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Dänemark dkr 51,– Frankreich € 6,30 Italien € 6,30 Österreich € 5,50 Portugal (cont) € 6,30,– Slowenien € 6,20 Spanien/Kanaren € 6,50 Germany

Nordkorea
Briefe aus einem
unheimlichen Land
Edward Snowden:
Die NSA ist nützlich
Staatsfeind im Gespräch
wird
gut!
Alles

Nett zu Tieren
Ein Bauer kämpft gegen
Die Berliner Ruhe trügt – in Deutschland brodelt es

die Industrie – mit Erfolg


Nr. 37 / 9.9.2017
Deutschland €4,90
Wir müssen wollen
reden zuhören.
J et z t s c h a f t l ic h
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geno l a s s e n!
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Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt.

Wir machen den Weg frei.

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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Snowden, SPIEGEL EDITION WISSEN

K urz vor der Wahl ist in Deutsch-


land kaum eine Klage so populär
wie die über den angeblich matten
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL
Wahlkampf; dabei empfinden viele
Wähler die Politik ganz und gar nicht
als langweilig, es brodelt und gärt an
vielen Orten, bei vielen Veranstaltun-
gen. Die Gründe für diese Wut mögen
nicht neu sein, individuelle Ohn-
macht, Ärger über die Große Koali-
tion, aber nun ist zu befürchten, dass Neufeld, Opfer rechter Schläger in Berlin
diese Wut Deutschland verändern
wird, dauerhaft. Aus diesem Grund widmen sich mehrere Texte im Heft den
Wutbürgern, ihren Motiven und ihren Zielen. Für die Titelgeschichte besuchte
ein SPIEGEL-Team Wahlveranstaltungen und Demonstrationen, sprach mit den
Wütenden und auch mit Demoskopen. Weitere Texte analysieren, warum der
Wahlkampf im Internet so schmutzig verläuft, wieso Claus Strunz, früher Chef-
redakteur der „Bild am Sonntag“, nun mit populistischen Parolen im Fernsehen
Karriere macht. Welche Auswirkungen der Rechtspopulismus im Alltag hat, be-
schreibt Dialika Neufeld in einer Reportage. Es ist ein persönlicher Text, Neufeld
ist Tochter einer Deutschen und eines Senegalesen. Seiten 14, 21, 22, 58

E s ist nicht einfach, Edward Snowden zu treffen, den Mann, der das weltweite
Überwachungssystem der National Security Agency offenlegte und nun im
Exil in Russland lebt. Nach mehr als einem Jahr, nach vielen Gesprächen mit
Snowdens Anwälten, vielen E-Mails war es am Mittwoch vergangener Woche
endlich so weit. Martin Knobbe und Jörg Schindler saßen in einem Hotelzimmer
in Moskau, Snowden hatte einen Zeit-
raum von zwei Stunden genannt, in LANXESS Qualität setzt Zei-
dem er erscheinen würde. Als die Zeit chen! Gerade in der Chemie
fast um war, klopfte es an der Tür. Im macht Qualität den Unter-
Flur stand Snowden, schwer erkältet. schied zwischen Alltäglichem
DMITRI BELIAKOV / DER SPIEGEL

Gut drei Stunden lang sprach er über und Besonderem – so wie z. B.


sein Leben in Russland und die Macht Nanotubes die Qualität vieler
der Geheimdienste. Am Ende des Ge- Produkte verbessern. Deshalb
sprächs hatten Knobbe und Schindler leben wir bei LANXESS Quali-
den Eindruck, vor ihnen sitze ein tät in allem, was wir tun – für
Mann, der „trotz seiner Situation mit hochwertige, nachhaltige Pro-
Knobbe, Snowden, Schindler in Moskau sich im Reinen ist“. Seite 38 dukte, für mehr Lebensqualität
im Alltag und für den Erfolg

E in Kind zu haben ist für viele Menschen das Schönste im Leben, aber
ein Kind zu erziehen gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Deshalb
möchten Eltern nichts falsch machen – ein hoher Anspruch, der zutiefst verun-
unserer Kunden. Das ist es,
was wir Energizing Chemistry
nennen. quality.lanxess.de
sichern kann. Denn was ist richtig, was ist falsch? Ant-
worten auf diese Fragen bietet die erste EDITION aus
der Reihe SPIEGEL WISSEN. Die Redaktion hat die wich-
tigsten Geschichten und Gespräche rund um Erziehung,
Kinder, Familie und Elternschaft zusammengestellt, die
in SPIEGEL WISSEN, dem SPIEGEL und auf SPIEGEL
ONLINE erschienen sind, und sie aktualisiert. Zusammen
ergeben die Texte ein Kompendium, das den Stand der
Wissenschaft spiegelt – und zugleich das Lebensgefühl
von Eltern und Familien heute. Das Heft erscheint am
kommenden Dienstag.

DER SPIEGEL 37 / 2017 5


Erpresserstaat
Nordkorea Nach dem Atomtest triumphiert Diktator
Kim Jong Un. Gibt es noch eine friedliche Lösung?
Und wie könnte ein Deal überhaupt aussehen?
Dazu: Berichte aus dem abgeschotteten Land von

TARIQ ZAIDI / ZUMA PRESS


einem Diplomaten, einem Reisenden, einer Helferin
und einem Künstler. Seiten 94, 98
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

BLONDET ELIOT / ABACA / DDP IMAGES


MARTIN WAGENHAN

Die Zäsur Ein Bauernkrieger Herbst der Erneuerung


Opposition Angela Merkels Kanzlerschaft Unternehmer Rudolf Bühler, Bauer in Frankreich Präsident Macron hat bereits
hat das Land polarisiert. Eine laute Minder- 14. Generation, macht vor, wie nachhaltige an Beliebtheit eingebüßt – doch vor allem
heit fühlt sich von keiner der etablierten Landwirtschaft erfolgreich sein kann. Sei- hat er einen Sturm der Veränderung ent-
Parteien mehr vertreten. Mit der AfD steht nen Mitstreitern gehören ein Schlachthof, facht. Die Arbeitsmarktreform und das
nun erstmals in der Geschichte der Re- eine Käserei, Verkaufsläden und ein Schloss. Gesetz gegen Korruption sind der Anfang.
publik eine rechtspopulistische Bewegung Sie erzielen Höchstpreise für Fleisch aus Erstmals seit Langem gibt es ein echtes
vor dem Einzug ins Parlament. Seite 14 artgerechter Tierhaltung. Seite 76 Bemühen um Wandel. Seite 100

6 DER SPIEGEL 37 / 2017


In diesem Heft

Titel Ausland
Opposition In der Republik wächst der Die Kolumbianer zweifeln am Friedens-
Zorn über die etablierten Parteien 14 prozess mit der Farc / Die EU kann
Karrieren Wie TV-Duell-Moderator das Urteil gegen Ungarn und die Slowakei
Claus Strunz mit populistischen Thesen nicht durchsetzen 92
dafür sorgt, dass er im Gespräch bleibt 21 Koreakrise Hat die Diplomatie eine Chance?
Wahlkampf Die neue Rechte im Internet Optionen und Risiken 94
macht Stimmung 22

LOTTA HARDELIN / AFP


Nordkorea Über Singen als Strategie
Rassismus Was macht der Rechtspopulismus und langes Händeschütteln – Bericht aus
mit Deutschland? Eine SPIEGEL-Redakteurin, einem abgeschotteten Land 98
selbst dunkelhäutig, besucht Menschen, die Frankreich Präsident Macron ist erfolgreich
wegen ihres Aussehens diskriminiert werden 58 dabei, sein Land neu zu erfinden – im Weg
stehen könnte ihm nur einer: er selbst 100
Deutschland Burma Das Dorf abgebrannt, die Bewohner Edward Snowden
Leitartikel Die Lohnlücke zwischen Frauen getötet – eine überlebende Rohingya erzählt
und Männern muss endlich geschlossen von Flucht und Verfolgung ihres Volkes 104 Er enthüllte 2013 die Massen-
werden 8 Iran Vizepräsident Ali Akbar Salehi überwachung der NSA, seit-
Meinung Kolumne: Der gesunde über das Atomabkommen – an dem lebt er in Moskau. Im
Menschenverstand / So gesehen: Rumi dem sein Land festhalten will, auch Gespräch widerspricht der
lesen mit Martin Schulz 10 wenn die USA aussteigen 106 Whistleblower Vorwürfen, er
Untreue-Anzeige gegen Merkel / sei ein russischer Spion, und
Amokläufer nutzte Armeegewehr / Sport beschreibt neue Methoden
Bundestag vor Rekordgröße 28
SPD Wie weit geht der Aufstieg von Britischer Heißhunger auf Medaillen / der Geheimdienste. Seite 38
Arbeitsministerin Andrea Nahles? 32 Magische Momente: Hansi Gnad über ein
Berlin Der Airport Tegel ist beliebt, offen deutsches Basketball-Wunder 109
bleiben kann er wohl trotzdem nicht 35 Fußball SPIEGEL-Gespräch mit Robert
CSU Das fragwürdige Comeback Lewandowski über den explodierenden
von Ex-Verteidigungsminister Guttenberg 36 Transfermarkt und die Zukunft des
Spione Der NSA-Whistleblower Edward FC Bayern München 110
Snowden im SPIEGEL-Gespräch über
sein Leben nach dem Leak 38 Wissenschaft
Sicherheit CDU-Innenminister Thomas

MARKUS SCHREIBER / AP
Freispruch für Eier / Warum in Zeiten
de Maizière kämpft um seine Karriere 44 des Klimawandels jeder Sturm
Strafjustiz Der Landtagsabgeordnete besonders ist / Kommentar: Die Briten
Linus Förster galt als lustiger Hallodri – setzen ihre Top-Unis aufs Spiel 114
dann fand man bei ihm Kinderpornos 46
Mittelalter Schlächter, Charismatiker,
Außenpolitik Die Regierung streitet über Dummkopf – die wahre Geschichte
den richtigen Umgang mit der Türkei 48 des englischen Königs Richard Löwenherz 116
Porträtfotografie SPIEGEL-Gespräch mit
Neurowissenschaften Erinnern leicht
Andrea Nahles
dem Kanzlerfotografen Konrad R. Müller
gemacht – was wir von Gedächtniskünstlern Sie hat sich als fleißige Ressort-
über die Macht der Bilder im Wahlkampf 50
lernen können 120 chefin bewährt, in der SPD
Tiere Die aus Afrika eingewanderte Nilgans
belästigt die Besucher städtischer Freibäder 54 Medizin Seriöse Wissenschaft, dubiose könnte die Arbeitsministerin
Praxis – das Geschäft mit den neuen und nach der Wahl aufsteigen.
gefährlichen Mitochondrien-Therapien 122
Gesellschaft Aber sie leidet noch immer
Früher war alles schlechter: Frauen an der unter ihrem Image. Wie geht
Kultur sie damit um? Und was wird
Macht / Über aufgehübschte Urlaubsfotos 56
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum ein Seniorenhipster Liechtenstein / aus ihr? Seite 32
britischer Bauer seine Kühe verschenkte 57 Steven Soderberghs „Logan Lucky“ /
Homestory Leben in einer „Co-Living“-WG 66 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 126
Erinnerungen Ex-Bertelsmann-Chef
Wirtschaft Thomas Middelhoff macht sich selbst
zur Romanfigur 128
Neue Prüfung für Atomreaktor? / Vorermitt- In eigener Sache Middelhoff und
lungen in VW-Flugaffäre / Rente mit 70 68
der SPIEGEL 130
Wirtschaftspolitik EU-Ökonomen beschreiben,
wie Donald Trump die US-Wirtschaft lähmt 70 Autoren Verbrechen und Sprache: ein
Gerechtigkeit Die meisten Deutschen finden,
SPIEGEL-Gespräch mit Petra Reski und
Veit Heinichen 132
dass Frauen zu schlecht bezahlt werden 74
OLIVER BERG / DPA

Unternehmer Der erfolgreiche Kampf eines Theater Der Choreograf Boris Charmatz
Landwirts gegen die Agrarindustrie 76 eröffnet die Spielzeit der Volksbühne 136
Dynastien Peinliche Schwarzgeldzahlungen Popkritik Das neue Album des
im Clan von Peek & Cloppenburg 78 Rappers Cro 138

Mobilität Thomas Middelhoff


Bestseller 135
Autoindustrie BMW, Daimler und VW suchen Er ist unter die Schriftsteller
nach der richtigen Strategie gegen den Impressum, Leserservice 140
gegangen, beschreibt elegisch
US-Rivalen Tesla und seine Elektroautos 80 Nachrufe 141 seinen Absturz vom Topmana-
Betrug Warum es so schwer ist, Tacho- Personalien 142
schummler zu stoppen 84
ger zum Häftling. Literarisch
Verkehr China treibt die Entwicklung moder-
Briefe 144 ist aber auch sein Umgang mit
ner Mobilitätskonzepte konsequent voran 86 Hohlspiegel / Rückspiegel 146 Fakten, wenn es um den SPIE-
Lada Der mühsame Weg des russischen GEL geht: Das Kapitel enthält
Autobauers in die Moderne 90 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ viele Fehler. Seiten 128, 130

DER SPIEGEL 37 / 2017 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

#dafehltdochwas
Gleicher Lohn für Frauen und Männer – das sollte die entscheidende Frage bei der Wahl sein.

D
as Schöne am Statistischen Bundesamt ist die er kaum einer Frau helfen wird, sich ein gerechtes Ge-
Nüchternheit, mit der es Lebenswirklichkeit in halt zu erkämpfen. Das Gesetz zum Recht auf Rückkehr
Zahlen gießt. Sachlich, aber auch schonungslos bil- aus Teilzeitarbeit hat es erst gar nicht geschafft;
det die Behörde so die Realität ab. Deutsche Realität. Ministerin Andrea Nahles hielt den Kompromissvor-
20,71 Euro brutto ist zum Beispiel eine solche Zahl. So schlag der Union für so sinnlos, dass sie lieber ganz da-
viel hat ein Mann im vergangenen Jahr durchschnittlich rauf verzichtete.
pro Stunde verdient. Für Frauen kommt das Amt auf eine Die Teilzeitfrage aber ist der Schlüssel, wenn es darum
andere Zahl, sie verdienten 16,26 Euro – und damit 21 Pro- geht, Lohngerechtigkeit zu schaffen. Die Ursachen für
zent weniger. 20,71 Euro versus 16,26 Euro sind strukturell: Frauen ar-
Gab es einen Aufschrei, als die Zahlen veröffentlicht beiten häufiger in Teilzeit, weil sie sich – unentgeltlich –
wurden? Es gab ihn nicht. Wir haben uns an die 21 Prozent um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige kümmern.
gewöhnt, an Zustände, die nicht akzeptabel sind: Frauen Sie tun das nicht immer, weil sie es unbedingt wollen,
bekommen im Schnitt ein Fünftel weniger Gehalt. Ihnen sondern weil es nach wie vor zu wenig Kinderbetreuung
droht häufiger Altersarmut, weil ihre Renten entsprechend gibt und weil es steuerlich begünstigt wird, wenn ein El-
geringer sind. Sie leisten über- ternteil wenig bis gar nichts
proportional häufig unbezahl- verdient. Und die Berufe, für
te Versorgungsarbeit, sind fi- die sich Frauen entscheiden,
nanziell oft von ihren Män- werden oft schlechter ent-
nern abhängig und leben in lohnt. Die Folge: 19 Prozent
Rollenmodellen, die weder der verheirateten Frauen ha-
sie noch die Männer immer ben heute kein Einkommen,
so wollen. 63 Prozent verdienen weniger
Die Fakten zum sogenann- als 1000 Euro. Das ist kaum
ten Gender Pay Gap, also der zu ertragen.
geschlechtsabhängigen Lohn- Man kann das ändern, aber
lücke, sind bekannt, seit Lan- man muss es wagen. Für die
gem. Aber es bewegt sich so Politik hieße das: Kinder-
gut wie nichts. Das ist überra- betreuung und Ganztags-
schend, immerhin geht es um schulen müssen massiv aus-
mehr als die Hälfte der Bun- gebaut, „weibliche“ Berufe
desbürger. Verbal überbieten wie Krankenschwester und
sich Politiker seit Jahren mit Erzieherin besser bezahlt
STEFAN BONESS / IPON

Willensbekundungen und Ab- werden. Und es brauchte


sichtserklärungen. Auch in neue Arbeitszeitregelungen,
diesem Wahlkampf ist es die es Männern ermöglichten,
nicht anders. SPD-Spitzen- sich gleichberechtigt an der
kandidat Martin Schulz ver- Familienarbeit zu beteiligen.
gisst in kaum einer Wahl- Vor allem aber muss das
kampfrede den Satz, dass es Zeit für mehr Gerechtigkeit Ehegattensplitting durch ein Familiensplitting ersetzt
sei, und das heiße gleicher Lohn für Männer und Frauen. werden, denn es fördert einseitig ein traditionelles
Die Union will immerhin gleiches Geld für gleiche Arbeit, Rollenmodell, das den Wünschen und Lebensrealitäten
die Freien Demokraten setzen sich für Chancengleichheit vieler Frauen, aber eben auch vieler Männer nicht mehr
ein, Grüne und Linke sowieso. entspricht.
Gern verweisen Union und SPD auf die Erfolge ihrer All das wäre ein radikales Umdenken, eine wirkliche
Regierungszeit, in der auf den allerletzten Drücker Reform der bestehenden Verhältnisse. Es würde unser
das sogenannte Entgelttransparenzgesetz verabschiedet Land lebenswerter, vor allem aber gerechter machen. Es
wurde, vehement vorangetrieben von der damaligen hilft den Frauen nicht weiter, in jedem Wahlkampf zu hö-
Bundesfrauenministerin Manuela Schwesig und genau- ren: Da fehlt doch was! Die Parteien, denen es ernst ist,
so vehement bekämpft von der Union. Toleriert von müssen das Thema Lohngerechtigkeit zur Bedingung für
einer Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zwar die erste künftige Koalitionsverhandlungen machen. So geschehen
Frau im Kanzleramt ist, aber trotzdem wenig Neigung bei der Ehe für alle, so postuliert bei der Frage nach der
zu diesen Themen zeigt. Erst als klar wurde, dass die Zukunft des Verbrennungsmotors.
SPD auf einem Gesetz bestehen würde, griff Merkel in Und wenn es den 31,7 Millionen möglichen Wählerin-
gewohnter Manier ein: Heraus kam ein Kompromiss, nen ernst ist, können sie ihre Stimme am 24. September
so windelweich, dass die Wirtschaft ihn mitträgt, weil genau danach vergeben. Susanne Amann

8 DER SPIEGEL 37 / 2017


Unser Wahlversprechen:

Ihre Stimme
kommt an.

Die Briefwahl 2017.


Anfordern. Ankreuzen. Abschicken. Danke.

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Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand

Leitfaden für Flüchtlinge


Deutschland hat, was digen Schauspielkurs an der örtlichen
das frühzeitige Verlas- Volkshochschule absolvieren. Sonst geht Jenseits ist
sen von Talkshows
betrifft, bislang we-
das in die Hose.
Ganz wichtig ist es zudem, den richtigen
GroKo
nig Erfahrung. Im Zeitpunkt nicht zu verpassen. Für Ihre So gesehen Martin Schulz
kollektiven Gedächt- Flucht benötigen Sie unbedingt einen halb- zitiert Rumi:
nis der Republik hat wegs nachvollziehbaren Anlass. Weidel Was will er uns sagen?
sich allenfalls der Raus- hatte da am Dienstag erkennbar Probleme.
wurf von Eva Herman aus Schon stand das nächste Thema auf dem Mit Poesie ist es so eine Sa-
der Sendung von Johannes B. Kerner ein- Sendeplan, die soziale Gerechtigkeit, ein che. Nicht immer erschließt
gebrannt. An der wahren Königsdisziplin Feld, auf dem sich eine Partei der Herz- sich ihr Sinn beim ersten Le-
des Talkshowbusiness, dem freiwilligen losigkeit verständlicherweise schwertut. sen oder Hören, je älter die
Abgang, hat sich aber schon länger nie- Weidels innere Uhr tickte. Sie musste die Dichtung, desto mehr bedarf
mand mehr probiert. Erst in letzter Zeit letzten Sekunden des Themas Flüchtlinge sie der erklärenden Ausle-
kommt der demonstrative Abgang wieder nutzen, um aus der Nummer rauszukom- gung. Für politische Debat-
in Mode. Vor wenigen Wochen stürmte men. Als CSU-Generalsekretär Andreas ten eignet sie sich eher weni-
Wolfgang Bosbach aus der Sendung Scheuer den rechtsradikalen AfD-Politiker ger, und so konnte es eigent-
„Maischberger“. Vorigen Dienstag folgte Björn Höcke als „Rechtsradikalen“ be- lich nur schiefgehen, als Mar-
AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel aus zeichnete, sah sie ihre Chance gekommen, tin Schulz beim TV-Duell am
der ZDF-Wahlsendung „Wie geht’s, schnappte sich ihren Kuli und marschierte vorigen Sonntag den persi-
Deutschland?“. von dannen. Dass sie selbst gerade ein schen Dichter Dschalaluddin
Leider sind wir, was die Professionalität Ausschlussverfahren gegen Höcke unter- Rumi zitierte, einen mittelal-
des Abgangs angeht, seit Eva Herman stützt, weil dieser angeblich zu rechts- terlichen Mystiker, der selbst
nicht wirklich vorangekommen. Das hat radikal ist, hatte sie dummerweise nicht Islamwissenschaftler vor He-
Weidels Flucht schonungslos offengelegt. bedacht. rausforderungen stellt. Man
Sie fiel in den Haltungsnoten noch schwä- Ein letzter Punkt: Wenn Sie wirklich konnte die Fragezeichen in
cher aus als Bosbach. möchten, dass Ihr Abgang spontan wirkt den Gesichtern von 16 Millio-
Es fängt schon damit an, dass es voll- und nicht wie von langer Hand geplant, nen Fernsehzuschauern gera-
kommen unlogisch ist, wenn AfD-Politiker sollten Sie auf keinen Fall direkt im An- dezu vor sich sehen: „Jen-
einem erst die Ohren vollheulen, sobald schluss eine Pressemeldung dazu verschi- seits von richtig oder falsch
ein Polittalk mal ohne sie auskommt, und cken, wie die AfD es tat. Hier empfiehlt gibt es einen Ort, dort tref-
dann gleich türmen, wenn sie endlich ein- sich der nächste Morgen als glaubwürdiger fen wir uns“? Seither rätseln
geladen sind. Beim frühzeitigen Verlassen Termin. Wenn Sie diese Grundregeln des die Deutschen, was ihnen
von Talkshows sollte ferner der folgende Abhauens beachten, könnten beim nächs- der SPD-Kanzlerkandidat
Leitfaden dringend beachtet werden: ten Mal vielleicht sogar ein paar intel- mit diesen Worten sagen
Wenn Sie beim Abgang halbwegs überzeu- ligente Bürger auf Ihren Trick reinfallen. wollte. Schulz hatte das Zi-
gend als Märtyrer, Opfer oder beleidigte tat, das er nach eigenen An-
Leberwurst rüberkommen wollen, sollten An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, gaben extra noch einmal
Sie im Vorfeld mindestens einen dreistün- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. nachgelesen hatte, eigentlich
bis zum Schluss des Duells
aufsparen wollen, es dann
aber nicht mehr abwarten
Kittihawk können und war damit
schon auf halber Strecke he-
rausgeplatzt. Hätte Schulz
Rumi, wie ursprünglich vor-
gesehen, erst am Ende zum
Einsatz gebracht, quasi als
Höhepunkt einer von Har-
monie geprägten Debatte,
wäre klar gewesen, an wen
sich die Botschaft des Sufi-
Dichters von mystischer Lie-
be und Vereinigung richtet:
an Kanzlerin Merkel. Schulz
ging es, da bin ich sicher, um
die Vereinigung zweier Par-
teien und ihrer Führer im
Jenseits der Großen Koali-
tion: Egal, wie das hier aus-
geht, wir sehen uns am Kabi-
nettstisch. Christiane Hoffmann

10 DER SPIEGEL 37 / 2017


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Anti-Merkel-Demonstranten in Torgau: „Wenn sie kommt, ordentlich Krawall machen!“

Früchte des Zorns


Opposition Selten wurde in der deutschen Politik so erbittert gestritten und gehasst
wie derzeit auf Marktplätzen und im Internet. Mit der AfD wird die Wut wohl
in den Bundestag einziehen. Wie umgehen mit einer Partei, die vom Tabubruch lebt?

14 DER SPIEGEL 37 / 2017


WAHL 2017

ben in den nächsten vier Jahren – sofern


Sie zuhören und nicht nur schreien.“ Doch
das bekommen die, die gemeint sind, nicht
mit. Der Lärm der Trillerpfeifen und Vuvu-
zelas übertönt alles.
Nur Stunden später werden erste
Onlinemedien über die Störer berichten.
„Merkel in Torgau niedergebrüllt“, steht
da etwa, Oschkinat ist zufrieden. Er be-
treibt eine Gaststätte in dem kleinen Dorf
Audenhain, er hat zum ersten Mal in sei-
nem Leben eine Demonstration angemel-
det. Der 35-Jährige ist Mitglied der AfD,
aber ein „kritisches“, wie er betont. Er
bezeichnet sich als „linken Patrioten“. An
der AfD findet er gut, dass man sich „asyl-
kritisch“ äußern dürfe.
Für die Demo in Torgau hat Oschkinat
einen Flyer entworfen und 2000 Stück
drucken lassen, er hat auf Facebook Wer-
bung gemacht, die dann von Ablegern der
Pegida in Thüringen und Sachsen weiter-
verbreitet wurde. Die AfD im Kreis Elbe-
Elster hat einen ganzen Bus gemietet, um
die Demonstranten aus den umliegenden
Orten nach Torgau zu bringen. Die Veran-
staltung nannte Oschkinat „Ausfahrt zur
Kanzlerin der Schmerzen“.
Das Pfeifen und Trillern auf dem Markt-
platz von Torgau ist der Vorbote einer Wut,
die wohl bald den Bundestag erreichen
wird. Keine Klage ist derzeit im Berliner
Regierungsviertel populärer als die über
den angeblich öden Wahlkampf, über das
matte Duell zwischen Merkel und Martin
Schulz. Aber wer sich umschaut in der
Republik, wer nach Bitterfeld fährt, nach
Torgau oder Annaberg-Buchholz, der stellt
schnell fest, dass viele Wähler die Politik
nicht als langweilig empfinden. Es brodelt
und gärt, es wird geschrien und gehasst,
vor allem im Osten Deutschlands.
Merkel und Schulz sind die Kandidaten
der demokratischen Mitte; egal wer ge-
winnt, die Republik wird keine drama-
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

tischen Ausschläge erleben. Sie sind beide


gute Europäer, vereint im Bekenntnis
zur sozialen Marktwirtschaft, und beide
verbindet der Glaube, dass es richtig war,
im Sommer 2015 die Grenzen zu öffnen
für Hunderttausende Flüchtlinge. Beide
wollen ebenfalls, dass es sich nicht wieder-
holt.
Das Ergebnis der zwölfjährigen Kanz-
lerschaft Merkels ist auch ein gespaltenes
Land, in dem sich eine radikale, aber laute

T
rillern oder schreien?“ Sandro Osch- Demokraten“ Flyer verteilt, auf denen Minderheit nicht mehr repräsentiert fühlt,
kinats Männer gehen durch die Rei- „Rote Karte für Merkel“ steht. Jetzt gibt weder von der Kanzlerin noch von ihrem
hen und wappnen die Truppen für er über sein Megafon letzte Anweisungen: SPD-Herausforderer. Man kann das TV-
die bevorstehende Schlacht. Wer „trillern“ „Wenn sie kommt, alle die Schilder hoch- Duell am vergangenen Sonntag als den ge-
sagt, bekommt eine Pfeife in die Hand halten und ordentlich Krawall machen!“ sitteten Wettstreit zweier gereifter Demo-
gedrückt, Oschkinat selbst steht auf einem Als die Kanzlerin dann um 17.20 Uhr kraten verstehen. Aber ganz offenkundig
Tritt, der einen Rundumblick auf den Markt- die Bühne betritt, gibt es kein Halten mehr. hat es viele Bürger in ihrer Meinung be-
platz von Torgau in Nordsachsen verschafft. „Hau ab!“, brüllen Oschkinats Truppen. stätigt, dass es keine Opposition mehr im
In seiner rechten Hand hält er ein Megafon. „Merkel muss weg! Wir sind das Volk!“ Lande gebe.
Schon vor Stunden hat Oschkinat im Irgendwann wendet sich die Kanzlerin Die Wut speist sich nicht nur aus Mer-
Büro seines Vereins „Spektrum aufrechter an die Krachmacher: „Es geht um Ihr Le- kels Flüchtlingspolitik, es geht auch um
DER SPIEGEL 37 / 2017 15
Titel

Ohnmacht, um das Gefühl, von „denen reicht, der Richter am Landgericht Dres- Lohn- und Rentendrücker und behauptet,
da oben“ nicht mehr ernst genommen zu den gilt in seinen Kreisen als einer, der vor seiner Arbeit als Anwalt in Mühlhau-
werden. Und zur Elite werden nicht nur sich was traut – zum Beispiel den Satz, sen an der Unstrut auf dem Bau gearbeitet
Merkel und die SPD gezählt, sondern auch dass die Herstellung von Mischvölkern in zu haben. Er klingt ein bisschen wie die
die Grünen und die Medien. Als die AfD- Deutschland „nicht zu ertragen“ sei. frühen Grünen, die ja auch mal gegen die
Spitzenkandidatin Alice Weidel am Diens- Maier ist weltanschaulich einen weiten „Systemparteien“ antraten und aus Miss-
tag mit großem Aplomb eine Wahlsendung Weg gegangen. An seinem Wahlkampf- trauen gegen die „Mainstream-Presse“ die
des ZDF verließ, konnte sie sich des stand am Bahnhof Niedersedlitz in Dresden linksalternative „taz“ mitgründeten.
Beifalls ihrer Anhänger sicher sein, die in erzählt er von den Jusos, bei denen er mit Nur ist es in Pohls Welt eine „biblische
den öffentlich-rechtlichen Sendern schon 17 Jahren in Bremen aktiv war. Seine Eltern Herausforderung“, alle „illegalen Auslän-
lange nur noch den von Merkel gelenkten hätten den SPD-Kanzler Helmut Schmidt der“ abzuschieben.
„Staatsrundfunk“ sehen. verehrt. Die SPD sei in Bremen das gewe- Noch ist nicht entschieden, wer die neue
Keine zweite Partei weiß auf der Klavia- sen, was die CSU in Bayern immer noch AfD-Fraktion führen wird, aber der starke
tur des Elitenhasses so virtuos zu spielen sei: Partei der kleinen Leute. 1982 ging er Mann der AfD ist ohne Zweifel Alexander
wie die AfD. Sie ist als brave Professoren- zum Studium nach Tübingen, irgendwann Gauland. Der leitete in seinem früheren
partei entstanden, die nicht länger Merkels habe er das Interesse an der SPD verloren. Leben als CDU-Politiker die Staatskanzlei
Europolitik mittragen wollte, weil sie in Dann kamen die Eurokrise und die des hessischen Ministerpräsidenten Walter
ihren Augen so offenkundig Recht und Gründung der AfD. Er ging zu Stamm- Wallmann und verließ dann wie so viele
Gesetz beugte. Dann aber machte sie sich tischen der Partei, wo er auf Akademiker Konservative enttäuscht die Merkel-CDU.
auf den langen Marsch nach rechts, und traf, die dachten wie er. Es war die Zeit Gerade konnte er seine alte Parteifreundin
heute wird sie von Leuten geprägt, die die von Bernd Lucke, dem Parteigründer, der Erika Steinbach als Stargast bei einer AfD-
in Hamburg geborene deutschtürkische In- gegen Merkels Rettungspolitik für Grie- Veranstaltung begrüßen – auch sie ist im
tegrationsbeauftragte Aydan Özoğuz nach chenland protestierte. Maier bewunderte Zorn aus der CDU ausgetreten.
Anatolien „entsorgen“ wollen und Flücht- Lucke. Er habe aber auch das freie Diskus- Gaulands Geschichte ist auch die einer
linge „Ficki-ficki-Fachkräfte“ nennen. sionsklima in der AfD geschätzt. „Es durf- Selbstradikalisierung. Er kleidet sich noch
Über 60 Jahre lang ist es gelungen, te alles gesagt werden.“ Die Flüchtlings- immer wie ein englischer Landadliger,
rechtsradikale Parteien vom Bundestag krise habe ihn endgültig mobilisiert: „Ich aber auf Marktplätzen ruft er zum Wider-
fernzuhalten. Über Jahrzehnte ließ sich stand gegen die „Diktatorin“ Merkel auf.
die Republik nicht wirklich anstecken von Mit Gauland wird eine Truppe aus
dem Virus des Rechtspopulismus, der nicht
Die CDU stelle eher eine Glücksrittern, Rassisten und empörten Bür-
nur bei den europäischen Nachbarn gras- Deutschtürkin auf als gern in den Bundestag einziehen, die eines
siert, sondern nun mit Donald Trump auch eine deutsche Mutter, eint: die Wut auf die Kanzlerin. Teilweise
Einzug ins Weiße Haus gehalten hat. Es werden höchstpersönliche Rechnungen be-
galt als Tabu, sich öffentlich zu rechtsradi- sagt Martin Hohmann. glichen.
kalen Parteien zu bekennen, auch deshalb „Schäbig“ sei es gewesen, wie die CDU-
schafften es die NPD und die Republikaner hatte das Gefühl, das war’s jetzt. Jetzt geht Chefin ihn fallen gelassen habe, sagt Mar-
nie zu bundesweiter Größe. Deutschland kaputt.“ tin Hohmann, damals, am 14. November
Nun aber steht die Bundesrepublik vor Am Stand gibt sich Maier gemäßigt. Auf 2003, als er auf ihr Geheiß aus der Unions-
einer historischen Zäsur. Vermutlich wird Bühnen kann er auch anders. Im August Bundestagsfraktion ausgeschlossen wurde.
bald eine in Teilen völkisch und rassistisch rief er auf dem Dresdner Neumarkt in die Hohmann kann bis heute nichts Schlim-
denkende Partei im Bundestag sitzen, in johlende Menge: „Ich will, dass Deutsch- mes an seiner Rede finden, die er zum Tag
den Umfragen liegt die AfD zwischen 8 land wiederaufersteht.“ Die Bundestags- der Deutschen Einheit im Oktober 2003
und 11 Prozent. Die Partei dürfte nicht nur wahl sei ein „Tag der Abrechnung“. Er hielt und die von antisemitischen Tönen
das Gesicht des Parlaments ändern, son- wolle, „dass wir wieder zur Selbstachtung durchzogen war. Eine „perfide Medien-
dern auch die Debattenkultur. zurückfinden und nicht geduckt laufen kampagne“ sei gegen ihn gelaufen, sagt er.
Wenn die AfD bei der Wahl um die 10 müssen vor solchen Leuten wie Erdoğan Hohmann versuchte im Jahr 2005 auf ei-
Prozent holt, wird sie ungefähr 70 Abge- und diesen Hanseln“. gene Faust als Direktkandidat den Einzug
ordnete stellen, einer von ihnen wird Jens Parteichefin Frauke Petry wollte Maier in den Bundestag. Er holte 21,5 Prozent,
Maier sein, er kandidiert auf Platz zwei nach seiner Rede im Ballhaus Watzke aus aber das reichte nicht, um den CDU-Ge-
der sächsischen Landesliste. Maier war der AfD werfen, aber ein Parteitag votierte genkandidaten aus dem Feld zu schlagen.
nicht nur dabei, als Björn Höcke seine be- dagegen. Jetzt versucht die Landeschefin Danach, sagt Hohmann, „hatte ich ei-
rüchtigte Rede im Dresdner Ballhaus Watz- es aufs Neue. Doch die AfD ist inzwischen gentlich mit meiner politischen Karriere
ke hielt, in der er das Holocaust-Mahnmal so weit nach rechts gerückt, dass Maier abgeschlossen“. Dann kam die AfD. Zu-
in Berlin als „Denkmal der Schande“ be- zum Mainstream gehört. nächst sei sein Aufnahmeantrag monate-
zeichnete. Maier war eine Art Anheizer Als vor drei Jahren in Dresden die Pegi- lang liegen geblieben. Doch nach dem
für den Rechtsaußen Höcke. In einem kur- da-Bewegung entstand, gab es in der AfD Sturz des moderaten Parteigründers Bernd
zen Grußwort sagte er, man habe den noch eine heftige Debatte über die Frage, Lucke habe es plötzlich geklappt.
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ob man sich mit ihr gemeinmachen solle. „Gott. Familie. Vaterland.“ steht in
eingeredet, sie seien nichts mehr wert. „Ich Die Schlacht ist längst entschieden, was schwarz-rot-golden unterlegten Lettern auf
erkläre hiermit diesen Schuldkult für end- man auch an Leuten wie Jürgen Pohl er- Hohmanns Flugblättern. Die AfD-Spitze
gültig beendet“, sagte Maier unter dem Ju- kennen kann. Pohl ist ein enger Vertrauter hat die Möglichkeit erkannt, mit dem
bel des Publikums. des thüringischen Fraktionschefs Höcke. gefallenen CDU-Mann vielleicht sogar ein
„Schuldkult“ war bisher ein Wort aus Er kandidiert auf Platz zwei der thüringi- Direktmandat zu ergattern. Als er am Mon-
dem Repertoire der rechtsextremen NPD, schen Landesliste. tag vor seinen Anhängern in Petersberg bei
gut möglich, dass man es bald vom Red- Pohl nennt sich „Volksanwalt“. Das Fulda spricht, sind zur Unterstützung Par-
nerpult des Bundestages hört. Maier hat klingt, als wäre er ein Spross der 68er-Be- teichef Jörg Meuthen und dessen Stellver-
in Sachsen eine gewisse Prominenz er- wegung, und tatsächlich wettert er gegen treterin Beatrix von Storch angereist. Sie
16 DER SPIEGEL 37 / 2017
nicken eifrig, als Hohmann die Kanzlerin
in seiner Rede als „Totalausfall“ beschimpft
und sie „vor Gericht stellen“ will. Merkels
„langer Arm“, behauptet Hohmann, reiche
so weit, dass die CDU inzwischen eher eine
Deutschtürkin als Kandidatin aufstelle als
eine deutsche Mutter.

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


Es ist diese spezielle Melange aus Ver-
schwörungstheorie, Minderwertigkeits-
komplex und Bürgerlichkeit, die überall
in der AfD zu finden ist. Die Partei hat
sich in den vergangenen Monaten radika-
lisiert, aber nach wie vor zieht sie auch
Bürgerliche an, die mit Merkels Flüchtlings-
politik nicht einverstanden sind, darunter
Demonstrant Oschkinat (r.): „Trillern oder schreien?“ nicht wenige Frauen.
Die AfD sitzt inzwischen in 13 Landta-
gen, 30 Prozent ihrer Wähler sind weiblich.
An der Parteispitze steht Frauke Petry, Spit-
zenkandidatin neben Gauland ist Alice Wei-
del. Sie lebt mit einer Schweizerin zusam-
men, die aus Sri Lanka stammt, und zieht
mit ihr zwei Söhne groß. Es ist nicht ganz
leicht, Weidel mit dem Bild einer muffigen
Altmännerpartei in Einklang zu bringen.
Das gilt auch für Mariana Harder-Küh-
nel, sie ist die Spitzenkandidatin der hes-
sischen AfD für die Bundestagswahl. Sie
hat Jura studiert und acht Jahre lang bei
einer großen Wirtschaftsberatungsfirma
gearbeitet. Vor zwei Jahren gründete die
dreifache Mutter zusammen mit Kollegen
eine eigene Kanzlei.
Harder-Kühnel verbindet nichts mit dem
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

eifernden Ton eines Björn Höcke. Als sie


am Dienstagabend im hessischen Büdin-
gen auf der Bühne steht, gleicht ihr Auftritt
eher der Infoveranstaltung einer Kranken-
kasse. 120 Bürger haben sich in der Willi-
Zinnkann-Halle eingefunden. Niemand ist
Beschädigtes SPD-Plakat: Klaviatur des Elitenhasses auf Krawall aus. Büdingen ist ein fried-
liches Städtchen inmitten der sanften Hü-
gel des Wetteraukreises.
Doch auch hier gibt es seit Ende 2015
ein Flüchtlingsheim, viele junge Männer
mit südländischem Äußeren sind seither
in der Stadt unterwegs. In ihrer Rede
spricht Harder-Kühnel von Frauen, die sich
aus Angst vor den Zuwanderern nicht
mehr auf die Straße trauten. „Wir setzen
gerade all die Errungenschaften für Frauen
aufs Spiel, die wir in den letzten Jahrzehn-
ten erkämpft haben.“
Ist das nicht etwas dramatisch?
„Als ich vor Kurzem in normaler, mit-
teleuropäischer Sommerbekleidung auf die
Straße ging, spuckte eine verschleierte
Frau vor mir aus“, behauptet Harder-Küh-
BERT BOSTELMANN / DER SPIEGEL

nel am nächsten Tag in einem Frankfurter


Café. „Ich habe darüber gelacht. Aber ein
14-jähriges Mädchen zieht das nächste Mal
vielleicht doch lieber lange Hosen an.“ Sie
finde es einfach ärgerlich, dass das Thema
von den großen Parteien gar nicht ange-
sprochen werde.
AfD-Spitzenkandidaten Weidel und Gauland, CDU-Aussteigerin Steinbach: Jetzt Stargast Im Kanzleramt gab es lange die Hoff-
nung, dass die Flüchtlinge den Wahlkampf
DER SPIEGEL 37 / 2017 17
Titel

nicht bestimmen würden, und tatsächlich Nun hat sich Schulz entschieden, einen er. Es gebe Deutsche, die den Einkaufswa-
gelang es Merkel, den zähen Streit mit entschlossenen Wahlkampf gegen die AfD gen nur mit Discounterprodukten vollpack-
der CSU vorerst beizulegen. Aber in den zu machen. „Das ist keine ,Alternative für ten, weil sie sich etwas anderes nicht leis-
Augen vieler Wähler ist das Thema kei- Deutschland‘, das ist eine Schande für die ten könnten. „Und Flüchtlinge, die sich die
neswegs erledigt. „Sie haben das Gefühl, Republik“, ruft Schulz auf den Marktplät- Hosentaschen vollstopfen und ohne zu be-
dass nicht auf das eingegangen wird, was zen des Landes. zahlen rauslaufen, als wäre nichts dabei.“
sie bewegt, und dass vieles schöngefärbt Die Wähler der AfD kommen aus un- Bei der letzten Bundestagswahl hat Fe-
wird“, sagt der Psychologe Stephan Grü- terschiedlichen Milieus: Zwar wählen über- gers die Piraten gewählt, davor die SPD
newald, der psychologische Tiefeninter- durchschnittlich viele Arbeiter die AfD, und auch mal die FDP. Habe alles keinen
views mit Bürgern geführt hat. „Ich habe aber sie sind in deren Wählerschaft eine Unterschied gemacht, sagt er. „Die Große
solches Toben und Wüten, so viel Hass kleine Minderheit. Menschen aus der un- Koalition gibt mir das Gefühl, dass wir
unter den Probanden noch nie erlebt.“ teren Einkommensschicht und unteren Mit- nicht mehr weit von einer Diktatur ent-
Die AfD ist auch das Produkt eines zu telschicht wählen häufiger die Rechts- fernt sind.“ Und, in Anspielung auf die
großen politischen Einverständnisses. Mer- Wahlplakate der CDU, sagt er: „Sorry,
kels Griechenlandpolitik stieß im Bundes- aber viele leben hier nicht gut und auch
tag auf keinen ernsthaften Widerstand. Sie
AfD-Wähler schätzen ihre nicht gerne.“
wurde nicht nur von der SPD mitgetragen, Position in der Gesell- Viele Wähler treibt offenbar ein Gefühl,
sondern auch von Grünen, FDP und CSU. schaft niedrig ein und dass alles schlechter werde. Der Leipziger
Ganz ähnlich war es bei der Flüchtlings- Soziologe Holger Lengfeld untersuchte die
politik, die aus Sicht der AfD nicht annä- fühlen sich ohnmächtig. Frage, ob AfD-Anhänger häufig Moder-
hernd hart genug kritisiert wurde, am ehes- nisierungsverlierer seien oder sich als sol-
ten noch von der CSU, allerdings nur in populisten, aber auch Mitglieder der obe- che fühlten. Sein Ergebnis: „Personen mit
Bayern und nicht im Bundestag. Noch nie ren Einkommensgruppen mit mehr als geringem Bildungsgrad, Arbeiter, Bezieher
hat ein deutscher Regierungschef die Linie 4000 Euro Nettoeinkommen im Monat. kleiner Einkommen sowie Personen, die
vertreten, dass es für den Nationalstaat Auswertungen von 2013 bis 2016 zeigen sich von der gesellschaftlichen Entwick-
unmöglich sei, die Grenzen lückenlos zu sogar, dass AfD-Wähler verglichen mit an- lung benachteiligt fühlen, wählen nicht
schließen und die Zuwanderung zu steu- deren Wahlberechtigten über ein leicht häufiger AfD als andere.“ Offensichtlich
ern. Als in den Neunzigerjahren Hundert- überdurchschnittliches Einkommen ver- seien die Gründe der Menschen, die AfD
tausende Flüchtlinge vor allem vom Bal- fügen. zu unterstützen, „andere als wirtschaft-
kan kamen, änderte die Union mithilfe Tendenziell wählen eher Bürger mit ei- liche“. Es gehe ihnen eher um die Ableh-
von SPD und FDP das Grundgesetz und nem Haupt- oder Realschulabschluss die nung von Muslimen und von Zuwande-
konnte so den Zuzug von Flüchtlingen AfD, aber rund ein Viertel der Unterstüt- rung generell, sie fürchteten einen Verlust
deutlich reduzieren. Als dagegen im zer haben Abitur oder einen Hochschul- der nationalen Identität.
Herbst 2015 immer mehr Menschen nach abschluss. Die Altersgruppe mit der höchs- Woher aber kommt dieser Wunsch nach
Deutschland kamen, ließ dies die AfD wie- tens Affinität zur AfD sind die 35- bis 44- Abschottung, diese latente und manchmal
derauferstehen, die nach der Eurokrise Jährigen. Der typische AfD-Wähler ist ein auch manifeste Ausländerfeindlichkeit?
schon erledigt schien. Mensch mittleren Alters, mit mittlerer Bil- „Unzufriedenheit mit der eigenen Le-
Es ist eine populäre Behauptung, dass dung und mittlerem Einkommen. benslage ist der wesentliche Treiber“, die
die AfD die Partei der Abgehängten, Ar- Kai Fegers aus Grevenbroich in Nord- AfD zu wählen, heißt es in der Studie der
beitslosen und Ungebildeten sei. Aller- rhein-Westfalen ist zum ersten Mal zu ei- Böckler-Stiftung. Dabei gehe es weniger
dings lässt sie sich schwer mit der Realität nem AfD-Stammtisch gekommen. Er sitzt um die objektive wirtschaftliche Situation
in Einklang bringen. Wenn es nur darum im Gasthaus in Neuss ganz hinten und als um ein Gefühl „persönlicher Zurück-
ginge, etwas mehr Geld in Schwimmbäder nippt an seiner Cola, neben ihm liegt sein setzung“. AfD-Wähler schätzten ihre Posi-
und Schulen zu investieren und für mehr Schlüsselbund, daran ein Kubotan, ein klei- tion in der Gesellschaft niedrig ein und
Gerechtigkeit zu sorgen, dann wäre die ner Schlagstock zur Selbstverteidigung. Fe- fühlten sich ohnmächtig. Ihr Gefühl gegen-
SPD eine Alternative. Denn Kanzlerkan- gers arbeitet bei der Supermarktkette Real über dem Leben spiegele sich in der Aus-
didat Schulz verspricht genau das. in der Drogerie- und Waschmittelabteilung. sage: „Was mit mir passiert, wird irgendwo
Aber den AfD-Anhängern geht es we- „Da bekommt man eine Menge mit“, sagt draußen in der Welt entschieden.“
niger ums Geld als um das Gefühl, mit der Im nordsächsischen Torgau demonstriert
eigenen Meinung nicht mehr respektiert die 39-jährige Maika, eine Altenpflegerin,
zu werden. „Als Martin Schulz im Früh- gegen die Kanzlerin. Warum sie und ihr
jahr in den Umfragen bei über 30 Prozent Freund gekommen sind? „Wir wollen end-
lag, hatte er es auch in Teilen den zur SPD lich gehört und ernst genommen werden.“
zurückgekehrten AfD-Sympathisanten zu Vor sich her trägt sie ein hüfthohes AfD-
verdanken. Die hatten Hoffnung in den 37 Sonntagsfrage Plakat mit der Aufschrift: „Die Freiheit
neuen Spitzenmann“, sagt Richard Hilmer, „Welche Partei würden Sie wählen, der Frau ist nicht verhandelbar“. Eigent-
Chef des Beratungsinstituts „policy mat- wenn am kommenden Sonntag lich wohnt die Altenpflegerin seit Jahren
ters“. Anfang des Jahres hat Hilmer die Bundestagswahl wäre?“ mit ihrem Freund und ihren beiden halb-
Motive und Herkunft der AfD-Sympa- wüchsigen Kindern in Baden-Württem-
thisanten im Auftrag der Hans-Böckler- 21 berg, aber jetzt ist sie auf Heimaturlaub
Veränderung zur letzten Bundes-
Stiftung umfassend untersucht. tagswahl, in Prozentpunkten in Sachsen, wo sie aufwuchs.
Schulz habe bislang zu wenige Ant- In zwei Wochen will sie AfD wählen.
worten auf die drängenden Fragen dieser 11 10 9 Warum? Sie wolle nicht länger dulden,
8
von der SPD Enttäuschten geben können. – 4,5 – 4,7 + 6,3 +1,4 + 4,2 – 0,4 dass „Nacht für Nacht Schwarzafrikaner“
Dazu zähle auch das Flüchtlings- und In- CDU/CSU SPD AfD Linke FDP Grüne über die Grenze kämen. Seit so viele
tegrationsthema, sagt Hilmer. Darum sei Angaben in Prozent; Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend Flüchtlinge im Land seien, fühle sie sich
die Zustimmung dahingeschmolzen. vom 4. und 5. September; 1503 Befragte nicht mehr sicher. Sie gehe auch abends
18 DER SPIEGEL 37 / 2017
STEFAN BONESS / IPON

Demonstranten vor dem Bundeskanzleramt in Berlin: „Viele leben hier nicht gut und auch nicht gerne“

nicht mehr allein nach Hause, aus Angst, Zum Lebensgefühl der AfD scheint es populären „Jungen Freiheit“, die am Ein-
als „deutsche Schlampe“ angepöbelt zu zu gehören, dass man sich dunklen Mächten gang verteilt wurde. Für die CDU habe er
werden. Was ihr in ihrem sächsischen Dorf ausgeliefert fühlt. Am Rande des Russland- sogar im Kreistag gesessen. Aber 2014 war
tatsächlich einmal passiert sei. kongresses in Magdeburg diskutierten Par- Schluss: „Ich habe eine Liste gemacht, mit
Und in ihrer neuen Heimat im Südwes- teifreunde ernsthaft darüber, wie man die 15 Punkten, die mich an Merkel stören“:
ten, sagt Maika, seien in letzter Zeit zwei CIA und die Wallstreet-Banken davon ab- Aufgabe traditioneller Werte, plötzliche
Menschen ausgeraubt worden. halten könne, noch mehr Flüchtlinge nach Kehrtwende beim Atomausstieg, linkslas-
Ob man den Täter gefasst habe? Deutschland zu lenken. Oder wann die tige Unzuverlässigkeit. „Die Flüchtlings-
Nein. Könnten es dann nicht auch Deut- AfD sich endlich der Frage annehme, ob geschichte kam noch dazu“, sagt Peege.
sche gewesen sein? Maika grinst höhnisch Deutschland überhaupt ein echter Staat sei Er hält den CDU-Abgeordneten im
und sagt dann: „Klar, theoretisch schon.“ und nicht nur eine GmbH. Anschließend Kreis für „eine Lusche“ und unterstützt
Bei Anhängern keiner etablierten Partei verabredete man sich zum Grillen. Dass jetzt Martin Hohmann. Peege hat sich so-
ist die Furcht vor Kriminalität so groß wie Merkel die Wurzel allen Übels sei, darauf gar wieder in den Kreistag wählen lassen.
bei AfD-Wählern. Sie fürchten Terroris- kann man sich in der AfD immer verstän- Die 120 AfD-Mitglieder im Raum Fulda
mus, Verbrechen und Zuwanderer, was digen. Sie ist schuld an den Flüchtlingen, seien fast alle „ganz normale Leute“, sagt
sich häufig zu einer diffusen Gesamtfurcht am verkorksten Verhältnis zu Russland und er und meint damit bürgerlich, katholisch,
zusammenzuklumpen scheint. Insgesamt im Zweifel auch am verregneten Sommer. klassische CDU-Klientel. Aber alle seien
sehen sie deutlich pessimistischer in die Auf der Wahlveranstaltung in Peters- durchweg enttäuscht von Merkel. „Sie ist
Zukunft als andere, Zuversicht ist nicht berg bei Fulda klatscht Klaus Peege jedes dafür verantwortlich, dass die AfD hier
gerade ihre Kernkompetenz. Mal, wenn die Redner sagen, die Kanzle- auf dem Weg zur Volkspartei ist.“
Vielleicht ist das auch eine Erklärung rin mache „Politik gegen das eigene Volk“. Es spricht nicht viel dafür, dass es die
für die Wut der AfD-Wähler: Selten gab Sie sagen das oft. Klaus Peege sitzt an ei- AfD gibt, weil die Bürger in Deutschland
es so viele Menschen in Deutschland, die nem Tisch in der Mitte des Saales, nicht insgesamt politisch nach rechts gerückt
mit der eigenen wirtschaftlichen und auch weit von der Bühne entfernt. Bis 2014 seien. Zwar hat laut einer Untersuchung
sonstigen Lage so zufrieden waren wie sei er in der CDU gewesen, sagt der des Meinungsforschungsinstituts Infratest
heute. Das zeigen Umfragen, das greift 70-Jährige, und davor, bis 1990, 20 Jahre dimap und der Freien Universität Berlin
die CDU mit ihrer Gut-und-gerne-leben- lang in der SPD. Wenn Leute wie Helmut jeder vierte AfD-Wähler eine potenziell
Kampagne auf. Aber das Lebensgefühl der Schmidt dort noch das Sagen hätten, wäre rechtsextreme Einstellung, das ist so viel
AfD-Klientel widerspricht dem komplett. er vielleicht heute noch bei den Sozis, sagt wie bei keiner anderen größeren Partei.
Sie scheint zu glauben, Deutschland steue- Peege. Aber inzwischen sei er der AfD Aber von 2008 bis 2016 ist der Gesamt-
re auf einen Abgrund zu. beigetreten, das liege vor allem an Angela anteil der Menschen mit einer solchen
Die Befragung der Böckler-Stiftung Merkel. Einstellung in Deutschland leicht ge-
förderte auch ein Misstrauen gegen die Peege war früher selbstständiger Bau- sunken, von zehn auf neun Prozent der
Demokratie zutage. Knapp 70 Prozent der unternehmer. Er trägt ein rotkariertes Bevölkerung. Das deutet darauf hin, dass
Befragten gaben an: „Die führenden Leute Hemd, stramm zurückgekämmtes Haar die Partei eher Menschen mit einer sol-
in Politik und Medien leben in ihrer eige- und eine Lesebrille um den Hals. Vor ihm chen Einstellung ein Sprachrohr bietet.
nen Welt.“ liegt ein Exemplar der in rechten Kreisen Und dass Echoräume Gleichgesinnter im
DER SPIEGEL 37 / 2017 19
den nächsten Verkehrswegeplan beitragen
wollen.
Wenn sie alle als Rechtsradikale ausge-
grenzt werden, dürfte dies der AfD nur
weiteres Publikum zutreiben. Es würde
den Opfermythos der Partei nähren, die
Leier von der fehlenden Meinungsfreiheit
und der vermeintlichen Diktatur. Es würde
Verschwörungstheorien befeuern und den

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


Hass auf Eliten schüren.
Auf den Bundestag kommt eine schwere
Aufgabe zu: Die Parlamentarier müssen
die moderaten AfD-Leute für die Hetze
und Pöbeleien ihrer Parteikollegen in die
Verantwortung nehmen und dürfen nicht
tolerieren, dass sie rassistische und frem-
denfeindliche Äußerungen als Fauxpas
Rechte Protestler in Finsterwalde: „Allergisch gegen die Nazikeule“ oder Ausrutscher entschuldigen. Ein pein-
lich berührtes Kopfschütteln und eine da-
hingemurmelte Distanzierung – die bislang
Internet sie bestärken, sich immer lauter nungsfreiheit gebe – was sie allerdings praktizierte Reaktion – reichen dann nicht.
zu äußern. nicht daran hindert, sehr robust zu werden, Einen Weg für den Umgang mit
Vor allem in Ostdeutschland hat sich die wenn sie Ansichten hören, die sich nicht Populisten hat die ehemalige First Lady
politische Auseinandersetzung enthemmt. mit den ihren decken. Michelle Obama im US-Wahlkampf gewie-
Pegida lud diese Woche zur 124. Kund- An der Polarisierung der Gesellschaft sen. In einer Rede schilderte sie, dass sie
gebung. Eine junge Frau von der rechten seien aber nicht nur die Spalter in der AfD und ihr Mann ihre Töchter stets aufgefor-
Identitären Bewegung warnte: „Wenn ihr schuld, schreibt der Politikprofessor Oskar dert hätten, sich nicht auf das Niveau der
erst täglich um eure Frauen und Kinder Niedermayer von der Freien Universität hasserfüllten „bullies“, der Rüpel, herab-
fürchtet, wenn die Straße euren Alltag dik- Berlin, sondern auch „viele der ,Anständi- zulassen. „Unser Motto ist: ‚When they go
tiert, wenn ihr euch auf kein Sommerfest gen‘, die im Gefühl der moralischen Über- low, we go high‘“, sagte Obama.
mehr traut“, dann sei es zu spät für den legenheit im Herbst 2015 jegliche, auch Die AfD wird dem politischen System
Kampf. In Dresden kämpfen sie schon sich später als berechtigt herausstellende vorerst erhalten bleiben. Wer denkt, die
lange. Pegida-Gründer Lutz Bachmann kritische Äußerung zur Flüchtlingsfrage in Partei würde sich erledigen, sobald die Eu-
wiegelte die Menge auf, schwadronierte die ‚rechte Ecke‘“ gestellt hätten. rorettungsaktionen endgültig beendet, der
vom „Pseudo-Kanzlerduell“. Er machte Wie also umgehen mit der Wut und mit Flüchtlingsstrom versiegt und alle Schulen
eine eigene Rechnung auf. Wenn 32 Pro- der Partei, die sie repräsentiert? saniert sind, dürfte sich täuschen. Im Erfolg
zent für Merkel gewesen seien und 29 für Am Abend des TV-Duells trat Kanzler- der Partei drücken sich ein Unbehagen an
Schulz, „dann sind 39 Prozent für uns“. amtschef Peter Altmaier im Studio von und in der repräsentativen Demokratie aus,
Die Menge brüllte: „AfD, AfD, AfD.“ Adlershof an eine Bar, um sich ein Bier zu eine Zukunftsfurcht und ein rasendes Be-
Vieles wird dann dem eigenen Weltbild holen. In seinem Weg standen zwei freund- dürfnis, gehört zu werden. Selbst wenn die
untergeordnet und passend gemacht. Man- liche Herren in elegantem Anzug, die ihm Probleme verschwinden sollten, was viel
che Sympathisanten sagen, AfD-Spitzen- anboten, das Getränk für ihn zu holen. wäre, würde das noch nicht bedeuten, dass
kandidatin Alice Weidel sei in der ZDF- „Gerne, sehr nett“, sagte Altmaier. Dann auch diese Gefühle verschwinden.
Wahlkampfdebatte gemobbt worden und erfuhr er, wer die höflichen Männer waren: Ein Teil dieser Wähler ist mit Argumen-
habe aus diesem Grund die Sendung AfD-Bundesvorstand Georg Pazderski und ten nicht mehr zu erreichen, weil sie in ih-
verlassen. „Deswegen bin ich hierherge- AfD-Pressesprecher Christian Lüth. „Nee rer eigenen Wirklichkeit leben. Den ande-
kommen“, sagt Thomas Hechinger, 57, ein danke, lassen Sie mal, ich hol mir das Bier ren Teil der Wähler kann die Politik, wenn
Mathematiklehrer, der den Auftritt von doch lieber selber“, sagte Altmaier und überhaupt, nur langfristig zurückgewinnen,
Erika Steinbach bei der AfD im Pforzhei- schob sich an den AfD-Politikern vorbei. mit einer klaren Haltung gegen rassistische
mer Kongresszentrum verfolgt. „Ich bin Der CDU-Spitzenmann bekam einen Parolen, aber ohne aggressive Pauschalur-
allergisch gegen die Nazikeule.“ Eigentlich Vorgeschmack auf die künftige parlamen- teile, mit der Bereitschaft, zuzuhören und
sei er konservativ oder liberal. Nun werde tarische Normalität. Überall werden Bun- sich einem scharfen Streit um Sachfragen
er wohl für die AfD stimmen, auch wenn destagsabgeordnete bald auf die neuen zu stellen.
ihm die Russlandfreundlichkeit der Partei AfD-Kollegen und deren Mitarbeiter tref- Peter Altmaier machte in Adlershof
überhaupt nicht passe. fen: im Restaurant des Reichstags, in den schon einen ersten Schritt in diese Rich-
Hechingers Begleiter, sein Kollege Jo- Sitzungen der Ausschüsse und des Ple- tung: Mit seinem frisch gezapften Bier stell-
hannes Heindl, der an einem bayerischen nums oder auf den vielen Feiern des poli- te er sich für ein paar Minuten zu den AfD-
Gymnasium Deutsch, Geschichte und So- tischen Berlins. Leuten.
zialkunde unterrichtet, argumentiert ähn- Ignorieren geht nicht mehr – und die Melanie Amann, Laura Backes, Matthias Bartsch,
lich. Früher sei er links gewesen, seit jener Politiker werden feststellen, dass die AfD- Lukas Eberle, Jan Friedmann, Anna-Sophia Lang,
Zeit beziehe er bis heute den SPIEGEL im Welt nicht nur schwarz und weiß ist. Zwi- Cordula Meyer, Lars-Thorben Niggehoff,
René Pfister, Fidelius Schmid, Steffen Winter
Abonnement. Aber ihn ärgere die Bericht- schen dem Nationalchauvinisten Gauland,
erstattung oft, etwa die feindseligen Fra- dem selbst ernannten „Volksanwalt“ Jür-
gen, die Frauke Petry in einem Interview gen Pohl aus Thüringen oder dem „kleinen Video:
gestellt worden seien. Höcke“ Jens Maier aus Sachsen werden Warum diese Wut?
Nur 38 Prozent der AfD-Wähler sind auch einige Abgeordnete sitzen, die tat- spiegel.de/sp372017wut
der Ansicht, dass es in Deutschland Mei- sächlich Ideen für eine Steuerreform oder oder in der App DER SPIEGEL

20 DER SPIEGEL 37 / 2017


Clausi-Mausi auf Krawall
Karrieren Der TV-Duell-Moderator Claus Strunz ist das neue Martinshorn des deutschen
Fernsehens. Auch bei seinem Sender Sat.1 ist er umstritten.

A
nfang der Woche war Claus Bei ProSiebenSat.1 ist Strunz nicht Prinzip. Wurde sein Rebellentum öf-
Strunz noch AfD-Politiker. Je- unumstritten. Im Haus gab es durch- fentlich, war ihm das nicht unange-
denfalls auf Wikipedia. Und aus Bedenken, ihn beim Duell die Sen- nehm. Strunz mit seinem Pennäler-
auch nur so lange, bis der Eintrag in dergruppe repräsentieren zu lassen. charme und dem leichten süddeutschen
dem Onlinelexikon korrigiert wurde. Zum einen, weil er im Hauptberuf von Slang war das freundliche Gesicht des
Das mit der AfD hatte sich irgendein Axel Springer bezahlt wird: Strunz ist Verlags, insbesondere im Vergleich
Spaßvogel ausgedacht. Die Vorlage Geschäftsführer von Maz & More, ei- zum damaligen „Bild“-Chef Kai Diek-
aber liefert Strunz selbst, mit seiner ner Verlagstochter, die das Sat.1-Früh- mann, seinerzeit ein Scharfmacher in
Rubrik „Klartext“ im Frühstücksfern- stücksfernsehen produziert. Zum an- bester Tradition des Hauses.
sehen von Sat.1. deren wegen seiner schrillen Tonalität. Aus der „Bild am Sonntag“ machte
Dort behauptet er schon mal forsch, Im Senderverbund fragen sich man- Strunz eine sanfte, sonnige Gegen-
Linksextremismus sei ein größeres Pro- che, wieso Strunz sich gegenwärtig als „Bild“ mit Grill- und Lebenstipps und
blem als Rechtsextremismus, um im Das-wird-man-doch-noch-sagen-dür- dem Ergebnis, dass die Auflage von
selben Atemzug zu beklagen, dass die fen-Propagandist positioniert, obwohl 2,5 Millionen auf 1,7 Millionen abstürz-
„rot-rot-grüne Elite in Deutschland“ er doch früher nicht durch eine politi- te. Der konzerninterne Abstieg begann
bestimme, „was wir zu denken haben“. sche Agenda aufgefallen sei. Aber 2008 mit seiner Versetzung in die Chef-
Die Frage „Wer hat’s gesagt: a) Gau- redaktion des „Hamburger Abend-
land, b) Petry, c) Strunz?“ brächte blatts“. Danach wurde er Geschäftsfüh-
Quizkandidaten ins Schleudern. rer für TV- und Videoproduktionen und
Einem großen Publikum ist Strunz, moderierte für Sat.1, wo er 2014 zum
50, seit vorigem Sonntag bekannt als Frühstücksfernsehdirektor avancierte.
einer von vier Interviewern beim TV- Interner Spitzname: „Clausi-Mausi“.
Duell von Kanzlerin Angela Merkel Als Strunz 2015 mit seinem Klartext
und Herausforderer Martin Schulz, begann, fand er zu einem neuen
übertragen von ARD, ZDF, RTL und Sound. Und bald zu einem neuen Mot-
Sat.1. to: „Populismus ist das Viagra einer
Befremdlich war dabei nicht, dass erschlafften Demokratie“, sagte er bei
Strunz kritische Fragen zu Flüchtlings- „Maischberger“. Der Zeitpunkt war
politik und innerer Sicherheit stellte, klug gewählt. Einen besseren Potenz-
das gehört zum Job. Sondern dass er test als die Flüchtlingskrise hätte es
es in der Pose eines Ein-Mann-Stamm- nicht geben können.
tischs tat. Die Abschiebung ausreise- Strunz folgte den physikalischen Ge-
pflichtiger Ausländer kleidete er in die setzen der Raumakustik: Je tiefer man
griffige Formel: „Wann sind diese Leu- im Karriereloch sitzt, desto lauter muss
te weg?“ Ein Schulz-Zitat zu Flüchtlin- man schreien, um gehört zu werden.
O.WALTERSCHEID / BRAUERPHOTOS

gen gab er in einer verkürzten Version Facebook und Twitter dienen ihm als
wieder, wie sie auch die AfD verbrei- Verstärker. Mit diesem Modell ver-
tet. Dabei zählte das Duell noch zu sei- sucht so mancher einst erfolgreiche
nen harmlosen Auftritten. Journalist wieder Aufmerksamkeit zu
Strunz ist das neue Martinshorn des erlangen, vom früheren „Wirtschafts-
deutschen Fernsehens. Wo er auftritt, woche“-Chef Roland Tichy bis zu Ex-
ist Alarm. Das Prinzip Strunz geht so: SPIEGEL-Mann Matthias Matussek.
vorhandene Ängste bestärken. Noch Journalist Strunz Doch kein zweiter mit solchem Erfolg
nicht vorhandene Ängste wecken. Pau- „Noch viele Husseins“ wie Strunz.
schalisieren. So wie nach der Ermor- Er wird nun wieder gefeiert. Von
dung einer Freiburger Studentin, mut- beim Strunzprinzip geht es weniger rechten Internetseiten wie Politically
maßlich durch einen Flüchtling na- um Inhalte als um Wirkung. Incorrect, Bürgern auf der Straße und
mens Hussein, als Strunz klartextete, Strunz war stets bemüht, anders zu dem Mann an der Spitze von Pro-
es gebe „noch viele Husseins“ in sein als die anderen. Schon als Chefre- SiebenSat.1: Thomas Ebeling. Der soll
Deutschland. dakteur von Springers „Bild am Sonn- viel von Strunz halten, auch politisch,
Strunz selbst sieht sich als „Dienst- tag“ genoss er die Rolle des Freiden- was viele im Senderverbund irritiert.
leister und Bürgeranwalt“, der Dinge kers, der sich dem Korpsgeist wider- Dabei wäre für das TV-Duell auch
anspreche, „die sonst in den Sprechbla- setzt – wenngleich unter umgekehrten eine andere Besetzung denkbar gewe-
sen von Politikern untergehen“. Eine Vorzeichen: Bei Springer war er der Li- sen, die im Haus Befürworter ge-
Nähe zur AfD aber weist er zurück: Er berale unter Konservativen, leitartikel- funden hätte: der neuerdings als Polit-
stehe keiner Partei nahe. „Das schließt te gegen den Irakkrieg und George talker tätige ProSieben-Entertainer
aber nicht aus, dass ich eine Haltung Bush und weigerte sich auch mal, ge- Klaas Heufer-Umlauf. Der liegt poli-
habe.“ Etwa „die Überzeugung, dass meinsame Erklärungen der Springer- tisch allerdings auf einer ganz anderen
Freiheit ohne Sicherheit auf Dauer Chefredakteure zu unterzeichnen – Linie: Heufer-Umlauf ist SPD-nah.
nicht möglich ist“. nicht der Sache wegen, sondern aus Isabell Hülsen, Alexander Kühn

DER SPIEGEL 37 / 2017 21


WAHL 2017

Aufmarsch der Trolle


Wahlkampf Vor der Bundestagswahl hetzt eine internationale Allianz rechter Onlineaktivisten im
Netz. Sie verbreiten Hass, Fake News und Kreml-Propaganda. Ihr Ziel: die AfD zu stärken.

A
nfang der Woche geriet Sarah Ram-
batz ins Visier. Im Netz wurde zur
Jagd auf die junge Frau aus Ham-
burg geblasen. „Was machen wir mit ge-
hirngewaschenen Verrätern?“, fragt ein
Nutzer von KrautChan, das bei rechten
Onlineaktivisten beliebt ist, „einfach weg-
machen geht ja nicht in einer zivilisierten
Gesellschaft. Oder doch?“
Die Bundessprecherin der Linksjugend
wollte für die Linke in den Bundestag, doch
jetzt liegt ihre politische Karriere in Trüm-
mern. Auf Facebook hatte sie um „anti-
deutsche Filmempfehlungen“ gebeten und
diese Frage noch konkretisiert: „Grundsätz-
lich alles, wo Deutsche sterben.“ Seit der
Post bekannt wurde, ist der Wahlkampf
für sie beendet, auf ein Mandat wird sie
verzichten.
Denn der Screenshot ihres geschmack-
losen Facebook-Eintrags verbreitete sich
mit rasender Geschwindigkeit in den so-
zialen Netzwerken. Auf die junge Frau er-
goss sich eine Welle von Hass („Diese Nut-
te gehört totgebumst und zerhackt“). Am
Mittwoch gestand Rambatz der Hambur-
ger „Morgenpost“, sie sei völlig fertig: „Ich
stehe seit Tagen in Kontakt mit der Polizei
und dem Staatsschutz, meine Familie und
ich erhalten Morddrohungen.“
Was wirkt wie eine spontane Empö-
rungswelle im Netz, wird in Wahrheit von
rechten Aktivisten gesteuert, die sich vor-
genommen haben, die Bundestagswahl zu
manipulieren. Der Krawall-Post ist ein ge-
fundenes Fressen für sie. Seit Dienstag
wird er in den Chaträumen der rechtsex-
tremen Aktivistentruppe Reconquista Ger-
manica gepostet („Dieses Bild sollte unbe-
dingt noch mehr Verbreitung finden“).
Die Gruppe gibt sich militärisch straff or-
ganisiert und hat neben ihrem YouTube-Ka-
nal mit 33 000 Abonnenten seit Kurzem ein
weiteres Zuhause: die Chat-App Discord.
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

In dieser Kommandozentrale der anony-


men Desinformanten holen sich selbst er-
nannte „Offiziere“, „Gefreite“ und „Rekru-
ten“ ihre „Tagesbefehle“ ab. So versuchten
sie, während des TV-Duells im Fernsehen
den Hashtag #Verraeterduell bei Twitter zu
verbreiten. Die eigene Feuerkraft sei an-
geblich so stark, dass man gerade ein „pa-

CDU-Wahlwerbung
Zehn Prozent aller #Merkel-Posts von Bots
Fake-Wahlplakate im Netz: Unermüdliche Propaganda

triotisches Video“ sogar unter die meistge- anderen europäischen Nationalisten und In Anspielung auf das Facebook-Gesetz
klickten deutschen YouTube-Beiträge ge- zu Protagonisten der rechtsextremen ame- von Justizminister Heiko Maas können
pusht habe, brüsten sich Mitglieder. rikanischen Alt-Right-Bewegung. Mögli- dort ein vermeintliches SPD-Plakat mit
In den Chaträumen der Reconquista cherweise sind dabei auch Moskauer Ein- dem erfundenen Claim „Kein Internet für
Germanica schwadroniert ein „Zarkaiser“ flüsse im Spiel, auf den Kanälen der Rech- Rechtspopulisten“ abgerufen werden, por-
darüber, „Grüne abzuschlachten“ und mit ten wird jedenfalls ungefiltert russische nografische Motive, die auf die Pädophi-
hundert Mann die Redaktion des SPIEGEL Staatspropaganda verbreitet. liedebatte bei den Grünen anspielen, oder
in Hamburg zu stürmen. Endlich, schrei- Schon während des amerikanischen ein gefälschtes Plakat der Linken („Lieber
ben viele, habe man ein „Forum von Wahlkampfs pflegten russische Kanäle Döner als Kartoffeln“).
Gleichgesinnten“ gefunden, der „Stillstand Kontakt zu den Rassisten der Alt-Right. Es Die Memes sind bisher nicht massenhaft
der Patriotischen Bewegung“ sei überwun- scheint, als sei da eine internationale Allianz verbreitet worden. Grund für Entwarnung
den, nun könne man zum Angriff überge- des Rechtsradikalismus am Werk, ein glo- ist das nicht. Die Bilder wirkten immer
hen: „Blitzkrieg gegen die Altparteien!“ bales Netzwerk von Nationalisten, Rassis- nur kurzfristig, glaubt Hegelich. „Bis zur
Wenige Wochen vor der Wahl machen ten, Fremdenhassern und Homophoben. Hälfte der Wähler ist noch unentschlos-
die Rechten im Netz mobil. Sudeltruppen Der Münchner Professor Simon Hege- sen“, sagt er, „womöglich wird man versu-
wie Reconquista Germanica verschicken lich ist Spezialist für Desinformation und chen, das erst kurz vor der Wahl im großen
manipulierte Fotos und Collagen, soge- deren Verbreitung. Im vergangenen Jahr Stil zu verbreiten.“
nannte Memes, die sich im Netz schnell stellte der Forscher in Berlin eine Studie Auch Bots sind weiter aktiv. Zehn Pro-
verbreiten sollen. Sie machen Stimmung zu Social Bots vor. Aufmerksame Zuhöre- zent aller Nachrichten mit dem Hashtag
gegen Angela Merkel, die „Altparteien“, rin war die Kanzlerin, die inzwischen #Merkel werden nach Hegelichs Untersu-
Flüchtlinge und die „Schmierenpresse“. „Bot“ in ihren Wortschatz aufgenommen chungen von automatisierten Social Bots
Nur die AfD kommt gut bei ihnen weg. hat und vor den Gefahren warnt, die von versandt. Über Twitter verbreiten Bots un-
„Wir werden heute den Meme-Krieg ge- diesen automatisierten Accounts ausgehen. ermüdlich Propaganda für die AfD. Ob
gen die Köterrasse im Bundestag eröff- die Partei selbst dahintersteckt oder Sym-
nen“, heißt es in einer Erklärung der Grup- pathisanten, lässt sich mit Hegelichs Me-
pe vom 1. September. Das Vorbild der rech-
„Es wird nie mehr eine thoden nicht klären.
ten Kämpfer ist der Wahlkampf in den Wahl geben, in der Die Organisatoren der rechten Trollar-
USA. Dort hat der „Große Meme-Krieg“, Trolling und Hacking meen würden professioneller, beobachtet
den Donald Trumps Unterstützer im Netz er, und sie verabschiedeten sich von den
führten, zum Sieg des New Yorker Bau- keine Rolle spielen.“ großen US-Plattformen Facebook und
löwen beigetragen. Twitter. Die internationale Rechte weicht
Dass im Schlussspurt vor der Bundes- Hegelich beobachtet seit Wochen, wie inzwischen auf den neuen Kurznachrich-
tagswahl nun ausgerechnet die rechten Ak- die Bundestagswahl zum heißen Thema in tendienst Gab.ai aus. Dort sind immer
tivisten so aufdrehen, überrascht viele Ex- Onlineplattformen wie 4Chan und Reddit mehr Deutsche aktiv, aber auch amerika-
perten. Sie hatten damit gerechnet, dass wurde. Die Kanäle spielten schon im US- nische Hacker aus der Neonaziszene. Einer
vor allem die Russen versuchen würden, Wahlkampf eine Rolle, weil über sie ge- von ihnen ist Andrew Auernheimer.
den Wahlkampf zu manipulieren; mit ge- zielt Desinformation und Hetz-Memes ver- Als „Weev“ verbreitet der Amerikaner
hacktem Material, um Kandidaten zu dis- breitet wurden. schon seit Jahren im Netz Hassbotschaften
kreditieren, so wie in den USA. Doch die- Bei 4Chan wird in der Untergruppe gegen Schwarze, Muslime, Juden und Ho-
ses Instrument hat Moskau bisher nicht „Kraut/pol“ für jeden einsehbar darüber mosexuelle. „Es wird nie mehr eine Wahl
zum Einsatz gebracht. diskutiert, wie man die Wahlen im Sinne geben, in der Trolling, Hacking und ex-
Stattdessen versuchen rechtsextreme der AfD beeinflussen könne. Es gehe trem rechte Politik keine Rolle spielen“,
Onlineaktivisten die Wahl zu beeinflussen. darum, „linke Aktivisten zu unterwandern schrieb Auernheimer nach dem Trump-
Sie führen auf ihre Weise Krieg, mit Des- und zu demoralisieren“ und die Anhänger Sieg voller Stolz.
information, Falschnachrichten, Hass- der großen Parteien davon abzuhalten, Das gilt wohl auch für Bundestagswahlen.
Memes und Bots, also automatisierten Merkel oder Schulz zu wählen, heißt Schon seit Monaten hetzt Auernheimers
Accounts, um ihre Botschaften ins Netz es da. Website „Daily Stormer“ (Täglicher Stür-
zu schleudern. Ihr Ziel ist eindeutig. Man Die rechten Onlineaktivisten horten seit mer) gegen die deutsche Flüchtlingspolitik
wolle die „AfD so stark wie möglich in Monaten Bildarchive, mit denen Stimmung und die „kommunistische Hure“ Angela
den Bundestag hieven“, heißt es in der Er- gegen Merkel, die „Altparteien“ und vor Merkel. Im vergangenen Jahr spielten an
klärung der Reconquista Germanica, die allem gegen Flüchtlinge gemacht werden mehreren deutschen Universitäten plötzlich
in diesem Punkt für viele der rechten kann. Es gibt eigene Meme-Bibliotheken die Drucker verrückt und spuckten rechts-
Gruppen spricht. mit unvorteilhaften Fotos und Fotomon- radikale Flugblätter („Europa erwache!“)
Durch ein informelles Netzwerk sind sie tagen der Kanzlerin. Eine andere Bilder- aus. Hinter der Aktion steckte Auernheimer.
miteinander verbunden, mit Kontakten ins bibliothek hat sich auf gefälschte Wahl- Der bekennende Antisemit hat sich ein
Ausland. Sie unterhalten Verbindungen zu plakate spezialisiert. Hakenkreuz auf die Brust tätowieren lassen,
DER SPIEGEL 37 / 2017 23
Titel

Fake-Wahlplakate im Netz: Linke Aktivisten unterwandern und demoralisieren

2013 wurde er in den USA wegen eines gen Hasskriminalität im Netz beschlossen. den, angeblich mit Geldern des Internatio-
Hacks gegen die Server des Telekom-Riesen Statt des deutschen Wortes „Jude“ solle nalen Währungsfonds. Die gefälschte Ge-
AT&T zu 41 Monaten Haft verurteilt, kam man lieber das amerikanische Schimpfwort schichte geht auf die Hackergruppe Cyber-
allerdings schon nach 13 Monaten frei. Seit „Kike“ verwenden, um sich nicht angreifbar Berkut zurück, die mehrfach ukrainische
einiger Zeit lebt er als „politischer Aktivist“ zu machen. Der Chat endet mit einem Ap- Ziele angegriffen hat. Westliche Nachrich-
ausgerechnet in der Ukraine. pell: „Auf geht’s WEISSE Männer!“ tendienste attestieren der Gruppe Verbin-
Als ein Neonazi jüngst bei einer De- Neonazi Auernheimer pflegt sogar Be- dungen zum Kreml.
monstration im amerikanischen Charlot- ziehungen in das Umfeld des amerikani- Seit Langem ist bekannt, dass Moskau
tesville eine Frau tötete, rief Auernheimer schen Präsidenten. Etwa über Charles versucht, auch auf die politische Debatte
seine rechtsextremen Freunde auf, die Be- Chuck Johnson, einen Alt-Right-Troll der in Deutschland Einfluss zu nehmen. An
erdigung zu stören. Google und andere ersten Stunde, der inzwischen einen eige- der renommierten London School of Eco-
Unternehmen sorgten dafür, dass die Hetz- nen Fake-News-Webdienst betreibt. John- nomics analysiert eine Arbeitsgruppe um
seite aus dem offen zugänglichen Netz ver- son arbeitete früher bei der Alt-Right-Platt- Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum und
schwand. form Breitbart, die inzwischen wieder von den russischstämmigen Autor Peter Pome-
Im US-Wahlkampf fluteten Auernhei- dem Trump-Vertrauten Steve Bannon ge- rantsev entsprechende Versuche. Sie wid-
mer und seine Mitstreiter die sozialen leitet wird. meten sich auch der auffallenden Liebe
Netzwerke mit Pro-Trump- und hasserfüll- Johnson verbrachte die Wahlnacht bei Moskaus zur AfD. Pomerantsev gilt seit sei-
ten Anti-Clinton-Botschaften. Und sie ver- Trumps New Yorker Siegesparty. Er und nem Buch „Nichts ist wahr und alles ist
breiteten Desinformation wie die Horror- Auernheimer kennen und unterstützen möglich“ als Experte für die russischen Info-
geschichte eines Kindermissbrauchsrings sich seit Jahren. So sammelte Johnson über kriege.
Hillary Clintons im Keller einer Pizzeria das rechte Crowdfunding-Portal WeSearch Die Londoner, die eng mit der Denkfa-
in Washington. mehr als 150 000 Dollar für Anwaltskosten brik ISD zusammenarbeiten, untersuchen
Wenig später suchte Auernheimer „fran- des „Daily Stormer“. mit moderner Datenanalyse russisch- und
zösische Muttersprachler, die Interesse da- Die Alt-Right-Bewegung pflegt auch deutschsprachige Nachrichtenangebote
ran haben, ihre Wahlen zu manipulieren, Kontakte zu prorussischen Netzwerken. und die einschlägigen Aktivitäten in sozia-
so wie wir das erfolgreich in den USA ge- Die Amerikaner verbreiteten im Netz, Hil- len Medien. Ihr Befund ist eindeutig: Die
tan haben“. Es gibt Hinweise, dass die ame- lary Clinton sei im Wahlkampf von der Russen machen Propaganda für die Rechts-
rikanische Alt-Right-Hackerszene und Ser- ukrainischen Regierung unterstützt wor- populisten, die AfD wird in deutschspra-
ver des „Daily Stormer“ beteiligt waren,
als kurz vor der französischen Präsident-
schaftswahl gehackte E-Mails aus dem Ma-
cron-Lager auftauchten.
„Wir haben für Frankreich ein Team auf-
gebaut und sind gerade dabei, eines für
Deutschland aufzubauen“, drohte Auern-
heimer im März in einem Interview mit
Politico. Deutschland haben „Weev“ und
seine Kumpanen schon lange im Visier. Vor
einem Jahr verbreitete er Berichte des rus-
sischen Propagandasenders RT über angeb-
liche AfD-Wahlerfolge und fragte: „Seid ihr
schon müde vom Gewinnen? Ich nicht!“
Spätestens seit Anfang Juli werden im
Forum des „Daily Stormer“ deutschspra-
chige Leser aufgefordert, sich stärker zu
organisieren und eigene Inhalte zu erstel-
len. Offenbar wollen die Rassisten ein
Team für den deutschen Wahlkampf auf-
bauen, das auch danach noch aktiv bleibt.
In den Tiefen der rassistischen Website
diskutieren mehrere Nutzer einen ausge-
feilten Aktionsplan. Man solle versuchen,
„Kontakte zu Pegida, der Identitären Be-
wegung und der AfD herzustellen“, heißt
es da. Allerdings müsse man vorsichtig sein. Online-Troll Auernheimer: Ein Team für Deutschland aufbauen
Im Juni hatte der Bundestag ein Gesetz ge-
24 DER SPIEGEL 37 / 2017
chigen russischen Medien wie Sputnik und deutsche Politiker eingesetzt werden kann. Das Bundesamt für Sicherheit in der In-
RT Deutsch „in positivem Licht dargestellt, Oder die Einflussversuche des Kreml ste- formationstechnik (BSI) hat den Kandida-
während alle anderen deutschen Offiziel- hen inzwischen unter so großer öffentli- ten für den Bundestag schon vor Wochen
len und Institutionen negativ präsentiert cher Beobachtung, dass den Russen das Tipps gegeben, wie sie sich besser gegen
werden“. Die Forscher stellten eine gera- politische Risiko einer Aktion in Deutsch- Cyberangriffe schützen können. Die Be-
dezu „symbiotische Beziehung“ zwischen land im Moment zu hoch erscheint. Das hörde bot ihnen beispielsweise an, ihre
Russen und AfD fest. Der Kreml und halten die deutschen Sicherheitsbehörden Konten bei Twitter oder Facebook zu ve-
rechts außen verbreiteten gemeinsame für eine wahrscheinliche Erklärung. rifizieren, um einen Missbrauch durch ge-
Narrative, schreiben sie. Entwarnung geben die Experten aber fälschte Accounts zu verhindern.
Ein Beispiel ist die Behauptung, dass die nicht. Dass Moskau die gehackten Daten Auch der Bundeswahlleiter bereitet sich
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu- bisher nicht veröffentlicht hat, bedeutet seit Monaten auf den Ernstfall vor. Mehrfach
lasten der AfD gefälscht worden sei. Ein nicht, dass es keinen Einfluss auf den Wahl- ließ Dieter Sarreither seine Computer vom
zweiter Fall betrifft eine bewusst missver- kampf nehmen würde. Dafür hat es sich BSI auf Sicherheitslücken testen. Erst diese
ständlich zitierte Bemerkung des schwedi- in Deutschland systematisch andere Ins- Woche wurde bekannt, dass eine bestimmte
schen Polizeichefs über No-go-Bezirke in trumente aufgebaut: russlandfreundliche Wahlsoftware wohl angreifbar ist.
seinem Land, über die man angeblich die Thinktanks, Wirtschaftskontakte, deutsch- Der Bundeswahlleiter ist in Personal-
Kontrolle verloren habe. Bei beiden Vor- sprachige Propagandamedien, Verbindun- union Präsident des Statistischen Bundes-
gängen hätten prorussische Bots in Deutsch- gen zur russlanddeutschen Community. amts in Wiesbaden. Am Wahltag aber
land die Berichte russischer Auslandsme- Und enge Kontakte zur AfD. wird Sarreither sein Hauptquartier im
dien weiterverbreitet, „ein Muster der Zu- Zudem könnte der Kreml auch seine Cy- Berliner Reichstag aufschlagen. Schon für
sammenarbeit in Sachen Desinformation“. berwerkzeuge intensiver nutzen – zumal den Fall, dass die Rechner in Wiesbaden
Die AfD ist die einzige größere deutsche gerade erst bekannt wurde, dass russische lahmgelegt werden. Er wird soziale Me-
Partei, die über eigene Social-Media-Ka- Drahtzieher im US-Wahlkampf offenbar dien auf Falschnachrichten überwachen
näle in russischer Sprache verfügt. Sie ist sogar bezahlte Anzeigen mit politischen lassen, die den Ablauf der Wahl gefähr-
in mehreren russischen Netzwerken prä- Inhalten bei Facebook schalteten, und den könnten.
sent, zum Beispiel mit dem Account „Russ- Hunderte, wenn nicht Tausende Nutzer- Und für den schlimmsten Fall hat er si-
landdeutsche für AfD NRW“. konten bei Twitter und Facebook, die be- chergestellt, dass er die Bevölkerung durch
Die Cyberexperten der deutschen Si- sonders intensiv gegen Clinton hetzten, das Lagezentrum des Bundesamts für Be-
cherheitsbehörden beobachten Russlands wohl unter russischem Einfluss standen. völkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Operationen mit großer Aufmerksamkeit. Weil niemand ausschließen kann, dass in- in Bad Neuenahr erreichen kann.
Sie ordnen den Angriff auf die Rechner teressengeleitete Russen oder andere An- Was wäre der schlimmste Fall? Sar-
des Bundestags 2015 dem Hackerkollektiv greifer noch in letzter Minute versuchen reither blickt aus dem Fenster seines Prä-
APT28 zu, das nach ihrer Einschätzung werden, die Wahl zu manipulieren, haben sidentenbüros in Wiesbaden. Am Horizont
von russischen Geheimdienstlern kontrol- sich die deutschen Behörden vorbereitet wie schmort der Rheingau in der warmen
liert oder zumindest beauftragt wird. noch nie vor einer Bundestagswahl. Seit Nachmittagssonne. Er muss nachdenken.
Der Verfassungsschutz geht davon aus, Monaten werden Notfallpläne erstellt und Vielleicht, wenn der Wahlleiter plötzlich
dass APT28 im vergangenen August hinter Meldeketten ausgearbeitet. Arbeitsgruppen am Wahltag offline wäre: Telefon tot, Mail
zwei weiteren großen Angriffswellen auf tagen. „Dieser Aufwand ist ein Novum, aber abgeklemmt, und im Netz verbreitet je-
den Bundestag stand. Doch bisher ist das wegen der Ereignisse in den USA und Frank- mand die Nachricht, der Bundespräsident
Material, das die Angreifer absaugten, nir- reich angemessen und notwendig“, sagt ein habe die Wahl abgesagt.
gendwo aufgetaucht. Monatelang hatten hoher Beamter, der an den Vorbereitungen Sarreither lacht, er ist Statistiker, er denkt
die Sicherheitsbehörden vor russischen Ma- beteiligt ist. in Wahrscheinlichkeiten. Und diesen Fall
nipulationsversuchen im Bundestagswahl- Im Berliner Innenministerium trifft sich hält er dann doch für unwahrscheinlich.
kampf gewarnt. Nun rätseln sie, was der regelmäßig eine zehnköpfige Arbeitsgruppe Konstantin von Hammerstein, Roman Höfner,
Grund für die Zurückhaltung sein könnte. unter der Leitung eines Staatssekretärs, um Marcel Rosenbach
Möglicherweise, so eine Hypothese, sich auf mögliche Leaks, Falschnachrichten
wurde der Bundestag 2015 nicht gehackt, und Desinformationskampagnen vorzube- Lesen Sie auch
um Einfluss auf die deutschen Wahlen zu reiten. Spezialisten für „gesellschaftlichen Seite 58 Was der Rechtspopulismus mit
nehmen, sondern ganz klassisch, um In- Zusammenhalt“ sind beteiligt. Sie sollen be- Deutschland macht – zu Besuch bei Men-
formationen zu beschaffen. Dafür spricht, obachten, ob bestimmte Gruppen aufgewie- schen, die wegen ihres Aussehens diskrimi-
dass Abgeordnete angegriffen wurden, die gelt werden. Im Fall des Anfang 2016 an- niert wurden.
sich mit Russland befassen. Denkbar ist geblich vergewaltigten Mädchens Lisa wa-
auch, dass das erbeutete Material einfach ren es die Russlanddeutschen. Auf einen Na- Video:
zu unspektakulär ist. Den Russen wäre es men für das Gremium ist bewusst verzichtet Die Hass-Hacker
also nicht gelungen, „Kompromat“ zu er- worden. Zu einer „AG Desinformation“ spiegel.de/sp372017hacker
beuten, das im Propagandakrieg gegen wollten die Beamten lieber nicht einladen. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 37 / 2017 25


Bundestags-
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Flüge

Untreue-Anzeige gegen Merkel

EPA-EFE / SHUTTERSTOCK
Kanzlerin verteidigt sich für Abrechnung ihrer Wahlkampfreisen.

