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Hamid Reza Yousefi
Einführung
in die islamische
Philosophie
Eine Geschichte des Denkens
von den Anfängen bis zur Gegenwart
Wilhelm Fink
Der Autor:
PD Dr. Hamid Reza Yousefi lehrt interkulturelle Philosophie und Geschichte der Philosophie
an der Universität Koblenz-Landau und ist der Gründungspräsident des Institus zur Förde-
rung der Interkulturalität in Trier. Er gibt die Schriftenreihe ›Interkulturelle Bibliothek‹
heraus.
Illustrationen: Anna Lukasik-Fisch
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
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UTB-Band-Nr: 4082
ISBN 978-3-8252-4082-0
Inhalt
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
I. WAS IST PHILOSOPHIE?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1. DAS WESEN DER PHILOSOPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.1 Was bedeutet Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2 Sprache als Ausdruck des Denkens . . . . . . . . . . . . 20
2. ORTE DES DENKENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3. SEHNSUCHT – WURZEL DER PHILOSOPHIE . . . . . . . . . . . . . . 25
II. VORÜBERLEGUNGEN ZU EINEM LANGEN WEG 31
1. GRÜNDUNGS- UND BLÜTEZEIT DES ISLAMISCHEN ORIENTS 31
2. PHILOSOPHIE – MYSTIK – WEISHEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3. ISLAMISCHE WELT UND GRIECHISCHE PHILOSOPHIE . . . . . . . 36
III. PHILOSOPHIEN DER ISLAMISCHEN WELT . . . . . . . . 39
1. GRÜNDUNGS- UND ERSTE BLÜTEPHASE
(8. BIS BEGINNENDES 14. JAHRHUNDERT) . . . . . . . . . . . . . . 41
1.1 Mutaziliten und die Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.2 Ibn Musa Kharazmi
und die Entwicklung von Algebra und Algorithmus 45
1.3 Al-Kindi
und die Stufen der menschlichen Erkenntnis . . . . . . 51
1.4 Zakariya Razi
und das Primat der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6
1.5 Abu Nasr Farabi
und die Typologie der Wissenschaft . . . . . . . . . . . 60
1.6 Ikhwan as-Safa
und das Verhältnis von Moral und Wissenschaft 68
1.7 Ibn Miskawayh
und die Interdependenz von Ethik und ewiger
Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
1.8 Ibn Sina
und der ethische Grundsatz des weisen Maßes . . . 83
1.9 Abu Reyhan Biruni
und das empirische Experiment . . . . . . . . . . . . . . . 90
1.10 Abu Hamid Ghazali
und die Erneuerung des Denkens. . . . . . . . . . . . . . 96
1.11 Ibn Ruschd
und die Universalität der Vernunft. . . . . . . . . . . . . 107
1.12 Schahabeddin Sohrewardi
und die Idee des vollkommenen Menschen . . . . . . 113
1.13 Khage Nasireddin Tousi
und die optische Astronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
1.14 Ghotbeddin Schirazi
und die Revision der ptolemäischen
Planetenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
2. MEHRDIMENSIONALE ÜBERGANGSPHASE
(14. BIS 19. JAHRHUNDERT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2.1 Ibn Khaldun
und das Prinzip ›Solidarität‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
2.2 Mir Damad
und das Mensch-Kosmos-Verhältnis . . . . . . . . . . . 138
2.3 Molla Sadra
und die substantielle Bewegung. . . . . . . . . . . . . . . 141
2.4 Faiz Kaschani
und die Prinzipien der Erkenntnistheorie. . . . . . . . 148
2.5 Molla Ahmad Naraghi
und die Grundlagen der rationalen Ethik . . . . . . . . 153
2.6 Hadi Sabzewari
und der rationalistische Existentialismus. . . . . . . . 157
7
3. KRITISCHE GEGENWARTSPHASE
(19. BIS 21. JAHRHUNDERT). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
3.1 Mirza Fathali Akhondzade
und Dimensionen der Sozialkritik . . . . . . . . . . . . . 162
3.2 Mirza Aghakhan Kermani
und die Rückbesinnung auf eigene Traditionen. . . 166
3.3 Talbof Tabrizi
und Aufklärung durch Bildung . . . . . . . . . . . . . . . 169
3.4 Mohammad Ali Foroughi
und Selbstkritik als Motor des Fortschritts . . . . . . 173
3.5 Allameh Tabatabai
und die hermeneutische Erneuerung des Geistes 178
3.6 Mehdi Haeri Yazdi
und die universalistische Pyramide des Seins . . . . 187
3.7 Abdoldjavad Falaturi
und dialogische Verständigung zwischen
Orient und Okzident. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
3.8 Mohammed Arkoun
und die Unmoral verschlafener Vernunft . . . . . . . . 197
3.9 Mohammed Abed Al-Jabri
und die Kritik traditionsgebundener arabischer
Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
3.10 Karam Khella
und die Erkenntnispyramide der Einheit . . . . . . . . 210
3.11 Seyyed Hossein Nasr
und die Grenzen zwischen Tradition
und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
3.12 Reza Davari Ardekani
und die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 223
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Abdoldjavad Falaturi (1926-1996) gehört zu den
Klassikern des christlich-islamischen Dialogs des
20. Jahrhunderts. Zeit seines Lebens setzt er sich,
jenseits aller europhobischen oder euroverliebten
Positionen, für eine kommunikative Hermeneutik
der Kulturen und Religionen ein. In einer groß an-
gelegten Studie untersucht Falaturi deutsche Lehr-
werke für den Religionsunterricht im Hinblick auf
die Darstellung des Islam und läutet dadurch einen
Neubeginn des christlich-islamischen Dialogs ein.
Ihm ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet.
»Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen.«
Johann Wolfgang von Goethe
Vorwort
In meinen bisherigen Veröffentlichungen habe ich bereits die Konse-
quenzen beschrieben, die sich aus einer möglichen Dezentralisierung
der Geistesgeschichte ergeben.1 Ich habe auf die Notwendigkeit hin-
gewiesen, dass die verschütteten Philosophien erneut als ein Bestand-
teil des Weltdiskurses zu betrachten sind. Dieses Buch begreift sich
als ein systematischer Versuch, Tiefe, Dauer und Breite der margina-
lisierten und bisweilen vergessenen Philosophien des islamischen
Orients vorzustellen und kritisch zu würdigen.
Als ich mit der Niederschrift dieses Werkes begann, habe ich die
Schwierigkeiten, auf die ich stoßen würde, weit unterschätzt. Es stell-
te sich bald heraus, dass die Verwirklichung eines solchen Kompen-
diums ohne Pionierarbeit nicht möglich ist, weil die Werke von Phi-
losophen der islamischen Welt seit ihren Anfängen im europäischen
Mittelalter nur bruchstückhaft und bisweilen willkürlich ins Lateini-
sche übersetzt und kommentiert worden sind. Dies brachte es mit
sich, dass seitdem ein einseitiges Bild der Philosophie der islami-
schen Welt entworfen und gepflegt wurde. Deshalb beschloß ich, auf
die Originalwerke zurückzugreifen, um diese Philosophen und Na-
turwissenschaftler, zumindest in einer Auswahl, kurz vorzustellen.
Der islamische Orient, diese Nahtstelle mehrerer Welten, trägt das
Vermächtnis früherer Religionen, Philosophien und Weisheitslehren
aus der vorislamischen Zeit in sich. Ägyptische, altpersische und
griechische Leistungen fließen hier ineinander. Ein weiteres früheres
Kultur- und Zivilisationszentrum war Mesopotamien, das Zwei-
stromland, welches die historischen Länder Assyrien und Babylonien
in Vorderasien verbindet. Über die Seidenstraße, ein Netz von Kara-
wanenwegen, die das Mittelmeer mit Ostasien auf dem Landweg
verbindet, entstehen interkulturelle Zentren des Austauschs von Gü-
tern, Kenntnissen und Informationen wie auch Begegnungsorte der
Religion. Diese Kulturräume bilden das Herzstück des Orients.
1
Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza: Interkulturalität und Geschichte, 2010;
Zarathustra neu entdeckt, 2010 und Die Bühnen des Denkens, 2013.
12 Vorwort
Der Begriff ›Islam‹ steht also nicht nur für eine Religion, sondern
auch für eine Kultur und eine Philosophie. Im Orient läutet die Ent-
stehung des Islam durch den Propheten Mohammad (570-632) eine
Revolution der Denkungsart ein. Es geht um eine grundlegende Er-
neuerung der religiösen und sozial-politischen Strukturen. Als er 610
im Namen Allahs auftritt, steht das Gebiet seines Wirkens unter der
Herrschaft des oströmischen Kaisers Heraklios I. (575-641). Im Jahr
622 vollzieht sich die Hidschra, die Auswanderung des Propheten
von Mekka nach Medina. Er flüchtet vor denen, die ihm nach dem
Leben trachten. In seiner neuen Heimat Medina wird er verstanden,
seine Lehre wohlwollend aufgenommen, und er gründet eine Ge-
meinde.
Die Ausbreitung des Islam im Orient und darüber hinaus über
Nordafrika bis zur Iberischen Halbinsel vollzieht sich in einem knap-
pen Jahrhundert. Sie führt zu einer großen Blüte in Politik, Kultur
und Wissenschaft. Der entstehende Wohlstand führt zur Errichtung
wissenschaftlicher Zentren in der gesamten islamischen Welt. Zu
diesen Zentren gehören zweifelsohne Bagdad, mit dem Sitz des Ka-
lifen und die maurische Alhambra auf der Iberischen Halbinsel.
Die Philosophen der islamischen Welt zeigen von Anfang an eine
starke Affinität zum griechischen Denken, das für die Entfaltung is-
lamischer Philosophie maßgeblich ist. Mit der Entdeckung philoso-
phischer Werke, wie denen des Platon (427-348) und Aristoteles
(384-322), erhält die Erkenntnissehnsucht der Philosophen in der
islamischen Welt neue Nahrung. Aufgrund ihrer Erfahrungen der
unterschiedlichen Philosophien der orientalischen Welt und ihrem
unbändigen Erkenntnisdurst vermögen sie scharfsinnig Philosophie
und Philosophisches erfinderisch zu erkennen.
Eine erste entscheidende Begegnung zwischen den Philosophen
islamischer und europäischer Welt vollzieht sich in den Wellen der
mittelalterlichen Philosophien Europas. Die Philosophen der islami-
schen Welt transferierten die eigenen und griechischen Wissensvor-
räte nach Europa, woraus sich der europäische Geist noch heute
speist. An der Übersetzung der Werke von Philosophen der islami-
schen Welt ins Lateinische – und später in die entsprechenden mo-
dernen Sprachen – entzündete sich eine Blütezeit der Philosophie in
Europa.
Die Philosophien der islamischen Welt sind aus mehreren Gründen
einzigartig. Beschäftigt man sich mit ihrer Entwicklung, so kommt
eine Systematik zum Vorschein, die bis heute nicht an Stringenz
verloren hat. Die Epochen der islamischen Philosophiegeschichte
Vorwort 13
unterteile ich nicht nach europäisch-westlichem Vorbild in Antike,
Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart, weil ich eine solche Einteilung
in zweifacher Hinsicht für problematisch halte. Diese Epocheneintei-
lung suggeriert die Existenz monolithischer Blöcke, die nichts mitei-
nander zu tun hätten: das Mittelalter löst die Antike ab, die Neuzeit
das Mittelalter und die Moderne wiederum die Neuzeit usw. Diese
eurozentrische Einteilung sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die europäisch-westliche Philosophiegeschichte nicht die Welt-
geschichte darstellt und dass all diese inselhaft gedachten Epochen-
Blöcke in gewisser Weise fließend ineinander übergehen. Wir finden
viele Elemente des Mittelalters noch heute, und manche Elemente der
Neuzeit schon im Mittelalter. Geschichte der Philosophie kann nicht
ohne Verlust stufentheoretisch wie eine Rolltreppe nach oben gedacht
werden. Es handelt sich stets um offenen Phasen, die eng miteinander
verzahnt sind.
Weiterhin ist die Bewertung der Epochen problematisch. Während
europäische Antike und Neuzeit als strahlende Weltalter gefeiert wer-
den, wird das Mittelalter weitestgehend als ›finster‹ und ›dunkel‹
abgetan. Hier stellt sich die Frage nach dem Grund einer derartigen
Erinnerungskultur.
Man darf vermuten, dass die Europäer mit ihrer Epocheneinteilung
die Geschichte des Denkens nach ihrem Weltbild gestalten, verabso-
lutieren und universalisieren wollten. Bei genauem Hinsehen erweist
sich diese Einteilung als ein Kind des expansiven Kolonialismus, mit
der eine historiographische Intersubjektivität einhergeht. Eine solche
erzwungene Angleichung ist zurückzuweisen.
So erklärt bspw. der Ausdruck ›finsteres Mittelalter‹ die Verdiens-
te derer für null und nichtig, die in jener Zeit eine wissenschaftliche
Denkweise in Gang gebracht haben. War es nicht die islamische Welt,
die auf allen Gebieten der Wissenschaft führend gewesen ist und der
wir viele unserer heutigen Erkenntnisse zu verdanken haben? So
hätte griechisches Denken ohne die islamischen Wissenschaften und
ihre Übersetzungsarbeit kaum in europäisches Bewusstsein eindrin-
gen können. Griechische Werke sind zum großen Teil nur in arabi-
scher Übersetzung erhalten.
Deshalb liegt eine Aufgabe der vorliegenden Einführung gerade
darin, die philosophiegeschichtliche Kontinuität der islamischen Welt
aufzuzeigen und zugleich zu demonstrieren, warum eine neue Philo-
sophiegeschichtsschreibung notwendig geworden ist. Die Philoso-
phien der islamischen Welt unterteile ich in drei aufeinanderfolgende
Phasen:
14 Vorwort
Gründungs- und erste Blütephase
Mehrdimensionale Übergangsphase (8. bis beginnendes 14. Jahrhundert)
Kritische Gegenwartsphase
(19.-21. Jahrhundert)
(14.-19. Jahrhundert)
Phasen der Philosophie
der islamischen Welt
Die erste Phase (8. bis beginnendes 14. Jahrhundert) markiert die
Gründung und Blüte der Philosophie der islamischen Welt. Hier
entstehen Denkrichtungen, in denen die menschliche Vernunft und
ihre Forderungen für den Erkenntnisgewinn grundlegend werden. Es
entstehen Denkrichtungen, welche die Frage nach der Transzendenz
mit oder auch ohne Maßstäbe der Vernunft ergründen. Diese Phase
ist die erste tiefgreifende Begegnung mit der griechischen Philoso-
phie, die bis in die Gegenwartsphase hinein ein Bestandteil des isla-
mischen Denkens geblieben ist.
Die zweite Phase (14.-19. Jahrhundert) ist dadurch geprägt, dass
man die Erkenntnisse der ersten Phase aufnimmt, jedoch hieraus die
Grundlage für neue Konzepte der Philosophie, Politik und Wissen-
schaft entwickelt, welche für die sich rasch verändernde Welt des 14.
Jahrhunderts notwendig sind. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier
die Gesellschaftstheorie eines Ibn Khaldun mit dem Schwerpunkt
›Assabia‹, ›Gruppensolidarität‹ erwähnt.
Die dritte Phase (19.-21. Jahrhundert) ist geprägt von den Auswir-
kungen kolonialistischen Denkens. Die Philosophen dieser Phase
greifen, trotz dieses strukturellen Hindernisses, die Erkenntnisse der
beiden vorangegangenen Phasen kritisch auf. Hier bildet sich eine
Reihe von durchaus kontroversen Schulen. Während einige eine rein
analytische Richtung einschlagen, sind andere bestrebt, diese mit
spirituellen Erkenntnissen zu harmonisieren. In allen Strömungen
bleibt die Rolle der Vernunft, im Sinne der islamischen Aufklärung,
auch in religiösen Angelegenheiten, von großer Bedeutung.
Es ist in der Tat ein Defizit, dass im vorliegenden Werk nicht alle
maßgebenden Philosophen und Naturwissenschaftler der islamischen
Vorwort 15
Geistesgeschichte zur Darstellung kommen können. An dieser Stelle
seien wenigstens einige Namen der dritten Phase genannt, auf die
nicht weiter eingegangen wird: Jamaleddin Afghani (1838-1897)
[Persien], Mohammed Abduh (1849-1905) [Ägypten], Muhammad
Iqbal (1877-1938) [Pakistan], Amin Al-Khuli (1895-1966) [Ägyp-
ten], Fazlur Rahman (1919-1988) [Pakistan], Fuad Zakariya (1928-
2010) [Ägypten], Gholamhossein Ebrahimi Dinani (*1934) [Iran],
Sadiq Jalal Al-Azm (*1934) [Syrien], Hasan Hanafi (*1935) [Ägyp-
ten], Mohamed Mesbahi (*1939) [Marrakesch], Gholamreza Aavani
(*1943) [Iran], Abdolkarim Sorousch (*1945) [Iran] und Nasr Hamid
Abu Zaid (1943-2010) [Ägypten].
In dieser dritten Phase vollzieht sich eine Wissenschaftsrevolution
mit einer daraus resultierenden Techniküberlegenheit im Okzident.
Diese führt zu der strukturellen Gewalt des Kolonialismus, der eine
technologisch entsprechende Entwicklung außereuropäischer Völker
im Keim erstickt. Hinter dieser technischen Dominanz verbirgt sich
ein philosophisch nicht mehr haltbarer Dominanzanspruch. Es ist
durchaus verständlich, dass heute diese freigewordenen Völker un-
ermüdlich und bisweilen unnachgiebig daran arbeiten, diese erzwun-
gene Rückständigkeit aufzuholen.
Bedingt durch den Kolonialismus der letzten 250 Jahre sind in
dieser letzten Phase drei Positionen voneinander zu unterscheiden,
die in ehemaligen Kolonien zu beobachten sind:
Mittelposition
Euroverliebte Europhobische
Positionen Positionen
Europhobische Positionen, die eine radikale Abwendung von der
europäisch-westlichen Moderne anstreben, weil sie diese Mentalität
für dekadent und ausbeuterisch halten. Euroverliebte Positionen, wel-
che die okzidentale Moderne nachahmen und die Philosophien der
islamischen Welt für rückständig und überholt halten. Mittelpositio-
nen, die zwar eine starke Verankerung in eigenen Traditionen suchen,
16 Vorwort
aber theoretisch wie praktisch bemüht sind, allen Philosophien ge-
genüber offen zu sein und ihnen verstehend zu begegnen, jedoch eine
philosophische Dominanz ablehnen. Sie spiegelt Momente der Aner-
kennung, Ergänzung, Korrektur sowie der Erweiterung und Versöh-
nung wider. Mit dieser Mittelposition erwächst eine erneute Begeg-
nung zwischen dem Orient und dem Okzident, die im Westen
weitestgehend als Streit zwischen Tradition und Moderne begriffen
wird.
***
Mit dem vorliegenden Werk ist der Versuch verbunden, in die Ge-
schichte des Denkens islamischer Welt von ihren Anfängen bis zur
Gegenwart einzuführen. In einem ersten Schritt geht es um die Be-
antwortung der Fragen nach Wesen, Ort und Sinn der Philosophie
allgemein. In einem zweiten Schritt wird die Frage nach Philosophie,
Mystik und Weisheit diskutiert. In einem dritten Schritt erörtere ich
die drei oben genannten Phasen der Philosophie im Orient: Grün-
dungs- und erste Blütephase, mehrdimensionale Übergangsphase und
kritische Gegenwartsphase.
Was ist damit gemeint, wenn wir ›Islamische‹ bzw. ›Arabische
Philosophie‹ sagen? Mit dieser Formulierung sind Philosophien in
der islamischen Welt angesprochen, in denen Weisheit und Philoso-
phie tief verwurzelt sind. Es handelt sich um Philosophen, die ihre
Werke in Persisch, Arabisch oder Türkisch niedergeschrieben haben.
Um dem begrenzten Raum eines einführenden Werkes gerecht zu
werden, beschränke ich diesen Ausdruck im Folgenden auf die Ara-
bisch und Persisch schreibenden Autoren, wobei bis 1934 von Persi-
en die Rede ist, was in der Folgezeit von der Bezeichnung ›Iran‹ bzw.
dem ›Eran‹ abgelöst wird, was soviel bedeutet wie ›Land der Arier‹.
Die persischen und arabischen Fachausdrücke habe ich ohne dia-
kritische Zeichen gesetzt, zumal die Fachleute ohnehin die wissen-
schaftlichen Begriffsapparate kennen, während dies für interessierte
Laien ungleich schwieriger ist.
Ausgehend von 30 konkreten Einzelvorstellungen bedeutender
Naturwissenschaftler, Philosophen sowie Mystiker oder Sozialkriti-
ker aus der islamischen Welt, versteht sich das vorliegende Werk als
ein Versuch, die Geschichte des Denkens in der islamischen Welt
darzustellen. Hier möchte ich einige Denkformen voneinander unter-
scheiden, die diese Lektüre und das Erschließen der Denkmethode
dieser Persönlichkeiten erleichtern möge: Es gibt Denkansätze, die
Vorwort 17
eine Mischung eingehen aus Philosophie und erkenntnistheoretischer
Weisheitslehre, sie heißen ›Erfan‹. Solche Ansätze nenne ich ›Tran-
szendentale Philosophie‹. Weiterhin werden Persönlichkeiten vorge-
stellt, die theoretisch wie praktisch neue Denkkonzeptionen formu-
lieren, um ihren Gesellschaften Auftrieb zu verleihen. Solche Denker
nenne ich ›Philosophen der Tat‹. Es werden auch Wissenschaftler
portraitiert, die weniger praktisch als vielmehr theoretisch vorgehen.
Diese Denkansätze nenne ich ›Philosophie des Wortes‹. Des Weiteren
ist zu vermerken, dass Theologen an Offenbarung festhalten, während
Mystiker, sie heißen ›Orafa‹, ihr Leben eher nach individueller Intu-
ition und Erleuchtung ausrichten. Zu beachten ist aber, dass es Mo-
mente gibt, in denen sich, wie wir noch sehen werden, all diese Be-
reiche berühren.
Dieses Werk ist ein Plädoyer für eine praktische Betrachtung der
Interkulturalität, die von einer gelebten Kultur der Kooperation und
wechselseitiger Anerkennung abhängig ist. Es geht nicht darum, den
Garten der Vielfalt aus Rosen, Tulpen und Lilien auf eine Einheits-
blume zu reduzieren, sondern zu lernen, sich an der jeweils anderen
Schönheit zu erfreuen.
***
Einige Freunde, Studenten und Kollegen haben mich bei der Entste-
hung dieses Werkes mit Wort und Tat unterstützt, bei denen ich mich
hiermit herzlich bedanken möchte. Neben Ina Braun und Peter Gerd-
sen möchte ich meinen Dank, allen voran Hans-Gerd Hamacher,
Karam Khella und Jürgen Pferdekamp, aussprechen. Nicht zuletzt
geht mein Dank an den Wilhelm Fink Verlag für die Aufnahme des
Buches in das UTB-Verlagsprogramm und insbesondere an Frau Na-
dine Albert für die gewissenhafte Betreuung meines Werkes.
Hamid Reza Yousefi
Trier, im Frühjahr 2014
I. Was ist Philosophie?
1. Das Wesen der Philosophie
Wer den Sinn der Philosophie ergründen will, hat sich mit zwei Fra-
gen zu beschäftigen: Was ist Philosophie und was heißt Denken? Ich
möchte in dieser Tradition bleiben und zunächst die Frage diskutie-
ren, was Denken ist, bevor ich mich der Beantwortung der Frage nach
dem Wesen der Philosophie zuwende.2
1.1 Was bedeutet Denken?
Der Mensch wird stets als ein Wunder der Natur gefeiert. Warum?
Weil er sich und seine Umwelt denkend wahrnimmt. Was aber ›Den-
ken‹ konkret bedeutet, darüber gibt es viele Antworten, die sich bis-
weilen sogar gegenseitig ausschließen. Denken umfasst, jenseits aller
Meinungsverschiedenheiten, vielfältige Vorgänge, in denen Erkennt-
nisformen und Begriffe entfaltet, vernetzt oder verworfen werden.
Denken ist auf radikale Weise spontan und vermag urplötzlich Leis-
tungen hervorzubringen, die ordnungs- und orientierungsstiftend sind.
Denken ist die hörbar gewordene Stimme des Geistes, der sich
durch die Versprachlichung mitteilt. Denken heißt Freiheit und schafft
Beziehungen zu sich selbst und zur eigenen Welt. Denken ermöglicht,
sich die Welt als eine Ganzheit vorzustellen, deren Teile sich gegen-
seitig nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten beeinflussen. Anders aus-
gedrückt, heißt Denken, sich die Welt und alles, was ist, im Kopf als
abstraktes Gebäude aufzubauen. Beobachtung und Denken sind zwei
Grundsäulen des Geistes. Zunächst wird etwas betrachtet; das Beob-
achtete zwingt den Betrachter dann zum Denken. Durch die gezielte
Wahrnehmung können wir sogar, gewissermaßen reflexiv, die Vor-
gänge unseres Denkens analysierend erfassen. Wir können beobach-
ten, wie sich das Denken selbst denkt.
Die Ergebnisse gehen stets ein interdependentes Verhältnis mitein-
ander ein. Diese Beziehung zu sich und zur Welt der Objekte wird an-
getrieben durch starke Gefühls- und Willensdynamik und ist letztlich
2
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass einige Philosophen aus der
vorliegenden Studie in einem anderen Werk des Autors ansatzweise the-
matisiert worden sind. Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Die Bühnen des Den-
kens, 2013.
20 Was ist Philosophie?
eine Lebensbestimmung der menschlichen Persönlichkeit. Obschon
Menschen insgesamt über ähnliche kognitive Ausstattung verfügen,
sehen sie das Gleiche oft unterschiedlich. Dennoch gibt es geschichtlich
betrachtet verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den Menschen über-
haupt. Wie ist es zu erklären, dass die Mythen der Völker einander so
ähnlich sind, die auf unterschiedlichem Wege Heil bringen und zugleich
bedrohende Kraft erzeugen, welche bis in die politischen Ideologien
ausstrahlt? Die Menschheit ist eine Einheit, eine vielfältige Einheit.
Der Mensch ist mittels des Denkens imstande, nicht nur die ins
Bewusstsein tretenden Sachverhalte der Außenwelt in Zeit und Raum
miteinander zu verknüpfen, sondern sich auch eine Innenwelt imagi-
närer Vorstellungen, Normen und Figuren zu schaffen. Das schluss-
folgernde Denken ist charakteristisch für die geistige Entwicklung
des Menschen. Der menschliche Geist ist in der Tat ein Spielfeld, auf
dem Beobachtung und Denken aufeinanderfolgen.
Ein Ergebnis solcher Wechselwirkungen sind Begriffsbildungen
und Aussagen. Während Begriffe zusammengefaltete Aussagen dar-
stellen, die ein Phänomen benennen, sind Aussagen auseinanderge-
faltete Begriffe, die ein Phänomen beschreiben. Diese Differenzie-
rung besagt, dass Begriffe eine Reihe von Explikationen in sich
tragen. Der Mensch generiert Begriffsbildungen und Hypothesen
durch seine Assoziationsgabe.
Auch im quasi zusammengefalteten Begriff ›Mensch‹ ist, je nach
Denkintention auseinandergefaltet, eine Aussage mit vielen Facetten
enthalten. ›Mensch‹ wird in einem Kontext als ›Krone der Schöp-
fung‹ und in einem anderen Kontext als ›intelligentes Tier‹ verstan-
den. Diese kontradiktorischen Aussagen stimmen in weiteren Aussa-
gen jedoch überein: ›Menschen sind sterblich‹, ob wir sie nun als das
Eine oder das Andere begreifen wollen.
Mit allen Begriffen verbinden wir somit einen bestimmten Inhalt,
der das Ergebnis unseres beobachtenden Denkens ist. Mit dem Be-
griff ›Philosophie‹ verhält es sich nicht anders. In diesem Begriff lebt
die Aussage, Philosophie sei eine ›denkende Tätigkeit‹.
1.2 Sprache als Ausdruck des Denkens
Alle Sozial- und Geisteswissenschaften, allen voran die Anthropolo-
gie und Sprachphilosophie, haben das Wechselverhältnis zwischen
Bewusstsein und Wort sowie Mensch und Sprache zum Gegenstand.
Sie versuchen, die Anfänge des Denkens zu rekonstruieren, die mit
dem Erwachen des menschlichen Geistes eng zusammenhängt.
2. Orte des Denkens 21
Der frühere Mensch ist in seine Umwelt integriert und begreift sich
zunächst als einen Teil von ihr. Durch die Sesshaftigkeit und später
die Entstehung der Zivilisation vollzieht sich in seinem seelisch-
geistigen Weltbild eine tiefreichende Veränderung. Er lernt sich all-
mählich als Individuum kennen und gestaltet seine Umwelt mehr und
mehr selbst. Indem sich der Mensch immer intensiver den materiell-
technologischen Dingen zuwendet, entsteht ein Bedarf zum Aus-
tausch mit seinen Artgenossen.
Sprache ist eine Art verlautbartes Denken, während Denken stilles
Sprechen ist. Das Gedachte kann von Anderen nur verstanden wer-
den, wenn Sender und Empfänger die gesendeten Botschaften sprach-
lich dekodieren können. Ohne zureichende Kenntnis über die sym-
bolischen Formen und/oder einer Reihe von Ordnungsprinzipien
bleibt das Gedachte unvermittelbar.
Sprache ist ein soziales Medium, das wir nur in einer Gemeinschaft
lernen können. Es wäre töricht anzunehmen, dass Kinder sprechen
lernen könnten, wenn sie völlig isoliert aufwachsen würden. Man darf
sagen: Der kulturelle Aufbruch, ob vor oder nach der Geschichts-
schreibung, ist stets ein Aufbruch der Sprache, der sprachlichen Ent-
wicklung sowie später ein Aufbruch der Schrift. Worte ermöglichen
es uns, Gedanken festzuhalten. Sprache stellt folglich die zentrale
Säule der Kultur, ihrer Entwicklung, ihres Erhalts und ihrer Weiter-
gabe dar. Es ist die Sprache, die Menschen in die Lage versetzt, sich
mitzuteilen, Traditionen zu bilden und Geschichte mit der Gegenwart
zu verbinden. Philosophisches Denken ist aktives Hineinarbeiten in
den geistigen Urgrund der Welt. Unsere Entwicklung würde wahr-
scheinlich ohne Sprache einen anderen Verlauf genommen haben.
Bei der Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und der Bildung
von Institutionen ist sie ›das‹ dialogische Medium. Erst Sprache
macht es Menschen möglich, durch ihren kreativen und flexiblen
Geist passende Verhaltensregeln und Orientierungssysteme zu for-
mulieren. Sie bietet schließlich Möglichkeiten, die uns umgebende
Natur gemäß dem beobachtenden Denken durch Begriffsbildung zu
benennen und diese in Form einer Tradition zu perfektionieren.
2. Orte des Denkens
Die Philosophie steht auf der Bühne ihres kulturellen Hintergrundes,
ohne darin restlos aufzugehen. Weil es letztlich Menschen sind, die
philosophieren, so bleibt jenseits aller Verschiedenheit der Kulturen
22 Was ist Philosophie?
etwas Überlappendes, etwas Gemeinsames. Beschäftigen wir uns mit
der Philosophie im Weltkontext, so wird uns klarer, dass die Fragen:
›Wer bin ich?‹, ›Woher komme ich?‹, ›Wohin gehe ich?‹ und ›Was
ist die Welt?‹ kulturunabhängige Relevanz besitzen. Zu Recht wird
darauf hingewiesen, dass »alle Menschen von Natur aus nach
Wissen«3 streben.
Wenn ›Philosophie‹ ein Produkt des beobachtenden Denkens ist,
so ist evident, dass dies von Individuum zu Individuum verschieden
ist und sein muss. Im Grunde genommen gibt es so viele Philosophi-
en, wie es Individuen gibt.
Philosophie ist hier der Name einer bestimmten methodisch orien-
tierten Form zu denken, zu reden und zu handeln, um die Welt und
alles, was damit zusammenhängt, zu begreifen. Es ist daher nicht
verwunderlich, dass es im Verständnis der Kulturen verschiedene
Namen für Philosophie gibt, die Gleiches anders benennen und be-
greifen. Diese aufgrund soziokultureller Hintergründe nicht ganz
deckungsgleichen Benennungen sind Grund eines immerwährenden
Streitens zwischen einzelnen Schulen, aber auch innerhalb einzelner
Fakultäten.
Philosophie ist also weder bloßes Nachdenken über das Leben
noch Leben im Denken. Philosophie fängt an, wenn Erfahrung ihre
Grenzen erreicht. Insofern beschäftigt sie sich auch mit der Frage
nach dem Glauben, ist aber mit ihm nicht gleichzusetzen. Sie ist
weder »Gottesdienst« noch »identisch mit der Religion«.4 Philoso-
phie hängt mit Wissen zusammen, während Glaube nicht per defini-
tionem geklärt werden kann. Dies bedeutet aber nicht, dass Religion
und Vernunft voneinander zu trennen wären; Religion braucht neben
der Erkenntnis des Herzens auch die der Vernunft, um reflektiert zu
werden.
Philosophie ist auch das Wagnis des Neuen. Sie kennt viele Wege
und Umwege. Es wäre voreilig anzunehmen, dass sie ausschließlich
›systematisches Denken‹ sei. Auf allen Kontinenten gibt es Philoso-
phien, die systematisch, unsystematisch oder gar antisystematisch
sind. Das zeigt sich an Platons ergebnisoffenen Dialogen, an Ibn
Miskawayhs philosophischer Erzählweise, Friedrich Nietzsches
(1844-1900) Aphorismen, Ludwig Wittgensteins (1889-1951)
Sprachspielen, Hans-Georg Gadamers (1900-2002) Hermeneutik und
3
Aristoteles: Metaphysik, 980a 21.
4
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der
Religion, 1969, S. 28.
2. Orte des Denkens 23
Jaques Derridas (1930-2004) Dekonstruktionen. Die Bedeutung, ob
eine Denkform systematisch, unsystematisch oder gar antisystema-
tisch ist, ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext. Nach diesem Ansatz
heißt »philosophisch denken« […] »in Modellen« zu denken.5
Philosophie und Philosophieren ist nach diesem Modell von einer
unaufhebbaren Pluralität geprägt, welche diverse Weltanschauungen
in Form von Überzeugungen und Einstellungen zulässt, mit denen in
der Regel ein immerwährender Streit der Ansichten, Weltanschauun-
gen und Denkmodelle ausgelöst wird.
Die Frage nach dem Wesen der Philosophie bleibt letzten Endes
eine offene Frage. Jeder kann sie für sich beantworten, ohne indessen
einen universellen Geltungsanspruch erheben zu müssen. Philoso-
phie und Philosophieren hat eine ausschließlich anthropologische
Verankerung, weil Denken ein Bestandteil des Menschseins über-
haupt ist. Entstehungsorte lassen sich somit auf allen Ebenen des
menschlichen Seins in unterschiedlichen kulturellen und traditionel-
len Zusammenhängen ausmachen.
Jedes Denken artikuliert eine bestimmte Lebensweise. Denn alle
Philosophien entstehen innerhalb eines Kultur- oder Traditionsrau-
mes und sind dementsprechend Ergebnis oder Folge bestimmter Um-
stände oder Herausforderungen, ohne restlos von ihrer Kultur, Reli-
gion und Tradition abgekoppelt zu sein. Betrachten wir die Philosophie
im Orient und Okzident sowie in Asien, Afrika, Lateinamerika, so
werden wir uns überzeugen können, dass dabei der Koran, das Alte
und Neue Testament sowie die Lehre des Buddha (563-483), die
Veden oder die Gathas eine wichtige Rolle spielen. Es gibt keine
Philosophie, die zufällig entsteht; immer ist sie das Ergebnis einer
Reihe von Fragen und Reflexionen. Die eigentliche Wirklichkeit der
Philosophie ist jedem Menschen offen.
Mit dieser Erkenntnis geht der Anspruch einher, dass keine Bühne
der Philosophie als die eigentliche Bühne des Denkens deklariert
werden darf. Eine reine von anderen abgekoppelte Bühne der Philo-
sophie gibt es nicht. Wer solche Konstrukte als Tatsachen missver-
steht und universalisieren wollte, dass nur eine einzige Form des
Philosophierens bestünde, wird letztendlich in der Umsetzung nicht
auf irgendeine Form von Streit verzichten können.
Philosophie können wir bedingt regionalisieren. Dieses Offenlas-
sen ebnet den Weg für die Verwirklichung einer vielgestaltigen Ein-
heit, die mit der Dezentralisierung der Geistesgeschichte einhergeht.
5
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, 1966, S. 27.
24 Was ist Philosophie?
Alle philosophischen Denkformen, ob systematisch, unsystematisch
oder antisystematisch, haben vor allem eine kulturelle bzw. regiona-
le Prägung.
Eine solche Betrachtung der Philosophie entfaltet das notwendige
Friedenspotential, um die Gefahr einer philosophischen Monokultur
durch eine Dezentralisierung der Geistesgeschichte zu minimieren.
Es gibt nicht nur einen Ort des Denkens, sondern viele, die sich ge-
genseitig ergänzen. Diese sind asiatische, europäische, orientalische
und lateinamerikanische, afrikanische sowie primär mündliche Phi-
losophien. Auf diesen Bühnen oder Orte entfalten sich alle Denktra-
ditionen im Weltkontext. Die gegenwärtige Debatte um die Philoso-
phie kann ohne Rückgriff auf deren mannigfaltige Geschichten nicht
angemessen weitergeführt werden. Ohne die theoretische wie prak-
tische Bereitschaft, die vielfältigen Bühnen des Denkens als gleich-
berechtigte, wenn auch unterschiedliche Positionen zu akzeptieren,
wird jeder Versuch, Philosophie und ihre Geschichte zu beschreiben,
scheitern müssen.
Philosophie bedeutet also Denken im Horizont befristeter Zeit,
über deren Anfang und Ende wir nichts Genaues sagen können. Es
geht letztlich um das Bestreben des Menschen, in der Endlichkeit
seiner Existenz das Unendliche zu begreifen. Philosophie ist eine
denkende Antwort darauf, wie wir uns in diesem begrenzten Horizont
unseres Daseins gegenseitig bereichern können: Ob durch die afrika-
nische Ubuntu-Konzeption ›Ein Mensch ist ein Mensch durch ande-
re Menschen‹, ob durch konfuzianische Mitmenschlichkeit, durch
taoistische Demut, durch buddhistisches Mitgefühl oder die Barm-
herzigkeit und Nächstenliebe der abrahamischen Religionen.
Die Vielfalt ergibt das Ganze. Alle sind für die Entstehung von
Kunst, Kultur, Wissenschaft, Tradition und deren Erhalt ursächlich.
Indem diese und ähnliche Weltanschauungen seit Anbeginn der Ge-
schichte die Frage nach Erlösung und Glückseligkeit stellen, eröffnen
sie dem Menschen neue Motivations- und Hoffnungstüren zu einer
neuen Welt mit weniger Egoismus und mehr liebender Mitmensch-
lichkeit.
Neben der Frage, was Philosophie bedeutet, stellt sich nun die
Frage: ›Wie kommt der Mensch überhaupt zur Philosophie?‹ Was
sind die Triebfedern seines Bestrebens? Warum strebt der Mensch
nach Selbsterkenntnis, nach Welterkenntnis? Warum verfolgt er zeit
seines Lebens das Ziel, seine Stellung im Kosmos zu bestimmen?
Vorläufige Antworten gibt es auf diese Fragen viele. Philosophie
ist wie erwähnt, ein Versuch des Menschen, die Rätsel seiner Existenz
3. Sehnsucht – Wurzel der Philosophie 25
denkend und verstehend zu lösen. Dies hängt offenbar damit zusam-
men, dass der Mensch sich und seine Daseinsumstände, soweit die
Überlieferung zurückreicht, stets als ein Rätsel empfunden hat und
immer noch empfindet. Der Kosmos und die Welt stellen kein System
ruhender Sachverhalte dar, die nicht miteinander verbunden wären.
Die Welt unterliegt in ihrer Gesamtheit, jenseits aller menschlichen
Spekulationen, eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Es muss daher erlaubt sein, Philosophie als einen Reflexionsweg
zu begreifen, auf dem die Einseitigkeit von Wissensansprüchen
kenntlich gemacht wird. Sie lässt sich betrachten als Studium ihrer
eigenen Geschichte, als Zivilisierungsprozess des Denkens oder als
Niemandsland zwischen Wissenschaft und Theologie. Philosophie ist
eine Berufung im Sinne eines inneren Rufes. Sie ist Sammelbecken
für diverse Orte des Denkens im Weltkontext. Philosophie ist reflek-
tierte Liebe zum Leben im Bewusstsein der Ohnmacht gegenüber der
kosmischen Natur.
3. Sehnsucht – Wurzel der Philosophie
Warum philosophieren Menschen? Ich bin der Überzeugung, dass es
eine geheimnisvolle Sehnsucht, eine Ur-Sehnsucht ist, die sie an-
treibt. Was aber ist Sehnsucht? Sehnsucht ist ein Begriff, der in allen
Sprachkulturen mit variierten Bedeutungen zuhause ist. Es ist eine
unergründbare Kraft, ein starker Drang, etwas tief im Menschen Ge-
legenes, das Menschen veranlasst, ein Orientierungsschema, eine
Erkenntnis von Sinn und Zweck des Lebens oder nach Entstehung
von Mensch und Natur, für sich und die Welt zu finden.
Sehnsucht meint im vorliegenden Kontext weder das krankhaft
übersteigerte Verlangen nach etwas noch geht es um die ›Blaue Blu-
me‹ und das romantische Streben nach dem Unendlichen. Der Drang,
den Kosmos zu ergründen und damit einhergehend Philosophie zu
betreiben, ist meiner Auffassung nach die Folge einer unbändigen
und schöpferischen Sehnsucht des Menschen, welche die Grenze des
Animalischen in der Natur grundlegend überschreitet.
Das persische ›arezoumandi‹ und das deutsche Wort ›Sehnsucht‹
sind in ihrer Bedeutung deckungsgleich. In diesen Sprachkulturen
artikuliert Sehnsucht die treibenden und lebensspendenden Kräfte der
menschlichen Existenz. Man könnte sie als eine Grundausstattung
des Menschen begreifen, aus der kreative und suchende Impulse
hervorgehen. Es ist letztlich der Mensch selbst, der seinem Leben
26 Was ist Philosophie?
Dynamik verleiht. Ein Despot, Trotziger, Fanatiker oder Fatalist, der
auf der Sinnsuche ist, handelt stets gemäß seiner Weltbeziehung,
dementsprechend geht er mit seinen Sehnsüchten anders um.
Fragend-forschendes Denken – und in Konsequenz das Handeln
– speist sich aus ebendieser Sehnsucht. Geht die Sehnsucht verloren,
so gehen Motivation, Wissensdrang und letztendlich die Sinnsuche
verloren. Sehnsucht bringt Philosophie hervor, die das Ziel verfolgt,
Sinn und Zweck im Leben und in der Welt zu erkennen.
Für Platon ist das Staunen die Wurzel der Philosophie, ohne darauf
hinzuweisen, was die Quelle dieses Staunens ist. Es ist das Einge-
ständnis der eigenen Unwissenheit über die Vorgänge der uns umge-
benden und tragenden Welt, wobei wir einen Teil dieser Wirklichkeit
selbst bilden. Die Quelle dieses Staunens ist die unstillbare Sehn-
sucht.
Aristoteles sucht nach einem allgemeingültigen Schema für die
Welt. Sokrates (469-399) versucht es mit Selbsterkenntnis. Platon
lässt seinem Staunen freien Lauf. Ghazali zweifelt sicherheitshalber
an jedem Erkenntnisvermögen. Immanuel Kant (1724-1804) feilt und
poliert an dem Instrument ›Vernunft‹. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(1770-1831) hofft, dass Philosophie im absoluten Geist aufgeht. Karl
Marx (1818-1883) hat Sehnsucht nach einer gerechteren Welt. Karl
Jaspers (1883-1969) träumt Zeit seines Lebens von der Überführung
der Abendröte der europäischen Philosophie in die Morgenröte der
Weltphilosophie. Max Scheler (1874-1928) sucht die Verwirklichung
eines ›Weltalters des Ausgleiches‹ und Wittgenstein beginnt seine
Suche mit der Analyse der Sprache.
Diese Ackerflächen der Sehnsucht sind vielfältige Orte des Den-
kens, die deutlich machen, dass es einen Unterschied zwischen Phi-
losophie und Philosophieren gibt. Während Philosophie immerwäh-
rend ist und jenseits aller ideologischen Vereinnahmungsversuche
dieselbe bleibt, stellt Philosophieren die Reinform der Subjektivität
dar.
Freilich unterliegen diese Ackerflächen neben persönlichen Präfe-
renzen auch regionalen Prägungen und überregionalen Einflüssen.
Unbestreitbar gehören nach diesem Vorverständnis neben den oben-
genannten kontinentalen Bühnen des Denkens auch die Schöpfungs-
geschichten dazu. Auf all diesen Bühnen werden Wahrnehmen und
Erkennen, Personalität und Intersubjektivität, Freiheit und Handeln,
Vernunft und Glaube, Leib-Seele-Problem oder die Frage nach dem
menschlichen Geist und seinen Tätigkeiten diskutiert, wenn auch
unterschiedlich. Nicht nur in den Fragestellungen, sondern auch in
3. Sehnsucht – Wurzel der Philosophie 27
der Art und Weise der Beantwortung dieser Fragen gibt es Gemein-
samkeiten und Unterschiede. Kein Denkfeld kann einen Monopolan-
spruch für diese Bereiche allein erheben, ohne das andere zu margi-
nalisieren oder zu leugnen. Ich unterscheide zwischen materieller und
geistiger bzw. spiritueller Sehnsucht. Erstere beschränkt sich auf blo-
ßes Glücksstreben durch Konsum, gesellschaftliche Anerkennung
oder Macht. Letztere ist eine existentielle, eine reflektierte Dimensi-
on, die sich aus der Tiefe des Seins speist. Eine solche schaffende
Sehnsucht ist etwas Dynamisches. Sie löst im Menschen ungeahnte
Kräfte aus und zwingt ihn geradezu, sich Ziele zu setzen und gibt ihm
die Kraft, Hürden zu überwinden und Gipfel zu erklimmen. Diese
Sehnsucht will ihre Beruhigung in Antworten formulieren, die einen
Letztbegründungscharakter haben, eine Erklärung, die Beweise dafür
liefert, wie der Mensch entstanden ist, wie seine Sprache entstanden
ist, wie Gesellschaften entstanden sind, warum es überhaupt Kulturen
gibt, warum diese dennoch verschieden sind und woraus jene vielge-
staltige Einheit der Natur hervorgegangen ist.
Die existentielle Sehnsucht ist Triebfeder der Selbstaufklärung, bei
der der Mensch in sich Menschsein und Würde entdeckt. Wissens-
drang und Glaube sind letztlich komplementäre Elemente der Sinn-
suche: In jedem Wissen ist auch Glaube und in jedem Glaube ist auch
tiefes Wissen enthalten. Dies eröffnet einen Lernprozess, um Verab-
solutierung von Teilwahrheiten reflektierend zu überwinden. Es er-
möglicht auch Despoten und Trotzigen sowie Fanatikern und Fata-
listen, das Gute und Menschenwürdige in sich und außerhalb des
eigenen Horizontes zu entdecken. Diese anthropologische Ur-Sehn-
sucht führt den Menschen zu seiner Freiheit und ihren Grenzen.
Existentielle Sehnsucht befähigt den Menschen, mit dem Instru-
ment seiner Vernunft und Intuition denkend zu suchen und denkend
zu experimentieren. Der naive Mensch wächst aus sich heraus und
betritt verstehend und erklärend das weite Feld allen Daseins. Der
Mensch entdeckt in sich einen Geist, ein Novum, das in der voraus-
gehenden biologischen Stammesgeschichte der Lebewesen unbe-
kannt war. Es ist die Einzigartigkeit jenes Geistes, der sich selbst
erkennt, seine Umwelt denkend wahrnimmt und auf spezifische Wei-
se kultur- und geschichtsbildend in den kosmischen Prozess eintritt.
Der Mensch erscheint als ein Wesen, in welchem Leib mit Seele zu
einer Einheit zusammenfinden. Diese Wechselwirkung, hervorgegan-
gen aus Ursehnsucht und Willensdynamik, zeichnet ihn gegenüber
allen anderen Lebewesen der kosmischen Natur aus.
28 Was ist Philosophie?
Ich komme auf meine eingangs gestellte Frage nach dem Wesen
der Philosophie zurück. Weit verbreitet ist die Haltung, Philosophie
und Philosophieren als einen Akt der Liebe zur Weisheit zu bezeich-
nen. Liebe geht aus der Ur-Sehnsucht heraus und ist in der Tat ein
zentrales Element der Philosophie. Liebe ist ebenfalls in eine mate-
rielle und eine existentielle Art zu unterteilen. Während materielle
Liebe letztendlich auf bloße Daseinsdimensionen hinausläuft, ist
existentielle Liebe weisheitsorientiert. Die Quelle dieser Form der
Liebe ist nichts anderes als die Sehnsucht, aus der sich ihre Kräfte
speisen. Ohne Sehnsucht gibt es keine Liebe.
Philosophie ermöglicht uns, Orientierung in der Welt und im Leben
zu finden. Sie gibt uns Anleitung für die Praxis unseres Denkens,
Redens und Handelns. Im Idealfall kann Philosophie durch jene »su-
chende Vernunft und den schöpferischen Geist« zur »Genesung der
Seele« führen.6 Sie speist sich stets auch aus der Erkenntnis des ei-
genen Leides und kann sich von dieser anthropologischen Konstante
nicht freikaufen. Diese schicksalhafte Gegebenheit und das Nachsin-
nen darüber schenkt dem Menschen die nötige Tugend, um das Leid
des anderen dialogisch aufzugreifen. Echte Philosophie ist ungebro-
chener Wille zur Kommunikation; echte Philosophie ist dialogische
Anthropologie. Die sokratischen Dialoge sind ein signifikanter Aus-
druck dieses Bestrebens.
Philosophie ist allgegenwärtig. Wir philosophieren, wenn wir un-
serer Existenz denkend gewahr werden. Die Sinnfrage stellt nur der
Mensch. Philosophie ist nach dieser Feststellung älter als ihr Name.
Sie ist ein innerer Ruf, ein denkendes Verlangen. Sehnsucht ist die
treue Gefährtin des Menschen, die ihn überall und immer begleitet:
Im Anfang war die Sehnsucht, der Antrieb allen Suchens.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Entstehung der Philo-
sophie nicht als Folge der Zivilisation zu betrachten ist, sondern in
der Sehnsucht des Menschen, den Sinn seiner Existenz zu ergründen,
einer Sehnsucht, die genauso alt ist wie die Menschheit selbst. Kultur,
Tradition und Zivilisation entspringt geradezu aus dieser Ur-Sehn-
sucht. Auch die Technik beschreibt eine Ur-Sehnsucht des Menschen,
durch die er sein Weltbild in Formen ausdrückt, Formen, die differie-
ren und sich zugleich überlappen. Der Mensch ist eine formgebende
Kultur seiner selbst. Wir dürfen hoffen, dass diese Sehnsucht über
alle kulturbedingte Problematik hinaus ihre Wirksamkeit entfalten
6
Ibn Sina, Abu Ali al-Hussain ibn Abdullah: Dar haghighat va kejfiat
mogoudat [Über die Wahrheit und Qualität der Dinge], 2004, S. 1.
3. Sehnsucht – Wurzel der Philosophie 29
wird, bis eine neue Morgenröte anbricht und sie ihr Licht über den
Horizont unseres Denkens ergießt.
Philosophie hat eine theoretische und eine praktische Dimension,
die sich stets bedingen. Philosophie wird meist als theoretische Wis-
senschaft gesehen, aber ohne sinnsuchende Praxis wird sie zur bloßen
Denkakrobatik.
II. Vorüberlegungen zu einem langen Weg
1. Gründungs- und Blütezeit des islamischen Orients
In die islamische Geistesgeschichte münden Denkströme altägypti-
scher, altpersischer sowie jüdischer und christlicher Kulturen ein, die
auf unterschiedlichem Wege bestrebt sind, den menschlichen Geist
tiefgreifend zu erneuern. Am Vorabend des Islam beherrschen den
Orient zwei rivalisierende Großreiche: im Westen die hellenistische
Welt mit dem römisch-byzantinischen Reich, und im Osten das persi-
sche Großreich unter den Achämeniden, Parthern und den Sassaniden.
Der Übergang von der Vielgötterei zum monotheistischen Islam
verändert nachhaltig die Selbstwahrnehmung sowie Stellung des
Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Transzendenz. In der
arabischen Gesellschafts- und Bewusstseinsstruktur vollzieht sich
ebenfalls eine beachtliche Veränderung. Eine Kultur der Sesshaftig-
keit wird etabliert, die nicht nur neue Menschen- und Weltbilder
hervorbringt, sondern auch große Wissenschaftssysteme.
Die Philosophie der islamischen Welt nimmt ihren konkreten An-
fang im 8. Jahrhundert. Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert regieren
die abbasidischen Kalifen in der islamischen Welt. Sie setzen sich
tatkräftig für die Förderung der Kunst, Wissenschaft und insbesondere
der Philosophie ein. Diese Unterstützung bewirkt eine erste Blütezeit
der Philosophie im islamischen Orient. Sie gründet auf der unbändigen
Sehnsucht, die Struktur des Kosmos und darin den Stellenwert des
Menschen sowie das Wechselverhältnis von Diesseits und Jenseits zu
begreifen. Im Zentrum dieser Sehnsucht steht nicht nur die Gott-
Mensch-Beziehung, sondern auch die Mensch-Welt-Beziehung.
Hier tritt eine Anthropologie in Erscheinung, die den Menschen
nicht nur als Spitze der Evolution darstellt, sondern ihm gleichsam
eine Sonderstellung in der Natur zuweist. Der Mensch ist bestrebt zu
ergründen, ob die Welt aus sich heraus entstanden ist oder ein Schöp-
fer sie als geordnete Materie aus Liebe und Güte erschaffen hat. Er
will seinem Schöpfer und dessen Werken begegnen und Gründe für
die Einheit in der Vielheit der menschlichen Daseinsformen finden.
Letztlich geht es ihm um den Sinn des Lebens und das Begreifen der
notwendigen Voraussetzung für alles, was existiert. Koranische Aus-
drücke, ›alfaz‹ – um hier und im Folgenden nur einige zu nennen –
bilden die Grundlage der islamischen Philosophie und damit dieser
Erkenntnissehnsucht überhaupt:
32 Vorüberlegungen zu einem langen Weg
›Aql‹ Koranische ›Tafakur‹
Vernunft Ausdrücke Denken
›Haqq‹ ›Haba‹
Wahrheit ›Insan‹ Liebe
Mensch
›Saadat‹ ›Kamal‹
Glückseligkeit Vollkommenheit
›Allah‹
Gott
›Akhlaq‹ ›Hikma‹ ›Adl‹
Ethik Weisheit Gerechtigkeit
Von dieser Suche aus öffnen sich dynamische Kreise und Horizonte.
Gerechtigkeit und Verantwortung gehören zu den Grundlagen des
koranischen Denkens. Es geht um die gelebte Tugend, sich allen
Menschen gegenüber gerecht zu verhalten. Nach dieser Maxime wird
der Mensch im Koran aufgefordert, die Waisen, Bedürftigen und
Gefangenen aus echter Liebe heraus durch die ›Zakat‹, die Pflichtso-
zialabgabe, zu unterstützen. Hier kommt es auf das ›Sidq‹ an, auf das
Motiv innerer Wahrhaftigkeit. Solche Menschen sind die ›Sadiqoun‹,
die ›Wahrhaftigen‹ und werden im Koran ausdrücklich die »redlich
bewährten Gottesfürchtigen«1 genannt.
Dieses Menschenbild und diese Wirklichkeitsdeutung sollte der
›Umma‹, der Gemeide bzw. Gemeinschaft der Muslime, ›Ezat‹, also
›Würde‹, verleihen. Ghazali verweist ausdrücklich darauf, der
Mensch sei »nicht zum Scherz und für nichts erschaffen, sondern
hoch ist sein Wert und groß seine Würde.«2 Im Koran wird der Mensch
als Kalif Gottes auf Erden bezeichnet. Diesem Ziel kann sich der
Mensch zeit seines Lebens durch den ›Djihad‹, also eine permanente
Anstrengung und Selbstüberwindung, nähern. Aufgrund seiner ›Wil-
lensfreiheit‹ trägt der Mensch Verantwortung für sein Handeln. Ihm
ist die Freiheit gegeben, sich aus freien Stücken für das Gute oder
1
Sure 2:178.
2
Al Ghasāli: Das Elixier der Glückseligkeit, 1979, S 26.
1. Gründungs- und Blütezeit des islamischen Orients 33
Schlechte zu entscheiden. Diese Freiheit ist sein Glück und sein
Verhängnis zugleich. Ein Grundgebot des Islam ist die Achtung für
das eigene und das Leben anderer sowie die Achtung vor der Natur.
All das soll Ausdruck von ›Taqwa‹, Gottesfurcht sein.
Die Philosophen der islamischen Welt erheben, wie wir noch sehen
werden, naturgemäß den inneren Gehalt und die zentrale Botschaft
des Korans zum Gegenstand ihres Denkens. Ontologisches Philoso-
phieren verbindet das philosophische und naturwissenschaftliche
Denken in der islamischen Geistesgeschichte, weil alle danach fra-
gen, was eine Sache zu dem werden lässt, was sie ist. Später entde-
cken sie zu ihrem eigenen Staunen weite Teile dieses Gehaltes auch
in der griechischen Philosophie. Ihre Themen umfassen alle Dimen-
sionen des menschlichen Lebens und Denkens. Nicht nur Bereiche
der Anthropologie, Theologie und Religionsphilosophie oder Ethik
und Staatsphilosophie, sondern auch Rechts- und Kulturphilosophie,
ferner Mathematik, Physik, Chemie bis hin zu Erkenntnistheorie und
Logik sowie Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie.
Bereiche der islamischen Kulturwissenschaft
Die Beschäftigung mit der islamischen Geistesgeschichte setzt eine
gewisse Kenntnis islamischer Kulturwissenschaft und ihrer Themen-
felder voraus. Das Kompositum ›Islamische Kulturwissenschaft‹ ist
die Bezeichnung für eine Dachwissenschaft, die den Islam als Reli-
gion, Kultur und Zivilisation historisch und gegenwärtig zum Gegen-
stand hat. In der Hauptsache geht es um die Ontologie der Weltstruk-
tur, die Vorstellung von Diesseits und Jenseits sowie menschliche
Rechte und Pflichten in Anlehnung an den Koran und die Sunna, d.h.
die Lebensführung und Äußerungen des Propheten als einem Inbe-
griff der liebenden Gerechtigkeit.
Islamische Kulturwissenschaft ist interdisziplinär angelegt und
beheimatet neben der Geschichte des Islam, vor allem Koranexegese,
Rezitation, Rechts- und Überlieferungswissenschaft sowie Mystik.
Sie vereint in unterschiedlichen Kombinationen ebenfalls Theologie,
Ethik, Kunst- sowie Literaturwissenschaft und arabische Sprache.
Philosophie als akademische Disziplin wird im Orient in der Regel
sowohl an manchen Theologischen Fakultäten als auch in Philoso-
phischen Instituten gelehrt:
Die islamische Geistesgeschichte ist seit ihren Anfängen ein Re-
flexionsfeld der Philosophie, Naturwissenschaft und Religion. Dies
hängt damit zusammen, dass die Philosophen dieser Kulturräume
nach der Entstehung des Islam nicht nur Religionsphilosophen und
34 Vorüberlegungen zu einem langen Weg
Rezitation Bereiche Koranexegenese
der islamischen
Kulturwissenschaft
Rechts- Überlieferungs-
wissenschaft wissenschaft
Philosophie Mystik
Kunst- Geschichte Literatur-
wissenschaft des Islam wissenschaft
Sprach-
Theologie wissenschaft Ethik
Theologen, sondern auch Astronomen und Geometriker sind. Ein
Grund, warum die Wissenschaftler der islamischen Welt, insbeson-
dere die der schiitischen Prägung, von Anfang an eine starke Affinität
zu Technik sowie Natur- und Ingenieurswissenschaften haben, rührt
daher, dass Vernunft und Glaube nicht zwingend als Gegensätze
wahrgenommen werden. Wie es einige gibt, die eher die Stimme der
Vernunft und einige, die eher die Stimme der Offenbarung bevorzu-
gen, so gibt es auch Wissenschaftler und Philosophen, die zwischen
beiden Polen vermitteln und diese als anthropologische Komponen-
ten betrachten.
Zu den Prinzipien der Rationalität dieser Prägung gehört das im-
merwährende Bemühen zwischen Gebotenem und Verbotenem in
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu unterscheiden. Die islami-
sche Geisteswelt ist nicht nur kulturell, sondern auch religiös ein
heterogenes Gebilde mit dennoch vielen Gemeinsamkeiten neben den
erhellenden Unterschieden. Wer die islamische oder europäische Phi-
losophie in zwei oder mehrere sich ausschließende Welten unterteilt,
geht von einer Weltbild-Zergliederung aus, in welcher Dauer-Rivali-
tät und kämpferische Konfrontation die Spielregeln sind. Übertragen
auf die Philosophie des Orients würde dies bedeuten, die Philosophie
eines Ibn Sinas im Osten sei von ›unvergleichbar‹ anderer Art zu
denken als die Philosophie eines Ibn Ruschds im Westen des islami-
schen Orients.
2. Philosophie – Mystik – Weisheit 35
2. Philosophie – Mystik – Weisheit
Das Studium der islamischen Geistesgeschichte setzt nicht nur das
Wissen um Philosophie voraus, sondern auch um ›Erfan‹, Weisheits-
lehre und um ›Hikma‹, Weisheit, die in vielfacher Hinsicht ergänzend
ineinandergreifen.
Philosophie ist, wie wir im ersten Kapitel eingehend untersucht
haben, eine unbändige Sehnsucht, den Sinn des Lebens zu ergründen.
Ihr Endziel ist die Entfaltung der Bedingungen menschlicher Glück-
seligkeit. Weisheitslehre bzw. Erfan beschreibt als eine intuitive Er-
kenntnis ebenfalls eine unstillbare Sehnsucht, das Absolute, das Gött-
liche als Gipfel der Transzendenz zu berühren. Der Erfan liegt ein
transpersonales Bewusstsein zugrunde, eine Innerlichkeit, welche die
Kontinente menschlicher Seelen miteinander verbindet.
Weisheit verkörpert das vollkommenste Gut menschlichen Geistes,
eine Unendlichkeit, in welche Erfan und Philosophie einfließen.
Weisheit ist ein Gefäß, welches das Menschliche mit dem Göttlichen
vereint; Wahrheit ist ihre eigentliche Heimat. Sie ist zeit- und ge-
schichtslos; sie ist unendlich. Philosophie und Mystik erstreben in
einem sehnsuchtvollen Ringen das Erreichen solcher Weisheit. Phi-
losophie wird – um nur ein Beispiel zu nennen – im Iran mit Hekmat,
Weisheit, gleichgesetzt und beide Begriffe werden als Synonyme
gebraucht, während sich Philosophie innerhalb der Geschichte voll-
zieht. Dies ist der eigentliche Unterschied zwischen Weisheit und
Philosopie.
Von ihrem Beginn an sind viele islamische Philosophien aufgrund
dieses Zusammenflusses sowohl systematisch als auch unsystema-
tisch und sogar antisystematisch orientiert, mit einem stark histori-
schen und umfassend vergleichenden Charakter. Dies hängt damit
zusammen, dass sich Philosophie, Mystik und Weisheit im islami-
schen Denken gegenseitig durchdringen und wie ein Uhrwerk zusam-
menspielen. Philosophie der islamischen Welt bzw. islamische Phi-
losophie trägt zugleich eine reichhaltige Geschichte der Religion in
sich. Philosopie- und Religionsgeschichte greifen ineinander, ohne
sich aufeinander zu reduzieren.
In der islamischen Geisteswelt wird zwischen Geistigkeit, ›Mana-
wijjat‹ und Weltlichkeit, ›Madijjat‹ unterschieden. Manawijjat, die
im Deutschen mit ›Spiritualität‹ bzw. ›Geistigkeit‹ übersetzt wird,
bewegt sich auf einem Mittelweg, um Diesseits- wie auch Jenseitsan-
forderungen in Harmonie zu bringen. Sie ist die Lebensmitte der is-
36 Vorüberlegungen zu einem langen Weg
lamischen Denk-und Lebensweise überhaupt. Der Boden der Mana-
wijjat wird erreicht, wenn sich der Mensch reflektierend von seiner
Ichbezüglichkeit entfernt. Sie beschreibt eine tiefe Sehnsucht des
Menschen nach Befreiung und Einswerdung mit sich und der Welt.
In diesem Bestreben kann sich der Mensch menschengemäß entfalten
und Erlösung und Glückseligkeit erlangen.
Diese Form von Geistigkeit unterteile ich in eine erstarrende, eine
weltliche und eine befreiende:
In der erstarrenden Geistigkeit bzw. Spiritualität lebt ein Wahr-
heits- und Absolutheitsanspruch, der alle anderen geistigen Inhalte
ablehnt und nur sich selbst als alleinseligmachend begreift. Ihr woh-
nen extremistische Züge inne, welche die eigene Lesart für entgültig
halten.
Die weltliche Geistigkeit materialisiert die Transzendenz und sucht
die Erfüllung ausschließlich in diesseitigen Neigungen, Wünschen
und Bedürfnissen. Sie sucht Kosmisches im Rausch des Konsums
und reiner Sinnlichkeit.
