100% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
424 Ansichten181 Seiten

Sammlung Tusculum

Hochgeladen von

MST
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
100% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
424 Ansichten181 Seiten

Sammlung Tusculum

Hochgeladen von

MST
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 181

SAMMLUNG TUSCULUM

Wissenschaftliche Beratung:

Gerhard Fink, Niklas Holzberg,


Rainer Nickel, Bernhard Zimmermann
MARCUS TULLIUS CICERO

TIMAEUS
DE UNIVERSITATE

TIMAEUS
ÜBER DAS WELTALL

Lateinisch- deutsch

Herausgegeben und übersetzt


von Karl und Gertrud Bayer

ARTEMIS & W I N K L E R
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation


in der Deutschen Narionalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter
http://dnb.ddb.de abruibar.

© 2006 Patmos Verlag GmbH & Co. K G


Artemis 8t Winkler Verlag, Düsseldorf
Alle Rechte vorbehalten.
Druck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 3-7608-1746-7
www.patmos.de
INHALT

TIMAEUS

Text und Übersetzung 8

Fragmente 84

ANHANG

Uberlieferung und Textgestaltung 89


Einführung 93
Erläuterungen 125
Gliederung des Ciceronischen Timaeus 173
Literaturhinweise 175
Register 179
Bildnachweis 181
TIMAEUS
8

Multa sunt a nobis et in Academicis conscripta contra I


physicos et saepe cum P. Nigidio Carneadeo more et ι
modo disputata. Fuit enim vir ille cum ceteris artibus,
quae quidem dignae libero essent, ornatus omnibus,
tum acer investigator et diligens earum rerum, quae a
natura involutae videntur; denique sic iudico, post il-
los nobiles Pythagoreos, quorum disciplina exstincta
est quodam modo, cum aliquot saecla in Italia Sicilia-
que viguisset, hunc exstitisse, qui illam renovaret.

Qui cum me in Ciliciam proficiscentem Ephesi ex- 2


spectavisset Romam ex legatione ipse decedens, venis-
setque eodem Mytilenis mei salutandi et visendi causa
Cratippus, Peripateticorum omnium, quos quidem
ego audierim, meo iudicio facile princeps, perlibenter
et Nigidium vidi et cognovi Cratippum. Ac primum
quidem tempus salutationis in percontatione con-
sumpsimus ...
9

A N L A S S DES GESPRÄCHS

11 In meinen Libri Academici habe ich viel gegen die Na-


turphilosophen geschrieben, habe auch oft mit P. Nigidius
nach der Methode des Karneades diskutiert. Der war näm-
lich in allen Wissenschaftsgebieten, soweit sie einem freien
Mann angemessen sind, beschlagen, besonders aber war er
ein eifriger und sorgfältiger Erforscher der Dinge, die von
der Natur verhüllt zu sein scheinen; überhaupt komme ich
zu dem Urteil, dass er nach jenen berühmten Pythago-
reern, deren Schule nach einigen Jahrhunderten der Blüte
in Italien und Sizilien so gut wie ausgetilgt wurde, als ihr
Erneuerer auftrat.

2 Als dieser Nigidius mich auf meiner Reise nach Kilikien


in Ephesos erwartete - er selbst war nach Erledigung einer
Gesandtschaftsreise auf der Rückreise nach Rom - , traf,
um mir seine Aufwartung zu machen, ebendort aus Myti-
lene Kratippos ein, von allen Peripatetikern, soweit ich sie
gehört habe, meiner Meinung nach der wohl bedeutend-
ste. Es machte mir großes Vergnügen, Nigidius zu begeg-
nen und auch Kratippos kennenzulernen. Und zunächst
benützten wir die Zeit der Begrüßungskonversation zu Er-
kundigungen ...
IO

... Quid est, quod semper sit ñeque ullum habeat or-
tum, et quod gignatur nec umquam sit?