Ein Berliner Rechtsanwalt hat Strafanzeige gegen Bundes- „Global 5000“. Die CDU lehnt Auskünfte über Merkels Flü-
kanzlerin Angela Merkel gestellt: Er wirft der CDU-Politike- ge ab und teilte lediglich mit, man halte sich an die geltenden
rin Untreue vor, da ihre Partei für Flüge zu Wahlkampfauf- Regeln. Laut einer Antwort an die Grünenfraktion nutzte
tritten nur einen Bruchteil der bei Bundeswehr und Polizei Merkel die Flugbereitschaft dieses Jahr bereits 50-mal für
entstandenen Kosten erstatte. Merkel und auch die Verteidi- Wahlkampf- oder Parteitermine, die CDU zahlte für die ers-
gungsministerin und der Bundesinnenminister wüssten sehr ten 14 Flüge pro Flug durchschnittlich 1500 Euro für Merkel
genau, welche Kosten für die Flüge anfallen – und „dass die- und ihre Begleiter. Der Rest wurde noch nicht abgerechnet.
se nicht durch die Zahlungen der CDU gedeckt sind“. Mer- Die Bundespolizei gibt an, Merkel und ihren Mitarbeitern für
kel zahlt für sich und ihre Mitarbeiter im Wahlkampf jeweils Flüge an sechs Tagen im laufenden Wahlkampf rund 39 500
nur den Preis eines Businessclass-Tickets der Lufthansa von Euro in Rechnung gestellt zu haben, also pro Flug rund 6000
rund 500 Euro pro Strecke, wenn sie die Flugbereitschaft der Euro. Die Kanzlerin bekräftigt, sie halte sich an jene Regeln,
Bundeswehr nutzt. Die tatsächlichen Kosten für eine Flug- die schon ihre Amtsvorgänger genutzt hätten; als Kanzlerin
stunde liegen jedoch laut einer vertraulichen Liste der Flug- sei sie „immer im Dienst“ und müsse in Notfällen schnell zu-
bereitschaft bei rund 18 000 Euro für die „Cougar“-Helikop- rück nach Berlin fliegen können. Die Staatsanwaltschaft Ber-
ter und mehr als 30 000 Euro für die Kleinflugzeuge vom Typ lin prüft, ob sie ein Ermittlungsverfahren einleitet. mgb

Parteien tion. Die kuriose Folge: Sollte den Liberalen Nachzahlun- Die Bundestagsverwaltung
Liberale die Partei jetzt wieder ins gen wegen dubioser Werbe- prüft, ob sie deshalb Mittel
Altlasten Parlament einziehen, könnte
es zwei Fraktionen geben.
aktionen. Der Bundesrech-
nungshof wirft der FDP vor,
von der Fraktion zurückver-
langt und eine Strafe wegen
Kurz vor der Bundestagswahl Als Grund gibt Funke unter im Wahlkampf 2013 Frak- illegaler Parteienfinanzierung
ist die FDP immer noch da- anderem arbeitsrechtliche tionsmittel für Parteizwecke gegen die FDP verhängt. Ein
mit beschäftigt, ihre alte Bun- Auseinandersetzungen an. missbraucht zu haben. Dem- Sprecher bestätigte dies auf
destagsfraktion aufzulösen. Jahrelang stritt sich die Frak- nach finanzierte die Fraktion Anfrage. Ob bei der Bundes-
Vor vier Jahren schied die tion mit einem ehemaligen „mit öffentlichen Mitteln zahl- tagsfraktion noch etwas zu
FDP zwar aus dem Parlament Mitarbeiter, das Verfahren reiche Maßnahmen, die in holen ist, scheint jedoch frag-
aus, die Liquidation ist aber ging bis zum Bundesarbeits- ihrer Gesamtheit Art und lich. Nach Angaben des Justi-
bis heute nicht abgeschlossen, gericht und endete erst vor Umfang einer Wahlkampa- ziars Funke seien praktisch
bestätigte Rainer Funke, der wenigen Tagen mit einem gne hatten“, heißt es in ei- keine Vermögenswerte mehr
Justiziar der alten FDP-Frak- Vergleich. Zudem drohen nem vertraulichen Bericht. vorhanden. sve, akm, srö

28 DER SPIEGEL 37 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Sanktionen Attentate I
Stoltenberg Amri übte Umgang

HERMANN HISTORICA GMBH / INTERFOTO


widerspricht Gabriel mit Revolver
Für Nato-Generalsekretär Der Attentäter von Berlin,
Jens Stoltenberg reicht ein Anis Amri, hat während sei-
Waffenstillstand in der Ost- nes Aufenthalts in Italien
ukraine nicht aus, um die Schießen geübt. Wie ein Kon-
gegen Russland verhängten taktmann Amris der italieni-
Sanktionen aufzuheben. schen Antiterrorpolizei Digos
„Voraussetzung ist die voll- erzählte, hätten sie am Vulkan
ständige Umsetzung des Ätna auf Sizilien mit einem
Minsker Abkommens“, sagte Revolver eines gemeinsamen
Stoltenberg auf einem Tref- Bekannten geschossen. Das
fen mit dem Vorstand der Training könnte erklären, wa- Waffe vom Typ M16 A1
EVP-Fraktion im Europa- rum Amri am Abend des At-
parlament im estländischen tentats so kaltschnäuzig den Attentate II genüber dem Taxifahrer als
Tallinn. Stoltenberg wider- Fahrer jenes Lkw erschießen Amokläufer mit Anhänger der kurdischen
spricht damit dem deutschen konnte, mit dem er kurz da- Terrororganisation PKK.
Außenminister Sigmar rauf über den Weihnachts- Armeegewehr Nach Angaben der Staats-
Gabriel (SPD), der sich zu- markt an der Gedächtniskirche Der Amokschütze von Kon- anwaltschaft Konstanz hatte
letzt für ein Ende der Sank- raste. Der Kontaktmann kam stanz war mit einem Sturm- Rozaba S. zur Tatzeit 1,57
tionen im Fall eines Waffen- nach eigenen Angaben 2011 gewehr aus den Beständen Promille Alkohol im Blut,
stillstands ausgesprochen hat- mit Amri von Tunesien über der US-Streitkräfte bewaff- die Rechtsmediziner fanden
te. Das Minsker Abkommen das Mittelmeer nach Lampe- net. Rozaba S., 34, tötete zudem Spuren von Kokain,
sieht aber darüber hinaus vor, dusa. Später habe Amri eine Ende Juli vor der Diskothek Cannabis und Beruhigungs-
dass die Ukraine auch die kurze Zeit bei ihm gewohnt. Grey einen Menschen, elf mitteln. Der im Irak gebore-
Kontrolle über die Außen- Der italienischen Polizei be- weitere wurden zum Teil ne Kurde kam als Kind nach
grenzen im Osten des Landes richtete der Tunesier zudem, schwer verletzt. Seine Waffe Deutschland. Später fiel er
zurückerhält. Auch die Forde- dass Amri ihn gefragt habe, vom Typ M16 A1 trug den der Polizei mehrfach auf, un-
rung Gabriels, die EU solle ob er jemanden kenne, der ge- Schriftzug „Property of the ter anderem wegen Drogen-
beim wirtschaftlichen Aufbau fälschte Ausweise besorgen US Government“ (Eigentum delikten und Körperverlet-
der Ostukraine helfen, wenn könne. Er habe Amri einen der US-Regierung). Die Er- zung. Die Ermittler sehen als
es zu einem Waffenstillstand Preis von 3200 Euro für zwei mittler gehen dem Verdacht einen Auslöser für das Blut-
komme, stieß bei dem inter- Dokumente genannt; ob der nach, dass das Gewehr zur bad einen der Tat vorange-
nen Treffen in Tallinn auf Tunesier die Papiere an Amri Unterstützung kurdischer Mi- gangenen Streit am Eingang:
Kritik. „Solange die Ostukrai- lieferte, geht aus der Aussage lizen im Kampf gegen den Türsteher hatten S. daran
ne in der Hand von Putins nicht hervor. Allerdings stell- „Islamischen Staat“ geliefert gehindert, die Disco zu betre-
Truppen ist, kann es kein ten Bundespolizisten im Som- wurde und auf verschlunge- ten. Polizisten schossen S.
europäisches Geld geben“, mer 2016 bei einer Kontrolle nen Wegen nach Deutschland schließlich vor dem Klub nie-
sagt der CDU-Außenpolitiker Amris zwei gefälschte italieni- gelangte. Auf der Fahrt zum der, er starb in einem Kran-
Elmar Brok. mp sche Ausweise sicher. kno, wow Tatort bezeichnete sich S. ge- kenhaus. jdl
Deutschland

Parlamente Wahlkampf
Bundestag Rabattaktion mit
größer denn je Staatssekretärin
Nach Berechnungen des Die Parlamentarische Staats-
Friedrichshafener Politologen sekretärin im Bundesver-
Joachim Behnke besteht eine kehrsministerium, Dorothee
„überwiegende Wahrschein- Bär (CSU), hat nach Ein-
lichkeit“, dass es nach der schätzung von Juristen der
Wahl den größten Bundestag Bundesregierung womöglich
aller Zeiten geben wird. Auf gegen einen Verhaltensko-
Grundlage der Ergebnisse dex für Regierungsmitglieder
führender Umfrageinstitute verstoßen. Die Abgeordnete
von Anfang September des Wahlkreises Bad Kissin-
kommt Behnke im Schnitt gen hatte Mitte August in ei-
auf etwa 685 Abgeordnete. ner Zeitungsannonce mit
Wenn die Union etwas Bild und Hinweis auf ihre
schwächer abschneiden wür- Rolle in der Bundesregierung

HENNING SCHACHT
de und die AfD auf 11 Pro- für eine Rabattaktion des ört-
zent käme, errechnet Behnke lichen Modehauses Mützel
sogar mehr als 700 Sitze. Das geworben („Sie liebt Schuhe
ist auf die komplizierte Um- … und wir auch“). Regie-
rechnung der abgegebenen Umgedrehte Stühle im Berliner Reichstag rungsmitglieder sind aber ge-
Stimmen in Parlamentssitze halten, sich nicht mit wirt-
zurückzuführen: Die soge- das Stimmensplitting berück- Umfrageergebnissen noch schaftlichen Interessen ein-
nannten Überhang- und Aus- sichtigt, also eine Abgabe einmal erhöht. Der Bundes- zelner Firmen gemeinzuma-
gleichsmandate können den von Erst- und Zweitstimme tag hatte bisher maximal 672 chen. Diese Verhaltensregel,
im Bundestag vertretenen für unterschiedliche Parteien, Sitze. Ohne Überhang- und das Neutralitätsgebot, sei
Parteien zusätzliche Sitze das die Zahl der Abgeordne- Ausgleichsmandate gäbe es nicht explizit formuliert, sie
bescheren. Behnke hat auch ten gegenüber den reinen nur 598 Abgeordnete. hip entspreche aber jahrzehnte-
langer Praxis, heißt es in der
Bundesregierung. Bär, die
am Tag der Rabattaktion im
Arbeitsmarkt jungen Wissenschaftlerinnen sind besonders betroffen Rahmen ihrer Wahlkampf-
Unbefristet und Wissenschaftlern faire von dem Problem. Wanka tour in dem Modehaus einen
Verträge abschließt.“ Nach hatte daher im vergangenen Stopp einlegte, behauptet,
forschen neuen Zahlen des Instituts Jahr das Wissenschaftszeit- von der Anzeige nichts ge-
In der Debatte um befristete für Arbeitsmarkt- und Be- vertragsgesetz novelliert, wusst zu haben. Außerdem
Arbeitsverträge fordert Bun- rufsforschung erhielt 2016 „weil die Zahl der Befristun- habe sie nicht für das Unter-
desbildungsministerin Johan- jeder zweite neu eingestellte gen zu hoch und viele oft zu nehmen geworben, sondern
na Wanka (CDU) die Wis- Mitarbeiter nur einen zeit- kurz waren“, wie sie erklärt. Mützel für sie. Das wirft die
senschaft auf, längerfristige lich begrenzten Arbeitsver- Pauschale Verbote lehnt sie Frage auf, ob es sich dabei
Stellen bereitzustellen: „Von trag. SPD-Kanzlerkandidat unverändert ab: „Befristun- um eine verdeckte Partei-
Hochschulen, Forschungsein- Martin Schulz fordert, un- gen gehören zum Wissen- spende handelt. Die Abge-
richtungen und Ländern er- begründete Befristungen zu schaftssystem, sonst kommt ordnete hat bereits mehrfach
warte ich, dass man mit den verbieten. Wissenschaftler es zum Stillstand.“ akm mit der Verquickung von po-
litischen und geschäftlichen
Interessen für Aufsehen ge-
sorgt. So fand sie nichts da-
Vergaben Bewertungskriterien seien Der Antragsteller, der Ener- bei, als Autotesterin für die
Rüge vom unklar und in der Ausschrei- gierechtler Werner Dorß „Bild am Sonntag“ tätig zu
bung nicht ausreichend be- aus Frankfurt am Main, ließ werden und einen lobhudeln-
Kartellamt kannt gegeben worden, so daraufhin von einem Verga- den Bericht über ein Produkt
Das Bundeswirtschaftsminis- der Vorwurf. Der siegreiche berechtler andere Ausschrei- des Volkswagen-Konzerns zu
terium steht in der Kritik: Bewerber habe sein Angebot bungen untersuchen. Der verfassen. rei
Es soll Gefälligkeitsgutach- nachbessern dürfen. Der Kri- fand weitere Defizite. In der
ten in Auftrag gegeben ha- tik schloss sich die Kammer Antwort auf eine Anfrage
SCHINDLER / PICTURE ALLIANCE / DPA

ben. Anlass ist eine Rüge der an. Es seien durch die Art der CDU-Abgeordneten Her-
Vergabekammer des Bundes- der Ausschreibung „weitge- lind Gundelach widersprach
kartellamts. Ein unterlegener hend unkontrollierbare Be- das Ministerium dem Ein-
Bieter hatte 2016 gegen die wertungsspielräume eröffnet druck, dass es bei den Gut-
Vergabe eines Gutachtens worden“. Die Kammer emp- achtenvergaben grundsätz-
zur Energieeffizienz an das fahl sogar, strafrechtlich ge- liche Mängel gebe. Die Aus-
Freiburger Öko-Institut Wi- gen die Behörde vorzugehen. schreibungen erfolgten nach
derspruch eingelegt und eine Das Ministerium musste die „klaren, transparenten und
Nachprüfung beantragt. Die Ausschreibung wiederholen. dokumentierten Regeln“. gt Bär

30 DER SPIEGEL 37 / 2017


WAHL 2017

Die Andere
SPD Andrea Nahles hat sich als Arbeitsministerin neu erfunden, nach der Wahl wird sie zur Schlüssel-
figur ihrer Partei. Über eine, die ganz nach oben will – aber das nicht zeigen darf.

E
in Tag im Spätsommer, Andrea Nah- gangenen Jahren an einer Wandlung ver- ich mal wieder weggeschubst wurde.“ Das
les rauscht in ihrem Dienstwagen sucht. Sie ist stiller geworden, hat sich in empfinde sie bis zum heutigen Tag als
über eine Landstraße am Rhein. In Sacharbeit vertieft. Nichts erinnert mehr schwierig. „Denn wenn ich so bin, wie ich
der linken Hand eine Salamistulle, in der an die Juso-Vorsitzende, die Jubelschreie bin, ist das nicht richtig. Egal, was ich ma-
rechten ihr BlackBerry, auf der Armlehne ausstieß, als Oskar Lafontaine auf dem che, es ist immer irgendwie halb falsch.“
ein blaues Aktenmäppchen. Normalerwei- Mannheimer Parteitag 1995 Rudolf Schar- Mit 25 Jahren sei sie Juso-Bundesvorsit-
se ist es gefüllt mit Vermerken, seit Neues- ping den SPD-Vorsitz abnahm. zende geworden. „Seitdem werde ich öf-
tem ist die Mappe leer. Nahles hat nichts Doch was sie auch tat, sie schleppt noch fentlich beobachtet, immer nur beobachtet.
dagegen, dass der Eindruck entsteht, sie immer das Klischee der Nervensäge mit Da wird man irgendwann verrückt.“ Es
habe in ihrer Amtszeit alles Wesentliche sich herum, die im Hintergrund Intrigen gibt lauten Applaus.
abgearbeitet. spinnt. Viele Deutsche machen ein Gesicht, Nahles hat große Schwächen, aber wie
Die Arbeitsministerin lehnt sich in ihren als hätten sie in eine Limette gebissen, so- kaum eine andere Politikerin musste sie
Rücksitz, ihr Blick schweift aus dem Fens- bald sie ihren Namen hören. Nur ein Drit- auch erleben, dass es in Deutschland noch
ter in Richtung Eifel, ihrer Heimat. Überall tel der Wähler ist mit ihrer Arbeit zufrie- immer einen zu männlichen Blick auf die
sind die Wahlplakate mit ihrem Bild zu se- den, ergab kürzlich eine Umfrage. Es ist Politik gibt. Was ihr als Hysterie ausgelegt
hen, und sie beginnt, ihr Politikerleben zu wie ein Fluch. Wie geht sie damit um? wird, gilt bei Männern als Entschlossenheit.
resümieren. Viel gemacht, viel gelernt, sagt Ein Abend im August, Nahles ist ins Wo sie aufmüpfig ist, sind die Kollegen an-
sie. Stress erlebt, Spaß gehabt. „Neulich rheinland-pfälzische Andernach gereist, geblich durchsetzungsstark. Teilt sie die
im Wahlkampf, da kam wieder einer mit Heide Prinzessin von Hohenzollern hat Welt in Gut und Böse, wird das als Kader-
der Agenda 2010“, erzählt sie. „Meldet zum „Frauennetzwerktreffen“ ins Schloss denken eingestuft, bei Männern ist es Stra-
sich und meckert rum. Da sage ich dann: Burg Namedy geladen. Der Rittersaal ist tegie. „Die Jungs werden anders kommen-
Sorry, aber was habe ich mit der Agenda dicht bestuhlt, an den roten Wänden hän- tiert“, klagt sie. „Mir fallen da frühere Par-
2010 zu tun? Wovon redest du eigentlich? gen Hirschgeweihe und präparierte Adler. teivorsitzende bei uns ein, die mit solchen
Ich mache hier seit vier Jahren eine andere Rund hundert Frauen sind gekommen, sie Eigenschaften prima durchgekommen
Politik!“ sind.“ Das stimmt. Niemand hat etwa Ger-
Nahles neigt den Kopf zur Seite und hard Schröder seinen Ehrgeiz vorgeworfen.
blickt über den Brillenrand. „Ich kriege
„Wenn ich so bin, wie Er war der Mutige, wenn er Parteifreunde
jetzt Applaus, wenn ich solche Leute zur ich bin, ist das nicht richtig. aus dem Weg räumte. Es war Machtwille,
Schnecke mache.“ Egal, was ich mache, wenn er am Zaun des Kanzleramts rüttelte.
Es läuft eigentlich glänzend für die Ar- Nahles hat daraus ihre Konsequenzen
beitsministerin. Vier Jahre lang hat sie ein es ist immer halb falsch.“ gezogen. Früher sagte sie öffentlich, sie
Tempo vorgelegt, als gelte es, einen Kabi- habe nichts dagegen, mal Bundeskanzlerin
nettsrekord aufzustellen. Den Mindestlohn tragen Klunker und Perlenketten. Das zu werden. Kein Amt zu hoch, kein Ziel
hat Nahles eingeführt, die Rente mit 63 Schloss liegt in Nahles’ Wahlkreis, aber sie zu weit. Doch nach 25 Jahren in der Politik
ebenfalls, sie hat der Leiharbeit Grenzen ist hier fremd. Die Gegend ist pechschwarz. hat sie eingesehen, dass ihr Demut besser
gesetzt. Sie durfte einige Geschenke ver- Bei der Wahl 2013 erhielt ihre Rivalin von ansteht, wenn sie vorankommen will. Sie
teilen, was ihren Job erleichterte, aber ihr der CDU, Mechthild Heil, 55,5 Prozent der hielt als Generalsekretärin ihren Chef Sig-
Pensum lässt selbst die Gegner staunen. Stimmen. mar Gabriel aus, der sie mitunter behan-
Unionsminister wie Wolfgang Schäuble Es ist ein Termin, so anders als im Ber- delte, als wäre sie seine Büroleiterin. Sie
oder Thomas de Maizière schwärmen von liner Regierungsviertel. Persönlich, ruhig, versuchte, als Wahlkampfmanagerin Peer
ihrer Professionalität, was interessant ist, intim. Eine Besucherin erzählt, wie schwie- Steinbrück zu verkaufen, obwohl der Ex-
wenn man bedenkt, dass die meisten rig es ist, Job und Familie in Einklang zu Finanzminister keine Lust hatte, über die
Schwarzen mit der roten Nahles lange Zeit bekommen. Eine andere klagt darüber, für Marktplätze zu ziehen. Sie lächelte, als sie
ungefähr so viel anfangen konnten wie mit ihre Erziehungsarbeit nicht genügend An- als Generalsekretärin auf dem Parteitag
Margot Honecker. erkennung zu bekommen. Dann ist Nahles 2013 mit 67 Prozent abgestraft wurde, und
In der SPD und darüber hinaus richten an der Reihe. beklagte sich nicht, als niemand sie zu Jah-
sich nun viele Augen auf sie, es geht um Vor Jahren, erzählt sie, sei in einem Ma- resbeginn in die Frage einband, wer für
die Frage, welchen Platz die 47-Jährige in gazin mal ein Stück über sie geschrieben die SPD Merkel herausfordern sollte.
ihrer Partei künftig einnehmen wird. Dass worden mit der Überschrift „Der letzte Sie schrieb ein Buch, in dem sie einen
Nahles unabhängig vom Ausgang der Wahl Mann der SPD“. In der Redaktion habe Einblick in ihre widersprüchliche Biografie
eine Schlüsselfigur bei den Sozialdemokra- man ihr daraufhin gesagt, das sei als Kom- gab: heimatverbunden und internationale
ten werden wird, ist ein offenes Geheimnis. pliment gemeint gewesen. Aber sie habe Netzwerkerin. Links und katholisch. „Im-
Die Zeit ist reif für eine Frau an der Spitze das getroffen. mer wenn ich von meinen täglichen politi-
von Partei oder Fraktion. Also Nahles, „Ich bin nicht sehr mädchenhaft“, ge- schen Auseinandersetzungen in eine Kir-
oder? steht Nahles. „Ich habe oft das Problem, che komme oder bete, wird so einiges in
Das Problem ist, dass Nahles auch ein dass ich dann dargestellt werde mit Be- meinem Kopf und in meiner Seele wieder
Beispiel dafür ist, wie hartnäckig Etiketten schreibungen, die nicht sehr nett sind, die geradegerückt“, schrieb sie. Es war ein
an Politikern kleben, gerade an Frauen. Bärbeißige, die Königsmörderin, nur weil Aufschrei: Leute, ich bin gar nicht so, wie
Die Sozialdemokratin hat sich in den ver- ich mir nicht gefallen lassen wollte, dass ihr denkt. Ich bin ganz anders.
32 DER SPIEGEL 37 / 2017
Volker Kauder, dem Unionsfraktionschef,
um nach Wegen zu suchen, ihre Gesetze
durchs Parlament zu bekommen.
Man sollte meinen, dass es anstrengen-
der ist, in der Politik laut und raumgreifend
aufzutreten als leise und zurückgezogen.
Im Fall von Nahles ist es umgekehrt, für
sie ist der Kokon ein strapaziöser Ort. Stän-
dig muss sie aufpassen, dass nicht zwi-
schendurch wieder die Nahles unplugged
herauslugt, die heute allenfalls hinter ver-
schlossenen Türen zu besichtigen sein soll.
Sie schimpft dann über eine „windelwei-
che Arschlochnummer“, über Parteifreun-
de, die „nicht mehr alle Tassen im Schrank
haben“. Aber die Zusammenhänge dürfen
nicht nach außen dringen, denn das könnte
ja Aufregung geben. „Was man braucht in
so einem Job, ist Disziplin, verdammt noch
mal“, sagt Nahles. „Ich habe die Entschei-
dung getroffen: Arbeit und Ella – für mehr
habe ich keine Zeit. Das ist aber auch das
Leben, das mich froh macht“, sagt sie.
Ein Samstagmorgen Anfang August,
Nahles ist in München. Sie hat einen Auf-
tritt im Biergarten, die Bundestagsabge-
ordnete Claudia Tausend hat sie eingela-
den, die Sonne scheint, das Weißbier fließt,
alle warten auf ein paar deftige Sprüche.
Nahles hält keine berauschende Wahl-
kampfrede, ihre Auftritte sind im Vergleich
zu früher nicht wirklich besser geworden.
Sie lobt die SPD-Regierungsarbeit, sie prü-
gelt ein bisschen auf Verkehrsminister
Dobrindt und dessen „bescheuerte Maut“
ein. Beim Thema „Randzeitbetreuung“
und „Rentenniveaustabilisierung“ wird es
etwas umständlich, aber dann biegt sie
schnell ab zu Angela Merkel. „Die hat
doch keinen Schwung für die Zukunft, Leu-
te!“ Die Maßkrüge gehen nach oben.
Der Wahlkampf ist für sie eine heikle
Angelegenheit. Macht sie zu viel, heißt es,
sie laufe sich schon warm für den Partei-
vorsitz. Macht sie zu wenig, gilt sie als il-
loyal gegenüber dem Kanzlerkandidaten.
In dieser Woche trat Nahles im Fernse-
DENNIS WILLIAMSON / DER SPIEGEL

hen auf und redete im Bundestag nach


Merkels Regierungsbilanz. Es war nur ein
kurzer Auftritt, aber man konnte spüren,
wie zufrieden ihre Fraktion mit ihr war.
Auch die Kanzlerin lauschte aufmerksam.
Natürlich hofft Nahles, für ihre Zeit als
Parteisoldatin irgendwann eine Dividende
Wahlkämpferin Nahles: „Immer nur beobachtet“ einstreichen zu können. Aber anders als
früher hat sie Geduld. Auch die Wahrneh-
mung der Kanzlerin habe sich nicht von
Die Zeit als Arbeitsministerin war für Arbeitsmarktzahlen und Rentendetails. Sie heute auf morgen geändert, sagt sie.
Nahles ein Aufstieg, aber auch eine Art wechselte die Handynummer. Sie stellte Politisch liegen Welten zwischen ihr und
Rückzug. Sie schlüpfte in einen Kokon, um die Push-Nachrichten ab und führte Video- Angela Merkel. Aber Nahles schaut sich
sich zu schützen. In ihr Büro im zweiten konferenzen von ihrem Haus im Eifeldorf die Christdemokratin sehr genau an, und
Stock ihres Ministeriums hängte sie ein Weiler ein, um möglichst viel Zeit mit ihrer es gibt vieles, was ihr an Merkel imponiert.
Kreuz und ein Porträt von Willy Brandt. Tochter Ella verbringen zu können. Im Sie bewundert, dass die Kanzlerin es in ih-
Sie brachte Spielzeug für ihre Tochter mit Fernsehen zeigte sie sich seltener. Und rem politischen Alltag schafft, wie ein Uhr-
und begann mit der Arbeit. Aus den Par- während ihre Kabinettskollegin Manuela werk zu funktionieren. Sie hat Respekt da-
teigremien zog sie sich zurück und redete Schwesig so auftrat wie sie damals als Juso- vor, mit welcher Härte die Kanzlerin Män-
in Hintergrundgesprächen vor allem über Chefin, konferierte Nahles regelmäßig mit ner ausgebremst hat. Beide kommen aus
DER SPIEGEL 37 / 2017 33
der Provinz, beide verstehen Politik als
Maschinenraum. Nahles kann sich ein
Stück weit selbst in Merkel erkennen.
Über das, was nach dem 24. September
geschieht, spricht Nahles nicht. Sie versteht
sich, anders als das mit früheren SPD-Chefs
mitunter der Fall war, gut mit Martin
Schulz. Sie ist überzeugt, dass die Wahl für
die Partei noch überraschend positiv aus-
gehen kann. Alles andere kommt später.
Viele glauben, dass ein schlechtes SPD-
Ergebnis Nahles’ große Chance sein könn-
te. Aber aus ihrer Perspektive ist das so
NEU klar nicht. Im Zweifel brauchen sich Schulz
und sie gegenseitig.
Jetzt im In der SPD werden dieser Tage zwei
Handel Szenarien durchgespielt. Liegt die Partei
am Wahlabend über 25 Prozent, dürfte es
darum gehen, ob die SPD noch einmal den
Juniorpartner in einer Großen Koalition
gibt. Nahles hat öffentlich betont, Ministe-
rin bleiben zu wollen. Es wäre dann neben
Schulz ganz wesentlich an ihr, die skepti-
sche Basis davon zu überzeugen, noch ein-
mal in ein solches Bündnis zu gehen.
Gelingt das, liegt eine Arbeitsteilung
nahe, er Parteichef und Vizekanzler, sie
Ministerin oder Fraktionschefin. Für Nah-
les könnte Zweiteres ein attraktiver Posten
sein. Sie wäre für die Statik der Großen
Koalition verantwortlich und könnte auf
diese Weise ihr Spektrum erweitern, ohne
in die reine Parteipolitik zurückzufallen.
Liegt die SPD bei der Wahl unter 25 Pro-
zent, wird Schulz wohl um sein Amt kämp-
fen müssen. In der Partei könnte dann eine
Stimmung entstehen, einen harten Neuan-
fang zu starten – in der Opposition. Nahles
könnte Oppositionsführerin werden, was
kein Traumposten für sie sein dürfte. Denn
um wahrgenommen zu werden, müsste sie
dann wieder so auftreten wie früher. Und
um sie herum säßen sämtliche SPD-Kabi-
nettsrentner aus der Großen Koalition.
www.spiegel-biografie.de Dass Nahles für den Notfall bereitsteht,
ist offenkundig. Sie und Olaf Scholz, Ham-
burgs Erster Bürgermeister, der seit Jahren
auf den Parteivorsitz schielt, vertrauen
sich. Das Ministerium hat Nahles zu einem
Nebenkanzleramt ausgebaut, ihre Staats-
sekretärin Yasmin Fahimi war mal SPD-
Generalsekretärin, auch im Rest des Hau-
ses arbeiten viele Vertraute, die Partei und
Lesen Sie in diesem Heft: Fraktion gut kennen. Nahles könnte mit
ihrem Team ohne Weiteres weiterziehen,
wohin auch immer.
Bürgerschreck Nahles’ Wagen rollt über die Straßen
vor ihrem Heimatdorf Weiler. Es ist spät,
Mit Ekstase und Radau hinter ihr liegen vier Termine im Wahl-
kreis. Sie möchte jetzt nach Hause. Aus-
Sex und Blues ruhen. Termine planen. Das Telefon klin-
gelt, ihre Mutter ist dran. Sie hat die
Geständnisse eines Idols Tochter ins Bett gebracht. Jetzt würde
sie gern noch wissen, wie der Tag war.
Nahles seufzt. „Mama“, sagt sie, „lass uns
Fans morgen sprechen. Es war anstrengend.“
Veit Medick
Blicke hinter die Bühne
34 DER SPIEGEL 37 / 2017
Deutschland

Die Tegel-Falle
fen lassen will, ob Tegel überhaupt legal fristete Genehmigung für Tegel, weil die
offen bleiben darf. Es ist absehbar, dass Politiker das für nötig hielten, um den neu-
das Ergebnis dem Regierenden Bürger- en Hauptstadtflughafen BER überhaupt
meister helfen würde. Am Mittwoch bauen zu können. Berlin, Brandenburg und
Berlin Viele begrüßen die FDP- präsentierte Justizsenator Dirk Behrendt der Bund hatten sich auf einen einzigen
(Grüne) ein erstes Kurzgutachten des Ber- Großflughafen verständigt und beschlos-
Kampagne für einen Weiterbe- liner Verwaltungsjuristen Reiner Geulen, sen, dass Tegel spätestens sechs Monate
trieb des Flughafens Tegel. Doch der seit Jahrzehnten mit allen Feinheiten nach der Eröffnung des BER schließen
fast alles spricht dagegen, dass der komplizierten Rechtsmaterie bei Flug- muss. Mehrere Gerichte haben bestätigt,
häfen vertraut ist. Geulen kommt zu dem dass diese Entscheidung rechtens ist.
der Airport offen bleiben kann. Schluss, dass ein Dauerbetrieb von Tegel FDP-Czaja und seine Tegel-Kampagneros
praktisch nicht möglich sei. Er könnte so- schreckt das nicht. Sie meinen, der Berliner

E
ngelbert Lütke Daldrup wollte gar die Inbetriebnahme des BER gefähr- Senat solle einfach den Widerruf wider-
schnell dorthin, wo es besonders den. Schlimmstenfalls würde Berlin am rufen – schon könne Tegel weitermachen.
schlimm aussieht. Nach unten, wo Ende lange ohne genehmigte Flughäfen Aber so ist es nicht. Denn Tegel erfüllt
die Kabel aus den Kanälen quellen, Kühl- dastehen. weder bei der Gebäudetechnik noch beim
leitungen lecken, Gepäckbänder stocken. FDP-Chef Sebastian Czaja sagt, das sei Lärmschutz heutige Standards. Nur weil
Der Leiter der Berliner Flughafengesell- „mehr PR für einen verzweifelten Senat als die Schließung bisher beschlossene Sache
schaft sagte: „Das ist veraltete Technik aus ein neutrales Rechtsgutachten“. Er argumen- ist, darf ihn die Flughafengesellschaft mit
den Sechzigerjahren und total sanierungs- tiert mit Ausarbeitungen der Wissenschaft- Ausnahmeregelung („Lex Tegel“) weiter-
bedürftig.“ lichen Dienste des Bundestags und des Ber- nutzen. Für den Dauerbetrieb müsste der
Der Flughafenchef hatte Journalisten liner Abgeordnetenhauses aus dem Jahr Airport von Grund auf saniert werden und,
Ende Juli in die Innereien von Tegel ge- 2013. Darin sahen Fachleute reichlich Tü- so Senatsgutachter Geulen, „ein ähnlich
führt, um ihnen zu zeigen, dass der Air- cken bei der Umsetzung, hielten aber einen kompliziertes Verfahren durchlaufen wie
port, den die Berliner so schätzen, eigent- Dauerbetrieb von Tegel prinzipiell für legal. bei einem Flughafenneubau“.
lich Schrott ist und es an ein Wunder Die ursprüngliche Genehmigung für Te- Die Kosten dafür lägen nach Berechnun-
grenzt, dass es noch nicht zu größeren Ha- gel erteilten bereits 1960 die Franzosen, die gen der Flughafengesellschaft in den nächs-
varien gekommen ist. Es ist ungewöhnlich, damals mit den Briten und Amerikanern ten Jahren bei mehr als einer Milliarde
dass ein Manager seinen eigenen Betrieb die Lufthoheit über Westberlin hatten. Im Euro. Dazu kämen höhere Betriebskosten
derart madig macht und dann noch einen, Rahmen der Wiedervereinigung 1990 wurde für den Doppelbetrieb, zusätzlich mindes-
der, wie Tegel, richtig Geld verdient. sie in bundesdeutsches Recht übertragen. tens 100 Millionen Euro im Jahr.
Hinter Lütke Daldrups Aktion steckte Der Berliner Senat widerrief dann in Die von Fluglärm betroffenen Bürger
politisches Kalkül. Einer seiner Arbeitge- zwei Verfügungen 2004 und 2006 die unbe- müssten an dem Verfahren beteiligt wer-
ber, Berlins Regierender Bürgermeis- den. Klagen und Gerichtsprozesse
ter Michael Müller (SPD), braucht wären die Folge. Die Deutsche Flug-
dringend Argumente gegen Tegel, sicherung müsste die Flugrouten
seitdem die oppositionelle FDP eine über Berlin neu berechnen und ge-
clevere Kampagne losgetreten hat, nehmigen lassen. Und dagegen gäbe
den innenstadtnahen Airport weiter- es mit Sicherheit noch mehr Klagen.
zubetreiben. Den Hauptstadtlibera- Selbst Tegel-Befürworter wie
len angeschlossen haben sich inzwi- Ryanair müssen einen Teil der Pro-
schen mehr als 200 000 Berliner, die bleme zur Kenntnis nehmen. In ei-
CDU und der Billigflieger Ryanair. nem Gutachten im Auftrag des Bil-
Am Sonntag der Bundestagswahl ligfliegers geben die Juristen zu be-
stimmen die Berliner in einem Volks- denken, dass der Fluglärmschutz
entscheid darüber ab, ob in Tegel eine „Herausforderung darstellt“.
auch nach Eröffnung des Flughafen- Womöglich wäre auch eine zeit-
neubaus BER noch geflogen werden raubende Umweltverträglichkeits-
soll. Oder ob auf dem Airportgelände, prüfung erforderlich.
wie es der rot-rot-grüne Senat plant, Vor allem aber fehlt bislang der
Startbahnen und Rollfelder zu einem politische Wille an entscheidender
Wissenschaftscampus und Wohn- Stelle. Die Brandenburger Landes-
quartier umgebaut werden. Nach regierung bekräftigte erst vor Kur-
jüngsten Umfragen ist eine Mehrheit zem, dass sie am Single-Airport-
dafür, Tegel offen zu halten. Konzept nicht rütteln will. Auch
Wenn das wirklich so kommt, Kanzlerin Angela Merkel will Tegel
hat Bürgermeister Müller ein Pro- schließen, wie sie vor zwei Wochen
blem. Den Willen seines Wahlvolks betonte. Berlins FDP hofft auf die
zu ignorieren wäre politisches Hara- Bundestagswahl und eine Pro-Tegel-
kiri, selbst wenn die Tegel-Schlie- Mehrheit beim Berliner Volksent-
ßung frühestens Ende 2019 auf der scheid. Christoph Meyer, Berliner
STEFAN BONESS / IPON

politischen Agenda steht. Vorher FDP-Spitzenkandidat für die Bun-


rechnet kaum noch einer mit der destagswahl, sagt: „Es gehört zum
Eröffnung des neuen Hauptstadt- politischen Stil von Frau Merkel,
flughafens BER. Mehrheitsmeinungen am Ende gern
Müller hofft nun auf externe Fach- doch zu adaptieren.“
leute, die er bis Ende des Jahres prü- Flughafen-Hauptgebäude: Ohne Tegel, ohne BER? Andreas Wassermann

DER SPIEGEL 37 / 2017 35


PETER KNEFFEL / DPA
Rückkehrer Guttenberg: „Irgendwann ist mal gut“

Streifzug durch die Welt


CSU Bei seinem Comeback-Versuch gibt der frühere Verteidigungsminister den Geläuterten.
Das Problem ist nur: Der neue Guttenberg sieht aus wie der alte. Von Ralf Neukirch

D
ie Vergangenheit holt Karl-Theo- Der Gillamoos ist die zweite Station auf CSU-Chef Horst Seehofer hat schon klar-
dor zu Guttenberg beim Gillamoos- Guttenbergs Wahlkampftour. Wenn alles gemacht, dass er Guttenberg für überall mi-
Volksfest auf unerwartete Weise gut läuft, könnte die Reise in einer Rück- nistrabel hält, in Bayern und im Bund. Die
ein. Guttenberg, den alle hier nur KT nen- kehr in die Politik enden. Aber es läuft „Bild“-Zeitung, seit früheren Zeiten Gut-
nen, betritt die Bühne in offenem Hemd nicht so reibungslos, wie er sich das ge- tenbergs Hausblatt, fantasiert schon, dass
und dunklem Baumwollsakko, an seinem wünscht hat. ihr Schützling in die erste Reihe der An-
Ohr ist ein Headset befestigt, wie es Mo- Guttenberg war vor sieben, acht Jahren wärter für das Kanzleramt aufrücken könn-
deratoren von Shoppingkanälen gern tra- der beliebteste Politiker des Landes, ihm te, „spätestens für die Zeit ab 2021“.
gen. Eigentlich müsste er jetzt sagen, er wurde alles zugetraut, auch die Kanzler- Das ist eine gewagte Prognose. Es ist un-
wolle nicht vom Rednerpult aus sprechen, schaft. Dann kam der Absturz. Weil seine klar, wie ein Comeback des CSU-Politikers
er rede lieber frei. Das ist seine Masche, Doktorarbeit in großen Teilen ein Plagiat aussehen könnte. Ein plausibles Szenario
in Kulmbach hat er es vor einigen Tagen war, musste Guttenberg als Verteidigungs- fehlt, auch wenn Seehofer behauptet, er
auch gemacht. minister zurücktreten. Er zog mit seiner habe eine Strategie im Kopf. Guttenberg
Aber an diesem Montag steht ein massi- Familie in die Nähe von New York und hat selbst noch nicht erklärt, ob er wieder
ves Rednerpult aus Holz auf der Bühne. gründete eine Beratungsfirma. Jetzt ist er aktiv Politik machen will, auch wenn vieles
Guttenberg hat es selbst vor Jahren ge- wieder da, und die Neugier ist groß. darauf hindeutet. Vermutlich hat er sich
spendet, weil das alte Plastikpult „einfach Das Comeback des 45-Jährigen ist eine noch nicht endgültig entschieden.
nicht in ein Bierzelt passt“, woran der der interessantesten Geschichten des Wahl- Dann bleibt noch die Frage: Wer kommt
Landrat die Leute unten im Saal erinnert. kampfs. In Kulmbach, seiner Heimat, woll- da eigentlich zurück? Derselbe Politiker,
Guttenberg ist unsicher, ob er die geplante ten ihn am vorvergangenen Mittwoch gut an dessen Befähigung es nicht nur wegen
Choreografie durchziehen soll. Er entschei- 1200 Anhänger sehen. Es war deutlich seines Plagiats längst Zweifel gab? Was ha-
det sich dagegen und tritt ans Pult. Er trägt mehr Presse angemeldet als bei der Kanz- ben die Jahre im Ausland, weit weg von
noch immer das Headset, am Pult sind lerin, die hundert Kilometer entfernt in Er- der deutschen Politik, mit Guttenberg ge-
ebenfalls zwei Mikrofone befestigt. Gut- langen redete. Nach dem Duell der Spit- macht?
tenberg hat nun drei Mikrofone vor sich, zenkandidaten am vergangenen Sonntag Auf dem Gelände des „Werk 3“ in Mün-
es sieht aus, als müsse die Rede des CSU- durfte er das Ereignis unmittelbar im An- chen war früher mal eine Knödelfabrik.
Manns gleich mehrfach verstärkt werden. schluss bei „Anne Will“ kommentieren. Jetzt residieren hier Start-ups, es gibt viel
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WAHL 2017

Glas, Stahl und Beton. Vom Dachgeschoss streut er Witzchen über seine „Raubko- schickt hat, glauben, dass er genau das an-
aus hat man einen schönen Blick über die pien“ ein. Dabei hat selbst SPD-Kanzler- strebt. Sie berichteten nach München, dass
Stadt. Genau der richtige Ort für die „In- kandidat Martin Schulz gesagt, in der Guttenberg zwar behaupte, er betrachte
novationstour mit Karl-Theodor zu Gut- Politik gebe es keine ewige Verdammnis. die deutsche Innenpolitik seit Jahren nur
tenberg“, zu der die CSU geladen hat. Der Die Sache ist also durch. noch von außen. Die Einzelheiten des Bay-
Gast solle „mal mit dem Blick von außen Guttenberg kommt immer wieder auf ernplans der CSU seien ihm aber geläufig:
erläutern, was den Standort ausmacht“, das Plagiat zurück, weil er auf diese Weise „Obergrenze, Leitkultur, Burka-Verbot, in
sagt der stellvertretende Generalsekretär davon ablenken kann, dass es schon vor der Rede war alles drin“, sagt ein Mitglied
Markus Blume. der Aufregung um die Doktorarbeit Zwei- der CSU-Spitze.
Guttenberg sagt, dass Deutschland mehr fel an seinen politischen Fähigkeiten gab. Einer der Ersten, der Guttenberg nach
Glasfaserkabel brauche, sich von Ländern Nach einem furiosen Start als Wirtschafts- seinem Auftritt in Kulmbach beglück-
wie Japan und Südkorea nicht abhängen minister begann sein Ansehen in den ei- wünschte, war der Parteichef persönlich.
lassen dürfe und dass Bildung und Ausbil- genen Reihen zu sinken, als er das Vertei- „Gratulation!!!!!“, schrieb Horst Seehofer
dung wichtig seien. Andererseits könnten digungsressort übernommen hatte. per SMS. „Danke“, simste Guttenberg zu-
sich die USA in einigen Bereichen von Bay- Die faktische Abschaffung der Wehr- rück. „Unterstützt Du mich beim Gilla-
ern „ein Stück abschneiden“. Der Blick pflicht, die er gegen den anfänglichen Wi- moos?“ Das konnte Seehofer nicht, er
von außen unterscheidet sich, so scheint derstand einer Mehrheit in der Union musste zum Dieselgipfel ins Kanzleramt.
es, nicht allzu sehr vom Blick von innen. durchsetzte, zeigte Guttenbergs Durchset- Seehofer hat Guttenbergs Rückkehr ini-
Die Auftritte Guttenbergs sind deshalb zungskraft. Um die Konsequenzen seiner tiiert. „Er spielt in einer eigenen Liga“,
verblüffend, weil sie zeigen, wie treu er Entscheidung aber hatte er sich wenig Ge- schwärmt der CSU-Chef. Ihn reizt die Aus-
sich in seiner Zeit in den USA geblieben danken gemacht. Das mussten andere sicht, seinen Finanzminister Markus Söder
ist. Einem Zuhörer, der die vergangenen übernehmen. zu ärgern. Der möchte Seehofer als Minis-
sechs Jahre im Koma verbracht hat, würde Als Verteidigungsminister machten Gut- terpräsident und Parteichef nachfolgen.
vor allem auffallen, dass Guttenberg die tenberg immer neue Fälle von Vertuschung Seehofer will das verhindern. Guttenberg
Haare nicht mehr zurückgelt und einen und Fehlinformation zu schaffen. Um sich kommt da gerade recht.
Bart trägt. Er sagt jetzt „Westcoast“, wenn selbst zu retten, entließ er 2009 General- Unklar ist nur, in welcher Rolle Seehofer
er die amerikanische Westküste meint. inspekteur Wolfgang Schneiderhan und Guttenberg sehen will. Dass dieser nach
Ansonsten ist es wie früher. Schon als Staatssekretär Peter Wichert. Die beiden hät- der Landtagswahl im kommenden Jahr ins
Minister hat er vor Reden das Manuskript ten ihm, so sein Vorwurf, wichtige Berichte bayerische Kabinett wechselt, ist schwer
zur Seite gelegt und gesagt, er wolle mit vorenthalten, in denen es um das Bombarde- vorstellbar. Schließlich hatte Seehofer schon
dem Herzen sprechen. Die Seiten des Ma- ment zweier Tanklaster in der Nähe des die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse
nuskripts waren leer, vom Herzen kam afghanischen Kunduz ging, bei dem viele Aigner zu seiner Nachfolgerin aufbauen
stets die gleiche Rede. So ist es auch dies- wollen – und anschließend fallen gelassen.
mal. In Kulmbach, wo er frei reden will, Anders sähe es mit einem Ministerpos-
sagt Guttenberg das Gleiche wie auf dem
Geblieben ist die Neigung, ten in Berlin aus. Damit könnte Gutten-
Gillamoos. „Sauber auswendig gelernt“, einfache Sachverhalte berg sich unabhängig von Seehofer eine
wie Seehofer im kleinen Kreis spöttelt. in sprachlichen Bombast Machtbasis aufbauen. Allerdings müsste
Den Gestus des Außenseiters kultiviert es ein angemessenes Ressort sein, das Aus-
Guttenberg noch immer. Er wisse nicht ge- zu verpacken. wärtige Amt zum Beispiel, oder ein neu-
nug über die Situation in Deutschland, sagt geschaffenes Ministerium für Forschung,
er, deshalb „würde ich Sie gerne mitneh- Zivilisten starben. Beide bestritten die Dar- Digitales und Infrastruktur. Das könnte
men auf einen Streifzug durch die Welt“. stellung. Der Eindruck, Guttenberg habe ein man dann Zukunftsministerium nennen.
Die Erkenntnisse sind dann eher banal: Ne- taktisches Verhältnis zur Wahrheit, verfes- Es gibt aus CSU-Sicht nur ein Problem:
ben Donald Trump gebe es auch gute Ame- tigte sich auch in den eigenen Reihen. Es Seehofer will seinen Innenminister Joa-
rikaner, mit denen man im Gespräch blei- gab viele in der Fraktion, die erleichtert wa- chim Herrmann in einer neuen Bundesre-
ben müsse. Ein Krieg der USA gegen Nord- ren, als er zurücktreten musste. gierung sehen. Dass die CSU im Falle einer
korea wäre schlecht, weil „das auf unsere Dennoch verlässt Guttenberg sich nach Regierungsbeteiligung aber zwei große Mi-
Arbeitsplätze Rückwirkungen tätigt“. wie vor in erster Linie auf seine Ausstrah- nisterien beanspruchen kann, ist eher un-
Geblieben ist auch die Neigung, einfa- lung. Er scheint selbst unsicher zu sein, ob wahrscheinlich.
che Sachverhalte in sprachlichen Bombast das reicht. Früher trat er charmant und Möglicherweise spielt Seehofer nur mit
zu verpacken. Statt von Gefahr spricht selbstsicher auf. Heute wirkt er nervös. Guttenberg, wie er es schon mit anderen
Guttenberg von einem „Gefahrenstrudel, Sein Lächeln verrutscht gelegentlich, bei getan hat. Guttenberg bringt Farbe in ei-
in den wir hinabgleiten könnten“. Die Will- „Anne Will“ ebenso wie im Bierzelt. Die nen langweiligen Wahlkampf, er könnte
kommenskultur lobt er mit den Worten, Presse werde am nächsten Tag wieder für die CSU Wähler mobilisieren, die mit
Deutschland habe es „geschafft, dass Bahn- schreiben, er habe nur Banalitäten von sich Angela Merkel abgeschlossen haben. In
höfe nicht mehr für den Tod, sondern für gegeben, wiederholt er bei seinen Auftrit- diesem Fall wäre seine Aufgabe nach der
die Hoffnung stehen“. Und aus den USA ten. Es ist einer seiner Tricks: Die Kritik Wahl erledigt.
hat er die Erkenntnis mitgebracht, dass vorwegnehmen, damit sie nicht mehr wirkt. Seehofer beteuert, dass dies nicht so sei.
„die Welt sich weiterdreht, aber sie braucht Guttenberg wolle sich unbedingt reha- Er hält es für kein Problem, Herrmann und
Gestaltungskräfte“. bilitieren, sagt einer, der ihn lange kennt. Guttenberg nach der Bundestagswahl mit
Eine Neuheit gibt es: Guttenberg kommt Vor allem die schmählichen Umstände sei- einem Ministeramt zu versorgen. „Die CSU
in Kulmbach gleich zu Beginn auf sein Pla- nes politischen Endes machten ihm zu will Joachim Herrmann als Innenminister
giat zu sprechen. Er sei „dankbar auch für schaffen. Eine vollständige Wiedergutma- nach Berlin schicken“, sagt er. Das bedeute
manchen Spott und Häme“, sagt er kokett, chung aber könne es nur geben, wenn er aber nicht, dass für Guttenberg dann kein
aber „ich darf zumindest für mich auch wieder ein politisches Amt habe. Platz mehr sei. „Für die künftige Rolle von
nach langer Zeit einmal sagen: Jetzt ist Die Späher aus der CSU-Zentrale, die Karl-Theodor zu Guttenberg“, sagt der Par-
auch mal irgendwann gut“. Immer wieder Seehofer zu Guttenbergs Auftritten ge- teichef, „heißt das gar nichts.“ I

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Deutschland

„Ich bin kein russischer Spion“


SPIEGEL-Gespräch Whistleblower Edward Snowden über sein Leben in Russland, die Macht
der Geheimdienste und wie sein Kampf gegen den Überwachungsstaat weitergeht

Z
u Snowden führt ein langer Weg. Kanonen auf Spatzen. Alle kapieren das, lich? Und meine Antwort ist: weil sie super
Für den SPIEGEL begann er vor nur nicht die Geheimdienste. interessant für andere Bereiche des Spio-
mehr als einem Jahr mit etlichen SPIEGEL: Was haben Sie erreicht? nierens sind. Wie zum Beispiel ein Telefo-
Gesprächen mit seinen Anwälten in New Snowden: Seit Sommer 2013 kennt die Öf- nat zwischen Kofi Annan und Hillary Clin-
York und Berlin – und endete am Mittwoch fentlichkeit das, was bis dahin verbotenes ton abzuhören …
vergangener Woche in einer Moskauer Ho- Wissen war. Dass die US-Regierung alles SPIEGEL: … was der BND getan hat.
telsuite mit Blick auf den Roten Platz. Ir- aus Ihrem Gmail-Konto erfahren kann. Dass Snowden: Diese Aufnahme hat vermutlich
gendwo in der russischen Hauptstadt lebt sie dafür nicht einmal einen Durchsuchungs- nicht allzu viele Attentate verhindert.
der ehemalige US-Geheimdienstmitarbei- beschluss braucht, wenn du kein Amerika- SPIEGEL: Was ist für Sie der Unterschied
ter Snowden, 34, der im Sommer 2013 das ner, sondern zum Beispiel Deutscher bist. zwischen NSA und BND?
weltweite Überwachungssystem der US- Diese Art von Diskriminierung verstößt ge- Snowden: Der größte Unterschied ist das
amerikanischen National Security Agency gen Grundrechte. Aber immer mehr Länder, Budget. Wie viel Spielgeld haben wir, um
(NSA) bloßstellte. Er ist seither Staatsfeind nicht nur die USA, machen das. Ich wollte es im Sandkasten herumzuwerfen? Daran
der USA, Ikone für die Verteidiger von der Öffentlichkeit die Chance geben, selbst bemessen sich die Fähigkeiten. Deutschland
Freiheitsrechten und ein Mann auf der zu entscheiden, wo sie ihre Grenzen zieht. hat gewaltige Möglichkeiten, weil es so zen-
Flucht. Der Weg zu Snowden wäre bei- SPIEGEL: Sie haben die Massenüberwa- tral gelegen ist und es so viele gute Orte
nahe noch länger geworden. Eine schwere chung einen Gesetzesverstoß genannt. Un- gibt, die zum Spionieren geeignet sind. Wie
Erkältung hätte fast zur Verschiebung des serer Kenntnis nach sitzt aber keiner der der Internetknoten De-Cix in Frankfurt am
Termins geführt. Schließlich aber erschien Verantwortlichen hinter Gittern. Main. Es ist wie Angeln in einem Fass. Du
Snowden, der bescheiden und erstaunlich Snowden: Diese Aktivitäten der NSA waren musst nur ein Glas ins Fass tauchen, und es
optimistisch wirkte, zu dem Gespräch, das illegal. In einer gerechten Welt würden die, kommt mit einem Fisch zurück.
länger als drei Stunden dauerte. die diese Programme genehmigt haben, im SPIEGEL: Die deutschen Behörden sagen,
Gefängnis sitzen. Sie tun es nicht, deswe- ohne CIA und NSA wären sie wie taub.
SPIEGEL: Herr Snowden, vor vier Jahren er- gen spreche ich von einem Geheimgesetz. Snowden: Natürlich, Deutschland wird
schienen Sie auf einem Video aus einem Wir können aber auch nach Deutschland nicht wie die USA jährlich rund 70 Milliar-
Hotelzimmer in Hongkong. Es war der Be- blicken: Der NSA-Untersuchungsausschuss den Dollar für Geheimdienstarbeit heraus-
ginn des größten Leaks von Geheimdienst- im Bundestag hat ja zahlreiche Verstöße hauen. Aber es ist ein sehr reiches Land.
material der Geschichte. Heute sitzen Sie gegen das G-10-Gesetz festgestellt … 2013 gab es allein für den BND rund eine
mit uns in einem Hotelzimmer in Moskau. SPIEGEL: … in dem es um Eingriffsrechte halbe Milliarde Euro aus, nun sind es 300
Sie können Russland nicht verlassen, weil der Geheimdienste in das Post- und Fern- Millionen mehr. Deutschland hat außer-
die US-Regierung per Haftbefehl nach Ih- meldegeheimnis geht. dem eines der besten Bildungssysteme der
nen sucht. Unterdessen läuft die weltweite Snowden: Ja. Statt Strafen, Rücktritten oder Welt. Das alles bildet eine ideale techni-
Überwachungsmaschine der Geheimdiens- Veränderungen der Spähgewohnheiten sche Basis mit vielen Talenten.
te weiter, wahrscheinlich schneller als je gab es nur ein neues Gesetz, das sagt: ist SPIEGEL: In Berlin tagte dreieinhalb Jahre
zuvor. Hat sich Ihr Einsatz gelohnt? in Ordnung so. lang der NSA-Untersuchungsausschuss, um
Snowden: Ja. Mein Ziel war ja nicht, alle SPIEGEL: Waren Sie überrascht, als Sie er- die Kooperation der Amerikaner mit dem
Gesetze zu ändern oder zu versuchen, die fuhren, dass der deutsche Bundesnachrich- BND zu untersuchen. Wie im Abschlussbe-
Überwachungsmaschine zu drosseln. Viel- tendienst (BND) „Freunde“ ausspähte, wie richt zu lesen ist, traten Sie nicht wie geplant
leicht hätte ich das versuchen sollen. Meine den israelischen Premierminister oder mit als Zeuge auf, auch weil Ihre Bedingung
Kritiker sagen, ich war nicht revolutionär 4000 Selektoren auch Ziele in den USA? war, in Deutschland Asyl zu bekommen.
genug. Aber sie vergessen, dass ich ein Snowden: Ich war enttäuscht, nicht über- Snowden: Das ist eine Lüge. Ich habe das
Produkt des Systems bin. Ich habe dort ge- rascht. Es ist überall das Gleiche, in Frank- niemals als Bedingung formuliert. Ich glau-
arbeitet, ich kenne die Leute, und ich habe reich, in Deutschland, in all den anderen be, wir haben nicht mal das Wort Asyl ir-
immer noch Vertrauen, dass sich die Diens- Ländern. Die Regierungen möchten mehr gendwo erwähnt.
te reformieren können. Macht haben, wenn es um Wirtschaftsspio- SPIEGEL: Wie erklären Sie, dass es so überall
SPIEGEL: Diese Leute sehen in Ihnen aber nage, diplomatische Manipulationen und berichtet worden ist?
heute den größten Feind. politischen Einfluss geht. Snowden: Reine Politik. Um das Weiße
Snowden: Ich habe nicht dafür gekämpft, SPIEGEL: Der erklärte Hauptzweck von Haus zu besänftigen, wollten die deutschen
die NSA oder die CIA niederzubrennen. Überwachung ist, Angriffe gegen unsere Regierungsparteien von Anfang an verhin-
Ich finde sogar, dass sie eine nützliche Rol- Länder zu verhindern. Das ist ja grund- dern, dass ich nach Deutschland komme.
le in der Gesellschaft spielen. Aber nur, sätzlich ein richtiges Ziel. Als dann die parlamentarische Untersu-
solange sie die wirklich wichtigen Bedro- Snowden: Wir haben keinen Beweis, dass chung begann, ging es ihnen vor allem da-
hungen gegen uns bekämpfen und dafür die Programme zur Massenüberwachung rum, allzu beschämende Enthüllungen zu
Methoden benutzen, die uns am wenigsten terroristische Angriffe verhindern. Aber unterbinden. Versprechen ans Weiße Haus
schaden. Wir schießen ja auch nicht mit wenn man uns nicht zeigen kann, welche haben für die Bundesregierung wohl Ge-
Zellen dank dieser Methoden aufgeflogen setzescharakter. Um das zu rechtfertigen,
Das Gespräch führten die Redakteure Martin Knobbe sind, und trotzdem sagt, sie seien unbe- mussten sie so tun, als hätten sie keine
und Jörg Schindler in Moskau. dingt nötig, dann frage ich: warum eigent- Wahl – also haben sie meine angebliche
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DMITRI BELIAKOV / DER SPIEGEL

Exilant Snowden in Moskau: „Selbst ich darf hoffen“

DER SPIEGEL 37 / 2017 39


Deutschland

Asylbedingung erfunden. Historiker wer- dere benutzt sein Smartphone und wird thoden, die darin beschrieben werden,
den irgendwann die ganze Geschichte ent- von einer Drohne getroffen. Nur der, der auch. Haben sie heute mehr als histori-
hüllen, aber für den Moment hat es ge- seine Botschaften auf Papier schreibt und schen Wert?
reicht. Das ist ja meistens so in der Politik, sie seinem Cousin auf dem Motorrad mit- Snowden: Das System ist gleich geblieben.
dass es nur für den Moment reichen muss. gibt, der bleibt unversehrt. Was meinen Nur wer den grundsätzlichen Mechanis-
SPIEGEL: Was hätte der Ausschuss denn von Sie, was Terroristen daraus für Schlüsse mus versteht, wie man unschuldige Men-
Ihnen gelernt? Ihr Material war ja veröf- ziehen? Die brauchen nicht den SPIEGEL schen ausspioniert, kann anfangen, diesen
fentlicht. oder mich, um zu kapieren, wie es geht. Mechanismus zu verändern. Jetzt geht es
Snowden: Ich weiß schon, die dachten: Er SPIEGEL: Gestehen Sie zu, dass zumindest darum, was als Nächstes kommt und wie
war ja nur ein Systemadministrator. Das einige der über Sie veröffentlichten Un- wir damit umgehen.
stimmt, ich war mehrmals in dieser Funk- terlagen hilfreich für Kriminelle und SPIEGEL: Und? Was kommt als Nächstes?
tion tätig, aber nicht nur. Auf Schurkenstaaten waren, weil Snowden: Die Regierungen begreifen gera-
meinem letzten Posten auf diese eine Ahnung beka- de, dass die Massenüberwachung nicht
Hawaii habe ich chinesische men, wie Geheimdienste ar- wirklich etwas bringt. Sie bewegen sich da-
Hacker verfolgt und dafür beiten? von weg, hin zu dem, von dem sie hoffen,
das Überwachungsprogramm Snowden: Nein, das ist ein be- dass es ihr neues Allheilmittel sein wird:
XKeyscore den ganzen Tag quemer Vorwurf der Regie- Hacken. Ich meine massenhaftes Hacken,
genutzt. Das, was die Deut- rungen und ihrer Dienste. Sie nicht gezieltes, wie die Dienste gern be-
schen von den Amerikanern stufen alle möglichen Infor- haupten. Wir haben das beim Schließen
bekommen und dann auch be- mationen als geheim ein und mehrerer Marktplätze im Darknet gesehen.
nutzt haben. behaupten, ihre Veröffentli- SPIEGEL: Die Dienste konzentrieren sich da-
SPIEGEL: Sie haben Auszüge chung würde Schaden anrich- rauf, Verschlüsselungen zu knacken?
des Abschlussberichts des ten. Selbst Speisekarten aus Snowden: Nicht zu knacken, die Dienste
Bundestagsausschusses gele- der Kantine wurden als streng versuchen, sie zu umgehen. Sie suchen
sen. Was ist Ihr Eindruck? geheim eingestuft, kein Witz. nach Schwachpunkten auf Ihrem Gerät,
Snowden: Ich hatte die Hoffnung, dass das SPIEGEL: In den Unterlagen standen auch um zu sehen, was Sie schreiben, bevor Ihre
eine echte Nachforschung sein würde. richtige Geheimnisse, Programme, Tech- Nachricht verschlüsselt wird. Sie überneh-
Aber der Teil, den die Regierungsparteien niken. men eine Website und infizieren diese mit
verfasst haben, ist eine Enttäuschung. Er Snowden: Ich kam 2013 damit raus, heute Schadsoftware. Wenn Sie nun diese Seite
liest sich wie eine Übung im kreativen haben wir 2017, und die Dienste haben kei- besuchen, weil Sie einen Link zugeschickt
Schreiben. Die deutsche Öffentlichkeit nen Schaden geltend gemacht, außer den, bekommen haben, dann werden Sie ge-
war verärgert über die Überwachungspo- dass ihre Vertreter vom Kongress befragt hackt. Dann gehört Ihr Rechner oder Ihr
litik, also mussten die Regierungsparteien wurden und eine mehr als zweijährige Un- Telefon nicht mehr Ihnen. Sie haben dafür
irgendetwas tun. Aber eben nicht das, was tersuchung aushalten mussten. Sogar der bezahlt, aber andere benutzen es nun. Das
die Opposition heldenhaft versucht hat: nationale Sicherheitschef der USA, Micha- ist übrigens viel besser als Massenüberwa-
herauszufinden, was passiert war, mehr el Rogers, sagte: „Der Himmel ist uns nicht chung, finde ich.
Verantwortlichkeit zu schaffen und die auf den Kopf gefallen, wir machen nach SPIEGEL: Wieso denn das?
Methoden so zu gestalten, dass sie mit wie vor unsere Arbeit. Klar, es hat uns er- Snowden: Massenüberwachung war un-
dem Gesetz vereinbar sind. Stattdessen schüttert, aber das Leben geht weiter.“ glaublich billig, fast umsonst. Sie war un-
sagten diese Politiker: Lass uns das Gesetz SPIEGEL: Warum gibt es keine anderen sichtbar und lief dauerhaft. Man konnte
so lockern, dass es nicht mehr gebrochen Whistleblower wie Sie? Haben die Angst sich nur mit Verschlüsselung dagegen weh-
wird. davor, in Russland zu enden? ren. Einen Browser zu attackieren oder
SPIEGEL: Das klingt resigniert. Snowden: Die pessimistische Antwort ist: Die ein Smartphone oder einen Computer ist
Snowden: Keinesfalls. Wir als Gesellschaft Menschen glauben, die Folgen wären zu dagegen eine sehr teure Angelegenheit für
haben große Fortschritte gemacht, wir nut- schwerwiegend, wenn sie erwischt werden. die Dienste.
zen die Mathematik, die Wissenschaft, um Die optimistische ist: Die Dienste haben sich SPIEGEL: Mangel an Geld ist nicht das
den Missbrauch durch Regierungen einzu- 2013 im Kalender markiert, denn sie wissen Hauptproblem der Geheimdienste, das sag-
schränken. seitdem, sie könnten die Nächsten sein. ten Sie eben selbst.
SPIEGEL: Sie meinen die Verschlüsselung SPIEGEL: Wir halten die pessimistische Sicht- Snowden: Aber selbst diese Summen rei-
unserer Kommunikation. weise für näher an der Realität. chen nicht, um jeden auf der Welt zu über-
Snowden: Der nationale Geheimdienstdi- Snowden: Es ist ein Mix aus beidem. Schauen wachen. Der neue Ansatz macht den Ge-
rektor James Clapper hat vor seiner Pen- Sie sich nur die Vault-7-Akten an, die die heimdiensten das Leben schwer, im guten
sionierung gesagt, ich hätte die allgemeine Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffent- Sinne. Ein Dienst muss sich jetzt immer fra-
Akzeptanz von Verschlüsselungstechnik licht hat. Das war eine beispiellose Preisgabe gen: Ist diese Person, die ich ausspionieren
um sieben Jahre beschleunigt. Er meinte sehr heikler Informationen, die will, die Kosten wirklich wert?
das wohl als Beschimpfung, ich nahm es direkt von CIA-eigenen Ser- Es gab da diese Gruppe von
als Kompliment. Die Verschlüsselung von vern stammen müssen. Das ist Dschihadisten, die ein Ver-
Gerät zu Gerät ist heute vielfach Standard. Monate her, aber keiner wurde schlüsselungsprogramm na-
Man braucht sich nicht selbst darum zu bisher verhaftet. Wir lernen mens „Mudschahedin Geheim-
kümmern. Vor 2013 wussten die meisten zwei Sachen daraus: Es ist nach nisse“ nutzte. Auf diese Dinge
Nachrichtenseiten nicht einmal, was Ver- wie vor ziemlich einfach, et- sollten sich die Dienste kon-
schlüsselung ist. Heute verschlüsselt jede was aus dem Dienst heraus zu zentrieren. Wer ein solches
ernst zu nehmende Redaktion. enthüllen. Und nachdem ich Programm installiert, ist ver-
SPIEGEL: Terroristen allerdings auch. das diesmal offensichtlich nicht mutlich ein Dschihadist, oder?
Snowden: Stellen Sie sich mal drei Terro- war, muss es andere geben. SPIEGEL: Selbst wenn der Spiel-
risten vor. Einer nutzt seinen Laptop und SPIEGEL: Ihre Unterlagen sind raum der Geheimdienste be-
wird von einer Drohne getroffen. Der an- nun einige Jahre alt, die Me- schränkt ist: Die Menschen ge-
40 DER SPIEGEL 37 / 2017
ben riesige Mengen von privaten Daten frei- dig Wahlen beeinflusst haben. Jeder Staat Snowden: Ja, vor allem dieser Hans-Sowie-
willig preis, an Unternehmen wie Facebook, mit einem Geheimdienst tut das, und es so-Typ.
Google, Instagram. Müssen wir nicht ak- würde mich überraschen, wenn Deutsch- SPIEGEL: Sie meinen Hans-Georg Maaßen,
zeptieren, dass wir ein Zeitalter der totalen land es nicht täte – nur vielleicht etwas zu- den Präsidenten des Verfassungsschutzes.
Transparenz erreicht haben? rückhaltender und höflicher. Aber kann Er hat mehrfach angedeutet, Sie könnten
Snowden: Ich halte an Universitäten mehr- es sein, dass wir gerade etwas um den hei- ein russischer Spion sein. Sind Sie einer?
mals im Monat Vorträge und habe den ßen russischen Brei reden? Snowden: Nein. Er hatte ja nicht mal den
Eindruck: Die junge Generation sorgt SPIEGEL: Kommen Sie gern zum Punkt. Mumm zu behaupten, ich sei ein Spion.
sich viel mehr um ihre Privatsphäre als Snowden: Jeder zeigt gerade mit dem Fin- Stattdessen sagt er, wir können nicht be-
die ältere. Ganz einfach deshalb, weil sie ger auf die Russen. weisen, dass Herr Snowden ein russischer
dauernd Informationen teilt, ganz frei- SPIEGEL: Zu Recht? Agent ist, es gebe eine gewisse „Plausibi-
willig. Snowden: Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich lität“. Das kann man nun wirklich über je-
SPIEGEL: Dennoch schwirren Unmengen an haben die Russen die Computersysteme den sagen. Ich hoffte, dass wir als offene
Daten herum, die sinnvoll gebraucht oder von Hillary Clintons Demokratischer Par- Gesellschaften die Tage hinter uns gelassen
auch missbraucht werden können. tei gehackt, aber bewiesen ist es nicht. Im haben, in denen Geheimagenten ihre Kri-
Snowden: Sie haben schon recht. Ohne dass Fall des Hackerangriffs auf Sony hat das tiker einfach denunzieren konnten. Ich bin
es jemals eine große Debatte darüber gab, FBI Beweise geliefert, dass Nordkorea da- noch nicht mal verärgert, eher enttäuscht.
haben wir erlaubt, dass dieses Universum hintersteckt. Im Fall Clinton hat es keine SPIEGEL: Dennoch fragen sich viele Men-
aus mächtigen Unternehmen eine genaue Beweise vorgelegt, obwohl ich vermute, schen, auch in Deutschland, welche Zuge-
Chronologie unserer privaten dass es sie gibt. Die Frage ist: ständnisse Sie machen mussten, um Russ-
Aktivitäten haben darf. Zu- wieso nicht? lands Gast werden zu können.
gleich sehen wir eine neue SPIEGEL: Haben Sie eine Ant- Snowden: Ich bin froh, dass Sie das fragen.
Verknüpfung von wirtschaft- wort? Es klingt ja auch logisch: Er ist in Russland,
licher Macht und Politik, Snowden: Die NSA weiß wohl dafür muss er etwas verraten haben. Aber
wenn Wirtschaftsführer in die ziemlich genau, wer bei Clin- wenn Sie es genau betrachten, fällt das
Welt hinausgehen und Reden ton die Eindringlinge waren. Argument in sich zusammen. Ich habe
schwingen, zu Wirtschafts- Aber ich vermute, dass sie in jetzt weder Dokumente noch Zugang
und Arbeitsplatzprogrammen den Systemen noch andere dazu. Ich habe die Dokumente Journalis-
oder über die Bildung. Eigent- Angreifer entdeckt hat, da wa- ten übergeben, weshalb mich Chinesen
lich sollten das doch Politiker ren vielleicht sechs oder sie- und Russen auch nicht bedrohen konnten,
diskutieren. ben Gruppen am Werk. Die als ich ihre Grenzen passiert habe. Ich hät-
SPIEGEL: Ist es für Sie akzep- Demokraten sind ein wichti- te ihnen selbst dann nichts geben können,
tabel, wenn Firmen und Re- ges Ziel, und offenbar waren wenn sie mir die Fingernägel rausgerissen
gierungen zusammenarbeiten, um Terror, ihre Sicherheitsvorkehrungen schlecht. hätten.
Kriminalität und Hass zu bekämpfen? Seltsam ist, dass sich die Partei geweigert SPIEGEL: Vielen fällt es trotzdem schwer zu
Snowden: Ein Unternehmen sollte nie den hat, dem FBI ihre E-Mail-Server zu zeigen. glauben, dass die Russen Sie einfach so ins
Auftrag bekommen, die Arbeit einer Re- Ich glaube, es sollte eine ganz bestimmte Land gelassen haben.
gierung zu tun. Beide haben total unter- Geschichte über Russen er- Snowden: Ich weiß. Sie sagen:
schiedliche Ziele. Natürlich können Firmen zählt werden. Putin, der große Humanist,
der Regierung bei Terrorermittlungen hel- SPIEGEL: Kann man Hackeran- wird ihn sicher nicht umsonst
fen, aber nur, wenn es dafür einen richter- griffe überhaupt klar zuord- zu sich geholt haben. Aber
lichen Beschluss gibt. Aber ich fände es ge- nen? Es scheint ziemlich ein- wer so redet, versteht nicht.
fährlich, wenn wir sagten: Hey, Google, du fach zu sein, Zeitstempel zu Denken Sie eine Sekunde
bist jetzt der Sheriff des Internets. Du ent- manipulieren, bestimmte Ser- nach: Ich wollte nach Latein-
scheidest, wo Gesetze gebrochen werden. ver zu nutzen und damit An- amerika, aber die US-Regie-
SPIEGEL: Was gar nicht so weit von der griffe unter falscher Flagge zu rung hat meinen Pass gesperrt,
Wirklichkeit weg ist. starten. deswegen bin ich auf einem
Snowden: Es geht ja noch weiter. Der Grün- Snowden: Solche Manöver un- russischen Flughafen gestran-
der und Chef von Facebook überlegt, sich ter falscher Flagge gibt es, ich det. Der US-Präsident hat täg-
bei der nächsten Wahl als Kandidat für weiß, wie sie funktionieren. lich meine Auslieferung ver-
das US-Präsidentenamt aufstellen zu las- Ich habe damit im Fall von langt. Und jetzt betrachten Sie
sen. Wollen wir zulassen, dass die Firma, China zu tun gehabt. Die Chinesen waren die Situation in Russland, Putins Selbstbild,
die weltweit die größte Präsenz in den so- die üblichen Verdächtigen, als noch keiner sein Image beim russischen Volk. Wie hätte
zialen Medien hat und nun auch klare po- über die Russen sprach. Sie haben sich es wohl gewirkt, wenn er gesagt hätte, oh
litische Ambitionen, darüber entscheidet, auch nicht sonderlich viel Mühe gegeben, ja, hier habt ihr den Kerl? Vielleicht gibt
was eine zulässige politische Rede ist und ihre Spuren zu verwischen. Die zerstörten es auch eine noch einfachere Erklärung,
was nicht? das Schaufenster, schnappten sich alles, vielleicht nutzte der Kreml die seltene Ge-
SPIEGEL: Politische Ambitionen haben auch was sie kriegen konnten, und rannten la- legenheit, einfach mal Nein sagen zu kön-
andere: Wie erklären Sie sich die zuneh- chend davon. Aber selbst sie attackierten nen. Die wirkliche Tragödie ist, dass ich in
menden Einflussversuche von Geheim- nie direkt aus China. Sie kamen über Ser- 21 Ländern, darunter Deutschland und
diensten und Privatakteuren auf demokra- ver in Italien, Afrika oder Südamerika. Frankreich, Asyl beantragt hatte. Und erst
tische Wahlen? Man kann jedoch immer den Spuren fol- nachdem alle abgewinkt hatten, haben die
Snowden: Die hat es immer schon gegeben, gen. Das ist keine Magie. Russen mich behalten. Ich hatte nicht den
sie finden heute nur sehr viel sichtbarer SPIEGEL: Ihnen werden, auch von hochran- Eindruck, dass sie das wollen, und darum
statt. Wir wissen zum Beispiel durch nach- gigen Vertretern des deutschen Staates, gebeten hatte ich schon gar nicht.
träglich freigegebene Dokumente, dass die enge Beziehungen zu den Russen unter- SPIEGEL: Der neue CIA-Chef Mike Pompeo
USA übers ganze letzte Jahrhundert stän- stellt. hat die Plattform WikiLeaks, deren An-
DER SPIEGEL 37 / 2017 41
Deutschland

wälte Ihnen halfen, beschuldigt, ein Werk- heimdienste und Spionage aufgrund seiner SPIEGEL: Glauben Sie daran, jemals nach
zeug der Russen zu sein. Schadet das Geschichte sehr viel weniger liebt. Trotz- Hause zurückkehren zu können?
Ihrem Image? dem hat der NSA-Untersuchungsausschuss Snowden: Ja, natürlich. Wie wahrscheinlich
Snowden: Zunächst mal sollten wir fair fest- zum Thema Massenüberwachung nicht all- das ist, weiß ich nicht. Aber die Vorwürfe
halten, worin die Vorwürfe bestehen. We- zu tief gegraben. Die Regierungsparteien gegen mich, über die Sie sprachen, hört
der die US-Regierung noch die Geheim- taten so, als lasse sich der Vorwurf nicht man mit jedem Jahr immer seltener. Das
dienste behaupten, dass Gründer Julian belegen, obwohl die Beweise dafür nicht heißt, selbst ich darf hoffen.
Assange oder WikiLeaks direkt für die Rus- zu übersehen waren. Sie wollten auch lie- SPIEGEL: Wie genau sieht derzeit Ihr Status
sen arbeiten. Vielmehr sollen sie ein Werk- ber nichts von mir hören. All das zeigt, in Russland aus?
zeug sein, um Dokumente zu waschen, die wie effektiv Geheimdienste ihre Interessen Snowden: Ich habe eine Art permanentes
von den Russen gestohlen wurden. Ich durchsetzen können. Sie haben eine neue Aufenthaltsrecht, ähnlich der Greencard
sehe aber nicht, wieso mich das betreffen Politik der Angst geschaffen. Sie tun das in den USA. Aber es ist kein Asyl, und
sollte, ich bin nicht WikiLeaks, und über sicher nicht böswillig, aber wann immer alle drei Jahre wird es neu überprüft. Es
die Herkunft meiner Dokumente gibt es jemand gegen ihre Überzeugung handelt, gibt keine Garantie. Ich habe mich auf
keinen Zweifel. füttern sie Presse und Öffentlichkeit mit Twitter und anderswo durchaus kritisch
SPIEGEL: Es gibt derzeit einen anderen all den Gefahren, die uns drohen, und so über die russische Regierung geäußert, das
Amerikaner, dem allzu enge Beziehungen werden wir als Gesellschaft terrorisiert. hat mir wohl nicht nur Freunde gebracht.
zu Russland nachgesagt werden. SPIEGEL: Aber die Bedrohung durch den Ich bin deshalb nicht behelligt worden,
Snowden: Oh. (lacht) Terrorismus ist doch echt. aber keine Ahnung, ob das so bleiben
SPIEGEL: Ihr Präsident. Ist er Ihr Präsident? Snowden: Sicher. Terrorismus ist ein reales wird.
Snowden: Mit der Vorstellung, dass die Problem, aber die Zahl der Todesopfer, die SPIEGEL: Im Dokumentarfilm „Citizenfour“
Hälfte der amerikanischen Wähler Donald er außerhalb von Kriegszonen wie Irak über Ihre Geschichte gab es eine nette Sze-
Trump für den Besten unter und Afghanistan fordert, ist ne, in der Sie mit Ihrer Freundin kochen.
uns hielten, habe ich Proble- so viel geringer als etwa die Muss man sich so Ihr Leben vorstellen?
me. Und ich fürchte, wir alle durch Autounfälle oder Herz- Snowden: Sie ist nach wie vor bei mir, ja.
werden damit noch für Jahr- infarkte. Selbst wenn der 11. SPIEGEL: Wie verbringen Sie Ihre Zeit?
zehnte Probleme haben. September 2001 sich jährlich Snowden: Ich reise viel, war kürzlich in
SPIEGEL: Vielleicht hilft er ja in den USA wiederholte, stür- Sankt Petersburg, meine Familie besucht
Ihrer Sache und schadet den ben durch Terrorismus weni- mich ab und an.
US-Geheimdiensten, unab- ger Menschen als durch ande- SPIEGEL: Wie kommen Sie finanziell über
sichtlich. re Vorkommnisse. die Runden?
Snowden: Ich glaube nicht, SPIEGEL: Das kann man nicht Snowden: Ich halte Vorträge, meist an US-
dass ein Präsident allein den vergleichen. Universitäten per Video. Zudem arbeite
Geheimdiensten wirklich Snowden: Ich will nur sagen, ich unentgeltlich für die amerikanische
schaden kann. Die sind im dass Terrorismus das ideale „Freedom of the press“-Stiftung.
Kongress, in den Medien, im Beispiel für eine Kultur der SPIEGEL: Das Thema Überwachung wird
Kulturbetrieb, in Hollywood viel zu gut Angst ist. Die Geheimdienstszene hat ihn Sie wohl nie wieder loslassen.
vertreten. Manche nennen das den tiefen zum Anlass genommen, eine neue Dynamik Snowden: Mein Leben ist Technologie. Ich
Staat. Donald Trump hat mit dem tiefen der Massenüberwachung in Gang zu setzen. bin Ingenieur, nicht Politiker. Vorträge und
Staat nichts zu tun, Donald Trump weiß Und das Tragischste daran ist, dass die Angst Interviews wie dieses sind anstrengend für
nicht mal, was der tiefe Staat ist. Es han- vor Terror sich inzwischen selbst ernährt. mich. Meine Komfortzone ist woanders.
delt sich um eine Kaste von Regierungsof- Sie hat uns dahin geführt, wo wir heute ste- SPIEGEL: Fürchten Sie sich vor dem Mo-
fiziellen, die noch jeden Präsidenten über- hen. Wie sonst soll man Trump erklären ment, wenn die weltweite Aufmerksam-
lebt haben. denn als ein Systemversagen der Vernunft. keit für Sie nachlassen wird?
SPIEGEL: Das klingt jetzt nach einer Ver- Ähnliche Dinge passieren in Ungarn oder Snowden: Ich? Ich werde es lieben!
schwörungstheorie. Polen mit ihren autoritären Führern. Überall SPIEGEL: Aufmerksamkeit kann eine Droge
Snowden: Ich wünschte, es wäre eine. herrscht eine Atmosphäre der Angst, und sein.
Schauen Sie auf Barack Obama, in ihm sa- das wird sich nicht ändern, wenn wir als Öf- Snowden: Für andere vielleicht. Sie müssen
hen die Menschen einen aufrechten Mann, fentlichkeit nicht lernen, Angstmacherei als verstehen, dass mein Leben völlig von
der Guantanamo schließen, Massenüber- das zu erkennen, was sie ist. Wir müssen Sehnsucht nach Privatheit bestimmt wird.
wachung beenden, die Verbrechen der Angst aufessen und in eine Energie umwan- Das Schlimmste für mich ist, beim Einkau-
Bush-Ära aufklären und noch viele andere deln, die eine Gesellschaft besser macht und fen von jemandem erkannt zu werden.
Dinge tun wollte. Und binnen 100 Tagen nicht terrorisiert und schwächt. Aber nicht SPIEGEL: Kommt das vor?
im Amt nahm er diese Versprechen zurück mal Obama konnte das. Snowden: Kürzlich erst. Ich war in der Tret-
mit der Begründung: Wir schauen nach SPIEGEL: Obama hat immerhin Chelsea jakow-Galerie, als eine junge Frau auf
vorn, nicht zurück. Der tiefe Staat mag Manning begnadigt, die Whistleblowerin, mich zukam und sagte: „Sie sind Snow-
Präsidenten nicht wählen können, aber er die US-Dokumente wie die Botschaftsde- den.“ Ich glaube, sie war Deutsche. Ich
kann sie mit denselben Mitteln beeinflus- peschen WikiLeaks übergeben hatte. habe bejaht, sie machte ein Selfie von uns.
sen wie uns alle. Snowden: Und dafür applaudiere ich ihm. Und wissen Sie was? Sie hat es nicht ins
SPIEGEL: Welche Mittel? SPIEGEL: Hatten Sie auf einen ähnlichen Internet gestellt.
Snowden: Angst. Warum wohl werden all Gnadenakt gehofft? SPIEGEL: Herr Snowden, wir danken Ihnen
die Antiterrorgesetze stets ohne vernünf- Snowden: Das war nie wahrscheinlich. Oba- für dieses Gespräch.
tige Debatte durchgedrückt? Warum ha- ma hat diese Enthüllungen als persönliche
ben wir einen nicht endenden Ausnahme- Beleidigung betrachtet, weil er der war, Video: Interview mit einem
zustand sogar in liberalen Staaten wie der dafür verantwortlich gemacht wurde. Phantom
Frankreich? Man kann die Dynamik auch Er hat es als Attacke auf seinen Nachruhm spiegel.de/sp372017snowden
in Deutschland beobachten, das seine Ge- begriffen, was ziemlich traurig ist. oder in der App DER SPIEGEL