Die befreiende Geistigkeit integriert Dimensionen der Transzen-
denz und Immanenz. Sie speist sich aus einer anerkennenden Wert-
schätzung allem Seienden gegenüber. Der spirituelle Mensch ist stets
bemüht, sich aus freien Stücken für das Gute und Wahrhaftige im
Leben zu entscheiden und ein würdiges Dasein zu gestalten.
3. Islamische Welt und griechische Philosophie
Die Übersetzung der altgriechischen Werke ins Arabische beginnt
unter einigen wissenschaftsfördernden Kalifen, auf die ich noch ein-
gehen werde. Den Übersetzern gelingt es, den längst vergessenen
Wert der Philosophie der Griechen auferstehen zu lassen, sie darüber
hinaus aber auch zu kommentieren und weiterzuentwickeln. Sie tra-
gen dazu bei, die eigenkulturellen Leistungen mit dem griechischen
Denken zu verbinden.
Dabei gilt es zu bemerken, dass es den Übersetzern und ihren
Auftraggebern nicht primär darum geht, philosophische und juristi-
sche Werke mehrerer Kulturräume ins Arabische zu übersetzen, um
unterschiedliche Völker unter dem Dach des Islam zusammenenzu-
schmelzen. In erster Linie haben sie Interesse an den Inhalten, der
Philosophie. Diese Feststellung wird dadurch erhärtet, dass die Wer-
ke nicht nur ein einziges Mal übertragen wurden, sondern immer
wieder neu, in akribischer Auseinandersetzung mit den Quellen, über-
3. Islamische Welt und griechische Philosophie 37
setzt wurden, um den Inhalten der Werke gerecht zu werden. Noch
heute unterzieht man die Originalwerke immer wieder der kritischen
Übersetzung und des Kommentars.3
An diesen Übertragungen aus den drei oben genannten Phasen hat
sich die ohnehin differenzierte arabische Sprache geschärft und eine
immer präziser werdende Terminologie entwickelt. Betrachten wir
genauer die Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische, so
machen wir weiterhin die Entdeckung, dass nur einige wenige Be-
griffe aus der griechischen Philosophie – um nur zwei Ausdrücke zu
nennen – wie ›Faylasuf‹ oder ›Falasifa‹ als Lehnwörter Eingang in
die arabische Sprache gefunden haben. Andere philosophische Be-
griffe, mit wenigen Ausnahmen, wurden aus dem bereits vorhande-
nen arabischen Vokabular gebildet.
Die Muslime vermochten also, vor der Rezeption griechischer
Werke, kraft ihrer Sprache und ihrer Denkweise, komplexe Formen
der denkerischen Reflexion präzise aufzunehmen, zu übersetzen und
zu interpretieren.4 Dies lässt darauf schließen, dass sie bereits vor der
Entstehung des Islam eine hoch entwickelte Sprache und Philosophie
ausgebildet hatten. Von daher rührt auch die beeindruckende Poesie
der arabischen Frühsprache. Das Arabische gehört zur semitischen
Sprachfamilie, benannt nach Sem, dem Sohn Noahs, und ist mit den
in altorientalischer Zeit gesprochenen Sprachen, insbesondere mit
dem Aramäischen, eng verwandt. Das Altarabische gestaltet eine
Schrift, die auf dem nabatäischen Alphabet beruht. Die Perser neh-
men nach der Islamisierung des Reiches im Jahr 642 bei der Schlacht
bei Nahavand in Westpersien das arabische Alphabet fast vollständig
in das Mittelpersische auf.
Viele Philosophen islamischer Kulturräume verfassen ihre Werke
zum Teil in ihrer Muttersprache wie Persisch oder Türkisch, vorwie-
gend aber in Arabisch. Diese Komponente interkultureller Pluralität
3
Im Jahr 2000 ist eine vollständige Neuübersetzung von Platons Werken
im Iran erschienen, die dem Original so ähnelt, dass die Absichten Platons
förmlich mitlesbar sind.
4
Dass Vorkenntnisse erst ein Verstehen ermöglichen, lässt sich am Beispiel
der Kritzeleinen an der Marmorwand des Apollotempels in Didyma er-
kennen: Der Archäologe Lothar Haselberger erkannte anhand seines Wis-
sens eine Zeichnung als eine wichtige Konstruktionsanweisung, durch
welche die griechischen Tempel und Säulen ihre Lebendigkeit und elas-
tische Spannung erfahren, während diese Zeichungen von Laien für
›Touristen-Kritzeleien‹ gehalten worden waren. Vgl. Skizzen im Marmor,
in: DER SPIEGEL, Nr. 15 vom 08.04.1985.
38 Vorüberlegungen zu einem langen Weg
zeichnet die Philosophien der islamischen Welt als einen tragfähigen
Geist mit Offenheit und dialogischem Anpassungscharakter aus.
Die Philosophie der islamischen Welt und die Übersetzung islami-
scher und griechischer Werke haben für das Lateinische große Be-
deutung. Die Übersetzung dieser Werke leitet eine Revolutionierung
der lateinischen Sprache ein – die, als sogenanntes ›Mittellatein‹ vom
6. bis zum 15. Jahrhundert gepflegt – in die Geschichte der Linguis-
tik eingeht. Durch die Übersetzerschule im spanischen Toledo werden
im 12. Jahrhundert viele Werke von Philosophen islamischer Welt ins
Lateinische übersetzt. Die Übertragungen erfolgen allerdings meist
willkürlich und verkürzt. Dennoch wird der islamische Orient in
diesem Moment zu so etwas wie dem Geburtshelfer Europas. Bereits
in der Gründungs- und Blütephase im islamischen Orient gelangten
Philosophen zu revolutionären Erkenntnissen, welche vergleichbaren
Entwicklungen in Europa um ein Jahrtausend vorausgingen.
Die entstehenden europäischen Wissenschaften im Mittelalter set-
zen fort, was dort begonnen wurde. Ohne Philosophien der islami-
schen Welt hätte die Scholastik nicht entstehen können. An diesem
Ort der Begegnung entfaltet sich eine mentalitätsgeschichtlich ein-
zigartige Situation der Verständigung zwischen Orient und Okzident,
die mit der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel ihr Ende gefun-
den hat.
III. Philosophien der islamischen Welt
Was macht das Wesen der Philosophie aus? – So lautete die Grund-
frage des ersten Kapitels, mit der wir an die anthropologische Frage-
stellung anknüpften: Was bedeutet Denken und wo ist die Erkennt-
nisquelle der Philosophie? Wir erörterten eine Antwort, der zufolge
Philosophie aus einer menschlichen Sehnsucht heraus entsteht. Die
menschliche Sehnsucht ist der Urgrund des Denkens, mit dem der
Mensch den Rätseln seiner Existenz und den Fragen nach der Entste-
hung der Welt nachspürt.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse soll nun der nächste Ge-
genstand dieser Arbeit betrachtet werden, nämlich die Philosophie
der islamischen Welt.
Philosophen der islamischen Welt sind von den Anfängen an Uni-
versalgelehrte, insbesondere ist dies in ihrer Gründungs- und Blüte-
zeit zu beobachten. Es handelt sich um Naturwissenschaftler, die
teilweise Ärzte, Religionsphilosophen, Theologen oder Astronomen
sind. In anderen Phasen gibt es Philosophen, die ausgehend von einer
mystischen Grundüberzeugung eine philosophiekritische Position
einnehmen oder eine Mischung von beiden eingehen. In der dritten
Phase gibt es wiederum Denker, die nicht per se Philosophen sind,
sondern Wissenschaftler, die, beeinflusst von der Epoche der Aufklä-
rung oder beseelt durch eine mögliche Wiedererweckung eigener
alter Traditionen, zumindest philosophierelevante Fragen stellen. Zu
diesen Denkertypen gehören vor allen, wie wir sehen werden, Ak-
hondzade, Kermani, Talbof Tabrizi, Foroughi oder Arkoun.
Diese Einführung wurde geschrieben, weil es in der europäisch-
westlichen Hemisphäre an gut verständlichen, einführenden Werken
mangelt. Aufgrund einer mehr als tausend Jahre alten Geschichte
bietet sich eine Einteilung in mehrere Phasen an, die mit historischen
und kulturellen Ereignissen einhergeht. Die Philosophien der islami-
schen Welt sollen demnach eingeteilt werden in eine Gründungs-
bzw. erste Blütephase, eine mehrdimensionale Übergangsphase und
eine kritische Gegenwartsphase.
Zwei Anmerkungen seien hier gestattet:
Erstens: Philosophien der islamischen Welt werden in europäisch-
westlichen Geschichtsschreibungen als ›Arabische Philosophie‹ bzw.
›Islamische Philosophie‹ bezeichnet, was dem Kern dieser Vielfalt
nicht Rechnung trägt. Es wäre genauso unangemessen generell, von
einer ›Christlichen Philosophie‹ zu sprechen. Philosophen wie Lud-
40 Gründungs- und erste Blütephase
wig Feuerbach (1804-1872) oder Friedrich Nietzsche sind geradezu
antichristlich eingestellt, dennoch haben sie in der europäischen Welt
gewirkt. Richtig wäre von der ›Europäischen Philosophie‹ zu spre-
chen, welche die Vielfalt der geschichtlich gewachsenen Denkansät-
ze in diesem Kontinent würdigt. Daher wäre es angemessener Aus-
drücke wie ›Philosophen der islamischen Welt‹ bzw. ›Philosophien
der islamischen Welt‹ zu verwenden, die ich allen anderen Formulie-
rungen vorziehe.
Zweitens: Es gibt noch heute in Deutschland keine einheitlich-
verbindliche Schreibweise orientalischer Namen. Einige Beispiele
sollen dies verdeutlichen: Sartoscht ist im Abendland hinlänglich
bekannt – man nennt ihn Zarathustra, Zoroaster, Zoroastra, Zoroast-
re oder auch Sarastro. Auch die Namen von Philosophen wie Farabi,
Ghazali oder Ibn Ruschd werden unterschiedlich wiedergegeben. Mit
Ortsnamen verhält es sich nicht anders. Esfehan wird wiedergegeben
als Isfihan, Esfahan, Esfihan. Die Stadt Tabriz wird wiedergeben als
Täbris, Trauris oder Tabreez.
Dies alles scheint mehr als eine verzeihbare Nachlässigkeit zu sein.
Es handelt sich um eine performative Modifizierung der Benennun-
gen, welche die eigene Perspektive in den Vordergrund stellt und
dadurch eine interkulturelle Verständigung stört. Die sich in dieser
nachlässigen Schreibweise manifestierte Haltung dürfte aus islami-
scher Sicht als Missachtung begriffen werden. Daher wäre es sinn-
voll, generell Personen, Orte und Länder so zu benennen, wie die
entsprechenden Bewohner sich selbst nennen oder genannt werden
wollen.
Im Rahmen der vorliegenden Studie wird angestrebt, alle Namen,
Personen, Orte und Länder so zu schreiben, dass sie sowohl der Pho-
netik als auch dem Gebrauch in ihren Kulturräumen gerecht werden.
Die persischen Philosophen Farabi und Ghazali, um nur zwei Bei-
spiele zu nennen, würden sich, obgleich sie sich bei der Abfassung
ihrer Hauptwerke gerne der arabischen Sprache bedient haben, wohl
wundern, durch die Hinzufügung der Vorsilbe ›Al‹ zu ihrem Namen
arabisiert zu werden.
1. Gründungs- und erste Blütephase
(8. bis beginnendes 14. Jahrhundert)
Im 8. Jahrhundert ist die Welt Zeuge gewichtiger Veränderungen.
Während in Europa Bonifatius (673-754) auf Geheiß des Papstes in
Thüringen, Hessen, Bayern und Friesland das Christentum einführt,
die Klosterschule in Tours sich zur Hochschule antiker Wissenschaft
erhebt und die Universitätsstadt Oxford in England entsteht, entwi-
ckelt sich im Orient eine erste Blütezeit der islamischen Kultur.
Die Entstehung des Islam stellt den gesamten Orient vor neue
Herausforderungen. Kalif Al-Mansur (714-775), der zweite Kalif der
Abbassiden, verlegt den Hauptsitz des Kalifats von Damaskus nach
Bagdad, eine Stadt, die er ›Medinat as-salam‹, also ›Stadt des Frie-
dens‹, nennt. Dieser Ausspruch ist auf Münzen dieser Zeit zu lesen.
Der Ausbau dieser Stadt in den Jahren 762 bis 766 erfolgt nach alt-
persischer Architektur als Rundbau, in dessen Mittelpunkt das Areal
des Kalifen liegt.
Diese Initiative Al-Mansurs ist für die Entwicklung der grundle-
gend neuen sozialen und philosophischen Denkweise im Orient von
großer Bedeutung. Am Kalifenhof in Bagdad beginnt die Überset-
zung syrischer und antiker medizinischer Schriften ins Arabische.
Dies gilt als Geburtsstunde der Medizin in der islamischen Welt.
Der nächste Kalif in Bagdad, Harun al-Raschid (763-809), fördert
Künste und Wissenschaften. Wegen seiner allgemein gerechten Hal-
tung erlangt er großen Ruhm. Das Kalifenreich wird bald zum Zentrum
von Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Innerhalb der gesamten
islamischen Territorien entstehen Schulen, in denen wissenschaftliche
Einrichtungen aufblühen. Im weiteren Verlauf macht Al-Mamun (786-
833), Harun al-Raschids Sohn, diese Metropole ab 810 mit der Grün-
dung eines ›Hauses der Weisheit‹, das ›Bait al Hikma‹ zu einer Welt-
bühne der Wissenschaft und der Philosophie. Seine Vision ist die
Errichtung eines Reiches der Weisheit und des Friedens. Er erhebt
Bagdad nicht nur zu einem interkulturellen Zentrum, sondern auch zu
einer Hauptstadt der Weltgeschichte.
Das Haus der Weisheit löst die Universität bzw. Akademie im
persischen Gondischapur ab. Diese ist im Jahr 271 n.u.Z. von Schapur
I. (240-272) gegründet worden und war ein wissenschaftliches Zen-
trum des Sassanidenreichs. Sie gehört zu den ältesten medizinischen
Zentren der Welt mit dem ersten bekannten Lehrkrankenhaus und
einer beachtlichen Bibliothek, in der das persische, griechische und
42 Gründungs- und erste Blütephase
indische Wissen zusammenfließt. In Gondischapur wurden nicht nur
Naturwissenschaften gelehrt, sondern auch Philosophie und Theolo-
gie. Nach der Islamisierung des persischen Reiches wird sie zunächst
zu einem Zentrum der islamischen Wissenschaften, verliert aber mit
der Gründung des Hauses der Weisheit in Bagdad an Bedeutung.
Zur Zeit der Islamisierung ist Yazdgerd III. (616-651), der letzte
Großkönig Persiens aus dem Haus der Sassaniden an der Macht. Die
Perser nehmen den Islam, trotz anfänglicher kriegerischer Verwick-
lungen auf. Aufgrund der eigenen geschichtlichen Entwicklung und
dem zarathustrischen Gedankengut, wohl zu denken, wohl zu reden
und wohl zu handeln gelingt es ihnen in kürzester Zeit, islamische
Erkenntnisse mit den eigenen Werten zu vereinen und eine exponier-
te Sonderstellung in der islamischen Welt einzunehmen, die bis heu-
te andauert.
Das Haus der Weisheit übernimmt die Methoden der Gondischa-
pur-Universität, bis diese im 10. Jahrhundert endgültig aufgelöst
wird. Um die Kenntnisse des Hauses der Weisheit zu vermehren,
sendet Al-Mamun immer wieder Experten in Territorien jenseits der
islamischen Welt mit dem Auftrag, Meisterwerke anderer Kulturen
aufzuspüren. Gemäß seiner inneren Überzeugung nimmt er in die
Übersetzergruppen auch christliche Vertreter auf. Bedeutende Über-
setzer sind in dieser Zeit unter anderem Hubei Ibn ben al-Hasan
(875-939), Ibn al-Batrik (876-941), Al-Haschadsch ben Jusuf ben
Matar (786-833), Salam al-Abresch oder Abdalmasih Ibn Naima al-
Himsisch (886-939). Zu nennen sind auch die damascenischen Chris-
ten Juhanna ben Masuweih und Honein ben Ischak (809-873). Diese
beiden beordert Al-Mamun ins Oströmische Reich, um wissenschaft-
liche Meisterwerke der Römer zwecks Übersetzung nach Bagdad zu
bringen.
Die Araber zielen nicht, wie bspw. Alexander der Große (356-323),
auf bloße zerstörerische Eroberung ab. Ihr Ziel ist es, eine islamische
Weltkultur zu etablieren, weil sie Religion mit kulturellem Sendungs-
bewusstsein verbinden. Deshalb fördern sie in allen islamischen Ter-
ritorien Wissenschaft und Philosophie. Ihre Expansion erstreckt sich
über Nordafrika bis zur Iberischen Halbinsel. Später (929-1031)
gründen sie im Süden das Kalifat von Córdoba und befreien die Juden
von den Verfolgungen durch die Westgoten. Im Zuge der Reconquis-
ta verlieren die Araber jedoch später das Gebiet León an den König
von Asturien und in den Folgejahren alle eroberten Territorien auf der
Iberischen Halbinsel an die kastilischen Könige.
1.1 Mutaziliten und die Dialektik
Die Philosophie der islamischen Welt nimmt ihren Anfang im 8.
Jahrhundert. Sie wird durch die Theoriebildung der Mutazila bzw.
Mutaziliten, einer rationalistischen Schule nachhaltig geprägt. Sie
sind die Gründer einer systematischen Philosophie und dialektischen
Theologie. Besondere Leistungen erbringen sie durch die Begrün-
dung der Dialektik, weil sie alles nach den Forderungen der Vernunft
ausrichten. Dies hängt damit zusammen, dass sie von einem Vernunft
bzw. Verstandesbegriff ausgehen, über den alle Menschen gleicher-
maßen verfügen, auch wenn sie unterschiedlich davon Gebrauch
machen. Dialektik bedeutet für sie logische Folgerichtigkeit der Aus-
sagen und Behauptungen.
Die Geschichte dieses Prinzips ist älter als ihr Name. Bereits in der
altägyptischen und altpersischen Dialektik ist dieses Grundprinzip
späterer Denktraditionen anzutreffen. Es geht sowohl um das Polari-
tätsprinzip des ägyptischen Isisgottes Thot, einer Gottheit, deren Ide-
en durch Inschriften in Bauwerken und Papyrus-Aufzeichnungen gut
belegt sind, als auch um das Dualitätsprinzip in den ›Gathas‹ des
Sartoscht (Zarathustra), die ebenfalls erhalten sind.
Das Ergebnis dieses dialektischen Prinzips ist stets das gemeinsa-
me Dritte. Mann und Frau schaffen zusammen neues Leben, die
Begegnung von Gut und Böse schafft neue Erkenntnisse. Selbst wenn
zwei Negativa oder zwei Positiva aufeinander treffen, so entsteht
ebenfalls etwas Neues. Dieses Wechselverhältnis von Überlegung
und Gegenüberlegung sowie Rede und Gegenrede wird als ›Ilm al-
kalam‹, ›Wissenschaft des Wortes‹, also ›Dialektik‹ bezeichnet.
Das Menschenbild der Mutaziliten ist universalistisch. Für sie sind
alle Menschen als Geschöpf Allahs gleich. Hiernach ist der Mensch
frei geboren und verfügt über einen freien Willen, weshalb er für
seine Taten verantwortlich ist. Die Mutaziliten bzw. die Mutakalli-
mun erheben die Vernunft, ›aql‹, zur obersten Instanz, welcher der
Mensch prizipiell verpflichtet ist. Mutakallimun sind also Theologen,
die sich mit einer rationalen Begründung der Offenbarungslehren
beschäftigten. Sie sind aufgrund ihrer Logos-Theologie der Meinung,
dass alle Absichten Gottes stets vernünftig begründet und begründbar
seien. Nichts vollzieht sich ohne zureichenden Grund. Mutaziliten
sind aufgrund dieser Annahme bestrebt, den ›wahren‹ Glauben gegen
die Angriffe ketzerischer Lehren zu verteidigen.
Theorie und Praxis, Erkenntnis wie auch gesellschaftliches Han-
deln, dürfen nicht voneinander getrennt werden. Darum verbinden
44 Gründungs- und erste Blütephase
Mutaziliten Vernunft und Gerechtigkeit, also ›aql wa adl‹. Alle ande-
ren Instanzen sind der Vernunft als oberstem Kriterium untergeord-
net. Der menschliche Intellekt wird als Pflicht bedingungslosen Di-
alogs verstanden, der sich zwischen Geschichte und Gegenwart sowie
Gegenwart und Zukunft bewegt.
Neben der Begründung einer systematischen Philosophie und di-
alektischen Theologie entwickeln die Mutaziliten eine kritische Her-
meneutik, die zunächst in der Theologie zur Auslegung ihrer Heiligen
Schrift entwickelt wird. Ein Spruch, z.B. ein Vers des Koran, solle
nicht allein nach dem ›Zahir‹, dem äußeren Schein, sondern auch
nach seiner ›Batin‹, der tieferen Bedeutung begriffen werden. Es
handelt sich um aufeinander folgende, vertiefende Schritte der Be-
trachtung eines Sachverhaltes. Die kritische Hermeneutik geht der
Exegese voraus, die wiederum eine Voraussetzung der Kommentie-
rung der Heiligen Schrift ist. Diese Art der Beschäftigung mit dem
Koran beschert den Mutaziliten eine Reihe von Widersachern. Wer-
den die Forderungen der kritischen Vernunft bei der Wahrheitssuche
zur Anwendung gebracht, so stellen ihre Widersacher die Legitimität
dieser Vernunft in Abrede.
Eine bedeutende Gegenbewegung zur Mutazila wird von Abu l-
Hasan Al-Ashari (873-935) in Gang gebracht. Durchaus ein Kenner
der mutazilitischen Philosophie, ist er zugleich ihr schärfster Gegner.
Ihre Methode der Argumentationsführung führt Al-Ashari fort, wäh-
rend er die Inhalte ihres Denkens verwirft. Insbesondere weist er jede
Wirksamkeit und Bedeutung des logischen Denkens bei der metaphy-
sischen Erkenntnisgewinnung zurück und sieht diese Gewissheit nur
im Koran gegeben. In dieser Heiligen Schrift, die er für ein unaus-
schöpfbares Gotteswerk hält, sieht Al-Ashari die objektiv gewordene
Wahrheit, welche keiner Interpretation bedarf. Nach dieser Bewe-
gung ist das im Koran offenbarte Wort absolut und eindeutig. Al-
Ashari ist der Ansicht, dass Allah am Jüngsten Tage mit den Augen
leibhaftig gesehen werden wird.
Weiterführende Literatur:
— Dinani, Gholamhossein Ebrahimi: Madjara-je fekre falsafi dar djahane
eslam [Geschichte des philosophischen Denkens in der islamischen Welt],
1998.
— Zakzouk, Mahmoud: Ghazali und Descartes, 2005.
1.2 Ibn Musa Kharazmi
und die Entwicklung von Algebra und Algorithmus
Abu Djafar Mohammad Ibn Musa Kharazmi (andere Schreibweisen:
Charazmi, al-Khwarizmi, al-Khowarizmi, al-Ḫwārizmī, al-Chwariz-
mi, al-chwarizmii), genannt Kharazmi (780-850), wird zu jener Zeit
in Persien geboren, als die Expansion der Araber nach Europa ihre
größte Kraft entfaltet. Zur Zeit seiner Geburt versucht Karl der Gro-
ße ohne Erfolg, das Vordringen der sogenannten Mauren auf der
iberischen Halbinsel zu stoppen.1
1
Über Kharazmi vgl. Qorbani, Abolqasem (Hrsg.): Zendeginame-je riazi-
danane Eslami [Biographien islamischer Mathematiker], 1997.
46 Gründungs- und erste Blütephase
Innerhalb der islamischen Territorien setzt sich Kalif Al-Mamun
für die Entwicklung der Wissenschaften ein. Neben den Geisteswis-
senschaften fördert er insbesondere die Naturwissenschaften, um
dadurch Lebensstandard und Wohlergehen des islamischen Volkes zu
erhöhen.
Al-Mamun sendet Fachkundige an den Hof des byzantinischen
Kaisers mit der Bitte, dieser möge ihm mathematische Arbeiten, wie
die des Euklid von Alexandria, zum Zwecke der Übersetzung zur
Verfügung stellen. Zahlreiche griechische Werke werden ins Arabi-
sche übersetzt. Diese Übersetzungen bilden eine solide Grundlage,
um den eigenen Initiativen auf den Gebieten der Mathematik, Arith-
metik und Geometrie neue Impulse zu geben.
Dem neuen wissenschaftlichen Bestreben liegt die Einstellung zu-
grunde, dass Mathematik für die orientalisch-islamischen Denker als
ein Tor zwischen der Sinnes- und Verstandeswelt einerseits sowie
eine Leiter zwischen dem Irdischen und Himmlischen verstanden
wird. Es geht letztlich darum, die Struktur der Welt und ihre Dimen-
sionen auf ein handliches Format zu bringen.
In seinem Werk ›Mafati-hol olum‹, ›Werkzeuge der Wissenschaft‹,
diskutiert Kharazmi Geometrie, Astronomie, Musik und vor allem
Logik und Philosophie. Für ihn gehören Logik und Philosophie zu-
sammen. Demnach bedeutet Philosophie »Ergründung der Welt« und
»vernunftverwurzelter Erkenntnisgewinn.« Vernunft sei ein »gottge-
gebenes Vermögen«2, den Kosmos und die Welt der Lebewesen unter
ihrer Leitung zu erforschen. Vernunft vergleicht er mit der Sonne,
welche die Seelen erleuchtet. In Gott sieht Kharazmi den ersten
Grund, die erste Ursache allen Seins. Er ist Inbegriff der liebenden
Gerechtigkeit. Diese Grundannahme stellt ihn in die philosophische
Tradition seiner Nachfolger Al-Kindi, Razi und Farabi.
Kharazmi oszilliert zwischen den Polen der Natur- und Geistes-
wissenschaften und wendet sich vorwiegend naturwissenschaftlichen
Fragen zu. Lange Zeit wirkt er in Bagdad im ›Haus der Weisheit‹, das
zur Zeit der Abbasidenkalifen ein wissenschaftliches Zentrum der
islamischen Welt darstellt.
In dieser Zeitspanne machen die Wissenschaftler der islamischen
Welt eine Reihe von Entdeckungen, welche nicht nur für die Entwick-
lung innerhalb der islamischen Territorien bedeutsam sind, sondern
bis in unsere Tage einen festen Gegenstand der Forschung bilden. Zu
2
Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Mafati-hol olum [Werk-
zeuge der Wissenschaft], 1983 S. 127f.
1.2 Ibn Musa Kharazmi 47
diesen historisch bedeutsamen Forschern gehört zweifelsohne der
iranische Mathematiker, Optiker und Astronom Abu Ali Hasan Ibn
Hasan Ibn Haisam (965-1039), der im Westen als Alhazen bekannt
ist.3 Er ist ein Entdecker von Lichtbrechung, Lupe und Linse; er be-
rechnete als erster die Licht- und Schallgeschwindigkeit. Mit seiner
Forschung über das menschliche Sehvermögen und die Funktion von
Linsen gilt Ibn Haisam als Vater der Optik.
Aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Experimente stellt Ibn
Haisam die Sehstrahlen-Theorie und dessen Auffassungen zur Licht-
brechung und Lichtreflexion des Ptolemäus in Frage. Bei der Analy-
se des Aufbaus eines Auges erkennt Ibn Haisam die Bedeutung der
Linse für das Sehvermögen. Er erkennt und beschreibt die Eignung
gewölbter Glasoberflächen zur optischen Vergrößerung und wendet
seine Erkenntnisse an zur Entwicklung von Sehhilfen und ersten
Leselupen aus Glas. Von seinen Arbeiten sind Jahrhunderte später
Wissenschaftler wie Roger Bacon (1214-1292) inspiriert, die unhand-
licheren Leselupen zu einer Brille weiterzuentwickeln.
Die gewonnenen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Optik wendet
Ibn Haisam auch auf dem Gebiet der Astronomie an. Ihm gelingt es,
die Höhe der Atmosphäre aus der Beobachtung von Sonnenuntergän-
gen zu berechnen. Auch machen ihm seine Forschungen deutlich,
dass das optische Brechungsgesetz auch für die Lufthülle der Erde
gilt. Ibn Haisam beobachtet, dass der Mond sowohl am Horizont als
auch im Zenit die gleiche Größe hat. Die Erkenntnis, dass der schein-
bar größere Durchmesser des Mondes in Horizontnähe eine Wahr-
nehmungstäuschung ist, geht Jahrhunderte später als ›Mondtäu-
schung‹ in die Astronomie ein. Ibn Haisam wie auch Kharazmi
bleiben zeit ihres Lebens dem ›Haus der Weisheit‹ verbunden.
Kharazmi betreibt auch Astronomie, Geographie und Kartographie,
deren Werke nicht nur zu ihrer Zeit, sondern auch in der Gegenwart kaum
an Gültigkeit eingebüßt haben. Unter seinen umfangreichen Forschungs-
arbeiten sind die Einführung des Dezimalsystems mit arabischen Ziffern
und der Entwurf einer Gleichungslehre besonders hervorzuheben.
In seinem gegen 825 entstandenen Werk ›Kitab al-Dscham wa-l-
tafriq bi-hisab al-Hind‹4, ›Über das Rechnen mit indischen Ziffern‹,
3
Über Ibn Haisam vgl. Schramm, Matthias: Ibn Al-Haythams Weg zur
Physik, 1963.
4
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab al-Dscham
wa-l-tafriq bi-hisab al-Hind [Über das Rechnen mit indischen Ziffern],
1991.
48 Gründungs- und erste Blütephase
das später unter dem Titel ›Algoritmi de numero Indorum‹5 ins La-
teinische übersetzt wird, erläutert Kharazmi seine Vorgehensweise
zur Erstellung eines Dezimalsystems. Daraus entsteht später die Be-
zeichnung ›Algorithmus‹, einer mathematischen Methode zur Durch-
führung genau definierter Rechenverfahren, die heute vor allem in
Computersystemen zur Anwendung kommt. Ursprünglich handelte
es sich um ein Verfahren, bei dem ein Problem zu seiner Lösung in
eine Vielzahl einzelner Schritte aufspalten wird.6
Kharazmi baut sein System auf dem aus Indien stammenden Zah-
lensystem mit neun Ziffern und einer Null auf. Er führt die ›sifr‹, also
die Null, in das arabische Zahlensystem ein. Kharazmi erkennt in den
Zahlen die gesetzmäßige Struktur der Welt, deren Einheit er in der
Zahl Eins geborgen sieht. Damit weist auch er auf das Verstehbare
des Kosmos durch naturwissenschaftliche Methoden hin.Bei seiner
ausführlichen Darstellung der Vorteile des dekadischen Positionssys-
tems erläutert er die Bedeutung der Eins: »Und ich habe […] erörtert
[…], dass jede einzelne Zahl aus der Eins zusammengesetzt wird. Die
Eins wird also in jeder einzelnen Zahl gefunden.«7
Kharazmi gelingt es, aus einer Mischung aus griechischer und
indischer Mathematik die Disziplinen der Algebra und des Algorith-
mus zu gründen. Durch die Übersetzung dieses Werkes aus dem
Arabischen ins Lateinische findet die indische Arithmetik Eingang in
Europa. Die anschließende weltweite Verbreitung des Dezimalsys-
tems über den gesamten Planeten macht Kharazmi zu einem Begrün-
der der komparativen und der interkulturellen Mathematik.
In seinem weiteren Werk ›Kitab al-mukhtasar fi hisab al-gabr wa-
l-muqabala‹8, ›Einführung in das Rechnen der Algebra und Almuqa-
bala‹, das er im Jahr 830 abschließt, entwickelt Kharazmi eine Glei-
chungslehre.
5
Vgl. Al-Ḫwārizmī, Muḥammad Ibn Mūsā: Algoritmi de numero Indorum,
1857.
6
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab al-mukhtasar
fi hisab al-gabr wa-l-muqabala [Einführung in das Rechnen der Algebra
und Almuqabala], 1993.
7
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab al-Dscham
wa-l-tafrig bi-hisag al-Hind [Über das Rechnen mit indischen Ziffern],
1991, S. 31.
8
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab al-mukhtasar
fi hisab al-gabr wa-l-muqabala [Einführung in das Rechnen der Algebra
und Almuqabala], 1993, S. 7 f.
1.2 Ibn Musa Kharazmi 49
Kharazmis Erkenntnisse zu Gleichungen basieren teilweise auf
dem Text ›Brahmasphutasiddhanta‹ des indischen Mathematikers
Brahmagupta (598-668), das Kharazmi und andere aus dem Sanskrit
übersetzen und sich zunutze machen. Er integriert in dieses Werk eine
Reihe von Berechnungsarten, die praktischen Charakter besitzen.
Kharazmis Schrift besteht aus drei Teilen:
1. Zunächst enthält sie einen eigentlichen algebraischen Ab-
schnitt, in dem eine Lehre vom Auflösen linearer und quadra-
tischer Gleichungen mit Zahlenkoeffizienten dargestellt wird,
die sechs Klassen umfasst. Dem folgt ein Kapitel über kauf-
männisches Rechnen, eine einfache Dreisatzrechnung nach
indischem Vorbild und andere, eher praktisch orientierte Re-
chenarten.
2. Im zweiten Teil sind Verfahren zu geometrischen Messungen
unter Verwendung der Algebra niedergelegt.
3. Gegenstand des umfangreichen dritten Teils sind Berech-
nungsmodi für Erbschaftsangelegenheiten und konkrete Vor-
schläge zur Berechnung von Nachlässen.
Kharazmis Leistung besteht darin, Regeln zum formalen Lösen von
Gleichungen aufzustellen, die für jeden nachvollziehbar sind. Seine
Schrift hat großen Einfluss auf die Mathematik im Vorderen Orient
und darüber hinaus.
Auch als Geograph und Kartograph verfasst Kharazmi bedeutende
Arbeiten. In seinem Werk ›Kitab surat al-ardh‹9, ›Das Bild der Erde‹
überarbeitet und erweitert er die Erkenntnisse und die Landkarten der
›Geographie‹ des griechischen Geographen Ptolemäus (100-160).
Mit seinen Forschungen beteiligt er sich maßgeblich an der Neufas-
sung der bestehenden Vorstellungen einer Erdkarte und trägt zu einer
verbesserten Bestimmung des Erdumfanges bei.
Durch die Vermittlung eines indischen Reisenden erhält Kharazmi
Zugang zu dem astronomischen Werk ›Siddhanta‹, das er, unter Ver-
wendung der Erkenntnisse von Ihn Haisam, gründlich überarbeitet
und das alsbald in der islamischen Welt unter dem Titel ›Zij al-Sind-
hind‹, ›Sindhind‹ bekannt wird.10 Das Werk enthält 116 astronomi-
sche Berechnungstabellen, unter denen auch eine trigonometrische
Tabelle mit Werten der Sinusfunktion zu finden ist. Weitere Domänen
9
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab surat al-ardh
[Das Bild der Erde], 1990.
10
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Zij al-Sindhind [Sind-
hind], 1975.
50 Gründungs- und erste Blütephase
Kharazmis sind die Berechnung der Stellung von Sonne und Mond,
die mittlere, direkte und rückläufige Bewegung der Planeten, die
Bestimmung von Sonnen- und Mondfinsternissen sowie Erdnähe und
Erdferne von Planeten.11 Er widmet sich ebenfalls der Erstellung von
unterschiedlichen Kalendarien und der Messung von Zeit mit Son-
nenuhren. Seine Erkenntnisse zu diesen Forschungsgebieten formu-
liert er insbesondere in seinem Werk ›Kitab at-tarich‹, ›Buch des
Datums‹.12
Kharazmi gehört zu denjenigen Naturwissenschaftlern der islami-
schen Welt, deren Werke in den europäisch-westlichen Hemisphären
nicht angemessen rezipiert worden sind. Es ist an der Zeit, die ver-
schütteten Meisterwerke der Denkgeschichte, zu denen zweifelsohne
auch Kharazmis Werk gehört, in der europäisch-westlichen Lehre und
Forschung zu würdigen.
Ausgewählte Werke:
— Kitab al-mukhtasar fi hisab al-gabr wa-l-muqabala [Einführung in das
Rechnen der Algebra und Almuqabala].
— Mafati-hol olum [Werkzeuge der Wissenschaft].
11
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab al-mukhtasar
fi hisab al-gabr wa-l-muqabala [Einführung in das Rechnen der Algebra
und Almuqabala], 1993.
12
Vgl. Kharazmi, Abu Djafar Mohammad Ibn Musa: Kitab at-tarich [Buch
des Datums], 1979.
1.3 Al-Kindi
und die Stufen der menschlichen Erkenntnis
Abu Yusuf Ya’qub Ibn Ishaq Ibn as-Schabah (andere Schreibweisen:
al-Kindī, Alkindus, Alkendi), genannt Al-Kindi (801-873), stammt
aus Kufa, eine Stadt im Irak an den Ufern des Euphrat, wo er als ein
Nachfahre des arabischen Stammes Al-Kindi hineingeboren wird.13
Al-Kindi beginnt später in Kufa zu studieren, wechselt dann aber
bald nach Bagdad, dem kulturellen Treffpunkt der islamischen Welt.
Dort kann er sich ungehindert mit den verschiedensten Kulturen aus-
13
Über Al-Kindi vgl. Flügel, Gustav Leberecht: Al-Kindi genannt ›der
Philosoph der Araber‹, 1857 und Abboud, Tony: Al-Kindi, 2006.
52 Gründungs- und erste Blütephase
einandersetzen und mannigfaltige Lehren studieren. In dieser Welt-
metropole seiner Zeit erlebt Al-Kindi die rasante Entwicklung wis-
senschaftlicher Errungenschaften und so kann er sich aktiv und
konstruktiv am Fortschritt seines Zeitalters beteiligen. Im Vergleich
hierzu schreitet in Europa mit dem Einzug des Christentums eine
Vernichtung von Kulturgut einher. Karl der Große krönt 813 auf dem
Reichstag in Aachen seinen Sohn Ludwig den Frommen (778-840)
zum Mitkaiser, der eine Sammlung germanischer Heldenlieder ver-
nichtet, da er sie als heidnische Werke betrachtet.
Al-Kindi ist als Philosoph, Mathematiker, Arzt, aber auch als Wis-
senschaftler, Musiktheoretiker und Theologe bekannt. Durch den
Reichtum seiner Familie ist es Al-Kindi möglich, seine Bildung breit
zu fächern. Die Bandbreite der Schriften Al-Kindis reichen von Ma-
thematik und Geometrie über Medizin bis zur Astrologie.
Dank seines Förderers Al-Mamun gelangt Al-Kindi in das ›Haus
der Weisheit‹. Dort widmet er sich den intensiven Studien griechi-
scher Schriften von Aristoteles, Platon und Neuplatonikern, die ihm
sehr am Herzen liegen. Deren Werke überträgt Al-Kindi mit Hilfe
zahlreicher Übersetzer ins Arabische. Damit legt er ein wichtiges
Fundament für viele kommende Philosophen, so dass er von seinen
Zeitgenossen den Ehrentitel ›failasuf al-Arab‹, also ›Der Philosoph
der Araber‹ erhält. Er hinterlässt ein ganzes Kompendium von Wer-
ken.
Al-Kindi bleibt lange Zeit mit der rationalistisch ausgerichteten
mutazilistischen Schule verbunden. Daraus lässt sich erklären, war-
um er in vielen seiner Schriften Philosophie und Religion in Harmo-
nie bringt. Für ihn sind Philosophie und Theologie keine Gegensätze.
Er sieht die Aufgabe der Philosophie in der Wahrheitssuche.
Nach Al-Kindi kommt der Philosophie, ›al-falsafa‹ der erhabenste
»Rang und die ehrenvollste Stufe zu, die als Wissen um die Wahrheit
der Dinge definiert wird, soweit dies dem Menschen möglich ist«.14
Nach diesem Philosophieverständnis sieht er das Ziel darin, »die
Wahrheit zu erkennen«.15 Dies hängt damit zusammen, dass die Ur-
sache der Existenz und des Fortbestehens eines jeden Dinges eben
diese Wahrheit ist und jedes Seiende, ›anniya‹, Wahrheit besitzt.
Von grundlegender Bedeutung in seinem philosophischen Werk ist
die Frage, ob und inwieweit etwas eigene Essenz verursachen könne.
In diesem Zusammenhang diskutiert er das Verhältnis zwischen Ein-
14
Al-Kindi: Die Erste Philosophie, 2011, S. 59.
15
Ebenda, S. 59.
1.3 Al-Kindi 53
heit und Vielfalt. Letztere könne nicht gesondert und unabhängig von
der Einheit existieren. Vielfalt bedeutet eine von der Einheit abge-
koppelte Sache, die in Ausdrücken wie ›Gegensätze‹, ›Ausnahmen‹
oder ›Gemeinsamkeiten‹ enthalten sind. Dies zeigt er in einem ein-
fachen Beispiel aus der Zahlenlehre. Die Zahl ›eins‹ bedeutet Einheit,
die in allen weiteren Zahlen enthalten ist.
Aus dem Geist seines pluralistischen Philosophieverständnisses
heraus argumentiert Al-Kindi, dass die absolute Wahrheit niemandes
Besitz alleine ist: »Wir dürfen uns nicht schämen, die Wahrheit für
gut zu erachten« und als solche »anzuerkennen, woher sie auch kom-
men mag. Auch, wenn sie von Menschen kommt«, die uns fremd sind.
»Es gibt nämlich nichts, was angemessener für denjenigen wäre, der
nach der Wahrheit strebt, als die Wahrheit selbst. Die Wahrheit wird
durch denjenigen, der sie ausspricht oder sie übermittelt, weder her-
abgesetzt noch geschmälert. Auch wird niemand durch die Wahrheit
gemindert, sondern jeder wird durch sie geehrt.«16
Die Philosophie Al-Kindis hat eine transzendente und eine imma-
nente Dimension. Die transzendente Komponente ist für ihn die Me-
taphysik, die ›Erste Philosophie‹, denn es geht um das Wissen der
Ursache alles Wahren, während letztere als ein Instrument zu betrach-
ten ist, um dieses Ziel zu erreichen. Als Gegenstand wird das absolut
Große, Erhabene und Unvergleichbare verstanden: »Nichts nämlich
könnte größer sein als das, was in absoluter Weise als ›groß‹ bezeich-
net wird.«17 Bei seinem Gottesbeweis führt Al-Kindi die Vielheit auf
die Existenz des ursprünglich Einen zurück. Hier geht es ihm darum,
die Kausalität der Existenz zu begründen.
Die immanente Philosophie beschäftigt sich mit relativen Sachver-
halten. Wir können, wie Al-Kindi exemplifiziert, nicht in absoluter
Form sagen, ›groß‹, ›klein‹, ›lang‹ oder ›kurz‹. Solcherlei Äußerun-
gen werden in der Regel im Vergleich zu etwas Gegenteiligem ge-
macht. Nach Al-Kindi können nur diejenigen als ›Philosophen‹ gel-
ten, die sich in Mathematik bzw. Logik zureichend auskennen. Nach
seinem dialektischen Verständnis wirkt alles Höhere auf das Niedere
ein. Das göttliche Wirken vermittelt sich dementsprechend von oben
nach unten.18
Al-Kindi formuliert erstmals die Theorie von mehreren Stufen der
menschlichen Erkenntnis. Er unterscheidet zwischen dem passiven
16
Ebenda, S. 65.
17
Ebenda, S. 145.
18
Ebenda.
54 Gründungs- und erste Blütephase
und aktiven Denken. Während der aktive Intellekt die Ursache alles
Denkens ist, vollzieht sich die passive Art desselben im niederen
Bereich. Der passive Intellekt umfasst wechselwirkend folgende In-
tellekte: der potentielle Intellekt beschreibt das Vermögen, überhaupt
zu denken, der erworbene Intellekt ist das Vermögen, etwas durch
Erfahrung zu gestalten, der sichtbare Intellekt beschreibt die sicht-
bargewordenen Werke als Ergebnis des potentiellen und erworbenen
Intellektes.
Die Art und Weise der philosophischen Argumentation Al-Kindis
ist durch und durch mutazilitisch ausgerichtet, da er auf allen Ebenen
dialektisch vorgeht. Al-Kindi unterscheidet zwischen der Sinnes- und
Verstandeswahrnehmung. Bei Urteilbildungen sind beide mehr oder
minder involviert. Insofern sind für ihn Theologie, ›ilahiat‹ und Phi-
losophie, keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Wege, um die
Struktur der Welt zu verstehen und Antworten auf die existentielle
Abhängigkeit unseres Daseins zu formulieren.
Für die Übermittlung von Al-Kindis Werk sind Abolabbas Ahmad
Ibn Mohammad ben Marwan ben at-Tayyeb Sarakhsi (835-899) und
Abu Zeyd Ahmad ben Sahl Balkhi (850-934) von großer Bedeutung.
Obschon das Werk dieser Philosophen selbst für die Entwicklung der
ersten Phase der Philosophie in der islamischen Welt ebenfalls grund-
legend ist, werde ich auf deren Werk, Wirken und Methode nicht
weiter eingehen können, weil dies den Rahmen dieser Einführung
sprengen würde.
Ausgewählte Werke:
— Kitab al hat aala taalom al falssafa [Einleitung zum Erlernen der Philo-
sophie].
— Al falssafa al oula fima douna tabiait wa tawhid [Über die Erste Philoso-
phie].
1.4 Zakariya Razi
und das Primat der Vernunft
Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya Razi (andere Schreibweisen:
Al-Razi, Alrazi, Ar-Razi, Rhazes, Rhaze, Rasis), genannt Zakariya
Razi (865-932), erblickt das Licht der Welt in Persien zur einer Zeit,
in der der normannisch-russische Kriegszug nach Konstantinopel
stattfindet.19
19
Über Razi vgl. Gharamaleki, Ahad Faramarz: Nazarije-je Akhlaq Mo-
hammad Ibn Zakariya Razi [Ethik im Denken Mohammad Ibn Zakariya
Razis], 2012 und Sezgin, Fuat: Muhammad Ibn Zakariya al-Razi, 1996.
56 Gründungs- und erste Blütephase
Razi tritt, im Gegensatz zu seinen Vorgängern und vielen Nachfol-
gern, von Beginn an für die Autonomie von Philosophie und Theo-
logie ein, die er als zwei völlig verschiedene Sphären der Reflexion
betrachtet. Er ist in der Geistesgeschichte der islamischen Welt als
ein Universalgelehrter bekannt, der gleichzeitig an mehreren Projek-
ten arbeitet. Er beschäftigt sich mit Philosophie und Metaphysik,
Erkenntnislehre, Ethik und Naturphilosophie, mit Musiktheorie, Al-
chemie, Mathematik sowie mit Astronomie, allgemeiner Medizin und
Ehtik der Medizin.
Als Mediziner und Pharmakologe entdeckt Razi durch Destillation
von Wein die Gewinnung des reinen Alkohols und seine sterilisieren-
de Eigenschaft. Seine Entdeckung nennt er ›al-kull‹, was im Arabi-
schen ›das Wesentliche beinhaltend‹ bedeutet. Als Arzt führt er in
seiner Heimatstadt Rey ein Krankenhaus, wechselt aber später nach
Bagdad. Razi beschreibt das Krankheitsbild ansteckender Erkrankun-
gen wie Pest, Tollwut, bestimmte Augenkrankheiten und Pocken so-
wie Auszehrung. Der Erkenntnisgewinn in der Medizin schreitet zu
jener Zeit überall fort. In Italien wird unter Einfluss des Benedikti-
nerordens eine medizinische Schule ins Leben gerufen, in der man
sich mit ähnlichen Erkrankungen befasst.
Razi gilt als Vorreiter seiner Zeit, weil er sich mit medizinisch-
ethischen Fragen und der Psychologie der Menschen beschäftigt und
eine Leib-Seele-Verbindung in Gesundheitsfragen erblickt. In fast
allen seinen medizinischen Werken verweist er auf die Grenzen der
menschlichen Möglichkeiten bei Heilungsprozessen. Er hält es für
nicht hinnehmbar, dass es Mediziner gibt, die einen übersteigerten
Anspruch erheben und mit Falschdiagnosen falsche Hoffnungen ihrer
Patienten nähren. In seinem Werk ›Al-Mansuri fi al-tib‹20, ›Kanon der
Medizin‹, setzt er sich eingehend mit Schwindlern in der Medizin und
allgemein der Redlichkeit medizinischen Bemühens auseinander.
Damit wird er zu einem Vorläufer der medizinischen Ethik.
Zu den wichtigsten Schriften Razis zählt ›Al siratol falsafija‹, ›Die
philosophische Lebensführung‹ die über den philosophischen Cha-
rakter vieles aussagen. In diesem Werk geht Razi von einem Ethos
des philosophischen Handelns aus, weil die Maximen von Vernunft
und Gerechtigkeit es ablehnen, Mitmenschen jegliche Art von Miß-
behagen zu bereiten. Ein wahrer Philosoph ist nach Razi ein Mensch,
dessen Worte und Taten sich miteinander im Einklang befinden. In
20
Vgl. Zakariya Razi, Abu Bakr Mohammad ibn: Al-Mansuri fi al-tib [Ka-
non der Medizin], 2007.
1.4 Zakariya Razi 57
Sokrates sieht er das Bild eines wahren Philosophen, der die Weisheit
geliebt habe und dafür vom Genuss abgesehen habe.21
Razis Philosophie fußt auf drei Säulen, die vier Kulturräume mit-
einander verbinden: die Suche nach Erkenntnis, die griechisch-isla-
mische Elemente trägt; die Gerechtigkeit, welche in der sartoschti-
schen (zarathustrischen) Triade, gut zu denken, zu reden und zu
handeln wurzelt; und schließlich dem Mitleid, das Ähnlichkeit mit
dem der buddhistischen Lebenswelt aufweist. Seine Religionsphilo-
sophie geht weder in der griechischen noch in der buddhistischen
Lebenswelt restlos auf, sondern sie findet immer Einkehr in die isla-
misch-persische Tradition.
Wie sein Vorgänger Al-Kindi ist er transzendenzoffen. Razi geht
von der grundsätzlichen Annahme aus, dass Gott seine Barmherzig-
keit über die gesamte Menschheit ausbreitet und den Menschen Ver-
nunft und Verstand geschenkt hat, um sich ihr leben danach auszu-
richten. Der Unterschied bestünde darin, dass Menschen von ihrer
Vernunft unterschiedlich Gebrauch machen.22 Jahrhunderte später
kommt René Descartes (1596-1650) zu demselben Ergebnis und geht
davon aus, dass Verstand, also ›bon sens‹ die bestverteilte Sache der
Welt sei.23 Razi zufolge stehen nur diejenigen Menschen Allah nah,
die gerecht sind und Barmherzigkeit praktizieren. Seiner Vorstellung
zufolge orientiert sich die Behandlung eines Menschen nach dem Tod
demnach, wie er sich im hiesigen Leben geführt hat. Deshalb hält
Razi es für Allahs Gebot, gerecht im Denken und Handeln zu sein.
Razi betont stets aufgrund seiner skeptischen Gesinnung die Be-
deutung der Vernunft über den Glauben und damit den Primat der
Philosophie vor der Religion. Dies hängt mit seiner naturwissen-
schaftlich geprägten Denkweise zusammen. Er möchte für alle seine
Überlegungen nachweisbare Gründe formulieren. Seine Hervorhe-
bung der Vernunft findet später im Europa des 18. Jahrhunderts als
das ›Zeitalter der Vernunft‹ Resonanz. Razis philosophisches Denk-
gebäude ist darauf ausgerichtet, durch diese Differenzierung die Au-
tonomie der Philosophie gegenüber der Theologie zu betonen.
Razi gehört zweifelsohne zu den führenden Rationalisten und Em-
piristen der Philosophie. In diesem Sinne würdigt er Sokrates’ ratio-
21
Vgl. Ebenda, 100 f.
22
Vgl. Zakariya Razi, Abu Bakr Mohammad ibn: Al-siratol falsafija [Die
philosophische Lebensführung], 2011, S. 90.
23
Vgl. Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Ver-
nunftgebrauchs, Stuttgart 1995, S. 3.
58 Gründungs- und erste Blütephase
nalistische Tendenzen. Die Struktur der Welt besteht nach Razi aus
geordneter Materie und ihr Urheber Allah habe sie aus Liebe geschaf-
fen, obschon er gleichsam betont, die Welt sei ein Ort des Leidens.
In der Philosophie sieht er die Möglichkeit der seelischen Befreiung
und Überwindung des Leidens überhaupt.24 Hier werden buddhisti-
sche Einflüsse in seinem philosophischen Denken erkennbar.
Der erkenntnistheoretische Ansatz von Razi besagt, dass Men-
schen durch den Gebrauch ihrer Vernunft Einsicht erlangen und Ur-
teile bilden können; Urteile, die für ihre gesamte Lebensführung
wegweisend sind. Nur auf diesem Wege kann der Mensch seiner
Aufgabe in der Welt gerecht werden und sein Menschsein im Sinne
des Göttlichen entfalten.
Der Mensch ist ein denkendes, urteilendes und Entscheidungen
fällendes Wesen, das durch die Barmherzigkeit Gottes über einen
freien Willen verfügt. Dieses Bündel an Potenzialen macht aus ihm
ein ethisches Wesen, dessen Glück und Unglück damit steht und fällt,
wie er sein Leben ausrichtet und wie er von seiner Vernunft Gebrauch
macht. Razi glaubt an die Wiedergeburt des Menschen unter be-
stimmten Umständen. Vernunft ist eine Verpflichtung, kein Privileg.
Führt der Mensch kein vernunftgeleitetes Leben nach ethischen Maß-
stäben des wahren Glücklichseins, so stuft er sich selbst zum niederen
Lebewesen herunter und muss, im Gegensatz zu vernunftgeleiteten
Menschen, wiedergeboren werden.
Die göttliche Barmherzigkeit sieht, laut Razi, vor, dass auch solche
Menschen, die sich durch ihr widriges Verhalten heruntergestuft ha-
ben, stets die Chance bekommen, sich aus dieser selbstverschuldeten
Situation herauszuarbeiten. Diese Wiederholungsmöglichkeiten im
Prozess der Einswerdung mit dem Göttlichen bieten ihnen die Mög-
lichkeit, einsichtig zu werden und ihre Seelen zu befreien.
Das geschaffene Sein im metaphysischen Verständnis Razis fußt
auf fünf Prinzipien. Neben Gott als absoluter und vollkommener
Vernunft, werden Zeit, Raum, Universalseele und Materie als an-
fangslos beschrieben. Razi will durch die Bündelung von Metaphy-
sik, Ethik und Erkenntnis philosophisch vor Augen führen, dass die
transzendente Macht, das Heil, allen Menschen, jenseits ihrer kultu-
rellen Zugehörigkeit, zuteil werden kann.
Diese Dreiheit ist in unserem ›modernen Denken‹ verloren gegan-
gen. Während Erkenntnis im wissenschaftlich-technischen Sinne ihre
24
Vgl. Zakariya Razi, Abu Bakr Mohammad ibn: Moallafat wa mosnnafat
[Einführung in die Schriften], 1992.
1.4 Zakariya Razi 59
Triumphe feiert, wird die Notwendigkeit der Ethik zwar diskutiert,
kommt aber meist nur rudimentär zum tragen. Die existentielle Di-
mension des befristeten Daseins des Menschen, die Razi Metaphysik
nennt, wird als ›nicht zeitgemäß‹ eingestuft und marginalisiert. In den
europäisch-westlichen Hemisphären werden seine Werke wenig re-
zipiert, weil er eine asketisch-bescheidene Lebensweise fordert.
Ausgewählte Werke:
— Al-madkhal al-mantiq [Einführung in die Logik].
— Mejdan al-aql [Territorien der Vernunft].
1.5 Abu Nasr Farabi
und die Typologie der Wissenschaft
Abu Nasr Muhammad Farabi (andere Schreibweisen: al-Farabi, Al-
Fārābī, El Farati, Alpharabius, Avenassar), genannt Farabi (870-950),
wird in Persien geboren. Zu seiner Geburtsstunde steht in Europa die
Teilung Lothringens zwischen Karl dem Kahlen (823-877) und Lud-
wig dem Deutschen (806-876) an, die zur Entwicklung des späteren
deutschen und französischen Reiches führt. Malta wird von den Ara-
bern erobert.25
25
Über Farabi vgl. Ardekani, Reza Davari: Farabi moassese falsafeje Es-
lami [Farabi. Gründer der islamischen Philosophie], 1977; Campagna,
1.5 Abu Nasr Farabi 61
Aufgrund der Übersiedlung eines seiner Lehrer folgt Farabi die-
sem nach Bagdad, wo er Philosophen kennenlernt, die sich mit
Übersetzungen und Kommentaren griechischer Werke beschäfti-
gen. Er bereist verschiedene Gegenden, wie Harran, Ägypten,
Aleppo und Damaskus. Er stirbt, als er auf dem Weg zwischen
Asqalan und Damaskus von Straßenräubern überfallen und erschla-
gen wird.
Farabi wirkt in einer Zeit, in der sich mannigfaltige Schulen und
Bewegungen bilden. Al-Ashari (873-935) und Mansur Hallaj (857-
922) gehören neben den christlichen Philosophen Abu Bischr Matta
(870-940) und Yuhanna ibn Hailan zu den großen Persönlichkeiten
seiner Zeit. Hallaj ist nicht, wie Al-Ashari, streng an die wortwörtli-
che Wahrnehmung des Koran gebunden, sondern sucht eine Einswer-
dung mit dem Göttlichen. Diese Haltung erhebt ihn zu einer der
Hauptfiguren des islamischen Sufismus bzw. der islamischen Form
der Mystik. Er spricht von einer Verschmelzung der menschlichen
und göttlichen Seele in einem einzigen Körper: ›Siehst du mich, siehst
du ihn; siehst du ihn, siehst du uns‹. Farabi ist ein induktiv denkender
Wissenschaftler, der entdecken will. Während Aristoteles in islami-
schen Kreisen seit den Anfängen wegen seiner philosophischen Leis-
tungen als der ›erste Lehrer‹ gewürdigt wird, erhält Farabi den Bei-
namen ›zweiter Lehrer‹. Diese Bezeichnung bedeutet nicht, dass er
nur Lehrer des vorher Gedachten gewesen sei. Farabi ist, über das
bloße Kommentieren hinaus, der Begründer eines ganzen Wissen-
schaftssystems.Farabis Interessen erstrecken sich auf die Mathema-
tik, ›ilm at-taalim‹, Physik, ›al-ilm at-tabii‹ und Metaphysik ›al-ilm
al-ilahi‹, auf Grammatik, ›ilm al-lisan‹, Logik, ›ilm al-mantiq‹ sowie
auf Sozialwissenschaften, ›al-ilm al-madani‹. Er schafft eine eigene
terminologische und erkenntnistheoretische Basis und teilt die Wis-
senschaften auf eine spezifische Weise in unterschiedliche Bereiche
ein, die mit den sechs genannten Wissenschaften verknüpft sind26:
Wissenschaft der Sprache, der Musik, der Philosophie und Theologie,
der Staatswissenschaften, Ethik sowie der Mathematik und Naturwis-
senschaften. Zu den Einteilungen der Wissenschaften gehören, wie
Farabi insistiert, auch alle Teilbereiche dieser Disziplinen. Zu nennen
Norbert: Alfarabi – Denker zwischen Orient und Okzident, 2010 und
Sahebozzamani, Mohammed-Hassan: Das Verhältnis von Religion und
Philosophie bei Al-Farabi, 1956.
26
Vgl. Al-Fārābī: Über die Wissenschaften, 2005.
62 Gründungs- und erste Blütephase
sind vor allem Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Optik, mathemati-
sche Astronomie, Erfindungswissenschaft und Rechtswissenschaft.
Farabi glaubt an philosophische Wahrheiten und deren universelle
Gültigkeit. Auf diesem Wege unterscheidet er, wie sein Vorgänger
Razi, zwischen Theologie und Philosophie, während letztere für ihn
das beste Instrument liefert, um die ›Wahrheit‹ zu beweisen. Sein
Wissenschaftssystem gründet auf einer universellen Anthropologie,
die noch heute von Wissenschaftlern wie Max Scheler oder Arnold
Gehlen (1904-1976), um nur zwei Beispiele zu nennen, vertreten
wird. Diese Anthropologie entwickelt Farabi mit der expliziten Frage
»Was ist der Mensch?«.27
Den Leib des Menschen unterteilt Farabi in zwei Kategorien: das,
was offenbar ist und das, was geheim ist. Die sichtbaren, sinnlich
fassbaren Glieder und Dimensionen sind ihm das Offenbare. Dieser
Bereich des menschlichen Leibes ist Gegenstand der Anatomie, und
zwar von seinem Äußeren und Inneren her, soweit die Erkenntnisse
hierzu vorhanden sind.
Das Geheime des Menschen zeigt sich, Farabi zufolge, in den
Kräften vom Geist des Menschen. Diese Kräfte konstituieren sich
wiederum aus zwei Teilen: dem Tun und dem Erkennen. Das Tun
zerfällt in drei weitere Teile, die Farabi als pflanzlichen, tierischen
und menschlichen Teil benennt. Das pflanzliche Tun definiert er als
den Zweck des Individuums, sich durch Fortpflanzung zu erhalten
und zu entwickeln. Im tierischen Tun sieht Farabi die Aufgabe des
Menschen, das Nützliche herbeizuziehen und das Schädliche zu ver-
meiden. Als Bereiche des menschlichen Tuns nennt er die Beschäfti-
gung mit dem Schönen und dem Nützlichen. Diese Bereiche sind kein
Selbstzweck, sondern sie dienen dazu, zu dem Ziel zu gelangen, das
sich der Mensch im irdischen Leben gesteckt hat. Das menschliche
Tun wird unterstützt vom Intellekt der Erfahrung, der dem Menschen
letztendlich Lebensart und Bildung verleiht.
Das Erkennen funktioniert, nach Farabi, ähnlich, als wenn ein
Siegel in Wachs geprägt wird. Das Siegel, in ein Stück Wachs ge-
drückt, hinterlässt eine Einprägung, ein Bild von seiner Form. Diese
dient uns dazu, jederzeit das Siegel aus der Erinnerung rekonstruieren
zu können. Die Möglichkeit der Erkenntnis sieht Farabi im Sichtba-
ren und im Unsichtbaren.
27
Vgl. Alfārābī: Alfārābī’s philosophische Abhandlungen, 1892, S. 108-
138.
1.5 Abu Nasr Farabi 63
Die Erkenntnisse des Sichtbaren oder Kreatürlichen gewinnt der
Mensch hauptsächlich durch seine fünf Sinne, die – um bei dem
obigen Beispiel zu bleiben – das Wachs sind, in das die Eindrücke
eingeprägt werden. Je nach der Stärke einer Wahrnehmung werden
Auge oder Ohr mehr oder weniger beeindruckt, und in unserem In-
neren bildet sich quasi ein Abdruck der Sinneswahrnehmung. Farabi
schränkt ein, dass dieser Abdruck nicht den reinen Begriff des Wahr-
genommenen widerspiegeln könne, sondern einen Eindruck, den er
als »vermischt« bezeichnet.
Erkenntnisse am Unsichtbaren gewinnt der Mensch durch Vermu-
tung bzw. Ahnung. Es versteht sich, dass auch hier Begriffe nicht rein
erfasst werden können, sondern, wie Farabi ausführt, ebenfalls ver-
mischt und mit Zusätzen »vom Wieviel, vom Wie, vom Wo und der
Lage.«
Eine weitere Komponente von Farabis Anthropologie ist die Spra-
che als Basis des Denkens. Die Beschäftigung mit ihr führt vor
Augen, wie der Mensch im Prozess seiner Evolution einen Über-
gang von einfachen Dimensionen zu immer differenzierteren Aus-
drucksweisen entwickelt und dadurch auch immer höhere Formen
des Wissens erreicht. Die Begriffsbildung und differenzierte Benen-
nung von Gegenständen ist ein zentrales Moment dieses Prozesses,
in dem sich der Mensch immer wieder selbst entdeckt und die Viel-
heit der Sprache zu nutzen lernt. Diese Mannigfaltigkeit der Sprache
trägt, Farabi zufolge, unmittelbar zur Vielgestaltigkeit des Denkens
bei.
Vernunft als eine Grundkonstante von Farabis Anthropologie the-
matisiert er in mehreren Schriften. In seiner Abhandlung über den
Intellekt bzw. die Vernunft setzt er sich mit Arten und Funktion dieses
Vermögens auseinander. Dabei unterteilt er Vernunft in eine Vorhan-
dene und eine Erworbene. Letztere wird durch Erfahrung gewonnen
und geschult, während die vorhandene Form derselben naturnotwen-
dig den Menschen angeboren ist.28
Die Typologie der Wissenschaft und in erster Linie die Frage nach
Vernunft diskutiert Farabi ebenfalls in seiner Schrift ݆ber die Wis-
senschaften‹. Er sieht die grundlegende Aufgabe der Vernunft darin,
»den Menschen auf den Weg der Richtigkeit und zur Wahrheit bei
allem zu führen, wo es möglich ist, dass ein Irrtum bei den Vernunft-
gehalten auftritt.«29 Farabi führt an, dass es hierbei Sachverhalte gibt,
28
Vgl. Alfārābī: Alfārābī’s philosophische Abhandlungen, 1892, S. 75 f.
29
Vgl. Alfārābī: Über die Wissenschaften, 2005, S. 23.