- Quorum alteram intellegentia et ratione comprehen-


ditur, quod unum atque idem semper est;
- alteram, quod adfert opinio et sensus rationis ex-
pers, quod totum opinabile est, id gignitur et interit
nec umquam esse vere potest.

Omne autem, quod gignitur, ex aliqua causa gigni ne-


cesse est; nullius enim rei causa remota reperiri origo
potest.

Quocirca si is, qui aliquod munus efficere molitur,


earn speciem, quae semper eadem est, intuebitur atque
id sibi proponet exemplar, praeclaram opus efficiat ne-
cesse est; sin autem earn, quae gignitur, numquam
illam, quam expetet, pulchritudinem consequetur.
Omne igitur caelum sive mundus sive quo alio voca-
bulo gaudet, hoc a nobis nuncupatus sit.

De quo id primum consideremus, quod principio est


in omni quaestione considerandum,
- semperne fuerit nullo generatus ortu,
- an ortus sit ab aliquo temporis principatu.
Ortus est, quandoquidem cernitur et tangitur et est
undique corporatus; omnia autem talia sensum mo-
II

BEGRIFFSERKLÄRUNGEN

II 3 (Man muss meiner Meinung nach vorab folgende


Frage klären:) Was ist das, was immer >ist< und keinen Ur-
sprung hat, und das, was entsteht und niemals >ist<?
- Das eine davon erfasst man mit Hilfe logischen Den-
kens, es >ist eins und immer das Selbe<
- das andere, das Einbildung und vernunftlose Sinnes-
wahrnehmung uns nahebringen und somit insgesamt
auf bloßer Vorstellung beruht, entsteht, geht zugrunde
und kann niemals wirklich >seiend< sein.
N u n muss aber alles, was entsteht, notwendigerweise auf-
grund irgendeiner Ursache entstehen; man kann nämlich
von nichts den Ursprung finden, wenn man eine Ursache
ausschließt.

4 Wenn also derjenige, der es unternimmt, ein Werk zu


schaffen, das Urbild, das immer »dasselbe ist<, im Auge be-
hält und es sich als Muster vorlegt, wird er mit Nowendig-
keit ein herrliches Werk vollenden; nimmt er aber das zum
Vorbild, was >wird<, so wird er niemals die angestrebte
Vollkommenheit erreichen. Der ganze Weltenbau oder das
All oder welche Bezeichnung ihm sonst recht ist, sei von
uns so, d. h. »All«, benannt.
5 Bezüglich dieses Alls wollen wir zuerst das überlegen,
was bei jeder Untersuchung am Anfang zu überlegen ist,
nämlich ob dieses All immer war, durch keinen Ursprung
geschaffen, oder ob es an irgendeinem Zeitpunkt entstan-
den ist. Es ist entstanden, da man es ja sehen und berühren
kann und da es von allen Seiten körperhaft ist; alles von sol-
12 TIMAEUS

vent, sensusque moventia quae sunt, eadem in opina-


tione considunt: quae ortum habere gignique diximus,
nihil autem gigni posse sine causis.

Atque ilium quidem quasi parentem huius università- 6


tis invenire difficile et, cum iam inveneris, indicare in
vulgus nefas.

Rursus igitur videndum, ille fabricator huius tanti


operis utrum sit imitatus exemplar,
- idne, quod semper unum idem et sui simile,

- an id, quod generatum ortumque dicimus.


Atqui si pulcher est hic mundus et si probus eius arti-
fex, profecto speciem aeternitatis imitari maluit; sin
secus, quod ne dictu quidem fas est, generatum exem-
plum est pro aeterno secutus.

Non igitur dubium, quin aeternitatem maluerit exse- 7


qui, quandoquidem neque mundo quicquam pulch-
rius neque eius aedificatore praestantius.

Sic ergo generatus ad id est effectus, quod ratione sa-


pientiaque comprehenditur atque aeternitate inmuta-
bili continetur. Ex quo efficitur, ut sit necesse hunc,
quem cernimus, mundum simulacrum esse alicuius
aeterni.