42 DER SPIEGEL 37 / 2017


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KAY NIETFELD / PICTURE ALLIANCE / DPA
CDU-Politiker de Maizière, GSG-9-Polizisten: „Ich bin mit meinem Job sehr zufrieden“

Helm auf,
Fall der klassische Polizeiminister sein, mit Bayern wehren wollte er sich aber nicht.
Helm auf dem Kopf und Knüppel in der Noch vor wenigen Jahren als Nachfolger
Hand wie einst Otto Schily. Er wollte sein der Kanzlerin gehandelt, schien er zur

Knüppel raus
Ressort in ein Ministerium für gesellschaft- „lame duck“ zu werden, zur lahmen Ente.
lichen Zusammenhalt verwandeln, eine Doch in den Wochen vor der Wahl ent-
Art Oberbehörde für den inneren Frieden. wickelt de Maizière neuen Kampfeswillen.
Nun nimmt er die Rolle ein, die sich die Seine Botschaft: So einfach lasse ich mich
Sicherheit Die CSU möchte nach Konservativen in der Union schon lange nicht zur Seite schieben.
von ihm wünschen: des kompromisslosen De Maizière tritt nun so auf, wie er frü-
der Wahl den Innenminister stellen. Kämpfers gegen die Bösewichte und Schur- her nie sein wollte. Er sucht nicht den Frie-
Doch ohne Gegenwehr will sich ken. Die Rolle des schwarzen Sheriffs. den, sondern die Polarisierung.
Im Wahlkampf gilt für de Maizière nur Der alte de Maizière kochte Konflikte
CDU-Mann Thomas de Maizière noch eine Devise: Sicherheit, Sicherheit, lieber runter, statt sie anzuheizen, er hasste
nicht beiseitedrängen lassen. Sicherheit. Er ist dabei in doppelter Mis- das Gequatsche in Talkshows und das Zu-
sion unterwegs. Zum einen soll er für die gespitze in Schlagzeilen. Der neue de Mai-

D
er Lärmpegel ist unerträglich. Vorn Union die rechte Flanke abdecken, um die zière legt sich mit Datenschützern an, die
auf der Bühne versuchen vier AfD kleinzuhalten. Gleichzeitig kämpft er seine Videoüberwachungspläne kritisieren,
Chefs von Sicherheitsbehörden, noch um etwas anderes: um seine eigene und mit Flüchtlingsaktivisten, die Men-
ernste Botschaften loszuwerden, aber hin- Zukunft. schen aus dem Mittelmeer ziehen. Linke,
ten stehen die Gäste schon am Bieraus- Die vergangenen beiden Jahre waren Liberale und Grüne schäumen, aber den
schank und quatschen. Noch nicht mal hart für de Maizière, auch körperlich, eine Konservativen in der Union gefällt der
dem obersten Bundespolizisten des Landes verschleppte Bronchitis setzte ihm lange Kursschwenk.
gelingt es, für Ruhe in der Großen Oran- zu. Zuerst kam die Flüchtlingskrise, in der Seit den Ausschreitungen beim G-20-
gerie im Schloss Charlottenburg zu sorgen. er hin- und hergerissen war zwischen sei- Gipfel in Hamburg bekämpft er mit
Dann tritt Thomas de Maizière vor die ner Loyalität zur Kanzlerin und den War- großer Verve den Linksextremismus. Er
Deutschlandfahne – und es passiert etwas nungen seiner Sicherheitsbeamten. Dann verbot Linksunten.indymedia, eine Art
Überraschendes. Der Bundesinnenminis- kamen die Anschläge von Würzburg, Mün- Zentralorgan der autonomen Szene im
ter spricht doppelt so laut wie die harten chen, Ansbach und Berlin. Internet. Linke Gewalttäter bezeichnete
Männer vor ihm. Und endlich herrscht Stil- De Maizière wirkte oft wie ein Getrie- er als „kriminelle Chaoten“, sie seien ge-
le. De Maizière verkündet, wie viele Tau- bener. Ihm unterliefen Patzer, die einem nauso schlimm wie Neonazis und islamis-
send neue Beamte die Polizei und die Ge- wie ihm nicht unterlaufen dürfen. In Erin- tische Terroristen.
heimdienste erhalten. Die Behördenchefs nerung blieb seine Antwort auf die Frage, De Maizière weiß, dass er nach rechts
stehen neben ihm, aufgereiht wie Minis- warum ein Fußballländerspiel abgesagt gerückt ist. Aber das ganze Land sei nun
tranten, und nicken dankend. werden musste: „Ein Teil dieser Antworten mal nach rechts gerückt, sagt er am Rande
Thomas de Maizière hat in den Wochen würde die Bevölkerung verunsichern.“ einer Veranstaltung. Die Lage habe sich
vor der Wahl ständig solche Termine. Er Als de Maizière sich berappelte, posi- geändert. Und er sich mit ihr.
ernennt in Lübeck 245 neue Kommissare tionierte die CSU bereits schamlos ihren Am Dienstagabend hat de Maizière
und tritt in Tübingen beim „Blaulicht-Gip- eigenen Mann als möglichen Nachfolger einen prominenten Wahlkampfhelfer in
fel“ auf. Er besucht Sondereinheiten der im Amt, Joachim Herrmann. Er soll Horst seinen sächsischen Wahlkreis eingela-
Polizei, begutachtet Bombenentschärfungs- Seehofers Garant für Sicherheit und Ord- den, den scheidenden CDU-Abgeordne-
roboter und lässt sich mit schwer bewaff- nung in Berlin sein, seine fleischgeworde- ten Wolfgang Bosbach. Der hatte in der
neten Beamten der Eliteeinheit GSG 9 fo- ne Versicherung, dass sich der Herbst Flüchtlingskrise keinen Hehl daraus ge-
tografieren. Auf seinem Wahlkampf-Flyer 2015 nicht noch mal wiederholt, als Wo- macht, dass er den Kurs der Kanzlerin für
steht: „Mehr Polizei, besserer Schutz und che für Woche Zehntausende über die falsch hielt. Das kommt gut an im Osten.
härtere Strafen“. Grenze kamen. Im Zentralgasthof in Weinböhla, in der
Als de Maizière 2009 zum ersten Mal De Maizière hielt das Manöver der CSU Nähe von Meißen, wird Bosbach begrüßt
Innenminister wurde, wollte er auf keinen für schlechten Stil. Öffentlich gegen die wie ein Popstar. Schon vor dem Auftritt
44 DER SPIEGEL 37 / 2017
Deutschland

will eine Frau ein Selfie mit ihm. De Mai- gen will. Und nicht alle sind überzeugt, De Maizière würde gern als Innenmi-
zière bestellt sich beim Warten Wiener dass der bayerische Landesminister Herr- nister weitermachen, heißt es in seinem
Würstchen mit Toastbrot für 3,50 Euro, mann das Format zum Bundesminister hat. Umfeld. Doch wahrscheinlich ist das
ganz bodenständig. An der Aufgabe sei schon mal ein CSU- nicht. Zu sehr hat Seehofer schon Herr-
Der Abend läuft gut, für beide. Bosbach Mann gescheitert, lästern sie: Hans-Peter mann in Position gebracht, als dass
mischt Späßchen mit markigen Sprüchen Friedrich, der als Innenminister eine Fehl- die CSU ohne Autoritätsverlust zurück-
und erhält stürmischen Applaus. Man müs- besetzung war. ziehen könnte. Zumindest aber treibe
se „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ So liefern sich de Maizière und Herr- de Maizière mit seinem Einsatz den Preis
sagen dürfen, ohne in die rechtsradikale mann nun ein seltsames Fernduell. Es ist hoch, wie ein Unionsmann sagt. Er will
Ecke gestellt zu werden, befindet er. Da ein bisschen wie bei Hase und Igel: De auf jeden Fall ein Spitzenamt für sich
klatscht auch de Maizière. Im Gegenzug Maizière hat einen Termin zum Thema reklamieren.
lobt Bosbach den Innenminister. Beson- Videoüberwachung – in derselben Woche Eine mögliche Variante lautet: Er könn-
ders gefällt ihm die Leitkulturdebatte, die hat auch Herrmann einen Termin zum The- te im nächsten Kabinett Finanzminister
de Maizière vor wenigen Monaten über ma Videoüberwachung. Herrmann tritt auf werden, falls Wolfgang Schäuble Bundes-
die „Bild am Sonntag“ angestoßen hat. einem Bierfest in Mönchengladbach auf – tagspräsident wird. De Maizière hatte das
„Wir sind nicht Burka“ lautete die Titelzei- kurz danach spricht auch de Maizière in Amt schon mal kurz in Sachsen inne, und
le. So viel Populismus hatte man ihm gar der Region in einer Brauerei. Und natür- als Schäuble während der Eurokrise ins
nicht zugetraut. lich tauchte Herrmann auch auf dem Krankenhaus musste, war er es, der ihn in
Als Verteidigungsminister führte de Mai- Herbstempfang der Sicherheitsbehörden Brüssel vertrat.
zière einen neuen Bundeswehrslogan ein: im Schloss Charlottenburg auf, den de Mai- Viele in der Union glauben, dass Tho-
„Wir. Dienen. Deutschland.“ Neuerdings zière eröffnete. mas de Maizière auch selbst die Nachfolge
benutzt er häufiger auch mal das Wort Anfang September sitzen die beiden ge- von Norbert Lammert als Bundestagsprä-
„ich“. Als er kürzlich am Tag der offenen meinsam auf einer Pressekonferenz, nach sident antreten könnte. Es wäre eine schrä-
Tür auf Bürger traf, sagte de Maizière: „Ich einem Treffen aller Innen- und Justizmi- ge Pointe: Nach einem harten Wahlkampf
bin im Großen und Ganzen mit meinem nister der Union in Berlin. De Maizière würde er ein weiches Amt bekommen. Er
Job sehr zufrieden.“ spricht als Erster, Herrmann liest während- könnte dann viel vom gesellschaftlichen
In der CDU wird sein neues Selbstbe- dessen in der „Frankfurter Allgemeinen“. Zusammenhalt reden und vom inneren
wusstsein mit Wohlwollen quittiert. Par- Der Bayer bekommt das letzte Wort, nach Frieden. So wie er es sich einst als Innen-
teifreunde finden es unanständig, wie ihn fünf Vorrednern. Es ist eigentlich schon al- minister vorgenommen hatte.
die CSU schon vor der Wahl beiseitedrän- les gesagt. Aber eben noch nicht von ihm. Wolf Wiedmann-Schmidt

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Deutschland

Versteckte Kameras
Strafjustiz Ein beliebter SPD-Politiker ist wegen Besitzes von Kinderpornografie und
sexuellen Missbrauchs angeklagt. Die Geschichte eines Abstiegs.

entdeckt die Kamera, weil ein Kontrolllicht


des Geräts blinkt. Sie stutzt, wird wütend,
zieht die Speicherkarte aus der Kamera.
Es kommt zum Streit, auch zu einem Ge-
rangel, eine Kollegin der Prostituierten eilt
zu Hilfe, sie drohen mit der Polizei.
Da flieht Förster. Ohne die Speicher-
karte.
Ihm muss in dem Moment klar sein:
Wenn er nicht sofort handelt, daheim all
die Dateien auf seinen Festplatten löscht,
dann kann es gefährlich werden für ihn.
Doch sein Selbstschutzmechanismus funk-
tioniert nicht. Er unternimmt nichts.
Die Prostituierte bringt derweil den
Chip zur Polizei und erstattet Anzeige
wegen Körperverletzung und Verstoßes
gegen Persönlichkeitsrechte. Bei der Aus-
wertung der Speicherkarte stoßen die Er-
MATTHIAS BALK / PICTURE ALLIANCE / DPA

mittler nicht nur auf das Video mit der


Prostituierten, sondern auch noch auf zwei
weitere Sequenzen. Sie zeigen sexuelle
Handlungen an Frauen, die offensichtlich
ohne deren Einverständnis gefilmt wurden.
Und sie zeigen das Gesicht des Täters.
Die Beamten stellen ein Porträtfoto des
Mannes ins Internetforum des Polizeiprä-
Landtagsabgeordneter Förster 2016: „Durchs Leben getobt wie eine ungezähmte Wildsau“ sidiums Schwaben. Wenige Wochen später
meldet sich eine Polizeioberkommissarin:

A
ls absehbar ist, dass er sein Leben abstürzen? Wie kann ein Mann, der als Sie kennt den Täter. Denn Linus Förster
ruiniert hat, macht der Mann – Mitglied zweier Bands von manchen Frau- war mal ihr Freund. Fast acht Jahre lang
nichts. Er löscht keine seiner Fest- en angehimmelt wurde, jahrelang seine waren die beiden ein Paar.
platten, lässt den Computer nicht ver- dunkle Seite perfekt verbergen? Als die Ermittler auf ihn zukommen,
schwinden. Deshalb können die Ermittler Der Abstieg des Linus Förster ist die Ge- verhält Förster sich kooperativ. Die Beam-
dann alles finden: die Bilder geschändeter schichte eines Mannes, der wusste, was er ten durchsuchen seine Privatwohnung in
Kinder und die heimlich gedrehten Filme, tat, und doch seinen Trieb nicht beherr- Augsburg und finden in jedem Zimmer
die ihn beim Sex mit Frauen und in einem schen konnte. Es ist die Geschichte eines eine versteckte Kamera. Sie durchsuchen
Fall beim Missbrauch einer Frau zeigen. selbstverliebten Menschen, der offenbar auch sein Büro in der Augsburger SPD-
Am 18. September beginnt vor dem irgendwann süchtig wurde nach einer per- Zentrale und das im Bayerischen Landtag:
Augsburger Landgericht die Hauptver- versen Art der Selbstbestätigung und keine alles penibel aufgeräumt, Förster scheint
handlung gegen Linus Förster, 52, einen Skrupel mehr zeigte. ein sehr ordentlicher Mensch zu sein. Die
ehemaligen Landtagsabgeordneten der Die Staatsanwaltschaft wirft Linus Förs- Ermittler wundern sich, dass er genauso
bayerischen SPD. Er ist angeklagt wegen ter vor, wehrlose, widerstandsunfähige penibel auch all die üblen Dateien und
des Verdachts des schweren sexuellen Miss- Frauen sexuell missbraucht und dabei zum Ordner sortiert hatte, die ihn in den Ab-
brauchs widerstandsunfähiger Personen, Teil mit einer versteckt installierten Ka- grund stürzen sollten.
des Besitzes von kinderpornografischen mera gefilmt zu haben. Manche von ihnen Die Ermittlungen werden in Försters
Schriften, der Verletzung des höchstper- hatten auch freiwillig Geschlechtsverkehr Umfeld bekannt, man tuschelt über miss-
sönlichen Lebensbereichs durch Bildauf- mit ihm, manche konnten sich nicht wi- brauchte Frauen, Videos, versteckte Ka-
nahmen, der vorsätzlichen Körperverlet- dersetzen, weil sie zu betrunken waren. meras. Seine Freunde fragen ihn: Ist da
zung und der versuchten Nötigung. Auf Videos ist zu sehen, dass eine Frau noch mehr? Hast du noch mehr Geheim-
Förster ist von allen Ämtern zurückge- apathisch war, weil sie Schlafmittel genom- nisse?
treten, er hat die SPD verlassen, er sitzt men hatte und sich nicht wehren konnte. Förster verneint.
seit Dezember in Untersuchungshaft. Er Laut Anklage soll Förster zum Teil Zusam- Wenig später kommt doch etwas. Die
ist erledigt. Beruflich, privat. Egal wie die menschnitte seiner Videos erstellt haben, Freunde sagen, dass es schlimmer sei, als
Strafkammer urteilen wird: Gesellschaft- er nannte solche Dateien dann „Movie“. sie sich hätten vorstellen können. Wochen-
lich dürfte er wohl nie wieder Fuß fassen. Linus Förster fliegt auf, als er im Sep- lang werteten die Fahnder aus, was sie bei
Wie kann ein Mann wie Linus Förster, tember vergangenen Jahres heimlich den Förster beschlagnahmt hatten, darunter
der in seiner Partei so angesehen, in sei- Akt mit einer Prostituierten in deren eine selbst gebrannte CD mit der Auf-
nem Freundeskreis so beliebt war, derart Etablissement filmen will. Aber die Frau schrift „Erotic Met Art 15 Peter Safty!“,
46 DER SPIEGEL 37 / 2017
sieben externe Festplatten, zwei Server- Vielleicht ließ er sich deshalb auch
festplatten. Auf ihnen sind auch 814 kin- „Linus“ nennen, obwohl er in Wahrheit Meine Branche: speziell.
derpornografische Fotos sowie 524 kin- „Heinrich“ heißt.
derpornografische Videodateien gespei- Jene, die ihn nicht leiden konnten, läs- Meine kaufmännischen Prozesse:
chert. terten über den „Möchtegern-Sonnyboy“.
Förster hat diese Bilder offenbar nicht Aber viele mochten ihn, seine Art zu be-
weiterverbreitet, sie nicht mit anderen aus- geistern, zu motivieren. Er kam über Par- individuell.
getauscht; aber allein durch die Anzahl teigrenzen hinweg mit vielen klar, vermit-
könne man ihn „rechtlich zukleistern“, telte, glich aus. Mit Software von DATEV.
sagt ein Strafrechtler. Förster müsse mit Förster saß gern mit anderen am Lager-
einer längeren Haftstrafe rechnen. feuer, sang und spielte Gitarre, oder kochte
Linus Förster will vor Gericht ein Ge- gemeinsam mit Freunden in großer Runde.
ständnis ablegen. Er will versuchen, Erklä- Er war für viele Partys ein Gewinn, ein
rungen zu geben. „Er sucht keine Ausflüch- amüsanter Entertainer. Er stand oft im
te“, sagt sein Verteidiger Walter Rubach. Mittelpunkt und genoss es. Viele Frauen
Der Fall sei „atypisch“. Mehr will der fanden ihn hinreißend, manche erlagen
Rechtsanwalt vor Prozessbeginn nicht seinem Charme komplett. Wenn er mit sei-
sagen. nen Bands „Hopfenstrudel“ oder „Real
Försters Umfeld ist schockiert, viele Be- Deal“ auf der Bühne stand, die Gitarre
kannte und Parteikollegen haben sich ab- um den Hals, jubelten sie ihm zu. Und war-
gewandt. Seine Familie, seine engsten teten dann auf ihn im Backstagebereich.
Freunde würden ihn gern verstehen, tun „Der ist durchs Leben getobt wie eine
es aber nicht. Manche besuchen ihn in der ungezähmte Wildsau“, sagt einer, der
Haft. Er schreibt einmal im Monat einen Förster gut kennt. Das gelte vor allem für
Rundbrief an alle und einmal im Monat Försters Privatleben, er soll oft mit zwei,
jedem Einzelnen. drei Frauen gleichzeitig Liebschaften un-
Der Vorwurf, er habe sich an Bildern von terhalten haben. Er liebte lockere Bezie-
Kindern ergötzt, wiegt am schwersten – für hungen und scheute offenbar Verpflichtun-
ihn, für seine Lebensgefährtin, für all jene, gen. Nur selten hatte er eine feste Partner-
die ihn seit Jahrzehnten kennen. schaft wie mit der Polizistin.
Linus Förster wuchs als jüngstes von drei Einige Freunde zogen ihn mit seinen
Geschwistern auf. Der Vater, ein Polizei- Frauengeschichten auf – und warnten
beamter, engagierte sich im Personalrat, ihn: „Irgendwann fliegt’s dir noch um die
in der Gewerkschaft und als Jugendbeam- Ohren!“
ter. Linus Förster bewunderte ihn, eiferte Doch mit heimlich gedrehten Filmen ha-
ihm nach. Gerade volljährig wurde er ben sie nicht gerechnet. Förster hat auch
selbst Mitglied der SPD, mit 23 hatte er es, die Videos weder weiterverbreitet noch
herumgezeigt, was juristisch schwerer wie-
Dass nur er älter wurde, gen würde. Er hat sie gesammelt, wie an-
dere Briefmarken oder Schmetterlinge
seine Freundinnen aber sammeln.
stets jung waren, ließ War er stolz darauf? Brauchte er das,
um sein Ego zu stabilisieren?
man ihm durchgehen. Die Polizei verhaftete Linus Förster in
einer psychosomatischen Klinik in Bad
wie einst sein Vater, zum Vorsitzenden des Griesbach bei Passau. Es war nicht das erste
Stadtjugendrings Augsburg gebracht. Linus Mal, dass er in einer Therapieeinrichtung
Förster war auf dieses Ehrenamt besonders Hilfe suchte. Förster kannte sein Problem.
stolz. Er wusste, dass er Grenzen überschritt.
Förster studierte Politikwissenschaft und Bekannte hatten ihm seit Jahren gesagt, Wenn es um Ihre Branche geht, dann sind Sie Experte.
Volkswirtschaft, promovierte, arbeitete als er müsse sich seinen Ängsten stellen: der
Auch für Ihre Lohn- und Gehaltsabrechnung oder für die
Unternehmensberater und als wissen- Angst vorm Altwerden, der Angst vor
schaftlicher Mitarbeiter an der Universität einer festen Bindung. Dass nur er älter Finanzbuchführung gibt es ausgewiesene Spezialisten:
Augsburg. 2003 zog er als Abgeordneter wurde, seine Freundinnen aber stets jung Ihr Steuerberater und die kaufmännische Software von
in den Bayerischen Landtag ein. Ab 2005 waren, ließ man ihm durchgehen. „Doch DATEV gestalten individuelle Unternehmensprozesse
gehörte er zum Landesvorstand und Prä- es waren trotzdem immer erwachsene einfach und zuverlässig.
sidium der Bayern-SPD, 2014 wurde er Be- Frauen!“, sagt ein Freund fast verzweifelt.
zirksvorsitzender in Schwaben. Warum aber die Kinderpornografie?
Seine Parteikollegen schätzten Förster, Dass Förster am Ende nicht versucht Mehr Infos unter 0800 1001116
den Berufsjugendlichen, wie manche ihn hat, die Beweise zu löschen, tröstet den
nannten. Er pflegte ein betont lässiges Auf- Freund. „Jeder rational Handelnde hätte oder auf www.datev.de/meinebranche
treten, eine unkomplizierte Art. Einmal all das kompromittierende Zeug zunich-
riet ihm ein Parteifreund, doch endlich er- tegemacht“, sagt er.
wachsen zu werden, ein bisschen seriöser Als wäre alles nur halb so schlimm,
aufzutreten. Aber Förster hielt das für spie- wenn sein Freund verrückt wäre.
ßig, er wollte unkonventionell bleiben, an- Julia Jüttner
ders als all die anderen. Mail: [email protected]

DER SPIEGEL 37 / 2017 47


WAHL 2017

Die Fernseh-Wende
Außenpolitik Im Streit um die neue Türkeipolitik der Großen Koalition wird der Ton
zwischen Union und SPD rauer. In Europa ist die Bundesregierung isoliert.

E
s kommt nicht oft vor, dass Angela keipolitik ist nicht durchdacht, sie droht Regierungsparteien, zunächst nur die Her-
Merkel auf dem falschen Fuß er- Deutschland in Europa zu isolieren und mes-Exportbürgschaften zu überprüfen,
wischt wird. Was passiert, wenn es bringt SPD wie Union in Erklärungsnot. die Reisehinweise zu verschärfen und sich
doch einmal passiert, konnten am Sonntag Schließlich haben beide Kandidaten bis- in der EU für eine Kürzung jener Zahlun-
16 Millionen Zuschauer am Fernsehschirm lang einen anderen Kurs verfochten. gen an die Türkei einzusetzen, die unter
verfolgen. So hatte sich die Kanzlerin zwar vor Jah- dem bürokratischen Titel „Vorbeitrittshil-
Es war in Minute 27 des müde dahin- ren gegen eine EU-Aufnahme der Türkei fen“ geführt werden.
plätschernden TV-Duells, als SPD-Kanz- ausgesprochen, als Regierungschefin in Die deutsche Linie hat sich nun inner-
lerkandidat Martin Schulz eine überra- Brüssel aber nie etwas unternommen, um halb weniger TV-Minuten geändert, und
schende Ankündigung machte. Wenn er diese Position durchzusetzen. Im Gegen- die Befürworter eines harten Schnitts mit
Bundeskanzler werde, so stellte er den teil: Bis zuletzt hatte sie darauf beharrt, Ankara erhalten Auftrieb. „Nachdem die
Wählern in Aussicht, werde er „die Bei- die Beitrittgespräche fortzuführen. SPD ihre Position verändert hat, ist klar,
trittsverhandlungen der Türkei mit der Eu- Schulz und Gabriel galten in der Frage dass es keine Mitgliedschaft der Türkei in
ropäischen Union abbrechen“. bislang sogar als Überzeugungstäter. der EU geben kann“, sagt der CSU-Politi-
Rums, das war ein Kracher, der Merkel Schließlich waren es die Genossen, die ker Manfred Weber, Chef der konservati-
derart aus der Fassung brachte, dass sie trotz erheblicher Rückschritte in der Tür- ven EVP-Fraktion im EU-Parlament. „Ich
sich bei ihrem Konter nicht anders zu hel- kei die von SPD-Kanzler Gerhard Schrö- erwarte, dass die Bundesregierung beim
fen wusste, als sich auf Schulz’ Partei- der durchgesetzten Verhandlungen bislang nächsten EU-Gipfel im Oktober sich dafür
freund Sigmar Gabriel zu berufen. Der sei nie infrage gestellt haben. starkmachen wird, die Beitrittsverhandlun-
doch in einem gemeinsamen Gespräch am Und: An ihrer Linie hielten Union wie gen zu stoppen.“
Freitag noch der Auffassung gewesen, die SPD sogar fest, als sich das Verhältnis zwi- Tatsächlich hat die Bundesregierung be-
Türkeiverhandlungen nicht abzubrechen, schen Ankara und Berlin zuletzt drama- reits in Brüssel beantragt, das Thema auf
wandte sie ein – nur um kurz darauf die tisch verschlechterte. Nachdem die Jour- die Tagesordnung des nächsten Gipfels zu
SPD-Position zu übernehmen. Nach der nalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu so- setzen. Doch Berlins Chancen stehen
Wahl, so kündigte sie an, werde sie mit wie einige Monate später der Menschen- schlecht. Ein Großteil der EU-Partner lehnt
den anderen Staats- und Regierungschefs rechtler Peter Steudtner verhaftet worden es strikt ab, die Gespräche zu beenden.
der EU reden, „ob wir diese Beitrittsver- waren, diskutierte die Bundesregierung Darauf bekamen die Deutschen einen
handlungen beenden können“. Mitte Juli über Gegenmaßnahmen. Auch Vorgeschmack, als sich am Dienstag ver-
Es war die wichtigste Nachricht des ein Abbruch der Beitrittsgespräche wurde gangener Woche die sicherheitspolitischen
Abends und zugleich ein Anschauungs- damals erwogen, doch es waren vor allem EU-Botschafter in Brüssel trafen. Gleich
unterricht in spontaner Politik, die kein Merkels Leute, die einen solchen Schritt mehrere Ländervertreter meldeten sich zu
gutes Licht auf beide Kandidaten wirft. ablehnten. Stattdessen einigten sich die Wort und betonten, ein Ende der Verhand-
Dass ein TV-Studio wohl kaum der richtige lungen sei mit ihren Regierungen nicht zu
Ort ist, um eine neue Regierungslinie in machen. Selbst Griechenland, kein Freund
der Außenpolitik festzulegen, räumten am der Türken, sprach sich gegen einen Ab-
Tag danach selbst Koalitionsvertreter ein. Ein TV-Studio bruch der Gespräche aus. Hauptargument:
Doch nun kommt auch noch der Ver-
dacht auf, dass die Fernsehzuschauer über
ist kaum der richtige Es gibt eine Zeit nach Erdoğan, dafür müss-
ten die Gesprächsfäden erhalten bleiben.
das Zustandekommen des Beschlusses Ort, um eine Ein ähnliches Bild bot sich beim informel-
falsch informiert worden sind. Es habe, an- neue Regierungslinie len Treffen der Außenminister am Don-
ders als Merkel behauptet, kein Gespräch nerstag in Tallinn.
zwischen ihr und Gabriel über das Bei- festzulegen. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, der
trittsthema gegeben, heißt es in der SPD. Türkei auch abseits des vielschichtigen Bei-
Merkels Sprecher Steffen Seibert wollte trittsthemas deutliche Warnzeichen zu set-
das auf Nachfrage weder bestätigen noch zen, vor allem bei Wirtschaftsfragen. Mil-
dementieren. Die Aussage der Kanzlerin lionen Türken haben Erdoğan nicht wegen
im TV-Duell stehe für sich, teilte Seibert seiner nationalistischen Agenda oder sei-
mit. „Wir berichten grundsätzlich nicht aus ner islamistischen Parolen gewählt, son-
vertraulichen Gesprächen“, so der Regie- dern wegen des Versprechens auf Wohl-
rungssprecher. Dabei hatte seine Chefin stand.
im TV-Duell ja selbst aus einem vertrau- Zu Beginn von Erdoğans Amtszeit ist
lichen Gespräch berichtet. das türkische Bruttoinlandsprodukt zum
WDR / ARD / GETTY IMAGES

Jetzt steht Aussage gegen Aussage, ein Teil um bis zu zehn Prozent jährlich gestie-
mehr als peinlicher Vorgang für die Bun- gen. Inzwischen ist die Konjunktur ins Sto-
desregierung. Und Merkel wie Schulz müs- cken geraten. Die Arbeitslosigkeit ist auf
sen sich vorwerfen lassen, mit ihrer frag- ein Sieben-Jahres-Hoch geklettert, die Lira
würdigen Form von TV-Regierung vor al- ist so schwach wie seit 1981 nicht mehr. Als
lem Ankaras Alleinherrscher Recep Tayyip nach dem TV-Duell deutlich wurde, dass
Erdoğan zu nutzen. Die neue deutsche Tür- Kanzlerin Merkel, Kontrahent Schulz die EU ihren Wirtschaftskurs gegen die Tür-
48 DER SPIEGEL 37 / 2017
ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Machthaber Erdoğan, Ehefrau vor dem Präsidentenpalast in Ankara: „Die Türkei entfernt sich mit Riesenschritten von Europa“

kei weiter verschärfen könnte, fiel die Tür- Der Parlamentsvorschlag hätte zudem aller EU-Beitrittskandidaten (neben der
kische Lira um 0,4 Prozent, der Leitindex den Charme, dass im EU-Rat für einen sol- Türkei also etwa Serbien und Montenegro)
der Istanbuler Börse verlor an Wert. chen Schritt keine Einstimmigkeit, sondern auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit und
Bei einem Abbruch der Beitrittsverhand- nur eine qualifizierte Mehrheit nötig wäre. Menschenrechte. Die Ergebnisse sollen An-
lungen würden die Europäer dagegen ris- Es müssten also mindestens 16 von 28 Mit- fang 2018 vorliegen, wer, wie wohl die Tür-
kieren, die Türkei über Erdoğans Amtszeit gliedstaaten zustimmen, so sehen es die kei, ein schlechtes Ergebnis bekommt,
hinaus als Bündnispartner zu verlieren. Ein Verhandlungsleitlinien aus dem Jahr 2005 droht Geld zu verlieren, bis zu 20 Prozent
Stopp der Beitrittsgespräche ist nahezu un- vor. Reizvoll ist eine Suspendierung auch der Finanzhilfen können dann umgeleitet
umkehrbar. Die Türkei dürfte noch weiter deshalb, weil dann die entsprechenden werden, immerhin ein dreistelliger Millio-
in Richtung Russland oder China abdriften. Türkeihilfen erst mal gestoppt werden nenbetrag.
Das Europaparlament hat deshalb im könnten. Jedenfalls so weit, wie sie noch Die Schwierigkeiten im Umgang mit der
Sommer für einen Mittelweg plädiert: Die nicht vertraglich für bestimmte Projekte Türkei bekommt auch Jean-Claude Jun-
EU sollte die Verhandlungen mit der Tür- zugesagt sind. Bislang ist das nur bei rund cker zu spüren, der EU-Kommissionschef.
kei nicht aufkündigen, sondern suspendie- 250 Millionen von 4,5 Milliarden Euro bis Juncker kennt Erdoğan lange und persön-
ren, forderten die Abgeordneten. Auf diese 2020 der Fall. Immerhin, so sagen Diplo- lich, er ist enttäuscht über die Eskalation
Weise würden die Europäer ein starkes maten: „Wir hätten einen Hebel.“ der vergangenen Monate. Vor den EU-Bot-
Zeichen sowohl an die türkische Regierung Das würde zum Ziel passen, das Beamte schaftern machte er vorige Woche seiner
als auch an Investoren senden, dass Er- im Kanzleramt im Gespräch mit ihren Enttäuschung Luft. „Die Türkei entfernt
doğans Provokationen nicht ohne Konse- Brüsseler Kommissionskollegen so um- sich mit Riesenschritten von Europa“, sag-
quenzen bleiben. schrieben haben: Wir wollen Erdoğan wirt- te er, den Türken müsse klar sein, dass das
Gelder aus Brüssel an die Türkei könn- schaftlich treffen, aber nicht auf Dauer die „System Erdoğan“ einen EU-Beitritt un-
ten erheblich gekürzt werden. Und doch Türkei verlieren. möglich mache.
könnte die EU den Dialog mit der Türkei Entsprechend setzt Brüssel nun vor al- Von einem Abbruch der Verhandlungen
wiederaufnehmen, sollte Erdoğan irgend- lem auf kleinere Nadelstiche. So überprü- sprach er ausdrücklich nicht.
wann einmal nicht mehr an der Macht sein. fen EU-Spezialisten derzeit die Fortschritte Peter Müller, Maximilian Popp, Christoph Schult

DER SPIEGEL 37 / 2017 49


Deutschland

„Merkel ist ein Kontrollfreak“


SPIEGEL-Gespräch Konrad R. Müller, 77, hat alle Kanzler der Bundesrepublik fotografiert.
Ein Gespräch über die Macht von Bildern und Martin Schulz als Mona Lisa.

SPIEGEL: Herr Müller, wir würden mit Ihnen Müller: Es gab einen mehrstündigen Disput
gern über Bilder aus dem Wahlkampf spre- mit Mitarbeitern, rein, raus aus dem Büro,
chen. Was halten Sie von diesem Plakat und irgendwann habe ich mich breitschla-
von Martin Schulz? gen lassen. Zwei Techniker bauten ein
Müller: Im Grunde sind Wahlplakate gene- Licht auf, am Ende war das Foto halbwegs
rell nicht mehr zeitgemäß. Sie verschandeln vernünftig.
die Republik, und ich glaube, dass sie am SPIEGEL: Das Markenzeichen Ihrer Fotos ist,
Ende keine Stimmen bringen. Aber gerade dass Sie versuchen, hinter die Maske der
dieses eine Bild ist besonders ärgerlich. Politiker zu gelangen, etwas Wahrhaftiges
SPIEGEL: Warum? zu zeigen. Kann das bei jemandem, der
Müller: Sehen Sie es sich doch an. Martin
Schulz schaut am Betrachter vorbei ins KULTURWAHLKAMPF so kontrolliert ist wie Frau Merkel, über-
haupt gelingen?
Leere. Er lächelt zwar, aber das Lächeln Müller: Sie wird definitiv nicht gern abge-
sieht müde aus und, noch schlimmer: re- Politik ist immer auch Inszenierung, lichtet. Beim zweiten Mal setzte sie sich
signativ. Er schaut wie einer, der sich schon im Wahlkampf muss sie besonders vor mich hin und sagte: „Machen Sie mal.“
aufgegeben hat. Das ist kein Kämpfer, das perfekt sein. Der SPIEGEL spricht Da sagte ich: „Frau Bundeskanzlerin, das
ist ein netter Opa aus Würselen. in loser Folge mit Künstlern und geht so nicht. Bei Ihrem Vorgänger Ger-
SPIEGEL: Ein Herausforderer sollte nicht Kreativen über die Macht der Bilder, hard Schröder saß ich mal eine ganze Wo-
lächeln? der Worte und der Gesten. che im Vorzimmer. Und immer, wenn Zeit
Müller: Der Mund ist gespitzt und wirkt war, sind wir irgendwohin gefahren oder
dabei vollkommen unnatürlich, geradezu haben mal ein Glas Champagner getrun-
rheinisch-karnevalesk, als gäbe es gleich ken. Und ab und an habe ich nebenbei ein
ein Bützchen! Er wirkt, als hätte ihm je- Müller: Sie wissen doch, wie Frau Merkel Bild gemacht.“ Da sagte sie: „Herr Müller,
mand gesagt: Mach mal den Mund zu. in Wirklichkeit aussieht, die Bundeskanz- das würde ich keine halbe Stunde aushal-
SPIEGEL: Das Bild wurde retuschiert. lerin ist bei jedem, der einen Fernseher ten.“ Und ich sagte: „Sehen Sie, gnädige
Müller: Ja klar, die Tränensäcke, die eigent- hat, jeden Tag zu Gast. Nach Tagen ohne Frau, deshalb wird das mit uns nichts.“
lich von Anstrengung und Arbeit zeugen Schlaf kommt das Fernsehen mit seiner SPIEGEL: Waren die anderen Kanzler an-
sollten, wurden entfernt. Durch die Bear- HD-Auflösung, greift ihr ins Gesicht, und ders?
beitung sieht die Stirn riesig und leer aus. man sieht sie im heimischen Wohnzimmer Müller: Vollkommen. Mit Helmut Kohl bin
Hinter dieser Stirn vermutet man nichts. so nah, wie sie sich selbst noch nie im Kos- ich jahrelang gereist, er hat mir vertraut.
SPIEGEL: Wie hätten Sie Schulz fotografiert? metikspiegel gesehen hat. Und dann ist Er wusste, dass es gut für ihn ist, einen op-
Müller: Schwarz-weiß. Frontal, den Blick Wahl, und plötzlich sieht man so ein Pla- tischen Biografen an seiner Seite zu haben.
fest auf den Betrachter gerichtet. Als He- kat. Das ist lächerlich. Willy Brandt war es völlig egal, dass er
rausforderer braucht man ein Bild, das sagt: SPIEGEL: Warum wählt sie ein derart bear- fotografiert wurde, er hat mich nie daran
Ich will dich, deine Stimme. Ich hätte ver- beitetes Bild? gehindert, meine Arbeit zu machen. Hel-
sucht, eine männliche Mona Lisa aus ihm Müller: Frau Merkel ist ein unglaublicher mut Schmidt verachtete Fotografen, aber
zu machen. Die Mona Lisa schaut einen Kontrollfreak. Ich habe sie als Kanzlerin er ließ sie gewähren, auch mich. Den
an, egal wo man steht, ob links, in der zweimal fotografiert, jeweils fünf Minuten. Wunsch, nur zu bestimmten Zeiten ein be-
Mitte oder rechts. Und ich hätte ihm auf Beide Male waren furchtbar. Beim ersten stimmtes kontrolliertes Bild von sich zu
keinen Fall die Müdigkeit aus dem Gesicht Mal habe ich drei Stunden um dieses Foto zeigen, hatte nur Frau Merkel.
retuschiert. gekämpft. SPIEGEL: Liegt es daran, dass sie eine Frau
SPIEGEL: Die Plakate von Angela Merkel SPIEGEL: Worum ging es? ist?
sind auch stark retuschiert. Was spricht Müller: Sie wollte im Kanzleramt unter Müller: Es ist vielleicht für Frauen schwie-
dagegen, besser aussehen zu wollen? meiner Ahnengalerie von Bundeskanzlern riger, sich gealtert und gestresst zu zeigen.
Müller: Es ist eine Bundestagswahl, keine abgelichtet werden, unter dem Bild von Zumindest glauben sie das. Die Bundes-
Misswahl. Man muss sehen, dass Politiker Ludwig Erhard. Aber da gibt es Strahler kanzlerin wird jeden Morgen geschminkt,
sich abrackern, dass sie nachts wach liegen, von der Decke, die machten Riesensäcke oben in der achten Etage. Sie wird nicht
dass sie was erlebt haben. Angela Merkel unter den Augen, unter der Nase, sie ho- einfach gepudert, sondern ihre ganze Haut
steht nicht zu ihrem gelebten Leben. Alles, ben die Labialfalten hervor, sie sah ganz wird mit Theaterschminke abgedeckt.
was man durch Arbeit erreicht hat, mani- furchtbar aus. Ich habe ihr stattdessen vor- Das kann man in Farbe halbwegs fotogra-
festiert sich im Gesicht. Ich kenne keinen geschlagen, dass ich sie bei Tageslicht fieren. Für mich ist es nicht interessant.
Job, in dem man so rasant altert wie in fotografiere, neben einem Bild von Ludwig In einer Schwarz-Weiß-Fotografie von
dem des Bundeskanzlers. Erhard, das ich extra mitgebracht hatte. Frau Merkel ist all das weg, was meinen
SPIEGEL: Und das wollen die Wähler auch Aber sie sagte: „Das mache ich nicht.“ Beruf ausmacht. Ich bin ein Hautfotograf.
sehen? Und ich sagte auch: „Das mache ich nicht, Die Haut ist das Wichtigste eines Men-
ich kann es mir nicht erlauben, ein schlech- schen, im Gesicht, an den Händen. Auf
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Christiane
tes Bild von Ihnen zu veröffentlichen.“ einem Schwarz-Weiß-Foto von Frau Mer-
Hoffmann und Britta Stuff und der Fotoredakteur SPIEGEL: Ein Machtkampf: Wer hat sich am kel wäre nur noch eine amorphe graue
Matthias Krug in Berlin. Ende durchgesetzt? Masse zu sehen.
50 DER SPIEGEL 37 / 2017
auf Kohl. Das Bild war 1994 schon sechs
Jahre alt. Ich habe es in einem Restaurant
in der Pfalz fotografiert, er sieht auf diesem
Bild seine Frau Hannelore an, mich hatte
er in dem Moment vollkommen vergessen.
SPIEGEL: Wie gewinnt man als Fotograf das
Vertrauen eines Politikers?
Müller: Indem man manche Bilder nicht
macht. Ich glaube, das gilt heute noch
mehr als früher, weil jeder Fotograf ist und
alle immerzu fotografieren. Politiker sind
also nonstop auf der Hut. Ich habe als ein-
ziger deutscher Fotograf François Mitter-
rand für ein Buch begleiten dürfen. Es gab
eine Situation im Haus der Eltern seiner
Frau Danielle. Dort trafen sich Freunde
und Familie zu einem Gartenfest. Mitter-
rand lag auf einer Chaiselongue, und einer
seiner Labradore lag auf ihm und schleckte
ihn ab. Das war so ein Moment, von dem
ich wusste: Der kommt nie wieder in dei-
nem Leben. Als ich nach der Kamera griff,
hob Mitterrand einfach ganz leicht die
Hand. Da war klar, das Foto machst du
nicht.
SPIEGEL: Haben Sie auch mal ohne Hinweis
auf ein Bild verzichtet?
Müller: Oft. Herr Mitterrand hatte ein klei-
nes Grundstück an der Atlantikküste im
Norden von Biarritz, es war auch ein klei-
ner Swimmingpool auf dem Gelände. 1983
war ich mit ihm da. Er kam aus Paris, zog
sich um und erschien mit einem Ringel-
pullover, einer Badehose bis zu den Knien,
dadrunter ragten dünne, weiße Beine ohne
ein Haar hervor. Er sah aus wie eine Kari-
katur. Er sah mich an und fragte: „Konrad,
wo ist denn Ihre Kamera?“ Ich sagte, die
sei im Haus. Er fragte: „Ja, wollen Sie denn
NORMAN KONRAD / DER SPIEGEL

jetzt nicht fotografieren?“ Ich sagte: „Herr


Präsident, wenn Sie dieses Foto haben wol-
len, dann müssen Sie ,Paris Match‘ anrufen,
ich mache so etwas nicht.“ Es zahlt sich
aus, wenn man die Menschen nicht lächer-
lich macht. Es gibt kein einziges Foto, wo
ich jemanden beim Essen fotografiere oder
Fotograf Müller mit Adenauer-Porträt: „Die Haut ist das Wichtigste“ wenn er im Flugzeug sitzt und schläft und
schnarcht. Sie werden von mir kein einzi-
SPIEGEL: Christian Lindner ist der einzige Müller: Lindner ist 38 Jahre alt, er hat ein ges despektierliches Foto von Helmut Kohl
Spitzenkandidat, der in diesem Wahl- sehr weiches, ein fast feminines Gesicht. finden.
kampf auf Schwarz-Weiß-Bilder setzt. Und er wirkt sehr jugendlich. Ich habe ihn SPIEGEL: Dafür wurden Sie oft kritisiert.
Müller: Schwarz-Weiß hat für mich die also mit festem Blick und männlicher Kör- Müller: Es gab Leute, die schrieben, der
facettenreichste Farbskala überhaupt, vom perhaltung fotografiert. Ich habe versucht, Müller habe überhaupt keine Distanz, der
tiefsten Schwarz über unendlich viele aus einem Jüngling einen erwachsenen ist ’ne Hofschranze. Aber wenn ich ein
Grautöne bis zum weißesten Weiß. Das Mann zu machen. Foto veröffentliche, auf dem Helmut Kohl
signalisiert einen Ewigkeitsanspruch, da SPIEGEL: Die CDU hat 1994 gegen Rudolf im Bundeskanzleramt in Bonn mit Strick-
will jemand in die Geschichtsbücher. Das Scharping plakatiert, mit dem Slogan „Poli- jacke und Pantoffeln am Schreibtisch sitzt,
ist gerade für Christian Lindner, der noch tik ohne Bart“. Das Bild dazu ist von Ih- hinter ihm das Aquarium und die deutsche
beweisen muss, dass er bleibt, eine gute nen, es zeigt Kohl, wie er mild lächelnd Fahne, dann ist das so viel Kritik, wie man
Wahl. Die Bilder sind nicht von mir, aber zur Seite schaut. Warum ist es bei diesem üben kann auf einer Fotografie. Da brau-
ich habe ihn vor einigen Monaten auch Foto in Ordnung, wenn der Kandidat aus che ich keine Bilder, die den Menschen
fotografiert, schwarz-weiß und direkt auf dem Bild blickt? lächerlich machen. Wir alle sehen mal
mich blickend. Als Mann. So sehen seine Müller: Kohl war 1994 schon zwölf Jahre lächerlich aus. Es sagt nichts über uns aus,
Plakate jetzt aus, ich erkenne meinen Stil Kanzler. Er war kein neuer Typ, der sich über unser Wesen und unsere Rolle in der
da wieder. erst vorstellen muss. Es ging darum, ein Welt.
SPIEGEL: Was heißt, Sie haben ihn als Mann ungewöhnliches Bild zu zeigen, einen Eye- SPIEGEL: Die Grünen werben in diesem
fotografiert? catcher. Man wollte einen anderen Blick Jahr vor allem mit ganz klassischen Por-
DER SPIEGEL 37 / 2017 51
Deutschland
KONRAD R. MÜLLER

KONRAD R. MÜLLER
Müller-Fotografien von Kanzler Kohl 1991, Altkanzler Brandt 1977: „Politiker sind sehr einsame Menschen“

träts ihrer Spitzenkandidaten. Gefällt Ih- Gejagte. Der eine ist der Täter, und der samte Delegation, und wehe, wenn irgend-
nen das? andere ist das Opfer. Der Täter bin immer einer fehlte. Er hat immer durchgezählt,
Müller: Wenn Sie das klassisch nennen wol- ich, das Opfer ist mir gnadenlos ausge- ob auch alle da sind.
len. Ich nenne es eher missglückt. Wissen liefert. Wenn ein Mensch nicht die Größe SPIEGEL: Auf Ihren Bildern sah er meist sehr
Sie, der Mensch macht den ganzen Tag hat, bei sich zu bleiben, sondern mir etwas allein aus.
nichts anderes, als Gesichtsausdrücke an- vorgaukelt oder vorspielt, dann kann es Müller: Das ist das Wesen des Politiker-
derer zu analysieren, darin sind wir alle nicht gelingen. Manchmal breche ich berufs. Politiker sind sehr einsame Men-
Profis, ob wir nun Maurer sind oder Pro- solche Sitzungen ab und sage: „Das hat schen. Man kann über die Jahre einer
fessor. Wir sehen in einer Millisekunde, ob keinen Sinn. Sie verstellen sich.“ Ich will Kanzlerschaft im Gesicht beobachten, wie
sich jemand für ein Bild verstellt. Auf die- das Innerste der Menschen nach außen sich nicht nur Stress und Druck eingraben,
sen Bildern von Cem Özdemir und Katrin kehren. sondern auch das Gefühl, allein zu sein.
Göring-Eckardt stimmen die Augen nicht SPIEGEL: Marlene Dietrich sagte einmal, sie Bei Helmut Kohl habe ich das über zehn
mit dem Mund überein. Man sieht: Die sei zu Tode fotografiert worden. Kann man Jahre beobachtet, ich habe ein Buch fertig-
wollen nicht fotografiert werden. das, jemanden zu Tode fotografieren? gestellt, ich suche nur noch einen Verleger.
SPIEGEL: Natürlich wollen sie. Sie wollen Müller: Ich würde es umgekehrt sagen: SPIEGEL: Welches Ihrer Bilder von einem
doch Wahlplakate. Wenn unsere Politiker von einem Tag auf Kanzler bedeutet Ihnen am meisten?
Müller: Sie gehen zu dem Fototermin. Da den anderen nicht mehr fotografiert wür- Müller: Mein Porträt von Willy Brandt in
werden sie geschminkt, angezogen, da sind den, bräche für sie eine Welt zusammen. Norwegen aus dem Jahr 1977.
tausend Leute um sie herum. Jeder hat ir- Dann wären sie nicht mehr. SPIEGEL: Warum gerade dieses?
gendwas zu mäkeln und was zu verbessern. SPIEGEL: Gab es einen Politiker, der beson- Müller: Willy Brandt ist 1974 zurückge-
Im Prinzip sind alle genervt, aber es geht ders gern fotografiert wurde? treten, seine Ehe war zerrüttet. Ich erin-
ja um die große Sache. Man sieht den Bil- Müller: Gerhard Schröder hat es viel Spaß nere mich an Besuche in seinem Haus. Die
dern an, dass sie sich unwohl fühlen. gemacht. Er hat auch immer sehr darauf beiden haben überhaupt nicht miteinan-
SPIEGEL: Wie gehen Sie vor? geachtet, wie er fotografiert wird, er ist der geredet. Sie hatten einen Papagei,
Müller: Wenn ich eine Porträtsitzung ma- unglaublich eitel. Wie selbstverliebt er ist, er war der Einzige, der da gesprochen
che, dann rede ich vorher lange. Irgend- hat man gemerkt, wenn man ihn in seinem hat. Der Papagei konnte Willy Brandt
wann drücke ich auf den Auslöser. Ich war Reihenendhaus in Hannover besucht hat. nachmachen und seine Frau auch. Brandt
einmal bei dem Philosophen Jürgen Haber- Das ganze Haus war voll mit Gemälden machte dann 1977 Urlaub in Norwegen.
mas zu Hause am Starnberger See. Es gab und Plastiken, die ihn darstellten. Er war völlig abgeschnitten von allem.
Kaffee und Kuchen. Ich sagte: Zeigen Sie SPIEGEL: Glauben Sie, dass Kohl sich fragte, Helmut Schmidt hat ihn über nichts mehr
mir doch mal Ihr Arbeitszimmer. Er führte ob er auf Bildern gut aussieht? informiert, Brandt war von einem Tag
mich hin, ich drückte dreimal auf den Aus- Müller: Bei Helmut Kohl stand an erster auf den anderen von der Politik abge-
löser, dann sind wir wieder zurück zu Kaf- Stelle seine Bedeutung in dieser Welt. Ich schnitten. Er war psychisch angeschlagen,
fee und Kuchen. Irgendwann fragte Haber- mochte Helmut Kohl, sonst hätte ich nicht die SPD hatte ihm einen evangelischen
mas: „Sagen Sie mal, Herr Müller, wann zehn Jahre lang mit ihm zusammenarbei- Geistlichen aus Bonn geschickt, der mit
fotografieren wir denn?“ Dabei war es ten können, obwohl wir politisch völlig ihm reden und ihn aufheitern sollte. Ich
schon längst vorbei. konträre Ansichten hatten. Er hatte etwas habe dann das Bild gemacht, mit diesem
SPIEGEL: Gibt es einen natürlichen Instinkt, Mütterliches. verzweifelten Blick, in dem man all das
sich vor einer Kamera zu verstellen? SPIEGEL: Helmut Kohl war mütterlich? sehen kann. Ich glaube, ich habe niemals
Müller: Es gibt vor allem auch bei berühm- Müller: Er war ein großer Kümmerer. Wenn zuvor oder danach einen einsameren Men-
ten Menschen eine unendliche Angst vor wir auf Reisen waren, hatte er so was Glu- schen gesehen.
der Kamera. Es ist ein Zweikampf. Der ckenhaftes. Er hat fast immer einen Bus SPIEGEL: Herr Müller, wir danken Ihnen für
eine ist der Jäger, und der andere ist der kommen lassen, in dem saß dann die ge- dieses Gespräch.
52 DER SPIEGEL 37 / 2017
DIGEL.DE
Deutschland

Seither arbeiten sich die Gänse über die Ende war der Hund völlig fertig, und die

Schüsse im norddeutsche Tiefebene sowie entlang des Nilgänse waren immer noch da“, sagt Mül-
Rheins und seiner Nebenflüsse gen Süd- ler. Nun darf ein Jäger mit Sondergeneh-
osten vor. Mittlerweile seien in allen 16 deut- migung außerhalb der Öffnungszeiten eini-

Freibad schen Bundesländern Nilgänse zu finden, ge Tiere im Bad erschießen – in der Hoff-
bilanziert das Bundesamt für Naturschutz nung, die anderen dadurch zu vertreiben.
in Bonn. Die oft mehrmals jährlich brüten- Örtliche Tierschützer sind entsetzt.
Tiere Afrikanische Nilgänse pro- den Vögel seien „sehr anpassungsfähig“, „Irrsinnig“ sei das, beklagt ein Vertreter
ihre Verbreitung sei „stark zunehmend“. des Frankfurter Naturschutzbundes, der
duzieren viel Dreck, verdrängen Den Landwirten fressen die hungrigen Griff zur Schrotflinte zeuge von einem
angeblich andere Vögel – und Viecher junge Pflanzen und Setzlinge von „alten Denken aus dem letzten Jahrhun-
fühlen sich in deutschen Städten den Feldern. Aber auch Städtern gehen dert“. Auch Vogelkundler Hormann hält
die Vögel auf die Nerven. Die Tiere schei- nichts von Schrotladungen: Die Erfahrung
wohl. Nun sollen Jäger helfen. nen sich in Parks und Freibädern, an städ- zeige, dass die Gänse nach einem Jagd-
tischen Flussufern und Teichen besonders einsatz bald wieder zurückkämen. Doch

E
ntspannt dümpeln acht rostrot gefie- wohlzufühlen. „Sie mögen kurzes, gemäh- die Gansgegner bestehen auf einer Vertrei-
derte Gänse in der Nichtschwimmer- tes Gras, weil sie darauf gut laufen und bung, egal wie, auch weil die Vögel altein-
zone, vier Artgenossen dösen auf fressen können“, sagt Martin Hormann gesessene Tierarten aus ihren Brutstätten
den Platten am Beckenrand. Und ein paar von der Staatlichen Vogelschutzwarte für verdrängen würden. In diesem Sommer
Meter weiter, hinter der Wasserrutsche, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. hat die EU die Nilgans auf eine Liste „inva-
watscheln zehn weitere Tiere über die Liege- Die Klagen über gänslich verdreckte siver Arten“ gesetzt, deren Entwicklung in
wiese und picken am saftig grünen Gras. Parks, Bäder und Flussufer reichen bis nach Europa im Auge behalten werden soll.
Aus Sicht der Wasservögel ist das Bren- Baden-Württemberg. Die „Rhein-Neckar- Bei der Nilgans nehmen die Schilderun-
tanobad, das größte Freibad in Frankfurt Zeitung“ berichtete von einem „Gänse- gen über ihre Ausbreitung gelegentlich
am Main, offensichtlich eine Idylle. Andere gipfel“ mehrerer Kommunen in Ladenburg einen absurden rassistischen Ton an, was
Badegäste sind dagegen irritiert von den am Neckar. Dort sei es „fast unmöglich, sie zu einem Lieblingsthema unter Ver-
braungrünen Festkörpern, die hinter den einen sauberen Platz auf der Neckarwiese schwörungstheoretikern und Rechtspopu-
Gänsen auf den Grund des Beckens sinken. zu finden“. Der Stuttgarter Landwirt- listen macht. Der Journalist Udo Ulfkotte
„Das ist einfach eklig“, sagt Frank Müller, schaftsminister Peter Hauk (CDU) wandte raunte: „Es ist politisch korrekt, die Nil-
Geschäftsführer der Frankfurter Bäder- sich daher kürzlich flehentlich an die „lie- gans zu schützen.“ Dabei habe die Gans
betriebe. Jeden Morgen müssten nun meh- ben Jäger“ in der Gemeinde: Sie mögen „drei der letzten deutschen Pommernenten
rere Angestellte und Maschinen das Bad doch bitte helfen, das Problem zu lösen, getötet“. Auf einschlägigen Websites wer-
reinigen, wenige Stunden später sei der und Nilgänse „strikt bejagen“. den die Vögel als „aggressive Migranten“
Gänsedreck schon wieder überall. Im Brentanobad, versichert Bäderchef und „ungewollte Zuwanderer“ bezeichnet,
Der Schwimmbadchef ist nicht der Einzi- Müller, habe man schon alles versucht: die die angeblich „alles niederwalzen“ und
ge, der die Nilgänse für eine Plage hält. Die Gänse über Lautsprecher mit Greifvögel- „unsere alten heimischen Tierrassen brutal
Vogelart, erkennbar am dunklen Augen- rufen beschallt, einen motorbetriebenen ausrotten“. Häufig werden direkte Bezüge
fleck, stammt ursprünglich aus Afrika. Als schwarzen Plastikschwan im Schwimm- zu Einwanderern und Flüchtlingen aus
Ziervögel für Zoos und Parkanlagen wurden becken ausgesetzt, eine Drohne darüber- Afrika hergestellt.
sie seit dem 17. Jahrhundert nach Westeuro- fliegen lassen. Nichts half. Der anschlie- Unter Experten ist umstritten, wie sich
pa gebracht, einige büxten aus ihren Gehe- ßend eingesetzte Jagdhund habe die Gänse die Verbreitung der Nilgans auf andere
gen aus. Anfang der Achtzigerjahre soll eine mehrmals ins Wasser und wieder hinaus Tierarten auswirkt. Der Vogelkundler Hor-
nennenswerte Zahl Nilgänse über die Nieder- gescheucht, doch hätten die sich davon mann hält die These von der Verdrängung
lande nach Deutschland eingeflogen sein. nicht dauerhaft beeindrucken lassen. „Am heimischer Gänse und Enten für „Unsinn“.
Mehrere Studien in der Region Frankfurt
am Main hätten gezeigt, dass von Nilgän-
sen „keine langfristige Gefahr für andere
Wasservogelarten“ ausgehe. Die Tiere ver-
hielten sich zwar „etwas ruppig“ bei der
Verteidigung des Nachwuchses, doch das
sei bei anderen Arten kaum anders. Die
meisten Angriffe von Nilgänsen zielten auf
Artgenossen.
Ohnehin sei es illusorisch zu glauben,
man könne Nilgänse wieder aus Deutsch-
land zurückdrängen. „Das wäre vielleicht
Anfang der Achtzigerjahre noch irgendwie
gegangen“, sagt der Ornithologe. Aber in-
zwischen sei die Art hier heimisch gewor-
BERT BOSTELMANN / DER SPIEGEL

den und etabliert. „Wir werden uns an sie


gewöhnen müssen, ob wir wollen oder
nicht.“ Matthias Bartsch

Video: Ist Erschießen die


einzige Lösung?
spiegel.de/sp372017nilgaense
Nilgänse im Frankfurter Brentanobad: „Etwas ruppig“ oder in der App DER SPIEGEL

54 DER SPIEGEL 37 / 2017


Der neue Opel Insignia

FÜHRENDE TECHNIK
FÜR ALLE.
Doppel-Testsieger* in der AUTO ZEITUNG und in der AUTOStraßenverkehr:
der Insignia Sports Tourer und der Insignia Grand Sport.

*
Testsieg im Vergleichstest der AUTO ZEITUNG in der Kategorie „Mittelklasse-Kombis“ vom 26. 07. 2017 für den Opel Insignia Sports Tourer,
2.0 Diesel, 125 kW (170 PS)1 und Testsieg im Vergleichstest der AUTOStraßenverkehr, Ausgabe 17/17 vom 26. 07. 2017 für den Opel Insignia Grand Sport,
2.0 Diesel, 125 kW (170 PS)2. Abb. zeigt Sonderausstattung.
1
Kraftstoffverbrauch Opel Insignia Sports Tourer, 2.0 Diesel, 125 kW (170 PS) innerorts 6,9 l/100 km, außerorts
4,3 l/100 km, kombiniert 5,3 l/100 km; CO 2 -Emission kombiniert 139 g/km (gemäß VO (EG) Nr. 715/2007).
2
Kraftstoffverbrauch Opel Insignia Grand Sport, 2.0 Diesel, 125 kW (170 PS) innerorts 6,7 l/100 km, außerorts
4,3 l/100 km, kombiniert 5,2 l/100 km; CO2 -Emission kombiniert 136 g/km (gemäß VO (EG) Nr. 715/2007).
Q UELLE: I P U
Früher war alles schlechter
Nº 88: Frauen und Macht

1997 waren 11,3 % der Abgeordneten weltweit Frauen 2017 sind es 23,5%

Doppelt so viele Sitze für Frauen wie vor 20 Jahren. In Deutschland Abgeordneten der Welt würden in einem einzigen riesigen
fing alles ganz ordentlich an, vor hundert Jahren. 1919 saßen Parlamentssaal zusammenkommen, so wäre immerhin fast ein
in der ersten Weimarer Nationalversammlung 37 Frauen. Das Viertel der Sitze von Frauen besetzt. Diese Zahl (23,5 Prozent)
war ein Anteil von 8,7 Prozent, für die damalige Zeit nicht findet sich im großen Atlas der nachhaltigen Entwicklungs-
schlecht; in den darauffolgenden sechs Wahlperioden pendel- ziele der Weltbank – im Vergleich zu 1997 (11,3 Prozent) hat
te sich der Anteil der Frauen bei etwa 6 Prozent ein. Das sich damit der Anteil der Frauen in 20 Jahren verdoppelt.
Ende der passablen Frauenquote brachte die Reichstagswahl Allerdings gibt es heute noch Staaten, in denen keine Frauen
im März 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialis- im Parlament sitzen, etwa im Jemen, in Vanuatu oder in Ka-
ten: Der Frauenanteil sank auf unter 4 Prozent. Gut 80 Jahre tar. Raum für mehr ist trotz der insgesamt guten Entwicklung
später sieht die Welt glücklicherweise schon ganz anders überall: Eine Frauenquote von 50 Prozent oder mehr schaffen
aus: Immer mehr Frauen gehören weltweit zu den politischen weltweit nur zwei Länder, Bolivien (53,1 Prozent) und
Entscheidungsträgern. Angenommen, sämtliche nationalen Ruanda (61,3 Prozent). [email protected]

Falsche Fotos es im Alltag so nicht gibt. In sich die Leute ihre Bestäti- auch ein aufregendes Leben
Darf es im Urlaub Zeiten von Photoshop ist das gung geholt haben. Seit eini- hat und genießen kann.
SPIEGEL: Die Leute lügen
nicht mehr regnen, sehr einfach. Interessanter-
weise bedient sich die Touris-
ger Zeit definieren sich die
Menschen aber mehr und einander also was vor?
Herr Schäfer? muswerbung der gleichen mehr über ihre Hobbys, ihre Schäfer: Ich würde nicht von
Motive. Freizeit. Die Urlaubsfotos einer Lüge sprechen. Sie in-
Robert Schäfer, 38, Soziologe SPIEGEL: Fehlt der Mut zur sind Werbung fürs eigene szenieren ihr Leben. Das be-
an der Universität Freiburg in Ehrlichkeit? Selbst. Man zeigt, dass man ginnt schon, wenn sie Son-
der Schweiz, über beschönigte Schäfer: Mit Mut hat das nicht nur erfolgreich im nenuntergänge fotografieren.
Bilder auf Instagram nichts zu tun. Die Bilder zei- Beruf ist, sondern dass man Dann sind sie ja nicht mehr
gen nicht, wie es wirklich Teil dessen, was sie erleben,
SPIEGEL: Herr Schäfer, die Ur- war, sondern wie es idealer- sondern betrachten es durch
laubssaison geht vorbei, die weise hätte sein sollen. Es die Kamera, von außen. Das
Leute stellen ihre Fotos in so- sind Traumbilder. Sie zeigen, ist ein Widerspruch in sich.
ziale Netzwerke. Was sind was den Menschen in ihrem SPIEGEL: Was machen Sie mit
die Trends? Leben womöglich fehlt. Ihren Urlaubsfotos?
Schäfer: Es ist auffällig, dass SPIEGEL Warum ist es den Schäfer: Die behalte ich für
auf Reisefotos romantische Menschen so wichtig, was an- mich oder zeige sie Freunden.
Motive dominieren: Sonnen- dere über sie denken? Ich fotografiere aber auch
untergänge, einsame Strände Schäfer: Ihnen ist die Aner- lieber schöne alte Gebäude
GETTY IMAGES

und gutes Essen. Die Men- kennung durch andere wich- in Italien oder die vollen
schen stellen ihre Urlaube tig. Für lange Zeit war es vor Straßen asiatischer Großstäd-
gern als Erlebnisse dar, die allem der Beruf, über den te als Regenwetter. cat

56 DER SPIEGEL 37 / 2017


Gesellschaft
„Selbst wenn man Käse isst“, sagt er, „unterstützt man
Träumende Kühe die Fleischindustrie.“ Wilde trägt Multifunktionskleidung:
grüner Fleecepullover, Gummistiefel, das braune Haar
und die weißen Strähnen zum Zopf gebunden. Außerdem
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum hat er ein wenig Schmutz unter den Fingernägeln.
Bereits als kleiner Junge stand er um halb sechs auf,
ein britischer Rinderzüchter zum ging in den Stall, molk Kühe, aß sein Porridge. Später
Vegetarier wurde und seine Tiere verschenkte übernahm er die Aufgabe, die Kälber zum Markt zu fah-
ren. „Als Kind hinterfragst du so was nicht“, sagt er, einen

S
ein ganzes Leben lang hat Jay Wilde, 59, Rinder Löffel Eintopf im Mund. Das schlechte Gewissen kam erst
großgezogen, manche mit der Hand, er sorgte für später. „Ich habe schon Kühe träumen sehen, wenn sie in
genug Gras zum Fressen, dann schickte er sie in den der Sonne liegen und dabei mit den Hufen scharren“, sagt
Tod. Einmal im Jahr führte er mit seiner Frau Katja rund er. Sie essen konnte und wollte er nicht mehr. Erst aß er
ein Dutzend seiner Tiere zu seinem Transporter, oft zerr- stattdessen Cheddar, später Möhren, zu Weihnachten gibt
ten sie und bockten, die Fahrt dauerte zwei Stunden und es vegane Würstchen im Schlafrock, Paranussbraten wird
zwanzig Minuten, das weiß er noch genau. Dieser Tag sein liebstes Gericht.
war immer der schlimmste des Jahres für ihn. Beim Abla- Heute ist Veganismus nicht mehr außergewöhnlich, al-
den sah er in die schwarzen Augen der Tiere und wusste, lein in Großbritannien leben rund eine halbe Million Men-
dass sie es wissen, vom Schlachter und von ihrem Schick- schen, die auf tierische Produkte verzichten, dreieinhalb-
sal. „Es fühlte sich an, als würde ich sie verraten, jedes mal so viele wie noch vor zehn Jahren, schätzt die Vegan
Mal“, sagt Wilde, britischer Society. In Deutschland
Ex-Rinderzüchter aus Der- sind es rund 900 000. Doch
byshire nahe Manchester. ein veganer Landwirt, das
Irgendwann erkennt Jay bleibt eine Art Wider-
Wilde, dass er nicht mehr spruch in sich, ähnlich ei-
kann. Doch er will die Farm nem Bergsteiger mit Hö-
nicht aufgeben. „Ich wollte henangst oder einem ge-
erhalten, was mein Vater waltfreien Boxer. Zwar
begonnen hatte“, sagt er. stellen sich immer mehr
„Aber ich fühlte mich so Menschen die Frage, ob
schuldig vor den Tieren.“ man Tiere schlachten und
Seine Entscheidung trifft essen darf, aber Bauern ge-
er an einem Tag im Januar. hörten bisher kaum dazu –
Jay und Katja Wilde sitzen obwohl sie den Tieren
damals in ihrem Haus vier doch am nächsten stehen,
Fremden gegenüber, auf ihnen Namen geben, mit
dem schweren Holztisch ihnen sprechen. Sie töten
zwischen ihnen stehen Kaf- Wilde sie trotzdem. „Schwierig-
feetassen, hinter ihnen ti- keiten, seine Rinder und
cken Uhren. Die Männer Schweine zu schlachten
von der Vegan Society ha- und zu essen, hat kaum ein
ben eine Lösung dabei: Landwirt“, sagt Wilde.
Wildes Farm wird vegan, Auch Jay Wildes Vater
dafür müssen seine Rinder hatte kein Problem damit.
verschwinden, 59 Tiere. Sie Von der Website Mirror.co.uk Der Sohn sprach mit dem
töten, das will niemand. alten Mann nie über Alter-
Jay soll sie verschenken, an eine Art Altersheim für Tiere. nativen. „Er war ein gleichgültiger Mann, redete nur über
Die Kühe würden leben, Wilde würde dafür auf das Praktische“, sagt er, lacht leise. Dann stirbt der Vater,
40 000 Pfund verzichten müssen, die ihm ein Schlachter 2011. Es vergehen noch sechs Jahre, in denen Jay Wilde,
für die Hereford-Rinder, eine Delikatesse, bezahlt hätte. der Macht seines alten Lebenswegs folgend, weitere Tiere
Wilde sagt Ja, ohne zu zögern. Kurze Zeit später ist er zum Schlachter karrt.
weltweit bekannt. Es ist der 12. Juni dieses Jahres, der Nieselregen ver-
Er ist der erste vegane Farmer Großbritanniens, der wandelt den Boden im Hof in Matsch. Jay Wilde geht
erste, der seine Rinderherde verschenkt, um sie zu retten. zwischen einem Transporter und einem Stall aus roten
Die BBC dreht eine Doku über ihn, es folgen die „Times“, Backsteinen hin und her, bringt ein Rind nach dem ande-
der „Independent“, Lokalblätter. Die Wildes kriegen Post ren auf die Ladefläche. Die Tiere scharren mit den Hufen.
von Bewunderern, manche Briefe kommen aus Kanada, Sie sind nervös, erzählt Wilde, er selbst ist es auch, eine
eine Frau kommentiert auf der Facebook-Seite der Farm: Trennung steht für ihn bevor, nicht nur die von seinen
„Danke für alles, was du getan hast, und die Inspiration.“ Rindern, auch die von seinem bisherigen Leben. Zwei
Wilde sagt: „Die Reaktionen waren enorm.“ Stunden dauert es, dann geht die Klappe des Lkw zu. Im
Sieben Monate nach seiner Entscheidung sitzt Jay Wilde Stall bleibt ein wenig Stroh zurück.
am selben Küchentisch und erzählt seine Geschichte, vor Wochen nachdem seine Herde weg ist, läuft Jay Wilde
ihm dampft eine Portion Hot Pot im Keramikteller – Ein- über seine Felder. Dann sieht er sie, seine zwölf letzten
topf mit Roter Bete, Bohnen und viel Quinoa, alles vegan. Rinder und zwei Kälber. Alle hergeben wollte er nicht.
Schon vor 25 Jahren ist Wilde zum Vegetarier geworden, „Sie sind ein wenig wie Haustiere“, sagt er, „sie sind nur
mittlerweile isst er kaum noch tierische Erzeugnisse. dazu da, unser Gras zu fressen.“ Cathrin Schmiegel

DER SPIEGEL 37 / 2017 57


Titel

Unter der Haut


Rassismus Was macht der Rechtspopulismus mit Deutschland? SPIEGEL-Redakteurin
Dialika Neufeld hat Menschen besucht, die wie sie selbst anders
aussehen als der Durchschnittsdeutsche – und die es jeden Tag zu spüren bekommen.

