unbeständigkeit, Ungenauigkeit und Unhaltbarkeit der
Literatur, die einem der betrachteten Phänomene gewidmet ist, nämlich der Großen
Säuberung der Jahre 1936-1938. Hier zeigt sich eine sehr große historische Vulgarität.
Trotz des gegenteiligen Anscheins gibt es nämlich wenige Perioden der sowjetischen
Geschichte, die so oberflächlich untersucht wurden. Alles berechtigt zu der Annahme,
dass, wenn man während so langer Zeit dazu tendierte, die elementarsten Regeln der
Quellenanalyse auf diesem wichtigen Gebiet zu vernachlässigen, das sehr wahr-
scheinlich so sein musste, weil die Endergebnisse exakter Arbeiten in einem großen
Maße von den üblichen historischen Forschungen entfernt wären. In der Tat, nach
einer so wenig sorgfältigen Lektüre der klassischen Literatur entzieht man sich nur
schwerlich dem Gedanken, der in vieler Hinsicht derjenige ist, der oft mehr von den
Geisteshaltungen inspiriert ist, die in gewissen westlichen Kreisen vorherrschen, als
von den sowjetischen Realitäten der Stalinzeit. Die Verteidigung der heiligen Werte
des Westens gegen alle Arten von realen und imaginären Bedrohungen sowjetischen
Ursprungs, die Bekräftigung unzweifelhafter historischer ebenso wie apriori ideologi-
scher Erfahrungen aller Art gilt als selbstverständlich."361
Ludo Martens kommentiert hier: "Im Klartext sagt Rittersporn folgendes: Ich kann
beweisen, dass die meisten umlaufenden und in Mode befindlichen Auffassungen
über Stalin absolut falsch sind. Aber Rittersporn will auch zum Ausdruck bringen,
dass die Wahrheitssuche ein fast verzweifeltes Unternehmen ist. Wenn man selbst

361
RITTERSPRON (1991), S. 13-15, 38

151
Zur Geschichte der Sowjetunion

schüchtern und verzagt gewisse unleugbare Wahrheiten über die Sowjetunion der
30er Jahre feststellt, wird man als 'stalinistisch' abgestempelt. Die Absurdität der
Situation besteht darin, dass man durch Wahrheitsbeweisantritt bereits riskiert, als
Stalinist denunziert zu werden. Die bürgerliche Propaganda hat der öffentlichen Mei-
nung ein falsches, aber extrem mächtiges Bild über Stalin eingehämmert. Es ist ein
Bild, das obzwar verkehrt, fast unmöglich korrigiert werden kann. Die Emotionen
werden dermaßen angeheizt, sobald man sich diesen Gegenstand zuwendet, dass es
für die Meinungsfreiheit geradezu erschütternd und beschämend ist." 362
Die Arbeiten der im vorliegenden Kapitel zitierten Forscher der sogenannten "revisi-
onistischen Schule" werden in der Öffentlichkeit weitestgehend ignoriert. Sie werden
selten in anderen Sprachen übersetzt und richten sich an ein Publikum, welches eher
ein besonderes Detailinteresse an der sowjetischen Geschichte hat. Das ist bedauer-
lich, da eine Reihe dieser Bücher zwar akademisch hochwertig, aber gleichzeitig
leicht zu lesen ist (z. B. Gettys "Origins of the Great Purges"). Sie werden aber in den
Massenmeiden nicht beworben, kaum in andere Sprachen übersetzt, sodass den meis-
ten historisch Neugierigen diese Werke eher unbekannt sein dürften.
Dass diese Arbeiten nicht die Massenwirkung haben, hat jedoch weniger mit ihrem
akademischen Stil oder der politischen Meinung dieser Autoren zu tun (die bestenfalls
"linke" Antikommunisten sind), sondern dass sie dem Propaganda-Bild der Totalita-
rismus-Doktrin widersprechen. "Historische" Werke jedoch, die diesem Propagand-
abild entsprechen, werden reichlich vermarktet. So ist praktisch jedem Conquest,
Solschenitzyn oder das Schwarzbuch bekannt. Selbst wenn man deren "Literatur"
nicht gelesen hat, sind der "Große Terror", die "Säuberungen", die "Schrecken des
Gulags", der "Holodomor" sowie die angeblichen 100 Mio. Opfer des Kommunismus
jedem geläufig und in den Köpfen verankert worden. Wagt man es, diese Werke zu
kritisieren, wird man entweder als "Stalinist" beschimpft oder mit Holocausleugnern
auf eine Stufe gestellt. So funktioniert die antikommunistische Propaganda: mit weni-
gen sich ständig wiederholenden Schlagworten wird man antikommunistisch konditi-
oniert und reagiert wie (für die Bourgeoisie) gewünscht.
Damit diese Indoktrination auch kein Ende findet, wird die Bourgeoisie nicht müde
ihre Propaganda zu verfeinern und neue Literatur hervorzubringen. Während Conqu-
est und Solschenitzyn, wohl auch das Schwarzbuch des Kommunismus, mittlerweile
"Geschichte" sind, wird seit 2010 ein weiteres Propagandabuch vertrieben. Es handelt
sich um Timothy Snyders "Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin", welches
in mittlerweile über 20 Sprachen übersetzt wurde, so auch auf Deutsch (mittlerweile

362
MARTENS, L. (1994/2014), S. 199 - 200

152
Zur Geschichte der Sowjetunion

in der 5. Auflage!).363 Auf etwa 500 Seiten versucht Snyder dabei, die Sowjetunion
mit Nazideutschland gleichzusetzen, indem er die Tragödien in Osteuropa (Polen,
Ukraine, Weißrussland, Baltikum) versucht darzustellen. Dabei hat er über die Nazis
wenig zu sagen, sondern sein Hauptziel ist Stalin. Snyder tischt die alten Lügen gegen
die Sowjetunion erneut auf: "Holodomor", "Zwangskollektivierung", "stalinistische
Säuberungen", das "Massaker von Katyn", "Deportationen", "Hitler-Stalin-Pakt",
Stalins angeblichen Antisemitismus etc. Sein Buch erhielt in den bürgerlichen Mas-
senmedien hervorragende Rezensionen und wurde in höchsten Tönen gelobt.
Die Problematik des Buches: Seine benutzten Quellen sind höchst problematisch,
ungenau oder schlicht und einfach falsch. Grover Furr (2014a) hat es sich zur Aufga-
be gemacht, sämtliche Fußnoten und Quellen, die Snyder in den Kapiteln über Stalin
und die Sowjetunion nutzt, zu überprüfen. Das Ergebnis: Furr entdeckt, dass alle
Anschuldigungen Snyders gegen Stalin und die Sowjetunion sich als unwahr erwei-
sen. Snyder zitiert hauptsächlich Sekundärliteratur polnischer oder ukrainischer Fa-
schisten. Diese Literatur polnischer und ukrainischer Faschisten bestehen entweder
selbst aus Fälschungen, Behauptungen ohne jegliche Beweise oder aus dem Kontext
gerissenen Zitaten, die die eigentlichen Motive der diesbezüglichen Autoren verfäl-
schen. Selbiges gilt übrigens auch für Snyder: wenn er Primärquellen oder Autoren,
die Primärquellen auswerten, zitiert, dann sind diese völlig aus dem Zusammenhang
gerissen und behaupten im Originaltext oft sogar das Gegenteil von dem, was Snyder
unterstellt. Snyder lügt also offensichtlich über das, was seine Quellen aussagen. Furr
(2014a) hat diese Fälschungen Snyders in seinem Buch "Blood Lies" zusammenge-
tragen.364 Leider ist das Buch noch nicht in deutscher Sprache erschienen, wie die
meisten seiner Werke. Eine deutsche Zusammenfassung von Furrs Arbeiten findet
sich in seiner Rede über seine Forschungen am 30.05.2015 in Berlin. 365
Furrs Untersuchungen über die Geschichte der Sowjetunion zeichnen sich durch eine
akademische Genauigkeit und penible Quellenkritik und Dokumentensammlung aus.
Dass seinen Arbeiten (wohl gerade deswegen?) in westlichen akademischen Kreisen
wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, sollte nicht verwundert. Furr bezeichnet dies
als das "Anti-Stalin-Paradigma". Dieses besagt, dass es in westlichen akademischen
Darstellungen obligatorisch ist, "dass ein Forscher zu Schlüssen kommen muss, die
die antikommunistische Darstellung Stalins als brutalen, bösen Mörder und Diktator,
sowie die Sowjetunion als Ort von Massenmord und Grausamkeit bestätigen. Ist man
nicht bereit, seine Forschung innerhalb dieses tendenziösen Rahmens zu platzieren,
kann man einfach keine akademische Karriere einschlagen." Kein Buch, "welches

363
SNYDER, T. (2015)
364
FURR, G. (2014A)
365
FURR, G. (2015A), S. 38 - 56. Vgl. auch FURR (2016A), S. 36 - 57

153
Zur Geschichte der Sowjetunion

Stalin gegenüber nicht feindlich gesinnt ist", wäre in einem westlichen akademischen
Verlag veröffentlich worden. Würde man als "Stalinismus-Forscher" z. B. in den
USA oder der BRD sein Geld verdienen und ein positives Stalin-Bild vermitteln, wäre
man seinen Job los.366 Folgerichtig ist Furr auch kein Professor für sowjetische Ge-
schichte, sondern lehrt an einem Englisch-Institut.
Das disqualifiziert ihn jedoch keinesfalls gute - und vor allem historisch wahrheitsge-
treue - Bücher über die Sowjetunion zu schreiben. Auf jeden Fall sind sie allemal
qualifizierter als die Ausgüsse eines Conquest, Baberowski oder Snyder! Wir können
an dieser Stelle natürlich nicht die Inhalte von Furrs Arbeit wiedergeben. Dafür sind
die Themen zu vielfältig, der Platz zu gering und dieses Kapitel hat ohnehin den
Schwerpunkt die Ideologie und Methodik der Totalitarismus-Doktrin zu entlarven. In
späteren Büchern werden die Repressionsgeschichten näher untersucht werden. Furrs
aufgelistete Reden (Furr 2015a, 2016a), die im Literaturverzeichnis angegeben sind,
liefern jedoch einen guten Überblick über seine Arbeiten und Ergebnisse.

2.2.4. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 4:


Chruschtschow und Trotzki
Die Totalitarismus-Doktrin ist wesentlicher Bestandteil der antikommunistischen
Propaganda. Sie weist unterschiedliche Abstufungen auf und selbst die "revisionisti-
sche" Schule, die Kritik am Totalitarismus-Modell übt, kommt nicht umhin, die "Ge-
walt" des stalinistischen Regimes zu verurteilen. Doch der Totalitarismus ist nicht nur
ein Werkzeug der politischen Rechten. Auch weite Teile der "Linken" sind von der
Totalitarismus-Doktrin geradezu besessen. Sie lehnen zwar die ideologische Gleich-
setzung von Kommunismus und Faschismus ab, doch ihr Weltbild ist ebenso geprägt
von einem "Antistalinismus". Kurt Gossweiler schreibt zurecht, dass der "Anti-
Stalinismus" überwunden werden muss, um eine einheitliche marxistisch-leninistische
Bewegung wiederherzustellen.367
Durch Nikita Chruschtschows "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956
wurde jedoch der "Antistalinismus" in die kommunistische Weltbewegung einge-
pflanzt.368 Wenn ein Führer des ersten sozialistischen Staates der Welt nun zugibt,
dass unter Stalin "unvorstellbare Verbrechen" verübt worden waren, dann müsse an
der Geschichte doch etwas dran sein? Chruschtschows Geheimrede gegen Stalin ge-
hört zu den einflussreichsten Reden des 20. Jahrhunderts, da sie maßgeblich das Sta-

366
FURR (2016A), S. 54
367
GOSSWEILER, K. (1994A). http://kurt-gossweiler.de/?p=763
368
Die Geheimrede findet sich u. a. hier: CHRUSCHTSCHOW (1956): https://www.1000 doku-
mente.de/?c=dokument_ru&dokument=0014_ent&object=translation&l=de

154
Zur Geschichte der Sowjetunion

lin-Bild auch - und besonders - unter den Linken prägte. Beispielsweise wird in der
DKP der Artikel von Robert Steigerwald "Koba, wozu brauchst du meinen Tod?"
regelmäßig wiederholt, der jedoch nichts weiter ist als eine Wiederholung der Dog-
men Chruschtschows.369 Auf diesen Artikel werden wir gleich nochmal zu sprechen
kommen.
Der XX. Parteitag der KPdSU (und später der XXII. Parteitag 1961) spaltete die
kommunistische Weltbewegung. Neben der Verurteilung Stalins wurden eine Reihe
gefährlicher politischer Thesen dominant, die die Schwächung der kommunistischen
Weltbewegung zur Folge hatten: Friedensfähigkeit des Imperialismus, friedlicher
Übergang zum Sozialismus, Abkehr vom Klassenkampf, Abkehr von der Diktatur des
Proletariats, Abkehr von der zentralen Planwirtschaft unter Einführung von Marktre-
formen, Förderung der Konsumgüterindustrie unter Vernachlässigung der Schwerin-
dustrie (und des damit verbundenen technischen Fortschritts), sowie die Vorstellung,
in den 1980ern alsbald den Kommunismus erreicht zu haben. Diese und weitere As-
pekte, die eine Abkehr von den Prinzipien des Marxismus-Leninismus darstellen,
wurden zurecht u. a. von der Kommunistischen Partei Chinas und der Partei der Ar-
beit Albaniens kritisiert. Doch die Kommunisten Chinas und Albaniens unter der
Führung Mao Tse-Tungs und Enver Hoxhas begangen den Fehler, den sozialistischen
Charakter der Sowjetunion (und der mit ihnen verbündeten Staaten) komplett zu ne-
gieren und redeten sich ein, die Sowjetunion sei gleich kapitalistisch und sozialimpe-
rialistisch.370 Aber auch unter sowjetischen Kommunisten wurden kritische Stimmen
laut. Wir zitieren hier die Aussagen von Saul Lifshitz, eines ukrainischen Kommunis-
ten, der Teilnehmer auf dem XX. Parteitag war:
"Der bedeutende sowjetische Fachmann auf dem Erdölsektor, Nikolai Konstantino-
witsch Bajbakow, Minister für die Erdölindustrie, dann von 1965 – 1985 Vorsitzender
der Staatlichen Plankommission der UdSSR, der sich oft mit Stalin zu Arbeitsgesprä-
chen traf, erinnerte sich an den Schock, den das Referat vom XX. Parteitag 1956
auslöste: 'Gut kann ich mich daran erinnern und ich kann bezeugen, dass im Saal
keine einzige Person war, die dieses Referat nicht erschütterte, die nicht die grausa-
me Direktheit, der Schrecken der aufgeführten Fakten betäubte… Für viele war das
eine Prüfung ihres Glaubens an die kommunistischen Ideale… Die Delegierten verfie-
len in eine gewisse große Erstarrung… Und dennoch, irgendwas mahnte im Hinter-

369
STEIGERWALD (2007)https://www.linksnet.de/artikel/20862
370
Eine Analyse der Auseinandersetzung, mit teils kritischer Anmerkungen, über die Ausei-
nandersetzungen zwischen China und der Sowjetunion findet sich in: AUTORENKOLLEKTIV
(2003). Die Autoren halten jedoch am Bild der "kapitalistischen" Sowjetunion fest. Eine Analy-
se der Intrigen Chruschtschows findet sich in GOSSWEILER, K. (2002) & GOSSWEILER, K. (2005)

155
Zur Geschichte der Sowjetunion

grund zur Vorsicht, besonders irgendwas Unnatürliches, zum Protest Reizendes …


Die Fakten schwebten davon und verloren an Bedeutung und Schärfe. Das Gespräch
drehte sich in vieler Hinsicht nicht um den Personenkult, sondern einfach um die
Persönlichkeit Stalins im Leben und in unserem Sein. Offenkundig war, dass der Re-
ferent das menschliche Bild Stalins diskreditierte und schmähte. Der von
Chruschtschow dargestellte Stalin passte irgendwie nicht zu diesem lebendigen Bild,
an das ich mich klar erinnerte. Stalin sei starrköpfig gewesen und habe keine andere
Meinung akzeptiert? Hat er wirklich Menschen in raffiniert herabsetzender Weise
verhöhnt? Das war doch in Wirklichkeit nicht so. War Stalin in Militärfragen inkom-
petent? Leitete er die Operationen an der Front auf einem Globus? Auch das war
offenkundig wieder eine grobe Unwahrheit. Der Mensch, der Hunderte und Hunderte
von Büchern über Geschichte, die Kriegskunst studiert hatte, der die Pläne und
Schemata aller Operationen des Krieges im Gedächtnis behielt? Zu welchem Zweck
nimmt man dann nur den Globus, wie passten alle diese Gedanken und persönlichen
Bewertungen mit der harten unwiderlegbaren Wahrheit zusammen? Zu welchem
Zweck nahm man unsere Missgeschicke und wälzte alles nur auf Stalin, nur auf ihn
allein ab? Ging es um eine angeschwärzte Wahrheit und dick aufgetragene Lüge?
Der Mensch, der das Land geführt hat, der einen großen starken Staat aufgebaut hat,
konnte doch nicht sein bewusst vorsätzlicher Verderber sein?… Im Sarkasmus von
Chruschtschow blickte sein unverhüllter persönlicher Hass durch…'
Chruschtschow führte die Kampagne gegen Stalin unter der Losung der Rückkehr zu
den Prinzipien der kollektiven Führung, aber in der Praxis trat er sie selbst mit Füßen,
zwang anderen seine Meinung auf, beseitigte das selbständige Denken. Während
Stalin das selbständige Denken und den Initiativreichtum für den Aufbau des Sozia-
lismus anregte und ermutigte, bemühte sich Chruschtschow mit allen Mitteln, diese
Qualitäten zu beseitigen und umgab sich mit Leuten ohne Initiative, mit Leuten, die
ihm hörig waren.
Das Auftreten Chruschtschows fügte dem Lande und seiner internationalen Autorität
großen Schaden zu. Es bestätigte die antisowjetische Propaganda und verlieh ihr ein
Gewicht, das ihr nicht zustand."371
Schon einige Aussagen Chruschtschows gegen Stalin, z. B. seine verlogene Behaup-
tung über Stalins angebliche Demoralisierung nach dem Einmarsch der Hitler-
Faschisten 1941, sind schon lange in das Reich der Legenden verbannt worden. 372 J.
Arch Getty schreibt in "Origins of the Great Purges": "Andere Unstimmigkeiten in

371
LIFSHITZ, S. (2008), S. 60 - 64, S. 60-61 http://offen-siv.kommunistische-
geschichte.de/2008/08-03_Januar-Februar.pdf
372
Vgl. BLAND, B. (2000) http://www.oneparty.co.uk/compass/compass/com13501.html

156
Zur Geschichte der Sowjetunion

Chruschtschows Darstellungen beinhalten die augenscheinliche Verwechslung von


Jeschow mit Beria. Während Jeschows Name nur vereinzelt Erwähnung findet, wird
Beria zahlreicher Missetaten und Repressalien angeklagt, obwohl letzterer bis 1938
nur ein regionaler Sekretär war. Weiterhin wird in vielen Berichten angegeben, dass
der Polizeiterror nachzulassen begann, als Beria 1938 an Jeschows Stelle trat. Könnte
Chruschtschow in seinem Bericht passenderweise Jeschow durch Beria ersetzt haben?
Was könnte sonst noch verwischt worden sein? Auf jeden Fall machte die durch
Chruschtschow und seine Führungsmannschaft kurzerhand erfolgte Hinrichtung Be-
rias aus ihm einen geeigneten Sündenbock. Chruschtschows opportunistische Instru-
mentalisierung Berias wirft auf jeden Fall Zweifel an der Genauigkeit seiner anderen
Behauptungen auf."373
Doch damit nicht genug: Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass sämtliche Vorwür-
fe gegen Stalin in diesem Geheimbericht entweder Lügen, aus dem Kontext gerissene
Zitate und Zusammenhänge oder Halbwahrheiten sind. Grover Furr ist der erste His-
toriker, der sich daran machte, die gesamte Geheimrede zu überprüfen und jede der
Aussagen Chruschtschows anhand von Originaldokumenten und Quellen zu überprü-
fen. Er veröffentlichte seine Ergebnisse in einem Buch, welches mittlerweile auch in
deutscher Sprache erschienen ist.374 Furrs Buch fand unter den Verteidigern der Ge-
heimrede logischerweise wenig Zustimmung. Dabei fällt auf, dass diverse Kritiker
ähnliche Methoden anwenden, Furrs Buch zu "zerreißen", wie man sie sonst nur von
den oben geschilderten Antikommunisten kennt. So werden gerne selektiv einzelne
Aussagen und Kommentare Furrs aus dem Kontext gerissen, um so den Vorwurf zu
konstruieren, Furr wolle Stalin "reinwaschen". Jedoch wird von Furrs Quellenmaterial
so gut wie keine Notiz genommen. 375
Kommen wir zurück zu Steigerwalds Artikel "Koba wozu brauchst du meinen Tod?".
Steigerwald wiederholt hier die Aussagen Chruschtschows auf dem XX. Parteitag.
Dabei hat er neben dem Geheimbericht Chruschtschows zwei Lieblingsquellen: So
zitiert er an einigen Stellen das Interview von Felix Chuev mit Molotow, jedoch sind
es unbedeutende Stellen oder aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen. So zitiert
Steigerwald: "Die Rede ist von Molotow. Im Jahre 1973 sagte er in einem Interview:
'Die Geständnisse' (der Moskauer Prozesse) 'schienen nicht echt und übertrieben zu
sein. Ich erachte es für unvorstellbar, dass Rykow, Bucharin und sogar Trotzki den
sowjetischen Fernen Osten, die Ukraine und selbst den Kaukasus an eine fremde

373
GETTY (1985), S. 268 Fußnote 28
374
FURR, G. (2014)
375
Vgl. hierzu: STEIN, K. (2015), S. 35 - 37 und als Widerlegung von Steins Diffamierungen:
KRENZ, M. (2015), S. 37 - 41

157
Zur Geschichte der Sowjetunion

Macht abtreten wollten. Das schließe ich aus.' Aber gerade wegen dieser Vorwürfe
wurden Bucharin und Rykow erschossen!" 376
Steigerwald zitiert Molotow jedoch aus dem Zusammenhang gerissen. Einige Zeilen
weiter oben schildert Molotow, dass allerhöchstens 10% der Aussagen der Angeklag-
ten übertrieben und unwahr erscheinen. Molotow stellt dies so dar, dass die Ange-
klagten auch bewusst falsche Aussagen machten, um die Prozesse absurd aussehen zu
lassen. Molotow interpretiert es als einen "letzten" Angriff der Verschwörer im
Kampf gegen die Partei. Zu diesen maximal 10% Unwahrheiten zählen für ihn u. a.
die Geständnisse, dass Teile der Ukraine und des Kaukasus an die Deutschen überge-
ben werden sollten.377 Es bleibt zu überprüfen, inwiefern Molotow da Recht hat. 35
Jahre lagen zwischen Molotows Aussagen und dem letzten Moskauer Prozess und
Molotow erzählt hier aus seinen Erinnerungen. Inwieweit er an den Untersuchungen
beteiligt war und wie viel er nach so vielen Jahren "vergessen" hat, lässt sich anhand
des Interviews nicht feststellen. Folgerichtig ist dieses Zitat keine Bekräftigung dafür,
dass die Angeklagten der Moskauer Prozesse unschuldig waren. Genauso ist Steiger-
walds Behauptung falsch, dass Bucharin und Rykow wegen der Abtretung der Ukrai-
ne erschossen wurden. Das war nur einer der vielen Anklagepunkte gegen die Ver-
schwörer und Molotow schloss nur diesen einen Vorwurf aus!
Die zweite Hauptquelle Steigerwalds ist Roy Medwedew, von dem wir schon weiter
oben erfahren haben, dass seine Informationen nur auf Gerüchten basieren und nicht
auf fundierten Materialien. Dies steht auch im Zusammenhang mit Steigerwalds Titel
seines Artikels: "Koba, wozu brauchst du meinen Tod?" Dieser Satz soll angeblich
aus Bucharins letztem Brief an Stalin stammen. Dieser soll angeblich von einem
Chruschtschow-Vertrauten - A. V. Snegov - auf dem Schreibtisch in Stalins Datsche
gefunden worden sein. Medwedew erwähnt diesen Brief nicht in seiner Originalfas-
sung von "Let History Judge", jedoch in seiner 1980 erschienen Biographie von
Bucharin. Die Geschichte soll Medwedew angeblich von Snegov in einem Interview
gehört haben. Diese Story ist in der revidierten und erweiterten Fassung von "Let
History Judge" von 1989, sowie in "The Unknown Stalin" erwähnt worden. 378 Jedoch
wird der angebliche Brief Bucharins in diesen verschiedenen Werken unterschiedlich
zitiert: So soll der Satz "Koba, wozu brauchst du meinen Tod?" entweder zu Beginn
oder zum Ende des Briefes stehen. Außerdem gibt es unterschiedliche Tempusfor-

376
Vgl. CHUEV, F. (1993), S. 264 -> STEIGERWALD (2007) gibt hier eine falsche Seitenzahl an
377
Vgl. CHUEV (1993), S. 264
378
Vgl. MEDVEDEV, Z. A. & MEDVEDEV, R. A. (2004), S. 69- 70, S. 91-92, S. 309; MEDVEDEV,
R. A. (1980), S. 161; MEDVEDEV (1989), S. 375. In seiner früheren Version MEDVEDEV (1971)
dankt er zwar Snegov in seinem Vorwort, erwähnt aber im gesamten Buch die Geschichte über
Bucharins Brief nicht.

158
Zur Geschichte der Sowjetunion

men: mal steht es in der Gegenwartsform, mal in der Vergangenheit. Offensichtlich


scheint dieser angebliche Brief Bucharins nicht in den Archiven aufzufinden zu sein,
da z. B. Dimitri Wolkogonow diesen Brief in seiner Stalin-Biographie nicht erwähnt,
obwohl Wolkogonow anders als Medwedew Zugang zu den Archiven hatte und aus
diesen zitiert. Dieser angebliche Brief Bucharins wurde niemals dokumentiert und
Medwedew hat diesen nur aus den Erinnerungen eines Chruschtschow-Vertrauten
(Snegov), der ihm diese Geschichte erzählte. Snegov selbst hatte, als er den Brief -
nebst anderen - angeblich gefunden habe, selbst keine Zeugen gehabt und dieser ist
aller Wahrscheinlichkeit nach nie archiviert worden, sofern er überhaupt existierte. 379
Folgerichtig ist es eine nur auf Gerüchten basierende „Information“ und es wirkt
schon grotesk, dass Steigerwald, der ein wichtiger Ideologe der DKP war, Medwedew
vorbehaltslos zitiert, als ob es sich bei Medwedew um den besten Historiker der sow-
jetischen Geschichte handle.
Es sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass Stalin nicht der erste in der Geschichte ist,
der propagandistisch in ein blutrünstiges Monster verwandelt wird. Bill Bland erin-
nert, um deutlich zu machen, dass Geschichtsbilder häufig von den Interessen der
jeweils Herrschenden abhängen, z. B. an Richard III.: "Wenn wir die britische Ge-
schichte nehmen, dann kommt wohl König Richard, der Dritte, den jeder 'kennt',
Stalin am nächsten – ich setze das Wort 'kennt' in Anführungszeichen -, den unsere
Geschichtsbücher und Shakespeare als ein grausames, unförmiges Monster beschrei-
ben, der die kleine Prinzessin im Turm ermordete. Es ist noch gar nicht so lange her,
dass seriösen Historikern aufgefallen ist, dass das allgemein akzeptierte Bild von
Richard III von seinen Nachfolgern, den Tudors, gezeichnet wurde, die ihn vom
Thron stürzten und ihn anschließend ermordeten. Nur zu natürlich, dass sie sich dann
daranmachten, die Chroniken umzuschreiben, um die Besetzung des Throns zu recht-
fertigen. Sie änderten sogar die Porträts von ihm, um ihn als physisch verunstaltet, als
physisches und moralisches Ungeheuer darzustellen. Mit anderen Worten: Das Bild
von Richard, das heute noch allgemein akzeptiert wird, war nicht das Ergebnis der
historischen Wahrheit, sondern das der damaligen Propaganda seiner politischen
Gegner. Es ist deshalb legitim zu fragen: Ist das Bild von Stalin, das uns von ‚Kreml-
forschern‘ serviert wird, eine historische Tatsache oder bloße Propaganda?" 380
Auch Robespierre blieb von solchen Verleumdungen nicht verschont: "In Frankreich
wurden die Jakobiner nach dem Thermidor auch moralisch der Guillotine ausgeliefert.
Es breitete sich eine Publizistik aus, die sie als 'jene Sultane', 'jene Satyrn' apostro-

379
Die Geschichte über Bucharins letzten Brief ist von FURR & BOBROV (2009). Die Zitate aus
den Werken Medwedews werden dort wiedergegeben.
https://msuweb.montclair.edu/~furrg/research/bukhlastplea.html
380
BLAND, B. (2014)https://sascha313.wordpress.com/2014/04/22/3466/

159
Zur Geschichte der Sowjetunion

phierte, die überall 'Vergnügungsstätten', 'Örtlichkeiten für Orgien' eingerichtet hät-


ten, wo 'sie sich allerlei Exzessen hingaben'. Zusammen mit der sexuellen Libido
werde Robespierre vor allem von der libido dominandi verzehrt: Er schickte sich an,
die Tochter Ludwigs XVI. zu heiraten, um den Thron Frankreichs zu besteigen. Zwei-
fellos war die Anklage sensationell, doch an Beweisen fehlte es nicht – sie waren
sogar im Überfluss vorhanden. Der 'Ehevertrag' war schon unterzeichnet; außerdem
war im Haus des soeben hingerichteten Tyrannen das 'Siegel mit der Lilie Frank-
reichs', d.h. das Siegel der bourbonischen Dynastie gefunden worden. Es gab keine
Zweifel mehr: Robespierre wollte König von Frankreich werden, dafür hatte er den
Terror entfesselt! Die Exponenten des Thermidor wetteiferten darum, die Zahlen der
Opfer des Terrors in die Höhe zu treiben: Zehntausende, Hunderttausende, ja Millio-
nen! (…) In der Geschichte geschieht es wohl, dass eine Revolution oder revolutionä-
re Bewegung, nachdem sie niedergeschlagen wurde, unter verleumderischen An-
schuldigen begraben wird. Heutzutage nimmt nicht mal der fanatischste Antijakobiner
die Vorwürfe der Zeitgenossen gegen Robespierre ernst (…). Stalin dagegen hat we-
niger Glück."381
Doch auch schon vor Chruschtschow hat ein gewisser Leo Trotzki Stalin und den
sowjetischen Sozialismus verunglimpft, doch sein Geschrei gegen den "Stalinschen
Thermidor" wurde zu seinen Lebzeiten von der Arbeiterbewegung weitestgehend
ignoriert. Erst mit dem Geheimbericht auf dem XX. Parteitag haben Trotzkis Aussa-
gen "Gültigkeit" erhalten. Da wir uns an mehreren Stellen in diesem Buch mit Trotz-
kis Positionen auseinandersetzen wollen, konzentrieren wir uns hier nur auf das "Ar-
gument" des Totalitarismus. Denn tatsächlich, noch bevor Hannah Arendt ihr Werk
verfasste, war es Trotzki, der den Begriff des Totalitarismus verwendete, um Hitler
und Stalin gleichzusetzen. Wadim Rogowin, ein russischer Soziologe, der dem Trotz-
kismus anhängt, verfasste mehrere Bücher über die "Linke Opposition" und das Wir-
ken Leo Trotzkis. Rogowin nutzt nicht selten fragwürdige Quellen. Er zitiert Groß-
teils Trotzki bzw. seine Anhänger oder aus dem Bulletin der Opposition (also trotzkis-
tische Literatur aus den 30ern und 40ern). Hinzu kommen offensichtliche Fälscher
wie A. Orlow, ein Deserteur, der abenteuerliche Geschichten erzählt, wie z.B., dass
Stalin an der Ermordung Kirows beteiligt gewesen sein soll. Weiterhin bezieht sich
Rogowin viel auf Propaganda aus der Gorbatschow-Ära oder Memoiren von Antista-
linisten wie Chruschtschow oder Andre Gide. Er zeigt also das typische Problem, wie
wir es bei Conquest, Solschenitzyn und Medwedew besprochen haben. Um aber Ro-
gowin gerecht zu werden: Er verwendet auch eine Reihe wertvoller Quellen, die in
russischen Zeitschriften veröffentlicht wurden und aus den Archiven der Sowjetunion
(oder anderen Archiven) stammen. In einem seiner Werke mit dem Titel: "Vor dem

381
LOSURDO, D. (2014): Vorwort zu FURR (2014), S.11f.

160
Zur Geschichte der Sowjetunion

großen Terror, Stalins Neo-NÖP" schildert Rogowin die Vergleiche zwischen Hitler
und Stalin:
"Schon seit den ersten Jahren der Hitler-Diktatur erörterte die internationale Presse
ausführlich Fragen des Verhältnisses zwischen Faschismus und Stalinismus. Für je-
den unvoreingenommenen Menschen war deutlich, dass beide politische Regime
bestimmte gemeinsame Merkmale hatten: die Beseitigung der demokratischen Institu-
tionen im Land und in der regierenden Partei, die völlige Beschneidung der politi-
schen Freiheiten und der Menschenrechte, gnadenloser Terror gegen die politischen
Gegner, die Verfolgung sämtlicher Andersdenkender und den Führerkult. In diesem
Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Trotzki den Begriff 'Nationalsozialis-
mus' (…) noch bevor dieser in das internationale Vokabular eingegangen war, mehr-
mals zur Charakterisierung der Ideologie und Politik des Stalinismus verwendet hatte
(er meinte damit die Orientierung des Stalinismus ausschließlich auf die Lösung nati-
onalstaatlicher Aufgaben)"382
Was macht hier Rogowin? Zum einen wiederholt er die typischen Plattitüden der
Totalitarismus-Doktrin. Ihre Probleme haben wir weiter oben genauestens analysiert.
Aber anstatt einer fundierten Kritik an dieser Doktrin zu üben, berichtet er voller
Stolz, dass Trotzki den Begriff des Nationalsozialismus für den "Stalinismus" ver-
wendete. Im Folgenden erwähnt Rogowin Beispiele, dass diverse "linke" und "rechte"
Kritiker des "Stalinismus" Merkmale herausfanden (besser: erfanden), die das faschis-
tische und "stalinistische" Regime charakterisierten: Victor Serge, M. N. Rjutin, G. P.
Fedotow und N. Berdjajew werden von Rogowin als Kronzeugen erwähnt. 383
Rogowin zitiert Fedotow, der Mussolini, Hitler und Lenin als Kämpfer aufgelistet, die
ihre Massen mobilisieren müssen und bemerkt: "In diesem Zitat, das die Degeneration
des Bolschewismus zum Stalinismus beschreibt, könnte es einem kommunistisch
denkenden Menschen wie eine Lästerung erscheinen, dass der Name Lenins in einem
Zuge mit den Namen faschistischer Diktatoren genannt wird. Ein Vergleich des wah-
ren Bolschewismus, des Leninismus, mit dem Faschismus ist jedoch in gewisser Wei-
se begründet [! - M. K.], wenn man die Ähnlichkeit nicht der jeweiligen Gesell-
schaftssysteme, sondern der Methoden im politischen Kampf und der Einflussnahme
auf die Massen betrachtet. Trotzki (…) [schrieb]: 'Im Verlauf des Kampfes tauschen
Todfeinde nicht selten die Waffen.' (…) 'Der Faschismus [habe] im Kampf um die
Macht so manches vom Bolschewismus übernommen', was die Methoden des politi-
schen Kampfes beträfe. Die sowjetische Bürokratie ihrerseits, die mit den ideologi-
schen Prinzipien des Bolschewismus gebrochen habe, habe sich 'in der letzten Periode

382
ROGOWIN (2000), S. 199
383
ROGOWIN (2000), S. 199 - 203

161
Zur Geschichte der Sowjetunion

… so manche Züge des siegreichen Faschismus zueigen gemacht …, besonders die


Befreiung von der Kontrolle der Partei und die Einführung des Führerkults.'"384
Für einen kommunistisch denkenden Menschen wirkt es nicht nur wie eine Lästerung,
sondern wie ein Verrat und Verbrechen überhaupt, daran zu denken, dass der Bol-
schewismus und der Faschismus irgendetwas gemein haben, auch bei den "Kampfme-
thoden". Solch eine Verleumdung und oberflächliche Analyse könnte man von den
krassesten Antikommunisten erwarten. Natürlich erwähnt Rogowin, dass Trotzki
keine absolute Gleichsetzung beider Systeme vorsah, da beide unterschiedliche öko-
nomische Grundlagen hatten. Trotzki vergleiche beide Systeme nur im Bereich des
Überbaus. Totalitarismus sei für Trotzki ein politisches Regime. Aber genau das ma-
chen bürgerliche Totalitarismus-Anhänger genauso. Wie bei Trotzki, so ist auch bei
ihnen die Ökonomie nur eine Randerscheinung. Wie rechtfertigt das Rogowin? Fol-
gendes sei zitiert:
"Die späteren Autoren antikommunistischer Ausrichtung, die unfähig waren, die
historischen Ereignisse dialektisch zu analysieren, verwendeten gern den (…) Begriff
'Totalitarismus' zur Gleichsetzung des bolschewistischen, stalinistischen und faschis-
tischen Regimes. (…) Im Gegensatz dazu beruht die Charakterisierung des Stalinis-
mus und Faschismus als totalitäre politische Regime auf einer soliden [! - M. K.]
Grundlage. Trotzki, der mit dem Begriff 'Totalitarismus' das politische und ideologi-
sche Wesen des Stalinismus und Faschismus beschrieb, betonte: Diese Regime 'stel-
len trotz der tiefen Verschiedenheit ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Erschei-
nungen dar. In vielen Zügen seien sie einander erschreckend ähnlich.'" 385
Völlig unabhängig davon, ob zwei Regime, die auf verschiedenen sozialen Grundla-
gen überhaupt symmetrische Erscheinungen aufzeigen können, retuschiert Rogowin
Trotzkis Unwissenschaftlichkeit mit dem schön klingenden Wort "Dialektik". Wir
werden später noch sehen, wie dialektisch Trotzki wirklich dachte.
Desweiteren zitiert Rogowin etwas später aus den Tischgesprächen Hitlers, dass die-
ser Stalin als Genie bewundere.386 Die Tischgespräche Hitlers sind von Henry Picker
aufgezeichnet worden und gelten als historisch korrekt und wurden mehrmals aufge-
legt.387 Doch was sollen solche Aussagen Hitlers beweisen? Eine Gleichsetzung si-
cherlich nicht, da eine ganze Reihe historischer Persönlichkeiten sich positiv über
Stalin äußerten. Doch für Trotzki und den Trotzkisten Rogowin ist jede noch so posi-
tive Äußerung Stalins eine Lüge und wenn Hitler sagte, Stalin sei ein Genie, dann

384
ROGOWIN (2000); S. 202
385
ROGOWIN (2000); S. 203
386
ROGOWIN (2000), S. 210
387
Z. B. PICKER, H. (2003)

162
Zur Geschichte der Sowjetunion

sind beide Persönlichkeiten gleich, denn - aller anderen Aussagen historischer Persön-
lichkeiten zum Trotz: nur Trotzki kannte den wahren Stalin und daher ist nur seine
Aussage authentisch: "Stalin, dem es an Kreativität und Erfindergeist mangelt und der
von äußerst unscheinbaren Menschen umgeben ist, ahmt ganz deutlich Hitler nach,
der ihm mit seinem Erfindergeist und seiner Kühnheit imponiert."388
Trotzki die einzig wahre Lichtgestalt der kommunistischen Bewegung als Erfinder
der Totalitarismus-Doktrin - Licht aus!

2.2.5. Unwissenschaftliche Totalitarismus-Doktrin Teil 5:


Das Elend des Popperismus
Die Unwissenschaftlichkeit der Totalitarismus-Doktrin zeigt sich nicht nur in der
Geschichtswissenschaft. Die Totalitarismus-Doktrin hat auch ihre wissenschaftsphilo-
sophischen Hintergründe. Als einer der berühmtesten Wissenschaftsphilosophen in
der westlichen Hemisphäre gilt Karl Raimund Popper. Er begründete die philosophi-
sche Denkrichtung des kritischen Rationalismus. Grundauffassung Poppers ist das
Prinzip der Falsifikation. Damit eine Wissenschaft sich Wissenschaft nennen kann,
reicht es nicht aus, dass diese ihre theoretischen Sätze beweisen kann, sondern sie
muss auch prinzipiell widerlegbar sein. Eine Theorie ist also dann falsifizierbar (und
damit wissenschaftlich), wenn sie es zulässt, sich zu widerlegen.389 Das klassische
Lehrbuchbeispiel ist die Frage, ob alle Schwäne weiß sind. Die klassische Sicht der
Wissenschaftstheorie war es, diese Hypothesen zu 'beweisen'. Da es jedoch auch
schwarze Schwäne gibt, ist der logische Schluss, dass die Aussage "Alle Schwäne
sind weiß" falsch ist. Das Prinzip der Falsifizierbarkeit strebt somit die Hinterfragung,
den Versuch der Widerlegung, von Hypothesen an. Soweit so gut.
In der Wissenschaftstheorie gab es diverse Diskussionen darüber, in wieweit Poppers
Prinzip der Falsifikation zutrifft. Das Grundproblem ist, dass die Relativität der wis-
senschaftlichen Kenntnisse verabsolutiert wird, sodass der Gegensatz zwischen
Wahrheit und Irrtum verwischt wird.390 Wichtig ist dabei anzumerken, dass Poppers
Prinzip der Falsifikation nichts weiter ist als das Verifikationsprinzip (also dass wis-
senschaftliche Aussagen beweisen werden müssen) mit negativem Vorzeichen.
Wissenschaftstheoretisch gibt es immer die Möglichkeit, dass Teile einer wissen-
schaftlichen Hypothese nicht mit neuen Fakten oder Ereignissen übereinstimmen.
Dies erfordert die Modifizierung einer wissenschaftlichen Theorie, jedoch nicht ihre

388
Trotzkis Biographie über Stalin, zitiert in ROGOWIN (2000), S. 209
389
Vgl. KEUTH, H. (HRSG., 2013)
390
Zur weiteren Diskussion vgl. OISERMAN, T. I. (1978), S. 1196 - 1208

163
Zur Geschichte der Sowjetunion

völlige Ablehnung. Bei der Beurteilung der Qualität einer wissenschaftlichen Analyse
kommt es darauf an, ob die Realität möglichst genau beschrieben werden kann und
nicht darauf, ob sie bewiesen oder widerlegt werden kann (nicht zuletzt, weil Wissen-
schaft deutlich mehr ist als das Sammeln von Datensätzen). So haben z. B. die Quan-
tenphysik und die Relativitätstheorie die klassische Mechanik von Newton weder
widerlegt noch ersetzt. Newtons mechanische Gesetze haben noch heute ihre Gültig-
keit (ohne diese wäre z. B. der Flug ins Weltall undenkbar), aber diese sind nicht
universell, sondern nur auf makroskopische Körper anwendbar. In manchen Fällen
sind jedoch die Abweichungen in der Beschreibung durch die Mechanik zu groß.
Diese werden von der Relativitätstheorie und der Quantenphysik ergänzt. Genauso
wenig hat Lenin durch seine Analyse des Imperialismus Marx und Engels widerlegt,
sondern um wichtige Punkte ergänzt, die die Veränderungen, seitdem Marx das Kapi-
tal verfasste, mit einbezieht.
Uns sollen nun weniger die naturwissenschaftlichen Auffassungen Poppers interessie-
ren, sondern seine gesellschaftspolitischen. Denn Popper lehnt die historischen Ge-
setzmäßigkeiten in der Geschichtswissenschaft ab. So wie alle Naturerscheinungen in
wechselseitigen Zusammenhängen miteinander verbunden sind, so trifft dies auch auf
gesellschaftliche Erscheinungen zu. Die menschliche Gesellschaft, die Ökonomie und
Politik sind nicht eine Ansammlung beliebiger "Zufälle", sondern auch sie haben ihre
innere Logik. Und so wie die Naturwissenschaften erkennbar sind, sind die gesell-
schaftlichen Zusammenhänge und ihre Gesetzmäßigkeiten erkennbar. Somit ist die
Gesellschaftswissenschaft trotz der Kompliziertheit ihrer Erscheinungen ebenso eine
exakte Wissenschaft wie die Biologie oder die Physik. Aufgabe der Geschichtswis-
senschaft sollte es sein, diese Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Daraus lässt sich die
logische Folge ableiten, dass es auch in der Gesellschaftswissenschaft und in der
Politik ein richtig und falsch gibt.
Und damit haben die Ideologen der Bourgeoisie und Befürworter des Kapitalismus
ein Problem. Ihrer Ansicht nach soll die Gesellschaft nicht erkennbar sein, sie sei
nichts weiter als ein Zusammenwürfeln (irrationaler?) Zufälle und mehrerer konkur-
rierender, jedoch gleichberechtigter Ideen und Hypothesen. Werden gesellschaftliche
Zusammenhänge nicht erkannt, braucht die Bourgeoisie ihre Macht nicht zu fürchten.
Daher trifft es kein Wunder, dass Irrationalisten wie Baberowski gefördert werden.
Popper gehört ebenso zu jenen Vertretern, die behaupten, dass es keine wissenschaft-
liche Theorie der geschichtlichen Entwicklung geben könne, da jede Generation neue
Fragen an die Geschichte stelle. Die hier formulierte These, dass das Stellen neuer
Fragen die Erkenntnis geschichtlicher Entwicklungen nicht erlauben würde, wirkt
nicht überzeugend, da dies ja auch im Prinzip für die Naturwissenschaften gilt, die
aber solche Entwicklungen verfolgen.

164
Zur Geschichte der Sowjetunion

Eine umfassende Konzeption seiner Ideen finden sich in seinen Werken "Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde" 391 und "Das Elend des Historizismus".392 Unter "Histo-
rizismus" ist die Gesetzmäßigkeit und Voraussagbarkeit in der Geschichte zu verste-
hen (bzw. das, was sich Popper darunter vorstellt), während die "offene Gesellschaft"
eine Umschreibung für die bürgerlich-demokratische Gesellschaft (also kurz und
knapp: ein Euphemismus für den Kapitalismus) ist. Popper ist somit Gegner des histo-
rischen Materialismus und der Anerkennung objektiver Gesetzmäßigkeiten in der
Menschheitsgeschichte. Er wendet sich dabei gegen die "totalitären Gesellschaften"
(Faschismus, Kommunismus), die auf den Ideen von Platon, Hegel und Marx fußen.
Folgerichtig versucht Popper, die Totalitarismus-Doktrin philosophisch zu beweisen,
weshalb sich eine genauere Auseinandersetzung mit seinen Thesen lohnt.
Popper sieht sich als "Kritiker" von Hegels Dialektik, die dann von Marx auf den
Materialismus angewendet wurde. Jedoch enthält Poppers Kapitel über Hegel eine
Reihe von Missverständnissen und aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten. 393
Eine Reihe der Kritikpunkte, die Popper an Hegel hat, finden sich in Poppers Positio-
nen selbst wieder.394 Wir bringen im Folgenden die wichtigsten Kritikpunkte aus
Robert Steigerwalds Werk "Abschied vom Materialismus?" an Poppers Positionen
zum "Historizismus" (über Popper hat Steigerwald offensichtlich mehr Ahnung als
über Stalin):
"Popper behauptet, der moderne Materialismus sei darum verstärkt dogmatisch, weil
er sich der Falsifikation entziehen wolle. In Wahrheit müssen Popper und seinesglei-
chen erst einmal versuchen, diese Falsifikation zu leisten. Der Marxismus wäre wider-
legt, wenn der Nachweis gelänge, dass es in einer Gesellschaft mit sehr niedrigen
Produktivkräften eine allgemeine, kapitalistische Warenproduktion gäbe. Er wäre
widerlegt, wenn es eine Gesellschaft mit privatem Produktionsmitteleigentum ohne
Klassen und Klassenkampf gäbe. Popper verwechselt ganz offensichtlich die angebli-
che Unmöglichkeit der Falsifizierung einer These mit dem Falsifiziertsein von sol-
chen Thesen. Aus der Tatsache, dass der Marxismus nicht falsifiziert ist, folgt nicht,
dass er die dogmatische Position bezieht, er sei unwiderlegbar. Popper würde jeden-
falls nicht aus der Tatsache, dass der Energieerhaltungssatz bis heute nicht falsifiziert
worden ist, folgern, dass dieser Satz kein physikalisches Gesetz, sondern ein Dogma
sei."395

391
POPPER, K. (1992)
392
POPPER, K. (2003)
393
Vgl. KAUFMANN http://hegel-system.de/popper/W.Kaufmann-
Hegel_%20Legend_und_Wirklichkeit.pdf
394
Vgl. MAURER, R. (1964)S. 477 - 487
395
STEIGERWALD (1994), S. 265

165
Zur Geschichte der Sowjetunion

Popper kritisiert an Marx, dass dieser ein deterministisches, also alles vorhersehendes
Geschichtsbild entworfen habe. Man könne jedoch nicht alles vorhersehen. Da der
Marxismus aber angeblich solch eine Determiniertheit fordert, mache er die Men-
schen unfrei. Popper versteht als Gegner der Dialektik natürlich nicht, dass Marx eben
ein Gegner eines solchen mechanischen Determinismus war:
"Zunächst darf wohl gesagt werden, dass der Geschichtsmaterialismus solchen Un-
sinn, wie ihm da über Gesetzmäßigkeit und Voraussagbarkeit unterstellt wird, nicht
behauptet. Man lese beispielsweise nach, mit welchem beißenden Spott sich Friedrich
Engels in der 'Naturdialektik' gegen diesen mechanischen Determinismus wandte und
seinen zutiefst theologischen Charakter bloßlegte (MEW XX, 487 ff.). Popper hat
sich hier einen Pappkameraden aufgebaut, ihn Marxismus genannt und dann auf ihn
geschossen. Untersucht man jedoch das Problem von Interdeterminiertheit und Frei-
heit ein wenig, so zeigt sich, dass Freiheit doch unser Vermögen bedeutet, entspre-
chend bestimmten Plänen und auf der Grundlage der erkannten Gesetzmäßigkeit in
Natur und Gesellschaft auf die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen unse-
res Lebens einwirken zu können. Wenn nun diese Bedingungen völlig regellos, chao-
tisch, 'unberechenbar' reagierten, wären wir niemals fähig, irgendetwas zu planen und
zur Verwirklichung solcher Pläne aktiv zu werden. Nicht einmal Poppers kleine Feh-
lerkorrekturen wären möglich. Planvolles Handeln, Veränderungen unseres Seins und
damit Freiheit sind folglich nur möglich, sofern es objektive Regelmäßigkeit und
Gesetzmäßigkeit gibt, sofern wir sie erkennen und in unserem Handeln berücksichti-
gen können."396
Popper hat 5 "Argumente" gegen den historischen Materialismus 397:
1. In der Geschichte gäbe es keine allgemeinen Gesetze, allerhöchstens Tendenzen
oder empirisch feststellbare Regelmäßigkeiten, die jedoch nicht notwendig wirken.
2. Weil unser Wissen in der Gesellschaft wächst, wir aber über diesen Wissenszu-
wachs nichts Sicheres sagen können, ist historische Voraussagen nicht möglich.
3. Naturgesetze seien von Raum und Zeit unabhängig, geschichtliche Gesetzmäßig-
keiten jedoch nicht.
4. Eine Annahme universaler historischer Gesetze bedeutet die Voraussetzung eines
diese Gesetze erzeugenden objektiven Wesens. Solche Gesetze dienen jedoch der
Versklavung des Individuums.

396
STEIGERWALD (1994), S. 267
397
Vgl. STEIGERWALD (1994), S. 267 - 270

166
Zur Geschichte der Sowjetunion

5. Mikrosoziologische Voraussagungen seien zwar möglich, jedoch keine makrosozi-


ologischen.
Steigerwald Hält Poppers Vorwürfen entgegen: "Es gibt allgemeine Gesetze des ge-
sellschaftlichen Lebens: Das Gesetz der zunehmenden Arbeitsteilung, das Gesetz des
Klassenkampfes als Triebkraft von einigen Formationen der gesellschaftlichen Ent-
wicklung. Zu fragen ist auch: Wenn keine geschichtliche Entwicklung stattfände, wie
erkläre es sich dann, dass sich unser Abstand von der Urgesellschaft in wesentlichen
Merkmalen doch immer vergrößerte? Wenn es keinen gesellschaftlichen Fortschritt
gäbe, wieso verteidigte Popper dann ausgerechnet die bürgerliche Stufe der Freiheit,
nicht eine andere? (…) Es gibt auch begründete Gesellschaftsprognosen. Selbst die
bürgerliche Futurologie enthielt nicht nur Unsinn. Prognosen sind gerade unter den
heutigen Bedingungen für die Fortexistenz nicht nur des Kapitalismus selbst, sondern
sogar der Menschen notwendig. (…) Geschichte ist Menschenwerk, ist das Ergebnis
unendlich vieler Aktionen, die durch das Bewusstsein der handelnden Individuen
unmittelbar motiviert sind. (…) Aber selbst diese individuellen Aktionen sind nicht
allein oder gar vorrangig subjektiv begründet. Gesellschaftliche Gesetze bestimmen
das Verhalten der Individuen nur in der Totalität und vielfach vermittelt. Jedes Indivi-
duum kann darum sein Verhalten in bestimmten Grenzen selbst bestimmen. Dennoch
ist das massenhafte individuelle Handeln durch Gesetze determiniert, weil gesell-
schaftliche Klassen, auf der Grundlage der Stellung zu den Produktionsmitteln, durch
bestimmte substantielle, funktionelle und strukturelle Merkmale bestimmt sind, (…).
Dieser substantiell-funktionelle, strukturelle Rahmen steckt den Handlungsspielraum
für individuelle Freiheit ab - er ist für Krupp anders als für Krause - und führt dazu,
dass sich in der Masse der individuellen Handlungen auf längere Frist eine bestimmte
allgemeine Grundrichtung durchsetzt und voraussagen lässt. (…) dass die Menschen
in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens von ihrem Willen unabhängige
Produktionsverhältnisse eingehen; dass diese einer bestimmten Entwicklungsstufe
ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen; dass diese Produktionsverhältnisse die
reale Basis der Gesellschaft bilden, über welchen sich ein juristischer und politischer
Überbau erhebt, dass den Produktionsverhältnissen gesellschaftliche Bewusstseins-
formen entsprechen [sind von Raum und Zeit unabhängige geschichtliche Prozesse -
M. K.] (…) Dieses, das Soziale, ist der eigentliche Unterscheidungspunkt [des Men-
schen von den Tieren - M. K.]. (…) Wegen dieses objektiven Charakters [die die
menschliche Gesellschaft hat - M. K.], den sie mit den Naturgesetzen gemeinsam
haben, sprechen wir von gesellschaftlichen Gesetzen.
Darum auch halten wir es für unbegründet, den Terminus Gesetz nur deshalb preiszu-
geben, weil noch ein spezifisches Merkmal hinzutritt, wodurch gesellschaftliche von
Naturgesetzen unterschieden sind. Dieses spezifische Merkmal besteht eben darin,

167
Zur Geschichte der Sowjetunion

dass gesellschaftliche Gesetze: Erstens, notwendige, allgemeine und wesentliche


Zusammenhänge (…) sind, die durch das gesellschaftliche Handeln der Menschen
entstehen und erst durch dieses gesellschaftliche Handeln in diesem erscheinen. Ihre
Spezifik gegenüber Naturgesetzen besteht also darin, dass das menschliche Handeln
selbst eine Existenz- und Wirkungsbedingung dieser Gesetze ist, was für Naturgesetze
nicht gilt. Dennoch sind die gesellschaftlichen Gesetze objektiven Charakters, (…),
weil sie sich unabhängig von unserem Willen herausbilden. Zweitens besteht das
spezifische Merkmal gesellschaftlicher Gesetze darin, dass auf der Grundlage des
Wirkens von Naturgesetzen die Objektivität gesellschaftlicher Gesetze durch die
gesellschaftliche Materialität vermittelt wird. (…) Popper anerkennt also, wenn er
mikrosoziologische Voraussagbarkeit bejaht (…). Mit welchem Recht anerkennt er
sie? Mit welchem Recht reduziert er den Zusammenhang auf den mikrosoziologi-
schen Bereich?"398
"Nach Popper entwickelt die (…) offene Gesellschaft, eine kritische Vorstellung zu
den kollektiven Tabus, beruhe auf Diskussion, autonomer Vernunft und individueller
Freiheit. Das ist schlicht gesagt Propaganda für die kapitalistische Gesellschaftsord-
nung. Philosophisch liege, so Popper, der geschlossenen Gesellschaft 'Historizismus'
zugrunde. Er nehme geschichtliche Determiniertheit an, schließe also individuelle
Freiheit aus, erzeuge den Totalitarismus. Vom Totalitarismus des Tribalsystems zum
Marxismus vollziehe sich der Übergang mittels der Philosophie Platons und Hegels.
Auch damit motivierte Popper diesen Übergang rein ideologisch, was wiederrum eine
ziemlich weitgehende - falsche - geschichtliche Feststellung ist, die sich auf der
Grundlage der Popperschen Methode gar nicht ergeben dürfte. (…) Ohne ein Klas-
senkriterium anzubieten, behauptet Popper einfach gegen Marx, es gäbe heute sieben
Klassen (…) Popper ist offensichtlich, obwohl er viel über Wissenschaftstheorie
schreibt, nicht einmal imstande, innerhalb eines bestimmten Gliederungsprozesses bei
einem einzigen durchgängigen Gliederungsmerkmal zu bleiben. In eklektischer Weise
verwechselt er im Durchgang des Gliederungsverfahrens die Gliederungskriterien,
was unlogisch ist. Für Popper ist Revolution nur Gewalt, und jede Gewalt, die bürger-
liche ausgenommen, ist für ihn verurteilenswert. So einfach macht er es sich mit sei-
ner Kritik an der marxistischen Theorie. Aufschlussreich ist auch, dass er keine wirk-
liche Begründung der offenen Gesellschaft anbietet, sondern diese nur im Vorbeige-
hen, in der Kritik des 'Totalitarismus' darstellt. (…) Der 'kritische Rationalismus'
deklarierte den Sozialismus zur Utopie. Er selbst verharrt auf den Boden der Utopie
vom ewigen Fortbestehen dessen, was es derzeit gibt: des Kapitalismus, der zwar
geschichtlich entstanden ist, aber hinfort nicht mehr verschwinden wird." 399

398
STEIGERWALD (1994), S. 270 - 275
399
STEIGERWALD (1994), S. 277 - 279

168
Zur Geschichte der Sowjetunion

3. Trotzkismus und die Bürokratie


3.1. Trotzki versus Lenin
Wir haben festgestellt, dass der Charakter des Staates und damit des Verwaltungsap-
parates von den Produktionsverhältnissen abhängt. Damit wird bei der Vollendung
einer vollkommen sozialistischen Produktionsordnung, mit dem Übergang zum
Kommunismus, mit dem Absterben des Staates auch die Bürokratie mit all ihren
Fehlern und Mängeln überflüssig. Wenn Trotzki also behauptete, in der Sowjetunion
habe nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur der Bürokratie ge-
herrscht, so verkannte er den eigentlichen Charakter der Bürokratie. Schildern wir
hierzu nochmals einige wichtige Aussagen von Seydewitz. Diese sind insofern inte-
ressant, da er auch eine treffende Analyse der trotzkistischen Definition der Bürokra-
tie lieferte. Daher lohnt es sich, längere Abschnitte zu zitieren:
"Der Verwaltungsapparat des Staates wird aber in keinem Falle eine selbständig herr-
schende Klasse, sondern er wird immer nur das Instrument der herrschenden Klasse
sein. Er ist - wie Karl Marx lehrte - im kapitalistischen Klassen-Staat das Organ der
herrschenden kapitalistischen Klasse. Unter der Herrschaftsform der Diktatur des
Proletariats wird er der Beauftragte der herrschenden Arbeiterklasse sein. Die Be-
hauptung, daß die Bürokratie eine selbständige Klasse sei, die zwischen oder über den
anderen Klassen stehe, die als selbständige Kraft im kapitalistischen Staat über die
kapitalistischen Klassen, im proletarischen Staat über die Arbeiter- und Bauernklasse
herrsche, ist vollkommen unmarxistisch. Im Jahre 1933 schrieb Trotzki in 'Die 4.
Internationale und die UdSSR' (Seite 13 usf.): 'Eine Klasse wird bestimmt nicht durch
den Anteil am Nationaleinkommen allein, sondern durch eine selbständige Rolle in
der allgemeinen Wirtschaftsstruktur, selbständige Wurzeln im ökonomischen Funda-
ment der Gesellschaft. Jede Klasse (Feudaladel, Bauern, Kleinbürgertum, kapitalisti-
sche Bourgeoisie, Proletariat) arbeitet ihre Grundformen des Eigentums heraus. All
dieser sozialen Züge ist die Bürokratie bar. Sie nimmt keinen selbständigen Platz im
Produktions- und Verteilungsprozess ein. Sie hat keine selbständigen Eigentumswur-
zeln. Ihre Funktionen betreffen im Grunde die politische Technik der Klassenherr-
schaft. Das Vorhandensein einer Bürokratie charakterisiert, bei allen Unterschieden in
Form und spezifischem Gewicht, jedes Klassenregime. Ihre Kraft trägt widergespie-
gelten Charakter. Die Bürokratie ist unlöslich verknüpft mit der wirtschaftlich herr-
schenden Klasse, nährt sich aus deren sozialen Wurzeln, steht und fällt mit ihr...
Nichtsdestoweniger ändern die Privilegien der Bürokratie für sich allein noch nichts
an den Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie schöpft ihre Privile-
gien nicht aus irgendwelchen besonderen, ihr als 'Klasse' eigentümlichen Besitzver-

169
Zur Geschichte der Sowjetunion

hältnissen, sondern aus den Eigentumsformen, die von der Oktoberrevolution ge-
schaffen wurden und im Grunde der Diktatur des Proletariats adäquat sind.'
Abgesehen von einigen Schiefheiten wird hier von Trotzki selbst zugegeben, daß in
der Sowjetunion eine 'Diktatur der Bürokratie' unmöglich ist. Die Bürokratie kann nie
und nirgendwo eine selbständige Klasse sein. Sie ist darum auch nicht imstande, eine
selbständige Diktatur auszuüben. Das ist der eindeutige marxistische und leninistische
Standpunkt, und wenn Trotzki später gegen die angeblich vorhandene 'Diktatur der
Bürokratie' wettert, so ist auch das nur ein Beweis dafür, wie er um seines persönli-
chen Machtkampfes willen marxistische Erkenntnisse über Bord wirft und sich gegen
den Marxismus wendet.
In der gleichen Schrift, in der Trotzki auseinandersetzt, daß die Bürokratie keine selb-
ständige Klasse sei und darum auch nicht die Funktionen einer herrschenden Klasse
— die Diktatur — auszuüben vermag, behauptet er aber auch gleich wieder das unge-
fähre Gegenteil (Seite 16/17): 'Aber die Weiterentwicklung des bürokratischen Re-
gimes kann zur Entstehung einer neuen herrschenden Klasse führen; nicht auf dem
organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution.' Was bedeutet
das? Es wird eine neue Klasse entstehen, die die Herrschaft übernimmt und die Dikta-
tur ausübt. Soll die Bürokratie sich zu der neu entstehenden herrschenden Klasse
entwickeln? Wie wird sie zur herrschenden Klasse werden? Trotzki sagt, nicht auf
dem organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution. Wer aber
soll die Konterrevolution durchführen? Die Bürokratie? Zu welchem Zwecke wohl?
Angeblich übt sie doch die Diktatur über das Volk bereits aus. Soll sie die Konterre-
volution machen, um ihre eigene Herrschaft zu beseitigen? Das alles sind sehr kom-
plizierte Rätsel. Jedoch wir wissen, daß die Bürokratie unter der Diktatur des Proleta-
riats ebensowenig eine selbständige Klasse ist wie unter dem Kapitalismus. Wie soll
sie also, die immer nur Hilfsmittel einer herrschenden Klasse sein kann, aus eigner
Kraft eine Konterrevolution durchführen, und wie soll sie nach dem Siege ihrer Kon-
terrevolution eine selbständige Klasse werden? Von Trotzki selbst wissen wir doch,
daß die Bürokratie auch unter dem Faschismus nur der Kommis der Bourgeoisie ist.
Das Gerede, daß die Bürokratie ausgerechnet in der Sowjetunion Konterrevolution
machen oder nach dem Siege ihrer Konterrevolution zur herrschenden Klasse werden
müsse, ist vom marxistischen Standpunkt aus gewertet ein ausgemachter Unsinn.
Aber Trotzki braucht solche verzwickte Konstruktionen, um seinen Kampf gegen die
UdSSR zu rechtfertigen. Das, wogegen Trotzki zu kämpfen vorgibt, existiert nicht.
Sein Kampf gilt der Bolschewistischen Partei, dem ersten Arbeiterstaat, sein Kampf
dient dem Rückschritt, der Konterrevolution." 400

400
SEYDEWITZ, Kapitel 6: http://www.offen-siv.net/Lesenswertes/stal_tro.shtml

170
Zur Geschichte der Sowjetunion

Tony Clark bemerkte dazu richtigerweise, dass Trotzkis Theorie zur Bürokratie eine
reine Abstraktion ist, die nicht die realen Verhältnisse widerspiegelt. Denn Trotzki
sah die stalinistische Bürokratie als solche als komplett konterrevolutionär an, ohne
dabei die revolutionären und konterrevolutionären Elemente im Verwaltungsapparat
zu unterscheiden.
Lenin und Stalin schrieben in ihren Werken viel über die Gefahren, die der Verwal-
tungsapparat, also die Bürokratie, mitbringen kann. Um die negativen Eigenschaften
des Verwaltungsapparates hervorzuheben, sprachen sie vom Bürokratismus. Diese
Unterscheidung ist insofern wichtig, da nicht jeder, der in der Verwaltung tätig ist,
automatisch vom Bürokratismus befallen ist. Die negativen Eigenschaften, die der
Bürokratismus mitbringt, lassen sich mit Begriffen wie Trägheit, dem Fehlen von
Leidenschaft an der Arbeit sowie der Unehrlichkeit der Partei und dem Volk gegen-
über beschreiben. Solch ein Verhalten kann sehr leicht an den Tag gelegt werden, vor
allem in sehr großen Organisationen, wie sie in der Sowjetunion bestanden. Sidney
und Beatrice Webb beziehen sich in ihrer umfangreichen Studie "Soviet Communism
- A New Civilisation" auf die großen Gefahren solch bürokratischen Verhaltens:
"Hiermit sind (neben der wachsenden Anzahl jener mit einem höheren Lohnsatz über
dem Einkommen der Masse des Volkes) die Gepflogenheiten der Funktionäre oder
das Genervt sein über die Anliegen und Empfindungen der Öffentlichkeit oder sogar
der Mitglieder der eigenen Organisation gemeint; zusammen mit der Vermehrung der
Formulare, die ausgefüllt werden müssen und der Regularien, die man beachten muss
(…)"401
Im Sinne Lenins (und Stalins) besteht die Gefahr des Bürokratismus darin, dass sich
vereinzelte Staatsbedienstete und Kader von der Masse abheben, überheblich werden,
der Kontrolle der Massen entziehen und jegliche politische und wirtschaftliche Initia-
tive erwürgen. Sofern sie der Kontrolle des Staates und der arbeitenden Massen ste-
hen, ihren Status weder juristisch noch ökonomisch sichern können (wie dies herr-
schende Klassen tun), ist in dem Sinne ein Verwaltungskader nicht vom Bürokratis-
mus befallen. Trotzki hingegen machte diesen Unterschied nicht. Da dementspre-
chend für ihn die stalinistische Bürokratie, also der Verwaltungsapparat, insgesamt
konterrevolutionär sei, müsse sie durch eine politische Revolution gestürzt werden. 402
Trotzki schreibt: "Alles deutet darauf hin, dass es im weiteren Verlauf der Entwick-
lung unvermeidlich zum Zusammenstoß der kulturell gewachsenen Kräfte des Volkes
mit der bürokratischen Oligarchie kommen muss. Einen friedlichen Ausweg aus der

401
WEBB, S. & WEBB, B. (1944), S. 1211-2
402
CLARK, T.http://marxism.halkcephesi.net/Tony%20Clark/stalin%20against%20 bureaucra-
cy.htm

171
Zur Geschichte der Sowjetunion

Krise gibt es nicht. Kein Teufel hat jemals freiwillig seine Krallen beschnitten. Die
Sowjetbürokratie wird ihre Position nicht kampflos aufgeben. Die Entwicklung führt
eindeutig auf den Weg der Revolution." 403
Dieser Punkt ist dabei besonders interessant. Nicht nur, dass Trotzki damit den oben
erwähnten bürgerlichen Ideologen zur Bürokratie wie Eisenstadt und Aylmer wider-
sprach. Er widersprach auch Marx und Engels, die die Kompliziertheit der Bürokratie
und ihrer Rolle im Staat zu verstehen versuchten. Die Bürokratie dient einer Klasse
und ist somit keine unabhängige Kraft. Sie kann nicht durch eine politische Revoluti-
on gestürzt werden, da nur Klassen politisch gestürzt werden können. Aber damit
nicht genug, denn er widersprach auch Lenin.
So ist es z. B. eine Tatsache, dass das zaristische Russland eine lange bürokratische
Tradition hatte, die auch Thema sozialer Satire vieler russischer Schriftsteller war. Bei
J. N. Westwoods Geschichte Russlands lesen wir beispielsweise: "Bürokratie und
bürokratische Praxis waren (und bleiben) eine tiefgreifende und bedrückende Eigen-
schaft des russischen Lebens."404
Nach der Revolution 1917 erbten die Bolschewiki den großen bürokratischen Appa-
rat, der aus den Dienern des Zarismus bestand. Lenin schrieb beispielsweise in seinem
1923 erschienenen Artikel "Lieber weniger, aber besser", dass die "Mängel [des
Staatsapparates] ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben", diese jedoch "noch nicht
überwunden" sind.405 John A. Armstrong postulierte beispielsweise, dass es eine ge-
wisse Kontinuität zwischen der Bürokratie des zaristischen Russland und der Sowjet-
union gab.406 Eine gewisse Kontinuität sieht auch Theda Skocpol, der feststellt, dass
die russischen und chinesischen Kommunisten Elemente der alten Bürokratien über-
nommen haben.407 Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Bolsche-
wiki in einem unterentwickelten Land an die Macht kamen, denen es an Fachkräften
mangelte. Sie waren also gezwungen die Verwaltungsangestellten des alten Systems
zu übernehmen. Demzufolge waren die Muttermale der alten Gesellschaft noch lange
Zeit vorhanden und ließen sich nicht über Nacht ausmerzen. Armstrong kommentiert
beispielsweise, dass noch in den 1970ern bei 90% der sowjetischen Familien die
Familienangehörigen vier Generationen zuvor noch im Zarismus lebten. 408 Dabei
durchlief die Sowjetunion nicht nur den Prozess der sozialistischen Transformation in
einem rückständigen Land, sondern auch der technischen Modernisierung. Dies ge-

403
TROTZKI (1936), S. 277
404
WESTWOOD, J. N. (1987), S. 163
405
LENIN, Lieber weniger, aber besser, in LW Band 33, S. 474
406
ARMSTRONG, J. A. (1972), S. 1 -28
407
SKOCPOL, T. (1976), S. 284 - 315
408
ARMSTRONG (1972), S. 2

172
Zur Geschichte der Sowjetunion

schah desweiteren noch unter den Bedingungen der permanenten Kriegsgefahr. Au-
ßerdem bereitete sich die Sowjetunion in den 30er Jahren auf den Krieg vor. Wider-
sprüche in solch einer Transformation sind nicht vermeidbar.409 Beispielsweise spiel-
ten die bürgerlichen Spezialisten noch bis in die 1930er Jahre hinein eine sehr wichti-
ge Rolle in der Entwicklung der sowjetischen Industrie und hatten in einer Branchen
sogar ein Monopol über wichtige wirtschaftliche und politische Entscheidungen.410
Diese Spezialisten mussten zum einen für die neue Gesellschaft gewonnen und inte-
griert werden, zum anderen bestand die Gefahr, dass ihre potentiell rückständigen,
antikommunistischen Sichtweisen großen Einfluss hatten. In den ersten zwei Jahr-
zehnten des sowjetischen Staates machten diese Spezialisten, bürgerliche und klein-
bürgerliche Intellektuelle und Verwaltungsangestellte, den Hauptteil der Verwaltung
des Staates aus.411 Beispielsweise waren 1918 57% der "Spezialisten" im Kommissa-
riat für Landwirtschaft ehemalige Offiziere der Weißen Armee, Priester und Mitglie-
der "konterrevolutionärer Parteien" oder kamen aus dem Landadel. Bis 1923 stieg
diese Zahl sogar an.412 Im Volkskommissariat für Gesundheit waren 60,9% und in der
Cheka (der "Geheimpolizei") 16,1% "bürgerliche Spezialisten.413 Erst die Industriali-
sierung während der ersten beiden Fünfjahrespläne änderte die Situation.
Diese Kontinuität bürokratischer Institutionen ist übrigens kein rein russisches bzw.
sowjetisches Phänomen. Joseph La Palombara hebt hervor, dass die Praktiken der
Bürokratie sehr traditionell und über eine lange Periode stabil sein können. 414 So hat
beispielweise Frankreich noch bürokratische Institutionen und Traditionen, die bis in
die Zeit Napoleons und der französischen Revolution zurückreichen. Auch Südafrika
musste nach dem Ende der Apartheid mit derselben Bürokratie auskommen, die das
vorherige rassistische und antidemokratische Regime aufrechterhielten. 415
Jedoch dürfen oberflächliche Erscheinungen nicht als Erklärungen dienen und der
Begriff der Kontinuität ist sehr schwammig. 416 Denn zwischen dem zaristischen und
sowjetischen Verwaltungsapparat als Ganzes bestanden ebenso erhebliche Unter-

409
CLARK, T.: http://marxism.halkcephesi.net/Tony%20Clark/stalin%20against%20 bureau-
cracy.htm , vgl. auch LENIN, "Lieber weniger, aber besser", LW 33, S. 475 f.
410
MOORE, B. (1951), S. 163
411
EDEEN, A. (1960), S. 284 in: BLACK, C. E. (HRSG., 1960), vgl. auch RIGBY, T. H. (1979), S.
50 - 51, 234-235
412
HEINZEN, J. W. (1997), S. 80,81,91,98
413
RYAVEC (2003), S. 61
414
LA PALOMBARA, J. (1963), S. 13
415
RYAVEC (2003), S. 48 - 49
416
Vgl. ORLOVSKY, D. (1976), S. 448-67.

173
Zur Geschichte der Sowjetunion

schiede. Armstrong hebt beispielsweise hervor, dass die sowjetische bürokratische


Elite weit weniger militaristisch war, als die zaristische. 417
Auf dem 8. Parteitag, 1919, sprach Lenin die Probleme der Bürokratie an: "Im Kampf
gegen den Bürokratismus haben wir getan, was noch kein Staat der Welt getan hat.
Den Apparat, der durch und durch bürokratisch, der ein bürgerlicher Unterdrückungs-
apparat war, der selbst in den freiesten bürgerlichen Republiken ein solcher bleibt –
diesen Apparat haben wir bis auf den Grund zerstört. Nehmen wir zum Beispiel das
Gerichtswesen. Hier war die Aufgabe allerdings leichter, hier brauchten wir keinen
neuen Apparat zu schaffen, denn gestützt auf das revolutionäre Bewusstsein der werk-
tätigen Klassen Recht sprechen, das kann jeder. Wir haben diese Sache noch lange
nicht zu Ende geführt, aber in einer ganzen Reihe von Gebieten haben wir aus den
Gerichten das gemacht, was sie sein müssen. Wir haben Organe geschaffen, über die
nicht nur Männer, sondern auch Frauen, das rückständigste und unbeweglichste Ele-
ment, ausnahmslos zu Richtern werden können.
Die Angestellten in den anderen Verwaltungszweigen sind in stärkerem Maß verknö-
cherte Bürokraten. Hier ist die Aufgabe schwieriger. Ohne diesen Apparat können wir
nicht auskommen, jeder Verwaltungszweig schafft ein Bedürfnis nach einem solchen
Apparat. Hier leiden wir darunter, daß Rußland nicht genügend kapitalistisch entwi-
ckelt war. Deutschland wird offenbar leichter damit fertig werden, denn der bürokrati-
sche Apparat hat dort eine tüchtige Schule durchgemacht, er preßt das Letzte aus
einem heraus, es besteht aber auch der Zwang, wirklich zu arbeiten und nicht nur den
Sessel zu drücken, wie es in unseren Kanzleien zu sein pflegt. Diese alten bürokrati-
schen Elemente haben wir auseinandergejagt, umgeschichtet und dann haben wir
wieder angefangen, sie auf neue Plätze zu stellen. Zaristische Bürokraten begannen in
die Sowjetbehörden hinüberzuwechseln und dort den Bürokratismus einzuführen,
begannen sich als Kommunisten aufzumachen und sich der erfolgreicheren Karriere
wegen Mitgliedsbücher der KPR zu verschaffen. So kommen sie, nachdem man sie
zur Tür hinaus gejagt hat, durchs Fenster wieder herein.
Hier wirkt sich der Mangel an kulturellen Kräften am stärksten aus. Diese Bürokraten
könnte man kassieren, aber mit einem Schlage umerziehen kann man sie nicht. Hier
ergeben sich für uns in erster Linie organisatorische, kulturelle und erzieherische
Aufgaben. Den Bürokratismus restlos, bis zum vollen Sieg zu bekämpfen, ist erst
dann möglich, wenn die ganze Bevölkerung an der Verwaltung teilnehmen wird. In
bürgerlichen Republiken war das nicht nur unmöglich: das Gesetz selbst stand dem
im Wege. In den besten bürgerlichen Republiken, wie demokratisch sie auch sein

417
ARMSTRONG (1972), S. 26-27

174
Zur Geschichte der Sowjetunion

mögen, gibt es Tausende vom Gesetz errichtete Schranken, die die Teilnahme der
Werktätigen an der Verwaltung behindern.
Wir haben diese Schranken hinweggeräumt, aber wir haben bisher nicht erreicht, daß
die werktätigen Massen an der Verwaltung mitwirken könnten, denn außer den Ge-
setzen gibt es noch das Kulturniveau, das sich keinem Gesetz unterwerfen lässt. …
Hier stehen wir vor einer Aufgabe, die nicht anders als durch langwierige Erziehungs-
arbeit gelöst werden kann. Gegenwärtig ist diese Aufgabe für uns ungeheuer schwie-
rig, weil – wie ich schon mehrfach Gelegenheit hatte aufzuzeigen – die Arbeiter-
schicht, die die Verwaltung ausübt, außerordentlich unglaublich dünn ist. Wir brau-
chen Verstärkung. Allen Anzeichen nach wächst im Lande eine solche Reserve heran.
(…) Die Bürokraten können nur verdrängt werden, wenn das Proletariat und die Bau-
ernschaft in einem viel größeren Umfang als bisher organisiert werden und zugleich
die Maßnahmen zur Heranziehung der Arbeiter zur Verwaltungstätigkeit wirklich zur
Durchführung gelangen."418
An anderer Stelle führte Lenin aus: "Die ökonomische Macht, die der proletarische
Staat Rußlands in Händen hat, genügt vollauf, um den Übergang zum Kommunismus
zu sichern. Woran also mangelt es? Es liegt klar auf der Hand, woran es mangelt: Es
mangelt der Schicht von Kommunisten, die leitende Funktionen in der Verwaltung
ausüben, an Kultur. Man nehme doch Moskau — die 4700 verantwortlichen Kommu-
nisten — und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und
wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, daß die Kommunisten
diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden
geleitet. (…) Werden die verantwortlichen Kommunisten der RSFSR und der KPR
begreifen können, daß sie die Kunst der Verwaltung nicht beherrschen? Daß sie sich
einbilden zu leiten, während sie in Wirklichkeit geleitet werden? Wenn sie das begrei-
fen können, werden sie die Sache natürlich erlernen, weil man das erlernen kann, aber
dazu muß man lernen, und bei uns will man nicht lernen. Bei uns wirft man nach
rechts und links mit Befehlen und Dekreten herum, und dabei kommt ganz und gar
nicht das heraus, was man will.
Der Wettbewerb und der Wettkampf, den wir auf die Tagesordnung gesetzt haben, als
wir die NÖP proklamierten, das ist ein ernster Wettbewerb. Es scheint, daß er in allen
staatlichen Institutionen veranstaltet wird, aber in Wirklichkeit ist das eine weitere
Form des Kampfes zweier Klassen, die einander unversöhnlich feindlich gegenüber-
stehen. Das ist eine weitere Form des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat,
das ist ein Kampf, der noch nicht ausgetragen ist und der selbst in den zentralen Insti-
tutionen Moskaus in kultureller Hinsicht noch nicht überholt ist. Denn oft verstehen

418
LENIN, VIII. Parteitag der KPR(B), 18. - 23. März 1919 Werke, Band 29, S. 167 – 169 f.

175
Zur Geschichte der Sowjetunion

die bürgerlichen Fachleute die Sache besser als unsere besten Kommunisten, die alle
Macht, alle Möglichkeiten haben und die mit ihren Rechten und ihrer Macht keinen
einzigen Schritt zu machen verstehen. (…)
Die kommunistische Gesellschaft mit den Händen der Kommunisten aufbauen zu
wollen ist eine kindische, eine ganz kindische Idee. Die Kommunisten sind ein Trop-
fen im Meer, ein Tropfen im Volksmeer. Sie werden nur dann imstande sein, das
Volk auf ihren Weg zu führen, wenn sie den Weg nicht nur im Sinne der weltge-
schichtlichen Richtung richtig bestimmen. In diesem Sinne haben wir unseren Weg
absolut richtig bestimmt, und jeder Staat bringt die Bestätigung dafür, daß wir ihn
richtig bestimmt haben, aber auch in unserer Heimat, in unserem Lande müssen wir
diesen Weg richtig bestimmen. Er wird nicht nur dadurch bestimmt, sondern auch
dadurch, daß es keine Intervention geben wird, und dadurch, daß wir es verstehen,
dem Bauern für Getreide Ware zu liefern. (…) Die Wirtschaft werden wir dann leiten
können, wenn die Kommunisten es verstehen werden, diese Wirtschaft mit fremden
Händen aufzubauen, selber aber von dieser Bourgeoisie lernen und sie auf den Weg
lenken werden, den die Kommunisten wollen.
Wenn sich der Kommunist aber einbildet, er wisse alles, denn er sei ja ein verantwort-
licher Kommunist, und sich sagt: Ich habe schon ganz andere Leute besiegt als einen
hergelaufenen Handlungsgehilfen, wir haben die Gegner an den Fronten geschlagen,
und was für Gegner — wenn eine solche Stimmung vorherrscht, so ist das unser Ver-
derb. Es ist der unwichtigste Teil dessen, was wir zu tun haben, wenn wir den Aus-
beuter unschädlich machen, ihm auf die Finger klopfen und ihn zurechtstutzen. Das
muß man tun. Und unsere Staatliche Politische Verwaltung und unsere Gerichte sol-
len das nicht so schlapp machen wie bisher, sondern daran denken, daß sie proletari-
sche Gerichte sind, von einer Welt von Feinden umringt. Das ist nicht schwierig, das
haben wir im wesentlichen gelernt. Hier muß ein gewisser Druck ausgeübt werden,
doch das ist leicht.
Der zweite Teil des Sieges aber besteht darin, mit nichtkommunistischen Händen den
Kommunismus aufzubauen, es zu verstehen, praktisch das zu tun, was ökonomisch
getan werden muß, nämlich den Zusammenschluß mit der bäuerlichen Wirtschaft zu
finden, die Bauern zufriedenzustellen, (…) Man muß erreichen, daß die zahlreichen,
uns um ein vielfaches übertreffenden Elemente, mit denen wir zusammenarbeiten, so
arbeiten, daß wir ihre Arbeit beobachten können, daß wir diese Arbeit begreifen, daß
mit ihren Händen etwas für den Kommunismus Nützliches getan wird. Das ist der
Angelpunkt der gegenwärtigen Lage, denn wenn einzelne Kommunisten das auch
verstanden und gesehen haben, so ist doch in der breiten Masse unserer Partei diese

176
Zur Geschichte der Sowjetunion

Einsicht in die Notwendigkeit, die Parteilosen zur Arbeit heranzuziehen, nicht vor-
handen."419
Aus diesen Zitaten Lenins wird nicht nur deutlich, dass die Bürokratie nicht nur vom
alten zaristischen Staatsapparat übernommen wurde, sondern auch, dass die Kommu-
nisten eine Minderheit in diesem Apparat waren. Daher war es wichtig, dass die Bü-
rokratie, der Staatsapparat, "von unten" kontrolliert wurde und die Verwaltung des
Staates sich verbessern musste. In seinem Brief an den Parteitag formulierte Lenin
dazu:
"Die Einbeziehung vieler Arbeiter in das ZK wird den Arbeitern helfen, unseren Ap-
parat zu verbessern, der unter aller Kritik ist. Im Grunde genommen wurde er uns
vom alten Regime hinterlassen, denn es war völlig unmöglich, ihn in so kurzer Zeit,
besonders während des Krieges, der Hungersnot usw. umzugestalten. Daher kann man
den 'Kritikern', die uns spöttisch oder boshaft mit Hinweisen auf die Defekte unseres
Apparates aufwarten, ruhig antworten, daß diese Leute die Bedingungen der gegen-
wärtigen Revolution absolut nicht begreifen. Den Apparat in einem Jahrfünft hinrei-
chend umzugestalten, ist überhaupt unmöglich, besonders unter den Bedingungen,
unter denen sich die Revolution bei uns vollzogen hat. Es genügt, daß wir in fünf
Jahren einen Staat von neuem Typus geschaffen haben, in dem die Arbeiter, gefolgt
von den Bauern, gegen die Bourgeoisie vorgehen, auch das ist angesichts der feindli-
chen internationalen Umgebung eine gigantische Leistung. Aber dieses Bewußtsein
darf uns den Blick nicht dafür trüben, daß wir im Grunde den alten Apparat vom
Zaren und von der Bourgeoisie übernommen haben und daß jetzt, nachdem der Frie-
den gekommen und der minimale Bedarf zur Stillung des Hungers gesichert ist, alle
Arbeit darauf gerichtet sein muß, den Apparat zu verbessern." 420
Im Brief an den Genossen A. D. Zjurupa stellte Lenin fest, dass es das Wichtigste sei,
"vom Schreiben von Dekreten und Anordnungen wegzukommen (hier machen wir
Dummheiten bis zur Idiotie) und das Schwergewicht auf die Auswahl der Menschen
und die Kontrolle der Durchführung zu legen. Das ist der Angelpunkt." 421
In den Jahren 1920 und 1921 gab es in der der Kommunistischen Partei Russlands
heftige Diskussionen um die Rolle der Gewerkschaften im Sozialismus. An dieser
Stelle soll uns Lenins Position zum Bürokratismus interessieren. Erwähnenswert ist
hierbei, dass es zwei antileninistische Strömungen gab: jene der "Arbeiteropposition",
geführt von Bucharin, Schljapnikow und Kollontai und die Gruppe um Trotzki. Die

419
LENIN, XI. Parteitag der KPR(B), 27. März - 2. April 1922, Band 33, S. 275 - 278
420
LENIN, "Brief an den Parteitag", Band 36, S. 581
421
LENIN, "An A. D. Zjurupa. Zu dem Entwurf der Direktive für den Kleinen Rat der Volks-
kommissare. 21. Februar, Band 36, S. 551

177
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Arbeiteropposition" leugnete die führende Rolle der Kommunistischen Partei beim


wirtschaftlichen Aufbau und wollte diese durch eine Assoziation der Produzenten
ersetzen. Damit wollte die "Arbeiteropposition" den Bürokratismus abschaffen. Lenin
schrieb dazu:
"Wir haben 1919 im Programm geschrieben, daß es bei uns Bürokratismus gibt. Wer
Ihnen vorschlägt, mit dem Bürokratismus Schluß zu machen, ist ein Demagoge.
Wenn man hier vor Ihnen auftritt und sagt: 'machen wir Schluß mit dem Bürokratis-
mus', so ist das Demagogie: Das ist dummes Zeug. Gegen den Bürokratismus werden
wir noch lange Jahre zu kämpfen haben, und wer anders darüber denkt, der treibt
Scharlatanerie und Demagogie, denn um den Bürokratismus niederzuringen, braucht
man Hunderte von Maßnahmen, braucht man allgemeine Bildung, allgemeine Kultur,
allgemeine Teilnahme an der Arbeiter- und Bauerninspektion."422
Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf Grundlage eines solchen Gesellschaftszu-
standes nicht gegen den Bürokratismus kämpfen könnte. Im Gegenteil, man muss es
tun, weil der Sozialismus sonst ebenfalls untergeht. Man muss den Bürokratismus
bekämpfen, um ihn einzuschränken, um die Elemente der demokratischen Kontrolle
von unten zu stärken.
Lenin kritisierte sehr scharf die Losung der Arbeiteropposition, dass die werktätigen
Massen sofort die Leitung der gesamten Volkswirtschaft in die Hand nehmen müss-
ten. Lenin wies nach, dass solch eine Losung illusorisch war, weil die Bedingungen
dafür nicht vorhanden waren, sondern erst geschaffen werden mussten. Gleichzeitig
aber hielt er entschieden an der Zielvorstellung fest, dass die werktätigen Massen die
Leitung der gesamten Volkswirtschaft in die Hand nehmen. Er kritisierte die "Arbei-
teropposition" gerade deshalb, weil sie die "Leitung der Volkswirtschaft durch die
werktätigen Massen selbst'' lediglich als Phrase im Munde führte, aber die erforderli-
che langwierige Arbeit zur Verwirklichung dieses Ziels nicht leisten wollte:
"Der Kommunismus sagt, die Avantgarde des Proletariats, die Kommunistische Par-
tei, führt die parteilose Masse der Arbeitenden, indem sie diese Masse, zuerst die
Arbeiter und dann auch die Bauern, aufklärt, schult, bildet und erzieht ('Schule' des
Kommunismus), damit sie dahin gelangen können und wirklich gelangen, die Leitung
der gesamten Volkswirtschaft in ihren Händen zu konzentrieren.
Der Syndikalismus überträgt die Leitung der Industriezweige (Haupt- und Zentral-
verwaltungen) der Masse der parteilosen, nach Produktionsbereichen gegliederten
Arbeiter; er hebt dadurch die Notwendigkeit der Partei auf und leistet keine langwie-

422
LENIN, "II. Gesamtrussischer Verbandstag der Bergarbeiter", Band 32, S. 54

178
Zur Geschichte der Sowjetunion

rige Arbeit, um die Massen zu erziehen und die Leitung der gesamten Volkswirtschaft
tatsächlich in ihren Händen zu konzentrieren." 423
Lenin kritisierte die syndikalistische Abweichung gerade deshalb, weil ihre Politik
nicht darauf ausgerichtet war, das Ziel zu verwirklichen, das sie lauthals im Munde
führte, nämlich die Leitung der gesamten Volkswirtschaft in den Händen der werktä-
tigen Massen zu konzentrieren. Lenin hielt also entgegen, dass der Kampf gegen
Bürokratismus ein langwieriger Prozess ist und nicht auf einmal abgeschafft werden
knn.
Die liberale, anarchosyndikalistische Abweichung ist lediglich eine Variante des
Revisionismus, die die Diktatur des Proletariats zu Fall bringen kann.
Eine andere Variante, die Diktatur des Proletariats zu stürzen besteht darin, das Ziel
der Leitung durch die werktätigen Massen mehr oder weniger offen aufzugeben und
die Leitung durch Apparate, durch besondere Spezialisten, durch Partei und Staat zu
verewigen. Im krassen Gegensatz zu Trotzkis Polemik gegen die "stalinistische Büro-
kratie", war gerade Trotzki ein solcher Vertreter. Hier stehen tatsächlich Leninismus
und Trotzkismus in Opposition zueinander.424 Aber damit nicht genug, denn in der
Gewerkschaftsfrage war Trotzki ein Verfechter bürokratischer Methoden. Er gab die
Losung der "Durchrüttelung der Gewerkschaften" und "Verstaatlichung der Gewerk-
schaften" aus. Nach seiner Auffassung sollten die Gewerkschaften ausschließlich ein
Instrument zur administrativen Durchsetzung von Parteidirektiven sein. 425 Es stellt
sich die vielleicht berechtigte Frage, was gegen die Verstaatlichung der Gewerkschaf-
ten im Sozialismus gefährlich ist. Daher lassen wir Lenin auf diese Frage antworten:
"Schon von diesem Standpunkt aus ergibt sich - auch wenn es im Sowjetapparat kei-
nen Bürokratismus gäbe - eine außerordentliche Kompliziertheit der Transmissionen
infolge der Verhältnisse, die der Kapitalismus geschaffen hat. Und daran muß man
vor allem denken, wenn man die Frage stellt, worin die Schwierigkeit der 'Aufgabe'
der Gewerkschaften besteht. Die wirklichen Differenzen liegen, ich wiederhole es,
durchaus nicht da, wo sie Gen. Trotzki sieht, sondern in der Frage, wie die Massen zu
gewinnen sind, in der Frage des Herangehens an die Massen und der Verbindung mit
ihnen. Ich muß sagen, wenn wir unsere eigene Praxis, unsere Erfahrung, sei es auch
nur in geringem Umfang, eingehend und gründlich studieren würden, dann könnten
wir Hunderte überflüssiger 'Meinungsverschiedenheiten' und grundsätzlicher Fehler

423
LENIN, "Die Krise der Partei", Band 32, S. 34
424
Vgl. CLARK, T. http://marxism.halkcephesi.net/Tony%20Clark/stalin%20
against%20bureaucracy.htm
425
TROTZKI (1921) https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/ trotz-
ki/1921/leo-trotzki-rolle-und-aufgaben-der-gewerkschaften.

179
Zur Geschichte der Sowjetunion

vermeiden, von denen diese Broschüre des Gen. Trotzki strotzt. (…) Indessen macht
aber Gen. Trotzki, der so unernste Dinge vorbringt, gleich seinerseits einen Fehler.
Nach ihm ist der Schutz der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse
nicht Sache der Gewerkschaften im Arbeiterstaat. Das ist ein Fehler. Gen. Trotzki
spricht vom 'Arbeiterstaat'. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom
Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: 'Wozu und
gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie
gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben', so begeht man einen offensichtlichen
Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat, das ist es ja gerade. Hier liegt eben einer
der grundlegenden Fehler des Gen. Trotzki. (…) Wir haben in Wirklichkeit nicht
einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersten. Daraus
aber folgt sehr viel. (…) Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm –
einem Dokument, das dem Verfasser des 'Abc des Kommunismus' sehr gut bekannt
ist – aus diesem Programm ist bereits ersichtlich, daß unser Staat ein Arbeiterstaat mit
bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen — wie soll ich mich ausdrü-
cken? — Etikett mußten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs.
Was meinen Sie, haben in einem praktisch derart beschaffenen Staat die Gewerk-
schaften nichts zu schützen, kann man ohne sie auskommen, wenn man die materiel-
len und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats schüt-
zen will? Das ist theoretisch eine völlig falsche Argumentation. Das versetzt uns in
den Bereich der Abstraktion oder des Ideals, das wir in 15-20 Jahren erreichen wer-
den; aber ich bin nicht einmal so sicher, daß wir es in dieser Frist erreichen werden.
Wir haben aber die Wirklichkeit vor uns, die wir gut kennen, wenn wir uns nur nicht
berauschen und nicht hinreißen lassen von Intellektuellengerede oder von abstrakten
Betrachtungen oder von dem, was manchmal als 'Theorie' erscheint, in Wirklichkeit
aber ein Irrtum, eine falsche Einschätzung der Besonderheiten des Übergangs ist.
Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, daß das in seiner Gesamtheit organisierte
Proletariat sich schützen muß, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum
Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die
Arbeiter ausnutzen. Sowohl die eine als auch die andere Art des Schutzes kommt
zustande durch eine eigenartige Verflechtung unserer staatlichen Maßnahmen und
unserer Verständigung, des ‚Zusammenwachsens‘ mit unseren Gewerkschaften.“ 426
An anderer Stelle bemerkte Lenin, dass Trotzkis Thesen "zu abstrakten, wesenlosen,
'ausgehöhlten', theoretisch falschen, intelligenzlerisch formulierten allgemeinen The-

426
LENIN, Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis, Band 32,
S. 6 - 7 Vgl. zu "Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen" auch Lenin, "Die Krise der
Partei", Band 32, S. 32

180
Zur Geschichte der Sowjetunion

sen, in denen das sachlich und praktisch Wichtigste vergessen ist",427 und "zum Sturz
der Diktatur des Proletariats"428 führen. Wir haben hier also eine Doppelfunktion:
Schutz der Arbeiter gegen ihren eigenen Staat, Schutz dieses Staates durch die Arbei-
ter gegen bürokratische Überwucherungen. Diese Konzeption hatte nicht nur für die
damalige Situation in Russland Bedeutung. Sie hat vielmehr für die ganze Periode des
Übergangs zum Kommunismus Bedeutung. Erst mit Erreichen des entwickelten
Kommunismus wird mit dem Staat und mit hierarchischen Apparaten auch die Büro-
kratie abgestorben sein. Vorher muss jedoch ein ständiger Kampf für ihre Einschrän-
kung geführt werden. Und dieser Kampf wird vor allem durch das Streben geführt,
möglichst viele werktätige Menschen zur unmittelbaren Leitung von Wirtschaft und
Verwaltung heranzuziehen. Dies wird auch in Lenins Schrift "Staat und Revolution"
deutlich:
"Von einer Vernichtung des Beamtentums mit einem Schlag, überall, restlos, kann
keine Rede sein. Das wäre eine Utopie. Aber mit einem Schlag die alte Beamtenma-
schinerie zerbrechen und sofort mit dem Aufbau einer neuen beginnen, die allmählich
jegliches Beamtentum überflüssig macht und aufhebt - das ist keine Utopie, das lehrt
die Erfahrung der Kommune, das ist die direkte, nächstliegende Aufgabe des revolu-
tionären Proletariats. (…) wir sind keine Utopisten. Wir 'träumen' nicht davon, wie
man unvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung auskommen könnte;
diese anarchistischen Träumereien, die auf einem Verkennen der Aufgaben der Dikta-
tur des Proletariats beruhen, sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirk-
lichkeit nur dazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, da die
Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen die sozialistische Revolu-
tion mit den Menschen, wie sie gegenwärtig sind, den Menschen, die ohne Unterord-
nung, ohne Kontrolle, ohne 'Aufseher und Buchhalter' nicht auskommen werden.
Aber unterzuordnen hat man sich der bewaffneten Avantgarde aller Ausgebeuteten
und Werktätigen – dem Proletariat. Die spezifische 'Vorgesetztenrolle' der Staatsbe-
amten kann und muß man sofort, von heute auf morgen, durch die einfachen Funktio-
nen von 'Aufsehern und Buchhaltern' zu ersetzen beginnen, Funktionen, denen der
heutige Städter bei seinem Entwicklungsniveau im allgemeinen schon vollauf ge-
wachsen ist und die für einen 'Arbeiterlohn' durchaus ausführbar sind. Organisieren
wir Arbeiter selber die Großproduktion, davon ausgehend, was der Kapitalismus
bereits geschaffen hat, auf unsere Arbeitererfahrung gestützt, mit Hilfe strengster,
eiserner Disziplin, die von der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrechterhalten
wird; machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern unserer Aufträge, zu

427
LENIN, Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotz-
kis, Band 32, S. 75
428
LENIN, Noch einmal über die Gewerkschaften, ebenda

181
Zur Geschichte der Sowjetunion

verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden bezahlten 'Aufsehern und Buchhaltern'


(dazu natürlich Techniker jeder Art, jeden Ranges und Grades) – das ist unsere prole-
tarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen
Revolution beginnen. Ein solcher Anfang führt auf der Basis der Großproduktion von
selbst zum allmählichen 'Absterben' jedweden Beamtentums, (…)." 429
In einem Brief an M. Sokolow führte Lenin aus: "Sie irren, wenn Sie annehmen, man
könnte ihn [den Bürokratismus – M. K.] wie ein 'Geschwür' im Handumdrehen besei-
tigen, ihn 'vom Angesicht der Erde vertilgen'. Das ist ein Irrtum. Man kann den Zaren
verjagen, die Gutsbesitzer verjagen, die Kapitalisten verjagen. Das haben wir getan.
Aber man kann nicht in einem Bauernland den Bürokratismus 'verjagen', er läßt sich
nicht 'vom Angesicht der Erde vertilgen'. Man kann ihn nur durch geduldige, beharrli-
che Arbeit vermindern. Das 'bürokratische Geschwür' 'entfernen', wie Sie sich an
anderer Stelle ausdrücken – das ist schon in der Fragestellung falsch. Das heißt die
Frage nicht verstehen. Ein derartiges Geschwür kann man nicht 'entfernen'. Man kann
es nur ausheilen. Chirurgie ist in diesem Fall ein Absurdum, eine Sache der Unmög-
lichkeit; nur langsames Ausheilen – alles Übrige ist Scharlatanerie oder Naivität. (…)
Es ist naiv, das Ausheilen mit einer Handbewegung abzutun und sich darauf zu beru-
fen, daß Sie zwei-, dreimal versucht hätten, gegen die Bürokraten anzukämpfen, und
dabei gescheitert seien. (…) Die 'Hauptverwaltungen' beseitigen? Das wäre das we-
nigste. Was werden Sie an ihre Stelle setzen? Das wissen Sie nicht. Nicht beseitigen,
sondern reinigen, ausheilen, ausheilen und reinigen, zehn- und hundertmal. Und nicht
den Mut sinken lassen."430
"Der Kampf gegen den Bürokratismus in einem bäuerlichen und völlig ausgepower-
ten Land erfordert lange Zeit, man muß diesen Kampf hartnäckig führen und darf
nicht beim ersten Mißerfolg den Mut sinken lassen." 431
An anderer Stelle schrieb Lenin: "Mit einem Wort, sofern die werktätigen Massen
selbst die Sache der Staatsverwaltung und der Schaffung einer bewaffneten Macht,
die die gegebene Staatsordnung stützt, in Angriff nehmen, insofern verschwindet der
besondere Apparat für die Verwaltung, verschwindet der besondere Apparat für eine
bestimmte staatliche Gewaltanwendung (…)."432
Aus diesen Zitaten Lenins wird deutlich, dass die Bürokratie im Sozialismus, beson-
ders in ihren Anfangsstadien, nicht abgeschafft werden kann. Ist der Staatsapparat

429
LENIN, Staat und Revolution, Band 25, S. 438 - 439
430
LENIN, "An M. Sokolow. 16. Mai 1921", Band 35, S. 467 - 468
431
LENIN, Band 35, S. 468
432
LENIN, "Siebenter Parteitag der KPR(B), 6. - 8. März 1918, Band 27, S. 113

182
Zur Geschichte der Sowjetunion

verschwunden, so haben wir es bereits mit entwickeltem Kommunismus zu tun. Vor-


her bedarf man dieses Apparates, auch zur Wirtschaftsleitung.
Es ist daher nicht so, wie es Trotzkisten behaupten, dass nach der Machtergreifung
der Arbeiterklasse eine Wahl zwischen bürokratischer und demokratischer Kontrolle
der Produktion bestünde. Schon seit Beginn der Errichtung der Diktatur des Proletari-
ats gibt es Elemente demokratischer Kontrolle von unten. Doch diese Elemente sind
noch zu schwach, um die Leitung der Wirtschaft allein auf sie zu stützen. Die Arbei-
terklasse benötigt staatliche, hierarchische Apparate, um die Wirtschaft zu leiten.
Ohne sie würde der Sozialismus sofort untergehen. Doch andererseits geht vom Bü-
rokratismus eine Gefahr aus, die den Sozialismus bedroht. Daher ist es von äußerster
Wichtigkeit, ständig um die Heranziehung der Massen zur unmittelbaren Leitung zu
kämpfen, damit den Bürokratismus einzuschränken und die Elemente der proletari-
schen Demokratie zu stärken. Dieser Kampf ist ein wesentlicher Inhalt der gesamten
Periode des Übergangs zum entwickelten Kommunismus. Er endet erst mit der Er-
richtung der kommunistischen Gesellschaftsformation.
Trotzki versuchte natürlich an verschiedenen Stellen die Meinungsverschiedenheiten
zwischen ihm und Lenin zu minimieren. In seinem Pamphlet "Die wirkliche Lage in
Russland" schreibt Trotzki: "Der Zwiespalt über die Gewerkschaftsfrage war schärfer
und zog sich auch länger hinaus. (…) Wenn man den jetzigen Parteihistorikern glau-
ben wollte, so könnte man annehmen, die ersten sechs Jahre der Revolution seien
ganz mit Streitigkeiten über Brest-Litowsk und die Gewerkschaften ausgefüllt gewe-
sen. Alles übrige ist verschwunden: Die Vorbereitung des Oktoberaufstandes, der
Aufstand selbst, die Einsetzung der Regierung, die Bildung der roten Armee, der
Bürgerkrieg, die vier Kongresse der kommunistischen Internationale, die ganze litera-
rische Arbeit der kommunistischen Propaganda, die Arbeit der Leitung der ausländi-
schen kommunistischen Parteien und unserer eigenen. Von dieser ganzen Arbeit, über
die ich mich in allen wichtigen Fragen in völliger Übereinstimmung mit Lenin be-
fand, verbleiben nach unseren jetzigen Historikern nur zwei Momente, Brest-Litowsk
und die Gewerkschaften. Stalin und seine Lakaien haben sich die härteste Mühe ge-
geben, aus der Gewerkschaftsdiskussion einen 'bitteren' Kampf Trotzkis gegen Lenin
zu machen."433
Nun war es bei weitem nicht so, dass die wesentlichen Streitigkeiten zwischen Lenin
und Trotzki sich auf Brest-Litowsk und die Gewerkschaftsfrage konzentrierten. Grade

433
TROTZKI (1928), Kapitel 39: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-wirkliche-lage-in-russland-
5919/39, vgl. auch TROTZKI (1927)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1927/leo-trotzki-die-
faelschung-der-geschichte-der-russischen-revolution Abschnitt "die Gewerkschaftsfrage"

183
Zur Geschichte der Sowjetunion

die von Trotzki aufgezählten Punkte waren nicht nur in völliger Übereinstimmung mit
Lenin. Das wird jedoch in einem späteren Buch näher beleuchtet. Hier interessiert die
Frage bezüglich des Bürokratismus (am Beispiel der Gewerkschaften) und es zeigt
sich, dass es da prinzipielle Unterschiede zwischen Leninismus und Trotzkismus gibt.
Die Bitterkeit des Kampfes zwischen Lenin und Trotzki zeigt sich z. B. in Lenins
Artikel "Die Krise der Partei": "Das ZK wählt eine Gewerkschaftskommission, der
auch Gen. Trotzki angehört. Trotzki weigert sich, in dieser Kommission zu arbeiten,
und erst durch diesen Schritt erfährt der ursprüngliche Fehler des Gen. Trotzki eine
Übersteigerung, die im weiteren zur Fraktionsmacherei führt. Ohne diesen Schritt
wäre der Fehler des Gen. Trotzki (die Einbringung falscher Thesen) ganz geringfügig,
von der Art, wie er wohl schon allen ZK-Mitgliedern ohne jede Ausnahme unterlau-
fen ist. (…) Der VIII. Sowjetkongreß. Auftreten Trotzkis am 25. Dezember mit der
'Plattformbroschüre': 'Die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften'. Vom Stand-
punkt des formalen Demokratismus hatte Trotzki das unbedingte Recht, mit einer
Plattform aufzutreten, denn das ZK hatte am 24. Dezember eine freie Diskussion
gestattet. Vom Standpunkt der revolutionären Zweckmäßigkeit war das schon eine
gewaltige Übersteigerung des Fehlers, die Bildung einer Fraktion auf Grund einer
falschen Plattform."434
In seiner Schrift "Noch einmal über die Gewerkschaften" schreibt Lenin über das
Verhalten der Opposition: "Die politischen Fehler, die von Gen. Trotzki begangen
und von Gen. Bucharin vertieft und vergröbert worden sind, lenken unsere Partei ab
von den wirtschaftlichen Aufgaben, von der 'Produktions'arbeit, zwingen uns leider,
Zeit zu vergeuden auf die Korrektur dieser Fehler und auf die Auseinandersetzung mit
der syndikalistischen Abweichung (die zum Sturz der Diktatur des Proletariats führt),
die Polemik gegen das falsche Herangehen an die Gewerkschaftsbewegung (ein Her-
angehen, das zum Sturz der Sowjetmacht führt) und die Diskussion über allgemeine
'Thesen' anstatt daß wir eine sachliche, praktische, 'wirtschaftliche' Auseinanderset-
zung darüber führen, wer besser und erfolgreicher die Naturalprämien verteilt, (…)
Ich war gegen eine sogenannte 'breite' Diskussion und hielt und halte es für einen
Fehler, für einen politischen Fehler des Gen. Trotzki, daß er die Gewerkschaftskom-
mission, in der eine sächliche Diskussion vor sich gehen sollte, gesprengt hat. (…)
Nicht um ein Haar besser steht es mit Trotzki. Er tritt mit der Beschuldigung auf:
'Lenin möchte die Diskussion über den Kern der Frage um jeden Preis absetzen und
hintertreiben.' (S. 65.) Er erklärt: 'Warum ich der Kommission nicht beigetreten bin,
habe ich im ZK klar gesagt: solange mir, genauso wie allen anderen Genossen, nicht
gestattet wird, diese Fragen in vollem Umfang in der Parteipresse aufzurollen, ver-

434
LENIN: "Die Krise der Partei", LW 32, S. 29 & 30

184
Zur Geschichte der Sowjetunion

spreche ich mir von der Behandlung dieser Fragen hinter verschlossener Tür und
somit auch von der Arbeit in der Kommission keinerlei Nutzen.' (S-69.)
Und das Ergebnis? Es ist noch kein Monat verstrichen, seitdem Trotzki am 25. De-
zember mit der 'breiten Diskussion' begonnen hat, und es wird sich unter hundert
verantwortlichen Parteiarbeitern kaum einer finden, dem diese Diskussion nicht zum
Halse heraushinge, der ihre Zwecklosigkeit (wenn nicht noch Schlimmeres) nicht
erkannt hätte. Denn Trotzki hat der Partei Zeit geraubt mit einem Streit um Worte, um
schlechte Thesen, und als Behandlung 'hinter verschlossener Tür' hat er gerade die
sachliche, der Wirtschaft dienliche Behandlung in einer Kommission beschimpft, die
sich die Aufgabe gestellt hätte, die praktischen Erfahrungen zu studieren und zu über-
prüfen, um aus diesen Erfahrungen zu lernen und in der wirklichen 'Produktions'arbeit
vorwärtszuschreiten, anstatt zurück, von der lebendigen Sache zur toten Scholastik
aller möglichen 'Produktionsatmosphären'."435
Aus diesen scharfen Worten Lenins lässt sich nicht schlussfolgern, dass der Kampf
eine Randnotiz war, der von Stalin und seinen "Lakaien" maßlos übertrieben wurde.
Denn der Vorwurf des Fraktionismus in der Partei wiegt schwer und nicht umsonst
trägt diese Borschüre Lenins den Titel "Die Krise der Partei". Jedoch gibt sich Lenin
optimistisch: "Die Krankheit unserer Partei werden zweifellos sowohl die Kapitalisten
der Entente zu einer neuen Invasion als auch die Sozialrevolutionäre zur Anstiftung,
von Verschwörungen und Aufständen auszunutzen suchen. Uns schreckt das nicht,
denn wir werden uns alle wie ein Mann zusammenschließen, ohne Scheu, die Krank-
heit einzugestehen, aber in der Erkenntnis, daß sie von uns allen auf jedem Posten
mehr Disziplin, mehr Konsequenz und mehr Festigkeit erfordert. Die Partei wird auf
dem X. Parteitag der KPR im März und danach nicht schwächer, sondern stärker
dastehen."436
Das erforderte "Mehr" an Disziplin, Konsequenz und Festigkeit wurde dadurch er-
reicht, dass sich die Partei gegen die Positionen Trotzkis, Bucharins und der Arbei-
teropposition durchsetzen konnte: "Das Fazit: Die Thesen Trotzkis und Bucharins
enthalten eine ganze Reihe theoretischer Fehler. Eine Reihe prinzipieller Unrichtig-
keiten. Politisch ist die ganze Art, wie sie an die Sache herangehen, eine einzige Takt-
losigkeit. Trotzkis 'Thesen' sind politisch schädlich. Seine Politik ist letzten Endes
eine Politik des bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften. Und unser
Parteitag wird, davon bin ich überzeugt, diese Politik verurteilen und ablehnen." 437

435
LENIN: "Noch einmal über die Gewerkschaften …", LW 32, S. 76 & 77
436
LENIN: "Die Krise der Partei", LW 32, S. 38
437
LENIN: "Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis", LW 32,
S. 26

185
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzki versucht dies jedoch zu minimieren, indem er darlegt: "Den folgenden Absatz
aus der gleichen Rede hat Lenin in seiner Broschüre (im 18. Band seiner Werke)
zitiert: 'In meiner schärfsten Polemik mit dem Genossen Tomski habe ich immer
betont, es sei mir völlig klar, daß unsere Führer in den Gewerkschaften nur Leute mit
einer Erfahrung und einer Autorität sein könnten, wie sie Genosse Tomski besitzt.
Eine Meinungsverschiedenheit in der Partei bedeutet doch keine gegenseitige Unter-
drückung und Ablehnung.'
Und hier ist, was Lenin über dieselbe Frage in seinem die Diskussion über die Ge-
werkschaften zusammenfassenden Schlußwort auf dem zehnten Parteikongreß sagte:
'Schliapnikow meinte, Lenin und Trotzki würden sich schon wieder einigen, und
Trotzki antwortete: 'Wer nicht versteht, daß es notwendig ist, sich zu einigen, geht
gegen die Partei; natürlich werden wir uns einigen, denn wir sind Parteigenossen.' Ich
habe Trotzki zugestimmt. Gewiß waren Trotzki und ich verschiedener Meinung. Aber
wenn sich im Zentralausschuß eine mehr oder weniger gleichstarke Meinungsver-
schiedenheit bildet, dann entscheidet die Partei, und sie entscheidet in einer solchen
Weise, daß wir uns auf den Willen und den Kurs der Partei einigen. Dies ist die An-
kündigung, mit der Trotzki und ich zum Bergarbeiterkongreß gegangen und mit der
wir auch hierhergekommen sind.'" 438
Die von Trotzki zitierten zwei Aussagen Lenins stimmen und werden in ihrer Origi-
nalquelle im erweiterten Kontext widergegeben: "Die Meinungsverschiedenheiten
innerhalb des ZK zwangen dazu, sich an die Partei zu wenden. Die Diskussion hat
anschaulich Wesen und Ausmaß dieser Meinungsverschiedenheiten gezeigt. Den
Gerüchten und der Verleumdung ist ein Ende gesetzt worden. Die Partei schult und
stählt sich im Kampf gegen die neue Krankheit (neu in dem Sinne, daß wir sie nach
dem Oktoberumsturz vergessen hatten) - die Fraktionsmacherei. Im Grunde genom-
men ist das eine alte Krankheit bei der wahrscheinlich einige Jahre lang Rückfälle
unvermeidlich sind, deren Heilung jedoch jetzt schneller und leichter vor sich gehen
kann und muß. Die Partei lernt, die Meinungsverschiedenheiten nicht zu übertreiben.
Hier ist es angebracht, die richtigen Bemerkungen des Gen. Trotzki an die Adresse
des Gen. Tomski zu wiederholen: 'Mitten in der schärfsten Polemik gegen Gen.
Tomski erklärte ich stets, es sei mir absolut klar, daß unsere Leiter in den Gewerk-
schaften nur Leute mit der Erfahrung und Autorität sein können, wie sie Gen. Tomski
besitzt. Das habe ich in der Fraktion der V. Gewerkschaftskonferenz gesagt, das habe
ich dieser Tage auch im Simin-Theater gesagt. Der ideologische Kampf in der Partei
bedeutet nicht gegenseitiges Hinwegfegen, sondern gegenseitige Beeinflussung.' (S.

