2019 Book Kleist-Jahrbuch2019
2019 Book Kleist-Jahrbuch2019
JAHRBUCH
2019
KLEIST-JAHRBUCH
2019
herausgegeben von
Andrea Allerkamp, Günter Blamberger, Anne Fleig,
Barbara Gribnitz, Hannah Lotte Lund und Martin Roussel
J. B. METZLER
Redaktion: Dr. Björn Moll
Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur I,
Albertus-Magnus-Platz, 50931 Köln, eMail: [email protected]
Mitarbeit: Marion Acker und Viviane Meierdreeß, Freie Universität Berlin
ISBN 978-3-476-04910-0
ISBN 978-3-476-04911-7 (eBook)
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J.B. Metzler
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019
Inhalt
Verleihung des Kleist-Preises 2018
Günter Blamberger: Überlebenskunst. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises
an Christoph Ransmayr.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
László F. Földényi: Im Banne des weißen Fleckes. Laudatio anlässlich der
Verleihung des Kleist-Preises an Christoph Ransmayr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Christoph Ransmayr: Kohlhaas. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2018. . . . 11
V
Michael Niehaus: Zeitungsmeldung, Anekdote. Gattungstheoretische
Überlegungen zu einem Textfeld bei Heinrich von Kleist.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Reinhard M. Möller: Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit.
Serendipität und das Anekdotische bei Kleist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Katharina Grabbe: Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und
Öffentlichkeit. Mediale Konstellationen in Heinrich von Kleists
›Sonderbare Geschichte, die sich, zu meiner Zeit, in Italien zutrug.‹
in den ›Berliner Abendblättern‹.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
Matthias N. Lorenz: Anatomie einer Störung. Vier Lesarten von Kleists
›Charité-Vorfall‹.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Rezensionen
Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & knapp. Zur Medien-
geschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. –
Besprochen von Stephan Ehrig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Ariane Port, Raum – Fokalisation – Polyphonie. Narratologische Analysen
dramatischer Darstellungsformen an Textbeispielen von
Heinrich von Kleist. – Besprochen von Vincenz Pieper .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Stephan Ehrig, Der dialektische Kleist. Zur Rezeption Heinrich von Kleists in
Literatur und Theater der DDR. – Besprochen von Petra Stuber.. . . . . . . . . . . . . . 374
Mario Grizelj, Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von Literatur
(Klopstock – Kleist – Brentano). – Besprochen von Gesa Dane. . . . . . . . . . . . . . . . 377
Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck (Hg.), Unarten.
Kleist und das Gesetz der Gattung. – Besprochen von Adrian Robanus . . . . . . . 381
Nachruf
Barbara Wilk-Mincu: Horst Häker †. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Anhang
Siglenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und Kleist-Museum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
VI
Verleihung des
Kleist-Preises 2018
am 18. November 2018
im Deutschen Theater, Berlin
Günter Blamberger
Überlebenskunst
Rede zur Verleihung des Kleist-Preises
an Christoph Ransmayr
Dichter wird man schon als Kind, in den Sehnsüchten, an die man sich später er-
innert, weil sie niemals eingelöst wurden. Am stärksten könnte die Sehnsucht sein,
dass das Leben immer neue Anfänge ermöglicht, wie es der 15. Gesang von Ovids
›Metamorphosen‹ verspricht: »Entstehen und Werden / heißt nur, anders als sonst
anfangen zu sein, und Vergehen, / nicht mehr sein wie zuvor«. Darauf hoffte auch
Kleist nach seiner Abreise aus Frankfurt an der Oder im Spätsommer 1800. Er ver-
ging sich, um anders zu werden. 1802 kam der Ex-Soldat und Ex-Student in die
Schweiz und entdeckte in Thun an einem Haus eine Inschrift: »›Ich komme, ich
weiß nicht, von wo? Ich bin, ich weiß nicht, was? Ich fahre, ich weiß nicht, wohin?
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.‹« Dieser Spruch gefiele ihm »ungemein«, so
Kleist an seinen Freund Zschokke (DKV IV, 298). Und Zschokke schrieb über seine
Schweiz-Touren damals mit Kleist und Ludwig Wieland, dass »die drei jungen Poe-
ten« wie »Schmetterlinge« umherschwärmten, »die überall Paradiese und Wüsten,
Göttinnen und Ungeheuer sahn, wo sie kein andres Auge fand.« (LS 75a) Dabei war
Kleist keiner, der nur in seiner Jugend Flügel haben wollte, um sie später abzulegen
und wieder als Raupe von dem Blatt zu zehren, auf das man zufällig beschränkt
wird.
Thun wird für Kleist zum Nicht-Ort, zu einem Ort der Utopie wie der Me-
lancholie, zu einem Ort, wo sein altes Leben zugrunde gehen und er zugleich auf
den Grund seines Daseins gehen und sich neu entwerfen kann: als Dichter. In und
durch Literatur. Hier schreibt er sein erstes Drama, ›Die Familie Schroffenstein‹,
eine Variation des Romeo-und-Julia-Stoffes. Kleists Liebende heißen Agnes und
Ottokar, sie fliehen vor ihren miteinander verfeindeten Familien, in einem Idyll im
Gebirge träumen sie von einem Neuanfang, dann kommen ihnen die Väter nach,
und weil die Kinder die Kleider getauscht haben, um sich zu schützen, tötet jeder
Vater, zornesblind, aus Versehen das eigene Kind. Der Tod der Kinder ist der Preis
ihrer Mündigkeit. Ein Idyll im Gebirge findet sich auch in Kleists Brief an seine
Schwester Ulrike vom Mai 1802, der Ihnen am Anfang dieser Matinée so glaubhaft
vorgelesen wurde. Vielleicht gab es ein Mädeli, das Kleist werktags den Haushalt
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Günter Blamberger
besorgte und sonntags in die Kirche ging. Dass Kleist mit ihr morgens aufbrach,
während der Zeit ihrer Andacht das Schreckhorn bestieg und danach gemeinsam
mit ihr ins Häuschen zurückkehrte, ist dagegen eine ausgemachte Schwindelei
beziehungsweise Produkt dichterischer Einbildungskraft, denn für den Aufstieg auf
das 4078 Meter hohe und von Thun 70 km entfernte Schreckhorn, das noch heute
als der bergsteigerisch anspruchsvollste aller Berner Viertausender gilt, dürfte die
Dauer einer Andacht kaum ausreichen. Kleists Schwester ließ sich von den Briefen
ihres Bruders selten täuschen, sie wusste, dass die Schweiz gerade alles andere als ein
Idyll war, angesichts des Streites zwischen Unitariern und Föderalisten. So fuhr sie
im Herbst 1802 von Frankfurt (Oder) bis ins Berner Land, schlug sich dabei durch
»bewaffnete[ ] Truppen« (LS 81c) und holte den inzwischen mittellosen Bruder aus
den Bürgerkriegswirren heraus. In die brandenburgische Heimat zurück konnte sie
ihn nicht mehr bewegen. Er reiste mit ihr und ohne sie weiter.
Kleists Reisen in Mittel- und Westeuropa gehen auf zwei Atlasseiten. Anders
verhält es sich mit Christoph Ransmayrs realen wie fiktionalen Expeditionen, da
braucht man schon den ganzen Diercke. Seit Jahren reist er um die Welt, nicht
schnell, nicht in achtzig Tagen. Er bricht immer wieder auf zu langsamen Wande-
rungen und kann davon so vielgestaltig erzählen, dass es für seine Leser zu einer
Reise um den Tag in achtzig Welten wird. Der Titel ›Atlas eines ängstlichen Man-
nes‹, aus dem Sie gerade eine Erzählung gehört haben, klingt paradox. Er scheint zu
Ransmayr ebenso wenig zu passen wie zu Kleist. Beider Reisen sind abenteuerlich,
beider Dichtungen bezeugen in ihren immer neuen, offenen Versuchsanordnungen
Mut zum Risiko. Kenntlich werden beide gleichwohl gerade in ihren Ängsten, und
darin auch unterscheidbar.
Kleists Prinz von Homburg ist ein ängstlicher Mann, auf Ehre und Ruhm bedacht,
im Angesicht seines Todes tröstet er sich mit den Worten: »Nun, o U nsterblichkeit,
bist du ganz mein!« (DKV II, Vs. 1830) Und am Ende von Kleists Brief an Ulrike
heißt es: »[I]ch habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge
gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine große That.« (DKV IV, 307)
Um sein Nachleben sorgt sich Kleist, und dafür sind ihm Kind, Gedicht und Tat
einerlei, ja, ein und dasselbe. In seiner Schöpferkraft will Kleist erkannt werden, als
ein prometheischer Dichter versteht er sich, in seinen Werken Menschen nach sei-
nem Bilde formend. In seinem Erstlingsdrama nimmt er es mit Shakespeare auf, im
›Amphitryon‹ übertrumpft er Molière, und einer Erinnerung seines Freundes Pfuel
zufolge wollte er Goethe »den Kranz von der Stirne reißen« (LS 112).
Dem Geniekult des 18. Jahrhunderts ist Kleist noch gänzlich verhaftet. Kreati-
vität ist für ihn agonal, eine rebellische Erfindungs- und Selbstfindungskunst, ihr
Katalysator die Querelle des Anciens et des Modernes, der Wettstreit der Generatio-
nen. Von solcher Agonalität ist Ransmayrs ›Atlas‹-Erzählung, die Sie gerade gehört
haben, gänzlich frei. Schon der Titel – ›Die Übergabe‹ – verrät, dass hier von einer
Kultur erzählt wird, die ihre Entwicklung nicht als Querelle, als Fortschreiten von
der Tradition, als Überholung des Alten durch das Neue definiert. Dreißig Jahre
lang ist Sang, Bootsmann in Laos, den Mekong stromauf, stromab gefahren, auf
unzähligen Fahrten hat ihn sein Sohn Lae als Matrose begleitet und am Vorbild des
Vaters gelernt, bekannte Gefahren, Stromschnellen, Strudel, Untiefen zu umschif-
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Überlebenskunst
fen, sich dabei jedoch auf vorgezeichnete Skizzen und Karten des Fahrwassers nicht
allein zu verlassen, sondern – Zitat – »sein Bild des Stromes beständig [zu] erneuern«
durch aufmerksame Beobachtung aller seiner Veränderungen. Eine Erzählung von
der Bootsmannskunst und zugleich ein Spiegel der Erzählkunst Ransmayrs, eine
Erzählung, die Kunstfertigkeit nicht als rebellischen Eigensinn versteht, sondern als
einen in die Gesetze der Natur und der sozialen Tradition eingebetteten Beziehungs-
sinn, als evolutionären Prozess statt als revolutionäre Neuerung. Ängstliche Männer
sind beide, Sang, der Vater, der von den Bomben des Vietnamkrieges aus seiner
Heimat geflohen ist, wie Lae, der Sohn – ängstlich auf das Überleben der Menschen
bedacht, die ihnen anvertraut sind.
Wer will, mag beim Bootsmann an Jesus denken, der das Christenschiff in den
sicheren Hafen bringt, an Charon und andere Fährmänner zwischen Diesseits und
Jenseits oder beim Titel ›Atlas‹ nicht ans Kartographieren, sondern an die griechi-
sche Sagengestalt, die das Himmelsgewölbe stemmt, um den Skyfall, den Unter-
gang alles Irdischen zu verhindern. Solche allegorische Lektüren vereinfachen jedoch
Ransmayrs große Kunst. Man muss und darf diesen Autor im Leben wie im Schrei-
ben beim Wort nehmen. Im Vorwort zum ›Atlas‹ versichert er, dass »ausschließlich
von Orten die Rede« sein werde, an denen er gelebt oder die er bereist habe, und
»ausschließlich von Menschen«, »denen er dabei begegnet« sei, und ebenso gewiss
sei, dass »Geschichten sich nicht ereignen, Geschichten werden erzählt.« Reisend
wie erzählend wagt Ransmayr stets Expeditionen ins Ungewisse. Entscheidend ist,
dass er in dieser doppelten Bewegung nicht vom Fremden ins Eigene übersetzt,
sondern aus dem Eigenen ins Fremde ausgeht, ins Fremde über setzt. Reisen wie
Erzählen sind ihm komplementäre Praktiken zur Erforschung der Metamorphosen
von Natur und Kultur. Von den globalen Metropolen als Orten technischen und
wirtschaftlichen Fortschritts hält er sich fern. Es interessiert ihn nicht, was gerade
cutting edge oder state of the art ist, sondern was bewahrenswert und nachhaltig
sein könnte. Im geographisch Peripheren wie in den Archiven der Vergangenheit
zündet er die Funken der Hoffnung an. Ransmayrs Romane, von ›Die Schrecken
des Eises und der Finsternis‹ und ›Die letzte Welt‹ bis ›Cox‹, sind Raum- und Zeit-
reisen auf der Suche nach der erfundenen Wahrheit, wie auch der ›Atlas‹, dessen
mental maps nicht westlichen Messtischblättern folgen. Ransmayr springt zwischen
Orten und Zeiten, zwischen und in den Geschichten. Die Erzählung ›Flugversu-
che‹ zum Beispiel handelt von einem Vogelwart, der seine ob des Todes der Mutter
traumatisierte Tochter geheilt hat, indem er mit ihr beobachtete, wie Albatrosse
an der neuseeländischen Küste mühsam flügge werden, um dann ein Leben lang
in den Lüften zu sein. Während seiner Erzählung läuft im Radio ›Highlands‹ von
Bob Dylan – »I wish someone would come /And push back the clock for me« –, da
unterbrechen Nachrichten die melancholische Ballade: Nachrichten von einem Erd-
beben in Wellington, von einem Mord in Christchurch, vom Krieg in Afghanistan,
vom Krieg in Südosteuropa, vom Amoklauf eines Schülers in den USA. Wie Dylans
Ballade so unterbricht auch Ransmayr seine Erzählkunst immer wieder, er akzen-
tuiert damit die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und demonstriert in diesen
Unterbrechungen, was die Lebensformen bedroht, für deren Überleben es sich zu
sorgen und zu erzählen lohnt. Die Erzählung ›Die Flugversuche‹ endet jedoch nicht
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Günter Blamberger
mit den Radionachrichten, sondern mit dem Aufstieg eines jungen Königsalbatros-
ses, der mit einem Triumphgeschrei davon segelt: mit einem Bild der Levitation, der
Freiheit von irdischer Schwere und allen Ländergrenzen, welches ganz unbildlich,
also wörtlich zu verstehen ist – solange es solche Vögel gibt.
Dem schwermütigen Nomaden Kleist, der sich nach solcher Leichtigkeit und
Grazie sehnte, hätte dieses Schlussbild gefallen. Dass Christoph Ransmayr heute
den Kleist-Preis erhält, verdankt er, verdanken wir dem Vertrauensmann der Jury,
László Földényi, dem Herausgeber der ungarischen Kleist-Ausgabe und Autor
des Kleist-Buches ›Im Netz der Wörter‹, 1999 erschienen, das bis heute Kult ist
bei Kleist-Forschern wie bei Theaterregisseuren, ein Kleist-Porträt, verfertigt aus
100 Stichwörtern von »Ach« bis »Zufall«, das kein Steckbrief ist, der Kleists Bild
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht, stillstellt, sondern Kleist
als Unruhestifter zeigt, der Fragen stellt, die nicht aufhören, weh zu tun. Wie auch
Földényi im Übrigen, in jedem seiner Bücher über Caspar David Friedrich, Francisco
de Goya, Fjodor Dostojewski, Imre Kertész, Franz Kafka oder Giorgio de Chirico.
Ulrich Khuon und Ulrich Beck darf ich danken: für die Gastfreundschaft des
Deutschen Theaters und das Arrangement der Preisverleihung, ebenso Maren
Eggert und Christian Muthspiel für die Intensität ihrer Spiel- und Lesekunst. Mein
Dank gilt weiter den Sponsoren des Kleist-Preises, den ich persönlich adressie-
ren darf, heute an Frau Vogel, Frau Dr. Wagner und Frau Bückmann. Ohne die
finanzielle Förderung der Holtzbrinck Publishing Group gäbe es nicht seit über drei
Jahrzehnten wieder eine feste Kleist-Preistradition. Gleiches gilt für den Bund und
die Länder Berlin und Brandenburg. Anlässlich der gelungenen Kooperation von
Kleist-Museum und Gesellschaft im Kleist-Gedenkjahr 2011 wurde uns vom BKM
eine Stiftung in Aussicht gestellt, die die Arbeit beider Institutionen fördern sollte,
wie ich es am Ende jeder Kleist-Preisrede seit dem Jahr 2000 regelmäßig vorgeschla-
gen hatte. Für das Kleist-Museum ist dieses Versprechen jetzt eingelöst worden, mit
Hilfe einer großzügig ausgestatteten Landesstiftung, was uns – ehrlich und neidlos
– freut, aber ebenso würde es uns freuen, wenn unsere Gesellschaft in diese Stiftung
integriert werden könnte, in welcher Form auch immer, denn nur ehrenamtlich ist
unser vielfältiges Engagement für das Eingedenken Kleists wie für den Kleist-Preis
und damit für die Gegenwartsliteratur nicht länger zu leisten, weder personell noch
finanziell. Die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft versammelt im In- und Ausland
Kleist-Expertinnen und -Experten aus Wissenschaft, Theater, Literatur und Film.
Von ihren Impulsen hängt auch die Zukunft des Kleist-Museums entscheidend ab,
und wir würden die Zusammenarbeit gern fortsetzen. Verzeihen Sie mir diesen Not-
ruf, lieber Herr Ransmayr, dies ist Ihr Ehrentag, das habe ich nicht vergessen, und
das macht uns jetzt gleich László Földényi wieder klar, auf dessen Rede wir uns
freuen wie auf Ihre Dankesrede. Zuletzt darf ich mich noch bei Monika Schoeller
und dem S. Fischer-Verlag bedanken, für die Einladung zu einem Empfang nach
der Preisverleihung.
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László F. Földényi
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László F. Földényi
um sich nicht zu verirren, bis er schließlich unvermittelt doch noch ins Ziel gelangt.
Und überrascht feststellt, dass die Sätze in eine neue, bis dahin nie wahrgenommene
Welt Einblick gewähren. Ja, eine neue Welt erschaffen. Hier ein beliebig ausge-
wählter Satz aus seinem Buch ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹, in dem der Autor
eine Gruppe Betender vor den Gittertoren der Anstaltskirche des Psychiatrischen
Krankenhauses ›Am Steinhof‹ in Wien beschreibt:
Den Blick in das von zwei Ampeln nur schwach erhellte, golden schimmernde Kir-
chenschiff gerichtet, knieten oder standen die Betenden vor den versperrten Toren
und umklammerten die Gitterstäbe, als ob die abendliche Weite in ihrem Rücken,
die träge ziehenden Wolken, ja die ganze Stadt, die, aus der Höhe des Kirchenportals
betrachtet, in einer blaugrauen Tiefe lag – Regionen einer vergitterten Welt wären
und das verschlossene Halbdunkel, in das sie ihre Gebete, Lieder und Litaneien mur-
melten und sangen, die Freiheit, ein kostbar funkelnder, unendlicher Raum.
Wie in dem eingangs zitierten Satz aus ›Kohlhaas‹ geht es auch hier um einen Blick.
Dort richtet sich der Blick aus dem Leben auf den Tod, hier aus dem Eingesperrtsein
auf die Freiheit. Und wie bei Kleist ist der Satz auch bei Ransmayr an sich schon so
wie das, wovon er handelt: ein verschlungenes Labyrinth, das den Leser immer mehr
gefangen nimmt, um ihn am Ende unvermittelt doch noch zu beschenken – mit der
Freiheit, die man beim Anblick des unendlichen Raumes empfindet. Ein komplexer
Satz, keine Frage – ein Deutschlehrer mit Rotstift in der Hand könnte ihn in min-
destens zehn eigenständige Sätze zerlegen. Oder wenn nicht, so würde er zumindest
die Hypotaxen eliminieren und das Ganze dadurch flüssiger machen. So verfuhren
jedenfalls die nachfolgenden Generationen mit Kleists Sprache, wenn sie seine Wer-
ke herausgaben und dabei unzählige ›Korrekturen‹ durchführten. Mal änderten sie
die Anzahl der Absätze, mal verwandelten sie die indirekte Rede in Dialoge, modifi-
zierten willkürlich die Interpunktion, splitterten einzelne Sätze in mehrere neue auf.
Diese Gefahr droht auch Ransmayr. In seinem Buch ›Geständnisse eines Touristen‹
zitiert er selbst einen Kritiker, nach dessen Ansicht »mein leider sehr übel geschrie-
bener Roman ›Morbus Kitahara‹ erst noch ›ins Deutsche zu übersetzen‹ wäre.«
Was bedeutete eine solche Übersetzung? Indem man Kleists Sprache geglättet
hatte, hatte man versucht, ihn der Sprache des Realismus des ausgehenden neun-
zehnten Jahrhunderts anzugleichen. Damit er wie Fontane oder der junge Thomas
Mann klang. Und welchem Zweck diente eine ›Übersetzung‹ Ransmayrs? Dass er
leicht verständlich, seine Sätze schnell erfassbar, seine Ausdrucksweise schmiegsam
werde. Mit anderen Worten, dass er der Entwicklung angepasst werde, die Felix
Philipp Ingold als die »McDonaldisierung der Literatur« bezeichnet hat, damit der
zügigen Informationsvermittlung nichts im Wege steht. Im Gegensatz zur gängigen
Syntax, die das breite Lesepublikum heutzutage von der Literatur erwartet, ver-
mitteln Ransmayrs Sätze nicht nur Information, sein eigentümlicher Satzbau und
Sprachgebrauch haben vielmehr an sich schon Informationscharakter. Deshalb ist
jedes seiner Worte von existenzieller Bedeutung. Ich lese seine Prosa auch deshalb so
gern, weil sie sehr schnell in eine Region führt, die ich am ehesten mit der Dichtung
assoziiere. Er legt nämlich den gleichen Wert auf die innere Struktur der Sätze wie
auf das, wovon sie handeln. In der Dichtung ist das eine Selbstverständlichkeit. In
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Im Banne des weißen Fleckes
der Prosa weniger: Da scheint das Was? in der Regel wichtiger zu sein als das Wie?
Wie sagte doch in den 1920er Jahren Friedrich Gundolf – als kundiger Leser – über
Kleists Prosa? »Er zuerst legt unter den deutschen Dichtern das Gewicht mit Erfolg
mehr auf die Sagung als aufs Gesagte.« Genauso eigenartig und wunderlich wie das
Wort »Sagung« ist auch Ransmayrs Sprache. Das Wie? lässt sich in seiner Prosa nie
von dem Was? trennen. Seine Sätze wirken wie Lebewesen. Die Sprache selbst ent-
faltet und erschafft das, wovon sie dann sprechen wird. Er überträgt nicht einen Ge-
danken in Worte, die sich dann wiederum zu Sätzen zusammensetzen, sondern erst
bei der Niederschrift der Worte entsteht der Gedanke und wächst sich zu einem Satz
aus. So erkläre ich mir, dass ich, wenn ich ihn lese, oft sogar zu spüren glaube, wie
er beim Schreiben Luft geholt hat. Seine Sätze haben sprichwörtlich einen Körper.
Wie sind Ransmayrs Sätze? Mit Thomas Bernhard gesprochen: »einfach kompli-
ziert«. Grammatikalisch, syntaktisch sind sie fehlerfrei, doch hinter ihrer rationalen
Struktur verbirgt sich etwas, was rational nicht zu fassen ist. Dabei geht es aber
nicht um etwas Irrationales, sondern um etwas, was ich als unkartographierbar be-
zeichnen würde. Ich verwende dieses Wort bewusst, handelt es sich bei ihm doch
um jemanden, der vermutlich alle belebten und unbelebten Regionen auf der Welt-
karte bereits bereist hat. Die Last seines eigenen Lebens wird man ihm aber wohl
nirgendwo abgenommen haben. Um ihn selbst zu zitieren: »Vermessen und karto-
graphiert ist so gut wie alles, aber weitgehend unbekannt ist immer noch, was sich
in einem selber auftut, wenn man durch eine ungeheure, übermächtige Landschaft
geht.« Davon handelt für mich ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹, den ich für das
bedeutendste deutschsprachige Buch der letzten Jahre halte. Die Verlockung die-
ses »noch nie Gesehenen« ist es, was Ransmayrs Helden umtreibt; sie sind ständig
auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht gar nicht finden zu können glauben,
von dessen Vorhandensein sie aber felsenfest überzeugt sind. Was es ist, wissen sie
selbst nicht. Schließlich suchten die Polarreisenden nicht den Nordpol, sondern das
Paradies und fanden es auch, obwohl sie auf halbem Wege umkehren mussten. Die
Protagonisten von ›Morbus Kitahara‹ sind auf der Suche nach Versöhnung. Der
Erzähler von ›Atlas‹ ist ständig unterwegs, doch führt sein Weg wie der Heinrich von
Ofterdingens »immer nach Hause«. Die Helden von ›Der fliegende Berg‹ wiederum
sind hinter dem weißen Fleck her, »jenem makellos weißen Fleck / in den wir dann
ein Bild unserer Tagträume / einschreiben können.«
Ja, der »weiße Fleck«. Davon wollte ich eigentlich von Anfang an sprechen. Was
ist der weiße Fleck? Ein unstillbares, inneres Verlangen, das den Reisenden allen Wi-
derständen zum Trotz immer wieder aufbrechen lässt, auf der Jagd nach etwas, von
dem er nicht einmal wirklich Rechenschaft geben könnte. Wenn ich an den Titel
von Ransmayrs erstem Buch denke (›Die Entdeckung des Wesentlichen‹), würde
ich sagen: Der weiße Fleck ist das, was traditionell als ›Wesen‹ bezeichnet wird.
Ransmayr hütet sich natürlich, das Wort ›Wesen‹ zu verwenden, wie auch die Worte
›Metaphysik‹ oder ›Transzendenz‹. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er sie gar
nicht im Sinn hat, sich mit ihnen gar nicht beschäftigt. Der Grund dafür liegt ver-
mutlich darin, dass er nicht über sie, sondern aus ihnen heraus schreibt, gleichsam
aus ihnen herausblickt.
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László F. Földényi
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Christoph Ransmayr
Kohlhaas
Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2018
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Christoph Ransmayr
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Kohlhaas
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Christoph Ransmayr
Ortsbauernschaft drängte, doch als Kandidat der Christlich Konservativen für den
Gemeinderat zu kandidieren.
Gegen die leidenschaftlichen Bitten und Beschwörungen meiner Mutter blieb
mein Vater dankbar wie je, dankbar für die Achtung, die man ihm entgegenbrachte,
für den Respekt, das Vertrauen, die Zuneigung, darunter gewiß immer wieder auch
die Zuneigung von Hausfrauen, denen er leidenschaftliche Briefe schrieb und sich
in den Flußauen an geheimen Nachmittagen mit ihnen traf. Er ging aus den Wah-
len als stellvertretender Bürgermeister hervor. Und dieser Triumph war wohl eine
der Bedingungen seines Unglücks. Denn der regierende, nun von einem Empor-
kömmling zur Rechenschaft gezogene Bürgermeister, Geistesverwandter einer von
SS-Offizieren gegründeten politischen Bewegung, die im Österreich der Gegenwart,
aber das nur nebenbei, als ›Freiheitliche Partei‹ die Regierungsbank, das Innenmi-
nisterium, Außenministerium, Verteidigungsministerium, Verkehrsministerium
etc. besetzt hält und einem mythischen ›Kleinen Mann‹ Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen verspricht …, wußte mit Konkurrenz nichts anzufangen. Die üblichen,
politische Parteien seit je mehr als jedes Programm beschäftigenden Kämpfe be-
gannen und wurden mit den üblichen, der politischen Arbeit stets nachgeordneten
Mitteln geführt – üble Nachrede, Beschimpfungen, Verleumdungen. Auf diesem
Schlachtfeld mußte der regierende Bürgermeister nicht lange nach der Achillesfer-
se des Emporkömmlings suchen. War es denn nicht allgemein bekannt, daß mein
Vater Kredite am Küchentisch vergab? Daß im Dorf so gut wie alle Geschäfte per
Handschlag gemacht wurden, sollte schließlich nur dort geduldet werden, wo keiner
der Geschäftspartner irgendwo irgendwem im Weg stand.
Einer Anzeige des Bürgermeisters folgte jener Morgen, an dem zwei Polizeiautos
mit blinkendem Blaulicht im Hof vor der Schule hielten und mein Vater von fünf
Gendarmen wegen des Verdachts der Untreue verhaftet und ins Gefängnis verbracht
wurde. Die Lokal- und Regionalzeitungen widmeten dieser Ungeheuerlichkeit
mehrere Titelseiten in Folge. An einem der wöchentlichen Besuchstage, an denen
Gefangene und Besucher einander unter uniformierter Aufsicht an von feuchten
Händen und Tränen gefleckten Tischen gegenübersaßen, sah ich zum ersten Mal,
wie meine Eltern sich innig küßten. Erst später, viel später erfuhr ich, daß die beiden
dabei Kassiber austauschten, von denen ich zwei nach dem Tod meiner Mutter im
Nachlaß finden sollte. Es waren Liebesbriefe, die keinerlei Anweisungen für das
praktische Leben oder verbotene Absprachen enthielten.
Mein Vater verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den
Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürger-
meister. Der einer langen Untersuchungshaft folgende Prozeß ergab zwar, daß der
Schuldige bloß seine Befugnisse durch die Umgehung des – ohnedies uninteressier-
ten, aus Landwirten und Handwerkern bestehenden – Aufsichtsrates überschritten
hatte, ergab auch, daß alles verliehene Geld mit entsprechendem Gewinn für die
Bank zurückbezahlt worden war und mein Vater sich dabei weder persönlich be-
reichert noch andere Vorteile bezogen hatte, aber nach dem Gesetz war der Tatbe-
stand der Untreue erfüllt. Die Freiheitsstrafe war entsprechend mild und entsprach
– möglicherweise als Vorbeugung gegen Entschädigungszahlungen – der Dauer der
Untersuchungshaft.
14
Kohlhaas
Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nach-
sicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit. »Die Welt würde sein Andenken
haben segnen müssen«, schrieb Heinrich von Kleist über meinen Vater, »wenn er in
einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Dem Rechtgefühl …«.
Mein Vater weigerte sich, das Urteil anzunehmen. Hatte er sich denn nicht stets
für seine Mitbürger eingesetzt, ohne dafür auch nur die geringste Gegenleistung
zu fordern? Hatte er sich als Lehrer denn nicht an seinen freien Nachmittagen und
auch in langwierigen Fällen ohne Entgelt um die Nachhilfe von Kindern angenom-
men, die auf den Höfen ihrer Eltern zur Stall- und Feldarbeit gebraucht wurden
und denen, wenn sie am Morgen zur Schule kamen, noch das Heu oder Stroh ihrer
schweren Arbeit aus den Kleidern stach? Und hatte man ihm nicht fünf, nein: sechs!
Medaillen verliehen, nachdem er in Badesommern am Fluß von plötzlich rotie-
renden Wirbeln erfaßte Schwimmer bei Gefahr für sein eigenes Leben vor dem
Ertrinken gerettet hatte?
Kohlhaas legte also Berufung ein. Dieser Einspruch beließ sein Verfahren aber in
der Schwebe, was bedeutete, daß er bis auf weiteres nicht wieder in den Schuldienst,
bis auf weiteres auch nicht wieder in sein altes Leben aufgenommen werden konnte.
Berufung. Mein Vater war überzeugt, daß diese Entscheidung nur zu einem Resultat
führen konnte, einem Freispruch. Nichts anderes würde er, nichts anderes konnte
er annehmen.
Die Witwe eines Kohlenhändlers, die ihm vor dem Krieg als Frau versprochen
war, die bei seiner späten Heimkehr aber längst verheiratet und nun erst wieder
alleinstehend war, beschaffte ihm ein erstes Darlehen für die Kosten des Verfahrens.
Kohlhaas nahm dazu Arbeit am Fließband in einer Großtischlerei, dann aber in
einer der Papierfabriken am Fluß an, – weil ihm nur dort fortwährende Nacht-
schicht erlaubt wurde. Er schlief tagsüber und fuhr mit einem Moped täglich, auch
bei Regen und Schneefall, zur Nachtschicht um 22:00 Uhr, in die Finsternis. Er
wollte im Dorf nicht gesehen werden und wollte auch niemanden sehen, bis sein
Freispruch bestätigt sein würde. Ich erinnere mich an einen Alteisenhändler, der,
auch dies nur nebenbei, mit einem Dichter namens Thomas Bernhard aus dem
Nachbardorf gelegentlich Geschäfte machte, wenn der Dichter nach stilgerechten
Ausstattungen für einen seiner Höfe suchte. Der Alteisenhändler, ein Parteifreund
des regierenden Bürgermeisters und wegen einer Reihe fehlender Zähne an seiner
Aussprache selbst am Telefon zweifelsfrei erkennbar, rief monatelang und manchmal
tiefnachts, wenn Kohlhaas am Fließband stand, in unserer Wohnung an und brüllte
den Kindern des Angeklagten oder seiner Frau ins Ohr, ihr Mann, unser Vater, der
verurteilte Dreckslehrer, sei ein Hurensohn und Verbrecher, den man nicht einsper-
ren, sondern aufhängen sollte.
Heinrich von Kleist schrieb über diese Tage: »Es fehlte Kohlhaas … keineswegs
an Freunden, die seine Sache lebhaft zu unterstützen versprachen … Gleichwohl
vergingen Monate, und das Jahr war daran, abzuschließen, bevor er … auch nur
eine Erklärung über die Klage, die er … anhängig gemacht hatte, geschweige denn
eine Resolution selbst, erhielt.«
Zu Kohlhaas’ engsten Freunden, die sich als Feinde des regierenden Bürger-
meisters verstanden, gehörten ein Bäcker, ein Fuhrwerksunternehmer und ein Gast-
15
Christoph Ransmayr
wirt, Ehrenmänner des Dorfes, die ihm dringend empfahlen, doch nun seinerseits
zweifelhafte Geschäfte des Bürgermeisters zur Anzeige zu bringen, sie würden das
Material dazu liefern. War denn nicht mitten im Auwald, einer Flußlandschaft, in
der neben anderen Orchideengewächsen selbst der seltene Frauenschuh gedieh, den
die Himmelskönigin Maria auf ihrem Weg ins Paradies getragen haben sollte, nun
gegen alle Naturschutzbestimmungen ein Tümpel voll Ölschlamm, giftiger Schlacke
zum Vorteil einer Ölbohrgesellschaft entstanden? Und waren denn nicht Bauauf-
träge ohne Ausschreibung vergeben und Geistesverwandte mit Schotterlieferungen
aus gemeindeeigenen Gruben bedacht worden?
Wie in den Jahren seines verlorenen Glücks war Kohlhaas auch diesmal bereit,
Wohlmeinenden dienstbar zu sein, ging es doch nun auch um sein eigenes Schicksal.
Er schrieb also einen Brief an die Behörde, listete darin die von den Freunden vor-
geschlagenen zweifelhaften Unternehmungen des Bürgermeisters auf und blieb auf
den Rat der Wohlmeinenden hin als Verfasser anonym. Wer würde denn, war ihm
geraten worden, einem Angeklagten, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf die
Verbrechen eines anderen lenken wollte, Glauben schenken? Auch wenn der Bäcker,
der Gastwirt und der Fuhrwerksunternehmer nicht leugnen wollten, daß der Unter-
gang des Bürgermeisters auch ihnen Vorteile verschaffen würde, konnte es Kohlhaas
doch nur nützen, wenn sein Ankläger nun seinerseits im Zwielicht erschien.
Die Behörde wollte die erhobenen Beschuldigungen zwar nicht bestätigen,
konnte aber das Schreiben durch den aufliegenden Schriftverkehr zur Berufungs-
verhandlung diesem Kohlhaas zuordnen, der daraufhin der Verleumdung bezichtigt
wurde. Die einflüsternden Ehrenmänner, Bäcker, Fuhrwerker und Wirt, gaben im
Ermittlungsverfahren zu Protokoll, sie hätten über das betreffende Schreiben zwar
irgendwann gesprochen, das ja, es aber um Himmelswillen nicht verfaßt und um
Himmelswillen nicht abgeschickt und also um Himmelswillen damit nichts zu tun.
Ich las in diesen Tagen Heinrich von Kleists Novelle vom Roßhändler zum dritten
Mal und träumte von einem triumphalen Ende aller Prozesse, träumte davon, daß
mein Vater sich in einem Siegeszug im Dorf zeigen würde: »… ein großes Cherubs
schwert, auf einem rotledernen Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm
vorangetragen, und zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln folgten ihm …«.
Tatsächlich aber wurde Kohlhaas, noch bevor sein Berufungsverfahren in anderer
Sache entschieden war, wegen Verleumdung, wenn auch noch einmal unter Be-
rücksichtigung mildernder Umstände, zu einer weiteren bedingten Gefängnisstrafe
verurteilt. Der Abstand zu seinem früheren bürgerlichen Leben schien damit ein
unüberbrückbarer Abgrund geworden zu sein.
Als nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik und schon jen-
seits aller Hoffnungen ein Berufungsgericht entschied, daß mein Vater als Kassier
zwar seine Befugnisse überschritten habe, er aber tatsächlich weder ein Betrüger
noch ein Dieb sei und ihm deswegen alle Rechtsfolgen seiner Verurteilung erlassen
wurden – er konnte also in allen Ehren wieder in den Schuldienst aufgenommen
werden und durfte auch seine verlorenen Ehrenämter wieder bekleiden –, starb mei-
ne Mutter. Sie hatte in den Jahren der Unsichtbarkeit ihres Mannes die Lasten wie
die Repräsentation der Familie in allen Belangen allein getragen, hatte anonyme
Briefe geöffnet und meinem Vater verschwiegen, hatte die Verfluchungen des Alt-
16
Kohlhaas
17
Christoph Ransmayr
abfuhr und sich eine Menge von Neugierigen staute und wieder verlief, erklärte ein
unter Blaulichtblitzen eingetroffener Notarzt meinen Vater für tot. Er wurde vom
örtlichen Bestatter in die Leichenkammer des Benediktinerklosters gebracht. Hinter
meterdicken Mauern schienen sich dort noch Frühlingstemperaturen erhalten zu
haben. Dabei war draußen Sommer. Ein brütend heißer Tag im Juli.
Als ich diese dämmrige Kammer kaum eine Stunde nach der Todesnachricht
betrat, sah ich Kohlhaas in sommerlicher Kleidung, wie bereit zu einem Nachmittag
am Fluß, auf einem Katafalk liegen. Der plötzliche Herztod hatte sein Gesicht, seine
Arme blauviolett verfärbt. Das wird verschwinden, sagte der Bestatter, dieses Blau
wird verschwinden. Am Abend wird ihr Vater wieder sein, wie er war.
Ich stand lange an der Bahre und habe vergessen, ob es Sekunden oder Minuten
dauerte, bis ich begriff, daß ich den Körper wieder und wieder nach einem Lebens-
zeichen absuchte, einem Atemzug, einem Pulsschlag, einer sanften, kaum merk-
baren Dehnung des Brustkorbs … Aber vor mir lag nur der Leichnam eines freien
Mannes.
18
Internationale Jahrestagung
der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft 2018
1 Helmut Koopmann, Kleist und Schiller. In: HKB 19, 50–71, hier 58. Dass die Szene auch
bei Schiller einen »Wendepunkt« bedeutet, trifft meines Erachtens aber nicht zu, obgleich in
beiden Fällen die Machtlosigkeit ebenso wie die Richtigkeit des eigenen Tuns reflektiert wird.
2 Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Versangabe zitiert nach: National
ausgabe, Weimar 1943ff., begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte
Blumenthal und Benno von Wiese, seit 1992 hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik
und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers.
21
Anne Fleig
beendet. Der Schritt ans Fenster unterstreicht diese Einsicht, weil er das tragische
Geschehen vorantreibt und dem Protagonisten gleichzeitig Abstand zu sich selbst
verschafft.3 Das Fenster markiert die Grenze von Wirklichkeit und Möglichkeit, von
Innen und Außen. Der Blick durch das Fenster ist immer der Blick des einzelnen
Subjekts auf die anderen oder die Welt draußen;4 als Bewegung der Reflexion fällt er
hier auf den Protagonisten zurück. Wallensteins Blick in die Dunkelheit gilt mithin
den eigenen Abgründen.
Auch Kohlhaas hat mit dem Tod seiner geliebten Frau einen hohen Preis für sein
Handeln gezahlt. Indem er darüber nachdenkt, dass er die Pferde »mit dem Blut aus
dem Herzen« (DKV III, 80) seiner Frau beglichen hat, verdichtet er die zitierten
Schiller’schen Verse. Kohlhaas wird kurz unsicher und wiederholt die Worte »kann
sein« (DKV II, 80), kommt dann aber ebenfalls zu dem Schluss, nun den Din-
gen ihren »Lauf« und den Junker die Pferde »auffüttern« (DKV III, 80) zu lassen.
Schließlich bittet er Luther, der sich für seine Rechtssache beim Kurfürsten ver-
wenden will, um Vergebung durch das Abendmahl, was Luther ihm aber verweigert
(vgl. DKV III, 81).
Dieses Ansinnen ist im Vergleich zu Wallenstein besonders aufschlussreich, weil
dieser jede Möglichkeit der Vergebung von vornherein zurückweist. Nicht nur wird
Wallensteins Handeln durch die Kohlhaas-Erzählung auch als Rache für seine Herab
setzung durch den Kaiser lesbar, vor allem zeigt sich hier, dass Kleists Protagonist
trotz seiner Zweifel innerlich aufgeräumt in die Zukunft blickt, die bekanntlich noch
»einige frohe und rüstige Nachkommen« (DKV III, 142) bereithält. Auch Kohlhaas’
Schritt ans Fenster, der – Bewegung und Zitat des Schiller’schen Nebentextes
zugleich – das Zitat des ›Wallenstein‹-Haupttextes durchbricht, reflektiert seine
abgründige Persönlichkeit, gibt aber dem Geschehen darüber hinaus eine andere
Richtung. Im Unterschied zu Wallenstein schaut Kohlhaas nämlich in eine Nacht,
der ein anderer Morgen folgt. Dies bringt auch seine kühne Bitte um Versöhnung
durch das Abendmahl zum Ausdruck.
Im Vergleich der beiden Textpassagen wird deutlich, dass Schiller und Kleist
jeweils den Abgrund der Macht beleuchten, der ihre Protagonisten schuldhaft
mit dem Geschehen verstrickt. Was aber in ›Wallenstein‹ – zweifellos dasjenige
Schiller-Stück, mit dem Kleist sich am intensivsten auseinandergesetzt hat – in
Untergang und Sinnlosigkeit endet, scheint bei Kleist beinahe heitere Zukunfts-
aussichten zu eröffnen. In der Anordnung der wörtlichen Übernahmen ist das Zitat
des ›Wallenstein‹-Nebentextes in ›Michael Kohlhaas‹ als eine Teilung und Unter
3 Wallensteins Schritt kann damit auch als Teil jener Auftrittsstruktur gedeutet werden, die
Juliane Vogel für die Tragödie des 18. und 19. Jahrhunderts beschrieben hat und auf die
der Tagungstitel anspielt. Demnach ist der Schritt bzw. der Auftritt Teil eines tragischen
Verstrickungszusammenhangs, der den Protagonisten vorantreibt und begrenzt, was hier
durch das Fenster in besonderer Weise sinnfällig wird und die Theatralität der Szene her-
vorhebt. Zum Auftritt vgl. Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen
Racine und Nietzsche, Paderborn 2018, besonders S. 11–21.
4 Vgl. Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur
Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a. M. 1989, S. 8.
22
Kleist und Schiller
5 Vgl. Koopmann, Kleist und Schiller (wie Anm. 1), S. 60. Vgl. außerdem ders., S chiller
und Kleist. In: Aurora 50 (1990), S. 127–143. Zu weiteren Schiller-Bezügen in Kleists
›Michael Kohlhaas‹ vgl. u. a. Bernd Hamacher, Geschichte und Psychologie der Moderne
um 1800 (Schiller, Kleist, Goethe): ›Gegensätzische‹ Überlegungen zum ›Verbrecher aus
Infamie‹ und ›Michael Kohlhaas‹. In: KJb 2006, 60–74.
6 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Anne Fleig, Christian Moser und Helmut J. Schneider,
Einleitung. Schreiben nach Kleist. In: Dies. (Hg.), Schreiben nach Kleist. Literarische,
mediale und theoretische Transkriptionen, Freiburg i.Br. 2014, S. 9–30, hier S. 11.
7 Vgl. beispielsweise den kleinen Band von Helmut Hühn, Nikolas Immer und Ariane
Ludwig (Hg.), Schiller und die Romantik, Weimar 2018.
8 Vgl. dazu mit Blick auf die hier diskutierten Texte auch Johannes F. Lehmann, Einfüh-
rung in das Werk Heinrich von Kleists, Darmstadt 2013, S. 49.
23
Anne Fleig
Mit dem Titel ›Kleist und Schiller – Auftritt der Moderne‹ hat die internatio-
nale Jahrestagung der Heinrich von Kleist-Gesellschaft 2018 signalisiert, dass das
Verhältnis der beiden Autoren Kleist und Schiller als vielschichtige Konstellation
zu konzipieren ist, deren spezifische Charakteristika an die Herausbildung der
Moderne gebunden sind.9 Ihr Anliegen war es auch, auf den Umstand zu reagieren,
dass es zwar immer wieder Hinweise auf Schiller-Bezüge oder -Zitate in der Kleist-
Forschung gibt, dass aber keine größere Untersuchung vorliegt, die unter systemati-
schen Gesichtspunkten Kleist und Schiller in Beziehung zueinander setzt.10
Dieses auffällige Missverhältnis bildet den Ausgangspunkt für eine doppelte Per-
spektivierung der folgenden Beiträge, die die Vielfalt der Bezüge zwischen Kleist
und Schiller in Einzelstudien erproben. Sie fragen zum einen nach den beiden Au-
toren als Zeitgenossen, die an einem gemeinsamen historischen Erfahrungsraum
teilhaben, der in ihren Texten widerhallt; zum anderen richten sie ihren Blick auf die
unterschiedliche Positionierung der beiden im literarischen Feld, das um 1800 durch
das Programm der Weimarer Klassiker Goethe und Schiller, vor allem aber durch
deren literaturpolitische Auseinandersetzung mit der Spätaufklärern, aber auch den
Schlegel-Brüdern im ›Xenien‹-Streit geprägt ist; ein Streit, der noch in Kleists Epi-
grammen im ›Phöbus‹ aufgerufen wird, den Kleist aber gleichzeitig zu überbrücken
sucht.11
Der Begriff der Konstellation soll verdeutlichen,12 dass Kleist und Schiller eben
nicht nur zeitgenössische Autoren sind, sondern dass ihre Namen eine Autorität ver-
bürgen, die mit unterschiedlichsten Deutungsmustern und Zuordnungen verbun-
den ist und bis heute die Lektüre und Analyse ihrer Texte bestimmt. Dem liegt die
Annahme zugrunde, dass vor einem systematischen Vergleich der Texte jene Muster
freigelegt und reflektiert werden müssen, um die Differenz der populären, literari-
schen und fachwissenschaftlichen Rezeption beider Autoren zu ermessen.
Aus ihr resultiert zudem eine erhebliche Ungleichzeitigkeit, denn die Grundlagen
der literarhistorischen Konstellation Kleist und Schiller werden erst im Rückblick
der Moderne-Diskussion um 1900 geschaffen. Die Entdeckung Kleists als moderner
Autor und Anti-Klassiker führt vor dem Hintergrund seiner vieldiskutierten Bezie-
hung zu Goethe und seiner produktiven Anverwandlung Shakespeares auf der einen
Seite und dem Schiller-Überdruss des langen 19. Jahrhunderts auf der anderen Seite
zu einer Gegenüberstellung von Kleist und Schiller, die die vergleichende Betrach-
9 Die Jahrestagung fand in Kooperation mit der Deutschen Schillergesellschaft vom 15. bis
zum 17. November 2018 an der Freien Universität Berlin statt. Wir danken der Deutschen
Schillergesellschaft und der ALG (Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften) für die
Förderung der Tagung.
10 Für einen immer noch aktuellen Überblick über die Forschung vgl. Claudia Benthien,
Schiller. In: KHb, 219–227 sowie ihren folgenden Beitrag.
11 Vgl. dazu Dieter Martin, Beschreibung eines ›Kampfes‹ – Kleist und die Weimarer K lassik.
In: Werner Frick (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebellischen Klassikers,
Freiburg i.Br. 2014, S. 367–390, insbesondere S. 368.
12 Vgl. zum Begriff und zu Foucaults Konzeption des Autors als Begründer von Diskursivi-
tät Anna-Lena Scholz, Kleist / Kafka. Diskursgeschichte einer Konstellation, Freiburg i.Br.
2016, S. 12f.
24
Kleist und Schiller
tung der beiden Autoren erschwert. Mit dem Begriff der Konstellation soll daher
auch der Blick dafür geschärft werden, dass immer wieder geklärt werden muss, von
welchem Kleist und welchem Schiller eigentlich die Rede ist.
Schiller und Kleist haben sich mit ihren jeweils ersten, anonym publizierten
Stücken ›Die Räuber‹ (1781) und ›Die Familie Schroffenstein‹ (1803) zuerst als Dra-
matiker einen Namen gemacht. Die Stücke wurden positiv aufgenommen und
in den Kontext der deutschsprachigen Shakespeare-Rezeption gerückt, die in den
1760er Jahren einsetzt und am Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere durch die
Arbeit Friedrich Gundolfs erneut verhandelt wird.13 Während also schon die frühen
Texte von Schiller und Kleist bei allen Unterschieden eine eigentümliche Nähe im
sprachlichen Duktus und im Gefühlsausdruck zeigen, rücken nach der Erfahrung
der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft die späten Texte
Schillers und Kleists – wie gerade der immer wieder zitierte ›Wallenstein‹ verdeut-
licht – womöglich noch näher zusammen.14
Die Konstellation um 1800 ist daher vor allem durch die Auseinandersetzung der
Dramatiker Kleist und Schiller mit der Entwicklung von Komödie und Tragödie
bestimmt, die auch als Diskussion um Modernität und das Ende der Tragödie ver-
standen werden kann. Sie schlägt sich im Aufbau der Stücke, aber auch in der Wahl
von Stoffen und Motiven nieder. Themenkomplexe wie Rache und Gerechtigkeit,
Vertrauen und Verrat oder das Verhältnis von Göttern und Menschen, welches nicht
zuletzt auch verschiedene Entwürfe von Geschlecht einschließt, charakterisieren bei-
der Werke und verweisen auf die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft im
Zuge von Prozessen der Säkularisierung und Individualisierung. Von Bedeutung ist
vor diesem Hintergrund auch die Analyse von Zeit und Ort der Handlung, Entwür-
fen und Auftritten der Figuren sowie ihrer Körpersprache, die teils ausführlich in
den Nebentexten verhandelt wird und Rückschlüsse auf die Poetik beider Autoren
erlaubt. Das Augenmerk der folgenden Beiträge gilt schließlich auch der drama
tischen Sprache, die in gebundener und ungebundener Form den affektiven Gehalt
der Stücke vermittelt und vollzieht.
Doch geht der vergleichende Blick in der Dramenanalyse nicht auf, da die lite-
rarische Entwicklung um 1800 – wie vielleicht gerade der Vergleich von Kleist und
Schiller zu akzentuieren vermag – Gattungsgrenzen hinterfragt und verschwimmen
lässt. Die Episierung des Dramas bei Schiller und Kleist und die Theatralität der
Erzählungen Kleists legen davon, wie eingangs das ›Kohlhaas‹-Beispiel andeuten
sollte, beredtes Zeugnis ab. Fragen der Ästhetik, der Rhetorik oder des Stils werden
im Folgenden aber auch an Schillers und Kleists theoretischen Schriften und ihren
Zeitschriftenprojekten diskutiert. Insgesamt geht es um die Frage, inwiefern die Tex-
te beider Autoren auf je spezifische Weise die Verstrickungen von Macht und Selbst-
bestimmung verhandeln, die literarisch, historisch und politisch an den Auftritt der
Moderne gebunden sind bzw. Modernität allererst hervorbringen.
13 Vgl. Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1911. Zu den Bezie-
hungen zwischen Kleist und Shakespeare vgl. den Schwerpunkt ›Kleists Shakespeare‹ im
Kleist-Jahrbuch 2017.
14 Vgl. dazu auch Koopmann, Kleist und Schiller (wie Anm. 1), S. 50.
25
Claudia Benthien
I.
Zeugnisse für einen Briefwechsel oder die persönliche Bekanntschaft von Friedrich
Schiller und Heinrich von Kleist sind nicht überliefert.1 Während die Bedeutung
von Johann Wolfgang von Goethe für Kleists Dramatik unumstritten ist – zumal
er sich um dessen Gunst vergeblich bemühte –,2 wird sein Verhältnis zu Schiller
in der Forschung bislang als eine Art unterschwellige Rivalität betrachtet. So spe-
kulierte etwa Katharina Mommsen, Kleist habe 1805 gehofft, »den nach Schillers
Tod freigewordenen Platz an Goethes Seite einnehmen zu können«.3 Diese These
der Rivalität wurde von Hartmut Reinhardt indirekt bestätigt, wenn er bemerkt,
dass zwar die »Nähe zu Werken und Themen Schillers […] unübersehbar«, nach
Schillers Tod jedoch »die Spur eines literarischen Wettkampfs« nicht mehr deutlich
ausgeprägt sei.4 Zur Bedeutung Schillers für Kleist wird zumeist auf drei Briefe ver-
wiesen, die dieser 1800 und 1801 an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge und seine
Halbschwester Ulrike verfasste und in denen Schillers Dramen ›Don Karlos‹ und
›Wallenstein‹ enthusiastisch zitiert werden.5
Daran anknüpfend wurde lange Zeit angenommen, die intellektuelle Aus-
einandersetzung mit Schiller habe primär Kleists Frühwerk geprägt, wie ja auch
1 »Direkten Kontakt mit Schiller scheint es nicht gegeben zu haben, und ebenso wenig
finden sich Aussagen Kleists, die direkt belegen würden, dass er Schillers Dramen als Folie
des eigenen Werks gesehen hat.« (Dieter Martin, Beschreibung eines ›Kampfes‹ – Kleist
und die Weimarer Klassik. In: Werner Frick [Hg.], Heinrich von Kleist. Neue Ansichten
eines rebellischen Klassikers, Freiburg i. Br. 2014, S. 367–390, hier S. 377) Die nachfolgen-
de Darstellung übernimmt in gekürzter und überarbeiteter Form einige zentrale Argu-
mente und Zitate aus einem Überblicksartikel der Verfasserin: Claudia Benthien, Schiller.
In: KHb, 219–227, hier 219.
2 Vgl. zum Beispiel Katharina Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Frankfurt a. M. 1979;
Bernhard Böschenstein, Antike und moderne Tragödie um 1800 in dreifacher Kontro-
verse. Goethes ›Natürliche Tochter‹ – Kleists ›Penthesilea‹ – Hölderlins ›Antigone‹. In:
Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue, Akten des VII. Internationalen Ger-
manisten-Kongresses Göttingen 1985, Tübingen 1986, S. 204–215; Helga Gallas, Antiken-
rezeption bei Goethe und Kleist: Penthesilea – eine Anti-Iphigenie? In: Thomas Metscher
und Christian Marzahn (Hg.), Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde, Köln
u. a. 1991, S. 341–352.
3 Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe (wie Anm. 2), S. 14.
4 Hartmut Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-
Rezeption bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988 / 89, 198–218, hier 215.
5 Ausführlicher dazu sowie zur entsprechenden Forschung vgl. Benthien, Schiller (wie
Anm. 1), 220.
27
Claudia Benthien
Reinhardt glaubt. Gisela Berns etwa hat konstatiert, die früheren Kleist-Dramen
enthielten »ein engmaschiges Netz von ›Don Carlos‹- und ›Wallenstein‹-Zitaten«,
die späteren fast nur noch Zitate aus dem ›Wallenstein‹. Auch den veränderten Cha-
rakter dieser Zitate beobachtet Berns: Während es in den früheren Werken »lange,
meist wörtliche, noch untereinander verschränkte Einlagen« sind, handele es sich
bei den späteren Werken um »einzelne, eher stichwortartige, und dadurch in sich
verfremdet wirkende Einsprengsel«.6 Demgegenüber hat die jüngere Forschung
herausgestellt, dass sich auch in Kleists Spätwerk – in Dramen wie ›Penthesilea‹,
›Das Käthchen von Heilbronn‹ und ›Die Herrmannsschlacht‹, in der Erzählung
›Michael Kohlhaas‹ oder im Kunstessay ›Über das Marionettentheater‹ – zahlreiche
Korrespondenzen und Kontrafakturen finden.7
Hinsichtlich weltanschaulicher und ästhetischer Ähnlichkeiten oder Unterschiede
zwischen beiden Autoren besteht in der Forschung ein widersprüchliches und wech-
selnden ›Konjunkturen‹ unterworfenes Bild. Ulrich Johannes Beil verweist zu Recht
auf das Problem einer Funktionalisierung Schillers als Kontrastfolie: »Die Crux der
bisherigen Schiller-Kleist-Vergleiche scheint zu sein, dass die klassische, idealisti-
sche Ästhetik als eine bekannte Größe vorausgesetzt und Kleists Entwurf dann ent-
sprechend dagegengehalten wird.«8 Diese Einschätzung ändert sich erst langsam und
nicht durchgängig, wenn man exemplarisch zwei aktuelle Aufsätze zum Klassikbegriff
bei Kleist betrachtet: einerseits den von Hans Krah, der Schillers Werke als norma-
tive Dramaturgie (der ›Goethezeit‹) ansieht und Kleist davon abhebt, andererseits
den von Dieter Martin, der ein differenziertes Bild liefert und von Kleists »gesuchter
Nähe und schmerzlich erfahrener Distanz« zwischen ihm und der ›Weimarer Klassik‹
spricht.9 Lange Zeit wurde Kleist in diesem Sinne als der ›ganz Andere‹ interpretiert,
als »Kämpfer gegen den Klassizismus«.10 Speziell in der älteren Forschung wurden
oftmals in mythisierender Tonlage antagonistische Gegensätze beschworen – beispiel-
haft hierfür ist die Abhandlung von Benno von Wiese, in der es heißt:
Schiller transzendiert, Kleist hält hingegen an der Immanenz alles Wirklichen fest,
auch wenn es ihm dabei in das Bodenlose des Nichts entgleitet. […] Wenn der Schil-
lersche Held noch im Untergang freiwillig seinen Arm den Göttern leiht, so kennt
6 Gisela Berns, ›Mit dem Rücken gegen‹ Schiller. Zur Funktion der Schillertexte in Kleists
›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Richard Fischer (Hg.), Ethik und Ästhetik. Werke
und Werte in der Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 329–348,
hier S. 331.
7 Vgl. die zusammenfassende Darstellung in Benthien, Schiller (wie Anm. 1), 222–225 sowie
die weiteren Ausführungen im vorliegenden Beitrag.
8 Ulrich Johannes Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Marionetten-
theater‹ als Schiller-réécriture. In: KJb 2006, 75–99, hier 78.
9 Hans Krah, Schiller, Kleist, Grabbe: dramatische Problemkonstellationen in literarhisto-
rischer Perspektive. In: Grabbe-Jahrbuch 30 / 31 (2011/2012), S. 74–112; Martin, Beschrei-
bung eines ›Kampfes‹ (wie Anm. 1), hier S. 368.
10 Werner Psaar, Schicksalsbegriff und Tragik bei Schiller und Kleist, Berlin 1940, S. 9.
28
Schiller und Kleist
Kleist nur noch den Schmerz der Verlassenen, denen sich das Göttliche verhüllt und
vernächtigt und denen es stets von neuem entgleitet.11
Helmut Koopmann hat zu Recht moniert, dass eine solche stereotype Kontrastie-
rung, wie sie nahezu das gesamte 20. Jahrhundert durchzieht, unzureichend und
unbefriedigend ist.12
Aber auch der entgegengesetzte Versuch, übergreifende Ähnlichkeiten pauschal
zu benennen, ist fragwürdig. So zum Beispiel in der frühen Studie Werner Psaars,
der pathetisch von Kleists »tiefer[ ] Beeindruckung« durch die »Wesenszüge Schiller
schen Menschentums« spricht, die sich in dessen »Begriff der ›schönen Seele‹«, »Wer-
tung des Vertrauens« und »Erlebnis des Willens« widerspiegele.13 Demgegenüber
notiert Donald Crosby deutlich nüchterner, Schiller und Kleist »were consistently
attracted to the same type of material, and it is striking that for almost every work
by Kleist there is a pendant somewhere in the works of Schiller«.14 Crosby wählt
die Formel einer »similarity-within-difference«,15 um die ›schöpferische Verwandt-
schaft‹16 beider Autoren zu charakterisieren und anhand konkreter Werkvergleiche
aufzuzeigen. Dabei legt er nahe, dass »[v]erbal and thematic reminscences of
Schiller«17 besonders in Kleists Dramen auftauchten. Jeffrey High hat jüngst eine
wesentlich globalere These formuliert, allerdings nur in der Einleitung eines Auf-
satzes und entsprechend ohne diese übergreifend nachweisen zu können: »Friedrich
Schiller is the most frequent literary and philosophical presence in Kleist’s letters,
essays, and works, from beginning to end.«18
Zahlreiche neue Publikationen zu den beiden Autoren füllen die Regale der
Germanistikbibliotheken und auffällig viele neuere Forschungsbeiträge (besonders
in den USA) weisen die Schlagworte ›Kleist‹ und ›Schiller‹ auf, weswegen der von
Koopmann 1990 konstatierte »weiße[ ] Fleck auf der literaturwissenschaftlichen
Landkarte«19 heute nicht mehr zu existieren scheint. Betrachtet man die Publika-
11 Benno von Wiese, Der Tragiker Heinrich von Kleist und sein Jahrhundert [1948]. In:
Ders., Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 7. Aufl., Hamburg 1967, S. 275–293,
hier S. 291f.
12 Vgl. Helmut Koopmann, Schiller und Kleist. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-
Gesellschaft 50 (1990), S. 127–143, hier S. 129; erneut publiziert in Helmut Koopmann,
Schiller und Kleist. In: Ders., Nachgefragt. Zur deutschen Literatur des 18. und 19. Jahr-
hunderts, Frankfurt a. M. 2013, S. 121–143.
13 Psaar, Schicksalsbegriff und Tragik bei Schiller und Kleist (wie Anm. 10), S. 30.
14 Donald H. Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist. In: Monatshefte für deut-
schen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 53 (1961), S. 255–264, hier S. 255.
15 Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist (wie Anm. 14), S. 263.
16 So Koopmanns treffende Übersetzung von Crosbys Titelformel, vgl. Koopmann, Schiller
und Kleist (wie Anm. 12), S. 136.
17 Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist (wie Anm. 14), S. 263.
18 Jeffrey L. High, Schiller, Freude, Kleist, and Rache: On the German Freedom Ode. In:
Dieter Sevin und Christoph Zeller (Hg.), Heinrich von Kleist: Style and Concept: Explo-
rations of Literary Dissonance, Berlin 2013, S. 123–146, hier S. 123.
19 Koopmann, Schiller und Kleist (wie Anm. 12), S. 129.
29
Claudia Benthien
tionen der vergangenen Jahre jedoch genauer, wird deutlich, dass fast alle ledig-
lich Werke der beiden Autoren hintereinander abhandeln, aber nicht in Beziehung
setzen.20 Ausnahmen zu dieser Beobachtung stellen drei kürzere Forschungsbei-
träge dar: Jeffrey High weist nach, wie Kleist sich in seinem ›Aufsatz, den sichern
Weg des Glück zu finden‹ sowie in seiner Hymne ›Germania an ihre Kinder‹ auf
Schillers Ode ›An die Freude‹ bezieht.21 Christian Moser konfrontiert zwei sehr
unterschiedliche Texte der Autoren, »in denen die Niederlande eine mehr als nur
beiläufige Rolle spielen«22 – Kleists Lustspiel ›Der zerbrochne Krug‹ und Schillers
Schrift ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande‹ –, und bezieht auch
dessen frühe Erzählung ›Eine großmütige Handlung‹ mit ein. Anne Fleig vertieft
nachdrücklich die Einsicht, dass Schillers ›Wallenstein‹ als wichtige Referenz für
Kleists ›Familie Schroffenstein‹ anzusehen ist (und zugleich dessen Shakespeare-
Rezeption maßgeblich prägt).23 Weitere wegweisende Einzelstudien wurden auf der
30
Schiller und Kleist
31
Claudia Benthien
geht von der Annahme aus, dass es dringend geboten wäre, etwa im Rahmen eines
größeren Forschungsprojekts, eine übergreifende Untersuchung zu lancieren, die
– unter Rückgriff auch auf digitale Untersuchungsverfahren – das dialogische Ver-
hältnis beider Werke umfassend erkundet und theoretisiert.
II.
Schillers romantische Tragödie ›Die Jungfrau von Orleans‹ (1801) und Kleists
Trauerspiel ›Penthesilea‹ (1808) wurden in der Forschung oft gemeinsam diskutiert –
zumeist unter dem Schlagwort ›Frauen‹ bzw. ›Amazonen in Waffen‹, wobei hier zwar
die thematische und motivische Nähe, nicht aber das intertextuelle Verhältnis im
Zentrum stand (so in Forschungsbeiträgen von Inge Stephan, Fred Bridgham, Anett
Kollmann, Mareen van Marwyck, Claudia Vitale und zuletzt Susanne Fuchs)26.
Kleists Kenntnis der ›Jungfrau von Orleans‹ ist nicht durch Quellen belegt; sie ist
allerdings stark anzunehmen, nicht zuletzt, weil das Werk von allen Schiller-Dramen
am häufigsten gespielt wurde, allein 137 Mal in Berlin.27 Koopmann hat ›Penthe-
silea‹ sogar als »das schillernächste Stück Kleists«28 bezeichnet, und Crosby spricht
von Johanna und Penthesilea als »literary half sisters«.29 Ähnlichkeiten der beiden
Figuren bestünden u. a. darin, dass sich beide auf einer ›heiligen Mission‹ befänden
und unter einem (göttlichen) Verbot kämpften. Die Ausgestaltung des Konflikts
und seiner psychologischen Konsequenzen aber sei die entscheidende Neuerung
26 Inge Stephan, ›Da werden Weiber zu Hyänen …‹: Amazonen und Amazonenmythen bei
Schiller und Kleist [1984]. In: Dies., Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter
in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Köln und Weimar 2005, S. 113–132; Fred Bridgham,
Emancipating Amazons: Schiller’s ›Jungfrau‹, Kleist’s ›Penthesilea‹, Wagner’s ›Brünnhilde‹.
In: Forum for Modern Language Studies 36 (2000), S. 64–73; Anett Kollmann, Gepan-
zerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800, Heidelberg 2004, S. 103–151;
Claudia Vitale, Donne guerriere: la ›Jungfrau von Orleans‹ e la ›Penthesilea‹ a confronto.
In: Hermann Dorowin und Uta Treder (Hg.), Auguri Schiller! Atti del convegno peru-
gino in occasione del 250° anniversario della nascita di Friedrich Schiller, Perugia 2011,
S. 259–270; Fuchs, Scenes of Surrender (wie Anm. 20); Mareen van Marwyck, Gewalt
und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800, Bielefeld 2010,
S. 175–230. Kollmann erwähnt auf S. 133 kurz Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen
der ›Jungfrau von Orleans‹ und der ›Penthesilea‹, auf S. 145 findet sich auch ein Text-
beleg. Vitale kündigt zwar eine ›Konfrontation‹ beider Stücke an (›a confronto‹ heißt es
im Untertitel), aber konkrete Textbelege für die am Anfang aufgestellte These »Kleist usa
Schiller come modello« (deutsch: ›Kleist nutzt Schiller als Modell‹, S. 260), werden nicht
angeführt.
27 Vgl. Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia
corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 44f. Der nachfolgende Passus zum For-
schungsstand bis einschließlich 2008 wird übernommen aus Benthien, Schiller (wie
Anm. 1), 222f.
28 Koopmann, Schiller und Kleist (wie Anm. 12), S. 143.
29 Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist (wie Anm. 14), S. 258.
32
Schiller und Kleist
Kleists. Anders als Johanna könne Penthesilea die Folgen ihres Grenzübertritts nicht
transzendieren, was letztlich zum Suizid führe.30
Johannes Endres hat sich in seiner Studie von 1996 ausführlich mit der Relation
der beiden Stücke befasst und erstmals konstatiert, dass der »Vorlagencharakter«
von Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ bei Kleist bis in Einzelheiten der Gestaltung
erkennbar sei, wie er primär anhand der Hauptfiguren argumentiert: Schillers Hel-
din sei »an allen Ecken und Enden des Kleistschen Dramas präsent […]. Als Rivalin
Penthesileas kommentiert sie zugleich deren Verhalten. Mit ihr ist darüber hinaus
der Deutungsrahmen der idealistischen Tragödie evoziert, freilich so, daß ihn das
Drama auch wieder überschreitet.«31 Wie genau Johanna Penthesilea ›kommen-
tieren‹ kann, bleibt allerdings offen. Und auch Endres’ zweite Folgerung, »Kleists
Heldin hat, wenn man so will, ihren Schiller gelesen«,32 klingt zwar pointiert, bleibt
aber letztlich unbestimmt.
Volker Nölles Hauptinteresse gilt der Frage, warum Kleist auf einen Monolog
seiner Protagonistin verzichtet; auch ihm dient Schillers ›romantische Tragödie‹ als
Folie einer normativen Dramaturgie. Er entwickelt die These, ›Penthesilea‹ sei »mit
ihrer ›gegenklassischen‹ Verfahrensweise als Gegenentwurf zu Schillers Credo, zu
weiten Bereichen seiner Anthropologie, seiner Menschengestaltung lesbar«33. Er
argumentiert, die Figur Penthesilea repräsentiere eine »Gemütsverfassung«, »die nur
bei Monologverzicht adäquat darstellbar ist«: Anders als Johanna sei sie nicht zu
einem »Konflikt-Monolog« fähig, weil sie nicht in der Lage sei, der »Spannung des
Unvereinbaren standzuhalten«34 und diese sprachlich zu rationalisieren. Man kann
dem hinzufügen, dass das charakteristische Fehlen einer solchen ›Innenperspektive‹
Penthesileas nicht nur die Rätselhaftigkeit ihres Charakters erhöht, sondern auch
der mentalitätsgeschichtlichen Situierung dieser Figur in einer Epoche vor der neu-
zeitlichen Gewissensinstanz – und einem sich im ›inneren Gerichtshof‹ der Psyche
vollziehenden Selbst-Urteil – dient.35
30 Vgl. Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist (wie Anm. 14), S. 258f.
31 Johannes Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komi-
schen bei Heinrich von Kleist, Würzburg 1996, S. 114.
32 Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt (wie Anm. 31), S. 120.
33 Volker Nölle, Eine ›gegenklassische‹ Verfahrensweise. Kleists ›Penthesilea‹ und Schillers
›Jungfrau von Orleans‹. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1999, S. 158–174, hier S. 171.
34 Nölle, Eine ›gegenklassische‹ Verfahrensweise (wie Anm. 33), S. 159, 169.
35 »Mit der dialogischen Spaltung des Ich in zwei Stimmen rekurriert Schiller auf Kants
Modell des Gewissens als einem im Bewusstsein situierten inneren Gerichtshof. Ein Teil
des Selbst klagt den anderen an – Schiller gestaltet dies als dramatische Gerichtsrede mit
verteilten Rollen. Dabei ist es kein Zufall, dass dieser ›Prozess‹ im doppelten Wortsinn
anhand einer Figur dargestellt wird, die unter göttlicher Anweisung handelt. Denn wie
bereits ausgeführt, ist nach Kant allein Gott – bzw. das ›Prinzip Gottes‹ – als eine solche
unparteiische, ›idealische Person‹ eines inneren Richters vorstellbar. Es ist diese perfor-
mative Macht des inneren Richtspruchs – ›die sich selbst richtende moralische Urteilskraft‹
eines ›Bewußtseins, das für sich selbst Pflicht ist‹ –, die in Johannas Monolog zum Tragen
kommt, indem Klage und Selbstmitleid beständig von bohrenden Fragen des Gewissens
unterbrochen werden.« (Claudia Benthien, Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von
33
Claudia Benthien
Scham und Schuld und die Tragödie um 1800, Köln, Weimar und Wien 2011, S. 122f.)
Zitiert werden an dieser Stelle Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. In: Ders.,
Werke in sechs Bänden, Bd. 6, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S. 303–634,
hier S. 573f., sowie ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. In:
Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 645–879, hier S. 859.
36 Walter Hinderer, ›Vom giftigsten der Pfeile Amors sei / heisst es, ihr jugendliches Herz
getroffen‹. Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ und Kleists ›Penthesilea‹. In: Beiträge zur
Kleist-Forschung 2003, S. 45–68, hier S. 46.
37 Hinderer, ›Vom giftigsten der Pfeile Amors‹ (wie Anm. 36), S. 50, 63f.
38 Wolfgang G. Müller, Interfigurality. A Study on the Interdependence of Literary Figures.
In: Heinrich F. Plett (Hg.), Intertextuality, Berlin und New York 1991, S. 101–121.
39 Vgl. Benthien, Tribunal der Blicke (wie Anm. 35), S. 105–134, 194–224.
40 Vgl. den Stellenkommentar in DKV IV, 807f., 809 sowie Martin, Beschreibung eines
›Kampfes‹ (wie Anm. 1), S. 376f.
34
Schiller und Kleist
41 Vgl. Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt (wie Anm. 31), S. 116f.; Hinderer, ›Vom giftigsten
der Pfeile Amors‹ (wie Anm. 36), S. 56. Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit
Band und Versangabe zitiert nach Schillers Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius
Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des
Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers.
42 Koopmann, Schiller und Kleist (wie Anm. 12), S. 137.
43 Vgl. Kollmann, Gepanzerte Empfindsamkeit (wie Anm. 26), S. 145.
44 Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt (wie Anm. 31), S. 115.
35
Claudia Benthien
gleiche dynamische Handlung gewählt: »Und stürzt […]/Sich über ihn und reißt –
reißt ihn beim Helmbusch« (DKV II, Vs. 2657f.). Beide Protagonistinnen verbergen
ihr Gesicht zweifach aus Scham oder Unsicherheit im ersten Gespräch mit dem
(geliebten) Gegner (Schiller: NA 9, vor Vs. 2471, nach Vs. 2476; Kleist: DKV II,
Vs. 291, vor Vs. 1614).45 Von diesen werden sie auch mittels einer sehr ähnlichen
Formel adressiert, wenn Lionel fragt, »– Wer bist du? Woher kommst du?« (NA 9,
Vs. 2487), und Achilles sich mit den Worten »Wer bist Du, wunderbares Weib?«
(DKV II, Vs. 1774) an Penthesilea wendet.
Auch in den Schlusssequenzen der Dramen gibt es zahlreiche textuelle und inhalt-
liche Korrespondenzen, zum Beispiel, dass sich beide Heldinnen nach der Peripetie
aus der Sprache zurückziehen und schweigen (Schiller: NA 9, Vs. 2977–3029; Kleist:
DKV II, Vs. 2704–2829).46 Oder dass in beiden Stücken ein wiederkehrender Don-
ner die Szenerie untermalt (Schiller: NA 9, vor Vs. 3021, 3024; Kleist: DKV II,
vor Vs. 2401, vor 2427).47 Ferner zeigt sich folgende dramaturgische Ähnlichkeit:
Johanna übertritt das Gebot ihrer Sendung und wird, weil man ihr Schweigen
missdeutet, vom König verbannt (NA 9, Vs. 3042–3047, 2745); Penthesilea hin-
gegen übertritt das Gesetz der Tanaïs (Amazonengesetz) und wird dafür von der
Oberpriesterin verstoßen (DKV II, Vs. 2329). Verbannung und Verstoßung aus der
Gemeinschaft sind gravierende Sanktionsmechanismen, die insbesondere in Kleists
›Penthesilea‹ in die Katastrophe münden.48
Nach diesen inhaltlichen und dramaturgischen Ähnlichkeiten einzelner sprach-
licher Wendungen und Sequenzen werden nachfolgend drei signifikante seman-
tische Felder diskutiert – als erstes das der existentiellen Metapher des ›Staubes‹.
Bei Schiller ruft diese im Wesentlichen zwei Semantiken auf: erstens in barocker
Manier die vanitas des Körpers, der nach dem Tod verwest und zu Staub verfällt,49
zweitens das Feld der Demut und Anbetung, was durch die Gebärde des Kniens
›im Staub‹ angedeutet wird.50 Bei Kleist hingegen erlangt die Metapher des Stau-
bes eine hypertrophe Bedeutung und dient der Kriegsrhetorik, wonach der besiegte
Gegner, vollständig erniedrigt, vor dem Sieger (oder der Siegerin) im Staube liegen
soll. Penthesilea selbst setzt dieses Bild gleich viermal in immer neuen Wendungen
ein (u. a.: »Ich will zu meiner Füße Staub ihn [Achilles] sehen,/Den Übermütigen;
36
Schiller und Kleist
zu Achilles: »Fürchtest du, die dich in Staub gelegt?« DKV II, Vs. 638f., Vs. 175351).
Aber auch die Oberpriesterin verwendet die Staub-Metapher gleich zweifach und
zwar signifikanter Weise in ihrer Rüge der Königin, die diese nicht zuletzt wegen der
drastischen Wortwahl so provoziert:
Nicht bloß, daß du, die Sitte wenig achtend,
Den Gegner dir im Feld der Schlacht gesucht,
Nicht bloß, daß du, statt ihn in Staub zu werfen,
Ihm selbst im Kampf erliegst […]. (DKV II, Vs. 2315–2318)
Auffällig ist, dass im ersten Zitat die Bildlichkeit des Staubes im Sinne der Kriegs
rhetorik eingesetzt wird, im zweiten hingegen durchaus ambivalent wird. Denn
wenn es Penthesilea möglich ist, den oder die Griechen ›niederzuflehn‹, so hat das
weniger mit kriegerischer Kraft als mit emotionaler Macht zu tun.
Auch die durch einen Herold überbrachte fingierte Forderung Achilles’ enthält
die weiter ins Animalisch-Erotische gesteigerte Formel: dass der Zweikampf zwischen
ihm und der Königin klarstellen möge, »[w]er würdig sei, […] / Den Staub […] / Zu
seines Gegners Füßen aufzulecken.« (DKV II, Vs. 2366–2368) Und es fi ndet sich
auch die von Schiller verwendete Todessemantik der Auflösung in Nichts, des Ver-
falls der körperlichen Schönheit zu Staub oder, noch drastischer, zu dem »Kot, aus
dem sie stammen«,52 wie Penthesilea im Affekt formuliert:
Laßt ihn den Fuß gestählt, es ist mir recht,
Auf diesen Nacken setzen. Wozu auch sollen
Zwei Wangen länger, blühn’d wie diese, sich
Vom Kot, aus dem sie stammen, unterscheiden?
[…]
Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt. (DKV II, Vs. 1244–1253)
Penthesileas Aussage, lieber tot sein zu wollen, »als ein Weib, das nicht reizt« ist
Ausdruck ihres Ambivalenzkonflikts: Erkennt Achilles sie als Kriegerin an, so muss
er sie als Frau negieren und vice versa. Die existenzielle Metapher des Staubes – ent-
weder selbst Staub sein wollen, wenn sie nicht begehrt wird, oder aber den ihre
personale Integrität infrage stellenden Feind im Staub vor den eigenen Füßen liegen
sehen – verdeutlicht nicht nur, wie zerstörerisch (und schmählich) beide Formen der
51 Sowie: »Die Lust, ihr Götter, müßt ihr mir gewähren, / Den einen heißersehnten Jüng-
ling siegreich /Zum Staub mir noch der Füße hinzuwerfen.« (DKV II, Vs. 844–846); zu
Prothoe über Achill: »So ward die Kraft mir jetzo, ihm zu stehen: / So soll er in den Staub
herab […]« (DKV II, Vs. 2393f.).
52 Der Kommentar bemerkt zu Vers 1247, mit ›Kot‹ sei der »Staub« gemeint, »aus dem der
Mensch gemacht ist und zu dem er wieder zerfällt« (DKV II, S. 817).
37
Claudia Benthien
Niederlage für sie sind, sondern auch, wie stark sie zusammenhängen.53 So lässt sich
resümieren, dass die Metapher des Staubes bei Schiller vergleichsweise konventionell
eingesetzt wird und von Kleist sowohl radikalisiert als auch potenziert wird, indem
er kriegerisches und erotisches Selbstwertgefühl verschränkt.
Ein zweites semantisches Feld lässt sich unmittelbar anschließen, wobei hier
die Schiller’sche Semantik von Kleist nicht gesteigert, sondern lediglich adaptiert
wird. Es geht erneut um eine drastische, vertikal-hierarchische Formel für verlorenes
Selbstwertgefühl, für Scham und Schande: Vom Wunsch, sich in den »tiefsten
Schoß der Erde« (NA 9, Vs. 2668) oder in die »tiefste[ ] Nacht« (NA 9, Vs. 2704) zu
verbergen, spricht Johanna gegenüber Agnes Sorel, als diese sie lobt und anbetet, sie
sich selbst aber als nichtswürdig empfindet, weil sie ihr göttliches Gebot übertreten
hat. Ganz ähnlich artikuliert Penthesilea den Wunsch, sich »in ew’ge Finsternis [zu
bergen]« (DKV II, Vs. 2351), und zwar, weil wegen ihrer persönlichen Auseinander-
setzung mit Achilles alle von den Amazonen gefangenen Griechen wieder befreit
wurden, wozu sie die Oberpriesterin nach ihrer transgressiven Tat der Tötung des
Griechen mit ihren Hunden sogar auffordert: »[…] Verberge dich! /Laß fürder ew’ge
Mitternacht dich decken!« (DKV II, Vs. 2979f.) Von einem internen Gefühl des
Unwerts und der Schande wird das Bild des Verbergens in Nacht und Dunkelheit
zu einer durch eine externe Instanz artikulierte Sanktion.
Auch das dritte gemeinsame Bedeutungsfeld passt in diesen semantischen Kon-
text: Von Schiller wird die zu den Engländern übergetretene Königsmutter Isabeau
in einer Bühnenanweisung als »hohnlachend« (NA 9, vor Vs. 3462) charakterisiert
und zwar in einer Szene, in der Johanna Kriegsgefangene der Engländer ist und
von dieser maßlos provoziert wird. ›Hohnlachen‹ bzw. ›hohnlächeln‹ ist ein auch im
18. und 19. Jahrhundert sehr selten gebrauchtes Verbkompositum, weswegen es ein
weiteres Indiz für das Näheverhältnis der beiden Dramen ist.54 Kleist substantiviert
und verabsolutiert das Kompositum, wenn Penthesilea den sie kriegerisch heraus-
fordernden Achilles einen »Hohnlächelnde[n]« (DKV II, Vs. 654) nennt, den sie
überwinden oder aber sterben will.
Alle drei untersuchten semantischen Felder – das des Staubes, das des Verbergens
in Dunkelheit und das des Hohnlachens – offenbaren eine Auseinandersetzung
beider Autoren mit antagonistischen Begrifflichkeiten von Macht und Ohnmacht,
von Sprachgewalt und Unterwerfung, von dominanter Präsenz und erlittener
Auslöschung. Hier wie in diversen anderen Beispielen sind es korrespondierende
Semantiken von Höhe und Fall, die Kleist bei Schiller aufgreifen konnte, aber viel-
fach radikalisiert. Man sieht an den zitierten Textstellen, dass beide Stücke mehr
als nur lose inhaltlich verwandt sind (wenngleich es auch gravierende Unterschiede
in Thematik, Figurenkonstellation, Sprachgestaltung etc. gibt, die für eine inter-
53 Diese Formel übernehme ich aus Benthien, Tribunal der Blicke (wie Anm. 35), S. 204f.
54 In Grimms Wörterbuch finden sich sehr kurze Lemmata zu den Verben ›HOHN
LACHEN‹ und ›HOHNLÄCHELN‹; bei letzterem wird als erstes ein Schiller-Nachweis
genannt und zwar dessen 1786 publiziertes Gedicht ›Resignation‹. Vgl. Jacob Grimm und
Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10 [1877], bearbeitet von Moritz Heyne,
München 1984, Sp. 1729.
38
Schiller und Kleist
III.
Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass es sinnvoll ist, zur Untersuchung
der Relation von Kleists und Schillers Werken auf Analysekategorien der Inter-
textualitäts- und Einflussforschung zurückzugreifen, wie sie in den Philologien seit
39
Claudia Benthien
einigen Dekaden diskutiert werden, in den letzten Jahren allerdings wenig Auf-
merksamkeit fanden.58 In der Debatte über Intertextualität wurden schon früh
systematische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Verfahren literarischer
Bezugnahme vorgenommen. So etwa Renate Lachmanns Differenzierung zwischen
erstens Partizipation, als dem »Weiter- und Wiederschreiben von Texten«59 (und
damit einer »dialogische[n] Teilhabe an der Kultur«60), zweitens Transformation als
»Usurpation des fremden Wortes«, »Aneignung des fremden Textes, die diesen ver-
birgt, verschleiert, mit ihm spielt, […] [ihn] unkenntlich macht«61 sowie drittens
Tropik als »Wegwenden des Vorläufertextes«62 durch einen »Kampf gegen die sich in
den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte, als Versuch der Über-
bietung, Abwehr und Löschung der Spuren«.63 Sämtliche dieser Formen bzw. Grade
der Intertextualität werden von Kleist praktiziert, wobei sie oft ununterscheidbar
ineinander greifen.64 Zur Charakterisierung der Bezüge auf Schillers Werk finden
sich in der bisherigen Kleist-Forschung ganz unterschiedliche Begriffe: Die Rede ist
von »Kontrafaktur«,65 ›Dissonanz‹,66 »Widerspruch«,67 ›Konfrontation‹,68 »Wett-
eifer«,69 »Übersteigerung[ ]«,70 »Parodie«, »Überbietung[ ]«,71 »Desavouierung[ ]«,72
»Demontage«,73 »Übersetzung«74 und »Misreading«75 ebenso wie von einer »gegen-
58 Die nachfolgende Darstellung profitiert insbesondere von Frauke Berndt und Lili
Tonger-Erk, Intertextualität. Eine Einführung, Berlin 2013.
59 Berndt und Tonger-Erk, Intertextualität (wie Anm. 58), S. 139.
60 Renate Lachmann und Schamma Schahadat, Intertextualität. In: Helmut Brackert
und Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, 8. Aufl., Reinbek bei
Hamburg 2004, S. 678–687, hier S. 679.
61 Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne,
Frankfurt a. M. 1990, S. 39.
62 Lachmann, Gedächtnis und Literatur (wie Anm. 61), S. 39; Lachmann und Schahadat,
Intertextualität (wie Anm. 60), S. 683.
63 Lachmann, Gedächtnis und Literatur (wie Anm. 61), S. 39.
64 Auch Lachmann notiert, dass »Tropik, Partizipation und Transformation […] sich in
bezug auf die Sinnkonstitution nicht deutlich voneinander abgrenzen [lassen]« (Lach-
mann, Gedächtnis und Literatur, wie Anm. 61, S. 40).
65 Hinderer, ›Vom giftigsten der Pfeile Amors‹ (wie Anm. 36), S. 46.
66 Vgl. Sevin und Zeller (Hg.), Heinrich von Kleist: Style and Concept: Explorations of
Literary Dissonance (wie Anm. 18).
67 Hinderer, ›Vom giftigsten der Pfeile Amors‹ (wie Anm. 36), S. 46.
68 Vgl. Vitale, Donne guerriere (wie Anm. 26); Moser, Der Fall der Niederlande (wie
Anm. 22), S. 97.
69 Martin, Beschreibung eines ›Kampfes‹ (wie Anm. 1), S. 375.
70 Gerhard Kluge, Hermann und Fiesko – Kleists Auseinandersetzung mit Schillers Drama.
In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 248–270, hier S. 249.
71 Kluge, Hermann und Fiesko (wie Anm. 70), S. 249.
72 Kluge, Hermann und Fiesko (wie Anm. 70), S. 249.
73 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 8), S. 75–99, hier S. 83.
74 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 8), S. 88.
75 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 8), S. 88.
40
Schiller und Kleist
41
Claudia Benthien
83 Ulrich Broich, Formen der Markierung von Intertextualität. In: Ders. und Manfred
Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen
1985, S. 31–47, hier S. 31.
84 Dies könnte mit Pfister unter der Kategorie der »Textintentionalität« diskutiert werden,
der »bewusste« und »unbewusste« Intertextualität differenziert (Manfred Pfister, Konzepte
der Intertextualität. In: Broich und Pfister [Hg.], Intertextualität, wie Anm. 83, S. 1–30,
hier S. 22). Die Intertextualitätstheorie unterscheidet des Weiteren »zwischen intendierten
Formen wie Zitat oder Parodie und nichtintendierten Formen wie Topoi, Klischees oder
Stereotypen«, wie Berndt und Tonger-Erk unter Bezug auf Charles Grivel formulieren:
Berndt und Tonger-Erk, Intertextualität (wie Anm. 58), S. 148; Charles Grivel, Thèses pré-
paratoires sur les intertextes. In: Renate Lachmann (Hg.), Dialogizität, München 1982,
S. 237–348.
85 Vgl. Berndt und Tonger-Erk, die im Kontext ihrer Darstellung der »Quellen- und Ein-
flussforschung« davon sprechen, dass die Genieästhetik alle »Nachahmer […] verteufelt«
(Berndt und Tonger-Erk, Intertextualität, wie Anm. 58, S. 65).
86 Ulrich Broich, Intertextualität. In: Harald Fricke u. a. (Hg.), Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft, Berlin und New York 2007, S. 175–179, hier S. 178.
87 Pfister, Konzepte der Intertextualität (wie Anm. 84), S. 25f.
42
Schiller und Kleist
»syntagmatische Integration der Prätexte in den Text« beschreibt: ob sich bloß punk-
tuelle oder aber systematische Bezugnahmen finden, so dass der Prätext »zur struk-
turellen Folie«88 wird (was im Falle der ›Jungfrau von Orleans‹ und ›Penthesilea‹
zu bejahen ist: ein ähnlicher Handlungsaufbau, viele korrespondierende Motive,
auffällige sprachliche Bezüge). Das zweite erwähnenswerte Kriterium Pfisters ist
das der Dialogizität, welches, anknüpfend an Bachtins Einführung dieses Begriffs,
den »spannungsgeladene[n] Austausch zwischen Text und Prätext«89 bezeichnet. Als
Form »besonders intensiver Intertextualität« benennt Pfister »ein Anzitieren eines
Textes, das diesen ironisch relativiert und seine ideologischen Voraussetzungen
unterminiert, ein distanzierendes Ausspielen der Differenz zwischen dem alten
Kontext des fremden Worts [oder Textes, C.B.] und seiner neuen Kontextuali-
sierung«.90 Als Beispiel können hier erneut die Schlusssequenzen der ›Jungfrau‹ und
›Penthesilea‹ dienen. Denn Kleists anti-idealistisches Tragödienende zeigt eben jene
durch Affekte ausgelöste Katastrophe, der Schillers Heldin – nicht zuletzt durch die
Annahme einer ›falschen Schuld‹ – nur knapp entgeht.91
Bei den intertextuellen Bezugnahmen Kleists auf Schiller handelt es sich bisweilen
um »Einzeltextreferenzen«, oft aber um übergreifende, ganze Werke umspannende
Bezugnahmen, also »Systemreferenzen« nach Broich und Pfister.92 Darunter werden
nicht nur literarische Prätexte, sondern auch Textgruppen und Genres gefasst. Dies
könnte hinsichtlich Kleists Rekurs auf das durchaus als neu und für die Weimarer
Klassik maßgeblich angesehene Trauerspiel-Modell Schillers untersucht werden,93
das dieser theatral oder affektökonomisch umzucodieren sucht. Aber auch die
gemeinsame Bezugnahme von Kleist und Schiller auf antike Tragödienkonzepte –
etwa auf das analytische Drama ›König Ödipus‹ von Sophokles als Modell sowohl
für Schillers ›Braut von Messina‹ als auch für Kleists ›Zerbrochnen Krug‹ – fallen in
diese Kategorie.94 Vielfach wurde herausgestellt, dass Schiller sich in Theorie und
43
Claudia Benthien
ochester, NY, 2000, S. 186–200; Bernhard Greiner, ›Ich zerriss ihn.‹ Kleists Re-Flexio-
R
nen der antiken Tragödie (›Die Bakchen‹, ›Penthesilea‹). In: Beiträge zur Kleist-Forschung
2003, S. 13–28. Zu Schiller siehe Melitta Gerhard, S chiller und die griechische Tragödie,
Weimar 1919; Florian Prader, Schiller und Sophokles, Zürich 1954; Wolfgang Schad-
ewaldt, Antikes und Modernes in Schillers ›Die Braut von Messina‹. In: Jahrbuch der
deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 286–307; Rolf-Peter Janz, Antike und Moderne
in Schillers ›Die Braut von Messina‹. In: Wilfried Barner u. a. (Hg.), Unser Commer-
cium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984, S. 329–349; Monika Ritzer,
Not und Schuld. Zur Funktion des ›antiken‹ Schicksalsbegriffs in Schillers ›Braut von
Messina‹. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hg.), Schiller heute. Tübin-
gen 1996, S. 131–150; Joachim Latacz, Schiller und die griechische Tragödie. In: Hellmut
Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart und Leipzig 1997, S. 235–257;
Ernst-Richard Schwinge, Schillers Tragikkonzept und die Tragödie der Griechen. In: Jahr-
buch der deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), S. 123–140; Günter Oesterle, Friedrich
Schiller: ›Die Braut von Messina‹. Radikaler Formrückgriff angesichts eines modernen
kulturellen Synkretismus oder fatale Folgen kleiner Geheimnisse. In: Paolo Chiarini und
Walter Hinderer (Hg.), Schiller und die Antike, Würzburg 2008, S. 167–175; Walter Hin-
derer, Schillers ›Braut von Messina‹. Eine moderne Aneignung der antiken Tragödie. In:
Daniel Fulda und Thorsten Valk (Hg.), Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte
– Kulturtheorie – Epochendiagnose, Berlin und New York 2010, S. 67–83; Marie-Christin
Wilm, Ultima Katharsis. Zur Transformation des Aristotelischen Tragödiensatzes nach
1800. In: Fulda und Valk (Hg.), Die Tragödie der Moderne, S. 85–105. Zu Schiller und
Kleist siehe Claudia Benthien, Tragödie der Scham, Trauerspiel der Schuld. Konzeptionen
des Tragischen um 1800. In: Fulda und Valk (Hg.), Die Tragödie der Moderne, S. 41–65.
95 Zu ›Penthesilea‹ vgl. Gabriele Brandstetter, ›Eine Tragödie von der Brust heruntergehus-
tet‹ (wie Anm. 94); Bernhard Greiner, ›Ich zerriss ihn.‹ (wie Anm. 94) und ders., Proben
des Tragischen. Kleists Tragödienschaffen jenseits der aristotelischen Tradition. In: Sevin
und Zeller (Hg.), Heinrich von Kleist: Style and Concept (wie Anm. 18), S. 147–159.
96 Pfister, Konzepte der Intertextualität (wie Anm. 84), S. 4f.
97 Vgl. Pfister, Konzepte der Intertextualität (wie Anm. 84), S. 5.
44
Schiller und Kleist
sion von Texten überhaupt«, andererseits aber mit Blick darauf, dass literarische
Werke grundsätzlich in einem »Dialog mit fremden Texten« stehen.98
In Anlehnung an Lachmann und Pfister wurde daher im Titel dieses Bei-
trags trotz der bei Bachtin dominanten intratextuellen Bedeutung der Terminus
Dialogizität gewählt. Denn in Kombination mit dem Gegenbegriff der Rivalität
erscheint Dialogizität aufgrund seiner eher positiven, Kommunikation und Kon-
takt evozierenden Konnotation als treffend, um das affektive, zwischen imitatio
und aemulatio schwankende Verhältnis Kleists zum Autor Schiller zu bezeichnen.99
Rivalität zielt auf die von Bloom diagnostizierte Konkurrenz mit den dem eige-
nen Werk vorangegangenen literarischen Texten,100 aber auch auf entsprechende
erwähnte Deutungsansätze zu Kleist und Schiller (oder Goethe) in der Germanistik.
Dialogizität bezeichnet hingegen eher eine tendenziell würdigende Bezugnahme
eines Textes auf andere Texte. Dass Bachtin mit dem Begriff der Dialogizität auf
ideologische Spannungen hinweisen wollte, die sich in literarischen Texten auf-
grund ihrer (politischen, weltanschaulichen) Divergenzen in unterschiedlichen,
z. T. konträr sich artikulierenden ›Stimmen‹ spiegeln, steht dieser Akzentuierung
nicht im Wege. Denn auch in der dialogischen Bezugnahme Kleists auf Schiller
finden sich immer wieder solche D iskrepanzen und Widersprüche, wie die Tagung
der Kleist-Gesellschaft im November 2018 in Berlin exemplarisch gezeigt hat.
98 Renate Lachmann, Vorwort. In: Dies. (Hg.), Dialogizität (wie Anm. 84), S. 8. Dialogizi-
tät wird in dieser letzteren Bedeutung von Lachmann korrespondierend zum von Julia
Kristeva eingeführten Intertextualitäts-Begriff verwendet – als »Oberbegriff für jene Ver-
fahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise
konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Texten oder diesen zu-
grundeliegenden Codes und Sinnsystemen« (Pfister, Konzepte der Intertextualität, wie
Anm. 84, S. 15).
99 Vgl. Berndt und Tonger-Erk, Intertextualität (wie Anm. 58), S. 65, die Nachahmung
(imitatio) von Überbietung / Wettstreit (aemulatio) abheben.
100 Vgl. Bloom, Einflussangst (wie Anm. 79).
45
Christian Moser
Kleist ist ein radikaler politischer Schriftsteller – radikal in dem Sinne, dass er das
Politische an der Wurzel zu packen sucht, indem er Vergesellschaftungsprozesse auf
ihre elementaren Mechanismen hin befragt. Seine Texte führen soziale Versuchs-
anordnungen vor: In ihnen werden fiktive Sozietäten Extremsituationen ausgesetzt,
um ihre konstitutiven Bestandteile sichtbar zu machen. Dieses Bestreben, soziale Be-
gründungszusammenhänge aufzudecken, verbindet Kleist mit dem jungen S chiller,
insbesondere mit dem Autor der ›Räuber‹. Die Räuberbande in Schillers Drama ist
ein primitives soziales Gefüge, das auf vorrechtlichen Formen der Verbindlichkeit
beruht. Ähnliches gilt für die Gesellschaft der Amazonen, die Kleist in seiner Tra-
gödie ›Penthesilea‹ vorführt. Im Folgenden möchte ich diese beiden Dramen einer
vergleichenden Betrachtung unterziehen. Dabei geht es mir nicht darum, philo-
logisch einen Einfluss des jungen Schiller auf Kleist nachzuweisen. Vielmehr will
ich zeigen, dass beide mit vergleichbaren Denkfiguren operieren. Indem Schiller
auf den Zusammenhang zwischen Raub, Gemeinschaftsgefühl und Familienstruk-
turen reflektiert, etabliert er eine suggestive sozialtheoretische Konfiguration, die
in ähnlicher, wenngleich signifikant abgewandelter Form auch bei Kleist begegnet.
Darstellungstechnisch greifen beide zudem auf spezifische rituelle Formen zurück.
Es stellt sich daher die Frage, inwiefern die Darstellung elementarer Modi der
Gesellschaftsformation mit einer ›Barbarisierung‹ der literarischen Form einhergeht.
Den Hintergrund für beide Dramen bildet eine bislang vernachlässigte Traditions-
linie sozialtheoretischer Reflexion, die sich im 18. Jahrhundert herausbildete. Sie soll
eingangs skizziert werden.
I.
47
Christian Moser
licher Ordnung nicht auf einen konstitutiven Akt positiver Rechtsetzung, sondern
auf einen elementaren menschlichen Gemeinschaftstrieb, ein »désir de vivre en
société« zurück, aus dem ein korporativer »esprit de la nation« sowie bestimmte
vor- oder protorechtliche Strukturen des Zusammenlebens abgeleitet werden.1
Gesellschaft wird hier nicht legalistisch, sondern affektiv begründet und mit dem
Konzept des Barbarischen assoziiert. Der ursprünglich räumlich bestimmte Begriff
des Barbarischen wird im 18. Jahrhundert temporalisiert.2 Er bezeichnet nicht mehr
den Raum des Anderen, der ausgegrenzt werden soll, sondern eine bestimmte Stufe
der gesellschaftlichen Entwicklung, und zwar gerade nicht die früheste, sondern eine
Phase des Übergangs, die zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten vermittelt.3
Das Barbarische gewinnt im 18. Jahrhundert ein breites, im weitesten Sinne sozial-,
kultur-, rechts- und politikgeschichtliches Bedeutungsprofil. Es steht für bestimmte
Modi der Vergesellschaftung und spezifische politische Organisationsformen, aber
auch für eine besondere Weise der Subsistenz und des Wirtschaftens, einen spezi-
fischen Entwicklungsstand von Technik, Sprache, Literatur und Künsten sowie, auf
einer tieferen Ebene, eine bestimmte Zeichenordnung oder Semiotik – all dies in
1 Montesquieu, De l’esprit des lois. In: Ders., Œuvres complètes, Bd. II, hg. von Roger
Caillois, Paris 1951, S. 227–995, hier S. 236, 559.
2 Der im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts geprägte ethnozentrische
Feindbegriff barbaros diente ursprünglich der Abgrenzung der als überlegen markierten
hellenischen Kultur gegenüber ihrem nicht-griechischen Anderen. Vgl. R einhart Koselleck,
Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders., Vergange-
ne Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 211–259; ders.,
Feindbegriffe. In: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der
politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 1994, S. 274–284, hier S. 276–278; Ilona
Opelt und Wolfgang Speyer, Barbar I. In: Theodor Klauser u. a. (Hg.), Reallexikon für
Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit
der antiken Welt, Supplement-Bd. I, Stuttgart 2001, S. 813–895. Das auf räumliche Aus-
und Abgrenzung zielende Konzept wird im 18. Jahrhundert verzeitlicht und zunehmend
zur Bezeichnung einer spezifischen Entwicklungsstufe menschlicher Kultur verwendet:
Das Attribut ›barbarisch‹ verweist nun nicht mehr auf die als minderwertig abqualifizier-
te fremde Kultur, sondern auf die Vergangenheit der eigenen. Vgl. dazu Margaret Mary
Rubel, Savage and Barbarian. Historical Attitudes in the Criticism of Homer and Ossian
in Britain, 1760–1800, Amsterdam 1978; J. G. A. Pocock, Barbarism and Religion, Bd. 2,
Cambridge 1999; Christian Moser, Liminal Barbarism: Renegotiations of an Ancient
Concept in (Post-)Enlightenment Social Theory and Literature. In: Maria Boletsi und
ders. (Hg.), Barbarism Revisited. New Perspectives on an Old Concept, Leiden und Bos-
ton 2015, S.167–182; ders., The Concept of Barbarism in Eighteenth-Century Theories of
Culture and Sociogenesis. In: Markus Winkler u. a. (Hg.), Barbarian: Explorations of a
Western Concept in Theory, Literature, and the Arts, Bd. I, Stuttgart 2018, S. 45–144.
3 Einen wichtigen Kontext für die Verzeitlichung des Barbarenkonzepts bildet die Kultur-
stufentheorie des 18. Jahrhunderts, die zwischen (›wilden‹) Jäger- und Sammlersozietäten,
(›barbarischen‹) Hirtennomaden und (›zivilisierten‹) Ackerbau- und Handelsgesellschaf-
ten unterscheidet. Vgl. dazu Ronald L. Meek, Social Science and the Ignoble Savage,
Cambridge 1976; Rubel, Savage and Barbarian (wie Anm. 2); Pocock, Barbarism and Reli-
gion (wie Anm. 2); Moser, The Concept of Barbarism in Eighteenth-Century Theories of
Culture and Sociogenesis (wie Anm. 2).
48
Barbarisierung der Tragödie
49
Christian Moser
Dem Sammler gehört die Frucht, die er durch das Pflücken, dem Jäger das Tier, das
er durch Tötung in seine Gewalt gebracht hat. Die Herdenhaltung ist laut Smith
jedoch nur unter der Bedingung möglich, dass die gezähmten Tiere auch dann noch
als dem Hirten zugehörig anerkannt werden, wenn sie sich zeitweilig von ihm ent-
fernen und nicht mehr direkt seiner Gewalt unterliegen. Mit der Zähmung von
Tieren wird die Beziehung des Eigentümers zu dem Gut, das er sich durch Über-
wältigung angeeignet hat, abstrakt. Doch wenn die Eigentumsbeziehung auch in
dem Fall fortbestehen soll, dass das Gut nicht unmittelbar der Verfügungsgewalt
des Besitzers unterliegt, bedarf es einer Instanz, die es vor dem Zugriff anderer be-
wahrt. Dies erscheint umso dringlicher, als der Eigentumstitel des Besitzers letztlich
auf einem Akt der gewaltsamen Unterwerfung gründet, die gewaltsame Aneignung
der gezähmten Tiere durch einen anderen mithin zunächst einmal nicht weniger
legitim erscheint als die durch den Erstbesitzer. Anders als im naturrechtlichen Dis-
kurs der Locke-Nachfolge konstituiert sich Eigentum bei Smith nicht durch Arbeit,
sondern durch einen primären Akt der Gewalt. Die Zähmung von Tieren ist ein
Akt der Überwältigung und der Unterwerfung, der sich nur graduell, nicht aber
systematisch von der Überwältigung des Tieres durch den Jäger unterscheidet. Die
Zähmung stellt das Gewalt- und Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Tier
auf Dauer. Sie bewirkt zudem eine Vergeistigung und Verinnerlichung des Gewalt-
verhältnisses. Eine zusätzliche, äußere Instanz der Gewalt ist vonnöten, um diese
ideelle Beziehung zu sichern und zu festigen. Die Unterscheidung zwischen Eigen-
tum und bloßem Besitz macht die Einführung gesetzlicher Vorschriften erforder-
lich, die das Eigentum schützen, sowie einer gesellschaftlichen Autorität, die über
ihre Einhaltung wacht und ihre Übertretung sanktioniert. Auf die Entwicklungs-
stufe barbarischen Hirtentums gehen laut Smith folglich die ersten gesetzlichen und
staatlichen Ordnungsbemühungen des Menschen zurück: »The age of shepherds is
that where government properly first commences.«9
Das Eigentum, das sich laut Smith im barbarischen Hirtenstadium als abstrakte
Kategorie vom bloßen Besitz ablöst, hat ein paradoxes Ansehen. Einerseits ist es als
Erfindung nomadischer Völker mobil. Es besteht nicht in festem Grund und Bo-
den, sondern in einer beweglichen Habe, in Tierherden, die wie ihre Hüter ständig
unterwegs sind. In einer anderen Hinsicht ist dieses Eigentum aber zugleich auch
auf eine merkwürdige Weise starr und unbeweglich. Da die Hirtenbarbaren laut
Smith weder Handel treiben noch über das Medium des Geldes verfügen, wissen
sie mit dem Reichtum, den sie erwirtschaften, wenig anzufangen. Sie können ihn
entweder an ihre Nachkommen vererben oder an die Armen verschenken. Die Vor
aussetzungen für einen Handel sind auch insofern nicht gegeben, als die Armen
über nichts verfügen, was sie im Austausch gegen die Geschenke des Reichen geben
könnten. Sie besitzen nichts außer sich selbst, können also nur sich selbst – ihren ab-
soluten Gehorsam und ihre totale Ergebenheit – zurückerstatten: »having no equi-
9 Adam Smith, Lectures on Jurisprudence. In: The Glasgow Edition of the Works and Cor-
respondence of Adam Smith (wie Anm. 5), S. 202. Nachweise aus diesem Band erfolgen
fortan unter Angabe der Sigle LJ und der Seitenzahl parenthetisch im fortlaufenden Text.
50
Barbarisierung der Tragödie
valent to give in return for their maintenance, [they] must obey him«.10 Dass in der
Hirtengesellschaft aber überhaupt Menschen leben, die in ihrer Armut nichts geben
können außer sich selbst, ist eine direkte Folge der neuen pastoralen Subsistenz-
weise. Die ersten Hirten, die sich Tiere in großem Stil durch Zähmung aneigneten,
beraubten die Jäger damit ihrer Nahrungsquelle. Das Eigentum der Hirten geht
mithin auf einen zweifachen Gewaltakt zurück: die durch Zähmung perpetuierte
Unterwerfung von Tieren zum einen sowie eine Art ›Urraub‹ zum anderen, durch
den die originären Hirten den Jägern die Tiere und damit ihre Lebensgrundlage
entrissen. Smith revidiert implizit die biblische Geschichte von Kain und Abel: Hier
ist es nicht der prototypische Ackerbauer Abel, sondern die archaische Figur des
Jägers, die der Gewalt des Hirten Kain zum Opfer fällt. Man könnte vielleicht auf
den Gedanken kommen, dass die barbarischen Hirten mit ihren Zuteilungen an die
Armen nur den Schaden kompensieren, den sie den wilden Jägern durch die Zäh-
mung der Tiere zugefügt haben. Das ist laut Smith aber gerade nicht der Fall. Diese
Zuteilungen werden explizit als Geschenke (»presants [sic!]«) bezeichnet (LJ, 205),
als großzügige und voraussetzungslose Gaben, die den ›Urraub‹ nicht wieder gut,
sondern vielmehr vergessen machen sollen. Sie wirken umso großherziger, als sie
dem Beschenkten das Überleben sichern – ihm die nackte Existenz ermöglichen.
Es handelt sich um nichts Geringeres als um Lebensgaben. Der reiche Hirt schenkt
dem Armen letztlich sein Leben, instituiert sich somit als ideelle Vaterfigur und
bürdet seinem ›Kind‹ eine Dankesschuld auf, die durch nichts zu begleichen ist,
es sei denn durch das Leben des Beschenkten selbst. Die Gabe des Hirten an den
Armen markiert folglich zugleich einen Raub: Sie beraubt den Beschenkten seiner
Freiheit und überführt ihn in den Zustand totaler und permanenter Abhängig-
keit. Gabe und Raub sind zwei Seiten einer Medaille.11 Die Eigentumsordnung der
10 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. In: The
Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. I, hg. von Roy
H. Campbell und Andrew S. Skinner, Oxford 1976, S. 413.
11 Die Kulturstufentheorie des 18. Jahrhunderts, die in Smith einen ihrer wichtigsten Reprä-
sentanten gefunden hat, erkennt daher in Raub und Eroberung eine zweite wichtige Form
der Subsistenz, die von den Barbarenvölkern neben der nomadischen Herdentierhaltung
praktiziert wird. Der französische Ökonom, Staatsmann und Aufklärungsschriftsteller
Anne-Robert-Jacques Turgot (1727–1781) assoziiert mit der barbarischen Entwicklungs-
stufe die Entstehung eines »esprit de propriété«: Das Verlangen nach Eigentum, das die
Hirten-Barbaren antreibt, veranlasst sie demnach dazu, neben der Herdentierhaltung
noch eine zweite Form des Unterhalterwerbs zu praktizieren. Sie werden zu Räubern
und Eroberern, die ihre Nachbarn ausplündern. Die nomadischen Hirten unterwerfen
sich nicht nur Tiere, sondern auch andere Menschen, deren Habe sie sich aneignen und
die selbst zu Eigentum degradiert werden, indem man sie versklavt. Die Besiegten teilen
das Schicksal der Tiere – »ils suivirent le sort des bestiaux et devinrent esclaves des vain-
queurs«. Damit ist eine Vorform der Arbeitsteilung eingeführt, die auf die entwickelte
bürgerliche Gesellschaft vorausweist. Die Besiegten werden dazu verdammt, die Herden
der Sieger zu hüten. Diese werden somit von ihren pastoralen Aufgaben entbunden und
können sich ganz auf kriegerische Aktivitäten konzentrieren, was ihren Eroberungszügen
wiederum eine unerhörte Dynamik verleiht. Sie manifestiert sich laut Turgot beispiel-
haft in den wiederholten Invasionen der asiatischen Steppenvölker (Tartaren, Mongolen).
51
Christian Moser
Vgl. Anne-Robert-Jacques Turgot, Sur l’histoire universelle. In: Œuvres de Mr. Turgot,
Ministre d’Etat, précédées et accompagnées de mémoires et de notes sur sa vie, son ad-
ministration et ses ouvrages, Bd. 2, Paris 1808, S. 209–328, hier S. 219. Doch die in der
Kulturstufentheorie hergestellte Verbindung von Weidewirtschaft und Raub kennzeichnet
nicht nur die asiatischen, sondern auch und gerade die europäischen Völker, die sich im
barbarischen Entwicklungsstadium befinden. Für Smiths schottischen Kollegen Adam
Ferguson (1723–1816) stellen die homerischen Griechen paradigmatische Barbaren in die-
sem Sinne dar: »They join the desire of spoil with the love of glory, and from an opinion,
that what is acquired by force, justly pertains to the victor they become hunters of men,
and bring every contest to the decision of the sword. Every nation is a band of robbers,
who prey without restraint, or remorse, on their neighbours. Cattle, says Achilles, may be
seized in every field.« (Adam Ferguson, Essay on the History of Civilized Society, hg. von
Fania Oz-Salzberger, Cambridge 1995, S. 97)
12 Die Konzeption des Gabentauschs geht auf die klassische Abhandlung des französischen
Ethnologen Marcel Mauss zurück (Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des
Austauschs in archaischen Gesellschaften [1923 / 24], aus dem Französischen von Eva
Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1990). Mauss analysiert die Gabenökonomie als ein Sys-
tem wechselseitiger Verpflichtungen, das, im Gegensatz zum utilitaristischen Prinzipien
gehorchenden merkantilen Handel, auf Großzügigkeit, Verschwendung und agonaler
Überbietung des Tauschpartners beruht. In den Kulturstufentheorien des 18. Jahrhun-
derts begegnet der Terminus ›Gabenökonomie‹ zwar nicht, die damit bezeichnete Sache
wird aber in ihren Grundzügen durchaus erfasst und der barbarischen Entwicklungsstu-
fe zugeschrieben. Vgl. dazu Moser, The Concept of Barbarism in Eighteenth-Century
Theories of Culture and Sociogenesis (wie Anm. 2). Aktuelle Forschungsarbeiten, die den
Mauss’schen Ansatz sozialanthropologisch und philosophisch vertiefen, bieten Maurice
Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, aus dem Französischen
von Martin Pfeiffer, München 1999; Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld
und Philosophie, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 2009;
Alain Caillé, Anthropologie der Gabe, aus dem Französischen, hg. und eingeleitet von
Frank Adloff und Christian Papilloud, Frankfurt a. M. und New York 2008.
13 Zur Affinität zwischen der ökonomischen Figur des Tauschs und der rechtlichen Institu-
tion des Vertrags vgl. das berühmte zweite Kapitel in Smith, An Inquiry into the Nature
and Causes of the Wealth of Nations (wie Anm. 10), S. 13–16.
52
Barbarisierung der Tragödie
rmen. Der Arme wird gleichsam zum Eigentum seines Herrn.14 Einmal mehr zeigt
A
sich, dass Eigentum bei Smith in seinem Kern eine Machtbeziehung darstellt. Das
Gesetz selbst, dem die Hirtengesellschaft untersteht, gehorcht nicht dem Prinzip
ausgleichender Gerechtigkeit. Vielmehr implementiert es ein Übermaß an Gewalt:
»the punishments […] for all crimes were in this stage of society […] the most
bloody of any and […] far from being proportionable to the injuries.« (LJ, 130) Das
Gesetz der barbarischen Hirtengesellschaft repräsentiert keinen objektiven Maßstab
der Gerechtigkeit, sondern ein Herrschaftsinstrument. Signifikanterweise liegt es
nicht in objektivierter Schriftform vor. Es besteht aus wenigen, sehr einfachen und
allgemein gehaltenen Vorschriften, die mündlich tradiert werden: »every man would
understand it without any written or regular law.« (LJ, 213) Mit dem Wort »regular«
spielt Smith auf das lateinische Etymon regula an, das die Richtschnur oder das
Richtmaß bezeichnet. Einen solchen Maßstab, der das Recht berechenbar macht,
stellt das barbarische Gesetz gerade nicht dar. Ebenso wenig wie über den ökonomi-
schen Wertmaßstab des Geldes verfügen die Barbaren über einen objektivierbaren
rechtlichen Wertmaßstab. Es gibt noch kein abstraktes Gesetz, das unabhängig von
den Rechtssubjekten besteht. Rechtliche Verbindlichkeit erlangen Vereinbarungen
folglich nur durch rituelle Praktiken wie den Eid: »At this time no contract could be
made but amongst those who actually uttered the words by which the contract was
comprehended. An oath can only be taken from one who actually delivers it from
his own mouth. A written and signed oath is of no effect.« (LJ, 91) Ein Eidschwur
ist erforderlich, um die Vereinbarung zwischen Rechtssubjekten zu beglaubigen.
Doch ein Eid kann bei den Hirtenbarbaren nur in eigener Person geleistet werden.
Es ist nicht denkbar, ihn an ein Substitut oder an ein Medium (wie die Schrift) zu
delegieren. Wer einen Eid schwört, setzt folglich sich selbst – seine eigene Persön-
lichkeit, seinen Körper – als Sicherheit oder Pfand ein. Der Bund, der auf diese
Weise zwischen zwei Parteien geschlossen wird, bindet sie unmittelbar, ja geradezu
körperlich aneinander. Die durch den Eid gestiftete Verbindlichkeit beruht auf der
performativen Wirksamkeit eines Zeremoniells oder Rituals: »Some solemnity is
at first required to make a contract appear altogether binding« (LJ, 97). Aufgrund
seiner eindrücklichen Form schreibt das Ritual die Vereinbarung den Gedächtnis-
sen und den Körpern der Rechtssubjekte ein. Smith liefert dafür ein anschauliches
Beispiel, das auf die prototypischen Hirtenbarbaren der Antike, die Skythen, ver-
weist: »Herodotus tells us that the Scythians, when they desired to make a contract
entirely binding, drew blood of one another into a bowl, dip’t their arrows in it, and
afterwards drank it off« (LJ, 97). Die rituelle Form des Eides nötigt die Vertrags-
partner dazu, den Vertrag und zugleich auch sich selbst wechselseitig buchstäblich
zu inkorporieren. Der Eid, der den Vertrag besiegelt, beinhaltet den Austausch von
Körpergaben. Damit gelangt ein Grundprinzip des Gabentauschs zum Tragen – die
Tatsache nämlich, dass der Geber mit seiner Gabe dem Empfänger immer auch
einen Teil seiner selbst (seiner Persönlichkeit, seines Ichs) überträgt.15 Der Geber
53
Christian Moser
setzt sich mit seiner Gabe selbst aufs Spiel und fordert den Empfänger dadurch zur
Gegengabe heraus.16
II.
Schillers dramatischer Erstling ›Die Räuber‹ (1781) ist ein Text, der mit dem Begriff
des barbarischen Raubs auf mehreren Ebenen experimentiert. Schiller erkundet
darin die politischen und gesellschaftstheoretischen Dimensionen des Konzepts,
sondiert aber zugleich auch sein ästhetisches Potential. Zwei familiale Beziehungs-
typen bilden die Grundachsen des Stücks – die Vater-Sohn-Beziehung und die
Bruder-Bruder-Beziehung. Sie stellen die elementaren Bausteine für zwei verschie-
dene Formen von Vergesellschaftung dar: die patriarchale Herrschaftsform, die eine
Analogie zwischen der vermeintlich natürlichen Autorität des Vaters und der Sou-
veränität des Landesherren etabliert, und der Republik, die auf einem egalitären
Brüderbund beruht.17 Sie markieren gleichsam zwei ›Naturformen‹ von Herrschaft,
die im Drama einander gegenüber- und auf den Prüfstand gestellt werden. Es fragt
sich dabei, ob sie tatsächlich so grundsätzlich miteinander kontrastieren, wie es
zunächst erscheint.
Die erste Szene des ersten Akts enthält den großen Monolog des Intriganten
Franz von Moor, der versucht, seinen Bruder von der Erbfolge auszuschließen, sei-
nen Vater loszuwerden und sich selbst zum Herrn zu erheben. Der lange Monolog
gewährt tiefen Einblick in die Motivation des jüngeren der beiden Brüder. Zunächst
artikuliert er eine Anklage der Natur, die ihn in zweierlei Hinsicht benachteiligt habe
– im Hinblick auf sein Aussehen zum einen (er besitze eines »Lappländers Nase«, ein
»Mohrenmaul«, eines »Hottentotten Augen«),18 zum anderen im Hinblick auf seine
Geburt (als Zweitgeborener, dem die Landesherrschaft nicht zusteht). Nicht zufällig
werden hier barbarische Völker aufgerufen – Franz von Moor rückt sich selbst in die
Nähe zum Barbarischen. In der Folge attackiert er das Bemühen, Herrschaftsverhält-
nisse auf die Natur zurückzuführen. Diese vorgeblich ›natürlichen‹ Einrichtungen
werden – konsequent skeptizistisch – als kontingente Setzungen entlarvt: »Wer«,
16 Vgl. Hénaff, Der Preis der Wahrheit (wie Anm. 12), S. 196f.
17 Zur patriarchalischen Herrschaftsform und ihrer Darstellung in der deutschsprachigen
Literatur um 1800 vgl. Claudia Nitschke, Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler
Souveränität in der deutschen Literatur (1755–1921), Berlin und Boston 2012, S. 37–234 (zu
Schiller – allerdings ohne Bezug auf ›Die Räuber‹ – S. 112–117, 141–162); zur Darstellung
des Brüderbundes bei Schiller (wiederum ohne Bezug auf ›Die Räuber‹) vgl. Albrecht
Koschorke, Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in Schillers
›Tell‹. In: Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und ders. (Hg.): Das Politische. Figuren-
lehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München 2003, S. 106–122.
18 Friedrich Schiller, Die Räuber. Ein Schauspiel. In: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bän-
den, Bd. 2, hg. von Gerhard Kluge, Frankfurt a. M. 1988, S. 11–160, hier S. 28. Zitate aus
der Schauspielfassung der ›Räuber‹ werden fortan unter Angabe der Sigle RS und der
Seitenzahl parenthetisch im fortlaufenden Text nachgewiesen, Zitate aus der Trauerspiel-
fassung (S. 183–292) ebenso unter Angabe der Sigle RT.