I
ch muss mir noch nicht einmal Mühe ein Paar glänzende Springerstiefel. Auf „Traue den fremden Heiden nicht“. Im Zug
geben, um die ersten Glatzen zu treffen. einer Bank schräg gegenüber hockt der Richtung Bitterfeld sitzt mir ein Mann mit
Sie verstecken sich nicht. Es reicht, sich nächste, auf der schwarzen Jacke den Zahnruinen gegenüber und starrt. Auf sei-
an einem normalen Tag im Mai an einen Schriftzug „Skinhead A. C. A. B.“, das ist nen Mittelfinger ist ein Eisernes Kreuz tä-
Bahnhof in Sachsen-Anhalt zu setzen, in die Abkürzung für „All cops are bastards“. towiert. Ich starre zurück, und da ist es
Halle an der Saale zum Beispiel. Als ich auf mein Gleis hochgehe, treffe wieder: das mulmige Gefühl, dass sich et-
Dort warte ich keine fünf Minuten, zwi- ich einen übergewichtigen Familienvater, was gedreht hat in unserem Land.
schen Obstgeschäft und Brezelverkäufer, der mit einer Blondierten und seiner klei- Dies ist der Bericht über eine Reise, die
und der erste Neonazi schiebt sich an mir nen Tochter reist. Er ist rot und schwitzt diesem Gefühl folgt. Über eine Expedition
vorbei. „100% PURE VIKING BLOOD“ und zählt sich zum „Germanenvolk“, so in meine persönlichen No-go-Areas, wenn
steht auf seinem Sweater, er trägt dazu steht es auf sein T-Shirt geschrieben. Dazu: man so will, an Orte, die ich mein Leben

Redakteurin Neufeld, Brandenburg: „Traue den fremden Heiden nicht“

58 DER SPIEGEL 37 / 2017


WAHL 2017

lang gemieden habe, so gut es ging, aber die ich nur aus den Neunzigerjahren ken- Wir Migrantenkinder wussten, welche
auch an Orte, an denen ich keine Probleme ne: „Neger“, „Scheißausländer“, „Drecks- Straßenecken wir meiden sollten, weil sich
erwartet hatte. Ich habe dort Leute ge- kanake“. dort die Rechten trafen, auf welche Klamot-
troffen, die wie ich anders aussehen als Klar, rechte Einstellungen hat es vorher tenmarken und auf welche Schnürsenkel-
der Durchschnittsdeutsche, Menschen mit schon gegeben, doch sie kleben nicht mehr farben in den Springerstiefeln wir achten
brauner Haut, Frauen, die Kopftuch tragen, an den Stammtischen fest, sie sind jetzt mussten. Wir waren selbstbewusst, weil un-
Kinder, die mehrere Sprachen sprechen im Wahlkampf auf Plakaten zu lesen, sie sere Eltern uns beigebracht hatten, stark und
und deren Haare schwarz und lockig sind. fluten das Internet und nach und nach stolz auf unser vermeintliches Anderssein
Ich wollte herausfinden, wie es ihnen geht, auch die Straßen. Es ist, als hätten die zu sein, auf die Schönheit, die in der Vielfalt
im Deutschland des Jahres zweitausend- Rechtspopulisten eine Saat gelegt, die nun liegt. Und dennoch: Wir waren auf der Hut.
undsiebzehn. Denn seit der Flüchtlingskri- dabei ist, im deutschen Alltag aufzugehen. Neunzigerjahre halt, andere Zeiten.
se, seit es Pegida gibt und AfD und  sich Die Zahl der registrierten rechtsmoti- Seither hat sich viel getan, zumindest
der Rechtspopulismus im Land verteilt hat vierten Straftaten ist, in Ost- und West- war das mein Gefühl, was sicher auch da-
wie Fußpilz in öffentlichen Schwimmbä- deutschland, so hoch wie nie seit Beginn mit zu tun hatte, dass ich in eine Großstadt
dern, ist dies ein anderes Land. der Zählungen. 23 555 Fälle gab es im ver- gezogen bin. Wenn ich durch mein Viertel
Der Ton gegenüber Menschen wie mir, gangenen Jahr. Bei 1190 dieser Straftaten nach Hause laufe, begegnen mir zehn ver-
Menschen, die selbst eingewandert oder handelte es sich um fremdenfeindliche Ge- schiedene Sprachen, fünf Falafelläden, ein
deren Eltern eingewandert sind, ist rauer walt, um Körperverletzung, Brandstiftung, französisches, ein griechisches, ein türki-
geworden und der Alltag an vielen Orten Freiheitsberaubung – im Vergleich zu 2010 sches, ein japanisches Restaurant. Mein
zur Gefahr. Was vor zwei, drei Jahren ist das eine Steigerung um mehr als Zuhause ist eine multikulturelle Blase, die
noch unsagbar war, ist heute vielerorts 300 Prozent. 2016 hielt ein Drittel der Deut- sicher nicht ohne Probleme ist, aber ganz
wieder normal. Ich höre und lese Wörter, schen das Land für gefährlich überfremdet. sicher ohne das Gefühl, aufgrund von
Zwölf Prozent waren der Ansicht, Deut- Herkunft, Hautfarbe oder Religion nicht
sche seien anderen Völkern von Natur aus dazuzugehören. Es gibt heute schwarze
überlegen, das ergab eine Studie der Uni- „Tagesschau“-Sprecher, türkischstämmige
versität Leipzig, die in regelmäßigen Ab- Spitzenpolitiker, Menschen mit dunkler
ständen die politischen Einstellungen im Haut in Führungspositionen, in der Wer-
Land untersucht. Das macht mich nervös. bung von Lufthansa und Deutscher Bahn,
Es erinnert mich an früher. alles früher noch undenkbar.
Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Doch in letzter Zeit geschehen Dinge,
Senegalese. Ich bin in den Achtziger- und die mich zurückholen in die Vergangen-
Neunzigerjahren in einer mittelgroßen heit. Da sind Politiker, die sich öffentlich
Stadt in Schleswig-Holstein aufgewachsen. die „Entsorgung“ einer Deutschtürkin
Das letzte Mal, dass mich jemand „Neger- wünschen (Gauland), die von „Negern“ re-
fotze“ genannt hat, ist angenehm lange den (Joachim Herrmann) und von „Schlitz-
her, mein halbes Leben, ich war etwa augen“ (Günther Oettinger), ich höre
17 Jahre alt und schlenderte durch die Fuß- Gespräche, in denen Wörter wie „Scheiß-
gängerzone. japsen“ und „verdammte Ausländer“ fal-
In meiner Kindheit gehörte Rassismus len, und es kommt mir der Gedanke, dass
dazu wie Fahrradfahren und Brausepulver. wir auf dem besten Wege sind, in eine Zeit
Ich bin damals Kindergartenkind und höre zurückzukehren, von der ich glaubte, wir
zu, wie zwei Typen meine Mutter, eine hätte sie langsam überwunden.
blonde Frau mit blauen Augen, eine „Die politische Korrektheit“, so hat es
Schlampe nennen, weil sie ein Kind mit AfD-Politikerin Alice Weidel gesagt, „ge-
einem Afrikaner hat; ich bin damals Gym- hört auf den Müllhaufen der Geschichte.“
nasiastin und auf Klassenfahrt im Harz, Ich mag mir nicht einmal vorstellen, wie
wo ich mich mit meiner deutschtürkischen viele Deutsche bei so einem Satz in die
Freundin unter einer Tischtennisplatte ver- Hände klatschen vor Glück.
stecke, weil die Dorfnazis auf Mopeds um Die Sprache formt die Wirklichkeit. Nur,
die Jugendherberge knattern und „Wo sind was für eine Wirklichkeit soll das werden?
die Neger?“ schreien; ich bin damals gera-
de von meiner Sprachreise in England zu- Hitlergrüße
rück und habe neue Freunde kennenge- Berlin, Prenzlauer Berg
lernt, leider leben sie in Brandenburg. Das An einem warmen Mittwochnachmittag
heißt für mich: Ich darf sie nicht besuchen, im Juni läuft ein Junge namens Benni
denn der Osten ist zu gefährlich für Kinder durch die Straßen von Berlin-Prenzlauer
wie mich. Berg. Er will den Ort zeigen, an dem ihn
In meiner Kindheit schrieben sich viele das neue Deutschland zum ersten Mal er-
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

Geschichten in mein Bewusstsein, Nach- wischte. Bennis Mutter ist Deutsche, sein
richtenbilder von Menschen, die in bren- Vater stammt aus Mali. Er ist vor Kurzem
nenden Häusern festsaßen, weil sie anders 18 Jahre alt geworden, er trägt Nike-Turn-
aussahen, Erzählungen von Asylbewer- schuhe und einen tannengrünen Pullover
bern, die durch Straßen gejagt wurden, die mit hochgeknöpftem Polokragen.
man anspuckte im öffentlichen Nahver- Benni kommt gerade aus der Schule. Er
kehr, während der Mob applaudierte. Ros- läuft die Danziger Straße entlang, sechs
tock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, diese Spuren, in der Mitte fährt die Tram. Er
Orte brannten sich in mein Gedächtnis ein. geht vorbei an asiatischen Restaurants, an
DER SPIEGEL 37 / 2017 59
Titel

Imbissen, Cafés, einem Berlin, das sich in- gen die Zahlen gewalttätiger rechter Über- Püschel erzählt jetzt von einem Mann
ternational anfühlt, offen, in dem einer griffe aus dem vergangenen Jahr. Püschel aus Nigeria, der in Potsdam in einem Hoch-
wie er niemals auffallen würde, dachte ich. fährt mit dem Finger über das Papier, be- hausneubau eine Wohnung gemietet hatte.
Benni hat die meiste Zeit seiner Kind- druckt mit blauen und roten Farben, dann Als er zum ersten Mal in seine neue Woh-
heit und Jugend in Berlin verbracht. Alles bleibt er an einer Karte von Brandenburg nung wollte, standen zwei Typen vor der
in allem fand er das Deutschland, in dem hängen. Darauf sind die Landkreise einge- Tür. „Du wohnst hier nicht“, sagten sie
er groß wurde, „krass tolerant. Man konn- zeichnet, zu jedem dieser Landkreise gibt und besprühten ihn mit Pfefferspray.
te hier einfach so leben“, sagt er, als wäre es eine Zahl. Ostprignitz-Ruppin: 21; Spree- Er spricht von einem Mann aus Frank-
das für einen Schwarzen ein überraschen- Neiße: 27; Stadt Cottbus: 41. furt (Oder), dessen Nachbarn regelmäßig
des Geschenk.   Zu jeder Zahl gehören Menschen, die bei der Wohnungsgesellschaft anrufen und
Doch seit diesem Samstag Ende Novem- geschlagen wurden, deren Unterkunft behaupten, er würde im Flur rauchen und
ber vorigen Jahres hat sich seine Welt ge- brannte, die im vorigen Jahr getreten, ge- vom Balkon pinkeln.
dreht. „Ich spüre die Blicke“, sagt er, „ich hetzt, mit Steinen beworfen oder mit Mes- Sehr beliebt sei zurzeit auch die Denun-
muss gerade echt aufpassen, nicht para- sern angegriffen wurden. Attacken insge- ziation beim Jugendamt. Nachbarn rufen
noid zu werden.“ samt: 221. Direkt Betroffene: 335. an und behaupten, der neue Ausländer im
Er überquert die Ampel Ecke Huse- Püschel sagt: „Was die offene Gewalt- Haus misshandle seine Kinder.
mannstraße und bleibt auf der Tramhalte- bereitschaft der Menschen angeht, hat es Gerade bearbeitet er den Fall einer Frau
stelle stehen. Dort, mitten im Szeneberlin, in den letzten zwei Jahren eine echte Ex- aus Nigeria, die in Fürstenwalde von ihrem
wurde Benni im November von vier Män- plosion gegeben.“ Nachbarn verletzt worden ist. Er hat sie
nern zusammengeschlagen. Püschel ist 38 Jahre alt, ein Mann ohne mehrfach rassistisch beleidigt. Dann habe
Benni war in dieser Nacht mit einem Haare, mit Bart, Brille und merlotrotem er ihr massiv ins Gesicht geschlagen, sie
Freund und einer Freundin unterwegs, Hemd. Zusammen mit 13 Kollegen arbeitet so sehr am Auge verletzt, dass sie einen
einem weißen Mädchen. Sie kamen von er für die „Opferperspektive“ in Branden- partiellen Verlust ihrer Sehfähigkeit erlitt.
einer Party und wollten mit der Tram nach burg. Sie kümmern sich hier, zwischen ab- Ihr kleiner Sohn sah alles mit an.
Hause fahren. Vier Männer sprachen sie blätterndem Putz, orientalischen Fresken Es gab mal eine Zeit, vor Pegida und
an. Was sie hier mit dem Mädchen machen und Aktenbergen, um Opfer rechter und AfD, da war ich der Ansicht, dass der Os-
würden, wollten sie von den Jungen wis- rassistischer Gewalt, und sie beraten Men- ten so langsam befahrbar sei. Ich hatte lan-
sen. Worte flogen hin und her, ein paar schen, die unter Diskriminierung leiden, ge keine Nazis mehr gesehen, war lange
rassistische Beleidigungen. Als Benni ge- im Job, bei den Behörden, auf dem Woh- nicht beschimpft worden. Und ich wollte
hen wollte, zeigte einer der Männer den nungsmarkt oder einfach, weil sie durch auch nicht einsehen, dass ich Asien, Afrika
Hitlergruß und sagte: „So verabschieden die Straßen gehen. und Australien bereisen, mich aber in mei-
wir uns hier in Deutschland.“ Püschel ist seit 2012 dabei, er begann in nem eigenen Land nicht frei bewegen
Benni redete dagegen an. Es folgte ein einer Zeit, als es noch keine Million Flücht- kann. Ich fuhr also mit Freunden übers
„Handgemenge“.  Was dann geschah, liegt linge gab, sondern 65 000 Asylanträge in Wochenende an die mecklenburgische Ost-
für ihn im Nebel. Die Freunde erzählten einem Jahr, als Pegida noch nicht den Mon- seeküste.
es später der Polizei: Benni habe versucht tag besetzt hatte und die AfD noch nicht Als ich dort durch ein Waldstück joggte,
zu flüchten, die Typen holten ihn ein und gegründet war. Damals sei es sogar so ge- lief auf jedem Schritt das Misstrauen mit.
verdroschen ihn. Er kam mit einem kom- wesen, dass der Bedarf an Beratung stän- Ein Moped näherte sich, und ich dachte,
pliziert gebrochenen Schlüsselbein ins dig zurückging, sagt Püschel. Es gab Ras- ich hätte ein Problem. Doch der Mann
Krankenhaus, mit einem Körper, übersät sismus, aber es gab auch Besserung. glotzte nur und fuhr an mir vorbei. Einmal
von Prellungen. Dann kam 2015. „Seitdem haben wir parkte ich neben einem VW-Bus, der mit
Seine Mutter machte den Überfall in ei- ein richtiges Revival“, sagt Püschel, „aber Eisernen Kreuzen und Runenschrift deko-
ner Lokalzeitung öffentlich. Es kam Un- mit einem entscheidenden Unterschied“: riert war, doch die Fahrer waren glück-
terstützung. Es kam aber auch ein Brief Heute seien die Täter nicht unbedingt licherweise nirgends zu entdecken. An-
an die Privatadresse der Familie. mehr die politischen Neonazis, sondern sonsten passierte: nichts. Es war sogar ganz
Der Brief begann so: „Mich ärgert die relativ normale Menschen, die auf einmal schön. Heute würde so ein Wochenende
Dreistigkeit, mit der Sie und Ihr Bastard in denken, sie könnten zuschlagen, sagt er. vermutlich wieder anders aussehen.
der Zeitung posieren. Was um alles in der Also nicht mehr nur NPDler in Thor-
Welt denkt sich eine weiße Frau dabei, sich Steinar-Kluft, sondern stinknormale Leute, „Scheißmoslem, jetzt bist du auch
mit einem Schwarzen einzulassen und da- Hans-Werner von nebenan. noch schwanger!“
durch Mischlinge zu produzieren?“ Bennis Püschel spricht von Angriffen auf Potsdam, Zentrum, Brandenburg
Mutter trage „zum Niedergang Deutsch- Schwangere und Kinder. Er erzählt von Um 15 Uhr am Nachmittag steht in der
lands“ bei, stand darin geschrieben. Menschen, nach denen Steine geworfen Potsdamer Innenstadt, vor einer Häuser-
Es sind Worte, die früher auch meine werden. reihe, die aussieht wie die Pappkulisse zu
Mutter zu hören bekam.  In meiner Erin- „Da ist der Bahnhofsvorplatzabhänger, einem romantischen Fernsehfilm im Ers-
nerung stehe ich mit ihr an einem sonnigen der langhaarige Motorradtyp, der Hand- ten, eine junge Frau mit einem salbeifar-
Nachmittag an einer Straßenkreuzung und werker, genauso wie die Oma, die eine benen Kopftuch und einem bodenlangen
halte ihre Hand, während zwei Männer schwarze Frau im Supermarkt mit ihrem Rock in Apricot. Sie kommt gerade aus
mit ihr über die Unmöglichkeit meiner Einkaufswagen in die Seite rammt.“ Häu- dem Unterricht.
Existenz diskutieren. fig sind es auch einfach Nachbarn, die ver- Lisa ist Tschetschenin. Sie ist 24 Jahre
suchen, Menschen mit allen Mitteln aus alt und macht ihr Abitur nach. Sie möchte
„Du wohnst hier nicht“ dem Haus zu ekeln. ihren echten Namen nicht preisgeben, sagt
Potsdam, Babelsberg, Brandenburg sie, sie hat Angst davor, erkannt zu wer-
Hannes Püschel steht im Wintergarten einer Video: Ezé Wendtoins den, sichtbar zu sein. Denn ihre Sichtbar-
alten, abgeranzten Babelsberger Weinhänd- Liebeserklärung an Dresden keit als muslimische Frau macht ihr und
lervilla und beugt sich über ein großes Pla- spiegel.de/sp372017rassismus ihren zwei Kindern den Alltag in Potsdam
kat. Darauf sind Grafiken zu sehen, sie zei- oder in der App DER SPIEGEL seit einiger Zeit zur Hölle.
60 DER SPIEGEL 37 / 2017
Vor drei Jahren fing es an. Lisa hatte eine
Wohnung in einem Siebzigerjahre-Wohn-
block bekommen, sozial am Rand, aber ge-
pflegt, ein paar Quadratmeter Deutschland
mit Balkon und Blick auf die Nachbarplatte
und auf ein paar schöne grüne Bäume.
Sie war mit dem Kinderwagen unter-
wegs, sie wollte ihre Tochter in die Kita
bringen, als eine Frau von hinten auf ei-
nem Fahrrad auf sie zukam. Sie fuhr Lisa
an. Einfach so. Traf sie mit dem Fahrrad
am Arm und fuhr auch gegen den Kinder-
wagen. „Scheißausländer“, rief sie. Dann
fuhr sie davon.
Lisa sah die Frau immer wieder, es war
die Nachbarin von gegenüber, sie be-
schimpfte sie, wann immer Lisa ihr begeg-
nete. Sie beschimpfte auch ihre anderthalb-
jährige Tochter.
Einmal fragte Lisa sie: „Was habe ich Ih-
nen getan?“
Die Frau zeigte ihr den Mittelfinger.
„Ich liebe Potsdam eigentlich“, sagt Lisa,
„doch da ist eben noch diese andere Sei-
te.“„Scheißausländer“, „Scheißmoslem“,
diese Wörter höre sie ständig. Menschen
rufen sie vom Balkon, wenn sie vorbeigeht,
es passiert auf der Straße, überall. Gerade
vor einer Woche sei ihr Bruder wieder in
der Straßenbahn bepöbelt worden. Als sie
gestern an der Bushaltestelle stand, beob-
achtete sie, wie fünf Bauarbeiter einen
Mann, der auf den ersten Blick nicht
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

deutsch aussah, durchbeleidigten. „Hau


ab“, brüllten sie, fünf gegen einen.
Als Lisa schwanger war, kam ihr mal
ein Mann entgegen und schrie sie an:
„Scheißmoslems, ihr seid überall, und jetzt
bist du auch noch schwanger.“
Seit einiger Zeit traut sie sich nicht mehr
Schüler Benni, Berlin: „Ich spüre die Blicke“ allein mit ihren Kindern auf die Straße.
Nur noch in den Supermarkt gehe sie.
Dorthin, wo Kameras sind.
Ihre Nachbarin hat sie nach langem Zö-
gern angezeigt. Die Frau wurde zu einer
Geldstrafe von 1200 Euro verurteilt.
Am Abend, als ich ein Stück entlang der
Havel durch einen Potsdamer Park laufe,
allein, spüre ich, wie ein altes Gefühl in mir
aufzieht, eine Unsicherheit, die ich lange
abgelegt hatte. Mir ist klar: Der Großteil
der Potsdamer sind normale Menschen, of-
fen, tolerant. Doch unter dem Eindruck von
Lisas Erlebnissen, von dem rassistischen
Hass, den Hannes Püschel geschildert hat,
traue ich ihnen nicht mehr so recht über
den Weg. Als mir ein Paar entgegenkommt,
sie mit Bierflasche, er mit Thor-Steinar-
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

Shirt, reicht es mir für den Tag, und ich


sehe zu, dass ich von der Straße komme.
„Refugees not welcome“
Neuruppin, Landgericht, Brandenburg
Wer von Potsdam nach Neuruppin fährt,
an einem klaren Junimorgen, bewegt sich
Pegida-Anhänger, Dresden: Hans-Werner von nebenan durch eine Landschaft, die wirkt wie aus

DER SPIEGEL 37 / 2017 61


Titel

einem Katalog für Wellnessreisen. Es geht können, sei im Laufen aber noch von L. Vielleicht war das der Moment, in dem
vorbei an sanften Kornfeldern und durch in den Rücken getreten worden. Der an- Duco anfing, sich zu verändern. 
ein honiggelbes Licht, das hin und wieder dere sackte nach mehreren Schlägen auf Duco bekam die Wohnung in Neurup-
von Alleen durchbrochen wird, man fährt die Knie und wurde weiter geschlagen und pin, ein Neuanfang. Aber an dem Tag, als
durch das Havelland. Links und rechts lie- getreten. K. trug Stahlkappen in den er einzog, war das Erste, was er von seinen
gen Orte, die noch friedlich zu schlafen Springerstiefeln. Die Opfer erlitten schwe- Nachbarn bekam, eine handgeschriebene
scheinen, und andere, die nach Bootsfahr- re Verletzungen. Liste mit Regeln, die besagten, wie er sich
ten und Fahrradtouren klingen, Döberitzer zu verhalten habe. Diese Leute begegne-
Heide, Falkensee. Der Mohn blüht, Hof- „Neger, I’ll kill you“ ten ihm im Treppenhaus und nannten ihn
läden bieten frische Eier an. Neuruppin, Brandenburg bei jeder Gelegenheit „Neger“. Einmal, als
Im Gerichtssaal eins am Neuruppiner Muse Duco steht in Anzug und Krawatte er den Nachbarn traf, sagte der zu ihm:
Landgericht öffnet sich um 9.45 Uhr die auf seinem Balkon und schaut über die „I’ll kill you“.
Tür, und hereingeführt von den Justiz- Siedlung. Er sieht von seiner Wohnung im Duco antwortete, dass er die Polizei ru-
beamten werden zwei Männer in Hand- fünften Stock hinüber zu den anderen fen werde. Aber er wusste ja schon, dass
schellen, von Kopf bis Fuß in Schwarz ge- Plattenbauten, Häuser, die mit etwas fri- ihm das wahrscheinlich nicht helfen würde,
kleidet. Sie tragen Glatzen, schwarz ge- scher Pastellfarbe verzweifelt versuchen, also ließ er es sein.
rahmte Brillen, Tätowierungen am Hals freundlich zu sein. Als der Mann ihn vor einiger Zeit nöti-
oder auf den Händen. Sandy L. und Raiko Duco war in seiner Heimat Somaliland gen wollte, die Treppen zu reinigen, ob-
K., Mitte dreißig und aus Wittstock. Die Journalist, er ist 31 Jahre alt, er betreibt wohl er nicht an der Reihe war, fragte
Staatsanwältin verliest die Anklage. ein Blog auf Somali, für Flüchtlinge in Duco ihn: „Bist du Rassist?“
1: Sandy L. wird vorgeworfen, eine 15- Deutschland. Er kennt sich aus, liest „Ja, ich bin Rassist“, antwortet er. Als
Jährige, die ein in der linken Szene ver- viel über das Land, in dem er und seine wäre es das Normalste, Rassist zu sein
breitetes T-Shirt mit der Aufschrift „Good Frau nach ihrer Flucht Sicherheit suchten, heutzutage.
Night White Pride“ trug, an einer Shell- er kennt Pegida, er kennt die AfD, die Duco sagt, mit der Zeit, mit jeder neuen
Tankstelle in Neuruppin mehrfach ins Ge- CDU, er macht sich Gedanken über die Erfahrung dieser Art, sei ein Gefühl in ihm
sicht geschlagen und sie vor sich her ge- deutsche Demokratie und darüber, warum hochgezogen, das er vorher so nicht von
schubst zu haben, bis sie zu Boden ging. in diesem Land Menschen leben, die ihm sich kannte: Er wurde selbst aggressiv.
Dann soll er auf das Mädchen eingetreten die Schneidezähne ausgehauen haben, „Wenn man immer nur Angst, Angst,
haben. L. trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: die ihn ins Krankenhaus prügelten und Angst hat, dann macht das was mit einem“,
„REFUGEES NOT WELCOME“. Das eine große Narbe unter seinem Kinn hin- sagt er, „irgendwann ist es zu viel. Dann
Mädchen erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, terließen. explodierst du einfach.“
eine Kiefergelenksprellung und Organprel- Duco glaubt, es habe damit zu tun, Als er eines Nachts nach Hause kam
lungen. dass die Menschen nichts wissen über und auf die Nachbarn traf, habe er sie an-
2: Sandy L. und Raiko K. sollen darauf- Geflüchtete. Dass sie von der Kölner Sil- geschrien: „Ihr seid Nazis, ihr seid Rassis-
hin im Neuruppiner Einkaufszentrum Reiz vesternacht hören, von vollen Booten aus ten, warum macht ihr das?“
ein 16-jähriges Mädchen sowie dessen Libyen, aber nichts darüber, „wer wir Die Nachbarn riefen die Polizei. Muse
Freund zusammengetreten haben. Das sind“. Duco bekam eine Anzeige wegen Beleidi-
Mädchen hatte grün gefärbte Haare und Duco und seine Frau wurden nach ihrer gung. Er wurde mit 20 Arbeitsstunden be-
trug ebenfalls ein T-Shirt, auf dem stand Ankunft in Berlin in eine Massenunter- straft. Diesmal reichten die Beweise.
„Good Night White Pride“. Der Angeklag- kunft in Eisenhüttenstadt gesteckt, danach
te L. stieß das Mädchen zu Boden und trat wurden sie umverteilt nach Neustadt an „Im Normalisierungspanzer“
mehrfach gegen den Kopf, das Gesicht und der Dosse, in ein 3400-Einwohner-Örtchen. Bielefeld, Universität,
den Oberkörper. K. kam dazu und machte Dort, sagt Duco, war er der einzige schwar- Nordrhein-Westfalen
mit. Das Mädchen erlitt Schwellungen, ze Mann, vermutlich der erste schwarze Was ist los mit unserem Land, das kann
Prellungen und soll einen Schuhabdruck Mann, den die Anwohner je getroffen man sich auf so einer Reise fragen. Wie
im Gesicht gehabt haben. Die heute 17- haben. konnte es so weit kommen?
Jährige leidet seither unter Schlafstörun- „Einige Leute waren wirklich nett“, sagt Der Mann, der ein paar Antworten ken-
gen und Angstzuständen. Duco, er mochte die Luft auf dem Land, nen könnte, nimmt hinter seinem Schreib-
3: alkoholisiertes Fahren sowie Fahren die Ruhe, den Wald. Aber es gab eben tisch Platz, in einem kargen Raum an der
ohne Führerschein des Angeklagten L. auch Menschen, die zu ihm sagten: „Mer- Universität Bielefeld, und legt einen Stapel
4: Verstoß gegen das Waffengesetz. In kel muss weg“ und „Ich bin Deutscher. Ne- Kopien vor sich hin, Auszüge aus seiner
L.s Zuhause in Wittstock wurden bei einer ger, komm ja nicht zu meinem Haus“. Langzeitstudie auf recyceltem Papier, der
Hausdurchsuchung zehn Wurfsterne, ein Es ist ein altes Muster: je kleiner der Titel lautet: „Deutsche Zustände“.
Reizstoffsprühgerät sowie eine Taschen- Ort, je homogener die Bewohnerschaft, Wilhelm Heitmeyer hat 1996 das Institut
lampe mit Elektroschocker sichergestellt. desto stärker der Drang, gegen das Unbe- für interdisziplinäre Konflikt- und Gewalt-
5: Sandy L. und Raiko K. sollen einen kannte vorzugehen, gegen alles, was an- forschung gegründet. Über einen langen
Ägypter und einen Staatenlosen misshan- ders ist. Man kann sich die Frage stellen, Zeitraum hat er die Einstellungen der
delt haben. Die Angeklagten verfolgten ob es eine gute Idee ist, Flüchtlinge in Ost- Deutschen erforscht, hat abgefragt, wie
die Männer und riefen dabei „Deutsch- dörfern unterzubringen. sie zu Ausländern stehen, wie groß ihre
land den Deutschen“. Sie sollen die bei- Einmal traf Duco vor seiner Unterkunft „autoritäre Aggression“ ist, die Überzeu-
den umzingelt und sie gegen die Wand einen Mann mit einer Tüte Leergut in der gung, gegen Unruhestifter oder Fremde
eines Gebäudes gestoßen und geschlagen Hand. Der Mann holte aus und haute ihn vorgehen zu müssen, wie stark auch ihre
haben. Die Opfer flüchteten über den mit der Tüte. Wenig später wurde Muse Islamfeindlichkeit ist.
Hinterhof eines Restaurants, woraufhin Duco von mehreren Männern ins Kran- Er sagt: „Die Einstellungen waren schon
ein Messer mit einer Länge von 15 Zenti- kenhaus geschlagen. Die Polizei stellte die lange vor diesem Ausbruch da.“ Sie sind
metern und ein Schlagring eingebracht Ermittlungen nach drei Monaten ein, aus nicht einfach passiert wie eine unerwartete
worden seien. Der eine habe fliehen Mangel an Beweisen. Krankheit. Sie lauerten hinter zugezoge-
62 DER SPIEGEL 37 / 2017
nen Gardinen. Sie mussten sich nur noch
bündeln und radikalisieren. „Schon bei un-
serer Befragung im Jahr 2002 gab es bei
20 Prozent der Bevölkerung eine hohe Zu-
stimmung bei den rechtspopulistischen Ein-
stellungen“, sagt er. Daran hat sich wenig
geändert.
Heitmeyer ist inzwischen emeritiert,
sein Nachfolger hat die „rechtsextremen
Einstellungen in Deutschland 2016“ unter-
sucht und kommt in seiner Studie „Gespal-
tene Mitte, feindselige Zustände“ zu dem
Schluss, dass auch 14 Jahre später der tra-
ditionelle Rassismus, der auf Hautfarbe
und nationale Abstammung zielt, „stabil
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

und hoch“ ist, ebenso sei die Fremden-


feindlichkeit seit fast zehn Jahren auf ähn-
lichem Niveau. Mehr als ein Drittel der
Bevölkerung sei der Meinung, es lebten
zu viele Ausländer in Deutschland.
Heitmeyer beschreibt eine Art wutge-
tränkte Apathie, in der diese Menschen
Blogger Duco, Neuruppin: Schneidezähne ausgehauen über viele Jahre verharrten, eine Wut, die
auch damit zu tun hat, dass sie sich ein-
flusslos fühlten, ohne gesellschaftliche An-
erkennung, ohne Stimme. „Große Teile
der Gesellschaft fühlten sich nicht wahr-
genommen“, sagt Heitmeyer. Und das sei
eine riesige, vor allem von der Politik un-
terschätzte Gefahr.
Schon lange vor der Flüchtlingskrise
habe dieses Gefühl drastisch zugenommen,
durch die Auswirkungen der Finanz- und
Wirtschaftskrise 2008 und 2009. Auch die
individuelle Bereitschaft zur Gewalt.
Doch es war eine Wut, so beschreibt es
Heitmeyer, die noch nicht sichtbar war, sie
hatte keinen politischen Ort. Und auf ein-
mal kamen Pegida und die AfD und gaben
ihr diesen Ort. „Das ist ja zynischerweise
die hervorragende Leistung von Pegida
und AfD“, sagt Heitmeyer, „diese Bewe-
gungen haben Menschen aus ihrer indivi-
duellen Ohnmacht geholt und dazu ge-
bracht, kollektive Machtfantasien zu ent-
wickeln: ‚Wir sind das Volk‘.“
Besonders stark bekommen diesen
Hass nun asylsuchende Menschen zu spü-
ren. Die Abwertung von Asylsuchenden
erreichte 2016 einen Spitzenwert, das er-
gab die Studie der Universität Bielefeld.
Jeder zweite Deutsche zeigte sich ableh-
nend gegenüber Asylsuchenden. Beson-
ders ostdeutsche Befragte und AfD-
Anhänger stimmten den abgefragten Vor-
urteilen in hohem Maße zu. Das gilt
auch bei der Feindlichkeit gegenüber
Muslimen.
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

Es gibt etwas, das nennt Heitmeyer die


Schweigespirale. Er sagt, diese Schweige-
spirale funktioniere seit einiger Zeit nicht
mehr: „Wenn Menschen den Eindruck ha-
ben, mit ihren Einstellungen in der Min-
derheit zu sein, dann sind sie sehr viel vor-
sichtiger, sie an der Ladenkasse oder am
Schülerin Lisa, Potsdam: Deutschland den Deutschen Arbeitsplatz herauszuposaunen. Haben sie
aber – wie zurzeit – den Eindruck, sie seien
DER SPIEGEL 37 / 2017 63
Titel

Straßen lief, hupten ihn Autofahrer an


und zeigten ihm den Mittelfinger, viermal
ist ihm das passiert, in weniger als andert-
halb Jahren.
„Meine ganze Offenheit und Aufge-
schlossenheit gegenüber den Leuten wur-
de gebremst“, sagt er. Immer sei da zuerst
der Gedanke gewesen: „Was denken die
wohl über mich?“, das Gefühl, jeden
Schritt kalkulieren zu müssen. „Das ist wie
ein Gewicht, das immer dabei ist.“
Dieses Gewicht spürten alle, die ich ge-
troffen habe: Ihr Alltag wird gelenkt von
dem Bewusstsein, immer gesehen zu wer-
den, auf der Hut sein zu müssen, bloß
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL

nicht unangenehm aufzufallen, am besten


gar nicht aufzufallen. Und bloß keine Vor-
urteile zu bestätigen.
Es ist wie das Symptom einer Krankheit,
die dabei ist, sich zwischen Berlin, Köln,
Dresden und München auszubreiten: Je
mehr Raum Gesellschaft und Politik den
Student Wendtoin, Dresden: „Würstel und Bier am Albertplatz“ Rechtspopulisten überlassen, desto mehr
Menschen werden ihre Freiheit verlieren.
In einem eigentlich freien Land.
Teil einer Mehrheit, dann geht die Post geworden, Deutschland sei schon viel wei- Nach einer Zeit der Verunsicherung be-
ab.“ Dann schweigen sie nicht mehr. „Das ter. Ich habe mich davon täuschen lassen, schloss Wendtoin, sich das Leben in Dres-
Sagbare wird ausgedehnt.“ dass sie nicht mehr so sichtbar waren wie den nicht verderben zu lassen von Men-
Und mit dem Sagbaren irgendwann in den Neunzigerjahren. Sie waren stiller, schen, die andere anschreien müssen, um
auch das Machbare. Die Sprache ist der vorsichtiger. Vielleicht habe ich sie auch sich groß zu fühlen. Er ist zu dem Schluss
erste Schritt zur Gewalt. Wenn Menschen einfach aus meinem Leben ausgeblendet. gekommen, dass diese Menschen Schwä-
immer wieder aussprechen, dass Muslime In Wirklichkeit waren sie immer da. chen haben. Und dass es sich nicht lohnt,
Bombenleger sind, Schwarze faul, Nord- auf ihren Hass mit Hass zu reagieren.
afrikaner Vergewaltiger, wenn es immer „Dresden, ich liebe dich“ Stattdessen hat er ein Liebeslied über
wieder heißt, dass sie in diesem Land Dresden, Sachsen seine Stadt geschrieben, ein versöhnliches,
nichts verloren haben, dass sie minderwer- An einem Montagnachmittag, ein paar selbstironisches Lied, das sich das Stadt-
tige Menschen seien – dann werden diese Stunden bevor Pegida-Anhänger durch sei- marketing kaum besser hätte ausdenken
Aussagen für die, die sie aussprechen, und ne Lieblingsstadt ziehen und Passanten be- können. Es geht darin um Pegida, aber
die, die sie hören, irgendwann zur Realität. pöbeln, bevor Deutsche, die sich Patrioten eben auch um „Würstel und Bier am Al-
„Für mich ist das einer der sensibelsten nennen wollen, „Abschieben!“ rufen und bertplatz“, um die Schauburg und die Elbe.
Punkte“, sagt Wilhelm Heitmeyer: Denn ein Redner auf der Bühne die Frage stellt: Es geht um Björn Höcke, aber auch darum,
wenn die Abwertung schwacher Gruppen „Belästigen sie noch, oder schlitzen sie dass sich Wendtoin in dieser Stadt hei-
normal wird, wenn es selbstverständlich schon?“, ein paar Stunden vor alledem misch fühlt und Eier zum Frühstück isst,
wird, mit der Ungleichwertigkeit von Men- sitzt Ezé Wendtoin im Institut Français so wie ein echter Deutscher.
schen zu operieren, gelten die Grundwerte und erzählt, warum er Dresden eine Er singt: Wir haben hier die Frauen-
unserer Gesellschaft nicht mehr – nämlich Liebeserklärung geschrieben hat. kirche, daneben Pegida und AfD,
die Gleichwertigkeit und das Recht auf die Wendtoin ist 26 Jahre alt und Germa- trotzdem liebe ich euch alle – und fürch-
psychische und physische Unversehrtheit nistikstudent,  er stammt aus Burkina Faso, te mich nicht,
des Einzelnen. „Dann wird es wirklich wo er sich in die deutsche Sprache verlieb- Dresden, ich liebe Dich.
eng“, sagt der Professor. te und den Bachelor machte. Inzwischen Am Abend, auf der Pegida-Demo,
Es entstehe eine Art Normalisierungs- spricht er ein Deutsch, das besser zu ver- drückt mir ein Mann, der kurz zuvor in
panzer, den man irgendwann nicht mehr stehen ist als das vieler Pegida-Anhänger der Menge Fahnenschwenkender stand,
durchbrechen könne. Die Frage ist, wann mit ihrem sächsischen Dialekt. der in den Chor einstimmte, als sie riefen
wir diesen Zeitpunkt erreichen. 2013 kam Wendtoin zum ersten Mal in „Abschieben! Abschieben!“, der in einer
Ist es normal, dass Flüchtlingsheime die Stadt, um auf einem Festival aufzutre- Gruppe läuft, die dabei ist, Passanten, die
brennen? ten, neben seinem Studium arbeitet er arabisch aussehen, als „Scheißmoham-
Ist es normal, dass Neonazis in voller schon lange als Musiker. meds“ zu beschimpfen, dieser Mann
Montur durch die Straßen spazieren? „Es war eine sehr gute Stimmung“, sagt drückt mir einen Flyer in die Hand.
Ist es normal, dass eine Frau mit Kopf- er. Er habe offene Menschen erlebt, fast „Ja, ja, immer schön lächeln“, sagt er
tuch Angst hat, mit ihren Kindern vor die nur positive Begegnungen. dann zu mir. Ich weiß nicht, was er damit
Tür zu gehen? Als er Ende 2015 wiederkam, war Dres- meint. Auf dem Flyer steht „Merkel muss
Ist es normal, dass es in meinem eigenen den mit einem Mal bekannt als Hauptstadt weg“, es ist ein Demo-Aufruf der Initiative
Land Orte gibt, an denen ich mich nicht der besorgten Bürger und Rassisten. „Wir für Deutschland“. Der Mann reiht
sicher fühlen kann? Wendtoin fuhr an einem Montag mit der sich wieder in den Zug der Pöbler ein, ein
Mir wird klar: Ich habe mir etwas vor- Bahn, und ein Mann fragte ihn: „Du Affe, besorgter Bürger.
gemacht in den letzten 15, 20 Jahren. Ich was willst du hier?“ und „Gibt es viele Ich schaue ihm hinterher. Und auch ich
habe gedacht, die Rassisten seien weniger Affen in Afrika?“ Wenn er nun durch die muss sagen: Ich sorge mich. I

64 DER SPIEGEL 37 / 2017


Gesellschaft

die Idee für einen Dokumentarfilm an, die Manuel über


Slack geschickt hatte. Weil ich neugierig bin. Aber auch,
weil ich es so verstanden habe, dass das hier üblich ist. Die
Arbeit ist immer präsent, das ist ein Teil des Konzepts.
Natalie hat ein Start-up für sortenreinen Apfelsaft. Sie
sagt, ohne Co-Living hätte sie das letzte Jahr nicht ge-
Wohne und arbeite schafft. „Wenn ich mich eng mit Leuten umgebe, die das
Gleiche leben, können die mir Input geben bei Problemen.
Das sind Themen, die hier anders besprochen werden als
Homestory Mein kompliziertes Leben im Durchschnittsdeutschland.“ Praktische Hilfe gibt es
auch. Kürzlich hat Manuel ihr ein Excel-System aufgebaut,
in einer „Co-Living“-WG mit dem sie sich einen besseren Überblick über ihre Saft-
lieferungen verschaffen kann.

A
ls ich im April dieses Jahres nach Hamburg Ich bin es gewohnt, tagsüber für acht Stunden in einem
zog, wurde ich Teil eines Lebenskonzepts, das Einzelbüro zu verschwinden. Die Co-Living-Leute arbei-
einen seltsamen Namen trägt: „Co-Living“. Ich ten zu Hause, in ihrem Zimmer, in der Küche, auf der
suchte einen befristeten Platz in einer WG und hatte Terrasse. Manuel fährt seinen Schreibtisch nach oben und
noch nie davon gehört. Ich wollte es ausprobieren. Auch arbeitet stehend zwei Meter neben dem Bett. Natalie sitzt
wenn es ein Leben zu sechst mit nur einer Toilette be- schon morgens mit ihrem Laptop am Küchentisch. Die
deutet. meisten von ihnen sind noch nicht lange selbstständig,
Das hört sich nach üblicher WG an, ist es aber nicht, sie müssen sparen, auch dabei hilft das geteilte Leben.
wie ich vom Zimmervermieter per Skype erfuhr. Co- Allein hätten sie es noch schwerer, bezahlbaren Wohn-
Living bedeutet: Die gemeinsame Wohnung ist auch Ge- raum zu finden. Freiberufler, befürchten viele Vermieter,
meinschaftsbüro. Vorbilder gibt es im Silicon Valley. könnten die Miete nicht zahlen.
Fünf Menschen auf 175 Quadratme- Angenehm überrascht hat mich, wie
tern im Hamburger Schanzenviertel ansprechbar die Mitbewohner sind für
suchten also einen sechsten. Fünf Frei- das, was die anderen umtreibt. Ich
berufler, die ihr Geld als Werbetexterin, habe noch nie so viel über Kontakte,
Start-up-Gründerin, Videoproduzent, über Perspektiven geredet wie in dieser
Onlinemarketingmanager und Online- WG. Sie sind selbstständig, sie wissen,
händlerin verdienen. Die einander bei wie wichtig der Austausch ist. Die Kü-
Projekten helfen, von ihren Affären er- che ist auch Konferenzraum: Lara hat
zählen, manchmal zusammen kochen an einem Buchhaltungsworkshop teil-
und essen. Sie nahmen mich. Eine Jour- genommen. Natalie fragt sie, ob sie an
nalistin, fanden sie, passe ganz gut. einem Vormittag eine Schulung für die
Am zweiten Abend kam Natalie zu anderen gibt.
mir in die Küche und strahlte mich an. Ein Leben außerhalb des Angestell-
„Ich habe einen Job für dich!“, sagte tendaseins kann attraktiv sein, das habe
sie. „Bei einem jungen Heft, für starke, ich in dieser WG gelernt. Allerdings
selbstbewusste Frauen.“ Die brauchten verschwimmen oft Arbeit und Freizeit,
jemanden, der für sie twittert. und ich mag es nicht, so wenig Zeit für
Ich möchte eigentlich Texte schrei- mich selbst zu haben. Ein schlechtes
ben, die länger als 140 Zeichen sind. Gewissen kann hier schon einsetzen,
Aber ich freute mich, dass sie an mich wenn man die Zimmertür schließt.
gedacht hatte. Meine größte WG hatte bis jetzt aus
Für den nächsten Morgen planten drei Personen bestanden. Sosehr ich
wir, gemeinsam zu meditieren, um Gesellschaft schätze, so froh war ich,
acht. Als ich um 8.04 Uhr dazustoßen wenn ich am Wochenende mal die
wollte – es hatte gedauert, bis ich ins Bad konnte –, waren Wohnung für mich hatte. Beim Co-Living wird der Aus-
alle bereits in Laras Zimmer, die Tür war zu. Drei Minuten tausch jedoch erst interessant, wenn viele Menschen eine
hatten sie gewartet, dann nicht mehr. Wohnung teilen. Die Nähe muss man wollen. Die Mit-
Bei meiner letzten WG hatten wir uns eher lose zum bewohner sind zugleich Freunde. Streit wäre schwierig.
gemeinsamen „Tatort“-Abend verabredet, meine Mitbe- Auch Erfolg kann zum Problem werden, das hat Natalie
wohnerin kam in der Regel erst 30 Minuten später dazu. erlebt. Sie stellte zwei Mitarbeiter ein, einen Angestellten
Pünktlich waren wir, wenn es ins Kino ging. Meistens fan- und einen Praktikanten, die beiden saßen mit ihr im Büro
den unsere Treffen ohne Verabredung in der Küche statt. gleich neben ihrem Schlafzimmer. „In dem Moment, als
In dieser Start-up-WG läuft das so: Auf Slack, einem ich fremde Menschen so nah in mein Privatleben ließ, ist
Team-Messenger, den sonst Unternehmen nutzen, er- mir das zu viel geworden. Was soll ich machen, wenn ich
scheint die Erinnerung an den wöchentlichen Putzdienst. mal Fieber habe?“ Also hat sie ihr Büro jetzt doch nach
Manuel aus dem Zimmer am Ende des Flurs fragt, ob draußen verlagert, für vier Tage pro Woche. Nur freitags
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

ich zu einer Veranstaltung für Gründer mitkomme. Mit arbeitet sie zu Hause am Küchentisch.
Natalie vereinbare ich ein gemeinsames Mittagessen, eine Für Lara ist die große WG nach zwei Jahren zu viel ge-
Woche im Voraus. worden, sie ist zu ihrem Freund gezogen. Manuel und
In den WGs, in denen ich bis dahin gelebt hatte, hätte Natalie haben gefragt, ob ich stattdessen dauerhaft ein-
ich abends ein bisschen Fernsehen geguckt oder mit meinem ziehen möchte.
Freund telefoniert. Hier saß ich nun am Laptop und schaute Ich habe Nein gesagt. Laura-Nadin Naue

66 DER SPIEGEL 37 / 2017


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Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
CHARLY TRIBALLEAU / AFP
Baustelle des Druckwasserreaktors Flamanville 2016

Energie

Rückschlag für Vorzeigereaktor


An der Zuverlässigkeit wichtiger Stahlteile gibt es plötzlich Zweifel.
Der europäischen Atomindustrie droht ein schwerer Rück- als 20 Reaktoren in Frankreich verbaut worden. Nach Auf-
schlag: Die Inbetriebnahme ihres Vorzeigereaktors im fran- deckung des Skandals (SPIEGEL 46/2016) hatten die franzö-
zösischen Flamanville könnte sich um Jahre verzögern. sischen Behörden diverse Atomkraftwerke wie den Uralt-
Grund: Die Bundesregierung erwägt, eine neue, grenzüber- meiler Fessenheim vorübergehend stillgelegt und überprüft.
schreitende Umweltverträglichkeitsprüfung einzuleiten. Das an der Kanalküste gelegene Atomkraftwerk in Fla-
Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage der atompoliti- manville, nach mehrjähriger Bauzeit inzwischen fast fertig-
schen Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, aus der gestellt, soll dagegen im kommenden Jahr ans Netz gehen –
vergangenen Woche hervor. Anlass für eine solche Prüfung obwohl eine Gefährdung durch die fehlerhaften Stahlteile
sind Stahlteile, die ausgerechnet im sensiblen Druckbehäl- bislang nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Grüne
ter des Reaktors verbaut wurden und die den hohen Sicher- Kotting-Uhl fordert die Bundesregierung auf, rasch zu han-
heitsanforderungen möglicherweise nicht gerecht werden. deln. Ein solch mangelhaftes AKW in Betrieb zu nehmen,
Die Teile waren über Jahre hinweg von einer Tochter des sagt sie, sei „ein inakzeptabler Tabubruch und verantwor-
französischen Atomkonzerns Areva gefertigt und in mehr tungsloses Spiel mit dem Risiko“. fdo

Diesel MeinAuto.de mit der Suche Gasfahrzeuge werden deut- Prämie meist zusätzlich
Kunden wenden sich nach Autoangeboten beauf- lich stärker angefragt. Damit zum bereits gewährten Rabatt
tragten, fragten nach einem dürften in den nächsten Mo- gewährt wird. Die Kunden
massiv ab Dieselfahrzeug; vor Bekannt- naten die Dieselzulassungen nutzten die Umweltprämie
Die deutschen Autokunden werden des Dieselskandals weiter sinken. Das Interesse vor allem, um auf Benziner
wenden sich von der Diesel- hatte der Dieselanteil bei an der Umweltprämie für den oder gleich auf Hybrid- oder
technik noch stärker ab, als 43 Prozent gelegen. Die Tausch eines alten Diesels ge- Elektroautos umzusteigen,
die Zulassungszahlen das aus- Nachfrage nach Benzinern gen ein Neufahrzeug ist groß. sagt MeinAuto-Chef Alexan-
weisen. Nur noch 23 Prozent verzeichnet dagegen mit Aus den Angeboten, die der Bugge. Die Preisnach-
aller Kaufinteressenten, die 68 Prozent einen Rekordwert. MeinAuto.de von Händlern lässe für Neuwagen sind so
im August das Rabattportal Auch Elektro-, Hybrid- und erhält, geht hervor, dass die hoch wie lange nicht. gt

68 DER SPIEGEL 37 / 2017


Wirtschaft
Arbeitswelt SPIEGEL: Was muss kraft muss nicht Flugaffäre
„Eine Auszeit, um sich verändern? mehr 40 oder mehr Neuer Ärger für VW-
Straubhaar: Wir brau- Stunden die Woche
sich weiterzubilden“ chen vor allem ein körperlich schuften, Aufseher Pötsch
Der Ökonom Thomas Straubhaar, völlig verändertes bis sie selbst zum Die Affäre um Privatflüge

JÜRCO BÖRNER
60, über die Rente mit 70 Bildungssystem. Pflegefall wird. Sie mit Firmenjets könnte für
Hochschulen müss- lernt rechtzeitig, Volkswagen und seinen Auf-
SPIEGEL: SPD und Union sa- ten sich nicht mehr mit Hilfsapparaten sichtsratschef Hans Dieter
gen, es werde keine Rente mit nur an junge Leute Straubhaar und Pflegerobotern Pötsch ein juristisches Nach-
70 geben. Ist das realistisch? richten, sondern zu arbeiten. spiel haben. Die Staatsanwalt-
Straubhaar: Kurzfristig viel- auch an ältere, auch Querein- SPIEGEL: Diese zweite Ausbil- schaft Braunschweig hat Vor-
leicht. Längerfristig sollten steiger, die schon lange arbei- dung kann ja auch eine ermittlungen aufgenommen:
wir alles dafür tun, dass Men- ten, und das nicht nur mit Kur- willkommene Auszeit sein. „Es wird derzeit geprüft, ob
schen länger arbeiten können, sen auf Volkshochschulniveau. Straubhaar: Genau! Die ein Anfangsverdacht wegen
da ja erfreulicherweise auch SPIEGEL: Die Pflegekraft oder Modelle der Zukunft werden Untreue oder anderer in Be-
die Lebenserwartung steigt. der Dachdecker sollen also mit Brüchen arbeiten. Der tracht kommender Straftat-
SPIEGEL: Allerdings profitieren noch einmal studieren? eine nimmt eine Auszeit, um bestände vorliegt“, erklärte
nicht alle Schichten gleich. Straubhaar: Sie sollen ihr Wis- sich weiterzubilden, der eine Sprecherin der Behörde.
Straubhaar: Das stimmt. Wer sen immer wieder auf den andere, um sich zu erholen, Pötsch, der vor seiner Beru-
einen schlechteren sozialen neuesten Stand bringen, um um für die nächsten 10 oder fung zum Aufsichtsratschef
Status hat, stirbt eher und so auch als Ältere die Vortei- 20 Jahre wieder fit zu sein. Finanzvorstand war, hatte
bezieht kürzer Rente. Des- le einer neuen, digitalen Ar- Es ist doch schon lange ebenso wie andere damalige
halb muss sich ein Konzept beitswelt nutzen zu können. eine Illusion, dass wir 45 oder Vorstandsmitglieder in den
der längeren Lebensarbeits- Der Dachdecker muss dann 47 Jahre ununterbrochene Jahren 2010 bis 2013 regelmä-
zeit insbesondere mit denen nicht mehr selbst aufs Dach, Erwerbszeit vorweisen kön- ßig die Flugzeugflotte des Au-
beschäftigen, die einen wenn er gelernt hat, wie ein nen. Solche Vollzeitmodelle tokonzerns für private Flüge
schwächeren Status haben, Roboter funktioniert, der ihm bilden die Lebenswirklichkeit genutzt. Auf Druck des Ex-
das sind vor allem die, den gefährlichen Teil der des 21. Jahrhunderts nicht Aufsichtsratschefs Ferdinand
die hart körperlich arbeiten. Arbeit abnimmt. Die Pflege- mehr ab. bra Piëch zahlten die Manager
später 2,15 Millionen Euro an
VW zurück, gut eine halbe
Million kam von Pötsch.
Lufthansa men zur Direktbuchung ihrer Demnächst sollen die Kon- Strafrechtler sind jedoch
Für lau in die Lounge Dienstreisetickets abgeschlos- zernkunden zudem den Zu- der Ansicht, dass unabhängig
sen. So werden globale Ver- gang für VIP-Kunden bei der von der Rückzahlung ein Un-
In den Business-Lounges der triebssysteme wie Amadeus Sicherheitskontrolle nutzen treueverdacht zu prüfen wäre.
Lufthansa könnte es künftig oder Sabre umgangen, deren und das Flugzeug beim Boar- „Wenn die VW-Leitungsgre-
deutlich voller werden. Denn Kosten die Lufthansa sonst ding als Erste betreten dür- mien Herrn Pötsch über Jah-
die Lufthansa will speziellen in Form einer Servicegebühr fen. Nach eigener Auskunft re hinweg die Nutzung der
Kunden den Zugang zu den auf den Ticketpreis aufschlägt. arbeitet die Lufthansa derzeit Firmenjets für Privatflüge ge-
Warteräumen gewähren, auch Im Gegenzug genießen „mit zahlreichen weiteren stattet haben, ohne dass da-
wenn sie keine Vielfliegerkar- Siemens-Mitarbeiter eine Vor- Dax-Unternehmen“ an ähnli- für eine angemessene Gegen-
te besitzen: den Angestellten zugsbehandlung – bei Ge- chen Abkommen. VW hat leistung erbracht wurde, so
von Siemens nämlich sowie schäftsreisen bekommen sie schon unterschrieben, auch wäre näher zu untersuchen,
von weiteren deutschen Groß- einen Gutschein für die Nut- die Allianz soll interessiert ob darin nicht eine strafrecht-
unternehmen. Siemens hat zung der Lufthansa-Business- sein. Um welche Leistungen lich relevante Untreue zulas-
mit der Lufthansa vor mehr Lounges, auch wenn sie nur es im Detail geht, will die ten des Firmenvermögens
als einem Jahr ein Abkom- Economy fliegen. Lufthansa nicht verraten. did lag“, sagt Thomas Weigend,
Professor für Strafrecht an
der Uni Köln. VW hatte
Pötsch und Kollegen offenbar
für die Flüge jeweils nur die
Kosten eines Lufthansa-
Linienflugs in Rechnung ge-
stellt, die pro Flugstunde um
etwa 10 000 Euro unter den
A. SCHELLNEGGER / PICTURE ALLIANCE / DPA

Kosten der Firmenjets liegen.


Die Staatsanwaltschaft sag-
te nicht, gegen wen sich die
Prüfung richtet. VW äußerte
sich zu den Vorwürfen nicht,
grundsätzlich seien Neben-
leistungen entsprechend dem
damals gültigen Nebenleis-
tungskatalog in Anspruch ge-
Lufthansa-Lounge in München nommen worden. fdo, mhs, sh

DER SPIEGEL 37 / 2017 69


Wirtschaft

1945
ca. 50
Staats-
verschuldung Handelsbilanzdefizit der USA US-Anteil
in Prozent für Güter und Dienstleistungen am Welt-BIP
USA des BIP in Milliarden Dollar in Prozent
Quelle: IWF Quelle: OECD Quellen: Weltbank, ab 1980 IWF
1960
40
2000 2016

1970
36
2017
(Prognose)

108,3 2000
+0,9 30
Prozentpunkte
gegenüber 2016
Vorjahr 1980
26 25
525 1990
25 2010
23
653

863

Im Abstiegskampf
Wirtschaftspolitik Unter Präsident Trump sind die USA dabei, ihre ökonomische
Vormachtstellung zu verspielen. Der Dollar wird zur Risikowährung, der
Euro zum Zufluchtsort für Kapital. Die EU rechnet nun in einem internen Papier ab.

M
it dem Niedergang von Welt- Aus. Vorbei. Vergangen. Das politische ökonomische Stabilität dar. Mit einem mil-
reichen kennt sich der Mann aus. System der USA könne die Welt „in eine liardenschweren Aufbauprogramm, dem
Kindheit und Jugend verbrachte Richtung lenken, die sehr gefährlich ist“, Marshallplan, halfen sie dem Westen
Stanley Fischer, 73, die Nummer zwei der sagt der Ökonom, der schon an etlichen Europas aus den Kriegstrümmern. Kam es
amerikanischen Notenbank Fed, in Rho- Schaltstellen der Macht wirkte. Chefvolks- irgendwo auf der Welt zu Finanzkrisen, or-
desien, dem heutigen Sambia und Simbab- wirt der Weltbank war er, Vize des IWF chestrierte das amerikanische Finanzmi-
we, damals Teil eines britischen Protekto- und Chef der israelischen Zentralbank nisterium zusammen mit dem IWF die
rats. Anfang der Sechzigerjahre ging er auch. Damit gehört er zu jener Kaste von Hilfsmaßnahmen. Als 2008 die schwerste
zum Studium ins Mutterland nach London „Globalisten“, für die das Trump-Lager Weltwirtschaftskrise seit 80 Jahren aus-
und erlebte, wie sich das Empire auflöste. bloß Verachtung übrig hat. brach, führten die Amerikaner die global
Geschichte wiederholt sich, manchmal So etwas wie derzeit hat Fischer in sei- abgestimmten Rettungsbemühungen an.
sogar in der Lebensspanne eines Men- nem Berufsleben noch nicht erlebt. Die Von der Vormachtstellung ist nicht viel
schen. Derzeit beobachtet Fischer, mittler- Bestrebungen der US-Regierung etwa, geblieben. Der einstige Superstar USA be-
weile Amerikaner, aus der Nähe, wie sich kaum zehn Jahre nach der Finanzkrise die findet sich im Abstiegskampf. Im Washing-
eine weitere Großmacht von der Weltbüh- Aufsicht über den Bankensektor zu lo- ton Donald Trumps regieren wirtschafts-
ne verabschiedet. Amerika verliere unter ckern, hält er für schlichtweg „irre“. politisch Kleinmut und Verzagtheit, die
der Führung von Präsident Donald Trump Am vergangenen Mittwoch zog Fischer sich allenfalls in großsprecherischem Na-
seinen Status als globale Hegemonial- die Konsequenzen und kündigte den Rück- tionalismus entladen. Die einstige ökono-
macht, wetterte der Notenbanker kürzlich. tritt von seinem Posten an. Die wichtigste mische Weltordnungsmacht hat den selbst
Die Rolle der USA als Garant globaler Or- Notenbank der Welt wird damit einen un- verordneten Rückzug angetreten. In der
ganisationen wie des Internationalen Wäh- bestrittenen Fachmann verlieren. Gut mög- amerikanischen Hauptstadt, der Heimstatt
rungsfonds (IWF) könne nicht länger als lich, dass Trump ihn durch einen Gefolgs- des „Washington Consensus“, einer Politik,
gegeben betrachtet werden. „Ich hatte ein- mann ersetzt. So oder so, das Ansehen die auf internationale Kooperation, Wett-
mal die Vorstellung von einer Weltwirt- Amerikas in der Welt von Wirtschaft und bewerb und Marktkräfte setzte, herrscht
schaft, in der die USA einen Anker dar- Finanzen nimmt weiteren Schaden. ökonomische Nabelschau.
stellen“, sagt Fischer, „nicht eine Quelle Über Jahrzehnte stellten die USA so et- In Verruf geraten ist alles, was den wirt-
von Unsicherheit.“ was wie die Garantiemacht für globale schaftlichen Siegeszug des Westens in den
70 DER SPIEGEL 37 / 2017
536
480
Handelsbilanz-
überschuss der EU
für Güter und 301
Dienstleistungen
in Milliarden Dollar EU
63

2000 2016

2017 Staats-
(Prognose)
verschuldung
84,7 der EU-Länder
in Prozent
zum
Vergleich:
–1,1 des BIP
Prozentpunkte
EU-Anteil gegenüber
am Welt-BIP Vorjahr
in Prozent
2016
22

vergangenen Jahrzehnten begründete. Der IWF hatte seine Wachstumsprogno- Bekämpfung der Ungleichheit und der
Handelsverträge werden infrage gestellt, se für die Vereinigten Staaten für dieses Steigerung des Potenzialwachstums entge-
traditionelle Partnerländer stehen am Pran- und nächstes Jahr nach unten korrigiert gensteht.“
ger, weil sie angeblich Arbeitslosigkeit ver- und die US-Regierung ermahnt, endlich Stichwort Investitionen: Sorgen bereitet
ursachen. Die einstmals vor Selbstbewusst- drängende Probleme anzugehen, etwa die den Europäern, dass internationale Geld-
sein strotzende Nation wird heimgesucht Alterung der Gesellschaft, das schwächeln- geber die USA in jüngster Zeit zunehmend
von Selbstzweifeln und Abstiegsangst, zu- de Wachstum und die Ungleichverteilung meiden. „Der Rückgang bei internationa-
nehmend setzt sie auf Abschottung. der Einkommen. len Investitionen stellt eine mögliche Ver-
Über den Tisch gezogen worden seien Den Europäern geht die Kritik der IWF- letzlichkeit dar“, schreiben die Spitzenbe-
die USA bei Handelsabkommen, klagt Experten nicht weit genug. Sie werten vor amten in ihrer Stellungnahme.
Trump bei jeder Gelegenheit. Seine Vor- allem Überlegungen, den Freihandel und Stichwort Steuern: Die geplante Reform,
gänger hätten nicht gut verhandelt. Ganz internationale Kooperationen einzuschrän- die Last vor allem für obere Einkommens-
so, als ob die USA ein Opfer der Globalisie- ken, als Anschlag auf den ökonomischen klassen zu senken, „wird die Herausforde-
rung wären und nicht ihr Wegbereiter. Weltfrieden, aber auch als Nachteil für die rungen eher verschärfen als lindern, vor
Minderwertigkeitskomplexe, Verlust- USA selbst. denen die US-Wirtschaft steht, beispiels-
ängste und Unfähigkeit bleiben nicht Der IWF, kritisieren die Europäer, hätte weise die wachsende Polarisierung bei der
ohne Auswirkungen auf die Stellung der die Gefahren eines vermehrten Protektio- Einkommensverteilung, steigende Armut
Amerikaner in der Welt. Bei internationa- nismus, also eines Rückzugs der USA auf und rückläufige Teilnahme am Arbeits-
len Treffen wie G 7, der Runde der wich- sich selbst, stärker geißeln sollen. „Dessen markt“.
tigsten Industriestaaten, oder G 20, dem Auswirkungen könnten viel schädlicher Stichwort Krankenversicherung: Die Ab-
Zusammenschluss der etablierten und auf- ausfallen als bislang gedacht.“ sicht, die allgemeine Krankenversicherung,
strebenden Volkswirtschaften, rücken die Das Papier liest sich wie eine Abrech- Obamacare genannt, abzuschaffen, wird
Amerikaner wegen ihrer irrlichternden nung mit der Wirtschaftspolitik der Trump- ähnlich kritisch gesehen. „In diesem Zu-
Positionen vom Zentrum der Diskussionen Regierung. Punkt für Punkt zerlegen die sammenhang sei daran erinnert, dass die
an den Rand. In wichtigen Fragen, vom Fachleute so gut wie alle Pläne der US- Vereinigten Staaten mit Blick auf die Ge-
Klimawandel bis zur Handelspolitik, lautet Administration. sundheitsversorgung im OECD-Vergleich
die Frontstellung in jüngster Zeit häufig Stichwort Staatsausgaben: Da „sich die schon jetzt nur sehr dürftig abschneiden.“
6 zu 1 oder 19 zu 1. öffentlichen Schulden schon jetzt nicht auf Die vorgeschlagene Reform „könnte zu ei-
Wie tief der Graben zwischen Europä- einem nachhaltigen Pfad bewegen“, berge ner weiteren Verschlechterung führen“.
ern und Amerikanern klafft, belegt ein Trumps verschwenderische Haushaltspla- Das alles ist keine kleinliche Kritik. Das
internes Positionspapier des Wirtschafts- nung „kurzfristige Risiken für die Welt- Papier offenbart tief greifende Meinungs-
und Finanzausschusses der Europäischen konjunktur“. verschiedenheiten unter ehemaligen Part-
Union. Das Gremium versammelt Spitzen- Eigentlich müsste die US-Regierung nern. Und es zeigt, dass Trumps Amerika
beamte aus den Finanzministerien der Mit- „Maßnahmen auf der Einnahmen- und dabei ist, seinen Führungsanspruch zu ver-
gliedstaaten, die eine gemeinsame Haltung Ausgabenseite ergreifen“, um die Staats- spielen.
der EU zu wichtigen wirtschaftspolitischen finanzen wieder ins Lot zu bringen, heißt Die Washingtoner Stümperei hat bereits
Angelegenheiten abstimmen. es in dem Papier. Eine kaum verklausu- ein Opfer hervorgebracht: den Dollar.
Diesmal beziehen die Fachleute Stellung lierte Aufforderung, Etatposten zu kürzen Noch zu Jahresbeginn sprachen Devisen-
zu einem anderen Papier, einer IWF-Ein- und Steuern zu erhöhen. Und weiter: „Wir experten davon, dass die Wechselkurs-
schätzung zum Zustand der amerikani- finden, dass die Umorientierung der US- gleichheit von Dollar und Euro kurz be-
schen Wirtschaftspolitik aus dem Juli. Und Regierung auf höhere Verteidigungsausga- vorstehe. Davon ist keine Rede mehr. Ver-
bereits dieser Bericht hat es in sich. ben weiter gefassten Politikzielen wie der gangene Woche überstieg der Euro die
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Wirtschaft

Marke von 1,20 Dollar und pendelt seit- Jahre verbrachte er damit, Asiaten, Süd-
dem knapp darunter. und Nordamerikanern das komplizierte
Der Dollar entwickelt sich nicht nur ge- Konstrukt Euro zu erklären und sie davon
genüber der Währung der wieder erstark- zu überzeugen, ihr Geld in ESM-Anleihen
ten Eurozone schwach. Er verliert auch im zu investieren. In jüngster Zeit verbringt
Vergleich zu Währungen jener Länder, die er mehr Zeit an seinem Schreibtisch in der
selbst angeschlagen sind, wie dem briti- ESM-Zentrale in Luxemburg. Das Ge-
schen Pfund und dem japanischen Yen. schäft läuft wie von selbst.
Der Kursverlust der globalen Leitwäh- „Ich muss längst nicht mehr so viel für
rung gegenüber anderen Devisen markiert den Euro werben“, sagt er zufrieden. „Die
nichts anderes als ein Misstrauensvotum Investoren haben erkannt, dass die Euro-
gegen Trump und seine Truppe. Auf die krise überwunden ist und sich die Euro-
großspurigen Ankündigungen des Polit- zone auf gutem Weg befindet.“
neulings über einen Richtungswechsel Auf besserem jedenfalls als die USA.
folgte das bloße Versagen seiner Regie- Das Wachstum in der Währungsunion lag
rungsmannschaft. Nicht ein einziges zuletzt über dem der USA, in fast allen
seiner Großprojekte konnte der Novize Mitgliedstaaten sinkt die Arbeitslosigkeit.
im Weißen Haus bislang auf die Rampe Den hohen Handelsbilanzdefiziten der
schieben. Die Reform von Obamacare USA stehen Überschüsse der Europäer ge-
scheiterte gleich zweimal, die mit großem genüber. Verglichen mit den USA wirkt
Aplomb verkündeten Steuersenkungen die Eurozone derzeit wie ein Hort der Sta-
sind noch nicht einmal in Umrissen zu er- bilität und Berechenbarkeit.
kennen, die versprochene Investitions- Die Rosskur in den Krisenländern schlug
offensive stockt. an. Sogar Griechenland hat Tritt gefasst
FOTOS: MARTIN ENGELMANN

Auswirkungen auf die Rolle der USA in


der Weltwirtschaft sind unvermeidlich. Tat- 1,20
sächlich findet eine tektonische Verschie-
bung im Weltwährungsgefüge statt. In den Wert des Euro
vergangenen Jahrzehnten legte der Dollar in Dollar
stets zu, wenn auf der Welt eine politische Quelle: Thomson Reuters Datastream
Krise ausbrach. Dann suchten die Anleger 1,15
den sicheren Hafen der einzig verbleiben-
den Großmacht. Der Dollar galt als die
sicherste Fluchtwährung auf dem Globus.
Die US-Währung stellte so etwas dar 1,10
wie den Fixstern der Finanzmärkte, selbst
Die letzten Maya als Anfang der Siebzigerjahre das System
weitgehend fester Wechselkurse unterging.
Blutopfer, Medizinmänner und Kräuter- Das Selbstverständnis der Amerikaner
1,05
drogen: Tief im Dschungel von Süd- manifestierte sich in dem Ausspruch des
mexiko leben die Lakandonen. Sie nen- früheren Finanzministers John Connally:
Nov. Jan. März Mai Juli Sep.
nen sich selbst „Hach Winik“ – „die „Der Dollar ist unsere Währung, aber euer
Problem.“
echten Menschen“. Sie sind die letz- Das hat sich spätestens seit dem Amts- und kann sich mittlerweile wieder auf ei-
ten Nachfahren der antiken Maya, pfle- antritt Trumps geändert. Als sich kürzlich gene Rechnung Geld an den Finanzmärk-
gen Sprache und Kultur, doch auch der Streit mit Nordkorea zuspitzte, verlor ten besorgen.
ihr Volk stirbt aus. In Mexikos Wäldern der Dollar massiv an Wert, weil interna- Die Chaospolitik des Weißen Hauses
leben nur noch wenige Hundert von tionale Anleger ihre Positionen abstießen. trägt nicht dazu bei, das Vertrauen in den
ihnen, gekleidet in die traditionellen Die einst unumstrittene Leitwährung leidet Dollar zu stärken, im Gegenteil. Trump
weißen Gewänder. Der Fotograf Martin doppelt: Trumps Versagen unterhöhlt nicht und seine Truppen verwalten den Nieder-
Engelmann hat sich auf die Spur der nur die wirtschaftlichen Fundamente Ame- gang nicht bloß, sie beschleunigen ihn.
rikas – ein Hegemon auf Rückzug, der sein „Das Gewicht der USA auf internationaler
Lakandonen begeben – eine Multi- Heil in Abschottung und Isolationismus Bühne schwindet schon länger, weil China
media-Expedition in den Dschungel. sucht, ruiniert sein Ansehen in der Welt und die anderen Schwellenländer an Be-
und das seiner Währung gleich mit. deutung gewinnen“, analysiert ESM-Chef
Sehen Sie die Visual Story im Als Profiteur des Dollarniedergangs Regling. „Deswegen entsteht gerade ein
digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie steht nicht zuletzt der Euro da. Das spürt multipolares Währungssystem, in dem der
den QR-Code. Klaus Regling an seiner Reisekostenabrech- Euro eine wichtige Rolle spielt.“
nung. Als Chef des Europäischen Stabi- Fed-Vize Fischer jedenfalls gibt sich pes-
litätsmechanismus (ESM), des Rettungs- simistisch, was die Zukunft Amerikas und
schirms der Währungsunion, ist er so etwas der Weltwirtschaft angeht. Der Senior der
wie der oberste Werber für den Euro. Seit Ökonomenzunft rechnet damit, dass die
Jahren tingelt er über die Kontinente und neue Unsicherheit weiter bestehen bleibt.
wirbt bei internationalen Anlegern für die „Solange sich die Dinge in den USA nicht
Anleihen, die der ESM ausgibt, um mit ändern, müssen wir in einer Welt leben,
dem Erlös Hilfskredite für klamme Mit- die ihren Halt verloren hat.“
JE TZ T DI G I TAL L E S E N gliedstaaten zu finanzieren. Christian Reiermann

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Wirtschaft

Lücke im Gesetz
Gerechtigkeit Eine neue Regelung soll für Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen sorgen.
Doch das Vorhaben gilt jetzt schon als gescheitert.

E
igentlich konnte Sylvia Wilson rium, aus dem Arbeitgeberverband
ziemlich stolz sein auf ihre BDA und, zu Pfarrs Überraschung,
Karriere. Mit Anfang dreißig von den Gewerkschaften, die um
leitete die Controllerin bei einem ihre Tarifautonomie fürchteten. Am
Verpackungshersteller in Köln schon Ende war das Vorzeigeprojekt so
eine Abteilung mit 40 Mitarbeitern. zerpflückt, dass Pfarr und diverse
Doch eines Tages erfuhr sie durch Frauenverbände Schwesig rieten,
Zufall, dass einer ihrer Untergebe- den Entwurf zurückzuziehen, um
nen mehr verdiente als sie selbst. der Frauensache nicht zu schaden.
Und es kam noch besser: Bei ei- Das Gesetz in seiner jetzigen
nem Gespräch mit einem anderen Form „hat null Auswirkung“, glaubt
Kollegen fand Wilson heraus, dass auch Markulf Behrendt, der als
die übrigen Führungskräfte auf ihrer Rechtsanwalt bei der Kanzlei Allen
Hierarchieebene im Schnitt rund & Overy Unternehmen berät und ei-
50 000 Euro im Jahr mehr bekamen gentlich froh sein könnte, dass seine
als sie. „In dem Moment bin ich Klientel gut wegkommt. Doch dafür
wirklich vom Hocker gefallen“, sagt sei das Thema zu wichtig, sagt er.
die heute 39-Jährige. Sie kündigte Die Liste der Mängel ist lang:
und zog vor Gericht. Dem Gesetz zufolge kann eine Frau
Das Verfahren endete in einem lediglich Auskunft verlangen über
Vergleich. drei Komponenten der Einkommen
Wilsons Fall ist symptomatisch. ihrer Kollegen – etwa Grundgehalt,
Gleiche Arbeit heißt in der deut- Bonus oder sachliche Vergünstigun-
schen Wirtschaft längst nicht: glei- gen wie Dienstwagen oder -handys.

KLAUS ROSE / PICTURE ALLIANCE / DPA


cher Verdienst – vor allem nicht Wer aber sagt ihr, dass sie die richti-
für Frauen. Laut Statistischem Bun- gen Komponenten auswählt?
desamt bekommen sie für die glei- Noch dazu werden ihr nicht alle
chen Tätigkeiten im Schnitt sechs Gehälter verraten, sondern nur der
Prozent weniger als ihre männlichen sogenannte Median einer Vergleichs-
Kollegen. gruppe – bei sieben Kollegen ist
Berücksichtigt man außerdem das vereinfacht gesprochen jener
noch, dass Frauen zum Beispiel öf- Betrag, den der Kollege bekommt,
ter schlecht bezahlte, aber wichtige Protestierende Frauen 1979 der in der Mitte liegt. Was aber sagt
Berufe im Bildungsbereich oder in „Da bin ich vom Hocker gefallen“ diese Zahl aus, wenn der Arbeit-
der Pflege ausüben, weitet sich diese geber argumentieren kann, dass
sogenannte Gender Pay Gap sogar auf dafür die richtigen Ideen? Und warum hat andere männliche Kollegen noch weniger
21 Prozent. Und daran hat sich in den sich in den vergangenen Jahren so wenig verdienen?
vergangenen Jahren „nichts Wesentliches an einer Situation geändert, die seit Lan- Nicht zuletzt sind die Konsequenzen für
geändert“, wie der aktuelle Gleichstel- gem bekannt ist? Firmen, die die entsprechenden Auskünfte
lungsbericht für die Bundesregierung kon- Dabei hatte die Legislaturperiode fulmi- verweigern oder falsche Informationen ge-
statiert, den Wissenschaftler regelmäßig nant angefangen: Die damalige Bundes- ben, gering. Ihnen drohe kein Bußgeld und
erstellen. familienministerin Manuela Schwesig (SPD) auch sonst keine Strafe, sagt Behrendt.
Die Folgen sind dramatisch: Die eigen- erkor die Lohngerechtigkeit zu ihrem Her- Und selbst wenn Frauen die entspre-
ständigen Rentenleistungen von Frauen la- zensthema. Als Ende März dieses Jahres chenden Auskünfte bekommen, müssen
gen schon 2015 im Schnitt um 53 Prozent dann das sogenannte Entgelttransparenz- sie noch immer vor Gericht ziehen – und
niedriger als die der Männer, aufs ganze gesetz verabschiedet wurde, begann sie dort beweisen, dass der Entgeltunterschied
Leben betrachtet, liegt das Einkommen ihre Rede im Bundestag mit den Worten: mit ihrem Geschlecht zusammenhängt.
von Frauen um rund 49 Prozent unter dem „Es ist heute ein guter Tag.“ „Das ist in der Praxis in den meisten Fällen
von Männern. Wäre es allerdings nach Heide Pfarr ge- unmöglich“, glaubt Behrendt.
Das Thema bewegt viele Menschen. Als gangen, wäre das Gesetz so niemals in Das zeigt etwa der Fall der ZDF-Journa-
der SPD-Parteivorstand im Juli eine reprä- Kraft getreten. Die emeritierte Professorin listin Birte Meier: Die preisgekrönte „Fron-
sentative Umfrage zum Thema Gerechtig- für Arbeitsrecht zählt zu jenen Juristen, tal 21“-Reporterin zog vergangenes Jahr
keit erstellen ließ, empfanden 73 Prozent die mit dem Projekt beauftragt worden wa- vor Gericht, weil nach ihren Recherchen
der Befragten die unterschiedliche Bezah- ren. Anfangs war Pfarr euphorisch: Der selbst jüngere Kollegen mehr verdienten
lung von Frauen und Männern als unge- erste Entwurf, der in die Abstimmung zwi- als sie. Doch die Klage wurde abgewiesen,
recht oder sehr ungerecht (siehe Grafik). schen den Ministerien ging, „konnte sich der Richter sah keine Anzeichen für Dis-
Grüne und SPD schmücken ihre Wahl- sehen lassen“, sagt sie. „Doch der Wider- kriminierung. Das ZDF hatte das höhere
plakate deshalb unter anderem mit flotten stand dagegen war unglaublich.“ Gehalt eines Kollegen unter anderem da-
Sprüchen, dass die Lohnlücke endlich ge- Laut Pfarr kam er von allen Seiten: aus mit begründet, dass der Mann im Gegen-
schlossen werden müsse. Doch haben sie dem Kanzleramt, aus dem Arbeitsministe- satz zu Meier Journalistik studiert habe.
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Wirtschaft

Wie will man beweisen, dass ein Magister Prüfung den Mitarbeitern mitzuteilen. „Für Altenpflegerinnen, deren Job oft sicherlich
in drei geisteswissenschaftlichen Fächern, einen Unternehmer heißt das: Wenn er frei- nicht weniger beschwerlich ist, erhalten ei-
wie Meier ihn hat, genauso viel zählt? willig seine Lohnstrukturen überprüft und nen solchen Zuschlag nicht.
Auch die Schreinermeisterin Edeltraud dabei eine Unwucht feststellt, entsteht da- Solche Unterschiede sind auch historisch
Walla scheiterte mit ihrer Klage, am Ende raus die Pflicht, die Mitarbeiter zu infor- bedingt. Lange stellten Frauen ihre Diens-
sogar vor dem Europäischen Gerichtshof mieren – und ihnen so einen Klagegrund te, etwa die Kinder- und Altenpflege, der
für Menschenrechte. Sie leitet seit Jahren auf dem Silbertablett zu präsentieren. Das Gesellschaft gratis zur Verfügung. Deshalb
die Werkstatt in der Fakultät für Architek- wird kaum einer machen“, sagt Behrendt. werden noch heute typische Frauenberufe
tur an der Uni Stuttgart und fand irgend- Auch Sebastian Pacher, Vergütungs- schlechter bezahlt als solche, die Männer
wann heraus, dass ein Kollege mit gerin- experte bei der Unternehmensberatung ausführen.
gerer Qualifizierung 1200 Euro brutto Kienbaum, hält das Gesetz an vielen Stel- Im Wahlkampf hat die SPD das Thema
mehr im Monat nach Hause trug als sie. len schlicht für zu vage und unsauber for- wiederentdeckt. Der SPD-Kanzlerkandi-
Die Hochschule erklärte, das Gehalt des muliert, es habe zu wenig Biss. dat erklärt auf Anfrage, er werde die Lohn-
Kollegen sei „historisch begründet“ gewe- Der eine oder andere Firmenchef, sagt lücke „nicht hinnehmen“.
sen, von einer geschlechtsspezifischen Dis- er, sei schon auf die Idee gekommen, seine Die Vorschläge der Sozialdemokraten
kriminierung könne keine Rede sein. Betriebe einfach so umzustrukturieren, klingen gut. So sollen etwa Eltern künftig
Wie man Lohngleichheit tatsächlich be- dass sie weniger als 200 Mitarbeiter ha- staatliche Zuschüsse bekommen, wenn bei-
fördern kann, zeigt Island: Anfang Juni ben – dann greift das Gesetz nicht. Andere de ihre Arbeitszeit auf 26 bis 36 Stunden
verabschiedete das Parlament ein Gesetz, Chefs ließen anklingen, dass Frauen, die reduzieren. Bislang arbeiten gerade Mütter
das weltweit einmalig ist, weil es die Ver- das vorgesehene Auskunftsrecht in An- im Schnitt oft viel weniger Stunden. „Das
antwortung für die Gleichbehandlung den spruch nähmen, ihre Karriere in der Firma ist der richtige Kurs“, sagt Elke Holst, die
Unternehmen zuschiebt – und nicht wie auch gleich beenden könnten. beim Deutschen Institut für Wirtschafts-
bisher üblich den Frauen. Isländische Fir- Wieder andere wähnen sich Pacher zu- forschung zum Thema Gleichstellung
men mit mehr als 25 Mitarbeitern müssen folge in Sicherheit, weil sie ihre Mitarbeiter forscht. „Als Bundeskanzler wird dies eins
künftig nachweisen, dass sie Frauen und nach Tarif bezahlen – bei Tariflöhnen sieht meiner ersten Vorhaben sein“, sagt SPD-
Männer gleich entlohnen. das Gesetz nämlich, dank der Lobbyarbeit Spitzenmann Schulz.
Im deutschen Entgelttransparenzgesetz von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Und was, wenn Schulz nicht Bundes-
werden Betriebe mit mehr als 500 Mitar- nur eingeschränkte Auskunftsrechte der kanzler wird? Die Union will sich nach
beitern lediglich „aufgefordert“, ihre Lohn- Frauen vor. dem missratenen Gesetz für mehr Lohn-
strukturen regelmäßig von sich aus auf Un- Tarifverträge würden schließlich nicht transparenz zunächst ausruhen, was das
gerechtigkeiten zu überprüfen. zwischen Männern und Frauen unterschei- Thema angeht. „Jetzt müssen wir erst ein-
Dieser freundlichen Bitte dürfte aber den, lautet das Argument für diese Aus- mal abwarten, dass das neue Gesetz Wir-
nach Überzeugung von Anwalt Behrendt nahmeregelung. Aber ist das so? Auch in kung entfalten kann“, sagt CDU-General-
kaum ein Unternehmen nachkommen. Tarifverträgen schneiden typisch weibliche sekretär Peter Tauber. Dann könne man
Denn das hätte seiner Ansicht nach drama- Berufe oft schlechter ab als die männlich nachjustieren.
tische Konsequenzen. In Paragraf 20 des geprägten: Müllmänner etwa, die Müll- Susanne Amann, Isabell Hülsen, Francis
Gesetzes nämlich wird das Unternehmen wagen von innen reinigen, bekommen zu Mohammady, Ann-Katrin Müller, Ann-Kathrin Nezik,
verpflichtet, die Ergebnisse einer solchen Recht einen Erschwerniszuschlag. Aber Anne Seith, Hanna Voß

Aus der Balance? „Wie gerecht geht es Ihrer Meinung nach in den folgenden Bereichen zu?“

Umfrage: Pollytix eher gerecht / sehr gerecht


Politikmonitor, im Auftrag sehr ungerecht / eher ungerec
ht
52
des SPD-Parteivorstands, Gesundheitssystem
Angaben in Prozent 47
Bildungssystem
43
54
Gehaltsunterschiede
zwischen ver- 28
66 schiedenen Berufen

Rentensystem 24
73
Bezahlung von Frauen 24
gegenüber Männern
73
Miet- und 24
Wohnungsmarkt
73
Steuersystem 22 1000 Befragte im Juli 2017,
an 100 fehlende Prozent:

76
„weiß nicht“ / keine Angabe

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Bauer sucht Sau
Unternehmer Er hat eine Schweinerasse gerettet, einen Agrarkonzern besiegt und ein Schloss gekauft.
Der Bauernführer Rudolf Bühler ist die personifizierte Alternative zur industriellen Landwirtschaft.