64 Gründungs- und erste Blütephase
bei denen die Vernunft niemals irren kann. Dies sind jene, deren Er-
kenntnis und deren Nachweis der Wahrheit der Mensch gleichsam in
seiner Seele eingeschaffen vorfindet, wie z.B., »daß das Ganze größer
ist als seine Teile und daß die Zahl Drei eine ungerade Zahl ist.« Für
Farabi gibt es im metaphysischen Bereich Dinge, »bei denen es mög-
lich ist, daß die Seele irrt und von der Wahrheit abgewendet wird auf
das hin, was nicht wahr ist«.30 Es handelt sich um jene Dinge, die
rational nicht zu erfassen sind, aber von denen der Mensch stets
glaubt, sie wie eine mathematische Aufgabe, durch reines »Denken
und Überlegen« erfassen zu können.
Nach Farabi sind dies Gründe, warum der Mensch, der bei seinen
Untersuchungen »eine gesicherte Wahrheit« anstrebt, »logische Re-
geln« benötigt.31 Dies sind Instrumente, mit denen Vernunftgehalte
überprüft werden können. Diejenigen Regeln aber, bei denen es kei-
ne Sicherheit gibt, dass sie den Regeln der Logik entsprechen, ver-
gleicht Farabi mit einem Messinstrument, das unbewusst falsch ge-
eicht wurde. Farabi kommt zu der Ansicht, dass Logik bzw. logische
Regeln in unserem Leben einer Richtschnur gleichkommen, die das
Maß der Vernunft und Unvernunft unserer Handlungen bemisst und
uns eine vernunftgeleitete Orientierung in unseren Entscheidungsfin-
dungen ermöglicht.
Farabi verweist auf der Grundlage dieser Annahme in seinem phi-
losophischen Werk darauf, dass ›Wahrheit‹ die Menschen verbindet;
nur die Art und Weise, in der sie erfasst werde, sei unterschiedlich.
Zu nennen sind vor allem intuitionische und rationalistische Vorge-
hensweisen. Auf diesem Wege bedienen sich Philosophen unter-
schiedlicher Methoden.
Farabi ist ein Kritiker und Beobachter der Gesellschaften seiner
Zeit. Die Vernunftleitung auf allen Ebenen des Lebens ist in seinen
Schriften, insbesondere in ›Madinatolfazele‹32, ›Ansichten der Be-
wohner eines vortrefflichen Staates‹, geradezu beispielhaft. Eine
zentrale Achse seiner politischen Philosophie ist die Verwirklichung
der Idee eines Musterstaates, der das Glück und das friedliche Zu-
sammenleben der Menschen in Harmonie und Gerechtigkeit nach der
Maxime ›Einheit angesichts der Vielfalt‹ garantiert.
30
Ebenda, S. 23.
31
Ebenda, S. 23.
32
Vgl. Farabi, Abu Nasr Mohammad ibn: Arae ahle Madinatolfazele [An-
sichten der Bewohner eines vortrefflichen Staates], 2003.
1.5 Abu Nasr Farabi 65
›Madinatolfazele‹ bedeutet ›Musterstaat‹ bzw. ›Vortreffliche Ge-
sellschaft‹. Farabi diskutiert Struktur, Aufgabe und Funktion einer
vortrefflichen Zivilgesellschaft islamischer Prägung. Es handelt sich
um ein umgreifendes Prinzip der Staatsverwaltung. Im Zentrum steht
der Mensch als ein Wesen, das eine göttlich legitimierte Würde in
sich trägt. Farabi ist der Ansicht, dass der Mensch die Vollkommen-
heit nur durch den ›Zusammenschluss mehrerer Individuen‹ erlangen
könne. Dabei unterscheidet er drei Arten von ›vollkommenen Gesell-
schaften‹: große, mittlere und kleine. Die große ist die Weltgesell-
schaft, die mittlere eine Nation und die kleine schließlich die Bürger
eines bestimmten Gebietes. Die Vortrefflichste dieser Gesellschaften
ist diejenige, in der sich alle Individuen zusammenschließen, um
Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, vernünftige Staatsführung und letzt-
lich Glückseligkeit zu erreichen. Dies setzt nach Farabi die Bedürf-
niserfüllung der Menschen in der Gesellschaft voraus. Hier geht es
nicht nur um die Erfüllung emotionaler und persönlicher Bedürfnisse,
sondern auch und vor allem um das wirtschaftliche und politische
Wohlergehen.
Die Idee einer vortrefflichen Gesellschaft vergleicht Farabi mit
einem menschlichen Körper, in dem alle ›Organe in einem harmoni-
schen Zustand zusammenwirken‹, obschon die Glieder ihrem Rang
und ihrer Fähigkeiten nach unterschiedlich seien. Das Zentrum einer
solchen Gesellschaft ist für ihn das Herz mit lebensnotwendigen
Funktionen. Farabi setzt den Regenten mit dem Herzen gleich, der
für das Erlangen letztlicher Glückseligkeit in der Gesellschaft exis-
tentiell ist. Diejenige Instanz, die in einem Staat die Funktion des
Herzens übernimmt, müsse nicht nur von Natur aus weise, aufrichtig,
gerecht, gesetzestreu und redegewandt sein, sondern dürfe Unterdrü-
ckung und Ungerechtigkeit nicht dulden. Eine solche Instanz, die
über andere Menschen herrschen könne, ist nach Farabi ›der Imam‹
bzw. ›Velajate Faqih‹ Um seinen Regierungsauftrag zu erlangen, be-
dürfe er der Legitimation durch die Umma. Er vermöge sogar auf-
grund seiner gerechten Kompetenzen über die Weltgesellschaft zu
regieren. Besitzt ein Mensch nicht alle Eigenschaften eines Imams,
so können nach Farabi zwei oder mehrere Personen diese Aufgabe
gemeinsam teilen, was Montesquieu im beginnenden 18. Jahrhundert
›Gewaltenteilung‹ nennt.
Der vortrefflichen Gesellschaft stellt Farabi die ›ignorante Gesell-
schaft‹ gegenüber, die erfüllt ist von Habgier, Maßlosigkeit und
schließlich von Dekadenz. In einer solchen Gesellschaft sieht er die
Gefahr, dass der Mensch sich von seiner isomorphen Natur entfernt.
66 Gründungs- und erste Blütephase
Mit der Idee der Errichtung einer vortrefflichen Gesellschaft will
Farabi erreichen, die dekadente Gesinnung seiner Zeit, die von
Kämpfen und ausschweifendem Leben geprägt ist (ignorante Stadt),
in eine vortreffliche Gesellschaft zu überführen. Indem er den Zu-
sammenschluss der Individuen der Gesellschaft und ihre Wechsel-
wirkung wie ein Körper bzw. ein Uhrwerk fordert, in dem alle
Teile sich gegenseitig bedingen, legt er den ersten Grundstein eines
islamischen Volksprimats bzw. einer islamischen Bürgersouveräni-
tät. Dies lässt sich dadurch begründen, dass die Individuen ihren
Wert erkennen und ihre Funktion als Menschen wahrnehmen. Ge-
meinsam setzen sie sich für die Besserung der Verhältnisse und das
Funktionieren des Staatsapparates ein. Der Imam, den Farabi als das
Herz dieses Apparates bezeichnet, ist in diesem Zusammenhang
nichts anderes als ein kompetentes Staatsoberhaupt, das aufgrund
seiner Weisheit die Verhältnisse beobachtet und zu ihrer Besserung
beiträgt.
In der Tiefe seiner Staatstheorie liegt der Wunsch, dass der Mensch
den Boden der Naivität verlässt, in das Reich des reflektierenden
Denkens eintritt und sich als denkender Mensch für das Gemeinwe-
sen einsetzt. Mit dieser Staatstheorie geht Farabi über Platons ›Po-
liteia‹ hinaus, die eine bloße Uniformierung der Gesellschaft sucht,
und macht die Selbstarchäologie bzw. Selbstaufklärung zur Grund-
lage eines gerechten Gemeinwesens.
Farabi betrachtet interne Differenzen und unterschiedliche Formen
von Wahrnehmen, Glücksempfindungen und Lebensentwürfen. Er
unterscheidet zwischen einer ›argumentativen‹ und einer ›nachah-
menden‹ Erkenntnisgewinnung.33 Während die argumentative Er-
kenntnisgewinnung darauf ausgerichtet ist, alles auf der Grundlage
von Erfahrung anzunehmen, abzulehnen oder zuzulassen, bestimmen
bei der nachahmenden Erkenntnisgewinnung nicht Argumente, son-
dern vielmehr Interpretation und Nachahmung die Verhältnisse. Kon-
flikte sind dadurch vorprogrammiert.
Farabi versöhnt beide Denk- und Wahrnehmungskulturen mitein-
ander. Darin liegt für ihn die Tugend der Toleranz, ›Tasahol‹ als einer
ethisch-moralischen Pflicht gegenüber unterschiedlichen Denkfor-
men innerhalb der Zivilgesellschaft.34 Im politischen Denken Farabis
33
Vgl. Farzaneh Poor, Hossein: Tasahol wa Modara dar andishe-je sijasi-je
Eslam [Ta-sahol und Modara im politischen Denken des Islam], 2007, S.
199.
34
Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza: Toleranz im Weltkontext, 2013.
1.5 Abu Nasr Farabi 67
ist transzendenzverwurzelte und zugleich rational ausgerichtete Mo-
ral die Basis der Politik.
Ausgewählte Werke:
— Kitab ihsa al’ulum [Über die Wissenschaften].
— Risala fi’l-aql [Abhandlungen über die Vernunft].
1.6 Ikhwan as-Safa
und das Verhältnis von Moral und Wissenschaft
Im 10. Jahrhundert vollziehen sich im Okzident und im Orient unter-
schiedliche Ereignisse, die den Abstand der beiden Kontinente mar-
kieren. Das Papsttum der westlichen Welt erlebt eine Krise, die auch
durch klösterliche Reformbewegungen nicht aufgehalten werden
kann, während die Blütezeit des Islam andauert und die arabische
Märchensammlung ›Tausendundeine Nacht‹ entsteht.
In diesem Jahrhundert entstehen weitere Zentren der orientalisch-
islamischen Philosophie. Die Universität Kairo wird gegründet, und
in Basra entsteht eine geheime philosophische Gemeinschaft, die aus
persisch-arabischen Philosophen besteht. Ihre Mitglieder nennen sich
Ikhwan as-Safa wa khillan al-wafa, ›Brüder und Schwestern der Lau-
terkeit und Freunde der Treue‹. Dieser Name spiegelt die Haltung der
Wissenschaftler wider, die bestrebt sind, durch gegenseitige Unter-
stützung einander zur Förderung ihres Seelenheils zu verhelfen und
ein Kompendium des gesamten derzeitigen Wissens, insbesondere
auf dem Gebiet der Philosophie, zu erstellen.
Ikhwan als Gründer der ›Inssaniyyat‹
Anknüpfend an die Schule der Mutaziliten, gehen die Ikhwan in
ihrem Gemeinschaftswerk von einer grundsätzlichen offenba-
rungsunabhängigen Erkenntnisleistung aus, ohne die Offenbarungs-
wahrheit völlig außer Acht zu lassen. Sie prägen den Begriff ›inssa-
niyyat‹, eine ›dialogische Menschengemäßheit‹, in der Liebe,
Nachsicht, Barmherzigkeit, Anteilnahme, gegenseitige Hilfestel-
lung, Kooperation und Freundschaft dem Einzelnen gegenüber im
Vordergrund steht.
Die Ikhwan betreiben eine angewandte Philosophie, zu der sie ein
theoretisches System entwickeln. Der Erde messen sie deshalb be-
sondere Bedeutung bei, weil sie von Menschen bewohnt ist. Ihr uni-
versalistisches Menschenbild enthält stark ethisch-moralische Kom-
ponenten. Der Mensch soll sich darum bemühen, als ein Teil des
Ganzen im Einklang mit der Natur zu leben. Darin erblicken die
Ikhwan eine universelle Menschlichkeit.
Philosophie und Religion sind für die Ikhwan keine Widersprüche,
sondern sie beschreiben unterschiedliche Erkenntniswege, um Tran-
szendenz und Immanenz zu begründen. Eine strikte Transzendenz-
oder Immanenzverschlossenheit finden wir in den Philosophien der
1.6 Ikhwan as-Safa 69
islamischen Welt selten. Die lauteren Brüder sind ein klassisches
Beispiel für eine Praxis, die beide Komponenten miteinander in eine
Korrelation bringt, ohne eins auf das andere zu reduzieren.
Die Ikhwan unterscheiden zwischen einer allgemeinen und einer
speziellen Anthropologie. Die allgemeine Form umfasst alle Wis-
sensbereiche, während die spezielle Art derselben eng mit der ›ins-
saniyyat‹ verbunden ist. Dies bedeutet, dass Erkenntnissuche theore-
tisch wie praktisch einen menschengemäßen bzw. menschenwürdigen
Charakter haben muss. Anthropologie in diesem Sinne beschäftigt
sich im Denken der Ikhwan mit dem Menschen und seinem Wesen
einerseits und mit seiner Stellung in der Welt andererseits.
In der islamischen Theologie bzw. Gotteslehre wird der Mensch
als Geschöpf Gottes diskutiert. Dementsprechend ist auch Menschen-
kunde bzw. Anthropologie eine theologische Disziplin, die nach Gott-
Mensch-Verhältnis fragt. Ihre Grundlage sind Koran, Hadith und die
Lebensführung des Propheten Mohammads. Die Ikhwan verweisen
darauf, dass es Menschen kaum möglich sein wird, die letzten Tiefen
der eigenen Entität zu ergründen. In unserer Zeit gehen Philosophen
wie Plessner von den gleichen Voraussetzungen aus. Sie sprechen von
der Unergründlichheit des menschlichen Wesens und plädieren für
das ›Prinzip der offenen Frage‹.
Die Einteilung der Wissenschaften erfolgt bei den Ikhwan nach
bestimmten Komponenten: Rationalismus und Spiritualismus sowie
Gerechtigkeit und dem, was später als Pragmatismus in die Literatur
Eingang gefunden hat, aber auch Kausalität und Freiheit. In der Ak-
zeptanz des Pluralismus von Einstellungen und Überzeugungen se-
hen die Ikhwan die Möglichkeit eines menschengemäßen Zusam-
menlebens der Völker. Aus soziologischer Perspektive vertreten sie
eine Sicht, die auf einer ethischen Grundlage basiert.
Ziel der Ikhwan ist die Realisierung einer Weltordnung, in der
moralische Dimensionen mit Erkenntnissen der Wissenschaft vereint
sind. Grundlegend ist das Streben des Menschen in seiner Ursprüng-
lichkeit nach Liebe, Zusammenhalt, Achtung vor anderen und vor
sich selbst. Auf dieser Grundlage können Gerechtigkeit, Egalität und
Selbstverwirklichung gedeihen.
Die Ikhwan sind bestrebt, mit der systematischen Einteilung der
Wissenschaften die Grundlage einer philosophischen Weltuniversität
zu schaffen, die durch spätere Generationen ergänzt werden soll. Ihr
Ziel besteht darin, die Wissenschaften ihrer Zeit zu bündeln und
weiterzuentwickeln, sie zu einem System zu verbinden und für eine
harmonische Entfaltung und Erziehung des Menschen allgemein zu-
70 Gründungs- und erste Blütephase
gänglich zu machen. Die Ikhwan sind Enzyklopädisten im wahrste
Sinne des Wortes, die später auch in Europa Nachahmer finden. Sie
vermitteln eine kulturübergreifende Weltsicht, die sich von höchsten
bis nierigsten Geschöpfen erstreckt.
Die Episteln der Lauteren Brüder sind ein Kompendium aus 52
›Abhandlungen‹, ›Risalas‹, Plural ›Rasail‹, die eine systematische
Einteilung der Wissenschaften im oben angesprochenen Sinne dar-
stellen und wesentliche Bereiche des profanen und religiösen Wissens
abdecken. In seinem Aufbau ist das Kompendium lehrbuchartig und
vereinfacht gestaltet, damit Studierende, die der arabischen Sprache
nicht mächtig sind, die Inhalte nachvollziehen können. Das Kompen-
dium umfasst vier Abteilungen.
Die erste Abteilung beschäftigt sich in 14 Abhandlungen mit Ma-
thematik und Logik. Die zweite thematisiert in 17 Abhandlungen
naturwissenschaftliche Disziplinen, zu denen auch die Psychologie
gezählt wird. Die dritte Abteilung umfasst zehn Abhandlungen über
Geisteswissenschaften. Die vierte erörtert in elf Abhandlungen Be-
reiche von Theologie und Religion, insbesondere der Mystik, sowie
der Astrologie und der Magie. In dieser Abteilung wird auch die
strukturelle Organisation der Ikhwan als einer philosophischen Ge-
heimgesellschaft dargelegt.
Bei näherer Betrachtung der einzelnen Risalas sind thematische
Überschneidungen festzustellen. Diese sind auf die unterschiedlichen
Verfasser der einzelnen Abhandlungen zurückzuführen, die teilweise
gleichlautende Themen in unterschiedliche Richtung und Intensität
behandeln.35
Erstes Buch: Risala 1-14
Die 1. Risala beginnt mit der Darlegung einer Zahlenlehre als Teil
der mathematischen Wissenschaften. Philosophische Bezüge der
Zahlen werden aufgedeckt, wobei die beiden kleinsten Zahlen eine
wichtige Rolle spielen. Der Eins wird die Position der Einheit und
eine qualitative Geschlossenheit eingeräumt, während die Zwei für
Polarität steht. Alle weiteren Zahlen entstehen durch Addition und
Multiplikation dieser Grundzahlen.
Die 2. Risala befasst sich mit Grundfragen der Geometrie. Basie-
rend auf diesen Erkenntnissen werden in der 3. Risala zunächst
35
Vgl. Hussain, Taha und Ahmad Zaki (Hrsg.): Ikhwan as-Safa wa khillan
al-wafa: Rasail Ikhwan as-Safa wa khillan al-wafa [Abhandlungen von
Brüdern und Schwestern der Lauterkeit und Freunden der Treue], 1928.
1.6 Ikhwan as-Safa 71
Grundlagen der Astronomie erläutert, wobei bereits zu jener Zeit die
Vorstellung eines heliozentrischen Weltbildes existiert. Dementspre-
chend kreist die Erde um die Sonne und nicht umgekehrt. Etwa 500
Jahre später greift Nikolaus Kopernikus (1473-1543) diesen Gedan-
ken der Ikhwan auf, was als ›Kopernikanische Wende‹ in die abend-
ländische Geschichte eingeht. Weiterhin werden Fragen nach der
Gesetzmäßigkeit in der Natur anhand der Himmelsmechanik und das
Verhältnis der Planeten zueinander erörtert. Später wird Abu Reyhan
Biruni diese Überlegungen aufgreifen und auf eine spezifische Weise
weiterentwickeln.
Die 4. Risala beschäftigt sich mit der Erde. In fortschrittlicher
Weise wird sie bereits zu jener Zeit als eine Kugel beschrieben, die
frei in der Sphäre schwebt. Neben bloßen geographischen Erkennt-
nissen soll der Lernende die schwebenden Strukturen der Welt ken-
nenlernen, sich einfühlen und die daraus erwachsenen moralischen
und ethischen Verpflichtungen wahrnehmen.
In der 5. Risala wird der Musik, die mathematisch aufgefasst wird,
als einer bedeutenden Kunst der Kompositionstechnik, breiten Raum
gegeben. Die Persönlichkeitserziehung ist Gegenstand der 6. Risala,
wobei Anthropologie und Humanismus mit Zahlen und Geometrie in
Verbindung gebracht werden.
Gegenstand der 7. Risala ist die Polarität des Menschen, die in der
Dialektik von Leib und Seele sowie von Denken und Handeln ihren
unmittelbaren Ausdruck findet. Anthropologische Aspekte werden
verdeutlicht an Fragen über den Menschen: Was ist er? Wie ist er?
Wo ist er? Wann ist er? Warum ist er? Wer ist er?
In der 8. Risala wird die Frage nach dem Wesen der menschlichen
Tätigkeit in theoretischer und praktischer Hinsicht gestellt. Jedes
Gewerbe ist Teil eines universellen Schaffens, das sich durch die
kunstgerechte Arbeit der Werktätigen offenbart. Für jeden Menschen
ist es wichtig, seinen Beruf im Rahmen eines humanistischen, uni-
versellen Gesamtzusammenhangs auszuwählen. Praktizieren soll er
den Beruf unter Berücksichtigung des damit verbundenen menschli-
chen Auftrages und der sozialen Bedeutung. Die Ikhwan begründen
den Gedanken der polytechnischen Erziehung, verstanden als ein
pädagogisches System, in dem jeder ein solides Basiswissen über
Sinn und Zweck seiner Arbeit haben soll. Die Spezialkenntnisse des
Einzelnen sollen das Gesamtwesen unterstützen und voranbringen.
Gegenstand der 9. Risala ist die Ethik. Die Ikhwan vertreten eine
universalistische Ethik, wobei für sie, über Kulturen und Glaubens-
gemeinschaften hinweg, ein grundsätzlicher Konsens darüber be-
72 Gründungs- und erste Blütephase
steht, was gut und was schlecht ist. Ethik wird als eine Begründungs-
technik der moralischen Verhaltensweisen behandelt. In der
Gemeinschaft sind entsprechende Verhaltensgebote Gemeingut, wo-
bei dem Menschen Wahlfreiheiten eingeräumt werden. Die Ikhwan
gehen davon aus, dass die menschliche Vernunft aus sich heraus ge-
bieten und verbieten kann, um das Wohlergehen der Gemeinschaft,
aber auch das eigene Wohlergehen zu gewährleisten. Daraus lassen
sich die Anfänge eines kategorischen Imperativs ableiten, der auch
in der Ethik Ghazalis systematisch Eingang findet.
Von der 10. bis zur 14. Risala folgt eine Abhandlung zum Sachge-
biet der Logik. Besonderes Augenmerk wird auf die Isagogik, die
Kunst der Einführung in eine Wissenschaft, gelegt, die heute eher als
›Propädeutik‹ bekannt ist. Diese Abschnitte verweisen auf den Zweck
der Risalas, die ursprünglich als Handreichung zur Lehrerausbildung
verfasst wurden. Der Schwerpunkt liegt auf der Bildung der Persön-
lichkeit. Die Gebiete der Logik unterteilen die Ikhwan zum einen in
›Konkreta‹, ›Person‹, ›Art‹ und ›Gattung‹. Ein zweites Gebiet betrifft
Abstrakta, die in ›Klasse‹, ›Besonderes‹ und ›Akzidentelles‹ unter-
teilt werden.
In der 11. Risala erfolgt eine Fortsetzung der Typologie von Kate-
gorien, welche voneinander unterschieden werden in ›Gattung‹, ›Art‹
und ›Person‹. Aus ihnen hätten sich alle Dinge der Literatur, der
Wissenschaft und der Weisheit entwickelt.
Die 12. Risala dient zur Fortführung der Logik. Die Ikhwan be-
rücksichtigen die ›Analytik‹ des Aristoteles zur Beweisführung und
vertiefen diese bspw. in der Konstruktion von Analogien auf der
Basis von Prämissen, oder der Verdeutlichung des Kontrastes von
Affirmativ und Negativ als Grundlage einer ›harten Logik‹.
Ein Beispiel für harte Logik wäre der Gegensatz: ›Es regnet‹ oder
›Es scheint die Sonne‹ versus ›Es regnet nicht‹ oder ›Die Sonne
scheint nicht‹. Weiche Logik wäre: ›Heute ist die Sonne aufgegangen,
also wird sie auch morgen aufgehen!‹ Während harte Logik wider-
spruchsfreien analogisch-wissenschaftlichen Kriterien genügen
muss, ist weiche Logik eher ein Element der Orientierung im Alltag.
Wenn bspw. ein Fisch immer wieder über die Wasseroberfläche
springt, könnte im Betrachter der Eindruck entstehen, diese Aktivität
seien Freudensprünge des Fisches, während er in Wahrheit auf der
Flucht vor Feinden ist. Hier handelt es sich um einen aus Projektion
entstandenen Analogieschluss des Betrachters.
Die Abhandlungen zur Logik werden in der 13. und 14. Risala mit
weiteren Überlegungen zur Analogie fortgesetzt. Die Ikhwan präzi-
1.6 Ikhwan as-Safa 73
sieren die Analogie und deren Bedeutung im philosophischen Dis-
kurs. Ein weiteres Beispiel bildet der widerspruchsfreie Analogie-
schluss, wie in der Feststellung: Jeder Mensch ist sterblich, Farabi ist
ein Mensch, also ist Farabi sterblich.
Eine solche Analogie, die harter Logik genügt, bildet die Basis
einer wissenschaftlichen und philosophischen Methode.
Zweites Buch: Risala 15-26
Im zweiten Band des Kompendiums werden die Themenbereiche
›Natur und Körper‹ betrachtet, die als Urstoff verstanden werden.
In der 15. Risala geht es um die Eschatologie, genannt ›Weisheit
des Todes‹. Die Ikhwan gehen davon aus, dass der Tod nur den Kör-
per betrifft und letztlich die Geburt der Seele ist, die während des
Lebens im Körper gefangen ist. Die Rolle der Vernunft für die Er-
kenntnisgewinnung wird hervorgehoben und insistiert, dass der
Mensch zunächst sich selbst durch das Studium der Logik erkennen
müsse.
Schwerpunkte der 16. Risala sind unter anderem die Beziehung
der Himmelskörper zueinander, wobei davon ausgegangen wird, dass
außerhalb des Kosmos weder Leere noch Fülle sein könne.
Themen der 17. Risala sind Sein und Vergehen. Die Ikhwan be-
nennen Feuer, Luft, Wasser, und Erde als vier Urelemente, wobei das
Prinzip des Feuers auf der altpersischen Kosmologie fußt, die im
Feuerkult der Anhänger Zarathustras noch heute gepflegt wird. Aus
den vier Elementen entstehen Pflanzen und Tiere. Sie gehen in Über-
gängen und Umwandlungen auch wieder in diese ein. Die Ikhwan
unterscheiden die universelle Seele von der Teilseele eines Menschen
ebenso wie die Gesamtvernunft von der Vernunft des Individuums.
Die 18. und 19. Risala sind der Meteorologie und Metallurgie
gewidmet. Die Kombination dieser beiden Bereiche beruht wahr-
scheinlich darauf, dass die Ikhwan Meteorteile aus Eisen und Nickel
kannten. Zudem wird die Natur und ihre physikalischen Gesetzmä-
ßigkeiten in der Atmosphäre sowie die verschiedenen Erscheinungs-
formen anorganischer Stoffe thematisiert. Wir finden hier die Anfän-
ge einer Alchemie, welche in der europäischen Neuzeit abermals
aufgegriffen wird. Die Natur wird als ›Allseele‹ betrachtet, aus der
Teilseelen hervorgehen. Im Rahmen ihrer Reflexion über die Entste-
hung des Kosmos, erwägen die Ikhwan eine Art Genesis. Die anor-
ganische Natur sehen sie, im Sinne des Urstoffes, als das erste Stadi-
um der göttlichen Schöpfung, die über Pflanzen, Tiere, Menschen
74 Gründungs- und erste Blütephase
und schließlich Engel die höchste Dimension des Himmlischen er-
reichen kann.
Ab der 20. bis zur 23. Risala wird die Systematik der Natur vertie-
fend fortgesetzt. Sie findet ihre Ausprägung in den mannigfaltigen
Formen der Botanik und – auf einer höheren Stufe – in den Gattungen
der Zoologie. Weiterhin wird auf die Kontinuität der Entwicklung
verwiesen: Anorganische Materie wie Gestein und Sand wird als
Grundlage der Pflanzenwelt angesehen, an die sich die Entwicklungs-
stufe des Tierreichs sowie des Menschen anschließt. Die höchste
Vollkommenheit des Menschen leitet die Existenz der Engel ein. Der
Mensch, als Vertreter Gottes auf Erden, besitzt die Freiheit, wohltu-
end wie ein Engel oder boshaft wie ein Teufel zu sein. Menschliche
Erkenntnisse zur Anatomie runden das Thema ab, wobei die mensch-
liche Seele zeitgebunden als göttliche Existenz auf Erden angesehen
wird, die nach dessen Tod in die höhere Welt emporsteigt.
Die 24. Risala hat Wahrnehmung und Psyche zum Thema. Einmal
geht es um das Verhältnis der menschlichen Psyche zum Somati-
schen, zum anderen um die Funktion der Seele als moralisches Kor-
rektiv menschlichen Verhaltens. Weitere Themen sind Erkenntnis,
Informations- und Kommunikationstheorie sowie Erörterungen zur
hermeneutischen Spirale, zum Vorgang der sinnlichen Wahrneh-
mung, zur Vorstellungskraft und zur Abstraktion. Dabei werden, er-
staunlich für jene Zeit, bereits neurophysiologische Funktionen des
Gehirns erläutert. Es folgen in der 25. Risala Darlegungen zur Emb-
ryologie, die ein Zeugnis sind für die fortgeschrittenen Erkenntnisse
der Ikhwan über das pränatale Leben, von der Zeugung bis zur Ge-
burt.
In der 26. Risala offenbart sich als Sinn der Philosophie der Ikhwan
eine harmoniestiftende Bewegung: Der Mensch sei die Summe alles
Seienden, aber er müsse ein Leben lang das Rechte suchen und sich
zu eigen machen. Auf diesem Wege erlange er mit Hilfe seines Schöp-
fers Unvergänglichkeit und Glückseligkeit.
Drittes Buch: Risala 27-41
Der dritte Band vertieft die Erkenntnisse zu den Themen Psychologie
und Geisteswissenschaften und wendet sich der Unsterblichkeit zu.
Die 27. bis 29. Risala handelt von der Unsterblichkeit. Das mensch-
liche Leben geht nach dem Verständnis der Ikhwan aus einer univer-
sellen Seele hervor. Sie zieht als eine Teilseele in den Körper ein und
verlässt den Leib nach dem Tod. Das Wesen der Seele hat Vorrang
vor dem Wesen des Leibes. Der Tod wird als Übergang, als Wieder-
1.6 Ikhwan as-Safa 75
erweckung in einen höheren Status der Engel und des Spirituellen
angesehen, um dort Glückseligkeit zu finden. Das Leben wird als eine
Mission aufgefasst, die das Individuum von der universellen Seele
aufgetragen bekommt und an der es sich zu orientieren hat. Um
Ewigkeit zu erlangen, soll der Mensch im Leben so handeln, als sei
dies endlos, sich aber jederzeit auf das Jenseits vorbereiten. In der 30.
Risala folgt die Betrachtung von Lust, körperlichem und psychi-
schem Schmerz und deren Dynamik.
Mit der 31. Risala erfolgt ein thematischer Wechsel zur Betrach-
tung der Entstehung von Sprache und Kommunikation. Die Ikhwan
konstruieren eine komplette Kultur- und Sozialisationstheorie. Sie
gehen davon aus, dass der Mensch zunächst Wissen erlangt, dann die
gedanklichen Bilder in Worte kleidet und diese im Verlauf der Zeit in
Symbole umwandelt. Das menschliche Denken ist nach ikhwani-
schem Verständnis abhängig von Zeit, Raum und Gesellschaft. Her-
meneutisches Verstehen wird als Grundlage menschlicher Kommu-
nikationsformen erkannt.
In der 32. und 33. Risala werden die geistigen Prinzipien der Py-
thagoräer und der Ikhwan zueinander in Beziehung gesetzt. Während
Pythagoras von Samos (570-510) die Dinge klar abgrenzt und die
Erscheinungen der Welt voneinander separiert, sehen die Ikhwan den
Geist als erstes Prinzip bzw. als Anfang an, aus dem sich alle Dinge
planvoll entfalten und miteinander zusammenhängen. In der 34. Ri-
sala wird dieses Weltverständnis im Hinblick auf den Makrokosmos
bestätigt. Der Ikhwan zufolge wird das Große im Kleinen im Mikro-
kosmos widergespiegelt. Außerdem stellen sie die These auf, dass
außerhalb des Universums nichts existiere, also weder Leere noch
Fülle.
In der 35. Risala beschäftigen sich die Ikhwan mit unterschiedli-
chen Arten der Vernunft. Sie unterscheiden zwischen sinnlicher Ver-
nunft, die aus der Erkenntnis sensorischer Organe gewonnen wird,
abstrakter Erkenntnis, die mit intellektuellen Fähigkeiten zu tun hat
und durch Beweis oder Ableitung ermittelt wird und zwischen Er-
kenntnis, die durch Offenbarung oder Eingebung erlangt wird. Letz-
tere besitzt, den Ikhwan zufolge, allerdings eine andere Qualität als
die anderen genannten Arten der Vernunft.
Die 36. Risala behandelt die Entstehung der Welt mit all ihren
Entwicklungen. Sie enthält einen Appell, alles zu tun, um deren Zer-
störung zu verhindern. In der 37. Risala werden unterschiedliche
Arten der Liebe betrachtet. Grundlegend ist, dass jeder Mensch über
solche ursprünglichen Empfindungen verfügt. Die Liebe zu einem
76 Gründungs- und erste Blütephase
Menschen wird als Spiegel der Liebe zum Göttlichen gesehen. Der
Mensch, der seinen Schöpfer liebt, sehnt sich nach ihm. In dieser
Liebe sehen die Ikhwan die Grundlage eines gottgewollten Pluralis-
mus. Sie erkennen diesen Grundsatz in der Gesetzmäßigkeit der Zah-
len, wobei die Eins die Einheit repräsentiert, während die weiteren
Zahlen von Pluralität zeugen. Wiedererweckung und Auferstehung
sind Gegenstände der 38. Risala.
Die 39. und 40. Risala handelt von der Kinetik, dem Zusammen-
wirken von verschiedenen Kräften sowie ihrer Ursache und Wirkung.
Durch dieses Wechselverhältnis entwickelt sich eine unendliche Spi-
rale. Bewegungen haben Ursachen und Ziele. Nach dem Verständnis
der Ikhwan entsteht irdische Existenz durch die Form, die es zu dem
macht, als was es auf Erden erscheint. Die Existenz der Erde wird
ursächlich auf einen Schöpfergott zurückgeführt.36
Der dritte Band endet mit der 41. Risala, die dem Wesen von De-
finitionen und Zeichen gewidmet ist. Es geht um die Gattung und Art
von Gegenständen und um die Unterscheidung der Dinge.
Viertes Buch: Risala 42-53
Der vierte Band ist der Theologie gewidmet, wobei das Ziel der
Ikhwan darin besteht, theologische Aussagen philosophisch abzulei-
ten und eine ›systematische Theologie‹ weiter auszubauen, die an-
satzweise von Al-Kindi und Farabi bereits konzipiert wurde. Hinzu
kommt die Begründung einer existentialistischen und einer dialekti-
schen Theologie.
Die 42. Risala enthält Allgemeines über Weltanschauung und Re-
ligion, wobei dem Glaube eine heilende Funktion bei Erkrankungen
der Seele und des Geistes zugesprochen wird. Die Ausführungen
reichen vom Ursprung der Religionen über dualistische Auffassungen
bis zu Sünde und Lohn des Guten.
Die 43. und 44. Risala enthalten Gedanken über die praktische
Anwendung theologischer Aussagen, die den Menschen zur ewigen
Seligkeit führen sollen. Ein materialistisch-diesseitsbezogenes Leben
wird abgelehnt. Der Mensch ist gehalten, die ewigen Wahrheiten zu
respektieren, die der Seele Unsterblichkeit verleihen. In der 45. Ri-
sala werden, den aufgestellten Lebensmaximen entsprechend, Tugen-
den erläutert, nach denen sich die Ikhwan selbst richten sollen: Ko-
36
Derlei Gedanken werden später von Martin Heidegger mit seiner Philo-
sophie vom Sein und Seienden aufgegriffen.
1.6 Ikhwan as-Safa 77
operation, Anteilnahme, gegenseitige Hilfestellung, Freundschaft,
Liebe, Nachsicht und Barmherzigkeit.
Um diese Lebensmaximen näher zu erläutern, werden in der 46.
Risala die Eigenschaften der wahrhaft Gläubigen näher erläutert. Es
wird deutlich, dass im Verständnis der Ikhwan Wissenschaft und
Ethik nicht zu trennen sind. Besondere Bedeutung wird der Akzep-
tanz von Schicksalsschlägen und Grenzsituationen zugemessen. Das
Unglück vieler Menschen wird nämlich darin gesehen, dass sie ihre
Lebensrealität nicht akzeptieren wollen und sich so auf dem Weg zu
einem glücklichen Leben selbst behindern. Die Ikhwan sensibilisie-
ren dafür, dass der Mensch auf der Grundlage der Liebe sich selbst
annehmen und zu sich selbst bekennen solle, um glücklich zu sein.
Das daraus resultierende Selbstbekenntnis bildet die Grundlage der
Glückseligkeit.
Abweichend von dem allgemeinbildenden Charakter des Gesamt-
werkes ist die 47. Risala eher für einen gebildeten Personenkreis
verfasst. Sie enthält Anweisungen zum Verständnis der Geheimnisse
der Propheten und der prophetischen Bücher und ihrer Symbole und
spricht von den Verheißungen des erwarteten Mahdis, der Gerechtig-
keit und Liebe in die Welt bringen wird.37
Die 48. Risala thematisiert Eckpunkte einer Mission, die von blo-
ßer Bekehrung absieht und vorbildliches Verhalten, aufrechte Brü-
derlichkeit, Einhaltung von Versprechen und Freundschaft prakti-
ziert. Die 49. Risala ist der Darstellung zweier Prinzipien gewidmet,
die auf Erden wirken, den guten, spirituellen Geistern und den Wi-
dersachern und Teufeln. Diese seien beide nicht materiell, sondern
nur durch ihre Wirkungen in der Welt zu erkennen.
In der 50. Risala werden Pädagogen und Erzieher angesprochen
und in Formen der Erziehung unterwiesen. Der Pädagoge hat seine
anleitende Funktion nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben
und auf die Erziehung des Körpers wie der Seele zu achten. Während
die 51. Risala die Weltordnung, mit Gott als erster Ursache, und die
soziale Dynamik behandelt, deckt die 52. Risala ein großes Spektrum
dessen ab, was wir heute Parapsychologie nennen. Sie beschäftigt
sich mit Beschwörungen, mit der Wirkung von Flüchen, mit Astro-
logie, Weissagungen über künftige Kriege oder mit magischen Küns-
ten.
37
Im Christentum verwendet man den biblischen Ausdruck ›Paraklet‹, der
mit dem Heiligen Geist identifiziert wird. Martin Luther übersetzt dieses
Wesen als ›Tröster‹.
78 Gründungs- und erste Blütephase
Mit der 53. Risala finden die Ausführungen ihren Abschluss. Das
Dokument ist allerdings verschollen. Lediglich in der Sekundärlite-
ratur sind Hinweise darauf zu finden, dass diese einst das Kompen-
dium der Ikhwan as-Safa mit Beweisen zu Richtigkeit der aufgeführ-
ten Thesen abgeschlossen hat.
Wonach streben letztlich die Ikhwan? Wollen sie nur das vorhan-
dene Wissen bündeln oder suchen sie neue Wege, um ein universa-
listisches Menschenbild zu begründen? Die Wissenschaftler des ge-
heimen Bundes bringen die Einheit des Kosmos zur Darstellung, in
dem sie zeigen, dass Vielfalt in der Einheit integriert ist. Darin liegt
Sinn und Funktion der ikhwanischen ›inssaniyyat‹, der dialogischen
Menschengemäßheit. Der Mensch trägt selbst zu seinem Unglück bei,
wenn er sich aus der Einheit kosmischer Gesetzmäßigkeit herauslöst.
Modern ausgedrückt könnte man sagen, die Ikhwan wenden sich
gegen Schubladendenken und Maßlosigkeit.
1.7 Ibn Miskawayh
und die Interdependenz von Ethik und ewiger
Vernunft
Abu Ali Ahmad Ibn Mohammad Ibn Yaqub Ibn Miskawayh Razi (an-
dere Schreibweisen: Miskawaih, Meskavayh, Miskawayh), genannt Ibn
Miskawayh (932-1030), ist in Persien geboren. Sein Wirken fällt in die
Zeit größter Prachtentfaltung der Araber in Europa, als Ab dar Rahman
III. (889-961) in Cordoba ein eigenes Kalifat gründet. Diese Tat führt
80 Gründungs- und erste Blütephase
allerdings zu Kämpfen innerhalb der islamischen Welt, was fortan die
Position der Araber auf der Iberischen Halbinsel schwächen wird.38
Ibn Miskawayh wirkt in der wissenschaftsfördernden Ära des Ka-
lifats der Abbassiden. Er gehört zu den wichtigsten Philosophen des
Rationalismus in der Tradition Farabis. Ibn Miskawayh ist stark be-
einflusst von den Ikhwan as-Safa, den Brüdern der Lauterkeit, denen
er selbst angehört hat. Ibn Miskawayh arbeitet als Beamter in Bagdad,
Esfehan und Ray. Er vereinigt eine aktive politische Karriere mit
philosophischen Ambitionen.
In seinen Arbeiten trennt Ibn Miskawayh Religion und Philosophie
und ist bestrebt, den Islam in ein breiteres System aus gemeinsamen
rationalen Praktiken aller Menschen zu verankern. Teile seiner Ab-
handlungen enthalten Regeln, um die Seele zur Harmonie zu bringen
und letztlich zur Glückseligkeit zu führen. Ihm geht es darum, welche
Dispositionen zu erwerben sind, um moralisch richtige Entscheidun-
gen in einer organisierten und systematischen Weise zu treffen.
Ein wichtiger Punkt der Erkenntnistheorie Ibn Miskawayhs ist die
Urfrage einer jeden Philosophie: die Frage nach der Entstehung der
Vielfalt oder der Erschaffung des Vielen durch den Einen. Der Ur-
grund allen Seins könne nach Ibn Miskawayh verschiedene Mittel
und Kräfte zusammenbringen, um eine Handlung zu bewirken. Der
Mensch als ein Wesen, was über eine komplexe biologische Kompo-
sition von Verhaltensmöglichkeiten verfügt, könne wohl überlegte
und durchaus unterschiedliche Handlungen vollziehen.
In diesem Prozess steckt die Gretchenfrage nach der letzten Ursa-
che bzw. der Evolution. Sie lässt sich so erklären, dass der Kosmos
voll ist von Stufen und Übergängen. Ibn Miskawayh sieht in der
Kombination der Substanzen die Entstehung des Mineralreiches,
welches im Reich der Pflanzen seine Fortsetzung findet. Ein Über-
gang sei in Formen von Leben zu sehen, das sowohl pflanzliche als
auch tierische Charakteristika aufweist, so z.B. in Korallen. Eine
weitere, bereits tierische Stufe sieht er in kleinsten Würmern, deren
Berührungssinn sich in höheren Tierarten fortentwickelt, die intelli-
gentes Vermögen besitzen. Im Affen sei ein Übergang zwischen dem
Tierreich und der Menschheit zu finden.39
38
Über Ibn Miskawayh vgl. Arkoun, Mohammad: L’humanisme arabe au
IVe-Xe siecle: Miskawayh, philosophe et historien, 1982.
39
Vgl. Ibn Miskawayh, Abu Ali Ahmad ibn Mohammad: Al-Fauz Al-As-
ghar [Das kleine Glück in der Philosophie], 2010.
1.7 Ibn Miskawayh 81
Nach Ibn Miskawayh ist es das Ziel aller Philosophien, Gedanken
und Sachverhalte durch die Bildung von Begriffen auf den Punkt zu
bringen. Philosophie in diesem Sinne heißt Denken in begrifflicher
Präzision. Er untersucht Vernunft und Poesie in asiatischen Kultur-
räumen und führt dabei vergleichend die Heterogenität des Denkens
und das Aufeinander-Angewiesensein kultureller Weisheiten vor Au-
gen.
Zwei Schriften sind für die Begründung seiner Philosophie von
Bedeutung: ›Gavidan Kherad‹, ›Ewige Vernunft‹, und ›Tahdhib al-
akhlaq‹, ›Die Grundlagen der Moral‹. ›Gavidan Kherad‹ umfasst vier
Kapitel, die sich der Lebensart und Weisheiten der Perser, Inder,
Araber und der Römer widmen. Ibn Miskawayh weist nach, dass alle
Menschen über Vernunft und Unvernunft verfügen. Nur diejenigen
Menschen handelten tugendhaft, »die von ihrer Vernunft den höchs-
ten Gebrauch machen.«40 Vernunft wird hier als eine anthropologi-
sche Eigenschaft verstanden, die aus sich heraus die Einheit sucht.
In der Vernunft sieht Ibn Miskawayh die Chance einer ethisch-
rationalen Verantwortung gegenüber Andersdenkenden, indem er
hervorhebt: »Philosophen wissen, dass Gemeinsamkeiten verbinden,
während Divergenzen trennen. Menschen lieben in der Regel das,
was sie für richtig halten, während sie alles andere verwerfen. Hier
wird der Unterschied zwischen den Einsichtvollen und Unwissenden
ersichtlich.«41 Der Philosoph bewegt sich versöhnend zwischen die-
sen Dimensionen. Die ›Gavidan Kherad‹ spricht nicht nur die Sozio-
logie, sondern auch die Psychologie der menschlichen Kommunika-
tion an. In dieser Aufgabenzuweisung kommt der gesellschaftliche
Auftrag der Philosophie zum Ausdruck.
Auf seinem pluralistischen Vernunftansatz aufbauend, entwirft Ibn
Miskawayh in seiner Schrift ›Tahdhib al-akhlaq‹, die erste Konzep-
tion einer philosophischen Ethik in der islamischen Welt, die ansatz-
weise der ›Nikomachischen Ethik‹ des Aristoteles ähnelt, geht aber
im Ergebnis einen eigenen Weg. Die ethisch-moralischen Überlegun-
gen Miskawayhs in diesem Werk sind eine theoretische Beschreibung
der Missstände seiner Zeit. Ihm geht es um eine grundlegende Ver-
feinerung der Sitten der Gesellschaft, in welcher er selbst lebt. Diese
Basis macht die Authentizität und auch die Praxisorientiertheit seiner
wegweisenden Studie aus.
40
Ibn Miskawayh, Abu Ali Ahmad ibn Mohammad: Gavidan Kherad [Ewi-
ge Vernunft], 1976, S. 56.
41
Ebenda, S. 133.
82 Gründungs- und erste Blütephase
Ibn Miskawayh, der tief in der altpersischen und islamischen Kul-
tur verwurzelt ist, geht von der Gleichheit aller Menschen aus und
stellt fest, »dass alle Menschen gemäß ihrer natürlichen Anlagen
aufeinander angewiesen sind. Sie müssen sich gegenseitig gut behan-
deln und einander angemessene Zuneigung entgegenbringen, weil
sich Menschen nur gemeinsam vervollkommnen können.«42 Hier un-
terscheidet er sich grundlegend von Aristoteles, der in Frauen und
Sklaven ›Werkzeugmenschen‹ sieht. Ibn Miskawayh eröffnet die
Möglichkeit einer wechselseitigen Verantwortung in der Zivilgesell-
schaft, aus der er eine Theorie der Toleranz, also ›modara‹ ableitet,
die für ihn »versöhnlicher Umgang mit allen Menschen«43 bedeutet.
Vernunft gebietet ethische Verantwortung, aber nicht aus äußeren
Zwängen, sondern aus ihrem eigenen Urbedürfnis heraus.
In dieser geistigen Einheitsvorstellung sieht Ibn Miskawayh die
zivilgesellschaftliche Pflicht, das Glück und das Bedürfnis der Men-
schen durch wechselseitige Wertschätzung und Verantwortung aktiv
zu fördern. Für ihn steht ethisch-moralisches Handeln im Zentrum,
da er vom Streben aller Menschen nach Glück im umfassenden Sin-
ne ausgeht. Jedes Ziel verbindet Menschen und sollte sie daher ermu-
tigen, gemeinsam im Geiste der Verantwortung und ethisch-morali-
schen Toleranz, also ›modara‹, zu handeln.
Ausgewählte Werke:
— Gavidan Kherad [Ewige Vernunft].
— Tahdhib al-akhlaq [Die Grundlagen der Moral].
42
Ibn Miskawayh: Tahdhib al akhlaq [Die Grundlagen der Moral], 1996,
S. 129.
43
Ebenda, S. 129.
1.8 Ibn Sina
und der ethische Grundsatz des weisen Maßes
Abu Ali al-Husain Ibn Abdullah Ibn Sina (andere Schreibweisen:
Avicenna, Ibn-Sînâ, Ebn Sina, bin Sina, Pur-e Sina), genannt Ibn Sina
(980-1037), ist in Persien geboren. Seine Geburt fällt in die Herr-
scherzeit des römisch-deutschen König und Kaiser Otto III. (980-
1002), der maßgeblich an der Christianisierung der osteuropäischen
Völker beteiligt ist.44
44
Über Ibn Sina vgl. Tayefeh-Mahmoudi, Bahram: Der persische Arzt und
Philosoph Avicenna (Ibn Sina), 1964 und Maroth, Miklos: Ibn Sina und
die peripatetische ›Aussagenlogik‹, 1989.
84 Gründungs- und erste Blütephase
In Buchara beginnt Ibn Sina die arabische Sprache zu erlernen, und
nimmt kurz danach das Studium der Theologie und der Literatur auf.
In seinem 18. Lebensjahr erwirbt er als Arzt einen guten Ruf, wor-
aufhin ihn der samanidische Sultan Nuh Ibn Mansur (930-980) in
seine Dienste aufnimmt. Dort steht ihm die gesamte königliche Bib-
liothek zur Nutzung offen. Ibn Sina beschäftigt sich mit Physik, Ma-
thematik, Recht, Astronomie, Logik, Musiktheorie und Alchemie,
Medizin sowie Philosophie und Ethik.
Durch den guten Ruf von Nuh Ibn Mansur, der als Förderer der
Wissenschaft gilt, kann Ibn Sina nach Gorgan ans Kaspische Meer
reisen, wo er Vorlesungen zu Themen der Logik und Astronomie hält.
Nach einer Weile gibt ihm der Sultan eine Stelle als Arzt. Später geht
Ibn Sina nach Rey und gründet dort eine medizinische Praxis. Hier
entstehen seine Hauptwerke, die in arabischer und persischer Sprache
abgefasst sind. Seine Kommentare zu Werken des Aristoteles enthal-
ten weiterführende Kritik an dessen Ansichten. Philosophische Leh-
ren Ibn Sinas werden noch heute von okzidentalischen und orienta-
lischen (islamischen) Forschern gleichermaßen beachtet und
geschätzt.
Ibn Sina ist in Europa vor allem wegen seines Werkes ›Al-qanun
fi at-tibb‹, des ›Canon medicinae‹, bekannt. Diese Schrift wird im 12.
Jahrhundert ins Lateinische übersetzt und gilt bis ins 17. Jahrhundert
als ein Standardwerk der Medizin. Nach der Entwicklung der Druck-
technik in Europa ist sein Werk, nach der Bibel, das erste weltweit
verbreitete Buch.
Seine Schrift ist in fünf Bücher unterteilt. Einführend stellt Ibn Sina
die Theorie der Medizin vor. Das zweite Buch enthält eine alphabe-
tisch geordnete Auflistung von Arzneimitteln und ihrer Wirkungswei-
se. Im dritten Buch geht Ibn Sina systematisch auf Pathologie und
Therapiemöglichkeiten ein. Im vierten Buch beschäftigt er sich mit
Chirurgie und Allgemeinkrankheiten. Das fünfte und damit das letz-
te Buch umfasst eine Diskussion Ibn Sinas über die Herstellung von
Heilmitteln. Insgesamt beschreibt er 760 Medikamente für unter-
schiedliche Erkrankungen und macht Angaben über ihre Anwendung
und Wirksamkeit. Ibn Sina ist der erste Arzt, der systematische Re-
geln formuliert, wie neue Medikamente vor ihrer Anwendung zu
prüfen sind.
Ibn Sina bevorzugt in der Medizin die Methode der Induktion. Er
schließt von der Diagnose eines spezifischen Syndroms auf andere
Syndrome und entwickelt ein Kategoriensystem, in dem er unter-
schiedliche Krankheiten als ›immer‹, ›meistens‹ oder ›manchmal‹
1.8 Ibn Sina 85
ansteckend oder tödlich einstuft. Er thematisiert die Infektiosität von
Tuberkulose und vermutet, dass Krankheiten von Wasser und Erde
übertragen werden können. Ferner ist er der Auffassung, dass Krebs-
erkrankungen in ihren frühesten Stadien behandelt werden können,
wenn das kranke Gewebe nur rechtzeitig entfernt wird. Mit großer
Genauigkeit beschreibt er die Anatomie des Auges und verschiedene
Augenkrankheiten.
Als ein strikter Naturwissenschaftler lehnt Ibn Sina die Astrologie
ab, weil ihr Nutzen empirisch nicht nachweisbar sei. In seiner Theo-
rie der Bewegung beschäftigt er sich mit der Kraft und der Bahnnei-
gung von Geschossen und zeigt, dass ein Geschoss sich in einem
Vakuum ewig fortbewegt. In der Optik weist er die Endlichkeit der
Lichtgeschwindigkeit nach. Während er auf dem Gebiet der Medizin
und der Naturwissenschaft Pionierarbeit leistet, steht sein philosophi-
sches Werk unter dem Einfluss von Farabi und Biruni, mit dem er
brieflich philosophische Fragen diskutiert.
In der Philosophie verwendet Ibn Sina das deduktive Vorgehen. Er
hält diejenigen Weltanschauungen für illusionistisch, die sich auf
sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnisgewinn beschränken. Für ihn
ist der Mensch ein Wesen, das logische Gesetzmäßigkeiten zu er-
schließen vermag. Und Logik selbst spiegelt das Antlitz der ewigen
Vernunft wider. Die Metaphysik des Aristoteles wird Ibn Sina, wie er
selbst erwähnt, durch die Lektüre von Farabis Werken zugänglich.
Auf allen Ebenen von Ibn Sinas Schaffens kommt deutlich der Aspekt
der Anthropologie Farabis zum Ausdruck. Wie dieser betrachtet Ibn
Sina den Menschen als ein Wesen mit Leib und Seele. Die Seele sei
unsterblich, während der Körper endlich sei. Er begründet Existenz
und Beschaffenheit der Seele und zeigt ihren Weg zur vollkommenen
Erkenntnis. Die Seele betrachtet er, unabhängig vom Körper, als
immateriell und individuell.
Philosophie ist für Ibn Sina diejenige Denktätigkeit, die selbstän-
dig ist und die keiner anderen über ihr stehenden Wissenschaft bedarf.
Er begründet Glauben und Glaubensinhalte methodisch rational und
zugleich hermeneutisch. Ibn Sinas Philosophie lässt sich auffassen
als eine Mischung von Vernunft und Hermeneutik. Seine Theologie
wie auch seine Philosophie sind gegründet auf argumentative Be-
weisführung, ›Burhan‹. Die Analyse theologischer Fragen und The-
menfelder durch philosophische Methodologien, ohne die Autonomie
der Philosophie in die Theologie aufgehen zu lassen, zeichnet Ibn
Sina als Vater der Religionsphilosophie aus.
86 Gründungs- und erste Blütephase
Ibn Sina deutet Entstehung und Zusammenhalt der Vielfalt alles
Seienden und entwirft eine facettenreiche Ontologie. Dabei geht es
um die beschreibende Analyse von Anführung, Universalien, ›Kuli-
yyat‹ und Partikularien, also ›Djuziyyat‹ bzw. Einzeldinge. Hier in
diesem Zusammenhang geht Ibn Sina von der Unanfänglichkeit bzw.
der Ewigkeit der Materie der Welt und damit des Universums aus.
Aller Entstehung der Vielfalt von Einzeldingen und ihrem Werden in
der Welt, ›Al-Alam‹, geht von Kuliyyat aus. Diese Annahme Ibn
Sinas trägt dazu bei, dass Ghazali später daran Anstoß nimmt und
seine Kosmologie in Abrede stellt.
Die Konzeption der Ethik Ibn Sinas ist anderer Natur. Im Zentrum
seiner Ethik steht der Begriff der ›Gerechtigkeit‹, verbunden mit ei-
nem universellen Menschenbild, nach dem Menschen gleich und
dennoch verschieden sind. Ihre Gemeinsamkeit besteht in derselben
Schöpfungswurzel, ihre Verschiedenheit liegt in ihren Kompetenzen
und Qualitäten, welche sie einzigartig machen.
Im Rahmen seiner Ethik ist für Ibn Sina der Mensch das vollkom-
menste Lebewesen in der Natur. Er ist als einziges Wesen in der Lage,
aus sich heraus Anstrengungen zu entwickeln, um sich zu vervoll-
kommnen, weil er mit ethischen Eigenschaften ausgestattet ist, die
seine praktischen Tugenden sind. Die Einzigartigkeit des Menschen
gründet darauf, dass er sich selbst und sein Verhalten zum Thema
seines Denkens macht und vorausschauend über sich und seine Um-
welt sowie über Diesseits und Jenseits reflektiert.
Aus diesem Grund erblickt Ibn Sina im Wesen des Menschen einen
freien Willen, der sich für verschiedene Haltungen entscheiden kann.
Die Fähigkeit zum Willensentschluss bezeichnet Ibn Sina als unser
›innerstes Eigentum‹. Die Ursache dieser Möglichkeit beruht auf
äußeren Einwirkungen.
Weil nicht viele Menschen in der Lage sind, aus sich heraus das
Gute zu suchen und sich für das Gute zu entscheiden, sieht Ibn Sina
in der Lehre und dem Vorbild prophetischer Persönlichkeiten eine
Möglichkeit, die egoistischen Mechanismen im Menschen durch eine
rechte Führung zu zügeln. Sie ermöglicht es, die Verhältnisse der
Einzelnen zu ordnen, um das gemeinsame Leben und Glück im Dies-
seits und für das Jenseits zu fördern. Sein Leitmotiv ist das bekannte
Wort: »Gott lädt jedem Menschen nur das auf, was er tragen kann.«45
Ibn Sina verweist darauf, dass Leitpersonen, die im Gewand eines
Propheten, eines gutmütigen Gelehrten oder eines aufrichtigen Men-
45
Sura 2:287.
1.8 Ibn Sina 87
schen auftreten können, sich von den übrigen Menschen unterschei-
den. In diesem Zusammenhang spielt die Kategorie des Bösen im
Denken Ibn Sinas eine bedeutende Rolle. Das Böse ist in seiner Vor-
stellung, von Anomalien abgesehen, kein immanenter Bestandteil der
menschlichen Psyche. Sie stellt eine aus Erfahrung geborene Er-
kenntnis dar. Der Mensch sei böse im Bezug auf irgendetwas, das
Gute existiere, trotz des Vorhandenseins des Bösen, auf ›Etwas‹.
Ähnlich der Ansicht Augustinus’, erweist sich das Böse als eine Pri-
vation des Guten. Das Böse ist nicht a priori vorhanden, es entsteht,
besteht und vergeht. Mit diesem Vorverständnis weist Ibn Sina einen
wie auch immer gearteten Psychologismus zurück.46
In Ibn Sinas politischem Denken sind auch ethische Komponenten
wirksam. Die Aufgabe des Staates sieht er darin, Menschen zur Wahr-
haftigkeit zu erziehen. Wer sich der Gesetzgebung widersetzt, ist mit
harten Strafen zu belegen. Er hält Gleichheit und Verschiedenheit für
einen gottgewollten Pluralismus. In völliger Gleichheit bzw. Gleich-
schaltung des Menschseins sieht Ibn Sina eine Störung. Eine rechte
Staatsleitung müsse bei ihrer Gerichtsbarkeit die unterschiedlichen
Konstitutionen des Menschen beachten.
Ibn Sina fordert klare Strafen und Grenzen, welche die Menschen
daran hindern, willkürlich zu handeln. Für ihn sind Vergehen zu
sanktionieren, welche die Ordnung des Ganzen zu stören drohen. Im
Gegenzug plädiert er aber für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, die
der zu strafenden Tat und dem Verursacher angemessen sein müssen.
Auch fordert er eine fortlaufende Überprüfung rechtlicher Vorschrif-
ten und deren Änderung, wenn sich die zugrundeliegenden Sitten,
Gebräuche und Erfordernisse geändert haben.
Ibn Sina verlangt – und das ist die Kulmination seiner Ethik – eine
Verfassung, in der sowohl allgemeine ethische Grundsätze niederge-
legt werden als auch Gewohnheiten der Völker Berücksichtigung
finden. In einer solchen Verfassung soll das weise Maß zur Anwen-
dung kommen. Dies soll ein harmonisches Gleichgewicht in der Ge-
sellschaft herbeiführen und dem Menschen dazu verhelfen, einen
ethischen Charakter auszubilden, in dem Weisheit, Enthaltsamkeit
46
Nach Ibn Khaldun ist das Böse ganz im Sinne Ibn Sinas eine Eigenschaft,
»die dem Menschen näher ist, wenn er auf der Weide seiner Gewohnhei-
ten allein gelassen wird und die Befolgung der religiösen Gebote ihn nicht
reinigt.« Ibn Khaldun: Die Muqaddima, 2011, S. 146.
88 Gründungs- und erste Blütephase
und Mut eine verhaltensbestimmende Rolle einnehmen.47 Die prak-
tische Grundlage der friedlichen Koexistenz sieht Ibn Sina in einer
gerechten Verwaltung der Gesellschaft.
Die Idee der Einheit und Vielfalt und ihr Wechselverhältnis bilden
einen Bestandteil seiner Philosophie. Er widmet diesem Thema ein
ganzes Kapitel, in welchem er sich mit dem Wechselverhältnis des
Einen und des Vielen befasst. Ibn Sina bestimmt die Vielfalt durch
die Einheit. Darin stimmt er mit Biruni überein. Die Einheit sei das
Prinzip der Vielfalt, und aus ihr erhalte die Vielheit ihre Existenz und
ihr Wesen. Demzufolge ist die Vielheit die aus Einheiten bestehende
Summe. Mit diesem Selbstverständnis geht einher, dass die ›Eins‹
alle Einheiten der Vielfalt in sich trägt. Die Kategorie der Einheit
bildet eine zentrale Achse der Philosophie Ibn Sinas. Er begreift die
Welt als Emanation, in der das Niedere aus dem Höheren hervorgeht,
wobei das Urprinzip stets eine Einheit bleibt.
Ibn Sina erklärt sich menschliche Fehlleistungen damit, dass die
Einheit eine begrifflich-abstrakte Größe ist, während wir uns die
Vielheit konkret vorstellen können. Dies hängt mit der Denkart des
Menschen zusammen, der Gegenstände gesondert in der Mannigfal-
tigkeit des Haushaltes seines Seins wahrnimmt, ohne diese in erster
Linie als Bestandteile einer Einheit zu begreifen. Der Kölner Dom
mag dieses Verhältnis verdeutlichen. So sind seine einzelnen Steine
alle gleich, jedoch in ihrer jeweils unterschiedlichen Form unver-
zichtbare Bestandteile des grandiosen Gesamtkonzeptes.48
In seiner Schrift zur Logik überwindet Ibn Sina die zweiwertige
Logik des Aristoteles, die sich im ›Satz des ausgeschlossenen Dritten‹
ausdrückt. Ibn Sinas Konzept hingegen lässt sich als eine mehrwer-
tige Logik bezeichnen, in der die Legitimation der Vielfalt ihre Kul-
mination erfährt. Wir sprechen zwar von der Vielfalt, sind uns aber
nicht dessen bewusst, dass wir in ihr die Teile einer Einheit bilden.
Ibn Sina will uns das Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit ver-
deutlichen. Darin liegt die wegweisende Aktualität seiner Philoso-
47
Jahrhunderte später formuliert Thomas Hobbes (1588-1679) seine Staats-
theorie verblüffend ähnlich, wenn auch radikaler. Der Mensch benötige
zu seiner Zügelung eine klar geregelte Staatsverfassung. Vgl. Hobbes,
Thomas: Leviathan, 2010 und Vom Menschen, vom Bürger, 1959.
48
Die Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz bzw. Wesen und Sein
wird später von Albertus Magnus (1200-1280) und Thomas von Aquin
(1225-1274) aufgegriffen.
1.8 Ibn Sina 89
phie, die für eine Interkulturalität im 21. Jahrhundert fruchtbar ge-
macht werden kann.49
Ausgewählte Werke:
— Miyar al-ugoul [Das Kriterium der Vernunft].
— Al-Ischarat wa At-Tanbihat [Zeichen und Weisungen].
49
Vgl. Ibn Sina, Abu Ali al-Hussain ibn Abdullah: Elahiat [Die Metaphy-
sik], 2004.
1.9 Abu Reyhan Biruni
und das empirische Experiment
Abu Reyhan Muhammad Ibn Ahmad Biruni (andere Schreibwei-
sen: Bīrūnī, Albairuni, Al-Beruni, al-Biruni, al-Bērūnī, El-Biruni),
genannt Biruni (973-1048), ist in Kharazm geboren, das im Süden
des Aralsees liegt. Seine Arbeitsbereiche sind Mathematik, Astro-
logie, Pharmakologie, Mineralogie und Geschichte, Medizin, Phar-
mazie sowie Philosophie. Biruni spezifiziert Gewichte und konst-
ruiert das erste Pyknometer, um Gewicht oder Dichte von
Flüssigkeiten oder festen Körpern bestimmen zu können. In seinem
Todesjahr erobern die schiitischen Sulaihiden erfolgreich Saana; in
Frankreich gewinnt gerade die cluniazensiche Reformbewegung,
1.9 Abu Reyhan Biruni 91
welche sich gegen die Verweltlichung der Kirche richtet, großen
Einfluss.50
Biruni gehört zu den wenigen Philosophen mit stark agnostischen
Tendenzen, die für sein philosophisches System bestimmend sind.