54
Barbarisierung der Tragödie
so fragt er, »hat ihr [der Natur] die Vollmacht gegeben jenem [dem Bruder Karl]
dieses [das Recht auf den Thron] zu verleihen, und mir vorzuenthalten?« (RS, 28)
Die Natur wird von denen, die die herrschende Ordnung rechtfertigen, als letzte
Autorität angerufen, aber Franz fragt weiter: Wer hat ihr diese Autorität verliehen?
Natur besitzt sie eben nicht ›von Natur aus‹, sondern ihre Autorität ist eine künst-
lich gemachte. Dahinter stecken handfeste menschliche Interessen; die vorgeblich
natürlich begründete Herrschaft wird als Mystifikation dekuvriert. Franz von Moor
desavouiert naturrechtliche Denkmodelle und Begründungsformen von Autorität.
Das gilt insbesondere für den Versuch, patriarchalische Herrschaft naturrechtlich zu
fundieren und durch das Prinzip der Vaterliebe zu legitimieren. Deren ›Heiligkeit‹
wird ad absurdum geführt. Franz stellt das Prinzip des Tauschs in Frage, das mit
der Vaterliebe verbunden ist: »[E]s ist dein Vater! Er hat dir das Leben gegeben, du
bist sein Fleisch, sein Blut – also sei er dir heilig.« (RS, 29) Die väterliche Gabe des
Lebens impliziert die Verpflichtung zur Gegengabe: Liebe und Achtung des Sohnes
(und des Untertanen, wenn es um den Landesvater geht). Doch Franz erweist diesen
Pakt als nichtig: Eine Liebe des Vaters, auf die Gegenliebe antworten müsste, gibt
es in seinen Augen nicht. Der Vater kann den Sohn nicht aus Liebe gezeugt haben,
da er ihn zum Zeitpunkt der Zeugung noch gar nicht kannte. Der Zeugungsakt
selbst enthält nichts Heiliges, er ist ein »viehischer Prozeß zur Stillung viehischer Be-
gierden« (RS, 30). Moor hat seinem Vater nichts zu verdanken, denn dieser hat ihm
nichts ›gegeben‹; dass er existiert, ist ein Resultat des Zufalls. Er ist dem (Landes-)
Vater nichts schuldig.19 Franz Moor erweist Staatstheorien, welche Souveränität auf
die naturgegebene Autorität des Vaters gründen wollen, als haltlos. An deren Stelle
setzt er das Recht des Stärkeren: »Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die
Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.« (RS, 28) Politik ist für ihn die Fort-
setzung des Krieges mit anderen Mitteln.20 Sein Ziel ist despotische Herrschaft: »Ich
will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt daß ich nicht Herr bin.«
(RS, 30)
Die zweite Szene des ersten Akts bildet die Komplementärszene zum ersten
Auftritt des jüngeren Bruders. Karl von Moor wird darin als Gegenfigur zu Franz
profiliert. Aber auch er weist Züge eines ›Barbaren‹ auf. Bezeichnenderweise beruft
er sich auf den Germanenfürsten Herrmann (vgl. RS, 32). Die Szene führt paradig-
matisch vor, wie der republikanische Brüderbund sich in der Opposition zur patriar-
chalischen Herrschaftsform konstituiert. Das Augenmerk wird bezeichnenderweise
zunächst auf die ökonomische Situation Karls gerichtet. Er hat sich als Student in
Leipzig hoch verschuldet und steht in der Gefahr, deswegen »ins Loch« geworfen zu
55
Christian Moser
werden (RS, 32). Die Gläubiger wollen ihm keinen Tag Aufschub mehr gewähren.
Karl findet sich offenkundig nicht zurecht in einer Welt, in der Handel getrieben
und getauscht wird. Barbarischer Raub bietet sich als Alternative an. Ebenso wenig
kommt er mit dem Gesetz klar: Das Gesetz, so empfindet er es, »schnürt« seinen
Willen ein; es behindert mit seinem »Schneckengang« den »Adlerflug« des großen
Mannes und Genies (RS, 32). Wie sein Bruder Franz lehnt also auch Karl die Unter-
ordnung unter Verträge und Gesetze ab, aber um der Freiheit willen und zwar nicht
um der despotischen Freiheit des einen willen, der (wie Franz) über alle anderen zu
herrschen verlangt, sondern um der Freiheit aller willen: »Stelle mich vor ein Heer
Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und
Sparta Nonnenklöster sein sollen.« (RS, 32) Gleichwohl lehnt Karl nicht jede Form
von Verbindlichkeit und Tausch ab. Er vertraut auf das Wechselverhältnis zu seinem
Vater. Er hat ihn um »Vergebung« angeschrieben und erwartet nun von ihm die Be-
gleichung seiner Schulden (vgl. RS, 37). Karl vertraut auf diese Gabe, weil er sie als
Gegengabe für seine unermessliche Liebe zu seinem Erzeuger ansieht. Anders als im
Falle seines Kameraden Spiegelberg kann die Not allein ihn nicht zum Räuber ma-
chen. Erst der vermeintliche Vertragsbruch des Vaters (der wenig später in Gestalt
des von Franz gefälschten Briefes vorliegt) kann ihn dazu veranlassen, aus der bür-
gerlichen Gesellschaft auszusteigen. Karl steht Verträgen also nicht prinzipiell ab-
lehnend gegenüber, sondern nur solchen Verträgen, die auf exakter Berechnung und
auf buchstäblicher Erfüllung beharren. Er favorisiert Verträge, die auf Großzügigkeit
beruhen, auf Gaben und Geschenken: »Liebe für Liebe« (RS, 44) – das ist das Prinzip
dieses Tausches. Karl hat dem Vater alles zu verdanken, nämlich seine Existenz. Im
Gegenzug liebt er ihn maßlos; dafür wiederum verlangt er unermessliche Gegenliebe
und Verzeihung. Es gilt, alles zu geben und mehr – ohne nachzurechnen. Auch Karls
Bekehrung zum Räuber folgt dieser Logik des überschwänglichen Gabentauschs:
Unermessliche Liebe verkehrt sich in unbändigen Hass, der nach Vergeltung schreit,
nach der Vernichtung des Vaters: »ich hätte tausend Leben für ihn – schäumend
auf die Erde stampfend. ha!« (RS, 44f.) Nicht nur ein, sondern tausend Leben hätte
er gegeben. Der Satz, der die Lebensgabe bekennt, bricht ab und mündet in eine
verächtliche Geste des Zorns. Die Gabe wird zurückgerufen und in ihr Gegenteil
verwandelt: in unermesslichen Hass und Vernichtungswillen, der durch die Geste
des Aufstampfens und Zertretens veranschaulicht wird. Auch hier wird ein Tausch
inszeniert; das Vergehen muss durch eine Strafe aufgewogen werden, aber durch eine
exzessive Vergeltung.
»Ich habe keinen Vater mehr« (RS, 45). Diese Aussage Karls signalisiert den in-
tendierten Bruch mit der Väterordnung.21 Die Räuber-Gemeinschaft will einen ab-
56
Barbarisierung der Tragödie
soluten Neuanfang markieren – eine alternative, neue Ordnung jenseits aller bereits
existierenden Ordnungsstrukturen, in einem gesetz- und vaterlosen Raum. Doch die
neu gegründete Gegengesellschaft reproduziert die bestehenden Herrschaftsstruktu-
ren, von denen sie sich absetzen will. Denn der Brüderbund der Räuber konstituiert
sich durch einen Vertrag, der durch einen Eid besiegelt wird und seinerseits dem
Prinzip des exzessiven Gabentauschs folgt: Alle sind bereit, für die zu gründende
Bande alles zu geben – ihr Leben nämlich (»Treu und Gehorsam […] bis in den
Tod«, RS, 46). Die Räuber schwören sich dies gegenseitig zu. Ihr Bund gründet
auf einer Reziprozität der Lebens- und der Todesgabe: »Den soll dieser Arm gleich
zur Leiche machen, der jemals zagt oder zweifelt, oder zurücktritt! Ein gleiches wi-
derfahre mir von jedem unter euch, wenn ich meinen Schwur verletze!« (RS, 46)
Nur tot kommt man aus dieser Gemeinschaft wieder heraus – man muss dafür
buchstäblich sein Leben geben. Die Gabe des Lebens ist aber eben die väterliche
Gabe par excellence. Tatsächlich nimmt der egalitäre Bund (die Räuber titulieren
sich gegenseitig als Brüder) unter der Hand ein patriarchalisches Ansehen an.22 Die
Räuber leisten sich zwar gegenseitig einen Schwur, doch zugleich wählen sie sich
ein Haupt, einen Herrn: »das Tier muß auch seinen Kopf haben, Kinder. […] Auch
die Freiheit muß ihren Herrn haben«, so argumentiert Roller (RS, 43). Dass Roller
seine Kameraden hier als »Kinder« apostrophiert, ist bezeichnend, ebenso wie das
Verfahren, dessen sich die Räuber bedienen, um ihren Hauptmann zu wählen. Karl
wird zwar vom Kollektiv als Führer eingesetzt, aber nicht auf Wege einer geregelten
Abstimmung. Es werden keine Stimmen gezählt (das wäre ja wieder berechnen-
der Tausch statt großzügiger Gabe), vielmehr wird Karl zunächst von Schweizer als
Führer akklamiert,23 dann rufen alle zusammen »mit lärmendem Geschrei: Es lebe
der Hauptmann!« (RS, 45) Der Kollektivwille äußert sich spontan und ungeordnet.
Aus freiem Willen unterstellen sich die Räuber ihrem Hauptmann, adoptieren ihn
gleichsam als Vater ihrer Brüderbande. Die anarchische Unordnung ist dazu an-
getan, ein kleines, aber nicht unwichtiges Detail zu verdecken: Karl verdankt sei-
ne Position als Oberhaupt der Bande nicht bloß einer Wahl, sondern auch einem
Raub. Denn die Idee, eine Räuberbande zu gründen, geht auf seinen Kameraden
Spiegelberg zurück, der daher zu einem späteren Zeitpunkt Anspruch auf die Ober-
herrschaft erhebt: Der »Titel« des Hauptmanns, so erklärt er, sei »von rechtswegen
mein« (RS, 126). Karls demokratische Legitimation ist unauflöslich an einen Akt
räuberischer Usurpation gekoppelt. Dadurch werden Elemente der Ungleichheit in
den Brüderbund eingebracht. Die Bande, die eine Gegenordnung etablieren wollte,
reproduziert nicht bloß patriarchalische Herrschaftsstrukturen, sondern auch die
Konstellation eines ungleichen Brüderpaares, wie sie die Beziehung zwischen Karl
und Franz kennzeichnet. Spiegelberg wird von Anfang an in die Position des be-
22 So auch Hans Richard Brittnacher, ›Die Räuber‹. In: Helmut Koopmann (Hg.), Schiller
Handbuch, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach, Stutt-
gart 1998, S. 326–353, hier S. 335; Sautermeister, ›Die Räuber‹ (wie Anm. 21), S. 22.
23 Zum rechtlichen Institut der Akklamation und seiner Darstellung im Drama um 1800
vgl. Torsten Hahn, »Du Retter in der Not«. Akklamation in ›Robert Guiskard. Herzog der
Normänner‹. In: KJb 2011, 49–65.
57
Christian Moser
24 Zu den ›Räubern‹ als einer frühen Analyse terroristischen Verhaltens vgl. Gert Sautermeister,
›Die Räuber‹ – Generationenkonflikt und Terrorismus. In: Bernd Rill (Hg.), Zum
Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension, München 2009, S. 13–23; Arata
Takeda, Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Lite-
ratur, München 2010, S. 181–230. Zwischen Schillers ›Räubern‹ und Heinrich von Kleists
›Kohlhaas‹-Erzählung, die ein weiteres Beispiel für eine frühe, hellsichtige Analyse des
Terrorismus darstellt, bestehen starke intertextuelle Bezüge.
25 Das Urbild einer solchen nie zu begleichenden Schuld ist, wie Helmut J. Schneider mit
Blick auf Lessings ›Nathan der Weise‹ deutlich macht, »das voraussetzungslose Lebens
geschenk durch die physische Geburt«, das seinerseits auf den acte gratuit der göttlichen
Gnade verweist: »Dass die Dankesschuld hierfür nie abgetragen oder aufgewogen, sondern
nur erwidert werden kann, ist das Zeichen eines schlechterdings unbedingten und stets
uneinholbaren Anfangs, dessen religiöses Vorbild wohl in der göttlichen Gnade gesehen
werden muss.« (Schneider, Genealogie und Menschheitsfamilie, wie Anm. 19, S. 191)
58
Barbarisierung der Tragödie
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Christian Moser
60
Barbarisierung der Tragödie
also doch wieder als großzügiger Geber. Karl macht sich selbst einem armen Vater
(ausgerechnet einem Vater!) zum Geschenk, verschuldet diesen dadurch, ermöglicht
ihm, die Lebensgabe an seine Kinder weiterzugeben und in exzessiver Ökonomie
zu wirtschaften, statt als Tagelöhner in ›natürlichen‹ Tauschverhältnissen zu leben.
In der Trauerspielfassung wird das Reinigungsritual nicht bloß angekündigt, son-
dern auf offener Bühne vollzogen. Das in Aussicht gestellte Selbstopfer, mit dem ein
armer Vater beschenkt werden soll, ist offenbar nicht hinreichend effektiv, um die
verletzte Ordnung zu heilen und die Majestät des Gesetzes zu erweisen. Genauer:
Das bloße In-Aussicht-stellen genügt nicht, das Theater muss vielmehr selbst die
kultische Funktion des Opfers übernehmen. In der Trauerspielfassung geschieht dies
dadurch, dass Karl, ehe er sich den Behörden stellt, Schweizer und Kosinsky einem
aufwendig choreographierten Reinigungsritual unterzieht:
Gib mir deine Rechte, Kosinsky; Schweizer, deine Linke. er nimmt ihre Hände und
steht mitten zwischen beiden. Zu Kosinsky. Du bist noch rein junger Mann – unter
den Unreinen der einzige Reine! zu Schweizern Tief hab ich diese Hand getaucht in
Blut – Ich bins, ders getan hat. Mit diesem Händedruck nehm ich zurück was mein
ist. Schweizer! du bist rein […]. (RT, 291).
Karl nimmt (christusgleich!) Schweizers Schuld auf sich und überträgt zugleich die
Reinheit des unschuldigen Kosinsky auf den alten Kameraden. Anschließend ver-
macht er den beiden sein väterliches Erbe: »Eine Grafschaft ist mir heute zugefal-
len – […] Teilt sie unter euch Kinder« (RT, 292). Auf diese Weise adoptiert Karl
Schweizer und Kosinsky als seine Söhne und instituiert sie als gleichberechtigtes
Brüderpaar, wodurch die ungleiche Brüderbeziehung zwischen Franz und Karl, aber
auch diejenige zwischen Karl und Spiegelberg in einer neuen Generation geheilt
wird.27 Für diese (Lebens-)Gabe sollen sich die Beschenkten erkenntlich zeigen, in-
dem sie ein Leben als »gute Bürger« führen (RT, 292). Ihr segensreiches Wirken
soll dann seinerseits auch Karl, den väterlichen Schenker eines neuen, schuldlosen
Lebens, reinigen: »wenn ihr gegen zehn, die ich zu Grund richtete, nur einen glück-
lich macht, so wird meine Seele gerettet« (RT, 292). Einer gegen zehn: Karl steckt
noch immer – oder schon wieder – in der barbarischen Gabenökonomie. Der stille
Gang des Gesetzes wird durch eine Katharsis überlagert, die Verschuldungsverhält-
nisse perpetuiert, anstatt sie aufzulösen. Diese Katharsis wird auf der Bühne des
Trauerspiels inszeniert. Die Trauerspielfassung will auf diese Weise selbst dasjenige
leisten, was die Schauspielfassung nur ankündigt: ein sichtbares, performativ wirk-
sames Opfer, das die verletzte Ordnung heilt. Das Theater übernimmt die Aufgabe,
27 Das Institut der Adoption markiert, wie Helmut J. Schneider aufgezeigt hat, den im Zei-
chen der Aufklärung stehenden Versuch, den Zufall der Geburt unter rationale Kontrolle
zu bringen und die mit der Lebensgabe verbundenen Verschuldungsverhältnisse aufzu-
heben (vgl. Schneider, Genealogie und Menschheitsfamilie, wie Anm. 19, S. 175–199).
Karl Moor gelingt es aber gerade nicht, die Verschuldungsverhältnisse auf dem Wege der
Adoption Schweizers und Kosinskys zu bereinigen. Indem er die vormaligen Räuber mit
seinem väterlichen Erbe großzügig beschenkt, wird die Dankesschuld vielmehr erneuert
und auf die Adoptivsöhne übertragen.
61
Christian Moser
III.
Schillers ›Räuber‹ enden mit einem Selbstopfer des Protagonisten, das die »Majestät«
des Gesetzes manifestieren und seine Geltung damit erneuern soll. In Kleists ›Pen-
thesilea‹ nimmt das Selbstopfer, das die gleichnamige Amazonenkönigin am Schluss
der Tragödie vollzieht, das Gründungsopfer der »Völkermutter« (DKV II, Vs. 2047)
Tanaïs wieder auf, mit dem diese den Frauenstaat in mythischer Vorzeit aus der Tau-
fe hob. Das eine Selbstopfer soll beenden, was das andere Selbstopfer begründet hat.
Das Selbstopfer der Tanaïs diente (ähnlich demjenigen Karl Moors) dem Zweck,
das Gesetz, das die Frauen nach der Tötung der äthiopischen Invasoren im »Rat
des Volks« sich »würdig« selbst gegeben hatten, zu autorisieren und zu ermächtigen
(DKV II, Vs. 1953, 1960). Denn, wie Penthesilea im 15. Auftritt gegenüber Achill er-
läutert, kaum hatten die Frauen sich eine gesetzliche Ordnung gegeben, da wurden
in ihren Reihen Zweifel an ihrer Fähigkeit laut, eine solche Ordnung durchzusetzen
und zu verteidigen, Zweifel daran, dass »die Kraft des Bogens [...] / Von schwachen
Frau’n beengt durch volle Brüste« regiert werden könne (DKV II, Vs. 1980f.). In-
dem Tanaïs sich vor aller Augen kurzerhand die rechte Brust abriss, gelang es ihr,
die Macht des neuen, im Zeichen des Kriegsgotts Mars stehenden Gesetzes unter
Beweis zu stellen und die Zweifel an der Lebensfähigkeit des Staates im Keim zu
ersticken.
Doch derselbe Akt, der das Gesetz autorisierte, brachte zugleich ein Moment
der Gabenökonomie ins Spiel, das dazu angetan war, seiner Destabilisierung Vor-
schub zu leisten.29 Denn der ursprünglichen Intention nach beruht das Gesetz des
28 Vgl. auch Friedrich Schiller, Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?
[1785]. In: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, hg. von Rolf-Peter Janz,
Frankfurt a. M. 1992, S. 185–200, hier S. 190: »Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo
das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.« Schiller führt sein eigenes Schauspiel ›Die
Räuber‹ als Beispiel dafür an.
29 Der Versuch, das Konzept des Gabentauschs auf die Texte Kleists anzuwenden, wurde
bislang nur vereinzelt unternommen, so etwa in drei Beiträgen zum Kleist-Jahrbuch 2000,
vgl. Pamela Moucha, Verspätete Gegengabe. Gabenlogik und Katastrophenbewältigung
in Kleists ›Erdbeben in Chili‹. In: KJb 2000, 61–88; Michael Wetzel, Geben und Ver-
geben. Vorüberlegungen zu einer Neubewertung der Ambivalenzen bei Kleist. In: KJb
2000, 89–103; Wolfgang Pircher, Geld, Pfand und Rache. Versuch über ein Motiv bei
Kleists ›Kohlhaas‹. In: KJb 2000, 104–117. Im Unterschied zu diesen Ansätzen möchte ich
zum einen aufzeigen, dass die Gabenlogik bei Kleist auf einer Tiefenebene greift, nämlich
auf der Ebene der Gesellschaftskonstitution (Kleist weist die Gabe als ein konstitutives
Element von Vergesellschaftungsprozessen aus). Zum anderen möchte ich diese proto-
soziologische Grundlagenreflexion historisch kontextualisieren, indem ich Bezüge zu zeit-
genössischen Theorien der Soziogenese (hier repräsentiert durch Adam Smith) indiziere.
62
Barbarisierung der Tragödie
63
Christian Moser
hier als Medium, das zwischen die Frau und den Mann ins Mittel tritt, und als
universaler Gleichmacher. Individuelle Unterschiede zwischen den erbeuteten Män-
nern zählen nichts; sie sind sich alle darin gleich, dass sie als Zeichen auf die Vater-
gottheit Mars verweisen. Und Ähnliches gilt für die Frauen: Insofern die Männer,
mit denen sie sich begatten, Mars bedeuten, begehen sie alle (symbolischen) Inzest
mit diesem Vater, sind einander als Schwestern mithin gleich.31 Mars steht für ein
Gesetz, das Recht berechenbar macht; er repräsentiert das (ökonomische, aber auch
rechtliche) Prinzip äquivalenter Substituierbarkeit, das alle gegen alle austauschbar
erscheinen lässt.
Mit ihrem Brustopfer bringt Tanaïs dagegen das Prinzip maßloser Verschuldung
zur Geltung. Aufgrund dieser Lebensgabe stehen alle Amazonen künftig in ihrer
Schuld. Die Verstümmelung der Brust markiert zum einen die Durchkreuzung
von Weiblichkeit und Sinnlichkeit im Zeichen des Mars-Prinzips. Sie figuriert aber
zugleich auch das Gegenteil – eine ur-mütterliche Geste und Gabe.32 Tanaïs gibt
den Frauen buchstäblich ihre Brust, instituiert sich als »Völkermutter« (DKV II,
Vs. 2047) und macht die Frauen zu ihren Kindern. Mehr noch: Die Brustgabe stellt
zudem auch eine Namensgabe dar. Indem sie sich die Brust abreißt, »tauft[ ]« sie das
Volk auf den Namen »die Amazonen oder Busenlosen« (DKV II, Vs. 1986, 1989).
Kleist evoziert hier eine bereits in der Antike verbreitete falsche Etymologie des
Namens, die ihn auf die Bezeichnung a-mazos – ›ohne Brust‹ – zurückführt.33 Die-
ser Name ist kein Substitut, sondern ist mit der Sache, die er bezeichnet, untrenn-
bar verbunden. Der Name a-mazos benennt, was Tanaïs tut (und wozu sie durch
ihr symbolisches Tun wird), als sie die Frauen tauft; er besitzt mithin performative
Kraft. Zugleich schreibt er sich unmittelbar den Körpern ein, und zwar paradoxer-
weise in Form einer Entwendung, als Entfernung eines Körperteils. Gabe ist hier
unmittelbar auch Mangel beziehungsweise Raub. Das Gesetz des Mars kennt keine
Bindung an den Körper. Es reduziert ihn zum bloßen Stellvertreter, zum Zeichen
für Abwesendes. Der Name als mütterliche Gabe dagegen tritt nicht an die Stelle
Walter Hinderer (Hg.), Kleists Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1997, S. 75–115, hier
S. 95–101; Anthony Stephens, Der Opfergedanke bei Heinrich von Kleist. In: Ders., Kleist
– Sprache und Gewalt, Freiburg i.Br. 1999, S. 103–154, hier S. 136–145; Gerhard Neumann,
Erkennungsszene und Opferritual in Goethes ›Iphigenie‹ und Kleists ›Penthesilea‹. In:
Günther Emig und Anton Philipp Knittel (Hg.), Käthchen und seine Schwestern. Frau-
enfiguren im Drama um 1800, Heilbronn 2000, S. 38–80, hier S. 54–72.
31 Der Staatsmythos der Amazonen dient mithin dazu, einen egalitären Schwesternbund zu
etablieren – in Analogie zum Brüderbund der Räuber, wie Schiller ihn in seinem Drama
präsentiert.
32 Vgl. Christian Moser, Politische Körper – kannibalische Körper. Strategien der Inkorpo-
ration in Kleists ›Penthesilea‹. In: Rüdiger Campe (Hg.), Penthesileas Versprechen. Ex-
emplarische Analysen über die literarische Referenz, Freiburg i.Br. 2008, S. 253–290, hier
S. 281–285.
33 Vgl. Christian Moser, Amazonen. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption.
Die antike Mythologie in Literatur, Kunst und Musik von den Anfängen bis zur Gegen-
wart, Stuttgart und Weimar 2008, S. 65–75, hier S. 65.
64
Barbarisierung der Tragödie
des bezeichneten Körpers, sondern bleibt ihm als Mal eingeprägt – wie die Narben
der Schiller’schen Räuber.
Das Selbstopfer der Tanaïs führt mithin das Prinzip des Gabentauschs und der
exzessiven Verschuldung in die Amazonengesellschaft ein.34 Fürderhin ist es nicht
mehr oder nicht allein das Gesetz des Mars, sondern (auch) der Austausch von
Lebensgaben, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt stiftet. Der vertraglich be-
gründete Staat verwandelt sich in einen Bund, der auf dem Austausch von Liebes-
und Opfergaben beruht. Das gilt auch für die Beziehung zu den Männern, die auf
Kriegs- und Raubzügen erbeutet werden. Schon vor der Regentschaft Penthesileas
hat das Gesetz des Mars eine signifikante Änderung erfahren: Die erbeuteten Män-
ner werden, wie Penthesilea Achill offenbart, nach dem Liebesakt, den sie mit ihren
Bezwingerinnen zu vollziehen haben, nicht mehr getötet, sondern dürfen in ihre
Heimat zurückkehren (vgl. DKV II, Vs. 2081f.). Man schenkt ihnen das Leben; das
Kind, das sie zeugen, gewinnt somit das Ansehen einer Gegengabe. Die Amazonen
und die von ihnen erbeuteten Männer tauschen Lebensgaben aus; auf dieser Basis
können sich dann – entgegen der ursprünglichen Intention des Amazonengesetzes
– persönliche Liebesbünde entwickeln. Auch Penthesileas Beziehung zu Achill wird
auf eine solche Basis gestellt. Schon sein Name ist eine Gabe ihrer Mutter Otrere,
den sie ihr auf ihrem Sterbebett vermacht (vgl. DKV II, Vs. 2137f.). Doch auch die
Art und Weise, wie sie gegen ihn Krieg führt, gehorcht der Logik des Gabentauschs.
Diomedes, der die Kämpfenden aus der Ferne beobachtete, schildert sie folgender-
maßen:
[J]üngst, in einem Augenblick, da schon
Sein Leben war in ihre Macht gegeben,
Gab sie es lächelnd, ein Geschenk, ihm wieder:
Er stieg zum Orkus, wenn sie ihn nicht hielt. (Vs. 167–170; Hervorhebungen C.M.).
Die Formulierung ist zweideutig. Wer hat hier wem etwas geschenkt? Zunächst
scheint es so, als sei Penthesilea die Schenkende: Sie schenkt Achill, der in ihrer
Gewalt ist, sein Leben. Aber sie schenkt es nicht bloß, sie schenkt es ihm wieder. Ihr
Geschenk ist eine Gegengabe, ein Wieder- und Zurückgeben. Also hat (zumindest
aus ihrer Sicht) Achill ihr zuerst sein Leben geschenkt (indem er ihr unterlag), und
sie hat dann diese Gabe zurückerstattet, und zwar lächelnd. Sie sieht das Ganze als
ein Tauschgeschehen an, als einen Pakt, der eine intensive Verbindung stiftet. Der
Kampf ist für sie von der Liebe nicht zu trennen. Er ist nicht etwa ein gegenseitiges
Leben-Nehmen, sondern ein gegenseitiges Beschenken, welches Verpflichtungen be-
gründet und Beziehungen stiftet.
Der Kampf verbindet, mehr noch aber der Sieg: Aus Penthesileas Sicht knüpft er
ein unauflösliches Band zwischen den Kämpfenden. Als die Amazonen sie aus der
Gewalt Achills befreien, reagiert sie daher mit Empörung auf diese Verletzung des
Bundes, zu der ihre Schwestern sie dadurch nötigen:
34 Zur Problematik von Schuld und Verschuldung in Kleists ›Penthesilea‹ vgl. auch Claudia
Benthien, Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie
um 1800, Köln, Weimar und Wien 2011, S. 214–219, passim.
65
Christian Moser
Das Band, das durch den Sieg zwischen Sieger und Besiegtem gestiftet wird, ist aus
Penthesileas Sicht von solcher Festigkeit, dass es durch keinerlei Gesetz gelöst wer-
den kann. Es ist fester, verbindlicher als jedes Gesetz. Es ist zudem etwas, was den
Menschen vom Tier unterscheidet, was den Krieg, den Menschen untereinander
führen, vom Krieg der Menschen gegen die Tiere (also von der Jagd) abhebt. Es
ist ein Humanum – das, was den Menschen zum Menschen macht und den Krieg
›humanisiert‹. Wäre der Gefangene als Kriegsbeute veräußerlicht, könnte man ihn
mithin durch Gewalt aus den Händen des Siegers wiedererlangen, dann wäre er
bloßer Besitz. Er ist aber offenbar mehr als Besitz – nämlich Eigentum. Wie sich
das gezähmte Tier kategorial vom wilden Tier unterscheidet, so der auf Lebensga-
ben beruhende ›humane‹ Krieg vom wilden Gemetzel, das den Gegner animalisiert
und zur bloßen Menschenjagd verkommt. Der Kampf als Gabentausch begründet
Eigentum. Penthesilea fühlt sich als Eigentum Achills; zuvor, als sie sich noch die
Siegerin wähnte, sah sie Achill als ihr Eigentum an:
Nun denn, so grüß ich dich mit diesem Kuß,
Unbändigster der Menschen, mein! Ich bin’s,
[…] der du angehörst (DKV II, Vs. 1805–1807, Hervorhebungen C.M.)
Eigentum markiert laut Smith ein abstraktes, innerliches, dauerhaftes Verhältnis.
Das Gut gehört dem Eigentümer auch dann noch an, wenn es sich wegbewegt,
wenn er abwesend ist. Dementsprechend schenkt (!) Penthesilea ihrer vermeintli-
chen Kriegsbeute Achill die »Freiheit« (DKV II, Vs. 1830) – eine rein äußerliche
Bewegungsfreiheit, denn sie glaubt, dass er innerlich an sie durch »eine andre Kette«
(DKV II, Vs. 1832) gebunden ist, die im Kampf geschmiedet wurde.
Wenn schon der Kampf als Gabentausch aufgefasst werden kann, so gilt das
erst recht für das Liebesverständnis, das sich zwischen Penthesilea und Achill in
der Schein-Idylle des 15. Auftritts entwickelt. Penthesilea ist in der Täuschung be-
fangen, dass sie Achill besiegt, dass er sich ihr mithin ergeben hat. Als Gegengabe
öffnet sie ihm ihr Herz (oder genauer: ihre Brust), erzählt ihm die Geschichte ihres
Volks und ihre eigene Geschichte. Vor allem aber gibt sie ihm ihren Namen. Auf die
Frage, wie er diejenige nennen solle, der er infolge des Kampfes »gehört«, antwortet
Penthesilea: »Wenn sie [Achills Seele] dich fragt, so nenne diese Züge, / Das sei der
Nam’, in welchem du mich denkst.« (DKV II, Vs. 1814f.) Penthesilea schenkt einen
Namen, der in den Zügen ihres Gesichts geschrieben ist. Mit ihrem Namen gibt sie
unmittelbar einen Teil ihres Körpers und ihrer selbst. Sie reproduziert damit – dies-
mal allerdings im rein persönlichen Liebesverhältnis – die an den Körper gekoppelte
Namensgabe der »Völkermutter« (DKV II, Vs. 2047) Tanaïs. Zugleich ist der Name,
den sie schenkt, Gegengabe für das Geschenk des Namens Achill, das sie von ihrer
Mutter Otrere erhalten hat. Die Züge, die ihren Namen markieren, sollen dem
66
Barbarisierung der Tragödie
35 Möglicherweise nimmt Kleist hier auf die Barbarenkonzeption der klassischen griechi-
schen Philosophie Bezug. Als geborene Sklaven sind Barbaren laut Aristoteles von Natur
aus unfähig, sich selbst (und andere) zu leiten, sie besitzen noch nicht einmal das Potential
zu vernunftgeleiteter Selbstbeherrschung und gleichen somit den Tieren. Daher, so argu-
mentiert er, sei es gerecht, gegen Barbaren Krieg zu führen. Denn Krieg sei eine von der
Natur vorgesehene Erwerbsform, die man (in Gestalt der Jagd) gegen Tiere und gegen
solche Menschen anwenden müsse, »die von Natur zum Dienen bestimmt sind und dies
doch nicht wollen.« (Aristoteles, Politik, aus dem Griechischen und hg. von Olof Gigon,
München 1973, S. 58) Vgl. dazu Moser, The Concept of Barbarism in Eighteenth-Century
Theories of Culture and Sociogenesis (wie Anm. 2), S. 48–53; Markus Winkler, Theoretical
and Methodological Introduction. In: Ders. u.a. (Hg.), Barbarian (wie Anm. 2), S. 1–44,
hier S. 19–23. – Achills Aufforderung zum Zweikampf wird von Penthesilea folglich als
Erniedrigung zum Status einer animalischen Barbarin empfunden.
67
Christian Moser
Kampf- und Liebesbundes, sondern auch eine (Über-)Kompensation für den Ver-
lust der Männer, den die Amazonen bei der Befreiung Penthesileas erlitten haben.
Indem sie Achill zerfleischt, reproduziert sie die für den Amazonenstaat konstitutive
›Marshochzeit‹ und das daran gekoppelte Opfer in seiner ursprünglichen Form –
als Vereinigung mit dem Mann, die mit seiner Tötung einhergeht. Aber sie traves-
tiert es zugleich auf provozierende Weise: Während Tanaïs und ihre Ur-Amazonen
»[d]er Gäste Brust« ›sauber‹ mit Hilfe von Dolchen »zu küssen« und so »zusamt«
ins Jenseits zu befördern suchten (DKV II, Vs. 1946), ersetzt Penthesilea den Dolch
durch ihre eigenen Zähne und verleibt sich das Opfer ein. Körper vermischt sich
mit Körper. Dergestalt wird das Gründungsopfer massiv verunreinigt. Die Funktion
dieses Opfers – die ›Reinigung‹ und Spiritualisierung des Geschlechtsakts durch ein
göttliches Medium, das die Körper der Männer zu bloßen Zeichen reduziert –36
wird dadurch in ihr Gegenteil verkehrt.
Der ganze 24. Auftritt der ›Penthesilea‹ steht im Zeichen einer derartigen bar-
barisierenden Verunreinigung. Das Opfer Achills – Gegengabe für den Verlust der
erbeuteten Griechen – wird von den Amazonen nicht angenommen. Die Königin
wird ob ihrer entsetzlichen Tat vielmehr regelrecht verstoßen. Der Ausschluss aus
der Gemeinschaft erfolgt symbolisch durch den Entzug ihres Namens – sie wird als
diejenige tituliert, »die fortan kein Name nennt« (DKV II, Vs. 2607). Sie gilt den
Amazonen nur noch als »die Grauenvolle«, »die Entsetzliche« oder »die Scheußli-
che« (DKV II, Vs. 2695, 2705, 2714). Doch das Geschehen nimmt eine unerwartete
Wendung (»Welch’ eine wunderbare Wendung!«, so kommentiert die Oberpries-
terin diese Peripetie im Kleinen, DKV II, Vs. 2861), als Penthesilea beginnt, ihre
Waffen zu reinigen. Mit der Zeit beteiligen sich die Amazonen an dem Reinigungs-
werk. Ein Marmorbecken mit Wasser wird herbeigeschafft, und alle wirken daran
mit, die Königin zu waschen und von den blutigen Spuren der Schlachtung Achills
zu befreien. Wie in der Trauerspielfassung der ›Räuber‹ wird eine »im Drama selbst
inszenierte […] Katharsis« auf die Bühne gebracht.37 Im Zuge dieses Reinigungs-
vorgangs erlangt Penthesilea, die zuvor wie im Wahn agierte, ihr Bewusstsein wieder.
Es hat also zunächst den Anschein, als erziele das Reinigungsritual die erwünschte
Wirkung. Doch das ist nicht der Fall. Penthesilea ist nun zwar bei Bewusstsein,
aber sie kann sich an ihre schreckliche Tat nicht erinnern. Wie schon im 15. Auf-
tritt erliegt sie der Täuschung, Achill besiegt und als Partner für sich gewonnen zu
haben. Das Reinigungsritual reinigt also nicht von Schuld, es täuscht Reinheit und
Unschuld nur vor.38 Unter den Amazonen gibt es unterschiedliche Einstellungen zu
dieser illusorischen Reinheit. Prothoe, die engste Vertraute Penthesileas, hält sie für
heilsam. Sie fürchtet, dass Penthesilea an der Konfrontation mit der Wahrheit zer-
brechen und in selbstzerstörerischen Wahn zurückfallen könnte. Die Oberpriesterin
68
Barbarisierung der Tragödie
dagegen erhofft sich von der schonungslosen Enthüllung der Wahrheit einen nicht
minder heilsamen Schock, der die Königin zur Einsicht in ihre Verfehlungen und
zur Übernahme moralischer Verantwortung leiten könnte. Als Penthesilea schließ-
lich erkennen muss, dass sie ihren Geliebten mit ihren eigenen Händen und Zähnen
zerfleischt hat, tritt weder der eine noch der andere Fall ein. Sie zerbricht daran
nicht, aber sie übernimmt dafür auch nicht die moralische Verantwortung. Sie ent-
schuldigt sich vielmehr, in dem sie auf ein bloßes »Versehen« (DKV II, Vs. 2981),
einen lässlichen Fehler verweist, der weniger ihr eigener ist, als er einen Defekt der
Sprache markiert – einen Versprecher, eine Verwechslung von Küssen mit Bissen
(vgl. DKV II, Vs. 2981f.), die mit der Verwechslung von Sprechen und Handeln
einhergeht (denn das Wort ›beißen‹ oder ›küssen‹ auszusprechen ist etwas anderes
als Bisse oder Küsse zu verabreichen, auch wenn dasselbe Körperteil, der Mund,
daran mitwirkt). Die Reduktion der Tat auf einen kleinen Missgriff der Sprache,
eine Missachtung minimaler sprachlicher Differenzen, scheint es Penthesilea zu er-
möglichen, ihren Fehler zu korrigieren und ihre Schuld, wie gering sie auch sei,
zu bereinigen. Sie glaubt, die Differenz, die sie in der Hitze der Tat übersah, nun
markieren zu können:
Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen,
Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin;
Doch jetzt sag’ ich dir deutlich, wie ichs meinte:
Dies, du Geliebter, war’s, und weiter nichts.
Sie küßt ihn. (DKV II, Vs. 2986–2989, Hervorhebung C.M.)
Auch dieser Bereinigungsversuch geht in die Irre. Penthesilea vollzieht dabei den
Missgriff, den sie doch korrigieren will; sie missachtet die Differenz, die sie zur Gel-
tung bringen möchte. Denn sie sagt es ja eben nicht, sie tut es. Die Königin ver-
wechselt erneut Sagen mit Tun, Worte mit Körpern. Sie bewegt sich somit in den
Bahnen jenes sprachlichen Barbarismus, den Tanaïs mit ihrem zugleich verbalen
und körperlichen Taufakt programmierte.
Und mehr noch: Auch das Selbstopfer Penthesileas, mit dem das Drama ab-
geschlossen wird, beruht auf einer solchen barbarisierenden Vermischung von Wort
und Sache, von Sprechen und Handeln. Es reproduziert mithin die Verfehlung, die
es sühnen soll. In einem Sprechakt erschafft Penthesilea einen Dolch, der sie von den
Amazonen trennen und mit Achill vereinen soll. Der zerschneidende Dolch figuriert
also paradoxerweise zugleich als Band oder Kette. Tatsächlich zitiert Penthesilea da-
mit ihre eigene Rede aus dem 15. Auftritt, wo sie Achill in Aussicht stellte, »[i]n der
Gefühle Glut« eine »Kette« zu schmieden, die sie noch fester aneinander binden
sollte (DKV II, Vs. 1836, 1832): Gemeint war damit das Kind, das sie von Achill zu
empfangen begehrte. In Penthesileas finaler Rede ersetzt der Dolch das Kind; die
sprachliche Erzeugung des Dolches »in der Glut des Jammers« wird als Geburtsvor-
gang vorgeführt (DKV II, Vs. 3028). Die Königin gebärt ein Dolch-Kind, dem sie
(wie die irritierende Formulierung lautet) ihre Brust gibt: »Und diesem Dolch jetzt
reich’ ich meine Brust« (DKV II, Vs. 3033). Sie gebärt und nährt mithin den Tod.
Das Kind, das sie zur Welt bringt, figuriert nicht als Lebens-, sondern als Todesgabe.
Penthesileas Rede überschreitet in rückhaltlos verunreinigender Manier kategoriale
69
Christian Moser
Grenzen und Differenzen – zwischen Geburt und Tod, zwischen Trennen und Ver-
binden, zwischen Geben und Nehmen, zwischen Sprache und Körper.
Die Serie von Reinigungsversuchen, die das Drama abschließt, ist, wie in der
Forschung wiederholt bemerkt wurde, in auffälliger Weise mit einigen Kernelemen-
ten der Tragödienpoetik verbunden: Peripetie, Anagnorisis, Hamartia – und nicht
zuletzt Katharsis.39 Der 24. Auftritt markiert eine Tragödie im Kleinen, »eine mise
en abyme des Tragischen in der Tragödie«,40 ein Spiel im Spiel, dem die Amazonen
als Zuschauerinnen beiwohnen. Zugleich wird (wie in den ›Räubern‹) das kultische
Element stark profiliert: Auf der Bühne werden rituelle Akte vollzogen, symbolisch
aufgeladene Aktionen, die performativ wirksam sein sollen. Doch die genannten
Kategorien werden zugleich auch entleert: Die Hamartia wird zu einem sprach
lichen Lapsus bagatellisiert, eine wirkliche Anagnorisis findet nicht statt; die Kathar-
sis steht im Zeichen von Illusion und Selbsttäuschung. Die Gewalt, die hier rituell
vorgeführt wird, ist letztlich keine ›reinigende Gewalt‹ im Sinne René Girards,41
keine stellvertretende Gewalt, die die Zuschauerinnen affektiv miteinander vereinigt
und die verletzte Ordnung heilt. Das Stück ersetzt die Katharsis vielmehr durch
Kontamination – eine Kontamination, der sich auch die Rezipienten letztlich nicht
entziehen können.
Die Katharsis, die Kleist in der ›Penthesilea‹ auf die Bühne bringt, ist bloßer
Schein. Darin ähnelt sie den Reinigungsritualen, die Schiller in den ›Räubern‹ in
Szene setzt, allerdings mit einem großen Unterschied: Schiller erhofft sich auch von
diesem bloßen Schein noch eine moralisch läuternde Wirkung. Bei Kleist dagegen
lässt sich der Schein nicht mehr zum ästhetischen Schein sublimieren. Der Schein ist
hier Teil des Problems, das die Tragödie analytisch aufdeckt, keineswegs aber seine
Lösung.
39 Vgl. Brandstetter, »Eine Tragödie von der Brust heruntergehustet« (wie Anm. 37);
Bernhard Greiner, Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Gangs. Grund-
lagen und Interpretationen, Stuttgart 2012, S. 496.
40 Brandstetter, »Eine Tragödie von der Brust heruntergehustet« (wie Anm. 37), S. 198.
41 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, aus dem Französischen von Elisabeth
Mainberger-Ruh, Düsseldorf und Zürich 1987, S. 58f.
70
Peter-André Alt
Doppelte Paratexte
Zur Funktion impliziter und expliziter Bühnenanweisungen
in Schillers und Kleists Dramen
71
Peter-André Alt
Las man Periochen bzw. Abrisse genauer, so erschloss sich eine Art Aktionsfolge mit
den jeweils zentralen Momenten des theatralischen Spiels. Ein dramenimmanenter
Bereich mit expliziten Hinweisen zur Körpersprache existierte allerdings nicht,
weil die Akteure wussten, wie sie sich in spezifischen Affektlagen im Rahmen eines
festen Ausdrucksrepertoires zu präsentieren hatten. Dessen Regeln stammten aus
den Bestimmungen zur rhetorischen actio mitsamt ihren normativen Darstellungs-
prinzipien.
Das klassizistische Drama verwendete dann bereits Angaben zu Auftritten und
Abgängen, die im Barockdrama komplett fehlten. Hinweise auf die Ausdrucks-
ebene des Spiels unterblieben jedoch zumeist, man vermittelte keine Informatio-
nen zu Körperhaltungen, und auch Mimik oder Gestik schilderte man nicht näher.
Dass Anmerkungen zu allgemeinen Gemütsverfassungen geboten wurden, wie in
Gottscheds Tragödie ›Sterbender Cato‹ (1732), war eine absolute Ausnahme; Johann
Elias Schlegels ›Canut‹ (1746) etwa verzichtete komplett auf jede Annotation zum
Bühnengeschehen.5 Tendenziell bot die Komödie mehr Szenenhinweise als die Tra-
gödie. Luise Gottscheds Lustspiele ›Die Pietisterey im Fischbein-Rocke‹ (1736) und
›Der Witzling‹ (1745) oder Gellerts ›Die kranke Frau‹ (1747) lieferten gelegentlich
Anmerkungen zur Mimik, die vorgeschützte Affekthaltungen oder Gesinnungen
als Elemente der Intrige kenntlich machen, zuweilen auch Hinweise auf eine zart
angedeutete Komik der Körpersprache.6 Kommt es, wie in Gottscheds ›Pietisterey‹,
zu einer Ohnmacht, so wird sie direkt durch den kommentierenden Text annonciert,
nicht durch die Figur selbst expliziert, wie das noch bei Lohenstein der Fall war.7
Solche Momente bildeten jedoch Ausnahmen im Gesamtbild des aufgeklärten
Berlin und New York 2005, S. 9–12; Johann Christian Hallmann, Mariamne. Trauerspiel
[1670], hg. von Gerhard Spellerberg, Stuttgart 1973, S. 14–17.
5 Vgl. Gottscheds Anmerkung zu Beginn des fünften Akts: »Cato allein, in tiefsten
Gedanken sitzend und ein Buch in Händen habend.« (Johann Christoph Gottsched,
Sterbender Cato, hg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1984, S. 75)
6 Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie, hg.
von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968, S. 36, 74, 77, 88, 130, 134; dies., Der Witzling. In:
Georg-Michael Schulz (Hg.), Lustspiele der Aufklärung in einem Akt, Stuttgart 1988,
S. 5–39, hier S. 24, 35f., 37f. (wobei die von den Anmerkungen verlangte Körpersprache
eine für das frühaufklärerische Stilideal untypische Expressivität – Schreien, Werfen, Auf-
springen – bietet); Christian Fürchtegott Gellert, Die kranke Frau. In: Schulz (Hg.), Lust-
spiele der Aufklärung, S. 79–115, hier S. 95, 97f., 100, 103f., 106.
7 Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (wie Anm. 6), S. 37. In Lohensteins
›Agrippina‹ wird die Ohnmacht des Zauberers Zoroaster zunächst durch die Inhaltsangabe
am Beginn des Textes und anschließend durch die Figurenrede zur Sprache gebracht:
»Die Ohnmacht fällt mich hin« (Lohenstein, Aggripina, wie Anm. 4, S. 12, 163). Mag
diese kurze Ankündigung noch physiologisch angehen, weil die Person die Ohnmacht
nahen spürt, so wird die nachfolgende paränetische Pointe der Rede – »ihr Sterblichen
mög’t lernen: / Wer Hell’ und Schatten ehr’t/ entehr’t/ erzürn’t die Sternen.« – vollends
unglaubwürdig, da ein in Ohnmacht Fallender zu diesem Sprechakt schwerlich in der
Lage ist. Das barocke Trauerspiel behauptet nicht nur hier eine demonstrative Funktion
vor dem Postulat der psychophysischen Glaubwürdigkeit.
72
Doppelte Paratexte
Dramas klassizistischer Provenienz, das sonst sehr sparsam mit paratextuellen Hilfs-
mitteln umging.
Das Bild änderte sich komplett im bürgerlichen Trauerspiel ab der Mitte der
50er Jahre des 18. Jahrhunderts. Lessings Trauerspiel ›Miss Sara Sampson‹ (1755)
weist bereits 150 Bühnenanweisungen auf, und über 600 Gedankenstriche ver-
langen Pausen der Rede, die durch eine eigene Gebärdensprache der Akteure gefüllt
werden musste. In Lenz’ ›Hofmeister‹ (1774) sind es 180 Anweisungen und knapp
400 Gedankenstriche mit der Funktion, Unterbrechungen, unterdrückte Affekte
und Bewusstseinssprünge anzuzeigen. Schillers ›Kabale und Liebe‹ (1784) enthält
knapp 550 Regieanweisungen und weit über 1000 Gedankenstriche, also einen gan-
zen Apparat paratextueller Hinweise und Redezeichen, die das Spiel der Akteure
steuern. Dieser Umbruch zu einer impliziten Performanz des Bühnentextes wurde
durch die Forschung zunächst stiltypologisch, später wissenshistorisch beschrieben.8
Dass Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde einen wesentlichen Einfluss auf
die implizite Poetik der Regieanweisungen genommen haben, ist seit Alexander
Košeninas Arbeit zur eloquentia corporis unstreitig. Ihre Epistemologie prägt die
szenische Technik und erlaubt es, die innere Bühne des Menschen vor den Augen
des Publikums zu öffnen.9 Lenz spricht in seinen ›Anmerkungen übers Theater‹
(1774) davon, dass im Schauspiel der »Charakter, der kenntliche Umriß eines Men-
schen« hervorzutreten habe.10 Schiller betont in der Vorrede zu den ›Räubern‹, es
gehe darum, »die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen«
(NA 3, 5).11
Aufschlussreich und bisher wenig bekannt ist jedoch, mit welchen Techniken
Anweisungen überhaupt organisiert und artikuliert werden. Neben dem expliziten
Text des Apparats existieren auch – von der Forschung weitgehend vernachlässigt –
implizite Anmerkungen, die in die Rede der dramatis personae integriert sind. Sie
unterliegen einer Doppelfunktion, insofern sie als Paratexte und als Elemente des
Dialogs gleichermaßen auftreten. Im Folgenden wird es um beide Varianten, um
explizite Paratexte innerhalb der Anmerkungsbereichs und um implizite Paratexte
8 Vgl. Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960, besonders
S. 27–29, 92–95; Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 1), besonders
S. 31–33.
9 Als einer der ersten hat Walter Müller-Seidel in seiner ungedruckt gebliebenen Dissertation
den Blick auf die Funktion der Bühnenanweisungen beim jungen Schiller gelenkt: Walter
Müller-Seidel, Das Pathetische und Erhabene in Schillers Jugenddramen, maschinen-
schriftliche Dissertation, Heidelberg 1949, S. 85–91; vgl. auch ders., Das stumme Drama
der Luise Millerin. In: Goethe-Jahrbuch 17 (1955), S. 91–103.
10 Jakob Michael Reinhold Lenz, Anmerkungen übers Theater. In: Ders., Werke und Briefe
in drei Bänden, Bd. 2, hg. von Sigrid Damm, München und Wien 1987, S. 641–671, hier
S. 651.
11 Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Seitenzahl zitiert nach: Schillers
Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im
Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von
Norbert Oellers.
73
Peter-André Alt
innerhalb des Dialogs gehen. Das Untersuchungsfeld bilden die Dramen des jungen
Schiller sowie Kleists ›Penthesilea‹ und ›Prinz Friedrich von Homburg‹.
Schon Schillers ›Räuber‹ bieten eine Dramaturgie des Körpers, deren zumeist erup-
tive Qualität nicht davon ablenken sollte, dass ihre Stilmittel genau kalkuliert sind.
Ein nicht unwesentlicher Teil des Szenenanweisungen rekurriert auf das traditionelle
Repertoire des höfischen Theaters. Dazu gehören Gebärden wie das Sich-Verhüllen
– der alte Moor »verbirgt« (NA 3, 12) etwa das Gesicht, als ihm Franz den Brief des
vermeintlichen Leipziger Korrespondenten vorliest; zu nennen sind ebenso Momente
des Niederkniens, Verstummens, Erstarrens, die durchaus zum Stilkanon der Hof-
bühne zählen (vgl. NA 3, 93, 37, 131). Die fast statuarisch-zeichenhafte Dimension
solcher Sequenzen, die vor allem die Handlung um den alten Moor bestimmen, kor-
respondiert den Bibelanspielungen, wie sie durch das Leitmotiv vom verlorenen Sohn
gesteuert werden. Schiller liefert hier ein sehr traditionelles intertextuelles Geflecht
von religiösen Allusionen, die sich in pathetischen Theater-Gebärden manifestieren.
Stilhistorisch gehören sie ins Repertoire der Hofbühne und der Oper, nicht zum
modernen Dramentypus, den ›Die Räuber‹ sonst ausbilden. Seit Peter Michelsens
kanonischer Studie wissen wir, dass sich darin die Eindrücke spiegeln, die Schiller
als Karlsschüler bei diversen Opernaufführungen in Ludwigsburg und Stuttgart etwa
durch Inszenierungen der ›Semiramade‹ und des ›Il Vologeso‹ von Niccolò Jommelli,
aber auch durch Jean Georges Noverres Ballette empfangen hat.12
Die zweite, auffälligere und zahlenmäßig größere Gruppe bilden Anmerkungen,
die Ostentationen extremer Leidenschaften betreffen. Sie verstoßen gegen alle Kon-
ventionen des klassizistischen Theaters, weil sie eine heftige und zugleich unver-
mittelte Körpersprache verlangen: »Sich vorn Kopf schlagend«, »schäumend auf die
Erde stampfend«, »schreyend, sein Gesicht zerfleischend«, »Wirft sich auf die Erde«,
»sich losreissend«, »giebt ihm eine Maulschelle«, »mit einem Sprung«, »Greift ihn hart
an«; »wider die Wand rennend«, »wild auf ihn losgehend«, »wider eine Eiche rennend«
(NA 3, 24, 31, 48, 60, 73, 75, 82, 91, 99, 123, 131). Bei sämtlichen dieser Anweisungen
geht es um die bewusst herbeigeführte, oft schmerzhafte Kollision von Körper und
Objektwelt, die einer besonderen Erregung entspringt. Gelegentlich kommt es
auch zum direkten Zusammenstoß zwischen Körpern, wenn jemand geschüttelt,
festgehalten oder geschlagen wird. Diese Formen physischer Aktion oder Interaktion
sind charakteristisch für das Drama der 1770er-Jahre, für die Texte eines Lenz,
Klinger, Leisewitz und Wagner. Hier fand Schiller einen reichen Kanon an Vor-
bildern für seine Szenenanweisungen, die plötzliche Erregung und explosive Affek-
tive forderten. Die Emotionen der dramatis personae sind nicht mehr nur Vehikel
der moralischen Lehre, sondern stehen selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Schon Johann George Sulzer, dessen Arbeiten Schiller über Abels Philosophieunter-
12 Vgl. Peter Michelsen, Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers ›Räubern‹,
Heidelberg 1979, S. 15f., 23f.
74
Doppelte Paratexte
richt an der Karlsschule kennenlernte, hatte in einem 1760 verfassten Aufsatz erklärt,
das Theater rege zum Nachdenken über ›Charaktere‹ und ›Leidenschaften‹ an.13 Die
Moraldidaxe bleibt in dieses Wirkkonzept eingeschlossen, ohne dass sie dessen allei-
nigen Zweck bildet.
Eine dritte Gruppe der Bühnenanweisungen betrifft den unmittelbaren
körperlichen und physiognomischen Ausdruck der Figuren: Lächeln, Grimassie-
ren, Augenrollen. Bisweilen können sie sich auf dichte Abfolgen von expressiven
Gebärden erstrecken: »SPIEGELBERG der sich die ganze Zeit über mit den Panto-
mimen eines Projektmachers im Stubeneck abgearbeitet hat« (NA 3, 25). Das Stichwort
›Pantomime‹, das auch in Lenz’ Regieanweisungen häufiger auftaucht, signalisiert
ein stummes Spiel outrierten Charakters. Johann Jacob Engels ›Ideen zu einer
Mimik‹ (1785 / 86) unterscheiden zwischen den natürlichen Gebärden und den
künstlichen Pantomimen des Tänzers, der »malende[ ] Zeichen« verwenden muss,
weil seine Vorführung keine Unterstützung durch die Rede erfährt.14 Für Engel
haben pantomimische Elemente im Drama keinen Platz, denn sie tragen eine
eigenständige Ausdrucksqualität jenseits der Sprache. Einem realistischen Theater,
das um natürliche Wirkung bemüht ist, bleiben sie abträglich, wie auch Lessings
›Hamburgische Dramaturgie‹ (1767–1769) betont.15 Schiller dagegen verwendet
die Pantomime, darin Lenz und Klinger folgend, zur Veranschaulichung extremer
Affektzustände. Er distanziert sich damit bereits vom Realismusgebot des bürger-
lichen Dramas und der von Lessing und Engel noch normativ festgeschriebenen
Ökonomie seiner Gebärdensprache.16
Sehr häufig setzt Schiller die Entfärbung des Gesichts als Stilmittel zur Dar-
stellung extremer Affekte ein. Sie wird nicht durch eine Bühnenanweisung, sondern
durch die direkte Rede angezeigt, die hier deren Funktionen übernimmt. Der Räuber
Grimm ruft in der ersten Leipziger Szene, nachdem Karl den von Franz verfassten
Brief erhalten hat, der sein Versöhnungsangebot ausschlägt: »Was hat er, was hat
er? Er ist bleich wie die Leiche.« (NA 3, 25) Und der Diener Daniel konstatiert bei
Franz, als dieser von ersten Zeichen schlechten Gewissens heimgesucht wird: »Ihr
seyd todenbleich, eure Stimme ist bang und lallet.« (NA 3, 117) Die hier vorliegende
Technik könnte man eine implizite Bühnenanweisung oder aus umgekehrter Pers-
pektive eine paratextuelle Figurenrede nennen. Mit beiden Begriffen soll im Folgen-
den gearbeitet werden, je nachdem, ob der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem
13 Vgl. Johann Georg Sulzer, Philosophische Betrachtungen ueber die Nutzlichkeit der
dramatischen Dichtkunst. In: Ders., Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahr-
büchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt, Bd. 1, Leipzig 1773,
S. 146–165, hier S. 163.
14 Johann Jacob Engel, Ideen zu einer Mimik. Zwei Theile, Berlin 1785f., Faksimile-Nach-
druck Darmstadt 1968, Zweiter Theil, S. 18.
15 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. In: Ders., Werke, Bd. IV,
hg. von Herbert G. Göpfert, bearbeitet von Karl Eibl, München 1973, S. 229–720, hier
S. 250f.
16 Bei Engel schließt das Konzept psychologisch nachvollziehbarer Gesten auch die Kritik
des versifizierten Trauerspiels und seiner pathetischen Tendenz ein; vgl. Engel, Ideen zu
einer Mimik (wie Anm. 14), Zweiter Theil, S. 111–113, 177f.
75
Peter-André Alt
Apparat der Anmerkungen und deren Fortführung in der Rede oder auf dem Dialog
und dessen partiell paratextuellem Charakter liegt.
Die implizite Bühnenanweisung hat in der eben zitierten Sequenz zunächst den
Charakter einer Hilfestellung für die Akteure. Mag der Schauspieler ein Erröten
noch produzieren können, so dürfte das Erbleichen für ihn aus physiologischen
Gründen unspielbar sein. Engel schreibt 1785 in den ›Ideen zu einer Mimik‹: »[…]
die Verwandlung der Gesichtsfarbe wird man durch Vorstellungen der Phanta-
sie nur sehr selten und sicher nie durch kalten Vorsatz bewirken.«17 Dass Schiller
das Erbleichen nicht durch die Regieanweisung fordert, sondern im Rahmen der
Figurenrede mit anderen Befunden körperlicher Reaktion verbindet, ist folglich ein
Zugeständnis an die Ausdrucksmöglichkeiten des Akteurs. Für die szenische Reali-
sierung bedeutet das, dass dem Schauspieler Varianten der Darstellung bleiben: Er
kann sich auf die ›lallende‹ Stimme konzentrieren, wohingegen das Erbleichen nicht
im Vordergrund stehen muss. Es geht um die Angst des Franz Moor, nicht um die
Präsentation eines isolierten Ausdrucksmoments. Ähnlich verfährt Lessing in ›Miss
Sara Sampson‹, wenn die Titelheldin einen Wandel im Gesicht ihrer Gegenspielerin
Marwood erkennt: »Ich erschrecke, Lady; wie verändern sich auf einmal die Züge
Ihres Gesichts? Sie glühen; aus dem starren Auge schreckt Wut, und des Mundes
knirschende Bewegung –«18 Gelegentlich verwendet schon die Komödie der Auf-
klärung diese Technik, wenn sie in bedeutenden Momenten auf das Zusammen-
wirken von mimischem Ausdruck und sprachlicher Erläuterung setzt.19 Im Auf-
führungskontext ermöglicht das Verfahren für die Akteure ein punktuelles – falls
notwendig auch nur selektives – Nachspielen der verbalen Kommentierung.
Im impliziten Paratext manifestiert sich eine doppelte Dimension der ausstellend-
performativen und der schildernd-charakterisierenden Darstellung: Er ist Theater
und Erzählung gleichermaßen. In der unterdrückten Vorrede zur Erstausgabe der
›Räuber‹ nennt Schiller sein Stück »einen dr amat ischen Ro man« (NA 3, 244).
Die epische Tendenz der ›Räuber‹ schließt nicht nur eine Vielzahl erzählerischer
Elemente ein, zu denen, wie man weiß, längere narrative Passagen – Berichte über
Verbrechen und Mord, Retrospektiven, Karls kleine Ringparabel – gehören. Sie
wird auch durch die Regieanweisungen oder implizite Paratexte in deren Funktion
konstituiert. Der implizite Paratext schildert gewissermaßen das Geschehen aus
einer erzählerischen Meta-Sicht, er gibt den Darstellern ihr Ausdrucksrepertoire
vor und strukturiert dessen Einsatz. Damit erzeugt er zugleich, über die narrative
Dimension hinaus, ein performatives Moment, denn er fungiert nicht nur als
17 Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 14), Erster Theil, S. 197.
18 Gotthold Ephraim Lessing, Miss Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In:
Ders., Werke, Bd. II, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1971, S. 9–100, hier S. 83; vgl.
Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 1), S. 85f.
19 Vgl. Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (wie Anm. 6), S. 82: »Wie? so tief in
Gedancken, Herr Liebmann? Sie kennen mich ja kaum?«
76
Doppelte Paratexte
20 Sehr früh erkannte diese epische Tendenz Julius Petersen, Schiller und die Bühne, Berlin
1904, S. 379.
21 Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alpha-
betischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Erster
und Zweyter Theil, Leipzig 1773f., Erster Theil, S. 571.
22 Jacob Friedrich Abel, Dissertatio de origine characteris animi. In: Ders., Eine Quellen-
edition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), mit Ein-
leitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg
1995, S. 140–179, hier S. 173, 543 (deutsche Übersetzung).
23 Jacob Friedrich Abel, Rede, über die Entstehung und die Kennzeichen grosser Geister. In:
Ders., Quellenedition (wie Anm. 22), S. 181–218, hier S. 194.
24 Abel, Rede (wie Anm. 23), S. 207.
77
Peter-André Alt
anderes als eine Zerstörung der von Abel beschriebenen Balance von Affekt und
Vernunft geschieht in den eruptiven Momenten, die der Text immer wieder bietet.
Das Drama zeigt die Schnelligkeit der Imagination in actio, die hitzige Dynamik der
Leidenschaften im Moment, die aberwitzigen Konsequenzen des affektiven Furor
im Gewaltakt. Hier erscheint die pathologische Symptomatik des Schwärmertums,
die Abels Rede mit klaren Worten bezeichnet: »Schwärmerey besteht eigentlich in
Ueberspannung und in ganz besonderer Modification seiner Empfindung gegen
einen gewissen Gegenstand.«25 Der Schwärmer vollzieht »Sprünge« und »Aus-
schweifungen«, die gerade die seelische Harmonie stören.26 Im Gegensatz zum Genie
ist der Schwärmer geprägt von unbeherrschbarer, unproportionierter, exzessiver
Leidenschaft. Die Bühnenanweisungen der ›Räuber‹ spiegeln genau diese Situation
der Entgrenzung wider, indem sie den Körper als Schauplatz seelischer Extreme
vorführen. Wo man Fäuste schwingt und wild grimassiert, auf den Boden stampft
und gegen Wände oder Bäume rennt, da ist die Gleichmäßigkeit dahin, die Abel
in seiner ›Dissertatio‹ als Merkmal des seelisch balancierten Charakters beschreibt.
Im eigentlichen Zentrum der ›Räuber‹ steht nicht der Aufruhr gegen die Ordnung
des Staates, sondern die Rebellion der Affekte im Inneren des Menschen. Als Studie
überspannter Charaktere in seelischen Ausnahmezuständen ist Schillers Debütstück
weniger ein sozialpolitisches Exerzitium als ein psychologisches Ereignis.
Auch ›Kabale und Liebe‹, Schillers drittes Drama, weist eine Flut von Regiean-
weisungen und Gedankenstrichen auf. Die Anweisungen gehen mikropsychologisch
auf sehr unterschiedliche Affektregungen ein, die nuancierter als in den ›Räubern‹,
im Detail genauer motiviert sind. Schon Lessings ›Hamburgische Dramaturgie‹
hatte gefordert, dass die üblichen Formen von »Affektation und Grimasse« durch
persönliche Gebärden – »die individualisierenden Gestus« – ersetzt werden müssten,
die das Innenleben der Figuren sichtbar machten.27 In seiner im Frühjahr 1784, kurz
nach der Publikation von ›Kabale und Liebe‹ verfassten Schaubühnenrede verlangt
Schiller im Sinne Lessings, die Schauspieler sollten an einer genauen Nuancierung
ihrer Technik und an der Darstellung von ineinander übergehenden Emotionen
arbeiten. Nicht sinnvoll sei es dagegen, »für jedes Genus von Leidenschaft« eine
»aparte Leibesbewegung« einzustudieren, weil das nur statuarisch und künstlich
anmute (NA 20, 84).
Während die wilde Gebärdensprache der ›Räuber‹ bisweilen wie eine etwas
willkürliche Choreographie der Dauererregung erscheint, wirkt das Gestenspiel
in ›Kabale und Liebe‹ differenzierter und abgestufter. In manchen Szenen wird
jede Figurenrede durch eine Regieanweisung ergänzt, die Stimmlage, Gesichtsaus-
druck oder Körperhaltung betrifft. Das gilt gerade für die ersten beiden Akte, die
Gespräche im Hause Miller, die Kammerdiener-Szene und die Begegnung zwischen
Ferdinand und Lady Milford. Hier liest sich der von Bühnenanmerkungen durch-
setzte Dramentext wie ein Dialog mit Kommentaren. Die erläuternde Leistung
der Regieanweisungen mischt sich mit einer narrativen Eigenfunktion; löste man
78
Doppelte Paratexte
die Anweisungen aus dem Kontext, so ergäben sie eine selbständige Erzählung am
Leitfaden von Physiognomie und Körpersprache. Gleiches gilt für die weit über
1000 Gedankenstriche, die den Text immer wieder unterbrechen. Schiller verwendet
eine eigene Notationstechnik, indem er einfache, doppelte und – neu gegenüber der
älteren, etwa bei Lessing und Leisewitz anzutreffenden Vorgehensweise – verlängerte
Gedankenstriche einsetzt. Damit strukturiert er die Redepausen auf musikalische
bzw. choreographische Weise und verleiht ihnen ein eigenes Gewicht im szeni-
schen Ablauf. Sie tragen Bedeutung, ermöglichen ein stummes Spiel und gewinnen
dramaturgische Funktionen besonderer Art.
Die meisten Regieanweisungen betreffen Ferdinand. Er stammt aus der Affekt-
familie Karl Moors, ist expressiv in Gestik, Mimik und Motorik. Er rollt die Augen,
wirft wütende Blicke, ballt die Fäuste, fällt auf die Knie, stampft auf den Boden, rennt
auf und ab, stürzt davon; fortwährend ist er in Bewegung, jedes Gespräch löst in ihm
physische Reaktionen aus. Der Furor, der Ferdinands Gebärden beherrscht, spiegelt
eine Disharmonie zwischen Wahrnehmung und Urteil, Beobachtung und Folge-
rung. Was immer Ferdinand sieht und hört, bezieht er in einer schnell ablaufenden
Kette von Schlüssen auf sich. Bemerkenswert sind dabei das Tempo der Reaktionen
und die Heftigkeit seiner Stimmungswechsel. In Friedrich H einrich Jacobis psycho-
logischem Roman ›Allwills Briefsammlung‹ (1776), den Schiller kannte, bemerkt die
Protagonistin Sylli über den Typus des schwärmerisch-eskapistischen Phantasten:
Man kann aber ohne Gefahr annehmen b e y d ie s e r G a t t u n g , daß wo der hel-
lere Kopf ist, auch ein höherer Grad der Ruchlosigkeit sich einstellen werde. Bey
der Helle des Kopfs wird der Uebergang von der Empfindung zur Reflexion; zur
Beschauung und Wiederbeschauung – mit Beyhülfe des Gedächtnisses – immer
schneller, mannigfaltiger, gegenseitiger, durchgreifender, umfassender; bis endlich
Anschauung, Betrachtung und Empfindung jeder Art, von der zur größten Fertig-
keit gediehenen Selbstbesinnung, Geistesgegenwärtigkeit und inneren Sammlung
[…] verschlungen werden, und f ür s ic h keine Gewalt und natürliche Rechte mehr
haben. Der ganze Mensch, seinem sittlichen Theile nach, ist Po e s ie geworden […].28
Wenn der ›ganze Mensch‹ – die Formel, die sich Schillers Bürger-Rezension 15 Jahre
später leihen wird – in einen gleichsam poetischen Zustand gerät, verliert er gerade
seine Ganzheit, seine innere Harmonie (vgl. NA 22, 245). Es erodiert in diesem Typus
die Stabilität des Charakters durch schnelle Assoziation, radikalen Selbstbezug,
heftige Stimmungswechsel. Das entspricht sehr genau dem Affektpanorama, das
Schillers ›Kabale und Liebe‹ an Ferdinand vorführt. Auch Ferdinand ist »Po esi e«
geworden, auch er unterliegt einem tiefgreifenden Verlust seiner Wahrnehmungs-
und Urteilsfähigkeiten, der am Schluss des Trauerspiels in die Katastrophe mündet.
In den Regieanweisungen spiegelt sich exakt dieser Weg bereits wider. Das sei an
einem sehr charakteristischen Beispiel dargestellt, am Fall des Erbleichens.
Schiller schreibt seinen Figuren ein Erbleichen an sechs Stellen zu und zwar meist,
anders als in den ›Räubern‹, durch die direkte Regieanweisung. Bei Ferdinands
28 Friedrich Heinrich Jacobi, Allwills Briefsammlung. In: Ders., Werke, Bd. 1, hg. von
Friedrich Roth und Friedrich Köppen, Darmstadt 1968, S. 178.
79
Peter-André Alt
erstem Auftritt »sinkt« Luise »entfärbt und matt auf einen Sessel«; Lady Milford
»entfärbt sich und zittert«; Luise »setzt sich totenbleich nieder«; der Präsident wird
»vor Wut blaß« (NA 5, 13, 31, 38, 43). In einem Fall beschwört Schiller die mimische
Reaktion wie in den ›Räubern‹ über die Figurenrede direkt: »Du entfärbst dich?«
so fragt die Lady im Gespräch mit ihrer Kammerzofe (NA 5, 27). Die äußerliche
Frageform ist pure Rhetorik, denn das Blasswerden sollte ja objektiv sichtbar und
daher zweifellos sein. Im Hintergrund steht eine andere Bedeutung, nicht die Frage
nach dem tatsächlichen Umstand, sondern nach dem Grund des Erbleichens. Sophie
entfärbt sich, weil sie die Heiratspläne der Lady für Hochverrat am Landesherrn
hält, dessen Mätresse die Lady ist. Milfords Frage gilt dem Motiv des Ausdrucks,
weniger der Versicherung, ob ihre eigene Wahrnehmung richtig sei.
Ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren bietet die erste Begegnung zwischen
Ferdinand und Luise. Die Regieanweisung lautet in ganzer Länge: »Er fliegt auf
sie zu – sie sinkt entfärbt auf einen Sessel – er bleibt vor ihr stehn – sie sehen sich
eine Weile stillschweigend an. Pause.« Dann folgt Ferdinands Frage: »Du bist blaß,
Luise?« (NA 5, 13) Die Rede verdoppelt die Regieanweisung, indem sie die Aussage
des Paratextes wiederholt. Sie ist, im Gegensatz zur Sequenz zwischen Daniel und
Franz Moor in den ›Räubern‹, weniger ein die Bühnendarstellung unterstützender
impliziter Paratext als primär psychologisch motiviert. Die Wiederholung bedeutet
zunächst eine Weiterführung des paratextuellen Befundes, der Szene zwischen Lady
Milford und ihrer Zofe entsprechend. Ferdinand möchte mehr tun als nur eine
Beobachtung mitteilen, auch er fragt eigentlich nach dem Grund des Erblassens.
Dabei treibt ihn nicht die Sorge, sondern das Misstrauen angesichts der Tatsache,
dass Luise mit ihrer Gesichtsverfärbung direkt auf sein Erscheinen reagiert. Ihre
Antwort gerät denn auch ausweichend, im Grunde manipulativ: »Es ist nichts.
Nichts. Du bist ja da. Es ist vorüber.« (NA 5, 13) Richtig bleibt, dass Luise erst durch
Ferdinands Erscheinen blass wird. Wenn er »da« ist, so bedeutet das gerade keine
Beruhigung, sondern Verunsicherung angesichts einer standeswidrigen Liebes-
beziehung, die das Bürgermädchen für frevelhaft und gottwidrig hält. Ferdinand
wiederum interpretiert Luises Erbleichen als Indiz für ihre erkaltende Leidenschaft
und als Zeichen mangelnden Vertrauens. Er blickt eben nicht in die Tiefe ihrer
Seele, wie er selbstbewusst behauptet, sondern versagt bereits beim ersten Versuch,
ihre Körpersprache angemessen zu lesen.
Schon mit dem Erblassen und seiner missverständlichen Auslegung beginnt
die Tragödie der Eifersucht, die katastrophale Konsequenzen herbeiführen wird.29
Der dramatische Text leistet dreierlei: Er schildert eine physiologisch-mimische
Reaktion, formuliert das Dementi seiner wahren Ursachen und liefert einen Inter-
pretationsversuch, der die unvereinbaren Weltsichten der Liebenden reflektiert. Die
Funktion der Regieanweisung ist in diesem impliziten Paratext aufgehoben und in
die Zone der Ambivalenz gerückt. Sie beschreibt keine einfache Beziehung zwischen
Affekt und Ausdruck, wie das noch in den Leidenschaftsexzessen der ›Räuber‹ der
29 Zum Misstrauen vgl. Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst (wie Anm. 1),
S. 254–266.
80
Doppelte Paratexte
Fall war, sondern eine schwierige, spannungsreiche Relation beider, die kontroverse
Deutungen auslöst.
Auch der spätere Schiller wird auf solche Stilmittel nicht ganz verzichten. Der
›Don Karlos‹ (1787) etwa bietet, seiner Versform zum Trotz, ein reich orchestrier-
tes Anmerkungsrepertoire, das in der französischen Tragödie noch fehlte. Ähnlich
verhält es sich mit Schillers Dramen der Weimarer Periode, deren fein nuancier-
tes Instrumentarium der Regieanweisungen einen eigenen paratextuellen Apparat
konstituiert. Selbst die streng gebaute ›Braut von Messina‹ (1803) durchbricht das
Prinzip der klassischen Stildämpfung durch eine Vielzahl von Anmerkungen zum
Körper-, Gebärden- und Gesichtsausdruck. Dass man jedoch auch bei sparsamem
Einsatz direkter Bühnenanweisungen differenzierte Nuancierungen des nonverbalen
Spiels steuern kann, zeigt wiederum Kleist – mit einer Technik, die Schillers
dramenpoetisch integrierte Paratexte potenziert.
30 Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 14), Zweiter Theil, S. 251.
81
Peter-André Alt
31 Vgl. dazu Ruperts als versteckte Drohung deutbare Anmerkung »Doch fall / Ich leicht in
Ohnmacht.« (SW9 I, 115)
32 Eine wichtige Funktion haben in diesem Bereich Äußerungen des Stotterns und Stam-
melns. Jeronimus’ ungerade Rede vor Gertrud und Sylvester verdankt sich der Einsicht
in die schwierigen Schuldverhältnisse und das unüberwindliche Misstrauen zwischen den
Familien. Sylvester wiederum redet sich in Rage und verliert dadurch die korrekte Sprache
(vgl. SW9 I, 85, 126).
33 Vgl. zur Funktion solcher Szenen Günter Oesterle, Vision und Verhör. Kleists ›Käthchen
von Heilbronn‹ als Drama der Unterbrechung und Scham. In: Christine Lubkoll und
ders. (Hg.), Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen
Klassizismus und Romantik, Würzburg 2001, S. 303–328; Chris Cullens und Dorothea
von Mücke, ›Das Käthchen von Heilbronn‹. »Ein Kind recht nach der Lust Gottes«. In:
Walter Hinderer (Hg.), Kleists Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1997, S. 116–144, hier
S. 118f., 129–131.
34 So bekanntlich die Formulierung bei Friedrich Schlegel, 116. Athenäumsfragment. In:
Ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hg. von Ernst Behler, München,
Paderborn und Wien 1967, S. 182.
82
Doppelte Paratexte
35 Vgl. hier Gerhard Neumann, Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers.
Umrisse von Kleists kultureller Anthropologie. In: Ders. (Hg.), Heinrich von Kleist.
Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, S. 13–29.
36 Das fällt in den Bereich der Transgression, die das durchgehende Strukturprinzip des
Textes bildet. Vgl. Gabriele Brandstetter, ›Penthesilea‹. »Das Wort des Greuelrätsels«.
Die Überschreitung der Tragödie. In: Hinderer (Hg.), Kleists Dramen (wie Anm. 33),
S. 75–114; Ulrich Port, »In unbegriffner Leidenschaft empört«? Die Diskursivierung der
Leidenschaften in Kleists ›Penthesilea‹. In: KJb 2002, 94–108.
37 Zu Recht hat man auf Kleists Verfahren der szenischen Parallelisierung hingewiesen,
das, exemplarisch in der ›Penthesilea‹ entwickelt, in dieser Form neu für die deutsche
Dramatik ist. An die Stelle der bei Lessing und Schiller dominierenden teleologischen
Handlungsführung, bei der das Geschehen folgerichtig auf den tragischen Höhepunkt
hingelenkt wird, tritt bei Kleist bisweilen ein Verfahren der simultanen Darstellung von
Ereignissen. Vgl. Werner Frick, »Ein echter Vorfechter für die Nachwelt«. Kleists agonale
83
Peter-André Alt
Kommentar begegnet nun eine ganz andere Form der Mauerschau, die der Ver-
stärkung des tatsächlich Sichtbaren dient. Die Darstellerin der Penthesilea muss der
Regieanweisung folgend ein Schwanken oder Taumeln andeuten. Ergänzt wird es
dann durch die deiktische Rede Meroes, die bezeichnenderweise mit »Da« beginnt
(SW9 I, Vs. 1349). Sie unterstreicht, was die Schauspielerin der Penthesilea vorführt:
das »leblos[e]« In-sich-Zusammenfallen zwischen den beiden sie stützenden Ama-
zonen. Die Regieanweisung wird in der paradoxen Mauerschau des szenisch Sicht-
baren verdoppelt.
Eine ähnliche Konstellation ergibt sich kurz nach der Befreiung Penthesileas
aus der Gefangenschaft Achills. Die Oberpriesterin entbindet die Königin von
den Pflichten der Amazonen und gestattet ihr mit bitterböser Ironie, dem Feind
allein nachzusetzen. Das kommt einer sozialen Ächtung gleich, auf die Penthesilea
unmittelbar physisch reagiert: »wankend« (SW9 I, vor Vs. 2342) steht sie vor der
Oberpriesterin, wie die Regieanweisung vermerkt. Prothoe, der ihre Erschütterung
nicht entgeht, erwidert: »Was bebst du, meine Königin?« (SW9 I, Vs. 2343) Die
Frageform kann nicht davon ablenken, dass es sich eigentlich um eine deiktische
Feststellung handelt. Diese wiederum unterstützt die Regieanweisung und damit
das Spiel der Darstellerin. In der paratextuellen Rede wiederholt sich erneut der
performative Charakter der Szenenanmerkung. Das geschieht nicht im Sinne
einer psychologischen Dimension, sondern gemäß dem Prinzip der theatralischen
Verstärkung. Der Text schafft ein Spiel der doppelten Linien, die sich wechselseitig
unterstützen.38
Die deiktische Funktion der Figurenrede kulminiert in der 24. Szene am Schluss
des Dramas, wobei die Zahlenordnung bekanntlich auf Homers Epen verweist.
Penthesilea hat ihre Hunde auf Achill gehetzt und begleitet nun den in einen roten
Teppich gehüllten Leichnam des Griechen ins Lager. Die erste Amazone kommen-
tiert das:
Seht, seht, ihr Fraun! – Da schreitet sie heran,
Bekränzt mit Nesseln, die Entsetzliche,
Dem dürren Reif des Hag’dorns eingewebt,
An Lorbeerschmuckes Statt, und folgt der Leiche,
Die Gräßliche, den Bogen festlich schulternd,
Als wärs der Todfeind, den sie überwunden! (SW9 I, Vs. 2704–2709)
Die Amazonen bilden keine »anmutige Gruppierung[ ]« – gemäß Goethes ›Regeln
für Schauspieler‹ (1803) –, sondern einen lakonischen Chor, dessen Worte stockend
Modernität – im Spiegel der Antike. In: KJb 1995, 44–96, hier 84–86; Bernhard Greiner,
Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen und Basel
2000, S. 157–163; Hee-Ju Kim, Dramaturgie und dramatischer Stil. In: KHb, 295–300,
hier 295.
38 Vgl. Dirk Oschmann, How to Do Words with Things. Heinrich von Kleists Sprach-
konzept. In: Colloquia Germanica 63 (2003), S. 3–26.
84
Doppelte Paratexte
39 Johann Wolfgang Goethe, Regeln für Schauspieler. In: Ders., Sämtliche Werke nach
Epochen seines Schaffens, Bd. 6,2, hg. von Victor Lange u. a., München 1988, S. 703–745,
hier S. 712.
40 Engel, Ideen zu einer Mimik (wie Anm. 14), Zweiter Theil, S. 150.
85
Peter-André Alt
41 Bertolt Brecht, Kritik der ›Poetik‹ des Aristoteles. In: Ders., Gesammelte Werke,
Bd. 15, hg. vom Suhrkamp-Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann,
Frankfurt a. M. 1967, S. 240–242. Zur rhetorischen Tradition, die Kleist hier nutzt,
vgl. Alexander Mionskowski, »Jedwede Kunst der Rede ward erschöpft«. Heinrich von
Kleist, Adam Müller und die Aporien der Beredsamkeit im Trauerspiel ›Penthesilea‹. In:
Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment – Selbst-
entwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013, S. 56–82, besonders S.73–78.
42 Vgl. dazu Peter-André Alt, Ästhetik des Opfers. Versuch über Schillers Königinnen. In:
Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 176–204, hier S. 200f.
86
Doppelte Paratexte
erdolcht, dann vollzieht sich das, was der Chor der Amazonen in der Bogenszene
andeutete, im direkten Bühnengeschehen. Mit ihrer gnomischen Schlussformel arti-
kuliert Prothoe die berühmte, schon aus der ›Familie Schroffenstein‹ vertraute lectio
tragica, die kaum zufällig die Bewegung des Stürzens und Fallens aus der Bogen-
sequenz aufgreift:
Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann. (SW9 I, Vs. 3040–3044)43
Auch im ›Prinzen von Homburg‹ erscheint die Technik des deiktischen Kommen-
tars, der implizite Bühnenanweisung und zeigendes, szenisches Sprechen im Sinne
von Engels »Vergegenwärtigung« ist. Besonders markant tritt das Verfahren bereits
in der Exposition auf, die durch eine klare Beschreibung eröffnet wird:
ERSTER AKT
Szene: Fehrbellin. Ein Garten im altfranzösischen Stil. Im Hintergrunde ein Schloß,
von welchem eine Rampe herabführt. – Es ist Nacht.
Erster Auftritt
Der Prinz von Homburg sitzt mit bloßem Haupt und offner Brust, halb wachend halb
schlafend, unter einer Eiche und windet sich einen Kranz. (SW9 I, vor Vs. 1)
Der Kurfürst, seine Gemahlin, ihre Nichte Prinzessin Natalie und diverse Offiziere
beobachten unter der Regie des Grafen von Hohenzollern den somnambulen Hom-
burg, der sich entrückt, halb schlafend, halb wachend, seinen eigenen Siegeskranz
flicht. Die Rede Hohenzollerns, mit der das Drama beginnt, ist eine Introduktion,
die den Titelhelden und die allgemeine Situation knapp vorstellt:
Der Prinz von Homburg, unser tapfrer Vetter,
Der an der Reuter Spitze, seit drei Tagen,
Den flüchtgen Schweden munter nachgesetzt, (SW9 I, Vs. 1–3)
Im Anschluss an Hohenzollerns detaillierte Einführung, die auch den Schlachten
der letzten Tage und den Instruktionen der Truppenchefs gilt, richtet sich der Blick
auf das merkwürdige Bild des träumerisch hingestreckten Homburg, das sich der
kleinen Gesellschaft bietet.
Als ein Nachtwandler, schau, auf jener Bank,
Wohin, im Schlaf, wie du nie glauben wolltest,
Der Mondschein ihn gelockt, beschäftiget,
Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich,
Den prächtgen Kranz des Ruhmes einzuwinden. (SW9 I, Vs. 24–28)
43 Vgl. dazu auch das nahezu identische Diktum Sylvesters in ›Familie Schroffenstein‹,
SW9 I, Vs. 961–963.
87
Peter-André Alt
Der Kurfürst gibt darauf das Kommando: »Fürwahr! Ein Märchen glaubt ichs! –
Folgt mir Freunde, / Und laßt uns näher ihn einmal betrachten.« (SW9 I, Vs. 40f.)44
Die Observation des Schlafenden geschieht mit jener Kälte, die Karl Philipp Moritz
in seinen ›Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre‹ (1782) zu den Haltungen
zählt, in denen man ein Schauspiel auf dem Theater ansieht.45 Das ist eine von
Lessings Mitleidspoetik und ihrer Technik der gemäßigten Affekte bemerkenswert
weit entfernte Definition, die auf Kleists Szene perfekt zutrifft.46 Der Kurfürst und
seine Gesellschaft sind kalte Beobachter und wiederholen darin die Position eines
kühlen Publikums, das distanziert wahrnimmt, was auf der Bühne geschieht. Erneut
lässt sich erkennen, dass das Theater der Einfühlung bei Kleist durch eine Kunst der
zeigenden, Abstand schaffenden Schaustellung ersetzt worden ist.
Es folgt eine Szene, die bekanntlich den entscheidenden Ausgangspunkt für die
künftigen, fast tragisch endenden Verwicklungen bildet. Der Kurfürst nimmt Hom-
burg den Kranz aus der Hand, schlingt seine Halskette darum, gibt ihn der Prinzessin,
die ihn dem Prinzen vor die Augen hält. Er zieht ihn an sich und entreißt ihr dabei
auch einen Handschuh. Die kleine Gesellschaft führt Homburg als Schauobjekt vor
und kommentiert das, was er sagt und tut, wie ein Echo. »HOHENZOLLERN. Was
sagt der Tor? / DER HOFKAVALIER. Was sprach er?« (SW9 I, Vs. 66) Und bezogen auf
den Handschuh, den er laut expliziter Regieanweisung »erhascht […] von der Prinzes-
sin Hand«, heißt es: »HOHENZOLLERN. Himmel und Erde! Was ergriff er da?« Auf
die durchaus zutreffende, aber nicht vollständige Vermutung des Kavaliers – »Den
Kranz?« – erwidert Natalie: »Nein, nein!« (SW9 I, Vs. 71f.) Dass es der Handschuh
ist, den er ihr entreißt, wird nicht explizit gesagt. Der Zuschauer weiß jedoch, was
geschieht, denn das von der Regieanweisung vorgeschriebene stumme Spiel stellt es
hinreichend klar. Es doppelt sich im Kommentar auf der Bühne die Haltung der im
Sinne von Moritz ›kalten‹ Beobachtung, nicht jedoch das Wissen, über das allein der
Zuschauer dank der zweifachen Darstellung durch Spiel und Sprache verfügt.
So entsteht die eigentümliche Situation, dass die Kommentare zwar wie implizite
Regieanweisungen wirken, deren Funktion aber nicht mit genügender Deutlich-
keit übernehmen. Homburg wird durch die Gesellschaft Hohenzollerns zur Schau
gestellt, ohne dass der eigentliche Subtext dieser Vorführung explizit in der Sprache
sichtbar ist. Das stumme Spiel zeigt Homburgs Sehnsucht nach Natalie und mit dem
Entwinden des Handschuhs deren sexuelle Dimension. Die deiktische Kommentie-
rung der Beobachter wiederholt dieses Spiel durch Fragen und Hinweise, ohne seine
Bedeutung jedoch zu explizieren. Die implizite Regieanweisung ist damit ein Teil
des Missverstehens, das Kleists Drama auf unterschiedlichsten Ebenen inszeniert: als
Sich-Verfehlen von Personen, als Spannung zwischen Subjekt und Gesetz, als Dis-
44 Das löst den nachfolgenden Handlungsgang aus, den man auch als scheiternden
Initiationsritus gedeutet hat, vgl. Alexander von Bormann, Kleists ›Prinz von Homburg‹ –
Drama der Adoleszenz. In: Lubkoll und Oesterle (Hg.), Gewagte Experimente und kühne
Konstellationen (wie Anm. 33), S. 277–302, hier S. 299f.
45 Vgl. Karl Philipp Moritz, Aussichten zu einer Experimentalseelenkunde. In: Ders., Werke,
Bd. 3, hg. von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1981, S. 85–100, hier S. 94.
46 Vgl. Lessing, Hamburgische Dramaturgie (wie Anm. 15), S. 256.
88
Doppelte Paratexte
sonanz von individueller Moral und kollektiver Norm. Der Chor, zu dem sich die
Gesellschaft des Kurfürsten ganz im Sinne einer sozialen Instanz formt, beschränkt
seine Äußerungen auf Wahrnehmungsfragmente, ohne wirklich zu artikulieren,
was geschieht. Das schlägt bereits den Bogen zum Schluss, als der vom Kurfürsten
begnadigte Homburg wie aus tiefem Schlaf erwacht und die vielzitierte Frage stellt:
»Nein, sagt! Ist es ein Traum?«, die Kottwitz mit dem lakonischen: »Ein Traum, was
sonst?« beantwortet (SW9 I, Vs. 1856).47
Die implizite Szenenanweisung kann die Verhältnisse nicht mehr klären, weil die
Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit kollabieren. Sie stellt das Bühnensubjekt
lediglich aus, indem sie es markiert und zu jenem Objekt der Beobachtung macht,
die zu sein ihm im performativen Spiel vor Publikum zufällt. Vom erläuternden
Duktus der Schillerschen Regieanweisungen bleibt bei Kleist eine deiktische Kom-
ponente, die weder psychologische noch rationale Funktionen erfüllt. Ihre Aufgabe
besteht vielmehr darin, das Spiel voranzutreiben und seine Personen auszustellen,
ohne die Zeichen zu erklären, in deren Dickicht sie sich verfangen. Die expliziten
Bühnenanweisungen Kleists zeigen, was der Fall und darin gerade unaufklärbar ist.
III. Fazit
Schiller nutzt die implizite Bühnenanweisung innerhalb der Figurenrede aus zwei
Gründen. Zum einen möchte er, wie vor allem in den ›Räubern‹ sichtbar wird,
die theatralische Darstellung vereindeutigen. Komplexe physiognomische Aus-
druckslagen werden auf diese Weise im Text kommentiert und durch den Paratext
aufgelöst. Zum zweiten sucht er, wie die Ferdinand-Luise-Szene aus ›Kabale und
Liebe‹ zeigte, eine Spannung zwischen Ausdruck und Deutung zu erzeugen. Die
paratextuelle Rede befördert Ambivalenzen, Unterstellungen und Missverständ-
nisse, erfüllt also für das bürgerliche Trauerspiel und seinen szenischen Realismus
eine primär psychologische Funktion.
Bei Kleist dient die paratextuelle Rede bzw. die implizite Bühnenanweisung der
deiktischen Verdopplung des Geschehens. Im Gestus des rhetorischen Zeigens ver-
doppelt sich die Szene, insofern sie visualisiert und gleichzeitig gesprochen wird. Die
paratextuelle Rede hat damit performativen Charakter, denn sie erfüllt die Aufgabe
des theatralischen Sprechakts, der die Ereignisse gleichzeitig in Gang setzt und kom-
mentiert. Dieser Akt ermöglicht das Bühnengeschehen, indem er es aus sich entlässt,
und er verwirklicht es, indem er es in sich einschließt. Die deiktische Funktion der
impliziten Bühnenanweisungen löst Kleists Dramen aus dem Bannkreis eines mime-
tisch-realistischen, von psychologischen Facetten und Nuancen geprägten Theaters.
Sie führt seine Texte in die Ebene der bühnenästhetischen Selbstreferenz, in eine
Welt des Zeigens und Darstellens, die kein Verstehen und Deuten mehr anstrebt.
47 Zur Ambivalenz dieses Finales und anderer Versöhnungstableaus bei Kleist (›Amphitryon‹,
›Käthchen von Heilbronn‹) vgl. Gesa von Essen, Nach der Katastrophe: Kleists gewagte
Schlüsse. In: Brittnacher und von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf
(wie Anm. 41), S. 286–311, besonders S. 294–298.
89
Charlotte Kurbjuhn
1 Vgl. den Überblick bei Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefäng
nisses, aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1994, S. 14.
2 Diesen Konjunkturen, die insbesondere im Zeichen von Transformationen des Atriden
stoffes sowie des Nibelungenliedes stehen und damit zugleich wissenschaftshistorisch mar-
kante Stationen der philologischen Disziplinen nachzeichnen lassen, widme ich mich im
Rahmen meines Habilitationsprojektes ›Literatur der Rache: Eskalation und Regulierung
von Gewalt im deutschen Drama 1780–1936‹.
91
Charlotte Kurbjuhn
dessen, was ich – im Anklang an den Tagungstitel – den ›Auftritt der Moderne‹
nennen möchte.
An Schillers und Kleists Rächern manifestieren sich die Herausforderungen der
Moderne an das Individuum. Die Rächerfiguren, die Schiller und Kleist in ihren
Dramen, aber auch Erzählungen auftreten lassen, repräsentieren den modernen
Menschen, der sich inmitten der eingangs dargestellten fundamentalen Erschütte-
rungen bisheriger Ordnungen zu positionieren versucht – und nur hoffen kann,
dass ihm Recht widerfahre. Wo sich Kleists und Schillers Protagonisten mit der Un-
möglichkeit konfrontiert sehen, erlittenes Unrecht durch die eigentlich zuständigen
Instanzen vergolten zu bekommen, brechen sich archaische Racheimpulse eruptiv
Bahn. Nach dem Jahrhundert der Aufklärung erscheinen die Rächerfiguren bei
Schiller und, greller und kompromissloser noch, bei Kleist somit als Verkörperun-
gen, als Figurationen der Moderne in all ihrer Zerrissenheit. Anschaulich werden die
Spannungen, in denen sie agieren müssen, in der Art und Weise, wie sie die Bühne
– des Dramas, der Erzählung – an prägnanten Punkten der Handlung betreten: Die
Auftritte des Rächers, dessen Darstellung oftmals auf charakteristische Weise zwi-
schen Heroisierung und Dämonisierung changiert, lassen sich lesen als Auftritte der
Moderne, doch sie erfolgen aus und vor dem dunklen Grund archaischer Affekte.
Rachedramen präsentieren damit alternative, andere literarische Bewältigungs-
strategien als das Schicksalsdrama um 1800, das auf die Kontingenzerfahrungen
der Zeitgeschichte mit einer literarischen Dämonisierung des Schicksals reagiert.
Im Gegensatz dazu revitalisiert die Racheliteratur der Zeit das literarische Phan-
tasma eines autonomen Rächers nach archaischem Muster. Sein Erscheinen im
Text oder auf der Bühne lässt sich verstehen als literarische Manifestation eines
Selbstbehauptungswillens des Subjekts angesichts der fundamentalen Ungewissheit
darüber, welches Recht herrsche und ob Unrecht (überhaupt oder den eigenen An-
sprüchen genügend) im Diesseits oder im Jenseits jemals geahndet werde. Dabei ist
die deutschsprachige Racheliteratur bei allen epochalen Konditionierungen nicht
präzedenzlos: Die Konjunktur literarischer Rache-Gestaltungen in der Sattelzeit
verdankt sich sowohl Übersetzungen aus der antiken Literatur als auch deutsch-
sprachigen Originalwerken, die sich häufig an Shakespeare anlehnen – hatte dieser
doch mit ›Titus Andronicus‹ und ›Hamlet‹ die Elisabethanischen revenge tragedies
und damit ausgesprochen populäre Dramen, die nach dem Vorbild von Senecas
›Thyestes‹ oft groteske Gemetzel auf die Bühne brachten, vollendet und überwun-
den.3 Mit Blick auf Kleists Shakespeare-Rezeption hat Günter Blamberger Hamlets
Epochendiagnose »die Zeit ist aus den Fugen« zitiert und auf die zugrundeliegende
3 Das Exzessive der (verbalen) Gewaltdarstellung und die affektgesteuerte Transgression des
Humanen in maßloser Vergeltung kennzeichnen zahlreiche literarische Ausgestaltungen von
Rache-Sujets; vgl. mit prägnanten Beispielen Christine Lubkoll, Rache, Rausch und Revol-
te: Tötungsakte bei Schiller, Klinger und Kleist. In: Agnes Bidmon und Claudia Emmert
(Hg.), Töten. Ein Diskurs, Heidelberg 2012, S. 230–242. Allerdings lassen sich nicht in al-
len Rachedramen / -texten die geschilderten Gewaltexzesse durch intendierte Abschreckung
erklären.
92
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
4 Günter Blamberger, Kleists Shakespeare. Prolegomena. In: KJb 2017, 19–22, hier 21.
5 Vgl. Linda Woodbridge, English Revenge Drama: Money, Resistance, Equality. Cam-
bridge 2010, S. 15, vgl. Woodbridges Prämisse S. 7f.: »[T]he fairness fixation [der Elisabe-
thanischen Zeit, C.K.] and relish of vigilantism reveal widespread resentment of systemic
unfairness – economical, political, and social – as the Renaissance witnessed severe dis-
proportion between crime and punishment, between labor and its rewards.«
6 Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Seitenzahl zitiert nach: Schillers
Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im
93
Charlotte Kurbjuhn
sche Praktik ist – mit verheerenden Folgen nicht nur für die Gesellschaft. Denn
Texte der Rache bringen es fast immer mit sich, dass der Rächer nicht überleben
darf – unweigerlich hätte sonst die Leserschaft das Gefühl, die Spirale der Gewalt
sei noch immer nicht beendet. Zugleich wäre es unter historischen Rezeptions- und
Zensurbedingungen keineswegs ratsam gewesen, einen Rächer unbehelligt weiter-
leben zu lassen, da er mit seinem Anspruch auf Selbstjustiz zum Rebellen gegen das
Strafmonopol des Souveräns wird und häufig gegen eine korrupte Obrigkeit vor-
gehen will: Rachetexte stehen in einem prekären Verhältnis zur herrschenden Ord-
nung. Der Tod des Rächers hat aber noch einen weiteren Grund: Denn die oftmals
faszinierenden literarischen Rächerfiguren können, wenn sie uns interessieren sol-
len, nicht so angelegt sein, dass sie nach vollbrachter Tat noch weiterleben wollten.
Ihre Taten verlangen ihnen zumeist Selbstopfer ab – darauf ist mit Blick auf Schillers
ästhetische Schriften gleich zurückzukommen. Geleitet von der Frage, inwiefern es
sich beim Auftritt des Rächers um einen Auftritt der Moderne im oben skizzierten
Sinne handle, gehe ich im Folgenden in drei Schritten vor: Erstens werde ich einige
Grundlagenthesen zur Racheliteratur um 1800 formulieren und kurz auf Prämissen
in Schillers dramentheoretischen Schriften eingehen. Zweitens zeige ich an ausge-
wählten Texten von Schiller und Kleist konstitutive Elemente von Racheliteratur
und gehe insbesondere auf Auftrittsszenarien von Rachefiguren ein. Dies g eschieht
exemplarisch mit Blick auf den Chor und die Funktion des Hintergrundes. Beide
Aspekte sind für Rache-Literatur besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Be-
dingungen und die Bewertungen des Handelns von Rächer-Figuren. Drittens frage
ich abschließend nach säkularisierenden Transformationen christlich-sakraler Prak-
tiken anhand von Elementen einer Eucharistie und darüber hinaus einer charakte-
ristischen Liturgie der Rache bei Schiller und Kleist.
I.
Dass um 1800 verstärkt Rächerfiguren das literarische Feld betreten und sich geleitet
von archaischen Prinzipien Recht zu verschaffen suchen, erstaunt wenig angesichts
der Gewalterfahrungen und der Strafrechtsreformen der postrevolutionären Jahre.
Dazu gehört auch der Umstand, dass der Vollzug von Strafen aus dem öffentlichen
Raum verschwand und damit die strafende Zentralgewalt nicht mehr als solche
sichtbar in Erscheinung trat. Foucault hat die Reformprozesse und die damit ein-
hergehenden tiefgreifenden Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung von
Rechtsstaatlichkeit prägnant formuliert:
[B]innen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstückelte, verstümmelte, an Ge-
sicht und Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte, zum Spektakel
dargebotene Körper verschwunden. […] Am Ende des 18. Jahrhunderts, zu Beginn
des 19. Jahrhunderts ist das düstere Fest der Strafe, trotz einigen großen letzten Auf-
Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von
Norbert Oellers.
94
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
flackerns, im Begriff zu erlöschen. […] Das Zeremoniell der Strafe tritt allmählich ins
Dunkel und ist schließlich nicht mehr als ein weiterer Akt des Verfahrens oder der
Verwaltung.7
Der dunkle Grund aber, in dem Strafe sich der Sichtbarkeit entzieht, wird in Rache-
literatur zu jenem archaischen Grund, aus dem heraus die Auftritte der Rächerfigu-
ren inszeniert werden – hinein in eine Welt am Beginn der Moderne. Jene Leerstelle,
die das Verschwinden des »Strafschauspiels«8 im öffentlichen Raum hinterlassen
hat, füllen Rachedramen aus, indem sie den Verbrecher nicht auf das Blutgerüst,
aber auf die Bühne des Theaters bringen und dabei eigene dramaturgische Zere-
monielle entwickeln. Mit Schillers Schaubühnen-Rede ist gerade auch aus dieser
Perspektive nach der Funktion und Wirkung der Bühne zu fragen, zumal Schiller
selbst die »schwankende Eigenschaft der politischen Geseze« hervorhebt und sie mit
der »ewig« bindenden Kraft der »Re li g io n« kontrastiert, die daher »eines Staats
festeste Säule« sei: »Welche Verstärkung für Religion und Geseze, wenn sie mit der
Schaubühne in Bund treten, […] wo das menschliche Herz auf den Foltern der
Leidenschaft seine leisesten Regungen beichtet […] und die Wahrheit unbestechlich
[…] Gericht hält.« (NA 20, 91) Dies mag umso mehr gelten angesichts der Säkulari-
sierung, die ja die Aussicht auf jenseitige Strafe nimmt und damit Fragen nach der
diesseitigen Bestrafung von Unrecht forciert: Fragen, die umso prekärer werden,
wenn auf die irdische Gerichtsbarkeit kein Verlass ist. Schillers Ansichten über den
Wert der Schaubühne können in diesem Kontext geradezu auch als Plädoyer für
Rachedramen gelesen werden:
Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Geseze sich en-
digt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, und im Solde der Laster schwelgt,
wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den
Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwerd und Waage, und
reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. (NA 20, 92)9
Anstelle von »Schaubühne« könnte man hier ›Rächer‹ einsetzen, zunächst in einem
durchaus positiven Sinne. Dabei zeigt sich jedoch die Schwierigkeit, dass Rächer
meist selbst lasterhaft agieren müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Der Grundkon-
flikt ist bekanntlich bereits in der Aischyleischen ›Orestie‹ ausgestaltet, indem Orest
durch seinen Mord an der Mutter deren Mord am Vater rächen muss, wobei die Tri-
logie als Gründungsdokument der abendländischen Verquickung von Bühne und
Gericht am Ende die Instituierung eines Gerichtshofs auf die Bühne bringt.10 Wäh-
95
Charlotte Kurbjuhn
11 In der Vorrede zur ersten Auflage heißt es: »Die Medea der alten Dramatiker bleibt bei all
ihren Greueln noch ein grosses staunenswürdiges Weib« (NA 3, 7).
12 Dass in Rachekontexten generell häufig ambivalent bleibt, was gut und was böse ist, zeigt
sich besonders prägnant beispielsweise an Kleists Michael Kohlhaas, der bekanntlich als
96
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
II.
Welche Facetten einer Rächerfigur dem Leser bzw. Zuschauer wahrnehmbar werden
– Medea als »zärtliche Mutter« oder als von allen gefürchtete Magierin –, hängt
nicht zuletzt davon ab, auf welche Weise die anderen Figuren der Handlung auf
diese Protagonisten reagieren oder in welchem Verhältnis der Selbstentwurf der
Protagonisten beim Erscheinen in der Gesellschaft zu deren Ordnungen steht. Im
Anschluss an Juliane Vogel soll in diesem Abschnitt daher die Aufmerksamkeit den
Auftrittsszenarien von Rächerfiguren gelten, insbesondere der Rahmung dieser
Auftritte durch die »Empfangsgesellschaft«,14 also die auf der Bühne anwesenden
Personen als Repräsentanten der sozialen Ordnung und der zugehörigen ethischen
Rahmung. Die Konfrontation des auftretenden Protagonisten mit dieser sozialen
Repräsentanz markiert den »Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will,
und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet«.15 Gerade an diesen Konfrontations-
punkten lässt sich daher das Profil von Rächerfiguren herausarbeiten, und gerade
hier, an der Schnittstelle zwischen gesellschaftlicher Rahmung und Anspruch des
Individuums, werden die sozialen, ethischen und theologischen Koordinaten der
Moderne erkennbar, die den Handlungsradius aller Akteure definieren.
An Schillers und Kleists Rächerfiguren zeigt sich deutlich die Diskrepanz zwi-
schen dem »glänzende[n] Bildentwurf«,16 in dem sich die Protagonisten selbst prä-
sentieren, um ihre Souveränität zu behaupten, und dem sich ihrer Kontrolle ent-
ziehenden, sich permanent und rasant wandelnden Grund, von dem aus sie agieren.
»Auftrittsmacht« als »Fähigkeit, einen Selbstentwurf machtvoll in einen Raum zu
»einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« (DKV
III, 13) eingeführt wird.
13 Zur Verbindung von Rache und Opfer – mit Blick auf Schillers ›Die Räuber‹ – vgl.
Christoph E. Schweizer, Schiller’s ›Die Räuber‹: Revenge, Sacrifice, and the Terrible Price
of Absolute Freedom. In: Goethe Yearbook XV (2008), S. 161–170.
14 Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, Mün-
chen 2018, S. 16.
15 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität,
zit. nach Vogel, Aus dem Grund (wie Anm. 14), S. 18.
16 Vogel, Aus dem Grund (wie Anm. 14), S. 14.
97
Charlotte Kurbjuhn
projizieren«,17 erweist sich bei Schillers und Kleists Rächern als eben dies: als Pro-
jektion und Illusion. Dies ändert nichts daran, dass es höchst faszinierend ist, die
Mechanismen dieser dramaturgischen Projektionen genauer zu betrachten.
Exemplarisch möchte ich die dramaturgische Ausgestaltung der Auftritts
szenarien von Rächerfiguren bzw. racherelevanten Instanzen zunächst am Auftritt
des Chors in Rachetexten von Schiller und Kleist untersuchen. Der Chor spiegelt
einerseits die soziale Situierung der Rächerfiguren und Reaktionen sowie Reflexio-
nen der Umgebung auf ihre Motivationen, andererseits kann der Chor im Anschluss
an den Aischyleischen Chor der Erinnyen selbst als rächende Instanz erscheinen.
Zudem verweist er als in diesem Sinne archaisches Moment immer wieder auf den
›dunklen‹ mythischen Grund von Dramen- wie Zivilisationsgeschichte und fordert
zur Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Antike und Moderne heraus.
In der Vorrede zur ›Braut von Messina‹, ›Ueber den Gebrauch des Chors in der
Tragödie‹, betont Schiller den Wert des Chors gerade für den »neuern Tragiker«,
da er »die moderne gemeine Welt in die alte poetische verwandelt […] und ihn
auf die einfachsten ursprünglichsten […] Motive hinauftreibt.« (NA 10, 11) Bei der
Rache hat man es unstreitig mit einem solchen Motiv zu tun, und der Chor könnte
seit Aischylos’ überwältigendem Chor der Erinnyen in der ›Orestie‹ kaum einem
Sujet angemessener sein. Schiller diagnostiziert für seine Gegenwart die oben be-
reits erwähnte Separation von Öffentlichkeit und Rechtspraktiken: »Der Pallast der
Könige ist jezt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Thoren der Städte in
das Innere der Häuser zurückgezogen, […] die Götter sind in die Brust des Men-
schen zurückgekehrt.« (NA 10, 11f.) Schillers forensisch-poetologisches Programm
sieht vor, dass der Dichter all dies mittels der Poesie wieder umkehren solle und
»alles Unmittelbare […] wieder herstellen« (NA 10, 12). Jene unmittelbar sinnliche
Evidenz und gewaltvolle Energie, die Schiller der modernen Tragödie restituieren
will, hat er in der Ballade ›Die Kraniche des Ibycus‹ mit dem Auftritt des Erinnyen
chors inszeniert. Die Zuschauer sind im Theater wie in einem Brennspiegel des
griechischen Volkes zusammengefasst; auf den ansteigenden Sitzreihen des Theaters
repräsentieren sie den gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen die Ahndung des
Mordes im Folgenden verhandelt werden muss:
Und horchen von dem Schaugerüste
Des C hor e s grauser Melodie –
Goethe lobte an Schillers Entwurf der Ballade insbesondere den Ȇbergang zum
Theater« und den »Chor der Eumeniden«, der hier »sehr am Platze« sei; er äußerte
sogar die Ansicht, dass diese »Wendung«, der Auftritt der Erinnyen, so konstitutiv
98
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
sei, dass »die ganze Fabel nicht [mehr] ohne dieselbe bestehen« könne.18 Goethe,
der zunächst die »Fabel« selbst in einer Ballade hatte gestalten wollen, war nicht der
einzige, der sich um 1800 von den archaischen Rachegottheiten fasziniert zeigte.
Allein das tradierte Aussehen der bereits bei Aischylos grauenerregend geschilderten
Gestalten birgt effektvolle Wirkungen.
Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrothe Glut,
In ihren Wangen fließt kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn. (NA 1, 388, Vs. 105–112)
Die Schauerlichkeit des Auftritts beruht gänzlich auf der Schilderung des Kostüms,
das hier kaum als Verkleidung erscheint. Die Verse legen vielmehr nahe, dass es
sich um wirkliche körperliche Eigenschaften handle, und erzeugen dadurch beim
Leser im Medium der Ballade potentiell dieselben Reaktionen des Schauders wie ein
entsprechender Chor der Erinnyen bei den Zuschauern einer Drameninszenierung.
Von der Kostümierung bzw. ihrer Schilderung hängt der Effekt des Auftritts ab, der
ja nicht nur die Autorität der archaischen Vergeltungsansprüche legitimiert, sondern
auch deren Gewalt ins Werk setzen soll. Schiller hat zu diesem Zweck alle gängigen
Attribute der Erinnyen in den Versen konzentriert: Sie tragen ein schwarzes G ewand,
schwingen Fackeln, haben Schlangenhaare und geflügelte Schuhe / Fersen (vgl. NA 1,
388, Vs. 130). Carl August Böttiger, der Goethe ursprünglich mit Informationen
über den Ibycus-Stoff versorgt hatte und schließlich auch von Schiller gebeten wor-
den war, die Ballade auf ihre historische Korrektheit zu überprüfen,19 bildete in einer
1801 erschienenen Studie über Furien-Darstellungen im antiken Theater eine solche
Erinnye ab. Das Thema war offenbar wirklich an der Zeit. Böttiger würdigte aus-
18 Goethe an Schiller aus Frankfurt, 22. <–24.> August 1797. In: Johann Wolfgang von
Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 8, 1, hg. von Karl Richter,
München 1990, S. 397–399, hier S. 397.
19 Schiller sandte den Entwurf der Ballade am 6. September 1797 an Böttiger; vgl. Briefwech-
sel zwischen Schiller und Goethe. In: Goethe, Sämtliche Werke (wie Anm. 18), S. 411, 420;
dazu die Kommentare in Goethe, Sämtliche Werke (wie Anm. 18), Bd. 8, 2, S. 360 bzw.
NA 2 II, A, 630f. So war es auch Böttiger, der Goethe (der diesen Stoff zunächst selbst
in einer Ballade hatte bearbeiten wollen, vgl. Goethe, Sämtliche Werke, wie Anm. 18,
Bd. 8, 2, S. 337, 344; NA 2 II, A, 630f.) über Quellen zum Ibycus-Stoff informiert hatte;
vgl. die Online-Ausgabe der Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, 1764–1819,
hg. von der Klassik Stiftung Weimar / Goethe- und Schiller-Archiv in Kooperation mit
dem Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Regest-Nr. 2 / 890 und Karl Ende, Beitrag zu
den Briefen an Schiller aus dem Kestner-Museum. In: Euphorion 12 (1905), S. 364–402,
hier S. 388. Bereits Böttiger erwähnt die »Entdeckung im Theater von Corinth« (Böttiger
an Goethe, 16. Juli 1797, zit. nach NA 2 II, A, 622).
99
Charlotte Kurbjuhn
giebig die »[p]olitische Tendenz der Eumeniden«20 bei Aischylos; dessen ›Orestie‹ las
er als deutliche Stellungnahme zugunsten der Institution des Aereopag:
Gerade zu der Zeit, wo Aeschylus seine Eumeniden zum erstenmale aufführte, […]
untergrub Pericles die Gewalt des ehrwürdigen […] Areopagus durch den auf seine
Armuth stolzen Ephialtes. […] Durch die Schwächung dieses obersten Gerichtshofs
und Sittengerichts […] wurden die Wirkungen der ungezügelten Democratie immer
gefährlicher […].21
Nach den Erfahrungen der terreur erscheint damit auch die Konjunktur der
Eumeniden im grellen Licht der postrevolutionären Zeit, der Auftritt der archai-
schen Gottheiten erweist sich als zutiefst ambivalente Epiphanie der Moderne.
In Schillers Ballade werden die Choreographie des Eumeniden-Chors und des-
sen »Hym nu s« mit seiner »[b]esinnungraubend[en], [h]erzbetörend[en]« Gewalt
beschrieben (NA 1, 388, Vs. 114, 117), wobei sich Schiller an Wilhelm von Humboldts
Übersetzung (1793) der ›Eumeniden‹ von Aischylos orientierte:22
»Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere That vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!
[…]«.
So singend tanzen sie den Reigen,
Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt überm ganzen Hause schwer,
Als ob die Gottheit nahe wär’.
Und feierlich, nach alter Sitte
Umwandelnd des Theaters Rund,
20 Carl August Böttiger, Die Furienmaske, im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten
Griechen. Eine archäologische Untersuchung. Mit drei Kupfertafeln, Weimar 1801, S. 100.
Zum historischen Kontext vgl. umfassend Christian Meier, Die politische Kunst der grie-
chischen Tragödie, München 1988, S. 113–156.
21 Böttiger, Die Furienmaske (wie Anm. 20), S. 100f.
22 Vgl. NA 2 II, A, 634 zu Vs. 96; Vergleiche aus Humboldts Aischylos-Übersetzung sind ab-
gedruckt in NA 2 II, A, 635 zu Vs. 113–136.Wilhelm von Humboldt lobte Schillers Chor-
gesang der Eumeniden euphorisch, den er sogar höher bewertet als den des Aischylos;
außerdem geht er in seinem Brief an Schiller vom 7.(11.?) Dezember 1797 auf das moderne
Moment ein, das Schiller durch den Reim als »Gothisches« Element hineingebracht
habe, um so »das Fremde, Sonderbare und Schauderliche« zu vermehren (vgl. NA 2 II,
A, 628). Zu Humboldts Einschätzung von Schillers Modernität vgl. Ernst Osterkamp,
Fläche und Tiefe. Wilhelm von Humboldt als Theoretiker von Schillers Modernität. In:
Walter Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, Würzburg 2006,
S. 101–117.
100
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
23 Dabei stellt auch die Wahl der Gattung Ballade mit den ihr eigenen dramatischen Ele-
menten eine Aktualisierung dar, die sich vor dem Hintergrund der Gewalterfahrungen
um 1800 als Versuch literarisch-ästhetischer Distanzierung lesen ließe: Das archaische
Gewaltpotential wird nicht unmittelbar auf die Bühne gebracht, sondern in der reflek-
tierenden und reflektierten modernen Gattung der Ballade ›erzählt‹ – einer Ballade, die
gänzlich zivilisationsoptimistisch endet.
24 Gerhard Neumann, Ausnahmezustand. Antike und Moderne in Schillers Balladen. In:
Paolo Chiarini und Walter Hinderer (Hg.), Schiller und die Antike, Würzburg 2008,
S. 91–109, hier S. 100.
25 Neumann, Ausnahmezustand (wie Anm. 24), S. 109.
26 Neumann, Ausnahmezustand (wie Anm. 24), S. 103.
101
Charlotte Kurbjuhn
»Weg des Dichters zum Wettkampf« erscheint dabei als »Weg auf der Grenze zwi-
schen Natur und Kultur, zwischen dem ›Anarchischen‹ des Natürlichen […] und
der zivilen Ordnung der Gesellschaft, die sich im Rechtssystem verdichtet.«27 Und
nicht zuletzt ist es »die Poesie, die durch die Geburt der Tragödie Gesetzeskraft
stiftet – und den Ausnahmezustand, indem sie ihn in ihrem exterritorialen Handeln
repräsentiert, zugleich überwindet.«28
An diesem ebenso effektvollen wie folgenreichen Auftritt der Erinnyen in
Schillers Ballade bleibt nicht zuletzt bemerkenswert, dass er aus dem Hintergrund
erfolgt und damit wesentlich von modernem Aufführungsverständnis geprägt ist,
denn im antiken Theater hätte der Chor seinen Ein- und Auszug durch seitliche Zu-
gänge, die párodoi, bestritten.29 Was sich bereits in der Ballade über einen Theater
auftritt als relevant erweist, zeigt sich im Drama umso deutlicher: Die Auftrittswei-
sen jener Figuren bzw. Instanzen, die für die Rachehandlung zentral sind, werden
auf jeweils charakteristische Weise inszeniert, und wesentliche Bedeutung kommt
dabei dem Hintergrund zu und der Art und Weise, auf die sich die Rächerfiguren
aus ihm lösen, vor ihm agieren und ihre Rache gegebenenfalls in seiner Tiefe voll-
enden. Dieser Grund, die archaische Latenz von Racheimpulsen repräsentierend,
wird somit auch zum Hintergrund für das sich entfaltende Spannungsgefüge zwi-
schen aufgeklärt-humanistischem Zivilisationsideal und unbewältigter, wieder
hervorbrechender Affektdynamik. Dass gerade der Hintergrund in Rachedramen
sogar agency entwickeln kann, lässt sich an der ›Braut von Messina‹ zeigen. Zunächst
ist der Ort der Handlung symptomatisch, denn als Setting für literarische Rache
dienen immer wieder stereotype Rachekulturen30 wie eben Sizilien und Spanien (so
in Kleists Entwurf zur ›Familie Ghonorez‹, DKV I, 14) oder unbestimmte, immer
aber entlegene Regionen, in denen keine Obrigkeit ihr Recht behauptet: Gebirge,
tiefe Wälder wie in Schillers ›Räubern‹ oder gleich das Polarmeer wie im Showdown
von Mary Shelleys ›Frankenstein‹. Sofern es sich nicht um mythologisch etablier-
te Rache-Sujets handelt – Atridenmythos, Medea oder die Nibelungen – werden
Rachehandlungen zumindest historisch verortet; sie spielen in einer vagen mittel-
alterlichen Ritterzeit, einer nicht genauer bestimmten jüngeren Vergangenheit oder
gleich in der Antike, um Gleichsetzungen mit gegenwärtigen Missständen zu ver-
102
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
schleiern. Schiller jedenfalls wies ausdrücklich darauf hin, dass sich das mittelalter-
liche Sizilien mit seinem spezifischen Amalgam von heidnischem, muslimischem
und christlichem Gedankengut für die Gestaltung seines Stoffs besonders angeboten
habe:
Das Christentum war zwar die Basis und die herrschende Religion, aber das griechi-
sche Fabelwesen wirkte noch in der Sprache, in den alten Denkmälern […] lebendig
fort; und der Mährchenglaube sowie das Zauberwesen schloß sich an die Maurische
Religion an. Die Vermischung dieser drey Mythologien, die sonst den Charakter auf-
heben würde, wird also hier selbst zum Charakter. Auch ist sie vorzüglich in den Chor
gelegt, welcher einheimisch und ein lebendiges Gefäß der Tradition ist. (Schiller an
Körner, 10. März 1803, NA 32, 19)31
In der Vorrede ›Ueber den Gebrauch des Chors‹ beruft sich Schiller zudem auf
das »Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganze für
die Einbildungskraft zu behandeln, in welchem alles, was einen eignen Charakter
trägt, eine eigne Empfindungsweise ausdrückt, seine Stelle findet.« (NA 10, 15) Diese
poetische Lizenz hat wesentliche Konsequenzen für die Ausgestaltung der zentralen
Rachehandlung. Die erste Szene also zeigt zu Beginn »eine geräumige Säulenhalle, auf
beiden Seiten sind Eingänge, eine große Flügeltüre in der Tiefe führt zu einer Kapelle«
(NA 10, vor Vs. 1). Dieser von Beginn an sichtbare Fluchtpunkt ist wichtig, denn er
führt auch zur Grablege der Familie, und deren Verhängnis bildet den Grund, vor
dem sich die Tragödie abspielt. Am Ende des ersten Auftritts erkennt Isabella am
»Schall« »kriegerischer Hörner« den »Einzug« ihrer Söhne (NA 10, Vs. 125f ). Der
Bruderkonflikt und die Spaltung der Stadt werden zunächst akustisch grundiert:
Die Musik läßt sich noch von einer entgegengesezten Seite immer näher und näher
hören.