438
TROTZKI (1928), Kapitel 39: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-wirkliche-lage-in-russland-
5919/39

186
Zur Geschichte der Sowjetunion

34 des Berichts über die Diskussion vom 30. Dezember.) Selbstverständlich wird die
Partei diese richtige Betrachtungsweise auch Gen. Trotzki gegenüber anwenden." 439
"Die 'Arbeiteropposition' erklärte: 'Lenin und Trotzki werden sich vereinigen.' Trotzki
trat auf und sagte: 'Wer nicht versteht, daß man sich vereinigen muß, der wendet sich
gegen die Partei; natürlich werden wir uns vereinigen, weil wir der Partei ergeben
sind.' Ich unterstützte ihn. Gewiß, ich hatte Meinungsverschiedenheiten mit Gen.
Trotzki; und wenn sich im ZK mehr oder weniger gleiche Gruppen herausbilden soll-
ten, dann wird die Partei ihr Urteil fällen, und zwar so, daß wir uns gemäß dem Wil-
len und den Direktiven der Partei vereinigen werden. Mit diesen Erklärungen sind
Gen. Trotzki und ich zum Verbandstag der Bergarbeiter gegangen und auch hierher-
gekommen. Die 'Arbeiteropposition' dagegen sagt: 'Wir werden keine Zugeständnisse
machen, aber wir werden in der Partei bleiben.' Nein, das wird nicht gelingen! (Bei-
fall.)"440
Trotzki betreibt in seiner Schrift "Die wirkliche Lage in Russland" einen Taschenspie-
lertrick: Er verschweigt die teilweise sehr gravierenden oben belegten Meinungsun-
terschiede zwischen Lenin und ihm und entstellt somit die Aussagen Lenins und ver-
kündet, dass diese Meinungsverschiedenheiten belanglos seien und sich Trotzki und
Lenin wieder vereinigen, also versöhnen. Dabei ging es Lenin keineswegs darum, die
Meinungsdifferenzen kleinzuspielen und sich mit Trotzki zu versöhnen, wie nach
einem kleinen Ehekrach. Die Partei hat sich gegen die Plattform von Trotzki und der
"Arbeiteropposition" gewandt und dieser vernichtende Schläge versetzt. Nachdem
Trotzki nach den "zwecklosen Diskussionen" gemerkt hatte, dass er nicht siegreich
hervorgehen konnte, zog er seine Plattform zurück und "vereinigte" sich wieder (vor-
erst) mit der Partei. Hatte er seine Fraktionsgeschichten bezüglich der Gewerkschafts-
frage liegen gelassen, führte er nach Lenins Tod weitere und heftigere Grabenkämpfe
und Fraktionsarbeiten durch, da er sich dort offensichtlich bessere Chancen versprach.
Aber nachdem sich Trotzki - zum Schein - der Linie der Partei untergeordnet hat und
seine Fraktionstätigkeit zurückzog, war es für Lenin kein Problem, diese Differenzen
ruhen zu lassen. Ging es Lenin um die Einheit der Partei, so versuchte Trotzki auf
billige Weise sich und sein Verhältnis zu Lenin reinzuwaschen, um sich als den "wah-
ren" Nachfolger zu rühmen.
Thomas Twiss stellt Trotzkis Entwicklung in Bezug zur Bürokratie dar, die sich sei-
ner Meinung nach von Lenin unterscheidet: In der Zeit kurz nach der Revolution
benutzte Trotzki den Ausdruck Bürokratie, um bestimmte Gruppen von Staatsange-
stellten zu beschreiben, die die sowjetische Politik störten. Doch er war entschieden

439
LENIN: "Noch einmal über die Gewerkschaften …", LW 32, S. 97 - 98
440
LENIN, X. Parteitag der KPR(B), 8. - 16. März, Schlusswort, LW 32, S. 205 - 206

187
Zur Geschichte der Sowjetunion

gegen die Annahme, dass das Problem an einer straffen Zentralisierung oder an kapi-
talistischen Einflüssen lag. Trotzki sah eher die Gefahr darin, dass Staatsangestellte
die effiziente Politik hemmten. 441 Später, zwischen 1919 - 1922, sah Trotzki den Bü-
rokratismus in gewissen Arbeitsmethoden, wie Papierwust, Trägheit, Inkompetenz
usw.442 Auf der anderen Seite wurde Trotzki zum Advokaten des Bürokratismus, der,
fast Max Weber folgend, Bürokratie als ein System der Effizienz sah und diese lob-
preiste. In dieser Zeit sprach Trotzki am positivsten über die Bürokratie, was er da-
nach nicht mehr tat. Offensichtlich lag es auch daran, dass sich viele Kommunisten
über bürokratischen Arbeitsstil beschwerten. 443 Darauf folgend sah er die Bürokratie
wieder als Problem an, doch diesmal sollte der Zentralismus schuld sein, besonders
der Zentralismus in Militär, Politik und Ökonomie.444 Der Kampf gegen den Bürokra-
tismus konnte sich laut Trotzki nicht darauf reduzieren, dass gegen einzelne Bürokra-
ten vorgegangen wird, da es sich um strukturelle Probleme in der Ökonomie handel-
te.445 Entsprechend trat Trotzki für eine Dezentralisierung der Ökonomie ein. 446 Dabei
war Trotzki selbst Verursacher dieses strukturellen Problems, da der zentralisierteste
Apparat in der jungen Sowjetrepublik die Rote Armee war. 447 Doch Trotzki als deren
Anführer war sich dieser Schuld nicht bewusst. Die Gewerkschaften und die Wirt-
schaft mussten militarisiert werden, so Trotzki448, doch gleichzeitig war der Bürokra-
tismus für ihn ein strukturelles Problem. Dessen Lösung wäre eine Dezentralisierung
der Ökonomie, was übrigens diese nicht beseitigt oder verbessert, sondern im Rahmen
einer sozialistischen Ökonomie nur unnötig verkompliziert hätte. Wir sehen also, dass
Trotzki bezüglich der Bürokratie permanenten Schwankungen unterlag, ohne jedoch
ein klares Konzept zu haben. Twiss kommentiert: "Eindeutig unterschied sich Trotz-
kis Analyse der Bürokratie erheblich von Lenins, sowohl in seiner [Trotzkis - M.K.]
ausschließlichen Beschäftigung mit den Problemen der Ineffizienz und seinem Fokus
auf die strukturellen Unzulänglichkeiten der sowjetischen Ökonomie. Konsequenter-
weise ist es nicht überraschend, dass Trotzki auch Lenins Allheilmittel für die Büro-
kratie - die Arbeiter- und Bauern-Inspektion ablehnte."449
Wir werden uns ein anderes Mal mit der Arbeiter- und Bauern-Inspektion beschäfti-
gen (dessen Vorsitzender übrigens Stalin war). An dieser Stelle ist es ausreichend zu

441
Twiss (2014), S. 72
442
Twiss (2014), S. 75
443
Twiss (2014), S. 77 - 78
444
Twiss (2014), S. 79
445
Twiss (2014), S. 81
446
Twiss (2014), S. 83
447
Twiss (2014), S. 46
448
Twiss (2014), S. 59
449
Twiss (2014), S. 82 - 83

188
Zur Geschichte der Sowjetunion

wissen, dass erstens Trotzki und Lenin in Punkto Bürokratismus nicht übereinstimm-
ten und zweitens, dass Trotzki schon zu Lenins Lebzeiten die "strukturellen" Proble-
me der Bürokratie angriff. Tony Clark stellt dazu richtigerweise fest, dass es nicht
darauf ankommt, die Bürokratie als Ganzes zu "beseitigen", sondern gegen konterre-
volutionäre Elemente in der Bürokratie zu kämpfen. Dieser Kampf erfordere dabei
zwei Seiten: Zum einen den Kampf gegen dysfunktionale Aspekte der Administration
(z. B. durch die Verbesserung der Administration durch bessere Ausbildung der Ka-
der und der Einschränkung des bürokratischen Apparates), zum anderen den Kampf
gegen die Abhebung der Bürokraten von den arbeitenden Massen. Die Bürokratie
solle dem Sozialismus dienen und werde auf dem Weg zum Kommunismus wie der
Staat absterben.450
Im Verlaufe dieser Untersuchung wird nicht nur gezeigt werden, dass auch in der
Sowjetunion Stalins der Bürokratismus bekämpft wurde, sondern auch, dass die
werktätigen Massen zur Verwaltung des Staates und der Wirtschaft, zur Kontrolle von
unten, herangezogen wurden.451 Doch vorher ist es noch interessant, einige weitere
Aspekte der trotzkistischen Kritik an der Bürokratie und an der Sowjetunion zu be-
leuchten. So wurde weiter oben erwähnt, dass Trotzki die „stalinistische Bürokratie“
als homogene Masse und als konterrevolutionär bezeichnete, ohne zwischen revoluti-
onären und konterrevolutionären Elementen zu unterscheiden. Natürlich sprach auch
Trotzki von der "dualen" Natur der sowjetischen Bürokraten. Er sprach auch von den
Widersprüchen und den Kämpfen innerhalb der „stalinistischen Bürokratie“. Das war
bei ihm jedoch nur ein Nebenaspekt, da er die politisch nicht haltbare These von der
konterrevolutionären „stalinistischen Bürokratie“ vertrat, die als Ganzes durch eine
politische Revolution gestürzt werden müsse. Man kann auch nicht wirklich feststel-
len, wo die „stalinistische Bürokratie“ beginnt und wo sie aufhört. Es ist eine sehr
vereinfachende Darstellung, die Clark als "Abstraktion" darstellte, weil sie die realen
Verhältnisse der sowjetischen Bürokratie nicht widerspiegelt. 452 Wenn man sich die
obigen Aussagen Lenins zur Bürokratie und deren Abschaffung vergegenwärtigt,
kann man der Aussage Clarks nur zustimmen! Denn wir haben oben festgestellt, dass
die Bürokratie nicht über die Produktionsmittel verfügt und somit keine Klasse dar-
stellt. Damit hat sie auch keine politische Macht. Die Bürokraten in der Sowjetunion
hatten zwar gewisse administrative Aufgaben, da sie den Staat verwalteten. Aber das
taten sie nur im Dienst der dominierenden Klasse, und diese war die Arbeiterklasse.
Ihre Administration war somit der politischen Macht untergeordnet.

450
CLARK, T.: Socialism and Bureaucracy https://espressostalinist.com/2016/07/06/ socialism-
and-bureaucracy/
451
Vgl. hierzu: KUBI (2015)
452
CLARK, T.: Stalin against the Soviet Bureaucracy http://marxism.halkcephesi.
net/Tony%20Clark/stalin%20against%20bureaucracy.htm

189
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die politische Macht drückt sich dadurch aus, dass sie die wichtige strategische Aus-
richtung einer Gesellschaft bestimmt. Im Sozialismus ist diese Ausrichtung u.a. die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die planmäßige Entwicklung der
Volkswirtschaft, wobei die Reichtümer der Arbeit der gesamten Gesellschaft zu Gute
kommen und nicht in den Taschen einiger weniger Kapitalisten landen. Die Ausbeu-
tung des Menschen durch den Menschen ist daher beseitigt. Für eine planmäßige
Entwicklung der Wirtschaft bedarf es jedoch auch administrativer Mittel, also auch
der Bürokratie. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Arbeiterklasse einen
niedrigen Bildungsstand hat und die Arbeitsproduktivität gering ist.
Hierbei spielen logischerweise auch die Überreste der alten Gesellschaft eine aus-
schlaggebende Rolle, da diese nicht von heute auf morgen beseitigt werden können.
Zu diesen gehört auch das bürokratische Erbe des alten Staates, der sich auch im
Denken und Handeln der Parteikader wiederfinden kann.
Weil aber die Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen Werktätigen die politische
Macht (und damit die Produktionsmittel) besitzt, kann die Bürokratie die Reichtümer
der Gesellschaft durch die Ausbeutung fremder Arbeit nicht anhäufen. Wenn also der
Sinn der Bürokratie in ihrer Verwaltung liegt, muss sie, unabhängig davon, ob sie
privilegiert ist oder nicht, von einer Klasse geleitet werden. Wenn wir uns jedoch
nochmals die Definitionen der Bürokratie von S. N. Eisenstadt in Erinnerung rufen, so
ist festzustellen, dass die Bürokratie nebst ihrer eigenen auch die Interessen der Ge-
samtgesellschaft vertritt. Im Falle der Sowjetunion war die Orientierung der Arbeiter-
klasse, den Übergang zum Sozialismus, die Industrialisierung und Modernisierung
sowie die Verteidigung der Arbeitermacht zu organisieren. Dazu brauchte es die Bü-
rokratie. Hier vertraten also sowohl die Arbeiterklasse als auch die Bürokratie das
gesellschaftliche Gesamtinteresse.453
Wenn jedoch das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse geschwächt wird, die
kommunistische Partei ihre Rolle in der Gesellschaft nicht erfüllt und die Bürokraten
sich zunehmend von der Masse der Werktätigen abheben, kann es dazu führen, dass
Teile der Bürokratie versuchen, ihre administrative Macht in eine politische zu ver-
wandeln. Hier zeigen sich die Widersprüche in der Bürokratie und der sozialistischen
Gesellschaft insgesamt. Diese Widersprüche gehören jedoch laut Tony Clark zu den
nicht-antagonistischen, sie sind also friedlich lösbar.454 Der Kampf gegen Bürokra-
tismus ist trotzdem ein Kampf der proletarischen Ideologie gegen die bürgerliche; es
ist Klassenkampf.

453
CLARK, T.: Stalin against the Soviet Bureaucracy
454
CLARK, T.: Stalin against the Soviet Bureaucracy

190
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzki forderte jedoch, die „stalinistische Bürokratie“ zu stürzen. Das führt zu der
Frage, welche konkrete Alternative Trotzki anbot. Dabei helfen Sprüche und Forde-
rungen wie "Arbeiterkontrolle" wenig. Eine Gesellschaft, in der Arbeitsteilung
herrscht oder in der sich die Produktivkräfte auf einem niedrigen Niveau befinden, ist
ohne Bürokratie im Sinne einer Verwaltung nicht denkbar. Daher ist Trotzkis fehlen-
de Alternative kein Wunder. Wollte er die „stalinistische Bürokratie“ vielleicht nur
deswegen stürzen, um die Stalin-Bilder im Kreml durch seine eigenen ersetzen zu
lassen?
"Kurz gesagt, laut Trotzki ist der sowjetische Staat kein Arbeiterstaat, bei dem es
bürokratische Tendenzen gibt, sondern im Gegenteil ein Staat der Bürokratie, der im
Interesse der Bürokratie geführt wird."455

3.2. Bürokratie und Privilegien


Aus den obigen Tatsachen lässt sich also belegen, dass die Bürokratie keine homoge-
ne Schicht, schon gar keine Klasse ist. Wie in einer jeden Gesellschaftsformation
erfüllt die Bürokratie unterschiedliche Aufgaben. Je komplexer eine Gesellschaft ist,
desto mehr muss die Bürokratie einer differenzierten Betrachtung unterworfen wer-
den.
Mit der "Machtergreifung" Stalins sei - so die Trotzkisten - die Arbeiterklasse in der
Sowjetunion entmachtet worden und eine bürokratische Clique habe sich durch die
Ausbeutung der Arbeiter und Bauern bereichert. Stalin sei dabei der ideologische
Führer gewesen, der den Marxismus entstellt und so die Herrschaft der Bürokraten zu
rechtfertigen versucht habe. Die trotzkistische Gruppe "Arbeitermacht" sieht bei-
spielsweise einen Bruch zwischen dem Sozialismus und dem Stalinismus; sie
schreibt: "Die UdSSR war nicht sozialistisch - sie war stalinistisch". Der Stalinismus
sei eine Krankheit, vor der Trotzki warnte. 456 Stalins Herrschaft sei also eine Negation
des Sozialismus, weil dieser die Arbeiterklasse entmachtet und entrechtet habe. So-
weit das gängige Vorurteil.
Trotzki verwendet die Begriffe "Bürokratismus", "Thermidor" etc. sehr häufig, ohne
jedoch eine klare Definition zu haben. Das nutzen die verschiedenen Gegner des
Kommunismus und der Sowjetunion zum Vorteil. Denn hiermit wird ein Blanko-
scheck ausgestellt, alles und jedes am Sozialismus zu kritisieren: Mit dem Totschlag-
argument des Bürokratismus wird gesagt, dass im Sozialismus nicht die Arbeiterklas-
se herrschte, sondern eine Clique von selbstgefälligen Bürokraten, die über die Köpfe

455
CAMPBELL (1939), S. 146
456
BRENNER, R. (2013) http://www.arbeitermacht.de/buecher/trotzki/kapitel5.htm

191
Zur Geschichte der Sowjetunion

der Arbeiterklasse hinweg alles entscheiden konnte und sich wie eine parasitäre Klas-
se den von der Arbeiterklasse geschaffenen Mehrwert angeeignet und in purem Luxus
gelebt habe. Dies impliziert auch noch andere Vorwürfe: ein Fehlen an Demokratie,
exzessiven Zentralismus, ökonomische Ineffizienz, Erstickung jeglicher Entwicklung
in der Gesellschaft, unnötigen Papierkram etc.
Die Antikommunisten verstanden es schon immer, den Sozialismus als "bürokratische
Diktatur" zu diskreditieren. Ludo Martens schreibt diesbezüglich: "Sobald die Bol-
schewiki an die Macht gekommen waren, benutzte die Rechte das Wort ‚Bürokratie‘,
um das revolutionäre Regime selbst zu beschreiben und herabzuwürdigen. Für die
Leute der Rechten ist jedes sozialistische und revolutionäre Unterfangen grund-
schlecht und wird von vornherein mit dem Eigenschaftswort ‚bürokratisch‘ be-
schimpft. Schon ab dem 26. Oktober 1917 erklärten die Menschewiki dem ‚bürokrati-
schen‘ Regime der Bolschewiki ihre unversöhnliche Feindschaft, es sei aus einem
‚Staatsstreich‘ hervorgegangen und zwinge dem Volk einen ‚Staatskapitalismus‘ auf.
Diese Propaganda hat ganz klar den Sturz der von der Bolschewistischen Partei er-
richteten Diktatur des Proletariats zum Ziel." 457
Trotzkis bekanntestes Werk diesbezüglich ist sein Buch "Verratene Revolution" von
1936. In diesem Werk beschreibt Trotzki die Sowjetunion als ein zwischen Kapita-
lismus und Sozialismus stehendes Regime, welches durch die stalinistische Bürokra-
tie stecken geblieben sei. Es herrsche also eine allmächtige totalitäre Bürokratie, de-
ren Führer Stalin sei. Die Bürokratie genieße unermessliche Privilegien, die sie sich
auf Kosten der Arbeiterklasse und der Bauern unrechtmäßig aneigne. Jedoch handele
es sich bei der Bürokratie nicht um eine eigenständige (ausbeutende) Klasse wie z. B.
die Bourgeoisie. Damit sei die Sowjetunion ein nach zwei Seiten offenes "Übergangs-
oder Zwischenregime": offen sowohl zur Restauration kapitalistischer Produktions-
verhältnisse als auch zur Etablierung sozialistischer Verhältnisse. Im Zuge einer er-
neuten politischen (im Gegensatz zu seiner sozialen) Revolution 458 müsse das Stalin-
Regime entmachtet werden, damit echte sozialistische Produktionsverhältnisse ge-
schaffen werden könnten. Die stalinistische "Konterrevolution" wird in Analogie zur
Französischen Revolution als "Thermidor" klassifiziert, der autoritäre Herrschaftsstil
der "stalinistischen Bürokratie" als "Bonapartismus". So logisch für manche Anhä-
nger Trotzkis Analogien auch sein mögen, vom marxistischen Standpunkt der Klas-

457
MARTENS, L. (1998), S. 135
458
Von einer sozialen Revolution spricht man, wenn die Produktionsverhältnisse geändert
werden sollen, als kapitalistisches in sozialistisches Eigentum verändert wird. Eine politische
Revolution hingegen rührt die Produktionsverhältnisse nicht an, sondern schafft Änderungen
im politischen Überbau, z. B. die Entmachtung eines Kaisers und den Ersatz durch einen ande-
ren oder in diesem Fall die Entmachtung Stalins durch Trotzki.

192
Zur Geschichte der Sowjetunion

senanalyse ist Trotzkis Werk zutiefst antimarxistisch und, wie sich zeigen wird, in
jeglicher Hinsicht unwissenschaftlich.
Um die Verwirrtheit von Trotzkis Konstruktion des "degenerierten Arbeiterstaates"
zusammenzufassen: Zwar habe das Proletariat die Macht erobert, sei aber von der
Bürokratie entmachtet worden. Letztere sei aber keine Klasse, also stehe der "Stali-
nismus" irgendwo zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Auch wenn die Bürokra-
tie keine Klasse sei und formal das Proletariat die Macht erobert habe, herrsche die
Bürokratie aber trotzdem wie eine Klasse, obwohl sie aber keine echte Klasse sei und
als Bürokratie nur im Interesse einer Klasse herrschen könne. Da aber die stalinisti-
sche Bürokratie nicht im Interesse der Arbeiterklasse herrsche, es aber auch keine
Bourgeoisie mehr gebe, herrsche sie quasi wie eine Klasse. Hans-Jürgen Falkenhagen
kommentiert in seiner Arbeit über das Wesen des Trotzkismus dazu: "Gebetsmühlen-
artig werden in Trotzkis Schriften ständig Begriffe wie Diktatur der Bürokratie, Par-
teibürokratie, Sowjetbürokratie, staatliche Bürokratie, bürokratische Strukturen, büro-
kratische Entartung, Stalin-Bürokratie als bösartiger Auswuchs am Körper der Arbei-
terklasse, degenerierte Parteiführung u. ä. Wortkombinationen wiederholt, wobei
nirgends definiert ist, was Trotzki genau genommen unter Bürokratie verstand, wenn
man von solchen nichtssagenden Definitionen absieht, dass die Sowjetbürokratie eine
kollektive Deformation sei und er bisweilen von 400.000 Personen in der UdSSR
redete, die man der Bürokratie zuordnen müsse." 459
Nicht selten wird behauptet, dass nach der sozialistischen Revolution nicht nur in
Form der Bürokratie eine privilegierte Schicht entstehen könne, sondern dass dies
auch aus den oberen Schichten der Arbeiterklasse und der Intelligenz möglich sei.
Auch in der Sowjetunion hätte sich keine Gleichheit entwickelt. Dazu argumentierte
Otto Bauer in seinem Buch "Zwischen zwei Weltkriegen" (S. 164/165): "Andererseits
war die Sowjetunion gezwungen, die Einkommen aller Volksklassen, der Arbeiter,
der Angestellten, der Bauern, der Beamten wesentlich zu differenzieren. Sie mußte
intensivere Arbeit, Arbeit höherer Qualifikation und Arbeit höherer Qualität höher
entlohnen, um den Antrieb zur Produktivierung, zur Intensivierung, zur Qualifizie-
rung der Arbeit zu steigern. Daher hob sich aus allen Volksklassen eine privilegierte
Schicht der 'vornehmen Leute' heraus, die, durch besonders tüchtige Arbeitsleistung
ausgezeichnet, besonders hohe Einkommen hat, besonders großes soziales Ansehen
und mancherlei Privilegien genießt. Aus dieser Schicht ergänzt sich die industrielle
Bürokratie. Ihre Kinder werden bei der Aufnahme in die höheren Schulen bevorzugt.
Sie ist mit der herrschenden Partei, mit dem regierenden bürokratischen Apparat be-
sonders eng verknüpft. Diese an sich unvermeidliche Entwicklung schließt eine ernste
Gefahr in sich: (...) Es wäre nicht eine sozialistische Gesellschaft, sondern eine Art

459
FALKENHAGEN, H.-J. Leo Trotzki und das Wesen des Trotzkismus, Teil 1, S. 71

193
Zur Geschichte der Sowjetunion

Technokratie, eine Herrschaft der Ingenieure, der Wirtschaftsführer und der staatli-
chen Bürokratie, die in diesem Falle aus dem großen revolutionären Prozeß hervor-
ginge. Diese Gefahr kann nicht anders überwunden werden als durch die Demokrati-
sierung der Staatsverfassung der Sowjetunion und der Betriebsverfassung ihrer Un-
ternehmungen."460
Eine ähnliche Argumentation vertrat auch Trotzki, indem er sagte, dass die Arbeits-
produktivität gering sei und somit nicht genügend Güter zur Verfügung stünden und
die kulturellen und materiellen Bedürfnisse nur für eine bevorzugte Minderheit voll
befriedigt werden könnten. Diese Minderheit aber - die Bürokratie und ein Teil der
Arbeiter, Bauern und der Intelligenz, der zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu
besonderen Leistungen angespornt und dafür hoch bezahlt würde - entwickle sich zu
einer gehobeneren sozialen Schicht, die sich von der Masse wesentlich unterschei-
de.461
Genauso aber wie aus der Bürokratie keine neue Klasse entsteht, entsteht auch aus
besserverdienenden Schichten durch ein höheres Einkommen keine neue Klasse. Die
Klassenbildung ist von den Produktionsverhältnissen abhängig. In einer Gesell-
schaftsformation, in der die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, gibt es keine
privaten Kapitalisten, die durch die Ausbeutung der Werktätigen sich den durch die-
sen geschaffenen Mehrwert aneignen können. Außerdem hat der "Marxismus (…) die
Gleichheitsforderung nie so verstanden, daß jede Individualität vernichtet und alle
Menschen gleich gemacht werden müßten. Solche Vorstellungen hatten nur die Vor-
läufer des wissenschaftlichen Sozialismus, die Utopisten, die das Wesen der Klassen-
gesellschaft und die Notwendigkeit, die Klassen zu beseitigen, nicht erkannt hatten.
(…) Im ‚Kommunistischen Manifest‘ schrieben Marx und Engels: 'Was den Kommu-
nismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die
Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne bürgerliche Privateigen-
tum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Pro-
dukte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen
beruht.' Dieses bürgerliche Privateigentum, diese Ausbeutung muß abgeschafft und
die Klassenungleichheit beseitigt werden. Doch — so steht weiter im 'Kommunisti-
schen Manifest' zu lesen: 'Wir wollen diese persönliche Aneignung der Arbeitspro-
dukte zur Wiedererzeugung des unmittelbaren Lebens keineswegs abschaffen, eine
Aneignung, die keinen Reinertrag übrig läßt, der Macht über fremde Arbeit geben
könnte. Wir wollen nur den elenden Charakter dieser Aneignung aufheben, worin der
Arbeiter nur lebt, um das Kapital zu vermehren, nur so weit lebt, wie es das Interesse
der herrschenden Klasse erheischt.' In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige

460
Zitiert in SEYDEWITZ (1938), ebenda
461
Vgl. SEYDEWITZ (1938), ebenda

194
Zur Geschichte der Sowjetunion

Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen
Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Ar-
beiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern. (...) Der Kommunismus nimmt kei-
nem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Macht
sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen." 462
Als Klassengesellschaft gilt im Sozialismus das Prinzip: "Jeder nach seiner Fähigkeit,
jedem nach seiner Leistung", dazu weiter unten mehr. Aber: "Die gesellschaftlichen
Zustände in der Sowjetunion geben jedem die Möglichkeit, seine Fähigkeiten frei zu
entfalten. Jedem ist also das gleiche Recht gegeben, seine Qualifikation zu steigern,
seine Arbeitsleistung und seinen Anteil an den vorhandenen Gütern zu erhöhen." 463
Nun war es aber tatsächlich so, dass es einige privilegierte Schichten in der Sowjet-
union gab. Sie waren privilegiert in der Hinsicht, dass sie z. B. über eine höhere Be-
zahlung verfügten oder einen größeren Wohnraum hatten. Es gab also daher tatsäch-
lich erkennbare soziale Differenzen in der sowjetischen Gesellschaft, auch wenn diese
bei weitem nicht so gravierende Ausmaße annahmen wie von Antikommunisten be-
hauptet. Zu der höheren Bezahlung einiger Spezialisten kommentierte Lenin:
"Wir mußten jetzt zu dem alten, bürgerlichen Mittel greifen und uns mit einer sehr
hohen Bezahlung der 'Dienste' der bedeutendsten bürgerlichen Spezialisten einver-
standen erklären. Alle, die die Dinge kennen, sehen das, aber nicht alle überlegen sich
die Bedeutung einer derartigen Maßnahme des proletarischen Staates. Es ist klar, daß
eine solche Maßnahme ein Kompromiß, eine Abweichung von den Prinzipien der
Pariser Kommune und jeder proletarischen Macht ist, die fordern, daß die Gehälter
dem Lohn des Durchschnittsarbeiters angeglichen werden und daß man den Kampf
gegen den Karrierismus mit Taten und nicht mit Worten führe. Noch mehr. Es ist klar,
daß eine solche Maßnahme nicht nur eine Unterbrechung — auf einem gewissen
Gebiet und in einem gewissen Grade — der Offensive gegen das Kapital bedeutet
(denn Kapital ist nicht eine Summe Geldes, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches
Verhältnis), sondern auch einen Schritt zurück für unsere sozialistische, sowjetische
Staatsmacht, die von Anfang an eine Politik der Herabsetzung der hohen Gehälter auf
den Lohn eines Durchschnittsarbeiters proklamiert und durchgeführt hat.
Gewiß, die Lakaien der Bourgeoisie, besonders diejenigen kleineren Formats, wie die
Menschewiki, die Leute von der 'Nowaja Shisn', die rechten Sozialrevolutionäre,
werden kichern, wenn sie das Eingeständnis hören, daß wir einen Schritt zurück ma-
chen. Wir aber brauchen dem Kichern keine Beachtung zu schenken. Wir müssen die
Besonderheiten des außerordentlich schwierigen und neuen Weges zum Sozialismus

462
SEYDEWITZ (1938), ebenda
463
SEYDEWITZ (1938), ebenda

195
Zur Geschichte der Sowjetunion

studieren, ohne unsere Fehler und Schwächen zu verdecken, müssen vielmehr das
Unvollendete rechtzeitig zu vollenden suchen.
Den Massen verheimlichen, daß die Heranziehung bürgerlicher Spezialisten durch
außerordentlich hohe Gehälter eine Abweichung von den Prinzipien der Kommune
ist, würde bedeuten, auf das Niveau bürgerlicher Politikaster hinabsinken und die
Massen betrügen. Offen erklären, wie und warum wir den Schritt zurück gemacht
haben, dann öffentlich beraten, welche Mittel vorhanden sind, das Versäumte nachzu-
holen — das bedeutet, die Massen erziehen und zusammen mit ihnen aus der Erfah-
rung lernen, wie man den Sozialismus aufbauen muß. (…)
Treten wir an die Frage von der praktischen Seite heran. Angenommen, die Russische
Sowjetrepublik braucht 1000 erstklassige Gelehrte und Spezialisten verschiedener
Gebiete des Wissens, der Technik, der praktischen Erfahrung zur Leitung der Arbeit
des Volkes, um die Wirtschaft des Landes möglichst rasch zu heben. Angenommen,
wir müßten jedem dieser 'Sterne erster Größe' — die meisten von ihnen sind natürlich
durch die bürgerlichen Sitten um so mehr verdorben, je bereitwilliger sie schreien, die
Arbeiter seien verdorben — 25.000 Rubel jährlich zahlen. Angenommen, wir müßten
diese Summe (25 Millionen Rubel) verdoppeln (gedacht ist an die Auszahlung von
Prämien für besonders erfolgreiche und schnelle Ausführung der wichtigsten organi-
satorisch-technischen Aufgaben) oder sogar vervierfachen (gedacht ist an die Heran-
ziehung von einigen hundert noch anspruchsvolleren ausländischen Spezialisten).
Fragt sich, ob man wirklich diese Ausgabe von fünfzig oder hundert Millionen Rubel
jährlich für die Umorganisierung der Volksarbeit nach dem letzten Wort der Wissen-
schaft und Technik für die Sowjetrepublik übermäßig oder untragbar nennen kann?
Natürlich nicht.
Die erdrückende Mehrheit der bewußten Arbeiter und Bauern wird eine solche Aus-
gabe gutheißen, weil sie aus dem praktischen Leben weiß, daß unsere Rückständigkeit
uns zwingt, Milliarden zu verlieren, und daß wir noch nicht den Grad der Organisiert-
heit, der Rechnungsführung und Kontrolle erreicht haben, um eine allgemeine und
freiwillige Beteiligung der ‚Sterne‘ der bürgerlichen Intelligenz an unserer Arbeit
auslösen zu können."464
"Wir werden zwar noch nicht bald so weit sein können, aber wir müssen um jeden
Preis dahin kommen, daß die Spezialisten als besondere soziale Schicht, die bis zur
Erreichung der höchsten Entwicklungsstufe der kommunistischen Gesellschaft eine
besondere Schicht bleiben wird, unter dem Sozialismus besser leben als unter dem
Kapitalismus, sowohl in materieller als auch in rechtlicher Beziehung, sowohl im
Hinblick auf die kameradschaftliche Zusammenarbeit mit den Arbeitern und Bauern

464
LENIN, "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", Band 27, S. 239 - 240

196
Zur Geschichte der Sowjetunion

als auch in geistiger Hinsicht, d. h. hinsichtlich der Befriedigung, die sie in ihrer Ar-
beit finden, und des Bewußtseins, daß ihre Arbeit, die von den eigennützigen Interes-
sen der Kapitalistenklasse unabhängig ist, gesellschaftlichen Nutzen bringt." 465
Die rückständige Situation Russlands, besonders im ökonomischen Bereich, erforder-
te es, dass die Spezialisten und Bürokraten für die Sache des Sozialismus gewonnen
werden mussten. Man konnte nicht auf sie verzichten. Die alte zaristische Bürokratie
war unter der Kontrolle der Sowjetmacht.466 Die Situation besserte sich in dieser Hin-
sicht auch nicht während der Industrialisierung der 30er Jahre, da hier erst begonnen
werden konnte, die Rückständigkeit der Sowjetunion zu überwinden. Dieser langwie-
rige Prozess - der Kampf gegen den Bürokratismus - kann nicht über Nacht abge-
schlossen werden, sondern endet erst mit dem Kommunismus.
Entgegen der Propaganda war es Trotzki selbst, der diese Privilegien unterstützte,
nämlich in der von ihm geführten Roten Armee. Die Historikerin Sheila Fitzpatrick
schrieb hierzu: "Zu einem beträchtlichen Ausmaß musste die Rote Armee die Lücken
schließen, die die bürgerliche Verwaltung nach ihrem Zusammenbruch hinterließ: Es
war die größte und am besten funktionierende Bürokratie, die das Sowjetregime in
seinen frühen Jahren besaß mit dem ersten Anrecht auf alle Ressourcen." 467 "Bis zum
Ende des Bürgerkrieges wurden zehntausende von Arbeitern, Soldaten und Matrosen
'Kader', also Personen, die verantwortliche, normalerweise administrative Anstellun-
gen hatten – an erster Stelle Bolschewiki und jene die mit ihnen 1917 gekämpft hat-
ten, aber später jene, die sich in der Roten Armee oder den Fabrikkomitees auszeich-
neten, jene, die jung und vergleichsweise gut ausgebildet waren oder einfach jene, die
eine Ambition hatten, in der Welt aufzusteigen."468
Also war es in den ersten Jahren der Revolution die Rote Armee, angeführt von
Trotzki, die die erste sowjetische Bürokratie darstellte. An anderer Stelle heißt es bei
Fitzpatrick: "Tatsächlich bevorzugte das Rationierungssystem im Kriegskommunis-
mus bestimmte Kategorien der Bevölkerung, inklusive das Personal der Roten Armee,
Facharbeiter in Schlüsselindustrien, kommunistische Verwalter und einige Gruppen
der Intelligenz."469

465
LENIN, "Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen der
Neuen ökonomischen Politik. Beschluß des ZK der KPR(B) vom 12. Januar 1922, Band 33, S.
180
466
Vgl. FITZPATRICK (1982), S. 94
467
FITZPATRICK (1982), S. 68
468
FITZPATRICK (1982), S. 83
469
FITZPATRICK (1982), S. 73

197
Zur Geschichte der Sowjetunion

Nachdem also der zaristische Staat kollabierte, war es die Rote Armee, die zur mäch-
tigsten Institution des jungen Sowjetstaates heranwuchs. Viele Militärangehörige
übernahmen dann später die Verwaltung der zivilen Behörden. Da die Rote Armee
mit der Erlaubnis Trotzkis zaristische Generäle – am Ende des Bürgerkrieges waren
es etwa 50.000470 – in der Roten Armee zuließ, stiegen auch hier die Privilegien, um
diese Generäle für die Rote Armee zu gewinnen. Dieser von Fitzpatrick erörterte
Umstand erklärt es auch, dass Trotzki die Gewerkschaften militarisieren wollte.
Auch außerhalb der Roten Armee war der Anteil bürgerlicher Spezialisten nicht ge-
ring. Im August 1918 waren die Hälfte der Staatsbediensteten in den Kommissariaten
und fast 90% der höheren Staatsdiener von vor der Revolution im Amt. Im Dezember
1918 waren 57% der Mitglieder der Haupt-Kommissionen (der sog. „Glavki“) des
Obergremiums der Nationalen Volkswirtschaft (VSNKh) bürgerliche Spezialisten,
während 43% Arbeiter oder Delegierte von Arbeiterorganisationen waren. 1921 wa-
ren 80% der wichtigsten Posten der VSNKh und 74% der Verwaltungskollegien von
bürgerlichen Spezialisten besetzt. Auch die Manager der Fabriken waren überwiegend
bürgerliche Spezialisten. Ende 1918 waren 76% des Kommando- und Verwaltungs-
stabes der Roten Armee mit zaristischen Offizieren besetzt.471

3.3. Trotzkis Bewertung der sowjetischen Bürokratie in


"Verratene Revolution"
Trotzki sah zwar in der „stalinistischen Bürokratie“ keine Klasse, aber durch seine
Forderung des politischen Sturzes dieser wird sie behandelt, als sei sie eine. Trotzki
schreibt zum Beispiel in "Verratene Revolution":
"Den Charakter einer Klasse bestimmt ihre Stellung im gesellschaftlichen System der
Wirtschaft, in erster Linie ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. In zivilisierten
Gesellschaftsordnungen sind die Besitzverhältnisse in Gesetzen verankert. Die Ver-
staatlichung von Grund und Boden, industriellen Produktionsmitteln, Transport und
Verkehr bilden mitsamt dem Außenhandelsmonopol in der UdSSR die Grundlagen
der Gesellschaftsordnung. Diese von der proletarischen Revolution geschaffenen
Verhältnisse bestimmen für uns im Wesentlichen den Charakter der UdSSR, als den
eines proletarischen Staates.
In ihrer vermittelnden und regulierenden Funktion, ihrer Sorge um die Erhaltung der
sozialen Rangstufen und der Ausnutzung des Staatsapparates zu Privatzwecken ähnelt
die Sowjetbürokratie jeder anderen Bürokratie, besonders der faschistischen. Aber es

470
Vgl. FITZPATRICK (1982), S. 68
471
TWISS (2014), S. 45

198
Zur Geschichte der Sowjetunion

gibt auch enorme Unterschiede. Unter keinem anderen Regime außer dem der UdSSR
hat die Bürokratie einen solchen Grad der Unabhängigkeit von der herrschenden
Klasse erlangt. In der bürgerlichen Gesellschaft vertritt die Bürokratie die Interessen
der besitzenden und gebildeten Klasse, die über unzählige Mittel verfügt, ihre Ver-
waltung zu kontrollieren. Die Sowjetbürokratie jedoch schwang sich über eine Klasse
auf, die eben erst aus Elend und Dunkel befreit und keine Traditionen im Herrschen
und Kommandieren besitzt. Während die Faschisten, nachdem sie die Futterkrippe
erreichten, mit der Großbourgeoisie gemeinsame Interessen-, Freundschafts-, Ehe-
bande usw. knüpften, macht sich die Bürokratie der UdSSR die bürgerlichen Sitten zu
eigen, ohne eine nationale Bourgeoisie neben sich zu haben. In diesem Sinne muss
man zugeben, dass sie etwas mehr ist als eine Bürokratie. Sie ist die einzige im vollen
Sinne des Wortes privilegierte und kommandierende Schicht der Sowjetgesellschaft.
(…) Die Bürokratie hat für ihre Herrschaft noch keine sozialen Stützpunkte, will
sagen besondere Eigentumsformen, geschaffen. Sie ist gezwungen, das Staatseigen-
tum als die Quelle ihrer Macht und ihrer Einkünfte zu verteidigen. Von dieser Seite
ihres Wirkens her bleibt sie immer noch ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats.
Der Versuch, die Sowjetbürokratie als eine Klasse von 'Staatskapitalisten' hinzustel-
len, hält der Kritik sichtlich nicht stand. Die Bürokratie hat weder Aktien noch Obli-
gationen. Sie rekrutiert, ergänzt, erneuert sich kraft einer administrativen Hierarchie,
ohne Rücksicht auf irgendwelche besonderen, ihr eigenen Besitzverhältnisse. Der
einzelne Beamte kann seine Anrechte auf Ausbeutung des Staatsapparates nicht wei-
tervererben. Die Bürokratie genießt ihre Privilegien missbräuchlicher Weise. Sie
verschleiert ihre Einkünfte. Sie tut, als existiere sie gar nicht als besondere soziale
Gruppe. Die Aneignung eines enormen Anteils am Volkseinkommen durch die Büro-
kratie ist soziales Schmarotzertum. All das macht die Lage der kommandierenden
Sowjetschicht trotz ihrer Machtfülle und trotz dem Dunstschleier der Schmeichelei im
höchsten Grade widerspruchsvoll, zweideutig und unwürdig."472
Aus diesen Zitaten kann man Trotzkis "Logik" der Argumentation herauslesen. In
seiner Unfähigkeit dazu, die sowjetische Gesellschaft genauer zu analysieren, ver-
mischte er richtige Beobachtungen (Klassen definieren sich durch ihre Stellung zu
den Produktionsmitteln, die Bürokratie ist daher keine Klasse) mit übertriebenen und
konterrevolutionären Feststellungen. Er behauptete nicht nur, dass die „stalinistische
Bürokratie“ der faschistischen am ähnlichsten wäre, sondern auch, dass die sowjeti-
sche Bürokratie einen so hohen Grad der Unabhängigkeit erreicht hätte wie keine
Bürokratie vor ihr. Selbst wenn diese Entwicklung gestimmt hätte, haben wir aber
oben gesehen, dass Trotzki an dieser Entwicklung ebenso schuldig war. Hätte er diese

472
TROTZKI (1936), S 239 F.

199
Zur Geschichte der Sowjetunion

angebliche Fehlentwicklung selbstkritisch anerkannt, wäre auch hier erst einmal


nichts dagegen einzuwenden. Doch von Selbstkritik fehlt diesem Propheten der rich-
tigsten Revolution und des unbürokratischsten Sozialismus jede Spur. Hinzu kommt,
dass Trotzki nicht ein einziges Mal seine Behauptungen nachwies. Er verwies nur
darauf, dass die Bürokratie enorme Privilegien genoss und daher parasitär lebte.
Parasitär kann nur eine ausbeutende Klasse sein, die von der Arbeit anderer lebt. Dies
sprach er der Bürokratie in der Sowjetunion aber (noch) nicht zu. Sie habe ja, wie
Trotzki richtigerweise sagt, keine eigenen Eigentumsformen geschaffen. Sie könne
zwar ihre Privilegien und Anrechte auf Ausbeutung (!) des Staates nicht vererben,
erneuere sich aber kraft einer administrativen Hierarchie – also aus sich selbst heraus.
Wenn man aber von Ausbeutung spricht, und zwar von der Ausbeutung des Staatsei-
gentums, müsste die Bürokratie von fremder Arbeit leben und damit die Kriterien
einer Ausbeuterklasse erfüllen. Das wollte Trotzki natürlich nicht so recht zugeben
und sah sie immer noch als Werkzeug der Diktatur des Proletariats. Aber was sollte
solch eine Diktatur des Proletariats wert sein, wenn es das Proletariat zulässt, sich
ausbeuten zu lassen und eine parasitäre Schicht duldet? Daraus lässt sich doch nur die
Schlussfolgerung ziehen, dass die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion gar
nicht herrschte. Doch auch das wollte Trotzki nicht zugestehen. Die "stalinistische
Bürokratie" sei eben doch etwas mehr als Bürokratie und stehe daher über den Klas-
sen. Wie das gehen soll, das verschweigt uns Trotzki und gestand nur zu, dass die
Bürokratie sehr widerspruchsvoll und sogar unwürdig wäre.
Übrigens erwähnt Trotzki an mehreren Stellen in "Verratene Revolution", dass die
stalinistische Bürokratie der faschistischen ähnlich sei: "Stalinismus und Faschismus
stellen trotz des tiefen Unterschiedes ihrer sozialen Grundlagen symmetrische Er-
scheinungen dar. In vielen Zügen sind sie einander erschreckend ähnlich. (…) Der
Weltrevolution den Rücken kehrend hat die Stalinsche Bürokratie auf ihre Weise
recht: sie folgt lediglich ihrem Selbsterhaltungstrieb." 473
Obwohl die Eigentumsverhältnisse also unterschiedlich sind, gleichen sich trotzdem
Stalinismus und Faschismus laut Trotzki wie ein Ei dem anderen, da beide das Prole-
tariat und die "Weltrevolution" unterdrücken. Was hilft es also der Arbeiterklasse in
der Sowjetunion von einem Arbeiterstaat zu sprechen, wenn das staatliche Eigentum
von jenen verwaltet wird, die quasi wie Faschisten agieren? Da hilft es auch wenig,
wenn Trotzki den "Doktrinären" vorwarf, mit solchen "fakultativen Bestimmungen
nicht zufrieden" zu sein, da sie "kategorische Formulierungen" forderten. 474 Er formu-
lierte sogar: "In unserer Analyse hüten wir uns am meisten davor, der Dynamik des

473
TROTZKI (1936), S. 268
474
TROTZKI (1936), S. 246

200
Zur Geschichte der Sowjetunion

gesellschaftlichen Werdens, das keine Vorläufer und keine Analogien kennt, Gewalt
anzutun. Die wissenschaftliche wie die politische Aufgabe besteht nicht darin, einen
unvollendeten Prozess mit einer vollendeten Definition zu versehen, sondern darin,
ihn in all seinen Etappen zu verfolgen, seine fortschrittlichen und reaktionären Ten-
denzen herauszuschälen, deren Wechselwirkung aufzuzeigen, die möglichen Entwick-
lungsvarianten vorauszusehen und in dieser Voraussicht eine Stütze fürs Handeln zu
finden."475
Grundsätzlich könnte man diese Aussage unterschreiben, wenn da nicht ein kleiner
Haken wäre: Sie erfordert die richtige Analyse und diese liefert Trotzki nicht einmal
ansatzweise. Seine Kritik beschreibt nicht die Dynamik einer Gesellschaft. Vielmehr
offenbart sie eine Verwirrung der Gedankengänge Trotzkis, da seine Definitionen
keine analytischen Inhalte aufweisen. Tony Clarks oben zitierte Aussage, Trotzkis
Theorien seien reine Abstraktion, klingt noch fast zu harmlos. Aussagen wie "die
Bürokratie ist parasitär und beutet das Staatseigentum aus, ist aber daher keine Klas-
se", ohne auch nur einen Beweis zu bringen, repräsentiert keine dialektische Dyna-
mik, sondern bestenfalls scholastische Esoterik. Natürlich versucht Trotzki an mehre-
ren Stellen zu "beweisen", dass sich die Bürokratie vom Staate lösen und verselbst-
ständigen könne (ohne eine richtige Klasse zu sein):
"Die bürgerliche Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung oft das politische Regime und
die bürokratischen Kasten gewechselt, ohne ihre sozialen Grundlagen zu ändern.
Gegen eine Wideraufrichtung des Leibeigenschafts- und des Zunftwesens sicherte sie
die Überlegenheit ihrer Produktionsmethoden. Die Staatsmacht konnte die kapitalisti-
sche Entwicklung fördern oder hemmen, doch im allgemeinen verrichteten die Pro-
duktivkräfte auf der Grundlage des Privateigentums und der freien Konkurrenz ihr
Werk für sich allein. Dagegen sind die aus der sozialistischen Revolution hervorge-
gangenen Besitzverhältnisse unlösbar an den neuen Staat, ihren Träger gebunden. Das
Übergewicht der sozialistischen Tendenzen über die kleinbürgerlichen ist nicht durch
den Automatismus der Wirtschaft gesichert – bis dahin ist es noch weit –, sondern
durch politische Diktaturmaßnahmen. Der Charakter der Wirtschaft hängt somit völ-
lig von dem der Staatsmacht ab."476
In seiner Schrift "Nichtproletarischer und nichtbürgerlicher Staat?" aus dem Jahr 1937
schreibt Trotzki: "Kennt die Geschichte vielleicht keinen Fall eines Klassengegensat-
zes zwischen Staat und Wirtschaft? Oh ja! Als der Dritte Stand die Macht eroberte,
blieb die Gesellschaft noch mehrere Jahre lang die feudale. Während der ersten Mo-
nate des Sowjetregimes beherrschte das Proletariat eine bürgerliche Ökonomie. Auf

475
TROTZKI (1936), ebenda
476
TROTZKI (1936), S. 241

201
Zur Geschichte der Sowjetunion

dem Gebiet der Landwirtschaft stützte sich die Diktatur des Proletariats mehrere Jahre
lang auf eine kleinbürgerliche Ökonomie (in erheblichem Maße auch heute noch). Im
Falle eines Erfolges der bürgerlichen Konterrevolution in der UdSSR müsste sich die
neue Regierung während einer langen Periode auf die nationalisierte Wirtschaft stüt-
zen. [Genau das geschah aber nach der Konterrevolution 1991 nicht! Das staatliche
Eigentum wurde aufgelöst und privatisiert! - M. K.] Was aber bedeutet ein derartiger
zeitweiliger Gegensatz zwischen Staat und Wirtschaft? Er bedeutet Revolution oder
Konterrevolution. Der Sieg einer Klasse über die andere wird ja eben errungen, um
die Wirtschaft im Interesse des Siegers umzugestalten. Aber ein solcher zwiespältiger
Zustand, notwendiges Moment jeder sozialen Umwälzung, hat nichts gemein mit der
Theorie eines klassenlosen Staates, der mangels eines wirklichen Herrn von einem
Kommis, d.h. der Bürokratie ausgebeutet wird." 477
"Der Klassencharakter des Staates ist durch sein Verhältnis zu den Formen des Eigen-
tums an den Produktionsmitteln bestimmt. Der Charakter von Arbeiterorganisationen
wie es die Gewerkschaften sind, ist durch ihr Verhältnis zur Verteilung des National-
einkommens bestimmt."478
Wir können Trotzki zustimmen, dass die Klassennatur eines Staates nicht durch seine
politische Form, sondern durch die Eigentumsformen bestimmt wird. Deswegen war
die Sowjetunion sozialistisch (und KEIN degenerierter Arbeiterstaat!). Doch die an-
deren Textstellen sind äußert problematisch. Trotzki versucht seine Sicht auf die Sow-
jetbürokratie damit zu rechtfertigen, indem er darauf verweist, dass es historisch häu-
figer Probleme zwischen ökonomischer Basis und dem politischen Überbau gegeben
hat. Als Beispiel soll die Machteroberung des Dritten Standes (also der Bourgeoisie)
dienen, die in einer vom Feudalismus geprägten Gesellschaft die Macht übernahm.
Der Haken an diesem Beispiel ist jedoch, dass die Bourgeoisie eben eine Klasse war
und keine Bürokratenschicht. Da aber Trotzki in der Bürokratie verständlicherweise
keine Klasse sieht, taugt das Beispiel nicht viel. Weiterhin nutzte die Bourgeoisie ihre
politische Staatsmacht, also die Bürokratie, um die feudalen Reste der Gesellschaft
auszulöschen und die kapitalistische Produktionsweise durchzusetzen. Die Bourgeoi-
sie als Ganzes profitierte also hiervon. Von einem degenerierten Bourgeoisie-Staat
kann man also nicht sprechen. Und im Sozialismus nutzte die Arbeiterklasse die
Staatsmacht, also die Bürokratie, um die sozialistische Produktionsweise durchzuset-
zen. Der Unterschied - und das stellt Trotzki oben richtig fest - ist, dass in einer sozia-
listischen Gesellschaft der sozialistische Staat unlösbar mit den Eigentumsverhältnis-

477
TROTZKI (1937A): Kapitel "politische Form und sozialer Inhalt"
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1937/leo-trotzki-
nichtproletarischer-und-nichtbuergerlicher-staat
478
TROTZKI (1937A), Kapitel "Norm und Tatsache"

202
Zur Geschichte der Sowjetunion

sen verbunden ist, da freie Konkurrenz und Privateigentum fehlen. Doch das erklärt
immer noch nicht, warum die Bürokratie sich zur parasitären Schicht erhob.
Kommunisten ist klar, dass die Bürokratie einen dialektischen Doppelcharakter hat
und entsprechend widersprüchlich ist. Sie kann nicht auf einmal abgeschafft werden,
dies wäre reinste Utopie. Die alte Bürokratie wird zerschlagen und eine neue wird
aufgebaut, die es erlaubt, dass graduell die gesamte Bürokratie verschwindet. Trotzkis
Version hingegen ist undialektisch und einseitig.
Übrigens ist auch Trotzkis Ansicht, die Bürokratie sei eine privilegierte und parasitäre
Schicht, nicht haltbar. Er meint, dass die Bürokratie, weil sie die Verteilung regele,
keine produktive, sondern nur eine parasitäre Funktion habe: "Scheiterte der anfängli-
che Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an
der Ungewohnheit der Massen zur Selbstverwaltung und am Mangel an dem Sozia-
lismus ergebenen, qualifizierten Parteiarbeitern, so tauchten schon sehr bald hinter
diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tieferliegende auf. Die Reduzierung des
Staates auf die Funktionen eines ‚Revisors und Kontrolleurs‘ bei ständigem Schwund
der Zwangsfunktion, wie es das Programm fordert, setzt das Vorhandensein wenigs-
tens einer verhältnismäßigen allgemeinen Zufriedenstellung voraus. Gerade diese
notwendige Voraussetzung fehlte."479
Jedoch kann man nicht leugnen, dass diese, von Trotzki als parasitär beschriebene,
Bürokratenschicht eben eine produktive Funktion hatte. Denn diese Sowjetbürokratie
leitete die Fabriken und damit die gesamte Wirtschaft. Schon Marx schrieb im 23.
Kapitel des Kapitals Band 3: "Die Arbeit der Oberaufsicht und Leitung entspringt
notwendig überall, wo der unmittelbare Produktionsprozess die Gestalt eines gesell-
schaftlich kombinierten Prozesses hat und nicht als vereinzelte Arbeit der selbständi-
gen Produzenten auftritt. Sie ist aber doppelter Natur.
Einerseits in allen Arbeiten, worin viele Individuen kooperieren, stellt sich notwendig
der Zusammenhang und die Einheit des Prozesses in einem kommandierenden Willen
dar, und in Funktionen, die nicht die Teilarbeiten, sondern die Gesamttätigkeit der
Werkstatt betreffen, wie bei dem Direktor eines Orchesters. Es ist dies eine produkti-
ve Arbeit, die verrichtet werden muss in jeder kombinierten Produktionsweise." 480
Marx sieht hier also die Aufsicht und die Leitung der Produktion nicht als parasitäre,
sondern produktive Arbeit, die notwendigerweise entstehen muss. Da das sowjetische
Management die Produktion leitete und organisierte, konnten diese nicht parasitär
sein. Die Aufstellung der Pläne war jedoch die notwendige Vorbedingung, damit die

479
TROTZKI (1936), S. 59
480
MARX, Kapital Band 3, in MEW Band 25, S. 397

203
Zur Geschichte der Sowjetunion

Produktion überhaupt stattfinden konnte. Folgerichtig können die Aufsteller des


Plans, dazu gehörten ja auch die politischen Führer, eben nicht parasitär sein. Selbst-
verständlich kann man Marx‘ Einwand, dass der Gegensatz zwischen Proletariat und
Eigentümer zu einer größeren Rolle der Oberaufsicht (also des Managements) führe
(ebenda), nicht auf die sozialistische Gesellschaft übertragen, da im Sozialismus das
Proletariat zum Eigentümer der Produktionsmittel wird.
Entscheidend ist hierbei, aus welcher Klasse das Management im Sozialismus ent-
springt und welche Funktionen es erfüllt. Das wird in einem späteren Kapitel intensi-
ver untersucht. Es sei hier aber schon mal der Einwand der menschewistischen (und
damit nicht wirklich pro-sowjetischen) Politikerin Olga Domanewskaja zitiert:

"Im Sowjetstaate ist die Rolle des Staatsapparates infolge der weitgehenden Verge-
sellschaftung ganz besonders groß. Dieser Apparat verschlingt (zumal im Zusammen-
hang mit seiner schlechten Organisation) einen erheblichen Teil des Mehrwertes und
verschlechtert damit die Lage der im Produktionsprozess stehenden Arbeiter. Ander-
seits sind innerhalb des Apparates zweifellos Tendenzen zur Bürokratisierung, zur
Loslösung von den Massen vorhanden. Das alles beweist aber noch keineswegs, dass
sich der Apparat in eine Klasse und dazu noch in eine dem Proletariat feindliche
Klasse verwandelt. Jedenfalls müssen, wenn man die Möglichkeit der Bildung einer
neuen Klasse — eigentlich doch der nämlichen Bourgeoisie — unterstellt, ganz of-
fenbar irgendwelche festgelegten und dauerhaften Beziehungen zwischen den Pro-
duktionsmitteln und dem Staatsapparat vorausgesetzt werden. Der Staatsapparat selbst
müsste als eine ihrer Zusammensetzung nach mehr oder minder fixe Größe vorausge-
setzt werden können. In Wirklichkeit ist das indes nicht der Fall. Das charakteristi-
sche (negative) Merkmal des Sowjetapparates ist der ewige Wechsel in seiner perso-
nellen Zusammensetzung, das Hinüberfluten der Staatsangestellten aus dem einen
Zweig der Verwaltung in den andern, aus dem Apparat in die Produktion und umge-
kehrt. Hinzu kommt noch der wichtige Umstand, dass der Staatsapparat in erhebli-
chem Maße aus der nämlichen Arbeiterklasse ergänzt wird, dass ein gegenseitiges
Fluktuieren zwischen Arbeiterklasse und Apparat stattfindet: darin liegt der soziale
Sinn der Versetzung von allzu eifrigen Bürokraten, die sich irgendwo vergaloppiert
haben, in den Betrieb, 'zurück an die Werkbank'. Das Ergebnis dieser Prozesse ist,
dass der Apparat trotz den Tendenzen zur Bürokratisierung sich letztlich doch nicht
endgültig von dem ihn umgebenden Milieu losreißt, doch nicht zum Werkzeug der
dem Proletariat feindlichen Kräfte wird. Diese These hat bereits ihre Bestätigung in
der Praxis gefunden. Als der Sowjetstaat in der NEP-Zeit dem Eindringen kapitalisti-
scher Verhältnisse in den Sowjet-Alltag die Bahn geebnet hatte, war der bürgerliche
Einfluß auf den Staatsapparat so groß, dass die thermidorianische Entartung des Ap-

204
Zur Geschichte der Sowjetunion

parates und des ganzen Staates fast unvermeidlich schien. Sie ist nicht eingetreten.
Die Kommunistische Partei hat das Steuer herumgerissen und den antikapitalistischen
Weg eingeschlagen. Und dass die Sowjetmacht mit solcher Leichtigkeit von der Poli-
tik der Förderung des Kapitalismus zur 'Generallinie', unter der die bürgerlichen Ele-
mente des Landes mit Feuer und Schwert ausgetilgt wurden, hinüberschwenken konn-
te, ohne dass sich irgendein ernsthafter Widerstand von Seiten des Staatsapparates
bemerkbar gemacht hätte, zeigt, wie übertrieben die Vorstellung von dem Ausmaß der
Entartung des Apparates war und wie stark die der Degenerierung entgegenwirkenden
proletarischen Einflüsse im Rahmen dieses Apparates sind." 481
Und Domanewskaja weiter: "Die skizzierten willkürlichen soziologischen Konstruk-
tionen entstehen aus dem Bedürfnis, die im Sowjetstaat bestehenden inneren Wider-
sprüche zu erklären. Wie ist es möglich, daß in einem Land, in dem es kapitalistische
Klassen nicht mehr gibt, und in dem die Verwirklichung des Sozialismus auf der
Tagesordnung steht, die Arbeiterklasse häufig Not und Entbehrungen leidet und in
vielen Fällen sogar befriedigende Arbeitsbedingungen nicht vorhanden sind?
Die Erklärung dieser Erscheinung ist indes nicht in einer 'neuen Bourgeoisie' oder
einer 'Bürokratenklasse', die Mehrwert verzehren und die Arbeiter ins Bockshorn
jagen, zu suchen, sondern in den ökonomischen Enwicklungsbedingungen der Sow-
jetunion. Die Eigenart der Situation liegt darin, dass die Sowjetregierung gezwungen
war, für den in Angriff genommenen Aufbau des Sozialismus im rückständigen Russ-
land im Zuge des Aufbaus zugleich die unerlässlichen objektiven Voraussetzungen zu
schaffen: eine industrielle Basis zu errichten, die gewaltige Mittel verschlingt. Die
außergewöhnlichen Tempi der industriellen Akkumulation führen dazu, dass der dem
Verbrauch zugewiesene Teil des Volkseinkommens stark geschmälert, das Einkom-
men nicht nur des Landwirts, sondern auch des Industriearbeiters erheblich beschnit-
ten wird. Die Industrieriesen schnellen empor, aber der Sowjetarbeiter hat dabei häu-
fig nicht einmal die Möglichkeit, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
Freilich darf man, wenn man diese negativen Momente konstatiert, die von der Sow-
jetregierung mit Nachdruck eine Verlangsamung der Industrialisierungstempi verlan-
gen, nicht verkennen, dass der Industrieaufbau im Sowjetstaate nicht der Erzeugung
von Profiten für ein Häuflein Kapitalisten oder für den Staatsapparat (der unter der
forcierten Industrialisierung nicht weniger zu leiden hat als die Arbeiterklasse) dient,
sondern der Festigung der Fundamente, auf denen der Sowjetstaat errichtet worden
ist, der Schaffung einer unerschütterlichen Basis für die Herrschaft der Arbeiterklasse.
Trotz den Schwierigkeiten, mit denen der Sowjetarbeiter zu kämpfen hat, ist seine
soziale Lage eine grundlegend andere als die Lage des Arbeiters in den kapitalisti-

481
DOMANEWSKAJA, O. (1934), S. 272

205
Zur Geschichte der Sowjetunion

schen Ländern. Die kapitalistische Welt erzeugt organisch Not und Elend für die
Proletariermassen. Das Proletariat kann eine Verbesserung seiner Lage nur im Ergeb-
nis hartnäckiger Klassenkämpfe erreichen, und jede Schwächung der Kampfkraft der
Arbeiterklasse — so zum Beispiel in Krisenzeiten — führt dazu, dass der Arbeiter all
seine Errungenschaften wieder an die Bourgeoisie abgeben muss.
In der Sowjetunion steht die schwere Lage der Arbeiterklasse im flagranten Wider-
spruch zum sozialen Gehalt der bestehenden Ordnung und wird sowohl vom Proleta-
riat wie auch von der Staatsgewalt als abnormer Zustand empfunden, der bekämpft
und überwunden werden muss. Die dominierende Stellung der Arbeiterklasse findet
ihren Ausdruck darin, dass das Ausmaß der Befriedigung der Bedürfnisse des Proleta-
riats nicht durch das Kräfteverhältnis der Klassen bestimmt wird, sondern einzig und
allein durch die Fülle der Ressourcen, die dem Staat zur Verfügung stehen. Und jede
Besserung der Wirtschaftslage des Landes geht unweigerlich Hand in Hand mit einer
Hebung des Lebensniveaus der Arbeitermassen. Zugleich stehen alle sozialen Ein-
richtungen wie auch Wissenschaft, Kultur, Kunst im Dienste der Arbeiterklasse. Ohne
dass im Rahmen dieses Aufsatzes näher auf diesen Komplex eingegangen werden
könnte, sei lediglich auf die außerordentlich kennzeichnende Tatsache verwiesen,
dass die Hälfte (genau 50,3 Prozent) der Studierenden an den Sowjethochschulen
Arbeiter und Kinder von Arbeitern sind."482
Wenn wir weiterhin Trotzkis Werk "Verratene Revolution" auf Wissenschaftlichkeit
überprüfen, wird man feststellen, dass dieses nicht ein wissenschaftliches Kriterium
erfüllt. Trotzki ging nach dem Prinzip vor, Erfolge des Sozialismus zu negieren.
Wenn sie aber zu offensichtlich und nicht zu negieren waren, wurden sie herunterge-
spielt und behauptet, dass sie trotz Stalin entstanden waren. Dabei finden sich nir-
gends Verbesserungsvorschläge, sondern nur Demagogie. Ein genauer Blick verrät,
dass Trotzki sich nicht einmal die Mühe machte, seine Anfeindungen zu belegen: Es
gibt keine Quellenangaben im Text oder als Fußnote, keine Dokumente, keine An-
merkungen etc. Das macht natürlich ein kritisches Quellenstudium quasi unmöglich;
man muss Trotzki einfach glauben wie an die Jungfrauengeburt Marias.
Moissaye Olgin bringt es besser auf den Punkt: "Da er [Trotzki - M. K.] sich ent-
schied, dass der Sozialismus in Russland einfach nicht realisiert werden kann, entwi-
ckelt er eine giftige Feindschaft gegenüber allem, was in der UdSSR geschieht. Er
übertreibt Schwierigkeiten; er erfindet Schwierigkeiten, wenn keine vorhanden sind,
er sieht eine 'Krise', wo eigentlich nur eine Hürde übersprungen werden muss; er sieht
ein Versiegen der Kräfte, wo diese wachsen und in Schwung kommen; er verleugnet
Erfolge; er interpretiert Errungenschaften als Versagen; er übernimmt die Pose des

482
DOMANEWSKAJA (1934), S. 273-274

206
Zur Geschichte der Sowjetunion

Anklägers, der mit dem Finger auf die Kommunistische Partei und ihr Zentralkomi-
tee, geführt von Stalin, zeigt und sagt: 'hier sind sie - die Bürokraten, die der Ruin der
Revolution der Arbeiter sind.'"483
Wie oberflächlich Trotzkis Kritik war, zeigt sich z. B. darin, dass er erwähnte, dass
81% der Traktoren einer gründlichen Reparatur unterzogen werden mussten und da-
her eine erhebliche Anzahl davon für den Ernteeinsatz nicht mehr einsatzfähig war.484
Statistisch ist das wahrscheinlich nicht falsch (es gibt, wie erwähnt, leider keine Quel-
lenangabe), muss aber keine negative Erscheinung sein, weil Landwirtschaftsmaschi-
nen in jedem Jahr bestimmten Wartungen, Reparaturen und Instandsetzungen unter-
zogen werden. Auch vor jeder Aussaat werden Traktoren überprüft. Trotzki ver-
schweigt uns natürlich, welche Art von Reparaturen durchgeführt werden mussten,
denn sein Ziel war es, die technische Schwäche der Sowjetunion gegenüber den kapi-
talistischen Staaten zu zeigen.485
Eine andere Diffamierung stellt auch folgendes Beispiel dar: 1937 gab es 23.500
Kindergärten, die sich um über eine Million Kinder im Alter von drei bis siebenein-
halb Jahren kümmerten. Dies stellte einen gewaltigen Fortschritt dar, wenn man be-
denkt, dass vor der Revolution kaum ein Kind das Glück hatte, einen Kindergarten-
platz zu bekommen. Da aber noch längst nicht für alle Kinder ausreichend Plätze
vorhanden waren, war dies für Trotzki ein "Beweis" für die Wertlosigkeit dieser Zah-
len - da eben nicht für alle genug Plätze vorhanden waren. 486
Doch damit nicht genug: Trotzki geht sogar davon aus – ohne dies zu beweisen – dass
nur die Staatsfunktionäre ihre Kinder in Kinderkrippen unterbringen konnten und
diese für die Masse der Arbeiter und Bauern nicht zur Verfügung standen. Die stalin-
sche Bürokratie habe damit den Thermidor in der Familie vollzogen: Die Frau solle
sich zu Hause um die Kinder kümmern, was ihre Befreiung aus der bürgerlichen Fa-
milie angeblich verhindern sollte.487
Auch in anderen Schriften werden Trotzkis Diffamierungen deutlich. Ein gutes Bei-
spiel hierzu ist seine Schrift "Sowjetwirtschaft in Gefahr" aus dem Jahr 1933. 488
Trotzki schrieb diese Schrift, als der Erste Fünfjahresplan beendet wurde und sagte
ein Scheitern der sowjetischen Wirtschaft voraus. Damit stimmte er in den Chor der

483
OLGIN, M. (1935/2012), S. 66 - 67
484
TROTZKI (1936), S. 14
485
Vgl. FALKENHAGEN, a.a.O., Heft 2, S. 16-17
486
Vgl. CAMPBELL (1939), S. 120. Vgl. Trotzki (1936) S. 142
487
Vgl. TROTZKI (1936), S. 140, 142
488
TROTZKI (1933) https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1932/leo-
trotzki-sowjetwirtschaft-in-gefahr

207
Zur Geschichte der Sowjetunion

Kapitalisten ein, die ein Scheitern der sowjetischen Planwirtschaft voraussahen. Die
Ironie der Geschichte ist, dass genau das Gegenteil eingetreten ist: Die Sowjetunion
legte im ersten Fünfjahresplan das Fundament für die ökonomische Entwicklung des
Landes, die es zur zweitstärksten Industrienation machen und den Faschismus besie-
gen konnte. Trotzkis Herangehensweise in "Sowjetwirtschaft in Gefahr" ist übrigens
interessant. Anders als in "Verratene Revolution" versucht er hier seine Aussagen zu
"belegen", indem er aus diversen sowjetischen Zeitschriften und anderen sowjetischen
Publikationen zitiert. Diese sowjetischen Materialien berichten über vorhandene Prob-
leme bei der Planung und der Qualität der Produkte, sowie weiteren wirtschaftlichen
Problemen. Dem aufmerksamen Leser wird dabei nicht entgangen sein, dass diese
Informationen aus öffentlichen sowjetischen Materialien entstammen. Tatsache ist
also, dass die Sowjetunion und ihre politischen wie wirtschaftlichen Kader sich der
Probleme der Planung der Industrie bewusst waren und diese eben offen und kritisch
ansprachen sowie nach Lösungsansätzen suchten. Trotzki hingegen missbraucht diese
Informationen, um ein verzerrtes und übertriebenes Bild der ökonomischen Lage
darzustellen und erfindet eine Krise. So schreibt Trotzki z. B.:
"Die Sowjetwirtschaft ist in Gefahr! Es ist nicht schwer, ihre Krankheit festzustellen.
Sie entspringt aus der Natur der Erfolge selbst. Infolge der übermäßigen und schlecht
berechneten Anspannung zeigen sich in der Wirtschaft Risse. Man muss sie behan-
deln: aufmerksam und ausdauernd."489
Offensichtlich schaffte es die Sowjetunion auch ohne Trotzkis Ratschläge, denn seine
prophezeite Apokalypse kam nicht.
Warum hielt es Trotzki für unmöglich, dass die sowjetische Wirtschaft erfolgreich
sein konnte? Er erklärt es folgendermaßen: "Die großen und kleinen Disproportionen
machen es notwendig, sich an den internationalen Markt zu wenden. Eine eingeführte
Ware zu einem Tscherwonez kann der einheimischen Produktion über den toten
Punkt hinweghelfen mit einem Effekt von Hunderten und Tausenden von Tscherwon-
zen. Die totale Zunahme der Wirtschaft einerseits, das Entstehen neuer Bedürfnisse
und neuer Disproportionen andererseits, erhöhen unabänderlich die Notwendigkeit
der Verbindungen mit der Weltwirtschaft. Das Programm dieser 'unabhängigen', das
heißt sich selbst genügenden Sowjetwirtschaft enthüllt je länger je mehr seinen reak-
tionär-utopischen Charakter. Die Autarkie ist das Ideal Hitlers, nicht das von Marx
und nicht das von Lenin."490
Ignorieren wir diesen unsäglichen Hitler-Vergleich und lassen wir Moissaye Olgin,
der ebenfalls diesen Abschnitt Trotzkis zitiert, zu Wort kommen: "Diese 'Disproporti-

489
TROTZKI (1933), ebenda Kapitel "Die Sowjetwirtschaft in Gefahr"
490
TROTZKI (1933), ebenda, Kapitel "Die Disproportionen im Innern und der Weltmarkt"

208
Zur Geschichte der Sowjetunion

onen', von denen Trotzki spricht, z. B. der Rückstand in der Produktion von, sagen
wir, Kohle und Gummi, sind weit davon entfernt katastrophal zu sein. Sie verursachen
Schwierigkeiten, die leicht zu beseitigen sind. Mit dem Wachstum der sowjetischen
Wirtschaft tendieren diese Schwierigkeiten eher zu sinken als zu anzusteigen. Wenn
eine gewisse Menge Stahl vorhanden ist, spielt es keine Rolle, wenn die ein oder
andere Fabrik im Rückstand ist. Wird das Eisenbahnnetz verbessert, macht es nichts
aus, wenn die eine oder andere Straße etwas mangelhaft ist. Wenn die Landwirtschaft
aus einer modernen wissenschaftlichen Basis basiert, spielt es selbst keine große Rol-
le, ob klimatische Bedingungen ungünstig sind. (…) Was das Programm der Unab-
hängigkeit angeht - warum ist dieses reaktionär und utopisch? Ist es etwa keine Tatsa-
che, dass die sowjetische Wirtschaft heute weniger abhängig von anderen Ländern ist
als fünf Jahre zuvor? Sind die sowjetischen Industriegiganten nicht in der Lage, ihr
Land mit der nötigen Ausstattung zu versorgen, während fünf Jahre zuvor das Land
von Importen abhängig war? (…) Was ist utopisch an einer Tatsache, die existiert?
Und warum ist es reaktionär? (…) Dass das Ideal einer sozialistischen Wirtschaft
nicht Autarkie sondern internationaler Austausch ist und dass nur unter einem interna-
tionalen sowjetischen System solch ein Austausch auf eine wissenschaftliche Basis
gehoben wird, brauchen wir nicht von Trotzki zu lernen. Das ist eine der fundamenta-
len Thesen des Marxismus. Autarkie ist auch nicht das Ideal der Sowjetunion. Die
Sowjetunion wünscht sich keine Autarkie und arbeitet auch nicht daran. Aber wirt-
schaftliche Unabhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt ist eine Notwendigkeit
aufgrund der Tatsache, dass die Sowjetunion von feindlichen kapitalistischen Ländern
umkreist wird."491
An anderer Stelle weist Olgin (1935) nach, dass Trotzkis Aussagen in "Sowjetwirt-
schaft in Gefahr" mit jenen Aussagen der Publikation "The Russian Fascist", einer in
den USA damals veröffentlichten russisch-sprachigen Zeitung, quasi identisch sind.
"The Russian Fascist" schreibt z. B.: "Die russischen Arbeiter haben schlechte Behau-
sungen, schlechte Kleidungen, schlechtes Essen. Als Konsequenz aus Unterernährung
und schlechten Hygienebedingungen verbreiten sich Epidemien unter ihnen. Anstatt
proklamierter schöner Perspektiven und besonders wohltuender Privilegien erhalten
die Arbeiter der Schwerindustrie einen offiziellen Achtstundentag mit zwei Überstun-
den - Stoßbrigaden und Super-Stoßbrigaden-Arbeit unter Bedingungen, bei denen
Materialien und Werkzeuge fehlen, bei denen Maschinen und Apparaturen ständig
außer Betrieb sind, die Arbeitsräume nicht beheizt sind und eine Ventilation fehlt.
Das System der 'Entkulakisierung' und der Kollektivierung verwandelte Russland aus
einem Land mit blühender Landwirtschaft in ein Land des großflächigen Ruins. An-
statt der versprochenen Vorteile, die durch kollektive Kreativität und der großflächi-

491
OLGIN (1935/2012), S. 76 - 77

209
Zur Geschichte der Sowjetunion

gen Anwendung von Maschinen entstehen sollen, wurden die Bauern ihrer Kräfte
beraubt. Schwere Zwangsarbeit in den Kollektivfarmen führte zu einer Situation, in
denen die Bauern nicht die Erschaffer der notwendigsten Produkte werden können" 492
Und Trotzki schreibt: "Das nationale Einkommen ist unrichtig verteilt. Die wirtschaft-
lichen Aufgaben werden ohne Berechnung der realen Mittel gestellt. Auf die Schul-
tern der Arbeiter wird eine immer unerträglichere Last gewälzt. Den Hinweisen auf
die «Unregelmäßigkeiten» in der Nahrungsmittelversorgung begegnet man zurzeit in
jeder Nummer der Sowjetpresse. Unterernährung plus Antreiberei! Die Verbindung
dieser beiden Bedingungen genügt, um in kürzester Frist die maschinellen Einrich-
tungen zu vernichten und die Produzenten selbst aufzubrauchen. (…) Schlechtes
Essen und Ermüdung der Nerven rufen Teilnahmslosigkeit gegen das umgebende
Milieu hervor. Das Resultat davon ist, dass nicht nur die alten, sondern auch die neu-
en, auf Grund der neuesten Technik erbauten Fabriken rasch der Verödung verfal-
len."493
"Die Jagd nach rekordmäßiger Kollektivierung, ohne die technischen, wirtschaftli-
chen und kulturellen Möglichkeiten der Landwirtschaft zu berechnen, führte zu in der
Tat verderblichen Folgen. Sie beseitigte für die kleinen Warenerzeuger alle Anreize,
noch lange, bevor sie imstande war, dieselben durch andere höhere wirtschaftliche
Anreize zu ersetzen. Der administrative Druck, der sich auch in der Industrie rasch
selbst erschöpft, erweist sich in der Landwirtschaft als vollständig ohnmächtig. (…)
Die kompakte Kollektivierung führte zum kompakten Unkraut auf den Feldern."494
Olgin (1935) kommentiert dazu: "Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen
diesen letzten zwei Zitaten und den Zitaten zu Beginn des Kapitels [Zitate der russi-
schen Faschisten - M. K.]? Es ist schwer, einen zu erkennen. (…) Die russischen
Faschisten und (…) Leo Trotzki sprechen dieselbe Sprache. Wo ist der Unterschied
zwischen ihnen? Einige mögen dazu tendieren zu denken, die Faschisten sprechen im
Namen der Diktatur des Kapitals, während Trotzki im Namen der russischen Arbeiter
und Bauern spricht. Aber auch die Faschisten geben vor, im Namen der Massen zu
sprechen. Sie treten in ihren Publikationen als die großen Fürsprecher der Unterdrück-
ten und Ausgebeuteten auf - die Unterdrücker und Ausbeuter sind in ihren Darstel-
lungen die Bolschewiki mit Stalin an der Spitze. Sie sprechen sogar im Namen der
Demokratie. (…) Der Unterschied zwischen den Faschisten und den Trotzkisten ist
folgender: Die faschistische Irreführung ist von jeder denkenden Person leicht zu
durchschauen, während die trotzkistische Irreführung schwerer zu durchschauen ist,

492
OLGIN (1935/2012), S. 191
493
TROTZKI (1933), ebenda, Kapitel "Die Lage der Arbeiter"
494
TROTZKI (1933), ebenda, Kapitel "Die Landwirtschaft"

210
Zur Geschichte der Sowjetunion

da sie sich mit 'revolutionären', 'marxistischen' und gar 'leninistischen' Phrasen


tarnt."495
Wie kommt Trotzki eigentlich auf die Idee, dass die Revolution verraten wurde und
es einen degenerierten Arbeiterstaat gäbe? Seine Antwort liegt im Ausbleiben der
Weltrevolution: "Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des
Sozialismus in Europa: Die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die
Lenin und seine erfahrenen Kampfgenossen als eine kurze 'Atempause' erschien,
dehnte sich zu einer ganzen historischen Epoche aus. Die widersprüchliche soziale
Struktur der UdSSR und der ultra-bürokratische Charakter ihres Staates sind direkte
Folgen dieser einzigartigen, 'unvorhergesehenen' historischen Stockung, die in den
kapitalistischen Ländern gleichzeitig zum Faschismus oder zur präfaschistischen
Reaktion führte. (…) Die Hilfe aus dem Westen kam nicht. Die Macht der demokrati-
schen Sowjets erwies sich als lästig, ja unerträglich, als es galt, die für Verteidigung,
Industrie, Technik und Wissenschaft nötigsten privilegierten Gruppen zu versorgen.
Auf Grund dieser durchaus nicht 'sozialistischen' Operationen: zehnen wegnehmen,
um einem zu geben, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste
von Spezialisten an der Futterkrippe"496
"Letzen Endes verdankt der Sowjetbonapartismus seine Entstehung der Verspätung
der Weltrevolution. Dieselbe Ursache aber erzeugte in den kapitalistischen Ländern
den Faschismus."497
Was Trotzki jedoch nicht erklären kann oder nicht verstehen will ist die Frage, ob
denn eine Weltrevolution die bürokratische Entartung aufgehalten hätte. Da Trotzki
nicht ansatzweise aufzeigt, wie man es hätte anders machen können und, wie wir oben
gesehen haben, diese Situation auch mit verantwortete und unterstützte, klingt es
mehr als eine Flucht vor einer echten Erklärung. Wieso sollten bürokratische Entar-
tungen durch eine Weltrevolution hinweggefegt werden? Wieso sollte das Problem
des Bürokratismus nicht mehr in einer höheren Produktivkraft auftreten und was für
neue Probleme könnten entstehen? Der nächste Punkt wäre auch folgender: Nach dem
zweiten Weltkrieg kamen weitere sozialistische Länder hinzu: die DDR, die sozialis-
tischen Länder Osteuropas, die VR China, Kuba usw. Außerdem hatte es ab den
1960ern anti-koloniale Bewegungen gegeben, die von der Sowjetunion unterstützt
wurden und anti-imperialistische Staaten gründeten. Warum konnten diese die angeb-
lich parasitäre „stalinistische Bürokratie“ nicht zerschlagen und zumindest hier und da
echte Arbeiterstaaten gründen und ggf. die „degenerierten“ Staaten zu "echten" Arbei-

495
OLGIN (1935/2012), S. 193
496
TROTZKI (1936), S. 59
497
TROTZKI (1936), S. 268

211
Zur Geschichte der Sowjetunion

terstaaten machen? Wenn aber die Sowjetunion andererseits diese anderen Staaten
unterstützte und verteidigte, war diese "Degeneration" wirklich so tiefgreifend und
fortschrittshemmend? Es bleibt doch verwunderlich, dass immer, sobald die Revoluti-
on siegreich war und man die ersten Schritte des sozialistischen Aufbaus begann, die
Trotzkisten von einem "Verrat der Revolution" sprachen.

3.4. Trotzki und der Übergang vom Sozialismus zum


Kommunismus
Auch an anderen Punkten sieht man, dass Trotzki Marx widerspricht. Dieses betrifft
die Frage des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Trotzki schreibt
bezüglich der Sowjetunion, dass diese irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozia-
lismus stehe, also eine Art Übergangsregime sei. Doch ist der Sozialismus selbst eine
Übergangsperiode, nämlich die Transformation in eine klassenlose Gesellschaft, der
Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Dies weist Marx in seiner "Kritik
am Gothaer Programm" nach, es gibt eine niedere und eine höhere Phase der kommu-
nistischen Gesellschaft t. Um die Unterschiede zwischen diesen beiden Phasen besser
zu verdeutlichen, wurde in der marxistisch-leninistischen Wissenschaft die "niedere"
Phase als Sozialismus, die höhere als Kommunismus definiert. Da also die Sowjet-
union sich eindeutig in der niederen Phase befand, war diese sozialistisch. Ein Über-
gang zwischen Kapitalismus und Sozialismus kann es folgerichtig, will man marxis-
tisch argumentieren, nicht geben. Trotzki verwischt bewusst diesen Unterschied zwi-
schen Kommunismus und Sozialismus, um seine Leser in die Irre zu führen. Entspre-
chend zeigt sich also in der Definition Trotzkis eine unmarxistische Unklarheit, da
Trotzki den Charakter der Sozialismus verzerrt. Übrigens ist es bemerkenswert, wie
trotzkistische Organisationen die Periode Lenins bewerten: Diese bezeichnen sie
nämlich als die Diktatur des Proletariats, um die von der sozialistischen Gesellschaft
abzuheben. Beispielsweise gab die Jugendorganisation der US-amerikanischen Grup-
pe "Spartacist League" 1973 die Publikation "The Stalin School of Falsification Revi-
sed" heraus. In ihrer Polemik gegen die Theorie des Sozialismus in einem Land, die
von Lenin ausgearbeitet und von Stalin konkretisiert wurde498, schreiben sie, dass
Lenin zwischen Sozialismus und Diktatur des Proletariats unterschied. In seiner
Schrift "Über die Losung der vereinigten Staaten von Europa", auf die sich diese
trotzkistische Gruppe bezieht, sagte Lenin aus, "dass der Sieg des Sozialismus zu-

498
Natürlich behaupten die Trotzkisten, dass Lenin Trotzkis Theorie der permanenten Revolu-
tion folgte und Stalin der einzige Erfinder der, nach ihrer Ansicht unmarxistischen, Theorie des
Sozialismus in einem Lande war. In einem anderen Buch wird diese Frage intensiver beleuch-
tet.

212
Zur Geschichte der Sowjetunion

nächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen


Lande möglich ist".499 Die "Spartacist League" kommentiert hierzu:

"(…) es ist absolut klar, dass sich Lenin hier nicht auf die 'sozialistische Gesellschaft',
sondern auf die Diktatur des Proletariats bezieht." 500
Doch wo liegt der Unterschied zwischen Sozialismus und Diktatur des Proletariats?
Es ist ja mittlerweile bekannt, dass es einen Unterschied zwischen Sozialismus und
Kommunismus gibt (und in den 1970ern war es auch der "Spartacist League" be-
kannt). Die Diktatur des Proletariats ist jedoch nichts weiter als die Herrschaft der
Arbeiterklasse und spiegelt den Staatstyp im Sozialismus wider. In Lenins Schrift
"Über die Losung der vereinigten Staaten von Europa" gibt es jedoch keinen Hinweis
darauf, dass Lenin von der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft (also
den Kommunismus) sprach. Ganz im Gegenteil schreibt Lenin: "Das siegreiche Prole-
tariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisie-
rung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalisti-
schen Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf
seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen
und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten
vorgehen."501
Nichts anderes geschah doch in der Sowjetunion! Denn wurde nicht mit den Fünfjah-
resplänen die eigene sozialistische Produktion organisiert? Stellte sich nicht die kapi-
talistische Welt gegen die Sowjetunion? Genoss die Sowjetunion nicht in der Arbei-
terklasse der kapitalistischen Welt und bei den unterdrückten Völkern ein hohes An-
sehen? Unterstützte die Sowjetunion nicht andere revolutionäre Bewegungen?502
Trotzkis "Verratene Revolution" widerspricht Marx‘ Erkenntnissen über die Natur der
ökonomischen Gesetze im Sozialismus. Im Sozialismus gilt, was Marx in seiner Kri-
tik am Gothaer Programm formulierte:

499
LENIN, "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa", in LW 21, S. 342-346, S.
345
500
SPARTACIST LEAGUE (1973) https://www.marxists.org/history/etol/document/icl-
spartacists/misc/wv.htm
501
LENIN, "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa", in LW 21, S. 345-346
502
Gerade beim Letztgenannten würden Trotzkisten am vehementesten protestieren, doch die
Fakten sprechen wieder einmal gegen sie: Die Sowjetunion unterstützte z. B. die Kämpfer im
spanischen Bürgerkrieg gegen Franco, half den sozialistischen Bruderstaaten und den antikolo-
nialen Befreiungskämpfen. In einem anderen Buch wird der Vorwurf, dass Stalin bzw. die
Sowjetunion die Weltrevolution vernachlässigte, näher untersucht.

213
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie
sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus
der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch,
sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus
deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den
Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles
Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der
individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten
ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er
erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach
Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein
aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich
viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form
gegeben hat, erhält er in der andern zurück.
Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er
Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den verän-
derten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits
nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumti-
onsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten
betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es
wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausge-
tauscht.
Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche
Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der
Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den
einzelnen Fall existiert.
Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen
Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportio-
nell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen
wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in
derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um
als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden,
sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für un-
gleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist
wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung
und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher
ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann

214
Zur Geschichte der Sowjetunion

seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die un-
gleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht
ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen
gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, z.B. im gege-
benen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem
andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr
Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil
an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der
andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Missstände zu vermeiden,
müsste das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.
Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen
Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburts-
wehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Ge-
staltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.
In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende
Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz
geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur
Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit
der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und
alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann
kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesell-
schaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!"503
Kurz zusammengefasst gilt im Sozialismus das Prinzip: "Jeder nach seinen Fähigkei-
ten, jedem nach seiner Leistung." Erst im Kommunismus herrscht das Prinzip: "Jeder
nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Dieser Unterschied resul-
tiert daraus, dass die materiellen Voraussetzungen erst geschaffen werden müssen, um
eine enorme Steigerung der Produktivkraft zu ermöglichen, durch die jeder nach sei-
nen Bedürfnissen leben kann. Trotzki verwischte diesen Unterschied. Nach ihm konn-
te die Sowjetunion nicht sozialistisch sein, da die Bürokratie sich von den Massen
abgehoben habe und die Produktivkräfte nicht dem Stand eines sozialistischen Staates
entsprochen hätten. Trotzki legte nämlich dar:

503
MARX, "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer
Programms)", MEW Band 19, S. 20f.

215
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Der erste Abschnitt [der sowjetischen Verfassung von 1936 – M. K.] betitelt 'Gesell-
schaftsstruktur', endet mit den Worten: 'In der UdSSR verwirklicht sich der Grundsatz
des Sozialismus: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung'. Diese
innerlich bestands-, um nicht zu sagen sinnlose Formel, die – so unwahrscheinlich es
auch klingen mag – aus den Reden und Artikeln in den reiflich durchdachten Text
eines grundlegenden Staatsgesetzes einging, offenbart nicht allein, wie tief das theore-
tische Niveau der Gesetzgeber gesunken ist, sondern auch, wie stark die Lüge die
neue Verfassung, den Spiegel der herrschenden Schicht, durchdringt. Wie das neue
'Prinzip' entstand, ist nicht schwer zu erraten. Um die kommunistische Gesellschaft zu
umschreiben, bediente sich Marx der berühmten Formel: 'Jeder nach seinen Fähigkei-
ten, jedem nach seinen Bedürfnissen'. Die beiden Teile dieser Formel sind voneinan-
der nicht zu trennen. 'jeder nach seinen Fähigkeiten', kommunistisch und nicht kapita-
listisch verstanden, heißt: die Arbeit hat aufgehört, eine Fron zu sein, und ist nunmehr
individuelles Bedürfnis, die Gesellschaft entbehrt jeglichen Zwangs, nur Kranke und
Anormale können das Arbeiten verweigern. Die Mitglieder der Kommune werden
'nach ihren Fähigkeiten' d.h. nach Maßgabe ihrer körperlichen und geistigen Kräfte
arbeiten, ohne sich im geringsten Gewalt anzutun, und dank hoher Technik die Spei-
cher der Gesellschaft so füllen, dass diese jedermann 'nach seinen Bedürfnissen' ohne
demütigende Kontrolle versorgen kann. Die doppelgliedrige, aber unteilbare Formel
des Kommunismus setzt also Überfluss, Gleichheit, allseitige Entfaltung und hohe
kulturelle Disziplin der Persönlichkeit voraus.
Der Sowjetstaat steht in all diesen Beziehungen dem rückständigen Kapitalismus viel
näher als dem Kommunismus. Er darf noch nicht einmal daran denken, allen 'nach
ihren Bedürfnissen' zu geben. Aber eben deshalb kann er seinen Bürgern auch nicht
gestatten, 'nach ihren Fähigkeiten' zu arbeiten. Er sieht sich gezwungen, das Akkord-
lohnsystem intakt zu lassen, dessen Prinzip sich folgendermaßen ausdrücken lässt:
'Aus jedem möglichst viel herauspressen und ihm dafür möglichst wenig geben'. Ver-
steht sich, in der UdSSR arbeitet niemand über seine 'Fähigkeiten' im absoluten Sinne
des Wortes, d.h. über sein körperliches und geistiges Vermögen hinaus, aber das ist
auch unter dem Kapitalismus nicht des Fall: die viehischsten wie die raffiniertesten
Ausbeutungsmethoden bleiben in den von der Natur gesteckten Grenzen. Auch ein
Maulesel plagt sich unter der Peitsche seines Treibers 'nach seinen Fähigkeiten', wo-
raus nicht folgt, dass die Peitsche für den Maulesel ein sozialistisches Prinzip ist. Die
Lohnarbeit hört auch unter dem Sowjetregime nicht auf, das erniedrigende Brandmal
der Sklaverei zu tragen. Die Bezahlung ‚nach der Leistung‘ – in Wirklichkeit Bezah-
lung zum Vorteil der 'geistigen' auf Kosten der körperlichen, insbesondere der nicht-
qualifizierten Arbeit – ist eine Quelle von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und
Zwang für die Mehrheit, von Privilegien und 'frohem Leben' für die Minderheit.

216
Zur Geschichte der Sowjetunion

Statt offen zuzugeben, dass in der UdSSR noch die bürgerlichen Arbeits- und Vertei-
lungsnormen vorherrschen, schnitten die Verfassungsurheber das integrale kommu-
nistische Prinzip entzwei, vertagten die zweite Hälfte auf unbekannte Zukunft, erklär-
ten die erste für bereits verwirklicht, verquickten sie mechanisch mit dem kapitalisti-
schen Akkordlohnsystem, nannten das Ganze ein 'Prinzip des Sozialismus' und errich-
teten auf diesem Betrug das Verfassungsgebäude!" 504
Wenn wir hier Trotzkis Aussage mit der von Marx oben zitierten vergleichen, wird
Trotzkis Fälschung offensichtlich. Während Trotzki Marx‘ Definition des Kommu-
nismus erwähnte ("jedem nach seinen Bedürfnissen"), wurde das sozialistische Prin-
zip, welches noch bürgerliches Recht enthielt ("jedem nach seiner Leistung"), ausge-
lassen. Zwar nennt Marx an zitierter Stelle die Formel "jedem nach seiner Leistung"
nicht wörtlich, doch inhaltlich wird der Unterschied zwischen niederer Phase (Sozia-
lismus) und höherer Phase des Kommunismus ersichtlich und dieser Unterschied
besteht in der Tatsache, dass in der niederen Phase des Kommunismus (Sozialismus)
noch bürgerliches Recht gilt und nach der Leistung bezahlt wird. Der sowjetischen
Verfassung wurde dort attestiert, eine "sinnlose Formel" zu verwenden. Diese "sinn-
lose Formel" stammte aber, wie oben erwähnt, von Marx! Und diese "sinnlose" For-
mel wurde auch von Lenin bestätigt. In "Staat und Revolution" schreibt Lenin:
"Gerechtigkeit und Gleichheit kann also die erste Phase des Kommunismus noch
nicht bringen: Unterschiede im Reichtum, und zwar ungerechte Unterschiede bleiben
bestehen, unmöglich aber wird die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen
sein, denn es wird nicht mehr möglich sein, die Produktionsmittel, die Fabriken, Ma-
schinen, den Grund und Boden usw., als Privateigentum an sich zu reißen. (…) Marx
zieht nicht nur auf das genaueste die unvermeidliche Ungleichheit der Menschen in
Betracht, er berücksichtigt auch, daß der bloße Übergang der Produktionsmittel in das
Gemeineigentum der gesamten Gesellschaft ('Sozialismus' im landläufigen Gebrauch
des Wortes) die Mängel der Verteilung und die Ungleichheit des 'bürgerlichen Rechts'
nicht beseitigt, das weiter herrscht, solange die Produkte 'nach der Arbeitsleistung'
verteilt werden. (…) Somit wird in der ersten Phase der kommunistischen Gesell-
schaft (die gewöhnlich Sozialismus genannt wird) das 'bürgerliche Recht' nicht
vollständig abgeschafft, sondern nur zum Teil, nur entsprechend der bereits erreich-
ten ökonomischen Umwälzung, d. h. lediglich in Bezug auf die Produktionsmittel.
Das 'bürgerliche Recht' sieht in ihnen das Privateigentum einzelner Individuen. Der
Sozialismus macht sie zum Gemeineigentum. Insofern - und nur insofern - fällt das
'bürgerliche Recht' fort.

504
TROTZKI (1936), S. 249

217
Zur Geschichte der Sowjetunion

Es bleibt jedoch in seinem anderen Teil bestehen, es bleibt als Regulator (Ordner) bei
der Verteilung der Produkte und der Arbeit unter die Mitglieder der Gesellschaft 'Wer
nicht arbeitet, soll auch nicht Essen', dieses sozialistische Prinzip ist schon verwirk-
licht; 'für das gleiche Quantum Arbeit das gleiche Quantum Produkte' - auch dieses
sozialistische Prinzip ist schon verwirklicht. Das ist jedoch noch nicht Kommunis-
mus, und das beseitigt noch nicht das 'bürgerliche Recht', das ungleichen Individuen
für ungleiche (faktisch ungleiche) Arbeitsmengen die gleiche Menge Produkte zu-
weist.
Das ist ein 'Missstand', sagt Marx, aber er ist in der ersten Phase des Kommunismus
unvermeidbar, denn will man nicht in Utopien verfallen, so darf man nicht annehmen,
daß die Menschen sofort nach dem Sturz des Kapitalismus lernen werden, ohne alle
Rechtsnormen für die Allgemeinheit zu arbeiten, sind doch die ökonomischen Vo-
raussetzungen für eine solche Änderung durch die Abschaffung des Kapitalismus
nicht sofort gegeben.
Andere Normen aber als die des 'bürgerlichen Rechts' sind nicht vorhanden. Insofern
bleibt noch die Notwendigkeit des Staates bestehen, der unter Wahrung des gesell-
schaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln die Gleichheit der Arbeitsleistung
und die Gleichheit bei der Verteilung der Produkte zu schützen hat." 505
Weiter: Die Sowjetunion baute den Sozialismus auf (also immer noch die erste, niede-
re Phase des Kommunismus) und hatte noch lange nicht den Kommunismus erreicht.
Daher galt der Grundsatz "Jedem nach seiner Leistung"! Trotzki verwischt bewusst
die Unterschiede zwischen kommunistischer und sozialistischer Gesellschaft, um so
sein Konstrukt einer zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehenden Gesellschaft
zu untermauern. Auch verweist Trotzki nicht auf eine Quelle bei Marx (Kritik des
Gothaer Programms), so dass er natürlich behaupten kann, was er will. Hätte er Quel-
len angegeben, dann könnte ihn sein Leser überprüfen und widerlegen. Umso irritie-
render ist es an anderer Stelle bei Trotzki zu lesen, dass er durchaus die Bezeichnung
des "unteren Stadiums des Kommunismus" kannte. Gekonnt blendete er aber das
Prinzip "jeder nach seinen Fähigkeiten - jedem nach seiner Leistung" aus. Genau dies
tat er in seinem Kapitel über den Staat:

"Die materielle Voraussetzung des Kommunismus muss eine so hohe Entwicklung


der ökonomischen Macht des Menschen sein, dass die produktive Arbeit aufhört, Last
und Mühsal zu bedeuten, und der Antreiberei nicht mehr bedarf; (…) Die kommunis-
tische Ordnung kann jedoch die bürgerliche Gesellschaft nicht unmittelbar ablösen:

505
LENIN, Staat und Revolution, LW Band 25, S. 480 - 481, Hervorhebung durch den Autor

218
Zur Geschichte der Sowjetunion

dazu reicht das materielle und kulturelle Erbe der Vergangenheit noch keineswegs. In
der ersten Zeit kann der Arbeiterstaat noch nicht einem jeden gestatten, 'nach seinen
Fähigkeiten' zu arbeiten, d.h. soviel er kann und mag, noch einem jeden 'nach seinen
Bedürfnissen', unabhängig von der geleisteten Arbeit, entlohnen. Im Interesse einer
Steigerung der Produktivkräfte ist es erforderlich, zu den gewohnten Normen des
Arbeitslohns zu greifen, d.h. zur Verteilung der Lebensgüter nach Menge und Be-
schaffenheit der individuellen Arbeit. Marx nannte diese Anfangsetappe der neuen
Gesellschaft die 'erste Phase der kommunistischen Gesellschaft', zum Unterschied
vom höheren, wo mit den letzten Gespenstern der Not die materielle Ungleichheit
verschwinden wird. Im gleichen Sinne werden oft Sozialismus und Kommunismus als
das untere und obere Stadium der neuen Gesellschaft einander gegenübergestellt." 506
Etwas später erwähnt Trotzki sogar Marx und Lenin über die "Missstände" der ersten
Phase der kommunistischen Gesellschaft (Beibehaltung des bürgerlichen Rechts). 507
Der Charakter eines Arbeiterstaates wird nach Trotzki über das Verhältnis der bürger-
lichen und sozialistischen Tendenzen im Staat definiert (wie stark also das bürgerliche
Recht ist, die Verteilung also geregelt ist).508 Daraus leitet Trotzki jedoch ab, dass die
Sowjetunion kein sozialistischer Staat sei, da der Sowjetstaat nicht sofort beginnt
abzusterben, sondern stärker wird 509, der Staat nicht vom Bürokratismus gereinigt
wurde510 und selbst die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft nicht erreicht
wurde, da die Sowjetunion "ein ausgeglichenes System von Erzeugung und Ver-
brauch [nicht] erreicht hat." 511 Wie 1936, als der Faschismus gegen die Sowjetunion
mobil machte, der Staat hätte absterben können, verschweigt uns Trotzki. Trotzki
versucht auch, indem er ein weiteres Zitat Lenins missbräuchlich verwendet, zu "be-
weisen", dass die Sowjetunion ein bürgerlicher - und damit kein sozialistischer - Staat
sei. Lenin schreibt in "Staat und Revolution":
"In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunismus ökonomisch
noch nicht völlig reif, völlig frei von den Traditionen, von den Spuren des Kapitalis-
mus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen
des 'engen bürgerlichen Rechtshorizonts' während der ersten Phase des Kommunis-
mus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumti-
onsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts
ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwin-

506
TROTZKI (1936), S. 46
507
TROTZKI (1936), S. 53
508
TROTZKI (1936), S. 54
509
TROTZKI (1936), S. 51
510
TROTZKI (1936), S. 59
511
TROTZKI (1936), S. 48

219
Zur Geschichte der Sowjetunion

gen. So ergibt sich, daß im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine ge-
wisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat - ohne Bourgeoi-
sie!"512
Diese Textstelle zitiert auch Trotzki513 und daraus versucht er zu beweisen, dass die
Sowjetunion kein sozialistischer Staat sei, weil es ein bürgerlicher Staat ohne Bour-
geoisie sei. Im Sozialismus gelten noch bürgerliche Verteilungsnormen und somit
bürgerliches Recht. Die "parasitäre Bürokratie" verteidige diese bürgerlichen Vertei-
lungsnormen gegen die Mehrheit der Bevölkerung, um sich so ihre Privilegien zu
sichern, behauptet Trotzki.514 Wenn dem so einfach wäre! Richtig ist: im Sozialismus
gilt noch bürgerliches Recht (der Verteilung). Dies ist ein notwendiges Überbleibsel
des Kapitalismus. Jedoch regelt diese Verteilung im Sozialismus nicht mehr die
Bourgeoisie. Diese Verteilung ist Regelung des Proletariats. Da wir nun X Mal nach-
gewiesen haben, dass die Bürokratie keine eigenständige Klasse ist (was Trotzki zu-
gibt), sie noch nicht mal parasitär ist, die Bürokratie der herrschenden Klasse dient
etc., sollte offensichtlich sein, welchen Charakter der sowjetische Staat hat - er ist
sozialistisch. Selbst Lenin bezieht sich in obiger Textstelle auf die niedere Phase des
Kommunismus, also den Sozialismus!
Außerdem ist der sozialistische Staat nicht einfach eine Wiederholung des bürgerli-
chen Staates. Natürlich gelten zwar noch bürgerliche Verteilungsnormen und weitere
Muttermale der alten Gesellschaft. Aber es entstehen auch gleichzeitig neue Elemente
der Staatsführung, die nichts mit der alten bürgerlichen Gesellschaft zu tun haben.
Beispielsweise gehört die Macht der Arbeiterklasse ebenso dazu, wie die gesamtge-
sellschaftliche Planung der Produktion und das gesellschaftliche Eigentum an den
Produktionsmitteln.
Die Grundfragen des sozialistischen Staates und der Bürokratie (bei der Lenin nach-
wies, dass sie eben nicht sofort absterben können!), haben wir in den anderen Kapi-
teln untersucht. Trotzki hielt aber die Sowjetunion nicht für sozialistisch (also noch
nicht mal die erste Phase), da die Verteilung nicht optimal geregelt wurde und leugne-
te den sozialistischen Charakter der UdSSR. Kurzum: für ihn war die Sowjetunion zu
primitiv und deswegen nicht sozialistisch und nur die heilige Weltrevolution konnte
die Sünde der Sowjetunion reinigen. Das "Übergangsregime" versuchte Trotzki wie
folgt zu erklären:
"'Wir sind natürlich noch nicht im vollendeten Kommunismus', lautet die offizielle
Sowjetdoktrin von heute, dafür ist aber bei uns bereits der Sozialismus verwirklicht,

512
LENIN, Staat und Revolution, LW 25, S. 485
513
TROTZKI (1936), S. 53
514
TROTZKI (1936), S. 55

220
Zur Geschichte der Sowjetunion

d.h. das untere Stadium des Kommunismus. Zum Beweis werden dann angeführt die
Herrschaft der Staatstrusts in der Industrie, der Kolchosen in der Landwirtschaft, der
Staats- und Genossenschaftsunternehmen im Handel. Auf den ersten Blick also
scheinbar völliges Übereinstimmen mit Marxens apriorischem – und darum hypothe-
tischem – Schema. Aber gerade vom Standpunkt des Marxismus erschöpft sich die
Frage keineswegs mit den Eigentumsformen, unabhängig von der erreichten Arbeits-
produktivität. Unter dem unteren Stadium des Kommunismus verstand Marx jeden-
falls eine Gesellschaft, die von Anfang an ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gemäß
über dem fortgeschrittenen Kapitalismus steht. Theoretisch ist diese Fragestellung
einwandfrei, denn im Weltmaßstab gesehen bedeutet der Kommunismus sogar in
seinem ersten Anfangsstadium eine höhere Entwicklungsstufe im Vergleich zur bür-
gerlichen Gesellschaft. Übrigens erwartete Marx, die sozialistische Revolution werde
von den Franzosen begonnen, von den Deutschen fortgesetzt und von den Engländern
abgeschlossen werden: was die Russen betrifft, so blieben sie weit zurück in der
Nachhut. Doch in der Wirklichkeit kam es umgekehrt. Wer heute Marxens universal-
historische Konzeption mechanisch auf den Sonderfall UdSSR in ihrer gegenwärtigen
Entwicklungsstufe anzuwenden versuchte, wird sich alsbald in unentwirrbare Wider-
sprüche verstricken. Russland war nicht das stärkste, sondern das schwächste Glied in
der Kette des Kapitalismus. Die heutige UdSSR überragt nicht das Weltwirtschaftsni-
veau, sondern holt erst die kapitalistischen Länder ein. Wenn Marx als unteres Stadi-
um des Kommunismus die Gesellschaft bezeichnete, die auf Grund der Vergesell-
schaftung der Produktivkräfte des für seine Epoche am meisten fortgeschrittenen
Kapitalismus entstehen sollte, so ist diese Bezeichnung augenscheinlich nicht auf die
Sowjetunion zugeschnitten, die heute noch, was Technik, Lebensgüter und Kultur
anbelangt, viel ärmer ist als die kapitalistischen Länder. Richtiger wäre darum, das
heutige Sowjetregime in all seiner Widersprüchlichkeit nicht als sozialistisches, son-
dern als vorbereitendes oder Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialis-
mus zu bezeichnen."515
Und weiter heißt es bei Trotzki: "Die UdSSR ist eine zwischen Kapitalismus und
Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte
noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter
zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation
allenthalben durch die Poren der Planwirtschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden
Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrunde liegen, d)
der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche
Herausschälung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnut-
zung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden

515
TROTZKI (1936), S. 47

221
Zur Geschichte der Sowjetunion

Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den
Eigentumsverhältnissen und dem Bewusstsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die
Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch
zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Kon-
terrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müsste, i) auf dem Wege zum
Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müssten. Letzten Endes wird die
Frage sowohl auf nationaler wie internationaler Arena durch den Kampf der lebendi-
gen sozialen Kräfte entschieden werden." 516
Wir merken uns: Der Sozialismus muss immer produktiver sein als der Kapitalismus,
sonst ist er keiner. Dieses Schema ist Bestandteil der trotzkistischen Theorie von der
Unmöglichkeit des "Sozialismus in einem Lande" und der "Permanenten Revolution",
deren unmarxistischer Gehalt ein anderes Mal dargestellt wird. Einiges sei aber schon
vorweggenommen. Anscheinend unbewusst gab Trotzki hier zu: Russland war 1917
das schwächste Glied im Kapitalismus. Das heißt logischerweise, dass der Kapitalis-
mus sich ungleichmäßig entwickelt und damit eine permanente Revolution weltweit
in mehreren Staaten zur gleichen Zeit nicht möglich ist. Das heißt aber dann auch,
dass der sozialistische Aufbau in einem Land, in dem die Revolution gesiegt hat,
machbar ist. Dies ist die logische Konsequenz der Leninschen Imperialismustheorie,
die u. a. die Entwicklung des höchsten Stadiums des Kapitalismus – eben des Impe-
rialismus – auch aus der ungleichmäßigen Entwicklung der Staaten ableitet. Diese
ungleichmäßige kapitalistische Entwicklung, dessen Resultate wir auch heute sehen
können (der Vergleich zwischen den USA und der EU auf der einen Seite und der
sog. dritten Welt auf der anderen sollte als Hinweis genügen), war zu Marx‘ Zeiten
unbekannt.
Daraus stellt sich nun die Frage, ob sich ein Staat, der das schwächste Glied ist und
eine siegreiche Revolution durchführt, den Sozialismus auf die Fahnen schreiben
kann. Die Bezeichnung "Sozialismus" ist für diesen Staat durchaus legitim. Denn die
Ungleichmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung sagt eben aus: Man kann nicht
davon ausgehen, dass ein Staat notwendigerweise einen voll entfalteten Kapitalismus
haben muss, um zum Sozialismus überzugehen. Hier spielen die Widersprüche zwi-
schen den kapitalistischen Staaten ebenso eine wichtige Rolle, wie das politische
Bewusstsein der Arbeiterklasse und die Kampfbereitschaft der Kommunisten. Eine
nach stupider Erbsenzählerei klingende Einteilung in unterentwickelte und hochent-
wickelte Sozialismen wäre demoralisierend und würde vom Wesentlichen ablenken:
der Errichtung des Sozialismus. Denn es stellt sich die Frage, ob es Sinn macht, für
eine Revolution zu kämpfen, wenn man in einem "unterentwickelten" Land lebt und
zu erwarten ist, dass diese Revolution sowieso entartet. Das wäre jedoch die logische

516
TROTZKI (1936), S. 246

222
Zur Geschichte der Sowjetunion

Konsequenz von Trotzkis Thesen: Der sowjetische Sozialismus sei nämlich keiner,
weil er zu primitiv sei. Dass er so "primitiv" sei, ist dem Umstand zu verdanken, dass
in Russland vor 1917 keine ausreichend entwickelten kapitalistischen Produktivkräfte
vorhanden waren. Damit lief die russische Revolution, laut Trotzki, von Natur aus
Gefahr zu entarten. Die einzige Rettung wäre eine gleichzeitig stattfindende Weltre-
volution, die hätte exportiert werden müssen. Da aber der Kapitalismus sich un-
gleichmäßig entwickelt, ist die zeitgleiche Revolution in mehreren kapitalistischen
Staaten unwahrscheinlich, die umittelbare, gleichzeitige Weltrevolution eine Illusion.
Die Revolution findet zunächst in einem oder wenigen Staaten statt. Damit schließt
sich der Kreis und der sowjetische Sozialismus müsse zwangsläufig entarten.
Berechtigt wäre auch die Frage, ob die DDR, die ja bessere ökonomische Vorausset-
zungen hatte als die Sowjetunion 1917, „sozialistischer“ war als ihr großer Bruder.
Wie sozialistisch ein Sozialismus sein muss, das erfahren wir von Trotzki ohnehin
nicht. Daher kann Trotzki aus seiner eigenen, unlogischen Verwirrtheit nur zu dem
Schluss kommen, dass der Stalinismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus liege.
Was diese widerspruchsvolle Gesellschaft sein soll, wird auch durch Trotzkis Aufzäh-
lung von a) bis i), die weiter oben zitiert wurde, nicht klar.
Die Produktivkräfte (Bildungsstand der Arbeiterklasse, Produktionstechnik etc.) sind
zum Beispiel nicht ausschlaggebend dafür, die Frage zu klären. ob wir einen Sozia-
lismus haben oder nicht, ausschlaggebend dafür sind die Produktionsverhältnisse –
also: Wer hat das Eigentum an den Produktionsmitteln? Eine kleine Ausbeuterschicht
oder das Proletariat?
Zur Bürokratie wurde schon weiter oben einiges geklärt.
Der Kapitalismus im 18 Jh. hatte noch lange nicht den Stand der Produktivkräfte, wie
der im 21. Jh. Natürlich sind die Produktivkräfte und ihre Steigerung im Sozialismus
(und auch in den anderen Gesellschaftsformationen) lebensnotwendig. Natürlich ist
auch eine bestimmte Produktivkraftentwicklung notwendig, um einen Sozialismus
aufzubauen. Wenn aber die Produktivkräfte nicht ausreichend genug entwickelt wa-
ren, um dem staatlichen Eigentum sozialistische Eigenschaften zuzuschreiben, wäre
dann überhaupt eine Revolution möglich gewesen? Diese "Logik" erinnert etwas an
die Polemik der Menschewiki gegen Lenin, die genauso argumentierten wie Trotzki
(Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus). Wichtig ist die Frage, ob es die Produk-
tionsverhältnisse ermöglichen, dass die Produktivkräfte gefördert werden oder nicht.
Aber es waren gerade die sozialistischen Produktionsverhältnisse, die die Steigerung
der Arbeitsproduktivität im Sozialismus der UdSSR überhaupt ermöglichten – inner-
halb eines Jahrzehnts entwickelte sich dieser Staat von einem Agrarland voller Anal-
phabeten zur zweitstärksten Industrienation! Die industrielle Entwicklung der Sow-

223
Zur Geschichte der Sowjetunion

jetunion zeigte also, wozu die Produktivkräfte fähig sind, wenn sie nicht durch kapita-
listische Eigentumsverhältnisse gedrosselt werden.
Im letzten Stadium des Kapitalismus – dem Imperialismus – hingegen hemmen die
Produktionsverhältnisse die Produktivkraftentwicklung. Denn an einem bestimmten
Punkt der Entwicklung geraten die Produktionsverhältnisse mit dem Niveau der Pro-
duktivkräfte in einen Widerspruch. Der kann nur durch eine revolutionäre Verände-
rung beseitigt werden, nämlich durch die revolutionäre Ablösung der alten Produkti-
onsverhältnisse. Dieser Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produk-
tivkräften ist im Imperialismus am größten. Der Imperialismus zeichnet sich durch
zunehmende Vergesellschaftung der Produktion aus (z. B. durch die Schaffung von
großen Monopolen im Gegensatz zu den diversen freien Kleinkapitalisten im Frühka-
pitalismus), während sich das Eigentum an den Produktionsmitteln in den Händen
weniger Privateigentümer konzentriert. Dieser Widerspruch kommt im Kapitalismus
durch sich ständig verschärfende Krisen, Kriege, die Verlangsamung des Entwick-
lungstempos der Wirtschaft und die Zerstörung von Produktivkräften zum Ausdruck.
Eine Übereinstimmung zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften wird
im Sozialismus erreicht, da hier sowohl die Produktions- als auch die Eigentumsver-
hältnisse vergesellschaftet sind.517 Hier ist die Grundlage für die rasche Industrialisie-
rung in der Sowjetunion zu sehen, und dies allein beweist die höhere Produktivität des
Sozialismus.
Es ist aber auffällig, dass selbst einige Stalin-Verteidiger wie Hans Heinz Holz die
These vertreten, dass der Kapitalismus produktiver war als der Sozialismus. So
schrieb Holz in seinem Werk "Niederlage und Zukunft des Sozialismus": "Der Le-
bensstandard in den sozialistischen Ländern blieb hinter dem der kapitalistischen
Metropolen zurück, in mancher Hinsicht weit zurück. Der reichere Westen war in der
Lage, den ärmeren sozialistischen Völkern Bedürfnishaltungen und -erwartungen zu
infiltrieren, denen gegenüber die tatsächlichen sozialen Fortschritte des Sozialismus
im Systemvergleich vergessen wurden."518
Hier kann Holz durchaus widersprochen werden, denn die Frage stellt sich, was unter
Begriffen wie "Lebensstandard" oder "Reichtum" zu verstehen ist. Sicherlich ist der
Kapitalismus in der Produktion einiger Konsumgüter dem Sozialismus "überlegen".
Er ist überlegen in der Hinsicht, dass er quantitativ mehr produziert, ob aber dieses
quantitative "Mehr" gesellschaftlich notwendig oder gar ein Zeichen für "Wohlstand"
ist, muss hinterfragt werden. Ist es gesellschaftlich überhaupt erstrebenswert, den

517
Vgl. auch AUTORENKOLLEKTIV (1977): Einführung in den dialektischen und historischen
Materialismus, S. 330 - 334
518
HOLZ, H. H. (1989/90)http://www.rotfuchs.net/niederlage-und-zukunft-des-sozialismus.html

224
Zur Geschichte der Sowjetunion

Reichtum der Bourgeoisie im Kapitalismus, der gesamtgesellschaftlich nicht selten


Ressourcenverschwendung ist, zu erreichen? Der Wohlstand einer Gesellschaft be-
misst sich nämlich nicht danach, zwischen wie vielen Marken eines Produktes man
"wählen" kann. Der Wohlstand einer Gesellschaft kann auch nicht nur mit Geld allein
gemessen werden. Der britische Kommunist Enrie Trory kritisierte gerade diese Posi-
tion von Holz: "Dieser Glaube [dass der Kapitalismus wohlhabender sei als der Sozia-
lismus - M. K.], weitverbreitet in den sozialistischen Ländern am Abend ihres Unter-
gangs, zeigt das Fehlen an Verständnis für die Misere der Obdachlosen, der Arbeits-
losen, der unterbezahlten Arbeiter, der chronisch Kranken und der ethnischen Min-
derheiten im kapitalistischen Westen - Leiden, die allesamt unbekannt im Sozialismus
waren und sind. (…) In den kapitalistischen Staaten mit dem größten Wohlstand, gab
es auch die größte Armut." 519
Ernie Trory stellte zwar fest, dass der Geldlohn in den sozialistischen Staaten geringer
war als in den reichen kapitalistischen Staaten. Doch dafür war der Soziallohn in den
sozialistischen Staaten um ein Vielfaches höher. 520 Unter dem Soziallohn ist u. a. das
Bildungs- und Gesundheitssystem zu verstehen, wie auch die Kinderbetreuung in den
Betrieben, die Sozialversicherungen, der Zugang zu Kultur, öffentlicher Transport,
Wohnungswesen etc. All diese Bereiche waren im Sozialismus entweder kostenlos
oder stark subventioniert.
In ihrem Werk "Socialism betrayed" fassten Roger Keeran und Thomas Kenny die
Erfolge des sowjetischen Sozialismus zusammen: "(…) keine Gesellschaft hat den
Lebensstandard und die Konsumption in einer so kurzen Periode für die gesamte
Bevölkerung gehoben [wie die Sowjetunion - M. K.]. Das Recht auf Arbeit wurde
garantiert.
Ein freies Bildungssystem war für alle zugänglich, vom Kindergarten über die weiter-
führenden Schulen (allgemeinen, technischen und Berufsschulen), Universitäten und
Abendschulen. Neben nicht vorhandenen Studiengebühren erhielten Studenten ange-
messene Stipendien.
Es gab für alle ein kostenloses Gesundheitssystem mit mehr als doppelt so vielen
Ärzten pro Person als in den USA. Arbeiter, die verletzt oder krank wurden, hatten
eine Garantie auf ihren Arbeitsplatz und Anspruch auf Krankengeld. Mitte der 70er
Jahre hatten Arbeiter durchschnittlich 21,2 Arbeitstage Urlaub (also einen Monat
Urlaub) und Sanatorien, Kurorte und Kinderferienlager waren kostenlos oder subven-
tioniert.