D
er Sonnenhof in Wolpertshausen
nahe Schwäbisch Hall ist ein wahr-
lich herrschaftliches Anwesen, mit
seinem vierstöckigen braun-weißen Fach-
werk, seinen siebzehn Frontfenstern und
den Holzläden davor. Aber Rudolf Bühler,
Landwirt in 14. Generation und Bauern-
rebell, lässt keinerlei Gutsherrenatmosphä-
re aufkommen. Der große Mann mit Bier-
bauch und Glatze schiebt verzückte Besu-
cher erst einmal zum Ernüchtern in seine
Arbeitszelle.
Darin herrscht Chaos. Das Zimmer ist
klein und voller Bücher, Ordner, Broschü-
ren, die Tastatur auf dem Schreibtisch un-
ter Papieren begraben. An den Wänden
hängen Familienfotos neben Schweinebil-
dern. Auf dem Fensterbrett stehen Dutzen-
de Pokale, alles Züchterpreise.
Wenn man ein Weilchen auf der hölzer-
nen Eckbank sitzt und dem Bariton des
gewaltigen Mannsbildes lauscht, wird klar,
dass das Durcheinander in Wahrheit kei-
nes ist. Genau an der richtigen Stelle seiner
Erzählung zieht Bühler wie zufällig den
Bildband „Schöne Schweine“ aus einem
Stapel, wenig später das Buch „Das Schwä-
bisch-Hällische Schwein – eine ausgestor-
bene Rasse“. Das ist der Höhepunkt seines
Vortrags.
Und der Dreh- und Angelpunkt seines
Lebens.
Als junger Mann hat der nun 65-Jährige
die Schweinerasse gerettet. Er hat die Ho-
henloher Bauern zu einer schlagkräftigen
Organisation geformt, ein Patent auf
Schweine gekippt und in den vergangenen
30 Jahren bewiesen, was lange als unmög-
lich galt: dass es ökonomisch erfolgreich
sein kann, sich der Logik der industriellen
Landwirtschaft entgegenzustellen.
1988 gründete Bühler mit sieben Mit-
streitern die Bäuerliche Erzeugergemein-
schaft Schwäbisch Hall (BESH). Heute
zählt die Organisation 1460 Mitglieder, 490
davon sind Biobetriebe. Die Gruppe be-
schäftigt über 500 Mitarbeiter, setzte ver-
gangenes Jahr 130 Millionen Euro um und
weist einen Gewinn von gut einer Million
Euro aus. Sogar der britische Thronfolger
ist schon bei Bühler herumspaziert, wes-
halb jetzt eine Schweineweide den Namen
„Prinz Charles“ trägt.
„Wir sind kein Nischenanbieter mehr,
MARTIN WAGENHAN

sondern Qualitätsführer im gehobenen


Fleischsegment“, sagt Bühler. Wichtiger
noch: Die Bauern sind gesellschaftlich
angesehen, weil sie Klasse schaffen statt
Masse und sich strengen Regeln zu Nach- Landwirt Bühler: Der Mann ist eine Urgewalt

76 DER SPIEGEL 37 / 2017


Wirtschaft

haltigkeit und Tierschutz unterwerfen. An- resistente Pflanzen hielt Bühler wenig. Natürlich tauchte bald ein Vorstand von
tibiotika, Wachstumsförderer und gentech- Letzten Endes gerate der Bauer bloß in Lidl auf dem Sonnenhof auf. Ob die Ge-
nisch veränderte Pflanzen im Futter sind Abhängigkeit von Saatgut- und Chemie- meinschaft 20 Tonnen liefern könne?
verboten, Soja beziehen sie aus heimi- firmen. „Die ganze Gentechnik dient ein- Konnte sie nicht, wollte sie nicht. „Man
schem und europäischem Anbau, den, na- zig dazu, Pflanzen zu patentieren und da- darf nicht der Versuchung erliegen, das
türlich, Bühler mit ins Leben gerufen hat. mit Geld zu verdienen“, das habe er da- schnelle Geld zu machen“, sagt Bühler.
Die Schonung von Umwelt und Tier be- mals begriffen, sagt Bühler. Heute beliefert die BESH mit einer ei-
zahlen die Kunden mit deutlich höheren 1984 kehrte er heim und übernahm am genen Fahrzeugflotte 400 Fachmetzgerei-
Preisen, was den Bauern der BESH ein gu- 1. August den Hof. Doch seine Lieblings- en, deren Kundschaft das Fleisch zu schät-
tes Auskommen sichert – im Gegensatz zu schweine waren weg. Statt der schwarz- zen weiß – und bereit ist, den Preis zu
den konventionell arbeitenden Landwir- weiß gemusterten Tiere mit dem dunklen bezahlen. Seit 1994 hat die BESH acht ei-
ten, die Land und Kreatur oft ausbeuten „Mohrenköpfle“ grunzten nur rosafarbene gene Fachmärkte eröffnet, selbst in Berlin
und doch meist nicht besonders gut leben im Stall. Sein Vater sagte, dass Schlacht- kann man das Hällische kaufen.
können von ihrem Lohn. höfe und der Handel auf den genormten Mitten in den Boom hinein platzte kurz
Während der Marktpreis für ein Kilo Standardsauen bestünden, um Masse pro- vor der Jahrtausendwende eine Hiobsbot-
Schweinefleisch bei 1,70 Euro liegt, werden duzieren zu können. Die Tiere müssten schaft. Die Stadt Schwäbisch Hall kündigte
den Züchtern des Schwäbisch-Hällischen schnell zunehmen, sollten aber nicht so an, den kommunalen Schlachthof zu schlie-
zwischen 2,20 Euro für konventionelles viel Fett ansetzen. Das Zuchtbuch fürs ßen. Gegen die Dumpingpreise der Groß-
Fleisch, 3,50 Euro für Eichelmastschweine Schwäbisch-Hällische sei seit 1969 geschlos- schlachthöfe mit ihren ausländischen Bil-
und 4,20 Euro für Demeter-Ware gezahlt. sen, nur eine Sau, die Bertha, habe er noch. liglöhnern war kein Ankommen mehr.
Das sind laut Bühler die höchsten Auszah- Damals waren in Deutschland 13 von „Das hätte uns das Genick gebrochen“,
lungspreise in Deutschland. 15 alten Schweinerassen ausgestorben. sagt Bühler. Er fürchtete, in die Abhängig-
Darauf kann er stolz sein, und so ist er Sohn Rudolf fühlte sich plötzlich so fremd- keit von Konzernen zu geraten. Sein Alb-
es auch. „Wir Hohenloher Bauern haben bestimmt wie die afrikanischen Bauern. traum.
den aufrechten Gang noch nicht verlernt“, „Die Kenntnis um den Wert alter Rassen Er schmiedete einen kühnen Plan. Wa-
sagt er gern. Oder: „Wir lassen uns nicht ist unser indigenes Wissen, das sind unsere rum nicht versuchen, den Schlachthof
zu Bütteln der Agroindustrie machen.“ über Generationen entwickelte Schätze.“ selbst zu betreiben? Die Erzeugergemein-
Und besonders gern: „Das Hällische Die dürfe man sich nicht stehlen lassen. schaft gründete eine Auffanggesellschaft
Schwein ist ein Symbol des Widerstands.“ als AG, in die jedes Mitglied 500 Euro
Bühler gibt den Bauern-Che-Guevara, er
liebt klassenkämpferische Rhetorik, sie
„Man darf nicht der einbrachte. Weil das nicht reichte, ging
Bühler hausieren und überzeugte Bürger,
gehört zu seiner Marke wie sein Kostüm: Versuchung erliegen, Kommunen und Tierschützer, Aktien zu
grüner Parka und Filzhut. Über seine ver- das schnelle zeichnen. So kam die erste halbe Million
bale Kraftmeierei muss er manchmal selbst zusammen. Die Sparkasse gewährte ein
lachen, laut. Dem Mann ist der Spaß noch Geld zu machen“ Darlehen von 700 000 Euro, das Bundes-
lange nicht vergangen. landwirtschaftsministerium, damals gerade
Dabei begann alles mit einer Flucht. Er schaltete Anzeigen, suchte nach Rest- von der Grünen Renate Künast übernom-
Dass Rudolf Bühler eines Tages den Hof beständen und fand zwölf Exemplare im men, gewährte dem Leuchtturmprojekt ei-
übernehmen würde, war schon klar, als er Schwarzwald, im Hunsrück, im Saarland. nen Investitionszuschuss.
im Alter von fünf Jahren im Stall die frisch Es gelang ihm, nach langem bürokrati- Die BESH kaufte und modernisierte den
geborenen Ferkel trocknete. Er lernte schem Gezerre, dass sieben von ihnen, ein Schlachthof, die Mitarbeiter werden nach
Kaufmann und Bauer und studierte Agrar- Eber und sechs Sauen inklusive Bertha, Tarif bezahlt. Selbst den Tieren geht es
wissenschaften. Mit einem Diplom in der 1985 wieder zur Zucht zugelassen wurden. den Umständen entsprechend besser. An
Tasche kehrte er zurück zum Vater auf Bühler züchtete. Seine Schweine weide- den Laderampen hängen Schilder: „Der
den Sonnenhof. „Das ging nicht gut. Zwei ten auf Gras, hatten Unterstände zum Einsatz von Elektrotreibern ist strengstens
Bauern auf einem Hof sind zu viel“, erin- Schlafen und als Sonnenschutz. „Vielen untersagt“, steht auf einem, und auf einem
nert sich Bühler. Er beschloss, Lehr- und Bauern geht durch die industriell orientier- anderen: „Tiere bitte schonend behan-
Wanderjahre einzulegen, und ging als Ent- te Beratung die Empathie fürs Tier verlo- deln!“
wicklungshelfer nach Afrika und Asien. ren“, sagt er. Das wollte er nicht. Und er Mit der Veredelung in der eigenen
Was er dort erlebte, hat ihn nachhaltig fand Mitstreiter. Schlachterei, den eigenen Verkaufsstätten
beeindruckt. Da wurden Hochleistungs- 1988 rief er die Erzeugergemeinschaft und dem eigenen Transport gehört den
kühe, die nur an Kraftfutter gewöhnt waren, ins Leben, wo er bis heute Aufsichtsrats- Bauern der BESH nun die gesamte Wert-
in afrikanische Dörfer verfrachtet, wo es chef ist. Das Ziel: Landschweine artgerecht schöpfungskette. 2014 hat die Gruppe auch
solches Futter nicht gab. Den Bauern fehlte zu halten, um gesundes und schmackhaftes die in Not geratene Dorfkäserei Geiferts-
das Geld für die vielen Medikamente, die Fleisch zu bekommen. Tatsächlich war das hofen übernommen und bietet jetzt eigene
solche Kühe brauchen. Außerdem waren der entscheidende Schritt zum Erfolg. Ein Milchprodukte an.
die Tiere nicht resistent gegen tropische Zusammenschluss von Gleichgesinnten ist Doch es geht noch mehr, zumindest,
Krankheitserreger. Es war ein Desaster. deutlich wirkungsvoller als einzeln Hoflä- wenn der unermüdliche Bühler in der
In Bangladesch, wo viele Menschen auf- den zu eröffnen. Nähe ist. Warum nicht die Lage direkt an
grund von Vitamin-A-Mangel erblinden, Doch wer ist bereit, mehr Geld für gutes der A 6 nutzen? Wäre es nicht möglich,
wurde und wird die Reissorte Golden Rice Fleisch zu bezahlen? – Feinkost Böhm aus den Reisenden gutes Fleisch und feines Es-
erprobt, eine gentechnisch hergestellte Stuttgart. „Der alte Friedrich Böhm nahm sen anzubieten statt des üblichen Raststät-
Sorte, die das Provitamin A enthält. Der uns jede Woche 100 Hälften ab. Das war tenfraßes?
Haken: Der Ertrag ist deutlich niedriger der Durchbruch“, sagt Bühler. Es folgten Ist es. Die Gemeinschaft baute eine Art
als der angepasster heimischer Sorten. das Hotel Hohenlohe, Pfeffer-Lebensmittel Autobahnraststätte nahe der Ausfahrt
Auch von den Versprechen der Agro- in Heilbronn, und dann entdeckte Starkoch Wolpertshausen: Der Regionalmarkt Ho-
konzerne in Bezug auf dürre- oder salz- Vincent Klink das schmackhafte Fleisch. henlohe ist ein 950 Quadratmeter großer,
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Wirtschaft

heimelig geschmückter Supermarkt mit tausende auf die Straße treibt. Er organi-
4000 Waren aus der Region. Dazu ein Res- siert Rockkonzerte und Kongresse, im
taurant mit den eigenen Produkten, ein März empfing er Hunderte Landwirte aus
Biergarten und ein ökologischer Bauern- aller Welt zur Konferenz über Bauernrech-
Das Geld der
garten als grünes Klassenzimmer. Ein Tou- te. Ein Riesenthema dabei: die drohende
ristencounter macht Reisenden Urlaub im Fusion der Agrochemie-Konzerne Bayer
Hohenlohischen schmackhaft. und Monsanto und die befürchtete Mono-
alten Dame
Das Konzept schlug ein. Mittlerweile polisierung von Saatgut. Dynastien In einem Haushalt des
bieten Reisebusgesellschaften Ausflüge in Kürzlich versuchte Bühler, seine Sauen
das Restaurant, die Plätze sind begehrt. bei Bayer in Leverkusen rauszulassen. Peek-&-Cloppenburg-Clans
Doch all das hätte ein jähes Ende haben Doch er brachte nur ein Schwein aus dem floss Schwarzgeld. Der Patriarch
können, wäre nicht einer von Bühlers Mit- Hänger, als schon die Polizei herangesaust fordert von ehemaligen Be-
arbeitern zufällig im Netz auf eine Notiz kam. Also musste der Meister selbst ran:
gestoßen. Die besagte, dass der US-Kon- „Saatgut und Tierzucht müssen in bäuer- diensteten nun viel Geld zurück.
zern Monsanto beim Europäischen Patent- licher Hand bleiben“, skandierte Bühler

J
amt einen Antrag auf Erteilung eines Pa- neben seiner friedlich grasenden Sau. Den ahrzehntelang hat Harro Uwe Cloppen-
tents gestellt hatte. Es beinhaltete einen Firmensprecher ließ er wissen: „Wir haben burg versucht, seine Familie und sein
Gentest zur Ermittlung von Wachstum und uns befreit von den Feudalen und werden Geschäft aus öffentlichem Trubel
Fleischqualität. Auch das Hällische war be- uns jetzt nicht zu Knechten des Großkapi- herauszuhalten – mit mehr oder weniger
troffen. Wer fortan solche Schweine züch- tals machen lassen, da können Sie Gift Erfolg. So sorgte der Chef des Familien-
ten will, hätte eine Lizenz kaufen müssen. drauf nehmen.“ unternehmens Peek & Cloppenburg West
Das gesamte Geschäftsmodell der Erzeu- Die Feudalen hat er vor zwei Jahren üb- (P&C), der schon lange steuerschonend in
gergemeinschaft schien bedroht. rigens endgültig besiegt. Die Stiftung der der Schweiz residiert, vor ein paar Jahren
Bühler blies zum Angriff und reiste zur BESH kaufte das Schloss in Kirchberg an mit einem eher skurrilen Anliegen für Auf-
Großdemonstration vor dem Patentamt. Er der Jagst. „Dreimal haben Bauern das sehen: Er machte einem Örtchen in der
ließ dort vierzig Hällische frei, die sofort Schloss erfolglos belagert“, sagt Bühler, Eifel die Offerte, eines seiner Geschäftshäu-
begannen, den Garten des Amtes umzu- „zuletzt im Revolutionsjahr 1848. Jetzt ha- ser gegen ein Jagdgebiet zu tauschen. Ab
graben. „Das waren Superbilder“, sagt ben wir es auf friedlichem Wege einge- und an tauchte der Textilmilliardär zudem
Bühler, sie schafften es in die „Tagesschau“. nommen.“ in den Reichenlisten der Wirtschaftspresse
Sogar der Bauernverband, sonst verläss- Im Juli ist Bühler 65 geworden. Den Hof auf. Ansonsten blieb er ein Phantom.
lich auf der Seite der Agroindustrie, em- mit den rund 200 Weideschweinen betreibt Und nun sitzt dieser Mann auf einem
pörte sich. Es gab einen runden Tisch in er mit seinen beiden Söhnen. Ans Auf- für seine Größe viel zu kleinen schwarzen
Berlin, die Aufmerksamkeit war groß. hören denkt er nicht. Gerade hat er das Stuhl im Saal 7 des Düsseldorfer Arbeits-
Zwei Wochen später wurde das Patent von jährliche Hoffest hinter sich, um dann in gerichts. Er musste persönlich erscheinen
der Firma Newsham Choice Genetics, die den Flieger nach Sansibar zu steigen, eines und noch einmal mit anhören, wie es im
das Geschäft inzwischen von Monsanto ge- seiner Gewürzprojekte besuchen. Der Haushalt seiner Stiefmutter und P&C-Ge-
kauft hatte, zurückgezogen. „Da haben Mann ist eine Urgewalt. sellschafterin Elisabeth Cloppenburg zu-
wir sie zum ersten Mal mit unserer Metho- Anlässlich seines Geburtstags inter- ging – und wie das Ansehen seiner Familie
de des bäuerlichen Widerstands in die viewte ihn das „Hohenloher Tagblatt“. in öffentlicher Sitzung erhebliche Kratzer
Knie gezwungen“, sagt Bühler. Das hat Was denn seine größte Niederlage gewe- bekommt.
ihm gefallen. sen sei, fragte die Redakteurin. Es geht um mögliche Schwarzgeldzah-
Seit einigen Jahren organisiert Bühler „Da fällt mir nichts ein“, sagte Bühler. lungen an Angestellte der Familie in Mil-
die Großdemo „Wir haben es satt“ mit, die Und wahrscheinlich stimmt das sogar. lionenhöhe, um Steuerhinterziehung und
immer zur Grünen Woche in Berlin Zehn- Michaela Schießl um einen unappetitlichen Streit mit einer
privaten Pflegerin der im Jahr 2015 ver-
storbenen Matriarchin, seiner Stiefmutter.
Viele der langjährigen Bediensteten der
Familie sind im Gerichtssaal erschienen.
Sie fragen sich, warum Cloppenburg diese
Tortur sich und vor allem den ehemaligen
Mitarbeitern antut. Denn er selbst ist ja
Kläger in diesem Verfahren, in dem es am
Ende um ganz gewöhnlichen Geiz geht.
Wenn auch unter Reichen.
Cloppenburgs Stiefmutter Elisabeth, Er-
bin eines Riesenvermögens und Gesell-
schafterin der Modekette, hatte in ihrem
inmitten von vielen Hektar Wald gelege-
RICARDA GROTHEY/ WWW.EYE-COMM.DE

nen Anwesen in Ratingen bis zu ihrem Tod


einen großbürgerlichen Haushalt geführt.
Etwa ein Dutzend Mitarbeiter war ihr zu
Diensten, einige waren bei der P&C KG
angestellt. Ihrem Personal gegenüber zeig-
te sich die betagte Dame, die „Frau Dok-
tor“ genannt wurde, oft großzügig, dem
Staat gegenüber nicht so sehr. Seit Novem-
Schwäbisch-Hällische Landschweine: Artgerechte Tierhaltung, die sich rechnet ber 2012 galt sie krankheitsbedingt als
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nicht mehr geschäftsfähig. Als ihr Stief- selbst zu erinnern. Im Juni 2010 habe der wird wohl nicht einfach für die Frau. Denn
sohn Harro Uwe, kurz HUC genannt, mit zu ihr gesagt: „Stecken Sie das Geld ein, sie kann sich nur auf mündliche Zusagen
einem dazu eingesetzten Gremium ihre und wenn was kommt, wenden Sie sich berufen, die streitig sind.
Rechtsgeschäfte übernahm, beauftragte er dann an meine Person.“ Zudem sind Vergleichsversuche bislang
eine Wirtschaftsprüfung, in die Bücher des Vor dem Düsseldorfer Arbeitsrichter gescheitert. Cloppenburgs Anwälte interpre-
Haushalts zu sehen. Was zum Vorschein trifft man sich nun, weil Harro Uwe Clop- tierten ein Angebot des Berliner Anwalts
kam, war ein Skandal. Über viele Jahre penburg als Erbe von einigen Ex-Mitar- der Pflegerin gar als versuchte Erpressung
waren auf Auszahlungen an Angestellte beitern wie der Pflegerin deren Anteil an und erstatteten eine weitere Anzeige. Mit
keine Steuern entrichtet worden. Die Prü- der Steuerrückzahlung zurückfordert: Im den ehemaligen Wachleuten, denen die
fer unterrichteten das Finanzamt Düssel- Fall von Sabine Sobotta sind das rund Nebentätigkeiten bereits Disziplinarver-
dorf über erhebliche Unregelmäßigkeiten. 242 000 Euro, zuzüglich fünf Prozent Zin- fahren eintrugen, verglich man sich auf die
Ein Großteil der Angestellten reichte sen. Von den zwei Beamten forderte er zu- Rückzahlung mittlerer fünfstelliger Beträ-
Selbstanzeige ein. nächst jeweils etwa 90 000 Euro zurück, ge, die nun in den Nachlass ihrer ehema-
Übereinstimmende Be- ligen Arbeitgeberin zurück-
richte mehrerer Mitarbeiter fließen. Einer der Polizei-
sowie Gerichtsdokumente beamten zahlt monatlich ab,
zeichnen das Bild eines recht über zehn Jahre lang. Er be-
barock geführten Haushalts- reue „den Tag, an dem ich
Kleinunternehmens: Dem- angefangen habe, für die Fa-
nach verteilte die Dame des milie zu arbeiten“, sagt er,
Hauses zum Gehalt regelmä- „ich will nichts mehr mit
ßig Umschläge mit Bargeld, dem Haus zu tun haben“.
zu ihrem eigenen Geburts- Es sei „unnötig, unschön
tag etwa, zu Weihnachten und ein großes Unrecht“,
oder als Belohnung für Leis- was den ehemaligen Mitar-
tungen. Zudem sponserte beitern da geschehe, sagt

STEFAN MENNE / S. BRAUER PHOTOS / BRAUER


sie schon mal Privatreisen eine Sekretärin, die 27 Jahre
und andere teure „Sach- lang in Diensten des Hauses
geschenke“. stand – und von der HUC
Vor Gericht bestätigt ein Cloppenburg noch im Ge-
ehemaliger Hauswirtschaf- richtssaal als „Grande Dame“
ter: „Frau Doktor war im- des Haushalts spricht.
mer sehr großzügig.“ Die „Dass hier Schwarzgeld
Pflegerin betonte, die alte bezahlt wurde, ist völlig un-
Dame habe stets darauf hin- strittig“, sagt der Anwalt der
gewiesen, sie habe ihr Geld Familienchef Cloppenburg, Ehefrau 2002: Barock geführtes Kleinunternehmen Pflegerin, Yves Wiemann,
bereits versteuert und ge- „ich finde es skandalös, wie
denke nicht, das noch einmal zu tun. „Es ebenfalls plus Zinsen. Seine Stiefmutter meine Mandantin von dieser Milliardärs-
war immer so im Hause Cloppenburg.“ habe für die Beschäftigten keine Lohnsteu- familie nach all den Jahren aufopfernder
Das Finanzamt rechnete die entgange- er entrichtet, da sie von einer selbstständi- Pflege ihrer Angehörigen im Regen stehen
nen Steuern nach und stellte für das Ge- gen Tätigkeit ausgegangen sei, heißt es in gelassen wird.“
schäftsgebaren eine saftige Rechnung aus: seiner Klage, mit der er die ehemaligen Der Cloppenburg-Clan reagiert auf
Mit Datum vom 28. Oktober 2013 erging Bediensteten der Familie zur Kasse bittet. sechs Fragen des SPIEGEL, indem er einen
ein Haftungsbescheid über eine Nachzah- Vor Gericht kann oder will sich der auf Medienrecht spezialisierten Anwalt
lung von 1 159 087,97 Euro, die schnell be- Kläger an vieles nicht erinnern. Insbeson- einschaltet, der zunächst wortreich begrün-
glichen wurde. dere an das von der Pflegerin geschilderte det, warum es aus seiner Sicht nichts zu
Allerdings war die Sache mit der fami- Gespräch habe er überhaupt keine Erin- berichten gebe: alles Privatsache, keinerlei
liären Rückzahlung ans Amt für einige der nerung. Er habe vor 2013 auch gar keine öffentliches Interesse. Später gibt es auf
ehemaligen Cloppenburg-Bediensteten einige Fragen doch noch eine Replik: Herr
nicht aus der Welt. Im Gegenteil: Sie fing
erst richtig an.
„Ich will nichts mehr mit Cloppenburg habe gegenüber Frau Sobot-
ta keine Nettolohnzusage getroffen, „ihm
Man habe, erklärte die langjährige Pfle- dem Haus zu tun ist auch nicht bekannt, dass eine solche
gekraft Sabine Sobotta im Gericht und ge- haben“, sagt ein ehema- Zusage durch Frau Dr. Cloppenburg er-
genüber dem SPIEGEL, in Sachen Entloh- folgte“. Im Übrigen habe man, nachdem
nung mehrfach die Zusage erhalten, es liger Wachmann. „ohne äußeren Anlass“ die Verhältnisse in
handle sich um eine Nettolohn-Lösung, um Ratingen geprüft und gesichtet worden sei-
alles andere kümmere sich die Arbeit- Personalgespräche geführt. Eines scheint en, unmittelbar „proaktiv“ das zuständige
geberin. So schilderten es in einem se- ihm jedoch wichtig: Wenn hier vom Hause Finanzamt informiert.
paraten Verfahren auch zwei Polizeibeam- Cloppenburg geredet werde, sei nicht Die Pflegerin will kämpfen. Sie habe
te, die jahrelang nächtliche Wachdienste etwa sein Unternehmen gemeint, das sei fast vier Jahre in Ratingen gearbeitet, Tag
auf dem Anwesen schoben. Auch ihnen „ein großer Arbeitgeber“, seine Geschäfte und Nacht, und oft nur wenige Stunden
habe die Arbeitgeberin zugesichert, Steu- seien „hoch seriös“. Seine Stiefmutter geschlafen und um Urlaub betteln müssen,
ern und Sozialabgaben zu übernehmen. schildert der Patriarch als „clevere Kauf- der nicht bezahlt wurde. Falls der Düssel-
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, frau“, „hochintelligent“, mit einer „non- dorfer Richter für Harro Uwe Cloppenburg
habe sie gesagt. chalanten Art“. entscheide, werde sie Berufung einlegen:
Vor Gericht erklärt die Pflegerin auch, Das Gericht will den Fall der Pflegerin „Es geht hier um meine Existenz.“
sich an ein Gespräch mit dem Clanchef in der kommenden Woche entscheiden. Es Frank Dohmen, Marcel Rosenbach

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MOBILITÄT Nie zuvor hat die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main unter solch dramatischen
Vorzeichen stattgefunden. Die deutschen Hersteller sind durch den Dieselskandal und die Kartellvorwürfe schwer an-
geschlagen, gleichzeitig stellen der Elektroantrieb, Carsharing-Modelle und die Digitalisierung ihr Geschäftsmodell infrage.

Der kalifornische Albtraum


Autoindustrie BMW, Daimler und Volkswagen suchen nach
der richtigen Strategie gegen den US-Rivalen Tesla und seine Elektroautos.
Es ist ein Wettkampf der alten gegen die neue Autowelt.

A
nfang des Jahres plante Karl-Tho- Noch herrscht Skepsis bei den Kunden, dem autonomen Fahren enger zusammen-
mas Neumann eine kleine Revolu- teilweise auch in den Konzernen. Als Ar- zuarbeiten. „Bei jedem noch so harmlosen
tion. Den Autohersteller Opel, be- gumente gegen die Elektroautos nennen Messegespräch mit einem Konkurrenten
kannt für eher biedere Modelle wie Astra Kritiker ihre derzeit geringen Reichweiten, wird künftig ein Jurist dabei sein“, be-
oder Corsa, wollte er zur reinen Elektro- die hohen Kosten und die fragwürdige schreibt ein Konzernvertreter die Atmo-
marke umbauen. Im Entwicklungszentrum CO -Bilanz. sphäre. Statt kollektiver Aufbruchstim-
²
im hessischen Rüsselsheim sollten E-Autos Aber bedeutet das im Umkehrschluss, mung herrscht gegenseitiges Misstrauen.
für den Weltmarkt entstehen. dass die Autohersteller einfach weiterma- Nie zuvor hat die deutsche Autoindus-
Als damaliger Opel-Chef war Neumann chen sollten wie bisher? trie derart unter Druck gestanden. In den
überzeugt: Das Ende des Verbrennungs- Über Jahrzehnte hinweg baute die Auto- Konzernzentralen ist bereits vom „perfek-
motors liege näher, als viele glaubten. Er industrie immer noch größere, noch schnel- ten Sturm“ die Rede, der die Branche er-
hoffte nun, die nötige Zukunftstechnik lere, noch leistungsstärkere Fahrzeuge mit fasst habe. Denn das alte Geschäftsmodell
nach Deutschland holen zu können. Benzin- und Dieselmotoren. Bis zuletzt gerät nicht nur juristisch, sondern zuneh-
Seine Idee war auch aus der Not gebo- schienen die Geschäfte blendend zu laufen: mend auch wirtschaftlich unter Druck.
ren. Als kleiner Hersteller tat sich Opel 2016 erwirtschafteten BMW, Daimler und Immer mehr Länder planen den Aus-
besonders schwer, seine Verbrenner an die Volkswagen 465 Milliarden Euro Umsatz stieg aus der Verbrennertechnologie. Groß-
immer strikteren Abgasnormen anzupas- und fast 30 Milliarden Euro Gewinn. Doch britannien und Frankreich wollen Autos
sen. Auch Opel-Fahrzeuge fielen durch ei- das Wachstum der Konzerne war zum Teil mit Benzin- und Dieselmotor ab 2040 ver-
nen überhöhten Ausstoß auf. Doch zumin- teuer erkauft. bieten, Norwegen ab 2025. In China soll
dest versuchte Neumann, die Dieselkrise Spätestens vor zehn Jahren begannen vom kommenden Jahr an eine Quote für
als Chance auf einen Neustart zu begreifen. die Tricksereien in den Entwicklungsabtei- den Mindestverkauf von Elektroautos gel-
Sein ambitionierter Elektroplan für Opel lungen. Weil sie die zunehmend strengeren ten. Laut Umfragen können sich 60 Pro-
jedoch scheiterte, weil der langjährige US- Abgasvorgaben mit legalen Mitteln kaum zent der Kunden dort vorstellen, als nächs-
Eigentümer General Motors plötzlich das noch erreichen konnten, behalfen sich die tes Auto ein E-Fahrzeug zu erwerben.
Interesse am Absatzmarkt Europa verlor – Ingenieure mit einer Schummelsoftware. Um ihre Produkte in Zukunft überhaupt
und Opel im Sommer an den französischen Diese gewährleistete gute Testwerte auf noch verkaufen zu können, braucht die
Wettbewerber PSA verkaufte. dem Prüfstand. Im Straßenverkehr hinge- Autoindustrie deshalb alternative, emis-
Neumann ist seither Privatier, er hält gen stießen die vermeintlich sauberen Fahr- sionsarme Antriebe. Sie muss außerdem
seine Ideen aber weiterhin für richtig. Der zeuge gesundheitsgefährdende Stickoxide Mobilitätskonzepte wie Carsharing oder
Ex-Manager fürchtet, dass die Autoindus- aus. In den USA hat Volkswagen bereits Fahrdienste anbieten. Ansonsten betreiben
trie – allen voran BMW, Daimler und zugegeben, bei Abgastests betrogen und dieses Geschäft in Zukunft nicht mehr
Volkswagen – die Wucht des Wandels un- die Justiz bei der Aufklärung behindert zu BMW, Daimler oder Volkswagen, sondern
terschätzt. Dass sie sich auf alten Erfolgen haben. In Deutschland ermitteln die Staats- Wettbewerber aus dem Ausland.
ausruhe, statt neue Konzepte zu entwi- anwälte gegen VW und Daimler. Allein Ein Rivale aus Kalifornien bereitet den
ckeln. Die deutsche Autobranche brauche BMW blieb von der Justiz verschont. Managern in Deutschland derzeit die größ-
„einen klaren Schnitt“, sagt Neumann. Sie Seit der SPIEGEL Ende Juli die jahrzehn- ten Sorgen. Tesla, erst 2003 gegründet, hat
müsse „akzeptieren, dass der Diesel lang- telangen Absprachen zwischen den drei geschafft, woran die deutschen Hersteller
sam ausstirbt“. Gewiss könne die Auto- großen Autokonzernen über Technologien, jahrelang scheiterten: ein Elektroauto zu
industrie noch etliche Jahre Geld mit Ver- Zulieferer und Abgasreinigungssysteme bauen, das viele Kunden haben wollen.
brennungsmotoren verdienen. „Aber man enthüllt hat, droht den Herstellern weite- Mehr als 450 000 Interessenten haben
muss jetzt die Komplexität reduzieren, rer juristischer Ärger. Intensiv bereiten bereits das neue „Model 3“ vorbestellt.
also viel weniger verschiedene Motoren sie sich auf mögliche Ermittlungen oder Täglich kommen laut Firmenangaben
entwickeln“, so Neumann. Das frei wer- Durchsuchungen vor. Beim BMW-Konzern 1800 weitere Bestellungen hinzu. „Tesla
dende Geld sollten die Konzerne dann beispielsweise, der jegliches Fehlverhalten besitzt mittlerweile einen Kultstatus, von
massiv in E-Mobilität investieren. abstreitet, analysieren derzeit 18 Juristen dem andere Marken nur träumen können“,
Seine Warnung an die ganze Branche: Daten und Dokumente aus fast drei Jahr- sagt Ex-Automanager Neumann.
Wenn die Autoindustrie sich nicht konse- zehnten. Die aktuelle Identitätskrise der deut-
quent reformiere, dann „läuft sie Gefahr, Der Kartellverdacht erschwert zudem schen Hersteller kommt Tesla gerade recht.
von neuen Wettbewerbern aus China oder Pläne von BMW, Daimler und VW, bei Zu- Mit öffentlichen Statements hält der US-
den USA abgehängt zu werden“. kunftsthemen wie Mobilitätsdiensten oder Konzern sich zurück. Im Hintergrund je-
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Zukunftsvisionen von Daimler, Volkswagen, BMW: In den Vorstandsetagen werden Gegenoffensiven ausgetüftelt

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doch lästern Tesla-Manager gern mal über
die „illegalen Machenschaften im Rahmen
der Dieselaffäre“.
Der US-Konzern wittert die Chance, end-
lich auch in Deutschland Fuß zu fassen,
dem teslakritischen Heimatmarkt von
BMW, Daimler und VW. Seinen Absatz hat
der Konzern hierzulande im ersten Halb-
jahr mehr als verdoppelt – auf knapp
2000 Fahrzeuge. Für Deutschland, ein Ent-
wicklungsland in Sachen E-Autos, ist das

STEFFI LOOS / GETTY IMAGES


schon eine nennenswerte Größenordnung.
In den Vorstandsetagen von BMW,
Daimler und Volkswagen werden Gegen-
offensiven ausgetüftelt.
Im Büro von Klaus Fröhlich dominieren
Relikte aus der alten Autowelt. Auf dem
Fenstersims hat der BMW-Entwicklungs- Autobosse beim Dieselgipfel am 2. August in Berlin*: Vom „perfekten Sturm“ erfasst
chef seine Modellautos aufgestellt. Die
Sammlung reicht von längst ausgestorbe-
nen Marken wie dem Auto des Jahres 1968,
dem NSU Ro 80, über den Porsche Carrera
bis hin zum Land Rover Defender, einem
bulligen Geländewagen.
Eigentlich will Fröhlich über BMW und
seine geplante Elektrostrategie sprechen,
nicht über die Konkurrenz. Doch immer
wieder kommt er auf den Rivalen aus Ka-
lifornien zu sprechen. Das Wort „Tesla“
benutzt der BMW-Vorstand innerhalb von
60 Minuten sechzehnmal.
Schon heute sieht er BMW „Kopf an
Kopf“ mit Tesla. Doch spätestens in drei
Jahren will Fröhlich den US-Rivalen über-
trumpft haben. Ähnlich wie Tesla werde

ANDREJ SOKOLOW / DPA


BMW seine Elektroautos künftig „stärker
emotionalisieren“, mit breiteren Reifen
und flotteren Fahrwerken.
Auf Karopapier zeichnet Fröhlich drei
Kurven auf, die verdeutlichen, wie stark
die Elektroautoverkäufe in den nächsten Tesla-Gründer Musk: „Kultstatus, von dem andere Marken nur träumen können“
Jahren zunehmen dürften. Die erste Kurve
steht für den Absatz in China: Sie geht im Benzin- und Dieselfahrzeuge anbieten, sich Stromtankstelle ans Netz gehen, angeblich
Jahr 2020 fast senkrecht nach oben. gleichzeitig aber für das E-Zeitalter rüsten: mit einer Ladetechnologie, die der von
Um die explodierende Nachfrage de- Für 2025 hat das Unternehmen 25 elektri- Tesla überlegen ist. Zum Vergleich: Tesla
cken zu können, will BMW effizienter pro- fizierte Fahrzeugmodelle angekündigt. Die hat weltweit bereits mehr als 6300 soge-
duzieren. Fabriken und die Fahrzeuge wer- Anlaufkosten sind gewaltig, BMW hat mitt- nannte Supercharger aufgestellt. Bis Jahres-
den so umgerüstet, dass künftig in jedes lerweile bereits einen zweistelligen Milliar- ende sollen es 10 000 Ladesäulen sein.
Auto statt eines Verbrenners auch ein Elek- denbetrag in nachhaltige Antriebe inves- Zwar häuft auch der US-Konzern mit
troantrieb eingebaut werden kann. Bei Be- tiert. Es ist eine Wette auf die Zukunft: Bei seinen E-Fahrzeugen bisher nur Verluste
darf sollen die E-Autos dann quasi per jedem verkauften E-Auto zahlt der Münch- an. Anders als die deutschen Hersteller
Knopfdruck zu Hunderttausenden vom ner Konzern momentan noch drauf. muss Tesla aber keine Rücksicht auf ein
Band rollen. So sei BMW gerüstet, sagt Das Dilemma der Autoindustrie liegt da- milliardenschweres Altgeschäft nehmen.
Fröhlich, falls die Kunden in China nur rin, dass sie mit defizitärem Neugeschäft Entsprechend offensiv geht Tesla in die
noch Elektrofahrzeuge kaufen wollten. ihr profitables Altgeschäft kannibalisiert. Vermarktung. Der Konzern vermittelt sei-
Fröhlichs zweite Kurve steht für die Ost- Dadurch entstehen Anreize, den notwen- nen Kunden den Eindruck, es gehe dem
und Westküste der USA. Dort beginnt der digen Wandel hinauszuzögern. Unternehmen nicht primär um den Ver-
E-Auto-Boom nach seiner Kalkulation Tatsächlich wirken manche Zukunfts- kauf von Fahrzeugen, sondern um „den
2025. Erst fünf Jahre später folgt Deutsch- offensiven der Konzerne halbherzig. Ende Wandel der Welt zu nachhaltiger Energie“.
land – laut Fröhlich das Land, „in dem 2016 kündigten Daimler, Ford, BMW Man muss das nicht glauben. Natürlich
gerne über die E-Mobilität geredet“, je- und VW eine gemeinsame Initiative für vertritt auch Tesla-Gründer Elon Musk
doch „vergleichbar wenig gemacht“ werde. Schnellladestationen an. Der Aufbau sollte knallharte wirtschaftliche Interessen. Doch
Die Schuld dafür gibt Fröhlich der Politik: 2017 beginnen, im ersten Schritt waren seine Botschaft klingt prägnanter als die
In München beispielsweise stünden erst etwa 400 Standorte in Europa geplant.
50 Ladestationen bereit. Neun Monate sind seither vergangen. * Matthias Müller (Volkswagen), Harald Krüger (BMW),
Wie alle deutschen Hersteller versucht Die aktuelle Zahl der Ladesäulen: null. Im- Dieter Zetsche (Daimler) und Matthias Wissmann (Ver-
BMW den Spagat. Der Konzern will weiter merhin soll noch in diesem Jahr die erste band der Automobilindustrie).

82 DER SPIEGEL 37 / 2017


Mobilität

der deutschen Autoindustrie, die stets lisch gelegen an der Havel, dürfen sich De- Chefstratege Sedran glaubt, dass der
schwankt zwischen Bekenntnissen zur signer und Zukunftsforscher austoben. Konzern keine Entwicklung mehr verpas-
E-Mobilität und Loyalitätsbekundungen Man trägt Turnschuhe, spricht viel Eng- sen darf. Er prognostiziert eine „gravie-
für den Verbrenner. Der Diesel, lautet ihr lisch und duzt sich. rende Veränderung in der gesamten Auto-
Mantra, sei noch lange nicht tot. Die jüngste Entwicklung: ein Konzept- industrie“. Auch das Verschwinden einzel-
Jahrzehntelang stemmte sich die Bran- fahrzeug namens Sedric, das irgendwann ner Marken sei nicht ausgeschlossen.
che gegen allzu große Veränderungen. Wer im nächsten Jahrzehnt als fahrerloses Ro- Ob Volkswagen, Daimler und BMW zu
in den Neunzigerjahren über Elektro- botertaxi durch die Innenstädte kurven den Überlebenden zählen werden, hängt
mobilität oder Carsharing sprach, wurde soll. Besonders stolz sind die Designer auf jedoch davon ab, ob Vordenker wie
bestenfalls als Paradiesvogel verspottet. die futuristische Innenausstattung. Über Sedran sich durchsetzen. Denn längst nicht
Den prominentesten Fall liefert VW. Da- ein großes Display können sogar Karaoke- jeder Manager ist davon überzeugt, dass
niel Goeudevert wollte die Marke bereits Hits abgespielt werden. Das soll vor allem tief greifende Reformen wirklich nötig
1991 reformieren, scheiterte aber. Der Top- die Kundschaft aus Asien ködern. sind. Manche scheinen immer noch zu
manager forderte kleinere,verbrauchsärmere Die Mitarbeiter in Potsdam wollen au- glauben, die Dieselkrise sei irgendwann
Autos. Parallel arbeitete er an einer Carsha- ßerdem neue Arbeitsmethoden etablieren. vorbei.
ring-Kooperation mit der Deutschen Bahn. Im Gespräch mit Senioren fanden sie zum Sie fühlen sich verfolgt von ihren Kriti-
Schon damals stellte er fest: Immer mehr Beispiel heraus, dass die Bestellung von kern: von der Deutschen Umwelthilfe, die
Menschen wollen kein eigenes Auto mehr Robotaxis möglichst simpel funktionieren vor Gericht für Dieselfahrverbote kämpft.
haben, sondern lieber Fahrdienste nutzen. müsse. Die Designer entwickelten eine Von den Politikern, die Abgasmanipula-
Als Goeudevert auch noch den Tod des Fernbedienung mit nur einem Knopf, den tionen anprangern. Und von der Presse,
Diesels prognostizierte, wurde es den Kon- sogenannten One-Button. Selbst bei Klein- die darüber berichtet. „Hier wird eine
zernoberen bei Volkswagen endgültig zu kindern sucht VW neuerdings Rat. Kürz- Schlüsselindustrie kriminalisiert“, lautet
bunt. Bei seinen letzten Gesprächen mit lich war der benachbarte Kindergarten zu ein Satz, der in den Autokonzernen oft zu
VW fiel ein Satz, der sich eingebrannt hat Gast im Future Center. hören ist. VW-Chef Matthias Müller glaubt,
in Goeudeverts Gedächtnis: „Sie werden „Wir fangen gerade erst richtig an, di- eine „laufende Kampagne gegen den
sich wundern, was wir aus dem Diesel rekten Kontakt zu unseren Endkunden auf- Dieselmotor“ zu erkennen.
noch alles rausholen können.“ zunehmen“, sagt Thomas Sedran, seit Nicht wenige Manager äußern zudem
Mittlerweile lebt der 75-Jährige in einer knapp zwei Jahren Strategiechef im Volks- die Hoffnung, das Tesla-Problem werde
Kleinstadt nahe der Schweizer Hauptstadt wagen-Konzern. Das sei „eine echte He- sich irgendwann von selbst erledigen. Die
Bern, fährt E-Bike und betrachtet die Fahr- rausforderung für ein Unternehmen, das Batterietechnik des US-Rivalen sei nicht
zeugbranche aus der Distanz. „Durch ihre bislang vor allem durch sein Ingenieurs- ausgereift, eine kostendeckende Produk-
großen Erfolge ist die Autoindustrie blind denken geprägt war“. So absurd es klingen tion so nicht möglich. „Ein solcher Laden,
geworden für die wahren Bedürfnisse des mag: Jahrelang hatte der Volkswagen-Kon- der nur Verluste macht, könnte in Deutsch-
Kunden“, lautet sein Urteil. „Volkswagen zern kaum Ahnung, wer seine Autos fährt land niemals existieren“, lästert das Vor-
und anderen ging es viel zu lange nur um und welche Dienstleistungen er oder sie standsmitglied eines Autokonzerns.
Geschwindigkeit und Luxus.“ gern nutzen würde. VW stand vorrangig Die Analyse ist nicht ganz verkehrt. Tat-
Aus Sicht des Ex-Automanagers haben mit Vertragshändlern in Kontakt. sächlich könnten Investoren die Geduld
die deutschen Hersteller nur eine Chance: Mühsam versucht der Konzern nun, sich verlieren und Tesla den Geldhahn zudre-
Sie müssen es schaffen, die Jugendlichen seiner Klientel über Apps und Fahrdienste hen. Doch was würde das ändern? Selbst
für sich zu begeistern. Denn viele Teen- anzunähern. Vom kommenden Jahr an eine Tesla-Pleite würde den Wandel nicht
ager können mit dem Apple-Logo mehr plant VW, eine Art Rufbusservice in Ham- aufhalten. Denn auch andere Hersteller,
anfangen als mit dem Mercedes-Stern. burg anzubieten. 200 Elektro-Shuttles will vor allem aus China, haben die Elektro-
Ein Vierteljahrhundert nach seinem Ab- der Konzern dafür zunächst bereitstellen. mobilität für sich entdeckt. Mit aller Macht
gang bei VW sind Goeudeverts Thesen Es ist der Test, ob VW auch mit Taxidiens- streben sie nach der globalen Marktfüh-
offenbar Common Sense. Sein einstiger ten Geld verdienen kann. Vor allem aber rerschaft (siehe Seite 86).
Arbeitgeber Volkswagen will hipper wer- ist es der Versuch, Kunden langfristig an Vor zehn Jahren beging bereits eine an-
den. Im „Future Center“ in Potsdam, idyl- die Marke zu binden. dere Technologiebranche den Fehler, ihre
Herausforderer zu unterschätzen: die Mo-
bilfunkindustrie.
Hersteller wie Nokia oder Blackberry

E-volution
455000 waren lange Zeit die unangefochtenen
Marktführer. Doch der Erfolg hatte sie trä-
Vorbestellung Model 3 ge gemacht. Kaum tauchten neue, innova-
auf der Straße 2017 tivere Wettbewerber auf, verdrängten die-
se die einstigen Pioniere vom Markt.
verkaufte Legendär ist die Szene aus dem Füh-
Tesla-Modelle rungskreis des Blackberry-Herstellers RIM.
Mit spitzen Fingern sollen die Manager ein
iPhone herumgereicht haben. Allgemeines
Kopfschütteln. Das Telefon mit dem gro-
5086 22477 31655 50658 76285 ßen Bildschirm werde sich nicht durchset-
2012 2014 zen, glaubten die Manager. Die Akku-
2013 2015 2016
leistung reiche dafür nicht aus.
Das gute alte Tastenhandy, lautete ihre
Prognose, sei noch lange nicht tot.
Simon Hage
Quelle: Bloomberg, Stand 3. August Mail: [email protected]

DER SPIEGEL 37 / 2017 83


Mobilität

ten Werkstattbesuch noch mehr als 400 000 Fälschungssichere Datenspeicher wer-

Auf Knopf- Kilometer auf dem Zähler hatten, zeigen den wohl eine Utopie bleiben wie ein-
beim nächsten Schadensfall einen Stand bruchssichere Schlösser. Und längst gibt
von 180 000. „Das ist eine sehr verbreitete es eine praktikablere Lösung, die sich in

druck jung Unsitte“, sagt Klaus Prochorow, Betrugs- den USA und Belgien bewährt hat: Dort
experte bei der Signal Iduna in Dortmund. hat man Datenbanken eingerichtet, in die
Die Recherchen der Versicherer belegen die Kilometerstände aus sämtlichen Werk-
Betrug Jeder dritte Gebraucht- gründlich, was Polizeiermittler und Bran- stattbesuchen und technischen Prüfungen
chenexperten seit Jahren für erwiesen hal- einfließen. Amerikanische Gebrauchtwa-
wagen hat einen gefälschten ten: Jeder dritte Gebrauchtwagen, so die genkäufer können dann den „Carfax“-Pass
Kilometerstand. Der Schummel offizielle Schätzung, wird mit einem ver- einsehen, der die Vita des Fahrzeugs eng-
wäre leicht zu unterbinden – änderten Tachostand verkauft. Der dazu maschig dokumentiert. Größere Rückdre-
nötige Aufwand ist gering. Es bedarf häu- her von Kilometerständen fliegen auf, und
wenn die Hersteller nur wollten. fig nur eines Geräts, das im freien Handel ohne ein solches Dokument lässt sich ein
für wenige Hundert Euro angeboten und Auto nur schwer verkaufen.
Versicherungsbetrug ist straf- an die Diagnosebuchse des Fahrzeugs an- Diesem Vorbild möchte die EU-Kom-
bar, keine Frage; und doch geschlossen wird. Auf Knopfdruck schaltet mission nun zaghaft folgen: Sie hat den
wäre es nicht übertrieben, die- der Zähler um wie eine Quarzuhr. Das Mitgliedstaaten vorgeschrieben, die Rechts-
se Form der Kleinkriminalität Auto, vermeintlich wieder jung, entpuppt grundlage zur Einrichtung solcher Da-
als Volkssport zu bezeichnen. sich dann bald als multimorbides Vehikel tenbanken zu schaffen. Das Bundesver-
Mehr als 25 Millionen Anfragen auf der Zielgerade seines Daseins. kehrsministerium will zur Erhöhung der
der Versicherer zu zweifelhaften Schadens- „Der Eingriff ist erstaunlich simpel“, sagt Transparenz die Kilometerstände aller
fällen bearbeitet die Arvato Financial Arvato-Manager Hinrichs. Erledigt wird TÜV-Prüfungen öffentlich machen. „Ab
Solutions im Jahr. Der badische Finanz- er von skrupellosen Gebrauchtwagenhänd- Mai 2018“, erklärt die Behörde auf Anfra-
dienstleister ist eine Art Interpol der noto- lern oder von ambulanten Dienstleistern, ge, sollen diese „für jedermann abrufbar“
risch beschubsten Branche. Björn Hinrichs, die den Service ganz offen im Internet an- sein – per Onlineauskunft beim Kraftfahrt-
dort mit Betrugsdelikten befasst, könnte bieten als „Instandsetzung“ oder „Justie- Bundesamt. Das wäre immerhin ein Kon-
einen Almanach des Unterschleifs anlegen rung“ von Tachos – das ist nicht verboten. trollpunkt alle zwei Jahre.
mit hübschen Beispielen wie dem jenes Dass hier ein Missbrauch von hoher ge- Verbraucherschützerin Heil würde das
fraudulenten Fahrzeughalters, der dieselbe sellschaftlicher Relevanz vorliegt, blieb Netz gern enger ziehen und alle Kilome-
Delle 28-mal in 14 Monaten als Kasko- auch dem ADAC nicht verborgen. Der terdaten aus dem Servicenetz der Herstel-
schaden begleichen ließ. Der Name bleibt Autoklub beziffert den geschätzten volks- ler in die Datenbank aufnehmen: „Ich
hier ungenannt – Allianz und Co. regeln wirtschaftlichen Schaden auf jährlich gehe davon aus, dass jeder Hersteller ge-
derlei Irritationen gern diskret und außer- sechs Milliarden Euro und appelliert an nau weiß, wie weit seine Autos gefahren
gerichtlich. die Autohersteller, endlich manipulations- sind.“
Arvato liefert den Versicherern Daten sichere Datenspeicher zu entwickeln. Die Das streiten manche Hersteller noch
aus einer Unzahl von Unfallberichten, wiederum beteuern, dass sie das zwar tä- nicht einmal ab. Nur sehen sie sich offen-
Gutachten und Werkstattrechnungen; und ten, aber eben immer wieder von der Kri- bar nicht in der Pflicht, dieses Wissen auch
diese erbrachten auch – gewissermaßen minalität überholt würden. Es sei ein mit dem Kunden zu teilen. Im vergange-
als Beifang – noch eine andere Erkennt- „ständiger Wettlauf“, beteuert deren Dach- nen Oktober verweigerte die Kundenbe-
nis: Nicht minder häufig als seine Asse- verband VDA in einem Statement zum treuung des VW-Konzerns dem Besitzer
kuranz betrügt der mobile Bürger seines- Thema. eines Touran die Aushändigung einer ge-
gleichen. Er stellt vor dem Verkauf sei- „Das Ganze geht schleppend voran“, be- wünschten Reparaturhistorie. Diese sei
nes Gebrauchtwagens den Kilometerstand klagt Mechthild Heil, die Beauftragte für „nur für den internen Gebrauch bestimmt“.
zurück. Verbraucherschutz der Unionsfraktion im Das Schreiben schließt mit einer pikanten
Zuweilen bis zu 50-mal am Tag stolpern Bundestag. Seit Jahren hält sie Arbeits- Anmerkung: „Auf eine richterliche Anord-
die Fahnder beim Dokumentencheck über kreise zum Thema ab und zeigt sich vor nung hin erfolgt die Herausgabe.“
eine Ungereimtheit: Autos, die beim letz- allem vom ADAC „sehr enttäuscht“. Christian Wüst

Zahlen-Dreher Beispiele für die Wertänderung eines Autos durch Tachomanipulation Quelle: Deutsche Automobil Treuhand

Volkswagen Golf VII 2012 Mercedes E-Klasse 2012 BMW 740i 2012

nach Manipulation 14 748 € 18 686 €


11 151 €
7454 €

vor illegaler Mehrwert illegaler Mehrwert illegaler Mehrwert 24 696 €


Manipulation 2118 € 3597 € 6010 €
5336 €

von auf km von auf km von auf km

84 DER SPIEGEL 37 / 2017


Wir fahren schon mal vor.

Der StreetScooter:
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auf die Straße gebracht. Jetzt schon mit 2.500 Exemplaren und bald
bundesweit emissionsfrei unterwegs. Vor drei Jahren nur eine kühne Idee.
Heute das größte E-Mobilitätsprojekt Deutschlands.

deutschepost.de

Innovativ seit 1490


XINHUA / EYEVINE / PICTURE PRESS
Rushhour in Peking: Die Gegenwart ist nicht mehr auszuhalten

Zukunftslabor China
Verkehr Weil die Städte des Landes im Smog versinken, treibt die Regierung in Peking neue
Mobilitätskonzepte und die Entwicklung des Elektroautos voran. Ein Vorbild für Deutschland?

Um zu verstehen, wie weit Zur selben Zeit staut sich vor den Aus- Stundenkilometern unterwegs, nicht ein-
China der Welt bald voraus- fahrten der Jingzang-Achse, einer der mal halb so schnell wie in deutschen Me-
eilen könnte, muss man erle- knapp ein Dutzend Magistralen, die stern- tropolen wie München.
ben, wie rückständig das förmig in Chinas Hauptstadt hineinführen, In keinem Land aber gehen Politik und
Land heute noch ist. Und wie kilometerlang der Verkehr, an den Ram- Wirtschaft so entschieden gegen die Folgen
groß deshalb der Druck, dass es pen zur fünften, vierten, dritten und zwei- des Verkehrsinfarkts vor wie in China. In
so nicht weitergehen kann. ten Ringautobahn kommt er vollends zum immer kürzeren Abständen verschärft Pe-
Halb acht Uhr früh, eine Metrostation an Stillstand. king die Umweltstandards, pumpt Milliar-
der Changping-Linie in Peking: Tausende Wenn nicht gerade Nordwind bläst, liegt den in die Entwicklung des Elektroan-
Pendler strömen auf den U-Bahnhof zu, gelber Smog über Peking, verursacht teils triebs, fördert Sharing-Modelle und neue
dort hat sich eine Schlange gebildet, die von den Stahl- und Kraftwerken des Um- Mobilitätskonzepte.
weit in eine Seitenstraße zurückreicht. Dicht lands, teils von den rund sechs Millionen In China könnte sich, darin sind sich
an dicht rücken die Wartenden vor, schwit- Autos der 22-Millionen-Stadt. Auch in Verkehrsexperten einig, die Zukunft der
zend, wortlos aufs Smartphone starrend. Sachen Pkw hat Peking mit Los Angeles Mobilität entscheiden – gerade weil die
Zehn Minuten später in Xi’erqi, der Um- gleichgezogen. Gegenwart nicht mehr auszuhalten ist.
steigestation zur Linie 13. Obwohl die In keinem Land der Welt sind die Folgen
Züge im Zweiminutentakt einfahren, dau- moderner Mobilität – Verkehrsdichte, Die E-Offensive
ert es eine Viertelstunde, bis die neu Ange- Stress, Luftverschmutzung – so drastisch Am Ortsrand von Shenzhen, der Software-
kommenen es nach vorn an die Bahnsteig- zu spüren wie in China, in keiner Stadt und Industriemetropole an der Grenze zu
kante schaffen. Sobald die Türen aufgehen, sind sie so unerträglich wie in Peking. Um Hongkong, erstreckt sich über mehrere
werden sie von einer Menschenwelle er- das Vierfache ist die Zahl der Autos in der Quadratkilometer das Hauptquartier des
fasst, die sie in die noch drückendere Enge Hauptstadt in den vergangenen 15 Jahren Auto- und Batterieherstellers BYD, mit sei-
der Waggons hineinpresst. gestiegen. Im Schnitt sind sie mit zwölf nen verwitterten Fabrikhallen und Arbei-
86 DER SPIEGEL 37 / 2017
Mobilität

terwohnheimen sieht es aus wie ein chine- Zwei Millionen Fahrzeuge ohne Ver- Jahren gründete Zhang seine Firma, inzwi-
sischer Staatsbetrieb. brennungsmotor sollen 2020 in China ver- schen sind dort gut eine Million Autos und
Doch das täuscht: BYD („Build Your kauft werden, sieben Millionen 2025. An- zwei Millionen Fahrer registriert.
Dreams“) ist ein innovatives Hightech-Un- ders als bei ähnlichen Voraussagen euro- Die Autos in China sind im Schnitt nur
ternehmen, das seit Jahren die Fantasie päischer Regierungen zweifeln in China vier Jahre alt, es ist der größte und einer
von Freunden der Elektromobilität beflü- nur wenige daran, dass diese Zahlen auch der jüngsten Fuhrparks der Welt. Diese
gelt. Bereits 2008 stieg der US-Großinves- erreicht werden. Wagen binden Milliarden an Vermögen,
tor Warren Buffett bei der Firma ein. Lan- Die Frage ist eher, welche Hersteller sich werden aber, wenn überhaupt, an vielen
ge ließ der Durchbruch auf sich warten, durchsetzen werden: die zahlreichen Start- Tagen nur für wenige Stunden genutzt.
doch nun scheint sich Buffetts Geduld aus- ups, die nach dem Vorbild von Tesla mit „Warum soll jeder ein eigenes Fahrzeug
zuzahlen. sportlichen Designs und optimistischen kaufen?“, fragte sich Zhang, bevor er sein
BYD produziert heute mehr Elektroautos Produktionszahlen werben; die Gemein- Unternehmen gründete. „Warum nehmen
als jedes andere Unternehmen und über- schaftsunternehmen chinesischer und in- die Leute nicht eines der vielen Autos, die
trifft den ungleich bekannteren US-Herstel- ternationaler Marken wie VW, Audi oder unten auf dem Parkplatz stehen?“
ler Tesla deutlich. 2016 verkaufte BYD gut General Motors, die heute den Markt be- Schon jetzt sind solche Sharing-Modelle
100 000 Elektroautos, 70 Prozent mehr als herrschen – oder rein chinesische Auto- dabei, den Transportsektor des Landes tief
im Vorjahr und 25 000 mehr als Tesla. bauer wie BYD, die vor allem auf die greifend zu verändern. Die beiden Fahr-
An BYD lässt sich beobachten, wie Chi- Klein- und Mittelklasse setzen. radverleiher Mobike und Ofo vermieten
na den Aufstieg des Landes zum globalen Fahrräder, die per App gefunden, entsperrt
Marktführer der Elektromobilität voran- Leihen statt besitzen und deshalb an jedem beliebigen Ort aus-
treibt. Die Zentralregierung unterstützt Etwa 130 Millionen Chinesen haben heute geliehen und abgestellt werden können.
das Unternehmen mit Krediten der großen einen Pkw, über 300 Millionen einen Füh- Im Oktober 2016 hatten die beiden Markt-
Staatsbanken, Provinzen und Städte för- rerschein. „In zehn Jahren werden wir zwi- führer zusammen 100 000 Fahrräder im Ein-
dern das Geschäft, indem sie ihre öffent- schen 700 Millionen und einer Milliarde satz, inzwischen sind es weit über zehn
lichen Fuhrparks auf Elektroantrieb um- Führerscheine haben“, sagt Eddy Zhang. Millionen.
stellen. BYD liefert Autobusse, Gabelstap- „Doch Chinas Straßen und Parkplätze rei- Die Nutzung des Fahrrads war in den
ler, Müll- und Kehrlaster. Millionenstädte chen für höchstens 300 Millionen Autos. vergangenen Jahren fast völlig außer Mode
wie Shenzhen oder Taiyuan elektrifizieren Da braucht es neue Ideen.“ gekommen, laut einer Umfrage unter Bike-
mit BYD-Autos ihre Taxiflotten. Entspre- Der Pekinger Softwareingenieur Zhang, sharing-Nutzern hat sich seit Einführung
chend konventionell sehen die meisten Mo- 34, hat seine eigene Idee in eine App na- des Systems der Anteil der Fahrten mit
delle aus; auf Automessen zieht der BYD- mens „Start“ umgesetzt. Sie funktioniert dem Fahrrad von 5,5 auf 11,6 Prozent mehr
Stand in der Regel keine Blicke auf sich. wie die Wohnungsbörse Airbnb: Wer ein als verdoppelt. Die Autonutzung dagegen
BYD ist nur eines von Dutzenden Un- Auto hat, es aber gerade nicht braucht, ist rückläufig, weil viele Pendler jetzt Rä-
ternehmen, die von Chinas E-Offensive kann es vermieten, stunden-, tage-, wochen- der ausleihen, vor allem, um zur nächsten
profitieren. Sie alle werden vom Staat ge- weise. Wer einen Führerschein hat, aber U-Bahn-Station zu kommen. Der Staat för-
fördert – und gefordert: durch strenge keinen passenden Wagen, kann sich einen dert den Trend, indem er großzügig Fahr-
Vorgaben für die Autos. In den Großstäd- ausleihen, einen Van, einen Sportwagen, radspuren zurückbaut, die vor Jahren dem
ten an der Ostküste sind die Emissionsauf- ein Elektroauto. Die App zeigt auf einer Autoverkehr gewichen waren.
lagen inzwischen schärfer als in Europa Karte an, wo das nächste Auto bereitsteht. Auch Chinas größter Carsharing-Dienst
und in Kalifornien. Ab 2020 gilt landesweit Start besitzt selbst keine Fahrzeuge, es Didi Chuxing hat sich an dem Leihrad-Start-
für alle Autohersteller ein Flottendurch- bringt Mieter und Vermieter zusammen up Ofo beteiligt, das mittlerweile wie auch
schnittsverbrauch von höchstens fünf, ab und setzt den Rahmen für das Geschäft, Konkurrent Mobike nach Europa und in
2025 von vier Litern je 100 Kilometer. In die Bezahlung, die Versicherung. Vor fünf die USA expandiert. Der Fahrdienstleister,
drei Jahren soll es zudem knapp fünf Mil- 2015 aus dem Zusammenschluss zweier chi-
lionen Ladepunkte geben. nesischer Konkurrenten hervorgegangen,
Bereits im kommenden Jahr sollte ur- hat mit rund 20 Millionen Fahrten täglich
sprünglich jeder Hersteller verpflichtet wer- sein US-Vorbild Uber inzwischen überholt.
den, mindestens acht Prozent Elektrofahr- Mit der App von Didi lassen sich Privat-
zeuge auf den Markt zu bringen, danach wagen, Carpooling-Dienste und Busse bu-
zehn, danach zwölf Prozent. Der Markt- chen; die Firma vermittelt aber auch Test-
führer VW setzt in China jährlich gut drei fahrten oder Fahrer, die einen etwa nach
Millionen Autos ab; nach dem zunächst ge- einem Restaurantbesuch im eigenen Wa-
planten Punktesystem hätte er 2018 also gen nach Hause bringen. Im Juli zählte die
rund 60 000 E-Autos verkaufen müssen. App fast 400 Millionen User, etwa die Hälf-
Wer die vorgeschriebenen Werte nicht er- te aller Internetnutzer, fast ein Drittel der
reicht, muss entweder seine Produktion Bevölkerung.
drosseln oder von Elektro-Champions wie Da Didi auch mehrere Taxiunterneh-
BYD Kreditpunkte kaufen. Mittlerweile hat men unter Vertrag hat, funktioniert die Fir-
JONATHAN BROWNING / DER SPIEGEL

die chinesische Regierung angekündigt, die ma nicht nur wie ein klassischer Sharing-
Regeln entschärfen zu wollen. Dienst. Zugleich verfügt die Firma über
Auch aufseiten der Konsumenten greift einen Autoverleih mit eigener Flotte. Die-
der Staat lenkend ein. In Peking werden ses Prinzip kopieren bereits Dutzende
neue Kennzeichen seit 2011 nur mehr per Unternehmen, die sich auf einzelne Pro-
Lotterie vergeben. Bei der letzten Verlo- vinzen, Fahrzeugtypen oder Mietmodelle
sung am 26. August lagen 2 886 166 Anträge konzentrieren.
vor, die meisten schon seit Jahren. Verge- Unternehmer Zhang Anders als in vielen europäischen Län-
ben wurden 13 000 Lizenzen. „Warum soll jeder ein eigenes Auto kaufen?“ dern, wo Unternehmen wie Uber starken
DER SPIEGEL 37 / 2017 87
Mobilität

Einschränkungen unterliegen, fördert der folgen, wohin ein Dieb damit unterwegs dass das ‚große Spiel‘ im Transportsektor
chinesische Staat die Sharing- und Fahr- ist.“ Auf WeChat, Chinas führendem Mes- inzwischen um solche Daten ausgetragen
dienstleister aktiv. Anfang August ver- sengerdienst, haben Diebstahlopfer sogar wird“. Nicht das Automobil sei künftig
öffentlichten das Transport- und das Chatgruppen eingerichtet, um Freunde an mehr das wichtigste Produkt der Branche,
Städtebauministerium eine gemeinsame einer Verfolgungsjagd zu beteiligen. „Wir sondern die datengestützte „Automobili-
Richtlinie mit dem Ziel, „die Neigung warnen unsere Kunden davor, sich mit den tät“: die Fähigkeit eines Unternehmens, ei-
zum individuellen Autokauf zu reduzieren Dieben anzulegen, bevor die Polizei nen individuellen Kunden von A nach B
und damit die Verkehrsbelastung zu ver- kommt.“ zu transportieren, mit welchem Verkehrs-
ringern“. Für die Firma hat sich damit ein zweites mittel auch immer. Traditionelle Autobau-
Geschäftsfeld aufgetan. Da die Datenchips er werden in diesem Modell zum Rohstoff-
Verkehr der Daten tief im Innern der Roller verbaut sind und lieferanten.
Der Softwareingenieur und Stanford-Ab- ihr Entfernen für Diebe deshalb mühsam Neben Chinas Internetfirmen profitiert
solvent Yan Li, 38, stellt zwei Produkte ist, kann Niu günstige Versicherungen an- auch der notorisch neugierige Staat von
her: ein analoges und ein digitales. bieten. „Etwa die Hälfte der Kunden kauft der Datenflut. Das Bewegungsprofil eines
Das analoge Produkt seiner Firma Niu eine Diebstahls- und gleich eine Haft- gestohlenen E-Rollers weist der Polizei den
ist ein Elektroroller mit leichtem Akku pflichtversicherung dazu“, sagt Yan. „Wir Weg zum Dieb; die von Didi mit der Re-
und starkem Drehmoment. Der Motor sind also zugleich Hersteller, Internetdienst gierung geteilten Statistiken optimieren
wurde von Bosch entwickelt, das moderne und Versicherer.“ bereits den Verkehrsfluss in elf chinesi-
Design hat Yan auch in Europa und den Den größten Datenschatz fördert der schen Großstädten – und alle Daten laufen
USA gute Kritiken eingebracht. Carsharing-Dienst Didi Chuxing zutage – zusammen, um eine staatlich streng kon-
Das digitale Produkt sind Daten. Yan Li etwa 2000 Terabyte täglich. Didi weiß, wo trollierte Navigationsindustrie aufzubauen.
weiß genau, wo, wann und wie lange jeder die Staus morgens am längsten sind (in Hochauflösende digitale Karten sind
eine zentrale Voraussetzung für den nächs-
ten Schritt in der Entwicklung der Mobi-
lität: das autonome Fahren. Selbstfahrende
Autos brauchen enorme Datenmengen,
um sicher unterwegs zu sein – ein Stand-
ortvorteil für China, das auch auf diesem
Feld an die Weltspitze drängt.
Bislang befasst sich vor allem der Such-
maschinenbetreiber Baidu mit diesem The-
ma. Anfang Juli zeigte sich Baidu-Chef Ro-
bin Li per Livestream auf dem Beifahrer-
sitz eines selbstfahrenden Autos in Peking
(was ihm prompt eine Anzeige eintrug).
Eine Woche später gab das Unternehmen
bekannt, dass es die Provinzstadt Baoding
zu seinem Testzentrum für autonomes Fah-
ren erkoren habe.
KEVIN FRAYER / GETTY IMAGES

Der Ort dürfte mit Bedacht gewählt sein:


Vor den Toren von Baoding errichtet Chi-
nas Zentralregierung die „Smart City“
Xiong’an, die neue Mobilitätskonzepte er-
proben soll. Das Projekt wurde von Staats-
präsident Xi Jinping persönlich vorgestellt
Mechaniker mit Fahrrädern des Verleihers Ofo: Per App gefunden, entriegelt und wieder abgestellt und genießt damit allerhöchsten Segen.
Bisher sind wenige Details bekannt,
der rund 250 000 verkauften Scooter bis- Xi’an), bei welchem Internetkonzern die doch China werde „alles an Geld, Raum,
lang unterwegs war – „in Echtzeit“, wie Angestellten zuletzt nach Hause fahren Zeit und Ressourcen investieren, um zu
er sagt. Yan öffnet seinen Laptop und zeigt, (beim Onlinehändler JD.com) und in wel- zeigen, was man auf der grünen Wiese
was er meint: „Insgesamt hat unsere Flotte cher Stadt sich Grundschullehrer abends entwickeln kann“, sagt der Experte
bis heute 426 989 780 Kilometer zurückge- am häufigsten ein Auto buchen (in Chong- Russo. „Denn in keinem Land haben die
legt. Jetzt, gegen Mittag, sind in Peking qing). Die Daten geben Auskunft darüber, Verkehrslösungen des 20. Jahrhunderts ein
2382 Leute auf Niu-Rollern unterwegs, ges- wie weit ein Fahrgast mit Didi gefahren solches Desaster angerichtet wie in China.“
tern Abend um 19 Uhr waren es 35 696, ist und wo ihn ein Stau bewogen hat, in Kein Land habe so viele gute Gründe,
heute früh um vier immerhin schon 1000.“ die U-Bahn umzusteigen oder für die letz- im 21. Jahrhundert etwas Neues auszupro-
Die Niu-App auf seinem Smartphone zeigt ten paar Hundert Meter ein Rad zu leihen. bieren.
auf einer Karte an, dass auch sein eigener „Wer die Mobilitätsmuster eines Men- Noch steigen die Verkaufszahlen für Pri-
Roller gerade in Bewegung ist: „Ah, mein schen kennt, hat den heiligen Gral ge- vatautos in China, das Land ist der größte
Vater ist zum Einkaufen gefahren.“ funden, um eine langfristige Geschäfts- Automarkt der Welt. Und doch könnte
Niu sammelt die Daten nicht zum Zeit- beziehung zu ihm aufzubauen“, sagt der China das erste Land werden, in dem Mo-
vertreib. Die Informationsflut, sagt Yan, Verkehrsexperte Bill Russo von der Shang- bilität nicht mehr in erster Linie um ein
biete den Kunden und dem Unternehmen haier Beratungsfirma Gao Feng. Produkt – das Auto – kreist, sondern um
einen Mehrwert. „Der Kunde profitiert Es sei kein Zufall, dass vor allem Chinas eine Dienstleistung: den schnellsten, be-
zum Beispiel vom Diebstahlschutz. Ich Internetriesen Alibaba, Tencent und Baidu quemsten, sichersten und saubersten Weg,
kann auf der App sofort sehen, wenn mein so massiv in moderne Mobilität investier- von einem Ort zum anderen zu kommen.
Roller bewegt wird, und ich kann live ver- ten. Sie hätten „früher als andere erkannt, Bernhard Zand

88 DER SPIEGEL 37 / 2017


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[ ] gelten für Automatikgetriebe. Fahrzeuge zeigen Sonderausstattung.
Mobilität

Knorriger
ein wenig delikater: Dacia war einst außer- orderten, dann den Absturz und die lange
halb der Länder des Warschauer Pakts na- Misere.
hezu unbekannt – Lada dagegen Kult. Die kleine Importfirma überlebte in ei-

Zauber
Die Produkte aus Togliatti, zunächst ro- ner Art Notbiwak improvisierten Marke-
buste Fiat-Klone aus einer von dem italie- tings. Als einzige Trumpfkarte im Modell-
nischen Hersteller ans Wolgaufer gepflanz- spektrum blieb der Geländewagen Niva
ten Retortenfabrik, fanden bald nach dem von 1976, den das Werk als ewigen Klassi-
Lada Russlands Automarke Produktionsstart 1971 Vertriebswege nach ker weiterproduziert, auch wenn er jetzt
Westeuropa. Luxusverweigerer mit mehr Taiga oder Urban heißt. Der Name Niva
steuert auf westliche Qualitäts- oder weniger politischen Motiven entdeck- ging an General Motors verloren – im Rah-
standards zu. Doch das Sowjet- ten den knorrigen Zauber der unschlagbar men einer fruchtlosen Kooperation des US-
günstigen „Russen-Fiats“. Konzerns mit dem russischen Produzenten.
relikt wird nicht zuletzt für Hinzu kamen ein beinharter Gelände- Mit dem Vesta beginnt jetzt eine pro-
seine Rückständigkeit geliebt. wagen, lange bevor die Schickeria den All- blembeladene Zeitenwende. Renault wird
in Deutschland nicht den Vertrieb
Jede Regierung kann übernehmen, da schon die kon-
mal Ärger mit der hei- zerneigene Billigmarke Dacia im
mischen Autoindus- Händlernetz präsent und gut
trie bekommen. Auch etabliert ist – Ladas härtester
Russlands Präsident Konkurrent.
Wladimir Putin ist hier Die Händlerschaft der russi-
nicht frei von Sorgen. Ihm geht schen Marke lebt noch im Wesent-
es aber nicht etwa um die Ab- lichen vom Kultmobil Niva; der
schaffung des Verbrennungsmo- Vesta tritt in der Preisklasse von
tors; eher darum, dessen Produk- Dacia an, ist aber, bei Licht be-
tion überhaupt wieder richtig in trachtet, noch nicht so gut: Die
Gang zu kriegen. Lada, Russlands Schaltautomatik macht unerfreu-
größter und einzig nennenswerter lich lange Pausen zwischen den
Autoproduzent, ist ein ewiger Gangwechseln, die Kunststoffe
Krisenfall. riechen noch immer leicht nach
Doch es gibt Hoffnung: Die Ölraffinerie, und es gab Klagen
öffentliche Testfahrt des erkenn- über ein etwas kryptisches Navi-
bar zufriedenen Präsidenten mit gationssystem, dem in der Eile
einem der ersten Exemplare des der Markteinführung die west-
Lada Vesta im Herbst 2015 lichen Idiome nicht klar genug
wurde ein kleiner Quotenhit bei beigebracht worden waren. Es
YouTube. Der Vorgang mochte sagte anfangs „sechzigfünf“ statt
ein wenig an planwirtschaftliche „fünfundsechzig“ und warnt vor
Propaganda erinnern, doch das Blitzern noch immer mit dem
ULLSTEIN BILD

Produkt ließ wohl erkennen, dass Satz: „In 500 Metern es gibt eine
hier eine neue Ära beginnt. Radarkontrolle.“
Als die ersten Exemplare des Lada-Liebhaber der alten Schu-
Vesta im Frühjahr in den deut- Neues Lada-Modell Vesta, Testfahrer Putin le mögen das als charmant emp-
schen Handel kamen, schrieb das „In 500 Metern es gibt eine Radarkontrolle“ finden. Doch es geht jetzt darum,
Branchenblatt „Kfz-Betrieb“ von Menschen zu gewinnen, deren
einem „Schockerlebnis“. Das Fahrzeug radantrieb entdeckte, und eine Werbe- Einstellung zum Auto nicht von Humor
habe ein „deutlich sichtbares Automo- kampagne, mit der sich der Importeur geprägt ist. In diesem Jahr will die Lada
bildesign“. Im Übrigen stand da ein durch- kunstreich im eigenen Spott suhlte. Un- Automobile GmbH mindestens 3000 Neu-
weg moderner Mittelklassewagen für vergessen bleibt die Anzeige mit dem wagen absetzen, knapp 2000 werden noch
12 740 Euro, mit einigen Schwächen noch, Lada-Werker, der mit einem Haarföhn Exemplare des musealen Allradmobils
aber besser verarbeitet und ausgestattet gegen den Frontgrill pustet, darunter der sein.
als je ein Lada zuvor. Verweis auf die vortreffliche Aero- Erst mit der neuen Kombivariante dürf-
Was wundersam anmutet, ist die zwangs- dynamik. Das Auto war so strömungsgüns- te der Vesta 2018 das dominierende Modell
läufige Konsequenz einer globalen Ent- tig wie ein Schuhkarton. werden, schätzt Trzaska. Der 72-Jährige
wicklung, von der Lada eben nur sehr spät „Ironie wird heute nicht mehr angenom- hatte sich einmal vorgenommen, die Ge-
erfasst wurde: die beginnende Sanierung men“, sagt Dieter Trzaska, Chef der Lada schäftsführung erst abzugeben, wenn Lada
durch einen westlichen Konzern. Re- Automobile GmbH in Buxtehude. Trzaska in Deutschland mehr als 12 000 Autos im
nault/Nissan ist schrittweise eingestiegen ist ein kauziger Geschäftsmann; er emp- Jahr verkauft. „Aber das“, sagt er, „werde
und nun dabei, den Industriekoloss aus fängt in einem signalgrünen Hemd, das ich wohl nicht mehr miterleben.“
der Verkrustung seiner sowjetischen Erb- noch aus volkseigener Textilfertigung stam- Christian Wüst
masse herauszusprengen. men könnte, und spricht Klartext in zar- Mail: [email protected]
Der französisch-japanische Konzernver- tem Ruhrpottakzent. In den Siebzigern hat
bund hat bereits die rumänische Gruselmar- er als Verkäufer bei Lada begonnen und Video-Testfahrt:
ke Dacia erfolgreich in die Moderne geführt, die ganze Reise mitgemacht: den verrück- Das Lada-Geheimnis
scheint also durchaus qualifiziert für eine ten Boom nach der Grenzöffnung, als die spiegel.de/sp372017lada
solche Operation. Aber der Fall ist doch befreiten DDR-Bürger massenhaft Ladas oder in der App DER SPIEGEL

90 DER SPIEGEL 37 / 2017


Feuer und Zorn
Glutrot leuchten die Hügel im kalifornischen Burbank: vom Feuer und vom Löschmittel, das aus
Flugzeugen abgeworfen wird. Während der Süden der USA von Rekordstürmen heimgesucht
wird, kämpft der Westen erneut mit Buschbränden. Um Los Angeles brannte, so Bürgermeister
Eric Garcetti, das größte Feuer in der Geschichte der Stadt. Die Regierung in Washington
interessiert sich trotzdem weiterhin nicht für den Klimawandel.

Analyse

Die verhassten vier Buchstaben


Warum der Friedensprozess Kolumbien spaltet
Eine rote Rose mit Stern ist das Wahrzeichen von Kolumbiens gen nicht, dass die Entführer, Mörder und Drogenhändler der
neuer Partei „Allgemeine Alternative Revolutionäre Kraft“. Farc nun zumeist straflos ausgehen. Bis zu 70 Prozent lehnen
Ihr Kürzel ist aber ein altbekanntes: Farc. Die vier Buchsta- die Amtsführung des Präsidenten Juan Manuel Santos ab.
ben der Ex-Guerilla sind den meisten Kolumbianern verhasst. Wenn der Friedensprozess langfristig erfolgreich sein soll,
Dennoch wollen die einstigen Kämpfer, die unter dem Frie- muss diese Kluft überbrückt werden. Die Farc hat dabei
densplan nun eine Partei bilden, weiter so heißen: Sie sehen eine Bringschuld: Sie hält weiterhin Waffen versteckt, und sie
sich immer noch als Revolutionäre – und wollen ihr Ziel jetzt hat offenbar nur einen Bruchteil ihres Vermögens deklariert,
an den Urnen erreichen. das hauptsächlich für die Entschädigung ihrer Opfer aufge-
Der Staat leistet Starthilfe bei diesem Experiment: Er garan- wandt werden soll. Aber auch Kolumbiens herrschende Klasse
tiert der Farc zehn Sitze im Kongress, unabhängig davon, ob müsste für den Frieden Opfer bringen: Sie darf die krasse
sie bei der Parlamentswahl im März genügend Stimmen ge- soziale Ungerechtigkeit und Gewalt auf dem Land nicht län-
winnt. Das erhitzt die Gemüter. Die meisten Kolumbianer se- ger ignorieren.
hen den Friedensprozess noch skeptischer als vor einem Jahr, Ob die Versöhnung funktioniert, hängt nicht zuletzt vom
als sich eine knappe Mehrheit gegen das Friedensabkommen Nachbarland Venezuela ab. Kritiker fürchten, dass mit der
aussprach. politischen Integration der Farc der „Castrochavismus“ in Ko-
Im Ausland wird Kolumbien als Vorbild für friedliche Kon- lumbien Einzug halte – sie sehen die linksextreme Partei als
fliktlösung gefeiert. Die meisten Kolumbianer verstehen dage- fünfte Kolonne des Diktators Nicolás Maduro. Jens Glüsing

92 DER SPIEGEL 37 / 2017


Ausland
Flüchtlinge Der Streit um Flüchtlinge gegenseitig per Veto im Euro-
Die EU ist gegenüber zeigt: Das EU-Recht hängt in päischen Rat vor Sanktionen
der Luft. Länder, die sich da- zu schützen.
Orbán machtlos rüber hinwegsetzen wollen, Völlig ungeschoren werden
Der Europäische Gerichts- haben kaum Strafe zu be- Länder, die aus der Solidarge-
hof hat Recht gesprochen: fürchten. Ungarn, Polen und meinschaft ausscheren, je-
Ungarn und die Slowakei Tschechien haben wegen der doch nicht davonkommen.
müssten gemäß Mehrheits- Flüchtlingskrise Vertrags- Regierungen, die sich so ge-
beschluss der Europäischen verletzungsverfahren am bärden, verlieren in der Euro-
Union insgesamt 2196 Flücht- Hals, Ungarn zudem wegen päischen Union politisches
linge aufnehmen. Zum Ver- eines umstrittenen Hoch- Gewicht. Sie werden abge-
gleich: Mecklenburg-Vorpom- schulgesetzes und weil es die straft, etwa bei Haushaltsver-
mern hat allein 2017 bereits Rechte von Nichtregierungs- handlungen. Doch das sind
2241 aufgenommen. organisationen beschneidet. informelle Sanktionen, die
Und doch wird mindestens Polens Regierung streitet mit schmerzen – und in Osteuro-
Ungarn sich weiterhin sper- Brüssel, weil sie das Verfas- pa das Image der EU noch
ren. Denn zu befürchten hat sungsgericht entmachtet hat weiter verschlechtern werden.
Premier Viktor Orbán wenig, und die Gerichte der Politik Schließlich lautet ihr Verspre-
Brüssel kann Schutzsuchende unterwerfen will. chen, das Zusammenleben
ja nicht zwangsweise nach Trotzdem kassieren beide der Nationen nach transpa-
Osten verfrachten. Die EU Länder weiterhin Milliarden renten Regeln zu gestalten.
müsste nun ein Strafverfah- Euro an Beihilfen. Der EU Gerade in Osteuropa aber
ren nach Artikel 7 einleiten, fehlen Strafmaßnahmen, die war die EU den Ruch nie
am Ende verlöre Ungarn sie gegen Übeltäter verhän- losgeworden, nur westeuro-
womöglich sein Stimmrecht gen könnte. Polen und Un- päische Hegemonialansprü-
in der EU. Oder auch nicht. garn haben ausgemacht, sich che zu bemänteln. Jan Puhl

USA werden. Erneut stecken mei- dass ich nicht mehr in das
„Wir sind ne Träume in der Sackgasse. Land gehöre, in dem ich auf-
Ich weiß nicht, wie ich nun gewachsen bin. Ich habe das
gute Amerikaner“ weitermachen soll. Gefühl, dass dies nicht mehr
Die in den USA aufgewachsene Da wir uns registrieren lie- meine Heimat ist. Es ist trau-
Mexikanerin Karen Zapien, 26, ßen, wissen die Einwande- rig und frustrierend.
KYLE GRILLOT / REUTERS

über ihre Sorgen nach Präsi- rungsbehörden, wo sie mich Trump und sein Justizmi-
dent Donald Trumps Beschluss, und meinen Bruder finden. nister Jeff Sessions verbreiten
das „Dreamer“-Programm Das macht uns Angst. Auch so viele Lügen. Dass Daca
zu beenden, das Kinder illegal meine Eltern leben in Angst. verfassungswidrig sei oder
Eingewanderter vor der Aus- Sie haben keine Aufenthalts- dass Mexikaner Kriminelle
weisung schützte erlaubnis und sind noch rela- seien. Die Anforderungen an
tiv jung, meine Mutter ist 43, Dreamer sind streng. Wir
„Wir wussten, dass diese Ent- mein Vater 49. Wir hören sind gute Amerikaner. Wir
Fußnote scheidung kommen würde. jetzt viel von Eltern, die sich gehören hierher.