Isabella . Erregt ist ganz Messina – Horch! Ein Strom
Verworrner Stimmen wälzt sich brausend her –
Sie sinds! […] (NA 10, Vs. 126–128)
In dieser Dissonanz zieht der Chor ein, bevor die Kontrahenten selbst auftreten:
Er besteht aus zwey Halbchören [von Rittern], welche zu gleicher Zeit, von zwey entge-
gengesezten Seiten, der eine aus der Tiefe, der andere aus dem Vordergrund eintreten,
31 Vgl. die Vorrede ›Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie‹, NA 10, 15: »[D]er
Schauplatz der Handlung ist Messina, wo diese drey Religionen theils lebendig, theils in
Denkmälern fortwirkten und zu den Sinne sprachen.« Die Vorrede schließt mit dem Hin-
weis auf die »[u]nter der Hülle aller Religionen« liegende »Religion selbst, die Idee eines
Göttlichen«, deren jeweils »treffendste[ ]« Darstellung dem Dichter freigestellt sein müsse
(NA 10, 15). – Zum Religions-Synkretismus und zur soziologischen Funktion des Chors in
diesem »aus dramaturgisch-ästhetischen Überlegungen« geborenen Formexperiment der
Mischung von Antike und Moderne vgl. Günter Oesterle, Friedrich Schiller: Die Braut
von Messina. Radikaler Formrückgriff angesichts eines modernen kleinen kulturellen
Synkretismus oder fatale Folgen kleiner Geheimnisse. In: Chiarini und Hinderer (Hg.),
Schiller und die Antike (wie Anm. 24), S. 167–176, hier S. 168f.
103
Charlotte Kurbjuhn
rund um die Bühne gehen, und sich alsdann auf derselben Seite, wo jeder eingetreten,
in eine Reihe stellen. […] [B]eide sind durch Farbe und Abzeichen verschieden. Wenn
beide Chöre einander gegenüberstehen, schweigt der Marsch […].
(NA 10, vor Vs. 132)
104
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
»Die Säulenhalle – Es ist Nacht, die Scene ist von oben herab durch eine große Lampe
erleuchtet.« (NA 10, vor Vs. 2028)
Die Tiefe der Bühne mit der ominösen Flügeltür entlässt nun hier die imaginäre,
aber dennoch agency entwickelnde Macht der Rachegottheiten: Nachdem Isabella
die Geschehnisse begriffen hat, verflucht sie ihren Sohn und leugnet die Anteil-
nahme der Götter am irdischen Geschehen, woraufhin der Chor sie ermahnt: »Die
Götter leben, / Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!« (NA 10, Vs. 2396f.) Dar-
aufhin blickt der Chor »in heftiger Bewegung nach der Thüre« (NA 10, vor Vs. 2411),
gefolgt von Versen, die das Herannahen der Erinnyen evozieren, indem sie durch
direkte Beschwörungen rhetorisch Evidenz erzeugen:
Eherner Füsse
Rauschen vernehm ich,
Höllischer Schlangen
Zischendes Tönen,
Ich erkenne der Furien Schritt!
Stürzet ein ihr Wände,
Versink o Schwelle
Unter der schrecklichen Füße Tritt!
Schwarze Dämpfe, entsteiget, entsteiget
Qualmend dem Abgrund! Verschlinget des Tages
Lieblichen Schein!
Schützende Götter des Hauses entweichet!
Lasset die rächenden Göttinnen ein!
(NA 10, Vs. 2415–2427, Hervorhebungen C.K.)
Der nächste Auftritt bringt aber nicht die Erinnyen, sondern den Mörder auf die
Bühne: »Beim Eintritt des Don Cesar zertheilt sich der Chor in fliehender Bewegung
vor ihm, er bleibt allein in der Mitte der Scene stehen.« (NA 10, vor Vs. 2427) Das
Besondere an Schillers Rachetragödie ist nun, dass Don Manuel erst Ziel der Rache
seines Bruders war, nun aber zum Anlass für dessen Rache an sich selbst dient. Don
Cesar will den Fluch lösen, indem Täter und Opfer, Rächer und Racheobjekt in
seinem Selbstmord identisch werden. Als er, durch das Mitleid der Schwester be-
wegt, beinahe von seinem Plan ablassen will, öffnet sich der lange schon drohende
Hintergrund: »In diesem Augenblicke läßt sich ein Chorgesang hören, die Flügelthüre
wird geöfnet, man sieht in der Kirche den Katafalk aufgerichtet und den Sarg von Can-
delabern umgeben.« (NA 10, Vs. 2822)
Don Cesar deklariert sich noch einmal als »Opfer« (NA 10, Vs. 2822) für seinen
toten Bruder und erdolcht sich. Dass so der Fluch durchbrochen werden kann, ist
religiös allenfalls vor dem von Schiller betonten eklektizistischen Glaubenshinter-
grund des mittelalterlichen Messinas akzeptabel – denn ein dogmatisches Christen
tum hätte hier kein dramaturgisch zufriedenstellendes Ende gewährt, das nun ein-
mal den Tod des Rächers impliziert.
Tatsächlich erscheint hier mehr noch als der Chor der Hintergrund als Akteur,
der den vermeintlich triumphalen Auftritt zu Beginn des Stücks gänzlich invertiert,
die Rache einfordert und mit seinem Sog den Protagonisten in die Tiefe reißt.
105
Charlotte Kurbjuhn
Die Beschwörung durch den Chor – der hier als »lebendiges Gefäß der Tradition«
(Schiller an Körner, 10. März 1803, NA 32, 19)32 zur Persona, zur Sprechermaske des
griechischen Mythos wird – realisiert allerdings die unsichtbare Rachepräsenz auf
der Bühne und bereitet Don Cesars Ende vor. Dieser hatte selbst beklagt, dass man
nach der Bestattung des Vaters die Gruft nicht verschlossen hatte: »Das war kein
glücklich Zeichen, daß des Grabes Mund / Geöfnet blieb im Hause der Lebendigen.«
(NA 10, Vs. 2610f.) Die zur Kapelle führende Flügeltür in der Tiefe der Bühne und
hinter ihr die wartende Gruft erscheinen retrospektiv als stumme Urteilsinstanz,
die in ihrer unerbittlichen Gewalt nicht einmal des Auftritts bedarf, sondern den
Vordergrund zu sich in die Tiefe reißt.33
Ausgehend von dieser eindrucksvollen Inszenierung des Hintergrundes bei
Schiller, der als archaischer Urgrund der Rachewelt mit fatalem Tiefensog fungiert
und den dunklen Hintergrund des klassischen Humanitäts- und Versöhnungsideals
repräsentiert, lässt sich im Folgenden zeigen, dass auch Kleist dort, wo seine Dramen
Rachesujets verhandeln, auf sehr ähnliche Weise den Hintergrund als Ort laten-
ten, archaischen Gewaltpotentials akzentuiert und ihn zum Handlungsraum von
Racheakten bestimmt. Wie in Schillers ›Braut von Messina‹ das bis dahin nicht
sichtbare Grab sich öffnet, so wandelt sich in Kleists ›Familie Schroffenstein‹ die
Höhle, die zunächst Hintergrund der kurzen Idylle zwischen Ottokar und Agnes
gewesen war, zu einer Grabeshöhle für die beiden von ihren Vätern ermordeten
Kinder. In Kleists erstem Drama gibt es jedoch einen weiteren Hintergrund, der
für die Rachegestaltung wesentlich ist: die Kapelle zu Beginn des ersten Aktes. Für
Racheliteratur erweisen sich generell Adaptionen religiöser Zeremonien (wie eben in
der ›Braut von Messina‹ und im Erinnyenchor der ›Ibycus‹-Ballade) als stilbildend.
Die erste Szene des ersten Aufzugs der ›Familie Schroffenstein‹ zeigt »Das Innere
einer Kapelle« in Rossitz, alle zugehörigen Personen sind anwesend, »[d]ie Messe ist
soeben beendigt.« (DKV I, vor Vs. 1) Abwechselnd singen, von Musik untermalt, der
Chor der Mädchen von der Engelhaftigkeit des Knaben, dessen Tod dem Familien-
zweig aus Warwand zugeschrieben wird, und der Chor der Jünglinge, der Gott als
alttestamentlichen Rächer anruft:
32 Es ist signifikant, dass gerade der Chor als provokant modernes Formelement in seinem
ambivalenten Status derartig mächtig zu wirken vermag. Vgl. zur Modernität des Chor-
Experiments Peter-André Alt, Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruk-
tion der Antike. In: Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne (wie
Anm. 22), S. 339–363, zum Chor S. 358–362, sowie grundlegend Rolf-Peter Janz, Antike
und Moderne in Schillers ›Braut von Messina‹. In: Wilfried Barner, Eberhard Lämmert
und Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik,
Stuttgart 1984, S. 329–349.
33 Man kann hierin eine Variante jener »Krise von Figur und Grund« in der Moderne er-
kennen, die Juliane Vogel als »Auftrittskrise« diagnostiziert und auf den »Mangel an
Ablösung« der Figuren vom Hintergrund zurückgeführt hat (Vogel, Aus dem Grund, wie
Anm. 14, S. 30).
106
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
Dieser Gesang wird noch zwei Mal wiederholt,34 und »[w]ährend die Musik zu Ende
geht, nähert sich die Familie und ihr Gefolge dem Altar.« (DKV I, vor Vs. 23) Dort
schwören sie nacheinander Rache »auf die Hostie« (DKV I, Vs. 23), und Rupert
entsendet einen Boten mit den Worten:
Geh hin nach Warwand, […]
[…] – Sag’ daß ich
Gesonnen sei, an seines Schlosses Stelle
Ein Hochgericht zu bauen. –
[…] Sag’ ich dürste
Nach sein und seines Kindes Blute, hörst Du?
Und seines Kindes Blute. (DKV I, Vs. 88–95)
Mit dieser Botschaft – durchaus kein Evangelium – vom Durst nach Blut und der
Vision eines Hochgerichts – einer Schädelstätte, eines Golgatha – endet die per-
vertierte Kommunion, die Rupert und die Seinigen mit ihrem Racheschwur über
der Hostie eingenommen haben. Hier zeigt sich eine charakteristische Ausprägung
dessen, was ich abschließend genauer beschreiben werde als säkularisierte Liturgie
der Rache, die den Auftritt des Rächers als Exponent der Moderne begleitet.
III.
Die Umdeutung des Abendmahls zum Sakrament der Rache und die Inkorpora-
tion des Racheamtes am Beginn der ›Familie Schroffenstein‹ repräsentieren eine für
Kleist außerordentlich charakteristische, gattungsübergreifende Praktik der Rache.
Häufig gilt diese Praktik jenen Schriftstücken, die für die Rachehandlung zentral
sind – beispielsweise dem versiegelten Zettel mit der Prophezeiung, den Kohlhaas
vor der Bühne des Blutgerüsts verschluckt, um seine Rache am Kurfürsten so zu
vollenden (vgl. DKV III, 141). Diese ›Kommunion‹ der Rache ist auch insofern ein
triumphaler Akt, als ihm zuvor von Luther das Abendmahl verweigert worden war,
34 Für diesen Gebrauch des Chors bei Kleist ist mit Blick auf Schiller zu differenzieren, dass
der Chor der Jünglinge hier tatsächlich ganz »jenen operhaften« Formen entspricht, von
denen sich Schiller in seiner Vorrede ›Über den Gebrauch des Chors‹ in der Tragödie ab-
grenzt (vgl. NA 10, 15); ähnlich verhält es sich mit dem (ebenfalls zur Rache antreibenden)
Chor der Barden, den man in der ›Herrmannsschlacht‹ aus der Ferne vernimmt (vgl.
DKV II, vor Vs. 2236). Zum Chor bei Kleist vgl. Hilda M. Brown, Der Chor und chor-
verwandte Elemente im deutschen Drama des 19. Jahrhunderts und bei Heinrich von
Kleist. In: KJb 1981 / 82, 240–261.
107
Charlotte Kurbjuhn
solange er dem Junker nicht vergebe. Der Triumph Kohlhaas’ besteht am Ende sogar
in einer doppelten Kommunion: dem Sakrament der Kirche, das ihm nun noch
zuteil wird (vgl. DKV III, 138), und jener ›Rache-Eucharistie‹ mit der Gewissheit,
in jedem Falle irdische Genugtuung über den eigenen Tod hinaus erlangt zu haben.
Von grotesker Theatralik ist hingegen das Ende der Erzählung ›Der Findling‹. Piachi
hatte bekanntlich seinen Feind Nicolo getötet und der Leiche eben jenes »Dekret in
den Mund [ge]stopft[ ]« (DKV III, 281), das Dokument einer korrupten Justiz und
letzter Auslöser für seinen Racheakt gewesen war. Die größtmögliche Souveränität
eines Rächers gegenüber Justiz und Kirche behauptet Piachi, als er für den Mord
hingerichtet werden soll und die Gesetze des Kirchenstaates gegen diesen selbst rich-
tet, indem er sich strikt weigert, in der Kommunion die Absolution zu empfangen:
Er wolle gar »nicht selig sein«, sondern explizit »in den untersten Grund der Hölle
hinabfahren«, damit er dort »den Nicolo, der nicht im Himmel sein wird, wieder-
finden« und seine »Rache« dort vollenden könne (DKV III, 282). Damit besteigt
»er die Leiter« und verlangt, hingerichtet zu werden, doch da im Kirchenstaat laut
Gesetz niemand ohne Absolution hingerichtet werden darf, wiederholt sich diesel-
be Szene an »[d]rei hinter einander folgende[n] Tage[n]« vergeblich – ein echter
Slapstick-Triumph des Rächers, wenn man es sich auf der Bühne vorstellt. Am »drit-
ten Tage« schließlich fährt hier natürlich niemand ›auf in den Himmel‹, vielmehr
hob [Piachi], mit einer grimmigen Gebärde, die Hände empor, das unmenschliche
Gesetz verfluchend, das ihn nicht zur Hölle fahren lassen wolle. Er rief die ganze
Schar der Teufel herbei, ihn zu holen, verschwor sich, sein einziger Wunsch sei, ge-
richtet und verdammt zu werden,
und drohte damit, den nächstbesten Priester zu erwürgen, »um […] Nicolo in der
Hölle« (DKV III, 282) erwischen zu können. Erst der Papst befiehlt schließlich die
Hinrichtung ohne Absolution – und öffnet für Piachi damit aus der Perspektive der
Konventionen von Racheliteratur den Blick auf die durchaus originelle Variante,
mitnichten die göttliche Strafe im Jenseits zu negieren, sondern mit dieser strate-
gisch (und unter gänzlicher Aufopferung des eigenen Seelenheils) zu kalkulieren,
um sie letztlich zum Zweck der eigenen Rache zu nutzen.
Rächerfiguren bei Kleist demonstrieren gerade in ihren Todesmomenten höchste
Autonomie. Nicht alle ihre Auftritte bleiben dabei frei von Hybris, und gerade hier
scheinen Momente auf, in denen die Erzählstimme sich von ihnen distanziert und
die Sympathien mit den allzu souverän Auftretenden hinterfragen lässt. Ein solcher
Auftritt findet sich in ›Michael Kohlhaas‹ in jener Szene, in welcher der Protagonist
von Luthers Tadel auf dem mahnenden Plakat erfährt. Kohlhaas kommt gerade,
»während das Volk von beiden Seiten schüchtern auswich, in dem Aufzuge, der
ihm, seit seinem letzten Mandat, gewöhnlich war, von dem Richtplatz zurück«, wo
er Marodeure hängen lassen wollte. »[E]in großes Cherubsschwert, auf einem rotle-
dernen Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf
Knechte, mit brennenden Fackeln folgten ihm« (DKV III, 76). Das Opernrequisit
ist weit davon entfernt, Kohlhaas auf dem Rückweg vom »Richtplatz« in diesem
an Zeremonielle weltlicher Gerichtsbarkeit angelehnten pompösen Auftritt symbo-
108
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
lische Souveränität35 zu verschaffen; das hybrid inszenierte Schwert wie auch die
Fackeln deuten vielmehr auf den Furor des Rachewahns hin, der auch das Maß des
Auftrittsprotokolls vergessen lässt. Eine ähnliche, von Selbsttäuschungen verblende-
te Perspektive auf einen triumphalen Auftritt zeigt sich in der ›Herrmannsschlacht‹
beim prunkvollen Einzug des Römischen Heers, wobei hier Ambivalenz und Ironie
in der Figurenrede nicht nur als Prolepse dienen, sondern auch für Komik sorgen.
In der »Ferne« hört man einen »Marsch« (DKV II, vor Vs. 1237):
Ein Herold tritt auf. Bald darauf das Römerheer. – Die Vorigen.
[…]
Thusnelda Wer sind die ersten dort?
Crassus Varus Liktoren, königliche Frau,
Die des Gesetzes heil’ges Richtbeil tragen.
Thusnelda Das Beil? Wem! Uns?
Septimius Vergib! Dem Heere,
Dem sie ins Lager feierlich voranziehn.
Das Römerheer zieht in voller Pracht vorüber. (DKV II, Vs. 1242–1246)
Die ambivalente Zuordnung des Beils im Moment der Machtdemonstration dekla-
riert die Römer vorab als Opfer, das Symbol römischer Rechtsgewalt wird umcodiert
zum Symbol der germanischen Rache.
Kontrastierend zu dieser untergangsgeweihten, von Hybris zeugenden Prunk-
entfaltung werden in der ›Herrmannsschlacht‹ die Auftritte von Rächerinstanzen
– im Sinne der Partisanenrache und der Dekadenzkritik – äußerst karg inszeniert.
Deutlich wird dies an der Alraune. Von ihr erfährt man übrigens im Zedler, dass
Alraunen, »Priesterinnen bey den alten Teutschen […] auch mit dem Wahrsagen
umzugehen wusten [!]. […] Fiel ein Krieg vor, so wurden sie um dessen Ausgang,
wie auch um andere zukünfftige Dinge um Rath gefraget.« Übel erging es »Kriegs-
gefangene[n]«, die man ihnen auslieferte, denn dann »fielen sie solche als die Furien
an, schnitten ihnen die Gurgeln ab«36 und weissagten aus dem hervorströmenden
Blut. – Eine solche weissagende germanische Erinnye (die zugleich natürlich an die
prophezeienden Hexen in ›Macbeth‹ erinnert) begegnet Varus und seinen Feldherren
auf öder Heide in der nur von Blitzen durchzuckten Finsternis. Auf Varus’ Fragen
»Wo komm’ ich her? Wo bin ich? Wohin wandr’ ich?« (DKV II, Vs. 1951) lauten ihre
berühmten Antworten klar: »Aus Nichts«, »Ins Nichts« (DKV II, Vs. 1957, 1964)
und, auf die Frage, wo er gegenwärtig sei, »Zwei Schritt vom Grab’, […] / Hart zwi-
schen Nichts und Nichts!« (DKV II, Vs. 1978f.) Daraufhin »verschwindet« (DKV II,
vor Vs. 1983) die Alraune als cheruskische Rachegestalt ohne jegliche genaueren An-
gaben in einen mythisch-archaischen Urgrund, dessen drohende Gewalt so allzeit
– auch 1808 – präsent erscheint.
109
Charlotte Kurbjuhn
37 Vogel, Aus dem Grund (wie Anm. 14), S. 18: Dramatische, vor allem tragische Auftritte
seien »durch Auftrittsprotokolle geprägt«, »die nicht allein durch die Handlung und ihren
Motivationszusammenhang vorgegeben werden. Ihre Formen folgen religiösen, politi-
schen, militärischen oder gesellschaftlichen Vorbildern […].«
38 Vgl. Barbara Gribnitz, Kleists Sakralisierung der Sprache. In: KJb 2018, 135–148.
110
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
zen], die dem natürlichen Körper eine gebieterische Form und im besten Fall gött-
liche Züge verl[ei]hen.«39
Wie eingangs erläutert haben aus Sicht der Rächerfiguren um 1800 sowohl die
strafende Zentralgewalt als auch die Religion bzw. Kirche als konstitutive Institu-
tionen des Staates ihre bindende Kraft verloren. Damit einhergehend verlieren auch
die performativen Sprechakte, die für diese Bereiche grundlegend sind – wie die
Anklage, der Schwur oder das Glaubensbekenntnis –, ihre Valenz, denn sie beruhen
auf einer Verbindlichkeit des institutionellen Kontexts und der anerkannten Funk-
tion der Sprechenden. Die Racheliteratur eignet sich die so entstehende rhetorische
Leerstelle an: Juristische und religiöse Sprechakte werden neu codiert, es bildet sich
eine säkularisierte Liturgie der Rache aus. Sie besteht aus stilisierten sprachlichen
Gesten, die sich auch als rhetorische Pathosformeln bezeichnen ließen. Der Ter-
minus scheint mir im Anschluss an Aby Warburgs Begriffsprägung für archaisch
vorgeformte »Ausdrucksmuster[ ] für Leiden und leidenschaftliche Erregung«40
gerade als Analysefokus für das Hervorbrechen archaischer Rache-Dynamiken
geeignet. In diesem Sinne erscheinen charakteristische Sprachgebärden als rheto-
rische »Engramme leidenschaftlicher Erfahrung«41 ganz analog zu den von War-
burg betrachteten (bildkünstlerischen) körperlichen ›Ausdruckmustern‹. Dabei ist
insbesondere die dramaturgische Funktion dieser Sprachgebärden relevant. An der
Abfolge dieser Pathosformeln, die auch der Selbstaffektion dienen,42 wird eine typo-
logische Verlaufsdynamik der Rache sichtbar. Diese verhält sich idealerweise folgen-
dermaßen zum Aufbau des Dramas: Im Rahmen der Exposition erfolgt eine reguläre
Anklage durch einen Geschädigten bei einer obrigkeitlichen Instanz. Ein Beispiel
hierfür wäre die abgewiesene Klage von Kohlhaas am Dresdner Gerichtshof. Alter-
nativ kann es sich um eine Bitte um Vergebung handeln. Diese Anklage / Bitte wird
nicht zugelassen oder ignoriert, woraufhin die Klage über verweigerte Gerechtigkeit
folgt. Je nach Verlauf der Intrige folgt dann ein Rache-Gelübde, ein Eid, spätestens
jedoch im Rahmen der Peripetie bzw. der Anagnorisis als Erkenntnis der Intrige und
ihres Urhebers. Dieser Schwur, als archaische »Rechtsinstitution« seit jeher »Recht,
111
Charlotte Kurbjuhn
Politik und Religion«43 als Basis gesellschaftlichen Lebens grundierend und ver-
bindend, ist meist verbunden mit einer Beschwörung – der personifizierten Rache,
der Elemente, der unterirdischen Mächte, der Erinnyen, der Geister der toten zu
Rächenden. Als Urform lässt sich die Beschwörung des ermordeten Agamemnon
im zweiten Teil der ›Orestie‹ sehen, der ja den Titel ›Die Totenspende‹ trägt. Oft
wird die geplante Rache als Opfer für die angerufene Instanz sakralisiert. Zugleich
schafft diese Racheliturgie eine Imago einer höheren Instanz, die an die Stelle des
zu verleugnenden christlichen Glaubens treten und das eigene Handeln legitimieren
soll. Mitunter erscheint als retardierendes Moment ein religiös bedingtes Zweifeln,
ein Hadern mit der Rächerrolle, wie es sich exemplarisch bei Hamlet findet. Diesem
Zweifel folgt sodann ein erneutes, oft vehementeres Gelübde, die Rache zu voll-
enden. Notwendig für deren Vollzug ist schließlich, dass dem Racheobjekt jegliche
Menschlichkeit abgesprochen wird und die zu rächende Tat als Un-Tat erklärt wird,
die selbst gegen die Menschlichkeit verstoßen habe.44 Durch einen erneuten Eid
und gegebenenfalls erneute Beschwörungen wird die Katastrophe, der Rachevollzug
eingeleitet. Spätestens an dieser Stelle erfolgt meist eine Gottesleugnung bzw. eine
explizite Abkehr von Gott, die irdische Rache als alleinigen Lebenssinn formuliert.
Bemerkenswert ist übrigens, dass es sich beim »Eid«, darauf weist der Chor in Schil-
lers ›Braut von Messina‹ hin, um »der Erinnyen Sohn« (NA 10, Vs. 143) handelt, er
mithin von Beginn an der Rache untersteht.
Idealiter lässt sich die skizzierte Verlaufsdynamik zum Beispiel an Grabbes
›Herzog Theodor von Gothland‹ zeigen oder an Hebbels ›Nibelungen‹.45 Sie gilt
auch für Kleist und Schiller, ist dort aber mitunter gedrängter; die Pathosformeln
43 Andrea Allerkamp, Fluchen, Schwören, Lügen. Zur Gebrechlichkeit von Recht und Re-
ligion bei Kleist und Shakespeare. In: KJb 2018, 69–86, hier 69. Sprechakt und Motiv
des Fluches können sich ebenfalls in Racheliteratur finden, an deren Beginn der Atri-
denfluch mit seinen Auswirkungen über mehrere Generationen steht. Fluch und Fehde
im Sinne generationenübergreifender Blutrache-Verknüpfungen verlaufen hier eng ver-
knüpft. Allerdings dominiert in Racheliteratur der Schwur eines Akteurs, der ausdrück-
lich selbst Rache vollziehen will, gegenüber dem Fluch, der auch Vergeltungs-Optionen
durch göttliche, schicksalhafte o. a. Eingriffe einschließt. Anders der Racheschwur: Der
Rächer handelt autonom, als Schicksal, als Gott. Dies pointiert Grabbes Rache-Berserker
Herzog Theodor, der über seinen Feind Berdoa äußert: »Ich bin sein Schicksal und / Sein
Gott!« (Christian Dietrich Grabbe, Herzog Theodor von Gothland. In: Ders., Werke, Bd.
1, hg. von Roy Cowen, München 1975, S. 36) Zum Verhältnis von Rache und Schicksal
vgl. Charlotte Kurbjuhn, Grabbes Anti-Orestie. Verlaufsdynamiken der Rache in ›Herzog
Theodor von Gothland‹. In: Grabbe-Jahrbuch 2018, S. 9–30, hier S. 11.
44 Zu psychologischen Aspekten der Unmöglichkeit einer Vergebung und dem Konnex von
notwendiger Dehumanisierung und Überwindung der Tötungshemmung vgl. im An-
schluss an Hannah Arendt André Karger, Verzeihung – Reconsiliation – Versöhnung. Ver-
such der Differenzierung verschiedener Konzepte. In: Ders. (Hg.), Vergessen, vergelten,
vergeben, versöhnen? Weiterleben mit dem Trauma, Göttingen 2012, S. 12–31, hier S. 26.
45 Am Beispiel von Grabbes Erstlingsdrama wird dies ausgeführt bei Kurbjuhn, Grabbes
Anti-Orestie (wie Anm. 43), S. 15–26.
112
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
tauchen geballt in wenigen entscheidenden Szenen auf.46 Ein kurzes Stück aus den
›Räubern‹ illustriert dies: Es zeigt Karl Moor, nachdem er von der vermeintlichen
Verstoßung durch seinen Vater erfahren hat. Dabei entspricht die verweigerte Ver-
gebung der abgelehnten Anklage:
Moor tritt herein in wilder Bewegung, und läuft heftig im Zimmer auf und nieder, mit
sich selber.
Moor . Menschen – Menschen! falsche, heuchlerische Krokodilbrut! […] wenn Blut-
liebe zur Verrätherinn, wenn Vaterliebe zur Megäre wird; o so fange Feuer männliche
Gelassenheit, verwilde zum Tyger sanftmüthiges Lamm, und jede Faser recke sich auf
zu Grimm und Verderben. […] Ist das Vatertreue? Ist das Liebe für Liebe? […] So eine
rührende Bitte […] – die wilde Bestie wär in Mitleid zerschmolzen! […] – oh daß ich
durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer
wider das Hyänen-Gezücht ins Treffen zu führen! […] Ist dein Name nicht Mensch?
Hat dich das Weib nicht geboren? […] – schäumend auf die Erde stampfend. ha! – wer
mir izt ein Schwerd in die Hand gäb, diese[ ] Otterbrut […] [zu] zernichten – Er sey
mein Freund, mein Engel, mein Gott – ich will ihn anbeten! (NA 3, 30–32)
Der Dehumanisierung des Racheobjekts folgt der implizite Appell an die Elemen-
te, resultierend in der Lossagung aus einer väterlichen Ordnung und dem Schwur,
Räuber zu werden:
Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellirte,
weg dann von mir Sympathie und menschliche Schonung! – Ich habe keinen Vater
mehr, ich habe keine Liebe mehr, […] – tretet her um mich ein jeder, und schwöret
mir Treu und Gehorsam zu bis in den Tod! – schwört mir das bei dieser männlichen
Rechte! […] und bei dieser männlichen Rechte! [...] schwör ich euch hier, treu und
standhaft euer Hauptmann zu bleiben bis in den Tod! (NA 3, 32f.)
Der Schwur zur kollektiven Rache an der Gesellschaft ersetzt hier den Eid auf das
Gesetz oder den Glauben; den irdischen Banden wird entsagt. Sehr ähnlich wieder-
holt sich diese Liturgie der Rache, als der alte Moor aus seinem Verließ erscheint
und die Räuber angesichts der Unmenschlichkeit und Widernatürlichkeit von Franz
Rache schwören.
Moor . Rache, Rache, Rache dir! grimmig beleidigter, entheiligter Greis! So zerreis ich
von nun an auf ewig das brüderliche Band, er zerreißt sein Kleid von oben bis unten
[siehe Erläuterung am Ende des Zitats.] So verfluch ich jeden Tropfen brüderlichen
Bluts im Antlitz des offenen Himmels! Höre mich Mond und Gestirne! Höre mich mit-
ternächtlicher Himmel! der du auf die Schandtat herunterbliktest! Höre mich drey-
46 Bemerkenswerterweise sind diese Sprechakte in Schillers ›Braut von Messina‹ jedoch auf
mehrere Personen verteilt, was den Rächer immerhin noch als Teil einer Gesellschaft zeigt
und damit vor allem im Hinblick auf die Funktion des Chors relevant ist. Insgesamt
erscheinen zudem sowohl bei Schiller (›Die Räuber‹, ›Die Braut von Messina‹) als auch
bei Kleist neben radikalen Einzelgängern unter den Rächerfiguren (Kohlhaas, Piachi,
Thusnelda) auch Rache-Solidargemeinschaften (die Schroffenstein-Familien der Rossitzer
und Warwander und politisch / national motiviert im Falle der Cherusker / Germanen).
113
Charlotte Kurbjuhn
malschröklicher Gott, der da oben über dem Monde waltet, und rächt und verdammt
über den Sternen, und feuerflammt über der Nacht! Hier knie ich – hier strek ich
empor die drey Finger in die Schauer der Nacht – hier schwör ich, und so speye die
Natur mich aus ihren Gränzen wie eine bösartige Bestie aus, wenn ich diesen Schwur
verleze, schwör ich das Licht des Tages nicht mehr zu grüssen, bis des Vater-Mörders
Blut, vor diesem Steine verschüttet, gegen die Sonne dampft. Er steht auf. (NA 3, 114f.;
Regieanweisungen im Original kursiv, weitere Hervorhebungen C.K.)
Im Unterschied zu späteren Rachetexten finden sich jedoch weder bei Kleist noch
bei Schiller explizite Gottesleugnungen; es gibt höchstens Rächer, die in Verken-
nung der Umstände für sich beanspruchen, göttlichen Willen zu erfüllen (so Don
Cesar), oder sich wie Piachi bewusst gegen eine – aber unangezweifelte – göttliche
Instanz stellen. Häufiger wird bei Kleist und Schiller stattdessen ein zu rächender
Mensch durch körperliche Demutsbezeugungen und Sprachformeln, die sakral co-
diert sind, göttlich erhöht – wenn Kohlhaas sich vor dem Bett seiner verstorbenen
Frau niederwirft, bevor er zur »Rache« schreitet,47 oder wenn Schillers Räuber vor
Karls Vater niederknien und Rache geloben:
Moor . […] Betet an vor dem, der euch dis erhabene Loos gesprochen, der euch hieher
geführt, der euch gewürdiget hat, die schrökliche Engel seines finstern Gerichtes zu seyn!
Entblöset eure Häupter! Kniet hin in den Staub, und stehet geheiliget auf! Sie knien.
(NA 3, 115; Regieanweisung kursiv im Original, weitere Hervorhebungen C.K.)
Karl Moor lehnt zwar die »erbärmlichen Verweser[ ]« (NA 3, 71) der Kirche ab,
leugnet aber keineswegs Gott. Dass Schiller in der Vorrede zur ›Braut von Messina‹
die Mischung mehrerer Religionen in einer Tragödie legitimierend reflektiert und
gerade auch für diese Mischung kritisiert wurde,48 belegt allerdings die generelle
Schwierigkeit, mit der moderne Rachetexte im Gegensatz zur antiken Tragödie kon-
frontiert waren – zumal im Zeitalter eines nicht mehr bindenden Christentums. Für
Kleists Rachetexte sind aber zwei nonverbale Zeremonielle der Rache entscheiden-
der als rhetorische Pathosformeln: erstens die erwähnte pervertierte Kommunion
und zweitens die Zerstückelung, die so viele seiner Texte kennzeichnet. Gewalt-
volle Dissoziationserfahrung und Säkularisierung von liturgischen Sprachgesten
und Religionspraktiken lassen sich als Zeichen jener Modernität lesen, die Kleists
Rächerauftritte grundiert. Die disiecta membra stehen aber auch in einem konkreten
rechtshistorischen Zusammenhang. Zu den Grundbestandteilen von Rachetragö-
dien gehören (seit Senecas ›Thyestes‹ oder Medeas Mord an ihrem Bruder) Zer-
47 An der Bahre erhält Kohlhaas nach der Leichenpredigt als Antwort auf seine Bittschrift die
abschlägige »Resolution«, nach der Beisetzung »warf er sich noch einmal vor ihrem, nun
verödeten Bette nieder, und übernahm sodann das Geschäft der Rache.« (DKV III, 61)
48 Vgl. zu Schillers brieflichem Austausch mit Körner über die historische Legitimation
dieser Mischung von »Christentum, griechische[r] Mythologie und Mohamedanismus«
(Schiller an Körner, 10. März 1803, NA 32, 19) und zur Kritik August Wilhelm Schlegels
in dessen ›Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur‹ Oesterle, Friedrich Schiller:
Die Braut von Messina (wie Anm. 31), S. 168.
114
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
stückelungen und mitunter kannibalistische Elemente, die zum Anlass für Rache
werden. Dieses Motiv wird in der ›Familie Schroffenstein‹ in jener bizarren – und
wie zuletzt Anne Fleig betont hat: metatheatralischen49 – Schlussszene zitiert, in der
Ursula auftritt, den zuvor im Brei gekochten Kindesfinger »in die Mitte der Bühne
[wirft] und verschwindet.« (DKV I, vor Vs. 2681) Der »groteske Exzess« des »Kunst-
stück[s]« (DKV I, Vs. 2725) transgrediert mit Blick auf die Gattungsgeschichte der
revenge tragedies dann ganz spezifisch auch gerade dieses Genre, indem er dessen
»Bruchstücke«50 exponiert. Nicht weniger grauenhaft erscheint die Zerstückelung
der geschändeten Hally in der ›Herrmannsschlacht‹, die zum Inzitament der Kol-
lektivrache wird.51 In Racheliteratur steht jedoch im Allgemeinen die Zerstückelung
der Rächer am Ende. Die Fragmentierung des Körpers sollte verhindern, dass die
häufig als teuflisch apostrophierten Unholde nach ihrem Tode wiederkehrten. Vor
allem aber stellte in der Strafpraxis der Frühen Neuzeit die Zerstückelung die Spie-
gelstrafe für jene Taten dar, die zuvor die Ordnung des Staates, den Körper des
Souveräns, mit Zerstörung bedroht hatten: Das Rädern oder die Vierteilung stan-
den auf solche Verbrechen;52 der historische Kohlhase wurde für Landfriedensbruch
gerädert,53 bei Schiller wird den Räubern noch ganz selbstverständlich das Rad in
Aussicht gestellt (vgl. NA 3, 68). Dieselbe Logik strukturiert Thusneldas Rache an
Ventidius: Dass die Römer den Frauen unterworfener Völker die Haare abschneiden
und die Zähne herausbrechen, um sie ihren Frauen ›einzuverleiben‹, entspricht je-
nen Zerstückelungsakten, die Rache motivieren. An dem ›unmenschlichen‹ Römer
Ventidius, der den Körper der »Landesfürstin« (DKV II, Vs. 2307) »aus[weiden] und
[ ]pelz[en]« (DKV II, Vs. 1075) wollte, rächt sich Thusnelda54 in Gestalt der »Bärin
von Cheruska« (DKV II, Vs. 2388, 2392)55 mit passender Spiegelstrafe. Bei Schiller
49 Vgl. Anne Fleig, Eine Tragödie zum Totlachen? Shakespeare, Schiller, Kleist. In: KJb 2017,
86–97, hier 86.
50 Fleig, Eine Tragödie zum Totlachen? (wie Anm. 49), 86.
51 Vgl. dazu Christine Künzel, Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Kör-
per als Text und Zeichen in Kleists ›Hermannsschlacht‹. In: KJb 2003, 165–183.
52 Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, § 102 II 20 (›Landesverrätherey‹).
Zum rechtsphilosophischen und strafrechtlichen Vergeltungsdiskurs mit Blick auf den
Zweck von Strafen nach dem Talionsprinzip vgl. Johannes F. Lehmann, Im Abgrund der
Wut. Zur Literatur- und Kulturgeschichte des Zorns, Freiburg i.Br. 2012, S. 260–263.
53 Vgl. den Kommentar in DKV III, 709 mit Bezug auf die Hafftitzsche Chronik. –
Zum (rechts-)historischen Kontext der Handlungsebene des ›Kohlhaas‹ vgl. Hartmut
Boockmann, Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des ›Michael
Kohlhaas‹. In: KJb 1985, 84–108, außerdem den historisch und rechtsphilosophisch hoch-
präzisen Beitrag von Gideon Stiening, Zwischen gerechtem Krieg und kluger Politik.
Naturrecht, positives Recht und Staatsraison in Kleists ›Michael Kohlhaas‹. In: Frieder
von Ammon, Cornelia Rémi und ders. (Hg.), Literatur und praktische Vernunft, Berlin
2016, S. 485–522.
54 Ihre Reaktion auf Herrmanns Erzählung vom Umgang mit weiblichen Körpern antizi-
piert in einer »glühend[en]« Minimalvariante den Racheschwur: »Bei allen Rachegöttern!
Allen Furien« (DKV II, vor Vs. 1054, Vs. 1054).
55 Ventidius meint damit die tatsächliche Bärin (vgl. DKV II, Vs. 2388), Thusnelda greift die
Formulierung fragend auf (vgl. DKV II, Vs. 2392).
115
Charlotte Kurbjuhn
und bei Kleist fehlt aber die Zerstückelung der Rächerfiguren selbst – vielleicht,
weil keiner von ihnen so weit ging, die göttlichen Instanzen und damit die höchste
Ordnung zu leugnen.
IV. Fazit
116
Der Auftritt des Rächers bei Schiller und Kleist als Auftritt der Moderne
das Spektrum von den ›Räubern‹ – gegen Unrecht aufbegehrend in den Jahren vor
der Französischen Revolution – über die erfahrungsseelenkundlich aufklärerische
und im Hinblick auf humanere Rechtsprechung noch optimistische (und ebenfalls
vorrevolutionäre) Erzählung ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹ (in der die Er-
zählerinstanz die Wertung der Handlung beim Leser steuern kann) bis hin zu der
bereits zur Zeit der Koalitionskriege entstandenen Ballade ›Die Kraniche des Ibycus‹
und der ›Braut von Messina‹. Die beiden letztgenannten Texte aus dem klassischen
Jahrzehnt sind jeweils gekennzeichnet von der Auseinandersetzung mit der Antike,
vor allem mit der affektmodulierenden Funktion des Chors in der griechischen Tra-
gödie. In Ballade wie Trauerspiel Schillers wird der Chor für die Ausgestaltung der
Racheproblematik über die affektive Wirkung hinaus jeweils im Hinblick auf die
sozialen Bedingungsgefüge der hervorbrechenden Racheimpulse bedeutsam. Kleists
Rachetexte hingegen sind durchweg von der nachrevolutionären Epoche geprägt;
ihnen sind nicht nur die Umsturzerfahrungen und Säkularisierungsprozesse jener
Jahre eingeschrieben, sondern auch die Verunsicherungen, die aus den fundamen-
talen strafrechtlichen Reformprozessen der Jahrhundertwende resultieren. Kleists
Rächerfiguren haben entweder keine Illusionen mehr über verlässliche obrigkeit
liche Gerechtigkeit, oder sie verlieren diese Illusionen schnell im Laufe der Hand-
lung. Dies gilt für die Erzählungen – ›Der Findling‹, ›Michael Kohlhaas‹ – ebenso
wie für die Dramen, von denen ›Die Herrmannsschlacht‹ nicht nur Rache darstellt,
sondern als agitatorisches Propagandastück zur realen Rache bewegen sollte.
Rache erweist sich bei beiden Autoren nicht nur als ein generell zeitgemäßes
Sujet. Die literarischen Ausgestaltungen von Rächerfiguren und insbesondere ihrer
Auftrittsweisen zeugen sowohl bei Schiller als auch bei Kleist von den immensen
Spannungen der Moderne: Hierzu gehören massive Legitimationsbedürfnisse59 des
Subjekts und aller Autoritäten – Legitimationsbedürfnisse, wie sie beispielsweise
in den ›Räubern‹, in Erbverträgen (›Familie Schroffenstein‹) oder am Beispiel des
adoptierten Sohns im ›Findling‹ verhandelt werden, aber auch die hybriden Selbst-
entwürfe der Rächerfiguren motivieren. Prägend für den Beginn der Moderne sind
zudem die fortschreitende Desillusionierung des Humanitätsideals der Aufklärung
im Zuge der Gewalterfahrungen um 1800 und die Verunsicherungen, die aus den
grundlegenden Strafrechtsreformen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert resultie-
ren. Diese Faktoren verbinden sich in Racheliteratur mit den tiefgreifenden Kon-
sequenzen der Säkularisierung: allen voran die unauflösbaren Zweifel, ob U nrecht,
das auf Erden nicht geahndet wird, denn jemals im Jenseits, in der Ewigkeit bestraft
werde. Inmitten einer sich rasant wandelnden Welt erscheinen in der Literatur die-
ser Zeit daher literarische Rächerfiguren als Reaktion auf die Inkommensurabili-
tät der Modernitätszumutungen. Rächergestalten erweisen sich, wenngleich sie ein
vermeintlich zivilisatorisch überwundenes archaisches Prinzip zu verkörpern schei-
nen, als literarische Figuration der Moderne mit den ihr inhärenten Brüchigkeiten.
Die Auftritte der Rächer zeugen von den gesteigerten Legitimationsbedürfnissen
der Moderne und insbesondere dem Wechselverhältnis von Sakralisierung und
Säkularisierung. Der opernhafte, requisitenreiche Prunkeinzug Kohlhaas’ mit dem
59 Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996.
117
Charlotte Kurbjuhn
118
Dorothea von Mücke
»Düsterstes Patriarchat«
Zur Verginia-Legende in Schillers ›Die Verschwörung des Fiesko
zu Genua‹ und Kleists ›Hermannsschlacht‹
»Düsterstes Patriarchat bei Leuten, die eigentlich gegen die Tyrannei sind.« So
lautet Michael Sommers eingeschobener Kommentar während der zehnminütigen
Playmobil-YouTube-Version von Schillers ›Die Verschwörung des Fiesko zu Genua‹.1
Sommer kommentiert damit die Reaktion des eifrigen Republikaners Verrina,
der Bourgognino, als dieser seiner Tochter einen Heiratsantrag macht, entgegnet:
»Haben Sie Lust junger Mensch, Ihr Herz in eine Pfüze zu werfen?« (NA 4, 33)2
Für Verrina, der soeben erfahren hat, dass seine Tochter vom Neffen des Dogen von
Genua vergewaltigt wurde, kann diese nun offenbar keines respektablen Ehemanns
mehr würdig sein. Sommers Äußerung bringt damit einen Widerspruch zum Aus-
druck, der die politischen Umstürzler in Schillers Drama treffend beschreibt. Irre-
führend wäre es allerdings, wenn man Sommers Kommentar dahingehend auslegen
wollte, dass sich Schillers Drama nicht mit diesem Widerspruch auseinandersetzt.
Ganz im Gegenteil, und dies soll im Folgenden gezeigt werden, beschäftigt sich
Schillers Stück sehr genau mit den Kosten der Politik, die sich an republikanischen
Männlichkeitsidealen orientiert, indem es sich auf die im 18. Jahrhundert viel zitier-
te Verginia-Legende bezieht.
Auch Kleists ›Hermannsschlacht‹ zitiert die Verginia-Legende, wenn es darum
geht, radikale politische Veränderungen herbeizuführen. Dabei ist weder für Schillers
noch Kleists Drama das »[d]üsterste[ ] Patriarchat« eine Sache der Vergangenheit,
sondern ein entscheidendes Element einer zukunftsorientierten Politik, im Fall von
›Fiesko‹, um zum Aufstand gegen den Machtmissbrauch der Doria im Stadtstaat
Genua anzufeuern, im Fall der ›Hermannsschlacht‹, um den Widerstand gegen die
römische Besatzungsmacht seitens der germanischen Stämme voranzutreiben. Auch
zeigen beide Stücke den Titelhelden im Verhältnis zu einer Ehefrau, die es wagt,
ihrem Gatten zu widersprechen, und der daraufhin eine Lektion erteilt wird, worauf
sie im verzweifelten Kampf um die Anerkennung ihres Mannes halb wahnsinnig
stirbt oder verstummt. Diesen Parallelen soll im Folgenden nachgegangen werden,
119
Dorothea von Mücke
wobei mich ganz besonders die jeweilige Reflexion auf die Rolle des Schauspiels und
die Macht der Zeichen interessiert. Während nämlich Schillers ›republikanisches
Trauerspiel‹ sich mit der Vermischung von Politik und Theater beschäftigt, zeigt
Kleists Stück die Inszenierung nationaler Einheit aus dem Nichts nicht mithilfe
eines Schauspiels, sondern durch die Mobilisierung von Rachegefühl und Hass und
die Unterwerfung unter die Deutungshoheit dessen, der allein Zeichen setzt. Gerade
wenn diese beiden Stücke nebeneinandergehalten werden, wird klarer, wie beide
Dramen jeweils auf die Kosten der politischen Strategien ihrer Protagonisten zu re-
flektieren vermögen. Ja, sogar Kleists ›Hermannsschlacht‹ gewinnt diese Dimension,
wenn sie neben Schillers ›republikanisches Trauerspiel‹ gestellt wird. Dies zu zeigen,
ist zumindest das Darstellungsanliegen dieses Beitrags.
120
»Düsterstes Patriarchat«
——— Dieser Fluch hafte auf dir, bis Gianettino den letzten Odem ver-
röchelt hat. – Wo nicht, so magst du ihn nachschleppen längs der Ewigkeit,
bis man ausfindig macht, wo die zwei Enden ihres Rings ineinander greifen.
Großes Schweigen. Auf allen Gesichtern Entsezen. Verrina blikt jeden vest und durch-
dringend an. (NA 4, 34)
121
Dorothea von Mücke
Verginia-Legende wie gerufen, wäre auch genau mit Hilfe dieser allerschlimmsten
Situation die Wiederherstellung seiner männlichen Ehre sowie die Wiederherstel-
lung der Republik Genua zu bewerkstelligen. Dabei muss Verrina nicht einmal seine
Tochter umbringen. Stattdessen stellt er eine Situation her, in der das durch die Ver-
bannung seiner Tochter ins Kellerverlies verstärkte Leiden seiner Tochter nur durch
den Tod der Tyrannen aufgehoben werden kann. Der Ehrenmord als Katalysator
des politischen Umschwungs in der Verginia-Legende lässt sich – solange es um
den Aufstand gegen die tyrannische Doria-Herrschaft geht – auch durch die Geisel-
nahme der eigenen Tochter ersetzen. Und der entsetzliche Fluch des Vaters dient der
öffentlichen Bekräftigung dieser Geiselnahme, der Beschwörung einer ›Stunde Null‹
(»Lähme die Zeit mit deinem Gram.« NA 4, 34), die den radikalen Umschwung
herbeiführen soll.
Genauso wie Schillers Drama betont, dass für den enthusiastischen Umstürzler
Verrina die Vergewaltigung seiner Tochter wie gerufen kommt und er nicht zögert,
seine Tochter völlig zu instrumentalisieren, zeigt auch Kleists Drama, wie die Ver-
gewaltigung eines jungen Mädchens willkommen geheißen bzw. hoffnungsvoll er-
wartet und dann propagandistisch ausgenutzt wird. So wird Hermann im Gespräch
mit Eginhardt gezeigt, wie er diesem einschärft, alle möglichen Verstöße seitens der
Römer in übertriebener Form bekannt zu machen und sich auch auf die Suche
nach weiteren Vorfällen zu machen: »Komm, laß uns heimlich durch die Gassen
schleichen, / Und sehn ob uns der Zufall etwas beut.« (SW9 I, Vs. 1526f.) Tatsächlich
wird sofort in der darauffolgenden Szene eine ohnmächtige Person auf die Bühne
gebracht, die von mehreren Römern vergewaltigt wurde, woraufhin letztere, sobald
dies bekannt geworden war, angeblich von einem Römerhauptmann zur Strafe hin-
gerichtet wurden. Ein beistehender Greis kommentiert: »Vergib mir, Gott! ich kann
es ihm [dem Römerhauptmann] nicht danken!« (SW9 I, Vs. 1541) Wenn es nach die-
sem Greis geht, kann dieser Racheakt nicht angenommen werden, die Tat soll weiter
als ungesühnt gelten. Und als ein Weib aus dem Volk sich nach der Unglückseligen
erkundigt, besteht derselbe Greis darauf, die geschändete Person nicht mit Fackeln
zu beleuchten und es im Unklaren zu lassen, um wen es sich bei dem Opfer handelt:
O des elenden, schmachbedeckten Wesens!
Der fußzertretnen, kotgewälzten,
An Brust und Haupt, zertrümmerten Gestalt. (SW9 I, Vs. 1544–1546)
Es wird nicht gefragt, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Der Greis
inszeniert somit die Schmiedstochter Hally als die Verkörperung der absoluten
Gräueltat, die sogar die Machtlosigkeit Wodans zeigt, der zwar Blitze zu regieren
vermag, aber derartig Entsetzliches auf Erden nicht verhindern kann, einer Gräuel-
tat, vor der sich sogar die Sonne verbirgt. Daraufhin verlangt der Greis, dass ein
Schleier über sie geworfen wird, der auch dann nicht gelüftet werden darf, als ihr
Vater sich ihr nähert. Kurz, der Auftritt der vergewaltigten jungen Frau wird zu
122
»Düsterstes Patriarchat«
5 Christine Künzels Analyse der Hally-Szene betont ebenfalls die semiotische Funktion
dieser Inszenierung des Opfers einer Vergewaltigung, die darin besteht, die Geschichte
und Individualität des Opfers völlig auszulöschen (vgl. Christine Künzel, Gewaltsame
Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als Text und Zeichen in Kleists ›Her-
mannsschlacht‹. In: KJb 2003, 165–183). Allerdings analysiert Künzel nicht den Bezug der
Hally-Szene auf die Verginia-Legende, vor allem nicht deren Rezeption durch Lessing und
Schiller.
6 Dieser Aspekt von ›Fiesko‹ findet ebenfalls Beachtung in Gerhard Kluge, Hermann und
Fiesko – Kleists Auseinandersetzung mit Schillers Drama. In: Jahrbuch der Deutschen
Schillergesellschaft 37 (1993), S. 248–270.
7 Bei Kleist können Füße tatsächlich eine identifizierende Funktion übernehmen, zumin-
dest wenn es um die Identifikation einer weiblichen Person im Kontext der Affirmation
patriarchalischer Autorität geht: so im ›Erdbeben in Chili‹ seitens des Schuhflickers
Pedrillo, der seine Kundin Josephe an ihren Füßen erkennt, wenn es darum geht, das
gotteslästerliche, ehebrecherische Paar in der Kirche zu identifizieren, bevor es brutal
ermordet wird. Vgl. SW9 II, 156.
123
Dorothea von Mücke
der Toten die Rechtfertigung seiner Tat verlangt: »Hally! Mein Einzges! Hab ichs
recht gemacht?« (SW9 I, Vs. 1579) Doch in der letzten Szene in Lessings Stück wird
wesentlich ausführlicher gezeigt, wie der sich an römischen Tugendidealen orien-
tierende Vater den Ehrenmord seiner Tochter sich von seiner Tochter legitimieren
bzw. diesen als von ihr autorisiert markieren lässt.8 In Kleists Drama wird somit die
Verginia-Legende gewissermaßen zweifach zitiert: Einerseits von Seiten der politi-
schen Propaganda, um durch die Ahndung der Vergewaltigung den Aufstand zu
schüren. Andererseits im Zitat der empfindsamen Adaption der Verginia-Legende,
die zeigt, wie nicht nur das Opfer der Vergewaltigung, sondern auch dessen Vater
entmenschlicht wird, indem seine spontane empfindsame, menschliche Reaktion
erstickt wird.
Schon hier lässt sich die Funktion der Verginia-Legende für Kleists Drama
genauer fassen: In den sich auf diese Legende berufenden drei Szenen (IV, 4–6) der
›Hermannsschlacht‹ wird nämlich eine radikale Intervention in die Aufteilung und
Ordnung des Sinnlichen gezeigt. Anders gesagt, es geht letztlich um einen Eingriff
in die Regelung dessen, was, wer, wie wahrnehmen und erkennen kann. Die Rolle
der Figur Hallys lässt sich gleich eingangs mit der Rolle der vergewaltigten Bertha
vergleichen, die, von Verrina verflucht, zur Geisel des Aufstands gemacht und zu
einem unmenschlichen Dasein zwischen Tod und Leben verdammt, jeder mensch-
lichen Interaktion entzogen wird. Nur ist in Kleists Stück die radikale Entindividua-
lisierung und Entmenschlichung, die Verbannung der Person aus der Sphäre zwi-
schenmenschlicher Kommunikation nicht dem Vater zu verdanken, sondern einer
anonymen Greisenfigur, die diese Funktion mit einer quasi-priesterlichen Autorität
ausübt, d.h. die die eigene Regie in der Regelung dessen, wie Hally wahrgenommen
und behandelt werden darf, explizit in Bezug zu einer grundlegend gestörten göttli-
chen und kosmischen Ordnung setzt. Die Rhetorik und Logik des Greises ist gerade
hier besonders interessant: Durch die Verhüllung, Verdunkelung und Entmensch
lichung Hallys macht er sie zu dem entsetzlichen Gräuel, dem gestaltlosen, ekel
haften Etwas, das jenseits jeder Ordnung des Sichtbaren, Erkennbaren und Reprä-
sentierbaren liegt bzw. das die Schwelle zur Darstellung markiert und in diesem
Sinne eine radikale neue symbolische Ordnung ermöglicht, ja geradezu verlangt.
Der Greis liefert allerdings nur das Vorspiel für die Neuordnung der Zeichen-
ordnung, um die es in dieser Szenenfolge letztlich geht. Denn nachdem der Greis
gewissermaßen den Schauplatz für eine neue Zeichenordnung vorbereitet hat, tritt
Hermann in der letzten Szene dieser Sequenz auf. Er gibt vor, keine Ahnung von
dem, was vorgefallen ist, zu haben. Als er Teuthold auf der Leiche seiner Tochter
liegen sieht, ruft er die Götter und die Cherusker als Wodanskinder an und be-
fiehlt dem Schmied aufzustehen, was dieser aber verweigert, bis ihm der Cherusker
schließlich ankündigt, sein Rächer sei gekommen. Hermann kann sich so in der
124
»Düsterstes Patriarchat«
Rolle der letzten richtenden Instanz inszenieren, nicht nur als Fürst der Cherusker,
sondern auch als priesterliche Instanz. Außerdem wird in dieser Selbstinszenierung
Hermanns auf Jesu Heilung des Gelähmten angespielt und sich so mit der Rolle des
Heiland und Messias assoziieren als einem, der alles Unrecht auf Erden endgültig rä-
chen und wieder Recht herstellen kann. Auf die Frage, was geschehen müsse, damit
Teuthold »Rom, / Das Drachennest, vom Erdenrund vertilgen« (SW9 I, Vs. 1601f.)
könne, diktiert ihm Hermann dann das Verfahren aus dem biblischen Buch der
Richter, mithilfe dessen es zu dem die Stämme Israels vereinigenden Krieg gekom-
men ist. Er solle die Leiche seiner Tochter in fünfzehn Teile zerlegen, die dann an
jeden der fünfzehn Stämme Germaniens zu verteilen seien, wozu er ihm fünfzehn
Pferde geben wolle. So werde dann der Leib seiner Tochter:
dir zur Rache,
Bis auf die toten Elemente werben:
Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend,
Empörung! rufen, und die See,
Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen. (SW9 I, Vs. 1616–1620)
Einerseits verurteilt Hermann Teuthold, indem er ihn einen »Rabenvater« (SW9 I,
Vs. 1608) nennt, wie schon Bourgognino Verrina, als dieser seine Tochter ver-
flucht hat. D.h. Hermann wirft Teuthold vor, sich kalt, gefühllos und grausam,
ja unmenschlich gegenüber seiner Tochter verhalten zu haben, nur um im selben
Atemzug andererseits von ihm zu verlangen, dass er ihre Leiche wie ein Stück Wild
zerlegen solle, um sie so »zerstückt« (SW9 I, Vs. 2550) als Ansporn zum einigen-
den Aufstand der fünfzehn germanischen Stämme gegen die Römer einzusetzen.
Ja, was hier gezeigt wird, ist die Logik der Entmenschlichung, auf der Hermanns
Inszenierung seiner Zeichensetzungs- und Deutungshoheit beruht. Teuthold ist ihm
das Mittel zum Zweck, die Rachegefühle zu schüren und zu bündeln und gleich-
zeitig den Hass auf alle Römer seitens der Germanen, nicht nur als Reaktion auf
einen transgressiven Tatbestand in der Vergangenheit, sondern um für die Zukunft
die germanischen Stämme im Krieg ohne Unterschied einigend zu mobilisieren.9
9 Vgl. Stefan Börnchen, Translatio imperii. In: KJb 2005, 267–284. Börnchen betont, dass
entgegen Hermanns Behauptungen Kleists Drama auf der Ununterscheidbarkeit der
Römer und Germanen insistiert, dass somit Kleists Stück gewissermaßen diese Art von
Hass und Gegensatz dekonstruiert. Zu ähnlichen Beobachtungen, die ebenfalls auf den
im Drama klar herausgestellten römischen Zügen und Kenntnissen Hermanns beruhen,
kommt auch Barbara Vinken, die daraus folgert, Kleists Drama gehe es um die Dekon
struktion dieser nationalen Gegensätze (vgl. Barbara Vinken, Bestien. Kleist und die
Deutschen, Leipzig 2011). Die Tatsache, dass Kleists Drama keinesfalls einen prinzipiellen
oder ›wesentlichen‹ Unterschied zwischen Germanen und Römern behauptet, muss aller-
dings nicht zur Schlussfolgerung führen, dass es hiermit Kleist um die Dekonstruktion
solcher nationalen Gegensätze ginge. Ganz im Gegenteil, Hermanns Deutungshoheit
und Macht leitet sich gerade aus der puren Setzung solcher faktisch nicht vorhandenen
Gegensätze ab. Siehe dazu auch Johannes F. Lehmann, Zorn, Hass, Entscheidung. Model-
le der Feindschaft in den Hermannschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische
Anthropologie 14 (2006), S. 11–29.
125
Dorothea von Mücke
abei hat sich Hermann selbst schon als empfindungsloser Rabenvater enthüllt, als
D
er seine beiden Söhne zur Authentifizierung seines Bündnisangebots zusammen mit
einem Dolch und dem Hinweis an Marbod sandte, dass, falls dieser Zweifel an sei-
ner Aufrichtigkeit habe, er seine Kinder erstechen solle (vgl. SW9 I, Vs. 1345–1349).
126
»Düsterstes Patriarchat«
127
Dorothea von Mücke
darf. Durch diesen Akt anerkennt er Fust als ebenbürtigen Fürsten im Kampf gegen
die Römer, und gleichzeitig erniedrigt, ja entmenschlicht er den Römer Varus zu
einer Wettkampftrophäe und etabliert sich selbst als Intendant und Regisseur, der
allein den Zugang zu unterschiedlichen symbolischen Rangordnungen sowie die
Rollenverteilung innerhalb dieser regelt. Interessant an dieser Szene ist der Um-
stand, dass Varus Hermanns äußerst geschickte Manipulation der unterschiedlichen
symbolischen Rangordnungen genau durchschaut, während Fust ganz naiv meint,
er könne vielleicht Hermann durch seinen Sieg im Wettkampf beleidigt haben (vgl.
SW9 I, Vs. 2509–2511, 2534f.). Die Tatsache, dass Hermanns Macht allein auf seiner
Deutungshoheit und Regie unterschiedlicher symbolischer Ordnungen beruht und
damit gerade nicht auf körperlicher Überlegenheit, ist offenbar noch nicht allen
germanischen Fürsten klar geworden, und dabei geht es nun gerade in den letzten
Szenen des Stückes genau darum.
Während der 22. Auftritt den grundlegenden kulturellen Wandel der Legitima-
tionskriterien von Herrschaft in der Umstellung von körperlicher Überlegenheit auf
symbolische Macht anspricht, wird im 23. Auftritt nochmals an die beiden weib-
lichen Opfer dieses kulturellen Wandels erinnert. Zuerst wird Thusnelda gezeigt,
die ihren Gatten begrüßt und von ihm ob ihres Racheaktes gepriesen wird, selbst
dabei allerdings erblasst und verstummt. Dann wird Hermann feierlich von Wolf
der Oberbefehl gegen die Römer angetragen, da sich nun alle Fürsten hinter ihn
stellten und es Hermann gelungen sei, mit dem Sinnbild der geschändeten Jungfrau
Germanien zu einigen. Und in der allerletzten Szene wird Hermann von Marbod
als Regent anerkannt, woraufhin er als erste Amtshandlung den Verräter Aristan
mit der Keule erschlagen lässt. Etwas abstrakter formuliert behandelt die eben an-
gesprochene Szenenfolge Hermanns übergeordnete Stellung und seinen exklusiven
Rang als Initiator einer neuen symbolischen Ordnung. Hierauf allein beruht sein
Anspruch auf Alleinherrschaft über Germanien. Ebenso, und dies hoffe ich mit dem
Blick auf Schillers ›Fiesko‹ deutlicher gemacht zu haben, zeigen gerade diese Schluss-
szenen auch die Kosten dieses kulturellen Wandels, was ich abschließend noch etwas
genauer ausführen möchte.
128
»Düsterstes Patriarchat«
seine Ansprüche auf Alleinherrschaft zu enthüllen, noch bevor er selbst sich derer
bewusst wird. Im Gegensatz hierzu beherrscht Hermann diese Art von politischer,
machiavellistischer Schauspielerei, der es darauf ankommt, andere zu durchschauen,
doch selbst nicht durchschaut zu werden. Hermann braucht keinen Beifall. Statt-
dessen inszeniert er sich als hervorragender Intendant und Regisseur, der willkürlich
Zeichen und damit Wirklichkeiten setzen kann und neue Mythen und Legenden
schafft. Dies zeigt Wolfs propagandistische Rede, dass es die »zerstückt[e]« Leiche
der Jungfrau gewesen sei, die die germanischen Stämme vereinigt habe. In Wolfs
Verkündigung wird das zwar behauptet, aber dass dies tatsächlich die Motivation
und der Motor der Vereinigung waren, ist mehr als unwahrscheinlich, was das Stück
auch wiederum deutlich macht. So waren z. B. Fust und Gueltar auf der Seite der
Römer und wurden nicht von Hallys Leichenteilen, sondern, wie Aristan Varus
berichtet, von den Briefen erreicht, die Hermann während Marbods wütendem
Überraschungsangriff auf die römischen Stellungen mit Pfeilen in den Teutobur-
ger Wald schießen ließ (vgl. SW9 I, Vs. 2066–2077). Diese Briefe kündigten den
unmittelbar bevorstehenden Sieg Hermanns über die Römer an und enthielten
die Aufforderung an die kämpfenden Germanen, sich unverzüglich auf die Seite
Hermanns zu stellen, wenn sie nicht erschlagen werden wollten. Auch Marbod wur-
de auf anderem Wege zu Hermanns Verbündetem. Dass
Hally, die Jungfrau, die geschändete,
Die du, des Vaterlandes grauses Sinnbild,
Zerstückt in alle Stämme hast geschickt, (SW9 I, Vs. 2548–2550)
der Anlass der kriegerischen Vereinigung der germanischen Stämme gegen die Besat-
zungsmacht Rom unter Leitung von Hermann war, ist schlicht fake news von Wolf,
dem einzigen Fürsten, dem Hermann vertraut, mit klarer Propagandaabsicht vor
den anderen Fürsten bekanntgegeben, um Hermanns symbolische Machtposition
zu zementieren.
Was mit dem republikanischen Modell von Männlichkeit allerdings auch ab-
geschafft wird, ist das Ideal von partnerschaftlicher, gleichrangiger Zusammenarbeit
für eine gemeinsame Sache. So vertraut Hermann seine Pläne niemandem an und
beantwortet das Drängen seines Rats, die anderen, ihm freundlich gesonnenen
Germanenfürsten einzuweihen, damit, dass es ihm nicht ums Erklären und Über-
zeugen, sondern allein ums Setzen von Tatsachen gehe. Die anderen germanischen
Fürsten würden dann schon dem Leithammel folgen:
Es braucht der Tat, nicht der Verschwörungen.
Den Widder laß sich zeigen, mit der Glocke,
So folgen, glaub mir, alle anderen. (SW9 I, Vs. 1515–1517)
Hermann liegt jede Form von Deliberation genauso fern, wie er in der Wahrneh-
mung des Anderen als eines individualisierten einzelnen Menschen eine Gefahr
wittert, die ihm sein Gefühl verwirren könnte. Und hiermit wären wir bei dem ent-
scheidenden Kontrast zwischen Schillers ›republikanischem Trauerspiel‹ und Kleists
siegreicher ›Hermannsschlacht‹ angelangt.
129
Dorothea von Mücke
Fieskos Schwäche liegt in dessen Anfälligkeit für Bewunderung und Beifall, wes-
halb er auch die Herzogskrone nicht ausschlagen kann, als er sich als Kraftgenie auf
dem Hintergrund des Sonnenaufgangs über Genua inszeniert. So verhindert dieses
Selbstbild, dass er auf das Flehen seiner Frau und auf das Drängen Verrinas, von der
Herzogskrone Abstand zu nehmen, eingehen kann. Fieskos Schwäche führt so zu
seinem Untergang, d.h. dazu, dass Verrina ihn ins Wasser stößt und er durch den
Herzogsmantel in die Tiefe gezogen wird. Hermann dagegen diagnostiziert seine
besondere Schwäche und weiß diese klug zu bekämpfen.11 Er sieht seine Schwäche
darin, dass ihm das Gefühl, aus dem er seine Sicherheit bezieht, verwirrt werden
kann. So z. B., wenn ihm Thusnelda von dem Centurio berichtet, der sein Leben
aufs Spiel gesetzt hat, um ein Kind dem Flammentod zu entreißen. Auf Thusneldas
Frage, ob dieser Centurio, ihm kein Gefühl der Liebe entlockt habe, antwortet er:
Er sei verflucht, wenn er mir das getan!
Er hat, auf einen Augenblick,
Mein Herz veruntreut, zum Verräter
An Deutschlands großer Sache mich gemacht! (SW9 I, Vs. 1718–1721)
Hermann sieht seine größte Schwäche in der Möglichkeit oder Versuchung, Men-
schen nicht allein nach der von ihm unternommenen dezisionistischen Kategorisie-
rung als Freund oder Feind zu sehen, sondern sich durch Einzelschicksale auf Indi-
viduen einzulassen und diese daraufhin als solche einzuschätzen und sich mit ihnen
auseinanderzusetzen. Anders gesagt, was Hermann als seine Schwäche erkennt und
aktiv bekämpft, ist sein Potential, so zu urteilen und zu handeln, als lebe er in einer
Welt von Mitmenschen im Plural und nicht nur in einer Welt von Figuren, die in
ein von ihm vorgefertigtes Freund-Feind-Schema passen. Und letztlich ist es die
erfolgreiche Bekämpfung dieser vermeintlichen Schwäche, die er stellvertreterhaft
von seiner Frau in ihrem Racheakt an Ventidius durchführen lässt und als ersten Sieg
feiert. Kurz auf den Punkt gebracht: Gerade das Ende der ›Hermannsschlacht‹ erin-
nert noch einmal daran, wie Hermann seine Zeichenhoheit erlangt, nämlich indem
er seine eigene Menschlichkeit bekämpft, damit allerdings auch die Menschlichkeit,
ja das Mensch-Sein von zwei Frauen opfert.
11 Vgl. zur historischen Analyse von Kleists neuem Hassmodell für eine moderne Politik
Lehmann, Zorn, Hass, Entscheidung (wie Anm. 9).
130
Volker C. Dörr
Über Grenzen
Kleists Dramatik im Dialog mit Schillers (Pathetisch-)Erhabenem
Unter den Worten, denen die stete Wiederkehr im Zitat seit Jahrzehnten oder auch
Jahrhunderten Flügel verleiht, sind einige dann doch besonders beflügelt: weil sie
universell verwendbar sind. Kleist hat, was kein Manko sein muss, zu diesem Fundus
nicht allzu vieles, nicht allzu Prominentes beigesteuert – es sei denn, man wertete
jedes »Ach!« als Alkmene-Zitat. Hingegen erscheint niemand anderer als Schiller
als der ungekrönte oder, wenn man die Zahl der Nennungen im ›Büchmann‹ als
Krönung versteht, auch der gekrönte König des Zitats. Seit Anfang der 1960er-Jahre
heißt der ›Büchmann‹ im Untertitel nicht mehr ›Zitatenschatz des deutschen Vol-
kes‹, und auch schon vorher ist dem Weisheitsschatz auch ursprünglich Fremd-
sprachiges zugeflogen, zuweilen auch in der Doppelheit von Original und Über-
setzung. Hier ist zunächst natürlich an Hamlet zu denken, aber auch der korsische
Kaiser der Franzosen war wenigstens für ein Bon- oder Malmot gut: »Du sublime au
ridicule il n’y a qu’un pas« ist als Äußerung Napoleon Bonapartes auf dem Rückzug
aus Russland, 1812, im Jahr nach Kleists Todesjahr, bezeugt.1 Der ›Büchmann‹ frei-
lich weiß noch mehr, nämlich, dass der Satz gar so originär napoleonisch nicht ist:
Der Gedanke ist schon früher ausgedrückt worden, z. B. von dem französischen
Schriftsteller Marmontel (1723–1799): »Le ridicul touche au sublime«; von dem engli-
schen Schriftsteller Thomas Paine: »Wenn Schriftsteller und Kritiker vom Erhabenen
sprechen, so sehen sie nicht, wie nahe es an das Lächerliche grenzt.«2
Schiller wird sich Paines Vorwurf gefallen lassen müssen; das unterscheidet ihn von
Kleist.
Was die drei eben Zitierten formulieren, deutet auf eine prekäre liminale Situa-
tion: auf die nur allzu leicht überschreitbare Grenze zwischen dem Erhabenen und
dem Lächerlichen, wobei vor allem Napoleon und Paine auf die mögliche Grenz-
überschreitung vom Erhabenen zum Lächerlichen hinweisen, die gegenüber der
umgekehrten wohl doch etwas prekärer ist.
Soweit die Gefährdungen des Erhabenen. Das Wissen um eine prekäre Grenz-
ziehung, die das Pathetische betrifft, transportiert die englische Sprache im Modus
1 Vgl. dazu auch Rolf-Peter Janz, Erhaben und lächerlich – eine denkwürdige Allianz. In:
Hans Richard Brittnacher und Thomas Koebner (Hg.), Vom Erhabenen und vom Komi-
schen. Über eine prekäre Konstellation. Für Rolf-Peter Janz, Würzburg 2010, S. 15–23, hier
S. 15. – Um die zweite Hälfte verkürzt, fungiert das Zitat bereits als Kapitelüberschrift bei
Johannes Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt. Zu Geschichte und Funktion des Komi-
schen bei Heinrich von Kleist, Würzburg 1996, S. 51.
2 Georg Büchmann, Geflügelte Worte, München 1977, S. 252.
131
Volker C. Dörr
der Homonymie; hier ist im Bedeutungsspektrum von pathetic die Nähe des
Erbarmungswürdigen zum Erbärmlichen schon lexikalisiert. Man kann also schlie-
ßen, dass die Begriffe des Pathetischen und des Erhabenen einerseits, andererseits
des Lachhaften, ja des Verachtens- und des Bemitleidenswerten deutlich unscharfe
Grenzen zueinander aufweisen.
In der womöglich prominentesten Konzeptualisierung des Pathetisch-Erhabenen,
im Rahmen von Schillers Tragödienpoetik, ist von einem Bewusstsein dieser
Unschärfe allerdings nichts zu bemerken. Weder die von Paine namhaft gemachte
Nähe des Erhabenen zum Lächerlichen noch die Tatsache, dass das Pathetische sich
womöglich nicht immer hinreichend deutlich vom Erbärmlichen oder Erbarmungs-
würdigen unterscheidet, findet dort Beachtung. Dass diese begriffliche Trennschärfe
auf Inszenierungen des Erhabenen in Schillers Dramenpraxis durchschlüge, wird
man allerdings nicht sagen können. Kleists Dramen ›Die Familie Schroffenstein‹
und ›Penthesilea‹ spielen diese Unschärfen – neben einer ganzen Reihe von anderen
– dann geradezu aus und weisen zugleich im Modus einer auch psychoanalytisch zu
lesenden Verwirrung darauf hin, dass die Frage der Erhabenheit an die Geschlechter-
ordnung gekoppelt ist. In ›Prinz Friedrich von Homburg‹ schließlich zeigt ein anders
gefasstes Moment der Erhabenheit seine vereindeutigende Macht.
Schillers Tragödienpoetik verabschiedet das empathische Moment, das in
Lessings Poetik noch die entscheidende Rolle spielt, annähernd restlos: zugunsten
des Pathetischen. Entwickelt wird das Konzept des (Pathetisch-)Erhabenen in einer
Reihe von Texten, die Schiller in den Jahren 1792 bis 1794 in seiner Zeitschrift ›Neue
Thalia‹ publiziert, sowie im Text ›Ueber das Erhabene‹, der erst 1801 in Schillers
›Kleineren prosaischen Schriften‹ erscheint – wobei aber doch Einiges dafür spricht,
dass er früher, im Zeitraum zwischen 1796 und 1799 entstanden ist.3
Das ›Vergnügen[ ] an tragischen Gegenständen‹ (vgl. NA 20, 133–147),4 von
dessen Beobachtung Schiller zunächst ausgeht, kann, ja darf kein Vergnügen an
der Schönheit des Dargestellten sein, denn das würde – mit Kant – dessen innere
Zweckmäßigkeit voraussetzen. Tragische Gegenstände sind aber vor allem leidende
Menschen, und menschliches Leiden ist insofern zutiefst zweckwidrig, als es der
Bestimmung des Menschen widerspricht. Tragisches Leiden ist aber zugleich, auf
einer gewissermaßen höheren Ebene, zweckvoll, weil es einen moralischen Zweck
erfüllt. Und für diesen Ebenenwechsel vom ästhetischen zum ethischen Vergnügen
bietet der ästhetische Diskurs des 18. Jahrhunderts die Kategorie des Erhabenen an,
das eine sittliche Überlegenheit gegenüber demjenigen, dem man sinnlich unter-
legen ist, indiziert. In ›Vom Erhabenen‹ (1793) definiert Schiller in diesem Sinne
– und im Anschluss an die zeitgenössische Philosophie sowie an Kants ›Kritik der
3 Vgl. Carsten Zelle, ›Über das Erhabene‹ (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.), Schiller-
Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart und Weimar 2005, S. 479–490, hier S. 479f.;
vgl. auch Paul Barone, Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004, S. 112–114.
4 Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Seitenzahl zitiert nach: Schillers
Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im
Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von
Norbert Oellers.
132
Über Grenzen
Urteilskraft‹: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinn-
liche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre
Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also phy sis ch den Kürzern ziehen,
über welches wir uns aber mo ral is c h d. i. durch Ideen erheben.« (NA 20, 171)
In dieser Formulierung sieht es noch so aus, als sei Schiller an den Objekten
interessiert, denen eben die Qualität der Erhabenheit zukommen kann. Deutlich
wird zugleich aber doch schon hier, dass Schiller, wie Kant auch,5 eigentlich eine
moralische Rezeptionsästhetik, also gewissermaßen eine Rezeptionsethik, instal-
liert; denn Schiller (und Kant) interessiert eigentlich nicht das Objekt, sondern die
moralische Souveränität des Subjekts, das nur realistisch ein Sub-jekt ist, sich aber
idealistisch über die Unterwerfung erhebt.
Das heißt aber, dass nicht das Leiden und seine Darstellung das Zentrale sind,
sondern die demgegenüber angenommene Haltung – einerseits, wie sie als Reaktion
in der Tragödie dargestellt, andererseits, wie sie dadurch dann im Zuschauer evoziert
wird. Es darf in der Tragödie also nicht bloß ein Leiden dargestellt werden, das dann,
im Sinne Aristoteles’ und / oder Lessings, das Mitleid des Zuschauers weckt; viel-
mehr muss am Beispiel des tragischen Protagonisten auch die »moralische[ ] Selbst-
ständigkeit im Leiden« (NA 20, 195) und dessen »moralischer Widerstand gegen das
Leiden« (›Ueber das Pathetische‹, NA 20, 200), zur Darstellung kommen.
Kant differenziert zwischen dem Mathematisch-Erhabenen, das uns in seiner
schier unfassbaren Größe sinnlich überwältigt, und dem Dynamisch-Erhabenen als
Formen furchterregender Gewalten, und Schiller ist deutlich an Letzterem interes-
siert: an Gewalten, die den Menschen physisch bedrohen, ja vernichten und ihm
genau damit die Gelegenheit geben, zum Vergnügen (und zur Besserung) eventueller
Zuschauer, die Überlegenheit seiner Idee der Freiheit zu beweisen – wobei es Schiller
als Dramatiker natürlich vor allem um solche Bedrohungen des Lebens in Tateinheit
mit Herausforderungen der Freiheit geht, die aus Handlungen folgen; kurz: Schiller
interessiert, wie sich die Freiheit des Opfers über die Gewalt des Täters erhebt. Die-
sen Zusammenhang fasst Schiller unter den Begriff des Pathetischerhabenen, der
auf die Bedeutung von griechisch pathos als ›schweres Leid‹ im Sinne der Aristoteli-
schen ›Poetik‹ abhebt. Der Zuschauer wird dann »durch die objektive Darstellung der
erhabenen Freiheit des Helden dazu herausgefordert […], sich seine eigene subjektive
Gemütsfreiheit spontan bewußt zu machen«.6 Der Terminus ›pathetischerhaben‹
markiert zugleich deutlich die Verschiebung von der Haltung induzierenden Quali-
tät der Gegenstände zur Qualität der Haltung selbst, weil das Pathos eindeutig an
das leidende Subjekt gebunden ist. Nicht die ›Gegenstände‹, hier also: die Leiden
erzeugenden Handlungen, sind als erhabene interessant; (pathetisch-)erhaben ist der-
jenige, der sich von Gegenständen respektive Handlungen zum Bewusstsein seiner
Freiheit anregen lässt.
Worin aber erweist sich nun die Freiheit des Protagonisten angesichts des Leides,
das er in der Tragödie erfahren muss und das ja nicht selten seinen Tod bedeutet?
5 Vgl. Carsten Zelle, ›Vom Erhabenen‹ (1793) / ›Über das Pathetische‹ (1801). In: Luserke-
Jaqui (Hg.), Schiller-Handbuch (wie Anm. 3), S. 398–406, hier S. 400.
6 Barone, Schiller und die Tradition des Erhabenen (wie Anm. 3), S. 167.
133
Volker C. Dörr
Schiller, und damit ist er nicht der einzige, gilt der Mensch als dasjenige Wesen, das
nichts muss, weil er das Wesen ist, »welches will« (›Ueber das Erhabene‹, NA 21, 38).
Allein schon aus logischen Gründen ist es daher unmöglich, etwas zuzugeben, was
der Mensch nicht will; also ist es umgekehrt zwingend geboten, dass er auch das will,
was er muss – und sei es sterben. Das hat aber die nahezu paradoxe Konsequenz, dass
der Mensch nun – aus Gründen seiner begrifflichen Bestimmung – wollen muss.
Konkret heißt das, dass dem Menschen in Fällen, in denen es ihm nicht gelinge,
sich die »Naturkräfte« zu unterwerfen oder sich zumindest vor ihren Wirkungen zu
schützen, nur übrigbleibe, »eine Gewalt, die er der That nach erleiden muß, dem
Begr if f na ch zu ve r nic h te n «. Das wiederum bedeutet aber nichts anderes, als
sich einer solchen Gewalt aus moralischen Gründen »freywillig [zu] unterwerfen«
(NA 21, 39). Bei dieser Unterwerfung kann man zwei Modi unterscheiden: Man
kann sich über die Macht, der man sich unterwirft, moralisch erheben und sich
damit in moralischer Hinsicht einer höheren Macht opfern als in physischer (Proto-
typ ist hier das Märtyrerdrama); man kann aber auch die Moralität der physischen
Macht anerkennen, wie es prototypisch in der für Aristoteles prototypischsten Tra-
gödie überhaupt geschieht: im Sophokleischen ›Ödipus‹ (mit der Besonderheit, dass
hier der Protagonist die Macht, die sich gegen ihn wendet, selbst verkörpert).
Damit ist nun aber bei Schiller in annähernd jeder Hinsicht und auf eindeutigste
Weise ein Maximum des Pathetischen formuliert: Es geht um die gerade angesichts
von schwerstem Leid, etwa dem Tod, aufscheinende Möglichkeit der Freiheit (die
letztlich wenig anderes bedeutet als eine höhere Form der Resignation).7 Damit
entwirft Schiller ein Spannungsfeld zwischen zwei anthropologischen Konzep-
ten maximaler Valenz – zwischen dem, was den Menschen als sinnliches Wesen
am gewaltsamsten determiniert, und dem, was ihn als sittliches Wesen ausmacht:
die Möglichkeit (und der Auftrag) der Freiheit. Eine schärfere Dichotomie ist im
anthropologischen Horizont der (Spät-)Aufklärung kaum denkbar.
Was es, in der Schiller’schen Theorie, hingegen nicht gibt, ist ein Spielraum, ein
Raum des Ambivalenten, des Ambigen, des Uneindeutigen und Unklaren. Wenn
es Unklarheiten gibt, dann aus Gründen des Theoriedesigns: weil etwa der Kalkül
des Erhabenen nicht ohne größeren Aufwand mit demjenigen des Schönen (wie ihn
etwa die Briefe ›Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen‹ entwerfen) syste-
matisch vermittelbar ist.8 Und zwar führt die Schiller’sche Argumentationstechnik,
mit der zur Erklärung von Gegensatzpaaren immer wieder neue Gegensatzpaare
angeführt werden, im Effekt nicht unbedingt zu terminologischer Klarheit und
7 Bei Schiller sind die Affekte also bloße »Kontrastfolie für eine autonom agierende
Vernunft«, und nur dadurch »legitimiert sich auch die Intensität ihrer Darstellung«
(Ulrich Port, »In unbegriffener Leidenschaft empört«? Zur Diskursivierung der [tragi-
schen] Affekte in Kleists ›Penthesilea‹. In: KJb 2002, 94–108, hier 96).
8 Vgl. dazu Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹
der Kunst, Tübingen und Basel 2000, S. 124–132; vgl. auch Zelle, ›Über das Erhabene‹ (wie
Anm. 3), S. 484f.
134
Über Grenzen
Distinktion;9 intendiert sind aber genau diese. Was es bei Schiller nicht gibt, ist
ein Reflex der Bedrohung des Pathetisch-Erhabenen durch seine Nähe zum Lächer-
lichen, Erbärmlichen. Allerdings: So klar, wie sich Schillers dramaturgische Theorie
gibt, ist nicht nur, implizit, diese selbst nicht, sondern vor allem auch nicht seine
dramatische Praxis. Vielmehr begegnen dort etwa Figuren, denen keine Gelegenheit
gegeben wird, Erhabenheit zu zeigen (wie Wallenstein), oder die zwar womöglich
erhaben agieren, aber nicht aufgrund des eigenen Freiheitswillens, sondern aus
einem starken – und katholischen – Glauben heraus (wie Maria Stuart). Dass man
schließlich etwas böswillig sagen könnte, dass der aus technischen Gründen für die
›Braut von Messina‹ reaktivierte Chor in seiner plakativen Sentenzhaftigkeit schon
das Ridiküle wenigstens touchiert, soll aber hier nicht das Thema sein.
I.
Der kritische Dialog, den Kleist in der Praxis seiner Dramen mit Schillers Konzept
der Erhabenheit führt, nimmt seinen Anfang mit ›Die Familie Schroffenstein‹. Dass
hier auf Schillers ›Wallenstein‹ rekurriert wird, signalisiert, so könnte man salopp
sagen, schon die hintere Hälfte des titelgebenden Familiennamens, und es ist von
der Forschung ja auch schon mehrfach in seinen Filiationen nachgewiesen worden.10
Zuletzt hat Anne Fleig gezeigt, dass vor allem die hypertextuelle Metamorphose
von Max und Thekla (sowie Romeo und Julia) in Ottokar und Agnes, die man
im (weiteren) Sinne Gérard Genettes durchaus eine Parodie nennen könnte,11 den
Idealismus und das Tragische der Schiller’schen Tragödie nicht unbeschadet lässt.12
Während Max und Thekla, deren Liebe in Schillers Drama explizit als Repräsen-
9 Vgl. Carsten Zelle, ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von
Briefen‹ (1795). In: Luserke-Jaqui (Hg.), Schiller-Handbuch (wie Anm. 3), S. 409–445,
hier S. 426f.
10 Vgl. Claudia Benthien, Schiller. In: KHb, 219–227, hier 222, und die dort angegebene
Literatur. – Auf die »creative affinities between Schiller and Kleist« hat bereits Donald H.
Crosby hingewiesen. In einer frühen Phase zeigen sich ihm zufolge bei Kleist, bezogen
auf Schiller, vor allem »similarities both in diction and in choice of themes«; die Liebe
zwischen Ottokar und Agnes gilt Crosby dabei als eine der zwei »thematic reminiscences«
an Schillers ›Wallenstein‹ (Donald H. Crosby, The Creative Kinship of Schiller and Kleist.
In: Monatshefte 53 [1961], S. 255–264, hier S. 255f.). Ob man allerdings »die Zitat-Präsenz
des Schiller’schen Vorbilds als so massiv« einschätzen muss, »daß man den Autor gele-
gentlich in einer wahren Zwangsfixierung befangen glaubt«, ist dann doch fraglich; von
einem »klaren Fall einer inneren Abhängigkeit« kann man jedoch wohl sprechen – wenn
man dies als intertextuellen und nicht als interpersonellen Befund versteht (Hartmut
Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schiller-Rezeption
bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988, 198–218, hier 204).
11 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen
von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, S. 36.
12 Vgl. Anne Fleig, Eine Tragödie zum Totlachen? Shakespeare, Schiller, Kleist. In: KJb 2017,
86–97, besonders 94–97.
135
Volker C. Dörr
tation des Schönen eingesetzt wird, freiwillig in den Tod gehen und sich dabei die
Unschuld ihrer Liebe bewahren, erscheinen Ottokar und Agnes in das »schuldhafte
Geschehen« verstrickt.13 Mit Johannes Endres gesprochen, werden Ottokar und
Agnes, »anders als Max und Thekla, die noch im physischen Untergang eine Gegen-
welt zur Sphäre der Väter behaupten können, […] selbst zu Vollstreckern, nicht nur
zu Opfern der Katastrophe«.14 Das Ende des ›Schroffenstein‹-Dramas nehme dabei
eine ›groteske Wendung‹: eben in die Tragödie »zum Totlachen«, wie Anne Fleig –
Kleist zitierend, wie er Schillers ›Fiesco‹ (vgl. NA 4, 83) zitiert – formuliert.15
Nun bietet der Text von ›Wallensteins Tod‹ in der Gestalt von Theklas Monolog
tatsächlich an, den Tod Max’ als Untergang, als Sterben des Schönen zu deuten.
Das kann der Idealismus wohl noch bewältigen;16 denn Schillers Ästhetik reflektiert
den Tod des Schönen durchaus mit, theoretisch etwa in der Kategorie der Elegie,
die die (unaufhebbare) Differenz zwischen Realität und Ideal beklagt;17 und in die-
sem Sinne ist die wahrnehmbare Nähe von Theklas Monolog zu Schillers Gedicht
›Nänie‹ (»Auch das Schöne muss sterben! […]«, NA 2 I, 326) nicht zufällig, sondern
gewissermaßen strukturell präformiert.
Die Verhältnisse ändern sich, wenn die für das Trauerspiel einschlägigere Kate-
gorie des Erhabenen in den Blick genommen wird. Die Darstellung des Todes des
Schönen ist selbst nicht schön, sondern je nach Medium elegisch beziehungsweise
eben tragisch, und die Differenz zwischen Sein und Sollen, zwischen Realität und
Ideal, die beim Schönen zusammenfällt, verbindet die Elegie schon kategoriell
mit dem Erhabenen. Zwar verfügt der Text der ›Wallenstein‹-Dramentrilogie über
»keine überzeugende Repräsentation des Erhabenen im Drama selbst«:18 allein weil
wir weder im Falle von Max noch von Wallenstein sehen, wie sie sich in die töd-
liche Gewalt, die sie erleiden müssen, fügen. Und auch, dass Max seinen Tod und
den seiner Pappenheimer der »Rachegöttin« (NA 8, 284) weiht, spricht in vielfacher
Hinsicht eher nicht dafür, dass hier Erhabenheit performiert würde.
136
Über Grenzen
137
Volker C. Dörr
der Maskerade nicht täuschen lassen kann: »Agnes Kleid / Nicht Agnes!« (DKV I,
Vs. 2647f.) Die, diesmal nicht kontrafaktische, Symmetrie kann komplementär bei
Ottokar nur nachvollzogen werden, indem Johann ebenfalls »die Leiche betaste[t]«
(DKV I, vor Vs. 2649). Der Ausruf, der sein Begreifen begleitet und die Identität
der Leiche feststellt und festschreibt: »Ah! Der Skorpion! / S’ist Ottokar!« (DKV I,
Vs. 2649f.), verführt doch sehr dazu, hier vom Wirken eines transzendentalen Signi-
fikanten23 zu sprechen.
Anders als beim vorbildlichen Paar Max und Thekla kann der Tod Ottokars und
Agnes’ beim besten Willen nicht als selbstbestimmt gelten; »Vollstrecker[ ] […] der
Katastrophe«24 sind sie nicht qua freier Entscheidung (das wäre durchaus pathetisch-
erhaben), und sie haben auch beide keine Chance, sich in die Unvermeidlichkeit
ihres Todes erhaben zu fügen – es sei denn, man wäre geneigt, in Ottokars letzte
Worte »Es ist – / Gelungen« (DKV I, Vs. 2257f.), die immerhin eine Korrespondenz
von Sein und Sollen – damit allerdings doch eher das Strukturmodell der Schönheit
als der Erhabenheit – signalisieren, auch Spuren eines Erhabenen hineinzulesen.
Offenbar fügt Ottokar sich in sein Schicksal und die Gewalt, die er erleidet. Da
aber überhaupt nicht klar wird, was hier »gelungen« sein soll, kann von einer Ver-
nichtung der Gewalt »dem Begriff nach« (NA 21, 39) wohl kaum die Rede sein.
Zudem, und auch das schwächt das Moment der Erhabenheit, will er Agnes davon
abhalten, sich (ebenfalls) zu fügen: »Flieh!« (DKV I, Vs. 2558) Agnes macht keine
Anstalten zu fliehen, aber ihr letztes Wort ist exakt so universell anschlussfähig wie
später dasjenige der Alkmene, was schlicht an der Übereinstimmung des Wortlauts
liegt. Es kann bedeuten, dass Agnes sich der vernichtenden Gewalt freiwillig unter-
wirft. Es kann aber auch alles andere bedeuten.25
23 Indem der Phallus die Bedingung der (Un-)Möglichkeit der Signifikation bezeichnet,
kann er im Anschluss an Lacan als transzendentaler Signifikant bezeichnet werden; vgl.
etwa Hélène Cixous, Geschlecht oder Kopf? In: Dies., Die unendliche Zirkulation des
Begehrens, aus dem Französischen von Eva Meyer und Jutta Kranz, Berlin 1977, S. 15–45,
hier S. 24.
24 Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt (wie Anm. 1), S. 110.
25 Tatsächlich fehlt Kleists Drama damit »das wirkungsästhetische Telos von Schillers Idealis-
mus, nämlich der mit Kunstmitteln herzustellende Zustand der ›Freiheit des Gemüts in
dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte‹« (Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsy-
chologie, wie Anm. 10, S. 211; das Zitat findet sich in der Vorrede der ›Braut von Messina‹,
›Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie‹, NA 10, 8). Dass Kleist jenes aber »nicht
nachvollziehen kann« und sein Drama von Schiller deswegen lediglich »Sentenzen, Motive,
Metaphern und Techniken« übernehme (Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsy-
chologie, wie Anm. 10, S. 211 [Hervorhebung V.D.]), kann man auch bestreiten: Womöglich
wollte Kleist »Schillers Idealismus« nicht »nachvollziehen«. Wenn die »aufgesetzte[ ] – und
dabei keineswegs parodierte[ ] – Rhetorik« ein »Zeichen dafür [ist], wie unfrei der junge
Autor hier der Vorgabe Schillers folgt« (Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsycho-
logie, wie Anm. 10, S. 205), bleibt doch unklar, warum »der junge Autor« nicht auch der
Schiller’schen Freiheitsideologie »unfrei« gefolgt ist. – Vgl. auch Endres, Das ›depotenzierte‹
Subjekt (wie Anm. 1), S. 102: »Kleist nähert sich, von den Figuren, Sentenzen, Motiven
und Metaphern der Schillerschen Dramen herkommend, allmählich auch deren ästhetischer
138
Über Grenzen
Wo bei Schiller – mindestens in der Theorie – die Klarheit der freien Ent-
scheidung die Eindeutigkeit der Hierarchie stützt: wer sich der Gewalt freiwillig
unterwirft, zeigt die Superiorität der Freiheit über die Gewalt, da wird bei Kleist das
Tragische durch die Groteske überschritten.26 Im Modus der Groteske überschritten
wird aber auch die Grenze zwischen Pathetisch-Erhabenem und Lächerlichem, denn
die Gelegenheit zum Pathos ist günstig – sie wird nur weder vom Text noch von den
Figuren genutzt. Diese Grenzüberschreitung ist im Wort »Totlachen« schon kodi-
fiziert: weil es beides, das schwere Leid und das Lachhafte, lexikalisch verschränkt;27
nebenbei zeigt es, wie das englische pathetic, ein Maß an Klugheit, das schon das
deutsche Lexikon birgt.
II.
Kleists ›Penthesilea‹ ist ebenfalls häufiger mit Schiller in Verbindung gebracht worden;
konkret ist dessen im Untertitel so genannte ›romantische Tragödie‹ ›Die Jungfrau
von Orleans‹, die Kleist »als Herausforderung empfunden« habe, »in verschiedener
Hinsicht […] als Vorläuferin der ›Penthesilea‹« gedeutet worden,28 partiell allerdings
gewissermaßen ex negativo: Die Parallelen der Protagonistinnen, die Donald Crosby
zuerst aufgezeigt hat, liegen darin, dass die beiden »literary half sisters« als »maiden
warriors« in heiliger Mission unterwegs sind; bei beiden führen zudem »[d]isobe-
dience to the divine command and obedience to the laws of the heart« zum Unter-
gang; wo allerdings zuletzt Johanna zur ewigen Glückseligkeit hinaufsteige, steige
Penthesilea in die Tiefen ihrer Existenz hinab.29 Diese entscheidende Differenz lässt
sich auch auf das Moment der Erhabenheit beziehen, wie schon Hartmut Reinhardt
angedeutet30 und Walter Hinderer ausgeführt hat: Schillers Johanna vollziehe in
dem bewussten Entschluss, sich in den »Dienst der nationalen Sache« zu stellen,
der ihren »blinde[n] Gehorsam« verdränge, einen »›erhabene[n]‹ Akt«; 31 an dessen
Stelle stehe bei Kleist der Wahnsinn der Protagonistin,32 der mit dem Moment der
Erhabenheit schlechterdings unvereinbar ist.
Dabei kann es aber zunächst so scheinen, als würde zwar Erhabenheit nicht
eigentlich als faktisch vorgeführt, wohl aber als möglich vorgestellt, wenn
Signatur – seine Erhabenheits-Kritik mag dafür als Beispiel dienen. […] Die Krise des idea-
listischen Menschenbildes äußert sich so auch als Krise der idealistischen Kunstform.«
26 Vgl. Fleig, Eine Tragödie zum Totlachen? (wie Anm. 12), S. 95.
27 Vgl. auch Janz, Erhaben und lächerlich – eine denkwürdige Allianz (wie Anm. 1), S. 17.
28 Walter Hinderer, »Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz
getroffen«. Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ und Kleists ›Penthesilea‹. In: Beiträge zur
Kleist-Forschung 2003, S. 45–68, hier S. 46.
29 Vgl. Crosby, The Creative Kinship (wie Anm. 10), S. 258f., Zitate S. 258.
30 Siehe Anm. 34.
31 Hinderer, »Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen«
(wie Anm. 28), S. 55f.
32 Vgl. Hinderer, »Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz
getroffen« (wie Anm. 28), S. 65.
139
Volker C. Dörr
enthesilea zu einem Zeitpunkt, als sie Herrin ihrer Sinne wenigstens noch zu sein
P
scheint, folgende Sentenz formuliert, die der notorischen Eignung Schiller’scher
Sätze fürs Poesiealbum im Übrigen wenig nachsteht und deswegen vielleicht unter
Parodie-Verdacht gestellt werden sollte:33 »Der Mensch kann groß, ein Held, im
Leiden sein,/ Doch göttlich ist er, wenn er selig ist!« (DKV II, Vs. 1696f.)34 Die hier
angesprochene ›Seligkeit‹ wird allerdings, wie man weiß, vom Dramentext nicht
einmal in Ansätzen vorgeführt. Vielmehr stiftet dieser den Verdacht, das Moment
des Seligen realisiere sich womöglich im Bereich des Sexuellen. Dann wäre aber der
Bezug auf das Moment der Freiheit bereits hier radikal durchgestrichen.
Aber die Dinge gestalten sich, eigentlich erfreulicherweise, noch komplizierter.
Man wird nämlich nicht behaupten können, dass Kleists Protagonistin vom Verdacht
der Erhabenheit zweifelsfrei freizusprechen wäre.35 Wenn sie, nachdem sie Achill auf
wenig menschenwürdige Weise zum Tode gebracht hat, »mit einer Art von Verzückung«
(DKV II, vor Vs. 2864) verkündet, sie fühle sich »Ganz reif zum Tod’«, und fortfährt:
»Doch gleich des festen Glaubens könnt’ ich sterben«, dann klingt darin noch ein fer-
nes Echo von Schillers Jungfrau (wie im Übrigen auch von seiner Maria Stuart) nach
– freilich nur so lange, bis unmittelbar darauf der vom Wort »Glauben« abhängige
Objektsatz folgt: »Daß ich mir den Peliden überwand« (DKV II, Vs. 2865–2868).
Dies revidiert das echohaft Erhabene gleich doppelt: zum einen, indem der Glauben
auf den Boden der Immanenz zurückgeholt, zum anderen, indem das Moment der
33 Vgl. dazu Endres, Das ›depotenzierte‹ Subjekt (wie Anm. 1), S. 95: »Damit ist ein Ton
angeschlagen, der in Kleists Auseinandersetzungen mit Schillers Erhabenheits-Ästhetik
dominiert: Es ist der Ton eines zugleich imitierenden und distanzierenden Zitierens.«
Endres deutet »Kleists Krise des ›Erhabenen‹« (S. 91), die er weniger in ihren dramatur-
gischen als ihren diskursiven Manifestationen betrachtet, als Ausdruck der Tatsache, dass
Kleist sich zwar »von Schillers vorbildlichen Dramenhelden geradezu magisch angezogen
[fühle]«, aber »deren Größenmaßstab anthropologisch nicht mehr verifizieren« (S. 95)
könne.
34 Vgl. dazu Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie (wie Anm. 10), S. 215:
»Die Wendung gegen Schillers Ästhetik des Erhabenen, der die ›Jungfrau von Orleans‹
folgt, ist nur indirekt als sentimentalischer Reflex geführt.« – Helmut Koopmann hin-
gegen sieht in ›Penthesilea‹ das »zweifellos schillernächste Stück Kleists«, weil Kleist
hier auf eine überwölbende Theodizee verzichte; sonst zeige sich bei Kleist, anders als
bei Schiller seit dem ›Wallenstein‹, der »Glaube an die restitutive Kraft der Geschichte«.
»Kleist überträgt das, was für Schiller im Bereich der Poetischen Wirklichkeit ist, auf
die wirkliche Wirklichkeit […].« (Helmut Koopmann, Schiller und Kleist. In: Aurora 50
(1990), S. 127–143, hier S. 143, 139)
35 Bernhard Greiner sieht in Penthesileas »Sich-Fassen angesichts ihrer Tat« ein Moment des
Erhabenen; dabei fasst er das Erhabene in der Tragödie aber als Problem der Kommen-
surabilität auf, denkt es also analog zum Mathematisch-Erhabenen in der Natur – was
wiederum bedeutet, das Moment des Pathetischen gerade durchzustreichen; dann geht
es nicht darum, dass der Zuschauer Zeuge der Überwindung von Leid in Freiheit wird,
sondern dass er die gefasste Einhegung des womöglich zunächst Unfasslichen beobachtet.
Greiner entwickelt seine Lesart des Konzepts im Anschluss an Kleists Aufsatz ›Empfin-
dungen vor Friedrichs Seelandschaft‹, der allerdings eher an Kant anschließt als an Schiller
(vgl. Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen, wie Anm. 8, S. 16–36, Zitat S. 150).
140
Über Grenzen
36 Hinderer, »Vom giftigsten der Pfeile Amors sei, / heißt es, ihr jugendliches Herz getroffen«
(wie Anm. 28), S. 50.
37 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. In: Ders., Werke, Bd. 2, hg. von Gerd
Hillen, München 1971, S. 205–347, hier S. 219.
38 Helga Gallas zufolge ordnet sich Penthesilea in ihrem Begehren nach Achill, das zum Tode
führt, einem Gesetz unter. »Dieses Gesetz ist jedoch nicht Ausdruck einer Ich-Autonomie,
es ist eher ein Gesetz des Unbewußten: Penthesilea entscheidet sich für etwas, über das sie
keine Verfügung hat.« Damit sei Penthesilea »eher der Prototyp eines nicht-autonomen
Wesens« (Helga Gallas, Kleist. Gesetz, Begehren, Sexualität. Zwischen symbolischer und
imaginärer Identifizierung, Frankfurt a. M. 2005, S. 208, 210). Dieses Moment verhält
sich also zum Erhabenen so wie die Anmut zur Würde – mit dem Unterschied, dass ein
bewusstlos Erhabenes ein Paradoxon ist.
141
Volker C. Dörr
Version, mit einem einzigen Wort schon alles gesagt ist: Phallus.39 Der aber bedeutet
den Willen nicht nur zur Macht, sondern auch zur unbedingten Vereindeutigung.40
Diese gelingt der englischen Königin noch, indem sie den personifizierten Verdacht
ihrer Illegitimität (»Der Thron von England ist durch einen Bastard / Entweiht«,
NA 9, 93) enthaupten, d.h. kastrieren lässt.
Im Falle von Kleists Königin sind alle Signifikate ins Gleiten geraten und alle
Differenzen sind Objekte des Versehens, das nicht nur zwischen »Küsse[n]« und
»Bisse[n]« nicht zu unterscheiden vermag (DKV II, Vs. 2981),41 sondern auch nicht
zwischen Mann und Frau sowie Mensch und Tier.42 Die kleine Tür des Zweifels
an einer dichotomischen Organisierbarkeit der Welt, die Schillers Dramenpraxis
gegenüber seiner Theorie öffnet, wird bei Kleist weit aufgestoßen.43
39 Vgl. Jacques Lacan, Die Bedeutung des Phallus. In: Ders., Schriften II, ausgewählt und
hg. von Norbert Haas, aus dem Französischen von Chantal Creusot u. a., 3., korrigierte
Aufl., Weinheim und Berlin 1991, S. 119–132.
40 Vgl. Cixous, Geschlecht oder Kopf? (wie Anm. 23).
41 Martin Swales liest Penthesileas Begründung für ihr »Versehen« zwischen Küssen und
Bissen – »wer recht von Herzen liebt, / Kann schon das Eine für das Andre greifen«
(DKV II, Vs. 2981–2983) – als Verankerung in einem Banalen, »das auch monströs ist«; die
Szene deutet er als »Parodie der Anagnorisis der Tragödie nach Aristotelischem Muster«,
›Penthesilea‹ insgesamt als Mittel zur »Dekonstruktion der hohen Tragödie« (Martin
Swales, Ontologische Farce? Über Kleists Wagnis. In: Brittnacher und Koebner [Hg.],
Vom Erhabenen und vom Komischen, wie Anm. 1, S. 59–63, hier S. 61).
42 Werner Frick spricht im Blick auf die »durchgängige Tiermetaphorik in den Charakte-
risierungen der Liebenden« von einer »Somatisierung und regressiven Entsublimierung
von Sprache und Bewußtsein« und konstatiert »die provozierende Umkehrung, nein: die
dionysische Revision, asymmetrischer Geschlechter-Definitionen und kultureller Tabus«
(Werner Frick, »Ein echter Vorfechter für die Nachwelt.« Kleists agonale Modernität – im
Spiegel der Antike. In: KJb 1995, 44–96, hier 75). Gabriele Brandstetter macht darauf auf-
merksam, dass zur Bezeichnung Penthesileas neben den »Bilder[n] und Namen aus dem
Arsenal der Tierwelt« auch solche »mythische[r] Doppelwesen aufgeboten werden«, die
»jene Sphäre des ›Dritten‹« markieren, die es Kleists Text zufolge im Denken der Griechen
›nicht gibt‹«. »Die Lesung von Penthesileas fremder Erscheinung folgt einer Rhetorik der
Hybridisierung, ja der Bastardisierung der Amazone […].« Brandstetter deutet die ›Pen-
thesilea‹ insgesamt als »Überschreitung der Tragödie und ihrer Formgesetze« in Richtung
auf das (bis dahin) Undarstellbare: das Ekelhafte und Verabscheuungswürdige (Gabriele
Brandstetter, »Eine Tragödie von der Brust heruntergehustet«. Darstellungen von Kathar-
sis in Kleists ›Penthesilea‹. In: Tim Mehigan [Hg.], Heinrich von Kleist und die Aufklä-
rung, Rochester, NY, 2000, S. 186–210, hier S. 189, 187).
43 Joachim Pfeiffer zufolge »›dekonstruiert‹« Kleist die »binäre Konstruktion der Welt«: »Die
von Kleist konstatierte Mehrdeutigkeit der Welt bezieht sich nicht nur auf den morali-
schen und erkenntnistheoretischen Bereich, sondern auch auf den der Geschlechtsidenti-
tät.« Damit gestalte Kleist »literarisch, was die Queer Studies theoretisch-konzeptionell
formulieren: die Infragestellung und Denaturalisierung fester Identitätskonzepte, die Sub-
version gesellschaftlicher Symbolisierungspraktiken und geschlechtlicher Zuschreibungen
[…].« Pfeiffer bettet seine Lesart in eine biographische Deutung ein: Kleists eigene »Aus-
geschlossenheit aus der symbolischen Ordnung mündet nicht in den Versuch literarischer
Emanzipation, sondern in die blasphemische Überbietung und Zerstörung der Realität.
142
Über Grenzen
Am Ende aber scheint die Tür des Zweifels dann doch wieder geschlossen zu
werden: durch einen anscheinend erhabenen Akt, in dem Penthesilea sich selbst ent-
leibt, indem sie aus dem eigenen »Busen« ein »vernichtendes Gefühl hervor[gräbt]«
und es »zu einem Dolch« zuspitzt, dem sie die Brust reicht (DKV II, Vs. 3025–
3033). Das sieht zunächst zum einen nach einer phallischen Vereindeutigung aus,
mit der Penthesilea (männliche) Verfügungsgewalt über sich selbst gewänne; zum
anderen scheint eine, mit Ulrich Port gesprochen, »Souveränität des Willens in der
intentionalen Verfügung über die Affekte« am Werke, die durchaus Merkmale des
(Pathetisch-)Erhabenen aufweise.44 Tatsächlich führt Schiller die Selbstentleibung
aus moralischen Gründen als Beispiel des Pathetischerhabenen auf.45
Um so gelesen werden zu müssen, müsste die Selbsttötung aber eindeutig als
Resultat einer Vernunftleistung charakterisiert werden können – und davon kann
keine Rede sein. Denn mindestens genauso gut kann man sagen, dass Penthesilea
sich genau dem »vernichtende[n] Gefühl« ausliefert, dem sie doch bereits ausgeliefert
ist. Dass die Beschreibung ihrer Leidenschaft hier recht kontrolliert wirkt, heißt
ja nicht, dass diese selbst es ist. (Und hätte Kleist seine Penthesilea als pathetisch-
erhaben charakterisieren wollen, hätte er sie einen entsprechenden Monolog halten
lassen können, ja wohl müssen – statt in seinem ›gegenklassischen‹ Text auszustellen,
wie »[d]as ›Es‹ […] die Stelle besetzt, die bei Schiller eine Bastion des autonomen
Ich ist«.46) Zudem wird auf den zweiten Blick die dauerhafte Verwirrung deutlich,
Durch die ästhetische Subversion des Realen eröffnet sich dem Schreibenden eine neue
Freiheit: durch Rituale der Zerstörung entmächtigt er […] jene Realität, aus der er ausge-
schlossen ist. Das Subjekt rettet sich nicht durch Integration, sondern zelebriert literarisch
die Obdachlosigkeit, zu der es verdammt wurde.« (Joachim Pfeiffer, Grenzüberschrei-
tungen. Der Geschlechterdiskurs in Kleists ›Penthesilea‹. In: Recherches Germaniques 35
[2005], S. 23–35, hier S. 30f., 32) Zu ergänzen bleibt, im Blick auf den von Pfeiffer nicht
betrachteten Schiller: Die »ästhetische Subversion« arbeitet sich nicht nur am »Realen« ab,
sondern auch am Ideal – sonst wäre auch nicht klar, worin das Moment des Blasphemi-
schen bestehen könnte.
44 Vgl. Port, »In unbegriffener Leidenschaft empört«? (wie Anm. 7), 102f., hier 103; Port
zufolge werde hier das »idealistische Handlungsmodell Schillers« noch überboten (102).
45 »Wohl ihm [dem Menschen] also, wenn er gelernt hat zu ertragen, was er nicht ändern
kann und Preiß zu geben mit Würde, was er nicht retten kann! Fälle können eintreten,
wo das Schicksal alle Aussenwerke ersteigt, auf die er seine Sicherheit gründete, und ihm
nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freyheit der Geister zu flüchten – – wo
es kein andres Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu wollen – – und kein
andres Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch
eine freye Aufhebung alles sinnlichen Interesse ehe noch eine physische Macht es thut,
sich moralisch zu entleiben.« (NA 21, 51)
46 Volker Nölle, Eine ›gegenklassische‹ Verfahrensweise. Kleists ›Penthesilea‹ und Schillers
›Jungfrau von Orleans‹. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1999, S. 158–174, hier S. 169.
Nölle operiert im Übrigen im Blick auf Schiller nicht explizit mit der Kategorie des
(Pathetisch-)Erhabenen. – Den Hinweis auf das Moment des Monologverzichts ver-
danke ich der Diskussion des Vortrags, Claudia Benthien denjenigen auf Nölles Auf-
satz. – Benthien selbst deutet den Monologverzicht als Mittel der »mentalitätsgeschicht
lichen Situierung« der Figur der Penthesilea in einer Schuldkultur, die (noch) über keine
143
Volker C. Dörr
in der die Kategorien, diesmal die geschlechtlichen, verbleiben: denn der Phallus
ist, indem er aus »Gefühl« (DKV II, Vs. 2027) fabriziert ist, eindeutig als weib-
lich markiert, und die Tötung besteht auch nicht vordringlich in der männlichen
(Selbst-)Penetration – vielmehr »reich[t]« (DKV II, Vs. 3033) Penthesilea dem phal-
lischen Instrument quasi-mütterlich die eine Brust und betont damit das Moment
geschlechtlicher Uneindeutigkeit, unter dem sie angetreten ist. Die scheinbar
erhabene Selbstentleibung trägt Züge einer Travestie.
III.
Auch in ›Prinz Friedrich von Homburg‹ schließlich finden sich Rekurse auf S chillers
Konzept des (Pathetisch-)Erhabenen,47 die alles bedeuten, bloß nicht dessen exem-
plarische Umsetzung – auch wenn nahezu wörtliche Anklänge zunächst genau das
erwartbar erscheinen lassen. Dass beim Todesurteil gegen den Titelhelden aufgrund
von dessen (wiederholter) Insubordination alles mit rechten Dingen zugeht, spricht
dieser selbst gegenüber Hohenzollern aus: »Das Kriegsrecht mußte auf den Tod
erkennen; / So lautet das Gesetz nach dem es richtet.« (DKV II, Vs. 870f.) Mit seiner
Einschätzung, eher »öffnet er [der Kurfürst] die eigne Brust sich, / Und sprützt sein
Blut selbst tropfenweis in Staub« (DKV II, Vs. 875f.), er verwandle sich also eher
in eine (›physiologische‹48) Pelikanmutter, als dass er das rechtmäßige Todesurteil
gegen den Prinzen vollstrecken lasse, liegt der Prinz, wie man weiß, nicht ganz rich-
tig. Natalie wird ihn deswegen geradezu explizit zu einem erhabenen Akt auffordern
und ihm das »Bild eines ästhetischen Heldentums nahebring[en]«:49
144
Über Grenzen
Mit ihrer Äußerung, die zwischen Vorhersage und Vorschrift changiert, erweist sich
Natalie geradezu als gelehrige Schiller-Leserin, und sie scheint doch die Bühne zu
bereiten für die höhere Resignation, die Erhabenheit im Sinne Schillers fordert:
als ein Sieg im Tod, den eine Unterwerfung des »Tapfre[n]« bedeutet – gleich-
viel, was mit »ihm« eigentlich gemeint ist: der »Spruch«, das »Gesetz« oder doch
der »Kurfürst« selbst. Und in der Tat scheint sich dem Prinzen eine prototypische
Gelegenheit zu bieten, sich in der Unterwerfung in Freiheit zu setzen, indem er
das Angebot der kurfürstlichen »Gnade« (DKV II, Vs. 1385) mit der Anerkenntnis
seiner »bedeutende[n]« Schuld zurückweist (DKV II, Vs. 1382). Er ist also bereit,
die legitime Gewalt, die ihn zu vernichten droht, »dem Begriff nach zu ver -
n ich ten « (NA 21, 39), indem er sich ihr fügt (statt sich der gnädigen Willkür50 zu
überantworten).51
Letztlich aber beweist der Kurfürst seine Macht, das Begehren Homburgs stillzu-
stellen, indem er ihm seine Nichte zuspricht – weil sich ihm damit die Gelegenheit
bietet, einen Vernichtungskrieg zu führen, der den Gegner »zu Staub […] malmt«
(DKV II, Vs. 1789). Damit ist es, figuriert im Kurfürsten, das phallische Gesetz selbst,
das nicht nur das Begehren des Prinzen stillstellt, sondern auch dessen Erhabenheit
verunmöglicht: An die Stelle erhabener Resignation ins Gesetz tritt die »Ohnmacht«
des Prinzen (DKV II, vor Vs. 1852), also letztlich wiederum eine Kastration, denn
Ohnmacht ist in mehrfachem Sinne weiblich konnotiert – genau wie übrigens die
›Anmut‹, mit der »den Dualismus von ›Pflicht‹ und ›Neigung‹ zu überwinden«,52
Natalie Homburg verpflichtet. Der Prinz von Homburg endet als schöne Seele.53
145
Volker C. Dörr
Dass Erhabenheit im hier verhandelten Sinne letztlich darin besteht, die Gewalt
dadurch »dem Beg rif f n ac h z u ve rn ic h te n «, dass man sie gegen andere wen-
det, dass jene also eine Qualität der Macht ist und nicht des ihr Unterworfenen,
hatte bereits Natalie im Gespräch mit dem Kurfürsten deutlich gemacht, womit sie
sich allerdings von Schillers Konzept verabschiedet: Den Prinzen
Erst […] kränzen, dann enthaupten,
[…]
Das wäre so erhaben, lieber Ohm,
Daß man es fast unmenschlich nennen könnte […]. (DKV II, Vs. 1107–1110)
Dass damit die eigentliche Erhabenheit bezeichnet ist, verdeutlicht der Dramentext
auch typographisch, indem Natalie den Kurfürsten in der vorgestellten Vollstreckung
des Todesurteils in Sperrdruck als »Erhaben« charakterisiert (DKV II, Vs. 1372). In
die Gewalt sich zu fügen, mag pathetischerhaben sein; eigentlich erhaben aber ist
nicht dies, sondern die Vollstreckung der Gewalt – und damit die Gewalt selbst.
Damit kehrt Kleist die Verschiebung vom Objekt zum Subjekt, die sich in
Schillers Theorie nach Kantischem Vorbild vollzieht, um und wendet sich wieder
dem erhabenen Objekt zu, das damit zum eigentlichen Subjekt wird; dabei wird
das Moment der Rezeptionsästhetik / -ethik durchgestrichen, weil die Reaktion des
anschauenden Subjekts eigentlich nicht mehr interessiert. Intertextuell und kon-
zeptuell handelt es sich zugleich um eine Bewegung von Schiller zurück zu Burke, der
in ›A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beauti-
ful‹ (1757) unter anderem eine Erhabenheit schreckenerregender Macht konzipiert.54
Dass die Erhabenheit der Macht die Freiheit des Einzelnen nicht einmal igno-
riert, sondern sie schlechterdings annihiliert, scheint auch Homburg klar zu sein,
der mit seiner Fügung in die Gewalt des Gesetzes nicht etwa seine Freiheit beweisen
will; sein »unbeugsamer Wille« (DKV II, Vs. 1749) ist vielmehr:
Ich will das heilige Gesetz des Kriegs,
Das ich verletzt’ […],
Durch einen freien Tod verherrlichen! (DKV II, Vs. 1750–1752)
Dieses »Gesetz des Kriegs« scheint aber ein anderes zu sein als das Recht, auf das Natalie
sich bezog; und warum es sich lohnt, »das Gesetz, das höchste, oberste / Das wirken soll«
(DKV II, Vs. 1570f.), zu verherrlichen, erklärt der Kurfürst im Gespräch mit Kottwitz:
[…] das Gesetz will ich,
Die Mutter meiner Krone, aufrecht halten,
Die ein Geschlecht von Siegen mir erzeugt. (DKV II, Vs. 1567–1571)
In schönster Hellsichtigkeit erscheinen hier Gesetz, Macht, der dynastisch-
genealogische Zusammenhang und der Krieg untrennbar verschränkt. (Noch sin-
niger wäre es freilich, wenn das Gesetz als ›Vater der Krone‹ apostrophiert würde,
womit auch dessen ›Erzeugen‹ besser zusammenstimmte.) Und auch wenn der Kur-
54 Zu Burke vgl. Barone, Schiller und die Tradition des Erhabenen (wie Anm. 3), S. 52–59,
besonders S. 55. Den Hinweis auf Burke verdanke ich Rolf-Peter Janz.
146
Über Grenzen
fürst Homburg am Ende doch ziemlich willkürlich begnadigt und sich damit als
außerhalb des Rechts stehend erweist:55 Er bleibt die Figuration des »Gesetz[es] des
Kriegs« als des Ermöglichungsgrundes eines »Geschlecht[s] von Siegen«.
Die Erhabenheit des Gesetzes, um die es zuletzt geht, erweist sich in der Verweigerung
der Erhabenheit des Sub-jektes, sie erweist sich in der Stillstellung des Begehrens – und
mehr noch erweist sie sich im Krieg, den wiederaufzunehmen das Stillen von Homburgs
Begehren den Anlass bietet. Souverän ist, wer über den Tod entscheidet – den Tod der
Anderen. Nicht der Heldentod ist erhaben, sondern dessen massenhafte Ermöglichung.
Das »heilige Gesetz des Kriegs« vereindeutigt mithin in ›Prinz Friedrich von Hom-
burg‹ die Verhältnisse, die zwischenzeitlich einigermaßen verunklärt waren – indem es
nun eine Grenze zieht, die nicht in Unklarheit überschritten werden kann: diejenige
zwischen der eigenen Genealogie, von Königen wie von Siegen, auf der einen und
»allen Feinden Brandenburgs« (DKV II, Vs. 1858) auf der anderen Seite.56 Während
Schillers Theorie das Erhabene noch ebenso selbstverständlich wie letztlich erfolglos
scharf zu umgrenzen sucht, radikalisieren ›Die Familie Schroffenstein‹ und ›Penthesilea‹
die Unklarheiten, die sich in Schillers eigenen Dramen (lediglich) andeuten. In ›Prinz
Friedrich von Homburg‹ ist es das Gesetz, das seine Erhabenheit eindeutig erweist:
indem es final und letal zwischen Freund und Feind unterscheidet57 – eine Lösung frei-
lich, die eher, wenigstens von Ferne, an Carl Schmitt58 erinnert als an Schiller.