519
TRORY (1994), S. 77
520
TRORY (1994), S. 77

225
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gewerkschaften hatten bei Kündigungen Veto-Recht und konnten Manager abberu-


fen. Der Staat regulierte alle Preise und subventionierte die Preise für Grundnah-
rungsmittel und Wohnungswesen.
Mieten machten etwa 2 - 3% des Familien-Budgets aus; Wasser und Nebenkosten 4 -
5%. Es gab keine Trennung des Wohnungswesens nach Einkommensschichten. Auch
wenn einige Wohnviertel für hohe Funktionäre reserviert waren, lebten sonstwo Fab-
rikmanager, Krankenschwestern, Professoren und Portiers Seite an Seite.
Die Regierung schloss kulturelles und intellektuelles Wachstum als Teil des Bestre-
bens, den Lebensstandard zu erhöhen, mit ein. Staatliche Subventionierungen hielten
die Preise für Bücher, Zeitschriften und kulturelle Ereignisse auf ein Minimum. Als
Ergebnis hatten Arbeiter ihre eigene Bibliothek und eine durchschnittliche Familie
abonnierte 4 Zeitschriften. Die UNESCO berichtete, dass sowjetische Bürger mehr
Bücher lasen und mehr Filme sahen als irgendein anderes Volk auf der Welt. Jedes
Jahr ist die Anzahl der Museumsbesucher fast genauso groß wie die Hälfte der Bevöl-
kerung und die Besucherzahl in Theatern, Konzerten und anderen Aufführungen über-
traf die gesamte Bevölkerung.
Die Regierung unternahm einen enormen Aufwand, die Alphabetisierung und den
Lebensstandard in die zurückgebliebensten Regionen zu heben und die kulturellen
Ausdrucksformen der mehr als hundert Nationalitätengruppen zu fördern. In Kirgisien
konnte 1917 nur einer von 500 Leuten lesen und schreiben, 50 Jahre später konnte es
fast jeder.
1983 überprüfte der amerikanische Soziologe Albert Szymanski eine Reihe sowjeti-
scher Studien über die Einkommensverteilung und Lebensstandard in der Sowjetuni-
on. Er fand heraus, dass die am höchsten bezahlten Menschen in der Sowjetunion
Künstler, Schriftsteller, Professoren, Verwalter und Wissenschaftler waren, die etwa
1200 bis 1500 Rubel im Monat verdienten. Führende Regierungsbeamte verdienten
etwa 600 Rubel im Monat, Betriebsdirektoren 190 bis etwa 600 Rubel im Monat und
Arbeiter etwa 150 Rubel monatlich. Somit machten die höchsten Einkommen nur das
zehnfache des durchschnittlichen Einkommens eines Arbeiters aus, während in den
USA die am höchsten bezahlten Konzernvorsitzenden 115 mal so viel verdienten wie
die Arbeiter. Die Privilegien, die man mit einer hohen Funktion hatte, wie spezielle
Geschäfte und Dienstwagen, waren klein und begrenzt und kompensierten nicht den
kontinuierlichen, vierzig Jahre dauernden Trend zu mehr Egalitarismus. (Ein gegen-
läufiger Trend ist in den Vereinigten Staaten zu verzeichnen, wo seit Ende der 90er
Konzernvorsitzende 480 mal so viel verdienen wie ein durchschnittlicher Arbeiter).
(…) Die Ausgleichung wurde erweitert durch eine Preispolitik, die die Kosten für
Luxuswaren über ihren Wert und Notwendigkeiten unter ihrem Wert festlegte. Sie
wurde auch erweitert durch den ständig anwachsenden Soziallohn, d. h. die Versor-

226
Zur Geschichte der Sowjetunion

gung mit einer wachsenden Anzahl kostenloser oder subventionierter Sozialleistun-


gen. Neben den schon erwähnten beinhalteten diese Leistungen Mutterschaftsgeld,
kostengünstige Kinderbetreuung und großzügige Renten. Szymanski schlussfolgert:
'Während die sowjetische Sozialstruktur nicht in ein kommunistisches oder sozialisti-
sches Idealbild passen dürfte, ist sie sowohl qualitativ anders als auch egalitärer als
jene der westlichen kapitalistischen Länder. Der Sozialismus machte einen radikalen
Unterschied zugunsten der Arbeiterklasse."521
Diese Zitate sprechen eine klare Sprache und bezeugen den wahren Reichtum des
Sozialismus. Dieser ging nicht unter, weil er ökonomisch schwächer war als der Kapi-
talismus. Es waren Veränderungen im politischen System, im Klassenbewusstsein der
Kommunistischen Partei und der Arbeiterklasse überhaupt sowie Veränderungen in
System der Planwirtschaft (bzw. deren Aushöhlung), die die sozialistische Weiter-
entwicklung hemmten. Diese Veränderungen werden später näher analysiert. Aber
immerhin benannte auch Holz diesen Punkt, wenn er ihn auch nicht so intensiv analy-
sierte, wie es beispielsweise Trory, Keeran & Kenny in ihren Arbeiten machten:
"Der reichere Westen war in der Lage, den ärmeren sozialistischen Völkern Bedürf-
nishaltungen und -erwartungen zu infiltrieren, denen gegenüber die tatsächlichen
sozialen Fortschritte des Sozialismus im Systemvergleich vergessen wurden. Das
bedeutete aber auch Einbruchstellen in der Ideologie, in den Wertvorstellungen, in
den wissenschaftlichen Theoriemodellen. Allmählich bedeutete 'das Weltniveau errei-
chen' nicht mehr, ein eigenes Konzept von gutem menschlichem Leben im Sozialis-
mus der kapitalistischen Verschwendungswirtschaft entgegenzusetzen, sondern
schlicht, mit dem Konsumangebot der reicheren kapitalistischen Länder gleichzuzie-
hen. Der Sozialismus gab weltanschaulichen Boden preis, er versäumte es, den ideo-
logischen Klassenkampf offensiv in Richtung auf eine andere Orientierung des Be-
wusstseins zu führen."522
Die Erfolge der Sowjetunion, die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölke-
rung, die Hebung des kulturellen Niveaus etc. - all dies sind Fortschritte, die der Sozi-
alismus in der Sowjetunion ermöglichte. Doch was macht Trotzki daraus? Er zaubert
allen Ernstes einen Widerspruch zwischen Konsum und Produktion herbei, da die
Sowjetunion nicht genügend Konsummittel produzierte und deswegen nicht sozialis-
tisch war. In seinem Pamphlet "Die Sowjetbürokratie und der Kirowmord" schreibt er
z. B.: "Solange die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung noch in Not lebt, behält
das Streben nach individueller Aneignung und Anhäufung von Gütern Massencharak-

521
KEERAN, K. & KENNY, T. (2010), S. 2 - 4, die Daten zu den Einkommensunterschieden
entstammen aus, SZYMANSKI, A. (1983), S. 586 - 592.
522
HOLZ (1989/1990), ebenda

227
Zur Geschichte der Sowjetunion

ter bei und stößt beständig mit den kollektivistischen Strömungen der Wirtschaft
zusammen. Es ist richtig, dass die Anhäufung unmittelbar ausgesprochenen Ver-
brauchsbedürfnissen entspringt. Wenn man jedoch nicht Acht gibt, wenn man die
Anhäufung gewisse Grenzen überschreiten lässt, wird sie zur ursprünglichen kapita-
listischen Akkumulation und könnte in der Folge die Kolchose und darauf die Trusts
sprengen. 'Vernichtung der Klassen' im sozialistischen Sinne bedeutet, allen Mitglie-
dern der Gesellschaft derartige Lebensbedingungen zu gewährleisten, dass jeder An-
reiz zur individuellen Akkumulation beseitigt wird. Davon ist man noch weit entfernt.
Berechnet man das Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung, besonders jenen
Teil des Nationaleinkommens, der dem Verbrauch zugutekommt, so erweist sich die
Sowjetunion noch heute, trotz allen technischen Errungenschaften, im Schlepptau der
kapitalistischen Länder. Die Befriedigung der elementarsten Lebensbedürfnisse ist
noch immer mit einem erbitterten Kampf aller gegen alle verbunden, mit widerrecht-
licher Aneignung, Umgehung der Gesetze, Täuschung des Staates, mit Bevorzugung,
mit Massendiebstahl. In diesem Kampf stellt die Bürokratie den Kontrolleur, den
Richter und Vollstrecker. Sie gleicht durch administrativen Druck den Mangel wirt-
schaftlicher Macht aus.
Es ist unsinnig zu glauben, die Allmacht der Sowjetbürokratie ergebe sich aus der
Notwendigkeit des Kampfes mit den 'Überresten' der Ausbeuterklassen in der sozia-
listischen Gesellschaft. In Wirklichkeit besteht ja die geschichtliche Rechtfertigung
der Existenz der Bürokratie darin, dass man von der sozialistischen Gesellschaft noch
weit entfernt ist, dass die gegenwärtige Übergangsgesellschaft voller Widersprüche
ist, die auf dem naheliegendsten und empfindlichsten aller Gebiete, dem des Ver-
brauchs, überaus gespannten Charakter tragen und ständig in das Gebiet der Erzeu-
gung einzubrechen drohen. (…) Dieser ganze fieberhafte Kampf hat keinen offenen
und ausgeprägten Klassencharakter. Aber nach den Möglichkeiten und Gefahren, die
er birgt, ist er ein Klassenkampf. Das Regime der Diktatur ist folglich nicht nur Erb-
schaft des früheren Klassenkampfes (gegen die Gutsbesitzer und Kapitalisten), wie es
die Stalinisten darstellen, also eines im Grunde abgeschlossenen Kampfes, – es ist
auch eine Schutzwaffe gegen den Klassenkampf, der sich aus der wilden Konkurrenz
der Verbrauchsinteressen, auf Grundlage einer noch immer zurückgebliebenen und
unharmonischen Wirtschaft heraus entwickelt. Darin und nur darin besteht die ge-
schichtliche Rechtfertigung der gegenwärtigen Sowjetdiktatur."523
Wir haben die Rolle der Bürokratie und der Frage des sozialistischen Aufbaus genü-
gend behandelt - und man merkt, dass Trotzki in all seinen Schriften immer dasselbe

523
TROTZKI (1934): Kapitel 5
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1934/leo-trotzki-die-
stalinbuerokratie-und-der-kirowmord

228
Zur Geschichte der Sowjetunion

vorgaukelt: böse Bürokratie, die sich parasitär bereichert und es daher keinen Sozia-
lismus in der Sowjetunion gibt. Wir lassen zu diesem Trotzki-Zitat nochmal Olgin
(1935) kommentieren: "(…) Güter sind immer noch bei den Massen hoch geschätzt
und jeder wünscht sich mehr zu konsumieren. Trotzki bezeichnet dies als 'Anreiz zur
individuellen Akkumulation' und weil er ja gehört hat, dass Marx auch über Akkumu-
lation (ursprüngliche Akkumulation des Kapitals!) sprach, kommt er zu der sehr tief-
gründigen Schlussfolgerung, dass der 'Anreiz zur individuellen Akkumulation' zu
einem Wiederbeleben des Kapitalismus führen könne. (…) Weil der Sozialismus in
der UdSSR noch nicht eine Situation herbeigeführt hat, in der kein 'Anreiz zur indivi-
duellen Akkumulation' vorhanden ist, sieht er seinen Angriffspunkt. Die Tatsache,
dass die Massen in der Sowjetunion noch einen 'Warenhunger' haben - welches ein
Anreiz für mehr und bessere Produktion ist, transformiert Trotzki in einen Klassen-
kampf. Aus dem Drang, etwas zu erwerben, wird durch einen Taschenspielertrick der
Drang zur Akkumulation. (…) Der Textilarbeiter, der besorgt ist, mehr Weizenmehl
und Kohl zu horten - diese also zu 'akkumulieren' - entscheidet sich nach Trotzki
also, diese nicht zu konsumieren und – trotz des überaus gespannten Charakters im
Gebiet des Verbrauchs! – stattdessen selbst zum Eigentümer eines Getreidesilos zu
werden und mit den staatlichen Getreidesilos zu konkurrieren und droht, 'ständig in
das Gebiet der Erzeugung einzubrechen'. (…) Trotzki hofft, dass, weil die Konsumgü-
ter noch nicht in ausreichender Menge in der UdSSR vorhanden sind (…) einige Bau-
ern verblendet sind und ihre Hoffnung in die Hände der Kulaken legen (…). Das
einzelne Mitglied einer Kollektivfarm mag vielleicht einen Teil der gemeinsamen
Ernte 'für schlechte Zeiten' horten, das macht ihn aber noch nicht zum Kulaken und
mit dem Wachstum an Sicherheit und Wohlstand im Dorf wird auch diese Praxis
beendet werden. Was die Arbeiter in der Stadt angeht, sie 'akkumulieren nie, sie hor-
ten nichts, sondern sie geben alles aus, was sie verdienen, weil sie keine Furcht davor
haben ihre Arbeit zu verlieren und höhere Einkommen und einen besseren Lebens-
standard erwarten. Es besteht keine Gefahr eines erneuten Klassenkampfes auf dem
'Gebiet des Verbrauchs' in der UdSSR." 524
Olgin schrieb diese Passage 1935, als die Sowjetunion noch im Aufstreben war. Doch
auch im Vorfeld der Konterrevolution 1991, die zur Vernichtung der Sowjetunion
führte, kam es nicht zu einem Klassenkampf in der Sphäre des Konsums, sondern
durch die Aushöhlung der zentralen Planwirtschaft zu verstärkten wirtschaftlichen
Problemen und zur Dominanz revisionistischer (= antimarxistischer) Positionen, die
die politische Führung lähmten.525

524
OLGIN (1935/2012), S. 78 -80
525
Vgl. hierzu: KEERAN, K. & KENNY, T. (2010), sowie die Arbeiten von Kurt Gossweiler.

229
Zur Geschichte der Sowjetunion

3.5. Über Trotzkis Moralismus und über den Thermidor


Hätte Trotzki nur die Privilegien einiger Bürokraten kritisiert - die es tatsächlich gab -
könnte man ihm zustimmen. Doch seine "Analysen" reichten noch weiter und hatten
die Forderung des Sturzes des Sozialismus zur Folge. Damit vertrat Trotzki schon
objektiv die Interessen des Kapitals und der Konterrevolution. Interessant ist, dass
selbst der Trotzki-Anhänger Isaak Deutscher zugeben musste, dass Trotzkis "Verrate-
ne Revolution" ein Nährboden für die Argumente der "Sowjetologen" und andere
antikommunistische Propagandisten des Kalten Krieges war. 526
Bemerkenswert ist dabei, dass selbst in der antikommunistischen Geschichtsschrei-
bung, für die ja Trotzkis Hasstiraden gegen die Sowjetunion eine hilfreiche Argumen-
tationsstütze wären, Trotzkis Kritik an der Bürokratisierung nicht immer zugestimmt
wird. Nicht wenige Historiker lehnen Trotzkis Analysen ab. Sie kommen zu sinnvol-
leren Ergebnissen bei der Analyse der sowjetischen Bürokratie als die "linken" Kriti-
ker des Stalinismus. Zu diesen gehört z. B. David W. Lovell. In seinem Werk
"Trotsky’s Analysis of Soviet Bureaucratisation – A Critical Essay" schafft es Lovell,
einige gravierende Schwächen in Trotzkis Ausführungen zu entlarven, auch wenn
seine Analysen und Schlussfolgerungen nicht das Niveau einer marxistisch-
leninistischen Analyse erreichen. Lovell erklärt, dass Trotzkis Analyse den Charakter
des sowjetischen Staates nicht ausreichend erklären kann, da Trotzki moralisierend
argumentiert:
"Ich glaube, dass Moralismus ein zentraler Bestandteil von Trotzkis Gedanken war,
besonders in seiner Reaktion auf die Ergebnisse der Oktoberrevolution." 527
Weiter schreibt Lovell: "(…) Trotzki hatte eher Erkenntnisse als Theorien. Anders als
Marx (…) waren Trotzkis Erkenntnisse nicht vollständig, um seine Theorien auszu-
füllen und zu stützen. Trotzkis Analysen sind oft wohl überlegt, präzise und vernich-
tend, aber sie enthalten ungeprüfte Behauptungen, (…)" 528
"Trotzki sagt uns nicht viel über den Charakter der Sowjetbürokratie, auch wenn er
behauptet, diese und ihre Macht zu analysieren."529
"Was war der Unterschied zwischen der Ein-Parteien-Diktatur unter Lenin und der
unter Stalin? Da es keine signifikante institutionelle Änderungen gab, argumentierte

526
DEUTSCHER, I. (1970), S. 322
527
LOVELL, D. W. (1985), S. vii
528
LOVELL (1985), S. 2
529
LOVELL (1985), S. 4

230
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzki damit, dass die Partei nicht mehr dieselbe Partei war, die die Macht über-
nahm: Die Bürokratisierung habe sie verändert."530
Basierend auf die Kritik Trotzkis an der Partei erwidert Lovell: "Aber es gibt ein
generelles Problem mit Trotzkis Argument: wenn bestimmte Maßnahmen Reaktionen
auf bestimmte außergewöhnliche Situationen waren und diese Situationen nun ende-
ten, zu was sollte die Partei 'zurückkehren'. Was war 'normal' oder 'gewöhnlich' für
den Bolschewismus (…)? Alles nach der Oktoberrevolution war für den sowjetischen
Staat außergewöhnlich, vielleicht sogar das sogenannte Aufblühen der Demokratie in
der Bolschewistischen Partei während des Bürgerkrieges." 531
Trotzki lieferte auch laut Lovell keine besseren Alternativen zum Bürokratismus:
"Trotzki reagierte nicht auf die Idee, dass mit zunehmender Komplexität des sozialen
Lebens und der Spezialisierung es eine unaufhaltsame Tendenz in Richtung Bürokra-
tisierung dieses sozialen Lebens gibt und dass diese Tendenz in einem sozialistischen
Staat verstärkt werden könnte, besonders in einem rückständigen Land, welches auf
Formen bürokratischer Organisation zurückgreifen muss, um seine Industrien zu
gründen und zu organisieren. Er beachtete nicht vollkommen die funktionalen Erklä-
rungen der Bürokratisierung. Er erklärte nicht, wie eine komplexe Verwaltung nicht-
bürokratisch sein könnte."532
Lovell schlussfolgert: "Trotzkis Vorstellung des degenerierten Arbeiterstaates, die
Frucht seiner Analyse der sowjetischen Bürokratisierung, ist nicht überzeugend und
das in zwei Punkten. Erstens basiert sie auf ein oberflächliches Verständnis von Bü-
rokratie und ihre Rolle. Zweitens dient sie dazu, ihre moralische Anschauung zu ver-
bergen (…)."533
Hier können wir Lovell zustimmen, da Trotzki nach Verlust seines Einflusses behaup-
tet, dass die Bolschewiki den Staat und die Partei zunehmend in die Degeneration
trieben. Wir wissen aber, dass Trotzki, solange er noch im Amt war und Einfluss
hatte, ein regelrechter Bürokrat war. Dies zeigt sich z. B. in der Gewerkschaftsfrage,
die vorher analysiert wurde.
Ein anderer Autor, Thomas M. Twiss, urteilt über Trotzki positiver. Dieser findet
einige Aspekte von Trotzkis Analysen überzeugend.534 Habe sich die Kritik am Büro-
kratismus anfangs nur auf den Bereich der Ineffizienz konzentriert, so sei sie ab 1923

530
LOVELL (1985), S. 6
531
LOVELL (1985), S. 17
532
LOVELL (1985), S. 41
533
LOVELL (1985), S. 67
534
TWISS (2014), S. 251, 448

231
Zur Geschichte der Sowjetunion

zunehmend politischer geworden, wenn auch mit einigen Schwächen bezüglich der
Tiefe des Problems und der Ursprünge des Bürokratismus. 535 Stützend auf die Aussa-
gen mehrerer Autoren beschreibt Twiss Trotzkis Arbeit "Verratene Revolution" als
Trotzkis "beste", "vollkommenste", "umfassendste", "nachhaltigste" und "vollstän-
digste" Analyse der Sowjetunion unter Stalin. Sie sei auch ein Meilenstein in der
Entwicklung von Trotzkis Gedankengängen und die erste systematische Präsentation
seiner Sichtweise über die sowjetische Bürokratie gewesen.536
Da wir uns weiter oben intensiv mit Trotzkis "Verratene Revolution" und seinen zent-
ralen Thesen auseinandergesetzt haben, wirkt diese Lobhudelei wie eine Realsatire.
Wenn "Verratene Revolution" wirklich Trotzkis bestes Werk ist, wie schlecht sind
dann seine restlichen Schriften?
Aber natürlich hat Twiss auch einige Kritiken an Trotzkis Positionen. So sieht er es
als Trotzkis größte Schwäche an, dass dieser glaubte, die sowjetische ökonomische
Politik führe zur unmittelbar bevorstehenden kapitalistischen Restauration. Da die
Sowjetunion noch einige Jahrzehnte nach Stalins Tod existierte, irrte sich Trotzki
hier.537 Was für Twiss Trotzkis größte Schwäche darstellt, ist im Grunde genommen
nur die Spitze des Eisberges, da Trotzkis Theorien vom Fundament her faul sind, wie
nachgewiesen wurde. Auch sieht Twiss einige Schwächen in Trotzkis allgemeiner
Analyse des sowjetischen Regimes. So habe Trotzki nicht erklären können, warum
gewisse Schichten der Bürokratie dominant wurden, andere nicht. Außerdem habe
Trotzki die Stärke seiner politischen Bewegung überschätzt, da er glaubte, durch die
Repressionen und Schauprozesse demonstriere das Stalin-Regime seine Schwäche,
die Opposition hingegen ihre Stärke. Stalins Regime sei nicht nur reaktionär gewesen,
sondern habe auch progressive Züge aufgewiesen, wie es die Zerschlagung des Fa-
schismus und die Errichtung der Volksdemokratien nach dem Zweiten Weltkrieg
bewiesen hätten.538
R. C. Tucker, ein Historiker, der u. a. Biographien über Stalin verfasst hat, schreibt in
seinem Werk: "Stalin as Revolutionary": "Trotzkis Theorie des sowjetischen Ther-
midors war, wenngleich nicht ohne Elemente von Wahrheiten, mangelhaft." 539 "(…)
die herrschende Bürokratie, in der viele alte Bolschewiki immer noch in führenden
Positionen vertreten waren, wurde nicht richtig als 'thermidorianisch' beschrieben.
Ihre Unempfänglichkeit für Trotzkis Positionen wurzelte auch nicht in konterrevoluti-

535
TWISS (2014), S. 135 F
536
TWISS (2014), S. 402, 403
537
TWISS (2014), S. 449
538
TWISS (2014), S. 450 - 452
539
TUCKER, R. C. (1992), S. 391

232
Zur Geschichte der Sowjetunion

onären Vorlieben. Noch war ihre Empfänglichkeit für den ‚Sozialismus in einem
Land‘ ein Zeichen für die Indifferenz für den Sozialismus als universelles Ziel." 540
"Wenn Trotzkis Bild einer Bürokratie als thermidorianische Gruppe falsch war, irrte
er sich ebenfalls in seiner Ansicht über Stalin als ihr reines Instrument und Verkörpe-
rung, der seinen politischen Erfolg seiner Mittelmäßigkeit verdankt." 541
Tony Clark kommentiert hierzu richtigerweise, dass Trotzki im Kampf um die Macht
von Stalin besiegt worden sei und Trotzki diesen deshalb als Konterrevolutionär habe
verunglimpfen wollen. Dies sei wohl der Hauptgrund, weshalb Trotzki sein Buch
"Verratene Revolution" geschrieben habe.542
Trotzki und seine Anhänger benutzen, um den "Stalinismus" zu beschreiben, gerne
historische Analogien. Besonders häufig finden sich Parallelen zur französischen
Revolution: Thermidor und Bonapartismus. Thermidor bezeichnet die Hinrichtung
von Robespierre am 9. Thermidor (27. Juli 1794), der den Sturz der Diktatur des
Kleinbürgertums und die Herrschaft der Thermidorreaktion einleitet. Der Begriff
Bonapartismus bezeichnet die Herrschaft Napoleon III., dem Kaiser von Frankreich
(1852-1870). Napoleon III. errichtete eine mächtige Staatsmaschinerie mit einem
großen Beamtenheer sowie großen bürokratischen und militärischen Organisationen.
So habe es in der Sowjetunion einen Thermidor gegeben und die Bürokratenkaste sei
eine über den Klassen stehende bonapartistische Herrscherclique gewesen. Der
Trotzkist Henri Weber verteidigt diese Sichtweise, wenn er schreibt: "Nichtsdestot-
rotz kann es vorkommen, dass die Staatsbürokratie sich über die Klassen erhebt und
sich selbst in eine unabhängige Machtposition erhebt (…)"543
Dies widerspricht jedoch marxistischen Positionen. In seiner Arbeit "Der 18. Brum-
aire des Louis Bonaparte" schrieb Marx: "Erst unter dem zweiten Bonaparte scheint
sich der Staat völlig verselbständigt zu haben. (…) Und dennoch schwebt die Staats-
gewalt nicht in der Luft. Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste
Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern."544

540
TUCKER (1992), S. 392
541
TUCKER (1992), Ebenda
542
CLARK, T.: Stalin against the Soviet Bureaucracy http://marxism.halkcephesi.
net/Tony%20Clark/stalin%20against%20bureaucracy.htm
543
Zitiert in MAVRAKIS, K. (1976), S. 70
544
MARX: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Band 8, S. 197 - 198

233
Zur Geschichte der Sowjetunion

In "Bürgerkrieg in Frankreich" schrieb Marx: "Die Staatsmacht, scheinbar hoch über


der Gesellschaft schwebend, war dennoch selbst der skandalöseste Skandal dieser
Gesellschaft und gleichzeitig die Brutstätte aller ihrer Fäulnis." 545
In "Zur Wohnungsfrage" schrieb Friedrich Engels: "Aber, kann man einwenden, in
Deutschland herrschen die Bourgeois noch nicht, in Deutschland ist der Staat noch
eine, in gewissem Grade unabhängig über der Gesellschaft schwebende Macht, die
eben deshalb die Gesamtinteressen der Gesellschaft repräsentiert und nicht die einer
einzelnen Klasse. Ein solcher Staat kann allerdings manches, was ein Bourgeoisstaat
nicht kann; von ihm darf man auch auf sozialem Gebiet ganz andere Dinge erwarten.
Das ist die Sprache der Reaktionäre. In Wirklichkeit aber ist auch in Deutschland der
Staat, wie er besteht, das notwendige Produkt der gesellschaftlichen Unterlage, aus
der er herausgewachsen ist. (…) Die Selbständigkeit dieser Kaste, die außerhalb und
sozusagen über der Gesellschaft zu stehen scheint, gibt dem Staat den Schein der
Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft." 546
Wenn also auch der Staat und eine "bürokratische Kaste" völlig selbstständig er-
scheint, dient er immer noch dem Interesse der herrschenden Klasse! Für Marx war es
eindeutig, dass der bonapartistische Staat Ausdruck der Diktatur der Bourgeoisie war
und dieser Klasse diente, während für Trotzki das „stalinistische bonapartistische
Regime“ eine historische Waffe war, um das Proletariat zu unterdrücken, zugunsten
einer Minderheit der „Bürokratie“ auszurauben und die Produktion in das Interesse
dieser Minderheit zu stellen. Entsprechend ist Trotzkis Analogie mit dem Bonapar-
tismus und Thermidor nicht ansatzweise gerechtfertigt. 547
Selbst Issak Deutscher muss zugeben, dass diese Theorien Trotzkis nichts weiter sind
als eine "abstruse historische Analogie", die "mehr dazu beitrug, die Probleme zu
verdunkeln als zu erhellen."548
Bis 1928 bezeichnete Trotzki (z. B. in seinem Brief "Zur Lage in Russland") auch
Bucharin und Rykow (Vertreter der rechten Opposition gegen Stalin) als Thermidori-
aner und das bonapartistische Regime werde durch die Armee unter der Führung von
Woroschilow und Budjonny (hohe Militärkader, Veteranen des Bürgerkrieges und
vertraute Stalins) ermöglicht.549 Aus diesem Brief geht hervor, dass Trotzki vor dem

545
MARX: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Band 17, S. 338
546
ENGELS: Zur Wohnungsfrage, MEW Band 18, S. 258
547
Vgl. auch MAVRAKIS (1976), S. 70 - 71
548
DEUTSCHER (1970), S. 313, 314
549
TROTZKI (1928A)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1928/leo-trotzki-zur-lage-in-
russland

234
Zur Geschichte der Sowjetunion

Thermidor warnt, dieser jedoch noch nicht stattgefunden habe. Stalin sei vergleichbar
mit Kerenski, dem Chef der Übergangsregierung zwischen der Februar- und der Ok-
toberrevolution 1917: "Die Funktion der geschichtlichen Kerenski-Periode bestand
darin, dass auf ihrem Rücken die Macht von der Bourgeoisie zum Proletariat überge-
gangen ist. Die historische Rolle der Stalinschen Periode besteht darin, dass auf ihrem
Rücken die Macht vom Proletariat zur Bourgeoisie hinüber gleitet. Die nachleninsche
Leitung entrollt überhaupt den Oktoberfilm in verkehrter Richtung. Und die Stalin-
sche Periode ist dieselbe Kerenski-Periode nach rechts."550
Man beachte, dass kurz darauf die Industrialisierung der Sowjetunion mittels der
Fünfjahrespläne durchgeführt wurde. Der heilige Prophet Trotzki hatte sich mal wie-
der geirrt. Einige Jahre später musste er entsprechend seine Taktik ändern. Hatte er
noch vorher vor der Gefahr des Thermidors gewarnt, der jedoch noch nicht vollzogen
war, erklärte Trotzki 1935 in seiner Schrift "Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapar-
tismus", dass der Thermidor schon 1924 begann. 551 Trotzki erkannte also, dass die
Sowjetunion unter einem thermidorianischen Regime litt, ohne dass er es die 12 Jahre
vorher bemerkt hatte!
Robert H. McNeal beschreibt, dass zwar Trotzki mit "Verratene Revolution" Pionier-
arbeit über die Entstehung einer sowjetischen Elite geleistet hat, jedoch erhebliche
Defizite aufweist.552 McNeal versucht dies zu verdeutlichen, indem er nachweist, dass
Trotzki vergeblich versuchte, die sozialen Wurzeln dieser sowjetischen Elite entweder
in den alten russischen Eliten oder bei den besser verdienenden Kollektivbauern, die
von Trotzki als Erben der Kulaken gesehen wurden, zu finden. Dabei war Trotzkis
Konzept des sowjetischen Bonapartismus oder Thermidors mehr polemischer als
analytischer Natur, die er willkürlich verwendete. Später übernahm er auch den Be-
griff des Totalitarismus in sein antistalinistisches Vokabular. 553
1937 schrieb Trotzki in "Weder proletarischer noch bürgerlicher Staat": "Das Proleta-
riat der UdSSR ist die herrschende Klasse in einem zurückgebliebenen Lande, wo es
noch an den notwendigsten Lebensgütern mangelt. Das Proletariat der UdSSR
herrscht in einem Lande, das nur 1/12 der Menschheit umfasst: über die übrigen 11/12
herrscht der Imperialismus. Die Herrschaft des Proletariats, isoliert bereits durch die
Zurückgebliebenheit und Armut des Landes, wird doppelt und dreifach verunstaltet

550
TROTZKI (1928A)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1928/leo-trotzki-zur-lage-in-
russland
551
TROTZKI (1935) https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1935/leo-
trotzki-arbeiterstaat-thermidor-und-bonapartismus
552
MCNEAL (1999), S. 35
553
MCNEAL (1999), S. 35 - 36

235
Zur Geschichte der Sowjetunion

durch den Druck des Weltimperialismus. Das Organ der Herrschaft des Proletariats –
der Staat – wird zum Organ des imperialistischen Drucks (Diplomatie, Armee, Au-
ßenhandel, Ideen und Sitten). Historisch gesehen, geht der Kampf um die Herrschaft
nicht zwischen Proletariat und Bürokratie, sondern zwischen Proletariat und Welt-
bourgeoisie. Die Bürokratie ist nur der Übertragungsmechanismus dieses Kampfes.
Der Kampf ist nicht beendet."554
Wir können nun dem entgegenhalten:
1. Dass das Proletariat herrschende Klasse in einem "zurückgebliebenen Lande" ist,
spielt keine Rolle, wenn es in der Lage ist, binnen weniger Jahrzehnte das Land zu
einer mächtigen Industrienation zu machen. Ein Grund zur Entartung besteht nicht.
2. Dass die UdSSR nur 1/12 der Menschheit ausmachte, während der Rest vom Impe-
rialismus beherrscht wurde, ist ebenso keine Grundlage für die Entartung.
3. Wenn es keinen Kampf zwischen Proletariat und Bürokratie gibt, wird es noch
unverständlicher, Trotzkis Polemiken nachzuvollziehen

4. Soziale Differenzierungen in der Sowjetunion


Das im vorherigen Kapitel erwähnte Zitat von Keeran & Kenny widerlegt mit einem
Schlag die Propaganda eines Trotzki. Die soziale Differenzierung nahm bei weitem
nicht die Ausmaße an, die sich Trotzki ausgemalt und herbei phantasiert hatte. Auch
wenn das Zitat über die Sozialleistungen sich hauptsächlich auf die Zeit nach Stalin
bezieht, so ist es klar, dass Stalin hierfür das Fundament gelegt hatte. Ohne die Indust-
rialisierung wären diese Sozialleistungen nicht möglich gewesen, und ein Großteil
davon bestand schon zu Lebzeiten Stalins, wie es die Verfassung von 1936 bewies.
An dieser Stelle ist es nun hilfreich, die Lohnunterschiede in der Sowjetunion genauer
zu betrachten. Im Folgenden wird also analysiert, welche theoretische Rechtfertigung
es für die Lohnunterschiede gab, wie hoch diese waren, wie sie sich im Verlauf der
Geschichte der Sowjetunion änderten und ob sich daraus eine elitäre Schicht, einer
Ausbeuterklasse ähnelnd, etablierte. Ein Vergleich mit den kapitalistischen Staaten
wird dabei natürlich nicht fehlen.

554
TROTZKI (1937A) Kapitel "Herrschende und zugleich unterdrückte Klasse"

236
Zur Geschichte der Sowjetunion

4.1. Stalin über die Lohnunterschiede


Wie wurde aber nun die Existenz von Lohnunterschieden im Sozialismus erklärt?
Stalin gab 1931 dazu in seiner Rede "Neue Verhältnisse - Neue Aufgaben des wirt-
schaftlichen Aufbaus" eine wichtige Erklärung:
"Wo liegt die Ursache für die Fluktuation der Arbeitskraft? In der falschen Organisie-
rung des Arbeitslohns, in dem falschen Tarifsystem, in der 'linkslerischen' Gleichma-
cherei auf dem Gebiet des Arbeitslohns. In einer Reihe unserer Betriebe sind die Ta-
rifsätze so festgesetzt, dass der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizier-
ter Arbeit, zwischen schwerer und leichter Arbeit fast verschwindet. Die Gleichma-
cherei führt dazu, dass der unqualifizierte Arbeiter kein Interesse daran hat, sich zum
qualifizierten Arbeiter fortzubilden, und somit keine Perspektive hat vorwärts zu
kommen, sich daher im Betrieb als 'Sommerfrischler' fühlt, der nur zeitweilig arbeitet,
um 'etwas Geld zu verdienen' und dann anderweitig 'sein Glück zu versuchen'. Die
Gleichmacherei führt dazu, dass der qualifizierte Arbeiter gezwungen ist, von Betrieb
zu Betrieb zu wandern, bis er schließlich einen Betrieb findet, wo man die qualifizier-
te Arbeit gebührend zu schätzen weiß.
Daher die 'allgemeine' Wanderung aus einem Betrieb in den andern, die Fluktuation
der Arbeitskraft.
Um dieses Übel abzustellen, muss man die Gleichmacherei abschaffen und das alte
Tarifsystem zerschlagen. Um dieses Übel abzustellen, muss man ein Tarifsystem
schaffen, das dem Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit,
zwischen schwerer und leichter Arbeit Rechnung trägt. Es darf nicht geduldet werden,
dass ein Walzstraßenarbeiter in der Eisenhüttenindustrie denselben Lohn erhält wie
ein Aufräumer. Es darf nicht geduldet werden, dass ein Lokomotivführer denselben
Lohn erhält wie ein Schreiber. Marx und Lenin sagen, dass der Unterschied zwischen
qualifizierter und unqualifizierter Arbeit sogar im Sozialismus bestehen wird, sogar
nach Aufhebung der Klassen, dass dieser Unterschied erst im Kommunismus ver-
schwinden muss, dass daher auch im Sozialismus der 'Arbeitslohn' nach der Leistung
und nicht nach den Bedürfnissen bemessen werden muss. Unsere Gleichmacher unter
den Wirtschaftlern und Gewerkschaftlern sind aber damit nicht einverstanden und
glauben, dass dieser Unterschied in unserem Sowjetsystem bereits verschwunden sei.
Wer hat Recht: Marx und Lenin oder die Gleichmacher? Es ist wohl anzunehmen,
dass Marx und Lenin Recht haben. Daraus folgt aber, dass derjenige, der heute das
Tarifsystem auf den 'Prinzipien' der Gleichmacherei aufbaut, ohne den Unterschied
zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit zu berücksichtigen, mit dem Mar-
xismus, mit dem Leninismus bricht.

237
Zur Geschichte der Sowjetunion

In jedem Industriezweig, in jedem Betrieb, in jeder Abteilung gibt es führende Grup-


pen von mehr oder weniger qualifizierten Arbeitern, die man in erster Linie und
hauptsächlich dem Betrieb dauernd erhalten muss, wenn wir wirklich einen festen
Stamm von Arbeitern in den Betrieben haben wollen. Diese führenden Arbeitergrup-
pen bilden den Grundstock der Produktion. Sie dem Betrieb, der Abteilung dauernd
zu erhalten, bedeutet, dem Betrieb die gesamte Belegschaft zu erhalten und die Fluk-
tuation der Arbeitskraft an der Wurzel zu untergraben. Wie können sie aber dem Be-
trieb erhalten bleiben? Sie können nur erhalten bleiben, wenn man sie aufrücken läßt,
wenn man ihren Arbeitslohn erhöht, wenn man die Entlohnung so organisiert, dass sie
der Qualifikation des Arbeiters gerecht wird.
Was heißt aber, sie aufrücken lassen und ihren Arbeitslohn erhöhen, wie wirkt sich
das auf die unqualifizierten Arbeiter aus? Das heißt, von allem anderen abgesehen,
den unqualifizierten Arbeitern eine Perspektive eröffnen und ihnen einen Ansporn
zum Vorwärtskommen, zum Aufrücken in die Kategorie der qualifizierten Arbeiter
geben. Sie wissen selbst, dass wir jetzt Hunderttausende und Millionen qualifizierter
Arbeiter brauchen. Um aber Kader qualifizierter Arbeiter zu bekommen, muss man
den unqualifizierten Arbeitern einen Ansporn und die Aussicht auf ein Vorwärts-
kommen, auf ein Aufrücken geben. Und je kühner wir diesen Weg beschreiten wer-
den, desto besser, denn darin liegt das Hauptmittel zur Beseitigung der Fluktuation
der Arbeitskraft. Hier sparen wollen heißt ein Verbrechen begehen, heißt gegen die
Interessen unserer sozialistischen Industrie handeln. (…) Also: Die Fluktuation der
Arbeitskraft beseitigen, die Gleichmacherei ausmerzen, den Arbeitslohn richtig orga-
nisieren, die Lebensverhältnisse der Arbeiter verbessern - das ist die Aufgabe."555
An anderer Stelle führt Stalin aus: "Zweitens ist es jedem Leninisten bekannt, wenn er
wirklich ein Leninist ist, dass die Gleichmacherei auf dem Gebiet der Bedürfnisse und
der persönlichen Lebensweise ein reaktionärer, kleinbürgerlicher Unsinn ist, der ir-
gendeiner primitiven Sekte von Asketen, aber keiner marxistisch organisierten sozia-
listischen Gesellschaft würdig ist, denn man kann nicht verlangen, dass alle Menschen
die gleichen Bedürfnisse und den gleichen Geschmack haben, dass alle Menschen in
ihrer persönlichen Lebensweise sich nach ein und demselben Muster richten. Und
schließlich: Besteht denn unter den Arbeitern kein Unterschied sowohl in den Bedürf-
nissen als auch in der persönlichen Lebensweise? (…) Diese Leute glauben offenbar,
dass der Sozialismus die Gleichmacherei, die Gleichstellung, die Nivellierung der
Bedürfnisse und der persönlichen Lebensweise der Mitglieder der Gesellschaft forde-
re. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass eine solche Annahme mit dem Mar-
xismus, mit dem Leninismus nichts gemein hat.

555
STALIN, "Neue Verhältnisse - neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus, Werke Band 13,
S. 41

238
Zur Geschichte der Sowjetunion

Unter Gleichheit versteht der Marxismus nicht Gleichmacherei auf dem Gebiet der
persönlichen Bedürfnisse und der Lebensweise, sondern die Aufhebung der Klassen,
das heißt a) die gleiche Befreiung aller Werktätigen von der Ausbeutung, nachdem
die Kapitalisten gestürzt und expropriiert sind; b) die gleiche Abschaffung des Privat-
eigentums an den Produktionsmitteln für alle, nachdem die Produktionsmittel zum
Eigentum der gesamten Gesellschaft geworden sind; c) die gleiche Pflicht aller, nach
ihren Fähigkeiten zu arbeiten, und das gleiche Recht aller Werktätigen, hierfür nach
ihrer Leistung vergütet zu werden (sozialistische Gesellschaft); d) die gleiche Pflicht
aller, nach ihren Fähigkeiten zu arbeiten, und das gleiche Recht aller Werktätigen,
hierfür nach ihren Bedürfnissen versorgt zu werden (kommunistische Gesellschaft).
Dabei geht der Marxismus davon aus, dass der Geschmack und die Bedürfnisse der
Menschen der Qualität oder Quantität nach weder in der Periode des Sozialismus
noch in der Periode des Kommunismus gleich sind oder gleich sein können. Das ist
die marxistische Auffassung von der Gleichheit. Eine andere Gleichheit erkannte und
erkennt der Marxismus nicht an.
Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Sozialismus die Gleichmacherei, die
Gleichstellung, die Nivellierung der Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft, die
Nivellierung ihres Geschmacks und ihrer persönlichen Lebensweise fordere, dass
nach dem Plan der Marxisten alle die gleichen Kleider tragen und die gleichen Spei-
sen in der gleichen Menge essen müssen, heißt Plattheiten reden und den Marxismus
verleumden. Es ist Zeit, sich darüber klar zu werden, dass der Marxismus ein Feind
der Gleichmacherei ist. Schon im 'Manifest der Kommunistischen Partei' geißelten
Marx und Engels den primitiven utopischen Sozialismus und nannten ihn reaktionär,
weil er einen 'allgemeinen Asketismus und eine rohe Gleichmacherei' propagierte.
Engels unterzog in einem ganzen Kapitel seines 'Anti-Dühring' den 'radikal gleichma-
cherischen Sozialismus', der von Dühring im Gegensatz zum marxistischen Sozialis-
mus vertreten wurde, einer geißelnden Kritik. 'Der wirkliche Inhalt der proletarischen
Gleichheitsforderung', sagte Engels, 'ist die Forderung der Abschaffung der Klassen.
Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft notwendig ins Absurde'.
Dasselbe sagt Lenin: 'Engels hatte tausendmal recht, als er schrieb: der Begriff der
Gleichheit, der nicht die Abschaffung der Klassen bedeutet, ist ein äußerst dummes
und unsinniges Vorurteil. Die bürgerlichen Professoren versuchten uns wegen des
Gleichheitsbegriffs der Absicht zu überführen, die Menschen einander gleichmachen
zu wollen. Diesen Unsinn, den sie selbst ausgeheckt haben, versuchten sie, den Sozia-
listen vorzuwerfen. In ihrer Unwissenheit wussten sie jedoch nicht, dass die Sozialis-
ten - und gerade die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx
und Engels - erklärt haben: Die Gleichheit ist eine leere Phrase, wenn man unter
Gleichheit nicht die Abschaffung der Klassen versteht. Wir wollen die Klassen ab-
schaffen, in diesem Sinne sind wir für die Gleichheit. Aber den Anspruch erheben,

239
Zur Geschichte der Sowjetunion

dass wir alle Menschen einander gleichmachen werden, ist eine hohle Phrase und die
dumme Erfindung eines Intellektuellen.' (Rede Lenins, 'Wie das Volk mit den Losun-
gen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird', Bd. XXIV, S. 293/294)
Das ist wohl klar. Die bürgerlichen Schriftsteller stellen mit Vorliebe den marxisti-
schen Sozialismus als eine alte zaristische Kaserne dar, wo alles dem Prinzip der
Gleichmacherei unterworfen ist. Aber die Marxisten können nicht für die Unwissen-
heit und den Stumpfsinn der bürgerlichen Schriftsteller verantwortlich gemacht wer-
den (...) Jedem Leninisten ist bekannt, wenn er wirklich ein Leninist ist, dass die
Gleichmacherei auf dem Gebiet der Bedürfnisse und der persönlichen Lebensweise
ein reaktionärer, bürgerlicher Unsinn ist, der irgendeiner Sekte von Asketen, aber
keiner sozialistischen Gesellschaft würdig ist, denn man kann nicht verlangen, dass
alle Menschen die gleichen Bedürfnisse und den gleichen Geschmack haben, dass alle
Menschen in ihrer persönlichen Lebensweise sich nach ein und demselben Muster
richten... Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass bei einzelnen Parteimitgliedern
dieser Wirrwarr in den Anschauungen und die Begeisterung für die gleichmacheri-
schen Tendenzen der landwirtschaftlichen Kommunen wie ein Ei dem anderen den
bürgerlichen Anschauungen unserer ultralinken Toren gleichen, bei denen die Ideali-
sierung der landwirtschaftlichen Kommunen eine Zeitlang so weit ging, dass sie sogar
in den Industriewerken und Fabriken Kommunen zu schaffen versuchten, wo die
qualifizierten und unqualifizierten Arbeiter, jeder in seinem Beruf arbeitend, den
Arbeitslohn zusammenlegen und dann untereinander gleichmäßig aufteilen sollten. Es
ist bekannt, welchen Schaden diese kindischen gleichmacherischen Übungen der
'linken' Toren unserer Industrie zugefügt haben." 556
Diese Aussagen Stalins, der sich auf Marx, Engels und Lenin stützt, zeigen die Grün-
de für die Lohnunterschiede. Sie lagen primär in den Unterschieden zwischen qualifi-
zierter und unqualifizierter Arbeit, dem Unterschied zwischen körperlicher und geis-
tiger Arbeit, der Notwendigkeit einer Motivation für die Steigerung der Arbeitspro-
duktivität etc. Desweiteren hebt Stalin hervor, was Kommunisten eigentlich unter
Gleichheit verstehen. Diese Maßnahmen der Sowjetregierung werden gerne von man-
chen Ultralinken als Verrat empfunden. Doch hatten die geforderten Unterschiede in
der Bezahlung von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften durchaus ihre
Berechtigung. Es kamen sehr häufig Fälle vor, dass ein Vorarbeiter, der sich um die
Organisation des Arbeitsablaufs kümmerte, weit weniger verdiente als ein Facharbei-
ter oder eine ungelernte Arbeitskraft. So verdiente ein Vorarbeiter vor 1931 225-230
Rubel, ein Facharbeiter aber 300 Rubel im Monat. Das führte dazu, dass sich viele
Arbeitskräfte nicht zum Vorarbeiter oder in andere hochqualifizierte Berufe hochar-

556
STALIN, "Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag der KPdSU(B) über die Arbeit des
ZK, Band 13, S. 199 - 200

240
Zur Geschichte der Sowjetunion

beiten wollten. Dies hätte jedoch wiederum zu einer Senkung der Produktivität und
einer Hemmung der Produktivkraftentwicklung geführt, was eine Stagnation des
Industrialisierungsprozesses zur Folge gehabt hätte. 557
Inkeles (1950) erwähnt, dass nach Lenin die Ungleichheit im Sozialismus noch exis-
tiere und diese auch vom Staat verteidigt werde. Jedoch gehe Lenin in "Staat und
Revolution" davon aus, dass das Gehalt der Amtspersonen denen der Facharbeiter
gleichen solle. Die Industrialisierung in der Sowjetunion habe jedoch die Lohnunter-
schiede stärker ausgedrückt.558 Dabei ist jedoch zu erwähnen, dass Lenin sein Buch
„Staat und Revolution“ als Verteidigung der Staatslehre von Marx und Engels gegen
ihre Verfälscher schrieb. Hier bezieht sich Lenin im Wesentlichen auf allgemeine
Grundsätze des sozialistischen Staates und geht von einem idealen Zustand aus mit
einer hochentwickelten Industrie und entsprechender Verwaltung. Natürlich stützt
sich Lenin auf die Erfahrungen der Pariser Kommune. Diese aber existierte nur sehr
kurz und fand in einem hochentwickelten Land statt. Die Erfahrungen der Sowjet-
macht konnte Lenin diesbezüglich gar nicht in seine Arbeit integrieren, da eben diese
Erfahrungen noch nicht vorlagen. Die im Kapitel über Lenins Positionen zur Bürokra-
tie zitierten Textstellen beweisen jedoch, dass die Erfahrungen der Verwaltungslei-
tung, Bürokratie, Bildungsstand der Arbeiterklasse sowie der technischen Rückstän-
digkeit der jungen Sowjetmacht nicht mit jenen der Pariser Kommune vergleichbar
sind. Die Phase der Industrialisierung und der Fünfjahrespläne seit Ende der 20er
brachten weitere Erkenntnisse und daraus resultierende Konsequenzen.
Es wirkt daher wie dogmatische Buchstabengläubigkeit, wenn "linke" Gegner der
Sowjetunion diese Textstellen Lenins aus "Staat und Revolution" zitieren und den
gesamten historischen Kontext außer Acht lassen, um zu "beweisen", dass die Sow-
jetunion nicht sozialistisch war. Stalin schreibt hierzu in seinem Rechenschaftsbericht
vom XVIII Parteitag 1939:
"Aber wir können und müssen von den Marxisten-Leninisten unserer Zeit verlangen,
daß sie sich nicht darauf beschränken, einzelne allgemeine Sätze des Marxismus aus-
wendig zu lernen, sondern daß sie in das Wesen des Marxismus eindringen, daß sie
lernen, den Erfahrungen des zwanzigjährigen Bestehens des sozialistischen Staates in
unserem Lande Rechnung zu tragen, daß sie schließlich lernen, gestützt auf diese
Erfahrungen und ausgehend vom Wesen des Marxismus, die einzelnen allgemeinen
Sätze des Marxismus zu konkretisieren, zu präzisieren und zu verbessern. Lenin
schrieb sein berühmtes Buch 'Staat und Revolution' im August 1917, das heißt, einige
Monate vor der Oktoberrevolution und der Schaffung des Sowjetstaates. Die Haupt-

557
WEBB, S., WEBB B. (1937), Band 2, S. 714
558
INKELES (1950), S. 477 - 478, LENIN, Staat und Revolution, LW 25, S. 432-433

241
Zur Geschichte der Sowjetunion

aufgabe dieses Buches sah Lenin in der Verteidigung der Lehre von Marx und Engels
vom Staat gegen die Entstellung und Verflachung seitens der Opportunisten. Lenin
beabsichtigte, einen zweiten Teil von 'Staat und Revolution' zu schreiben, in dem er
die Hauptlehren aus den Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und 19 17
ziehen wollte: Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Lenin die Absicht hatte, im
zweiten Teile seines Buches, gestützt auf die Erfahrungen der Sowjetmacht in unse-
rem Lande, die Theorie des Staates auszuarbeiten und weiterzuentwickeln. Doch
hinderte ihn der Tod an der Erfüllung dieser Aufgabe. Was Lenin aber nicht mehr zu
vollbringen vermochte, das müssen seine Schüler tun. (Stürmischer Beifall.)"559
Stalin stand mit seinen Positionen keineswegs isoliert da. Der Soziologe Schkaratan
bekräftigt Stalins Argument, ohne ihn zu erwähnen, auch noch in den 70ern: "Wenn
der Sozialismus das Privateigentum liquidiert, eliminiert er damit die Konsequenzen
des Privateigentums - die antagonistischen Klassen - aber er eliminiert nicht den ur-
sprünglichen Grund sozialer Ungleichheit: der Arbeitsteilung in sozial heterogene
Typen. Diese Aufgabe, dessen Lösung eine viel längere Zeit in Anspruch nimmt, ist
eine Angelegenheit für den Übergang zum vollen Kommunismus. Es benötigt, wäh-
rend der Phase des Sozialismus, die planmäßige Regulation der sozialen Verhältnisse
und der Ausarbeitung von Methoden für eine bewusste Lösung der bestehenden sozia-
len Widersprüche zwischen den Menschengruppen, die in sozial heterogener Arbeit
beschäftigt sind. Diese Transformation sozialer Verhältnisse, verbunden mit den Ver-
änderungen der Produktivkräfte setzt sich fort durch qualitative Veränderungen in der
Arbeitsteilung, die die gesamte Gesellschaft erfassen."560
"(…), wenn die Arbeitsteilung zur Grundlage der Existenz innerhalb von Schichten
einer Klasse wird, ist die soziale Differenzierung an die verschiedenen Ebenen der
Qualifikation gekoppelt. Aber auch hier wird diese Koppelung durch das System der
Eigentumsverhältnisse vermittelt. Im Kapitalismus drückt sich dies in den Unter-
schieden der Menge des geschaffenen Mehrwertes aus und im Sozialismus in der
ungleichen Verwendung der Produktionsmittel." 561
Der Soziologe Mokronosov merkt an: "Wir behaupten, dass der Grad der Mechanisie-
rung, die Schaffung günstiger Arbeitsbedingungen und die Möglichkeiten für Ände-
rungen in der Tätigkeit (…) die Basis für die Differenzierung der Klassen und sozia-
len Gruppen in einer sozialistischen Gesellschaft sind."562

559
STALIN: Rechenschaftbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU
(B), 10. März. 1939: Band 14, S. 123 - 126
560
SCHKARATAN (1970A/1973), S. 11 - 12
561
SCHKARATAN (1970A/1973), S. 16
562
MOKRONOSOV (1967/1973), S. 22

242
Zur Geschichte der Sowjetunion

Und der Soziologe Volkov erwähnt, dass "in der niederen Phase des Kommunismus
[dem Sozialismus - M. K.] signifikante Unterschiede zwischen geistiger und körperli-
cher Arbeit" bestehen.563

4.2. Lohnunterschiede in der Sowjetunion


Wie drückten sich nun diese Lohnunterschiede aus? Leider liegen zur Stalin-Ära
kaum Informationen vor, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Soziologie als wissen-
schaftliche Disziplin erst in den 1960er Jahren etablierte. Doch verschiedene, oftmals
antikommunistische, Quellen geben zumindest einige Indizien. Da es in der Geschich-
te der Sowjetunion mehrere Geldreformen gab (z. B. 1947), sollte nicht verwunder-
lich sein, dass sich konkrete Zahlen unterscheiden.
Innerhalb eines Wirtschaftszweiges gab es unterschiedliche Lohntarife. In der Kohle-
Industrie gab es z. B. für die Arbeiter elf Lohnstufen. Der Lohn wurde von Lohnstufe
zu Lohnstufe progressiv größer. Erhielt man beispielsweise in Lohnstufe eins 1,60
Rubel täglich, waren es in Lohnstufe zwei 1,75 Rubel täglich, also eine Steigerung
von 9% (0,15 Rubel). Andererseits betrug der Unterschied zwischen Lohnstufe neun
und zehn 21 % (5,75 Rubel zu 7 Rubel, also ein Unterschied von 1,25 Rubel oder
21%).564
In der Maschinenbauindustrie gab es beispielsweise acht Grundlöhne, die alle Arbei-
ter, von den Auszubildenden bis zu den Facharbeitern, einschlossen. Die meisten
wurden nach dem Prinzip der progressiven Akkordarbeit bezahlt. Jeder Arbeiter hatte
eine bestimmte Norm zu erfüllen, für die er seinen Grundlohn erhielt. Die Norm rich-
tete sich nach der durchschnittlichen Arbeitszeit, die ein Arbeiter benötigte, um eine
gewisse Menge eines Produktes herzustellen. Wenn beispielsweise der Preis für eine
bestimmte Einheit ein Rubel war und die Norm auf zehn Einheiten festgelegt wurde,
erhielt der Arbeiter bei Erfüllung der Norm zehn Rubel. Wenn er seine Norm über-
füllte, erhielt er nicht nur einen größeren Lohn, sondern einen Zuschlag. Wenn ein
Arbeiter beispielsweise elf Einheiten produzierte (also eine Einheit über der Norm),
so erhielt er nicht 11 Rubel, sondern 11,35 Rubel. Je höher die Normüberfüllung,
desto höher der Zuschlag: Wurden 15 Einheiten erfüllt, lag der Lohn bei 22,50 Rubel
(also 7,50 Rubel Zuschlag). Erhöhte man die Norm um 25%, erhielt man einen Zu-
schlag von 100%, wurde die Norm um mehr als 25% erhöht, erhöhte sich der Zu-
schlag auf 200%. Ziel dieses progressiven Akkordsystems war es, die Arbeitsproduk-
tivität zu steigern.565

563
VOLKOV, IU. E. (1965/1973), S. 52
564
BAYKOV, A. (1948), S. 228
565
HANNINGTON, W. (1947), S. 18

243
Zur Geschichte der Sowjetunion

Auch die Metall-Industrie hatte für die Arbeiter acht Lohnstufen entwickelt. Der
Lohnunterschied betrug dabei zwischen der niedrigsten und der höchsten Kategorie 1:
2,8.566 Sollte ein Arbeiter seine Normen nicht überfüllen können, bekam er das ent-
sprechende Grundgehalt. Konnte ein Arbeiter aufgrund nicht selbst verschuldeter
Probleme seine Norm nicht erfüllen, standen ihm 2/3 des Grundlohns zu.567 Das
Lohnsystem war so ausgerichtet, dass Arbeiter in den unteren Lohnkategorien sich in
höhere hocharbeiten konnten.568
Das progressive Akkordsystem hatte seit der sog. Stachanow-Bewegung569 1935
seinen Höhepunkt. Das Kapitel über die Stachanow-Bewegung wird zeigen, dass eine
Erfüllung oder Überfüllung der Normen für die meisten Arbeiter kein Problem dar-
stellte.570 Wenn man sich die Grundlöhne der Maschinenbauindustrie ansieht, so
reichten sie Ende der 1940er von 217 Rubel (Lohnstufe 1) bis 595 Rubel (Lohnstufe
8).571 Aufgrund des progressiven Akkordsystems konnten aber Arbeiter deutlich mehr
verdienen. Ein Arbeiter der Lohnstufe 5 verdiente z. B. in einem Monat 900 Rubel,
eine Arbeiterin der Lohnstufe 6 1.300 Rubel. So hatten einzelne Fabriken einen
Durchschnittslohn von 750 Rubel im Monat.572 Es war keine Seltenheit, dass einzelne
Arbeiter so auch über 2000 Rubel im Monat verdienen konnten. Selbst, nachdem die
Normen 1936 erhöht wurden, waren monatliche Einkommen von 1.300 bis 1.900
Rubel keine Seltenheit.573
Man musste aber kein Stachanowarbeiter sein, um hohe Löhne zu erhalten. Arbeiter
in Kohlebergwerken konnten 600 bis 700 Rubel erhalten, ohne als Stachanowarbeiter
eingestuft zu werden. Die Löhne in anderen Industrien waren jedoch niedriger. So
bekamen Stachanow-Arbeiterinnen in der Textilindustrie selten mehr als 400 Rubel
monatlich.574 Diese Unterschiede vom Grundgehalt durch Zusatzleistungen sollten
bedacht werden, wenn man die Löhne der Arbeiter mit anderen Lohngruppen ver-
gleicht. Es passierte sogar nicht selten, dass Arbeiter mehr verdienen konnten als z.B.
Vorarbeiter. Das Grundgehalt der Vorarbeiter betrug 1940 zwischen 500 und 1100

566
WEBB & WEBB, (1937), S. 711
567
DOBB, M. (1942), S. 84
568
DOBB, M. (1942), S. 85, WEBB & WEBB (1937), S. 712
569
Die Stachanowbewegung, benannt nach dem Kohle-Bergwerkarbeiter Alexej Stachanow,
war eine Massenbewegung sowjetischer Arbeiter, welche durch neue, eigens ausgedachte
Methoden, die Normen erhöhte.
570
Vgl. Auch KUBI, M. (2015), S. 148 ff, THURSTON, R. (1996), S. 172 ff, SIEGELBAUM, L.
(1988)
571
HANNINGTON, W. (1947), S. 20
572
HANNINGTON, W. (1947), ebenda
573
SIEGELBAUM (1988), S. 185
574
SIEGELBAUM (1988), S. 185, 186

244
Zur Geschichte der Sowjetunion

Rubel. Das Grundgehalt aller Arbeiter (ohne Zuschläge) lag 1940 zwischen 200 und
300 Rubel.575 Diese relativ niedrige Zahl erklärt sich unter anderem daraus, dass a)
die Zuschläge nicht mit eingerechnet wurden und b) es eine noch relativ große Anzahl
ungelernter Arbeiter und Auszubildender gab, die in die niederen Lohnkategorien
fielen. Ingenieure und Techniker erhielten 1935 durchschnittlich 436 Rubel, und kurz
vor dem zweiten Weltkrieg lag das Gehalt bei 550 Rubel. Lehrer in Sekundärschulen
erhielten zwischen 300 und 600 Rubel, Lehrkräfte in Universitäten zwischen 700 und
900 Rubel, Professoren zwischen 1000 und 1500 Rubel, einige hoch angesehene
Wissenschaftler über 2500 Rubel.576 Es sollte erwähnt werden, dass auch Betriebsdi-
rektoren, Ingenieure und Vorarbeiter bei Übererfüllung des Plans oder guten Leistun-
gen einen Bonus erhielten.
Dabei ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Tätigkeit in einer "bürokrati-
schen Institution" automatisch ein höheres Gehalt ermöglichte. Als wunderbares Bei-
spiel kann der Gosplan, also die staatliche Planungsbehörde in der Sowjetunion, her-
halten. In den Bezirksplanungsbehörden, also den unteren Planungsebenen des Gos-
plan, betrugen 1934 die Gehälter der Ökonomen der Planungskomitees zwischen 150
und 180 Rubel im Monat, in der zentralen statistischen Verwaltung lagen sie zwi-
schen 180 und 225 Rubel im Monat, in den Handelszentren von 275 bis 350 Rubel
pro Monat, sowie von 300 bis 400 Rubel im Monat in den Maschinen- und Traktoren-
stationen. Der Durchschnittslohn bei ökonomischen wie nicht-ökonomischen staatli-
chen Verwaltungen betrug 224,50 Rubel. Zwischen 1934 und 1941 wurden die Gehäl-
ter im Zuge der Lohnerhöhungen angehoben. So wurden in den 37 größten Bezirken
Westsibiriens die Gehälter von 170 bis 180 Rubel auf 300 bis 310 Rubel erhöht. 577
Als Vergleich gibt Tony Cliff, der den Staatskapitalismus in Russland "beweisen"
will (seine theoretischen "Glanzleistungen" werden weiter unten behandelt), die Löh-
ne von 1937 für Betriebsingenieure mit 1500 Rubel, bei Betriebsdirektoren mit 2000
Rubel im Monat an. Der Lohn für einen Facharbeiter betrug 200 bis 300 Rubel, der
Mindestlohn wurde für Akkordarbeiter mit 115 Rubel, für Zeitarbeiter mit 110 Rubel
festgesetzt. Eine verschwindend geringe Zahl von herausragenden Künstlern (ganze
14!) erhielten mehr als 10.000 Rubel im Monat, elf weitere zwischen 6.000 und
10.000 Rubel und etwa 4000 Schriftsteller erhielten bis zu 500 Rubel im Monat. 578

575
DOBB, M. (1966), S. 467
576
DOBB, M. (1966), ebenda
577
ZALESKI, E. (1980), S. 54 – 55 + Fußnote 57
578
CLIFF, T. (1955) https://www.marxists.org/deutsch/ archiv/cliff/1955/staatskap/tc_sk01-
d.htm#s14

245
Zur Geschichte der Sowjetunion

Der Stalinfeind und Trotzkist Wadim Rogowin will in seinem Werk "Stalins Neo-
NÖP" die "Privilegien" der sowjetischen Bürokratie nachweisen. In seinem 34. Kapi-
tel579 zitiert er einige Beispiele, welche Privilegien die "Parteibürokraten" angeblich
genossen hätten. Diese hätten von "Luxusgütern", höheren Gehältern bis zu Bediens-
teten gericht. Doch ein Blick auf seine Quellen verrät, dass diese ausschließlich aus
sowjetischen Zeitungsartikeln aus der Gorbatschow-Zeit stammen, also einem Zeit-
raum, in dem es typisch war, alle möglichen Gerüchte gegen Stalin, die Sowjetunion
und den Sozialismus zu verbreiten. Eine weitere Quelle Rogowins ist der ehemalige
NKWD-Agent Alexander Orlow, der Ende der 30er Jahre in die USA geflohen ist.
Seine Werke und Aussagen sind nichts weiter als antikommunistische Verleumdun-
gen, die durch keine Belege und Dokumente gestützt werden. 580 Dasselbe gilt auch für
Rogowins dritte wichtige Quelle, nämlich Trotzki selbst, der als wissenschaftliche
Autorität von diesem gefeiert und an jeder erdenklichen Stelle als wahrheitsgetreue
Autorität zitiert wird. Dabei wurde schon weiter oben die Vertrauenswürdigkeit von
Trotzkis Aussagen in Frage gestellt. Statistiken fehlen bei Rogowin, doch auch er
konnte keine Zahlen nennen, die größer sind, als die des Trotzki-Anhängers Tony
Cliff.581
Ein Interview der 4. Internationale aus dem Jahr 1945 mit einem sowjetischen Arzt,
der nach dem 2. Weltkrieg die Sowjetunion verließ, gibt folgende Lohntabelle 582:
Tab. 1: Monatslöhne einzelner Berufsgruppen 1945 nach Vierte Internationale
(1945):
Buchdrucker 200 - 300 Rubel im Monat
Chauffeur 300 - 600 Rubel im Monat
Handwerker 350 Euro im Rubel
Bedienung 180 Rubel im Monat + Trinkgeld
Hausbedienstete 120 - 150 Rubel im Monat
Hochschulabsolvent als Arzt Durchschnittlich 350 Rubel im Monat
Bürokrat 300 Rubel im Monat und mehr
Lehrer 200 - 300 Rubel im Monat
Professor der Medizin 3000 Rubel im Monat und mehr

579
ROGOWIN, W. (2000), S. 251 f
580
Zu Goratschows Antikommunistischer Propaganda, siehe KEERAN & KENNY (2010), Kapitel
5 und 6. Alexander Orlow war u. a. dafür bekannt, dass er das Gerücht verbreitete, Stalin habe
die Ermordung des Leningrader Parteiführers Sergej Kirow geplant; ein Gerücht welches längst
widerlegt wurde; vgl. auch GETTY, J. A. (1993), S. 40 - 64
581
Vgl. ROGOWIN (2000): S. 262, 270, 278
582
VIERTE INTERNATIONALE (1945), S. 177 - 181 https://www.marxists.org/history/
etol/newspape/fi/vol06/no06/soviet.htm

246
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wir sehen also auch hier, dass die 4. Internationale, der man sicherlich nicht vorwer-
fen kann, ein Freund Stalins und der Sowjetunion zu sein, keine sehr großen Lohnun-
terschiede zwischen den Berufen ausmachen kann. Man beachte vor allem das Ver-
hältnis der Bürokraten zu "proletarischen" Berufen wie Handwerker und Buchdru-
cker.
Es gibt jedoch weitere zuverlässigere Angaben: 1938 waren die Gehälter der Ingeni-
eure und Techniker auf maximal (!) 1400 bis 2000 Rubel monatlich festgelegt. 583
David Granick bemerkt z. B., dass Ende der 50er Jahre Arbeiter durchschnittlich 700
- 800 Rubel verdienten, während Betriebsdirektoren 3000 Rubel inklusive eines Bo-
nus von 1500 - 1600 Rubel erhielten.584 Alexander Baykov erstellt folgende Tabelle
für das jährliche Einkommen der Jahre 1937 und 1942:585
Tab. 2: jährliche Durchschnittslöhne in der Industrie nach Baykov (1948), S. 349
1937 1942 % 1942 im Vergleich zu 1937
Arbeiter 2.820 4.050 144%
Ingenieure/Techniker 6.533 8.360 128%
Angestellte 3.471 4.000 115,2%
An anderer Stelle gibt Baykov ein detaillierteres Bild der Löhne:

Tab. 3: Jährliche Durchschnittslöhne der Arbeiter und Angestellten in der In-


dustrie (in Rubel) nach Baykov (1948), S. 343586
1932 1937 1937 in % Plan für 1942 als
von 1932 1942 % v. 1937
Alle Branchen der Wirtschaft 1427 3047 213,5% 4100 136%
Davon:
Industrie 1.434 3005 209.5% 4166 138,7%
Bau 1.507 3087 204,8% 4285 138,8%
Bahn 1463 3271 223,6% 4187 128%
Schifffahrt 1384 3397 245,4% 4070 119,8%
Anderer Transport 1539 3218 209,1% 4119 128%
Kommunikation 1333 2356 176,7% 3440 146%
Handel 1351 2528 187,1% 3109 123%

583
BAYKOV (1948), S. 342
584
GRANICK, D. (1960), S. 41
585
BAYKOV (1948), S. 349
586
BAYKOV (1948), S. 343

247
Zur Geschichte der Sowjetunion

Ernährung 1059 2045 193,1% 2761 135%


Bankwesen 1834 3425 186,8% 4020 117,4%
Erziehung 1633 3442 210,8% 5034 146,3%
Künste 1989 3757 188,9% 5072 135%
Gesundheitswesen 1248 2455 196,7% 3435 139,9%
Staatliche Institutionen 1941 3937 202,8% 4500 114,3%
Häusliche und kommunale 1409 2306 163,7% 3113 135%
Dienstleistungen
Andere Branchen außer Land- 828 1241 148,7% 1416 114,1%
wirtschaft
Landwirtschaft* 866 2121 244,9% 2863 135%
Forstwirtschaft 916 1920 209,5% 2250 117,2%
* nur Arbeiter und Angestellte, die einen Lohn vom Staat oder den Kollektivwirt-
schaften erhielten, Einkommen aus Privatwirtschaft nicht mit einbezogen
Aus diesen Zahlen wird einiges deutlich. Wenn wir uns Tabelle 3 zur Hand nehmen,
werden wir feststellen, dass die Lohnerhöhungen 1937 im Vergleich zu 1932 beson-
ders im Bereich der Industrie und vor allem der Landwirtschaft am höchsten waren.
Die geplanten Zuwächse für 1942 waren moderater und gleichmäßiger verteilt, in
Industrie und Landwirtschaft jedoch höher. 1932 verdiente man in der Kunstbranche
am meisten, in der Landwirtschaft am wenigsten. Der Unterschied betrug in etwa
1:2,3. 1937 reduzierte sich dieser Unterschied auf 1:1,8 und sollte für den Plan für
1942 in etwa gleich bleiben. Die Löhne für Industrie, Bau und Transport näherten sich
dabei denen der Künstler, Erzieher und staatlichen Institutionen an. Aus Tabelle 2
wird nicht ersichtlich, wie sich die Unterschiede innerhalb einer Wirtschaftsbranche
gestalteten. Dennoch liefert Tabelle 2 ein klares Bild: Der Zuwachs der Durch-
schnittslöhne war bei Arbeitern am höchsten. Betrug der Unterschied 1937 zwischen
Arbeitern und Ingenieuren 1:2,3, reduzierte er sich 1942 auf 1:2,06. Dieses Verhältnis
wird auch von anderen Autoren bestätigt. Laut David Lane und Felicity O'Dell ver-
dienten Ingenieure 1932 2,6 mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter, Büroange-
stellte 1,5 mal so viel. 1972 verdienten Ingenieure durchschnittlich nur noch 1,3 mal
so viel wie Arbeiter, während Büroangestellte nur 83% des Gehaltes eines Arbeiters
verdienten. Diese Zahlen verdeutlichen einen Trend in Richtung einer Angleichung
der Löhne zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen. 587 Szymanski kommen-
tiert:

587
LANE, D., O'DELL, F. (1978), S. 82, vgl. auch LANE (1985), S. 402, YANOWITCH, M. (1962),
S. 688

248
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Am höchsten bezahlt waren Ingenieure und Techniker in der Industrie, die 1973
durchschnittlich 1,27 mal so viel verdienen wie Arbeiter in der Industrie. 1973 waren
sie die einzige Gruppe die mehr verdienten als Arbeiter in der Industrie. Die Spann-
weite zwischen den am höchsten und am wenigsten bezahlten Gruppen war 2,1 mal,
während sie 1965 3,0 mal war. Der acht Jahre andauernde Trend von 1965 bis 1973
zeigt eine klare Tendenz, dass die am höchsten bezahlten Berufe im Jahr 1965 die
geringsten Lohnzuwächse hatten, während die am wenigsten bezahlten Berufe die
höchsten Lohn-Wachstumsraten hatten. Die wichtigste Ausnahme waren die Arbeiter
in der Industrie, die 1965 relativ gut bezahlt wurden, aber dennoch die größten Lohn-
Zuwächse von allen Gruppen, die nicht in der Landwirtschaft tätig waren, erhiel-
ten."588
1965 verdienten in der Maschinenbau-Industrie in Leningrad die höchst bezahlten
Angestellten 1,7 mal so viel wie Facharbeiter.589 In der Bau-Industrie verdienten 1969
die höchst bezahlten Manager und Spezialisten 1,4 mal so viel wie die höchst bezahl-
ten Arbeiter.590 In einigen Industrien konnten Arbeiter höhere Löhne erhalten als
Manager in anderen Industrien. 1969 verdienten beispielsweise Stahlarbeiter 145
Rubel, Holzarbeiter 143 Rubel und Kohlearbeiter 210 Rubel im Monat. Zum Ver-
gleich verdienten Ingenieure und technisches Personal in der Leichtindustrie durch-
schnittlich 138 Rubel im Monat.591
Die am höchsten bezahlten Berufe in der Sowjetunion waren die prominenter Künst-
ler, Schauspieler, Schriftsteller, Professoren und Wissenschaftler. Mitte der 60er Jahre
verdiente der Präsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften 1500 Rubel
im Monat. In den 70er Jahren verdienten führende Regierungsfunktionäre 600 Rubel
im Monat, etwa viermal so viel, wie der Durchschnittsverdienst eines Arbeiters be-
trug, und Betriebsdirektoren bis zu 400 Rubel im Monat (ohne Bonus), also etwa 2,7
mal so viel wie Arbeiter.592 1956 verdienten die oberen 10% der sowjetischen Ange-
stellten und Arbeiter 4,4 mal so viel wie die unteren 90%. 1964 war dieser Wert 3,7,
1970 3,2 und 1975 2,9.593 1956 war das Verhältnis der 10% der höchst bezahlten
Arbeiter und Angestellten und 10% der am niedrigsten bezahlten 8,1:1, 1968 5,1:1
und 1975 (Plan) 4,1:1.594

588
SZYMANSKI (1983), 586, 587
589
SCHKARATAN (1970/1973), S. 81
590
OSBORN, R. (1970), S. 176
591
YANOWITCH, M. (1977), S. 73
592
MATTHEWS, M. (1972), S. 91 - 93
593
HOUGH, J. (1976), S. 12, YANOWITCH (1977), S. 25
594
YANOWITCH (1977), S. 25

249
Zur Geschichte der Sowjetunion

Vinokur & Ofer (1986) bestätigen den Trend der Angleichung der Löhne auch für die
1970er Jahre. Sie erkennen keinen Trend einer rückläufigen Entwicklung.595 Die
Einkommen pro Haushalt waren in der Sowjetunion viel gerechter verteilt, als z. B. in
den USA. Begünstigt wurde dieser Umstand auch dadurch, dass die Sowjetunion
wesentlich mehr in die Bildung investierte, mehr Personen pro Familie arbeiteten und
die Familien generell kleiner waren, zumindest im europäischen Teil der UdSSR. 596
Auch Chapman (1977) bestätigt den Trend der Einkommensgleichheit in der Sowjet-
union,597 welches auch in den 1980ern anhielt. 598 J. Cromwell (1977) zieht den
Schluss, dass der Sozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa eine "Einkommens-
revolution" durchführte.599
Mitte der 60er Jahre betrug der sowjetische Durchschnittslohn 800 bis 900 Rubel, der
Mindestlohn betrug 300 Rubel im Monat. Die höchsten Gehälter in der Industrie
hatten Manager und Betriebsdirektoren mit 4500 bis 7500 Rubel. Letztere verdienten
also maximal das 15 bis 20-fache des Mindestlohns und 5 bis 10-fache des Durch-
schnittslohns.600 Industriearbeiter in fünf ausgewählten großen Fabriken konnten laut
Emily Clark Brown monatlich zwischen 450 und 2500 Rubel im Monat verdienen,
wobei der Durchschnittslohn bei 750 bis 1000 Rubel im Monat lag. 601 Margaret De-
war (1963) erwähnt, dass die Lohnunterschiede in der Industrie zu Beginn der 60er
Jahre maximal bei eins (Mindestlohn) zu fünfzehn (Top-Management) lagen.602
Matthews (1978) findet heraus, dass in den frühen 1970ern, bei einem Durchschnitts-
lohn von 130 Rubel, obere Parteifunktionäre 900 Rubel im Monat verdienten, repub-
likanische Minister 430 Rubel plus 195 Rubel Extras im Monat, Marschälle 2000
Rubel und ein Top-Ballett-Tänzer 900 - 1200 Rubel.603 Matthews meint, dass die
sowjetische Elite (für ihn waren dies alle, die mehr als 500 Rubel im Monat verdie-
nen) 0,2% der Arbeitskraft ausmachen, etwa 227.000 Leute. 604 Diese hätten neben
ihrem höheren Gehalt weitere Privilegien wie spezielle Geschäfte, leichteren Zugang
zu Autos und besondere Reiseprivilegien gehabt. Aber wenn man selbst diese zurech-

595
VINOKUR, A. & OFER, G. (1987), S. 192
596
VINOKUR & OFER (1987), S. 197-198
597
Z.B. CHAPMAN, J. (1977): & CHAPMAN, J. (1983)
598
ALEXEEV, M. V., & GADDY, C. G. (1993), 23-36.
599
CROMWELL, J. (1977), S. 291-309.
600
LENSKI, G. E.. (1966), S. 311
601
CLARK BROWN, E. (1962), Fußnote 16, S. 201 - 202
602
DEWAR, M. (1963), S. 222
603
MATTHEWS, M. (1978), S. 21 - 27
604
MATTHEWS (1978), S. 30 - 33

250
Zur Geschichte der Sowjetunion

net, hat man einen Lohnunterschied von 1:10 zwischen den niedrigsten und höchsten
Lohngruppen, also deutlich geringer als in den USA. 605
Dieser Trend zur Angleichung der Löhne zeichnete sich schon in den 1940er Jahren
ab. In der Studie von Murray Yanowitch "Trends in Soviet Occupational Wage Diffe-
rentials" wird gezeigt, dass Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre die Lohnunter-
schiede besonders zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern anstiegen. 606
Dies hing mit den oben erwähnten Gründen der Steigerung der Arbeitsproduktivität
zusammen. Dabei stiegen die Löhne der Facharbeiter schneller als die Löhne der
ungelernten Arbeiter.607 Im September 1946 gab es eine Revision der Lohnraten,
wobei besonders die unteren Lohnstufen eine Lohnerhöhung erhielten. Dadurch san-
ken auch die Lohnunterschiede zwischen den Qualifikationen. 608 Yanowitch kommt
zu dem Schluss, dass die Politik, die die Erweiterung der Lohnunterschiede zwischen
den Arbeitern förderte, 1946 abgeschafft und auch bis in die 50er Jahre hinein einge-
halten wurde.609 Dies sei u. a. auch darauf zurückzuführen, dass die Arbeiterklasse in
den 1940ern viel besser ausgebildet war und die Zahl der ungelernten Arbeitskräfte
stark abnahm. Durch eine besser ausgebildete Arbeiterklasse verringerten sich die
Lohnunterschiede.610 Der Trend zur Reduzierung von Lohnunterschieden habe sich
durch die Geschichte der Sowjetunion hindurch weiter fortgesetzt.
Auch David Lane bestätigt, dass es einen Trend zum Lohnausgleich seit 1940 gab. 611
Und Abram Bergson stellt in seiner Studie über die Löhne in der Sowjetunion fest,
dass die Lohnunterschiede 1928 geringer waren als im zaristischen Russland 1914.
Auch nachdem 1934 die Ungleichheit angewachsen war, war sie immer noch geringer
als 1914. Kombiniert man die Löhne der Arbeiter und die Gehälter der Angestellten
in der Verwaltung, zeigt sich eine größere Ungleichheit, als wenn man sich die Löhne
der Industriearbeiter allein ansieht. 612 Bergson sagte aber auch aus, dass die Lohnun-
terschiede in etwa so groß waren wie zwischen amerikanischen Arbeitern im Jahr
1904.613
Es ist aber ziemlich unwahrscheinlich, dass die Lohnunterschiede amerikanischer
Arbeiter zwischen 1904 und 1928 langsamer anwuchsen als in der Sowjetunion. Wir

605
MATTHEWS (1978), Kapitel 2, S. 36 f
606
YANOWITCH, M. (1960), S. 166 - 191, S. 168 - 171
607
YANOWITCH, M. (1960), S. 173
608
YANOWITCH, M. (1960), S. 182
609
YANOWITCH, M. (1960), S. 183, 186
610
YANOWITCH, M. (1960), S. 187, 189, 191
611
LANE, D. (1971), S. 73
612
BERGSON, A. (1954), S. 120 - 127
613
BERGSON, A. (1954), S. 187

251
Zur Geschichte der Sowjetunion

werden später sehen, dass nämlich unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen


sich die Lohnunterschiede grundsätzlich erweitern. Maurice Dobb fügt noch hinzu,
dass sich Bergsons Studie auf die Zeit bis 1934 beschränkte und somit die Zeit nach
dem Ende der Rationierung, die zum Ende des ersten Fünfjahresplans bestand, nicht
miteinbezog. Die Rationierung hatte zur Folge, dass die Unterschiede im Reallohn
geringer waren als die Unterschiede im Geldlohn. So sei es möglich, dass ab 1935,
nach dem Ende der Rationierung, die Ungleichheit anwuchs. Jedoch wurden ab 1935
entsprechende Anpassungen durchgeführt, die die Ungleichheit verringerten, so dass
diese 1935 geringer war als 1934, wohl aber höher als 1928. 614 1956 erwähnt Mikojan
auf dem XX. Parteitag der KPdSU:
"Während der Periode, als wir die Industrialisierung in einem bäuerlichen Land
durchführten, war diese Lücke [gemeint sind die Lohnunterschiede - M. K.] natürlich,
da es eine rapide Entstehung von hoch qualifizierten Kadern stimulierte, die das Land
so dringend nötig hatte. Jetzt, nachdem es eine hoch qualifizierte Arbeiterklasse mit
einem hohen kulturellen Niveau gibt, die jährlich aufgefrischt wird von Leuten, die
eine sieben- oder zehnjährige Schulausbildung genossen, muss der Unterschied (…)
reduziert werden. Dies geht aus dem neuen Level unserer Entwicklung hervor und
kennzeichnet einen neuen Schritt vorwärts in Richtung Kommunismus." 615

4.3. Lohnunterschiede im Kapitalismus


Aus obigen Daten lässt sich ermitteln, dass die Sowjetunion relativ egalitär war, be-
sonders im Vergleich mit den kapitalistischen Ländern. In den USA betrug 1974 das
Verhältnis der 10% der höchst bezahlten Arbeiter und Angestellten und der 10% der
am niedrigsten bezahlten 12:1. Im Jahr 1973 gab es etwa 1000 Personen, die ein Ein-
kommen von mindestens einer Million $ im Jahr hatten, während der Durchschnitts-
verdienst für Industriearbeiter bei jährlich 8500 $ lag. Wenn man von der konservati-

614
DOBB (1966), S. 466, Bergson (1954), S. 131
615
Zitiert in LANE (1985), S. 398. Es ist offensichtlich, dass der XX. Parteitag ein Wendepunkt
in der Geschichte der Sowjetunion darstellt. Der "Wunsch" in Richtung Kommunismus so
schnell wie möglich voranzukommen war nicht nur verfrüht. Durch Erweiterung sozialer Maß-
nahmen mit gleichzeitiger Verleumdung Stalins sollte das sowjetische Volk hinter den wahren
Motiven der Chruschtschow-Revisionisten, dessen Unterstützer Mikojan ebenso war, abgelenkt
werden. Nichtsdestotrotz ist der verstärkte Hinweis auf die Reduzierung der Lohnunterschiede
eine natürliche Entwicklung im Sozialismus (der ja auch schon zu Stalins Zeiten stattfand) und
gibt einen Hinweis darauf, dass die Theorie eines Kapitalismus in der UdSSR nach 1956 absurd
ist.

252
Zur Geschichte der Sowjetunion

ven Schätzung ausgeht, dass diese 1000 Leute ein Einkommen von nur genau einer
Million $ hatten, verdienten diese 115 mal so viel wie ein Durchschnittsarbeiter. 616
Wiles und Markowski (1971) kommen, nachdem sie die Einkommen in kapitalisti-
schen und sozialistischen Staaten verglichen hatten, zu dem Schluss, dass "der Kapi-
talismus extrem reiche Leute mit einer großen Menge Kapital [erzeugt] und dies ist
der hervorstechendste Unterschied [zwischen der Einkommensverteilung im Kommu-
nismus und Kapitalismus]".617
Lenski (1966) stellt z. B. fest, dass, wenn man außer den Gehältern und Löhnen auch
andere Einkünfte mit einbezöge, (also den privat angeeigneten Mehrwert), die ganz
Reichen etwa das 7000fache (Siebentausendfache!) eines amerikanischen Durch-
schnittslohnes verdienen und etwa das 11.000fache des Mindestlohns. Diese mittler-
weile 50 Jahre alte Statistik dürfte bei heutigen Verhältnissen in den kapitalistischen
Ländern ebenso eine konservative Rechnung sein. Die sowjetischen Daten betrugen
nach diesem Autor lediglich das 100fache vom Durchschnittslohn und das 300fache
vom Mindestlohn.618 Diese Zahlen für die Sowjetunion sind bei dem Autor außerge-
wöhnlich hoch, verglichen mit den oberen Daten, die einen maximalen Lohnunter-
schied von 1:20 darstellen. Auf das 300fache vom Mindestlohn kommt Lenski, weil
er einer Behauptung aus Klaus Mehnerts Buch "Soviet Man and His World" (1961)
entnahm, dass einige Personen in der Sowjetunion im Jahr 1 Mio. Rubel verdien-
ten.619 Mehnert liefert für diese Aussage jedoch keine Beweise, wodurch ernste Zwei-
fel angebracht sein dürfen. Doch selbst wenn diese Aussage stimmen sollte, wäre ein
solcher Verdienst deutlich geringer als in den kapitalistischen Ländern. Anders hinge-
gen Lenskis Angaben bezüglich der Lohnverhältnisse im Kapitalismus. Seine Be-
rechnung des Unterschiedes von 1:11.000 basieren auf Angaben US-amerikanischer
Zeitungen und Bücher, wie der "Washington Post", "Newsweek", "The Big Business
Executive" und "United States News and World Report", über die Millionengehälter
von Top-Managern.620
Untersucht man Lenskis Publikation weiter, fällt eine weitere Ungereimtheit auf.
Lenski behauptet, dass in den Industriegesellschaften die Ungleichheiten verglichen
mit den feudalen Agrargesellschaften geringer wurden. 621 Unter einer "Industriege-

616
SZYMANSKI (1983), S. 588
617
WILES, P. J. D., MARKOWSKI, S. (1971), S. 334
618
LENSKI, G. E.. (1966), S. 312 - 313
619
LENSKI (1966), Ebenda, vgl. auch: MEHNERT, K. (1961), S. 24
https://archive.org/details/sovietmanandhisw013723mbp
620
LENSKI (1966), S. 312, Fußnote 35 und 36
621
LENSKI (1966), z. B. S. 309

253
Zur Geschichte der Sowjetunion

sellschaft" ist eine anti-marxistische Konzeption bürgerlicher Gesellschaftsideologen


zu verstehen, die den Klassencharakter einer Gesellschaft leugnen. Man spricht auch
von der Konvergenztheorie. Nach dieser Ideologie gleichen sich sozialistische und
kapitalistische Staaten, weil sie eine industrielle Basis haben. Die Unterschiede der
Produktionsverhältnisse werden dabei ignoriert. Entsprechend wird sowohl kapitalis-
tischen wie sozialistischen Gesellschaften unterstellt, dass diese sich mit der Zeit
angleichen und sich auch "Eliten" ausbilden.622
Wie kommt nun Lenksi zu dieser ungewöhnlichen Feststellung, obwohl er drei Seiten
später die hohen Lohnunterschiede in den USA feststellt? Indem er feststellt, dass in
Agrargesellschaften die oberen 1 oder 2% die Hälfte oder mehr des Gesamteinkom-
mens der Nation erhalten. In Industriegesellschaften hingegen verdienen die oberen
2% um die 10% des Nationaleinkommens. 623 So hatten 1953 die oberen 2% der USA
29,3% des Vermögens (davon 0,0006% 1,3% des Vermögens). Nur in Großbritannien
verfügten die oberen 2% im Jahr 1946 - 1947 etwa 50% des Reichtums. 624 Dies sei
dennoch weniger als in den Agrargesellschaften. Er kommt sogar zu der Zukunfts-
prognose, dass "die große Mehrzahl der entwickelteren Industriegesellschaften [sich]
noch weiter vom traditionellen elitären Ideal entfernen [werden], welches eine winzi-
ge Minderheit vorsieht, die Macht und Privilegien monopolisiert." Dieser Trend wird
"zum Stillstand kommen, lange bevor das Gleichheitsideal erreicht ist, nach welchem
Macht und Privileg unter alle Mitglieder gleichmäßig verteilt sind." 625 Das heißt also,
laut Lenski müssten die Einkommensunterschiede geringer werden, jedoch nicht so
weit gehend, dass jeder gleichviel verdient. Wie sieht nun die Situation im Kapitalis-
mus heute aus? Hat dieser die Schere zwischen Arm und Reich reduzieren können, 50
Jahre nach Lenskis Prognose?
Dass die Lage sich bis heute nicht gebessert hat, zeigen folgende Tatsachen:
Harry G. Shaffer stellt fest, dass in den USA die Schere zwischen Arm und Reich seit
den 1980ern rapide angestiegen ist. 626 Im Februar 1984 stellte das "Citizens Commis-
sion on Hunger" fest, dass Hunger in den USA weitverbreitet sei, 1987 berichtete die
"Physicians Task Force on Hunger", dass etwa 20 Mio. US-Amerikaner mindestens
einmal im Monat Hunger leiden und im September 1988 stellte eine Studie der "Nati-
onal Academy of Sciences" fest, dass die Zahl obdachloser Kinder ansteigt. 1999
galten 40 Mio. US-Amerikaner als arm, 20 Mio. davon verdienten jährlich weniger

622
AUTORENKOLLEKTIV (1974), S. 18 - 21, 60 - 63, S. 135f
623
LENSKI (1966), S. 309
624
LENSKI (1966), S. 339
625
LENSKI (1966), S. 327
626
SHAFFER, H. G. (1999):, S. 25
254
Zur Geschichte der Sowjetunion

als die Hälfte der als Armutsgrenze festgelegten 16.530$ pro Jahr bei vierköpfigen
Familien. Der Median für die Top-Manager der 400 größten Unternehmen der USA
betrug hingegen zu der Zeit 6000$ pro Tag! 627 Das Netto-Vermögen der reichsten 1%
betrug Mitte der 90er über 6 Trillionen $.628 Interessant ist dabei zu bemerken, dass
selbst jene in den sogenannten "White-Collar-Jobs", also bei den Angestellten, die
Armutsrate steigt und grundsätzlich die Reallöhne sinken. 1968 konnte man für 1.60$
genauso viel kaufen wie 1998 mit 7.21$.629 2007 lag laut Census-Bureau der USA die
Zahl der Menschen, die unter der Armutgrenze leben 37,3 Mio., hinzu kommen aber
noch etwa 25 Mio. die nah an der Armutsgrenze leben. Diese haben keine Kranken-
versicherung und sind dazu noch verschuldet. Dabei haben 70% der Familien, die
unter der Armutsgrenze leben, mindestens ein Familienmitglied, welches Vollzeit
arbeitet. Dabei ist der Anteil der Armen bei den Afro-Amerikanern und den Hispanics
größter als bei den "Weißen".630 Bei den Reichsten 1% hingegen stiegen die Ein-
kommen zwischen 1977 und 1989 um über 100%. 631 Innerhalb von 8 Jahren, von
2001 bis 2008, hatten die 400 reichsten US-Amerikaner ihr Vermögen um 700 Mrd. $
erhöht, mehr als die unteren 50% (das sind 150 Mio. Menschen) zusammen. 632
Zu solchen reichen Familien in den USA zählen die DuPonts, die Anteile an Coca-
Cola, General Motors und United Brands halten. Sie besitzen mehrere öffentliche
Einrichtungen, Grundbesitz etc. Außerdem waren sie wichtige Finanzierer der Repub-
likanischen Partei. Eine weitere reiche und bekannte Familie sind die Rockefellers,
die einen großen Einfluss im US-amerikanischen Staat haben.633 Interessanterweise
gibt das "US-Census-Bureau" ein Lohnverhältnis von 1:14 an. Doch dieses Verhältnis
täuscht, weil das Census-Bureau seit 1994 ein Limit von 1 Mio. $ hat. Das heißt, alle
Einkommen, die diesen Wert übersteigen, werden nicht separat aufgelistet. Da jedoch
einige Top-Manager nicht selten über 100 Mio. $ im Jahr verdienen, müssten das
reale Verhältnis zwischen den Top- und Geringverdienern bei 1: 14.000 liegen (eine
Zahl, die vergleichbar ist mit Lenskis Rechnung, die weiter oben dargestellt wur-
de).634 Verdienten 1973 die Top-Manager (CEOs) etwa 40 mal so viel wie ihre Arbei-
ter, waren es 2009 317 mal so viel!635 Die obersten 1% besitzen 40 - 50% des Vermö-

627
SHAFFER (1999), S. 26 - 27
628
SHAFFER (1999), S. 27
629
SHAFFER (1999), S. 29 - 30
630
PARENTI, M. (2010), S. 42 - 43
631
PARENTI, M. (1997), S. 129
632
PARENTI (2010), S. 31
633
PARENTI (2010), S. 32
634
PARENTI (1997), S. 130, VGL. AUCH PARENTI (2010), S. 30 - 31
635
PARENTI (2010), S. 32

255
Zur Geschichte der Sowjetunion

gens in den USA, mehr als die unteren 90%. Zwar haben etwa 40% der amerikani-
schen Familien Aktien und Anleihen, doch diese haben meistens einen Wert, der
unter 2000$ liegt.636 13 Mio. US-amerikanische Kinder gelten als arm und 2007 liste-
te UNICEF die USA zusammen mit Großbritannien unter 21 Industrienationen als das
schlimmste Land für Kinder auf. 637 "CBS News" muss 2013 eingestehen, dass 80%
der US-Amerikaner nahe der Armut leben, auf staatliche Unterstützung angewiesen
sind oder mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben.638
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Ungleichheit in vielen entwickelten Volks-
wirtschaften angestiegen.639 Diese Ungleichheiten resultierten nicht nur aus der Diffe-
renz zwischen ungelernten Arbeitern und Fachkräften, sondern auch aus den Unter-
schieden innerhalb gleich qualifizierter Arbeitskräfte, da verschiedene Firmen unter-
schiedlich vergüten.640
Die Lage in der BRD sieht nicht viel rosiger aus: Jüngere Studien zeigen, dass die
Ungleichheit auch in Deutschland sehr wohl deutlich zugenommen hat.641 In einer
Studie der Bertelsmann-Stiftung mit dem Titel "Wachsende Lohnungleichheit in
Deutschland - Welche Rolle spielt der internationale Handel?" kommt diese anhand
der Berechnung des Gini-Indexes zur Ungleichheit zu dem Schluss, dass die Un-
gleichheit in Deutschland gestiegen ist. Sie schreiben:
"Von Mitte der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre ist kaum ein Anstieg der
Ungleichheit zu erkennen. Ab 1996 nimmt die Dynamik jedoch deutlich zu. Ein kur-
zer Rückgang der Ungleichheit ist für das Jahr 2009 zu beobachten. Schon 2010 wird
allerdings wieder das höhere Niveau aus dem Jahr 2008 erreicht. Insgesamt ist die
Lohnungleichheit in Deutschland – gemessen anhand der Standardabweichung der
logarithmierten Reallöhne – über den Zeitraum von 1985 bis 2010 um 12 Log-
Prozentpunkte angestiegen. Der Großteil dieses Anstiegs, 11 Log-Prozentpunkte, hat
dabei innerhalb von nur 15 Jahren (von 1996 bis 2010) stattgefunden. Vergleiche zu

636
PARENTI (2010), S. 29
637
PARENTI (2010), S. 44
638
CBS NEWS (28.07.2013). http://www.cbsnews.com/news/80-percent-of-us-adults-face-near-
poverty-unemployment-survey-finds/
639
Vgl. KATZ, L. & AUTOR, D. (1999) https://economics.mit.edu/files/11676;
MACHIN, S. & VAN REENEN, J. (2008) http://eprints.lse.ac.uk/4667/1/ Chang-
es_in_Wage_Inequality.pdf
640
Vgl. ABOWD, J., KRAMARZ, F. & MARGOLIS, D (1999) sowie GRUETTER, M. & LALIVE, R.
(2009)
641
CARD, D., HEINING, J. & KLINE, P. (2013):
https://eml.berkeley.edu/~cle/e250a_f14/paper1.pdf
DUSTMANN, C., LUDSTECK, J. & SCHÖNBERG, U. (2009)

256
Zur Geschichte der Sowjetunion

anderen Volkswirtschaften machen deutlich, dass es sich dabei um einen durchaus


beträchtlichen Anstieg handelt. So weisen beispielsweise die angelsächsischen
Volkswirtschaften (USA, Großbritannien, Kanada) – jene Ökonomien also, die typi-
scherweise als sehr ungleich gelten und mit den stärksten Zuwächsen in Verbindung
gebracht werden – über den Zeitraum von 1985 bis 2005 nur einen Zuwachs von
sechs bis acht Log-Prozentpunkten auf. Damit bleiben sie hinter dem Anstieg der
Lohnungleichheit in Deutschland über den entsprechenden Zeitraum zurück." 642
Für diese wachsenden Unterschiede geben sie folgende Erklärung ab: "Die Ergebnisse
unserer (…) [A]nalyse zeigen (…), dass der Großteil des Anstiegs der Lohnungleich-
heit auf (...) Änderungen in der zugrunde liegenden Struktur der Arbeitnehmer [zu-
rückzuführen sind] (…) Die wichtigste Rolle spielt dabei der Rückgang der Tarifbin-
dung. Dieser wirkt sich insbesondere auf einen Anstieg der Ungleichheit im unteren
Bereich der Lohnverteilung aus und erklärt rund 43 Prozent des Gesamtanstiegs über
den betrachteten Zeitraum. Damit einher geht eine Veränderung der Tarifentloh-
nungsstruktur, die ebenfalls ungleichheitssteigernd im unteren Teil der Verteilung
wirkt. (…) Neben Veränderungen in der Struktur der Tarifbindung spielt die Ver-
schiebung in der Struktur der Arbeitnehmer hin zu höheren Bildungs- und Alters-
gruppen eine wichtige Rolle für den Anstieg der Lohnungleichheit. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass hoch qualifizierte und ältere Arbeitnehmer traditionell eine
höhere Lohndispersion aufweisen als andere Qualifikationsgruppen. Die Verschie-
bung hin zu höheren Bildungs- und Altersgruppen erklärt rund 10 bzw. 20 Prozent der
gesamten Zunahme der Lohnungleichheit über den Zeitraum von1996 bis 2010." 643
Wir sehen also, dass nach der Konterrevolution sich die Lage der Lohnabhängigen
verschlechterte. In der Studie der Bertelsmann-Stiftung sind übrigens die Arbeitslosen
nicht mit eingerechnet, was die Ungleichheiten nochmals erhöhen würde. Laut Spie-
gel online lag 2015 die Armutsrisikoquote bei 15,7% 644 und fast jedes fünfte Kind ist
arm.645 Und: Kann eine „Demokratie“ in einem Staate wie der BRD wirklich funktio-
nieren, wenn 2002 die reichsten 10% der Bevölkerung 57,9% des Vermögens besaßen
(2007 sogar 61,1%) und 2007 die obersten 0,1% der Bevölkerung 22,5% des Vermö-

642
BERTELSMANN-STIFTUNG (2014): https://www.bertelsmann-
stif-
tung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_Wachsende_Lohnunglei
chheit_Langfassung.pdf, S. 10
643
BERTELSMANN-STIFTUNG (2014), S. 60
644
SPIEGEL ONLINE (16.09.2016) http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-in-
deutschland-das-risiko-steigt-wieder-obwohl-die-wirtschaft-laeuft-a-1112646.html
645
SPIEGEL ONLINE (11.01.2015) http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kinderarmut-in-
deutschland-hier-wohnen-deutschlands-arme-kinder-a-1071196.html

257
Zur Geschichte der Sowjetunion

gens hatten, während die unteren 50% nur über 1,4% des Vermögens verfügten?646
Um die oben schon dargestellte Schere zwischen Arm und Reich im Kapitalismus zu
komplettieren, schauen wir uns die Lage in der BRD im Jahre 2016 an. Die reichste
Familie 2016 in der BRD sind die Geschwister Stephan Quandt und Susanne Klatten,
deren Vermögen sich auf 30 Mrd. (Milliarden!) Euro beläuft; beiden gehören etwa
50% der Aktien des Automobilkonzerns BMW. Insgesamt haben die 500 reichsten
Deutschen 2015 ein Vermögen von 692,825 Mrd. Euro, ein Plus von 5,9% zum Vor-
jahr.647 Der Mindestlohn ab 1.1.2017 beträgt 8,84 Euro (der jedoch nicht für alle
gilt!).648
Übrigens ist das Problem der Armut und der sozialen Ungleichheit kein junges in der
BRD, sondern war schon immer Bestandteil der BRD-Geschichte. Christoph Butter-
wegge schreibt: "Michael Jungblut, der 1971 das Buch 'Die Reichen und die Super-
reichen in Deutschland' veröffentlichte, zitiert darin Erik Nölting, 20 Jahre vorher
wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, mit dem 1951 in einem
Streitgespräch gegen den damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) ge-
richteten Satz: 'Die Bundesrepublik ist ein Paradies für die Reichen und eine Hölle für
die Armen geworden.' Den weiteren Gang der Ereignisse kommentierte Jungblut
folgendermaßen: 'Die Fahrt ging zwar nicht in die Hölle der Armen, wohl aber in ein
Paradies für die Reichen, die dort allein die Früchte vom Baum der Vermögensbil-
dung ernten konnten, während die große Masse der Arbeitnehmer nur vom Fallobst
der Sparförderung naschen durfte.' Jungblut beschreibt, wie der damals noch parteilo-
se Fachmann Erhard in seiner Funktion als Direktor für Wirtschaft der Bizone mit
'Zähigkeit, Zielstrebigkeit und dem Mut zu einsamen Entschlüssen' die Rekonstrukti-
on der kapitalistischen Marktwirtschaft betrieb und sich schließlich durchsetzte, ob-
wohl ihm zunächst weder die Bevölkerung noch die Vertreter der Besatzungsmächte
folgen mochten, was sich erst änderte, als seine neoliberale Wirtschaftspolitik uner-
wartete Erfolge zeitigte.
In dem lang anhaltenden und nur durch leichte konjunkturelle Rückschläge unterbro-
chenen westdeutschen Wirtschaftsaufschwung ging die Massenarmut schnell zurück,
wenngleich das Armutsproblem nie ganz verschwand. Das unvorstellbare Nach-
kriegselend mit Wohnungsnotstand, Kältetoten sowie Hunger- und Versorgungskrisen
wich im Laufe der 50er und frühen 60er-Jahre, durch äußerst günstige weltpolitische

646
FRICK, J. R. & GRABKA, M. M. (2009), S. 59
http://www.diw.de/documents/publikationen/73/93785/09-4-1.pdf
647
MANAGER-MAGAZIN (04.10.2016) http://www.manager-magazin.de/koepfe/reichste-
deutsche-quandt-und-klatten-fuehren-rangliste-an-a-1114555.html
648
BUZER.DE: https://www.buzer.de/s1.htm?g=Verordnung+zur+Anpassung+der+H%C3%
B6he+des+Mindestlohns+%28Mindestlohnanpassungsverordnung+-+MiLoV%29&f=1

258
Zur Geschichte der Sowjetunion

und -wirtschaftliche Rahmenbedingungen gefördert, einem meist allerdings recht


bescheiden anmutenden Wohlstand für immer größere Bevölkerungsteile. (…)
Die neoliberalen Zauberformeln 'private Initiative', 'Eigenverantwortung' und 'Selbst-
vorsorge' standen für Erhard im Mittelpunkt, während er den 'Versicherungszwang'
von Arbeitnehmer(inne)n im Bismarck’schen Sozialstaat als Widerspruch zur öko-
nomischen Freiheit begriff. Erhard warnte denn auch vor einem 'Versorgungs- und
Wohlfahrtsstaat', der seiner Meinung nach 'Armseligkeit für alle' bedeuten musste,
weil die Volkswirtschaft durch ein System kollektiver sozialer Sicherheit zerstört
würde."649
Für das Jahr 1969 nennt Butterwegge folgende Zahlen: "Geißlers Fazit lautete: 'In der
Bundesrepublik Deutschland gibt es wieder bittere private Armut. 5,8 Millionen Men-
schen in 2,2 Millionen Haushalten verfügen nur über ein Einkommen, das unter dem
Sozialhilfeniveau liegt. Es handelt sich dabei nicht um 'Gammler, Penner und Tippel-
brüder', sondern um 1,1 Millionen Rentnerhaushalte mit 2,3 Millionen Personen und
600.000 Arbeiterfamilien mit 2,2 Millionen Personen und 300.000 Angestelltenhaus-
halte mit 1,2 Millionen Personen.'"650
Im Verlauf der BRD-Geschichte verschlechterte sich die Lage: "Während es einer
großen Mehrheit der Bevölkerung immer noch gut oder sogar sehr gut ging, wuchs
die Anzahl derer, die in relativer Armut, Unsicherheit und Existenzangst lebten. Die
Zahl der Sozialhilfebezieher/innen hatte sich in Westdeutschland von 1973 bis 1998
auf 2,5 Mio. vervierfacht (insgesamt waren es in dem zuletzt genannten Jahr etwa
2,88 Mio.). Auch hatte das Ausmaß relativer Einkommensarmut seit Beginn der 80er-
Jahre kontinuierlich zugenommen, variierend mit dem jeweiligen Berechnungsmaß-
stab. So lebten laut Regierungsbericht nach der alten (Kinder und Jugendliche höher
gewichtenden) OECD-Skala '1998 ungefähr 20% der westdeutschen Bevölkerung von
weniger als 60% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens, aber nur 7%
von weniger als der Hälfte des Medians.'" 651
"Die gezielte Umwandlung regulärer Beschäftigung in sozialversicherungsfreie Ar-
beitsverhältnisse (Scheinselbstständigkeit, 630-DM/325- bzw. 400-Euro-Jobs) höhlte
das Normalarbeitsverhältnis weiter aus. Genauso vielfältig wie die Erscheinungsfor-
men der Prekarisierung (z.B. Zeit- bzw. Leiharbeit, Mini- bzw. Midijobs, unbezahlte
Praktika, Gelegenheitsarbeit auf Honorarvertragsbasis) sind ihre Folgen für die davon
Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt. Armut geht häufig mit sozialer Isolation,
die materielle Deprivation mit psychischer Depression und gesellschaftlicher Desin-

649
BUTTERWEGGE (2009), S. 99-100
650
BUTTERWEGGE (2009), S. 128
651
BUTTERWEGGE (2009), S. 60

259
Zur Geschichte der Sowjetunion

tegration einher. Almuth Bruder-Brezzel hat auf der Grundlage ihrer Erfahrungen als
Therapeutin gezeigt, dass Erwerbslosigkeit, ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse
und Niedrigeinkommen 'individuell und kollektiv weitreichende soziale und psycho-
logische Folgen' haben: 'Prekarisierung des Lebens, also ein Leben auf dem schwan-
kenden Boden einer ungesicherten Existenz, Arbeitslosigkeit und der Wechsel zwi-
schen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit und mangelhafte finanzielle Absicherung
führen nachweislich zu psychologischen Problemen oder verstärken diese.'" 652
Kinderarmut ist die aktuell am weitesten verbreitete und mit Abstand brisanteste
Armutsform in der Bundesrepublik. Auf dem Höhepunkt des konjunkturellen Auf-
schwungs lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im März 2007 fast
1,929 Mio. Kinder unter 15 Jahren (von ca. 11,44 Mio. dieser Altersgruppe insge-
samt) in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig 'Hartz-IV-Haushalte' genannt.
Rechnet man die übrigen Betroffenen (Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flücht-
lingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger als die
Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die gar keine Transferleistungen beantra-
gen können) hinzu und berücksichtigt außerdem die sog. Dunkelziffer, lebten etwa
2,8 Millionen Kinder, d.h. mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter
dem Sozialhilfeniveau. Verschärft wurde das Problem durch erhebliche regionale
Disparitäten (Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle). So lebten in Görlitz 44,1 Prozent
aller Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten, wohingegen es beispielsweise
im wohlhabenden bayerischen Landkreis Starnberg nur 3,9 Prozent waren. Zur selben
Zeit betrug das Privatvermögen der beiden reichsten Deutschen, der Gebrüder Alb-
recht (Eigentümer der Aldi-Ketten Nord und Süd) laut dem US-Wirtschaftsmagazin
Forbes 37,5 Mrd. US-Dollar und stieg bis auf die Höhe von 50 Mrd. US-Dollar im
Jahr 2008, was das mittlerweile erreichte hohe Maß der sozialen Polarisierung ver-
deutlicht."653
"Am 5. März 2008 legte das DIW eine Studie vor, nach der die Mittelschicht zerbrö-
ckelt und viele Durchschnittsverdiener/innen nach unten abrutschen. Markus M.
Grabka und Joachim R. Frick hatten auf der Grundlage des SOEP festgestellt, dass die
'Schicht der Bezieher/innen mittlerer Einkommen', d.h. jener Bevölkerungsgruppe,
deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen zwischen 70 und 150 Prozent
des Medians beträgt, zwischen den Jahren 2000 und 2006 von 62 Prozent auf 54 Pro-
zent geschrumpft war."654

652
BUTTERWEGGE (2009), S. 80
653
BUTTERWEGGE (2009), S. 91-92
654
BUTTERWEGGE (2009), S. 234

260
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Da die (Bundes-)Politik weder durch eine allgemeine soziale Grundsicherung noch
durch Schritte der Umverteilung 'von oben nach unten' gegensteuerte, verfestigte sich
die seit der 'Wende' in Ostdeutschland auftretende Armut jedoch und führte zu einer
dauerhaften Unterversorgung vieler Menschen. Sie war weder eine soziale Erblast des
SED-Regimes noch eine bloße 'Randerscheinung des Vereinigungsprozesses' (Kurt
Biedenkopf), sondern Resultat einer Implementierung der kapitalistischen Wirt-
schaftsstruktur, die ohne ausreichende Sensibilität für die Belange der ehemaligen
DDR-Bürger/innen erfolgte sowie durch arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische
Maßnahmen bloß abgefedert wurde. Wer das Armutsphänomen in den östlichen Bun-
desländern als nachwirkende Folge des Staatssozialismus und seiner verkrusteten
Planwirtschaft abtat, verhielt sich apologetisch und lenkte von mancherlei Fehlent-
wicklungen und Fehlern der Regierungspolitik nach 1989/90 ab." 655
Die DDR hingegen hatte ein völlig anderes Sozialsystem: "Während in der BRD die
Einkommen stiegen und die (Kapital-)Vermögen wuchsen, aber auch immer stärker
auseinanderdrifteten, war die DDR eine auf deutlich niedrigerem Wohlstands- und
Konsumtionsniveau sehr viel egalitärer strukturierte Gesellschaft. Günter Manz be-
tont, 'daß es niemanden gab, der am Existenzminimum lebte. Es gab keine Obdachlo-
sigkeit, weil von staatlicher Seite jeder, auch Alkoholiker und straffällig gewordene
Bürger, Wohnraum und Arbeit zugewiesen bekamen.' Sowohl der Staat als auch die
Volkseigenen Betriebe (VEB) und Kombinate bemühten sich, soziale Desintegration
durch eine umfassende Subventionierung von Konsumgütern und Dienstleistungen in
Grenzen zu halten. 'Subventionspolitik kann relative Armut nicht verhindern. Sie
sicherte jedoch eine Existenz unter annehmbaren Bedingungen, d.h. jenseits von
Hunger, Obdachlosigkeit, Ausschluß aus dem gesellschaftlichen Leben. Sie glich
soziale Differenzierungen vor allem durch unentgeltliche Leistungen, die jedem Bür-
ger zur Verfügung standen, in bestimmter Hinsicht aus.' Wenn man so will, war die
DDR, was die BRD – wie noch gezeigt wird – sein wollte oder sogar bereits zu sein
glaubte: sozial weitgehend nivelliert."656
Um einiges tragischer ist die Situation in der sogenannten Dritten Welt. Diejenigen,
die von angeblichen "Millionenopfern" des "Stalinismus" reden, verantworten tat-
sächlich die Opfer des alltäglichen Kapitalismus: Alle fünf Sekunden verhungert ein
Kind unter zehn Jahren, und 57.000 Menschen insgesamt sterben pro Tag an Hun-
ger.657 Über die Toten wegen vermeidbarer Krankheiten (vor allem in der so genann-
ten Dritten Welt), wegen imperialistischer Kriege, wegen der Verseuchung der Um-

655
BUTTERWEGGE (2009), S. 148 - 149
656
BUTTERWEGGE (2009), S. 101
657
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (9.10.2012) https://www.bpb.de/dialog/
145727/wir-lassen-sie-verhungern-interview-mit-jean-ziegler

261
Zur Geschichte der Sowjetunion

welt usw. sei hier gar nicht gesprochen. Interessant ist hierbei dass, da die Probleme
der "Dritten Welt" nicht unübersehbar sind, diese instrumentalisiert werden, indem
das Armutsproblem in höher entwickelten kapitalistischen Ländern (sog. Industrie-
länder) im Vergleich mit der „Dritten Welt“ kleingeredet oder gar geleugnet werden;
nicht selten sprechen ideologische Vertreter des Imperialismus von einem "Jammern
auf hohem Niveau". Butterwegge kommentiert dazu:
"Der 'klassische' Armutsbegriff, welcher von der Antike über das christliche Mittelal-
ter bis zur Neuzeit im Gebrauch war, bezog sich auf die Frage, ob jemand mehr be-
saß, als er zum Überleben und bloßen Dahinvegetieren benötigte. Wer dieses Kriteri-
um heute noch anlegt, verschließt sich der Erkenntnis, dass ein moderner Armutsbe-
griff sehr viel differenzierter sein muss und mit zu berücksichtigen hat, in welcher
Gesellschaft ein Mensch lebt bzw. wie groß der ihn umgebende Wohlstand ist. Es gibt
kein zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt gleichermaßen adäquates Maß, das als
Armutsindikator dienen könnte."658
"Dabei sind neben anderen, weniger relevanten besonders die folgenden Merkmale
entscheidend:
1. eine weitgehende Mittellosigkeit oder monetäre Defizite (sprich: miserable Ein-
kommens- und Vermögensverhältnisse), was in marktwirtschaftlich-kapitalistisch
organisierten Gesellschaften den Verzicht auf bestimmte Güter und Dienstleistungen
bedeutet, weil diese normalerweise mit Geld bezahlt werden müssen;
2. ein länger dauernder Mangel an lebensnotwendigen bzw. allgemein für unverzicht-
bar gehaltenen Gütern und Dienstleistungen, der einen gravierenden Ansehensverlust
bei anderen Gesellschaftsmitgliedern bedingt;
3. die Notwendigkeit, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, auf ver-
gleichbare Formen der 'Fremdalimentierung' zurückzugreifen oder den eigenen Le-
bensunterhalt durch Bettelei, evtl. auch durch illegale Formen des Broterwerbs zu
bestreiten, verbunden mit dem Zwang, 'von der Hand in den Mund zu leben', also
keinerlei längerfristige Lebensplanung betreiben zu können;
4. Mängel im Bereich der Wohnung, des Wohnumfeldes, der Haushaltsführung, Er-
nährung, Gesundheit, Bildung, Freizeit und Kultur, die fast zwangsläufig zum Aus-
schluss der betroffenen Personen von einer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben
führen, wie sie anderen möglich ist;
5. die Macht- bzw. Einflusslosigkeit der betroffenen Personen in allen gesellschaftli-
chen Schlüsselbereichen, d.h. den Gremien von Wirtschaft, Politik, staatlicher Ver-

658
BUTTERWEGGE (2009), S. 15 - 16

262
Zur Geschichte der Sowjetunion

waltung, Wissenschaft und Massenmedien, wo die ganze Gesellschaft betreffende und


auch für sie selbst bindende Entscheidungen getroffen werden;
6. eine allgemeine Missbilligung der Lebensweise davon Betroffener, die marginali-
siert, negativ etikettiert und stigmatisiert, d.h. ausgegrenzt und in der Regel selbst für
ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden, während man dessen gesellschaftliche
Determiniertheit und seine strukturellen Hintergründe tunlichst ignoriert bzw. ne-
giert."659
"Arm ist aber nicht bloß, wer für eine längere Zeit das physische Existenzminimum
für sich und seine Familie kaum zu gewährleisten, sondern auch, wer aufgrund mate-
rieller Defizite nicht einmal annähernd den durchschnittlichen Lebensstandard jener
Gesellschaft, in welcher er lebt, zu sichern vermag. Von 'relativer Armut' spricht man
dann, wenn der Lebensstandard und die Lebensbedingungen von Menschen zu weit
unter dem durchschnittlichen Lebensstandard und den durchschnittlichen Lebensbe-
dingungen in einem Land liegen. 'Absolute Armut stellt einen auf die Unfähigkeit
zum physischen Überleben reduzierten Begriff dar, dessen einziges Kriterium in der
Subsistenz, d.h. der Fähigkeit zur Selbsterhaltung des Individuums, besteht.' Während
man bei absoluter Armut am physischen Existenzminimum existiert und das Leben
auf dem Spiel steht, wird bei relativer Armut 'nur' das soziokulturelle Existenzmini-
mum unterschritten. Die sozialwissenschaftliche Relativitätstheorie, wie ich sie der
Einfachheit halber nennen möchte, besagt im Wesentlichen, dass Armut nie ohne ihr
jeweiliges soziales Umfeld zu begreifen ist, sondern nur, wenn man das spezifische
Verhältnis berücksichtigt, in dem die Betroffenen zu ihren Mitbürger(inne)n und
deren Lebensweise stehen."660
"In einem reichen Land wie der Bundesrepublik arm zu sein bedeutet mehr, als wenig
Geld zu haben, und zwar vor allem:
1. einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erach-
teten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs 'normales' Leben zu führen;
2. Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen,
Freizeit und Sport;
3. den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken,
welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;
4. eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und
Verkürzung der Lebenserwartung ('Arme müssen früher sterben');

659
BUTTERWEGGE (2009), S. 17 - 18
660
BUTTERWEGGE (2009), S. 19

263
Zur Geschichte der Sowjetunion

5. einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und da-


mit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein." 661
Zu solchen Fehleinschätzungen, dass sich die Ungleichheiten in den Industriegesell-
schaften reduzieren, kann Lenski nur kommen, wenn er statt vom marxistischen Klas-
sensystem, von den bürgerlich-soziologischen Elitenmodellen ausgeht. Alleine
dadurch zeigt sich, wie verfehlt die Schlussfolgerungen bürgerlicher Soziologie sind,
obwohl sie gutes empirisches Material liefern.
Dass sich die Gesellschaft aufgrund der Umverteilung 'von unten nach oben' während
der 80er- bzw. 90er-Jahre immer deutlicher spaltete, sich das Kapital in noch weniger
Händen konzentrierte und mit der Massenarbeitslosigkeit vor allem in Ostdeutschland
vermehrt alte Deprivationserfahrungen um sich griffen, entging jenen Soziologen, die
sich nach 1968 und der folgenden 'Linkswende' wieder den gesellschaftlichen Macht-
verhältnissen angepasst hatten und US-amerikanische Forschungsmethoden genauso
unkritisch übernahmen wie andere intellektuelle Moden. Die meisten Fachwissen-
schaftler wandten sich von der Klassenanalyse, die gegen Ende der 60er-/Anfang der
70er-Jahre zumindest das Image des Fachs bestimmt hatte, ab und der bunten Vielfalt
soziokultureller Milieus, Lebensformen und -stile zu. Hingegen wurden die materiel-
len Probleme, finanziellen Notlagen und sozialen Ausgrenzungserfahrungen von
Millionen Menschen kaum noch zur Kenntnis genommen. Hans-Ulrich Wehler
spricht in diesem Zusammenhang von 'legitimatorische(r) Rückendeckung', die der
postmoderne soziologische Mainstream den 'bestehenden Ungleichheitskonstellatio-
nen' gegeben habe. Tatsächlich verschaffte diese Strömung der Gesellschaftswissen-
schaften durch ihre Forschungsergebnisse den Reichen und Superreichen sowie den
Politiker(inne)n der etablierten Parteien ein gutes Gewissen gegenüber den Armen im
eigenen Land."662
Diesbezüglich sei auch eine andere Studie erwähnt. Es handelt sich hierbei um
Mervyn Matthews Werk "Poverty in the Soviet Union", zu Deutsch: "Armut in der
Sowjetunion".663 Diese Arbeit befasst sich mit dem Armutsproblem, welches in der
Sowjetunion scheinbar seit Ende der 1970er zunehmend auftrat. Laut Matthews gehö-
ren zu den unterprivilegierten hauptsächlich ungelernte Arbeiter, Arbeiter in "weniger
wichtigen" Industrien, wie der Textilindustrie, weibliche Arbeiter, Kollektivbauern
und Rentner. Diese "Armut" zeige sich durch geringere Löhne, schlechtere Wohnqua-
lität, schlechtere Versorgung mit Lebensmitteln etc.664 Etwa zwei Fünftel (2/5) der

661
BUTTERWEGGE (2009), S. 28
662
BUTTERWEGGE (2009), S. 159
663
MATTHEWS, M. (1986)
664
MATTHEWS (1986), S. 29 FF

264
Zur Geschichte der Sowjetunion

arbeitenden Bevölkerung der Sowjetunion gelte somit, laut Matthews, als arm. 665
Sicherlich deuten Matthews Angaben auf tatsächlich reale Probleme hin, doch hat
seine Studie einige gravierende Mängel. Matthews bemerkt in einem Vorwort, dass
das "Armutsproblem" in der Sowjetunion von der Forschung vernachlässigt wurde.
Dies liege daran, dass kaum verlässliche Daten vorlägen.666 Entsprechend seien die
meisten Kapitel (Kapitel 4 - 7, also zwei Drittel seine Buches) eher "konzeptionell"
als "faktisch",667 was so viel heißt, dass er seine Behauptungen nicht auf sorgfältig
ermittelte Daten stützt, sondern auf Überlegungen (und bestenfalls vorsichtige Ver-
gleiche).
Matthews zitiert zwar eine Reihe sowjetischer wie auch westlicher Statistiken, hält sie
aber für zu oberflächlich und sucht den Fehler im Detail. So zitiert er z. B. Statistiken
zur Ernährungsversorgung der Bevölkerung, behauptet aber gleichzeitig, dass diese
entweder bei der Bevölkerung nicht ankämen oder in schlechter Qualität seien.668 Die
erhöhte Produktion und Verteilung von Kühlschränken und Nähmaschinen sei dann
auch eher ein Ausdruck dafür, ohnehin schon seltene Nahrungsmittel besser lagern zu
können und Kleidung, die ebenso Mangelware sei, regelmäßig reparieren zu können.
Die erhöhte Produktion von Fernsehern und Radios sei Ausdruck der erhöhten Ver-
wendung staatlicher Propaganda durch die Kommunistische Partei.669
Wir sollen also lernen, dass der technische Fortschritt eher ein Ausdruck der Armut,
als des Wohlstandes sein soll, zumindest wenn es sich um die Sowjetunion handelt.
Wie begründet aber nun Matthews seine Annahmen? Sowjetische Statistiken hält er
nicht für glaubwürdig, weil sie die Armut kaschieren und auch westliche Autoren
kommen bei ihm nicht unbedingt gut weg. So kritisiert er in einer Fußnote die Studie
von McAuley (1979) über das Sozialsystem, da dieser angeblich zu unrealistischen
Schlussfolgerungen kam, da er sich auf die offiziellen Daten stürzte, ohne das öko-
nomische System der Sowjetunion verstanden zu haben. Näher geht Matthews jedoch
nicht drauf ein. McAuley (1979) sieht zwar ein Armutsproblem in der Sowjetunion,
stellt jedoch fest, dass diese mit der weiteren Entwicklung der Sowjetunion z. B.
durch Anhebung des Mindestlohns, Ausbau des Sozialsystems und der Reduktion der
Lohnunterschiede zunehmend geringer wurde. Der Lebensstandard konnte so anstei-
gen und die Gesellschaft war im allgemeinen egalitärer, als marktwirtschaftliche Sys-
teme.670

665
MATTHEWS (1986), S. 28
666
MATTHEWS (1986), S. XI, XII
667
MATTHEWS (1986), S. XII
668
MATTHEWS (1986), S. 57
669
MATTHEWS (1986), S. 77 - 78
670
MCAULEY (1979), S. 70 ff, S. 225,317

265
Zur Geschichte der Sowjetunion

Matthews konzeptionelle Überlegungen über die "Armut" in der Sowjetunion stützten


sich daher im Wesentlich auf zwei Datensätze: Zum einen auf sogenannte "Samis-
dad"-Publikationen, also jene inoffiziellen Propagandaschriften sowjetischer Dissi-
denten und auf Interviews mit ehemaligen sowjetischen Bürgern, die in den USA
leben. Das Problem der Samsidad-Publikationen ist nicht nur ihr propagandistischer,
antisowjetischer Gehalt, sondern auch das Problem der Nicht-Überprüfbarkeit des
Wahrheitsgehalts solcher Schriften. Für den typischen westlichen Autoren sind aber
offensichtlich alle Dissidentenschriften gegen die Sowjetunion von vornherein
glaubwürdig.
Ebenso sind die Interviews mit aus der Sowjetunion ausgewanderten Personen mit
einer gewissen Vorsicht zu genießen. Sie können zwar einige wertvolle Informationen
liefern, doch auch hier sind erstmal antisowjetische Empfindungen und Vorurteile zu
berücksichtigen, die entsprechend das Bild der Sowjetunion in ein schlechteres Licht
rücken können. Desweiteren sind solche Interviews mit Emigranten nicht für die
Bevölkerung im Land, aus dem sie auswanderten, repräsentativ. Zu solchen Schluss-
folgerungen kommen auch Alex Inkeles und Raymond A. Bauer (1959), die in den
1950er Jahren großangelegte Interviews mit solchen Emigranten führten. 671 Diese
Quellenkritik kommt bei Matthews jedoch nicht vor, wenn er z. B. schreibt, dass die
Frage, das die Ernährungslage der Armen in der Sowjetunion nicht aus sowjetischen
Quellen zu entnehmen sei, sondern nur aus den Interview mit den Emigranten, da
diese eine schlechtere Versorgung darstellen.672 Aber selbst bei aller Kritik muss
Matthews eingestehen, dass die Lage der Armen zwar aus westlicher Sicht eindeutig
sei, aber in einigen Punkten die Armen weniger gefährdet seien, als man annehmen
könne. So seien sie weit entfernt von einer Unterernährung, die Kleidungssituation sei
zwar nicht optimal, aber auch nicht katastrophal, sie haben geringe Lebenshaltungs-
kosten und kostenlose medizinische Versorgung sowie kostenlose Bildung. 673 Ver-
weist man darauf und vergleicht die oben geschilderte Situation in der "westlichen
Welt" bleibt wohl doch nicht viel von der Armut in der Sowjetunion übrig. Sicherlich
gab es nicht den verschwenderischen Konsumluxus wie im Westen, aber wirkliche
Armut sieht (auch im reichen Westen) völlig anders aus.
Es ist daher folgerichtig, wenn man über die Einkommensverteilung und die "Armut"
in der Sowjetunion reden will, nicht nur einen Vergleich mit dem kapitalistischen
Westen zu ziehen, sondern sich die Lage in Russland vor 1917 und nach der Konter-
revolution 1991 zu kennen.