Difficillimum autem est in omni conquisitione rationis


exordium; de iis igitur, quae diximus, haec sit prima
distinctio.
BEGRIFFSERKLÄRUNGEN 13

cher Art erregt einen Sinneseindruck; und was die Sinne


bewegt, fällt in den Bereich der Vorstellung. Derlei hat, wie
wir festgestellt haben, einen Ursprung und entsteht; denn
es kann, wie wir sagten, nichts ohne Ursachen entstehen.

6 Und jenen - wenn ich so sagen darf - >Schöpfer< dieses


Universums zu finden ist schwierig, und wenn man ihn ja
gefunden hat, ist es ein Frevel, die Kunde davon in die Öf-
fentlichkeit zu tragen.
Weiterhin muss man also bedenken, welchem Urbild je-
ner Urheber dieses großen Werkes gefolgt ist,
- dem, was >immer eins und das Selbe und nur sich selbst
ähnlich< ist, oder
- dem, was wir als >geschaffen und entstanden bezeichnen.
Wenn nun dieses All vollkommen ist und sein Baumeister
tüchtig, wollte er sicherlich lieber dem ewigen Urbild fol-
gen; wenn anders, was man ohne Frevel nicht einmal aus-
sprechen darf, wäre er einem entstandenen Modell gefolgt
statt dem ewigen.

7 Es besteht also kein Zweifel daran, dass er sich lieber am


Ewigen orientieren wollte, zumal es weder etwas Vollkom-
meneres gibt als das All noch etwas Hervorragenderes als
seinen Schöpfer.
So also entstanden, ist das All zu dem geschaffen, was von
vernünftigem Denken und Erkenntnis erfasst und in un-
veränderlicher Ewigkeit erhalten bleibt. Daraus ergibt sich,
dass dieses All, das wir sehen, notwendigerweise ein ewi-
ges Abbild von etwas Ewigem ist.

Das Schwierigste bei jeder Untersuchung ist nun einmal der


Ausgangspunkt der Überlegung. Bezüglich dessen, was wir
gesagt haben, sei dies die erste begriffliche Festlegung.
H

Omni orationi cum iis rebus, de quibus explicat, vide-


tur esse cognatio.
- Itaque cum de re stabili et inmutabili disputât ora-
tio, talis sit, qualis illa, quae ñeque redarguì ñeque
convinci potest;

- cum autem ingressa est imitata et efficta simulacra,


bene agi putate, si similitudinem veri consequatur:
quantum enim ad id, quod ortum est, aeternitas va-
let, tantum ad fidem Veritas.

Quocirca si forte de deorum natura ortuque mundi


disserentes minus id, quod avemus animo, conseque-
mur, ut tota dilucide et plane exornata oratio sibi con-
stet et ex omni parte secum ipsa consentiat, haut sane
erit mirum, contentique esse debebitis, si probabilia
dicentur: aequum est enim meminisse et me, qui dis-
seram, hominem esse et vos, qui iudicetis, ut, si pro-
babilia dicentur, ne quid ultra requiratis.
IJ