55 Vgl. Bunia, Vorsätzliche Schuldlosigkeit (wie Anm. 50), S. 52; zur Begnadigung und ihren
»Paradoxien« vgl. auch Maria Carolina Foi, Die Souveränität aufs Spiel setzen. Kleists
›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe
(Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013,
S. 39–55, hier S. 42–47, Zitat S. 47.
56 Wolf Kittler hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der hier imaginierte »totale[ ]
Krieg«, der »Vernichtungsschlag« zur »vollständige[n] Ausrottung der Feinde«, als Rekurs
auf die Philosophie der preußischen Kriegsführung in den Befreiungskriegen, besonders
auf die Schlacht bei Jena und Auerstedt (als ›Vernichtungsschlacht‹), lesen lässt (vgl. Wolf
Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die
Strategie der Befreiungskriege [1987], Heilbronn 2011, S. 256–290, hier S. 266f., 281).
57 Maria Carolina Foi zufolge komme die endgültige Entscheidung im ›Homburg‹ nicht dem
Recht, sondern der Macht zu (vgl. Foi, Die Souveränität aufs Spiel setzen, wie Anm. 55,
S. 42). – Der Kurfürst als »[d]erjenige, der das Urteil in einem scheinbar souveränen Akt
der Machtausübung verhängt hat«, erscheine »vollkommen machtlos« gegenüber der
»vollständige[n] Subversion des Rechts«, die aus der Ablehnung der bewilligten Begnadi-
gung durch den Prinzen folgt (vgl. Achim Geisenhanslüke, Infame Scherze. Heinrich von
Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹. In: Brittnacher und von der Lühe [Hg.], Risiko
– Experiment – Selbstentwurf, wie Anm. 55, S. 345–368, hier S. 363, 360).
58 Zu Schmitts notorischer Freund-Feind-Dichotomie als »eigentlich politische[r] Unter-
scheidung« vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933, hier S. 7. –
Achim Geisenhanslüke rekurriert über Walter Benjamins Bezugnahme auf Carl Schmitt,
dem zufolge im Ausnahmezustand dem Souverän diktatorische Gewalt zukomme. Kleists
Drama liest jener in diesem Sinne als »Komödie, die das völlig Zerfallen politischer Souve-
ränität im Kontext der Infamie aufzeigt«. Infamie versteht er dabei im Sinne Foucaults als
»Ausdruck einer spezifisch modernen Tragik«: der »mit Schande verbundenen ›Begegnung
mit der Macht‹« (Geisenhanslüke, Infame Scherze, wie Anm. 57, S. 367, 346).
147
Antonia Eder
Amadea moderna
Von Götterliebe und Frauenkörpern in Kleists ›Amphitryon‹
und Schillers ›Die Jungfrau von Orleans‹
Wenn um 1800 Literatur davon erzählt, dass Götter und Sterbliche interagieren,
dann geschieht dies oft in der Form von Mythen oder Heiligenlegenden. Beide
Genres sind für solch transzendente Begegnungen prädestiniert und dienen als
ein der Zeit enthobener Schauplatz literarischer Aushandlung von durchaus zeit-
genössischen Konflikten.1 Auch Kleist und Schiller wählen mit den im Folgenden
betrachteten Dramen ›Amphitryon‹ (1807) und ›Die Jungfrau von Orleans‹ (1801)
einen mythischen bzw. christologischen Stoff, anhand dessen um 1800 die Souveräni-
tät des Subjekts in Bezug auf seine Deutungs- und Handlungsmacht befragt wird.
Virulente Zeitfragen nach der Vermittlung von Ratio und Religiösem, Erkenntnis-
theorie und Körperwahrnehmung, Weltlichkeit und Innerlichkeit bilden die neural
gischen Punkte einer politisch bewegten, nachrevolutionären Gegenwart um 1800.
Die anthropologische Fortschrittsgeschichte ist brüchig geworden, und so hofft man,
in der Auseinandersetzung mit einer metaphysischen Vertikalen, »die horizontale
Dimension der Geschichte« zu transzendieren und zugleich immanent zu stabili-
sieren.2 Der so versuchte doublebind von Distanzierung und Internalisierung einer
ahistorischen Transzendenz, den die mit einer als offen erfahrenen Zukunft ringende
1 Zur Adaption von Mythen und Legenden als Muster darstellerischer Verstehens- und
Deutungsbemühungen seit der Aufklärung vgl. Stefan Matuschek, Mythologisieren.
Der doppelte Bezug zum Mythos als literarisches Darstellungsmuster. In: Bent Gebert
(Hg.), Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in
theoretischen und literarischen Diskursen, Berlin und Boston 2014, S. 172–185, hier S. 172:
»Was so entsteht, ist eine literarische Form, die auf der rationalen Unterscheidung von
Geschichte und Mythos basiert und dennoch mythische Figuren zur Geschichtsdar-
stellung und -deutung heranzieht«.
2 Diese einleuchtende Zeitdiagnose stellt beispielsweise Böschenstein für Figuren Kleists,
Schillers, Goethes und Hölderlins: »In der vertikalen Dimension scheinen diese Gestalten
gewaltsam die Norm zwischenmenschlich geordneter Gemeinschaft zur Gottesmacht hin
zu überschreiten. In der horizontalen Dimension der Geschichte sieht es so aus, als ob
sie an der Schwelle zweier sich entgegensetzender Zeitalter stünden, eines dem ancien
régime gemäßen und eines von der Revolution umgestalteten.« (Bernhard Böschenstein,
Der »Gott der Erde«. Kleist im Kontext klassischer Dramen: Goethe, Schiller, Hölderlin.
In: KJb 1991, 169–181, hier 179) Vgl. auch Wolfgang Riedel, Die anthropologische Wende:
Schillers Modernität. In: Walter Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die
Moderne, Würzburg 2006, S. 143–163.
149
Antonia Eder
Gegenwart unternimmt,3 gelingt dabei, das hat Claudia Honegger gezeigt, nicht
zuletzt über eine spezifisch geschlechterdifferenzielle Instrumentalisierung: Gleich-
zeitig Anbindung und Abstand zwischen Mensch und Gott herzustellen und auf
Dauer zu erhalten obliegt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ›naturgemäß‹ der
Frau.4 Diese könne den in der Welt horizontal fortschreiten müssenden Gestaltungs-
willen einer ›männlichen Natur‹ über zyklische (chthonische) oder ewige (heilige),
also tendenziell zeitenthobene Formen von Weiblichkeit komplementieren.5 Als der-
art ›arbeitsteilig‹ lässt sich das Geschlechterverhältnis in Bezug auf Transzendenz und
Immanenz auch in den Dramen ›Amphitryon‹ und ›Die Jungfrau von Orleans‹ vor
allem von ihren Enden her lesen, an dem die jeweilige Heroine nolens volens in die
Position der Mediatorin zwischen transzendental markierter Vertikale und imma-
nentem Zeitstrahl der Geschichte gerückt wird – eine Position, über die zwei Macht-
bereiche (Metaphysik und historische Genealogie) vermittelt werden, in denen sie
jeweils aber qua humaner (nicht-göttlicher) oder qua weiblicher (nicht-männlicher)
Natur keinen Ort hat. Zu diesem Ende führt beide Dramen ein anderer, doch jeweils
die Figuration, Gefährdung und finale Tilgung weiblicher Souveränität umkreisender
Weg.
Über die Figurenwelt hinaus lässt sich diese geschlechterdifferenzielle Logik auch
im dramatischen Raum verfolgen. Ein Beobachtungsangebot zweiter Ordnung, so
meine These, ist beiden Dramen über die Ebene der theatralen und referenziellen
Repräsentation eingeschrieben: Über die bühnenräumliche Ordnung kann durch
den Verlust oder den Erhalt der figuralen Position im Theaterraum Geschlecht als
Haltung in und damit zur Welt markiert werden – ein Darstellungsverfahren, das
Geschlechterdifferenz raumsemantisch operationalisiert.6 Die Horizontale erscheint
3 Vgl. Ingrid Oesterle, »Es ist an der Zeit!« Zur kulturellen Konstruktionsveränderung
von Zeit gegen 1800. In: Walter Hinderer, Alexander von Bormann und Gerhardt von
Graevenitz (Hg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 91–121.
Zu Thesen der Verzeitlichung von Gegenwart bei Schiller vgl. Johannes F. Lehmann, Die
Zeit der ›Gegenwart‹ bei Schiller. In: Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder
(Hg.), Schillers Zeitbegriffe, Hannover 2018, S. 287–303.
4 Die Erfindung der Naturalisierung von Weiblichkeit und deren Instrumentalisierung zur
politischen Ausgrenzung und sozialen Einhegung der Frau im 18. Jahrhundert beschreibt
quellenreich und nach wie vor aktuell als Phantasma einer vermeintlich ›natürlichen‹
Ordnung Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom
Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a. M. 1991.
5 Zeitgenössische Texte, die diese Thesen zur Naturalisierung geschlechtlicher Differenz
affirmativ entfalten, sind beispielsweise Immanuel Kant, Von dem Unterschiede des
Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter. In: Ders., Werk-
ausgabe, Bd. 2, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1978, S. 858–868; Wilhelm
von Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische
Natur. In: Ders., Werke, Bd. 1, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 1960,
S. 268–295.
6 Zur raumsemantischen Figuration und Bewegung in Vertikale und Horizontale im Drama
vgl. Juliane Vogel, Sinnliches Aufsteigen. Zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater.
In: Annemarie Matzke und Jens Roselt (Hg.), Auftritte in Raum und Zeit, Bielefeld 2015,
S. 105–119.
150
Amadea moderna
151
Antonia Eder
sterblich bin« (NA 6, Vs. 989),9 klagt bereits der eifersüchtige Philip in ›Don Carlos‹
und markiert als Souverän den verletzbaren Punkt seiner absolutistischen, Transzen-
denz und Immanenz einenden Macht: den intrikaten Punkt des Begehrens. Eben
dieses Begehren, so wird im Folgenden zu zeigen sein, wird auch in ›Die Jungfrau
von Orleans‹ zum entscheidenden und buchstäblichen movens, das über Johannas
Körper eine prä- und post-lapsarische Dynamik entfaltet. Dass dieser Körper fallen
muss, legt schon seine Konstitution, die unerhörte Durchkreuzung der Geschlechter-
stereotype nah: Als kämpfende Amazone und lustabstinente Jungfrau, »im Helm
und Brustharnisch, sonst aber weiblich gekleidet« (NA 9, vor Vs. 1497) inszeniert der
Nebentext die Jungfrau als Geschlechteramalgam, das die Wahrnehmung irritiert
und die Erkenntniskategorien einer geschlechterdifferentiellen Ordnung gefährdet.
Diese Gefährdung der geschlechtlichen Dichotomie durch Johanna wird daher im
Drama aus der männlich konnotierten Norm einer geschichtlich horizontal fort-
schreitenden Ordnung sukzessive ausgegrenzt und, als metaphysisch überformte
Weiblichkeit, in eine transzendental konnotierte Sphäre der Vertikale eingetragen.
In seiner Normirritation ist Johannas fluides Geschlechtermodell als »männlich-
weibliche Jungfrau-Kriegerin, Göttin-Teufelserscheinung, Muttergottes-Hure«10
bedrohlich genug, um in ein Frauenbild gebannt werden zu müssen, das die pater-
nalen Strukturen (nicht allein des 18. Jahrhunderts) für solche Fälle bereitstellt: die
Heilige.11 Ich werde im Folgenden nachzeichnen, wie dieser vertikale Code in Schil-
lers Drama über die göttlich auserwählte Jungfrau figuriert wird.
Kleist wiederum reagiert in seiner ›Kant-Krise‹, die man wohl als Absage an jede
Form intersubjektiv gestützten Wissens lesen muss, nicht nur auf Kant, sondern in
gewisser Weise auch auf Schillers Arbeit an Kant. Ein für Kleists Schaffen generell
diagnostizierbarer Zug der aemulatio zeigt sich auch in seiner agonalen12 Ausrichtung
auf Schiller,13 wenn Kleist beispielsweise die idealisch-klassizistischen Gesetze der
9 Schillers Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Versangabe zitiert nach: Schillers
Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im
Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von
Norbert Oellers.
10 Albrecht Koschorke, Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik der Fran-
zösischen Revolution. In: Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne
(wie Anm. 2), S. 243–259, hier S. 249.
11 Dem Bild der Heiligen korrespondiert in diesem Verständnis von Weiblichkeit das der
Hure, als die Johanna im Laufe des Dramas durchaus auch gehandelt wird. Zu den
Mechanismen der (imaginierten) Erhöhung und Erniedrigung qua weiblichen Geschlechts
vgl. Silvia Bovenschen, Imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu
kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt
a. M. 1979.
12 Dies hat Polaschegg in einem Seitenstrang ihrer Argumentation an der Figur des Cherubs
im ›Käthchen von Heilbronn‹ gezeigt, vgl. Andrea Polaschegg, Von der Vordertür des
Paradieses. Kleists cherubinische Poetik. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), S. 465–501.
13 Zu Kleists vielfältigen biographischen, kulturtheoretischen und philologischen Korres-
pondenzen zu Schiller vgl. Claudia Benthien, Schiller. In: KHb, 219–226.
152
Amadea moderna
Grazie auf die mechanische Marionette und das reflexionslose Tier überträgt.
Kleists Schrift ›Über das Marionettentheater‹, so hat Helmut Schneider gezeigt,14
enthumanisiert das Ideal naturmenschlicher Harmonie der Ästhetik Schillers und
bindet das im Klassizismus im Übrigen genuin weibliche Attribut der Anmut an die
Bestie und die Automate. Schillers anthropologische Zuversicht wird so anmutig ins
Unmenschliche gewendet.
Fehlenden »Glaubensmut« diagnostiziert Eichendorff, der sich insbesondere
zeige,
wenn jener Ernst bei Kleist häufig so trostlos und grauenhaft in das Entsetzliche
umschlägt, ja oft zu einer antiken, heidnischen Tugend erstarrt, … weil ihm die
höchste Kraft fehlt, das unsichtbare Banner der Poesie kühngläubig über die irdi-
schen Dinge auf jene stille Höhe zu pflanzen, wo alles versöhnt wird.15
Kleists literarische Reflexe auf die Begriffe Göttlichkeit, Zeitlichkeit und Geschicht-
lichkeit korrespondieren kaum dem eschatologischen Geschichtskonzept seiner –
romantischen wie klassizistischen – Zeitgenossen, sondern zeichnen das Bild der
Geschichte als katastrophisch: Einen sinnhaften Geschichtsverlauf garantieren
transzendente Heilsphantasmen ebenso wenig wie eine vorgebliche Weltvernunft.
Das Unendliche der Transzendenz ist in Kleists Werk zur immanenten Endlosigkeit
mutiert, in deren überwältigender Ungeschiedenheit sich das Menschliche zu ver-
lieren droht – anschaulich wird dies bekanntermaßen in Kleists Kommentar zu Cas-
par David Friedrichs ›Mönch am Meer‹ (vgl. BA, Bl. 12, [47]f.), er gestaltet es aber
ebenso eindringlich in der dramatischen Figuration seiner Alkmene des »post-meta-
physischen Verwechslungsdramas«16 ›Amphitryon‹.
I. ›Amphitryon‹
Als Tragikomödie balanciert ›Amphitryon‹ auf dem schmalen Grat zwischen (Mit-)
Lachen und (Mit-)Leiden. Seit seinem literaturgeschichtlichen Durchbruch, zu dem
Plautus’ ›Amphitruo‹ (ca. 200 v. Chr.)17 dem vorgängigen Mythos verhalf, bespielt
dieser die Bühne des janusgesichtigen Genres, das dramatisch von dem Sturz des
Erhabenen ins Komische, dem tragischen Knoten und dessen komischer Lösung
vitalisiert wird. Mit der schon bei Plautus als jederzeit möglich insinuierten, auf
153
Antonia Eder
18 »Sein ›Amphitryon‹ ist eine originale Schöpfung, sobald man unter ›Schöpfung‹ nicht
törichterweise ein Schaffen und Erfinden aus dem Nichts, sondern das Zünden des Geistes
in der Materie versteht.« (Thomas Mann, Kleists ›Amphitryon‹. Eine Wiedereroberung.
In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Hans Bürgin, Ernst Bürgin und Peter de
Mendelsohn, Frankfurt a. M. 1960, S. 187–228, hier S. 188) Kleist »hatte es oft nicht nötig,
die Verse Molières zu ändern, um ihrer Komik dennoch einen tragischen Schatten zu ver-
leihen« (Peter Szondi, Fünfmal Amphitryon: Plautus, Molière, Kleist, Giradoux, Kaiser.
In: Ders., Lektüre und Lektionen, Frankfurt a. M. 1973, S. 153–184, hier S. 167f.).
19 Vgl. Karlheinz Stierle, Amphitryon. Die Komödie des Absoluten. In: Walter Hinderer
(Hg.), Kleists Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1997, S. 33–74.
20 Hörisch hat darauf hingewiesen, dass der Name Amphitryon, wenn auch »ein wenig
populär etymologisch« gewendet, als der »doppelt vorkommende Dritte (griech:
treis / drei)« gelesen werden könne (Jochen Hörisch, Die Not der Welt. Poetische Aus-
nahmezustände in Kleists semantischen Komödien. In: Ders., Die andere Goethezeit.
Poetische Mobilmachung des Subjekts um 1800, München 1992, S. 93–114, hier S. 103).
Das namentlich beidseitige Dritte des Amphi-Tryon enthielte also in nuce die intrikate
Latenz einer triadischen Semiotik und Deutungsproblematik, die Kleist in seiner Stoff-
variation, so meine These, allererst ausfaltet.
21 Zum juridisch grundierten Konflikt zwischen Semiose, Tragik und Deutungsmacht in
›Amphitryon‹ vgl. Antonia Eder, Politik und Recht der Zeichen. Kleists ›Amphitryon‹. In:
Christian Moser (Hg.), Political Kleist, Bielefeld 2019 (im Druck).
154
Amadea moderna
Dabei handelt es sich gerade nicht mehr (wie noch bei Plautus und Molière) um ein
erotisches Lust- und Machtspiel unter Männern,22 sondern um einen ausgesprochen
handfesten Racheakt des Gottes gegen die allzu frei-, fein- und eigensinnige Frau.
Kleist führt die göttliche Rache in den mythischen Plot erst ein: Jupiter bestraft
Alkmenes »Abgötterei« (DKV I, Vs. 1459), indem er die von ihr im Gebet stets ima-
ginär vorgenommene Ersetzung des Gottes durch den Gatten in eine, diese Tat spie-
gelnde Stellvertretung23 rücküberführt – so hat in der vergangenen Liebesnacht nun
der Gott den Gatten ersetzt, dies allerdings nicht imaginär, sondern leibhaftig – und
mit ganz leibhaftigen Folgen für die dann schwangere Alkmene. Doch A lkmenes
Verteidigung ist konsistent:
Kann man auch Unwillkürliches verschulden?
Soll ich zur weißen Wand des Marmors beten?
Ich brauche Züge nun, um ihn zu denken (DKV I, Vs. 1455–1457).
Kleists Alkmene bietet, semiologisch gesprochen, als Interpretant den entscheidend
neuen, resistenten und vielfältigsten Umgang mit Zeichen im Drama.24 Denn die
22 Zur Verknüpfung von Lust, Triebabfuhr und Repräsentation als traditionell poeto-
logisches Phänomen der Komödie vgl. Bernhard Greiner, Die Komödie, Tübingen 2006,
S. 245: Bei Plautus beispielsweise zeige sich der »göttliche Liebhaber« als »grenzenloser
Egoist«, den eine »fragwürdige sexuelle Gier« treibt, sich mit Alkmene, der »Prachtfrau«,
als »uxor usuraria«, d.i. die »Frau zum Gebrauch«, zu vergnügen.
23 Kleist führt in den Amphitryon-Mythos allererst die »Begründung« ein, »dass Jupiters
Liebesdiebstahl ein Akt der Stellvertretung sei, der einen vorausgegangenen Akt der Stell-
vertretung (bei der betenden Alkmene) reziprok spiegele« (Greiner, Die Komödie, wie
Anm. 22, S. 251).
24 Zur Veranschaulichung der Zeichenverhältnisse nutze ich hier und im Folgenden
erklärend Begriffe der modernen Semiotik von Peirce, dem die Etablierung eines triadi-
schen Zeichenmodells zuzuschreiben ist. Diese dreistellige Begrifflichkeit ist als semioti-
sche Wissenschaft um 1800 noch kaum definiert, jedoch wird sie sprachtheoretisch und
-philosophisch wie auch medizinisch und juristisch, das zeigen wissenshistorische For-
schungen, bereits im 18. Jahrhundert diskutiert: »In der Zeichenrelation selber, in der ratio
significatus öffnet sich also ein Raum der Wahrscheinlichkeiten« (Wolfgang Schäffner,
Die Zeichen des Unsichtbaren. In: Inge Baxmann, Michael Franz und ders. [Hg.], Das
Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 480–510, hier
S. 503). Beispielsweise schreibt Schaarschmidt in seiner ›Semiotic‹: »Dasjenige, wodurch
wir das Seyn oder die Würklichkeit eines Dinges erkennen können, nennen wir ein
Zeichen, signum, und dasjenige, dessen Seyn oder Würklichkeit wir aus dem Zeichen
erkennen, das Bezeichnete, die bezeichnete Sache, signatum. […] Die Verknüpfung der
bezeichneten Sache mit dem Zeichen heißt die Bedeutung, oder deutlicher zu reden,
die durch das Zeichen bezeichnete Sache macht, daß man dem Zeichen eine Bedeutung
zuschreibt, oder daß man saget: das Zeichen hat eine Bedeutung, oder bedeutet etwas«
(D. Samuel Schaarschmidt, Semiotic, oder Lehre von den Kennzeichen des innerlichen
155
Antonia Eder
Bearbeitung dieser Figur erweitert den tradierten Stoff nicht allein identitätsphilo-
sophisch, sondern auch semiologisch um die Stelle des Dritten. Während die beiden
männlichen Doppelgänger-Paare über das identitätslogische Erkenntnismodell des
(doppelten) Gegebenseins in Konflikt geraten, nimmt Alkmene die Position einer
reflexionslogisch triadischen Haltung ein, die Veränderbarkeit, Beweglichkeit und
Prozessualität integriert – bzw. integrieren könnte, wenn ihre volatilen Deutungs-
muster nicht in das Differenzsystem der binären Fixierung gezwungen würden.
Jupiters inquisitorische Fragen zielen darauf, Alkmene eine Bevorzugung abzu-
ringen, die eine Differenzziehung innerhalb des Zeichens ›Amphitryon‹, nämlich
zwischen Gatte und Geliebtem, bedeuten würde. Kleists Drama erweitert das
Einfallstor für den Irrtum, indem hier die Ich-Genese Alkmenes ganz wesentlich
reziprok an die Repräsentation des Du gebunden bleibt: Wie kann ich mich selbst
erfahren, wenn ich am anderen, der mich konstitutiv mitbegründet, irre gehe? Doch
für Alkmene ist die Stelle der Repräsentation des Du in dieser dramatischen Anlage
nun einmal doppelt besetzt:
Jupiter
Und dennoch könnt’st du leicht den Gott in Armen halten,
Im Wahn, es sei Amphitryon.
Warum soll dein Gefühl dich überraschen?
Wenn ich, der Gott, dich hier umschlungen hielte,
Und jetzo dein Amphitryon sich zeigte,
Wie würd’ dein Herz sich wohl erklären?
Alkmene
Wenn du, der Gott, mich hier umschlungen hieltest
Und jetzo sich Amphitryon mir zeigte,
Ja – dann so traurig würd’ ich sein, und wünschen,
Daß er der Gott mir wäre, und daß du
Amphitryon mir bliebest, wie du es bist.
(DKV I, Vs. 1558–1568)
Im geschmeidigen Chiasmus von temporalen und figuralen Bezügen widersetzt sich
Alkmenes »Herz« in dieser Passage dem Imperativ von Jupiters »Entscheide du«
(DKV I, Vs. 1544), indem sie ihrer erprobten Überblendungsstrategie folgt. Die
Dyade von Bezeichnetem und Bezeichnendem wird in Kleists Ausformung des Kon-
flikts um das Doppelgänger-Paar Amphitryon / Jupiter durch die Stelle der Rezep-
tion, nämlich Alkmene als Interpretin der Zeichensituation, zur Triade erhoben.
Über Phänomene der repräsentationalen Gleichzeitigkeit verwandelt Alkmene in
dieser interpretierenden Funktion das binäre Gefüge von Signifikat und Signifikant
zur überraschenden Trias: Denn für Alkmene als Ort der Entstehung einer Vor-
stellung (Interpretant) ist es durchaus möglich, die Objekte Gatte und Gott zu
›verzeichnen‹, als Zeichen zu lesen. Den »in’s Göttliche verzeichnet[en]« (DKV I,
Vs. 1191) Gatten und den betend, im »wohlbekannten Zug« (DKV I, Vs. 1445)
Zustandes des menschlichen Körpers, hg. von Ernst Anton Nicolai, Berlin 1756; zit. nach
Schäffner, Zeichen des Unsichtbaren, S. 485).
156
Amadea moderna
25 Die »Ungeheuerlichkeit« von Kleists literarischem Bruch mit Maximen der abend-
ländischen Denktradition wie dem Widerspruchsprinzip oder dem Satz vom aus-
geschlossenen Dritten diskutiert Dieter Heimböckel, Emphatische Unaussprechlichkeit.
Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists, Göttingen 2003, S. 121.
26 Brandstetter charakterisiert die vertrackte Situation Jupiters und Alkmenes treffend: »In
den Reden zwischen Alkmene und Jupiter über die Differenz von Geliebtem und Ehe-
mann, von Gott und Geliebtem ist stets der abwesende Amphitryon als Dritter anwesend,
und das, obwohl gerade dieser Dritte […] als Bild ›verzeichnet‹ und zuletzt gelöscht wer-
den soll« (Gabriele Brandstetter, Duell im Spiegel. Zum Rahmenspiel in Kleists ›Amphi-
tryon‹. In: KJb 1999, 109–127, hier 123).
157
Antonia Eder
27 Vgl. Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Studie über Heinrich von Kleist,
Köln 1961, S. 141f.
28 Der Begriff der Defiguration fasst die hier dargestellte, agonale ›Verunstaltung‹ im
Moment geradezu körperlich werdender, sprachlicher Gewalt, die sich als Auseinander-
treten, als Disjunktion von Zeichen und Bedeutung gegen die sprachliche Maske (als
Figuration) selbst wendet. In diesem Sinne ist der Begriff der Defiguration (vgl. Paul de
Man, Allegorien des Lesens, aus dem Amerikanischen und hg. von Werner Hamacher,
Frankfurt a. M. 1988) auch in der Kleistforschung zentral geworden. Vgl. Juliane Vogel,
Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, München 2018;
Bianca Theisen, Bogenschluß. Kleists Formalisierungen des Lesens, Freiburg i.Br. 1996;
Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und
Kafka, München 2000; Gerhard Neumann, Bildersturz. Metaphern als generative Kerne
in Kleists Penthesilea. In: Rüdiger Campe (Hg.), Penthesileas Versprechen. Exemplarische
Studien über die literarische Referenz, Freiburg i.Br. 2008, S. 93–125.
158
Amadea moderna
29 So lässt Herrmann Septimius trotz dessen Berufung auf humanitäre Rechte mit einer
»Keule doppelten Gewichts« (DKV II, Vs 2219) erschlagen; Jeronimo wird in ›Das Erd-
beben in Chili‹ auf dem »Vorplatz« der Kirche »mit einem ungeheuren Keulenschlag
zu Boden« gestreckt, Donna Constanze »mit einem zweiten Keulenschlage« und dann
Josephe ebenfalls »mit der Keule« (DKV III, 219) erschlagen; in ›Die Familie Schroffen-
stein‹ wird Jeronimus trotz Gast- und Botenstatus »mit Keulen« erschlagen (DKV I,
Vs. 1787).
30 Diese defigurative Bewegung ist auch in anderen Texten Kleists beobachtet worden, vgl.
Juliane Vogel, Windung und Bahn. Landschaftsdramaturgie in Kleists ›Penthesilea‹. In:
Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013),
S. 600–615; Helmut J. Schneider, Standing and Falling in Heinrich von Kleist. In: Modern
Language Notes 115 (2000), S. 502–518.
31 Vogel, Windung und Bahn (wie Anm. 30), S. 614.
159
Antonia Eder
Die Krise des Erkennens hat Kleist am Beispiel Alkmenes semiologisch als utopische
Denkfigur des Dritten inszeniert, die – final vernichtet – in eine vordergründig sta-
bilisierte Binarität zurückgezwungen wird. Kleists Drama erzielt seine genuin tragi-
sche wie auch seine komische Wirkung aus dieser Zeichenpolitik: Das Drama zeigt
zugleich die Außenseite und die Innenseite dieser Zeichenkrise. Bei dieser Doppelt-
heit belässt es Kleist, jede Bedeutung generierende Entscheidung wird als Gewaltakt
markiert, der ebenso notwendig wie brutal motiviert sein kann.
32 Vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München
1994; auf diese Zusammenhänge verweist bereits Marlies Janz, Marmorbilder. Weiblich-
keit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal, Bielefeld 1988.
33 In Abweichung zu dem bei Bronfen titelgebenden Verfahren – ›Over her dead Body‹ – ersetzt
Kleists Drama den Tod der Frau vor dem Hintergrund der mythologisch-dramatischen
Vorgabe (Heroengeburt) durch Ohnmacht und den sprachlichen Nichtort des finalen
»Ach!«
34 Eine originelle Lesart dieses »Ach!« schlägt Johannes Lehmann vor: »Gleichwohl ist auf
der Ebene der Sprache auch hier nur, wie durch den gesamten Text, aus einem I (das in
Frakturschrift wie ein J aussieht) ein A geworden, aus einem ›Ich‹ ein ›Ach‹. So ist es bloß
ein Unterschied der Buchstaben, der auch hier für Unentschiedenheit [zwischen Ich-Ein-
heit und Ich-Zerfall] sorgt« (Johannes F. Lehmann, Einführung in das Werk Heinrich
von Kleists, Darmstadt 2013, S. 83). Zum historischen Diskurs des Seufzens vgl. Erika
Thomalla, Mit Ach und Weh. Seufzen im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahres-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91 (2017), S. 1–17, hier S. 15: »Der
Seufzer erweist sich vor allem als sprachliches Mittel, das seinen Sinn einzig aus der Imagi-
nation des Rezipienten gewinnt. Das sehnsuchtsvolle ›Ach!‹ ist um 1800 weder sinnhafter
Bestandteil eines topischen Systems noch unwillkürlicher Ausdruck, sondern ein leerer
Signifikant, der nur in der Fantasie des Lesers oder Zuhörers zur Sprache der Seele oder
Natur wird«.
160
Amadea moderna
Die ›Jungfrau von Orleans‹ (1801) ist nun ebenfalls die Dramatisierung einer Zer-
reißprobe über Zeichen. Allerdings sind die Zeichenvorgänge in der ›romantischen
Tragödie‹, so ja der irritierende Untertitel,35 einerseits genau dies, nämlich imma-
nent vor einem tragischen Horizont aufgespannt, und andererseits eindeutig tran-
szendent an einen unverfügbaren Zeichengeber und einen metaphysischen Vertrag
gebunden: Johanna empfängt »Zeichen«, die »der Himmel mir verheißen« (NA 9,
Vs. 425) hat. Sie kann göttliche Zeichen lesen und wird damit selbst zum Zeichen
Gottes, zur »Gott-Gesendeten Prophetin« (NA 9, Vs. 989f.): »Geh hin! Du sollst
auf Erden für mich zeugen.« (NA 9, Vs. 408) Über diese »göttliche Beglaubigung«
(NA 9, Vs. 1111) kann sich kein »Zweifel irdscher Klugheit« (NA 9, Vs. 1112) erheben,
denn ihre übernatürliche »Wissenschaft« (NA 9, Vs. 1011), ihre »Tat[en]« (NA 9,
Vs. 1113) und die »reine Unschuld ihres Angesichts« (NA 9, Vs. 1116) beweisen ein-
drücklich, »daß sie Wahrheit spricht« (NA 9, Vs. 1113). Dieses transzendente, hier
zusätzlich physiognomisch abgesicherte Referenzverhältnis zwischen Sendung und
Gesandter bleibt im Drama relativ stabil. Johanna zweifelt nicht an der transzenden-
talen Verfasstheit dieser Referenz. In ›guten wie in schlechten Zeiten‹ bleibt diese
Referenzialität, die eben auch eine Selbstreferenzialität ist,36 stabil, weil die psycho-
logischen und libidinösen Aspekte von Anfang an vertraglich geregelt werden:
»Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren / Mit sündgen Flammen eitler Erden-
lust« (NA 9, Vs. 411f.). Da dieses Vertragsverhältnis (mit Gott und mit sich selbst)
von Johanna als Figur unbedingt affirmiert wird, führt das Drama nun ein weiteres
Zeichenfeld ein, das als Beobachtungsebene zweiter Ordnung, d.h. außer- und ober-
halb der Figurenrede, oft paratextuell diese idiosynkratische Transzendenz wie auch
die immanenten Verhältnisse kommentieren kann: Diesen Kommentar erlauben,
so meine These, räumliche Zeichen. In einer Art topologischer Semiosis werden die
Figuren und ihr Handeln in räumlichen Koordinaten der Vertikale und Horizontale
positioniert, wobei beide Raumdimensionen37 mit bestimmten Konnotationen und
Implikationen besetzt werden.
35 Zum strittigen Status von Schillers Drama zwischen Tragödie und Trauerspiel vgl.
Bernhard Greiner, Negative Ästhetik: Schillers Tragisierung der Kunst und Romantisie-
rung der Tragödie (›Maria Stuart‹ und ›Die Jungfrau von Orleans‹). In: Text + Kritik.
Sonderband Friedrich Schiller, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 2005, S. 53–70;
zur dramatischen Selbstreflexivität und inhärenten Tragödientheorie des Stücks vgl.
Marie-Christin Wilm, Die Jungfrau von Orleans, tragödientheoretisch gelesen. Schillers
romantische Tragödie und ihre praktische Theorie. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-
gesellschaft 47 (2003), S. 141–170.
36 Bereits Guthke weist darauf hin, dass Johanna sich in jungfräulicher Hybris selbst mit der
ihr erschienenen Heiligen gleichsetzt, ja diese ein »ins Göttliche überhöhtes Bild der Schä-
ferin Johanna« selbst, also eine narzisstische Projektion sei, in der Johanna jenen »Größen-
wahn und Auserwähltheitskomplex« zeigt, »den Schiller seit den ›Räubern‹ immer wieder
an seinen scheinbar so idealistischen Helden diagnostiziert hat« (Karl S. Guthke, ›Die
Jungfrau von Orleans‹. Sendung und Witwenmachen. In: Hans-Jörg Knobloch und
Helmut Koopmann [Hg.], Schiller heute, Tübingen 1996, S. 115–130, hier S. 120).
37 Über die topologisch dramatische Situierung der Heroine in Außen- und Innenräumen
läuft auch die instruktive Argumentation zur Differenz von Schuld und Scham von
161
Antonia Eder
162
Amadea moderna
Tun als göttliche Sendung oder Sündenfall, als himmlisch oder höllisch semanti-
siert42 – dies geschieht wohlgemerkt, ohne dass sie selbst zunächst zu Wort kommt;
es wird hingegen über sie gesprochen und zwar von den zwei Männern, die mit
rechtlicher Verfügungsgewalt über Johanna ausgestattet sind oder dies zukünftig
sein werden: der Vater Thibaut und der Verlobte Raimond. So sieht Raimond, der
sie anbetende Verlobte, Johanna im Prolog aus einer Art Froschperspektive:
Oft seh ich ihr aus tiefem Tal mit stillem
Erstaunen zu, wenn sie auf hoher Trift
In Mitte ihrer Herde ragend steht,
Mit edelm Leibe, und den ernsten Blick
Herabsenkt auf der Erde kleiner Länder. (NA 9, Vs. 73–77)
Die doppelte, vertikal ausgerichtete Blickinszenierung von unten nach oben und
von oben nach unten (er sieht zu ihr auf, während sie ihren Blick auf die »kleinen
Länder« herabsenkt), erzeugt topologisch eine aufragende Erhabenheit Johannas,
die semantisch ihre Sakralisierung vorwegnimmt: »Da scheint sie mir was Höhres zu
bedeuten« (NA 9,Vs. 78) – ein Höheres, das jedoch sein Abwärts antizipiert:
Und von der freien Heide fürchtet sie
Herabzusteigen in das niedre Dach
Der Menschen, wo die engen Sorgen wohnen. (NA 9, Vs. 70–72)
Die »Opposition von oben und unten, Berg und Tal, Göttlichkeit und Menschlich-
keit« transportiert dabei »bereits die Ankündigung ihrer Überschreitung: Johanna
wird absteigen«43 – zunächst einmal herab von den Bergen in die Niederungen des
Schlachtfeldes.
Neben die christologische Erhöhung Johannas (im Bühnenbild rechts durch die
Kapelle symbolisiert) tritt im Prolog jedoch zugleich ihre Verortung im Heidnischen
(durch die Eiche links auf der Bühne):44 Thibaut, der sie ahnungsvoll verurteilende
Vater, vermutet Johanna mit dem »graulich düstre[n] Geisterreich / Der Nacht«
(NA 9, Vs. 87f.) im Bunde, das als Bedrohung »unter dünner Decke, / Und leise
hörend« darauf wartet, herauf zu »stürmen« (NA 9, Vs. 153f.). Diese Gefahr inter-
pretiert Thibaut umstandslos als sündhaften sozialen Aufstiegswillen Johannas und
unterstellt in biblischen Bildern, die ihren »tiefen Fall!« (NA 9, Vs. 123) prophezeien,
seiner Tochter eben jenen »Hochmut […], wodurch die Engel fielen, / Woran der
Höllengeist den Menschen faßt.« (NA 9, Vs. 131f.) So bewegt sich Johanna bereits in
163
Antonia Eder
der Exposition räumlich auf der Vertikalen zwischen göttlichem Auserwähltsein und
Sündenfall, so dass über diese lapsarische Bewegungsachse Johannas Fall-Höhe maß-
geblich dramatisiert werden kann. Nicht so sehr über ihre (zunächst) erfolgreiche,
wenn auch verzeitlichte und darin ja durchaus begrenzte Vorwärtsbewegung in der
Schlacht (der historischen Horizontale), sondern immer wieder als emporragende
Vertikalgestalt, als »die Hohe« (NA 9, Vs. 959) mit weithin sichtbarer »hohe[r]
Fahn« (NA 9, Vs. 968) wird Johanna inszeniert, die sich trotz sozialen Aufstiegs45
auch moralisch erhaben zeigt: »Sie strebt nicht schwindelnd irdscher Hoheit nach«
(NA 9, Vs. 2170), sondern ist »Kriegerin des höchsten Gottes« (NA 9, Vs. 2203).
Erst die tragische Wende des coup de foudre in der Begegnung mit Lionel, macht
sie »unbeweglich«, lässt sie »schwindel[n]«, »sinken« (NA 9, vor Vs. 2514) und »ohn-
mächtig« (NA 9, vor Vs. 2518) darniederliegen. So geht sie »mit gesenktem Haupt und
ungewissen Schritten« (NA 9, Szenenanweisung IV, 6) zur Krönung in der Kathedrale
von Reims, »stürzt aus der Kirche heraus, ohne ihre Fahne« (NA 9, vor Vs. 2846) und
wird, ihrer Machtinsignien entblößt, mit »dreifache[n] Fesseln« (NA 9, Vs. 3393)
gefangen gehalten. Doch das Finale kehrt diese Abwärtsbewegung erneut um, denn
Johanna zerreißt die »zentnerschweren Bande« (NA 9, Vs. 3480), »schwingt« sich
»frei aus ihrem Kerker« empor (NA 9, Vs. 3414), »springt auf« (NA 9, vor Vs. 3478)
in die Schlacht, in der sie, obwohl tödlich getroffen, noch einmal »sich empor«
richtet (NA 9, Vs. 3519) und in einer vertikal imaginierten Klimax »Hinauf – hinauf«
(NA 9, Vs. 3543) in einen bildreich phantasierten Himmel eingeht.
Zuschreibungen des Hohen und der Majestät rücken Johanna immer wieder in
die Nähe des Erhabenen: Sie, die »Wunderbare« (NA 9, Vs. 1827), übersteigt das
Fassungsvermögen der sie Umgebenden, ihr unbarmherziges Kämpfen, ihr über-
wältigender Siegeszug, das Hohe, das Tiefe, das Unbegreifliche bezeichnen diese
Figur: »Wie eine Kriegesgöttin schön zugleich / Und schrecklich anzusehn« (NA 9,
Vs. 956f.) tritt sie aus den »Tiefe[n]« des Waldes »plötzlich« (NA 9, Vs. 954) auf das
Schlachtfeld, das sie als »die Hohe« (NA 9, Vs. 959), »die Mächtige« (NA 9, Vs. 966),
beherrscht – sie ist ein leibhaftiges fascinosum et tremendum. Doch zugleich – und
das relativiert das Erhabene dieser Figur – ist sie auch das »heilge Mädchen« (NA 9,
Vs. 2018). Erleichtert stellt der Herzog von Burgund fest: »Wie schrecklich war die
Jungfrau in der Schlacht, / Und wie umstrahlt mit Anmut sie der Friede!« (NA 9,
Vs. 2028f.) – eine Anmut, die einerseits ihre Erhöhung begründet und Bedingung
der Möglichkeit ihres Auserwähltseins ist:
45 Dunois und La Hire, die beide um Johannas Hand anhalten, verherrlichen Johanna als
Superlativ: als »Höchste«, als »Größte«, gar als »Götterkind« – letzteres weiß Dunois gegen
seinen Konkurrenten La Hire und dessen taktisches Argument der Standesschranke einzu-
wenden: »Sie ist das Götterkind der heiligen / Natur wie ich, und ist mir ebenbürtig. / Sie
sollte eines Fürsten Hand entehren, / Die eine Braut der reinen Engel ist, / Die sich das
Haupt mit einem Götterschein / Umgibt, der heller strahlt als irdsche Kronen, / Die jedes
Größte, Höchste dieser Erden / Klein unter ihren Füßen liegen sieht; / Denn alle Fürsten-
thronen auf einander / Gestellt, bis zu den Sternen fortgebaut, / Erreichten nicht die Höhe,
wo sie steht, / In ihrer Engelsmajestät!« (NA 9, Vs. 1844–1855) Über diese Zuschreibungen
wird auch Johannas soziale, nicht nur moralische Fallhöhe konstituiert.
164
Amadea moderna
Diese weibliche Anmut macht sie andererseits zugleich zum Gegenstand eines männ-
lichen Begehrens, das Johanna droht, »in den gemeinen Staub« (NA 9, Vs. 2250)
hinabzuziehen. Über dieses Begehren kündigt sich umgekehrt jedoch auch ihr eige-
nes Begehren an, das sie die göttliche Sendung verraten lässt.
Dies wird dramatisch eindrücklich in der kontrovers und vieldiskutierten Szene
mit dem Schwarzen Ritter sichtbar gemacht: In einer »andre[n] öde[n] Gegend des
Schlachtfelds« (NA 9, vor Vs. 2402) prophezeit der geheimnisvolle Schwarze Ritter
Johanna das Ende ihres Kriegsglücks und drängt sie zur Umkehr. Doch Johanna
widersetzt sich seiner zweifachen »Warnung« (NA 9, Vs. 2431, 2439):
JOHANNA
Verhaßt in tiefster Seele bist du mir,
Gleich wie die Nacht, die deine Farbe ist.
Dich weg zu tilgen von dem Licht des Tags
Treibt mich die unbezwingliche Begier.
[…]
Sie will einen Streich auf ihn führen
SCHWARZER RITTER
berührt sie mit der Hand, sie bleibt unbeweglich stehen
Töte, was sterblich ist!
Nacht, Blitz und Donnerschlag. Der Ritter versinkt
JOHANNA
steht anfangs erstaunt, faßt sich aber bald wieder
Es war nichts Lebendes. – Ein trüglich Bild
Der Hölle wars, ein widerspenstger Geist,
Herauf gestiegen aus dem Feuerpfuhl,
Mein edles Herz im Busen zu erschüttern.
(NA 9, Vs. 2410–2413, 2444–2449)
An eben dieser Szene verschränken sich, theatral mit Donner und Blitz wirksam
inszeniert, Deutungsraum und bühnenmechanischer wie psychologischer Tiefen-
raum des Dramas: Erstmals treibt Johanna eine »unbezwingliche Begier«, die über
die Figur des Schwarzen Ritters unmittelbar mit einer Bewegung in die topologische
(wie semantische) Un-Tiefe verknüpft ist. Nun ist diese Figur in der Logik der Ver-
tikale verschiedentlich als teuflische Macht oder göttliche Vorsehung interpretiert
worden,46 jedoch scheint diese Tiefe keine nur fundamental metaphysische zu sein,
165
Antonia Eder
sondern vielmehr auch eine Tiefe des Innern: Die Szene öffnet einen Seelenraum.
Johanna selbst ermöglicht diese Lesart des Tiefenraums als Seelenraum, indem
sie die Erscheinung als Vision, als »trüglich[es] Bild« interpretiert, das (nur) ihr
erscheint, um ihr Inneres zu erschüttern: Obwohl der Text also tatsächlich »zeigt,
wie der Ritter im (Bühnen-)Boden – also in der Hölle – versinkt, suggeriert er
zugleich, dass dies nicht geschehen sei«47 – zumindest nicht innerhalb eines real-
empirisch erfahrbaren Raums. Der Schwarze Ritter ist so unmittelbar an die Wahr-
nehmung der Figur Johanna und damit an die ihr inhärente Raumlogik gebunden,
die eben nicht nur das himmlische Oben, sondern auch die psychische Innerlichkeit
der Tiefe umspannt. Hier öffnet sich der theatrale wie der dramatische Raum für
die Vertikale: einmal als sichtbarer Tiefenraum der Bühnenpraxis (Bodenklappen)
und zugleich als psychischer Tiefenraum, der die Bühnenrealität zur ›romantischen
Tragödie‹ transzendiert.
Unmittelbar nach der sich anschließenden Begegnung mit Lionel erliegt Johanna
auch raumlogisch dem sie erschütternden coup de foudre:
Was ist der Jungfrau? Sie erbleicht, sie sinkt!
Johanna schwindelt und will sinken
[…]
Sie liegt ohnmächtig in La Hires Armen. (NA 9, Vs. 2513, nach Vs. 2518)
Im taumelnden Drehschwindel erfasst sie der räumliche und moralische Positions-
verlust, sie sinkt aus dem handlungsmächtigen, aufrechten Stand hinab in die, sie
vorerst kennzeichnende Position der Ohnmacht. Beschämt, schuldig48 und ent-
mächtigt klagt Johanna sich im Folgenden selbst an:
Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild
In meinem reinen Busen tragen?
Dies Herz von Himmels Glanz erfüllt,
Darf einer irdschen Liebe schlagen?
[…]
die Johanna angesichts ihrer Aufgabe befallen hat«, versteht (Alt, Schiller, wie Anm. 41,
S. 522). Wilm liest den schwarzen Ritter als »allegorische Verkörperung des Unglück[s]«
(Wilm, Schillers Jungfrau von Orleans, wie Anm. 35, S. 157), und Zymner sieht in ihm
»die Manifestation des Wunderbaren« (Rüdiger Zymner, Friedrich Schiller. Dramen, Ber-
lin 2002, S. 127). Deutlich psychodynamisch interpretiert Benthien den schwarzen Ritter
als »Über-Ich-Instanz« und damit »Personifikation und Antizipation des Gewissens«, das
zudem motivisch konsequent den Ritter akustisch mit dem Donner verknüpft, der bei
Johannas Gewissensprüfung nach der Krönungszeremonie erneut effektvoll eingesetzt
wird; dass in eben dieser Prüfungsszene Johannas Vater Th
ibaut »schwarz gekleidet« (NA 9,
vor Vs. 2829) ist, setzt ihn in unmittelbare Relation zum schwarzen Ritter und erhöht die
motivischen Korrespondenzen beider Szenen nochmals (Benthien, Tribunal der Blicke,
wie Anm. 37, S. 118, 127).
47 Tonger-Erk, Aufwärts / Abwärts (wie Anm. 39), S. 91.
48 Zur Rolle des Blicks und des Gesichts in der Begegnung von Johanna und Lionel als Aus-
handlungsort von Scham und Schuld vgl. Benthien, Tribunal der Blicke (wie Anm. 37),
S. 114–118.
166
Amadea moderna
Diese Szene des Stürzens und des ›Weh und Ach‹ verdichtet sich um Motive, die wir
in Kleists Figur Alkmene wiederfinden: Über Bilder, (Gesichts-)Züge, das fühlende
Herz, das unschuldig Schuldig-Werden und nicht zuletzt ein Ach! führen die Paral-
lelen zu Alkmenes Bildbegehren:
Kann man auch Unwillkürliches verschulden?
Soll ich zur weißen Wand des Marmors beten?
Ich brauche Züge nun, um ihn zu denken. (DKV I, Vs. 1455–1457)
Die Schuld dieses Bildbegehrens49 eint Alkmene und Johanna, ein Bildbegehren,
das ein göttlich Absolutes verbietet: Du sollst dir kein Bildnis machen! – zumal
keines, in dem sich Anbetung und Begehren amalgamieren. Doch während die eine
Heroine »unwillkürlich« im ›Sowohl-als-auch‹ Olympisches mit Irdischem über-
blendet, weiß die andere, dass sie einen Pakt des ›Entweder-Oder‹ geschlossen und
im »Augenblicke« (NA 9, vor 2466) des »Blick[es]« (NA 9, Vs. 2577) auf Lionel
gebrochen hat – so verquicken sich für Johanna der Anblick von des »Mannes Bild«
(NA 9, Vs. 2542) und das Erkennen der »irdschen Liebe« (NA 9, Vs. 2545) zum
ureigenen lapsarischen »Verbrechen« (NA 9, Vs. 2577).
Hier schließt nun schuldmotivisch Johannas »schweigendes Geständnis« (NA 9,
Vs. 3134) in der Gewissensprüfung nach der Krönungszeremonie in Reims an – denn
49 Dies ganz eigene und durchaus an den Körper rückgebundene Begehren Alkmenes wird
noch in rezenten Lesarten als Phänomen ideal(istisch)er weiblicher Reinheit im Sinne
einer ›schönen Seele‹ ausgelegt, so beispielsweise von Norbert Oellers: »Alkmene ist […]
ganz rein: Was sie aus Neigung tut, kollidiert mit keiner Pflicht, die dieser Neigung wider-
sprechen könnte; sie ist also auf außergewöhnliche, kaum begreifliche Weise mit sich eins
und widersteht jeder Versuchung, sich zu spalten« (Norbert Oellers, »Kann auch so tief
ein Mensch erniedrigt werden?« Warum »Amphitryon«? Warum »ein Lustspiel«? In: Text
+ Kritik. Sonderband Heinrich von Kleist, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1993,
S. 72–83, hier S. 73). Diese Reinheit erscheint auch in der Forschung als männlich konno-
tiertes Phantasma.
167
Antonia Eder
tatsächlich gesteht sie eigentlich nichts, sie verweigert vielmehr die Aussage: Die
viermalig von ihr verlangten, doch »unbeweglich« (NA 9, vor Vs. 2986, 3007, 3016,
3030) verweigerten Zeichen, lassen sie schuldig erscheinen, denn eine eindeutige
Entschuldung könnte es selbst durch eine Antwort Johannas auf die doppeldeutig
formulierten Fragen nicht geben:
Dunois
Wer wagts, sie eine Schuldige zu nennen?
Ein heftiger Donnerschlag, alle stehen entsetzt
Thibaut
Antworte bei dem Gott, der droben donnert!
Sprich, du seist schuldlos. Leugn es, daß der Feind
In deinem Herzen ist, und straf mich Lügen!
Ein zweiter stärkerer Schlag, das Volk entflieht zu allen Seiten
(NA 9, Vs. 3020–23)
So wie die göttlichen Zeichen vorher für Johanna zeugten, zeugen nun die »fürchter-
liche[n] Zeichen« (NA 9, Vs. 3024) vermeintlich gegen sie, wenn auch in einem
Sinne, den nur Johanna (und die Zuschauer*innen), nicht aber die Figurenwelt in
Reims verstehen kann: In Johannas »Herzen» ist zwar der Feind, nur ist es eben nicht
der Teufel, sondern Lionel; und sie ist eine »Schuldige«, jedoch nicht schuldig der
Blasphemie oder des Teufelspakts (vgl. NA 9, Vs. 2993), sondern der Liebe zu einem
irdischen (und zudem englischen) Mann – ein Umstand, der intradramatisch nie
aufgeklärt wird.50 So finden sich denn auch in ›Die Jungfrau von Orleans‹ doppel-
deutige, auslegungsbedürftige Zeichen, jedoch – und das ist der große Unterschied
zu Kleists Alkmene – sind diese Zeichen für Johanna jederzeit eindeutig lesbar:
Sie antwortet ja gerade nichts in der Konfrontation mit dem gegen sie zeugenden
Vater, weil sie, einmal mehr, die göttlichen Zeichen umstandslos auf ihr Handeln
beziehen und klar deuten zu können meint. Ein solch eindeutig referenzialisierbares
Deutungsangebot wird Alkmene, wie gezeigt, gerade vorenthalten. Johanna hat in
ihrem seelischen Innenraum den göttlichen Auftrag für eine »irdsche Liebe« verraten
und fällt auch im politischen Außen durch missdeutete Zeichen der Schuld beim
50 Psychodynamisch konstatiert bereits Benthien, Tribunal der Blicke (wie Anm. 37),
S. 129: »Diese tragische ›Verwirrung‹ (V. 3182), die nur auf der Ebene des Tragödien-
personals besteht, nicht aber auf der der (aufmerksamen und psychologisch geschulten)
Zuschauer, wird bis zum Ende des Stücks nicht aufgelöst. Selbstbeschuldigung und
Fremdbeschuldigung divergieren auf fatale Weise, was die ohnehin bestehende psychische
Isolation der Protagonistin noch verstärkt. Sie wird ihre subjektive, für sie aber faktische
›Sünde‹ im Verlauf des Stücks niemandem gestehen, auch nicht dem Vertrauten Raimond,
der ihre Unschuld zu erkennen glaubt und mit dem sie in der Verbannung ein intimes
Zwiegespräch führt. Diese ›tragische‹ Diskrepanz hat die bisherige Schiller-Forschung
übersehen; denn vor Dunois sagt Raimond nicht die ganze Wahrheit, wenn es über das
Gespräch im Ardennerwald heißt: ›Mir hat sie dort ihr Innerstes gebeichtet. / In Martern
will ich sterben […] / Wenn sie nicht rein ist, Herr, von aller Schuld!‹ (V. 3304f., 3307).
Das, wovon Johanna am Ende freigesprochen wird, ist eben nicht der Treuebruch ihrer
eigenen Sendung gegenüber, sondern die Anklage, eine Hexe und Zauberin zu sein.«
168
Amadea moderna
König in Ungnade. Erst im Finale wird sie restituiert51 und zu ihrer Sendung zurück-
finden: dies ebenfalls in einer augenfällig inszenierten Theatralität der Vertikale.
War es vorher das Fallen, das als Bewegung des (ins Bodenlose) Sinkens über
Körper und Bühnentechnik realisiert wurde, ist es nun die entgegengesetzte Rich-
tung des Aufsteigens als imaginäre Himmelfahrt, die einer (bühnen-)körperrealen
Gegenbewegung nach unten antwortet. Johanna liegt tödlich verwundet in den
Armen Karls und des Herzogs von Burgund, als sie wortwörtlich wieder aufersteht:
BURGUND erstaunt
Kehrt sie
Uns aus dem Grab zurück? Zwingt sie den Tod?
Sie richtet sich empor! Sie steht!
[…] Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne in der Hand – Der Himmel
ist von einem rosigten Schein beleuchtet
JOHANNA
Seht ihr den Regenbogen in der Luft?
Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,
Im Chor der Engel steht sie glänzend da,
Sie hält den ewgen Sohn an ihrer Brust,
Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.
Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich –
Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!
Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle stehen lange in sprachloser
Rührung – Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen sanft auf sie nieder-
gelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird.
(NA 9, Vs. 3517–3519, vor 3536, 3536–3544)
Johannas Bewegung diesem himmlischen Oben entgegen und ihre zunehmende Ent-
fernung von einem irdischen Raum entspricht jedoch nur einer gefühlten Bewegung
des »Hinauf – hinauf –«, der die Bühnenrealität im Nebentext deutlicher kaum
widersprechen könnte: »Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder«. Nicht allein
Außenwahrnehmung und Selbstwahrnehmung, sondern auch Raumkörper und
Figurenrede stimmen hier nicht mehr überein: Die über Johannas Verse52 evozierte
Transzendenz wird konterkariert durch die paratextuelle Schwerkraft der Immanenz.
Diese die Figur von ihrem Bewusstsein spaltende Bewegung in die beiden Extreme
der Vertikale visualisiert, wie in der Szene mit dem Schwarzen Ritter, eine Affini-
169
Antonia Eder
53 Johann Georg Sulzer, Wunderbar. In: Ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste. In
einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln
abgehandelt, Zweiter Theil, Leipzig 1774, S. 1279f.
54 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Jens
Kulenkampff (Hg.), Materialien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1974,
S. 89–93, hier S. 90. Geschlechtsgebunden sind Himmel und Rührung für Kant schon
früh: »Eben so werden sie [Frauen] von dem Weltgebäude nicht mehr zu kennen nötig
haben, als nötig ist, den Anblick des Himmels an einem schönen Abende ihnen rührend
zu machen.« (Kant, Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegen-
verhältnis beider Geschlechter, wie Anm. 5, S. 854)
55 Die allegorische Gestalt / -ung Johannas rekonstruiert Cuonz als die Unmöglichkeit,
die Jungfrau zugleich zu sein und sie zu versinnbildlichen (vgl. Cuonz, Reinschrift, wie
Anm. 52, S. 141–169).
170
Amadea moderna
komplexer als seine ästhetische Theorie. Zur Heiligen erkoren, wiederersteht Johanna
schließlich, dramenimmanent im seelisch Imaginären sowie historisch wirkmächtig
als Allegorie bar jeder körperlichen Realität, und kündet stumm, doch bildreich vom
Ruhm Frankreichs.56
56 Johanna erscheint so ihrer, als Ikone der Revolution, noch wirkmächtigeren Bildschwester
Marianne vergleichbar, die ihrerseits nun (für Schiller) am und seit Ende des 18. Jahr-
hunderts, »die Fahne in der Hand« (NA 9, vor Vs. 3536), diese hoch über den Franzo-
sen schwenken darf, vor allem auf Bildern. Die Wirkmächtigkeit der Marianne, das hat
Koschorke eindrücklich gezeigt, gründet in ihrer synthetisierenden »Tragikvermeidung«,
mit der sie Volk, Republik, Katholizismus, Ökonomie, Fruchtbarkeit und Fortschritt eint
und es ihr gelingt, allen gleich nah und doch immer fern – fern vor allem von allzu körper-
licher Geschlechtlichkeit – zu bleiben (Koschorke, Schillers Jungfrau von Orleans und die
Geschlechterpolitik, wie Anm. 10, S. 259).
171
Antonia Eder
57 Koschorke, Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik (wie Anm. 10),
S. 245.
58 Als »Mischwesen« irritieren die Anormalen die Distinktionslogik »des Menschlichen und
des Animalischen«, von »Mann und Weib«, »Leben und Tod« (Michel Foucault, Die
Anormalen. Vorlesungen am Collège de France [1974–1975], aus dem Französischen von
Michaela Ott und Konrad Honsel, Frankfurt a. M. 2001, S. 86).
59 Zur Auseinandersetzung mit der Frage, welche Art von weiblicher Subjektivität welche
Art von Tragödie unterstützt und welche Rolle die Geschlechterpolitik einer männlich
172
Amadea moderna
der Körper und mit ihm das Begehren der Frau als werdende, zudem ohnmächtige
Mutter (Alkmene) und als tote Märtyrerin (Johanna) kategorial vereinnahmt sind,
kann das Drama im hehren Bild der Frau stillstehend enden. Der männliche Code
hingegen schriebe sich weiter in den Horizont der Universalgeschichte ein: Denn
virulent wird in der Kombinatorik von topologischer Haltung im Bühnenraum
und der Kategorie Geschlecht, dass die Horizontale (männliche) Selbstbestimmt-
heit konstituiert, umgekehrt aber die nach unten und oben gerichtete Bewegung
in die Vertikale auf Fremdbestimmtheit verweist. Die weiblichen Figuren geraten
ausgerechnet im Finale beider Dramen in die vertikale Abwärtsbewegung, deren
eigentlich mögliche, vertikal ausgerichtete ›Aufrechtigkeit‹ von einem gleichzeitigen
Kippen des Körpers in das entmächtigende Fallen (Ohnmacht, schwindelnder Tau-
mel, Sterben) unterminiert wird.60 Dass nun Schiller wie Kleist eine topologische
und semiologische Metatektonik etablieren, macht diese raumsemantische Matrix
in den Koordinaten ihrer Dramen allererst sichtbar und lässt, durchaus lustvoll,
Brüche stehen.
Vielleicht sind Schiller und Kleist, so legt der hier erstmals vergleichende Blick
auf diese zwei Dramen nahe, sich gerade auf einem Feld besonders nah, das eigent-
lich als ihnen beiden fremd gilt: auf dem Feld der Romantik. Denn beider Suche
nach »Denk- und Darstellungsformen einer Kritik der (aufklärerischen) Kritik«,61
die jene um 1800 nicht nur rivalisierenden, sondern sich durchdringenden und
befruchtenden Diskursformationen von Idealismus und Romantik auszeichnet,
findet in diesen Dramen einen je spezifischen raumsemantischen Ausdruck. Die
›romantische Tragödie‹ Schillers und Kleists Drama der Dezision62 formulieren
eben jene zeitgenössischen Fragen nach Autonomie und (Selbst-) Reflexivität,
jene Erfahrungen von Transzendenzverlust und Erkenntnis-Skeptizismus, die als
codierten Machtpolitik als Matrix hierbei auch tragödientheoretisch spielt, vgl. D orothea
von Mücke, Emilias Andacht und Gretchens Gewissen. Goethes Auseinandersetzung
mit Lessing in der Arbeit an der ›Faust‹-Tragödie. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-
gesellschaft 2019 (im Druck). Ich danke Dorothea von Mücke für den Einblick in ihr
unpubliziertes Manuskript.
60 Zur prothetischen Eigenschaft der Vertikalität und dem verunsichernden Wechsel von
Fall und Aufrichten in Dramen der Moderne vgl. Vogel, Sinnliches Aufsteigen (wie Anm.
6), S. 116: »Denn so, wie aus dem Fallen ein prekärer Stand erreicht wird, erweisen sich
auch Vertikalität und Dorsalität stets als transitorisch. Sie sind Zwischenzustände ohne
Aussicht auf Dauer oder auch Impulse, die der Horizontalen rhythmisch entgegenwirken,
um ihr zu erliegen, sie wieder zu überwinden und ihr wieder zu erliegen.«
61 Helmut Hühn, Romantik und Idealismus. Überlegungen zur Konfliktgeschichte der
Moderne. In: Michael Forster u. a. (Hg.), Idealismus und Romantik in Jena. Figuren
und Konzepte zwischen 1794 und 1807, München 2018, S. 323–343, hier S. 324; vgl. auch
Claudia Stockinger, Dramaturgie der Zerstreuung. Schiller und das romantische Drama.
In: Dies. u. a. (Hg.), Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition
und Innovation, Tübingen 2000, S. 199–225 sowie zu Kleist Schmitz-Emans, Romantik
(wie Anm. 16).
62 Alexander Honold, »Entscheide Du«. Kleists Komödie der Dezision. In: Deutsche Viertel-
jahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), S. 502–532.
173
Antonia Eder
174
Jürgen Brokoff
I.
Der Versuch, Nähe und Abstand zwischen Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ von
1804 und Kleists Drama ›Die Herrmannsschlacht‹ von 1808 zu bestimmen, ist kei-
neswegs selbstverständlich. Obwohl in der Forschung verschiedentlich auf die Ver-
bindungen zwischen beiden Dramen hingewiesen wurde,1 sind die Unterschiede
doch so gravierend, dass sich ein Vergleich zu erübrigen scheint. Als erste wichtige
Differenz fällt die höchst unterschiedliche Anlage der Protagonisten ins Auge: auf
der einen Seite Tell, der unbescholtene und anfänglich unpolitisch erscheinende
Familienvater, der dem Rütli-Schwur der Schweizer Eidgenossen fernbleibt und
durch den Apfelschuss seine Unschuld verliert, der zum Attentäter wird und im
Schlusstableau des Schauspiels merkwürdig stumm bleibt; auf der anderen Seite
Herrmann, der als Politiker agiert und als Partisan agitiert, der einen ›Volkshass‹
gegen die römische Besatzungsmacht organisiert und als durchtriebener Rhetoriker
eine veritable Hetzjagd in Gang setzt.
Zweitens unterscheiden sich die den beiden Dramen zugrunde liegenden Vor-
stellungen von Freiheit: auf der einen Seite, in Schillers ›Tell‹, der naturrechtlich
begründete Widerstand der von den Land- und Reichsvögten geknechteten Bevöl-
kerung von Uri, Schwyz und Unterwalden, der die »von Uralters her«2 bestehende
Freiheit wiederherstellen soll, und die Notwehr eines Vaters, der wider Willen poli-
tisch wird und dem vom Pfeil getroffenen Reichsvogt zuruft: »Frei sind die Hütten,
sicher ist die Unschuld / Vor dir, du wirst dem Lande nicht mehr schaden.« (FA 5,
Vs. 2793f.)
Auf der anderen Seite, in Kleists ›Herrmannsschlacht‹, Freiheit als das propa-
gierte Ziel eines nationalen Befreiungskampfes gegen die Besatzungsmacht und
Fremdherrschaft der Römer auf germanischem Boden, der notfalls auch mit un-
1 Vgl. Lawrence Ryan, Die ›vaterländische‹ Umkehr in der ›Hermannsschlacht‹. In: Walter
Hinderer (Hg.), Kleists Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1981, S. 188–212. Eine
andere wichtige Studie wählt als Bezugspunkt für die Analyse von Kleists Drama S chillers
›republikanisches Trauerspiel‹ ›Die Verschwörung des Fiesko zu Genua‹. Vgl. Gerhard
Kluge, Hermann und Fiesko – Kleists Auseinandersetzung mit Schillers Drama. In: Jahr-
buch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 248–270.
2 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell. In: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 5,
hg. von Matthias Luserke, Frankfurt a. M. 1996, Vs. 537. Alle Schiller-Texte werden im
Folgenden nach der Frankfurter Ausgabe (Sigle FA), hg. von Otto Dann u. a., Frankfurt
a. M. 1988ff. mit Bandnummer, Vers oder Seitenzahl zitiert.
175
Jürgen Brokoff
lauteren Mitteln geführt wird. In einer vergleichenden Studie, die Kleists ›Herr-
mannsschlacht‹ mit Schillers früherem Drama ›Fiesko‹ in Beziehung setzt, wurde
Herrmann einmal als »Zerstörer« der Freiheit und die Freiheit in Kleists Drama als
»leeres« Wort bezeichnet.3 Diese Wertung, die von der Opposition zwischen Repu-
blikanismus einerseits und nationalistischer Propaganda andererseits geprägt wird,
verkennt jedoch die abgründige Problematik des auch in Kleists Drama prominent
verhandelten Freiheitsbegriffs. Gleich im ersten Akt führt der Cheruskerfürst im Dis-
put mit den anderen germanischen Stammesführern die zu verteidigende »Freiheit«
(DKV II, Vs. 388) als entscheidende Größe ins Feld, die über den von Herrmann als
vordergründig angesehenen Schutz materieller Besitzstände hinausgreift. Dieser in
nationalem Kontext zu verortende Freiheitsbegriff4 entfaltet in späterer Zeit als Idee
deutscher Freiheit eine eminente politische und kulturelle Wirkung: ironisiert und
satirisch zugespitzt in Heinrich Heines ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ (1844),5
frei von Ironie und vollkommen affirmativ in der weltanschaulich-ideologischen
Essayistik zum Ersten Weltkrieg, etwa bei Ernst Troeltsch.6
Und drittens sind die beiden Dramen in historisch-politischer Hinsicht durch
die Kluft des Jahres 1806 getrennt. Diese Kluft lässt die Epoche vor der Nieder-
lage Preußens gegen die napoleonischen Truppen bei Jena und Auerstedt und die
Epoche nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches mit der Entstehung
von deutscher Nationalbewegung und preußischem Nationalismus als zwei Zeitalter
erscheinen, von denen das eine der alten europäischen Ordnung angehört und das
andere auf den Anbruch der Moderne vorausweist.7
Wenn es im Folgenden ungeachtet dieser Differenzen um den Versuch einer Be-
stimmung von Nähe und Abstand der beiden Dramen von Schiller und Kleist geht,
dann liegt dies zunächst in den manifesten Korrespondenzen zwischen den Texten
begründet. Dazu zählen etwa die für beide Stücke gleichermaßen geltende Isolie-
rung der Protagonisten, die allein handeln, sowie intertextuelle Verweise von Kleist
auf Schiller. So stellt das im Umkreis von Kleists Drama anzusiedelnde Gedicht ›An
176
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
Palafox‹, das sich auf den Kampf des spanischen Generals Palafox gegen die Fran-
zosen in der Stadt Saragossa 1808 und 18 09 bezieht, den General in heroisierender
Absicht in eine Reihe mit Leonidas, Arminius und Tell (vgl. DKV III, 436).
Darüber hinaus ist auf das ebenfalls im Umfeld von Kleists Drama entstandene
Gedicht ›Germania an ihre Kinder‹ zu verweisen. Die Verse, »Schlagt ihn tot! Das
Weltgericht / Fragt euch nach den Gründen nicht« (DKV III, 672), antworten auch
auf die Formel: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht« aus Schillers Gedicht
›Resignation‹ (FA 1, 168–171, hier Vs. 85). Mit Blick auf die beiden Dramen, die
jeweils für sich genommen grundlegende historische Umwälzungen behandeln, ist
festzuhalten, dass im ›Wilhelm Tell‹ der Tyrannenmord und die Differenz dieser
Tat zum Kaiser- und Verwandtenmord durch Johannes Parricida eine rechtferti-
gende Begründung erfahren. Demgegenüber fällt in Kleists Drama das Fehlen einer
Begründung für Herrmanns Aktionen auf. Ihr rücksichtsloser Vollzug stellt diesen
Begründungsmangel ostentativ zur Schau.
Den dritten Verweis auf Schiller enthält Kleists Dramentext selbst. Die im letzten
Auftritt des Stücks von Herrmann verfügte Enthauptung des Ubierfürsten Aristan,
der sich als Verbündeter Roms weigert, sich den Germanen anzuschließen, demons-
triert in aller Öffentlichkeit, wo »Germanien« (DKV II, Vs. 2621), wo »Deutsch-
land« (DKV II, 445, Vs. 2621b, so die ›Zeitschwingen‹-Fassung der Szene) liegt. Ger-
manien, Deutschland ist hier und jetzt, eben in diesem Moment vorhanden, in dem
Herrmann die Geschlossenheit der germanischen Fürsten und Stämme szenisch,
performativ vorführt. Schon in einer früheren Szene hieß es, dass Cheruska »da« sei,
»[w]o Herrmann steht« (DKV II, Vs. 1854f.). Die »Lektion« (DKV II, Vs. 2620),
die dem Ubierfürsten, der laut Herrmann nicht weiß, »wo und wann Germanien
gewesen« (DKV II, Vs. 2613), erteilt wird, reagiert auf Schillers Distichon ›Das deut-
sche Reich‹ aus den gemeinsam mit Goethe veröffentlichten ›Xenien‹. Herrmanns
Aktionen antworten auf Schillers Vers: »Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das
Land nicht zu finden.« (FA 1, 589)
II.
177
Jürgen Brokoff
lich auch damit zu tun hat, dass die Geschichte des Rütli-Schwurs und die Tell-Sage
ursprünglich getrennte Komplexe waren.8
Auch Herrmann ist nur im eingeschränkten Sinn als ein Akteur der Befreiung
anzusehen. Zwar gehen auf ihn die Mobilisierung der öffentlichen Meinung und die
in einem aufgeheizten Klima begangenen Gräueltaten zurück, die dem Widerstand
gegen Rom eine affektive Grundlage geben. Die eigentliche »Freiheitsschlacht«
(DKV II, Vs. 1450) aber, die im Text in Verbindung mit dem Suevenfürsten Marbod
auch als solche bezeichnet wird, schlägt ein anderer, nämlich Marbod selbst:
marbod So traf mein Heer der Sueven wirklich
Auf Varus früher ein, als die Cherusker?
komar Sie trafen früher ihn! Arminius selbst,
Er wird gestehn, daß Du die Schlacht gewannst! (DKV II, Vs. 2459–2462)
Dass Tell und Herrmann nur im eingeschränkten Sinn Träger der Freiheitshand-
lung sind, hat unterschiedliche Gründe. Bei Tell hat es, abgesehen von seiner Nicht-
Teilnahme am Rütlischwur, mit den Ereignissen zu tun, die ihm vor dem Mord
am Reichsvogt in der Apfelschuss-Szene widerfahren und die er im Monolog vor
dem Mord reflektiert. Tell ist, wie zu erläutern sein wird, ein gebrochener Held.
Bei Herrmann hat es damit zu tun, dass er gar kein Held ist. Nicht nur entscheidet
ein anderer die »Freiheitsschlacht«, er ist auch nicht in der Lage, mit Varus, dem
gefangenen und verwundeten Feldherrn und Statthalter des Augustus, einen Kampf
auszufechten. Bevor es dazu kommt, unterliegt Herrmann in einem Ausscheidungs-
kampf dem Cimbernfürsten Fust. Es ist Fust, der Varus tötet und daraufhin an den
Cherusker die Worte richtet: »Herrmann, Du bist mir bös, mein Bruderherz, / Weil
ich den Siegerkranz schelmisch Dir geraubt?!« (DKV II, Vs. 2533f.) Vor diesem
Hintergrund sind »Freiheitsschlacht« und Herrmanns Schlacht, die Schlacht Herr-
manns, nicht dasselbe. Herrmann schlägt eine andere Schlacht – keine militärische.
Die Infragestellung der Integrität der Protagonisten als Freiheitshelden lässt sich,
wie im Folgenden ausgeführt werden soll, auf die Formel einer entstellten Freiheit
bringen. Die Idee einer unproblematischen, ungebrochenen und idealistisch reinen
Freiheit wird in den Dramen auf je eigene Weise entstellt. Eine wichtige Rolle spielt
dabei in beiden Dramen, wiederum auf je eigene Weise, ein Prozess der ›Vergiftung‹,
der die (moralische) Unversehrtheit der Protagonisten und zugleich das Handlungs-
geschehen selbst betrifft.9 Die Vorstellung von Freiheit ist in den Dramen Schillers
und Kleists entstellt, weil sie vergiftet ist. Im Vordergrund der Ausführungen steht
zunächst, was man die Vergiftung Tells nennen könnte. Darauf folgt die Erörterung
8 Zur Stoffgeschichte und zur Forschungsliteratur vgl. den Überblick bei Georg-
Michael Schulz, ›Wilhelm Tell. Schauspiel‹ (1804). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.),
Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 214–236.
9 Ich setze damit Überlegungen zu einer Ästhetik der Reinheit und Integrität (und deren
Gefährdungen) fort, die sich im Rahmen meiner ›Geschichte der reinen Poesie‹ unter
anderem auf Schillers Dramatik, insbesondere die ›Wallenstein‹-Dichtung, bezogen haben
(vgl. Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur
historischen Avantgarde, Göttingen 2010, S. 318–343).
178
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
III.
10 Die Unterscheidung zwischen kindischer und kindlicher Unschuld ist ein wichtiges Ele-
ment in Schillers Konzeption naiver Einfalt. Vgl. Friedrich Schiller, Über naive und sen-
timentalische Dichtung. In: FA 8, 706–810, hier 716f. Zum Zusammenhang von Schillers
theoretischer Abhandlung und ›Wilhelm Tell‹ vgl. Gert Sautermeister, Idyllik und Drama-
tik im Werk Friedrich Schillers, Stuttgart 1971.
11 Zur politischen Dimension von Schillers Schauspiel vgl. Gerhard Kaiser, Idylle und Revo-
lution. Schillers ›Wilhelm Tell‹. In: Richard Brinkmann u.a., Deutsche Literatur und Fran-
zösische Revolution. Sieben Studien, Göttingen 1974, S. 87–128; Raymond C. Ockenden,
›Wilhelm Tell‹ as political drama. In: Oxford German Studies 18 / 19 (1989 / 90), S. 23–44;
Albrecht Koschorke, Brüderbund und Bann. Das Drama der politischen Inklusion in
Schillers ›Tell‹. In: Uwe Hebekus u. a. (Hg.), Das Politische. Figurenlehren des politischen
Körpers nach der Romantik, München 2003, S. 106–122.
12 Vgl. Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994, S. 445.
179
Jürgen Brokoff
nicht der Ausdruck tölpelhafter Ahnungslosigkeit. Dieser Punkt ist wichtig, um die
kindliche Einfalt Tells von der kindischen Einfalt abzugrenzen. Es ist Tells kindliche,
nicht kindische Einfalt, die ausgehend von der Hut-Szene die nachfolgende Hand-
lung des Stücks in Gang setzt.
Die Integrität von Tells kindlicher Einfalt wird zur Zielscheibe des Reichsvogtes
Geßler, der Tell dazu zwingt, die Armbrust auf den Kopf des eigenen Sohnes anzu-
legen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Folter, die ihr Motiv nicht in der Bestrafung
des Unbotmäßigen, sondern in der Zurschaustellung eines totalitären Machtwillens
hat, wird im Drama als solche benannt. Das »Ungeheure« (FA 5, Vs. 1890), das der
Reichsvogt Tell zumutet, bedeutet die Zerstörung der natürlichen Ordnung. Unter
dieser natürlichen Ordnung ist zunächst das Vater-Sohn-Verhältnis zu verstehen.
Dessen Eingebundenheit in den Naturzusammenhang wird mehrfach im Drama
thematisiert, am deutlichsten nach der Apfelschuss-Szene zu Beginn des vierten Auf-
zuges. Dort heißt es:
Zu zielen auf des eignen Kindes Haupt,
Solches ward keinem Vater noch geboten!
Und die Natur soll nicht in wildem Grimm
Sich drob empören […]. (FA 5, Vs. 2139–2142)
Die natürliche Ordnung wird aber auch insofern zerstört, als der Reichsvogt eine
Entstellung normaler zwischenmenschlicher Verhältnisse bewirkt. Geßler sucht sich
»das Seltsame« (FA 5, Vs. 1906) für Tell aus, um seine bizarre Lust in einer be-
sonderen Art der »Kurzweil[ ]« (FA 5, Vs. 1912) zu befriedigen. Mit der grausamen
Aufmerksamkeit eines Experimentators verfolgt er die Gefühlsregungen und Ver-
haltensweisen Tells und ist laut Bühnenanweisung »erstaunt« (FA 5, vor Vs. 2033),
dass Tell die ihm aufgezwungene Tat ausführt und schießt. Bedenkt man, dass man
es hier mit einer existentiellen Extremsituation zu tun hat, in der es um das Leben
Tells und seines Knaben geht, so springt das Widernatürliche des vom Reichsvogt
Arrangierten ins Auge.
Zu den im Drama beklagten »Taten wider die Natur« (FA 5, Vs. 2677), die zu
Beginn des Stücks in einer Vergewaltigung und einer Folterung manifest werden,
gehört auch der Entschluss Tells, tatsächlich auf seinen Sohn zu schießen und nicht
etwa den Pfeil auf Geßler selbst zu richten. Dies gilt es bei aller Nötigung und Folter,
die Tell widerfährt, sich bewusst zu machen. Im Moment des Schusses, der die Zer-
störung der natürlichen Ordnung besiegelt, verliert Tell seine Unschuld und nicht
erst bei der späteren Ermordung Geßlers. Dies verdeutlicht die Reaktion von Tells
Frau Hedwig noch vor dem Mord am Reichsvogt. Den Sohn wieder in den Armen
haltend, stellt sie ungläubig fest:
Und ist es möglich? Konnt’ er auf dich zielen?
Wie konnt’ ers? O er hat kein Herz – Er konnte
Den Pfeil abdrücken auf sein eignes Kind! (FA 5, Vs. 2315–2317)
Den Einwand, Tell habe in einer Zwangslage gehandelt, lässt sie nicht gelten:
»O hätt er eines Vaters Herz, eh er’s / Getan, er wäre tausendmal gestorben!« (FA 5,
Vs. 2320f.) Vor diesem Hintergrund wird die Weigerung Hedwigs am Ende des
180
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
Stücks, ihren Mann bei der Hand zu fassen, doppeldeutig. Entgegen der von Tell
lautstark reklamierten Reinheit seiner »Hände« (FA 5, Vs. 3180) sind diese zweifach
befleckt: durch den Mord an Geßler, aber auch durch den Schuss auf das eigene
Kind.
Dass dies von Tell selbst reflektiert wird, zeigt der lange Monolog vor der Ermor-
dung Geßlers, den Schiller als das »beste im ganzen Stück« (FA 5, 807) bezeichnet
hat. Man sollte sich durch die Rechtfertigungsversuche des angehenden Tyrannen-
mörders in der zweiten Hälfte des Monologs und durch die spätere Verklärung des
Schützen zum »Retter« (FA 5, Vs. 3086) und »Stifter« der Freiheit (FA 5, Vs. 3083)
nicht blenden lassen. Der Anfang des Monologs spricht eine andere Sprache. Dort
stellt Tell zwischen seiner vergangenen Tat, dem Schuss auf das eigene Kind, und
seiner zukünftigen Tat, der vorsätzlichen Tötung Geßlers, eine unheilvolle Verbin-
dung her:
Du hast aus meinem Frieden mich heraus
Geschreckt, in gährend Drachengift hast du
Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt,
Zum Ungeheuren hast Du mich gewöhnt –
Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setzte,
Der kann auch treffen in das Herz des Feinds. (FA 5, Vs. 2571–2576)
Zwei Aspekte sind hervorzuheben: Erstens zeigt die Vergiftung an, dass Tell durch
die Folter in die vom Reichsvogt verursachte Zerstörung der natürlichen Ordnung
hineingezogen wird. Er hat sich an das »Ungeheure« gewöhnt. Die Wiederaufnah-
me dieses Wortes im Monolog verbindet die Foltertat Geßlers mit Tells Tat. Und
zweitens tragen Vergiftung der Denkart und Gewöhnung ans Ungeheure den Mord
an Geßler bereits keimhaft in sich. Die Satzkonstruktion der beiden letzten Verse:
»Wer […], der […]« ist eine konsekutive. Die Ermordung Geßlers ist die böse und
hässliche Frucht des zuvor Geschehenen.
Dies wirft die Frage auf, worin sich, neben der Tat selbst, dieser negative Ent-
wicklungsprozess manifestiert und was die Folgen13 von Tells Vergiftung sind.
Erstens verliert Tell die Fähigkeit, spontan zu handeln. Zwischen dem Entschluss,
den Reichsvogt aus Rache für die Zerstörung der natürlichen Ordnung zu töten
– Tell spricht davon, dass er »die heilige Natur« rächt (FA 5, Vs. 3182) –, und der
Ausführung der Tat liegt eine beträchtliche Zeitspanne. Tell, der zuvor behauptet
hat, »nicht lange prüfen oder wählen« (FA 5, Vs. 443) zu können, überlegt nun sehr
lange, warum er so handeln muss, wie er handelt. Und er geht dazu über, mehr über
die nützlichen Folgen seines Handelns zu sprechen als über das Handeln selbst. Er
beginnt sich zu rechtfertigen. Verloren geht bei dieser Überlegung die Sicherheit
desjenigen, der intuitiv weiß, dass er das Richtige tut. Die mehrfache Wiederholung
des Wortes »Mord« (FA 5, Vs. 2570, 2621, 2634) in Tells Monolog sollte zu denken
geben, denn sie weist auf das Schuldbewusstsein des Tyrannenmörders hin.
13 Peter-André Alt spricht zu Recht von den »Folgelasten«, die es im Zusammenhang mit
Tells Tat zu ermessen gilt (Peter-André Alt, Friedrich Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2,
München 2000, S. 580).
181
Jürgen Brokoff
Hinzu kommt, dass Tells Überlegungen keine Einheit bilden. Nicht nur wandern
sie von der Selbstkritik des Vergifteten zu den Rechtfertigungsversuchen des heili-
gen Beschützers der Familie. Der Monolog springt auch vom einen Adressaten zum
andern – erst ist es Geßler, dann der Pfeil, die Bogensehne, dann sind es die eigenen
Kinder, die Tell anredet. Beides deutet auf die wachsende Unsicherheit des Sprechers
hin. Die dem Mord an Geßler vorausgehende Reflexion Tells ist in dieser Perspekti-
ve nicht der politische Bewusstwerdungsprozess eines bisher Unpolitischen, sondern
das verunsicherte und orientierungslos gewordene Suchen nach einem Leitfaden für
das eigene Handeln. Tell ist durch die Nötigung, auf das eigene Kind zu schießen,
der Kompass abhandengekommen, mit dessen Hilfe er intuitiv entscheiden kann,
was gut und richtig ist. Er hat mit der Unschuld die moralische Einfalt verloren.
Die Unsicherheit Tells in moralischen Fragen setzt sich in der Parricida-Szene am
Ende des Stücks fort. Dort grenzt Tell einerseits seine Tat von der Ermordung des
Kaisers durch den Herzog von Schwaben ab und leugnet in offenem Widerspruch
zu seinem Eingeständnis im Monolog, einen Mord begangen zu haben. Andererseits
aber bekennt er gegenüber dem Herzog von Schwaben, »ein Mensch der Sünde«
(FA 5, Vs. 3222) zu sein. Hinter diesem Bekenntnis steckt mehr als der Hinweis auf
die moralische Hinfälligkeit des Menschen. Es mahnt an die eigene, im Schuss auf
den Sohn und im Mord an Geßler begangene Sünde und widerlegt damit die voran-
gegangene Behauptung der eigenen »Unschuld« (FA 5, Vs. 2793).
Von »Schuld« (FA 5, Vs. 2589) hat Tell im Monolog selbst gesprochen. Ist dies
der Ausdruck eines Schuldbewusstseins, so objektiviert sich dieser Ausdruck in der
Sprache des Dramas. Die Ermordung Geßlers wird als »gräßliches« Ereignis (FA 5,
Vs. 3223) bezeichnet. Mit demselben Begriff des Grässlichen aber wurden zuvor
nicht nur die Folterung eines alten Mannes (vgl. FA 5, Vs. 638) und Tells Schuss
auf das eigene Kind bezeichnet (vgl. FA 5, Vs. 1946), sondern auch die Ermordung
des Kaisers (vgl. FA 5, Vs. 2964) durch Johannes Parricida, die nach der Ermordung
Geßlers bekannt wird. Folgt man der Sprache und Wortwahl des Dramas, steht der
Mord an Geßler in einer Kontinuität grässlicher Gewalttaten, die an keiner Stelle
durchbrochen wird.14
Dass die von Tell vorsätzlich und aus dem Hinterhalt begangene Tat selbst dann
ein Glied in der Kette grässlicher Gewalttaten bleibt, wenn man dem Volk wie auch
dem Einzelnen15 ein legitimes Widerstandsrecht gegen den Tyrannen zugesteht,16
macht eine letzte Stelle deutlich. Dort wird die von Tell gegenüber dem Reichs-
vogt ausgeübte Gewalt mit einer vergleichbaren Situation in Beziehung gesetzt.
Melchthal, der Sohn des gefolterten alten Mannes, dem die Augen ausgestochen
14 Auf sprachlicher Ebene fällt zudem auf, dass sowohl der Schuss, den Tell in der Apfel-
schuss-Szene auf Geßlers Befehl hin ausführt, als auch der Schuss, der Geßler in der hoh-
len Gasse bei Küssnacht töten soll, als »Meisterschuß« (FA 5, Vs. 2043, 2649) bezeichnet
werden. Hier wird die Kontinuität zwischen den beiden Taten Tells auch begrifflich fass-
bar.
15 Vgl. Alt, Friedrich Schiller (wie Anm. 13), S. 581f.
16 Vgl. dazu neben dem Überblick bei Alt, Friedrich Schiller (wie Anm. 13), S. 572–580, vor
allem die folgende Studie: Dieter Borchmeyer, »Altes Recht« und Revolution. Schillers
182
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
wurden, und der Vater selbst verzichten in dem Moment, wo sie den verantwort-
lichen Landvogt in ihrer Gewalt haben, auf Rache; sie gewähren dem Festgesetz-
ten die Möglichkeit, über die Landesgrenze zu gehen. Walther Fürst, der Anführer
der Aufständischen aus Uri, kommentiert das so: »Wohl euch, daß ihr den reinen
Sieg / Mit Blute nicht geschändet!« (FA 5, Vs. 2912f.) Gleiches lässt sich für Tells Tat
nicht behaupten. Hier ist der Sieg mit Blut erkauft.
IV.
Mit Blick auf die ›Herrmannsschlacht‹ von entstellter Freiheit und einer Ambivalenz
der Befreiung zu sprechen, ist angesichts der in der Forschung breit diskutierten
Problematik von Kleists politischen Schriften weniger überraschend als im Fall des
›Freiheitssängers‹ Schiller.17 Die Vorliebe Kleists für Grenzphänomene und Aus-
nahmezustände18 jeglicher Art wäre hier ebenso anzuführen wie die Verflechtung
des Autors mit der Programmatik und diskursiven Praxis des preußisch-deutschen
Nationalismus.19 Gleichwohl gilt es auch hier, das Problem genau zu erfassen. Die
folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf drei, mit Blick auf die übergreifen-
de Fragestellung wichtige Aspekte: erstens die bei Kleist (und anderen) stattfindende
Einführung von Hass und Hassrede in den literarisch-publizistischen Meinungs-
kampf der Zeit, zweitens die vergiftende Wirkung, die Herrmanns Aktionen auf der
Handlungsebene auf die öffentliche Meinung und auf Thusnelda ausüben, sowie
drittens eine dramaturgische Merkwürdigkeit, die das in Kleists Drama explizit so
bezeichnete »Werk der Freiheit« (DKV II, Vs. 2177) betrifft. Dabei ist die Einsicht
von Ruth Klüger zu berücksichtigen, dass Kleists ›Herrmannschlacht‹ »kein Pro-
pagandastück«, sondern »ein Stück über die Ausübung von Propaganda und über
einen geschliffenen und überzeugten Propagandisten« ist.20
Zwischen 1806 und 1815 wird Hass in Deutschland als politische Kategorie, als
Instrument des politischen Kampfes und als Redeform in die Diskussion eingeführt.
Die Werke von Ernst Moritz Arndt spielen hierfür eine wichtige Rolle, insbesondere
die Flugschrift ›Ueber Volkshaß‹.21 Es geht dabei, wie an anderer Stelle dargelegt
wurde, um eine systematische Verschiebung der Grenzen des im politischen Raum
›Wilhelm Tell‹. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und
Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium, Tübingen 1982, S. 69–113.
17 Grundlegend hierzu Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie.
Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i. Br. 1987.
18 Vgl. dazu Nicolas Pethes (Hg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu
Heinrich von Kleist, Göttingen 2011.
19 Vgl. dazu die in den nachfolgenden Anmerkungen aufgeführte Forschungsliteratur.
20 Ruth Klüger, Freiheit, die ich meine. Fremdherrschaft in Kleists ›Herrmannsschlacht‹
und ›Verlobung in St. Domingo‹. In: Dies. (Hg.), Katastrophen. Über deutsche Literatur,
Göttingen 1994, S. 133–162, hier S. 150.
21 Vgl. Ernst Moritz Arndt, Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer Fremdsprache,
Leipzig 1813.
183
Jürgen Brokoff
Erlaubten.22 Zur Ausrottung der Besatzer sind, so Arndt in einem anderen wichti-
gen Text der Zeit, »alle Kriegskünste, Listen und Hinterlisten erlaubt«, zu den Waf-
fen gehören »Büchsen, Keulen, Sensen usw.«23 Im später entschärften preußischen
Landsturmedikt von 1813 heißt es dazu, dass der Kampf der Notwehr »alle Mittel
heiligt«.24
Die Umsetzung eines solchen Kampfes mit allen Mitteln wird in Kleists ›Herr-
mannsschlacht‹ dramaturgisch in Szene gesetzt. Dass dabei die von Carl Schmitt
theoretisierte Guerilla-Strategie des Partisanenkampfes zur Anwendung gelangt,
ist umfassend und detailliert erforscht.25 Zu betonen ist aber, dass Kleists Drama
die Vorstellung eines »fessellosen« (DKV II, Vs. 1484) Krieges, in dem alles erlaubt
ist, mit der Idee verknüpft, eine politische Affektgemeinschaft zu schaffen. Deren
Grundlage ist, wie Johannes F. Lehmann und Hans-Jürgen Schings gezeigt haben,26
der Hass:
Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern,
Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord,
Und alle Greul des fessellosen Krieges!
Was brauch’ ich Latier, die mir Gutes tun?
Kann ich den Römerhaß, eh’ ich den Platz verlasse,
In der Cherusker Herzen nicht
Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:
So scheitert meine ganze Unternehmung! (DKV II, Vs. 1482–1489)
Auf diesen Ausruf folgt die berüchtigte Hally-Episode, die unter Rückgriff auf das
Verginia-Motiv die Ermordung der von römischen Soldaten vergewaltigten Jung-
frau durch den Vater und Verwandte schildert.27 Die im Anschluss von Herrmann
22 Vgl. Jürgen Brokoff, Hass und Nation bei Ernst Moritz Arndt. In: Ders. und Robert
Walter-Jochum (Hg.), Hass / Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu
einer Theorie- und Diskursgeschichte, Bielefeld 2019, S. 291–303.
23 Ernst Moritz Arndt, Was bedeutet Landsturm und Landwehr. Nebst einer Mahnung an
deutsche Männer und Jünglinge in Preussens rheinischen Landen, Köln 1815, S. 11.
24 Zit. nach Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Poli-
tischen, Berlin 1995, S. 47.
25 Vgl. Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie (wie Anm. 17). –
Zur zeitgeschichtlichen Einordnung von Kleists Drama vgl. Richard Samuel, Kleists
›Hermannsschlacht‹ und der Freiherr von Stein. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesell-
schaft 5 (1961), S. 64–101; Ders., Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewe-
gungen der Jahre 1805–1809 [1938], aus dem Englischen von Wolfgang Barthel, Frankfurt
(Oder) 1995.
26 Vgl. Johannes F. Lehmann, Zorn, Hass, Entscheidung. Modelle der Feindschaft in den
Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006),
S. 11–29; Hans-Jürgen Schings, Hermanns Haß. Die Spur der Revolution bei H einrich
von Kleist. In: Ders., Revolutionsetüden. Schiller, Goethe, Kleist, Würzburg 2012,
S. 179–214.
27 Vgl. Christine Künzel, Gewaltsame Transformationen. Der versehrte weibliche Körper als
Text und Zeichen in Kleists ›Hermannsschlacht‹. In: KJb 2003, 165–183; Barbara Vinken,
184
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
185
Jürgen Brokoff
ihren Willen zur Rache bekundet hat, vom »erste[n] Sieg« (DKV II, Vs. 1865), der
erfochten wurde.
Dass die militärische »Freiheitsschlacht« (DKV II, Vs. 1450), die mit dem Sieg
der Germanen über die Römer endet, nicht von Herrmann selbst geschlagen wird,
führt zum letzten Punkt, der eine begriffliche und zugleich dramaturgische Merk-
würdigkeit des Kleist’schen Textes betrifft. In der zwölften und dreizehnten Szene
des fünften Aufzugs erfährt der römische Anführer Septimius die Wahrheit über
das falsche Spiel von Herrmann, und zugleich wird ihm sein Todesurteil mitgeteilt.
Eingeleitet wird diese Szenenfolge mit dem programmatisch klingenden Vers: »Jetzt
muß das Werk der Freiheit gleich beginnen.« (DKV II, Vs. 2177) Was dann aber
folgt, ist das genaue Gegenteil einer von Freiheit bestimmten Handlung. Septimius
beruft sich auf sein Recht als Gefangener, und Herrmann weist dessen Erinnerung
an »Pflicht und Recht« (DKV II, Vs. 2208) mit Entschiedenheit zurück. Daraus
ergibt sich der folgende Wortwechsel:
herrmann auf sein Schwert gestützt:
An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe!
Er hat das Buch vom Cicero gelesen.
Was müßt’ ich thun, sag’ an, nach diesem Werk?
Septimius Nach diesem Werk? Armsel’ger Spötter, Du!
Mein Haupt, das wehrlos vor Dir steht,
Soll Deiner Rache heilig sein;
Also gebeut Dir das Gefühl des Rechts,
In Deines Busens Blättern aufgeschrieben!
Herrmann indem er auf ihn einschreitet:
Du weißt was Recht ist, Du verfluchter Bube,
Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,
Um uns zu unterdrücken?
Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,
Und schlagt ihn tot! (DKV II, Vs. 2208–2220)
Selbst die paulinische Unterscheidung von Geist und Buchstabe, bei der auch nach
Ansicht des Römers das Rechtsgefühl, das in der Brust des Menschen Aufgeschrie-
bene den Vorzug vor einer maßgeblichen Schrift der antiken Ethik, Ciceros ›De
officiis‹, erhält, vermag es nicht, Herrmann von seiner eklatanten Missachtung der
Rechte des Gefangenen abzuhalten.29 Fast hat man den Eindruck, dass hier wie an
anderen Stellen vom Protagonisten des Dramas die vollständige Umkehrung des
bisher Gültigen und Erlaubten angestrebt wird. Auch hier lässt sich eine versteckte
Auseinandersetzung mit Schillers ›Wilhelm Tell‹ vermuten, wo in der Rütli-Szene
explizit auf die Trennung von Geist und Buchstaben Bezug genommen wird. Die
folgenden Verse könnte auch Kleists Septimius-Figur gesprochen haben: »Sind
auch die alten Bücher nicht zur Hand, / Sie sind in unsre Herzen eingeschrieben.«
(FA 5, Vs. 1121f.) Dass ausgerechnet die Septimius-Szene, an deren Ende der Auf-
ruf zur Tötung mit der Keule steht, in Kleists Drama als Beginn des »Werk[s] der
29 Vgl. dazu auch Schings, Hermanns Haß (wie Anm. 26), S. 201f.
186
Entstellte Freiheit, Ambivalenz der Befreiung
Freiheit« (DKV II, Vs. 2177) bezeichnet wird, ist merkwürdig und sollte zu den-
ken geben. Zugleich deutet sich in der höhnischen Äußerung »Du weißt was Recht
ist, Du verfluchter Bube« (DKV II, Vs. 2216) eine anti-koloniale Stoßrichtung von
Herrmanns Figurenrede an.30 Ruth Klüger hat nicht von ungefähr im Kontext der
›Herrmannsschlacht‹ und der Erzählung ›Die Verlobung in St. Domingo‹ auf den
Klassiker des Anti-Kolonialismus, Frantz Fanons ›Die Verdammten dieser Erde‹ von
1961, hingewiesen.31
Verweist der Aspekt des Anti-Kolonialen unverkennbar auf die Abgründe und
Ambivalenzen des Freiheitsbegriffs in der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts, so
zielt bereits das letzte zu Ende geführte klassische Drama Schillers mit der psycholo-
gischen und moralischen Ausleuchtung der Abgründe im Inneren des Protagonisten
in eine ähnliche Richtung. Damit verringert sich keineswegs der Abstand, der zwi-
schen diesen beiden so unterschiedlichen Dramen besteht. Aber dieser Abstand lässt
sich mit Blick auf das behandelte Problem einer entstellten Freiheit innerhalb eines
diskursgeschichtlichen Zusammenhangs diskutieren, der die eingangs angeführte
Kluft zweier Zeitalter zwar nicht aufhebt, aber doch überbrückt.
30 Vgl. Peter Horn, Der Terror des antikolonialen Kampfes: Kleist und ›Die Herrmanns-
schlacht‹. In: Ricarda Schmidt, Seán Allan und Steven Howe (Hg.), Heinrich von Kleist:
Konstruktive und destruktive Funktionen von Gewalt, Würzburg 2012, S. 133–146.
31 Vgl. Klüger, Freiheit, die ich meine (wie Anm. 20), S. 167f.
187
Astrid Dröse
Journalpoetische Konstellationen
Kleist, Körner, Schiller
›Über das Marionettentheater‹, erschienen in vier Teilen (12. bis 15. Dezember 1810)
in den ›Berliner Abendblättern‹, gilt als Kleists Abrechnung mit der Weimarer Ästhe-
tik, insbesondere mit Schillers Schrift ›Über Anmut und Würde‹. Indem Kleist einer
hölzernen Spielpuppe Grazie zuschreibt, stelle das ›Marionettentheater‹ – so die domi-
nierende Interpretationslinie – eine ›Provokation‹ oder ›Kenosis‹ der idealistischen
Ästhetik, eine ›Schiller-réécriture‹1 beziehungsweise eine Revision oder »›Desakralisie-
rung‹«2 von ›Über Anmut und Würde‹ dar. Das Narrativ von Kleist als Antiklassizist
und Überwinder der Klassik, insbesondere der Schiller’schen Ästhetik, beherrscht die
Forschung bis in jüngste Zeit.3 Zweifellos stellt ›Über das Marionettentheater‹ den
Versuch dar, ästhetische Prinzipien der Weimarer Klassik herauszufordern.4 Aber ist
die Schiller’sche Abhandlung wirklich die Folie, vor der Kleist seinen Versuch einer
›renitenten Ästhetik‹ entwickelt? Lässt sich die Vorstellung vom ›Marionettentheater‹
als Schiller-réécriture mit den historischen Tatsachen und Kontexten vereinbaren?
Sieht man genauer hin, erweisen sich die Zusammenhänge als komplexer. Einerseits
konnte ein »enges intertextuelles Verhältnis«5 zu Schiller im ›Marionettentheater‹
1 Ulrich Johannes Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Marionetten-
theater‹ als Schiller-réécriture. In: KJb 2006, 75–99.
2 Ulrich Johannes Beil, Über das Marionettentheater. In: KHb, 152–156, hier 155.
3 Ȇberwiegend einig ist sich die Kleist-Forschung in der Diagnose von Kleists Antiklassizis-
mus«, so Lehmann, der zugleich vor der »zum Klischee gewordenen Rede von Kleist als
Antiklassizist« und insbesondere als »Antipode Schillers« warnt (Johannes F. Lehmann,
Einführung in das Werk Heinrich von Kleists, Darmstadt 2013, S. 48). Zum Verhältnis
Kleist–Schiller vgl. zusammenfassend Claudia Benthien, Schiller. In: KHb, 219–227.
Zuletzt hat Anne Fleig darauf hingewiesen, dass die Forschung die Schiller-Bezüge bei
Kleist zwar immer wieder angemerkt hat, eine systematische Untersuchung jedoch weiter-
hin ein Desiderat darstellt (vgl. Anne Fleig, Eine Tragödie zum Totlachen? Shakespeare,
Schiller, Kleist. In: KJb 2017, 86–97, hier 88, Anm. 10). Vgl. Bernhard Greiner, Kleists
Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen und Basel
2000, S. 197–202 sowie Helmut Koopmann, Schiller und Kleist. In: Aurora 50 (1990),
S. 127–143. Dieter Martin betont die Rolle Wielands als Vermittler zwischen Kleist und
Weimarer Klassik (vgl. Dieter Martin, Beschreibung eines ›Kampfes‹ – Kleist und die Wei-
marer Klassik. In: Werner Frick [Hg.], Heinrich von Kleist. Neue Ansichten eines rebel-
lischen Klassikers, Freiburg i. Br., Berlin und Wien 2014, S. 367–390, hier S. 369–375).
4 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. hierzu Eckart Goebel, Charis und Charisma.
Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger, Berlin 2006, S. 52f.
5 Lehmann, Einführung (wie Anm. 3), S. 54.
189
Astrid Dröse
nämlich bislang weder nachgewiesen werden, noch liegen Rezeptionszeugnisse vor, die
Kleists Lektüre der Schiller’schen Abhandlung eindeutig belegen würden.6 Anderer-
seits lässt sich nicht in Abrede stellen, dass Gedanken der maßgeblich von Schiller
formulierten Konzepte der Klassik hier aufgerufen und im Gewand einer bizarren
Zeitungsanekdote durchgespielt werden.7
Von diesem Befund ausgehend möchte ich im Folgenden eine historische Konstel-
lation beleuchten, die die problematische Frage nach Kleists Schiller-Rezeption im All-
gemeinen, mit Blick auf ›Über das Marionettentheater‹ im Besonderen neu perspekti-
6 Vorsichtiger argumentiert zunächst zum Beispiel Gail K. Hart, Anmut’s Gender. The
›Marionettentheater‹ and Kleist’s Revision of ›Anmut und Würde‹. In: Women in German
Yearbook 10 (1994), S. 83–94, hier S. 84: »In many cases, we do not know what Kleist actu-
ally read – scholars are not even certain that his ›Kant-Krise‹ was precipitated by reading
Kant – but ›Anmut und Würde‹ and its arguments were available to him and a compa-
rative reading of the two essays strongly suggests that Kleist responded either to the essay
itself or to some version of its contents«. Trotz dieser anfänglichen Zurückhaltung wird
bald konstatiert: »[…] form and content express residence to Schiller«. Im Folgenden ana-
lysiert Hart den Aufsatz in Gender-Perspektive. Dabei stellt sie fest, dass Kleist Schillers
Bestimmung der Anmut als weibliches Charakteristikum in parodistischer Weise umdeute,
indem er das Grazie-Konzept im dezidiert homosozialen Kontext (»homosocial bonds«)
diskutiere und mit homoerotischen Konnotationen auflade: Kleist »de-feminizes« Schiller
(S. 87). Diese Lektüre mag »originell« (so Helmut Schneider, Dekonstruktion des herme-
neutischen Körpers. Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹ und der Diskurs der
klassischen Ästhetik. In: KJb 1998, 153–175, hier 164, Anm. 11) sein, einen Beweis für ihre
Prämisse liefert Hart nicht. Diese Argumentationslücke ist exemplarisch für viele weitere
Beiträge (z. B. Roger W. Müller Farguell, Tanz-Figuren: zur metaphorischen Konstitution
von Bewegung in Texten – Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche, München 1995; Constantin
Behler, »Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt?« Kleist, Schiller, de Man und die Ideo-
logie der Ästhetik. In: Athenäum. Jahrbuch der Romantik 2 [1992], S. 131–164), die sich in
die Nachfolge Paul de Mans stellen. Demgegenüber sind wenige Versuche unternommen
worden, den Kleist-Aufsatz »den Fluten subtilster philosophischer Interpretationen zum
Trotz« (Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst: Studien zur ›eloquentia
corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 290) in zeitgenössischen Diskursen, bei-
spielsweise in theatergeschichtlichen Kontexten, zu verorten (vgl. Alexander Weigel, Der
Schauspieler als Maschinist. Heinrich von Kleists ›Über das Marionettentheater‹ und das
›Königliche Nationaltheater‹. In: Dirk Grathoff [Hg.], Heinrich von Kleist: Studien zu Werk
und Wirkung, Opladen 1988, S. 263– 281; Klaus Kanzog, Wer ist Herr C. in Kleists ›Über
das Marionettentheater‹? In: KJb 2007, 303–306). Wichtige Impulse gingen von der Tanz-
forschung aus (vgl. die Studien von Gabriele Brandstetter, z.B. Gabriele Brandstetter, Kleists
Choreographien. In: KJb 2007, 25–37).
7 Gelegentlich wurde auch gegen die Lektüre im Gefolge Paul de Mans hervorgehoben,
dass die »Irritationsmomente« in Schillers Ästhetik – die Spannung zwischen ethischer
und ästhetischer Begründung von »Form« – mit Kleists ›Marionettentheater‹ mehr tei-
len, als dass sie als Negativfolie verstanden werden können. Schillers Konzept der Anmut
und Kleists Kerngedanke im ›Marionettentheater‹ – der säkularisierte Sündenfall – wären
demnach als »Ausdruck einer gemeinsamen diskursiven Problemstellung« zu lesen, »die
mit der Entfremdungserfahrung und der Ursprungssuche der aufbrechenden Moderne zu
tun hat.« (Sabine Schneider, Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers
Semiotik der Sinnlichkeit, Würzburg 1998, S. 167f.)
190
Journalpoetische Konstellationen
viert: Das missing link zwischen Schiller und Kleist, zwischen ›Anmut und Würde‹ und
›Marionettentheater‹, ist, so meine These, Christian Gottfried Körner.8 Mit dem engen
Vertrauten Schillers stand Kleist in seiner Dresdner Zeit in näherem Kontakt. 1808
erschien Körners Abhandlung ›Über die Bedeutung des Tanzes‹ in Kleists ›Phöbus‹ –
eine Abhandlung, die im Kontext der ›Kallias‹-Briefe bereits 1795 entstanden war.
Die hier entfaltete autonomieästhetische Begründung des Tanzes stand Kleist somit
direkt vor Augen, als er das ›Marionettentheater‹ für die ›Berliner Abendblätter‹ konzi-
pierte. Zentral für einen neuen Blick auf diesen »überinterpretier[ten]«9 Text sind die
erwähnten Publikationskontexte. Journale haben eine katalysatorische Wirkung, was
die Verbreitung, Durcharbeitung und Pluralisierung des ›klassizistischen Diskurses‹
betrifft, an dem auch Kleists ›Über das Marionettentheater‹ partizipiert.
Um Kleists Verhältnis zur Klassik zu beurteilen, bietet sich als Ausgangspunkt ein
Blick in die von Kleist herausgegebene Zeitschrift ›Phöbus‹ an.10 Nach seiner Ent-
8 Hier schließe ich an die Überlegungen von Rüdiger Görner (Charakter und Grazie. Einflüsse
Christian Gottfried Körners auf Kleists ›Marionettentheater‹? In: Literaturwissenschaftliches
Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft, NF XXIV [1983], S. 77–88) an, die in der
Forschung zum ›Marionettentheater‹ seltsamerweise wenig rezipiert wurden. Der zentrale
Hinweis auf Körner wurde auch im entsprechenden Handbuch-Artikel nicht gewürdigt.
9 »Wenn wir die Figur des ›abbrechenden Hinzufügens‹ (zugegebenermaßen, wie man sagt,
›überinterpretierend‹) als Verdichtung der gegensätzlichen Momente von körperlicher
Bedrohung und sinnorientierter Heilung lesen, so würde sie in räumlicher (mechanischer,
äußerlicher) Vorstellung das zeitlich-spirituelle Schema der Geschichtsphilosophie von
Spaltung und Heilung parodieren […].« (Schneider, Dekonstruktion des hermeneuti-
schen Körpers, wie Anm. 6, S. 164) Einen kritischen Überblick über den state of the art der
Forschung zum ›Marionettentheater‹ der 1970er- und 1980er-Jahre bietet Klaus Kanzog,
Heinrich von Kleists ›Über das Marionettentheater‹ – wirklich eine Poetik? In: Dieter
Borchmeyer (Hg.), Poetik und Geschichte. Victor Žmegač zum 60. Geburtstag, Tübingen
1989, S. 349–362.
10 Vgl. zum ›Phöbus‹ Anton Philipp Knittel, Zeitungen und Zeitschriften. ›Phöbus‹. Ein
Journal für die Kunst. In: KHb, 162–166; Anton Philipp Knittel, »Ich bin wieder ein
Geschäftsmann geworden«. Der ›Phöbus‹ im Spannungsfeld von Tausch und Täuschung.
In: Christine Künzel und Bernd Hamacher (Hg.), Tauschen und Täuschen. Kleist und
(die) Ökonomie, Frankfurt a. M. 2013, S. 35–53; Christian Meierhofer, Hohe Kunst und
Zeitungswaren. Kleists journalistische Unternehmen. In: Zeitschrift für deutsche Philo-
logie 131 (2012), S. 161–190; Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt
a. M. 2011, S. 305–325; Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, Stuttgart 2002, S. 88–101;
Justus Fetscher, ›Horen‹ – ›Athenäum‹ – ›Phöbus‹. Literaturkritische Spitzenzeitschriften. In:
Beiträge zur Kleist-Forschung 2007 / 08, S. 175–190; Anton Philipp Knittel, Der ›Phöbus‹.
Zwischen Kriegs- und Lebenskunst. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2007 / 08, S. 157–174;
Gabriele Kapp, Kunst zu hören – »Kunst […] zu lesen«. Anmerkungen zu Kleists sprach-
experimentierender Dramaturgie im ›Guiskard‹-Fragment der ›Phoebus‹-Zeit. In: C hristian
Kluwe und Jost Schneider (Hg.), Humanität in einer pluralistischen Welt? Themen-
191
Astrid Dröse
lassung aus der französischen Kriegsgefangenschaft war Kleist im August 1807 über
Berlin nach Dresden gelangt und hatte hier u. a. die Bekanntschaft Adam Müllers
gemacht, mit dem er zunächst gemeinsam den Plan zur Gründung einer Verlags-
buchhandlung (»Phönix«11) verfolgte. Kleist hatte mehrere Manuskripte parat, die er
dringend veröffentlichen wollte, Müller strebte eine Publikation seiner in D resden
erfolgreich gehaltenen Vorlesungen an. Das Vorhaben scheiterte am Widerstand
der örtlichen Buchhändler. Als Alternative projektierten Kleist und Müller bald
ein Zeitschriftenunternehmen im Selbstverlag. Damit begaben sie sich auf ein
umkämpftes Terrain, denn schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kon-
kurrierten rund 200 literarische und ebenso viele historisch-politische Zeitschriften
auf dem deutschen Buchmarkt, nach 1800 vergrößerte sich die Zahl um ein Viel-
faches.12 Andererseits führte gerade für einen hauptberuflichen Autor kein Weg
am Journal vorbei: »[D]ie Zukunft des literarischen Marktes lag nicht mehr nur in
Büchern, sondern vor allem in Zeitschriften«.13 Um also auf dem überschwemmten
Journalmarkt konkurrenzfähig zu sein, mussten Kleist und Müller eine spezifische
›Journalpoetik‹14 entwickeln, die Aufmerksamkeit erregen und ein breites oder auch
spezielles Publikum an sich binden konnte. An sich standen die Zeichen für ein sol-
ches Vorhaben gerade in der politisch stabilen Hauptstadt eines Rheinbundstaates
mit einem kunst- und literaturaffinen, intellektuellen Publikum nicht schlecht.
Man entschied sich, auch den Dresdner Maler Ferdinand Hartmann in das Pro-
jekt zu integrieren, der für die Sparte ›Bildende Kunst‹ zuständig sein sollte, Müller
192
Journalpoetische Konstellationen
15 Barbara Gribnitz weist auf die Verbindung von Kleist und Christian Gottfried Körners
Sohn, Theodor Körner, hin (vgl. Barbara Gribnitz, Glück auf ! Heinrich von Kleist und
Theodor Körner. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2007/2008, S. 143–55).
16 Vgl. Heinrich von Kleist und Adam Heinrich Müller (Hg.), Phöbus. Ein Journal für die
Kunst. Faksimile-Nachdruck, hg. mit Nachwort und Kommentar von Helmut Sembdner,
Stuttgart 1961, hier S. 603. Im Folgenden wird der ›Phöbus‹ im Fließtext nach dieser Aus-
gabe unter Angabe von Stück und Seitenzahl zitiert. – Körner hatte offenbar eine Neigung
zu Journalprojekten, die er allerdings nie selbst in Angriff nahm, sondern seinen Freunden
anempfahl. »Du äußerst den Wunsch, daß ich mich wieder auf eine Periodische Schrift
einlassen möchte, und ich selbst wünschte um Deinetwillen es möglich machen zu kön-
nen. Aber ich bin durch die Thalia, die Horen und den Almanach auf immer und ewig
davon abgeschreckt«, schreibt Schiller an Körner am 17. März 1802 (NA 31, 118f.). Schillers
Texte werden unter der Sigle NA mit Band und Seitenzahl zitiert nach: Schillers Werke.
Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im Auftrag
der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert
Oellers.
17 Zu den ›Horen‹ als Modell für Zeitschriftenunternehmen um 1800 auch mit Verweis auf
Kleists Journal vgl. Ernst Osterkamp, Neue Zeiten – neue Zeitschriften. Publizistische
Projekte um 1800. In: Zeitschrift für Ideengeschichte I (2007), S. 62–78.
18 Für einen Überblick vgl. Knittel, Zeitungen und Zeitschriften. ›Phöbus‹. Ein Journal
für die Kunst (wie Anm. 10). Meierhofer betont die Bedeutung von Müllers ›Lehre vom
Gegensatz‹ (1804) für die Gesamtgestaltung des ›Phöbus‹ (vgl. Meierhofer, Hohe Kunst
und Zeitungswaren, wie Anm. 10). Osterkamp rückt die intermediale Dimension ins
Zentrum (vgl. Osterkamp, Das Geschäft der Vereinigung, wie Anm. 10). Eine Gesamt-
darstellung des ›Phöbus‹ bleibt ein Desiderat der Kleist-Forschung.
193
Astrid Dröse
Die Nennung der ›Horen‹ muss dabei als Hinweis auf das Weimarer Journal ver-
standen werden. In Schillers ›Horen‹-Vorrede werden die drei Horen, die »in
leichten Tänzen« die Welt umkreisen und die »welterhaltende Ordnung« symbo-
lisieren, als Regentinnen der Zeitschrift bezeichnet.19 Ob das Prolog-Gedicht als
»radikale Kontrafaktur« der ›Horen‹-Programmatik bezeichnet werden kann,20 wäre
jedoch zu hinterfragen. Die ›Horen‹ erscheinen in Kleists Gedicht und auf dem
Stich nach Hartmanns Gemälde jedenfalls nicht als Kontrahentinnen, sondern
als Begleiterinnen, als beruhigende, weibliche Entourage des virilen Phöbus. Das
Verhältnis von Phöbus und Horen zueinander lässt sich hier kaum als aggressiv,
nicht einmal als kompetitiv beschreiben. Die Göttinnen unterbinden vielmehr den
drohenden Kontrollverlust und fungieren als Garantinnen der Balance. Dement-
sprechend erkennt aus der Ferne, »vom Wartthurm« aus, »ein Späher das Maas«
des am Himmel vorbeibrausenden Ensembles, was auf metrischer Ebene durch
die Bewahrung strenger Distichen unterstrichen wird.21 Ein avantgardistischer
Anspruch wird gleichwohl selbstbewusst artikuliert: Der Blick des Gottes soll sich
mit den Horen als Instanzen des Ausgleichs in die Zukunft richten, weder zurück
noch zur Seite soll er sich wenden. Programmatisch gedeutet: Weder das Vorbild
– die ›Horen‹ – noch die Journalkonkurrenz22 sollen Phöbus von seiner freien Ent-
faltung abhalten.23
19 Friedrich Schiller, Vorrede. In: Die Horen. Jahrgang 1795, Erstes Stück, S. VIf.
20 Andrea Polaschegg, Phöbus am Grabe des Herrn. Medienpolitik und Religionspoetik im
ersten Heft von Kleists ›Journal für die Kunst‹. In: KJb 2018, 47–68, hier 52.
21 Eine metrische Durchbrechung der Distichen im letzten Vers (»Und auch vom Wart
thurm entdeckt unten ein Späher das Maas.«) ist nicht erkennbar. Es handelt sich um
einen regelkonformen Pentameter, der allerdings etwas holprig gestaltet ist (so auch das
Urteil Böttigers im ›Freimüthigen‹ vom 5. / 6. Februar 1808, vgl. LS 225a). Vgl. dagegen
Polaschegg, Phöbus am Grabe des Herrn (wie Anm. 20), S. 52f.
22 Zu denken ist hier beispielsweise an die von Leo von Seckendorff und Johann Ludwig Stoll
in Wien gegründete Zeitschrift ›Prometheus‹. Vgl. Knittel, Der ›Phöbus‹ (wie Anm. 10),
S. 167.
23 Am Ende des ersten Heftes findet sich ein Epilog-Gedicht, das zusammen mit dem
Prolog die Lieferung rahmt. Hier bilden laut Meierhofer »die nächtliche Ruhe und
das Verschnaufen der Pferde nach dem fast tödlichen Parforceritt das Gegenstück zum
Eröffnungstext.« Meierhofer bezieht diese Spannung zwischen Prolog und Epilog auf
Müllers, ebenfalls im ›Phöbus‹ publizierten philosophischen Vorlesungen, in der die
»Beziehung zwischen Ruhe und Bewegung […] anhand der Analogie von Poesie und Tanz
erläutert« werden (Meierhofer, Hohe Kunst und Zeitungswaren, wie Anm. 10, S. 173).
194
Journalpoetische Konstellationen
Nicht nur die Schiller-Zeitschrift, auch Schiller selbst begegnet einem explizit
und implizit im ›Phöbus‹, so in den ersten beiden Lieferungen in Müllers
Abhandlungen über Madame de Staël.24 Schiller wird hier zum Geistesverwandten
der ›unfranzösischen‹ Französin. Dies zeige sich »in dem berühmten Gedichte
Resignation« (Zweites Stück, 46), das als Fragment (die ersten vier Strophen) in
der Übersetzung der Madame de Staël im vorherigen Heft wiedergegeben worden
war (Erstes Stück, 56). An anderer Stelle, am Ende der sechsten Lieferung, wird
eine »Laufbahn Schillers« – eine seriell erscheinende Biographie – angekündigt.