671
INKELES, A. & BAUER, R. A. (1959), S. 5, 27
672
MATTHEWS (1986), S. 58, vgl. Tabelle, S. 56
673
MATTHEWS (1986), S. 178

266
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wenn "The Guardian" feststellt, dass die Reichen in Russland ihren Reichtum ver-
doppeln, die Armen in den 1990ern jedoch besser dran waren, 674 so korreliert diese
Erkenntnis mit einer Reihe von Studien.
Im August 2017 veröffentlichen Filip Novokmet, Thomas Piketty und Gabriel Zuc-
man eine Studie über die Einkommensverteilung in Russland von 1905 bis 2016. 675
Sie kommen zu folgenden Ergebnissen: 1905 verfügten die obersten 10% über 47%
des Einkommens. Dieser Anteil fiel 1928 auf 22% und erhöhte sich bis 1956 auf 26%.
Danach sank der Wert auf 21% in den 1980ern. 1996, also nach der Konterrevolution
und der Restauration des Kapitalismus, stieg der Wert wieder auf das Niveau von
1905 und hielt sich bis 2016 auf diesem Niveau. Die Autoren kommen zu der richti-
gen Erkenntnis, dass die Sowjetunion wesentlich egalitärer war. Nur wenige Staaten
der "World Wealth & Income Database (WID)",676 mit dessen Unterstützung die
Studie von Novokmet, Piketty & Zucman (2017) veröffentlicht wurde, zeigen ver-
gleichbare Werte wie die Sowjetunion: so z. B. Neuseeland, Mauritius, Australien
oder Dänemark. Doch all diesen Staaten ist gemeinsam, dass sie eine wesentlich ge-
ringere Bevölkerungszahl aufweisen (größere Staaten mit einer großen Bevölkerung
neigen normalerweise eher zu großen Unterschieden in der Einkommensverteilung).

4.4. Weitere Aspekte der Ungleichheit


Der Soziologe Albert Szymanski bemerkt, dass die Lohnstatistiken in der Sowjetuni-
on dadurch verkompliziert wurden, dass die Gehälter der Manager und Staatsbeamten
nicht die Boni oder sonstige Vergünstigungen, wie Autos oder Sommerhäuser, auf-
wiesen.677 Eine Untersuchung aus den 1960ern habe z. B. ergeben, dass die Wohnqua-
lität der höheren Fachkräfte etwa 1,7 mal besser war als die der angelernten Arbeiter.
Eine andere Studie fand jedoch heraus, dass der berufsbedingte soziale Status nur zu
0,1 mit der Wohnungsgröße pro Familie korrelierte. 678 Auch der Besitz an Autos war
nicht gleichmäßig verteilt. Betriebsdirektoren hatten eine 2,5 mal höhere Wahrschein-
lichkeit, ein Auto zu besitzen, als Industriearbeiter.679 Auch in anderen Bereichen
zeigten sich Unterschiede zwischen der Intelligenz und der Arbeiterklasse. Eine Be-

674
THE GUARDIAN (2011) https://www.theguardian.com/world/2011/apr/11/russia-rich-richer-
poor-poorer
675
NOVOKMET, F, PIKETTY, T., & ZUCMAN, G. (2017)http://piketty.pse.ens.fr/files/
NPZ2017WIDworld.pdf, S. 31 ff
676
http://wid.world/
677
SZYMANSKI (1983), S. 589, vgl. auch GREGORY, P. R. & STUART, R. C. (1974), S. 189-190,
399
678
LANE (1971), S. 78
679
YANOWITCH (1977), S. 45

267
Zur Geschichte der Sowjetunion

fragung des Lukhovitskii Distrikts in Moskau um 1970 ergab, dass 61% der Intelli-
genz, 26% der Angestellten, 23% der Maschinenarbeiter und 10% der ungelernten
Arbeiter eine eigene Bibliothek besaßen. Die Zahlen für ein eigenes Radio betrugen
94%, 88%, 95% und 55% und die Zahlen für ein eigenes Fernsehgerät 73%, 65%,
68% und 41% für dieselben Gruppen.680 Eine Studie in der Leningrader Maschinen-
bau-Industrie von 1965 zeigt, dass 2,5% der Facharbeiter ein Auto und ein Klavier
besaßen, verglichen mit 5,6% der Angestellten und 6,8% der Ingenieure. 681 Laut einer
anderen Studie aus Akademgorodok hatten Direktoren von Forschungsinstituten,
Schulen und Krankenhäusern zu 100% ein Radio, 90% eine Waschmaschine, 68%
einen Fernseher, 85% eine Kühltruhe, 90% eine Bücherei (mit mehr als 100 Büchern),
68% einen Staubsauger, 45% ein Klavier und 22% ein Auto oder Motorboot. Die
Zahlen für ungelernte Arbeiter (also der untersten Kategorie der Berufsgruppen) be-
trug die Zahl für dieselben Geräte 87%, 75%, 80%, 52%, 25%, 10%, 8% und 8%. 682
Auch in der Freizeitgestaltung finden sich einige Unterschiede zwischen den Berufs-
gruppen. Eine Studie in den späten 60ern fand wiederum heraus, dass Mitglieder der
Intelligenz in ihrer Freizeit mehr mit Lesen beschäftigt waren als Industriearbeiter.
Sie verbrachten auch mehr Zeit damit, fernzusehen und Radio zu hören. Industriear-
beiter hingegen verbrachten ihre Freizeit lieber mit Ausruhen und Entspannen. Doch
diese Punkte waren die einzigen Unterschiede zwischen den beiden Berufsgruppen.
So gab es keine nennenswerten Unterschiede in anderen Freizeitgestaltungen wie
Kinobesuchen oder tanzen zu gehen, Sport zu treiben, zu jagen, zu angeln oder Zeit
mit den Kindern zu verbringen. 683
Eine Studie in der Leningrader Maschinenindustrie stellt fest, dass 56% der ungelern-
ten Arbeiter, 80% der Facharbeiter und 85% der leitenden Angestellten regelmäßig
Zeitung lasen. 20% der ungelernten Arbeiter lasen ein oder mehrere Bücher pro Wo-
che, verglichen mit 35% der Facharbeiter und 29% der Betriebsdirektoren. 80-85%
der ungelernten Arbeiter besuchten mindestens einmal im Monat ein Theater oder
Konzert, während das nur 58% der Facharbeiter taten. 684 Weiterhin zeigen sich Unter-
schiede zwischen den Berufsschichten im Bereich der Familie und Freundschaften.
Eine Studie an Studenten aus Estland im Jahr 1966 belegt, dass 79% der Väter, die
Facharbeiter waren, Frauen aus derselben Berufsschicht hatten. Im Gegenzug waren
24% der Väter, die Wissenschaftler waren, mit Frauen verheiratet, die Arbeiterinnen
waren, und nur 2% der Väter, die Arbeiter waren, waren mit Frauen verheiratet, die

680
ARUTIUNIAN, I. A. (1971/1973), S. 120 - 121
681
SCHKARATAN (1970/1973), S. 95 - 96
682
YANOWITCH (1977), S. 45
683
ARUTIUNIAN (1971/1973), S. 124
684
SCHKARATAN (1970/1973), S. 86 F.

268
Zur Geschichte der Sowjetunion

führende Positionen innehatten.685 Eine andere Studie männlicher Beschäftigter in


einer Telefonzentrale in Pskow aus dem Jahr 1967 zeigt, dass 87% der ungelernten
Arbeiter, 66% der Facharbeiter und 83% der Facharbeiter mit höherer Ausbildung mit
Frauen verheiratet waren, die Facharbeiterinnen oder ungelernte Arbeiterinnen waren.
Dagegen waren nur 33% der höheren Angestellten (inklusive wissenschaftlicher und
technischer Fachkräfte) mit Arbeiterinnen verheiratet. 686
Teckenberg (1983) stellt fest, dass 1979 67% der Familien "sozial homogen" waren,
also die Familienmitglieder derselben Klasse angehörten (Arbeiter, Bauern, Ange-
stellte). Eine Untersuchung in Weißrussland belegte, dass sozial homogene Ehen vor
allem bei unqualifizierten Arbeitern und geistig arbeitenden mit Hochschulbildung
dominierten. Bei qualifizierten Arbeitern, wie auch Leitungspersonal war die Durch-
mischung heterogener.687 Auch Fisher (1980) bestätigt die Beobachtungen Tecken-
bergs, da er feststellt, dass das schichtspezifische Heiraten zugenommen hat und sozi-
al gleiche Ehen entstanden, vor allem in den Schichten der Intelligenz.688 McAuley
(1979) hingegen stellt fest, dass etwa 30-50% der sowjetischen Familien Angehörige
hatten, die in unterschiedlichen Klassen (Bauern, Arbeiter, Intelligenz) oder Berufs-
gruppen (Industriearbeiter, Angestellte etc.) waren. Es gab nach ihm also eine rege
Klassendurchmischung.689
Dieser Widerspruch lässt sich wahrscheinlich dadurch erkläen, dass man unter Fami-
lien nicht nur die Eheschließung, sondern auch die anderen Familienmitglieder be-
rücksichtigt (beruflicher Werdegang der Großeltern und Kinder etc.).
Was die Freundschaftspflege angeht, so zeigt eine weitere Studie, dass zwei Drittel
der Arbeiter angaben, ihre besten Freunde seien ebenfalls Arbeiter. Nur 5 - 11% ga-
ben an, einen Ingenieur als besten Freund zu haben. Auf der anderen Seite gaben 10%
der wissenschaftlichen Intelligenz und 21% des Managements an, einen besten
Freund in der Arbeiterklasse zu haben. Dagegen hatten 50% der Befragten der wis-
senschaftlichen Intelligenz und 42% des Managements ihre besten Freunde in den
Schichten mit höherer Bildung.690 Eine Studie in Novosibirsk weist darauf hin, dass,
je höher der soziale Status, desto wichtiger für die Befragten gleiche Berufe und
ebenbürtiges Kulturniveau der Nachbarn waren Dabei verbrachten Personen in Lei-
tungspositionen ihre Freizeit mehr mit Arbeitskollegen als mit Verwandten. Bei Ar-

685
TITMA, M. K. (1970/1973), S. 192 -193
686
SCHKARATAN (1970B/1973), S. 309
687
TECKENBERG, W. (1983), S. 418
688
FISHER, W. A. (1980), S. 185 & 176
689
MCAULEY (1979), S. 37 - 38
690
SCHKARATAN (1970B/1973), S. 290

269
Zur Geschichte der Sowjetunion

beitern zeichnete sich eine gegenteilige Tendenz aus. 691 Freundschaftbeziehungen


zwischen Arbeiterklasse und Betriebsleitung waren dabei signifikant häufiger als
Freundschaften zwischen Arbeiterklasse und Hochschul-Intelligenz. Teckenberg
(1983) sieht hierin eine Tendenz einer exklusiven Klassenbildung. 692
Die oben angeführten Statistiken zeigen auf, dass es durchaus Unterschiede zwischen
der Intelligenz und der Arbeiterklasse gab. Diese Unterschiede waren Folge der Ar-
beitsbedingungen. Es ist grundsätzlich wahrscheinlicher, dass Vertreter der Intelli-
genz mehr Bücher lesen und Freunde und Ehepartner im gleichen Berufskreis finden.
Es ist dabei aber auffällig, dass das Management in einigen Punkten der Arbeiterklas-
se näher stand (z. B. bei den Freundschaften) als die wissenschaftliche Intelligenz.
Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich auch in der Freundschaftspflege aus. Es ist je-
doch übertrieben, hier von einer exklusiven Klassenbildung zu sprechen.
Auch innerhalb der Wohnverhältnisse fallen keine besonderen Unterschiede auf.
Kapitalistische Staaten zeichnen sich nicht selten dadurch aus, dass die Bourgeoisie
und die oberen Schichten des Kleinbürgertums oftmals in besseren, nobleren Wohn-
vierteln als die Arbeiterklasse oder allgemein niedrigere Einkommensschichten leben.
Dies gilt auch für die so "soziale" und "demokratische" BRD, wie ein Artikel der "rp-
online" zur Stadt Düsseldorf belegt. 693
Wie verhielt sich die Lage in der Sowjetunion? Dort gab es zwar einige exklusive
Wohnorte in Moskau, wo hohe Parteifunktionäre wohnten. Doch stellte dies eher eine
Ausnahme dar. Es gab viele Fälle, wo beispielsweise Hausmeister und Professoren
führender Universitäten im selben Wohnhaus lebten. Es war keine Seltenheit, dass
Regierungs-Angestellte und Betriebsdirektoren im selben Block wohnten. 694 Zwar
hatten hohe Parteifunktionäre gute Wohnungen, doch sind sie keinesfalls mit jenen
der Bourgeoisie vergleichbar. So hatte selbst Gorbatschow nur eine Vierzimmerwoh-
nung in einem Appartementblock am Lenin-Hügel in Moskau. Der ehemalige Premi-
erminister Nikolai Ryschkow hatte außerhalb Moskaus ein Landhaus, vergleichbar
mit jenen eines mittelmäßig erfolgreichen Anwaltes in den USA. Der Erste Sekretär
des Minsker Parteikomitees lebte mit seiner Frau, Tochter und Schwiegersohn in
einer Zweizimmerwohnung, während ein Leningrader Funktionär im Baugewerbe mit
seiner Frau eine Einzimmerwohnung teilte. 695

691
TIMASHEVSKAJA (1970/1973), S. 137 - 152
692
TECKENBERG (1983), S. 430
693
RP-ONLINE (20.02.2013) http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/viertel-fuer-
reiche-viertel-fuer-arme-aid-1.3206480
694
Vgl. OSBORN (1970), S. 260
695
KOTZ, D. & WEIR, F. (1997), S. 112 - 113

270
Zur Geschichte der Sowjetunion

Auf der anderen Seite, so Szymanski, würden die Lohnstatistiken auch dadurch ver-
kompliziert, dass der Staat eine Reihe an Produkten subventioniert habe und eine
Reihe an Dienstleistungen wie das Gesundheitswesen und das Bildungssystem kos-
tenfrei seien, wovon besonders die unteren Lohngruppen profitierten. 696
Diese Maßnahmen sorgten aber dafür, dass die niedrigeren Einkommensschichten
davon profitierten, was zu einer weiteren Angleichung zwischen den Einkommens-
schichten führte. Dadurch wurde das Einkommen einer Familie erheblich erhöht. Die
relative Proportion des Soziallohns zum eigentlichen Lohn stieg über die Jahre. 1940
machte dieser etwa 23% zusätzlich zum Lohn aus. 1950 stieg er auf 29% und in den
1960ern auf 35%.697 1966 schätzte man, dass die subventionierten und freien Dienst-
leistungen und Produkte etwa 60% des Einkommens der am niedrigsten bezahlten
Lohngruppen ausmachten, aber nur 20% des Einkommens der Besserverdienenden.
Aufgrund des egalitären Effektes der Dienstleistungen wurden die Unterschiede im
Geldlohn in der Schwerindustrie von 2:1 auf 1,5:1 reduziert. 698 Zuzüglich wurden
regelmäßig der Mindestlohn und die Renten erhöht sowie die Einkommenssteuer
ausgeglichen.699 Der Mindestlohn betrug 1981 70 Rubel.700
Die niedrigsten Gehälter bezogen Kollektivbauern, doch auch dort schloss sich die
Lücke, was aus der obigen Tabelle von Baykov (1948) ersichtlich ist. Ende der 60er
Jahre hatten Kollektivbauern etwa 78 bis 85% des Pro-Kopf-Einkommens eines staat-
lich Beschäftigten. Zwischen 1970 und 1974 stieg das persönliche Einkommen von
Kollektivbauern um 4,68%, das von staatlich Beschäftigten um 4,23%. 701 Der Real-
lohn der Kollektivbauern betrug 1978 88% der Arbeitskräfte, 1965 waren es 75%,
dabei sank der Anteil durch Privatwirtschaft. 702 Hinzukommt, dass die Geldlöhne
jährlich durchschnittlich um 3,6% anstiegen, der Reallohn um 2,4% pro Jahr. 703 War
1960 der Lebensstandard der Industriearbeiter 28-31% über der Bevölkerung als Gan-
zes, reduzierte er sich 1970 auf 8% und 1974 auf 4-5%.704 Bergson (1984) kann bele-
gen, dass der Gini-Koeffizient (ein Wert, welcher die Ungleichheit von Haushalten in
einem Land misst) in den USA bei 0.376 lag, in der UdSSR hingegen bei 0.288; der

696
SZYMANSKI (1983), S. 589
697
OSBORN (1970), S. 50, 32
698
OSBORN (1970), S. 48 - 50
699
PARKIN, F. (1971), S. 144
700
LANE, D. (1982), S. 55
701
LANE (1982), S. 56 - 57
702
LANE (1982), S. 40, 42
703
MCAULEY (1979), S. 242
704
MCAULEY (1979), S. 43

271
Zur Geschichte der Sowjetunion

Grad der Ungleichheit war in der UdSSR also deutlich geringer. 705 Bergson (1984)
kann es aber nicht lassen, die Ungleichheiten in der Sowjetunion hervorzuheben und
diese mit dem Westen zu vergleichen. Dennoch ist er bei der Einkommensverteilung
wesentlich vorsichtiger und sieht die Sowjetunion als egalitärer an. 706
Die Sowjetunion versuchte nicht nur die Ungleichheiten zwischen den Klassen zu
reduzieren, sondern auch zwischen den verschiedenen geographischen Regionen.
Ozorny (1991) bestätigt, dass dies bis in die 1950er Jahre auch der Fall war. Danach
wuchsen jedoch die Ungleichheiten zwischen den Republiken. 1988 waren die reichs-
ten Republiken die baltischen Republiken, Russland und Weißrussland. Zu den ärms-
ten zählten die zentralasiatischen Länder. So betrug der BSP pro Kopf in Tadschikis-
tan nur 46% des BSP der RSFSR (Estland hatte mit 108% den höchsten Wert). 707
Alexeev & Gaddy (1993) bemerken, dass zwar in den 1980ern, sowohl vor der
Machtübernahme Gorbatschows 1985 als auch danach, die Einkommensunterschiede
in der Gesamt-UdSSR sanken, die Einkommensunterschiede aber in den asiatischen
Republiken größer waren als in den europäischen. 708
Diese Einkommensstatistiken deuten darauf hin, dass das Argument einer neuen herr-
schenden und ausbeutenden Klasse oder Schicht in der Sowjetunion nicht den Tatsa-
chen entspricht. Nach einer beginnenden Ausweitung der Lohnunterschiede Anfang
der 30er Jahre, die dazu diente, qualifizierte Arbeitskräfte auszubilden, kam es seit
Mitte der 40er Jahre zu einer Angleichung der Löhne, die sich in den 60ern und 70ern
fortsetzte. Diese Angleichung der Löhne resultierte nicht nach einem Prinzip der
Gleichmacherei, sondern durch die Tatsache, dass der Anteil ausgebildeter Fachkräfte
stark anstieg.709 Desweiteren sollten höhere Löhne die Arbeiter dazu animieren, be-
stimmte Berufe, die besonders wichtig waren, im stärkeren Maße anzunehmen. Au-
ßerdem gab es geographische Unterschiede. So betrug der Durchschnittsverdienst
eines Arbeiters 1935 in der Kursk-Region 127 Rubel, in Swerdlowsk (Uralgebirge)
194 Rubel und in Ost-Sibirien 221 Rubel. Durch höhere Löhne sollten mehr Arbeiter
in die weiter entfernten Gegenden der Sowjetunion gelockt werden, wo das Leben
teilweise nicht einfach war.710
Es zeigt sich also, dass mit Ausnahme einiger Künstler und Wissenschaftler die
Lohnunterschiede nicht die gravierenden Ausmaße annahmen. Und selbst bei den sehr

705
BERGSON, A. (1984), S. 1070
706
BERGSON (1984), S. 1065, S. 1071-1072
707
OZORNOY, G. I. (1991)
708
ALEXEEV, M. V., & GADDY, C. G. (1993)
709
YANOWITSCH (1977), S. 24 - 26, LANE (1982), S. 12
710
DOBB (1966), S. 482 Fußnote 2

272
Zur Geschichte der Sowjetunion

hohen Gehältern einzelner Künstler reduzierte sich das Einkommen auf eine höhere
Konsumtion. Kapitalbildung war nicht erlaubt.
In diesem Licht ist auch die Aufhebung des sogenannten Parteimaximums zu interpre-
tieren. 1917 wurde eine Ordnung zur Bezahlung von Parteifunktionären eingeführt,
die beinhaltete, dass diese nur einen maximalen Lohn eines qualifizierten Arbeiters
haben dürfen. Die Höchstgrenze lag bei 300 Rubel. 1934 wurde diese Regelung auf-
gehoben, 1935 auf 500 Rubel, 1936 auf 1200 und 1945 auf 2000 Rubel angehoben. 711
Die Aufhebung der Regelung hatte ebenfalls mit der Qualifizierung von Arbeitskräf-
ten zu tun. Sie sagte keineswegs aus, dass jeder Parteifunktionär, unabhängig von
seinem Beruf oder seiner Aufgabe, 2000 Rubel verdiente. Der Sinn der Aufhebung
bestand darin, dass Ingenieure, Vorarbeiter, Staatsbedienstete oder Betriebsdirektoren,
die Mitglieder der Partei waren, das gleiche Gehalt bekamen, wie parteilose Berufs-
schichten. Ein Parteimitglied, welches Facharbeiter war, bezog das gleiche Gehalt wie
ein parteiloser Facharbeiter. Auch hier war die Steigerung der Arbeitsproduktivität ein
Hintergrund, da Ingenieure, die Parteimitglieder waren, durch das geringere Gehalt
unproduktiver arbeiteten. Man war aber finanziell dadurch nicht höher gestellt. Auch
in diesem Fall kann nicht von der Bildung einer neuen Klasse gesprochen werden.
Verdiente ein Parteimitglied eine Prämie oder einen hohen Preis, entschied die Partei,
welcher Anteil davon der Partei zustehen sollte. Durch diese Einnahmen wurden dann
Dienstreisen der Parteimitglieder finanziert.712
Auch die meisten nicht-kommunistischen Soziologen sind der Meinung, dass es in der
Sowjetunion keinen ausgeprägten Klassen-Snobismus gab. Verglichen mit der Situa-
tion in westlichen kapitalistischen Staaten gab es nur wenige kulturelle Unterschiede
zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz. Weiterhin gab es keine typische für eine
Ausbeuterklasse ausgeprägte Klassenkultur, Sprache oder Kleidung, wie wir sie von
der Bourgeoisie kennen.713 Natürlich gab es Unterschiede in Lebensstil und im Status.
Doch all dies rechtfertigte es nicht, von einer neuen ausbeuterischen Klasse zu reden.
Szymanski (1983) fasst die Befunde wie folgt zusammen:
"Die Beweise über die Einkommensverteilung (…) zeigen, dass es erstens keine
wohlhabende Klasse gibt, die ein Einkommen hat, welches vergleichbar ist mit der
ökonomischen Elite in kapitalistischen Ländern. Zweitens existiert keine privilegierte
soziale Schicht mit ihrem unverwechselbaren Life-Style, ausschließlichem Heiraten
untereinander und der absoluten Sicherheit, ihre hohen Positionen an ihre Kinder zu
vererben (wie es in kapitalistischen Staaten typisch ist). Drittens gibt es einen Ein-

711
HESSE, K. (2012), S. 334 - 335
712
WEBB & WEBB (1937), S. 349 Fußnote, 351 Fußnote
713
Vgl. PARKIN (1971), S. 157

273
Zur Geschichte der Sowjetunion

kommensunterschied in der Sowjetunion zwischen dem höheren Management und der


wissenschaftlichen und technischen Intelligenz auf der einen und Arbeitern auf der
anderen Seite, der ähnlich ist, wie der zwischen qualifizierten Fachkräften und Arbei-
tern in den USA. Viertens gibt es einen ausgeprägten Life-Style und Heiraten unterei-
nander sowie intergenerationelle Verbindungen in der wissenschaftlichen Intelligenz,
die sie zu einer sozialen Schicht macht, die sie sowohl von der Arbeiterklasse, wie
auch von der 'Machtelite' des Managements und Funktionäre unterscheidbar macht.
Fünftens sind die Tendenzen sowohl der wissenschaftlich-technischen als auch der
leitenden und politischen Intelligenz sich in eine soziale Klasse zu kristallisieren
signifikant schwächer als die Klassentrennung, die in kapitalistischen Staaten zwi-
schen der ökonomischen Elite und der Arbeiter existiert (…). Und sechstens sind die
Amtsinhaber der entscheidungstragenden Positionen in Wirtschaft und Staatsapparat
nicht von der technischen Intelligenz besetzt. Vielmehr scheint die leitende Schicht
näher an der Arbeiterklasse zu sein, als es die wissenschaftlich-technische Intelligenz
ist. Abschließend ist festzustellen, dass, obwohl die sowjetische Sozialstruktur nicht
dem kommunistischen Ideal entspricht, sie sowohl qualitativ anders und egalitärer ist
als jene der westlichen kapitalistischen Staaten. Der Sozialismus erschuf einen radika-
len Unterschied zugunsten der Arbeiterklasse." 714
Matthews vergleicht den Lebensstandard der sowjetischen Privilegierten mit jenen der
Angehörigen der amerikanischen Mittelklasse 715, einem Status, der doch ziemlich
ärmlich ist im Vergleich zum Adel oder der Bourgeoisie. Frank Parkin (1971) be-
hauptet, dass es in der Sowjetunion keine typischen Zeichen einer abgeschlossenen
Klasse gab. Während in westlichen Gesellschaften Mitglieder der verschiedenen
Klassen sich durch kulturelle und andere äußere Unterschiede differenzierten, sei die
sowjetische Gesellschaft relativ homogen.716 David Kotz stellt fest, dass sich die sow-
jetische Elite jenseits eines bescheidenen Hauses und eines Autos auf legale Weise
kein Eigentum anschaffen konnte. 717 Selbst Howard J. Sherman, der in seinem 1987
erschienenen Werk "Foundations of Radical Political Economy" der sowjetischen
Elite fälschlicherweise vorwirft, den Mehrwert privat anzueignen, kommt zu dem
Ergebnis, dass die sowjetischen Privilegien absolut wie relativ wesentlich niedriger
waren als jene der US-amerikanischen Kapitalisten.718

714
SZYMANSKI (1983), S. 591 - 592, zu Punkt Sechs siehe weiter unten
715
MATTHEWS (1978), S. 19, 176 f
716
PARKIN (1971), S. 139
717
KOTZ, D. (1999), S. 11
718
SHERMAN, H. J. (1987), S. 287, vgl. auch KOTZ & WEIR (1997), S. 112 - 113 und KOTZ
(1999), S. 4, 11

274
Zur Geschichte der Sowjetunion

David Lane (1988) stellt fest, dass, wenn man der marxistischen Definition einer
Klasse folgt, es in der Sowjetunion keine dominante herrschende Klasse gab. Eine
Klasse, im Gegensatz zu einer sozialen Differenzierung, zeichnet sich für Lane
dadurch aus, dass die einen dominieren, die anderen ausgebeutet werden. Sie haben
eine bestimmte Stellung zu den Produktionsmitteln, verfügen über ein bestimmtes
Bewusstsein und sie stehen im Gegensatz zueinander. Klassen sind eher ausbeuterisch
und privilegiert als geschichtet und ungleich.719 Indem Lane andere Autoren, die eine
neue ausbeuterische Klasse in der Sowjetunion sehen wollen, kritisiert, schlussfolgert
er, dass die sowjetische Gesellschaft nicht die oben von ihm festgestellten Kriterien
erfüllt. Er schließt nicht aus, dass dominierende Eliten in der sowjetischen Gesell-
schaft existierten, dass es hierarchische Strukturen gab etc. Doch diese erfüllen nicht
die Kriterien einer Klasse und es existieren auch keine Mechanismen der Ausbeutung
(also der privaten Aneignung des Mehrwertes durch einige wenige).720 Auch die An-
nahme einer Existenz von Privilegien und Ungleichheiten in der Sowjetunion, die von
manchen antisowjetischen Autoren als "Diktatur der Bedürfnisse" interpretiert wer-
den, ist nach David Lane unberechtigt. Denn solch ein Argument ignoriere eine An-
zahl hervorstechender Eigenschaften der Entwicklung des Sowjetsystems. So hätte
der Grad der Rückständigkeit Russlands, als das sozialistische Experiment begonnen
wurde, auch unter anderen politischen und ökonomischen Systemen zu unerfüllten
Bedürfnissen geführt.
Als Vergleich zieht Lane hierbei die große Ungleichheit in den Ländern der Dritten
Welt hinzu, die um Längen größer sei, als sie es je in den sozialistischen Staaten war.
Die Sowjetunion habe hingegen, trotz ihrer Rückständigkeit, soziale Gleichheit durch
weit reichende soziale Maßnahmen gefördert, wie ein umfassendes Bildungs- und
Gesundheitssystem, eine Landreform und eine Verringerung der Unterschiede zwi-
schen Stadt und Land. So lange es nicht genügend Produkte und Dienstleistungen zur
Befriedigung aller Bedürfnisse gebe, werde es Ungleichheiten geben und diese Un-
gleichheiten entstünden im Sozialismus nach dem Prinzip: "jeder nach seiner Leis-
tung". Für David Lane ist jedoch nicht entscheidend, ob Ungleichheiten entstehen,
sondern ob diese unnötig groß sind. Und in dieser Hinsicht könnten die Ungleichhei-
ten in der Sowjetunion nicht mit denen kapitalistischer Staaten gleichgesetzt wer-
den.721 Es gäbe jedoch auch im Sozialismus ungerechtfertigte Privilegien, besonders
bei Staatsfunktionären, da dadurch der Reichtum einer Gesellschaft nicht vergrößert

719
LANE, D. (1988), S. 3
720
LANE (1988), S. 10
721
LANE (1982), S. 10 - 11

275
Zur Geschichte der Sowjetunion

werde. Diese könnten zu Widersprüchen führen. Doch auch diese haben, wie David
Lane richtig feststellt, nichts mit Ausbeutung zu tun.722
Wir haben weiter oben die Gefahren und Gründe der Bürokratie analysiert und wer-
den im Weiteren den Kampf der Sowjetunion während der Stalin-Ära gegen den Bü-
rokratismus noch analysieren.
Hier ist es auch interessant, einige Textpassagen aus dem Werk "The U.S.S.R. – Its
significance for the West" (veröffentlicht 1942) von der "Socialist Clarity Group" zu
zitieren. Bei dieser Gruppe handelte es sich um sogenannte "Demokratische Sozialis-
ten", einer politischen Richtung also, der man nicht vorwerfen kann, "stalinistische
Propaganda" zu betreiben. Auch sie gehen richtigerweise davon aus, dass eine kom-
plexe Gesellschaft mit Arbeitsteilung eine Bürokratie und Spezialisten braucht. 723 Sie
irren sich aber, wenn sie behaupten, dass in der Sowjetunion die Bürokratie nicht von
unten kontrolliert wurde.724 Sie kommen aber dennoch zu der richtigen Schlussfolge-
rung, dass die Bürokratie in der Sowjetunion (trotz angeblich fehlender demokrati-
scher Kontrolle) keine herrschende Klasse darstellte. So heißt es:
"Die materiellen Privilegien, die die neue Bürokratie als Ganzes genießt, sind nicht
sehr umfangreich. Dasselbe System der Differenzierung wurde sowohl unter der Bü-
rokratie als auch unter der Arbeiterklasse errichtet, (…) Die unteren Schichten der
Bürokratie verdienen oftmals weniger als Industriearbeiter. Nur etwa 20% der gesam-
ten Bürokratie verdient bedeutend mehr als der durchschnittliche Arbeiter. Sie genie-
ßen auch eine Anzahl anderer Privilegien. Abgesehen von einer sehr kleinen Anzahl
von Künstlern und Schreibern, die ein Einkommen ganz unverhältnismäßig vom Rest
der Bevölkerung erhalten, kriegen Fabrikmanager, die sogenannten Roten Direktoren,
das höchste Gehalt. In Magnitogorsk zum Beispiel ist das Gehalt des Roten Direktors
siebenmal so hoch wie das des Durchschnittslohns und er bekommt 30 mal so viel
Wohnraum wie die Arbeiter. Mit anderen Worten: die oberste Schicht der Bürokraten
ist sicherlich materiell privilegiert verglichen mit einem gewöhnlichen Arbeiter. Der
Wert dieser Privilegien muss allerdings nicht übertrieben werden, weil sie in keinem
Fall mit den Einkommensunterschieden in kapitalistischen Ländern verglichen wer-
den können."725
Dass die Bürokratie keine neue Klasse darstellte, weist diese Gruppe ebenso nach:

722
LANE (1982), S. 12
723
SOCIALIST CLARITY GROUP (1942), S. 45 - 46
724
SOCIALIST CLARITY GROUP (1942), S. 47
725
SOCIALIST CLARITY GROUP (1942), S. 48

276
Zur Geschichte der Sowjetunion

"(a) Die materiellen Privilegien der sowjetischen Bürokratie begrenzen sich aus-
schließlich auf den Bereich des Konsums. Sie können ihr Einkommen nicht als priva-
tes Kapital, also als Quelle des Profites und Mittel der Ausbeutung, verwenden.
(b) Ihre Kinder und Verwandten können ihre Machtposition und ihren Einfluss nicht
erben.
(c) Gesellschaftlich rekrutierten sie sich selbst aus den Industriearbeitern und Kollek-
tivbauern und dieser Prozess des Rekrutierens dauert noch an. Es gibt keine Hinder-
nisse, seien es Geld, die gesellschaftliche Position oder ein Bildungsmonopol, die
einfache Arbeiter und Kollektivbauern oder ihre Söhne und Töchter daran hindern
können, in die Ränge der Bürokratie aufzusteigen. Sollte die sowjetische Bürokratie
jemals eine geschlossene, sich aus sich selbst erneuernde gesellschaftliche Gruppe
werden, dann würde sie die Charakteristika einer Klasse erreichen. Aber so lange jede
neue Generation von Bürokraten aus den besten vorhandenen Talenten der Masse der
Bevölkerung erneut rekrutiert wird, stellt sie lediglich eine funktionelle Gruppe dar –
essentiell in jeder modernen Gesellschaft. Von einer sowjetischen Bürokratie als
neuer herrschender Klasse zu reden ist daher ein Missbrauch der Begriffe." 726
Trotzkis Aussage, die Bezahlung nach Leistung in der Sowjetunion sei ein Ausdruck
der Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Massen727, da dies eine Bezahlung zum
Vorteil der geistigen auf Kosten der körperlichen Arbeit sei, ist ein moralisches Täu-
schungsmanöver. Es wurde gezeigt, dass die Bürokratie keine Klasse war (was Trotz-
ki letztlich selbst zugibt), der Reichtum sich nur auf den Konsum beschränkte (der
nicht vererbt werden konnte) und – das Wichtigste – jeder die Möglichkeit hatte,
beruflich aufzusteigen. Das sozialistische Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten –
jedem nach seiner Leistung" wurde daher erfüllt. Doch offensichtlich reichte das
Trotzki nicht aus. So schreibt er tatsächlich Folgendes: "Die Verteilung des Bodens
ist in der UdSSR unbestreitbar viel demokratischer als im zaristischen Russland und
selbst in den demokratischsten Ländern des Westens. Aber mit Sozialismus hat das
bisher noch recht wenig gemein." 728
An dieser Aussage ist einiges interessant. Obwohl Trotzki behauptet, dass Stalin eine
Konterrevolution durchführe, widersprach er mit dem o.g. Zitat zugleich dieser These;
dies insbesondere dann, wenn man sich noch vor Augen führt, wie gerne er die Büro-
kratie als parasitäre Schicht sieht, die schlimmer gewesen sei als in den kapitalisti-
schen Staaten. Dies macht keinen Sinn. Und was meint Trotzki mit der Aussage, dass

726
SOCIALIST CLARITY GROUP (1942), S. 48 - 49
727
VGL. TROTZKI (1936), S. 249
728
TROTZKI (1936), S. 138

277
Zur Geschichte der Sowjetunion

das mit Sozialismus bisher noch recht wenig gemein habe? Das weiß wohl nur Trotz-
ki. Dabei kommt er tatsächlich nicht umhin, die Erfolge der Sowjetunion zuzugeben:
"Gigantische Errungenschaften in der Industrie, vielversprechender Beginn eines
Aufschwungs der Landwirtschaft, außerordentliches Anwachsen der alten und Entste-
hen neuer Industriestädte, rasche Zunahme der Zahl der Arbeiter, Hebung des Kul-
turniveaus und der Bedürfnisse – das sind die unbestreitbaren Ergebnisse der Okto-
berrevolution, in der die Propheten der alten Welt das Grab der menschlichen Zivili-
sation sehen wollten. Mit den Herren bürgerlichen Ökonomen braucht man nicht
mehr zu streiten: der Sozialismus bewies sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten
des ‚Kapital‘, sondern in einer Wirtschaftsarena, die ein Sechstel der Erdoberfläche
bildet, bewies er es nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des
Eisens, des Zements und der Elektrizität. Selbst wenn die UdSSR infolge innerer
Schwierigkeiten, äußerer Schläge und der Fehler der Führung zusammenbräche –
was, wie wir fest hoffen, nicht eintreten möge – so bliebe doch als ein Pfand der Zu-
kunft die unaustilgbare Tatsache bestehen, dass allein dank der proletarischen Revolu-
tion ein zurückgebliebenes Land in weniger als zwei Jahrzehnten in der Geschichte
beispiellos dastehende Erfolge erzielte."729
Was aber Trotzki wohl nicht wahrhaben will, ist, dass diese Erfolge das Ergebnis
einer richtigen Politik unter der Führung Stalins waren. Um mit den Worten von Fal-
kenhagen abzuschließen: "Eine sehr infame Methode der antisozialistischen Diversion
des Leo (Lew) Trotzki war es, die Gebrechen der kapitalistischen Gesellschaft in die
neue sozialistische Gesellschaft zu transferieren. Er prophezeite sogar, dass diese im
real existierenden Sozialismus der Sowjetunion noch schlimmer würden, (…). Den
unterdrückten Arbeiter- und Bauernmassen der kapitalistischen Gesellschaft wollte er
damit signalisieren, von jeglichen revolutionären Veränderungen Abstand zu neh-
men."730 "Eine Grundlage der Argumentation Trotzkis war die Hervorhebung eines
angeblichen Anwachsens der Ungleichheit und der sozialen Gegensätze in der Sow-
jetgesellschaft. (…) Der Klassenstandpunkt wurde dabei völlig ausgeklammert, so
dass er dann völlig ‚unbeschwert‘, die Superprofite von Großkapitalisten und selbst
die von Großbanken und Megaspekulanten (…) mit den Löhnen, Gehältern und Prä-
mien von hart zum Wohle des Volkes arbeitenden Sowjetfunktionären, Ingenieuren
und Arbeitern auf eine Stufe stellt."731
Damit wird deutlich, dass in der Sowjetunion keine Diktatur der Bürokratie herrschte,
sondern die Diktatur des Proletariats. Während der Oktoberrevolution wurde der alte

729
TROTZKI (1936), S. 10
730
FALKENHAGEN, TEIL 2, S. 19
731
FALKENHAGEN, Teil 2, S. 23
278
Zur Geschichte der Sowjetunion

zaristische Staatsapparat zerbrochen und das Proletariat gelang im Bündnis mit den
Bauern an die Macht. Daraus entstand ein neuer Machtapparat, der von der Masse des
Volkes kontrolliert und aus ihr immer wieder ergänzt und erneuert wurde.
Dementsprechend gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen kapitalistischer
und sozialistischer Bürokratie, der sich aus der völligen Gegensätzlichkeit der die
Bürokratie dirigierenden herrschenden Klassen ergibt.
Der Sozialismus ist kein fertiges System, es gibt entsprechend noch Unterschiede in
den Einkünften. Daraus haben Kommunisten nie ein Geheimnis gemacht. Zum Ab-
schluss sei hier Lenin zitiert: "Der Sozialismus ist kein fertiges System, mit dem man
die Menschen beglückt. Der Sozialismus ist der Klassenkampf des heutigen Proletari-
ats, das um seines Hauptzieles willen vom Ziel des heutigen Tages zum Ziel des mor-
gigen Tages schreitet und dabei seinem Hauptziel mit jedem Tag näher kommt."732

5. Von der Theorie der Bürokraten-Herrschaft zur


Theorie des Staatskapitalismus
5.1. Einführendes
Trotzki zählt zwar zu den bekanntesten "linken" Vertretern, die den Sozialismus in
der Sowjetunion negieren, doch er ist bei weitem nicht der einzige.
Trotzkis "Theorie" des degenerierten Arbeiterstaates geht, wie wir nun wissen, davon
aus, dass die Sowjetunion irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehe.
Die Produktionsmittel seien zwar vergesellschaftet, die Arbeiterklasse habe jedoch
nicht die Macht im Staat, sondern eine privilegierte, parasitäre Schicht von Bürokra-
ten. Diese Bürokraten verhalten sich zwar irgendwie wie eine Klasse, seien jedoch
keine. Dieses Wirrwarr an Beschuldigungen wurde an anderer Stelle zu Genüge wi-
derlegt. Doch es ist interessant festzustellen, dass es auch innerhalb des trotzkisti-
schen Lagers heftige Streitigkeiten um die Bewertung der Sowjetunion gibt.
Viele Schüler und Anhänger Trotzkis lehnten seine Theorie des degenerierten Arbei-
terstaates ab und phantasierten von den Bürokraten als einer herrschenden Klasse oder
zauberten gleich einen Staatskapitalismus herbei. Dabei hatten sie einen nicht ganz
unlogischen Einwand: Was für ein Arbeiterstaat könne die Sowjetunion sein, wenn

732
LENIN, Werke Band 19, "Ein Gespräch", S. 27
279
Zur Geschichte der Sowjetunion

dort die Arbeiterklasse nicht die herrschende Klasse sei. Diese Kritiker neigen dazu,
von der Entstehung einer neuen herrschenden Klasse zu reden. Auffällig ist, dass
dabei nicht der marxistische Klassenbegriff gewählt wird, sondern ein imaginäres
Konstrukt, das völlig unabhängig von den realen materiellen Verhältnissen ist. Dieses
propagandistische Konstrukt der bürgerlichen Ideologie dient nicht nur dazu, gesell-
schaftswissenschaftliche Forschung zu mystifizieren, sondern die Massen vom Auf-
bau einer neuen sozialistischen Gesellschaft fernzuhalten. Durch Floskeln wie "büro-
kratische Herrscherschicht", "Parteibonzen", "Reiche", "Nomenklatura", "Machtelite"
oder "neue Klasse" im Sozialismus soll gezeigt werden, dass die sozialistische Gesell-
schaft nicht besser - oftmals sogar schlechter - als die kapitalistische sei.
Trotzkis Beispiel folgend, hat die bürgerliche Ideologie Werke hervorgebracht, die
den Arbeiten Trotzkis in nichts nachstehen und sogar um einiges konsequenter sind.
Eine gewisse "Glaubwürdigkeit" wird dadurch erreicht, dass sich diese Ideologen
"links" oder "progressiv" geben. Was ist jedoch zunächst von den o.g. Schlagworten
zu halten? Beispielsweise ist der Begriff "Nomenklatura" nicht wirklich aussagekräf-
tig, was Machtstrukturen im Sozialismus angeht. Zurückzuführen ist dieser Begriff,
mit dem westliche Ideologen die "Elite" der Sowjetunion beschreiben, auf die Auflis-
tungen von Positionen, bei der sich die Partei das Recht vorbehält, Aufstellungen und
Absetzungen von Kadern zu überwachen. 733 Es handelt sich also um nichts weiter als
um ein Blatt Papier, auf dem wichtige Posten von Parteifunktionären aufgelistet sind.
Das ist bei weitem keine überzeugende Definition, um eine "Elite" oder gar eine Klas-
se zu beschreiben. Da das Wort "Nomenklatura" jedoch griffig ist und einzigartig und
unverwechselbar klingt, dient es als Propagandakonstrukt dazu, den Sozialismus zu
diskreditieren, ohne Inhalte zu transportieren.
Schon seit Beginn der Oktoberrevolution wurden die Sowjetunion und der Sozialis-
mus von "links" angegriffen mit teilweise recht merkwürdigen Ansichten. Der Trotz-
kismus lieferte dabei die wohl spektakulärsten Angriffe. Doch sie waren nicht die
einzigen.
Neben den Trotzkisten waren es vor allem ab den 1960ern maoistisch orientierte
Kräfte, die die Sowjetunion als kapitalistisch (oder staatskapitalistisch) einordneten.
Im Unterschied zu den Trotzkisten fanden die Maoisten jedoch einen anderen Zeit-
punkt für das Auftreten des Problems. Ihrer Ansicht nach wurde nicht durch Stalins
"Konterrevolution" der Sozialismus abgeschafft, sondern erst nach Stalins Tod, vor
allem mit dem XX. Parteitag der KPdSU. Die maoistische Kritik erscheint zwar teil-
weise fundierter als die trotzkistische, da sie zurecht die Angriffe auf Stalin nach dem
XX. Parteitag sowie politische und ökonomische Fehlentscheidungen der Nachfolger

733
FARMER, K. C. (1992), S. 77

280
Zur Geschichte der Sowjetunion

Stalins kritisiert.734 Gleichzeitig übertrieben sie mit ihrer Kritik und schossen weit
übers Ziel hinaus, da aufgrund der ökonomischen und politischen Reformen der
1960er und 70er Jahre die Sowjetunion von ihnen als Kapitalismus, Imperialismus, ja
sogar als Hauptfeind eingestuft wurde, der schlimmer sei als die USA und ihre Ver-
bündeten. Diese Strömung und ihre Kritiken werden hier nicht behandelt, sondern
gesondert analysiert werden.735
Es gab neben diesen Strömungen einige weitere, die kurz angerissen werden sollen,
um zu verdeutlichen, dass die Zahl der "Kritiker" des Sozialismus in der Sowjetunion
zwar recht groß ist, ihr Inhalt aber dafür in keinem Verhältnis zur Anzahl der Kritiker
steht.
Zu den frühen "bolschewistischen" Kritikern gehörte z. B. Gawriil Iljitsch Mjasnikow
(1889 - 1945). Mjasnikow war ein oppositioneller "Bolschewik", der schon seit 1920
linksopportunistische Positionen gegen Lenin vertrat: So war er Mitglied der "Arbei-
teropposition" unter der Führung von Schljapnikow und Kollontai gegen Lenin und
forderte die Pressefreiheit für die Konterrevolution. Dazu ließ Lenin verlautbaren:
"Die Pressefreiheit in der RSFSR, die von bürgerlichen Feinden aus aller Welt um-
ringt ist, wäre die Freiheit der politischen Organisation für die Bourgeoisie und ihre
treuesten Diener - die Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Das ist eine unwiderleg-
bare Tatsache. Die Bourgeoisie ist (in der ganzen Welt) noch stärker als wir, und zwar
um ein vielfaches. Ihr noch eine solche Waffe zu geben wie die Freiheit der politi-
schen Organisation (= Pressefreiheit, denn die Presse ist Mittelpunkt und Grundlage
der politischen Organisation) hieße dem Feind die Sache erleichtern, hieße dem Klas-
senfeind helfen. Wir wollen nicht Selbstmord begehen, und deshalb werden wir das
nicht tun. Wir sehen klar die Tatsache: 'Pressefreiheit' würde in Wirklichkeit bedeuten,
dass die internationale Bourgeoisie sofort Hunderte und Tausende kadettischer, sozi-
alrevolutionärer und menschewistischer Schriftsteller kauft und ihre Propaganda,
ihren Kampf gegen uns organisieren würde. Das ist eine Tatsache. 'Sie' sind reicher
als wir und werden eine zehnmal größere 'Kraft' kaufen gegen die Kraft, über die wir
verfügen. Nein, das machen wir nicht, wir werden der Weltbourgeoisie nicht hel-
fen."736

734
Einige dieser Fehlentscheidungen wie das Konzept des Staates des Ganzen Volks wurden
weiter oben behandelt. Andere Bereiche waren die Friedensfähigkeit des Imperialismus, sowie
die zunehmende Dezentralisierung der Planwirtschaft.
735
Zur Analyse der maoistischen Positionen siehe: SPANIDIS, T. (2018) https://offen-siv.net/wp-
content/uploads/2018/07/offensiv_7-2018_Sozialimperialismus.pdf
736
LENIN: Brief an Mjasnikow vom 5. August 1921 in LW Band 32, S. 529 - 530

281
Zur Geschichte der Sowjetunion

Mjasnikow argumentierte also, dass schon in den 20ern – noch unter Lenin! – die
Arbeiterklasse entrechtet wurde und durch eine Schicht privilegierter Bürokraten
ausgebeutet wurde. 1922 wurde Mjasnikow aus der Partei ausgeschlossen und zwi-
schen 1922 und 1927 mehrmals verhaftet. 1928 verließ er die Sowjetunion, kehrte
aber 1945 wieder zurück und starb im selben Jahr. Gerüchten zufolge – jedoch ohne
genauere Anhaltspunkte – soll er vom NKWD verhaftet und hingerichtet worden
sein.737
1930 veröffentliche Mjasnikow in seinem Exil das Pamphlet "The Latest Decepti-
on"738, in dem behauptet wird, dass in der Sowjetunion eine gewaltsame Konterrevo-
lution stattgefunden habe. Nachdem die Arbeiterklasse 1917 durch die Arbeiter-Räte
(den Sowjets) die Macht übernommen habe, habe die Welt-Bourgeoisie innerhalb von
drei Jahren durch Bürgerkrieg und Weißen Terror die Machtbalance zu ihren Gunsten
ändern können. Die Arbeiter-Räte seien zerstört und die Arbeiterklasse somit ihrer
Machtbasis beraubt worden. Da es jedoch keine russische Bourgeoisie mehr gegeben
habe, sei die Macht zunächst in die Hände der Bauern, also des Kleinbürgertums
gefallen. Sie hätten die bürokratische Staatsmaschinerie zur Kontrolle der Wirtschaft
genutzt. Da aber das Kleinbürgertum aufgrund ihrer Produktionsweise atomisiert
gewesen sei, also vereinzelt gewirtschaftet habe, habe es keine Kontrolle über die
Bürokratie ausüben können. Entsprechend habe sich aus der Bürokratie eine herr-
schende Klasse entwickelt, die die Arbeiterklasse, wie auch das Kleinbürgertum un-
terdrückt und ausbeutet habe. Diese Bürokratie sei in alle Sphären der Wirtschaft
eingedrungen und es habe sich ein Staatskapitalismus mit Ausbeutung und Mehrwert-
produktion entwickelt.
Das Pamphlet Mjasnikows hatte jedoch ein Problem, wie übrigens so ziemlich alle
Arbeiten jener, die den Sozialismus in der UdSSR 'widerlegen' wollten: Es fehlt der
Beweis für die Hypothese. Man behauptet schlicht und einfach, dass Lohnarbeit,
Ausbeutung und Mehrwertproduktion in der Sowjetunion existierten, ohne jedoch
tiefer in die Argumentation hineinzugehen oder diese zu untermauern.739
"Weil man nicht leugnen kann, dass in der Sowjetunion kein Privatkapitalismus exis-
tiert, und man andererseits nicht anerkennen darf, dass dort Sozialismus herrscht, so
bleibt ihnen nur übrig zu behaupten, dass dort Staatskapitalismus ist". 740

737
Vgl. AVRICH, P. (1984)
738
MJASNIKOW, G. I. (1930) https://libcom.org/library/latest-deception-gabriel-miasnikov vgl.
auch VAN DER LINDEN, M. (2007), S. 51 ff.
739
Vgl. auch VAN DER LINDEN (2007), S. 57
740
LINDE, H. (1932), S. 32.
282
Zur Geschichte der Sowjetunion

Entsprechend, um für ihre "Theorie" des Staatskapitalismus eine gewisse Glaubwür-


digkeit vorzutäuschen, wird von einer historisch einmaligen Situation gesprochen, die
es nicht erlaube, die Sowjetunion als sozialistisch und als "privat"-kapitalistisch zu
definieren. Also erfindet man den Staatskapitalismus. In diese Richtung argumentiert
z. B. der Rätekommunist Helmut Wagner in seinem 1934 erschienenen "Thesen über
den Bolschewismus", indem er unterstellt, dass die sowjetische Wirtschaft kapitalis-
tisch sei, es jedoch keine Bourgeoisie gäbe. Die Bolschewiki hätten aber die Rück-
ständigkeit Russlands überwinden müssen und hätten somit die Aufgaben, die eigent-
lich der Bourgeoisie zustüden, übernehmen müssen. Die Bolschewiki hätten also die
Aufgaben der bürgerlichen Revolution ausführen müssen und hätten daher nicht sozi-
alistisch sein können.741
Auch der österreichische Sozialdemokrat Friedrich Adler behauptete in seiner 1932
erschienenen Schrift, dass eine sozialistische Gesellschaft nur auf Basis einer hoch
entwickelten Industrie errichtet werden könne. Entsprechend hätten die Bolschewiki
kapitalistische Wirtschaftsmethoden einführen müssen, um eine Industrialisierung zu
ermöglichen. In der Sowjetunion habe es – entsprechend wie in den kapitalistischen
Ländern – eine "ursprüngliche Akkumulation" gegeben. Die Industrialisierung der
Sowjetunion sei damit eine ursprüngliche Akkumulation ohne Privatkapitalisten ge-
wesen742
Unter "ursprüngliche Akkumulation" ist nach Marx aber nichts anderes zu verstehen
als "der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Der
Prozess sei 'ursprünglich', weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm ent-
sprechenden Produktionsweise bildet."743 Historisch zeigte sich diese ursprüngliche
Akkumulation z. B. durch die Enteignung des Landvolkes von Grund und Boden und
die Auflösung von feudalen Verhältnissen und Zunftverhältnissen, durch die Diszipli-
nierung des Proletariats in das Verhältnis der Lohnarbeit etc. Diese ursprüngliche
Akkumulation wirft Adler also der Sowjetunion vor.
Adlers Theorie enthält jedoch einige fundamentale Fehler. Denn die ursprüngliche
Akkumulation ist nicht das Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise, sondern
ihre Ausgangsbasis, ihre Voraussetzung.
Zum anderen war die Trennung vom Produzenten und Produktionsmittel charakteris-
tisch für die ursprüngliche Akkumulation. Doch genau das geschah in der Sowjetuni-
on nicht. So war z. B. die Kollektivierung der Landwirtschaft die Vereinigung der

741
WAGNER, H. (1934). Vgl. auch VAN DER LINDEN (2007), S. 54 - 57
742
ADLER, F. (1932) vgl. auch VAN DER LINDEN (2007), S. 53 - 54
743
MARX, Kapital Band 1, MEW Band 23, S. 742

283
Zur Geschichte der Sowjetunion

Kleinproduzenten, dessen Produkte kollektives Eigentum der Kollektivwirtschaft


waren.744
Offensichtlich vergessen alle diese Autoren745 einen Umstand: Die Gründung des
ersten sozialistischen Staates – der Sowjetunion – war bis zum Zeitpunkt 1917 eine
historische Neuheit. Es gab kein Patentrezept dafür, wie ein Sozialismus in der histo-
rischen Situation konkret auszusehen habe. Umso merkwürdiger klingt es, dass all
diese Kritiker zwar den sozialistischen Charakter der Sowjetunion ablehnen, diesen
aber zum einen nicht widerlegen und zum anderen auch nicht konkretisieren, wie
denn ihrer Auffassung nach eine sozialistische Gesellschaft auszusehen habe. Es
kommen nur oberflächliche Paraphrasen über Arbeiterkontrolle und die Unterent-
wicklung Russlands, ohne jedwede konkrete Inhalte.

5.2. Abtrünnige der Kirche des heiligen Trotzki -


Shachtman, Burnham, Rizzi
McNeal (1999) stellt in seinem Essay über die trotzkistischen Interpretationen der
Sowjetunion fest, dass die orthodoxen Trotzkisten (also jene, die Trotzki blind glau-
ben) nach 1940 wenig zum Konzept des "Stalinismus" beigetragen haben. Unortho-
doxe Trotzkisten, (also jene, die von Trotzkis Ideen stark beeinflusst waren, mit die-
sem aber in wichtigen Punkten abwichen) waren da schon einfallsreicher.746 Zu diesen
Unorthodoxen gehören James Burnham, Bruno R., Max Shachtman und Tony Cliff.
Max Shachtman war einer der wichtigsten trotzkistischen Figuren in den USA der
30er Jahre. 1940 kam es zum Bruch mit Trotzki und er gründete seine eigene Gruppe.
Grund dieses Bruches waren die Auseinandersetzungen mit Trotzki über den Charak-
ter der Sowjetunion als Arbeiterstaat. Aber Shachtman hatte noch eine große Bewun-
derung für seinen Lehrmeister. Nach Shachtmans Ansicht war Trotzki in seiner Ana-
lyse über den "Stalinismus" unfähig, die logische Konsequenz zu ziehen, dass die
Sowjetunion kein Arbeiterstaat war. Shachtman behauptete, dass die Arbeiterklasse in
der Sowjetunion die Macht verloren hatte und bezeichnete die Herrschaftsform als
bürokratischen Kollektivismus.747 Diese Konsequenz ist nicht verwunderlich. Losurdo
schreibt z. B., dass Trotzki lieber von der Bürokratie sprach, als von einer neuen Ka-

744
Vgl. auch LINDE (1932), S. 26 - 27
745
VAN DER LINDEN (2007) erwähnt noch eine ganze Reihe weiterer Autoren, die den sozialisti-
schen Charakter der Sowjetunion ablehnen
746
MCNEAL (1999), S. 44
747
MCNEAL (1999), S. 45, vgl. auch SHACHTMAN, M. (1940A) & SHACHTMAN, M. (1940B)

284
Zur Geschichte der Sowjetunion

pitalistenklasse, die Ähnlichkeiten in diesen Ausführungen jedoch bestehen bleiben


würden.748
James Burnham (1905 - 1987) gehörte ebenfalls zu den Schülern Trotzkis, der die
Bürokraten zur herrschenden Klasse erhob und Trotzki Theorie des "degenerierten
Arbeiterstaates" als Zirkelschluss ansah. 1938 fasste das Burnham im Bulletin der
Socialist Workers Party wie folgt zusammen: "Wir fragen sie (die Verteidiger der
Theorie): 'Was für ein Staat ist die Sowjetunion?' Sie antworten: 'Es ist ein Arbeiter-
staat.' Wir fragen: 'Warum ist es ein Arbeiterstaat?' Sie antworten: 'Weil das Eigentum
verstaatlicht ist.' Wir fragen: 'Warum macht verstaatlichtes Eigentum einen Staat zum
Arbeiterstaat?' Und sie antworten: 'Weil ein Arbeiterstaat ein Staat ist, in dem das
Eigentum verstaatlicht ist.' Das ist in der Form exakt dasselbe Argument, das von
jenen genutzt wird, die behaupten, dass die Bibel das Wort Gottes sei. Wir fragen sie:
'Woher wisst ihr, dass die Bibel Gottes Wort ist?' Sie antworten: 'Weil in der Bibel
steht, dass es das Wort Gottes ist.' Wir fragen: 'Aber wie könnt ihr beweisen, dass es
wahr ist?' Sie antworten: 'Weil nichts, was von Gott kommt, eine Lüge sein kann.' In
beiden Fällen wird die Schlussfolgerung in der Prämisse vorausgesetzt; das Argument
ist ein Zirkelschluss und erklärt überhaupt nichts." 749
1940 verließ er zusammen mit Max Shachtman die trotzkistische "Socialist Workers
Party" (SWP) und sie gründeten ihre eigene Sekte, die "Workers Party". Aber schon
1941 zerwarf sich auch Burnham mit Shachtman und ersterer sah sich nicht mehr als
Marxisten an.750 Bekannt wurde Burnham durch sein 1941 erschienenes Buch "The
Manageral Revolution".751 Burnham spricht von einer "revolutionären Epoche", in der
die "Manager" (Administratoren, Experten, leitende Ingenieure, Produktionsleiter,
Propagandaspezialisten und Technokraten), die die neue Elite und herrschende Klasse
darstellen und die vorhandenen Gesellschaftsformationen, seien sie nun kapitalistisch,
faschistisch oder kommunistisch, ablösen würden. Burnham versucht seine Hypothe-
se dadurch zu unterstützen, dass er eine Trennung zwischen Eigentümern und Ver-
waltern (Managern) in der Wirtschaft konstruiert. So behauptet er, dass die juristi-
schen Eigentümer eines Konzerns sich immer weniger in die ökonomischen Entschei-
dungen einmischen und diese Verwaltung dem Management überlassen. Als Beleg für
die Trennung zwischen Eigentümerrolle und Managerrolle verweist Burnham auf die
Arbeit von Berle & Means (1932) "The Modern Corporation and Private Property". 752
Sie argumentieren, dass das US-amerikanische Gesellschaftsrecht der 1930er die

748
LOSURDO (2012), S. 131 – 132
749
BURNHAM, J. (1937)
750
VAN DER LINDEN (2007), S. 80
751
BURNHAM, J. (1941)
752
BERLE, A. & MEANS, G (1932)

285
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trennung zwischen Eigentum und Kontrolle durchgesetzt habe, da zwar der juristi-
sche Eigentümer formell über einen Konzern verfüge, jedoch wenig Interesse am
tagtäglichen Geschäftsleben zeige. Dies sei die Aufgabe des Managements, die jedoch
die Ressourcen eines Unternehmens für ihre Zwecke, zur Not auch gegen die Eigen-
tümer ausnutzen könnten. Burnham geht entsprechend davon aus, dass die Manager
die eigentlichen Kontrolleure der Wirtschaft seien und damit zur herrschenden Klasse
würden. Da in der Sowjetunion die Betriebsdirektoren und die bürokratischen Ver-
walter eine dem äußeren Anschein nach ähnliche Funktion erfüllten wie das Ma-
nagement eines kapitalistischen Konzerns, seien sie die herrschende Klasse.
Burnham sieht also in einer sowjetischen "Elite" eine neue, herrschende Klasse. Diese
"Elite" kontrolliere die sowjetische Ökonomie wie auch die politischen Entscheidun-
gen und eigne so den Mehrwert an.
Vergessen wir demgegenüber nie: Entscheidend, ob wir bei einer Klasse von einer
herrschenden Klasse reden können, ist ihr Eigentum an Produktionsmitteln. In diesem
Zusammenhang müssen Eigentum, Kontrolle und Steuerung unterschieden werden.
Nach dem Soziologen Albert Szymanski (1979) ist Kontrolle definiert als die Macht
darüber zu entscheiden, wie einzelne Ressourcen gebraucht und erweitert werden,
was produziert wird und wie die Arbeit aufgeteilt wird. Eigentum hingegen meint die
rechtmäßige Kontrolle, d. h. eine Kontrolle, die von der besitzenden Klasse anerkannt
wird. Dies beinhaltet auch, dass die dominierende Klasse regeln kann, was sie wie
kontrolliert oder kontrollieren lässt. Dazu gehört auch der Verkauf oder das Vererben
des Eigentums. Aus diesem Verhältnis zu Kontrolle und Eigentum ist zu schließen,
dass zwar eine Gruppe von Menschen die Produktionsmittel kontrollieren kann, je-
doch nicht unbedingt das Recht besitzt, diese zu vererben. Aber es ist durchaus mög-
lich, dass sich beides in einem vereint. Unter Steuerung ist die tägliche Leitung der
Produktionsmittel gemeint. Verdeutlichen wir das Verhältnis dieser drei Formen in
einem Beispiel: Aktionäre eines Großkonzerns können Eigentümer sein. Eine Interes-
sengruppe, wie Investoren und Banken, können kontrollieren, was und wie produziert
wird. Und Manager können den täglichen Ablauf steuern. 753 Im Kapitalismus liegen
Eigentum und Kontrolle der Produktion in den Händen der Bourgeoisie. Es ist dabei
nicht das Entscheidende, welcher Kapitalist der konkrete Eigentümer der Produkti-
onsmittel ist, - die Kapitalisten als Klasse verfügen über das Eigentum. Dies drückt
sich u.a. dadurch aus, dass die kapitalistische Klasse sich aus sich selbst heraus rekru-
tiert. Kinder und Enkel der Kapitalisten haben nämlich die viel höhere Wahrschein-
lichkeit, in Schlüsselpositionen aufzurücken. 754

753
SZYMANSKI, A. (1979), S. 20 - 21
754
SZYMANSKI (1979), Ebenda

286
Zur Geschichte der Sowjetunion

Dies ist entscheidend, will man den Sozialismus definieren. Hier besitzen und kon-
trollieren die Werktätigen, unter Führung des Proletariats, die Produktionsmittel, und
die Produktion wird kollektiv nach einem gesamtgesellschaftlichen Plan durchgeführt.
Szymanski (1979) gibt zu bedenken, zur Definition des Sozialismus sei es nicht not-
wendig, dass ein jeder Einzelner die Produktion kontrollieren muss. Dies sei eine
Frage der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsteilung. Je weiter sich eine
sozialistische Gesellschaft entwickle, desto weiter entwickle sich - im Idealfall - diese
Kontrolle. Solange jedoch die notwendigen und wichtigen Entscheidungen, z. B. die
Grundlagen des Produktionsprozesses, die Art und Weise des Produzierens, die Ver-
teilungsmechanismen usw. gesamtgesellschaftlich blieben, sei eine Gesellschaft so-
zialistisch.755
Nicht selten negieren bürgerliche Ideologen den Klassencharakter einer Gesellschaft
und reden stattdessen von "Eliten". Hierbei handelt es sich um einen schwammigen
Begriff, mit dem irgendwelche Personenkreise, die sich durch verschiedenartige
Merkmale von anderen Teilen der Gesellschaft unterscheiden, definiert werden. Im
Prinzip können diese "Eliten" an mehreren beliebigen Merkmalen festgemacht wer-
den. So gebe es neben "totalitären Eliten" auch "pluralistische Eliten". Diese Untertei-
lung soll aussagen, dass die Macht zwischen den unterschiedlichen "Eliten" verteilt
ist.
Die Bourgeoisie hat schon immer Wissenschaftler, Politiker, Experten, Intellektuelle
etc. rekrutiert, die neue Ideen hervorbringen, die bürgerliche Ideologie verbreiten und
die tägliche Leitung der Produktion oder des Staates durchführen. Diese "pluralisti-
schen Eliten" haben nicht zwingend die Macht im marxistischen Sinne (Eigentum an
Produktionsmitteln), jedoch in bestimmten Bereichen einen entscheidenden Einfluss;
sie handeln also im Interesse der herrschenden Klasse und unterstehen ihrer Kontrol-
le. Wichtiger sind jedoch die Konzepte von "Machteliten", basierend auf den Arbeiten
von C. W. Mills. Hiernach sind die Eliten nicht pluralistisch, sondern ziemlich ein-
heitlich, da die dominierenden Institutionen einer Gesellschaft von einer miteinander
vernetzten Gruppe von Personen integriert und verwaltet werden. 756 Diese Konzeption
entspricht zwar mehr dem zu Anfang erstellten Konzept der Klasse. Doch auch diese
Elitentheorien haben ihren besonderen Charakter:
"[Die Elitentheorie ist eine] bürgerliche Theorie, nach der die Volksmassen, die
Werktätigen, zu jeder eigenständigen schöpferischen Leistung nicht fähig sind, als
willenlose, leicht verführbare Masse keine eigenständige geschichtsbildende Kraft
darstellen, sondern zu ihrer Führung einer Elite bedürfen. Das Ziel der E[litentheorie]

755
SZYMANSKI (1979), S. 22
756
Vgl. LANE (1988). S. 4
287
Zur Geschichte der Sowjetunion

besteht darin, die gesellschaftliche Entwicklung als das Werk einer Führungsschicht
nachzuweisen, deren privilegierte Stellung und Herrschaft über die Massen sie aus
angeblich besonderen, sozialen, biologischen, geistigen oder sittlichen Qualitäten
dieser Schicht herzuleiten versucht. (…) E[litentheorien] sind in den reaktionären
Ideologien aller Ausbeuterklassen enthalten. Sie gewinnen immer dann an Bedeutung,
wenn es gilt, die privilegierte Stellung der Eigentümer der Produktionsmittel und
damit auch die politische Macht gegenüber dem Volk zu rechtfertigen und zu vertei-
digen. Die bürgerlichen E[litentheorien] entstanden als Reaktion auf den Klassen-
kampf des Proletariats, als Formen des ideologischen Kampfes der Bourgeoisie gegen
die Arbeiterbewegung und gegen den zunehmenden Einfluss der marxistisch-
leninistischen Weltanschauung. Sie proagieren autoritäre, hierarchisch gegliederte
Gesellschaftssysteme. (…) Gegenwärtig finden wir die E[litentheorien] (…) u. a. [in]
bürgerlichen Ideologien, in denen behauptet wird, dass die wissenschaftlich-
technische Revolution zwangsläufig die führende Rolle der Intelligenz erfordere
(…)."757
Ebenso unterstellt man den sozialistischen Gesellschaften solche Machteliten, die sich
von der Masse der Arbeiter unterscheiden. Hierbei konzentrieren sich die Ideologen
der "Kommunismusforschung", die eine Elite in den sozialistischen Staaten entdecken
wollen, im Wesentlichen auf die wissenschaftlich-technische und künstlerische Intel-
ligenz, sowie auf die Funktionäre des Staats- und Parteiapparates. Die Massen der
Werktätigen werden als uninteressante und passive Objekte der Gesellschaft ignoriert.
Somit werden auch die Produktionsbedingungen ignoriert. Gerechtfertigt wird dies
durch die Tatsache, dass in den sozialistischen Staaten die wissenschaftlich-
technische Intelligenz besonders stark zunimmt, was eine Folge der Produktivkraft-
entwicklung im Sozialismus ist. Das wird aber gekonnt ignoriert. Vielmehr wird ver-
sucht, die gleichen Widersprüche zwischen Machtelite und Masse, wie sie im Kapita-
lismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat existieren, auf den Sozialismus zu über-
tragen.758 Diese Elitentheorien passen dabei sehr gut in das Konzept der "Totalitaris-
mus": Dieses Schlagwort steht für eine alles bestimmende Kommunistische Partei als
Elite, die eine "Masse" regiere.
Lane (1978) stellt zurecht fest, dass die "extremeren Totalitarismus-Modelle unzu-
reichend sind, die Tatsachen des gegenwärtigen sowjetischen sozialen und politischen
Lebens zu erklären." Es sei "zweifelhaft, ob ein Regime sich so lange halten könnte,
wenn es vollkommen gleichgültig gegenüber den Forderungen, die von der Nicht-
Elite gemacht wurden, wäre."759 Trotz dieser richtigen Kritik am Totalitarismus-

757
AUTORENKOLLEKTIV (1973): Kleines politisches Wörterbuch, S. 190
758
AUTORENKOLLEKTIV (1974), S. 147 - 149, Vgl. auch LANE (1988), S. 5 ff
759
LANE, D. (1978), S. 193

288
Zur Geschichte der Sowjetunion

Konzept schafft es David Lane als bürgerlicher Soziologe nicht, sich vom Eliten-
Konzept zu lösen. So zitiert er A. G. Meyer, der die sowjetische "Eliten" in je eine
wirtschaftlich-administrative, militärische, wissenschaftliche und meinungsbildende
unterteilte. Ganz oben stünden jedoch die politischen Kader, das Parteiaktiv, als do-
minante Gruppe.760 Jedoch bestünde eine "Mobilität zwischen den Eliten" und diese
seien "offen für alle", abhängig von ihren Fähigkeiten, ihrer Bewerbung, ihrem Erfolg
und Konformismus. Lane hält dieses Modell von Meyer "für realistischer als die vor-
her beschriebenen".761 Nun bleibt die Frage offen, wie realistisch ein "Elitenmodell"
sein kann, bei dem der Zugang theoretisch für alle offen ist, welches damit aber Sinn
und Zweck einer Elite ad absurdum führt. Immerhin gibt Lane, basierend auf Arbeiten
anderer Elitentheoretiker, zu, dass selbst jene, die Eliten definieren wollen, nicht in
den Kriterien für deren Bestimmung übereinstimmen und deshalb die von ihnen be-
schriebenen Elitenmodelle (Bürokratismus, Staatskapitalismus, Totalitarismus etc.)
widersprüchlich sind.762 Die Größe der angeblichen Elite ist bei manchen Autoren
widersprüchlich. Aber je nach Definition reicht diese Elite von mehreren Hunderttau-
send zu etwas über einer Million Personen. Es seinen aber im Wesentlichen immer
Parteimitglieder.763
Die existierenden Klassenunterschiede zwischen den nicht-antagonistischen Klassen,
die Unterschiede in der Arbeit und die Schwäche der Produktivkraftentwicklung,
deren hohe ntwicklung für eine vollkommen klassenlose Gesellschaft (den Kommu-
nismus) notwendig wäre, sorgen dafür, dass politische und ökonomische Entschei-
dungen nicht von jedem einzelnen getroffen werden können. Wichtig ist hierbei je-
doch, dass mit der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft die werktätigen Mas-
sen lernen, die Führung zu übernehmen. Aber solange es Arbeitsteilung gibt, ist es
Aufgabe des Proletariats als herrschender Klasse im Sozialismus, aus ihren Reihen
ein Management zu rekrutieren, welches im Interesse des Proletariats die Wirtschaft
verwaltet. Nicht anders agiert die Bourgeoisie: Auch sie setzt das Management ein, da
sie nicht in der Lage ist, jeden Einzelschritt zu kontrollieren. Das Management, wie
auch die Bürokratie, stehen also im Dienst der herrschenden Klasse. Der sowjetische
Soziologe Iu. E. Volkov bemerkte dazu folgerichtig:
"Es ist wohlbekannt, dass bourgeoise Ideologen (…) bewusst die Fälschung über die
Existenz einer 'neuen herrschenden Klasse', einer neuen 'Elite' etc. verbreiten. In die-
sem Zusammenhang ist es notwendig hervorzuheben, dass es für unsere ideologischen
Gegner keine Frage der Intelligenz als solche ist. Die 'neue herrschende Klasse' wird

760
LANE (1978), S. 194
761
LANE (1978), S. 194
762
LANE (1978), S. 196
763
FARMER (1992), S. 84

289
Zur Geschichte der Sowjetunion

präzise dargestellt als eine Schicht, die besonders engagiert ist, Leitungsfunktionen im
administrativ-politischen, ökonomischen oder anderen Organen des Staates auszu-
üben und die im Vergleich zu anderen Schichten unserer Gesellschaft angeblich in
einer regierenden, privilegierten Position ist. (…) In Wirklichkeit, durch eine wissen-
schaftliche marxistische Methodik, wird es offensichtlich, dass obwohl im Sozialis-
mus die Rolle der verschiedenen Gruppen arbeitender Menschen in der Durchführung
leitender Funktionen ziemlich ungleich ist und obwohl es Unterschiede zwischen
jenen, die hauptsächlich solche Funktionen ausüben und jenen, die -hauptsächlich -
'Ausführende' sind, gibt, unterscheidet sich dieses Verhältnis grundsätzlich von der
Natur der Wechselbeziehungen zwischen den 'Leitenden' ('Herrschenden') und 'Ge-
führten' in einer Ausbeutergesellschaft. Außerdem werden, zusammen mit der Ent-
wicklung des Sozialismus zum Kommunismus, die existierenden signifikanten Unter-
schiede auf Grundlage der Einbeziehung immer breiter werdender Massen in die
Leitung des sozialen Lebens verschwinden."764
Im Sozialismus ähnelt das Leitungssystem äußerlich jenen vorheriger Gesellschafts-
formationen: Die Leitung geschieht durch einen Staat, es gibt Regierungsorgane und
es gibt Personen, die überwiegend oder ausschließlich solch leitende Funktionen
übernehmen. Das Wesen dieser Erscheinung ist jedoch ein völlig anderes: Sozialis-
mus und Kapitalismus haben eine ganz andere Klassennatur, und die Oberflächen-
phänomene wie Staat, Bürokratie und Leitung erhalten einen völlig neuen Inhalt. 765
Im Sozialismus wird alles beseitigt, was den Kapitalismus als Gesellschaft der Aus-
beutung und Unterdrückung kennzeichnet (Privatbesitz an Produktionsmitteln, Herr-
schaft der Bourgeoisie, reaktionäre idealistische Ideologie etc.). Aber zugleich wird
alles bewahrt, aufgenommen und in veränderter Wirkungsweise fortgeführt, was über
den Kapitalismus hinaus Bedeutung besitzt (im konkreten Fall die Arbeitsteilung,
aber auch wissenschaftlich-technische Errungenschaften). Vergleichbar ist dieser
Aspekt auch mit der Naturgeschichte. Bestimmte Eigenschaften der lebenden Materie,
wie z. B. die Fähigkeit zu fliegen, haben unterschiedliche "Konstruktionstypen" er-
möglicht, z. B. bei Vögeln und Insekten. Beide Tiergruppen haben die Fähigkeit er-
worben, den Luftraum zu erobern (Oberflächenerscheinung), doch ihrem Wesen nach
handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Tiergruppen, die nicht näher mitei-
nander verwandt sind. Niemand käme jauf die Idee, Libelle und Adler gleichzusetzen,
nur weil beide fliegen können.
Hier liegen auch erkenntnistheoretische Wurzeln dafür, dass Fälschungen bezüglich
einer Gleichsetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgenutzt werden. Es

764
VOLKOV (1965/1973), S.48 - 49
765
VOLKOV (1965/1973), S. 50
290
Zur Geschichte der Sowjetunion

werden lediglich Oberflächenphänomene betrachtet, ohne das Wesen zu erkunden.


Dies findet sich auch in einem Kommentar des Harvard-Professoren S. M. Lipset
wieder, der sich über Volkovs Erläuterungen zu Wesen und Erscheinung der Lei-
tungsfunktionen im Sozialismus mokiert und versucht, dort Widersprüche hineinzuin-
terpretieren, wo keine sind. Denn Lipset behauptet, dass es, da es ja soziale Unter-
schiede in der Sowjetunion gegeben habe und einige Kader hauptsächlich leitende
Funktionen hatten, widersprüchlich sei, davon zu sprechen, dass es nur arbeitende
Menschen gab.766 Dass es ausbeutende Menschen in der Sowjetunion gab, kann uns
dieser Harvard-Professor jedoch nicht nachweisen. Tatsache bleibt, dass das Ma-
nagement, bedingt durch die gesamtgesellschaftliche Produktion, nicht in der Lage
war, in Eigeninteresse zu handeln und Mehrwert anzueignen. 767
Entscheidend für die Weiterentwicklung zum Kommunismus ist jedoch, dass die
Unterschiede in der Arbeitsteilung beseitigt werden müssen. In der Frühphase des
Sozialismus sind aber nicht alle Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft gleich gut
in der Lage, an der Leitung der Gesellschaft mitzuwirken. Volkov veröffentlicht, dass
Anfang der 60er Jahre 26 Mio. Mitglieder in der Gewerkschaft aktiv waren. In den
Sowjets wirkten 20 Mio. Menschen und in den Partei- und staatlichen Kontrollkom-
missionen arbeiteten vier Mio. Mitglieder. Eine Mio. Personen wirkten in öffentli-
chen Büros für ökonomische Analysen und Norm-Festsetzung, und 55% der Arbeiter
und Angestellten waren auf die eine oder andere Weise in leitende Funktionen einbe-
zogen.768 Die Zahl der geistig arbeitenden Menschen mit hauptsächlichen Leitungs-
funktionen stieg auch von Jahr zu Jahr an. Im Jahr 1960 betrug sie 5.730.000 Perso-
nen.769 Mögen diese Zahlen auch z.T. überhöht sein, da sie die eine oder andere Kar-
teileiche beinhalten, so geben sie doch ein wachsendes Maß der Beteiligung an leiten-
den Funktionen im Staat an. Hier spielt im Sozialismus natürlich die Bildung und das
politische Bewusstsein der Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle für den Werde-
gang des Sozialismus.
Selbst wenn man von einer Machtelite im Sozialismus sprechen möchte, so muss sie
sich aufgrund der Produktionsbedingungen im Sozialismus anders verhalten als eine
Machtelite im Kapitalismus. Für den Kapitalisten ist es überlebensnotwendig, so viel
Mehrwert zu produzieren, wie es nur geht, sonst geht er unter. Dasselbe trifft auch auf
andere Ausbeuterklassen wie die der Sklavenhalter oder Feudalherren zu. Solch eine
Logik existiert im Sozialismus aber nicht. Natürlich ließen sich psychologisierende
oder biologisierende Hypothesen erfinden wie z.B., dass Macht korrumpiere oder

766
LIPSET, S. M. (1973), S. 357
767
VOLKOV (1965/1973), S. 51
768
VOLKOV (1965/1973), S. 57
769
VOLKOV (1965/1973), S. 53

291
Zur Geschichte der Sowjetunion

jeder einen Vorteil für sich auf Kosten anderer haben wolle. Das hieße also, Macht
und Ausbeutung wären keine Eigenschaften einer Klassengesellschaft, sondern lägen
in der Biologie oder Psychologie des Menschen begründet. Solche Naivitäten wider-
sprechen jedoch anthropologischen Erkenntnissen.770
Eine sozialistische Gesellschaft kann also nicht daran festgemacht werden, ob politi-
sche Entscheidungen und Initiativen von irgendeiner "Machtelite" initiiert werden.
Wenn man also beweisen will, dass eine Gesellschaft nicht sozialistisch ist, so ist es
nicht ausreichend zu demonstrieren, dass es irgendeine politische "Elite" gibt. Viel-
mehr muss man aufzeigen, ob es eine herrschende Klasse gibt, die sich den Mehrwert
privat aneignet.771
In der Sowjetunion waren die Ministerien die legalen Bevollmächtigten der Industrie,
der Betriebsdirektor wie auch das Management einer einzelnen Fabrik waren die
faktischen Bevollmächtigten. Daraus wird gerne abgeleitet, dass die Betriebsdirekto-
ren wie die Eigentümer an Produktionsmitteln handelten. Dabei werden gerne Ver-
gleiche mit kapitalistischen Unternehmen gezogen. In der Frühphase des Kapitalis-
mus war ein Unternehmer gleichzeitig Eigentümer und Manager seines Konzerns. Mit
zunehmender Monopolisierung der Konzerne entstanden Kapital- und Aktiengesell-
schaften, bei dem nicht jeder Anteilseigner automatisch Eigentümer der Produktion
war.772
Daraus leiten dann nicht wenige Ideologen, wie James Burnham, eine Trennung zwi-
schen Kontrolle und Eigentum der Produktionsmittel ab.
Der Soziologe Bottomore schreibt über die Leitung der Industrie: "Viele Soziologen
würden argumentieren, dass das Konzept des 'Eigentums an den Produktionsmitteln'
eine erneute Überprüfung braucht. In der UdSSR, wie auch in Groß-Britannien und
den USA verwaltet eine kleine Gruppe von Individuen die großen Fabriken, (…). In
allen Fällen haben sie große Macht und es wird zunehmend schwer für die Masse der
Bevölkerung, Kontrolle über deren Machtgebrauch auszuüben. Im Gegensatz zur
orthodoxen marxistischen Ansicht kann die Kontrolle im Volk in kapitalistischen
Ländern größer sein, wo unabhängige Gewerkschaften auf das Management Druck
ausüben können und wo die Konkurrenz zwischen politischen Gruppen das Auftreten
einer einzigen omnipotenten Elite verhindert." 773

770
SZYMANSKI (1979), S. 26 - 29, als anthropologische Studien, die Kooperation und Gemein-
schaft als Grundzüge des Menschen darstellen, seien SUSSMANN, R. & CLONINGER, R., HRSG.
(2011) sowie FRY, D. P., HRSG. (2013) erwähnenswert.
771
SZYMANSKI (1979), S. 24 - 25
772
LANE, D. (1985), S. 297
773
BOTTOMORE, T. B. (1962), S. 139 - 140

292
Zur Geschichte der Sowjetunion

Der Ökonom Robert A. Gordon schreibt: "Meist hat in großen Gesellschaften das
Direktorium (welche die Eigentümer repräsentieren) als formelle Gruppe seine Funk-
tion der aktiven Entscheidung aufgegeben. 'Außenstehende' Direktoren fungieren,
wenn überhaupt, primär als finanzielle und geschäftliche Berater. Der Wert solcher
Beratung durch kompetente und interessierte Direktoren sollte nicht unterschätzt
werden. Aber die Aufgabe der wirklichen Entscheidungsfindung, welches die Essenz
von Führungsfunktionen sind, ruht primär bei den Ausführenden [=Top-Managern,
Geschäftsführung] selbst. Jene, die danach streben, das Direktorium als echte Ent-
scheidungsträger zu restaurieren, haben das Problem einer groß angelegten Manage-
ment-Organisation nicht erkannt. Das Absterben der aktiven Führungsfunktion des
Direktoriums ist unausweichlich. Es ist lediglich ein Abbild der Tatsache, dass eine
wirksame Geschäftsführung von Großunternehmen nur durch eine einzelne Gruppe in
diesem Sinne arbeitender Angestellter durchgeführt werden kann, die willens und
fähig ist, die dafür notwendige Zeit dem Geschäft zu widmen." 774
Gordon geht wie auch Burnham davon aus, dass das Management sich zunehmend
mit der Geschäftsleitung befasse, dieses somit die Kontrolle des Unternehmens an
sich reißen würden. Eine These, die u. a. auch von Sargant Florence (1961) vertreten
wird, der aufzeigen kann, dass die Kontrolle der größten Firmen in Großbritannien
zunehmend in die Hände von Top-Managern übergeben würde.775
Diese Trennung von Eigentum und Kontrolle an der Produktion ist jedoch umstritten.
Die Vorstände eines Konzerns, bestehend aus Aktieninhabern, sind zwar nicht zwin-
gend die offiziellen Eigentümer, doch vertreten sie die gleichen Interessen wie diese,
sind also auf derselben Seite, nämlich auf Seiten der Bourgeois-Klasse. Es gibt kei-
nerlei Beweise, dass eine Aktien- oder Kapitalgesellschaft einen Interessengegensatz
zwischen Eigentümern und Nicht-Eigentümern einer solchen Gesellschaft erzeugt.
Anteilseigner investieren ebenso Kapital in ein Unternehmen, wählen ihre Vertreter
und erhalten einen Teil des Profits. Sie wählen auf Vorstandssitzungen ihr Gremium,
führen aber keine direkte Kontrolle durch, was und wo produziert wird. Das heißt
aber nicht, dass man ihnen ein qualitativ anderes Interesse unterstellen kann. Lewis &
Stewart (1961) konnten nachweisen, dass Top-Management und Eigentümer in der
Industrie beide dieselben Werte hochhalten. Dazu zählt auch das Wertschätzen des
Privateigentums.776 Es gibt auch keine Beweise dafür, dass dadurch die Kontrolle
durch die Masse der Werktätigen sich erhöht oder dass eine omnipotente Elite verhin-
dert wird, von der Bottomore ausgeht.

774
GORDON, R. A. (1945/1961), S. 145 - 146
775
FLORENCE, P. S. (1961), S. 68 - 69, 79 - 80, 191 - 193
776
LEWIS, R. & STEWART, R. (1961), S. 126

293
Zur Geschichte der Sowjetunion

Entscheidend ist, von wem das Mehrprodukt angeeignet wird. Wenn der juristische
Eigentümer immer weniger in die aktuelle Entscheidung seines Unternehmens ein-
greift, sondern diese Aufgaben an andere überträgt, lebt dieser ausschließlich nur
noch von der Arbeit anderer; der parasitäre Charakter dieser Eigentümer wird dadurch
offensichtlicher, welches typisch für den Imperialismus ist: [Es] ergibt sich das au-
ßergewöhnliche Anwachsen der Klasse oder, richtiger, der Schicht der Rentner, d.h.
Personen, die vom 'Kuponschneiden' leben, Personen, die von der Beteiligung an
irgendeinem Unternehmen völlig losgelöst sind, Personen, deren Beruf der Müßig-
gang ist.777
Viele Ökonomen scheinen Burnhams "Manager-Revolution" scheinbar zu belegen,
indem sie nachweisen können, dass die oberen Schichten des Managements [also der
"neue Vorstand"] zunehmend Einfluss bekommen. Doch Burnham irrt, wenn er meint
sie würden die Eigentümer ersetzen. Tatsächlich kann z.B. C. Wright Mills nachwei-
sen, dass die Elite des Managements und die Eigentümer der Produktionsmittel "in
eine mehr oder wenige vereinte Schicht der "Corporate Rich" (= Firmenadel) ver-
schmelzen.778 Außerdem kritisiert Mills, dass es ein Kurzschluss sei zu denken, dass
Änderungen in der inneren Machtstruktur von Organisationen eine Änderung der
Machtstruktur der Gesellschaft führe. Die Trennung von Eigentümerrolle und Mana-
gerrolle ändere nichts an der grundsätzlichen Macht- und Klassenstruktur des Kapita-
lismus.779
Lenski (1966) erwähnt, dass es durchaus direkte wie indirekte Beweise dafür gibt,
dass jene, die in der Elite des Managements sind, ohne Weiteres zu Eigentümern
werden konnten. Er nennt als Beispiele Charles Wilson, ehemaliger Präsident von
General Motors und Robert McNamara, ehemaliger Präsident der Ford Motor Com-
pany. Beide waren nicht nur Top-Manager (die nicht die offiziellen Eigentümer der
Firmen waren), sondern auch Miteigentümer der Firmen. Außerdem waren beide
Verteidigungsminister der USA.780 Mabel Newcomer (1955) kann nachweisen, dass
ein Drittel der Führungskräfte von Unternehmen, die nicht juristische Eigentümer
waren, aus "reichem Hause" kamen und die Hälfte ihrer Väter in Positionen tätig
waren, die eine Zugehörigkeit zu Eigentümern wahrscheinlich machten. 781
In der Sowjetunion gab es keine Firmen, wie wir sie in kapitalistischen Gesellschafts-
formationen kennen. Schaut man sich die hierarchische Struktur der sowjetischen

777
Vgl. LENIN: Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Band 22, S. 281
778
MILLS, C. W. (1956), S. 147
779
MILLS, C. W. & GERTH, H. H. (1942)
780
LENSKI (1966), S. 358 - 359
781
NEWCOMER, M. (1955), S. 63, 53 - 54

294
Zur Geschichte der Sowjetunion

Industrie an, standen ganz oben die Regierungsministerien, die die Betriebsdirektoren
ihrer Branche ernannten. Diese Industriebranchen wirkten im sowjetischen Kontext
nicht als eigenständige Unternehmen, sondern wie eine Filiale. Sie unterstanden den
Ministerien und mussten Rechenschaft ablegen. Die Ministerien selbst wurden vom
Obersten Sowjet gewählt, der wiederum vom Volk gewählt wurde. 782
Desweiteren gab es auch laut David Granick Unterschiede in der Jobsicherheit bei
sowjetischen Managern. So war es nicht selten, dass Betriebsdirektoren abgesetzt und
ersetzt wurden. In den 30er Jahren waren beispielsweise nur 1 bis 15% (abhängig von
der Stellung) mehr als 5 Jahre beschäftigt. 40 - 65% hatten ihren Posten für gerade
mal 3 Jahre.783 In den 50er Jahren betrug die Fluktuation in der Kohleindustrie 40 bis
50% und auch nach 1956 waren es über 25%.784 Manager und Betriebsdirektoren
wurden in der Sowjetunion, anders als in kapitalistischen Staaten, genauso wie Fab-
rikarbeiter vom Staat eingestellt. Daher kann man laut Granick nicht von einer Mana-
gerklasse sprechen, wie es westliche Autoren verstehen.785
Merle Fainsod erwähnt: "Das Leben des Apparatschik bleibt gefährlich. Es hat zwar
seit den dreißiger Jahren kein Blutbad im Ausmaß der Großen Säuberung mehr gege-
ben, Umwälzungen und Umbesetzungen im Apparat sind jedoch häufig und die Be-
strafung von ernsthaften Fehltritten ist streng. Selbst er Mächtigste kann in rasender
Geschwindigkeit von den höchsten in die tiefsten Tiefen stürzen." 786
Die Jobsicherheit von Managern in kapitalistischen Staaten ist dabei wesentlich grö-
ßer, nicht zuletzt weil es laut Lenski (1966) sowjetische Manager wesentlich schwerer
haben Reichtümer zu akkumulieren. 787 Robert Gordon weist nach, dass in amerikani-
schen Firmen "Säuberungen" des Managements praktisch gar nicht vorkamen. 788 Die
sowjetische Erfahrung konnte zeigen, dass das Management auch ohne die extrem
hohen Löhne funktionierte. Daher lassen sich Management im Kapitalismus und
Sozialismus nicht vergleichen.
Anders als Burnham789 unterstellt, waren Manager und Staatsbeamte nicht dieselben
Personen, bzw. übten sie nicht die gleichen Funktionen aus. So wurde aber auch eine
sowjetische Fabrik von Ingenieuren und anderem technischen Personal geführt. Der

782
LANE (1985), S. 299 - 300
783
GRANICK (1960), S. 134
784
GRANICK (1960), S. 135
785
GRANICK (1960), S. 308
786
FAINSOD, M. (1963), S. 195 - 196
787
LENSKI (1966), S. 357
788
GORDON (1945/1961), S. 311
789
BURNHAM (1941), S. 147

295
Zur Geschichte der Sowjetunion

Verkauf (= die Erwirtschaftung von Profit) war unbedeutend. In kapitalistischen Un-


ternehmen steht dieser jedoch an erster Stelle. Eine sowjetische Firma konnte nicht
"einfach so" ein neues Produkt produzieren und es auf den Markt bringen, man erhielt
Anweisungen von den Ministerien. 790 In vielen Bereichen hatten Parteifunktionäre
und Manager auch unterschiedliche Vorstellungen, kam es also auch zu Interessen-
konflikten. Daher existierten in sowjetischen Fabriken eigene Parteizellen, obwohl der
Betriebsdirektor selbst meistens Parteimitglied war.791 Merle Fainsod schreibt dazu:
"Der Parteiapparat verpflichtet sich seine Rolle vom Management abzugrenzen, trotz
der Tatsache, dass die obere Fabrikleitung ebenfalls Parteimitglieder sind. Indem sie
durch ihre eigene unabhängige Hierarchie von Sekretariaten in Betrieben und Organi-
sationen operieren, versucht die Partei ihr unverkennbares Bild von sich selbst als der
Wächter der Interessen der Nation, im Gegensatz zu der begrenzteren orientierten
Perspektive einiger Industriemanager, zu entwerfen. Dieses spezielle Mandat der
Partei umfasst sowohl die gemeinschaftlichen als auch potentiell antagonistischen
Verhältnisse mit der Betriebsleitung." 792
Wir werden noch darauf zurückkommen, dass Manager die Möglichkeiten hatten (und
diese auch nutzten),793 durch ihr Fachwissen bei den Ministerien zu intervenieren. So
wurde die Planung der Produktion auch von unten durch Produktionsberatungen und
sozialistischen Wettbewerb gefördert. Dieses Prinzip des Wirtschaftens ist in kapita-
listischen Ländern gesamtgesellschaftlich nicht vorhanden. Zwar können dort Forde-
rungen nach Mitbestimmung durch lokale Kämpfe der Gewerkschaften durchgesetzt
werden, doch liegt dies nicht im Wesen des Kapitalismus, sondern geschieht auf
Druck der Arbeiterklasse.
Auch als ab den 1960er Jahren dem Gewinn eines sozialistischen Betriebes größere
Bedeutung zugemessen wurde und Betriebsdirektoren mehr Freiheiten genossen,
konnte nicht von einer Gleichsetzung mit kapitalistischen Unternehmen gesprochen
werden.794 Zum Beispiel war nur ein Teil des Gewinns für die Nutzung durch den
Betriebsdirektor - für die Verbesserung der Produktion, die Auszahlung von Prämien
o.ä. - freigegeben. Die sowjetischen Betriebe waren somit aber nicht unabhängig vom
Staat und durften nicht abweichend vom Plan produzieren.
Burnhams Theorie der Manager-Revolution zeigt erstaunliche Ähnlichkeiten mit
Bruno Rizzis (auch Bruno R. genannt) "The Bureaucratisation of the World". 795

790
LANE (1985), S. 301
791
LENSKI (1966), S. 361
792
FAINSOD (1963), S. 516
793
VGL. AUCH DAVIES, R. W. (1993), S. 105 - 123
794
VGL. SPANIDIS, T. (2018)
795
RIZZI, B. (1939/1985)

296
Zur Geschichte der Sowjetunion

Marcel van der Linden (2007) bemerkt jedoch, dass Rizzis Buch hauptsächlich be-
schreibend war, in der die Bürokratie als herrschende Klasse deklariert wurde - von
Rizzi als "bürokratischer Kollektivismus" gebrandmarkt. Jedoch habe Rizzi die sozio-
ökonomische Herkunft der Bürokratie nicht analysiert.796

5.3. Von der „Theorie“ des bürokratischen Kollektivis-


mus zur Theorie des Staatskapitalismus in der Sowjet-
union
Andere unorthodoxe Trotzkisten "entwickelten" den Trotzkismus noch weiter. Ge-
meinsam mit Shachtman und Burnham nahmen sie an, dass die Sowjetunion kein
Arbeiterstaat mehr war. Doch für sie war die Sowjetunion nicht von einem Kollektiv
von Bürokraten regiert, sondern gleich staatskapitalistisch.
Der australische Trotzkist Ryan Worrall gehörte zu den ersten trotzkistischen Theore-
tikern, die von einem Staatskapitalismus redeten. Worrall geht davon aus, dass das
Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht unbedingt ein Merkmal des Kapita-
lismus sei. Er begründet dies damit, dass der Staat im fortgeschrittenen Stadium des
Kapitalismus immer mehr Einfluss nehme und so in Zukunft das Privateigentum auch
völlig aufheben könne. Daraus zaubert Worrall einen Staatskapitalismus in der Sow-
jetunion herbei, da er die theoretische Möglichkeit (dass der Staat im Kapitalismus
das Privateigentum aufheben könne) in der Sowjetunion verwirklicht sieht.
Offensichtlich vergisst Worrall, dass der Staat nicht klassenneutral ist, sondern im
Kapitalismus den ideellen Gesamtkapitalisten darstellt. Ironischerweise erkennt ja
sogar Worrall, dass in der Sowjetunion keine Kapitalisten vorhanden sind und auch
die Bürokratie nicht das Anzeichen einer kapitalistischen Klasse vorweist. Er "löst"
das Problem damit, dass er der Bürokratie unterstellt, dieselben Aufgaben zu erfüllen,
wie sie die Bourgeoisie im Kapitalismus erfüllt. Wie das die Bürokratie bewerkstelligt
und warum sie sich nicht zur Bourgeoisie erhebt, bleibt Worralls Geheimnis. Wäre
die Bürokratie der Arbeiterklasse unterstellt, so Worrall, wäre diese kein Problem, da
sie der Kontrolle der Arbeiterklasse unterstünde. Da dies aber nach Worrall nicht der
Fall ist, dient die Bürokratie sich selber und deswegen finde man einen Staatskapita-
lismus vor; ohne jedoch eine Bourgeoisie zu haben. Dass die Arbeiterklasse die Büro-
kratie nicht unter Kontrolle habe, ist zum einen der Rückständigkeit Russlands zu
verdanken, zum anderen der Schwäche der trotzkistischen Opposition. So konnte sich

796
VAN DER LINDEN (2007), S. 78

297
Zur Geschichte der Sowjetunion

die bürokratische Konterrevolution unter Stalin durchsetzen.797 So einfach ist das,


muss man nur wissen.
Manuel Fernandez Grandzio (1911 - 1989), der die spanische Sektion der trotzkisti-
schen 4. Internationale gründete, kritisierte zusammen mit dem französischen Surrea-
listen Benjamin Péret (1899 - 1959) ab 1946 die offizielle trotzkistische Linie auf
einer Konferenz der IV. Internationale. Sie behaupteten, dass spätestens seit dem
Nichtangriffsvertrag der Sowjetunion mit Nazi-Deutschland 1939 es nichts mehr an
der Sowjetunion gäbe, was noch verteidigt werden könne. Die bürokratische Konter-
revolution habe gesiegt und einen Staatskapitalismus errichtet. Dabei kamen sie je-
doch zu der - recht merkwürdigen und verwirrenden - Erkenntnis, dass die Schicht der
Bürokraten keine herrschende Klasse sei, sondern eine andere soziale Gruppe oder
Schicht. Wie ihr ideologischer Gottvater Trotzki sehen sie zwar in der Bürokratie
keine formierte Klasse, lehnen jedoch Trotzkis Terminus "degenerierter Arbeiterstaat"
ab und erfinden einen "Staatskapitalismus". Dieser sei jedoch ohne herrschende Klas-
se, also quasi ein Kapitalismus ohne Kapitalisten.798 Ein Kapitalismus ohne Kapitalis-
ten jedoch ist undenkbar.
Eine andere Fraktion der 4. Internationale, die sich um Cyrill Lionel Robert (C.L.R.)
James und Raya Dunayevskaya (Pseudonym von Rae Spiegel) bildete, waren ebenso
Vertreter der Staatskapitalismus-These. James war 1938 Mitbegründer der IV. Inter-
nationale und Dunayevskaya war eine Amerikanerin, die einige Zeit mit Trotzki zu-
sammen arbeitete. Beide zusammen bildeten 1941 die sogenannte "Johnston-Forest-
Tendency" (benannt nach den Kryptonymen von James & Dunayevskaya) der Socia-
lis Worker's Party (SWP) in den USA und verließen zusammen mit Shachtman diese
Partei um die Worker's Party (WP) zu gründen. Doch es kam zu prinzipiellen Strei-
tigkeiten mit Shachtman über die Frage des bürokratischen Kollektivismus und sie
verließen 1948 die WP, um wieder in die SWP einzutreten, bis sie 1951 mit dem
(orthodoxen?) Trotzkismus brachen und die Gruppe "Facing Reality" bildeten. Auch
sie lehnten Trotzkis Theorie des degenerierten Arbeiterstaates ab und sprachen von
einem Staatskapitalismus in Russland. Sie begründeten dies damit, dass zum einen die
Proletarier keine Macht im Staat hätten und in der Sowjetunion Lohnarbeit vorherr-
sche. Die ökonomische und politische Macht sei jedoch in einem Bereich konzertiert,
nämlich dem sowjetischen Staat. Es bestünde folgerichtig keine Konkurrenz zwischen

797
WORRALL, R.L. (1939) https://www.workersliberty.org/system/files/worrall-hilferding.pdf
798
Vgl. MUNIS, G. [MANUEL FERNANDEZ GRANDIZO] (1946), PERALTA [BENJAMIN PÉRET]
(1946), siehe auch VAN DER LINDEN (2007), S. 108 - 110

298
Zur Geschichte der Sowjetunion

einzelnen Kapitalisten. Die Arbeiterklasse sei jedoch lohnabhängig. Also war es nach
Ansicht von James & Dunayevskaya ein bürokratischer Kapitalismus. 799
Der heute wohl bekannteste Vertreter dieser trotzkistischen Richtung ist Tony Cliff.
Er veröffentlichte 1955 sein Buch "Staatskapitalismus in Russland". Seine Positionen
sollen genauer unter die Lupe genommen werden. Hier soll - stellvertretend für ande-
re trotzkistische Staatskapitalismus-Theoretiker - die unwissenschaftliche Herange-
hensweise dieser Arbeiten genauer analysiert werden.
Cliffs Analysen fußen auf einer tiefen Ignoranz marxistischer Ökonomie bzw. einer
willkürlichen Neudefinition marxistischer Terminologie. Beispielsweise versucht er
anhand von Zitaten von Lenin, Bucharin und Engels zu beweisen, dass die "stalinisti-
sche Bürokratie" eine Klasse sei.800 Dabei wird von Lenin dasselbe Zitat genommen
wie im Kapitel über die Klassen: nämlich, dass Klassen in ihrem Verhältnis zur Pro-
duktion und den Produktionsmitteln gesehen werden müssen. Das Engels-Zitat ent-
stammt aus "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" und
beschreibt die Entstehung einer "Klasse, die sich nicht mehr mit der Produktion be-
schäftigt, sondern nur mit dem Austausch der Produkte", nämlich die der Kaufleute.
"Hier tritt zum ersten Mal eine Klasse auf", schreibt Engels, "die ohne an der Produk-
tion irgendwie Anteil zu nehmen; die Leitung der Produktion im ganzen und großen
sich erobert und die Produzenten sich ökonomisch unterwirft; die sich zum unum-
gänglichen Vermittler zwischen je zwei Produzenten macht und sie beide ausbeu-
tet."801 Engels beschreibt hier also richtigerweise die Entstehung der Bourgeoisie.
Was hat das nun damit zu tun, dass die "stalinistische Bürokratie" eine herrschende
Klasse (und nicht eine Kaste oder Schicht, wie Cliff betont802) ist?
Nun ist es nicht möglich sich in Cliffs Hirnwindungen hineinzudenken, um seine
Gedankengänge völlig nachzuvollziehen. Folgt man aber der Unlogik von Cliffs
Buch, ist die Sache ganz klar: Die "stalinistische Bürokratie" war parasitär, sogar eine
extreme und reine Personifikation des Kapitals,803 und lebt somit auf Kosten des Pro-
letariats. Die empirischen Beweise hierfür sind sogar noch dürftiger und in manchen
Fällen sogar eine bewusste Fälschung oder Fehlinterpretation, wie in anderen Kapi-
teln zu sehen sein wird, also stringente Unlogik. Denn es wurde ja weiter oben die
Tatsache nachgewiesen, dass die Bürokratie kein Eigentümer von Produktionsmitteln

799
JOHNSON, J.R. [C.L.R. JAMES] (1941A); JOHNSON, J.R. [C.L.R. JAMES] (1941B); JAMES,
C.L.R. (1969); vgl. VAN DER LINDEN (2007), S. 110 - 111
800
CLIFF, (1955), S. 103 ff.
801
ENGELS, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW Band 21, S.
161
802
CLIFF (1955), S. 104
803
CLIFF (1955), S. 104

299
Zur Geschichte der Sowjetunion

ist. Wie löst Cliff nun dieses Dilemma? Ganz einfach: Die russische Bürokratie besit-
ze den Staat und lenke die Akkumulation. Daraus würde die Sowjetunion staatskapi-
talistisch. Sie unterscheide sich jedoch von dem Staatskapitalismus, der aus der Mo-
nopolbourgeoisie hervorgeht. Denn der russische Staatskapitalismus gehe aus der
Niederlage der Oktoberrevolution hervor und daher nähere sich der Begriff des
Staatskapitalismus viel mehr an der Realität. Man könne ihn aber auch als "bürokrati-
schen Staatskapitalismus" präzisieren.804 Dabei sei folgender Umstand ganz wichtig:
"Die Tatsache, daß die Bürokratie den geschichtlichen Auftrag einer kapitalistischen
Klasse erfüllt und im Verlauf dieses Prozesses selbst zur Klasse wird, macht sie zur
reinsten Personifikation des Kapitals. Obgleich sie sich von der kapitalistischen Klas-
se unterscheidet, kommt sie doch deren historischem Wesen am nächsten. Die russi-
sche Bürokratie stellt auf der einen Seite eine partielle Negation der kapitalistischen
Klasse dar, auf der anderen Seite repräsentiert sie die reinste Personifikation der histo-
rischen Mission dieser Klasse."805
So kann man die Dialektik natürlich auch pervertieren. Aber fassen wir zusammen:
Wenn ich der Bürokratie unterstelle, den Staat zu besitzen und parasitär zu leben
(ohne es zu beweisen), kann ich ihr einen Klassencharakter andichten. Ich muss aber
aufpassen und ihr den Auftrag einer kapitalistischen Klasse verpassen, um selbst zur
Klasse werden zu können. Wie die Bürokratie in der Sowjetunion im Interesse der
kapitalistischen Klasse stehen kann, die zuvor als solche liquidiert wurde, fällt in das
Reich der Imagination. Deswegen soll sie esgekonnt haben, die kapitalistische Klasse
partiell zu negieren und partiell zu personifizieren. Wie das konkret gehen soll und
was das eigentlich heißt, ist wohl auch nur eine Frage der Vorstellungskraft. Diese
nach Glaubensbekenntnissen klingenden Aussagen fallen in dasselbe Reich der Un-
wissenschaftlichkeit wie die Glaubensbekenntnisse der reinen, orthodoxen Trotzkis-
ten. Es ist wie ein Wechsel zwischen Katholizismus und Protestantismus. Nun ist es
natürlich nicht so, dass Cliff nicht versucht, seine Thesen zu beweisen. Mit ein wenig
Sachkenntnis lässt er sich aber leicht widerlegen. Tony Cliff schreibt:
"In Rußland erscheint der Staat als Unternehmer und die Bürokraten als seine bloßen
Manager. Eigentums- und Managementfunktionen sind völlig getrennt. Das ist aller-
dings nur formal so. In Wirklichkeit verfügen die Bürokraten als Kollektiv über das
Eigentum. Der Staat der Bürokraten ist der Eigentümer. Die Tatsache, daß dem ein-
zelnen Manager die Produktionsmittel nicht zu gehören scheinen und die Aneignung
seines Teils am Nationaleinkommen in Gehaltsform geschieht, mag zu der Fehlein-
schätzung verleiten, daß der Manager genau wie der Arbeiter nur für seine Arbeits-