60000
Trotzdem hat es uns sehr ge- schuldig fühlen, weil sie uns Aber wir sind jetzt auch
schockt. Mein Bruder und ich als Kinder hierher gebracht kampfbereit. Ich bin Chief
saßen zu Hause und guckten haben. Ich kann ihnen nur sa- Policy Analyst von „Dream
NBC News, es gab Tränen. gen: Keiner hat Schuld. Sie Team LA“, einer Aktivisten-
Menschen wurden seit Ich bin es so leid, wie wir be- haben ihr ganzes Leben zu- gruppe in Los Angeles. Wir
dem Militärputsch im Juli nutzt werden, als politische rückgelassen, und ich möchte werden uns an den Kongress
2013 in Ägypten verhaftet Spielbälle, als Puppen. Wir ihnen danken, dass sie sich wenden. Meine Hoffnung ist,
oder angeklagt, oft will- sind keine Zahlen, wir sind für uns geopfert haben. dass für uns am Ende eine
kürlich. Was viele von Menschen. Die USA sind alles, was ich bessere Situation dabei he-
ihnen in der Haft erleiden, Ich war ein Jahr alt, als kenne. Jetzt wird mir gesagt, rauskommt, dass unser Status
dokumentiert die Organi- meine Eltern mich aus Mexi- endlich gesetzlich festge-
sation Human Rights ko in die USA schleusten. schrieben wird.
Watch: Dutzende seien Jetzt bin ich 26 und habe ge- Unsere Eltern und Groß-
durch Folter im Gefängnis rade meinen Uni-Abschluss eltern haben uns gelehrt zu
gestorben, Hunderte als Betriebswirtin gemacht. lächeln, positiv zu sein, egal
„verschwanden“ mona- Ich habe einen Job bekom- wie hart das Leben ist. Wenn
telang. Systematisch men, aber ohne Daca (das of- wir nicht weiterkämpfen,
würden Gefangene mit fizielle Kürzel für das Drea- werden wir immer im Schat-
Schlägen, Elektroschocks mer-Programm „Deferred Ac- ten leben. Uns wurde so viel
und Stresspositionen tion for Childhood Arrivals“) genommen. Nur unsere
gequält, manchmal auch ist er in Gefahr. Eigentlich Angst nicht.“
vergewaltigt. wollte ich Wirtschaftsprüferin Zapien Aufgeschrieben von Marc Pitzke

DER SPIEGEL 37 / 2017 93


Ausland

K
im Jong Un trägt eine schicke Brille könnte auch einen Zusammenstoß der Ri- Beginnen könnten Gespräche, wenn zu-
und einen dunklen Mao-Anzug, valen USA und China verursachen. nächst „der Westen zähneknirschend ein-
und wer genau hinsieht, erkennt die Am Montag nach dem Atomtest tritt der gesteht, dass Nordkorea Atomwaffen be-
feinen Nadelstreifen. Auf den neuesten Uno-Sicherheitsrat zu einer Krisensitzung sitzt“. Danach müsste Nordkorea, so
Propagandabildern steht der Diktator zwi- zusammen. Amerikas Gesandte Nikki Ha- Frank, „einen Schritt unternehmen, der es
schen fünf Männern, sie hören ihm zu, hal- ley spricht langsam, ihre Stirn liegt in Fal- der US-Regierung vor ihrer Öffentlichkeit
ten Notizblöcke und Stifte in der Hand. ten, ihre Rede ist das Protokoll eines Schei- erlaubt, eine Art von Verhandlung in Gang
Kim wirkt entspannt, er lacht und fasst terns. Seit mehr als 20 Jahren, sagt Haley, zu setzen“. So könnte Nordkorea beispiels-
einen der Ingenieure am Arm. Auf einem befasse sich der Sicherheitsrat mit Nordko- weise erklären, es verzichte für absehbare
weiteren Bild steckt er eine Hand wie Na- reas Atomprogramm. Es fing 1993 an, mit Zeit auf Atomtests, vielleicht auch auf Ra-
poleon in seinen Anzug, mit der anderen einem Aufruf, das Abkommen zur Nicht- ketenstarts. Dann könnten die USA erklä-
deutet er auf einen silberfarbenen Zylinder verbreitung von Atomwaffen zu befolgen. ren: „Wir verzichten jetzt auf Militärma-
und einen Kegel, beide sind mit weißen 2006, als die Gespräche scheiterten und das növer in Südkorea.“
Kabeln verbunden: Das soll sie sein, die Regime erneut Raketentests unternahm, Wenn diese Vorbedingungen erfüllt sind,
Waffe, vor der die Welt in diesen Tagen verurteilte die Uno das. Resolution folgte könnten Gespräche beginnen, bei denen
zittert. Der Sprengkopf einer zweistufigen auf Resolution, ohne Erfolg. „Den Mitglie- zunehmend gewichtigere Fragen bespro-
Wasserstoffbombe, der sich auf einer Ra- dern des Sicherheitsrates muss ich sagen: chen würden: das Sanktionsregime, die Zu-
kete angeblich bis nach Amerika schießen Genug ist genug.“ Der Ansatz, schrittweise lassung von Inspektoren, die Wiederaufnah-
ließe. Oder nur eine Attrappe? mehr Druck auszuüben, habe versagt. me Nordkoreas in den Atomwaffensperr-
Seit fast sechs Jahren ist Kim an der Amerika, so scheint es also, schließt jeden vertrag, ein Friedensvertrag als Abschluss
Macht, länger als Chinas Staatschef Xi Jin- Dialog mit Pjöngjang aus, während China des Koreakriegs. „Das wären Dinge, die
ping, viel länger als Donald das Atomprogramm zunächst
Trump und Südkoreas Präsi- nicht antasten würden“, sagt
dent Moon Jae In. In Amtsjah- Frank. „Daher würde Nordko-
ren gemessen, ist der 33-jährige rea das wohl akzeptieren. Und
Diktator der Veteran unter den
Staatsmännern, mit denen er
es nun in dieser gefährlichsten
Krise unserer Zeit zu tun hat –
Reden und auch die Amerikaner würden
erst mal nur über Dinge verhan-
deln, die sie jederzeit zurück-
nehmen können.“

Zähneknirschen
und er will, wie sein Vater und Das ist ein optimistisches
Großvater, vermutlich noch Szenario, die meisten Experten
jahrzehntelang herrschen. Die- sind deutlich skeptischer. In
ses Selbstbewusstsein strahlt Verhandlungen hätte Nordko-
der Mann jedenfalls aus. rea durch seine Waffen einen
Nur ein paar Stunden nach Koreakrise Der erfolgreiche sechste strategischen Vorteil und könn-
der Veröffentlichung der Propa- te weitreichende Forderungen
gandabilder bebte die Erde. In Atomtest zeigt: Nordkorea hat gewaltige stellen. Selbst ein Einfrieren
Punggye-ri, dem Atomtestge- Fortschritte gemacht und sitzt am längeren des Programms würde es sich
lände im Nordosten des Landes, teuer abkaufen lassen. Die USA
habe man eine Wasserstoffbom- Hebel. Am Ende werden die USA haben deshalb offizielle Ge-
be gezündet, verkündete Pjöng- wohl mit Pjöngjang verhandeln müssen. spräche bisher abgelehnt. Aber
jang. Die seismischen Schwin- ohne echte militärische Option
gungen waren um ein Vielfa- Aber will Kim Jong Un das überhaupt? bleibt ihnen kaum etwas ande-
ches stärker als im Januar 2016, res übrig, als zu reden. Und sei
beim ersten angeblichen Test es nur, um die Spannungen zu
einer nordkoreanischen Wasser- reduzieren.
stoffbombe. Westliche Experten gehen da- und Russland auf Gespräche setzen. Wie Informelle Gespräche zwischen Vertre-
von aus, dass die Sprengkraft diesmal bis aber könnte ein Verhandlungsprozess aus- tern der USA und Nordkoreas haben im-
zu 150 Kilotonnen betrug, etwa das Zehn- sehen – und wie eine Einigung? Wer hat mer wieder stattgefunden, auch unter Do-
fache der Hiroshima-Bombe. Zwar kann noch Interesse an Gesprächen mit einem nald Trump. Hin und wieder bedienen sich
außerhalb Nordkoreas niemand mit Sicher- Regime, das über Jahrzehnte so gut wie alle die USA der Hilfe von Diplomaten anderer
heit sagen, ob es sich um eine vollwertige Abkommen gebrochen hat? Und vor allem: Länder, um dem Regime in Pjöngjang Bot-
Wasserstoffbombe handelte oder um eine Will das Kim-Regime, für das Atomwaffen schaften zu übermitteln; Schweden, Groß-
Zwischenstufe, etwa eine sogenannte ge- und Raketen fester Bestandteil der Staats- britannien und Deutschland zählen zu den
boostete Spaltbombe. Doch der technolo- räson sind, überhaupt einen Kompromiss? wenigen Ländern, die in Nordkorea einen
gische Fortschritt ist kaum zu leugnen – „Es ist nicht so, dass Nordkorea nicht Botschafter haben. Außerdem reden Re-
und darum geht es Nordkorea: alle Zweifel bereit wäre, über ein Einfrieren des Nukle- gierungsbeamte aus Nordkorea hin und
an seinen Fähigkeiten auszuräumen. arprogramms oder über die Frage der Pro- wieder mit früheren US-Diplomaten, auf
Mit der jüngsten Provokation und den liferation zu sprechen“, sagt der deutsche allerunterster Ebene also.
ebenfalls beachtlichen Fortschritten seines Nordkoreaexperte Rüdiger Frank, der in „Wir haben sehr wichtige Beziehungen
Landes in der Raketentechnologie ist Kim Pjöngjang studiert hat und regelmäßig zueinander aufgebaut“, sagt Suzanne Di-
seinem Ziel nähergekommen, das Territo- dorthin reist. „Diese Bereitschaft ist da, Maggio. Sie bezeichnet sich als „unabhän-
rium der USA mit nuklearen Langstrecken- das ist mir gegenüber mehrfach geäußert gige Gesprächspartnerin“ und arbeitet für
waffen zu bedrohen. Er hat damit die oh- worden.“ Allerdings werde Kim auf seine New America, einen Thinktank mit Sitz
nehin schon gefährliche Krise noch einmal Atomwaffen nicht sofort verzichten, son- in Washington, der den Demokraten na-
verschärft. Mit dem Atomtest riskiert Kim dern, wenn überhaupt, erst ganz am Ende. hesteht. Sie hat bereits zwei andere Intim-
nicht nur einen Militärschlag Trumps, er Und zu einem hohen Preis. feinde einander nähergebracht, die USA
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Uniformierter, Hotelrezeptionistin an der Ostküste: Der Diktator lässt sich nicht erpressen, er ist der Erpresser

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Ausland

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Szenen aus Pjöngjang – Männer beim Kartenspielen, Besucher im Vergnügungspark, morgendliche Pendler: Atomwaffen und Raketen

und Iran. Vor zwei Jahren ließen Abge- Doch politische Beobachter in Peking zu handeln und Nordkorea in die Ecke zu
sandte aus Nordkorea anfragen, ob sich bezweifeln, dass China ausreichend Ein- drängen“. Will Russland sich womöglich
DiMaggio vorstellen könnte, dasselbe mit fluss auf Pjöngjang hat. Im August hat es durch eine Vermittlerrolle profilieren? Die
Nordkorea zu versuchen. seinen langjährigen Sonderbeauftragten Haltung von Putin und Xi ist vom schwieri-
Inzwischen war sie zweimal zu Gesprä- für Nordkorea abgelöst. Dessen Nachfol- gen Verhältnis zu Washington geprägt.
chen in Pjöngjang. Zudem organisierte sie ger soll sehr abfällig über die Führung in Nicht Nordkorea, sondern die USA halten
zwei Treffen zwischen ehemaligen US-Di- Pjöngjang sprechen, über den offiziell im- sie für die eigentliche Bedrohung.
plomaten und Vertretern des Kim-Re- merhin Verbündeten Kim sei der Ausdruck In Washington ist der Ton gegenüber
gimes. Zuletzt traf sich die Gruppe im Mai „der Pubertierende“ gefallen. Nordkorea zunehmend entschlossener
in Oslo, wo DiMaggio den US-Sonderge- China, vermuten westliche Diplomaten geworden. Nachdem Trump mit „Feuer
sandten für Nordkorea mitbrachte, Joseph in Peking, werde eine weitere Runde an und Zorn“ drohte, legen seine Berater ihm
Yun. Es war der erste direkte Kontakt zwi- Sanktionen mittragen, falls die Uno diese nun militärische Optionen vor. Verteidi-
schen der Trump-Regierung und Vertre- beschließen sollten. Maßnahmen, die den gungsminister James Mattis kündigte eine
tern des Kim-Regimes. Bestand des Regimes ernsthaft gefährden „massive militärische Antwort“ an, sollte
DiMaggios Vorteil ist, dass sie nicht für könnten, werde Peking aber ablehnen. Das Nordkorea die USA oder deren Verbün-
die Regierung spricht und deshalb nicht gilt etwa für die Forderung eines Ölboy- dete bedrohen. Botschafterin Haley sagte
auf die offizielle Linie Rücksicht nehmen kotts, die die USA im Uno-Sicherheitsrat am Montag über Kim: „Er bettelt um
muss. Die Teilnehmer sprechen so offen eingebracht haben und über die am Montag Krieg.“
wie möglich. DiMaggio will nicht über den Selten zuvor war in Washington so oft
Inhalt der Gespräche reden, sie sagt nur:
„Es herrscht Konfusion darüber, was die
Trumps so verzweifelte von Krieg die Rede wie in diesen Tagen.
Es ist inzwischen sogar denkbar, dass
USA eigentlich wollen.“ Sie hofft, dass wie absurde Drohungen Trump und Kim in eine militärische Krise
sich nun keine Seite zurückzieht. wirken nicht und heizen hineinstolpern, auch wenn das für beide
„Nordkorea will mit den USA reden, das Seiten das schlimmste Szenario wäre.
steht fest“, sagt auch der Nuklearexperte den Konflikt nur an. Ein Angriff auf den Norden würde einen
Zhao Tong, der am Carnegie-Tsinghua- verheerenden Gegenschlag auf den Süden
Zentrum in Peking forscht. Zurzeit sei entschieden werden soll. Solche Sanktionen und womöglich auch Japan nach sich zie-
Pjöngjang vor allem über die Bomber be- würden vor allem China betreffen, von hier hen, der zu Hunderttausenden oder Millio-
sorgt, die Washington regelmäßig über der stammen die meisten Exporte nach Nord- nen Toten führen könnte. Und zwar selbst
koreanischen Halbinsel kreisen lässt. korea. Ohne dieses Öl würde Kims Land dann, wenn der Norden keine nuklearen
Direkte Gespräche zwischen Nordkorea bald unter Engpässen leiden – und auch Waffen einsetzt, sondern seine Artillerie
und den USA – das wäre auch im Interesse wenn Peking ihn nicht mag, will es keinen sowie chemische und biologische Waffen.
Pekings. Damit würde Chinas Führung Regimekollaps. Mit diplomatischem Entge- Japan und Südkorea wollen nun aufrüs-
Zeit gewinnen und verhindern, dass die genkommen aus China sei daher fürs Erste ten; Präsident Moon Jae In setzte kürzlich
Nordkoreakrise den Parteitag überschattet, nicht zu rechnen, meinen Experten. gegenüber der Schutzmacht Amerika
auf dem KP-Chef Xi Jinping Mitte Oktober Auch Russland ist zurückhaltend, was durch, dass Südkorea künftig stärkere Ra-
seine Herrschaft konsolidieren will. Zu- deutlich größeren Druck auf Nordkorea an- keten bauen darf. Außerdem debattiert
dem würde das davon ablenken, dass es geht. Und das, obwohl selbst in Wladiwos- das Land, ob die USA wieder taktische
vor allem chinesische Kanäle sind, über tok am Sonntag die Erde bebte. Die Hafen- Nuklearwaffen im Süden stationieren soll-
die sich das nordkoreanische Regime fi- stadt liegt 250 Kilometer von Punggye-ri ten. Aus der Opposition kommt sogar der
nanziert. Und schließlich würde es Pekings entfernt, nur drei Tage nach dem Atomtest Ruf, Seoul solle sich selbst nuklear bewaff-
Ehrgeiz entgegenkommen, die USA als hielt Wladimir Putin hier ein Wirtschafts- nen. Alle Gesprächsangebote von Präsi-
führende Weltmacht abzulösen. forum ab – und warnte davor, „emotional dent Moon hat Kim höhnisch abgelehnt,
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sind fester Bestandteil der Staatsräson des Kim-Regimes

was zeigt, dass er als Gegenüber nur die außerdem sei Überwachung nur einge- immer weiter an – und zeigt sich unbere-
USA akzeptiert. schränkt möglich. „Es gibt einfach nicht chenbarer als Nordkoreas Diktator.
Aber nicht nur bei einem Krieg, auch viel elektronische Infrastruktur“, sagt Hay- Trumps Sicherheitsberater Herbert Ray-
bei Verhandlungen hätte insbesondere den. Das Land ist praktisch ohne Internet, mond McMaster sagt inzwischen offen, die
Südkorea wohl das Nachsehen. Wenn die es verfügt offiziell nur über 1024 IP-Adres- klassische Abschreckungslogik greife bei
USA sich tatsächlich darauf einlassen soll- sen. Mit anderen Worten: Die amerikani- Nordkorea nicht. Das bedeutet, dass in Tei-
ten abzuziehen, stünde das Land schutzlos schen Spione sind, was Nordkorea betrifft, len der Regierung zumindest die Möglich-
da. Viele Südkoreaner sind sich nicht mehr nahezu blind. keit gesehen wird, Kim könne einen nu-
sicher, ob Amerika seine Beistandsgaran- Zu diesem Unwissen kommt ein Präsi- klearen Angriffskrieg erwägen. McMaster
tien im Kriegsfall noch einhalten würde. dent, der die Nordkoreakrise angeht wie sprach Anfang August sogar von einem
Einen Tag vor dem Atomtest hatte Trump einen dreckigen Immobiliendeal, bei dem „Präventivkrieg“ gegen das Regime. Doch
schließlich gedroht, das Freihandelsabkom- man die Gegenseite nur brutal genug ein- wenn in Pjöngjang der Eindruck entsteht,
men zwischen den USA und Südkorea auf- schüchtern muss. Doch Drohungen helfen die USA stünden kurz vor der Bombardie-
zukündigen, ein Affront gegenüber einem bei Kim nicht. Je potenter seine Atombom- rung, könnte Kim sich gezwungen sehen,
Alliierten. Am Tag darauf warf er Seoul ben werden, je weiter seine Raketen flie- seinerseits zuerst anzugreifen.
„Appeasement“ gegenüber Kim vor. gen, umso weniger lässt er sich erpressen, Eine Fehlkalkulation ist nicht auszu-
Doch angesichts der Kriegsrisiken bleibt im Gegenteil: Er selbst ist der Erpresser. schließen in Zeiten, in denen selbst den
Südkorea einstweilen nichts anderes übrig, In Washington denken inzwischen viele, engsten Verbündeten unklar ist, welche
als sich mit Trump zu arrangieren. Das gilt dass Kims Atomarsenal nicht allein der Ziele Trump verfolgt. Eines ist sicher: Der
auch für Japan, dessen Premier Shinzo Abschreckung und dem Regimeerhalt Präsident hat die Nase voll von Kim und
Abe auffallend oft mit ihm telefoniert, dient, sondern dass Kim es als dauerhaftes diplomatischen Versuchen. Vorige Woche
gleich zweimal sprachen sie am Tag des Druckmittel einsetzen oder gar Südkorea twitterte er: „Reden ist keine Lösung!“
jüngsten Nukleartests miteinander. Gera- erpressen könnte, sich mit dem Norden Es ist auch kein gutes Zeichen, wenn
dezu verzweifelt bemüht sich Abe, Ein- zu vereinen – zu seinen Bedingungen. nun Dennis Rodman seine Hilfe anbietet.
fluss auf den Präsidenten zu gewinnen. Folgt man dieser Interpretation, sind die Rodman hat für die L A Lakers und die
Japan und Südkorea empfinden sich als Atombomben nicht nur eine Waffe der Dallas Mavericks Basketball gespielt, einer
Statisten, als Spielbälle im Ringen größerer Verteidigung, sondern ein politisches seiner großen Fans ist Kim Jong Un. Auf
Mächte. Ob dieses Ringen in einem Krieg Instrument: um die Sanktionen zu lockern, Einladung des nordkoreanischen Diktators
endet oder doch eine Verhandlungslösung um einen Keil zwischen die USA und war Rodman seit 2013 mehrfach zu Besuch
findet, werden nicht sie entscheiden, son- Südkorea zu treiben, um endlich von Pe- in Nordkorea. Wie es der Zufall will, zählt
dern vor allem einer: Donald Trump. king und Washington ernst genommen zu neben Kim auch Trump zu seinen Freun-
Die USA haben jedoch das Problem, werden. den. Am Mittwoch bot Rodman daher an,
dass sie kaum etwas über das Kim-Regime Doch schmerzhafte Maßnahmen wie der er könne gern behilflich sein, den Konflikt
wissen. Es gibt keine etablierten Kanäle Ölboykott, die Kim wirklich wehtun wür- „auszubügeln“, mit einem Gespräch unter
nach Nordkorea, über die Missverständ- den, werden von China und Russland ver- Kumpels gewissermaßen.
nisse ausgeräumt werden könnten. Darun- hindert. Am Ende ist jedoch nicht einmal Christian Esch, Mathieu von Rohr,
ter würden auch die Geheimdienste leiden, klar, ob selbst das helfen würde – vermut- Christoph Scheuermann,
sagt der frühere CIA-Chef Michael Hayden lich können auch die härtesten Sanktionen Wieland Wagner, Bernhard Zand
auf Anfrage. „Nordkorea war immer eines das Nuklearprogramm nicht stoppen.
der schwierigsten Ziele, vielleicht sogar Trump versucht es jetzt mit so verzwei- Video: Was will
das schwierigste.“ Die Geheimdienste felten wie absurden Drohungen, etwa der, Kim Jong Un?
Pjöngjangs seien skrupellos, was die Be- keine chinesischen Importe mehr in die spiegel.de/sp372017nordkorea
kämpfung ausländischer Spionage angehe, USA zu lassen. So heizt er den Konflikt oder in der App DER SPIEGEL

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„Bei Konflikten wird ein Lied angestimmt“
Nordkorea Fünf Berichte aus einem Land, in dem Händeschütteln Worte ersetzt, Familien-
mitglieder sich belauern, Touristen sich über die Stille freuen und an jeder Ecke gebaut wird

Der Künstler Sunmu, 45, wuchs in Nordkorea te. Als ich älter wurde, empfand ich die lisiert. Man lädt nicht einfach jemanden
auf, floh vor 19 Jahren und lebt jetzt in Seoul. strikte Hierarchie und das ungerechte Klas- zum Mittagessen ein. Es gibt welterfahrene
sensystem als schwierig und schmerzhaft. Leute, mit denen man durchaus inte-
„Ich sehne mich entsetzlich nach meiner Wie alle musste ich zum Militär, dort ressante Diskussionen führen kann, in
Familie in Nordkorea. Ich weiß nicht, wie brachten sie mir bei, mit Waffen und Bom- Anwesenheit von Aufpassern natürlich.
es ihnen geht, der Kontakt wäre für sie ben umzugehen, besser gesagt: wie man Die Kommunikation spielt sich mit der
viel zu gefährlich. Aber natürlich erfahre selbst zur Bombe wird. Man schmiegt sie Zeit ein: Statt zu sagen, dass es schön sei,
ich dennoch, was in meinem Land passiert, eng an seinen Körper und läuft auf das dass man gut zusammenarbeite – was
durch Mittelsmänner, durch Dissidenten. Ziel zu, um sich dann in die Luft zu jagen. gegen jemanden verwendet werden könn-
Das Wichtigste für Nordkoreaner ist der Wir glaubten, dass das so sein müsste, um te –, schüttelt man sich besonders lange
Slogan: ,Nur für den Führer‘. So war es Südkorea zurückzuerobern, eine Kolonie die Hand.
früher, so ist es heute. Die absolute Treue der USA, wie uns eingetrichtert wurde.“ Die Nordkoreaner sind sehr freundlich,
zur Partei zu zeigen ist überlebenswichtig, solange es nicht um Politik geht. Dass es
egal ob du sie liebst oder hasst. Ein europäischer Diplomat, der mehrere Jahre politisch wird, merkt man an zwei Reak-
Natürlich haben die Nordkoreaner Au- in Pjöngjang lebte. tionen: Das Gegenüber erstarrt. Oder es
gen und Ohren, die Abschottung wird brü- sagt so etwas wie: ,Beleidigen Sie bitte
chig. Aber sie sind dazu aufgerufen, einan- „Ich war vor über zehn Jahren das erste nicht unsere sozialistische Gesellschaft.‘
der zu beobachten. Du weißt nie, wer dich Mal in Nordkorea. Positiv beeindruckt war Ich habe sehr kluge Menschen getroffen,
verfolgt, musst immer auf deine Worte ach- ich von der Schönheit des Landes – und doch wenn man vorsichtig eine leicht iro-
ten. Als Kind war ich ein absolut gläubiges von der Stärke der Menschen, die das Bes- nische Bemerkung über den großen Führer
Mitglied des Systems. Wir lebten in einem te aus allem machen. Kim Il Sung hat zum machte, wurden sie starr und sagten: ,Sie
Haus, das das Regime meinen Eltern zur Beispiel die Vorschrift eingeführt, dass je- meinen doch wohl nicht …‘ Das Regime
Verfügung gestellt hatte; das Einkommen der Nordkoreaner ein Instrument lernen regiert mit einer geschickten Mischung aus
meines Vaters reichte für die Dinge des solle, zumindest aber sollen sie singen kön- Indoktrination und Terror. In den Familien
täglichen Bedarfs. Wir besaßen einen Fern- nen. Wenn nun aus irgendeinem Grund ist immer einer dabei, der berichtet. Jeder
seher, einen Kühlschrank und einen Ven- Spannung entsteht, wird häufig ein Lied steht unter Beobachtung, ständig. Sie wis-
tilator. Unser kostbarster Besitz aber war angestimmt. Das entschärft die Situation. sen: Wenn ich ins Arbeitslager muss, geht
die Parteimitgliedskarte meines Vaters. Man kann sich die Funktion auslän- meine Familie unter Umständen mit.
Vom ersten Schultag an lernten wir alles discher Botschafter so vorstellen wie am Die Bevölkerung ist militärisch organi-
über die Revolution und ihre Führer, chinesischen Kaiserhof vor zweihundert siert, das prägt die Gesellschaft. Die Nord-
und irgendwann wird das einfach Teil von Jahren. Da warten wohlgekleidete Gesand- koreaner sind daran gewöhnt strammzu-
einem. Als ich sehr jung war, dachte ich, te, bis sie gerufen werden, um sich in den stehen, das macht es leichter, sie zu kontro-
dass ich glücklich wäre und nichts vermiss- Staub zu werfen. Alles ist extrem forma- llieren. In den vergangenen zehn Jahren
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Flugsimulator, Plakat, Verkehrspolizistin in Pjöngjang: „Die Nordkoreaner sind keine Idioten, erst recht keine hirnlosen Roboter“

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Ausland

hat sich jedoch eine Mittelschicht entwi- Aber die größte Veränderung ist die Wirt- an all ihrem Leid, der Armut, der Mangel-
ckelt, vielleicht 400 000 oder 500 000 Men- schaftszone selbst: Dort wurden zwei Markt- wirtschaft. Und wer wiederum ist schuld
schen. Allein wegen ihrer Zahl denke ich, hallen errichtet, in denen alles Mögliche an der Teilung? Natürlich die Ausländer.
dass sie einen gewissen Einfluss haben.“ verkauft wird: Lebensmittel, Spielzeug, vor Die einzige Lösung, das Heilsversprechen,
allem Ziegel, Zement, Tapeten, Toiletten- ist die Wiedervereinigung, nur die kann
Der Nordkorea-Experte Rüdiger Frank, 48, lehrt sitze – überall in Nordkorea wird viel gebaut das Leid lindern. So lautet hier die Regie-
in Wien und Seoul. zurzeit, die Nachfrage ist groß. Als ich vor rungspropaganda. Daran glaubt aber nie-
15 Jahren zum ersten Mal in Nordkorea war, mand, die Nordkoreaner sind ja keine Idio-
„Bei meinem vorerst letzten Besuch in erschien es mir undenkbar, dass es in einem ten, erst recht keine hirnlosen Roboter
Nordkorea im Februar schien die Versor- so entlegenen Winkel des Landes solche oder gleichgeschalteten Kampfmaschinen.
gungslage gut zu sein. Selbst auf dem Land Märkte, ja sogar richtige Handelsmessen Gewiss, jeder Erwachsene trägt die klei-
und in kleineren Städten sah ich Menschen, geben könnte. Heute stehen dort die Men- ne, rote Anstecknadel mit dem Kopf des
die auf den Straßen Äpfel verkauften. Das schen beisammen, reden, feilschen, tauschen ,großen Führers‘ Kim Il Sung oder des ,lie-
war ungewöhnlich, denn Äpfel gelten in Kontakte aus – genau wie auf der anderen ben Führers‘ Kim Jong Il am Revers, sie
Nordkorea als Luxus. Früher erlebte man Seite der Grenze. Ich habe sogar Produkte haben ein stark eingeschränktes Internet,
oft, dass der Strom ausfällt – aber diesmal gesehen, die ich in einer ähnlich entlegenen sie flippen nicht auf Partys aus, sondern
war das nur einmal der Fall. Es waren über- Stadt in China nicht finden würde. wenn der Führer auftritt. Das habe ich mal
dies viele Fahrzeuge unterwegs, also war Wir haben auch Fabriken besucht, eine erlebt, beim Massenspektakel Arirang, da
offenbar genügend Treibstoff vorhanden. produzierte Schultaschen und Rucksäcke gab es ein Gejubel und Geheule, das kann
Ich habe auch neue Geschäftszweige ent- für den inländischen Markt. Eine andere sich niemand vorstellen. Aber trotzdem
deckt, Autowäschereien etwa. Natürlich, verarbeitete Meeresfrüchte für den Export wissen die Menschen hier mehr, als wir ih-
Nordkorea war und ist ein armes Land. nach China. Just zu dieser Zeit beschloss nen zutrauen, auch wenn sie uns selten
Aber verglichen mit früher hat sich die Si- die Uno neue Sanktionen – und Meeres- mehr fragen als: Wo kommt ihr her?
tuation sehr verbessert.“ früchte fallen auch darunter. Sowohl die Viele meiner Reisegruppen genießen die
150 Arbeiter wie die Händler machen sich Langsamkeit in Pjöngjang und diese selt-
Der Kanadier Michael Spavor, 42, ist Direktor nun sicher Sorgen um ihre Jobs.“ same Stille nachts, wenn die Straßen men-
der Organisation Paektu Cultural Exchange im schenleer sind und es stockdunkel ist, weil
chinesischen Yanji. Der Brite Simon Cockerell, 39, leitet die Reise- es keinen Strom gibt. Ich würde der Stadt
agentur Koryo Tours in Peking, die fast 25 000 allerdings mehr Hektik wünschen, dass sie
„Ich war Anfang August zuletzt in Nord- Touristen nach Nordkorea gebracht hat. mehr wie Peking würde: laut, bunt, ge-
korea, in der Sonderwirtschaftszone Rason schäftstüchtig. Dass Menschen Geld aus-
im Nordosten. Rason ist eine hübsche, klei- „Ich bin seit einer Woche wieder zurück geben, einkaufen, handeln. Dass sie leben.
ne Stadt am Meer, die in den vergangenen aus Nordkorea, es war meine 165. Reise. Wenn wir Nordkorea nach einer Woche
Jahren aufgeblüht ist: Das Stadion wurde Und es war – wie immer. Als würde es die verlassen, tun wir das mit einem melan-
überholt, am Strand gibt es einen Wasser- Atomkrise überhaupt nicht geben. Nord- cholischen Gefühl und der Hoffnung, die
park mit Rutschen. Vor vier Jahren hat die korea ist kein Land der Individualisten, Menschen zumindest ein winziges Stück
Stadt einen tschechischen Experten einge- alles dreht sich um Autoritäten, um Unter- aus der Isolation geholt, das Leben von
laden, der eine kleine Brauerei und eine ordnung. Von klein auf bekommen die ein paar wenigen Reiseführern und Hotel-
Bar aufgebaut hat. Drum herum sind Ho- Menschen hier beigebracht, dass man angestellten verbessert zu haben.“
tels und sogar kleine Casinos entstanden, Fremden nicht trauen kann. Ihnen wird Protokolle: Fiona Ehlers, Susanne Koelbl,
wo chinesische Touristen Mahjong spielen. eingetrichtert, dass die Teilung schuld sei Samiha Shafy, Wieland Wagner, Bernhard Zand
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Ausland

Endlich Aufbruch
Frankreich Nach Jahrzehnten des Stillstands schiebt Emmanuel Macron reihenweise Reformen an. Das
Parlament, voller Neulinge, fährt Sonderschichten. Ist eine Revolution im Gang? Von Ullrich Fichtner

F
rankreich ist ein Land der festen die Füße im Atlantik haben. Die sommer- der Nation ist und kein Klub von Berufs-
Rhythmen. Im Kleinen folgen die lichen Überstunden waren, man darf es politikern.
Tage dem Muster der Mahlzeiten, im nicht unterschätzen, auch ein Symbol, eine Bürgerinnen und Bürger, die man ges-
Großen gliedert sich das Jahr nach einem Geste der Wiedergutmachung von den tern noch auf dem Markt getroffen hat,
nationalen Kalender, der von jeher eine Deputierten an ihre Wähler, nach vielen wälzen jetzt Zahlen und erörtern Steuer-
ausgedehnte Sommerpause vorsieht, ge- Jahren, in denen Frankreich die Heimat fragen, es sind Ladenbesitzer und Klein-
folgt von der großen „Rentrée“. Das Wort totaler Politikverdrossenheit gewesen ist. unternehmer, IT-Spezialistinnen, Sportler,
bezeichnet mehr als einfach nur Urlaubs- Nun sind drei Viertel der Abgeordneten, Mathematiker, Sozialarbeiterinnen und
ende und Schulbeginn, der Begriff steht 416 von 577 Frauen und Männern, seit Juni erstmals auch ein Feuerwehrmann, sie de-
für die Möglichkeit eines kleinen Neu- neu im Parlament, man stelle sich vor. In battieren über Erleichterungen für Unter-
anfangs. Man fasst gute Vorsätze, wünscht Frankreich hat ein Austausch des politi- nehmer, höhere Abgaben auf Diesel, auf
Bekannten auf der Straße eine „gute schen Personals stattgefunden, wie es ihn Tabak, über Milliardenkürzungen in Kom-
Rentrée“ und fühlt sich dabei ungefähr so in 60 Jahren nicht gegeben hat. Es ist ein munalhaushalten, über Bürokratieabbau,
wie die Deutschen an Neujahr. In diesem Umbruch, der die kühnsten Träume von über Wohngeldkürzungen.
September ist es aber mehr als ein Gefühl: politischer Erneuerung in der Demokratie Die Rechnungen drehen sich letztlich
Die Franzosen kommen aus den Ferien wahr werden lässt. In Paris finden jetzt alle darum, wie der französische Staat bin-
zurück in ein anderes, neues Land. Kolloquien statt, zuletzt am Mittwoch und nen fünf Jahren 60 bis 80 Milliarden Euro
Im August, als die Pariser Stadtviertel Donnerstag dieser Woche, bei denen sich sparen kann, um seine Kassen zu sanieren,
abseits der großen Sehenswürdigkeiten die Intellektuellen des Landes fragen, ob seinen guten Ruf in der Welt wiederher-
längst im sommerlichen Tiefschlaf lagen, in Frankreich womöglich eine „samtene zustellen, und das alles, ohne das Volk da-
die Straßen leer, die Bäckereien, die Metz- Revolution“ stattgefunden hat, wie damals, mit auf die Barrikaden zu treiben. Frank-
ger geschlossen, rumorte am Ufer der Seine 1989, in Václav Havels Tschechoslowakei. reich hat sich vorgenommen, die berühmte
noch immer die Nationalversammlung im Die Partei der Sozialisten wird das beja- Drei-Prozent-Regel von Maastricht nicht
Palais Bourbon, Frankreichs Parlament. hen müssen, ihre Fraktion wurde von den nur endlich wieder zu erfüllen, sondern
Am 9. des Monats verabschiedeten die Ab- Wählerinnen und Wählern von 280 auf 31 den Anteil der staatlichen Neuverschul-
geordneten dort mit 412 zu 74 Stimmen Abgeordnete brutal beschnitten, die kon- dung an der Gesamtwirtschaftsleistung auf
bei 62 Enthaltungen ein bemerkenswertes servativen Republikaner hat es nicht ganz weit unter drei, nämlich auf nur noch
Gesetz, ein Konvolut von Bestimmungen so schlimm getroffen, aber auch sie sitzen 0,5 Prozent zu drücken. Das wäre dann
zur „Moralisation“ der Politik, zur sitt- nur noch mit 112 Leuten im hohen Haus. wirklich ein Wunder, aber es ist das erklär-
lichen Besserung der Demokratie. te Ziel, es wird an großen Rädern gedreht.
Das Gesetz bestimmt, nach vielen Affä-
ren auch in der jüngeren Vergangenheit,
Sozialdemokratisch? Und es werden, wie im Wahlkampf
versprochen, auch alle anderen Großbau-
nach 30 Jahren des Machtspiels in den ge- Links? Liberal? In der stellen aufgemacht, an die sich so lange
fährlich dunklen Grauzonen der Korrup- Welt Macrons haften die niemand gewagt hat: Ein neues Arbeits-
tion, dass Frankreichs Abgeordnete und recht ist geschrieben worden in kürzester
Regierende ihre quasihöfischen Privilegien Etiketten nicht mehr. Zeit. Das gesamte System der Sozial-
für immer verlieren. Es ist das Ende einer abgaben, der Gesundheitskosten, der Ar-
alten Welt, die lange Bestand hatte. Gegen sie alle herrscht nun eine Partei beitslosenhilfen, der Rente wird aufge-
Deputierte werden künftig etwa nicht mit bequemer Mehrheit, die im April 2016 schraubt, auseinandergelegt, die Teile wer-
mehr über eine „parlamentarische Reser- als diffuse Bewegung überhaupt erst ge- den evaluiert.
ve“ verfügen, gut gefüllte Umschläge, die gründet wurde: Gut 60 Prozent der Sitze So sind die politischen Projekte jetzt:
sie in ihren Wahlkreisen nach Gutdünken hat „La République en marche!“ gewon- groß, wo nicht kühn, ehrgeizig, unerhört.
verteilten. Minister dürfen keine schwar- nen, die Republik, die „marschiert“, 360 Nach dem Desaster des Wahlkampfs bis
zen Kassen mehr führen, um gänzlich von 577 Abgeordneten sind das mit den zur Präsidentschaftswahl im Mai, nach
unkontrolliert dubiose Sonderaufgaben Zentristen von der Modem-Partei, es ist Jahrzehnten müder Routine, schlechter Re-
zu finanzieren. Vorbei auch die Zeit, in eine üppige Mehrheit, aus dem Nichts. formen, falscher Prioritäten ist eine Lei-
der Parlamentarier Frau und Kinder zum Die Neuen, sie haben gerudert im Som- denschaft und eine Abenteuerlust zu spü-
Schein als Assistenten anstellten und die mer, unerfahren wie sie sind im parla- ren, wie man sie lange vermisst hat. Und
Vergütung dafür einfach einstrichen. mentarischen Betrieb. Wirklich hört man natürlich reimt sich das alles auf den Na-
Es ist auch deshalb ein bemerkenswertes jetzt sehr ungewöhnliche Töne aus dem men eines Mannes: Emmanuel Macron.
Gesetz, weil es vor der Wahl versprochen Palais Bourbon, der eigentlich die Heim- Macron hat als Präsident einen fulmi-
und nach der Wahl wirklich sofort verab- statt der Bescheidwisser ist. Es werden nanten Auftakt hinter sich. Wer noch nicht
schiedet wurde. So soll es von nun an sein. Fehler zugegeben. Es werden Verfahrens- verlernt hat, sich zu wundern, hat jetzt
Die neuen Abgeordneten der neuen Zeit, fehler gemacht. Es gibt öffentliche Ent- reichlich Gelegenheit dazu. Gewählt am
ein großer Haufen Unbekannter, sie arbei- schuldigungen. Man müsse, sagen Abge- 7. Mai, zog Macron in den ersten Wochen
ten hart, um ihre Versprechen zu halten, ordnete, vieles erst lernen. Und das Volk als Europas Justin Trudeau um die Häuser,
und sie arbeiten selbst dann noch, demons- draußen versteht: Zum ersten Mal ist bezauberte Teilnehmer auf Nato-Tagun-
trativ, wenn die meisten ihrer Landsleute da eine Nationalversammlung am Werk, gen und G-20-Gipfeln, setzte als juveniles
längst den Roséwein in den Gläsern und die wirklich eine gewürfelte Versammlung Alphatier seine Marken beim Fingerhakeln
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CHARLES PLATIAU / REUTERS

Präsident Macron beim Antrittsbesuch im Pariser Rathaus: Randfigur im Zentrum der Macht

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PHILIPPE LOPEZ / POOL-REA / LAIF
Krankenhauspersonal, Besucher Macron im August in Paris: In 100 Tagen ein prachtvolles Bilderbuch gefüllt

mit Donald Trump oder als fürstlicher gibt keinen anderen. Es hilft nichts, Macron dagegen sein Vorgänger François Hollande,
Gastgeber Wladimir Putins in Versailles. die deutsche Agenda 2010 hinzuhalten oder der so verzweifelt oft im Regen stand, wie
In Frankreich stellte sich, nach einem andere ökonomische Blaupausen, die an der ein historischer Irrläufer aussieht.
langen Winter der Zwietracht, große Be- gesellschaftlichen Realität Frankreichs und Die Vorgeschichte darf nicht vergessen,
ruhigung ein. Zwar saß der Schock über seiner Protestkultur zerschellen würden. wer über Macrons Stellung und Popularität
den Zerfall des alten Parteiensystems noch 1995 ist zum letzten Mal eine Regierung in Frankreich nachdenkt. Wer über Ma-
vielen in den Knochen, und die mora- mit ähnlichen Reformvorhaben gescheitert, cron reden will, kann über Hollande nicht
lischen Irrwege des konservativen Kandi- der Premierminister hieß damals Alain schweigen, auch nicht über Nicolas Sarko-
daten François Fillon sind bis heute nicht Juppé, und es ist auch erst ein gutes Jahr zy, nicht über Jacques Chirac, nicht über
verdaut; aber dieser Macron, 39 Jahre alt, her, dass in Paris die Molotowcocktails flo- François Mitterrand. Diese vier Vorgänger
jüngster Staatschef des Landes seit Napo- gen, während wütender Proteste gegen ers- Macrons hätten Frankreich um ein Haar
leon Bonaparte, machte eine derart gute te Reformgesetze, an denen Macron als als funktionierende Volkswirtschaft, als
Figur, dass sich alle auf die Hauptnachrich- damaliger Wirtschaftsminister mitgeschrie- stabilen Staat, als gesellschaftliches Modell,
ten des Fernsehens wieder freuten. ben hatte. Nun, als Präsident, treibt er den als politisches System zur Strecke gebracht.
Das ist jetzt drei, vier Monate her. Und Umbau neuerlich voran, und es werden Wenn Macron heute zwischen sich und
nun hat in vielen Medien, französischen, letztlich alle Franzosen sparen müssen, alle die Vergangenheit einen Strich zieht und
deutschen, ein altes Lied wieder begonnen. bezahlen müssen für die Versäumnisse der den Beginn einer neuen Zeit behauptet,
Man schaut auf monatlich sinkende Um- Vergangenheit. Das schadet der Populari- dann ist das zugleich ein Urteil über die
fragewerte, die für den Moment wenig Be- tät. Es ist wahrscheinlich, dass der Protest- vergangenen 30 Jahre. Es soll nun endlich
deutung haben, und leitet daraus bereits sturm spätestens beginnt, wenn es nächstes Schluss sein mit jener fragwürdigen Kultur,
politisches Scheitern ab. Wenn sich Ma- Jahr um die Reform der Rente in Frank- die es einem Mitterrand erlaubte, auf
cron mit seinem Generalstabschef wegen reich geht. Und es ist möglich, dass auch Staatskosten eine ganze Zweitfamilie zu
Budgetfragen überwirft, ist gleich von ei- ein Präsident Macron an ihr scheitern wird. verstecken und wahllos Menschen belau-
ner umfassenden Vertrauenskrise im Mili- Für den Moment jedoch, jetzt, im Sep- schen zu lassen. Eine Kultur, in der ein
tärapparat die Rede. Seine Führungsstärke, tember, wirkt Macrons Start wie eine meis- Chirac in seinen Amtspalästen so char-
anfangs bejubelt, wird nun bespöttelt und terhafte Inszenierung von legitimer Macht mant wie verschlagen das Leben eines
bekrittelt. Und seine Reformvorhaben? und guter Autorität und präsidialer Würde. Fürsten führte und nach Gutdünken mit
Sind ja doch eher mickrig! Seit seinen ersten Schritten als gewählter öffentlichen Geldern hantierte. Eine Kul-
Seltsam nervös und geschichtsblind sind Präsident vor der Kulisse des Louvre hat tur, in der es einem Sarkozy erlaubt war,
solche Urteile, journalistische Schnellschüs- es viele ähnliche Inszenierungen gegeben, den eigenen Nabel für das Zentrum des
se, die von künstlicher Aufregung viel, aber und man kommt mit der Exegese der Landes zu halten. Eine Kultur schließlich,
von politischen Prozessen wenig verstehen. Machtgesten kaum hinterher. Dieser Prä- die zu Zeiten Hollandes endgültig in eine
Sie verfehlen auch die französischen Ver- sident will sich eine Aura fragloser Legiti- Phase der Dekadenz geriet, mit einem
hältnisse. Macron und seine Leute können mität zulegen, um die Hände frei zu haben Staatschef, der sein Geschäft als Bastelar-
nicht in 100 Tagen richten, was seit 10 000 für die Reformwerke, die anstehen. Jeden- beit verstand und den Großteil seiner Zeit
Tagen schiefläuft. Zudem müssen sie einen falls hat Macron in seinen ersten 100 Tagen damit verbrachte, das eigene Nichtstun mit
französischen Weg zu Reformen finden, es ein so prachtvolles Bilderbuch gefüllt, dass Journalisten zu bereden.
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Ausland

Vor diesem Horizont steht Emmanuel dass 41 Prozent der Ideen und Projekte ori- sich wohl wirklich alle einbringen, und der
Macron, und nur vor ihm lässt sich sein ginal Macron seien, 37 Prozent ähnelten Erfolg ist nun mit Händen zu greifen.
Wirken beurteilen. Er konnte nur deshalb, jenen seines Vorgängers François Hollande, Ja, die kommunistische Gewerkschaft
als eine Randfigur, binnen eines Jahres ins 21 Prozent könnten von den Konservativen CGT hat für kommenden Dienstag zu
Zentrum der Macht aufrücken, weil dort sein, und 19 Prozent hätten eine Nähe zum Kundgebungen gegen die Reform aufgeru-
ein Vakuum herrschte, das gefüllt werden Wahlprogramm des böse gescheiterten so- fen. Ja, auch der mittlerweile doch sehr
wollte. Die Macht war hohl in Frankreich, zialistischen Kandidaten Benoît Hamon. übergeschnappt wirkende linke Volks-
der politische Betrieb wirklich verreckt, Unter dem Strich wäre das dann wohl tribun Jean-Luc Mélenchon ruft zehn Tage
wie man sich das in Deutschland gar nicht ein eher linksliberales, vielleicht sozialde- später zur Demo gegen einen angeblichen
vorstellen kann. Es gab Wochen im Winter, mokratisches Programm, aber in Macrons „sozialen Staatsstreich“. Aber wenn nicht
da fühlte sich alles so an, als stünde eine Welt haften solche Etiketten nicht mehr. alles täuscht, dann droht im Ernst kein hei-
Explosion bevor, im Land ging der Ekel Seine Reformen speisen sich auch aus Er- ßer Herbst in Frankreich. Diese Arbeits-
vor der Politik und den Politikern um. Aus fahrungen anderer Länder, sie wirken wie rechtsreform wird passieren, und dann
diesem Morast kommt Macron. eine Best-of-Sammlung europäischer An- kann sich keiner mehr darüber täuschen,
Seine spärlichen Reden seit Amtsantritt sätze. Macron hat eine ideologische Wun- dass hier Großes vor sich geht.
wirken sehr genau kalkuliert. Vor allem dertüte gefüllt, und womöglich ist gar nicht Die Rede ist immerhin von einem Land,
seine Versailler Rede vom 3. Juli vor bei- deren Inhalt das Entscheidende, sondern das für seine Reformunfähigkeit bis vor
den Kammern des französischen Parla- die Art und Weise, wie er verteilt wird. Kurzem so berühmt war wie für seinen
ments, Assemblée und Senat, war ein Konkretes Beispiel: die Reform des Ar- Käse. Dort möchte sich eine große gesell-
wuchtiger staatstheoretischer Versuch über beitsrechts. Wesentliche Elemente sind die schaftliche Mehrheit endlich aus dem Still-
die Rolle der Abgeordneten und über das Lockerung des Kündigungsschutzes und stand befreien und setzt dabei auf einen
heutige politische System überhaupt und eine Neugestaltung der Tarifverhandlun- Mann, der Visionen hat, die nicht an den
zugleich eine Abrechnung mit der er- gen, und das sind ideologische Minenfel- eigenen Landesgrenzen enden, von einem
schlafften französischen Demokratie. der. Um voranzukommen, haben Macron neuen Europa auch, in dem Frankreich
Man müsste lange Passagen zitieren, um und seine Leute einen irgendwie süß-sau- eine, wenn nicht die führende Rolle spielt.
Macrons Ton und Gedankengang begreif- ren, rechts-linken Cocktail gemixt: Die Macron hat der Zeitschrift „Le Point“
lich zu machen, müsste ausführlich zeigen, Klagemöglichkeiten gegen Kündigungen pünktlich zur „Rentrée“ ein langes Inter-
wie er das alte Denken vorführt und sein wurden stark eingeschränkt, eine eindeutig view gegeben und sich mit vielen schönen
eigenes neues dagegensetzt, wie er dafür „rechte“ Maßnahme. Dagegen wurden Worten dazu bekannt, dass er Politik mit
wirbt, die Komplexität und Widersprüch- aber die zu zahlenden Abfindungen im „heroischem“ Ansatz betreibe, Politik, die
lichkeit des Lebens anzunehmen, statt es Fall von Kündigungen um 25 Prozent er- sich nicht mit dem Verwalten begnüge, die
in ideologische Schablonen zu pressen. höht, eine klar „linke“ Initiative. begeistern wolle.
Nicht links, nicht rechts, das war Ma- Es gibt andere solcher Beispiele: Macron ist freilich auch sehr begeistert
crons Devise als Wahlkämpfer, und es war „Rechts“ ist es, Unternehmern zu erlauben, von sich selbst, und dort lauert für ihn Ge-
keine sonderlich überzeugende Linie. Nie- Tarifverhandlungen direkt mit der eigenen fahr. Der weitgehend fehlerfreie Auftakt
mand wusste so recht, was er damit eigent- Belegschaft auf Betriebsebene zu führen, seiner Präsidentschaft, seine ersten Mona-
lich meinte, außer: Ich bin anders und viel „links“ ist die Forderung, alle Unterneh- te hatten einen groben Makel: Das Grund-
netter. „Ni gauche, ni droite“ wirkte wie men in branchenweiten, nationalen Ab- recht der freien Meinungsäußerung ist dem
eine Sprechblase, um sich im stark pola- schlüssen zu binden – und doch steht das Präsidenten Macron, so scheint es, kein
risierten Politikbetrieb Frankreichs von den nun alles nebeneinander da. Anliegen, ja, die Presse- und Medienfrei-
Konkurrenten abzusetzen, und wer wollte, Man hat jenseits des Entweder-oder heit scheint ihm mitunter lästig zu sein.
konnte darin mit gutem Recht auch den Kompromisse gefunden, mit denen fast Sein Kabinett sucht sich gern die ihm
Versuch eines eigentlich Konservativen se- alle Unterhändler am Ende leben konnten: genehmen Journalisten aus, wer kritisch
hen, die eigene Ideologie zu verstecken. Es gibt künftig eigene Tarifregeln für Be- schreibt, verliert Zugänge oder bekommt
Nach der Wahl widerlegte aber vor al- triebe mit weniger als 20 Angestellten (dür- gar böse Anrufe vom Stab des Élysée-
lem die Berufung des Kabinetts diesen Ver- fen auf Betriebsebene verhandeln) und Palasts. Selbst aus schnöden Terminen
dacht. Die Besetzung der Regierung wurde welche für Unternehmen mit weniger als werden jetzt kleine Staatsgeheimnisse
von den Kommentatoren als gekonnt aus- 50 Mitarbeitern (brauchen eine Art Be- gemacht, und es braucht investigative An-
tariert bewundert, Macron hatte Persön- triebsrat, der verhandelt), während die grö- strengungen, um nur in Erfahrung zu
lichkeiten aus allen politischen Lagern ge- ßeren Firmen mit den Gewerkschaften bringen, wann und wo sich Macron und
wonnen, die als Mannschaft politisch kom- branchenweite Abschlüsse suchen sollen. Merkel das nächste Mal treffen. Das ist
petent, aber ideologisch auf wundersame Die Verhandlungen über die Arbeits- ridikül, und es wird Macron schaden.
Weise neutral wirkten. rechtsreform waren der Test für die Me- Der Spitzname „Jupiter“ ist schon an ihm
Nun, ein paar Monate später, kann das thode Macron. Es gelingt ihm offenkundig haften geblieben, obwohl die Geschichte
Urteil nur so lauten, dass wirklich etwas zu versöhnen, statt zu spalten. Seine Ge- nicht stimmt, dass er sich selbst als solcher
Neues beginnen will, das mit den alten sprächspartner wirken überrumpelt von bezeichnet habe. Tatsächlich wollte er, im
Mustern bricht, ohne dass der Betrachter seiner ideologiefreien Ernsthaftigkeit, und Oktober 2016, Regierungsstile beschreiben,
schon verstünde, wie es denn ohne sie ge- bislang hat noch kein Teilnehmer an den und sprach von Charles de Gaulle und Mit-
hen könnte. Macron und seine von Pre- Verhandlungen die Bemühungen des Prä- terrand, und dass er sich in deren Tradition
mierminister Édouard Philippe geführte sidenten leichthin abgetan oder seinen gu- einer „jupiterhaften“ Amtsauffassung sehe.
Regierung schlendern durch die Welt der ten Willen infrage gestellt. Daran kann, nach seinen ersten Mona-
politischen Ideen und Konzepte wie durch Fast geräuschlos lief den Sommer über ten im Amt, kein Zweifel bestehen. Es wird
einen Supermarkt und füllen ihren Korb ein Marathon der Sondierungsgespräche. für Emmanuel Macron nur darauf ankom-
mit den schönsten Zutaten. Jede Gewerkschaft, jeder Arbeitgeberver- men, den Eindruck zu verscheuchen, dass
Die Tageszeitung „Le Monde“ hat das band hatte das Recht auf mehrere direkte er Kritik an sich als Gotteslästerung emp-
Gesamtprogramm einmal nach Quellen Konsultationen mit oder ohne Ministerin, findet. Und wenn Jupiter nicht liefert, in
zergliedert und kam zu dem Ergebnis, auch mit dem Präsidenten, sie konnten Frankreich, dann stürzt er. I

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TUSHIKUR RAHMAN
Geflohene Katu, Söhne: „Hier hungern wir zwar, aber zu Hause werden wir erschossen“

Der Exodus der Rohingya


Burma Zehntausende Muslime fliehen nach Bangladesch, ihre Dörfer wurden niedergebrannt, Bewohner
getötet. Die Uno warnt vor der Gefahr „ethnischer Säuberungen“. Ein Treffen mit einer Überlebenden.

A
uf einem leeren Reissack sitzt eine nach Bangladesch geflohen, und es werden trafen. Die Mutter rannte mit ihren Kin-
Frau, die nie viel hatte, und ordnet, immer noch mehr. Jeden Tag überqueren dern in den Dschungel, von dort sah sie
was ihr geblieben ist: eine Knolle sie mit winzigen Booten den Grenzfluss zu, wie die Armee ihr Dorf niederbrannte.
Knoblauch, eine Flasche Salz, ein Topf Naf, viele kentern, immer wieder werden Erst feuerten Hubschrauber aus der Luft,
Reis. Dann wickelt Fatma Katu ihren Be- Kinderleichen angeschwemmt. Oder Men- dann trieben die Soldaten am Boden die
sitz in eine Plastiktüte, so behutsam, als schen kommen zu Fuß aus den Wäldern, Überlebenden zusammen und zwangen
verstaute sie Diamanten. Vor zwei Tagen wo sie sich vor der Armee versteckt haben. sie, eine Grube für die Leichen auszuhe-
ist sie mit ihrem Mann und ihren fünf Söh- Die Rohingya, wie sich die muslimische ben. Danach erschossen sie auch die Helfer
nen hierhergekommen, seitdem sitzt sie Minderheit in Burma nennt, gelten als die und übergossen sie mit Benzin.
auf diesem matschigen Erdhügel im Süden am meisten verfolgte Minderheit der Welt. Die Familie versteckte sich, sie warteten
der Stadt Cox’s Bazar in Bangladesch. Schon seit Jahrzehnten werden sie diskri- auf die Nacht. Dann folgten sie den ande-
Wenn Fatma Katu müde ist, legt sie sich miniert, immer wieder gab es Wellen der ren Rohingya, die Richtung Norden zogen,
im Freien hin, ihre Kinder schlafen unter Gewalt, flüchteten sie nach Bangladesch nach Bangladesch. Ihre Füße bluteten, sie
einer Zeltplane, eng aneinandergedrückt. oder über das Meer, bis nach Malaysia und trugen kein Essen bei sich, sie aßen, was
Wenn sie mal muss, wartet sie die Dunkel- Australien. Zuletzt im vergangenen Herbst, sie fanden. Meist fanden sie nichts. An-
heit ab. Wenn sie durstig ist, trinkt sie faulig als über 70 000 Menschen flohen. Doch fangs bedeckten sie diejenigen, die zusam-
riechendes Wasser aus einem Erdloch. Es was nun passiert, ist ein Exodus. menbrachen, noch mit Blättern. Aber nach
ist ein furchtbarer Ort, aber die 30-Jährige Vor einer Woche weckte Fatma das Ge- einer Weile ließen sie die Toten einfach
ist froh, dass sie hier ist. „Wir hungern zwar, räusch einer Explosion. Dann hörte sie liegen und eilten weiter.
aber zu Hause werden wir erschossen.“ Schüsse. Sie erzählt, wie sie auf die Straße Fatma Katu erzählt detailliert und scho-
Ihre Heimat Burma ist nur wenige Kilo- rannte und ihre Nachbarn sah, die sich den nungslos. Ob ihre Erzählung stimmt, lässt
meter entfernt und doch unerreichbar. Es Soldaten entgegenstellten. Sie riefen „Al- sich nicht überprüfen, weil Burma keine
ist ein Ort, an dem Menschen wie Fatma lah ist groß“, als könnte der Glaube an unabhängigen Beobachter nach Rakhine
Katu in diesen Tagen um ihr Leben fürchten Gott Kugeln aufhalten. Fatma bohrt sich lässt, selbst Hilfsorganisationen haben kei-
müssen. Mehr als 120 000 sind allein in den mit dem Finger in ihre Brust, um zu zeigen, nen Zugang zu dem Gebiet, in dem die
vergangenen zwei Wochen über die Grenze wo die Kugeln einen der Dorfbewohner Rohingya leben. Aber jeden Tag kommen
104 DER SPIEGEL 37 / 2017
Ausland

Hunderte Vertriebene in Cox’s Bazar an – kommandos und Vergewaltigungen, von Denn es ist schwer vorstellbar, dass Suu
und sie alle bringen ähnliche Geschichten der gezielten Ermordung von Kindern. Kyi nicht genau weiß, was sie tut. In Inter-
mit. Von Toten. Von brennenden Dörfern. Dass nun erneut eine Massenflucht ein- views hat sie immer wieder klargestellt,
Von der verzweifelten Flucht. Human gesetzt hat, hat einen Grund: Die Rohin- sie sei Politikerin und keine Aktivistin –
Rights Watch hat Satellitenbilder ausge- gya haben angefangen, sich zu wehren. und Wahlen lassen sich in Burma nun mal
wertet und 17 vom Feuer verwüstete Ort- Am 25. August griff die Rebellenorgani- nicht gewinnen, wenn man für eine Min-
schaften gezählt, in einer sind allein 700 sation „Arakan Rohingya Salvation Army“ derheit Stellung bezieht, für Muslime, die
Häuser in Flammen aufgegangen. (Arsa) Polizeistationen und Armeelager kein Wahlrecht haben. Vielleicht ist ihre
Die burmesische Führung bestreitet all an; ähnliche Attacken gab es bereits vor Stille also einfach auch: zynisches Kalkül
das. Die Rohingya hätten ihre Häuser fast einem Jahr. Unter ihrem Anführer Ata einer gewieften Politikerin.
selbst angesteckt, um das Mitleid der in- Ullah, einem in Saudi-Arabien aufgewach- Was auch immer Suu Kyi bewegen mag:
ternationalen Gemeinschaft zu erregen. senen Rohingya, hat die Gruppe junge Es sieht derzeit danach aus, dass in Burma
Die Armee bekämpfe die islamistischen Männer rekrutiert und mit Gewehren so- unter den Augen einer Friedensnobelpreis-
Terroristen im Land. In den Gefechten wie Handgranaten ausgerüstet. Wie viele trägerin Verbrechen gegen die Menschlich-
habe es bislang 400 Tote gegeben, 370 da- Männer zu den Kämpfern gehören, ist un- keit begangen werden. Und dass langsam
von seien Extremisten gewesen. klar. In einem Interview im März kündigte Wirklichkeit wird, was die Nationalisten
Und auch Aung San Suu Kyi, die infor- Ullah an, Arsa werde weiterkämpfen, so- und radikalen Mönche seit Langem for-
melle Regierungschefin – die offiziell das lange die Regierung die Rohingya nicht dern: ein Burma ohne Muslime. In den
Amt nicht ausüben darf –, hat sich bisher schütze, „auch wenn eine Million sterben“. Siebzigerjahren lebten noch zwei Millio-
kaum geäußert. Wenn sie es tut, dann Aber die Flüchtlinge berichten auch nen Muslime im Land. Heute ist es nur
spricht sie meist über angebliche Angriffe über die Rebellen Grausames: Sie würden noch eine Million – bei einer Bevölkerung
islamistischer Extremisten und nie über Männer, die fliehen wollten, dazu zwingen, von 54 Millionen. 400 000 Rohingya leben
die Gräueltaten der Armee. Sie behauptet, sich ihnen anzuschließen. Angebliche In- bereits seit Jahren als Flüchtlinge in Bang-
die Bilder von Leichen seien gefälscht, und formanten werden ermordet. Die Armee ladesch. Ende dieser Woche werden es
selbst wenn manche das wohl sind, so doch benutzt aber nun den Anschlag vom Au- weit mehr als eine halbe Million sein.
bei Weitem nicht alle. gust als Vorwand, um Rache zu nehmen. Das Nachbarland hat nach viel Wider-
Es stimmt, dass Burmas Armee tatsäch- Es gibt in diesen Tagen keinen Mangel stand seine Grenze zu Burma geöffnet.
lich Rebellen jagt, aber es gibt viele Hin- an Stimmen, die das Morden in Burma ver- Aber was nun aus den Flüchtlingen wer-
weise darauf, dass die Soldaten dabei sys- urteilen. Der britische Außenminister, der den soll, wie ihre neue Heimat sie versor-
tematisch Zivilisten töten. Helfer haben Uno-Kommissar für Menschenrechte und gen soll, ja welche Zukunft sie hier haben,
zudem erste Opfer gefunden, die typische der türkische Präsident haben sich geäu- weiß keiner. Bangladesch ist arm und über-
Wunden von Landminen aufweisen, wohl ßert, aber es gibt eine Stimme, die fehlt. bevölkert, es kämpft mit den Folgen des
von burmesischen Soldaten an der Grenze Wo ist Aung San Suu Kyi? Klimawandels und gerade in diesen Tagen
gelegt, um die Flüchtenden zu treffen – wieder mit gewaltigen Überflutungen.
und sicherzustellen, dass sie nicht zurück-
kehren. Die Uno spricht bereits von der
Von Suu Kyi, einer Frau, Was Fatma Katus Familie bevorsteht, ist
wenige Hundert Meter von ihrem Hügel
„Gefahr ethnischer Säuberungen“. Dass es die selbst unter der entfernt zu sehen. Dort haben sich die
dazu kommen würde, war absehbar. Repression litt, hätte man Flüchtlinge aus den Jahren zuvor nieder-
Fatma Katus Vater ist in Burma geboren, gelassen. Ihre Hütten haben Wellblech
ihr Großvater ebenso, wahrscheinlich auch mehr Mitgefühl erwartet. statt Plastikplanen, es gibt ein paar Toilet-
dessen Eltern und Großeltern. Aber das ten und regelmäßige Nahrungslieferungen
Land, das Fatma Katu Heimat nennt, will Suu Kyi war mal so etwas wie eine Hel- von Hilfsorganisationen. Aber es gibt kei-
sie als Bürgerin nicht haben. In den Augen din, nicht nur in Burma, sondern weltweit. ne Arbeit und keine Aussicht, den Zustän-
der burmesischen Regierung ist sie eine Eine Lichtgestalt des friedlichen Wider- den im Lager zu entkommen.
illegale Einwanderin. Ihr wird die Staats- stands, Erbin von Mahatma Gandhi und Auch in Bangladesch sind die Rohingya
bürgerschaft verweigert, sie hat keine Aus- Nelson Mandela. 15 Jahre lang stand sie Bürger zweiter Klasse, geduldet zwar, aber
weispapiere, darf nicht wählen, nicht rei- in Burma unter Hausarrest, 1991 erhielt sie ungewollt. In der Vergangenheit hat die
sen und nur unter bestimmten Bedingun- den Friedensnobelpreis. Es war maßgeb- Regierung versucht, sie wieder nach Bur-
gen arbeiten. Aber Arbeit, die gibt es im lich Suu Kyi, die Burma vor zwei Jahren ma abzuschieben. Aber Menschen wie Fat-
bitterarmen Rakhine sowieso kaum. Auch die erste freie Wahl seit fast drei Jahrzehn- ma Katu haben Erfahrung darin, nicht will-
wenn die Region schon im 15. Jahrhundert ten brachte – und viele auf einen fried- kommen zu sein.
von Muslimen bewohnt war: Die Rohingya lichen Wandel hoffen ließ, auf die Trans- Sie sagt: „Wir werden nie nach Hause
sind bis heute ein Volk ohne Land. Und formation einer brutalen Militärdiktatur zurückkehren. Sie töten uns dort.“
Fatma Katu ist eine Frau ohne Rechte. in eine Demokratie. In ihren Träumen malt sie sich das Haus
Als sie noch kein Flüchtling war, als sie Doch immer noch hat das Militär großen aus, das sie hier bauen werden, in dem je-
in einer bescheidenen Lehmhütte wohnte, Einfluss auf die Politik. Es ist möglich, dass der ihrer Söhne ein Zimmer hat. Sie träumt
kamen früher manchmal die Soldaten vor- Suu Kyi sich nicht auf die Seite der Rohin- dann von einer Zukunft, in der einer der
bei und schlugen sie ohne Grund, so er- gya schlägt, weil sie die mächtigen buddhis- Söhne Englisch lernt, ein anderer vielleicht
zählt sie, weil sie angeblich Terroristen Un- tischen Nationalisten im Land nicht erzür- den Koran studiert. Sie schaut sehnsüchtig
terschlupf geboten habe. Manchmal hätten nen will, weil sie fürchtet, so die fragile und stochert im Topf herum.
die Männer junge Mädchen mitgenommen, Demokratie zu gefährden. Aber trotzdem, Dann bietet sie den Besuchern etwas
immer die schönsten. man hätte von dieser Frau, die selbst ein- von ihrem Reis an. Denn auch wenn man
Im Februar veröffentlichte die Uno einen mal unter der Repression des Militärs litt, kein Haus mehr hat und nur einen Topf
Bericht, wonach die Regierungstruppen zumindest mehr Mitgefühl erwartet. Die Reis, eine Flasche Salz und eine Knolle
„sehr wahrscheinlich“ Verbrechen gegen Menschenrechtsorganisationen, die einst Knoblauch, so findet Fatma Katu, müsse
die Menschlichkeit begangen haben. Es ist für ihre Freiheit kämpften, gehören daher man Gäste doch willkommen heißen.
von Folter die Rede, von Erschießungs- inzwischen zu ihren schärfsten Kritikern. Laura Höflinger

DER SPIEGEL 37 / 2017 105


Ausland

„Ihr habt mehr zu verlieren“


Iran Vizepräsident Ali Akbar Salehi sagt, sein Land wolle am Nuklearabkommen festhalten, notfalls
auch ohne die USA. Sollte es trotzdem scheitern, warnt er vor einem atomaren Wettrüsten.

SPIEGEL: Präsident Hassan Rohani drohte Salehi: Dann gibt es auch keine Einigung Salehi: In dieser Region gibt es Länder, in
vor Kurzem, Irans Nuklearprogramm kön- im Konflikt mit Nordkorea. Pjöngjang wür- denen die Regierung überhaupt nicht ge-
ne binnen Stunden wiederbelebt werden, de sagen: Sie haben das Abkommen mit wählt wird und deren Bürger keine Rechte
sollten die USA erneut Sanktionen ver- Iran gebrochen, warum sollten wir ihnen haben, schon gar nicht Frauen, sie dürfen
hängen. Wie ernst ist diese Warnung? dann trauen? Das würde einen Sturm der nicht einmal Auto fahren. Dennoch werden
Salehi: Wir wägen ständig ab, ob dieser Ver- Entrüstung bei allen Ländern auslösen, die diese Länder in Ruhe gelassen, weil sie auf
trag uns mehr bringt oder mehr kostet. friedvolle Nukleartechnologie entwickeln der politischen Linie des Westens sind.
Wenn die USA aus dem Abkommen aus- wollen. Außerdem würde es den Atom- SPIEGEL: Wie sehen Sie die enge Koopera-
stiegen, aber Frankreich, Großbritannien, waffensperrvertrag unterminieren. Viele tion des US-Präsidenten mit Saudi-Arabien?
Russland, China und Deutschland daran Länder würden dann Nuklearmacht wer- Salehi: Die USA scheinen sich in einer Pha-
festhielten, würden wir höchstwahrschein- den wollen, und das inmitten einer Krisen- se der Verwirrung zu befinden. Nicht mal
lich mit ihnen weiterarbeiten. Wenn die region. die US-Verbündeten in Europa wissen ja,
USA aber ausstiegen und die anderen Län- SPIEGEL: Sie wissen sehr gut, dass das Pro- welche Strategie Präsident Donald Trump
der folgten – dann wäre der Deal geschei- blem mit Iran nicht die friedliche Nutzung verfolgt. Diese Verwirrung richtet sich je-
tert, und Iran würde da weitermachen, wo doch nicht allein gegen uns, sondern hat
es aufgehört hat. Als jemand, der an diesen auch negative Folgen für die US-Regierung
Verhandlungen beteiligt war, würde ich selbst und deren Alliierte in der Region.
das nicht gern erleben. Nehmen wir das jüngste Beispiel Katar.
SPIEGEL: Der Präsident kann bisher kaum SPIEGEL: Das Emirat stellt die wichtigste
wirtschaftliche Erfolge vorweisen, ein Militärbasis der USA am Persischen Golf –
wichtiger Grund dafür ist, dass die USA und trotzdem lässt Trump zu, dass eine
westliche Banken drängen, keine Geschäf- von Saudi-Arabien angeführte Staaten-
te mit Iran abzuwickeln. Wie wollen Sie gruppe Katar isoliert.
aus dieser Falle entkommen? Salehi: Eines Tages wacht die Welt auf und
Salehi: Die USA versuchen, die Atmosphä- hört, dass Katar sogar im Golf-Koopera-
re zu vergiften. Sie entmutigen große Ban- tionsrat isoliert wurde. Ich kann wirklich
ken und Firmen, mit Iran zu arbeiten. Das nicht behaupten, dass Katar ein Freund
ist vor allem Angstmacherei und Rhetorik, sei. In Syrien und in weiteren Konflikten
in Wahrheit können sie nicht viel errei- in der Region stehen sie auf der anderen
chen. Sollten sie diesen Worten aber Taten Seite. Eine gute Politik erfordert jedoch
folgen lassen, dann sähe es anders aus. Weisheit und Vernunft, deshalb machen
FARHAD BABAEI / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Was meinen Sie damit? wir Katar Zugeständnisse und halten un-
Salehi: Wenn die USA die auf die irani- seren Luftraum und unsere Häfen offen.
schen Nuklearaktivitäten bezogenen Sank- SPIEGEL: Das dürfte Saudi-Arabiens Füh-
tionen nicht aufheben, käme das einer rung nur noch wütender machen. Schon
Nichteinhaltung des Abkommens gleich. jetzt sieht sie sich von Iran eingekreist.
SPIEGEL: Wenn der Deal platzt, würde Iran Salehi: Ich habe vier Jahre lang in Saudi-
sein Atomprogramm erneut vorantreiben, Politiker Salehi Arabien gelebt und kenne viele hohe Be-
es würde zur Schwarzmarktwirtschaft zu- „Traut dem Westen nicht länger“ amte. Wir hatten immer unterschiedliche
rückkehren, wäre isoliert und gefangen im Sichtweisen und dennoch gute Beziehun-
ständigen Machtkampf mit dem Westen. der Nukleartechnologie war, sondern seine gen, etwa in der Wirtschaft, im Handel, im
Salehi: So ähnlich könnte es wohl kommen. angestrebte Fähigkeit, eine Atombombe Tourismus. Iraner reisten nach Saudi-Ara-
Falls das Nuklearabkommen scheitern zu bauen. Vor wenigen Wochen hat Ihr bien, Saudi-Araber reisten nach Iran. Wir
würde, hätten wir ein paar wirtschaftliche Land einen Test mit einer neuen ballisti- Iraner schielen aber nicht nach ihrem Terri-
Schwierigkeiten, politisch aber würden wir schen Rakete durchgeführt. Ist das ein klu- torium oder Reichtum, wir haben selbst
gewinnen. Unserer Jugend würden wir ges Timing in diesen angespannten Zeiten? reichlich Gas und Öl und weite Landmassen.
dann sagen: Traut dem Westen nicht län- Salehi: Wenn die Amerikaner das als Pro- SPIEGEL: Trotzdem scheint die Beziehung
ger. Wir haben Flexibilität gezeigt, um die- blem sehen, ist das ihre Sache. Nirgendwo zwischen Riad und Teheran zerrüttet.
ses Abkommen zu erreichen, die Interna- in dem Nuklearabkommen steht, dass wir Salehi: Seitdem der neue König Salman re-
tionale Atomenergiebehörde hat unsere unsere Raketensysteme nicht weiterentwi- giert, hat sich unsere Beziehung schnell
Einhaltung des Abkommens bestätigt – ckeln dürfen. Wir machen lediglich von verschlechtert, auch wegen dieser unsin-
doch die Amerikaner haben es gebrochen. unserem Recht Gebrauch, und die andere nigen Annahme, dass Iran Saudi-Arabien
Vergessen Sie nicht, dass uns die Isolation Seite interpretiert das als Provokation. Seit einkreise. Deshalb versuchen die Saudis
auch zusammengeschweißt hat, sie zwang 38 Jahren kommen die USA jeden Tag mit nun, den Jemen zu okkupieren, um diese
uns, auf eigenen Füßen zu stehen. In der neuen Schuldzuweisungen. Einmal sind angebliche Einkreisung zu durchbrechen.
Wissenschaft haben wir es dennoch an die wir nicht demokratisch genug, dann wie- Doch damit haben sie sich selbst ein tiefes
Spitze geschafft. Ich würde sagen, unsere der geht es um Menschenrechte oder an- Loch geschaufelt, und nun wissen sie nicht
Vertragspartner haben mehr zu verlieren. geblich gefälschte Wahlen. mehr, wie sie da herauskommen sollen.
SPIEGEL: Was wäre das genau? SPIEGEL: Da ist ja auch etwas dran. Interview: Susanne Koelbl

106 DER SPIEGEL 37 / 2017


Bundestags-
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Unter der Schirmherrschaft des Eine Initiative von


Sport
Athen 2004 Peking 2008 London 2012 Rio de Janeiro 2016 Olympia
Maximal erreichbare Medaillen
bei Olympischen Spielen
513 504 496 511 America great again
Gewonnene Medaillen 101 111 103 121 Nach Olympischen Spielen
USA stecken die Fachleute des
19,7 22,0 20,8 23,7 Instituts für Angewandte
Anteil an den maxi- Trainingswissenschaft in
mal erreichbaren Leipzig ihre Köpfe zusam-
Medaillen in Prozent men und berechnen den
63 99 88 70 sportlichen Erfolg von Na-
China tionen. Bei der Anzahl ge-
12,3 19,6 17,7 13,7 wonnener Medaillen be-
kommt Deutschland gerade
einmal ein Ausreichend.
Russland ist nach Doping-
90 59 69 55
skandalen abgestürzt. Füh-
Russland
17,9 11,7 13,9 10,8
rungsmacht im Weltsport
bleiben die USA. Erstaun-
lich der Erfolg Großbritan-
niens: Angefeuert durch
30 48 65 67
die Spiele 2012 in London
Großbritannien
sind die Sportler von den
5,8 9,5 13,1 13,1
britischen Inseln in die Spit-
zenklasse vorgedrungen.
49 41 44 42 Zum Vergleich: 1996 lag das
Deutschland Königreich noch auf Platz
9,6 8,1 8,9 8,2 36 der Medaillenwertung,
hinter Nordkorea und Ka-
sachstan.
CHR. FUCHS / FOXPHOTO.DE

Magische Momente

„Chris hatte Eiswasser in den Adern“


Basketballer Hansi Gnad, 54, über den größten Erfolg einer deutschen Nationalmannschaft

SPIEGEL: Völlig überraschend tete niemand etwas. Außer- Als er vor dem Turnier ver- SPIEGEL: Nach dem umjubel-
wurde Deutschland 1993 dem waren wir schwer aus- kündete, dass wir eine ten Schlusspfiff rannte er fast
Europameister. Wieso be- zurechnen, denn wir hatten Medaille gewinnen wollen, panisch in die Kabine. Wieso?
gann die Heim-EM mit einer keinen Superstar. dachten wir nur: Was hat Gnad: Chris war immer ein
Niederlage? SPIEGEL: Bis auf Trainer der denn geraucht? ruhiger Vertreter – mit Tru-
Gnad: Die erste Ernüchterung Svestislav Pešić. SPIEGEL: Chris Welp, der das bel und Schulterklopfen
war, dass in der Halle nichts Gnad: Ohne ihn wäre das al- Finale gegen Russland mit konnte er nichts anfangen.
los war. Angeblich wurde les nicht möglich gewesen. seinen Punkten entschied, Er zog es vor, mit unserem
vorher ordentlich getrom- wäre angeblich beinahe gar Physio in Ruhe ein Bier auf-
melt, und dann saßen da fast nicht dabei gewesen. zumachen.
nur bekannte Gesichter. Zu Gnad: In der Vorbereitung SPIEGEL: Kassierten Sie eine
allem Überfluss wurden wir gab es Riesentheater. ordentliche Titelprämie?
auch noch abgeschossen. Spieler riefen mich an und Gnad: Nein. Ich hatte nur
Zwar erzielten wir 103 Punk- sagten, dass ich als Kapitän eine Prämie für das Errei-
te, aber Estland machte 113. vermitteln müsse. Die Vor- chen der letzten acht ausge-
Es kam Frust auf. stellungen vom Chef ent- handelt. Mehr schien völlig
SPIEGEL: Man hoffte, dass die sprachen nicht Welps Menta- unmöglich – für den Turnier-
Gastgeber zumindest die lität. In der alten jugosla- sieg hätte ich theoretisch
Gruppenphase überstehen. wischen Schule hieß es: Nur 100 000 Mark pro Nase ver-
Gnad: Nach Siegen über Bel- die Harten kommen in langen können.
DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL

gien, Slowenien und die Tür- den Garten. SPIEGEL: Zurzeit spielt
kei schafften wir das auch SPIEGEL: Mit einem Freiwurf Deutschland mit NBA-Star
mit Ach und Krach. Dann zum 71:70 besiegelte Welp Dennis Schröder bei der EM.
steigerten wir uns plötzlich. drei Sekunden vor Schluss Was ist möglich?
SPIEGEL: Wie kam das? den Triumph … Gnad: Allein kann er nichts
Gnad: Wir spielten ohne Gnad: … der hatte Eiswasser erreichen. Eine EM gewinnt
Druck, denn von uns erwar- Gnad 1993 in den Adern. man nur als Kollektiv. pk

DER SPIEGEL 37 / 2017 109


„Fußball ist Kapitalismus pur“
SPIEGEL-Gespräch Stürmerstar Robert Lewandowski, 29, über das viele
Geld im Transfermarkt und die Zukunftsaussichten des FC Bayern München

DER SPIEGEL

110 DER SPIEGEL 37 / 2017


Sport

SPIEGEL: Herr Lewandowski, am Dienstag heiten so arbeiten, dass ich im kommenden einen Pass, den ich schon lange übe, sau-
startet die Champions League. Ist es für Frühjahr fit bin, wenn die großen Titel der ber zu spielen. Es geht um minimale Gren-
Sie der einzige Wettbewerb, den Sie noch Saison vergeben werden. Ausdauer und zen, die ich in meinem Kopf verschiebe.
ernst nehmen? Kraft kann ich während einer Saison kaum SPIEGEL: Klingt so, als seien manche Bun-
Lewandowski: Ich habe diesen Titel noch noch trainieren, dafür fehlt die Zeit zwi- desligaspiele für Sie mehr Training als
nie gewonnen, also klar, die Champions schen den vielen Spielen. Wettkampf. Was sagt das über die Qualität
League ist schon besonders reizvoll. Zumal SPIEGEL: Wie haben Sie sich entschieden? der Bundesliga aus?
es mich immer noch nervt, dass ich das Lewandowski: Wir Topspieler leiden unter Lewandowski: Ich weiß, dass das jetzt nicht
Finale 2013 in London mit Borussia Dort- permanenter Überbelastung. Das resultiert jedem gefallen wird, aber die Bundesliga
mund verloren habe. aus einem immer dichteren Spielplan und braucht mehr Mannschaften wie RB Leip-
SPIEGEL: Fühlen Sie sich als Fußballer un- der zunehmenden Geschwindigkeit der zig. Starke Teams zwingen uns, noch mehr
fertig, wenn Sie diesen Wettbewerb nie- Spiele. Die einzige Möglichkeit, um sich zu investieren. Die Bundesliga darf nicht
mals gewonnen haben? ein wenig vor größeren Verletzungen zu von einer Mannschaft dominiert werden,
Lewandowski: Natürlich will ich ihn irgend- schützen, ist – neben einer guten Ernäh- selbst ein Zweikampf an der Spitze ist zu
wann gewinnen. Auf der anderen Seite rung und ausreichend Regeneration – ein wenig. Wir brauchen vier, fünf Mannschaf-
weiß ich, was für eine Lotterie die Cham- effizientes Training in den wenigen spiel- ten, die permanent auf Spitzenniveau spie-
pions League ist. Nehmen wir nur die ver- freien Phasen während der Sommer- und len. Dieser Konkurrenzkampf würde auch
gangene Saison. Wir waren in einer sehr Winterpause. Mein Fokus lag in Asien uns beim FC Bayern helfen, bis zum
guten Form, jeder von uns war heiß auf den ganz klar auf dem Training. Die vielen Schluss der Saison die Konzentration auf
Titel. Dann verletze ich mich an der Schul- Testspiele bringen mich nicht weiter, wenn dem höchsten Punkt halten zu können.
ter, falle für das Hinspiel gegen Real Madrid ich im Dezember, drei Tage nach einem Und eine starke Liga würde auch die Ver-
aus. Dort verschießen wir dann auch noch Champions-League-Spiel gegen Real Ma- marktung ankurbeln.
einen Elfmeter, und unser Traum zerplatzt. drid, bei Schneeregen zum Spiel nach Frei- SPIEGEL: Die Vermarktung?
Es liegt auf diesem Topniveau oft an Klei- burg fahren soll. Lewandowski: Wenn man mehr Spitzenspie-
nigkeiten, für die ganz großen Titel muss SPIEGEL: Weil Ihnen dafür dann die Moti- le hat, hat man mehr Show, mehr Trara,
eben alles zusammenpassen. vation fehlt? das Fernsehen kann mehr und länger in
SPIEGEL: Die deutsche Meisterschaft haben Lewandowski: Freiburg ist nur ein Beispiel, die ganze Welt senden. Die Fans wollen
Sie bereits fünfmal gewonnen. Wird die Sie können auch eine der anderen Mann- doch die großen Duelle sehen, die Stars
Bundesliga irgendwann öde? schaften nehmen, die tendenziell nicht zu der Liga, die Schlachten um die Meister-
Lewandowski: Ein Spitzensportler will im- schaft. Das würde die Bundesliga fürs Aus-
mer der Beste sein. Du gewinnst die Liga
einmal, aber dann willst du gleich bewei-
„Erfolg und Geld: Diese land interessanter machen. Vielleicht sogar
mehr als die vielen Reisen nach Asien oder
sen, dass das kein Zufall war. Dann wirst beiden Komponenten Amerika.
du zum zweiten Mal Meister und sagst dir, entscheiden über einen SPIEGEL: Die Verantwortlichen der Bundes-
dass du jetzt von allen gejagt wirst und liga wünschen sich diese Trips.
deshalb noch besser werden musst. Und Transfer, nichts anderes.“ Lewandowski: Ich bin gegenüber den Aus-
so geht es immer weiter. Diese Saison ist landsreisen skeptisch. Nicht nur, weil die
uns klar: Noch nie hat ein deutscher Klub den Meisterschaftskandidaten zählen. Die Belastung in diesen wichtigen Trainingspha-
sechsmal hintereinander die Meisterschaft spielen gegen uns teilweise mit zehn Mann sen so hoch ist, sondern weil ich nicht wirk-
geholt, wir können weiter Geschichte am eigenen Strafraum, fünf Verteidiger di- lich überzeugt davon bin, dass sie für die
schreiben. Das ist ein riesiger Anreiz. rekt um mich herum, es gibt kaum Platz, Vermarktung einen großen Nutzen haben.
SPIEGEL: Zu Saisonbeginn warfen Ihnen Kri- dafür bekomme ich ständig auf die Socken. Und zwar aus einem Grund: die Sprache.
tiker vor, Sie seien unmotiviert und wirk- Wenn ich dann auch noch vom Europacup SPIEGEL: Deutsch ist ein Nachteil?
ten frustriert. müde bin, das Stadion eng ist und es für Lewandowski: Insbesondere gegenüber der
Lewandowski: Das bezog sich vor allem auf die gegnerischen Fans das Größte ist, uns Premier League und der Primera División
die Spiele während unserer Asienreise. Spieler des FC Bayern auszupfeifen, dann in Spanien ist das so, ja. Englisch und Spa-
Vielleicht war diese Kritik sogar berechtigt. muss ich vorher wirklich hart gearbeitet nisch werden in vielen Ländern der Welt
Ich muss zugeben, dass es mir in diesem haben, um auch in diesem Moment Top- gesprochen, Deutsch nicht. Große Teile
Sommer wirklich schwerfiel, mich zu mo- leistungen abliefern zu können. der Bevölkerung haben also schon allein
tivieren. SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich auf solche dadurch einen stärkeren Bezugspunkt zur
SPIEGEL: Woran lag das? Spiele vor? englischen oder spanischen Liga. Das Fern-
Lewandowski: Ich spiele seit Jahren im Drei- Lewandowski: Für mich gilt seit Jahren: sehen reagiert natürlich auf die Wünsche
Tag-Rhythmus ohne große Unterbrechun- Wenn mein Kopf müde ist, muss mein Kör- seiner Zuschauer und bedient sie vornehm-
gen. Das ist eine riesige Belastung, vor al- per trotzdem zu 100 Prozent funktionieren, lich mit den Ligen, deren Sprache sie auch
lem für den Kopf. Eine gute Saisonvorbe- damit ich mich nicht verletze. Wenn ich verstehen.
reitung ist für mich deshalb sehr wichtig, total fit bin, hat mein Körper Automatis- SPIEGEL: Wie kann sich die Bundesliga in
denn dort lege ich die Grundlagen, um men, auf die ich mich komplett verlassen diesem Markt behaupten?
während der Saison auch dann zu funktio- kann. Lewandowski: Das wird viel Arbeit für die
nieren, wenn mein Kopf müde ist. SPIEGEL: Haben Sie bestimmte Motivations- Verantwortlichen. Aber am Ende wird es
SPIEGEL: Und das ging in Asien nicht? tricks? nur über internationale Erfolge und den
Lewandowski: Wir haben dort sehr viele Lewandowski: Ich stelle mir beispielsweise Ankauf von Topspielern gehen. Die Fans
Spiele gemacht. Man muss sich dann als manchmal vor dem Spiel vor, dass ich dies- wollen immer das Beste sehen, dafür ge-
Profi entscheiden: Will ich in diesen Spielen mal ein Tor schießen will, bei dem der Ball ben sie Geld aus.
Topleistung bringen, oder will ich lieber in genau in den Winkel geht. Oder ich nehme SPIEGEL: Derzeit wechseln die Superstars
den wenigen verbleibenden Trainingsein- mir vor, einen bestimmten Trick in einem aber eher nach England und Spanien.
Zweikampf hinzubekommen, einen beson- Lewandowski: Bis heute hat Bayern Mün-
Das Gespräch führte Redakteur Rafael Buschmann. deren Laufweg perfekt auszuführen oder chen nie mehr als rund 40 Millionen an
DER SPIEGEL 37 / 2017 111
M.I.S.-SPORTPRESSEFOTO / FACE TO FACE
Torjäger Lewandowski am 18. Februar in Berlin: „Der FC Bayern muss sich etwas einfallen lassen“