Das Journal will zum Institut der Klassikerverehrung werden, Zeitgenossen wer-
den aufgerufen, ihre Erinnerungen kundzutun, um »den Kranz, welchen wir zu
seinem Andenken winden wollen, zu bereichern« (Sechstes Stück, 44). Neben die-
sen expliziten Schiller-Bezügen ist Schiller implizit gegenwärtig: So bildet für Adam
Müllers Abhandlung ›Popularität und Mysticismus‹ im Ersten Stück des Kunst-
journals die in den ›Horen‹ ausgetragene Kontroverse mit Fichte um Popularität in
der philosophischen Darstellungsweise die Folie.25 Zu nennen sind ferner jene im
›Phöbus‹ erschienenen Kleist’schen Texte, in denen die Forschung – in unterschied-
licher Intensität – Bezüge auf Schillers Werke erkannt hat: ›Penthesilea‹,26 ›Michael
Kohlhaas‹, ›Käthchen von Heilbronn‹, oder das ›Robert Guiskard‹-Fragment.27
24 ›Über den schriftstellerischen Character der Frau von Stael-Holstein‹ (Erstes Stück, 54–56)
und ›Über die Corinna der Frau von Stael-Holstein‹ (Zweites Stück, 42–47).
25 Müller zitiert an mehreren Stellen Gedanken aus Schillers Fichte-Kritik – der Name
Fichtes fällt (»Darum ist Fichten und so vielen andern der redlichste Vorsatz der Populari-
tät nie gelungen, weil sie nicht vor allen Dingen die begriffen, welche begreifen sollten«,
Erstes Stück, 52), der Name Schillers nicht. Schiller hatte Fichtes Beitrag (›Über Geist und
Buchstab in der Philosophie‹) aus inhaltlichen und stilistischen Gründen für die ›Horen‹
abgelehnt und erklärte seine Position – das Plädoyer für die ›schöne‹, anschauliche philo-
sophische Darstellung – dazu in zwei Aufsätzen, wiederum in den ›Horen‹: ›Von den
nothwendigen Grenzen des Schönen, besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten‹
und ›Über die Gefahr ästhetischer Sitten‹, 9. Stück (1795); 11. Stück (1795).
26 Auf die Frage, in welchem Verhältnis Kleists Drama zu Schillers romantischer Tragödie
stand beziehungsweise ob er sie überhaupt kannte, kann an dieser Stelle nicht weiter ein-
gegangen werden. »Dass die Stoffwahl für ›Penthesilea‹ unabhängig von Schillers ›Jungfrau
von Orleans‹ erfolgt sein sollte«, sei – so Hartmut Reinhardt – »nicht gut denkbar« (Hart-
mut Reinhardt, Rechtsverwirrung und Verdachtspsychologie. Spuren der Schillerrezeption
bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988 / 89, 198–219, hier 215). Schiller geht es wie Kleist um
ungeheure Weiblichkeit und zugleich um die dilemmatische Lage, in der sich die jeweilige
Heldin durch die Spannung zwischen ihrer Liebe zum Feind und dem ethisch-religiö-
sen Gesetz ihres Tuns befindet. Strukturelle Analogien, die nicht zuletzt in der Stoffwahl
begründet liegen, sind auch in einzelnen Szenen erkannt und oft beschrieben worden.
Aber selbst die Zeitgenossen – zumindest die Rezensenten des ›Phöbus‹ – bemerkten keine
Zusammenhänge zwischen Schillers Johanna und Kleists Amazonenkönigin beziehungs-
weise äußerten sich in den mir bekannten Zeugnissen nicht dazu. ›Wallenstein‹- und ›Don
Carlos‹-Zitate sind hingegen identifizierbar. Vgl. Martin, Kleist und die Weimarer Klassik
(wie Anm. 3), S. 378f.
27 Die Forschung hat vor allem die ›Wallenstein‹-Bezüge hervorgehoben. Vgl. z. B. Peter Philipp
Riedl, Für den Augenblick berechnet. Propagandastrategien in Heinrich von Kleists ›Die
195
Astrid Dröse
Für die Frage nach Kleists Verhältnis zu Schiller ist ein Text aus der ersten Lieferung
des ›Phöbus‹ von besonderem Interesse, die mit dem ›organischen Fragment‹ der
›Penthesilea‹ eröffnet wird. Unmittelbar auf dieses folgt die anonyme (Autor: »**r.«)
Abhandlung ›Über die Bedeutung des Tanzes‹ (Erstes Stück, 33–38). Thematik, Stil
und ästhetische Positionen zeigen den Einfluss Schillers: Die Reflexionen über den
Tanz in den ›Kallias‹-Briefen, Schillers Elegie ›Der Tanz‹, Elemente aus ›Über Anmut
und Würde‹ und aus Schillers Geschichtsphilosophie im Allgemeinen klingen an.
Zunächst ein Blick auf Schillers Überlegungen zum Tanz: Schon in den ›Kallias‹-
Briefen verwendet Schiller das Bild des (Gesellschafts-)Tanzes als ästhetisch-
soziologische Reflexionsfigur. Die Idee von der »Schönheit der Bewegung«, die ohne
»Tanzmeisterzwang« (NA 26, 216)28 auskomme, entwickelt Schiller am Beispiel
eines englischen Kontertanzes. Dabei wird die beobachtete Tanzszene zur Allego-
rie (»Sinnbild«), die wiederum als »ästhetisierte[s] […] Sozialmodel[l]« 29 ausgelegt
wird. Der Weltmann beherrscht den Tanz als Bestandteil guter Umgangsformen,
was zugleich politische Implikationen mit sich bringt:30
Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein paßenderes Bild, als einen gut
getanzten und aus vielen verwickelten Touren componierten englischen Tanz. Ein
Zuschauer aus der Gallerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durch-
kreuzen, und ihre Richtung lebhaft und muthwillig verändern und d o c h n ie m a l s
z u s a m me n s t oß e n. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat,
wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos
ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint, und doch nie dem
anderen in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen
Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen. (NA 26, 216f.)
Durch die ›Kallias‹-Briefe zieht sich der Gedanke von der Schwerelosigkeit der
Bewegung. Schönheit ist überall dort erkennbar, »w o die Ma sse vo n der
Herrmannsschlacht‹ und in seinen politischen Schriften. In: Frick (Hg.), Heinrich von
Kleist, wie Anm. 3, S. 189–230. Auch Kleists Hauptquelle ist hier erwähnenswert: Es han-
delt sich um die im dritten Jahrgang der ›Horen‹ (1. Stück, 1797) publizierte h
istorische
Abhandlung ›Robert Guiscard. Herzog von Apulien und Calabrien‹ von Karl Wilhelm
Ferdinand von Funk.
28 Vgl. Gabriele Busch-Salmen, Naturfreiheit contra Tanzmeisterzwang. Schillers ambiva-
lentes Verhältnis zum Tanz. In: Musik in Baden-Württemberg 12 (2005), S. 19–34.
29 Gabriele Brandstetter, »Die Bilderschrift der Empfindungen« – Jean-Georges Noverres
›Lettres sur la Danse, et sur les Ballets‹ und Schillers Abhandlung ›Über Anmut und
Würde‹. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack (Hg.), Schiller und
die höfische Welt, Tübingen 1990, S. 77–93, hier S. 92. »Schillers Ästhetik der Gesellig-
keit zielt auf Vermeidung von Unfällen und Zusammenstößen, auf Konfiguration statt
Kollision. Dass damit zugleich eine politische Leitidee formuliert wird, liegt auf der
Hand.« (Jörg Robert, Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und
Kant-Rezeption, Berlin und Boston 2011, S. 414)
30 Robert, Vor der Klassik (wie Anm. 29), S. 413f.
196
Journalpoetische Konstellationen
For m, und (im Thier- u: Pflanzenreich) von den lebendigen Kräften […] v öl l ig
be her rsch t wird.« (NA 26, 205) Ein Vogel im Flug, seine »Fähigkeit über die
Schwere zu siegen«, ist in diesem Kontext das »Symbol der Freiheit« schlechthin
(NA 26, 205). Der Vogelflug veranschaulicht die Grunddefinition der ›Kallias‹-
Briefe: »Freiheit in der Erscheinung ist eins mit der Schönheit« (NA 26, 200).31
Diese Denkfigur spielt nun bekanntlich auch in ›Über Anmut und Würde‹ eine zen-
trale Rolle. »Das Antigrave ist hier […] Bild für die ästhetische Freiheit des Spiels der
Kunst«, die – wie in den erwähnten Reflexionen der ›Kallias‹-Briefe – »eine selbst-
begründete Ordnung als ornamentale Konfiguration erfindet«.32 »In einer schönen
Seele ist es also,« – so der berühmte Passus – »wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht
und Neigung harmoniren« (NA 20, 288). Dies entspricht der Vorstellung in den
›Kallias‹-Briefen, wonach beim Tanz »jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen
scheint, und doch nie dem andern in den Weg tritt« (NA 26, 216f.), jeder also einer
vernünftigen Ordnung freiwillig und zwanglos folgt.33 Ihren kulturgeschichtlichen
Referenzpunkt hat die Reflexionsfigur ›Tanz‹ bei Schiller in der Repräsentations-
kultur des Ancien Régime. In diesen Ästhetik-Komplex gehört auch die Elegie ›Der
Tanz‹ (1795), in der Schiller das »Ideal einer kollisionsfreien Selbstorganisation«34
als »stilles Gesetz« bezeichnet. Im spielerischen Organisationsmodus des »geselligen
Tanz[es]« werden individuelle Freiheit und vernünftige Ordnung des Ganzen in
Einklang gebracht. Der »tobende Sprung« wird durch den »goldenen Zügel« des
»Rhythmus« von einer unsichtbar ordnenden Macht, einer »magische[n] Hand«
gelenkt:
Sieh, wie schwebenden Schrittes im Wellenschwung sich die Paare
Drehen! Den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß.
31 Zur Metaphorik dieser Definition in der Auseinandersetzung mit Kant vgl. Jörg Robert,
›Schein und Erscheinung‹: Kant-Revision und Semiotik des Schönen in Schillers
Kallias-Briefen. In: Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich (Hg.), Friedrich Schiller. Der
unterschätzte Theoretiker, Köln und Wien 2007, S. 159–175; Karl Menges, Schönheit als
Freiheit in der Erscheinung. Zur semiotischen Transformation des Autonomiegedankens
in den ästhetischen Schriften Schillers. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.), Friedrich Schiller.
Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium, Tübingen 1982,
S. 181–199.
32 Brandstetter, »Die Bilderschrift der Empfindungen« (wie Anm. 29), S. 93.
33 Gabriele Brandstetter hat diese Verbindungslinien zwischen den gedanklichen Variatio-
nen von Tanz als harmonisches Sinnbild der Schönheit, dem ›Antigraven‹ als der als »Frei-
heit in der Erscheinung« bezeichneten Schönheit und Anmut als Schönheit der Bewegung
in Schillers frühen ästhetischen Schriften aufgezeigt (Brandstetter, »Die Bilderschrift der
Empfindungen«, wie Anm. 29, S. 92).
34 Robert, Vor der Klassik (wie Anm. 29), S. 414. Vgl. auch Albrecht Riethmüller, Friedrich
Schiller: ›Der Tanz‹. Die Harmonie des Rhythmus. In: Ders. (Hg.), Gedichte über Musik.
Quellen ästhetischer Einsicht, Laaber 1996, S. 66–90; Jürgen Barkhoff, Tanz der Körper –
Tanz der Sprache. Körper und Text in Friedrich Schillers Gedicht ›Der Tanz‹. In: Jahrbuch
der Deutschen Schillergesellschaft 45 (2001), S. 147–163; Jochen Golz, Nemesis oder die
Gewalt der Musik. In: Norbert Oellers (Hg.), Interpretationen. Gedichte von Friedrich
Schiller, Stuttgart 1996, S. 114–122.
197
Astrid Dröse
Seh’ ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes?
[…]
Jetzo, als wollt’ es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes,
Schwingt sich ein muthiges Paar dort in den dichtesten Reihn.
Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm schwindet,
Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg.
Sieh! jetzt schwand es dem Blick; in wildem Gewirr durcheinander
Stürzt der zierliche Bau dieser beweglichen Welt.
[…]
35 Zur Einordnung des Aufsatzes in die ästhetische Tanz-Debatte der Zeit vgl. Roger W.
Müller Farguell, Tanz. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6,
Stuttgart und Weimar 2005, S. 1–14, hier S. 4f.
36 Zur Tradition, Choreographie als Sprache aufzufassen vgl. Brandstetter, Kleists Choreo-
graphien (wie Anm. 6), S. 27f.
198
Journalpoetische Konstellationen
199
Astrid Dröse
Was dem Menschen am nächsten liegt, ist sein Körper, und die Luft, welche er ein-
athmet und aushauchet. In beidem fand der Trieb nach unabhängiger Thätigkeit sei-
nen ersten Wirkungskreis. In dem freien Schweben des Körpers, ohne vom Druck
der Schwere beschränkt zu werden, fühlt auch der Geist sich gleichsam seiner Bande
entledigt. Die irdische Masse, die ihn stets an die Abhängigkeit von der Aussenwelt
erinnerte, scheint sich zu veredeln und es erweitern sich die Gränzen seines Daseyns.40
Zurück zu ›Über das Marionettentheater‹. Lesen wir Kleists Text vor dem
beschriebenen Hintergrund, liegt eine Vermutung nahe: Kleist bezieht sich nicht
primär auf Schiller, sondern auf Körner. Schiller wird indirekt, eben durch das
Medium Körner, rezipiert. So scheint dessen Vorstellung eines freien Schwebens
200
Journalpoetische Konstellationen
42 Die Verbindung wurde bereits mehrfach erkannt, aber nicht zu einer weiterführenden
These mit Blick auf die Interpretation des ›Marionettentheater‹-Aufsatzes entwickelt.
Allein Rüdiger Görner geht unter Rückgriff auf Joseph P. Bauke näher auf diese Konstel-
lation ein (vgl. Görner, Charakter und Grazie, wie Anm. 8; vgl. Joseph P. Bauke, Christian
Gottfried Körner. Portrait of a literary man. Phil. Diss., University of Columbia 1963,
S. 263f.: »He was himself thinking about the dance, and we may assume that he realized
the merits of Körner’s theory. A connection with, or an influence on, Kleists ›Über das
Marionettentheater‹ cannot be proved, though there are some superficial resemblances.«)
Dirk Grathoff sieht den Zusammenhang zwischen Tanz-Aufsatz und ›Marionetten-
theater‹, beschränkt sich jedoch auf eine Feststellung: »Eine näher liegende Beziehung
zum ›Marionettentheater‹ läßt nämlich der Aufsatz von Christian Gottfried Körner ›Über
die Bedeutung des Tanzes‹ aus dem ersten ›Phöbus‹-Heft erkennen, worin Körner die
Schönheit des Tanzes als »Sieg der Form über die Masse in der Bewegung« bezeichnet
[…].« (Dirk Grathoff, Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk
Heinrich von Kleists, 2., verbesserte Auflage, Wiesbaden 2000, S. 147) Weiterführend
und mit kritischem Blick auf Görner vgl. Christiane Krautscheid, Gesetze der Kunst und
der Menschheit. Christian Gottfried Körners Beitrag zur Ästhetik der Goethe-Zeit, Diss.
TU Berlin 1998, http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/tu-berlin/diss/1998/kraut-
scheid_christiane.pdf (07.08.2019).
43 Brandstetter, Die andere Bühne der Theatralität (wie Anm. 38), S. 295.
44 So auch Krautscheid, Gesetze der Kunst und der Menschheit (wie Anm. 42), S. 242f.
45 In den Anspielungshorizont rückt auch die philosophische Reflexionsfigur der ›Mario-
nette‹, bekannt vor allem aus Platons ›Nomoi‹. Vgl. Wilhelm Blum, Kleists ›Marionetten-
theater‹ und das Drahtpuppengleichnis bei Platon. In: Zeitschrift für Religions- und
Geistesgeschichte 23 (1971), S. 40–49.
46 Schneider, Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers (wie Anm. 6), S. 159.
201
Astrid Dröse
47 Brandstetter, Die andere Bühne der Theatralität (wie Anm. 38), S. 303.
48 Der Anteil Körners an Schillers Theoriebildung (wie auch an Kleists literarischer und
kunsttheoretischer Entwicklung) ist weitgehend unerforscht, vgl. Robert, Vor der Klassik
(wie Anm. 29), S. 356, Anm. 23. Die bislang einzige selbstständige Publikation zu Körners
ästhetischen und philosophischen Arbeiten ist neben der Studie von Krautscheid (Gesetze
der Kunst und der Menschheit, wie Anm. 42) Marie Braekers Dissertation aus dem Jahr
1927 (Chr. G. Körners ästhetische Anschauungen, Diss. Münster, Hagen 1927). Braeker
berücksichtigt allerdings nicht die Schriften, die nach Schillers Tod entstanden sind.
Dementsprechend wird die Musik-Abhandlung im letzten Kapitel noch behandelt, der
Tanz-Aufsatz im ›Phöbus‹ nicht (der zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht klar als
Körners Werk identifiziert war).
49 Vgl. Adam Heinrich Müller, Adam Müllers Lebenszeugnisse, 2 Bde., hg. von Jakob Baxa,
München, Paderborn und Wien 1966, Bd. I, S. 310f.: Körner an Georg Joachim Göschen,
17. Februar 1807. Das Drama erschien dann jedoch bei Arnold in Dresden.
50 Vgl. Sembdner, Kommentar (wie Anm. 16), S. 603.
202
Journalpoetische Konstellationen
Abschließend noch einmal ein Blick auf die Publikationskontexte der ana-
lysierten Texte: Körners Abhandlung ist innerhalb der ersten Lieferung von Kotexten
gerahmt, deren Arrangement keinesfalls zufällig wirkt: Das ›Organische Fragment
aus dem Trauerspiel: Penthesilea‹, das dem Aufsatz vorausgeht, weist Elemente des
Pantomimischen und des Tanzes auf, der folgende Text ist das Gedicht ›Der Engel
am Grabe des Herrn‹, das auf einen Stich nach einem Gemälde Hartmanns Bezug
nimmt. Dieses intermediale Arrangement der ersten Lieferung, »hat in mehrfacher
Hinsicht teil an der brennenden Frage der Form, der Bewegung, der Ästhetik, der
Politik des Körpers und der Zeitlichkeit in der Kunst«, konstatiert Gabriele Brand-
stetter und weist darauf hin, dass die hier zusammengestellten Texte »zugleich ein
Journal- bzw. Zeitschriftenprogramm bilden«.51 Eine »mediale Kontextualisierung«
des ›Phöbus‹ sei somit »eine eigene Studie wert.«52 Blickt man in dieser Perspektive
nochmals auf das Prolog-Gedicht des ›Phöbus‹, zeigt sich beispielsweise, wie das
Thema des Tanzes bereits hier alludiert wird. So wird hier der Zug des Sonnengottes
ausdrücklich als Tanz beschrieben, als kontrollierte »Übung« und ästhetisches Spiel.
Kleists Phöbus kommt im Geleit der Horen, er nimmt nicht die exzentrische Bahn:
Weil die Kraft dich, der Kraft spielende Übung, erfreut.
Fehlen nicht wirst du, du triffst, es ist der Tanz um die Erde.
Und auch vom Wartthurm entdeckt unten ein Späher das Maas.
(Erstes Stück, unpag.)
51 Brandstetter, Die andere Bühne der Theatralität (wie Anm. 38), S. 294.
52 Brandstetter, Die andere Bühne der Theatralität (wie Anm. 38), S. 294. Nicola Kaminski
hat in einer neueren Studie zur ›Verlobung in St. Domingo‹ das interpretatorische Poten-
zial einer medialen Perspektivierung gerade im Hinblick auf die Kleist’schen Erzählungen
aufgezeigt (vgl. Nicola Kaminski, Zeitschriftenpublikation als ästhetisches Versuchsfeld
oder: Ist Kleists ›Verlobung‹ eine Mestize? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 130
[2011], S. 569–597). Vgl. auch Dröse und Robert, Journalpoetik (wie Anm. 14).
203
Sophie Witt
Moderne-Formalisierung
Theatrale Anthropologien bei Schiller, Kleist, Döblin
Was das Verhältnis von Kleists ›Marionettentheater‹ zu Schiller angeht, gilt als
jüngster Stand der Forschung, folgt man dem ›Kleist-Handbuch‹, Ulrich Johannes
Beils Einordnung von Kleists Text als »Schiller-réécriture« bzw. »›Kenosis‹ der
idealistischen Ästhetik«.1 Kleists Grazie-Begriff wird als provokativer Gegensatz zu
Schillers ›Ueber Anmuth und Würde‹ (1793) und ›Ueber die ästhetische Erziehung
des Menschen in einer Reihe von Briefen‹ (1795) gelesen sowie als »Aushöhlung
der Schiller’schen Grazie und ihrer ›deutschen‹ Commercium-mentis-et-corporis-
Konzeption«,2 d.h. der von der Descartes zugeschriebenen ›Trennung‹ in res
cogitans und res extensa ausgehenden Frage, wie die ›Gemeinschaft‹, aber auch der
›Umgang‹ / ›Verkehr‹ zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen mithin zwi-
schen ›Natur‹ und ›Kultur‹ zu denken seien. Kenosis meint bei Beil in Anlehnung an
Harold Bloom eine Weise des bewussten misreadings als ›Entleerung‹ Schillers durch
Kleist.3 Mit diesem Blick auf die Kenosis macht Beil Schiller zum Wortführer einer
bestimmten Moderne-Erzählung, die im Zuge einer der Literatur des ausgehenden
18. Jahrhunderts zugeschriebenen Hinwendung zur Anthropologie4 den Menschen
1 Vgl. Ulrich Johannes Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik. Kleists ›Über das Mario-
nettentheater‹ als Schiller-réécriture. In: KJb 2006, 75–99.
2 Ulrich Johannes Beil, Über das Marionettentheater. In: KHb, 152–156, hier 154; diese Aus-
höhlung erfolge u. a. in Anlehnung an den »transhumanistisch ausgerichteten Körper- und
Grazie-Begriff« aus Diderots ›Paradoxe sur le comédien‹.
3 Etwa vermittels »De-Sakralisierung […] durch Pathos-Minderung und Ironie«, »Wieder-
holung als Veräußerlichung und Verwörtlichung«, durch ein reduktives und »bewusst
›falsch‹ notiertes Stenogramm«, so Beil, wodurch insgesamt die Differenz zum Vorgänger
betont würde. Mit dieser konstruktivistischen Um- und Neudefinition könne Kleists Text
mithin als ein Vorausblick auf ein Jahrhundert Germanistik und die verschiedenen Theo-
rie-Konstellationen gelten, in denen der Text immer wieder neu als Beispiel diente (Beil,
Über das Marionettentheater, wie Anm. 2, 155).
4 Vgl. Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen,
Berlin und New York 2008 sowie Harald Neumeyer, Literarische Anthropologie. In: Eike
205
Sophie Witt
zwar in seiner Psychophysis ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ihn mit der
Anmut aber zugleich als geistiges Wesen privilegiert, wodurch das bloß Sinnliche
transzendiert würde.5 Beil dekliniert diese Frontstellung u. a. an Kleists Verwendung
des Seele-Begriffs durch: Kleists »Weg der Seele des Tänzers« (SW9 II, 340) nähme fast
wörtlich Schiller auf: »Wo also Anmuth statt findet, da ist die Seele das bewegende
Prinzip« (NA 20 I, 255).6 Bei Schiller würde dergestalt »die ›schöne‹, den anthro-
pologischen Dualismus versöhnende ›Seele‹ als Basis des Anmut-Begriffs« lesbar,
während Kleist diesen Gestus imitiere, aber die »âme materielle« herausstreiche, als
»beständige[n] Hinweis auf den ›Maschinisten‹, auf das nackte materialistische Mi-
nimum eines reinen Bewegungsprinzips«.7 Jene Schiller’sche Suggestion, dass »[i]n
einer schönen Seele« »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoni-
ren« (NA 20 I, 288), würde so bei Kleist »zugleich zitiert und durchgestrichen«.8 Bei
Schiller fungiert dabei das Motiv des Tanzes9 als Motiv der Harmonie und der auf
ihr gründenden Freiheit – darauf hebt Beil ab, aber auch schon Paul de Man: Die
Tanzenden seien, so zitiert de Man aus Schillers ›Kallias‹-Briefen, »das treffendste
Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern«,
wobei das Beispiel hier ein »gut getanzte[r] und aus vielen verwickelten Touren com-
ponierte[r] englische[r] Tanz« ist.10 Beil wiederum zitiert Schillers Elegie ›Der Tanz‹,
die »das klassische Ideal des harmonischen Zusammenspiels von Geist und Körper
poetisch-metaphorisch vorexerziert«:11
Bohlken und Christian Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie, Stuttgart und Weimar
2009, S. 177–182.
5 Kleists réécriture hake u. a. bei den inneren Widersprüchlichkeiten dieses Harmoni-
sierungspostulats bei Schiller ein – die sich etwa zeigen, wenn Anmut zum »›Ausdruck
moralischer Empfindungen‹« bzw. zur »körperlichen Signatur von ›Seele‹, ›Freiheit‹ oder
›Geist‹« werde; dergestalt gehe es Kleist »weniger darum […], zu Schiller schlicht und
einfach Gegenposition zu beziehen, als vielmehr, Argumente auf ihre Konsequenz hin
zu beleuchten, sie, um mit Marx zu sprechen, vom Kopf auf die Füße zu stellen.« (Beil,
›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik, wie Anm. 1, S. 82f.)
6 Vgl. Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 1), S. 85. Schillers Texte werden
unter der Sigle NA mit Band und Seitenzahl oder Versangabe zitiert nach: Schillers Werke.
Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff.; seit 1992 hg. im Auftrag
der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert
Oellers.
7 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 1), S. 85f.
8 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 1), S. 86.
9 Zur tanzgeschichtlichen Einordnung und ästhetischen Bedeutung vgl. Gabriele Brand-
stetter, Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von movere.
In: Felix Ensslin (Hg.), Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik
heute, Berlin 2006, S. 165–181; dies., Die andere Bühne der Theatralität: movere als Figur
der Darstellung in Schillers Schriften zur Ästhetik. In: Walter Hinderer (Hg.), Friedrich
Schiller und der Weg in die Moderne, Würzburg 2006, S. 287–304.
10 Paul de Man, Ästhetische Formalisierung: Kleists ›Über das Marionettentheater‹. In:
Ders., Allegorien des Lesens, aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher, Frankfurt
a. M. 1988, S. 205–233, hier S. 205; vgl. NA 26, 216.
11 Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 1), S. 87.
206
Moderne-Formalisierung
Während Beils und de Mans Lektüren als Einordnung dessen, was in Kleists Text mit
dem sogenannten ästhetischen Idealismus geschieht, durchaus einleuchten, braucht
dieses Argument einen Schiller, in dessen Moderne-Narrativ Harmonie und Freiheit
im Fortschrittsgedanken in eins fallen und zwar, indem in seinen Texten die Rhetori-
zität und Theatralität der Herstellung dieser Prämissen unterschlagen werden. Diesen
Gestus der Unterschlagung aber wiederholt die literaturwissenschaftliche Lektüre
bei Beil und bei de Man: Kleists Dekonstruktion wird auf eine Moderne-Geschichte
›aufgefädelt‹, deren ebenfalls literarische Hergestelltheit keine Beachtung findet. In
den hier folgenden Ausführungen soll diese gegensätzliche Positionierung Schillers
und Kleists – von Alfred Döblin herkommend – kritisch befragt werden. Entry point
ist dabei der Kampfplatz, als der Kleists ›Marionettentheater‹ und dessen Lektü-
ren von de Man bis in jüngere Tage inszeniert werden;13 und das heißt auch: sich
bewusst ignorant gegenüber den einschlägigen ideologischen Zuschreibungen zu
verhalten – zuvorderst: Schiller als der Klassiker, Kleist als der Anti-Klassiker, aber
auch: Kleist als derjenige, der Schillers ›Ideologie des Ästhetischen‹ am konsequen-
testen entlarvt habe.14 Nachgegangen wird dem Motiv des Tanzes, an dem noch
Döblin den Rückgriff auf die Epochenschwelle und das anthropologische Projekt
12 Diese zweite Fassung des Gedichts »entstand vermutlich nicht lange vor ihrer Veröffentli-
chung in der Gedichtsammlung von 1800« (NA 2 II, B, 191), in einer ersten Fassung wurde
es im ›Musenalmanach für das Jahr 1796‹ veröffentlicht (vgl. NA 1, 228f. und NA 2 II, A,
217ff.); vgl. Beil, ›Kenosis‹ der idealistischen Ästhetik (wie Anm. 1), S. 87.
13 Nicht nur stehe, so schreibt Beil über das ›Marionettentheater‹, »[w]er sich diesem kleinen
Text nach kaum mehr zu zählenden Interpretationsversuchen ein weiteres Mal zuwendet,
[…] unter verstärktem Rechtfertigungsdruck«; Kleists ›Marionettentheater‹ markiere zu-
dem »literaturwissenschaftliches Frontgebiet mit bewegter Geschichte, mit Haupt- und
Nebenschauplätzen, auf denen das Pulver noch nicht ganz verraucht ist.« (Beil, ›Keno-
sis‹ der idealistischen Ästhetik, wie Anm. 1, S. 75f.) Und schon bei de Man liest sich der
Kampfplatz wie folgt: »Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft« sei die vielfache
Rezeption »alles andere als anmutig«; der »Tanz der Kommentatoren bietet nur ein Schau-
spiel des Chaos. […] [E]s hat ganz den Anschein, daß jeder, der sich noch auf ein Ge-
fecht mit dem Bären einlassen will, nachdem er ›Über das Marionettentheater‹ gelesen
hat, sich in ärztliche Behandlung begeben sollte.« (de Man, Ästhetische Formalisierung,
wie Anm. 10, S. 213f.) Vgl. zu de Mans ›Ideologie der Ästhetik‹ Constantin Behler, ›Eine
unsichtbare und unbegreifliche Gewalt‹? Kleist, Schiller, de Man und die Ideologie der
Ästhetik. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 2 (1992), S. 131–164.
14 Zur gängigen Gegenüberstellung des ›Klassikers‹ Schiller und des ›Antiklassikers‹ Kleist
vgl. kritisch Claudia Benthien, Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und
Schuld und die Tragödie um 1800, Köln, Weimar und Wien 2011, S. 18–25; vgl. auch
den Forschungsüberblick in Claudia Benthien, Friedrich Schiller. In: KHb, 219–227.
Zur ›Ideologie des Ästhetischen‹ vgl. de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10),
S. 205–233.
207
Sophie Witt
um 1800 inszeniert; es soll gezeigt werden, dass nicht nur bei Kleist und Döblin,
sondern auch bei Schiller, am Tanzmotiv und dem ihm zugehörigen Theaterdisposi-
tiv Harmonie- und Freiheitspostulat sowie der anthropologische Dualismus kritisch
zur Debatte stehen15 – und damit nicht zuletzt das Moderne-Narrativ und seine
ideologischen Frontstellungen insgesamt. Denn wenn in der Tradition der amerika-
nischen Dekonstruktion Kleists Texte als »Überschreiben« Schillers gelesen werden
– als »ein Schreiben, das die Vorlage über sich selbst hinaustreibt, indem es ihr
theoretisches Potential entfaltet und gegen ihr ästhetisches wendet«16 –, dann knüpft
daran zum einen die Frage an, wo und wie Kleist selbst wiederum Gegenstand spä-
terer Transkriptionen wurde;17 aber auch, in umgekehrter temporaler Richtung, wie
ein ›Lesen nach Kleist‹ aussehen kann, in Bezug auf die ›Vorlage‹ Schillers.
Mit ›Modern. Ein Bild aus der Gegenwart‹ (1896) schreibt der damals 18-jährige
Alfred Döblin einen ohne Zweifel modernekritisch zu nennenden Text, der von
einer jungen Näherin erzählt, die – vergeblich auf der Suche nach Arbeit und
nah an der Prostitution – das Siechtum des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen
Erscheinungsform entlarvt. Berühmt ist Döblins modernekritisches Wortspiel:
»Modérn wird módern. Das erste Mal betont man die zweite Silbe, das zweite Mal
die erste! – Ein sehr wahres, lehrreiches Bild!«18 ›Bild aus der Gegenwart‹ folgt dabei
den um 1900 typischen Katastrophen-, Weltende- und Menschheitsdämmerungs-
narrativen und lässt – auch das nicht untypisch – nach dem Dämmern eine ›neue
Welt‹ anklingen und zwar u. a. in Gestalt der »neue[n] Frau«, die durch »[u]nsre
15 Bezogen auf Kleist bleibt mit Košenina festzuhalten, dass die »seit den 1980er Jahren stark
prosperierende Erforschung der literarischen Anthropologie […] Kleist merkwürdig unter-
schätzt [hat].« (Alexander Košenina, Anthropologie. In: KHb, 243–246, hier 243) Košeni-
nas Diagnose gilt freilich nicht flächendeckend: vgl. seine Bibliographie sowie vor allem
einige Studien jüngeren Datums: Anja Lemke, »Gemüts-Bewegungen«. Affektzeichen in
Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹. In: KJb 2008 / 2009, 183–201; Christina
Strauch, Weiblich, trefflich, nervenkrank. Geschlechterbeziehungen und Machtdisposi-
tive. Heinrich von Kleists Werk im medizinisch-anthropologischen Diskurs der Zeit um
1800, Online-Dissertation 2004, https://d-nb.info/974036722/34 (07.06.2019); Sophie
Witt, Psychosomatik und Theater. Das prekäre Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist.
In: Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck (Hg.), Unarten. Kleist
und das Gesetz der Gattung, Bielefeld 2019, S. 93–112.
16 Anne Fleig, Christian Moser und Helmut J. Schneider, Einleitung. Schreiben nach Kleist.
In: Dies. (Hg.): Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkrip-
tionen, Freiburg i. Br. und Berlin 2014, S. 9–30, hier S. 20.
17 Vgl. dazu Fleig, Moser und Schneider, Einleitung (wie Anm. 16).
18 Alfred Döblin, Modern. Ein Bild aus der Gegenwart. In: Ders., Ausgewählte Werke in
Einzelbänden, Bd. 22, hg. von Anthony W. Riley, Olten und Freiburg i. Br. 1981, S. 7–25,
hier S. 14.
208
Moderne-Formalisierung
209
Sophie Witt
Der Mensch ist zuerst Mensch und erst darauf Alles andre. Sein Körper verlangt
seine Rechte. Es darf kein Glied des Körpers vernachlässigt werden, bei Strafe der
furchtbarsten Krankheiten. Und wer es wagt, der Natur zu trotzen, seine »tieri-
schen Triebe« zu unterdrücken, er wird in diesem Kampfe gebrochen unterliegen.
Tierische Triebe!
Was ihr tierisch nennt, ist das einzige natürliche bei unsrer Gesellschaft.23
Der Mensch als »zuerst Mensch« knüpft an das anthropologische Projekt an, das ab
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Menschen als ›Doppelnatur‹ zum epi
stemologischen Zentrum modernen Wissens macht. Präzise wird bei Döblin lesbar,
dass die Rede von der Doppelnatur der Anfang und nicht die Lösung des Problems
ist. Einerseits nämlich scheinen Figuren wie die ›neue Frau‹ ein ›Neues‹, ›Ganzes‹
und ›Wiedergeborenes‹ in Aussicht zu stellen, exemplarisch in dem zitierten, »[s]
ein Körper verlangt seine Rechte. Es darf kein Glied des Körpers vernachlässigt wer-
den, bei Strafe der furchtbarsten Krankheiten«. Entsprechend deutet der Schluss
von Döblins Text den Freitod der Protagonistin als ›holistischen‹ Vereinigungstod
an – sie spielt mit dem Gedanken, ins Wasser zu gehen, wie einige der Figuren aus
Döblins Frühwerk: nicht nur in den Tod, sondern in der Natur zu verschwinden.24
Man könnte mit Anz diesen »Tod des Subjekts als Vereinigung mit der ursprüng-
lichen Macht des Lebens« lesen,25 mit einem Anarchisch-Vitalen, Körperlich-›Na-
turhaften‹. Andererseits aber bleibt mit dem Motiv der Krankheit bei Döblin durch-
gängig anerkannt, dass es sich bei der ›Vereinigung‹ um ein kritisch-krisenhaftes
Moment und Modell handelt – d.h. um eine schon symptomatische und zwar
kompensatorische Erzählung von der Moderne. Entsprechend drehen sich – ganz
im Sinne des literarischen Modernismus um 1900 – Döblins Texte immer zugleich
poetologisch-selbstreflexiv um ›Zerteilungs‹-Momente, nicht zuletzt in einer ten-
denziellen Privilegierung der menschlichen Triebenergien gegenüber dem Geistig-
Ideal-Klassischen. Hier beruft sich Döblin explizit auf Kleist, dessen ›Penthesilea‹
und deren Kannibalismus- /Zerreiß-Motiv er mit seinem ersten Roman ›Jagende
Rosse‹ (1900) aufnimmt, worüber er schreibt: »[W]ie flammte ich auf, als mir die
›Penthesilea‹ von H. v. Kleist begegnete, und wie richtete sich mein Zorn gegen
den kalten, gar zu wohl temperierten Goethe, der dieses Werk ablehnte«. Neben
Hölderlin sei Kleist sein »geistige[r] Pate« gewesen: »Ich stand mit ihnen gegen das
Ruhende, das Bürgerliche, Gesättigte und Mäßige«.26
210
Moderne-Formalisierung
Damit wird bei Döblin lesbar, dass es mit der Frage nach der Psychophysis nicht
vordergründig um Seinsweisen des Menschlichen geht, sondern um die Verbindung
epistemologischer und ästhetischer Dimensionen. Wenn also mit anthropologi-
schem Wissen um 1800, so paradigmatisch Foucaults These in ›Ordnung der Dinge‹,
die Frage nach Totalität in den Fokus rückt27 – figuriert in dem von Herder erst-
mals benannten, dann bei Schiller so prominenten ganzen Menschen –, dann haust
im Projekt der Anthropologie gerade in dem Anspruch, den Menschen in seiner
Totalität, ›ganz‹ zu wissen, von allem Anfang an das Moment einer potentiellen Zer-
teilung, die in Natur- und Kulturwesen, Natur- und Kulturwissen aufgegliedert ist;
mehr noch: Gerade durch ihren Anspruch auf Totalität war Anthropologie um 1800
Kampfplatz, drängend und verdrängend – und kategorisch entfernt von jedweden
Harmonisierungspostulaten eines angenommenen holistischen Idealismus.28 Horn
fasst zusammen, dass Literatur daraus zwei Reaktionsweisen erwüchsen: »entweder
der Differenzierung und Fragmentierung des Menschen Totalitätsentwürfe, Figuren
des ›neuen‹, ›ganzen‹, ›gesteigerten‹ oder ›wiedergeborenen‹ Menschen entgegenzu-
stellen, oder aber die Vielfältigkeit und Zersplitterung des Wissens vom Menschen
nachzuvollziehen, abzubilden und zu reflektieren.«29 Jedoch wird hier – im Rück-
griff auf Foucault – tendenziell nahegelegt, dass die Dynamiken von Totalität und
Aufspaltung als ein quasi-wissenschaftspolitisches Projekt der Literatur vorgängig
verliefen,30 Foucault unterstreicht aber explizit, dass Literatur an diesem Prozess
ursprünglich teilhat:
Mit der Literatur, mit der Wiederkehr der Exegese und der Sorge um die Formali-
sierung, mit der Einführung einer Philologie, kurz mit dem Wiedererscheinen der
Keck, Inka Kording und Anja Prochaska (Hg.), Verschlungene Grenzen. Anthropophagie
in Literatur und Kulturwissenschaften, Tübingen 1999, S. 105–135.
27 Michael Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,
aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, besonders S. 367–412.
28 Vgl. die Einschätzung Eva Horns im Rückgriff auf Foucault: »The concentrated effort of
anthropology around 1800 was to grasp man in his totality, but by doing so, contradic-
tory processes developed inside anthropology, which destroyed it as a single discipline at
the very moment it intended to stake its claim. Already prior to 1800, became apparent
that man in his totality (der ›ganze Mensch‹) dissolves at the instant he is apprehended.«
(Horn, Literary Research, wie Anm. 20, S. 723f.)
29 Eva Horn, Versuchsanordnung Roman. Erzählung und Wissen vom Menschen in Alfred
Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹ und ›Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende‹. In:
IADK Leipzig 1997, Bern u. a. 1999, S. 117–134, hier S. 121.
30 In ihrer Analyse Döblins verkompliziert Horn den Literaturbegriff gewinnbringend: »An
analysis of literary texts can therefore not confine itself to locating and dating relicts of
scientific thought preserved in fictional references. The question raised is how this know-
ledge is systematized in language, in the regularities but also in the irregularities of re-
presentation. A perspective allowing an appreciation of literature would not only mean
considering it an ›archive of knowledge‹ but also as singular, eccentric, underhandedly
ironical or contradictory epistemology.« (Horn, Literary Research, wie Anm. 20, S. 739)
211
Sophie Witt
Sprache in einem multiplen Gewimmel kann die Ordnung des klassischen Denkens
[des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, S.W.] in der Folge verwischen.31
Ich möchte daher vorschlagen, die von Horn angeführten zwei Möglichkeiten,
die Literatur zur Verfügung stehen und die sich nicht zufällig mit den gängigen
Zuschreibungen an die ›Autornamen‹ Kleist und Schiller verbinden32 – nämlich
holistisch-versöhnlich bzw. reflexiv-fragmentarisierend –, nicht als striktes Ent-
weder-Oder zu lesen; vielmehr scheint das Interessante an einer ›literarischen An-
thropologie‹ und an der Konstellation Schiller / Kleist zu sein, dass sich eine auf-
klärerische Moderne-Erzählung (inklusive ihrer fatalen Kollateralschäden)33 und
ein diese Moderne-Erzählung beleuchtender bzw. dekonstruierender ›literarischer
Modernismus‹ nicht als Alternativen erweisen, sondern eng aufeinander bezogen
bleiben. Aus der ›um 1900‹- Döblin-Warte wird die Komplexität dieser Konstella-
tion einschließlich der sich literaturwissenschaftlich stellenden Herausforderungen
noch einmal neu lesbar – und zwar insofern mit der »Sorge um die Formalisierung«
das Wechselspiel zwischen Totalität und Zersetzung oder Zerteilung immer schon
als genuin literarische Dynamik erscheint.
III. Inspiriert von Kleist? ›Die Tänzerin und der Leib‹ (1910)
Zu der 1904 fertiggestellten und 1910 in ›Der Sturm‹ erschienenen Erzählung ›Die
Tänzerin und der Leib‹ sei Döblin vielleicht durch Kleists Aufsatz über das Mario-
nettentheater inspiriert worden – so der Herausgeber Walter Muschg ohne weitere
Ausführungen im Nachwort.34 Wie in vielen der Texte, die später in dem Novellen
31 Foucault, Ordnung der Dinge (wie Anm. 27), S. 367. Entsprechend wurde die »Tren-
nungsgeschichte von Natur- und Geisteswissenschaften« für die Epochenschwellen
1800, 1900 und 2000 auch hinsichtlich des ›Leonardo-Effekts‹ beschrieben, womit
eine ›poietische Wissenskultur‹ bezeichnet ist: »Gegen dualistische Modelle, die einen
Gegensatz von N atur und Geschichte, von Geist und Körper konstruieren, lassen sich
Leonardo-Effekte an den Grenzen einer disziplinären Ordnung beobachten, die einen
wissenschaftsgeschichtlichen Blickwechsel jenseits der Trennung von Wissenshemisphä-
ren in Richtung auf transversale Zugänge, auf Trennung und Vermischung ermöglichen.«
(»Leonardo-Effekte. Exemplarische Konstellationen aus der Trennungsgeschichte von
Natur- und Geisteswissenschaften: 1800 – 1900 – 2000«, Projekt am Zentrum für Litera-
tur- und Kulturforschung Berlin, Laufzeit: 2001–2005, http://www.zfl-berlin.org/projekt/
leonardo-effekte.html, 07.06.2019)
32 Vgl. zur diskursiven Vor-formung von Autornamen Anna-Lena Scholz, Kleist / Kafka.
Diskursgeschichte einer Konstellation, Freiburg i.Br. u. a. 2016.
33 Vgl. zu dieser Moderne-Erzählung exemplarisch Paul de Man in Bezug auf Kleist: »Der
tanzende Krüppel in Kleists Geschichte ist ein Opfer mehr in einer langen Reihe verstüm-
melter Körper, die den Fortschritt aufklärerischer Selbsterkenntnis begleitet« (de Man,
Ästhetische Formalisierung, wie Anm. 10, S. 231).
34 Vgl. Walter Muschg, Nachwort des Herausgebers. In: Döblin, Ausgewählte Werke, Bd. 6
(wie Anm. 24), S. 421–434, hier S. 424.
212
Moderne-Formalisierung
35 Alfred Döblin, Die Tänzerin und der Leib. In: Ders., Ausgewählte Werke, Bd. 6 (wie
Anm. 24), S. 17–21, hier S. 17 und: »Läppisch bis dahin in jedem Schritt, lernte sie jetzt
ihre federnden Bänder, ihre zu glatten Gelenke zwingen; sie schlich sich behutsam und
geduldig in die Zehen, die Knöchel, die Knie ein und immer wieder ein, überfiel habgierig
die schmalen Schultern und die Biegung der schlanken Arme, wachte lauernd über dem
Spiel des straffen Leibes.«
36 Wolfgang Schäffner, Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens
bei Alfred Döblin, München 1995, S. 239.
37 In der Forschung wurde verschiedenenorts untersucht, welche psychiatrischen und bzw.
oder psychoanalytischen Krankheitsbilder in Döblins Text Verhandlung finden: Vgl.
Julia Genz, Döblins Schreibweise der Evokation und Aussparung. Psychoanalytische und
psychiatrische Diskurse in ›Die Tänzerin und der Leib‹. In: IADK Emmendingen 2007,
Bern u. a. 2008, S. 69–82; Annette Keck, »Avantgarde der Lust«. Autorschaft und sexuelle
Relation in Döblins früher Prosa, München 1998; vgl. auch Yvonne Wübben, Tatsachen-
phantasien. Alfred Döblins ›Die Ermordung einer Butterblume‹ im Kontext von Experi-
mentalpsychologie und psychiatrischer Krankheitslehre. In: IADK Emmendingen 2007,
213
Sophie Witt
schon als Symptom zu werten ist – oder erst deren Verlust. Damit aber bleibt der Text
unentschieden hinsichtlich des verhandelten Körper-Geist / Leib-Seele-Verhältnisses
und dessen Einordnung in die Bewertung der Moderne-Erzählung: Unentschieden-
heit, ob die tänzerische Körperkontrolle als materialistisch-mechanistisches Selbst-
verhältnis gegenüber dem dann durch die ›moderne‹ Biomedizin des Behandlungs-
szenarios erst pervertierten Körperkonzept in Anschlag gebracht wird oder ob die
Mechanik bereits Teil eines angeprangerten Leib-Seele-Dualismus ist, der im Freitod
als Versuch, die Trennung von Körper und Ich-Bewusstsein zu überwinden, ho-
listisch versöhnt wird. In den späteren Schriften Döblins finden sich leibphiloso-
phische Ausformulierungen dieses früh formulierten Problems: »Das Urfaktum der
Leiblichkeit beginnt sich zu klären. Es soll ›erlebt‹ werden. Und das erfolgt durch
die Verleiblichung. Leib und Leben, erleiben und erleben gehören zusammen«; aber
auch innerhalb dieses ›versöhnlich‹-holistischen Tenors bleibt die »Verleiblichung«
zugleich als Kampfplatz benannt: »In die ganze blutwarme, blutgetränkte, unkennt-
liche Realität dieser ›Umwelt‹ sind wir hineingeboren, nehmen sie mit unserem Ich
an uns, suchen sie zu durchdringen, kämpfen dagegen, erliegen. Das ist unser Da-
sein, Dasein unseres Ich.«38 Entsprechend wird im Plot von ›Die Tänzerin und der
Leib‹ der Freitod zwar unmittelbar motiviert aus dem Wunsch, endlich wieder zu
tanzen, dieser aber ausgerechnet geweckt durch vorbeimarschierende Soldaten und
deren Marschmusik. Wie auch in den etwa zeitgleich entstandenen ›Gesprächen mit
Kalypso‹ (1910)39 werden zwar im Motiv des Tanzes Körper, Subjektkonstitution und
Moderneproblematik miteinander verschaltet, münden dabei aber in kein eindeuti-
ges Narrativ. Wenn nämlich, wie der erste Satz des Textes lautet, Ella bzw. »[s]ie« »mit
elf Jahren zur Tänzerin bestimmt [wurde]«,40 dann sind ihre »Gliederverrenkungen«
nicht ›natürlich‹ – aber auch die ›Wiederaneignung‹ des Leibes ist Resultat dieser
›Bestimmtheit‹, d.h. quasi-gewaltsamen Konstruktion – und nicht zuletzt nimmt der
Text diese Bestimmung als Formalisierung vor, indem er erzählt.
Döblin ist daher für die Konstellation Schiller / Kleist nicht zuvorderst interes-
sant, weil die Commercium-mentis-et-corporis-Frage, an der sich die Frontstellung der
beiden Autoren angeblich entscheiden lässt, neu aufgelegt wird, sondern vor allem,
weil ein Spiel mit den zu Grunde liegenden Moderne-Narrativen getrieben wird:
Erzählt und zugleich dekonstruiert wird jene Moderne-Erzählung, in der Kleists
Bern u. a. 2008, 83–99. Zur poetologischen Diskussion des Krankheitsdiskurses vgl. ex-
emplarisch Michael J. Cowan, »Die Tücke des Körpers«. Taming the nervous body in
Alfred Döblin’s ›Die Ermordung einer Butterblume‹ and ›Die Tänzerin und der Leib‹. In:
Seminar 43 (2007), S. 482–498 und Bianca Lenertz und Silke Peters, Medizin und Poe-
tik: Psychiatrisches Wissen in Alfred Döblins Erzählung ›Die Tänzerin und der Leib‹. In:
Dominik Groß, Gertrude Cepl-Kaufmann und Gereon Schäfer (Hg.), Die Konstruktion
von Wissenschaft? Beiträge zur Medizin-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, Kassel
2008, S. 155–177.
38 Alfred Döblin, Unser Dasein. In: Ders., Ausgewählte Werke in Einzelbänden, Bd. 9, hg.
von Walter Muschg, Olten und Freiburg i. Br. 1964, S. 29, Hervorhebung S.W.
39 Vgl. Alfred Döblin, Gespräche mit Kalypso. Über die Musik. Olten und Freiburg i. Br.
1980.
40 Döblin, Tänzerin und der Leib (wie Anm. 35), S. 17.
214
Moderne-Formalisierung
41 Vor allem ›Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende‹: Alfred Döblin, Hamlet oder
Die lange Nacht nimmt ein Ende. In: Ders., Ausgewählte Werke in Einzelbänden, Bd. 11,
hg. von Walter Muschg und Heinz Graber, Olten und Freiburg i. Br. 1966.
42 Die Wirkung der Perpetuierung einer (psychotischen) Spaltung erfährt im Kontext des
Zyklus’ ›Ermordung einer Butterblume‹ etwa auch der Kaufmann Michael Fischer in der
titelgebenden Erzählung; wenn er sich nämlich in einem »Guerillakrieg […] zwischen To-
despein und Entzücken« mit einer Butterblume wiederfindet, die er nicht zufällig »Ellen«
nennt – wenn auch nicht ganz Namensvetterin, so doch enge Namensverwandte der Tän-
zerin Ella (Döblin, Ermordung einer Butterblume, wie Anm. 24, S. 52). Die Eigenmacht
bzw. Unbeherrschbarkeit der körperlichen oder materiellen Welt – die sowohl mit Ella
als auch mit Michael Fischer inszeniert werden – wären dann noch das Resultat einer
bestimmten Moderne-Erzählung, die sozusagen psychotisch zurückschlägt.
43 Vgl. dazu Kleists Motiv der »Unglückliche[n] […], die ihre Schenkel verloren haben«
(SW9 II, 341).
44 So Friedrich Balke im Anschluss an Hans Blumenberg über die unbewussten Motiva-
tionen hinter dem »cartesianische[n] Weltmisstrauen« und der darin gründenden ›Ab-
spaltung des Körperlichen‹ (Friedrich Balke, »Ob man ohne Körper denken kann«. Zum
Verhältnis von Maschine und Organismus in der Medienphilosophie. In: Lorenz Engell,
Frank Hartmann und Christiane Voss [Hg.], Körper des Denkens. Neue Positionen der
Medienphilosophie, München 2013, S. 135–154, hier S. 140; Balke bezieht sich auf Hans
Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1996, S. 181).
45 Zur »Persiflage des geschichtsphilosophischen Schemas« vgl. Beil, Über das Marionetten-
theater (wie Anm. 3), 154; Beil verweist u. a. auf Beda Allemann, Sinn und Unsinn von
Kleists Gespräch ›Über das Marionettentheater‹. In: KJb 1981 / 82, 50–65 und Gerhard
Kurz, »Gott befohlen«. Kleists Dialog ›Über das Marionettentheater‹ und der Mythos
vom Sündenfall des Bewußtseins. In: KJb 1981 / 82, 264–277.
215
Sophie Witt
auf eine durchweg mathematisierbare Welt,46 in der – das ist die implizite Pointe
dieser Sehnsucht – das Verstehen, das heißt auch: das Lesen unnötig würde.
Vor dem Hintergrund des Gesagten ist wenig verwunderlich, dass, liest man auch
Schiller ›gegen den Strich‹, d.h. auch seine Texte hinsichtlich ihrer Rhetorizität
und Theatralität, jene oben benannte und in den ästhetischen Schriften angeblich
gesetzte Harmonisierung von »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung«
(NA 20 I, 288) nicht aufgeht.47 Während ›Der Tanz‹ auf den ersten Blick die Ver-
einigung figuriert, lässt sich exemplarisch Schillers ›Maria Stuart‹ (1800) nicht nur
als Zerreißprobe der Psycho-Physis, sondern auch als Ausstellung der ›Vereinigung‹
als Phantasma lesen:48 Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass besonders der
Tragödienschluss an der Krise von Physischem und Geistigem festhält, statt sie erha-
ben zu versöhnen und aus Maria eine wahre Märtyerin zu machen.49 Vielmehr legt
sich das Moment des Physischen wie ein Subtext unter die offiziellen Ideologeme
des Tragödienschlusses und zersetzt die ›Entleibungspolitik‹, für die Marias Hin-
richtung einstehen soll (»sich moralisch zu entleiben«, formuliert Schiller in ›Ueber
das Erhabene‹ als Programm einer »freye[n] Aufhebung alles sinnlichen Interesse
ehe noch eine physische Macht es thut«, NA 21, 51). »Streng büßt ichs ab mit allen
Kirchenstrafen, / Doch in der Seele will der Wurm nicht schlafen«, berichtet Maria
über ihre »frühe Blutschuld« (den Gattenmord), der sie das Todesurteil zuordnet
46 Vgl. exemplarisch Döblin, Ermordung einer Butterblume (wie Anm. 24), S. 42: »Der
schwarzgekleidete Herr hatte erst seine Schritte gezählt, eins, zwei, drei, bis hundert und
rückwärts […].« Interessant ist vor dem Hintergrund der Hysterie-Diskussion zu Döblins
›Tänzerin‹, dass Christina von Braun die Wirkmächtigkeit der Hysterie als das Gegenteil
von der ›Mathematisierbarkeit der Welt‹ bestimmt: »Nicht nur entzieht sich der hysteri-
sche Körper der Logik, er repräsentiert auch so etwas Paradoxes wie das Prinzip der Un-
berechenbarkeit.« (Christina von Braun, Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Neuaufl., Berlin
2009, S. 7)
47 Ich folge der Beobachtung Helmut J. Schneiders, der, wie auch Beil, argumentiert, Kleist
ziele »auf den versteckten theatralischen Charakter der von Schiller beschriebenen Kon-
stellation, deren Aporie er hervortreibt« (Helmut J. Schneider, Dekonstruktion des her-
meneutischen Körpers. Kleists Aufsatz ›Über das Marionettentheater‹ und der Diskurs
der klassischen Ästhetik. In: KJb 1998, 153–175, hier 157); das Interesse gilt hier allerdings
umgekehrt der Frage, was diese Aporie für die Lektüre Schillers bedeutet.
48 Ich schließe mich der jüngeren Schillerforschung an, in der die Tragödien als kritische
Befragung der theoretischen Texte gelesen wurden. Vgl. Karl Guthke, Maria Stuart. In:
Helmut Koopmann (Hg.), Schiller-Handbuch, 2., aktualisierte Aufl., Stuttgart 2011,
S. 451–466, hier S. 464.
49 Vgl. Sophie Witt, Kritische Physis. Schillers Szenen der Kritik. In: Olivia Ebert u. a. (Hg.),
Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, Bielefeld
2018, S. 419–428, hier besonders S. 421–424.
216
Moderne-Formalisierung
(NA 9, Vs. 3699f., 3693).50 Bestand diese darin, einem »Verführer […] Herz und
Hand« geschenkt zu haben (NA 9, Vs. 3668), so ›inkarniert‹ die Blutschuld das »Ge-
spenst« der endlichen und libidinösen Physis, gegenüber der, so Schiller in ›Ueber
das Erhabene‹, das ganze ›Entleibungs‹-Programm der Tragödie allererst notwendig
wird:51
Durch seinen Verstand zwar steigert er [der Mensch] künstlicherweise seine natürli-
chen Kräfte, und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über
alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprüchwort, giebt es Mittel,
nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im
strengsten Sinne ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben. Nimmer-
mehr kann er das Wesen seyn, welches will, wenn es auch nur Einen Fall giebt, wo
er schlechterdings muß, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, w a s e r nu r
mu ß u nd n ic ht w i l l , wird wie ein Gespenst ihn begleiten […]. (NA 21, 38)
Der »Wurm«, der in Marias Seele »nicht schlafen [will]«, gemahnt also an die Unab-
schließbarkeit der Idealisierung – er nagt aber nicht nur an Marias ›Entleibungspoli-
tik‹, sondern erinnert an Döblins »módern«, an den quasi-physischen Zersetzungs-
prozess, der innerhalb der Narrative modernen Freiheitsdenkens und Idealismus
von statten geht, der sie als Narrative zersetzt; im Sinne dieses ›Móderns‹ bezeugt
Schillers Text zudem die Schwierigkeit einer anthropologischen Bestimmung des
Menschen, insofern sie zwar auf das ›Wesen‹ als Ganzes zielt, sich aber zugleich
den Dynamiken des ›einzelnen Falls‹ gegenübersieht. Wird die Leserin in der von
Beil zitierten Elegie also mit »[u]nd dir rauschen umsonst die Harmonieen des
Weltalls? / Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs/ […]?« (NA 2 I,
299) in der rhetorischen Frage versöhnlich-inklusiv angerufen, stellt ›Maria Stuart‹
50 Schon im Alten Testament meint ›Blutschuld‹ nicht nur den gewaltsamen Tod eines
Menschen, sondern auch eine spezielle Wirkmächtigkeit dieses vergossenen Blutes.
Vgl. Dorothea Erbele-Küster, Blutschuld, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/15537/
(07.06.2019).
51 Die Tragödie fungiert bei Schiller bekanntlich als eine Art Prüfstein der idealistischen
Anthropologie, die den Widerspruch von Sinnlichem und Geistigem bzw. Physischem
und Moralischem versöhnen soll; erinnert sei an die zwei »Fundamentalgesetze aller tra-
gischen Kunst«: »erst l i ch : Darstellung der leidenden Natur; zwe yte ns: Darstellung der
moralischen Selbstständigkeit im Leiden« (NA 20, 195), wodurch insgesamt die »Gegen-
wart eines übersinnlichen Pr inc ip s im Menschen« bezeugt werden soll (NA 20, 204).
Dem Theater käme so eine Art Einübung in den anthropologischen Zustand des Leidens
zu – »Inokulation des unvermeidlichen Schicksals«, wie Schiller schreibt (NA 21, 51) –, eine
künstliche Probe für den anzunehmenden Ernstfall. Aus dieser theoretischen B estimmung
der Tragödie muss allerdings nicht folgen, dass das Theater, wie Koopmann vorschlägt,
die »Beherrschbarkeit des Schicksals«, vor allem aber die »Befreiungsmöglichkeiten des
Menschen aus der Welt des Sinnlichen« behaupte und perpetuiere (Helmut Koopmann,
Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant. In: Ders. [Hg.], Schiller-Handbuch,
wie Anm. 48, S. 611–624, hier S. 619); vielmehr verweist die Notwendigkeit der Impfung
auf einen krisenhaften Zustand, der die Ideologeme der Theorie potentiell ›anzustecken‹
vermag. Zum Stellenwert der ›Inokulation‹ vgl. Cornelia Zumbusch, Die Immunität der
Klassik, Berlin 2014, besonders S. 110–229.
217
Sophie Witt
nicht nur die Versöhnung, sondern auch das Moment ästhetischer Anrufung (oder:
Erziehung) als Phantasma aus.
Um diesen Punkt zu vertiefen, lohnt ein erneuter Blick in Paul de Mans Lek-
türe von Kleists ›Marionettentheater‹. De Man liest dieses als einen »Text über das
Lehren«, als eine »Pseudo-Diskussion eines ›Seminars‹ oder eines ›Tutoriums‹ […],
in dem die Karten von Anfang an gezinkt sind.«52 Kleists Text sei durchzogen von
der latenten Gewalt der Persuasion, etwa wenn der Jüngling in der Dornauszieher-
Episode »zu seinem eigenen Besten […] auf die Probe [gestellt wird]«,53 um über den
Zusammenbruch der Anmut und den Verlust der Unschuld unterwiesen zu werden
(d.h. darüber, so Kleists Erzähler über den Veranschaulichungswert der Episode,
»welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein
anrichtet«, SW9 II, 343).54 Die Erziehung in der »Kunst der Anmut*«55 erfolgt also
selbst in keiner Weise freiheitlich-anmutig, sondern ist durchzogen von Momenten
der Gewalt. Mit ausgestellten Machttechniken der Überzeugung – paradigmatisch
im Verhältnis zwischen Beispielhaftigkeit / Anschaulichkeit und allgemeiner Lehre in
den unterschiedlichen Episoden / Exempla des ›Marionettentheaters‹ – »enthülle[ ]«
Kleists Text »einiges von dem, was hinter Schillers Ideologie des Ästhetischen ver-
borgen liegt«.56 Schillers ›Ideologie‹, so muss man folgern, bestünde also umgekehrt
darin, die Machttechniken der Überzeugung, das heißt den machtvoll-medialen
Rahmen der Setzungen, zu verschleiern.57 Als eine Art performativer Widerspruch
beruft sich aber de Mans Lektüre Schillers vor allem auf die eine Passage aus den
›Kallias‹-Briefen, auf nur einen Fall. Wenn die ästhetische Erziehung (bei Schiller),
um zu gelingen, »die Gewalt […], durch die sie allererst möglich wird«, verbirgt,
wiederholt de Mans Lektüre diesen Gestus, indem für Schillers Text, anders als für
Kleist, »die Zerstückelung der Sprache durch die Kraft des Buchstabens mit der An-
mut eines Tanzes verwechselt [wird]«.58
Liest man noch einmal die von de Man zitierte Passage aus den ›Kallias‹-Briefen
– und zwar buchstäblich und nicht anmutig –, erstaunen einige Formulierungen,
und es fällt auf, dass mindestens zwei Motive als eine Art wörtliche Benennung von
Marias Enthauptungs-Szenario herhalten können:
218
Moderne-Formalisierung
Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein paßenderes Bild, als einen gut
getanzten und aus vielen verwickelten Touren componierten englischen Tanz. Ein
Zuschauer aus der Gallerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste
durchkreuzen, und ihre Richtung lebhaft und muthwillig verändern und d o c h n ie -
m a l s z u s a m me n s t oß e n . Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht
hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunst-
los ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint, und doch nie
dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen
Freiheit und der geschonten Freiheit des andern. (NA 26, 216f.)
Abheben möchte ich auf das »Platz machen« und auf den »Kopf«.59 Tatsächlich
könnte man beiden Formulierungen in dem Brief an Körner den Anstrich einer
de Man’schen »Falle« unterstellen:60 Ist doch auffällig, dass die Freiheit dem anderen
nicht ›Platz lässt‹, sondern »Platz macht« und mit diesem Moment des ›weg‹ (eines
bewegten Körpers, der einmal da war) durchaus einen Hinweis auf die Implikatur
der Gewalt gibt. Wenn also de Man zu Recht Kleists ›Marionettentheater‹ als
Kampfplatz der Lektüren, als »Gefecht mit dem Bären« starkmacht, »[w]eit da-
von entfernt, den Platz, auf den man zusteuert – wie in Schillers Beschreibung des
ästhetischen Tanzes –, frei zu finden«, dann macht das »Platz machen« doch immer
noch lesbar, man könne schon bei Schiller potentiell »unbeholfen auf verschiedene
Eindringlinge [stoßen], […] über seine eigenen Glieder [stolpern] oder […] sich in
seinen eigenen Bewegungen verfangen.«61 Fast auffälliger noch ist die Verbindung
von »seinem Kopf folgen« und »in den Weg treten« – in dem »geschickt[en] […]
[I]neinander« der Choreografie der Körper und Bewegungen erscheint dieser Kopf
– als Hinweis auf die Verbindung von Politik und Wissen – als eine Art Querdenker.
Aus der Warte des »treffendste[n] Sinnbildes«, das für Schillers Text dieser englische
Tanz sein soll, wird diese »Kraft des Buchstabens« zweifelsfrei metaphorisch aufge-
fangen – der »Kopf« wird zum ›Wille‹ usw. Aber anders als de Man implizit behaup-
tet, ist es in der Passage nicht nur die Perspektive des Sinnbildes – d.h. die allgemei-
ne Lehre unter die sich das Beispiel unter Aufgabe seiner verkörperten Konkretheit
zu fügen hat –, aus der sich das Argument entwickelt. Wie eine Art »Gespenst«
des Sinnbildes ist es in Schillers Brief »[e]in Zuschauer aus der Gallerie«, der die
»unzählige[n] Bewegungen [sieht]« (NA 26, 216). Was dieser Zuschauer aber sieht
– oder: sehen müsste, würde er wörtlich: sehen – ist nicht das Sinnbild, sondern die
konkrete Choreografie der Körper: Wenn die Tänzer*innen in ihren B ewegungen
wörtlich ›ihren Köpfen folgen‹, dann wird hier die Gestalt wie in Kleists Mario-
nettenfigur potentiell in ihre Glieder / Körperteile zerlegt. Das Sinnbild des Tan-
59 Zum Verfahren der Literalisierung von Metaphern bei Kleist vgl. Schneider, Dekonstruk-
tion des hermeneutischen Körpers (wie Anm. 47), S. 161.
60 »[D]ie Falle dürfte das letzte und äußerste Textmodell dieses [›Über das Marionetten-
theater‹] und jedes Textes sein, die Falle der ästhetischen Erziehung, die unvermeidlich die
Zerstückelung der Sprache durch die Kraft des Buchstaben mit der Anmut eines Tanzes
verwechselt.« (de Man, Ästhetische Formalisierung, wie Anm. 10, S. 232)
61 de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 213f.
219
Sophie Witt
zes funktioniert auch bei Schiller und analog zu Kleists Marionettenexempel und
seinem Schwerpunkt immer schon als ›Regierungsform‹, die das Einzelne unterwirft
und auf das »Ganze« zielt – so heißt es bei Kleist:
Er antwortete, daß ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln, wäh-
rend der verschiedenen Momente des Tanzes, von dem Maschinisten gestellt und
gezogen würde.
Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem In-
nern der Figur, zu regieren [Hervorhebung S.W.]; die Glieder, welche nichts als Pen-
del wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.
Er setzte hinzu, daß diese Bewegung sehr einfach wäre; daß jedesmal, wenn der
Schwerpunkt in einer graden Linie bewegt wird, die Glieder schon Kurven beschrie-
ben; und daß oft, auf eine bloß zufällige Weise erschüttert, das Ganze [Hervor-
hebung S.W.] schon in eine Art von rhythmische Bewegung käme, die dem Tanz
ähnlich wäre. (SW9 II, 339)
Klug benennt Kleists Text, dass »das Ganze« nur funktioniert, wenn man es sich
nicht ›wirklich wörtlich‹ vorstellt – denn durchaus werden beim Puppenspiel an
einzelnen Fäden einzelne Glieder gezogen. »[R]egieren« zielt auf diese Abstraktion
des Konkreten und Singulären (auch des Singulär-Körperlichen) und geht einher
mit einer Medialität und einem Lektürebegriff des Metaphorisch-Sinnbildlichen.
Nicht nur aber Kleists Erzählung, sondern auch Schillers Brief eignet ein Moment
von Theatralität, das die abstrakte (und mithin ›erhabene‹) Stoßrichtung der An-
schauung konkret-szenisch unterminiert. Natürlich mag man für Schillers Text ein-
wenden, dass auch die Zuschauerfigur – als mise en abyme des Anschauungsimpetus’
des Sinnbildes – selbst schon als eine ideale gedacht ist, als jemand, der »aus der Gal-
lerie« immer bereits die Übersicht hat, a priori aus der Warte sinniger Bedeutung,
d.h. ›anmutig‹, metaphorisch schaut – und damit kategorisch zu unterscheiden wäre
von der, wie de Man schreibt, Ausstellung der »agonale[n] Szenen der Überzeugung,
der Unterweisung und des Lesens« Kleist’scher Theatralität.62 Folgt man allerdings
wörtlich dem »Platz« und dem »Kopf« zu ›Maria Stuart‹, Platzkampf zweier Köni-
ginnen, in dem die eine ihren Kopf verliert, verkompliziert sich die Frage für Schiller
abermals. Während ganz offensichtlich Regierungsfragen Kernthema im Konflikt
der Königinnen sind sowie – wie oben erläutert – im Verhältnis von Marias ›erhabe-
nem‹ Geist und ihrer ›sündigen‹ Physis, ist die Enthauptungsszene tatsächlich – wie
bei Kleist, so de Man – eine »der Unterweisung und des Lesens«.
Unterwiesen wird allerdings nicht Maria selbst, sondern – natürlich, so will es
das Programm der ästhetischen Erziehung – der Zuschauer, der im Zentrum je-
nes politischen Projekts des Staates und der Freiheit steht. Wie zur Versicherung
dieser Unterweisungsgeste ist dem Dramentext in der Szene der Vollstreckung ein
impliziter Zuschauer eingebaut: der Verräter und Verführer Leicester. Der Politik
62 de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 213. Vgl. zur Theatralität des
›Marionettentheaters‹ auch die historische Einordnung in Christopher J. Wild, Wider
die Marionettentheaterfeindlichkeit. Kleists Kritik bürgerlicher Antitheatralität. In: KJb
2002, 109–141.
220
Moderne-Formalisierung
221
Sophie Witt
net]« (Maria Carolina Foi, Recht, Macht und Legitimation in Schillers Dramen. Am
Beispiel von ›Maria Stuart‹. In: Hinderer [Hg.], Friedrich Schiller, wie Anm. 9, S. 227–242,
hier S. 228); vgl auch: »Das Drama markiert den historischen Ort, an dem die Berufung
auf das Gottesgnadentum des Monarchen nicht mehr ausreicht.« (Gert Sautermeister,
›Maria Stuart‹. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort. In: Walter Hinde-
rer [Hg.], Schillers Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1992, S. 280–335, hier S. 315)
67 Lojkine, Dispositif bei Derrida, Foucault, Lacan (wie Anm. 65), S. 189. Foucault weist
diese Änderung des Strafvollzugs explizit als anthropologisches Projekt aus: »›Die Stra-
fen soll maßvoll und den Vergehen angemessen sein; die Todesstrafe soll nur noch über
schuldige Mörder verhängt werden; und die der Menschlichkeit ins Gesicht schlagenden
Martern sollen abgeschafft werden.‹ Der Protest gegen die peinlichen Strafen findet sich
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überall […]. Diese Notwendigkeit einer Züch-
tigung ohne Marter artikuliert sich zunächst als Schrei des Herzens oder der entrüsteten
Natur: im verruchtesten Mörder ist zumindest eines noch zu respektieren, wenn man
bestraft: seine menschliche Natur. Im 19. Jahrhundert sollte dieser im Verbrecher ent-
deckte ›Mensch‹ zur Zielscheibe einer bessernden und ändernden Straf-Intervention, zum
Bereich sonderbarer ›Straf‹-Praktiken und ›Kriminal‹-Wissenschaften werden. Aber jetzt
in der Aufklärung wird der Mensch nicht als Gegenstand eines positiven Wissens der
Barbarei der Martern entgegengehalten, sondern als Rechtsschranke, als legitimes Gesetz
der Strafgewalt. Er ist nicht das, was die Strafgewalt angreifen und verändern, sondern was
sie intakt lassen und respektieren soll. Noli me tangere. Er markiert den Haltepunkt gegen-
über der Rache des Souveräns. Der ›Mensch‹, den die Reformer gegen den Despotismus
des Schafotts zur Geltung gebracht haben, ist nicht das Maß der Dinge, sondern das Maß
der Macht.« (Foucault, Überwachen und Strafen, wie Anm. 65, S. 94)
68 Vgl. Lojkine, Dispositif bei Derrida, Foucault, Lacan (wie Anm. 65), S. 189.
69 Vgl. bis heute einschlägig Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur
Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹, Würz-
burg 1985 sowie Ludwig Stockinger, »Es ist der Geist, der sich den Körper baut«. Schillers
philosophische und medizinische Anfänge im anthropologiegeschichtlichen Kontext. In:
Georg Braungart und Bernhard Greiner (Hg.), Schillers Natur. Leben, Denken und litera-
risches Schaffen, Hamburg 2005, S. 75–86; mit Bezug auf Kleist vgl. Witt, Psychosomatik
und Theater (wie Anm. 15).
222
Moderne-Formalisierung
werden können und die in dem Programm ästhetischer Erziehung auch implizit
haust; die Enthauptungs- und ›Entleibungs‹-Szene dekliniert vielmehr durch, inwie-
fern mit der Ordnung der Dinge in Strukturen (oder Signifikanten) das Problem erst
anfängt: Die Äquivalenzlogik kollabiert, wenn Leicester »ohnmächtig niedersink[t]« ;
seine »zuckende[ ] Bewegung« (NA 9, nach Vs. 3875) ist nicht einfach Stellvertretung,
sondern kann in ihrer Physis wahlweise als hysterische Überschreitung der ›Entlei-
bung‹ oder als Kastrationsszene gelesen werden – in beiden Fällen als Ausweis einer
genuinen Störanfälligkeit der symbolischen Ordnung und ihrer Äquivalenzlogik.
In dieser Gestalt ist die Hörszene eine dezidierte Absage an die Anschauungslogik
des Sinnbildes. Sie ist zum einen ein Ausweis der medialen Anordnung von Körper
und Regierungsform, in der sich das Stellvertreterprinzip der Äquivalenzlogik – in
dem Leicesters fallender Körper für Marias fallend / gefallene Physis einsteht – als
Phantasma zeigt. Sie macht damit zweitens innerhalb der historischen Erzählung
Foucaults denkbar, dass die gesamte Logik der Struktur nur ein instabiler Durch-
gangspunkt zwischen der Logik der Folter und der Logik des Gefängnisses ist, in
dem die angenommene Vorgängigkeit der Körper (die Ursprünglichkeit und ›Na-
türlichkeit‹ der ›Natur‹) und ihre angenommene Nachträglichkeit (die diskursive
Produktion der ›Natur‹) ineinander kollabieren; Leicesters Zucken – analog zum
vielen Zucken, Straucheln, Stottern bei Kleist70 – zeigt den Körper als Produkt von
Macht, zugleich aber auch als das Moment, das jeder Machtordnung (auch der-
jenigen der Hermeneutik) kategorisch zuwider läuft, als Ort der Entmächtigung
und Kastration.71 Insofern ist folgerichtig, dass es in den letzten Szenen von ›Maria
Stuart‹ um die fehlende Schrift geht – verschwunden ist es, das Urteil als Ursprung
und Garant der Macht der Körperpolitik:
ELISABETH Das Urteil, Sir, das ich in eure Hand
Gelegt – Wo ists?
[…]
Bedenkt Euch nicht zu lang. Wo ist die Schrift? (NA 9, Vs. 3960–3971)
Das Fehlen der Schrift aber bringt das Problem der Deutung auf den Plan:
ELISABETH […] Du wagst es, meine Worte
Zu d e ut e n ? Deinen eignen blutgen Sinn
Hinein zu legen? (NA 9, Vs. 3982–3984)
70 Vgl. Gerhard Neumann, Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Körpers. Um-
risse von Kleists kultureller Anthropologie. In: Ders. (Hg.), Heinrich von Kleist: Kriegsfall
– Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, S. 13–30.
71 Dieser Aspekt nimmt eine Verschiebung der »Differenz von Körper und Sinn oder Spra-
che und Körper« vor, die in den frühen dekonstruktiven Lektüren im deutschsprachigen
Raum gegen das »hermeneutische[ ] Einheitsparadigma« in Anschlag gebracht wurde
(Schneider, Dekonstruktion des hermeneutischen Körpers, wie Anm. 47, S. 158); statt des
dualistischen Modells und der ursprünglichen Differenz (vgl. auch Schneiders Rede vom
»ursprünglichen räumlich-körperlichen Sinn« der Wörter bei Kleist, S. 161) könnte von
hier aus das Augenmerk auf die ›Leonardo-Effekte‹ gelenkt werden (vgl. Anm. 31), auf die
Trennungs- und Verbindungsprozesse.
223
Sophie Witt
Diesseits der absoluten Schrift also, bleibt nur ›blutiger‹ Sinn, singuläre Deutung
und – in Erinnerung an Marias »Blutschuld« – libidinös durchtränkter, diesseits
aller machttechnischen Verwicklungen und doch Bindung dieser an die konkret-
körperlichen Szenarien der Lektüre.
Insofern erweist de Man Kleists Text fast ein wenig einen Bärendienst, wenn er die
Formalisierung, die das ›Marionettentheater‹ mit dem Tanz anstrebe und gewalt-
sam durchagiere, in Abgrenzung zum Drama als »Darstellung von Leidenschaften«
positioniert.72 Denn ausgerechnet bei Schiller wird lesbar, dass an keinem Ort mehr
als im Drama die Szene der Mimesis immer nur als Dramatisierung, d.h. ebenso als
Formalisierung diesseits der medialen Rahmung erscheint. Mag Schillers Brief an
Körner – auch mehr schlecht als recht – mit dem Theaterrahmen das Phantasma
des Sinnbildes vor Augen stellen, so funktioniert dies nirgends weniger als in ›Maria
Stuart‹. Denn wenn hier eines deutlich wird, dann, dass jede Sehnsucht nach der
konkreten Szene (etwa als Spiel im Spiel im Theatersaal der Urteilsvollstreckung)
doch nur ein Ausweis der textuellen Verfahren des Dramas ist; dass in keiner Szene
lauter und wirkungsvoller zu hören ist: ›wirkliche‹ Mimesis gibt es nicht. Bei de
Man ist nun aber der Wert der Formalisierung bei Kleist gerade einem Begriff der
Mimesis (bei Schiller) abgerungen, die wirklich vor-strukturell sein will. Um den
Wert der diegetischen Rahmung als Ausweis der Rhetorik im ›Marionettentheater‹
starkmachen zu können, wird theatrale Mimesis zum Gegenbegriff und Mimesis
als »anthropologische Bestimmung der menschlichen Gattung« herausgestellt. Als
solche sei sie »keiner Formalisierung fähig«,
nicht gänzlich unabhängig von dem besonderen Inhalt oder Material dessen, wor-
auf sie sich als Repräsentation bezieht. Wohl kann man sich bestimmte mimetische
Konstanten oder gar Strukturen vorstellen, aber sie widerstehen in dem Maße der
Formalisierung, in dem sie von einem Realitätsgrund abhängig sind, der außerhalb
von ihnen liegt.73
Erst vor dem Hintergrund dieses Mimesis-Begriffs kann de Man die epistemolo-
gischen Fragen im ›Marionettentheater‹ als »kritische Analyse der Themen mime-
tischer Nachahmung«74 in Anschlag bringen und Kleists Schreiben als radikales
Durchstreichen eines anthropologischen Interesses. Über diesen Mimesis-Begriff
scheint Anthropologie nurmehr als quasi-universelle Frage nach der Gattung denk-
bar, nicht nur der Strukturalität, sondern vor allem jeder Historizität enthoben;
damit aber wird sie vor allem radikal geschieden von einer Epistemologie als Frage
72 Vgl. de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 228. Vgl. zu Kleist und
Tanz / Choreographie die Beiträge zur 2006er-Tagung ›Kleists Choreographien‹ (insbeson-
dere die Einleitung von Gabriele Brandstetter) in KJb 2007, 25–299.
73 de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 215.
74 de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 215.
224
Moderne-Formalisierung
nach den Wissensbedingungen.75 Gerade aber in der bei Schiller am Motiv des Tan-
zes ausagierten Sehnsucht nach der mit dem Sinnbild des Theaters verknüpften
Idealität der Anschauung bleibt doch die konkret-korporale Dimension der Szene
des Wissens und Darstellens lesbar; Mimesis als vermeintliche »anthropologische
Bestimmung der menschlichen Gattung« führt damit nicht ins Vor-Diskursive oder
A–Historische; sie verweist vielmehr auf die Abhängigkeit jeder Darstellung »von
dem besonderen Inhalt oder Material dessen, worauf sie sich als Repräsentation be-
zieht«; und in diesem Verweis ist ›Mimesis‹ gerade nicht vor- oder außersprachlich,
nistet sich aber dekonstruktiv innerhalb des Allgemeinheitsanspruchs des Diskurses
(oder der Darstellung) ein.76
Von dieser Verunsicherung jeder Setzung und jeder Erkenntnis handelt Anthro
pologie immer auch, und zwar gerade, indem sie nach dem ›Ganzen‹ strebt und
sich dabei doch immer den ›Teilen‹ und den Bewegungen der Zergliederung gegen-
übersieht – der Singularität der Darstellungs- und Erkenntnisszenen. Ich habe an
anderer Stelle gezeigt, dass sich Schillers idealistischer dreiphasiger, kreisförmiger
Geschichtsverlauf – d.h. die de Man’sche ›Ideologie des Ästhetischen‹: durch die
Kunst wieder ins Paradies – letztlich als eine Verdrängungserzählung dieser exis-
tentiellen Verunsicherung lesen lässt, die Schillers frühe medizinische Texte am
Commercium-Problem ausweisen: der Einsicht, dass mit dem psychophysischen
Doppelwesen auch alles Wissen und alle Erkenntnis letztlich endlich sind77 – mit
Döblin: einem ›modernden‹ Zersetzungsprozess unterstellt. In der Elegie ›Der Tanz‹
wird die freiheitliche Harmonisierung im tanzenden Paar explizit mit dem versöhn-
lichen Geschichtsverlauf zusammengebracht, für den das freiheitlich vereinte Paar
metaphorisch einsteht:
75 Jakob Tanner hat entsprechend »historische Anthropologie« als Anliegen einer Wissens-
geschichte benannt, insofern sie nach einem »Wissen[ ] über den Menschen und seine
Vergemeinschaftung« fragt und »zugleich eine Historisierung der anthropologischen
Wissenschaft ist« (Daniel Speich Chassé und David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine
Standortbestimmung. In: Traverse 1 [2012], S. 85–100, hier S. 94). Vgl. Jakob Tanner,
Historische Anthropologie. Zur Einführung, Hamburg 2004.
76 De Mans Gegenüberstellung von Drama und Tanz funktioniert ebenso wenig aus der
Perspektive der aktuellen Tanzwissenschaft, in der etwa Hartmut Böhme und Sabine
Huschka für den Tanz den Aspekt der ›Verkörperung‹ festhalten, »dass die Ebene des ver-
körperten Wissens, die stimmlose Beredsamkeit des Leibes (eloquentia corporis) […] nicht
nur der kreative Ausgang, sondern auch das Ziel aller explikativen Wissensanstrengungen
darstellt.« Gerade auch ›Tanz‹ ist in dieser Positionierung insofern keiner vollständigen
Formalisierung fähig, als »menschliches Tanzen an Wissen und Einübung gebunden ist,
beides aber historisch-kulturellen Standards, Stilen und Habitus unterliegt« (Hartmut
Böhme und Sabine Huschka, Prolog. In: Dies. [Hg.], Wissenskultur Tanz. Historische
und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009,
S. 7–22, hier S. 11, 8).
77 Vgl. Sophie Witt, ›Drama‹ der Endlichkeit. Genealogie und Generativität um 1800
(Goethe, Schiller, Kleist). In: Michael Gamper und Peter Schnyder (Hg.), Dramatische
Eigenzeit des Politischen um 1800, Hannover 2017, S. 93–113.
225
Sophie Witt
78 Vgl. Martin Roussels Hinweis: »Die Erzählung 1810 sichert in der Wiederholung jener
kryptisierten Erlebnisse im ›Winter 1801 in M…‹ (DKV III, 555) dasjenige, was als Ende
der Geschichte der Welt nicht zu erkennen ist.« So werde »die Zukunft […] mit jedem
Text mehr ›en abŷme‹ gesetzt« (Martin Roussel, Zerstreuungen. Kleists Schrift ›Über das
Marionettentheater‹ im ethologischen Kontext. In: KJb 2007, 61–93, hier 83, 91). Verwie-
sen ist damit potentiell auf jene späteren Kleist-Rezeptionen, etwa Döblins, ebenso wie
auf jedweden literaturwissenschaftlichen Angang. Zur Verwicklung von Kleist-Rezeption
und (germanistischer) Literaturwissenschaft vgl. Scholz, Kleist / Kafka (wie Anm. 32).
226
Moderne-Formalisierung
Kleists implizit auf den Kampfplatz der Lektüre als ein körperliches Phänomen,
auf »Glieder« und »Bewegungen«; und wenn die »Körperschaft der Interpreten«
gegenüber der Mischung aus »Anmut und Gewalt« in Kleists ›Marionettentheater‹
»eher dem gequälten Fechter der letzten Geschichte als dem selbstsicheren Lehrer
der vorletzten [gleicht]«,79 dann bezeichnet der (im Original) »collective body of
interpreters«80 den gewaltsamen Einzug einer körperlich-verkörperten Dimension
auf die metaphorische Ebene der ›Körperschaft‹. Eine anthropologische Perspektive
auf literarische Texte vermag heute an ein Lesen zu gemahnen, das sich immer auf
dem Kampfplatz zwischen ›Ganzem‹ und ›Teil‹, zwischen Buchstabe und Sinnbild
bewegt. Der Mehrwert mag aber auch darin bestehen, an die Verkörperung jeder
Lektüre zu erinnern; Literaturwissenschaft gliche dann nicht, wenn sie misslingt,
sondern wenn sie sich ernst nimmt, »dem gequälten Fechter der letzten Geschichte
[eher] als dem selbstsicheren Lehrer der vorletzten.«81
79 Der Leser »stolpert über seine Glieder oder verfängt sich in seinen eigenen Bewegungen«
(de Man, Ästhetische Formalisierung, wie Anm. 10, S. 214f.). Tatsächlich handelt es sich
bei de Mans literaturwissenschaftlicher Rede von »Glieder[n]« und »Bewegungen« um
eine Art Mimesis an Kleists Text; auch hier wird deutlich, dass Mimesis sich innerhalb der
Sprache ereignet, aber umgekehrt dieser eine korporale Dimension einschreibt.
80 Paul de Man, Aesthetic Formalization: Kleist’s ›Über das Marionettentheater‹. In: Ders.,
The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, S. 263–314, hier S. 272.
81 de Man, Ästhetische Formalisierung (wie Anm. 10), S. 214.
227
Internationale Tagung im Kleist-Museum
12. und 13. März 2018
Kleists Anekdoten
Zur Grösse der Kleinen Formen
1 Die Tagung ›Kleists Anekdoten – Zur Größe der Kleinen Formen‹ fand am 12. und 13. März
2018 im Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder statt; vgl. auch Barbara G ribnitz, Ta-
gungsbericht. In: Zeitschrift für Germanistik 28 (2018), S. 638f.
2 Vgl. etwa die folgenden, kürzlich erschienenen oder bereits angekündigten Sammelbände:
Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner
Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2017; Franz-Josef Holznagel
und Jan Cölln (Hg.), Wolfram-Studien XXIV: Die Kunst der »brevitas«. Kleine literari-
sche Formen des deutschsprachigen Mittelalters, Berlin 2017; Franz Fromholzer, Mathias
Mayer und Julian Werlitz (Hg.), Nanotextualität. Ästhetik und Ethik minimalistischer
Formen, Paderborn 2017; David-Christopher Assmann und Stefan Tetzlaff (Hg.), Poetik
der Skizze. Verfahren und diskursive Verortungen einer Kurzprosaform vom Poetischen
Realismus bis zur Frühen Moderne, Heidelberg 2019; Julia Heideklang und Urte Stobbe
(Hg.), Kleine Formen für den Unterricht. Historische Kontexte, Analysen, Perspektiven,
Göttingen 2019.
3 Vgl. u. a. ›Poetik der Skizze. Verfahren und diskursive Verortungen einer Kurzprosaform
vom Poetischen Realismus bis zur Frühen Moderne‹ in Frankfurt am Main im September
2018; ›Außeralltäglichkeit ohne Größe? Besonderheit, Exemplarität und Heroisierungen
in ›kleinen Formen‹ des Literarischen und Visuellen‹ am Freiburger FRIAS im Oktober
2018 sowie die zahlreichen Workshops des Graduiertenkollegs zu den Kleinen Formen
an der Humboldt-Universität Berlin im selben Jahr: ›Barock ›en miniature‹. Literarische
Kleinformen des Barock und ihr Nachleben‹ im Dezember; ›Schnittstellen der Verwal-
tung. Kleine Formen der Bürokratie‹ im November; ›Kleine Formen für den Unterricht –
Unterricht in kleinen Formen‹ im Juli; ›Verdichtung der Welt im Sprachraum des Hafens.
Die kleinen Formen des Maritimen‹ im April; ›Erzähltes Wissen, archiviertes Wissen.
Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen in der deutschsprachigen
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts‹ im Januar. Diese Veranstaltungsreihe setzte sich
auch 2019 fort mit ›kleiner werden. Verfahren und Techniken der Ökonomisierung kleiner
Formen‹ im Januar und ›Berichte(n) – Prozesse, Narrative und Funktionen einer adminis-
trativen Kleinform‹ im April an der HU Berlin sowie mit ›Erzähltes Wissen, archiviertes
Wissen: Kleine Wissensformen und poetologische Transformationen II‹ im Januar an der
ETH Zürich.
231
Matthias N. Lorenz und Thomas Nehrlich
4 Vgl. Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl, Graduiertenkolleg ›Literatur- und Wissens-
geschichte kleiner Formen‹. In: Zeitschrift für Germanistik 27 (2017), S. 579–585.
5 Vgl. www.mikrotext.de (31.05.2019). Im Verlag mikrotext ist u. a. folgender programma-
tischer Titel erschienen, dessen Umfang mit »ca. 60 Seiten auf dem Smartphone« ange-
geben wird: Jan Kuhlbrodt, Über die kleine Form. Schreiben und Lesen im Netz, Berlin
2017.
6 Bei Christiane Frohmann erscheint die Reihe ›Kleine Formen‹, die Netzliteratur als Fort-
setzung tradierter Kleiner Formen versteht und zurück ins Medium Buch bringen möch-
te. Vgl. https://orbanism.com/frohmann/ (31.05.2019).
7 Vgl. André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus,
Memorabile, Märchen, Witz, Halle 1930.
8 Vgl. Wladimir Propp, Morphologie des Märchens [1928], München 1972.
9 Vgl. Robert Walser, Mikrogramme, nach der Transkription von Bernhard Echte und
Werner Morlang hg. von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg und Peter Stocker, Berlin 2011.
10 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur [1975], aus dem
Französischen von Burkhart Kroeker, Frankfurt a. M. 1976.
11 Vgl. z. B. Lionel Gossman, Anecdote and History. In: History and Theory 42,2 (2003),
S. 143–168; Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg (Hg.), Gattungs-Wissen.
Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013; darin u. a. den Aufsatz von
Alexander Košenina, Kriminalanekdote. Literarisches Rechtswissen bei Kleist, Meißner
und Müchler, S. 96–108.
232
Kleists Anekdoten – Zur Größe der Kleinen Formen
233
Matthias N. Lorenz und Thomas Nehrlich
So treffen hier eine Tendenz innerhalb der Autorenphilologie und ein erneu-
ertes Interesse an den Kleinen Formen zusammen. Entsprechend war es ein Ziel
der Tagung, Kleist-Expertinnen und -Experten mit solchen Forscherinnen und For-
schern ins Gespräch zu bringen, die sich seinen Anekdoten aus anderer Perspektive
annähern, etwa mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen wie der Störungs- oder der
Serendipitäts-Forschung oder den Gender Studies, mit einem medienhistorischen
Fokus auf Journalliteratur oder in Hinsicht auf die produktive Rezeption durch
Autoren der Gegenwart. Auch die Diskussion zwischen etablierten und jüngeren
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anzustoßen, war ein Anliegen der von
der Kommission für Forschungs- und Nachwuchsförderung der Philosophisch-
historischen Fakultät der Universität Bern geförderten Frankfurter Tagung.
Das Augenmerk der hier versammelten Beiträge liegt auf dem Journalisten,
Redakteur und Publizisten Kleist, der im Kontext einer allgemeinen Dynamisierung
der Zeitschriftenpublikationen um 1800 als Herausgeber der ›Berliner Abendblätter‹
eine besondere Affinität zur Kleinen Form entwickelte.16 Kleists Anekdoten17 treten
auf im beiläufigen und gefälligen Gewand kurzer und kürzester Gebrauchstexte zur
Unterhaltung der Leserinnen und Leser eines publizistischen Wegwerfmediums.18
Mit dem Telegrammstil einer sich beschleunigenden Moderne und der Kommuni-
kationsökonomie einer medialisierten Öffentlichkeit haben sie trotz ihrer Veröffent-
lichung in einer Tageszeitung jedoch wenig zu tun. Sie laufen jeder journalistischen
Effizienz zuwider und verweigern sich einer schnellen, umstandslosen Informations-
entnahme; das für die Kleinen Formen charakteristische Tempo wird von ihnen
entschieden ausgebremst. Tatsächlich sind sie weniger Skizzen denn Kondensate:
Sie stellen aus dem Alltagsgeschehen herausragende Begebenheiten – rätselhafte
Zufälle, wunderbare Großtaten, natürliche und übernatürliche Merkwürdigkeiten,
historische Rechts- und Kriminalfälle – durch Reduktion auf ihren prägnanten Mo-
ment dar. Sie verdichten physiognomische Details zu Charakterstudien berühmter
Persönlichkeiten. Sie fassen – in ihren häufig militärischen Sujets – die politischen
Verhältnisse und psychischen Befindlichkeiten im besetzten Preußen in raubeinigen
Bonmots und doppelbödigen Witzen zusammen. Mitunter enthalten sie in nuce
eine ganze Poetik des Kleist’schen Erzählens.
Ungeachtet ihres geringen Umfangs von zum Teil nur wenigen Zeilen sind
die Anekdoten hochkomplexe und vielschichtige Mikrotexte, die bei näherer Be-
trachtung und genauer Kontextualisierung im historischen und medialen Umfeld
oft einen enormen Anspielungsreichtum entfalten. In ihrer radikalen Kürze und
16 Vgl. Heinrich Aretz, Heinrich von Kleist als Journalist. Untersuchungen zum ›Phöbus‹,
zur ›Germania‹ und den ›Berliner Abendblättern‹, Stuttgart 1983, S. 281.
17 Neben der epischen Gattung der Anekdote könnten weitere Werke und Werkgruppen
unter Kleists Kleine Formen gezählt werden, z. B. die meisten seiner Gedichte und seine
Epigramme. Wegen ihrer generischen Differenz als lyrische Textsorten werden sie hier
jedoch weitgehend ausgeklammert.
18 Weil die meisten Zeitgenossen sie nicht aufbewahrten, sind von den ›Abendblättern‹ trotz
hoher Auflage notorisch wenige Exemplare überliefert. Das einzige fast völlig vollständige
Exemplar haben die Brüder Grimm archiviert, vgl. Roland Reuß, Zu dieser Ausgabe. In:
BKA II / 8, 348–392, hier 390.
234
Kleists Anekdoten – Zur Größe der Kleinen Formen
19 Vgl. hierzu Michael Gamper, Rätsel kurz erzählen. Der Fall Kleist. In: Ders. und Mayer
(Hg.), Kurz & knapp (wie Anm. 2), S. 91–117.
20 Kleists Anekdoten gehörten nachweislich zu Kafkas Lieblingslektüre, er widmete ihnen
eine zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Rezension. Vgl. Walter Hinderer, »Kleist
bläst in mich, wie in eine alte Schweinsblase«. Anmerkungen zu einer komplizierten
Verwandtschaft. In: Manfred Engel und Dieter Lamping (Hg.), Franz Kafka und die
Weltliteratur, Göttingen 2006, S. 65–81, hier S. 72.
235
Thomas Nehrlich
Die Erforschung von Kleists kleinen narrativen Formen steht vor der grundsätz-
lichen Schwierigkeit, dass gar nicht leicht zu bestimmen ist, welche Texte das eigent-
liche Untersuchungscorpus bilden. Noch vor der inhaltlichen Auseinandersetzung
steht die bibliographische Frage nach der Konstitution der Werkgruppe – die freilich
selten explizit gestellt wird. Weil keine anderslautenden Einschätzungen des Autors
überliefert sind, wird Kleists Gesamtwerk in Editionen in der Regel gattungsheuris-
tisch untergliedert: Die Abgrenzung zwischen den zu Lebzeiten unveröffentlichten
Briefen, den mehrheitlich zu Lebzeiten publizierten Theaterstücken und den Ge-
dichten ergibt sich unstrittig aus der Differenz zwischen den traditionellen literari-
schen Gattungen bzw. zwischen den persönlich-biographischen Ego-Dokumenten
einerseits und den im engeren Sinne literarischen, auf ihre Veröffentlichung hin
verfassten Produktionen andererseits. Die in der Kleist-Philologie spätestens seit
Beginn des 20. Jahrhunderts übliche zusätzliche Unterscheidung zwischen der grö-
ßeren und der kleineren Prosa ist hingegen nicht gleichermaßen evident, zum einen
wegen der generischen Nähe der Erzähltexte untereinander, die sich naturgemäß
weniger voneinander unterscheiden als von lyrischen und dramatischen Texten, zum
anderen wegen der publizistischen Heterogenität der in verschiedenen Medien ver-
öffentlichten kleinen Prosastücke, die keine in sich geschlossene, trennscharf gegen
die umfangreicheren Texte abgrenzbare Einheit bilden.1
Um dennoch zwischen Kleists kleineren und größeren Prosaformen zu unter-
schieden, wird top down argumentiert, sowohl werkbiographisch als auch quantita-
tiv: Weil in Kleists Œuvre die Gattung des Romans nicht vertreten ist,2 Großprosa
also fehlt, herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die 1810 und 1811 in einer
zweibändigen Ausgabe erschienenen ›Erzählungen‹3 als eigene Werkgruppe für sich
stehen, von Kleist selbst als solche zusammengestellt durch die gemeinsame Veröf-
fentlichung als Textsammlung. Die ›Erzählungen‹ stellen mithin Kleists größere Pro-
1 Vgl. Gerhard Neumann, Anekdote und Novelle. Zum Problem literarischer Mimesis im
Werk Heinrich von Kleists. In: Tim Mehigan (Hg.), Heinrich von Kleist und die Auf-
klärung, Rochester, NY, u. a. 2000, S. 129–157.
2 Obwohl er seinem Verleger noch wenige Monate vor seinem Tod einen »ziemlich weit
vorgerückt[en]« Roman angeboten hat, ist von Kleist kein entsprechender Text überlie-
fert, vgl. Kleists Brief an Georg Andreas Reimer, undatiert (wohl Ende Juli 1811), BKA
IV / 3, 659–661, hier 659. Ob Kleist 1811 tatsächlich an einem Roman arbeitete oder seinem
Verleger diesen nur aus strategischen Gründe ankündigte, ist nicht geklärt. Vgl. spätere
Hinweise auf den Roman in NR 130a, 244a / b, 448.
3 Vgl. Heinrich von Kleist, Erzählungen, 2 Bde., Berlin 1810 und 1811.
237
Thomas Nehrlich
sa dar, die mit dem weit ausgreifenden ›Michael Kohlhaas‹ in Umfang und narrativer
Komplexität den Roman immerhin streift. Während damit die obere Gattungsgren-
ze gezogen ist, steht die Abgrenzung nach unten weiter infrage: Gehören schlicht
alle restliche Erzähltexte zu Kleists kleinen Formen? Lässt sich diese Werkgruppe
also nur ex negativo konstituieren, als Residuum? Oder lassen sich spezifische Merk-
male identifizieren, die die Werkabteilung einen? Kann sogar eine eigene Poetik der
kleinen Form herausgearbeitet werden?
Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden zunächst die bisher gän-
gigen Kriterien für die Bestimmung der kleinen Prosa diskutiert, bevor beispielhaft
charakteristische Merkmale der Gattung bei Kleist beschrieben werden, besonders
in Hinsicht auf die Ontologie der Texte und entsprechende Erzählstrategien. Auf
dieser Grundlage wird ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹ als poetologischer
Schlüsseltext interpretiert, der für das anekdotische Erzählen eine Wahrscheinlich-
keitspoetik formuliert, deren Umsetzung in Kleists kleiner Prosa insgesamt nach-
vollzogen wird. Abschließend wird zur Diskussion gestellt, inwiefern diese Poetik
die kleine von der größeren Prosa abhebt.
Eine erste Schwierigkeit in der Beschreibung von Kleists kleiner Prosa besteht in der
Bestimmung der (dominanten) Textsorte. Als generische Klammer für die Werk-
gruppe wird oft die ›Anekdote‹ verwendet, obwohl längst nicht alle darunter ge-
fassten Kurzerzählungen eine entsprechende Gattungsbezeichnung im Titel tragen,
sodass die Einordnung einzelner Texte mitunter strittig ist. Statt einer immer fei-
neren Unterteilung in unterschiedliche Mikrogenres – Müller-Salget etwa schlägt
neben ›Anekdote‹ auch ›Fabel‹, ›Geschichte‹ und ›Merkwürdigkeit‹ vor, ohne die
einzelnen Texte diesen Kategorien eindeutig zuzuordnen (vgl. DKV III, 914–917) –
wird die gegenständliche Werkgruppe im Folgenden zusammenfassend als ›Kleine
Prosa‹ bezeichnet. Sie umfasst die literarischen episch-narrativen Texte des Œuvres,
Kleists kleine Formen. Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass
sich bei Kleist nirgends eine vertiefte Reflexion über Gattungen und Gattungsbe-
zeichnungen findet.
Weil Kleist bei der Produktion seiner kleinen Prosastücke regelmäßig auf vor-
gefundenes Material zurückgriff, das er mehr oder weniger stark bearbeitete, seine
Texte also in unterschiedlichem Maß auch Anteile fremder Verfasser enthalten, stellt
sich bei der Bestimmung der Werkgruppe erschwerend die Frage der Autorschaft,
die unterschiedlich beantwortet wird: von der Identifikation einzelner nahezu
vollständig aus Fremdtext bestehender, möglicherweise aus Kleists Werk auszu-
schließender Beiträge, u. a. auf der Grundlage neuester Vorlagenfunde,4 über die
4 In einem ersten, ursprünglich auf der hier dokumentierten Tagung vorgestellten Beitrag
hat Sergej Liamin aufgrund von Datenbank-Recherchen nachgewiesen, dass die beiden
Anekdoten ›Sonderbarer Rechtsfall in England‹ und ›Geschichte eines merkwürdigen
Zweikampfs‹, die bisher Kleist zugeschrieben wurden, tatsächlich schon 1778 und 1782
238
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
in der Zeitschrift ›Olla Potrida‹ veröffentlicht worden waren, bevor sie mit geringfügigen
Änderungen in den ›Berliner Abendblättern‹ erschienen. Vgl. Sergej Liamin, Kleist gegen
Google. Herstellung der Tatsachen und Phantome der Autorschaft in der ›Geschichte
eines merkwürdigen Zweikampfs‹. In: Euphorion 112 (2018), S. 425–438. Vgl. außerdem
Liamins Beitrag in diesem Band.
5 Müller-Salget ordnet drei Anekdoten unter ›Zweifelhaftes‹ ein, vgl. DKV III, 386–393.
6 Vgl. Heinrich von Kleists gesammelte Schriften, hg. von Ludwig Tieck, 3 Bde., Berlin 1826.
7 Vgl. Heinrich von Kleist’s gesammelte Schriften, hg. von Ludwig Tieck, revidiert, ergänzt
und mit einer biographischen Einleitung versehen von Julian Schmidt, 3 Bde., Berlin 1859,
Bd. 3, S. 301–303.
8 Vgl. Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin und Stuttgart 1901.
9 Vgl. H. v. Kleists Werke, im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hg. von
Erich Schmidt, 5 Bde., Leipzig, Wien o. J. [1904–06], Bd. 4, besonders S. 188–209.
10 Während Sembdner Originalbeiträge Kleists von Anekdoten-Bearbeitungen unterschei-
det, lehnt Müller-Salget solch eine Unterteilung ab, vgl. DKV III, 914.
239
Thomas Nehrlich
zeiberichte. Längst nicht alle Texte stammen von Kleist selbst, in den ›Abendblättern‹
ist kein einziger Text namentlich von ihm unterzeichnet. Seine Autorschaft muss
also durch andere Quellen bzw. inhaltliche oder formale Indizien erschlossen werden
und bleibt in einigen Fällen bis heute ungeklärt. Seine redaktionelle Überarbeitung
darf hingegen bei allen Beiträgen des ›Phöbus‹ und der ›Abendblätter‹ angenommen
werden, wenn auch das Ausmaß seiner Eingriffe nicht immer ermittelt werden kann.
Die Frage nach der Veröffentlichungspraxis von Kleists kleiner Prosa wird noch
dadurch verkompliziert, dass er neben seinen eigenen Periodica auch in anderen
Zeitschriften veröffentlichte, z. B. in Cottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ und
im Berliner Unterhaltungsblatt ›Der Freimüthige‹. Dass Kleist unter dem Namen
C. Baechler außerdem vier Texte in den Hamburger ›Gemeinnützigen Unterhal-
tungs-Blättern‹ publiziert hätte, wie Helmut Sembdner behauptet hat, ist bis heute
weder bestätigt noch eindeutig widerlegt.11
Mit Blick auf ihre Erscheinungsweise wird aber wiederum die vermeintlich klare
Trennlinie zwischen Kleists selbständigen Prosa-Veröffentlichungen in Buchform
und den unselbständigen Journal-Publikationen unscharf, die der Unterscheidung
zwischen kleiner und größerer Prosa üblicherweise zugrunde gelegt wird: Von sechs
der acht Erzählungen, die später in der zweibändigen Sammlung erschienen, hat
Kleist Erstfassungen zunächst in Periodica publiziert: ›Michael Kohlhaas‹ und ›Die
Marquise von O....‹ im ›Phöbus‹; ›Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erd-
beben zu Chili, vom Jahr 1647‹ (in der Buchfassung ›Das Erdbeben in Chili‹) im
›Morgenblatt‹; ›Die Verlobung‹ (in der Buchfassung ›Die Verlobung von St. Domin-
go‹) in ›Der Freimüthige‹ und in ›Der Sammler‹; ›Das Bettelweib von Locarno‹ und
›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹ in den ›Abendblättern‹.12 An den
teilweise deutlichen quantitativen Unterschieden zwischen den Fassungen einerseits
– im Falle des ›Kohlhaas‹ und der ›Cäcilie‹ umfassen die Zeitschriften-Veröffentli-
chungen nur jeweils rund ein Viertel des späteren Textumfangs in den ›Erzählungen‹
– und innerhalb der Anekdoten andererseits, die in ihrem Umfang untereinander
erheblich variieren, zeigt sich zudem, dass auch der reine Textumfang nicht als ein-
deutiges Unterscheidungskriterium taugt: Zwar erstreckt sich ›Kohlhaas‹ als Kleists
längste Erzählung in der Buchfassung von 1810 über mehr als 200 Seiten,13 während
manche Anekdoten nur wenige Zeilen lang sind. Doch zwischen diesen Extremen
liegen sehr kurze Erzählungen wie das ›Bettelweib‹ und umfangreiche Anekdoten
wie die ›Sonderbare Geschichte, die sich, zu meiner Zeit, in Italien zutrug.‹ und
die ›Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs‹, die sich, zumal sie alle in den
›Abendblättern‹ erschienen, im Textvolumen kaum unterscheiden.
240
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
Wenn also äußere Merkmale wie Textumfang und Publikationsweise keine eindeuti-
ge Abgrenzung zulassen, wie sonst kann Kleists kleine Prosa charakterisiert werden?
Vorläufige Aufschlüsse zu dieser Frage kann die exemplarische Analyse jenes Texts
geben, der gemeinhin als Kleists erste Anekdote in die Editionen aufgenommen
wird (vgl. SW9 II, 262; DKV III, 354). Es handelt sich um einen wenige Zeilen
langen Bericht, der am 2. Oktober 1810 im zweiten Blatt der ›Berliner Abendblätter‹
zusammen mit zwei Meldungen unter dem Rubriktitel ›Tagesbegebenheiten.‹ er-
schienen ist.14 Der Text lautet vollständig:
Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der
neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide
ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen An-
dern stellen. Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte
sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz
getroffen und getödtet ward. (BA, Bl. 2, 10)
Dieser publikationsbiographisch früheste Vertreter seiner Gattung, der die Textsorte
der Kleist’schen Anekdoten gleichsam begründet, weist bereits zahlreiche charakte-
ristische Merkmale von Kleists kleiner Prosa auf: Auf der Grundlage von Zeitungs-
meldungen, die ihm als Quelle dienen, stellt Kleist hier ein merkwürdiges Ereignis
in lakonischer Kürze und pointierter Zuspitzung dar. Das Motiv der Strafe durch
Blitzschlag hat Kleist später in der Anekdote ›Der Griffel Gottes‹ wieder aufgegrif-
fen. Die ›[Tagesbegebenheit]‹ entspricht also thematisch der »Kategorie des ›Merk-
würdigen‹, des Ausgefallenen, Ungewöhnlichen«, die Müller-Salget zufolge »all diese
Texte miteinander verbindet und Kleists Anekdoten-Begriff prägt« (DKV III, 915).
Auch in formaler Hinsicht ist der Text repräsentativ für Kleists kleine Prosa:
Personal und Szenerie sind im Sinne effizienter Erzählökonomie auf das Wesent-
liche reduziert. Und auch die Rhetorik trägt zur Verdichtung des Berichteten bei:
Das Hysteron-Proteron des bereits in der zweiten Zeile erschlagenen Arbeitsmanns
Brietz lenkt die Spannung auf den Ausgang des Texts, wo sich erst nachträglich auf-
klärt, wie – und warum – er umkommt. Die Wiederholung des »wohl« in der Rede
des Arbeitsmanns unterstreicht die Unangemessenheit von dessen Aufforderung.
Die tautologische Dopplung von »worauf« und »unmittelbar darauf« im letzten Satz
betont die Plötzlichkeit der Sanktion.
Ein weiteres typisches erzählerisches Mittel der Kleist’schen Anekdoten ist der
Sprung vom Präteritum ins Präsens: »Der Capitain Bürger, der ein stiller und
bescheidener Mann ist, […]« (Hervorhebung T.N.). Ob der Tempuswechsel hier
aber auch wie sonst häufig15 eine besondere narrative Gegenwärtigkeit und Ein-
dringlichkeit zur Folge hat, ist fraglich, da er einen Zustand und keine Handlung
241
Thomas Nehrlich
bezeichnet und deutlich vor der Schlusspointe erfolgt. Seine Funktion scheint viel-
mehr in der Herstellung von Zeitgenossenschaft zu liegen, indem er den Inhalt des
Texts an die Gegenwart und Wirklichkeit der Zeitungsleser bindet: Der »Capitain«,
so die implizite Aktualitätsbehauptung, existiert tatsächlich und verbürgt das Ereig-
nis als Überlebender und Augenzeuge.16 Das unvermittelte Präsens der Anekdote,
zumal in Gestalt des fundamentalen Existenzverbs ›sein‹, zielt also nicht bloß auf
narrative Präsenz, sondern auf die lebensweltliche Beglaubigung des Berichteten in
der Gegenwart der Leser. Auf diese Weise wirkt das Präsens sich auf die Ontolo-
gie des Texts aus. Es erweist sich als Teil einer umfassenden Faktualisierungsstra-
tegie, denn Bezüge zur Wirklichkeit des Lesepublikums werden zusätzlich durch
die namentlich genannten Personen und den präzise lokalisierten Schauplatz her-
gestellt: Der Stabskapitän Christoph Friedrich von Bürger (1765–1813) ist ebenso
historisch verbürgt wie der Arbeiter Pritz, von dessen Tod durch Blitzschlag am
29. September 1810 die ›Spenersche Zeitung‹ und die ›Vossische Zeitung‹ in Berlin
übereinstimmend berichtet hatten. Der General Bogislav Friedrich Emanuel Graf
Tauentzien von Wittenberge (1760–1824) war Spross einer berühmten preußischen
Offiziersfamilie und Befehlshaber eines Infanterieregiments. Und die Neue Prome-
nade ist bis heute eine zentral gelegene Berliner Straße in der Nähe von Spree und
Museumsinsel. Insgesamt weist die Anekdote also einen hohen Grad an örtlicher
und personeller Konkretion auf.
Diese Fülle einander ergänzender Faktualitätssignale – fünf Gegenwartsbezüge auf
sieben Zeilen – wird besonders augenfällig im Kontrast zu Kleists ›Rätsel‹-Anekdote,
die auf Realien und historische Identifikationsangebote ausnahmsweise konsequent
verzichtet. Ihr erster Satz lautet:
Ein junger Doktor der Rechte und eine Stiftsdame, von denen kein Mensch wußte,
daß sie mit einander in Verhältnis standen, befanden sich einst bei dem Commen-
danten der Stadt, in einer zahlreichen und ansehnlichen Gesellschaft. (DKV III, 362)
Systematisch wird hier jeder Wirklichkeitsbezug vermieden, indem die Personen
nur nach Funktion oder Stand, die Örtlichkeit generisch als »Stadt« und die Zeu-
gen pauschal als »Gesellschaft« bezeichnet werden. Gerade durch diese Wieder
erkennungsverweigerung, durch diese ontologische Ungreifbarkeit wird die Anek-
dote ihrem Titel als humoristisches Rätsel gerecht. Und ex negativo bestätigt diese
absichtliche Dekonkretisierung die ostentative historische Authentifizierung der
›[Tagesbegebenheit]‹, die, wie noch zu zeigen sein wird, Kleists kleine Prosa ins-
gesamt kennzeichnet.
Die bisherigen Beobachtungen erlauben ein Zwischenfazit: Der Versuch, am Bei-
spiel seiner ersten Anekdote eine spezifische Erzählweise von Kleists kleiner Prosa zu
bestimmen, lenkt den Blick auf deren Bezugnahmen auf die textexterne Wirklich-
16 Sembdner hält für wahrscheinlich, Müller-Salget immerhin für möglich, dass Kleist in der
Tat mit Christoph Friedrich von Bürger bekannt war und ihm die in seinem Bericht mit-
geteilten Informationen verdankte, vgl. SW9 II, 910 und DKV III, 919. Für eine Analyse
dieser historisch-biographischen Hintergründe vgl. den Beitrag von Michael Niehaus in
diesem Band.
242
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
keit, auf die explizit herausgestellten Verweise auf die Lebenswelt der Leser, auf den
Umgang mit Faktualitätsmarkern, mithin auf die Ontologie der Texte. Auf engstem
Raum auffällig realiengesättigt präsentiert sich bereits diese frühe Anekdote – und
macht dadurch ihre gattungstypische Merkwürdigkeit wett. Der auf Plausibilität,
ja sogar historische Überprüfbarkeit ausgerichtete Wirklichkeitsbezug fungiert als
Ausgleich für die Glaubwürdigkeitszumutungen der Handlung: Das Erzählen von
Außerordentlichkeiten und das Bestreben nach deren Beglaubigung stehen zuein-
ander in einem narrativen Kompensationsverhältnis. Die ›[Tagesbegebenheit]‹ ist in
dieser Hinsicht paradigmatisch für ihre Textsorte, die als »zwischen Faktizität und
Fiktionalität angesiedelte Gattung« (Kommentar in DKV III, 915) beschrieben wird.
Diese ambivalente Ontologie zwischen Fakt und Fiktion entspricht dem publizis-
tischen Kontext der Kleist’schen Anekdoten in den ›Berliner Abendblättern‹:17 Als
erzählende Texte erscheinen sie im wirklichkeitsgebundenen Medium der Zeitung;
und sie resultieren oft aus der freien, fiktionalisierenden Bearbeitung mehr oder
weniger noch durchscheinender faktualer Nachrichten und Meldungen. Aus dieser
Spannung gewinnen Kleists Anekdoten häufig ihre spielerisch-komische, ironische
Wirkung.18
Wenn die betonte Faktualität also ein Erzählstrategem, einen kalkulierten effet de
réel 19 darstellt, stellt sich die Frage, wie Kleist Authentizität literarisch inszeniert
und ob sich daraus ein Merkmal seiner kleinen Prosa ableiten lässt. Die Antwort
liegt in jenem Text, der – ausgerechnet in der kleinen Form – am explizitesten in
Kleists Gesamtwerk den Umgang mit der Wahrheit in der Literatur thematisiert:
Am 10. Januar 1811 erschien in Nummer 8 der ›Abendblätter‹ die umfangreiche
Anekdote ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹. Ihr literarisches Selbstbewusstsein
trägt sie zur Schau, indem sie die vier Seiten umfassende Ausgabe vollständig aus-
füllt – eine Ausnahme in den ›Abendblätter‹, deren Nummern sonst fast immer aus
mehreren Texten in verschiedenen Rubriken bestehen.20 Umso mehr Gewicht liegt
auf diesem einen Text.
In erkennbarer Anlehnung an Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewan-
derten‹ (1795), dem bekanntesten zeitgenössischen Gattungsvorbild für deutsch
sprachige Anekdotensammlungen, erzählen Kleists ›Unwahrscheinliche Wahrhaftig-
keiten‹ von einem »alte[n] Offizier« (DKV III, 376), der in einer Gesellschaft drei
Geschichten zum Besten gibt, denen er persönlich zwar »vollkommenen Glauben
243
Thomas Nehrlich
beimesse« (DKV III, 376), die aber so unglaubwürdig schienen, dass seine Zu-
hörer sie nicht für wahr halten würden. Er berichtet erstens von einem Soldaten,
der im Gefecht von einer Kugel getroffen, von ihr aber nicht »durchschlagen«
(DKV III, 377) worden sei. Stattdessen sei sie »zwischen der Ribbe und der Haut
[…] um den ganzen Leib herumgeglitscht« (DKV III, 377) und ohne großen Scha-
den wieder ausgetreten. Er berichtet zweitens von einem Felsblock, der aus großer
Höhe auf das Ufer der Elbe gestürzt sei und dabei »durch den Druck der Luft«
(DKV III, 378) einen schwer beladenen Elbkahn aus dem Wasser auf das gegenüber-
liegende Ufer gehoben habe. Und er berichtet drittens von einem Fahnenjunker, der
in der Schlacht um eine Brücke bei Antwerpen durch eine Explosion unversehens
von einem Ufer der Schelde auf das andere transportiert worden sei, »ohne daß ihm
das Mindeste auf dieser Reise zugestoßen« (DKV III, 379).
In ihren mehrheitlich militärischen Sujets sind die ›Unwahrscheinlichen Wahr-
haftigkeiten‹ durchaus charakteristisch für Kleists Anekdoten, die häufig von Krieg
und Soldaten handeln.21 Auch weisen sie die für Kleist und die Gattung insgesamt
typische ›Merkwürdigkeit‹ auf: Die Gesellschaft findet die vom Offizier erzählten
Begebenheiten »[s]eltsam!« (DKV III, 378). Insofern sie die Verlässlichkeit des Er-
zählens selbst, die Spannung zwischen »Lüge« und »Wahrheit« (DKV III, 376) bzw.
zwischen »vollkommene[m] Glauben« (DKV III, 376) und ungläubigem »Geläch-
ter« (DKV III, 377), die Behauptung historischer Authentizität und deren narrative
Inszenierung thematisieren, insofern sie also zwischen Faktizität und Fiktionalität
oszillieren, sind sie darüber hinaus paradigmatisch für die Ontologie der Kleist’schen
Anekdoten. Ihr ambivalenter Status zwischen Erfindung und Tatsachenbericht hat
sogar zu Unsicherheiten über ihre generische Zuordnung geführt: Ingo Breuer etwa
zählt ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹ zusammen mit den theoretischen Essays
›Über das Marionettentheater‹ und ›Über die allmählige Verfertigung der Gedanken
beim Reden‹ zu Kleists Novellen und führt als Gemeinsamkeit u. a. die Gliederung
in Rahmen- und Binnenerzählung an.22 Müller-Salget hingegen ordnet die beiden
letztgenannten Texte Kleists philosophischen und kunsttheoretischen Schriften zu,
›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹ wiederum den ›Anekdoten, Geschichten,
Merkwürdigkeiten‹ (DKV III, 353–385). In jedem Fall kann dieses kleine Prosastück
als poetologischer Schlüsseltext gelesen werden,23 der Kleists Selbstverständnis von
der Poetik und Ontologie der Anekdotengattung ausformuliert.
die nur aus einem Text oder einem Teil eines fortgesetzten Texts bestehen. Aber auch 1811
sind die ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹ der einzige Beitrag Kleists, der eine ganze
Ausgabe ausfüllt.
21 Vgl. Jenny Sréter, Irreguläre Truppen. Kleists Militär-Anekdoten in den ›Berliner Abend-
blättern‹. In: KJb 2014, 155–171.
22 Vgl. Ingo Breuer, Erzählung, Novelle, Anekdote. In: KHb, 90–97, hier 90; Breuer,
Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten (wie Anm. 15), 156.
23 Vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwi-
schen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 418–438; Joachim Theisen, Poetologischste
Anekdoten. ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹. In: Olga Laskaridou und ders.