804
CLIFF (1955), S. 105
805
CLIFF (1955), S. 105

300
Zur Geschichte der Sowjetunion

kraft bezahlt wird. Da in jedem gesellschaftlichen Produktionsprozeß Management-


funktionen notwendig sind und sie in diesem Sinne nichts mit Ausbeutungsverhältnis-
sen zu tun haben, wird auch die unterschiedliche Funktion von Arbeiter und Manager
verschleiert, da beide in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß integriert sind. Antago-
nistische Klassenstrukturen erscheinen so als harmonische. Die Arbeit der Ausgebeu-
teten und die Arbeit derer, die die Ausbeutung organisieren, erscheinen beide gleich-
ermaßen als Arbeit. Der Staat scheint als personifiziertes Eigentum über dem Volk zu
stehen, während die Bürokraten, die den Produktionsprozeß kontrollieren und daher
historisch die Personifikation des Kapitals in reinster Form darstellen, als bloße Ar-
beiter erscheinen, als Produzenten von Werten durch ihre eigene Arbeit." 806
Wie versucht also Cliff den Staatskapitalismus in Russland zu beweisen? Zum einen
versucht er einen Klassenantagonismus zu erzeugen, wo keiner besteht. Er versucht
aus dem Verhältnis Management und Arbeiter ein gleiches Verhältnis herzustellen
wie zwischen Bourgeoisie und Arbeiter. Über die Rolle des Managements im Sozia-
lismus wurde ja weiter oben einiges berichtet. Grundsätzlich kann hier aber erwähnt
werden, dass das Verhältnis Management – Arbeiter noch nicht mal im Kapitalismus
dasselbe ist, wie zwischen Bourgeoisie und Arbeiter. Damit sollen die Probleme zwi-
schen Manager und Arbeiter im Kapitalismus nicht heruntergespielt werden. Die
Herausbildung eines Managements ist die logische Folge der Arbeitsteilung in einer
komplexer werdenden Wirtschaft. Aber die Manager sind meistens nur eine besser
(oft sehr viel besser) bezahlte Arbeitskraft, die der Bourgeoisie dient. Sie verfügen
aber nicht über die Produktionsmittel und eignen sich auch nicht den Mehrwert an
(mit Ausnahme vielleicht des Top-Managements, welches oftmals Anteilseigner ist).
Wir haben es hier mit der Herausbildung einer sog. Arbeiteraristokratie zu tun. Wenn
sich im Kapitalismus das Management keinen Mehrwert aneignet, so dann auch im
Sozialismus nicht. Dabei sollte in Erinnerung gerufen werden, dass sich die Rolle des
Managements im Sozialismus natürlich durch die Änderung der Produktionsverhält-
nisse ändert. Die sowjetischen Manager waren keine abgeschlossene soziale Schicht,
die auch nicht das Ziel hatten und haben konnten, "ihre" Fabrik zu erweitern. Nun
sieht aber Cliff gerade in diesem Management die neue herrschende Klasse, die sich
den Mehrwert aneignet, weil sie über ein höheres Einkommen verfügen als ungelernte
Arbeiter oder Facharbeiter:
"Doch es liegt auf der Hand, daß das Einkommen der Bürokratie in direktem Verhält-
nis zur Leistung der Arbeiter und nicht zu ihrer eigenen Leistung steht. Die Höhe
ihres Einkommens ist an sich schon ein sicheres Indiz dafür, den qualitativen Unter-
schied zwischen dem Einkommen der Bürokratie und den Arbeiterlöhnen aufzuhel-
len. Gäbe es diese qualitative Differenz nicht, müßte man z.B. sagen, der höchstbe-

806
CLIFF (1955), S. 105

301
Zur Geschichte der Sowjetunion

zahlte Generaldirektor der Vereinigten Staaten verkaufe ebenfalls nur seine Arbeits-
kraft. Außerdem ist der Staat, der als Unternehmer auftritt und über der Bevölkerung
zu stehen scheint, in Wirklichkeit die Organisationsform der Bürokratie als Kollek-
tiv."807
Wenn wir den polemischen und missglückten Vergleich mit dem Generaldirektor der
Vereinigten Staaten beiseitelassen, kann man hier nur auf das Kapitel über die soziale
Differenzierung verweisen: Die Privilegien gelten nur für den Konsum (Kapital lässt
sich damit nicht anhäufen und damit wird ein Kapitalismus, auch in Form des Staats-
kapitalismus, nicht machbar), sind bei weitem nicht so groß wie im Kapitalismus,
lassen sich nicht vererben und Aufstiegschancen hat im Prinzip jeder.
Kapital zur Ausbeutung fremder Arbeitskraft konnte nicht entstehen. Cliff beschwert
sich jedoch auch darüber, dass Betriebsdirektoren und Funktionäre Prämien und Prei-
se erhielten, verschweigt aber, dass dies auch für die Arbeiterklasse galt, z. B. für die
Stachanowarbeiter. Diese höheren Prämien empfindet aber Cliff als reaktionär und
sieht darin eine Atomisierung der Arbeiterklasse. 808 Die Lohnpolitik in der Sowjet-
union wurde schon näher beschrieben. Grundsätzlich hält aber Cliff die sowjetische
Politik gegenüber der Arbeiterklasse für reaktionär (und wohl reaktionärer als im
Kapitalismus). So werde die Arbeiterklasse nicht nur durch die Lohnpolitik atomi-
siert, sondern durch die "Ein-Mann-Kontrolle" durch den Betriebsdirektor von der
Kontrolle der Produktion ausgeschlossen,809 Arbeitern werde verboten, sich für die
Verteidigung ihrer Interessen zu organisieren, 810 die Arbeiterklasse werde zusätzlich
ausgebeutet, da auch Frauen arbeiten müssen811 und Zwangsarbeit bestehe. 812 In wie
weit diese konkreten Vorwürfe der Realität entsprechen, wird in späteren Büchern
behandelt. Hier soll nur Cliffs theoretisches Konstrukt abgearbeitet werden. Für Cliff
sind die Verhältnisse jedoch glasklar:
"Ist das stalinistische Rußland ein Beispiel für kapitalistische Barbarei? Ja. Ist es ein
Beispiel für jene Barbarei, die eine vollständige Negation des Kapitalismus darstellt?
Nein."813
"Die bloße Existenz des stalinistischen Regimes beweist schon seinen reaktionären
Charakter, denn ohne die Niederlage der Oktoberrevolution bestünde das Regime gar

807
CLIFF (1955), S. 106
808
CLIFF (1955), S. 10 F
809
CLIFF (1955), S. 6
810
CLIFF (1955), S. 8
811
CLIFF (1955), S. 16 F
812
CLIFF (1955), S. 18 F
813
CLIFF (1955), S. 114

302
Zur Geschichte der Sowjetunion

nicht, und die Oktoberrevolution selber war der Beweis dafür, daß die Welt für den
Sozialismus reif ist."814
"In Wirklichkeit gibt die neue Verfassung der Bürokratie die Möglichkeit, auf 'legale'
Weise die ökonomische Konterrevolution durchzuführen, das heißt, den Kapitalismus
auf kaltem Wege wiederherzustellen."815
"Der Staat entfernt sich allmählich immer weiter von den Arbeitern, und die Bezie-
hungen zwischen Staat und Arbeitern bekommen immer mehr Ähnlichkeit mit denen
zwischen kapitalistischen Unternehmern und Arbeitern. In einem solchen Falle ver-
wandelt sich die bürokratische Clique, die zunächst nur als eine Entartung des Arbei-
terstaates erscheint, allmählich selber in eine Klasse, die die Aufgabe der Bourgeoisie
innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse wahrnimmt. Die allmähliche, evo-
lutionäre Loslösung der Bürokratie von der Kontrolle der Klasse, die bis 1928 erfolg-
te, nahm mit dem ersten Fünf-Jahres-Plan den Charakter einer revolutionären, qualita-
tiven Veränderung an."816
"Die Bürokratie und das stehende Heer hindern also die Arbeiter daran, auf friedli-
chem Wege an die Macht zu kommen. Aber der Arbeiterstaat hat weder eine Bürokra-
tie noch ein stehendes Heer. Deshalb kann ein friedlicher Übergang von einem Arbei-
terstaat, der derartige Institutionen nicht kennt, in ein staatskapitalistisches Regime,
das sie sehr wohl kennt, erfolgen." 817
Wir haben es hier hauptsächlich mit Propaganda-Floskeln zu tun, die wenig Inhalt
liefern. Orthodoxe Trotzkisten würden, was die angeblichen "Repressionen" gegen
die Arbeiterklasse angeht, Cliff sicherlich zustimmen. Dennoch würden sie seine
Theorie vom Staatskapitalismus in Russland ablehnen und vom degenerierten Arbei-
terstaat sprechen. Für Cliff gibt es aber Gründe, Trotzkis Theorie abzulehnen bzw. hin
zum Staatskapitalismus weiterzuentwickeln. Nachdem Cliff über Marx Wertgesetz
referiert,818 kommt er zu folgendem Ergebnis:
"Betrachtet man also die Beziehungen innerhalb der russischen Wirtschaft, so läßt
sich dort das Wertgesetz als Motor und Regulator der Produktion nicht nachwei-
sen."819

814
CLIFF (1955), S. 116
815
CLIFF (1955), S. 113
816
CLIFF (1955), S. 112
817
CLIFF (1955), S. 113
818
CLIFF (1955), S. 98 FF, S. 130 FF
819
CLIFF (1955), S. 142
303
Zur Geschichte der Sowjetunion

Betrachte man also die sowjetische Wirtschaft isoliert von der Weltproduktion, wirke
das Wertgesetz als Regulator der Wirtschaft nicht. Die Arbeitsteilung in der Sowjet-
union entspreche dabei der Arbeitsteilung einer Fabrik. Es gäbe keine Privatproduzen-
ten in der Sowjetunion, sondern die Sowjetunion als Ganzes wirke wie eine riesige
Firma.820 Nun ist aber im Kapitalismus das Wertgesetz ein wichtiger Regulator der
Wirtschaft, genauso wie die Profitmaximierung und die Ware als Arbeitskraft. Wie
kann also aus der Sowjetunion ein kapitalistischer Staat gemacht werden? Laut Cliff
liegt es daran, dass die Sowjetunion in einer kapitalistischen Weltwirtschaft agiert und
daher wie eine große Firma in Konkurrenz zu den anderen kapitalistischen Staaten
steht.821 Da also laut Cliff die mehreren privaten Kapitalisten, die in Konkurrenz zu
einander stehen müssen, fehlen, konkurriert das kapitalistische Unternehmen Russ-
land mit den anderen kapitalistischen Ländern. Diese Position ist jenen von C.L.R.
James und Raya Dunayevskaya, die zu Beginn dieses Abschnitts vorgestellt wurden,
sehr ähnlich.
"Unter diesem Gesichtspunkt befindet sich die russische Wirtschaft in einer ähnlichen
Lage wie der Eigentümer eines kapitalistischen Unternehmens, das mit anderen Un-
ternehmen konkurriert."822
Im Grunde genommen wird hier Trotzkis These von der Unmöglichkeit des sozialisti-
schen Aufbaus in einem Land nochmal durch Cliffs Absurditäten wiederholt. So lan-
ge offensichtlich ein Staat existiert, der eine kapitalistische Wirtschaft hat, sei es wohl
auch nur ein kleiner Inselstaat in der Südsee, ist ein Sozialismus nicht möglich. Es
bedarf der gleichzeitigen Revolution in allen Ländern, von Abchasien bis Zypern.
Wie konkurriert der "russische Staatskapitalismus" mit dem kapitalistischen Welt-
markt? Cliff schreibt: "Bisher war die russische Wirtschaft aufgrund ihrer Rückstän-
digkeit nicht in der Lage, fremde Märkte mit ihren Gütern zu überschwemmen. Durch
das staatliche Außenhandelsmonopol, das nur durch militärische Gewalt zerstört wer-
den kann, sicherte sich andererseits die russische Wirtschaft gegen eine Überflutung
mit ausländischen Waren ab. Die wirtschaftliche Auseinandersetzung ist daher von
geringerer Bedeutung gewesen als die militärische." 823
"Da die Konkurrenz mit anderen Ländern aber hauptsächlich militärischen Charakter
hat, ist der Staat als Verbraucher an ganz bestimmten Gebrauchswerten wie Panzern,
Flugzeugen usw. interessiert. Der Wert ist Ausdruck der Konkurrenz zwischen unab-
hängigen Produzenten. Rußlands Konkurrenz mit der übrigen Welt drückt sich darin

820
CLIFF (1955), S. 139 F
821
CLIFF (1955), S. 142 FF
822
CLIFF (1955), EBENDA
823
CLIFF (1955), S. 143

304
Zur Geschichte der Sowjetunion

aus, daß Gebrauchswerte zum Ziel der Produktion erhoben werden, die gleichzeitig
dem eigentlichen Ziel, nämlich dem Sieg im Konkurrenzkampf, dienen sollen. Ge-
brauchswerte werden also zum Ziel der Produktion, bleiben aber nach wie vor Mittel
im Konkurrenzkampf."824
Fassen wir also zusammen: Die Wirtschaft der Sowjetunion GmbH produziert haupt-
sächlich militärische Güter und die dafür notwendige Schwerindustrie und konkurriert
damit mit dem kapitalistischen Westen. Das mache laut Cliff also den kapitalistischen
Charakter der Sowjetunion aus. Kein Wunder, dass diese ökonomische Verwirrung
selbst bei orthodoxen Trotzkisten keinen Anklang findet. Wenn sich also die Sowjet-
union gegen imperialistische Aggression wehrt und aufrüstet, um nicht zerschlagen zu
werden, so ist das für Cliff Kapitalismus. Und da angeblich keine Arbeiterkontrolle
bestand (was das konkret auch heißen mag, denn konkrete Modelle, wie eine Arbei-
terkontrolle aussehen soll, hat bisher kein Trotzkist, orthodox oder nicht, geliefert) ist
dieser Kapitalismus auch nicht ansatzweise fortschrittlich.
Auch wenn man Cliffs Analysen als pseudowissenschaftliche und unmarxistische, gar
antikommunistische Propaganda einstufen kann, heißt das nicht, dass man ihr nicht
doch etwas abgewinnen kann. Cliffs Theorie hinterfragt nämlich die trotzkistische
Polemik und denkt sie in letzter Konsequenz zu Ende. Er fragt berechtigterweise, ob
ein Staat, der nicht von den Arbeitern (sondern von der Bürokratie) regiert wird, ein
Arbeiterstaat ist.825
"Verfügt der Staat über die Produktionsmittel, und steht er nicht unter der Kontrolle
der Arbeiter, dann verfügen diese auch nicht über die Produktionsmittel. Sie sind
dann auch nicht die herrschende Klasse." 826
Und John Molyneaux, ein weiteres führendes Mitglied der trotzkistischen "Socialist
Workers Party", dessen Mitbegründer Tony Cliff ebenfalls ist, fragt: "Wenn es aner-
kannt wurde, wie es auch Trotzki tat, dass der russische Staat auf keinen Fall von den
russischen Arbeitern kontrolliert wurde, wie ist es dann möglich, diesen einen 'Arbei-
terstaat', wenn auch einen degenerierten, zu nennen?"827
Wir stimmen natürlich weder mit Trotzki noch mit Cliff oder Molyneaux überein.
Wie sich zeigen wird, hatte die Arbeiterklasse in der Sowjetunion die Kontrolle über
die Produktionsmittel und die Rolle der Bürokratie wurde zu genüge beschrieben.
Aber wenn man von der These ausgeht, dass die Arbeiter diesen Staat nicht kontrol-

824
CLIFF (1955), S. 144
825
CLIFF (1955), S. 117
826
CLIFF (1955), S. 118
827
Zitiert in WALKER (1985), S. 82

305
Zur Geschichte der Sowjetunion

lieren, kann es sich – wenn die marxistische Definition des Staates gilt – nicht um
einen Arbeiterstaat handeln. Diese logische Konsequenz sieht auch Cliff. 828 Doch
diesen Widerspruch bei Trotzki aufgedeckt zu haben, das ist Cliffs einziger heller
Moment, denn der Rest seiner Thesen (die man nur schwer Analysen nennen kann)
hat die gleiche typisch trotzkistische Unlogik.
Cliff schreibt: "Wir halten es für ausgeschlossen, daß die internen Klassenkräfte Ruß-
lands zur Restauration des Privatkapitalismus führen können; gleichzeitig verwerfen
wir den Standpunkt der Stalinisten, wie die Theorie des bürokratischen Kollektivis-
mus (sei es in der Shachtmanschen Formulierung oder der Bruno Rs) und den Burn-
hamismus. Nur die dritte Alternative bleibt deshalb übrig. Im Staatskapitalismus wie
im Arbeiterstaat ist der Staat der Besitzer der Produktionsmittel. Der Unterschied
zwischen beiden Systemen kann nicht in der Eigentumsform liegen. Das Staatseigen-
tum an Produktionsmitteln, das Trotzki zur Grundlage für seine Einschätzung des
Klassencharakters der russischen Gesellschaft nimmt, muß deshalb als nicht stichhal-
tiges Kriterium zurückgewiesen werden." 829
Man lese und staune: Cliff hält die Restauration des Privatkapitalismus für unmög-
lich. Er starb im Jahr 2000 und erlebte also die Konterrevolution, die Wiederherstel-
lung des Privatkapitalismus in Russland. Es ist nicht bekannt, dass Cliff seine Positio-
nen revidierte. Nicht zuletzt deshalb, weil die politischen Sekten, die Cliff folgen (wie
in der BRD der Linksruck, jetzt Marx21), seinem Buch immer noch huldigen. Es ist
auch interessant zu lesen, dass zwar Cliff die Verfälschung der Staatstheorie Trotzkis
kritisiert, selber aber den gleichen Grundfehler begeht.
Der Staat ist nach Marx und Lenin die Herrschaft der einen Klasse zur Unterdrückung
der anderen. Das setzt auch voraus, dass die herrschende Klasse die Produktionsmittel
besitzt. Damit sind die Eigentumsformen ein wichtiger Faktor für die Bestimmung
des Staates. Wenn Cliff aber sagt, dass die Eigentumsformen für die Einschätzung des
Klassencharakters der russischen Gesellschaft nicht entscheidend sind, da es keinen
Unterschied in den Eigentumsformen des Arbeiterstaates und des Staatskapitalismus
gibt, verfälscht er ebenfalls die marxistische Definition des Staates. Diese Fehlein-
schätzung ist umso gravierender, weil sich Cliff auf Marx und Lenin beruft!
Es zeigt sich hier also, dass Cliffs Theorien genauso antikommunistisch sind wie die
Angriffe Trotzkis gegen den Sozialismus. Der einzige Unterschied ist, dass Cliff viel
konsequenter mit seiner Ablehnung, gar seinem Hass gegen die Sowjetunion ist.

828
CLIFF (1955), S. 118 F,
829
CLIFF (1955), S. 126

306
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wir schließen das theoretische Konstrukt des „Staatskapitalismus in der Sowjetunion“


mit einer Kritik des trotzkistisch orientierten Schreibers David Purdy ab. Seine Sicht-
weisen über Stalin und die Sowjetunion stehen zwar im Gegensatz zu der Grundaus-
sage des vorliegenden Werkes. Dennoch finden sich einige gute Argumente gegen die
von Cliff u.a. aufgeführte Theorie des Staatskapitalismus in der Sowjetunion. Purdy
schreibt:
"Nehmen wir mal an, dass trotz all dieser Kritiken es immer noch behauptet wird,
dass die Partei und die Staatsbürokratie in der UdSSR eine herrschende Klasse sei. Es
werden allgemein zwei Gründe vorgebracht, die diese Behauptung unterstützen. Die
erste ist, dass, obwohl der Staat Eigentümer der Produktionsmittel ist, die Bürokratie
den Staat tatsächlich 'besitzt'. Ihr Monopol über die Instrumente politischer Macht,
kombiniert mit dem Staatseigentum, gibt ihr dasselbe Kommando über Wirtschaft und
Gesellschaft wie der Bourgeoisie durch ihr Klassenmonopol über die Produktionsmit-
tel in einem System des Privateigentums. Das zweite Argument ist, dass von dieser
Position der Dominanz die Bürokratie ihre Privilegien sichert und sich vom Rest der
Gesellschaft aussondert. Der Großteil ihrer politischen Strategie widmen sie dazu,
diese Privilegien zu sichern.
Beide Positionen entwerten und verzerren das marxistische Klassenkonzept. Das
zweite Argument entstammt besonders den Theoretikern der klassischen bourgeoisen
Soziologie, wie der von Pareto und Mosca. Diese Theoretiker leisteten Pionierarbeit
bei dem Elitenkonzeption als Teil einer politischen Doktrin, welche der modernen
Demokratie und noch mehr dem modernen Sozialismus entgegentreten. Sie vernein-
ten die Möglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft aufgrund der Tatsache, dass eine
jede Gesellschaft in zwei Schichten aufgeteilt wurde - einer führenden Minderheit und
einer Mehrheit, die beherrscht wird - und dass alle Gesellschaften so aufgeteilt wer-
den müssten.
Für Marxisten jedoch ist eine Einteilung in Klassen nicht dasselbe wie die Bildung
sozialer Schichten und das Konzept einer dominanten Klasse ist nicht dasselbe wie
das Konzept einer Elite. Eine bestimmte Bevölkerung kann nach Einkommen, persön-
lichem Besitz oder jedem anderen möglichen Inhalt sozialer Differenzierung aufge-
teilt werden. Diese Indizes können miteinander korrelieren, dennoch wäre es inkor-
rekt, solche sozialen Trennungen mit Klassentrennungen zu identifizieren. Sie können
miteinander in Verbindung stehen oder durch Klassentrennungen hervorgerufen wer-
den (…) aber sie stellen nicht dar, was Marxisten unter einer Klassenaufspaltung
verstehen. Daraus folgt, dass die Klassennatur der sowjetischen Etappe für Marxisten
nicht durch die Auflistung der Vergünstigungen und Privilegien der Bürokratie er-
gründet werden kann [und genauso so geht aber auch der von Purdy geschätzte Trotz-
ki vor, indem er durch die Ausbildung einer privilegierten Bürokratenschicht den

307
Zur Geschichte der Sowjetunion

sozialistischen Charakter des sowjetischen Staates leugnet, trotz der Anerkennung,


dass es sich um einen (entarteten) Arbeiterstaat handelt! - M. K.] Eine marxistische
Herangehensweise in dieser Frage ist, dass zuerst die vorherrschenden Produktions-
verhältnisse in der UdSSR analysiert werden müssen und die Art und Weise, wie
diese mit untergeordneten Verhältnissen verbunden sind. Dies sind die Vorbedingun-
gen für das Verständnis der hauptsächlichen Facetten der Klassenstruktur einer jeden
sozialen Formation; die Natur der wichtigsten Konflikte, die Quelle sozialen Wan-
dels, der Zusammenhang zwischen den sozialen Gruppen und die Machtbasis dieser
Gruppen, die sie ausüben, werden so verstanden. Die alleinige Beschreibung der sow-
jetischen Partei und Staatsbürokratie als privilegierte Elite gibt keinerlei Einsicht in
diese Themen. (…)
Der Gebrauch des Kriteriums 'Kontrolle' für das Kriterium 'Eigentum an Produkti-
onsmitteln' führt unweigerlich zu einem Verlust analytischer Genauigkeit. Streng
genommen trifft der Begriff 'Bürokratie' auf jeden zu, dessen Vollzeitbeschäftigung in
der Partei und im Staatsapparat zu finden ist. Nun können aber große Teile dieser
sozialen Gruppe, die 14 Mio. Menschen in der UdSSR umfasst, kaum als privilegiert
in Bezug zu Einkommen, Macht oder jeden anderen Standard gelten.
Wenn wir aber auf der anderen Seite die Mitgliederschaft in der sogenannten herr-
schenden Klasse auf die höheren Ränge der Bürokratie einschränken, dann werden
die genauen Grenzen sehr elastisch. Zum Beispiel bedeutet die Dezentralisierung der
Planungssystems, dass bestimmte ausführende Funktionen, die für die Funktionäre
des Planungssystems bestimmt waren, dem Betriebsmanagement übergeben werden.
Bedeutet das, dass die herrschende Klasse administrativ vergrößert wurde? Oder war
das Betriebsmanagement schon immer Teil die herrschenden Klasse? (…) Die Be-
hauptung, dass das Äquivalent des industriellen, finanziellen öder ländlichen Privatei-
gentums der 'Besitz' des Staates ist, ist einfach zusammenhangslos. Der Staat ist nicht
etwas, was als Eigentum gelten kann. Er kann von einer sozialen Gruppe beeinflusst,
manipuliert, unter Druck gesetzt oder sogar dominiert werden, aber niemals Eigentum
sein. (…) [I]n Klassengesellschaften, inklusive dem Sozialismus, wo die Arbeiter-
klasse die dominante Klasse ist, ist die Funktion des Staates, das allgemeine Interesse
der dominanten Klasse zu schützen. Von dieser Funktion kann [der Staat] nicht
grundsätzlich adäquat entbunden werden…" 830
Es sei der Vollständigkeit halber hier noch ein Kommentar von Denver Walker, ei-
nem britischen Kommunisten und Gewerkschaftler, zitiert: "Schauen wir es uns doch
einfach an: Wie kann eine Gruppe von Leuten ohne legale Eigentums- oder Erb-
schaftsrechte, ohne Dividenden, ohne Rechte über ihr Kapital zu verfügen oder ir-

830
PURDY, D., S. 33 - 35

308
Zur Geschichte der Sowjetunion

gendwo zu investieren, gar überhaupt ohne Kapital ernsthaft als kapitalistische Klasse
bezeichnet werden? Die schmerzhafte Antwort ist: Man kann es nicht. Es ist zu be-
denken, dass man dies doch könne, keine Erfindung der SWP [der trotzkistischen
Partei der auch Tony Cliff angehört - M. K.] ist. Diese Sichtweise wurde z. B. von der
US-Handelskammer geteilt, die in ihrem 1946 erschienen Kommunistenhetze-
Pamphlet 'Kommunistische Infiltration in der USA" behaupteten, 'die UdSSR operiert
als Staatskapitalismus, im Gegensatz zu unserer freiwilligen, privaten wettbewerbs-
orientierten Kapitalismus.'
Mit Freunden wie solchen braucht die SWP mich nicht als Kritiker. (…) Wenn die
grundlegendsten Prinzipien des Marxismus die Möglichkeit verneinen, dass aus der
Staatsmaschinerie eine Klasse werden kann, die UdSSR jedoch fehlerhaft verbleibt,
muss diese Staatsmaschinerie eine Bürokratie werden, die abhängig ist vom gesell-
schaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln, aber eigene spezifische Interessen ent-
wickelt, die mit jenen der Arbeiterklasse in Konflikt stehen. Ein solcher Staat, der 'in
keiner Weise von den russischen Arbeitern kontrolliert wird', wie Herr Molyneaux
uns erklärt und dem Trotzki zustimmen würde, könnte sich sicherlich nicht seit sieben
Jahrzehnten gegen die Interessen der Arbeiter halten, ohne wenigstens eine ernsthafte
Opposition…"831
Nun ließe sich natürlich einwenden, Denver Walker habe Unrecht, denn schließlich
sei ja die Sowjetunion und damit der Sozialismus in diesem Land untergegangen.
Doch hierfür liegen andere Gründe vor, die zum Ende des Buches angesprochen wer-
den und die nicht in das trotzkistische Dogma passen. Gerade, weil der Kapitalismus
in der ehemaligen Sowjetunion nach dieser Konterrevolution restauriert wurde, kann
die Theorie des Staatskapitalismus nicht fruchten!
Thomas M. Twiss gibt zu bedenken, dass nach dem Untergang der Sowjetunion und
anderer sozialistischer Staaten nach 1990 Trotzkis Theorien doch zutreffen müssten.
Doch er erwidert, dass der Untergang der Sowjetunion nicht Trotzkis Erwartungen
entsprachen. Zum einen trat er viel später ein, als von Trotzki prophezeit (und auch
aus anderen Gründen - M. K.) und der Prozess der Restauration begann nicht, wie
Trotzki behauptete, mit der Auflösung der Kolchosen. Außerdem kam es nicht zu
dem erwünschten Klassenkrieg wie ihn Trotzki voraussagte. 832 Wir hatten uns, als wir
Tony Cliffs Theorien auseinander nahmen, mit Trotzkis Prophezeiungen schon näher
auseinandergesetzt. Tatsächlich war es so, dass westliche Ideologen mit der Zeit und

831
WALKER (1985), S. 83
832
TWISS (2014), S. 453 - 454

309
Zur Geschichte der Sowjetunion

des stärker Werdens des Sozialismus Trotzkis Prophezeiungen nicht mehr ernst nah-
men;833 dann kam Gorbatschow …
Über staatskapitalistische Theorien in Russland schreibt Lane (1978), dass es wichtig
ist zu beweisen, dass eine herrschende Klasse im marxistischen Sinne den Mehrwert
der Arbeiter privat aneignet: "Die Privilegien der herrschenden Klasse werden nach
Marx von dem Mehrwert (…) abgeleitet, nachdem der Arbeiter seinen Lohn bezahlt
bekommen hat. Aber die sowjetische herrschende Klasse, wenn sie denn eine ist,
erhält ein Gehalt bezogen auf ihre Beschäftigung. Wenn sie nicht beschäftigt sind,
erhalten sie auch kein Gehalt - anders als bei ihrem kapitalistischen Gegenstück, der
ziemlich glücklich von Dividenden leben kann - und ist damit in derselben Marktposi-
tion wie andere Lohnempfänger. Es ist schwer zu verstehen wie solch eine Schicht
mit einer herrschenden Klasse im marxistischen Sinne gleichgesetzt werden kann."834
An anderer Stelle wird erwähnt: "Private Aneignung des Mehrwertes wurde elimi-
niert. Dies beinhaltet, dass es keine soziale Klasse gibt, die legale Eigentumsrechte
hat oder die Erträge dieses Eigentums zu verprellen. (…) Aber sie [die Theoretiker
des Staatskapitalismus - M. K.] liefern keine analytischen Kategorien für die sowjeti-
sche Ökonomie, die solche Zwänge wie den tendenziellen Fall der Profitrate, die
Tendenz zur Monopolisierung, die Notwendigkeit der Expansion der Märkte. Weder
gibt es irgendwelche Beweise für ähnliche strukturelle Bedingungen, die Marxisten
für den Kapitalismus aufzeigen: Imperialismus, eine Reservearmee von Arbeitslosen,
zu geringe Ausnutzung der Ressourcen, massive Inflation, Ungleichgewichte zwi-
schen privater und öffentlicher Konsumtion. (…) Während der sowjetische Arbeiter
seine Arbeitskraft für einen Lohn verkauft, macht er dieses nicht im selben Zusam-
menhang wie im Kapitalismus. Der Arbeitgeber ist ein Regierungsministerium, aber
der Staat in Form der Kommunistischen Partei ist repräsentiert im lokalen Industrie-
betrieb. Solche strukturellen Bedingungen sind völlig anders als in der kapitalisti-
schen Produktionsweise. (…) Arbeiter werden in Geld bezahlt. Und Geld bestimmt
einen Anspruch über die Verteilung der Gebrauchsgüter zwischen den verschiedenen
Gruppen von Arbeitern. Aber das selbst sagt nichts über die Produktionsbedingungen
und ihre Verhältnisse aus."835
"Diese Autoren verschmelzen die herrschende Klasse, die Bürokratie, den Staat und
die Produktionsweise. Es gibt nirgendwo eine Identifikation einer spezifischen Grup-
pe, welche über die Produktionsmittel verfügt und dies ist ein grundsätzliches Ele-
ment in der marxistischen Definition einer Klasse. Es reicht nicht aus, dass ein Mehr-

833
TWISS (2014), S. 457
834
LANE (1978), S. 177
835
LANE (1978), S. 180

310
Zur Geschichte der Sowjetunion

wert von den Produzenten extrahiert wird: denn Marx erkannte, dass dies eine Not-
wendigkeit auch im Kommunismus ist [es ist notwendig für die Aufrechterhaltung
und Erweiterung der Produktion, als auch der Reproduktion, z. B. Bildung, Gesund-
heit, Kindererziehung etc. - M. K.]; der auszeichnende Faktor der kapitalistischen
Gesellschaft ist, dass die Aneignung des Mehrwerts durch eine kapitalistische Klasse
ein Prozess ist, der eine antagonistische Form voraussetzt und ergänzt wird durch die
komplette Untätigkeit einer Schicht der Gesellschaft."836
"Die Existenz einer bürokratischen, intellektuellen, administrativen und exekutiven
Schicht ist auch nicht analog zu der parasitären Rolle der kapitalistischen Aktionäre
(…)."837

5.4. Über Trotzkis "Verteidigung" der Sowjetunion


Die Geister, die Trotzki rief, konnte er nicht mehr loswerden. Es war quasi unmöglich
für ihn nachzuvollziehen, dass seine treusten Anhänger und Mitbegründer - Max
Shachtman, Bruno Rizzi, Manuel Fernandez Grandzio, Cyrill Lionel Robert (C.L.R.)
James, Raya Dunayevskaya, Tony Cliff u.v.m. - ihn so fallen ließen und seine "Ver-
teidigung" der Sowjetunion nicht mehr mittrugen. Der orthodoxe Flügel, also jene, die
Trotzkis Dogma vom degenerierten Arbeiterstaat fanatisch verteidigten, z. B. Ernest
Mandel & Michel Pablo, hielt an der "Verteidigung" der Sowjetunion fest (was sie
übrigens auch nicht hinderte, sich untereinander zu zerstreiten). Doch wie stichhaltig
und ernst zu nehmen ist Trotzkis "Verteidigung"? Trotzki verfasste 1939 und 1940
mehrere Artikel, die nach seinem Tod unter der Bezeichnung "Verteidigung des Mar-
xismus" herausgegeben wurden.838 Dort setzt sich Trotzki hauptsächlich mit seinen
ehemaligen Schülern über die Frage des Charakters der UdSSR auseinander. Anhand
einiger Beispiele werden wir zeigen, dass Trotzkis Argumentation nicht wesentlich
logischer ist als die seiner Widersacher.
Trotzki schreibt beispielsweise in "Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist
Workers Party" zum Charakter der UdSSR, dass "die UdSSR minus der gesellschaft-
lichen Struktur, die die Oktoberrevolution geschaffen hat, ein faschistisches Regime
wäre".839 Anhand dieser mathematischen Milchmädchenrechnung will Trotzki uns
erklären, dass zwar der Stalinismus dem Faschismus ähnlich ist, dieser jedoch noch
eine sozialistische Basis hätte.

836
LANE (1978), S. 181, vgl. auch LANE (1988), S. 7, LANE (1982), S. 136
837
LANE (1982), S. 136
838
TROTZKI (1939/1940) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/vdm/index.htm
839
TROTSKY (1939A), Kapitel "Charakter der UdSSR"
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/vdm-kboswp.html

311
Zur Geschichte der Sowjetunion

Während Trotzki seinen "trotzkistischen Abweichlern" richtigerweise Oberflächlich-


keit vorwirft, ist er es selbst, der ebenso in Oberflächlichkeit verfällt und den Arbei-
terstaat in der Sowjetunion als degeneriert betrachtet, weil er von eine Bürokratenkas-
te regiert werde und die Arbeiter eigentlich keine Macht hätten.
Der Charakter des Arbeiterstaates in der UdSSR zeigte sich nach Trotzki nur darin,
dass er historisch durch die Oktoberrevolution geschaffen wurde, aber danach degene-
rierte. Würde man nun diese soziale Basis abschaffen oder wegdenken, wie es Trotz-
kis "staatskapitalistische" Kritiker tun, hätte man Faschismus. So einfach ist das, muss
man nur wissen!
Natürlich versucht Trotzki kurz darauf den Faschismus-Vergleich zu revidieren, in
dem er die "gewöhnlichen Radikalen" (gemeint sind Leute wie Burnham, Rizzi und
Shachtman) kritisiert, die meinen, dass durch den "Pakt" Stalins "mit Hitler (…) die
Gleichheit der Methoden des Stalinismus und des Faschismus (…) bewiesen [wäre]".
Die Ungleichheit zwischen „degeneriertem Arbeiterstaat“ und Faschismus zeige sich
nach Trotzki darin, dass "die neue Obrigkeit die Bevölkerung aufforderte, die Land-
besitzer zu enteignen." Diese "revolutionären sozialen Maßnahmen" wurden "mit
Hilfe bürokratischer militärischer Mittel durchgeführt" und "bekräftigten" Trotzkis
"Definition der UdSSR (…) unumstößlich. 840 Kurz gesagt heißt das: die Sowjetunion
enteignete die Kapitalisten nicht auf eine revolutionäre Weise, sondern mit bürokrati-
schen und militärischen Methoden im Sinne der "parasitären Bürokratie".
Der eigentliche Unterschied zwischen den Positionen Trotzkis und denen seiner ehe-
maligen Schüler ist nur, dass letztere offen ihrer antisowjetischen Haltung Ausdruck
verleihen, Trotzki jedoch versucht, diese irgendwie als pro-sowjetisch zu tarnen.
Nochmal: Was ist ein Arbeiterstaat wert, wenn er nicht in der Lage ist, durchzusetz-
ten, dass seine Klasse herrscht? Wo liegt der prinzipielle Unterschied zwischen dem
"bürokratischen Kollektivismus" eines Bruno R., der Faschismus mit Kommunismus
gleichsetzt, weil Bürokraten herrschen, und Trotzkis Theorie des degenerierten Arbei-
terstaates, in dem die Arbeiterklasse durch "bonapartistische Bürokraten" entmachtet
wurde, die einen ähnlich reaktionären Charakter haben wie der Faschismus und Tony
Cliffs "Staatskapitalismustheorie", der den Bürokraten in der Sowjetunion gleich
vorwirft, Kapitalisten zu sein? Es klingt so, als ob eine falsche Theorie durch eine
noch falschere widerlegt werden soll, als ob man mit Esoterik den Kreationismus
widerlegen möchte. Welches die falschere der falschen „Theorien“ ist, kann man sich
dabei aussuchen.

840
TROTZKI (1939A), Kapitel Evolution und Dialektik

312
Zur Geschichte der Sowjetunion

Offensichtlich ist wohl der einzig nennenswerte Unterschied für Trotzki die Tatsache
der Oktoberrevolution, die eine soziale Basis des gesellschaftlichen Eigentums ge-
schaffen hat. Folgt man Trotzkis Konzeptionen, stellt sich jedoch die Frage, ob nicht
das gesellschaftliche Eigentum schon abgeschafft wurde durch die stalinistische Bü-
rokratie, die sich laut Trotzki ja als parasitär erweist und einen Teil des Mehrproduk-
tes für ihre Privilegien privat aneignet? Egal, welche Schrift Trotzkis man zur Hand
nimmt, schlauer wird man dadurch nicht. Dabei ist es ein schwacher Trost, wenn man
feststellt, dass Shachtman, Burnham, u. a. viel primitiver vorgehen bzw. viel einfacher
denken. Denn Trotzkis oft komplizierte Wortkonstruktionen machen die Sache nicht
richtiger oder verständlicher.
Man braucht kein Studium des Trotzkismus abzuschließen, um zu merken, dass hier
dem unwissenschaftlichen Totalitarismuskonzept Tür und Tor geöffnet wird. Denn
wie progressiv könnte denn eine sozialistische Gesellschaftsstruktur sein, wenn sie es
ermöglicht, dass - wie Trotzki es behauptet - die Bürokratie der reaktionärsten und
arbeiterfeindlichsten Diktatur des Kapitals (was der Faschismus nun mal ist) in Form
des Stalinismus an die Macht gelangen kann?
Selbst Trotzki musste in "Die UdSSR im Krieg" eingestehen, dass das Konzept der
Sowjetbürokratie als Kaste, "womit [ihr] abgeschlossener Charakter unterstrichen
[werden soll] (…), selbstverständlich keinen streng wissenschaftlichen Charakter
[besitzt]."841 Hier hilft es wenig, wenn Trotzki diesbezüglich einwendet, dass der
Begriff einen "behelfsmäßigen Charakter" hat und er sich fragt, ob die Bürokratie
"eine einstweilige Wucherung am sozialen Organismus" oder ein "historisch unerläss-
liches Organ" geworden ist, um zu klären, ob es sich um eine Kaste (Wucherung)
oder eine Klasse (Organ) handelt.842
Natürlich möchte Trotzki die Unterschiede zwischen „Stalinismus“ und Faschismus
darin sehen, dass, wie er in der Kritik an Bruno R. darstellt, "die Sowjetbürokratie die
politischen Methoden des Faschismus übernommen" habe, der "faschistische 'Antika-
pitalismus' [nicht] in der Lage sei zu einer Enteignung der Bourgeoisie zu gelangen.
(…) Mussolini und Hitler 'koordinieren' nur die Interessen der Besitzenden und 'regu-
lieren' die kapitalistische Wirtschaft, und noch dazu hauptsächlich für Kriegszwecke.
Die Kremloligarchie ist dagegen etwas anderes: Sie kann nur deshalb die Wirtschaft
als Ganzes lenken, weil die Arbeiterklasse Rußlands den größten Umsturz der Eigen-

841
TROTZKI (1939B): https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/09/vdm-
ussrkrg.html Kapitel "Handelt es sich um eine krebsartige Wucherung oder um ein neues Or-
gan?"
842
TROTZKI (1939B), ebenda

313
Zur Geschichte der Sowjetunion

tumsverhältnisse in der Geschichte durchgeführt hat. Diesen Unterschied darf man


nicht aus den Augen verlieren."843
Wir halten also fest: Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen Faschismus
und "Stalinismus" ist der, dass die faschistische Bürokratie der besitzenden Klasse
(der Bourgeoisie) dient, in der Sowjetunion hingegen dient die bürokratische Kaste
nur sich selber und nicht der Arbeiterklasse, die eigentlich die rechtmäßigen Eigen-
tümer in der UdSSR sein sollten. Dabei besitzt laut Trotzki "[die] Sowjetoligarchie
(…) alle Laster der alten herrschenden Klassen, aber es fehlt ihr deren geschichtliche
Bestimmung."844
Was soll das anderes heißen, als dass die Bürokratie in der Sowjetunion eigentlich
fast eine Ausbeuterklasse sei, gebe es da nicht das vergesellschaftete Eigentum, das
von der Oktoberrevolution ermöglicht wurde. Deswegen kommen die "allgemeinen
Gesetze der modernen Gesellschaft vom Kapitalismus hin zum Sozialismus [nicht]
zum Ausdruck". Was so viel heißt, wie: Die Bürokratie muss "besondere, außerge-
wöhnliche und vorübergehende Brechung dieser Gesetze" durchführen. 845
Verstehe, wer kann: die Bürokratie müsse eigene Wege gehen, um sich den Mehrwert
anzueignen, da sie aber keine historische Mission habe, könne sie aber auch keine
Klasse werden. Und das bezeichnet Herr Trotzki als Analyse!
Wenn Trotzki den "degenerierten Arbeiterstaat" wie folgt definiert: ein "unabhängiges
bürokratische[s] Regime", "Diktatur der Bürokratie", die mit den "Aufgaben des So-
zialismus unvereinbar ist", jedoch "das System der Planwirtschaft, auf der Grundlage
des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln (…) eine großartige Errungen-
schaft der Menschheit"846 ist, bleiben viele Fragen offen: Weder ist Trotzki in der
Lage, die "Bürokratie" richtig zu definieren, noch findet er eine Erklärung dafür, wie
eine Bürokratie unabhängig von der Klasse existieren kann, der sie dienen soll. Was
bliebe dann von der Planwirtschaft übrig, die ja sogar erst während der "Diktatur der
Bürokratie" realisiert wurde? Warum wird die Bürokratie nicht zur Ausbeuterklasse,
wenn sie das Mehrprodukt verwaltet und konsumiert? Es spielt dabei keine große
Rolle, dass Trotzki Shachtman ein "theoretisches Vakuum" unterstellt 847, wenn er
selbst eins liefert. "Letzten Endes ist" für Trotzki "ein Arbeiterstaat eine Gewerk-

843
TROTZKI (1939B) Kapitel "Die Theorie des 'bürokratischen Kollektivismus'
844
TROTZKI (1939B), Kapitel "Die Bedingungen für die Allmacht und den Fall der Bürokratie"
845
TROTZKI (1939B), ebenda
846
TROTZKI (1940), Kapitel Shachtman bildet einen Block - auch mit Lenin
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1940/schramme/index.html
847
TROTZKI (1940), ebenda

314
Zur Geschichte der Sowjetunion

schaft, die die Macht erobert hat." 848 Damit liefert Trotzki natürlich eine sehr merk-
würdige Definition eines Arbeiterstaates.
Entsprechend wirkt die "Verteidigung" der UdSSR durch Trotzki doch recht makaber,
wenn er schreibt: "Wir sind keine Regierungspartei; wir sind die Partei der unver-
söhnlichen Opposition, nicht nur in den kapitalistischen Ländern, sondern auch in der
UdSSR. Unsere Aufgaben, unter ihnen die 'Verteidigung der UdSSR', verwirklichen
wir nicht mittels bürgerlicher Regierungen und nicht einmal durch die Regierungen
der UdSSR, sondern ausschließlich durch die Erziehung der Massen durch Agitation,
dadurch, daß wir den Arbeitern erklären, was sie verteidigen sollen und was sie stür-
zen sollen. (…) Die Verteidigung der UdSSR fällt für uns mit der Vorbereitung der
Weltrevolution zusammen. Nur solche Methoden sind zulässig, die den Interessen der
Revolution nicht widersprechen." 849
"Die Vierte Internationale hat bereits vor langer Zeit die Notwendigkeit erkannt, daß
die Bürokratie durch einen revolutionären Aufstand der Arbeiter gestürzt werden
muss. (…) Das Ziel, das durch den Sturz der Bürokratie erreicht werden soll, ist, die
Herrschaft der Sowjets wiedereinzusetzen und die gegenwärtige Bürokratie aus ihnen
zu verjagen. Nichts anderes kann oder wird von den linken Kritikern angenommen.
Es ist die Aufgabe der wiederhergestellten Sowjets, mit der Weltrevolution Hand in
Hand zu arbeiten und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Der Sturz der Bü-
rokratie setzt daher die Beibehaltung des Staatseigentums und der Planwirtschaft
voraus. (…)
Unsere Kritiker lehnen es ab, den degenerierten Arbeiterstaat einen Arbeiterstaat zu
nennen. Sie verlangen, daß die totalitäre Bürokratie herrschende Klasse genannt wird.
Die Revolution gegen diese Bürokratie wollen sie nicht als politische, sondern als
soziale betrachten. Sollten wir ihnen diese Zugeständnisse in den Begriffen machen,
brächten wir unsere Kritiker in eine sehr schwierige Lage, da sie selbst nicht wüssten,
was sie mit ihrem rein verbalen Sieg anfangen sollten." 850
"In Wirklichkeit haben wir die internationale Politik des Kremls seit langer Zeit nicht
verteidigt, nicht einmal bedingt, besonders seit der Zeit, als wir offen erklärten, daß
man die Kreml-Oligarchie durch einen Aufstand niederwerfen muss! Eine falsche
Politik verstümmelt nicht nur die gegenwärtigen Aufgaben, sondern zwingt einen
auch, seine eigene Vergangenheit in falschem Licht darzustellen." 851

848
TROTZKI (1939C), Kapitel "Ein konterrevolutionärer Arbeiterstaat"
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/10/vdm-wieder.html
849
TROTZKI (1939B), Kapitel "Die Verteidigung der UdSSR und der Klassenkampf"
850
TROTZKI (1939B), Kapitel "Handelt es sich um politische oder begriffliche Unterschiede?"
851
TROTZKI (1939A), Kapitel "Verteidigung der UdSSR"
315
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Aber Stalin und die Komintern sind jetzt zweifellos die wertvollste Agentur des
Imperialismus. Wenn wir die Außenpolitik des Kremls genau abgrenzen wollen, müs-
sen wir sagen, daß sie die Politik der bonapartistischen Bürokratie eines degenerier-
ten Arbeiterstaates in imperialistischer Umzingelung ist. Diese Definition ist nicht so
kurz oder wohlklingend wie „imperialistische Politik“, dafür aber genauer." 852
Schon merkwürdig: zum einen sei der Sowjetstaat eine Waffe des Proletariats, zum
anderen diene er doch dem Imperialismus!? Wohl gemerkt "verteidigt" Trotzki angeb-
lich (!) das Erbe der Oktoberrevolution, aber nicht die Sowjetunion Stalins, denn
dieser müsse gestürzt werden.
Wenn der Kreml, also Stalin gestürzt würde – der faschistische Überfall stand bevor -
hätte die Konterrevolution, der Faschismus gewonnen. Da kann Trotzki noch so sehr
von seiner Hoffnung auf das Proletariat reden, seine Propaganda bleibt objektiv kon-
terrevolutionär und spielte den Faschisten in die Hände. Solch eine Verteidigung ist
nicht viel Wert, auch wenn man sich so oft auf die Weltrevolution beruft. Ludo Mar-
tens kommentiert:
"Trotzki hat die These vertreten, nach der es zur guten Vorbereitung gegen einen
Naziaggressionskrieg notwendig sei, Stalin und die Bolschewiki zu schlagen. Bei der
Verteidigung dieser These wurde Trotzki zum Instrument im Dienst der Hitleristen.
(…) Ja, Trotzki hat die Sowjetunion immer verteidigt... zumindestens, wenn man
akzeptiert, dass die Zerstörung der bolschewistischen Partei die beste Verteidigungs-
vorbereitung sei. Der wesentliche Punkt ist, dass Trotzki den antibolschewistischen
Aufstand propagierte, wovon nicht eine Handvoll Trotzkisten, sondern die Nazis
profitiert hätten. Trotzki konnte sehr wohl den Aufstand im Namen einer 'besseren
Verteidigung' der UdSSR predigen, das ändert nichts an der Tatsache, dass er eine
antikommunistische Politik führte und dass er in Wirklichkeit alle antisozialistischen
Kräfte mobilisierte. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Nazis die ersten waren, die
'diese bessere Verteidigung der UdSSR' zu würdigen wussten. (…) Trotzki 'verteidigt'
die UdSSR, aber nicht die UdSSR Stalins mit der bolschewistischen Partei. Er gibt
vor, dass er die UdSSR mit 'allen unseren Kräften' verteidigen wird, d.h. mit einigen
tausend Anhängern, über die er in der UdSSR verfügt! Aber in Erwartung dessen
müssen diese mehrere Tausend Außenseiter sich bemühen, einen Aufstand gegen
Stalin und die bolschewistische Partei zu provozieren. In der Tat ist das eine 'schöne'
Verteidigung."853
Aber Trotzki wollte doch nur eine politische, statt einer sozialen Revolution, was
ungefähr so viel heißt, dass er sich an Stelle von Stalin an der Spitze der Sowjetunion

852
TROTZKI (1939C), Kapitel "Agentur des Imperialismus"
853
MARTENS (1998), S. 239 - 240

316
Zur Geschichte der Sowjetunion

sehen will; sich quasi hochputschen. Doch lassen sich politische und soziale Revolu-
tion so einfach trennen? Da das Proletariat im Kapitalismus eine eigentumslose Klas-
se ist, kann sie ihre politische Macht nur mittels sozialer Umwälzungen (Sturz des
Kapitalismus, Vergesellschaftung der Produktion) erreichen. Damit ist aber die politi-
sche Macht immer auch an eine soziale Revolution gebunden.
Wenn Trotzki jedoch behauptet, dass die Arbeiterklasse in der Sowjetunion ihre sozi-
ale Revolution schon hatte und nur durch eine politische ihre Macht wiedererlangen
kann, dann kann es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Arbeiterklasse und
Bürokratie geben.
Politische "Revolutionen" sind immer Veränderungen in den Machtstrukturen inner-
halb einer Klasse. Wird ein König durch einen anderen gestürzt, wird die bürgerliche
Demokratie durch den Faschismus ersetz, bleiben die Eigentumsverhältnisse unbe-
rührt, jedoch übernehmen andere Fraktionen, andere Personen genau derselben Klasse
die Führung. Will die eine Kapitalfraktion den Faschismus durchsetzen, gehört sie
nicht mehr und nicht weniger zur Bourgeoisie wie jene Kapitalfraktionen, die die
bürgerlich-demokratische Fassade aufrechterhalten will. Und ob ein König B einen
König A stürzt, spielt eine geringe Rolle, da es sich bei beiden um Feudalherren han-
delt. Sowas ist keine Revolution, da keine großen sozialen Veränderungen stattfinden,
da die Eigentumsfrage nicht berührt wird.
Wenn Trotzki politische Veränderungen, eine politische Revolution, in der Sowjet-
union will, die soziale Basis aber nicht verändern will, so bestehen auch zwischen
Arbeiterklasse und den Verwaltungskadern keine nennenswerten Unterschiede. Letz-
ten Endes werden ja die Verwaltungskader aus der Arbeiterklasse rekrutiert. Damit
kann aber die "Bürokratie" keine parasitäre und ausbeuterische Schicht sein.
Auch der Antikommunist McNeal sieht hier einen Widerspruch in Trotzkis Gedan-
kengängen. Denn McNeal stellt sich die Frage, wie man einen Staat, der schlimmer
sei als ein Bonapartismus [oder der Faschismus], noch als Arbeiterstaat bezeichnen
kann. Und wenn es kein Arbeiterstaat war, was für eine historische Rolle spielte dann
die Oktoberrevolution und ihr wichtigster Held? McNeal stellt dabei fest, dass dieses
Dilemma innerhalb der antistalinistischen Linken sehr kontrovers war. Er merkt an,
dass einige antistalinistische Linken, die mit Trotzki darüber debattierten, wie Uhr-
bans, Laurant und Shachtman, wesentlich einfallsreicher in ihrer „Analyse“ waren als
Trotzki. Während Trotzki daran festhielt, dass die verstaatlichte Planwirtschaft darauf
hinweist, dass die Sowjetunion ein Arbeiterstaat war, negierten die genannten Perso-
nen den sozialistischen Charakter der Sowjetunion komplett. 854

854
MCNEAL (1999), S. 35 - 36

317
Zur Geschichte der Sowjetunion

Man kann McNeal sicherlich zustimmen, dass Trotzkis Analysen reinste Polemik
waren, es ist aber völlig abzustreiten, dass Personen wie Shachtman einfallsreicher
waren. Sie waren vielleicht konsequenter und phantasievoller als Trotzki, aber sicher-
lich keine Marxisten. Der Trotzkismus war nach McNeal nicht in der Lage, den „Sta-
linismus“ zu analysieren, doch räumt McNeal Trotzki ein, Pionierarbeit geleistet zu
haben.855
Dieses Kapitel hat wohl zu genüge gezeigt, was von dieser Pionierarbeit zu halten ist,
unabhängig davon, dass der Begriff des „Stalinismus“ abzulehnen ist.
Zum Schluss noch einmal Trotzkis Fiberträume: "Wenn dieser Krieg, wie wir fest
glauben, eine proletarische Revolution bewirkt, muss er unausweichlich zu einem
Sturz der Bürokratie in der UdSSR führen und zur Wiederbelebung der Sowjetdemo-
kratie auf einer weit höheren wirtschaftlichen und kulturellen Grundlage als 1918.
(…) Die Unfähigkeit des Proletariats, die Führung der Gesellschaft in seine eigenen
Hände zu nehmen, könnte tatsächlich unter diesen Bedingungen dazu führen, daß sich
eine neue Ausbeuterklasse aus der bonapartistischen faschistischen Bürokratie entwi-
ckelt. Dies wäre, allen Anzeichen zufolge, ein Regime des Verfalls, das den Unter-
gang der Zivilisation bedeuten würde. (…) Dann wären wir gezwungen zuzugeben,
daß der Grund für den bürokratischen Rückfall nicht in der Rückständigkeit des Lan-
des und nicht in der imperialistischen Umklammerung liegt, sondern in der angebore-
nen Unfähigkeit des Proletariats, eine herrschende Klasse zu werden. Dann müsste
man im Rückblick feststellen, daß die grundlegenden Züge der jetzigen UdSSR der
Vorläufer eines neuen Ausbeutungsregimes im internationalen Maßstab waren." 856
Keine der Hoffnungen Trotzkis hat sich bewahrheitet: Weder wurde die "Bürokratie"
gestürzt, noch siegte der Faschismus. Ganz im Gegenteil wurden in der Folge des
Sieges über den Hitlerfaschismus immer mehr Staaten sozialistisch. Die Arbeiterklas-
se stand auf Seiten Stalins und der UdSSR. Die Anhänger Trotzkis müssten nun ein-
gestehen, dass entweder das Proletariat doch nicht herrschende Klasse werden kann
(?), die Bürokratie doch eine herrschende Klasse sei (?) oder ihre Theorien schlicht
und einfach falsch sind und auf den Müllhaufen der Geschichte gehören (!). Nach
allem bisher Geschriebenen und den historischen Tatsachen folgend ist die dritte
Option die wahrscheinlichste. Umso ironischer wirkt folgende Aussage Trotzkis:
"Unsere Losungen werden unter den Massen nur dann Verwirrung schaffen, wenn wir
selbst keine klare Vorstellung von unseren Aufgaben haben."857

855
MCNEAL (1999), S. 51
856
TROTZKI (1939B), Kapitel "Der gegenwärtige Krieg und das Schicksal der modernen Gesell-
schaft"
857
TROTZKI (1939B), Kapitel "Wir ändern unseren Kurs nicht!"

318
Zur Geschichte der Sowjetunion

5.5. Djilas: "Die neue Klasse" und einiges über das Eigen-
tum
Auch außerhalb des trotzkistischen Lagers haben sich einige "kommunistische" Dis-
sidenten als "Entdecker" einer neuen herrschenden Klasse versucht. Zwei Beispiele
dieser propagandistischen Machart sollen erwähnt werden: "Die neue Klasse" von
Milovan Djilas (1958) und Michael Voslenskys (1980) "Nomenklatura - Die herr-
schende Klasse in der Sowjetunion".858
Djilas war kommunistischer Politiker und Schriftsteller aus Jugoslawien. 1954 kam es
nach der Veröffentlichung einer 18-teiligen kritischen Artikelserie im Parteiorgan
Borba zum Bruch mit Tito. Wegen parteiwidrigem Verhalten wurde Djilas von seinen
Funktionen im Zentralkomitee und der Partei entbunden. Grund des parteiwidrigen
Verhaltens war seine "Analyse", in der er die Kommunistische Partei als neue herr-
schende Klasse herausarbeitete und verurteilte. Er wurde zu Haftstrafen verurteilt und
verbrachte 1956 – 1961 sowie 1962 - 1966 im Gefängnis. Im Westen galt Djilas als
"kommunistischer Dissident". Dieser Dissident war solch ein "Kommunist", dass das
Manuskript seines Buches "Die neue Klasse" von Freunden in Sicherheit gebracht
wurde und einen us-amerikanischen (!) Verleger erreichte, der das Buch veröffent-
lichte, so im Vorwort zu Djilas Buch. 859
Wir halten also fest: In der Hochphase des Kalten Krieges erreichte dieses antikom-
munistische Schriftstück die USA und wurde dort publiziert, inmitten der atomaren
Bedrohung, der Truman-Doktrin und kurz nach der McCarthy-Ära, sowie dem Verrat
Chruschtschows an Stalin. In Anbetracht dieser Umstände ist Djilas durchaus als
Dissident einzustufen.
Ähnlich wie Trotzkis Arbeit mangelt es bei Djilas zwar an Nachweisen und Quellen-
bezügen, doch dafür ist sein Werk um einiges geschickter geschrieben, da Djilas auf
Parolen wie "stalinistischer Thermidor" verzichtet. Es wird gleich von einer neuen
Klasse gesprochen. Natürlich fehlen hier auch nicht primitive Vergleiche von Hitler
und Stalin, Faschismus und Kommunismus. "Bewiesen" werden sie durch einige ganz
alltägliche Analogien. Zum Beispiel schrieb der sowjetische Politiker Shdanow, dass
im Sinne der Kunsttheorien "[a]lles Geniale allgemein verständlich [ist]", und in den
"Grundgedanken über nationalsozialistische Kulturpolitik" steht: "Ein Künstler kann
nicht nur Künstler sein, er ist immer auch Erzieher" 860. Schon das ist für Djilas der

858
DJILAS, M. (1958), VOSLENSKY, M. (1980)
859
DJILAS (1958), S. 8
860
DJILAS (1958), S. 194 - 195. Djilas zitiert dabei einen jugoslawischen Autor namens Ervin
Sinko

319
Zur Geschichte der Sowjetunion

Beweis dafür, dass Kommunismus und Faschismus dasselbe sind, da in beiden Schrif-
ten geschrieben steht, dass Kunst verständlich sein müsse. Also: alle Kunstlehrer sind
rotlackierte Faschisten. Dabei ist das noch eines der stärkeren Argumente Djilas‘.
Djilas gibt sich als Kenner der marxistisch-leninistischen Weltanschauung aus und
urteilt über die Schüler von Marx wie "Plechanow, Labriola, Lenin, Kautsky oder
Stalin", dass sie "bestenfalls Ideologen und nur in sehr beschränktem Maße Wissen-
schaftler" waren.861 Man vergleiche Djilas Urteil mit seiner eigenen wissenschaftli-
chen Herangehensweise! Mit Sorge sieht er die Entwicklung der Wissenschaft in der
Sowjetunion und fragt sich:
"Was sollen die unglücklichen Physiker machen, wenn sich die Atome nicht genau
nach der Hegel-Marxschen Dialektik, das heißt nach der Lehre vom Kampf und von
der Gleichheit der Gegensätze und ihrer Entwicklung zu höheren Formen verhal-
ten?"862
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sich mit der Dialektik der Physik zu befassen.
Die wissenschaftliche Entwicklung und die damit verbundenen philosophischen Aus-
einandersetzungen, die sowohl in der Sowjetunion als auch im Westen geführt wur-
den, mit solch einer Bemerkung abzustempeln zeigt hier - frei nach der Bewertung
Djilas‘ von Marx‘ Schülern - eindeutig das Gegenteil einer wissenschaftlichen Heran-
gehensweise. Dialektik ist auch mehr als der "Kampf und die Gleichheit der Gegens-
ätze".
Die philosophische Unfähigkeit dieses Mannes zeigt sich auch an einer anderen Stel-
le, in der er behauptet, dass Lenin, angelehnt an Marx, immer gelehrt habe, dass "der
Materialismus in der Geschichte immer fortschrittlich gewesen sei, während der Idea-
lismus reaktionär sei". Auch habe Lenin in seinem Werk Materialismus und Empiri-
okritizismus von 1907 "keinen großen klassischen oder modernen Philosophen ge-
nau" gekannt. Lenins Arbeiten seien dabei "hervorragende Schulbeispiele für logi-
schen und überzeugenden Dogmatismus" 863
Inwieweit Djilas ein Kenner der Philosophie war, lässt sich nicht überprüfen. Lenin
hatte er wohl nicht gekannt oder ihn verfälscht. Denn liest man Lenins Arbeit Materi-
alismus und Empiriokritizismus864, wird man feststellen, dass Lenin durchaus über
profunde Kenntnisse der Philosophie verfügte und man ihn daher nicht widerlegen
kann, indem man ihm Dogmatismus unterstellt. Dasselbe gilt auch für die Behaup-

861
DJILAS (1958), S. 19
862
DJILAS (1958), S. 179
863
DJILAS (1958), S. 175
864
LENIN, "Materialismus und Empiriokritizismus", Werke Band 14 http://www.red-
channel.de/LeninWerke/LW14.pdf

320
Zur Geschichte der Sowjetunion

tung, der Idealismus sei immer reaktionär gewesen. Lenin kritisierte in seiner Arbeit
besonders den Machismus, eine Spielart des subjektiven Idealismus 865. Diesen als
reaktionär einzustufen gilt nur als gerecht. Wenn aber Lenin den Idealismus als sol-
chen überhaupt verteufelt, wie kann es dann sein, dass Marx und Lenin Hegels Dia-
lektik aufgriffen, der ja bekanntlich ein Idealist war?
Solches Dilettantentum und weitere Nebensächlichkeiten finden sich in Djilas Buch
zu Hauf. Doch im Wesentlichen dreht es sich bei Djilas‘ Buch um die Entstehung
einer neuen herrschenden Klasse in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen
Staaten. Dies wird im Wesentlichen in seinem dritten Kapitel "Die neue Klasse" theo-
retisch „begründet“ und in den anderen Kapiteln lediglich nochmals wiederholt oder
durch Beispiele wie die obigen versucht zu untermauern. Wie versucht Djilas seine
Theorien zu begründen? Für ihn ist klar, dass zwar die Volksmassen an den kommu-
nistischen Revolutionen teilnahmen, "die Früchte der Revolution fielen aber nicht
ihnen zu, sondern der Bürokratie".866 Folgende Textstellen sollen dies verdeutlichen:
"Denn die Bürokratie ist nichts anderes als die Partei, die die Revolution durchgeführt
hat. In den kommunistischen Revolutionen werden die revolutionären Bewegungen,
die sie ausgeführt haben, nicht beseitigt. Die kommunistischen Revolutionen mögen
ihre eigenen Kinder fressen, aber nicht alle." 867 "Tatsächlich waren die kapitalistische
und andere Klassen des alten Regimes vernichtet worden, dafür hatte sich eine neue
Klasse gebildet, wie die Geschichte sie früher nicht gekannt hatte (…) Diese neue
Klasse, (…), die politische Bürokratie, trägt alle Merkmale früherer Klassen und
einige neue, die nur ihr eigen sind." 868 "Die Keime zu der neuen Klasse wurden in der
Partei bolschewistischen Musters gelegt. (… ) Die Begründer der neuen Klasse sind
nicht in der Partei bolschewistischen Musters als Ganzes zu sehen, sondern in der
Schicht von Berufsrevolutionären, die ihren Kern bildeten, bevor sie zur Macht ge-
langte."869 "Eine genauere Untersuchung wird zeigen, dass von den Bürokraten wie-
der nur eine besondere Schicht - nämlich die, die nichts mit der reinen Verwaltungs-
arbeit zu tun hat - den Kern der herrschenden Bürokratie oder, in meiner Terminolo-
gie, der neuen Klasse bildet. Und zwar ist dies die politische, die Partei-Bürokratie.

865
Der subjektive Idealismus sieht die Empfindungen als Primär. Über den Empfindungen
hinaus kann man nichts über den Gegenstand sagen, man kann nicht wissen ob er überhaupt
existiert. Der Materialismus vertritt den Standpunkt, dass 1. die Materie ursprünglich und das
Bewusstsein abgeleitet ist und 2. dass die Materie erkennbar ist und von unserem Bewusstsein
widergespiegelt wird.
866
DJILAS (1958), S. 49
867
DJILAS (1958), S. 49
868
DJILAS (1958), S. 62
869
DJILAS (1958), S. 63

321
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die anderen Funktionäre bilden nur den Apparat, der von der neuen Klasse kontrol-
liert wird (…)"870
Die Zitate, die alle im Wesentlichen das Gleiche aussagen, zeigen, dass Djilas in einer
bestimmten Schicht der Kommunistischen Partei, den führenden Funktionären, eine
neue Klasse sah. Er erklärt dies u. a. auch dadurch, dass Funktionäre sich große Privi-
legien gönnten, es jedoch schwierig sei, "zu diesem Punkt irgendwelche Statistiken
beizubringen". Dennoch sei aber klar, dass "sich die neue Klasse tatsächlich den Lö-
wenanteil am wirtschaftlichen und sonstigen Fortschritt (…) aneignete." 871
Es ist natürlich sehr einfach, ohne irgendwelche Statistiken solche Thesen aufzustel-
len. Hin und wieder finden jedoch seine Aussagen durch einige "Experten", wie Harry
Schwartz von der New York Times oder Edward Crankshaw, einen britischen Autor,
Unterstützung. Letzter berechnete, dass Leute, "die weniger als 600 Rubel monatlich
verdienten, einen verzweifelten Existenzkampf führen" mussten und Schwartz
schätzte (!), dass 8 Mio. Arbeiter unter "300 Rubel monatlich verdienen" 872, während
das Gehalt eines Sekretärs eines Bezirkskomitees einer Partei bis zu 45.000 Rubel
jährlich betrug873. Wer nicht alles von Djilas zum Experten erkoren wurde! Da wer-
den Schätzungen für bare Münze genommen, wenn man schon keine genauen Statis-
tiken bringen kann (oder will?). Schon die o.g. Zitate lassen an Djilas Schätzungen
deutliche Zweifel aufkommen. Das sind übrigens Djilas‘ einzig verfügbare Beweise
oder Anhaltspunkte für seine Thesen. D. h., er führt eine ähnlich "fundierte" wissen-
schaftliche Analyse zur Klassennatur der sozialistischen Staaten durch wie Trotzki,
was eine recht dürftige Arbeit darstellt. Von Trotzki unterscheidet sich Djilas‘ Werk
dadurch, dass er die Bürokratie zur Klasse erkor und davon auch nur bestimmte Teile
der kommunistischen Partei. Nun bleibt aber die Frage offen, wie Djilas sich die Her-
ausbildung einer solchen neuen Klasse erklärt. Für ihn zeigt sich die Herausbildung
dieser neuen Klasse dadurch, dass es ein Kollektiveigentum an Produktionsmitteln
vorhanden sei, die diese Bürokratie verwalte:
"Die Bürokraten in einem nichtkommunistischen Staat sind Funktionäre der moder-
nen kapitalistischen Wirtschaft, während die Kommunisten etwas anderes sind: eine
neue Klasse. Wie bei anderen besitzenden Klassen liegt der Beweis dafür, dass es sich
hier um eine besondere Klasse handelt, darin, dass sie den gesamten Besitz unter ihrer
Kontrolle hat. (…) Die kommunistische politische Bürokratie gebraucht das verstaat-
lichte Eigentum, zieht Nutzen daraus und verfügt darüber. (…) die Mitgliedschaft in

870
DJILAS (1958), S. 68
871
DJILAS (1958), S. 77
872
DJILAS (1958), S. 160, 161
873
DJILAS (1958), S. 72

322
Zur Geschichte der Sowjetunion

der neuen Parteiklasse oder der politischen Bürokratie [zeigt sich] in einem größeren
Einkommen an materiellen Gütern und größeren Vorrechten, als die Gesellschaft
normalerweise für die Ausübung solcher Funktionen gewähren würde. Praktisch zeigt
sich das Besitzprivileg der neuen Klasse als das ausschließliche Recht, als ein der
politischen Bürokratie zustehendes Parteimonopol, das Nationaleinkommen zu vertei-
len, die Löhne festzusetzen, die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern und über das
verstaatlichte und andere Eigentum zu verfügen. (…) Die neue Klasse bezieht ihre
Macht (…) aus dem Kollektiveigentum, das die Klasse 'im Namen' des Volkes und
der Gesellschaft verwaltet."874
"Es ist die Bürokratie, die das 'nationalisierte' und 'sozialistische' Eigentum nützt,
verwaltet und beherrscht, ebenso wie das ganze Leben der Gesellschaft. Die Rolle der
Bürokratie in der Gesellschaft, das Vorrecht auf Verwaltung und Kontrolle des Natio-
naleinkommens und der nationalen Güter versetzt sie in eine besonders privilegierte
Stellung. Die soziale Ordnung erinnert an Staatskapitalismus. Das umso mehr, als die
Industrialisierung nicht mit Hilfe von Kapitalisten, sondern mit Hilfe des Staatsappa-
rats durchgeführt wird. Tatsächlich wird diese Funktion von jener privilegierten Klas-
se ausgeübt, einer Klasse, die den Staatsapparat als Deckmantel und als Werkzeug
beschützt. Besitz ist nichts anderes als das Recht auf Profit und Kontrolle. Wenn man
den Klassenvorteil als dieses Recht definiert. So handelt es sich bei den kommunisti-
schen Staaten letzten Endes um eine neue Form des Besitzes und um die Entstehung
einer neuen herrschenden und ausbeuterischen Klasse." 875
"Die Besitzprivilegien der neuen Klasse und die Zugehörigkeit zu dieser Klasse fußen
auf dem Vorrecht der Verwaltung" 876
Dementsprechend sei diese neue Klasse "gierig und unersättlich, wie es die neue
Bourgeoisie war"877. Djilas erklärt auch, dass es schon in anderen Gesellschaften
Kollektiveigentum gegeben habe, so im alten Ägypten und im Römischen Reich, und
dieses den besitzenden Klassen nutzte. 878 Anscheinend "vergisst" Djilas, dass diese
Gesellschaften nach einer völlig anderen Ordnung wirtschafteten als die darauffol-
genden; es waren nämlich Sklavenhaltergesellschaften.
Auch stellt Djilas die These auf, dass die Kommunistische Partei, bzw. Teile von ihr,
als neue besitzende Klasse zu definieren seien. Hier stellt sich schlicht und einfach die
Frage: Wo sind die Beweise? Weiter oben wurde ausgeführt, was unter Bürokratie zu

874
DJILAS (1958), S. 70 - 71
875
DJILAS (1958), S. 58 - 59
876
DJILAS (1958), S. 72
877
DJILAS (1958), S. 90
878
DJILAS (1958), S. 83

323
Zur Geschichte der Sowjetunion

verstehen ist und was es mit den "Privilegien" auf sich hat. Wie gezeigt wurde, sind
Bürokratie und "Privilegien" keine stichhaltigen Gründe dafür, von einer neuen Klas-
se auszugehen. Der entscheidende Punkt ist jedoch: Wo wird das Eigentumsrecht
dieser "neuen" Klasse festgelegt?
In allen Gesellschaftsformationen, in denen Klassen vorhanden waren, hatte die herr-
schende Klasse ihr Eigentumsrecht juristisch festgesetzt. So war es im römischen
Recht, also einer Sklavenhaltergesellschaft, juristisch verankert, dass Sklaven Eigen-
tum waren. Sie waren als Sache zu behandeln, durften verkauft werden und bei Ver-
lust oder Beschädigung wurde Schadensersatz geleistet. 879 In den Feudalgesellschaf-
ten galt das Recht auf Leibeigenschaft 880 und in kapitalistischen Gesellschaftsordnun-
gen besteht das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln. So hatten in der
Gründungszeit der USA 1776 - 1787 die "Reichen und Wohlgeborenen", Bänker,
Kaufleute und Großgrundbesitzer, enormen Einfluss auf die Verfassung der USA.
Entsprechend war es ihr Ziel, ihr Eigentum gegenüber den "Besitzlosen" zu schützen.
Bei der Entstehung der Verfassung der USA und des politischen Systems debattierten
nur die Besitzenden. Eine Debatte zwischen "Besitzern" und "Besitzlosen" fand nicht
statt. Entsprechend wurde in Artikel 1, Abschnitt 8 der Verfassung der USA der Bun-
desregierung die Macht gegeben, den Handel zu unterstützen und die Interessen des
Eigentums zu schützen. Das Eigentum wird auch im Zusatzartikel 5 der "Bill of
Rights" geschützt. Staatliche Eingriffe am Eigentum werden streng reglementiert. 881
Reinhard Kühnl gibt in seinem Buch "Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus -
Faschismus" folgende Informationen zum Thema Eigentum und Privatrecht: "Und
indem das Recht auf Privateigentum vom Bürgertum zum Grundrecht, ja zum beherr-
schenden Grundrecht erklärt wurde, erhielt die Eigentumsverfassung der bürgerlichen
Gesellschaft die Aura des Überzeitlichen und Untastbaren.' Mit dem Schutz des Ei-
gentums fällt in seinem Bewusstsein alles zusammen, was ihm wertvoll und teuer ist:
Leben, Freiheit und Ausübung der Religion'. In der im Übrigen radikal-
demokratischen französischen Verfassung von 1793 heißt es in Art. 16: 'Das Eigen-
tumsrecht ist dasjenige jedes Bürgers, beliebig sein Vermögen, sein Einkommen, die
Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und über sie zu verfügen.' Um
dieser Eigentumsgarantie nötigen Nachdruck zu verleihen, beschloss der Konvent im
gleichen Jahr die Einführung der Todesstrafe für jeden, der Maßnahmen gegen das
Wirtschaftseigentum verlangte. Bei John Locke ist die Sicherung des Eigentums ge-
radezu das Motiv für die Bildung des Staates. In seiner Theorie ist das Bedürfnis zu

879
Vgl. CHARWATH, PH. (2011), S. 85, 91 - 92
880
Vgl. z. B. Recht auf Leibeigenschaft in Bayern: https://www.historisches-lexikon-
bayerns.de/Lexikon/Leibeigenschaft_in_Altbayern#b.29_Recht:_Gesetzeslage_und_Praxis
881
PARENTI, M. (1995), S. 49, 50, 54

324
Zur Geschichte der Sowjetunion

erkennen, 'nicht nur Privateigentum, sondern auch den unbeschränkten Akkumulati-


onsprozess und die daraus resultierenden Einkommensunterschiede naturrechtlich zu
legitimieren.' Dass der Hauptzweck des Staates in der Aufrechterhaltung des Privatei-
gentums liegt, ist für die bürgerlichen Theoretiker von Hobbes bis Adam Smith und
Kant geradezu selbstverständlich. (…)
Die Linke, die die Sphäre der Produktion und der Verteilung der Güter in den Parla-
menten alsbald zur Diskussion stellte, die soziale Ungleichheit anprangerte und die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel verlangte, erschien demnach nicht nur als
Gegner einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sondern als Feind von Recht und
Moral schlechthin. Indem die Entscheidungsgewalt von Volk und Volksvertretung auf
den Rahmen der bürgerlichen Eigentumsordnung beschränkt wurde, war das Prinzip
der Demokratie seines gefährlichsten Stachels beraubt, war Demokratie auf ein Sys-
tem formaler Verfahrensregeln reduziert, das für die sozialen Privilegien der besit-
zenden Klassen ungefährlich erschien. Entgegen ihrem Anspruch enthalten die libera-
len Verfassungen also durchaus eine materielle Entscheidung über die Gesellschafts-
ordnung, und zwar im Sinne der bürgerlichen Klasseninteressen. Das 'freie Spiel der
Kräfte' ist von vornherein auf diesen Bezirk beschränkt. Die Toleranz des Liberalis-
mus findet dort seine Grenze, wo die bürgerliche Eigentumsverfassung in Frage ge-
stellt wird. Auch der angeblich so schwache liberale Staat erwies sich immer als stark
genug, Angriffe von dieser Art abzuwehren - notfalls unter Einsatz von Polizei und
Militär. Dabei war es der Idee nach wie in der Realität gänzlich belanglos, ob der
liberale Staat die Mehrheit des Volkes für sich oder gegen sich hatte. Das Privateigen-
tum stand immer höher als das Prinzip der Demokratie." 882
"Der Mensch im Sinne der liberalen Theorie (…) ist der Eigentümer."883
Auch in der BRD sieht es nicht viel anders aus. Erich Buchholz kommentiert zum
Grundgesetz und dessen Freiheiten und Eigentumsrechten Folgendes: "Der Begriff
der Freiheit nimmt in der politischen und vor allem in der Klassenauseinandersetzung
einen zentralen Platz ein. (…) Diese Herausstellung 'der Freiheit' meint nicht die des
arbeitenden Volkes, der Werktätigen, sondern die der Unternehmer, der Wirtschaft,
der Vermögenden. Das ist dem GG von A – Z anzusehen. Beim Art. 2 GG, der jedem
das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit eingeräumt, geht es letztlich um
die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung. Das Kernstück der allgemeinen Handlungs-
freiheit ist die Freiheit, Vermögen zu besitzen, zu erwerben und es zu mehren, Profite
zu machen. Das erhellt aus Art. 12, der – verschämt - mit Freiheit der Berufswahl
überschrieben ist, sowie aus Art. 14, der das Eigentumsrecht und das Erbrecht ge-

882
KÜHNL, R. (1971), S. 36 - 37
883
KÜHNL, R. (1971), S. 31
325
Zur Geschichte der Sowjetunion

währleistet. Von solchen Grundrechten hat nur der etwas, der Vermögen sein eigen
nennt und der auf dessen Mehrung - auch über eine Erbfolge – bedacht sein muss.
Wer Vermögen hat, wer Unternehmen führt und die Wirtschaft beherrscht, braucht
diese Freiheit. Er braucht sie im erbarmungslosen Wirtschaftskrieg mit der Konkur-
renz und bei der möglichst profitablen Ausbeutung der Arbeiter – wo auch immer auf
dem Globus.
So ist die im Art. 2 genannte persönliche Freiheit letztlich ein euphemistischer Tarn-
begriff für 'Geld'. Es geht um die Freiheit des Geldes (…) Die im Art. 12 genannte
Freiheit der Berufswahl betrifft nicht die Freiheit der eigentumslosen Werktätigen,
den 'Arbeitsplatz frei zu wählen'. Denn ein Rechtsanspruch auf einen Arbeitsplatz
garantiert ihnen das GG nicht. Die in diesem Artikel verkündete Freiheit der Wahl
eines Arbeitsplatzes muss auf die Millionen Arbeitslosen und Arbeit Suchenden als
reiner Hohn wirken – zumal neu abzuschließende Arbeitsverträge Knebel- und
Zwangsverträge sind: Die Arbeit Suchenden stehen vor der existentiellen Alternative,
entweder unzumutbare Arbeitsbedingungen zu akzeptieren oder weiterhin arbeitslos
und Hartz-IV-Empfänger zu bleiben. Die Freiheit der Berufswahl betrifft in Wahrheit
die wirtschaftliche Freiheit von Unternehmern - von Selbständigen in der Klassifizie-
rung des Finanzamts -, solcher, die etwas von dem Eigentumsrecht des Art. 14 haben.
Sie dürfen und können den Beruf eines Immobilienmaklers, Hoteliers oder Bankiers
wählen – mit Bert Brecht: Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung
einer Bank! Eine Freiheit, die letztlich die der Ausbeutung der Eigentumslosen zum
Inhalt hat und auf Profitmaximierung ausgerichtet ist, ist menschenfeindlich, ist die
Unfreiheit der Ausgebeuteten und ihre Unterwerfung unter die Wirtschaft, unter das
Finanz- und Großkapital."884
Dieses Recht auf Freiheit und Privateigentum für das Kapital ist nicht nur im Grund-
gesetz festgelegt, sondern z. B. auch im BGB. Dazu Buchholz: "Die bundesdeutsche
Gesetzgebung beruht maßgeblich auf den Gesetzbüchern der Kaiserzeit, so dem BGB.
Dieses Gesetzbuch mit seinen ca. 3000 Paragrafen war und ist - wie dem Text un-
schwer entnommen werden kann - nicht in erster Linie für einfache Menschen, für
Werktätige ausgearbeitet und mehrfach geändert worden. Es ist ein Kodex für Ver-
mögende. Vor allem in deren Interesse, im Interesse 'der Wirtschaft' sind in der Bun-
desrepublik die Gesetze so abgefasst, dass der einfache Bürger sich ohne Rechtsan-
walt in dem Paragrafen-Dschungel und dem Justizdickicht weder zurechtfindet, noch
seine Rechte und Interessen wahrnehmen kann." 885

884
BUCHHOLZ, E. (2009), S. 41
885
BUCHHOLZ (2009), S. 27

326
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wenn also alle Gesellschaftsformationen die Eigentumsrechte der besitzenden Klasse


juristisch festgehalten haben, so müsste doch dies auch in den sozialistischen Staaten
der Fall sein. Doch Fehlanzeige: Nirgends wurde festgelegt, dass eine irgendwie gear-
tete Bürokratie, sei sie eine politische Parteienbürokratie oder parteilos, über das
Eigentum der Produktionsmittel verfügte. Die sowjetische Verfassung von 1936 pro-
klamierte z. B. in den Artikeln 1 bis 12 die Grundlagen der sozialistischen Gesell-
schaftsordnung, mit der zwar persönliches Eigentum geschützt wurde (Artikel 10).
Aber die Produktionsmittel waren gesellschaftlich (Artikel 4 bis 8), die Ausbeutung
des Menschen verboten (Artikel 4) und Privatarbeit schloss in der UdSSR die Aus-
beutung durch fremde Arbeit aus (Artikel 9); die Macht ging von den Werktätigen aus
(Artikel 3). Das sozialistische Eigentum sollte geschützt werden (Artikel 131) 886.
David Kotz (1999) schreibt:
"Das sowjetische Modell kreierte, trotz der Tatsache, dass es eine privilegierte Füh-
rungselite hervorbrachte, kein System der Ausbeutung, welches langfristig realisier-
bar war. Aus dem Blickwinkel eines Ausbeutersystems war es ein jämmerlicher
Misserfolg. Es erlaubte kein Eigentum oder Sicherheit für ihre führende Gruppe und
es limitierte massiv die Privilegien ihrer Führer. Die Sklavenhaltergesellschaft, die
Feudalgesellschaft wie auch die kapitalistische Gesellschaft erschufen eine entspre-
chende und effektive Ideologie, die Privilegien ihrer herrschenden Klassen zu recht-
fertigen sowie ein System von Praktiken zu etablieren, welches die Privilegien der
herrschenden Klassenmitglieder über die Vererbung von Eigentum und Titeln ziem-
lich sicher zu machen. Der Staatssozialismus entwickelte nichts davon, hielt stattdes-
sen an einer Reihe von Überzeugungen und offiziellen Praktiken fest, die einem egali-
tären sozialistischen System entsprachen. Privilegien mussten versteckt werden, da es
ihnen an einer Rechtfertigung innerhalb der akzeptierten Ideen des Systems fehlte." 887
Isaak Deutscher schreibt z. B.: "(…) was dieser sogenannten neuen Klasse fehlt ist
Eigentum. Sie verfügen weder über die Produktionsmittel noch über Land (…) sie
sind nicht in der Lage auch nur einen Teil ihres Einkommens in Kapital zu verwan-
deln: Sie können Reichtum nicht in der beständigen und expansiven Form von Indust-
rieaktien oder großen finanziellen Anlagegütern sichern, investieren und akkumulie-
ren. Sie können keinen Reichtum an ihre Nachkommen vererben; sie können nicht
sich selbst als eine Klasse aufrechterhalten."888

886
Verfassung der UdSSR (1936). http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm
887
KOTZ (1999), S. 12, vgl. auch KOTZ & WEIR (1997), S. 33, dass die sowjetische Elite ihre
Privilegien nicht an ihre Nachkommen vererben konnte
888
DEUTSCHER, I. (1967), S. 55

327
Zur Geschichte der Sowjetunion

Howard Sherman stellt in seinen Publikationen fest, dass die Produktionsmittel haupt-
sächlich vergesellschaftet waren.889 In seinen Arbeiten realisiert er den Unterschied
zwischen der Realität und dem Ideal einer Gesellschaft, rät jedoch aber dazu, einzelne
Länder nicht den sozialistischen Charakter abzusprechen, nur weil diese einige ernste
Fehler hatten.890 Interessant ist jedoch, dass dies Sherman in einer seiner späteren
Arbeiten genau das tut, indem er dem Sozialismus vorwirft, 'undemokratisch' zu
sein.891 Dennoch sieht er diese Staaten nicht als kapitalistisch an, da diesen wesentli-
che Merkmale des Kapitalismus wie Privateigentum an Produktionsmittel, Vererbung
sozialer Positionen, Arbeitslosigkeit und eine marktorientierte Konkurrenz fehlten. 892
Er bezeichnet diese Systeme eher als "Statismus", da er an die Existenz einer Klasse
glaubt, die einen Teil des Mehrwerts privat aneigne. 893 Shermans Klassenkonzept ist
unmarxistisch. Sherman stellt dabei fest, dass der Mehrwert, welcher von der sowjeti-
schen Elite privat angeeignet wird, verglichen mit den kapitalistischen Staaten absolut
wie auch relativ sehr gering sei.894 Aus solch einer Überlegung ergibt sich jedoch ein
fundamentales Problem: Ausbeutergesellschaften zeichnen sich dadurch aus, mög-
lichst viel Mehrwert für sich privat anzueignen. Daher stellt sich die Frage, warum die
"sowjetische Elite", die ja laut Sherman den Mehrwert privat aneigne, nicht ihre Mög-
lichkeiten voll ausgeschöpft hat? Sherman liefert hierzu keine Antwort, genauso we-
nig wie andere "Kritiker" der Sowjetunion. Er erwähnt lediglich, dass eine solche
private Aneignung des Mehrwertes in einem Wirtschaftssystem, welches auf staatli-
ches Eigentum beruht, schwieriger sei als in einer Privatwirtschaft. Jedoch untersucht
er diesen Punkt nicht weiter, sondern behauptet das als Tatsache. Gehen wir davon
aus, dass seine Annahme richtig sei, was hieße das? Wenn das gesamtgesellschaftli-
che Eigentum die private Aneignung von Mehrwert erschwert, verfügte die sowjeti-
sche Elite über keine oder kaum legale Mittel, sich privat zu bereichern und von der
Arbeit anderer zu leben. Ihr fehlte also die Macht und das Eigentum, die sowjetischen
Werktätigen auszubeuten, wodurch ihr Ausbeutungscharakter widerlegt wird. Hier
gibt es auch Zustimmung von David Kotz (1999), der sonst viel von den Arbeiten von
Sherman hält. Doch auch Kotz behauptet - ohne dies in seiner Publikation zu bewei-
sen oder näher zu erläutern - dass demokratische Institutionen in der Sowjetunion
fehlten. Er schreibt dem sowjetischen Sozialismus autoritäre, gar quasi feudale Macht
der Parteibürokraten zu, ohne jedoch konkrete Beweise dafür zu liefern 895

889
SHERMAN, H. (1969), S. 15 - 18, SHERMAN, H. (1972), S. 240
890
SHERMAN (1972), S. 240
891
SHERMAN (1987), S. 260
892
SHERMAN (1987), S. 257 - 260
893
SHERMAN (1987), Ebenda
894
SHERMAN (1987), S. 286 - 287
895
Vgl. KOTZ (1999), S. 4 ff, vgl. auch SHERMAN (1969), S. 45 - 46

328
Zur Geschichte der Sowjetunion

Es gab also keine rechtliche Grundlage für eine private Aneignung der Produktions-
mittel, noch war irgendwo gesetzlich festgeschrieben, dass nur die Bürokratie (und
schon gar nicht die Parteibürokratie) ein Recht auf Verwaltung an Produktionsmitteln
hatte. Es ist bezeichnend, dass sogar Djilas diesen Widerspruch erkennt: "Da die Son-
derstellung der neuen Klasse im Gesetz nicht verankert ist, hat sie selbst in ihren
eigenen Reihen große Schwierigkeiten."896
Was das Erbrecht angeht, kann die neue Klasse laut Djilas auch nichts weiter erben
als den Ehrgeiz, in der Hierarchie aufzusteigen 897. Ist es des Rätsels Lösung, dass eine
Klasse definiert durch ihren Ehrgeiz wird? Aber Djilas hat natürlich eine Lösung für
diesen Widerspruch parat: Wort und Tat stimmen nicht miteinander überein, da die
neue Klasse "das Arbeitsprodukt des Volkes unrechtmäßig an sich reißt und ihren
Anhängern Privilegien verleiht."898
Natürlich sollte man eine gewisse Vorsicht walten lassen und keinem Gesetzes- oder
Verfassungstext blind Glauben schenken. Kontrolle der Wirtschaft durch die werktä-
tige Klasse sowie Rechte und Pflichten könnten eventuell gesetzlich festgeschrieben,
aber in der Praxis - aus welchen Gründen auch immer - nicht in die Tat umgesetzt
worden sein. Inwieweit die Wirtschaft einer Kontrolle und Ausführung durch die
Werktätigen unterlag und wie weit die verfassungsgebenden Rechte in der Sowjet-
union Realität waren, bedarf einer detaillierten Untersuchung. 899 Es erscheint jedoch
merkwürdig, dass die neue Klasse, die ja angeblich nichts mehr mit den Idealen einer
wirklich kommunistischen Gesellschaft zu tun hatte, nicht irgendwann die Verfassung
und ihre Rechtslage umgeschrieben hat und warum die Werktätigen sich so lange
haben belügen lassen. Doch auch hierfür hat Djilas eine scheinbare Erklärung: "(…)
die neue Klasse [ist] aber auch diejenige, die sich am meisten über ihren Charakter
täuscht und am wenigsten klassenbewusst ist." 900 Und dass sich die neue Klasse über
ihren Charakter nicht bewusst war, habe natürlich am Kollektiveigentum gelegen. 901
Wir haben es also mit einer angeblichen Klasse zu tun, die nicht klassenbewusst und
offensichtlich unfähig dazu war, ihre Eigentumsansprüche juristisch festzulegen.
Dennoch verwaltete sie als einzige das Eigentum, besaß Privilegien und hatte eine
unermessliche Gier? Es ist verwunderlich, dass sich solch eine Klasse so lange an der
Macht behaupten konnte. Auch weiß Djilas nicht, wo er die Grenze zu dieser Klasse
ziehen sollt, denn er schreibt:

896
DJILAS (1958), S. 98
897
DJILAS (1958), S. 91
898
DJILAS (1958), S. 99
899
Vgl. KUBI (2015)
900
DJILAS (1958), S. 89
901
DJILAS (1958), EBENDA

329
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Obwohl es soziologisch festzustellen ist, wer zu der neuen Klasse gehört, ist dies in
der Praxis doch schwierig; denn die Grenzen der neuen Klasse sind fließend, sie ver-
zahnen sich mit denen der niederen Klassen und verändern sich ununterbrochen." 902
Ohne es zu wollen, negiert Djilas hier seine Klassendefinition. War es für Djilas vor-
her eigentlich die Kommunistische Partei, die die neue Klasse stellte, so ist es nun auf
einmal schwierig zu klären, wo die Grenzen zu ziehen waren. Diese Klasse war wohl
so fließend und verzahnt mit der restlichen Bevölkerung, dass sie sich so eigentlich
hätte aufheben müssen und Djilas so sich selbst widerlegen müsste. Natürlich ist es
auch in einer kapitalistischen Gesellschaft so, dass hin und wieder einzelne Proletarier
zur Bourgeoisie aufsteigen können oder ein Kapitalist verarmen kann. Doch das sind
nur regelrechte Randerscheinungen, von einer Verzahnung mit den anderen Klassen
kann man nicht sprechen. Wenn man das laut Djilas in den sozialistischen Staaten
konnte, so war es dementsprechend keine neue, eigenständige und ausbeuterische
Klasse.
Über Djilas schreibt Lane (1978): "Weder Giddens noch Djilas beziehen ihre a priori
Interpretationen auf das System der sozialen Schichtung; vielmehr unterstellen sie,
dass die sozio-politischen Verhältnisse, die sie beschreiben, selbstverständlich
sind."903
Auf gut deutsch heißt das: Die Theorien von Djilas und Co. basieren nicht auf Fakten,
sondern sie setzen vor ihrer Analyse schon das Ergebnis fest und halten es für so
selbsterklärend, dass es nicht mehr überprüft oder nachgewiesen werden muss.

5.6. Über Voslenskys Buch "Nomenklatura"


Voslenskys Werk unterscheidet sich in zwei entscheidenden Punkten von Djilas‘
"Meisterwerk". Es ist erstens dicker und zweitens versucht Voslensky seine Aussagen
zu belegen. Kurz gesagt handelt es sich hierbei um Propaganda mit Fußnoten.
In seinem ersten Kapitel paraphrasiert Voslensky über den Staat und die Klassen und
den Staat im Sozialismus. Viel Neues bringt Voslensky dabei nicht. So zitiert er gerne
und willkürlich aus Lenins "Staat und Revolution" 904 und versucht damit deutlich zu
machen, dass jeder Staat ein Produkt der Klassengegensätze und ein Mittel zur Unter-
drückung der einen Klasse durch die andere ist. Da nun in der Sowjetunion keine
antagonistischen Klassen mehr existierten, der Staat jedoch noch existiere, müsse

902
DJILAS (1958), S. 92
903
LANE (1978), S. 197
904
VOSLENSKI (1980), S. 24 - 27

330
Zur Geschichte der Sowjetunion

entweder Lenins Theorie über den Staat falsch sein oder das "Stalinsche Schema der
sowjetischen Gesellschaftsstruktur".905
Wir haben weiter oben zur Genüge die Klassenstruktur im Sozialismus und damit die
Notwendigkeit des Staates dargestellt. Anscheinend ist für Voslensky der Umstand,
dass es auf der Welt noch kapitalistische Staaten gab, die den Sozialismus zerstören
wollten, kein Grund für die Existenzberechtigung des sozialistischen Staates.
Wie "löst" nun Voslensky das Problem? Für ihn ist es offensichtlich, dass es in der
sowjetischen Gesellschaft antagonistische Klassen gab. Basierend auf dem Kommu-
nistischen Manifest zeigt Voslensky auf, dass es Unterdrücker und Unterdrückte im
Sozialismus gab: nämlich in der Form der Verwalter und Verwalteten. 906 Laut ihm ist
- wer hätte das gedacht - die Bürokratie die herrschende Klasse. Offensichtlich wer-
den die antikommunistischen Ideologen nicht müde, immer wieder die gleichen unbe-
gründeten Theorien mit neuen Schlagworten zu verpacken und als Analyse zu verkau-
fen. Dabei werden Lenin und Stalin zum Symbol dieser "Klasse der Verwalter" er-
nannt. Lenin stünde "für den Anfang" und "Stalin für die Endetappe ihrer Ausfor-
mung."907 Diese neue Ausbeuterklasse nennt Voslensky "Nomenklatura".908 Natürlich
kann er der Theorie von Djilas viel abgewinnen, bemängelt aber, dass dieser sich im
Wesentlichen nur auf Jugoslawien beschränkte. 909 Auch für George Orwell, Trotzki
und andere wie Kuron und Modzelewski, die ebenfalls eine Ausbeuterklasse im Sozi-
alismus entdeckt haben wollten, hat er was übrig. 910 Selbst vor Verschwörungstheo-
rien schreckt Voslensky nicht zurück, indem er behauptet, Stalin sei ein Geheimagent
der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei gewesen, wofür die Beweise dem Leser
dann aber vorenthalten werden. 911 Viel inhaltlich Neues nennt Voslensky nicht, außer
einigen fiktiven, nicht bewiesenen Beispielen, wie man in der "Nomenklatura" auf-
steigen könne.912 Er weist darauf hin, dass die "neue Klasse" ihre Existenz verleugnet
habe913 und dass ihr das Wichtigste die absolute Macht gewesen sei. Besonders be-
deutsam sei dabei die politische Macht gewesen, noch vor der ökonomischen
Macht.914 Die Macht war demnach wichtiger als der Besitz: "Die Bourgeoisie ist die

905
VOSLENSKI (1980), S. 28
906
VOSLENSKI (1980), S. 31 - 33
907
VOSLENSKI (1980), S. 48
908
VOSLENSKI (1980), S. 156 F
909
VOSLENSKI (1980), S. 35
910
VOSLENSKI (1980), S. 37 - 44
911
VOSLENSKI (1980), S. 68
912
VOSLENSKI (1980), S. 148 F, S. 163 F
913
VOSLENSKI (1980), S. 157
914
VOSLENSKI (1980), S. 159

331
Zur Geschichte der Sowjetunion

Klasse der Besitzenden und aus diesem Grunde [die] Herrschenden. Die Nomenklatu-
ra ist die Klasse der Herrschenden und aus diesem Grunde [die] Besitzenden." 915
Nach Voslensky muss man also im Sozialismus nicht die Produktionsmittel besitzen,
um an ihren Besitz zu gelangen. Hat man die Macht, ist man auch Besitzer, und diese
Macht teilt man dann mit niemandem. Wie das konkret vor sich gegangen sein soll,
zeigt uns Voslensky nicht. Zumindest hielt die Nomenklatur dieses Wissen als neue
Klasse geheim. Wusste sie vielleicht selbst nicht, dass sie eine Ausbeuterklasse war?
Immerhin hat Voslensky den vollen Durchblick, muss sich wohl aber den Vorwurf
gefallen lassen, dass er sich damit in die Nähe von Verschwörungstheorien begibt.
Interessant ist auch, dass viel über die Größe der Nomenklatura spekuliert wird. Es
gibt wenige konkrete Hinweise, wer dazugehört. Voslensky kommt auf 750.000 Per-
sonen (meist Männer). Rechnet man die Familienmitglieder hinzu, kommt man auf
ein Netz von etwa drei Millionen Personen. Zur Nomenklatura zählten zum einen die
Leiter der Partei- und Staatsorgane und die Gruppe der Betriebsleiter. 916 Stachanow-
Arbeiter oder ähnliche von Trotzki zur Bürokratie gerechneten Gruppen aus der Ar-
beiterklasse gehören für Voslensky nicht dazu. Die Parteimitglieder, die nicht zur
Nomenklatura gehören, sind ihm zufolge die Dienstboten der Nomenklatura. 917 Ganz
wie bei Djilas ist es das sozialistische Kollektiveigentum, welches die Nomenklatura
besaß.918 Während aber Djilas die "Sorge" hatte, dass dies juristisch gar nicht abge-
klärt gewesen sei, ist dies für Voslensky kein Problem. Sich auf Marx beziehend stellt
er fest, dass ein Eigentümer nicht juristisch anerkannt werden müsse, da Eigentum
eine faktische, jedoch keine juristische Kategorie sei. Er zitiert Marx: "eine Sache
'wird zu wirklichem Eigentum erst im Verkehr und unabhängig vom Recht.'" 919 Doch
Voslensky zitiert Marx nicht im Kontext. Marx schreibt in "Die Deutsche Ideologie":
"Das Privatrecht entwickelt sich zu gleicher Zeit mit dem Privateigentum aus der
Auflösung des naturwüchsigen Gemeinwesens. Bei den Römern blieb die Entwick-
lung des Privateigentums und Privatrechts ohne weitere industrielle und kommerzielle
Folgen, weil ihre ganze Produktionsweise dieselbe blieb. Bei den modernen Völkern,
wo das feudale Gemeinwesen durch die Industrie und den Handel aufgelöst wurde,
begann mit dem Entstehen des Privateigentums und Privatrechts eine neue Phase, die
einer weiteren Entwicklung fähig war. Gleich die erste Stadt, die im Mittelalter einen
ausgedehnten Seehandel führte, Amalfi, bildete auch das Seerecht aus. Sobald, zuerst

915
VOSLENSKI (1980), S. 160
916
VOSLENSKI (1980), S. 186 - 188
917
VOSLENSKI (1980), S. 190
918
VOSLENSKI (1980), S. 208 F
919
VOSLENSKI (1980), S. 210

332
Zur Geschichte der Sowjetunion

in Italien und später in anderen Ländern, die Industrie und der Handel das Privatei-
gentum weiterentwickelten, wurde gleich das ausgebildete römische Privatrecht wie-
der aufgenommen und zur Autorität erhoben. Als später die Bourgeoisie so viel
Macht erlangt hatte, daß die Fürsten sich ihrer Interessen annahmen, um vermittelst
der Bourgeoisie den Feudaladel zu stürzen, begann in allen Ländern - in Frankreich
im 16. Jahrhundert - die eigentliche Entwicklung des Rechts, die in allen Ländern,
ausgenommen England, auf der Basis des römischen Kodex vor sich ging. (…)
Im Privatrecht werden die bestehenden Eigentumsverhältnisse als Resultat des allge-
meinen Willens ausgesprochen. Das jus utendi et abutendi [das Recht, das Seinige zu
gebrauchen und zu verbrauchen (auch: mißbrauchen)] selbst spricht einerseits die
Tatsache aus, daß das Privateigentum vom Gemeinwesen durchaus unabhängig ge-
worden ist, und andererseits die Illusion, als ob das Privateigentum selbst auf dem
bloßen Privatwillen, der willkürlichen Disposition über die Sache beruhe. In der Pra-
xis hat das abuti [Verbrauchen (auch: Missbrauchen)] sehr bestimmte ökonomische
Grenzen für den Privateigentümer, wenn er nicht sein Eigentum und damit sein jus
abutendi [das Recht, das Seinige zu gebrauchen] in andre Hände übergehn sehen will,
da überhaupt die Sache, bloß in Beziehung auf seinen Willen betrachtet, gar keine
Sache ist, sondern erst im Verkehr und unabhängig vom Recht zu einer Sache, zu
wirklichem Eigentum wird (…) Diese juristische Illusion, die das Recht auf den blo-
ßen Willen reduziert, führt in der weiteren Entwicklung der Eigentumsverhältnisse
notwendig dahin, daß Jemand einen juristischen Titel auf eine Sache haben kann,
ohne die Sache wirklich zu haben."920
Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Eigentum durchaus rechtlich festgelegt wird.
Und dass das Privatrecht an dem Eigentum als Ausdruck des allgemeinen Willens
erscheint. Wir haben in Kapitel über den Staat festgestellt, dass dieser der ideelle
Gesamtkapitalist ist. Das heißt, er sichert das Recht der Bourgeoisie als Klasse, Pri-
vateigentum an den Produktionsmitteln zu besitzen. Das schließt jedoch nicht aus,
dass ein individueller Kapitalist durch die Konkurrenz in der Wirtschaft sein Eigen-
tum nicht mehr nutzen kann (da er z. B. Pleite gegangen ist). Dadurch wird aber das
Privatrecht am Eigentum als solches nicht aufgehoben.
Inwieweit das auf Voslenskys Nomenklatura zutrifft, bleibt sein Geheimnis. Zumin-
dest ist seine aus dem Kontext gerissene Berufung auf Marx kein Beweis für seine
These, dass die Nomenklatura aus dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktions-
mitteln ihr Privateigentum macht. Das ändert auch nichts an seiner Bemerkung, dass
die kapitalistische Klasse kollektiv (also als Klasse) den Mehrwert aneignet und damit

920
MARX, Deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 62 - 63

333
Zur Geschichte der Sowjetunion

auch die Nomenklatura.921 Voslensky gibt sich natürlich als absoluter Marx-Versteher
aus, wenn er anmerkt, dass Marx erklärte, "dass Mehrwert nur durch lebendige Ar-
beitskraft entstehe". Voslensky kritisiert an Marx‘ Theorie:
"Inzwischen hat die wissenschaftlich-technische Revolution klar gezeigt, dass diese
Behauptung falsch ist. Andernfalls erhielte der Besitzer eines Betriebes desto mehr
Mehrwert, je weniger Maschinen im Einsatz stehen; und bei Vollautomation würde es
überhaupt keinen Mehrwert geben. Wenn dies so wäre, würde in kapitalistischen
Systemen nur Handarbeit verwendet werden." 922
Voslenskys "Argument" ist also, Mehrwert entstehe durch lebendige Arbeitskraft (das
ist richtig), da es aber im Kapitalismus Maschinen gibt, die mehr produzieren als mit
Handarbeit, müsse Marx‘ Theorie falsch sein. Es wäre hier ratsam gewesen, dass
Voslensky und seine Anhänger das Kapital von Marx nochmals gründlich studiert
hätten, besonders die Kapitel über den Mehrwert (absoluter und relativer Mehrwert),
als auch das 13. Kapitel des ersten Bandes. Wer jedoch Marx so versteht, von dem ist
auch nicht zu erwarten, dass er das Sowjetsystem verstanden hat.
Nun, wie eignet sich die Nomenklatura den Mehrwert an? Immerhin meint Vos-
lensky, es wäre naiv zu behaupten, die Nomenklatura habe den Mehrwert als Ganzes
verbraucht, sie habe ihn irgendwie verteilen müssen.923 Die Verteilung sei nach fol-
gendem Schema erfolgt: Ein großer Teil des Mehrwertes sei für die Sicherung der
Macht der Nomenklatura verwendet worden, also für die Regierungs-, Partei- und
Staatsapparate, die Miliz, das KGB und die Gerichte. An zweiter Stelle seien die
"sozialistische Akkumulation", d. h., die Investitionen für die Wirtschaft, gefolgt. Den
dritten Platz hätten dann Wissenschaft, Bildung, Kultur, Gesundheitswesen usw.
eingenommen.924 Voslensky gibt keine Statistiken für diese Ausgaben an, doch zeigen
sie nichts Ungewöhnliches. Das gesellschaftlich erzeugte Mehrprodukt floss in die
Gesellschaft zurück.
Natürlich soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Nomenklatura laut Voslensky
sehr viel verdient und natürlich über unsichtbare Gehälter (in Form von Dienstwagen,
Honorare, Datschen, größere Wohnungen und sonstige Luxusgüter) verfügt habe. 925
Außerdem habe die Nomenklatura sogar einen Anspruch auf die Weltherrschaft ge-
habt,926 was sich daran zeigen lasse, dass sie ausländische Kommunistische Parteien

921
VOSLENSKI (1980), S. 221
922
VOSLENSKI (1980), S. 216
923
VOSLENSKI (1980), S. 282
924
VOSLENSKI (1980), S. 283
925
VOSLENSKI (1980), Z. B. S. 300 F
926
VOSLENSKI (1980), KAPITEL 8, S. 443 FF

334
Zur Geschichte der Sowjetunion

finanziert habe.927 Damit ist natürlich das Bild der aggressiven kommunistischen
Weltverschwörung abgeschlossen. In einer Rezension, erschienen in der FAZ, steht
zu einem von Voslenskys Büchern: "Voslensky schreibt als einer, der immer schon
alles gewußt, aber doch wenig begriffen hat. Zu dem System, das ihn prägte, hat er
nie die Distanz bekommen, die es ihm ermöglicht hätte, es in einem tieferen Sinne zu
verstehen. Wer die Geschichte der Sowjetunion nur als eine Geschichte der Verbre-
chen der KPdSU und des KGB sehen will, der wird in Voslenskys Buch eine Bestäti-
gung finden. Wer Antwort auf die Frage sucht, wie die Sowjetunion über siebzig
Jahre überlebte und warum sie dann zusammenbrach, kann auf eine ganze Reihe fun-
dierterer und besser lesbarer Arbeiten zurückgreifen." 928

5.7. Ingo Wagner - muss man wissen!


Man muss als Linker kein Trotzkist sein, um als "Antistalinist" zu gelten.
Das macht aber den nicht-trotzkistischen "Antistalinismus" nicht wissenschaftlicher.
Ein wunderbares Beispiel hierfür sind Ingo Wagner und Konsorten. Die Zeitschrift
"Marxistisches Forum" gab 2008 ihr Heft 56 mit dem Titel "Die Legende von der
revisionistischen Wende" mit Beiträgen u. a. von Ingo Wagner und Robert Steiger-
wald heraus.929 Möglicherweise führt die Analyse dieser Beiträge über das eigentliche
Thema – Bürokratie und Staatstheorie – hinaus. Aber es ist wieder einmal ein trauri-
ges Beispiel unwissenschaftlicher Analysen, die alte Geschichten zum x-ten Mal
wiederkäuen, ohne sie zu belegen. Außerdem gibt es dort auch Beiträge, die sich mit
der bürokratischen Entartung durch den "Stalinismus" befassen. Zwar fordert Ek-
kehard Lieberam in seinem Vorwort, dass "eine kritische Auseinandersetzung mit der
Stalinzeit und überhaupt eine realistische Ursachenanalyse hinsichtlich des Scheiterns
des Realsozialismus unabdingbar [sei]".930 Dem könnte man durchaus ohne Wenn und
Aber zustimmen. Doch das, was in dem Buch präsentiert wird, ist nicht einmal an-
satzweise eine kritische Auseinandersetzung, sondern eine Aufzählung antistalinisti-
scher Glaubensbekenntnisse.
Da fehlen natürlich nicht gewisse Anfeindungen: Kurt Gossweiler wird vorgeworfen,
eine "wenig beachtete Außenseiterposition einer Ehrenrettung Stalins" einzuneh-
men.931 Offensichtlich ist diese "wenig beachtete Außenseiterposition" zumindest so

927
VOSLENSKI (1980), S. 467 F
928
FAZ (25.10.1995) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/rezension-sachbuch-was-
sind-das-doch-fuer-infame-dokumente-11315152.html
929
MARXISTISCHES FORUM (2008): Die Legende von der Revisionistischen Wende, Heft 56
930
LIEBERAM, E. (2008), S. 2
931
LIEBERAM, E. (2008), ebenda

335
Zur Geschichte der Sowjetunion

viel wert, dass das „Marxistische Forum“ es für notwendig hält, gegen die von Kurt
Gossweiler vorgelegten Analysen eine Broschüre mit Beiträgen von sechs Autoren
herauszugeben. Warum wird also das Wort "Außenseiterposition" gebraucht?
Schließlich wird eine Analyse nicht richtig oder falsch, weil eine Minderheit diese
vertritt.
Den Begriff „Außenseiterposition“ benutzt man hier offensichtlich, um die eigene
argumentative Schwäche zu überdecken. Dies zeigt sich besonders beim Text von
Ingo Wagner, einem Jura-Professor aus Leipzig.932 Die erste Hälfte seines Beitrags
widmet Wagner voll und ganz seiner Polemik gegen den marxistischen Philosophen
Hans Heinz Holz. Diese ist allerdings für unsere Analyse uninteressant. Ein Verweis
zu Holz Reaktion soll hier genügen. 933 Wagner sieht eine Entartung der Leninschen
Parteitheorie schon in der Zeit vor Stalins Tod.934 Als Beweis führt er seine für ihn
rechtsgültige Autorität an:
"Das Ergebnis meines jahrzehntelangen intensiven Nachdenkens und Forschens –
insbesondere auf den Gebieten der Geschichte und der Theorie des wissenschaftlichen
Sozialismus ist, dass Stalin auch im Zusammenhang mit dem Prozess der Negierung
der Leninschen Normen des Parteilebens (zunächst) partial und später umfassender
den Terror als Leitungsmethode einsetzte Die Hauptverantwortung für den Großen
Terror zur massenhaften Vernichtung der Kader des Sowjetstaates und der Kommu-
nistischen Partei und anderer beispiellosen Verbrechen trägt zweifellos Stalin. Dem
Wesen nach handelt es sich objektiv um eine partielle Konterrevolution, obwohl er
niemals den Kapitalismus restaurieren wollte. Aber seine verbrecherischen Handlun-
gen fügten der Sache des Sozialismus großen Schaden zu. Das bereits sehr beschränk-
te Maß an sozialistischer Demokratie wurde völlig zerstört. Und die führende Rolle
der Partei in der Sowjetgesellschaft wurde weiter unterminiert. Die historischen
Fernwirkungen dieser Deformation sollten sich in ihren verheerenden negativen
Ausmaßen erst Jahrzehnte später zeigen." 935
Hier haben wir also die grandiose Glanzleistung des promovierten und habilitierten
Professors: Er hat jahrelang darüber nachgedacht (!) und geforscht und daher weiß er
es einfach – muss man wissen! Diese Textstelle hebt Wagner sogar fett markiert her-
vor, damit auch jeder weiß, was Herr Professor Wagner zu wissen glaubt. Zu dumm
nur, dass seine Beweislage sehr dürftig ist. Zu seiner Unterstützung paraphrasiert er
den antikommunistischen Märchenerzähler Roy Medwedew, der nie aus den Primär-

932
WAGNER, I. (2008), S. 4 - 25
933
HOLZ, H. H. (2008) http://www.tundp.info/DuS_09.htm
934
WAGNER (2008), S. 7ff.
935
WAGNER (2008), S. 10 - 11

336
Zur Geschichte der Sowjetunion

quellen (oder Autoren, die sich auf diese Primärquellen beziehen) zitiert, sondern nur
Informationen (die meist Gerüchte sind) aus dritter, vierter oder x-ter Hand hat. Au-
ßerdem zitiert Wagner Steigerwald, der gerne den Stalinfeind Chruschtschow wieder-
holt.936 Dagegen wirft er Gossweiler "stalinistische Parteilichkeit" vor, um so seine
Glaubwürdigkeit anzuzweifeln. 937 Gegen "antistalinistische Parteilichkeit" hat er
offensichtlich nichts. An einer Stelle könnte man sogar meinen, dass Wagner von sich
selber spricht, aber Gossweiler und die "Stalinisten" meint: "Eine solche 'Argumenta-
tionslogik' hat weder etwas mit seriöser Geschichtsforschung, noch mit Logik des
wissenschaftlichen Forschens und Dialektik zu tun. In ihr kulminieren vielmehr Mei-
nungen sowie diffuse, imaginäre Illusionen und subjektivistische Vermutungen, die
suggestiv als Tatsachenwissen erscheinen sollen." 938
Offensichtlich sieht Wagner da den Fehler nicht bei sich.
Stalins Beitrag zur Parteitheorie und die Rolle der kommunistischen Partei der Sow-
jetunion wird in dem entsprechenden Kapitel eines anderen Buches über die Partei
intensiv ausgearbeitet. Hilfreich ist auch Ulrich Huars Arbeit "Stalins Beiträge zur
Parteitheorie"939 Es sollte vielleicht zur Pflichtlektüre Wagners werden, auch wenn zu
bezweifeln ist, dass sich ein Lernerfolg oder wenigstens ein Nachdenken ergibt. Denn
von Stalin scheint dieser "Stalinkenner" recht wenig zu wissen. Interessant ist hierbei,
dass Wagner z. B. der Arbeit von Ulrich Huar kennt, ihr aber natürlich keine vorzu-
nehmende Beachtung schenken will.940 Der unvoreingenommene Leser wird sich
fragen, warum? Ein möglicher Grund dürfte wohl der sein, dass Huar Wagners Ge-
schwätz widerlegt. In seiner auf über 20 Seiten in Doppelspalten geschriebenen Ar-
beit traut sich Wagner Stalin nur einmal zu zitieren, allerdings aus dem Kontext geris-
sen. Er zitiert Stalin zum Klassenkampf und dessen Intensivierung:
"'Die Aufhebung der Klassen wird nicht durch das Erlöschen des Klassenkampfes,
sondern durch seine Verstärkung erreicht. Das Absterben des Staates wird nicht durch
die Abschwächung der Staatsmacht, sondern durch ihre maximale Verstärkung kom-
men, die notwendig ist, um die Überreste der sterbenden Klassen zu vernichten und
die Verteidigung gegen die kapitalistische Umkreisung zu organisieren, die noch bei
weitem nicht vernichtet ist und noch nicht so bald vernichtet sein wird.'" 941

936
WAGNER (2008), S. 11
937
WAGNER (2008), S. 13
938
WAGNER (2008), S. 14
939
HUAR, U. (2003): https://offen-siv.net/2003/03-03.htm https://offen-siv.net/2003/03-04.htm
940
WAGNER (2008), S. 16
941
Zitiert in WAGNER (2008), S. 22

337
Zur Geschichte der Sowjetunion

Argumentiert wird – neben dem Vorwurf Stalin habe die Staatstheorie dogmatisiert –
dass Stalin durch die Intensivierung des Klassenkampfes die Repressionen rechtferti-
gen wollte. Der Unsinn dieser Behauptung wurde schon weiter oben widerlegt und
bedarf keines weiteren Kommentars, außer vielleicht, dass der selbsternannte "Stalin-
kenner" Wagner doch bitte Stalin richtig lesen soll. Die anderen Beiträge im Heft 56
vom Marxistischen Forum verdienen tatsächlich kaum Beachtung, da sie entweder
Wagners "Theorien" in eigenen Worten wiederholen oder sich über die Repressionen
der Moskauer Prozesse beschweren. Zumindest für dieses Kapitel besteht nicht die
Notwendigkeit der Analyse.