W A H R S C H E I N L I C H K E I T ALS ZIEL DER


ERÖRTERUNG

III 8 Offensichtlich muss jede Erörterung ihrem Gegen-


stand entsprechen.
- Wenn von einer stabilen und unveränderlichen Sache die
Rede ist, soll diese Erörterung daher so sein wie ihr Ge-
genstand, der weder als nichtig erwiesen noch widerlegt
werden kann;
- wenn sie sich aber auf die Behandlung von nachgeahm-
ten und geschaffenen Gebilden eingelassen hat, tut ihr
vermutlich gut daran, wenn sie bloße Wahrscheinlich-
keit anstrebt: Wie nämlich die Ewigkeit zum Entstande-
nen, so verhält sich die Wahrheit zur Wahrscheinlich-
keit.
Wenn wir also gerade vom Wesen der Götter und vom Ur-
sprung des Alls handeln und das, was wir herzlich gern
wollen, nicht so ganz erreichen, dass nämlich die ganze
Abhandlung durchsichtig und klar aufgebaut, in sich kon-
sistent ist und in jedem Teil mit sich selbst übereinstimmt,
wird das gewiss nicht verwunderlich sein, und ihr werdet
euch damit zufrieden geben müssen, wenn Wahrschein-
liches formuliert wird; es ist nämlich billig, sich daran zu
erinnern, dass ich, der ich hier spreche, nur ein Mensch
bin, und dass Gleiches auch für euch gilt, die ihr darüber
ein Urteil abgeben sollt; also sollt ihr, wenn Wahrschein-
liches ausgeführt wird, nichts darüber hinaus verlangen!
16

Quaeramus igitur causam, quae impulerit eum, qui 9


haec machinatus sit, ut originem rerum et molitionem
novam quaereret.

Probitate videlicet praestabat, probus autem invidet


nemini; itaque omnia sui similia generavit. Haec nimi-
rum gignendi mundi causa ¡ustissima. Nam cum con-
stituisset deus bonis omnibus explere mundum, mali
nihil admiscere, quoad natura pateretur, quicquid erat,
quod in cernendi sensum caderet, id sibi adsumpsit,
non tranquillum et quietum, sed inmoderate agitatum
et fluitans, idque ex inordinato in ordinem adduxit;
hoc enim iudicabat esse praestantius.
'7

MOTIVE DES SCHÖPFERGOTTES

9 Lasst uns also nach dem Grund fragen, der den Schöp-
fergott, der dieses (All) erschuf, bewogen hat, die Erschaf-
fung der Welt und den Beginn eines unerhörten Getriebes
zu bewerkstelligen!
In seiner Vollkommenheit überragte er natürlich alles. Ein
vollkommenes Wesen blickt auf kein anderes neidvoll; da-
her hat es alles so gestaltet, dass es ihm gleiche. Dies war
offensichtlich der triftigste Grund, das All zu erschaffen.
Denn als der Schöpfergott beschlossen hatte, das All mit
allem Guten zu erfüllen und, soweit die Natur das zuließ,
nichts Schlechtes beizumischen, nahm er alles, was da
sichtbar war, für sich in Anspruch - das war alles nicht ru-
hig und bewegungslos, sondern in regelloser Bewegung
und im Fluss - und führte es aus dem ungeordneten Zu-
stand in den der Ordnung über; denn diesen Zustand hielt
er für besser (als jenen).
ι8

Fas enim nec est nec umquam fuit quicquam nisi pul- io
cherrimum facere ei, qui esset optumus. Cum ratio-
nem igitur habuisset, reperiebat nihil esse eorum, quae
natura cernerentur, inintellegens intellegente in toto
genere praestantius.

Quocirca intellegentiam in animo, animum inclusit in


corpore: sic ratus est opus illud effectum esse pulcher-
rimum. Quam ob causam non est cunctandum profi-
teri (si modo investigan aliquid coniectura potest)
hune mundum animal esse idque intellegens et divina
Providentia constitutum.

Hoc posito, quod sequitur, videndum est, cuiusnam IV


animantium deus in fingendo mundo similitudinem π
secutus sit. Nullius profecto id quidem, quae sunt no-
bis nota animantia: sunt enim omnia in quaedam ge-
nera partita aut inchoata, nulla ex parte perfecta:

- Imperfecto autem nec absoluto simile pulchrum


esse nihil potest.
- Cuius ergo omne animal quasi partícula quaedam
est, sive in singulis sive in universo genere cernatur,
eius similem mundum esse dicamus.
19