(Hg.), Nur zerrissene Bruchstücke. Kleist zum 200. Todestag, Frankfurt a. M. 2013,
S. 191–204; Matthias Preuss, Narrative Prellschüsse. Die spielerische Suspension allen
244
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
Zu Beginn des Texts wird der Offizier vom auktorialen Erzähler als recht-
schaffen und glaubwürdig beschrieben, er habe »sich der Lüge niemals schuldig«
(DKV III, 376) gemacht. Damit ist sein Bericht zunächst mit einer starken Faktua-
litätsbehauptung versehen. Am Schluss der Anekdote sind die Zuhörer dennoch
nicht überzeugt: Sie »lachen[ ]« (DKV III, 379) und halten die Erzählung des Of-
fiziers für eine »abenteuerliche[ ] Geschichte« (DKV III, 379), die er nur »für wahr
ausgab« (DKV III, 379). Damit ist der Offizier aber nicht widerlegt. Im Gegenteil:
Genau diese Reaktion hat er antizipiert und bereits eingangs vorausgesagt, dass er
mit seinen Schilderungen nur Unglauben und Gelächter ernten würde:
»Drei Geschichten,« sagte ein alter Offizier in einer Gesellschaft, „sind von der Art,
daß ich ihnen zwar selbst vollkommenen Glauben beimesse, gleichwohl aber Ge-
fahr liefe, für einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn ich sie erzählen wollte.
(DKV III, 376)
Auch als er auf Bitten der Gesellschaft zu erzählen anhebt, erklärt er nochmals, »daß
er auf den Glauben derselben, in diesem besonderen Fall, keinen Anspruch mache«
(DKV III, 376). Tatsächlich verfolgt der Offizier mit seiner Erzählung ein anderes
Ziel: Sie dient ihm als Beleg einer These (»die Geschichten, die seinen Satz belegen
sollten«, DKV III, 378), der These nämlich, dass ein authentischer, auf Fakten be-
ruhender Bericht, den der Berichtende für wahr hält, von den Rezipienten dennoch
als unwahr wahrgenommen werden kann. Der Zweck der Erzählung, die die ›Un-
wahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹ wiedergeben, ist also nicht etwa die Unterhal-
tung des Publikums, sondern eine narrative Probe aufs Exempel. Zur Debatte stehen
die Vermittelbarkeit von Wahrheit und der ontologische Status des Erzählten, das,
obschon als faktisch gesetzt, fiktiv erscheinen kann.
Der genaue Wortlaut der These, wie sie der Offizier formuliert, lautet: »Denn die
Leute fordern, als erste Bedingung, von der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich sei;
und doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Sei-
ten der Wahrheit.« (DKV III, 376) Dieser Chiasmus ist mehr als rhetorisches Blend-
werk. In nuce enthält er die unerhörte Vorstellung einer wahrscheinlichen Ontologie:
Im ersten Teil der These postuliert der Offizier ein gleichsam relativistisches Konzept
von Wahrheit, die nicht absolut sei, sondern an welche »die Leute«, also die Zuhörer
seiner Geschichten bzw. die Rezipienten von Literatur, eine »Bedingung« stellten:
Wahrheit habe wahrscheinlich zu sein. Das Skandalon dieser Bestimmung von
Wahrheit liegt zum einen in deren äußerer Bedingtheit (zumal durch die Launen
eines Publikums), zum anderen in der Vermischung eigentlich getrennter Katego-
rien: Indem Wahrheit an Wahrscheinlichkeit gekoppelt wird, wird die ursprünglich
ontologische Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit (Wahrheit) in
245
Thomas Nehrlich
die ästhetische Frage nach der Qualität der Darstellung (Wahrscheinlichkeit) um-
formuliert. Ontologie wird zu Ästhetik.24
Diese Übereinstimmung zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit aber, so
der zweite Teil der These, sei erfahrungsgemäß nicht immer gegeben. Genau diesen
Fall einer nur vermeintlich paradoxalen ›unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeit‹, d. h.
das Auseinandertreten von Wahrheit, der man »vollkommenen Glauben« schenken
könne, und mangelnder Wahrscheinlichkeit, die das Publikum nicht überzeugt,
führt der Offizier anschließend in dreifacher Variation vor. Die Rahmenerzählung
der ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹, in der die These des Offiziers verhan-
delt wird, nimmt dabei selbst den anthologischen Charakter einer Anekdotensamm-
lung an, die Wahrheit nicht nur an Wahrscheinlichkeit knüpft, sondern auch in
Versionen aufteilt: Entsprechend dem Plural im Titel gibt es in ›Unwahrscheinliche
Wahrhaftigkeiten‹ nicht mehr eine alleinige Wahrheit, sondern unterschiedlich
wahrscheinliche Varianten von Wahrheit.
Dass die Anekdote eine Art narrativen Experiments darstellt, das die Kopplung
von Ontologie und Ästhetik im Medium der Literatur zum Gegenstand hat, zeigt
sich auch am Ausgang des Versuchs, d. h. an der Reaktion der Gesellschaft auf die
drei Schilderungen des Offiziers. Tatsächlich wirkt das Erzählte in zweifacher Weise.
Auf der ontologischen Ebene reagiert das Publikum auf die als unwahr beurteilten
Berichte mit Zweifeln: »Seltsam!, rief die Gesellschaft.« (DKV III, 378) Auf der
ästhetischen Ebene reagiert es auf die als komisch empfundenen Erzählungen mit
»Gelächter« (DKV III, 377). Ob die Komik dabei beabsichtigt von einem literari-
schen Scherz des Offiziers oder aber unfreiwillig von seiner misslungenen Darstellung
tatsächlicher Begebenheiten ausgeht, lässt die Anekdote bewusst offen und delegiert
die Entscheidung über den angemessenen Rezeptionsmodus damit an ihre Leser.
Wenn Kleists Anekdote ›Wahrscheinlichkeit‹ als ästhetische Kategorie versteht,
dann nicht im Sinne probabilistischer Berechenbarkeit, sondern als eine poetische
Qualität, als Darstellungsleistung der Erzählung. Nicht mathematische Wahrschein-
lichkeit ist gemeint, sondern literarischer Wahrschein. Darin liegt der poetologische
Kern der ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹, denn die These des Offiziers, die
mit ihren Abstrakta und ihren bestimmten Artikeln (»die Wahrheit«, »die Wahr-
scheinlichkeit«, »die Leute«, »die Erfahrung«) generalistisch-apodiktisch formuliert
ist, lässt sich selbstreflexiv auf die Anekdote im Allgemeinen und Kleists eigene Bei-
träge zur Gattung im Besonderen beziehen.25 Was vom anekdotischen Erzählen ge-
24 Durch diese Übersetzung zwischen unterschiedlichen Kategorien löst sich auch die
contradictio in adiecto des Anekdotentitels ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹ auf, der
einen Begriff aus dem Bereich der Ästhetik auf einen Begriff der Ontologie anwendet.
25 Campe hingegen liest ›Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten‹ vor dem Hintergrund
mathematischer Probabilitätstheorien und versteht den Text als eine »Art Etüde auf der
alphanumerischen Klaviatur zählend-erzählender Evidenz des Wahrscheinlichen«; die
nicht mehr ontologische, sondern ästhetische Umdeutung von »Wahrscheinlichkeit«
nimmt Campe ebenso wenig wahr wie die poetologische Relevanz des Texts für das Selbst-
verständnis von Kleists kleiner Prosa; stattdessen sieht er darin »ein Stück Theorie des
Romanerzählens« (Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit, wie Anm. 23, S. 421).
246
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
fordert wird (»fordern«, DKV III, 376), ist Überzeugungsfähigkeit. Wenn die Wahr-
heit von ihrer Wahrscheinlichkeit abhängt, muss eine Erzählung, um als faktual
wahrgenommen zu werden, nicht einfach Wahres berichten, wie der Offizier es tut,
sondern sie muss auch mit ihrer Wahrscheinlichkeit überzeugen. In diesem Licht
sind die Realien und Wirklichkeitsbezüge der Kleist’schen Anekdoten zu bewerten,
wie sie oben am Beispiel der ›[Tagesbegebenheit]‹ vorgeführt wurden, nämlich nicht
so sehr als Zeugnisse einer ontologischen Wahrheit denn als persuasive Strategie
im Dienste einer Wahrscheinlichmachung des Erzählinhalts. Mit einem literatur-
theoretischen Neologismus ließe sich diese Poetik als verisimilaristisch26 bezeichnen.
Eine solche Wahrscheinspoetik hat Konsequenzen: Für überzeugendes Erzählen
genügt Wahrheit nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr eine ästhetische Qualität,
die Wahrscheinlichkeit. Statt der Wahrheit zu entsprechen, muss das Erzählte ihr
ähneln.27 Statt wahr zu sein, muss es wahr scheinen. Diese mimetische Leistung er-
bringt die Dichtung. Mit ihren Mitteln macht sie das Erzählte der Wahrheit ähnlich.
Eine derartige Umwertung von Ontologie und Ästhetik ist durchaus brisant. Denn
wenn Wahrscheinlichkeit das wesentliche Überzeugungsmittel, das maßgebliche äs-
thetische Kriterium, die eigentliche narrative Substanz bildet, gerät Wahrheit dann
nicht zum bloßen Akzidens, zum Beiwerk des Erzählten? Könnte anekdotisches Er-
zählen, solange es wahrscheinlich ist, auf Wahrheit sogar ganz verzichten? Wie die
Rhetorik, die mit ihr das Ziel der Überzeugung, die Ausrichtung auf das Persuasive
teilt, könnte auch Kleists Wahrscheinspoetik den Vorwurf der Täuschung auf sich
ziehen. Statt in Konkurrenz oder in Konflikt jedoch steht Kleists Wahrscheinlich-
keit zur Wahrheit in einem Verhältnis des modalen Nebeneinanders: Wahrheit wird
nicht grundsätzlich ersetzt oder verabschiedet, ihr Wert in anderen Kommunika-
tionsformen und -kontexten wird ihr nicht abgesprochen. Statt als Negation der
Ontologie ist die Poetik der ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹ vielmehr als
Affirmation der Ästhetik zu verstehen, als Loslösung des anekdotischen Erzählens
von der absoluten Bindung an die Wahrheit, als Autonomisierung und Aufwertung
der Anekdote als literarischer Gattung sui generis.
Diese Priorisierung der Ästhetik wird letztlich auch durch das Beispiel des Offi-
ziers vermittelt, der seine Geschichten »für wahr ausgab« (DKV III, 379), aber nicht
für wahrscheinlich, und der deswegen sein Publikum nicht von der Wahrheit über-
zeugen kann. Seine Erzählungen scheitern mangels Wahrscheinlichkeit, doch sein
Versuch, die Voraussetzungen glaubwürdigen anekdotischen Erzählens zu beschrei-
ben, gelingt gerade dadurch. Belegt wird seine These ausgerechnet durch den Über-
zeugungsmangel unwahrscheinlicher Wahrhaftigkeiten. Seine Geschichten mögen
wahr sein, durch ihre fehlende Glaubwürdigkeit sind sie als literarische Erzählungen
26 Das ›Deutsche Wörterbuch‹ nennt verisimilitudo als lateinisches Äquivalent der hier
gemeinten Bedeutung von Wahrschein bzw. Wahrscheinlichkeit und grenzt sie damit von
probabilitas ab; vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in
32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961, Bd. 27, Sp. 994, 998.
27 Adelung definiert »wahrscheinlich« als das, was »dem Wahren ähnlich« ist; vgl. Johann
Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,
zweite vermehrte und verbesserte Ausgabe, 4 Bde., Leipzig 1793–1801, Bd. 4, Sp. 1349.
247
Thomas Nehrlich
aber ungeeignet. Deshalb ist es auch nicht »merkwürdig«, dass der Offizier »kei-
nen Wert darauf [legt], dass man seinen Geschichten glaubt«.28 Um seine These zu
belegen, ist es gerade entscheidend, dass man ihm nicht glaubt.
Die Tragweite dieser Poetik über die Anekdote hinaus wird ersichtlich, wenn
man sich vor Augen führt, wovon sie sich implizit abgrenzt. Denn was durch die
Kopplung von Wahrheit und Dichtung, ja die Bedingung der einen durch die
andere ins Wanken gerät, ist die seit der Antike tradierte fundamentale Trennung
zwischen Literatur und Geschichtsschreibung. In Kapitel 9 seiner ›Poetik‹ gründet
Aristoteles den Unterschied zwischen Dichter und Geschichtsschreiber auf ein dif-
ferierendes, sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis zu Fakt und Fiktion, also
auf unterschiedliche ontologische Prinzipien: Schriftsteller und Historiograph seien
dadurch getrennt, dass »der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was
geschehen könnte«.29 Dass beide Darstellungsweisen miteinander verknüpft sein
könnten, dass die Vermittlung des Wahren, des »wirklich Geschehenen« davon ab-
hängig sein könnte, dass die Rezipienten glauben bzw. davon überzeugt werden, dass
es geschehen sein könnte, dass also historische Wahrheit ein Resultat dichterischer,
persuasiver Wahrscheinlichkeit sein könnte, ist für Aristoteles undenkbar. Und noch
in der modernen Geschichtswissenschaft wurde die kategorische Abgrenzung von
der Dichtung erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. durch Hayden
White nachhaltig infragegestellt, dessen Analyse rhetorischer und narrativer Ver-
fahren in der Historiographie deren strukturelle Verwandtschaft mit der Literatur
offenlegte.30
Auch in den ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹ wird das Verhältnis zwi-
schen Dichtung und Geschichtsschreibung am Ende reflektiert. Nachdem der Offi-
zier mit seinen wahren, aber unwahrscheinlichen Geschichten wie erwartet keinen
Glauben gefunden und sich mit einem trotzig-triumphalen »Dixi!« (lat. »ich habe
gesprochen«; DKV III, 379) verabschiedet hat, lässt Kleist einen der Anwesenden
sagen:
[D]ie Geschichte steht in dem Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der ver-
einigten Niederlande; und der Verf. bemerkt ausdrücklich, daß ein Dichter von die-
sem Faktum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtschreiber aber, wegen der
Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genötigt
sei, dasselbe aufzunehmen. (DKV III, 379)
28 Theisen, Poetologischste Anekdoten (wie Anm. 23), S. 193. Auch Preuss behauptet, der
Offizier laufe »Gefahr, in Mitleidenschaft gezogen zu werden, sollten seine Geschich-
ten beim publico durchfallen« (Preuss, Narrative Prellschüsse, wie Anm. 23, S. 129). Das
Gegenteil ist der Fall: Der Offizier wird durch den Unglauben der Zuhörer in seiner These
bestätigt.
29 Aristoteles, Poetik, aus dem Altgriechischen von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994,
S. 29.
30 Vgl. grundlegend Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nine-
teenth-Century Europe, Baltimore 1973.
248
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
Lässt sich Kleists exemplarisch aus der ›[Tagesbegebenheit]‹ und systematisch aus
den ›Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten‹ entwickelte Wahrscheinlichkeitspoetik
in seinen restlichen Anekdoten nachvollziehen? Welche Glaubwürdigkeitspolitik
wird in Kleists kleinen Formen betrieben?
Wie bereits angedeutet, lassen sich die Realien und Wirklichkeitsbezüge in den
Anekdoten als faktuale Kompensation für ihren gattungstypisch außergewöhn-
31 Die von Kleist verarbeitete Quelle stammt genau genommen nicht aus Schillers Arbeiten
zur Geschichte der Niederlande, sondern aus deren Fortsetzung von Karl Curths. Ob
Kleist den prominenteren Namen in bewusster Täuschung oder aus bibliographischer Un-
genauigkeit nennt, muss Breuer zufolge offen bleiben. Vgl. Breuer, Unwahrscheinliche
Wahrhaftigkeiten (wie Anm. 15), 157.
32 Für einen Überblick über die Bezüge zwischen Schiller und Kleist vgl. Claudia Benthien,
Schiller. In: KHb, 219–227. Die Beiträge zur Tagung ›Kleist und Schiller – Auftritt der
Moderne‹ (Berlin, 15.–17. November 2018) werden im vorliegenden Band des Kleist-Jahr-
buchs dokumentiert.
249
Thomas Nehrlich
250
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
Auch durch Daten und Zeitangaben ordnet Kleist seine Anekdoten in die ge-
schichtliche Wirklichkeit ein. Nur drei dieser Daten – allesamt aus ›Wassermänner
und Sirenen‹: 15. Juni 1608, 1740 und 1560 – liegen dabei mehr als eine Generation
vor der Publikationsgegenwart der Anekdoten 1810 und 18 11. Alle anderen Jahres-
angaben liegen innerhalb der Lebensspanne der ›Abendblätter‹-Leser, meist sogar
nur wenige Jahre zurück: 1801, 1808, 1803, 1809, vor zwei Jahren, 30. Juli 1803, 1776,
1803. Durch diese Datierungen stellt Kleist in seinen Anekdoten ganz unmittelbare
Zeitgenossenschaft und Aktualität her. Es ist ein wesentlicher Teil der Wahrschein-
spoetik dieser Texte, dass sie »zu meiner Zeit« spielen, wie es beispielhaft im Titel
der Anekdote ›Sonderbare Geschichte, die sich, zu meiner Zeit, in Italien zutrug.‹
heißt.34
All diese zeitlichen, örtlichen und personellen Realien wirken mit an der lebens-
weltlichen Konkretion der Anekdoten. Sie steigern den Wiederkennungswert der
Texte, ihre Beziehbarkeit auf die Erfahrungswirklichkeit der Leser, in der all die-
se Daten, Geographika und Persönlichkeiten existieren, zumeist sogar in direkter
Nachbarschaft. Sie entsprechen genau der persuasiven Strategie der Wahrscheinlich-
machung und Glaubwürdigkeitssteigerung, die die ›Unwahrscheinlichen Wahrhaf-
tigkeiten‹ als Bedingung für überzeugendes anekdotisches Erzählen konzeptualisiert
haben.
Ihren narrativen Höhepunkt findet diese Wahrscheinspoetik in den expliziten
Beglaubigungen, mit denen einige der Anekdoten enden. Das explicit der Anekdo-
ten erweist sich dabei als neuralgischer Punkt ihrer Glaubwürdigkeitspolitik, weil
hier besonders wirkungsvoll die Wahrscheinlichkeit des Vorangegangenen unter-
strichen und auf diese Weise die Rezeption gesteuert werden kann. Die beredteste
dieser ostentativen Faktizitätsbeteuerungen steht am Schluss des ›Griffel Gottes‹:
»Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichen-
stein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten
Inschrift gesehen.« (DKV III, 355)35 Ähnlich wie beim überlebenden Capitain aus
der ›[Tagesbegebenheit]‹ wird hier im Präsens versichert, dass der Grabstein, dessen
beschönigende Korrektur durch einen Blitzeinschlag der Text schildert, noch exis-
tiert und zusammen mit den Augenzeugen für das Berichtete bürgt.
Diese Wahrscheinlichkeitsversicherung ist längst nicht die einzige der Anekdo-
ten. Analog heißt es am Schluss der ›Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs‹
lakonisch-apodiktisch: »[U]nd sie ist Tatsache.« (DKV III, 385) Mit einer weite-
34 Außerdem legt Kleist in einigen Fällen die Quellen offen, deren er sich in seinen Anekdo-
ten bedient und die durch ihre Erscheinungsdaten und durch ihre Existenz in der Wirk-
lichkeit ebenfalls Aktualität herstellen: »Reise mit der Armee im Jahr 1809. Rudolstadt, Hof-
buchhdl. 1810.« (DKV III, 364); »Paris, Versailles et les Provinces au 18me siecle, par un
ancien officier aux gardes françaises, 2 Vol. in 8. 1809.« (DKV III, 374); »Wiener Zeitung
vom 30. Juli 1803« (DKV III, 379); »in Gehlers physikalischem Lexikon« (DKV III, 381).
35 »Dass der ›Vorfall […] gegründet‹ ist, bedeutet zunächst, dass er der Wahrheit entspricht.«
(Wolfram Groddeck, Grab und Griffel. Kleists semiologische Anekdote ›Der Griffel Got-
tes‹. In: Elmar Locher [Hg.], Die kleinen Formen in der Moderne, Innsbruck u. a. 2001,
S. 57–77, hier S. 70)
251
Thomas Nehrlich
ren ähnlichen Beglaubigung, die außerdem mit einer Datierung kombiniert wird,
schließt die Anekdote ›Der neuere (glücklichere) Werther‹. Über die Titelfigur und
seine Frau heißt es im letzten Satz: »[U]nd beide lebten noch im Jahr 1801 […].«
(DKV III, 373) Und auch die ›Merkwürdige Prophezeiung‹ endet mit der B eteuerung:
»Diese Begebenheit bestätigen alle Zeitgenossen […].« (DKV III, 375) In dieser
Anekdote platziert Kleist außerdem einen weiteren selbstreflexiven Kommentar, der
das Faktualisierungsverfahren seiner kleinen Prosa erläutert: In der Quelle seiner
Anekdote sei »die Erzählung einer sonderbar eingetroffenen Vorherverkündigung
mit zuviel historischen Angaben belegt, als daß sie nicht einiger Erwägung wert
wäre« (DKV III, 374). Ganz im Sinne der Poetik der ›Unwahrscheinlichen Wahr-
haftigkeiten‹ wird auch hier also postuliert, dass historische Wirklichkeitsbezüge die
Glaubwürdigkeit eines Texts steigern. Dieser gleichsam intellektuellen Wahrschein-
lichkeitssteigerung durch Historiographeme (»historische Angaben«) stellt Kleist im
Schlusssatz der Kapuziner-›Anekdote‹ auch eine emotional-persönliche Variante zur
Seite, die weniger durch Quellenautorität als durch Einfühlung und Empathie die
Beglaubigung ihres Inhalts verstärkt: »Wer es empfunden hat, wie öde Einem, auch
selbst an einem schönen Tage, der Rückweg vom Richtplatz wird, der wird den
Ausspruch des Kapuziners nicht so dumm finden.« (DKV III, 367) Auf diese Weise
werden die Faktualisierungsverfahren je nach Erzählinhalt und -kontext variiert –
ein Beleg für die Anpassungsfähigkeit von Kleists Anekdotenpoetik.
252
Zur Poetik von Kleists kleiner Prosa
36 Im ›Morgenblatt‹ erschienen zur selben Zeit wie Kleists ›Jeronimo und Josephe‹ zum Bei-
spiel Alexander von Humboldts Forschungsberichte von seiner Reise nach Amerika, die
die Gattung des wissenschaftlich-faktualen Reiseberichts mitbegründeten.
37 Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass die Literatur, die sich nach
Kleist im Laufe des 19. Jahrhundert u. a. in Deutschland (z. B. Fontane, Raabe, Storm)
und Frankreich (insbesondere Balzac) in Koevolution und im Medium der Zeitschriften
als genuine Journalliteratur herausbildet, im Wesentlichen einem poetischen Realismus
verpflichtet ist, der den Faktualitätserwartungen an die Publikationsorgane entspricht. So
stehen z. B. in der ›Deutschen Rundschau‹, einem der Leitmedien der Epoche, literarische
Texte unmittelbar neben wissenschaftlichen Abhandlungen.
38 Vgl. Thomas Nehrlich, »Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.« Zu Bedeu-
tung und Funktion typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa, Hildesheim 2012,
S. 99–107.
253
Thomas Nehrlich
[U]nd wie denn die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist, so
traf es sich, daß hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten: die Freiheit aber,
daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlgefällt, zugestehen müssen […].
(DKV III, 134)
39 Zu berücksichtigen wären dabei auch die Ausnahmen von der Regel: In der Werkgruppe
der Erzählungen sticht die ›Verlobung in St. Domingo‹ sowohl in der Erst- als auch in
der Zweitfassung durch eine Fülle geographischer und historischer Realien hervor. Und
die Anekdote ›Der neuere (glücklichere) Werther‹ enthält eine Wendung, die ihrer Wahr-
scheinlichkeitswirkung zuwiderläuft: »aus irgend einem besonderen Grunde, der, hier an-
zugeben, gleichgültig ist« (DKV III, 372).
40 Zur Aufwertung von Kleists Anekdoten vgl. Manfred Durzak, Der Erzähler Heinrich von
Kleist. Zum ästhetischen Rang seiner Anekdoten. In: Der Deutschunterricht 40 (1988),
S. 19–31; Gerhard Pickerodt, Kleists kleine Formen im Spiegel seiner großen. Zur Drama-
turgie des Anekdotischen. In: Locher (Hg.), Die kleinen Formen in der Moderne (wie
Anm. 35), S. 37–56.
254
Volker Mergenthaler
I. Avertissement
Diejenigen, die am 25. September 1810 die ›Königlich privilegirte Berlinische Zei-
tung von Staats- und gelehrten Sachen‹ lesen, sehr gründlich lesen, mitsamt den
darin abgedruckten Avertissements, werden unmittelbar im Anschluß an die ›Litte-
rarische Anzeige‹ einer Anthologie ›Zum Gedenken der Königin Luise von Preussen
etc.‹2 auf ›Berliner Abendblätter‹ aufmerksam: »Unter diesem Titel«, so stellt die
entsprechende Ankündigung in Aussicht (Abb. 1), »wird sich mit dem 1. Oktbr. d. J.
ein Blatt in Berlin zu etabliren suchen, welches das Publikum, insofern dergleichen
überhaupt ausführbar ist, auf eine vernünftige Art unterhält«.3 Viel mehr gibt die
knappe, nicht namentlich, sondern lediglich mit dem Hinweis »Die Reda ktio n
der Abendblä t ter. « gezeichnete Annonce nicht preis. Ein »Plan des Werks«, dem
möglicherweise zu entnehmen wäre, mit welchen Nachrichten und Beiträgen zu
rechnen ist, welches Profil es sich damit geben, in welches Verhältnis es sich zu
anderen, bereits länger existierenden Blättern stellen will, ein solcher Plan werde erst
»dem Schluß des Jahrgangs […] angehängt«.4 Dieser Hinweis ist irreführend: Ein
»Plan des Werks« wird sehr wohl mitgeteilt und zwar bereits in der ersten Nummer
– nicht explizit allerdings, sondern performativ,5 in Gestalt äußerst subtiler Refle-
xionen über das Medienformat Zeitung und den Markt, auf den es drängt und auf
dem es konkurriert. Ihnen gilt mein Interesse.
Im Unterschied zu Versuchen, die ›Abendblätter‹ als diachron erschlossenes
Gesamt in den Blick zu rücken, sie beispielweise als »ganz eigentümliche[ ] Stellung-
nahme Kleists im Kontext der ästhetisch-politischen Debatten und Konzepte seiner
255
Volker Mergenthaler
Zeit«6 zu lesen oder zu vermessen, wie das Blatt als Ganzes »engages with and reflects
upon the broader medial landscape in which it is located«,7 möchte ich ausschließ-
lich den Marktauftritt vom 1. Oktober 1810 beleuchten. Ich konzentriere mich
6 Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 4), S. 8.
7 Sean Franzel, Kleist’s Magazines: Archiving the Ephemeral in the ›Berliner Abendblätter‹.
In: German Studies Review 40 (2017), S. 487–507, hier S. 487.
256
»Entrés et puis jugés«
allerdings nicht nur auf einen »small drop[ ] within an ocean of print«,8 betrachte
nicht nur »a single […] installment of a magazine«,9 sondern, indem ich die erste
Nummer der ›Abendblätter‹ unter denjenigen Bedingungen zu lesen suche, die für
Leserinnen und Leser in Berlin am 1. Oktober 1810 gegolten haben, – synchron und
syntop – ein ›Flächenphänomen‹ von begrenzter Ausbreitung, eine lokale Journal-
szene, in die die ›Abendblätter‹ sich so energisch wie originell einmischen. Den
Fluchtpunkt der hier angestellten Überlegungen kann daher weder der Autor Kleist
als Urheber der ›Abendblätter‹ bilden noch das von ihm vornehmlich verantwortete
Journal als Einzelwerk – gar im Werkzusammenhang. Auch wenn retrospektiv »das
Tagwerk von Kleists Händen, Produkt von auktorialer Intuition und Redaktion,
Originalität und Rezeptivität zugleich, die ›Berliner Abendblätter‹, […] eines [ist],
ein Werk«,10 für das Publikum, das die erste(n) Nummer(n) der ›Abendblätter‹, die
anonym veröffentlicht werden,11 zur Hand nimmt, stehen Unterhaltung (»ein Blatt
[…], welches […] unterhält«12), Informationswert und Aktualität im Vordergrund.
Werk und Autor als kanonisierungsrelevante Größen liegen quer zu einem (journal-)
literarischen Unterhaltungsmarkt, der bedient wird von zu guten Teilen aus ano-
nymen Beiträgen sich speisenden generischen Formaten, die zur Förderung autor-
schaftlicher Identität und zur Begründung dichterischer Werke eher ungeeignet sind:
von Almanachen, Anthologien, Lieferungswerken, Taschenbüchern, Unterhaltungs-
und Zeitblättern.13
8 Mark W. Turner, The Unruliness of Serials in the Nineteenth Century (and in the Digital
Age). In: Thijs van den Berg und Rob Allen (Hg.), Serialization in Popular Culture, New
York und London 2014, S. 11–32, hier S. 15.
9 Turner, The Unruliness of Serials (wie Anm. 8), S. 15.
10 Roland Reuß, Geflügelte Worte. Zwei Notizen zur Redaktion und Konstellation von Arti-
keln der ›Berliner Abendblätter‹. In: BKB 11, 3–9, hier 9.
11 Zur Enthüllung Kleists als Redakteur und Beiträger vgl. Peters, Heinrich von Kleist und
der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 4), S. 48–52.
12 Be r l ine r Ab e ndbl ät ter (wie Anm. 3), unpag.
13 Es gehört zu den Gepflogenheiten einer von goethezeitlicher Kanonisierung geleiteten
Literaturhistoriographie, einen literarischen Text von ›hohem Rang‹ als wenn nicht aus-
schließlich, so doch dominant ›buchförmig‹ zu denken: als ein kunstvolles Werk eines
Autors, das in einer physischen Einheit vorliegt. Im toten Winkel dieser Betrachtungs-
weise liegt ein lebendiger literarischer Unterhaltungsmarkt, der von den genannten
medialen Formaten weit mehr bestimmt wird als vom monographischen Buch. In
Almanachen, Anthologien, Lieferungswerken, Taschenbüchern, Unterhaltungs- und
Zeitblättern mischen sich vom Beginn bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts spä-
ter kanonisierte Autoren und Texte mit solchen, die durch die Maschen der Kanonisie-
rung gefallen sind. Und sie konkurrieren auf diesem literarischen, d. h. belletristischen
Markt mit vielfältigen Strategien um die Gunst eines Publikums, das nach Unterhaltung
giert. Vgl. hierzu ausführlich Anna Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe, Auf
der Schwelle zur Moderne: Szenarien von Unterhaltung zwischen 1780 und 1840. Vier
Fallstudien, Bielefeld 2015. Zur Bedeutung besagter Medienformate und zur mit ihrer
Erforschung verbundenen medien- und materialphilologischen Erweiterung des literatur-
historischen Blicks vgl. Stephanie Gleißner u. a., Optische Auftritte. Marktszenen in der
medialen Konkurrenz von Journal-, Almanachs- und Bücherliteratur, Hannover 2019.
257
Volker Mergenthaler
Abb. 2: Neuester Grundriss von Berlin, herausgegeben von D. G. Reymann, 1810,
gestochen von Carl Stein, Zentral- und Landesbibliothek Berlin (Signatur: B 54 / 1810 / 1)
258
»Entrés et puis jugés«
Den Wirkungskreis der publizistischen Novität soll, dies immerhin wird durch
die Anzeige unmißverständlich deutlich, in erster Linie die preußische Residenz-
stadt bilden – »Es ist eine Zeitung aus der und für die Stadt Berlin«14 –, die zu
diesem Zeitpunkt allerdings schon, wie beispielsweise dem ›Lexicon von Berlin und
der umliegenden Gegend‹ zu entnehmen ist, sehr gut mit lokaler und regionaler
Presse versorgt ist, gibt es doch eine ganze Reihe von »Wochen- und Tagsschriften in
Berlin«: ›Das Jntelligenzblatt‹, den ›Beobachter an der Spree‹, den ›Freymüthige[n],
oder Scherz und Ernst‹, ›Berlin oder: der Preußische Hausfreund‹, ›Komus, oder der
Freund des Scherzes und der Laune‹15 und insbesondere
zwey politische Zeitungen, nämlich 1) in der Haude- und Spenerschen Buchhandlung
auf der Schloßfreyheit No. 9 die B e r l i n i s c he n Na c h r ic ht e n von St a a t s - u nd
g e le h r t e n S a c he n, und 2) bey Unger, sonst bey Voß, in der Jägerstraße No. 43 die
K ön i g l . pr i v i l . Z e it u n g von St a a t s - u nd g e le h r t e n S a c he n . Jede kömmt
wöchentlich dreymal heraus […].16
›Der Freymüthige‹ und ›Das Jntelligenzblatt‹ werden »an allen Wochentagen« aus-
gegeben, ›Die Ungersche‹ und ›Die Haude- und Spenersche Zeitung‹ erscheinen
»Dienstags, Donnerstags und Sonnabends«, vom ›Preußische[n] Hausfreund‹ und
vom ›Komus‹ werden »wöchentlich 2 Stück« veröffentlicht, der ›Beobachter an der
Spree‹ schließlich ist »alle Sonnabende« erhältlich.17 Bedarf es im Berlin des Jahres
1810 wirklich, zu dieser Frage verleitet freilich ein so breit gefächertes Angebot die
Zeitgenossen, eines weiteren Blattes?
Wer gleichwohl neugierig geworden ist, probehalber einen Blick in die annon-
cierten ›Abendblätter‹ werfen möchte, hätte im Herbst 1810 prinzipiell die Möglich-
keit, in einer der zahlreichen »Leihbibliotheken oder Lesebibliotheken«18 der
Stadt sein Glück zu versuchen, wo er vielleicht einem der »Journal-Lese-Zirkel«
angehört, in denen »gelehrte und andere zur Unterhaltung bestimmte Zeitungen
ausgegeben werden«.19 Er könnte (Abb. 2) in der »Spandauerstraße« bei »Wilhelm
Vie weg« oder bei »S c hle s in g e r« nach der ersten Nummer der ›Abendblätter‹
fragen, bei »Ferdinand Oe hm i g ke « in der »Leipzigerstraße«, in der »Breite-
259
Volker Mergenthaler
straße« bei »J. W. Sc hm i dt « oder bei »Ho ffman n«, bei »H. Schm idt, am alten
Packhof«, bei »Friedr. Brau ne s « in der »Gertrautenstraße«, bei »K ral ows ky «
in der »Jägerstraße«, bei »Ur ban « in der »Stralauerstraße«, bei »Steinha u sen
und Weinhold« in der »Friedrichsstraße«, bei »Bö hmer« in der »Weinmeister-
gasse«, bei »D. Ve it« in der »alte[n] Commandantenstraße« oder bei »Lem ke« in
der »Taubenstraße«.20 Außerdem verfügt die Stadt über mehr als dreißig »Buch-
handlungen«,21 die Zeitungen und daher – wer weiß? – vielleicht auch die erste
Nummer der ›Berliner Abendblätter‹ im Sortiment haben könnten. »Wer« schließ-
lich die Kosten seiner Neugier nicht scheut und besagte erste Nummer lieber »ins
Haus gebracht haben will«, könnte »entweder in den Comptoiren [zu] bestellen,
oder dem Zeitungsträger Buchalski« einen entsprechenden Auftrag zu geben ver-
suchen. Im einen Fall müßte er abonnieren und hätte »[q]uartaliter 4 gr. mehr« zu
bezahlen, im andern Fall wäre »ein gewisses Bringegeld« zu entrichten.22
Vier Tage nach der Veröffentlichung dieses ersten Avertissements, aber noch ehe
die erste Nummer ausgegeben wird, am Sonnabend, den 29. September, erfahren
die Leserinnen und Leser der ›Berlinischen Zeitung‹ (Abb. 3), daß »Von diesem Tag-
blatte«, von den ›Berliner Abendblättern‹, »das erste Stück gratis ausgegeben« wird,
und zwar »in der Expedition desselben, hinter der katholischen Kirche No. 3. zwei
Treppen hoch, Abends von 5–6 Uhr«. »Von da an« soll »dann täglich«, »mit Aus-
schluß des Sonntags«, »ein solches Stück von einem Viertelbogen« erscheinen. Abzu-
holen sei es »in der nämlichen Stunde«23 und an besagtem Ort beim Verleger und
Buchhändler Julius Eduard Hitzig unweit des Gendarmenmarkts.24 »Das einzelne
Blatt […] kostet« gerade mal »8 Pf.«; ein »Abonnement« schlägt »vierteljährig« mit
»achtzehn Groschen klingende[m] Courant« zu Buche. Und alle »Jnteressenten des
Herrn Buchalsky können es« tatsächlich wie die andern Berliner Blätter auch »durch
diesen erhalten«, ja Buchalsky schicke seinen Kunden auch schon »das erste Stück
[…] ins Haus«, ebenfalls »gratis«, und vermittle »Abonnement[s]«.25
20 Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend (wie Anm. 15), S. 355, s. v. Leihbiblio-
theken oder Lesebibliotheken.
21 Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend (wie Anm. 15), S. 89f., s. v. Buchhandlungen.
22 Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend (wie Anm. 15), S. 655f., hier S. 656, s. v.
Zeitungen.
23 Ber l i n er Ab e n dbl ät t er. Siehe Vossische Zeitung vom 25sten d. M. In: Königlich pri-
vilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Ex-
pedition in der Niederlagsstraße No. 2. Jm Verlage Vossischer Erben. 117tes Stück. Sonn-
abend, den 29. September 1810, unpag.
24 Zum in Berlin »neuetablirte[n] Buchhändler Hitzig« vgl. Korrespondenz-Nachrichten. Berlin,
29. April. In: Nro. 118. Morgenblatt für gebildete Stände. Donnerstag, 18. Mai, 1809, S. 472.
25 Be r l i n e r Ab e nd bl ä t ter. Siehe Vossische Zeitung vom 25sten d. M. (wie Anm. 23).
Zu den Preisangaben vgl. Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend (wie Anm.
15), S. 401f., s. v. Münzen, gangbare: »Die hiesigen Königl. Landesmünzen sind in Silber:
Thaler, Groschen und Pfennige. […] Ein Thaler hat 24 Groschen […], und ein Groschen
12 Pfennige«. »Hinter der katholischen Kirche No. 3« residierte der Verleger Julius Eduard
Hitzig; vgl. z. B. UNIVERSITATI LITTERAE. Kantate auf den 15ten October 1810 von
Clemens Brentano. Berlin bei Julius Eduard Hitzig, hinter der katholischen Kirche No. 3.
260
»Entrés et puis jugés«
261
Volker Mergenthaler
II. Erscheinungsbild
Das am Montag, den 1. Oktober, ausgelieferte Blatt (Abb. 4) gibt gleich auf den ersten
Blick zu erkennen, weshalb es so preiswert angeboten werden kann, weshalb es weniger
kostet als z.B. die nur drei, nicht sechs Mal wöchentlich erscheinenden ›Berlinischen
Nachrichten‹, die für ein Vierteljahr zum »Preis von 1 Thaler 2 Groschen klingend
Courant«,26 also für acht Groschen mehr zu beziehen sind.27 Während die ›Königlich
privilegirte Berlinische Zeitung‹, die ›Berlinischen Nachrichten‹, der ›Freimüthige‹, der
›Hausfreund‹, der ›Beobachter an der Spree‹ und der ›Komus‹, während die bereits etab-
lierten Berliner Journale ihre Leser mit teilweise opulenten Vignetten begrüßen (Abb. 5),
verzichten die ›Abendblätter‹ auf dieses probate Gestaltungselement: »Berliner Abend-
blätter« steht dort in gesetzten, nicht gestochenen Fraktur-Lettern, darunter, durch eine
einfache Linie getrennt, »1stes Blatt Den 1sten October 1810.« Es folgt eine weitere, wie-
derum schmucklose Linie und dann schon der erste Beitrag, ›Einleitung‹ überschrieben.
Abb. 4: Berliner Abendblätter. 1stes Blatt Den 1sten October 1810, Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Signatur: Libri impr. Rari oct. 216)
26 Berlinische Nachrichten Von Staats- und gelehrten Sachen. Jm Verlage der Ha ud e und
Sp e ne r schen Buchhandlung. No. 1. Donnerstag, den 2ten Januar 1812, unpag.
27 Zwar haben die ›Berlinischen Nachrichten‹ mehr und größere Seiten, erscheinen aber nur
dreimal in der Woche.
28 Neues theoretisch-practisches Lehrbuch der Buchdruckerkunst für angehende Schrift-
setzer und Drucker in den Buchdruckereyen, in welchem auch alles, was denselben von
andern Wissenschaften, Kunst- und Gewerbsfächern, die mit der Buchdruckerkunst in
naher Verwandtschaft oder Verbindung stehen, zu wissen nöthig ist, deutlich erkläret
262
»Entrés et puis jugés«
263
Volker Mergenthaler
des Tages, beispielsweise in einer der »Lesebibliotheken«30 der Stadt, synoptisch vor
sich ausgebreitet hat – bieten am 1. Oktober 1810 die ›Abendblätter‹, was die andern
Journale?
Zunächst einmal umfaßt die »1ste[ ]« Nummer nicht mehr als vier Druckseiten,
denen ein ›Extrablatt zum ersten Berliner Abendblatt‹ von weiteren zwei Seiten
Umfang beigegeben ist. Die »1ste[ ]« Nummer eröffnet, das entspricht zu Beginn des
19. Jahrhunderts vollkommen den Gepflogenheiten der Journalkultur, mit besagter
›Einleitung‹. Üblicherweise stellen solche Beiträge vor, worauf das Publikum sich
einstellen kann: welche Themenfelder das Blatt bespielen, welche Textsorten es brin-
gen, wo es sich weltanschaulich oder politisch positionieren und welche Leserinnen
und Leser es ansprechen möchte. Außerdem geben sie nicht selten eine Kostprobe
des schriftstellerischen Talents der Redaktionsleitung, indem sie das jeweilige Jour-
nal originell, mit Witz einzuführen und auf dem Markt zu plazieren suchen. So auch
hier. Allerdings liegen die Dinge einigermaßen kompliziert: Als Einleitung bieten die
›Abendblätter‹ der Suggestion nach keinen redaktionellen Originalbeitrag, sondern
ein ›Gebet des Zoroaster‹, das »[a]us einer indischen Handschrift« herrühre, die wie-
derum – zweite Stufe der Vermittlung – »von einem Reisenden in den Ruinen von
Palmyra gefunden« worden sei und nun – dritte Stufe der Vermittlung – von einer
mit »x.« (BA, Bl. 1, [1]f.) zeichnenden, die Position der Redaktion einnehmenden
Instanz mitgeteilt wird. Diese wiederum scheint für die Auszeichnung des Beitrags
als ›Einleitung‹ eben so verantwortlich zu sein wie für die aus der »indischen Hand-
schrift« getroffene Auswahl.
Entgegen ihrer ursprünglichen göttlichen Bestimmung als frei und mündig seien
die Menschen, so die Argumentationslinie des ›Gebet[s]‹, gegenwärtig »mit Blind-
heit geschlagen« und, schlimmer noch, gefielen sich selbst in diesem »Zustand«. »Von
Zeit zu Zeit« setze »Gott«, der »Vater im Himmel«, allerdings »Knechte« ein, die die
»Thorheiten und Jrrthümer« ihrer »Gattung überschaue[n]« und, »[ge]rüste[t] […]
mit dem Köcher der Rede«, zur Sprache bringen (BA, Bl. 1, [1]). Als solchen Knecht
nun bestimmt Zoroaster sich selbst und »schicke [s]ich zu [s]einem Beruf an«. Ein
Aufklärungsprojekt ist demnach annonciert, das »den Verderblichen und Unheil-
baren […] niederwerfe[n], den Lasterhaften schrecke[n], den Jrrenden warne[n],
den Thoren […] necke[n]« (BA, Bl. 1, 2) und alle Leserinnen und Leser der ersten
Nummer der ›Abendblätter‹ ins Bild setzen soll über deren Absicht, »Pfeile[ ]« aus
264
»Entrés et puis jugés«
besagtem »Köcher der Rede« zu ziehen, den »Bogen des Urtheils rüstig zu spannen«
(BA, Bl. 1, 2) und die Pfeile abzuschießen.
Ob die Beschreibung dieser Ausrichtung nun auch auf die ›Abendblätter‹ zutrifft,
kann schon am nächsten Artikel, einem ›Fragment eines Schreibens aus Paris‹ (BA,
Bl. 1, 2–4) überprüft werden – einem Beitrag, der (nimmt man Maß an seinem Titel)
allerdings kaum dazu angehalten scheint, Aufmerksamkeit zu erregen,31 sind Nach-
richten aus Paris doch wahrlich keine Besonderheit in den Journalen dieser Zeit, son-
dern geradezu Standard. Die Leserinnen und Leser des ›Morgenblatts für gebildete
Stände‹ oder der ›Zeitung für die elegante Welt‹ etwa hatten erst am 29. September
wieder Gelegenheit gehabt, auf ›Korrespondenz und Notizen. Aus Paris‹ (so die
›Zeitung für die elegante Welt‹) beziehungsweise auf ›Korrespondenz-Nachrichten.
Paris‹ (so im ›Morgenblatt‹) zu stoßen.32 Und auch die Leser der ›Königlich privile-
girten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen‹, in der die ›Abend-
blätter‹ annonciert worden sind, finden sich durch die Beiträge ›Paris, den 16ten‹,
›17ten‹ und ›18ten September‹ über aktuelle Vorgänge der französischen Hauptstadt
vorzüglich unterrichtet.33
Außerdem bietet die Eröffnungsnummer der ›Abendblätter‹ noch zwei ›Tages-
begebenheiten‹, ein zweieinhalb Zeilen umfassendes »Stadtger üc ht« und eine
noch lakonischere »Privatn ac hr ic h t« sowie, die erste Nummer beschließend,
einen Hinweis der »Re dac tio n « in eigener Sache.
Hinzu kommt, und damit sticht es aus der Fülle der etablierten Journale heraus,
ein im selben Papierformat ausgegebenes, zwei Druckseiten umfassendes ›Extrablatt
zum ersten Berliner Abendblatt.‹ Nicht die Tatsache ist bemerkenswert, daß die
›Abendblätter‹ über eine Beilage verfügen, ungewöhnlich ist das darin Mitgeteilte:34
»[a]lles« dasjenige nämlich, »was innerhalb der Stadt, und deren Gebiet, in polizei-
licher Hinsicht, Merkwürdiges und Jnteressantes vorfällt« (BA, Bl. 1, [5]). Das erste
31 Richtungsweisend hierfür Rahmer: »Das […] ›Fragment eines Schreibens aus Paris‹ gehört
zu den bloß amüsanten Zugaben, mit denen man die Leser ins Garn locken wollte«
(Sigismund Rahmer, Das Kleist Problem. Auf Grund neuer Forschungen zur Charak-
teristik und Biographie Heinrich von Kleists, Berlin 1903, S. 140). Zu weiteren Deutun-
gen ebenfalls als amüsant (vgl. Michael Moering, Witz und Ironie in der Prosa Heinrich
von Kleists, München 1972, S. 194) bzw. mißglückt (vgl. Heinrich Aretz, Heinrich von
Kleist als Journalist. Untersuchungen zum ›Phöbus‹, zur ›Germania‹ und den ›Berliner
Abendblättern‹, Stuttgart 1984, S. 193) vgl. Ulrich Püschel, Der Feuilletonist als Flaneur.
Zur Frühgeschichte des Feuilletons als kleine Form. In: Eva-Maria Jakobs und Annely
Rothkegel (Hg.), Perspektiven auf Stil, Tübingen 2001, S. 443–457, hier S. 444f.
32 Korrespondenz-Nachrichten. Paris, 17. Sept. In: Nro. 234 Morgenblatt für gebildete
Stände. Sonnabend, 29. September, 1810. S. 936; Korrespondenz und Notizen. Aus Paris.
Moden. In: Zeitung für die elegante Welt. Sonnabends — 195. — den 29. September 1810,
Sp. 1551.
33 Paris, den 16ten September. / Paris, den 17ten September. / Paris, den 18ten September. In:
Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische
Zeitungs-Expedition in der Niederlagsstraße No. 2. Jm Verlage Vossischer Erben. 117tes
Stück. Sonnabend, den 29. September 1810, unpag.
34 So Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 4), S. 26–28.
265
Volker Mergenthaler
›Extrablatt‹ stellt damit seine Geschwindigkeit, seine Aktualität unter Beweis und
zur Schau, denn die »Extracte aus den Polizei-Rapporten sind«, so liest man, der
Redaktion »bis heute 10 Uhr zugekommen« (BA, Bl. 1, [5]). Redaktionsschluß des
»in der Stunde von 5 – 6 Uhr Abends […] ausgegeben[en]« (BA, Bl. 1, 4) Journals
war diesen Angaben zufolge nur sieben Stunden vor dessen Auslieferung.35
Weniger aktuell, ja für eine Zeitung, die täglich erscheinen soll, geradezu auf-
reizend anachronistisch mutet freilich das in das eigentliche Blatt aufgenommene
›Fragment eines Schreibens aus Paris‹ an, denn es datiert auf »Den 6ten Septem-
ber« (BA, Bl. 1, 2) und setzt die Leserinnen und Leser über einen Sachverhalt ins
Bild, über den andernorts bereits erheblich früher informiert worden ist:36 Der
anonyme Verfasser des Briefes berichtet, wie »des Kaisers Maj. den 4ten d[ieses
Monats, V.M.] 7 Uhr Morgens nach Paris kam, um das Monument auf dem Platz
Vendôme zu besehen« (BA, Bl. 1, 2), das dort »als Denkmal des Siegs bei Austerlitz
[…] errichtet«37 ist.
35 Zur demonstrativ zur Schau gestellten Schnelligkeit der ›Abendblätter‹ vgl. Johannes
F. Lehmann, Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ›Thatsache‹ und
Kleists ›Berliner Abendblättern‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 307–322, hier S. 317.
36 Bereits am 11. September stand in der weit verbreiteten ›Allgemeinen Zeitung‹ zu lesen:
»Frankreich. Am 4 Sept. des Morgens zwischen 5 und 6 Uhr kam der Kaiser zu Pferde
und ohne Gefolge nach Paris, um die Säule auf dem Vendomeplatze zu besichtigen. Auch
begab sich der Monarch zu den Arbeiten, die man auf dem Platze der Magdalenenkirche
angefangen hat. Die Kaiserin begleitete ihren erlauchten Gemahl in einer Kalesche.«
(Frankreich. In: Allgemeine Zeitung. Mit allerhöchsten Privilegien. Dienstag Nro. 255.
11 Sept. 1810, S. 1014) Am Tag darauf findet sich dieselbe Meldung in der ›Münchener
politischen Zeitung‹, vgl. Frankreich. In: Münchener Politische Zeitung. Mit Seiner
königl. Majestät von Baiern allergnädigstem Privilegium. Mittwoch — 213 — 12. Septem-
ber 1810, S. 962. Am 22. September, noch immer neun Tage vor der ersten Nummer der
›Berliner Abendblätter‹, druckt die ›Wiener Zeitung‹ die im Wortlaut etwas veränderte
Nachricht, vgl. Ausländische Begebenheiten. Frankreich. Paris, den 5. Sept. In: Nro 76
Oesterreichisch-Kaiserliche privilegirte Wiener-Zeitung. Sonnabend, den 22. September
1810, S. 1219.
37 Korrespondenz und Notizen. Aus Paris. In: Zeitung für die elegante Welt. Dienstags —
137. — den 11. Juli 1809, Sp. 1095f.: »Die Säule, die als Denkmal des Siegs bei Austerlitz
auf dem Platz Vendome errichtet wird, hat 130 Fuß Höhe und 37 und ½ Fuß im Umfange.
Man beschäftigt sich jetzt, die Bronzen daran zu befestigen, auf welchen die Trophäen
und Schlachten des denkwürdigen Feldzugs von 1805. dargestellt sind. Diese Basreliefs
sind voll Ausdruck, und die Figuren sollen sehr ähnlich seyn. Die Platte oder Glocke, auf
welche die kolossale Statue des Kaisers zu stehen kommt, hat eine Last von 5112 Pfund.
Unten an dem Denkmal wird man folgende Jnschrift lesen: Neapolio. Imp. Aug. Monu-
mentum. belli. germanici. Anno. MDCCCV. Trimestri. Spatio. ductu. suo. Profligati. ex.
aere. capto. Gloriae. Exercitus. Maximi. Dicavit.«
266
»Entrés et puis jugés«
Die »Anzahl« der »Kaf fe e h äu s e r« soll sich, das ist die vorsichtige Schätzung eines
ins Deutsche übersetzten englischen Reiseberichts, »in Paris über 700 belaufen«.39
Eine französische Beschreibung der Stadt zählt sogar »plus de 3ooo Cafés« »à
Paris«.40 Der typische »Besucher des Caffeehauses« hält sich am liebsten den ganzen
38 So deutet die Einführung der ›Abendblätter‹ Horst Häker, Kleist und Berlin. In: KJb
2005, 285–294, hier 293f.
39 Paris wie es war und wie es ist. Ein Versuch über den vormaligen und heutigen Zustand
dieser Hauptstadt in Rücksicht der durch die Revolution darin bewirkten Veränderungen.
Nebst einer umständlichen Nachricht von den bedeutendsten National-Anstalten für
Wissenschaften und Künste, wie auch von den öffentlichen Gebäuden. Jn einer Reihe von
Briefen eines reisenden Engländers. Aus dem Englischen übersetzt und mit Erläuterungen
und einer Einleitung versehen. Jn drei Theilen. Dritter und letzter Theil. Leipzig, bey
Gerhard Fleischer dem Jüngern. 1806, S. 57f.
40 MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS, AVEC TREIZE VOYAGES EN
VÉLOCIFÈRES, DANS SES ENVIRONS, Ouvrage indispensable aux Étrangers,
267
Volker Mergenthaler
Tag dort auf, »von 10 Uhr Morgens bis 11 Uhr Abends«, wenn »nach einem Polizey-
befehl die Kaffeehäuser verschlossen« werden müssen;41 Kaffee-Konsum spielt dabei
eine untergeordnete Rolle, denn Cafés sind in erster Linie Orte der Begegnung,
des intensiven Austauschs, der Stimmenvielfalt, ja »[i]n einigen dieser Häuser ist
das geschäftige Gesumm beynah unerträglich. Deutsch, Jtalienisch, Spanisch, Hol-
ländisch, Dänisch, Russisch, Englisch und Französisch, und das Alles zu gleicher
Zeit und in demselben Zimmer gesprochen, macht beynah eine so arge Sprach-
verwirrung wie zu Babel«.42 Und es sind – auch dies ist zu unterstreichen – Orte
des Lesens, vorrangig der Journallektüre: »Außer den französischen Zeitungen kann
man auch Englische und Deutsche hier lesen; da sie aber oft von sechsen hinter-
einander bestellt werden, so gehört nicht wenig Geduld dazu, zu warten, bis die
Neuigkeitskrämer über jeden Paragraph ihre Anmerkungen gemacht haben.«43
Wer mit den Pariser Verhältnissen nicht vertraut ist, angesichts der schieren
Anzahl der Cafés zu kapitulieren droht, nach Empfehlungen fahndet und z. B. im
›MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS‹ nachschlägt, stößt darin auf
eine eigene, vielsagende Rubrik »Cafés principaux«,44 in der die bedeutendsten Cafés
der Stadt aufgeführt und kurz porträtiert werden; die Adressen schließlich finden
sich in der »TABLE DES MATIÈRES«.45 Der Unkundige mag verwundert sein
über die Verteilung der Etablissements: Das »Café Lyrique« z. B. findet sich auf dem
»boulevard du Temple«, ebenso das »Café de la Victoire«, das »Café Yon«, das »Café
des Arts« und das »Café Godet«,46 und in den »galeries du palais du tribunat« finden
sich das »Café anglais«, das »Café Bidault«, das »Café Borel«, das »Café Corrazza«,
das »Café de Chartres«, das »Café de Foy«, das »Café de la Rotonde«, das »Café
des Aveugles«, das »Café des Mille Colonnes«, das »Café du Caveau dit Sauvage«,
das »Café du Mont-St-Bernard«, das »Café Italien« und schließlich noch das »Café
Valois«47 – nicht weniger als dreizehn Etablissements also in einer einzigen Passage.
Hieran nun, an diesen für Berliner Verhältnisse ungewöhnlichen Sachverhalt knüpft
et même aux Parisiens, et qui indique tout ce qu’il faut connaître et éviter dans cette
capitale. DEUXIÈME ÉDITION, REVUE, CORRIGÉE ET AUGMENTÉE, Ornée d’un
Plan de Paris, et de 98 Gravures, représentant tous les Monumens, et les Statues des Jardins
des Tuileries et du Sénat. par l. prudhomme. TOME II. PARIS, Prudhomme, fils, rue
de Marais, faub. Saint-Germain. Debrai, rue S. Honoré, vis-à-vis celle du Coq. Pichard,
cour des Fontaines, n.o 11. 1806, S. 228.
41 Paris wie es war und wie es ist (wie Anm. 39), S. 58.
42 Paris wie es war und wie es ist (wie Anm. 39), S. 61f.
43 Paris wie es war und wie es ist (wie Anm. 39), S. 62. »Caffeehaus. Ein Haus, wo man
Caffee, Liqueur, Punsch, Limonade, auch oft gar nichts trinkt, sondern nur hinkommt,
um […] Zeitungen zu lesen, und die Zeit zu tödten. […] Es giebt eine unendliche Menge
Caffeehäuser in Paris« (Fragment aus des Cousin Jacques Dictionnaire néologique. In:
1803. Nr. 63. Der Freimüthige, Donnerstags — oder — den 21sten April. Berlinische
Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, S. 249f., hier S. 249).
44 MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS (wie Anm. 40), S. 228.
45 MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS (wie Anm. 40), S. 387.
46 MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS (wie Anm. 40), S. 228.
47 MIROIR DE L’ANCIEN ET DU NOUVEAU PARIS (wie Anm. 40), S. 391f.
268
»Entrés et puis jugés«
Abb. 6: Galerie du Palais du Tribunat, du côté de la Rue des Bons Enfans, Musée
Carnavalet, Paris (Inventar-Nr.: G11762)
das ›Fragment eines Schreibens aus Paris‹ an, indem es das angekündigte Beispiel für
die kulturelle Besonderheit der französischen Metropole präsentiert:
Der Caffetier zum Beispiel, der am Eingang einer Straße wohnt, affichirt vielleicht,
auf einem bloßen schwarzen Brett, mit weißen Lettern: Caffé; einige Artikel führt
er, auf einfache Weise, mit ihren Preisen an; er hat den Vortheil, er ist der Erste.
Der Zweite, um ihm den Rang abzulaufen, fügt schon überall bei der Enumera-
tion seiner Leckereien hinzu: du plus exquis; de la meilleure qualité; und: le tout au
plus modique prix; sein Brett ist bunt gefärbt, es sei nun gelb, roth oder blau, und er
schiebt es, um die Aufmerksamkeit damit zu fangen, noch tiefer in die Straße hinein.
Der Dritte schreibt: Caffé des Connoisseurs, oder Caffé des Turcs; er hilft sich noch,
indem er sein Schild, um noch einen oder zwei Fuß tiefer in die Straße reckt; und
seine Lettern, auf schwarzem oder weißem Grunde, sind, auf sonderbare und bizarre
Weise, bunt gefärbt in sich. Des Vierten Lage scheint verzweifelt; gleichwohl durch
die Verzweiflung selbst witzig gemacht, überbietet er noch alle seine Vorgänger. Caffé
au non plus ultra, schreibt er; seine Lettern sind von Mannsgröße, dergestalt, daß
sie in der Nähe gar nicht gelesen werden können; und sein Schild, das den ganzen
Regenbogen spielt, ragt bis auf die Mitte der Straße hinaus. Aber was soll der Fünfte
machen? Hoffnungslos, durch Charlatanerie, Selbstlob und Uebertreibung etwas aus-
269
Volker Mergenthaler
zurichten, fällt er in die Ureinfalt der ersten Patriarchen zurück. Caffé, schreibt er, mit
ganz gewöhnlichen (niedergeschlagenen) Lettern, und darunter: Entrés et puis jugés.
(Die Fortsetzung folgt.) (BA, Bl. 1, 3f.)
Veranschaulicht werden soll das für den »Charakter der Nation« so kennzeichnende
»Spiel«, das die Pariser Kaufleute treiben, um »auf die wohlgefälligste und ruhm-
redigste Weise« ihre »Waare zur Schau [zu] stell[en]« und »Auskunft« zu geben »über
die Wohlfeilheit sowohl, als über die Vortrefflichkeit« (BA, Bl. 1, 3) ihres Angebots
(Abb. 6). Das ›Fragment eines Schreibens aus Paris‹ bestimmt die geschilderte
Marktsituation, das Buhlen der Caffetiers »um die Aufmerksamkeit« potentieller
Kunden mit „shamelessly outsized street-level advertisements«48 als »Theater«-Stück
und läßt fünf Kaffeehausbetreiber auftreten, die sich mit unterschiedlichen Strate-
gien auf dem Markt in Szene zu setzen, zu behaupten und zu überbieten suchen.
Viel mehr, so scheint es, bietet die erste Nummer der ›Abendblätter‹ nicht. Sie ver-
tröstet ihre Leser lediglich auf die für den nächsten Tag angekündigte »Fortsetzung«
des ›Fragments‹. Ist dieser Beitrag, so mag der Interessierte sich fragen, geeignet, ein
neu auf den Markt drängendes Blatt zu »affichir[en]« (BA, Bl. 1, 3) und zu empfeh-
len in einer Stadt, die an Zeitungen so wenig Mangel leidet wie Paris an Cafés?
Diese Übertragung der Kaffeehaus-Konkurrenz in der Hauptstadt der Franzosen
auf die Journal-Konkurrenz in der Hauptstadt der Preußen entspringt keineswegs
der Willkür; sie wird vom Beitrag über die Pariser Caffetiers geradezu angestoßen.
Zunächst durch die notorische Affinität von Kaffeehaus- und Journalkultur. Sodann
aber auch durch die soeben bereits angedeutete Strukturanalogie zwischen den
auf engstem Raum, in einer Straße von Paris um die Aufmerksamkeit der Kunden
wetteifernden Kaffeehäusern und den in Berlin um die Aufmerksamkeit der Leser
buhlenden Journale und insbesondere durch die Tatsache, daß beide mit demselben
›Material‹ arbeiten, mit »Lettern« nämlich, »auf schwarzem oder weißem Grunde«.
Um ins Auge zu fallen, genügt dem ersten Caffetier am Platze ein schlichter
optischer Reiz: das Wort »Caffé« »auf einem bloßen schwarzen Brett« vermerkt »mit
weißen Lettern«. Der zweite preist seine Waren wortreicher an und nutzt eine augen-
fälligere »bunt gefärbt[e]« Tafel. »Der Dritte« koloriert die nun wiederum nur »auf
schwarzem oder weißem Grunde« angebrachten »Lettern« selbst »auf sonderbare
und bizarre Weise«, der »Vierte[…]« entscheidet sich für »Lettern […] von Manns-
größe«, die er auf einem »Schild« anbringt, »das den ganzen Regenbogen spielt«. Der
»Fünfte« – der Verfasser des ›Fragment[s]‹ übernimmt hier die Sichtweise des zuletzt
auf den Markt drängenden Caffetiers – bestimmt die Praktiken seiner Konkurrenz
als »Charlatanerie, Selbstlob und Uebertreibung« und wählt, »hoffnungslos«, wie es
heißt, die schlichteste Variante: »Caffé, schreibt er, mit ganz gewöhnlichen (nieder-
270
»Entrés et puis jugés«
49 Von den gewöhnlichen, d.h. »gemeinen oder kleinen Buchstaben des Alphabetes« sind
die »Ve r s al ien (Anfangsbuchstaben)« zu unterscheiden (Vollständiges theoretisch-
practisches Lehrbuch der Buchdruckerkunst für angehende Schriftsetzer und Drucker in
den Buchdruckereyen, in welchem auch alles, was denselben von andern Wissenschaften,
Kunst- und Gewerbsfächern, die mit der Buchdruckerkunst in naher Verwandtschaft
oder Verbindung stehen, zu wissen nöthig ist, deutlich erklärt wird. Nebst beygefügtem
ausführlichen Formatbuch. Von Christian Gottlob Täubel, Buchdrucker in Wien. Mit
Kupfern. Wien, 1809. Jm Verlage der Binzischen Buchhandlung, S. 141).
50 Neues theoretisch-practisches Lehrbuch der Buchdruckerkunst für angehende Schrift-
setzer und Drucker in den Buchdruckereyen (wie Anm. 28), S. 31.
51 Neues theoretisch-practisches Lehrbuch der Buchdruckerkunst (wie Anm. 28), S. 31.
271
Volker Mergenthaler
Abb. 7 und 8: 1810. Nro. 196. Der Freimüthige — oder — Berlinisches Unterhaltungs-
blatt für gebildete, unbefangene Leser. Montag, den 1. October, Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Signatur: 50 PF 711) / Berliner Abendblätter. 1stes Blatt
Den 1sten October 1810, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Signatur:
Libri impr. Rari oct. 216)
272
»Entrés et puis jugés«
merksamkeit der Leserinnen und Leser typographisch besser »zu fangen« sucht als
die andern, mit größeren Lettern etwa oder durch die günstigere Plazierung vor-
zugsweise auf der Schöndruck-Seite53 und möglichst weit vorn? Das ›Gebet des
Zoroaster‹, so möchte man sagen, hat es gut, denn dieser Beitrag ist gleich »am
Eingang« des Blattes abgedruckt, »er hat den Vortheil, er ist der Erste«. Muß ent-
sprechend, »um ihm den Rang abzulaufen«, das ›Fragment‹ als der »[z]weite« und
Beitrag »de la meilleure qualité« für sich werben? Oder hat sich gar das ›Extrablatt zum
ersten Berliner Abendblatt‹ mit den exklusiven ›Extracte[n] aus den Polizei-Rappor-
ten‹ in den Vordergrund geschoben und das eigentliche Journal verdrängt?
Gleich wie der Leser im Oktober 1810 sich entscheidet, das erste Blatt der
›Abendblätter‹ hat seinen Blick sehr wahrscheinlich geschärft für den umkämpften
Berliner Journalmarkt und für die Werbestrategien der konkurrierenden Zeitungen
einerseits, für die spannungsreiche mise en page einer Zeitung und die durch sie
bedingte Aufmerksamkeitslenkung andererseits. So wie es einem potentiellen Gast
anheimgestellt ist, in welches Café er eintritt, so ist es – der vom ersten Blatt der
›Abendblätter‹ gegebenen Szene zufolge – dem Leser überlassen, »den Bogen des
Urtheils rüstig zu spannen« (BA, Bl. 1, 2) und einem der Berliner Blätter den Vor-
zug zu geben: einem der bereits etablierten oder aber, vorzugsweise, demjenigen
des (scheinbar) resignierten, mit »ganz gewöhnlichen (niedergeschlagenen) Lettern«
(BA, Bl. 1, 4) arbeitenden Zeitungsmachers. Ist der Leser der Aufforderung »Entrés
et puis jugés« (BA, Bl. 1, 4) erst einmal bis zum ›Fragment eines Schreibens aus Paris‹
gefolgt, wird er erkennen können, daß der Marktauftritt der ›Berliner Abendblätter‹
alles andere als resignativ zu nennen ist: aufgrund der Schärfe seines Distinktions-
gebarens, nicht zuletzt aber auch aufgrund einer Maßnahme, die einem sechsten
Caffetier einfallen könnte. Er könnte zum Beispiel mit bescheiden dimensionierten
Lettern auf eine bescheiden dimensionierte Tafel schreiben, daß »das erste« Tässchen
»gratis ausgegeben«54 wird.
53 Abzulesen ist dies z. B. daran, daß eingebundene Kupfer in der Regel auf die recto-Seite
fallen sollen, »[d]enn es ist nichts verdrüßlicher, als wenn man in einem Buche lieset, und
das Kupfer die linke Seite zeiget« (Anweisung zur Buchbinderkunst, darinnen alle Hand-
arbeiten, die zur Dauer und Zierde eines Buches gereichen, möglichst beschrieben, nebst
einem Unterricht Futterale und aus Pappe verschiedene Sachen zu verfertigen, solche zu
lacquiren, in Messing und Kupfer zu löthen, die verfertigte Arbeit in Feuer zu versilbern
und zu vergolden, mit gehörigen Kupfern, in zwei Theile verfasset. Erste Abtheilung.
Leipzig, bey Joh. Sam. Heinsii Erben, 1802, S. 47–50, hier S. 48).
54 Be r li n er Ab e ndbl ät ter. Siehe Vossische Zeitung vom 25sten d. M. (wie Anm. 23),
unpag.
273
Sergej Liamin
I.
In der Erzählung ›Pierre Menard, Autor des Quijote‹ von Jorge Luis Borges,
erschienen in der Sammlung ›Fiktionen‹ aus dem Jahr 1944, fasst der Titelheld, ein
erfundener Schriftsteller aus dem Umkreis der französischen Symbolisten, einen
merkwürdigen, ja »heroischen« Vorsatz: den berühmten Roman von Miguel de
Cervantes neu zu schaffen, »Wort für Wort und Zeile für Zeile«, ohne dabei die ka-
nonische Vorlage mechanisch zu kopieren.2 In beiden Fällen sind es literarische Ana-
chronismen, welche Don Quijote nach-handeln und Pierre Menard nach-dichten
möchte. Doch während der Ritter immer wieder an der Realität scheitert, meistert
der Künstler, in der Fiktion zweiter Ordnung, die ironische Herausforderung, das
scheinbar selbst-verständliche Verhältnis von Original und Imitation in einer Para-
doxie der Autorschaft neu zu bestimmen. Das gleichsam unsichtbare Werk offen-
bart seine ästhetische Dimension nur im Prozess der Produktion, welche somit um
den Aspekt der Performanz erweitert wird. Das fertige Produkt hingegen wird von
dem Original absorbiert, mit welchem es vollkommen identisch ist: »Tatsächlich
existiert nicht ein einziger Schmierzettel, der von dieser jahrelangen Arbeit Zeugnis
ablegt.«3 Überdies ist das Werk, »vielleicht das bedeutendste unserer Zeit«, nur ein
Torso, denn es »besteht aus dem Neunten und dem Achtunddreißigsten Kapitel des
Ersten Teils des Don Quijote sowie aus einem Fragment des Kapitels Zweiundzwan-
zig«.4 Die Aufgabe der Vollendung übernimmt darum der Erzähler in einem Akt der
Relektüre der Tradition:
1 Ein Teil der Befunde, die auf der Tagung über ›Kleists Anekdoten‹ erstmalig präsentiert
und diskutiert wurden, ist zwischenzeitlich im Druck erschienen, vgl. Sergej Liamin,
Kleist gegen Google. Herstellung der Tatsachen und Phantome der Autorschaft in der
›Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs‹. In: Euphorion 112 (2018), S. 425–438.
Während der Schwerpunkt der ›Euphorion‹-Studie auf der Interpretation der Anekdote
sowie auf der Falsifikation der Attribution liegt, zielt die nun folgende Untersuchung
auf die Revision der Quellenlage sowie auf die Rekonstruktion der Textgenese. Der Verf.
dankt den Organisatoren der Tagung für die Möglichkeit, die Ergebnisse der Recherche
im ›Kleist-Jahrbuch‹ zu publizieren.
2 Jorge Luis Borges, Pierre Menard, Autor des Quijote. In: Ders., Gesammelte Werke,
10 Bde., Bd. 3,1, nach der Übersetzung von Karl August Horst bearbeitet von Gisbert
Haefs, München 1981, S. 112–123, hier S. 116f.
3 Borges, Pierre Menard (wie Anm. 2), S. 117.
4 Borges, Pierre Menard (wie Anm. 2), S. 116.
275
Sergej Liamin
Soll ich gestehen, daß ich mich der Vorstellung hinzugeben pflegte, er hätte es voll-
endet, und ich läse den Quijote – den ganzen Quijote –, als hätte Menard ihn er-
dacht? Als ich letzthin bei Nacht im Kapitel XXVI blätterte – das er nie in Angriff
genommen hat –, erkannte ich den Stil unseres Freundes, ja sozusagen seine Stimme,
in diesem außergewöhnlichen Satz: Las ninfas de los ríos, la dolorosa y húmida eco – Die
Nymphen der Flüsse, die schmerzbewegte und feuchte Echo.5
In einer Szene für Schrift und Stimme entsteht ein über den Mythos von Narziss
und Echo codierter Raum der visuellen und auditiven Reflexion, in welchem die
»Flüsse« der Überlieferung zu einem Reservoir der Erinnerung aufgestaut werden,
und eine literarhistorische chambre d’écho, in welcher sich die Manifestationen von
Urheber und Nachahmer, von Genotext und Phänotext wechselseitig überdecken
und unterlegen.
Die »Methode«6 der poetischen Produktion, deren Pierre Menard sich bedient,
besteht gerade nicht darin, in der Individualpsychologie der Dichterpersönlichkeit
bis zur absoluten Identifikation aufzugehen und die kulturhistorische Distanz zu ei-
nem fremden Thema und einer fremden Sprache aufzuheben, mithin die originalen
und singulären Bedingungen der Entstehung von ›Don Quijote‹ nachzuvollziehen.
Pierre Menard bleibt vielmehr ein französischer Intellektueller der klassischen Mo-
derne, der seinen Text über ein Sprachspiel der absoluten Künstlichkeit im Zeichen
der intellektuellen Autonomie konstruiert. Das zentrale Problem der literarischen
Hermeneutik, wonach das Werk und der Interpret grundsätzlich über verschiede-
ne ästhetische Standorte und epistemische Horizonte verfügen, fokussiert hier eine
Poetik der Iterabilität: der nicht-identischen Wiederholung. Wenn nun ein ›Don
Quijote‹ aus dem 20. Jahrhundert einen ›Don Quijote‹ aus dem 17. Jahrhundert
überschreibt, dann ermöglicht und erfordert der spätere Text, wiewohl mit dem
früheren Text identisch, aus dem Bewusstsein der Differenz heraus eine ungleich
komplexere und subtilere Auslegung. Die Herstellung der Differenz obliegt jedoch
nicht mehr dem Autor, sondern dem Leser und hier zugleich auch dem Erzähler,
welcher zuletzt das kombinatorische Experiment von Pierre Menard radikalisiert
und generalisiert, bis hin zu einer paradoxen Stilisierung der Vorlage von 1605 zu
einem Palimpsest, »auf dem – schwach, aber nicht unentzifferbar – die Spuren der
vorhergehenden Schrift unseres Freundes sich durchscheinend abzeichnen sollen«:7
Menard hat (vielleicht ohne es zu wollen) vermittels einer neuen Technik die abge
standene und rudimentäre Kunst des Lesens bereichert, nämlich durch die Tech-
nik des vorsätzlichen Anachronismus und der irrtümlichen Zuschreibungen. Diese
unendlich anwendungsfähige Technik veranlaßt uns, die Odyssee so zu lesen, als sei sie
nach der Aeneis gedichtet worden, und das Buch Le Jardin du Centaure von Madame
Henri Bachelier so, als sei es von Madame Henri Bachelier. Diese Technik erfüllt die
geruhsamsten Bücher mit abenteuerlicher Vielfalt. Wie, wenn man Louis Ferdinand
276
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
Céline oder James Joyce die Imitatio Christi zuschriebe: hieße das nicht, diese dünn-
blütigen geistlichen Anweisungen hinlänglich mit Erneuerungskraft begaben?8
Somit gerät in ›Pierre Menard‹ nicht nur der Akt der Produktion, sondern auch der
Akt der Rezeption zu einer imitatio Quijoti: Denn erst eine Lektüre, die sich über
die Raster der Chronologie und Biographie hinwegsetzt, führt in ein Abenteuer
der Neudeutung und Sinngebung. Der eigentliche Protagonist der Erzählung ist
denn auch nicht der Dichter Pierre Menard, sondern sein anonymer Interpret, der
hier, halb pathetisch und halb ironisch, das Verhältnis zwischen dem Werk auf der
einen Seite und den Kategorien der Autorschaft und Rezeption auf der anderen Seite
verhandelt – und auf diese Weise das Koordinatensystem der literarischen Herme-
neutik neu ausrichtet. Wie, wenn man Hans Robert Jauß oder Jacques Derrida den
›Pierre Menard‹ zuschriebe?
II.
Die Anekdote ›Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs‹, die von dem letzten
gerichtlich genehmigten Ordal (1386) im mittelalterlichen Frankreich handelt und
auf den ›Chroniques de France‹ von Jean Froissart (1337–1405) gründet,9 bedient
auf wenigen Seiten beinahe sämtliche Topoi einer theoretisch avancierten Kleist-
Lektüre, wie sie sich etwa in den entsprechenden Lemmata im ›Kleist-Handbuch‹
wiederfinden:10 Familie und Ehe, Gefühle und Affekte, Trieb und Geschlecht, Ver-
sehen und Verkennen, Gewalt und Verbrechen, Körper und Körpersprache, Schuld
und Scham, Vertrauen und Aufrichtigkeit, Recht und Gerechtigkeit, Wahrschein-
lichkeit und Wahrhaftigkeit, Staat und Macht, Religion und Kirche, Schauspiel und
Ritual, Duell und Zweikampf, Name und Anagramm, Schrift und Überlieferung.11
Dabei figuriert die Überschreibung der mittelalterlichen Chronik durch einen neu-
zeitlichen Redakteur eine charakteristische Schizophrenie der Autorschaft: Auf der
277
Sergej Liamin
12 Vgl. weiterführend Rolf Selbmann, »Hier endigt die Geschichte«. Erzählstrategie und
poetologische Reflexion in Kleists Erzählschlüssen. In: KJb 2005, 233–247; Ernst Ribbat,
Letzte Sätze. Kleists Werke vom Ende her gelesen. In: KJb 2012, 307–317; Gesa von Essen,
Nach der Katastrophe. Kleists gewagte Schlüsse. In: Hans Richard Brittnacher und Irmela
von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttin-
gen 2013, S. 286–311.
13 Vgl. weiterführend Johannes F. Lehmann, Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsge-
schichte der ›Thatsache‹ und Kleists ›Berliner Abendblättern‹. In: Deutsche Vierteljahrs-
schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 308–322, hier S. 321:
»Tatsachen gibt es immer nur in der Weise, wie sie notwendig in Erzählungen und Deu-
tungen aufgehoben sind […]. Tatsachen gibt es aber auch immer nur in der Weise, wie sie
sich als bloße Tatsachen vom Kontext ihrer Narrativierung unterscheiden und wiederum
in andere Kontexte einfügen lassen.«
14 Borges, Pierre Menard (wie Anm. 2), S. 121.
15 Vgl. Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin 1901, S. 536–545.
16 Heinrich von Kleist, Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs. In: Ders., Werke,
5 Bde., Bd. 4, hg. von Erich Schmidt und Reinhold Steig, Leipzig und Wien o.J. [1905],
S. 160–162.
17 Vgl. z. B. Gerhard Neumann, ›Der Zweikampf‹. Kleists ›einrückendes‹ Erzählen. In:
Walter Hinderer (Hg.), Kleists Erzählungen. Interpretationen, Stuttgart 1998, S. 216–245,
hier S. 226–229, 242f.; Marianne Schuller, Pfeil und Asche. Zu Kleists Erzählung ›Der
Zweikampf‹. In: KJb 1999, 194–202, hier 194; Bernhard Greiner, Kleists Dramen und Er-
zählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst, Tübingen 2000, S. 390; Gerhart Pickerodt,
Kleists kleine Formen im Spiegel seiner großen. Zur Dramaturgie des Anekdotischen.
In: Elmar Locher (Hg.), Die kleinen Formen in der Moderne, Bozen 2001, S. 37–56, hier
S. 40–45; Sibylle Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt
der ›Berliner Abendblätter‹, Würzburg 2003, S. 106f.; Hans Jürgen Scheuer, Pferdewechsel
– Farbenwechsel. Zur Transformation des adligen Selbstbildes in Kleists ›Prinz Friedrich
von Homburg‹. In: KJb 2003, 23–45, hier 24; Walter Delabar, Stellvertretung, Verschie-
bung und Konkurrenz. Zu einigen strukturalen Aspekten in Heinrich von Kleists Erzäh-
lung ›Der Zweikampf‹. Oder: Herzog Wilhelm kehrt zurück. In: Zeitschrift für deutsche
Philologie 124 (2005), S. 481–498, hier S. 489–492; Bettine Menke und Dietmar Schmidt,
Am Nullpunkt des Rituals. Darstellung und Aufschub des Zweikampfs bei Kleist, Conrad
und Puschkin. In: Arcadia 40 (2005), S. 194–236, hier S. 198, Anm. 7; Selbmann, »Hier
endigt die Geschichte« (wie Anm. 12), S. 245; Alexander Košenina, Ratlose Schwestern
der Marquise von O…. Rätselhafte Schwangerschaften in populären Fallgeschichten –
278
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
III.
Die Drucklegung der ›Geschichte‹ für die ›Berliner Abendblätter‹ erfolgt mutmaß-
lich auf der Grundlage einer Abschrift; ein mögliches Indiz dafür ist der Setzfeh-
ler »Graf von Menso« statt »Graf von Alenson« im »Schluß« der Anekdote (BKA
II / 8, 225, Lesarten). Die Vorlage für eine solche Abschrift wäre die Version, die in
zwei Periodika aus dem Jahr 1782 nachgewiesen werden kann: in der Quartalschrift
›Olla Potrida‹, in einem ›Schreiben an den Herausgeber über einen merkwürdigen
von Pitaval bis Spieß. In: KJb 2006, 45–59, hier 56; Antony Stephens, Zur Funktion der
›Schauspiele‹ in Kleists Erzählungen. In: KJb 2007, 102–119, hier 104; Jochen Strobel,
Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen »Adeligkeit« und
Literatur um 1800, Berlin 2010, S. 251; Joachim Harst, Heilstheater. Figur des barocken
Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist, München 2012, S. 50–52; Anne Fleig, Unbe-
dingtes Vertrauen. Kleists Erzählung ›Der Zweikampf‹. In: Brittnacher und von der Lühe
(Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf (wie Anm. 12) , S. 96–109, hier S. 96.
18 Vgl. weiterführend Gesa von Essen, Prosa-Konzentrate. Zur Virtuosität der kleinen Form
bei Heinrich von Kleist. In: Werner Frick (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Ansichten
eines rebellischen Klassikers, Freiburg i.Br. 2014, S. 130–159.
19 Vgl. Neumann, ›Der Zweikampf‹ (wie Anm. 17), S. 226–229, 242f.
20 Vgl. Pickerodt, Kleists kleine Formen (wie Anm. 17), S. 40–45.
21 Vgl. SW9 II, S. 283; Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke, hg. von Helmut Koopmann,
7. Aufl., München 1994, S. 992.
279
Sergej Liamin
280
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
von Kleist zum Verfasser haben kann (auch dies ein Text, der zwischen den Jahren
1782 und 1796 in drei weiteren Periodika nachweisbar ist).30
Die Zeitschrift ›Olla Potrida‹ erscheint in den Jahren 1778–1797 in Berlin
in der Buchhandlung Arnold Wever und unter der Regie von Heinrich August
Ottokar Reichard (1751–1828), Theaterintendant und Bibliothekar der Herzöge von
Sachsen-Gotha-Altenburg.31 Seit 1774 betreut Reichard die Herausgabe von zahl-
reichen vielgelesenen Periodika im Schnittpunkt von Aufklärung und Unterhaltung,
die sich dank einer breiten Resonanz bei der deutschen Leserschaft über Jahrzehnte
auf dem Buchmarkt behaupten, von den ›Gothaischen Gelehrten Zeitungen‹ über
die ›Bibliothek der Romane‹ bis zum ›Theater-Kalender‹ und ›Theater-Journal für
Deutschland‹.32 Das Konzept der ›Olla Potrida‹,33 das schon durch die rustikal-
kulinarische Titelgebung verdeutlicht wird, basiert auf der Vermischung von he-
terogenen Formen und Themen samt den üblichen Ingredienzien: Übernahme
von französischen Vorlagen; Anpassung an den öffentlichen Geschmack; Vielfalt
der Rubriken und Textsorten;34 Bildnisse von bedeutenden Persönlichkeiten aus
der Sphäre der ›Schönen Wissenschaften‹; gediegene Aufmachung zu moderaten
Preisen. Zu den Autoren der in der ›Olla Potrida‹ erschienenen Beiträge (und
Nachdrucke) zählen Johann Arnold Ebert, Johann Wolfgang Goethe, Ludwig
Christoph Heinrich Hölty, August Wilhelm Iffland, Karl Philipp Moritz, Friedrich
(Maler) Müller, Johann Karl August Musäus, Sophie La Roche, Johann Heinrich
Voß, Christian Vulpius, Heinrich Leopold Wagner, Heinrich Zschokke u. a. Hinzu
kommen zahlreiche Übersetzungen, sowohl aus dem Englischen als auch aus dem
281
Sergej Liamin
Französischen, welche zumeist von Reichard selbst stammen35 (der zur gleichen
Zeit die große Nachfrage nach literarischen und publizistischen Neuheiten aus dem
frankophonen Kulturraum in einer Folge von französischsprachigen Zeitschriften
bedient: ›Nouveau Mercure de France‹ sowie ›Journal de lecture‹ und ›Cahiers de
lecture‹).36 Zumal diese ›gallotropische‹ Schwerpunktsetzung erlaubt den ohnehin
naheliegenden Schluss, in der Froissart-Sequenz aus dem anonymen ›Schreiben an
den Herausgeber über einen merkwürdigen Zweykampf‹, das in das Rubrum ›Mi-
scellanien‹ eingerückt wird, eine Übersetzung aus dem Französischen zu vermuten.
IV.
In der Tat findet sich die französische Vorlage für den Text der ›Geschichte‹ in der
›Nouvelle Bibliothèque de Société‹ von Claude-Sixte Sautreau de Marsy aus dem
Jahr 1782 sowie in der ›Bibliothèque de Société‹ von Sébastien-Roch-Nicolas de
Chamfort und Louis-Théodore Hérissant aus dem Jahr 1771,37 dort unter ›Procès
singuliers‹, hier unter ›Jurisprudence Curieuse‹, in beiden Fällen ohne Quellenanga-
be. Die beiden Anthologien sind in den Beständen der Privatbibliothek von Herzog
Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg verzeichnet. Der Übersetzung ins Deutsche
liegt jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit der frühere Abdruck in der ›Bibliothèque
de Société‹ zugrunde, welcher zum einen unter dem Rubrum ›curieuse‹, also ›merk-
würdig‹, erscheint und zum anderen die Wendung »l’Historien qui rapporte le fait
35 Vgl. die Notiz in Olla potrida 1778, 3. Stück, S. 192: »Der Herausgeber der Olla Potrida,
aufmerksam, seiner Schrift immer mehr die Vollkommenheit zu geben, der sie sich mit
ihrem Anfange nicht nähern, sondern sie nur erst mit jeder Stufe ihrer Fortschreibung
erreichen kann, hat die Erinnerungen verschiedner billigen Beurtheilungen genutzt, und
dieses Journal, das ursprünglich zum Geist der verschiedenen periodischen Deutschen
Schriften bestimmt war, in den Geist der ausländischen Journale, und in einer [!] Samm-
lung von ungedruckten eigenen Aufsätzen und Uebersetzungen verwandelt.«
36 Vgl. weiterführend Werner Gerling, Hofbibliothekar und frankophoner Publizist
Heinrich August Ottokar Reichard (1751–1828). In: Michel Espange (Hg.), Frankreich-
freunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers, Leipzig 1996, S. 151–176;
Annett Volmer, Presse und Frankophonie im 18. Jahrhundert. Studien zur französisch-
sprachigen Presse in Thüringen, Kursachsen und Russland, Leipzig 2000, hier S. 67–164;
Annett Volmer, Heinrich August Ottocar Reichard als Vermittler französischer Literatur
am Gothaer Hof. In: »Unter die Preße und ins Publikum« (wie Anm. 31), S. 86–93.
37 Nouvelle Bibliothèque de Société, Contenant des Faits intéressans, des Mêlanges de Litté-
rature & de Morale, des Variétés Historiques, un choix de bons Mots, de Poésies fugitives,
des Contes en Vers & en Prose, Bd. 3, London [d.i. Paris] 1782, S. 256–261; Bibliothèque
de Société, contenant des Mêlanges intéressans de Littérature & de Morale; une Elite
de Bon Mots, d’Anecdotes, de traits d’Humanité; un Choix d’Observations & de Jeux
de Physique; quelques Causes & Procès peu connus; des Poësies dans tous les genres;
des Contes en prose, puisés dans les meilleures sources; enfin, des Divertissemens de So-
ciété, Bd. 3, London [d.i. Paris] 1771, S. 375–380. Vgl. einführend Robert Granderoute,
Nouvelle Bibliothèque de Société (1782). In: Jean Sgard (Hg.), Dictionnaire des journaux
1600–1789, Bd. 2, Paris 1991, S. 932f., Nr. 1005.
282
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
[Froissard]«38 enthält, die in der Version der ›Olla Potrida‹ in die markante Schluss-
formel umgeprägt wird: »Froissard erzählt diese Geschichte, und sie ist Thatsache«
(BKA II / 8, 226).39 (Die ›Nouvelle Bibliothèque de Société‹ setzt an dieser Stelle
weniger bestimmt »l’Historien qui rapporte ce combat«,40 was beinahe den ein-
zigen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Drucken ausmacht.) Gleich-
wohl handelt es sich auch bei diesem Text nicht um einen Originalbeitrag, son-
dern um einen Auszug aus dem ›Essay sur la naissance, les progrès & la durée de la
Chevalerie‹, welcher in zwei unter der Herausgeberschaft von François Arnaud und
Jean-Baptiste-Antoine Suard erschienenen Periodika enthalten ist: ›Variétés littéraires
ou Recueil de pieces tant originales que traduites, concernant la P hilosophie, la
Littérature & les arts‹ aus dem Jahr 1768 und ›Journal étranger‹ aus dem Jahr 1761.41
In den Briefen, die Johann Gottfried Herder im August 1769 aus Nantes an Johann
Friedrich Hartknoch und Johann Georg Hamann schreibt, wird die Lektüre der
beiden Journale empfohlen und der ›Essay sur la Chevalerie‹ ausdrücklich erwähnt:
Die Abhandlungen des Journal étranger sind besonders gedruckt in 4. Theilen unter
dem Titel Variétès literaires et amusantes, u. wenn Sie jenes nicht gelesen haben, so
müßen Sie dies lesen. Ich habe Diderots Richardson, die Abhandlung über die Che-
valerie, Algarotti über Horaz eine sehr scharfe Wägung des Bollinbrocke, das Mark
des Doctor Blairs über Oßian, schöne Stücke aus dem Italienischen u. überhaupt
Aussichten über die Litteratur verschiedener Völker, Zeiten, Sitten u. Studien ange-
troffen, die mir zumal auf Französischem Boden sehr neu u. gründlich geschienen.42
Die Zeitschrift ›Journal étranger‹,43 ein von Friedrich Melchior Grimm und Jean-
Jacques Rousseau angestoßenes publizistisches Unternehmen mit einer dezidiert
283
Sergej Liamin
V.
Charles Jarvis, Übersetzer des Quijote, ist freilich selbst ein chevalier errant: Der
Name auf dem Titelblatt von ›The Life and Exploits of the Ingenious Gentleman
Don Quixote de la Mancha‹, erschienen in zwei Bänden in London im Jahr 1742,
enthält einen Druckfehler, der in die Literaturgeschichte eingegangen ist: Die bis
heute am häufigsten wiederaufgelegte englischsprachige ›Don Quijote‹-Version wird
Abbé Prevost und seine Bedeutung für die literarischen Beziehung zwischen England
und Frankreich im Zeitalter der Aufklärung, Straßburg 1912; Marie Rose de Labriolle,
The ›Journal étranger‹: Its readers and foreign correspondents in Europe. In: Journal for
Eighteenth-Century Studies 2 (1979), S. 37–57; Jean Sgard, Les souscripteurs du ›Journal
étranger‹. In: Hans Bots (Hg.), La diffusion et la lecture des journaux de langue fran-
çaise sous l’Ancien Régime, Amsterdam 1988, S. 89–99; Kirill Abrosimov, Französische
Aufklärer auf der Suche nach einer ›Weltliteratur‹. Zur Kooperation zwischen dem
›Journal étranger‹ und der ›Correspondance littéraire‹ von Friedrich Melchior Grimm.
In: Horst Carl und Joachim Eibach (Hg.), Europäische Wahrnehmungen 1650–1850.
Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, Hannover 2008, S. 207–228, hier
S. 209–216; Anne-Katrin Winkler, Gellert und das ›Journal étranger‹. Akteure und Mecha-
nismen eines transnationalen Transferprozesses um 1760. In: Sibylle Schönborn und Vera
Viehöver (Hg.), Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und
Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur, Berlin 2009, S. 203–220.
44 Journal étranger (wie Anm. 41), S. 7.
45 The London Chronicle, 13.–16. Juni 1761, S. 571–573 und 18.–20. Juni 1761, S. 586f.,
Froissart-Sequenz S. 587.
284
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
in der Forschung unter der Bezeichnung ›The Jarvis Translation‹ geführt.46 Charles
Jervas (1675–1739), so sein eigentlicher Name, berühmter Portraitmaler und Kunst-
sammler, arbeitet an der Übersetzung mutmaßlich schon in den 1720er Jahren. Das
Werk wird gleichwohl erst aus dem Nachlass herausgegeben, und so kann die genaue
Genese weder für den Romantext und die Anmerkungen noch für das Vorwort
verifiziert werden, dem die Vorlage für die ›Geschichte eines merkwürdigen Zwei-
kampfs‹ nun letztlich entstammt.47 John Hawkins, der noch vor James Boswell eine
Biographie von Samuel Johnson veröffentlicht, äußert Zweifel an der Verfasserschaft
von Jervas:
It might seem that Jarvis’s translation was one impediment to such an undertaking;
but that, though it gives the sense of the author, [it] was performed by persons whose
skill in the language was not great. The fact is, that Jarvis laboured at it many years,
but could make but little progress, for being a painter by profession, he had not been
accustomed to write, and had no style. Mr. Tonson the bookseller seeing this, sugge-
sted the thought of employing Mr. Broughton, the reader at the Temple church, the
author and editor of sundry publications, who, as I have been informed by a friend
of Tonson, sat himself down to study the Spanish language, and, in a few months,
acquired, as was pretended, sufficient knowledge thereof, to give to the world a trans-
lation of Don Quixote in the true spirit of the original, and to which is prefixed the
name of Jarvis.48
Die Recherche nach der Urheberschaft der Anekdote, die im Februar 1811 in die
›Abendblätter‹ aufgenommen wird, erschließt, nach dem Durchgang durch drei
Epochenräume und drei Kulturkreise, letztendlich nur eine weitere Lakune in der
philologischen Überlieferung.
Der ›Account of Chivalry‹, der ungefähr drei Viertel der Gesamtlänge von ›Trans-
lator’s Preface‹ ausmacht, sorgt jedoch noch im Jahr der Drucklegung für einen
Protest, der unter dem Titel ›A Supplement to the Translator’s Preface‹ in Form
einer unpaginierten Einlage dem 1. Band beigegeben wird; sein Verfasser, der in
einer Fußnote mit »a learned writer, well known in the literary world« apostrophiert
wird,49 ist William Warburton (1698–1779), Kirchenmann und Schriftsteller. Jervas
attestiert dem Roman von Cervantes, »that this work was calculated to ridicule that
46 Vgl. ausführlich Caroline Pegum, The Artistic and Literary Career of Charles Jervas
(c. 1675–1739), M. Phil. Thesis, Birmingham 2009, hier S. 135–142.
47 Charles Jervas, The Translator’s Preface. In: Miguel Cervantes de Saavedra, The Life and
Exploits of the Ingenious Gentleman Don Quixote de la Mancha, translated by Charles
Jarvis, Esq., London 1742, Bd. 1, S. IV–XXIII, hier S. XVIII–XXII; ferner unter dem
Titel: ›The History of the Chevalier John Caronge and James le Gris‹ in: Leisure Hours
Amusements. Being a Select Collection of One Hundred and Fifty of the most Humorous
and Diverting Stories, which are Dispersed in the Writings of the Best English Authors,
London 1744, S. 89–93.
48 John Hawkins, The Life of Samuel Johnson, LL. D., London 1787, S. 216.
49 William Warburton, A Supplement to the Translator’s Preface. In: Miguel Cervantes de
Saavedra, The Life and Exploits of the Ingenious Gentleman Don Quixote de la Mancha,
translated by Charles Jarvis, Esq., 2. Aufl., London 1749, unpag. [S. XXIII].
285
Sergej Liamin
false system of honour and gallantery, which prevailed even ’till our author’s time«,
mithin eine Satire auf die spanische Gesellschaft zu sein, und präsentiert eine kultur-
historische Kompilation, von Tacitus über Saxo Grammaticus bis Froissart: »Infinite
were the mischiefs proceeding from these false and absurd notions of honour. The
first institution, though barbarous enough, was still more perverted by misapplica-
tion.«50 Der Autor des Quijote wird zu einem Streiter für Vernunft und Wahrheit
stilisiert: »In the midst of all these prejudices, we see our author undertake to combat
this giant of false honour, and all these monsters of false wit.« In der Schlusswendung
eskamotiert Jervas wie beiläufig im Namen der Aufklärung, und gleichsam im Ge-
folge von Barbier und Pfarrer, auch den höfischen Roman: »If such works are now
ever read, it is only the better to comprehend the satire, and give light to the beau-
ties of his incomparable Don Quixote.«51 Dagegen akzentuiert das ›Supplement‹, das
Warburton später in die von ihm besorgten Ausgaben von William Shakespeare52
und Alexander Pope einrückt, gleich in der Eröffnung nicht die historische und
soziale, sondern die poetische und ästhetische Dimension der Literatur:
The curious account here put together of the principles of the ancient chivalry, as it was
in fact, seems defective: For the ridicule of CERVANTES does not so much turn upon
OMANCES .53
that, as upon the ideal chivalry, as it is to be found only in the old R
So wird das Verhältnis von Lesen und Leben neu gewichtet und der Vektor von Pa-
rodie und Ironie auf die Selbstreflexion der Erzähl-Kunst neu gerichtet.54 Auf dem
Palimpsest von ›The Life and Exploits of the Ingenious Gentleman Don Quixote de
la Mancha‹ zeigen sich – »schwach, aber nicht unentzifferbar«55 – die Spuren von
›The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‹.
286
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
VI.
287
Sergej Liamin
detektivischen Aufklärung verlangt, ist bei der Übertragung aus dem Englischen
ins Französische getilgt worden).62 Es entfällt zum einen der Einschub über die
Besessenheit, mit welchem das Verbrechen motiviert werden soll: »Or, il arriva, dit
Froissard, que le diable entra dans le corps de Jacques le Gris, autre vassal du Comte
d’Alençon, & lui inspira la tentation perverse de jouir de la femme du Chevalier.«63
Stattdessen wird die kriminelle Energie im Inneren der menschlichen Natur situiert
und durch die Maßlosigkeit der erotischen Triebe fokussiert: »Ein anderer Vasal des
Grafen, Jakob der Graue genannt, verliebte sich in diese Dame auf das heftigste.«
(BKA II / 8, 220) Es entfällt zum anderen der Nachsatz über die Reflexion, in wel-
chem das Ergebnis der Beweisführung einem kritischen Raisonnement unterzogen
wird, wobei die Doppeldeutigkeit der geschaffenen Tatsachen durch eine Kolliga-
tion von »le fait« und »ne fait« buchstäblich ins Auge fällt:
C’est ainsi qu’une accusation aussi grave, fut regardée comme prouvée, & L’Historien
qui rapporte le fait, [Fußnote: »Froissard«] ne fait là-dessus aucunes réflexions: car il
n’étoit pas permis de douter que Jacques le Gris ne fût coupable, puisqu’il avoit été
vaincu.64
Stattdessen wird der Vorbehalt in der affirmativ-lapidaren Schlussformel aufgeho-
ben: »Froissard erzählt diese Geschichte, und sie ist Thatsache.« (BKA II / 8, 226) So
wird auf der einen Seite die kritische Gegenstimme der ambivalenten Erzählinstanz
im Interesse der narrativen Kohärenz und der historischen Authentizität rektifiziert,
auf der anderen Seite aber gerade dadurch die Interpretation der verbliebenen In-
dizien an den mündigen Rezipienten delegiert, der in der Anekdote aus einer alten
Chronik selbstbestimmt einen Auszug aus der ›Geschichte der Unmündigkeit‹ er-
kennt, welchem er die Geschichte der eigenen Lektüre(n), auch und gerade im Zu-
sammenhang mit der Diskussion um das Duell-Verbot, entgegenhält.65
62 Vgl. Jervas, The Translator’s Preface (wie Anm. 47), S. XIX: »It is pity the historian does
not say, what number or whether any of her domestics swore to James le Gris being at
Argenteil, in that day or at that odd hour, nor which servant brought him his horse from
the stable, nor why she did not make her people stop him, since one would think she had
opportunity and power enough so to do.«
63 Bibliothèque de Société (wie Anm. 37), S. 375; vgl. Jervas, The Translator’s Preface (wie
Anm. 47), S. XVIII: »Now (says our author) it fell out, that the devil entered the body
of James le Gris by temptation perverse and diverse, making him cast an eye upon the
chevalier’s lady, who resided then at Argenteil.«
64 Bibliothèque de Société (wie Anm. 37), S. 380; vgl. Jervas, The Translator’s Preface (wie
Anm. 47), S. XXII: »So the charge was well proved, and the historian durst make no
reflection; for, in those days, no body could question but James was guilty, because he was
slain.«
65 Vgl. weiterführend Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesell-
schaft, München 1991, S. 35–64.
288
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
VII.
Wenn die Redaktion der ›Berliner Abendblätter‹ im Februar 1811 die ›Geschichte
eines merkwürdigen Zweikampfs‹ an die Öffentlichkeit bringt, dann konkurriert
der knapp dreißig Jahre alte Wortlaut mit zwei weiteren, diesmal zeitgenössischen
Versionen der Froissart-Anekdote. Zwei Periodika aus den Jahren 1809 und 1810,
die ›Sammlung neuer kleiner Erzählungen, Geschichtchen und Märchen‹ sowie der
›Almanach für Freundinnen romantischer Lectüre‹, beide erschienen in der Wiener
Buchhandlung Joseph Grämer, enthalten die Erzählung mit dem Titel ›Der Zwey-
kampf wegen einer Ehstandsscene. Eine Geschichte aus den ritterlichen Zeiten‹,
in beiden Ausgaben mit einem dazugehörigen Kupfer von Johann Blaschke.66 Der
Text basiert auf der Fassung der ›Olla Potrida‹, mit gelegentlicher Interpolation von
schmückenden Adjektiven wie etwa »schloß die wehrlose Dame in seine nervigte
Arme« oder »der Gedanke einer ritterlichen Rache«.67 Hier jedoch wird die faktuale
Referenz auf Froissart eliminiert und die Handlung in den nicht weiter definierten
»ritterlichen Zeiten« situiert (in denen auch das auf dem Theater an der Wien am
17. März 1810 uraufgeführte ›große historische Ritterschauspiel‹ ›Das Käthchen von
Heilbronn oder die Feuerprobe‹ spielt). Dabei wird der Widerspruch von Wahr-
scheinlichkeit und Wahrhaftigkeit wenn nicht vollständig aufgehoben, so doch auf
der Ebene der Erzählung moderiert: durch die Einführung der Vorzeitigkeit, welche
den Ablauf der Ereignisse in eine logische Reihenfolge bringt: »Jakob der Grauen
hatte [!] sich in diese vortreffliche Dame aufs heftigste verliebt«;68 durch die Strei-
chung der Prolepse über die »Zeugen« vor »Gericht« und der Parenthese über den
»Umstand« (BKA II / 8, 220), welche bei der Lektüre für Irritation sorgen; durch die
dreifache Erwähnung der Entfernung zwischen der »Wohnung der Dame« und der
»Burg des Grafen von Alenson«;69 durch eine zusätzliche Begründung für die Ab-
weisung der Klage: »dessen nicht zu gedenken, daß die Dame sich auch in der Person
hätte irren können«.70 Überdies positioniert sich hier der heterodiegetische Erzähler
66 Der Zweykampf wegen einer Ehstandsscene. Eine Geschichte aus den ritterlichen Zei-
ten. In: Sammlung neuer kleiner Erzählungen, Geschichtchen und Märchen, Bd. 3, Wien
1809, Heft 4, S. 20–26 sowie Almanach für Freundinnen romantischer Lectüre 1810,
S. 20–26.
67 Der Zweykampf wegen einer Ehstandsscene (wie Anm. 66), S. 21, 22.
68 Der Zweykampf wegen einer Ehstandsscene (wie Anm. 66), S. 20. Vgl. dagegen BKA
II / 8, 219f.: »Der Ritter Hans Carouge, Vasal des Grafen von Alenson, mußte in häuslichen
Angelegenheiten eine Reise übers Meer thun. Seine junge und schöne Gemahlinn ließ er
auf seiner Burg. Ein anderer Vasal des Grafen, Jakob der Graue genannt, verliebte sich
in diese Dame auf das heftigste.« Vgl. hierzu Liamin, Kleist gegen Google (wie Anm. 1),
S. 430: »Dabei wird die Plausibilität der inneren wie der äußeren Handlung schon durch
die elementare Nachzeitigkeit der präteritalen Narration sabotiert, denn hier verliebt sich
ein Ritter völlig unvermittelt und auf das heftigste in eine Dame (DKV III, 383, Z. 6),
welche von ihrem Gatten zuvor auf seiner Burg (DKV III, 383, Z. 4f.) allein gelassen und
somit jedem öffentlichen Interesse entzogen wird.«
69 Der Zweykampf wegen einer Ehstandsscene (wie Anm. 66), S. 21, ferner S. 23f.
70 Der Zweykampf wegen einer Ehstandsscene (wie Anm. 66), S. 23.
289
Sergej Liamin
290
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
77 Zit. nach Sembdner, Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit (wie Anm. 76), S. 326.
78 Vgl. Anm. 63.
79 Zit. nach Sembdner, Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit (wie Anm. 76), S. 325.
80 Zit. nach Sembdner, Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit (wie Anm. 76), S. 325.
81 Zit. nach Sembdner, Heinrich von Kleists unbekannte Mitarbeit (wie Anm. 76), S. 326.
82 Vgl. weiterführend Dieter Heimböckel, Wie vom Zufall geführt. Kleists Griffel. In: Ders.
(Hg.), Kleist. Vom Schreiben in der Moderne, Bielefeld 2013, S. 23–46, hier S. 23–29.
Vgl. ferner Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel (Hg.), Kleist – ein moderner
Aufklärer?, Göttingen 2005; Bernd Fischer (Hg.), Heinrich von Kleist and modernity,
Rochester, NY, 2011; Hinrich C. Seeba, Abgründiger Klassiker der Moderne. Gesammelte
Aufsätze zu Heinrich von Kleist, Bielefeld 2012.
291
Sergej Liamin
turpublizistik gehört. So werden denn auch in die Serie über das ›Unwahrscheinliche‹,
die, noch vor dem ›Griffel Gottes‹, mit der Mitteilung über den »Capitain v. Bürger«
begonnen wird (BKA II / 7, 16), drei Beiträge eingereiht, die in ihren Überschriften
um die Aufmerksamkeit der Rezipienten werben – ›Außerordentliches Beispiel‹ bzw.
›Sonderbarer Rechtsfall‹ am 8. und 9. Februar und ›Merkwürdiger Zweikampf‹ am
21. und 22. Februar –, in ihrem Wortlaut jedoch die Vorlagen reproduzieren, die
einer längst verabschiedeten Periode entstammen. Die drei Übernahmen (mutmaß-
lich) aus den dreißig Jahre alten Jahrgängen der ›Olla Potrida‹ in der Februar-Folge
der ›Abendblätter‹ scheinen aber auch für die Leserschaft keine Provokation oder gar
Denunziation bedeutet zu haben. Vielmehr werden einzelne Beiträge aus dem heute
kanonisch gewordenen Textbestand der ›Abendblätter‹ herausgelöst und in anderen
Periodika nachgedruckt. Auf diese Weise kommt der Text der ›Geschichte eines merk-
würdigen Zweikampfs‹, nunmehr mit den Lesarten der ›Abendblätter‹-Redaktion,83
schon im März 1811 unter der Überschrift ›Ein merkwürdiger Z weykampf‹ in das von
Joseph von Hormayr herausgegebene ›Archiv für Geographie, Historie, Staats- und
Kriegskunst‹ und von da aus im März 1814 unter der Überschrift ›Der m erkwürdige
Zweykampf‹ ins › Königlich-Baierische Intelligenzblatt‹ (hier ohne die markante
Schlussformel),84 und noch weitere Veröffentlichungen aus den Jahren 1814, 1837 und
1840 bringen zwei trivialromantisch-biedermeierliche Adaptionen der Froissart-An-
ekdote:85 ein B efund, der einmal mehr gegen die gewohnten Annahmen über die
Chronologien und Anachronien von Stilen und Epochen spricht – und einmal mehr
wenn nicht gleich von der Größe, so doch von der Breite und von der Stärke der
kleinen Formen zeugt.
VIII.
292
Heinrich von Kleist, Autor des Quijote
86 Vgl. weiterführend Roland Reuß, Zu dieser Ausgabe. In: BKA II / 8, 384–392, hier 384–
389; Bernhard Dotzler, »Federkrieg«. Kleist und die Autorschaft des Produzenten. In: KJb
1998, 37–61; Jahraus, Intertextualität und Editionsphilologie (wie Anm. 57), S. 123–126;
Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit (wie Anm. 17).
87 Dieser Hinweis findet sich schon bei Ernst Schubert, ›Der Zweikampf‹. Ein mittelalter-
liches Ordal und seine Vergegenwärtigung bei Heinrich von Kleist. In: KJb 1988 / 89,
280–304, hier 286: »Das Datum ist bemerkenswert, denn am folgenden Tag sandte Kleist
seine Duellandrohung an Raumer.«
293
Michael Niehaus
Zeitungsmeldung, Anekdote
Gattungstheoretische Überlegungen zu einem Textfeld
bei Heinrich von Kleist
Die von Kleist verfassten bzw. Kleist zugeschriebenen Anekdoten datieren aus dem
Zeitraum, in dem er die ›Berliner Abendblätter‹ betrieb. Sie sind – vor allem in der
ersten, noch von Zuversicht und Anfangserfolg geprägten Phase dieses einzigartigen
Zeitungsprojektes – in den ›Berliner Abendblättern‹ erschienen und bildeten einen
nicht unwesentlichen Teil derselben. Es liegt daher auf der Hand, die Anekdoten
auch in ihrem Veröffentlichungskontext zu analysieren. Die gattungstheoretischen
Fragen und die methodologischen Probleme, die mit einer solchen Analyse zusam-
menhängen, sollen im Folgenden anhand eines ausgewählten Beispiels erschlossen
werden.
Die Kanonisierung des Autors Heinrich von Kleist hat auch zur Kanonisierung
›seiner‹ Anekdoten geführt, die sich nicht zuletzt in bestimmten Formen ihrer Inter-
pretation niederschlägt: Die Anekdoten werden zu autonomen Werken. Man glaubt
auf diese Weise der einzelnen Anekdote in ihrer Komplexität und Besonderheit ge-
recht zu werden. Im Folgenden wird die Auffassung vertreten, dass das Gegenteil
zutrifft – einem Text gerecht werden heißt, ihn in seiner heteronomen Dimension
(also nicht als autonomes Werk) wahrzunehmen. Und dies gilt für die Anekdote
in besonderer Weise: Ein wesentliches Merkmal der Anekdote als Genre oder als
Textsorte ist es zunächst einmal, niemandem zu gehören. Anekdoten haben keinen
Autor. Diese schlichte Feststellung macht das Geschäft der Auslegung komplizierter.
I.
Eine naheliegende und ertragreiche Möglichkeit besteht darin, den Prätext der
Anekdote – falls vorhanden bzw. zugänglich – vergleichend daneben zu legen, um
sozusagen Kleists Eigenanteil daran zu ermitteln und zu würdigen. So verfährt etwa
Klaus Kanzog, wenn er Kleists ›Anekdote aus dem letzten Kriege‹ mit der Version
›Wahre Anekdote aus dem letzten Feldzuge‹ aus dem ›Beobachter an der Spree‹ ver-
gleicht.1 Man muss dabei aber umsichtig verfahren, wenn man sich keiner petitio
principii schuldig machen möchte. Um deutlich zu machen, was damit gemeint
295
Michael Niehaus
ist, soll nun auf die erste Anekdote, die sich in den ›Berliner Abendblättern‹ findet,
genauer eingegangen werden.
Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der
neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide
ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen An-
dern stellen. Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte
sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz
getroffen und getödtet ward. (BA, Bl. 2, 10)
Handelt es sich hier überhaupt um eine Anekdote? In der Sembdner’schen
Kleist-Ausgabe (und nicht nur dort) steht der Text (als erster) in der Rubrik ›An-
ekdoten‹, trägt dort aber die Überschrift ›Tagesbegebenheit‹ (SW9 II, 262). Das
erweckt den Anschein, als wäre hier eine von der Anekdote gewiss zu unterschei-
dende Textsorte namens Tagesbegebenheit zum Titel einer Anekdote mutiert,
womit man sich freilich über Kleists eigene Textsortenbestimmung hinwegsetzt.
Tags drauf, am 3. Oktober, findet sich der Text ›Franzosen-Billigkeit‹ mit dem Zu-
satz in Klammern »werth, in Erz gegraben zu werden« (BA, Bl. 3, 13), die in den
Kleist-Ausgaben ebenfalls als Anekdote geführt wird, ohne von Kleist als solche
ausgewiesen worden zu sein.2
Die erste von Kleist als solche bezeichnete Anekdote findet sich erst in der Aus-
gabe vom 4. Oktober: ›Der verlegene Magistrat‹ erhält hier den Untertitel ›Eine
Anekdote‹ (BA, Bl. 4, 16). Im weiteren Verlauf bleibt Kleists Vorgehen zur Gattungs
bezeichnung uneinheitlich. Am 5. Oktober erhält ›Der Griffel Gottes‹ (BA, Bl. 5, 21)
überhaupt keine Textsortenbezeichnung. Am 6. Oktober folgt ein Text mit dem Titel
›Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege‹ (BA, Bl. 6, 24), am 10. Oktober wird
›Muthwille des Himmels‹ wiederum mit ›Eine Anekdote‹ untertitelt (BA, Bl. 9, 36).
Einige weitere Texte tragen auch nur den Titel ›Anekdote‹.
Den Titel ›Tagesbegebenheit‹ hingegen führt überhaupt kein Text in den ›Berliner
Abendblättern‹. Der Begriff wird vielmehr ausschließlich im Plural verwendet,
und das auch nur am 1., 2., 4. und 5. Oktober. Ab dem 6. Oktober verschwindet
diese Rubrik. Teilweise geht sie in der Rubrik ›Polizeiliche Tages-Mittheilungen‹
(BA, Bl. 6, 26) auf, die an die Stelle der Bezeichnung ›Polizei-Rapport‹ der ersten
Blätter tritt. Auch das ›Extrablatt zum 7ten Berliner Abendblatt‹ vom 8. Oktober
trägt diese Überschrift, die dann bis zum 2. Januar 1811 beibehalten wird (bekannt-
lich bekam Kleist später keine polizeilichen Informationen aus erster Hand mehr).
S. 147–161, hier S. 151f., oder Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin
und Stuttgart 1901, S. 353–357.
2 Natürlich ist ein Autor nicht dazu verpflichtet, die Textsorte zu bestimmen, der sein Text
zugehört. Es kommt dabei aber nicht zuletzt auf den Kontext an. Insbesondere in einer
Zeitung spielt die Textsortenbestimmung eine andere Rolle als in einer Buchveröffent-
lichung. Für diesen Publikationsort könnte man argumentieren, dass, sobald die Text-
sortenbestimmung Anekdote auftaucht, alle Texte, die nicht diese Bezeichnung tragen,
auch nicht als Anekdoten gelesen werden sollen. Dass diese Rechnung in Bezug auf die
›Berliner Abendblätter‹ nicht aufgeht, sagt viel über dieses Zeitschriftenprojekt aus.
296
Zeitungsmeldung, Anekdote
Ab dem 12. Oktober taucht zudem – parallel dazu – eine weitere, ›Miscellen‹3 ge-
nannte Rubrik auf (BA, Bl. 12, 50), die bis zum Schluss beibehalten wird und eben
Vermischtes enthält.4
Die erste Präsupposition besteht also darin, dass es sich bei dem zitierten Text
›in Wahrheit‹ um eine Anekdote handelt, die zweite besteht darin, dass es sich über-
haupt um einen Text handelt. Im Ganzen lautet der mit ›Tagesbegebenheiten‹ über-
schriebene Teil wie folgt:
Tagesbegebenheiten.
Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf
der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide
ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen An-
dern stellen. Der Capitain v. Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte
sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz
getroffen und getödtet ward.
Pariser Blätter erklären das Geschwätz wegen Einführung eines Papiergeldes,
für eine lächerliche Fabel, und geben die bestimmte Versicherung, daß die Regierung
davon nichts wissen wolle.
Die Loosschen vier Whistmedaillen, mit der Fabel vom Fuchs und der Traube
u.s.w., werden, von diesem geschätzten Künstler mit neuen Umschriften versehen, in
Kurzem im Publico erscheinen. (BA, Bl. 2, 10)
Über diese Zusammenstellung lässt sich nun zumindest sagen, dass sie sehr hetero-
gen ist. Und zwar nicht nur hinsichtlich ihres Inhalts, sondern auch hinsichtlich
ihres Status. Nur die erste Meldung betrifft eine konkrete Begebenheit; bei der zwei-
ten fällt es schwer, überhaupt etwas über den Inhalt zu sagen – besteht die Nachricht
darin, dass die Franzosen möglicherweise Papiergeld einführen oder dass es das Ge-
rücht gibt, dass sie es tun, oder dass die Blätter übereinstimmend das Geschwätz für
falsch erklären oder dass die Regierung dementiert? Und was behaupten die Pariser
Blätter eigentlich genau? Erklären sie, dass die Regierung nichts davon weiß, oder
stellen sie fest, dass sie nichts davon wissen will ? Durch das »wolle« am Schluss gerät
die ganze Meldung zweifellos und sicherlich beabsichtigter Weise endgültig ins Rut-
schen. Aber eine Begebenheit im eigentlichen Wortsinn5 ist sie ebenso wenig wie die
297
Michael Niehaus
dritte Meldung, die ja eigentlich eine Ankündigung ist und in der das Wort »Fabel«
merkwürdiger Weise in einem ganz anderen Sinne wieder auftaucht.
Man kann zweifellos gute Gründe anführen, die erste dieser drei ›Tagesbegeben-
heiten‹ auszukoppeln und für einen vollständigen Text zu erklären (wie beispiels-
weise Sembdner es in seiner Kleist-Ausgabe getan hat). Daraus folgt aber nicht, dass
man sie unabhängig von ihrem Kontext auslegen sollte. Dies lässt sich im Folgenden
an einem Aufsatz plausibilisieren, den Marianne Schuller dieser ›Tagesbegebenheit‹
vor einiger Zeit gewidmet hat. In ihm wird der Kontext zunächst angeführt, um
danach umso wirkungsvoller ausgeblendet zu werden.
Als erstes wird von Schuller festgestellt, dass Kleists Text es durch spezielle
syntaktische Maßnahmen erreiche, den kausalen Zusammenhang zwischen dem
Blitzschlag und dem vorangegangenen Wortwechsel sowohl aufzurufen als auch zu
stören. Dieser »Entzug von kausaler Kontext- und Sinnstiftung« werde besonders
deutlich, wenn man die Darstellung Kleists mit derjenigen anderer Zeitungen ver-
gleiche.6 In der ›Vossischen Zeitung‹ liest sich der Vorfall am Morgen des 2. Oktober
1810 (übrigens ohne eine Rubrizierung) nämlich wie folgt:
Am 29sten Septbr., Nachmittags um 3 1 / 2 Uhr, ließ sich bei einem starken Gewitter-
regen unvermuthet ein einziger starker Donnerschlag über die Stadt hören. Dreißig
Schritt von einem Hause, das mit einem Blitzableiter versehen ist, schlug der Wetter-
strahl in eine Pappel auf der neuen Promenade, die nach dem Haakschen Markte
führt, streifte auf einer Seite des Baumes die Rinde von der Krone bis 3 Fuß von der
Erde glatt ab, und erschlug einen Mann, der sie umklammert hielt. Der Unglückliche
starb auf der Stelle, und hinterläßt eine Wittwe und 3 Waisen.7
Völlig überzeugend merkt Schuller an, dass die ›Vossische Zeitung‹ ein anderes Nar-
rativ in Anschlag bringe: Das Ereignis sei ein »Unglücksfall, der nicht zuletzt da-
durch eingetreten ist, daß die Natur über die Technik in Gestalt des 1752 erfundenen
Blitzableiters auf erschütternde und furchtbare Weise triumphiert hat«.8
298
Zeitungsmeldung, Anekdote
Ausgehend von einer weiteren Bezugnahme auf dieses Ereignis eine Woche später
in der Berliner Zeitschrift ›Der Freimüthige‹, in der zunächst der Bericht der ›Vossi-
schen Zeitung‹ abgedruckt und dann, leicht verändert, die Version aus den ›Berliner
Abendblättern‹ hinzugesetzt wird, holt Schuller dann weiter aus. Vom Heraustreten
der Sprache »aus der Entsprechungsfunktion zwischen Ereignis und Bedeutung«
ist die Rede, vom Aussetzen der »teleologische[n] Paradigmatik von Narration und
von Geschichte«. Das lässt sich noch nachvollziehen, weil es Elemente betrifft, die
den Stil und die Schreibweise Kleists ganz allgemein kennzeichnen. Aber dann wird
an den »General Bogislaw Friedrich von Tauentzien« gedacht, der ein »Held des
Siebenjährigen Krieges« war, aber auch, »gleichsam anekdotisch mit einem Helden
der deutschen Literatur verbunden« sei, nämlich mit Gotthold Ephraim Lessing. Im
»umklammert« hielt, suggeriert das Bewusstsein einer Ausgesetztheit. Dass Frau und
Kinder erwähnt werden, betont den Umstand, dass er mitten aus dem Leben gerissen
wurde und eine Lücke lässt. Letzteres erweist sich insbesondere deshalb als topisch, weil
im Polizeibericht vom 30. September 1810 etwas ganz anderes steht. Dort heißt es unter
der Rubrik ›Unglücksfälle‹: »Der Arbeitsmann Christian Brietz aus Pommern, ist gestern in
der neuen Promenade unter einem Baum vom Blitze erschlagen. Der Schlag hat die lincke
Seite und den OberArm getroffen, und alle vom Geheimen Rath Welper und Chirurgus
Hamster sogleich versuchte Rettungsmittel sind ohne Erfolg gewesen. Er hat weder Frau
noch Kinder, auch hier keine Verwandte.« (Arno Barnert in Zusammenarbeit mit Roland
Reuß und Peter Staengle, Polizei – Theater – Zensur. Quellen zu Heinrich von Kleists
›Berliner Abendblättern‹. In: BKB 11, 29–353, hier 49) In den ›Berlinischen Nachrichten
von Staats- und gelehrten Sachen‹ (= ›Spenersche Zeitung‹) vom 2. Oktober 1810 liest
sich das Ganze übrigens noch einmal ganz anders. Dort liest man in einem mit ›Der
vergangene Sommer‹ (!) betitelten längeren Artikel, dass es im September 1810 sechs-
undzwanzig ganz trockene Tage gegeben habe, und dass »nach dieser langen Dürre […]
am vergangenen Sonnabend […] der Himmel nicht eben gewitterhaft aus[sah]«: Er ließ
»vielmehr einen von den Ackerwirthen wegen der Saat lange ersehnten allgemeinen Land-
regen erwarten, als es schon zwischen 3 und 4 Uhr sanft zu regnen begann und plötzlich
unter einem heftigen Donnerschlag ein Platzregen einbrach. Der Blitzstrahl erschlug in
der alten Commandantenstraße (auf der sogenannten neuen Promenade) einen Arbeits-
mann namens Pritz, der dort eben unter einen Baum getreten war. Er ward von einem
menschenfreundlich herzueilenden Eigenthümer sogleich in dessen benachbartes Haus
gebracht und unter Anordnung des hinzugerufenen Arztes wurden sogleich alle zweck-
dienlichen Mittel angewandt, jedoch vergeblich. Der Strahl hatte den Erschlagenen auf
einen metallenen Knopf seiner Jacke getroffen, und ohne denselben durchzuschlagen auf
der Oberfläche eine Vertiefung gemacht und an dieser Stelle das Metall geschmolzen. Vom
Brustbein aus, wo die Haut wie weggebrannt war, ging queer [!] über die linke Brust, und
von da an der innern Seite des linken Armes über die Lende bis an den linken Fuß hinab,
ein blauer Streif, als wäre er durch Schießpulver verbrannt. Der Schu [!] war gänzlich
unverletzt, und vom Ausgange des Strahles nirgends eine Spur zu sehen. Bewundernswert
ist es, daß der Baum, unter welchem sich der Erschlagene befand, ungleich kleiner ist als
der ohngefähr 30 Fuß weit davon entferntere, der aus Höhe und Umfang weit eher zum
Leiter hätte dienen können.« (Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen,
02.10.1810, Nr. 118, unpag., zit. nach BKA II / 7, 8) Man sieht: Auch die Verschieden-
artigkeit der Berichte der beiden traditionsreichsten Berliner Zeitungen wäre eine nähere
Analyse wert.