Ein experimentierfreudiger Geist bestimmt sein Menschen- und Welt-
bild. Er gründet eine neue Erkenntistheorie, die sich von der herr-
schenden Meinung seiner Zeit deutlich abhebt. Dies zeigt sich in der
harschen Kritik an Aristoteles über die Aggregatzustände der Elemen-
te, die in einem erhaltenen Briefwechsel mit Ibn Sina deutlich wird.
Biruni entdeckte, dass die Elemente ihre Form nie ablegen, sondern
lediglich ihren Zustand von der festen in die flüssige bzw. gasförmi-
ge Art ändern. Er verlässt damit das aristotelisch-ptolemäische Welt-
bild und experimentiert in eine Richtung, die später als ›Falsifikaton‹
bekannt wird. Karl Raimund Popper (1902-1994) bezeichnet in sei-
nem ›empirischen Falsifikationsprinzip‹ wissenschaftliche Theorien
als unsichere Spekulationen. Jede wissenschaftliche Aussage muss
sich demnach diesem Prinzip aussetzen. Letzten Endes geht es um
das Prinzip der Widerspruchsfreiheit einer Aussage.
Biruni insistiert, dass die Natur in ihrer Gesamtheit unfehlbaren
Gesetzmäßigkeiten unterliegt, auch wenn wir bestimmte Ereignisse
der Natur, wie eine Sturmflut, als fehlerhaft wahrnehmen. Er sieht
seine Erkenntnistheorie im schroffen Widerspruch zu derjenigen der
Mutaziliten. Diesen wirft er vor, sich im Zweifel auf ihren Standpunkt
zurückzuziehen. Dadurch entfernen sie sich von wissenschaftlichen
Beweismethoden, wenn sie sich, ihm zufolge, in törichte Sophismen
verwickeln und sich auf das bloße Bezweifeln von Aussagen und
Sachverhalten beschränken. Heute weiß man, dass die Sophisten
doch keine bloßen Zweifler waren, sondern dass sie die Erkenntnis
aus dem Zweifel erschließen und nicht alles als gegeben hinnehmen.
Sophisten waren keine bloßen Spekulanten, wie immer wieder ver-
mutet wird, sondern sie waren auch zugleich Aufklärer.
Biruni ist in zwei Sprachkulturen zu Hause und verfasst annähernd
150 Werke in persischer und arabischer Sprache. Seine Denk- und
Arbeitsweise ähnelt der Kharazmis. Stets ist er bestrebt, durch induk-
tives Denken zu verifizieren, dass ein Ziel auf verschiedene Wege
erreicht werden kann. Grundlegend für sein paradigmatisches Den-
ken sind neben einer aufgeschlossenen Wahrnehmung der sichtbaren
50
Über Biruni vgl. Haschmi, Mohammed J.: Die Quellen des Steinbuches
des Beruni, 1935 und Wassilios Klein: Abu Reyhan Biruni und die Reli-
gionen, 2005.
92 Gründungs- und erste Blütephase
Wirklichkeit auch die exakte Messung und Beobachtung sowie das
empirische Experiment. Nach seiner Ansicht lässt sich der Kosmos
naturwissenschaftlich erforschen. Dies sieht er in der menschlichen
Natur begründet.
In Buchara arbeitet Biruni einige Jahre im medizinischen Bereich
mit Ibn Sina zusammen und unterhält später mit ihm einen intensiven
Briefwechsel über grundlegende Fragen der Naturwissenschaft.
Angeregt durch eine Mondfinsternis im Jahr 997 beschäftigt sich
Biruni intensiv mit Astronomie, Chronologie und Kartografie. Biru-
ni wendet sich verstärkt dem Studium der Astronomie zu und über-
setzt viele griechische und arabische Werke ins Sanskrit, die bis in
die Gegenwart hoch geschätzt werden. Er errechnet geographische
Breiten seiner Aufenthaltsorte.
Wegen politischer Unruhen verlässt Biruni seine Heimatstadt Kha-
razm und befindet sich fast sein gesamtes weiteres Leben auf Reisen.
Er reist, in der Gefolgschaft des Sultans Mamud von Ghaznawi (971-
1030), immer wieder nach Indien, wohin dieser zu seinen Erobe-
rungszügen aufbricht. Biruni nutzt die Gelegenheit, um die indische
Kultur kennenzulernen, die sich von seinem eigenen Kulturverständ-
nis grundlegend unterscheidet. Dies ist zu seiner Zeit, in der religiö-
se Vorurteile gegen Inder das Bild bestimmen, ungewöhnlich. Auf-
grund seiner eigenen Erfahrungen erkennt er die positiven Momente
von Kulturkontakten, die sich in Kreativität, Offenheit und Fortschritt
niederschlagen. Dem koranischen Grundsatz folgend man solle im-
mer die Wahrheit schreiben, auch wenn sie einem schaden könnte,
beschreibt er unverblümt und beispielhaft die Eroberungszüge des
Sultans in Indien. Dadurch beweist er moralische Aufrichtigkeit in
einer Zeit, in der die gebildeten Moslems auf die Inder herabsahen.
Biruni, der seine Studien mit indischen Gelehrten betrieben hat, setzt
dem entgegen, in jeder Gesellschaft gebe es ungebildete Schichten.
Seine Erkenntnisse legt er in seinem Werk ›Kitab al-tahqiq milal hind
min maqbula lil-aql wa mardhula‹, ›Über Geschichte und Weisheit
Indiens‹, nieder.51
Die 70 Kapitel des Buches enthalten ethnographische und religiö-
se Daten, ferner eine Beschreibung zu indischen Wissenschaften wie
Grammatik, Meteorologie, Astrologie und Astronomie, Kosmologie
und Mathematik. In einem weiteren Teil setzt sich Biruni mit der
51
Vgl. die Auszüge in Biruni, Abu Reyhan Muhammad Ibn Ahmad: Kitab
al-tahqiq milal hind min maqbula lil-aql wa mardhula [Über Geschichte
und Weisheit Indiens], 1975.
1.9 Abu Reyhan Biruni 93
Philosophie und Religion der Hindus auseinander. Dieses Unterneh-
men umfasst auch Gottesvorstellungen, Schöpfung, rituelle Bräuche
wie Bestattungsriten und Pilgertum sowie Festakte. In seinem Vor-
wort warnt Biruni vor einer vorschnellen Verurteilung gänzlich un-
terschiedlicher Praktiken und verweist darauf, dass das, was gänzlich
obskur erscheint, sich als völlig schlüssig erweisen würde, wenn nur
mehr Verbindungen zwischen den beiden Völkern bestünden. Auch
wenn seine Kulturvergleiche noch nicht ausgereift sind, gebührt Bi-
runi dennoch der Verdienst, einer der ersten interkulturellen Kompa-
ratisten zu sein.
Im Rahmen seiner astronomischen Forschungen ist Biruni der Auf-
fassung, die Planetenbewegung gehorche mechanischen Gesetzen
und nicht, wie vielfach vermutet, transzendenten Einflüssen. 600
Jahre vor Kopernikus und Galileo Galilei (1564–1642) geht er von
einem heliozentrischen Weltbild aus, in dem die Erde um die Sonne
kreist, und nimmt somit die ›Kopernikanische Wende‹ vorweg. Biru-
ni berechnet den Radius der Erdkugel auf 6339,6 Kilometer und baut
einen Erdglobus.52 Später wird bestätigt werden, dass der Radius am
Äquator der Erde 6378,1 Kilometer beträgt.
Biruni sieht die Welt als eine heterogene Einheit, spricht aber von
der einheitlichen Abstammung der Menschheit.53 Die Differenzie-
rung der Sprachen im Weltkontext geht nach Biruni darauf zurück,
dass sich die Menschen in Gruppen getrennt haben und entfernt von-
einander leben. In diesem Zusammenhang entwickelt Biruni eine
Theorie der Sprachentwicklung, die aus den Bedürfnissen hervorge-
gangen sei, bestimmte vereinbarte Zeichen für die Artikulierung von
Wünschen zu verwenden.
Im Laufe der Zeit hätten sich diese Ausdrücke vermehrt und seien
wiederholend von Gedächtnis zu Gedächtnis weitergegeben worden.
Das Ergebnis der zusammengesetzten Ausdrücke hätte dann unter-
schiedliche Sprachen als kulturelle Systeme entwickelt. Trotz der
unterschiedlichen Sprachen hält Biruni ein Verständnis der Völker
untereinander für möglich, wenn sie sich nur mit guten Absichten
52
Vgl. Biruni, Abu Reyhan Muhammad Ibn Ahmad: Kitab Tahdid nihayat
al-amakin li-tashih masafat al-masakin [Über die Wissenschaft der Aus-
messung und Abbildung der Erdoberfläche], 1975 S. 213 ff. Ein halbes
Jahrtausend nach Biruni konstruiert Martin Behaim in Nürnberg seinen
›Erdapfel‹.
53
Vgl. Biruni, Abu Reyhan Muhammad Ibn Ahmad: Al-asar al-baqiya an
al-qurun al-khalia [Über die Hinterlassenschaften früherer Jahrhunder-
te], 1975.
94 Gründungs- und erste Blütephase
begegnen. Er geht von der einheitlichen Abstammung der Menschheit
aus und sieht in Physiognomie und Hautfarbe keine Indizien der ra-
dikalen Unterschiedlichkeiten der Menschen. Das Einzige, was Men-
schen trennt, sie aber auch wieder miteinander verbindet, ist die Spra-
che.
Der Mensch verlangt, nach Biruni, mit seinem ihm angeborenen
Hang zum Wissen danach, das Verborgene zu erkennen und die Um-
stände des Lebens zu ergründen, um durch Vorsichtsmaßnahmen
Unglücksfälle rechtzeitig abzuwenden. Weil Menschen als vernunft-
begabte Wesen geneigt sind, mit ihren Widersachern über Diesseits
und Jenseits argumentativ zu diskutieren, benötigen sie einen Maß-
stab, um sich angemessen zu orientieren.
Zeit seines Lebens ist Biruni bestrebt, die Weltsicht anderer Kul-
turen mit seinem eigenen Weltbild in Einklang zu bringen. In seinem
›Indienbuch‹ berichtet er über die Abneigung der Inder gegenüber
den muslimischen Türken, da diese immer wieder in indische Gebie-
te eingefallen seien. Biruni vergleicht die griechische Götterwelt mit
dem Hinduismus. Dabei stellt er fest, dass Hinduismus faktisch aus
verschiedenen Religionen besteht, die sich teilweise überlagern und
gegenseitig beeinflussen. Das Gleiche beobachtet er in der alt-grie-
chischen Geisteswelt, in der verschiedene Götter wirksam sind. Er
kommt zu dem Ergebnis, dass diese anscheinend aus verschiedenen
Welten von vielen Gemeinsamkeiten geprägt sind.
Im Gegensatz zu Farabi, der bestrebt ist, die ›Wahrheit‹ durch lo-
gische Regeln zu erkennen, liegt Biruni nicht daran, Wahrheit in ein
logisch geschlossenes System einzubinden. Er unterscheidet zwi-
schen einer weltlichen und einer transzendenten Wahrheit. Im Zusam-
menhang mit seiner Weltschöpfungstheorie insistiert er darauf, dass
der Mensch nicht imstande ist, das Datum der Weltschöpfung zu
bestimmen.54 Obwohl vernunftgeleitete Beweise und konkrete logi-
sche Schlussfolgerungen die Erkenntnis vermitteln, dass die Welt
geschaffen ist, dass die Teile ihre Dauer einmal mit ihrem Beginn
angefangen haben müssen, so verweist Biruni darauf, dass der
Mensch deshalb nicht die Quantität dieser Teile erkennt, so dass er
von daher das Datum der Weltschöpfung nicht erfahren kann.
Diese moderne Weltsicht bleibt für ihn nicht ohne Folgen. Er gilt
als Ketzer, der sich anmaßt, über göttliche Dinge zu befinden. Biruni
54
Vgl. Biruni, Abu Reyhan Muhammad Ibn Ahmad: Kitab Tahdid nihayat
al-amakin li-tashih masafat al-masakin [Über die Wissenschaft der Aus-
messung und Abbildung der Erdoberfläche], 1975.
1.9 Abu Reyhan Biruni 95
ist aufgrund seines experimentierenden Geistes ein Philosoph der Tat,
der den Auftrag der Wissenschaft ernst nimmt und ihn mit dem
menschlichen Leben verbindet.
Ausgewählte Werke:
— Kitab al-tahqiq milal hind min maqbula lil-aql wa mardhula [Über Ge-
schichte und Weisheit Indiens].
— Kitab Tahdid nihayat al-amakin li-tashih masafat al-masakin [Über die
Wissenschaft der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche].
1.10 Abu Hamid Ghazali
und die Erneuerung des Denkens
Abu Hamid Mohammad ibn Mohammad Ghazali (andere Schreib-
weisen: Al-Ghasal, al-Gazali, al-Ġazūlī, al-Ghazālī, Algazel, Al-
Ghasāli, Gazzāli, Al Ghasāli), genannt Ghazali (1058-1111), ist in
Tus bei Maschad in Persien geboren. Er ist Zeitzeuge des Aufrufes
Urbans des II. (1035-1099) zum Ersten Kreuzzug der Eroberung
Jerusalems und Brechung der Macht des Islam.55
55
Über Ghazali vgl. Mahmoud Zakzouk: Ghazali und Descartes, 2005 und
Kock, Ilona: Ontologische Begründung von Ethik durch Einheitserfah-
rung im Denken Plotins und Ghazalis, 2011.
1.10 Abu Hamid Ghazali 97
Ghazali führt ein ereignisreiches Leben. Nach dem Studium der
Gesetzeswissenschaft, ›fiqh‹ in Tus und Gorgan geht er im Alter von
19 Jahren an die Nizamiyya-Universität in Neyschabour und studiert
bei dem Philosophen Abdulmalik Dschuwaini (1028-1085), der unter
dem Ehrennamen ›Imam al-Haramain‹ bekannt ist und einen ratio-
nalistischen Ansatz vertritt. Ghazali befasst sich unter anderem mit
Theologie, Dialektik, Philosophie und Logik. Bereits 1091 erhält
Ghazali eine Professur an der Nizamiyya-Hochschule in Bagdad.
Während der vier Jahre seiner Lehrtätigkeit versammelt sich eine
große Anzahl von Schülern um ihn. Seine Autobiographie ›Al-Mun-
qidh min ad-dalal‹, ›Der Erretter aus dem Irrtum‹, die er etwa sechs
Jahre vor seinem Tod verfasst hat, enthält zwar Daten zu seinem
Leben, ist aber eher als eine Einführung in seine Philosophie zu ver-
stehen.56 Sie enthält eine intellektuelle Verteidigung seiner Beweg-
gründe und seiner Lehre, in der auch Wandlungen seines Denkens zur
Darstellung kommen.
Kurz danach zieht sich Ghazali zurück und beginnt mit intensiver
Meditation. Auf Befehl des Sultans nimmt er seine Lehrtätigkeit wie-
der auf, kehrt jedoch nach kurzer Zeit endgültig in seine Heimatstadt
zurück. Er gerät in eine spirituelle Krise, verzichtet auf einen Lehr-
stuhl an der renommierten Nizamiyya-Universität, und wendet sich
dem Sufismus zu. Neben seinem Haus errichtet er eine Schule für
Gesetzeswissenschaft und ein Kloster für Sufis, die Mystiker des
Islam. Diese Zeitenwende markiert in seinem Leben den Übergang
von der philosophischen Phase in eine ganz der Mystik und ihrer
Bedeutung für das menschliche Leben gewidmeten Dimension.
Ghazali hinterlässt ein ganzes Kompendium von Schriften auf den
Gebieten der Philosophie, Logik, Theologie, Religions- und Geset-
zeswissenschaften, teils in arabischer und teils in persischer Sprache.
Um Ghazalis Bedeutung für die Geistesgeschichte und gegenwär-
tige Philosophie verstehen und beurteilen zu können, ist es wesent-
lich, sowohl den politischen als auch den religiösen Hintergrund
seiner Wirkungszeit zu studieren. In dieser Zeit findet er ein islami-
sches Reich voller soziokultureller Umbrüche und religiöser Rivali-
täten zwischen Sunniten und Schiiten vor. Zwischen den einzelnen
Schulen der Mutaziliten, Hanbaliten und Aschariten herrschen Feind-
seligkeiten, die in großer Härte ausgetragen werden.
56
Vgl. Al-Ghasāli: Al-Munqidh min ad-dalal [Der Erretter aus dem Irrtum],
1988.
98 Gründungs- und erste Blütephase
Die Widerlegungskämpfe unter Glaubensbrüdern beunruhigen
Ghazali zunehmend. Betrachten wir die heutige Zerstrittenheit zwi-
schen den islamischen Kleingruppen, so dürfte deutlich werden, wel-
che Beweggründe Ghazali in seiner Zeit dazu geführt haben, neue
Wege zu suchen. Er reflektiert darüber, was Menschen dazu veran-
lasst, sich so blutig zu bekämpfen. In dem Begriff der ›Wahrheit‹
glaubt er die Lösung gefunden zu haben.
Schon in seiner Autobiographie reflektiert er über die Möglichkeit
der rechten Wahrheitssuche. Da jedes Kind ganz selbstverständlich
die Religion seiner Eltern annimmt und für die ›eigentliche‹ Wahrheit
hält, stellt sich für ihn die Frage, wie man zwischen Wahrem und
Falschem unterscheiden könne.57 Eine Aussage relativiert sich, so-
bald über sie Erkenntnis gewonnen ist, und eine neue, tiefere Dimen-
sion bringe neue Fragen hervor. Dies ist ein Grund, warum Ghazali
sinnliche Wahrnehmungen wie auch ausschließliche Vernunfter-
kenntnisse bei der Wahrheitssuche in Frage stellt.
Ghazali geht es darum nachzuweisen, dass es eine objektive Wahr-
heit im religiösen Leben durch eine über die Sinne gewonnene oder
vernunftverwurzelte Methode nicht geben kann. Mit dieser Reflexion
berührt er die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis. Ghazali ist sich
dessen bewusst, dass ein wichtiges Problem der Menschheit die
Wahrheitsfrage ist, da das Wesen der Menschen mit dieser Frage steht
und fällt. Aufgrund dieser Erkenntnis wird er von vielen ›als Wieder-
hersteller des Glaubens‹, als ›muhyi ad-din‹, bezeichnet.
Die Klärung des Vernunftbegriffes im Denken Ghazalis setzt die
Kenntnis seines Welt-, Menschen-, und Schöpfungsverständnisses
voraus. Hiernach ist der Mensch als ein göttliches Geschöpf wesent-
lich durch seine Vernunft, ›aql‹ charakterisiert. Ghazali hält es prin-
zipiell für möglich, »dass die Geisteswissenschaften durch die Ver-
nunft erfasst werden.«58
Nicht nur empirische Fragestellungen, sondern auch Religionen
stehen für ihn in einem engen Zusammenhang mit der Vernunft: »Es
gibt keine Religion für den, der keine Vernunft hat.«59 Gemäß diesem
Grundsatz solle man zunächst den Verstand des Menschen kennen-
lernen, ehe man nach seiner Religiosität frage, weil Gott nichts
»Ruhmreicheres geschaffen [hat] als die Vernunft.«60 Wenn wir uns
57
Vgl. Al-Ghasāli: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988 S. 8.
58
Al-Ghasāli: Das Kriterium des Handelns, 2006, S. 184.
59
Ebenda, S. 185.
60
Ebenda, S. 186.
1.10 Abu Hamid Ghazali 99
in der Welt befänden und ihre Strukturen begreifen wollten, so müss-
ten wir auch die Existenz eines Urhebers zwingend annehmen, wer
oder was dieser auch sein mag.
Ghazali widmet dem Thema ›Denken‹, das in seinem philosophi-
schen und mystisch-theologischen Werk eine grundlegende Rolle
spielt, eine ganze Abhandlung. Er hebt hervor, dass der Koran in einer
Reihe von Geboten auffordert, Vernunft und Verstand zu gebrauchen:
»Diejenigen, die Gott immer in ihr Denken einschließen, werden in
allen Belangen und allen Bereichen nicht aufhören zu denken, um die
eigene Einsicht zu mehren.«61
Die Bedeutsamkeit der ›aql‹ kommt nach Ghazali daher, »dass sie
der Ort ist, wo sich Wissen und Weisheit befinden, und dass sie deren
Instrument ist.«62 Er unterscheidet zwischen zwei Formen von ›aql‹:
der angeborenen und der erworbenen. Die angeborene aql, »ist die
grundsätzliche Fähigkeit, die geeignet ist, Wissen aufzunehmen. Sie
ist schon im Kind vorhanden, ähnlich wie die Palme im Samenkern.«63
Die erworbene und erlangte ›aql‹ ist diejenige, »die durch die Be-
schäftigung mit den Wissenschaften entsteht.«64 Die Erkenntnisse der
Vernunft werden hier entweder aus der Erfahrung oder aus gegebenen
Vorstellungsinhalten gewonnen.
Die menschliche Vernunft kann sich selbst nicht rechtfertigen, weil
sie selbst nicht argumentativ denken kann. Sie benötigt eine Erleuch-
tung, um zur Erkenntnis zu gelangen, die sie aus sich selbst heraus
nicht zu vollziehen vermag. Hier erweist sich das Denken Ghazalis
als eine korrelative Philosophie.
Um die angeborene Vernunft in ihrer höchsten Entfaltung zu errei-
chen, führt Ghazali elf Jahre lang an sich selbst konsequent eine
Selbstreinigung, ›tazkije‹, durch. Die beiden letzten Jahre dieser Pe-
riode verbringt er als Sufi, als Mystiker. In dieser Phase besteht
Ghazalis Ziel nicht darin, Philosophie zu überwinden oder gänzlich
abzulehnen, sondern seine Mystik philosophisch zu begründen.
Ähnlich hat auch Wilhelm von Ockham (1285-1349) später mit
seinem Ökonomieprinzip auf die Umstände der Wissenschaft des 13.
Jahrhunderts reagiert. Ihm geht es darum, dogmatische Einstellun-
61
Sura 3:192. Vgl auch Ghazali, Abu Hamid Mohammad: Ihya ulum ad-din,
1990, S. 748.
62
Ghazali, Abu Hamid Mohammad: Das Kriterium des Handelns, 2006, S.
187.
63
Ebenda, S. 189.
64
Ebenda, S. 189.
100 Gründungs- und erste Blütephase
gen, die sich verabsolutieren, zu dekonstruieren. Dieses Prinzip ist
als ›Ockham’sches Rasiermesser‹ bekannt, nach dem nicht die kom-
plizierten Denkmodelle, sondern stets einfache Denkmodelle Vorrang
haben. Konkret besagt dieses Prinzip; je mehr unbewiesene Annah-
men es in einer Sache gibt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass die Sache wahr ist.
Weil Ghazali von der tiefen und existenzbedingten Religiosität und
Sinnsuche des Menschen überzeugt ist, sieht er in ihr eine Möglich-
keit, aus Philosophie schließlich Weisheit werden zu lassen. Er will
die Philosophie brauchbar machen. Letztlich geht es ihm um den
gesellschaftlichen Auftrag der Wissenschaft. Bereits mit dem Freund-
schaftsbegriff in seiner Schrift ›Das Elixier der Glückseligkeit‹ de-
monstriert er dieses Anliegen.65 Ghazali ist ein Philosoph der Tat,
deshalb ist Theoretische Philosophie für ihn Denkakrobatik, ohne
gesellschaftliche Relevanz. Diese Haltung wird bereits zu seinen
Lebzeiten mehrfach missverstanden und kritisiert.
Denkwege im Werke Ghazalis
Ghazalis Denken ist in allen Phasen seines Schaffens, im Philosophi-
schen sowie im Mystischen, von einer akkuraten Form der Wahrneh-
mung geprägt. Auf beiden Ebenen gehen Empathie und Sympathie
Hand in Hand. Das hängt mit seiner Vorstellung einer kosmischen
Einheit zusammen, die trotz der bestehenden Vielfalt existiert.
Jene Empathie und Sympathie bringt Ghazali deutlich zum Aus-
druck. Er schreibt, er verlasse nie einen Batiniten ohne den Wunsch,
seine Batinijja-Lehre kennen zu lernen, keinen Sahiriten, ohne den
Willen, dessen Sahirijja-Lehre zu erkennen, keinen Philosophen,
ohne die Absicht, die Quintessenz seiner Philosophie zu erfassen, er
verlasse keinen Mutakallim, ohne sich zu bemühen, Sinn und Zweck
von dessen ›Kalam‹, ›Dialektik‹, zu begreifen, keinen Mystiker, ohne
das Geheimnis von dessen Mystik ergründen zu wollen, keinen From-
men, ohne in den Sinn seiner Frömmigkeit eindringen zu wollen, und
keinen Ungläubigen und Freidenker, ohne die Gründe aufspüren zu
wollen, die diesen zu seiner Denkart bewegen.66 Ghazali gelingt es,
kontextangemessen mystisch oder philosophisch zu verfahren, ohne
in Dogmatismus zu verfallen.
Ghazali geht von der Möglichkeit einer ›doppelten Wahrheit‹, einer
Vernunft- und Offenbarungswahrheit, aus. Während Vernunftwahr-
65
Vgl. Al Ghasāli: Das Elixier der Glückseligkeit, 1979.
66
Vgl. Al-Ghasāli: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988, S. 3.
1.10 Abu Hamid Ghazali 101
heiten, wie 2 x 2 = 4, stets mit verifizierbarer Logik zu tun haben,
sind Offenbarungswahrheiten an Erfahrungswerte des Göttlichen ge-
koppelt. Ghazali diskutiert Glaubensinhalte durch Vernunft- und Her-
zenserkenntnis als zwei Erkenntniswege. Einem ausschließlich rati-
onalen Zugang zu Glaubensinhalten und Seinsformen steht er
skeptisch gegenüber, auch hält er eine rationale Metaphysik für pro-
blematisch. Philosophie und Theologie sieht er als zwei verschiedene
Sphären des Denkens an, die miteinander korrelieren, ohne restlos
ineinander aufzugehen. Dadurch gelingt es ihm, eine kritische Har-
monie zwischen Theologie und Philosophie herbeizuführen.
Vernünftiges Denken ist für Ghazali von drei Denkarten gekenn-
zeichnet, die er als ›Waagen‹ bezeichnet. Alle Waagen sind wiederum
in größere, mittlere und kleine Waagen eingeteilt. Er spricht von
verschiedenen Erscheinungsformen:
1. Die Waage des Gleichgewichts, mit der Symmetrie herbeige-
führt wird. Sie sucht Ausgewogenheit auf unterschiedlichen
Ebenen zu erreichen.
2. Die Waage der notwendigen Vernetzung, die Divergenzen als
Ergebnis unterschiedlicher Betrachtungsformen zweier Ge-
genstände artikuliert. Sie sucht einheitsverleihende Merkma-
le und verfährt integrativ.
3. Die Waage der Opposition, die Divergenzen als Ergebnis un-
terschiedlicher Betrachtungsformen eines bestimmten, einzel-
nen Gegenstandes ansieht. Sie hat ausschließenden Charakter
und verfährt nach der dualen Logik des Entweder-Oder.
Methodischer Zweifel
In Ghazalis Autobiographie ›Al-Munqid min ad-dalal‹ führt Ghazali
in die Wege seiner Philosophie und Erkenntnisgewinnung ein. Im
Rahmen seiner Vernunftanalyse diskutiert er die Frage, ob und inwie-
weit wir überhaupt zu zweifelsfreier Gewissheit gelangen können.
Hierbei entwirft er ein methodisches und auf den Möglichkeiten der
Erkenntnis beruhendes Konzept des Zweifels.67
Ghazali prüft die Qualität einzelner Erkenntnisarten. Bestimmte
Denkarten hält er für völlig ungeeignet, während andere eine relative
Erkenntnis vermitteln. Für ungeeignet hält er solche, die rein durch
Autoritäten in Form von erworbener Vernunft vermittelt und nicht
selbst gewonnen wurden. Anderen Denkarten, die durch eigene Re-
flexion entstehen, gesteht Ghazali eine gewisse Stichhaltigkeit zu,
67
Ebenda, S. 7-11.
102 Gründungs- und erste Blütephase
aber auch diese hält er für subjektiv. Hierzu zählt er Sinneswahrneh-
mungen und Denknotwendigkeiten.
Der sinnlichen Erkenntnis räumt Ghazali keine Überzeugungskraft
ein, weil selbst das Auge, das er für das zuverlässigste menschliche
Organ hält, sich täuschen lasse. So nähmen wir z.B. Planeten nur als
Punkte am Himmel wahr, obwohl mathematisch bewiesen werden
könne, dass sie ein Vielfaches des Erdumfanges aufweisen.
Denknotwendigkeiten bzw. primäre Erkenntnisse, wie Zahlenver-
hältnisse (10 ist größer als 3) oder sich ausschließende Eigenschaften,
haben für Ghazali am meisten Überzeugungskraft. Aber auch hier
befürchtet er aufgrund von Täuschungen, denen sinnliche Eindrücke
unterliegen, eine spätere Widerlegung gewonnener Erkenntnisse:
»Was macht dich so sicher«, fragt Ghazali, »daß dein Vertrauen in
die Gegebenheiten der Vernunft nicht von derselben Art und Weise
ist wie das in die sinnlichen Gegebenheiten«, wobei man sich zwar
zuerst vertraue, sich dann aber »durch den Richter der Vernunft zum
Lügner«68 erklären müsse. Diese rhetorische Frage erläutert beispiel-
haft die Relativität menschlicher Eindrücke überhaupt, welche uns
bspw. im Traum eine Realität vortäuschen, die bereits beim Erwachen
verschwindet. »Vielleicht versteckt sich ja hinter der Vernunfter-
kenntnis ein anderer Richter, welcher, sobald er in Erscheinung tritt,
das Urteil der Vernunft der Lüge bezichtigt.«69 Unter Bezugnahme
auf die Erfahrungen der Sufis und die Worte des Propheten geht
Ghazali so weit anzunehmen, das gesamte Leben und Denken sei ein
Traum, aus dem der Mensch erst ›mit dem Tod‹ erwache.
Im Sinne Ghazalis stellt sich nun die Frage, ob Vernunft erfah-
rungsunabhängig, also aus sich heraus, überhaupt in der Lage sein
kann, allgemeine Gesetze der Natur zu erkennen. Der Gebrauch der
Vernunft ist nämlich immer kontextabhängig. Erkenntnisse entstehen
durch eine Reihe von Komponenten, zu denen Hermeneutik und
vergleichende Deutung der Sachverhalte gehören.
In dieser aporetischen Lage und von der faktischen Unmöglichkeit
überzeugt, überhaupt Erkenntnis gewinnen zu können, erkrankt
Ghazali. Während dieser Zeit wird ihm bewusst, dass die Gewissheit
der Erkenntnis ›göttlichen Lichtes‹ bedarf. Die Überwindung der
Verzweifelung führt zu seiner Genesung und markiert den Beginn
einer neuen Ära in Ghazalis denkerischem Leben. Hierbei handelt es
sich allerdings nicht um die göttliche Eingabe von Erkenntnissen,
68
Ebenda, S. 8.
69
Ebenda, S. 8.
1.10 Abu Hamid Ghazali 103
sondern um die Verleihung einer menschlichen Fähigkeit, »in uns
eine große Anstrengung zur Erforschung (der primären Erkenntnisse)
zu bewirken, um nach dem zu streben, was (an sich) unerforschbar
ist.«70 Bei dieser Art der Erkenntnisgewinnung seien primäre Er-
kenntnisse bereits vorhanden. Das Augenmerk müsse aber auf das
gelenkt werden, was unerforschbar sei, jedoch nicht, um dieses doch
noch zu ergründen, sondern um Erkenntnisse zu erlangen über das-
jenige, was unerforschbar sei und was nicht zu absoluter Gewissheit
führen könne.
Ghazali begründet keinen erkenntnistheoretischen Wahrheitsbe-
griff. Er sieht die Erfüllung in der Sinnsuche. Der Weg soll zur Ziel-
suche werden und uns stets vergegenwärtigen, dass wir Suchende
sind. Deshalb ist es ihm ein Anliegen, Philosophie schließlich Weis-
heit werden zu lassen. Weil sich der ›aql‹ keine göttlichen Wahrheiten
verschließen,71 ist nach Ghazali eine weitere Dimension der Vernunft
erforderlich, nämlich das Herz, ›qalb‹, um solche Erkenntnisse zu
gewinnen. Das ›qalb‹ ist der wesentliche Sitz der innersten ›aql‹ im
Menschen.72 Während im philosophischen Werk Ghazalis die Ver-
nunfterkenntnis dominiert, ist in seinem theologischen Werk die Her-
zenserkenntnis richtungsweisend. Hier zeigt sich die philosophische
Offenheit Ghazalis.
Wenn wir diese zwei Instanzen gegeneinander ausspielen oder
aufeinander reduzieren, werden wir Ghazalis Werk und seiner Philo-
sophie nicht gerecht. Ghazali weist ausdrücklich darauf hin, dass die
›aql‹ geschaffen ist »um für das Herz eine Fackel und Leuchte zu sein,
bei deren Licht es die Gottheit schaut. […] So ist die Vernunft die
Dienerin des Herzens; und das Herz ist geschaffen zum Schauen der
göttlichen Schönheit.«73
Ghazali verfolgt nicht das Ziel, die Logik der ›aql‹ mit der Logik
des ›qalb‹ zu versöhnen, sondern gleichsam zu zeigen, dass sie sich
gegenseitig ergänzen. Dies ist ein Grund, warum er das oberste Er-
kenntnisziel der ›aql‹ darin sieht, die göttliche Wahrheit durch die
Herzenserkenntnis zu erforschen. Dabei kommt der ›aql‹ eine zwei-
fache Funktion zu. Zum einen fungiert sie als das Instrument analy-
70
Ebenda, S. 10.
71
Vgl. Al-Ghasāli: Die Nische der Lichter, 1987, S. 11.
72
Vgl. Al-Ghasāli: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988, S. 55.
73
Al-Ghasāli: Das Elixier der Glückseligkeit, 1979, S. 43. Die Idee der
›Raison du cœur‹ bei Blaise Pascal (1623-1662) ähnelt dem Ansatz
Ghazalis.
104 Gründungs- und erste Blütephase
tischen Denkens, zum anderen als ein für Offenbarung empfängliches
Vermögen.
Auch in seinem Werk ›Maqasid al-falasifa‹, ›Die Ziele der Philo-
sophen‹, bringt Ghazali seine Wertschätzung der Vernunft unmiss-
verständlich zum Ausdruck. Dieses Werk ist ein Kompendium über
Logik, Physik und Metaphysik, mit dem Ghazali in das System der
Philosophie einführt, ohne kritisch Position zu beziehen. Seine Argu-
mentationsweise ist hier ausschließlich philosophisch. In seiner Au-
tobiographie unterstreicht er sein Interesse an der Philosophie, indem
er hervorhebt, sich aus philosophischen Erwägungen heraus mit der
Philosophie zu beschäftigen.74 Es gibt keine Theorien, gegen die es
keine Einwände gibt. Dies betrifft alle geisteswissenschaftlichen Dis-
ziplinen, vornehmlich aber die Philosophie. Alle Argumente haben
ihre Berechtigung und ihre Grenzen, weil der Mensch ein Lebewesen
mit einem unergründlichen Bewusstsein ist.
Disput um Ziele von Philosophie und Theologie
Ghazali akzeptiert nur eine metaphysikfreie Philosophie, um eine
klare Abgrenzung zwischen ihr und der Theologie zu treffen. Deshalb
lobt er Mathematik und Logik, die er als Grundlagen aller Wissen-
schaft betrachtet. Auch die Ethik sollte ein Segment der Philosophie
bleiben. Die Klassifizierung der Metaphysik lehnt Ghazali als einen
Bereich der Philosophie konsequent ab. In dieser Annahme sieht er
die Hauptirrtümer der Philosophen überhaupt, weil sie unsichere Prä-
missen und ungenügende Argumente verwenden.
Hierin unterscheidet sich Ghazali von seinen Vorgängern Farabi
und Ibn Sina. Während Farabi religiöse Fragen mehr oder weniger
aus der Philosophie ausklammert, behält Ibn Sina ihre Autonomie bei,
ohne Theologie und ihre Themenfelder wie Metaphysik restlos auf-
zugeben.
Ghazalis Unbehagen ist auf die Haltung der Philosophen zurück-
zuführen, welche die Wahrheitsfindung als Endziel der Philosophie
deklarieren. Er selbst will zeigen, dass Philosophie keine Sphäre des
Innewerdens der letzten Wahrheit ist. Diese gehöre einer ganz ande-
ren Sphäre an. Hier entzündet sich ein nachhaltiger Streit in der
akademischen Welt, der bis nach Europa getragen werden wird.
Ghazalis Auseinandersetzung mit den Zielen der Philosophie
nimmt ihren Anfang in seinem Werk ›Tahafut al-falasifa‹, das korrekt
mit ›Das Ungenügen der Philosophen‹ oder auch ›Der innere Wider-
74
Vgl. Al-Ghasāli: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988, S. 15.
1.10 Abu Hamid Ghazali 105
spruch der Philosophen‹ zu übersetzen ist. Eine irreführende Über-
tragung des Titels ins Lateinische als ›destructio philosophorum‹, d.h.
›Zerstörung der Philosophen‹, hat maßgeblich dazu beigetragen,
Ghazali in Europa als einen Anti-Philosophen zu stigmatisieren.
Dieses in der europäisch-westlichen Hemisphäre historisch ge-
wachsene Vorurteil, Ghazalis Philosophie verkörpere eine Weltflucht
mit einem ausschließlich religiös motivierten Zweifel, lässt sich kei-
nesfalls halten.75 Ghazali wird als vernunftabgewandt- und philoso-
phieverneinend dargestellt. In seinem Werk führt Ghazali lediglich
den Nachweis, dass Philosophen ihren Anspruch, der letzten Wahrheit
innezuwerden, nicht einlösen können. Er setzt sich mit einer Reihe
von Philosophen auseinander, die gerade diesen Anspruch erheben.
Die Auseinandersetzung ist jedoch keine Zurückweisung der Philo-
sophie als Lehrsystem. Ghazalis Verdienst besteht gerade darin, eine
klare Trennung zwischen Theologie und Philosophie, Glauben und
Wissen herbeigeführt zu haben.
Mit der Unterscheidung zwischen angeborener und erworbener
Vernunft, benennt Ghazali zwei Vernunftformen, die in der Geschich-
te der Weltphilosophie wesentliche, wenn auch unterschiedliche,
Rollen spielen. So spricht Kant 600 Jahre später von ›reiner Ver-
nunft‹, was als Weiterführung von Ghazalis angeborener Vernunft
betrachtet werden kann, während Max Horkheimer (1895-1973) im
20. Jahrhundert den Begriff der ›instrumentellen Vernunft‹ einführt,
was an die Stelle der erworbenen Vernunft treten kann. Vernunft gilt
für Horkheimer als eine geistige Macht, welche die Beziehung der
Menschen zueinander regeln sollte, und nicht als das bloße Verhältnis
von Mitteln und Zwecken.76 Er verfolgt das Ziel, den Untergang einer
als ›objektiv‹ verstandenen, wert- und zielsetzenden menschlichen
Vernunft darzustellen.
Die klerikale Führung in Europa glaubte, in Ghazali den Apologe-
ten gegen die Philosophie gefunden zu haben. Die Vermutung liegt
nahe, dass der Übersetzungsfehler des Titels von Ghazalis Werk ›Ta-
hafut al-falasifa‹, ›Das Ungenügen der Philosophen‹ von den latei-
nisch-mittelalterlichen Übersetzer in tendenziöser Absicht als ›de-
75
Mohammed Abed Al-Jabri behauptet, in den islamischen Kulturregionen
gäbe es keine originäre Philosophie. Vgl. Al-Jabri, Mohammed Abed:
Kritik der arabischen Vernunft, 2009. Mit dieser Behaupung betreibt Al-
Jabri exemplarisch internen Eurozentrismus.
76
Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1985, S.
20 f.
106 Gründungs- und erste Blütephase
structio philosophorum‹ d.h. ›Zerstörung der Philosophen‹ verfälscht
wurde.
Ghazali als philosophieverneinend darzustellen wäre genauso un-
angemessen, wie Kants Hauptwerk ›Kritik der reinen Vernunft‹ als
›Zerstörung der Vernunft‹ zu übersetzen und ihn zu einem Protago-
nisten der Anti-Philosophie zu stigmatisieren. Der ägyptische Philo-
soph Karam Khella hält die Übersetzung des Titels als ›Zerstörung
der Zerstörung‹ für eine sinnentstellende Verdrehung. Er insistiert,
dass ›tahafut‹ ›Ungenügen‹, ›innerer Widerspruch‹ bedeutet, was ein
guter Übersetzer hätte beachten müssen.
Festzuhalten ist, dass die Beurteilung von Ghazalis Philosophie
teils durch Nachlässigkeit, teils durch Unkenntnis verfälscht worden
ist, ohne dies im Kontext seines Werkes zu belegen. Man behauptet
pauschal, Ghazali leugne Vernunft und Philosophie; er habe mit sei-
nen Schriften sogar das Ziel verfolgt, im Orient den Untergang der
Philosophie und zugleich eine Wiederbelebung der Theologie voran-
zutreiben.
Ausgewählte Werke:
— Mizan al-amal [Das Kriterium des Handelns].
— Al-Munqid min ad-dalal [Der Erretter aus dem Irrtum].
1.11 Ibn Ruschd
und die Universalität der Vernunft
Abu l-Walid Muhammad Ibn Ahmad Ibn Muhammad Ruschd (ande-
re Schreibweisen: Ibn-Rushd, Ibn Ruschd, Ibn Rushd, bin Rusd,
Averroes, Averroës), genannt Ibn Ruschd (1126-1198), ist in Cordo-
ba geboren und spanisch-arabischer Abstammung. Er studiert Recht,
Philosophie und Medizin. Zu seiner Zeit gelangt Europa zu einer
hohen höfischen Kultur, die sich im Minnesang eines Walther von
der Vogelweide (1170-1230) ausdrückt. Geichzeitig herrschen hege-
108 Gründungs- und erste Blütephase
moniale Auseinandersetzungen zwischen den Welfen und den Stau-
fern.77
Ibn Ruschd gehört zu den führenden Philosophen der islamischen
Welt des 12. Jahrhunderts. Er beeinflusst und prägt das christliche
Mittelalter wie seine Vorgänger Farabi, Ibn Sina und Ghazali nach-
haltig, wobei auch er sich ausschließlich dem Islam verpflichtet fühlt.
Er arbeitet als Richter und für die Belange der Herrscher der almo-
hadischen Dynastie in Marokko. Er erhält den Auftrag, sich mit aris-
totelischen Werken zu befassen, mit denen er sich zeit seines Lebens
systematisch beschäftigen und die er ausführlich kommentieren wird.
Später arbeitet Ibn Ruschd als Leibarzt des Hofes, was ihn dazu
veranlasst, eine medizinische Enzyklopädie zu verfassen. Beim Sohn
des Kalifen fällt er in Ungnade, woraufhin er verbannt wird. Seine
Werke werden verboten und verbrannt.
Das Anliegen Ibn Ruschds ist, die islamische Philosophietradition
zu fördern. Dementsprechend beginnen auch seine Schriften, wie bei
seinen Vorgängern, mit einer Eulogie, d.h. mit Segenswünschen zu
Ehren Allahs, wie sie sich in allen islamischen Texten finden. In
seiner Doppelfunktion als Arzt und Philosoph erwirbt Ibn Ruschd
Kenntnisse über die menschliche Psyche. Dies prädestiniert ihn für
die Philosophie. Für ihn ist die Logik und Grammatik des Denkens
und der Wahrheitsfindung unerlässlich. In der Logik als einem Gesetz
des Denkens und der Wahrheit sieht Ibn Ruschd einen Weg zur Glück-
seligkeit.
Das Fundament der Philosophie Ibn Ruschds bildet die Vernunft
in dialektischen Schritten. Für ihn ist das Sein, wie für seine Vorgän-
ger Farabi, Ibn Sina und Ghazali, ohne Anfang und Ende. Das Uni-
versum und damit auch Materie sind ebenfalls unendlich. Eine zent-
rale Achse seiner Philosophie ist die Frage nach Einheit und Vielfalt.
Seine Lehre der Einheit des Intellekts fußt auf der Universalität der
Vernunft.
Ibn Ruschd baut die Erkenntnisse seiner Philosophie auf dem
Denksystem des Aristoteles auf. Sein Bemühen geht dahin, die aris-
totelische Denkart für die islamische Philosophie fruchtbar zu ma-
chen.
Als ein Kommentator des Aristoteles par excellence verfasst Ibn
Ruschd 38 Kommentare, zumeist jedoch in hebräischen und lateini-
77
Über Ibn Ruschd vgl. Zanner, Markus: Konstruktionsmerkmale der Aver-
roes-Rezeption, 2002 und Jameleddine Ben-Abdeljelil: Ibn Ruschds Phi-
losophie interkulturell gelesen, 2005.
1.11 Ibn Ruschd 109
schen Übersetzungen, die im Original nicht erhalten sind. Auf dem
Wege zum reinen und wahren Aristotelismus vollziehen sich zwei
Schritte im Denken Ibn Ruschds: Im ersten Schritt kommentiert er
das Werk von Aristoteles, um darauf seine eigene Philosophie auf-
bauen zu können. Zweitens begründet er, dass Ibn Sina und Ghazali
nicht Aristoteles gefolgt sind und damit ihre Philosophie ›falsch‹ und
ein Ausdruck der ›Finsternis‹ sei.
Ibn Ruschd unterstellt, Ghazali habe in seiner Schrift ›Tahafut al-
falasifa‹ 1095, ›Das Ungenügen der Philosophen‹,78 die Grenzen zwi-
schen Philosophie und Theologie verwässert, theologische Fragen
philosophisch und philosophische Aussagen theologisch begründet.
Dieser Streitfrage widmet er neben der Schrift ›Tahafut at-Tahafut‹,
›Ungenügen des Ungenügens‹79, eine weitere Arbeit mit dem Titel
›Die entscheidende Abhandlung …‹.80
In der Philosophie werden Ghazali und Ibn Ruschd immer als
Kontrahenten dargestellt; eine genaue Betrachtung der genannten
Schriften erweist jedoch, dass die Auffassungen beider Philosophen
erstaunlich nahe beieinander liegen und sich nur in Wenigem unter-
scheiden. Am Beispiel dreier ›Kritiken‹ Ibn Ruschds soll dies im
Folgenden dargestellt werden.
Einführend diskutiert Ibn Ruschd die Frage, ob und inwieweit zu
gebieten oder zu verbieten ist, Philosophie zu betreiben. Im Koran
erkennt er eine eindeutige Aufforderung zum rechtgeleiteten Denken,
Reden und Handeln. Dort ist für ihn festgelegt, dass das göttliche
»Gesetz zur Erwägung der existierenden Dinge durch die Vernunft
aufruft.«81 Dabei beruft er sich auf einen Koranvers, der die Menschen
generell zum Denken auffordert: »Denkt darüber nach, ihr, die ihr
Einsicht habt.«82
In dieser Aufforderung sieht Ibn Ruschd die Verpflichtung zur
Erkenntnissuche sowohl in der Vernunft als auch im Glauben. Das
78
Vgl. Ghazali, Abu Hamid Mohammad ibn Mohammad: Tahafut al fala-
sifa [Das Ungenügen der Philosophen], 1987.
79
Diese Schrift wurde von Max Horten (1874-1945) unter dem Titel ›Die
Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gaza-
li‹ ins Deutsche übersetzt und erläutert. Vgl. Averroes: Die Hauptlehren
des Averroes, 1913.
80
Averroes: Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das
Verhältnis von Gesetz und Philosophie, 2009.
81
Ebenda, S. 3-5.
82
Sura 59:3 und insbesondere Sura 59:22.
110 Gründungs- und erste Blütephase
kritische Nachdenken ist für ihn ein Bestandteil des Islam mit klarer
Verankerung im Koran.
Hierauf baut er seine erste Kritik an Ghazali auf: Die Interpretati-
on des Koran soll nicht allein Gelehrten überlassen werden, als ob
diese die Schrift besser auszulegen wüssten. Diese Möglichkeit sei
jedem einzuräumen, ohne dass er den Vorwurf der Gotteslästerung
(Blasphemie) befürchten müsse. Ghazalis Schriften ›Ihya ulum ad-
din‹, ›Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften‹, und ›Mizan
al-amal‹, ›Das Kriterium des Handelns‹, sowie seine Autobiographie
›Al-Munqid min ad dalal‹, ›Der Erretter aus dem Irrtum‹, zeigen je-
doch, dass er nicht per Dekret eine offizielle Lesart des Koran aufok-
troyieren will. Er beschreibt Möglichkeiten und Wege der Erkennt-
nisgewinnung in Philosophie und Theologie, welche er methodisch
voneinander zu unterscheiden weiß.
Ghazali und Ibn Ruschd stimmen also in dieser Frage weitgehend
überein, auch wenn sie unterschiedlich argumentieren. Beide stim-
men darin überein, dass die Interpretation sowohl ein Gespür für das
Religiöse als auch Intelligenz voraussetzt. Weil Menschen unter-
schiedlich intelligent sind, kommen sie automatisch zu unterschied-
lichen Schlussfolgerungen; dies hat Ghazali deutlich vor Augen.
Die zweite Kritik Ibn Ruschds betrifft den Umfang des göttlichen
und des menschlichen Wissens: Ghazali sei der Auffassung, dass Gott
die Erkennung einzelner Dinge beherrsche, aber von einem höheren
Standpunkt aus als der Mensch. Der Mensch stückle sich sein Wissen
zusammen, während Gott von jeher alles wisse. Auch Philosophen
seien bemüht, die Welt in Teilen zu verstehen. Ein Vergleich zwischen
Ghazali und Ibn Ruschd lässt erkennen, dass er letzten Endes die
gleiche Auffassung vertritt wie Ghazali. Seine Kritik an Ghazali ist
insofern zu relativieren.
Die dritte Kritik Ibn Ruschds bezieht sich auf die Auferstehung
und ihre Begründung. Ghazali weist ausdrücklich darauf hin, dass nur
die Seele in den Himmel aufsteige, nicht aber der Leib, während Ibn
Ruschd lediglich darauf hinweist, dass ›Philosophen nicht im Wider-
spruch zum Koran stehen‹. Letzten Endes bejaht auch er hier die
Eschatologie Ghazalis.
Das zentrale Problem in dieser Debatte, die zu einer Verunglimpfung
der Philosophie Ghazalis im Abendland geführt hat, besteht darin, dass
Ibn Ruschd in allen kritischen Werken zu Ghazalis Philosophie darum
bemüht ist, diese mit griechischen Philosophen, vornehmlich mit Aris-
toteles, zu vergleichen, zu interpretieren und zu kritisieren. Ihm ent-
geht, dass Ghazali eine Konzeption der Philosophie und Theologie
1.11 Ibn Ruschd 111
entwirft, die dem Islam als Religion und Kultur angemessener ist und
insofern platonische, neuplatonische und aristotelische Weltsichten in
ein neues Licht stellt, auch wenn gewisse Überlegungen dieser Rich-
tungen in seinem Denken wirksam bleiben. Ghazali war weder Plato-
niker noch Neuplatoniker, sondern Ghazali, ohne Wenn und Aber.
Vergleichen wir die Werke Ibn Ruschds und Ghazalis, so sind eine
Reihe von Gemeinsamkeiten festzustellen. Das Problem besteht da-
rin, dass Ibn Ruschd das Werk Ghazalis durch eine griechische Bril-
le der Philosophie betrachtet. Ghazali spielt Philosophie und Religi-
on weder gegeneinander aus noch reduziert er sie aufeinander,
sondern ist bemüht, eine differierende Harmonie herbeizuführen. Sei-
ne klare Unterscheidung der Vernunft- und Glaubenswahrheiten be-
legt diese Tatsache. Ein Grund, warum Ghazalis Werke verfemt wa-
ren, ist seine Kritik der in seiner Zeit hoch geehrten griechischen,
insbesondere aristotelischen, Philosophie, welche geradezu Heiligen-
status hatte. Das Gleiche gilt für das unbequeme Werk Sohrewardis,
der ein Zeitgenosse des Ibn Ruschd ist.
Es ist naheliegend, dass Ibn Ruschd das Werk Ghazalis in seiner
Gesamtheit nicht ausreichend kennt, wenn er dessen Kritik an den
etablierten Philosophen seiner Zeit geradezu Häresie unterstellt.
Auch hier entgeht ihm, dass die kritische Argumentationskette
Ghazalis, eine philosophische Kritik der Philosophie darstellt.83
Ghazali und Ibn Ruschd sind zwei Philosophen, die das Gleiche
auf unterschiedlichem Wege suchen. Sie werden noch heute im Orient
geehrt, wie in westlichen Hemisphären Aristoteles und Platon geehrt
werden. Ibn Ruschd ist trotz gewisser Unzulänglichkeiten seiner
Ghazali-Kritik ein unverzichtbares Glied der islamischen Tradition,
die sich für eine kulturübergreifende Verständigung einsetzt und das
philosophische Erbe der Griechen nach Europa bringt. Wer diese
Leistung übersieht, einseitig interpretiert oder in ein falsches Licht
rückt, wird ihr nicht gerecht.
Folgen der europäischen Interpretation von Ibn Ruschd und Ghazali
Ibn Ruschd, der die Erkenntnisse seiner Philosophie auf dem Denk-
system des Aristoteles aufbaut, gilt in Europa seit dem beginnenden
12. Jahrhundert als der ›eigentliche Kommentator‹ des Aristoteles,
und wird als der ›eigentliche Philosoph‹ bezeichnet. Die selektive
Auswahl, Übersetzung und Interpretation von Ibn Ruschds Werk in
83
Vgl. Averroes: Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung
über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, 2009, S. 27 ff.
112 Gründungs- und erste Blütephase
Europa führte ferner dazu, dass er als Briefträger und Epigone der
Griechen gefeiert wird. Dieses Stigma leistet bis heute dem Vorurteil
Vorschub, Ibn Ruschd trenne die religiöse Philosophie des Ostens
von der rationalen Philosophie des Westens.
Hiermit wird er im schroffen Kontrast gesehen zu Ghazali. Freilich
gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Philosophen,
aber dieser liegt nicht, wie in den europäisch-westlichen Forschungen
vermutet wird, in der ausschließlichen Betonung einer reinen Philo-
sophie oder einer reinen Theologie. Divergenzen bestehen vielmehr
darin, dass Ibn Ruschd aristotelisch argumentiert und ein Kommenta-
tor des Aristoteles bleibt, während Ghazali, welchem Anhängerschaft
Platons und des Neuplatonismus unterstellt wird, beide Philosophen
überwindet und seinen eigenen Ansatz formuliert.84
Aus diesem Grund ist Ghazalis Werk ›Tahafut al-falasifa‹ wohl
falsch als ›Zerstörung der Philosophen‹ übersetzt worden. Ibn Ru-
schds Antwort auf Ghazalis Werk mit dem durchaus spöttisch ge-
meinten Titel ›Tahafut at-Tahafut‹, also ›Das Ungenügen des Unge-
nügens‹, wird, wie mehrfach erwähnt, ebenfalls frei übersetzt mit
›destructio destructionis‹, d.h. ›Zerstörung der Zerstörung‹. Auf die-
se Weise ist es den Auftraggebern der Übersetzer gelungen, eine
richtungsweisende Kontroverse zu konstruieren, die im Grunde eine
Scheinkontroverse ist, die dennoch bis in unsere Zeit andauert.
Der ägyptische Philosoph Karam Khella, auf den ich noch weiter
unten zu sprechen komme, kritisiert auch diese Übersetzung als ›Zer-
störung der Zerstörung‹ als eine sinnentstellende Verdrehung. Er in-
sistiert, dass ›tahafut‹ ›Ungenügen‹, ›innerer Widerspruch‹ bedeutet,
was ein guter Übersetzer hätte beachten müssen. Demnach sollte Ibn
Rushds Werk den Titel ›Das Ungenügen des Ungenügens‹ oder ›Kri-
tik der Kritik‹ tragen, womit Ibn Rusch eine unzureichend begründe-
te Behauptung Ghazalis aufzeigen wollte.85 Dennoch ist Ibn Ruschd
wie Ghazalis ein Philosoph der Tat, der seiner Zeit voraus war.
Ausgewählte Werke:
— Scharh kitab al kias [Erklärung der Sophistik].
— Scharh kitab al nafs [Über die Seele].
84
Vgl. hierzu die Forschungsergebnisse des Philosophen Davari Ardekani,
Reza: Ma wa tarikhe falsafeje eslami [Wir und die Geschichte der isla-
mischen Philosophie], 2011.
85
Vgl. Khella, Karam: Arabische und islamische Philosophie und ihr Ein-
fluß auf das europäische Denken, 2006, S. 324 ff.
1.12 Schahabeddin Sohrewardi
und die Idee des vollkommenen Menschen
Schahabeddin Yahya Ibn Habash Sohrewardi (andere Schreibweisen:
Suhrawardi, Suhravardi, as-Suhrawardi, Al-Sohrevardi, al-suhrawardi,
Sohrevardi), genannt Sohrewardi (1154-1191) oder auch ›Der Ermorde-
te‹, ist im Norden Persiens geboren. Sohrewardi gehört zu den Systema-
tikern des 12. Jahrhunderts. Zu seiner Zeit hält die Blüte des höfischen
Rittertums in Europa an, und Chrétien de Troyes (1140-1190) verfasst
seine Erzählungen um den Sagenkreis des keltischen Königs Artus.86
86
Über Sohrewardi vgl. Dinani, Gholamhossein Ebrahimi: Schoae andishe
wa schohud. Falsafeje Sohrewardi [Intuition und das Leuchten des Den-
114 Gründungs- und erste Blütephase
Es ist bekannt, dass er in Mareqe Philosophie und Rechtswissen-
schaften bei Modjel-el Din Djili studiert. Kurz danach siedelt er nach
Esfehan über und vertieft seine Studien bei Zehir-el-din Ghari. In
dieser Zeit lebt er oft in Zurückgezogenheit und macht sich Gedanken
über die Ontologie des Seins und die Rolle des Menschen im Kosmos.
Viele Fakten sprechen dafür, dass er aufgrund seiner zarathustrisch
orientierten Philosophie später starken Anfeindungen ausgesetzt ist
und schließlich ermordet wird.
Die Frage über den Entstehungsort der Philosophie spielt im Den-
ken Sohrewardis eine bedeutende Rolle. Er ist der Auffassung, dass
mehrere Achsen auszumachen sind. Er betrachtet die griechische
Philosophie, neben der später entfalteten Philosophie in der islami-
schen Welt, als einen Entstehungsort. Für ihn sind in der vorislami-
schen Zeit die Hauptrivalen der Griechen die Perser. Das Vermächtnis
der tiefgreifenden philosophischen Kultur Persiens sei zum größten
Teil vernichtet worden. Hierfür verantwortlich seien die persisch-
griechischen Kriege mit den Eroberungszügen Alexanders (356-323)
und vor allem später die Mongolen, die ebenfalls die kulturellen
Erben gezielt suchen, um sie zu vernichten.
Neben den Philosophen islamischer Welt spielen für ihn drei Män-
ner der Weisheit eine grundlegende Rolle: Sartoscht (Zarathustra),
Platon und Hermes. Diese seien integrale Bestandteile der ›philoso-
phia perennis‹, einer immerwährenden Philosophie. Er weist jede
Form von essentialistischem Denken der Kulturen und Philosophien
zurück, indem er von ihrer fruchtbaren Interdependenz ausgeht.87
Die griechische, die islamische und die altpersische Philosophie,
die er genau voneinander zu trennen und dennoch zu verbinden weiß,
fließen in Sohrewardis Denken mit unterschiedlichen Ausprägungen
der Vernunft, Intuition und Transzendenz zusammen. Sein Ziel be-
steht darin, altes persisches Wissen wiederaufleben zu lassen und für
die Philosophie der islamischen Welt fruchtbar zu machen. Zu seinen
Hauptinteressen zählen Philosophie, Theologie und Mystik.
Sohrewardi führt in unterschiedlichen Zusammenhängen an, dass
der Mensch sich seines Seins nicht ausschließlich durch Vernunft
bewusst werden könne, sondern vielmehr auch durch Intuition, die
innere Schau. Er gründet eine Schule der neuen Lehre, der ›Hekmat
kens. Philosophie des Sohrewardi], 1990 und Esfandiar Tabari: Sohrewar-
di interkulturell gelesen, 2007.
87
Vgl. Sohrewardi, Schahabeddin Yahya: Hekmat ol Eshragh [Philosophie
der Erleuchtung], 2004.
1.12 Schahabeddin Sohrewardi 115
ol Eshragh‹, der ›Weisheit der Erleuchtung‹, die letztlich auf Sar-
toscht zurückgeht und teilweise auf der altpersischen philosophischen
Terminologie fußt. Er entwickelt eine Lichtmystik, bringt sie mit der
altpersischen Kosmologie und Lichtmetaphysik in Einklang und ver-
knüpft sie mit den koranischen Aussagen über das Licht.88 Seine
Lehre umfasst eine Kosmologie, welche die ganze Schöpfung als
einen Ausfluss vom ursprünglich höchsten göttlichen Licht der Lich-
ter betrachtet, das eine immaterielle Reinheit besitzt. Das Universum
und alle Ebenen der Existenz bestehen aus unterschiedlichen Lich-
tern, aber auch aus Licht und Dunkelheit. So ist jeder Körper unter-
schiedlich fähig, Licht in sich aufzunehmen. Die Seele kann letztend-
lich nur Glückseligkeit erreichen, wenn sie sich von der materiellen
Welt löst und in das Himmelsreich zurückgelangt.
Im Zentrum der Philosophie des Sohrewardi steht somit nicht die
Existenz, sondern das Licht. Er nimmt eine permanente Spannung in
der Welt an, die mit dem Guten und Bösen zusammenhängt. Gemäß
der altpersischen Licht- und Feuerlehre und vor allem des korani-
schen Lichtverständnisses geht nach Sohrewardi alles Sein aus dem
Licht der Lichter, ›nur al-anwar‹, also dem Göttlichen hervor. Licht
ist für Sohrewardi somit das einzige vollkommene Element, das als
Inbegriff der Wahrheit bzw. als die Wahrheit an sich bezeichnet wer-
den kann. Absolutes Licht heißt dementsprechend absolute Wahrheit,
die ihren Ausdruck in Gott findet.
Sohrewardis Metapher des Lichtes, die im Kontext seiner Angelo-
logie, also seiner Engellehre, eine grundlegende Rolle spielt, ist auch
in der Lehre des Sartoscht zuhause. Das Gute und das Böse, in Form
von guten und schlechten Eigenschaften, hat jeweils seine Engel,
welche als Boten zwischen Gott und den Menschen fungieren. Es
handelt sich hier um eine sechsgliedrige Kategorie von ›amschaspan-
tan‹, von Engeln,89 die den Wesen Leben verleihen, aber keine Götter
sind: 1. ›bahman‹, die Weisheit des Seins und guter Gedanken; 2.
›ordibehescht‹, die Schönheit des Seins und der Wahrhaftigkeit; 3.
›schahriwar‹, das harmonische Sein und die Selbstbeherrschung; 4.
›mehr‹, Anziehungskraft und beglückende Frömmigkeit; 5. ›khor-
dad‹, Lebensfreude, Entfaltung und Stolz; und zuletzt 6. ›amordad‹,
Ewigkeit, Unendlichkeit. Die Angelologie Sohrewardis im Kontext
88
Vgl. Ebenda. Im Koran steht das Licht unter anderem für Wissen und
Leben. Licht und Sein im Denken Sohrewardis sind gleichbedeutend.
89
Vgl. Gatha, 28/1.
116 Gründungs- und erste Blütephase
seiner Epistemologie gibt dem Menschen Werkzeuge an die Hand,
um durch Gotteserkenntnis zur Selbsterkenntnis zu gelangen.
Sohrewardi vergleicht Reinheit und Askese sowie die Vollkom-
menheit der menschlichen Seele mit dem Feuer, weil dieses allem
Licht verleiht; wie ein Eisen, das im Feuer hell glüht. Die existenti-
elle Hierarchie unter den Seienden hängt deshalb für Sohrewardi mit
ihrer ›Leuchtkraft‹ zusammen. Je mehr Licht das Seiende verstrahle,
desto vollkommener sei es. Dies gehe wiederum damit einher, wie
der Mensch mit den gegensätzlichen Kräften in seiner inneren Welt
fertig werde.
In einer Reihe von Schriften bringt Sohrewardi das Urbedürfnis
des Menschen zum Ausdruck, das letzte Geheimnis der Schöpfung
zu verstehen. Sein Gleichnis ›aql-e sorkh‹, ›Morgenröte der Ver-
nunft‹, ist eine Meistererzählung, in der er durch eine mystisch ver-
schlüsselte Sprache die Tiefe seiner Spiritualität offenbart.90 Soh-
rewardi begegnet in diesem Gleichnis einem alten Herren, der nicht
nur rote Kleidung trägt, sondern dessen Bart und Haare auch rot sind.
Der alte Mann symbolisiert das erste Kind der Schöpfung, die Ver-
nunft, die mit dem reinen Licht gleichgesetzt wird. Wird sie mit der
Finsternis konfrontiert, so erscheint sie rot. So ist Vernunft nach
Sohrewardi das erste Geschenk der Schöpfung, mit einem leuchten-
den Wesen, das sich rot färbt, wenn es mit düsteren Gedanken kon-
frontiert wird.