Ablösesummen für einen Spieler bezahlt. war Ordnung. Alles muss seine Ordnung scheint aber kaum zu greifen. Ist der Spit-
Im internationalen Fußball ist das schon haben. Vor allem die Buchhaltung, die Fi- zenfußball unregulierbar?
längst eine Summe, die eher Durchschnitt nanzen. Deshalb glaube ich, dass ein Trans- Lewandowski: Der Fußball ist Kapitalismus
als Spitzenwert ist. Man ist in den vergan- fer wie der von Neymar in Deutschland pur, jeder will in dieser Branche Geld ver-
genen Jahren nicht so mit dem Markt ge- wohl nicht funktionieren würde. dienen. Das ist eigentlich nichts Verwerf-
wachsen wie Real Madrid oder Manchester SPIEGEL: Die Höhe der Ablösesummen ist liches, so funktioniert unsere gesamte west-
United. Und jetzt ist der Abstand zu den stark in der Kritik. Was halten Sie persön- liche Gesellschaft. Trotzdem müssen die
Höchstbeträgen eben wirklich riesig. lich davon? Verbände Regeln finden, damit der Markt
SPIEGEL: Ulrich Hoeneß sagte, er wolle die- Lewandowski: Ich bin da vielleicht zu sehr nicht vollkommen ausufert. Wenn immer
sen „Transferwahnsinn“ nicht mitmachen. Realist, um mich wirklich über solche Sum- nur dieselben vier, fünf Mannschaften alle
Lewandowski: Um einen Topspieler zu be- men empören zu können. Es gibt einen Titel gewinnen, weil alle Topspieler dort
kommen, ist Geld ein wichtiger Faktor, Klub, der bereit ist, diese Summe zu be- spielen, dann wird vielleicht das Interesse
wenngleich nicht der einzige. Die sport- zahlen, also ist das der neue Markt, und am Fußball auch bei den normalen Fans
liche Perspektive, die Mannschaft, die alle müssen sich damit abfinden und nach abnehmen. Dies wäre der größtmögliche
Stadt, das Umfeld sind natürlich auch wich- Lösungen suchen. Dadurch, dass immer Schaden für den Fußball.
tig. Bayern muss sich etwas einfallen lassen mehr Leute immer mehr Geld in den Fuß- SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Fußballver-
und kreativ sein, wenn der Verein weiter ball investieren, werden wir in den kom- bände solche Regeln durchsetzen können?
Weltklassespieler nach München lotsen menden Jahren wohl noch viel mehr sol- Lewandowski: In der Tat scheint das sehr
will. Und wenn man ganz vorn mitspielen cher Deals sehen. schwierig zu sein. Bei PSG, Chelsea, Man-
will, braucht man die Qualität dieser Spie- SPIEGEL: Die Uefa hat vor einigen Jahren chester und den vielen anderen Investo-
ler. Auch, weil solche Stars ihre Mitspieler das Financial Fair Play eingeführt, nach renklubs arbeiten eben auch Vollprofis
besser machen. Großer Konkurrenzkampf dem Vereine nicht viel mehr Geld ausge- mit sehr guten Anwälten. Jede Lücke, die
in einem Kader hilft dabei, die letzten ein ben dürfen, als sie einnehmen. Dieser Ver- sich ihnen bietet, werden sie ausnutzen,
bis zwei Prozent aus sich herauszuholen. such, die Transferexzesse einzudämmen, um ihrem Klub einen Vorteil zu verschaf-
SPIEGEL: Bayern München geht es nicht nur fen. Die Uefa muss die Riesentransfers
um die Ablösesummen, sondern auch um dieses Sommers genau untersuchen und
die interne Gehaltshygiene. Was wäre pas-
Aufrüsten auf dem Rasen anschließend gemeinsam mit der Fifa da-
siert, wenn Bayern, wie angeblich geplant, Ausgaben für Spielerkäufe in der Saison 2017/18 ran arbeiten, um die Lücken im Regelwerk
Alexis Sánchez vom FC Arsenal gekauft in Mio. € Quelle: Transfermarkt.de zu schließen.
und ihm die kolportierten 25 Millionen SPIEGEL: Sie treffen in der Gruppenphase
Manchester City 244
Euro Jahresgehalt gezahlt hätte? der Champions League auf Paris. Wird
Lewandowski: Womöglich wären dann ein Paris Saint-Germain 238 durch Megatransfers wie den von Neymar
paar von uns Spielern zum Vorstand ge- oder Kylian Mbappé der Wettbewerb ver-
gangen und hätten nach einer Gehalts- FC Chelsea 203 zerrt?
erhöhung gefragt. Denn ein solch großes AC Mailand 195 Lewandowski: Als Spieler denkst du nicht
Gefälle in der Gehaltsstruktur einer Mann- so. Du bist auf dem Platz und willst dich
schaft kann gefährlich sein und zu Neid FC Barcelona 193 immer mit den Besten der Welt messen.
und Missgunst führen. Paris hat sich nun einen Weltklassekader
Manchester United 164
SPIEGEL: Paris Saint-Germain (PSG) scheint zusammengekauft. Ob es aber auch eine
das wenig Kopfschmerzen zu bereiten. Der FC Everton 158 Weltklassemannschaft ist, muss man ab-
Verein kaufte Neymar für 222 Millionen warten. Bayern München ist als Team ein-
Euro und machte ihn mit Abstand zum Juventus Turin 149 gespielter, wir haben schon vieles zusam-
Bestverdiener in der Mannschaft. Bayern München 104 men erlebt. Ich bin mir sicher, dass wir ge-
Lewandowski: Eines der ersten Wörter, die gen Paris bestehen können. Im Fußball ist
ich als Pole in Deutschland gelernt habe, AS Monaco 102 es nämlich glücklicherweise so, dass nicht
112 DER SPIEGEL 37 / 2017
Sport
Gut
immer diejenigen mit dem meisten Geld Lewandowski: Es wird in Zukunft noch viel informiert
zur Wahl
gewinnen. mehr Geld in den Fußball fließen, als wir
SPIEGEL: Ousmane Dembélé, Philippe Cou- uns das aktuell vorstellen können. Egal
tinho, Mbappé – der Transfersommer hat wohin ich auf der Welt komme, die Men-
auch gezeigt, dass Loyalität mit dem eige- schen gucken Fußball. Und genau diese
nen Verein im Fußball keine Rolle mehr
spielt. Sind Verträge mittlerweile wertlos?
Leidenschaft, diese Emotionalität der Fans
führt dazu, dass immer mehr Investoren
Testen Sie
Lewandowski: Man sollte aufhören, den Pro-
fifußball mit solchen Emotionen zu über-
in den Markt kommen werden. Sie errei-
chen mit dem Fußball junge und alte Men-
das Leitmedium
lagern. Loyalität ist zwar ein schönes Wort,
eine wunderbar romantische Vorstellung
schen, Männer, Frauen und Kinder, die
alle ihre Liebe zu einer Mannschaft aus-
der Hauptstadt
und im Privatleben auch ein wichtiger drücken wollen, indem sie Merchandising-
Wert. Im Spitzensport zählen aber andere Artikel und Stadiontickets kaufen, TV- 30 Tage E-Paper gratis
Parameter: Erfolg und Geld. Und diese bei- Abonnements abschließen oder Aktien
den Komponenten entscheiden über einen und Anleihen erwerben. Die Renditechan-
Transfer, nichts anderes. cen im Fußball sind so groß wie nirgendwo
SPIEGEL: Das heißt, es ist auch legitim, dass anders.
ein Spieler einen Transfer erpresst, indem SPIEGEL: Zuletzt gab es Antikommerziali-
er streikt? sierungsdemonstrationen von Fans. Sie be-
Lewandowski: Ein Streik ist das schlechteste klagen, dass der Fußball sich zu weit von
aller Mittel, und so etwas kommt bei ech- ihnen entfernt habe.
ten Spitzenteams eigentlich nicht vor. Ein Lewandowski: Was gerade im Fußball pas-
Spieler, der so etwas macht, verrät die Ge- siert, ist eben auch ein schmaler Grat zwi-
meinschaft, und die wird ihm das nicht schen Regionalität und Globalisierung. Als
verzeihen. Das ist schon ein enormes Risi- Verein, als Liga musst du wachsen, wenn
ko für den Spieler, auch, weil er den Ruf du weiter mit den ausländischen Klubs und
niemals wieder wegbekommt. Aber solche Verbänden mithalten willst. Das führt zu
Streiks sind für mich eigentlich nur Symp- einer großen Frage: Wer ist denn eigentlich
tome, die Ursache für das Problem liegt noch der Zielfan eines Vereins? Lebt der
woanders. in München, in Asien oder in Amerika?
SPIEGEL: Nämlich? Diesen Konflikt zu lösen ist im Moment
Lewandowski: Die Machtverhältnisse im eine der größten Herausforderungen für
Fußball haben sich in den vergangenen die Vereine. Und dass das zu Frust bei den-
Jahren extrem verschoben, und zwar zu- jenigen führt, die ihren Klubs schon seit
gunsten der Spieler. Wenn ein Spieler Jahrzehnten treu sind, ist doch klar. Diese
wirklich wechseln will, dann kann er das Leute dürfen niemals das Gefühl bekom-
in der Regel auch durchsetzen. Deshalb men, dass man sie ausnutzt.
fände ich es gut, wenn die Verbände ver- SPIEGEL: Wie soll der Fußball aus diesem
traglich festgeschriebene fixe Ablösesum- Dilemma herauskommen?
men zur Pflicht erklären. Da kann man Lewandowski: Die Verantwortlichen müs-
sich auch Gedanken über unterschiedliche sen ein Gespür entwickeln, wo die Gren-
Modelle machen: Für reichere Vereine zen des Zumutbaren sind. Brauchen wir
käme auf die fixe Ablösesumme bei- wirklich kleine Kameras auf Biergläsern,
spielsweise noch ein Fairnesszuschuss von wie bei unserer vergangenen Meisterfeier
20 Prozent obendrauf, ärmere Klubs dürf- nach dem Spiel gegen Freiburg? Müssen
ten dafür weniger für den Spieler zahlen, jetzt auch noch unsere Weißbierduschen
wenn er sich dafür entscheidet, dorthin vermarktet werden? Eine Meisterschaft ist
zu wechseln. ein sehr emotionaler Augenblick, und der
SPIEGEL: Sie glauben, mit diesem Konzept sollte immer authentisch sein. Ich habe
würde mehr Gerechtigkeit einziehen? verstanden, dass sich die Fans darüber
Lewandowski: Auf diese Weise ließe sich in geärgert haben. Brauchen wir ein Konzert
dem Fußballkreislauf etwas Geld umver- in der Halbzeit des DFB-Pokal-Finales?
teilen. Zudem schützt ein solches Modell Vielleicht. Viele Menschen gucken den Su-
die Vereine nicht nur vor möglichen Spie- perbowl in den USA auch wegen dieser
lerstreiks, sondern auch die Spieler vor Riesenshow, die dort während des Spiels
Degradierungen durch die Klubs. Denn veranstaltet wird.
wir reden häufig über das Fehlverhalten SPIEGEL: Wird der Fußball irgendwann nur
Gratis dazu:„Wahl 2017“
von Spielern. Aber ich habe in meiner Kar- noch ein Showevent sein? Das exklusive Tagesspiegel
riere schon oft erlebt, was ein Klub einem Lewandowski: Das Spiel wird immer das E-Magazin zum Download
Mitspieler antun kann, wenn er ihn unbe- Wichtigste bleiben. Aber die Zeit rund um
dingt verkaufen will. Training mit der Re- die 90 Minuten wird wahrscheinlich in
servemannschaft war dabei oft noch die Zukunft mehr einem Hollywoodfilm glei-
netteste Form der Aussortierung. chen. Diese Entwicklung lässt sich nicht
SPIEGEL: Aber auch Ihr Modell wird den mehr aufhalten.
Fußball nicht davor schützen, sich immer SPIEGEL: Herr Lewandowski, wir danken
mehr zu einer reinen Businessbranche zu Ihnen für dieses Gespräch.
entwickeln. Twitter: @Rafanelli
Gleich bestellen:
DER SPIEGEL 37 / 2017 113 www.tagesspiegel.de/wahl-probe
Wissenschaft+Technik
Medizin wandt hatten, war hingegen
Tödlicher Pfusch fast die Hälfte verstorben.
Das Risiko, dass eine Brust-
Wer Krebs hat und diesen krebspatientin die fünf Jahre
nur von Alternativmedizi- nicht überstehen würde, lag
nern behandeln lässt, ist frü- bei einem Heiler fünffach
her tot. Das ist das Ergebnis höher als bei einem Arzt. Die
einer Studie der Yale Univer- Untersuchung macht keine
sity. Der Mediziner Skyler Aussagen zum Schicksal von
Johnson hat verglichen, wie Patienten, die sich zusätzlich
viele Patienten mit Brust-, zum Beispiel zu einer Che-
Lungen-, Darm- oder Prosta- motherapie von Alternativ-

ROBERT HAAS / PICTURE-ALLIANCE / DPA


takrebs fünf Jahre nach der medizinern behandeln ließen.
Diagnose noch am Leben wa- Eine höhere Bildung ver-
ren. In der Gruppe, die sich stärkt der Studie zufolge die
wissenschaftlich anerkannten Neigung, auf Universitäts-
Therapien unterzogen hatten, mediziner zu verzichten. Als
waren dies immerhin 78 Pro- Faktor erwies sich auch das
zent. Von denen, die sich aus- Geschlecht: Frauen sind für
schließlich etwa an Homöo- Heilsversprechen offenbar
pathen oder Heilpraktiker ge- Homöopathische Arzneien anfälliger als Männer. me

Ernährung großen Studien: Bei den guten praktisch keine Rolle. Diese
„Freispruch für Eier!“ Ölen – Oliven- und Rapsöl, Änderung war überfällig.
Omega-3-Fettsäuren wie in SPIEGEL: Dafür sind jetzt
Der Arzt Johannes fettem Fisch – darf man nicht offenbar die Kohlenhydrate
Scholl, 52, Präsi- sparen. Die braucht man. böse: Einst sollte man sie
dent der Deutschen Milchfett, das in Joghurt, Käse „reichlich“ zu sich nehmen.
Akademie für oder Butter vorkommt, wurde Jetzt heißt es vorsichtiger:
GUIDO BITTNER

Präventivmedizin, lange verteufelt. Nun hat man „Vollkorn wählen.“


über bösen Zucker erkannt, dass es das Herzin- Scholl: Vollkorn ist sicher bes-
und gute Fette farktrisiko nicht steigert und ser als hoch verarbeitetes
wahrscheinlich vor Schlag- Weizenmehl. Aber bei all die-
SPIEGEL: Die Deutsche Gesell- anfällen schützt. Eindeutig sen Empfehlungen sollte man
schaft für Ernährung (DGE) schädlich hingegen sind die bedenken, dass sie nur für
hat gerade ihren Empfeh- gehärteten Pflanzenfette, die Gesunde gelten. Wenn Men-
lungskatalog überarbeitet. noch immer in billigen Back- schen bereits einen zu dicken
Ist er jetzt besser? waren, Pommes, Chips und Bauch, eine Leberverfettung
Scholl: Vieles hat sich zum Fertigpizza stecken. oder eine Vorstufe der Zu-
Positiven gewandelt. Zum SPIEGEL: Bisher warnte die ckerkrankheit haben, dann
ersten Mal gibt es eine klare DGE davor, mehr als drei sind viele Kohlenhydrate ein-
Warnung vor Zucker. Das ist Eier pro Woche zu essen. deutig schädlich. Für diese
eine Kehrtwende. Zucker Jetzt nennt sie keine Ober- Leute sind mehr Gemüse, Fußnote

64 000
bringt Menschen aus dem grenze mehr. Eiweiß sowie gute Öle und
Stoffwechselgleichgewicht, er Scholl: Freispruch für Eier! Fette die bessere Alternative.
steigert den Appetit und för- Der Eierkonsum spielt für Wir brauchen eine indivi-
dert dadurch Übergewicht den Cholesterinspiegel im dualisierte Ernährungsbera-
und Diabetes. Trotz- Blut und für das Herz tung, die auf die Stoffwech- Menschen sind voriges
dem war er bislang infarktrisiko selsituation des Einzel- Jahr in den USA an einer
nicht einmal als ge- nen eingeht. Drogenüberdosis ge-
sundheitsschädlich SPIEGEL: Täuscht der storben, 21 Prozent mehr
deklariert. Mit Zucker Eindruck, dass Ernäh- als im Jahr zuvor. Die
gesüßte Lebensmittel rungswissenschaftler meisten von ihnen, näm-
und Getränke, auch ziemlich oft ihre Mei- lich 20 100, fielen syn-
Fruchtsäfte, sind eindeutig nung ändern? thetischen Opioiden
nicht empfehlenswert. Scholl: Die Empfehlungen wie Fentanyl zum Opfer.
SPIEGEL: Neuerdings sollen basieren jetzt auf Experimen- Es wirkt 50-fach stärker
wir laut DGE „gesundheits- ten und auf sehr guten Stu- als der mit 15 400 Toten
fördernde Fette“ essen. Noch dien mit Tausenden Teilneh- zweitgrößte Killer Heroin.
IMAGO / CHROMORANGE

eine Kehrtwende? mern. Früher haben oft schon Selbst HIV hat, zum Höhe-
Scholl: Absolut. Der Grund- Hypothesen ausgereicht. punkt der Epidemie vor
satz „Je weniger Fett, desto Keine Sorge, Sie können Ihr 25 Jahren, nicht so viele
gesünder“ gilt nicht mehr. Frühstücksei ganz entspannt junge Menschen getötet
Mittlerweile wissen wir aus genießen. me wie jetzt die Drogen.

114 DER SPIEGEL 37 / 2017


Irma La Brute
Erst kam „Harvey“: Land unter in Texas. Jetzt wütet Superhurrikan
„Irma“ mit vernichtender Gewalt über Teilen der Karibik mit Kurs auf
Florida. Während die Menschen dort fliehen, braut sich über dem
Atlantik schon der nächste Hurrikan zusammen: „Jose“. Erschreckend
ist das, aber ungewöhnlich? Nein. Tropische Wirbelstürme gehören
hier zum Naturgeschehen, von jeher. Im Juni beginnt die Saison, Ende
November endet sie, und dazwischen gibt es fast in jedem Jahr
Tote und oft Schäden in Milliardenhöhe. Der Klimawandel hat weder
„Harvey“ noch „Irma“ geschaffen – aber er lädt ihnen mehr Wasser
auf. Im Kino läuft jetzt der neue Film „Immer noch eine unbequeme
Wahrheit“. Darin drückt der Umweltschützer und Ex-Präsidentschafts-
kandidat Al Gore es so aus: „Jeder Sturm ist anders jetzt, denn er
findet in einer wärmeren, feuchteren Welt statt.“ Diese Karte zeigt das
außergewöhnlich warme Wasser (rot) in der Karibik Mitte der Woche
und „Irmas“ Weg nach Westen (Linie).

NASA
Kommentar

Goodbye, Oxbridge
Der Brexit bedroht die beiden besten Universitäten der Welt.
Jedes Jahr im September veröffentlicht das Londoner Magazin Unis kommt mit dem Brexit mehr als Geld abhanden. For-
„Times Higher Education“ (THE) eine Rangliste der besten schungsverbünde brechen, Kooperationen platzen. Und:
Universitäten der Welt, die in Hochschulkreisen bang erwar- Im neuen nationalistischen Klima könnten die Unis ihre über
tet wird. Auf Platz eins steht für gewöhnlich das California Jahrzehnte, gar Jahrhunderte gewachsene Anziehungskraft
Institute of Technology, die Ostküstenperle Harvard folgt auf Talente einbüßen.
knapp dahinter. Der Präsident des University College London, Platz 16 im
Das neueste THE-Ranking sortiert mittlerweile tausend Ranking, hat jetzt berichtet, dass 95 Prozent seiner europäi-
Institutionen und wartet mit einer Überraschung auf. Zum schen Professoren Abwerbeangebote vorliegen hätten. Ein
ersten Mal ziehen gleich zwei europäische Universitäten Braindrain bahnt sich an. So wie Frankfurt, Paris und Dublin
an allen exzellenten US-Konkurrenten vorbei. Weltbeste Uni: um vertriebene Banker aus London buhlen, so werden Univer-
Oxford. Zweitbeste: Cambridge. Ein imposanter Doppelerfolg sitäten vom Festland Charme und Geld aufwenden, um Spit-
für England – doch den Jubel kann man sich sparen. zenforscher anzulocken – kluge Köpfe, die sich auf der Insel
Mit dem Brexit laufen die Briten Gefahr, ihre Hochschul- nicht mehr wohlfühlen und in Trumps USA eben auch nicht.
landschaft zu zerstören. Wenn EU-Gelder nicht mehr fließen, Bislang ist Großbritannien eine Supermacht der Forschung
verliert allein Oxford ein Fünftel seines Forschungsetats, und – nach Deutschland – der größte Empfänger von EU-For-
Cambridge sogar ein Viertel. Die Regierung in London dürfte schungsgeldern. Diese Position ohne Not aufzugeben ist schlicht
Schwierigkeiten haben, die Ausfälle zu ersetzen, denn den wahnsinnig, ein Akt der Selbstverstümmelung. Marco Evers

Mail: [email protected] · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen DER SPIEGEL 37 / 2017 115
Ritter Doof
Mittelalter Er ließ Kinder massakrieren und brachte England an den Rand des Ruins,
trotzdem gilt Richard Löwenherz noch immer als weiser Edelmann und
gerechter König. Eine Ausstellung in Speyer kratzt nun am Image des Herrschers.

M
itte der Woche fuhr ein Kleintrans-
porter mit französischem Kenn-
zeichen über die Stadtgrenze von
Speyer, im Gepäck einen Sarg aus Blei.
Das Behältnis ist winzig, kaum größer als
ein Ziegelstein, und schlichter, als man er-
warten könnte. Doch das, was darin beer-
digt wurde, schrieb Weltgeschichte.
Als die Schatulle im Jahre 1838 bei Gra-
bungen in der Kathedrale von Rouen ent-
deckt und geöffnet wurde, war nichts mehr
von dem Organ zu erkennen, das einst im
Brustkorb eines legendären Herrschers
geschlagen hatte. Nur bräunlich-weiße
Krümel und Stofffragmente waren geblie-
ben vom „Löwenherz“ des Richard Planta-
genêt, eines der bekanntesten Helden aller
Zeiten; den Beinamen verdankt er dem
ihm zugeschriebenen Mut und außerge-
wöhnlicher Kampfeskraft.
Der Fund in Rouen, der mithilfe einer
Inschrift auf der Innenseite des Deckels
identifiziert werden konnte, war speziell,
aber nicht sensationell. Man wusste schon
damals, dass Löwenherz kurz vor seinem
Ableben im April 1199 eine sogenannte
Körperteilung verfügt hatte. Das war im
Mittelalter nicht unüblich und sollte unter
anderem gewährleisten, dass die Unter-
tanen dem verblichenen Herrscher an meh-
reren Orten gedenken konnten. Sein Kör-
per möge in der Abtei Fontevraud neben
dem seines Vaters ruhen, hatte Löwenherz
auf dem Sterbebett bestimmt – doch sein
Herz müsse nach Rouen, dessen Bewohner
ihm stets treu ergeben gewesen seien.
Wie eine Analyse im Jahr 2012 ergab,
war mithilfe von Myrrhe, Gänseblümchen
und anderen Substanzen versucht worden,
den Körperteil vor Verwesung und Ge-
stank zu schützen; doch auch das „Löwen-
herz“ erlitt am Ende ein irdisches Schick-
sal. Der organische Abfall wird nun außer-
halb des Kästchens in Rouen verwahrt und
nicht mit nach Speyer geliefert. Dennoch,
die Besucher der Landesausstellung im His-
torischen Museum der Pfalz dürften dem
Herzschrein einen großen Teil ihrer Auf-
merksamkeit schenken.
Knapp 200 Exponate aus sieben Län-
WARNER BROS / DPA

dern, darunter mittelalterliche Schriften


und der Abguss von Richards Grabplatte,

* In „Robin Hood – König der Diebe“, 1991, gespielt von


Sean Connery. Filmfigur Löwenherz*: Das Volk mit Fake News gefüttert

116 DER SPIEGEL 37 / 2017


Wissenschaft

werden die Kuratoren bis zur Eröffnung lich drohte das Kirchenoberhaupt in Rom mel vom Pferd gefallen, aber weitgehend
der Löwenherz-Schau am 17. September mit Exkommunikation, als es von der unverletzt waren. Entführungen seien
in Empfang genommen haben. Es wird die Entführung erfuhr. Doch der Herzog „kriegsökonomische Notwendigkeit“ und
erste große Ausstellung zum Leben des le- ließ sich nicht abhalten, denn er ahnte „Nebenverdienst“ gewesen, schreibt Wi-
gendären Königs auf dem europäischen wohl, dass ihm ein mächtiger Verbündeter towski. Es habe sogar Dienstleister gege-
Festland sein, und dass sie in Speyer statt- zur Seite stehen würde: Heinrich VI., rö- ben, die bei schwierigen Verhandlungen
findet, liegt in der Logik seiner Geschichte: misch-deutscher Kaiser. Der Sohn Bar- halfen und den Wert eines Entführungs-
Richard, der damals über große Teile des barossas befand sich im Dauerstreit mit opfers berechneten. Adelige brachten
heutigen Frankreich herrschte und dort Richard um Sizilien. Da kam ihm der naturgemäß mehr als Bürgerliche, die
auch seine Heimat sah, verbrachte mehr Widersacher als Geisel zupass, und er ließ Entführung von Frauen und Kindern galt
Zeit auf dem Territorium des römisch-deut- sich prompt auf einen Deal ein: Leopold dagegen zumindest im lateinischen Abend-
schen Kaisers als auf der englischen Insel. land als verpönt.
Dort hielt er sich wohl gerade einmal ein
halbes Jahr auf.
Die Entführer stritten ge- Heinrich, Leopold und ihren Kollabora-
teuren war mit König Richard ein Mann
Insgesamt 14 Monate am Stück lebte er radezu um Adelige, die ins Netz gegangen, der wahrscheinlich
hingegen in Speyer und weiteren Orten am im Kampfgetümmel vom mehr einbringen würde als jede Geisel zu-
Oberrhein, die zum Reich des Staufers vor. Nach seiner Auslieferung an den Kai-
Heinrich VI. zählten. Wer sich mit dieser Pferd gefallen waren. ser wurde Löwenherz im März 1193 daher
Zeit genauer beschäftigt, lernt einen Ri- an den sichersten Ort gebracht, den das
chard kennen, der eine Belastung für sein möge Löwenherz an ihn ausliefern, dann Kaiserreich zu bieten hatte: die Reichsburg
Volk und von Feinden umzingelt war. „Man bekäme er im Gegenzug die Hälfte des Trifels, etwa 40 Kilometer von Speyer ent-
muss ihn schon ein bisschen vom Sockel Lösegelds. fernt im Pfälzerwald gelegen. Dort bewahr-
stoßen“, sagt der Heidelberger Mittelalter- Die Entführung und Festsetzung von te Heinrich zeitweise das Wertvollste auf,
experte Bernd Schneidmüller, der den Aus- Gegnern war im Mittelalter gängige Praxis, das er besaß – die sogenannten Reichs-
stellungsmachern in Speyer als Berater zur wobei die Häscher seltener in Gasthäusern kleinodien, die ihn als Kaiser erkennbar
Seite stand. als auf dem Schlachtfeld zuschlugen. Dort machten: Krone, Zepter, Schwert, Reichs-
Der unfreiwillige Aufenthalt des engli- wurde das Kidnapping solventer adeliger kreuz und -apfel.
schen Königs begann am 20. Dezember Herren auch dadurch ermöglicht, dass sie Wer die Burg heute besuchen will, muss
1192 in der Nähe von Wien. Richard und meist solide gepanzert waren: Sie starben erst durch dichten Wald und über Serpen-
ein kleiner Begleittrupp kamen aus dem nicht mehr beim ersten kleinen Lanzen- tinen fahren, dann vom Parkplatz aus noch
Heiligen Land, wo ihnen die Befreiung piks und konnten daher hervorragend zu einmal 20 Minuten steil zum Gipfel hoch-
Jerusalems misslungen, dafür aber zumin- Geld gemacht werden. laufen. „Schauen Sie“, sagt Angela Kaiser-
dest die Eroberung der Hafenstadt Akko Der Historiker Janis Witowski, der am Lahme von der Generaldirektion Kultu-
geglückt war. Warum man eine Rückreise- Ausstellungskatalog für die Schau in Spey- relles Erbe Rheinland-Pfalz an einem
route über das heutige österreichische er mitgewirkt hat, berichtet in seinem kürz- wolkenlosen Tag, „von hier aus hat man
Staatsgebiet wählte, lässt sich nicht mehr lich erschienenen Buch „Ehering und Ei- einen fantastischen Ausblick auf das um-
klären. Auf jeden Fall war das heikel, denn senkette“ davon, wie sich Ritter geradezu liegende Land; man merkt schnell, wenn
Wien war das Gebiet Herzog Leopolds. um Adelige stritten, die im Kampfgetüm- sich jemand nähert.“ Auf Anhöhen nah
Man darf annehmen, dass der Alpen-
fürst den Durchreisenden verabscheute,
und das aus nachvollziehbaren Gründen. Q Angevinisches Reich
Löwenherz hatte ihm im Jahr zuvor nach Ende des
dem gemeinsamen Triumph über Akko 12. Jahrhunderts
einen Anteil an der Beute verweigert und
Q Heiliges Mainz
ihn zu allem Überfluss gedemütigt: Als Römisches
Rhe

Leopold sein rot-weißes Banner hissen Reich


wollte, ließ Richard dies verhindern; es
in

wurde zu Boden gerissen.  Königreich 30 km Worms


Laut einer Chronik des Benediktiner- Frankreich London
mönchs Otto von St. Blasien, von dem in
Speyer eine Handschrift gezeigt wird, hatte Burg Trifels Speyer
Löwenherz sich bei seiner Reise durch
Österreich als einfacher Kaufmann getarnt.
Rouen Mainz

Paris
Doch das half ihm nicht, als er in einer Wien
„kleinen Absteige“ in Erdberg einkehrte.
Während sich Löwenherz in der dortigen
Küche gerade selbst ein Huhn briet, sei er
von einem anderen Gast erkannt worden,
der in Akko mitgekämpft hatte. Der Mann
witterte seine Chance und lief sogleich zu
Leopold, der gerade in der Stadt weilte.
Konstantinopel
So begann ein Kidnapping, das mit Rom
einem nahezu beispiellosen Lösegeld
endete und das englische Königreich an M i t te l m e e r
den Rand des Ruins brachte.
Leopold wusste, dass Kreuzfahrer unter
päpstlichem Schutz standen, und tatsäch-
DER SPIEGEL 37 / 2017 117
1 2

CHRISTIAN FERNÁNDEZ GAMIO


3

2017 INVENTAIRE GÉNÉRAL RÉGION NORMANDIE


1 Grabfigur von Richard Löwen-
herz in der Abtei Fontevraud,
Frankreich
ERICH LESSING / AKG-IMAGES

2 Einstiger Löwenherz-Kerker
Burg Trifels in Annweiler
3 Bleischatulle mit Inschrift
für das Herz des englischen
Königs

und fern sind noch Trümmer anderer Bur- dass ihm zu seinem Amüsement sogar sei- auch vor der Schändung adeliger Frauen
gen aus Löwenherz’ Zeiten zu erkennen. ne geliebten Jagdfalken angeliefert worden nicht zurückschreckte; es gebe Hinweise
Man habe damals, wenn Gefahr drohte, seien. Historisch eindeutig ist nur, dass sich darauf, dass er Gefallen daran gefunden
mittels Flaggen oder Feuer kommuniziert, die Verhandlungen mit dem englischen Kö- hatte.
vermutet Kaiser-Lahme. nigshaus elend lange hinzogen – so lange, Die Untaten konnten Löwenherz’ Ruf
Die Burg Trifels, auf der zur Ergänzung dass sich Löwenherz später bei seiner nie sonderlich schaden, was zum einen da-
der Landesausstellung nun eine kleine Halbschwester Maria von der Champagne ran liegt, dass im Mittelalter andere Grund-
Schau über die Entführung stattfindet, ver- über seine Vasallen beschwerte: Sie hätten sätze der Humanität galten. Ein Leben war
fiel über die Jahrhunderte. Sie wurde von sich nur halbherzig um seine Freilassung wenig wert, zumal der Tod alltäglich wü-
den Nazis wiederaufgebaut, die aus der bemüht, schrieb er. tete – die Menschen starben schon an
Burg eine Weihestätte für Soldaten ma- Mitleid mit Richard fällt schwer, denn schlichten Infekten wie die Fliegen. Au-
chen wollten. Weil es keine Abbildungen er selbst hatte sich auf dem Kreuzzug ins ßerdem ließ Richard bereits zu Lebzeiten
des ursprünglichen Gebäudes gab, ließ Hit- Heilige Land als besonders gnadenloser am Mythos des edlen Ritters und starken
lers Architekt seiner Fantasie einfach frei- Geiselnehmer entpuppt. Nach der Einnah- Königs arbeiten. Wie andere Könige be-
en Lauf. Kaiser-Lahme ist sich trotzdem me von Akko nahm er etwa 2600 Men- schäftigte er Troubadoure, die zu seinen
„ziemlich sicher“, wo Löwenherz gefangen schen gefangen, um von Sultan Saladin Ehren Lieder sangen und das Volk mit
gehalten wurde: über der Kapelle, die es ein Lösegeld zu erpressen. Als ein Ultima- Fake News fütterten – zum Beispiel mit
schon zu Heinrichs Zeit gab. Es handelt tum verstrich, ließ er die Leute, darunter der Botschaft, dass er Nachfolger des my-
sich um einen Raum mit einem Loch im auch viele Kinder, abschlachten. „So wie thischen Königs Artus sei. Dessen angeb-
Boden, durch das Licht in den sakralen es sich ziemte“, notierte Löwenherz in liches Grab wurde 1191, also während der
Raum darunter fällt. Mittlerweile werden einem Brief an den Abt von Clairvaux. Regentschaft Richards, auf dem Gelände
in dem Raum Kopien der Reichskleinodien Das Massaker bei Akko war beileibe des Klosters von Glastonbury gefunden.
ausgestellt. nicht die einzige Grausamkeit, die auf das Das sei ein Omen, wurde kolportiert, ein
Es ist unklar, wie Löwenherz im Hoch- Konto Löwenherz’ und seiner Ritter geht. Zeichen, dass Artus auf geheimnisvolle
sicherheitstrakt Trifels behandelt wurde. Schon auf dem Weg ins Heilige Land wur- Weise in Löwenherz wiedergeboren sei.
Ein Chronist schreibt, Kerkerketten und de geplündert, gemordet und vergewal- „Diese Entdeckung des Artusgrabes darf
fürchterlicher Hunger hätten den König tigt. Chroniken lassen laut Historiker mit einiger Sicherheit als Fälschung an-
gequält. Andererseits kam das Gerücht auf, Schneidmüller vermuten, dass Löwenherz gesehen werden“, heißt es im Katalog zur

8. Sept. 1157 3. Sept. 1189 12. Juli 1191 21. Dez. 1192 14. Febr. 1193 4. Febr. 1194 6. April 1199
Geburt von Richard Krönung in West- Nach 22 Monaten Auf dem Rückweg Leopold und Kaiser Nach Zahlung Nachdem er bei einer
Plantagenêt in Oxford. minster. Obwohl die endet die Belagerung nach England wird Heinrich VI. einigen des geforderten Belagerung Aufstän-
Der spätere Richard I., Söhne gegen den Akkos an der Levante- der als Kaufmann sich auf eine Über- Lösegelds und discher in Aquitanien
genannt Löwenherz, Vater rebellieren, küste. Das Eintreffen verkleidete Richard gabe des Gefangenen Ableistung des von einem Armbrust-
ist der dritte Sohn von wird Richard nach Richards führt in einem Vorort Wiens an Heinrich. Löwen- Lehnseids auf bolzen getroffen
Heinrich II., König von dem Tod der älteren zur Eroberung erkannt. Leopold V. herz wird auf die den Kaiser wird wird, stirbt der
England, und Eleonore Brüder vom Vater zum der Stadt durch von Österreich lässt Burg Trifels bei Richard in Mainz englische König
von Aquitanien. Thronfolger ernannt. die Kreuzfahrer. ihn verhaften. Speyer gebracht. freigelassen. an Wundbrand.

118 DER SPIEGEL 37 / 2017


Wissenschaft

TERRA X
SONNTAG, 10. 9., 19.30 – 20.15 UHR | ZDF
Löwenherz-Ausstellung. Zweifel sind auch gaben erhoben wurden. Das einfache Volk
angebracht, wenn es um King Arthurs hatte bluten müssen – nicht nur für die Zeitreise – Die Welt im Jahr 1800
Wunderschwert Excalibur geht, das Ri- Habgier Heinrichs und Leopolds, sondern Um 1800 nimmt der technologische
chard getragen haben soll. Abgesehen da- auch für die Fehltritte ihres selbstverlieb- Fortschritt weltweit an Fahrt auf.
von, dass wahrscheinlich weder Artus ten Königs. Neue Navigationsgeräte helfen den
noch Schwert je existierten, erscheint all Ungewöhnlich war, dass sogar Kirchen Kolonisten, zielsicher entfernte Win-
dies eher unglaubwürdig, weil Löwenherz und Klöster in die Pflicht genommen wur- kel der Erde anzusteuern, wo alte
die Waffe bei einem Aufenthalt in Messina den, so sehr, dass es bis heute sichtbar ist: und neue Welten aufeinanderpral-
gegen anderes Kriegsgerät eintauschte. In englischen Gotteshäusern gibt es keiner- len – Kulturen, die manchmal kaum
Es wurde stets munter drauflosgelogen lei Kostbarkeiten aus Silber, die aus der unterschiedlicher sein könnten.
und dick aufgetragen, wenn es um Richard Zeit vor dem 13. Jahrhundert stammen. Der Berliner Archäologe Matthias
ging, und warum das so ist, „lässt sich nur Es war am 4. Februar 1194, als Eleonore Wemhoff reist um den Globus und
sehr schwer erklären“, sagt Historiker ihren Lieblingssohn, der nach Aufenthal- untersucht die Parallelgeschichte
Schneidmüller. Vielleicht liege das an Lö- ten auf dem Trifels, in Hagenau und in der Menschheit.
wenherz’ frühem Tod, vielleicht am Cha- Worms letztlich nach Mainz gebracht wor-
risma, das er wohl zweifellos besaß. Man den war, in die Arme schließen konnte.
verglich Richard mit Heroen wie Hektor, Vom englischen Volk abgesehen, herrschte
Achill und Nestor. Es hieß, dass er wäh- Zufriedenheit auf allen Seiten, besonders
rend des Kreuzzugs gemeinsam mit nur natürlich bei Leopold und Heinrich. Der
sechs Rittern 3000 Sarazenen in die Flucht österreichische Herzog ließ in Wien einen
geschlagen hatte. Man schwärmte, dass komplett neuen Stadtteil bauen, der Kaiser
sich die Welt „halb in Liebe, halb in nutzte den neuen Reichtum für einen lan-
Furcht“ vor ihm beugte – das Erste mag ge geplanten Feldzug.
stimmen, das Zweite eher weniger. Doch Löwenherz erwartete nach seiner Frei-
die Lobpreisungen gingen immer weiter, lassung eine gewaltige Aufgabe. Seit er
und sie reichen bis ins heutige Hollywood. sich mit seinem Kreuzfahrerheer auf den
Als PR-Renner erwies sich die vielfach Weg gemacht hatte, waren vier Jahre ver-
verfilmte Saga um Robin Hood, in der die gangen, vier Jahre, in denen sein Bruder
Phase, als Richard auf Kreuzzug und in Johann das Reich destabilisierte; immer

HANS JAKOBI
Haft war, als besonders rechtsfreie Episode wieder flammten, auch wegen der neuen
der englischen Geschichte stilisiert wird. Steuern fürs Lösegeld, Unruhen auf. Ri-
Hood, der Rächer aus dem Sherwood For- chard musste dringend seine Autorität wie- Chinesische Dschunke vor Hongkong
rest, tut alles, was er kann, um dem einfa- derherstellen. Er ließ sich ein zweites Mal
chen Volk durch die schwere Zeit zu hel- krönen, zeigte sich gnädig, versöhnte sich
fen. Dabei muss er sich aber immer wieder mit seinem Bruder und kämpfte dann im- SPIEGEL TV MAGAZIN
der Angriffe von Richards Bruder John mer wieder gegen aufmüpfige Regional- SONNTAG, 10. 9., 22.45 – 23.30 UHR | RTL
und dessen Verbündeten erwehren. An der herrscher, unter anderem gegen den Adel
Geschichte stimmt wohl nur, dass John in Aquitanien, seiner eigentlichen Heimat. Nur die Harten komm’ in Garten – Tough-
von vielen Menschen im Königreich als Im März 1199 belagerte Löwenherz den Mudder-Hindernislauf; Busreise zur
noch größeres Übel betrachtet wurde. Wo Sitz eines rebellischen Fürsten und tat et- „Kanzlerin der Schmerzen“ – Wutbürger
er nur konnte, versuchte der ungezogene was, „was ein kluger Mann niemals getan und ihr Krawalltourismus bei
kleine Bruder, Macht an sich zu reißen. hätte“, wie es Historiker Schneidmüller Angela Merkels Wahlkampfauftrit-
John, auch bekannt als Johann Ohne- ausdrückt: Er spazierte in der Abenddäm- ten; Bundespolizisten vs Schwarzer
land, führte Krieg gegen den eigenen Vater, merung vor die Festung – ohne Rüstung. Block – Was geschah wirklich
nutzte die Abwesenheit seines Bruders, um Ein einsamer Armbrustschütze wagte sich bei den Auseinandersetzungen am
seine Position zu stärken, und spielte auch unter dem notdürftigen Schutz einer auf- Hamburger Rondenbarg während
bei den Lösegeldverhandlungen eine un- gestellten Bratpfanne auf den Burgturm. des G-20-Gipfels?
rühmliche Rolle. Als der deutsche Kaiser Der Mann, eigentlich ein lächerlicher Geg-
und Löwenherz sich endlich geeinigt hat- ner, schoss – und traf Löwenherz in die
ten, bot John Geld dafür, dass sein Bruder linke Schulter. Richard versuchte, den Pfeil SPIEGEL GESCHICHTE
länger in Haft bliebe. Doch der Staufer ließ herauszureißen, aber er brach ihn nur ab. SONNTAG, 10. 9., 23.15 – 00.10 UHR | SKY
sich nicht überreden, und so machte sich Ein Arzt operierte die Spitze aus dem Kör-
irgendwann zum Jahreswechsel 1193/1194 per, aber den Wundbrand konnte er nicht Reagan gegen Gorbatschow –
ein Tross auf den Weg, der zu den unge- verhindern. Duell um die Welt
wöhnlichsten der Weltgeschichte zählt. Am Abend des 6. April 1199 starb Ri- Das Jahr 1985 stellt einen Wende-
Richards Mutter Eleonore von Aquita- chard, der wohl zu Unrecht als einer der punkt im Kalten Krieg zwischen
nien, schon 70 Jahre alt und damit für mit- größten Könige aller Zeiten gilt, an den der Sowjetunion und den Vereinig-
telalterliche Verhältnisse greise, begleitete Folgen einer Dummheit; das Löwenherz ten Staaten von Amerika dar.
den Transport höchstpersönlich. Dazu tat seinen letzten Schlag. Im November begegnen sich Michail
müssen etliche Soldaten gekommen sein, Guido Kleinhubbert Gorbatschow und Ronald Reagan
denn auf den Kutschen, die Richtung Pfalz Mail: [email protected] erstmals in Genf. Es ist ein Treffen,
rumpelten, waren mindestens 23 Tonnen von dem ein klares Signal zur Ent-
Silber verstaut, zum Teil in Münzen, zum spannung ausgeht. In den kommen-
Teil in Barren. Das entsprach in etwa dem Video: den Jahren folgen weitere Zusam-
Doppelten des Jahreseinkommens der eng- Ein Kreuzfahrer erzählt menkünfte der beiden, die das Ende
lischen Krone und war nur zusammen- spiegel.de/sp372017lowenherz des Kalten Krieges näher rücken
gekommen, indem neue Steuern und Ab- oder in der App DER SPIEGEL lassen.
DER SPIEGEL 37 / 2017 119
der renommiertesten Hirnforscher der
Vereinigten Staaten.
Rasend schnell blättert Karol durch
einen gut gemischten Satz Spielkarten, da-
nach kann er fehlerfrei die Abfolge wie-
dergeben. Er kennt alle achtstelligen Num-
mern auf kleinen Kärtchen, die zuvor ans
Publikum ausgehändigt wurden. Und als
ein Zuschauer „22030“ als Postleitzahl sei-
nes Heimatorts nennt, weiß er zuverlässig:
„Fairfax, Virginia.“
All das, beteuert Karol, sei nichts Be-
sonderes. Möglich werde es durch eisernes
Training und uralte sogenannte Mnemo-
techniken. „Das kann jeder“, sagt er.
Eingeladen hat den Gedächtniskünstler
Robert Ajemian, ein Neurowissenschaftler
des MIT. Es empört ihn, dass die schon un-
ter den Römern und Griechen gebräuch-
lichen Methoden, das Gedächtnis zu schu-
len, von der Wissenschaft systematisch
ignoriert werden.
Karol habe recht, sagt Ajemian, jeder
könne sein Erinnerungsvermögen steigern.
„Und zwar drastisch. Es ist einer der deut-
lichsten Effekte der gesamten Psychologie.“
Trotzdem interessierten sich weder Päda-
gogen noch Hirnforscher dafür. Ganze drei
neurowissenschaftliche Arbeiten habe er
in der Literatur zu dem Thema finden kön-
nen. „Ein Skandal!“, findet Ajemian.
Eigentlich sind die alten Mnemotechni-
ken denkbar simpel. Wer sich eine Liste
von Gegenständen merken will, sollte die
SHAWN G. HENRY / DER SPIEGEL

Methode der „Loci“ verwenden. Dazu


werden die Objekte im Geiste entlang
eines vertrauten Weges platziert. Das Er-
innern geschieht dann in Form eines men-
talen Spaziergangs, bei dem man die Ge-
genstände am Wegesrand wiederfindet.
Kritiker wenden ein, solche Verfahren
Forscher Ajemian: „Einer der deutlichsten Effekte der gesamten Psychologie“ seien allenfalls dazu geeignet, stumpfsin-
nige Fakten ins Hirn zu pressen. Wer müs-
se schon lange Folgen von Zahlen oder

Vergiss mal nicht


Spielkarten auswendig lernen, wie es die
Champions bei Gedächtnismeisterschaften
tun? Die Methode betrachten sie als un-
natürlich – und deshalb untauglich für den
Neurowissenschaften Gedächtniskünstler vollbringen Wunder Alltag.
Ajemian regen solche Argumente auf.
des Erinnerns – jetzt will ein US-Hirnforscher sie Früher, sagt er, als Wissen sich noch nicht
untersuchen. Er glaubt: So viel Wissen speichern kann jeder. in Computer oder Smartphones auslagern
ließ, habe niemand den Nutzen eines gu-

D
as vielleicht Außergewöhnlichste Der Stahlarbeiter aus Pennsylvania lern- ten Gedächtnisses infrage gestellt. Heute
an Jim Karol ist, wie gewöhnlich te das Scrabble-Wörterbuch auswendig, er gerate in Vergessenheit, dass das Erinnern
er bis zu seinem 49. Lebensjahr bimste Postleitzahlen und die Titel von Grundlage aller anderen geistigen Tätig-
war. In der Highschool wurschtelte er sich 10 000 Filmen. Zu jedem Datum memorier- keit sei.
so durch, dann arbeitete er in einem Stahl- te er den zugehörigen Wochentag – rück- Der Forscher verweist auf das Beispiel
werk. Nichts deutete auf besondere geisti- wärts bis zu Christi Geburt. Und je mehr von Colette Silvestri. Sie ist Lehrerin an
ge Gaben hin. er lernte, desto hungriger wurde sein Ge- einer Highschool in Hershey im US-Bun-
Das änderte sich erst, als ihm ein Arzt hirn nach weiterer Nahrung. desstaat Pennsylvania. Seit vielen Jahren
wegen Herzproblemen ein strenges Fitness- Jetzt, im Alter von 64, steht Karol im schon drillt sie mithilfe der alten Mnemo-
programm verordnete. Weil das Strampeln Hirnforschungsinstitut des Massachusetts technik das Erinnerungsvermögen ihrer
auf dem Heimtrainer langweilig war, ver- Institute of Technology (MIT) in einem Schüler, acht nationale Meisterschaften hat
trieb sich Karol die Zeit mit Gedächtnis- brechend vollen Hörsaal. Angekündigt ist sie mit ihnen bereits gewonnen.
übungen. Bald wurde eine Sucht daraus, der Auftritt des „Mannes mit dem besten Das schärfe ganz allgemein den Ver-
von der er nicht mehr lassen konnte. Gedächtnis der Welt“. Im Publikum: einige stand ihrer Schüler, sagt die Lehrerin: „Die
120 DER SPIEGEL 37 / 2017
Wissenschaft

werden besser in allen Fächern.“ Gern sind nicht an bestimmten Stellen archiviert, ronen genau umgekehrt: Je mehr wir
würde Hirnforscher Ajemian beweisen, sondern über das gesamte Netzwerk ver- wissen, desto leichter fällt es, Neues zu
dass sie recht hat. schmiert“, sagt Ajemian. lernen.
Bisher allerdings führt er einen Zwei- Deshalb komme es beim Lernen sehr Das ist die Magie, auf der das Können
frontenkrieg: Silvestri will nicht einsehen, auf die richtige Methode an. Stures Wie- der Experten beruht. Ganz gleich, ob sie
dass dazu kontrollierte Studien notwendig derholen bleibt oft vergebens, weil neue es im Klavierspiel, in der Medizin oder im
sind. Der Nutzen des Gedächtnistrainings, Fakten nicht so recht haften wollen. Die Schach zu wahrer Meisterschaft bringen
meint sie, sei doch unverkennbar. Die Mnemotechniken dagegen nutzen die Zau- wollen: Sie müssen dazu eine exponentiell
Geldgeber wiederum verweigern Ajemian berkraft der Assoziation. Es geht darum, wachsende Menge an Wissen anhäufen.
die für solche Studien nötigen Mittel. Sie Beziehungen herzustellen, neue Informa- Das geht nur, weil ihr Gehirn umso williger
finden es umgekehrt offensichtlich, dass neue Inhalte in die Schleier der Assozia-
die Mnemotechniken nichts taugen.
Ajemian will weiterkämpfen – auch des-
Je größer das Wissen, tionen webt, je dichter diese bereits ge-
sponnen sind.
halb, weil für ihn das Gedächtnistraining desto leichter das Lernen, Zu gern würde Ajemian den Neuronen
weit mehr als nur pädagogisch wertvoll ist. das ist die Magie zusehen bei der Knüpfarbeit. Er möchte
Er hofft, dass das Studium der antiken Er- Gedächtniskünstler in den Kernspintomo-
innerungskunst ihm radikale Erkenntnisse wahrer Meisterschaft. grafen schieben, um verfolgen zu können,
über die Natur des Denkens selbst besche- welche Hirnregionen aktiv sind, während
ren wird: „Diese Methoden offenbaren tionen mit alten zu verweben. Selbst wenn sie Zahlenabfolgen oder Vokabeln memo-
uns, dass alles, was wir über das Gedächt- die Verknüpfungen noch so sinnlos sind – rieren.
nis zu wissen glauben, falsch ist.“ etwa wenn Objekte im Geiste entlang des Der Forscher weiß, dass es nicht leicht
„Das Gehirn ist kein Computer“, sagt Schulwegs verstreut werden –, nimmt das sein wird, bei den Geldgebern Interesse
Ajemian. Es sei ein Irrtum anzunehmen, Gehirn diese begierig auf. dafür zu wecken. Denn der Fortschritt der
dass neuen Informationen ein Platz in un- Die assoziative Architektur des Nerven- Technik hat die Hochachtung vor der
serem Neuronenspeicher zugewiesen wird, zellnetzwerks führt dazu, dass das Lern- Kunst des Erinnerns schwinden lassen:
von dem wir sie dann bei Bedarf wieder vermögen des Gehirns geradezu paradox „Ich kämpfe gegen zwei der größten Er-
abrufen können. In Wirklichkeit habe das anmutet. Während ein Computerspeicher rungenschaften der Menschheitsgeschichte
komplexe Gewirr der Nervenzellen kei- vollläuft und ein Prozessor umso länger an“, sagt Ajemian: „Gegen den Computer
nerlei Ähnlichkeit mit dem Schaltplan braucht, je mehr Informationen er be- und die Druckerpresse.“ Johann Grolle
eines Computers. „Unsere Erinnerungen wältigen muss, ist es beim Netz der Neu- Mail: [email protected]

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Wissenschaft

Voodoo und Vitamine


Medizin Heilpraktiker missbrauchen die seriöse Forschung an Mitochondrien, den Kraftwerken
der Zelle. Teure Scheintherapien versprechen „neue Power“ und Heilung fast aller Gebrechen.

F
ast jeder kennt sie noch aus dem Bio-
logieunterricht, wenn die Zelle durch- Mitochondrien ...
genommen wird: jene kleinen, ova-
len Gebilde, die Mitochondrien, oft auch erzeugen aus Kohlenhydraten und Fetten
Kraftwerke der Zelle genannt. In ihnen das sogenannte ATP, die „Energie-
werden Fette und Kohlenhydrate ver- währung“ des Körpers.
brannt – so wird Energie für den Körper
erzeugt.
Jedes Nervensignal, jeder Herz- oder leiten bei Zellschäden den
Wimpernschlag, letztlich auch jeder Ge- programmierten Zelltod ein.
danke braucht die Power aus den Mito-
chondrien. Stellten die Zellorganellen
plötzlich die Arbeit ein, würde der Körper
produzieren Signalstoffe,
liegen bleiben wie ein Auto, dem das Ben-
u. a. für das Gehirn.
zin ausgegangen ist.

STO CKTRE K IMAGE S / INTE RFOTO


Kein Wunder also, dass sich Forscher
für Mitochondrien interessieren. Ihre gro-
ße Hoffnung: eines Tages mit ihrer Hilfe regulieren den Kalzium-
Krankheiten heilen zu können. Mehr als haushalt der Zelle.
189 000 wissenschaftliche Artikel verzeich- Darstellung
eines Mitochondriums
net die medizinische Datenbank PubMed
inzwischen zum englischen Suchbegriff produzieren wichtige
„mitochondria“; der erste erschien im Jahr Bestandteile von Enzymen.
1913 in der renommierten Fachzeitschrift
„Science“.
Doch nun haben Alternativmediziner Forscher vom Institut für Molekulare Toxi- Der Kinderarzt Markus Schülke von der
und Heilpraktiker die Mitochondrien für kologie und Pharmakologie am Helmholtz Berliner Charité ist auf solche Mitochon-
sich entdeckt. Sie behaupten, das zu kön- Zentrum in München untersucht seit Jahr- driopathien spezialisiert und behandelt er-
nen, wovon die Wissenschaft noch träumt: zehnten, welche Stoffe Mitochondrien schä- krankte Kinder in einer Spezialsprechstun-
kurieren. Zahlreiche Praxen werben im digen können. „Die ganze Disziplin steht de. Ein- bis zweimal pro Monat kommen
Internet mit dem neuen Trend, behaupten am Scheideweg“, sagt Zischka. Zwar sei auch Erwachsene zu ihm, die bei einem
„Burn-out beginnt in den Mitochondrien“, nicht alles, was die Alternativmedizin be- Mitochondrienheiler waren und von Schül-
wollen „die volle Zellkraftwerkspower haupte, Unsinn. Nur verhalte sich die Sache ke eine Zweitmeinung wollen. „Ich sage
wiederherstellen“. eben viel, viel komplizierter – und etliche ihnen, dass sie ihr Geld verschwenden“,
Die Botschaft klingt ja einleuchtend: Sie wichtige Fragen ließen sich noch nicht be- sagt der Kinderarzt. Die alternative Mito-
fühlen sich stets müde, abgeschlagen? Na antworten. „Wenn dann die harte Wissen- chondrienmedizin sei ein „Paralleluniver-
klar, die Kraftwerke der Zelle sind schuld! schaftlichkeit fehlt“, sagt Zischka, „sind Sie sum“, bestimmt von dem Wunschdenken,
Sie können sich kaum konzentrieren, ha- schnell im Bereich Voodoo.“ die „Ursache für alle Zivilisationskrankhei-
ben keine Kraft mehr, sind depressiv? Be- Carsten Culmsee, Pharmazieprofessor ten gefunden zu haben“.
stimmt tragen Sie eine Mito-Malaise mit an der Philipps-Universität Marburg, hält Zugleich ist in den Labors der Wissen-
sich herum. Auch für Probleme und Krank- die Formel „Erschöpfung gleich Mitochon- schaftler inzwischen klar geworden, dass
heiten wie Migräne, Reizdarm, unerfüllten drienleiden“ für eine grobe und unzuläs- sich Funktionsstörungen der Mitochondrien
Kinderwunsch, Diabetes, häufige Infekte sige Vereinfachung. „Was die Rolle der durchaus bei vielen Leiden feststellen las-
und Übergewicht werden kaputte Mito- Mitochondrien bei Erkrankungsprozessen sen, beispielsweise bei Parkinson, Amyo-
chondrien verantwortlich gemacht. angeht, befinden wir uns noch in der tropher Lateralsklerose, Depressionen, Dia-
Die Angebote der „Mito-Medizin“ ha- Grundlagenforschung.“ betes oder Krebs. „Mitochondrien sind das
ben vor allem eines gemeinsam: Sie sind Anerkannt von der Medizin sind bis- Drehkreuz für fast alle biochemischen Stoff-
teuer und müssen in aller Regel selbst be- lang vor allem mitochondriale Erkrankun- wechselwege“, sagt Volkmar Weissig, Pro-
zahlt werden. Zunächst der Labortest, um gen, die durch Mutationen im Erbgut ent- fessor für Pharmakologie an der Midwes-
die „mitochondriale Dysfunktion“ zu dia- stehen und bei den Betroffenen schwere tern University im US-Bundesstaat Arizona
gnostizieren, und danach die Therapie, Schäden an Muskeln, am Nervensystem und Präsident der World Mitochondria So-
meist teure Nahrungsergänzungsmittel, die oder an anderen Organen hervorrufen, ciety. „Kurz gesagt: Es gibt wahrscheinlich
den schlappen Mitochondrien wieder Le- wie etwa jene Krankheit, an der kürzlich kaum eine Erkrankung, an der die Mito-
ben einhauchen sollen. in Großbritannien das Baby Charlie Gard chondrien nicht irgendwie beteiligt sind.“
Seriöse Wissenschaftler sind alarmiert. verstarb. Dessen Fall ging durch die Pres- Doch anders als alternative, selbst er-
Durch die Quacksalberei, fürchtet der Ex- se, weil seine Eltern vor Gericht eine ex- nannte „Mito-Mediziner“, die in kaputten
perte Hans Zischka, könnte das ganze perimentelle Therapie in den USA erstrei- Zellkraftwerken die Wurzel allen Leidens
Forschungsgebiet in Verruf geraten. Der ten wollten. sehen, zweifeln seriöse Wissenschaftler, ob
122 DER SPIEGEL 37 / 2017
Mitochondriendefekte die Krankheit aus-
Rechnen Sie
lösen – ebenso gut könnte es sich um Kol-
lateralschäden handeln. „Es ist nicht klar,
was die erste Ursache ist“, sagt Alessandro
mit einer Unbekannten!
Prigione, Mitochondrienforscher am Ber-
liner Max-Delbrück-Centrum für Moleku-
lare Medizin. „Das ist einer der Schlüssel-
punkte, an denen weiter geforscht werden
sollte.“
Tatsächlich sind viele Fragen noch offen,
und Therapien gegen Alzheimer, Diabetes
oder Krebs, die an den Mitochondrien an-
setzen, sind zwar denkbar, liegen aber in
weiter Ferne – wenn sie überhaupt jemals
Wirklichkeit werden.
Ähnlich unsicher sieht es bei der Dia-
gnostik aus. Zahlreiche alternativmedizi-
nische Praxen behaupten auf ihren Web-
sites, die Mitochondrienfunktion mit einem
Bluttest messen zu können. Wissenschaft-
ler halten genau das derzeit noch für ein
großes Problem. „Was wirklich fehlt“, sagt
Hans Zischka, „ist eine verlässliche Labor-
diagnostik.“
Noch schlimmer ist die Situation bei der
Therapie. Alternativmediziner empfehlen
neben allgemeinen Maßnahmen wie einer
Ernährungsumstellung, weniger Stress,
mehr Bewegung und mehr Schlaf (immer-
hin Maßnahmen, die nicht schaden kön-
nen) vor allem eine Therapie mit Spuren-
elementen, Vitaminen und teuren Nah-
rungsergänzungsmitteln wie etwa Co-
enzym Q10.
Es ist der Patient, der diese Mittel be-
zahlen muss. Etwa 20 Euro kosten 120 Kap-
seln Vitamin B12 bei einem Internetver-
sand, rund 30 Euro muss man für 60 Kap-
seln L-Cystein hinlegen und fast 50 Euro
für 60 Kapseln Ubiquinol, einer Coenzym-
Q10-Form mit, so behauptet der Hersteller,
besonders guter „Bioverfügbarkeit“. Qua-
litativ hochwertige Studien, die belegen, Taschenbuch. € (D) 9,99. Verfügbar auch als E-Book
dass diese Substanzen wirken, gibt es nicht.
Schlimmer noch: Die Behandlung könn-
te sogar massiv schaden. „Wenn jemand
Krebs hat, vielleicht ohne es zu wissen,
booste ich dann vielleicht mit der Therapie Was machen drei Logiker, wenn Sie ein Bier
vor allem die Mitochondrien in den Krebs-
zellen?“, fragt Zischka. „Das weiß nie-
bestellen wollen? Und wie viele Partien
mand.“ Die Bedeutung der Mitochondrien werden beim weltgrößten Tischtennisturnier
sei zentral. „Da einzugreifen muss mit
äußerster Vorsicht erfolgen.“ gespielt? SPIEGEL-ONLINE-Kolumnist
Dringend solle die Mitochondrien- und Bestseller-Autor Holger Dambeck hat
medizin deshalb ihre Empfehlungen durch
hochwertige Studien untermauern. Dabei die 100 schönsten Logik- und Zahlenrätsel
müssten gute Forscher helfen, meint Volk- zusammengestellt. Rätseln Sie mit!
mar Weissig. „Ich verstehe, dass seriöse
Ärzte sich von Quacksalbern, die fragwür-
dige Mito-Medizin betreiben, distanzieren
wollen“, sagt er. Aber wer wisse das schon,
manchmal sei ja auch ein Körnchen Wahr-
heit in dem, was Scharlatane tun. „Deshalb
darf ihnen die Wissenschaft bei so einem
wichtigen Thema nicht das Feld über-
lassen.“ Veronika Hackenbroch
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DER SPIEGEL 37 / 2017 123
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Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage. dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
FOTOS: PANCI CALVO FOR TRUCK ART PROJECT
Von Straßenkünstlern gestaltete Lastwagen des „Truck Art Project“

Street-Art gestalten lassen – inspiriert Straßenkunst aus den Gale- Macías etwa hat die eine Sei-
Kunst auf Rädern von den Arbeiten des legen- rien zurück auf die Straße zu te eines Lkw mit einem
dären und geheimnisumwit- holen und damit ein breites bunten mexikanischen Zaun
Diese Spedition liefert Kunst terten Banksy. Als der Künst- und buntgemischtes Publi- bemalt, die andere mit einer
in fast jeden Winkel des Lan- ler Okuda San Miguel 2013 kum zu erreichen. 23 unter- grauen New Yorker Hoch-
des. Der spanische Unterneh- eine Wand in einem von Col- schiedlich gestaltete Lkw der hausfassade. Das „Truck Art
mer Jaime Colsa hat sich für sas Lagerhäusern bemalte, Palibex-Spedition liefern Project“ zeigt, dass Lkw und
seine Lastwagen etwas Beson- ärgerte sich der Unternehmer, wie gewohnt Gebrauchsarti- Transporter, zuletzt mehrfach
deres einfallen lassen und sie dass dies kaum jemand zu kel quer durch Spanien, zie- als Terrorwaffen missbraucht,
für sein Truck Art Project von Gesicht bekommen würde. hen dabei aber viele Blicke Schönheit ins Leben der Men-
spanischen Straßenkünstlern So kam er auf die Idee, die auf sich. Die Künstlerin Celia schen bringen können. red

Filmwirtschaft täuschungen wie den Abenteuerfilm „Die Mumie“ mit Tom


Pleitensommer in Hollywood Cruise. Ein seit Jahren grassierendes „Fortsetzungsvirus“
sei vor allem für den Zuschauereinbruch verantwortlich,
Zwischen Mai und August gehen in den USA die meisten schreibt das Branchenmagazin „Hollywood Reporter“. Schon
Menschen ins Kino. Deswegen starten in dieser Zeit seit Jahren warnen Experten die Studios davor, dem Kino-
auch die teuersten und aufwendigsten Filme. Doch der publikum die immer gleichen Geschichten und Figuren
Sommer 2017 war für Hollywood eine Katastrophe. vorzusetzen. Sie fordern mehr Mut zu neuen Stoffen. Doch
Rund 16 Prozent weniger Einnahmen als im vergangenen für den Sommer 2018 stehen wieder hauptsächlich neue
Jahr mussten die Studios verbuchen, das ist der niedrigste Folgen von Serien wie „Avengers“ oder „Jurassic Park“ auf
Stand seit dem Jahr 2006. Es gab nur wenige Überraschungs- dem Programm. Hollywood scheint momentan allerdings
hits, etwa das Superheldinnen-Spektakel „Wonder Woman“ gerade bei seinen Blockbustern ziemlich nervös zu sein. So
oder Christopher Nolans Kriegsfilm „Dunkirk“, dafür haben die „Star Wars“-Produzenten in dieser Woche zum
viele Flops wie das Historienepos „King Arthur“ und Ent- wiederholten Mal einen Regisseur gefeuert. lob

126 DER SPIEGEL 37 / 2017


Kultur
Kino lich raffinierten Verbrechen Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Der große Coup der
kleinen Leute
fähig sind. Mit viel Witz und
Charme erzählt er von einem
Bauarbeiter (Channing Ta-
Lyrische Unschuld
Er hat es wieder getan. US- tum), der seinen Job verliert, Das Leben kann sehr schön sein. Das
Regisseur Steven Soderbergh, und dessen Bruder (Adam mag Eugen Gomringer, Dichter der
54, hatte schon mehrfach an- Driver), der mit nur einem Konkreten Poesie, empfunden haben,
gekündigt, seine Filmkarriere Arm aus dem Irak heimge- als er das kleine Werk „avenidas“
zu beenden, zuletzt vor fünf kehrt ist. Die beiden scharen schuf, das seit 2011 eine Außenwand
Jahren. Doch jedes Mal wur- ein Team aus Versehrten und der Alice-Salomon-Hochschule in
de er rückfällig. Nun kommt Geprügelten der US-Gesell- Berlin mit seinen acht spanischen Zei-
sein neuer Film Logan Lucky schaft zusammen, eine Bande len schmückt. Ohne ihm inhaltlich
ins Kino – eine Wiederho- enttäuschter weißer Männer unrecht zu tun, kann man das Original
lungstat. Denn die Gauner- und Frauen. Bei einem Auto- so übersetzen: „Alleen / Alleen und Blumen // Blumen /
komödie ist das Gegenstück rennen der Nascar-Meister- Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen //
zu Soderberghs größtem schaft wollen sie sämtliche Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“.
Coup „Ocean’s Eleven“, aller- Einnahmen klauen. „Logan Der Asta der Alice-Salomon-Hochschule hat dazu auf-
dings ohne Glamour, dafür Lucky“ ist ein ebenso ironi- gerufen, Vorschläge für eine Veränderung dieser Wand-
mit umso mehr Staub und scher wie patriotischer Film, gestaltung zu machen; begründet wird das studentische
Schweiß. Soderbergh zeigt der die kriminelle Energie Unwohlsein mit der Erklärung, dass Frauen sich im
diesmal, dass auch ziemlich der amerikanischen Arbeiter- öffentlichen Raum häufig ungeschützt fühlten und das
einfache Menschen zu ziem- klasse rückhaltlos feiert. lob Gedicht gewissermaßen unabsichtlich daran erinnere,
„dass objektivierende und potenziell übergriffige und
sexualisierende Blicke überall sein können“. Das Dreier-
lei der Gomringer-Bewunderung erzählt von einer ver-
wehten Welt, in der die Schönheit weiblich war und das
expressive Begehren männlich, in der die Kostbarkeit des
Femininen durch dessen Abstand zum schnöden macht-
vollen Alltag so zart und anmutig leuchtete wie die Blüte
des bolivianischen Trompetenbaums. „Wirklich, ich lebe
in finsteren Zeiten!“, so fängt Brechts Gedicht „An die
Nachgeborenen“ an. „Das arglose Wort ist töricht. Eine
glatte Stirn / Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der
Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht
empfangen.“ Selbst ein Gespräch über Bäume, so teilt
der deutsche Exilant uns in trauernder Sachlichkeit mit,
STUDIOCANAL

hat in den Zeiten des Faschismus seine Unschuld verloren


(„Weil es ein Schweigen über so viele Untaten ein-
schließt!“); der historische Kontext verhängt moralische
Driver, Tatum in „Logan Lucky“ Strafbarkeit. Wo die Verhältnisse gewaltsam sind, kann
auch das Preisen der Schönheit Sünde sein.
Das Gedicht kann ja nichts dafür.
Pop grund melodischen Klavier- Auch das wäre schon ein Gedichtbeginn – oder auch
geklimpers gute alte Zeiten mal ein Schluss. Wenn Anziehungskraft und Romantik
Edelgrauer Hipster am Badesee herauf. Musi- nicht mehr vernäht sind mit Schwäche und Macht, wenn
Vollbart, übergroße Sonnen- kalisch dominiert auf dieser die Bewunderung und die Liebe entbunden sind von Ver-
brille und nostalgische Anzü- Platte Elektropop, den man sorgungspflicht oder Abhängigkeit, werden wir andere
ge – Friedrich Liechtenstein aber vielleicht doch lieber Sorgen haben, schönere hoffentlich, als der Berliner Asta
trägt die Insignien des jugend- auf der Couch statt im Klub derzeit. Mann und Frau, die sich begehren ohne Hinter-
lichen Hipsters. Doch der hört. Das Album neigt etwas gedanken, ohne tradiertes Kalkül, was könnte daraus Hei-
vielseitige Unterhaltungs- zur Beliebigkeit, denn Liech- teres werden! Das Patriarchat als Auslaufmodell, der
künstler, der durch Auftritte tenstein bildet letztlich vor freundliche Abschied von einem Alltag, der uns noch im-
in Edeka-Werbespots und allem eine Projektionsfläche mer so sehr Gewohnheit ist, dass wir seine Zurichtungen
den Song „Supergeil“ be- für ältere Herren, die sich kaum mehr spüren. Man stelle sich vor, eine Welt, in
rühmt wurde, ist schon über versichern wollen, wie cool der ein typischer Frauenberuf kein Armutsrisiko mehr
60. Liechtenstein hat sich sie noch sind. red bedeutet, in der ein Weib, das erfolgreich ist, weder
selbst zu einer Kunstfigur sti- Angst noch Hass auf sich zieht, in der, um mal ganz prak-
TOMASO BALDESSARINI / SONY MUSIC

lisiert, die vor allem ambi- tisch zu werden, der Vater zur Kinderobsorge auch gern
valent sein will. Verspielt zu Hause bleibt und das sogar vernünftig ist, weil die
und ironisch sind viele Lie- Mutter ja nicht weniger verdient … Man nennt so was
der seines neuen Albums Politik, das praktische Training des Möglichkeitssinns.
„Ich bin dein Radio“. In dem Mühsames Zeug, endlose Arbeit, Verhandeln, und sogar
Song „Bademeister“ etwa das Reden über Gedichte gehört dazu.
raunt er mit Erzählstimme Nur dass man die nicht ändern kann.
im Lagerfeuerduktus und be-
schwört vor dem Hinter- Friedrich Liechtenstein Trio An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 37 / 2017 127


ROLF VENNENBERND / DPA
Angeklagter Middelhoff 2014 vor dem Landgericht Essen: Schreckenswort „Saalverhaftung“

Dichter seines Lebens


Erinnerungen Thomas Middelhoff hat ein autobiografisches Buch veröffentlicht:
„A115 – Der Sturz“. Eigentlich ist es ein Roman. Von Volker Weidermann

E
in Mann hat Zeit. Sehr plötzlich sehr hört – inklusive Kaminfeuer und treuem dann Chef von Karstadt, das er in Arcan-
viel Zeit. Kein Termin. Kein Wagen Jagdhund zu meinen Füßen.“ dor umbenannte, verurteilt wegen Untreue
wartet, kein Jet. Er war ein Getrie- Jetzt ist er 61, und sein Traum geht in in 27 und Steuerhinterziehung in 3 Fällen.
bener in der Welt der Gier, der Wirtschaft Erfüllung. Ohne Irland, ohne Kaminfeuer, Nun sitzt er in einer Zelle im Gefängnis in
und des Geldes. Jetzt ist er hier in dieser ohne Hund. Dafür mit Ameisen und Ein- Essen: A 115. Die Nummer der Zelle ist
Zelle ganz mit sich allein. Und da erinnert samkeit und jeder Menge Zeit. der Titel des Buches. Dieses Buch ist – vor
er sich an den jungen Mann, der er vor Dies ist die Geschichte vom Fall des Tho- allem in den Passagen, die die Gründe für
vielen Jahren war, und an den Traum, den mas Middelhoff, von ihm selbst erzählt. diesen Fall behandeln – mit großer künst-
er damals hatte: Schriftsteller zu werden. Sie trägt den Titel „A 115 – Der Sturz“*. lerischer Freiheit und Erfindungskunst ge-
„In diesen Träumen sah ich mich in einem Middelhoff, erst Chef von Bertelsmann, schrieben. Das macht es für Tatsachen-
kleinen irischen Landhaus an einem Ma- sucher und radikale Sachbuchleser weit-
nuskript arbeiten, mit allem, was zu einer * Thomas Middelhoff: „A 115 – Der Sturz“. Langen Mül- gehend uninteressant. Für Freunde der
solchen jugendlichen Vorstellung dazuge- ler; 320 Seiten; 24 Euro. Fiktion ist es dagegen sehr interessant.
128 DER SPIEGEL 37 / 2017
Kultur

Denn erstens ist die Figur Thomas Mid- denen er das selbst erkennt: „In der Abge- Frühstück. Draußen der wartende Wa-
delhoff ja längst schon deutsche Literatur- schiedenheit meiner Zelle erkannte ich, gen. Der Fahrer. Die Zeitungen liegen be-
geschichte geworden, in dem nur wenig was ich geworden war: ein Narzisst, dessen reit. Die Akten für die Fahrt. Die Fahrt
verschlüsselten Schlüsselroman des Schrift- Handeln in vielerlei Hinsicht hedonistisch zum endgültigen Freispruch.
stellers Rainald Goetz, „Johann Holtrop“, bestimmt war. Schritt für Schritt hatte ich Und dann geschieht: Schuldspruch. Drei
der 2012 erschienen ist und in dem Auf- mich selbst dabei verloren. Die Person, die Jahre Haft. Fluchtgefahr. Saalverhaftung.
stieg und Fall des Megastars der deutschen mit zunehmender medialer Präsenz auf- Scham. Schande. Weg mit dem Mann. Es
Wirtschaft als erbarmungsloser Kältere- blühte und deren öffentliches Bild ich in geht eine Wendeltreppe hinab, „die mich
port geschildert wird. den guten Jahren so sehr geliebt hatte, war in die Tiefe führt“. Das BlackBerry darf
Dass dieser Mann – Holtrop/Middelhoff nicht mehr ich selbst.“ nicht mehr benutzt werden. Der Kontakt
– eigentlich ein Schriftsteller ist und früh Er nennt es selbst ein Gift. Er war ein zur Welt. Es sind die Sekunden, in denen
von einem literarischen Leben träumte, Vergifteter, ein Süchtiger. Ein Junkie. Ein Thomas Middelhoff sein eigenes Leben
das schrieb auch Goetz damals schon: „Im Abhängiger von dem immer noch irrwit- verschwinden sieht. Taschen leer, darin
Inneren seiner Träume sei er immer auch zigeren Bild, das er von sich selbst zeich- ein silberner Stift „mit zarter Gravur“,
Schriftsteller geblieben“, heißt es in „Jo- nen lassen wollte. „Wie ein Abhängiger“ 80 Cent und der Personalausweis.
hann Holtrop“. Und dass dieser Mann in sei er seinem glanzvollen Image „hinter- Schließlich – vielleicht der dramatischste
der Literatur, in der Kunst das Radikale, hergejagt und habe mich schließlich selbst Moment nach dem Verlust des BlackBerry:
das Schöpferische, das Zerstörerische, das vergiftet“. das Verschwinden der Manageruniform.
Experimentelle gesucht habe und dass ihm Das Buch, das Middelhoff schreibt, ist Melancholisch, fast zärtlich verabschiedet
aber früh bewusst geworden sei, „dass es im Grunde ein klassischer Bildungsroman. sich der Stürzende von seiner Rüstung:
mit der Radikalität der Kunst auch gar Die lange Reise eines Mannes zu sich „Meine Anzugjacke lege ich sorgfältig auf
nicht so weit her sei, wie er sich das in sei- selbst. Und so viel er auch klagt und einen kleinen, weiß gekachelten Mauer-
ner Jugend vorgestellt hatte. Dann habe jammert und sich ermüdend lange und vorsprung. Der Häftling greift nach ihr und
er die Radikalität in der Welt der Wirt- detailverliebt immer wieder selbst recht- stopft sie in einen großen blauen Müllsack.
schaft gesucht und gefunden, habe alle fertigt und darauf beharrt, dass er im Grun- Krawatte und Hemd folgen, und mir ist,
Energien darauf geworfen, sich diese Welt de wegen nichts verhaftet wurde, wegen als würde mir mit jedem Kleidungsstück
zu erobern“. einer Verschwörung, Hämebereitschaft der auch ein Stück meiner Identität und mei-
Der Roman erschien zwei Jahre vor dem Gesellschaft, Neid, Dummheit und des ner Ehre genommen.“
endgültigen Absturz des Thomas Middel- SPIEGEL (siehe Seite 130), so genau weiß Middelhoff fährt ein. Der Leser folgt
hoff in einem Essener Gerichtssaal im No- ihm interessiert und staunend. Es ist ja
vember 2014. Ausgangsmoment von Mid- wirklich eine unglaubliche Geschichte, die-
delhoffs eigenem Lebensbericht. Man
kann wohl sicher sein, dass er den Roman
Die Verzweiflung, die ses sekundenplötzliche Verlieren von al-
lem. Die Verzweiflung, die Angst, die Ein-
über sich als Johann Holtrop gelesen hat. Angst, die Einsamkeit – samkeit – Middelhoff beschreibt das prä-
In seinem Lebensroman erwähnt er das
Buch leider nicht. Aber natürlich ist Mid-
er beschreibt das präzise zise, selbstschutzlos und klar. Der erste
Blick in die Zelle. Das Entsetzen. Der Blick
delhoffs Buch neben vielem anderen auch und selbstschutzlos. aus dem Zellenfenster. Der erste Gang auf
ein Gegenbuch zu Goetz. dem Hof. Die Angst, erkannt zu werden.
Es ist der verzweifelte Versuch, die Der Respekt einiger Mitgefangener, dass
Macht über sein Bild wiederzuerlangen. Er, er doch in den hellen Teilen des Buches, so ein Superverbrecher, den sie regelmäßig
„der meistgehasste Manager in Deutsch- dass er im Grunde dankbar ist. Das, was im Fernsehen sehen, jetzt bei ihnen auf
land“, wie er sich selbst, die Presse zitie- er sich mit dem Schreckenswort „Saalver- dem Gang lebt. Dann aber auch schon
rend, gern nennt, will die Welt mit einem haftung“ immer wieder als Bruchsekunde schnell die Angst vor einigen Mithäftlin-
neuen Middelhoff bekannt machen. Er will seines Lebens in Erinnerung ruft, das war, gen, den verschiedenen Herkunftsgruppen,
ein neues Bild von sich schaffen. Es ist ein im literarischen Sinne, der Moment der Er- die ihm „Schutz“ anbieten. Als ihm ein
literarisches Projekt. weckung. Beginn der Bildungsreise. paar Leute zu viel „Schutz“ angeboten ha-
Dass er im Grunde immer schon eine Die jedoch zunächst vom Himmel direkt ben, beschließen die Vollzugsbeamten, ihn
literarische Figur gewesen ist, das weiß er in die Hölle führt. Der Anfang des Buches besser am Hofgang gar nicht mehr teilneh-
selbst und schreibt es auf: „Jahrzehntelang ist genial. So geht es los: „Freitag, 14. No- men zu lassen. Das gemeinsame Duschen.
bin ich um den Globus gejagt – auch mir vember 2014, 5.50 Uhr. Es ist noch still im Der Ekel. Immer wieder auch seine Eitel-
selbst hinterher. Ich suchte wie ein Abhän- Haupthaus an diesem frühen Herbstmor- keit, die langsam, langsam versiegt. Das
giger die Anerkennung der Medien, den gen, friedlich still, das Dunkel der Nacht erste Wochenende ohne Kamm. Der ver-
Zuspruch des Mentors, das Lob des Eigen- liegt noch über dem Park, dem Bürohaus zweifelte Versuch, irgendwie an einen
tümers. Das Bild von mir, das ich bei an- und dem Reiherbach, nur schemenhaft Kamm zu kommen. Die erste Rasur mit
deren oder in der Öffentlichkeit zeichnen kann man in der Ferne die Stallungen er- einem Einwegrasierer. Immer wieder der
wollte, hatte nichts mehr mit dem Men- kennen.“ Hören Sie das? Das leise Mur- Blick in den Spiegel und das immer neue
schen zu tun, der ich eigentlich bin.“ meln des Reiherbachs. Sehen Sie den Park, Entsetzen: „Oh, mein Gott!“
Ein Mann hat früh ein Bild von sich ent- in der Ferne die Stallungen, so fern, dass Sein erster Friseurbesuch im Knast. Im-
worfen, verwandelt sich diesem Bild an, wir nur ihre Schemen sehen? Was für ein mer war er besessen von seiner Frisur, der
tut alles dafür, die Welt von diesem Selbst- Park. Diese Stille. perfekt sitzenden Frisur. „Man mag mir si-
bild zu überzeugen – und muss dann erle- Als er, der König dieses Reichs, von cherlich in einigen Fällen zu Unrecht Ei-
ben, wie dieses Bild ohne ihn weiterlebt. oben herabkommt, ist die Bühne schon für telkeit unterstellt haben, in dieser Hinsicht
Wie es sich in die Lüfte erhebt, von selbst ihn bereitet: „Als ich die offene Küche be- indes bekenne ich mich zu einem gewissen
fliegt, geliebt, gehasst, vor allem von sich trete, ist die Familie schon an dem langen Perfektionsstreben.“ Sein Leben lang war
selbst geliebt. Er war der Protagonist sei- Holztisch vor der Fensterfront zum Park er „einem Düsseldorfer Salon treu“ gewe-
ner Zeit, grenzenlos ichverliebt – und es versammelt, jeder an seinem angestamm- sen, bevor er zu einem Bielefelder Friseur
sind die besten Passagen des Buches, in ten Platz.“ wechselte, „der Senior soll einst Liz Mohn
DER SPIEGEL 37 / 2017 129
frisiert haben“. Jetzt wird ihm ein Mann
irakisch-tschetschenischer Abstammung
aus Block C empfohlen. Block C, das ist
der Block für Pädophile. Der Mann heißt
Achmed und lehnt schon an der Zellentür,
als Middelhoff ihn aufsucht. Der Kunde
erläutert detailliert seine Vorstellung von
einem perfekten Haarschnitt. Leider kann
der Meister kaum Deutsch. Ein Spiegel
scheint am Arbeitsplatz auch nicht be-
reitzustehen. Als Middelhoff in seine
Zelle zurückkehrt, ruft ihm ein JVA-Mit-
arbeiter zu: „Als Friseur ist der eine Null.“
Ein anderer sagt nur entsetzt: „Oh – mein
– Gott!“
Es gibt einige lustige Stellen dieser Art
im Buch, einige, die sogar von Selbstironie
des Autors zeugen, einige tragische, einige
verrückte, anrührende. Aber wann immer
man bereit scheint, so ganz mit dem Pro-
tagonisten bei seinem Sturz in den Ab-
grund zu fühlen, reißt er das Bild wieder
ein. Er vergleicht seine Situation allen Erns-
tes mit der des Theologen Dietrich Bon-
hoeffer in dessen Todeszelle in der Nazi-
zeit, erkennt Parallelen zwischen dem

ROLF VENNENBERND / DPA


NS-Justizsystem und dem im heutigen
Deutschland. Das regelmäßige Anschalten
des Lichts nachts in seiner Zelle erinnere Von Middelhoff genutzte Villa, Jacht 2009,
ihn an die Foltermethoden von Guantana- Ex-Manager Middelhoff im Gericht 2014
mo. Nein, schlimmer, selbst in einem an- Im Großsein der Größte

„Abenteuerliche Berichte“
Von ähnlicher Qualität sind die Unter-
stellungen, wie der SPIEGEL recherchiert
haben soll: So führt Middelhoff das Blatt
als prototypisch für die Medien an, die
In eigener Sache Thomas Middelhoff und seine Auseinandersetzung in seinem Fall Mitarbeiter der Haftan-
stalt, Gefangene und Besucher angespro-
mit dem SPIEGEL chen hätten, um Informationen und Fotos
zu ergattern – „natürlich gegen entspre-

E inmal erzählt Thomas Middelhoff in


seinem Buch, wie drei SPIEGEL-Re-
dakteure nach Troisdorf ins Rheinland
anonyme Quelle wie für seine anderen
Falschangaben. Das Magazin hatte 2009
fragwürdige Immobiliengeschäfte aufge-
chende Vergütung“. Oder für die Medien,
die „abenteuerliche Berichte“ lancierten,
er lasse sich das Essen ins Gefängnis lie-
gefahren seien. Sie hätten dort ein Inter- deckt. Es folgten noch andere Geschich- fern und die Zelle von einer Putzfrau rei-
view geführt, mit Josef Esch, seinem frü- ten und jahrelang weitere Enthüllungen. nigen. Nichts davon hat der SPIEGEL ge-
heren Vermögensberater, der dann zu Middelhoff wirft dem Magazin eine „He- tan, nichts davon geschrieben.
einem Gegner wurde. Hinterher hätten xenjagd“ vor. Es ist eine Abrechnung, Ausführlich erzählt Middelhoff von
sich die SPIEGEL-Leute von Esch zum aber die Abrechnung ist falsch, denn sie seinem Treffen mit den SPIEGEL-Leuten
Abendessen einladen lassen, die Stim- wimmelt vor Faktenfehlern. Hinzu Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch und
mung sei „weinselig“ gewesen, und Esch kommt, was in all den Jahren zu Middel- Jörg Schmitt im Februar 2009 in der
habe auf der Autofahrt zu seiner Woh- hoffs Niedergang beigetragen hat: selek- Arcandor-Zentrale in Essen, aus seiner
nung gesagt: „Die hann ich im Sack.“ tive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sicht der Anfang einer Kampagne. Sie
Eine süffige Geschichte über den SPIE- „Vom Ressort Deutschland 1 zu Trois- hätten vermutet, dass beim Verkauf der
GEL, so wie Middelhoff sich den SPIEGEL dorf 1“ lautet die Überschrift des Ka- Karstadt-Kaufhäuser an einen Fonds
vorstellt. Nur dass das Interview mit Esch pitels, in dem Middelhoff sich mit dem nicht alles mit rechten Dingen zugegan-
in Hamburg stattfand, nicht in Troisdorf. SPIEGEL befasst. Und schon die ist gen sei. Das habe sein Chefsyndikus in
Dass es kein Abendessen war, sondern falsch. Keiner der drei Redakteure hat dem Gespräch völlig entkräften können.
ein Mittagessen. Dass der SPIEGEL be- je im Ressort Deutschland I gearbeitet. Kurz danach sei ein Artikel erschienen,
zahlte, nicht Esch. Dass die SPIEGEL-Re- Auch Gunther Latsch nicht, über den der ihm dann etwas anderes vorgewor-
dakteure keinen Wein tranken. Mineral- Middelhoff fabuliert: „ohne Dehnungs-A, fen habe: Dort sei es darum gegangen,
wasser. Und was Esch auf der Rückfahrt sondern kurz wie ein Peitschenhieb, das ob er als Arcandor-Chef den Immobilien-
im Auto gesagt haben soll – Esch flog ist ihm wichtig“. Eine frei erfundene Be- entwickler Josef Esch deshalb nicht ver-
übrigens im Privatjet zurück nach Köln –, hauptung. Der Name Latsch spricht sich klagt habe, weil Esch gleichzeitig sein
dafür benennt Middelhoff dieselbe seit je mit langem A. persönlicher Vermögensverwalter ge-

130 DER SPIEGEL 37 / 2017


Kultur

deren US-Gefängnis seien diese Methoden im Buch. Einmal beim Duschen. Das ist nung für besondere Verdienste um die
nach Beschwerden in der Öffentlichkeit so- die bedrohlichste Situation für den schma- jüdische Gemeinschaft in den Vereinigten
fort eingestellt worden. „Auf so viel Ver- len Herrn zwischen den Muskelhäftlingen. Staaten.“
ständnis hoffen Vertreter der deutschen Er versucht, ganz, ganz still zu sein. Ein- Der Orden verpflichtet. In letzter Not,
Wirtschaft indes vergeblich.“ mal, ein einziges Mal, schafft er es nicht. so schreibt Middelhoff, wird er von einem
Auch im Leiden ist der Größenwahn des Die Männer reißen Judenwitze. „Witz“ Vollzugsbeamten aus der Dusche geführt.
Thomas Middelhoff ungebrochen. Er war schreibt Middelhoff in Anführungszeichen, Es hätte ein spannungsreiches, dramati-
der Superman der deutschen Wirtschaft. um zu markieren, dass hier der Spaß sches, bei allem literarischen Erfindungs-
Nun ist er ihr Schmerzensmann. Wenn er für ihn aufhört. Er schreitet ein. Muskel- reichtum ehrliches Buch werden können.
Mithäftlingen Geschenke zu Weihnachten knackis glauben, sie hören nicht richtig. Aber der Wille des Autors, dem eiskalten
macht, ist die Dankbarkeit der Beschenk- Doch der schmale Herr beharrt auf sei- Monsterbild, das Goetz von ihm gezeich-
ten die allergrößte: „Doch der einsame nem Einspruch: „Du hast mich richtig net hat, und dem Neid- und Hassbild, das
und zugleich so dankbare Blick des jungen in der Öffentlichkeit von ihm existiert, ein
Fabio wird mir als mein Geschenk unver- weitgehend widerspruchsfreies Wärmebild
gessen bleiben.“ Ein Mann stellt sich entgegenzusetzen, ist menschlich ebenso
So oft denkt man beim Lesen: Schenken verständlich wie dramaturgisch uninteres-
Sie doch mal was Kleines, ohne es uns selbst ein Bomben- sant. Ein Mann stellt sich selbst ein Bom-
stolz zu präsentieren. Und das ist nicht vor zeugnis aus und nennt benzeugnis aus und nennt es Demut: „Ich
allem ein persönlicher, sondern ein kenne die Fallstricke, die Eitelkeit zu knüp-
literarischer Einwand. Das Büßergewand, es Demut. fen vermag, sie werden mich nicht mehr
das er pflichtgemäß trägt (obwohl er sich fesseln.“
keiner Schuld bewusst ist), die Befreiung verstanden. Solange ich im Raum bin, So ist das mit Fallstricken – sie fesseln
von den materiellen Gütern dieser Erde, wirst du nicht solche Witze über Juden nicht. Sie lassen einen stürzen. Manchmal
seine Arbeit mit den Menschen in Bethel, reißen.“ Versteinerte Mienen. Kopfnicken enthalten schiefe Bilder unerwünschte
die er im Ernst „meine Behinderten“ zu den Kollegen. Middelhoff: „Sie wer- Wahrheiten. In „Johann Holtrop“ schreibt
nennt. Er war im Großsein der Größte. den mich jetzt zusammenschlagen, alle Goetz: „Holtrop hatte natürlich kein Ge-
Und im Kleinsein versucht er, es auch zu fünf, vielleicht noch mehr, aber meine spür dafür, dass das Porträt, das ihn so
sein. Das ist naturgemäß etwas schwieriger. christlich geprägten Werte und Prinzipien übertrieben positiv zeigte, auf andere Leu-
Der neue Anzug passt noch nicht. Im- sind nicht verhandelbar. Im Jahr 2000 te verlogen, penetrant oder gar richtig ab-
merhin merkt er es immer wieder selbst. verlieh mir die United Jewish Associa- stoßend wirken, ihm dadurch insgesamt
Das ergibt dann wirklich geniale Stellen tion als erstem Deutschen eine Auszeich- sogar schaden könnte.“

wesen sei. Auch die früheren Karstadt- So wenig wie die Tatsache, dass der dem Mann in der Kreide stand, dem er
Chefs, die einen miesen Vertrag mit SPIEGEL ihm nicht einfach so klein- als Arcandor-Chef auffällig hohe Kauf-
Esch zulasten der Firma gemacht hätten, kariert eine Festschrift vorgehalten hatte, hausmieten zahlte. Ein klassischer Inte-
habe er ohne Not verschont. die er herausgegeben hatte. Es war eine ressenkonflikt. Middelhoff aber empört
Middelhoff erweckt den Eindruck, nach Geburtstagsfestschrift auf Kosten des das Verhalten des „SPIEGEL-Trium-
diesen Dingen hätten ihn die SPIEGEL- kurz vor der Pleite stehenden Arcandor- virats“; er beruft sich auf den früheren
Leute in Essen vorher gar nicht gefragt. Konzerns. Und geehrt wurde damit sein Chefredakteur Stefan Aust, der ihm
Das Gegenteil ist richtig. Wie die Ton- privater Freund und Förderer aus alten gesagt habe, unter ihm als SPIEGEL-
bänder von damals beweisen, ging es Bertelsmann-Zeiten Mark Wössner. Des- Chef wäre die Artikelreihe über Mid-
ausführlich um diese Fragen; Middel- halb wurde Middelhoff unter anderem delhoff nicht erschienen.
hoffs Erklärung dazu stand auch in der wegen Untreue verurteilt. Dass er sich Spürbar wird hier eine Distanz zu
Geschichte „Ein grandioses Geschäft“ erst nach der Arcandor-Insolvenz bereit journalistischen Arbeitsprinzipien,
(SPIEGEL 9/2009). Ungerührt behauptet erklärte, einen Teil der Kosten zu über- etwa wenn Middelhoff sich bitter über
er: „Diese Fakten waren dem SPIEGEL nehmen, auch das schreibt er nicht. die langen Kataloge mit kritischen Fra-
bekannt, wurden aber nicht berichtet.“ Der SPIEGEL messe mit zweierlei Maß, gen beklagt, die der SPIEGEL ihm stän-
Andere habe er selbst dem SPIEGEL behauptet Middelhoff schließlich: Bei dig vor den Veröffentlichungen ge-
„freiwillig“ mitgeteilt, etwa dass der Golf SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein schickt habe. „Wer diese Fragen beant-
seiner Tochter und sein Mercedes 500 habe SPIEGEL ONLINE eine Villa in wortet, hat bereits verloren“, jammert
auf eine Esch-Firma angemeldet waren. Südfrankreich als Ausdruck von „Savoir- er. Dass dies nicht nur eine rechtliche
Falsch, diese Informationen hatte der vivre“ gewürdigt; sein Anwesen hinge- Verpflichtung für Journalisten ist, son-
SPIEGEL schon vorher, aus anderer Quel- gen im exklusiven Saint-Tropez an der dern für den Betroffenen eine Chance,
le, zugespielt bekommen. Übergeben Côte d’Azur als Inbegriff von Dekadenz Vorwürfe rechtzeitig vor Erscheinen
hatte Middelhoff eine Abrechnung von angeprangert. aufzuklären, will Middelhoff offenbar
Flügen, die er mit Eschs Privatjets ge- Der Unterschied, den Middelhoff aus- nicht sehen.
macht hatte. Allerdings hatte das Maga- blendet: Augstein gehörte das Haus, Vielleicht aber trieb den Medienprofi,
zin da schon recherchiert, ob er privat Middelhoffs Villa gehörte über eine ver- der jahrelang an der Spitze des Medien-
auf Kosten der Firma geflogen war. Aus schachtelte Konstruktion einer Beteili- konzerns Bertelsmann stand, auch ein
der Aufstellung ging dann überraschend gungsgesellschaft, in der ein Prokurist anderes Motiv: Den SPIEGEL konfron-
hervor, dass er private Flüge, die er von des Middelhoff-Vermögensverwalters tierte er oder sein Verlag jedenfalls
2002 bis 2007 absolviert hatte, erst nach Josef Esch als Eigentümer firmierte. nicht vorher mit den Vorwürfen. Motto:
Jahren – nämlich 2008 – bezahlt hatte. Es ging also darum, dass Middelhoff lieber falsch als gar nicht.
Genau das erwähnt er im Buch nicht. mit seinem Hang zum Luxus genau bei Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt

DER SPIEGEL 37 / 2017 131


GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL
Schriftsteller Heinichen: „Folge der Spur des Geldes“

GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL

Journalistin Reski: „Diener des Staates im wahrsten Sinne des Wortes“

132 DER SPIEGEL 37 / 2017


Kultur

„Mafia? Immer die anderen!“


SPIEGEL-Gespräch Beide recherchieren über Korruption und Verbrechen, beide ziehen
sorgsam die Grenzen zwischen Fiktion und Realität. Petra Reski und Veit Heinichen,
die bekanntesten deutschen Autoren in Italien, sehen ihr Herkunftsland im Dämmerschlaf.