299
Michael Niehaus
siebten Buch von ›Dichtung und Wahrheit‹, so der Gedankengang weiter, komme
Goethe »auf Lessings Komödie ›Minna von Barnhelm‹« zu sprechen. Die »drama-
turgische Erneuerung« dieser Komödie hänge Goethe zufolge mit dem Wirtshaus-
leben zusammen, das Lessing im Gefolge des Generals Tauentzien geführt habe.
Von Lessing aber wiederum sei ein »Aperçu« überliefert, »das sich auf den General
Tauentzien bezieht«, nämlich: »Wäre der König von Preußen so unglücklich gewor-
den, seine Armee unter einem Baume versammeln zu können, General Tauentzien
hätte gewiß unter diesem Baum gestanden.« Schuller schlussfolgert (vorerst, denn
es geht noch in dieser Weise weiter): »Eine Wurzel des Baums der Kleistschen An-
ekdote also führt in die Literatur«.9 Diese Gedankenverbindungen erscheinen nicht
nur deshalb überzogen, weil in ihnen der Resonanzraum einer literaturwissenschaft-
lichen Recherche dem Verfasser dieses Textes bzw. Textausschnitts untergeschoben
wird. Sie blenden mit dieser Operation auch den diskursiven bzw. pragmatischen
Zusammenhang aus, in dem dieser Text bzw. dieser Textausschnitt verfasst und ver-
öffentlicht ist, und lenken damit von dem Spannungsfeld ab, in dem Tagesbegeben-
heit und Anekdote bei Kleist angesiedelt sind.
II.
Der Vorfall (die »Begebenheit«) ereignete sich, wie dem Bericht der ›Vossischen Zei-
tung‹ zu entnehmen ist, am 29. September. Das war ein Samstag. Am darauffolgen-
den Montag, den 1. Oktober, erschien die allererste Ausgabe der ›Berliner Abend-
blätter‹. In dieser ersten Ausgabe steht nichts von dem Tod durch Blitzschlag auf
der Neuen Promenade. Hätte Kleist zum Zeitpunkt der Drucklegung seiner ersten
Ausgabe von diesem Unglücksfall gewusst, hätte er ihn zweifellos sofort in seine Ru-
brik ›Tagesbegebenheiten‹ aufgenommen. Dort stehen nämlich wenig sensationelle
Dinge wie: »Privatnachrichten. Der Gr.(!) Gottorp soll in Riga angekommen sein.«
(BA, Bl. 1, 4)10
Stattdessen wurde also zunächst – wie erwähnt – in anderen Zeitungen davon
berichtet, z. B. am 2. Oktober in der ›Vossischen Zeitung‹ (die als ›Königlich privi-
legirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen‹ einen quasi-offiziellen
Ruf genoss11). Dass diese, wie auch die übrigen Berliner Zeitungen, an Montagen
nicht erschienen,12 hätte den täglich außer Sonntag erscheinenden ›Berliner Abend-
blättern‹ einen Vorteil verschaffen können, der genau im Sinne ihrer Programmatik
300
Zeitungsmeldung, Anekdote
war. So aber musste Kleist diese Tagesbegebenheit aus der abgelaufenen Woche (die
mithin eigentlich keine Tagesbegebenheit mehr war) anscheinend selbst aus der Zei-
tung erfahren.
Nun wollte es aber wohl der Zufall, dass Kleist mit dem noch einmal davon
gekommenen »Capitain v. Bürger« persönlich bekannt war und dieser ihm die Er-
gänzung dessen, was in der Zeitung zu lesen war, selbst berichtet hat. Jedenfalls ist
diese Annahme von Helmut Sembdner sehr plausibel (SW9 II, 910).13 Die neue
Information hätte Kleist dann am 2. Oktober erhalten, nachdem er von dem Blitz-
schlag gelesen hatte und bevor seine zweite Ausgabe in Druck ging.
Das Neue, was Kleists Bericht zu bieten hatte – also die eigentliche Meldung –,
bestand nicht in dem Vorfall selbst, sondern in der Nennung der Beteiligten und
der Offenlegung der besonderen Umstände. Dass die ›Vossische Zeitung‹ mit einem
anderen Narrativ operiert, liegt ja nicht einfach daran, dass sie sozusagen tumb ist
und Kleist abgründig, sondern dass Kleist mit den ihm möglicherweise exklusiv
zuteil gewordenen Informationen eine ganz andere Rahmung des Vorfalls zur Ver-
fügung steht.
Zugleich handelt es sich aber um den Nachtrag eines Zuspätgekommenen. Kleist
kann nicht mehr so tun (oder: glaubt, nicht mehr so tun zu können), als würde er als
Erster von diesem Blitzschlag berichten. Man beachte noch einmal die merkwürdige
Struktur des ersten Satzes:
Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der
neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide
ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen
Andern stellen. (BA, Bl. 1, 10)
Das erste, was hier auffällt, ist das merkwürdige Attribut, das in einer kleinen Pro-
lepse schon vorwegnimmt, was nachher im zweiten Satz als Ereignis berichtet wird:
dass der Arbeitsmann Brietz auf der Neuen Promenade vom Blitz erschlagen worden
ist. Wenn man sich klar macht, dass sich Kleists Meldung nicht an Leser richtet, die
über den tödlichen Blitzschlag unterrichtet werden müssen, sondern vielmehr an
solche, die bereits davon gehört oder gelesen haben und die nun darüber unterrich-
tet werden sollen, was diesem tödlichen Blitzschlag voranging, verschwindet diese
Irritation.14
13 Freilich bleibt das eine Vermutung. Die Alternative wäre, dass Kleist dem »Capitain v.
Bürger« die Sache kurzerhand untergeschoben hat, was, da dieser eine historische Person
ist, recht gewagt wäre. Eine solche Unterschiebung wäre freilich ein Akt literarischen Fin-
gierens, der aber aufgrund des pragmatischen Kontexts nicht als solcher zu entziffern und
insofern ›privater‹ Natur war.
14 Hingegen Marianne Schuller: »Der Arbeitsmann Brietz ist bereits vor seiner Rede er-
schlagen, nach der er erschlagen wird. Spricht hier geisterhaft ein Toter? Oder stellt die
Ent-Stellung der Chrono-Logie, die eine einfache Opposition von Leben vs. Tod impli-
ziert, eine winzige Allegorie auf die Diskursform Bericht dar? Stellt sie dar, daß sich mit
dem Auftritt des Berichts das Ereignis immer schon begeben hat? Daß das Ereignis des
Berichts den Gegenstand nicht nur transportiert, sondern auch erschlagen haben wird?«
(Schuller, Eine Anekdote Kleists, wie Anm. 6)
301
Michael Niehaus
Das heißt nicht, dass man nun nicht weiter zu analysieren braucht, was da zu lesen
ist. Aber man muss zunächst einmal anerkennen, dass dieses Attribut das Symptom
einer publizistischen Problematik ist. Kleist hätte ja auch ganz explizit auf die bereits
vorliegenden Zeitungsberichte Bezug nehmen können. Oder nicht? Es würde zu
weit führen, an dieser Stelle Vermutungen darüber anzustellen, warum er es nicht
getan hat. Dazu müsste man nicht zuletzt genauere Untersuchungen durchführen,
in welcher Weise und mit welchen Formeln im Zeitungswesen um 1800 auf Artikel
anderer Zeitungen Bezug genommen wurde. Außerdem ist in diesem Zusammen-
hang zu berücksichtigen, dass Kleist die Informationsquelle seiner Nachricht kaum
nennen kann. Würde er den »Capitain v. Bürger« als seinen Informanten nennen,
brächte er sich selbst als eine (private) Person ins Spiel, was seiner Rolle als Herausge-
ber zuwiderliefe. Und er würde zugleich offenlegen, dass die Sachverhaltsdarstellung
durch einen der Beteiligten erfolgte. Tatsächlich kann sich der Leser ohnehin die
Frage vorlegen, woher der (namentlich nicht genannte) Verfasser der ›Tagesbegeben-
heiten‹ weiß, was er da berichtet. Aber die Antwort fällt nicht schwer. Es waren nur
zwei unter dem Baum, der eine von ihnen ist tot, da kann es nur der Überlebende
sein. Überlebende Beteiligte sind aber nicht die zuverlässigste Quelle. Womöglich
deshalb fügt Kleist noch einmal explizit in auktorialer Machtvollkommenheit hinzu,
dass der »Capitain v. Bürger« ein »stiller und bescheidener Mann« ist.
Das Novum und die Attraktion der ›Berliner Abendblätter‹ sollten gerade in der
Einbeziehung neuer und neuester Nachrichten bestehen. In diesem Zusammenhang
wird immer wieder die Rolle des (später geadelten) Polizeipräsidenten Justus Gruner
betont, der Kleist in der ersten Phase »mit dem täglich aktuellen Polizei-Rapport«
versorgte, den dieser – so etwa Manuela Günter und Michael Homberg – »höchst
erfolgreich zu nutzen verstand«.15 Es sei dahingestellt, ob und in welchem Sinne letz-
teres zutrifft (schließlich ist Kleist mit seinem Projekt gescheitert).16 Auf jeden Fall
heißt es in der Selbsterklärung Kleists dazu im Blatt vom 4. Oktober bekanntlich:
Die Polizeilichen Notizen, welche in den Abendblättern erscheinen, haben nicht bloß
den Zweck, das Publikum zu unterhalten, und den natürlichen Wunsch, von den
Tagesbegebenheiten authentisch unterrichtet zu werden, zu befriedigen. Der Zweck
15 Manuela Günter und Michael Homberg, Genre und Medium: Kleists Novellen im Kon-
text der ›Berliner Abendblätter‹. In: Anna Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe
(Hg.), Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahr-
hundert, Bielefeld 2011, S. 201–219, hier S. 208.
16 Vgl. dazu ausführlich die Studie von Sibylle Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch
von Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003. Manuela Günter
und Michael Homberg verweisen zwar auf diese Studie, unterschlagen aber, dass Peters
eigentlich eine differente Position einnimmt. Ihre Gesamteinschätzung lautet: »Insgesamt,
dies sollte deutlich werden, sind die Manöver der ›Abendblätter‹ zu unökonomisch, zu
umwegig, zu eigenartig, als daß ihnen der Versuch gerecht werde, den einen hinter den
›Abendblättern‹ stehenden Plan zu dechiffrieren und die Hindernisse und Widrigkeiten
zu beschreiben, an denen seine Umsetzung scheiterte.« (Günter und Homberg, Genre
und Medium, wie Anm. 15, S. 211) Stattdessen spricht Peters sehr plausibel von einer »of-
fene[n] experimentelle[n] Konstellation« (Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch
von Zeit, S. 29).
302
Zeitungsmeldung, Anekdote
ist zugleich, die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen
und Ereignisse zu berichtigen […]. (BA, Bl. 4, 18)
Dieses staatstragende Lippenbekenntnis zeigt gerade, dass für die hier expressis verbis
erwähnten ›Tagesbegebenheiten‹ nur eben die Polizei als ausweisbarer Nachrichten-
lieferant in Frage kommt (wenn man nicht aus anderen Zeitungen zitieren will).
Nachrichtenagenturen gibt es zu dieser Zeit nicht. Die Alternative ist nur das Ge-
rücht, eben die »entstellten Erzählungen«, die in dieser offiziellen Verlautbarung
zwar als etwas zu Bekämpfendes ausgewiesen werden, die aber – als das genaue
Gegenstück zur polizeilichen Verlautbarung – ebenso eine genuine Quelle für Mel-
dungen sind.
Auf die besondere Bedeutung des Gerüchts in den ›Berliner Abendblättern‹ hat
man immer wieder hingewiesen.17 Formen und Formeln, um ein Gerücht in einer
Zeitung aufzunehmen und abzudrucken, sind vorhanden; für den Ausweis persönli-
cher Mitteilungen als Quelle einer aktuellen Nachricht gibt es hingegen keine Form
und keine Formel, und es kann sie auch nicht geben. Auch insofern schlägt sich also
der publizistische Kontext in der sprachlichen Form der später unter die Anekdoten
aufgenommenen Tagesbegebenheit vom »Capitain v. Bürger« nieder.
Er tut dies aber auf indirekte, nicht-offensichtliche Weise. Dies ist einerseits
darauf zurückzuführen, dass es keine Routinen für die publizistische Stellung und
damit letztlich für die Subjektposition gab, in der Kleist sich als Herausgeber der
›Berliner Abendblätter‹ befand, weil Tagesberichterstattung dieser Art Neuland war,
und weil Kleist dieses Neuland eher als ein Experimentierfeld auffasste, was dem
Projekt auf Dauer nur zum Verhängnis werden konnte.18 Andererseits führt gerade
diese Indirektheit dazu, dass die ›Tagesbegebenheit‹ auch aus ihrem Kontext gelöst
und als Anekdote gelesen wurde. Denn ein Merkmal der Anekdote besteht gewiss
17 Vgl. Johannes F. Lehmann, Faktum, Anekdote, Gerücht. Zur Begriffsgeschichte der ›That-
sache‹ und Kleists ›Berliner Abendblätter‹. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 307–322, hier S. 317–319, und Günter und
Homberg, Genre und Medium (wie Anm. 15), S. 218f. Das 6. Blatt der ›Berliner Abend-
blätter‹ enthält sogar eine Überschrift ›Ger üc hte‹, als handle es sich um eine mögliche
Rubrik (BA, Bl. 6, 26); Blatt 8 enthält die Überschrift ›Stadt-Gerücht‹ (BA, Bl. 8, 34).
18 Johannes Lehmann fokussiert in seinem Aufsatz die Bedeutung noch unabgeschlossener
Vorgänge für die ›Berliner Abendblätter‹, so gleich in den ersten Blättern die laufende
Berichterstattung über die Serie von Brandanschlägen in Berlin oder aber die geradezu
burleske Berichterstattung über den zunächst verhinderten Luftschiffer Herrn Claudius
am 15. Oktober. Lehmann schreibt: »In intensiver Form sind Kleists Mitteilungen zeitlich
und räumlich auf ihre Referenz und auf die Frage nach ihrer Tatsächlichkeit bezogen. Aus
dem zeitlichen Rhythmus ihres Erscheinens und die Mitteilungen über Vorfälle in der
Stadt schlägt Kleist ganz buchstäblich Kapital.« (Lehmann, Faktum, Anekdote, Gerücht,
wie Anm. 17, S. 317) Das Gegenstück dieser Möglichkeit ist aber das Fehlen von routinier-
ten Verfahrensweisen, wie man zum Beispiel burleske Rückkopplungseffekte vermeidet,
die aus der Zeitspanne zwischen dem Schreibakt und dessen Publikation entstehen. Im
Falle des Luftschiffers Claudius scheint Kleist dieses Problem sogar auszustellen.
303
Michael Niehaus
darin, dass sie Anspruch auf Faktizität erhebt, ohne diesen Anspruch durch Angabe
einer Quelle überprüfbar zu machen.19
III.
Aber was heißt das eigentlich: etwas als Anekdote lesen? Ich habe an anderer Stelle
vorgeschlagen, das Feld der Anekdote ausgehend von zwei Polen zu beschreiben,
die ich die sprechende und die stumme Anekdote genannt habe.20 Beide Formen
der Anekdote haben ihre eigene Geschichte. Die sprechende Anekdote ist in ihrer
Grundform apophtegmatisch,21 sie ist durch eine dreischrittige Form definiert:
occasio, provocatio und dictum. Sie endet mit dem dictum eines sprachmächtigen
Subjekts, das die Situation insofern auflöst, als keine Replik auf sie mehr möglich
scheint. Die stumme Anekdote hingegen ist durch ihren Stoff definiert: ein kleines
Ereignis mitsamt seinen Begleitumständen, etwas Nebenbei-Erzähltes, ein histori-
scher Splitter, der uns – obwohl folgenlos – zu denken gibt, mit dem wir nicht fertig
werden können. Wie lang oder wie kurz eine in diesem Sinne stumme Anekdote ist,
bemisst sich allein danach, wie viel erzählt werden muss, um das Ereignis ins rechte
Licht seiner Merkwürdigkeit zu rücken.
Die Anekdoten Kleists (bzw. das, was man unter ihnen rubriziert) würden dem-
nach offensichtlich zu den stummen Anekdoten gehören. Kaum eine von ihnen
folgt dem Schema occasio, provocatio, dictum. Sie sind sehr unterschiedlich in Länge
und Ausgestaltung. Sowohl die sprechende als auch die stumme Anekdote allerdings
beabsichtigen, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Berichtete zu lenken
und nicht auf den Bericht selbst. Klassischer Weise schlägt sich das in der Forderung
nach Kürze (brevitas) und Sachlichkeit (genus humile dicendi) nieder. Das heißt auch
für die Anekdoten Kleists: Wenn sie als Anekdoten gelesen werden sollen, dann
darf ihre Form nur daraufhin betrachtet werden, inwiefern sie geeignet ist, das be-
richtete Ereignis in das Licht seiner Denkwürdigkeit (oder seiner Merkwürdigkeit)
zu stellen. Wer über eine Anekdote spricht, ohne über das Ereignis nachzudenken,
das den tatsächlichen Anlass zu ihrer Bildung gab, verfehlt die Anekdote. Denn der-
jenige, der sie erzählt, erfindet sie nicht, sondern gibt sie nur wieder (auch wenn es
sich de facto um etwas Erfundenes handelt). Man könnte sagen, dass die Anekdote
auf einem faktualen narrativen Kern insistiert, der sich nicht auf den Begriff bringen
lässt (und deshalb weitergegeben wird).
Auf das Beispiel der ›Tagesbegebenheit‹ bezogen, könnte man wie folgt formulie-
ren: In der sozusagen unvollständigen Version der ›Vossischen Zeitung‹ wohnt dem
berichteten Ereignis nur eine schwache anekdotische Potenz inne, da das durch die
19 Vgl. dazu Michael Niehaus, Die sprechende und die stumme Anekdote. In: Zeitschrift für
deutsche Philologie 132 (2013), S. 183–202, hier S. 197.
20 Vgl. Niehaus, sprechende und stumme Anekdote (wie Anm. 19).
21 Vgl. Theodor Verweyen, Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen
Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert, Bad Homburg, Berlin und
Zürich 1970.
304
Zeitungsmeldung, Anekdote
IV.
Man kann an dieser Stelle innehalten und sich abschließend fragen, mittels welcher
Modelle die Stellung, von der aus Kleist in den ›Berliner Abendblättern‹ spricht bzw.
sprechen lässt und eine Entscheidung darüber fällt, in welcher Form zum Beispiel
eine Anekdote erscheinen soll, am besten beschrieben werden kann. Es liegt nahe,
sich hierfür bei Kleist des semantischen Feldes des Kriegs zu bedienen: Bei kaum
einem anderen deutschen Autor ist die Verbindung zu Krieg und Ausnahmezustand
so festgefügt wie bei ihm.22 Das betrifft sowohl seine Themen als auch seinen Stil
und seine Schreibweise. Es betrifft aber auch die biographische Dimension, und
zwar nicht nur, weil Kleist ein Apologet der Befreiungskriege war; als kriegerisch
kann man auch seine Einstellung auf dem Gebiet der Literatur und Publizistik
22 Vgl. nur etwa Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. H einrich
von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg i.Br. 1987; Gerhard Neumann
(Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994;
Nicolas Pethes (Hg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von
Kleist, Göttingen 2011.
305
Michael Niehaus
bezeichnen.23 Stets wird der Krieg hineingetragen, wo er (offiziell) nicht ist. Das
Kriegerische – aber nicht der reguläre Krieg – spielt in Kleists Anekdoten bereits
thematisch eine nicht unerhebliche Rolle. Die Anekdoten gleichen aber auch selbst,
wie Jenny Sréter ausführt, »irreguläre[n] Truppen«.24
Man kann hier die Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik fruchtbar ma-
chen und zwar in dem sehr prinzipiellen Sinn, den Michel de Certeau in seinem
Buch ›Kunst des Handelns‹ diesem Begriffspaar beigelegt hat. Er schreibt:
Als »Strategie« bezeichne ich eine Berechnung von Kräfteverhältnissen, die in dem
Augenblick möglich wird, wo ein mit Macht und Willenskraft ausgestattetes Subjekt
(ein Eigentümer, ein Unternehmen, eine Stadt, eine wissenschaftliche Institution)
von einer ›Umgebung‹ abgelöst werden kann. Sie setzt einen Ort voraus, der als etwas
Eigenes umschrieben werden kann und der somit als Basis für die Organisierung sei-
ner Beziehungen zu einer bestimmten Außenwelt […] dienen kann.
Ganz anders die Taktik:
Als »Taktik« bezeichne ich demgegenüber ein Kalkül, das nicht mit etwas Eigenem
rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Eigene als eine sichtbare
Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in
ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten
zu können. Sie verfügt über keine Basis, wo sie ihre Gewinne kapitalisieren, ihre
Expansionen vorbereiten und sich Unabhängigkeit gegenüber den Umständen be-
wahren kann.25
Kleists Operationen sind in diesem Sinne – in jeder Hinsicht und mit allen Impli-
kationen – dem Bereich der Taktik zuzuschlagen. Diese Feststellung will auch als
eine Verallgemeinerung des für Kleist immer wieder geltend gemachten »Partisanen-
haften«26 verstanden werden. Gerade im Hinblick auf die Textsorte Anekdote ist der
Begriff der Taktik vor allem auf den Komplex von Autorschaft und Werkherrschaft
anzuwenden. Zunächst gilt natürlich in Bezug auf die ›Berliner Abendblätter‹, dass
23 Schon Reinhold Steig sprach ja 1901 im Titel seines voluminösen Buchs von ›Kleist’s Ber-
liner Kämpfen‹ (wie Anm. 1).
24 Jenny Sréter, Irreguläre Truppen: Kleists Militär-Anekdoten in den ›Berliner Abendblät-
tern‹. In: KJb 2014, 155–171, hier 170: »Die Nähe der Werke von Kleist und Clausewitz
wurde bereits mehrfach erörtert, nun zeigt sich diese Verwandtschaft besonders im Kon-
text der Militär-Anekdoten Kleists. Ist der Partisane Soldat und Zivilist zugleich, so findet
sich auch bei der Anekdote eine solche Doppelnatur: Sie ist eine literarische Form, hat
aber immer Referenz zum Realen.« Wenn es weiterhin heißt: »Wie Blitze schlagen die
Anekdoten in die Zeitung ein und erschüttern sie über ihren kleinen Umfang hinaus«,
so ist dabei wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens; aber das ist wiederum im
Partisanenkrieg nicht anders. Andererseits ist die Zeitung jedoch Kleists eigenes Projekt.
Aber auf dieser höheren Ebene eignet eben dem Projekt der ›Berliner Abendblätter‹ selbst
wieder etwas Partisanenhaftes.
25 Michel Certeau, Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin
1988, S. 23.
26 Vgl. – gleichsam schulbildend – Kittler, Die Geburt des Partisanen (wie Anm. 22).
306
Zeitungsmeldung, Anekdote
27 Vgl. dazu auch Pál Kelemen, Erklärungen der Redaktion: Kleists Autorschaftspraktiken
in den ›Berliner Abendblättern‹. In: Gumbrecht und Knüpling (Hg.), Kleist revisited (wie
Anm. 1), S. 169–182.
307
Reinhard M. Möller
1 Horace Walpole, Letter to [Horace Mann], 28. Januar 1754. In: The Yale Edition of
Horace Walpole’s Correspondence, 48 Bde., Bd. 20, hg. von W. S. Lewis, New Haven
1975, S. 407f., hier S. 407.
309
Reinhard M. Möller
Mit den beiden Merkmalen ›accident‹ und ›sagacity‹ benennt Walpole die beiden
gleichrangigen Komponenten des Serendipitätsmodells, die nicht von ungefähr
auch für Inhalte und Verfahren der Anekdotenform charakteristisch sind: Als Aus-
gangsimpuls fungiert eine zufällige, plötzliche Auffälligkeit, die unerwartet als
Stimulus für kreative Vermögen fungiert. Serendipitäre Kreativität kann sich dem-
nach also nicht selbst setzen, sondern bedarf spontaner heteronomer Impulse und
Herausforderungen von außen. In dieser Positionierung, die sich zunächst einmal
gegen zeitgenössische Kreativitätsparadigmen autonomer Genialität richtet, zeigen
sich deutliche Parallelen etwa zu Kleists Essay ›Über die allmählige Verfertigung der
Gedanken beim Reden‹ ebenso wie zur Motivik und Poetik der Anekdoten Kleists.
Das autobiographische setting ist allerdings bei Walpole das eines wählerisch sam-
melnden, informierten Kenners, der sich selbst als autonomes schöpferisches Indi-
viduum begreift und »ungefährdet in einem« kreativen »Freiraum«2 agiert. Offenbar
gibt es Vorüberlegungen, der Fund erfolgt nicht völlig aus dem Nichts, sondern
ist in gewisser Weise vorbereitet: Auch wenn der Ausgangsimpuls tatsächlich zu-
fällig und der ›dip‹ als entscheidender aktiver Schritt des Beobachtenden spontan
erfolgen, kann sich dieser dabei doch auf Vorkenntnisse und verlässlich abrufbare
Vermögen verlassen. Zudem garantiert das an Konzeptionen der Genieästhetik er-
innernde konstante ›Glück‹ des Brieferzählers, hier unter Verweis auf das Spiel der
sortes Vergilianae3 angesprochen, offenbar nahezu unfehlbar dessen Erfolg. Hierin
liegt ein entscheidender Unterschied zu entsprechenden Überlegungen Kleists zur
kulturellen und literarischen Poetik der Unvorhersehbarkeitskreativität, auf die im
Folgenden genauer einzugehen sein wird.
Schon in einem der berühmtesten Briefe Kleists an Wilhelmine von Zenge vom 16.
und 18. November 1800 (DKV IV, 157–165), vor allem aber im Briefessay ›Über die
allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ (MA II, 284–289) werden ent-
sprechende Denkfiguren der Unvorhersehbarkeitskreativität entworfen. Insbeson-
dere treffen sich Walpoles serendipity-Brief und Kleists ›Verfertigung‹ in der zentra-
len Frage nach Kreativitätspraktiken, die im Sinne des mehr oder minder radikalen
imprévu auf mehr oder minder unvorhergesehene und unvorhersehbare Vorkomm-
2 Günter Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile?
Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stutt-
gart 1991, S. 21.
3 Hiermit spielt Walpole auf ein Verfahren der Bibliomantie an, also das zufällige Aufschla-
gen von Textstellen und deren Interpretation als Orakel- und Weissagungssprüche, das
unter anderem in der Antike an Texten Vergils praktiziert wurde, vgl. hierzu Helen Loane,
The Sortes Vergilianae. In: The Classical Weekly XXI, 24 [30. April 1928], S. 185–189. Er
verkehrt hierbei also mit Blick auf die serendipity-Lektüreanekdote unter der Hand das
Verhältnis zwischen Leser und Leseobjekt einer solchen Praxis.
310
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
nisse oder Funde antworten (müssen). Der Bezug der ›Verfertigung‹ zu Modellen
der Improvisation als Praxis der »Responsivität« auf »[…] Impulse[ ] von außen«,
die durch »Regelbr[ü]ch[e] […] neue Formen und Spielräume des Handelns eröff-
ne[n]«,4 ist in der Forschung in jüngerer Zeit mit unterschiedlichen Akzentsetzun-
gen verstärkt thematisiert worden.5 Der an »R[ühle] v[on] L[ilienstern]« adressierte
Text thematisiert durch verschiedene anekdotisch strukturierte Beispielgeschichten
Fälle, in denen »du etwas wissen« oder, allgemeiner, etwas hervorbringen »willst und
es durch Meditation«, d.h. durch individuelle Anstrengung, »nicht finden kannst«
(MA II, 284). Als zentraler Leitsatz fungiert die Formel »l’idée vient en parlant«
(MA II, 284). In den vier Beispielanekdoten des Essays geht es um unterschiedliche
Varianten kreativer Prozesse, die nicht autonom geplant werden, oder – würden sie
zielgerichtet und autonom geplant werden – nicht so gelingen könnten, sondern
die eines (tatsächlichen oder fingierten) antiteleologischen Anstoßes bedürfen, um
das jeweilige rhetorische oder pragmatische Ergebnis in Form situativer Bastelei6
›verfertigen‹ zu können. Thematisiert werden somit Alternativen zu einem auto-
nomistischen und teleologisch strukturierten Kreativitätsmodell, in dem ein freier
Entschluss am Anfang stehen und dann ein zielgerichtetes Vorgehen zu einem ab-
schließenden Ergebnis führen würde, das der anfänglichen Intention und Planung
entspricht. Die Modellsituation eines unerwarteten »Kreativitätstest[s]«7 erscheint
damit nicht als defizitäre Form gehemmter Kreativität, sondern sogar als Möglich-
keitsbedingung bestimmter Kreativitätsformen.
Das erste Beispiel des Verfertigungsessays bildet die monologisch strukturierte
Rede vor der Schwester als Unterhaltung mit einer (nur) »virtuell Unterbrechen-
den«.8 Da dieses Gespräch zwar als Unterbrechung einsamer »Meditation« gesucht
wird, aber monologisch strukturiert bleibt und gerade in dieser Konstellation zu
überraschenden Erkenntnissen führen soll, steht es autonomistischen Kreativitäts-
311
Reinhard M. Möller
modellen noch relativ nahe. Bei den hier empfohlenen »Hebammenkünsten«9 han-
delt es sich ja um einen aktiv eingeschlagenen Umweg als Ausweg aus einer vorüber-
gehenden kreativen Aporie. Hierbei kann das (männliche) Subjekt seine Verfahren,
etwa den Einsatz rhetorischer »Kunstgriffe« wie »unartikulirte Töne« oder unnötige
»Apposition[en]« und »Kampfspiele« (MA II, 285), durchaus noch selbst steuern.
Ein gleichbleibendes Ziel wird so lediglich durch neue rhetorisch-intellektuelle ›Ma-
növer‹ verfolgt: »Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester« über eine »verwi-
ckelte« juristisch-administrative »Streitsache« oder »eine algebraische Aufgabe […]
rede, […] so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht
herausgebracht haben würde« (MA II, 284).
Anders liegt der Fall in der berühmten Anekdote vom »›Donnerkeil‹ des Mira-
beau«, die belegen soll, »daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den
Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde« (MA II, 285), und bei
der für den Protagonisten, der am Ende durch seine Äußerungen eine Revolution
auslösen wird, kein eigentliches Ziel am Anfang steht, sondern der »dreist[e]« Ver-
such, »den Anfang, auf gutes Glück, hin zu setzen« (MA II, 285). Mirabeaus Beispiel
zeigt einen Akteur, der durch Prozesse der Agonalität, die durch zufällige, marginale
Impulse gesteuert werden, allmählich in die Rolle des Anstifters einer folgenreichen
Rebellion und eines Repräsentanten republikanischen Widerstandsgeistes hinein-
gleitet. Hier ist nicht unbedingt ›glückliche‹ Zufälligkeit im Sinne einer eindeutigen
moralischen oder politischen Wertung, sondern vielmehr allgemein folgenreiche und
insofern bedeutsame Innovation als qualitatives Ergebniskriterium angesprochen.
Mirabeau plant in der Kernanekdote des Essays »nach Aufhebung der letzten
monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juny [1789], in welcher dieser den Stän-
den auseinander zu gehen anbefohlen hatte« (MA II, 285), dem Erzähler zufolge
eigentlich keine Revolution, dennoch entsteht aus seinen Sprechakten der Anfang
einer Revolution. Aus dem Zwang, seine Antwortrede in einer so nicht gesuch-
ten und so nicht erwarteten Situation zu improvisieren, bildet sich der rhetorische
»Donnerkeil«, den er schließlich mit kaum zu ahnenden Folgen einsetzt, gerade erst
unter Druck heraus. In einem an dramatische Stichomythien erinnernden raschen
Wechsel zwischen Figurenrede und Erzählerkommentar wird Mirabeaus Rede hier
unter pointierter Verwendung des Gedankenstrichs als fragmentiertes Wechselspiel
von plötzlicher Provokation und riskanter spontaner Reaktion in Szene gesetzt, das
als Klimax auf einen rhetorischen »Gipfel der Vermessenheit« führt:
»Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre« – und erst jetzo findet er, was den
ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: »so sagen Sie
Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette
verlassen werden.« – Worauf er sich, selbst zufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte.
(MA II, 286).
312
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
Mirabeau erscheint hier zwar durchaus als maßgeblicher Akteur, aber eben nicht als
frei und autonom Handelnder, vielmehr nimmt er an einem Interaktionsgeschehen
zwischen aktiven Entscheidungen und sich schrittweise entfaltenden heteronomen
Einflussfaktoren teil. Mit Blick auf diese Einflussfaktoren illustriert die Szene das
Theorem der indirekt spektakulären Bedeutung marginaler Zufallsimpulse wie
»das Zucken einer Oberlippe […], oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette«,
das gemäß der These des Brieferzählers unvorhersehbarerweise »in Frankreich den
Umsturz der Ordnung der Dinge« (MA II, 286) bewirkte.10 Bei Kleist liegt der
entscheidende inhaltliche Kontrast zu Walpoles Entwurf in der wesentlich stärke-
ren Betonung der agonalen Heteronomie von Prozessen der Unvorhersehbarkeits-
kreativität, die nicht etwa zwanglos zur Improvisation einladen, sondern über den
Druck mehr oder weniger spontaner Herausforderungen wirken. Im Fokus stehen
bei Kleist Szenarien, in denen das handelnde Subjekt nicht in einer Haltung freier
Autonomie auf Impulse von außen warten kann, sondern in denen sich diese Im-
pulse, gegebenenfalls als Reaktionszwänge, tatsächlich aufdrängen oder aber – im
Sinne einer autonom gemachten Serendipität zweiter Ordnung, wie sie das Beispiel
des Gesprächs mit der Schwester vorführt – in genau dieser aufdringlichen Form
fingiert werden müssen. Wenn hier Mirabeaus Rede »mit einem Blitz verglichen
wird«, dann erscheint sie nicht nur als »Abbreviatur seines Kreativitätsmodells«,11
sondern im Sinne zeitgenössischer poetologischer Metaphern der Anekdote als Fun-
kenschlag (»spark«12) zugleich auch als eine korrespondierende Veranschaulichung
derjenigen rhetorischen Verfahren einer sprachlichen Inszenierung ergebnisoffener
Steigerungsdynamiken, die auch anekdotisches Erzählen gerade bei Kleist prägen.
Wenn, wie hier nur angedeutet werden konnte, in Kleists Verfertigungsessay ein
im Vergleich zu Walpole thematisch und mit Blick auf anekdotische Darstellungs-
verfahren deutlich verwandtes, aber in der Akzentsetzung doch unterscheidbares
anti-idealistisches13 Modell einer vor allem anti-autonomistisch zu verstehenden
10 Diese These wird in den Kontext der auch in Kleists ›Allerneuestem Erziehungsplan‹ (MA II,
379–386) avisierten Theorie der agonalen Interaktion moralischer »Ladungen« und »Polari-
täten« (vgl. Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen, wie Anm. 2, S. 15) zwischen Sub-
jekten gerückt, legt aber trotzdem zumindest im Hinblick auf das anekdotische Beispiel keine
automatistische oder mechanistische Auffassung nahe, denn auf welche Weise der Ladungs-
ausgleich in der betreffenden Szene erfolgt, wird wesentlich darauf zurückgeführt, auf welche
Weise Mirabeau seinen begrenzten Handlungsspielraum responsiv-improvisatorisch nutzt.
11 Blamberger, Das Geheimnis des Schöpferischen (wie Anm. 2), S. 16.
12 Zur anekdotentheoretischen Metapher des Blitzes im rezeptionsästhetischen Sinn einer
indirekten Übertragung kreativer Inspiration vgl. Isaac D’Israeli, A Dissertation on An-
ecdotes. In: Ders., Literary Miscellanies: Including a Dissertation on Anecdotes, 2. Aufl.,
London 1801, S. 1–66, hier S. 41: »Men of genius catch inspiration from that of others.
Their mind is not always prepared to pour forth its burning ideas [hier eine bemerkens-
werte Parallele zu Kleists Verfertigungsessay, R.M.]; it is kindled by the sparks struck by
collision from the works of great writers«.
13 Vgl. hierzu Tim Mehigan, ›Der Donnerkeil des Mirabeau‹. Kleists Entdeckungen nach
der Kant-Krise im Gebiete des Bewusstseins. In: Branka Schaller-Fornoff und Roger
Fornoff (Hg.), Kleist. Relektüren, Dresden 2011, S. 271–288, hier S. 277.
313
Reinhard M. Möller
›dunklen‹ Serendipität rekonstruiert werden kann, dann stellt sich wiederum die
Frage, welche reflexiven, nämlich vor allem kreativitätstheoretischen, und welche
ästhetisch-poetologischen Implikationen hieraus für Kleists eigene Anekdotenpoe-
tik erschlossen werden können.
14 Vgl. zur grundlegenden Unterscheidung zwischen einem ›offenen‹ und einem ›geschlos-
senen› bzw. einem ›stummen‹ und einem ›sprechenden‹ Modell anekdotischen Erzählens
Michael Niehaus, Die sprechende und die stumme Anekdote. In: Zeitschrift für deutsche
Philologie 132 (2013), S. 183–202, hier S. 201 und passim, sowie Reinhard M. Möller, Situ-
ationen des Fremden. Ästhetik und Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert, Paderborn
2016, S. 91–124.
314
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
the real«, wie es Catherine Gallagher und Stephen Greenblatt im Kontext des New
Historicism formuliert haben, auf der anderen Seite.15
Wendet man die Kategorien etwa von Rudolf Schäfers klassischer dreischritti-
ger Anekdotentheorie auf die Anekdoten der ›Abendblätter‹ an, dann gehen deren
Plots typischerweise von einem individuellen factum, einem »›kleinen Ereignis‹«,16
einer occasio aus und führen in der Regel zu einer mehr oder weniger spektakulären
motivischen provocatio.17 Sie können durchaus mit einer abschließenden pointierten
Äußerung enden, die nach Schäfers Theorie formal dem dictum als Abrundung der
»apophthegmatischen Form«18 der Anekdote entsprechen würde. Sie schließen aber
nicht unbedingt, wie bei Schäfer zumindest impliziert, mit einer explizit als Erzähler-
kommentar ausformulierten ›Moral von der Geschichte‹ als einem »normativ[en]«19
Ergebnis der apophthegmatischen Struktur ab. Insbesondere der dritte Schritt des
skizzierten Schemas ist also in Kleists Anekdoten tendenziell fraglich. Das klassische
Ablaufschema anekdotischen Erzählens korrespondiert ebenso wie typische Hand-
lungselemente auf der diegetischen Ebene anekdotischer Texte somit in auffallender
Weise mit dem klassischen Schema serendipitärer Entdeckungsprozesse nach Walpole
und auch nach Kleists Verfertigungsessay: Ein okkasionelles, auffallendes, oftmals
zunächst inkommensurables Vorkommnis tritt als »accident« auf und wirkt als pro-
vozierende Handlungsaufforderung, die zu improvisierter »sagacity« anregt und zu
neuen überraschenden Ergebnissen führt, deren Qualität jedoch höchst vielgestaltig
ausfallen und durch eine Beobachtungs- oder Erzählinstanz als Ertrag am Schluss
des Prozesses explizit, andeutungsweise oder gar nicht ausdrücklich (beziehungsweise
ausdrücklich gar nicht) gewertet oder ausgedeutet werden kann.
Da Anekdoten als knappe Form offenbar besonders deutlich auf ein schnell zu
erreichendes Ende ausgerichtet sind, kommt es also auf die Beziehung zwischen
dem zentralen Ereignis- oder Handlungsmotiv im Kern der Anekdote und ihrem
Ausgang besonders an, an dem sich die Frage nach einer reflexiven Funktion des
erzählten Faktums oder eben nach deren Ausbleiben stellt. Joel Fineman hat die
grundlegende Frage nach der Repräsentations- und Illustrationsfunktion anekdoti-
scher Kurznarration in ›The History of the Anecdote‹ im Hinblick auf eine Poetik
der Geschichtsschreibung und allgemein realistisch orientierter literarischer Poe-
tiken20 in den Fokus gerückt und damit ein Theorem skizziert, das im Kontext
15 Vgl. Catherine Gallagher und Stephen Greenblatt, The Touch of the Real. In: Dies.,
Practicing New Historicism, Chicago und London 2000, S. 20–48.
16 Niehaus, Die stumme und die sprechende Anekdote (wie Anm. 14), S. 195 unter Verweis
auf Hans Peter Neureuter, Zur Theorie der Anekdote. In: Jahrbuch des Freien Deutschen
Hochstifts 1973, S. 458–480.
17 Vgl. hierzu Rudolf Schäfer, Die Anekdote. Theorie – Analyse – Didaktik, München 1982,
S. 30–35.
18 Vgl. hierzu Schäfer, Die Anekdote (wie Anm. 17), S. 11 und Niehaus, Die sprechende und
die stumme Anekdote (wie Anm. 14), S. 183, 186–190.
19 Vgl. Niehaus, Die sprechende und die stumme Anekdote (wie Anm. 14), S. 188.
20 Vgl. Joel Fineman, The History of the Anecdote. Fiction and Fiction. In: H. Aram Veeser
(Hg.), The New Historicism, New York und London 1989, S. 49–76. Zur Verknüpfung
zwischen Finemans Modell des Anekdotischen und der grundsätzlichen Frage nach dem
315
Reinhard M. Möller
des New Historicism von Stephen Greenblatt und Catherine Gallagher mit Blick
auf die erzählerische Verknüpfung etwa zwischen historischen Einzelfakten und
Entwicklungsnarrativen weiter entfaltet worden ist. Fineman erkennt etwa in
Thukydides’ historiographischer Poetik das Verfahrensmodell einer illustrierenden
Funktionalisierung kontingenter Einzelszenen im Sinne eines deutlich umrissenen
»meta touto«,21 eines Sinnhorizonts, auf den die Anekdote im wirkungsästhetischen
Sinn sprechend über sich hinausweist. Bei dieser Verknüpfung von Faktum und
Sinnhorizont handelt es sich um eine Reduktion von stummer Kontingenz durch
eine mehr oder minder stark fiktionalisierende Zurichtung auf ein Ausdrucksziel,
dem aber dennoch ein »pointed, referential access to the real«22 oder, etwas zurück-
haltender formuliert, der Anspruch auf Realismus-, Kontingenz- oder eben auch
Serendipitätseffekte letztlich nicht zum Opfer fallen darf, wenn nicht auch genau
diese Illustrationsfunktion preisgegeben werden soll.23 Dementsprechend ist der
Anekdote nach Fineman in sich ein irreduzibles Spannungsverhältnis zwischen nar-
rativer Okkasionalität einerseits und Repräsentativität andererseits eingeschrieben,
und genau in dieser Doppelfunktion kommt ihr immer wieder eine unverzichtbare
»supplementäre«24 Funktion für große Erklärungszusammenhänge zu: Bei dem von
Fineman mit einer glücklichen Homophonie bezeichneten »formal play of anecdotal
hole and whole«,25 also dem Wechselspiel von realistisch dargestellter Singularität
Konnex zwischen Kontingenz und Providenz, zwischen Zufall und ›höherem Leitendem‹
in Kleists Poetik siehe allgemein Gerhard Neumann, Anekdote und Novelle. Zum Pro-
blem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists. In: Inka Kording und Anton
Philipp Knittel (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2003,
S. 177–202, hier S. 196–199, wobei es Neumann allerdings nicht primär um Kleists An-
ekdoten im engeren Sinn, sondern eher um die Novellen geht; siehe als Gegenposition
hierzu Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epo-
che, Darmstadt 2003, S. 248f., Anm. 95, in der Schmidt dem New Historicist Fineman
eine »unhaltbare[ ] dekonstruktivistische[ ] Deutung des Anekdotischen« unterstellt und
auf dieser Grundlage Neumanns Bezugnahme auf Fineman kritisiert. Vgl. außerdem als
›Meta-Kommentar‹ hierzu die Anmerkung bei Bernd Hamacher, Geschichte und Psycho-
logie der Moderne um 1800 (Schiller, Kleist, Goethe). ›Gegensätzische‹ Überlegungen
zum ›Verbrecher aus Infamie‹ und zu ›Michael Kohlhaas‹. In: KJb 2006, 60–74, hier 70f.,
Anm. 45.
21 Fineman, The History of the Anecdote (wie Anm. 20), S. 53.
22 Fineman, The History of the Anecdote (wie Anm. 20), S. 56.
23 Vgl. Fineman, The History of the Anecdote (wie Anm. 20), S. 61: »The anecdote is the li-
terary form that uniquely lets history happen by virtue of the way it introduces an opening
into the teleological, and therefore timeless, narration of beginning, middle and end. The
anecdote produces the effect of the real, the occurrence of contingency, by establishing an
event as an event within and yet without the framing context of historical successivity«.
24 Vgl. hierzu unter Bezugnahme auf Jacques Derridas Denkfigur des Supplements Christian
Moser, Die supplementäre Wahrheit des Anekdotischen. Kleists ›Prinz Friedrich von
Homburg‹ und die europäische Tradition anekdotischer Geschichtsschreibung. In: KJb
2006, 23–44.
25 Fineman, The History of the Anecdote (wie Anm. 20), S. 61. Tatsächlich liegt der Akzent
in Finemans Ansatz vor allem auf einer Anerkennung der Produktivität des anekdotischen
316
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
»hole«, also der unerklärten Darstellung kontingenter Ereignisse, die aber gerade nicht zur
bloßen Aporie, sondern zur indirekten Anregung führt.
26 Im Fall von Walpoles Heraldik-Anekdote etwa gewinnt dieses Verhältnis von Text und
Kontext eine geradezu exemplarisch geschlossene Form: Die Szene der glücklichen Zu-
fallsentdeckung im Wappenbuch illustriert das besondere Vermögen des Brieferzählers,
dessen Kompetenz dann als serendipity begrifflich benannt und somit gewissermaßen die
reflexive Ernte des zentralen Anekdotenmotivs eingefahren und ausgestellt wird.
27 Vgl. zu dieser Kontrastierung zweier Strukturformen der Anekdote wiederum Niehaus,
Die stumme und die sprechende Anekdote (wie Anm. 14), S. 201.
317
Reinhard M. Möller
318
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
Stelle ist ähnlich wie in Walpoles serendipity-Beispiel strategisch gesetzt und soll
Unzelmanns Charakter als glücklicher Improvisator belegen, indem dieser über
das Thema der Improvisation improvisiert und somit deren Unhintergehbarkeit
als ästhetisches Prinzip vorführt. Hierdurch ergibt sich ein Spannungsverhältnis
zwischen Inhalt und Struktur: Indem die Erzählung eine offensichtliche Lehre be-
sitzt, die in der Anerkennung und Verteidigung von Improvisation besteht, muss
sie selbst in ihren eigenen Verfahren eher das Gegenteil einer (inszenierten) Impro-
visationsstruktur praktizieren.31 Unzelmann handelt hier zudem aus einer Position
relativer Handlungsfreiheit heraus, in der er darauf vertraut, früher oder später eine
Gelegenheit zur provokanten Improvisation und damit zu einem begrenzten Re-
gelbruch zu erhalten, auch wenn deren konkreter Zeitpunkt unvorhersehbar ist.
Die ›Korrespondenz-Nachricht‹ bildet als beleghaft funktionierende Anekdote die
klassische Anekdotenstruktur aus occasio, provocatio und dictum dann passender-
weise auch bereits in ihrer typographischen Strukturierung ab.32 Sie thematisiert
zwar improvisatorisch- serendipitäre Unvorhersehbarkeitskreativität, führt aber
selbst gerade nicht Unvorhersehbarkeit vor, sondern thematisiert einen vorab als
bekannt ausgewiesenen Charakterzug, der in einer als kontingent ausgewiesenen
Szene beispielhaft illustriert wird.33 Allerdings wird der Deutungshorizont einer Ver-
teidigung improvisatorischer Kunst vom Erzähler auch hier nicht explizit als ›Moral‹
ausformuliert, sondern eben nur durch die kolportierte entlarvende Mutmaßung,
dass »selbst die Direktion, wie man versichert, gelacht haben soll«, nahegelegt.
31 Wenn Unzelmann in der Diegese einen vorgefundenen Impuls, nämlich die unvorher-
gesehene Handlung des Pferdes, dazu benutzt, erwartbar zu improvisieren, spiegelt sein
Verhalten die poetologischen Verfahren gerade dieser Anekdote selbst wider: In der kurzen
Erzählung bildet das als kontingent vorgeführte Faktum der Improvisation die Grundlage
zur Veranschaulichung eines bereits zuvor als gültig etablierten Kontextes, der zugleich ein
implizites Identifikationsangebot mit dem Protagonisten beinhaltet.
32 Die erzählte occasio erstreckt sich hier je nach Einschätzung bis zum ersten beziehungs-
weise bis zum zweiten Doppelpunkt (»[…] daselbst sehr gefallen: mit den Kritikern aber
[…]« beziehungsweise »fügte sich in diesem Befehl: als aber ein Pferd […]«, MA II, 396).
Die folgende provocatio lässt sich recht genau an der Position des nächstfolgenden Dop-
pelpunkts verorten, welche das provokante Ereignis mit Unzelmanns provozierendem
Kommentar verbindet (»[…] Mist fallen ließ: wandte er sich […] und sprach […]«,
MA II, 397). Der folgende Gedankenstrich verbindet diesen Kommentar, der sich zu-
gleich in seinem Implikationsreichtum als dictum begreifen lässt, mit dem korrespondie-
renden Nachsatz-dictum des Erzählers (»›[…] nicht verboten, zu improvisiren?‹ – Worüber
selbst die Direction […] gelacht haben soll«, MA II, 397).
33 Die Traditionslinie der biographischen Anekdote, die »aus einer Fülle charakteristi-
scher Einzelheiten […] die Lebens- und Charakterbilder historischer Persönlichkeiten
auf[baut]« (Schäfer, Die Anekdote, wie Anm. 17, S. 12), wird in der Regel auf den antiken
Biographen Plutarch von Chaironeia zurückgeführt. Vgl. vor diesem Hintergrund den
bezeichnenden Kommentar zum Kontext der Unzelmann-Anekdote bei Reinhold Steig:
»Man kannte Unzelmann’s Gewohnheiten […]: er konnte es [das Improvisieren] nicht
lassen.« (Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin und Stuttgart 1901,
S. 378)
319
Reinhard M. Möller
Das sogenannte ›Räthsel‹ im 28. Abendblatt vom 1. November 1810 ist eine unter der
Perspektive anekdotisch erzählter Serendipität besonders bemerkenswerte Zufalls-
entdeckungsanekdote, da sie als Erzählung einer erfolgreichen analytischen Detek-
tivszene wie eine Adaption einer von Walpoles serendipity-Beispielanekdoten wirkt,
aber im Vergleich zu diesen und auch im Vergleich zur ›Korrespondenz-Nachricht‹
im Hinblick auf die Wertung und Kommentierung des Erzählten schon um einige
Grade weiter ›geöffnet‹ erscheint.
Als »one of the most remarkable instances of this accidental sagacity« präsen-
tiert Horace Walpole in seinem bereits diskutierten ›Serendipitätsbrief‹ als weiteres
illustrierendes Beispiel für Vermögen der Serendipität nämlich eine Szene mit »Lord
Shaftsbury, who happening to dine at Lord Chancellor Clarendon’s, found out the
marriage of the Duke of York and Mrs Hyde, by the respect with which her mother
treated her at table«.34 Der in dieser Anekdote im Mittelpunkt stehende Shaftsbury
folgert also die bevorstehende Heirat zwischen dem Herzog von York und Lord-
kanzler Clarendons Tochter Anne Hyde aus nonverbalen Signalen im Verhalten von
deren Mutter. Die thematisch-motivische Analogie liegt hier in der Inszenierung
serendipitären Scharfsinns, durch den in einer bei Walpole aristokratischen, bei
Kleist eher bürgerlichen Abend-»Gesellschaft« (MA II, 390) ein noch nicht offiziell
verkündetes oder auch illegitimes amouröses Verhältnis enthüllt wird.35
In Kleists ›Räthsel‹ sind es »ein junger Doktor der Rechte und eine Stiftsda-
me, von denen« dem Erzähler zufolge »kein Mensch wußte, daß sie mit einander
in Verhältniß standen« (MA II, 390). Die Rolle von Walpoles »Lord Chancellor
Clarendon« nimmt hier der »Commandant[ ]« einer namenlosen Stadt als Gast-
geber eines Festes ein, bei dem »[i]rgend ein Zufall veranlaßte, daß die Gesell-
schaft sich auf einem Augenblick aus dem Zimmer entfernte, dergestalt, daß nur
der Doktor und die besagte Dame darin zurückblieben« (MA II, 390). Unter den
Anekdoten der ›Berliner Abendblätter‹ knüpft dieser Text besonders deutlich an die
auf den spätantiken Historiker Prokop von Caesarea zurückgeführte Traditionslinie
der Anekdote als »enthüllende […] Geheimgeschichte«36 an. Das für die Enthül-
lung entscheidende Zeichen, das bei Walpole in einem schwerer greifbaren Habitus
des Respekts besteht, liefert bei Kleist explizit »irgend ein Zufall«, genauer gesagt,
ein durch zufällige Gelegenheit hervorgebrachtes enthüllendes Indiz – nämlich in
diesem Fall der konkrete spiegelbildliche Tausch des modischen »Schönpfläster-
320
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
chen[s]«, das, »als die Gesellschaft zurückkehrt[ ]« (MA II, 390), plötzlich nicht
mehr auf der rechten Gesichtshälfte der Dame, sondern der linken Gesichtshälfte
des Doktors klebt und so für die Beobachtenden als deutliches Anzeichen eines Kus-
ses und damit eines Liebesverhältnisses fungieren kann. Dieses Schönpflästerchen
wiederum wird neben seiner Rolle als stummes Indiz in der Diegese auch als poeto-
logisch-metanarrative Allegorie lesbar: Es steht hier für ein erzählerisches Verfahren,
welches das anekdotisch erzählte Faktum schon weniger eindeutig kontextualisiert
als im Fall der ›Korrespondenz-Nachricht‹, aber eine Ausdeutung eben doch recht
deutlich vorzeichnet. Aus einer beobachteten Anomalie lässt sich der während eines
unbeobachteten Augenblicks erfolgte Kuss erschließen, und illustriert wird so die
Fähigkeit zum Rückschluss auf verborgene Sachverhalte aus Indizien, wie sie auch
in Walpoles Shaftsbury-Beispiel thematisiert wird. Die Affäre, die hierbei enthüllt
wird, scheint jedoch selbst eine naheliegende Tatsache und möglicherweise sogar
eher ein offenes Geheimnis als ein völlig unvorhersehbarer Tatbestand zu sein, und
das »allgemeine[ ] Befremden« (MA II, 390) der Gäste gilt womöglich stärker der
konkreten Form dieser Entdeckung als der Entdeckung an sich. Ein solcher Fall
wäre in Anknüpfung an Walpoles Briefanekdoten somit als ein Fallbeispiel von se-
rendipity im Sinne bedingt improvisierten Scharfsinns einzustufen: Etwas, das nicht
planmäßig zum Ausdruck gebracht und auch nicht planmäßig entdeckt werden soll-
te, wird durch einen Zufall zur Entschlüsselung angeboten, erscheint jedoch nicht
als radikal inkommensurabel, sondern – zumindest für den kundigen Beobachter
– als schnell und eindeutig verständlich.
Während Walpole eben das hier erkennbare Vermögen im Brief explizit, wenn
auch nicht ausführlich theoretisierend kommentiert, verschiebt der Erzähler in
Kleists ›Räthsel‹ allerdings in einer ironischen Geste die kaum noch nötige »Auf-
lösung« (MA II, 391), die doch auf der Handlungsebene schon deutlich auf der
Hand zu liegen scheint, explizit auf das folgende »Stück« (MA II, 391) im Publika-
tionszusammenhang der ›Abendblätter‹ – mit dieser Auflösung kann daher, wenn
überhaupt, nicht die Klärung des Sachverhalts, sondern vielmehr dessen denkbare
Ausdeutung gemeint sein, die etwa in einer Reflexion über das Vermögen des de-
tektivischen Scharfsinns (analog zu Walpole) oder über die moralisch-gesellschaft-
liche Legitimität der enthüllten Beziehung bestehen könnte. Diese angekündigte
Wiederaufnahme, die als Geste eines meta touto auch der Anmerkung »Fortsetzung
folgt« (MA II, 289) am Ende der ›Verfertigung‹ ähnelt, bleibt im nächsten »Stück«
der ›Abendblätter‹ signifikanterweise aber aus.37 Durch einen solchen Schluss, der
die Frage nach einer möglichen weiteren Auflösung zumindest formal aufwirft, sie
dann aber abweist und somit über den eigentlichen Erzählzusammenhang impli-
zit hinausdeutet, gewinnt die Erzählung den Charakter einer halboffen gestalteten
Anekdote.
37 Es entspricht insofern der Betitelung als ›Räthsel‹, dass diese Ausdeutung eines ›glück-
lichen‹ Ertrags aus der Erzählung hier letztlich dem Rezipienten überlassen wird – ein
Aspekt, der für zahlreiche von Kleists Anekdoten typisch scheint und etwa bei André
Jolles im Sinne der Aufforderung, hermetische »Abgeschlossenheit« zu »durchbr[echen]«,
als morphologisches Abgrenzungskriterium des Rätsels gegenüber anderen »einfachen
321
Reinhard M. Möller
Ähnliches gilt etwa für die Anekdote ›Der Griffel Gottes‹ im 5. Abendblatt vom
5. Oktober 1810: Während der Blitzeinschlag auf dem Grabstein im ›Griffel Gottes‹
das Ausdrucksverfahren der umso stärker wirksamen, weil indirekt erfolgenden
Anregung von Reflexion und Imagination ganz im Sinne von D’Israelis spark-
Metapher vor Augen führt und allegorisch repräsentiert, folgt auf die entsprechende
Pointe der Handlung ein Satz, der zwar die Authentizität der Geschichte beglaubigt
(»Der Vorfall […] ist gegründet; […] der Leichenstein existirt noch, und es leben
Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen«, MA II, 351),
gleichzeitig aber deren sinnhafte Deutung als philologische Aufgabe nicht näher
bestimmter »Schriftgelehrte[r]« (MA II, 351) ausweist. Auch wenn hier eine reflexive
ethisch-moralisierende Deutung deutlich impliziert wird, wird ihre Ausformulie-
rung nur ›angetäuscht‹ und dann gerade explizit abgewiesen, woraus sich eine ironi-
sche Pointe und ein produktiver Irritationseffekt ergibt.
Formen« diente (André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch,
Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, 8. Aufl., Tübingen 2006, S. 134–148).
38 Peter Gilgen, Ohne Maß. Kleists ›Der verlegene Magistrat‹. In: Hans Ulrich Gumbrecht
und Friederike Knüpling (Hg.), Kleist revisited, München und Paderborn 2014, S. 147–
161, hier S. 156.
39 Gilgen, Ohne Maß (wie Anm. 38), S. 160.
322
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
dener militärstrategischer Gründe »seit vielen hundert Jahren kein Gebrauch mehr
gemacht worden« sei (MA II, 348).
Der entscheidende Schritt des Stadtsoldaten besteht nun eben darin, schein-
bar gegen seine eigenen vitalsten Interessen und gegen die moralische Vernunft auf
der inhumanen, aber formal eigentlich immer noch gebotenen Vollstreckung der
Todesstrafe zu bestehen. Bezeichnenderweise gibt der Erzähler der Anekdote keine
Hinweise auf ein von längerer Hand geplantes »Schelmenstück«, an entscheidender
Stelle verweist er im Modus externer Fokalisierung nur auf vage Vermutungen, wor-
in die Motivation des Soldaten wohl bestehen »mochte«: »Der besagte Kerl aber, der
keine Lust haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen Bestürzung
des Magistrats: daß er, weil es ihm einmal zukomme, dem Gesetz gemäß, sterben
wolle« (MA II, 348). Auch wenn es sich um einen reflektierten und klug geplanten
Bluff des Angeklagten handeln sollte, führt ihn die Anekdote hier gerade nicht als
einen solchen, sondern als eine kaum hinreichend motivierte und von außen, wo-
möglich aber sogar von ›innen‹ unvorhersehbare Handlung ein. Gerade durch die
Möglichkeit, dass es sich um einen spontanen Einfall unter Druck handeln könnte,
knüpft die Szene somit an das Modell einer Verfertigungsdynamik folgenreicher
Rhetorik in Kleists Essay an und lässt sich, anders als etwa im Fall Unzelmanns,
nicht auf ein geschlossenes Charakterbild zurückführen. Das Handeln des Soldaten
liefert gerade kein »Handlungsmodell, das sich nachmachen ließe«,40 sondern er-
scheint als ein wenn nicht völlig spontaner, so doch primär situativer Akt, dessen
soziale Sprengkraft hier gerade auf einem »lakonischen«41 »[V]erharren in der Im-
manenz«42 beruht.
Zugleich ist die narrative Gestaltung dieses zentralen Handlungsschritts für die
Verfahrensstruktur der Anekdote entscheidend. Durch den Verzicht auf die genau-
ere Ausdeutung motivierender Hintergründe präsentiert sie das Handeln des Sol-
daten in Form einer »offenen« Anekdote zunächst als überraschendes kontingentes
Faktum, liefert diese Ausdeutung aber umgekehrt im Hinblick auf den Magistrat als
Kollektivsubjekt durchaus und irritiert somit naheliegende Lektüreerwartungen im
Sinne einer Strategie unvorhersehbar devianten Erzählverhaltens: Auf die »Bestür-
zung« des Magistrats folgt der wohl auch dem Zeitgewinn dienende Versuch, durch
die Vermittlung eines »Deputirten« den »Kerl«43 (MA II, 348) dazu zu bewegen, die
Geldstrafe zu akzeptieren. Hierzu vermerkt der Erzähler, der Magistrat müsse »ein
Mißverständniß vermuthet[ ]« (MA II, 348) haben, wobei impliziert wird, dass es
sich hierbei doch eher um eine Hoffnung handelt. Dadurch aber, dass der Soldat
323
Reinhard M. Möller
darauf beharrt, »daß er sterben wolle«, und dies um die Begründung ergänzt, »daß er
seines Lebens müde« sei, bringt er den Magistrat, der vor allem »kein Blut vergießen
wollte« (MA II, 349), selbst in eine Situation plötzlichen Improvisationsdrucks, wo-
durch es zu einer unvorhersehbaren Inversion der Bedrängnissituation kommt. Die
»große[ ] Bestürzung« (MA II, 348) des Magistrats beruht nicht nur darauf, dass der
Zwiespalt zwischen der kodifizierten Gesetzeslage und einer gewohnten, moralisch
richtigen, aber eben nicht kodifizierten Auslegung hierdurch in markanter Weise
exponiert wird, sondern dass die Klärung dieses Problems offenbar keinen längeren
zeitlichen Aufschub duldet. An die Stelle eines jahrhundertealten Moratoriums tritt
durch die gänzlich unerwartete Positionierung des Soldaten der Druck einer zeitnah
zu fällenden Entscheidung im konkreten Einzelfall. Die Entscheidung besteht daher
darin, das Verfahren ganz fallen zu lassen und damit eben auch auf die Geldstrafe zu
verzichten, wobei man, wie der Erzähler in einem weiteren expliziten Kommentar
zur Affektlage des Kollektivsubjekts Magistrat hinzufügt, sogar »noch froh war, als«
der Soldat »erklärte, daß er, bei so bewandten Umständen am Leben bleiben wolle«
(MA II, 349), und gleichsam gnädig für einen in mehrfachem Sinn ›glücklichen‹
Ausgang sorgt.
Liest man den Text als eine selbstreflexive Meta-Anekdote, triumphiert somit in
einer Konstellation, in der es auf improvisatorische Fähigkeiten ankommt, die in-
szenierte Exposition von kontingenter, unausgedeuteter, ›blinder‹ Faktizität, die das
als motivationslos inszenierte Handeln des Soldaten eben mit der Buchstäblichkeit
des Gesetzes verbindet, gegenüber der reflexiven Ausdeutung und Einordnung des
Gegebenen, wie sie der Magistrat repräsentiert. Dieser Text lässt sich somit gleich-
falls als eine halboffene Anekdote ansehen, deren Motivik eine twisted serendipity mit
glücklichem Ausgang, aber gewissermaßen verzerrter Handlungslogik inszeniert.44
Dies gilt nicht zuletzt auch für eine Irritation möglicher Lektüreerwartungen, bei
der es gewissermaßen zu einer Umkehrung der eigentlich erwartbaren Fokalisie-
44 Bereits Steig verweist auf den »[m]ilitärisch-[c]uriose[n]«, d.h. eher auf eine offene provo-
catio abstellenden Charakter dieser Version der ›Magistrat‹-Anekdote im Unterschied zur
»[s]pießbürgerlich-[g]emüthliche[n]« Fassung Achim von Arnims aus dem ›Preußischen
Correspondenten‹ (Steig, Kleist’s Berliner Kämpfe, wie Anm. 33, S. 354). Eine ähnliche
Grundstruktur weisen die schon durch die Betitelung in eine Nähe zueinander gerückte
›Anekdote aus dem letzten Kriege‹ und die ›Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege‹
auf, welche ebenfalls Figuren zeigen, die in existenziellen Situationen improvisatorisch auf
kontingente Faktoren ›wetten‹. Das Vorgehen der Protagonisten ähnelt gerade hier der
Verfertigungsdynamik, der das unter dem Druck der Ereignisse erzwungene rhetorische
Handeln des Grafen Mirabeau in der zentralen Anekdote von Kleists Essay folgt. Ent-
sprechende Anekdoten weisen wohl kein dictum im Sinne einer vom Erzähler ausformu-
lierten oder deutlich angedeuteten Interpretation des kontingenten Geschehens auf, wohl
aber eine deutlich erkennbare Pointe in Form eines erzählten spektakulären Ausgangs,
die zugleich eine vage implizite Reflexionsaufforderung ohne vorgezeichnetes Ergebnis
beinhaltet und sich etwa mit Roland Barthes’ ursprünglich photographietheoretischem
Konzept des punctum assoziieren lässt, vgl. hierzu Niehaus, Die stumme und die sprechen-
de Anekdote (wie Anm. 14), S. 200.
324
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
rungsrichtung von einer Innensicht auf die Motivation des eigentlichen Protagonis-
ten auf diejenige des Magistrats als abstrakter Institution kommt.
Ein gutes Beispiel für Anekdoten der ›Abendblätter‹, in denen die offene pointierte
Ausstellung von Kontingenz mit Rätselcharakter anstelle eines sinngebend-didaktisch
ausformulierten oder auch nur angedeuteten Reflexionsertrages deutlich dominiert,
ist schließlich die am 22. November 1810 im 46. Blatt veröffentlichte neutral be-
titelte Anekdote der beiden »berühmte[n] Englische[n] Baxer« aus Plymouth und
Portsmouth, die »beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung
der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf
zu halten« (MA II, 411). Bereits die etymologische Verknüpfung der Namen beider
Herkunftsorte, welche in die gleiche Endung münden, gibt hier zu Beginn eine
Leitmotivik der blinden oder auch ›stumpfen‹, d. h. nicht sinnhaft erklärbaren Kor-
respondenz und Parallelität von Eigenschaften und Handlungsdynamiken im Sinne
einer als Zusammenstoß von Kräften dann auch wörtlich gewendeten Kon-Tingenz
vor. Im Erzählen einer unvorhersehbaren und durch handelnde Subjekte nur bedingt
kontrollierbaren Ereignisdynamik bildet dieser Text ein Beispiel für die auch in der
Mirabeau-Anekdote thematisierte enge Assoziation überraschend-kontingenter Vor-
fälle mit Aspekten der (hier körperlichen, dort rhetorischen) Gewalt, da auf einen
plötzlichen Anfangsschlag des »Plymouther[s]« eine reflexartige Reaktion »mit der
Faust der geballten Rechten« (MA II, 411) folgt: Hierbei führt die wiederum q uasi
stichomythisch strukturierte Erzählung einer spiegelbildlichen Abfolge der Schläge,
begleitet von den symmetrisch korrespondierenden Repliken »brav! – […] das ist
auch nicht übel – !« (MA II, 411), unvorhergesehen zum Tode beider und somit kon-
sequenterweise zu einem makabren Unentschieden, auch wenn der »Portsmouther«
nach dem Niederschlag seines Kontrahenten zunächst das Duell gewonnen zu ha-
ben scheint. Das nur auf Faktizität, nicht auf Deutung ausgerichtete Schluss-dictum
des Erzählers kolportiert dessen Tod durch einen »Blutsturz« (MA II, 411) am folgen-
den Tag, ohne die Möglichkeit ganz auszuschließen, dass es sich hier nicht um eine
verzögerte Folge des Kampfes, sondern einen ironischen Zufall gehandelt haben
könnte. Gerade weil die katastrophale Dynamik der Ereignisse gleichermaßen der
Einsicht des Erzählers wie auch der Kontrolle der beiden Kämpfer zumindest par-
tiell entzogen scheint, geht es hier zugleich besonders deutlich um die narrative
Gestaltung improvisatorischen Handelns unter Druck, worin eine wesentliche
thematische Parallele etwa zur Mirabeau-Anekdote des Verfertigungsessays besteht.
Wenn sich beide Boxer mit einem gewissermaßen spiegelbildlichen Schlag jeweils
derart verletzen, dass sie unerwartet sterben, wird hier, entsprechend der Denkfigur
eines Ausgleichs gleich starker aggressiver »Ladungen«45, eine wechselseitige Auslö-
325
Reinhard M. Möller
lung heterogener Meldungen in den ›Berliner Abendblättern‹ vgl. Sibylle Peters, Berliner
Abendblätter. In: KHb, 166–172, hier 172.
46 Gleichzeitig werden, wiederum in externer Fokalisierung, unbeeindruckte Reaktionen des
»Volks, das im Kreis herumstand« (MA II, 411), wiedergegeben, sodass vor allem pragmati-
sches Handeln selbst noch im Angesicht erschreckendster, als kontingent perspektivierter
Unfälle inszeniert wird. Insofern erfolgt offenbar zunächst gerade kein gänzlicher Zusam-
menbruch von Ordnung im Angesicht des fatalen Zufalls, was den Effekt der abschlie-
ßenden Pointe noch verstärkt: Niemand der anwesenden Zuschauer trauert eigentlich um
den toten »Baxer« aus Plymouth. Vielmehr richtet der Erzähler den Fokus darauf, wie
nach Bergung des Leichnams der noch stehende Kontrahent wie beiläufig zum Sieger er-
klärt wird. Dessen nach dem Gedankenstrich kolportierter Tod liefert zwar einen denkbar
eindeutigen Handlungsabschluss, verleiht der Anekdote allerdings im Hinblick auf die
Deutung des Erzählten zugleich ein denkbar offenes Ende.
326
Glückliche und herausfordernde Unvorhersehbarkeit
47 So die Formulierung bei Peter Schnyder, Zufall. In: KHb, 379–382, hier 381.
327
Reinhard M. Möller
(Robert Musil) als Resultate kontingenter Prozesse vorgeführt werden, die so, aber
auch anders hätten ausfallen können.
Der Bezug zwischen solchen Themen und den Erzählverfahren der Anekdote ist
keineswegs ein zufälliger, vielmehr ergeben sich Analogien zwischen den themati-
sierten Handlungslogiken und den Verfahren ihrer narrativen Darstellung selbst.
Wenn man auf der Ebene des discours mit Fineman die Oszillation zwischen »hole«
und »whole« als ein zentrales anekdotisches Strukturmoment begreift, dann besteht
das ›Glücken‹ von Anekdoten oftmals in der Exposition kontingenter, nicht ein-
deutig zu wertender Geschehnisse, die nicht nur höhere Realitätseffekte48 erzielen,
sondern ganz im Sinne des Verfertigungsessays indirekt zur weiteren Reflexion und
Imagination jenseits der eigentlichen Lektüre anregen.49 Sie konstituieren in diesem
Fall eine spezielle narrative Form des anekdotischen meta touto,50 mit dem die kleine
Form ein poetologisch glückliches, weil herausforderndes Ende im Sinne rezeptions-
ästhetischer Serendipität erhält – dies gilt im Fall exemplifikatorisch ausgerichteter
Anekdoten wie der ›Korrespondenz-Nachricht‹ in geringerem Maße, die allerdings
gewissermaßen im Ausgleich hierfür ein zumindest gemäß bestimmter Lektüre
erwartungen ebenso poetologisch glückliches, weil abgerundetes, leichter kommen-
surables Ende als erzählte Serendipität auf der Ebene der histoire präsentieren.
48 Zum Konzept des literarischen Realitätseffekts vgl. grundlegend Roland Barthes, L’effet de
réel. In: Communications 11 (1968), S. 84–89.
49 Ein solcher indirekter Serendipitätseffekt kann dadurch entstehen, dass keine »finale«
Motiviertheit der zentralen Zufallsereignisse ausgewiesen und zudem die »kompositori-
sche« Motivierung (vgl. zu diesen Kategorien allgemein Matías Martínez und Michael
Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 10. Aufl., München 2016, S. 117–120) zuguns-
ten eines Gestus der ungerahmten Narration merkwürdiger Ereignisse verschleiert wird,
woraus wiederum ein eigenständiges wirkungsstrategisches und rezeptionsästhetisches
Potential hervorgeht.
50 Dies gilt für die einzelne Anekdote, aber gerade auch, wie Sibylle Peters vorschlägt,
für die Interaktion verschiedener vermischter Meldungen und Anekdoten im seriellen
Zusammenhang, wie sie das inhaltlich und formal hybride Zeitungsformat der ›Berli-
ner Abendblätter‹ präsentiere. Peters stellt hier einen plausiblen publikationsästhetischen
Bezug zwischen der Theorie produktiver »Inkohärenz« und »Zerstreuung«, die der Ver-
fertigungsessay entwirft, und der »ungewöhnliche[n] Zusammenstellung« von Lokalnach-
richten, Anekdoten und Abhandlungen her, die ein auf überraschende Rekombinationen
von Fundstücken angelegtes improvisatorisches Lektüremodell anregen, das sich wiede-
rum auch mit Serendipitätsfiguren assoziieren lässt (Peters, Berliner Abendblätter, wie
Anm. 45, 168f.; siehe auch dies., Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der
MachArt der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003).
328
Katharina Grabbe
I. Weiterlesen: ›Die Marquise von O....‹ und die ›Sonderbare Geschichte‹
Die ›Sonderbare Geschichte, die sich, zu meiner Zeit, in Italien zutrug.‹ erschien
in Nummer 2 der ›Berliner Abendblätter‹ am 3. Januar 1811, unterzeichnet mit
dem Kürzel ›mz.‹. Sie findet sich wie viele der kurzen Prosabeiträge, die in Kleists
Tageszeitung gedruckt wurden, häufig als Anekdote eingeordnet.1 Von der For-
schung wurde die ›Sonderbare Geschichte‹ bisher in erster Linie als »komödian
tisches Seitenstück« (DKV III, 937) oder »[h]umoristisches Gegenstück« (SW9 II,
915)2 zur Erzählung ›Die Marquise von O....‹ betrachtet. Warum diese zwei Texte in
einen Zusammenhang gestellt werden, wird unmittelbar deutlich, liest man in die
›Sonderbare Geschichte‹ hinein:
Am Hofe der Prinzessinn von St. C… zu Neapel, befand sich, im Jahr 1788, als
Gesellschafterinn oder eigentlich als Sängerinn eine junge Römerinn, Namens
Franzeska N…, Tochter eines armen invaliden Seeofficiers, ein schönes und geist-
reiches Mädchen, das die Prinzessinn von St. C…, wegen eines Dienstes, den ihr der
Vater g eleistet, von früher Jugend an, zu sich genommen und in ihrem Hause erzogen
hatte. Auf einer Reise, welche die Prinzessinn in die Bäder zu Messina, und von hier-
aus, von der Witterung und dem Gefühl einer erneuerten Gesundheit aufgemuntert,
1 In der Sembdner-Ausgabe ist die ›Sonderbare Geschichte, die sich, zu meiner Zeit, in
Italien zutrug.‹ in die Rubrik ›Anekdoten‹ aufgenommen worden (vgl. SW9 II, 271–274).
Die Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag ordnet den Text in die Rubrik ›Fabeln. Anek-
doten, Geschichten, Merkwürdigkeiten‹ ein (vgl. DKV III, 368–371).
2 Ebenfalls als »Gegenstück« zur ›Marquise von O....‹ und zugleich als »Klatschgeschich-
te« stuft Heinrich Aretz die ›Sonderbare Geschichte‹ ein (Heinrich Aretz, Heinrich von
Kleist als Journalist. Untersuchungen zum ›Phöbus‹, zur ›Germania‹ und den ›Berliner
Abendblättern‹, Stuttgart 1984, S. 283f.). Sibylle Peters sieht die ›Sonderbare Geschichte‹
als »mikrologische Vorform[ ]« der ›Marquise von O....‹ (Sibylle Peters, Von der Klugheits-
lehre des Medialen. In: KJb 2000, 136–160, hier 144). Gerhard Pickerodt liest die ›Sonder-
bare Geschichte‹ als »ironisch-parodistisches Parallelkonstrukt zur ›Marquise von O....‹«
und sieht ihren Kern »in der bildlich-zeichenhaften Präsenz des Stellvertreter-Ehemanns«
(Gerhart Pickerodt, Kleists kleine Formen im Spiegel seiner großen. Zur Dramaturgie des
Anekdotischen. In: Elmar Locher [Hg.], Die kleinen Formen in der Moderne, Innsbruck
u. a. 2001, S. 37–56, hier S. 47, 46).
329
Katharina Grabbe
auf den Gipfel des Aetna machte, hatte das junge, unerfahrne Mädchen das Unglück,
von einem Cavalier, dem Vicomte von P…, einem alten Bekannten aus Paris, der
sich dem Zuge anschloß, auf das Abscheulichste und Unverantwortlichste betrogen
zu werden; dergestalt, daß ihr, wenige Monden darauf, bei ihrer Rückkehr nach
Neapel, nichts übrig blieb, als sich der Prinzessinn, ihrer zweiten Mutter, zu Füßen
zu werfen, und ihr unter Thränen den Zustand, in dem sie sich befand, zu entdecken.
(BA, Nr. 2, [5]f.)
Die Parallelen sind augenfällig: Gearbeitet wird hier wie in der ›Marquise von O....‹
mit der Abkürzung der Namen.3 Zudem geht es in beiden Texten um eine un-
erwünschte und uneheliche Schwangerschaft.4 Auch der Schluss der ›Sonderbaren
Geschichte‹ lässt sich mit dem der bekannteren Erzählung parallelisieren, ehelichen
doch sowohl die Marquise als auch Franzeska am Ende den leiblichen Vater ihres
jeweiligen Kindes, was in beiden Fällen mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg ver-
bunden ist. Die Überschneidungen sind für heutige Kleist-Lesende offensichtlich
und waren es vermutlich auch für diejenigen zeitgenössischen Leserinnen und Leser,
die ›Die Marquise von O....‹ aus der ›Phöbus‹-Ausgabe vom Februar 1808 kannten
oder im 1810 erschienenen ersten Band der ›Erzählungen‹ gelesen hatten. Reinhold
Steig folgerte 1901, dass sich aus dieser möglichen Textkenntnis des zeitgenössischen
Publikums für Kleist bestimmte Maskierungsnotwendigkeiten ergeben haben, um
möglichst zu verbergen, dass es sich – so Steig – um eine »erste noch schmuck-
lose Gestaltung des Kleist verlockenden Stoffes«5 zur Erzählung ›Die Marquise von
O….‹ handele, die Kleist in den ›Berliner Abendblättern‹ nur genutzt habe, um die
Seiten zu füllen. Diese Einschätzung als Text-Recycling impliziert eine deutliche
Abwertung der Anekdote, die auf diese Weise nicht als Literatur, sondern als Ge-
330
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
331
Katharina Grabbe
Das Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit, das durch das Zusammen-
lesen der beiden Kleist-Texte in den Blick rückt und eine Perspektive auf die ›Son-
derbare Geschichte‹ bietet, lässt sich mit der griechischen Herkunft der Gattungs-
bezeichnung ›Anekdote‹ vom publikationstechnischen anékdotos für ›(noch) nicht
herausgegeben‹ in Verbindung setzen.11 Mit der Anekdote als »Veröffentlichung des
Nicht-Öffentlichen«12 ist demnach immer schon das Verhältnis von Geheimhal-
tung und Veröffentlichung angesprochen, das in der ›Sonderbaren Geschichte‹ zum
movens des Geschehens wird. Die Handlung in der Anekdote ›Sonderbare Geschich-
te‹ wird durch die Frage nach der Vermittlung zwischen Geheimnis und Öffentlich-
keit motiviert: Wie kann das Geheimnis (der Umstand der Schwangerschaft), das
über kurz oder lang offenbar werden wird, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit so
dargeboten werden, dass es keinen Skandal hervorruft? Anékdotos als Publikations-
status weist auf die mediale Vermittlung hin. Das, was noch nicht herausgegeben ist,
das Unveröffentlichte, ist aus der Sicht eines Publikums das Neue. Dieses Neue ver-
sprechen Anekdoten zu erzählen, wodurch sie am Grundprinzip der Massenmedien
partizipieren, der Übertragung von Neuem in Neuigkeiten.13
Im Folgenden werden das angesprochene Spannungsfeld von Geheimnis und
Öffentlichkeit in der Anekdote ›Sonderbare Geschichte‹ näher betrachtet und ins-
besondere die Vermittlungsmedien untersucht, die für die Strategien des Skandal-
Managements der Figuren zum Einsatz kommen.14 Der strategische Medieneinsatz
innerhalb der Diegese wie auch die narrativen Strategien der Anekdote stehen, so
wird zu zeigen sein, im Zeichen der Unterhaltung und reflektieren poetologisch
das publizistische Projekt der ›Berliner Abendblätter‹. Im Zusammenhang dieser
medialen Konstellationen werden zudem der Publikationskontext der ›Berliner
Abendblätter‹ und der Werk-Kontext der Anekdote – die Erzählung ›Die Marquise
von O....‹ und das Epigramm ›Die Marquise von O…‹ – in den Blick genommen.
Wie gestaltet die Anekdote also das Skandal-Management und welchen Ausweg gibt
es für Franzeska in ihrer verzweifelten Lage? Franzeskas Ziehmutter, die Prinzessin,
der sie sich anvertraut, ist schnell bereit, ihr den Fehltritt zu verzeihen. Es bleibt also
11 Vgl. Hans Peter Neureuter, Zur Theorie der Anekdote. In: Jahrbuch des freien deutschen
Hochstifts 1973, S. 458–480, hier S. 459.
12 Peters, Von der Klugheitslehre des Medialen (wie Anm. 2), 158.
13 Vgl. Michael Homberg, Augenblicksbilder. Kurznachrichten und die Tradition der faits
divers bei Kleist, Fénéon und Kluge. In: Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz &
knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart,
Bielefeld 2017, S. 119–139, hier S. 123.
14 Zur Untersuchung von Information und Kommunikation in ›Die Marquise von O....‹
vgl. Franz M. Eybl, Zeugen und Zeugen. In-Formation in Kleists ›Marquise von O…‹. In:
Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 106 (2012), S. 169–184.
332
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
nur die Frage: »wie man der Schmach, die über sie hereinzubrechen drohte, vorbeu-
gen könne?« (BA, Nr. 2, 6) Die Anekdote beantwortet diese Frage folgendermaßen:
In Fällen dieser Art fehlt es den Frauen, wie bekannt, niemals an Witz und der er-
forderlichen Erfindung; und wenige Tage verflossen: so ersann die Prinzessinn selbst
zur Ehrenrettung ihrer Freundinn folgenden kleinen Roman. (BA, Nr. 2, 6)
Drei Aspekte fallen an dieser Formulierung auf: 1. Die Rede von den »Fällen dieser
Art« erinnert an die Aussage der Hebamme der Marquise, die von »solchen Fällen«
(BKA II / 2, 56) spricht. 2. Die Lösung, die der Text für das Folgende ankündigt,
wird nicht nur spezifisch gegendert, sondern als »Erfindung« und somit als Fiktion
gekennzeichnet. Es erfolgt, 3., eine Spezifizierung der Fiktion durch die literarische
Gattungseinordnung als »kleine[r] Roman«, die hier zudem eine mediale Rahmung
vornimmt. Insbesondere dieser letzte Punkt kann als konkreter Lektürehinweis für
das dann Folgende verstanden werden. Denn die Prinzessin denkt sich nicht ein-
fach nur etwas aus, sondern sie bringt ein umfängliches mediales Register zum Ein-
satz, um ihren Roman ans Publikum zu bringen. Wichtig ist also nicht nur, was der
Frauenwitz ersinnt, sondern mindestens ebenso, wie dies vermittelt wird.
Der Plot des Romans der Prinzessin ist rasch zusammengefasst: Ein deutscher
Graf, Graf Scharfeneck, bittet um Franzeskas Hand. Die Prinzessin und Franzeska
stimmen zu, und es wird sehr bald schon während eines kurzen Aufenthalts des
Grafen in Neapel die Ehe geschlossen. Direkt danach muss der Graf Scharfeneck
wieder abreisen und verunglückt tödlich. Franzeska reist ab, um die Erbschaftsan-
gelegenheiten zu erledigen. Dies dauert »ungefähr neun Monate[ ]«, und sie kehrt
mit einem »allerliebsten kleinen Grafen Scharfeneck« (BA, Nr. 2, 8) zurück. Das Ziel
der Frauen ist also erreicht, die Herkunft des Kindes ist legitimiert. Ganz so knapp
präsentiert die Anekdote dieses Geschehen jedoch nicht. Der Plot ist zwar eigent-
lich recht simpel, aufwendig wird es jedoch durch die mediale Vermittlung und die
sorgsame Gestaltung der öffentlichen Kommunikation innerhalb der Diegese: Die
Prinzessin betreibt Öffentlichkeitsarbeit. Das beginnt schon mit dem Heiratsantrag.
Dieser ereignet sich notwendigerweise in Abwesenheit des Freiers, denn diesen gibt
es ja gar nicht. Dennoch bzw. gerade deswegen geht der Heiratsantrag vor aller
Augen vonstatten: »Zuvörderst erhielt sie [die Prinzessin] Abends, in ihrem Ho-
tel, da sie beim Spiel saß, vor den Augen mehrerer, zu einem Souper eingeladenen
Gäste einen Brief […].« (BA, Nr. 2, 6) Dieser Brief wird unmittelbar geöffnet, und
die Prinzessin teilt Franzeska den Antrag des Grafen mit. Franzeska errötet, äußert
ihr Einverständnis, und der Brief wird allgemein herumgereicht. Der Heiratsantrag
wird hier nicht nur fingiert; er wird in einer durch das Spiel gerahmten geselligen
Situation inszeniert, wobei die Narration diese Inszenierung mittels bestimmter
Textverfahren ins Werk setzt. Das Erzählen wechselt an dieser Stelle vom Präteritum
ins Präsens: Die Prinzessin »erhielt« einen Brief, den sie »erbricht und überlies’t«
(BA, Nr. 2, 6). Zudem erfolgt ein Wechsel in einen eher dramatischen Modus, und
das Gespräch zwischen der Prinzessin und Franzeska wird als Dialog in wörtlicher
Rede erzählt. Durch diese narrativen Gestaltungsmittel präsentiert der Text das Ge-
schehen als Szene.
333
Katharina Grabbe
Eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung spielen mit dem Brief und der Körper-
sprache des Errötens ausgerechnet solche Medien, die innerhalb des empfindsamen
Diskurses des 18. Jahrhunderts für die Vermittlung von subjektiv verbürgten und da-
mit als authentisch codierten Botschaften bemüht wurden.15 Diese werden hier ge-
zielt als Mittel der Evidenz eingesetzt. Hinzu kommt, dass der Inhalt des Briefes der
Spielgesellschaft nicht nur mitgeteilt wird, sondern als Schriftstück selbst wie eine
Zeitung mit den neuesten Nachrichten »von Hand zu Hand« (BA, Nr. 2, 6) geht. In
dieser Annäherung von Brief und Zeitung wird die generische Verbindung von Brief
und periodischer Presse angesprochen.16 Zugleich verweist die Umgangsweise mit
dem Brief auf ein grundlegendes Paradox der Stilisierung brieflicher Kommunikati-
on als Ausdrucksform empfindsamer Intimität. Denn als Teil der Geselligkeitskultur
zielen Briefe auf Anschlusskommunikation nicht nur zwischen zwei Briefschreiben-
den, sondern sie sind auf Veröffentlichung – das Vorlesen im geselligen Kreis, das
Herumreichen unter Befreundeten – ausgerichtet.17 In dieser Nachrichtenfunktion
sind Brief und Zeitung verbunden. Im Medieneinsatz der Prinzessin klingt also die
massenmediale Entwicklung an, an der auch das Tageszeitungsprojekt der ›Berliner
Abendblätter‹ partizipiert.
Die mediale Strategie der Prinzessin in der ›Sonderbaren Geschichte‹ ist publi-
kumsorientiert: Sie will nicht nur ihr Publikum erreichen, sondern bezieht dieses
mit ein, aktiviert es und lässt es somit Teil des Romans werden. Die Öffentlichkeit
des Publikums wird so zu einer wichtigen Instanz im Text. Die Öffentlichkeit setzt
sich dabei in erster Linie aus der Gesellschaft am Hofe der Prinzessin, ihren Gästen
und ihrer Dienerschaft zusammen. Inbegriffen ist zudem die Leserin oder der Leser
der Anekdote.18 Durch den Tempus-Wechsel zum Präsens und den dramatischen
15 Vgl. Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls
in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, insbesondere S. 73–80. Zu den
körpersprachlichen Zeichen bei Kleist vgl. Anne Fleig, Körper und Körpersprache. In:
KHb, 340–342; Katharina Grabbe, Frauentausch und vertauschte Zeichen der Empfind-
samkeit in Heinrich von Kleists ›Die Marquise von O....‹. In: Bernd Hamacher und
Christine Künzel (Hg.), Tauschen und Täuschen. Kleist und (die) Ökonomie, Frankfurt
a. M. 2013, S. 125–134.
16 Die Zirkulation des Briefs verweist auf das Abstammungsverhältnis von Brief und perio-
discher Presse, die die postalische Logistik teilten, denn die beginnende Entwicklung der
Periodika und des Zeitungswesens blieb lange auf die etablierten Postwege angewiesen.
Zeitungen und Zeitschriften haben mit dem Brief zudem bestimmte Gattungsspezifika
gemeinsam; wie Schreibweisen, die am persönlichen Gespräch orientiert sind und sich
durch Zwanglosigkeit und Vielfältigkeit, strukturelle Offenheit und Serialität sowie den
Adressatenbezug auszeichnen. Vgl. Manuela Günter, Im Vorhof der Kunst. Medienge-
schichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2008, insbesondere S. 137–155.
17 Vgl. Hannelore Schlaffer, Glück und Ende des privaten Briefes. In: Klaus Beyer und
Hans-Christian Täubrich (Hg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kom-
munikation, Heidelberg 1997, S. 34–45, hier S. 40.
18 Vergleichbar lässt sich für das Lesepublikum der ›Marquise von O....‹ argumentieren, dass
es durch die »doppelte Verrätselung und zweigeteilte Spannungsführung« in der Erzäh-
lung adressiert und aktiviert werde, denn durch die spezifische Rätselstruktur werden, so
Michael Gamper, nicht nur den Figuren, sondern auch »den Lesenden […] Rätsel g estellt«
334
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
Modus werden die Lesenden an das Geschehen herangeholt. Dadurch und durch
die externe Fokalisierung teilen sie die Perspektive der Öffentlichkeit im Text.19
Diese adressierten Öffentlichkeiten finden sich zunächst in die Rolle der Zuschau-
enden versetzt, vor deren Augen sich der Heiratsantrag und dann die als theatraler
Auftritt gestaltete Ankunft des vermeintlichen Grafen Scharfeneck abspielt:
Drauf, an dem zur Ankunft des Bräutigams bestimmten Tage, an welchem nach sei-
nem Wunsche auch sogleich die Hochzeit sein soll, fährt ein Reisewagen mit vier Pfer-
den vor: es ist der Graf Scharfeneck! Die ganze Gesellschaft, die, zur Feier dieses Tages,
in dem Zimmer der Prinzessinn versammelt war, eilt voll Neugierde an die Fenster,
man sieht ihn, jung und schön wie ein junger Gott, aussteigen – inzwischen verbrei-
tet sich sogleich, durch einen vorangeschickten Kammerdiener, das Gerücht, daß der
Graf krank sei, und in einem Nebenzimmer habe abtreten müssen. (BA, Nr. 2, 7)
Der Graf, den es nicht gibt, tritt auf die Bühne, die die Prinzessin bereitet. Seine
Existenz wird damit bezeugt. Jedoch ist diese Zeugenschaft zugleich kollektiv und
ungesichert, denn das Subjekt, das hier Augenzeuge wird, ist ein »man« und damit
die namenlose Instanz des Publikums.20 Dieses Publikum öffnet sich dabei wieder
um auf das Lesepublikum Kleists hin, denn das, was es hier zu sehen gibt, kennt
›man‹ aus der Lektüre der ›Marquise von O....‹: Auch der Graf F… tritt bei seinem
ersten Besuch im Haus des Commendanten Herrn von G.... »schön, wie ein junger
Gott« (BKA II / 2, 21) auf. Die beiden Grafen teilen also diese Attribute.
In der ›Sonderbaren Geschichte‹ bleibt es bei einem effektvollen, aber sehr kurzen
Auftritt des vermeintlichen Grafen Scharfeneck, der durch eine rätselhafte zeitliche
Struktur gekennzeichnet ist, durch die das Auftreten vom Abtreten bereits eingeholt
und überlagert wird. Dabei erfüllt der Gedankenstrich die Scharnierfunktion für die
Herstellung dieser merkwürdigen Gleichzeitigkeit im Text: Das Erzählen darüber,
dass »man« den Grafen aussteigen sieht, wird durch den Gedankenstrich mit einem
(Michael Gamper, Rätsel kurz erzählen. Der Fall Kleist. In: Ders. und Mayer [Hg.], Kurz
& knapp, wie Anm. 13, S. 91–117, hier S. 104). Auch in der Forschung zu den ›Berliner
Abendblättern‹ wurde herausgestellt, dass das Lesepublikum von Kleists Tageszeitung
durch die spezifischen Kommunikationsstrategien in eine aktive, ›mündige‹ Rolle versetzt
werde (vgl. Marquardt, Der mündige Zeitungsleser, wie Anm. 6; vgl. auch Bernhard J.
Dotzler, »Federkrieg«. Kleist und die Autorschaft des Produzenten. In: KJb 1998, 37–61
sowie Jörg Schönert, Kriminalität und Devianz in den ›Berliner Abendblättern‹ [2001].
In: Ders., Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis,
Tübingen 2007, S. 13–29).
19 Zwar haben die Leserinnen und Leser der Anekdote einen Wissensvorsprung vor dem Pu-
blikum in der Diegese, doch für das präsentisch erzählte Geschehen erfolgt keine weitere
erklärende Einordnung, so dass für diese Textpassagen von einer Perspektivangleichung
gesprochen werden kann.
20 Zum ›man‹ als Instanz in Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹ im Kontext der Entwicklung
neuer sozialer Kräfte als Masse vgl. Michael Gamper, Aufbruch ins Zeitalter der Masse:
Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹. In: Ders., Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs-
und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München 2007, S. 195–211,
hier S. 205f.
335
Katharina Grabbe
weiteren Vorgehen verknüpft, das durch den adverbialen Anschluss »inzwischen« als
gleichzeitiges Geschehen präsentiert wird. Hier wechselt das mediale Register vom
Theatralen, das etwas zu sehen gibt, zur inoffiziellen Nachricht und dem »Gerücht«,
das sich aus dem Hörensagen speist. Scheint der erste Teil des Satzes das Publikum
in der Rolle der Zuschauenden als Augenzeugen und damit in einer beglaubigenden,
aber passiven Funktion einzusetzen, lässt der zweite Teil des Satzes Zweifel an der
Zuverlässigkeit dieser Zeugenschaft aufkommen und weist dem Publikum zugleich
eine deutlich aktivere Rolle zu. Denn das Gerücht kommt hier zwar durch einen
konkreten Fama-Kolporteur, den Kammerdiener, in die Welt; die Verbreitung des
Gerüchts ist aber auf die kollektive und anonyme Kommunikation der Öffentlich-
keit, das Gerede, angewiesen.21
Die Prinzessin und Franzeska folgen dem angeblichen Grafen in die Privat
zimmer. Das Fest kommt auch ohne die drei in Gang, und es verbreiten sich weitere
Gerüchte über den Grafen, der nicht krank, sondern schlicht ein sonderlicher Deut-
scher sei. Schließlich fordert ein weiterer Auftritt die Aufmerksamkeit der Festgesell-
schaft.22 Die Prinzessin stellt den Gästen Franzeska als Gräfin Scharfeneck vor, die
Trauung sei bereits vollzogen. Das eigentliche Hochzeitsgeschehen, die Eheschlie-
ßung, verlagert die Anekdote also in die Mitteilung der Prinzessin, die sie der Festge-
sellschaft als Neuigkeit präsentiert. Auch hier arbeitet der Text mit einer Ambiguität
von Öffentlichkeit. Die Hochzeit findet in aller Öffentlichkeit statt, denn die »ganze
Gesellschaft« ist anwesend und feiert in großem Rahmen. Die Festgesellschaft wird
jedoch nicht zu Augenzeugen der Eheschließung, sondern als Nachrichtenpublikum
eingesetzt, das die Neuigkeit bereitwillig aufnimmt: »Man erhebt sich, man erstaunt
und freut sich, man jubelt […].« (BA, Nr. 2, 7) Ins Werk gesetzt wird also eine Kon-
zeption von Öffentlichkeit als Publikum, das immer erst medial konstituiert wird.
Schon am nächsten Tag in aller Frühe fährt der Reisewagen des Grafen »im Ange-
sicht der ganzen Dienerschaft« (BA, Nr. 2, 7) wieder ab. Die Nachricht vom Tod des
Grafen kommt sechs Wochen später per Post in einem »schwarz versiegelten Briefe«
(BA, Nr. 2, 8). Über die Todesumstände gibt es wiederum nur Gerüchte: »Es heißt,
daß er, nach einem scharfen Ritt, die Unbesonnenheit begangen, sich zu baden«
(BA, Nr. 2, 8), woraufhin ihn der Schlag getroffen habe. Auch an dieser Situation
der Nachrichtenübermittlung ist selbstverständlich die Öffentlichkeit beteiligt:
Alles, was zu dem Hause der Prinzessinn gehört, versammelt sich, auf diese schreck-
liche Post, zur Theilnahme und Condolation; die Prinzessinn zeigt den unseeligen
21 Vgl. Hedwig Pompe, Nachrichten über Gerüchte. Einleitung. In: Jürgen Brokoff u. a.
(Hg.), Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen 2008, S. 131–143.
22 »Inzwischen wird die Gesellschaft durch den Hauscavalier der Prinzessinn zur Tafel gela-
den; es verbreitet sich, während sie auf das Kostbarste und Ausgesuchteste bewirthet wird,
durch diesen die Nachricht, daß der junge Graf, als ein ächter, deutscher Herr, weniger
krank, als vielmehr nur ein Sonderling sei, der die Gesellschaft bei Festlichkeiten dieser
Art nicht liebe; bis spät, um 11 Uhr in der Nacht, die Prinzessinn, Signora Franzeska an
der Hand, auftritt, und den versammelten Gästen mit der Aeußerung, daß die Trauung
bereits vollzogen sei, die Frau Gräfinn von Scharfeneck vorstellt.« (BA, Nr. 2, 7)
336
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
Brief, die Gräfinn, die ohne Bewußtsein in ihren Armen liegt, jammert und ist un-
tröstlich […]. (BA, Nr. 2, 8)
23 Die Inkonsistenz der Reaktionen – die Bewusstlose jammert und lässt sich nicht trösten –
zeigt bereits, dass es sich hier wiederum um eine Inszenierung handelt.
337
Katharina Grabbe
der sich eben nicht vermeiden lässt, umgestaltet und kunstvoll literarisch-medial in-
szeniert. Statt des Skandals wird dem Publikum Spannung, Spektakel und Sensation
geboten. Teil dieser medialen Inszenierung ist es, das Gerede der Welt, das sich nicht
verhindern lässt, ›umzuleiten‹ und das Gerücht durch Ablenkung zu steuern.
Diese Ablenkung im doppelten Sinn von Umleitung wie von Unterhaltung lässt
sich ausgehend von Christian Mosers Untersuchung von Kleists Anekdoten als Fall-
geschichten näher in den Blick nehmen. Moser greift die Ausführungen von Hans
Blumenberg zum Erzählen von Fällen bzw. Fall-Geschichten auf und macht sie für
Kleists Anekdoten produktiv, in denen das Erzählen buchstäblicher und metaphori-
scher Fälle zusammenkomme.24 In seiner Lektüre der Anekdote ›Unwahrscheinliche
Wahrhaftigkeiten‹ stellt Moser heraus, dass es typisch für Kleists Anekdoten sei, nar-
rativ »in eine ganz andere Richtung abzudrehen«25 und spricht in diesem Sinn von
›abgelenkten Falllinien‹. Hier lässt sich Kleists ›Sonderbare Geschichte‹ einordnen,
in der davon erzählt wird, wie sich Franzeskas Fall – im Sinne eines gefallenen Mäd-
chens – umkehrt und mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg endet. Auch in Bezug auf
diese Anekdote kann davon gesprochen werden, dass der Fall abgelenkt werde, führt
doch Franzeskas Fall nach oben. Die Ablenkung der Falllinie im physikalischen Sinn
korreliert Moser zudem mit Ablenkung im Sinn der Aufmerksamkeitsökonomie, also
dem Abgelenkt-Werden oder Abgelenkt-Sein, zu dem auch der fait divers einer Zei-
tung einlädt.26 Dieses Verständnis der Anekdote als Fallgeschichte der Ablenkung
bzw. Unterhaltung kann auf Kleists ›Sonderbare Geschichte‹ übertragen werden.
Die List bzw. der »Witz« der Prinzessin nutzt die Neugierde und Sensationslust
der Öffentlichkeit und funktionalisiert diese als Publikum. Es macht nichts, dass
das Geheimnis möglicherweise von Anfang an keines war und am Schluss der Ge-
schichte aufgedeckt wird, denn es geht nicht um ›die Wahrheit‹, sondern um eine
überzeugende, weil unterhaltende Geschichte.
24 Vgl. Christian Moser, Abgelenkte Falllinien: Kleist, Newton und die epistemische Funk-
tion anekdotischen Erzählens. In: Yixu Lü u. a. (Hg.), Wissensfiguren im Werk Heinrich
von Kleist, Freiburg i.Br. 2012, S. 169–191, hier S. 169.
25 Moser, Abgelenkte Falllinien (wie Anm. 24), S. 190.
26 Vgl. Moser, Abgelenkte Falllinien (wie Anm. 24), S. 191.
27 Vgl. zu den Rollen Kleists als Journalist, Produzent und Literat der ›Berliner Abendblätter‹
Dotzler, »Federkrieg« (wie Anm. 18).
338
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
339
Katharina Grabbe
33 Vgl. Günter und Homberg, Genre und Medium (wie Anm. 32), S. 218. Zu Heinrich von
Kleists ›Berliner Abendblättern‹ als »Medium von Gerüchten auf unterschiedlichen Ebe-
nen und in unterschiedlichen Textformen« vgl. Elke Dubbels, Zur Dynamik von Gerüch-
ten bei Heinrich von Kleist. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 131 (2012), S. 191–210,
insbesondere S. 199–210, hier S. 210.
340
Das anekdotische Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit
O....‹ erzählt nicht nur von einem Skandal, sondern die Erzählung wurde selbst als
Skandalon aufgenommen. Die zeitgenössischen Reaktionen waren ablehnend und
harsch.34 Die Kritik blieb nicht ohne Replik von Seiten des Autors. In der Ausgabe
April / Mai 1808 des ›Phöbus‹ – also nur kurz nach dem Erstdruck der Erzählung im
Februar 1808 – veröffentlichte Kleist Epigramme, von denen sich insbesondere eins
als bissig-ironischer Kommentar zu der zeitgenössischen Kritik verstehen lässt (vgl.
den Kommentar in DKV III, 770):
Die Marquise von O…
Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht!
Schaamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen blos zu. (BKA III, 49)
Das Epigramm greift die Empörung der Kritik auf und ironisiert sie. Zudem fügt es
der als Skandal empfundenen Geschichte der Marquise, die den Vater ihres Kindes
sucht, ein noch schwerwiegenderes Skandalon hinzu, nämlich dass die Marquise
wissentlich schwanger geworden sei und die Suche nach dem Vater nur inszeniert
habe. Zu beachten ist, wer hier spricht: Das Epigramm ist über eine Stimme for-
muliert, die auf der Seite des Publikums angesiedelt ist. Kennzeichen dieser Stimme
ist zum einen die elterliche Sorge (»meine Tochter«) und zum anderen eine gewisse
Beschränktheit der Perspektive, die die eigene Interpretation apodiktisch als gültig
setzt (»weiß ich«). Das Epigramm ist somit ein satirischer Kommentar auf die zeit-
genössischen Urteile zur ›Marquise‹. Dieser Kommentar weist nun die Kritik nicht
zurück; er relativiert oder rechtfertigt das Skandalöse der Erzählung nicht, sondern
treibt es weiter und übertreibt es satirisch. Das ungeheuerliche Skandalon, dass die
Marquise durchaus um das Zustandekommen ihrer Schwangerschaft wisse, entsteht
– und das ist entscheidend – erst in der Lektüre der Lesenden. Genau diese interpre-
tierende Lektüre thematisiert das Epigramm und führt nun gerade den Widerspruch
zwischen der scheinheiligen Empörung und der ausschweifenden Sensationslust der
Leserschaft satirisch vor. Zugleich enthält das Epigramm deutliche Hinweise auf
die Fiktionalität und Medialität des Gegenstands (»Roman«, »Posse«), die in den
Reaktionen und der Frage nach wahr und falsch oder Schein und Sein (»hielt […]
die Augen blos zu«) verkannt wird. Reflektiert wird das publizistische Wirkpotential
der skandalösen Problemkonstellation um sexuelle Gewalt, uneheliche Mutter- und
unklare Vaterschaft, das gerade darin liegt, das Publikum aufzuregen und Aufmerk-
samkeit zu generieren. In der ›Sonderbaren Geschichte‹ ist es eine Figur, die Prinzes-
sin, deren strategisches Vorgehen auf das medienstrategische Verfahren der Zeitung
›Berliner Abendblätter‹ verweist. In einem strukturell ähnlichen Verhältnis stehen
Epigramm und Erzählung zueinander, gibt die kondensierte Form des Epigramms
doch zu lesen, dass gerade die erzählerische Offenheit der ›Marquise von O....‹ für
unterhaltsame Anschlussfähigkeit sorgt. Die drei Texte – Erzählung, Epigramm und
Anekdote – lassen sich also zusammen lesen als Beispiel für Kleists Text-Experimente
im Kontext seiner publizistischen Experimente im Zeichen der Unterhaltung.
34 Zur Aufnahme der Erzählung in der Kritik vgl. den Kommentar in DKV III, 772–775.
341
Matthias N. Lorenz
1 »Despite the burgeoning critical attention devoted to Kleist’s works in recent years,
the Berliner Abendblätter anecdote ›Charité-Vorfall‹ has remained virtually ignored by
Kleistian scholarship.« (Nancy Nobile, Charting the Body Politic. Heinrich von Kleist’s
›Charité-Vorfall‹. In: Colloquia Germanica 30 [1997], S. 1–23, hier S. 1)
2 Vgl. Sibylle Peters, Berliner Abendblätter. In: KHb, 166–172, hier 168. Frühe Ausnahmen
hiervon sind Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin und Stuttgart
1901; Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen
und ihre Redaktion, Berlin 1939; Dirk Grathoff, Die Zensurkonflikte der ›Berliner Abend-
blätter‹. In: Klaus Peter u. a. (Hg.), Ideologiekritische Studien zur Literatur, Frankfurt
a. M. 1972, S. 35–168 sowie Heinrich Aretz, Heinrich von Kleist als Journalist. Unter
suchungen zum ›Phöbus‹, zur ›Germania‹ und den ›Berliner Abendblättern‹, Stuttgart
1983, S. 256–286.
3 Vgl. Hans Joachim Kreutzer, Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Unter-
suchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke, neubearbei-
tete Aufl., Heilbronn 2009, S. 269f.
4 Vgl. Steig, Kleist’s Berliner Kämpfe (wie Anm. 2), S. 363–365.
343
Matthias N. Lorenz
der komplexe ›Charité-Vorfall‹ marginalisiert.5 Nancy Nobile, die 1997 als erste
dem ›Charité-Vorfall‹ einen eigenen Aufsatz widmete, spricht darin vor allem über
andere, politischere Texte Kleists für die geplante Zeitschrift ›Germania‹, womit sie
ihre politisierende Deutung der Anekdote zu legitimieren sucht.6 Der substanziell-
ste Beitrag zum ›Charité-Vorfall‹ ist ein dreizehnseitiger Aufsatz von Torsten Flüh,
der im Jahr 2000 ziemlich abgelegen in einer auslandsgermanistischen Zeitschrift
erschienen ist und die Verhandlung des Augensinns in der Anekdote behandelt.7
Die dort (in ›Runa – Revista portuguesa de estudos germanísticos‹) ebenfalls erschie-
nenen kurzen Beiträge von Peter Hanenberg, dessen Miszelle sich eher launig gibt
und vor dem Text, der nicht mehr als ein unüberwindbares Rätsel und ein Witz sei,
kapituliert, und von Erwin Koller, der streng linguistisch die »sprachliche[ ] Form
in Kleists ›Charité-Vorfall‹« bestimmt, sind für eine literaturwissenschaftliche Inter
pretation des Textes nur bedingt ergiebig.8 Der jüngste Aufsatz über die Charité-
Anekdote von Claudia Lieb, die Unfälle bei Kleist und E.T.A. Hoffmann vergleicht,
folgt in Bezug auf Kleist weitestgehend den Aufsätzen von Nobile und Flüh.9
Die bei einem derart kanonisierten Autor vergleichsweise geringe Beachtung, die
den kaum drei Dutzend Anekdoten Kleists bislang zukommt, ist erstaunlich, weil
diese Texte einerseits viele Qualitäten Kleist’schen Erzählens aufweisen und – gerade
weil sie diese auf engstem Raum verdichten – beobachtbar machen und weil sie ande-
rerseits im Kontext der ›Abendblätter‹ einen anderen Kleist als den düsteren Melan-
choliker oder den übersteigerten Patrioten überkommener literaturgeschichtlicher
Klischees entdecken lassen, wie auch Günter Blamberger in seinem biographischen
Standardwerk herausstellt: Sie sind witzig, überraschend, mutig und grundieren
noch die Verzweiflung mancher Sujets mit Humor.10 Für die gebildeten Zeit
genossen Kleists waren es denn auch gerade die Anekdoten, die sie für die ›Abend-
blätter‹ einnahmen, explizit äußerten sich in diesem Sinne zum Beispiel Wilhelm
Grimm und Clemens Brentano, die bei aller Kritik an anderen I nhalten des Blattes
die »Menge ganz köstlicher Anekdoten« respektive »manche gute Anekdote« hervor-
hoben.11 Kleists Anekdoten hoben sich offenbar qualitativ von der Massenware der
im frühen 19. Jahrhundert verbreiteten Anekdoten ab. Einhundert Jahre später war
5 Vgl. exemplarisch Aretz, Heinrich von Kleist als Journalist (wie Anm. 2), S. 280.
6 Vgl. Nobile, Charting the Body Politic (wie Anm. 1).
7 Vgl. T. Flühe [sic], Sichtbar Unsichtbares. Zu Kleists Problematisierung des Augensinns.
In: Runa 28 (2000), S. 239–254.
8 Vgl. Peter Hanenberg, Zu Heinrich von Kleists ›Charité-Vorfall‹. In: Runa 28 (2000),
S. 221–225; Erwin Koller, Beobachtungen zur sprachlichen Form in Kleists ›Charité-
Vorfall‹. In: Runa 28 (2000), S. 227–236.
9 Vgl. Claudia Lieb, Karambolage. Medien des Unfalls bei Hoffmann und Kleist. In: E.T.A.
Hoffmann Jahrbuch 14 (2006), S. 37–49.
10 Vgl. Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt a. M. 2012, S. 408.
11 Zit. nach Michael Moering, Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München
1972, S. 119.
344
Anatomie einer Störung
es Franz Kafka, der wiederum ganz besonders die Anekdoten Kleists schätzte, die er
gerne vorlas und zu deren Edition er sogar eine Kurzrezension verfasste.12
Was von Grimm bis Kafka den Reiz der Kleist’schen Anekdoten ausgemacht
haben dürfte, ist vermutlich dasselbe, was die nähere wissenschaftliche Erforschung
dieser Textsorte im Werk Kleists weitgehend verstellt hat: das allzu konventionelle
Gattungsverständnis der Anekdote als witzige Geschichte, ihr Charakter, Klatsch
zu verbreiten, in der Vermenschlichung von Autoritäten eine Ventilfunktion für
die Beherrschten einzunehmen und auf eine Pointe hinauszulaufen, die zumindest
implizit eine bestimmte Moral oder Lehre ausspricht.13 Erkennbar entsprechen
Kleists Anekdoten dieser engen Definition nicht, wie Michael Moering gezeigt hat:
Ihre Pointen stellen keine sinnvollen Schlussfolgerungen dar, sondern unterminie-
ren genau diesen Anspruch an die Gattung. Typisch für Kleists Anekdoten sind
vielmehr folgende Merkmale:14 Der erste Satz entfaltet im umständlichen Kanz-
leistil, der auch die berüchtigten Anfangssätze von Kleists Erzählungen prägt, das
Thema. Dann folgen temporeiche Dialoge, die fast schon dramatische Qualität
entwickeln. Das Sujet ist stets sensationeller Natur und erzeugt Aufmerksamkeit,
zu seiner Beglaubigung werden eigens Zeugen genannt. Charakteristisch ist auch
die Fallhöhe zwischen dem Berichteten und dem lakonischen Erzählstil. Der Tod
erscheint nie ohne Komik, umgekehrt hat Komik fast immer den Beigeschmack des
Entsetzlichen. Und einer im Kern wahren Begebenheit sind Kleists Anekdoten im
Gegensatz zum dominanten zeitgenössischen Verständnis der Gattung auch nicht
mehr verpflichtet.15
Der ›Charité-Vorfall‹ erweist sich damit als typische Kleist-Anekdote. Die Autor-
schaft des Textes, der anonym erschienen ist, wird in der Editionsphilologie einhellig
und ohne Zweifel dem Herausgeber der ›Abendblätter‹ selbst zugeschrieben. Leicht
lassen sich Konstanten in Kleists Werk auch im ›Charité-Vorfall‹ auffinden: die
Verhörsituation, die drastische Grausamkeit, Kommunikation als Missverständnis,
Ironie (insbesondere gegenüber Autoritäten),16 unzuverlässiges Erzählen, das Motiv
des Stürzens, die Kontingenz allen Geschehens, die Amoral der Geschichte und, wie
noch zu zeigen sein wird, das intertextuelle Spiel mit Vorlagen17 und die sich daraus
12 Vgl. zu Kafkas Kleist-Rezeption Walter Hinderer, »Kleist bläst in mich, wie in eine alte
Schweinsblase«. Anmerkungen zu einer komplizierten Verwandtschaft. In: Manfred Engel
und Dieter Lamping (Hg.), Franz Kafka und die Weltliteratur, Göttingen 2006, S. 66–82.
13 Vgl. zu Gattung und ihrem fundamentalen Anteil an Kleists ›Abendblättern‹ Aretz,
Heinrich von Kleist als Journalist (wie Anm. 2), S. 256–286; eine ältere Arbeit, deren
Fokus auf die Anekdoten nur sehr wenige Beiträge aufgegriffen haben.
14 Vgl. dazu Moering, Witz und Ironie (wie Anm. 11), S. 111, 114–117, 121, 125, 127f., 130, 136.
15 Vgl. zu diesem Gegensatz auch Steig, Kleist’s Berliner Kämpfe (wie Anm. 2), S. 339.
16 Vgl. Aretz, Heinrich von Kleist als Journalist (wie Anm. 2), S. 273.
17 »Signifikanterweise bestehen die von Kleist veröffentlichten literarischen Beiträge [in den
›Berliner Abendblättern‹] fast ausschließlich aus Bearbeitungen von Vorlagen unterschied-
licher Quellen, wie anderen Zeitungen und Zeitschriften, Handbüchern und Sammel-
werken.« (Aretz, Heinrich von Kleist als Journalist, wie Anm. 2, S. 141)
345
Matthias N. Lorenz
18 Günter Blamberger spricht diesbezüglich bei Kleist treffend von »Genre Trouble« (Blam-
berger, Heinrich von Kleist, wie Anm. 10, S. 326).
19 Vgl. Roland Reuß, »Die Verlobung in St. Domingo« – eine Einführung in Kleists Erzäh-
len. In: Ders., »Im Freien«? Kleist-Versuche, Frankfurt a. M. 2010, S. 245–291, hier S. 257.
346
Anatomie einer Störung
uns (ver-)leiten lassen, so lange zu lesen, bis wir Manöver auszumachen glauben, die
im Plakativsten angesiedelt sind und doch an der Grenze des (Un-)Wahrscheinlichen
liegen. In gewisser Weise geht es um gezielte ›Überinterpretation‹, die als solche zum
Beleg der Leitfähigkeit der ABENDBLÄTTER wie auch für das Anliegen der vor-
liegenden Studie werden kann.20
Der Vorwurf der ›Überinterpretation‹ ist also mit der Überdeterminiertheit des
Gegenstandes selbst zu parieren. Umso mehr empfiehlt sich ein möglichst text-,
ja zeichennahes Entziffern. Dazu werden wir uns den Text »so liebevoll vor[neh-
men]«, um eine Formulierung Walter Benjamins aufzugreifen, »wie ein Kannibale
sich einen Säugling zurüstet.«21
I.
Der Beginn des ersten Satzes – »Der von einem Kutscher kürzlich übergefahrne
Mann […]« (BA, Bl. 12, 49) – ruft ein vorgängiges Geschehen auf. Tatsächlich war
am 8. Oktober in den ›Abendblättern‹ ein ›Polizei-Ereigniß. Vom 7. October.‹ mit
folgendem Inhalt erschienen:
Ein Arbeitsmann, dessen Name noch nicht angezeigt ist, wurde gestern in der
Königsstraße vom Kutscher des Professor Grapengießer übergefahren. Jedoch soll die
Verwundung nicht lebensgefährlich sein. (BA, Bl. 7, 30)
Die Berliner waren also fünf Tage später, als der ›Charité-Vorfall‹ erschien, bereits
darüber im Bilde, dass der Wagen eines hohen Mediziners in einen Unfall mit Per-
sonenschaden verwickelt gewesen war. Den Arzt Professor Grapengießer könnte
Kleist durchaus persönlich aus der Christlich-Teutschen Tischgesellschaft gekannt
haben.22 Das Unfallopfer bleibt in diesem und auch in späteren Polizei-Rapporten
anonym.23
Woher also kommt dann plötzlich am 13. Oktober der Name Beyer für das Unfall-
opfer? Und wieso wird dieser Name zwar ausdrücklich eingeführt – »Der von einem
Kutscher kürzlich übergefahrne Mann, Namens Beyer, hat […]« (BA, Bl. 12, 49) –,
nur um dann im ganzen Text kein einziges Mal mehr aufzutauchen, indem er statt-
20 Sibylle Peters, Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der
›Berliner Abendblätter‹, Würzburg 2003, S. 158.