DAS ALL, E I N I N T E L L I G E N T E S L E B E W E S E N

io Es darf nämlich weder jetzt noch durfte jemals das We-


sen, das das beste ist, etwas anderes als das Schönste voll-
bringen. Da es also planvoll vorgehen wollte, befand es,
dass nichts von dem, was von Natur aus sichtbar ist, wenn
es vernunftlos ist, in seiner ganzen Art vorzüglicher sein
kann als etwas Vernunftbegabtes.
Daher schloss es die Vernunft in die Seele, die Seele aber in
den Körper ein: So war seiner Uberzeugung nach jenes
Werk als das schönste geschaffen. Aus diesem Grund muss
man (sofern denn irgend etwas durch Mutmaßung er-
forscht werden kann), ohne Zögern bekennen, dass dieses
All ein Lebewesen ist, und dass es vernunftbegabt und
durch göttliche Vorsehung begründet ist.

IV Ii Nimmt man nun das als gegeben an, so gilt es zu


überlegen, was daraus folgt, nämlich mit welchem der le-
benden Wesen der Schöpfergott, als er das All schuf, Ähn-
lichkeit angestrebt hat. Sicherlich mit keinem, jedenfalls
soweit uns die Lebewesen bekannt sind: Sie sind nämlich
alle in gewisse Arten gegliedert oder erst angelegt, jeden-
falls in keiner Weise vollendet:
- Was aber etwas Unvollendetem und nicht Abgeschlosse-
nem ähnlich ist, kann in keiner Weise schön sein.
- Dem aber, von dem jedes Lebewesen gleichsam nur ein
Teilchen ist, ob es nun im einzelnen oder in seiner gan-
zen Art wahrgenommen wird, dem - das dürfen wir
wohl sagen - ist das All ähnlich.
20 TIMAEUS

Omnes igitur, qui animo cernuntur et ratione intelle-


guntur, animantes complexu rationis et intellegentiae,
sicut homines hoc mundo et pecudes et omnia, quae
sub aspectum cadunt, comprehenduntur.
DAS ALL, EIN I N T E L L I G E N T E S LEBEWESEN 21

Alle lebenden Wesen also, die allein vom Geist erkannt


und vom Verstand begriffen werden, werden durch die
Umschließung mit Vernunft und Denken ebenso erfasst
wie durch diese die Menschen in dieser Welt und die Tiere
und alles, was sichtbar ist.
22

Q u o d enim pulcherrimum in rerum natura intellegi 12


potest et quod omni parte absolutissimum est, cum
deus similem mundum efficere vellet, animal unum
aspectabile, in quo omnia ammalia continerentur, effe-
cit. Rectene igitur unum mundum diximus, an fuit
plures aut innumerabiles dictu melius et verius ? Unus
profecto, siquidem factus est ad exemplum. Q u o d
enim omnis animantis eos, qui ratione intelleguntur,
complectitur, id non potest esse cum altero: rursus
enim alius animans, qui eum contineat, sit necesse est,
cuius partes sint animantes superiores, caelumque hoc
simulacrum illius ultimi sit, non proximi. Quorum ne
quid accideret atque ut hic mundus esset animanti ab-
soluto simillimus, hoc ipso, quod solus atque unus es-
set, idcirco singularem deus mundum atque unigenam
procreavit.
23

EIN ALL

12 Was nämlich als das Schönste in der Welt gedacht wer-


den kann und was in jeder Hinsicht am vollkommensten
ist, das hat der Schöpfergott, da er das All diesem ähnlich
gestalten wollte, als e i η sichtbares Lebewesen geschaffen,
in dem alle Lebewesen enthalten sein sollten. Haben wir
also mit Recht von e i n e m All gesprochen oder wäre es
besser und richtiger gewesen, von mehreren oder von un-
zähligen zu sprechen? E i n e s ist es in der Tat, sofern es
nach einem Urbild geschaffen ist. Was nämlich alle leben-
den Wesen, die man sich vorstellen kann, in sich schließt,
das kann nicht neben einem zweiten existieren: dann wäre
es nämlich notwendig, dass ein weiteres Lebewesen, das
dieses in sich fasst, existiert, dessen Teile die oben genann-
ten Lebewesen wären, und dass dieses All dann das Abbild
jenes letzten, nicht eines vorletzten (Wesens) ist. Damit
nichts dergleichen eintrete und damit dieses All dem voll-
kommenen Wesen völlig ähnlich sei, gerade deshalb hat
der Schöpfergeist, weil er allein und einzig ist, dieses All als
einziges geschaffen und kein anderes daneben.
Corporeum autem et aspectabile idemque tractabile
omne necesse est esse, quod natum est. Nihil porro
igni vacuum aspici ac videri potest, nec vero tangi,
quod careat solido, solidum autem nihil, quod terrae
sit expers. Quam ob rem mundum efficere moliens
deus terram primum ignemque iungebat.