5.8. Christoph Jünkes Angst vor stalinistischen Schatten


Die Werke von Trotzki, Djilas und Voslenski sind bei weitem keine Einzelfälle anti-
kommunistischer Pseudowissenschaft. Gerade in linken Zirkeln häufen sich anti-
kommunistische Positionen, die anhand einiger Beispiele näher untersucht werden
sollen. Im deutschsprachigen Raum erschien 2007 ein Buch vom "linken" Historiker
Christoph Jünke: "Der lange Schatten des Stalinismus: Sozialismus und Demokratie
gestern und heute." Es soll ein provokanter Diskussionsbeitrag zur kritischen Aufar-
beitung des Stalinismus sein und die philo- und neostalinistischen Tendenzen in der
kommunistischen Bewegung kritisieren. So werden von Jünke "Stalinisten" wie Do-
menico Losurdo, Kurt Gossweiler und gar Sarah Wagenknecht kritisiert. Außerdem
werden Stalinismuskritiker wie Leo Kofler und Isaac Deutscher analysiert. Dieses
Kapitel konzentriert sich hier auf Jünkes Stalinismus-Kritik und auch hier wird sich
zeigen, dass nicht viel Analyse enthalten ist. Selbst Stalin-Kritiker wie Robert Stei-
gerwald können dieser Arbeit wenig abgewinnen.942
Der Autor dieses etwa 200 Seiten dicken Buches ist eingefleischter Antistalinist und
vertritt die schon hier entlarvte faule „Theorie“ des „deformierten Arbeiterstaates“.
Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten werden als „Stalinismus“
diffamiert und es wird behauptet, dass "die Arbeiter offensichtlich nicht geherrscht
haben"943 diese "Offensichtlichkeit" wird als so eindeutig postuliert, dass es keines
weiteren Beweises bedarf.
"Ein Stalinist ist also der, dessen politische Theorie und Praxis, damals wie heute,
vom historischen Stalin bestimmt wird. Nicht in dem Sinne, wie wir alle von diesem
historischen Stalin bestimmt wurden und werden, sondern insofern er historisch oder

942
ROBERT STEIGERWALD (2008A) https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2008/03-
31/007.php
943
JÜNKE (2007), S. 9

338
Zur Geschichte der Sowjetunion

politisch-theoretisch diesem Gesellschaftssystem und seiner Herrschaftsideologie


anhängt, auch gedanklich nicht von ihm loskommt und beide, die Theorie wie die
Praxis desselben, auch heute noch meint rechtfertigen, verteidigen und reproduzieren
zu müssen"944, so Jünke.
Er bedauert, dass man selbst nach dem „Zusammenbruch“ des "Stalinismus" den
"langen Schatten des Stalinismus" nicht loswerde. Dies liege seiner Meinung nach
daran, dass das historische Erbe des "Stalinismus" im gesellschaftspolitischen (gerade
auch im westlichen) Denken nachwirke und dass die über die Geschichte hinauswir-
kende politische Logik des "Stalinismus" auch weiterhin wirken werde, auch wenn
man restlos mit dem Erbe des „historischen Stalinismus“ gebrochen habe. 945 Man
kann das Bedauern Jünkes teilen oder nicht, doch darum geht es nicht. Verwunderlich
war das – für einen Historiker – dürftige Quellenmaterial. Wenn man die These auf-
stellt, dass die Sowjetunion ein degenerierter Arbeiterstaat war, in der die Arbeiter
nicht das Sagen hatten und die "millionenfachen Verbrechen der Stalinbürokraten
insbesondere an KPdSU und Sowjetvölkern" als "inzwischen eindeutig belegt" 946
gelten, Chruschtschow auf dem XX. Parteitag mit Stalin inkonsequent abgerechnet
habe947, Stalin eine "bürokratisch fundierte Diktatur errichtet [habe], die jede demo-
kratische Regung erdrückte"948 und es "ernstlich kaum zu bestreiten [sein] dürfte (…),
dass die Sowjetunion bei intakter (statt überwiegend auf Stalins Befehl erschossener)
Generalität sowie mit Dutzenden Millionen Arbeitern leichter und rascher hätte zu-
rückschlagen können"949, die "Grundlagen zu späterer Stagnation und zum Zusam-
menbruch (…) unter Stalin gelegt [worden seien]"950 und der "Stalinismus" wenn
nötig auf "Rassismus und Antisemitismus" zurückgegriffen habe951, dann sollte man
auf fundierte Quellen der neuesten "Stalinismus"-Forschung zurückgreifen.
Doch nichts dergleichen. Zitiert werden lediglich Schriften wie M. Beherends "Ant-
wort an Kurt Gossweiler" in den Weißenseer Blätter (3/1991) oder ähnliche Gosswei-
ler-"Kritiker" und natürlich Trotzki. Das Buch ist jedoch 2007 erschienen. Der Autor,
wenn er denn gewillt gewesen wäre, hätte die neuesten Arbeiten aus diesem Gebiet
mit einbeziehen können, die sich z. T. auch hier im Literaturverzeichnis finden. Na-
türlich ist das keine Absicht Jünkes, da er den "Stalinismus" überwinden will. Und er

944
JÜNKE (2007), S. 10
945
JÜNKE (2007), S. 10, 11
946
JÜNKE (2007), S. 108
947
JÜNKE (2007), S. 110
948
JÜNKE (2007), S. 114
949
JÜNKE (2007), S. 114
950
JÜNKE (2007), S. 114
951
JÜNKE (2007), S. 126

339
Zur Geschichte der Sowjetunion

kann ihn wohl nur überwinden, wenn er die neueste Forschung ignoriert, da die Fak-
ten gegen Jünke sprechen. Also erstellt er eine wenig überzeugende Ideologieschrift,
die nur den linken kleinbürgerlichen Intellektuellen interessieren könnte. Doch sollte
es möglich sein, den historischen Umstand genau zu analysieren, bevor man irgen-
detwas überwinden will. Hier sollen die oben zitierten Vorwürfe Jünkes nicht wider-
legt werden. Ein Verweis auf dieses Buch und das dort gesammelte Quellenmaterial,
wie auch die Arbeiten von Ludo Martens, Kurt Gossweiler, Ulrich Huar, Harpal Brar,
Michael Kubi, Klaus Hesse etc. dürften genügen. Dennoch soll an einem Beispiel
aufgezeigt werden, wie Jünke die "Stalin-Apologeten" am Beispiel Domenico Lo-
surdos kritisiert. Jünke schreibt:

"Losurdo wird nicht müde, Stalin und andere mit Roosevelt, Churchill und anderen zu
vergleichen und treibt dieses Spiel bis zur zynischen Erbsenzählerei, wer denn
schwerwiegendere Verbrechen verübt, wer denn mehr Menschen auf dem Gewissen
habe. Und er fragt an: 'Auf Grund welcher Logik kann man also behaupten, die Ver-
brechen Lenins und Stalins (…) seien schlimmer als jene, derer sich Clinton schuldig
macht.'"952
Jünke kommentiert dazu: "(…) warum sollen wir uns dann eigentlich dazu durchrin-
gen, die 'kommunistische' Weltbewegung zu verteidigen, uns als sogar stolzen Teil
derselben verstehen? Weil die einen behaupten, gut, d. h. kommunistisch zu sein?
Weil bei den einen das gesellschaftliche Eigentum in der Hand einer staatlichen Bü-
rokratie ist, während es bei den anderen in den Händen der Bourgeoisie privatisiert
ist?"953
Unabhängig davon, dass man auch Jünke Erbsenzählerei über die Verbrechen des
"Stalinismus" vorwerfen kann und sein Vorwurf, dass das gesellschaftliche Eigentum
in der Hand von Bürokraten war, Unsinn ist, ist an Domenico Losurdo durchaus eini-
ges zu kritisieren, was auch u. a. von Kurt Gossweiler gemacht wurde. 954 Was Lo-
surdos Vergleich der Verbrechen des Kapitalismus/Imperialismus und des Kommu-
nismus angeht, so sollte hier tatsächlich angemerkt werden, dass die Verbrechen des
Imperialismus nicht nur in absoluten und relativen Zahlen die "Verbrechen" des
Kommunismus überbieten, selbst wenn man von der Lüge der 100 Mio. Opfer des
Kommunismus ausgeht. Es sollte hier bedacht werden, dass die Repressionen beson-
ders in den 1930er Jahren eine Reaktion auf die ständige Bedrohung des Sozialismus
durch den Kapitalismus waren. Die Verbrechen des Kapitalismus sind hingegen ein

952
JÜNKE (2007), S. 126
953
JÜNKE (2007), S. 126
954
Vgl. GOSSWEILER, K. (2001): http://kurt-gossweiler.de/?p=822

340
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wesenszug des Systems, das durch die Ausbeutung des Menschen durch den Men-
schen erzeugt wird. Doch davon ist Jünke natürlich nicht überzeugt. Für ihn sind die
Verbrechen des "Stalinismus" natürlich viel schlimmer: "Die Verbrechen Stalins, Pol
Pots und all der anderen sind jedoch für Sozialisten schlimmer als die Verbrechen der
Bourgeoisie, weil sie – und hier ist die objektive Rechtfertigung der den von Losurdo
so beklagten 'Verrats'-Vorwurf – im Namen des Sozialismus durchgeführt wurden
und weil sie mehrere Generationen von Sozialisten-Kommunisten in Verwirrung und
Verirrung getrieben haben. Sie wirkten verheerender, weil die sozialistische Bewe-
gung hier nicht von außen, sondern von innen massakriert wurde." 955
Jünke kommt nicht umhin den "einzig wahren Kommunisten" Trotzki als Kronzeugen
zu zitieren: "Niemand, Hitler inbegriffen, hat dem Sozialismus so tödliche Schläge
versetzt wie Stalin. Das ist auch nicht verwunderlich: Hitler hatte die Arbeiterorgani-
sationen von außen attackiert, Stalin – von innen. Hitler attackiert den Marxismus.
Stalin attackiert ihn nicht nur, sondern prostituiert ihn auch. Nicht ein ungeschändetes
Prinzip, nicht eine unbefleckte Idee sind übriggeblieben. Selbst die Worte Sozialis-
mus und Kommunismus sind grauenhaft kompromittiert, seit wild gewordene Gen-
darmen unter der Titulatur Kommunisten ihr Gendarmenregime Sozialismus nennen.
Eine abscheuliche Lästerung! Die GPU-Kaserne ist nicht das Ideal, für das die Arbei-
terklasse kämpft. Sozialismus bedeutet eine durch und durch transparente Gesell-
schaftsordnung, die auf der Selbstverwaltung der Werktätigen beruht. Stalins Regime
basiert auf einer Verschwörung der Herrschenden gegen die Beherrschten. Sozialis-
mus bedeutet zunehmend ständig zunehmende Gleichheit aller. Stalin hat ein System
abscheulicher Privilegien geschaffen. Der Sozialismus hat die allseitige Entfaltung
der Persönlichkeit zum Ziel. Wo und wann wurde die Persönlichkeit so erniedrigt wie
in der UdSSR? Der Sozialismus hätte gar keinen Wert, wenn die Menschen miteinan-
der uneigennützig, ehrlich, human umgehen. Stalins Regime hat die gesellschaftlichen
und persönlichen Beziehungen mit Lüge, Karrierismus und Verrat durchtränkt. Ge-
wiss nicht Stalin bestimmt die Geschichte. Wir kennen die objektiven Ursachen, die
der Reaktion in der UdSSR den Weg geebnet haben. Doch nicht zufällig kam Stalin
an die Spitze der thermidorianischen Welle. Dem gierigen Appetit der neuen Kaste
verstand er unheilvoll Ausdruck zu geben. Er trägt keine Verantwortung für die Ge-
schichte. Aber er trägt die Verantwortung für sich und seine Rolle in der Geschichte.
Diese Rolle ist verbrecherisch. Die Maßstäbe des Verbrecherischen ist derart, dass
Ekel sich mit Schrecken multipliziert."956

955
JÜNKE (2007), S. 128
956
TROTZKI (1937B), zitiert in JÜNKE (2007), S. 128, vgl. auch:
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1937/leo-trotzki-der-anfang-
vom-ende

341
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzki und Jünke ist diese Offenheit zu verdanken. Sie haben es endlich zugegeben:
Der "Stalinismus" ist das schlimmste Verbrechen überhaupt. Der Holocaust, der Erste
und Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, der Faschismus, die aktuellen Kriege und
Machenschaften der Imperialisten in Libyen, Syrien und der Ukraine usw., dies alles
ist nicht so schlimm wie der "Stalinismus". Und das noch aus dem Mund von sich als
Kommunisten bezeichnenden Männern. Dazu noch ohne jegliche Belege. Man muss
den Worten Trotzkis (und Jünkes?), der wie ein Scharfrichter in "stalinistischer Ma-
nier" die "stalinistischen" Verräter aburteilt, einfach nur Glauben schenken. Einen
besseren Dienst kann man der Bourgeoisie wahrlich nicht leisten! Jünke zieht daraus
die für ihn logische Konsequenz und will keine politische Zusammenarbeit mit den
"Stalinisten"957. Dies beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. In seiner Bündnispolitik
wird Jünke wohl ziemlich alleine dastehen, denn Trotzkisten haben es noch niemals
geschafft auch nur irgendwo in der Arbeiterbewegung Fuß zu fassen. Wir sehen also
– 70 Jahre nach "Verratene Revolution" – hier bei einem deutschen Ableger des lin-
ken Antistalinismus, dass recht wenig Neues zur "Stalinismus"-Analyse kommt.

6. Soziale Mobilität und Klassenstruktur


Wichtig für eine Gesellschaftsformation und die Frage, ob eine herrschende, ausbeu-
terische Klasse existiert, sind die Quellen ihrer Rekrutierung, also: Wie sind die Auf-
stiegsmöglichkeiten für die werktätigen Klassen, und wie sind die sozialen Netzwerke
der herrschenden Klasse gestaltet?
Wir haben im Kapitel über die soziale Differenzierung festgestellt, dass sich die Intel-
ligenz in den sozialistischen Staaten in ihren Freizeitaktivitäten und persönlichen
Beziehungen wenig von der Arbeiterklasse unterscheidet. Zwar gab es einige nen-
nenswerte Unterschiede, diese waren jedoch vergleichsweise klein und resultierten
aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen. Typische soziale Netzwerke der
Bourgeoisie, wie spezielle Clubs, Wohnviertel, Ferienorte oder Bildungseinrichtun-
gen existierten in der Sowjetunion für die Intelligenz nicht.
Nun bleibt jedoch tatsächlich die Frage offen, wie hoch die tatsächlichen Aufstiegs-
chancen in die sowjetische Intelligenz waren. Wenn wir davon ausgehen, dass die
Sowjetunion ein sozialistischer Staat war, so müssen wir davon ausgehen, dass die
Arbeiterklasse die politisch dominierende Klasse in der Sowjetunion war.

957
JÜNKE (2007), S. 136

342
Zur Geschichte der Sowjetunion

Da im Sozialismus noch soziale Unterschiede bestehen, ist von Bedeutung, dass diese
mit Fortschreiten der sozialistischen Entwicklung minimiert werden. Dazu zählen
jedoch nicht nur Unterschiede in der Bezahlung der Arbeitskräfte. Eine funktionie-
rende kommunistische Gesellschaft kann nur mit umfassend gebildeten Menschen
gestaltet werden. Dazu müssen die Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher
Arbeit aufgehoben werden. Von diesem Idealzustand war die Sowjetunion natürlich
noch weit entfernt. Aber ein erster und wichtiger Schritt, dieses Ziel zu erreichen ist
es, dass die Arbeiterklasse und die mit ihr verbündeten Werktätigen (z. B. die Bauern)
zunehmend in die Leitung und Funktion von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft inte-
griert werden. Die Frage, die hierbei entscheidend ist: aus welchen Klassen oder sozi-
alen Schichten stammen jene, die die Leitung und Planung der sozialistischen Gesell-
schaft inne haben. Kurzum: Es muss untersucht werden, ob die Vertreter der Intelli-
genz, also jene, die sich hauptsächlich mit geistiger und leitender Tätigkeit befassen,
wie Wissenschaftler, Ingenieure, Manager, Verwaltungsangestellte oder Parteifunkti-
onäre, in einem sozialistischen Land aus der Arbeiterklasse (oder anderen Werktäti-
gen) rekrutiert werden, ob also ein sozialer Aufstieg für die Arbeiterklasse möglich
ist.
Wir befassen uns hier also mit dem Aspekt der sozialen Mobilität. Damit sind die
Bewegungen von Personen zwischen sozialen Positionen gemeint, z. B. zwischen
Berufen, Schichten oder Klassen. Wenn Personen zwischen den Klassen oder Schich-
ten wechseln, spricht man von vertikaler Mobilität, bzw. von einem Aufstieg oder
Abstieg. Bewegungen zwischen relativ gleich gefassten Positionen (z. B. Arbeits-
wechsel innerhalb derselben Einkommensgruppe) bezeichnet man als horizontale
Mobilität. Wechsel der Positionen zwischen den Generationen (z. B. Vater Arbeiter -
Sohn Ingenieur) bezeichnet man als intergenerationelle Mobilität. Wechsel innerhalb
einer Generation (z. B. Person X arbeitet sich hoch vom einfachen Arbeiter zum
Facharbeiter) bezeichnet man intragenerationelle Mobilität. Bei der intergenerationel-
len (also zwischen den Generationen) Mobilität ist es interessant zu ermessen, wie
hoch der Wechsel von einer niedrigeren zu einer höheren Position ist (sog. Abstrom-
quoten). Damit lässt sich ein Maß für die soziale Vererbung von Positionszugehörig-
keiten oder der sozialen Reproduktion bzw. für ungleiche Chancen des Zugangs zu
bestimmten Positionen errechnen; also ob eine Gesellschaft "offen" (= hohe Mobili-
tät) oder "abgeschlossen" (= niedrige Mobilität) ist. Man unterscheidet desweiteren
zwischen absoluter und relativer Mobilität. Die absolute Mobilität beschreibt die
Geschwindigkeit, mit der alle aufsteigen, ohne jedoch die relativen Abstände zu ande-
ren Klassen, Schichten oder Einkommensgruppen zu verändern. Es wird ermöglicht z.
B. durch den technischen Fortschritt, Wirtschaftswachstum und Wandel im Berufsall-
tag. Der Unterschied aber zwischen verschiedenen Einkommensschichten - ungelern-
ter Arbeiter, Facharbeiter, Intelligenz etc. - bleibt bestehen. Die relative Mobilität

343
Zur Geschichte der Sowjetunion

hingegen beschreibt, ob einzelne Personen ihre Positionen wechseln - also sozial auf-
oder absteigen. Gerade diese relative Mobilität ist ein Maß für die Offenheit einer
Gesellschaft.
Traditionell werden in der bürgerlichen Soziologie "demokratische" (= kapitalistische,
bürgerlich-demokratische) Staaten als traditionell offen, "totalitäre" Staaten hingegen
als traditionell geschlossene Staaten bezeichnet. Von Interesse sind hier die Zugäng-
lichkeit zu sog. Elitepositionen, also wie wahrscheinlich es für eine Person ist, z. B.
von der Arbeiterklasse in die Bildungselite aufzusteigen. 958 Wir wollen im Folgenden
untersuchen, wie hoch die soziale Mobilität im Kapitalismus und in der Sowjetunion
ist, bzw. war. Es sei hier anzumerken, dass überwiegend bürgerliche Studien ausge-
wertet werden. Diese haben natürlich gewisse Fehler und Mängel, da sie z. B. die
marxistische Klassendefinition ablehnen und dazu neigen, Berufsschichten unnötig in
mehrere Subkategorien oder Einkommensgruppen aufzuteilen.
Beispielsweise behaupten eine Reihe bürgerlicher Soziologen, es habe nach dem
Zweiten Weltkrieg ein "Abschied von Proletariat" gegeben, da viele von der Industrie
in Dienstleitungsberufe oder den öffentlichen Dienst gewechselt sind oder die Bil-
dungschancen angeblich gestiegen seien, da mehr Kinder ins Gymnasium gehen.
Aktuell spricht man von "postindustriellen Berufen", da sich die Arbeitsstelle von der
Fabrik in das Büro verlagert hat. 959 Wir haben in unserem Kapitel über die Klassen
festgestellt, dass eine Verlagerung der Arbeitsplätze von der Fabrik ins Büro die Situ-
ation und die Definition des Proletariats nicht verändert. Ebenso unterstellen einige
Soziologen, dass in der Sowjetunion keine Gleichheit herrsche, obwohl sie eine "ega-
litäre" Ideologie vertrete. Wir haben ja mittlerweile festgestellt, dass Kommunisten
keine Anhänger der Gleichmacherei sind, sondern im Sozialismus gewisse Ungleich-
heiten für notwendig erachten.
Folgerichtig müssen die Interpretationen der bürgerlichen Autoren mit gewisser Skep-
sis betrachtet werden. Dennoch finden die Arbeiten dieser bürgerlichen Soziologen
eine Reihe interessanter empirischer Daten, die eine nähere Betrachtung verdienen.

958
Vgl. z. B. BENDIX, R./S. M. LIPSET (HG.) (1959), zur sozialen Mobilität allgemein, siehe:
ERIKSON, R. & GOLDTHORPE, J. H. (1992).
959
Vgl. BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2015)
http://www.bpb.de/apuz/201649/ende-der-aufstiegsgesellschaft?p=all dort die Quellenangaben

344
Zur Geschichte der Sowjetunion

6.1. Soziale Mobilität im Kapitalismus


Bevor wir untersuchen, welche sozialen Aufstiegschancen die Arbeiterklasse im So-
zialismus hatte, ist es wertvoll, diese im Kapitalismus zu untersuchen.
Oben haben wir z. B. erfahren, dass der individuelle Kapitalist nicht zwingend juristi-
scher Eigentümer der Produktionsmittel sein muss. Ebenfalls von Bedeutung ist, wie
sich die kapitalistische Klasse reproduziert. So kann man z. B., ohne Eigentümer sein
zu müssen, seine hohe Position als Top-Manager eines Großkonzerns dazu ausnutzen,
dass Nachkommen in diese Position aufrücken können. Im Kapitalismus rekrutiert
sich die Bourgeoisie also aus sich selbst heraus und kreiert ihre eigenen, geschlosse-
nen sozialen Netzwerke. Hier ist ein Blick auf die BRD günstig. Die Bundeszentrale
für politische Bildung schreibt:
"Über die soziale Rekrutierung der deutschen Eliten hat Ralf Dahrendorf vor über vier
Jahrzehnten eine Aussage getroffen, die im Kern bis heute gültig ist und von den
empirischen Elitestudien immer wieder bestätigt wird. Für Dahrendorf war 'das ein-
deutigste Merkmal deutscher Eliten ... , dass diese sich zum größeren Teil selbst aus
einer schmalen Oberschicht und zum geringeren Teil aus den Kadern der nichtakade-
mischen Beamtenschaft rekrutieren, während der Sohn eines Industriearbeiters, aber
auch des selbständigen Handwerkers und kleinen Geschäftsmannes wenig Aussicht
hat, bis an die Spitze der deutschen Gesellschaft vorzudringen'[2]. Unter professionel-
len Beobachterinnen und Beobachtern ist unumstritten, dass die deutschen Eliten ganz
überproportional aus den Reihen des Bürgertums[3] stammen. Weitgehend einig ist
man sich auch in der Einschätzung, dass - wenn man einmal von den Gewerkschaften
absieht - die politische Elite sozial am durchlässigsten und die Wirtschaftselite am
geschlossensten ist. (…) Was die Gründe für die disproportionale Vertretung der
einzelnen Schichten und Klassen der Gesellschaft in den Eliten betrifft, ist die Über-
einstimmung aber wieder groß. Fast alle Eliteforscher sehen die entscheidende Ursa-
che in einer je nach Herkunft sehr unterschiedlichen Bildungsbeteiligung. Auch in
diesem Punkt hat Dahrendorf schon Anfang der sechziger Jahre eine Feststellung
getroffen, die von den meisten Beobachtern bis heute geteilt wird: Für die soziale
Zusammensetzung der Eliten ist das 'Bildungsprivileg' der Oberschicht und der obe-
ren Mittelschicht ausschlaggebend."960
"Verantwortlich für das soziale Ungleichgewicht ist eine Vielzahl von Ausleseme-
chanismen innerhalb des deutschen Bildungssystems, das sich im internationalen
Vergleich - wie die Schülerleistungsstudie PISA deutlich gezeigt hat - durch eine

960
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2004) http://www.bpb.de/apuz/28480/eliten-in-
deutschland?p=all dort die Quellenangaben

345
Zur Geschichte der Sowjetunion

besonders ausgeprägte soziale Selektion auszeichnet. Die Dreigliedrigkeit des Schul-


wesens spielt in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle. Beim Übergang zur weiter-
führenden Schule machen sich nämlich nicht nur die milieubedingt besseren Leistun-
gen der Kinder aus den höheren Schichten und Klassen bemerkbar, sondern auch die
je nach sozialer Herkunft stark differierenden Beurteilungen der Lehrkräfte. Nach
einer Erhebung unter allen Hamburger Fünftklässlern benötigt zum Beispiel ein Kind,
dessen Vater das Abitur gemacht hat, ein Drittel weniger Punkte für eine Gymnasial-
empfehlung als ein Kind mit einem Vater ohne Schulabschluss.[12] Bei Versetzungs-
entscheidungen sind dieselben Mechanismen zu beobachten. Wer es aus den so ge-
nannten 'bildungsfernen Schichten' trotz all dieser Hürden bis an die Hochschulen
geschafft hat, wird auch dort mit den höchst wirkungsvollen ‚inoffiziellen‘ Lehrplä-
nen und den von den 'bildungsnahen Schichten' bestimmten Verhaltensmustern kon-
frontiert. Die Betreffenden müssen zudem größere materielle Probleme bewältigen,
d.h. zu einem ungefähr doppelt so hohen Prozentsatz einer laufenden Beschäftigung
nachgehen, um ein Studium finanzieren zu können. Das schlägt sich in ihrem eben-
falls doppelt so hohen Anteil unter den Langzeitstudierenden nieder.[13] Insgesamt
gesehen sind die Aussichten auf die Aufnahme eines Studiums sowie einen erfolgrei-
chen und zügigen Hochschulabschluss für den Nachwuchs aus Arbeiterfamilien oder
den Haushalten kleiner Selbständiger oder normaler Angestellter und Beamter we-
sentlich schlechter als für Bürgerkinder oder für die Sprösslinge aus Akademikerfami-
lien. Das zeigt sich am deutlichsten bei jenen, die es bis zum höchsten Abschluss
schaffen: bis zur Promotion. Von ihnen kamen traditionell über die Hälfte aus dem
Bürgertum. In den die Elitepositionen klar dominierenden Fächern Ingenieurwissen-
schaften, Jura und Wirtschaftswissenschaften waren es ca. 60 Prozent. Durch die
Bildungsexpansion hat sich dieser Prozentsatz zwar um ein Fünftel verringert, die
sozialen Unterschiede bleiben aber nach wie vor sehr groß.[14]" 961
"Die Untersuchung der Lebensläufe promovierter Ingenieure, Juristen und Wirt-
schaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 - insge-
samt ca. 6.500 Personen und zu über 96 Prozent Männer[16] - bietet auf den ersten
Blick ein relativ uneinheitliches Bild: Für den Aufstieg in die Elite im weiteren Sin-
ne[17] gelten offenbar je nach Sektor ganz unterschiedliche Bedingungen. Die Bedeu-
tung der sozialen Herkunft erscheint alles andere als eindeutig. Wenn man die hohe
soziale Selektivität der Promotion außer Betracht lässt, bietet eine bürgerliche Her-
kunft auf den ersten Blick nur in der Wirtschaft einen unzweifelhaften Vorteil. Hier
werden die Aussichten auf eine Spitzenstellung durch ein bürgerliches Elternhaus
unübersehbar begünstigt. Von den Absolventen, deren Vater Arbeiter, Bauer, kleiner
Selbstständiger oder Angestellter bzw. Beamter ohne leitende Funktionen war, ist gut

961
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2004), Ebenda

346
Zur Geschichte der Sowjetunion

jeder Elfte im Verlauf seines Berufslebens in die erste Führungsebene eines großen
Unternehmens aufgestiegen. Von den Kindern des gehobenen Bürgertums hat es
dagegen schon mehr als jeder Achte und von den Söhnen des Großbürgertums[18]
sogar fast jeder Fünfte geschafft (siehe die Tabelle: PDF-Version).[19] Differenziert
man weiter, so zeigt sich, dass Arbeiterkinder die schlechtesten und die Söhne größe-
rer Unternehmer die besten Chancen besitzen. Letztere sind mehr als dreimal so er-
folgreich wie Erstere.
In den übrigen drei Sektoren bietet sich ein anderes Bild. Zwar liegen die Kinder aus
dem Großbürgertum in der Politik und der Justiz noch vorn, wenn auch relativ knapp,
in der Wissenschaft rangieren sie aber ganz am Ende. Der Nachwuchs des gehobenen
Bürgertums hat in allen drei Bereichen schlechtere Karriereaussichten als die Kommi-
litonen aus der Arbeiterklasse und den breiten Mittelschichten. Letztere dominieren
vor allem in der Wissenschaft, schneiden aber auch in der Justiz und in der Politik[20]
relativ gut ab.
Der erste Eindruck täuscht jedoch zumindest teilweise. Zum einen darf man die Kon-
kurrenzsituation in den einzelnen Sektoren nicht aus den Augen verlieren.[21] Zum
anderen ändert sich das Bild erheblich, nimmt man nur die Elite im engeren Sinne in
den Blick. In den Chefetagen der Großkonzerne und an den Bundesgerichten[22]
dominieren die Söhne des Bürgertums und vor allem des Großbürgertums ganz ein-
deutig. Beim Weg in die Chefetagen der 400 führenden Großkonzerne sind die Söhne
des gehobenen Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar mehr als dreimal
so erfolgreich wie jene aus der breiten Bevölkerung. Der Nachwuchs von leitenden
Angestellten schafft den Sprung nach oben sogar zehnmal häufiger als Arbeiterkinder.
Bei den Spitzenpositionen der Justiz sieht es ähnlich aus. Während in der Justizelite
im weiteren Sinne noch fast jeder zweite promovierte Jurist aus der breiten Bevölke-
rung kommt, gilt das nur noch für ein Drittel der Bundesrichter und gerade noch für
einen von acht an den (nach dem Bundesverfassungsgericht) beiden wichtigsten Bun-
desgerichten:[23] dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverwaltungsgericht. Die
Sprösslinge des Großbürgertums stellen unter den Promovierten dagegen mehr als ein
Viertel der Bundesrichter und im Falle dieser beiden Bundesgerichte sogar über ein
Drittel der Richter. Von den promovierten Juristen aus großbürgerlichen Familien ist
fast jeder dritte Bundesrichter geworden. Soziale Aufsteiger findet man umso selte-
ner, je wichtiger und machtvoller die Position ist. Bei den Söhnen des gehobenen und
vor allem des Großbürgertums sieht es genau umgekehrt aus. In der Elite im engeren
Sinne sind sie besonders stark vertreten." 962

962
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2004), Ebenda

347
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Betrachtet man die erwerbstätigen Personen im Alter von 30 bis 64 Jahren, so zeigt
sich, dass der Anteil der erwerbstätigen Personen, die gegenüber ihrem Vater einen
beruflichen Aufstieg erfahren haben, in der Generation der vor 1933 Geborenen bei
etwa 30 Prozent lag (bei westdeutschen Frauen mit unter 25 Prozent deutlich darun-
ter). Dieser Anteil steigt zunächst an und sinkt dann aber auch wieder. Bei den west-
deutschen Männern ist der höchste Wert (37 Prozent) bei den unmittelbar nach dem
Krieg geborenen Kohorten erreicht und seither ein leichter Rückgang (auf 32 Prozent)
zu verzeichnen. Bei ostdeutschen Männern ist dieser Rückgang, vereinigungsbedingt,
bereits bei den Kohorten der 1934 bis 1945 Geborenen erkennbar und auch in der
weiteren Kohortenfolge extrem stark. Nur noch ein Viertel der heute unter 45-
Jährigen ist gegenüber dem Vater beruflich aufgestiegen. Bei den Frauen ist in den
letzten beiden Kohortengruppen zwar kein erneuter Rückgang, aber eine Stagnation
der zunächst stark anwachsenden Anteile von beruflichen Aufsteigerinnen zu be-
obachten. (…) Insgesamt zeigen die Daten das Bild einer mindestens deutlich ge-
bremsten (Frauen), wenn nicht bereits rückläufigen (insbesondere ostdeutsche Män-
ner) Entwicklung von beruflichen Aufstiegen.[5] Umgekehrt sehen wir dagegen bei
allen Gruppen eine Zunahme von beruflichen Abstiegen für die nach dem Krieg gebo-
renen Generationen. Während die in der NS-Zeit geborenen Männer zu 16 Prozent
beruflich abstiegen, sind es in den jüngsten Generationen über 20 Prozent. Die Frauen
konnten ihre zunächst sehr hohen Abstiegsraten von gut einem Drittel auf etwa ein
Viertel drücken, liegen damit aber noch deutlich über denen der Männer und ver-
zeichnen in den jüngeren Kohorten wieder einen leichten Anstieg. (…) Grundsätzlich
ist die Aufstiegsmobilität aus unteren Berufslagen hoch. Ganze 70 bis 80 Prozent der
erwerbstätigen Söhne von ungelernten Arbeitern erreichen eine höhere berufliche
Position als ihre Väter; bei den Töchtern liegen die Anteile etwas niedriger. Diese
Aufstiege sind freilich überwiegend (zu mehr als 50 Prozent) Aufstiege in gelernte
Arbeiterberufe, zu immerhin einem Fünftel aber auch Aufstiege in die höchste Be-
rufsklasse. Erwerbstätige Kinder von gelernten Facharbeitern, Dienstleistern und
Fachangestellten sind noch zu etwa 40 Prozent Aufsteiger. Interessanterweise ist der
Rückgang der Aufstiege über die jüngeren Kohorten hinweg jedoch nicht bei den
ungelernten Arbeitern am stärksten ausgeprägt, sondern gerade bei den Kindern der
mittleren Berufsklassen. Ebenso ist die Zunahme von intergenerationalen Abstiegen
am stärksten bei den höheren Berufsklassen. Während bis in die Nachkriegskohorten
hinein gut 40 Prozent der erwerbstätigen Söhne aus den oberen Berufsklassen sozial
abgestiegen sind, nehmen diese Abstiege in den jüngeren Kohorten auf über 50 Pro-
zent im Westen und über 60 Prozent im Osten zu. Auch in den gehobenen Mittel-
schichtsberufen ist der Anteil der Abstiege mittlerweile höher als der der Aufstiege –

348
Zur Geschichte der Sowjetunion

und dies wiederum in extremem Ausmaß in Ostdeutschland. Selbst bei den Ungelern-
ten zeigen sich hier deutliche Rückgänge in der Aufstiegsmobilität. " 963
"Entsprechende Analysen machen deutlich, dass Einkommensaufstiege über die Zeit
in der Regel abgenommen haben. Diese Abnahme ist jedoch am stärksten für Perso-
nen aus den unteren Einkommensschichten. Lediglich bei Personen mit hohen und
sehr hohen Einkommen blieb der Anteil von Einkommensaufstiegen weitgehend
konstant. In dieselbe Richtung weist die Betrachtung von Einkommensabstiegen, die
insbesondere in der unteren Mittelschicht und im Niedrigeinkommensbereich in den
vergangenen Jahren beachtlich zugenommen haben. Besonders hervorzuheben ist der
Trend zu einer Verfestigung von Armut am unteren Rand der Gesellschaft. Sie ver-
weist auf einen Prozess zunehmender Blockierung von Lebenschancen und damit
einer dauerhaften sozialen Ausgrenzung größerer Bevölkerungsteile vom gesellschaft-
lichen Wohlstand."964
"Personen, die fünf Jahre hintereinander kontinuierlich über sehr geringe Einkommen
verfügen und gleichzeitig von mehrfachen Lebenslagendeprivationen (beispielsweise
Arbeitslosigkeit und Wohndeprivation) betroffen sind, werden der "Zone der verfes-
tigten Armut" zugeordnet. Der Anteil der Personen in dieser Zone lag in der Fünfjah-
resperiode von 1984 bis 1988 noch bei sechs Prozent und verweilte bis in die 1990er
Jahre auf diesem Niveau. Seither ist ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen. In
den letzten vier Fünfjahresperioden lag er bereits bei zehn Prozent der westdeutschen
Bevölkerung. Angesichts der grundsätzlichen Untererfassung von Personen in ausge-
prägten Armutslagen in Umfragen ist dies ein beachtlich hoher Wert. Geradezu alar-
mierend ist jedoch die Ausdehnung der Zone der verfestigten Armut in Ostdeutsch-
land. Während sie nach der Wiedervereinigung mit vier Prozent der ostdeutschen
Bevölkerung deutlich kleiner ausfiel als im Westen und noch bis Ende der 1990er
Jahre hinein unter dem westdeutschen Vergleichswert blieb, stieg sie seither auf einen
Anteil von zwölf Prozent der ostdeutschen Bevölkerung an.
Personen, die in einer Fünfjahresperiode überwiegend geringe Einkommen und ein-
zelne Lebenslagendeprivationen (zum Beispiel Arbeitslosigkeit) aufweisen, werden
der "Zone der Prekarität" zugeordnet. Diese umfasst über den gesamten Zeitraum
hinweg in West- wie in Ostdeutschland nochmals etwa zehn bis elf Prozent der Per-
sonen. Diese armutsnahe und stets gefährdete, aber gleichwohl noch nicht in die ver-
festigte Armut abgerutschte Personengruppe hat jedoch nicht signifikant zu- oder
abgenommen. Dasselbe gilt für die kleineren Personengruppen der "temporären Ar-
mut" (Personen, die in einer Fünfjahresperiode starke Schwankungen zwischen guten

963
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2015), EBENDA
964
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2015), EBENDA

349
Zur Geschichte der Sowjetunion

Jahren und schlechten Jahren, jeweils auf Einkommen und Lebenslagen bezogen,
erfahren) und der "inkonsistenten Armut" (Personen, die dauerhafte Inkonsistenzen
zwischen Einkommens- und Lebenslagen aufweisen). Das Ergebnis widerspricht
deutlich der These einer "Verzeitlichung" der Armut, also der Erwartung, dass insbe-
sondere kurzfristige, vorübergehende Armutsepisoden zunehmen könnten. Vielmehr
zeigt sich, dass es die Zone der verfestigten Armut ist, die im Zeitverlauf deutlich
zunimmt."965
Bezüglich der Problematik des Begriffes "Elite" wurde einiges schon erklärt. Sieht
man davon, sowie von anderen bürgerlichen Entgleisungen, ab, sind die erwähnten
empirischen Tatsachen nicht von der Hand zu weisen. Wir haben gesehen, dass es
nicht ausreicht, z. B. als Arbeiterkind zu promovieren, um in die deutsche Elite auf-
genommen zu werden. Daher lässt sich folgendes Resümee ziehen:
"Die soziale Herkunft beeinflusst den Zugang zu Elitepositionen nicht nur indirekt
über den Bildungserfolg, sondern auch ganz unmittelbar. Die vom funktionalistischen
Mainstream der Eliteforschung vertretene Position, die Rekrutierung der Eliten erfol-
ge vorrangig anhand der individuellen Leistung, hat sich nicht bestätigt. Auch die
Hoffnungen von Ralf Dahrendorf und den meisten anderen Eliteforschern, die Bil-
dungsexpansion mit ihrer sozialen Öffnung der Hochschulen würde an der dispropor-
tionalen Rekrutierung der Eliten Wesentliches verändern, haben sich dementspre-
chend nicht erfüllt. Vielmehr ist es - ganz im Gegenteil - bei den untersuchten Promo-
tionskohorten sogar zu einer weiteren sozialen Schließung gekommen, und das vor
allem in der Wirtschaft. Mit Ausnahme des zuletzt genannten Bereichs bietet die
Potsdamer Erhebung ein ähnliches Bild. In der Politik, der Verwaltung, den Massen-
medien, der Kultur oder beim Militär - überall hat sich der Prozentsatz der Elitemit-
glieder, die aus dem Bürgertum stammen, (mehr oder minder deutlich) erhöht.[35] Da
die von den Potsdamern festgestellte Öffnung in der Wirtschaft aus erhebungstechni-
schen Gründen weit an der Realität vorbeigeht[36] - eigene Untersuchungen kommen
auf einen mit über 80 Prozent nicht nur doppelt so hohen, sondern zudem noch leicht
steigenden Anteil der Bürgerkinder -,[37] kann von einer sozialen Öffnung der deut-
schen Eliten keine Rede sein. Die Bildungsexpansion hat nur den Zugang zu den
Bildungsinstitutionen erleichtert, nicht aber den zu den Elitepositionen." 966
"Ökonomische Ungleichheiten haben in Deutschland signifikant zugenommen. Sie
gehen jedoch nicht mit mehr, sondern mit weniger ökonomischer Mobilität einher.
Während am oberen Rand eine Konzentration von Spitzeneinkommen und Vermögen
stattfindet – begünstigt durch eine entsprechende Steuerpolitik – verfestigt sich am

965
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2015), EBENDA
966
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2004), Ebenda

350
Zur Geschichte der Sowjetunion

unteren Rand die Armut auf dramatische Weise. Diese Polarisierungen der Sozial-
struktur sind eingebettet in eine anhaltend hohe Chancenungleichheit im deutschen
Bildungs- und Berufssystem. (…)Besonders alarmierend ist die abnehmende Auf-
stiegsmobilität aus Armut, und dies obwohl die aktivierende Sozialpolitik gerade auf
diese setzt. Alarmierend ist aber auch die regelrechte Vernichtung von Aufstiegschan-
cen in Ostdeutschland. Es ist davon auszugehen, dass die jüngeren Tendenzen einer
langfristigen Verfestigung von Armut den in Ostdeutschland bereits deutlich erkenn-
baren, im Westen sich erst ansatzweise abzeichnenden Rückgang der intergeneratio-
nalen Aufstiegsmobilitäten weiter verschärfen werden – darauf deuten auch Analysen
zur Entwicklung von Jugendarmut, in der sich ein zunehmender Effekt der sozialen
Herkunft beobachten lässt."967
Eine OECD-Studie belegt, dass Kinder aus Deutschland nach wie vor schlechte Aus-
sichten auf Erfolg haben. Es dauert nämlich laut der Studie 6 Generationen (180 Jah-
re!) bis Nachkommen einkommensschwacher Familien das Durchschnittseinkommen
erreichen. Damit liege der Wert für Deutschland unter dem Durchschnitt für OECD-
Länder (5 Generationen). Ein entscheidender Aspekt liege hierbei im deutschen Bil-
dungssystem:
"53 Prozent der Kinder, deren Eltern einen höheren Abschluss haben, erreichen laut
OECD selbst einen höheren Abschluss. Dies schaffen aber nur elf Prozent der Kinder
mit niedrig gebildeten Eltern. Fast jedes zweite Kind einer Führungskraft wird selber
einmal Führungskraft, verglichen mit nur einem von vier Kindern aus Arbeiterfami-
lien."968
Eine Studie scheint dem zu widersprechen. Das Institut für Deutsche Wirtschaft (IW)
behauptet, dass das Aufstiegsversprechen der "sozialen" Marktwirtschaft immer noch
bestand habe, da "90% der Söhne von Vätern aus dem niedrigsten Einkommensviertel
(…) ein höheres Einkommen [erreichen] als ihre Väter." Das IW behauptet: " Es gibt
keine empirisch überzeugende Studie für Deutschland, die das Auseinanderdriften der
Schere zwischen Arm und Reich belegt". Sie machen es daran fest, dass die Männer
der Jahrgänge 1928 - 1954 ein reales durchschnittliches Arbeitseinkommen von
41.000 Euro im Jahr hatten, während ihre Söhne (Jahrgänge 1955 - 1978) knapp
45.000 im Jahr verdienen. 969 Dass ein "arbeitgebernaher" Verband gegenteiliges be-

967
BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (2015), Ebenda
968
NTV (15.6.2018): https://www.n-tv.de/politik/Sozialer-Aufstieg-dauert-sechs-Generationen-
article20482345.html die OECD-Studie findet sich hier: OECD(2018): https://read.oecd-
ilibrary.org/social-issues-migration-health/broken-elevator-how-to-promote-social-
mobility_9789264301085-en#page68
969
DEUTSCHLANDFUNK (15.01.2018): https://www.deutschlandfunk.de/einkommensmobilitaet-
in-deutschland-rund-60-prozent.766.de.html?dram:article_id=408349

351
Zur Geschichte der Sowjetunion

hauptet, sollte einen nicht verwundern. Es ist nur fragwürdig, warum sie nicht spätere
Generationen untersuchten (also jene nach 1978), in ihrer Untersuchung nur west-
deutsche Männer mit einbezogen, also Frauen und Ostdeutsche ausgelassen haben.
Ob Migranten in der Studie eine Rolle spielten bleibt ebenso offen, wie die Frage
welche Rolle die Existenz der DDR als Sozialstaat hatte, die die BRD dazu zwang,
höhere Löhne zu zahlen und sich um eine bessere soziale Absicherung zu kümmern.
Der IW entschuldigt sich für diese Auslassungen aufgrund "methodischer" Fragestel-
lungen, da es ja "erhebliche Veränderungen in der Erwerbsbeteiligung von Frauen"
gebe und somit diese "eine andere Integration in die Erwerbswelt" haben. 970 Auf gut
deutsch heißt das nichts weiter als: Man blendet die Gruppen heraus, die das Bild der
"schönen, sozialen Marktwirtschaft" zerstören können, in der "jeder" soziale Auf-
stiegschancen habe. Nebenbei spielen nicht nur Einkommenssteigerungen eine Rolle -
dass der Lebensstandard durch eine höhere Konsumtion gestiegen ist, stellt keiner in
Frage. Die Autoren berücksichtigen also lediglich die absolute Mobilität, lassen die
relative jedoch außer Acht. Sozialer Aufstieg beinhaltet mehr, wie die oben zitierten
Beispiele der Bundeszentrale für politische Bildung zeigen. In den "Nachdenkseiten"
kann man über den IW (nebst anderen Propagandaorganisationen der Bourgeoisie)
folgendes erfahren: "Das IW behauptet: 'Bildungsabschlüsse: Mehr Aufsteiger als
Absteiger'
Wie im konservativen Lager üblich, will man von der bestehenden Ungleichheit der
Einkommensverteilung und der auseinandergehenden Lohnschere ablenken. Man
ergreift die Flucht in eine bessere Zukunft durch das Versprechen des (künftigen)
Aufstiegs durch Bildung. Der Fluchtpunkt ist deshalb 'Chancengerechtigkeit' in der
Bildung.
Interessant ist dabei die Altersgruppe der Bildungsaufsteiger, die das IW für seine
Behauptung heranzieht – nämlich die 35- bis 44-Jährigen. Also diejenigen, die vor 10
oder gar 20 Jahren ihren (formalen) Bildungsgrad abgeschlossen haben. Diese Alters-
gruppe profitierte noch von den Ausläufern der damaligen Bildungsexpansion.
Blickte man jedoch auf die 25- bis 34-Jährigen, so sieht das Bild ganz anders aus.
Nach der jüngsten OECD-Publikation 'Bildung auf einen Blick' erreichen nur 20 %
dieser Altersgruppe ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern und 22 % verschlech-
tern sich sogar. Im OECD-Durchschnitt steigen dagegen viel mehr, nämlich 37 %
bildungsmäßig auf und nur 13 % steigen gegenüber ihren Eltern ab.
Deutschland landet bei den Chancen auf sozialen Aufstieg durch Ausbildung auf
einem blamablen Rang 22 unter 31 untersuchten Ländern. Nach wie vor spielt das

970
DEUTSCHLANDFUNK (15.01.2018), ebenda

352
Zur Geschichte der Sowjetunion

Vermögen der Eltern eine zentrale Rolle für den Erfolg der Kinder und die Herkunft
spielt für sozialen Aufstieg eine stärkere Rolle als vor 30 bis 40 Jahren." 971
Keineswegs besser sieht es in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten,
aus, wo angeblich jeder Tellerwäscher zum Millionär werden kann. Schon eine flüch-
tige Untersuchung einiger wichtiger kapitalistischer Presseorgane beweist dies:
"The Atlantic" schreibt in einem Artikel vom 14. Juli 2016, dass "es immer schwerer
wird in Amerika aufzusteigen". Seit den 1980ern wird es immer schwieriger für die
Arbeiterklasse in der Lohnskala zu steigen. 972 Eine ganze Reihe von Studien belegen
diese Aussage.
Eine Studie von Jonathan Davis und Bhashkar Mazumder aus dem Jahr 2017 fand
heraus, dass der soziale Aufstieg der Geburtsjahrgänge 1957 - 1963 verglichen mit
jenen der Jahrgänge 1942 - 1953 deutlich geringer ausfällt. Als Ursache benennen die
Autoren, dass die Jahrgänge 1957 - 1963 nach 1980 in den Arbeitsmarkt eintraten, als
die sozialen Unterschiede in den USA stark anwuchsen. Die Generation 1942 - 1953
profitierte vom schnellen, aber kurzzeitigen Wirtschaftsboom in den USA nach dem
2. Weltkrieg.973 Die Ergebnisse von Davis & Mazumder spiegeln eine Studie der "St.
Louis Fed." wider, die zeigen konnte, dass die soziale Mobilität zwischen den Bevöl-
kerungsschichten in den USA geringer sei, als in vergleichbaren "reichen Staaten". 974
Die Einkommensverhältnisse seien mit jenen aus der Zeit der "Großen Depression
1929" vergleichbar. Sie beweisen, dass das Einkommen der reichsten 0,1% der US-
Amerikaner genauso hoch ist, wie das der Ärmsten 90%. Dabei können sie belegen,
dass die oberen 0,1% ihren Reichtum stark vermehren konnten, während die unteren
90% auf einem ähnlichen Niveau seit den 1980ern pendeln. Die Amerikanische Mit-
telklasse konnte nur wenig zugewinnen. Es fällt auch auf, dass ein Großteil des Reich-
tums der 0,1% durch Erbschaften ermöglicht wurde und nicht durch Unternehmens-
gründungen.975 Zu gleichen Ergebnissen kommt auch eine Studie von Michael D.
Carr & Emily E. Wiemers, zweier Ökonomen der Universität von Massachusetts,
Boston. Sie verwenden Einkommensdaten des Statistikamtes, um zu messen, wie
stark die Menschen im Verlauf ihrer Karriere ihr Einkommen steigern oder senken

971
NACHDENKSEITEN (17.5.2013) https://www.nachdenkseiten.de/?p=17287
972
The ATLANTIC (14.06.2016) https://www.theatlantic.com/business/archive/2016/07/social-
mobility-america/491240/
973
DAVIES, J. & MAZUMDER, B. (2017): https://www.minneapolisfed.org/institute/working-
papers/17-21.pdf
974
CHETTY, R. (2017):
https://www.stlouisfed.org/~/media/Files/PDFs/Community%20Development/EconMobilityPa
pers/Section1/EconMobility_1-1Chetty_508.pdf?d=l&s=tw
975
SAEZ, E. & ZUCMAN, G. (2014): http://gabriel-zucman.eu/files/SaezZucman2014.pdf

353
Zur Geschichte der Sowjetunion

konnten. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die Bildung der Menschen keine
Rolle spielt, sondern dass es die sozialen Hintergründe sind, die zählen. Menschen aus
wohlhabenden Familien haben deutlich größere Chancen, ihr Einkommen zu erhöhen,
als Menschen mit einem ärmeren Hintergrund. Welchen Bildungsabschluss man er-
worben hat, spielt keine Rolle. Dabei stellen sie auch fest, dass die Schwäche der
Gewerkschaftsbewegung einen Teil dazu beiträgt, dass der soziale Aufstieg für Men-
schen aus ärmeren Schichten schwerer wird. 976 Die soziale Mobilität zwischen den
Generationen stagniere seit den 1970ern. Jedoch ist seit dieser Zeit die Ungleichheit
gewachsen, was zur Folge hat, dass die Einkommensschicht, in die man hineingebo-
ren wird, stärkere Konsequenzen hat. 977 Tatsächlich ist die Rate der absoluten Mobili-
tät, die darauf hinweist, wie gut es einer Person im Vergleich zu seinen Eltern geht,
stark gesunken: 90% der Menschen, die 1940 geboren sind, sind finanziell besser dran
als ihre Eltern. Für jene, die 1980 geboren sind, beträgt der Wert nur 50%!978 Übri-
gens zeigen weitere Studien, dass der Generationeneffekt noch weiter zurückgeht.
Bezieht man nämlich in die Einkommensentwicklung auch die Großeltern- und Ur-
Großelterngeneration mit ein, ergibt sich das Bild, dass die soziale Mobilität in den
USA relativ starr ist. Das heißt: Die soziale Ungleichheit und der Mangel an sozialem
Aufstieg hält über mehrere Generationen an. 979
Eine Untersuchung von Chetty et al. (2014), die das Einkommen von 40 Mio. Kin-
dern und deren Eltern in den USA untersuchen, finden eine starke Korrelation zwi-
schen dem Einkommen der Eltern und deren Nachkommen. Das heißt, dass die Un-
gleichheit vererbt wird. Es gibt jedoch geographische Unterschiede, da in einigen
Regionen der USA Kinder besser sozial aufsteigen können als in anderen. Regionen,
in denen ein sozialer Aufstieg für Kinder aus den unteren Einkommensschichten
größer ist, dort gibt es z.B. geringere Einkommensunterschiede, bessere Grundschu-
len, eine höhere soziale Zusammenarbeit und stabilere Familienverhältnisse. Entspre-
chend spielt neben der Klasse, in die man geboren wird, auch die geographische Lage
eine wichtige Rolle.980

976
CARR, M. D. & WIEMERS, E. (2016): http://cdn.equitablegrowth.org/wp-
content/uploads/2016/05/03113002/carr_wiemers_2016_earnings-mobility1.pdf
977
CHETTY, R., HENDREN, N., KLINE, P., SAEZ, E., TURNER, N. (2014): http://www.equality-of-
opportunity.org/assets/documents/mobility_trends.pdf
978
CHETTY, R., GRUSKY, P., HELL, M., HENDREN, N., MANDUCA, R., NARANG, J. (2016):
http://www.equality-of-opportunity.org/papers/abs_mobility_paper.pdf
979
FERRIE, J., MASSEY, C., ROTHBAUM, J. (2016): http://www.nber.org/papers/w22635.pdf
980
CHETTY, R., HENDREN, N., KLINE, P., SAEZ, E. (2014): http://www.equality-of-
opportunity.org/assets/documents/mobility_geo.pdf

354
Zur Geschichte der Sowjetunion

Außerdem spielt es eine wichtige Rolle, ob man in den USA, "weiß" oder "schwarz"
ist. Generell haben die Minderheiten in den USA geringere Aufstiegschancen. Tat-
sächlich ist der soziale Abstieg bei Schwarzen und Indern wesentlich größer als bei
Europäern, Asiaten oder Hispanics. Schwarze Jungen, die in reichen Familien auf-
wachsen haben viel geringere Chancen, als Erwachsener in derselben Einkommens-
gruppe zu sein wie weiße Jungen aus vergleichbaren Verhältnissen. Nur 17% der
schwarzen Jungen bleiben als Erwachsene reich, währenddessen 21% arm werden.
Für weiße Jungen sind die Werte 39% (reich als Erwachsener) und 10% (arm als
Erwachsener).
Weiße, die in den unteren Einkommensschichten aufgewachsen sind, haben auch
höhere Aufstiegschancen als Schwarze. Dabei gibt es natürlich innerhalb der Minder-
heiten auch Unterschiede, da der Zeitpunkt der Einwanderung ebenso eine Rolle
spielt wie beispielsweise, ob man aus Mexiko oder El Salvador kommt. Schwarze
Männer haben geringere Aufstiegschancen als weiße Männer, doch der Unterschied
zwischen schwarzen und weißen Frauen ist gering. Unterschiede im Bildungsstand
oder der persönlichen Fähigkeiten der untersuchten Gruppen spielen keine Rolle. 981
Das alles sind gute Indikatoren dafür, dass ein sozialer Aufstieg für die Arbeiterklasse
praktisch nicht erfolgte - und das, obwohl die Wirtschaft in den USA wuchs und neue
Jobs kreierte (beispielsweise wurden in den USA im Oktober 2014 214.000 Arbeits-
stellen geschaffen).982 Von konservativen Politiker wird der Einkommensunterschied
kleingeredet, indem behauptet wird, die soziale Ungleichheit sei ein Vorteil, da so die
oberen 20% durch bessere Ausbildung ein höheres Einkommen erzielen. Die Ein-
kommensunterschiede seien also eine Ursache unterschiedlicher Bildung und diese
Unterschiede können angeblich durch bessere Bildung verringert werden. Jedoch
vergessen diese Kommentatoren, dass der Großteil der Einkommenszuwächse nicht
auf die obersten 20%, sondern auf die obersten 1% fällt. Die wirklichen Gewinner der
größeren Ungleichheit in den USA seien nicht gut ausgebildete Menschen aus der
oberen Mittelklasse, sondern eine kleine Gruppe von Superreichen, so Nicholas Buf-
fie vom "Center for Economic and Policy Research".983 Auch Thomas Pieketty findet

981
CHETTY, R., HENDREN, N., JONES, M. R., PORTER, S. R. (2018): http://www.equality-of-
opportunity.org/assets/documents/race_paper.pdf ;
AKEE, R., JONES, M. R., PORTER, S. R. (2017): http://www.nber.org/papers/w23733
NEW YORK TIMES (19.03.2018): https://www.nytimes.com/interactive/2018/03/19/upshot/race-
class-white-and-black-men.html
982
THE ECONOMIST (7. 11. 2014): https://www.csmonitor.com/Business/new-
economy/2014/1107/Economy-added-214K-jobs-in-October-unemployment-dips-to-5.8-
percent
983
BUFFIE, N. (2015): http://cepr.net/blogs/cepr-blog/note-to-david-brooks-it-s-all-about-the-1

355
Zur Geschichte der Sowjetunion

zwar heraus, dass seit 1970 das durchschnittliche Einkommen der US-amerikanischen
Arbeiter um 77% zunahm, die Inflation mit eingerechnet. Doch was erst mal positiv
klingt, relativiert sich durch die Tatsache, dass 50% der Haushalte während dieser
Zeit keinen Anstieg des Einkommens hatten und der Löwenanteil des Zuwachses auf
die obersten 1% fiel. Diese steigerten ihr Einkommen um 216%, während die unteren
90% ihr Einkommen nur um 30% erhöhen konnten.984 Thomas Hungerford (2011a,b)
berichtet, dass in den 1990ern die soziale Mobilität nach oben geringer war, als in den
1980ern.985 Das Sinken des Einkommens, wie auch die daraus resultierende Abnahme
des sozialen Aufstiegs, wird auch in der Studie von Katharine Bradbury (2011) ge-
zeigt.986
Auch eine Studie von Linda Levine (2012) bestätigt, dass die Einkommensunter-
schiede in den USA größer werden - zugunsten der "Reichen" (sprich der Bourgeoi-
sie). Ihre empirischen Daten belegen, dass der Glaube an einen sozialen Aufstieg in
den USA ein Mythos ist. Tatsächlich ist die USA eine sehr immobile Gesellschaft:
Kindern, die in armen Familien aufwachsen, ist es praktisch unmöglich, in der Ein-
kommensleiter aufzusteigen.987 Dies zeigt sich u. a. auch im Bereich der Wissenschaft
bzw. der Erfindungen. TV-Sendungen wie "Shark Tanks" oder dessen deutscher Ab-
leger "Höhle der Löwen" wollen einem weiß machen, dass man durch einige Erfin-
dungen zum Unternehmer oder gar Multimillionär aufsteigen könne. Man müsse nur
die richtigen Investoren finden und jeder mit ein bisschen Kreativität könnte durch
seine Erfindungen reich werden. Dies sei der ultimative Traum des sozialen Aufstiegs
im Kapitalismus - Apple-Erfinder Steve Jobs und Facebook-Gründer Mark Zucker-
berg seien ja die besten Beispiele dafür und werden zu Säulenheiligen erkoren. Doch
auch hier widerlegen empirische Daten diese Träumereien. Eine Studie von Alex Bell
et al. (2017), die 1,2 Mio. Erfindern aus Patentaufzeichnungen untersuchten, können
herausfinden, dass Kinder der obersten 1% der Bevölkerung eine 10 mal so hohe
Wahrscheinlichkeit haben, Erfinder zu werden, als Kinder der unteren Einkommens-
schichten. Ähnlich große Lücken finden sich auch bei Geschlechtern und Minderhei-
ten. Persönliche Fähigkeiten hingegen spielen keine Rolle.988

984
PIKETTY, T., SAEZ, E., ZUCMAN, G. (2016): https://equitablegrowth.org/economic-growth-in-
the-united-states-a-tale-of-two-countries/
985
HUNGERFORD, T. (2011A) https://jid.journals.yorku.ca/index.php/jid/article/view/17971
HUNGERFORD, T. (2011B): http://taxprof.typepad.com/files/crs-1.pdf
986
BRADBURY, K. (2011): https://www.bostonfed.org/publications/research-department-
working-paper/2011/trends-in-us-family-income-mobility-1969-2006.aspx
987
LEVINE, L. (2012):
988
BELL, A. CHETTY, R., JARAVEL, X., PETOVKA, N., VAN REENEN, J. (2017)
http://www.equality-of-opportunity.org/assets/documents/inventors_paper.pdf

356
Zur Geschichte der Sowjetunion

In welches College man kommt, ist ebenso abhängig vom Einkommen der Eltern.
Kinder der oberen 1% der Einkommensskala gehen 77 mal so häufig in eine Eliteuni-
versität als Kinder der unteren 20%. Zwar haben Kinder aus unteren Einkommens-
schichten, die ein College besuchen, nach ihrem Abschluss ein ähnliches Gehalt wie
jene der höheren Einkommensschichten. Jedoch ist der soziale Aufstieg in den Elite-
universitäten deutlich größer, was die Chance der niederen Einkommensschichten
nochmals reduziert.989
Auch in anderen kapitalistischen Ländern ist die soziale Mobilität gering. Ein Regie-
rungsbericht aus Großbritannien 2016 schildert die Tatsache, dass die Sozialmobilität
im Land sehr gering ist: die Reallöhne, das Einkommen und die Bildungschancen
sinken.990 In der italienischen Stadt Florenz sind die reichsten Familien aus dem Jahr
1427 auch im Jahr 2011 die reichsten. 991
Entsprechend wird also in kapitalistischen Staaten das Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln von Generation zu Generation weitervererbt. Zum Beispiel zeigt eine
Studie der 50 größten Unternehmen in den USA aus dem Jahr 1963, dass 53% ihrer
884 Direktoren ihre Position aus der amerikanischen Oberklasse geerbt hatten, wäh-
rend der Rest aus Akademikerfamilien der Mittelklasse entstammte. Auch die Top-
Manager, die nicht ihre Positionen vererbt bekommen hatten, entstammten den höhe-
ren Klassen.992 Eine Tatsache, die durch eine Reihe älterer wie auch jüngerer Studien
belegt wird:
Useem & Karabel (1986) untersuchten die Laufbahn von 2.729 hochrangigen Top-
Managern aus 208 Großkonzernen. Sie stellen fest, dass Absolventen, die aus der
"upper class" stammen, also aus der Bourgeoisie oder dem oberen Mittelstand, die
besten Chancen hatten hochrangige Top-Manager zu werden. Weiterhin waren gute
Kenntnisse über das Wirtschaftsrecht von Vorteil.993 Sollten es Nachkommen aus der
Arbeiterklasse schaffen, sozial aufzusteigen und Top-Manager werden, verdienen sie
häufig deutlich weniger (durchschnittlich 17%) als jene, die aus reichen Familienver-
hältnissen stammen.994 Das Gleiche gilt auch für Deutschland: 6500 Intellektuelle mit

989
CHETTY, R., FRIEDMAN, J. N., SAEZ, E., TURNER, N., YAGAN, D. (2017) http://www.equality-
of-opportunity.org/papers/coll_mrc_paper.pdf
990
GOV.UK (2016): https://www.gov.uk/government/publications/state-of-the-nation-2016
991
BARONE, G AND MOCETTI, S (2016)
992
SZYMANSKI (1979), S. 75
993
USEEM, M., KARABEL, J. (1986)
https://www.jstor.org/stable/2095515?seq=1#page_scan_tab_contents
994
LAURISON, D., FRIEDMAN, S. (2016)
https://works.swarthmore.edu/cgi/viewcontent.cgi?referer=https://www.google.de/&httpsredir=
1&article=1151&context=fac-soc-anth

357
Zur Geschichte der Sowjetunion

einem Doktortitel in Ingenieurswissenschaften, Jura und Ökonomie wurden auf ihre


soziale Zusammensetzung untersucht. Es zeigt sich, dass Inhaber eines Doktortitels
aus den oberen Klassen eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben in die Wirtschafts-
elite aufgenommen zu werden, als jene aus der Arbeiter- oder Mittelklasse. Darüber
hinaus zeigen die Ergebnisse, dass die Angleichung der Bildungschancen die Chancen
auf eine Rekrutierung für Elitepositionen nicht ausgeglichen hat.995
Anhand dieses kurzen Überblicks empirischer Daten zeigt sich, dass die soziale Rek-
rutierung der herrschenden Klasse eben aus dieser erfolgt. Aufstiegschancen für Ver-
treter der Arbeiterklasse sind nur vereinzelt vorzufinden, treffen aber auf die Masse
nicht zu. Die meisten Menschen im Kapitalismus sterben in der Klasse, in die sie
hineingeboren werden.996
Da der Staat eine Klassenorganisation ist und im Kapitalismus die Bourgeoisie die
herrschende Klasse ist, nutzt sie den Staat und seine Institutionen logischerweise
dazu, dass sie ihre Machtposition aufrechterhalten kann. Umso wichtiger ist es für die
herrschende Klasse, dass die Chancen für die Arbeiterklasse, sozial aufzusteigen, also
zur Bourgeoisie zu werden, extrem gering sein sollten. Logischerweise sind die Schu-
len und Universitäten danach ausgerichtet, die Klassenverhältnisse zu stützen. Dass
heute möglicherweise mehr Arbeiterkinder studieren können, rettet sie nicht aus ihrer
sozialen Lage.
Wir halten also fest: Das Recht auf Bildung ist sehr eng mit der sozialen Frage ver-
knüpft. Es reicht wohl offensichtlich nicht aus, ein Recht auf Bildung zu haben, wenn
das gesellschaftliche System auf das Privateigentum von Produktionsmitteln basiert.

6.2. Soziale Mobilität in der Sowjetunion


Wie sahen die Aufstiegschancen für die Arbeiterklasse in der Sowjetunion aus? Wir
haben an anderer Stelle festgestellt, dass die Sowjetunion zu Beginn ihrer Existenz
von der alten, zaristischen Bürokratie abhängig war. Szymanski (1979) gibt zu beden-
ken, dass es wichtig für Arbeiterklasse als herrschende Klasse in der Sowjetunion sei,
die höheren Positionen in Staat, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft aus eben dieser
Arbeiterklasse (und ihrer Verbündeten) zu rekrutieren. 997 Wenn die Sowjetunion ein
sozialistischer Staat war, müssen logischerweise die Verwaltungskader eben aus der
Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten stammen.

995
HARTMANN, M. (2010) http://iratde.org/issues/1-2010/tde_issue_1-2010_08_hartmann.pdf
996
PARENTI (2010), S. 30
997
SZYMANSKI (1979), S. 29

358
Zur Geschichte der Sowjetunion

Hier liefert eine soziologische Studie von William Chase und J. Arch Getty einige
interessante Erkenntnisse. Diese Arbeit gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass die
Bürokratie in der Stalin-Ära wohl nicht so weitumfassend war, wie gerne behauptet
wird. Es handelt sich um die Studie "The Soviet Bureaucracy in 1935: A Socio-
Economic Profile". Chase & Getty stellen z. B. fest, dass 1935 die sowjetische Büro-
kratie die soziale Zusammensetzung der Gesellschaft mehr repräsentierte, als dies z.
B. in Großbritannien oder Frankreich der Fall war. 998 In ihrer Studie stellen sie sich
die Fragen, welche sozialen Hintergründe die Bürokatie hatte, wie viele von ihnen
Mitglieder der Kommunistischen Partei waren und welche Bildung sie genossen. 999
Dabei werten sie einen Datensatz von 283 Staatsbediensteten der Sowjetunion aus,
die 1935 hohe Ämter im Staat innehatten. 83 von ihnen waren Vorsitzende von Be-
hörden, wie Kommissariaten, Gewerkschaften oder Trusten, 98 waren Mitglieder im
Zentralkomitee der All-Unions-Partei oder regionalen Parteien, 100 waren Mitglieder
oder Kandidaten von Präsidien innerhalb der staatlichen Behörden, 95 waren Vorsit-
zende von Abteilungen oder Kommissionen innerhalb der Behörden, zwölf waren
Vorsitzende von Unterabteilungen.
Aus den Datensätzen ergibt sich, dass einige Personen mehrere Posten hatten: 20%
hatten vier oder mehr Posten, 10% hatten drei, 20 % zwei und 50% nur einen Posten.
Dabei spezialisierten sich von den 283 Staatsbediensteten 46,3% auf die Arbeit im
staatlichen Sektor, 33,9% im ökonomischen und 20,1% im Partei-Sektor. 88,5% wa-
ren Mitglieder der KPdSU.1000
Bei der sozialen Zusammensetzung fällt eine deutliche Überrepräsentanz von Män-
nern auf, da nur 3,5% weiblich waren. Was die nationale Zusammensetzung angeht,
war sie jedoch repräsentativ für die Sowjetunion. 52,2% wurden in der RSFSR gebo-
ren, 17% in der Ukraine, was dem Bevölkerungsanteil entspricht (58% russisch,
16,4% ukrainisch). Georgier waren mit 9% überrepräsentiert, da sie sonst nur 1,3%
der Bevölkerung ausmachten. 57,5% entstammten aus dem Dorf oder aus Provinz-
städten, dagegen je nur 5,7% aus Moskau und Leningrad. 32,7% kamen aus Bauern-
familien, 22,6% aus Arbeiterfamilien, der Rest aus Familien der Intelligenz. 1001 Damit
war zwar die Intelligenz deutlich überrepräsentiert, was aber nicht wundern sollte.
Schließlich benötigt es einen gewissen Bildungsstand, um staatstragende Positionen
zu übernehmen. Außerdem sollten die sozialen Veränderungen seit der Oktoberevolu-
tion 1917 beachtet werden. So fällt auf, dass vor der Revolution über 60% Kinder von
Arbeitern und 13,8% von Bauern waren. 48,3% der Bauernkinder wurden später Ar-

998
CHASE, W. & GETTY, J. A. (1990), S. 198
999
CHASE & GETTY (1990), S. 192
1000
CHASE & GETTY (1990), S. 193 - 194
1001
CHASE & GETTY (1990), S. 194 - 195

359
Zur Geschichte der Sowjetunion

beiter.1002 1935 hatten die meisten ihre Bildung vor der Revolution erhalten und alte
Bolschewiki, also jene, die vor 1917 in die Partei eintraten, waren dominant vertreten
(65,5% der Parteimitglieder).1003 Eine ähnliche Repräsentanz der Bevölkerung entde-
cken Mawdsley & White (2000) für das Zentralkomitee 1939 in Bezug zur sozialen
Herkunft und nationalen Zusammensetzung (wenn auch die Russen und Ukrainer
leicht überproportional vertreten waren). 1004 Die Aufstiegschancen der Arbeiter- und
Bauernmassen werden durch diese Studien angedeutet.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Sheila Fitzpatrick in ihrer Arbeit über das
sowjetische Bildungssystem. Durch die Industrialisierung und durch die sowjetische
Bildungspolitik wurden massenhaft Arbeiter und Bauern ausgebildet und erlebten
einen sozialen Aufstieg: Sie wurden Manager oder Angestellte, Stachanow-Arbeiter,
Ingenieure und Professoren. Diese Berufsschichten - manche davon, wie wir gesehen
haben, böswillig als ausbeuterische Klasse definiert - wurden aus der Arbeiter- und
Bauernklasse rekrutiert.1005
Fitzpatrick begeht zwar ebenso den Fehler, hier von einer "neuen Klasse" zu spre-
chen, kommt aber zu durchaus positiveren Schlussfolgerungen. Ein Aufstieg wurde
nicht nur durch eine formelle Ausbildung vermittelt, sondern auch über Arbeitserfah-
rung. Von 483.676 Industrieverwaltern und Spezialisten im November 1933 waren
105.440 ehemalige Arbeiter, die während des Ersten Fünfjahrplans befördert wurden.
1937 waren 75% des Offizierskorps der Roten Armee bäuerlicher Herkunft oder ent-
stammten der Arbeiterklasse. Eine Untersuchung des technischen und Ingenieurper-
sonals in Swerdlowsk während der 60er Jahre ergab, dass jene über 50 Jahren zu
55,2% der Arbeiter- oder Bauernklasse entstammten, in Kazan sogar 74,6%. Aus
diesen Zahlen leitet Fitzpatrick ab, dass gut drei Viertel der Spezialisten Ende der
1930er Jahre aus der Arbeiter- und Bauernklasse entstammten. Ein Großteil davon
hatte diese Aufstiegsmöglichkeiten, als sie schon Erwachsene waren. 1006 Natürlich
profitierte auch die Kommunistische Partei von diesem sozialen Aufstieg. 1930 -
1933 wurden 666.000 Kommunisten, die als Arbeiter anfingen, in höhere Berufe und
Positionen befördert und im Januar 1937 gab es 105.000 Parteimitglieder mit einer
höheren Ausbildung (=Hochschulstudium), etwa zehnmal mehr als 1927. 45% aller
kommunistischen Hochschulabsolventen genossen eine höhere technische Ausbil-
dung, verglichen mit 7,8% im Jahr 1927. 1937 waren 47,3% aller kommunistischen

1002
CHASE & GETTY (1990), S. 195, 196
1003
CHASE & GETTY (1990), S. 197, 198
1004
MAWDSLEY, E., WHITE, S. (2000), S. 247 F.
1005
FITZPATRICK (1979, S. 234 FF.
1006
FITZPATRICK (1979), S. 240 - 241

360
Zur Geschichte der Sowjetunion

Spezialisten mit höherer Ausbildung als Arbeiter in die Partei eingetreten, 10% als
Bauern.1007
Auch wenn diese Zahlen beeindruckend sind: Die Mehrheit der Spezialisten, auch der
Ingenieure, waren keine Parteimitglieder und ein Großteil der Parteimitglieder keine
Hochschulabsolventen.1008
Fitzpatrick stellt zwar fest, dass 1938 33,9% der Studenten aus Arbeiterfamilien
stammten, was mehr war als der Anteil von Arbeitern in der Gesamtbevölkerung zu
dieser Zeit (26%). Doch gleichzeitig war die Zahl der Arbeiter-Studenten geringer als
während des Ersten Fünfjahrplans. Bauernkinder machten 21,6% der Studenten aus
und waren damit verhältnismäßig unterrepräsentiert. Büroangestellte ("white collar
workers") und die Intelligenz machten zwar 1938 17% der Gesamtbevölkerung aus,
doch 42,2% der Studenten. Sie waren also deutlich überrepräsentiert. Hinzu kommt,
dass 1940 geringe Studiengebühren für die Universitäten erhoben wurden. 1009
Gerne wird behauptet, die Einrichtung von Studiengebühren im Jahr 1940 sorgte
dafür, dass nur Kinder der Intelligenz in die Universität gehen konnten. 1010 Doch
dieser Vorwurf hat einige ernste Fehler. Laut Robert J. Osborn waren die Gebühren,
welche von 1940 - 1956 gezahlt wurden, verglichen mit den Löhnen gering, wurden
in einigen Fällen (z. B. wenn diese Gebühren nicht geleistet werden konnten) von den
Gewerkschaften gezahlt und die Stipendien, die jedem Studenten garantiert waren,
waren so hoch, dass die Zahlung der Gebühren kein großes Problem darstellte. 1011
Laut Osborn war der Grund für die Studiengebühren der, dass Studenten mehr Res-
pekt vor ihrer Möglichkeit haben sollten.1012 Weiterhin war es auch nicht so, dass alle
Studiengebühren zu zahlen hatten: Beispielsweise wurden jene Studienbewerber mit
guten Noten und Eignungstests von den Gebühren befreit. Die Gebühren waren also
Abhängig von den Noten.1013 Weiterhin wurden diejenigen Studenten, die in der Ro-
ten Armee gedient hatten oder Kinder von Kriegsbeschädigten oder Pensionsempfän-
ger waren, von den Gebühren befreit. Auch um die Heranbildung von Fachleuten in
den nationalen Republiken zu fördern, wurden die Studierenden von den Studienge-
bühren befreit. Dies galt für Studenten aus Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan,
Usbekistan, Aserbaidschan, Kara-Kalpakien, Dagestan, den baltischen Republiken,

1007
FITZPATRICK (1979), S. 241, 242
1008
FITZPATRICK (1979), EBENDA
1009
FITZPATRICK (1979), S. 235, 236
1010
VGL. CLIFF (1955), S. 52
1011
OSBORN (1970), S. 67
1012
OSBORN (1970), S. 67 - 68
1013
UNIVERSITY LABOUR FOUNDATION, S. 7

361
Zur Geschichte der Sowjetunion

Ukraine, Weißrussland, Moldawien und der Karelo-Finnischen Republik.1014 Die


Höhe der Stipendien lag je nach Semester und Studienfach zwischen 140 Rubel bis
400 Rubel (Nach Preisen von 1946).1015
Den Studenten der höheren Einrichtungen (Universitäten), die gute Noten erzielen
(das sind meisten um die 80%) wurde ein Stipendium garantiert, dass es schon ermög-
lichte, nach einem bis zwei Monaten die Studiengebühren abzubezahlen. Die Stipen-
dien waren steuerfrei und es gab auch weitere Vergünstigungen, z. B. geringe Mieten
für Studentenheime sowie Vergünstigungen bei Lebensmitteln. Studenten anderer
höherer Schulformen, z. B. technischen Schulen, Berufsschulen etc. konnten bei guten
Leistungen direkt in die Universitäten gehen. Dies schaffen jedoch nur etwa 5%. Der
Rest hat jedoch die Möglichkeit nach drei Jahren in der Produktion als Techniker,
Lehrer, Ausbilder etc. sich in einer Universität weiter zu qualifizieren. Inkeles (1950)
sieht darin eine Gefahr, dass Kinder von "Besserverdienern" leichter in die Universität
kommen, vergisst aber auch die Tatsache, dass auch alternative Werdegänge Teil der
sozialen Mobilität sind.1016
Fitzpatrick stellt die Frage, ob die im Verhältnis zur Intelligenz geringe Zahl der Ar-
beiterkinder in den Universitäten dafür sprach, dass die proletarische Klasse aufstei-
gen konnte. Sie kommt zu der wichtigen Erkenntnis, dass man durchaus davon spre-
chen kann:
Erstens war der erste Fünfjahrplan dazu gedacht, junge Erwachsene zu bilden. Viele
Bauern waren in der Lage, in die Arbeiterklasse aufzusteigen, jedoch noch nicht be-
reit, in die Intelligenz aufzusteigen. Jedoch waren jene, die als "echte Arbeiter" galten,
also jene, die aus Arbeiterklassenfamilien stammten und mehrere Jahre Arbeitererfah-
rung hatten, weiter aufgestiegen und übernahmen höhere Posten. Die freien Arbeits-
plätze wurden dann mit den Rekruten aus der Bauernschaft gefüllt und reichlich er-
weitert.
Zweitens war der Anteil der Verwaltungs- und Expertenstellen stark angestiegen.
Drittens war der Aufstieg in die Intelligenz, bzw. eine Universitätskarriere, nicht der
einzige Weg für Arbeiter und Bauern, sozial aufzusteigen. Da es einen Mangel an
Fachkräften gab, gleichzeitig aber immer neue ungebildete Arbeitskräfte aus der Bau-
ernklasse hinzukamen, war ein sozialer Aufstieg innerhalb der Arbeiterklasse unaus-
weichlich. Dazu zählte neben der Stachanowbewegung, die es ermöglichte, dass ein
Arbeiter mehr verdienen konnte als sein Vorgesetzter, auch das System der Arbeitsre-

1014
KAFTANOW, S. W. (1946), S. 45
1015
KAFTANOW (1946), S. 44, INKELES (1950), S. 474
1016
INKELES (1950), S. 473-476

362
Zur Geschichte der Sowjetunion

serven, welche Ende der 30er Jahre eingeführt wurden und jährlich etwa einer Mio.
Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren in die Ausbildung in der Industrie schickte.
Letzterer wird gerne vorgeworfen, dass dieses System Kinder aus der Arbeiterklasse
dazu gezwungen habe, in ihrer Klasse zu bleiben. Doch das ist laut Fitzpatrick anzu-
zweifeln. Denn der Großteil der Arbeitsreserven entstammte aus der Bauernschaft.
Kinder von Facharbeitern gehörten nicht zu der Arbeitsreserve und konnten es sich
auch leisten, in die Universität zu gehen, da die Studiengebühren gering waren.
Der vierte und letzte Punkt ist laut Fitzpatrick, dass die Schulen und Berufsschulen
während des zweiten und dritten Fünfjahrplans massiv ausgeweitet wurden. So gab es
im Sommer 1938/39 drei Mal mehr Schüler in den Klassen 5-7 als 1931/32 und dop-
pelt so viele wie 1933/34. Auch die Sekundärschulen (Klasse 8 - 10, Berufsschulen,
Technikum) expandierten. Ein technisches Mindestmaß wurde für viele Berufe einge-
führt, und es wurden Kurse eingerichtet, um Facharbeiter und Vorarbeiter auszubil-
den. 1938 hatten 4,3 Millionen Arbeiter und 570.000 technische und Verwaltungska-
der solche Kurse absolviert. Während des Zweiten Fünfjahrplans hatten alleine in
Moskau 1,2 Millionen Arbeitskräfte Kurse absolviert, das entsprach einem Drittel der
damaligen Moskauer Bevölkerung. Das Ende des Ersten Fünfjahrplans zeigte also
keineswegs ein Ende des sozialen Aufstiegs der Arbeiterklasse an. 1017
Die Größe der sowjetischen Intelligenz vervierfachte sich zwischen 1926 und 1937.
Im selben Zeitraum war die Zahl der Manager 4,6 mal so hoch, die Zahl der Ingenieu-
re und Architekten das 7,9 mal und die Zahl der wissenschaftlichen Fachkräfte (inklu-
sive Professoren) 5,9 mal. Im Bereich der Landwirtschaft wurden 580.000 Stellen, die
meisten davon neu geschaffen, von Kollektivfarm-Vorsitzenden und ihren Stellvertre-
tern besetzt. Auch weitere Formen der Weiterbildung wurden geschaffen: 1938 nah-
men 6.580.500 Leute außerhalb der Universitäten und Mittelschulen an Weiterbil-
dungsprogrammen in der Industrie teil, um ihre Fähigkeiten zu verbessern, davon
300.000 als Ausbildung zum Vorarbeiter und Stachanow-Arbeiter. In der Landwirt-
schaft nahmen 1937-38 über 1,2 Mio. Menschen an Weiterbildungskursen teil und
wurden z. B. Traktoristen, Mechaniker, Tierarzthelfer, Brigaden-Leiter etc. Ein großer
Gewinner solcher Maßnahmen waren die Frauen, deren Zahl unter den Arbeitskräften
im Zeitraum 1928-1938 von 28 auf 38% stieg. In den Universitäten stieg ihre Anzahl
sogar von 28 auf 43% und in den fachbezogenen Mittelschulen von 37 auf 51%.1018
Wie weitreichend die Ausbildung in der Sowjetunion war, zeigt eine Tabelle in Ale-
xander Baykovs Buch: Januar 1937 betrug die Anzahl der sowjetischen Intelligenz
9.591.000 Menschen. Dazu zählten Betriebsdirektoren & Manager (350.000), Ingeni-

1017
FITZPATRICK (1979), S. 236 - 239
1018
INKELES (1950), S. 468 - 469

363
Zur Geschichte der Sowjetunion

eure (250.000), Technisches Personal (850.000), Professoren & Wissenschaftler


(80.000), Journalisten und andere kulturelle und öffentliche Arbeiter (297.000), Ärzte
und anderes medizinisches Personal (514.000), Buchhalter (1.617.000), Ökonomen
(822.000), Universitäts-Studenten (550.000), Juristen (46.000) usw. Diese hunderttau-
sende von Menschen gehören zu jenen, die ihre Ausbildung während des Ersten und
Zweiten Fünfjahresplans erhalten haben. Die Anzahl der bürgerlichen Intellektuellen
aus vorrevolutionärer Zeit ist so in die Bedeutungslosigkeit geraten. 1019
Alex Inkeles (1950), der die Einführung der Studiengebühren und der Arbeitsreser-
ven, nebst anderer Maßnahmen der sowjetischen Regierung (z. B. Änderungen des
Steuersystems und Auszahlung verschiedener Preise für hohe Verdienste), als eine
Einschränkung der sozialen Mobilität sieht, muss mehrmals eingestehen, dass die
Sowjetunion in den 1940ern ein praktisch offenes Klassensystem mit einer hohen
sozialen Mobilität hatte.1020 Auch Maßnahmen, dass Manager und Vorarbeiter teil-
weise aus den Universitäten bevorzugt werden und Facharbeiter in diese Positionen
erst aufsteigen, wenn es an Universitätsabgängern mangelt, sollen nicht so verstanden
werden, dass die soziale Mobilität der Arbeiter eingeschränkt wurde. Die Intention
solcher Maßnahmen war es eher, dass Universitätsabgänger ihre Fähigkeiten auch in
der Produktion einsetzen und so mehr Praxiserfahrung sammeln sollen. Da jedoch die
Zahl solcher Manager- und Vorarbeiterposten höher war, als die der Universitätsab-
gänger, hatten auch Facharbeiter hohe Chancen aufzusteigen. Beispielsweise waren
1940 Geschäftsleiter in der Industrie nur zu 22% welche mit einer Universitätsausbil-
dung, bei den stellvertretenden Geschäftsleitern waren es 32%.1021 Auch die Arbeits-
reserven sind laut Inkeles (1950) nicht zwingend als eine Beeinträchtigung der sozia-
len Mobilität zu sehen, da sie jene berücksichtigte, die keine Mittelschulen besuchten,
großteils Schüler aus dem landwirtschaftlichen Bereich. Dabei erhielten sie nicht nur
eine sehr gute technische Ausbildung, sondern wurden auch in höhere Lohnstufen
eingegliedert als ungelernte Arbeiter. Außerdem mussten sie für ihre Ausbildung
keine Gebühren bezahlen und wurden mit Räumlichkeiten, Verpflegung und Klei-
dung. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass die Schüler, die am System der Ar-
beitsreserven teilnahmen, ohne diese Maßnahme sozial aufgestiegen wären. 1022
Es gibt natürlich einige "kritische" Stimmen, die dazu neigen diese Verdienste klein-
zureden. Beispielsweise schreibt Robert Daniels (1988), dass diese neuen Rekruten
"schlecht ausgebildet" waren und in die sowjetische bürokratische Hierarchie die
"schlimmsten Eigenschaften der alten russischen Kultur" mitbrachten. Die neuen

1019
BAYKOV (1948), S. 465
1020
INKELES (1950), S. 469, 472, 476
1021
INKELES (1950), S. 477, Fußnote 65
1022
INKELES (1950), S. 473

364
Zur Geschichte der Sowjetunion

sowjetischen Intellektuellen seien "autoritär, anti-intellektuell, xenophob und anti-


semitisch."1023
Moshe Lewin (1985) gibt ähnliche negative Kommentare über die "bäuerlich" gepräg-
te Intelligenz, die eine "kollektive Psychologie der Bauern" gehabt hätte, basierend
auf " ihr früheres Stadium in der Geschichte der Zivilisation." 1024 Und Loren Graham
(1993) fügt hinzu, dass es genau diese sowjetische Elite sei, die teilweise den Unter-
gang der Sowjetunion erkläre, da die Sowjetunion nicht in der Lage gewesen sei, ein
modernes Industrieland zu werden.1025
Nun kann man sicherlich einwenden, dass die Ausbildung einiger Kader, verglichen
mit einigen heutigen Elite-Universitäten, schlechter war. Sicherlich wirkten auch die
Traditionen der alten Gesellschaft nach, die nicht von heute auf morgen überwunden
werden können. Doch in diesen Kommentaren spiegelt sich der bürgerlich-reaktionäre
Snobismus wider, wenn diese bürgerlichen Intellektuellen versuchen, die Ausbildung
der sowjetischen Kader herunterzuspielen. Wie diese angeblich schlecht ausgebildete
neue sowjetische Intelligenz es schaffen konnte, die Sowjetunion zur zweitstärksten
Industriemacht aufsteigen zu lassen und gar den 2. Weltkrieg gewinnen zu zu lassen,
steht offensichtlich in den Sternen. Und dass die kapitalistische Elite immer besonders
gut ausgebildet und alles andere als autoritär, xenophob und anti-intellektuell ist - das
beweisen doch geistreiche Koryphäen der amerikanischen politischen Elite, wie
George W. Bush, Sarah Palin und Donald Trump.
Fitzpatrick (1979) hält dem entgegen, dass diese sozialen Aufsteiger, sowohl "rot" als
auch "Experten" waren. Sie waren "hoch motiviert, sehr fleißig und hatten eine ernste
Einstellung zur Bildung." 1026 Es waren die Werktätigen, nachdem sie eine gute und
solide Bildung erhalten haben, die in Führungspositionen traten. Interessant ist dabei,
dass während der Säuberungswelle 1937/38 ein Großteil dieser sozialen Aufsteiger
wichtige Posten in der Partei übernahmen, während die alte oberste Führungsschicht,
besonders im Bereich der Industrie und Regierung, ausgewechselt wurde. Die neuen
Rekruten entstammten der Arbeiter- oder Bauernklasse und waren besser ausgebildet
und besaßen Arbeitserfahrung.1027

1023
DANIELS, R. V. (1988), S. 78 vgl. auch DANIELS, R. V. (1993), S. 71
1024
LEWIN, M. (1985), S. 52 - 54
1025
GRAHAM, L. (1993), S. 73, 102
1026
FITZPATRICK (1979), S. 252
1027
FITZPATRICK (1979), S. 252. Fitzpatrick gibt den sozialen Aufstieg anhand von zwei Bei-
spielen wider: P. K. Ponomarenko und A. S. Tschujanow, beide Mitte 30, die als einfache
Arbeiter und Parteimitglieder aus bäuerlichen Familien anfingen und Ende der 30er Jahre bis in
die höheren Parteiebenen aufgestiegen sind (S. 243 - 244)

365
Zur Geschichte der Sowjetunion

Granick weist desweiteren auch nach, dass viele erwachsene Arbeiter Abendschulen
besuchten. In einer Moskauer Fabrik in den 50er Jahren besuchten etwa 28% der
Arbeitskräfte solch eine Abendschule. 1028 Daraus ist zu schließen, dass der Drang
nach Weiterbildung auch bei schon ausgebildeten Fachkräften vorhanden war und
gefördert wurde. Das zeigte sich dann entsprechend auch am Alter des Leitungsper-
sonals: Mitte der 30er Jahre waren nur 3-12% des sowjetischen Managements über 50
Jahre alt. In den USA waren 1928 57% über 50 Jahre, 1952 67%. 1029
Dieser soziale Aufstieg hielt auch nach der Stalin-Zeit an, wenn auch nicht mehr in
den Dimensionen.
In den 1960er Jahren waren, je nach Universität, 40-50% der Studenten Kinder aus
der Arbeiterklasse (bei etwa 60% der Bevölkerung). Studenten aus Familien der Intel-
ligenz machten 40-50% aus, während der Anteil der Studenten aus Kollektivbauern-
Familien etwa 10% ausmachte.1030
Eine Studie in der Oblast von Nowosibirsk aus dem Jahr 1962/63 gibt bekannt, dass
71% der Kinder der Intelligenz und 60% der Industrie- und Bauarbeiter angaben, Teil
der Intelligenz zu werden, während nur 25% der Intelligenz und 35% der Arbeiter
anstrebten Arbeiter zu werden.1031
Eine Studie aus Swerdlowsk (1966) zeigt, dass 94% der Intelligenz, verglichen mit
65% der Arbeiter eine höhere Bildung für ihre Kinder anstrebten.1032 Hingegen zeigte
I. P. Trufanov, dass in Leningrad 80% der Kinder von Konstrukteueren Handarbeit
ablehnten.1033
1965 kamen in Leningrad nur 35% des hohen wissenschaftlichen und technischen
Personals und 63% der Verwaltungs- und Staatsangestellten aus der Arbeiter- oder
Bauernklasse. Dieselbe Studie bestätigt, dass 20% der erwachsenen Nachkommen des
Leitungspersonals und 26% des hohen wissenschaftlichen und technischen Personals
in der Intelligenz waren, verglichen mit 10% der Nachkommen einfacher Arbeiter
und 14,3% der Facharbeiter.1034

1028
GRANICK (1960), S. 258
1029
GRANICK (1960), S. 137 - 138
1030
YANOWITCH (1977), S. 89, 90; RUTKEVICH, M. N. & FILIPPOV, F. R. (1970/1973), S. 248
1031
MATTHEWS (1972), S. 263
1032
YANOWITCH (1977), S. 71
1033
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 158
1034
SCHKARATAN (1970B/1973), S. 294, 300

366
Zur Geschichte der Sowjetunion

Eine andere Leningrader Studie zeigt, dass 42% der Spezialisten Väter hatten, die
Arbeiter waren, während 31% Väter hatten, die ebenfalls Spezialisten waren. 1035
Eine Befragung in einer Universität im Ural in den 60ern belegt, dass die Hälfte der
Studenten aus der Arbeiterklasse kam. 42% des medizinischen Instituts dieser Univer-
sität entstammten dieser Schicht. Das Bergbau-Institut in Swerdlowsk hatte 60%
Studenten aus der Arbeiterklasse. 1036
Dobson (1977) kann zeigen, dass einige Universitäten leichter Arbeiterkinder auf-
nahmen, als andere. Höher angesehene Universitäten hatten höhere akademische
Standards, weswegen der Eintritt in solche Institutionen schwieriger war. 1037 Entspre-
chend hatten Partei, Soziologen und Regierung der UdSSR in den 1960ern beschlos-
sen, die soziale Zusammensetzung der Universitäten zu kontrollieren. So wurden
Förderkurse bereitgestellt, um Studienabbrechern, Schulabgängern aus ländlichen
Regionen und Schulabgängern, die schon ein Jahr gearbeitet haben, Abhilfe zu ver-
schaffen. Durch solche Maßnahmen konnte der Anteil der Arbeiter und Bauern in
einigen Universitäten ansteigen.1038
Eine Untersuchung von O. P. Drozdova in einer Leningrader Fabrik im Jahr 1973
stellt fest, dass weniger als 16% der Manager verschiedener Positionen aus Familien
mit höherer Bildung stammten.1039 Eine weitere Studie von Yu. V. Arutyunyan in
Kazan zeigt dasselbe Bild.1040 In den ländlichen Regionen der tatarischen autonomen
Sowjetrepublik (Tatarische ASSR) ergibt eine Befragung, dass der Großteil (70%) der
Nachkommen einfacher Arbeiter ebenfalls als einfache Arbeiter tätig waren und nur
ein kleiner Teil (8%) Verwaltungsangestellte wurden. Doch zum einen war der Anteil
der befragten Arbeiter nicht repräsentativ und ein Großteil der Dorfintelligenz der
Tatarischen ASSR entstammte tatsächlich der Arbeiterklasse. Weiterhin neigte die
Intelligenz in dieser autonomen Republik dazu, vom Land in die Städte zu ziehen,
dessen Mobilität in der Befragung nicht berücksichtigt wurde. 1041
In den Fabriken des Uralgebirges erläutern Rutkevich und Fillippov, dass nur 5% der
Spezialisten aus Familien stammten, die ebenfalls "Spezialisten" waren, der Rest
entstammte der Arbeiterklasse, niederen Angestellten und der Bauernschaft. 1042

1035
YANOWITCH (1977), S. 109
1036
PARKIN (1971), S. 166
1037
DOBSON, R. B. (1977), S. 315
1038
DOBSON (1977), S. 316
1039
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 157
1040
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 157
1041
DOBSON (1977), S. 306 - 307
1042
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 158

367
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gleichzeitig zeigen sie jedoch, dass die "höheren Spezialisten" eine höhere Rate der
Selbstreproduktion hatten. In einer Fabrik im Uralgebirge, dem Pervouralsk Rohpro-
duktions-Kombinat wurden 87% der "praktischen Spezialisten" ohne konkrete Aus-
bildung und 83% der Techniker aus einfachen Arbeitern rekrutiert, verglichen mit
53% der Ingenieure. Dennoch ein sehr hoher Anteil, der zeigt, dass die soziale Mobi-
lität immer noch hoch war. 1043 Andererseits berichtet der Direktor des Magnitogorsker
Metallurgie-Kombinates 1977, dass 192 von 200 des führenden Personals des Kom-
binates ihre Karriere als Arbeiter begannen. 1044 Tatsächlich wurden besonders die
administrativen Berufe in der Industrie von einfachen oder besser ausgebildeten Ar-
beitern gefüllt, wo hingegen Studenten der Universitäten keine hohe Präferenz für
Berufe hatten, bei denen man "Leute führen muss", wie eine Befragung in Estland aus
dem Jahr 1971 belegt.1045 Brzezinski & Huntington (1964), sowie Fisher (1968)
kommen zu der Schlussfolgerung, dass in der UdSSR die Einstellung von Arbeits-
kräften aus der Arbeiter- und Bauernklasse in politisch-administrative Tätigkeitsfelder
wesentlich höher war, als in den USA. 1046 Katz (1973) hebt dabei den politischen
Aspekt hervor: Der Parteiapparat war ein wichtiger Bereich, bei dem Arbeiter und
Bauern Aufstiegsmöglichkeiten hatten.1047
Es zeigt sich also, dass im politisch-administrativen Bereich, wie auch im technischen
Bereich, die Arbeiterklasse immer noch hohe Aufstiegschancen hatte. Das gilt übri-
gens auch für Schriftsteller und Künstler: Studien in Weißrussland, Tscheljabinsk,
und Swerdlowsk ermitteln, dass viele Schriftsteller und Kunstschaffende aus der
Arbeiterklasse stammen. Architekten und Komponisten hingegen wurden seltener aus
der Arbeiterklasse rekrutiert. Der Grund hierfür dürfte zum anderen an der schwere-
ren Ausbildung liegen und auch durch die Tatsache, dass Arbeiter und Bauern größe-
res Interesse für Literatur zeigen als z. B. für klassische Musik. 1048
Auch bei den Grundschul- sowie Mittelschullehrern war der Anteil der Arbeiterklasse
in den 1960ern in Nischni Tagil (am Uralgebirge) recht hoch (66% bzw. 46%). 1049
Eine Studie von G. Kh. Popov und G. A. Dzhavadov ergründet, dass 70% aller Minis-
ter und Leiter von Staatskomitees ihr Arbeitsleben als Arbeiter oder Bauern begannen
während 50% der Direktoren der größten Industriebetriebe früher Arbeiter waren. 1050

1043
DOBSON (1977), S. 308, vgl. auch RUTKEVICH, M. N. & FILIPPOV, F. R. (1970/1973)
1044
HOUGH, J. F. & FAINSOD, M. (1979), S. 563
1045
DOBSON (1977), S. 309
1046
BRZEZINSKI, K. P., HUNTINGTON, S. P. (1964)
1047
KATZ, Z. (1973)
1048
DOBSON (1977), S. 309 - 310
1049
DOBSON (1977), S. 308
1050
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 158

368
Zur Geschichte der Sowjetunion

1971 sagte Breschnew, dass 80% der Sekretäre der republikanischen Zentralkomitees,
der Zentralkomitees der "Oblast"- und "Krai"-Parteiorganisationen, der Vorsitzenden
der Ministerräte der Republiken sowie die Exekutivkomitees der regionalen Sowjets
ihre Karrieren als Arbeiter oder Bauern begannen. Bei den Ministern der UdSSR und
den Vorsitzenden der Staatskomitees waren es 70%. Eine groß angelegte Studie des
Parteiapparates von 29 Rayon und Stadt-Komitees aus 7 Republiken konstatiert, dass
82,6% des Personals aus der Arbeiter- und Kollektivbauernklasse stammte oder selbst
(56,3%) diesen Klassen angehörten (d. h. ihre erste Arbeitsstelle begannen sie als
Arbeiter oder Bauern).1051
Andere Studien bringen in Erfahrung, dass die höheren Schichten des Managements
aus einer höheren sozialen Schicht stammten.1052 N. A. Aitov diagnostiziert, dass in
der Stadt Ufa die soziale Zusammensetzung der mittleren und höheren Spezialisten
sich über drei Generationen mehr vermischte. Wurden in der ersten Generation 76%
der Kinder ebenfalls Intellektuelle, waren es in der dritten Generation nur noch 30%.
Andererseits wurden in Aitovs Stichprobe nur 9,6% der Arbeiter Intellektuelle. 1053
1939 hatten 15,9 Mio. Menschen eine höhere oder sekundäre Schulbildung, 1959
waren es 58,7 Mio., 1967 84,5 Mio. oder 80,5% aller Arbeitskräfte des Landes. 1054
Kenneth Farmer verweist darauf, dass die Kinder der politischen Elite selten rein
politische Karrieren absolvierten. Sie wurden hauptsächlich Künstler, Ingenieure oder
Wissenschaftler. Es war also tatsächlich die Regel, dass Kinder der politischen Füh-
rung nicht automatisch selbst in dieser Führung ihren Berufswerdegang absolvierten.
So wurde quasi eine "Erbschaft" der politischen Positionen vermieden. In der Hin-
sicht konnte die politische Führung nach Aussagen von Anatolii Sobchak als "demo-
kratisch" bezeichnet werden, da sie zum Ziel hatte, Menschen aus allen Bevölke-
rungsschichten aufzunehmen.1055
Von den 47 Regierungsministern in der UdSSR Mitte der 60er Jahre hatten 40% El-
tern in der Arbeiterklasse und 27% in der Bauernklasse, 15% hatten untere Büroarbei-
ter als Eltern und 18% Eltern aus der Intelligenz.1056 Das Zentralkomitee von 1966,
von dem von 74% der Mitglieder Informationen über die soziale Herkunft bekannt
sind, hatten 36% Eltern aus der Arbeiterklasse, 47% Eltern aus der Bauernklasse und

1051
HOUGH & FAINSOD (1979), S. 563
1052
MATTHEWS (1978), S. 158
1053
Zitiert in MATTHEWS (1978), S. 158
1054
RUTKEVICH & FILIPPOV (1970/1973), S. 245
1055
FARMER (1992), S. 176, MAWDSLEY & WHITE (2000), S. 260
1056
LANE (1971), S. 126

369
Zur Geschichte der Sowjetunion

16% aus der Intelligenz.1057 Eine andere Studie von 185 Mitgliedern des Zentralkomi-
tees weist darauf hin, dass jüngere Kader eher aus der Intelligenz stammten. So waren
von jenen, die zwischen 1900-9 geboren waren, 45% aus Arbeiterfamilien, 41% aus
Bauernfamilien und 14% aus Familien der Intelligenz oder Büroarbeitern.
Von jenen, die zwischen 1910-18 geboren sind, stammten 26% aus der Arbeiter-,
39% aus Bauernklasse und 35% aus der Intelligenz. Dabei zeigte sich auch, dass der
Bildungsgrad der Kader höher war.1058 Matthews (1978) betont, dass 51 Kinder von
Mitgliedern des Politbüros (1953 - 1975) hauptsächlich Berufe in den oberen Reihen
der Intelligenz annahmen, aber nicht unbedingt die Schwelle der "sowjetischen Elite"
betraten (die für Matthews etwa 0,2% der Bevölkerung der UdSSR ausmachten). Nur
sieben der 51 Politbüro-Nachkommen übernahmen Leitungsfunktionen oder höhere
Posten. Die meisten übten Berufe als Journalisten, im Militär oder in der Forschung
aus.1059 Die Daten von Matthews stimmen also mit jenen von Farmer (1992) und
Mawdsley & White (2000) überein. Auch Nove (1975) stellt fest, dass die Kinder der
oberen 20.000 sowjetischen Führer nicht dieselben Berufe ausüben wie ihre Eltern.
Genauso wenig haben sie denselben Rang wie ihre Eltern.1060 Weiterhin wurden die
Vertreter der politischen Führung während ihrer beruflichen Laufbahn in verschiede-
nen Bereichen eingesetzt - regional wie auch in unterschiedlichen Arbeitsbereichen.
Auch das verhinderte, dass sich feste Familienzirkel ausbildeten. 1061 Tatsächlich hatte
eine Mitgliedschaft im Zentralkomitee der KPdSU oder in anderen Bereichen der
politischen Führung nicht sonderlich viele Vorteile und Privilegien. Sicherlich waren
die hohen Positionen angesehen und erleichterten den Zugang zu einigen seltenen
Waren oder größeren Wohnungen. Andererseits war ihr Gehalt nicht viel größer als
der von anderen Vertretern der Intelligenz, teilweise sogar weniger. Hinzu kamen
auch lange Arbeitszeiten und ein damit erhöhtes Stressrisiko.1062 Gleichzeitig waren
jedoch eine Reihe politischer Führer, besonders in den späten Jahren der Sowjetunion,
in korrupte Machenschaften und unnötigen Ausschweifungen involviert. 1063 Hierbei
handelt es sich jedoch um illegale Machenschaften, die nichts mit den "Idealen" des
Systems zu tun hatten.
Kinder der Spezialisten, die etwa 14% der Bevölkerung ausmachten waren jedoch
proportional stärker in den Universitäten vertreten. Dies hat jedoch nichts mit einer

1057
LANE (1971), S. 122
1058
LANE (1982), S. 120
1059
MATTHEWS (1978), S. 159 - 163
1060
NOVE, A. (1975):
1061
MAWDSLEY & WHITE (2000), S. 261
1062
MAWDSLEY & WHITE (2000), S. 264 - 265, 273
1063
MAWDSLEY & WHITE (2000), S. 266

370
Zur Geschichte der Sowjetunion

Erbschaft der sozialen Position zu tun. Vielmehr liegt die Ursache darin, dass Kinder
in diesen Familien ein besseres Lernumfeld verfügen als Kinder von Nicht-
Spezialisten.1064
David Burg, der von 1951 - 1956 Student in Moskau war, machte die Beobachtung,
dass die sowjetische Intelligenz erbbedingt sei, d. h. im wesentlichen Kinder aus der
Intelligenz in die Universitäten gingen. Das gelte besonders für "Prestige-
Universitäten", die nur von Studenten der sowjetischen Elite besucht werden. 1065 Burg
liefert jedoch keine Statistiken, weswegen seine Beobachtungen schwer zu überprüfen
sind. Desweiteren haben wir weiter oben gesehen, dass ein Universitätsstudium nicht
der einzige Weg war, nach oben aufzusteigen.
Es gibt jedoch einige Studien, die andeuten, dass die soziale Mobilität in der Sowjet-
union seit den 1970ern geringer wurde, sich die Verhältnisse also stabilisierten.
Yastrebov (2016) kann anhand seiner Daten ersehen, dass die berufliche Mobilität in
der Sowjetunion einen Aufwärtstrend vorwies (d. h. man konnte beruflich Aufstei-
gen), diese Tendenz aber für die Geburtsjahrgänge 1960-1966 bei den Männern sank.
Dabei ist jedoch anzumerken, dass diese ihre beruflichen Karrieren zum Ende der
Sowjetunion begangen haben. 1066 Auch die Bildungsschranken scheinen gestiegen zu
sein, besonders für die höhere Universität-Ausbildung, sodass Yastrebov zu der
Schlussfolgerung kommt, dass zwar die Sowjetunion ideologisch von der Gleichheit
sprach, diese aber besonders nach dem zweiten Weltkrieg nicht wirklich förderte, vor
allem im Vergleich mit den früheren Perioden.1067 Zajda (1980) geht zwar davon aus,
dass die soziale Mobilität zwischen den unteren Klassen durch die sekundäre und
tertiäre Ausbildung möglich sei. Jedoch sei es immer schwieriger bildungstechnisch
aufzusteigen, je höher man gesellschaftlich aufsteigen will. Der generelle Trend be-
stehe darin, so Zajda, dass Kinder von Kolchosbauern einfache Arbeiter werden,
einfache Arbeiter werden zu Facharbeitern und Technikern. Der Aufstieg in die sozia-
le Elite sei jedoch schwieriger.1068 Gerber & Hout (1995) kommen zu der Erkenntnis,
dass im russischen Teil der Sowjetunion die sekundäre Ausbildung zwar stark an-
steigt, die höhere (insbesondere in den Universitäten) jedoch nicht mithält. 1069 In einer
Länderstudie über die Sowjetunion ist zu lesen, dass sowjetische Studien der 1960er-
1980er Jahre zeigen, dass 4/5 der Kinder von ungelernten Arbeitern ihre Karrieren

1064
BERGSON (1984), S. 1086
1065
BURG, D. (1961), S. 80 - 81
1066
YASTREBOV, G. (2016), S. 14
1067
VGL. YASTREBOV (2016), S. 19, 28
1068
ZAJDA (1980) https://www.jstor.org/stable/3098547?seq=1#page_scan_tab_contents
1069
GERBER, T.P. & HOUT, M. (1995)
https://www.jstor.org/stable/2781996?seq=1#page_scan_tab_contents

371
Zur Geschichte der Sowjetunion

ebenso als ungelernte Arbeiter begangen. 1070 Teckenberg (1983) erwähnt, dass Kin-
dern von Angestellten der soziale Aufstieg leichter fällt als Arbeiterkindern, die auch
häufiger das Studium abbrechen. Gleichzeitig "gelangen Kinder von qualifizierten
Arbeitern, wie es scheint, leichter in politisch leitende Positionen über längere Funk-
tionärstätigkeit in den Organen der Gewerkschaft und Betriebsleitung". Arbeiterkin-
der waren auch häufiger in Ingenieursposten zu finden als in Akademikerposten. 1071
Teckenberg schlussfolgert demnach:
"Noch während der 60er Jahre war es rückblickend legitim, von großen sozialen
Wandlungsphänomenen in der UdSSR zu berichten, und die These vom Charakter der
Gesellschaftsformation als Übergangsgesellschaft konnte durchaus empirisch belegt
werden. (…) Ende der 70er Jahre verstärkt sich dann eher der Eindruck einer Konso-
lidierung, die sich besonders auch in der gebremsten Umwandlung der Berufsstruktur
niederschlägt. Während sich in Polen die Arbeiterklasse erst noch herausbildet, rekru-
tiert sich die neue Generation in der UdSSR bereits aus den eigenen Klassen, ja man
spricht bereits von –Arbeiterdynastien. (…) Der Anteil der nicht manuell Beschäftig-
ten, der 1959-1970 um fast 8 Prozent stieg, hatte zwischen 1970 und 1979 nur noch
einen Anstieg von knapp 3 Prozent zu verzeichnen. (…) Auch in anderen Bereichen
scheint das Sozialsystem konsolidiert. Die Urbanisierung ist - abgesehen von einigen
wirtschaftlich bedingten Großprojekten - abgeschlossen und folgt insgesamt, ebenso
wie der Ausbau der Betriebe, nur noch langsam systemimmanenten und von Produk-
tivitätsgesichtspunkten geleiteten Entwicklungstendenzen zur Großorganisation, (…)
Die soziale Situation der UdSSR kann somit als 'solide Festgefahren' bezeichnet wer-
den, was aus sowjetischer Perspektive - mit Blick auf unruhige Nachbarn - den Vor-
teil haben dürfte, daß sich auch keine großen Konflikte abzeichnen.
Deshalb sehe ich in der Sowjetunion eine Formation eigenen Typs, für die die Be-
zeichnung 'Ständegesellschaften' eine unter anderen Vokabeln ist, die das Wiederer-
wachen berufsständischer Gruppierungen nach der Phase ökonomischer Umverteilung
besser erfasst als der Begriff 'Übergangsgesellschaft'. Die Differenzierungen haben
stabilisierenden Charakter/und die Verteilungen lassen sich immer weniger nach
zentralen und autonomen Zielen verändern." 1072
Marshall, Sydorenko & Roberts (1995) fügen sogar hinzu, dass die sowjetische Ge-
sellschaft nicht "außergewöhnlich offen" war, sondern eher stabil und mit Großbri-

1070
ZICKEL, R. (HRSG., 1989), S. 227 - 228
1071
TECKENBERG (1983), S. 426, 429 - 430
1072
TECKENBERG (1983), S. 431 - 434

372
Zur Geschichte der Sowjetunion

tannien vergleichbar sei.1073 Diese Bemerkungen von Marshall, Sydorenko & Roberts
(1995) und der Vergleich mit Großbritannien dürfte hinsichtlich der oben zitierten
Studien der ungleichen Entwicklungschancen im Kapitalismus stark übertrieben sein.
Beispielsweise behaupten sie, dass, basierend auf den Studien sowjetischer Soziolo-
gen, zwei Drittel der Kinder aus Arbeiterfamilien immer noch Arbeiter blieben. Fol-
gerichtig heißt das, dass ein Drittel der Arbeiterkinder Spezialistenberufen nachgin-
gen.1074 Damit dürfte die Zahl größer sein, als in den meisten kapitalistischen Staaten.
Aber Marshall, Sydorenko & Roberts (1995) geben immerhin zu, dass man auch ihre
Daten (repräsentative Umfragen vom etwa 1700 Menschen im russischen Teil der
Sowjetunion) nicht zu viel hineininterpretieren sollte. Es ist auch übrigens nicht zu
vergessen, dass man auch innerhalb der Klasse sozial aufsteigen könnte, wenn man z.
B. politische Ämter übernimmt (vgl. Zitat von Teckenberg).
Teckenbergs Schlussfolgerungen wirken ebenso verstörend, wenn er über "Über-
gangsgesellschaften" und "Ständegesellschaften" paraphrasiert. Teckenberg ist Anhä-
nger der "Industriegesellschaft", also der veralteten und nichts aussagenden bürgerli-
chen Theorie, die meint, dass in Industriestaaten Klassenunterschiede nicht mehr
gelten und sich so sozialistische Staaten und kapitalistische Staaten durch die Produk-
tivkraftentwicklung annähern.
Dobson (1977) kritisiert, dass die soziologischen Studien in der UdSSR nicht zwi-
schen den Geschlechtern unterscheiden, da nach ihm Männer und Frauen unterschied-
liche Berufskarrieren starten. Da jedoch nach ihm Mädchen besser in der Schule ab-
schneiden und eher dazu neigen eine höhere Schulbildung zu erreichen 1075, kann dies
nur als eine Mobilität zugunsten der Arbeiterklasse gewertet werden, weil somit mehr
Mädchen aus der Arbeiterklasse in eine höhere Ausbildung kommen. Desweiteren
kritisiert Dobson, dass in der Sowjetunion keine IQ-Tests durchgeführt wurden.1076
Hier können wir nur dankbar sein, dass sich die Sowjetunion dieser reaktionären
Maßnahme widersetzte, da die Aussagekraft von IQ-Tests gleich Null ist und sie
heutzutage nur von rechten Ideologen benutzt werden, um die Überlegenheit der
"Weißen Rasse" zu demonstrieren.
Offensichtlich haben diese Kritiker, die der Sowjetunion vorwerfen wollen, dass die
soziale Mobilität gering war, auch ein falsches Verständnis der marxistischen Kon-
zeption der Gleichheit. So wie das Kapitel über die soziale Differenzierung gezeigt

1073
MARSHALL, G., SYDORENKO, S. & ROBERTS, S. (1995)
https://www.jstor.org/stable/23745899?seq=1#page_scan_tab_contents
1074
MARSHALL, G., SYDORENKO, S. & ROBERTS, S. (1995), S. 4
1075
DOBSON (1977); S. 318
1076
DOBSON (1977), S. 318