21 Walter Benjamin, Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen [1928]. In: Ders., Gesam-
melte Schriften, Bd. 4,1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 83–148, hier
S. 108.
22 Vgl. Moering, Witz und Ironie (wie Anm. 11), S. 134. Die von Flüh angemeldeten
Bedenken aufgrund der Tatsache, dass im von Kleist verarbeiteten Polizei-Rapport vom
07.10.1810 der Name des Arztes »Grabbengieser« geschrieben wird (vgl. Flühe [sic], Sicht-
bar Unsichtbares, wie Anm. 7, S. 242), können vor diesem Hintergrund vernachlässigt
werden: Der Name ist in dieser Schreibweise nicht nachweisbar und dürfte ein im Polizei-
apparat entstandener Schreibfehler sein, den Kleist wohl korrigiert hat.
23 Vgl. Flühe [sic], Sichtbar Unsichtbares (wie Anm. 7), S. 249.
347
Matthias N. Lorenz
dessen repetitiv durch »der Mann« (dreimal) oder »er« (achtmal) substituiert wird?
Warum verschwindet dagegen der verbürgte Name Grapengießer? Warum erscheint
stattdessen ein anderer Arzt, der Geheimrat K.? Und warum bekommt dieser keinen
vollständigen Namen, obwohl doch Zeitgenossen unschwer auf den damaligen Lei-
ter der Charité, den Geheimen Obermedizinalrat Kohlrausch, schließen konnten?24
War es überhaupt ein Doktorwagen, der das Opfer überfahren hat? Im aktuellen
Fall ist nur von einem Kutscher die Rede. Und wieso liegen in der Charité, die ja ein
Krankenhaus und kein Hospiz ist, lauter Sterbende?
Diese Fragen zum Personal der Anekdote muten schon fast kleinlich an ange-
sichts der skurrilen Verletzungsgeschichte, die Beyer vorbringt: Viermal will er von
einer Kutsche überrollt worden sein, davon mindestens dreimal ausgerechnet von
Ärzten. Dabei sind ihm schon vor Jahren die Beine ab- und ein Auge aus- sowie
die linke Rippenhälfte zusammengefahren worden. Wie aber konnte dieser Mann
ohne Beine auf die Straße gehen, um sich erneut überfahren zu lassen? Wie sollen
so diffizile Verletzungen wie die des Auges und des Ohrs beim Überrolltwerden
geschehen sein, ohne dass dem Opfer dabei gleich der ganze Schädel zertrümmert
worden wäre? Vollkommen absurd wird es, wenn ihm schließlich der Ohrknorpel
in den Gehörgang gerät – befindet sich ein Knorpel dem damaligen medizinischen
Verständnis gemäß doch innerhalb des Körpers.25 Und wie sollte ein derart Ver-
stümmelter, wie uns der letzte Satz suggerieren will, bald wieder spazierengehen
können?
Auf der bei Kleist nie nebensächlichen Ebene von Schrift und Interpunktion26
lässt sich schließlich fragen, warum manche Zahlen ausgeschrieben, indes andere
als Ziffern gesetzt sind, warum in einem Wort die andernorts deutlich zu sehen-
den Umlautzeichen fehlen und warum oft Doppelpunkte stehen, wo Kommata zu
erwarten wären – mit konventionswidrigen Konsequenzen für Groß- und Klein-
schreibung. Verwirrend ist auch, dass gerade jene Passagen, die durch die Inter-
punktion als wörtliche Rede erscheinen, im Konjunktiv verfasst und damit bereits
als Wiedergabe wörtlicher Rede markiert sind. Lässt sich die eigenwillige Zeichen-
setzung noch als Evokation von Mündlichkeit lesen, so ist der verschobene Bezug
im Satzanfang »Der Geheimerath, der zuvorderst seine beiden Beine, welche krumm
und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte« (BA, Bl. 12, 49) eine für Kleist
typische Verwirrungsmaßnahme, geht es hier doch keineswegs um die Beine des
Geheimrats, sondern um die des Beyer.
Offenbar liegen in dieser Anekdote, die einen »Vorfall« ja auch eben deshalb zu
berichten weiß, weil »die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen« (BA, Bl. 12, 49),
etliche Verkennungen vor. Warum verhören die Doktoren das Unfallopfer, anstatt es
zu behandeln? Warum geben sie sich mit der Negation ihrer Fragen zufrieden, wenn
348
Anatomie einer Störung
doch das Blut auf den »krumm und schief« gefahrenen Beinen und das »geplatzt[e]«
Auge deutliche Anzeichen einer akuten Verwundung sind? Ganz offenkundig spielt
Kleist im ›Charité-Vorfall‹ mit der Sprache und ihrer Macht. Schon im ersten Satz
der Anekdote wird aus einem manifesten Unfall ein Unfall sprachlicher Verstän-
digung, eben »dergestalt, daß […] die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen.«
(BA, Bl. 12, 49) Wir werden im Folgenden Zeugen von mehreren Akten der Kommu-
nikation, in die wir zugleich auch selbst involviert werden: zwischen den einzelnen
Figuren (Beyer, Geheimrat K., ein weiterer Arzt, die Kranken), von einer Figur zum
Erzähler (Beyer brachte seine Geschichte vor: »Der Berichterstatter hat den Mann
selbst über den Vorfall vernommen […]«, BA, Bl. 12, 49) und vom Erzähler zum
Leser, zu uns. Jeder Sprechakt hat sein Publikum (Ärzte und Kranke, Berichterstatter
beziehungsweise Erzähler, die Leser der Anekdote), und auf jeder dieser Ebenen
wird unzuverlässig erzählt. Wenn Beyer verletzte Beine hat – und diese kommen im
Text unhinterfragt vor –, dann belügt er seine Ärzte, wenn er dieselben für verlustig
erklärt. Das nämliche gilt für das nicht etwa bloß fehlende, sondern »geplatzt[e]«
Auge – ein geplatztes Auge ist, wenn auch in Einzelteilen, noch vorhanden, ein »aus-
gefahren[es]« Auge dagegen müsste schlicht abwesend sein. Beyers Geschichte kann
also nicht stimmen. Sie erschöpft sich jedoch nicht darin, wie Walter Hinderer zu
erklären versucht hat, dass die Figur Beyer ihre Krankengeschichte möglicherweise
einfach maßlos übertreibe, dass die Verwundungen, wie Flüh zuspitzt, womöglich
gar nicht existierten oder in der »abgefahren[en]« Erkenntnis, so Claudia Lieb:
»auf der Straße agieren Doktoren lebensgefährdend, in der Klinik lebensrettend.«27
Wie gesagt: Auf der Ebene des Textes sind die Verwundungen, so grotesk sie auch
ausfallen mögen, ja unübersehbar vorhanden. Das Absurde ist nun, dass sich der
Sprechakt als wirkmächtiger erweist als der Augenschein: Die Ärzte sehen Blut und
das auslaufende Auge, akzeptieren jedoch die rein sprachliche Negation ihrer Dia-
gnosen, die Beyer jedesmal mit »nein!« zurückweist. Genau wie die Ärzte erfahren
wir Lesenden der Anekdote nur schrittweise von Satz zu Satz, was vorgefallen ist,
jedoch gleich im nächsten Satz wieder negiert wird – sowohl in Bezug auf die Ver-
neinung der Diagnosen als auch hinsichtlich der finalen Zukunftsperspektive, die
der Erzähler Beyer eröffnet und die angesichts von dessen Zustand kaum vorstellbar
ist. Indem der Text uns in die Situation der bloßgestellten Ärzte zwingt und unser
Lachen mit dem der Todgeweihten überblendet, lacht der Text über uns.28
27 Vgl. Hinderer, Anmerkungen zu einer komplizierten Verwandtschaft (wie Anm. 12), S. 76;
Flühe [sic], Sichtbar Unsichtbares (wie Anm. 7), S. 245; Lieb, Karambolage (wie Anm. 9),
S. 42 – gerade ihr Halbsatz stimmt eindeutig nicht, da von Heilung durch die Doktoren
in der Anekdote keine Rede ist.
28 Auch hier trifft zu, was Günter Blamberger über die ›Verlobung in St. Domingo‹ geschrie-
ben hat: »Das Unheimliche daran ist, dass die fiktiven Dreiecksspiele den Raum des Fik-
tiven überschreiten und um das Dreieck von Text, Leser und Autor erweitern, die Wirk-
lichkeit von Leser und Autor affizieren. In Kleists fiktiven Palästen lauern reale Ungeheuer.
Darüber erschrecken Leser um 1800 wie heute.« (Blamberger, Heinrich von Kleist, wie
Anm. 10, S. 438)
349
Matthias N. Lorenz
Der gesamte Text läuft konsequent auf Spiegelungen und Umkehrungen hin-
aus. So erweist sich gerade nicht der Mann, der seit fünf Jahren ohne Beine am
Straßenverkehr teilgenommen haben will, als fußlahm, sondern jene Ärzte, die sich
stets zu seinem Schaden fahren lassen. Auch ist nicht der, dessen Auge geplatzt ist,
blind, sondern blind sind jene, die nach der rein verbalen Negation ihrer Diagnose
umstandslos bereit sind, die frischen Wunden nicht mehr zu sehen. Hatten die Ärzte
zunächst durchaus treffsicher die Verwundungen benannt, ergeben sich die besagten
lächerlichen Missverständnisse der Ärzte erst dadurch, dass sie dem von ihnen Ver-
hörten glauben – aus dem versehentlichen Überfahren des Opfers durch diverse
»Doktorwagen« wird ganz buchstäblich ein ärztliches Ver-Sehen, das die Gewalt des
Unfalls fortsetzt durch eine Gewalt der Verkennung.
Besonders deutlich wird die Umkehrung anhand der Zuweisung von Namen
an die agierenden Figuren. Die Markierung der Figuren scheint Beyer zu privile-
gieren, ist er doch der einzige, der durch seinen Namen als Individuum gekenn-
zeichnet ist. Der erste, der ihn befragt, der Geheimrat, erhält nur seinen sperrigen,
mehrmals wiederholten Ehrentitel sowie einmalig die Bezeichnung »Hr. K.«, die
wie der Name Beyer nicht wieder aufgenommen wird. Am weitesten entfernt von
einer individuellen Markierung scheint unter den maßgeblichen Akteuren schließ-
lich der berichterstattende Erzähler situiert zu sein, der gar keinen Namen trägt.29
Für die Interpretation dieser Namenspolitik ist es unerlässlich, mit einem Faksi-
mile der Originalveröffentlichung zu arbeiten. Roland Reuß hat bereits anhand
der ›Verlobung in St. Domingo‹ darauf aufmerksam gemacht, dass die Kleist’sche
Abkürzung »Hr.« in vielen Ausgaben stillschweigend als »Herr« ausgeschrieben wird
und dass damit Bedeutung verloren geht.30 Das trifft auch auf den ›Charité-Vorfall‹
zu, denn die in manchen Editionen zu »Herr K.« konventionalisierte Schreibweise
(vgl. etwa DKV III, 359) lässt nicht mehr im selben Maße zu, »Hr. K.« als ver-
steckte Anspielung des Autors Heinrich von Kleist auf sich selbst zu lesen, der beim
Unterzeichnen seiner Briefe gerne auf das adelige »von« verzichtete.31 Wenn aber
»Hr. K.«, der »Geheimerath«,32 im Geheimen der Autor selbst wäre, so wäre der,
der diese Anekdote eigentlich erzählt, plötzlich nicht mehr namentlich unsichtbar,
im Gegenteil. Die Implikationen eines solchen Manövers verkomplizieren den Text
noch einmal, denn das Verlachen von Autoritäten würde sich nun plötzlich auch
gegen den Autor selbst richten.
29 Zwar trägt auch jener »Arzt, der dem Geheimenrath zur Seite stand« (BA, Bl. 12, 49)
keinen Namen, doch diese Figur ist auch eher als Nebenfigur anzusehen, die keine eigene,
individuelle Rolle und Funktion einnimmt – der Arzt leistet nichts anderes als sein Chef,
dem er »zur Seite« steht.
30 Vgl. Roland Reuß, »Die Verlobung in St. Domingo« (wie Anm. 19), S. 264.
31 Vgl. etwa (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die Briefe in DKV IV, 149, 218, 270, 276,
278, 283, 288, 291, 299, 301, 309, 316, 331, 352, 362, in denen Kleist auf das »von« bzw. »v.«
verzichtet.
32 Die Schreibung »Geheimerath« ist zu Kleists Zeiten durchaus akzeptiert, vgl. geheimrath.
In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden,
Bd. 5, Leipzig 1897, Sp. 2366–2369.
350
Anatomie einer Störung
Wie sieht es dagegen mit Beyer aus, dem Unfallopfer? Hanenberg hält den
Namen für bedeutungslos, schon deshalb, weil er nur einmal auftauche.33 Wenn man
allerdings berücksichtigt, dass Kleist für die ›Abendblätter‹ Artikel aus spanischen
Zeitungen übersetzte,34 der Untertitel seines ›Katechismus der Deutschen‹ ›Abge-
fasst nach dem Spanischen‹ lautet35 und Kleist manche seiner Stoffe wie etwa das
›Erdbeben in Chili‹ in der spanischsprachigen Welt ansiedelte, so scheint auch eine
spanische Lesart dieses Namens erlaubt.36 Wenn ein Preuße ohne aktive Spanisch-
kenntnisse das spanische baja oder bajar ausspricht, so wird man in der Aussprache
von »baja« ([ˈbɑjɑ]) kaum einen Unterschied zu »Beyer« hören. Der Name »Beyer«
(mit e, y und r) ist dabei von den Buchstaben her so weit von (lautmalerisch) »baja«
entfernt, wie dies ohne klangliche Veränderung nur möglich ist. Das spanische baja
([ˈbɑxɑ]) steht als Adjektiv für niedrig, zudem als Substantiv für Fallen,37 aber auch
33 Vgl. Hanenberg, Zu Heinrich von Kleists Charité-Vorfall (wie Anm. 8), S. 222.
34 Vgl. Siegfried Schulz, Heinrich von Kleist als politischer Publizist, Frankfurt a. M. 1989, S. 87.
35 Vgl. zur von Kleist benutzten Vorlage, die 1809 in deutscher Übersetzung erschienen war,
Nobile, Charting the Body Politic (wie Anm. 1), S. 7.
36 Letztlich gibt es nur Vermutungen und Indizien in Bezug auf Kleists Spanischkenntnisse.
So behauptet Jeffrey L. High, Kleist habe über »advanced Spanish language skills« verfügt,
liefert dafür allerdings keinen Beleg (Jeffrey L. High, Crisis, Denial, and Outrage. Kleist
[Schiller, Kant] and the Path to German Novella[s] of Modernity. In: Bernd Fischer und
Tim Mehigan [Hg.], Heinrich von Kleist and modernity, Rochester, NY, 2011, S. 187–203,
hier S. 195). Bereits Rahmer behauptet Anfang des 20. Jahrhunderts Ähnliches, bringt
dafür aber ebenfalls keinen konkreten, zurückverfolgbaren Nachweis bei: »Aus den Brie-
fen der jungen Dichter [in Kleists weiterem Umfeld, M.N.L.] lesen wir heraus, daß unter
ihnen vornehmlich die spanische Sprache und die spanische Literatur gepflegt wurde. […]
Die Tatsache, daß sich in dem Nachlaß Dahlmanns, wie ich schon früher hervorgehoben
habe, eine spanische Übersetzung von Kleists Hand vorfand, sowie der Umstand, daß der
Posten in Spanien überhaupt für ihn in Frage kam, gibt auch den äußeren Beweis dafür,
daß Kleist spanische Studien zu jeder Zeit eifrig gepflegt hat. Die Tatsache, daß Kleist der
spanischen Sprache mächtig war und die spanische Literatur aufs eifrigste verfolgte, wird
bestätigt durch die Untersuchungen Eichhorns.« (Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist
als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen, Berlin 1909, S. 66f.) Cervantes
scheint Kleist allerdings wohl doch auf Deutsch gelesen zu haben, wie ein Brief vom Mai
1810 an seinen Verleger Georg Andreas Reimer nahelegt: »Es würde mir lieb sein, wenn
der Druck so wohl ins Auge fiele, als es sich, ohne weiteren Kostenaufwand, thun läßt,
und schlage etwa den Persiles [von Cervantes, deutsch von Franz Theremin, Berlin 1808,
M.N.L.] vor. Der Titel ist: Moralische Erzählungen von Heinrich von Kleist.« (DKV IV,
446); vgl. auch den Kommentar in DKV IV, 972. High dagegen geht davon aus, dass
Kleist »not have had to wait for the German edition of [Cervantes’] ›La fuerza del amor‹«
(High, Crisis, Denial, and Outrage, S. 195), da er ja des Spanischen mächtig gewesen
sei. Belegt ist letztlich allein der Kontakt zu Pierre Gualtieri, der 1805 zur preußischen
Botschaft in Spanien gehörte. – Für Hinweise in dieser Frage danke ich dem Kleist-Über-
setzer Johannes Contag aus Wellington (NZ) und Barbara Gribnitz vom Kleist-Museum
in Frankfurt an der Oder.
37 Vgl. Neuestes und vollständigstes Spanisch-Deutsches und Deutsch-Spanisches Hand-
wörterbuch, bearbeitet von Friedrich Booch-Árkossy, 2 Bde., 2. Stereotyp-Aufl., Leipzig
1860, Bd. 2, S. 197.
351
Matthias N. Lorenz
für Unfallopfer, das Verb bajar ([ˌbɑˈxɑɾ]) meint stürzen.38 Damit erweist sich der
Name »Beyer« als Funktionsbezeichnung, als ein telling name, der seinem Träger
gerade nicht zu Individualität verhilft. Dass »Beyer« / baja eine bloße Funktions
bezeichnung im Sinne von Unfallopfer ist, wird durch das einmalige Vorkommen
des Namens unterstrichen: Wie auch bei »Hr. K.« wird der Hinweis nur ein ein-
ziges Mal gegeben und die betreffende Figur dann im ersten Fall nurmehr auffallend
unelegant mit »der Mann« beziehungsweise im zweiten Fall bemerkenswert unöko-
nomisch mit »der Geheimerath« bezeichnet. Auf die spanische Dimension des Tex-
tes, die sich nicht nur in diesem Namensspiel verbirgt, wird noch zurückzukommen
sein. Halten wir fest, dass die Namen und ihre Bedeutungsschichten ebenfalls Teil
der umfassenden Vertauschungen in der Anekdote sind: Aus scheinbar unmarkiert
wird markiert, scheinbar Markiertes erweist sich dagegen als leer.
Wer aber, um bei Beyer zu bleiben, ist der Gefallene? Vergegenwärtigt man sich
die Situation des 33-jährigen Heinrich von Kleist, so drängt sich eine selbstbezüg-
liche Interpretation der Anekdote auf. Denn welche Eigenschaften zeichnen die
Figur Beyer letztlich aus? Dies sind zum einen ihre fortgesetzte und umfassende
Verwundung, zum anderen ihr Opponieren durch einen sprachlichen Akt, der auch
dann noch die Autoritäten zumindest ins Wanken zu bringen vermag, wenn am
bloßen Leben eigentlich nichts mehr zu retten ist. Heinrich von Kleist hatte in
dem knappen Jahrzehnt, in dem er als Dichter in Erscheinung trat und von dem
wir überhaupt nur nähere Kenntnis haben, eine bemerkenswerte Reihe von Nieder-
schlägen einstecken müssen. Jochen Schmidt beschreibt Kleists Genese als Dichter
als »konsequent fortschreitende Aufsprengung aller Grenzen […], bis zur Öffnung
eines unendlichen Horizonts, der keine Fixpunkte mehr bietet.«39 Das ist eine
zutreffende Charakterisierung der künstlerischen Entwicklung Kleists, der dieser
sein Privatleben ohne jede Rücksicht auf sich selbst und andere unterordnete. »Zug
um Zug«, so Schmidt, habe Kleist sich »von den ihn umgebenden gesellschaftlichen
Zwängen«40 befreit. Sieht man jedoch einmal von der künstlerischen Radikalität ab,
für die der Autor heute so geschätzt wird, ließen sich die Jahre von 1800 bis 1811 mit
nur wenig Zuspitzung auch als Geschichte eines fortgesetzten lebensweltlichen
Scheiterns erzählen: Studium, Militär- wie Beamtenlaufbahn, Familiengründung,
Auswanderungs- und Projektideen werden abgebrochen, zudem ist die politische
Situation im besetzten Preußen bedrückend. Als nach einem Zerwürfnis mit der
preußischen Staatsführung 1811 auch die ›Abendblätter‹ bankrott gehen, ist Kleist
zumindest lebensweltlich in nahezu jeder Hinsicht gescheitert: als Mann von Stand
und Stammhalter seiner Familie, als Verlobter, Soldat, Student, Staatsdiener, als
352
Anatomie einer Störung
Patriot, als Publizist und oft genug auch als Autor, der am Ende auf erniedrigende
Weise um Geld bitten muss. »Das Desaster der ›Abendblätter‹«, so Klaus Günzel,
»demütigt den Herausgeber auch in seinem menschlichen und literarischen Selbst-
verständnis.«41 Noch im gleichen Jahr wird Heinrich von Kleist in einer großen
gemeinsamen Geste des sich dem gemeinen Leben Verweigerns Henriette Vogel und
sich selbst erschießen.
In seinem ›Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch
unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!‹ hatte Kleist postuliert,
dass ein jeder das für ihn gültige »Gesetz der Bewegung« (DKV III, 524) finden
müsse, um sich zu beruhigen und auf eine bestimmte Laufbahn einzuschwenken.
Das war erkennbar vor der ›Kant-Krise‹. Wenn es ein Gesetz der Bewegung gab,
das Kleists Leben zwischen diesem 1799 verfassten Aufsatz und der Anekdote des
Jahres 1810 lenkte, dann war dies das Gesetz des Sturzes. Nicht ohne Grund führt
das ›Kleist-Handbuch‹ das Lemma »Sturz und Fall«, wird doch in Kleists Werken
andauernd gestürzt, gestolpert und niedergesunken. »Wollte man den Texten Kleists
eine favorisierte Dynamik attestieren, so wäre diese sicher als Vertikalbewegung
nach unten zu beschreiben«,42 so Tina-Karen Pusse. Hatte der junge Kleist sich
einen »Lebensplan« verordnen wollen, um sich gegen das »Spiel des Zufalls« zu
immunisieren (DKV IV, 40), so zeugt die Geste der Verweigerung in der Anekdote
von einer Affirmation des Zufalls, die sich der immer wieder von Neuem Stürzende
mittlerweile erarbeitet hat. In Adelungs ›Grammatisch-Kritischem Wörterbuch‹
sind Zufall und Abenteuer miteinander gekoppelt: Ein Abenteuer sei »[e]in seltsa-
mer, wunderbarer oder gefährlicher Zufall«.43 Das Am-Boden-Liegen des in seinem
Leben immer wieder »übergefahrne[n]« Protagonisten ist somit mehr als bloß eine
dumme Niederlage: Der Unfall ist der Preis des Abenteuers. Und das Lebensaben-
teuer des Heinrich von Kleist ist sein Schriftstellerdasein, das er ohne jede finan-
zielle Sicherheit und gegen die Gesetze seiner adeligen Herkunft wagt und für das
er konsequent bis zum suizidalen Ende seine ganze Existenz exponiert hat.44 Noch
im Abschiedsbrief an die Schwester entwirft Kleist sich, so Günter Blamberger, »als
der nonkonformistische Intellektuelle, der außerhalb der familiären, ständischen,
ästhetischen und politischen Ordnungen seiner Zeit steht.«45 Beyer wie Kleist
scheinen sich im fortwährenden Stürzen eingerichtet zu haben, sie können diesem
Lebensrhythmus, dem für sie gültigen »Gesetz der Bewegung«, offensichtlich nicht
entkommen. Sie resignieren jedoch nicht etwa und sind auch keine passiven Opfer.
41 Klaus Günzel, Kleist. Ein Lebensbild in Briefen und zeitgenössischen Berichten, Stuttgart
1985, S. 347.
42 Vgl. Tina-Karen Pusse, Sturz und Fall. In: KHb, 367–369, hier 367.
43 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Ober-
deutschen, Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Leipzig 1793–1801, Bd. 1, Sp.
26–31, hier Sp. 26.
44 Vgl. zu Kleists eigener Todesverachtung seinen Brief an Wilhelmine von Zenge vom
21. Juli 1801 (DKV IV, 243–248). Kleists inszenierte seinen Freitod schließlich als ein Opfer
für die Kunst (vgl. Blamberger, Heinrich von Kleist, wie Anm. 10, S. 461).
45 Blamberger, Heinrich von Kleist (wie Anm. 10), S. 460.
353
Matthias N. Lorenz
Zwar ist Beyer, der in die Charité eingelieferte Patient, wie Erwin Koller in einer
linguistischen Kurzanalyse gezeigt hat, konsequent das Patiens des Geschehens:46 Er
wird überfahren, getroffen, beschädigt, verletzt, er wird untersucht, befragt und spä-
ter nochmals »vernommen« – ein Begriff, der damals bereits fest an den juristischen
Diskurs gekoppelt ist und aus dem Opfer einen Delinquenten macht.47 Mediziner
wie Berichterstatter taxieren seinen Zustand dabei schonungslos, wenn etwa von sei-
ner »jämmerliche[n] Verstümmelung« die Rede ist. Das Patiens des Textes wehrt sich
jedoch andererseits gegen seine Reduktion auf ein Objekt und seinen Opferstatus,
indem es dem Agens beziehungsweise den Agenzien widerspricht: Geheimrat und
Arzt befragen ihn als Unfallopfer, vermeiden dabei jedoch peinlichst die Involvie-
rung ihres eigenen Standes in dessen Fall, indem sie ihn fragen, ob er verletzt sei und
als Verursacher der Verletzungen nur das »Rad« und die »Ueberfahrt« nennen. Beyer
weist diese unpersönlichen Darstellungen des Unfalls zurück. In seiner jeweils mit
einem Ausrufezeichen markierten dreimaligen Verneinung setzt er sich selbst wie-
der als Subjekt ein und spricht vor allem auch von den Unfallverursachern: »einem
andern Doktor«, einem weiteren »Doktor« und noch einem »Doktorwagen«. »Mit
dieser syntaktischen Resistenz-Strategie«, so Koller, »unterläuft und sabotiert er den
professoral-geheimrätlichen Macht-Diskurs und hat die lachenden Todtkranken auf
seiner Seite.«48 Man könnte auch von einer sprachlichen Rückeroberung des eige-
nen Körpers durch das Patiens sprechen: Indem sie in Gelächter ausbrechen, ver-
sichern sich auch die Sterbenden noch einmal ihrer Körper und begehren gegen ihr
unaufhaltsames Verstummen auf.
Problemlos ließe sich diese Widerstandsstrategie noch weiterdenken, wenn man
annimmt, dass Beyer den Geheimrat, den Arzt und den Berichterstatter, die ihm
gegenüber als Autoritäten auftreten, über seinen Zustand täuscht. Das Täuschen und
die Täuschung sind häufige Themen in Kleists Œuvre,49 das Lügen beziehungsweise
muntere Inszenieren eigener Wahrheiten hat der Autor selbst in seinen Briefen mit
Lust praktiziert – sicher auch als Strategie der Selbstbehauptung gegen die Zumu-
tungen eines Umfeldes, das sein Tun eher missbilligend zur Kenntnis nahm.50 Auf
die täuschende Verharmlosung der zahlreichen Wunden als Resultat überstande-
ner, früherer Unfälle scheint auch der Berichterstatter der Anekdote hereinzufallen,
der dem »[Ü]bergefahrne[n]« noch ein langes Leben prophezeit – ungeachtet der
Tatsache, dass er das Unfallopfer offensichtlich in einer Abteilung für Sterbende
»vernommen« hat. Dass Beyer (neben beiden Beinen) ausgerechnet das linke Auge,
die linke Rippenhälfte und das linke Ohr zerstört wurden, spricht nicht allein für
46 Vgl. Koller, Beobachtungen zur sprachlichen Form (wie Anm. 8), S. 232f.
47 Vgl. Koller, Beobachtungen zur sprachlichen Form (wie Anm. 8), S. 234.
48 Vgl. Koller, Beobachtungen zur sprachlichen Form (wie Anm. 8), S. 233.
49 Vgl. Blamberger, Heinrich von Kleist (wie Anm. 10), S. 154; Bernd Hamacher und Chris-
tine Künzel (Hg.), Tauschen und Täuschen. Kleist und (die) Ökonomie, Frankfurt a. M.
2013.
50 Vgl. vor allem Kleists Brief an Ulrike von Kleist vom 1. Mai 1802 (DKV IV, 303–305). Die
ganze Erzählung über die Besteigung des Schreckhorns ist eine bloße Erfindung – exakt
in dem Moment geäußert, als Kleist als Verlobter scheitert und sich von Wilhelmine von
Zenge trennt.
354
Anatomie einer Störung
einen einzigen Unfall, sondern ausgehend von der Wortbedeutung von »link / links«,
die Adelung mit »die linke Seite eines Körpers, die unrechte« und »verkehrt, auf
die unrechte Art«51 angibt, für die Täuschung, der der Erzähler wie auch schon die
Ärzte unterliegt. Es ist die Souveränität des Dichters, der an kein Gesetz der Logik
gebunden ist, die Kleist hier machtvoll demonstriert: Die literarische Rede behaup-
tet sich gegen alles Faktische. Diese letzte Machtdemonstration eines eigentlich Ver-
zweifelten korrespondiert mit einer Fabel Lafontaines, die Kleist in seinem Aufsatz
›Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ zitiert hat und auf
die bereits Blamberger im Sinne einer Klugheitslehre hingewiesen hat: Ein Fuchs
wird zum Sündenbock bestimmt, kann sich aber retten, indem er sich durch seine
Erfindungsgabe herausredet.52
Kleist, so ist festzustellen, ist überall in diesem Text, er spiegelt sich auf jeder
Ebene: als »Berichterstatter« für die ›Abendblätter‹, als »Hr. K.« und schließlich
als »Beyer« beziehungsweise baja, als Gestürzter. Vor diesem Hintergrund ist die
syntaktische Verschiebung des Bezuges von »seine[n]« Beinen des Beyer auf den
»Geheimerath Hr. K.« im zweiten Satz weniger ein Fehler als ein Hinweis auf die
Verknüpfung dieser Identitäten. Dabei ist jede Mitteilung dieser Art immer schon
eine indirekte: Der Erzähler gibt nirgends die Kontrolle ab. Die Figur des Gestürz-
ten behauptet sich und verweigert sich den Autoritäten, so wie der empirische Autor
sich auch immer wieder gegen Ordnungssysteme wie Kirche, Justiz, Staat, Militär,
Beamtentum und Wissenschaft aufgelehnt hat.53 Dabei gibt die Kunst hier nicht
etwa vor, über ein letales Schicksal hinwegzutrösten, denn die Dimension der Hei-
lung des Mannes, die der letzte Satz vorhersagt, ist ja nichts weiter als die Karikatur
eines Märchenschlusses (nach dem Muster: ›Und wenn sie nicht gestorben sind,
dann leben sie noch heute‹).54
Körperliche Gewalt – und diese ist ja sehr präsent in der Anekdote – ist um 1800
Ausdruck von Herrschaft: des Mannes über die Frau, der Erwachsenen über die
Kinder, der Herrschaft über das Gesinde.55 Die von Beyer erlittene Gewalt ließe sich
zum Teil auch als Bestrafung lesen, etwa das Brechen der Beine oder die Blendung.
Hierzu passt auch die Verhörsituation, der er unterworfen wird. Wofür aber wäre
Beyer zu bestrafen? Vielleicht für die Autonomie des ›Gefallenen‹? Für den Adel galt
355
Matthias N. Lorenz
zu Kleists Lebenszeit, die in vielerlei Hinsicht eine Zeit des Umbruchs und der Ver-
unsicherung war, vor allem eine Maxime, wie Blamberger schreibt: »Permanenter
Kampf ums Obenbleiben, um den Erhalt der Ehre des Hauses und der sozialen Pri-
vilegien, um die fortdauernde Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Machtelite und
um kulturelle Hegemonie.«56 Kleist aber verletzte alle Regeln des Obenbleibens,
er verzichtete auf die ihm zustehende Macht als Angehöriger eines alten Offiziers
geschlechts, er beschädigte den Ruf seiner Familie, er ging keine gewinnbringende
Ehe ein, sondern schmolz sein Erbe auf Null zusammen und widmete sich als
Schriftsteller einer zutiefst bürgerlichen Beschäftigung. Kleists Figur Beyer macht es
in gewisser Weise ebenso: Sie bleibt stets unten. Die erlittene Gewalt wird ihr aber
zum Motor des Erzählens – eine Idee, die Kleist ebenfalls in ›Über die allmählige
Verfertigung der Gedanken beim Reden‹ entwickelt hat: Im Streitgespräch wird
die Aggression zum Motor der Kreativität, erst in der Konfrontation entsteht das
Neue. Insofern muss sich Beyer, muss sich Kleist selbst den Gefahren der Öffent-
lichkeit, dem Stürzen aussetzen. Er reagiert beim Erdulden der unvermeidlichen
Konsequenzen allerdings unverkennbar aristokratisch: Das klaglose Aushalten
können ist schließlich eine preußische Sekundärtugend57 und die Charakterisierung
des Erzählvorgangs innerhalb der Anekdote als »indolent« beinhaltet ja nicht nur
die Wortbedeutung »träge« oder »gleichgültig«, sondern auch »schmerzunempfind-
lich«. Nun wären weder eine träge Erzählung noch das Aushalten von Schmerzen
geeignet, Todkranke lachen zu machen. Doch darum geht es nicht. Wie in der Fabel
mit dem Fuchs gilt vielmehr auch hier: Solange man erzählt, wird man »indolent«
im Sinne von schmerzunempfindlich, im Erzählen lassen sich die Fährnisse bannen,
die auch auf semantischer Ebene in all den Variationen der mit fahren gebildeten
Verben aufscheinen (überfahren, abfahren, ausfahren, zusammenfahren, hinein-
fahren). Wilhelm Genazino hat in seiner Kleistpreis-Rede des Jahres 2007 eine
vergleichbare Beobachtung gemacht und dabei eine Metaphorik gewählt, die dem
›Charité-Vorfall‹ durchaus entspricht: »Zu Kleists Begriff von Tapferkeit gehörte,
eine Katastrophe auf jeden Fall zu überleben, und zwar auch dann, wenn das Ich
dabei zum Krüppel seiner selbst zu werden drohte.«58
356
Anatomie einer Störung
II.
Nun dürfte das Publikum der ›Abendblätter‹ des Jahres 1810 zu allerletzt an einer
Decodierung autobiographischer Reminiszenzen eines unglücklichen Literaten
interessiert gewesen sein. Nancy Nobile hat in ihrem Aufsatz eine politische Deco-
dierung der Anekdote versucht und ist von den Jahreszahlen ausgegangen, die Beyer
seinen diversen Unfällen mit Doktorwagen zuordnet. Rechnet man aus der Gegen-
wart von 1810 zurück, kommt man auf die Jahreszahlen 1796, 1803 und 1805. Nobile
sieht darin Anspielungen auf den Vertrag von Basel, in dem Preußen 1795 aus dem
Krieg gegen Frankreich ausscherte, auf den Reichsdeputationshauptschluss, der
1803 eine Neuordnung der deutschen Territorien und den Verlust linksrheinischer
Gebiete an Frankreich zur Folge hatte, und auf Napoleons Sieg über Österreich und
Russland bei Austerlitz im Jahre 1805, als Preußen den Bedingungen des Siegers
zustimmte und sich dafür mit Hannover entlohnen ließ; Beyers Unfallgeschichte
überlagere sich daher mit Preußens Phase unehrenhafter Neutralität, die von 1795
bis 1805 reichte, so Nobile.59 Rein rechnerisch geht diese Kalkulation nicht ganz auf,
ereignet sich Beyers Unfallgeschichte doch genau besehen zwischen 1796 und 1810.
Inhaltlich betrachtet wirft diese Deutung die Frage auf, warum Kleist denn nicht
gleich auf die viel schmachvollere und den Zeitgenossen weitaus präsentere Jahres-
zahl 1806 angespielt hat, als die Niederlage von Jena und Auerstedt das Ende des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einläutete und der die Deutschen
spaltende Rheinbund gegründet wurde.
Philologisch interessanter als derartige Einwände sind jedoch die Textsignale, die
der ›Charité-Vorfall‹ hinsichtlich der Zahlen aussendet. Nobile legt der Berechnung
ihrer Jahreszahlen die Angaben Beyers zugrunde, der angibt, »vor fünf«, »vor 14«
und »vor 7 Jahren« (BA, Bl. 12, 49) überfahren worden zu sein – und zwar in dieser
anachronischen Reihenfolge, die Nobile aufgebrochen und normalisiert hat. Nun
hat Nobile nicht mit dem Originaltext, sondern mit den von Helmut Sembdner
herausgegebenen ›Sämtlichen Werken und Briefen‹ gearbeitet, mit Folgen für ihr
Textverständnis. Denn deren Typographie stimmt nicht mit dem Originaltext über-
ein. Aus »Hr. K.« wurde hier »Herr K.«, fehlende Umlautpunkte wurden ergänzt
und jene Zahlen, die in den Abendblättern als Ziffern gesetzt waren – 7 und 14 –,
erscheinen nun als Wörter (SW II9, 266f.) wie die anderen numerischen Angaben
im Text – drei, fünf und auch die »Acht« aus dem finalen »falls er sich […] in Acht
nimmt« (BA, Bl. 12, 49). Satztechnisch war die Abkürzung von 7 und 14 durch die
Schreibung in Ziffern nicht notwendig, wie das Druckbild der ›Berliner Abend
blätter‹ zeigt: Unten wäre noch fast eine ganze Zeile Platz gewesen. Offenkundig
kam es Kleist darauf an, die Zahlen im Text durch unterschiedliche Schreibung von-
einander abzugrenzen. Das Resultat sind zwei Gruppen – jene, die durch Ziffern,
und jene, die durch Buchstaben ausgedrückt werden –, die durch diese Trennung
automatisch dazu auffordern, die jeweiligen Zahlen innerhalb der Gruppen mitein-
ander in Beziehung zu setzen. Dabei darf keinesfalls die im Text gegebene Zahlenab-
folge verändert werden. Als Aufforderung, die Wichtigkeit und Richtigkeit der von
59 Vgl. Nobile, Charting the Body Politic (wie Anm. 1), S. 14f.
357
Matthias N. Lorenz
Kleist gesetzten Reihenfolge zu erkennen, dürfen wir das Vor- und Zurückspringen
bei der Rekonstruktion der drei Unfälle in der Vergangenheit lesen.
Am auffälligsten sind sicher die beiden durch Ziffern ausgedrückten Zahlen:
14 und 7. Sucht man nach historischen Daten, die sich damit bezeichnen ließen,
so liegt der 14. Juli auf der Hand, jenes Datum, an dem das Volk von Paris die
Bastille stürmte und sich aus der Knechtschaft des Absolutismus befreite – ein so
unerhörter Vorgang, dass die Jahreszahl 1789 nicht noch eigens erwähnt werden
muss: Der 14. Juli markiert damals wie heute eine Zäsur der Weltgeschichte. Und
auch die ausgeschriebenen Zahlen drei, fünf und »Acht« lassen sich als ein Datum
lesen, als eines, das ebenfalls mit einem Volksaufstand und mit den Franzosen zu
tun hat, nur dass diese nun nicht mehr als Unterdrückte, sondern als Unterdrücker
erscheinen: Am 2. Mai 1808 brach in Madrid ein Volksaufstand gegen die Napo-
leonische Fremdherrschaft aus, die erste Revolte gegen die französische Diktatur
in Europa. Der französische Oberbefehlshaber verurteilte jeden Spanier, der mit
einer Waffe angetroffen wurde, zum Tode und ließ am 3. Mai die gefangenen Auf-
ständischen standrechtlich erschießen. Francisco de Goya hat das Massaker, das
zur Geburtsstunde der spanischen Aufstände gegen Napoleon wurde, wenige Jahre
später gemalt. Der Titel seines heute weltberühmten Bildes lautet nüchtern ›El 3 de
mayo en Madrid‹.
Die Rolle der Franzosen hatte sich für alle nach Freiheit strebenden Europäer
zwischen den beiden von der Anekdote aufgerufenen Daten vollkommen verkehrt:
Am 14. Juli begehrte das französische Volk gegen Ungerechtigkeit und Unterdrü-
ckung auf, am 3. Mai 1808 schossen dagegen französische Soldaten auf das spanische
Volk, das sich für seine eigene Freiheit und seine eigenen Rechte erhoben hatte.
Der dadurch ausgelöste spanische Unabhängigkeitskrieg dauerte 1810 noch an, die
Verschränkung seines auslösenden Datums mit der Situation in Preußen liegt auf
der Hand: Ein Volk hatte in einem Land revoltiert, dessen Eliten bereit waren, sich
mit Napoleon zu arrangieren – das traf auch auf Friedrich Wilhelm III. von Preußen
zu, der sich lange nicht dazu durchringen konnte, gegen Napoleon aufzubegehren.
Das Datum des Massakers von Madrid und der deutsch verballhornte Name des
spanischen »baja« rufen jenes Volk auf, das sich als erstes gegen die Napoleonische
Fremdherrschaft in Europa erhoben hatte.60 Das Volk ist wie in der Anekdote ganz
am Boden und wird sich dennoch, so der paradoxe Schluss, erheben. Legt man einer
Interpretation der Anekdote die patriotischen Beiträge Kleists für die ›Germania‹
zugrunde, kann man nicht umhin, den spielerischen Text aus den ›Abendblättern‹
auch als versteckte Aufforderung zum Widerstand in einer Welt zu lesen, die blind
und taub gegenüber den Zeichen der Zeit zu sein scheint. Die lähmende Stagnation
im Land – verkörpert durch die ewig gleichen Unfälle, die fortgesetzt gestörte Kom-
munikation zwischen Oben und Unten und die lachenden Todgeweihten – ist ein
Resultat der Wunden Beyers, des Erniedrigten: Seine Körperteile wurden abgetrennt
(die Beine), sind geplatzt (das Auge), wurden umgestülpt (die Rippen) und haben
60 So lässt sich auch Nobiles Irritation über den Namen Beyer, da es doch um Preußen und
nicht um Bayern gehe (vgl. Nobile, Charting the Body Politic, wie Anm. 1, S. 17), mit dem
Entdecken des spanischen Datums auflösen.
358
Anatomie einer Störung
eine Invasion erfahren (das Ohr) – so wie Preußen im Frieden von Tilsit Gebiete
verloren hatte, die preußischen Truppen in den kriegerischen Auseinandersetzungen
von Jena und Auerstedt zersprengt und die Verhältnisse im Staat durch die Invasion
der Franzosen völlig verkehrt worden sind.
III.
Der ›Charité-Vorfall‹ weist auch eine medienspezifische Dimension auf, wenn man
sein Veröffentlichungsumfeld mit einbezieht. Dieselbe Ausgabe der ›Abendblätter‹
vom 13. Oktober 1810, in der die Anekdote erschien, eröffnete mit einem länge-
ren Essay über Caspar David Friedrichs Gemälde ›Mönch am Meer‹, das gerade in
der Berliner Akademie-Ausstellung gezeigt und in den kunstinteressierten Kreisen
der Stadt kontrovers diskutiert wurde. Der Text mit dem Titel ›Empfindungen vor
Friedrichs Seelandschaft‹ war mit »cb« unterzeichnet, das Manuskript dafür war
unter Mithilfe Achim von Arnims von Clemens Brentano verfasst worden. Kleist
hatte nun in seiner Eigenschaft als Redakteur der ›Abendblätter‹ massiv in den Text
eingegriffen, nicht nur stark gekürzt und Textteile komplett umgruppiert, sondern
auch aus einem ironischen Dialog über das Bild ein Bekenntnis innerer Ergriffen-
heit vor dem Bild gemacht. Während Brentano Friedrichs Kunst in der Ausführung
kritisch betrachtete, sprach Kleist kein abschließendes Urteil aus, zeigte sich aber
durchaus offen für die innovative Unabgeschlossenheit des Kunstwerks, das auf
eine kompositorische Rahmung oder einen lokalisierbaren Betrachterstandpunkt
verzichtete.61 Brentano war über dieses eigenmächtige Verhalten Kleists sehr ver-
ärgert und forderte eine Richtigstellung in den ›Abendblättern‹. In dem Brief vom
14. Oktober 1810 bat Kleist Achim von Arnim um Deeskalation (DKV IV, 453f.),
und so musste er am 22. Oktober eine ›Erklärung‹ in das Abendblatt aufnehmen, in
der er seine Kürzungen und die Auflösung des Dialogs offenlegte. Bemerkenswert
ist nun, wie Kleist sich noch in der eigentlich zur Entschuldigung gedachten Geste
als Dichter zu behaupten versucht, wenn er am Ende erklärt, dass
dieser Aufsatz dadurch, daß er nunmehr ein bestimmtes Urteil ausspricht, seinen
Charakter dergestalt verändert [hat], daß ich, zur Steuer der Wahrheit, falls sich
jemand dessen noch erinnern sollte, erklären muß: nur der Buchstabe desselben gehört
den benannten beiden Hrn.; der Geist aber, und die Verantwortlichkeit dafür, so wie er
jetzt abgefaßt ist, mir. (BA, Bl. 19, 78; Hervorhebungen M.N.L.)
Die Erklärung, an dem Aufsatz ›Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‹ gehör-
ten den Autoren Brentano und Arnim nurmehr die Buchstaben, die sozusagen
zum bloßen Textkörper degradierten Signifikanten, ihm aber, Heinrich von Kleist,
der Geist, ist ein ziemlich unverfrorener Versuch der Deeskalation. Diese Selbst-
ermächtigung korrespondiert jedoch durchaus mit der Charité-Anekdote, in der
ebenfalls Körper und Sprechakt aufgespalten werden und deutlich wird, dass der-
jenige, der den Sprechakt kontrolliert, auch die Kontrolle über den Körper behält.
359
Matthias N. Lorenz
Die Forschung hat bislang zwischen der Anekdote und dem Eklat um Brentanos
Friedrich-Kritik keinen Zusammenhang hergestellt, obwohl die Anekdote genau die
Frage nach der Autorität des Sprechens aufwirft und diese dabei bis zur Unauflös-
barkeit verunklart. Für eine solche Lesart ließen sich plausible Gründe anführen,
denn Kleist hat oftmals in den ›Abendblättern‹ den heikleren Texten andere zur
Entstörung zur Seite gestellt. Ein solches Artikelpaar findet sich bereits in der ersten
Ausgabe der Zeitung, deren Leitartikel, das ›Gebet des Zoroaster‹, erkennbar eine
verschlüsselte Abrechnung mit der französischen Unterdrückung ist, jedoch sekun-
diert wird von einem durchaus heiteren Reisebild aus dem französischen Macht-
zentrum Paris.62 Jeder Zensor, der der Redaktion antifranzösische Tendenzen hätte
vorwerfen wollen, hätte sich durch diese geschickte Kombination zweier Artikel
vor das Problem gestellt gesehen, dass ja ein dezidiert nicht frankophober Beitrag
dem ›Gebet des Zoroaster‹ beigegeben ist – quasi wie ein entstörendes Antiserum.
Eine solche Lektüre, die die ›Abendblätter‹ als ein Werk ernstnimmt, bringt zum
Vorschein, dass der ›Charité-Vorfall‹ nicht nur massenweise Störungen in Umlauf
bringt, sondern dass der Text zugleich als Entstörung von Kleists übergriffiger Bear-
beitung von Brentanos Beitrag fungieren könnte. Dass Kleist die Ungeheuerlichkeit
seines Umgangs mit den ›Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‹ nicht bewusst
gewesen sein soll, ist kaum vorstellbar, hatte er Brentano dadurch doch in zweifa-
cher Hinsicht düpiert: Durch seine sinnentstellende Bearbeitung hatte er Brentano
die kunstkritische Expertise und durch die Tilgung der ursprünglich dramatischen
Organisation des Textes zudem auch die literarische Kompetenz abgesprochen. Die
völlige Verunklarung von Autorschaft in der Anekdote, in der Erzählter, Erzähler
und Autor miteinander konfligieren, wäre dann auch ein spielerischer Hinweis dar-
auf, den Eingriff in den Text nicht allzu tragisch zu nehmen.
IV.
Eine Lesart wie diese behauptet wie auch schon die autobiographische Deutung
der Anekdote eine relativ starke Machtdemonstration des Autors, dessen literari-
sche Sprache ihre Unantastbarkeit daraus bezieht, dass sie sich von den Realien
entkoppeln darf. Für literarisch versiertere Leser hält der ›Charité-Vorfall‹ jedoch
noch eine weitere Bedeutungsebene neben der autobiographischen, der politischen
und der medienspezifischen bereit, die nicht als Machtdemonstration des Autors zu
verstehen ist. Um diese Bedeutungsebene zu erkennen, ist abermals die Arbeit mit
der Originalquelle unabdingbar, weil sich nur hier die verstörenden Schreibweisen
mancher Worte finden, in denen eigentlich Umlaute vorkommen müssten. Am auf-
fälligsten ist die Schreibung »Gehororgan«, die in allen Kleist-Editionen durchweg
zu »Gehörorgan« korrigiert worden ist, zum Teil stillschweigend, zum Teil mit der
62 Die Autorschaft des ›Fragment[es] eines Schreibens aus Paris‹ ist ungeklärt, Kleist könnte
eine Vorlage Kotzebues oder Varnhagen von Enses verwendet haben, vgl. den Kommentar
in KD (26.02.2019).
360
Anatomie einer Störung
Die Frage, ob die vorgestellten Lesarten des ›Charité-Vorfalls‹ wirklich etwas bedeu-
ten, gar so gemeint seien, wäre falsch gestellt. Wann wäre Literatur jemals verpflich-
tet gewesen, außerliterarisch Sinn zu ergeben? Dass Literatur sich genau diesem
Ansinnen verweigert, nicht zuletzt davon handelt ja diese Anekdote. Kleists Signale
der Störung scheuchen Bedeutungen auf, können paradoxerweise aber auch selbst
entstörend wirken und eröffnen schließlich den Dialog zwischen Text und Leser auf
den verschiedensten Ebenen. Mehr kann man von einer Anekdote wirklich nicht
erwarten.
361
Matthias N. Lorenz
362
Rezensionen
Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & knapp. Zur M ediengeschichte
kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript
2017 (Edition Kulturwissenschaft, Bd. 110), 395 S. – Besprochen von Stephan Ehrig
Der Volksmund behauptet bekanntlich, in der Kürze liege die Würze. Auf weniger
kurzen knapp 400 Seiten geht der Sammelband dieser Aussage interdisziplinär-
medienhistorisch auf den Grund, indem er sich in siebzehn Beiträgen mit kleinen
Formen in der Schnittmenge zwischen Literatur, Film und Online-Formaten aus
dem deutsch- und englischsprachigen Raum auseinandersetzt.
Die Herausgeber postulieren eingangs schlüssig, dass die Karriere der kurzen For-
men mit kulturellen Errungenschaften des 17. Jahrhundert zusammenhänge, die bis
zum 19. Jahrhundert rasant an Fahrt aufnahmen: mit der Entwicklung eines (trans-)
nationalen Pressewesens, mit der Formation globaler Öffentlichkeiten und Märkte,
mit der wissenschaftlichen Professionalisierung und mit der Herausbildung neuer
Medientechnologien. Dies ist soweit nachvollziehbar, allerdings ist der Fokus des
Bandes recht wenig auf diese Vorzeit gerichtet. Die eingangs versprochenen guten
Gründe, nur den europäischen und angloamerikanischen Raum in den Blick zu
nehmen, bleiben die Herausgeber zudem leider schuldig. Die weiteren Fragestellun-
gen des Bandes sind dafür äußerst vielversprechend: So stünden in den verschiede-
nen Beiträgen zwar Leistungen und Funktionen von kleinen Formen im Zentrum,
es seien aber nicht primär Fragen des Stils und der Ästhetik, auf die sich die Auf-
merksamkeit des Bandes richte: »Vielmehr spezifiziert sich das Interesse am Kurzen
hinsichtlich der kulturellen Valenz und bezüglich des medialen Status der kleinen
Form und erweitert den Begriff damit entschieden über den literarischen Horizont
hinaus.« (11) Der Band versucht demnach, in prägnanten Beispielen die Möglich-
keiten kurzer Formen in Konstellationen aufzuzeigen, »in denen diese durch me-
diale Zurichtungen des Kurzen oder Knappen ästhetische Eigenlogiken freisetzen,
die kulturelle und soziale Effekte erzeugen.« (11) Die einzelnen Beiträge gehen also
von je einer bestimmten Praxis des Kurzen und Knappen aus, befragen diese immer
aber auch auf ihre theoretische Wertigkeit hin und lenken so den Blick auf Defini-
tionen, Funktionen, Verfahren und Ästhetiken. Dies ist besonders spannend, da es
sich somit auch um eine Sozialgeschichte des Mediums handelt. Der übergeordnete
Schwerpunkt liegt dabei auf drei Aspekten, die sich auch stringent durch alle Bei-
träge ziehen: die verschiedenen Verfahren des Erzählens, Text-Bild-Konstellationen
und vor allem Wissenskondensation. Mit diesen Aspekten will der Band letztlich
eine Annäherung von Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, Wissen
und Erzählen erreichen, die am Ende der Einleitung in der These zusammengefasst
wird, dass Formen, die sich durch Kürze und Knappheit auszeichnen, in besonderer
Weise dazu geeignet seien, das Zusammenspiel von Wissen und Erzählen zu regulie-
ren und zu gestalten (vgl. 21).
Auf diese in der Tat vielleicht etwas zu kurze und knappe Einleitung folgen nun
siebzehn Aufsätze, die auf den ersten Blick etwas eklektisch anmuten, sich aber alle
eloquent und konsequent auf die postulierten Kategorien und Perspektiven rück-
beziehen.
365
Rezensionen
Die ersten drei Beiträge beschäftigen sich mit Wechselwirkungen von Erzäh-
len und Wissen in kurzen Prosaformen der Frühen Neuzeit und der Aufklärung:
Maren Jäger erläutert am Beispiel des Apophtegmas, dass kurze narrative Formen
in der Frühen Neuzeit einen explorativen Sonderstatus innehätten, deren poetische
Lizenz eine Bestimmung der Kategorien des Erzählens erhelle, unter deren Maß-
gaben kurze erzählende Formen anträten, was wiederum den Zerfall systematischer
Wissensformen und Ordnungssysteme im 17. Jahrhundert bezeuge. Anzumerken
ist, dass die vielen unübersetzten lateinischen Zitate leider nicht dazu beitragen,
diese Erkenntnisse für ein breiteres (oder auch studentisches) Publikum umstandslos
verfügbar zu machen. Im zweiten Artikel fokussiert Janine Firges brevitas, Sprach-
verknappung und die Logik des Bildlichen. Anhand von Karl Philipp Moritz’ ›Die
Signatur des Schönen‹ (1788) stellt sie fest, dass seine ästhetische Beschreibungsvor-
gabe eigentlich sogar eine Radikalisierung seines allgemeinen brevitas-Begriffs sei,
der Sprache schlichtweg auf einen deiktischen Verweis reduziere und durch Verdich-
tung das sprachliche Material dem zu beschreibenden bildkünstlerischen Moment
annähere. Elisabetta Mengaldo wiederum setzt sich mit Ordnung und Erzählung
des »kleinen Wissens« (67) bei Georg Christoph Lichtenberg und dessen höchst
interessanter Verschränkung der Bedeutungen von Einbildungskraft für Poetik und
für die (wissenschaftliche) Erkenntnistheorie in Form von Ideenstexten in seinen
Sudelbüchern auseinander. Für diese etabliert sie eine Poetik des kleinen Wissens,
die einen stilistisch-rhetorischen (brevitas) mit einem modernen epistemologischen
Aspekt verbindet. Die für Lichtenberg zentrale Frage nach der Darstellbarkeit von
wissenschaftlichen Ereignissen in der von ihm gepflegten kurzen Textsorte des Expe-
rimentalberichts, befördere somit die »Geburt des kleinen Wissens aus dem Geiste
der kurzen Prosa« (90).
Im darauffolgenden Beitrag beschäftigt sich Michael Gamper mit Kleist und
dem Rätsel der Moderne. Gamper untersucht zunächst das Rätsel als an Beliebtheit
gewinnende und soziale Wissenshierarchien abbildende Kurzgattung um 1800, die
sich in der Frühromantik in eine Ästhetik des Rätselhaften ausweite. Anhand Kleists
untersucht er dann zwei verschiedene Aspekte: Im ersten Teil analysiert er eben jene
Rätsel-Poetik, die er für Kleist als besonders prägnantes Narrativ empfiehlt und so-
dann an ›Die Familie Schroffenstein‹, ›Penthesilea‹ und besonders nachdrücklich
an der ›Marquise von O.... ‹ illustriert. Das offensichtliche Problem hierbei ist, dass
Gamper diesen Texten eine verhältnismäßige Kürze zuschreibt, was vor allem auf
die Dramen bezogen nicht gänzlich überzeugend ist, da er hierbei die Kürze der
Gattung ›Rätsel‹ mit einem poetologischen Argument verwechselt, das er schließlich
auf Texte durchaus beachtlicher Länge überträgt. Seine Lesart des Rätselhaften als
grundlegender Teil von Kleists fiktiven Welten, in denen sich in verdichteter Form
Aspekte einer sich rasch verändernden Realität spiegelten, die die Menschen und die
sie umgebende Gesellschaft und Umwelt in immer wieder neue Verhältnisse setzten,
in denen ein »unerhörtes Spiel des Schicksals« (105) zu walten scheine, überzeugt
dafür umso mehr – aber scheint dennoch deplatziert in einem Band über kleine
Formen. Im zweiten Teil wendet er sich den in den ›Berliner Abendblättern‹ abge-
druckten Rätseln zu und offeriert zu diesen eine Lesart, die sie weniger als Rätsel per
definitionem als vielmehr als Kunsttexte darstellt, die performativ zur »anhaltenden
366
Stephan Ehrig über: Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & knapp
Reflexion über die eigene Gemachtheit [anhalten] und dieses Nachdenken auf den
Gegenstand der Darstellung« (116) übertragen sollen. Auch wenn man sich dies text-
pragmatisch schwerlich mit der Berliner Zielgruppe um 1810 ausmalen kann, so reizt
dennoch Gampers poetologische Lesart, dass Kleists Rätsel somit eine auf Explora-
tion eines Unbekannten zielende Textform, eine neue Form explorativen Erzählens
seien, das sich bevorzugt kleiner Formen verschiedener Dimensionalität bediene.
Die beiden folgenden Beiträge widmen sich Pressetexten des 19. Jahrhunderts:
Ebenfalls den ›Abendblättern‹ und ihren meist reißerischen vermischten Nachrich-
ten oder faits divers widmet sich zunächst zumindest dem Titel nach auch Michael
Homberg in seinem Beitrag, nimmt sie aber leider nur zum mediengeschichtlichen
Anlass für eine vergleichende Analyse komprimierter Informations- und Kommu-
nikationsformate in Felix Fénéons Kurztexten der Nachrichtenrubrik ›Nouvelles en
trois lignes‹ im Pariser ›Matin‹ und Alexander Kluges Film ›Vermischte Nachrichten‹
(1986). Alle drei, so sein Fazit, kultivierten eine »Ästhetik der Lücke« (138) als erzähl-
generierendes Prinzip, das über die Kolportage bloßer Merkwürdigkeiten, Kuriosa
und Skurrilitäten nach Maßgabe des infotainments hinausginge und somit die Logik
der Instanzen massenmedialer Wissensproduktion und -dissemination offenlege
(139). In einem informativen, wenn auch leider äußerst deskriptiven und wenig
analytischen Beitrag berichtet Bettina Wahrig anschließend über die europaweite
Hysterie um Vergiftungsberichte um 1850, die sich in einer Masse anekdotischer
Texte in Wissenschaftszeitungen niederschlug.
Im Folgenden nimmt der Band verschiedenste Kurzformen der Moderne un-
ter die Lupe: Patricia A. Gwozdz erörtert in ihrem Aufsatz ›Friedrich Nietzsches
Aphorismus-Kataloge als zyklisch-serielles Erzählnetzwerk‹ die Wissens- und
Informationsgesellschaft und das (wieder-)aufgeflammte interdisziplinäre Gespräch
zwischen Natur- und Geisteswissenschaft als Dreh- und Angelpunkt einer gegen-
seitigen Bereicherung nicht nur im Sinne der Analysegegenstände, sondern auch
der mixed methods. Ihr folgt Hans-Georg von Arburg, der einen kenntnisreichen
Beitrag über Adolf Loos’ polemische Schriften als prägende Form der narrativen
Architekturtheorie der Moderne vorlegt. Er präsentiert sie als kurze Texte zwischen
Wissen und Erzählen, die aus konkreten Kontexten ihr Sprengpotential erhielten
und in wechselnden medialen Umgebungen ihre Schlagkraft gewannen. Heike
Schäfer untersucht Kurztexte im Zeitalter der Beschleunigung. Sie analysiert an-
hand des Frühwerks von Gertrude Stein, wie modernistische Schriftsteller kurze
Formen literarisch nutzten, um den Wandel der Zeitkultur in ihrer Epoche mit
der literaturgeschichtlich eher randständigen Gattung des literarischen Portraits zu
reflektieren. In seinem spannenden Beitrag führt Alexander Starre die Annotation
als revolutionäres Format der modernen Wissensräume anhand des ALA–Katalogs
ein, der somit als Kurzform des gesammelten Weltwissens an der Schwelle zur
Massenproduktion von Wissensorten gelten könne. Magdalena Gronau bleibt in
der naturwissenschaftlichen Kategorie und untersucht Wissen in mathematischen
Formeln. Am Beispiel der Schriften von Karl Kraus und Justus von Liebig zeigt sie,
dass der populäre Gebrauch von Formeln, welcher de facto der wissenschaftlichen
Camouflierung von etwas Banalem diene und dabei Konzision, Präzision und Klar-
367
Rezensionen
368
Stephan Ehrig über: Michael Gamper und Ruth Mayer (Hg.), Kurz & knapp
ermöglicht. Es muss aber auch gesagt werden, dass das Buch sich als Ganzes auf
knapp 400 Seiten nicht kurzhält und somit eher zum Nachschlagen zu gebrauchen
ist – und exakt dafür ist der Band etwas zu unhandlich ediert. Da es sich um ein
derart heterogenes Feld handelt, wären Abstracts zu Beginn der Artikel sinnvoll ge-
wesen, da sich so das Nachschlagen und Einlesen erleichterte. Viele der Aufsätze
offenbaren erst nach der Hälfte, worum es ihnen eigentlich geht. Die insgesamt
etwas zu knappe und übersichtshafte Einleitung hätte die Auswahl – unabhängig
vom Gattungsproblem – deutlich schlüssiger erklären, theoretisch fundieren und so-
mit mehr thematische Kohärenz etablieren können. Weitere Lektürehilfen wären in
Form von Querverweisen innerhalb der Aufsätze oder in Form eines Index denkbar
gewesen, wenn letzterer auch weiterhin im deutschsprachigen Raum bedauerlicher-
weise unüblich ist. Diese editorischen Kritikpunkte sollen allerdings nicht vereiteln,
dass es sich bei diesem Band um eine breitgefächerte, willkommen interdisziplinäre
und stimulierende Sammlung überwiegend hervorragender und lesbarer Beiträge
handelt. Nicht zuletzt ist positiv hervorzuheben, dass Forschende verschiedener Kar-
rierestufen und Frauen und Männer in gleichen Anteilen in diesem Band vertreten
sind – ein Umstand, der gern noch mehr Schule machen darf.
369
Rezensionen
370
Vincenz Pieper über: Ariane Port, Raum – Fokalisation – Polyphonie
losgelöstes »dynamisches Geflecht, das Strukturen aufbaut und wieder löst« (66). Im
Unterschied zur poststrukturalistischen Literaturbetrachtung, die sich auf die Praxis
des Gebrauchs sprachlicher Zeichen richtet, macht Port tiefenstrukturelle Muster zu
Ersatz-Autoren, die den Text »rhythmisieren« (80).
Obwohl die Verfasserin ankündigt, den narrativen im Verhältnis zum drama-
tischen Darstellungsmodus erläutern zu wollen, setzt sie sich nur flüchtig mit der
relevanten Forschungsliteratur auseinander. Die inhaltsreiche Arbeit ›Zwischen Dra-
ma und Erzählung‹ von Holger Korthals wird mit der Begründung verworfen, dass
hier der Dichter für die Geschehensdarstellung verantwortlich gemacht werde: »Die
Frage nach einer rein textuellen Instanz, die das Geschehen ordnet und zusammen-
fügt, lässt er [Korthals] offen und hebt stattdessen die Position des Autors auf einer
extradiegetischen Ebene hervor.« (35) Allein aus diesem Grund bleiben die Vorschlä-
ge von Korthals unberücksichtigt. Das Gegenmodell der Verfasserin bleibt im Unge-
fähren. Man erfährt nicht, welcher Instanz man Wortwahl, Satzbau, Redegestaltung
und Handlungsführung zuschreiben soll. Dass eine Erzählerfigur oder eine andere
rein werkimmanente Größe nicht in Frage kommt, scheint Port zu ahnen, denn zu-
weilen deutet sie an, dass das Erzählen eine Form der Textorganisation sei, die man
nicht dem Text selbst zurechnen könne. Sie zieht in Betracht, »das Erzählen selbst«
als »strukturgebende Grundlage im Drama« (36f.) zu interpretieren. Das, was hier
missverständlich ›Erzählen‹ genannt wird, ist die fiktionale Darstellung, also eine
Form der Sprachverwendung, die als Ausdruck von Entscheidungen und Interessen
analysiert werden könnte. Abgesehen von dieser vereinzelten Bemerkung gelingt es
Port jedoch nicht, die Verfahren, aus denen die sprachlich evozierten Räume doch
letztlich hervorgehen müssen, theoretisch zu erfassen. Ein damit zusammenhän-
gendes Problem ist, dass Erzähltechnik (Darstellung) und Erzähltes (Dargestelltes)
nicht klar auseinandergehalten werden: »Die Basiserzählung stellt für jeden Text,
narrativ wie dramatisch, eine strukturelle Grundlage dar, die für die Gestaltung des
jeweiligen Textes essentiell ist.« (52) »Basiserzählung« meint hier eigentlich die Ereig-
nisfolge, die in einem Drama auf verschiedene Art und Weise (unter anderem durch
die Gestaltung erzählender Figurenrede) präsentiert wird.
In ihrer Analyse von ›Der Findling‹ möchte Port zeigen, dass die »Multiper
spektivität« der Erzählung »auf einer dynamischen, polyphon ausgerichteten Text-
struktur beruht« (67). Die polyphone Struktur muss man sich, so scheint es, als
eine wirkende Kraft vorstellen, die den Text von innen organisiert: Es handele sich
um »ein tiefenstrukturelles […] Grundmuster, das den Erzählrhythmus dynami-
siert, indem es die vokalen wie fokalen Instanzen unaufhörlich im narrativen Dis-
kurs neu positioniert« (70). Die in der Forschung häufig aufgestellte Behauptung,
dass Kleist mit einem unzuverlässigen Erzähler arbeite,2 wird von Port als »unzu-
reichend« und »inhaltsleer« (74) verworfen. Für Port ist der Erzähler lediglich eine
Stimme neben anderen. Die Beziehung der Stimmen zu den Schreibverfahren bleibt
auch an dieser Stelle ungeklärt. Durch eine gewaltsame Methode der Textsegmen-
tierung entstehen sprachliche »Blöcke« (92), die in keinen Kompositions- und Dar-
371
Rezensionen
3 Vgl. Irmgard Wagner, ›Der Findling‹. Erratic Signifier in Kleist and Geology. In: The Ger-
man Quarterly 64 (1991), S. 281–295; Marianne Schuller, Ur-Sprung. Kleists Erzählung
›Der Findling‹. In: Dies., Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Frankfurt
a. M. 1997, S. 13–60; Diethelm Brüggemann, Kleist. Die Magie, Würzburg 2004, S. 28f.
372
Vincenz Pieper über: Ariane Port, Raum – Fokalisation – Polyphonie
sen.« (128) Man weiß nicht, wie man solche Sätze verstehen soll: Versucht die Ver-
fasserin, etwas darüber auszusagen, wie Amphitryon im Rahmen des literarischen
Werks charakterisiert wird? Warum wird dann aber keine ausführlichere Rekonst-
ruktion der Figurenzeichnung vorgenommen? Wenn Port nicht eine beträchtliche
Menge von Textdaten ignorieren will, muss sie zeigen, wie die Raumwahrnehmung
der Figur mit sonstigen Aspekten der Figurendarstellung zusammenhängt. Oder
handelt es sich um eine Neubestimmung des Drameninhalts, die keinen Anspruch
auf empirische Nachprüfbarkeit erhebt, sondern bloß intellektuell stimulierend sein
soll? Jedenfalls scheint die Verfasserin die Notwendigkeit zu empfinden, das Handeln
der Figuren mit dem Begriff ›Raum‹ zu erklären und auf »emotionale Kategorien«
(270) weitgehend zu verzichten. Penthesilea, erfährt man, sei unvermögend, »den
unmittelbar wahrnehmbaren Bühnenraum für sich zu nutzen«. Sie sei »eine schwa-
che Figur, aber nicht, weil sie rast, sondern weil sie den Raum nicht beherrscht.«
(270) Vielleicht ist es ein Missverständnis, solche Sätze als unzureichend begründete
Thesen zu Kleists Figurenkonzeption zu kritisieren, doch welche Funktion haben sie
dann? Ports ungeprüfte Annahme, zwischen einem Intentionalismus, der den Text
als äußeres Zeichen innerer Zustände behandelt, und einer rein textorientierten Vor-
gehensweise wählen zu müssen, scheint eine der Hauptursachen dafür zu sein, dass
ihre Studie für Leser, die an Kleists dramatischer Technik interessiert sind, kaum
neue Einsichten bietet.
373
Rezensionen
Stephan Ehrig, Der dialektische Kleist. Zur Rezeption Heinrich von Kleists in
Literatur und Theater der DDR, Bielefeld: transcript 2018, 334 S. – Besprochen
von Petra Stuber
Es ist sehr gut, dass dieses Buch da ist, denn es gibt kaum neue Publikationen zur
Kleist-Rezeption in der DDR. Das, was an Aufsätzen und Büchern in den letzten
Jahren und Jahrzehnten erschienen ist, findet sich hier aufgenommen, diskutiert
und kommentiert. Dieses Buch ist ohne die alten Ressentiments von Ost und West
geschrieben. Der Autor, Stephan Ehrig, ist 1986 geboren, er hat in Großbritannien
studiert und geforscht und gearbeitet. Das ermöglicht ihm einen im positiven Sinn
distanzierten und von Vorurteilen freien, sachlichen und den Quellen zugewandten
Umgang mit dem Material.
Ausgangspunkt seiner Darstellung ist das Kleist-Projekt des Theaterregisseurs
Adolf Dresen in der Mitte der 1970er-Jahre am Deutschen Theater (DT) in Berlin.
Der Autor hat im Berliner Archiv der Akademie der Künste die Konzeptionspapiere
zu diesem (mittlerweile auch sonst gut dokumentierten Projekt) durchgesehen und
sieht darin ein Beispiel, »wie man die Kulturszene der DDR von innen heraus«
verstehen könne, »ohne dabei das noch immer vorherrschende Verdikt von ›Kultur
im Totalitarismus‹ bemühen zu müssen« (13). Beides, der Blick des Autors aus der
örtlichen und zeitlichen Entfernung einerseits und sein Interesse an der Kleist-
Rezeption, wie sie innerhalb der DDR vor sich gegangen sein könnte, andererseits,
macht die Stärke dieser komplexen Forschungsarbeit aus. Einfach zu lesen ist sie
nicht.
Am Beginn stehen ausführliche Vorbemerkungen über Forschungsstand und
methodische Erwägungen. Hier fällt auch die Entscheidung für die etwas umständ-
liche und unscharfe Rede vom ›dialektischen Kleist‹. Danach befasst sich ein erster
Schwerpunkt unter dem Titel ›Kanon und Korrekturen: Kleist als schwieriges Erbe‹
mit der Kleist-Rezeption in der DDR in den 1950er-Jahren. Der Autor arbeitet
akribisch Beispiele von ›Homburg‹-, ›Krug‹- und ›Amphitryon‹-Inszenierungen
durch und wählt programmatisch nicht etwa nur groß- und hauptstädtische Thea-
terarbeiten aus (wie z. B. die ›Krug‹-Inszenierung von Therese Giehse am Berliner
Ensemble 1952), die gut dokumentiert sind, sondern ohne Scheu auch Beispiele
aus der Provinz und benutzt intensiv die Archivalien aus der Theatersammlung des
Kleist-Museums in Frankfurt (Oder). Was beispielsweise die ›Deutschen Theater-
festspiele‹ am Harzer Bergtheater in Thale 1957 an extrem ideologischer Vereinnah-
mung von Kleists ›Herrmannsschlacht‹ konzipiert hatten, verschlägt einem ziem-
lich den Atem. Dass der Autor in solch einem Fall die Dinge ganz lakonisch und
sachlich darstellt, ist sehr gut (vgl. 74–83). Als sehr brauchbar für die Darstellung
der damaligen Theaterverhältnisse in der DDR erweist sich bereits hier das vom
Autor am Ende des Buches zusammengestellte Verzeichnis aller Inszenierungen von
Kleist-Texten, die es auf DDR-Bühnen gegeben hat.
Der zweite und sehr viel umfangreichere Schwerpunkt des Buches befasst sich
mit ›Utopiekrisen und Subjektwerdung: Kleist-Modelle als Kultur- und Zivilisa-
tionskritik‹ und gibt einen Überblick über die 1960er- und 1970er-Jahre. Dieser
zweite Schwerpunkt ist noch einmal unterteilt in zwei Teile, zuerst ›Literatur‹ und
374
Petra Stuber über: Stephan Ehrig, Der dialektische Kleist
dann ›Drama und Theater‹. In beiden Teilen, und das ist wiederum ein Vorzug des
vorliegenden Buches, werden sowohl gut bekannte und öfter bearbeitete Beispiele
als auch relativ unbekannte und von der Forschung wenig oder erst in jüngster Zeit
bearbeitete Beispiele vorgestellt. Im ersten Teil über die literarische Auseinander-
setzung mit Kleist in der DDR in den 1960er- und 1970er-Jahren finden sich Ab-
schnitte über Günter Kunerts Text ›Pamphlet für K.‹, das Hörspiel ›Ein anderer K.‹
und die Rede ›Heinrich von Kleist – Ein Modell‹. Danach, bevor es um Christa
Wolfs Texte, vor allem um ›Kein Ort. Nirgends‹ geht, trägt der Autor sehr erhellend
zusammen, was die neuere Forschung zu Klaus Schlesingers Felgentreu-Projekt in
Erfahrung gebracht und publiziert hat.
Im zweiten Teil des zweiten Schwerpunktes, der sich mit Drama und Theater be-
fasst, geht es um das eingangs bereits erwähnte und mittlerweile in vielerlei Hinsicht
erforschte und beschriebene Kleist-Projekt Dresens am DT in Berlin; dazu enthält
das Buch auch einige Theaterfotos aus dem Archiv des DT. Danach wird der For-
schungsstand zu Heiner Müllers Kleist-Auseinandersetzung rekapituliert, vor allem
hinsichtlich ›Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei‹.
Speziell als Theatertext wird ›Leben Gundlings‹ jedoch nicht untersucht, und es ist
auch schade, dass Müllers Theatertext ›Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution‹
nicht einbezogen wird. Müller selbst hatte diesem Stück ja die Erklärung beige-
geben, dass es Motive aus der Erzählung ›Das Licht auf dem Galgen‹ von Anna
Seghers verwende, und der Autor hat in einem frühen Abschnitt seines Buches wie-
derum darauf hingewiesen, dass Seghers Erzählungen ›Das Licht auf dem Galgen‹
und ›Die Hochzeit von Haiti‹ Kleists ›Die Verlobung von [sic!] St. Domingo‹ zum
Vorbild haben (vgl. 25). Vermutlich findet sich in Müllers Text ›Der Auftrag‹ nicht
nur eine Transformation der Seghers- Erzählung ›Das Licht auf dem Galgen‹ (und
eine Nachahmung der Sprache von Büchners ›Danton’s Tod‹), sondern darüber hin
aus auch direkte Bezugnahmen auf Kleists ›Die Verlobung in St. Domingo‹, die
nicht den Weg über Seghers gegangen sind. Nach seinen Erörterungen von Müllers
Kleist-Auseinandersetzung hat der Autor, und das ist wiederum sehr klug darge-
stellt und bislang kaum erforscht, noch zwei weitere Abschnitte aufgenommen: zum
einen zu Stefan Schütz und dessen kaum bekanntem Theatertext ›Kohlhaas. Nach
Kleist‹, zum anderen zur ersten ›Penthesilea‹-Inszenierung in der DDR, die Werner
Freese 1978 in Meiningen erarbeitet hatte.
Der dritte und letzte Schwerpunkt des Buches ist überschrieben mit ›Ernüchte-
rung und Utopieerneuerung: Kleist und das Prinzip Hoffnung‹. Hier geht es um die
Kleist-Rezeption in der Literatur und auf dem Theater in den 1980er-Jahren. Auf der
Literaturseite stehen Kapitel zu Christoph Heins ›Der neuere (glücklichere) Kohl-
haas‹, zu Peter Hacks’ ›Pamphlet für G.‹ (in angemessener Kürze), zu Christa Wolfs
›Kassandra‹, zu Heiner Müllers ›Wolokolamsker Chaussee‹ sowie zu den Kleist-
Anspielungen in Stefan Heyms Roman ›Schwarzenberg‹. Auf der Theaterseite ste-
hen Beschreibungen von Wolfgang Engels damals aufsehenerregender ›Penthesilea‹-
Inszenierung in Dresden 1986 und zu Karl Georg Kaysers Leipziger Inszenierung
der ›Herrmannsschlacht‹. Wolfgang Engels ›Penthesilea‹ war damals ein Theater-
ereignis, der Autor beschäftigt sich zu Recht ausführlich damit und druckt mehrere
Fotos und auch das Modell des Bühnenraums ab. Dass die Darstellung von Karl
375
Rezensionen
Georg Kaysers ›Hermannschlacht‹ daran anschließt, liegt wohl weniger in einer der
›Penthesilea‹ vergleichbaren theatralen Qualität und Bedeutung für das Theater in
der DDR, sondern wird vermutlich deshalb vom Autor hinzugezogen, weil sich so
ein Bogen zum Anfang des Buches schlagen lässt, zu jener haarsträubend propagan-
distischen ›Herrmannsschlacht‹ während der ›Deutschen Festspiele‹ am Bergtheater
in Thale 1957.
Das vorliegende Buch verzeichnet am Ende noch unter der Überschrift ›Nach-
beben‹ einige Produktionen zu Beginn der 1990er-Jahre und schließt (mit einer
Rückwendung auf Günter Kunert) mit der Zuversicht, dass Kleist helfe, die DDR
differenzierter zu betrachten (vgl. 301).
Das Buch ist sehr gut recherchiert, alle neueren Publikationen sind aufgenom-
men, dargestellt und kommentiert. Es ist aber auch unübersichtlich. Die verschie-
denen Ordnungen geraten immer wieder über ihre Grenzen hinaus: die zeitliche
Abfolge, die Scheidung von Literatur auf der einen und Drama und Theater auf
der anderen, die Darlegung des Forschungsstandes und die Ambition des Autors
bei der Besprechung der literarischen Texte. Das führt beispielsweise im zweiten
Schwerpunkt noch zum Einschub zweier ›Exkurse‹, der eine zur Eröffnung der
Kleist-Gedenkstätte in der Garnisonschule in Frankfurt (Oder) 1969 und der andere
zur Kleist-Ehrung 1977.
Aber man muss dieses kenntnisreiche Buch ja nicht von vorn bis hinten durch-
lesen. Einzelne Abschnitte aufzuschlagen, ist eine sehr viel angemessenere Lektüre-
weise, sehr anregend und sehr informativ.
376
Mario Grizelj, Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von L
iteratur
(Klopstock – Kleist – Brentano), Paderborn: Wilhelm Fink 2018, 307 S.–
Besprochen von Gesa Dane
Die vorliegende Studie ist ein Beitrag zu der in den Literaturwissenschaften seit etwa
einem Jahrzehnt lebhaft geführten Diskussion über die komplexen Bezüge zwischen
Literatur und Religion. Sie zeigt sich über diese Debatten glänzend informiert,
nimmt viele ihrer Fäden auf und führt sie zu einer pointierten These zusammen:
Die Literatur habe seit dem 18. Jahrhundert nicht nur religiös konnotierte Motive
und Sprechweisen verwandelt, ihre genuinen Formprobleme, die Weise also, wie sie
sich in semiotischer und medialer Hinsicht auf Unaussprechliches, Uneindeutiges
und Transzendentes bezieht, sei vielmehr von religiös-liturgischen Modellen und
Konzepten bestimmt. Seit die Ästhetik im 18. Jahrhundert – bei Alexander Gottlieb
Baumgarten – die Sinnlichkeit als eine eigene epistemische Größe entdeckt habe, sei
sinnliche Erkenntnis generell »als polysensorielles und multimediales Ensemble von
Sprache, Mimik, Gestik, Körper, Metrik, Rhythmus, Musik, Figur, Bild und pikto-
ralen Mustern« (88) konzipiert worden. Mit dieser Wende des ästhetischen Denkens
sei Literatur aber auf Erfahrungen des religiösen Raums und auf liturgische Prakti-
ken verwiesen worden, die ihrerseits das Undarstellbare zur Darstellung zu bringen
beanspruchten. Dies macht Grizelj an der Eucharistie fest, in der, nach katholischer
Lehre, die Transsubstantiation, die Wandlung erfolgt, von Brot und Wein zu Leib
und Blut Jesu. Die Eucharistie sei ein »bis in die Moderne hinein wirkendes Paradig-
ma der formalen Auseinandersetzung mit der Darstellung des Undarstellbaren« (33)
gewesen und liege den Formproblemen der Literatur als Modell zugrunde.
Diese ambitionierte These wird vor allem in religionshistorischer und theologi-
scher Hinsicht diskutiert, wobei der Verfasser den Anspruch erhebt, sich stärker an
die theologischen Debatten anzuschließen und »damit für die Philologie im engeren
und für medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven im weiteren Sinne neues
Terrain« (40) zu gewinnen. Die Auseinandersetzung mit den die Diskussion bestim-
menden religions- und kulturhistorischen Thesen führt er denn auch differenziert,
so etwa mit der These von der Kunstreligion um 1800 und auch mit dem Konzept
der Säkularisierung, die beide auf einleuchtende Weise problematisiert werden, um
schließlich als letztlich unangemessen beiseitegelegt zu werden. Zu Recht beschränkt
sich der Verfasser darauf, vom »Nachleben des Religiösen in der Literatur« (10) zu
sprechen. Das, was er über die religionshistorischen und theologischen Hintergrün-
de der Eucharistiefeier im zweiten Teil seiner Untersuchung als einer multimedialen
und polysensoriellen ars celebrandi beibringt, ist beeindruckend. Dazu gehören auch
die einleitenden Bildbeschreibungen von sechs abgedruckten höchst aufschlussrei-
chen piktoralen Darstellungen der Eucharistie, insbesondere die Hostienmühlen
bzw. die Eucharistischen Mühlen (vgl. 22f.) aus dem 15. Jahrhundert, deren Existenz
freilich auch auf Zweifel an dem Wundergeschehen schließen lassen könnte.
Grizelj wendet sich erst im Anschluss an seinen theoretisch angestrengten
200-Seiten-Parcours – auf knapp 60 Seiten – literarischen Texten zu, die er als Be-
lege für seine These interpretiert: Klopstocks Oden, Kleists ›Die heilige Cäcilie oder
die Gewalt der Musik‹ und Brentanos Emmerick-Schriften. Schon diese D isposition
377
Rezensionen
ist misslich und erweist sich als ausgesprochen problematisch, denn damit wird ver-
säumt, die exponierte Eucharistie-These zunächst an poetologischen Texten des
18. Jahrhunderts nachzuweisen, an Texten von Lessing, Herder, Sulzer, Goethe,
Moritz u. a., was ja aus vielerlei Gründen naheliegend gelesen wäre. Stattdessen
stützt er sich lediglich auf Re-Interpretationen einiger weniger ästhetikgeschicht-
licher Studien, beispielsweise der von Petra Bahr zu Baumgarten (Tübingen 2004),
und versucht plausibel zu machen, dass die Konzeptionen von Literatur in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich generell aus den ästhetisch-philosophischen
Problematisierungen herleiten lassen können. Die Folge dieser methodischen Aus-
klammerung der Poetologie ist eine gravierende Verkürzung des zugrunde gelegten
Literaturbegriffs auf das Charakteristikum der »Uneindeutigkeit« bzw. »uneindeuti-
gen Eindeutigkeit« (44), mit der sich der Verfasser freilich den argumentativen Vor-
teil verschafft, eine Verbindung zur religiös-liturgischen Praxis herzustellen. Doch
dass Literatur seit Klopstock, Lessing, Goethe und Herder – anstelle von Johann
Gottfried Herder spricht Grizelj von Johann Gottlieb Herder (41) – vor allem als
Stimulierung der Einbildungskraft verstanden wurde, die auch Sinnlichkeit und Er-
kenntnisvermögen, ja die ganze Körperlichkeit des Menschen ergreift – diese funda-
mentale Annahme verkennt er. »Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft
und Gemüt, das Land der Seelen«, heißt es etwa bei Herder.1
In der Einbildungskraft und in dem rhetorischen Konzept der enargeia, also der
Affizierung des Gemüts durch lebhaft erscheinende Vorstellungen von Abwesen-
dem, fanden die Autoren von Lessing bis Tieck die Brücke für die Darstellung des
Undarstellbaren, für all das, wofür der Verfasser meint, die Eucharistie als literarische
Formatierungsvorlage bemühen zu müssen. In einem argumentativen Salto mortale
beansprucht er dies selbst für protestantische Autoren wie Klopstock und Kleist. So
schließt er zwar an die für die Klopstock-Forschung bahnbrechende Untersuchung
des protestantischen Theologen Martin Fritz an, doch während dieser historisch
völlig überzeugend nachweist, dass die »Heilige Poesie« für Klopstock ein Mittel ge-
wesen ist, um den Geist des Einzelnen über sich selbst hinauszuführen,2 behauptet
Grizelj schlichtweg, dass das Gedicht »selbst […] die Gotteserfahrung« sei, also »in
der Form des singenden poetischen Ichs einen die diesseitige Welt transzendierenden
Modus gefunden« habe (249). Hier wie in den anderen Klopstock-Interpretationen
fällt auf, wie wenig der Verfasser sich eigentlich mit literarischen Texten ausein-
andersetzt, stattdessen Thesen aus bereits vorliegenden literaturwissenschaftlichen
Interpretationen selektiv aufnimmt und auf seine Zwecke hin zuspitzt.
Textbezogener verfährt Grizelj im Abschnitt über Kleists Erzählung ›Die heilige
Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹. Hier knüpft er an die formale Struktur einer
Vielzahl von Stimmen und Schriften an, die von dem Wunder der Errettung des
Klosters und der Geistesverwirrung der Bilderstürmer berichten. Dadurch bleibe
das Rätsel letztlich unaufgelöst. Die »unhintergehbare Uneindeutigkeit und Nicht
1 Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Ders., Werke in
zehn Bänden, Bd. 7, hg. von Hans Dieter Irmscher, Frankfurt a. M. 1991, S. 577.
2 Vgl. Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-
religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011, S. 473f.
378
Gesa Dane über: Mario Grizelj, Wunder und Wunden
3 Es handelt sich um Kleists Ankündigung von Achim von Arnims ›Halle und Jerusalem‹ in
den ›Berliner Abendblättern‹ (29. Dezember 1810).
4 Gotthold Ephraim Lessing, Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt. In:
Ders., Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 9, hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson,
Frankfurt a.M. 1993, S. 53–90, hier S. 57.
379
Rezensionen
Wunder sind.«5 Es ist überraschend zu sehen, wie eine Monographie mit dem An-
spruch, etwas über Wunder und Wunden, vor allem mit Bezug auf die Literatur
der zweiten Hälfte des 18. und des Beginns des 19. Jahrhunderts, zu sagen, Lessings
Werk so gut wie vollständig ignorieren kann. Lessing steht für Grizelj, so ist zu
vermuten, in der Reihe der evangelisch geprägten Denker (vgl. 183), von Semler bis
zu Eichhorn, von Paulus bis zu Bultmann und Drewermann, denen Grizelj »meta
morphorisierende Marginalisierung des Wunderhaften des Wunders« zuschreibt,
eine »vor allem protestantische […] Debatte« (186), gegen die Grizelj innerhalb
des Protestantismus eine Tendenzwende ausmacht (vgl. 187f.). Doch wenn er dann
feststellt, die sinnliche Dimension des Wunders würde besonders in der protestan-
tischen Theologie vernachlässigt (vgl. 195), so wird deutlich, wo für ihn die Scheide-
linie verläuft.
Hier macht sich ein grundlegendes Manko dieser Untersuchung bemerkbar: Es
liegt ihr kein Religionsbegriff zugrunde, der jenseits der Konfessionen angesiedelt
ist. Der Glaube an das Geheimnis der Eucharistie ist nun einmal – nachdem im
Laufe des 18. Jahrhunderts das Wunder als Möglichkeit des Welt- und Wirklichkeits
verständnisses obsolet geworden ist – nur noch eine Angelegenheit des an den Dog-
men der katholischen Kirche orientierten gläubigen Subjekts und hat deshalb als
generelles Interpretament der Literatur eine sehr begrenzte Reichweite.
5 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft. In: Ders., Werke
und Briefe in 12 Bänden, Bd. 8, hg. von Arno Schilson, Frankfurt a. M. 1989, S. 437–445,
hier S. 439.
380
Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck (Hg.), Unarten.
Kleist und das Gesetz der Gattung, Bielefeld: transcript 2019, 416 S. – Besprochen
von Adrian Robanus
Der von Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck herausge-
gebene Band ›Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung‹ versammelt Aufsätze
zu Gattungsfragen in Kleists Werk. Der Untertitel geht auf Derridas Artikel ›Das
Gesetz der Gattung‹ zurück, der den konzeptuellen Ausgangspunkt bildet.1 Die von
den Herausgebern verfasste Einleitung setzt ein mit Überlegungen zu »Kleists Gat-
tungsarbeit an Brief und Tragödie« (9). Schon anhand von Kleists Briefen werde die
Frage der Gattungszuordnung virulent, da sich diese zwischen der Referenz auf Le-
benswelt und Fiktionalität bewegen. Das zeige sich auch an der Fülle von fingierten
Briefen in Kleists literarischem Werk.
Die titelgebende Kategorie der »Unartigkeit« wird zunächst als »Verstoß gegen
Normpoetiken« (12) bestimmt. Die Herausgeber zeigen anhand des Briefes an
Auguste Helene von Massow vom 13. und 18. März 1793, inwiefern Kleists Spiel
mit gängigen Briefformen sich als Verstoß gegen die Gattungskonventionen werten
lässt. Der Terminus der »Unart« taucht auch bei Kleist selbst auf, etwa in einem
Brief an Adolphine von Werdeck vom 28. und 29. Juli 1801. Um 1800 geht es hier
zunächst um einen moralischen Begriff, so wie man von unartigen Kindern spricht.
War Unart auch gebräuchlich im Sinne von ›etwas Unnatürliches tun‹, so verkehrt
sich dieses Verhältnis, wenn, etwa in der Genieästhetik des Sturm und Drang, ge-
rade das Unartige als das Natürliche gilt. Rekurriert wird auch auf den Kontext
der Naturgeschichte, in der der Artbegriff Lebewesen umfasst, die sich miteinander
fortpflanzen können. Sich selbst »angebohrne Unart« (DKV IV, 255) zuzuschreiben,
wie Kleist das tut, heißt dann, Art und Unart in eine naturgeschichtliche Kontra-
position zu setzen.
Insgesamt begreifen die Herausgeber Kleists Poetologie der Unart in Anschluss
an Werner Michler als Teil einer Gattungsarbeit, die naturgeschichtliche und litera-
rische Gattungen miteinander kollidieren lässt und sie neu anordnet. Das exempli-
fizieren sie anhand von ›Die Familie Schroffenstein‹ und in Anlehnung an Nicolas
Pethes2 als »Gattungsbastard« (27). Das Stück rekurriere auf die Begriffe der Art
und der Gattung in ihrer die Diskurse kreuzenden Vieldeutigkeit. Insgesamt wird in
Kleists Werk ein »›Wirrwarr‹, gestiftet von unartigen Briefen und Tragödien« (29),
konstatiert. Die Fragestellung des Bandes schließt an etablierte Forschung zur Frage
der spezifischen Gattungsarbeit Kleists an.3 Sowohl Kleists Beiträge zu verschie-
1 Jacques Derrida, Das Gesetz der Gattung [1980]. In: Ders., Gestade, aus dem Franzö
sischen von Monika Buchgeister, Wien 1995, S. 245–284.
2 Vgl. Nicolas Pethes, Poetik der Adoption. Illegitime Kinder, ungewisse Väter und juristi-
sche Elternschaft als Figurationen von Kleists Ästhetik. In: Ders. (Hg.), Ausnahmezustand
der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, Göttingen 2011, S. 324–346, hier
S. 346.
3 Vgl. u. a. Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment
– Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013.
381
Rezensionen
4 Michael McKeon, Genre theory. In: Ders. (Hg.), The Theory of the Novel. A Historical
Approach, Baltimore 2000, S. 1–4, hier S. 4.
382
Adrian Robanus über: Allerkamp, Preuss und Schönbeck (Hg.), Unarten
5 Die Autorschaft Kleists ist allerdings nicht eindeutig, wie Kling in seinem Beitrag selbst
anmerkt.
383
Rezensionen
Hund‹6 (BA, Bl. 8, 33f.) und ›Mutterliebe‹ (BA, Nr. 7, 27). Jonas Teupert schließ-
lich erschließt die Gewaltkritik in zwei Fabeln Kleists entlang der Konzepte der
Dressur, der Führung und der Erziehung. ›Die Hunde und der Vogel‹ und ›Fabel
ohne Moral‹ liest Teupert als selbstreflexiv-metakritische Beobachtungen des Erzie-
hungsanspruches der Fabel. Durch die Abwesenheit einer eindeutigen Moral und
durch die Polyvalenz dieser Fabeln eröffnet sich in ihnen ein kritischer Konnex von
Erziehung und Dressur.
Der facettenreiche Band versammelt eine Vielzahl von Herangehensweisen, häu-
fig diskursgeschichtlich, zum Teil mit psychoanalytischen Einschlägen, im Einzelfall
auch eher ideengeschichtlich oder queertheoretisch. Diese Vielfalt der Methoden ist
zu begrüßen – allerdings geht in manchen Beiträgen der rote Faden des Oberthemas
etwas verloren. Der Begriff der Unart taucht dann nur beiläufig metaphorisch, am
Rand der Artikel oder gar nicht auf. Das ist eigenartigerweise insbesondere im Ab-
schnitt zu den Tierarten der Fall – mit der begrüßenswerten Ausnahme des Artikels
von Sebastian Schönbeck, in dem die in der Einleitung skizzierten Überlagerungen
der diskursiven Ebenen von Unartigkeit deutlich aufgegriffen werden. Eine der-
artige Bezugnahme hätte artikelübergreifend wohl für noch größere Kohärenz des
Bandes gesorgt. Auffällig ist die ungewöhnlich hohe Frequenz etymologischer Her-
leitungen zur Fundierung oder Unterstützung von Argumenten in einigen Beiträgen
des ersten Teils. Die Einbettung in wissensgeschichtliche Kontexte, insbesondere
aus der Naturwissenschaft und der Naturgeschichte, gehört zu den großen Stärken
vieler Beiträge. Auch die mediengeschichtliche Theoretisierung und Situierung der
›Berliner Abendblätter‹ in den entsprechenden Artikeln ist sehr überzeugend. Ins-
gesamt ist der Band ein innovativer Beitrag zur Kleist-Forschung, der bestehende
Gattungsdiskussionen produktiv weiterführt und nicht zuletzt die besondere Rolle
der Tiere in Kleists Werk angemessen berücksichtigt.
6 Der Text ist abgedruckt in der Rubrik ›Polizeiliche Tages-Mittheilungen‹ und trägt dort
keinen Titel. Schönbeck hat den Titel dem Register der reprographischen Nachdrucke
Helmut Sembdners entnommen.
384
Nachruf
Barbara Wilk-Mincu
Horst Häker †
Der Wunsch zu Horst Häkers 90. Geburtstag, er möge noch einige Jahre in guter
Gesundheit verbringen,1 hat sich leider nicht erfüllt. Einen Monat vor seinem
91. Geburtstag ist er am 20. Dezember 2017 gestorben.
Sein Leben bis 1945 hat er in einer Autobiographie beschrieben, die er mit 84 Jah-
ren ›Ohne Tagebuch‹ aus der Erinnerung verfasst hatte und in der Kleist noch gar
nicht vorkommt.2 Geboren wurde er am 18. Januar 1927 in Berlin, wo er sein ganzes
Leben verbringen sollte. Ganz am Ende des Krieges wurde sein Jahrgang noch ein-
gezogen, und er musste an die Ostfront, die damals bereits an der Oder-Neiße-Linie
verlief. Glücklicherweise kam er unversehrt wieder nach Hause. Er hatte vor die-
sem Einsatz eine Lehre bei der AEG mit dem Ziel Industriekaufmann begonnen.
Nach dem Krieg konnte er sein Abitur an der Vorstudienanstalt, die die Sowjetische
Militäradministration an der Humboldt-Universität zu Berlin eingerichtet hatte,
nachmachen. An dieser Universität begann er danach auch sein Lehramtsstudium
der Germanistik und Anglistik. 1952 wechselte er an die Freie Universität Berlin,
wo er den Abschluss machte. 1954 trat er in den Berliner Schuldienst ein. Das
Referendariat und seine weitere Laufbahn absolvierte er am Lessing-Gymnasium in
Berlin-Wedding. 1964 kam er als Oberstudiendirektor an die Heinrich-von-Kleist-
Oberschule (Gymnasium) in Berlin-Tiergarten. Hier erst wurde sein Interesse an
Heinrich von Kleist geweckt. 1977 feierte die Schule den 200. Geburtstag Kleists
mit Veranstaltungen und Publikationen. In der Folgezeit wurde Häker zu einem
bedeutenden Kleistforscher. Bereits in den Jahren 1980 bis 1990 erschienen Aufsätze
von ihm in verschiedenen Zeitschriften, u. a. im ›Kleist-Jahrbuch‹.
Nach der Wiedervereinigung nahm Häker Kontakt zum Kleist-Museum in
Frankfurt (Oder) auf, damals noch Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte. Er nahm
nun an Symposien teil, hielt Vorträge und schrieb Aufsätze für die ›Beiträge zur
Kleist-Forschung‹ und die Kolloquien-Bände des Museums. Dem Trägerverein des
Museums, dessen Gründungsvorsitzender er war, gehörte er von 1995 bis zu seinem
Tod an, die ersten fünf Jahre als Vorsitzender. Er war für das Kleist-Museum immer
ein wichtiger Mentor. Nach der Herausgabe seiner gesammelten Aufsätze von 1980
bis 2002 durch das Kleist-Archiv Sembdner der Stadt Heilbronn3 publizierte er ab
2003 überwiegend in den ›Heilbronner Kleist-Blättern‹ des Archivs. In seinem ers-
ten Aufsatz 1980 behandelte er ausführlich eine Graphik, die 1801 oder 1802 in der
1 Vgl. Barbara Wilk-Mincu, »Ein Plädoyer für Kleist.« Horst Häker zum 90. Geburtstag.
In: Gedankenstriche. Ein Journal des Kleist-Museums 2017, S. 111–114.
2 Vgl. Horst Häker, Ohne Tagebuch. Von 1927 bis 1945, Jena 2013.
3 Vgl. Horst Häker, Überwiegend Kleist. Vorträge, Aufsätze, Rezensionen 1980–2002, Heil-
bronn 2003.
387
Barbara Wilk-Mincu
Zeitschrift ›Brennus‹ erschienen war und Kleist im Mittelpunkt zeigte: ›Le Tableau
parlant du IX. Siècle, ou le Nouvel Âge d’Or‹.4
Kleists Leben und seine Aufenthaltsorte, besonders Berlin, waren weitere Themen
seiner Beschäftigung. Zu ›Kleists Berliner Aufenthalte[n]‹ organisierte er sogar eine
Ausstellung,5 die er 1995 noch einmal aufnahm und in der er die Bedeutung Berlins
für Kleists Leben und Werk folgendermaßen schilderte: »Berlin, die Hauptstadt;
Berlin, die ›Königsstadt‹ – das ist für Kleist in der Dichtung und im Leben der ent-
scheidende Ort der Bewährung.«6 Im Rahmen der Tagung der Kleist-Gesellschaft
2004 bot Häker eine Führung zu den Kleist-Orten in Berlin-Mitte an: »Heinrich
von Kleist – Wege am Gendarmenmarkt«. Zudem konnte Häker Kleists frühen
Berliner Aufenthalt bei Samuel Catel 1788 klären.7
Wenn Häker Aufsätze zu Werken Kleists schrieb, handelte es sich nicht um die
üblichen Interpretationen, sondern um Quellenforschung und um ›Anspielungen
und Bezüglichkeiten‹, die er in Kleists Texten entdeckte und die meist politisch
gedeutet werden konnten.8
Die Werkstatt, in welcher Kleist in seinem letzten Lebensjahr seine Meisterschaft
der verschlüsselten Anspielung nicht zuletzt politischer Provenienz vollendet hat,
ist das Institut der ›Berliner Abendblätter‹; seine Arbeit als Herausgeber, Redakteur
und wichtigster Autor der Zeitung hat Fähigkeiten des Schreibens wirksam werden
lassen, die vorher weniger hervorgetreten waren. Der Dichter Kleist, der nach dem
Untergang der ›Abendblätter‹ die ›Verlobung‹, den ›Zweikampf‹ und den ›Homburg‹
schreibt, ist ein anderer als der Dichter des ›Amphitryon‹ und der ›Penthesilea‹.9
Häker hat sich mit seinen Quellenforschungen und Kleists ›Bezüglichkeiten‹ im
Wesentlichen auf diese vier Werke konzentriert.10 Aber auch mit dem Wortschatz
4 Vgl. Horst Häker, Ein preußischer Tiergarten. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 17
(1980), S. 337–356.
5 Vgl. Horst Häker, Kleists Berliner Aufenthalte. Ein biographischer Beitrag, Katalog zur
gleichlautenden Ausstellung in der Landesbildstelle, Berlin, Berlin 1989.
6 Vgl. Horst Häker, Kleist und Berlin. Anlässlich der Ausstellung ›Kleists Berliner Aufent-
halte‹ am 26. September 1995 in der Stadtbücherei Heilbronn, Heilbronn 1995.
7 Vgl. Horst Häker, Kleists Aufenthalt bei Catel in Berlin im Jahr 1788. In: KJb 1988 / 89,
445–454.
8 Vgl. Horst Häker, »(mit mancherlei Beziehungen)«. Zur Technik von Kleists Anspielun-
gen und Bezüglichkeiten. In: Peter Ensberg und Hans-Jochen Marquardt (Hg.), Kleists
Beitrag zur Ästhetik der Moderne, III. Frankfurter Kleist-Kolloquium, 16.–17. Oktober
1998, Stuttgart 2002, S. 97–113.
9 Häker, »(mit mancherlei Beziehungen)« (wie Anm. 8), S. 97.
10 Vgl. Horst Häker, Neue Quellen zu Beiträgen Heinrich von Kleists in seinen ›Berliner
Abendblättern‹. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 41–46; ders.,
Kleist und die Akademieausstellung von 1800. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1994,
S. 33–42; ders., Wessen Recht und Ehre? Parabolische Hinweise in Kleists Erzählung
›Der Zweikampf‹. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2001, S. 129–148; ders., Kleists ›Prinz
Friedrich von Homburg‹ als politische Äußerung. In: Peter Ensberg und Hans-Jochen
Marquardt (Hg.), Politik-Öffentlichkeit-Moral. Kleist und die Folgen, I. Frankfurter
Kleist-Kolloquium 18.–19. Oktober 1996, Stuttgart 2002, S. 103–119.
388
Horst Häker †
der Klänge und Töne in Werken Kleists beschäftigte er sich,11 ebenso mit Kleists
Wunschtraum von einem »Grünen Haus«, in dem er mit Wilhelmine wohnen woll-
te,12 oder mit der Datierung von Kleists Rügenreise und seiner Bekanntschaft mit
Ludwig von Brockes.13 Häker rezensierte außerdem die Aufführungen zweier Kleist-
Opern und einen Roman des Polen Stefan Chwin (deutsch ›Tod in Danzig‹), in dem
Kleist eine Rolle spielt.14
Das Kleist-Museum vertritt neben den drei Dichtern der Familie von Kleist auch
das romantische Schriftsteller-Ehepaar Friedrich und Caroline de la Motte Fouqué.
Ab 1994 beschäftigte sich Häker intensiv mit Fouqué, er meinte selbst, dass einige
Zeit für ihn Fouqué sogar wichtiger war als Kleist. Allerdings sah er Fouqué meist
in Verbindung mit Kleist oder verglich beide, wobei er zunächst ihre Ähnlich-
keiten hervorhob. Nach dem Aufsatz ›Kleist und Fouqué‹ folgte ›Fouqué – Kleist –
Brandenburg‹, wobei er jetzt den großen Unterschied zwischen beiden herausstellte.
2002 veranstaltete das Kleist-Museum die Ausstellung ›Der Romantiker Friedrich
de la Motte Fouqué und Kleist‹, an der Häker mit Einführung, Lebenslauf und
Kommentaren und einem erheblichen Teil der Exponate maßgeblich beteiligt war.15
Das Begleitheft dokumentiert, welche Schätze seine private Sammlung enthält; den
Reiterdegen Fouqués holte Häker persönlich vom Pfarramt Nennhausen ab, wie er
selbst stolz berichtete. Anhand des Briefes, den Kleist am 15. August 1811 an Fouqué
schrieb, beschäftigte sich Häker auch mit der konkurrierenden Situation zwischen
beiden: »Vielleicht kann ich Ihnen in Kurzem gleichfalls ein vaterländisches Schau-
spiel, betitelt: der Prinz von Homburg vorlegen, worin ich auf diesem […] Felde
mit Ihnen in die Schranke trete.« (DKV IV, 501)16 1995 erschienen von Häker der
Band ›Friedrich de la Motte Fouqué und Nennhausen (1777–1843)‹ in der Reihe
der ›Frankfurter Buntbücher‹ des Kleist-Museums sowie von ihm kommentierte
Faksimile-Ausgaben von Autographen Fouqués und Achim von Arnims.17 Die Ver-
11 Vgl. Horst Häker, Mit der Musik der Rede. Zum Wortschatz der Klänge und Töne in
Kleists Werken. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2002, S. 89–102.
12 Vgl. Horst Häker, Der Traum vom grünen Haus. Eine Kleist-Phantasie. In: HKB 20,
104–109.
13 Vgl. Horst Häker, Kleist auf Rügen. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 2000, S. 225–235.
14 Vgl. Horst Häker, Hans Werner Henzes Oper ›Der Prinz von Homburg‹. Zur Premiere
einer Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin am 21. September 1997. In: Beiträge
zur Kleist-Forschung 1998, S. 212–214; ders., ›Die Nacht des Cherub‹. Zur Uraufführung
einer Kleist-Oper. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1999, S. 202–205; ders., Ein polni-
scher Schriftsteller über Kleist. In: HKB 21, 210–214.
15 Vgl. Der Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué und Heinrich von Kleist. Begleitheft
zur Ausstellung des Kleist-Museums, 7. Mai bis 25. Juni 2002, Frankfurt (Oder) 2002.
16 Vgl. Horst Häker, Vaterländische Schauspiele und »Prästabilierte Verwandtschaft«.
Ein Beitrag zum Thema »Kleist und Fouqué«. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1994,
S. 121–139; ders., Fouqués Bemühungen um den Prinzen von Homburg und die Schlacht
bei Fehrbellin. In: Jahrbuch der Fouqué-Gesellschaft Berlin-Brandenburg 2001 / 02,
S. 7–27.
17 Heinrich von Kleist und Achim von Arnim. Zwei Autographen aus dem Jahre 1810,
mit Faksimiles und einem Kommentar von Horst Häker, Frankfurt (Oder) 1995; Drei
389
Barbara Wilk-Mincu
bundenheit zwischen Fouqué und Kleist, die trotz aller Gegensätzlichkeiten vor-
handen war, zeigt Fouqués Gedicht ›Abschied von Heinrich von Kleist‹ von 1812,
das Häker interpretierte.18
Bereits 1987 stieß Häker in seiner Monographie über ›Prinz Friedrich von Hom-
burg‹ und ›Die Verlobung in St. Domingo‹19 auf eine weitere Person seines Interes-
ses, die Prinzessin Marianne von Preußen, geb. von Hessen-Homburg. Er postulierte
eine Fassung des ›Homburg‹, die Kleist der Königin Luise widmen wollte, indem er
die Rolle der Kurfürstin besonders hervorhob, und eine nach ihrem überraschenden
und viel zu frühen Tod veränderte Fassung für die Prinzessin Marianne von Preußen
mit stärkerer Betonung von Natalie. 1993 schrieb er den Aufsatz ›Prinzessin Mari-
anne von Preußen geb. von Hessen-Homburg und Kleist‹, in dem er bereits Stellen
aus dem Tagebuch der Prinzessin zitierte.20 Die Familie der früheren Großherzöge
von Hessen erlaubten ihm als erstem, auch in den bis dahin gesperrten Teil des im
Hessischen Staatsarchiv Darmstadt liegenden Tagebuchs Einblick zu nehmen und
ihn zu publizieren. Der bis dahin gesperrte Teil enthüllt die Liebe der Prinzessin
zu Anton Graf Stolberg-Wernigerode. Da aber beide verheiratet waren, bemühten
sie sich durch gemeinsame Gebete, es nicht zum Ehebruch kommen zu lassen. Die
Zitate aus dem Jahr 1822 belegen, dass die Prinzessin, wenn sie nach Potsdam oder
von dort nach Hause fuhr, am Kleistgrab vorbeikam, bei dessen Anblick sie sich
wünschte, ebenfalls mit ihrem Geliebten wenigstens im Grab vereint zu sein. Häker
glaubte deshalb, dass die Ablehnung der Aufführung des ›Prinz Friedrich von Hom-
burg‹ nicht von ihr, sondern vom König und seinen Militärs stamme, und dass
diese die Prinzessin vorgeschoben hätten. 2006 hat Häker dann diesen Tagebuch-
teil – es handelt sich um den Zeitraum vom 1. Januar bis 21. Juli 1822 – veröffent-
licht.21 Zuletzt folgte ein Aufsatz über den Aufenthalt der Prinzessin in Frankfurt
(Oder) 1813.22 Es war der Beginn der Freiheitskriege und Berlin im Mai 1813 wie-
Briefe Friedrich de la Motte Fouqués von 1823, 1824 und 1829, mit Faksimiles und einem
Kommentar von Horst Häker, Frankfurt (Oder) 1997; Zwei Handschriften Friedrich de la
Motte Fouqués. Ein Brief von 1802 und ein Gedicht von 1831, mit Faksimiles und einem
Kommentar von Horst Häker, Frankfurt (Oder) 2001.
18 Vgl. Horst Häker, Fouqués Gedicht ›Abschied von Heinrich von Kleist‹. In: HKB 20,
110–113.
19 Vgl. Horst Häker, Heinrich von Kleist, ›Prinz Friedrich von Homburg‹ und ›Die Verlobung
in St. Domingo‹. Studien, Beobachtungen, Bemerkungen, Frankfurt a. M. 1987, Nach-
druck Heilbronn 2012.
20 Vgl. Horst Häker, Prinzessin Marianne von Preußen geb. von Hessen-Homburg und
Kleist. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1993, S. 100–108.
21 Tagebuch der Prinzessin Marianne von Preußen, geb. von Hessen-Homburg, 1. Januar
– 21. Juli 1822, hg. und in einem Vorwort erläutert von Horst Häker, Heilbronn 2006.
Häkers Vortrag aus Anlass der Präsentation dieses Werkes am 15. November 2006 in der
Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin kann im Internet als mp3-Datei ange-
hört werden: http://www.kleist.org/index.php/bild-und-tondokumente/170-das-tage-
buch-der-prinzessin-marianne-von-preussen (09.08.2019).
22 Vgl. Horst Häker, Prinzessin Marianne von Preußen in Frankfurt (Oder). Aus ihrem Tage-
buch von 1813. In: HKB 20, 114–117.
390
Horst Häker †
der von den Armeen Napoleons bedroht. Sie musste fliehen und kam zunächst in
Frankfurt (Oder) an. Eigentlich sollte die Flucht wohl weitergehen, aber da sich die
Lage entspannte, blieb sie vorerst, d.h. fast vier Wochen, in Frankfurt und machte
sogar Ausflüge, z. B. zum Schlachtfeld von Kunersdorf, auf dem Ewald Christian
von Kleist tödlich verwundet worden war.
Wie zur Prinzessin Marianne von Preußen hat Häker auch über weitere Personen
aus dem näheren oder weiteren Umfeld Kleists und Fouqués geschrieben: Mitglieder
der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin,23 Peter von Gualtieri, Fried-
rich Gentz und Goethe,24 Bekanntschaften Adam Müllers und Kleists 1810 / 11,25
Dietrich Arnold Friedrich Sachse,26 Ernst von Houwald27 und Oberst Christian
von Massenbach.28 Auch Kleistforscher wie Sigismund Rahmer,29 Arthur Eloesser30
und Richard Samuel31 waren sein Thema.
Häker hat sich auch um die Kleist-Gesellschaft verdient gemacht, für die er jahre-
lang am 21. November den Kranz der Kleist-Gesellschaft am Kleistgrab niederlegte,
sowie auch den Kranz des Kleist-Museums. Seinen Nachfolgern legte er ans Herz,
immer weiße und rote Blumen zu verwenden, da dies die Farben des Wappens
der Familie von Kleist seien. Mit großer Zustimmung in der Heinrich-von-Kleist-
Gesellschaft hat Horst Häker auch immer für den 10. Oktober als Kleists Geburts-
tag plädiert.32 Lange Zeit hatte man der Eintragung im Kirchenbuch (18. Oktober)
391
Barbara Wilk-Mincu
geglaubt, obwohl Einträge, die der Pfarrer nur von Verwandten erfragen konnte,
oftmals falsch waren. Schließlich ist Häker bestätigt worden, und auf dem Grabstein
Kleists steht seit 2011 zum ersten Mal sein ›richtiger‹ Geburtstag.
Eine große Enttäuschung musste Häker jedoch gegen Ende seines Lebens
erleiden. Die Heinrich-von-Kleist-Oberschule (Gymnasium), seine langjährige
Wirkungsstätte, fusionierte 2012 / 13 mit einem anderen Gymnasium und musste
ihr Gebäude verlassen.33 Die Kunstwerke des Gebäudes, die Monumentalstatue der
›Penthesilea‹ von Josef Thorak an der Fassade und das Terrakotta-Rundrelief von
Claus Korch mit Kleists Porträt vor seiner Sterbelandschaft, das im Innern fest in die
Wand eingelassen ist, weisen heute nur noch ins Leere.
Mein Mann und ich hatten das Ehepaar Häker bei einem Symposium in Frank-
furt (Oder) persönlich kennengelernt und uns angefreundet. Unvergesslich blei-
ben die Ausflüge, die wir zu viert in die nähere und weitere Umgebung von Berlin
machten, die jeweils mit weiteren Gesprächen in einem ausgewählten Restaurant
endeten. Wir vermissen sie sehr.
Häkers Funde neuer Quellen und seine akribischen Archivrecherchen haben den
Horizont der Kleist- und Fouqué-Forschung erheblich erweitert und können auch
in Zukunft als Grundlage weiterer Forschungen dienen.
392
Anhang
Siglenverzeichnis
BA Berliner Abendblätter, hg. von Heinrich von Kleist, Berlin 1810f.; verschie
dene Reprint-Ausgaben. – Zitiert mit Angabe des Blatts bzw. der Nummer für das
1. bzw. 2. Quartal.
BKA Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke, (Berliner, seit 1992) Brandenburger
Ausgabe, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Basel und Frankfurt a.M. 1988–
2010. – Zitiert mit Abteilung (röm. Ziffer)/Band (arab. Ziffer) und Seitenzahl.
BKB Brandenburger Kleist-Blätter, hg. von Roland Reuß und Peter Staengle,
Berlin 1988–2010. – Zitiert mit Nummer und Seitenzahl.
DKV Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 4 Bände, hg. von
Ilse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba,
Frankfurt a.M. 1987–1997. – Zitiert mit Band (röm. Ziffer) und Seitenzahl.
KHb Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart
und Weimar 2009; Sonderausgabe, Stuttgart und Weimar 2013. – Zitiert mit Sigle
und Seitenzahl.
395
NR Heinrich von Kleists Nachruhm, hg. von Helmut Sembdner, Bremen 1967
und öfter; zuletzt erweiterte Neuausgabe, München 1996. – Zitiert mit Angabe der
Dokumentennummer.
SW Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bände, hg. von Hel-
mut Sembdner, 9., vermehrte und revidierte Aufl., München 1993. – Zitiert mit
Band (röm. Ziffer) und Seitenzahl.
396
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
397
Dr. Stephan Ehrig, University College Dublin
School of Art History and Cultural Policy, Humanities Institute
Ireland Belfield, Dublin 4, Irland
[email protected]
Prof. Dr. Anne Fleig, Freie Universität Berlin
Institut für deutsche und niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin
[email protected]
Prof. Dr. László F. Földényi, Universität für Theater und Film
Lehrstuhl für Kunsttheorie
Vas u. 2/c, 1088 Budapest,
[email protected]
Dr. Katharina Grabbe, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Germanistisches Institut
Schlossplatz 34, 48143 Münster
[email protected]
Dr. Barbara Gribnitz, Kleist-Museum
Faberstraße 6–7, 15230 Frankfurt (Oder)
[email protected]
Prof. Dr. Charlotte Kurbjuhn, Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für deutsche Literatur
Unter den Linden 6, 10099 Berlin
[email protected]
Dr. Sergej Liamin, Universität Rostock
Institut für Grundschulpädagogik
Kröpeliner Straße 57, 18055 Rostock
[email protected]
PD Dr. Matthias N. Lorenz, Extraordinary Professor Stellenbosch University, SA
c/o Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Martin-Luther-Straße 14, 17489 Greifswald
[email protected]
Dr. Hannah Lotte Lund, Kleist-Museum
Faberstraße 6–7, 15230 Frankfurt (Oder)
[email protected]
Prof. Dr. Volker Mergenthaler, Philipps-Universität Marburg
Institut für Neue Deutsche Literatur
Deutschhausstraße 3, 35032 Marburg
[email protected]
Dr. Reinhard M. Möller, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik
Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a.M.
[email protected]
398
Prof. Dr. Christian Moser, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft
Am Hof 1d, 53113 Bonn
[email protected]
Prof. Dr. Dorothea von Mücke, Columbia University
Department of Germanic Languages
410 Hamilton Hall, 1130 Amsterdam Avenue, New York, NY 10027, USA
[email protected]
Dr. Thomas Nehrlich, Universität Bern, Institut für Germanistik
Länggassstraße 49, 3012 Bern, Schweiz
[email protected]
Prof. Dr. Michael Niehaus, FernUniversität Hagen
Institut für Neue Deutsche Literatur- und Medienwissenschaft
58084 Hagen
[email protected]
Vincenz Pieper, Universität Osnabrück, Institut für Germanistik
Neuer Graben 40, 49069 Osnabrück
[email protected]
Christoph Ransmayr, S. Fischer Verlag
Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt a.M.
Dr. Adrian Robanus, Universität zu Köln
Internationales Kolleg Morphomata
Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln
[email protected]
PD Dr. Martin Roussel, Universität zu Köln
Internationales Kolleg Morphomata
Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln
[email protected]
Prof. Dr. Petra Stuber, Hochschule für Musik und Theater
»Felix Mendelssohn-Bartholdy« Leipzig
Postfach 100809, 04008 Leipzig
[email protected]
Dr. Barbara Wilk-Mincu
Bundesallee 54, 10715 Berlin
[email protected]
Dr. Sophie Witt, Universität Zürich, Deutsches Seminar
Schönberggasse 2, 8001 Zürich, Schweiz
[email protected]
399
Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
und Kleist-Museum
Die HEINRICH-VON-KLEIST-GESELLSCHAFT ist eine internationale
literarisch-wissenschaftliche Vereinigung. Ihre Aufgabe besteht, wie in Paragraph 2
ihrer Satzung festgelegt, darin, »das Werk und Leben Kleists durch wissenschaftliche
Tagungen und Veröffentlichungen zu erschließen und die in der Gegenwart fort-
wirkenden Einflüsse seiner Dichtung durch künstlerische, insbesondere literarische
Veranstaltungen für eine breitere Öffentlichkeit zu fördern«. Die Gesellschaft ver-
folgt ausschließlich und unmittelbar kulturelle und wissenschaftliche Zwecke im
Sinne der steuerrechtlichen Bestimmungen über Gemeinnützigkeit. Vom Finanz-
amt für Körperschaften in Berlin wird sie seit dem 11.07.1980 als gemeinnützig
anerkannt. Spenden und Beiträge sind somit steuerlich abzugsfähig.
Die Mitgliedschaft wird erworben durch Anmeldung beim Präsidenten bzw.
beim Schatzmeister (Beitrittsformular auf der Homepage, s.u.), Zahlung des ers-
ten Jahresbeitrages und Bestätigung des Beitrittes durch den Schatzmeister. Der
Jahresbeitrag beträgt zur Zeit € 40,- (auch für korporative Mitglieder); Studierende
und Schüler/-innen zahlen € 20,-. Die Mitglieder erhalten die jährlichen Veröffent-
lichungen der Gesellschaft (in der Regel das Jahrbuch) kostenlos.
Bankkonto: Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Deutsche Bank Berlin,
IBAN: DE18 1007 0024 0034 2022 00, BIC: DEUTDEDBBER.
www.heinrich-von-kleist.org
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