Ziel dieser Vernunft ist ›die Quelle des Lebens‹ zu finden. Wer
mutig ist und den Sinn der ›Wahrheit‹ entdeckt, betritt das Reich der
Gelassenheit und des Glücks.91
Mit diesem mystisch anmutenden Vernunftverständnis expliziert
Sohrewardi die operative Funktion der Vernunft im Leben des Men-
schen. Vernunft und Verstand bedeuten Licht. Dies spiegelt sich vor-
trefflich in Redensarten wider wie ›Das leuchtet mir ein‹ oder ›Es ist
mir klar geworden‹. Sohrewardi glaubt an die Idee einer ›ewigen
Vernunft‹ und stellt sich den Kosmos als auf die Vernunft gegründet
vor. Der Mensch ist dementsprechend ein Abbild des Kosmos, ein
Exemplar, in dem sich die erhabensten und zugleich die tiefsten Ab-
gründe des Kosmos widerspiegeln, ein Wesen, in dem Gut und Böse
dicht nebeneinander existieren. Der Mensch kann alle diese Elemen-
te, die in ihm vereint sind, auch außerhalb seiner eigenen Welt, ge-
90
Vgl. Sohrewardi, Schahabeddin Yahya: Aqle sorkh [Morgenröte der Ver-
nunft], 2006.
91
Vgl. ebenda, S. 3 ff., und 17.
1.12 Schahabeddin Sohrewardi 117
wissermaßen mit Wiedererkennungscharakter, beobachten und ent-
decken.
Mit dieser Erkenntnis wird Sohrewardi zum Vorläufer transperso-
nalen Bewusstseins, wobei Bewusstsein hier als ein primäres Sein-
sprinzip verstanden wird. Er sieht einen unmittelbaren Zusammen-
hang zwischen Kosmos und menschlicher Psyche. Dies ist ein
zureichender Grund, warum der Mensch bestrebt ist, den Kreis seiner
Einheit mit dem Kosmos zu schließen. In dieser Einheit bilden Erfül-
lung und Glückseligkeit zwei Säulen der Vervollkommnung.
Die Idee der Wiedererkennung taucht später bei Kant als apriori-
sches Element unseres Denkens auf. Wenn derartige Elemente im
Menschen nicht inhärent wären, so dürfte er kaum in der Lage sein,
sie als solche in der Außenwelt zu erkennen. In jener Annahme liegt
für Sohrewardi die Idee des vollkommenen Menschen begründet. Der
Mensch müsse das Beste aus dem Bestand machen, der in seine Na-
tur hineingelegt worden ist.
Wie auch der später wirkende Wilhelm von Ockham kritisiert Soh-
rewardi den in jener Zeit als unfehlbar eingeschätzten Aristoteles, der
als ein Leitbild galt, welches nicht kritisiert werden durfte. Er kriti-
siert die zehn Kategorien von Aristoteles (Substanz, Quantität, Qua-
lität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Zustand, Wirken und Leiden), die er
auf eine fünfgliedrige Kategorienlehre reduziert: Substanz, Qualität,
Quantität, Relation und Bewegung. Für Sohrewardi ist »Aristoteles
zwar ein großartiger Philosoph gewesen. Seine Verdienste dürfen
jedoch nicht überbewertet werden, denn das würde die Bedeutung
dessen Vorfahren herabwürdigen.«92 Hier weist er auf Buzardjomehr,
Agathodemon, Hermes und Asklepios hin.
Sohrewardis Bestreben, seine Philosophie aus der Tradition des
Sartoscht heraus zu entwickeln und diese mit islamischen Elementen
in Beziehung zu setzen, zieht Missverständnisse und Anfeindungen
nach sich. Seine Widersacher verbreiten das Gerücht, Sohrewardi
gehöre zu den ›Schoubije‹. Es ist die Bezeichnung einer nationalen
Bewegung persischer Intellektueller, welche die Unterjochung Per-
siens durch die Araber bekämpfen. Ihr erklärtes Ziel ist, durch die
Einführung und Wiederbelebung einer rein persischen Sprache und
der Philosophie Sartoschts die islamische Philosophie in Persien zu-
rückzudrängen und eine persische philosophische Selbstständigkeit
92
Sohrewardi, Schahabeddin Yahya: Hekmat ol Eshragh [Philosophie der
Erleuchtung], 2004, S. 19. Vgl. auch die deutsche Übersetzung unter Al-
Suhrawardi: Philosophie der Erleuchtung [Hikmat al-ishraq], 2011.
118 Gründungs- und erste Blütephase
herbeizuführen. Der ägyptische Philosoph Muhammad Ali Abu
Ru’yan kritisiert Sohrewardi und meint, er bediene sich hauptsächlich
einer altpersischen Terminologie und sei daher den ›Schoubije‹ zu-
zurechnen.93
Seit Jahren wird darüber geforscht, ob diese Unterstellungen mit
der Ermordung Sohrewardis zu tun haben könnten. Der iranische
Gegenwartsphilosoph Gholamhossein Ebrahimi Dinani führt in einer
detaillierten Studie in die Philosophie Sohrewardis ein und untersucht
die Problematik der ›Schoubije‹. Er weist nach, dass Sohrewardi die
altpersische Philosophie und Terminologie, wie viele andere irani-
sche Gelehrte auch, verwendet, aber zugleich bemüht ist, die Philo-
sophie der Erleuchtung mit dem islamischen Begriff der ›Vernunft‹
und ›Intuition‹ zu verbinden.
Sohrewardi eine Zugehörigkeit zur ›Schoubije‹ vorzuwerfen, ist
historisch inadäquat.94 Als ein Philosoph der Tat steht er jenseits aller
Spekulationen und verfasst seine Abhandlungen, wie alle anderen
persischen Philosophen, teils in arabisch und teils in persisch, um
beiden Sprachgemeinschaften gerecht zu werden. Er ist ein Philosoph
islamischer Prägung, der auf einem transpersonalen Bewusstsein die
Einheit des Kosmos sucht.
Ausgewählte Werke:
— Resaleje Oqoul [Über die Formen der Vernunft].
— Kitab hikmat al-ishraq [Philosophie der Erleuchtung].
93
Vgl. Abu Ru’yan, Muhammad Ali: Tarikh al fekr al falsafi al islam [Ge-
schichte des philosophischen Denkens im Islam], 1980, S. 433.
94
Über die ›Schoubije‹ vgl. Dinani, Gholamhossein Ebrahimi: Schoae an-
dishe wa schohud [Intuition und das Leuchten des Denkens], 1990, S.
477 ff.
1.13 Khage Nasireddin Tousi
und die optische Astronomie
Khage Nasireddin Tousi (andere Schreibweisen: At-Tusi, Tusi, Toosi,
Toussi), genannt Tousi (1201-1274), ist in Persien geboren. Das 13.
Jahrhundert, die Zeit seiner Geburt, gehört zu den schwierigsten Zei-
ten der persischen Geschichte. In dieser Zeit wird Persien von Hula-
gu Khan (1217-1265), dem Enkel von Dschingis Khan (1167-1227),
dem Begründer der mogul-tatarischen Dynastie der Ilkhane von Per-
sien, überfallen. Dort regiert er von 1265 bis 1349. Nicht nur Persien
ist das Ziel der Invasion von Hulagu Khan, sondern auch weite Teile
des gesamten islamischen Territoriums, Asiens und Osteuropas. Er
verhält sich menschenverachtend gegenüber den unterworfenen Völ-
120 Gründungs- und erste Blütephase
kern. Ihm gelingt es 1256 in kürzester Zeit, Persien in Schutt und
Asche zu legen.95
Hulagu Khan lässt alle Bibliotheken des Landes und vor allem die
große Bibliothek in der ismailitischen Alamud-Festung in Brand set-
zen, um die Kultur Persiens zu vernichten. Eine Folge seiner Invasi-
on ist die Flucht der Intellektuellen in die umliegenden, noch nicht
von ihm eroberten Länder. Nur durch die Intervention einiger Gelehr-
ter lässt er sich dazu bewegen, wenige wichtige Bücher zu verscho-
nen. 1258 plündert er Bagdad, eines der wissenschaftlichen Zentren
der islamischen Welt. Die Wissenschaft kommt in der Zeit in Persien
und den islamischen Territorien beinahe zum Erliegen.
In dieser ereignisreichen und von Krieg geprägten Zeit wirkt Tou-
si. Wie durch ein Wunder erlangt jener leidenschaftliche Wissen-
schaftler das Ansehen von Hulagu Khan. Er erlaubt ihm, in Maraghe,
in der persischen Provinz Asarbaidjan, eine Sternwarte zu errichten.
Der Bau dieser Sternwarte, die noch heute zu bewundern ist, erstreckt
sich über die gesamte Lebenszeit von Tousi.
Schon in jungen Jahren beginnt Tousi in der Stadt Hamedan sein
Studium in islamischer Rechtswissenschaft, Logik, Philosophie und
Mathematik, Astronomie sowie Medizin. Weil er früh den Vater ver-
liert, vertieft er sich in die Studien und unternimmt weite Reisen, um
renommierte Wissenschaftler zu treffen. In Monsul vertieft er sein
Wissen in Mathematik und Astronomie und ist einer der Ersten, die
die Trigonometrie als eigene Wissenschaft unabhängig von der Ma-
thematik beschreiben. Durch die Zusammenarbeit mit Hulagu Khan
ist er an dem Bau des Observatoriums Rasad-e Khan mitbeteiligt.
Tousi nimmt an Feldzügen von Hulagu Khan teil und wird im späte-
ren Verlauf enger Berater des Khans.
Tousi verarbeitet seine Erkenntnisse zu Planetentafeln und verfasst
das Werk ›Zidsch-Ilkhani‹, ›Tafel der Ilkhane‹, ›astronomische Ta-
bellen‹, in dem er sich der Position der Sterne und Planeten zuwendet.
In diesem Buch thematisiert er, neben der Sternkunde, geschichtliche
Überlegungen, Horoskopkunde und den Umlauf der Himmelskörper.
Ein anderer naturwissenschaftlich relevanter Bereich im Denken
Tousis ist die Geometrie. Hier siedelt er die Trigonometrie außerhalb
der Mathematik als einen unabhängigen Bereich an.
95
Über Tousi vgl. Braunmühl, Anton von: Nassir Eddin Tusi und Regio-
montan, 1897 und Dinani, Gholamhossein Ebrahimi: Khage Nasireddin
Tousi. Filsofe Goftegou [Khage Nasireddin Tousi. Philosoph des Dia-
logs], 2005.
1.13 Khage Nasireddin Tousi 121
Mit seinen astronomischen Berechnungen greift Tousi, wie auch
sein Vorgänger Biruni, den späteren Erkenntnissen eines Nikolaus
Kopernikus (1473-1543) vor, auch wenn dieser sich nicht auf beide
beruft. Erstaunlicherweise stützt sich Kopernikus bei der Erarbeitung
seines Modells der Planetenbewegungen aber auf die Methode der
sogenannten Tousi-Paare, die eine oszillierende Linearbewegung
durch die Überlagerung zweier Kreisbewegungen demonstriert. Ko-
pernikus wendet diese Methode Tousis unter anderem für die Behand-
lung der Trepidation an, einer im Mittelalter irrtümlich angenomme-
nen Oszillation der Äquinoktien.
Nach Tousis Auffassung bringt uns erlerntes Wissen Glück in der
jenseitigen Welt. Er begeistert sich für die Lehren des Sufismus,
stimmt allerdings nicht mit den großen Sufi-Meistern seiner Zeit
überein, woraufhin er seine eigene sufische Lehre ausarbeitet.
Im Zentrum von Tousis Philosophie steht die Vernunft, welche im
menschlichen Leben unterschiedlich zum Tragen kommt. Seine
Überlegungen sind in seinem Werk ›Tadjrid dol arajed‹, ›Philosophi-
sche Abstraktionen‹, niedergelegt. Zu Beginn dieses Werkes hebt er
hervor: »Stets war ich bemüht, dieses Buch methodisch und systema-
tisch stringent zu konzipieren. Entfaltet habe ich hier Überlegungen,
die mir mit zureichenden Gründen plausibel erscheinen.«96
In ›Tadjrid dol arajed‹ diskutiert Tousi die historischen und beste-
henden philosophischen Reflexionen und unterzieht sie einer kriti-
schen Revision. Darüber hinaus ist er bestrebt, eine Annäherung
zwischen der peripatetischen, also der aristotelischen Schule, und der
schiitischen Kalam herbeizuführen. Mit diesem Versuch bringt er den
schiitischen Kalam auf die höchste Ebene der Rationalität. Hier misst
Tousi der Vernunft, im Gegensatz zu Ghazali, bei der Entscheidungs-
und Wahrheitsfindung eine dominierende Bedeutung bei. Dabei er-
weist er sich als ein Philosoph des Dialogs, weil er einen Dialog mit
anderen philosophischen Lehren aus Geschichte und Gegenwart an-
strebt. Er ist derjenige Philosoph, der das Verstehen-Wollen und
Verstanden-Werden-Wollen des Eigenen und des Anderen zusam-
mendenkt.
Philosophisch ist Tousi von Ibn Sina beeinflusst, ohne dessen Phi-
losophie unkritisch zu übernehmen. Wie Ibn Sina sieht er in Gottes
Existenz, die er als absolute Notwendigkeit bezeichnet, alle mögli-
chen Seienden in ihrer Pluralität vereint. Dies hängt damit zusammen,
96
Tousi, Khage Nasireddin: Tadjrid dol arajed, [Philosophische Abstrakti-
onen], 1994, S. 5.
122 Gründungs- und erste Blütephase
dass er aufgrund seiner monotheistischen Überzeugung alles in Gott
integriert sieht, ohne dies im Sinne Ibn Sinas als Kausalität zu be-
trachten. Gott ist für Tousi der Ursprung und Schöpfer der Kausalität
und damit alles Seienden. Wie das Gottesbild Tousis zeigt, wird auch
in der islamischen Philosophie die Existenz eines Urhebers, eines
Gottes, als erkenntnistheoretischer Rationalitätsmaßstab angenom-
men, um die Welt durchbuchstabieren zu können.
Auf dieser Erkenntnismethode baut Tousi seine Ethik auf, die in
der islamischen Philosophie große Beachtung findet. Im Zentrum der
Ethik Tousis steht der koranische Ausdruck ›Saadat‹, ›Glückseligkeit‹
bzw. ›ewige Glückseligkeit‹, und ›Edalat‹, ›Gerechtigkeit‹, wobei
letztere als Vorstufe zur Liebe zu betrachten ist. Liebe bedeutet Eins-
werdung und der Weg zu ihr ist Gerechtigkeit, ohne Ansehen der
Person.
Unter dem Eindruck der Ethiktheorien Ghazalis, Farabis, Ibn Sinas
und vor allem Miskawayhs arbeitet Tousi seinen Ansatz über das
Wesen der Moral in seinem Werk ›Akhlaq-e Naseri‹, der ›Naserischen
Ethik‹, aus.97 Dieses Werk ist dem Statthalter von Qahestan, Nasir
al-Din Abd ar-Rahim ben Abu Mansur, gewidmet. Deshalb der Titel
›Naserische Ethik‹. Dieses Buch konzipiert Tousi als eine weiterfüh-
rende Antwort auf ›Tahdhib al-akhlaq‹, also auf ›Die Grundlagen der
Moral‹.
Tousis kompensatorische Theorie umfasst vier Komponenten: Ge-
rechtigkeit, Enthaltsamkeit, Tapferkeit und Weisheit. Tousi geht es
um die Bestimmung von Funktion und Rolle des Einzelnen und ihre
Wechselbeziehung in Gemeinschaft und Gesellschaft. Erkenntnislei-
tend ist für seine Ethik der Satz: »Wenn Menschen gleich wären, so
würden sie allesamt zugrunde gehen.«98 Dies ist ein Grund, warum
seine Ethik eine Ethik ohne Ansehen der Person und damit pluralis-
tisch angelegt ist. Sie ist eine moralphilosophische Grundlegung, die
wir in der aristotelischen Ethik so nicht finden, sondern erst wieder
Jahrhunderte später in der Moralphilosophie eines Kant. Weil er Men-
schen als soziale Wesen begreift, hält er die ethische Entfaltung und
Vervollkommnung allein in der Gemeinschaft und Gesellschaft, im-
mer in Bezug auf andere Menschen, für geboten.
97
Vgl. Tousi, Khage Nasireddin: Akhlaq-e Naseri [Über das Wesen der
Moral], 1996.
98
Tousi, Khage Nasireddin: Akhlaq-e Naseri [Über das Wesen der Moral],
1996, S. 195.
1.13 Khage Nasireddin Tousi 123
Dies hängt damit zusammen, dass Tousi Wünsche und Bedürfnis-
se der Einzelnen stets vor Augen hat. Um in Gemeinschaft und Ge-
sellschaft ein harmonisches Miteinander zu gewährleisten, geht er
von einer dialogischen Anthropologie aus. Hier setzt er die Selbst-
erkenntnis für das Verstehen des Anderen voraus. Er verfolgt nicht
das Ziel, eine Individualethik oder eine islamspezifische Konzeption
der Ethik zu entwerfen, sondern vielmehr die Realisierung von
›Bordbari‹, also von Toleranz zwischen den Menschen.
Ausgewählte Werke:
— Awsaf al-Ashraf [Beschreibung der Heiligen].
— Zidsch-Ilkhani [Tafel der Ilkhane].
1.14 Ghotbeddin Schirazi
und die Revision der ptolemäischen Planeten-
bewegungen
Ghotbeddin Schirazi (andere Schreibweisen: Qutb al-Din, Ghotb Al
Din, Quṭb ad-Dīn, as-Sirazi), genannt Schirazi (1236-1311), gehört
zu den führenden Philosophen und Naturwissenschaftlern der Zeiten-
wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Er betreibt Philosophie und
Naturwissenschaften parallel und nimmt somit eine Sonderstellung
in diesem epochalen Übergang ein. Dabei arbeitet er die bereits vor-
handenen Erkenntnisse in sein Wissenschaftssystem ein. In dieser
Hochphase der Reconquista verlieren die Araber Córdoba, und der
1.14 Ghotbeddin Schirazi 125
Stauferkaiser Friedrich II. (1194-1250) beginnt den vergeblichen
Kampf gegen die lombardischen Städte.99
Schirazi entstammt einer Familie, aus der viele islamische Mysti-
ker hervorgegangen sind und so zeigt auch er Interesse am Sufismus.
Er studiert Astronomie, Physik, Medizin und Mathematik. Schirazi
ist ein Wissenschaftler, dessen Einfluss von seinem Geburtsort Schi-
raz, daher sein Name, bis Anatolien und Syrien reicht. Schirazi erlangt
Bekanntheit, indem er mit seinem Lehrer Tousi Kritiken zum Al-
magest, eine Schrift des Ptolemäus, verfasst. Almagest beruht auf
dem geozentrischen Weltbild Ptolemäus’ und seinen astronomischen
Details.
In seiner Schrift ›Nihayat al-idrak fi dirayat al-aflak‹ (1281), ›Die
Grenzen der Durchdringung des Wissens über den Himmel‹ bewertet
Schirazi, wie sein Lehrer Tousi, die gleichförmigen bzw. kreisförmi-
gen Bewegungen des ptolemäischen Modells der Planetenbewegun-
gen als unzulänglich.100
Schirazis Kritik bezieht sich darauf, dass Planetenbewegungen
nicht gleichförmig sind. Seine Berechnung beruht auf der Kosinus-
Schwingung, mit der sich die Überlagerung zweier gegenläufiger
gleichförmiger Kreisbewegungen und damit die Umlaufbahnen der
Planeten exakter berechnen lassen. Mit dieser einzigartigen Entde-
ckung gelingt es Schirazi, eine Approximation für die Bewegung des
Epizyklenzentrums für den Planeten Merkur zu berechnen.
Darüber hinaus führt Schirazi die optischen Versuche des Ibn Hai-
sam zur Lichtbrechung und Lichtreflexion fort. Ihm gelingt es, über
die bisherigen Erkenntnisse hinaus, eine Erklärung für den Aufbau
des Regenbogens zu formulieren, die noch heute Gültigkeit besitzt.
Neben Astronomie und Physik beschäftigt sich Schirazi auch mit der
Medizin und Mathematik.
Im Zentrum des philosophischen System Schirazis steht die Ver-
nunft. Aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Prägung bringt er
philosophische Fragestellungen methodologisch zusammen. Insofern
ist seine Philosophie rationalistisch mit einem empirischen Charakter.
Schirazis Philosophie ist beeinflusst von Ibn Sina, Sohrewardi und
99
Über Schirazi vgl. Wiedemann, Eilhard: Zu den optischen Kenntnissen
von Qutb al Din Al Schirazi, 1911 und ders. Über die Gestalt, Lage und
Bewegung der Erde sowie philosophisch-astronomische Betrachtungen
von Qutb al Din al Schirazi, 1912.
100
Vgl. Schirazi, Ghotbeddin: Nihayat al-idrak fi dirayat al-aflak [Die Gren-
zen der Durchdringung des Wissens über den Himmel], 1980.
126 Gründungs- und erste Blütephase
vor allem Molla Sadra. Dies gilt auch für seine Überlegungen zur
Ethik. Wie die anderen Philosophen geht auch er von einer theoreti-
schen und praktischen Philosophie aus. Während sich theoretische
Philosophie mit der Frage nach dem Seienden in der kosmischen
Natur beschäftigt und verschiedene Theorien im Kontext der Ge-
schichtsschreibung miteinander in Verbindung bringt, verfolgt die
praktische Philosophie das Ziel, Begründungen für unsere Handlun-
gen zu liefern.
Beide philosophischen Bereiche haben eine anthropologische Ver-
ankerung. Insofern beschäftigen sie sich mit der Welt und ihrer Er-
kennbarkeit, während die praktische Art derselben die Stellung des
Menschen darin untersucht.
Ausgewählte Werke:
— Durrat al-tag li-Gurrat ad-dibag [Perlenkrone].
— Nihayat al-idrak fi dirayat al-aflak [Dependenzgrenzen des Wissens über
dem Himmel].
2. Mehrdimensionale Übergangsphase
(14. bis 19. Jahrhundert)
Die Darstellung der Gründungs- und der ersten Blütephase macht deut-
lich, dass die Entwicklung der Philosophie der islamischen Welt von
ihren Anfängen her darauf ausgerichtet ist, neue Wege zu suchen, um
die gesellschaftlichen Verhältnisse zu bessern und einen angemessenen
Platz im Weltkontext zu erringen. Es handelt sich um eine theoretische
wie praktische Philosophie der Tat. Hier werden geistes- bzw. natur-
wissenschaftliche Dimensionen entfaltet, auf welche die späteren Ge-
nerationen zurückgreifen und diese gemäß der Erfordernisse ihres
Weltalters aufbauen. Dies manifestiert die multidimensionale Über-
gangsphase vom 14. bis zum Ende des 19. und teilweise Anfangs des
20. Jahrhunderts. Dieses Zeitalter wird von Ibn Khaldun mit der Ein-
führung des Prinzips ›Assabija‹, also ›Solidarität‹, eingeleitet.
In Europa überschlagen sich zu jener Zeitenwende am Ende des
15. Jahrhunderts die Ereignisse. Die Araber verlieren mit dem Kö-
nigreich Granada ihren letzten Stützpunkt auf der Iberischen Halbin-
sel. Spanien steigt jetzt zur Großmacht auf. Im Auftrag Karls V.
(1643-1690) wird das von Christoph Kolumbus (1451-1506) ent-
deckte Amerika weitgehend der spanischen Krone unterworfen. Es
kommt zur Verfolgung, fast zur Ausrottung der Urbevölkerung.
Das Leben ändert sich durch eine Reihe von Entdeckungen. Johan-
nes Gutenberg (1400-1468) erfindet den Buchdruck, Martin Luther
(1483-1546) schlägt seine 95 Thesen an die Kirchentüre zu Witten-
berg und wird Professor der Theologie an der dort neu gegründeten
Universität. Die Spaltung der römisch-katholischen Kirche nimmt
ihren Lauf. Erasmus von Rotterdam (1466-1536) verfasst sein ›Hand-
buch des christlichen Streiters‹. Nachdem ein Dominikaner 1486 den
›Hexenhammer‹ veröffentlicht, beginnen Hexenverfolgungen in gro-
ßem Stil. Galilei erfindet die hydrostatische Waage, einen Tauchdich-
temesser und erhält in Pisa den Lehrstuhl für Mathematik.
Die Zeit zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert ist auch für Persi-
en und seine Geschichte eine schicksalhafte Zeit. Das Land erlebt den
bereits erwähnten mongolischen Einbruch, der mit dem europäischen
30-jährigen Krieg vergleichbar ist. Das Territorium ist zerrissen unter
der mongolischen Fremdherrschaft, welche das Land zunächst in
Schutt und Asche legen lässt. Es ist historisch dokumentiert, dass die
Überfälle der Mongolen der Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und
Kunst großen Schaden zufügen, wobei sie sich jedoch später für
128
Schule von Esfehan
129
130 Mehrdimensionale Übergangsphase
deren Wiederherstellung einsetzen. Auch tragen interne Auseinander-
setzungen innerhalb des Reiches zum allgemeinen Stillstand bei.
Diese unruhige Zeit findet erst Anfang des 16. Jahrhunderts ein
Ende, als die sunnitischen Seldschuken von schiitischen Safawiden
abgelöst werden. Durch die Hilfe der aus dem schiitischen Sufi-Orden
der Safawiyye hervorgegangenen Qezelbash-Bewegung gelangt
Schah Ismail I. (1487-1524) an die Macht und führt in seiner Regie-
rungszeit von 1501 bis 1522 Reformen durch. Der schiitische Islam
wird zur Staatsreligion in Persien, was die staatliche Einheit fördert
und dem Land eine neue Identität verleiht. Die Safawiden bauen neue
Ausbildungsstätten auf und fördern Philosophie, Wissenschaft und
Kunst.1
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts entsteht in Esfehan ein wissen-
schaftliches Zentrum, das im 20. Jahrhundert den Namen ›Schule von
Esfehan‹ erhält, eine Bezeichnung, die auf Seyyed Hossein Nasr
(*1933) zurückgeht. Später folgten weitere Schulen in Schiraz und
Tehran. Das folgende Bild zeigt die Schule von Esfehan, die verschie-
dene philosophische Generationen vor und nach ihrer eigenen Wir-
kungszeit umfasst. Insofern zeichnet diese bildliche Darstellung eine
philosophische Galerie islamischer Schulen nach, von den Anfängen
des islamischen Denkens bis in die Gegenwart. In der Mitte stehen
Mir Damad und Molla Sadra. Während Mir Damad mit seinem Zei-
gefinger auf die Himmelfahrt des Geistes verweist, verbindet Molla
Sadra das irdische Leben mit der transzendenten Welt. Auf der Trep-
pe vor ihnen sitzt ihr Vorgänger Sohrewardi:
Das Bild demonstriert die Schubkraft dieser generationenübergrei-
fenden Schule, die dem Denken im Orient neue Impulse zu verleihen
vermag. In der Schule von Esfehan, die von dem Philosophen Mir
Damad gegründet und geleitet wird, fließen nicht nur philosophische,
theologische und mystische Richtungen zusammen, sondern auch die
von Widersachern der Philosophie.
Zur Mir Damads Schülerschaft gehören vor allem Molla Sadra und
Faiz Kaschani (1598-1680), Bahauddin Amili (1547-1621) und Mir
Abol-Qasim Findiriski, genannt Mir Findiriski (1560-1640), die zu-
gleich Hauptfiguren seines Wirkungskreises sind.
Die philosophischen Aktivitäten der Schule von Esfehan überdau-
ern die Zeit von ihrer Gründung bis in die 1960er Jahre. Man lehrt
Philosophien von Molla Sadra, Faiz Kaschani sowie von Sabzewari.
1
Nach dem Tod des Schah Ismail I. übernimmt sein Sohn Tahmaseb I.
(1514-1576) die Macht.
Mehrdimensionale Übergangsphase 131
Die letzten Leiter dieser Schule sind Molla Mohammad Kaschani
(1828-1912) und Hadj Aqa Rahim Arbab (1881-1977).
Seither sind einige vergebliche Versuche zur Wiederbelebung un-
ternommen worden. Die Aktivitäten der Schule von Esfehan wurden
übernommen von den Theologen und Philosophen der Qomer Schu-
le, die in Westasien (Nahen Osten) großes Ansehen genießt und von
vielen ausländischen Studierenden besucht wird.
2.1 Ibn Khaldun
und das Prinzip ›Solidarität‹
Abdul Rahman Ibn Muhammad Ibn Khaldun al-Hadrami (andere
Schreibweisen: Ibn Chaldun, bin Chaldun), genannt Ibn Khaldun
(1332-1406), ist in Tunis geboren. Kurz vor seiner Geburt gehen die
Kreuzzüge zu Ende, die 1096 ihren Anfang nahmen und etwa 200
Jahre dauerten. Mit der Schlacht von Akkon im Jahre 1291 erfolgt
die endgültige Vertreibung der Kreuzfahrer aus dem Orient.2
2
Übr Ibn Khaldun vgl. Assaf, Emam: Ibn-Haldun in Ägypten, 1993 und
Kemmerich, Max: Leben und Denken des Ibn Khaldun, 1994.
2.1 Ibn Khaldun 133
Neben diesem Erfolg droht aber, ein halbes Jahrtausend nach der
Gründung Bagdads, die Blütezeit der islamischen Kultur zu Ende zu
gehen. 1258 verwüsten die Mongolen auch Bagdad, zerstören das
›Haus der Weisheit‹ und die Bibliotheken. Über Jahrzehnte breitet
sich Unruhe und Destabilisierung in allen islamischen Kulturräumen
aus.
Diese Ereignisse prägen Ibn Khalduns Denken. Bewusst erlebt er
die Zerfallserscheinungen und die innere Zerrissenheit des Staates
aus Mangel an Infrastruktur und wirksamen Institutionen mit und
sucht nach einem Weg, um der Gefahr des Zerfalls entgegenzuwirken.
Er beteiligt sich aktiv an der Gestaltung seines Zeitalters mit dem
Ziel, die individuellen Egoismen als ein Grundübel des menschlichen
Miteinanders in ›Assabiyya‹, ›Gruppensolidarität‹ zu überführen, um
letztlich die islamische Welt gründlich zu erneuern.
Dieses Bedürfnis bildet die Grundlage seines umfangreichen Wer-
kes, ein geistes- und mentalitätsgeschichtlich einzigartiges Werk, das
noch heute kaum an Aktualität eingebüßt hat. Seine Ansichten von
gesellschaftlichen und sozialen Strukturen machen Ibn Khaldun zu
einem Vordenker einer wissenschaftlichen Soziologie.
Ibn Khaldun führt das philosophisch und theologisch geprägte
Werk Ghazalis auf einer soziologischen Ebene weiter. Denn beide
sind Zeugen einer von Kriegen und blutigen Auseinandersetzungen
unter muslimischen Glaubensbrüdern gekennzeichneten Zeit. Wollte
Ghazali mit seinem Freundschaftsbegriff eine Einheit im Orient her-
beiführen, so entwirft Ibn Khaldun Konzepte, um einen fortschrittli-
chen Orient auf der Grundlage eigener Zivilisation zu etablieren. Er
erkennt, dass in Wohlstand und Solidarität der Schlüssel zu dauerhaf-
tem Frieden liegt.
Nach seiner Ausbildung macht ein hafsidischer Sultan Ibn Khaldun
zu seinem Sekretär. Nebenbei führt er das Richteramt aus, wobei er
sich einen Namen macht als ein akkurat handelnder Richter, der sich
stets gegen Korruption und illegale Aktivitäten im Staat einsetzt. Weil
er den Herrscher und seinen Arbeitgeber kritisiert, kommt er für 22
Monate ins Gefängnis. Erst nach dem Tod des Herrschers wird er von
dessen Sohn freigelassen und zum Staatssekretär ernannt. Durch er-
neuten Herrscherwechsel verliert er wiederum sein Amt, was ihn dazu
bringt, nach Granada umzusiedeln. Er hinterlässt nur wenige Werke,
die aus den Bereichen der Theologie, speziell dem Sufismus und aus
dem Studium der Logik stammen.
Das zentrale Thema von Ibn Khalduns mehrbändigen und in der
deutschen Übersetzung in einem Band zusammengefassten Werkes
134 Mehrdimensionale Übergangsphase
›Muqaddima‹ ist die Darstellung und Analyse zur Natur der Kultur
und ihrer Erscheinungen unter besonderer Berücksichtigung kultur-
soziologischer und sozialpsychologischer Dimensionen, verbunden
mit einem angemessenen Lösungsvorschlag. Dieses Werk umfasst
sechs Kapitel mit einer Reihe von Beispielen aus den islamischen
Kulturräumen, die sein Anliegen dem Leser deutlich vor Augen füh-
ren.
In der Einleitung thematisiert Ibn Khaldun die Vorzüglichkeit der
Geschichtswissenschaft, die Festlegung ihrer Methoden, Hinweise
auf die Irrtümer und Fehlauffassungen, die den Geschichtsschreibern
unterlaufen können und die Nennung einiger Gründe. Die Historio-
graphie ist für ihn der wichtigste Wissenschaftszweig, weil darin
unsere Kultur-, Religions- und Zivilisationsgeschichte enthalten sei.
Hier stellt er fest, dass Geschichtsschreibung »eine Disziplin mit einer
beträchtlichen Anzahl von Verfahrensweisen ist, von vielfältigem
Nutzen und nobler Zielsetzung. Sie belehrt uns nämlich darüber, wie
es sich mit den Völkern vergangener Zeiten, ihren charakteristischen
Merkmalen, den Propheten und ihren Lebensläufen sowie den Herr-
schern, ihren Dynastien und der Staatsführung verhält.«3
Ein zentraler Begriff von Ibn Khalduns umfassender Geschichts-
und Kulturphilosophie sowie Gesellschafts-, Kultur- und Zivilisati-
onstheorie ist ›Assabiyya‹, ›Gemeinsinn‹, was auch mit auch ›Grup-
pensolidarität‹ übersetzt werden kann. Für ihn ist es als ein Philosoph
der Tat gerade ›Assabiyya‹, die eine Kultur, eine Religion, eine Ge-
meinschaft, eine Dynastie oder einen Staat zusammenhält und die
zum Erreichen gemeinsamer Ziele eine Notwendigkeit ist. Solche
Gruppensolidarität ist für ihn ohne Erkenntnis ihrer Notwendigkeit
kaum möglich. Dabei geht er von einem Geschichtsbegriff aus, der
seiner Zeit weit vorausgeht. Deshalb stellt er in einem weiteren Schritt
fest, was der eigentliche Sinn und die Funktion der Geschichte ist:
»Aussagen über die menschliche Gesellschaft, welche die Kultur der
gesamten Welt ausmacht, und über die Zustände, die dem Wesen
dieser Kultur anhaften.« Für ihn umfasst dies »das zivilisierte Leben,
die Gruppensolidaritäten, sowie Aussagen über die Art und Weise,
wie die Menschen die Oberhand übereinander gewinnen, und über
die Herrschaft, die Dynastien und deren Rangstufen, die daraus er-
wachsen, über die Beschäftigung und Bemühungen zu Erwerb und
3
Ibn Khaldun: Die Muqaddima, 2011, S. 81.
2.1 Ibn Khaldun 135
Lebensunterhalt, dem sich die Menschen widmen, sowie über die
Wissenschaften und Handwerke und üblichen Beschäftigungen.«4
Sein Bestreben ist darauf hinzuwirken, dass eine kritische Prüfung
der Umstände »durch Kenntnis« der besonderen »Eigenarten der
Kultur«5 geschieht. Dies sei die beste Methode bei der Prüfung und
Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Sie sei der Prü-
fung vorzuziehen, die mit Hilfe der Charakterkritik der Überlieferer
erfolge. Auf diesen Kriterien, die für seine Untersuchungen grundle-
gend sind, baut er sein geschichtswissenschaftliches System auf.
Im ersten Kapitel führt er in die menschliche Kultur im Allgemei-
nen ein und stellt fest, dass der Mensch Kultur hervorbringt, von der
er selbst beeinflusst wird.
Thema des zweiten Kapitels sind die beduinischen Völker und ihre
Lebensbedingungen. Er beschreibt, dass gerade die Wüste Grundlage
und Quelle von Kultur und Städten darstellt, aufgrund der Notwen-
digkeit, an einer Wasserquelle sesshaft zu werden. Ihm geht es um
die Vorzüge einer sesshaften Lebensführung, in der er die Grundlage
einer Wohlstandsgesellschaft sieht.
Thema des dritten Kapitels ist die analysierende Darstellung von
Herrscherdynastien, Kalifat und der notwendigen Regierungshierar-
chie. Ibn Khaldun führt vor Augen wie diese Institutionen zusammen-
hängen. Hier stellt er fest, dass bei all diesen Kategorien eine Grup-
pensolidarität grundlegend ist: »Offensive und defensive Stärke kann
es nur durch Gruppensolidarität geben, das heißt, durch gegenseitige
Zuneigung und die Bereitschaft, füreinander zu kämpfen und zu ster-
ben.« Er hebt vorausschauend hervor, dass diese Solidarität »beim
Kampf um die Herrschaft eine herausragende Rolle«6 spielt. Auch
Religion könne sonst keine Wurzeln fassen. Ibn Khaldun erblickt in
einer gut funktionierenden Staatsverwaltung die notwendigen und
institutionalisierten Grundlagen einer Gesellschaft.
Diese Erkenntnisse bilden die Basis seiner Überlegungen zur sess-
haften Kultur im vierten Kapitel. In einer gut funktionierenden Dy-
nastie sieht Ibn Khaldun die optimale Form einer Herrschaft, welche
auf die Niederlassung in Metropolen hinausläuft. Eine solche Insti-
tutionalisierung ist in der Tat die Bedingung für die Entfaltung der
Künste und Wissenschaften.
4
Ebenda, S. 98.
5
Ebenda, S. 102.
6
Ebenda, S. 179.
136 Mehrdimensionale Übergangsphase
Im fünften Kapitel geht Ibn Khaldun systematisch mit zahlreichen
Beispielen auf die Funktionen solcher Institutionen innerhalb einer
sesshaften Kultur ein. Dabei preist er sowohl die Vorzüge der Land-
wirtschaft als auch die des Handwerkes und des Händlertums.
Um seinem kultur- und zivilisationslebensnotwendigen Ansatz ei-
nen klaren Rahmen zu verleihen, stellt er im sechsten und letzten
Kapitel von ›Muqaddima‹ die Einteilung der Wissenschaften vor.
Charakteristisch für seine gesamte Anthropologie ist die Feststellung:
Der Mensch zeichnet sich gegenüber allen übrigen Wesen dadurch
aus, dass er denkt und die Welt denkend wahrnimmt.
Ibn Khaldun unterteilt das Denken in drei verschiedene Arten:
Erstens planendes und ordnendes Denken. Diese Denkform stelle
dem Menschen Instrumente zur Verfügung, aus denen er bewusst
seinen Nutzen ziehen kann. Er nennt es ›unterscheidender Verstand‹.
Zweitens leitendes Denken, mit dem Meinungen und Verhaltenswei-
sen beim Umgang mit den Mitmenschen zum Einsatz kommen. Dies
nennt er ›Erfahrungsverstand‹. Drittens hypothetisches Denken, wel-
ches dazu beiträgt, Entscheidungen zu treffen, die bei der Berück-
sichtigung bestimmter Situationen zum Erfolg oder Misserfolg füh-
ren. Das bezeichnet er als ›spekulativer Verstand‹.
Als Endziel des Denkprozesses stellt sich Ibn Khaldun die Existenz
vor, wie sie wirklich ist, mit verschiedenen Gattungen, Unterschieden
und Ursachen. In diesem Prozess vervollkommnet sich das Denken
in seiner Wirklichkeit und wird zu einem »reinen Verstand und letzt-
lich zu einer erfassungsfähigen Seele. Dies ist der Sinn der mensch-
lichen Wirklichkeit.«7 Die Entwicklung und Einteilung der Wissen-
schaften hängt für Ibn Khaldun mit dem Komplexitätsgrad der Kultur
zusammen: »Wissenschaften sind vielfältig, wo die Kultur vielfältig
ist und die Sesshaftigkeit vorherrscht.«8
Ibn Khaldun unterscheidet zwischen den aktuellen philosophi-
schen Wissenschaften, den überlieferten und den koranischen Wis-
senschaften. Erstere beschäftigen sich mit dem reinen Denken und
entwickeln Methodologien, während sich die überlieferten Wissen-
schaften mit historischen Aussagen auseinandersetzen. Die korani-
schen Wissenschaften befassen sich mit der Exegese der Heiligen
Schrift und den damit verbundenen Lesarten. Für ihn gibt es keine
offizielle Lesart der Heiligen Schrift, sondern deren mehrere, die
einen Ausdruck von Meinungspluralismus darstellen.
7
Ebenda, S. 403 ff.
8
Ebenda, S. 420.
2.1 Ibn Khaldun 137
Anschließend unterteilt Ibn Khaldun Wissenschaft in Theologie,
Sufik, Traumdeutung, Medizin, Landwirtschaft und Alchemie. Von
Bedeutung sind hier die rationalen Wissenschaften und ihre verschie-
denen Arten, die er diskutiert: »Was die rationalen Wissenschaften
betrifft, die dem Menschen von Natur aus zugehören, insofern er ein
denkendes Wesen ist, so sind sie nicht speziell auf eine Religionsge-
meinschaft beschränkt. […] Sie sind bei der Gattung Mensch vorhan-
den, seit es eine Kultur in der erschaffenen Welt gibt. Sie werden die
Wissenschaften der Philosophie und der Weltweisheit genannt und
setzten sich aus vier Wissenschaften zusammen.«9
Zu diesen Wissenschaften gehören nach Ibn Khaldun Logik, Geo-
metrie, Arithmetik und Astronomie. Bei dieser Einteilung der Wis-
senschaften bringt er sein pragmatisches Wissenschafts- und Philo-
sophieverständnis zum Ausdruck. Er weist jede Auffassung von
Philosophie als ›strenge Wissenschaft‹ zurück, weil sie stets an Per-
sonen gebunden sei, die in unterschiedlichen emotionalen Welten
involviert sind, welche nicht immer rational erfass- und begründbar
sind. Die ›Muqaddima‹ ist eine Enzyklopädie der Soziologie und der
Humanwissenschaften.
Diejenigen Philosophien hält Ibn Khaldun für unbrauchbar, »die
glauben, dass die ganze Welt das mit den Sinnen Erfassbare und das
darüber Hinausgehende, durch Spekulation und intellektuelle Argu-
mentation begriffen werden kann.«10
Mit seinen Gedanken greift Ibn Khaldun Überlegungen vor, die
noch heute virulent sind und mit dem Begriff ›Positivismusstreit‹
bezeichnet werden. Ihm gelingt es, den Standort der Menschen inner-
halb der hervorgebrachten Kulturen und Zivilisationen neu zu defi-
nieren und der festgefahrenen Gesellschafts- und Bewusstseinsstruk-
tur der Moslems neue Impulse zu geben.
Ausgewählte Werke:
— Al-Muqaddima [Die Muqaddima].
— Kitab al-ibar wa diwan al-mubtada wa l-chabar fi ayyam al-arab wa l-
adscham wa l-barbar wa man asarahum min dawi as-sultan al-akbar
[Buch der Hinweise, Aufzeichnung der Anfänge und Ereignisse aus den
Tagen der Araber, Perser und Berber und denen ihrer Zeitgenossen, die
große Macht besaßen].
9
Ebenda, S. 446.
10
Ebenda, S. 472.
2.2 Mir Damad
und das Mensch-Kosmos-Verhältnis
Mir Mohammad Baqer Esterabadi (andere Schreibweise: Mirdamad),
genannt Mir Damad (1561-1630), ist in Persien geboren. Von seinen
Schülern wird er nach Aristoteles und Farabi als ›dritter Lehrer‹ an-
gesehen. Auch hier ist zu beachten, dass es sich nicht um einen Kom-
mentator der vorhandenen Wissensvorräte handelt. Mir Damad ist der
Begründer einer neuen Schule des Denkens, die eine ganze Genera-
tion prägt.
Mir Damad beherrscht neben Logik und Weisheitslehre auch Be-
reiche der Gnosis und der islamischen Rechtswissenschaften. Er gilt
als Gründer des größten Zusammenschlusses von Wissenschaftlern
2.2 Mir Damad 139
in dieser Zeit, der später als die ›Schule von Esfehan‹ in die Geschich-
te eingeht. Die Philosophen dieser Schule gehören unterschiedlichen
philosophischen, theologischen und mystischen Richtungen an und
bereichern sich mit ihren Erkenntnissen gegenseitig. Die Erkenntnis-
se fußen auf drei Erkenntniswegen: ›wahy‹, Offenbarung, ›aql‹, Ver-
nunft, und ›kaschf‹, mystische Enthüllung.11
In Europa herrschen zu dieser Zeit erbitterte konfessionelle Aus-
einandersetzungen. Maria Stuart (1542-1587) kehrt nach Schottland
zurück, erhebt Anspruch auf den englischen Thron und unterstützt
die Gegenreformation. In Frankreich brechen die Hugenottenkriege
aus. Der 30-jährige Krieg, ursprünglich aus Konfessionsstreitigkeiten
entstanden, verwüstet weite Teile des Landes. Galilei wird in Italien
geboren, und der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon
(1561-1626) begründet eine moderne Wissenschaftsmethodik. Im
Orient suchen Philosophen ebenfalls nach neuen Wegen, um die Phi-
losophie in der islamischen Welt grundlegend den Voraussetzungen
einer geänderten Welt anzupassen.
Mir Damads wesentlicher Beitrag zur Philosophie ist die Formu-
lierung von Aspekten der Zeitlichkeit bis hin zu göttlichen Wirkungs-
weisen. Viele seiner Abhandlungen sind in den Bereich der Theologie
einzuordnen. Unter dem Pseudonym ›Ishraq‹ veröffentlicht er Ge-
dichte über das Licht und die göttliche Schöpfung. Des Weiteren
existieren Bücher mit mathematischen Themenbereichen. Molla Sa-
dra gehört zu seinen bedeutendsten Schülern.
In seiner Akademie lehrt er Erkenntnistheorie, Naturwissenschaft und
Metaphysik im Sinne seines Vorbildes Sohrewardi aus dem 12. Jahrhun-
dert. Er greift die Vorstellung des Mikro- und Makrokosmos aus der
altpersischen Kosmologie auf und macht dieses kosmische Menschen-
bild zur Grundlage seiner Philosophie. In die Philosophie Mir Damads
fließen ›erfan‹, Weisheitslehre, und die Philosophie der Erleuchtung
zusammen. Erfan bedeutet ›Erkenntnis‹, die besagt, dass die materielle
Welt aus einer einzigen Quelle, nämlich der ›absoluten Existenz‹ heraus
entstanden ist. In seinen meditativen Reflexionen erzählt Mir Damad,
wie sich seine Seele aus dem Körper löste und wieder einkehrte.
Mir Damad beschreibt dementsprechend die Vernunft des Men-
schen als die Sonne, seine Seele als den Mond, und den Körper als
die Erde. In dieser Metaphorik definiert er auch die Fähigkeiten und
Unfähigkeiten des Menschen. Er vergleicht den Menschen: So, wie
11
Über Mir Damad vgl. Dabashi, H.: Mir Damad and Founding of School
of Isfahan, 1996.
140 Mehrdimensionale Übergangsphase
die Erde durch eine Sonnenfinsternis verdunkelt werden kann, so
wird auch der Mensch von intellektueller Finsternis betroffen sein,
d.h. seine Seele (Mond) kann ein Hindernis zwischen dem Leuchten
seines Intellekts (Sonne) und seiner körpergebunden Erkenntnis sein.
In der Unterscheidung einer vertikalen und horizontalen Kette der
Existenz sieht er menschliche Ab- und Aufstiegschancen, die von der
tiefsten bis zur höchsten Stufe der Existenz möglich sind.12 Mir Damad
reflektiert über die Entstehung der Welt, die Stellung des Menschen
in ihr und die Rolle des Göttlichen. Er beantwortet die Frage, ob und
inwieweit die Welt von jeher existierte oder in der Zeit entstanden sei.
Die Beantwortung dieser Frage geht im Denken Mir Damads als
transzendentaler Philosoph eine Mischung von Vernunft und Spiritu-
alität ein. Er unterteilt das Sein in vier Entwicklungsebenen: ›Sarmad‹,
die immerwährende und alles umgreifende Ewigkeit, ›Dahr‹, die Zeit-
losigkeit, ›Ane Sayyal‹, fließende Momente und ›Zaman‹, die Zeit.
›Zaman‹ ist bei Mir Damad das Maß der Bewegung in der quanti-
tativen Welt, während ›Dahr‹ die zeitlose Welt der Ideen und verän-
derbaren Formen bedeutet. ›Sarmad‹ nennt er die Welt der göttlichen
Essenz und ihre Attribute. Gott gehört der Sphäre der ›hodouse dah-
ri‹, der zeitlosen Entstehung an, aus der die sichtbare Welt sowie der
Bereich des Werdens und Vergehens hervorgegangen sind. Entstehen,
Bestehen und Vergehen vollziehen sich innerhalb der ›hodouse za-
man‹, der zeitlich werdenden Entstehung. Dementsprechend gehören
spirituelle Dimensionen der zeitlosen Entstehung und die materiellen
der zeitlichen Entstehung an. ›Ane Sayyal‹, also der fließende Mo-
ment, beschreibt die Verwirklichung der Existenz der Zeit.
Das Vernunftvermögen des Menschen fördert jedoch nach Mir
Damad die Möglichkeit intuitiver Einsichten, die wiederum das dis-
kursive Denken anregen und uns zur Herausbildung neuer Denkdi-
mensionen verhelfen.
Mir Damads existentialistische Philosophie, in der das Wechsel-
verhältnis zwischen Mensch und Kosmos eine erste Entfaltung er-
fährt, gehört in der Schule von Esfehan zu den zentralen Themen, die
bis heute nicht an Aktualität eingebüßt haben.
Ausgewählte Werke:
— Risala fi mantiq [Über die Logik].
— Ishraq [Philosophie der Erleuchtung].
12
Mir Damad: Dschazawad [Die Feuerflamme], 1986, S. 2 ff.
2.3 Molla Sadra
und die substantielle Bewegung
Mohammad ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi (andere Schreibweisen:
Mulla Sadra, Mullā Sadrā), genannt Molla Sadra (1571-1640), ist in
Persien geboren. Das Studium Molla Sadras beginnt in Esfehan bei
seinem Lehrer Mir Damad, wo er sich mit Philosophie, Theologie und
Hermeneutik befasst. Später siedelt er nach Qom in der persischen
Provinz Ghom um, wo er sein erstes Werk fertig stellt. Der Gouverneur
bittet ihn nach Schiraz zurückzukehren, wo er bis zu seinem Tod lehrt.13
13
Über Molla Sadra vgl. Hamade, Trad: Dieu, le monde et l’âme chez
Molla Sadra al-Shirazi, 1993 und Razavi Rad, Mohammad: Molla Sadras
142 Mehrdimensionale Übergangsphase
Molla Sadra, eine Hauptfigur der ›Schule von Esfehan‹, gehört
neben Mir Damad zu den führenden Philosophen, die in einer Zeit
der rasanten Veränderungen nach neuen Wegen philosophischen Den-
kens suchen. Molla Sadras Anliegen ist eine grundlegende Erneue-
rung der Philosophie. Er beschäftigt sich unter anderem mit Sokrates,
Platon, Aristoteles, Ibn Sina und Tousi. Sein Ziel ist, die Thesen
verschiedener Philosophen in einer gemeinsamen Struktur zusam-
menzufügen. In seiner Lehre geht es um den Umgang mit der Natur
der Wirklichkeit und der existentialistischen Kosmologie Gottes. Sei-
ne Lehre der Existenz findet später mit Philosophien wie Søren Aabye
Kierkegaard (1813-1855) und Jean-Paul Sartre (1905-1980) als Exis-
tentialismus in die Philosophiegeschichte Eingang.
Die sadraische Denkart ist eine kombinierte Philosophie, bei der
die einzelnen Bestandteile von ihrer Art und Herkunft noch erkennbar
sind. Propädeutik und Erleuchtung bilden die Grundlage seiner Tran-
szendentalphilosophie. Naturwissenschaften werden bei Molla Sadra
von der Metaphysik getrennt, wobei er die Psychologie bedingt der
Metaphysik zurechnet. Seine Transzendentalphilosophie umfasst vier
Erkenntniswege: die Metaphysik, die Theologie, die Psychologie und
die Physik. Die Frage nach dem Sein bildet den Kern seines Werkes.14
In der Vorrede seiner Schrift ›Al-Hekma al-Motealiya fil-asfar al-
Aqlia al-Arbaa‹, ›Transzendentalphilosophie: Der vierfache Weg zur
Erkenntnis‹, beschreibt Molla Sadra zunächst seinen wissenschaftli-
chen Werdegang. Er bemängelt, dass Philosophen es versäumt hätten,
über das Sein und das Seiende nachzudenken. Viele Philosophen
würden davon ausgehen, dass alle Fragen bereits beantwortet seien.
Er jedoch habe seit seiner Jugend neue Wege gesucht, und um diese
zu finden, habe er die islamische wie auch die griechische Philosophie
und ihre Vorgänger so genau wie möglich studiert. Molla Sadra be-
richtet, er sei »von Menschen umgeben, denen Wissen und Verstand
untergegangen ist, so daß sie das Licht der Erkenntnis nicht mehr
wahrnehmen können, sondern in ihrer Blindheit verharren.«15 Weil
Philosophie interkulturell gelesen, 2006 und Chamenei, Seyyid Moham-
med: Mulla Sadra, 2011.
14
Molla Sadra, Mohammad ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi: Al-Hekma al-
Motealiya fil-asfar al-Aqlia al-Arbaa [=Asfar], [Transzendentalphiloso-
phie. Der vierfache Weg zur Erkenntnis], Band 1, 2001, S. 236.
15
Molla Sadra, Mohammad ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi: Das philoso-
phische System von Schirazi, 1913, S. 8 f. Max Horten hat Teile des
Werkes von Molla Sadra übersetzt, kommentiert und unter dem Titel ›Das
philosophische System von Schirazi‹ herausgegeben.
2.3 Molla Sadra 143
er sich stets in einem inneren Kampf um Erkenntnis befindet, zieht
er sich zurück und hört auf zu unterrichten und zu schreiben.
In 15 geistig fruchtbaren Jahren der Einsamkeit hält sich Molla
Sadra in den Gebirgen um die heilige Stadt Qom, in der Nähe von
Teheran auf. Er beschreibt es folgendermaßen: »Ich habe meinen
Geist durch schweres Leben, Enthaltsamkeit und Askese gereinigt,
und so leuchteten die göttlichen Lichter auf mich. Viele Geheimnisse
dieser Welt wurden mir auf diese Weise offenbar. Es wurden mir die
Rätsel offensichtlich, die ich durch rationale Argumentation kaum
hätte erkennen können. Diese Geheimnisse wurden […] mittels der
›eshraq‹, der Erleuchtung, enthüllt.«16 Mit diesem Rückgriff auf die
Lichtmetaphysik des Sartoscht gelangt er, wie auch Sohrewardi, zur
Überzeugung, »dass die Wahrheit nur intuitiv durch Erleuchtung zu
erkennen ist.«17 Er betont die Einheit von Wissenschaften und Glau-
ben. Philosophie habe eine theoretische Rolle bei der Erschließung
der Welt und zugleich eine praktische Aufgabe, um die der Seele des
Menschen im Alltag zu stärken.
Wie der Titel seines Werkes zeigt, spricht Molla Sadra überwie-
gend von ›Hikma‹ bzw. ›Hekmat‹, also von ›Weisheit‹, die reichhal-
tiger und zugleich strenger ist als die Philosophie. ›Hekmat‹ bedeutet
für ihn »die Vollendung des menschlichen Geistes auf der Grundlage
der Erkenntnis über die realen Gegebenheiten des Seienden, wie sie
sind und wie sie sich in der Natur vorfinden. Ihre Aufgabe liegt folg-
lich darin, eine vernünftige Erklärung von der Welt zu geben.«18 Er-
kenntnis muss eine nachvollziehbare Grundlage haben und nicht aus
Imagination oder Nachahmung gewonnen sein.
Die Geburt der Hekmat, also echter Philosophie, fängt für Molla
Sadra mit der Entstehung der Menschheit an. Hekmat ist für Molla
Sadra etwas tief im Menschen Gelegenes. Mit ihr entdeckt der
Mensch sein Menschsein und findet zu sich. In dem Moment, in dem
sich der Mensch als einen Teil der Natur oder als eine Einheit mit ihr
begreift, betritt er das Reich der Hikma. Für ihn ist Philosophie keine
Wissenschaft, sondern eine Instanz, die zur Hekmat führen soll und
selbst immer Philosophie bleibt. Hekmat heißt Existenz, eine spezi-
fische Art, das Sein zu begreifen und Einheit in sich zu erfahren.
Hakim, also echter Philosoph ist nicht jemand, der sich mit Philoso-
phie beschäftigt, sondern jemand, der mit der philosophischen Sinn-
16
Ebenda, S. 3 f.
17
Ebenda, S. 4 f.
18
Ebenda, S. 21 f.
144 Mehrdimensionale Übergangsphase
haftigkeit eins geworden ist. Dies ist ein Grund, warum nach Molla
Sadra alles Denken und Sein in Bewegung begriffen ist. Im Denken
Molla Sadras ist der Mensch ein Wesen, das sich zwischen Himmel
und Erde bewegt. Philosophie artikuliert diesen Schwebezustand und
bedeutet gewissermaßen, unaufhörlich unterwegs sein.
Molla Sadra vergleicht Philosophie mit Prophetie und schlussfol-
gert, alles was der Philosoph wisse, wisse auch der Prophet. Was aber
der Prophet wisse und tun könne, könne der Philosoph nicht, weil
dies seine Kompetenzen überschreite. Er unterteilt ›Hekmat‹ in zwei
Teile: ›Hekmat-e nazari-tağarrodi‹, eine theoretisch-abstrakte Philo-
sophie, und ›Hekmat-e amali-taaqoli‹, eine intelligibel-praktische
Philosophie. Während sich ›Hekmat-e nazari-tağarrodi‹ generell mit
dem Sein und Seienden befasst, besitzt ›Hekmat-e amali-taaqoli‹ eine
ethische Komponente und beschäftigt sich mit menschlichen Hand-
lungen.19 Er unterscheidet ferner methodisch zwei kontradiktorische
Wege, welche die islamische Philosophie seit ihrer Entstehung be-
gleiten: Erstens ›Al-ma`qul addini‹, das religiös Denkbare – es be-
zieht sich unmittelbar auf die Religion und das religiöse Verständnis
einerseits und auf die hermeneutische Exegese religiöser Texte ande-
rerseits. Zweitens ›Al-ma`qul al `aqli‹, das rational Denkbare – es
setzt sich vom religiös Denkbaren ab und hat mit verifizierbaren und
falsifizierbaren Gegenständen zu tun. Hier gilt ausschließlich die
rationale Beweisführung.
Molla Sadra ist bestrebt, die Erleuchtungsphilosophie des Soh-
rewardi mit dem analytischen Denken Ibn Sinas zu verbinden und
kritisch zu einer neuen Philosophie weiterzuentwickeln. Auf der Ba-
sis der letzten Kategorie Sohrewardis, der Bewegung, formuliert
Molla Sadra eine eigenständige, gesellschaftlich und interkulturell
relevante Philosophie. Für ihn findet Bewegung auch in der Substanz
selbst statt. Getragen wird diese Entwicklung durch die Bewegung,
deren Maß die Zeit, also ›Waqt‹ ist. Ziel von Bewegung und Zeit ist,
die allmähliche Entwicklung des Seins zu fördern. Die Seele wächst
mit dem Erkennen und gewinnt durch dasselbe an Seinsinhalt. Inten-
sitätsveränderungen sind Verschiedenheiten der Daseinsformen.
Molla Sadra weist die bekannte These vom ›unbewegten Beweger‹
zurück und nimmt an, dass Materie aus sich heraus aktiv ist: »Gott
ist nicht der Beweger des Körpers, sondern dessen Erzeuger und
Schöpfer. Der Körper und die Bewegung wurden gleichzeitig
19
Ebenda, S. 22.
2.3 Molla Sadra 145
20
erschaffen.« Dies bedeutet, dass der Mensch sich aus eigenen Kräf-
ten heraus bewegt, weil diese Komponenten in ihn hineingelegt wor-
den sind. Mit Bewegung meint Molla Sadra den beständigen Wechsel,
die Eigendynamik alles Seienden. Die Welt und damit alles was ist,
unterliegt einem Prozess des Entstehens, Bestehens und Vergehens.
Metaphorisch lässt sich diese Bewegung, dieses Im-Fluss-sein,
beschreiben als ein Meer mit verschiedenen Tiefen, in dem Ebbe und
Flut größere und kleinere Wogen produzieren. Im Meer ist nichts
beständig, alles ist in Bewegung und von Ungewissheit geprägt. Der
›Hakim‹21 bzw. ›Philosoph‹ orientiert sich in diesem stürmischen
Meer des Lebens mit dem Kompass der philosophischen Vernunft.
Er ist stets bestrebt, in die Tiefe hineinzutauchen, um die Geheimnis-
se des Lebens bzw. die Metaphysik des Lebens zu ergründen. Nicht-
philosophen hingegen verweilen am Strand dieses Lebens und orien-
tieren sich mit einer bloßen Daseinsvernunft.
Für Molla Sadra ist die Philosophie die »Vervollkommnung der
menschlichen Seele durch die demonstrativ erwiesene Erkenntnis der
eigentlichen Wesenheit der Dinge und so, wie sie in Wirklichkeit sind,
nach Maßgabe der menschlichen Erkenntniskraft, oder: die logisch-
verstandesmäßige Ordnung des Weltganzen, soweit diese dem Men-
schen erreichbar ist, um sich Gott zu verähnlichen (durch Tugend,
Askese und Wissen). Durch das Erkennen werde die Seele ein Spie-
gelbild der Welt.«22
Ein zentrales Element des philosophischen Systems Molla Sadras
ist das Verhältnis von ›djohar‹, Essenz und ›vodjud‹, Existenz, wobei
letztere bei ihm die Grundlage bildet. In der Existenz entsteht Bewe-
gung, die immer einen Auslöser hat, ein Subjekt, das ein Objekt nach
bestimmten Gesetzmäßigkeiten in Bewegung bringt. Die Seinsebe-
nen des Psychischen, Physischen und sogar des Imaginären befinden
sich in stetiger Bewegung. Nach der Logik dieses Bewegungsbegriffs
durchdringt das Ur-Sein den Kosmos.
Molla Sadra geht von einer ›Haraka Djohariyya‹, einer substanti-
ellen Bewegung aus. Dies bedeutet, dass alle Lebewesen eine unvoll-
20
Molla Sadra, Mohammad ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi: Al-Hekma al-
Motealiya fil-asfar al-Aqlia al-Arbaa [=Asfar], [Transzendentalphiloso-
phie. Der vierfache Weg zur Erkenntnis], Band 1, 2001, S. 236.
21
Der Ausdruck ›Hakim‹ ist ein Gottes Attribut und bedeutet Weisheitsleh-
rer bzw. Philosoph. Vgl. Sure 49:9.
22
Molla Sadra, Mohammad ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi: Das philoso-
phische System von Schirazi, 1913, S. 2.
146 Mehrdimensionale Übergangsphase
kommene Seinsstufe besitzen und spiralförmig danach streben, eine
immer höhere Stufe zu erreichen. An dieser Nahtstelle verbindet er
›mabda‹, den Ursprung, mit ›maad‹, dem Ort der Rückkehr. Hier wird
Anfang und Ende des Seienden in der unendlichen Natur ersichtlich.
Je mehr sich der Mensch der Vervollkommnung seiner Seele an-
nimmt, desto intensiver wird die substantielle Bewegung sein. Mit
seiner Auffassung steht Molla Sadra als ein Philosoph der Tat für den
Übergang vom bloßen Fatalismus, also der schicksalhaften Vorbe-
stimmung, zur Selbstbestimmung des Menschen in Richtung Voll-
kommenheit. Dies ist die Kulmination der Transzendenz der sadrai-
schen Philosophie, die sie einzigartig macht. Damit steht er im
Gegensatz zu Aristoteles, der Substanzen als unverrückbare Baustei-
ne des Seins betrachtet.
Molla Sadra argumentiert in vielerlei Hinsicht ähnlich wie Ghaza-
li, verteidigt die Vernunft auf seine Weise und bringt für seine Theo-
rie andere Begründungen. Er geht zwar von einem ausdifferenzierten
Vernunftbegriff aus, will aber die Komplementarität intuitiven und
rationalen Denkens nicht aufgeben. Sadra betrachtet menschliche
Handlungen immer als eine Mischung von Rationalität und Irratio-
nalität. Damit argumentiert er anders als Ghazali, der in seiner mys-
tischen Phase von einer reinen Vernunft ausgeht.
Ähnliche inhaltliche Differenzierungen sind in Europa zu finden,
wenn man die Kontroverse über den Vernunftbegriff zwischen
Rechts- und Links-Hegelianern in der Hegelforschung zum Vergleich
heranzieht. Erstere gehen von einem spekulativen Geist aus, der im
Vorfeld für absolut gehalten wird. Letztere sehen hingegen das Ziel
der Vernunft darin, sie in gesellschaftliche Verhältnisse einzuführen
und mithin eine materialistische Position auszubauen.
Molla Sadras Werk ›Transzendentalphilosophie …‹ lässt sich in
seinem Aufbau und seinem Anspruch mit den ›drei Kritiken‹ Kants
vergleichen. Im späten 18. Jahrhundert, als Kants ›Kritik der reinen
Vernunft‹ in Europa als eine Revolution der ›Denkart‹ des Menschen
gefeiert wird, konzentrieren sich viele persische Philosophen auf
Molla Sadras Hauptwerk. Er vertritt hierin die Ansicht, dass der Islam
sich methodisch mindestens auf drei verschiedenen Wegen betrachten
lasse: Erstens rein rational bis philosophisch, zweitens mystisch und
ethisch und drittens religiös nach der Tradition und den Prinzipien
der islamischen Rechtsprechung, der Scharia. Diese umfasst alle Ge-
bote sowie Rechte und Pflichten Allahs, die sich auf das menschliche
Leben beziehen.