Heinichen, 60, arbeitete als gelernter Be- manischen und der slawischen Welt. Hier so grausam waren diese Geschichten.
triebswirtschaftler zunächst in einem Auto- in Triest geht es um Begegnung, ums An- Manchmal hilft es, einfach die Zeitung zu
mobilkonzern, bevor er in den Buchhandel und kommen wie auch ums Weggehen. lesen. Zum Thema Kapitalströme kann
später ins Verlagswesen wechselte. Seit SPIEGEL: Sie beide schreiben Bücher übers man ohne viel Mühe erfahren, dass auf
20 Jahren lebt Heinichen in seiner Wahlhei- Verbrechen. Wo finden Sie Ihre Stoffe? Druck der USA die halbe Welt eine Ver-
mat Triest. Die Hauptrolle in seinen Kriminal- Reski: Ich suche nicht. Diese Stoffe kom- einbarung zum „Automatischen Informa-
romanen spielt Commissario Laurenti, meh- men zu mir. Wenn man Staatsanwältinnen tionsaustausch“ von Finanzinformationen
rere Bücher wurden von der ARD verfilmt. Hei- kennt und Anwälte, wenn man in Südita- unterschrieben hat, allerdings in den USA
nichen thematisiert in seinen Werken vor lien Freunde hat und gut vernetzt ist, dann selbst einige Staaten wie Delaware reine
allem die organisierte Kriminalität, deren Ver- kann man dem Thema Mafia gar nicht Finanzparadiese sind. Gerade beschäftigt
strickung mit Politik und Wirtschaft. Sein neu- entgehen. Allerdings interessiert mich die mich, dass es nicht nur in Luxemburg, son-
er Roman „Scherbengericht“ ist gerade bei Psyche der Mafiosi weniger als die der so- dern auch in Genf einen Freihafen gibt. Da
Piper erschienen. genannten Grauzone: die moralischen Ab- liegen gigantische Sachwerte aus Kunst und
gründe der vermeintlich Guten. Zum Bei- Archäologie. Durch die Kriege in Syrien
Reski, 59, Journalistin und Autorin, begann spiel beim Geschäft der Mafia mit den und Irak ist der Markt voll von geraubter
1988 ihre Laufbahn als Redakteurin im Aus- Migranten, ich denke da an den Skandal Kunst, dafür gibt es Abnehmer bis hin zu
landsressort des „Stern“. Reski ist im Ruhr- um die römische „Mafia Capitale“ – wo namentlich bekannten amerikanischen Mu-
gebiet aufgewachsen und lebt seit 1991 in scheinbar ehrbare Beamte und Politiker seen. Oft ist die beste Recherchedevise: Fol-
Venedig. Seit Jahren recherchiert und schreibt ihre Deals mit der Unterwelt machten. Ich ge der Spur des Geldes.
sie über die italienische Mafia. Sie hat Sach- will die Mafia auch nicht als das „absolut SPIEGEL: Vom Schwarzwald- bis zum Sylt-
bücher und Romane veröffentlicht, in die sie Böse“ erzählen –, weil das diejenigen der und Sizilien-Krimi boomt der Markt. Ge-
ihr Wissen über die Mafia einfließen lässt. Im Verantwortung enthebt, die ihr die Hand hört der Triest-Krimi in diese Kategorie?
Juli kam Reskis Roman „Bei aller Liebe“ im halten und sich mit ihr Interessen teilen. Heinichen: Natürlich kriege auch ich jeden
Verlag Hoffmann und Campe heraus. Es geht mir um Moral. So wie Patricia Monat 10 000 Euro vom Tourismusamt …
Highsmith oder Graham Greene, deren Nein, nun mal im Ernst: Solche Pilgerscha-
SPIEGEL: Frau Reski, Herr Heinichen, Sie Bücher ich nie als Krimis gelesen habe, ren gibt es Gott sei Dank nicht. Aber diese
zählen zu den profiliertesten Autoren im sondern als Gesellschaftsromane. Stadt ist nun mal ein Ort, an dem sich viele
Land, die sich mit dem Phänomen organi- Heinichen: Natürlich, der Kriminalroman ist Linien treffen. Für einen Roman, in dem
sierte Kriminalität beschäftigen. Hilft es, ja genau das. In Italien nennt man dieses es um den mysteriösen Tod eines Triesti-
Ausländer zu sein, um spezifisch italieni- Genre „Giallo“. Man kann es unterschied- ner Exzentrikers und Waffensammlers
sche Probleme erkennen und benennen lich auslegen. Entweder nach „Derrick“- geht, habe ich über etliche Jahre mehr als
zu können? Art – das am meisten verbreitete Format, hundert Zeitzeugen befragt. Ausgangs-
Reski: Nein. Vor allem dann nicht, wenn in dem nur drei Gruppen vorkommen, punkt waren zwei ungelöste Mordfälle aus
man Italien mit deutschen Maßstäben nämlich: Täter, Opfer und Ermittler. Da den Siebzigern, die wiederum auf die Zeit
misst. Deswegen halte ich es für einen Feh- wird am Ende der Fall gelöst, und die Welt der Nazikollaboration zurückgehen.
ler, einen Journalisten just in dem Augen- ist wieder in Ordnung. Bei den Franzosen SPIEGEL: Wie sind Sie auf diese Fälle ge-
blick wieder aus Italien abzuziehen, wenn hingegen, im „Noir“, ist die Gesellschaft kommen?
er gerade angefangen hat, jenseits der Kli- immer mit im Spiel. Was ich versuche: auf Heinichen: Sie sind in den „Europäischen
schees zu denken. Damit der nächste kom- der Basis präziser und zum Teil jahrelanger Tagebüchern“ von Gustav René Hocke er-
men und von vorn anfangen kann. Recherchen ein Spektrum der Realität ab- wähnt. Aus reiner Neugier habe ich mich
SPIEGEL: Sie sind selbst Journalistin. zubilden und daraus Fragen abzuleiten. auf diese Spur begeben.
Reski: Eben. Deshalb weiß ich, wovon ich SPIEGEL: Ihrem Kommissar Proteo Laurenti SPIEGEL: Aber das, was am Ende heraus-
spreche. weisen Sie komplizierte Fälle zu: Men- kam – ist das noch Fiktion oder nicht schon
Heinichen: Man kann nur über das schrei- schen-, Mädchen- oder Organhandel, eher Dokumentation?
ben, was man kennt. Italien ist im Norden grenzüberschreitende Finanzkriminalität, Heinichen: Nein, Fiktion. Obwohl bei der
Europas noch immer mit einem Negativ- alter Rassismus und neuer Faschismus. Wie Arbeit in den Archiven schon die Gefahr
klischee besetzt, das ursprünglich aus dem kommen Sie an die Wirklichkeit so dicht besteht, sich eine Staublunge zu holen.
Ersten Weltkrieg stammt. Und das besagt: heran? Mein Handwerk beginnt beim Lesen. Diese
Italien hat damals die Achse aufgegeben, Heinichen: Ich reise, ich gehe in Archive, Geschichten gibt es nicht im Internet. Da
den Verbund mit Berlin und Wien. Unzu- und natürlich gibt es über Jahrzehnte ge- stößt du plötzlich auf Spuren, die bis hin
verlässige Gesellen, um es freundlich zu wachsene Kontakte. Für meinen Roman zu Roberto Calvi führen, dem sogenannten
sagen. Aber es geht ja nicht allein um Ita- über den Handel mit menschlichen Orga- Bankier Gottes, der 1982 erhängt unter der
lien. Ich lebe und arbeite in einem Grenz- nen, „Tod auf der Warteliste“, war ich in Blackfriars Bridge gefunden wurde. Die
gebiet, an einem europäischen Schnitt- der Türkei – und habe überraschenderwei- Kunst besteht dann darin, das Ganze zum
punkt – in Triest. Mich interessiert der se festgestellt, dass an die Bosse leichter Roman zu verdichten, und dazu braucht
Zusammenprall der mediterranen Welt mit heranzukommen ist als an die Opfer. Ich man nicht nur einen guten Plot, sondern
der des Nordens, der lateinischen, der ger- konnte danach nächtelang nicht schlafen, vor allem glaubhafte Figuren.
DER SPIEGEL 37 / 2017 133
Kultur

SPIEGEL: Frau Reski, von Ihrer Freundin macher aus Kärnten und Kroatien mit SPIEGEL: Sie spielen auf den Verleger des
Donna Leon stammt der Satz: „Alles, was Italienern von der rechten Lega Nord „Freitag“ und SPIEGEL-Miteigentümer
ich über die Mafia weiß, weiß ich von aktiv. Ich habe darüber geschrieben und Jakob Augstein an, der Ihnen mangelnde
Petra Reski.“ Ihre Anti-Mafia-Staatsanwäl- bin sogar für ein Vorwort verklagt wor- journalistische Sorgfalt bei einem Artikel
tin Serena Vitale wirkt wie eine Art in den – auf Geschäftsausfälle in Höhe über den Prozess eines italienischen Gas-
Netzstrümpfen wiedergeborener Nino Di von 33 Millionen Euro. Ich wurde frei- tronomen gegen den MDR vorwarf und
Matteo – also wie der Starstaatsanwalt gesprochen, die Kläger sind mittlerweile Ihnen die Kosten aufgebürdet hat. Welche
aus Palermo. Fiktion und Wirklichkeit in alle verurteilt. Lehre ziehen Sie als Autorin daraus?
einem? SPIEGEL: Wäre es einfacher, im Stil des be- Reski: Mich hat ja nicht nur Augstein fallen
Reski: Natürlich sind in diese Serena Vitale rühmten Camilleri über fiktive Städte zu lassen, sondern auch die Gewerkschaft Ver-
viele meiner Erfahrungen mit einer be- schreiben statt über Triest oder Palermo? di, aus der ich deswegen nach 30-jähriger
stimmten Generation von Anti-Mafia- Heinichen: Ich bin hier in Triest eine Person Mitgliedschaft ausgetreten bin. Aber unter
Staatsanwälten in Palermo eingeflossen. des öffentlichen Lebens. Mir ist es wichtig, dem Strich war es eine positive Erfahrung –
Viele von ihnen sind bis heute die Hoff- dass meine Bücher sofort ins Italienische wegen der Unterstützung meines Crowd-
nungsträger vieler Italiener. Anfang der und ins Slowenische übersetzt werden. fundings von vielen engagierten Privatper-
Neunzigerjahre, als in Berlin die Mauer Dass also Transparenz entsteht. sonen. Da ich weiter über die Mafia in
in Trümmer gefallen war, glaubte man, SPIEGEL: Donna Leon hat entschieden, dass Deutschland schreiben will und darüber,
dass auch das Fundament der Mafia ihre Buchreihe um den Commissario Bru- wie sie ihre Geschäfte macht, geht das
bröckeln könne. In den folgenden Jahr- netti gerade nicht ins Italienische übersetzt sicher besser über die Romane. Die Gefahr,
zehnten habe ich miterlebt, wie anders es wird – in andere Sprachen hingegen gern. dafür verklagt zu werden, ist geringer.
gekommen ist. Auch was das mit diesen Heinichen: Na, das ist doch purer Blödsinn. SPIEGEL: Worum genau geht es in Ihrem ak-
Ermittlern, die sich als Diener des Staates Wenn es eine Stadt gibt in Italien, wo nun tuellen Rechtsstreit?
im besten Sinne des Wortes betrachten, wirklich alle eine Fremdsprache sprechen, Reski: Ich habe keine Tatsachenbehaup-
gemacht hat. dann ist es Venedig. Und wer glaubt, dass tung aufgestellt, die bereits widerlegt war,
SPIEGEL: Der Großmeister des italienischen in Leons Romanen die großen Mysterien sondern in der inkriminierten Passage über
Krimis, Andrea Camilleri, hat mit einem enthüllt würden, sollte bedenken: Dann eine Gerichtsverhandlung und deren Er-
Buch über die Polizeibrutalität beim G-8- könnte sie nicht jedes Jahr einen neuen gebnis berichtet – klassische Gerichts-
Gipfel in Genua 2001 gewaltige politische Roman veröffentlichen. berichterstattung.
Wirkung erzielt. Wie viel kann, wie viel Reski: Was die Gefahr für Rechercheure Heinichen: Ich würde mich sowieso wei-
soll ein „Giallo“ bewegen? angeht, muss ich sagen: Die größte Unter- gern, von Mafia zu sprechen, ohne dass
Reski: Mir würde es reichen, einen ge- stützung für meine Bücher, vor allem Sach- genau benannt wird, was das ist. Es sind
wissen Skeptizismus zu stimulieren – an- bücher über die Mafia, hatte ich in Italien, angeblich immer nur die anderen. Dabei
stelle der Mafiafaszination, der auch keineswegs in Deutschland. Dort wurde ist die Mafia in Wahrheit ein internatio-
viele Autoren erliegen. Politische Wir- ich verklagt und bedroht. Deshalb hoffe naler Großkonzern, der kein Geschäfts-
kung? Dass ich eine persönliche Sym- ich, dass auch meine Romane ins Italieni- feld unberührt lässt. Die Mafia hat keine
pathie für Beppe Grillos Fünf-Sterne- sche übersetzt werden – die Menschen hier Nation. Der Begriff ist nach Filmen wie
Bewegung habe, ist bekannt, schlägt lieben den Blick eines Ausländers auf ihr „Der Pate“ zur Folklore verkommen.
sich in meinen Romanen aber nicht nie- Land. Das grenzt fast an Selbstgeißelung. Doch inzwischen sind wir zwei Genera-
der. Dadurch, dass ich noch die letzten SPIEGEL: Eines Ihrer Lieblingsthemen ist die tionen weiter. Die Söhne der Mafiosi ha-
Jahre unter Giulio Andreotti und später Blindheit der Deutschen gegenüber dem ben studiert und sitzen in verantwortungs-
fast 20 Jahre Berlusconi mitbekommen Phänomen Mafia. Nach dem Motto: Als vollen Positionen. Organisiertes Verbre-
habe, fällt es mir einfach schwer, mich Krimi, der in Italien spielt, lesen wir das chen hat im Übrigen eine klare Definition:
mit den traditionellen Parteien, auch den gern. Aber als Tatsachenbericht über die das Zusammenkommen von mehr als zwei
sogenannten Linken, anzufreunden. So- Mafia in Deutschland? Lieber doch nicht. Personen, die unter Umgehung von Ge-
lange die Fünf-Sterne-Bewegung nicht Reski: Bei meinen Auftritten stelle ich setzen versuchen, ihre Macht und ihren
von der Mafia unterwandert ist, hat sie schon großes Interesse bei den Lesern fest. Reichtum auszubauen.
meine Sympathie. Und Beppe Grillo im Aber dank des deutschen Presserechts SPIEGEL: Wie lässt sich dem beikommen?
Besonderen. geht jeder Journalist ein hohes persönli- Heinichen: Italien ist das einzige Land in
Heinichen: Meinen Leser kann, will und ches Risiko ein: Klagen ohne Ende und- Europa, dessen Staatsanwaltschaft frei von
darf ich nicht beeinflussen durch voraus- Verleger, die dich fallen lassen. politischer Weisung ist. Hier kann, anders
eilende Wertung. Aber ein Autor als in Deutschland etwa der Ermittler
kann, als teilnehmender Beobachter, Winfried Maier in der Schreiber-Kohl-
Dinge ins Blickfeld rücken, die an- Affäre, kein Staatsanwalt in seiner
sonsten in der zunehmenden Me- Arbeit behindert werden. Das ist ein
dienkonzentration untergingen. Wie fundamentaler Vorteil.
zum Beispiel im Fall der milliarden- Reski: Die italienischen Ermittler be-
schweren Pleite der Hypo Alpe mängeln außerdem regelmäßig, dass
GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL

Adria, die beileibe kein „Kärntner das deutsche Geldwäschegesetz voll-


Schmarrn“ war, wie oft behauptet kommen unzureichend ist. Die un-
wurde – sondern ein gesamteuro- längst hinausposaunte vermeintliche
päisches Phänomen mit enormen Neufassung des deutschen Antimafia-
Auswirkungen. Hier, von meiner rechts halte ich für pure Wahlpropa-
Terrasse aus, sieht man den kroati- ganda, für Augenwischerei. Ich bin im-
schen Küstenort Savudrija. Dort mer wieder überrascht vom Gottver-
waren in den Neunzigern Geschäfte- trauen der Deutschen in ihre Gesetze
Heinichen, Reski, SPIEGEL-Redakteure* und vor allem in diejenigen, die diese
* Walter Mayr und Elke Schmitter in Triest. „Vergiss den Datenschutz!“ Gesetze machen.
134 DER SPIEGEL 37 / 2017
SPIEGEL: Spielt da die Datenschutzobses-
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
sion vieler Deutscher eine Rolle? nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Reski: Natürlich. Die italienischen Staats-
anwälte sagen: Wenn wir, wie in Deutsch- Belletristik Sachbuch
land, keine Telefone abhören dürften, wür-
den wir rein gar nichts erfahren. 1 (1) Elena Ferrante Die Geschichte 1 (1) Andreas Michalsen Heilen mit
Heinichen: Italien ist in Sachen Ermitt- der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro
lungen seit Jahrzehnten die europäische
Avantgarde. Das Eigenbild der Deut- 2 (3) Walter Moers Prinzessin Insomnia & 2 (15) Thorsten Schulte
schen in dieser Hinsicht ist realitäts- der alptraumfarbene Nachtmahr Kontrollverlust Kopp; 19,95 Euro
fremd. Solange in Deutschland die Knaus; 24,99 Euro
Landeskriminalämter beispielsweise über 3 (9) Axel Hacke Über den Anstand
unterschiedliche Database, also Infor- 3 (2) Maja Lunde in schwierigen Zeiten und die Frage,
matiksysteme, verfügen, gibt es dort ein Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro wie wir miteinander umgehen
Kunstmann; 18 Euro
permanentes, selbst gemachtes Sicher-
4 (5) Colson Whitehead
heitsproblem. Und apropos Datenschutz: 4 (3) Peter Wohlleben Das geheime
Underground Railroad Hanser; 24 Euro
Solange ich mit Kreditkarte bezahle Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
und mich dabei von der Videokamera des 5 (6) Elena Ferrante Meine geniale
Supermarkts filmen lasse, solange ich Freundin Suhrkamp; 22 Euro
5 (5) Yuval Noah Harari
überhaupt mobil telefoniere – vergiss den Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
Datenschutz! 6 (–) Ulla Hahn 6 (4) Eckart von Hirschhausen Wunder
SPIEGEL: Wie ist es bei Ihnen persönlich, Wir werden erwartet wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
was die Gefährdung angeht? DVA; 28 Euro
Heinichen: Gefahr? Eine Rufmordkam- Geschichte einer Linken: Ulla 7 (6) Arun Gandhi
pagne von eineinviertel Jahren wegen an- Hahn erzählt in ihrem Wut ist ein Geschenk DuMont; 20 Euro
geblicher Pädophilie gegen mich gab es, autobiografischen Roman
von einer Selbstfindung in 8 (2) Boris Palmer Wir können
ja. Mit Aufschriften an meiner Grund- den Sechziger- und Siebziger-
stücksgrenze: „Wir wissen, wo du lebst“. jahren nicht allen helfen Siedler; 18 Euro

Das war ein Profi. Wenn du auf dem Pa- 9 (8) Andrea Wulf Alexander von Humboldt
pier weder Fingerabdrücke noch DNA- 7 (7) Carmen Korn
und die Erfindung der Natur
Spuren hinterlässt, haben die Ermittler Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro
C. Bertelsmann; 24,99 Euro
ein Problem. Unter meinen Lesern war
8 (10) Ingrid Noll 10 (11) Jens Gnisa Das Ende
einer der damals berühmtesten Profiler,
Halali Diogenes; 22 Euro
der Gerechtigkeit
und der meldete sich und war behilflich. Herder; 24 Euro
Am Ende war man sicher, dass es mit ei- 9 (14) Leïla Slimani 11 (–) Heinrich August Winkler Zerbricht
nem Buch zu tun hatte – „Die Toten vom Dann schlaf auch du Luchterhand; 20 Euro der Westen? C. H. Beck; 24,95 Euro
Karst“ –, in dem es um Vertreibungen aus
Jugoslawien nach dem Krieg ging, ein 10 (4) John Grisham 12 (–) Sy Montgomery Rendezvous mit
Streitthema zwischen den Linken und der Das Original Heyne; 19,99 Euro einem Oktopus mare; 28 Euro
extremen Rechten in Italien. Aber der
Schuldige in dieser Sache ist noch immer 11 (9) Mariana Leky Was man von hier 13 (7) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive
nicht gefunden. aus sehen kann DuMont; 20 Euro Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro

Reski: Ich habe keine Leibwächter und will 12 (8) Karin Slaughter 14 (12) Ijoma Mangold
auch keine haben. Es ist doch pervers, dass Die gute Tochter HarperCollins; 19,99 Euro Das deutsche Krokodil Rowohlt; 19,95 Euro
man schon voraussetzt: Wenn du über die
Mafia schreibst, kriegst du Probleme. Nor- 13 (12) Elena Ferrante Die Geschichte 15 (10) Roger Willemsen
mal wäre, dass du darüber schreibst und eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro
dann verteidigt wirst. Wenn Journalisten
14 (16) Sebastian Fitzek 16 (–) Alexander Gorkow Hotel
mit mir sprechen, komme ich mir biswei-
Das Paket Droemer; 19,99 Euro Laguna Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
len vor wie eine Ameisenforscherin – als
hätte ich so ein ganz exotisches Hobby. 17 (–) Noam Chomsky Requiem für den
15 (11) Arundhati Roy Das Ministerium
Und das als Frau, da heißt es gleich: Die amerikanischen Traum
des äußersten Glücks S. Fischer; 24 Euro
hat sich wohl verbissen. Ein Mann würde Kunstmann; 20 Euro
für seine Beständigkeit gelobt. Aber es ist 16 (17) Jussi Adler-Olsen
doch so: Wenn der Kläger im Gerichtssaal Selfies dtv; 23 Euro
dem Anwalt deines Verlags die Hand auf Der amerikanische
den Arm legt und ihm mitteilt: „Sagen Sie 17 (13) Virginie Despentes Intellektuelle über soziale
Ungerechtigkeit und die
ihr, beim nächsten Mal soll sie mit sechs Das Leben des Vernon Subutex wachsende Konzentration
Polizisten kommen“, dann weißt du, was Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro von Reichtum und Macht
los ist.
SPIEGEL: Was bewirkt das bei Ihnen? 18 (15) Lucinda Riley Die Schattenschwester 18 (–) Douglas Preston Die Stadt des
Goldmann; 19,99 Euro Affengottes
Reski: Ich hätte die Protagonisten meiner DVA; 20 Euro
Romane nicht so erfinden können, wenn 19 (–) Lize Spit 19 (17) Remo H. Largo
ich diese Erfahrungen nicht gemacht hätte. Und es schmilzt S. Fischer; 22 Euro Das passende Leben S. Fischer; 24 Euro
So gesehen kann ich nur dankbar sein.
SPIEGEL: Frau Reski, Herr Heinichen, wir 20 (–) Clive Cussler / Dirk Cussler 20 (13) Jürgen Kaube Die Anfänge
danken Ihnen für dieses Gespräch. Geheimakte Odessa Blanvalet; 22,99 Euro von allem Rowohlt Berlin; 24,95 Euro

DER SPIEGEL 37 / 2017 135


Charmatz darf, er muss an diesem Sonn-
tag die erste Spielzeit von Chris Dercon
eröffnen. „Fous de danse – Ganz Berlin
tanzt“ heißt das zehnstündige Programm,
das Charmatz am 10. September auf dem
Vorfeld des ehemaligen Flughafens Tem-
pelhof, der neuen Außenspielstätte der
Volksbühne, präsentiert. Der Eintritt ist
frei, „everyone welcome“.
Charmatz’ Einsatztruppe besteht aus

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


rund 200 Mitwirkenden, die das Team der
neuen Volksbühne in ganz Berlin rekrutiert
hat. Verteilt über den Tag – man kann je-
derzeit kommen und gehen – präsentieren
hier Jugendliche ihre Hip-Hop-Kunst, Ver-
Tanzkünstler Charmatz (M.) bei den Proben zu „Levée“ treter der aktuellen Berliner Tanzszene zei-
gen Soli. Aber auch die belgische Tänzerin
und Choreografin Anne Teresa De Keers-
maeker, ein absoluter Star des internatio-

Der Mann an nalen Betriebs, tritt auf. Zusammen mit re-


konstruierten Werken legendärer Künstle-
rinnen wie Isadora Duncan und Lucinda
Childs wird aus diesen Elementen eine Art
der Volksbühnenfront Überblicksschau über die Tanzgeschichte
der vergangenen hundert Jahre.
Im Mittelpunkt steht aber die Einladung
Theater Der Choreograf Boris Charmatz an das Publikum, sich zu beteiligen. Schon
eröffnet am Wochenende die erste Spielzeit des zum Auftakt gibt es ein „Public Warm Up“,
später dann einen „Giant Soul Train“ im
umstrittenen Intendanten Chris Dercon. Stil der Siebziger, und Boris Charmatz
selbst will die Zuschauer dazu bewegen,

D
ie ungeliebte Frage kommt nach terschriftenliste. Mehr als 40 000 haben un- mit ihm sein Stück „Levée“ zu tanzen. Es
zehn Minuten. Boris Charmatz, in- terzeichnet. Eine Kampfansage. besteht aus 25 Einzelbewegungen, die mög-
ternational erfolgreicher Choreo- Dercon gegen Castorf, das ist nicht nur lichst fließend ineinander übergehen sollen
graf, will an diesem Vormittag im Ballett- eine Frage unterschiedlichen Auftretens, – um das einzustudieren, hat er die jungen
saal der Berliner Volksbühne mit einer die vermeintliche Abgehobenheit des neu- Tänzer in den Ballettsaal der Volksbühne
Gruppe junger Tänzer ein Stück von ihm en gegen den proletarischen Gestus des al- gebeten. Sie sollen bei der Premiere am
proben. Zum Kennenlernen sitzen alle im ten Intendanten. Es ist ein Kampf der Ideo- Sonntag als eine Art Vortänzer agieren, an
Kreis und erzählen, woher sie kommen: logien. Um die Frage, was Stadttheater im denen sich die hoffentlich mitmachenden
Lissabon, Ljubljana, Freiburg, Moskau. 21. Jahrhundert ausmacht. Wie es aussehen Zuschauer orientieren können. „Und wenn
Charmatz sagt, er sei heute Morgen um muss oder aussehen kann. Welche Struk- niemand mitmachen will – auch gut“, sagt
halb sechs in Brüssel aufgestanden. turen, welche Inhalte, welche Menschen der Choreograf ohne Trotz in der Stimme,
Wie? Ob er nicht in Berlin wohne, will es braucht. Ein Nebenschauplatz bei die- „dann führen wir es einfach so auf.“ In Ren-
eine der jungen Frauen wissen. sem Konflikt ist die Frage, wem die Stadt nes, wo Charmatz seit 2009 das von ihm
Das ist sie, die Frage, die Charmatz, als gehört: den Alteingesessenen (gefühlt ist gegründete Musée de la danse leitet, seien
„assoziierter Künstler“ Teil der neuen Lei- das jeder, der schon länger da ist als sein 10 000 Menschen gekommen, 800 hätten
tung der Berliner Volksbühne, in Verle- Nachbar) oder denen, die aus ganz Europa spontan mitgetanzt, berichtet Charmatz.
genheit bringt. Nein, sagt er und guckt et- in die angesagte Stadt kommen, um hier „Aber Rennes war unsere Stadt.“
was gequält, es sei nicht so einfach, er für kurze Zeit zu feiern oder zu arbeiten. Für besonders Eifrige gibt es eine Ein-
habe drei Kinder, die ließen sich nicht so In diesem Konflikt ist die Frage, wo je- führung in die Bewegungsabläufe von „Le-
einfach verpflanzen, und er wisse nicht, mand seinen Wohnsitz hat, eine Waffe. vée“ im Internet, aber die Klickzahlen sind
wie sich die Dinge an der Volksbühne ent- Der französische Choreograf Boris nicht sehr ermutigend; bisher dienten die
wickelten. „Vielleicht wird es der totale Charmatz, 44, ein Mann mit ausgesprochen Videos vor allem den Anhängern der alten
Albtraum“, sagt er und zögert kurz, „so ruhigem, höflichem Auftreten, steht an der Volksbühne dazu, sich über die Neuen lus-
wie bisher.“ Volksbühnenfront zwischen alter und tig zu machen. Banal, lautete das schnelle
Die Berliner Volksbühne am Rosa-Lu- neuer Intendanz in der allerersten Reihe. Vorurteil. Tatsächlich erschließt sich der
xemburg-Platz, das wissen selbst Leute, Charmatz ist bekannt für seine komplex Reiz von Charmatz’ Choreografie nicht,
die sich sonst nicht fürs Theater interessie- gedachten Stücke, gerade wurde beim Man- wenn man die Elemente einzeln betrachtet,
ren, hat einen neuen Intendanten, Chris chester International Festival eine Vorauf- so, wie sie im Internet präsentiert werden.
Dercon, zuletzt Chef des bedeutenden führung seiner „10 000 Gesten“ bejubelt, Erst während der dreistündigen Proben,
Londoner Kunstmuseums Tate Modern. deren offizielle Uraufführung am 14. Sep- an deren Ende die Gruppe das Stück ein-
Der gebürtige Belgier Dercon hat im Juli tember in Berlin stattfinden wird. Mit Der- mal durchgetanzt hat, wird die Idee sicht-
nach 25 Jahren den gebürtigen Ostberliner con und dessen Programmleiterin Marietta bar – beim Mitmachen begreift man den
Frank Castorf abgelöst. Eine Entscheidung Piekenbrock verbindet den Choreografen Clou vermutlich deutlich schneller.
der Berliner Kulturpolitiker aus dem Jahr eine langjährige Zusammenarbeit. So sagte Die Parallelität zwischen den einzelnen
2015, gegen die sich jetzt noch einmal Wi- er ihnen seine Mitarbeit zu, als noch nicht Bewegungen ist besser zu erkennen, wenn
derstand formiert hat, in Form einer Un- abzusehen war, auf was er sich da einließ. eine in die andere übergeht, die Komple-
136 DER SPIEGEL 37 / 2017
Kultur
Fragen Sie Ihren Buchhändler
xität einzelner Gesten wird deutlich, ihre
Eleganz und Dynamik. Vor allem aber die
Dynamik der Gruppe: Es ist nicht genau
e n Herbstausgabe!
festgelegt, wann der Übergang von einer
Bewegung in die nächste erfolgt, es gibt nach der neu
keinen Chef. Einmal beginnt die eine Tän-
zerin, dann eine andere. So wird aus der
Truppe eine Gemeinschaft von Individuen,
keine Masse von menschlichen Präzisions-
automaten. Und plötzlich füllen sich Char-
matz’ vorher etwas hochtrabend klingende
Worte, er wolle den Begriff Volksbühne
„neu denken“ und der Einzelne solle „Teil
der Bewegung“ werden, mit Substanz.
Charmatz ist ein guter Lehrer, empa-
thisch, aufmerksam. Jedes der einzelnen
Elemente hat einen Namen: „washing“,
„snake“, „helicopter“. Während die Stu-
denten sich die Reihenfolge einprägen, ver-
sucht der Choreograf, die deutschen Wör-
ter zu lernen: „Hubschrauber – das Hub-
schrauber? Ah, der. Wie Staubsauger.“
Die Sprache ist ein ähnlich heikler Punkt
wie der Wohnsitz. Noch spricht Charmatz
in Interviews lieber Englisch, dabei ist sein
Deutsch nicht schlecht. Seine Mutter war
Deutschlehrerin; der Choreograf hat als Ju-
gendlicher mit seinen Eltern die Sommer-
ferien oft in Berlin verbracht, hier lernte
er die deutsche Kultur kennen, erzählt er,
von Schwitters bis Punk. „Ich kannte das
Gesamtwerk von Lubitsch, bevor ich mei-
nen ersten Disney-Film gesehen habe.“
Für viele Freunde der alten Volksbühne
ist Charmatz trotzdem ein Mann aus dem
globalisierten Kulturzirkus, ein Künstler,
der der Berliner Kulturidentität womöglich
das Eigene austreiben will. So absurd der
Vorwurf auch sein mag. Aber natürlich
werden Castorf und seine Crew immer die
besseren Berliner bleiben.
Solange die Anhänger der alten Volks-
bühne es schaffen, die Neuen in ihre Argu-
mentationslogik zu zwingen, können die
Neuen nur verlieren. Die Wut der Alten,
die eigentlich den Kulturpolitikern gelten
müsste, die Castorfs Vertrag nach 25 Jahren
beendet und Dercon angeheuert haben,
entlädt sich an den Künstlern. Charmatz
erzählt, vor den Ferien habe ihm die alte
Leitung der Volksbühne keinen einzigen
Probenraum zur Verfügung stellen können, buch aktuell Die Auswahl an neuen Büchern, Hörbüchern und
weil angeblich alle bis zum letzten Tag ge- DVDs scheint grenzenlos. Egal ob Belletristik,
braucht wurden. Man kann das, je nach erhalten Sie wie Krimi, Thriller, Historischer Roman, Fantasy oder
Perspektive, passiven Widerstand nennen
oder schlicht kindisch und unkollegial. immer kostenlos Sachbuch: buch aktuell präsentiert Ihnen im
Dennoch verweist der Choreograf seine Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter die
Studenten pflichtschuldig auf die Tradition bei Ihrem Highlights der jeweiligen Saison.
des holzgetäfelten Ballettsaals der Volks-
bühne, in dem sie sich nun zum Proben Buchhändler.
befinden: Er sei unter Castorf auf die Ini- Auf unserer Internetseite finden Sie aktuelle
tiative des Tanztheatermachers Johann
Kresnik eingerichtet worden. Ratlose Ge- Nachrichten aus der Welt der Bücher, alle
sichter bei den Studenten. Aber hier endet SPIEGEL- Bestsellerlisten sowie ein monatliches
das Engagement von Charmatz.
„Ihr kennt ihn nicht?“, fragt er nur.
Online-Gewinnspiel!
„Dann googelt ihn mal.“ Anke Dürr
www.buchaktuell.de
DER SPIEGEL 37 / 2017 137
Kultur

Das liegt vor allem an den Texten. Schon auf dem ersten
Track „kapitel 1“ kommt er zum Album-Fazit: „Alles, was
ich brauche, ist Love.“ Selbst für überwiegend junge Fans
eine eher schlichte Botschaft. Weiter geht es sinngemäß:
Ich bleibe mir treu („tru“). Ich hätte gerne eine tolle Frau,
aber es gibt zu viele Bitches („computiful“). Ich bin dieser
Noch ’ne Villa Welt bereits entrückt („alien“). Dagegen ist erst mal nichts
einzuwenden. Nur hat er das auf seinem letzten Album
auch schon erzählt und auf dem Album davor.
Popkritik „tru.“, das neue Album von Cro, Cro ist jetzt 27 Jahre alt. Seine Musik stand bisher für
die vertonte Leichtigkeit des Seins. Wie kaum ein anderer
dem Rapstar mit der Pandamaske Künstler lieferte er Text-Gefühl-Bausteine, die eine ganze
Generation unter die Sommerbilder ihrer Social-Media-
Accounts kritzeln konnte. Einen Hit zu schreiben, das

D
er Musiker Cro lebt inzwischen auf einem Berg, schien Cro überhaupt nicht anzustrengen. Nebenbei kom-
in einer Villa mit 17 Zimmern. Er hat riesige Kon- poniert, produziert, designt und malt das Multitalent aus
zerte gespielt, einen Kinofilm gedreht und Millio- Stuttgart auch noch. Sein Debütalbum soll er in nur sechs
nen verdient. Jetzt erscheint sein drittes Studioalbum, und Wochen aufgenommen haben.
die Frage ist, wie er darauf, bitte schön!, seine Erfolgs- Diesmal hat er sich ein bisschen mehr Zeit gelassen.
geschichte weiterschreiben will. Man hört verschleppte Beats, viel Hall, viel Auto-Tune,
Die bisherige Erzählung beginnt vor fünf Jahren. Der gesüßter Singsang, endlose Intros, endlose Outros. 120 Ton-
Mediengestalter Carlo Waibel nimmt in seinem Schlaf- spuren in einem Song. Das alles klingt besessen, schlaflos,
zimmer ein Album auf. Unter dem Namen Cro ver- fast schon überproduziert. Cro ist ein passabler Rapper,
schmilzt er Rap- und Popmusik zu kleinen Sprechgesangs- aber es wirkt, als wenn jemand nach der dritten Bong in
ohrwürmern. Es geht viel um Frauen, seine Kumpels, ein der Villa vorgeschlagen hätte, noch einen weiteren Effekt
wenig Gras. Verkürzt gesagt: Gute-Laune-Musik auf über die Songs zu legen, damit es fetter klingt. Das Album
Deutsch, die nicht sofort nervt. ist dann auch vollgepackt mit musikalischen Referenzen.
Wer möchte, kann Daft Punk, Kanye
West oder den dreifachen Grammy-
Gewinner Chance the Rapper auf dem
Werk entdecken. Sagenhafte 17 Songs
sind so entstanden, für die De-luxe-Ver-
sion sogar noch mehr.
Das alles ändert nichts daran, dass sei-
ne Geschichte vom Aufstieg zum Popstar
auserzählt ist. Ein Dilemma für viele
Musiker, die den großen Traum erreicht
haben. Plötzlich können sie nur noch
Songs darüber schreiben, wie es ist, be-
rühmt zu sein. Es hätte sicher geholfen
zu straffen, zu kürzen, den einen oder
anderen Song einfach wegzulassen.
Eigentlich hätte man von Cro etwas
anderes erwartet. Mut vielleicht. Der
Rapper Casper etwa, hierzulande ähn-
SAEED KAKAVAND

lich erfolgreich wie Cro, veröffentlichte


fast zeitgleich ein Album, das seine
Fans nachhaltig irritiert. Viele Texte
Hip-Hopper Cro: Frauen, Kumpels und ein wenig Gras sind sperrig, die Musik experimentell.
Es ist zumindest ein Wagnis. Auf dem
Zuerst wird er dafür im Internet gefeiert, dann zu einem Album von Cro ist als Feature-Gast der ehemalige
der erfolgreichsten deutschen Popstars. Dabei hilft ihm Fugees-Musiker Wyclef Jean zu hören. Lediglich eine
auch ein alter Showtrick: Cro versteckt sein Gesicht Kooperation mit der Hamburger R&B-Hoffnung Ace
bei allen öffentlichen Auftritten hinter einer Pandabären- Tee („slow down“) lässt ein wenig Innovationswillen
maske. Es folgt ein weiteres Album. Dauerrotation im erkennen.
Radio. Werbeverträge mit McDonald’s, Telekom und Mer- Ein Album wie dieses wird seinen Weg nach ganz oben
cedes-Benz. in die Charts finden. Einzelne Lieder werden im Radio
Auf seinem neuen Album „tru.“ hört man Cro jetzt ein zu hören sein. Eine ausgedehnte Tournee wird eine wei-
bisschen weiter beim Erwachsenwerden zu. Die ersten tere Villa in den Hügeln von Stuttgart finanzieren. Die
beiden Singles „baum“ und „unendlichkeit“ hadern auch künstlerisch durchaus spannende Frage, wie es nach einem
pflichtschuldig mit dem Ruhm. Herausgekommen ist aber Happy End weitergeht, beantwortet Cro auf „tru.“ jedoch
keine konsequente Coming-of-Age-Platte, eher ein Album nicht. Vermutlich weiß er gerade selbst nicht so genau,
im Wartestand. Bequemer Verwaltungs-Hip-Hop. Nicht was darauf die Antwort ist. Cro wollte einmal die Grenzen
wirklich misslungen, jedoch verraten die neuen Lieder zwischen Pop und Rap sprengen. Jetzt hängt er irgendwo
leider wenig darüber, wohin Cro sich künstlerisch entwi- dazwischen fest. Jonas Leppin
ckeln möchte. Twitter: @jolepp

138 DER SPIEGEL 37 / 2017


W I L L K O M M E N B E I D E R
G E N E R A T I O N E

Jahrzehntelang hat sie Generationen von bereiften Göttern kommen


und fahren sehen – während sie selbst stehen blieb. Einst als Mo-
nument für den Fortschritt geschaffen, wurde sie zum Abstellplatz
der Notwendigkeiten. In den amerikanischen 1970ern schien sich,
der Legende nach, das Blatt noch einmal zu wenden. Kurz funkel-
ten neben Rücklichtleuchten wieder revolutionäre Ideen in ihren vier
Wänden. Bits und Bytes von unzweifelhaft globaler Wirkung.

Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, kann sie wieder diese
Bedeutung erlangen. Kann sie wieder ein Ort der Träume und der
Startpunkt auf dem Weg in die Zukunft sein. Mit diesem Wissen
setzen wir uns hinter das Lenkrad unseres Elektroautos. Verlassen die
Startrampe. Auf zu den Sternen. Mindestens.

D I E N E U E P L A T T F O R M F Ü R E - M O B I L I T Y
U N D V E R N E T Z T E S L E B E N .

neu

D I E Z U K U N F T E R W A R T E T S I E L I V E ,

I M Z E I T S C H R I F T E N H A N D E L
U N D U N T E R W W W . E D I S O N . M E D I A
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140 DER SPIEGEL 37 / 2017


Nachrufe
KATE MILLETT, 82 stand der Dichtung.“ Für sein
Ihre philosophische Kampf- Werk „Self-Portrait in a
schrift „Sexus und Herrschaft“ Convex Mirror“ (1975) erhielt
war in den USA und Großbri- er den Pulitzerpreis und den
tannien ein großer Erfolg, in National Book Award, Präsi-
Deutschland galt das Buch als dent Barack Obama ehrte ihn
Manifest der Frauenbewegung später mit der National Huma-
der Siebzigerjahre. Klug und nities Medal. Man könne die
entschieden analysierte Kate Gedichte John Ashberys nicht

JAN WOITAS / DPA


Millett die Folgen des Jahr- beurteilen, man könne sie
hunderte währenden Patriar- ja nicht einmal verstehen, läs-
terten manche. „Ich würde
gern etwas schreiben, was sie
ARNO RINK, 76 noch nicht einmal lesen kön-
Er war Fahrstuhlführer, bevor er die deutsche Malerei präg- nen“, konterte Ashbery. John
te. Die Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst Ashbery starb am 3. Septem-
lehnte seine Bewerbung 1961 ab, doch im Jahr darauf wur- ber in Hudson, New York. red
de er angenommen. Und er sollte dort nicht nur studieren,
sondern Professor und schließlich Rektor werden. Sein HOLGER CZUKAY, 79
figürlicher Stil entsprach den ästhetischen Vorstellungen Die Bedeutung seiner Band

ULF ANDERSEN / GETTY IMAGES


der DDR, die ihm sowohl den Kunstpreis als auch den lässt sich gar nicht überschät-
Nationalpreis verlieh. Nach dem Fall der Mauer hielt Rink zen – auch wenn das große
am Figurativen fest und bereitete somit den Weg für die Publikum die Kölner Band
„Neue Leipziger Schule“. Viele von Rinks Schülern erlang- Can nie wirklich wahrgenom-
ten Weltruhm, darunter auch Neo Rauch. Erst dieses Jahr men hat. Doch Can löste die
war in Aschersleben eine Doppelausstellung der beiden Rockmusik ab Ende der Sech-
zu sehen – Lehrer und Schüler nebeneinander. Bis zuletzt ziger von ihren Blueswurzeln,
arbeitete Rink an der Vorbereitung einer großen Retro- chats. Ihre späteren Bücher führte die endlose rhythmi-
spektive im Leipziger Museum der bildenden Künste, waren stark autobiografisch sche Wiederholung ein und
der ersten Ausstellung seiner Kunst dort seit 36 Jahren. geprägt. Sie thematisierte ihr experimentierte mit Geräu-
Sie muss nun ohne ihn vollendet werden. Arno Rink Lesbischsein und ihre Erfah- schen – das war damals völlig
starb am 5. September in Leipzig. red rungen auf einer Reise in den neuartig, heute ist es selbst-
Iran nach dem Aufstieg Kho- verständlich. Und Czukay,
meinis. Dass sie gegen ihren der Bassist, war das Herz der
WALTER BECKER, 67 Willen in psychiatrische Klini- Gruppe, freundlich, visionär
Ein Abend mit Steely Dan, das ken eingewiesen und mit und ein bisschen verrückt. Er
war kein Konzert, sondern ein Psychopharmaka behandelt war Student des Avantgarde-
Familientreffen. Leadgitarrist wurde, war das Thema ihres Komponisten Karlheinz
Walter Becker sorgte für die Buchs „Der Klapsmühlen- Stockhausen, bei dem er auch
pulsierenden Klanggewebe, auf trip.“ Alle ihre Werke be- einen Bandkollegen kennen-
denen die Songs abhoben wie schäftigten sich mit dem weib- lernte, und er blieb sein
auf einem fliegenden Teppich. lichen Kampf um Autonomie. Leben lang Klangforscher.
RETNA / INTERTOPICS

Sein Partner Donald Fagen tob- Millett selbst errang diese nur Nachdem er 1977 bei Can auf-
te sich als Sänger und Keybor- um einen hohen Preis: Ende hörte, spielte er mit Stars wie
der aus. Ihren coolen, angejazz- der Neunzigerjahre war sie Annie Lennox, nahm aber
ten Sound hatten sie sich seit in Vergessenheit geraten und auch experimentelle Elektro-
Anfang der Siebziger in Platten- kämpfte gegen Armut. Erst nikalben auf. Holger Czukay
studios erarbeitet, getrieben von einem Perfektionismus, eine Wiederauflage von „Se- starb am 5. September in Wei-
der sie ins Pantheon der Popgeschichte trug. Dass zwei so xus und Herrschaft“ brachte lerswist bei Köln. rap
eigenwillige Köpfe kongenial zusammenarbeiten konnten, ihre intellektuellen und fe-
war ein Glücksfall. Der leicht verschrobene Becker und ministischen Verdienste in Er-
der eher elegante Fagen produzierten Hits mit kraftvoll- innerung. Kate Millett starb
federnden Beats wie „Rikki Don’t Loose That Number“, am 6. September in Paris. clv
aber auch ein geradezu symphonisches Werk wie „Aja“
(1977). Im Titelsong des Albums zeigt sich die ganze schräg- JOHN ASHBERY, 90
geniale Welt von Steely Dan: Nach einem Pfiff mit der Der amerikanische Poet sah
Trillerpfeife hebt Jazzsaxofonist Wayne Shorter zu einem sich Vorwürfen der Beliebig-
Solo ab, angefeuert von einem entfesselten Schlagzeug. keit und der bloßen Abstru-
Becker, der in schwierigen Verhältnissen in New York groß sität ausgesetzt, auch nach-
geworden war, verfiel in den Jahren nach „Aja“ dem He- dem er nahezu alle wichtigen
roin und musste den Drogentod seiner Freundin verkraf- Literaturpreise gewonnen
ten. Als Avocadopflanzer auf Hawaii bekam er sein Leben hatte. Seine Gedichte, surreal
wieder in den Griff. Sein musikalischer Partner Fagen, der und humorvoll, geprägt von
das Projekt Steely Dan fortsetzen will, schrieb jetzt zum Spontaneität, sollten Chaos in
Abschied: „Er war zynisch, was die menschliche Natur die Kunst bringen: „Gedichte
GRÖNLAND

betraf, auch seine eigene. Und er war unfassbar lustig.“ haben keinen Gegenstand –
Walter Becker starb am 3. September auf Maui, Hawaii. dip vielmehr sind wir der Gegen-
DER SPIEGEL 37 / 2017 141
Handwerk
mit Glamour
Ist es hilfreich, in Hollywood
einen berühmten Namen zu
tragen? Francesca Eastwood,
24, Tochter von Clint East-
wood, kann diese Frage ein-
deutig mit Ja beantworten:
„Es hilft bei der Reservierung
im Restaurant, es hilft auch,
um irgendeinen Job zu be-
kommen.“ Francesca East-
wood will inzwischen aber
nicht mehr irgendeinen Job,
sie treibt ihre Schauspielkar-
riere voran. Gerade startete
in den USA der Horrorthril-
ler „The Vault“, in dem sie
neben James Franco auftritt.
Jetzt hat sie sich vorgenom-
men, Actionfilme zu drehen.
Dabei ist ihr Name wahr-
scheinlich nicht hinderlich,
aber das Handwerk muss sit-
zen, Rollen bekommt man
nur über ernsthaftes Casting.
Deswegen übte Eastwood,
deren Mutter, Frances Fisher,
ebenfalls Schauspielerin ist,
im Sommer Jiu-Jitsu, machte
Stunttraining und bereitete
ihre Motorradführerschein-
prüfung vor. Zum ersten Mal
war sie als Kleinkind im Arm
ihrer Mutter auf der Lein-
wand zu sehen, Fernseherfah-
rung sammelte sie mit 18 Jah-
ren in einer Reality-TV-Serie.
Das sei aber gar nicht ihr
Ding gewesen: „Natürlich ar-
beite ich in einer Branche,

CARLOS ERIC LOPEZ


in der man bereit sein muss,
auf etwas Privatleben zu ver-
zichten, aber so offen bin ich
dann auch wieder nicht.“ ks

„In die Fresse“ merempfang des deutschen fühlte sich nicht zutreffend
Bankenverbands in Brüssel, dargestellt. „Wenn ich dich
Bislang war Martin Selmayr, danach stand er noch mit damals getroffen hätte, hätte
46, Kabinettschef von EU- einer Pressesprecherin und ich dir in die Fresse gehau-
Kommissionspräsident Jean- mehreren Journalisten zusam- en“, sagte er und fügte hinzu:
Claude Juncker, vor allem men. Als Selmayr den Brüs- „Arschlöcher machen Arsch-
für seinen ruppigen Umgang seler SPIEGEL-Korrespon- lochjournalismus; du wirst
mit Kommissionsmitarbeitern denten Peter Müller sah, kam von mir nie wieder irgend-
in Brüssel bekannt. Jetzt er auf ein Porträt zu sprechen, eine Information bekom-
nimmt er offenbar auch Jour- das der SPIEGEL Ende ver- men.“ Selmayr bestreitet den
JOHN THYS / AFP

nalisten ins Visier. Am Diens- gangenen Jahres über ihn Vorgang. Redakteur Müller
tag vor einer Woche hielt Sel- veröffentlicht hatte (SPIEGEL legt Wert auf die Feststellung,
mayr eine Rede beim Som- 52/2016). Martin Selmayr dass er Selmayr siezt. red

142 DER SPIEGEL 37 / 2017


Personalien
„Politische auf. Der CSU-Übervater und
einstige Ministerpräsident
Totenschändung“ „würde AfD wählen“, be-
Für die CSU-Europaabgeord- hauptet das Plakat. „Diese
nete Monika Hohlmeier wird Form der politischen Toten-
die politische Auseinander- schändung ist eine bodenlose
setzung mit der AfD nun Gemeinheit“, ärgert sich
auch persönlich: Ein Unter- Hohlmeier. „Mein Vater hat
stützerverein für die Rechts- sich bekanntermaßen sein
populisten hängt in München ganzes Leben dafür einge-

THOMAS LOHNES / AFP


Plakate mit einem Bild von setzt, dass sich alle Bürger
Hohlmeiers 1988 verstorbe- des gemäßigten rechten Spek-
nem Vater Franz Josef Strauß trums in der CSU wohlfühlen.
Aber die Rechtsradikalen in
der AfD wie Björn Höcke
hätte er mit aller Konsequenz
bekämpft.“ Tatsächlich ist Der Augenzeuge
von Strauß der Satz überlie-
fert, es dürfe „rechts von der
Union“ keine Partei geben.
„Ein kitzliger Moment“
Da ihr Vater sich nicht mehr Mehr als 65 000 Menschen mussten ihre Wohnungen in
wehren könne, so die Europa- Frankfurt am Main verlassen, bevor Dieter Schwetzler, 61,
abgeordnete, prüften nun an die Arbeit gehen konnte. Der Chef des hessischen Kampf-
Hohlmeier und die CSU juris- mittelräumdienstes beim Regierungspräsidium Darmstadt
tische Schritte gegen die poli- (auf dem Foto r.) und sein Kollege René Bennert, 40, hatten
tische Vereinnahmung von es mit einer Bombe zu tun, die größer war als jede, die
Strauß durch die AfD. ama sie bisher in ihrem Leben unschädlich machen mussten.

„Wir entschärfen im Schnitt 30 bis 40 Bomben pro Jahr,


Pinguin war gestern es dir beibringen, Pinguin; ich aber die in Frankfurt war schon ein gewaltiges Teil. Als
werde dir beibringen, meine ich davorstand und mir klarmachte, da sind 1,4 Tonnen
Früher hat sie Songs für ande- Hand zu küssen“. Bruni strei- Sprengstoff drin – das war heftig. Es war eine britische
re geschrieben, dann für sich tet ab, den Text mit Blick auf Bombe, die auch Wohnblockknacker genannt wird. Sie
selbst, jetzt ist sie am ande- Hollande verfasst zu haben. wurde konstruiert, um Wände einzureißen, Dächer
ren Ende der Verwertungs- Ohnehin sei sie keine Politi- abzudecken und große Schäden zu verursachen. Deshalb
kette angekommen: Das neue kerin, sagte sie der „Sunday war es absolut gerechtfertigt, eine Schutzzone von
englischsprachige Album von Times“, sie sei einfach nur 1,5 Kilometern festzulegen, die evakuiert werden musste.
Carla Bruni, 49, ehemaliges Musikerin. Allerdings eine, Als die Bombe am Frankfurter Universitätsgelände ge-
Model und Ehefrau des frühe- die so arriviert ist, dass sie funden wurde, hatte ich Urlaub. Die Entschärfung wurde
ren französischen Präsiden- keine Themen mehr hat, über dann im Team durchgeführt, nur durch die gute Zusam-
ten Nicolas Sarkozy, enthält die sie schreiben möchte: menarbeit war das in einem so kurzen Zeitraum und
ausschließlich Coverversio- „Texte über ein erfülltes Da- ohne Komplikationen möglich. Mein Kollege Bennert
nen. Es erscheint im Oktober sein sind selten.“ ks hat alles sehr gut vorbereitet. Er hat den groben Dreck
unter dem Titel und den Sand entfernt und die drei Zünder mit Kriechöl
„French Touch“, eingesprüht, damit sie sich leichter rausdrehen lassen.
und Bruni singt Nach der Evakuierung der Schutzzone waren wir beide
darauf so berühmte dann allein an der Bombe und haben eine Raketen-
Lieder wie „The klemme an den Zündern angebracht. Das ist schon ein
Winner Takes It kitzliger Moment, denn dabei wird zwangsläufig etwas
All“ von Abba oder Druck auf die Zünder ausgeübt. Gezündet haben wir die
„Highway to Hell“ Klemme aus sicherer Entfernung, in der Deckung hinter
von AC/DC. Bei zwei großen Universitätsgebäuden. Zum Glück hat alles
einem Song ihres geklappt. Die Zünder sind gut rausgegangen.
vorigen Studio- Bei einer Lagebesprechung habe ich gehört, dass jahre-
albums, erschienen lang ein Haus auf der Bombe gestanden haben soll. So
2013, wurde noch etwas kommt immer wieder mal vor. Vielleicht hat man
spekuliert, sie habe die Bombe nach dem Krieg mit Schutt eingeebnet oder
den damaligen Kon- gedacht, das sei ein großer Wasserboiler. Viele Bomben
ERIC GUILLEMAIN / UNIVERSAL MUSIC

kurrenten ihres im Erdreich sind noch sehr gut erhalten und hoch gefähr-
Mannes, François lich, weil sie dort kaum mit Sauerstoff in Kontakt kom-
Hollande, mit dem men. Deshalb sterben auch immer mal wieder Kollegen
Lied „Le pingouin“ beim Entschärfen, etwa im Jahr 1990 in Wetzlar oder
aufs Korn genom- 2010 in Göttingen. Ich selbst gehe schon seit 1975 mit
men. Eine Zeile Bomben um, seit meiner Ausbildung beim Militär. Vier
darin lautet sinn- Jahre will ich noch machen. Dann geht’s in Rente.“
gemäß: „Ich werde Aufgezeichnet von Matthias Bartsch

DER SPIEGEL 37 / 2017 143


„Ihr Titelbild bringt es auf den Punkt: David gegen Goliath –
nur diesmal ohne jede Chance für David.“
Peter Kerz, Bodenheim (Rhld.-Pf.)

Fliegen boxen besser schen Hauptbahnhofs in Stuttgart, wo man


nicht weiß, was mit den durch Gipskeuper-
Nr. 36/2017 Aufwachen! Der Kampf ums Kanzleramt: schichten führenden Tunneln passiert, die
Worum es geht. Wer es kann.

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


keinen Kapazitätsgewinn bringen, und der
Das Titelblatt finde ich entwürdigend. Bahn und Steuerzahler viele Milliarden
Konnte man unsere Bundeskanzlerin nicht Euro kosten wird.
etwas weniger korpulent darstellen? Ich Alexander Frank, Stuttgart
hatte Hemmungen, mir heute das Heft zu
kaufen, tat es aber dann doch. Das größte Versagen des Dobrindt-Minis-
Roswitha Gruber, Hann. Münden (Nieders.) teriums haben Sie vergessen: Der deutsche
Steuerzahler rennt seit Jahren Milliarden-
Selten so über eine „Kampfszene“ gelacht! Wahlkämpfer Schulz in Landsberg zahlungen aus der Einführung der Lkw-
Das Titelbild erfüllt an sich den Tatbestand Maut hinterher – und Dobrindt vergibt den
einer doppelten Beleidigung, die allerdings erte Vorwurf der gähnenden Langeweile. Betrieb wieder an dasselbe Konsortium:
dadurch gerechtfertigt ist, dass sie die Rea- Was ist denn so ungeheuerlich daran, dass Toll Collect. Hier lacht die Industrie nur
lität zutreffend karikiert. Irgendwie ist es offenbar die Mehrheit des Volkes den Ein- noch herzlich über den Staat und seine
aber auch unfair. Im Boxen sind Kämpfe druck hat, es werde souverän durch unru- depperten Bürger!
zwischen Fliegen- und Schwergewicht un- hige Zeiten geführt? Was wäre die Alter- Andreas Rolfs, Eisenach
zulässig – obwohl nicht selten die „Fliegen“ native? Dass man in Berlin irgendeinen
die deutlich besseren Boxer sind. Mist zusammenregiert, nur um das Volk „Frauen, wählt Frauen!“
Prof. Dr. Thomas Weise, Hamburg zu empören, damit es auf die Barrikaden
geht? Nr. 35/2017 Der Frauenanteil wird im nächsten
Bundestag noch weiter sinken
Ich bin 94 Jahre alt und habe noch mit Hannelore Schreiner, Saarlouis
eigenen Augen den „Stürmer“ gesehen Dass der Frauenanteil im Bundestag nicht
mit seinen antisemitischen Karikaturen, Da lacht die Industrie höher ist, liegt auch an uns Frauen. Würde
die mich damals sehr wütend machten, da Deutschland nach dem Motto „Frauen,
ich ein paar jüdische Jungen als Freunde Nr. 35/2017 Leitartikel: Wie die CSU die Zukunft wählt Frauen!“ votieren, sähe es in der
des Landes gefährdet
hatte. Daran wurde ich erinnert, als ich Politik ganz anders aus. Immerhin ist über
das Cover der neuesten SPIEGEL-Ausgabe Eine äußerst treffende Essenz der Perso- die Hälfte der wahlberechtigten Bevölke-
sah. Im Rücken der monströsen Merkel- nalie Dobrindt – es gibt es also doch, das rung weiblich. Leider habe ich den Ver-
Figur ein kleines Männchen mit Boxhand- „bedingungslose Grundeinkommen“. Ali- dacht, dass viele Frauen nach wie vor Män-
schuhen und einem Gesicht, wie es im mentierte Insuffizienz in den höchsten Eta- nern mehr zutrauen als ihren Geschlechts-
„Stürmer“ der NS-Zeit typisch war, krum- gen. Wen wundert da noch die lähmende genossinnen, sodass sich so schnell nichts
me Nase, verkniffenes Gesicht. Das ist Politikverdrossenheit. ändern wird.
„Stürmer“-Antisemitismus in Reinkultur. Dr. Thomas Biesemann, Essen Dipl.-Ing. Bettina Hirdina-Falk, München
Prof. Dr. Siegfried Vierzig, Oldenburg (Nieders.)
Der SPIEGEL hat es sich wohl zum Prinzip Jahrzehntelange Erfahrungen mit einem
Ihr Gespräch mit Merkel offenbart vor al- gemacht, dass alles, was von Bayern oder Parteiapparat haben mir auch die Grenzen
lem eines: dass diese Frau mit meist nichts- von der CSU kommt, schlecht ist. Wir Bay- eigener Frauenförderung sichtbar werden
sagenden, phrasenhaften Worten einlullen ern zahlen rundum Maut, warum sollen lassen. Es waren häufig Netzwerke der zu-
will. Viele Fragen beantwortet sie letztlich die Ausländer nichts zahlen? Die Air-Ber- ständigen Frauenvertretung, die sich gegen
nicht, da sie nur ausweicht oder allgemein lin-Krise schwelt schon ewig, was kann weibliche Kandidaten, die dem Netzwerk
etwas proklamiert. Da, wo sie mal halb- Herr Dobrindt dafür? Das ist ein privates nicht angehörten, wehrten. Ich erinnere
wegs konkret antwortet, ist es konserva- Wirtschaftsunternehmen, aber weil jetzt mich noch sehr gut an Sonntagsreden einer
tiver industriefreundlicher Müll. Ich hätte Wahlkampf ist, interessiert das auf einmal? Hamburger Vorsitzenden, die für Quoten
mir an einigen Stellen ein kritischeres Die Betrugssoftware bei VW wurde lange eintrat, aber den Männern am Biertisch
Nachhaken von Brinkbäumer, den ich vor Verkehrsminister Dobrindt entwickelt. versicherte, sie müsse eine Rolle erfüllen –
sonst sehr schätze, und Pfister gewünscht. Damals wurde auch nicht kontrolliert. Der man könne ihre Einlassung nicht wörtlich
Helmut Hesse, Erftstadt (NRW) SPIEGEL hat seit den Zeiten von Franz nehmen, solange man ihre eigene Karriere
Josef Strauß Vorurteile gegen Bayern und fördere. Und so geschah es. Mit einem Ach-
Wenn eines Tages Google ein Programm die CSU. selzucken verwarf die Funktionärin die Un-
entwirft, mit dessen Hilfe unangenehme Hermann Oberwallner, Hohenpolding (Bayern) terstützung einer Kandidatin meines Orts-
Wahrheiten in harmlose Sätze umgewan- verbands für das Landesparlament. Da war
delt werden können, dann werden ohne Auch wenn die Liste der „Glanzleistungen“ ihr auch der in diesem Fall völlig absurde
Zweifel Angela Merkels Reden und Inter- von Herrn Dobrindt den Rahmen sprengen Hinweis auf die Qualifikation des männ-
views als Referenzen dafür dienen. mag, sollte die Einführung der Gigaliner lichen Gegenkandidaten nicht zu schade.
Hans Faul, Tübingen und der Fernbusse (es bewegt sich ja noch Gerade vonseiten junger Frauen gab es zu
nicht genug auf der Straße) während seiner verschiedenen Gelegenheiten einen Auf-
Was mich an diesem Wahlkampf nervt, ist Amtszeit nicht unerwähnt bleiben. Und stand gegen dieses Netz-Unwesen.
der ständig wiederholte und medial befeu- ebenso nicht der Weiterbau des unterirdi- Peter Schmidt, Wedel (Schl.-Holst.)

144 DER SPIEGEL 37 / 2017


Briefe

Mut ist nötig darauf ausgerichtet zu selektieren. Dabei von jeher bunt und von Meinungsvielfalt
verschweigt niemand, dass die Annahme geprägt, was ja auch den Charme der Stadt
Nr. 35/2017 Was passiert, wenn eine Schwangere eines Kindes mit Behinderung eine He- ausmacht. Debatten zu verbieten und ein
erfährt, dass ihr Kind behindert sein wird – Protokoll
rausforderung ist. Nicht aber, weil es ihm Referendum zu verwehren, das ist es, was
einer Entscheidung
an etwas „fehlt“, sondern weil es mehr der Stadt wahren Schaden zufügt.
Mit Tränen in den Augen habe ich dieses Aufmerksamkeit bedarf als andere. Das Marie Kapretz, Vertreterin der Regierung von Katalonien,
bewegende, ehrliche und lebensbejahende wiederum ist aber doch nicht nachteilig, Berlin
Tagebuch gelesen. Hoffentlich regen Ihre sondern würde jedem Nachwuchs ange-
Erfahrungen und Gefühle (und die Ihres sichts der Pracht des Lebens zustehen. Tief berührt
Mannes!) viele schwangere Paare in unse- Dennis Riehle, Konstanz
rer perfektionierten und normierten Welt Nr. 35/2017 Hunderttausende arabische Männer
bekamen die Chance auf Asyl, ihre Frauen und Kinder
zumindest zum Nachdenken an. Auch wir Eine Reise zu Castillo Morales in Argenti-
aber stecken oftmals im Elend fest
kennen die Quote von 90 Prozent der El- nien und seiner Therapie mit Menschen
tern, die sich nach der pränatalen Diagno- vor Ort zeigte mir: Uns „Menschen mit Tabarak Karakouz könnte als Ehefrau
se gegen das Leben entscheiden. Natürlich Behinderung“ bezeichnen die Indios ach- durchaus von ihrem Mann nach Deutsch-
ist die Entscheidung niemals leicht, und selzuckend als „etwas langsamer“. Ein land geholt werden. Dafür wäre aber seine
natürlich muss sie jeder für sich treffen – selbstverständliches Miteinander ist die Eigeninitiative erforderlich: Deutsch ler-
dennoch ist die Quote schockierend. Ich Folge. Dies sollte kennzeichnend bei allen

DIEGO IBARRA SANCHEZ / MEMO / DER SPIEGEL


bin seit vielen Jahren ehrenamtlich in der Inklusionsgedanken sein. Es geht nicht um
Behindertenarbeit und bekomme von mei- Anpassung, sondern um gemeinsames Le-
nen Schützlingen regelmäßig Anschau- ben auf Augenhöhe.
ungsunterricht in den wirklich wichtigen Josef Brodam, Mayen (Rhld.-Pf.)
Bereichen des Lebens – Ehrlichkeit, Offen-
heit und unverstellte Herzlichkeit! Der Text hat mich sehr berührt. Ich habe
Markus Nürnberger, Iffeldorf (Bayern) größte Achtung vor Eltern, die diesen Weg
gehen. Und ich möchte in einer Welt leben,
Verdacht auf Spina bifida, auffällige Na- in der es solche Geschichten gibt – und
ckenfalte, Verdacht auf Trisomie 21, gegen Menschen wie Marja.
den Druck der Ärzte Kind bekommen: Un- Gerolf Stumpf, Konstanz Ehefrau Karakouz im Libanon
ser Sohn Felix ist heute 19 Jahre alt, ge-
Niemand, außer der Frau, die das Kind in nen und Arbeit suchen. Wenn ihm die Fa-
sich trägt, hat das Recht, moralisch darüber milienzusammenführung wirklich wichtig
zu urteilen, ob ihre Entscheidung richtig wäre, hätte er bestimmt schon alles unter-
ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie sich nommen, um die erforderlichen Voraus-
für oder gegen das Kind entscheidet. Lei- setzungen zu erfüllen.
der musste auch ich ertragen, dass einige Christiane Göttner, Fürstenfeldbruck (Bayern)
meiner Mitmenschen, vornehmlich christ-
liche, meinten, es besser zu wissen. Ich Ihr Bericht über Tabarak Karakouz und
habe mich gegen das Leben meines Kindes andere verlassene Frauen und Familien ist
entschieden. Wenn ich es nicht getan hätte, tief berührend. Insbesondere aber Taba-
Ultraschallbild von Tochter Marja hätte ich heute nicht drei gesunde Töchter. raks und Ammars Schicksal und der Tod
Anette Bröning, Neuberg (Hessen) ihrer kleinen Tochter schmerzen zutiefst.
sund, hat die Fachhochschulreife, macht Lena Geffken, Neustadt in Holstein (Schl.-Holst.)
gerade sein Freiwilliges Ökologisches Jahr Lebendige Debatte
und ist glücklich. Medizin ist nicht unfehl- Ich engagiere mich in der Flüchtlingsarbeit
bar, Ärzte haben Angst vor Klagen. Mut Nr. 35/2017 Barcelona – und kann nur bestätigen, was Sie in dem
Ode an eine verwundete Stadt
ist nötig, Gottvertrauen auch. einfühlsamen Artikel schreiben. Selbst
Sylvia Nell, Bad Nauheim (Hessen) Es stimmt, dass es in Barcelona eine offene wenn die Familien nachgeholt werden kön-
Debatte über das Für und Wider der Un- nen, dauert es Monate, bis sie einen Ter-
Ich lese den SPIEGEL seit 40 Jahren. Ich abhängigkeit gibt, doch zerreißt sie weder min bei der deutschen Botschaft im Liba-
musste bei der Lektüre niemals weinen, Familien, noch schafft sie Feindseligkeiten. non oder in der Türkei bekommen. Dabei
diesmal schon. Danke, Sandra Schulz, für Was aus den gegensätzlichen Meinungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die
diesen Bericht und dieses Gefühl. Respekt. entsteht, ist vor allem eines: eine lebendige Integration von Flüchtlingen sehr viel bes-
Ich freue mich so sehr für Sie. Debatte. Auch wird in dem Artikel aus ser läuft, wenn die Familien in Deutsch-
Stefan Hirtel, Offenbach am Main zwei Themen – der Debatte um die Unab- land sind. Die Kinder lernen meist am
hängigkeit und dem Referendum – eines schnellsten Deutsch, und die syrischen El-
Als behinderter Mensch fühle ich mich gemacht. Innerhalb der katalanischen Ge- tern kommen über Schule und Vereine au-
nicht fehlerhaft, sondern besonders. Gern sellschaft gibt es wenige Dinge, die so viel tomatisch in Kontakt mit der Bevölkerung.
auch anders als die überwiegende Zahl Konsens hervorrufen wie die Abhaltung Wenn die Männer allein bleiben, haben
meiner Mitmenschen, wahrlich aber nicht des Referendums. Nach Umfragen sind 70 sie den Kopf nicht frei, um Deutsch zu ler-
alleine, selten oder ausgegrenzt. Vor allem bis 80 Prozent der Bevölkerung dafür. Ge- nen oder eine Arbeit zu suchen.
auch nicht minderwertig oder bemitlei- nauso hoch wäre die Akzeptanz eines Er- Thomas Volkmann, Reutlingen
denswert. Das werden wir nur in einem gebnisses. Sie schreiben, es gebe „vermut-
Denken von oben herab, in welchem sich lich“ ohnehin keine Mehrheit für eine Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
die angeblich Tadellosen über die stellen, Unabhängigkeit. Genau um über diesen ([email protected]) gekürzt
die aus ihrer Sicht „Makel“ haben. Der Punkt endlich Klarheit zu schaffen, muss sowie digital zu veröffentlichen und unter
gesamte Sprachgebrauch ist bereits heute ein Referendum kommen. Barcelona war www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 37 / 2017 145
Hohlspiegel Rückspiegel

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EDITION Zitate

AGILES Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Bericht


„Germany for Germans“ über

MANAGEMENT
den Wahlkampf der AfD (Nr. 35/2017):

Die Republikaner sind bei ihm Stamm-


kunden, die rechtspopulistische Ukip-
Partei aus Großbritannien wollte seinen
Aufkleber auf einer Shampooflasche Rat, und auch für Benjamin Netanjahus
Likud-Partei hat er schon gearbeitet: Der
konservative US-Digitalguru Vincent
Aus den „Lübecker Nachrichten“: Harris ist im rechten Parteienspektrum
„23 000 Buchungen verzeichnet das Klos- ziemlich gefragt. … Nun hat Vincent
ter Nütschau täglich. Die Besucher Harris’ Agentur Harris Media einen neu-
kommen vor allem, um Ruhe zu finden.“ en Auftrag: Sie soll die AfD in der hei-
ßen Wahlkampfphase im Netz voranbrin-
gen. Wie zuerst der SPIEGEL berichtet
hatte, war Vincent Harris kürzlich per-
sönlich in der AfD-Zentrale, um sich
vom Fortschritt des Projekts zu überzeu-
gen. Nun sind zwei seiner Mitarbeiter bis
zur Wahl in der Geschäftsstelle, um in
den sozialen Medien für die AfD Stim-
Schild vor einer Boutique in Kufstein mung zu machen.

Der „Sport-Informations-Dienst“ zum


Der „Tagesspiegel“ über Fledermäuse: SPIEGEL-Bericht „Harakiri“ über Trans-
„Das lange Leben verdanken die fers von Fußballspielern (Nr. 36/2017):
geflügelten Senioren offensichtlich ihrer
besonders geringen Sterblichkeit.“ ORGANISATION Der Ex-Dortmunder Ousmane Dembélé
(20) kann als neuer Star beim ehemaligen
So werden Marketing und spanischen Fußballmeister FC Barcelona
per annum mehr als 20 Millionen Euro
Vertrieb beweglicher kassieren. Das berichtet der SPIEGEL …
Seit 1995 haben die Vereine der fünf gro-
BEST PRACTICE ßen europäischen Fußballligen jedes Jahr
durchschnittlich elf Prozent mehr Geld
Wie Vodafone seine Kunden- für Transfers aufgewendet als im Vorjahr.
Das geht aus einer Analyse des Daten-
Anzeige aus der „Wendlinger Zeitung“ betreuung modernisierte journalismus-Teams des SPIEGEL hervor,
das damit der Fußballbranche eine eige-
ne Inflationsrate bescheinigt.
Aus der „Hildesheimer Allgemeinen FALLSTUDIE
Zeitung“: „Mit den Beinen im Kindersitz Die „Zeit“ zum SPIEGEL-Bericht „Unser
eines Einkaufswagens klemmend hat Ein Bauunternehmen will Mann im Bundestag“ über den Ab-
die Polizei einen 32-jährigen Drogensüch-
tigen in Hameln zunächst befreit.“
dezentral arbeiten. Droht nun geordneten Florian Hahn (Nr. 44/2016):

der Kontrollverlust? Keiner stellt hingegen eine Frage zu


Hahns Aufsichtsratsposten bei der Otto-
brunner Firma IABG, die Aufträge aus
der Rüstungsindustrie bekommt – der
SPIEGEL und die ARD-Sendung „Report
Mainz“ hatten im vergangenen Jahr die
Aus dem „Oberbayerischen Volksblatt“ Frage aufgeworfen, ob zwischen Hahns
! Engagement bei der IABG und seinem
Job im Verteidigungsausschuss des Bun-
Aus der „Schwäbischen Zeitung“: „Beim Auch als digitale Ausgabe erhältlich: destags ein Interessenkonflikt besteht.
0:1 im Testspiel gegen den FC Ingolstadt harvardbusinessmanager.de Hahn rechtfertigte sich später vor seinen
zog sich Matthias Zimmermann Wahlkreisdelegierten bei einer Rede in
einen Kreuzbandriss zu, der eigentlich Oberhaching: „Diese Nebentätigkeit ist
nach England wechseln wollte.“ zu hundert Prozent zulässig und recht-
lich nicht anfechtbar.“ Wie sein Verhal-
ten moralisch zu bewerten sei, müssten
die Delegierten und die Wähler entschei-
den. Seit Mai ist er nicht mehr Aufsichts-
Aus einem Prospekt der Firma Edeka rat der IABG.
146 DER SPIEGEL 37 / 2017
Warum hatte man früher eigentlich
Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man heute


zeitgemäß Geld ansparen kann, schon

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Bei Anlagen in offene Immobilienfonds sind gesetzliche Fristen zu beachten. Weitere Informationen, die Verkaufsprospekte und die wesentlichen
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Stand: 13. April 2017.

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