373
Zur Geschichte der Sowjetunion

hat, ist es kein kommunistisches Prinzip, dass jeder den gleichen Lohn erhält. Genau-
so wenig behauptet der Marxismus, dass jeder derselben Tätigkeit nachgehen soll. Da
die Arbeiterklasse als solches ein hohes Ansehen in der Sowjetunion hatte, war es
keine Schande, als Arbeiter zu enden. Entsprechend war es aufgrund dieser Tradition
keine Seltenheit, dass man auch innerhalb der Klasse blieb, in die man hineingeboren
wurde. Gesamtgesellschaftlich ist es ohnehin unmöglich, dass jeder Verwaltungska-
der oder Künstler wird. Ziel der kommunistischen Gesellschaft ist es ja, dass unab-
hängig von der Berufswahl jeder sich aktiv am Staat und der Gesellschaft beteiligt.
Das System der Diktatur des Proletariats schafft eine ganze Reihe solcher Möglich-
keiten, dass auch "eine Köchin es versteht, den Staat zu leiten." 1077
Betrachtet man all diese Studien in ihrem Gesamtzusammenhang, entsteht jedoch
folgendes Bild:
Die meisten Studien zeigen, dass Kinder aus der Arbeiterklasse die wichtigsten Rek-
ruten für Verwaltungspositionen sind, während ein Großteil der wissenschaftliche
Intelligenz selbst aus der Intelligenz entstammt. Es ist offensichtlich, dass Betriebslei-
ter, Gewerkschaftsfunktionäre, Parteifunktionäre, Ingenieure und technisches Perso-
nal zu einem großen Teil aus der Arbeiterklasse rekrutiert wurden. Dies ist zum einen
nicht verwunderlich, da es mehr Gemeinsamkeiten zwischen diesen Teilen der Intelli-
genz und der eigentlichen Arbeiterklasse gibt, da sie im Bereich der Produktion tätig
sein, als z. B. im künstlerischen und akademischen Bereich. Auch wenn ein nicht
geringer Teil der Intelligenz Eltern in derselben sozialen Klasse hat, war der Anteil
der Arbeiter, die sozial aufgestiegen sind, auch noch in den 60ern und 70ern ziemlich
groß, zumindest größer als in den kapitalistischen Staaten (Vergleich oben zitierte
Studien). Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Grenzen zwischen
den verschiedenen Klassen bzw. der Intelligenz und den unteren Klassen fließend
war.
Entsprechend können jene Autoren, die behaupten, die sowjetische Gesellschaft sei
nicht so offen oder in ihrer sozialen Mobilität stabil, nicht bestätigt werden.
Sicherlich war die soziale Mobilität in den 1960ern und 1970ern geringer als in den
1930ern, sie war aber denn relativ hoch. 1078 Das sollte jedoch nicht verwundern, wenn
man berücksichtigt, dass die Industrialisierung der 1930er ein höheres Potential bot,
soziale Veränderungen durchzusetzen. Weiterhin scheinen die Autoren zu vergessen,
dass ein sozialer Aufstieg nicht zwangsweise bedeutet in die Akademie der Wissen-
schaft aufgenommen zu werden. Der Aufstieg eines Facharbeiters zu einem Gewerk-
schaftsfunktionär ist sicherlich ebenso begrüßenswert. Berücksichtigt man die größere

1077
Über die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten siehe: KUBI (2015)
1078
Vgl. z. B. DOBSON (1977)

374
Zur Geschichte der Sowjetunion

Jobsicherheit, wie auch die soziale Absicherung und die vielfältigen Formen der de-
mokratischen Mitbestimmung im Betrieb, ist eine geringer werdende soziale Mobili-
tät nicht zwangsweise negativ. Natürlich sollte aber erwähnt werden, dass stagnieren-
de soziale Verhältnisse auch ihre Schattenseiten haben, da sie Entwicklungspotentiale
einer Gesellschaft hemmen können. Die politische Entartungen in der KPdSU, die
auch zu Gorbatschow führten, könnten ihren Anteil dazu beigetragen haben.
Leopold Labedz schreibt in seiner Studie über die sowjetische Intelligenz, dass diese
sowohl nach Marx als auch nach Mosca (einem bürgerlichen Soziologen und Eliten-
theoretiker) keine herrschende Klasse sei. Auch wenn sie einen gewissen Grad an
Gruppeninteresse hatte, habe sie (zumindest bis in die 60er) nicht die Macht gehabt,
mit der Kommunistischen Partei zu konkurrieren, um ihre eigenen Interessen durch-
zusetzen. Zwar beeinflusste der höher werdende Anteil der Intelligenz in den Reihen
der Partei die Parteipolitik, doch er bestimmte sie nicht. Das von der Partei durchge-
setzte egalitäre Prinzip in der Lohnentwicklung, die Erhöhungen des Mindestlohns
und die Sozialpolitik sprechen z. B. gegen einen sehr starken Einfluss durch die Intel-
ligenz. Es ist eher so, dass die Partei die Intelligenz durch das Nomenklatura-System
kontrollierte, als andersrum.1079
Das spricht zum einen gegen die Entstehung einer neuen Klasse, wie auch der For-
mierung einer in sich abgeschlossenen Elite, wie wir sie im Kapitalismus kennen.
Frank Parkin (1971) erwähnt:
"Es ist unzweifelhaft der Fall, dass der Großteil der Kinder der 'neuen Klasse' die
Stellung der Eltern durch Bildungserfolge wiederholen. Aber es scheint genauso
wahr, dass eine große Anzahl von Arbeiterkindern immer noch höhere Bildungsein-
richtungen besuchen und wissenschaftliche Karrieren beginnen." 1080
"Es gibt beachtliche Beweise dafür, dass (…) [das] (…) Bild der UdSSR als Land der
Möglichkeiten immer mehr in der sowjetischen Popkultur hervorspringender wird.
Tatsächlich kann keine unvoreingenommene Untersuchung des täglichen sowjeti-
schen Lebens es verfehlen aufzuzeigen, dass dieser Glaube von der Bevölkerung
akzeptiert wird, mit Vorbehalten bei der älteren Generation, aber normalerweise
ziemlich vollständig und widerspruchslos bei der Jugend."1081
Lane und O'Dell (1978) postulieren: "In der Sowjetunion gibt es viele alternative
Routen für jene, die gewillt sind eine spezialisierte oder höhere Bildung zu erhalten.
Abendschulen und andere Formen des Teilzeit-Studiums sind wichtige Möglichkeiten

1079
LABEDZ, L. (1961), S. 76
1080
PARKIN (1971), S. 166
1081
GEIGER, K. (1968), S. 164

375
Zur Geschichte der Sowjetunion

für jene, die durchfallen, womit sie immer noch im Rennen bleiben; selbst wenn sie
ihre Kurse nicht zu Ende bringen haben sie noch eine andere Chance und sie tendie-
ren dabei ihr Misserfolg auf sich selbst zu projizieren, und nicht auf das System." 1082
Hough & Fainsod (1979) bemerken, dass Behauptungen, dass seit Ende der 1930er
der soziale Aufstieg für Arbeiter und Bauern aufgehört haben soll, nicht stichhaltig
seien. Zum einen kreierte die sowjetische Industrialisierung auch weiterhin so viele
gehobene Arbeitsstellen, dass sie unmöglich alle von den Kindern der Intelligenz
besetzt worden sein können. Weiterhin konnten durch Abendschulen, die von vielen
Erwachsenen besucht wurden, größere Aufstiegsmöglichkeiten gegeben werden als
durch den konventionellen Weg über die Universität. 1083
Gerber & Huot (2004) erwähnen, dass zum Ende in der Sowjetunion 76% der russi-
schen Männer und 85% der russischen Frauen in eine andere Klasse oder Schicht
aufsteigen konnten.1084 Dies zeigt, dass noch bis zum Ende der Sowjetunion die sozia-
le Mobilität relativ hoch war und das Schicksal, welches man im Kapitalismus hat -
sozialer Abstieg oder über Generationen hinweg in den ärmeren Klassen zu bleiben,
einem verschont blieb.
Die oben zitierten Studien über die soziale Mobilität im Kapitalismus und in der Sow-
jetunion zeigen unmissverständlich, dass die "Bürokratie", die "Elite" oder wie man
es immer noch nennen will, ihre Klassennatur bei den Werktätigen hatte. Die Sowjet-
union rekrutierte ihre Verwaltungskader hauptsächlich aus der Arbeiterklasse!
Hierbei sind auch die Aussagen einiger "gestandener Antikommunisten" interessant.
So Roy Medwedew: "Zehntausende von Stachanowarbeitern wurden Betriebsdirekto-
ren. Gewöhnliche Soldaten wurden Heeres- und Kompanieführer, Kompanieführer
wurden zuständig für die Leitung von Bataillons und Regiments. Bataillon- und Re-
gimentführer stiegen dazu auf, ganze Divisionen und Armeen zu befehlen. Viele ge-
wöhnliche Wissenschaftler übernahmen Laboratorien und große Institutionen." 1085
Und Medwedew weiter: "Es ist bekannt, dass viele Führer der Partei und des Staates
als 'Volksfeinde' verhaftet wurden, aber zur gleichen Zeit entstanden überall neue
Schulen, Fabriken und Kultureinrichtungen. Militärführer wurden als Spione verhaf-
tet, aber die Partei gründete eine starke, moderne Armee. Wissenschaftler wurden als
Saboteure verhaftet, aber gleichzeitig entwickelte sich die sowjetische Wissenschaft

1082
LANE & O'DELL (1978), S. 92
1083
HOUGH & FAINSOD (1979), S. 562
1084
GERBER, T.P. & HOUT, M. (2004), S. 687
https://is.muni.cz/el/1423/podzim2009/SOC409/um/Gerber_Hout_2004.pdf
1085
MEDWEDEW, R. (1971), S. 300

376
Zur Geschichte der Sowjetunion

durch die Unterstützung der Partei rasant fort. Schriftsteller wurden als Trotzkisten
und Konterrevolutionäre verhaftet, allerdings erschienen einige Stücke, die echte
Meisterwerke waren. Führer der Republiken wurden als Nationalisten verhaftet, aber
die früher unterdrückten Nationalitäten entfalteten sich und die Freundschaft zwi-
schen den Völkern wuchs. Und dieser offensichtliche Fortschritt erfüllte die Herzen
der Sowjetmenschen mit Stolz, erzeugten Selbstbewusstsein in der Partei, die dies
organisierte und in dem Mann, der an der Spitze der Partei stand." 1086
Nicht zu vergessen die Aussage Isaac Deutschers, eines Trotzkisten: "In den fünf
Jahren von 1933 bis 1938 absolvierten über eine Millionen Verwaltungsbeamte,
Techniker, Ökonomen und andere Berufsstände die Hochschulen, eine enorme Zahl
für ein Land, deren gebildete Klasse früher nur eine dünne Schicht der Gesellschaft
ausmachte. Dies war die neue Intelligenz, die die offenen Reihen der gesäuberten und
leeren Ämter besetzten. Ihre Mitglieder (…) waren entweder den Mitgliedern dieser
alten Garde feindlich gesinnt oder gleichgültig deren Schicksal gegenüber. Sie stürz-
ten sich selbst mit Eifer und Begeisterung in ihre Arbeit, ungetrübt von vorherigen
Ereignissen."1087
Und Leonhard Shapiro, ein Ideologe des Kalten Krieges: "Der Sieg Stalins über seine
Gegner in der Parteiführung resultierte in der Eliminierung fast all jener, deren Ur-
sprung aus der Mittelklasse kam, die früher den größten Teil der Parteiführer aus-
machten. Alle 'Altstalinisten', mit der Ausnahme von Molotow, kamen aus der Arbei-
ter- oder Bauernklasse. Dieser bescheidene Ursprung war bei den Neo-Stalinisten
weniger offensichtlich: z. B. stammten sowohl Malenkow, als auch Schdanow, ver-
mutlich auch Beria, aus der Mittelklasse. Schaut man sich aber die Spitze der Partei
als solche an, ist es wahr zu sagen, dass Stalins Sieg von Männern gewährleistet wur-
de, die aus den sozialen Klassen kamen, in deren Namen die Revolution gemacht
wurde."1088
Auch ein Stalinfeind wie Wolkogonow kommt nicht umhin, die Erfolge Stalins zu
würdigen: "Bedeutende Veränderungen in der industriellen Entwicklung wurden
ausgearbeitet. Die Statistiken, wenn auch übertrieben, weisen darauf hin, dass Lenins
Elektrifizierungsplan für die Industrie erfüllt wurde. 1935 übertraf der Ausstoß in der
Schwerindustrie den Vorkriegsstand um das 5,6-fache. Den industriellen Zusammen-
bruch durchlebend, verursacht durch den Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg,
konnte das Volk nicht begeistert werden, außer durch den großen Energieaufwand
und kreativen Antrieb, hervorgerufen durch die Oktoberrevolution. Sie konnten voller

1086
MEDWEDEW (1971), S. 372
1087
DEUTSCHER, I. (1960), S. 384
1088
SHAPIRO, L. (1960), S. 443

377
Zur Geschichte der Sowjetunion

Stolz sagen 'Wir können es schaffen! Beenden wir den Fünfjahresplan in Vier!' Als ob
Stalins Worte 'Das Leben ist besser geworden, das Leben ist fröhlicher geworden'
bestätigt wurden, erschienen Ende der 30er hunderte neue Fabrikanlagen, Straßen,
Städte, Kulturpaläste, Erholungsheime, Krankenhäuser, Schulen und Laboratorien,
die die Landschaft veränderten. Die Statistiken zur Bildung sind sogar noch beeindru-
ckender. Es gab [in den 30ern] fast 7mal mehr Spezialisten mit Hochschulbildung als
1913, während jene Zahl mit Sekundärausbildung um fast das 28fache stieg." 1089
Um das Bild der sozialen Mobilität für die Arbeiter- und Bauernklasse in der Sowjet-
union abzurunden, sei noch ein kurzer Hinweis auf die Aufstiegsmöglichkeiten wäh-
rend der Zarenzeit und im kapitalistischen Russland nach der Konterrevolution er-
laubt. Nach Edeen (1960) hatten während der Zarenherrschaft höchstens 2-3% der
russischen Bevölkerung überhaupt die Möglichkeit, in den höheren Positionen, vor
allem im Staatsdienst, Karriere zu machen. Zum einen lag dies an der starken aristo-
kratischen Ordnung des russischen Staates, der nur einer begrenzten Anzahl von
"Auserwählten" die Möglichkeit bot, diese Karrieren zu begehen. Zum anderen be-
stand der Großteil der Bevölkerung aus Analphabeten, womit sie für solche Positio-
nen von vornherein disqualifiziert war. In den Offiziersschulen dominierten die Kin-
der der ranghohen Militärs und sogar im Beamtentum etablierte sich ein Kastensys-
tem, welches "Außenseitern" keine Karrieremöglichkeiten zuließ. In den Universitä-
ten dominierten ebenso die Kinder des Adels, der Offiziere oder der Staatsbeamten,
wenn auch besonders in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Studenten
aus der Bauernschaft und des städtischen unteren Kleinbürgertums zunahm. Diese
bildeten oftmals Teil der "ländlichen Intelligenz", die oftmals in Opposition zum
russischen Zaren-Staat stand.1090
Welche Auswirkungen hatte die Konterrevolution 1991 auf die soziale Mobilität?
Gerber & Hout (2005) kommen zu dem Schluss, dass der Übergang zum Kapitalis-
mus in Russland dieses Land in eine ökonomische Krise stürzte und viele Russen
einen sozialen Abstieg erlitten. Dies geschah u. a. durch den Abbau des Staatssektors
in der Wirtschaft, der viele Arbeitsplätze strich und die hohe Konkurrenz auf dem
Markt, welche eine begrenzte Zahl an Arbeitsplätzen anbot. Der neue russische Staat
schaffte die Maßnahmen ab, die die soziale Mobilität der Arbeiter und Bauern ermög-
lichte. Wenn auch die (späte) Sowjetunion laut den Autoren nicht die Chancengleich-
heit bot, die sie versprach, so war die sowjetische Gesellschaft doch um einiges ge-
rechter und erleichterte den sozialen Aufstieg für die Arbeiter- und Bauernklasse. Es
waren politische und ökonomische Veränderungen, die den sozialen Abstieg der

1089
VOLKOGONOV, D. (1991), S. 263-264
1090
EDEEN (1960), S. 279 - 281

378
Zur Geschichte der Sowjetunion

meisten Russen förderten und keine postulierte Generationenänderung (gemeint ist,


dass jüngere Leute die älteren ersetzten). 1091
Auch eine aktuelle Studie von Michelle Jackson und Geoffrey Evans (2017)1092 zeigt,
dass der Kapitalismus in den ehemals sozialistischen Staaten die soziale Mobilität
verringerte. Jackson und Evans untersuchten 13 Staaten 1093, die vom Sozialismus zum
Kapitalismus übergingen und verglichen die soziale Mobilität in den 90ern und den
späten 2000ern. Dabei fanden sie für alle untersuchten Staaten einen signifikanten
Rückgang der relativen sozialen Mobilität seit den 90er Jahren. Das heißt die Auf-
stiegschancen wurden geringer. Bezüglich der absoluten Mobilität hingegen gebe es
wenig Unterschiede zwischen den zwei Jahrzehnten, was so viel heißt, dass der Le-
bensstandard nicht signifikant angestiegen ist. Dies sei vor allem auf die Einführung
von Marktmechanismen zurückzuführen. 1094 Sie kommen zu der Erkenntnis: "Für
diese Länder wurde der Weg zum Markt nicht mit einer erhöhten Chancengleichheit,
sondern mit einer Verschärfung der sozioökonomischen Verbindung zwischen den
Generationen geebnet. Dieser Rückgang der sozialen Fluktuation scheint ein Merkmal
der Marktwirtschaft als solcher zu sein (…)." 1095
Dabei hatten die Länder, die am schnellsten Marktreformen einführten, die größten
Rückgänge der sozialen Mobilität zu verzeichnen. Diesbezüglich war der Rückgang
der sozialen Fluidität in Russland, also der "Offenheit" der russischen Gesellschaft,
vergleichsweise gering. Als Grund wird dafür genannt, dass die Marktreformen in
Russland langsamer vor sich gingen. Yastrebov (2016) kommt dabei zu ähnlichen
Ergebnissen.1096 Dass es bezüglich der "Offenheit" der russischen Gesellschaft und
damit zur sozialen Mobilität (vor allem der absoluten Mobilität) zwischen den 1990er
und 2000er Jahren keine großen Unterschiede gab, spricht dafür, dass sich die öko-
nomischen Grundlagen zugunsten der Kapitalistenklasse etablierten. Da seit der Pu-
tin-Ära weitere Reformen zugunsten des Marktes durchgesetzt wurden, stieg die sozi-
ale Ungleichheit an und dürfte das auch weiterhin. 1097 Die Konterrevolution in der
Sowjetunion führte somit zu einer Stagnation der sozialen Mobilität und zwingt die
russische Arbeiterklasse in die Armut! Das beweist zu guter Letzt eine Studie von

1091
GERBER & HOUT (2005), S. 688 - 689, 696
1092
JACKSON, M. V. & EVANS, G. (2017) https://www.sociologicalscience.com/download/vol-
4/january/SocSci_v4_54to79.pdf
1093
Belarus, Bulgarien, Tschechische Republi, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Moldavien,
Polen, Rumänien, Russland, Slowakei und Ukraine
1094
JACKSON & EVANS (2017), S. 54, 64, 69
1095
JACKSON & EVANS (2017), S. 72
1096
JACKSON & EVANS (2017), S. 73, YASTREBOV (2016), S. 29
1097
COOK, L.J. (2007)

379
Zur Geschichte der Sowjetunion

Shkaratan & Yastrebov (2012). Sie untersuchen dabei die Entwicklung der sozialen
Mobilität der späten Sowjetunion (Ende der 1970er), der "Übergangsphase" zum
Kapitalismus (1990er) sowie der stabilen Periode bis zur Finanzkrise (2007-2008).
Sie stellen fest, dass während in der Spätphase der Sowjetunion die soziale Mobilität
zu stagnieren begann, diese nach der Konterrevolution sank und das Problem auch in
den späten 2000er Jahren nicht gelöst wurde. Besonders hoch sei übrigens der Ab-
wärtstrend in den professionelleren Berufsgruppen, so auch der Intelligenz.1098

6.3. Über die Größe des Verwaltungsapparates


Denunziert man die Sowjetunion als "Diktatur der Bürokratie" ist die Frage berech-
tigt, wie groß denn nun dieser "monströse", "alles beherrschende" Verwaltungsappa-
rat des Staates eigentlich war. Es wird sich zeigen, dass die antikommunistischen
Demagogen nicht wirklich viel Essentielles beitragen.
Die in den anderen Kapiteln zitierten Abschnitte aus Trotzkis "Verratene Revolution"
haben dargelegt, dass Trotzkis Kritik am Bürokratismus weder Hand noch Fuß hat –
schon gar nicht aus marxistischer Sicht. Trotzkis pseudowissenschaftlicher Analyse
wurde deshalb so viel Raum eingeräumt, weil Trotzki mit seinen Werken als Galli-
onsfigur der antistalinistischen Kritik gilt, besonders bei linken Kritiken des „Stali-
nismus“.
Seine unwissenschaftliche Herangehensweise zeigt sich auch in Trotzkis These von
den sowjetischen "bürokratischen Schichten", die angeblich vom stalinistischen Sys-
tem profitiert haben sollen. Dazu gehören nach Trotzki natürlich die Parteiführung
sowie die Führung in der Armee, der Gewerkschaften und die Parteisekretäre und
andere Mächtige in der Partei. In der Summe seien dies etwa 500.000 Menschen.
Damit aber nicht genug. Unterhalb dieser Spitze folgen, so Trotzki, die Exekutivko-
mitees der Sowjets, die Beamten der GPU, Kommandeure in der Armee etc. Dazu
zählten laut Trotzki etwa zwei Millionen Menschen. Danach kämen die Betriebsdirek-
toren, Manager und ihre Repräsentanten in der Partei und den Gewerkschaften. Diese
sollen weitere 500.000 Menschen ausgemacht haben. Gefolgt würde diese Schicht
von der Schicht der Ökonomen, Techniker, Verwalter, Spezialisten in Industrie, Han-
del und Landwirtschaft. Hierbei handele es sich um fünf bis sechs Millionen Men-
schen. Außerdem müssten noch etwa sechs Millionen Stachanowarbeiter, Schock-
Arbeiter etc. hinzugefügt werden. Zähle man diese zusammen und rechne man die

1098
SCHKARATAN, O. I.; IASTREBOV, G. A. (2012); zum sozialen Abstieg der Intelligenz: S. 59f
https://eric.ed.gov/?id=EJ993638

380
Zur Geschichte der Sowjetunion

Familienmitglieder hinzu, komme man auf eine Führungsschicht, die etwa 20 bis 25
Mio. Mitglieder ausmacht.1099
Was sagt nun diese arithmetische Leistung aus? Gar nichts! Was uns Trotzki hier
beweisen will ist, dass diese bürokratische Schicht sich von der Masse der Bevölke-
rung losgelöst und die politische Macht übernommen habe. Mal abgesehen davon,
dass diese "schmale Führungsschicht" ein gutes Sechstel der sowjetischen Bevölke-
rung der damaligen Zeit ausmachte, listet Trotzki nur unterschiedliche Berufsschich-
ten auf, die einen höheren Bildungsstand hatten als gewöhnliche Facharbeiter, und
unterstellt diesen, sich von den Massen abgehoben zu haben. Hans-Jürgen Falkenha-
gen kommentiert:
"Die Menschen, die Trotzki dem imaginären Begriff der Klasse der Bürokraten zu-
ordnete, bildeten keine besitzende Klasse. Sie waren Teil der Arbeiter- und Bauern-
klasse. Sie genossen auch keine Privilegien als parasitäre Eigentümer, die nicht von
ihrer Arbeit zu leben brauchten. Ihnen gehörten nicht die Produktionsmittel und schon
gar nicht die Hauptproduktionsmittel. Sie waren auch keine Eigentümer von Grund
und Boden, denn der war Staatseigentum. Wenn ein Parteifunktionär die Möglichkeit
hatte, Mitglied beispielsweise eines Jagd- oder Segelclubs zu sein, so war das kein
besonderes Privileg, weil es nicht von hohem Einkommen abhing und natürlich jeder
Arbeiter ein solches Clubmitglied sein konnte (…). Rationelle Einkaufs- und Gesund-
heitsbetreuungsmöglichkeiten wurden nicht nur in Verwaltungen, sondern schwer-
punktmäßig in Produktionsbetrieben geschaffen. Titel, Orden und auch Staatspreise,
die nach Verdienst und Leistung verliehen wurden, schafften kein Privilegiensys-
tem."1100
Trotzki beschwert sich, dass der sowjetische Staat nicht abstirbt, die Bürokratie sogar
wachse etc.1101 Wie angesichts der Existenz des Faschismus, der permanenten Kriegs-
gefahr sowie der noch vorhandenen Unterschiede zwischen Stadt und Land, Hand-
und Kopfarbeit, Arbeitern und Bauern etc. der Staat absterben, also zum Kommunis-
mus übergehen sollte, bleibt Trotzkis Geheimnis. Wir haben zu genüge Trotzkis (be-
wusste?) Fehlinterpretationen der marxistischen Staatstheorie kritisiert. Es sollte je-
doch auch hier erwähnt werden, dass, wenn der Anteil der Staatsbediensteten und
Verwaltungskader ansteigt, das alleine noch kein Anzeichnen des Bürokratismus ist.
Im Sinne Lenins (und Stalins) besteht durchaus die Gefahr des Bürokratismus, dass
sich also vereinzelte Staatsbedienstete und Kader von der Masse abheben, überheblich
werden, der Kontrolle der Massen entziehen und jegliche politische und wirtschaftli-

1099
CAMPBELL (1939), S. 153F., vgl. TROTZKI (1936), S. 132f.
1100
FALKENHAGEN, Teil 2, S. 25
1101
Z. B. TROTZKI (1936), S. 104

381
Zur Geschichte der Sowjetunion

che Initiative erwürgen. Ein Anwachsen der Verwaltungskader hat damit erst einmal
nichts zu tun. Sofern sie der Kontrolle des Staates und der arbeitenden Massen stehen,
ihren Status weder juristisch noch ökonomisch sichern können (wie dies herrschende
Klassen tun), ist in dem Sinne ein Verwaltungskader nicht vom Bürokratismus befal-
len.1102 Dass durch die Steigerung der Produktivkräfte auch die Anforderungen der
Verwaltungstätigkeit wachsen, sollte doch nicht verwunderlich sein! Die Aufgabe des
sowjetischen Staates war es, diese bestehenden Unterschiede abzubauen. Da erfordert
u. U. durchaus eine Stärkung des Staates: zum einen aufgrund der bestehenden
Kriegsgefahr und des erstarkenden Klassenkampfes, zum anderen zur Hebung der
Kultur und der Bildung des Volkes, zur Schaffung des sozialistischen Rechtsystems,
zur Stärkung der Arbeitsdisziplin, zur Überwindung der Klassenunterschiede, zum
Kampf gegen alte bürgerliche Normen und rückständige Traditionen. Diese ver-
schwinden doch nicht von selbst, sondern es bedarf hierbei einer starken Kommunis-
tische Partei und eines starken Arbeiterstaates mit seinen Institutionen, der die Bedin-
gungen für das Umsetzen all dieser Maßnahmen erst ermöglicht. Sind diese Ziele
erreicht, ist ein Absterben des Staates möglich.
Um die Stärke sowie den angeblich reaktionären Charakter des sowjetischen Staates
zu zeigen, bezieht sich Trotzki auf die Armee. So schreibt er, Bezug nehmend auf das
Programm der bolschewistischen Partei über das Heer: "Ein starker Staat, aber ohne
Mandarine [=Zivilbeamter - M. K.], bewaffnete Gewalt, aber ohne Samurais! Nicht
aus den Aufgaben der Verteidigung entstehe die Militär- und Staatsbürokratie, son-
dern aus dem Klassengefüge der Gesellschaft, das sich auch auf den Verteidigungs-
körper überträgt. Das Heer sei nur ein Abbild der sozialen Verhältnisse, der Kampf
gegen die die äußeren Gefahren setzt selbstverständlich auch im Arbeiterstaat eine
spezialisierte militärisch-technische Organisation voraus, aber keinesfalls eine privi-
legierte Offizierskaste. Das Programm fordert die Ersetzung des stehenden Heeres
durch das bewaffnete Volk." 1103
Trotzki argumentiert also, da es in der Sowjetunion ein stehendes Heer gab, könne es
keinen Sozialismus sein. Da die Sowjetunion nicht daran dachte, die Armee aufzulö-
sen, dient diese nur der Erhaltung der Staatsbürokratie, bzw. hier konkreter einer
privilegierten Offizierskaste. Damit widerspreche die Sowjetregierung ihrem eigenen
Parteiprogramm. Es besteht kein Zweifel: Trotzki fordert die Auflösung der Roten
Armee und das wenige Jahre vor dem 2. Weltkrieg! Wir können nur der Roten Armee
danken, dass sie Trotzkis Ratschlag nicht befolgt hat. Interessant ist nur, dass Trotzki
sich mehrere Seiten später zu widersprechen scheint: so schreibt er, dass "[d]ie Armee
der proletarischen Diktatur [dem Programm entsprechend einen] offenen Klassencha-

1102
Vgl. CAMPBELL (1939), S. 147
1103
TROTZKI (1936), S. 51

382
Zur Geschichte der Sowjetunion

rakter haben [soll], d. h. sich ausschließlich aus dem Proletariat und den ihm naheste-
henden halbproletarischen Schichten der Bauernschaft formier[t]. Erst im Zusammen-
hang mit der Vernichtung der Klassen wir eine solche Klassenarmee sich in eine
sozialistische Volksmiliz umwandeln."1104
Hier wird es sehr diffus: Während Trotzki zu Beginn behauptet, dass ein Arbeiterstaat
ein stehendes Heer durch ein bewaffnetes Volk ersetzen soll, schreibt er 150 Seiten
später, dass dies nicht passieren kann, solange noch Klassen existieren, d. h. die höhe-
re Phase (der Kommunismus) noch nicht erreicht ist. Dass die Rote Armee jedoch
eine privilegierte Offizierskaste sei, will Trotzki darin entdeckt haben, dass ab 1935
die Offiziershierarchie wieder eingeführt wurde. 1105 Tatsächlich wurden ab 1935 di-
verse Ränge in der Armee wieder eingeführt: so der Titel "Marschall der Sowjetuni-
on". Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Ränge in der Roten Armee weiter
differenziert. Ebenso wurden an den Uniformen die Epauletten wieder eingeführt, die
nach der Oktoberrevolution als Zeichen der Klassenunterdrückung in der Armee ver-
boten wurden.1106 Halten wir also fest: Durch die Tatsache, dass in der Roten Armee
wieder verschiedene Ränge eingeführt wurden, um die Arbeit, Kampfbereitschaft und
Ausbildung in der Armee zu stärken, sieht Trotzki, dass die Konterrevolution nun
auch die Rote Armee erreicht hat. Offensichtlich reicht es für Trotzki also schon aus,
dass es den Titel "Marschall" gibt und die Uniformen verändert werden, um eine
Konterrevolution herbeizuführen. Der Klassencharakter und deren Zusammensetzung
spielt wohl offensichtlich keine Rolle. Dabei vergisst Herr Trotzki wohl auch, dass
die junge Rote Armee in der Zeit des Bürgerkrieges (1918-1921) auf zaristische Offi-
ziere angewiesen war, die in der Roten Armee dienten. Dieser Tatsache bewusst, dass
Bedienstete der alten Zaren-Armee ihre Offizierstätigkeit aufnahmen, weil es der
Roten Armee an Fachkräften mangelte, gleichzeitig aber politisch nicht immer ver-
trauenswürdig waren, wurden die alten Ränge abgeschafft. So konnten die alten Offi-
ziere ihre Macht in der neugeschaffenen Roten Armee nicht gegen die einfachen Sol-
daten ausnutzen.
Mit den einhergehenden sozialen Veränderungen der sowjetischen Gesellschaft wur-
den aber immer mehr Arbeiter und Bauern Kommandeure der Roten Armee. Die
Klassenzusammensetzung begann sich also zu verändern. 1937 waren z. B. 75% des
Offizierskorps der Roten Armee bäuerlicher Herkunft oder entstammten der Arbeiter-
klasse.1107 Die Einführung gewisser Formalitäten, wie militärischen Rängen, ist eben-
so keine Rückbesinnung auf alte Klassenverhältnisse. Sidney & Beatrice Webb

1104
TROTZKI (1936), S. 208 - 209
1105
TROTZKI (1936), S. 215
1106
Vgl. EDEEN (1960), S. 286
1107
FITZPATRICK (1979), S. 240

383
Zur Geschichte der Sowjetunion

(1937) schreiben, dass alle Ränge in der Armee juristisch und politisch gleich behan-
delt werden. Natürlich herrschen in der Praxis Disziplin und es werden Befehle erteilt
und Gehorsam verlangt. Nach Dienstende hingegen spiele dies keine Rolle mehr: alle
Ränge treffen sich auf Augenhöhe, auch bei Freizeitveranstaltungen wie in Theater-
oder Sportgruppen. Für den Soldaten der Roten Armee ist sein Kommandant jemand
mit besonderem Wissen, der, wenn im Dienst, die Funktion eines Anführers hat, ver-
gleichbar mit einem Manager im Betrieb.1108
Völlig anders hingegen war die Rolle der Armee im zaristischen Russland: "Auch die
Armee des zaristischen Russland stellte, wie die Polizei, nach einem Ausdruck Lenins
das verknöchertste Instrument für die Unterstützung der alten Gesellschaftsordnung
dar. Das Offizierskorps der Armee setzte sich besonders in Friedenszeiten aus Vertre-
tern der besitzenden Klassen zusammen. Auf jedes Hundert Offiziere der zaristischen
Armee entfielen laut offizieller Statistik 54 Adlige und 42 Vertreter der Bourgeoisie
und des Kulakentums. Die 'unteren Ränge' der Armee, eingeschüchtert und geschun-
den, waren ein willenloses Werkzeug in der Hand der Offiziere. In der Dienstordnung
der zaristischen Armee hieß es: 'Der Soldat ist der Diener des Zaren und des Vater-
landes und ihr Verteidiger gegen innere und äußere Feinde.' In den mündlichen In-
struktionsstunden trichterte man den 'unteren Rängen' ein: die inneren Feinde sind
'Rebellen', 'Streikende' und 'Studenten'. Die auf solchen Grundlagen organisierte Ar-
mee diente gemeinsam mit der Polizei und der Gendarmerie als Instrument einer
gewalttätigen Abrechnung mit den revolutionären Arbeitern und Bauern. Diese Ar-
mee wurde zur Niederhaltung der unterjochten Völker in Russland und Unterdrü-
ckung der Befreiungsbewegung in anderen Ländern eingesetzt." 1109
Wer also die Rote Armee mit der zaristischen gleichsetzt, betreibt nichts weiter als
soziale Demagogie.
David Lane (1978), der den „Analysen“ Trotzki Einiges abgewinnen kann, schreibt
trotzdem, dass Trotzki in seinen „Analysen“ den Grad der Beteiligung der Staatsbür-
ger im sowjetischen Regime ignoriert. Seine Hervorhebung politisch degenerierter
Führer versäume es, deren aktive und enthusiastische Unterstützung durch die Mas-
sen, besonders der Parteibasis, zu untersuchen.1110 Grundsätzlich hält Lane (1978)
Analysen zur Bürokratie für problematisch, da es sich um einen vieldeutigen Begriff
handele.1111

1108
WEBB, S. & WEBB, B. (1937), BAND 1, S. 126
1109
AUTORENKOLLEKTIV (1950), S. 64 - 64
1110
LANE (1978), S. 178
1111
LANE (1978), S. 171

384
Zur Geschichte der Sowjetunion

Basierend auf die zu Anfang dargestellten Auffassungen bürgerlicher Ideologen zu


Bürokratie wird die Sowjetunion gerne als bürokratisch-administrative Gesellschaft
dargestellt, die vergleichbar ist mit westlichen Bürokratien nach dem Modell von Max
Weber. Alfred G. Meyer schreibt z. B.: "Die UdSSR kann man am besten als große,
komplexe Bürokratie verstehen, vergleichbar in ihren Strukturen und Funktionen mit
großen Konzernen, Armeen, Regierungsbehörden und ähnlichen Institutionen (…) im
Westen. Es teilt mit solchen Bürokratien viele Organisationsprinzipien und Mustern
der Verwaltung (…)"1112
Kassof (1964) ist etwas genauer. Er definiert die UdSSR als eine "verwaltete Gesell-
schaft", in der eine etablierte und außergewöhnlich mächtige Führungsgruppe An-
spruch auf die ultimative und ausschließliche wissenschaftliche Kenntniss über sozia-
le und historische Prozesse erhebt. Dabei hat sie den Glauben, im Namen des mensch-
lichen Wohlstands und Fortschritts diese von oben zu planen und zu führen.1113 T. H.
Rigby definiert die sowjetische Bürokratie nach Webers Theorien und sieht in dieser
eine Kommandogesellschaft: "Kommando ist ein Verhältnis bei dem bei der Bestim-
mung über das, was zu tun ist, eine Partei aktiv und die andere passiv ist. Das Gegen-
stück zu Kommando ist Gehorsam. Ein Akteur formuliert oder übermittelt Ziele,
weist Aufgaben zu und schreibt die Methoden vor, der andere führt seine zugewiese-
nen Aufgaben in der vorgeschriebenen Methode aus." 1114

Diese rein technischen Definitionen zur sowjetischen Bürokratie sind nicht weniger
problematisch als die politische Propaganda eines Trotzki. Es mögen vielleicht ober-
flächliche Parallelen zwischen den Bürokratien eines Großkonzerns und der sowjeti-
schen Planwirtschaft geben in Punkto Arbeitsteilung. Doch sind das Ziel der Produk-
tion, die Verwendung und die Begünstigten des Mehrprodukts sowie die Klassennatur
eine andere. Auch Lane (1978) hält diese Bürokratie-Definitionen für problematisch.
So sind die formalen Kommunikationswege im Weberschen Sinne relativ ineffizient,
zum anderen baut die sowjetische Verwaltung auf die aktive Beteiligung sowohl des
Managements als auch der Laien.1115 Eine Studie von Norman Kaplan zeigte auch,
dass in sowjetischen Forschungsorganisationen Verwalter wesentlich weniger Autori-
tät besitzen als Wissenschaftler in vergleichbaren amerikanischen Organisationen. 1116

1112
MEYER, A. G. (1965), S. 447 - 448
1113
Vgl. KASSOF, A. (1964), S. 558
1114
RIGBY, T. H. (1964), S. 539
1115
LANE (1978), S. 173, 174
1116
KAPLAN, N. (1961)

385
Zur Geschichte der Sowjetunion

Viele bürgerliche Autoren geben - Trotzki ähnlich - diverse Kommentare über die
Größe der Bürokratie in der Sowjetunion ab. Robert Tucker bezeichnet das sowjeti-
sche System der Ministerien als einen "enormen bürokratischen Komplex", bei der
jedes Ministerium ein ganzes "Regierungsreich" sei, vergleichbar mit einem "giganti-
schen Großkonzern".1117
Bezüglich der Zahlen der Staatsbediensteten gibt es folgende:
Gab es 1897, also noch während der Zarenherrschaft, 260.000 Staatsbedienstete
(Verwaltung, Polizei, Gerichtswesen), davon 105.000 im Polizeisystem, waren es
1926 390.000 Staatsbedienstete, davon 142.000 im Polizeisystem. Die Armee ist in
beiden Daten nicht mit einbezogen. Fügt man noch weitere "Staatsbedienstete" ein,
gab es 1926 365.000 Betriebsleiter (1956: 2.240.000), 225.000 Techniker und Ingeni-
eure (1956: 2.570.000), 575.000 "Plan-Ökonomen" und Buchhalter (1956:
2.161.000), 575.000 Partei, Staats-Armee- und Polizeifunktionäre (1956: 2.609.000).
1957 gab es 133.000 Staatsbedienstete im Handel (Verkäufer nicht mitgezählt) und
750.000 in der Industrie (plus etwa 1.250.000 technisches Personal). 1118 1939 hatte
das NKWD, das sowjetische Innenministerium, 366.000 Mitarbeiter - dazu zählten
Gefängniswächter, die reguläre Polizei, die Feuerwehr und die Sicherheitspolizei.
Eine ziemlich kleine Organisation mit so vielen Aufgaben für ein Land mit damals
169 Mio. Einwohnern. 1119 Die Zahl der sowjetischen Ministerien betrug 1947 59. In
weiteren Jahren schwankte diese Zahl - je nachdem, ob Ministerien neu gegründet
wurden oder miteinander verschmolzen - zwischen 19 und 56. 1978 gab es sogar 62
Ministerien. Dabei hatte ein typisches Ministerium zwischen 700 und 1000 Mitarbei-
ter.1120 1968 hatte der Gosplan 10 zentrale Abteilungen und 24 Zweigstellen, die für
spezielle Aufgaben tätig waren. 1121 1975 gab es 2778 wissenschaftliche Forschungsin-
stitute und 842 Institute für höhere Bildung mit etwa 1,2 Mio. Mitarbeitern. 1122 1971
gab es 50.000 Industriebetriebe, 34.000 Kolchosen und 15.000 Sowchosen. 1123 Diese
hatten natürlich einen beachtlichen Verwaltungsapparat. Bezogen auf die Top-Elite
zählt Farmer (1992) ca. 400.000 Staatsbürokraten. 1124 Matthews (1978) meint, dass
die sowjetische Elite (für ihn waren dies alle, die mehr als 500 Rubel im Monat ver-

1117
TUCKER, R. C. (1971), S. 176-77;
1118
EDEEN (1960), S. 276-278
1119
THURSTON (1996), S. 70
1120
HOUGH & FAINSOD (1979), S. 385
1121
HOUGH & FAINSOD (1979), S. 390
1122
HOUGH & FAINSOD (1979), S. 396
1123
RYAVEC (2003), S. 152
1124
FARMER (1992), S. 85

386
Zur Geschichte der Sowjetunion

dienen) 0,2% der Arbeitskraft ausmachen, etwa 227.000 Leute. 1125 Doch solche Zah-
len von Matthews und Farmer geben wenig Auskunft darüber, wie groß der administ-
rative Apparat wirklich war. Dass in einem Land, in der fast alle Produktionsmittel
vergesellschaftet sind, der Anteil derjenigen, die für den Staat arbeiten (also Verwal-
tungskader sind), wesentlich größer sein sollte als in kapitalistischen Ländern, sollte
eigentlich nicht verwundern.
Nicht selten wird dem Sozialismus unterstellt, dass er durch die Verstaatlichung der
Produktionsmittel viel bürokratischer sei als der freie Kapitalismus. Wer sich jedoch
über die "Bürokratie" und ihre Ineffizienz im Sozialismus beschweren will, der sollte
sich einmal näher mit der Bürokratie in den "freien" kapitalistischen Staaten ausei-
nandersetzen. So beschwert sich "Focus.de" über die "wildesten Auswüchse der Bü-
rokratie in Deutschland".1126 Zum Beispiel gibt es die scheinbar wahnsinnige Verord-
nung in der EU, wie eine Banane auszusehen hat: "Eine Banane, die für EU-Bürger
geeignet ist, muss danach mindestens 14 Zentimeter lang und 2,7 Zentimeter dick
sein, darf keine Beschädigungen aufweisen und noch nicht gereift sein, sodass sie
noch transportiert und nachgereift werden kann."1127
Wenn einem diese Verordnung auch sinnlos erscheinen mag, so hat sie doch einen
wichtigen ökonomischen Zweck: die Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit
gegenüber in Süd- und Mittelamerika produzierten Bananen. 1128 Solche für den Ver-
braucher wirklich sinnlosen Verordnungen stehen also im Sinne des Monopolkapitals.
Landwirte und Unternehmen, die diese oder ähnliche Verordnungen nicht einhalten
können, sind nicht in der Lage, ihre Produkte zu verkaufen und gehen pleite oder
werden von den großen Monopolen geschluckt. Denn diese erwirtschaften genug, so
dass sie mit dem Verkauf ihrer Waren genügend Profit abwerfen. Von der Perversion
der Lebensmittelverschwendung und dem Welthunger in der sogenannten "Dritten
Welt" mal völlig abgesehen! Solche wahrlich skurrilen Bananenverordnungen gab es
im Sozialismus nicht. Wer sich nun darüber lustig machen will, dass es im Sozialis-
mus angeblich keine Bananen gab, dem sollte verdeutlicht werden, dass es bis 2009
entsprechende EU-Bestimmungen auch für Gurken gab.1129 Die Anzahl der Verord-

1125
MATTHEWS (1978), S. 30 - 33
1126
FOCUS.DE (14.06.2013): http://www.focus.de/finanzen/news/tid-31838/wir-organisieren-
uns-in-den-wahnsinn-die-wildesten-auswuechse-der-buerokratie-in-
deutschland_aid_1014745.html
1127
FOCUS.DE (14.06.2013)
1128
FOCUS.DE (14.06.2013)
1129
WIKIPEDIA.DE
https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_(EWG)_Nr._1677/88_(Gurkenverordnung)#Abschaf
fung_der_Verordnung 14.08.2016

387
Zur Geschichte der Sowjetunion

nungen in der BRD ist geradezu astronomisch, wie ein Artikel der "Welt" im Jahr
2004 resümiert. Er zeigt auch auf, dass selbst die Bourgeoisie teilweise einen Kampf
gegen den Bürokratismus führen muss: "Es gibt nichts in Deutschland, was nicht
geregelt ist. Allein 70.000 Vorschriften gibt es im deutschen Arbeitsrecht. Seit 1999
sind laut Angaben der FDP 300 Gesetze und Verordnungen mehr geschaffen als ab-
geschafft worden. Und der Bundestag hat bis Mitte letzten Jahres ganze 2197 Gesetze
mit 46.799 Einzelvorschriften verabschiedet. In der letzten Legislaturperiode sind 400
Gesetze und fast 1.400 zusätzliche Verordnungen beschlossen worden." 1130
Vergleichbares gilt für das deutsche Steuerrecht. Denn laut der "Badischen Zeitung"
versteht die Hälfte der Deutschen den Steuerbescheid nicht.1131 Dabei sind die büro-
kratischen Kosten in der Privatwirtschaft viel höher und ineffizienter als im öffentli-
chen Sektor. Michael Parenti zeigt beispielsweise auf, dass in den USA die administ-
rativen Kosten des von der Regierung geförderten Medicare-Programms unter 3 Cent
pro Dollar betragen. Die administrativen Kosten für Privatversicherungen betragen
hingegen 26 Cent pro Dollar. Regierungsbeamte arbeiten dabei länger für geringere
Gehälter als jene Bürokraten der Privatunternehmen. Auch private Krankenhäuser
haben höhere Verwaltungskosten.1132 Vergleichbare Zustände finden sich in anderen
Ländern, wie z. B. in Großbritannien oder in den osteuropäischen Staaten nach der
Konterrevolution, wo Privatisierungen stattfanden. Dabei wurde z. B. das Gesund-
heitssystem nicht nur teurer, was die Schere zwischen arm und reich vergrößerte,
sondern das System wurde ineffizienter.1133
Wenn also Firmenbosse Sozialausgaben des Staates privatisieren wollen, dann nicht,
weil diese nicht funktionieren, sondern weil sie keinen Profit abwerfen. 1134
Eine Reihe US-amerikanischer Autoren sehen die Bürokratie als das Kernstück der
US-amerikanischen Regierung, die mit ihren und Bürgern durch komplexe administ-
rative Systeme mit einander verbunden ist. Ein Großteil der US-amerikanischen Men-
schen arbeite im administrativen Bereich. Die Bürokratie in den USA ist teilweise so
gewaltig, dass sie als (scheinbar) unabhängige Macht den Kongress dominiert und
sich der Kontrolle der Bevölkerung entzieht. Die Bürokratie spiele eine bestimmende
Rolle in der US-Politik.1135 Ein US-Senator musste zugeben, dass die nicht gewählten

1130
WELT. DE (25.04.2004) http://www.welt.de/print-wams/article109482/Buerokratie-laehmt-
ganz-Deutschland.html
1131
BADISCHE ZEITUNG (26.04.2016) http://www.badische-zeitung.de/geld-finanzen-
1/buerokratie--121243761.html
1132
PARENTI, M. (2010), S. 233
1133
PARENTI, M. (2010), S. 237
1134
PARENTI, M. (2010), S. 234
1135
RYAVEC (2003), S. 9-10

388
Zur Geschichte der Sowjetunion

Bürokraten die wichtigsten Entscheidungen übernehmen, womit die Macht aus den
Händen des Volkes genommen wird.1136 In Deutschland spielen die Bürokraten im
Bundesrat eine wichtige Rolle. Und ein Parlamentarier aus Indien musste zugeben,
dass die Bevölkerung des Landes von der Bürokratie der Regierung "terrorisiert"
wird. In Japan werden Bürokraten als der zentrale Pfeiler der japanischen Gesellschaft
angesehen. Sie sind ein Teil des unbeliebten geheimen Abkommens zwischen Groß-
konzernen, Politikern und Bürokraten. 1137
Der US-amerikanische Verwaltungsapparat ist eng verflochten mit den Monopolen
des Landes. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Food and Drug Administration (FDA):
1949 hatte die FDA ein Budget von 2 Mio. $, um gegen tausende Gesetzesverstöße in
der Lebensmittelindustrie vorzugehen. Heutzutage ist das Budget der FDA hundert
Mal größer, jedoch unternimmt die FDA so gut wie nichts gegen Verstöße durch
Lebensmittel- oder Pharamakonzerne. Beispielsweise vermarktete der Konzern
Monsanto das künstlich hergestellte Rinder-Somatotropin (BGH). Monsanto erhielt
von der FDA die Erlaubnis zur Vermarktung und für den Einsatz in der Milchproduk-
tion, obwohl Studien Gefahren für Rinder und Folgen für die Gesundheit der Men-
schen zeigten. Milchbauern, die den Einsatz von BGH verweigern wollen, werden
gesetzlich dazu verpflichtet.1138
Unter der Regierung von George W. Bush wurden verschiedene Lobbyisten in admi-
nistrative Posten eingestellt, die Regularien zugunsten der Öl- Gas- und Kohleindust-
rie förderten. Bush setzte auch Margaret Spelling als Sekretärin für Bildung ein, ob-
wohl sie nie im Bildungssektor tätig war. Sie ist jedoch eine Befürworterin der Priva-
tisierung von Schulen. Obama setzte Timothy Geithner als Finanzminister ein, um die
Rettungspakete für die Finanzhäuser 2008-2009 zu überwachen. Geithner war Präsi-
dent der Federal Reserve Bank of New York und war damit eng verbunden mit vielen
Spekulanten und Investoren verschiedener Wall Street Finanzier wie der Goldman
Sachs Gruppe und der AIG, also jenen Leuten, die er eigentlich überprüfen sollte.
Weiterhin stellte Obama Lawrence Summers als Direktor des White House Economic
Council ein, um die einregulierte Bankenkrise unter Kontrolle zu bringen. Summers
arbeitete jedoch schon unter Clinton und war für die Aufhebung der wichtigsten regu-
latorischen Bestimmungen für das Finanzwesen verantwortlich, die maßgeblich zur
Finanzkrise führten! Folgerichtig vertritt Summers die Position, dass zu viele Regulie-
rungen die Krise hervorrufen. Natürlich sind Finanzkrisen - unabhängig von der staat-
lichen Regulation - eine Zwangserscheinung des Kapitalismus. Doch es wirkt grotesk,
dass die härtesten ideologischen Vertreter des freien Marktes und Gegner jeglicher

1136
RYAVEC (2003), S. 91
1137
RYAVEC (2003), S. 91
1138
PARENTI (2010), S. 243

389
Zur Geschichte der Sowjetunion

Regulierung überhaupt, die Kontrolle über das Finanzwesen und der Wall Street Mul-
timillionäre ausüben.1139
Etwa 1/6 der US-amerikanischen Arbeitskräfte sind staatliche Verwaltungsangestell-
te.1140 In der BRD waren 2014 etwa 4,6 Mio. Menschen im öffentlichen Dienst tätig,
davon über 1,8 Mio. verbeamtet.1141
Auch hier sollte nicht vergessen werden, dass der Staat, die Bürokratie oder wie im-
mer man das nennen will, keine unabhängige Macht ist, sondern Diener der herr-
schenden Klasse. Die Bürokratie im Kapitalismus, sei es in den USA, Japan oder
Deutschland, erfüllet den Zweck des Machterhalts der Bourgeoisie.
Wer also das Urteil fällt, dass der Sozialismus an seinen „bürokratischen Defiziten
unterging“, der sollte sich wundern, weshalb der Kapitalismus nicht schon lange das
Diesseits verlassen hat. Dabei stellt man des Öfteren fest, dass privatwirtschaftliche
Unternehmen weniger Staatlichkeit wollen, weil die Eingriffe des Staates als ineffi-
zient angesehen werden. Nicht selten wird einem weisgemacht, dass "mehr Staat" ja
mehr Sozialismus sei. Doch so stimmt das nicht. Wir haben weiter oben verdeutlicht,
dass der Staat ein Instrument der herrschenden Klasse ist.
Dabei ist auch ganz interessant festzustellen, dass das Ausmaß der Bürokratie in der
Sowjetunion bei weitem nicht so gigantisch war, wie behauptet. Wir dürfen hierbei
nicht vergessen, dass, wollen wir den Verwaltungsapparat zwischen einem kapitalisti-
schen und einem sozialistischen Land vergleichen, die Größe des Verwaltungsappara-
tes in der Privatwirtschaft mit einbezogen werden muss. Und oben haben wir gesehen,
dass dieser in der Privatwirtschaft größer ist als man denkt.
David Granick untersucht in einem Kapitel seines Buches "The Red Executive" den
Umfang der Bürokratie in der Sowjetunion im Vergleich mit westlichen Ländern. Er
stellt beispielsweise fest, dass zwischen 1923 und 1954 der Anteil administrativer
Arbeitskräfte in den USA, die in den zentralen Büros von Firmen arbeiteten, zwischen
6 und 13% der Arbeitskräfte insgesamt ausmachte. In Großbritannien lag der Anteil
etwa 3 bis 5% niedriger als in den amerikanischen Firmen. 1142 Hinzu kommt, dass nur
ein Teil - etwa ein Drittel - aller Angestellten ("white-collar workers") in der Verwal-
tung tätig sind, was die Zahl der Angestellten etwa verdreifacht. Ein Vergleich mit
russischen Fabriken und Mienen zeigt jedoch, dass der Anteil der Verwaltungsange-
stellten nicht nur geringer war, sondern seit 1940 auch sank. So lag die Zahl aller

1139
PARENTI (2010), S. 245
1140
RYAVEC (2003), S. 90
1141
DBB (2016), S. 12 - 15 https://www.dbb.de/fileadmin/pdfs/2016/zdf_2016.pdf
1142
GRANICK, D. (1960), S. 168

390
Zur Geschichte der Sowjetunion

Angestellten in den sowjetischen Fabriken 1940 bei etwa 27% und sank Mitte der
50er Jahre auf 20%. In den USA stieg sie im selben Zeitraum von 16% auf 29%, also
auf fast das Doppelte.1143 Es gab durchaus eine Reihe von Maßnahmen, die Zahl der
Verwaltungskader in der Sowjetunion zu reduzieren. Über die Pläne des zweiten
Fünfjahresplan zur Reduktion des Verwaltungsapparates schreibt Max Seydewitz:
"Aber nicht nur in den einzelnen Produktionszweigen ist im Laufe des zweiten Fünf-
jahrplans der prozentuale Anteil des Verwaltungsapparates wesentlich vermindert
worden, auch der Staatsapparat wurde vereinfacht. In dem Bericht der Staatlichen
Plankommission der UdSSR heißt es darüber (467): 'Der zweite Fünfjahrplan sieht
eine Verringerung der Zahl der Angestellten des administrativen und Verwaltungsap-
parates um 20% vor, wobei er von der Notwendigkeit ausgeht, daß der Staatsapparat
vereinfacht, die ein großes Arbeitsquantum erfordernden Buchhaltungs- und sonstigen
Arbeiten mechanisiert und an die Arbeit des Staatsapparates die Arbeiteröffentlichkeit
herangezogen werden muss- (unentgeltliche Bekleidung von Ämtern im Staatsapparat
usw.)'. In der gesamten Sowjetunion ist nach der gleichen Quelle der prozentuale
Anteil der Verwaltung von 8% im Jahre 1932 auf 5% im Jahre 1937 herabgedrückt
worden." 1144
Auch eine andere Studie belegt, dass die sowjetische Bürokratie nicht die Ausmaße
annahm wie gerne angenommen: in einer Studie mit dem Titel "The Service Sector in
Soviet Economic Growth" von Gur Ofer (1973), wird festgestellt, dass der Dienstleis-
tungssektor verhältnismäßig klein war.1145 Der Dienstleistungssektor (S) wird vom
Autor in zwei Teilsektoren unterteilt: in einen Handels- und Finanzsektor (C) sowie
einen öffentlichen Sektor (OS). Zu letzterem zählen neben Regierung, Polizei und
anderen staatlichen Einrichtungen auch das Gesundheits- und Bildungssystem wie
auch andere Dienstleistungen (z. B. Hotelgewerbe, Friseure etc.). 1146 Als Untersu-
chungsjahr wird das Jahr 1959 genommen, einer Zeit, in der die Sowjetunion zwar
schon eine Industrienation war, jedoch im Vergleich zu westlichen kapitalistischen
Staaten schwächer entwickelt .1147 Es ist dabei festzuhalten, dass 1959 nur ein Fünftel
der Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor tätig waren, lässt man die Landbevölke-
rung raus, sind es ein Drittel. Für Ofer (1973) ist diese Zahl sehr gering, verglichen
mit dem Entwicklungsstand eines Landes wie der Sowjetunion. Der Finanz- und
Handelssektor (C) macht etwa 5% aller Arbeitskräfte und ein Viertel des Dienstleis-
tungssektor aus. Öffentliche Dienstleistungen (Bildung und Gesundheit) machen 9%

1143
GRANICK, D. (1960), S. 168 - 170
1144
SEYDEWITZ, ebenda
1145
OFER, G. (1973), S. 2
1146
OFER (1973), S. 3 und S. 11, Fußnote 6
1147
OFER (1973), S. 21

391
Zur Geschichte der Sowjetunion

der gesamten Arbeitskräfte aus und ist der mit Abstand größte Dienstleistungssektor
und 2% sind in Dienstleistungen wie Haushalt und Personal tätig. Die öffentliche
Verwaltung (Parteifunktionäre, Gewerkschaftsfunktionäre usw.), also jener Bereich,
den man in interessierten Kreisen gern als "Bürokratie" oder "Herrschende Elite"
bezeichnet, machen lediglich 2,5% aller Arbeitskräfte aus. 1148
Vergleicht man diese Zahlen mit anderen Staaten, die einen ähnlichen Entwicklungs-
stand haben wie die Sowjetunion, fällt auf, dass die öffentliche Verwaltung in der
Sowjetunion ziemlich gering ausfällt. Die Lücke wird dabei noch größer, wenn man
nur Regierungs- und Gesellschaftsinstitutionen untersucht. In diesen zwei Branchen
hatte die Sowjetunion nur halb so viel Personal wie die USA, Frankreich und Öster-
reich und nur zwei Drittel des Personals verglichen mit Japan. Ofer (1973) wirkt über-
rascht, da in einem Land, dessen Apparat die Wirtschaft zentral lenkt, der Anteil ad-
ministrativer Arbeitskräfte wesentlich größer sein müsste. Auch wenn man die ländli-
che Bevölkerung auslässt, ist die Lücke immer noch bedeutend groß. 1149 Die Zahl
jener, die im Bereich Gesundheit und Bildung tätig sind, ist in der Sowjetunion jedoch
größer als z. B. in Japan und Österreich. Die Sowjetunion beschäftigte also mehr
Arbeitskräfte in diesem Bereich als Länder mit vergleichbarem Entwicklungs-
stand.1150 Auch die Qualität des Dienstleistungssektors, besonders des Gesundheits-
und Bildungssektors, aber auch teilweise des Handelssektors, war laut der Studie in
der Sowjetunion höher als in Staaten mit vergleichbarerer Entwicklungsstufe. 1151 Der
Bildungsgrad der Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor war in der Sowjetunion
höher als in anderen Ländern.1152 Ofer (1973) stellt dabei fest, dass der öffentliche
Apparat zwar nicht groß ist, die sowjetische Presse jedoch sich über die Ineffizienz
und den Bürokratismus dieses Apparates beschwert und der generelle Glaube vor-
herrscht, dass dieser Apparat verkleinert werden muss. 1153 Ofer (1973) wundert sich,
wie dieser Apparat so klein gehalten werden kann. Dies wird jedoch von ihm quasi
nur in einer Randnotiz erklärt (auf etwa 4 Seiten von etwa 200!): Neben einigen we-
nigen privaten und illegalen Dienstleistungsangeboten wurde die Verwaltung und
Dienstleistung des Landes im Wesentlichen von Freiwilligen gemacht. So gab es
freiwillige Feuerwehren, freiwillige Wachmannschaften, die kleine Funktionen der
Polizei übernahmen, Genossenschafs-Gerichte, die sich mit kleinen Vergehen befass-
ten, verschiedene Straßen-, Park-, Haus- und Sanitätskomitees, die auf lokaler Ebene

1148
OFER (1973), S. 26
1149
OFER (1973), S. 36
1150
OFER (1973), S. 36, 37
1151
OFER (1973), S. 69, 75
1152
OFER (1973), S. 72
1153
OFER (1973), S. 158
392
Zur Geschichte der Sowjetunion

wirkten etc. 1962 gab es etwa 2 Mio. solcher Freiwilligen. 1154 Auch gab es Freiwillige
im wirtschaftlichen Bereich: Statistik- und Prüfungs-Komitees, Inspektoren, techni-
sche Gremien usw. Ihre Funktionen reichten von Beraterfunktionen für das Manage-
ment über Rechnungsprüfungen hin zu Inspektionen des Betriebsablaufs. Weiterhin
bestanden auch Eltern-Schul-Komitees, politische Komitees und kulturelle Gremien,
an denen sich große Teile der Bevölkerung beteiligten. 1155
Aus diesen Tatsachen lässt sich der Schluss ziehen, dass von einer Verbürokratisie-
rung der Sowjetunion nicht die Rede sein konnte, wenn diese kleiner war, als in kapi-
talistischen Staaten. Damit ist auch das Zerrbild einer angeblichen "bonapartistischen
Bürokratenkaste", die über eine große indifferente Masse regiert, keine realistische
Beschreibung der sowjetischen Verhältnisse. Lane (1982) schreibt:
"Eine staatssozialistische Gesellschaft ist in erster Linie eine technisch-administrative
Gesellschaft, in der die soziale Position eines Menschen vermehrt durch seine Bil-
dung, Qualifikationen und technisch-administrativen Leistung abhängt. Die moderne
Partei hat großzügig technisches, intellektuelles und administratives Personal in ihre
Reihen kooptiert und auch die Parteibasis im Volk hat sich erweitert. Aber einen
wichtigen Platz im politischen Prozess muss den Parteifunktionären gegeben werden,
die als solche helfen das Land nach ihrer Sicht des nationalen Interesses zu bestim-
men und zu lenken. Der Gedanke, dass eine homogene 'Intellektuellen-Klasse' das
Land kontrolliert, muss abgelehnt werden. Während es zwar Rivalitäten zwischen den
Gruppen an der Spitze der Machtstrukturen gibt, so haben die Eliten auch eine be-
stimmte Interessenidentität ihre Privilegien gegenüber den Nicht-Eliten aufrecht zu
halten. (…) Folglich ist die soziale Grundlage der Politik in staatssozialistischen Staa-
ten weder die von Eigentümerklassen im marxistischen Sinne, noch die einer führen-
den Elite und einer fragmentierten Masse, wie sie von Theoretikern des Totalitaris-
mus postuliert wird. Es ist eine Gesellschaft von konkurrierenden Eliten, die in einer
bürokratischen Struktur operieren, die aber auch Subjekte eines von den Massen auf-
kommenden Drucks sind (…) Wir können schlussfolgern, dass das System sozialer
Stratifikationen in staatssozialistischen Ländern eigentümliche Merkmale hat,
wodurch es sich von entwickelten kapitalistischen Staaten unterscheidet. Die begrenz-
te individuelle private Vererbung von Reichtum hat Eigentümerklassen, wie man sie
in kapitalistischen Gesellschaften kennt, eliminiert, aber es hat Prämien auf Leistun-
gen gesetzt, wodurch Ungleichheit beibehalten wurde und folglich dazu geführt, dass
institutionelle Kontrolle über Reichtümer einige Menschen befähigt hat Rechte über
Eigentum zu haben, die anderen verwehrt bleiben [Lane meint hier, dass es dazu ge-

1154
OFER (1973), S. 53
1155
OFER (1973), S. 54
393
Zur Geschichte der Sowjetunion

führt hat, dass es einige gibt die Verwaltungsfunktionen ausübten, andere nicht - M.
K.]. (…) Aber Ungleichheit ist ein Charakteristikum staatssozialistischer Ländern
wie in kapitalistischen: Im Verhältnis gibt es Ungleichheit über die Kontrolle von
Reichtum, Ungleichheit der politischen Macht und (…) es gibt eine Ungleichheit des
Einkommens und des Status. (…) Heutige sozialistische Gesellschaften sind Über-
gangsgesellschaften: in marxistischen Termini sind sie weder kapitalistisch noch voll
sozialistisch."1156
Dieser Aussage Lanes ist soweit zuzustimmen, dass es keine Ausbeuterklasse in der
Sowjetunion gab und noch Ungleichheit bestand. Jedoch wird Lane sein bürgerliches
Paradigma nicht los und bleibt bei einem Elitenkonstrukt, über dessen Unsinnigkeit
weiter oben referiert wurde. Es wurde im Verlaufe dieses Buches auch ausführlich
dargelegt, welches die Grundlagen der Ungleichheit im Sozialismus sind, dass im
Sozialismus noch Ungleichheit besteht (die deutlich geringer ist, als im Kapitalismus)
und man daher nicht sagen kann, die Sowjetunion sei eine Übergangsgesellschaft
zwischen Kapitalismus und Sozialismus gewesen. Hier wiederholt Lane lediglich
Trotzkis unwissenschaftliche Propaganda, die weiter oben widerlegt wurde. Natürlich
ist aber die Annahme Lanes nicht falsch, dass privilegierte Schichten objektiv ein
anderes Bewusstsein erlangen, sich von den Massen abheben und ihre privilegierte
Stellung beibehalten wollten. Hier sind die politische Bildung der Arbeiterklasse und
ihrer Partei sowie ein Kampf gegen den Bürokratismus von Nöten. Es zeigt sich zu-
mindest hier, dass, wenn auch bürgerliche Soziologen gutes empirisches Material
liefern, ihre Schlussfolgerungen ins Leere laufen. Die Sowjetunion war ein sozialisti-
scher Staat, nicht mehr und nicht weniger.
Tatsächlich löste auch die Konterrevolution und die Zerstörung der Sozialismus die
Bürokratie und ihre Probleme nicht auf. Diese wurden im Gegenteil viel größer. Die
Zahl der Bürokraten und der Ärger, den sie mitbringen, wurde größer als in der Sow-
jetunion.1157 Eugene Huskey (1999) betont, dass der Verwaltungsapparat der russi-
schen Regierung größer ist als der sowjetische. Wenn beispielsweise der deutsche
Kanzler mit einer Belegschaft von etwas mehr als 100 Männern unterstützt wird, sind
es beim Russischen Premierminister über 1000.1158 Hatte Gorbatschow noch eine
Belegschaft von 400 Personen, waren es bei Jelzin über 3000. Und die Zahl der Ver-
waltungsbelegschaft wächst. Zwischen 1995 und 1998 wuchs der Verwaltungsapparat
um 14%. 1,34 Mio. Angestellte waren im Jahr 2000 im Staatsapparat tätig und ihre
Zahl stieg um mehrere Zehntausende in der ersten Hälfte des Jahres 2001. Die Kosten
des Verwaltungsapparates stiegen zwischen 1995 und 2001 von 4,4 Milliarden auf

1156
LANE (1982), S. 158 - 160
1157
RYAVEC (2003), S. 10 & S. 106
1158
HUSKEY, E. (1999), S. 101-102, 6

394
Zur Geschichte der Sowjetunion

40,7 Milliarden Rubel.1159 Diverse russische Autoren stellen fest, dass die Macht
dieser Bürokraten steige, sie keiner Kontrolle unterliegen und entsprechend schalten
und walten, wie sie wollen.1160 Durch diese Verhältnisse sei der russische Staat einer
der korruptesten der Welt.1161

7. Abschließende Betrachtungen
7.1. Timasheffs "Der große Rückzug"
Während Trotzki, Djilas, Cliff und andere die Entstehung einer neuen herrschenden
Bürokratenschicht oder gar neuen Ausbeuterklasse anprangern, gibt es andere Auto-
ren, die zwar ebenfalls von der Entstehung einer neuen Klasse oder Schicht in der
Sowjetunion sprechen, dies jedoch mit einem positiven Vorzeichen versahen. Der
bekannteste Autor dieser Richtung ist Nicholas Timasheff mit seinem 1946 erschie-
nenen Buch "The Great Retreat" ("Der große Rückzug"). 1162 Timasheff sah eine
"Verbürgerlichung" der sowjetischen Gesellschaft und einen "großen Rückschritt" in
der Ideologie.1163 Während in den 20er Jahren linksradikale Tendenzen bestanden
"bourgeoises" Verhalten, traditionelle Institutionen wie Familie und russische klassi-
sche Literatur und Kunst zu eliminieren, kam es Mitte der 30er Jahre zu einem
"Rückzug" zu herkömmlichen Normen, Familie und Respekt vor Autoritäten. Auch
wurden Elemente der traditionellen Kultur, inklusive Folklore, russische Literatur-
klassiker sowie zaristische patriotische Helden eingeführt. 1164 Auch in der Bildung
gab es eine Wiederbelebung traditioneller Werte: Einführung von Schuluniformen,
patriotischer Geschichtsunterricht, Respekt vor Eltern und Lehrern und akademische
Standards.1165
Trotzki sieht in diesen Veränderungen einen Verrat an sozialistischen Idealen, be-
zeichnet dies als "Triumph der Bürokratie". Timasheff hingegen bewertet diese Ver-

1159
RYAVEC (2003), S. 95 & S. 218
1160
RYAVEC (2003), S. 95
1161
RYAVEC (2003), S. 184
1162
TIMASHEFF, N. S. (1946)
1163
Vgl. FITZPATRICK (1979), S. 249
1164
HOFFMANN, D. L. (2003), S. 1
1165
FITZPATRICK (1979), S. 250, 251

395
Zur Geschichte der Sowjetunion

änderungen als positiv. Für beide ist der "Stalinismus" ein Rückzug vom Sozialismus,
jedoch mit unterschiedlicher Bewertung. 1166
Was ist von diesen Vorwürfen zu halten? Lassen wir einige bürgerliche Autoren, die
sich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben, zu Wort kommen. Einige Autoren
wie Robert Tucker und Moshe Lewin folgten diesem Modell. Tucker argumentierte,
dass der Stalinismus starke Elemente der Archaisierung hatte und Stalin alle Klassen
der Bevölkerung verpflichtete, im Interesse des Staates zu handeln. Moshe Lewin
hingegen erkannte, dass, je mehr der Stalinismus auf die Industrialisierung eilte, die
Gesellschaft umso autoritärer, hierarchischer und konservativer wurde. Lewin hebt
dabei vor allem die ideologische und soziale Degeneration der Partei, wie auch die
patriarchalen Strukturen der Bauern, als Grundlage für den "stalinistischen patriarcha-
len Autoritarismus" hervor.1167
In ihrem Buch "The Cultural Front" beschreibt die Autorin Sheila Fitzpatrick die
bescheidenen Ursprünge und den Aufstieg der "neuen Elite" - ehemalige Rekruten aus
der Bauern- und Arbeiterklasse - hinsichtlich ihrer Kultur, ihrer spießbürgerlichen
Geschmäcker, ihrem Puritanismus und der Loyalität zum System. Sie stellt dar, dass
diese "neue Elite" technisch und wissenschaftlich gebildet, kulturell aber sehr konser-
vativ war. Sie sucht nach der sozialen Basis des „Stalinismus“ und beschreibt dadurch
die sowjetische Gesellschaft tiefer als es Trotzki tat. Sie teilt sehr wenig mit Trotzki
Missbilligung der Revolution. Anders als Trotzki hat Fitzpatrick sich niemals zu einer
Festlegung darüber entschieden, ob ihre Untersuchung der sowjetischen Gesellschaft
aus dieser eine sozialistische oder eine traditionell russische macht. Sie stellt nur dar,
dass die Mentalität aus der Zeit des Bürgerkrieges in den 30ern durch eine eher kon-
servative ersetzt wurde. Aber sie lässt aus diesem Blickwinkel die Frage offen, ob es
sich dabei um eine sozialistische Gesellschaft handelte.1168
Der oben erwähnte Moshe Lewin hingegen negiert den sozialistischen Charakter der
Sowjetunion, da dieser sich auf Trotzki stützt. Er fokussiert sich auf den Charakter der
sowjetischen Bürokratie, um die Unterstützung und den Aufstieg Stalins zu beschrei-
ben. Er sieht in der Rückständigkeit Russlands und der hauptsächlich bäuerlichen
Prägung des Landes das Hauptproblem. Das Regime sei zu Modernisierungen ge-
zwungen gewesen, hatte aber laut Lewin Schwierigkeiten bei ihren Optionen hinsicht-
lich der Bauernschaft, die einen Prozess der Archaisierung, also eine Rückbesinnung
auf altertümliche Werte, durchgemacht habe. Diese Situation habe sich 1929 mit dem
Beginn der Kollektivierung destabilisiert. Dass solch eine Situation habe entstehen

1166
HOFFMANN (2003), S. 2
1167
Vgl. HOFFMANN (2003), S. 3
1168
FITZPATRICK (1992), S. 118, 159, 197, 216, 218 - 219, 233, 213 - 214

396
Zur Geschichte der Sowjetunion

müssen, führt Lewin auf die Degeneration der Kommunistischen Partei der Sowjet-
union zurück, deren „autoritäres Ziel“ es nun war, die Gesellschaft zu industrialisie-
ren. Die Rückständigkeit der bäuerlichen Sozialstruktur habe ironischer Weise ihren
Höhepunkt in der Gründung eines rückständigen autoritären Systems erreicht.1169
Steven Kotkin, der sehr anschaulich die sozialen Prozesse bei der Gründung der Stadt
und der Industrien in Magnitogorsk beschreibt, gibt jedoch zu bedenken, dass Lewin
die Rückständigkeit der Bauern stark übertreibt und die Inkompatibilität der Moderni-
sierungsprozesse, die auch die Bauernschaft erreicht hat, weniger mit der Bauern-
schaft an sich zu tun hat, sondern mit der besonderen Vision der Modernisierung, die
von den Bolschewiken vertreten wurde.1170 Lewin hebt vor allem das Eindringen der
Bauernschaft in den Staat hervor. Die gesamte Sozialstruktur sei in den Staatsmecha-
nismus eingesogen und von diesem assimiliert worden. Es war nach ihm eine rück-
ständige Modernisierung, eine „Veräußerlichung der Gesellschaft“. Für Lewin kann
es sich hierbei unmöglich um ein sozialistisches System handeln. 1171 Während also
Fitzpatrick zwar Trotzki oft zitiert, jedoch wenig mit ihm übereinstimmt, zitiert Lewin
Trotzki relativ selten, geht aber in seiner Konsequenz weiter als letzterer. 1172 Der
Rückschritt in der sowjetischen Kultur und Ideologie zeige sich laut Lewin auch und
vor allem durch die bäuerlichen Einflüsse.1173
Steven Kotkin hebt jedoch hervor, dass sowohl für die enorme Mehrheit jener, die die
Sowjetunion unterstützten, als auch für die meisten ihrer Feinde der „Stalinismus“
"weit entfernt war von einem partiellen Rückzug, erst recht von einem Zurückwerfen
in die russische Vergangenheit". Im Gegenteil habe der „Stalinismus“ für jene in der
"Zeit der Großen Depression" und des Aufkommens des Faschismus und Militaris-
mus in Europa eine "fortschrittliche und progressive" Kraft dargestellt.1174 Der „Stali-
nismus“ zeichnete sich für Kotkin aus als eine Gesellschaft, die den Kapitalismus
ablehnte. Der „Stalinismus“ habe tatsächlich den revolutionären Utopismus nach
Brest-Litowsk und der NÖP wiederbelebt. 1929 galt als das Jahr des Umbruchs. 1175
Stalin müsse dabei als der theoretische Wegbereiter für die Fortführung der Revoluti-
on gelten und nicht solche Leute wie Trotzki oder Bucharin. Stalin sei es nämlich
gewesen, der die "Grundlagen des Leninismus" schrieb und somit als Vermittler des
Leninismus Anerkennung erhielt. Ohne diesen Bezug hätte er sicherlich für seine

1169
LEWIN, M. (1985), S. 286 - 314
1170
KOTKIN, S. (1995), S. 378, Fußnote 16
1171
Vgl. LEWIN (1985), S. 209, 220-223, 274, 26-30, 35, 302 ff.
1172
LEWIN (1985), S. 261, 267, 283
1173
LEWIN (1985), S. 38 - 41
1174
KOTKIN (1995), S. 6
1175
KOTKIN (1995), S. 2, 16

397
Zur Geschichte der Sowjetunion

Politik kaum Unterstützung finden können. Stalin sei es gewesen, der nach der not-
wendigen NÖP die Revolution fortgeführt habe.1176 Die Fortführung der Revolution
sei auch durch die Abschaffung der Arbeitslosigkeit und die Errichtung eines Sozial-
systems (Krankenversicherung, medizinische Versorgung, Renten etc.) weitergeführt
worden. Und er weist darauf hin, dass diese Beträge, mögen sie nach unseren heuti-
gen Maßstäben klein gewesen sein, zu der damaligen Zeit ein revolutionärer Fort-
schritt waren.1177
David Hoffman schreibt: "(…) aber die Interpretationen, die den Stalinismus als
Rückzug vom Sozialismus darstellen, weisen einige Probleme auf. Zu keinem Zeit-
punkt hat das stalinistische Regime einen Rückzug vom Sozialismus deklariert oder
verursacht. Weit davon entfernt ein partieller Rückzug oder eine Rückkehr zur vorre-
volutionären Vergangenheit zu sein, blieb der Stalinismus, sowohl für die Parteifüh-
rung als auch für die sowjetische Bevölkerung, ein System, welches der sozialisti-
schen Ideologie und der Entwicklung hin zum Kommunismus zuzuordnen war. Tat-
sächlich wurde durch die Öffnung der Parteiarchive enthüllt, dass, sowohl im Privaten
wie auch im Öffentlichen, Stalin und seine Gefolgsleute resolut an ihrer Version des
Sozialismus und dessen Kategorien festhielten. Niemals zogen sie es in Erwägung
von der sozialistischen Ideologie zurückzuweichen oder das sowjetische System zu
demontieren. Die fundamentalen Elemente des sowjetischen Sozialismus - Planwirt-
schaft, staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln und die Avantgarde-Rolle der
Partei bei der Führung des Landes hin zum Kommunismus - blieben unter Stalin
erhalten oder wurden sogar verstärkt. Charakterisiert man weiterhin den Stalinismus
als ein Zurückweichen vom Sozialismus und eine Wiederkehr in die vorrevolutionäre
Zeit, ignoriert man die Hingabe der stalinistischen Führung die sozialistische Trans-
formation und die Erschaffung des neuen sowjetischen Menschen weiterzuführen.
Zuzüglich ihrer Politik der Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung
suchte Stalins Regierung danach sozialistische Werte bei allen Mitgliedern der Ge-
sellschaft einzuträufeln und die menschliche Natur als solche zu verändern. Dieser
Versuch der sozialen und menschlichen Transformation steht dem zaristischen Kon-
servativismus scharf entgegen; es repräsentiert eine bestimmte sowjetische Version
des allgemeineren Aufklärungsimpulses die Gesellschaft zu erneuern und zu verbes-
sern. Die stalinistische Propaganda bezog sich auf einige traditionelle Institutionen
und Apelle, aber (…) dies machte sie in einem eindeutig modernen Mobilisierungs-
prozess. Und die Staatsgewalt, die von Stalin und seinen Anhängern verwendet wur-
de, war weit entfernt von einer mittelalterlichen 'oprichnina', sondern basierte auf
moderne Konzeptionen des sozialen Milieus und moderner Technologien sozialer

1176
KOTKIN (1995), S. 17, 18
1177
KOTKIN (1995), S. 20

398
Zur Geschichte der Sowjetunion

Katalogisierung und Ausmerzung. Die stalinistische Kultur erfuhr Mitte der 30er
einen Wechsel, aber dieser Wechsel schlug sich nicht durch eine Ablehnung des Sozi-
alismus nieder, sondern durch dessen besagte Realisierung. (…) Die Erfolge des So-
zialismus erlaubten den Gebrauch traditioneller Institutionen und Kultur, um die neue
Ordnung zu unterstützen und zu festigen. Der Familie, vorher verdächtigt, bourgeoise
Einflüsse zu infiltrieren, konnte nun vertraut werden, den Sozialismus bei Kindern zu
fördern. Monumentalistische Kunst und Architektur, vorher Instrumente der alten
Ordnung, halfen jetzt die neue sozialistische Ordnung zu legitimieren und ihre Leis-
tungen zu symbolisieren. Patriotische Apelle, sonst genutzt um bourgeoisen Nationa-
lismus zu schüren, regten in der Sowjetunion die Verteidigung des sozialistischen
Mutterlandes an. Auf all diese Weise spiegelte die stalinistische Kultur Mitte der 30er
Jahre einen Versuch wider, den sowjetischen Sozialismus zu festigen, nicht von die-
sem abzuweichen."1178
"Um die Rolle der Parteiführer in der sowjetischen Kultur zu beschreiben, führte
Katerina Clark die Metapher des kulturellen Ökosystems ein (…) [dieses] beinhaltet
bestimmte Ideen und Werte, bei denen einige miteinander in Einklang, andere in
Konkurrenz stehen. Mit der Zeit und durch die Interaktion mit politischen Trends und
sozialen Bedingungen, florieren einige kulturelle Konzepte, andere passen sich an und
andere werden weniger und sterben ab. Clark hebt hervor, dass die Änderungen, die
sowjetische Politiker und Intellektuelle verfolgten, durch ideologische und kulturelle
Formationen begrenzt waren. Mitglieder der kommunistischen Partei standen nicht
außerhalb des Systems, sondern waren Teil des sowjetischen kulturellen Ökosystems.
Oft verordneten sie eine Politik, die in Arbeiten von Intellektuellen vorgeschlagen
wurden oder lösten laufende Debatten. Daher lehnt es Clark ab eine scharfe Grenze
zwischen Intellektuellen und Partei zu ziehen; sie lehnt die Vorstellung ab, dass die
Partei die stalinistische Kultur erschuf und die Intellektuellen kein Wort zu sagen
hatten. (…) Die These, dass die stalinistische Kultur eine abrupte Wende Mitte der
30er Jahre machte, verschleiert die Tatsache, dass viele kulturelle Werte dieser Zeit
schon während der 20er Jahre vorangebracht wurden." 1179
Bezüglich der Änderung der Familienpolitik bringt Hoffmann (2003) z. B. zu Papier,
dass die Kampagne zur Stärkung der Familie kein Signal für eine Rückkehr zur tradi-
tionellen Familie war. Stattdessen verfocht die Sowjetunion eine Politik zur Erhöhung
der Geburtenrate und der Verbesserung der Gesundheit ihrer Bürger. 1180

1178
HOFFMANN (2003), S. 3 - 4
1179
Hoffmann (2003), S. 5 - 6
1180
HOFFMANN (2003): S. 9

399
Zur Geschichte der Sowjetunion

Sheila Fitzpatrick (1979) hebt hervor: "Eine der Schlussfolgerungen, die man ziehen
kann, ist, dass Timasheffs 'Großer Rückzug' in der späteren Stalin-Epoche in Wirk-
lichkeit die sekundäre Konsequenz einer erfolgreichen sozialen Revolution war: die
massenhafte Beförderung ehemaliger Arbeiter und Bauern in die sowjetische politi-
sche und soziale Elite."1181
Was wir also hier vor uns haben, ist kein großer Rückzug, kein Verrat am Sozialis-
mus, sondern dessen Festigung. Die Tatsache, dass einige "traditionelle" Formen der
alten Gesellschaft im Sozialismus mit neuem Inhalt und neuer Qualität wiederbelebt
werden, widerspricht keinesfalls marxistisch-leninistischen Grundpositionen. Im
Sozialismus wird alles beseitigt, was den Kapitalismus als Gesellschaft der Ausbeu-
tung und Unterdrückung kennzeichnet (Privateigentum an Produktionsmitteln, private
Aneignung des Mehrwerts durch die Bourgeoisie, reaktionäre, die Arbeiterklasse
spaltende, bürgerliche Ideologien wie Rassismus und Sexismus etc.). Aber zugleich
wird alles bewahrt, aufgenommen und in veränderter Wirkungsweise fortgeführt, was
über den Kapitalismus hinaus Bedeutung besitzt (z.B. Errungenschaften der Wissen-
schaft, Kunst und Kultur, das humanistische Erbe bürgerlicher Denker etc.). Nur so
kommt echter gesellschaftlicher Fortschritt zu Stande. Dabei ist es aber nicht eine
einfache Wiedereinführung alter Institutionen oder Werte, sondern sie bekommen
durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse einen völlig neuen Inhalt und lassen
sich daher nicht mit den alten vergleichen. Kommunisten sprechen hier in der dialek-
tisch-materialistischen Philosophie von Negation der Negation.1182 Daher ist schon
alleine aus diesem Blickwinkel Timasheffs Betrachtung des großen Rückzugs oder
Trotzkis Verratene Revolution Unsinn.
Aber hier unterscheiden sich Marxisten-Leninisten von ultra-radikalen Linken. In der
letzten Strömung zeigt sich oftmals ihr kleinbürgerlicher Idealismus: Der Sozialismus
gilt dabei nicht als historische Realität, sondern als Wunschdenken einer ausgemalten
heilen Welt; es ist also reiner Idealismus. Ist die Revolution siegreich, muss sich der
Sozialismus der konkreten Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft stellen. Dieser
Prozess verläuft nicht widerspruchsfrei, sondern bewegt sich nun eben in der realen
Welt. Dabei sind Konflikte, taktische Rückzüge sowie die Narben der alten Gesell-
schaft (in der Sowjetunion z. B. die Tatsache, dass das Land kaum industrialisiert war
und ein Großteil der Bevölkerung nicht lesen und schreiben konnte) und die daraus
resultierenden Probleme unvermeidbar. Nicht zu vergessen ist die permanente Bedro-
hung durch feindliche Kräfte im Inneren wie im Äußeren. Werden solche idealisti-
schen Linken mit der Realität und der Härte des Klassenkampfes konfrontiert, platzt
die Blase des sozialistischen Traumes und man wirft dem "realen Sozialismus" Verrat

1181
FITZPATRICK (1979), S. 253 - 254
1182
VGL. AUTORENKOLLEKTIV (1977), S. 221 - 224

400
Zur Geschichte der Sowjetunion

vor. Losurdo spricht hier von einem "abstrakten Universalismus" und "Messianismus"
einiger linksradikaler Strömungen und meint damit, dass diese Strömungen den An-
spruch erheben, die Wirklichkeit auf ein einzelnes Prinzip zurückführen zu können.
Daraus wird eine Art religiöser Heilsglaube. Losurdo zeigt dies z. B. an den nihilisti-
schen Positionen einiger Linker während der Oktoberrevolution zum Thema Nation
auf. Ein solcher Universalismus stand den Bolschewiki durchaus im Wege. 1183
Es ist Losurdo insofern zuzustimmen, dass diese linksradikalen Strömungen und
Vertreter eines "echten", "reinen" oder sonst wie gearteten Sozialismus durchaus
religiöse Glaubensvorstellungen haben, da sich "ihr" Sozialismus nicht aus einer his-
torischen Realität und Notwendigkeit herleitet, sondern ein utopischer Glaube einer
nicht vorhandenen Welt ist. Daher ist es selbstverständlich, dass diese "Linken" über-
all Verrat riechen, wenn die Realität des Sozialismus nicht ihrem Wunschbild ent-
spricht. Nur ist der Sozialismus, definiert man ihn wissenschaftlich (marxistisch-
leninistisch), kein Wunschtraum, sondern leitet sich aus der menschlichen Gesell-
schaftsentwicklung ab. Es gibt dabei keinen "echten" oder "falschen" Sozialismus, so
wie es auch keinen "echten" oder "falschen" Kapitalismus gibt. Es sind konkrete,
reale Gesellschaftsformationen, die je nach historischem Entwicklungsstand real sind
und in der konkreten (und nicht abstrakten!) Wirklichkeit operieren.
So wie der Kapitalismus mal bürgerlich-demokratisch, mal faschistisch auftritt, so ist
auch der Sozialismus als Übergangsgesellschaft hin zum Kommunismus mal stärker
oder schwächer entwickelt. Dabei ist der "Verratsvorwurf" an den Sozialismus in der
Sowjetunion Stalins sicherlich ein Extremfall der Zerrbilder kleinbürgerlich-
idealistischer Linker, doch steht Stalin nicht allein unter dieser Anklage. Schon im
Verlaufe dieses Kapitels konnten wir feststellen, dass auch Lenin von den Mensche-
wiki, den "linken" Bolschewiki, den Trotzkisten etc. denselben Vorwürfen ausgesetzt
war. Dieser religiöse "Messianismus" linksradikaler kleinbürgerlicher Sozialismus-
vorstellungen zeigt sich natürlich auch in der wissenschaftlichen Arbeitsmethode. Wir
haben Trotzkis "Verratene Revolution", Djilas "Die neue Klasse", Voslenskys "No-
menklatura", Jünkes "Der lange Schatten des Stalinismus" und Cliffs "Staatskapita-
lismus in Russland", sowie die Ausarbeitungen von Ingo Wagner und anderer näher
unter die Lupe genommen. Diese bilden nur einen Bruchteil der Pseudowissenschaft
im linken Gewandt, doch es ist sicherlich eine repräsentative Stichprobe über die
Arbeitsweise linker Antistalinisten.
Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Vorwürfe über die Sowjetunion oder gar ihre
„Theorien“ empirisch nur sehr schwer belegen können, "Stalinisten", also jenen, die
den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion verteidigen, hingegen kritiklose Lob-

1183
Vgl. LOSURDO (2012), S. 134 ff.

401
Zur Geschichte der Sowjetunion

hudelei vorwerfen Dabei produzieren sie selbst haltlosen Antikommunismus, der


keiner Kritik standhält. Diese Texte sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen,
sondern bestenfalls Propaganda mit Fußnoten (in Trotzkis Fall gar nur Propaganda),
gespickt mit einigen "Strohmann-Argumentationen",1184 Argumentationen ad perso-
nam,1185 Totschlagargumenten,1186 Zirkelschlüssen,1187 Quote mining1188 oder anderen
Scheinargumenten.
Dabei bleibt bis heute unverständlich, was eigentlich jene "Kritiker" mit Schlagwor-
ten wie "Bürokratismus", "Stalinismus" etc. meinen. In solchen Worten spiegelt sich
nur politische Propaganda, jedoch keine wissenschaftliche Untersuchung wider. In
dieser Art des Argumentierens unterscheiden sich die "linken" Antikommunisten in
keiner Weise von den rechten bürgerlichen Vertretern der Totalitarismus-Doktrin.
Natürlich unterscheiden sich beide Richtungen insofern, dass die einen vorgeben,
Kommunisten oder irgendwie "links" zu sein (was sie wegen ihrer Tarnung sehr ge-
fährlich macht), während die anderen offene Antikommunisten sind. Doch beide
vereint ihr Hass auf die Sowjetunion (oder andere sozialistische Staaten) und allen
voran ihr Hass auf Stalin, der es als erster gewagt hatte, die Theorien von Marx, En-
gels und Lenin in die Tat umzusetzen.
Natürlich waren Stalin sowie die anderen Klassiker des Marxismus-Leninismus nicht
fehlerfrei. Als Pioniere hatten sie keine Vorbilder und Fehler waren unausweichlich.
Aber die Kritik der "linken" Antikommunisten ist nicht ansatzweise gerechtfertigt,
weil einzelne Fehlentwicklungen ahistorisch verabsolutiert werden und andererseits
von diesen Kritikern wirre, ideologisch und taktisch unklare Alternativen angeboten

1184
Bei einem Strohmann werden Argumente des Gegners in den Mund gelegt, die er so nie
vertreten hat, also verzerrt dargestellt. Als Beispiel sei die Behauptung genannt, Stalin habe mit
der These des verschärften Klassenkampfes den Terror gegen Unschuldige gefördert oder es
werden Trotzkis Verfälschung zwischen Sozialismus (der ersten Phase) und Kommunismus
(der zweiten Phase) in Bezug zur Leistungsvergütung genannt.
1185
Hierbei handelt es sich um persönliche Angriffe. Z. B. stellt Ingo Wagner Gossweilers
Argumente als eine „Außenseiterposition“ dar, weshalb sie daher falsch sein müssen. Auch die
Aussage: "der ist ein Stalinist, also kann man ihm nicht glauben" geht darauf zurück.
1186
Typisches Totschlag“argument“: "Stalinist"
1187
Ein Zirkelschluss begründet eine These mit sich selbst und verstößt damit gegen einen
Hauptsatz der klassischen Logik, wonach jede These durch Prämissen begründet sein muss,
deren Wahrheit bereits bewiesen ist. Bestes Beispiel: Djilas oder Cliffs Behauptung der Entste-
hung einer neuen Klasse, ohne dass diese begründet oder beweisen werden muss.
1188
Quote Mining ist das zitieren von Abschnitten außerhalb des Kontextes, um so ihren Sinn
zu entstellen. Bsp. Stalins Aussagen zum Klassenkampf oder seinen Aussagen über die Klas-
senstruktur in der Sowjetunion 1936, die von Trotzki, Wagner und co. aus dem Zusammenhang
gerissen werden.

402
Zur Geschichte der Sowjetunion

werden. Infolgedessen wird eine siegreiche Revolution von jenen "Kritikern" immer
des "Verrats an den Idealen" vorgeworfen und man predigt von einem "reinen Sozia-
lismus". Michael Parenti bringt es auf den Punkt:
"Bedauerlicherweise ist diese Sichtweise des 'reinen Sozialismus' ahistorisch und
unwiderlegbar; sie kann nicht an der aktuellen Realität überprüft werden. Sie ver-
gleicht ein Ideal mit einer inperfekten Realität (…). Es wird vorgestellt, wie der Sozi-
alismus in einer Welt, die besser ist als diese, aussehen würde, in der keine starke
Staatsstruktur oder Sicherheitsorgane notwendig sind, in der keine von Arbeitern
geschaffenen Werte zum Wiederaufbau der Gesellschaft und der Verteidigung gegen
Invasion und innerer Sabotage enteignet werden müssen. Die ideologischen Erwar-
tungen der reinen Sozialisten verbleiben durch die existierende Praxis unbeschmutzt.
Sie erklären nicht, wie die vielfältigen Funktionen einer revolutionären Gesellschaft
organisiert werden, wie ein Angriff von außen und interne Sabotage verhindert wer-
den können, wie Bürokratie verhindert werden kann, seltene Ressourcen verteilt,
politische Differenzen gelöst und Prioritäten gesetzt und die Produktion und Vertei-
lung durchgeführt werden können. Stattdessen bieten sie nur vage Statements darüber
ab, wie Arbeiter selbst die direkte Kontrolle und das Eigentum über die Produktions-
mittel verfügen werden und durch kreatives Streiten zu ihren eigenen Lösungen
kommen werden. Da ist es kein Wunder, dass diese reinen Sozialisten nur die Revolu-
tionen unterstützen, die noch nicht siegreich waren. (…) Wenn sich die Realität als
anders oder schwieriger erweist, fühlen sich einige Linke dazu verpflichtet, die reale
Sache zu verdammen und zu verkünden, dass sie sich von dieser oder jener Revoluti-
on 'verraten fühlen'. Die reinen Sozialisten sehen den Sozialismus als ein Ideal an,
welches durch kommunistische Bestechlichkeit, Doppelzüngigkeit und Machtbegier-
de befleckt wurde. Die reinen Sozialisten lehnen das sowjetische Modell ab, bieten
aber wenige Beweise an, die zeigen, dass andere Wege möglich wären, dass andere
Sozialismusmodelle - durch erschaffen durch die Einbildung von jemanden, sondern
aus der historischen Erfahrung entwickelte - sich hätten etablieren können und die
besser funktioniert hätten."1189

1189
PARENTI (1997), S. 51

403
Zur Geschichte der Sowjetunion

7.2. Das kapitalistische Russland ab 1992: Alter Wein in


neuen Schläuchen?
1991 wurde die Sowjetunion zerstört und der Sozialismus beseitigt, kurz gesagt: Die
Konterrevolution hatte gesiegt. Folgt man der Logik Trotzkis, Djilas, Voslenskis und
anderer müsste der sowjetische Staatsapparat nicht zerschlagen worden sein, sondern
es gäbe keinen qualitativen Unterschied zwischen dem sowjetischen und dem russi-
schen Staatsapparat.
Wenn dem so wäre, hätten diese Kritiker insofern Recht, dass die Sowjetunion (ab
einem gewissen Zeitpunkt) nicht sozialistisch war und der sowjetische Staatsapparat
müsste sich nach 1991 im russischen Staatsapparat strukturell wie personell wieder-
finden. Hierbei geht es nicht darum, dass sich eventuell einzelne Verwaltungskader
im neuen kapitalistischen Staatsapparat wiederfinden, sondern entscheidende Struktu-
ren und Führungskräfte des sowjetischen Staatsapparates müssten sich im kapitalisti-
schen Staatsapparat Russlands wiederfinden.
Tatsächlich hört man häufig das Vorurteil, dass die alten Kommunisten der Sowjet-
union die neuen Anführer des kapitalistischen Russlands wurden. Martin Malia
(1992) behauptete kurz nach der Zerstörung der Sowjetunion, dass die Präsidenten der
neuen unabhängigen Staaten mindestens bis August 1991 Mitglieder der KPdSU
waren. Folgerichtig sei ihr Einsatz für Demokratie und freien Markt unbedeutend und
opportunistisch.1190 Ella Pamfilova schrieb in einem Artikel der Moscow Times im
Februar 1995, dass man unter den "Neuen Russen" überraschenderweise wenige neue
Gesichter sehe.1191
Das Problem dieser Theorien ist jedoch, dass sie falsch sind. Im folgenden werden
einige Tatsachen dokumentiert, die belegen, dass es einen sog. "Elitenwechsel" gege-
ben hat. Die gleich vorgestellten Arbeiten bürgerlicher Soziologen stellen sich die
Frage, ob die politische "Elite" der Sowjetunion nach der Konterrevolution die gleiche
geblieben sei. Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die bürgerliche
Elitekonzeption zur Bewertung einer Gesellschaftsformation wenig taugt. Interessant
sind jedoch ihre empirischen Daten, mit der wir der Behauptung nachgehen können,
ob der Staatsapparat (repräsentiert durch die "Elite") trotz Veränderungen in der Öko-
nomie (Übergang zum Privateigentum an den Produktionsmitteln) beibehalten wurde.
Denn diese entspricht im Wesentlichen dem Vorurteil der bürgerlichen Propagandis-
ten, dass im kapitalistischen Russland quasi dieselben Leute an der Macht sind wie in
der Sowjetunion.

1190
MALIA, M. (1992), S. 92
1191
Zitiert in RIVERA, S. W. (2000), S. 414

404
Zur Geschichte der Sowjetunion

Eine zuverlässige Studie, die auf Interviews mit ehemaligen Mitgliedern der Parteieli-
te basierte, findet keine Beweise für die "beliebte Theorie", dass "das sowjetische
System durch die Partei und Staatsbeamte gestürzt wurde, um ihre Macht in persönli-
chen Reichtum zu verwandeln." Die sowjetische Bürokratie war zu heterogen, um
solch eine Aktion als politische Kraft durchzuführen.1192
Eine Studie von David Lane & Cameron Ross überprüft, ob Politiker der Jelzin-Ära
jemals im alten sowjetischen politischen Apparat arbeiteten. Dabei untersuchten sie
den Obersten Sowjet von 1990. Sie können zeigen, dass jene, die in den Obersten
Sowjet von 1990 gewählt wurden, großteils vorher keine hohen Positionen in der
sowjetischen Regierung hatten. Auch waren sie keine hohen Funktionäre des Partei-
apparates. Der Großteil waren Parteimitglieder mittleren Ranges in regionalen Struk-
turen von Partei und Regierung. Von den 236 Mitgliedern des Obersten Sowjet der
RSFSR hatten nur 55 irgendeine Position in der sowjetischen Regierung auf All-
Unions- oder Republikebene.1193
Zwischen April 1984 und August 1991 gab es 230 Personen, die einen Ministerposten
in der sowjetischen Regierung hatten. Von diesen übernahm die Jelzin-Regierung nur
9. Lane & Ross kommen zu der Schlussfolgerung, dass es zwischen der Gor-
batschow- und Jelzin Regierung nur wenige Überschneidungen der politischen Elite
gibt.1194 Von 145 Regierungsvertretern unter Jelzin hatten 35 eine längere Laufbahn in
der sowjetischen Regierung, 64 traten erst gegen Ende der Sowjetunion in die Staats-
bürokratie ein und 46 waren sogenannte "neue Männer", die Großteils keinerlei Re-
gierungserfahrung vorweisen konnten. Nur etwa 40 Leute hatten eine Position im
Parteiapparat und nur eine Person im Komsomol. Wobei hier angemerkt werden
muss, dass ein Posten in der Parteihierarchie nicht zwangsweise bedeutet, dass es
überzeugte Kommunisten waren - gerade zum Ende der Sowjetunion eine nicht unbe-
deutende Kleinigkeit. Nur drei Leute waren Mitglieder des Politbüros: Primakow,
Jakowlew und Jelzin; 12 waren im Zentralkomitee. Die meisten Regierungsmitglieder
unter Jelzin hatten keine größere Karriere in der Partei. Sie begannen ihre Karriere
hauptsächlich in anderen Bereichen. Interessant ist jedoch, dass viele von ihnen ihre
Karriere unter Gorbatschow anfingen. Lane & Ross teilen mit, dass die Regierung des
kapitalistischen Russland nur wenige Mitglieder der ehemaligen politischen Führung
der UdSSR oder der russischen Sowjetrepublik hatte. Nach den Autoren fand keine
Reproduktion der "Eliten" statt, die neue russische Elite bestand aus anderen Leuten.
Man kann bei der Jelzin-Regierung nicht von einem "alten Wein in neuen Schläu-
chen" sprechen. Nach der Konterrevolution 1991 wurden neue politische Institutionen

1192
ELLMAN, M. & KONTOROVICH, V. (1998), S. 27
1193
LANE, D. & ROSS, C. (1999), S. 127, vgl. auch: LANE & ROSS (1995)
1194
LANE & ROSS (1999), S. 135 - 136

405
Zur Geschichte der Sowjetunion

mit neuen politischen Inhalten und Werten geschaffen, sodass die Konterrevolution
hier auch im politischen Überbau gesiegt hatte. 1195
In einer anderen Studie gehen Lane & Ross der Frage nach, wie die soziale Zusam-
mensetzung der russischen politischen Elite unter Jelzin in den ersten Jahren seiner
Herrschaft vom 17. Dezember 1993 - 12. Dezember 1995 war. Es handelt sich hierbei
um 470 Personen, die sich aus Parlamentariern (176 Personen), Regierungsangestell-
ten (108 Personen) und regionalen politischen Eliten (195 Personen) zusammenset-
zen, 9 Personen hatten dabei mehr als eine Position. Sie lassen sichtbar werden, dass
es zu einer "Zirkulation der Eliten", also einem "Elitenwechsel" in wichtigen Sektoren
der politischen und ökonomischen Strukturen des Staates kam. Die alte sowjetische
Elite sei zerschlagen. Sie vermerken beispielsweise in der neuen politischen Führung
wenige Überschneidungen mit der alten Parteiführung. Nur ein Drittel (167 von 470
Personen) hatten Erfahrungen in führenden Positionen in der KPdSU, nur 25 waren
jemals in einem Zentralkomitee (und davon 12 erst seit 1990) und nur 2 waren im
Politbüro. Dabei waren unter den Parlamentariern und den Regierungsangestellten die
Anteile geringer als in den regionalen Eliten. 300 der untersuchten Personen hatten
keinerlei Erfahrung in der sowjetischen Regierung.1196 Im marxistisch-leninistischen
Sprachgebrauch heißt es schlicht und einfach: Die Konterrevolution hat auch perso-
nell gesiegt; das Proletariat und seine Staatsmaschinerie wurde zerschlagen und durch
neue Staatsdiener ersetzt, die der neuen herrschenden Klasse in Russland - der Bour-
geoisie - dienen.
Gennadi Ashin veröffentlichte eine Liste der 500 einflussreichsten Russen des Jahres
1992 und stellt fest, dass von denen nur 50 in einen der beiden letzten Zentralkomi-
tees der KPdSU waren.1197 Th. H. Rigby belegt ebenso eine Diskontinuität zwischen
den "politischen Eliten" 1988 und 1996, wenn auch viele der "Neuen" ihre Karriere
im "alten System" begonnen hätten.1198
Nun gibt es jedoch andere empirische Studien, die ein gegenteiliges Bild erzeugen.
Sie zeigen, dass viele der sogenannten alten sowjetischen "Eliten" auch im kapitalisti-
schen Russland eine höhere Position erwarben, vor allem im ökonomischen und regi-
onalen Bereich.
Kryshtanovskaya & White (1996) können den Nachweis bringen, dass bestimmte
Bereiche der neuen russischen "Elite" für die alte sowjetische "Nomenklatura" leich-
ter erreichbar waren. Zwar waren auf der einen Seite die Hälfte aller "Partei- und

1195
LANE & ROSS (1999), S. 136 - 142, vgl. auch LANE, D. & ROSS, C. (1997), S. 169 - 192
1196
LANE & ROSS (1999), S. 148 - 152
1197
RIVERA (2000), S. 415
1198
RIGBY, T. H. (1999)

406
Zur Geschichte der Sowjetunion

Wirtschaftseliten" "neue Leute", aber drei Viertel der Präsidialverwaltung und der
Regierung haben ihren Ursprung in der Nomenklatura. Insgesamt begannen zwei
Drittel der "Elite" der Jelzin-Ära ihre politische Karriere zum Ende der Breschnew-
Zeit oder unter Gorbatschow. 1199 Eine andere Studie, durchgeführt von Hanley, Yer-
shova & Anderson (1995) belegt, dass 85,8 % der politischen Führung in Russland
1993 Mitglieder der KPdSU waren und über die Hälfte 1988 eine Nomenklatura-
Position hatte. Verglichen mit anderen ehemals sozialistischen Ländern wie Polen
oder Ungarn habe in Russland eine signifikante Reproduktion der Eliten statt eines
Wechsels stattgefunden.1200
Die Daten von Kryshtanovskaya & White (1996) sowie Hanley, Yershova & Ander-
son (1995) wirken zwar widersprüchlich gegenüber jenen von Lane & Ross (1999).
Jedoch sind die Daten von Lane & Ross insofern detaillierter, da sie feststellen, dass,
wenn Personen der sowjetischen "Nomenklatura" im kapitalistischen Russland hohe
Positionen einnahmen, diese erst sehr spät, meist zu Beginn der Perestroika, in die
Nomenklatura aufgenommen wurden. Außerdem machen Lane & Ross (1999) einen
Unterschied zwischen politischen, ökonomischen, nationalen & regionalen "Eliten",
wodurch sich ein differenzierteres Bild ergibt. Auch James Hughey (1997) kommen-
tiert, dass die regionalen russischen Eliten anders seien als die nationale. In den Pro-
vinzen seien vor allem Betriebsdirektoren, Kolchosvorsitzende und Manager in die
neuen russischen Elitepositionen aufgestiegen, da regional eine Trennung zwischen
ökonomischen und administrativen Eliten nicht so deutlich war wie im nationalen
Level.1201 Darell Slider (1996) bestätigt dieses Ergebnis. 1202
Rivera (2000) bemerkt bei ihren Untersuchungen über die "Elite" in Moskau, Nischni
Nowgorod und Tartastan, dass einige Sektoren der politischen "Elite" Russlands ihre
Wurzeln in der sowjetischen "Nomenklatura" hatten, aber nicht in der "politischen
Elite" der sowjetischen Periode. Die neue "Elite" des kapitalistischen Russlands ent-
stammte im Wesentlichen der nicht-politischen "Nomenklatura" und hatte innerhalb
der KPdSU nur eine geringe Aktivität. Folgerichtig kann die neue politische Führung
Russlands nicht als einfache Reproduktion der alten sowjetischen Führung angesehen
werden. Sie sind keine ehemaligen kommunistischen Parteiaktivisten. Viele von ihnen
aber auch keine Dissidenten der Sowjetunion.1203

1199
KRYSHTANOVSKAYA, O. & WHITE, S. (1996)
1200
HANLEY, E., YERSHOVA, N. & ANDERSON, R. (1995)
1201
HUGHES, J. (1997)
1202
SLIDER, D. (1996)
1203
RIVERA (2000), S. 415 & 426 - 427

407
Zur Geschichte der Sowjetunion

Auch Lane & Ross liefern eine detaillierte Analyse der russischen ökonomischen
"Elite", also der russischen Kapitalisten und Geschäftsleute etc. Kryshtanovskaya
kann in einer Studie von über 100 russischen Unternehmern darstellen, dass etwa
zwei Drittel ihren Ursprung in der sowjetischen "Nomenklatura" hatten. Die meisten
von diesen waren aktiv im Komsomol oder waren Betriebsdirektoren. Das Problem
dieser Analyse ist jedoch, so Lane & Ross, dass der Begriff der "Nomenklatura" sehr
weit gefasst wird und beispielsweise nicht zwischen rein politischen (Aktivisten der
KPdSU oder des Komsomol) und der ökonomischen Positionen unterschieden
wird.1204 Lane & Ross (1999) untersuchen die Biographien von 303 wichtigen russi-
schen Unternehmern, die sie in 5 Untergruppen einteilen: Banken und Finanzen (108
Personen), Öl und Gas (55 Personen), Industrie und Bauwesen (53 Personen), "ande-
re", z. B. Gewerbe, Kommunikation etc. (50 Personen), sowie Vorstände von Indust-
rieverbänden, Aktionären und Unternehmen (27 Personen). Von diesen 303 Personen
gaben 123 an, Mitglieder der KPdSU gewesen zu sein. Jedoch könnte die Anzahl
etwas höher gewesen sein, da einige ihre Mitgliedschaft geleugnet haben könnten.
Andererseits muss eine Mitgliedschaft in der KPdSU, besonders zum Ende der Sow-
jetunion, keinesfalls von politischer Signifikanz sein, da viele Personen aus formellen
Gründen Parteimitglied waren, um Karriere zu machen. Von den 123 Mitgliedern
waren 2 Kandidaten und 10 Mitglieder eines Zentralkomitees.
Diese Daten zeigen, dass auch im Bereich der Wirtschaft die alte sowjetische politi-
sche Führung nicht dominant war. Die Führer der russischen Wirtschaftseliten waren
Großteils frühere Betriebsdirektoren und Manager, wobei vor allem im Bereich der
Finanzen und des Handels neue Leute mit einem nicht-sowjetischen administrativen
Hintergrund überwogen.1205

7.3. Die wahre Ursache der Konterrevolution


Anhand der oben zitierten empirischen Daten zeichnet sich folgendes Bild ab: Die
politische Führung Russlands wurde nach der Konterrevolution im wesentlichen er-
neuert, während es vor allem im ökonomischen Bereich nennenswerte Überschnei-
dungen gab. Dieses scheinbar widersprüchliche Bild ergibt jedoch erst dann Sinn,
wenn man die Trennlinie nicht erst 1991, mit dem Sieg der Konterrevolution, zieht,
sondern viel früher.
Die Konterrevolution kam nicht über Nacht, sondern hatte eine Vorgeschichte. Diese
hatte ihre Ursprünge mit dem XX. Parteitag der KPdSU und der damit verbundenen
ökonomischen Veränderungen. Die dort stattfindenden Abläufe und Prozesse können

1204
LANE & ROSS (1999), S. 168, vgl. auch KOTZ & WEIR (1997), S. 117 - 118
1205
LANE & ROSS (1999), S. 169 - 182

408
Zur Geschichte der Sowjetunion

hier nicht im Detail wiedergegeben werden 1206, doch ein entscheidender Punkte drehte
sich um die Grundsätze der sozialistischen Produktion, insbesondere um die Rolle der
Warenproduktion und des Wertgesetzes im Sozialismus. Die Position der KPdSU und
Stalins bis in die Mitte der 50er Jahre war, dass die Wirkung dieser Gesetzmäßigkei-
ten, die Überbleibsel der kapitalistischen Produktion sind, im Sozialismus einge-
schränkt wirken und mit zunehmender Entwicklung der Produktivkräfte in ihrem
Wirken noch weiter eingeschränkt werden.
Nach dem XX. Parteitag 1956 schlug die KPdSU einen völlig anderen Weg ein und
erweiterte die Warenproduktion und die Geltung des Wertgesetzes. Angefangen mit
der Auflösung der Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) und deren Übergabe in das
Eigentum der Kolchosen, gegen die schon Stalin mit aller Deutlichkeit argumentiert
hatte, bis hin zu den ökonomischen Reformen in den 1960er Jahren, die darauf abziel-
ten, dass die Eigenverantwortung der Betriebe erhöht wird und diese einen Teil des
Gewinns für sich behalten sollten. Die Sowjetunion unter Chruschtschow bevorzugte
eine Schwächung der staatlichen Kontrolle der Wirtschaft. Sie stärkte die Rolle der
Warenproduktion und des Wertgesetzes und die zentrale Bindung der erstellten Pläne
wurde gelockert. Die Ministerien hatten die Möglichkeit "unprofitable" Wirtschafts-
zweige zu stoppen, ohne zu berücksichtigen, dass sie für die Entwicklung der gesam-
ten Volkswirtschaft nötig waren. Dies verlangsamte die technische Entwicklung und
die Entwicklung der Produktivität. Der Ökonom Girsh Khanin, der die Periode der
wirtschaftlichen Entwicklung der Zeit nach den 2. Weltkrieg bis in die Mitte er 50er
Jahre als die "goldene Zeit der Planwirtschaft" kennzeichnete, musste feststellen, dass
Chruschtschows Maßnahmen ab Ende der 50er Jahre im Sinne der Betriebsdirektoren
(der "ökonomischen Nomenklatura") waren, da die Lockerung der staatlichen Kon-
trolle, diesen größere Spielräume bot - auch sich illegal zu bereichern.1207 Besonders
in der Landwirtschaft richtete Chruschtschow durch die Auflösung der Maschinen-
Traktoren-Stationen sowie sein Neulandprogramm, welches entgegen aller Warnun-
gen durch Wissenschaftler und Ökonomen von Chruschtschow durchgepresst wurde
und zum Fiasko führte, enormen Schaden an. 1208 Nach der Absetzung
Chruschtschows wurden einiger seiner Umsetzungen wieder rückgängig gemacht.
Jedoch wurden dafür andere ökonomische Reformen beschlossen, die die Eigenstän-
digkeit der Betriebe erhöhen sollten, die Gewinnorientierung der einzelnen Betriebe
in den Vordergrund stellten und das Wertgesetz als festen Bestandteil der sozialisti-
schen Produktionsweise definierten.

1206
Als weiterführende Literatur siehe: SPANIDIS, T. (2018), BRAR (1992), KUBI (2015), S. 111-
141, KKE (2008), FLEGEL (2018)
1207
KHANIN, G. (2003), S. 1205
1208
Vgl. SCHNEHEN, G. V. (2016)

409
Zur Geschichte der Sowjetunion

Entgegen gewisser Behauptungen führte das nicht zum Kapitalismus1209, doch die
logische Folge einer solchen Entwicklung führt zu Gorbatschow und zur Konterrevo-
lution, da sie die zentrale Planwirtschaft zunehmend sabotierte.1210 Bei Spanidis
(2018) lesen wir zur Beurteilung dieser Reformen:
"Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass der Effekt der Kossygin-Reform
auf das sowjetische Wirtschaftssystem politisch und ökonomisch negativ war, also
das sozialistische System unterminierte. Politisch, weil sich damit die revisionistische
Auffassung von der 'sozialistischen Warenproduktion' und dem Wertgesetz als Regu-
lator der Produktion im Sozialismus endgültig durchsetzte und in den folgenden Jahr-
zehnten immer weiter an Einfluss gewann.
Damit wurden die Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Produktionsweise, die zent-
rale Planung der Produktion und Verteilung der Güter entsprechend den wachsenden
Bedürfnissen der Gesellschaft, ignoriert bzw. theoretisch verwässert. Sowjetische
Ökonomen wie Liberman, Gatowski, Leontiew usw. gingen fälschlicherweise davon
aus, dass Elemente wie Gewinn und Warentausch widerspruchsfrei in das System
einer sozialistischen Planwirtschaft integrierbar seien, obwohl das Prinzip der Plan-
wirtschaft gerade in die gegenteilige Richtung weist: Ausrichtung der Produktion an
einem gesellschaftlichen Gesamtplan und nicht an den Gewinnerwartungen der Ein-
zelbetriebe.
Es ist wenig überraschend, dass solche Fehlkonzeptionen auch ökonomisch negative
Auswirkungen haben, da sie das sozialistische System untergraben. Der bürgerliche
Ökonom Wladimir Kontorowitsch hat diesen Zusammenhang bereits sehr scharfsin-
nig analysiert, als die Sowjetunion noch existierte. Kontorowitsch schätzt ein, dass
der Effekt der Kossygin-Reform auf das Wachstum vermutlich negativ war. Indem
das Gewinnziel für die Betriebe stark aufgewertet wurde und die Zahl der Produkte,
für die der Ministerrat Outputziele festlegte, gesenkt wurde, ergaben sich für die Be-
triebsdirektoren neue Möglichkeiten, ihr Planziel zu erreichen, indem man den Pro-
duktmix hin zu teureren Produkten verschob und neue Produkte mit höheren Preisen
einführte. Solches Verhalten hatte jedoch mit den Bedürfnissen der sowjetischen
Gesellschaft und Wirtschaft nichts zu tun, weil es nur an den staatlich festgelegten
Preisen orientiert war.
Zweitens legte die Reform wenig Gewicht auf technischen Fortschritt, indem immer
weniger Boni für Innovationen ausgezahlt wurden. Damit sank die Rate der Produkti-
vitätssteigerungen durch Produktivität (Kontorovich 1988, S. 310).