2.3 Molla Sadra 147
Molla Sadras methodische Ansichten von der Natur der Realität
bringen neue philosophische Erkenntnisse und bewirken dadurch
einen Übergang vom Essentialismus zum Existentialismus. Dieser
hält einige Jahrhunderte später auch in der europäisch-westlichen
Philosophie Einzug. Die Philosophie und Ontologie Molla Sadras hat
nicht allein die islamische Philosophie der Gegenwart beeinflusst. Im
Iran wird er für genauso wichtig erachtet, wie wir in Deutschland
Immanuel Kant schätzen.
Ausgewählte Werke:
— Al-Hekma al-Motealiya fil-asfar al-Aqlia al-Arbaa [Transzendentalphilo-
sophie. Der vierfache Weg zur Erkenntnis]
— Risala fi itihad al-aqel wa maqoul [Einheit von Vernunft und Vernünfti-
gem].
2.4 Faiz Kaschani
und die Prinzipien der Erkenntnistheorie
Mohammad Molla Mohsen Faiz Kaschani (andere Schreibweise:
Fayz Kashani), genannt Faiz Kaschani (1598-1680), ist in Persien
geboren. Zu jener Zeit ist die beherrschende Kraft im Orient das
Osmanische Reich, allerdings wird die zweite türkische Belagerung
von Wien von europäischen Truppen abgewendet. Diese Episode
führt zu Kulturkontakten zwischen Europa und der Türkei. Die Auf-
nahme islamischer Kultur nach Europa gewinnt an Bedeutung und
führt nicht zuletzt zu großen Erfindungen und Entdeckungen durch
2.4 Faiz Kaschani 149
Galilei, Isaac Newton (1643–1727), René Descartes und Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646-1716).23
Faiz Kaschani gehört zu den führenden Philosophen des 17. Jahr-
hunderts, der die Philosophie Molla Sadras auf eine spezifische Wei-
se aufgreift und fortführt. Von seinen Eltern erhält Faiz Kaschani den
Namen Mohammad, doch sie rufen ihn Mohsen, während sein Lehrer
Molla Sadra ihn Faiz nennt, was so viel wie Wohltätiger bedeutet. Er
studiert anfangs bei seinem Vater, da dieser eine umfangreiche Bib-
liothek besitzt, doch im Alter von 20 Jahren wechselt Faiz Kaschani
nach Esfehan, um dort sein Studium fortzusetzen.
Nach einem Jahr geht Faiz Kaschani nach Schiraz, um hier Rechts-
wissenschaften und Theologie zu studieren, doch sein dortiger Lehrer
stirbt wenige Monate später. Daraufhin begibt er sich zurück nach
Esfehan und studiert bei Mir Damad Philosophie. Nach diesen Lehr-
jahren reist er zu Gelehrten nach Mekka, um seine Erkenntnisse zu
vertiefen. Kurze Zeit später kehrt er nach Persien zurück und studiert
in Qom bei Molla Sadra die Grundzüge der Mystik.
Faiz Kaschanis Werke umfassen Bereiche von Theologie, Erfan
und Philosophie. Sein Interesse gilt der Lehre der Erleuchtung. So
schreibt er Erläuterungen und Auslegungen zum Koran, zum islami-
schen Recht und zum Sufismus, die auch neuplatonische Züge auf-
weisen.
In seiner Schrift ›Minhadjel Nidjat‹, ›Pfad der Erlösung‹, führt Faiz
Kaschani in die Welt der geistigen bzw. spirituellen Lebensführung
ein. Tief verwurzelt in einer koranischen Mystik beschreibt er die
Prinzipien der glückseligen Lebensführung, Prophetie sowie Sinn
und Funktion von Gebet und Fasten für das Leben.24 Besonders be-
deutsam ist seine Erörterung über Elternliebe, das Lehrer-Schüler-
Verhältnis und den Umgang mit Unwissenden im Kreise von Familie
und Bekannten. In diesem Werk entfernt er sich von der Philosophie
und wendet sich der Mystik der Ethik zu, um dem Menschen Wege
zu einem geistigen Leben, Wege zur Erlösung, aufzuzeigen.
Die Philosophie von Faiz Kaschani ist ein ›harmonisches System‹
mit drei Komponenten: Mystik, Offenbarung und Rationalismus mit
einem transzendentalen Charakter. Für ihn stellt Gott den realen
23
Über Kaschani vgl. Ansari Moghadam, Ali: Zendeginameh Molla Moh-
sen Faiz Kaschani [Leben und Werk von Molla Mohsen Faiz Kaschani],
2012.
24
Vgl. Faiz Kaschani, Molla Mohsen: Minhadjel Nidjat [Pfad der Erlö-
sung], 1981.
150 Mehrdimensionale Übergangsphase
Seinsgrund aller Dinge dar. Beide Komponenten sind für das Werk
Kaschanis charakteristisch, wobei Momente der Rationalität in bei-
den auf unterschiedliche Art wirksam sind.
Wie Ghazali ist auch Faiz Kaschani bemüht, eine Annäherung
zwischen den zwei Hauptkonfessionen des Islam, der Sunniten und
Schiiten, herbeizuführen. Als Ausdruck dieses Versöhnungsversu-
ches redigiert und veröffentlicht er das Hauptwerk des sunnitischen
Philosophen Ghazali, den er sehr schätzt.25
Im Geiste von Ghazalis philosophisch-mystischer Weltsicht hebt
er in seinem Werk ›Verborgene Wörter‹ hervor, dass es gewisse Di-
mensionen in der kosmischen Natur und im menschlichen Leben gibt,
die nicht von jedem gesehen und verstanden werden können.
In einem weiteren Werk ›Usulol Ma’aref‹, Prinzipien der Erkennt-
nis, strebt er an, auch eine Harmonisierung zwischen den griechi-
schen und islamischen Philosophien herzustellen. Das Ergebnis ist
ein methodologischer Existentialismus, in dem er die wahre Existenz
als Sein Gottes definiert und an die pantheistische Lehre der Sufis,
also der Mystiker, allen voran Muhiyeddin Muhammad Ibn Arabi
(1165-1240), anschließt. Für Faiz Kaschani sind alle Weltsphären und
menschlichen Geister aus der göttlichen Quelle hervorgegangen. Dies
bedeutet, dass das Niedere stets aus dem Höheren hervorgeht.
Das Prinzip des Seins offenbart eine große Fülle, in der Ursprüng-
lichkeit, Realität und Wirkungssein enthalten sind. Alle drei Kompo-
nenten zeichnen die Besonderheit der Existenz aus. Gott als das Prin-
zip des Seins ist Existenz und damit nicht wesenhaft, während der
Mensch wesenhaft ist: »Weil es viele Welten gibt und die Existenz
mehrere Entwicklungsstufen besitzt und durchläuft, nimmt diejenige
Stufe mehr Anteil an Vollkommenheit, die weniger Abstand zur Ure-
xistenz bewahrt.«26
Mit dieser Annahme stellt Faiz Kaschani eine frühe Evolutionsthe-
orie auf, welche er theologisch begründet. Das Endziel der Schöpfung
Gottes sieht er in einer fortlaufenden Vervollkommnung, die mit der
Materie ihren Anfang nimmt und sich über die pflanzliche, tierische
und schließlich die menschliche Entwicklungsstufe der Vernunft mit
Gott verbindet.
25
Vgl. Faiz Kaschani, Molla Mohsen: Al-Mahjol-Beyza fi Tahzibol-Ehya
[Wiederbelebung der Wiederbelebung], 1991.
26
Vgl. Faiz Kaschani, Molla Mohsen: Usulol Ma’aref [Prinzipien der Er-
kenntnistheorie], 1992, S. 127 f.
2.4 Faiz Kaschani 151
In der philosophischen Ethik Faiz Kaschanis sind Gut und Böse
zwei auf eine bestimmte Weise unterschiedliche Kategorien. Existenz
als solche sei das Gute, da darin das Prinzip des Göttlichen immanent
sei. Dagegen sieht er das Böse als eine nicht unmittelbar existierende
Kategorie. Es besäße keine Realität in einer konkreten Form; es be-
deute Nichtsein. Das Böse existiere nur in der materiellen Welt, nicht
in der spirituellen. Hier unterscheidet Faiz Kaschani zwischen einer
höheren und niederen Welt. Das Böse ordnet er der niederen, mate-
riellen Welt und damit einer niederen Entwicklungsstufe zu. Es ist
nichts Passives, sondern ein aktiver Vorgang, der Bewegung in die
Welt hineinbringt. Das Gute hingegen bleibt für ihn stets in der hö-
heren Welt beheimatet. Bei der Bestimmung der Kategorie des Guten
und des Bösen zeigen Faiz Kaschanis Ideen starke Beeinflussung
durch Naraghis Ethik.
Ein weiteres Werk von Faiz Kaschani ist die ›Ethik der Prophetie
und Imamat‹27 bzw. des Imamtums. Prophetie bedeutet hier nicht nur
die Verkündigung einer göttlichen Botschaft, sondern die Lebensfüh-
rung des Propheten als einem Menschen mit allen Eigenschaften der
Vollkommenheit. Der Prophet ist aufgrund seiner Weisheit, Größe
und Selbstlosigkeit sowie seiner aufrichtigen Zuwendung zum Gött-
lichen dazu imstande, Vorbild zu sein und die Menschheit zu führen.
Der echte Prophet zeichnet sich als Inbegriff der Ethik aus.
Die Idee des Imamat baut auf diesen postulierten Eigenschaften
des Propheten auf, animiert die Menschen für das Wahre und Schöne
im Göttlichen und begleitet sie auf diesem Wege. Insofern sind Imam
und Prophet zwar nicht miteinander zu verwechseln, sind aber im
Grunde gleich, da der Imam stets bestrebt ist, der Lebensführung des
Propheten nachzueifern.
Der Islam fußt auf drei Prinzipien: dem ›Towhid‹, Monotheismus,
also dem Glauben an einen einzigen Gott, der ›Nabowwat‹, Prophe-
tie, also der Vermittlung zwischen dem Göttlichen und den Men-
schen, und schließlich der ›Ma’ad‹, der Eschatologie, dem Jüngsten
Gericht. Der schiitische Islam fügt noch zwei weitere Prinzipien hin-
zu: die ›Adl‹, die Gerechtigkeit, und die ›Emmamat‹ bzw. Imamat.
Gerechtigkeit bedeutet, die Menschen im Zuge der göttlichen Vorse-
hung so zu behandeln, wie sie sich selbst, dem Leben und den Men-
schen gegenüber verhalten. Emmamat hingegen besagt, dass nach
27
Vgl. Faiz Kaschani, Molla Mohsen: Akhlaqe nabowat wa Emamat [Ethik
der Prophetie und Imamat], 2012.
152 Mehrdimensionale Übergangsphase
den Propheten die zwölf Imame als Kalifen die Lebensweise des
Propheten fortsetzen.
Faiz Kaschani greift die zuletzt genannten Prinzipien auf und be-
schreibt ihre Philosophie und Ästhetik. Ganz im Sinne der echten
Prophetie geht es ihm darum, die Gesinnung und das Verantwortungs-
bewusstsein des Menschen durch Einfachheit im Leben, Bestimmt-
heit im Glauben und Gerechtigkeit im Handeln zu veredeln. Es han-
delt sich um die Verfeinerung der Sittlichkeit und die Anleitung zu
einer wahrhaftigen Lebensführung.
Ausgewählte Werke:
— Al haqaia fi asrar adine [Fakten zu den Geheimnissen der Religion].
— Al-kalimat al-maknona [Verborgenes Wort].
2.5 Molla Ahmad Naraghi
und die Grundlagen der rationalen Ethik
Molla Ahmad Naraghi (andere Schreibweise: Naraqi), gennant
Naraghi (1764-1824), erblickt in Persien das Licht der Welt. In Frank-
reich kündigen sich große Umwälzungen an, und in seiner Jugend ist
die Französische Revolution voll im Gange. Auch Naraghi wird zum
frühen Verfechter aufklärerischer Ideen. Sein Tod ist zeitgleich mit
dem Wiener Kongress, als dessen Folge in Deutschland eine restrik-
tiv-biedermeierliche Stimmung einzieht.
Seine Kindheit verbringt Naraghi bei seinem Vater in Kaschan, bei
dem er später in Nadschaf Theologie studiert. Er lernt Hebräisch und
Latein, um die philosophischen Gedanken in dieser Sprache nach-
154 Mehrdimensionale Übergangsphase
vollziehen zu können. Der begabte Student schließt sein Studium in
Rechtswissenschaften in kürzester Zeit ab und gilt im Alter von 20
Jahren als Rechtsgelehrter. Zu seinen Arbeitsbereichen gehören ne-
ben Mathematik und Astronomie auch Literatur und Ethik.
Naraghi gehört zu den Moraltheoretikern in der islamischen Phi-
losophie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts und steht philo-
sophisch in der Tradition Ibn Sinas, Ghazalis und Molla Sadras. Nach
dem Ende seines Studiums übernimmt Naraghi das Lehramt seines
Vaters.
Naraghis Menschenbild ist universalistisch angelegt. Er geht da-
von aus, dass der Mensch über Wille und Freiheit verfügt. Im Men-
schen sieht er eine Reihe von ethischen, aber auch von destruktiven
Merkmalen: »Wisse, dass diese Eigenschaften, die in dich hineinge-
pflanzt worden sind, teils großartig und engelhaft und teils raubtier-
artig sind.«28
In seinem Werk ›Meradjul-Sa’ada‹ 1798, ›Die Himmelfahrt der
Glückseligkeit‹, entwickelt Naraghi eine systematische Ethikkonzep-
tion.29 Die Seele als ›padeschah‹, ›Königin‹, steht an erster Stelle, die
›aql‹, Vernunft, steht als Ministerin der Königin an zweiter unver-
rückbarer Position. Sie beurteilt die Dinge, bildet Erkenntnisse und
bestimmt die Grenzen der Möglichkeiten.30 Eine Wissenschaft ohne
eine gereinigte Seele ist für Naraghi ethisch nicht vertretbar. Dies ist
für ihn ein Grund die Ethik über allen übrigen Wissenschaften anzu-
siedeln.
Naraghi untersucht die Aneignung guter Gedanken und Handlun-
gen, die Konstitution des Zweifels und ihre Begründung sowie ethi-
sche Komponenten der Wissenschaft mit ihren Hierarchien der Ge-
wissheit. In einem weiteren Schritt analysiert er die Notwendigkeit
ethischen Handelns, das Göttliche in der menschlichen Natur sowie
tierische Instinkte im Menschen. Ergänzende Komponenten der
Selbsterkenntnis sind die Frage nach der Tugend des Verzeihens,
Gründe für das Gebieten oder Verbieten von Handlungen, die Prob-
lematik der Lüge sowie die Tugend der Reue und ihre Arten. Von
Bedeutung sind auch die Tugend der Dankbarkeit, verborgene Weis-
heiten im Menschen, Vernunft und ihre Arten sowie die Ontologie
der Liebe, die Tugend des Gebets, der Geduld und der Toleranz.
28
Ebenda, S. 1.
29
Vgl. Naraghi, Molla Ahmad: Meradjul-Sa’ada [Die Himmelfahrt der
Glückseligkeit], 2006.
30
Ebenda, S. 34.
2.5 Molla Ahmad Naraghi 155
Dieses Werk umfasst drei methodische Dimensionen, die mitein-
ander in Bezug stehen: rationalistische, hermeneutische und psycho-
logische. Naraghi sieht die Aufgabe des Menschen darin, reflektiv-
meditativ in sich zu gehen und über die Polarität seiner Eigenschaften
nachzudenken. Er ist der Ansicht, dass der Mensch aufgrund seines
freien Willens aus sich heraus in der Lage ist, sich für das eine oder
das andere zu entscheiden. Sein Werk ist ein Plädoyer für eine breit
gefächerte Aufklärung im menschlichen Denken, Reden und Han-
deln, ohne spirituelle Dimensionen zu vernachlässigen.
Naraghi trennt religiöse und säkulare Aufklärung nicht, sondern
betreibt diese gleichzeitig. Er räumt dem Menschen die Möglichkeit
ein, ›religiöse Aufklärung‹ gepaart mit philosophischen Dimensionen
zu verbinden. Grundlage dieses Ansatzes ist die Selbsterkenntnis:
»Bedenke, dass du dir am nahesten stehst, bedenke, dass der Schlüs-
sel deiner Glückseligkeit in beiden Welten die Selbsterkenntnis ist.
Es ist ersichtlich, dass du ohne diese zu keinen weiteren Erkenntnis-
sen gelangen kannst.«31
Der Knotenpunkt der Selbsterkenntnis liegt für Naraghi in ›Leib‹,
›badan‹, und ›Seele‹, ›nafs‹. Während der Leib der Welt der Körper-
lichkeit angehöre, stamme die Seele aus der Welt der Transzendenz.
Sie könne nur durch das Auge der inneren Schau gesehen und erkannt
werden. In der Überwindung der Körperlichkeiten und der Entde-
ckung der Erhabenheit der Seele durch einen Selbsterkenntnisprozess
findet der Mensch zu sich selbst: »Gelingt es dem Menschen, durch
die Zügelung seiner Körperlichkeiten seine Seele zu veredeln, so wird
das Tor zur Selbsterkenntnis geöffnet.«32
In seinen Überlegungen zeigt sich Naraghis radikale Zurückwei-
sung einer einseitigen Vernunft, welche ausschließlich die materiellen
Dimensionen des Lebens vor Augen hat. Diese unterscheidet Men-
schen von triebhaft gesteuerten Tieren. Nach Naraghi ist das Errei-
chen der Sphären des Erhabenen und Vollkommenen nur durch diese
Selbsterkenntnis möglich: »Suche und ergründe dich selbst!, wer du
bist, woher du kommst, wohin du gehen wirst, was ist der Grund der
existenziellen Abhängigkeit deines Hierseins, warum du über Wille
und Freiheit verfügst und wovon deine Glückseligkeit abhängt und
warum? Ergründe letztlich, warum du sterben wirst.«33
31
Ebenda, S. 3.
32
Ebenda, S. 7.
33
Ebenda, S. 4 f.
156 Mehrdimensionale Übergangsphase
Vier Fähigkeiten bilden die Grundlage von Naraghis ethischen
Konzeption, die in der Natur des Menschen vorhanden und für die
Begründung ethischen Verhaltens grundlegend sind. Es handelt sich
um: Erstens ›qowaje aqlije‹, das Vermögen der Vernunft, situations-
adäquat zu argumentieren. Zweitens ›qowaje ameleh‹, das Vermögen
der Umsicht, um das eigene Verhalten dem jeweiligen Kontext anzu-
passen. Drittens ›qowaje qazabije‹, das Vermögen des Eigenschutzes,
um Schaden von sich abzuwenden. Viertens ›qowaje schahwije‹, das
Vermögen, die Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen und seine
Eigeninteressen zu sichern.
Weil die Zusammensetzung dieser Komponenten das menschliche
Leben und Verhalten bestimmen, besteht die eigentliche Pflicht des
Menschen für Naraghi darin, sich in allen Belangen des Lebens, ob
religiös oder kulturell, zwischen Übertreibung, ›efrat‹ und Untertrei-
bung, ›tafrit‹ für das weise Maß, also für das ›etedal‹ zu entscheiden.
Ist das weise Maß erreicht, so wandelt sich erstens das Vernunft-
vermögen zur ›hekmat‹, zur reinen Weisheit, zweitens das Geschick-
lichkeitsvermögen zu ›salabat‹, zur Standhaftigkeit, drittens das Um-
sichtsvermögen zur ›schodja’at‹, zur Tapferkeit und viertens das
Selbsterhaltungsvermögen zur ›effat‹, zur sittlichen Veredlung der
Seele. Dieser immerwährende Prozess bildet die Grundlage und
Richtschnur für die Glückseligkeit, ›sa’adat‹, des Menschen. Die
Ausgangsposition der Ethik Naraghis ist das Erwachen eines Gerech-
tigkeitssinnes, ›edalat‹, in der menschlichen Seele durch ihre Verede-
lung, welche mit der Kunst des weisen Maßes steht und fällt.
Das ikhwanisch-anthropologische Vorverständnis der Menschen-
gemäßheit und Liebe spiegelt sich in Naraghis Werk und bildet einen
integralen Bestandteil künftiger Anthropologien, die nach Veredelung
der menschlichen Seele suchen. Diese monumentale Theorie der
Ethik Naraghis gehört zweifelsohne zu den umfassenden Ethikkon-
zeptionen unserer Gegenwart.
Ausgewählte Werke:
— Muschkelat-al Uloum [Probleme der Wissenschaften].
— Meradjul-Sa’ada [Die Himmelfahrt der Glückseligkeit].
2.6 Hadi Sabzewari
und der rationalistische Existentialismus
Hadi Sabzewari (andere Schreibweise: Sabzavari), genannt Sabze-
wari (1798-1878), ist in Persien geboren. Er studiert Rechtswissen-
schaften, Logik und Grundsätze der Religion. Sabzewari ist nach
Molla Sadra eine zentrale Figur der Schule von Esfehan. Seine Phi-
losophie lässt sich als eine Art rationalistischer Existenzialismus be-
zeichnen.
Zur Zeit Sabzewaris ereignen sich in islamischen Gebieten folgen-
reiche politische Wendungen. In Europa sind die Verhältnisse nicht
anders. Napoleon Bonaparte (1769-1821) setzt mit seiner Flotte nach
Ägypten über und bricht damit in islamische Gebiete ein. Auf dem
158 Mehrdimensionale Übergangsphase
Gebiet der Wissenschaften in Europa markiert das Werk des franzö-
sischen Soziologen Auguste Comte (1798-1857) eine Wende.
Im Alter von 20 Jahren geht Sabzewari zur Schule von Esfehan,
wo er seine Studien betreibt und ein frommes Leben führt. Etwa zehn
Jahre führt er diese Schule und verleiht ihr eine neue Prägung. Später
wechselt er nach Kerman und beschäftigt sich eingehend mit der
Mystik. Sabzewaris Schriften reichen von Philosophie über Theolo-
gie bis hin zur Poesie. Seine Werke sind sowohl in Arabisch als auch
Persisch verfasst.34
Sabzewari hat eine konkrete Erkenntnistheorie sowie eine Philo-
sophie der Sprache und Logik ausgearbeitet, ohne diese explizit zu
benennen. Philosophie ist für ihn denkende Beschäftigung mit der
Sprache, weil sie mit Inhalt und Bedeutung der Aussagen zu tun hat,
welche die Tätigkeiten der Philosophie berühren. Das Gleiche gilt
auch für die Logik als die Grammatik des Denkens. Sprache befähigt
uns dazu, uns über abstraktere Dinge auszutauschen; sie eröffnet uns
philosophische Dimensionen, um die Innen- und Außenwelt mitein-
ander zu verbinden. Insofern besitzt die Sprache nach Sabzewari ei-
nen starken hermeneutischen Charakter.
In Anlehnung an diese Überlegungen stellt Sabzewari seine Philo-
sophie in zwei Studien vor. Seine Schrift ›Scharhe Manzoume‹, ›Das
System des Universums‹, stützt sich auf das Hauptwerk ›Asfar‹ von
Molla Sadra und die Illuminationslehre des Sohrewardi. Das zwei-
teilige Werk umfasst philosophische Dimensionen und eine Beschäf-
tigung mit Fragen der Logik. Stilistisch gestaltet Sabzewari sein Werk
aus einer Mischung von 1.100 aphorismenhaften Doppelversen und
Prosa.35 Wie der griechische Philosoph Parmenides (520-460) ver-
fasst auch er seine Philosophie in Versen.
Philosophie ist für Sabzewari eine strenge Reflexion über Entste-
hen, Bestehen und Vergehen der Dinge und das Gesetz der Gotteser-
kenntnis. Um die Zusammensetzung der Sachverhalte zu verstehen,
müssten wir die Vielfältigkeit der Welt analysieren. Dies sei ohne
Logik nicht möglich. Unter Logik versteht Sabzewari ein Messinst-
rument, das nach bestimmten vernunftgeleiteten Gesetzen arbeitet
und für die rechte Denkleitung bestimmend ist.
34
Über Sabzewari vgl. Johardelvari, Abdolamir: Iranische Philosophie von
Zarathustra bis Sabzewari, 1994.
35
Vgl. Sabzewari, Molla Hadi: Scharhe Manzoume [Das System des Uni-
versums], 1995.
2.6 Hadi Sabzewari 159
Sabzewaris Philosophie ist in seinem Existenzbegriff begründet.
Er unterteilt den Begriff der ›Existenz‹ in verschiedene Seinsstufen,
die entweder miteinander zusammenhängen oder sich voneinander
absetzen. Die erste Seinsstufe ist für Sabzewari das Licht, welches
zugleich das absolute Sein verkörpert. Es ermöglicht die Erkenntnis
der Dinge.36 In seinem Werk ›Asrarol Hekma‹, ›Geheimnisse der
Philosophie‹, hebt er hervor, dass das Möglich-Seiende aus zwei
Aspekten bestehe, nämlich Sein und Nichtsein bzw. Licht und Fins-
ternis. Hier bezeichnet er das Sein als das Ursprüngliche und die
Wesenheit als das Vergängliche.37
Im Kontext des rationalistischen Existentialismus des Sabzewari
besteht jedes Ding aus zwei Seiten, einer hellen und einer dunklen.
Während die helle Seite das Gute hervorbringt, stammt das Böse aus
der dunklen Seite. Nach diesem dualistischen Prinzip, das stark in der
altpersischen Kosmologie verankert ist, sieht er die Willensfreiheit
des Menschen und zugleich die Determination dieser Freiheit. Dem-
nach ist der Mensch zwar frei, um sich für das Eine, das Andere oder
eine Mischung von beidem zu entscheiden. Die Entscheidung selbst
hingegen unterliege wiederum der Determination. Insofern sei der
Mensch in seiner Freiheit dazu verdammt, Entscheidungen treffen zu
müssen. Die Seinhaftigkeit des Seienden ist absolut, wohingegen die
Wesenheit der Erscheinungen relativ ist. Im Prinzip des absoluten
Seins und der Erscheinung vom Wesenhaft-Vergänglichen sieht Sab-
zewari die Einheit des Menschlichen.38
In seinem Werk ›Scharhe Manzoume‹, ›Das System des Univer-
sums‹, unterscheidet Sabzewari zwischen zwei Vernunftformen: the-
oretische und praktische Vernunft. Theoretische Vernunft unterteilt
er in potentielle, habituelle, aktuelle und universelle Art. Die prakti-
sche Vernunft teilt er auf in äußere und innere Reinigung sowie An-
eignung guter Motive und Selbstüberwindung bis hin zur Gottesver-
bundenheit.39
In dieser Unterteilung der praktischen Vernunft zeigt sich eine
starke Mystik der Letztbegründung im Denken Sabzewaris. Diese
36
Vgl. Sabzewari, Molla Hadi: Scharhe Manzoume [Das System des Uni-
versums], 1995, S. 35 f.
37
Vgl. Sabzewari, Molla Hadi: Asrarol Hekma [Rätsel der Philosophie],
1982, S. 37 f.
38
Vgl. Ebenda, S. 6 ff.
39
Vgl. Sabzewari, Molla Hadi: Scharhe Manzoume [Das System des Uni-
versums], 1995.
160 Mehrdimensionale Übergangsphase
aufeinanderfolgenden Stufen der Vernunft bilden die Grundlage sei-
ner rationalistischen Ethik.
Sabzewaris Philosophie ist praktisch die Weiterführung der sadrai-
schen Philosophie mit neuen Akzenten wie der Philosophie der
Sprache. Sein Denksystem ist eine Mischung von Erfan, also Weis-
heitslehre, religiösen Quellen und Vernunfterkenntnissen. Dieser
Zusammenschluss dreier Modelle birgt die Gefahr, dass man für die
Verteidigung religiöser Diskursfelder Anleihen bei der Philosophie
macht, wie dies bei Hegel der Fall ist, und sie damit instrumentalisiert.
Ausgewählte Werke:
— Asrar al-hikmah [Geheimnisse der Philosophie].
— Sharh-i manzumah [Das System des Universums].
3. Kritische Gegenwartsphase
(19. bis 21. Jahrhundert)
Wie im letzten Abschnitt dieses Werkes aufgezeigt worden ist, gingen
die Philosophen der mehrdimensionalen Übergangsphase unter-
schiedliche Wege zwischen Philosophie und Glauben sowie zwischen
Islam und zarathustrischer Kosmologie der Erleuchtung, um Erkennt-
nisse zu gewinnen.
Die Philosophen der kritischen Gegenwartsphase wurden in die
historischen Ereignisse eines Niederganges der großen islamischen
Reiche hineingeboren. In dieser Zeit sind Kolonialismus und Expan-
sionismus der europäisch-westlichen Großmächte in vollem Gange.
Das Markenzeichen jener Zeit ist nicht Frieden und Harmonie, son-
dern vorwiegend die Anwendung von organisierter und struktureller
Gewalt. Ziel aller Kolonialherren ist, wenn auch in unterschiedlichem
Maße, den besiegten Völkern den jeweils eigenen Stempel aufzudrü-
cken und nicht zuzulassen, dass sie Eigenständigkeit und Selbstbe-
wusstsein entwickeln.
Die Fragestellungen der Philosophen dieser Zeit richten sich des-
halb, neben traditionellen Themen von Philosophie, Glauben und
Ethik, vor allem auf die Suche nach den Gründen für Fremdherrschaft
und Rückständigkeit islamischer Kulturräume. Weil die Thematisie-
rung aller bedeutenden Philosophen des Orients den Rahmen dieses
Bandes sprengen würde, musste eine bisweilen schmerzhafte Aus-
wahl getroffen werden. Um die wichtigsten Traditionslinien islami-
scher Philosophie nachzuzeichnen, werde ich im Folgenden einige
tragende Figuren kritisch würdigen.
Bevor die einzelnen Philosophen dieser Periode zur Darstellung
kommen, möchte ich darauf hinweisen, dass nicht alle diese Zeitge-
nossen, wie Akhondzade, Kermani, Talbof Tabrizi oder Arkoun, Phi-
losophen im klassischen Sinne sind, sondern eher Literaten, Sozial-
kritiker oder Islamwissenschaftler, die sich mit philosophisch
relevanten Themenbereichen beschäftigen. Sie vertreten, wie noch
zu zeigen sein wird, mehr oder minder euroverliebte Positionen, die
weder in ihren Ländern zur Besserung der Verhältnisse noch zu einem
echten Austausch zwischen Orient und Okzident beizutragen ver-
mochten. Die ersten drei sind vorwiegend nationalistisch orientiert;
eine Ideologie, die in der Regel mehr Schaden hervorbringt als Frie-
den und Fortschritt. Die euroverliebte Dimension ihres Denkens zeigt
sich daran, dass sie, obschon keine Europäer, wie Kant zu ihrem Volk
sprechen und eine solche Kantsche Aufklärung anstreben.
3.1 Mirza Fathali Akhondzade
und die Dimensionen der Sozialkritik
Mirza Fathali Akhondzade (andere Schreibweisen: Akhund’zadah,
Mirza Fatali Axundov), genannt Akhondzade (1812-1878), wird in
Persien geboren. Zu jener Zeit ist Napoleons Russland-Feldzug am
Scheitern und im russischen Kaiserreich vollziehen sich revolutionä-
re Unruhen. Sie werden durch den Petersburger Blutsonntag abgelöst
und münden schließlich in die Revolution von 1918.1
1
Über Akhondzade vgl. Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Mirza Fathali
Akhondzade [Die Philosophie des Mirza Fathali Akhondzade] 1979.
3.1 Mirza Fathali Akhondzade 163
Beeindruckt von den gesellschaftlichen Folgen der Französischen
Revolution ist Akhondzade bestrebt, grundlegende Veränderungen in
der Gesellschaft herbeizuführen. Er sieht in Voltaire (1694-1778) ein
Vorbild, da dieser sich für die Vernunft einsetzt und institutionalisier-
te Formen von Glauben öffentlich ablehnt.2
Mit 22 Jahren geht Akhondzade an die Nersysyan-Schule nach
Tiflis, das seinerzeit zu Persien gehört, um sich mit dem Studium der
Literaturgeschichte zu befassen. Dort arbeitet er einige Jahre später
als Lehrer und widmet sich der Literaturkritik. Er ist der Begründer
des literarischen Kritizismus des Iran. Akhondzade, der mit der rus-
sischen und der westeuropäischen Philosophie vertraut ist, entwickelt
ein lateinisches Alphabet der Turksprachen, welches aber derzeit im
Osmanischen Reich keine Anerkennung findet.
Akhondzades wichtigste Schriften bestehen aus sechs Satiren, wel-
che die islamische Welt, einen Glauben ohne Vernunft und insbeson-
dere das Arabertum, das er nicht schätzt, einer kritischen Diagnose
unterziehen. Er hält es für eine »Pflicht, dass jedes Volk Fortschritte
erzielt und sein Recht erlangt.«3 In seiner Philosophie betrachtet er
die Vernunft als Grundlage der Reflexion, welche die Gesetzmäßig-
keit der Natur durch erfahrbare Erkenntnis und nicht durch Offenba-
rung erforscht: »Wenn wir auf Theokraten hören wollen«, schreibt er,
»so müssen wir auf das Licht der Vernunft und Wissenschaft
verzichten.«4 Eine solche kritische Philosophie ist seine Vision, die
er als »Leuchttürme der Vernunft«, also ›roshansaraje kherad‹, be-
zeichnet. Diese Vision soll »die Sonne der Bildung im Orient zum
Leuchten bringen.«5
Akhondzade ist kein Philosoph im klassischen Sinne, sondern ein
Sozialkritiker seiner Zeit. In politischer Hinsicht gilt er als ein Vor-
denker der persischen Verfassungsrevolution, die von 1905 bis 1911
stattfindet. Dieses Ereignis erreicht einen ersten Höhepunkt im Au-
gust 1906, als Mozaffareddin Schah (1853-1907) die erste Verfassung
Persiens unterzeichnet und erstmals ein Parlament eingerichtet wird.
Dabei kommen verschiedene Gruppen der Gesellschaft zusammen.
2
Voltaire geht Akhondzade aber nicht weit genug, da dieser sich nicht der
Regierung widersetzt habe. Ebenda, S. 279.
3
Adamijjat, Fereydun: Ideologije nehsate mashruteje Iran [Philosophie
der Verfassungsbewegung im Iran], 1975, S. 426.
4
Ebenda, S. 285 und 446.
5
Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Mirza Fathali Akhondzade [Die Phi-
losophie des Mirza Fathali Akhondzade] 1979, S. 24.
164 Kritische Gegenwartsphase
Fehlende Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein in Persien sind
Gründe, warum Akhondzade nach einem Weg sucht, um sein Land
zu modernisieren. Die Alphabetisierung des persischen Volkes ist für
Akhondzade grundlegend wichtig, um Neuerungen für alle Men-
schen verstehbar zu machen und sie auch über elitäre Schichten hin-
aus weiterzutragen. Nur so könne Persien ein fortschrittliches Land
werden und sich in der Welt behaupten. Ohne eine solche grundle-
gende Umwälzung sieht Akhondzade keine Möglichkeit, das Volk auf
die Anforderungen eines wissenschaftlichen Zeitalters vorzubereiten.
Die Intellektualisierung des Volkes setze eine humanistisch-freiheit-
liche Kooperation zwischen der Regierung und dem Volk voraus.6
Akhondzade nennt die Würde des Menschen, die in seinem Land
zum Spielball der russischen und britischen Mächte sowie politischer
Strömungen in Persien geworden ist. Er ist bestrebt, dem Aberglau-
ben, blinden Gehorsam und der Bevormundung sowie dem religiösen
Fanatismus ein Ende zu bereiten, um die Denkart des unterdrückten
Volkes den Kriterien der Vernunft zugänglich zu machen. Er verlangt
in unterschiedlichen Zusammenhängen, Menschen grundsätzlich
gleich zu behandeln, weil sie von Natur aus gleich sind und über
Vernunft und unveräußerliche Rechte verfügen.
In seinem bekannten Werk ›Se maktub‹, ›Drei Traktate‹, hebt Ak-
hondzade hervor, dass der Mensch frei geboren sei und niemandes
Willen zu gehorchen habe. Seiner Würde gemäß müsse der Mensch
ein selbstbestimmtes Leben führen dürfen.7 In Anlehnung an die
Lehre von Sartoscht setzt sich Akhondzade nicht nur für das Gleich-
heitsprinzip von Mann und Frau ein, sondern auch und vor allem für
die Rechte der Frauen, die in dieser Zeit keine Rechte haben. Er
vergleicht eine Gesellschaft, in der Frauen nicht gleichberechtigt
sind, mit einem Menschen, der mit nur einem Bein normal gehen will:
»Frauen müssen sich der Bevormundung widersetzen, sich entwi-
ckeln und in allen staatlichen Institutionen Verantwortung
übernehmen.«8
1880 richtet Akhondzade an das persische Kultusministerium ein
Schreiben mit der Aufforderung, die persische Sprache, und damit
die eigene Denkart, gründlich zu modernisieren. Er wendet sich ge-
6
Vgl. Akhondzade, Mirza Fathali: Se maktub [Drei Traktate], 2006, S. 325.
7
Vgl. Ebenda.
8
Adamijjat, Fereydun: Ideologije nehsate mashruteje Iran [Philosophie
der Verfassungsbewegung im Iran], 1975, S. 426.
3.1 Mirza Fathali Akhondzade 165
gen Theokratie als Staatsform und beabsichtigt eine radikale Tren-
nung von Staat und Religion zu vollziehen.
Akhondzade lehnt einen Anschluss an das ›Arabertum‹ ab. Der
Islam und alle anderen abrahamischen Religionen symbolisieren für
ihn Rückständigkeit und Stagnation. Er ist stets bemüht, die persische
Sprache von arabischen Lehnwörtern zu befreien, da Sprache seiner
Ansicht nach das Denken beeinflusse und das Arabische mit der
persischen Tradition und Denkart wenig zu tun habe. Hier erwähnt
Akhondzade den Dichter-Philosophen Abolqasem Ferdosi (941-
1020), der die persische Sprache weitgehend modernisiert und der
altpersischen Tradition zu einer Wiedergeburt verholfen hat. Er ver-
gleicht Ferdosi mit Homer, dessen Werk eine Grundlage der europä-
ischen Zivilisation darstellt.9
Akhondzade hält Ferdosi für einen Anhänger des Sartoscht. Daher
hält er eine Rückbesinnung des persischen Volkes auf Sartoschts
(Zarathustras) von Vernunft und Freiheit getragene Lehre für grund-
legend. Für Sartoscht ist eine wahrhaftige Lebensführung nur dann
möglich, wenn die Motive des Denkens, Redens und Handelns gut
sind. Akhondzade gehört zweifelsohne zu den bekannten Sozialkri-
tikern des zeitgenössischen Iran. Er verfehlt seine Ziele, weil er durch
eine radikale Entarabisierung der Sprache und Kultur Persiens das
Land teilweise seiner kulturellen Grundlagen beraubt hätte. Ihm ent-
geht, dass die arabische Sprache und zum Teil auch die Kultur ein
allgemeines Gut des persischen Lebens geworden ist, das nicht leicht
zu eliminieren ist. Gerade die Mischung bildet die Grundlage der
persischen kulturellen Identität.
Ausgewählte Werke:
— Se maktub [Drei Traktate].
— Usule negaresh [Morphologie des Schreibens].
9
Vgl. Ebenda, S. 294 und 304.
3.2 Mirza Aghakhan Kermani
und die Rückbesinnung auf eigene Traditionen
Mirza Aghakhan Kermani (1850-1896) ist in Persien geboren. Er
übernimmt die politische Gesinnung seines Zeitgenossen Akhondzade
wie auch dessen Gründung auf Sartoschts Lehre. Auch er ist ein So-
zialkritiker, der sich mit philophisch relevanten Fragen beschäftigt.
1886 geht Kermani nach Istanbul, wo er mit der europäischen Philo-
sophie in Kontakt kommt und diese ansatzweise in seine Werke inte-
griert.10
10
Über Kermani vgl. Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Mirza Aghakhan
Kermani [Die Philosophie des Mirza Aghakhan Kermani], 1978.
3.2 Mirza Aghakhan Kermani 167
Die Geburt dieses Sozialkritikers fällt zeitlich zusammen mit dem
Ringen Preußens und Österreichs um die Macht im Frankfurter Par-
lament. Kurz danach wird Bismarck (1815-1898) preußischer Ge-
sandter beim damaligen Deutschen Bundestag.
Den Zustand des Iran seinerzeit vergleicht Kermani mit einer klei-
nen Kerze, die im Gegensatz zur Sonne des europäischen Geistes
stehe. Er stellt bekümmert fest: »Persien! Wo bist du geblieben, du
hast eine ganz andere Stellung zur Zeit des Königs Goschtassb (in
der Zeit des Sartoscht) gehabt, was ist davon übrig geblieben außer
Verachtung?«11 Kermani erwägt eine gewisse Europäisierung Persi-
ens und bezieht sich auf die Philosophen Charles Louis de Montes-
quieu (1689-1755) und John Locke (1632-1704). Dabei geht es nicht
darum, durch eine radikale ›Verwestlichung‹ einen internen Eurozen-
trismus herbeizuführen. Er betrachtet die europäischen Vorstellungen
von Demokratie als nur eingeschränkt geeignet für die persische
Gesellschaft und hält soziale Umwälzungen nur dann für möglich und
sinnvoll, wenn sie den gewachsenen Traditionen des eigenen Landes
entsprechen. Unter Tradition versteht er, wie Akhondzade, allerdings
nur die Wiedereinführung der Lehre des Sartoscht, weil er in dessen
Tradition einen vernunftverwurzelten Weg sieht, um die Notwendig-
keit der Vernunft aus der persischen Philosophie heraus zu entwi-
ckeln.
Kermani beabsichtigt, alle institutionellen Ebenen der Gesellschaft
grundlegend zu reformieren, um verlorengegangene Werte wiederzu-
gewinnen und Fortschritte zu erzielen. Auf diesem Wege hält er es
genau wie Akhondzade für angebracht, sich vom Islam abzuwenden.
Die Gleichheit aller Bürger hält Kermani für eine unverzichtbare
Basis des staatlichen Lebens. Er entwickelt eine naturphilosophische
Theorie, um diese Stagnation zu beheben. Dieses Ziel lasse sich nach
ihm nur durch die Herbeiführung einer Zivilgesellschaft realisieren.
Kermani verweist auf den neugierig-suchenden Geist des Menschen,
der verstehen und verstanden werden will. Er insistiert in unterschied-
lichen Zusammenhängen, dass gerade dieser operative Geist des
Menschen ihn im Prozess seines Lebens stets zum erwähnten ›Leucht-
turm der Vernunft‹ führt.
Mit der Gründung der Zeitschrift ›Qhanun‹, ›Gesetz‹, schafft Ker-
mani ein Forum, um Fehler der Politiker sowie weitere politische und
soziale Missstände diskutieren zu können. Seiner Auffassung nach
sind die Machthabenden seiner Epoche selbst für die Rückständigkeit
11
Akhondzade, Mirza Fathali: Se maktub [Drei Traktate], 2006, S. 119.
168 Kritische Gegenwartsphase
und Unwissenheit des Volkes verantwortlich. Diese bezeichnet er als
›nationale Räuber‹ und Marionetten der fremden Mächte. Sie hätten
kein Interesse an der Aufklärung des Volkes und am Fortschritt des
Landes. Wegen dieser Auffassung ist Kermani Verfolgungen ausge-
setzt und muss in das Osmanische Reich auswandern, wobei er auch
dort Opfer massiver Intrigen wird.
Das Gesetz der harmonischen und zugleich kritischen Vernunft
trägt nach Kermani dazu bei, dass Menschen aus unterschiedlichen
Gesellschaften und historischen Hintergründen miteinander auskom-
men und sich ihrer eigenen Weise nach entwickeln. In seinem Werk
›sad khatabe‹, ›Hundert Reden‹, verweist er auf die Tatsache, dass
sowohl Religion als auch die Formen des Regierens lediglich Pro-
dukte des Menschen sind, die aber einen erheblichen schicksalhaften
Einfluss auf das Leben in der Gesellschaft haben. Hier »hat die Ver-
nunft die Aufgabe abzuwägen, wie man solche Herausforderungen
bewältigen kann. Alles, was dem Menschen Gutes bringt, ist gerecht,
alles was ihm schadet, ist abzulehnen.«12 Während Religionen ohne
Gott nicht auskämen, wolle Sartoscht laut Kermani zeigen, dass die
Vernunft zu regieren hat: »Religion und Vernunft vertragen sich nicht.
[...] Es ist unwichtig, wann und wo Sartoscht gelebt hat. Wichtig ist,
dass er Vor- und Nachteile der Vernunft für das menschliche Leben
gezeigt hat.«13 Dieser Feststellung zufolge sieht Kermani die Mission
Sartoschts darin, die Menschheit auf eine neue Stufe des Bewusst-
seins zu heben.
Das Aufklärungsprogramm Kermanis scheitert, wie das seines Vor-
gängers Akhondzade, weil auch er durch die Pflege von Nationalis-
men in der Vergangenheit schwelgt. Auch ihm entgeht, dass jede
Veränderung innerhalb einer Gesellschaft eine gewisse kulturelle
Kompatibilität voraussetzt.
Ausgewählte Werke:
— Sad khatabae [Hundert Vorlesungen].
— Takwin wa tashri [Schöpfung und Gesetzgebung].
12
Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Mirza Fathali Akhondzade [Die Phi-
losophie des Mirza Fathali Akhondzade], 1979, S. 113.
13
Ebenda, S. 136 und 138 f.
3.3 Talbof Tabrizi
und Aufklärung durch Bildung
Mirza Abd al-Rahim Talbof Tabrizi (andere Schreibweise: Talbof,
Talibov), genannt Talbof Tabrizi (1830-1909), wird in Persien gebo-
ren. Er ist neben Akhondzade und Kermani ein weiterer Sozialkritiker
des Persiens im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Die Unter-
werfung Algeriens unter französische Herrschaft fällt mit seinem
Geburtsjahr zusammen. In Deutschland entfaltet Karl Marx seine
bahnbrechende Philosophie des Sozialismus.14
14
Über Tabrizi vgl. Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Talbof Tabrizi [Die
Philosophie des Talbof Tabrizi], 1981.
170 Kritische Gegenwartsphase
Tabrizi hält sich wie seine Vorgänger in Tiflis auf und kommt dort in
erste Kontakte mit der westlichen Literatur. Er beschließt, europäische
Literatur, Philosophie und moderne Wissenschaften zu studieren. Erst
nach seinem 50. Lebensjahr übersetzt er russische Texte ins Persische
und beginnt eigene Ideen schriftlich niederzulegen. Seine Zielrichtung
sind pädagogische, wissenschaftliche und philosophische Fragen. In die-
sen Werken fließen traditionelle und moderne Strömungen zusammen.
Wie Akhondzade und Kermani steht Tabrizi dem Islam ablehnend
gegenüber und unterstellt, diese Religion hätte sich ausschließlich
durch die Anwendung von Gewalt verbereitet, was allerdings histo-
risch betrachtet nicht den Tatsachen entspricht. Es ist gut dokumen-
tiert, dass die Annahme des Islam in Persien bereits zu Lebzeiten des
Propheten Mohammad und vor den Eroberungszügen erfolgte.
Tabrizi geht grundsätzlich von der Vernunft als Grundlage seiner
Gesellschafts- und Aufklärungstheorie aus. Besonders bewandert ist
er auf dem Gebiet der russischen Philosophie, insbesondere der
Staatstheorie. Er ist bestrebt, eine Demokratie zu realisieren, die der
persischen Gesellschaft angemessen ist.
Die persische Gesellschaft benötigt nach Tabrizi ein geistiges Er-
wachen, weil es seit Jahrhunderten von den russischen, britischen und
den eigenen Despoten im Land durch strukturelle Gewalt einfältig
gehalten wird. Wie seine Vorgänger will er eine grundsätzliche Tren-
nung zwischen Politik und Religion herbeiführen. In der Privatisie-
rung des Glaubens erblickt er einen wesentlichen Schritt, der zur
Intellektualisierung des Volkes und zur Modernisierung der Gesell-
schaft führen kann. Er hält Individualität für die Grundlage einer
jeden Demokratie und sieht in der Religion und einer klerikalen Re-
gierung ein theoretisches und praktisches Hindernis.
Ein Volk, das nicht ein Minimum an Bildung und Wohlstand hat
und über kein Geschichtsbewusstsein verfügt, könne Tabrizi zufolge
Aufklärung und Modernisierung weder verstehen noch umsetzen.
Seine politische Philosophie verfolgt die Errichtung einer Staatsform,
in welcher Bildung und Gerechtigkeit zum Imperativ werden. Ande-
renfalls würde das Land immer wieder in die Unmündigkeit zurück-
fallen, weil das Volk den Herausforderungen nicht gewachsen sei.15
Eine radikale Abkehr von blinder Nachahmung, die Menschen
irreleitet, ist für Tabrizi von großer Bedeutung: »Ich wundere mich
nicht so sehr, dass die katholischen Päpste sich als Stellvertreter
15
Adamijjat, Fereydun: Andishehaje Mirza Fathali Akhondzade [Die Phi-
losophie des Mirza Fathali Akhondzade], 1979, S. 4.
3.3 Talbof Tabrizi 171
Gottes auf Erden betrachten, vielmehr wundere ich mich, dass sich
die irren Anhänger dieser Kirche überhaupt korrumpieren lassen und
nicht mal in der Lage sind, ihren eigenen Verstand zu benutzen, um
zu unterscheiden, was Gut und Böse ist.«16 Mit dieser Überlegung
spricht er eine zentrale Forderung der Aufklärung in religiösen An-
gelegenheiten in Europa aus.
Im Hinblick auf die Religion geht er, im Gegensatz zu seinen Vor-
gängern Akhondzade und Kermani, einen moderaten und sozial gang-
baren Weg, indem er religiöse Volksfrömmigkeit nicht vehement
zurückweist, aber zugleich an die Vernunft der Individuen appelliert,
an welcher stets alles zu messen sei. Abkehr von Vernunft hieße
dementsprechend Verfall in die Unmündigkeit.
Ein wichtiges politisches Werk Tabrizis ist ›Masalekolmohsenin‹,
›Doktrin der Wohltäter‹, in dem der Verfasser einen Arzt und einen
Architekten miteinander ins Gespräch kommen lässt. In diesem Di-
alog zeigt Tabrizi exemplarisch, dass die Stagnation in der persischen
Gesellschaft nicht nur politischer oder sozialer Natur ist, sondern
auch ökonomischen Charakter hat.17 Seine politische Philosophie
fasst er in seinem Buch ›Masaleholhajat‹, ›Über das politische Le-
ben‹, zusammen.18 Dabei thematisiert er die Natur- und Menschen-
rechte und vor allem die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die
Probleme, die damit zusammenhängen.
Tabrizi vertritt einen empiristischen Ansatz und weist jede Form
von Intuition zurück: »Wissen wir, wer und was wir sind, woher wir
kommen und wohin wir gehen?« Seine Antwort darauf ist, »dass der
Mensch ein Gefangener seiner Gedankenkonstrukte und seiner Vor-
lieben ist.«19 Deshalb sind die menschliche Wahrnehmung der Welt
und ihre Charakterisierung Ergebnisse seiner Sehenslogik. Tabrizi ist
der Auffassung, dass der Mensch sich vom Tier dadurch unterschei-
det, dass er stets die Frage nach dem ›Wie und Warum‹ stellt.
Der Mensch verfügt über Vernunft und Verstand. Daher ist er,
jenseits aller Determinanten der Macht, selbst verantwortlich dafür,
inwieweit er sich selbst bestimmt und ob er andere Menschen über
sich verfügen lässt. »Blinder Gehorsam«, schreibt Tabrizi, »führt zur
16
Ebenda, S. 18.
17
Vgl. Talbof Tabrizi, Mirza Abdolrahim: Masalekolmohsenin [Doktrin der
Wohltäter], 1944.
18
Vgl. Ebenda.
19
Ebenda, S. 101.
172 Kritische Gegenwartsphase
Düsternis, die blanken Fanatismus zur Folge hat.«20 Dies entspricht
einem der zentralen Grundsätze der persischen Verfassungsrevoluti-
on von 1905, mit der er sich identifiziert.
Für Tabrizi ist der Mensch aufgrund seiner Freiheit dazu bestimmt,
sich selbst zu bestimmen und für sein Glück und Unglück selbst die
Verantwortung zu tragen. Freiheit ist für ihn ein der Vernunft ange-
messenes und unveräußerliches Naturrecht. Der Mensch kann seine
Vernunft für die Beruhigung »der Flamme seiner Eroberungsgier
einsetzen und eine expansive Kolonialisierung der Welt anstreben, er
kann aber auch seine Vernunft für die Befreiung von Fremdbestim-
mung einsetzen und Humanismus, Demokratie und Menschenrechte
hervorbringen.«21
Ausgewählte Werke:
— Ketab-e Ahmad [Das Buch von Ahmad].
— Masalek’ol-Moh’senin [Die Wege der Gemeinnützigen].
20
Ebenda, S. 10.
21
Ebenda, S. 10.
3.4 Mohammad Ali Foroughi
und Selbstkritik als Motor des Fortschritts
Mohammad Ali Foroughi (1877-1942) ist ein Gründer des modernen
Pragmatismus im zeitgenössischen Iran. Er interessiert sich neben
Philosophie für Grundfragen der politischen Wissenschaften, Ge-
schichtswissenschaften, Volkswirtschaftslehre sowie Rechtswissen-
schaften.
Foroughi steht unter dem Einfluss seines Vaters Mohammad Hos-
sein Khan Foroughi, der am Hof von Mosafareddin Schah als Über-
setzer tätig ist. Der Vater bringt die Zeitschrift ›Erziehung‹ heraus,
welche sich mit Ansätzen modernen Denkens beschäftigt. Der Sohn
geht dem Vater bei der Anfertigung der Beiträge zur Hand; dadurch
174 Kritische Gegenwartsphase
wird sein Interesse für die rationalistischen Strömungen der europä-
ischen Philosophie geweckt. Foroughi sucht stets das Neue und ist
bemüht, im Persischen äquivalente Begriffe für philosophische, po-
litische, wirtschaftliche sowie juristische Begriffe aus Europa zu fin-
den.
Foroughi pflegt im Philosophischen wie im Politischen eine libe-
rale Haltung, wobei letztere konservative Züge aufweist. Auch er
zeigt sich, wie seine Vorgänger Akhondzade, Kermani und Tabrizi,
begeistert über die europäische Aufklärung.
Im Alter von 22 Jahren erhält Foroughi die Gelegenheit, seine in-
novativen Gedanken zu verbreiten. Er nimmt eine Lehrtätigkeit an
der Teheraner Universität für Geisteswissenschaften auf. Die umfas-
sende Bildung des Volkes betrachtet er als seine Pflicht. In einer
Korrelation des politischen und kulturellen Diskurses sieht er die
Möglichkeit eine Zivilgesellschaft praktisch umzusetzen. 1907, nach
dem Tod seines Vaters, übernimmt Foroughi dessen Amt als Leiter
der Hochschule. Ab 1911 wird er Finanzminister, später Justizminis-
ter. Er setzt sich gezielt dafür ein, den Iran zu einer demokratischen
Republik zu entwickeln, und wird 1925 zum Premierminister ernannt.
Foroughi ist im gleichen Jahr wie Hermann Hesse (1877-1962)
geboren. Während sich der eine im neu gegründeten Deutschen Reich
der literarischen Welt zuwendet, sucht der andere neue Wege für die
Ausgestaltung des iranischen Hochschulsystems und die Erneuerung
der Philosophie in seinem Land.
In der Schulung des Geistes sieht Foroughi eine Möglichkeit, sich
diesem Ziel zu nähern. Er übersetzt mehrere philosophische Werke,
die im Iran eine ganze Generation prägen. 1941 wird er während der
britisch-sowjetischen Invasion im Iran erneut Premierminister.22 Sehr
früh weist Foroughi darauf hin, dass wir in einer immer kleiner wer-
denden Welt leben, in der alle aufeinander angewiesen sind. Keine
Nation könne alleine für sich existieren: »Soviel ist zu wissen, dass
sich heute das menschliche Leben internationalisiert hat. Kein Volk
kann ohne andere Völker existieren. Auch die inneren Angelegenhei-
ten bleiben für andere Länder nicht ohne Konsequenzen, gegenwärtig
noch mehr als in der Vergangenheit […]. Wenn ein Volk sein Land
22
Über Foroughi vgl. Haghdar, Ali Asghar: Mohammad Ali Foroughi wa
sakhtarhaje novin [Mohammad Ali Foroughi und neue Strukturen], 1990
und Varedi, Ahmad: Muhammad Ali Furughi, Zuka al-Mulk (1877-1942),
1992.
3.3 Talbof Tabrizi 175
nicht aus eigenen Kräften modernisiert bzw. reformiert, um mit an-
deren mitzuhalten, wird es zwangsläufig von anderen beherrscht.«23
Diese Weltbetrachtung, in der das Eigene und das Andere zusam-
mengedacht werden, ist eine dialogische und zugleich globale Ein-
stellung, die uns heute helfen könnte, die bestehende merkantile Glo-
balisierung in die richtigen Bahnen zu lenken.
Foroughis Verantwortungsbewusstsein, verbunden mit der Hoff-
nung einen fortschrittlichen Iran zu entwickeln, ist stark von der
persischen Verfassungsrevolution von 1905 und ihrem Ziel geprägt,
alle Kräfte des Landes in einer praktischen Volkssouveränität zu kon-
zentrieren. Das spätere Scheitern dieses Projektes ist eine Niederlage
des persischen Volkes. Ein Grund liegt in der permanenten Einmi-
schung der Briten und Russen in die Innen- und Außenpolitik des
Landes. Der zweite Grund, von dem sich das Volk nicht freisprechen
konnte, ist ein Mangel an Selbstbewusstsein.
In seiner Schrift ›Iran dar 1919‹, ›Iran im Jahre 1919‹, beschreibt
Foroughi auch die kultursoziologische Problematik dieser Ereignisse
und deren Folgen für die Zukunft Persiens. Als Justizminister kennt
er das Elend des Volkes. Er beklagt zeit seines Lebens, dass es in
Persien nicht so etwas wie eine »öffentliche Meinung« gäbe, die
Grundvoraussetzung einer »würdigen Zukunft« sei.24 Ohne eine de-
mokratische Erziehung des Volkes sei es nicht möglich, Fortschritte
zu erzielen. Nach diesem Konzept kommt der Regierung des Landes
die grundlegende Verantwortung zu, »die Gerechtigkeit zu hüten.
Gerechtes Regieren ist nur durch die Einführung von Gesetzen mög-
lich. Hierbei ist zweierlei zu beachten: Gesetze zu verabschieden und
sich danach zu richten. […] Wenn nur eine einzige Person über alles
entscheiden sollte, so endet alles in Despotismus. Aus diesem Grun-
de ist die Gewaltenteilung unverzichtbar, damit Entscheidungen kon-
trolliert werden können.«25
Gerechtigkeit ist für Foroughi eine Notwendigkeit, die dazu bei-
trägt, dass Menschen gleich behandelt werden. Insofern habe die
Regierung die Bürger zu begleiten und ihnen Freiheiten zu gewähren,
23
Foroughi, Mohammad Ali: Name ye xosusi be Mahmoud Vesal [Privat-
brief an Mahmoud Vesal], 1976, S. 71.
24
Foroughi, Mohammad Ali: Iran dar 1919 [Iran im Jahr 1919], 1974, S.
76.
25
Foroughi, Mohammad Ali: Hoqouqe asasije mashroutijjate melal [Das
Grundrecht der Völker], 1941, S. 2 ff.
176 Kritische Gegenwartsphase
damit sie sich angemessen entfalten und sich für die Belange der
Gesellschaft einbringen können.
In seinem Werk ›Farhangestan chist?‹, ›Was heißt Kultur?‹, stellt
Foroughi fest: »Kulturbildung ist die unverzichtbare Grundlage der
Zivilgesellschaft. Wenn ein Volk nicht nach diesem Ziel strebt, wird
es sich nicht angemessen entwickeln können. Die Würde einer Nati-
on steht und fällt mit Bildung und Erziehung.«26
Auf diesem Wege verfolgt er andere Ziele als seine Vorgänger
Akhondzade, Kermani und Tabrizi. Während diese durch Nationalis-
mus und eine teilweise eurozentrische Orientierung eine zivilgesell-
schaftliche Ordnung herbeiführen wollen, setzt Foroughi auf Bildung
der Menschen in Anlehnung an die eigene Tradition. Er sieht zwi-
schen Tradition und Moderne keine Konkurrenz, sondern macht eine
Interdependenz zwischen beiden aus.
Im Bestreben der Herrschenden, das eigene Volk nur recht kräftig
irrezuführen,27 um sich ungestört bereichern zu können, sieht er den
eigentlichen Grund, dass in Persien keine echte Volkssouveränität
zum Tragen kommt. Durch die Schaffung eines Mittelstandes erhofft
sich Foroughi die Möglichkeit einer Herbeiführung der ersehnten
Volkssouveränität, die Nachhaltigkeit und Wohlstand im Orient mit
sich bringen soll.
Die Orientalen haben sich nach Foroughi einer neuen Selbster-
kenntnis im Sinne einer Selbstkritik zu unterziehen, um sich gemäß
ihrer Potentiale entwickeln zu können. Wenn die Völker im Orient
ihre Ressourcen nicht aufgrund eigener Technologie verwalten kön-
nen, so werden sich andere Mächte einmischen und sie bevormunden.
Neben diesen soziokulturell grundlegenden Gedanken ist ein zen-
trales Arbeitsgebiet Foroughis die Philosophie und deren Geschichte.
Besonders hervorzuheben ist seine mehrbändige Einführung in die
›Sejre Hekmat dar Oroupa‹, ›Geschichte der europäischen
Philosophie‹.28 Zu dieser Einführung kommt er über einen Umweg:
Zunächst übersetzt er den ›Discours de la méthode‹ von Descartes,29
in dessen Philosophie er die Vorzüge einer vernünftigen Lebensfüh-
26
Foroughi, Mohammad Ali: Farhangestan chist? [Was heißt Kultur?],
1972, S. 172.
27
Vgl. Foroughi, Mohammad Ali: Iran dar 1919 [Iran im Jahre 1919], 1974,
S. 74.
28
Vgl. Foroughi, Mohammad Ali: Sejre Hekmat dar Oroupa [Geschichte
der europäischen Philosophie] (in drei Bänden), 1938, 1939, 1941.
29
Vgl. Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Ver-
nunftgebrauchs, Stuttgart 1995.
3.3 Talbof Tabrizi 177
rung erblickt. Bald fällt ihm auf, dass das Verständnis dieser Abhand-
lung ohne Kenntnisse der abendländischen Philosophie schwerlich
möglich ist. Das bestärkt Foroughi in seinem inneren Motiv die ge-
samte europäische Philosophiegeschichte in verständlicher Form zur
Darstellung zu bringen. Seine Studie stößt im Land auf große Aner-
kennung und bildet die Grundlage systematischer Forschungen über
die europäische Philosophie. Seinem Kompendium stellt er den über-
setzten ›Discours de la méthode‹ voran.
In diesem vierbändigen Werk behandelt Foroughi die Entstehungs-
und Entwicklungsgeschichte des griechischen Denkens, gefolgt von
einer Untersuchung aller Epochen der europäischen Philosophie bis
in die Gegenwart hinein. Zu Beginn des ersten Bandes hebt er hervor,
dass es zu den Rätseln der Denkgeschichte gehört, wo die ›hekmat‹,
›Philosophie‹, ihren Ursprung habe. Zugleich stellt Foroughi fest,
dass Philosophie und Philosophieren ein menschliches Phänomen
darstellt, an dessen Entwicklung alle Nationen der Welt beteiligt sind.
Dem griechischen Geist als einem unverrückbaren Bestandteil des
Orients schreibt Foroughi die Genialität zu, großartige Systeme ent-
wickelt zu haben, aus der auch die iranische Kultur Erkenntnisse
schöpfen könne, nicht nur die heutige europäisch-westliche Hemi-
sphäre. Die Verdienste der Philosophen der islamischen Welt, sieht
er auch darin, dass sie dieses Denken durch ihre Übersetzungen aus
dem Griechischen, verbunden mit eigenem Philosophieren, weiten
Teilen der Welt zugänglich gemacht haben.
Foroughi ist bestrebt, europäisches und orientalisches Denken mit-
einander zu verbinden, um ein harmonisches Ganzes daraus hervor-
gehen zu lassen. Er sucht weder einen Eurozentrismus noch einen
Rückzug in separierende Traditionen, sondern eine kulturübergrei-
fende Völkerverständigung.
Ausgewählte Werke:
— Aflaton wa hekmate Soghrat [Philosophie des Sokrates und Platon].
— Sejre Hekmat dar Oroupa [Geschichte der europäischen Philosophie].
3.5 Allameh Tabatabai
und die hermeneutische Erneuerung des Geistes
Allameh Seyyed Mohammad Hossein Tabatabai (andere Schreibwei-
sen: Tabataba’i, Tabatabayi), genannt Allameh Tabatabai (1903-
1981), ist in Persien geboren. Das Wirken Allameh Tabatabais ist der
Beginn einer grundlegenden Erneuerung in den soziokulturellen Ak-
tivitäten der islamischen Philosophie. Im Alter von 20 Jahren begibt
sich Allameh Tabatabai zum Studium in den Irak. Er beschäftigt sich
mit traditionellen Wissenschaften, theologischer Überlieferung und
rationalen Fragestellungen sowie mit Rechtswissenschaften und Ge-
setzgebung. 1945 nimmt er in Qom eine Lehrtätigkeit auf den Gebie-
ten der Theologie, Philosophie und Weisheitslehre auf. Letztere ist
3.5 Allameh Tabatabai 179
eine Mischung aus Theologie, Philosophie und Sufismus, genannt
›erfan‹, also Weisheitslehre.30
Zwei Grundpfeiler bilden die Basis der Philosophie von Allameh
Tabatabai: das ›methodische Denken‹ und die ›Freiheit im Denken‹.
Mit ihnen wird eine Selbsterkenntnis des Menschen möglich ge-
macht. Im Vergleich zu vielen seiner Vorgänger und Nachfolger sucht
Allameh Tabatabai das Neue nicht irgendwo anders, sondern er kre-
iert es selbst und lebt nach seiner Maxime. Seine Wirkungszeit liegt
kurz nach dem Tod Friedrich Nietzsches, mit dem in Europa ebenfalls
eine neue Philosophie entsteht.
Die Philosophie Allameh Tabatabais basiert auf einem hermeneu-
tischen Grundverständnis und ist rationalistisch-analytisch. Er be-
trachtet die Philosophie der islamischen Welt als rationalistisch und
stellt sie dem sophistischen Denken gegenüber. Die Sophisten leug-
nen bekanntlich jede Realität außerhalb des eigenen Denkens. Für
Allameh Tabatabai ist Realismus nicht mit Materialismus identisch,
weil weite Teile der realen Welt spirituell und nichtmateriell sind.
Sogar die Wahrnehmung betrachtet er als einen spirituellen Akt. Auf
der Grundlage dieser Erkenntnis befasst sich Allameh Tabatabai sys-
tematisch mit der philosophischen Basis des im Iran aufkommenden
Kommunismus. Im Vergleich zu den Sozialkritikern Akhondzade,
Kermani und Tabrizi sucht er eine verstehende Begegnung mit euro-
päisch-westlichen Philosophien.
Zwei Traditionslinien hält Allameh Tabatabai für stagnierend und
unfruchtbar: Die eine sucht die radikale Hingabe und ist bestrebt,
ausschließlich die europäisch-westliche Philosophie zu verstehen,
um dadurch indirekt auch zu sich zu finden. Die andere schottet sich
ab und bekämpft jegliche Berührung mit dem Westen. Diese beiden
extremen Linien tragen weder zur Besserung der internen noch der
externen Verhältnisse bei. Eine Folge dieser Position ist ein selbst-
verschuldeter Regressionseffekt. Vorausschauend versteht Allameh
Tabatabai, dieser tödlichen Logik des Entweder-Oder entgegenzuwir-
ken. Er bringt das Verstehen-wollen und das Verstanden-werden-
Wollen des Eigenen und des Anderen zusammen, um eine dialogische
und zugleich kritische Verständigung zur Kultur werden zu lassen.
Diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk, von
den religionsphilosophischen Schriften bis zu philosophiegeschicht-
lichen Reflexionen.
30
Über Allameh Tabatabai vgl. Algar, Hamid: Allama Sayyid Muhammad
Husayn Tabatabai – Philosopher, Exegete and Gnostic, 2006.
180 Kritische Gegenwartsphase
Nach der Islamischen Revolution von 1979 kommt es durch Al-
lameh Tabatabai zu einer Wiedergeburt der Philosophie Molla Sa-
dras. Er erarbeitet ein einheitliches Bild der Philosophie Molla
Sadras, diskutiert dessen grundlegenden Prinzipien und stellt die
wichtigsten Fragen der Philosophie der islamischen Welt erneut zur
Diskussion. Zu dieser neosadraischen Philosophie gehört in erster
Linie die Frage Molla Sadras nach dem Dasein und seinen Modali-
täten.
Diese Erneuerung der sadraischen Philosophie führt Allameh Ta-
batabai in seinen Lehrwerken ›Bedajatol Hikma‹,31 ›Anfang der
Weisheit‹, und ›Nahajatol Hikma‹,32 ›Ziel der Weisheit‹, aus. Sein
Werk lässt sich unter sechs Aspekten betrachten. Neben der herme-
neutischen und erfanischen (Weisheitslehre) gehören auch hadisische
(Überlieferung) und wissenschaftsrechtliche (fiqh) sowie ethische
und philosophische Aspekte dazu.
Die Gesamtschau seiner Philosophie formuliert er in seinem Kom-
pendium ›Usule Falsafe wa Raweshe Realism‹, ›Prinzipien der Phi-
losophie und Methoden des Realismus‹,33 die als kritisch-dialogische
Rationalität bezeichnet werden kann. Morteza Mortahari (1920-
1979), einer seiner profiliertesten Schüler, führt nach dem Tod von
Allameh Tabatabai seine Lehren weiter und verbreitet sie an Univer-
sitäten und wissenschaftlichen Institutionen.
Allameh Tabatabai kann von seiner Bedeutung und geistigen Trag-
weite her als ›der Molla Sadra des zeitgenössischen Iran‹ angesehen
werden. Er zieht eine Grenze zwischen theoretischer und praktischer
Philosophie und trennt die unbezweifelbaren Wahrheiten über die
Struktur des Kosmos und die Welt der Sachverhalte von weltanschau-
lichen Betrachtungsweisen. Wenn z.B. ausgesagt wird, 2 x 2 sei 4, so
ist die Zahl 4 ein Faktum, während literarische und wissenschafts-
rechtliche Fragen wegen ihrer Subjektivität viele Lesarten zulassen.
Die wichtigsten Grundlagen von Allameh Tabatabais Philosophie
und sein philosophiegeschichtliches Verständnis finden sich haupt-
sächlich in seiner erwähnten Schrift ›Usule Falsafe wa Raweshe Re-
31
Vgl. Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Bedajatol Hikma
[Anfang der Weisheit], 2000.
32
Vgl. Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Nahajatol Hikma
[Ziel der Weisheit], 1993.
33
Vgl. Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Usule Falsafe wa
Raweshe Realism [Prinzipien der Philosophie und Methoden des Realis-
mus], 1984.
3.5 Allameh Tabatabai 181
alism‹, die aus seinen Vorlesungen besteht.. Ein Grund, warum er
diese Vorlesungsreihen zu halten begann, ist die weitverbreitete Idee
des Marxismus im Iran der 1940er Jahre. Mit diesen Vorlesungen
entstand allmählich eine philosophische Tradition, die es noch heute
im Iran gibt. Morteza Mortahari sammelt diese Vorlesungen und gibt
sie, mit Marginalien versehen, unter dem Titel ›Usule Falsafe wa
Raweshe Realism‹ in fünf Bänden heraus.
Mit der Frage: ›Was bedeutet Philosophie?‹ setzt Allameh Tabata-
bai die ›Falsafeye Qadim‹, die traditionelle Philosophie, mit der ›Fal-
safeye Djadid‹, der neuen Philosophie, in Beziehung. Dabei geht er
von einem dynamischen Philosophiebegriff aus, der sich notwendi-
gerweise aus sich heraus erneuere. Philosophie ist nach Tabatabai
»eine denkerische und vernunftgeleitete Tätigkeit, die sich mit der
Frage nach dem/den Seienden und den Funktionsweisen der Welt
befasst. Sie unterwirft sich keinem bestimmten methodischen
Diktat.«34
Allameh Tabatabai versteht Philosophie somit als eine Tätigkeit
des Geistes, die zwar keine Wissenschaft wie die der Mathematik
darstellt, sich aber wissenschaftlicher Methoden bedient, die selbst
Ergebnisse dieses Unternehmens sind.35 Jede Wissenschaft beginnt
demzufolge mit der Philosophie. Das Verhältnis zwischen Philoso-
phie und Wissenschaft betrachtet er als dialogisch.
Auf der Grundlage dieses Vorverständnisses führt Allameh Taba-
tabai im ersten Band in die philosophische Terminologie ein. Seine
applizierte Orientierungsmethode ist eine Mischung von historischer,
systematischer und vergleichender Philosophie, mit der er die grie-
chischen und islamischen Philosophien seit ihren Anfängen bis in die
Gegenwart hinein zum Gegenstand seiner Untersuchung erhebt. Bei
der Klärung seines Philosophie- und Wissenschaftsbegriffs setzt sich
Allameh Tabatabai mit dem anthropozentrischen ›Homo-mensura-
Satz‹ des Pythagoras und dem skeptisch-nihilistischen Ansatz des
Gorgias von Leontinoi (480-380 v.u.Z.) auseinander. Pythagoras sieht
im Menschen das Maß aller Dinge und den Mittelpunkt des Kosmos.
Gorgias vertritt eine nihilistische Weltanschauung und behauptet, es
gäbe im Grunde nichts, denn wenn es etwas gäbe, könnte es doch
nicht erkannt werden, und wenn es erkannt werden könnte, könnte es
34
Vgl. ebenda, S. 44.
35
Vgl. ebenda, S. 45.
182 Kritische Gegenwartsphase
36
doch nicht mitgeteilt werden. Beide Weltanschauungen weist Alla-
meh Tabatabai zurück.
Die Aussage des Gorgias besagt, dass es weder Wirklichkeit noch
Wahrheit im Sinne der Erkenntnis einer Wirklichkeit gibt. Hier stellt
sich die Frage nach einer möglichen Relevanz des metaphysischen
Nihilismus eines Gorgias in Hinblick auf quantenphysikalische Os-
zillationen eines Nullpunktfeldes, was als erkenntnistheoretischer
Nihilismus bezeichnet werden könnte. Die Folge einer solchen Welt-
anschauung ist radikaler Relativismus, der dazu verleitet, den Men-
schen zum Maß aller Dinge und vor allem zum Maßstab seiner Selbst
werden zu lassen.
Diese weite Spanne der Weltanschauung prägt noch heute vieler-
orts unser Denken, unser Verhalten und damit unsere gesamte Gegen-
wartskultur in einer schmerzhaften Diskrepanz. Die Aufgabe des
Menschen bleibt die Suche nach seiner Stellung zwischen der prin-
zipiellen Nichtergründbarkeit der materillen Sphäre und der Trans-
zendenz, denn dieses Polaritätsverhältnis bestimmt existentiell das
menschliche Sein. Nach Allameh Tabatabai entfaltet sich der Mensch
innerhalb dieser Polarität und stellt die Sinnfrage jenseits von Anth-
ropozentrik und Nihilismus, wobei letztlich als im Bereich des Un-
ergründbaren bleibt.
Allameh Tabatabai unterscheidet weiter zwischen Idealismus und
Realismus. Während der Realismus auf Vernunfterkenntnisse grün-
det, wie dies Aristoteles, Ibn Sina, Ibn Ruschd und Molla Sadra
lehren, sieht Tabatabai im Idealismus eine Haltung, Realitäten außer-
halb eigener Vorstellungskraft abzulehnen. Er nimmt Pluralismus
ernst und räumt jedem Philosophen das Recht ein, »seine eigene
Philosophie und sein eigenes Begriffsverständnis zu entwickeln.«37
Auf der Grundlage dieser Systematik baut Allameh Tabatabai die
Prinzipien seiner Philosophie und die Methode des Realismus auf.
Hier behandelt er die Frage nach der Entstehung der Vielfalt sowie
axiomatischer Logik in der menschlichen Wahrnehmung. Zur Dar-
stellung kommen weitere Bereiche von Wirkung und Ursache sowie
die dynamische Dialektik der Natur, die sich als Emergenz, also die
spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen
äußert.
36
Vgl. Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, 1989.
37
Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Usule Falsafe wa Ra-
weshe Realism [Prinzipien der Philosophie und Methoden des Realis-
mus], 1984, S. 60.
3.5 Allameh Tabatabai 183
Im letzten Band wendet sich Allameh Tabatabai der Religionsphi-
losophie zu und diskutiert, nach dem Vorbild von Ibn Sina, Möglich-
keiten, Bedingungen und Grenzen der Vernunft. Dabei stellt er fest,
dass die Beschäftigung mit der Schöpfungsgeschichte sowie Sein und
Nichtsein Gottes verschiedene Erkenntniswege darstellen und unter-
schiedlichen Voraussetzungen unterliegen.
Allameh Tabatabai ist Gründer einer praktischen ›Erfan‹, also
Weisheitslehre. Man könnte sie als eine Mystik bezeichnen, die nicht
nur eine transzendente, sondern auch eine immanente Dimension hat.
Ziel der Erfan ist nicht eine bloße Jenseitsvertröstung. Es geht viel-
mehr um die Frage nach der ›Wahrheitserkenntnis‹ durch reine Liebe
zum Sein, die nicht ausschließlich durch Vernunftleitung und metho-
disches Denken beantwortet werden kann. Während die transzenden-
te Dimension der ›Erfan‹ die Frage nach der Einswerdung von Leib
und Seele sowie Kosmos beinhaltet, spricht die praktische ›Erfan‹ die
menschliche Psyche an.
Allameh Tabatabai geht von einem gottverantwortlichen Men-
schenbild aus, welches die Grundlage seiner Sozialtheorie bildet. Er
betrachtet Menschen als gesellschaftliche Wesen, die in erheblichem
Maße aufeinander angewiesen sind. Dabei kritisiert er das universa-
lisierende Menschenbild der Moderne im Westen, nach welchem
Menschen als Individuen betrachtet werden, die voneinander abge-
koppelt sind bzw. solches anstreben.
In einem solchen Menschenbild sieht Allameh Tabatabai ein rein
säkulares Weltbild mit anmaßendem Charakter. Es wäre vermessen,
dem Menschen eine quasi göttliche Stellung zuzuschreiben und ihn
über Recht und Unrecht entscheiden zu lassen. Der Mensch solle,
jenseits aller Anthropozentrik, seine Grenzen erkennen und seine ihm
anvertraute Macht würdig verwalten. Dies ist ein Grund, warum Al-
lameh Tabatabai in der Philosophie der Moderne keinen Modus spi-
ritueller Glückseligkeit erblickt. Er moniert, dass einige Philosophen
der islamischen Welt die Moderne als ihren Maßstab übernommen
und verinnerlicht und sich dadurch von ihrer eigenen Tradition und
Identität entfremdet hätten. Die negative Folge einer solchen Selbst-
entfremdung sei, zwischen zwei Wertesystemen zu schwanken, ohne
sich letztlich in einer dieser Gesellschaften völlig heimisch fühlen zu
können.
Die eigentlich relevante Beobachtung Allameh Tabatabais ist, dass
Gesellschaften wie die iranische im Grunde überhaupt keine Moder-
ne erlebt haben, um nun über die Postmoderne reflektieren zu müssen.
Dies hängt damit zusammen, dass eine Gesellschaft wie die iranische
184 Kritische Gegenwartsphase
eine andere Geschichte durchlaufen hat und einer anderen Tradition
unterliegt.38 Es ist in der Tat berechtigt zu fragen, ob und inwieweit
es möglich ist, die Software der Moderne auf die Hardware einer
Gesellschaft wie der iranischen zu installieren, ohne weite Teile die-
ser Gesellschaft zu leugnen oder gar zu zerstören.
Eine weitere herausragende Studie von Allameh Tabatabai ist ›Taf-
sir al-Mizan‹, ›Das Kriterium der Interpretation‹. In diesem 20-bän-
digen Werk entwickelt er eine systematische Methodologie der Her-
meneutik zur Kommentierung des Korans. Dieses Kompendium
umfasst Überlieferungen sowie neben koranischen und erfanischen
auch philosophische, ethisch-moralische, historische, literarische und
soziale Dimensionen. Allameh Tabatabai thematisiert gleichermaßen
Tiefendimensionen koranischer Verse wie auch Theorien, die eine
Verankerung in der Religionsgeschichte der islamischen Welt haben.
Sein Ziel ist, die Heilige Schrift aus sich heraus zu erklären. Weil der
Prophet Mohammad sein Leben aus dem Geiste des Korans heraus
gestaltet hat, setzt Allameh Tabatabai die Interpretation der Lebens-
führung des Propheten mit derjenigen des Korans gleich.
Allameh Tabatabai verweist ausdrücklich darauf, dass auch im
Koran die Vernunft ein unverzichtbares Mittel des Erkenntnisge-
winns ist. Ein Schlüssel zu seiner Koranexegese ist die Gottesfurcht.
Denkendes Wahrnehmen und Entscheiden sind für ihn unverzichtbar
wichtig für ein würdiges Leben.39 Je reiner und folgerichtiger das
Denken sei, umso fruchtbarer und solider gestalte sich das Leben.
Auch Glück und Unglück im Leben hingen mit dem menschengemä-
ßen Denken zusammen.
Die Interpretation des Korans folgt nach Allameh Tabatabai zwei
Regeln. ›Tafsir‹, also Interpretation und ›Tawil‹, die Hermeneutik
stehen in einem Wirkungszusammenhang. ›Tafsir‹ klärt den vorge-
fundenen Befund. Es geht um die Frage nach dem Gehalt der Aussa-
gen im Koran und danach, was sich über kulturhistorische und -räum-
liche Kontexte sowie den situativen Offenbarungsanlass in Erfahrung
bringen lässt. Das heißt, es geht um die Analyse der Frage, wann, wie,
wo und warum Suren offenbart worden sind. Dieser Befund wird
durch ›Tawil‹ dem denkenden Verstehen unterzogen. ›Tawil‹ fragt
danach, inwiefern sich die Deutung der Welt mit dem eigenen Men-
38
Vgl. Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Tafsir al-Mizan
[Das Kriterium der Interpretation], Bd. 4, 1980, S. 166 ff.
39
Vgl. Tabatabai, Allameh Seyyed Mohammad Hossein: Tafsir al-Mizan
[Das Kriterium der Interpretation], 1980.
3.5 Allameh Tabatabai 185
schenbild deckt und wie der Mensch im Kontext seines Lebens mit
der Deutung des Korans umgeht. In diesem Moment beginnt ›Yag-
helun‹, jenes Denken, das im Koran immer wieder gefordert wird.40
Mit der methodischen Handreichung von ›Tafsir‹ und ›Tawil‹ gibt
uns Allameh Tabatabai ein sinnvolles Werkzeug an die Hand, um mit
koranischen Inhalten das eigene Leben zu gestalten. Die Forderung,
den Koran mittels kritisch-historischer Methoden zu lesen, hält er für
irrelevant, weil eine solche Vorgehensweise schon in der islamischen
Geistesgeschichte eine Tradition ist. Es ist umso unverständlicher,
warum, im Westen immer wieder gefordert wird, der Islam oder der
Koran müsse kritisch-historischen Methoden unterzogen werden.
Diese irreführende Forderung bezeichnet Allameh Tabatabai als einen
›Orientalismus‹ der Moderne.
Mit seiner Methode baut Allameh Tabatabai auf frühere Versuche
systematischer Art auf, die Heilige Schrift des Islam angemessen
auszulegen. Zu diesen anerkannten Exegeten der islamischen Religi-
onsgeschichte gehört Abu Djschafar Mohammad Ibn Djscharir Taba-
ri (839-923). Er legt bereits im 9. Jahrhundert eine frühe ›Tafsir-Ta-
wil-Methode‹ philologisch, geschichts- und kulturwissenschaftlich
zugrunde. Bestrebungen im zeitgenössischen Iran sind mit den Na-
men Ayatollah Hassan Hassanzade Amoli (*1928)41 und Ayatollah
Javadi Amoli (*1933)42 verbunden, zwei schiitischen Philosophen
und Theologen, die in dieser Exegese-Tradition von Allameh Taba-
tabai stehen.
Allameh Tabatabai legt mit seiner neosadraischen Philosophie,
welche für die Gesamtschau seiner Philosophie kennzeichnend ist,
die Grundlagen einer neuen Schule des kritischen Denkens, um einen
offenen Dialog mit westlichen Denkrichtungen zu ermöglichen. In
einer Mittelposition zwischen den Extremen einer überzogenen Eu-
rophobie und einer naiven Europhilie gelingt es ihm somit, eine dia-
logische Brücke zwischen Tradition und Moderne zu schlagen. Sein
Werk ist ein Verweis darauf, dass Transzendenzverlust stets mit Iden-
titätsverlust einhergeht. In der Transzendenzbekämpfung dürfte seit
der europäischen Aufklärung das Problem der Moderne liegen.
40
Vgl. vor allem die Suren 2:171, 3:66, 4:83, 6:51, 8:23, 14:26 oder 30:22,
in denen der Mensch ausdrücklich aufgefordert wird aktiv zu denken.
41
Vgl. Amoli, Ayatollah Hassan Hassanzade: Hezaro jek kaleme [Eintau-
send und ein Wort), 2009.
42
Vgl. Amoli, Ayatollah Javadi: Mareffatschenasi dar Qoran [Erkenntnis-
theorie im Koran: Koranexegese], 2000.
186 Kritische Gegenwartsphase
Ausgewählte Werke:
— Tafsir al-Mizan [Das Kriterium der Interpretation].
— Usule Falsafe wa Raweshe Realism [Prinzipien der Philosophie und Me-
thoden des Realismus].
3.6 Mehdi Haeri Yazdi
und die universalistische Pyramide des Seins
Mehdi Haeri Yazdi (1923-1999) ist in Persien geboren. Sein Vater ist
der Gründer der islamischen Schule von Qom. Im Geburtsjahr Yazdis
wird Kemal Pascha Atatürk (1881-1938) erster Präsident der Türki-
schen Republik. Beide verfolgen auf jeweils eigene Weise das Ziel
der Modernisierung. Atatürk will diese durch Verwestlichung errei-
chen, während Yazdi bestrebt ist, im Sinne seines Lehrers Allameh
Tabatabai das eigene geistige Erbe zu erneuern, indem er sich Er-
kenntnisse der europäisch-westlichen Philosophie zunutze macht,
188 Kritische Gegenwartsphase
ohne Eigenes preisgeben zu müssen. Dies macht ihn zu einem dialo-
gischen Wanderer zwischen Orient und Okzident.43
Haeri Yazdi gehört zu den Philosophen des 20. Jahrhunderts, die
neue Wege für die islamische Philosophie suchen. Er studiert bis 1979
in den USA sowie Kanada und wird Mitglied im Ethikrat des Kenne-
dy Institute of Bioethics an der Universität von Georgetown, an wel-
cher er seine eigene Philosophie entfaltet, die er später im Iran ver-
vollständigt. Haeri Yazdi rezipiert die Arbeiten von Sohrewardi und
Molla Sadra, denen er zeit seines Lebens verbunden bleibt.
In seiner Schrift ›Kawoschha-ye aql-e Nazari‹, ›Erforschungen der
theoretischen Vernunft‹ (1968), stellt Haeri Yazdi sein philosophi-
sches System vor und diskutiert Gründe, warum die Philosophie im
Orient neue Wege gehen müsse.44 Er sieht seine Aufgabe und damit
auch die aller Philosophen der islamischen Welt darin, in erster Linie
die eigene Philosophie und das eigene kulturelle Vermächtnis zu
studieren und dadurch zu verinnerlichen. In einer derart fundierten
Selbsterkenntnis erblickt er die Möglichkeit, den anderen Nationen
die islamische Philosophie schmackhaft zu machen: »Wir müssen
Selbsterkenntnis betreiben, um zu uns zu finden, und nicht, um uns
zu verherrlichen.«45
Haeri Yazdi entwickelt eine Lesart des methodischen Denkens, die
eine bedingungslose Selbstkritik der eigenkulturellen Geschichte und
Gegenwart in sich trägt. Dabei hält er ein europaverliebtes wie auch
orientverliebtes Philosophieren für defizitär, wenn nicht gar destruk-
tiv. Ihm zufolge haben die Philosophen in der islamischen Welt der
Gegenwart ihre Philosophie und ihre Geschichte den anderen nicht
ernsthaft zugänglich gemacht.
In der pluralistischen Offenheit der islamischen Philosophie sieht
er ein großes Potential, um einen Beitrag zur Völkerverständigung zu
leisten. Haeri Yazdi hält jegliche Parteinahme des Eigenen oder des
Anderen in der Philosophie für nicht der Sache würdig. Er schlägt
daher einen dritten Weg ein, um zwischen diesen Positionen zu ver-
mitteln, und vertritt eine Weltphilosophie, an der alle Philosophien
mit ihren unterschiedlichen Stärken zusammenfinden. Er bevorzugt
43
Über Yazdi vgl. Vahdat, Farzin: Mehdi Haeri Yazdi and the Discourse of
Modernity, 2004 und Reza Hajatpour: Mehdi Hairi Yazdi interkulturell
gelesen, 2005.
44
Vgl. Haeri Yazdi, Mehdi: Kawoschha-ye aql-e Nazari [Erforschungen der
theoretischen Vernunft], 1968.
45
Ebenda, S. G (jim).
3.6 Mehdi Haeri Yazdi 189
prinzipielle Offenheit anderen Philosophien gegenüber, insbesondere
der europäisch-westlichen, ohne eigene philosophische Traditionen
zu leugnen, herabzusetzen oder preiszugeben. In einer recht verstan-
denen kulturellen Bodenhaftung sieht er die Möglichkeit, das Ande-
re in seinem besonderem Bezugsystem verstehen zu lernen.
Haeri Yazdi geht von einer universalistischen Menschenwürde aus.
Er sieht die Individuen als unzertrennliche Teile eines Ganzen und
betrachtet Philosophie als eine dezidiert anthropologische Angele-
genheit: »Philosophie liegt im Wesen des Menschen.«46 Weil sich der
Mensch seiner Rationalität und Erkenntnissuche nicht entziehen
kann, betrachtet er die Philosophie als einen Bestandteil des mensch-
lichen Wesens. Sie ist für ihn geradezu eine Form freien Denkens
schlechthin.47 Haeri Yazdi sieht die Metaphysik im Sinne der sadrai-
schen Philosophie grundsätzlich als eine48 ›elme madar‹, Mutter der
Wissenschaft, also eine Basiswissenschaft. Der Gegenstand dieser
Wissenschaft ist die ›Pyramide der Welt‹, d.h. die Hierarchie des
Existierenden. Metaphysik ist diejenige Wissenschaft, die sich des-
halb auch mit dem Menschen zu befassen hat. Insofern hat jede Form
von Anthropologie eine metaphysische Dimension.
Im Zentrum der Philosophie Haeri Yazdis steht die Vernunft. Die
Aufgabe der Philosophie ist das denkende Erfassen des Seins, also
der Existenz in ihrer Gesamtheit. Seine philosophische Ausrichtung
ist existentialistisch. In diesem System fließen Willensfreiheit, Ge-
rechtigkeit, Verantwortung und damit alle ethischen Fragen der
menschlichen Selbstbestimmung zusammen.
Haeri Yazdi spricht von dem ›Djadid‹, dem ›Neuen‹, das man nur
unzureichend als ›Modern‹ oder ›Moderne‹ übersetzen kann. Damit
meint er vielmehr innovative Reflexivität und Eigendynamik der
Kultur und Tradition, die miteinander in ein Wechselverhältnis zu
bringen sind. Ein solches Verständnis des Neuen bedeutet eine Er-
neuerung der Denksysteme und Mentalitäten sowie die kritische Hin-
terfragung traditioneller Methodologien. Auf diese Art und Weise ist
er bestrebt, das islamische Vermächtnis aus sich heraus grundlegend
zu erneuern.
46
Ebenda, S. 4.
47
Haeri Yazdi, Mehdi: Philosophie-Suche nach der Wahrheit und dem Sein,
2002, S. 33.
48
Vgl. Haeri Yazdi, Mehdi: Philosophie-Suche nach der Wahrheit und dem
Sein, 2002, S. Ya.
190 Kritische Gegenwartsphase
Wegweisend analysiert Haeri Yazdi die kulturelle Bodenhaftung
der Traditionen und stellt fest, dass sich auch die europäische Moder-
ne nicht einer solchen Grundverfasstheit entziehen könne. Er schluss-
folgert, dass die Vorstellung des Neuen, je nach Tradition, unter-
schiedlich sei, weil kulturelle Kontexte verschieden seien.
Haeri Yazdi bevorzugt eine vernunftverwurzelte Ethik, die das
gesamte Leben des Menschen umfasst. Er unterscheidet zwischen
religiöser Frömmigkeit und rationaler Denkart. Religiöse ›Wahrhei-
ten‹ können zwar rational analysiert werden, sind aber nicht im Sin-
ne der wissenschaftlichen ›Wahrheit‹ beweisbar, da jeder Mensch sie
anders erfährt oder erfahren kann. Betrachten wir die Historizität der
europäisch-westlichen, orientalischen oder asiatischen Traditionen,
so ist diese Verschiedenheit offensichtlich ein Ausdruck der Kultur-
pluralität.
Haeri Yazdis Werk ist die vehemente Ablehnung eines Fundamen-
talismus der Moderne mit ihrem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch.
Genauso steht er als ein Philosoph der Tat dem Fundamentalismus
der eigenen Tradition ablehnend gegenüber. Das ›Djadid‹ bzw. das
Neue liegt für ihn in der Frucht einer dialogischen Interaktion nicht
nur innerhalb der eigenen Tradition, sondern auch zwischen Orient
und Okzident. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels im Sinne
einer kritisch-erneuernden Lektüre der jeweils eigenen und anderen
Geistesgeschichte. In einer solchen spiegelbildlichen Betrachtung
liegt die Charakteristik des Denkens Haeri Yazdis.
Ausgewählte Werke:
— Kawoschha-je aqle ammali [Erforschung der praktischen Vernunft].
— Heram-e hasti. Tahlili az mabi-ye hasti-shenasi-ye tatbiqi [Pyramide des
Seins. Analyse der Grundlagen vergleichender Ontologie].
3.7 Abdoldjavad Falaturi
und dialogische Verständigung zwischen Orient und
Okzident
Abdoldjavad Falaturi (1926-1996) ist in Persien geboren. Mit 14
Jahren erlernt er die arabische Sprache und beginnt, sich mit islami-
schen Wissenschaften zu befassen. Sein Studium in Esfehan, Teheran
und Maschad umfasst neben der arabischen Literatur und Geschich-
te die islamischen Rechtswissenschaften, islamische Theologie und
Koranwissenschaften, Logik, Philosophie sowie Mystik. Falaturi
schließt sein Studium mit dem wissenschaftlichen Titel des ›Idjtihad‹,
des Rechtsgelehrten, ab. Mit diesem akademischen Grad ist er befugt,
sich eigenständig über Rechtsfragen und Fragen der Lebensführung
192 Kritische Gegenwartsphase
zu äußern. Dies schließt auch Themenbereiche ein, die nicht im Ko-
ran und im Hadith, den Überlieferungen, geklärt sind.49
Seine wissenschaftlichen Studien setzt Falaturi 1955 in Deutsch-
land fort. Ein Grund, warum Falaturi nach Deutschland kommt, ist
sein Ziel, durch die Aneignung europäischer Philosophie eine Annä-
herung zwischen Orient und Okzident in dialogischer Verständigung
in Gang zu bringen. Er beschäftigt sich mit europäischer Philosophie,
Psychologie und vor allem mit vergleichender Religionswissenschaft.
Auf dem Gebiet der Philosophie gilt sein Interesse insbesondere Kants
Moralphilosophie. 1962 promoviert er über Kant mit dem Titel ›Zur
Interpretation der kantischen Ethik im Lichte der Achtung‹.50
Durch seine Kenntnis zweier philosophischer Kulturen und seine
verbindende Denkart macht sich Falaturi zu einem Vermittler zwi-
schen den Welten. Sein wissenschaftliches Bestreben ist darauf aus-
gerichtet, eine Einheit innerhalb des Islam und eine dialogische Ver-
ständigung zwischen Orient und Okzident herbeizuführen. Falaturi
nimmt Menschen als menschliche Wesen mit gleichen anthropologi-
schen Konstanten wahr und nicht ausschließlich als Vertreter einer
bestimmten Kultur oder Religionsgemeinschaft.
Falaturi trifft eine deutliche Unterscheidung zwischen Religion
und Kultur. Unter Religion versteht er diejenige Lehre, die für sich
beansprucht, von einer höheren, die menschlichen Fähigkeiten über-
steigenden Entscheidungskraft herzurühren, während Kultur alle
sonstigen Strömungen des Geistes umfasst, die das Leben des Men-
schen in seinen vielfältigen Aspekten und Ausformungen mitprägt.
Trotz dieser Abgrenzung, die für sein Denken charakteristisch ist,
betrachtet er Religion und Kultur als eng miteinander verbunden und
sich gegenseitig tragend.
Die Basis seiner Argumentation ist stets der Koran, verbunden mit
einer vernunftverwurzelten Interpretation, in der er die Intuition nicht
vernachlässigt. Seine Philosophie fußt auf vier Komponenten: Rati-
onalität, Kritik und Gerechtigkeit sowie Liebe im Sinne der ›Erfan‹,
der Weisheitslehre. In der Verbindung von Rationalität und Gerech-
tigkeit entsteht ein Ort der Verständigung, der es ermöglicht, einen
offenen Dialog mit der eigenen Geschichte und dem Gesprächspart-
ner zu führen. In allen Momenten des Dialogs ist das begründende
49
Vgl. Tworuschka, Udo: Abdoldjavad Falaturi – ein Wanderer zwischen
den Kulturen, 2012.
50
Vgl. Falaturi, Abdoldjavad: Zur Interpretation der kantischen Ethik im
Lichte der Achtung, 1965.
3.7 Abdoldjavad Falaturi 193
Verstehen tragend. Die Einzelkompositionen in Falaturis Denkart
haben eine stark hermeneutische Ausrichtung.
In Falaturis Dissertationsschrift ›Zur Interpretation der kantischen
Ethik im Lichte der Achtung‹ betrachtet er die kantische Ethik von
ihrem »höchsten Punkt«51 aus, nämlich dem Kategorischen Impera-
tiv. Er zeigt Tiefe und Breite dieser Maxime und ihre Verwandtschaft
mit dem mystischen Verständnis der ›Erfan‹, der Liebe. Diese Frage
beleuchtet er nach ihrem Grund und Wesen sowie ihrer Wirkung und
Differenzialität. Für ihn sind vor allem praktische Vernunft bzw. ge-
setzgebender Wille und die menschliche Natur als einem sinnlichen
Wesen Kampfplätze, auf denen entschieden wird, ob und inwieweit
Handlungen moralischen Wert haben.
In den 1960er Jahren vollzieht sich im Denken Falaturis eine Wen-
de. Ihm wird die Frage nach Divergenzen und Konvergenzen islami-
scher und griechischer Philosophie grundlegend und er beschließt,
die Wege des Denkens von der Antike bis zur Gegenwart nachzuvoll-
ziehen.
Um die Leistungen der Philosophen der islamischen Welt zu wür-
digen, verlässt er die gängigen mittelalterlichen Betrachtungen isla-
mischer Philosophie durch die europäisch-westliche Brille. Er ver-
gleicht die zugänglichen islamischen philosophischen Werke mit den
noch vorhandenen arabischen Übersetzungen der griechischen Texte,
und diese wiederum mit dem griechischen Original. Die daraus ge-
wonnenen Erkenntnisse fließen im Frühjahr 1973 in Falaturis Habi-
litationsschrift mit dem Thema ›Umgestaltung der griechischen Phi-
losophie durch die islamische Denkweise‹ ein.52
Falaturi widerlegt in dieser Schrift die in europäisch-westlichen
Hemisphären weit verbreitete Vermutung, die islamische Philosophie
sei eine bloße Nachahmung griechischen Denkens. Er stellt fest, »dass
Sokrates, Platon, Aristoteles und andere griechische Philosophen, die
er durch sein Studium der islamischen Philosophie zu kennen geglaubt
hatte, ihm in der Gestalt, wie der abendländische Geist sie darstellt,
weitgehend fremd erschienen.«53 Hierbei handele es sich nicht um
einzelne Probleme oder Sätze als vielmehr um das Gesamtbild der
griechischen Philosophie, um Geist und Sinn des Philosophierens
51
Ebenda, S. 10.
52
Vgl. Falaturi, Abdoldjavad: Umgestaltung der griechischen Philosophie
durch die islamische Denkweise (Unveröffentlichte Habilitationsschrift),
1973.
53
Ebenda, S. 34 f.
194 Kritische Gegenwartsphase
überhaupt. Es handelt sich um zwei verschiedene Denk- und Wissen-
schaftskulturen, die mit Wort-Begriffen andere Inhalte verbinden.
Falaturi beginnt mit den Vorsokratikern und setzt seine Forschun-
gen mit Platon, Plotin (205-270) und Aristoteles fort. Neben den
Philosophen des Mittelalters beschäftigt er sich mit Kant, Hegel,
Nietzsche und Martin Heidegger (1889-1976). Von seinen breitgefä-
cherten Kenntnissen her kristallisieren sich für ihn einige philosophi-
sche Begriffe heraus, die sich als seine Forschungsgrundlage erwei-
sen, ohne dass er einer bestimmten philosophischen Lehre anhängt
oder von diesem oder jenem Philosophen ausgeht.
Sein Augenmerk konzentriert sich besonders auf die Auffälligkeit
bei gleichen Begriffsbestimmungen in beiden Sprachen, wie ›Zeit‹,
›Prozessualität‹ und ›Sein‹. Im griechischen Urtext sind diese in an-
dere Kontexte eingebettet als in der arabischen Übersetzung, und sie
bilden aufgrund dessen eine völlig andere Denkstruktur. Mit solchen
Philosophie- und Denkphänomenen verfährt man in der islamischen
philosophischen Tradition anders, als man es in der griechischen bzw.
der abendländischen Philosophie gewohnt ist. Falaturi fällt weiterhin
beim Vergleich der arabischen Quellen mit den lateinischen bzw. den
neusprachlichen Übersetzungen auf, dass gerade jene abweichenden
Begriffe von der Forschung zur islamischen Philosophie umgangen
worden sind.54
Von Bedeutung ist, dass Falaturi diese Schriften in ihrer Gesamt-
heit betrachtet, d.h. »von ihren Motiven an bis zu ihren Konsequenzen
und nicht, wie es oft geschieht, auf einzelne Sätze und Ansichten
eingeschränkt.«55 Er führt vor Augen, »dass oftmals dort, wo man
eine Übereinstimmung der islamischen Philosophie mit der griechi-
schen angenommen hatte, eine Abweichung vorliegt: vieles von dem,
was bei den Griechen im Vordergrund stand, tritt hier zurück, wird
entweder als nebensächlich behandelt oder völlig ignoriert. Das Wa-
rum eines Problems und die entsprechende Argumentation ändern
sich. […] Alles in allem gibt dies dem Beobachter das Gefühl, dass
hier eine umwälzende Modifikation vorliegt.«56
In einer Reihe weiterer vergleichender Studien über Ibn Sina und
Ghazali, Ibn Ruschd und andere Philosophen der Übergangs- und
Gegenwartsphase einerseits und die genannten griechischen Philoso-
phen andererseits weist Falaturi nach, dass sich die islamische Denk-
54
Ebenda, S. 36.
55
Ebenda, S. 32.
56
Ebenda, S. 33.
3.7 Abdoldjavad Falaturi 195
weise in grundlegenden Annahmen von der griechischen abhebt.
Immer wieder stellt es sich für ihn so dar, dass dieses Missverständ-
nis auf willkürliche Übersetzung arabischer und griechischer Werke
ins Lateinische zurückzuführen ist.
In einer groß angelegten Studie untersucht er deutsche Lehrwerke
für den Religionsunterricht im Hinblick auf die Darstellung des Islam
und leitet dadurch eine Renaissance des Dialogs ein.57 Seine verglei-
chenden Studien machen deutlich, dass hier etwas Grundlegendes
vorliegt, etwas, was überall mitgewirkt hat, aber nie als solches auf-
gefallen ist. Die Modifikationen der islamischen Übersetzer weisen
in eine bestimmte Richtung und führen zu einer Reihe von prinzipi-
ellen Veränderungen der griechischen Philosophie, »die weder plato-
nisch noch aristotelisch, noch neuplatonisch oder überhaupt grie-
chisch noch indisch oder iranisch, noch durch eine Versöhnungstendenz
mit dem Offenbarungsinhalt des Islam oder des Christentums zu er-
klären und auch nicht auf die Mangelhaftigkeit der arabischen Über-
setzungen der griechischen Texte zurückzuführen sind.«58 Für Fala-
turi sind es diese Abweichungen, die »eine gewisse Selbständigkeit
der islamischen Philosophie und ihre Einheit garantieren, die aber
auch mit der Erklärung: ›sie ginge auf die Autoritäten der islamischen
Philosophie zurück‹ nicht abzutun sind.«59
Falaturi stellt in Bezug auf die europäisch-westlichen Forschungen
fest: »So bewundernswert, lehrreich und wegweisend diese For-
schungen – gerade für die Muslime – sind, so geben sie insgesamt
ein anderes Bild vom Islam und den islamischen Wissenschaften, als
es die Träger dieser Wissenschaften selbst vom Islam und den isla-
mischen Wissenschaften besitzen, bzw. bei seiner wissenschaftlichen
Reflexion hätten erhalten können.«60 Dies bedeutet keineswegs –
durchaus in der Intention Falaturis –, dass ein abweichendes Bild
gänzlich falsch oder verfälscht sein soll. Vielmehr präsentiere es ein
Bild, das ein anderer, nicht islamisch denkender Geist mit anderen
wissenschaftlichen Voraussetzungen und Mitteln herausgearbeitet
hat. Durch Unterbewertung, bisweilen auch Überbewertung von Fak-
ten, Tatbeständen und Gedanken sei ein völlig anderes Bild entstan-
57
Vgl. Falaturi, Abdoldjavad u.a.: Der Islam in den Schulbüchern der Bun-
desrepublik Deutschland, 1990, ders.: Der Islam im Unterricht, 1996 und
ders.: Der Islam im Dialog, 51996.
58
Ebenda, S. 33.
59
Ebenda, S. 33.
60
Ebenda, S. 34.
196 Kritische Gegenwartsphase
den, welches in der Gegenwart als ›das Bild‹ der islamischen Philo-
sophie schlechthin gelte.
Falaturi weist weiterhin nach, dass den Philosophien der islami-
schen Welt nicht immer der religiöse Gehalt des Koran im Mittel-
punkt des Interesses stehe, sondern vielmehr die Art und Weise seiner
Auslegung der gegebenen Welt, wobei der Koran kein philosophi-
sches Werk sei und auch keinen solchen Anspruch erhebe. Durch
solcherlei Einschätzung sei ein philosophischer Dominanzanspruch
der westlichen Welt entstanden, in dessen Zuge die Geschichte um-
geschrieben und Begriffsapparate umgedeutet wurden. Dadurch habe
sich der christlich-islamische Dialog zu einem Monolog gewandelt.
Europa redet, so gesehen, über sich selbst und führt den Weltdiskurs
unter eigenem Welt- und Menschenbild.
Falaturis Anliegen besteht darin, durch eine grundlegende Modi-
fikation des Islambildes im christlichen Abendland eine neue Onto-
logie der christlich-islamischen Begegnung einzuleiten. Die Grund-
lage hierfür sieht er in der Richtigstellung der historisch gewachsenen
Missverständnisse in Philosophie und Geschichte. Falaturis Ansatz
verschafft ihm als ein Philosoph der Tat allgemeine Anerkennung, die
zur Folge hat, dass seine Diskussionsbeiträge und Schriften von An-
hängern aller islamischen Schulen innerhalb und außerhalb der isla-
mischen Territorien akzeptiert werden.
Der Ansatz von Falaturi ist in seiner Art vergleichbar mit dem von
Haeri Yazdi. Beide distanzieren sich sowohl von europhobischen als
auch von euroverliebten Einstellungen und bevorzugen eine Mittel-
position, um zwei Ziele zugleich zu erreichen: eine kritische Verstän-
digung mit dem europäisch-westlichen Abendland und eine Verbes-
serung der Verhältnisse innerhalb der islamischen Territorien. In
einem entscheidenden Punkt geht Falaturi aber weiter. Er zeigt die
Geistesverwandtschaft wie auch die ausdrückliche Differenz zwi-
schen griechischer und islamischer Philosophie auf. Im islamischen
Denken sieht er theoretische wie praktische Tiefe, um sich aus eigener
Initiative heraus zu dynamisieren. Insofern lässt sich Falaturi als der
Ibn Khaldun der islamischen Welt des 20. Jahrhunderts betrachten.
Ausgewählte Werke:
— Umgestaltung der griechischen Philosophie durch die islamische Denk-
weise [Unveröffentlichte Habilitationsschrift].
— Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland: Nach-
träge 1986-1988 zur Analyse der Schulbücher.
3.8 Mohammed Arkoun
und die Unmoral verschlafener Vernunft
Mohammed Arkoun (andere Schreibweise: Arkun), genannt Arkoun,
ist in Algerien geboren (1928-2010). Zur Zeit seiner Geburt erschöpft
die Weimarer Republik ihre Kräfte in Straßenkämpfen und ebnet
damit den Weg zur Machtergreifung von Adolf Hitler (1889-1945).61
Arkoun steht in der Tradition von Philosophen der Gründungs- und
ersten Blütephase islamischer Philosophie, allen voran Ibn Sina, Ibn
61
Über Arkoun vgl. Günther, Ursula: Ein moderner Kritiker der islami-
schen Vernunft, 2004 und Esmail, Aziz, Abdou Filali-Ansary: The Cons-
truction of Belief, 2013.
198 Kritische Gegenwartsphase
Miskawayh und Ibn Ruschd. Er gehört – neben Mohammed Abed
Al-Jabri (1935-2010) und Bassam Tibi (*1944) – zu den Grenzgän-
gern des modernen arabisch-islamischen Geisteslebens, die eine Brü-
cke zwischen Orient und Okzident schlagen und neue Wege aufspü-
ren wollen.
Arkoun studiert an der Universität in Algier und an der Sorbonne
in Paris. Seine Schwerpunkte sind Arabisch sowie Literatur- und Is-
lamwissenschaften. 1956 wird er Doktor der Philosophie. Er ist be-
strebt, das Denken der westlichen gegenüber der islamischen Welt zu
verändern und so eine Zusammenführung der islamischen und der
okzidentalischen Philosophie herbeizuführen. Arkoun lehrt an der
Universität in Lyon, später erhält er einen Ruf an die Sorbonne.
Bereits 1969, zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn in
Frankreich, übersetzt Arkoun die ›Tahdhib al-akhlaq‹, ›Die Grundla-
gen der Moral‹, ein Werk Ibn Miskawayhs.62 Dieses Werk bleibt für
ihn wegweisend. Es handelt sich um die erste systematische Konzep-
tion der Ethik, die Ibn Miskawayh im 10. Jahrhundert auf der Grund-
lage der soziokulturellen Umstände seiner Zeit entwickelt.
Arkoun zeigt auf, dass Ibn Miskawayhs Theorie der Ethik eine
Kombination der sartoschtischen (zarathustrischen), der islamischen
und der griechischen Reflexionen darstellt.63 In diesem Werk ent-
deckt Arkoun, dass feine Bildung, ›adab‹, für die Entwicklung einer
dialogischen Vernunft und Verfeinerung der Sitten grundlegend ist.
In Anlehnung an diese Übersetzungsarbeit gelingt es Arkoun in seiner
Dissertationsschrift von 1970 über Miskawayh, die Existenz eines
islamischen Humanismus nachzuweisen.64
Die systematische Beschäftigung mit diesem Philosophen öffnet
Arkoun neue Horizonte. Er stellt Parallelen zu heutigen Gesellschaf-
ten der islamischen Welt fest und will jene Völker aus ihrem Jahrtau-
sendschlaf und der Hypnose durch westliche Konsumverlockungen
erwecken. Auf diesem Wege unterzieht er die Vernunft einer umfas-
senden Kritik. Dabei greift er die gängige Unterscheidung zwischen
der ›westlichen‹ und der ›islamischen‹ Vernunft auf und hält solche
Differenzmodelle für problematisch. Vernunft manifestiert sich für
Arkoun »in ihrer analytischen Kraft, ihrem reflexiven Denkvermö-
gen, in ihrer Bereitschaft zur kritischen Wahrnehmung. […] Demge-
mäß gibt es eine islamische Vernunft ebenso wie Vernunftformen, die
62
Vgl. Ibn Miskawayh: Traité d’Éthique, 1969.
63
Ebenda, S. XIII.
64
Vgl. Arkoun, Mohammed: L’humanisme arabe au IVe/Xe siècle, 1970.
3.8 Mohammed Arkoun 199
sich innerhalb eines islamischen Kontextes manifestieren. Wohlge-
merkt, es handelt sich dabei nicht um Kategorien der Vernunft, die
per se spezifisch islamisch sind, sondern um solche, die sich im kul-
turellen und gesellschaftlichen Umfeld des Islam artikulieren.«65
Miskawayh vermeidet in diesem Werk jede Form von Provinzia-
lismus und arbeitet universalistisch. Seine Schrift erfasst die Psycho-
logie und Kultursoziologie seiner Zeit. In einer Epoche sozialer Um-
brüche und einer Gesellschaft ohne geordnete Strukturen, lebte
Miskawayh unter Menschen, die nicht gewillt sind an ihrem Zeitalter
gestalterisch mitzuwirken und den Missständen ein Ende zu bereiten,
sondern sich ausschließlich für ein ausschweifendes Leben interes-
sieren. Solche Umstände sind zentrale Beweggründe für Miskawayh
ein ethisches Werk zu verfassen, um sein Volk aus dem ›kulturellen
Tiefschlaf‹ wachzurütteln.
Arkoun sieht in der Moral der verschlafenen Vernunft vieler Mos-
lems einen Grund für die teilweise selbstverschuldeten Rückständig-
keit. Andere Vernunftformen, vornehmlich die europäisch-westliche,
bezeichnet er hingegen als eine »hegemoniale Vernunft«:66 »Der
Raum und die Zeit, innerhalb derer sich die kollektiven Wahrnehmun-
gen ausgebildet haben, das eigene Selbstverständnis formuliert wur-
de, prägende Weltbilder entstanden, sie sind ganz wesentlich von der
westlichen Vernunft geprägt und monopolisiert worden, festgeschrie-
ben in einem wissenschaftlichen Diskurs, den der Westen seit dem
18. Jahrhundert geführt, gestaltet und nach außen abgegrenzt hat.
Nehmen Sie doch nur ein beiliegendes Buch zur Hand, das sich mit
einem wesentlichen Themenkomplex des Wissens oder der Erkennt-
nis befaßt, und Sie werden feststellen, dass es voll und ganz, ohne die
leisesten erkenntnistheoretischen Vorbehalte, im Geist eines Wissens
verfasst wurde, das in Europa, im Westen ausgebreitet, entwickelt,
revidiert, korrigiert und erweitert wurde und doch beansprucht, für
alle Menschen, inklusive derer außerhalb Europas, gültig zu sein.«67
Arkoun beklagt hier, wenn er auch in keinem Zusammenhang wei-
ter darauf eingeht, dass es den Europäern gelungen sei, die gesamte
Entstehung und Entwicklung der Menschheitsgeschichte verabsolu-
tierend für sich zu reklamieren. Mit dieser Feststellung verweist er
auf ein strukturelles Problem, auf dem viele Konflikte zwischen Ori-
65
Arkoun, Mohammed: ›Westliche‹ Vernunft kontra ›islamische‹ Vernunft?
1992, S. 270.
66
Ebenda, S. 265.
67
Arkoun, Mohammed: Der Islam, 1999, S. 265.
200 Kritische Gegenwartsphase
ent und Okzident beruhen. Ein solches hegemoniales Vernunftver-
ständnis ist durchweg problematisch, weil eine bestimmte Vernunft-
form universalisiert wird. Die Konstruktion eines solchen
Vernunftbegriffs ist auf den gewaltsam durchgesetzten Kolonialis-
mus zurückzuführen. Hier werden weitere Stimmen der Vernunft
entweder der eigenen Vernunft untergeordnet oder marginalisiert.
Weil durch die strukturelle Gewalt suggeriert wurde, es gäbe nur
eine einzige rechte Vernunft, so hätten sich alle Nationen der Welt an
den Maßstäben dieser hegemonialen Vernunft zu messen und ihr
Leben danach einzurichten. Dies scheint ein Grund zu sein, warum
die kolonisierten Länder ihre Eliten nach Europa schickten, um mit
Hilfe solcher Vernunft deren Vorzüge zu genießen. In der Regel sehen
diese Menschen nach ihrer wissenschaftlichen Ausbildung die eigene
Religion, Kultur und Wissenschaft, ebenfalls durch die Brille der
hegemonialen Vernunft. An ihren eigenen Universitäten preisen sie
dann europäische Denk- und Lebensstile. Es ist eine Folge dieser
Erscheinung, dass sich die außereuropäischen Geisteswissenschaften
aus den Übersetzungen der Forschungsergebnisse europäisch-west-
licher Wissenschaftler speisen. Eine solche Selbstentfremdung hat in
derartigen Gesellschaften – wie weiten Teilen der afrikanischen, la-
teinamerikanischen und islamischen Welt – nachhaltige Rückständig-
keit, aber auch vehementen, bisweilen extremistischen Widerstand
hervorgerufen.
Arkoun sucht Erklärungen dafür, warum in den arabischen Gesell-
schaften Dauerkonflikte, Extremismus und soziokulturelle Unzu-
länglichkeiten bestehen. Um ›den Islam‹ zu modernisieren, wendet
er, ähnlich wie Bassam Tibi mit seinen Vorstellungen vom ›Euro-
Islam‹, die Methoden der europäisch-westlichen Sozial- und Geistes-
wissenschaften auf den Islam an. Damit ist er bestrebt, die Vielfalt
der Ideen und Meinungen innerhalb der islamischen Gesellschaften
zu fördern. Die kritische Beschäftigung mit den autoritativen Schrif-
ten des Islam soll dazu beitragen, ein Neudenken innerhalb dieser
Gesellschaften zu etablieren.
Während Arkoun in den Philosophien der ersten Phase eine gute
Grundlage der Weiterentwicklung sieht, hält er die gegenwärtige
Denkart der arabischen Geisteswelt für stagnierend. Der Islam habe
stets die freiheitlichen Errungenschaften des modernen kritischen
Denkens abgelehnt. »Die islamischen Denker beteiligten sich«, Ark-
oun zufolge, »in keiner Weise an der Schaffung der Moderne. Sie
verweigerten sich hartnäckig den Ideen der Aufklärung, und über
Jahrhunderte, bis zur Abschaffung des osmanischen Sultanats 1923
3.8 Mohammed Arkoun 201
durch Kemal Atatürk, ignorierten sie alle wissenschaftlichen und
intellektuellen Ereignisse in Europa. Daraus resultiert die noch heute
andauernde Schwäche islamischen Denkens, das damit auch leicht
manipulierbar ist.«68
In einer solchen Passivität sieht Arkoun den Grund für eine fehlen-
de Rekonstruktion und Erneuerung von Geist und Gesellschaft in der
islamischen Welt. Ihm geht es in erster Linie um die Befreiung der
islamischen Tradition von intellektueller Starre durch fundamentale
Kritik. Er merkt an, dass sich die islamische Vernunft innerhalb eines
»geschlossenen Dogmatismus«69 bewege. Diese Geschlossenheit
bedeutet für ihn die große Gefahr des Verfalls.
Arkoun kritisiert weiterhin, er könne »kein Werk in einer der Spra-
chen des Islam (Arabisch, Persisch, Türkisch, Urdu) zitieren, in dem
eine Kritik der theologischen Vernunft, der juristischen Vernunft, der
politischen Vernunft, der exegetischen Vernunft und der historischen
Vernunft«70 wenigsten in Ansätzen thematisiert würde.
In einem weiteren Schritt kritisiert Arkoun die Wahrnehmung,
Analyse und Interpretation des Islam im Westen. Er moniert, dass die
Islamwissenschaftler in Europa den Islam stets gesondert, unabhän-
gig von Kultur und Zivilisation thematisieren. Weiterhin stellt er fest,
dass im Westen bereits der Name eines arabisch-islamischen Verfas-
sers die Vorstellung eines subjektiv dargestellten Islam evoziere. Ein
Werk, dessen Autor »Mohammed, Ali oder Fatima heißt«, werde
skeptischer gesehen als das Werk eines Autors, welcher hingegen
»den Namen Jean, Arthur oder Angelika« trägt. Hier seien sich »die-
selben Leser auf einmal der ›Objektivität‹ des Autors vollkommen
sicher«.71
Um diesen Missständen abzuhelfen, stellt Arkoun der europäisch-
westlichen Islamwissenschaft eine ›Angewandte Islamwissenschaft‹
zur Seite. Während sich die westlich-traditionelle Islamwissenschaft
»ausschließlich mit den Texten beschäftigt, die als repräsentativ für
eine religiöse Tradition, ein Denken, eine Kultur, eine Zivilisation
angesehen werden«,72 wendet sich Arkouns angewandte Islamwis-
senschaft von einer Textorientierung ab und bedient sich der Erkennt-
68
Arkoun, Mohammed: Islam und Christentum müssen ihre gemeinsamen
Wurzeln erkennen, 1998, S. 1202.
69
Arkoun, Mohammed: Der Islam, 1999, S. 116.
70
Ebenda, S. 14.
71
Ebenda, S. 15.
72
Ebenda, S. 168 ff.
202 Kritische Gegenwartsphase
nisse mehrerer Disziplinen. Zwei integrale Bestandteile dieser Inter-
disziplinarität sind für ihn die Sozial- und die Rechtsgeschichte.
Mittels eines radikalen Perspektivwechsels sucht Arkoun eine neue
Lesart des zeitgenössischen Islam zu erreichen. Um seine Vermittler-
rolle zwischen dem Orient und Okzident zu institutionalisieren und
mit seinem eigenen Verständnis von Islamwissenschaft eine ange-
messenere Sicht auf die arabisch-islamische Welt zu fördern, gründet
er 2001 in Paris das ›Unabhängige Institut für Islamstudien‹.
Arkoun gehört, neben Haeri und Al-Jabri, zu den ernstzunehmen-
den Akteuren der islamischen Geisteswelt der Gegenwart. Seine re-
formerischen Ansätze bedeuten eine große Bereicherung für die so-
ziokulturellen Dimensionen islamischer Gesellschaften. Seine
Überlegungen bilden insofern eine fundierte Grundlage für weitere
Forschungen. Wie Haeri sucht auch Arkoun einen Dialog auf Augen-
höhe.
Während Haeri eine Erneuerung der islamischen Geisteswelt aus
sich heraus, anhand der entwickelten Methodologien aller drei isla-
mischer Phasen der Philosophie, sucht, ohne die europäisch-westli-
chen Hemisphären zu marginalisieren, betrachtet Arkoun das gesam-
te Panorama der islamischen Geschichte durch die Methodologie der
europäisch-westlichen Brillen. Ein solches europaorientiertes Vorge-
hen schließt eine gewisse Engführung nicht aus.
Ebenso bleibt unerklärt, wie Arkoun zu der Feststellung kommt,
er könne in der gesamten islamischen Welt kein kritisches Werk über
die unterschiedlichen Arten der Vernunft finden. Neben dem erwähn-
ten 20-bändigen Werk ›Tafsir al-Mizan‹ von Allameh Tabatabai (Per-
sisch und Arabisch) sowie dem mehrbändigen Werk ›Kritik der ara-
bischen Vernunft‹ von Al-Jabri (Arabisch) sind die Studien von
Mohammad Mojtahed Shabestari (*1936)73 sowie Seyyed Morteza
Mardiha (Persisch) zu nennen, in denen alle von ihm vermissten
Auseinandersetzungen mit der Vernunft in systematischer Absicht im
Kontext der Geschichte und Gegenwart erfolgen.74
73
Vgl. Shabestari, Mohammad Mojtahed: Hermeneutic, The Scripture an
The Tradition, 1992.
74
Vgl. Mardiha, Seyyed Morteza: Efae az aqlanijjat. Taqadomme aql bar
din, siasat wa farhang [Die Verteidigung der Vernunft. Vorrang der Ver-
nunft vor Religion, Politik und Kultur], 1998. Zu erwähnen ist ein wei-
teres Standardwerk, in dem die Notwendigkeit unterschiedlicher Ver-
nunftformen begründet wird, um Grenzen scharf zu konturieren. Vgl.
Yousefian, Hassan und Ahmad Hossein Sharafi: Aql wa Wahj [Vernunft
und Offenbarung], 1997.
3.8 Mohammed Arkoun 203
Arkoun und viele islamische Intellektuelle der letzten 100 Jahre,
die in europäisch-westlichen Hemisphären ihre Ausbildung genossen
haben, schwelgen entweder in Erinnerungen an alte Zeiten oder ver-
breiten direkt oder indirekt eine Kultur der Selbstentfremdung: ›Wir
Orientalen können nichts‹, deshalb wird zumeist indirekt die ›Ver-
westlichung‹ der islamischen Gesellschaften empfohlen. Eine solche
rückständige Mentalität vieler Intellektueller, die sich als modern
verstanden wissen wollen, ist einer der Gründe, warum sich die isla-
mischen Kulturräume stets im Umbruch befinden.
Ausgewählte Werke:
— Al fikr al arabi [Das arabische Denken].
— Naz-at al ansana fi al fikr al arabi [Die Tendenz des Humanismus im
arabischen Denken].
3.9 Mohammed Abed Al-Jabri
und die Kritik traditionsgebundener arabischer
Vernunft
Mohammed Abed Al-Jabri (1935-2010) ist in Marokko geboren. Er
gehört zu den führenden Kritikern der islamischen Gegenwartsphi-
losophie. Dabei geht er von einer unumgänglichen Selbstkritik in
islamischen Gesellschaften aus, um der Vernunft und Erneuerung des
Denkens den Boden zu bereiten. In Anlehnung an Ibn Ruschd ist sein
Ziel, die rationale intellektuelle Tradition islamischen Denkens zu
3.9 Mohammed Abed Al-Jabri 205
stärken. Seine teilweise euroverliebte Denkart wird im arabischen
Kulturraum oft kritisiert.75
In seiner Schrift ›Naqd al-aql al-arabi‹, ›Kritik der arabischen Ver-
nunft‹, die eine zusammenfassende Einführung seines vierbändigen
Werkes unter demselben Titel darstellt, sucht Al-Jabri eine Antwort
auf die Frage:76 ›Wie können wir gegenwärtig unser Verhältnis zur
Philosophie unserer Vorfahren bestimmen?‹ Ihm geht es dabei um
den Entwurf einer angemessenen Methode, um die arabische Welt
aus der Krise zu führen.77
Al-Jabri sieht in der Diskrepanz von Tradition und Moderne den
Grund für Stagnation bzw. Regression des islamischen Geistes. Die-
se beruhe für ihn auf einem seit dem Mittelalter bestehenden Irratio-
nalismus: »Weil der zeitgenössische arabische Leser durch seine
Tradition eingeschränkt und durch seine Gegenwart erdrückt ist, was
zunächst bedeutet, dass ihn die Tradition absorbiert, ihn der Unab-
hängigkeit und Freiheit beraubt. Seit seinem Eintritt in die Welt wird
ihm unablässig die Tradition eingeimpft, in Form eines bestimmten
Vokabulars und bestimmter Auffassungen, einer Sprache und eines
Denkens; in Form von Fabeln, Legenden und imaginären Vorstellun-
gen, von einer bestimmten Art des Verhältnisses zu den Dingen und
einer Art des Denkens; in Form von Wissen und Wahrheiten. Er
empfängt all dies ohne jegliche kritische Auseinandersetzung und
ohne den geringsten kritischen Geist. Beeinflusst durch diese einge-
impften Elemente erfasst er die Dinge, auf ihnen gründet er seine
Meinungen und Betrachtungen. Die Ausübung des Denkens ist unter
diesen Bedingungen wohl eher ein Erinnerungsspiel. Vertieft sich der
arabische Leser in die traditionellen Texte, so ist seine Lektüre erin-
nernd, keineswegs aber erforschend und nachdenkend.«78
Für Al-Jabri ist folglich eine fehlende innere Dynamik der islami-
schen Geistesgeschichte dafür verantwortlich, dass sie sich nicht »in
der Produktion von neuen Diskursen« entfaltet, sondern sich in der
75
Über Al-Jabri vgl. Harb, Ali: Modakhalat. Mabahit nakdia hawla aamal
Mohammed Abed Al-Jabri, Houssine Marwa, Hicham Jaait, Abdel Salam
Ben Abdel Ali, Said bin Said. [Interventionen. Kritische Untersuchungen
über die Arbeiten von Mohammed Abed Al-Jabri, Houssine Marwa,
Hicham Jaait, Abdel Salam Ben Abdel Ali, Said bin Said], 1985.
76
Vgl. Al-Jabri, Mohammed Abed: Naqd al-aql al-arabi [Kritik der arabi-
schen Vernunft] (in vier Bänden), 1984 bis 2001.
77
Vgl. ebenda, S. 217.
78
Ebenda, S. 86 f.
206 Kritische Gegenwartsphase
79
»Reproduktion des Alten« ununterbrochen fortsetzt. Jene Traditi-
onslinie ist laut Al-Jabri verantwortlich für die gegenwärtige Regres-
sionsbewegung.
Al-Jabri will diesem Missstand konzeptionell entgegenwirken.
Dabei ist er bemüht, die Tradition durch die Einführung einer Moder-
ne systematisch zu überwinden, die den islamischen Geist in seiner
Gesamtheit und Lebensfülle umgreifen müsse. In einem solchen
Wandel erblickt er eine Wiedergeburt der Vernunft, die zu einer Mo-
dernisierung der Gesellschaftsstrukturen führen würde.
Die Begriffe ›Tradition‹ und ›Moderne‹ sind im Denken Al-Jabris
zentral. Wenn wir die Moderne, positiv gesehen, als das Neue, als
Selbsterneuerung durch die Rückbesinnung auf die eigenkulturellen
Werte, jenseits der europäisch-westlichen Moderne betrachten, so
erweist sich Al-Jabris Ansatz als ein weiterführender Versuch, eine
reflektierte Bewegung im islamischen Geist zu erzeugen. Wenn wir
aber die europäisch-westliche Moderne, negativ gesehen, zur Selbst-
findung bzw. Selbstkritik unkritisch übernehmen, so geht diese Hal-
tung mit einem radikalen Traditionsbruch einher, den man als Selbst-
vergessenheit bzw. Selbstentfremdung bezeichnen kann.