1209
Die Behauptung, dass nach 1956 in der Sowjetunion der Kapitalismus restauriert wurde ist
z. B. Position der MLPD, siehe DICKHUT, W. (1988)
1210
Vgl. SPANIDIS (2018)

410
Zur Geschichte der Sowjetunion

Drittens, und das ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt, gerieten mit der Reform
zwei gegensätzliche Prinzipien der Wirtschaftssteuerung, nämlich zentrale Planung
und Steuerung durch den Markt, in ständigen Konflikt miteinander. Die teilweise
Dezentralisierung der Investitionen lenkte Investitionen von zentral vorgesehenen
Verwendungen ab, die aber ein wichtiges Mittel der Planungsbehörden waren, um ein
wirtschaftliches Gleichgewicht sicherzustellen. Die Zuweisung einer geringeren An-
zahl physischer (also in Gebrauchswerten statt Preisen ausgedrückten) Outputziele
zog nach sich, dass Angebot und Nachfrage für die betreffenden Produkte, für die es
keine zentralen Vorgaben mehr gab, dann gar nicht mehr geplant ausgeglichen wer-
den konnten. Ständige Missverhältnisse zwischen Produktionszahlen und realem
Bedürfnis waren somit unvermeidlich. Die Einführung aggregierter Planziele in
Geldgrößen (Profite und Verkäufe) beschädigte daher die Konsistenz des Plans (Kon-
torovich 1988, S. 312f). Kontorowitsch argumentiert daher, dass keineswegs die un-
vollständige administrative Umsetzung der Reform dafür verantwortlich war, dass sie
die wirtschaftliche Leistung nicht verbesserte, sondern dass dadurch im Gegenteil die
Sowjetunion vor Schlimmerem bewahrt wurde. Denn die sowjetischen Planer ver-
suchten gerade deshalb die Umsetzung der Reform vielfach zu verzögern, abzu-
schwächen oder ganz zu verhindern, weil sie darin zu Recht eine Gefährdung des
Planungsgleichgewichts sahen (Kontorovich 1988, S. 314)." 1211
Zunehmend zeichnete sich ab, bedingt durch die ökonomischen Reformen wie auch
den politischen Verfall in der Sowjetunion, dass neben der offiziellen staatlichen
Wirtschaft sich eine parallele zweite, eine Schattenwirtschaft etablierte, die zuneh-
mend an Einfluss gewann. Die von der illegalen Schattenwirtschaft verursachten
Probleme wurden von der sowjetischen Regierung ignoriert, teilweise war sie sogar
tief in dieser verwurzelt. Es wurden keine juristischen Schritte gegen die illegale
Ökonomie vorgenommen und Mitte der 80er Jahre machte sie einen beachtlichen Teil
der Volkswirtschaft aus. Dieser logische Schritt wird in der Arbeit von Keeran &
Kenny (2010) ausgearbeitet.1212 Diese Schattenwirtschaft war dann auch die Quelle
für Gorbatschows Konterrevolution.
Die politischen und wirtschaftlichen Prozesse zwischen 1956-1985 waren noch nicht
zugunsten der Konterrevolution gesichert, auch wenn viel Schaden angerichtet wurde.
Dies zeigte sich nicht nur in der Ökonomie, sondern auch im politischen Bereich. Wir
haben ja schon im Verlauf dieses Buches gesehen, dass mit der Vorstellung der Dikta-
tur des Proletariats und des Klassenkampfes es ab Ende der 50er Jahre zu einer verän-
derten Sichtweise kam. Man wich von der Diktatur des Proletariats ab und sprach
vom Staat des ganzen Volkes. Das hatte einen unaufhörlichen schädlichen Einfluss

1211
SPANIDIS (2018), S. 21-22
1212
KEERAN & KENNY (2010), Kapitel 3

411
Zur Geschichte der Sowjetunion

auf die politische Ideologie und das Denken der Partei wie der Gesellschaft. Bürgerli-
che Ideologie floss in das Denken ein, da das Monopol der proletarischen Ideologie
damit gebrochen wurde. Hier können solche Thesen wie die Friedenfähigkeit des
Imperialismus, die irrsinnige Behauptung des Erreichens des Kommunismus in den
1980ern (man hat ja gesehen, wie‘s klappt!), das unreflektierte Konkurrenzdenken mit
den USA, diese in allen Bereichen der Konsumption zu übertreffen, unabhängig da-
von, ob es sinnvoll war oder nicht oder die widerspruchslose Siegessicherheit des
Sozialismus als Beispiele gelten. Man reduzierte die Entwicklung des Sozialismus auf
seine Produktivität (hauptsächlich im Konsum), ohne sich aber große Gedanken über
die Überwindung der bestehenden Klassenunterschiede oder der Unterschiede zwi-
schen Stadt und Dort oder Hand- und Kopfarbeit zu machen.
Im Kapitel über die soziale Mobilität wurde festgestellt, dass zum Ende der Sowjet-
union diese nicht mehr die hohen Mobilitätsraten hatte, wie z. B. in der Stalin-Ära.
Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Gedanke, man müsse nur die
Produktion steigern und schon verschwinden die Klassenunterschiede, zu einfach ist.
Dies bedarf aber logischerweise einer genaueren Überprüfung und soll nur als mögli-
che Hypothese stehen. Solche Ideen hatten natürlich auch Einflüsse auf die Partei und
ihre Avantgarderolle oder auf ihren Kampf gegen den Bürokratismus oder auf die
politische Bildungsarbeit der Partei. Wir haben oben festgestellt, dass der Sieg über
den Bürokratismus mit dem politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse und ihrer
Partei steht und fällt.
Der US-amerikanische Historiker Mark Davidow schreibt: "Die Überschätzung des
Grades der sozialistischen Entwicklung in der UdSSR führte zu einer Unterschätzung
der Rolle der Arbeiterklasse. Wenn der 'vollständige Sieg des Sozialismus' abgesi-
chert ist, wenn antagonistische Klassen verschwunden sind, wenn es schon einen
Staat des ganzen Volkes gab, dann folgt daraus, dass die Notwendigkeit der Arbeiter-
klasse die führende Klasse in der Gesellschaft zu sein erheblich vermindert, wenn
nicht eximiert wurde. (…) Die nicht anerkannte antagonistische Klasse, die in Form
der Kräfte des Schwarzmarktes auftrat, spielte eine zunehmend negative Rolle in der
sowjetischen Wirtschaft. (…) Sie begann zunehmenden Druck auszuüben, um ihren
Einfluss zu 'legitimieren', im Einklang mit der machtvollen Position des Kapitalismus
in der Welt. Sie wurden aufrechterhalten und ermutigt durch die moralische und die
materielle Unterstützung, die sie von dieser Quelle erhielten. Die Kanäle der Demo-
kratisierung, Glasnost und des politischen Pluralismus versorgten diese Schwarz-
marktkräfte mit ihrer ersten echten politischen Öffnung und sie drängten darauf das
meiste daraus zu machen."1213

1213
DAVIDOW, M. (1993), S. 56

412
Zur Geschichte der Sowjetunion

In dieser Zeit haben immer noch kommunistische Kräfte verucht, den konterrevoluti-
onären Prozessen entgegenzuwirken. Doch mit der Machtübernahme Gorbatschows
wendete sich das Blatt.
Gorbatschow säuberte den Staatsapparat zugunsten der Konterrevolution. Jegor Li-
gatschow, damals lange Zeit der zweite Mann in der KPdSU nach Gorbatschow
schreibt, dass sogar noch bevor Gorbatschow zum Generalsekretär ernannt wurde,
massive Säuberungen zugunsten von Reformen durchgeführt wurden: "Zum Ende des
Jahres 1983 waren etwa 20% der Ersten Sekretäre der Gebietsparteikomitees, 22%
der Mitglieder des Ministerrats sowie eine beträchtliche Anzahl von leitenden Funkti-
onären aus dem Apparat des ZK (Leiter und stellvertretende Leiter von Abteilungen)
ausgetauscht worden. Durch diese Umbesetzungen wurden die Möglichkeiten, die
Neuerungen Andropows durchzusetzen, wesentlich konsolidiert."1214
Mit der Machtübernahme Gorbatschows weiteten sich diese Säuberungen aus. Gerd
von Schnehen (2018) nennt einige detailreiche Beispiele von Gorbatschows Säube-
rungen: "Um einen seiner guten Freunde zum Abteilungsleiter für Fragen der Organi-
sation im Zentralkomitee zu machen, wird der alte Abteilungsleiter, Iwan Kapitonow,
ins Visier genommen und von Gorbatschow schlecht gemacht. Dies war eine wichtige
Position, weil dieser Mann als Organisationssekretär auch über Kaderfragen entschei-
den konnte. Gorbatschow bezeichnet ihn Andropow gegenüber als 'völlig unent-
schlossen', und von Andropow befragt, wen er sich denn als Nachfolger vorstellen
könnte, bringt er Jegor Ligatschow - damals Erster Sekretär des Gebietskomitees in
Tomsk -ins Spiel, zu dem Gorbatschow ständig Kontakt unterhielt und der seine Vor-
stellungen damals noch unterstützte. Also schlägt er ihn vor, und wird dabei auch von
Außenminister Andrej Gromyko unterstützt. Gorbatschow:
'Ich bestellte Jegor Kusmitsch (das ist Ligatschow – Verf.) zu mir, und er nahm das
Angebot begeistert an. Im Sommer 1983 wurde er zum Abteilungsleiter berufen; am
26. Dezember wählte ihn die Plenarsitzung (also das Zentralkomitee der KPdSU –
Verf.) zum Sekretär des ZK.' (Michail Gorbatschow, 'Erinnerungen', ebd., S. 222).
Ein zweites Beispiel: Leiter der Abteilung Wissenschaft und Hochschulwesen war
damals noch S. P. Trapesnikow. Auch er wird schon im Sommer 1983 von Andropow
und Gorbatschow abgesetzt. Gorbatschow schreibt in seinen Erinnerungen, dass er
'ausschließlich dank Breschnew' 1965 auf diesen Posten gelangt sei und einen 'extre-
men Dogmatismus', wie er in seinem Buch 'An jähen Wenden der Geschichte' zum
Ausdruck gekommen sei, an den Tag gelegt habe. Er sei ein 'Fundamentalist', von
dem keinerlei Neuerungen zu erwarten seien.

1214
LIGATSCHOW, J. (2012), S. 29

413
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gorbatschow schlägt dann Andropow seinen Freund Wadim A. Medwedjew als neu-
en Mann vor, der später für Gorbatschow durch Dick und Dünn gehen sollte und zu
einem seiner engsten antisowjetischen Mitstreiter wurde. Er kannte ihn seit Anfang
der siebziger Jahre. Gorbatschow lobt ihn, weil er als Wirtschaftswissenschaftler 'ein
Mann mit unabhängigen und fortschrittlichen Ansichten' sei, also ganz auf seiner
Reformlinie lag. Gorbatschow schleppt Medwedjew zu Andropow, damit er diesen
'fortschrittlichen' Mann kennenlernt. Dieser hat einen positiven Eindruck von ihm und
ist mit seiner Ernennung einverstanden.
Das Personalkarussell sollte sich aber erst richtig nach Gorbatschows Wahl zum neu-
en Generalsekretär drehen:
Seinen langjährigen Kumpel aus Georgien, Edward Schewardnadse, von dem er
häufig nach Georgien eingeladen wurde und der wie Gorbatschow für das Ende einer
antiimperialistischen Außenpolitik eintrat, wird von Georgien im April 1985 ins Po-
litbüro geholt und wenig später zum neuen Außenminister gekürt, obwohl er keinerlei
Erfahrungen auf diesem Gebiet hatte. Andrej Gromyko, sowjetischer Außenminister
seit 1957, wird nach 28jähriger Tätigkeit im Außenamt auf den recht einflusslosen
Posten eines Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet abgeschoben. Danach
ändert sich die sowjetische Außenpolitik zu Gunsten einer Politik des 'Neuen Den-
kens', der einseitigen Zugeständnisse an die USA und die Nato. Die kommunistische
Bewegung und die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt werden links liegen
gelassen und ihnen die Unterstützung mit Waffen, Beratern und Geld nach und nach
entzogen.
Nikolai Tichonow, der nach dem Tod des Wirtschaftsreformers Alexej Kossygin im
Jahre 1980 neuer Ministerpräsident geworden war und die marktwirtschaftlichen
Reformen seines Amtsvorgängers zurückfuhr, wird von Gorbatschow in den Ruhe-
stand geschickt und durch Nikolai Ryschkow, mit dem er unter Breschnew sehr eng
und vertrauensvoll im Zentralkomitee zusammengearbeitet hatte, ersetzt. Im April
(1985) macht er ihn zum Mitglied des höchsten Entscheidungsgremiums, obwohl er
noch nicht Kandidat des Politbüros ist, was ein klarer Verstoß gegen das Statut der
KPdSU war.
Auch die KGB-Führung wird ausgetauscht. Der Breschnew-Vertraute Vitali Fedort-
schuk war schon von Andropow geschasst worden und wird durch Viktor M. Tsche-
brikow ersetzt, aber Gorbatschow macht diesen ihm sehr genehmen Mann im April
1985 auch noch gleich zum neuen Mitglied des Politbüros, um seine eigene Position
dort zu stärken, denn die Machtverhältnisse stehen dort auf der Kippe.

414
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gorbatschows Berater in Sachen Außenpolitik, Anatoli Tschernajew, schildert in


seinen Tagebuchnotizen, wie Gorbatschow auf dem Plenum vom 23. April (1985)
vor die erstaunten ZK-Mitglieder trat und ihnen seine Wunschkandidaten präsentierte:
'Diesmal konnte keiner der ZK-Mitglieder ahnen, wer ausgewählt würde. Gor-
batschow zog sein Notizbuch aus der Tasche und schlug vor: Ligatschow, Ryschkow
und Tschebrikow ins Politbüro; Marschall Sokolow als Kandidat; Nikonow als Sekre-
tär für Landwirtschaft. Nach der Wahl gratulierte er allen und lud die neuen Politbü-
romitglieder ins Präsidium ein. Ligatschow ließ er neben sich am Tisch des Vorsit-
zenden Platz nehmen, und dieser leitete die Versammlung. Jetzt herrschte im Politbü-
ro, notierte ich abends, die absolute Mehrheit seiner acht Freunde gegen, wenn man
das so sagen darf, Tichonow, Kunajew, Schtscherbizki und Grischin."
(Anatoli Tschernajew, 'Die letzten Jahre einer Weltmacht', Stuttgart 1993, S. 42).
Mit dieser Mehrheit ließ sich arbeiten und konnten weitere Weichen in Richtung
Perestroika gestellt werden.
Gorbatschow holt jetzt auch Boris Jelzin, den Parteichef von Swerdlowsk. Jelzin und
Gorbatschow kannten sich lange, als beide als Erste Sekretäre in ihren Regionen ar-
beiteten: Jelzin in Swerdlowsk und Gorbatschow in Stawropol. Jelzin wird zum Chef
der Moskauer Partei gemacht und führt dort sofort seine eigenen, noch etwas radikale-
ren Säuberungen durch. Er löst innerhalb kürzester Zeit 60% der Bezirkssekretäre ab,
'… praktisch die gesamte Klientel seines Vorgängers.' (György Dalos, 'Gorbatschow.
Mensch und Macht', ebd., S. 82).
Sein Vorgänger war der Gorbatschow-Kritiker Grischin gewesen, der im März bei der
Wahl zum Generalsekretär als Alternative zu Gorbatschow im Gespräch gewesen
war. Auch er muss jetzt seinen Hut nehmen. Er verliert seinen Platz im Politbüro,
dafür kommt Jelzin ein Jahr später, im Februar 1986. Später sollte er aber von den
Delegierten der Moskauer Parteiorganisation wegen seiner Misswirtschaft und Ei-
genwilligkeiten wieder abgewählt werden, was ihn aber nicht daran hindern konnte,
einmal russischer Präsident zu werden."1215
"Gorbatschow bringt einen weiteren seiner Stawropoler Kumpanen nach Moskau:
Wsewolod Murachowskij. Sie kannten sich schon aus dem Komsomol, wo
Murachowski sogar zeitweilig Gorbatschows Vorgesetzter gewesen war. Als Gor-
batschow 1978 von Andropow und Breschnew nach Moskau geholt wird, um dort die
Nachfolge des plötzlich verstorbenen Kulakow als Sekretär für Landwirtschaftsfragen
anzutreten, setzt er seinen Freund als Nachfolger im Stawropoler Gebiet ein. Sieben

1215
SCHNEHEN, G. (2018), S. 124 - 128

415
Zur Geschichte der Sowjetunion

Jahre später, als Gorbatschow schon Generalsekretär ist, holt er ihn nach Moskau und
macht ihn zum Leiter des neu eingerichteten Staatskomitees für die Landwirtschafts-
industrie, Gosagroprom (vgl. Gerd Ruge, 'Michail Gorbatschow', eine Biografie, ebd.,
S. 196). Dieser Mann besaß keine landwirtschaftliche Ausbildung, sondern hatte
Geschichte studiert. Aber wichtiger war für Gorbatschow, einen zuverlässigen Mit-
streiter und einen Mann seiner Denkungsart neben sich in Moskau zu haben.
Schließlich hievt Gorbatschow noch den für ihn wohl wichtigsten Mann weiter nach
oben, der schon ungeduldig wartete: den Perestroika-Architekten Alexander Jakow-
lew, sein wohl engster Vertrauter und Mitstreiter, den er, wie wir gesehen haben, aus
dem kanadischen Exil wieder nach Moskau holte. Er wird nun neuer ZK-Sekretär für
Ideologie und Propaganda. Also ein geschworener Feind der Sowjetunion und des
Sozialismus, ein Anhänger des Neoliberalismus, ein überführter CIA-Agent und An-
walt der internationalen Hochfinanz, wird zum Chef-Interpreten des Marxismus-
Leninismus bestellt, aber auch zum Kommissions-Vorsitzenden zur Untersuchung des
'stalinistischen Unrechts' zwecks Rehabilitierung der letzten 'Opfer des Stalinismus'!
Auch die Archive werden ihm später unterstellt, so dass der CIA-Mann alle wichtigen
Dokumente zur Geschichte der UdSSR unter seine Kontrolle bekommt und damit in
seinem Sinne und im Sinne seiner US-amerikanischen Auftraggeber arbeiten kann.
Später zauberte er ein 'neues Dokument' zum Fall der in Katyn erschossenen polni-
schen Offiziere und Intellektuellen aus dem Hut, aus dem angeblich hervorging, dass
Stalin und Berija die Massenerschießungen, und nicht die Nazis, vornehmen ließen.
Dieser Mann der westlichen Eliten kommt im Januar 1987 dann auch dank Gor-
batschow ins Politbüro und erhält von seinem Freund folgendes umfangreiches Port-
folio im ZK, das größte Ressort: das für die Presse, für Information, für Kultur, für die
Wissenschaft und für internationale Angelegenheiten (!). Er wird zum Architekten für
die neue sowjetische Kulturpolitik, aber auch für Gorbatschows neue Medienpolitik,
verfasst unzählige Memoranden für Gorbatschow und wird sein wichtigster Reden-
schreiber, aber auch ein Initiator für umfangreiche Verfassungsänderungen. Bei jedem
Auslandsbesuch, bei jedem Gipfeltreffen ist er dabei, in jeder wichtigen Kommission
sitzt er und führt den Vorsitz - gleich ob es um ein neues Parteiprogramm für die
KPdSU, um ein wichtiges Gesetz oder um eine Verfassungsänderung geht: Der Schat-
ten und Ideengeber Gorbatschows ist immer zur Stelle. (…)
Aber all dies ist nur die Spitze des Eisbergs und noch lange nicht alles. Gründlich wie
er war, und wahrscheinlich von Jakowlew gut beraten, führt Gorbatschow auch in den
Republiken Säuberungen durch, darunter in Kasachstan, wo das Politbüromitglied D.
Kunajew an der Spitze der kasachischen KP steht. Er ist Kasache und sehr angesehen.
Gorbatschow ersetzt ihn nach dubiosen Vorwürfen der Bevorzugung von Verwandten
(Nepotismus) durch den Russen G. W. Kolbin, womit er sich über ein tragendes Prin-

416
Zur Geschichte der Sowjetunion

zip der Leninschen und Stalinischen Nationalitätenpolitik hinwegsetzt, dass nämlich


die höchsten Positionen in einer nichtrussischen Sowjetrepublik von Einheimischen
zu besetzen sind. Am Tag nach Kunajews Absetzung, am 17. Dezember 1986, kommt
es in der Hauptstadt Kasachstans, in Alma Ata, zu Massenprotesten gegen die Maß-
nahme: Über zehntausend Menschen gehen auf die Straße mit Parolen wie 'Kasachs-
tan den Kasachen'. Gorbatschow setzt die Armee gegen die Demonstranten ein. Es
gibt 28 Tote. Es ist der erste große ethnische Konflikt in der Ära der Perestroika,
ausgelöst durch Gorbatschows rigorose Personalpolitik. Gorbatschow gibt dem 'Nati-
onalismus' und 'Extremisten' die Schuld an den Toten." 1216
Von großer Bedeutung waren jedoch auch die Säuberungen Gorbatschows in den
unteren Ebenen der Sowjetmacht. Der Trotzkist Ernest Mandel, der Gorbatschow in
den höchsten Tönen lobte und damit wieder einmal zeigte, auf wessen Seite die
Trotzkisten stehen, schreibt: "Die Modernisierung des Apparats hat seit dem Amtsan-
tritt Gorbatschows Fortschritte gemacht. Darüber liegen Zahlen vor. Zwischen seiner
Wahl zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees und dem 27. Parteitag ersetzte Gor-
batschow fünf der 12 Mitglieder des Politbüros (…), zehn der 24 Abteilungsleiter des
Zentralkomitees, 30 der 80 Minister und Präsidenten des Staatsrats, vier der 15 Partei-
sekretäre für die Sowjetrepubliken, 50 der 150 regionalen Ersten Sekretäre der
KPdSU und 138 der 320 Mitglieder des alten Zentralkomitees."1217
1986 wurden gegen 200.000 Funktionäre Maßnahmen ergriffen, wovon 32.000 Ord-
nungsstrafen erhielten.1218 Im April 1989 wurden 110 ZK-Mitglieder in den Ruhe-
stand versetzt. Der Hintergrund war, dass sie das alte System repräsentierten und so
im Wege standen.1219 Gorbatschow ersetzte 50% des Politbüros, 14 der 23 Leiter der
Abteilungen des ZK, 5 der 14 Vorsitzenden der Republiken, 50 der 157 Ersten Sekre-
täre der Krais und Oblasts. Er ersetzte 40% der Botschafter und entlässt über 50.000
Manager.1220
Die Ironie der Geschichte ist dabei, dass einige bürgerliche Autoren behaupten, dass
die Säuberungen Gorbatschows weitreichender waren, als die von Stalin. Mawdsley
& White (2000) schreiben z. B. dass die Perestroika fast die gesamte politische Elite
des Landes ersetzte. 1990 war die Fluktuation der Mitglieder im Zentralkomitee sogar
größer als während der Säuberungen unter Stalin. 1221 Natürlich sollte hier der Ein-
wand nicht fehlen, dass Stalins Säuberungen gerade diejenigen Leute hinfortjagte, die

1216
SCHNEHEN (2018), S. 129 - 131
1217
MANDEL, E. (1989), zitiert in SCHNEHEN (2018), S. 131
1218
Vgl. MANDEL (1989), S. 106, zitiert in SCHNEHEN (2018), S. 133
1219
SCHNEHEN (2018), S. 131
1220
KEERAN & KENNY (2010), S. 101
1221
MAWDSLEY & WHITE (2000), S. xii & 197

417
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gorbatschow während seiner Amtsperiode einsetzte. Die personellen Veränderungen


reflektierten logischerweise auch politische und ökonomische Veränderungen. Zu-
nehmende Privatisierungen der Wirtschaft ließen eine neue kapitalistische Klasse
entstehen, Gorbatschow unterstützte zunehmend den Kapitalismus, der von Jelzin
komplettiert wurde. Holländer (2018) kommentiert beispielsweise:
"Als die Planwirtschaft [unter Stalin - M. K.] noch effektiv in Kraft war, konnte man
durch Rückmeldungen prüfen, in welchem Betrieb es zu wenig Material gab. Jetzt
[nach Einführung der Reformen unter Breschnew und Kossygin - M. K.] war es so,
dass man solche Mängel zum Teil auf dem Schwarzmarkt organisierte. Und der
Schwarzmarkt selbst funktionierte durch Diebstahl aus den Betrieben. Breschnew und
Teile aus der Partei haben es stillschweigend hingenommen und sogar zum Teil selbst
damit einen konsumorientierten Lebensstil kultiviert. Sie verschlossen die Augen
davor, dass durch diese Schattenwirtschaft eine neue Klasse von Kleineigentümern im
Begriff war zu entstehen. (…) Die Schwarzmarkt-Schieber wurden unter Breschnew
immerhin noch als 'Abschaum' charakterisiert. Gorbatschow adelte sie zu legitimen
Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft. Diese Ganoven bekamen auch das Recht,
Betriebe privat zu führen. Verschämt bezeichnete man diese als 'Genossenschaften',
aber jeder wusste, dass damit Privateigentum gemeint war. (…) Mit der Perestroika
wurden die Ministerien [die Planungsministerien - M. K.] nicht abgeschafft, sondern
bekamen die Aufgabe, sich der Entwicklung der Betriebsautonomie zu widmen. Man
könnte dies auch als geplanten Selbstmord bezeichnen. Gorbatschow schlug vor, dass
die Betriebe selbstverantwortlich werden für die Löhne, abhängig von den Verkäufen.
Die Partei soll sich aus allen wirtschaftlichen Belangen zurückziehen. Noch garantier-
te der Staat den Industriebetrieben die Abnahme der Industrieprodukte. Gorbatschow
wollte das auf einen Schlag auf nur noch die Hälfte reduzieren, damit der Rest zum
Privatverkauf steht. Das war de fakto die Abschaffung der Planwirtschaft. (…) Die
landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften sollten am Staat vorbei wirtschaften. Gor-
batschow sprach offen von der 'Änderung der Produktionsverhältnisse' durch Pacht-
verträge. (…) Ende 1988 besuchte Helmut Kohl die Sowjetunion und stellte fest, dass
ihm 'vieles unglaublich vertraut' vorgekommen sei und Ludwig Ehrhard über die
Entwicklungen seine 'reine Freude' haben würde."1222
Diese Tatsache erklärt auch, warum es bei den Geschäftsleuten so viele Überschnei-
dungen zwischen der sowjetisch-sozialistischen und der kapitalistischen Periode gab.
Wenn Gorbatschow über 50.000 Manager entlassen hat und durch "seine" Leute er-
setzte, wenn er die Privatisierung der Wirtschaft zunehmend förderte, war die Konter-
revolution in der Wirtschaft, also in der Eigentumsfrage, schon vollzogen worden. Es

1222
HOLLÄNDER, G. (2018), S. 94 - 96

418
Zur Geschichte der Sowjetunion

musste nur noch der politische Überbau beseitigt werden, was durch Jelzin komplet-
tiert wurde. Folglich sind die erst einmal widersprüchlichen wirkenden Daten der
oben zitierten Forscher nicht verwunderlich. Sie haben ja festgestellt, dass vor allem
Teile der ökonomischen Elite der späten Sowjetunion sich auch im kapitalistischen
Russland wiederfanden.
Es ist von Interesse, zum Abschluss festzustellen, wie sich Trotzki die Konterrevolu-
tion vorstellte. Er prognostiziert in Verratene Revolution: "Um den Charakter der
heutigen UdSSR besser verstehen zu können, zeichnen wir zwei hypothetische Zu-
kunftsvarianten. Stellen wir uns vor, die Sowjetbürokratie sei gestürzt von einer revo-
lutionären Partei, die alle Eigenschaften des alten Bolschewismus besitzt, zugleich
aber auch um die Welterfahrung der letzten Periode reicher ist. Eine solche Partei
würde zunächst die Demokratie in Gewerkschaften und Sowjets wiederherstellen. Sie
könnte und müsste den Sowjetparteien die Freiheit wiedergeben. Gemeinsam mit den
Massen und an ihrer Spitze würde sie schonungslos den Staatsapparat säubern. Sie
würde Titel und Orden, überhaupt alle Privilegien abschaffen und die Ungleichheit in
der Entlohnung auf das Maß des für Wirtschaft und Staatsapparat Lebensnotwendigen
beschränken. Sie würde der Jugend Gelegenheit geben, selbständig zu denken, zu
lernen, zu kritisieren und sich zu formen. Sie würde entsprechend den Interessen und
dem Willen der Arbeiter- und Bauernmassen tiefgehende Änderungen in der Vertei-
lung des Volkseinkommens vornehmen. Doch was die Eigentumsverhältnisse anbe-
langt, so brauchte die neue Macht keine revolutionären Maßnahmen zu ergreifen. Sie
würde das Planwirtschaftsexperiment fortsetzen und weiterentwickeln. Nach der
politischen Revolution, d.h. nach der Niederringung der Bürokratie, hätte das Proleta-
riat in der Wirtschaft eine Reihe wichtigster Reformen, doch keine neue soziale Revo-
lution durchzuführen.
Würde dagegen die herrschende Sowjetkaste von einer bürgerlichen Partei gestürzt,
so fände letztere unter den heutigen Bürokraten, Administratoren, Technikern, Direk-
toren, Parteisekretären, überhaupt privilegierten Spitzen, nicht wenige willige Diener.
Eine Säuberung des Staatsapparates wäre natürlich auch in diesem Falle erforderlich,
doch brauchte die bürgerliche Restauration wahrscheinlich weniger Leute zu entfer-
nen als eine revolutionäre Partei. Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre je-
doch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherzustellen. (...) Obwohl
die Sowjetbürokratie einer Restauration gut vorgearbeitet hat, müsste das neue Re-
gime auf dem Gebiet der Eigentumsformen und Wirtschaftsmethoden nicht Refor-
men, sondern eine soziale Umwälzung durchführen."1223

1223
TROTZKI (1936), S. 243 - 244

419
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzkis Zitat verdient tatsächlich etwas nähere Betrachtung. Trotzkis Zukunftsvari-


anten sind Folgende: 1. Die Bürokratie wird durch eine revolutionäre Partei gestürzt,
die auf Seiten der Arbeiter steht. Die proletarische Demokratie wird wiederhergestellt
und es wird der Staatsapparat gesäubert. Es wird aber keine revolutionären Verände-
rungen im staatlichen Eigentum geben, da diese sozialistisch sind. 2. Die Bürokratie
wird von einer bürgerlichen Partei gestürzt. Dann wird der Staatsapparat beibehalten
aber das sozialistische Eigentum in kapitalistisches Privateigentum verändert.
Doch wie logisch sind die Aussagen Trotzkis? Die Sowjetunion ist untergegangen,
die Konterrevolution hat gesiegt, aber anders als Trotzki sich es vorstellte. Die oben
geschilderten Tatsachen widerlegen Trotzki. Trotzki geht davon aus, dass der Staats-
apparat beibehalten, aber das gesellschaftliche Eigentum zerschlagen sein würde.
Zwar leugnete er nicht, dass auch im Staatsapparat gesäubert wird, doch im Wesentli-
chen mische die Bürokratie bei der Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse mit.
Staat und Eigentumsverhältnisse stehen jedoch in einer dialektischen Wechselwir-
kung zueinander. Die Eigentumsverhältnisse bestimmen die Staatsmacht (der Staat ist
eben Ausdruck der Klassenherrschaft), die Staatsmacht wiederum legt die Eigen-
tumsverhältnisse fest und sichert diese juristisch ab. Wird das Eine zerschlagen, hat es
automatisch Auswirkungen auf das Andere. Nach der Konterrevolution in der Sow-
jetunion und in anderen sozialistischen Staaten wurde nicht nur das Privateigentum an
den Produktionsmitteln wieder errichtet, sondern auch der sozialistische Staat zer-
schlagen: die KPdSU wurde verboten, die Eigentums- und Rechtsverhältnisse wurden
zugunsten des Privateigentums verändert, die Planungsbehörden zerstört, die Ge-
heimdienste und das Militär umstrukturiert und der Kommunismus als Weltanschau-
ung kriminalisiert. Sogar die Sowjetunion als Staatsgebilde wurde aufgelöst. Die
politische Führung der Sowjetunion wurde ebenso von der Konterrevolution hinweg-
gefegt, wie auch der Staatsapparat.
Die zitierten Daten haben bestätigt, dass es, zumindest bei der Staatsführung und
damit im Staatsapparat, nur wenige Überschneidungen zwischen der Sowjetunion und
dem kapitalistischen Russland gibt. Zwar finden sich in der "ökonomischen Elite",
einige Überlappungen, da viele Betriebsdirektoren zu Oligarchen wurden. Doch ist
das nicht das Resultat eines moralischen Verfalls der "Bürokratie", sondern ist Folge
der ökonomischen Veränderungen, die Gorbatschow eingeleitet hatte und die ihre
Vorgeschichte in der Aushebelung der zentralen Planwirtschaft hatten. Das etablierte
eine neue kapitalistische Klasse (die durch die illegale Schattenökonomie teilweise
schon vorher existierte), die dann in der Folge den sowjetischen Staatsapparat zerstör-
te und das Personal auswechselte. Mit Gorbatschow und Jelzin hatten sie dabei die
politischen Gallionsfiguren gefunden, den letzten entscheidenden Schritt zu unter-
nehmen: die Staatsmacht im Interesse der Kapitalisten aufzubauen. Es war nach Kee-
ran & Kenny gerade diese illegale Schattenökonomie, die Teile der Partei und des

420
Zur Geschichte der Sowjetunion

Staates korrumpierte und mit ihrer kleinbürgerlichen Mentalität die Konterrevolution


durchführte und nicht die Bürokratie (also der Staatsapparat) als solches. 1224 Damit
trat es auch anders ein als Trotzki es prophezeite: Das Staatseigentum wurde noch
während der Existenz der Sowjetunion durch Gorbatschow zerstört und in Privatei-
gentum verwandelt. Trotzki ging jedoch erst von der Zerschlagung der Bürokratie (=
des sowjetischen Staates) aus, welches das Privateigentum wiederherstelle. Der politi-
sche Überbau folgte folgerichtig der ökonomischen Basis.
Man erkennt, dass die Bürokratie eben keine unabhängige, über den Klassen stehende
Macht war und folgerichtig als solches nicht die Konterrevolution hätte anführen
können. Revolutionen (wie auch Konterrevolutionen) werden von Klassen geführt.
Wäre die Bürokratie eine Klasse oder eine über den Klassen stehende Allmacht, be-
stünde keine Notwendigkeit der Zerschlagung der Staatsmacht und keinen sogenann-
ten "Elitenwechsel".
Eine Konterrevolution ist immer möglich, solange es Klassen und kapitalistische
Staaten gibt. Mit er Konterrevolution kommt es immer zu einer Zerschlagung des
sozialistischen Staates und der sozialistischen Eigentumsverhältnisse.
Es wurde gezeigt, dass die Sowjetunion kein degenerierter Arbeiterstaat war, kein
Staatkapitalismus (übrigens auch nach 1956 nicht!), kein Rückzug vom Sozialismus,
sondern einfach Sozialismus mit seiner konkret historischen Form und Entwicklung.
Die Tatsachen belegen, dass nicht von der Formierung einer neuen herrschenden und
ausbeutenden Klasse in der Sowjetunion die Rede sein kann. Zumindest geben die
Lohnverteilung, Bildungschancen, sozialen Netzwerke etc. keinen zufriedenstellenden
Hinweis darauf, dass die Sowjetunion von einer herrschenden Ausbeuterklasse regiert
wurde. Jedoch hatten ökonomische und ideologische Veränderungen ab Mitte der
1950er Jahre, die hier nur sehr grob angerissen wurden, die Kräfte der Konterrevolu-
tion gestärkt, dessen politischer Vertreter Gorbatschow und Jelzin waren.

1224
KEERAN & KENNY (2010), S. 266

421
Zur Geschichte der Sowjetunion

7.4. Trotzkismus auf Seiten der Konterrevolution - Volks-


front von Jüdäa gegen Judäische Volksfront
Wir haben mehrmals die Parole gehört, dass Stalin und die Sowjetunion Verrat am
Sozialismus begangen hätten. Folgt man dieser These für einen Augenblick, so müss-
te man logischerweise davon ausgehen, dass die Sowjetführung sich politisch auf
Seite des Kapitalismus und der Reaktion hätte stellen müssen, während der "reine
Sozialismus" - in Form des heilsbringenden Trotzkismus - die Revolution unterstütze.
Die Ironie der Geschichte ist, dass gerade der Trotzkismus durch seinen hasserfüllten
"Antistalinismus" sich auf die Seite der Konterrevolution stellte. Hier werden einige
Beispiele aufgezählt.1225
Die Geschichte des Trotzkismus strotzt im Wesentlichen von Spaltungen, Fraktionie-
rungen und Wiedervereinigungen, die zu erneuter Spaltung führten. Eine trotzkisti-
sche Gruppe, die eine V. Internationale aufbauen will (und somit merkt, dass es mit
der IV. Internationale nichts werden konnte) schildert eine detaillierte Geschichte des
Niedergangs dieses Vereins. Die Sammlung dieses Niedergangs trägt den Titel "Der
Letzte macht das Licht aus - Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der IV.
Internationale".1226 Die Ironie dieser Arbeit ist, dass eine trotzkistische Gruppe den
nun bald 80 Jahre andauernden Niedergang der IV. Internationale beklagt und hofft,
dass durch den Aufbau einer V. Internationale die Probleme der IV. gelöst werden
können. Das Lesen dieser Archivierung des Niedergangs des Trotzkismus wirkt durch
seine Intrigen, Spaltungen und Krisen wie eine Realsatire.
Der britische Kommunist und Gewerkschaftler Denver Walker schrieb Mitte der 80er
Jahre ein nettes Büchlein über den Trotzkismus in Groß-Britannien mit dem Titel
"Quite Right Mr. Trotsky". Seine ersten drei Kapitel befassen sich mit Trotzki und
seinem Werdegang und widerlegen einige seiner "genialsten" Behauptungen: so z. B.,
dass Lenin Trotzki für den besten Bolschewiken hielt, die angeblich fehlenden Proto-
kolle von Parteisitzungen, die der linken Opposition in die Hände gespielt wurden und
Trotzkis Genialität beweisen sollen (diese Protokolle aber erst Jahre später, nachdem
die Opposition 1927 bei den Wahlen gegen das Programm des Zentralkomitees schei-
terte, von Trotzki "entdeckt" wurden) und dass mit den April-Thesen Lenin Trotzkis
Konzept der Permanenten Revolution übernahm. Übrigens die einzigen Beweise, die

1225
Die Absurdität des "linken" Radikalismus lässt sich natürlich nicht nur auf den Trotzkismus
reduzieren. Auch die Fraktion des "linken" Radikalismus, die die Sowjetunion nach 1956 als
imperialistisch bezeichnen und sich fälschlicherweise als "Maoisten" tarnen, hatten sich nicht
selten auf Seite der Konterrevolution geschlagen. Erinnert sei nur an Jörg Baberowski, der im
"maoistischen" KBW Mitglied war.
1226
ARBEITERMACHT: http://www.arbeitermacht.de/dateien/broschueren/vs.htm

422
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzki für seine Positionen hat, sind seine eigene Person und seine in die Welt ge-
setzten Gerüchte.
Diese Kapitel sind sehr kurz und übersichtlich - daher natürlich nicht vollständig
bezüglich der Absurditäten dieses Mannes; doch zur Einführung allemal ausreichend.
In den Kapiteln 4 - 12 geht es um die Geschichte der trotzkistischen Sekten in Groß-
britannien, bzw. die britischen Sektionen der 4. Internationale (Kapitel 4 beschreibt
die erste der 57 Varianten, die restlichen die anderen 56). Diese sind so voller Absur-
ditäten und Wahnwitzigkeiten, dass man sich die Frage stellen muss, ob das wirklich
so war oder ob es Satire ist. Leider wird es ab Kapitel 4 ein wenig kompliziert bei so
vielen Spaltungen, Fraktionierungen, Vereinigungen, Vereinigungs-Spaltungen, Um-
benennungen und Auflösungen. Doch diese Komplexität ist nicht dem Autor geschul-
det. Wem das zu kompliziert ist: Das Buch ist voller schöner und irrwitziger Karrika-
turen ...
Auch wenn das Buch vor 30 Jahren geschrieben wurde, hat es wenig an Aktualität
eingebüßt – zumindest, was den Irrsinn des linken Radikalismus angeht. 1227
Trotzki verfasste 1921 folgende legendäre Worte: "Wenn aber diese sektiererische
Spaltung eintreten sollte, werden wir in der nächsten Zeit nicht nur zur rechten Hand
eine Internationale Nr. 2½ haben, sondern auch von links eine Internationale Nr. 4,
wo Subjektivismus, Hysterie, Abenteuerlust und revolutionäre Phrase in vollendeter
Gestalt vertreten sein werden."1228
Trotzki polemisierte in dieser Rede gegen linke Sozialrevolutionäre und sonstige
linksradikale Strömungen seit der Oktoberrevolution 1917. Aber zweifelsohne begann
Trotzki dieselben Angriffe auf den Sozialismus mit seiner 4. Internationale, "wo Sub-
jektivismus, Hysterie, Abenteuerlust und revolutionäre Phrase in vollendeter Gestalt
vertreten" waren.
Heute gibt es hunderte von Gruppen die behaupten die wahren Führer oder Nachfol-
ger der IV. Internationale zu sein, während die anderen einen "falschen" Trotzkismus
vertreten. Mehrere dieser Gruppen verließen die IV. Internationale und kochten ihr
eigenes Süppchen.

1227
VGL. WALKER (1985)
1228
TROTZKI, L. (1921A)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1921/leo-trotzki-die-schule-
der-revolutionaeren-
strategie?tmpl=%2Fsystem%2Fapp%2Ftemplates%2Fprint%2F&showPrintDialog=1

423
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die IV. Internationale wurde 1938 noch zu Lebzeiten Trotzkis gegründet. Sie zer-
brach jedoch 1953 in etliche Splittergruppen. Einer der Spaltungsgründe war die fal-
sche Vorhersage der IV. Internationale, dass der "degenerierte Arbeiterstaat", also die
Sowjetunion, nach dem zweiten Weltkrieg zusammenbrechen würde. Das ist nicht
erfolgt und es gründeten sich mehrere Volksrepubliken. Außerdem kam der Sieg der
Revolutionen in China und Korea.
Hier gab es differenzierte Einschätzungen dieser Staaten, besonders Jugoslawiens.
Weil Tito sich gegen die sozialistischen Staaten stellte und sich dem Westen annäher-
te, wurde er von manchen als "Revolutionär" gefeiert. Führende Rolle spielte hier der
damalige Vorsitzende der IV. Internationalen, M. Pablo. Seine Positionen setzten sich
auf dem 3. Weltkongress der IV. Internationalen 1951 durch. Außerdem verfolgte
Pablo eine besondere Form des Entrismus. Entrismus bedeutet "Eintritt". Die entristi-
sche Taktik des Trotzkismus heißt Mitgliedschaft (Eintritt) und politische Arbeit in
Organisationen, um die eigenen Positionen durchzusetzen, z. B. in reformistische
Parteien, wie die SPD oder DIE LINKE. Sie verfolgen die Strategie, diese Organisati-
onen von innen zu erobern. Dadurch wollen sie die Mehrheit der Arbeiterklasse ge-
winnen und durch demokratische Wahlen an die politische Macht gelangen. Revoluti-
onäre Gewalt ist für sie nur notwendig, wenn dieser Gang durch die Institutionen und
die Ausschöpfung legaler Möglichkeiten durch Gewalt der Herrschenden verhindert
wird. Jeder, der dieser Überzeugung widersprach, wurde aus der IV. Internationale
ausgeschlossen. 1953 erklärten sich die amerikanischen, britischen und Teile der
französischen Trotzkisten in Opposition zu diesem Kurs, der fortan als Pablismus
bekannt wurde. Sie verließen die IV. Internationale, um das Internationale Komitee
der IV. Internationale (IK) zu gründen. Nach der Spaltung benannte sich die Mehr-
heitsfraktion unter Pablo in Internationales Sekretariat der IV. Internationalen (IS)
um. Ab 1963 gab es unterschiedliche Strömungen zu einer Wiedervereinigung des
Internationalen Sekretariats und des Internationalen Komitees. Pablo wurde zum
Hindernis erklärt. Noch im selben Jahr wurde die Wiedervereinigung vollzogen und
das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale gebildet. Heute ist die IV. Inter-
nationale in drei internationale Organisationen gespalten, die sich als die
IV. Internationale verstehen:
1. Wiedervereinigte IV. Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), welche sich
auf die historische Kontinuität der 1938 gegründeten IV. Internationale beruft. In
Deutschland ist diese Sektion vertreten durch "Internationale Sozialistische Linke"
(isl) und der "Revolutionär Sozialistische Bund" (RSB).
2. IV. Internationale mit dem "Internationalen Komitee". Vertreten wird diese Sektion
durch die World Socialist Website (WSWS). In Deutschland ist die Partei für soziale

424
Zur Geschichte der Sowjetunion

Gleichheit (PSG) die Vertreter dieser Sektion. Diese Gruppierungen treten als "ortho-
dox-trotzkistisch" auf, haben aber Großteils reformistische Programmpunkte.
3. IV. Internationale die 1993 aus der Vereinigung französischer Trotzkistengruppen
und der Internationalen Arbeiterliga entstanden sind. In Deutschland vertreten durch
die Internationalistische Sozialistische Arbeiterorganisation (ISA), die aktiv in der
SPD vertreten ist.
Neben diesen Gruppen der IV. Internationale gibt es jedoch noch weitere Vereinigun-
gen. So gibt es mehrere trotzkistische Gruppierungen, die die IV. Internationale wie-
der aufbauen wollen, die aber in Deutschland kaum vertreten sind. Daneben gibt es
sehr viele Gruppierungen, die sich in der Tradition der IV. Internationalen sehen. Die
wichtigsten Tendenzen werden hier aufgelistet (kein Anspruch auf Vollständigkeit!):
1. Internationale Marxistische Tendenz (deutsche und österreichische Sektion: "Der
Funke".)
2. Komitee für eine Arbeiterinternationale (deutsche Sektion: "Sozialistische Alterna-
tive" – SAV)
3. Internationale Bolschewistische Tendenz, IBT (deutsche Sektion: "Gruppe Sparta-
kus")
4. Internationale Kommunistische Liga, ICL (deutsche Sektion: Spartakist-
Arbeiterpartei Deutschlands (SpAD), Vorläufer: Trotzkistische Liga Deutschlands,
TLD)
Besonders bekannt in Deutschland ist hier die SAV, die ebenso einen entristischen
Kurs verfolgen und z. B. in DIE LINKE aktiv sind.
Weiterhin seien Gruppen zu nennen, die eine V. Internationale wollen (in Deutsch-
land die Gruppe Arbeitermacht), sowie jene, die die Theorien des "Staatskapitalis-
mus" vertreten (Tony Cliff, in Deutschland Linksruck aka Marx21).
Wir haben in dem Kapitel über die Frage, ob die Sowjetunion staatskapitalistisch sei,
von einigen Abspaltungen der IV. Internationale - also der heiligen Kirche Trotzkis -
gelesen. Dort ist auch der Name Max Shachtman gefallen. Der "Shachtmanismus"
gehört mit Sicherheit zu den reaktionärsten Strömungen des Trotzkismus. Als er sich
mit Trotzki über die Frage des "bürokratischen Kollektivismus" komplett zerstritten
hat und seine eigene Sekte gründete (die sich ebenfalls abspaltete) brach Shachtman
später endgültig mit dem Trotzkismus. Er wurde zum Advokaten des Kalten Krieges
und unterstütze z. B. Kennedys Anti-Kuba-Aktion in der Schweinebucht und Südviet-
nam im Kampf gegen den "Stalinisten" Ho Chi Minh. Der Fall Max Shachtman ist ein
glänzender Beleg dafür, wohin die trotzkistische „Analyse“ führt, wenn man sie kon-
sequent zu Ende denkt: nämlich zur offenen Konterrevolution. Diese Logik konnte

425
Zur Geschichte der Sowjetunion

oder wollte der selbstverliebte Trotzki nicht sehen, da haben ihn seine Schüler an
Schläue weit überholt.
Eine Reihe von Anhängern des "Shachtmanismus" machten Karriere in der US-
amerikanischen Regierung, so bei den Demokraten oder in konservativen Think-
Tanks. Einige Berater der Regierung Reagan und Bush senior, wie Paul Wolfowitz
und Jeanne Kirkpatrick gehören zu jenen, die zumindest teilweise von Shachtmans
Ideen beeinflusst waren. Auch Leute wie Irving Kristol, Irving Howe und Sidney
Hook, allesamt intellektuelle Vorreiter des amerikanischen Neokonservativismus
("Neocons"), wurden von Shachtmans antisowjetischer Stalinphobie beeinflusst.1229
Auch James Burnham, der sich mit Trotzki über die Frage des Charakters der Sowjet-
union zerstritt, wurde einer der wichtigsten Ideologen der USA im Kampf gegen den
Kommunismus. Ein Artikel würdigt ihn mit dem Titel des "Ersten Kalten Krie-
gers".1230 Der bekannte US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset, der zu
den ersten amerikanischen Neokonservativen im Kalten Krieg gehört, begann seine
Karriere als Trotzkist.1231 Irving Kristol, führender Ideologe des Neokonservativis-
mus, verleugnet keinesfalls seine trotzkistische Vergangenheit, ganz im Gegenteil
sieht er es als Prozess seines politischen Werdegangs. 1232 Auch der ehemalige briti-
sche Premierminister Tony Blair gab in einem Interview zu, dass er von Trotzki inspi-
riert wurde.1233
Der Hass der trotzkistischen Strömungen auf die Sowjetunion und Stalin, so wie die
Intellektuelle Aussichtslosigkeit und der verbissene Dogmatismus der verschiedenen
trotzkistischen Persönlichkeiten wie Shachtman, Burnham, Kristol und anderer war
eine wesentliche Voraussetzung für den Übergang ins Lager des Imperialismus, der
diesen Hass auf die Sowjetunion teilte. Neben dem Hass auf die Sowjetunion gibt es
nach John B. Judis, Autor des Rezensions-Essays "Trotskyism to Anachronism", noch
eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Trotzkismus und Neokonservativismus: Der
Neokonservativismus sucht danach, die "Demokratie" - gemeint ist damit natürlich
der Imperialismus - in andere Länder zu exportieren, so wie der Trotzkismus die Re-

1229
Siehe Biographie von Max Shachtman: http://www.trotskyana.net/Trotskyists/Bio-
Bibliographies/bio-bibl_shachtman.pdf S.5
1230
SEMPA, F. P. (2000)
http://www.unc.edu/depts/diplomat/AD_Issues/amdipl_17/articles/sempa_burnham1.html
1231
THE TIMES (11. JANUAR 2007) https://www.thetimes.co.uk/article/seymour-martin-lipset-
rxrqgvggn6d
1232
KRISTOL, I. (1977) https://www.nytimes.com/1977/01/23/archives/memoirs-of-a-trotskyist-
memoirs.html. vgl. auch KRISTOL, I. (1995)
1233
INDEPENDENT (10. AUGUST 2017) https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/tony-
blair-leon-trotsky-student-politics-hero-oxford-university-new-labour-leader-prime-minister-
a7885446.html

426
Zur Geschichte der Sowjetunion

volution gewaltsam exportieren will. Der Neokonservativismus sei also ein umge-
stülpter Trotzkismus. Die politische Logik liege in der Expansionspolitik beider Ideo-
logien, wenn auch mit verschiedenen Zielen. 1234 Vielleicht mag Judis Schlussfolge-
rung ein wenig überholt klingen. Gleichzeitig ist es jedoch unübersehbar, dass die
wichtigsten Ideologen des US-Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg früher
Trotzkisten waren. Das kann kein Zufall sein.
Im März 1937 wurde die sogenannte Dewey-Kommission zur Verteidigung Leo
Trotzkis gegründet. Diese sogenannte Kommission "untersuchte" die Moskauer Pro-
zesse und erklärte Trotzki für unschuldig. Es soll an dieser Stelle nicht der Inhalt
dieser Kommission, die nichts weiter als eine propagandistische Selbstinszenierung
des Herrn Trotzki war, unter die Lupe genommen werden. Hier soll ein Verweis auf
Grover Furr Arbeit "Trotsky's Amalgams" genügen. 1235 An dieser Stelle ist es viel
interessanter, die Beteiligten der Kommission näher kennen zu lernen. Beteiligt waren
daran u. a. John Chamberlain, Literaturkritiker der Times und Suzanne La Follette,
eine Journalistin. Beide hatten eine positive Sichtweise von Trotzki bzw. waren ihm
wohlgesonnen und wurden antikommunistische Apologeten des Kalten Krieges. Das-
selbe gilt auch für Trotzkis Anwalt während dieses "Gegenprozesses", Albert Gold-
man und Albert M. Glotzer, dem Protokollführer. Beide waren amerikanische Trotz-
kisten und wurden in den 20ern bzw. 30ern aus der KP-USA ausgeschlossen. Auch
sie wurden zu prominenten Verteidigern der USA.1236 John Dewey, der die Dewey-
Kommission zur Verteidigung Leo Trotzkis gründete, war auch Mitbegründer des
"Congress for Cultural Freedom", welches sowohl den Kommunismus wie auch den
Faschismus kritisierte. Man verstand sich als eine Sammlung "linksliberaler" Intellek-
tueller. Diese Kommission wurde auch massiv, jedoch im Verborgenen, vom CIA
finanziert und gefördert, mit dem Ziel, Intellektuelle gegen die Sowjetunion zu beein-
flussen. Ein wichtiger Verbindungsmann war der CIA-Geheimagent Michael Jossel-
son. Sie führten einen ideologischen Kampf gegen Gegner des Imperialismus wie
Thomas Mann, Pablo Neruda und Jean-Paul-Sartre. Ihre favorisierte Kunstrichtung
war die abstrakte Kunst und eine Entideologisierung der Medien. Nicht alle - viel-
leicht auch die wenigsten - Mitglieder des "Congress for Cultural Freedom" wussten
von der Beeinflussung des CIA, so wusste wahrscheinlich auch John Dewey nichts
von der Verbindung zum CIA. Doch es ist erstaunlich, dass vor allem jene "linken"
Gegner der Sowjetunion - so auch Shachtman und Burnham, sowie ihre Schüler - in

1234
JUDIS, J. B. (1995), S. 125-126
1235
FURR, G. (2016)
1236
BOLTON, K. R. (2011) http://www.foreignpolicyjournal.com/2011/04/22/the-moscow-trials-
in-historical-context/

427
Zur Geschichte der Sowjetunion

diesem Kongress aufblühen konnten. 1237 Eine weitere CIA-Publikation, die sich damit
auseinandersetzt, wie Trotzki vom sowjetischen Geheimdienst ausspioniert und
schließlich ermordet wurde, liefert eine für Imperialisten durchaus plausible Schluss-
folgerung. Der letzte Satz des sonst wenig interessanten Textes lautet: "Beide, Stalin
und Trotzki, waren Feinde der Freiheit. Aber es ist dennoch wahr, dass der bessere
Mann verloren hat."1238
Die CIA sieht also in Trotzki den besseren Mann - wenn die Feinde dich loben …
Schon seit 1933 versuchte Trotzki in den USA Asyl zu bekommen, was jedoch zeitle-
bens abgelehnt wurde. Besonders seit seinem Aufenthalt in Mexiko 1937 hatte er sich
verstärkt dafür eingesetzt, in den USA Zuflucht zu finden. Zwar hatte ihm Mexiko
Asyl gewährt, jedoch war der Einfluss der mexikanischen Arbeiterbewegung sowie
der Kommunistischen Partei Mexikos sehr groß, die gegen Trotzkis Anwesenheit
protestierte. Die trotzkistische Partei in Mexiko zählte gerade mal 30 Mitglieder. Da
Mexiko neben der Sowjetunion das einzige Land war, welche die Volksfrontregierung
in Spanien materiell und ideologisch unterstützte, waren die Sympathien für die Sow-
jetunion in diesem Land sehr hoch. Trotzkis Hasstiraden gegen die Sowjetunion und
die Volksfrontregierung in Spanien reduzierten Trotzkis Autorität im Land. In den
USA hingegen war die trotzkistische Bewegung deutlich größer und praktisch alle
seine Sekretärinnen und Bodyguards in Mexiko waren US-Amerikaner. Schließlich
unternahm Trotzki mehrere Versuche, in den USA Asyl zu bekommen, die jedoch
scheiterten.1239 Weiterhin fürchtete der paranoide Trotzki um sein Leben, da während
des Bürgerkrieges viele Veteranen der internationalen Brigaden des Spanischen Bür-
gerkrieges in Mexiko Asyl suchten.1240
Trotzki hatte aber schon ab 1937 ernste Auseinandersetzungen mit den amerikani-
schen Trotzkisten über die Frage des Charakters der Sowjetunion und der Volksfront-
regierung in Spanien. So empfahl Trotzki auch, dass sich die amerikanischen Trotz-
kisten (SWP) spalteten oder gewisse Mitglieder ausschließen sollten. Einige US-
amerikanische Vertreter des radikalen und liberalen Spektrums, die sich z. T. pro-
sowjetisch äußerten, kritisierte er z. B. auch als Agenten der GPU. So z. B. Freda
Kirchwey, die von 1933 - 1955 Redakteurin der Zeitung "The Nation" war. Dort ver-
fasste sie z. B. die Aussage, dass die Angeklagten der Moskauer Prozesse ihre Aussa-
gen freiwillig machten und einige der Vorwürfe berechtigt seien. Die Ironie der Ge-

1237
CIA (2007) https://www.cia.gov/library/center-for-the-study-of-intelligence/csi-
publications/csi-studies/studies/95unclass/Warner.html
1238
CIA (1994) https://www.cia.gov/library/center-for-the-study-of-intelligence/kent-
csi/vol16no1/html/v16i1a03p_0001.htm
1239
CHASE, W. (2003) http://www.situation.ru/app/j_art_92.htm
1240
CHASE, W. (2003A) http://www.situation.ru/app/j_art_94.htm

428
Zur Geschichte der Sowjetunion

schichte ist jedoch, dass Freda Kirchwey ursprünglich mit Trotzki sympathisierte,
Mitglied des Komitees zur Verteidigung Leo Trotzkis war, aus diesem jedoch austrat,
weil sie das Komitee als antisowjetische Propaganda-Organisation sah. Weiterhin
hatte Kirchwey seit dem Nichtangriffsvertrag der Sowjetunion mit dem Deutschen
Reich ein noch negativeres Bild über die Sowjetunion als Trotzki selbst. Die typisch
liberale "Logik" eben. Trotzki reagierte empört und mit unhöflich klingenden Briefen,
wodurch sein Ansehen weiter sank. 1241 Trotzkis Verhältnis mit Diego Rivera und
Frida Kahlo, welche sich beim mexikanischen Präsidenten Carderas dafür einsetzten,
dass er Asyl erhält, begann ebenso zu bröckeln. Rivera war Trotzkist und stand damit
Trotzki Nahe. Die Freundschaft endete vor allem wegen persönlichen Gründen (so
hatte Frida Kahlo auch eine Affäre mit Trotzki).
Zu erwähnen wäre auch, dass Diego Rivera wahrscheinlich Verbindungen zum FBI
hatte, bzw. von diesem unter Druck gesetzt wurde. Sein FBI-Aktenzeichen war 100-
155423. Die Zeitung "Independent" berichtet darüber, wie Rivera Informationen über
Kommunisten an die USA sendete. Außerdem behauptete er, kommunistische Flücht-
linge in Mexiko seien von Moskau ausgebildet und sollten an der Grenze zwischen
Mexiko und den USA die USA infiltrieren. Untermauert werden Riveras antisowjeti-
sche Tätigkeiten in Friedrich Schulers Buch "Mexico between Hitler and Roosevelt:
Mexican Foreign Relations in the Age of Lázaro Cárdenas, 1934-1940." Dort wird
u.a. beschrieben, dass Trotzki und seine mexikanischen Gefolgsleute das Gerücht in
die Welt setzten, dass die Nazis und Kommunisten in Mexiko gemeinsam einen
Putsch gegen den damaligen Präsidenten Mexikos, Lázaro Cárdenas, planten.
Dieses Gerücht, an dem auch Rivera aktiv beteiligt war, wurde deshalb in die Welt
gesetzt, weil die progressive Regierung Lázaro Cárdenas (er unterstützte z. B. aktiv
die Gewerkschaftsbewegung, unterstützte im spanischen Bürgerkrieg die Kämpfer
gegen den Franco-Faschismus und verstaatlichte die Ölindustrie) eine Reihe von
Unterstützern der Sowjetregierung und Stalins hatte. Dazu gehörten u. a. die Arbeiter-
führer Vicente Lombardo Toledano und David Alfaro Siqueiros. Rivera bezeichnete
daher die Regierung Lázaro Cárdenas als Komplizen des "Stalinismus" – was selbst
Trotzki zu weit ging, hatte er doch sein Asyl in Mexiko nicht verlieren wollen. Die
Gerüchte Trotzkis und Riveras blieben nicht ohne Erfolg, da sich die antikommunisti-
schen Kräfte in Mexiko gestärkt fühlten und ein Verbot der Kommunistischen Partei
forderten.1242 Frida Kahlo hingegen, die sich von Rivera hat scheiden lassen, hatte
nicht nur mit Trotzki aus persönlichen Gründen, sondern auch ideologisch gebrochen.
Sie führte ihre persönlichen Sympathien für Trotzki auf den Einfluss Riveras zurück.

1241
CHASE, W. (2003) http://www.situation.ru/app/j_art_92.htm.
1242
Informationen und Quellen zu Rivera zitiert in: REVOLUTIONARY SPIRIT (2010)
http://revolutionaryspiritapl.blogspot.de/2010/06/introduction-american-party-of-labor.html

429
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzkis Hoffnungen für ein Asyl in den USA wurden verstärkt, als er im Oktober
1939 eine Einladung vom Dies-Komitee erhalten hat. Das Dies-Komitee wurde 1938
gegründet und war der Vorläufer des Komitee für unamerikanische Umtriebe (HCU-
A), welches besonders während der McCarthy-Ära im Kalten Krieg an der Verfol-
gung von Kommunisten beteiligt war. Das Dies-Komitee befasste sich damit, kom-
munistische und subversive Tätigkeiten in den USA zu untersuchen. 1243 Am 12. Ok-
tober 1939 erhielt Trotzki eine Einladung von J. B. Mathews vor dem Dies-Komitee
sprechen zu dürfen. Er sollte über die Geschichte des Stalinismus aussagen und vom
Komitee vorbereitete Fragen beantworten. Als Gegenzug würden sie ihm versprechen
ein Visum für die USA zu erhalten. Trotzki willigte ein. Jedoch sollte seine Frau
Natalia ebenso ein Visum erhalten und bat darum, ihm die Fragen des Dies-Komitee
zukommen zu lassen.1244
Das Dies-Komitee ist eine antikommunistische Organisation, die es praktisch unmög-
lich machte, dass Revolutionäre in die USA einreisen konnten. Folglich wirkt es sehr
suspekt, dass gerade Trotzki diese Einladung erhielt. Trotzki hatte, wie sein Sekretär
Joseph Hansen notierte, die Einladung des Dies-Komitees mit seinen Vertrauten be-
sprochen. Es sei dabei die politische Pflicht Trotzkis, vor diesem Komitee zu spre-
chen. Für die IV. Internationale gab es keinen Unterschied darin, ob sie vor diesem
Komitee oder in einem Parlament sprechen würden. Sie wollten jede Bühne nutzen,
um den Sozialismus zu diskreditieren.
Trotzki wusste jedoch von der Tätigkeit des Komitees ziemlich gut Bescheid, da er
u.a. Abonnent der New York Times war, die mehrere Artikel über das Dies-Komitee
veröffentlichte. Trotzkis Anwalt A. Goldman traf sich regelmäßig mit Mathews und
sie sprachen über die Tätigkeiten des Dies-Komitees und ihrer Ziele. Goldman
schrieb im November 1939 an Trotzki, dass das Komitee eine Verbindung zwischen
der Kommunistischen Partei der USA und der "stalinistischen" sowjetischen Regie-
rung aufdecken wolle und eine Strafverfolgung nach dem neuen Gesetz einleiten
möchte, welches die Registrierung aller Parteien erfordert, die Agenten ausländischer
Regierungen seien. Ziel Trotzkis und der IV. Internationale sei, so Goldman an
Matthews, die wirklich faule Natur des Stalinismus und seinen korrumpierenden
Einfluss auf die Arbeiterbewegung aufzudecken. Daher soll Trotzki ein Visum für
sechs Monate Aufenthalt in den USA bereit gestellt werden. Trotzki und seine Mitar-
beiter machten sich daran, die Rede vor dem Komitee vorzubereiten. Jedoch wurde

1243
CHASE, W. (2003A): ebenda, vgl. auch: SINGH, V.
http://www.revolutionarydemocracy.org/archive/trotsky.htm
1244
Die Einladung Mathews, sowie Trotzkis Antwort finden sich unter: MARXISTHISTORY.ORG
http://www.marxisthistory.org/history/usa/government/ushouse/1939/1012-matthews-
trotsky.pdf

430
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzkis Visum von den US-Behörden abgelehnt, da für sie Trotzki politisch "zu
gefährlich" sei. Trotzkis Sekretär Hansen versuchte vergeblich die Behörden zu über-
zeugen, da Trotzki der beste Zeuge gegen die Aktivitäten der Komintern sei und nicht
vor habe, die amerikanische Regierung zu stürzen. Die "Bemühungen" waren jedoch
vergebens. Am 12. Dezember 1939 hatte das Dies-Komitee die Einladung an Trotzki
zurückgenommen.1245
Trotzkis Zustimmung, beim Dies-Komitee aufzutreten, hatten seinem Ansehen, auch
bei den amerikanischen Trotzkisten, großen Schaden zugefügt. James Burnham hatte
am 17. Oktober 1939 eine Resolution erlassen, dass Trotzki die Einladung zurück-
nimmt oder die SWP sich von Trotzki zu distanzieren habe. Burnhams Resolution
wurde jedoch von der SWP abgelehnt. Die Opposition zu Trotzki fand sich aber nicht
nur in den Führungsetagen der SWP. Auch einfache Mitglieder opponierten gegen
Trotzkis Entscheidung. Sechs einfache Mitglieder der SWP - S. Galloway, D. Herron,
R.B. Whitten, E.R. Herron, B. Williams, M. Alien - begründeten ihre Gegnerschaft zu
Trotzkis Auftritt damit, dass es sich bei dem Dies-Komitee nicht um eine öffentliche
politische Bühne handele, sondern um ein Repressionsorgan der US-amerikanischen
Bourgeoisie, die liberale und radikale Gedanken und Aktionen in den USA unter dem
Vorwand der "Angst vor ausländischen Agenten" unterdrücken will. Denn sollte
Trotzki vorm Dies-Komitee aussagen, liefere er die Basis dafür, dass Informationen
über die Kämpfe der Arbeiterklasse gesammelt werden, die zum Ziel haben, dass der
Kampf um Arbeitsrechte mit Polizeiaktionen gegen Spionage verbunden werde. Fol-
gerichtig wäre eine erhöhte Bereitschaft seitens der Regierung zu erwarten, dass
Streiks leichter verboten oder Gesetze zur Einschränkung der Arbeiterrechte durchge-
setzt werden können.1246
Logischerweise wuchs nicht nur innerhalb des trotzkistischen Lagers, sondern in der
gesamten Arbeiterbewegung der Hass auf Trotzki, besonders auch in Mexiko, wo die
Arbeiterbewegung und die KP Mexikos forderten, Trotzkis Asyl rückgängig zu ma-
chen und ihn aus dem Land zu weisen. Tatsächlich wurde am 24. Mai 1940 ein An-
schlag auf Trotzki verübt, der von David (Alfaro) Siqueiros, einem mexikanischen
Maler, Kommunisten und Veteranen des spanischen Bürgerkrieges, geleitet wurde.
Über 20 bewaffnete Männer überfielen Trotzkis Wohnsitz, Trotzki überlebte aber
diesen Anschlag, jedoch wurde einer seiner Wachmänner entführt und umgebracht.
Das Motiv für diese Tat war neben Trotzkis Hass auf die Sowjetunion dessen Zusage
der Einladung vom Dies-Komitee. Interessant ist hierbei festzuhalten, dass Diego
Rivera, anders als Trotzki, die Erlaubnis zur Einreise in die USA erhielt. Auch er war
in der Arbeiterbewegung in Mexiko nicht gern gesehen aufgrund seiner Sympathien

1245
CHASE, W. (2003A): ebenda
1246
CHASE, W. (2003A): ebenda

431
Zur Geschichte der Sowjetunion

zu Trotzki und stand deshalb in Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden. Zwar er-
hielt auch Rivera eine Einladung von Dies-Komitee, doch auch ihm wurde die Einla-
dung am selben Tag wie Trotzki entzogen. Doch Riveras spätere Einreiseerlaubnis in
die USA steht eng in dem Zusammenhang damit, dass er, wie oben auch geschildert,
Informationen über mexikanische Kommunisten an die US-Behörden weitergeleitet
hat. So erzählte Rivera einem Korrespondenten der Hearst-Presse, dass er bereit sei,
dem Dies-Komitee Informationen über die Aktivitäten von Kommunisten in Mexiko
mitzuteilen. Er sendete z. B. die Namen von 50 wahrscheinlichen Mitgliedern der KP
Mexikos, die hohe Regierungsposten hatten. Rivera traf sich von Januar - März 1940
mit mehreren Vertretern von US-Behörden, so mit McGregor, dem US-Konsul. Die
US-Regierung hielt jedoch nicht jede Information von Rivera für vertrauenswürdig.
Rivera erhielt am 29. Mai 1940 die Erlaubnis.1247
Warum erhielt Rivera die Einreiseerlaubnis in die USA und nicht Trotzki? Wohlmög-
lich, weil Rivera Informationen an die US-Regierung über die Aktivitäten mexikani-
scher Kommunisten sendete. Doch was ist mit Trotzki? Warum wurde ihm die Einrei-
se nicht erlaubt? Warum stimmte er tatsächlich zu, mit dem Dies-Komitee zu reden?
Es kamen schon zu Trotzkis Lebzeiten Gerüchte auf, dass dieser auch über die Aktivi-
täten der "Stalinisten" in Mexiko und Lateinamerika insgesamt aussagen sollte. Das
wurde aber von Trotzki bestritten, da er über keine Dokumente der lateinamerikani-
schen "Stalinisten" verfügte. Seine Aufgabe sei es, nur über die Geschichte des Stali-
nismus zu referieren.1248 Wenn dem so wäre, welche Begründung lieferte Trotzki für
seinen Willen vor dem Dies-Komitee aufzutreten? Für Trotzki war das Dies-Komitee
genauso ein reaktionäres Instrument der Bourgeoisie wie das Parlament. Dennoch
stellte er gleichzeitig die Frage, warum man auch diese Bühne nicht nutzen sollte, um
der Welt seine Sicht der Wahrheit zu verkünden. Schließlich habe man ja mit der
Dewey-Kommission ebenso eine bürgerliche Tribüne geschaffen, um die Moskauer
Prozesse als Lüge zu strafen. 1249 Trotzki behauptete, er sei vollkommen gegen das
Verbot politischer Organisationen. Dennoch müsse man das Dies-Komitee nutzen, um
die Wahrheit über den reaktionären Charakter des Stalinismus zu entlarven. 1250
Halten wir also fest, was wir wissen und vergleichen das mit dem, was Trotzki uns
weismachen will: Trotzki will - um in die USA einreisen zu dürfen - vor einem Komi-
tee, welches dafür bekannt ist (und auch davon wusste Trotzki), Kommunisten und

1247
CHASE, W. (2003A): ebenda, zu Rivera: ebenda, v.a. Fußnote 36 u 37
1248
TROTZKI (1939D) https://www.marxists.org/archive/trotsky/1939/12/dies.html vgl. auch
ALLEN, N. & BREITMAN, G (HRSG., 1973), S. 130 - 131
1249
Vgl. TROTZKI (1939E) in ALLEN & BREITMAN (1973), S. 110-112
1250
Vgl. TROTZKI (1939F) in ALLEN & BREITMAN (1973): S. 132 - 135

432
Zur Geschichte der Sowjetunion

Revolutionäre auszuspionieren und zu verfolgen, eine Aussage machen. Sein Motiv:


Er möchte den reaktionären Charakter des Stalin-Regimes, der Komintern, der "stali-
nistischen" Parteien „entlarven“. Dazu scheint ihm jedes Mittel recht zu sein. Dieser
Mann kann einem in seinem paranoiden Verfolgungswahn und seinem grenzenlosen,
tollwütigen Hass auf die Sowjetunion und Stalin fast leidtun. Unterstellen wir ihm
mal, dass er keine detaillierten Informationen über mexikanische Kommunisten lie-
fern würde. Rechtfertigt dies einen Auftritt vor einer Repressionsbehörde der Bour-
geoisie? Der Vergleich des Dies-Komitees mit einem bürgerlichen Parlament wirkt
schon fast absurd, da das Dies-Komitee nicht die Funktion hatte, Debatten zwischen
verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie zu führen, sondern Kommunisten zu re-
pressieren! Das Trotzki auch nur mit dem Gedanken spielte, vor dieser Verbrecher-
bande auszusagen, ist ein Verrat. Denn wenn Trotzki auch "nur" über die Geschichte
des Stalinismus referieren sollte, machte es das Dies-Komitee doch nicht aus Unei-
gennützigkeit!
Wurde vielleicht Trotzkis Asyl in den USA verwehrt, weil er doch keine Informatio-
nen weitergeben wollte? Nun gibt es hierzu gegenteilige Informationen. Denn spätes-
tens seit dem Anschlag vom 24. Mai 1940, bei dem auch ein Wachmann Trotzkis
entführt und getötet wurde, änderte sich Trotzkis Bereitschaft auszusagen. Seitdem
hatte Trotzki aktiver und aggressiver gegen linke Gruppierungen in Mexiko agitiert.
Er hatte sie als Agenten der GPU beschimpft und hielt den Anschlag vom Mai für
einen Auftrag Stalins. Der beim Anschlag getötete Wachmann Trotzkis war amerika-
nischer Staatsbürger und stand somit im Interesse der US-Regierung. Im Juni 1940
traf sich Trotzki mit dem US-Konsul Robert McGregor (der einige Monate zuvor sich
mit Rivera traf!), um den Fall des entführten Bodyguard mit Trotzki zu besprechen.
Sie trafen sich am 13. Juli 1940 erneut und diskutierten die Fortschritte des Falls.
Trotzki erzählte Details über seine Vermutungen und „Beweise“, die er im Artikel
"Die Komintern und das GPU" zusammentrug. Er gab McGregor Namen mexikani-
scher Publikationen, wie auch Namen politischer und Arbeiterführer sowie Regie-
rungsbeamten, die mit der Kommunistischen Partei Mexikos verbunden sind. Er sagte
aus, dass einer der führenden Agenten der Komintern, Carlos Conteros, im Führungs-
komitee der KP Mexikos stehe. Er diskutierte auch die angeblichen Bemühungen
Narciso Bassols, dem früheren mexikanischen Botschafter in Frankreich, ihn (Trotz-
ki) aus Mexiko auszuweisen. Auch er wurde von Trotzki bezichtigt, ein Agent der
Sowjetunion zu sein.1251

1251
CHASE, W. (2003A): ebenda, Dokumente der Gespräche und des Informationsautschausches
zwischen McGregor und Trotzki finden sich in Fußnote 59, vgl. auch REVOLUTIONARY DE-
MOCRACY http://www.revolutionarydemocracy.org/rdv3n2/trotsky.htm

433
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die Zeitschrift "Revolutionary Democracy" zitiert Professor William Chase über


Trotzkis Verbindungen zum FBI: "Indem er [Trotzi - M. K. ] das US-Konsulat mit
Informationen über gemeinsame Feinde versorgte, seien sie mexikanische oder ame-
rikanische Kommunisten oder sowjetische Agenten, hoffte Trotzki darauf seinen Wert
einer Regierung zu beweisen, die kein Verlangen hatte, ihm ein Visum zu bewilligen.
(…) Nach Eingang leitete das Außenministerium McGregors Memo an das FBI." 1252
Am 18. Juli 1940 überreichte einer von Trotzkis Sekretären dem amerikanischen
Konsulatsbeamten George Shaw "ein streng vertrauliches Memorandum", in dem
Trotzki die Aktivitäten eines gewissen Enrique Martinez Ricci darstellte. Hierbei soll
es sich um einen Agenten der GPU für Lateinamerika handeln, der von New York aus
operiere und im direkten Kontakt mit Moskau gestanden haben soll.1253
William Chase versucht nun zu erklären, warum sich Trotzki bereit erklärte mit den
Behörden der US-Regierung zu kooperieren. Seine Gespräche mit dem US-Konsulat
trugen nach Chase wenig dazu bei, den Fall des getöteten Bodyguards zu lösen, zumal
das US-Konsulat in Mexiko ohnehin hat wenig tun können, um Trotzkis zu beschüt-
zen. Trotzki gab also Informationen, die zur Klärung dieses Falls wenig tauglich wa-
ren. Es wäre der Meinung von Chase nach verständlich, wenn Trotzki diese Informa-
tionen weitergab, um sein Leben nach dem Mai-Anschlag zu beschützen. Da jedoch
ein Großteil der Informationen, die Trotzki für die Untersuchungen des Mai-
Anschlages gab, nicht verwendet werden konnten, mussten andere Gründe für seine
Bereitschaft vorhanden sein. Da Trotzki seine wirklichen Intentionen nicht veröffent-
lichte, bleibt nur Raum für Spekulationen. Chase geht schlicht und einfach davon aus,
dass Trotzki sich damit die Möglichkeit versprach ein Visum für die USA zu erhalten.
Offensichtlich stellte Trotzki laut Chase seine eigenen Interessen vor jenen seiner
politischen Bewegung.1254
Kritisch anzumerken wäre hier, dass Trotzki nur in seinen eigenen Interessen eben das
Wesen seiner politischen Bewegung sah. Seine erbitterten Auseinandersetzungen,
nicht nur mit seinen Feinden in der Sowjetunion, sondern mit seinen Unterstützern in
der IV. Internationale, belegen, dass für Trotzki nur er selbst die Bewegung ist. Wer
nicht genauso denkt wie er, der ist und bleibt sein Feind. Trotzkis Aufenthalt in Me-
xiko belegt seinen paranoiden Wahn, der ihn zum politisch verdorbenen Subjekt
machte; einem paranoiden Wahn, den Trotzki selbst verursacht hatte. Um seinen Hass
gegen die Sowjetunion und die Arbeiterbewegung Ausdruck zu verleihen, war ihm
jedes Mittel recht. Am 20. August wurde Trotzki von Ramon Mercader mit einem

1252
REVOLUTIONARY DEMOCRACY, Ebenda
1253
CHASE, W. (2003A): ebenda
1254
CHASE, W. (2003B) http://www.situation.ru/app/j_art_95.htm

434
Zur Geschichte der Sowjetunion

Eispickel attackiert, an dessen Folgen Trotzki am Tag darauf starb. Mercaders Tarn-
name war Frank Jacson, der sich mit einer von Trotzkis Sekretärinnen verlobte. Die
Spekulationen, wer den Mord in Auftrag gab, gehen Auseinander. Chase stimmt der
allgemeinen Lehrmeinung zu, dass Trotzki im Auftrag der Sowjetunion ermordet
wurde.1255 Michael Sayers und Albert E. Kahn gehen in ihrem Buch "Die große Ver-
schwörung " davon aus, dass Jacson alias Mercader ein enttäuschter Trotzkist war.1256
Hier kann Trotzkis Mord nicht untersucht werden. Doch die Tatsachen beweisen,
dass, wenn er im Auftrag der Sowjetunion ermordet wurde, diese gute Gründe dafür
hatte. Zum anderen hat sich Trotzki selbst durch seine Paranoia und seine politische
Verkommenheit viele Feinde gemacht, auch im eigenen Lager. Seine Einstellung zum
Dies-Komitee war sicherlich nur eines der Motive.
Die logische Folge, dass Trotzkisten mit dem Feind offen kollaborieren, ist keine
Seltenheit. Wir lesen z. B. bei Sayers & Kahn: "Überall in Europa, Asien, Nord- und
Südamerika bestanden enge Verbindungen zwischen der Vierten Internationale und
dem Netzwerk der Fünften Kolonne der Achsenmächte:
Tschechoslowakei: Die Trotzkisten arbeiteten mit dem Naziagenten Konrad Henlein
und seiner Sudetendeutschen Partei. Sergei Bessonow, der trotzkistische Kurier und
ehemalige Berater der sowjetischen Botschaft in Berlin, bestätigte, als er 1938 vor
Gericht stand, daß er im Sommer 1935 in Prag den Kontakt mit Konrad Henlein her-
gestellt hatte. Bessonow erklärte, daß er als Vermittler zwischen Leo Trotzki und der
Henlein-Gruppe fungierte.
Frankreich: Jacques Doriot, Naziagent und Begründer der faschistischen Volkspartei,
war ein kommunistischer Renegat und Trotzkist. Doriot arbeitete wie andere Nazi-
agenten und französische Faschisten in engster Verbindung mit der französischen
Sektion der trotzkistischen Vierten Internationale.
Spanien: Die Trotzkisten drangen in die Reihen der POUM ein, jener Organisation
der Fünften Kolonne, die Francos faschistischen Aufstand unterstützte. Der Leiter der
POUM war Trotzkis alter Freund und Verbündeter Andreas Nin.
China: Die Trotzkisten arbeiteten unter der direkten Aufsicht der japanischen Militär-
spionage. Die führenden Offiziere des japanischen Geheimdienstes waren mit den
Leistungen der Trotzkisten sehr zufrieden. Der Chef des japanischen Spionagediens-
tes in Peking erklärte 1937: 'Wir sollten die trotzkistische Gruppe unterstützen und ihr
zum Erfolg verhelfen, damit ihre Tätigkeit in den verschiedenen Teilen Chinas dem

1255
CHASE, W. (2003B)
1256
SAYERS, M., KAHN, A. E. (1949) S. 337 f. auch als link: http://www.kpd-
ml.org/doc/partei/grosse_verschwoerung.pdf (S. 136 pdf)

435
Zur Geschichte der Sowjetunion

Kaiserreich zum Nutzen gereicht, denn diese Chinesen zerstören die Einheit des Lan-
des. Sie arbeiten mit bemerkenswerter Geschicklichkeit und Finesse.'
Japan: Die Trotzkisten wurden der »Gehirn-Trust« des Geheimdienstes genannt. In
besonderen Schulen unterrichteten sie japanische Geheimagenten in der Technik, die
bei der Durchsetzung der Kommunistischen Partei in Sowjetrußland und der Bekämp-
fung der antifaschistischen Tätigkeit in China und Japan angewandt werden sollte.
Schweden: Nils Hyg, einer der führenden Trotzkisten, hatte von dem nazifreundlichen
Finanzmann und Hochstapler Ivar Kreuger für die trotzkistische Bewegung Geldzu-
wendungen erhalten. Diese Tatsache wurde nach Kreugers Selbstmord bekannt. Die
Buchsachverständigen fanden unter Kreugers Papieren Quittungen mit den Unter-
schriften der verschiedensten politischen Abenteurer, darunter auch Adolf Hitlers.
In allen Ländern der Welt dienten die Trotzkisten den Geheimorganisationen der
Achsenmächte als Werkzeuge bei der Verfolgung der liberalen, radikalen und sozia-
listischen Bewegungen."1257
Nicht besser waren auch Leute wie George Orwell. Bekannt wurde dieser Autor durch
seine antikommunistischen Märchengeschichten "Animal Farm" und "1984", die
gerne als Lehrmaterial für die Unmenschlichkeit des Sozialismus genommen werden.
Orwell sympathisierte mit Trotzki und kämpfte im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten
der von Trotzkisten unterwanderten POUM. Dabei schrieb Orwell selbst, dass er nie
die Sowjetunion besucht hatte und sein Wissen nur aus dem Lesen von Büchern und
Zeitungen hatte.1258 Dieser Umstand ist nicht zwingend verwerflich. Anders hingegen
die Tatsache, dass er dem britischen Geheimdienst Namen von Leuten vorlegte, die
mit dem Kommunismus sympathisierten. Timothy Garton Ash, Schreiber der Zeit-
schrift "The New Yorker Review of Books", hatte Zugang zu den Archiven des briti-
schen Außenministeriums und durfte Orwells Liste einsehen. Diese hatte 135 Namen,
die Orwell an den Geheimdienst verraten hatte; einer dieser Namen war Charlie
Chaplin. Diese Liste hatte für antikommunistische "Linke" eine große Bedeutung, da
sie davon überzeugt waren, dass der sowjetische Mythos zerstört werden musste, um
eine neue linke Bewegung schaffen zu können.1259 Die Verfilmung seines Werks
"Animal Farm" wurde vom CIA gesponsert und verbreitet. Der CIA kaufte 1950 die
Rechte am Buch und am Film. 1260 Das Verpfeifen ehemaliger Genossen an imperialis-

1257
SAYERS & KAHN (1949): S. 335 - 336
1258
Zitiert REVOLUTIONARY SPIRIT (2010), ebenda
1259
Vgl. REVOLUTIONARY SPIRIT (2010), ebenda
1260
WELT.DE (2009): http://www.welt.de/kultur/article3425678/Als-Animal-Farm-den-
Kommunismus-bekaempfte.html

436
Zur Geschichte der Sowjetunion

tische Geheimdienste ist sicherlich der beste Weg, eine neue linke Bewegung zu
schaffen.
Wir haben uns in einem anderen Kapitel mit Tony Cliff und seiner Theorie des
Staatskapitalismus auseinandergesetzt. Ihm konnten, soweit dem Autor bekannt, keine
Verbindungen zu imperialistischen Geheimdiensten nachgewiesen werden. Seine
politischen Thesen waren dennoch nicht weniger konterrevolutionär. Während des
Korea-Krieges 1950-1953 vertraten Cliff und seine Anhänger die Position der strikten
Neutralität und beschuldigten den US-Imperialismus, wie auch den "Russischen Im-
perialismus".1261 Eine solche Position spielt nur dem imperialistischen Aggressor in
die Hände, der Korea dem Erdboden gleichmachen wollte. Wesentlich entscheidender
ist jedoch, wenn wir uns die englische Version seines Buches "Staatskapitalismus in
Russland" anschauen. Denn in der deutschen Fassung fehlt ein entscheidendes Kapi-
tel, welches in der englischen Originalfassung vorkommt und den Titel "Class strugg-
les in Russia (Klassenkämpfe in Russland)" trägt. Ein Abschnitt trägt den erst mal
wohlklingenden Namen " The social goals of anti-Stalinist opposition (Die sozialen
Ziele der antistalinistischen Opposition)".1262 Welche sozialen Ziele werden denn
verfolgt und welche sozialen Träger meint Cliff? Cliff nennt vor allem zwei antistali-
nistischen Kräfte, denen er eine positive Rolle andichtet: Die Wlassow-Bewegung
und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA)! Cliff sieht also bei den größten
Kollaborateuren der Faschisten progressive Kräfte im Kampf gegen den Stalinismus.
Wlassow war ein General der Roten Armee, der zu den Deutschen überlief und bei
der UPA handelt es sich um jene Faschisten um Stepan Bandera, die zusammen mit
den Faschisten unvorstellbare Verbrechen an der sowjetischen Bevölkerung begangen
hatten. Wie rechtfertigt das Cliff? Er schreibt, dass in einem System des bürokrati-
schen Staatskapitalismus die politischen Gegner des Stalinismus unmöglich eine
Rückkehr zum Privatkapitalismus wünschen, da dies zu einem ökonomischen Rück-
schritt führe. So zitiert Cliff General Malyshkin, einen Unterstützer von Wlassow,
dass das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln nicht angerührt werden
soll, der Staat jedoch auch nicht in die private Initiative eingreifen soll. Auch die UPA
soll ähnliches gesagt haben, da sie sich in ihrem Programm für das Gemeineigentum
an Produktionsmittel aussprach und eine Rückkehr zur Privatwirtschaft nicht wün-
sche. Die Sowjetunion hingegen sei kein sozialistischer Staat sondern eine Diktatur
einer Ausbeuterklasse.1263 Cliffs Position ist keineswegs ein "Ausrutscher" eines
Durchgeknallten. Auch innerhalb der IV. Internationale (aus der ja die Fraktion um

1261
Vgl. REVOLUTIONARY SPIRIT (2010)
1262
CLIFF, T. (1955A), Kapitel 9
https://www.marxists.org/archive/cliff/works/1955/statecap/ch09.htm#s7
1263
CLIFF (1955A), ebenda

437
Zur Geschichte der Sowjetunion

Cliff ausgeschlossen wurde) wurde von einigen Vertretern diese Position geteilt. In
der trotzkistischen Zeitschrift "Revolutionary History", einem Journal des britischen
Trotzkismus der IV. Internationale, erschien in der Ausgabe Vol. 3 Nr. 3 (1991) ein
Leserbrief eines Chris Ford mit dem Titel "Ukrainian Marxism". 1264 Dort schildert
Ford, dass es bei der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN) einen "rech-
ten" (OUN - M, unter der Leitung von Andrji Melnik) und einen "linken" Flügel
(OUN-B unter der Leitung von Stepan Bandera) gebe. Der "linke" Flügel sei Vertre-
ten durch die UPA und Stepan Bandera. Ford wehrt sich dagegen, dass das Journal
"Revolutionary History" die UPA als faschistisch bezeichnet, da es eines der "unbe-
kanntesten" "revolutionären" Bewegungen sei, die von den "Stalinisten" als Faschis-
ten und Kollaborateure bezeichnet wurde. Ford wiederholt dabei die Aussagen der
ukrainischen Nationalisten, die Tony Cliff von sich gab: "'Die sowjetische Ordnung
ist keine sozialistische, seitdem Ausbeuterklassen und Ausgebeutete in dieser existie-
ren. Die Arbeiter der UdSSR wollen weder einen Kapitalismus noch einen stalinisti-
schen Pseudo-Sozialismus. Sie streben eine wirklich klassenlose Gesellschaft und
eine echte Volksdemokratie an'. (…) 'Nur eine unabhängige Ukraine kann die sozia-
len Verdienste der Oktoberrevolution vertiefen und stärken'. (…) 'eine Rückkehr zum
Kapitalismus wäre in jederlei Hinsicht ein Schritt zurück, eine Regression.'"1265
In Anbetracht der Tatsache, dass heute in der Ukraine die Faschisten zunehmend
stärker werden und die OUN, UPA und Bandera als Volkshelden verehrt werden,
wirkt diese Lobhudelei auf diese Verbrecher wie ein schlechter Witz. Tatsächlich gab
es eine "Spaltung" innerhalb der OUN in einen "rechten" und einen "linken" Flügel -
diese Spaltung gab es aber auch in der NSDAP. Folgerichtig sollte man diese Leute
nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilen und die Kollaboration
mit den Faschisten ist bewiesen. Dass sie später sowohl gegen die Deutschen, wie
auch die Sowjets kämpften, macht die ukrainischen Faschisten nicht zu Volkshelden.
Folgerichtig ist es nicht verwunderlich, dass ein Statement der IV. Internationale
(bzw. vom kläglichen Rest, der noch vorhanden ist) den Maidan-Putsch in der Ukrai-
ne 2014 begrüßt (!!), diesen als nicht-faschistisch darstellt und die „Annexion“ der
Krim-Halbinsel durch den "russischen Imperialismus" moniert.1266 Diese pro-
faschistischen Äußerungen der IV. Internationale sollten jedoch nicht verwundern, da
es vor allem Trotzki war, der die Unabhängigkeit der Ukraine forderte. In seiner
Schrift "Das ukrainische Problem" sind folgende Worte niedergeschrieben:

1264
FORD, C. (1991) https://www.marxists.org/history/etol/revhist/backiss/vol3/no3/ford.html
1265
FORD (1991), ebenda
1266
FOURTH INTERNATIONAL BUREAU (2014) http://links.org.au/node/3932

438
Zur Geschichte der Sowjetunion

"Die Bürokratie erdrosselte und plünderte auch in Großrussland das Volk. Aber in der
Ukraine wurde die Sache bei Weitem verschlimmert durch die Zerschlagung der nati-
onalen Hoffnungen. Nirgendwo nehmen Freiheitsbeschränkungen, Säuberungen,
Repressalien und überhaupt alle Formen des bürokratischen Gangstertums solche
Ausmaße an wie in der Ukraine im Kampfe gegen das mächtige, tief eingewurzelte
Sehnen der ukrainischen Massen nach größerer Freiheit und Unabhängigkeit. (…) Die
Haltung des Kreml gegenüber den Teilen der Ukraine, die sich jetzt außerhalb der
Grenzen der UdSSR befinden, ist heute die gleiche wie die gegenüber allen unter-
drückten Nationalitäten, allen Kolonien und Halbkolonien, d.h. der Kreml betrachtet
sie als Wechselgeld in seinen internationalen Kombinationen mit den imperialisti-
schen Regierungen. (…) Seinerzeit sagten wir: ohne Stalin (d.h. ohne die verhängnis-
volle Politik der Komintern in Deutschland) würde es keinen Hitler gegeben haben.
Dem können wir jetzt hinzufügen: ohne die Vergewaltigung der Sowjetukraine durch
die stalinistische Bürokratie würde es keine Hitlersche ukrainische Politik geben. (…)
Die Frage des Schicksals der Ukraine stellt sich in ihrem ganzen Umfang. Wir brau-
chen eine klare und bestimmte Losung, die der neuen Situation entspricht. Meiner
Meinung nach kann es heute gar keine andere Losung geben als diese: Eine einige
freie und unabhängige Arbeiter-und-Bauern-Sowjetukraine."1267
Trotzki verteidigt seine Forderungen einer unabhängigen "Sowjet-Ukraine" auch in
anderen Schriften und wirft seinen Kritikern im trotzkistischen Lager Sektierertum
vor.1268 Trotzki hoffte, dass eine unabhängige Ukraine die Weltrevolution auslösen
könne, hielt jedoch wenig von den bürgerlichen Nationalisten. Hätte Trotzki die Aus-
sagen seiner Jünger unterstützt, würde er während des Weltkrieges noch leben?
Der Fairness halber sei erwähnt, dass nicht jede Sektion der Trotzkisten die ukraini-
schen Faschisten als Widerstandkämpfer feiert. Die Internationale Kommunistische
Liga (ICL) kritisiert zurecht die Positionen von Tony Cliff und anderen. 1269 Das
spricht die ICL natürlich nicht frei von anderen politisch konterrevolutionären Phra-
sen. So werfen sie Hugo Chavez vor, ein bürgerlicher Nationalist zu sein. Er sei "ein
Feind des Kampfes für Sozialismus – d. h. des Kampfes für Arbeiterrevolution zur
Enteignung der Bourgeoisie." 1270

1267
TROTZKI (1939G)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1939/leo-trotzki-das-
ukrainische-problem
1268
Vgl. TROTZKI (1939H)
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/trotzki-sowjetunion/leo-
trotzki-die-unabhaengigkeit-der-ukraine-und-die-sektiererischen-wirrkoepfe
1269
ICL (2014) https://www.icl-fi.org/english/wh/227/cliffites.html
1270
ICL (2005/2006) https://icl-fi.org/deutsch/spk/161/venezuela.html
439
Zur Geschichte der Sowjetunion

Die Gruppe SpAD, die der ICL angehört, ist besonders negativ bekannt für ihre abs-
truse Verteidigung von Pädophilie. Pädophilie ist sexueller Missbrauch, Gewalt und
Angriff auf Mädchen/Jungen von Männern. Die bürgerliche Gesetzgebung bietet
kaum Schutz für die Opfer, die diese Unterdrückung und Gewalt erleiden: "Der 76-
jährige Polanski, der sich nun in Schweizer Haft befindet, muss mit seiner Ausliefe-
rung an die USA rechnen, wo er wegen einvernehmlichen Sexualverkehrs mit einer
frühreifen Dreizehnjährigen im Jahre 1977 verurteilt werden soll. Roman Polanski hat
kein Verbrechen begangen. (…) Wir fordern: Schluss mit den reaktionären Gesetzen
über 'Minderjährigkeit' und 'Unzucht mit Minderjährigen', die einvernehmlichen Sex
unrichtigerweise mit Gewaltverbrechen vermengen. Wir lehnen alle Gesetze gegen
'Verbrechen ohne Opfer' ab (wozu auch Glücksspiel, Prostitution, Drogengebrauch
und Pornografie zählen)."1271
Diese Position ist reaktionär und eine Verharmlosung der Barbarei des Imperialismus,
der sexuelle Gewalt und Unterdrückung (auch Prostitution) als patriarchales Herr-
schaftsinstrument schützt und fördert.
Gemeinsamkeit der ICL (Internationale Kommunistische Tendenz) sowie der ITB
(Internationale Bolschewistische Tendenz) ist die oberflächliche "Verteidigung" der
sozialistischen Staaten, bei denen aber die Bürokratie gestürzt werden muss. So
schreibt die Internationale Bolschewistische Tendenz, dass Nordkorea verteidigt wer-
den soll, die Bürokratie (die Regierung) jedoch gestürzt werden soll. 1272 Dies erinnert
an die zuvor analysierte "Verteidigung" der Sowjetunion durch Trotzki. Bei solchen
Freunden, braucht es keine Feinde!
Ein anderer trotzkistischer Autor, Gareth Jenkins, attestierte der Al Quaida, welches
ein Produkt des US-Imperialismus ist, revolutionär zu sein: "Das Ziel der Al Quaida
ist kein anderes, als das anderer nationaler Befreiungsbewegungen - die Unabhängig-
keit zu erreichen, indem die imperialistischen Macht zum Rückzug gezwungen wird.
Diese können sich in religiöser Form ausdrücken, aber sie verfolgen dieselben Ziele,
wie die vorherigen säkular-nationalistischen Bewegungen im Nahen Osten: die Nie-
derlage des US-Imperialismus und ihrer Verbündeten in der Region." 1273
Wir möchten hier nur anmerken, dass Al Quaida, sowie andere islamistische Gruppen
wie der IS von den Nato-Staaten gegründet wurden, um ihre Interessen im Nahen
Osten durchzusetzen.

1271
ICL (2010) https://www.icl-fi.org/deutsch/spk/182/polanski.html
1272
IBT (2011) http://www.bolshevik.org/deutsch/bolschewik/ibt_bol28_2011-02.html
1273
JENKINS, G. (2006)
https://www.marxists.org/history/etol/writers/jenkins/2006/xx/terrorism.html

440
Zur Geschichte der Sowjetunion

Trotzkisten hatten auch zum Strutz der Allende-Regierung aufgerufen: "Die (trotzkis-
tische) Partido Socialista Revolucionario veröffentlichte eine Zeitschrift, Revolucion
Permanente. Ihre Ausgabe vom Februar 1973 brachte Artikel heraus, die ihre Position
zur Allende Regierung definierten. Einer dieser Artikel sagte, dass '… die UP … ihre
Verachtung für das Handeln der Ausgebeuteten, ihre schwache und versöhnliche
Haltung gegenüber der Bourgeoisie und ihre Unnachgiebigkeit bewiesen hat. Der
Artikel rief die Trotzkisten dazu auf, in allen Basisorganisationen teilzunehmen, 'um
Organe der proletarischen Macht zu gründen, die helfen sollen, in der Hitze des Ge-
fechts eine wahrhaftig revolutionäre Führung zu formieren, die das bourgeoise Re-
gime [damit ist die Allende-Regierung gemeint! - M. K.] besiegt und zerstört und sich
entschlossen in Richtung Sozialismus bewegt."1274
Man könnte über die Irrsinnigkeiten der trotzkistischen Bewegungen ganze Bibliothe-
ken füllen. Wir schließen jedoch mit einer entscheidenden Position des "wichtigen"
trotzkistischen Theoretiker Ernest Mandel ab; nämlich zu Gorbatschow und der Kon-
terrevolution in den ehemals sozialistischen Staaten insgesamt. Wir haben weiter oben
die Politik Gorbatschows definitiv als konterrevolutionär eingestuft. Die Offenbarun-
gen von Ernst Mandel hingegen zeigen, wes Geistes Kind er ist. Ludo Martens hat die
wichtigsten konterrevolutionären Phrasen Mandels zusammengetragen.
Über die Konterrevolution in der CSSR schreibt die Mandelgruppe: "In der trotzkisti-
schen Presse erschien am 15. November 1988 eine Überschrift 'Tschechoslowakei -
Ist der Zeitpunkt großer Veränderungen gekommen?' Der Artikel selbst beginnt da-
mit, Vaclav Havel lobend hervorzuheben, diesen Schreiberling, der sich mit seiner
Courage großtut, die Ideen der Rechtsextremen zu verteidigen. (…) Um die KPTsch
und die sozialistischen Fundamente der Tschechoslowakei bekämpfen zu können,
kommen die Trotzkisten auf das sozialdemokratische und proimperialistische Pro-
gramm Dubceks zurück. (…) außerdem, so unsere Trotzkisten weiterhin, hätten die
tschechoslowakischen Bürokraten 'schreckliche Angst vor dem Wind aus dem Osten,
vor der Politik der Glasnost. Man kann sie verstehen: die Glasnost erinnert an den
Prager Frühling mit seinen freien Veröffentlichungen." 1275
Der tschechische trotzkistische Dissident Petr Uhl, Mitunterzeichner der Charta77
und entscheidender Träger der Konterrevolution in der CSSR (sowohl 1968 als auch
1989), wollte alle antistalinistischen Kräfte vereinen um diese "stalinistische Herr-
schaft" zu beseitigen. Dies wurde von Ernst Mandel in höchsten Tönen als Bestäti-
gung der Theorien Trotzkis gelobt. Die vereinten Kräfte bestanden übrigens haupt-

1274
Zitiert in: ALEXANDER, R. J. (1991)
1275
MARTENS (1993), S. 54 - 55

441
Zur Geschichte der Sowjetunion

sächlich aus klerikalen Faschisten, CIA-Agenten, Sozialdemokraten und eben Trotz-


kisten.1276
1981 gab Mandel bekannt, dass die Solidarnosc in Polen unbewusst Trotzkismus
betreibe und die legale Anerkennung der Solidarnosc ein "Sieg" für die Arbeiterklasse
sei.1277
1989 war Mandel begeistert davon, was in Berlin geschah, da "alles, was Trotzki
immer erhoffte, jetzt wirklich werden kann!" 1278 offensichtlich war die Restauration
des Kapitalismus ein Wunschtraum Mandels und Trotzkis.
Kommen wir nun wieder zum Beispiel der Ukraine: Beeinflusst von der Glasnost-
Politik Gorbatschows gründete sich in der Ukraine die Ukrainische Volksbewegung
für die Umwandlung (RUKH), deren Gründungskongress vom 8.-10. September 1989
in Kiew stattfand. Es handelte sich hierbei um offene Faschisten, die Stepan Bandera
und andere Nazi-Kollaborateure als Helden feierten. Die trotzkistische Mandel-
Gruppe machte sich zum Sprachrohr der RUKH, indem sie den gesamten Text des
RUKH-Programms veröffentlichte und bemerkte dazu, dass "das Wachsen einer nati-
onalen Massenbewegung (in der Ukraine) einen qualitativen Vorschub bedeuten kann
im Kampfe für die demokratischen nationalen Rechte." Der Beitrag Lewko Luk-
janenkos, eines Faschisten, der für die CIA gearbeitet hat, wurde in Mandels Zeit-
schrift als ein Höhepunkt bewertet. Dabei wiederholten sie wortwörtlich die Propa-
ganda der Faschisten: "Die Errichtung des stalinistischen Regimes in der Westukraine
(1939) stieß auf einen starken Volkswiderstand. Die Guerilla-Bewegung auf dem
Lande, sehr breit von den radikalen Nationalisten geleitet, (…) wurde Anfang der
50er Jahre niedergeschlagen."1279
Über Boris Jelzin schrieb Mandel, dass er den bürokratischen Apparat einschränken
will und damit den Spuren Trotzkis folge. 1280
Wir danken auf jeden Fall den Worten Mandels, der bestätigen konnte, dass es zwi-
schen Trotzki und der Konterrevolution gegen den Sozialismus keinen Unterschied
gibt.
Die CIA finanzierte auch weitere pseudolinke Strömungen, die sich heute unter dem
Sammelbegriff der Postmoderne oder Poststrukturalismus wiederfinden. Hier seien

1276
Vgl. MARTENS (1993); S. 58 - 59
1277
VGL. MARTENS, S. 76
1278
VGL. MARTENS (1993), S. 131
1279
VGL. MARTENS (1993), S. 187 - 188
1280
VGL. MARTENS (1993), S. 195

442
Zur Geschichte der Sowjetunion

vor allem Michael Foucault und andere französische Intellektuelle genannt. Foucalts
Theorien lassen sich nicht politisch in ein "Links-rechts-Schema" einordnen, sondern
sind grob gesagt ein Wirrwarr darüber, wie Wissen entsteht und wie die Macht ausge-
übt wird und Subjekte dabei konstituiert und diszipliniert werden.1281
Bei der Postmoderne oder dem Poststrukturalismus insgesamt handelt sich um eine
irrationalistische Ideologie (vgl. die Auseinandersetzung mit Baberowski in diesem
Buch). Maßgeblich ist auch hier, dass die Welt sich nicht rational erklären lasse, eine
objektive Wahrheit nicht existiere, die Welt nicht erkennbar sei etc. Salopp gesagt
wird die Ansicht vertreten, dass die Sprache nicht nur die Realität abbilde, sondern
auch konstruiere. Das heißt folgerichtig, dass durch die Sprache die Gesellschaft
konstruiert werde und diese durch die Sprache dekonstruiert werden muss. Hier findet
sich u.a. ja auch das sogenannte "Gendermainsteaming" und die "Queer-Theorie"
wieder, welche die Existenz der biologischen Geschlechter leugnen und diese für
sozial konstruiert halten. Grundsätzlich sollen sich dabei die "Linken" (in den USA
auch "Social Justice Warriors") auf die Identitätspolitik beschränken: Erfindung neuer
Geschlechter und sozialer Gruppen, Entwicklung einer nicht-diskriminierenden
Wortwahl, Konzentration auf sexistische, homophobe und rassistische Aussagen und
die Betonung auf die Herstellung von Gerechtigkeit durch das Anerkennen von Diffe-
renzen. Der jedoch wirklich wichtige, materialistische Ansatz, das Stellen der sozialen
Frage, die Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also die
Eigentumsfrage werden dabei völlig außer Acht gelassen. Die Ursachen von Sexis-
mus, Homophobie und Rassismus liegen jedoch in der kapitalistischen Produktions-
weise. Wird die Eigentumsfrage nicht gestellt, ist der Kampf um Gleichberechtigung
eine leere Worthülse, ja sogar ein erschreckendes, massenfeindliches und abstoßendes
Unternehmen. Und genau das ist der Grund, weshalb die Geheimdienste der imperia-
listischen Staaten diese angeblich "linke" Bewegung unterstützen:
die Macht der Bourgeoisie wird nicht in Frage gestellt.

1281
RUSSIA TODAY (12. MÄRZ 2017) https://deutsch.rt.com/gesellschaft/47494-postmoderne-
und-cia-eine-liebesgeschichte-poststrukturalistische-denker/
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443
Zur Geschichte der Sowjetunion

8. Nachwort
Die vorliegende Arbeit versuchte der Frage nachzugehen, ob die Kritik an der Sow-
jetunion - die Behauptung, dass es sich um eine totalitäre Diktatur einer Bürokraten-
schicht (oder Klasse) handele - schlüssig ist. Dabei wurden einige wichtige Werke
näher untersucht und festgestellt, dass die Argumente dieser Autoren nicht stichhaltig
sind. Zur Klärung dieser Frage wurde die - auch heute noch aktuelle - marxistisch-
leninistische Auffassung der Klasse, des Staates und der Bürokratie geklärt. Folgt
man dieser wissenschaftlichen Herangehensweise, zeigt sich, dass die Kritiken Trotz-
kis, der Staatskapitalismustheoretiker sowie der Anhänger der Totalitarismus-Doktrin
nicht tauglich sind, den gesellschaftlichen Charakter der Sowjetunion ausreichend zu
beschreiben. Um das zu zeigen, wurde diesen Werken viel Platz eingeräumt und diese
einer umfassenden Kritik unterzogen. Unterstützt wurde diese Kritik durch empiri-
sche Belege der Einkommensverteilung und der sozialen Mobilität im Kapitalismus
und in der Sowjetunion - zweier Indikatoren für die Antwort auf die Frage, ob eine
Ausbeuterklasse in der Sowjetunion herrschte oder nicht.
In den frühen 1980er Jahren führten der "pro-sowjetische" Soziologe Albert
Szymanski und sein "pro-maoistischer" Widersacher Raymond Lotta eine Diskussion
über den gesellschaftlichen Charakter der Sowjetunion. 1282 Wir sind hier dem Ansatz
Szymanskis gefolgt, der ebenfalls anhand von Einkommensverteilungen und der So-
zialmobilität, wie aber auch von Arbeiterrechten und der Analyse der Ökonomie und
Außenpolitik zu dem Schluss gekommen ist, dass die Sowjetunion sozialistisch war
(auch nach 1956). Lotta kritisiert den Ansatz anhand des Argumentes, dass Wertge-
setz und Warenproduktion spätestens seit Stalins Tod dominierend waren, vergleich-
bar mit dem Kapitalismus. Es reiche daher laut Lotta (1983) nicht aus, sich Einkom-
mensstatistiken anzuschauen, um zu überprüfen, ob die Sowjetunion sozialistisch sei,
da das Wertgesetz und der Profit in der sowjetischen Wirtschaft dominierend gewesen
seien, und dies sei typisch für den Kapitalismus. 1283 Das offensichtliche Problem an
dieser Kritik ist, dass, wenn Wertgesetz, Warenproduktion und Profit die dominieren-
den Aspekte der sowjetischen Wirtschaft gewesen wären, diese sich auch in den Er-
scheinungen der Gesellschaft widerspiegeln müssen. Die Dominanz von Wertgesetz
und Profit in einer Wirtschaft gehen einher mit den daraus resultierenden Erscheinun-
gen kapitalistischer Gesellschaft: der Spaltung der Gesellschaft in Bourgeoisie und

1282
LOTTA & SZYMANSKI (1983) http://www.bannedthought.net/USSR/RCP-
Docs/SUSoSI/SUSoSI-II-1983-Entire.pdf?fbclid=IwAR1vG0Wc7XEJeMCaCj
AdjxQH_COC7G_hbNoWF1cDBCOyzApms_CP0k0EwvE
1283
Vgl. SZYMANSKI & LOTTA (1983), S. 37 ff.
444
Zur Geschichte der Sowjetunion

Proletariat. Dies zeichnet sich auch durch eine massive Trennung beider Klassen in
den Einkommensverteilungen, der Sozialmobilität, der Lebensweise etc. aus. Fehlen
diese Merkmale in einer Gesellschaftsformation, ist an der Vorstellung, die Sowjet-
union sei kapitalistisch, etwas faul.
Natürlich konnte aber dieses Werk nicht alle Fragen ausreichend beantworten: Wie
drückte sich das Problem des Bürokratismus in der Sowjetunion konkret aus? Wie
stand Stalin zum Bürokratismus? Welche Maßnahmen zum Kampf gegen Bürokra-
tismus wurden eingeleitet und wie verhielt sich die Kommunistische Partei der Sow-
jetunion diesbezüglich? Wie wurden die Massen in den Kampf gegen Bürokratismus
einbezogen. Wie ist das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis der Diktatur des
Proletariats? Wie entwickelten sich die Partei und die Gesellschaft im Verlauf der
sowjetischen Geschichte bezüglich dieser Fragen?
Diesen und anderen Fragen wird in einer weiteren Arbeit nachgegangen werden müs-
sen.

9. Literatur
9.1. Wissenschaftliche Literatur
Im Folgenden finden sich die in der Arbeit zitierten wissenschaftlichen Publikationen.
Hier sind neben Sachbüchern, wissenschaftliche Publikationen in Fachzeitschriften
und Primärquellen auch gut recherchierte, mit Quellen belegte Analysen aus den
Massenmedien oder kommunistischen Organisationen aufgelistet. Die Arbeiten der
Klassiker des Marxismus-Leninismus (Marx, Engels, Lenin, Stalin) werden in einem
anderen Verzeichnis gesondert aufgelistet. Die Auflistung der Literatur erfolgt hier
alphabetisch nach dem Autor und wird nach dem Prinzip: "Autor (Jahr): Titel. ggf.
Ort: Verlag" aufgelistet.
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9.2. Video-Beiträge:
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Kommunistische Initiative (2014): Dokumentation Mensch mit Klasse - Wir bewegen
die Geschichte https://www.youtube.com/watch?v=7g6XwyuUUPs

9.3. Auflistung der Werke von Marx, Engels, Lenin und


Stalin:
Die nachfolgend aufgelisteten zitierten Werke der Klassiker stammen alle aus den
Gesammelten Werken des Dietz-Verlages in Berlin. Stalin Werke Band 14 und 15,
sowie die "Geschichte der KPdSU - Kurzer Lehrgang" entstammen einem Nachdruck
der KPD/ML. Jede Arbeit der Klassiker wird mit dem Titel, der Bandnummer und
der Seitenzahl angegeben. Mittlerweile sind alle Werke der Klassiker als pdf online
verfügbar, was das Quellen-Studium vereinfacht.
Die Werke von Marx und Engels (MEW) finden sich unter: https://kommunistische-
geschichte.de/marx-engels-werke/
Die Werke Lenins (LW) unter: https://kommunistische-geschichte.de/lenin-werke/
Die Werke Stalins (SW) unter: https://kommunistische-geschichte.de/stalin-werke/
Die Seitenzahlen der Werke Stalins sind in den pdf-Dateien von "stalinwerke.de"
nicht identisch mit den Ausgaben der Bücher des Dietz-Verlages bzw. der KPD/ML.
Im Literaturverzeichnis stammen die angegebenen Seitenzahlen von der online-pdf-
Version auf stalinwerke.de. Die Auflistung aller Werke folgt nach den Bandnummern

476
Zur Geschichte der Sowjetunion

Marx und Engels:


MARX: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staats-
rechts, MEW Band 1, S. 203 - 333
MARX: Deutsche Ideologie, MEW Band 3
ENGELS: Status quo in Deutschland, MEW Band 4, S. 40 - 57
MARX/ENGELS: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Band 4, S. 459 - 493
MARX: Brief an Annenkow 1846, MEW Band 4, S. 547 - 557
MARX: Klassenkämpfe 1848–1850, MEW Band 7, S. 9 - 107
MARX/ENGELS: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund 1850, MEW Band 7, S.
244 - 254
MARX: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Band 8, S. 111 - 207
MARX: Lohn, Preis und Profit, MEW Band 16, S. 101 - 152
ENGELS: Vorbemerkung zum zweiten Abdruck (1870) der deutsche Bauernkrieg,
MEW Band 16, S. 393 - 400
MARX: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Band 17, S. 313 - 365
ENGELS: Einleitung zu "K. Marx: Bürgerkrieg in Frankreich", MEW Band 17, S. 613
- 626
ENGELS: Zur Wohnungsfrage, MEW Band 18, S. 209 - 287
MARX: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer
Programms), MEW Band 19, S. 11 - 32
ENGELS: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW
Band 19, S. 189 - 228
ENGELS: Anti-Dühring. MEW Band 20, S. 5 - 306
ENGELS: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, (Kapitel von Dialektik
der Natur), MEW Band 20 S. 444 - 456
ENGELS: Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates, MEW Band
21, S. 25 - 173
ENGELS: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs von 1891. MEW
Band 22, S. 225 - 240
ENGELS: Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, MEW Band 22, S. 483 -
505
MARX: Kapital Band I, MEW Band 23
MARX: Kapital II, MEW Band 24
MARX: Kapital III, MEW Band 25
477
Zur Geschichte der Sowjetunion

MARX: Theorien über den Mehrwert I, MEW Band 26.1


MARX: Theorien über den Mehrwert II, MEW Band 26.2
MARX: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Band 42

Lenin:
LENIN: Materialismus und Empiriokritizismus, LW Band 14
LENIN: Zündstoff in der Weltpolitik, LW Band 15, S. 178
LENIN: Ein Gespräch, LW Band 19, S. 22 - 27
LENIN: Über die Verletzung der Einheit, bemäntelt durch Geschrei über die Einheit,
LW Band 20, S. 325 - 348
LENIN: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in LW 21
LENIN: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW Band 22, S.
189 - 309
LENIN: Staat und Revolution, LW Band 25, S. 393 - 507
LENIN: Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, LW Band
26, S. 425
LENIN: Siebenter Parteitag der KPR(B), 6. - 8. März 1918, LW Band 27, S. 71 - 145
LENIN: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, LW Band 27, S. 225 - 268
LENIN: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, LW Band 28, S. 227 -
327
LENIN: VIII. Parteitag der KPR(B), 18. - 23. März 1919, LW Band 29, S. 125 - 211
LENIN: Gruß an die ungarischen Arbeiter, LW Band 29, S. 376-380
LENIN: Die große Initiative, LW Band 29, S. 397 - 424
LENIN: Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats, LW Band
30, S. 91 - 101
LENIN: Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis,
LW Band 32, S. 1 - 26
LENIN: Die Krise der Partei, LW Band 32, S. 27 - 38
LENIN: II. Gesamtrussischer Verbandstag der Bergarbeiter, LW Band 32, S. 39 - 55
LENIN: Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler
Trotzkis, LW Band 32, S. 58 - 100
LENIN: X. Parteitag der KPR(B), 8. - 16. März, LW 32, S. 163 - 277
LENIN: Brief an Mjasnikow vom 5. August 1921 in LW Band 32, S. 529 - 530

478
Zur Geschichte der Sowjetunion

LENIN: Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen
der Neuen ökonomischen Politik. Beschluß des ZK der KPR(B) vom 12. Januar 1922,
LW Band 33, S. 169 - 181
LENIN: XI. Parteitag der KPR(B), 27. März - 2. April 1922, LW Band 33, S. 245 -
312
LENIN: Lieber weniger, aber besser, in LW Band 33, S. 474 - 490
LENIN: An M. Sokolow. 16. Mai 1921, LW Band 35, S. 466 - 468
LENIN: An A. D. Zjurupa. Zu dem Entwurf der Direktive für den Kleinen Rat der
Volkskommissare. 21. Februar, LW Band 36, S. 551
LENIN: Brief an den Parteitag, LW Band 36, S. 577 – 582

Stalin:
STALIN: Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swerdlow-
Universität SW Band 6, S. 39-101
STALIN: Plenum des ZK der KPdSU(B), 4.-12. Juli 1928, SW Band 11, S. 77 - 104
STALIN: Über die rechte Abweichung in der KPdSU. Rede auf dem Plenum des ZK
und ZKK der KPdSU im April 1929. Stenographisches Protokoll. In SW Band 12, S.
8-58
STALIN: Neue Verhältnisse - neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus, SW Band
13, S. 40 - 53
STALIN: Die Ergebnisse des ersten Fünfjahresplanes, SW Band. 13, S. 102 - 128
STALIN: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag der KPdSU(B) über die Arbeit
des ZK, SW Band 13, S. 164 - 211
STALIN: Über den Entwurf der Verfassung der Union der SSR, SW Band 14, S. 40 -
60
STALIN: Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der
trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler. Referat und Schlusswort auf dem Ple-
num des ZK der KPdSU(B). 3. und 5. März 1937, SW Band 14, S. 61 - 84
STALIN: Rechenschaftbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der
KPdSU (B), 10. März. 1939, SW Band 14, S. 97 - 130

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Zur Geschichte der Sowjetunion

ISBN 978-3-9818899-4-9

18,00 €

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Zur Geschichte der Sowjetunion

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