Wie Haeri, so insistiert zunächst auch Al-Jabri, dass die Moderne
aus einer eigenkulturellen Perspektive heraus erfolgen müsse, die
»auf Elemente eines kritischen Geistes«80 gestützt zu sein habe, »um
im Inneren dieser Kultur eine Dynamik der Veränderung in Gang zu
setzen.«81 Problematisch wird jedoch sein Ansatz, wenn er zugleich
betont, die Moderne müsse auf ›Rationalität‹ und ›Demokratie‹ grün-
den. Solcherlei westlich verwurzelte Grundannahmen sind nicht
durch die eigenkulturelle Kritik der Tradition gewonnen, wie er sie
selbst einfordert, sondern sie gründen ihre Authentizität auf europä-
isch-westliche Vorstellungen von Moderne.
Al-Jabri wirft weiterhin den Philosophen der islamischen Welt,
allen voran Ibn Sina und Ghazali, vor, sie hätten keine neuen Philo-
sophien hervorgebracht, sondern versucht, »religiöse Weltanschau-
ungen mit der Vernunft zu versöhnen und rationale Auffassungen aus
einem religiösen Blickwinkel zu legitimieren.«82 Al-Jabri unterstellt
Ibn Sina, er habe durch seine Schrift ›Orientalische Philosophie‹
»einer spiritistischen und gnostischen Strömung die Weihe gegeben,
79
Ebenda, S. 56.
80
Ebenda, S. 57.
81
Ebenda, S. 57.
82
Ebenda, S. 114.
3.9 Mohammed Abed Al-Jabri 207
deren Wirkung entscheidend wurde für die Regressionsbewegung«83
der arabisch-islamischen Welt. Ghazali und seine Anhänger sollen
Ibn Sina zum »offiziellen Vertreter der Philosophie im Islam«84 erho-
ben haben. Nach Al-Jabri verfolgten diese Philosophen lediglich das
Ziel, das griechische Denken islamkompatibel zu machen. An dieser
Stelle unterscheidet er sich von der Grundannahme Falaturis. Islami-
sche Philosophie ist nach dieser eine eigenständige Art zu denken, in
der auch Elemente der griechischen Philosophie enthalten sind.
Ferner vertritt Al-Jabri die Ansicht, dass sich die östlichen und
westlichen Regionen der islamischen Welt gedanklich auseinander
entwickelt hätten. Während im östlichen Bereich eine ›irrationale‹
Philosophie von Ibn Sina, Sohrewardi oder Molla Sadra entwickelt
worden sei, hätte der westliche Bereich durch Ibn Ruschd eine Tra-
dition des kritischen Rationalismus hervorgebracht. Er schlussfol-
gert, dass die Rückständigkeit der islamischen Welt in der Irrationa-
lität, die Fortschrittlichkeit des Westens hingegen in der Rationalität
begründet seien.
Al-Jabris Argumentation wird dadurch fraglich, dass er die Werke
der von ihm kritisierten Philosophen nicht im Detail kommentiert,
sondern sich auf Behauptungen beschränkt. Er unterstellt Ibn Sina,
Sohrewardi und Molla Sadra die aristotelische Logik, die auf Ver-
nunft basiert, durch eine quasi esoterische Vernunft ersetzt zu haben,
welche er als eine bloße national-persische Philosophie bezeichnet.
Al-Jabri spricht sich hingegen für eine ›arabische Vernunft‹ aus, die
ihren Niederschlag im Denken des Aristoteles und Ibn Ruschds fin-
den soll. Reformer wie Afghani und Abduh, die auf ihre Weise Wege
zur Erneuerung der islamischen Kulturräume suchten, bezeichnet
Al-Jabri als zwei Vertreter des fundamentalistischen Traditionalis-
mus.
Diese beiden Denker lehnen bekanntlich eine totale ›Verwestli-
chung‹ in islamischen Hemisphären ab und wollen sich auf das eige-
ne Erbe im Orient besinnen, ohne die westliche Kultur zu verdam-
men. Al-Jabri wirft solchen Ansätzen einen Mangel an historischer
Perspektive und Objektivität vor, ohne sich seiner eigenen Subjekti-
vität bewusst zu sein.
In der Euphorie eines wenig förderlichen ethnisch-nationalisti-
schen Arabertums verliert sich Al-Jabri in Vermutungen. Er geht von
einer Grundannahme aus, in der er zwei angeblich völlig verschiede-
83
Ebenda, S. 135 f.
84
Ebenda, S. 137.
208 Kritische Gegenwartsphase
ne philosophische Identitäten im Osten und Westen der islamischen
Hemisphäre einander entgegenstellt: averroischer Westen einerseits
und avecinischer Osten andererseits. Mit diesem Polaritätsverständ-
nis konstruiert Al-Jabri eine Welt, die es so nicht gibt.
Al-Jabri entgeht völlig, dass diese Philosophien und Orte des Den-
kens Schwestern sind und eine Einheit in Vielfalt darstellen. Die
›Familienähnlichkeit‹ ist hier nicht zu übersehen. Al-Jabri tritt als ein
Richter über die arabischen Geisteswelt auf, der sie von den Ketten
des ›Farabitums‹, des ›Ibn-Sinatums‹ und des ›Ghazalitums‹ befreien
will. Ibn Ruschd ist für ihn das Heilmittel zur Überwindung islami-
scher Regression: »Wir Araber«, schreibt er, haben nach Ibn Ruschd
in der Tat »am Rande der Geschichte gelebt […]. Die Europäer ih-
rerseits lebten die Geschichte, aus der wir herausgetreten waren, weil
sie es verstanden, sich Averroes [Ibn Ruschd] anzueignen und bis zum
heutigen Tag das averroistische Moment zu leben.«85
In einer solchen Weltbild-Zergliederung ist allerdings Dauer-Riva-
lität und kämpferische Konfrontation die Spielregel. Al-Jabri wider-
spricht sich mit seiner Forderung, ein Volk könne nur eine Tradition
in sein Bewusstsein aufnehmen, »die ihm gehört.«86 Es ist unver-
ständlich, dass er der Philosophie des Aristoteles nacheifert, mit der
er die Rückständigkeit der arabischen Kultur überwinden möchte.
Diese dogmatische Geschlossenheit erinnert an den totalitätsorien-
tierten bzw. essentialistischen Kulturbegriff eines Johann Gottfried
Herders (1744-1803), der Kulturen als in sich ruhende Kugeln be-
trachtet, die einander wesensfremd sind.87
Die Grundannahme Al-Jabris, nach der die islamische Welt in ei-
nen irrationalen und deshalb rückständigen Teil und einen westlich-
rationalen und deshalb fortschrittlichen Teil untergliedert wird, kon-
struiert zwei einander wesensfremde Gedankenwelten innerhalb der
islamischen Kultur. Diese Konstruktion birgt die Gefahr, einen Keil
zwischen zwei Traditionslinien zu schlagen, die eigentlich tief inei-
nander verwurzelt sind.
Eine klare Unterscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität,
wie Al-Jabri sie vertritt, gibt es nicht. Sie sind ein Wechselspiel in der
gesamten Geschichte des Denkens und nicht spezifisch orientalisch.
Diese zwei Momente stellen einen unaufhebbaren Bestandteil aller
85
Ebenda, S. 223.
86
Ebenda, S. 230.
87
Vgl. Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf
die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, 1967.
3.9 Mohammed Abed Al-Jabri 209
Denktraditionen der Völker dar. Mit Vereinfachungen und Pauscha-
lisierungen können Subtilitäten der Philosophie nicht analysiert wer-
den. Auch in der Heilsverabsolutierung ›der‹ Philosophie Ibn Ru-
schds, dem angeblich ›wahren Kommentator‹ des Aristoteles, als
Anfang und Zukunft der ›Philosophie der Araber‹, verfehlt Al-Jabri
sein Ziel, dem Orient einen Dienst zu erweisen.
Ausgewählte Werke:
— Adimoqratia wa hoqoq al-innsan [Die Demokratie und Menschenrechte].
— Naqd al-aql al-arabi [Kritik der arabischen Vernunft].
3.10 Karam Khella
und die Erkenntnispyramide der Einheit
Karam Khella (*1934) ist in Ägypten geboren. Er engagiert sich in
vielen sozialen Projekten und wird wegen seinen Bemühungen im
Rahmen eines Austauschprogramms im Jahre 1958 nach Hamburg
berufen, wo er am Institut für Geschichte und Kultur lehrt. Nach
seiner Promotion über Theologie und Kirche in Kiel nimmt er eine
Lehrtätigkeit in Bremen auf. Khellas Themenbereiche sind neben
Geschichte, Philosophie und Wissenschaftskritik auch Wissen-
schaftstheorie sowie Sozialpädagogik.88
88
Über Khella vgl. Quintern, Detlev: Zur Leistungsfähigkeit der ›universa-
listischen Geschichtstheorie‹ von Karam Khella in der Analyse interna-
tionaler Zusammenhänge, 1996.
3.10 Karam Khella 211
Khella geht von einem offenen Philosophiebegriff aus, um einen
Dialog zwischen verschiedenen Wissensgebieten in Gang zu bringen.
Auf diesem Weg soll es gelingen, konstruktive Dimensionen der
Wissenschaft fruchtbar zu machen, um ganz im Sinne Ghazalis zur
verlorenen kosmischen Einheit zurückzufinden.
Die Philosophie Khellas ist sehr von den islamischen, vor allem
von den altägyptischen, Philosophen geprägt. Philosophie ist für ihn
jedes Denken, das um Abstraktion bemüht ist. Nicht allein der Ab-
solvent des Fachbereiches Philosophie oder der Inhaber eines Lehr-
stuhls kann Anspruch darauf erheben, ein Philosoph zu sein. Auch
ein Analphabet betreibt Philosophie, wenn er abstrahiert und seine
Gedanken auf eine Meta-Ebene erhebt.89 Insofern können abstrakt-
systematische Leistungen als ›Philosophie‹ im engeren Sinne quali-
fiziert und ihre Urheber als ›Philosophen‹ in einem erweiterten Sinne
betrachtet werden.
Im Unterschied zur Futurologie, die von der Extrapolation des Ist-
Zustandes ausgeht, ist die Philosophie der Zukunft bestrebt, eine
›praktische‹ Philosophie zu sein. Dies bedeutet, Prognosen über Ent-
wicklungsmöglichkeiten zu erstellen und daraus Kategoriesysteme
für Interventionen zu konzipieren.
In einer gespaltenen Welt, in der auch die Philosophie gespalten
ist, gibt es keine Philosophie ohne Prädikat. Wir können zwischen
›destruktiver‹ und ›konstruktiver‹ Philosophie unterscheiden. Das
Prädikat ›praktisch‹ bedeutet in diesem Zusammenhang für Khella,
Philosophie nicht unabhängig von ethischen Fragen zu betreiben.
Ethik ihrerseits sei existentiell. Aus der Analyse der herrschenden
Verhältnisse und aus der Absicht, diese gemäß den Bedürfnissen der
Gegenwart zu verändern, würden ethische Gebote und Verbote abge-
leitet.
Auch wenn Khella eine optimistische Grundeinstellung vertritt,
findet sich in seinen Analysen eine realistische Darstellung der be-
drohlichen Lage der Welt. Niemand kann eine Naturkatastrophe aus-
schließen, welche die Existenz der Menschheit bedrohen könne oder
die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen durch Menschen vernichtet
werden. Hierbei denkt Khella an Massenvernichtungswaffen. Er
nimmt Bezug auf die Absurdität des so genannten ›Overkill-Sys-
tems‹, bei dem ein Staat derart viele Massenvernichtungswaffen be-
sitzt, dass die Erde mehrfach gesprengt werden könnte.
89
Vgl. Khella, Karam: Arabische und islamische Philosophie und ihr Ein-
fluß auf das europäische Denken, 2006.
212 Kritische Gegenwartsphase
Die Überwindung von Destruktivität erfolge nicht automatisch.
Die Zukunft der Menschheit müsse ›gemacht‹ werden. Als Eckpunk-
te einer besseren Zukunft sieht er die Beendigung von Angriffskrie-
gen, von Rüstungsproduktion und Umweltzerstörung bei gleichzei-
tiger Etablierung eines Prinzips der Gerechtigkeit.90
Ein Schwerpunkt von Khellas Arbeiten im akademischen Bereich
umfasst die Theoriebildung. Verwiesen sei insbesondere auf die ›Uni-
versalistische Erkenntnis- und Geschichtstheorie‹, die Khella als Me-
tatheorie begreift. Die Theoriebildung im Rahmen des hierarchisch
aufgebauten Erkenntnissystems des Menschen, ›Erkenntnispyrami-
de‹ genannt, verlangt nach einer Ordnung, welche die Beziehungen
zwischen den einzelnen Stufen des Erkennens, des Verstehens und
der wissenschaftlichen Aufarbeitung klarstellt und ihr Verhältnis zu-
einander aufschlüsselt. Jede intellektuelle Leistung ist einer höheren
Stufe untergeordnet, jede Ebene ist von einer Meta-Ebene abhängig.
Die Erschließung dieser Beziehungen ist für die Erkenntnisreflexion
der Wissenschaftsentwicklung wesentlich.
Mit der Erkenntnispyramide zeigt Khella nicht nur, warum Lehr-
meinungen voneinander abweichen und Unterschiede aufweisen,
sondern auch, wie es zur völligen Individualisierung und Aufhebung
der Einheit gekommen ist.91 Er verweist damit auf das Problem der
Aufsplittung der Wissenschaften in zahlreiche Einzeldisziplinen, die
zwar zu profundem Fachwissen auf den entsprechenden Gebieten
führt, aber den Blick für die Gesamtheit nicht bewahrt.
In diesem Sinne ist Universalismus für Khella untrennbar mit In-
tegration verbunden. Wie das Universum keine Anhäufung von Ein-
zelteilen, sondern ein integriertes, zusammenhängendes, einheitli-
ches System darstellt, so soll auch ein beliebiger Gegenstand in seinen
historischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kul-
turellen Kontext eingeordnet und im Zusammenhang mit der mensch-
lichen Wirklichkeit behandelt werden. Humanistisch ist Philosophie
dann, wenn sie in allen Bereichen auf den Menschen, seine Bedürf-
nisse und Interessen fokussiert ist und Bezug auf die Gegenwart
nimmt. Universalismus besteht nach Khella auf dem gegenseitigen
Bezug von Erkenntnis und Handeln sowie der Einheit von Theorie
und Praxis. Universalismus insistiert auf der permanenten Wahrung
90
Vgl. hierzu Khella, Karam: Überall, jederzeit mit allen Waffen, 2011.
91
Vgl. Khella, Karam: Arabische und islamische Philosophie und ihr Ein-
fluß auf das europäische Denken, 2006, S. 380.
3.10 Karam Khella 213
des Dreiecks aus Universalismus als Methode, Humanismus als Pra-
xis und Einheit als Ziel.92
Khella formuliert seine These kontrastiv zur Lehre von Karl Marx
und Friedrich Engels (1820-1895) vom historischen Determinismus,
welcher die Entwicklung von Widersprüchen auf die Produktionsver-
hältnisse zurückführt. Seine These steht auch im Gegensatz zu den
Theorien Nicolò Machiavellis (1469-1527), welche die Unterwer-
fung des Menschen unter die Interessen der Politik darstellen. Der
Einwand, Machiavelli sei ein Extremfall, lasse sich nicht halten. Eine
genauere Lektüre der europäisch-westlichen Philosophie zeige eine
weitgehende Aufnahme von Machiavellis Ideen, selbst dort, wo ver-
meintlich ›humanistische‹ Philosophie vertreten wird. Insofern sei
Machiavelli für die europäisch-westlichen Hemisphären noch lange
nicht obsolet, da sich die Politik, insbesondere der Militarismus eu-
ropäischer Staaten, mit dessen Vorstellungen deckt.
Der Problematik der Negativität begegnet Khella mit dem Rat,
Kritik nicht nur auf das auszurichten, was expressis verbis ausge-
drückt wird, sondern gerade auch auf das, was man nicht öffentlich
sagt. Dies exemplifiziert Khella am Verhalten einiger europäischer
Philosophen und Wissenschaftler der Gegenwart, die sich mit Äuße-
rungen zur Aggressivität und Destruktivität ihrer Staaten bewusst
oder unbewusst zurückhalten und auf offensive Kritik verzichten.93
Khella schlägt eine grundlegende Revision der Philosophiege-
schichtsschreibung vor, welche die Rehabilitierung der Geschichte
außereuropäischer Völker in europäischen Lehrwerken, insbesonde-
re in Schulbüchern, einschließt. Er verurteilt Bezeichnungen wie
›People without History‹ oder auch ›Orientalische Despotie‹ und
fordert, diese durch neutrale Begriffe zu ersetzen.94 Ein wichtiges
Forschungsgebiet Khellas ist die Frage nach den Ursprüngen der
Philosophie. Er kritisiert hier die historische Vereinnahmung ägypti-
scher Leistungen durch die Griechen. Konkret geht es um die Ent-
wicklung von Philosophie und Schrift im alten Ägypten.
Nach Khellas Auffassung wird eine erste Philosophie im Ägypten
des 7. Jahrtausends v.u.Z. entworfen und dem Isisgott Thot gewidmet.
Unter der Schirmherrschaft dieses Gottes der Gelehrten begründen
92
Vgl. Khella, Karam: Die universalistische Erkenntnis- und Geschichts-
theorie, 2007.
93
Vgl. Khella, Karam: Die gespaltene Welt, 32002.
94
Vgl. Khella, Karam: Die universalistische Erkenntnis- und Geschichts-
theorie, 2007, S. 51-104.
214 Kritische Gegenwartsphase
ägyptische Philosophen, lange vor der Entstehung der Schriftsprache,
ein vollständiges philosophisches System.95 Im Zentrum dieser Phi-
losophie stehen die Lehren von Gleichgewicht, Harmonie, Aufrich-
tigkeit und dem Bestreben nach Vollkommenheit. Ethik und Moral
ergeben sich von selbst, wenn die Grundregeln von Gleichgewicht
und Harmonie eingehalten werden. Diese Philosophie erhält eine
komplementäre Erweiterung durch umfassende Lehren zur Gerech-
tigkeit, die mit der Göttin ›Macat‹ verbunden werden.
Die Philosophie Thots, die zunächst mündlich überliefert worden
sei, wäre nach der Entstehung eines hieroglyphischen Alphabets aus
der mündlichen Tradition in koptischer Sprache auf Papyri übertragen
und festgehalten worden. Zugehörige Originalkodices, die zu den
ältesten der Menschheit zählen, sind heute Bestand des Koptischen
Museums in Kairo.
Interessierte Gelehrte aus allen Teilen der damals bekannten Welt
besuchen die ägyptischen Schulen in Achmim, Asyut, Aschmunain
und studieren diese Schriften. Weil das Erlernen der Hieroglyphen
sehr mühsam ist, suchen die ägyptischen Lehrmeister nach einer
vereinfachenden Möglichkeit der schriftlichen Kommunikation. Das
Produkt dieses langen Entwicklungsprozesses ist, Khella zufolge,
eine in Buchstabenschrift geschriebene Sprache, die alphabetisch
strukturiert und grammatisch kodifiziert ist. Der Ausdruck ›Alphabet‹
stamme aus dem Koptischen, der Wortschatz sei den in der Region
verbreiteten koptischen Sprachen entnommen.96 Ein wichtiger Bei-
trag der koptischsprachigen Philosophie ist die Gnosis, welche neben
die Philosophie des Thot und der ›Macat‹ tritt.
Um den Studierenden der ägyptischen Schulen die Arbeit weiterhin
zu erleichtern, verfallen die Gelehrten der Idee, eine Kunstsprache zu
entwickeln, eine gemeinsame, künstlich strukturierte Kommunika-
tions- und Verkehrssprache: die ›Koine‹, was soviel wie ›öffentlich‹,
›allgemein‹, ›publik‹ bedeutet. Der Wortschatz wird aus den in der
Region verbreiteten Sprachen entlehnt, als Schrift wird die entwickel-
te Buchstabenschrift verwendet.
Der Zweck der Koine, nämlich die leichte Erlernbarkeit zu Studi-
enzwecken, lässt sie schnell zu einer Schriftsprache des wissenschaft-
lichen und philosophischen Diskurses avancieren. Sie wird auch in
95
Vgl. hierzu Khella, Karam und Hamid Reza Yousefi: Philosophie in
orientalischen Traditionen, 2012 (37-53).
96
Vgl. Khella, Karam: Zur Philosophie Afrikas aus universalistischer Sicht
unter besonderer Berücksichtigung Ägyptens, 2010.
3.10 Karam Khella 215
umliegenden Regionen zur Schriftsprache schlechthin, vor allem
dort, wo vorher keine geeignete oder überhaupt keine Schriftsprache
vorhanden war. Die allgemeinen frühchristlichen Konzilien der alten
Kirche verhandeln ausschließlich in Koine. Eines der wichtigsten
Produkte der Koine-Sprache ist die Septuaginta, die älteste vollstän-
dige Fassung des Alten Testaments. Koine wird aber nie zu einer
allgemein verwendeten Volkssprache.
Im islamischen Raum wird die Koine im 7. christlichen Jahrhun-
dert von der arabischen Sprache als schriftliche Verkehrssprache und
als Sprache der Philosophie und Wissenschaft abgelöst. Der Kreis
derer, die sich der Koine bedienen, wird immer kleiner, und noch vor
der Wende zum zweiten Jahrtausend verschwindet sie nahezu voll-
ständig.97 Seither wird Koine in der Literatur gemeinhin als ›Grie-
chisch‹, ›Alt-Griechisch‹ oder auch ›Klassisch-Griechisch‹ bezeich-
net, obwohl diese Sprache weder vom griechischen Volk gesprochen
noch deren Ursprünge griechisch sind.
Khella ist ein Philosoph der Tat. Seine Kritik wendet sich gegen
diese Vereinnahmung. Er fordert eine Revision dieser historisch ge-
wachsenen Behauptung, welche für ihn eine unverzichtbare Voraus-
setzung für ein gewandeltes Geschichtsbild darstellt.98 Seine Philo-
sophie steht unter dem Einfluss der ekhwanischen ›inssaniyyat‹, der
›Menschengemäßheit‹, und fordert deshalb einen Primat der prakti-
schen Philosophie, die ethische Komponenten in sich trägt.
Ausgewählte Werke:
— Arabische und islamische Philosophie und ihr Einfluss auf das europäi-
sche Denken.
— Geschichte der arabischen Völker: Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
97
Ob Koine eine rein wissenschaftliche Sprache ist oder ob sie auch ge-
sprochen wurde, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Auf die kontrover-
sen Meinungen zu diesem Thema kann hier nicht näher eingegangen
werden. Vgl. hierzu Khella, Karam: Handbuch der arabischen Welt,
1982.
98
Vgl. Khella, Karam: Der Philosophenstreit, 2013.
3.11 Seyyed Hossein Nasr
und die Grenzen zwischen Tradition und Moderne
Seyyed Hossein Nasr wurde 1933 in Persien geboren. Er studiert an
mehreren Universitäten in und außerhalb des Iran. 1945, nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges, reist er in die USA und studiert Phy-
sik und Mathematik am Massachusetts Institute of Technology und
danach an der Harvard Universität. 1958 kehrt Nasr in den Iran zurück
und nimmt eine Lehrtätigkeit an der Arjamehr Universität auf, die
heute unter dem Namen Scharif-Universität bekannt ist. 1972 wird
er Rektor dieser Universität.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr in den Iran macht Nasr die
Bekanntschaft von Allameh Tabatabai und Abollhossein Rafii Qazwi-
3.11 Seyyed Hossein Nasr 217
ni (1897-1975), mit denen er sich über die grundlegenden Fragen der
Philosophie und Logostheologie austauscht. Auch den französischen
Philosophen Henry Corbin (1903-1978) lernt er in diesem Jahr ken-
nen. Mit dem sadraischen Philosophen Allameh Tabatabai bleibt er
25 Jahre lang verbunden, ohne Qazwini und Corbin aus den Augen
zu verlieren.99
1974 gründet Nasr mit seinen Kollegen Mohsen Foroughi (1907-
1983), Abdolhossein Zarrinkoub (1923-1999), Seyyed Jalaleddin
Aschtiani (1925-2005) und Ehsan Naraghi (1926-2012) sowie Nader
Naderpour (1929-2000) die ›Kaiserliche Akademie für Philosophie
im Iran‹, die ›Andschoman-e Schahanschahi-je Falsafe‹. Die Schirm-
herrschaft über diese Akademie übernimmt Farah Diba, die Gattin
des letzten Schahs. Die Aufgabe der Akademie ist es, alle Bereiche
der islamischen Philosophie, unter Berücksichtigung der iranischen
Geistesgeschichte, neu zu fundieren und in die Welt zu tragen. Nasr
ist von Beginn an bestrebt, die verlorengegangene Größe der Tradi-
tion islamischer Philosophie mit der Gegenwart zu verknüpfen. Die
›Kaiserliche Akademie‹ bildet eine Elite aus, um den Herausforde-
rungen der Gegenwart bestmöglich gerecht zu werden. Zu seiner
Schülerschaft zählen unter anderem Gholamali Haddat Adel (*1945)
und Gholamreza Avani (*1942). In jener Zeit ruft Nasr die Zeitschrift
›Ewige Vernunft‹, ›Javidan Kherad‹, ins Leben, um die Möglichkeit
zu eröffnen, die neuesten Forschungen der entstehenden Elite zur
Diskussion zu stellen.
Nach der Islamischen Revolution von 1979 reist Nasr erneut in die
USA und bekleidet 1984 in Washington die Professur für islamische
Studien an der George Washington University. Seine Studien umfas-
sen vor allem die Geschichte des Denkens im Islam, die Geschichte
der Mystik und Hermeneutik sowie die Kritik der Tradition und Mo-
derne. Besonderes Gewicht nimmt in seinem Denken die Frage nach
dem ›Heiligen‹ ein.
Nasr betrachtet sich nicht als eine Art Politiker, der durch Populis-
mus alles daran setzt, wiedergewählt zu werden. Seine Mission als
Philosoph bestünde ausschließlich darin, grundlegende Reformen im
Denken der Menschen herbeizuführen. Er bezeichnet seine Philoso-
99
Corbin war von der schiitischen Spiritualität und Rationalität so faszi-
niert, dass er Zeit seines Lebens mit Nasr und Allameh Tabatabai in
Kontakt bleibt und zahlreiche Reisen in den Iran unternimmt. Über Nas-
rs Denken vgl. sein Interview ›Dar djostegouje amre qodsi‹ [Auf der
Suche nach dem Heiligen], 2006.
218 Kritische Gegenwartsphase
phie als eine Kombination aus ›Gavidan Kherad‹, also ›Ewiger Phi-
losophie‹, und der vernunftverwurzelten Tradition islamischer Philo-
sophie. In den Denkstrukturen von Ibn Sina, Sohrewardi, Molla
Sadra und Ibn Arabi sieht er tragende Figuren dieser Tradition, mit
denen er sich identifiziert.100 Nasr beschränkt Philosophie nicht auf
rationalistische Elemente, sondern geht von einem erweiterten Phi-
losophiebegriff aus. Er will theologische Reflexionen und philoso-
phischen Sufismus sowie philosophische Hermeneutik und Narrati-
vität einbeziehen.101
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gründet Mir Damad in Esfehan,
worauf im zweiten Kapitel bereits hingewiesen wurde, ein wissen-
schaftliches Zentrum, in dem nicht nur philosophische, theologische
und mystische Richtungen zusammenfließen, sondern auch die von
Widersachern der Philosophie. Nasr bezeichnet dieses Zentrum als
›Schule von Esfehan‹.
Die Frage nach Tradition und Moderne bilden die zentrale Achse
der Philosophie Nasrs. Sein Menschenbild ist für das Verständnis
seiner Philosophie und damit für seine Kritik an der Moderne grund-
legend. Nach ihm gibt es drei menschliche Charaktere: solche, die
den profanen Dingen des Lebens großen Wert beimessen, ihr Leben
danach ausrichten, um ihre Glückseligkeit zu finden; solche, die ihre
Zufriedenheit durch oberflächliches Mitleidsgefühl und allgemeine
Sentimentalität erlangen und schließlich Menschen, die den Sinn des
Lebens denkend und verstehend zu ergründen versuchen und Geisti-
ges anstreben. Die Glückseligkeit solcher Menschen definiert sich in
der Kontinuität ihres Strebens nach Weisheit.102
Während Nasr die ersten zwei Menschentypen eher der Moderne
zugehörig sieht, ordnet er die dritte Gruppe von Menschen der Tra-
dition zu. In der wertschätzenden Achtung der Tradition sieht er ein
Geschenk des göttlichen Lichtes, dessen Gnade die Wiedereinsetzung
der Weisheits- und Wahrheitsliebe ausmacht.103 Weil diese Wahrheit
Menschen jenseits ihrer Herkunft und Hautfarbe verbindet, sieht Nasr
die Aufgabe der Tradition darin, Menschen durch transzendente Bil-
100
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Se hakime mosalman [Drei Weisen des Is-
lam], 2002.
101
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: History of Islamic Philosophy, 3 Volumes,
2003.
102
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Dar djostegouje amre qodsi [Auf der Suche
nach dem Heiligen], 2006, S. 16.
103
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Die Erkenntnis und das Heilige, 2006, S. 93
ff.
3.11 Seyyed Hossein Nasr 219
dung und denkende Lebensführung zusammenzuführen, ohne kultu-
relle Grenzen aufzuheben.
Eine solche Weltsicht, für die Nasr steht, verträgt sich nicht mit der
Philosophie der Moderne, in der sich eine Weltanschauung verbirgt,
die jede Form von Spiritualität und Transzendenz zu Gunsten des
Materiellen bekämpft. Als problematisch sieht er diese Haltung, wenn
der Mensch die göttliche Autorität usurpiert und sich selbst als das
Maß aller Dinge bezeichnet. Nasr weist diese Anthropozentrik der
Moderne zurück. In der Entmachtung oder Entheiligung der Religion
sieht er die Wurzel von Maßlosigkeit und Identitätsverlust.
In diesem Zusammenhang sieht es Nasr als ein Problem an, dass
viele Philosophen aus weiten Teilen der islamischen und asiatischen
Welt die Weltsicht der Moderne übernommen haben und durch diese
Brille schauend, ihre eigene Tradition hinterfragen. Diese eurover-
liebte Position lehnt er mit Entschiedenheit ab. Nasr hält es für ver-
wunderlich, dass Arkoun, ein Moslem algerischer Herkunft, in seiner
Funktion als Wissenschaftler wie ein französischer Aufklärer spre-
che.104 Er führt diese Selbstentfremdung auf die Ideologie des Orien-
talismus zurück,105 der ein Kind des Kolonialismus ist. Wie Edward
W. Said (1935-2003) vertritt Nasr die Auffassung, die Kolonialherren
hätten diese Wissenschaftsdisziplin gegründet, um die Welt, die sie
beherrschen, nach ihren eigenen Mustern zu prägen.
Für Nasr »wurzelt die Moderne in einem gewaltigen Betrug.«106
Diese Janusköpfigkeit liegt, ihm zufolge, in der kühn verkündeten
Botschaft, der ›moderne‹ Mensch besitze erstmals in der Geschichte
der Menschheit die Freiheit, sich selbst zu bestimmen. Nasr aber sieht
die Realität des modernen Menschen so, dass er in unsichtbare Ketten
gelegt worden ist. Durch Suggestion oder Appell an profane Bedürf-
nisse werde der ›moderne‹ Mensch dazu gezwungen, nach dem ›Zeit-
geist‹ zu leben. Dies sei ein bestimmtes Gehäuse, in dem alles vor-
gegeben ist. Man könnte sagen, der ›Heilige Geist‹ sei geradezu
ersetzt worden durch den ›Zeitgeist‹. Nasr geht es um die Beantwor-
tung der Frage, wer diesen ›Zeitgeist‹ formt und seinen Rahmen
definiert.
104
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Dar djostegouje amre qodsi [Auf der Suche
nach dem Heiligen], 2006, S. 318 f.
105
Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus, 32012.
106
Nasr, Seyyed Hossein: Dar djostegouje amre qodsi [Auf der Suche nach
dem Heiligen], 2006, S. 299.
220 Kritische Gegenwartsphase
Die Politiker des Westens verbreiten nach Nasr die Ideologie der
Moderne und Postmoderne durch Medien. Zudem bestimmen die
Modemacher den Geschmack der Menschen. Wer es wagt, aus diesem
Gehäuse bzw. Gängelwagen des Zeitgeistes auszubrechen, wird sank-
tioniert.107 Nach Nasr trägt die Moderne jakobinische Züge, die er
analysiert und darlegt. Ein prominenter Vertreter dieser Forderung ist
Samuel P. Huntington (1927-2008), der offen ausspricht: »Der Wes-
ten eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, oder
der Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Über-
legenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Die Westler
vergessen oftmals diese Tatsache; die Nichtwestler vergessen sie
niemals.«108 Bezugnehmend auf diese Feststellung Huntingtons ist
Nasr der Ansicht, der Betrug der suggerierten Gehäusefreiheit der
Moderne führe den Menschen »in Richtung der Verderbnis und in die
Vernichtung der Humankultur.«109 Daher plädiert er für die Rückkehr
zu traditionellen Werten. Während Nasr die Moderne im Okzident in
Gefahr sieht, sich durch Anmaßung selbst zu zerstören, entfernt sich
der Orient immer mehr von der eigenen Tradition und geht somit der
gleichen Gefahr entgegen.
Jenseits aller euroverliebten oder europhobischen Positionen be-
tont er, dass die griechische Philosophie gleichermaßen dem Orient
und dem Okzident angehöre und beide miteinander verbinde.110 Er
sieht die Philosophie der Griechen nicht als genuin europäisch an,
wie es ja auch von Bertrand Russell (1872-1970) und Heidegger
vertreten wird. Nasr misst der Philosophie, über ihre theoretische
Dimension hinaus, großen praktischen Wert bei und kritisiert, dass in
modernen Zeiten sich die meisten Bereiche der Philosophie gegen die
›Sophia‹, die Weisheit gewandt hätten. Was heute praktiziert werde,
sei nicht, wie einst, ›Liebe zur Weisheit‹, sondern im Gegenteil ›Mi-
sosophie‹, ›Verachtung der Weisheit‹.111
Die Tragödie des Westens sieht Nasr im Verachten dessen, was
Intellekt ursprünglich besagt. Er ist nämlich jene Instanz im Men-
schen, die für das aktive Denken und Erkennen zuständig ist, die
Fähigkeit also, etwas geistig zu erfassen und einzuordnen. Die Me-
107
Ebenda, S. 301.
108
Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, 31997, S. 68
109
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Dar djostegouje amre qodsi [Auf der Suche
nach dem Heiligen], 2006, S. 299.
110
Ebenda, S. 83.
111
Vgl. hierzu Nasr, Seyyed Hossein: History of Islamic Philosophy, 2003.
3.11 Seyyed Hossein Nasr 221
thode der Moderne liegt in der Spezialisierung aller Wissensbereiche.
Die damit verbundene Vereinzelung führt jedoch zum Verlust der
Einheitsbetrachtung. Hierdurch sei ein Bruch entstanden, eine Tren-
nung zwischen wichtigen Bereichen wie Vernunft und Offenbarung,
Religion und Wissenschaft, zwischen Diesseits und Jenseits.
Der eigentliche Unterschied des Westens gegenüber der islami-
schen Welt hat mit dem Reich des Einheitsdenkens zu tun, das die
Muslime durch den Einfluss des Westens mittlerweile größtenteils
verloren hätten. Die Muslime hätten aufgehört, sich als eine Zivilisa-
tion wahrzunehmen, die viele große Denker der Weltgeschichte her-
vorgebracht habe.
Was Nasr in der gegenwärtigen islamischen Welt vermisst, ist der
Intellekt, das erkennende Denken. Der Koran sei ein Vorbild, das
zwischen denjenigen unterscheide, die ihren Intellekt gebrauchen,
und denen, die ihn nicht gebrauchen. Die Muslime hätten jene weg-
weisende Sure des Koran zum erkennenden Denken vergessen, in der
offenbart ist, die Menschen sollten damit beginnen, ihren Intellekt zu
gebrauchen.112 Im koranischen Begriff ›Yaghelun‹ sieht Nasr diese
Aufforderung,113 die Menschen einlädt in einer ursprünglichen und
essentiellen Art und Weise denkend zu wissen. Nasr plädiert daher
für die Wiederbelebung der ursprünglichen Denktraditionen im Is-
lam.114
Bereits 1964 thematisiert er in seinem Werk ›Science and Civili-
sation in Islam‹115 die Frage nach Sinn und Funktion der Wissen-
schaft. Der Version von Wissenschaftsvorstellung der Moderne kön-
ne nur mit der Wiederbelebung des Einheitsdenkens begegnet werden.
Die wissenschaftliche Vorgehensweise der Moderne sei letztlich die
Ausübung einer spezifischen Philosophie der Natur der Dinge. Diese
Weltanschauung gründet sich auf totalen Reduktionismus.
Das Ergebnis dieser Denkform ist die Herausbildung von ›Ismen‹
wie Empirismus, Rationalismus, Humanismus, oder Liberalismus,
Sozialismus und Strukturalismus. Nasr moniert, dass diese ›Ismen‹
allzu leicht in der islamischen Welt Fuß fassen. Diese ›Ismen‹ beein-
flussen, als Fortsetzung der Kolonialperiode, das Bildungssystem in
112
Es gibt viele Stellen im Koran, die Menschen zum Denken auffordern.
Vgl. vor allem die Suren 3:66, 4:83, 6:51, 8:23, 14:26 oder 30:22.
113
Vgl. bspw. Sure 2:171.
114
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Wiederbelebung der islamischen Philoso-
phie, 2014.
115
Vgl. Nasr, Seyyed Hossein: Science and Civilisation in Islam, 1964.
222 Kritische Gegenwartsphase
der islamischen Welt. Die meisten islamischen Intellektuellen sind,
Nasr zufolge, daran gescheitert, mit diesen ›Ismen‹ kritisch-sympa-
thisch umzugehen. Nasr beobachtet dies bei seiner Bekanntschaft mit
Michel Foucault (1926-1984), der im Iran bei einem Symposium
verkündete: ›Wissen Sie, sobald meine Ideen in Frankreich Feuer
fangen, werden sie auch im Iran berühmt sein.‹
Tradition und Moderne stehen nicht in einer Opposition zueinan-
der, sondern beschreiben zwei völlig verschiedenen Denk- und Le-
bensentwürfe, die in weiten Teilen der Welt zu beobachten sind.
Problematisch sind extremistische Positionen dieser Weltsichten, die
Nasr zu Recht kritisiert. Er geht zwischen dem Fortschrittswahn der
Moderne und dem Glaubenswahn der Tradition einen Mittelweg.
Nasr ist von Anfang an ein Philosoph der Tat. Er fordert eine grund-
legende Erneuerung des Denkens in der islamischen Welt durch eine
Rückbesinnung auf den Koran, der die Menschheit zum Nachdenken
über sich und die Welt einlade. In einer unreflektierten Nachahmung
der Moderne sieht er die Gefahr, sich in deren ›Ismen‹ zu verfangen
und zum bloßen Hinterherläufer einer Weltanschauung zu werden,
die er darüber hinaus für ein Puzzle hält, in dem viele Stücke nicht
zusammenpassen. Was sich dieser Struktur nicht füge – das Gleiche
gilt auch für die ebenfalls fundamentalistischen Vorstellungen von
Tradition – werde durch die Anwendung organisierter Gewalt pas-
send gemacht.
Ausgewählte Werke:
— Die Erkenntnis und das Heilige.
— History of Islamic Philosophy.
3.12 Reza Davari Ardekani
und die Zukunft der Philosophie
Reza Davari Ardekani ist 1933 in Persien geboren worden. 1967
promoviert er an der Teheraner Universität in Philosophie mit einer
bahnbrechenden Arbeit über Farabis politische Philosophie. Nach
langer Tätigkeit in Lehre und Forschung erhält er 1983 an dieser
Universität einen Lehrstuhl für Allgemeine Philosophie. Ardekani ist
der amtierende Präsident der ›Akademie der Wissenschaften Irans‹,
Vizepräsident der ›Vereinigung der Akademien der Wissenschaften
in Asien‹ und Herausgeber des offiziellen Kulturjournals des Iran.
Neben Nasr, Dinani und Avani gehört Ardekani zu den führenden
Denkern des zeitgenössischen Iran, die neue Wege suchen, um ihr
224 Kritische Gegenwartsphase
Land und womöglich darüber hinaus die islamische Welt philoso-
phisch in Richtung einer Rückbesinnung auf ihr Erbe zu motivieren.
Man könnte sagen, dass alle vier Philosophen der Tat sind.
Ardekani ist ein Schüler des iranischen Philosophen Ahmad Fardid
(1909-1994), der mit orientalischer wie okzidentalischer Philosophie
gleichermaßen vertraut ist. Durch seinen Lehrer wurde Ardekani mit
den Werken Heideggers bekannt gemacht. Besonders schätzt er Hei-
deggers Kritik an der Technologie und der instrumentellen Ver-
nunft.116
Philosophie lässt sich nach Ardekani nicht wie eine politische Par-
tei betrachten, der man beitreten könnte. Wer sich für ein solches
›Gehäuse‹ entscheide, kopple sich vom echten philosophischen Den-
ken ab. Mit dieser Bestimmung verweist er auf ›Ismen‹, die dem
Denken Schranken setzen. Philosophie ist auch keine Religion; ›Phi-
losophie als Religion‹ gibt es für ihn ebenso wenig wie es ›philoso-
phische Religion‹ gibt. Religion fußt auf Glauben, während Philoso-
phie auf dem Boden der Kritik operiert. Was Philosophie als
Wissenschaft der Wissenschaften und Religion dennoch verbindet,
ist die Frage nach der ›Wahrheit‹. Mit der Religion geht der Anspruch
einher, die Wahrheit zu verkörpern, wohingegen Philosophie der
Wahrheit gewahr werden will und den Sinn des Lebens ergründen
möchte.
Zu Ardekanis Forschungsschwerpunkten gehören, neben Herme-
neutik und politischer Philosophie auch die Geschichte der Philoso-
phie der islamischen Welt sowie die Geschichte des Denkens im
Abendland. Seine Philosophie legt Ardekani in einer Reihe von
Schriften nieder. In seinem kulturphilosophischen Œuvre trifft er eine
klare Unterscheidung zwischen Philosophie und Weisheit. Während
Weisheit geschichts- und zeitlos ist, ist Philosophie zeit- und kultur-
gebunden. Die Wirkungskraft des Denkens entdecken wir häufig erst
im Lösungszwang bestimmter historischer Ereignisse. Doch Denken
ist a priori da.
Die zentrale Achse von Ardekanis Philosophie dreht sich um die
Frage: Wozu überhaupt Philosophie? Warum beschäftigen sich Men-
schen zeit ihres Lebens mit den grundlegenden Fragen menschlicher
Existenz? Echte Philosophie ist für ihn keine ›Tafannon‹, also keine
vergnügliche Beschäftigung, sondern ein tiefes Bedürfnis, welches
116
Über Ardekani vgl. Asadi, Mahmoud (Hrsg.): Chhrehaje mandegar: Reza
Davari Ardekani [Serie: Biographischer Abriss bleibende Persönlichkei-
ten: Reza Davari Ardekani], 2002.
3.12 Reza Davari Ardekani 225
Menschen antreibt, über existentielle Fragen, ja über den Sinn des
Lebens generell nachzusinnen und womöglich Antworten zu finden.
Dies könnte man auch ›Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis‹ nen-
nen. Die Gründung des ›Bait al Hikma‹, also ›Haus der Weisheit‹, in
Bagdad des 8. Jahrhunderts ist für Ardekani der Beweis eines solchen
Bedürfnisses. Weiterhin geht er von einem Philosophiebegriff aus, in
dem ›Wort und Tat‹ zusammenkommen. Eine Philosophie ohne Pra-
xisrelevanz sei affirmatives Gerede. Als Beweis einer ›Philosophie
der Tat‹ führt Ardekani Sokrates an, in dessen Denken Theorie und
Praxis sowie das Gedachte und das Gelebte eine Einheit bilden.
Ardekani hält Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für keine
voneinander unabhängigen Zeitebenen, sondern sieht diese in enger
Relation. Um das zeitgenössische Denken im Iran zu analysieren, sei
es unumgänglich, auf dessen Entstehungsgeschichte zurückzugrei-
fen, genauso, wie die Zukunft sich aus der Gegenwart entwickle und
von ihr kaum zu trennen sei. In diesem Zusammenhang sieht Arde-
kani die Sprache als Spiegel von Kultur, Erkenntnis und Denken, in
dem immer das Erbe der Vergangenheit mitschwinge. Kultur, und
damit Sprache als Ausdruckswelt des Menschen, ist für ihn von gro-
ßem Gewicht. Kein Volk sollte nach Ardekani seiner Kultur gegen-
über gleichgültig sein.
Die Beschäftigung mit den Denkwegen in der Geschichte des zeit-
genössischen Iran führen Ardekani zu einer Kritik der Zustände in
seinem Land. So beginnt für ihn jede Epoche mit bestimmten Prinzi-
pien und Grundlagen, welche das derzeit gültige Wertesystem be-
gründen. Verlieren diese Prinzipien ihren Wert, so habe es mit der
Epoche bald ein Ende, und es beginnt ein Ringen um neue Denkin-
halte. Ist das Volk in der Lage, die eigene Kultur regenerierend fort-
zuführen und neue Prinzipien zu finden, so regeneriert sich auch das
Denken auf eine gesunde Weise von selbst. Ist dies nicht der Fall, so
werden für die neue Epoche Denkwege und Prinzipien anderer Völ-
ker übernommen. Die Folge ist dann oft geistlose Nachahmung.
Ardekani sieht den gegenwärtigen Iran in einer derartigen Lage
und kritisiert, dass das Land seine kulturelle Bodenhaftung zu verlie-
ren droht. Es habe den Anschein, als ob es den eigenen geschichtli-
chen Boden für vergessen erkläre und sich der westlichen Konsum-
verliebtheit zuwende, wobei diese importierte Kultur mit der eigenen
nicht wirklich kompatibel sei.117 Ardekani beklagt die Unterbrechung
117
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Waz-e konuni-je tafakor dar Iran [Gegen-
wart des Denkens im Iran], 2013.
226 Kritische Gegenwartsphase
der eigenen Entwicklung von Wissenschaft und Technologie. In eu-
roverliebten Entwicklungsländern gebe es zwar Wissenschaft bzw.
Wissenschaftler, aber keine eigene Technologie, sondern lediglich
importiertes Know-How. Die Abhängigkeit von den Industrieländern
und damit einhergehende Konflikte sind bei einer solchen Konstella-
tion programmiert.
Ardekani sieht es als unmöglich an, durch Anleihen an den Westen
eigene kulturelle und technologische Fortschritte zu erzielen, mit
denen man sich ernsthaft identifizieren könne. Nur durch eine grund-
legende Suche in Form eines ›Zu-sich-selbst-Findens‹ sieht er die
Möglichkeit, aus der eigengeschichtlichen Entwicklung heraus die
Gegenwart zu gestalten. In diesem Sinne ist Philosophie für Ardeka-
ni nicht irgendeine Tugend, die man erlernen oder importieren könne,
sondern eine Ur-Sehnsucht, die es immer wieder neu zu entdecken
gelte.
In seinem Werk ›Apologie der Philosophie‹ greift Ardekani dieses
Thema auf und betrachtet Philosophie als die Seele der menschlichen
Gesellschaft und damit die des Lebens überhaupt. Philosophie hilft
uns, Probleme zu identifizieren, darüber nachzudenken, ihre Entste-
hungsursache zu erkennen und eine Lösungsmöglichkeit zu finden.
Für Ardekani soll Philosophie wie ein medizinischer Pathologe sein,
der immerzu Gewebeproben der Gesellschaft untersucht.118 Nur so
könne eine sinnvolle Therapie eingeleitet werden, um eine Gesell-
schaft gesunden zu lassen.
Ardekani stellt in diesem Geiste die Frage nach der Zukunft der
Philosophie überhaupt, welche unmittelbar die Geometrie des Geistes
und, wie wir sehen, der Gesellschaft berührt. Ohne eine verinnerli-
chende Rückbesinnung auf die eigenen philosophischen Wurzeln sei
es nicht möglich, eine zukunftsfähige Philosophie zu gestalten. Ar-
dekani steht Moderne und Postmoderne nur ablehnend gegenüber,
wenn sie als Plagiat in einer Gesellschaft wie der iranischen installiert
wird. Für ihn beschreibt die Postmoderne nicht einfach die Zeit nach
der Moderne und den Übergang einer Epoche in die nächste, sondern
geradezu ihr krisenhaftes Ende.
Für Ardekani spielt die Philosophie Farabis eine fundamentale
Rolle. Man kann Ardekani geradezu aufgrund seines integrativen
Denkens als den Farabi unserer Zeit betrachten. Er sieht Farabi als
den Begründer der Philosophie in der islamischen Welt an, als einen
118
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Defa az falsafe [Apologie der Philosophie],
1989.
3.12 Reza Davari Ardekani 227
Vordenker der Zivilgesellschaft mit gerechter Verteilung, auf den sich
alle späteren Philosophen berufen. Hier verwirft er die Auffassung
der Orientalisten, die nicht nur Farabi als einen bloßen Kommentator
der Griechen einstufen: »Die Unterstellung, dass die islamischen
Philosophen, genauer, Philosophen der islamischen Welt, nur Nach-
ahmer der Griechen seien oder deren Ansichten nicht verstanden
hätten und deshalb vom richtigen Weg abgekommen seien, ist das
Produkt einer historisch gewordenen Betrachtungsweise der Orien-
talisten. Dies hat mit dem Denken der Philosophen der islamischen
Welt so gut wie nichts zu tun.«119
Dass die Orientalen bloße Verwalter griechischer Philosophie sei-
en, hält Ardekani also für unhaltbar, denn aus einer bloßen Reproduk-
tion anderer Philosophien hätten niemals Köpfe wie Ibn Sina hervor-
gehen können. Er führt die Wiederbelebung des griechischen Denkens
auf die Philosophen der islamischen Welt zurück, die jene Sprache
erlernten und deren Denken jenes wie Phönix aus der Ashe zu neuem
Leben erstehen ließ. Henry Corbin gehört nach Ardekani zu den
wenigen Ausnahmen unter den Islamwissenschaftlern und Orienta-
listen, die einen echten Dialog mit dem Islam und den Philosophien
in der islamischen Welt gesucht haben.120
In seinem Werk ›Neubetrachtung islamischer Philosophiegeschich-
te‹ geht er der Frage nach, ob und inwieweit die Philosophie der isla-
mischen Welt eigentlich griechisch ist und warum überwiegend irani-
sche Denker jener Zeit eine so starke Affinität hatten, sich mit dem
griechischen Denken zu beschäftigen.121 Für ihn produzieren die Den-
ker der islamischen Welt von Beginn an eine eigenständige Philosophie,
und zwar eine ›monotheistische Interpretation dieser Philosophie‹, die
dem islamischen Denkkontext angemessen ist. Der Philosophie der
Griechen liege ein bestimmtes, dichotomisierendes Menschenbild zu-
grunde. Dies zeigt sich bspw. bei Aischylos (ca. 525-456 v.u.Z.), der
Nichtgriechen als unzivilisiert und als ›Barbaren‹ betrachtet.122
Philosophen der islamischen Welt hingegen seien von Anfang an von
einem universellen Menschenbild ausgegangen. Hier zeigen sich Be-
119
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Ma wa tarikhe falsafeje eslami [Wir und die
Geschichte der islamischen Philosophie], 1998, S. 88.
120
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Farabi az manzare filsoufe farhang [Farabi
im Denken Reza Davari Ardekanis], 1998, S. 88.
121
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Negahi digar be tarikhe falsafeje eslami
[Neubetrachtung islamischer Philosophiegeschichte], 2008.
122
Vgl. Aischylos: Die Perser, 1964, S. 16.
228 Kritische Gegenwartsphase
rührungspunkte mit Falaturis Auffassung, der von der ›Umgestaltung
der griechischen Philosophie durch die islamische Denkweise‹ ausgeht.
Ardekani sieht die Beschreibung der realen Welt ohne Berücksich-
tigung der Subjektivität des Beobachters als unmöglich an. Noch
problematischer wird es, wenn diese Subjektivität als Intersubjekti-
vität missverstanden und sogar verabsolutiert wird. Nach Ardekani
hat Wissenschaft letztlich religiöse Züge. Die Verabsolutierung wis-
senschaftlicher Vorgehensweise sei Glaubenssache.
In seinem Spätwerk ›Wir und die Geschichte der islamischen Phi-
losophie‹ führt Ardekani in die Philosophien der islamischen Welt
von ihren Anfängen bis in die Gegenwart ein und diskutiert ihre
Bedeutung für das Leben überhaupt. Dabei analysiert er neben der
Geschichte der Rationalität in der islamischen Welt auch die Situati-
on der Philosophie im Iran im Vergleich zu den anderen islamischen
Kulturräumen. Exemplarisch porträtiert er einige Philosophen, vor-
nehmlich Al-Kindi, Farabi, Ibn Sina, Ghazali, Ibn Ruschd, Sohrewar-
di und Molla Sadra sowie Allameh Tabatabai.123
Ardekani versteht dieses Werk zugleich als eine Antwort auf die
Behauptungen Al-Jabris, der die Philosophien der islamischen Welt
in arabische und persische unterteilt und behauptet, dass der persische
Teil lediglich das Ziel verfolge, das griechische Denken islamkom-
patibel zu machen. Für Ardekani ist befremdend, dass der Marokka-
ner Al-Jabri sich einerseits als Erbe jener Gründergeneration islami-
scher Philosophie begreift, andererseits aber deren mehrheitlich
persische Wurzeln beklagt.
Insofern versteht Ardekani sein Werk als eine liebende Verteidigung
der Philosophie überhaupt. Er formuliert in seinem Werk, jenseits aller
euroverliebten oder europhobischen Ansätze, eine Mittelposition, um
Orient und Okzident miteinander versöhnend zu verbinden. Ardekani
gelingt es, plausibel zu begründen, dass Philosophie, nach seinen Wor-
ten die ›Geometrie des Geistes‹, als eine universelle Instanz jede Form
von kulturchauvinistischer Verengung verwerfen muss.
Ausgewählte Werke:
— Defa az falsafe [Apologie der Philosophie].
— Ma wa tarikhe falsafeje eslami [Wir und die Geschichte der islamischen
Philosophie].
123
Vgl. Davari Ardekani, Reza: Ma wa tarikhe falsafeje eslami [Wir und die
Geschichte der islamischen Philosophie], 2011.
Nachwort
Die Geschichte des Denkens ist eine Geschichte der menschlichen
Sehnsucht über sich hinauszuwachsen, seine Stellung im Kosmos zu
finden und sich ein würdiges Dasein zu gestalten. Betrachten wir die
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Denkens in der isla-
mischen Welt, so ist auch sie zweifelsohne ein Ausdruck dieser schöp-
ferischen Sehnsucht.
Die Philosophie der islamischen Welt ist im Grunde methodisch-
systematisch ausgerichtet. Sie ist nicht nur ein klassisches Beispiel
interkultureller Begegnung, sondern eine einzigartige Denkwelt, in
welcher Rezeption und Originalität zusammentreffen: Rezeption
griechischer Philosophie und Originalität mit eigenen Leistungen auf
dem Gebiet der Philosophie, Theologie und der Naturwissenschaft.
Die Werke von Philosophen der islamischen Welt, gestern wie heute,
sind ein Reflex auf jeweils aktuelle Begebenheiten in der islamischen
Welt. Sie besitzen die nötige Tiefe, um, wie wir gesehen haben, soli-
de Antworten auf die virulenten Fragen der Gegenwart und womög-
lich der Zukunft zu formulieren.
Wir dürfen die Frage stellen, warum sich die islamische Welt, trotz
dieses unschätzbaren Erbes, immer wieder in einem politischen und
soziokulturellen Zwiespalt befindet und ob es möglich ist, sich aus
eigener Dynamik daraus zu lösen. Meiner Ansicht nach ist diese Si-
tuation teils auf den Kolonialismus zurückzuführen, vorwiegend aber
durch eigene Nachlässigkeit verschuldet. Die eigene Verantwortung
hängt mit dem aufgegebenen Anspruch zusammen, Ideale zu entwi-
ckeln, wie es in der Gründungs- und Blütephase der Philosophie im
›Haus der Weisheit‹ noch der Fall war. Problematisch ist, dass selbst
das Bewusstsein fehlt, diesen Anspruch aufgegeben zu haben.
Schon zu Lebzeiten der ersten vier Kalifen wurden, um der rein
politischen Macht willen, blutige Kämpfe um die Rechtmäßigkeit des
Kalifenamtes zwischen den rivalisierenden Gruppierungen innerhalb
des Islam ausgetragen.1 Dieser nachhaltige Machtstreit führte
schließlich zur Spaltung des Islam in eine schiitische und eine sunni-
tische Richtung. Eine Folge dieser politisch-motivierten Spaltung ist
Dauer-Rivalität und kämpferische Konfrontation.
1
Diejenigen Kalifen sind Abu Bakr (632-634), Omar Ibn al-Khattab (634-
644), Osman Ibn Affan (644-656) und Ali Ibn Abitalib (656-661).
230 Nachwort
Viele der späteren Kalifen, wie die Omajjaden, beanspruchten da-
rüber hinaus als personifiziertes Gewissen der islamischen Völker
eine durch Gott legitimierte Alleinherrschaft für sich und zwangen
die Völker zur Unterwerfung. Schon hier wurde Religion zu politi-
schen Zwecken missbraucht. Jede Kritik an diesem Anspruch wurde
als Gotteslästerung gewertet und gewaltsam niedergeschlagen. Was
wir heute innerhalb vieler islamischer Kulturräume erleben, ist mehr
oder minder auf diese historisch gewachsene Mentalität zurückzu-
führen.
Hinzu kommt in der Neuzeit sowohl das Problem der Korruption
als auch das der Kollaboration der Machthabenden mit den ehemali-
gen Kolonialmächten. Viele Eliten betrachten ihr islamisches Erbe,
›Turath‹, vorwiegend durch die europäisch-westliche Brille und sind
somit eher ein Teil des Problems als dessen Lösung. Viele Philoso-
phen und Wissenschaftler der islamischen Welt, die ihre Ausbildung
im europäisch-westlichen Ausland genossen haben und nun teilweise
auch in ihren Ländern als Hochschullehrer oder gar Politiker tätig
sind, haben sich Folgendes zu fragen: Warum sind die meisten phi-
losophie- und wissenschaftsgeschichtlich relevanten Einführungen
und Kompendien in der islamischen Welt geistige Importe, die sich
in ihrer Effizienz wie eine allgegenwärtige geistige Besatzungsmacht
verhalten?
Ein Fehler vieler dieser Philosophen, Wissenschaftler und Politiker
ist, dass sie in ihren Gesellschaften Fragen formulieren, welche kei-
neswegs Probleme ihrer Gesellschaften widerspiegeln, sondern Fra-
gen sind, die in europäisch-westlichen Hemisphären gestellt und
diskutiert werden. Diese Intellektuellen wissen oft aufgrund ihrer
selbstverschuldeten Entfremdung nicht, wo sie geschichtlich stehen
und mit welchem Kulturraum sie sich identifizieren.
Es ist nur zu verständlich, dass fremde Mächte gewillt sind, jenen
Zwiespalt zu einem Dauerzustand werden zu lassen, um ihren Ein-
fluss zu erhalten und weiter zu vertiefen. Eine konsequente Rückbe-
sinnung auf die eigene reichhaltige Geschichte des Denkens ist für
alle islamischen Völker der unumgängliche Weg, sich neue Perspek-
tiven zu erarbeiten. Wer das Vergangene nicht kennt oder nicht bereit
ist, darüber zu reflektieren, läuft Gefahr, alte Fehler in die Zukunft
hinein zu tragen. Es wäre freilich zu einfach und auch ungerecht, das
Problem der eigenen Fehler ausschließlich in die Schuhe der ›Kolo-
nialstaaten‹, ›Kreuzfahrer‹, ›Perser‹, ›Türken‹ oder der eigenen ›Des-
poten‹ zu schieben.
Nachwort 231
Wer anderesherum den Islam als die Wurzel aller ›islamischen‹
Rückständigkeit zu bestimmen meint, denkt zu kurz. Wer behauptet,
die Muslime hätten keine ›Reformation‹, keine ›Aufklärung‹ und
keine ›Französische Revolution‹ gehabt und seien deshalb von der
europäisch-westlichen Moderne überrascht worden, denkt ebenfalls
zu kurz. Das Gleiche gilt auch für diejenigen, die vermuten, die Phi-
losophien der islamischen Welt hätten sich in eine Festung des Glau-
bens zurückgezogen, um den Anfechtungen einer sich wandelnden
Welt nicht die Stirn bieten zu müssen.
Erklärungsbedürftig wäre vielmehr die Herkunft jener kolonialen
Dynamik, mit der die Europäer in den letzten 250 Jahren fast den
ganzen Globus unterworfen haben. Schon Hegel hatte die zutreffen-
de Vision: »Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes.
Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der
Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu werden.«2 Die-
se Vision ist in der Tat Wirklichkeit geworden. Es ist durchaus der
Überlegung wert, wie sich die organisierte Gewalt des Weltherr-
schaftsanspruchs legitimiert, Afrika, die beiden amerikanischen Kon-
tinente, den indischen Subkontinent, Südost- und Ostasien sowie
Teile der islamischen Welt zu unterwerfen.
Im Hinblick auf den Islam und alles, was mit ihm zusammenhängt,
ist im Westen seit dem Kolonialismus ein Zerrbild mit verheerenden
Folgen zur Normalität geworden. Es geht um das weit verbreitete
Vorurteil, der Islam durchdringe bedingungslos und ausschließlich
alle Lebensbereiche der Muslime und es gebe keine Trennung zwi-
schen säkularer und religiöser Sphäre in Politik, Wissenschaft und
Gesellschaft. Das im Westen fast wie ein Schimpfwort benutzte Ad-
jektiv ›islamisch‹ zementiert diese Unterstellung und verschleiert die
faktische Pluralität des Islam.
Folgerichtig werden rationale Diskurse im Orient entweder margi-
nalisiert oder als Nachahmung westlichen Denkens dieser Gesell-
schaften abqualifiziert. Mit dieser Ideologie ist die Absicht verbun-
den, nicht nur die Leistungen, sondern zugleich jede Pluralität im
Orient, allen voran dem Iran unsichtbar werden zu lassen.
Der Ausdruck ›Islamische Medizin‹ wird keineswegs von Wissen-
schaftlern der islamischen Welt beansprucht, sondern wird zu einer
Art Stigmatisierung benutzt, um jede Ambiguität im Keime zu ersti-
cken. Der Chirurg arbeitet doch nicht nach dem Koran, sondern nach
2
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der
Weltgeschichte, 1955, S. 763.
232 Nachwort
den Regeln der Medizin. Der iranische Wissenschaftler gründet seine
Forschungsfelder doch nicht auf dem Koran, sondern baut seine Sa-
telliten und Trägerraketen nach den Maßstäben der Technik. Das
Gleiche gilt auch für Nanotechnologie und Stammzellenforschung,
die im Iran seit Jahren betrieben werden.
Entfällt im Westen der Schleier des diskreditierenden Vorurteils,
so sehen wir, dass Säkularität und Sakralität in einer Gesellschaft wie
dem Iran eine fruchtbare Verbindung eingegangen sind.
Der Orient ist seit der Entstehung des Islam ein Ort, aus dem viele
wissenschaftliche Errungenschaften und weitreichende Impulse her-
vorgegangen sind. Die Geschichte der orientalischen Philosophie und
Naturwissenschaft wartet auf die Morgenröte ihrer Entdeckung und
eines Neubeginns, um verarmtes Denken der Gegenwartsphilosophie
dialogisch zu überwinden. Was im Zuge des Kolonialismus gestoppt
oder verhindert wurde, wird heute in Ländern wie Indien oder dem
Iran auf allen Ebenen wieder aufgegriffen und vorangetrieben. Diese
Entwicklung ist weder europhobisch noch euroverliebt, sondern eine
Mittelposition, um zwei Welten aus eigener Geschichte und Weisheit
miteinander zu versöhnen.
Philosophie im islamischen Orient ist ein historisch einzigartiger
Beitrag zu Weltkultur, Weltphilosophie und Weltkommunikation.
Von Anfang an ist Pflicht zu Toleranz, vernünftigem Handeln und
Offenheit – Haltungen, die wir mit Aufklärung und Demokratie in
Verbindung bringen – ein Wesenszug des Islam. Was heute der isla-
mische Orient braucht, ist jene anfängliche Sehnsucht, wie sie vor
Zeiten schöpferische Dynamik erzeugte, sich Ziele zu setzen und
Hürden zu überwinden, um dem eigenen Vermögen und Anspruch
gerecht zu werden. Wir als die Erben stehen in der Pflicht, die Werte
und Menschenbilder der Gründungs- und ersten Blütephase der Phi-
losophie und Naturwissenschaften im islamischen Orient wie ein
Phönix aus der Asche wieder auferstehen zu lassen.
Diesem Werk habe ich ein bewegendes Zitat des deutschen Dich-
ter-Philosophen Johann Wolfgang von Goethe vorangestellt und
möchte es mit demselben Zitat schließen:
»Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.«
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