Omnia autem duo ad cohaerendum tertium aliquid


anquirunt et quasi nodum vinculumque desiderant.
Sed vinculorum id est aptissimum atque pulcherri-
mum, quod ex se atque de iis, quae stringit, quam ma-
xime unum efficit. Id optime adsequitur, quae Graece
άναλογία, Latine (audendum est enim, quoniam haec
primum a nobis novantur) comparatio proportiove
dici potest.

Quando enim trium vel numerorum vel figurarum vel


quorumcumque generum contingit,
ut,
- quod medium sit,
ut ei primum proportione, ita id postremo compa-
retur, vicissimque,
- ut extremum cum medio, sic medium cum primo
conferatur,
id,
2
5

H A R M O N I S I E R U N G DER
VIER ELEMENTE

13 Körperhaft aber, sichtbar und zugleich anfassbar, muss


notwendigerweise alles sein, was geschaffen worden ist.
Nun kann aber nichts erblickt und gesehen werden, was
ohne Feuer ist, und natürlich auch nicht berührt werden,
was ohne Festes ist; fest aber ist nichts ohne Erde. Aus die-
sem Grunde verband der Schöpfergott, als er daranging,
das All zu schaffen, zuerst Erde und Feuer.

Jede Zweiheit verlangt aber zum Herstellen einer Verbin-


dung nach etwas >Drittem< und bedarf einer Art Knoten
und Fessel, um sich zu verbinden. Von allen Fesseln ist
aber die am geeignetsten und schönsten, die aus sich selbst
und dem, was sie verbindet, möglichst >Eines< herstellt.
Dies erzielt am besten das, was auf Griechisch αναλογία
(Analogie), Lateinisch (nun ist Kühnheit vonnöten, da die-
ser Ausdruck von mir neu geschaffen wird) comparatio
(>Verbindung des Gleichen mit Gleichem<) oder proportio
(>aüsgewogenes Verhältnis«) genannt werden kann.

V 14 Wenn nämlich von drei Zahlen, Formen oder Gestal-


tungen beliebiger Art gilt,
dass
- mit dem, was >das Mittlere« ist,
wie mit ihm >das Erste< durch Analogie,
ebenso jenes mit >dem Letzten« verbunden wird,
- und umgekehrt, wie >das Letzte« mit >dem Mittleren«,
ebenso >das Mittlere« mit >dem Ersten« vereint wird,
so wird das,
26 TIMAEUS

- quod medium est,


tum primum fit, turn postremum,
- postrema autem et prima media fiunt:
Ita nécessitas cogit, ut eadem sint ea, quae diiuncta
fuerint; eadem autem cum facta sint, efficitur, ut om-
nia sint unum.
H A R M O N I S I E R U N G DER VIER E L E M E N T E

- was >das Mittlere< ist, bald >zum Erstens bald >zum


Letzten<;
- >das Letzte< aber und >das Erste< werden zu >Mittleren<:
So erzwingt die Notwendigkeit, dass die Dinge, die vorher
getrennt waren, nun >Dasselbe< sind; wenn sie aber zum
>Selben< geworden sind, ergibt sich, dass alle >Eins< sind.
28

Quodsi universi corpus planum et aequabile explicare-


tur, nihil in eo quicquam crassitudinis esset requisi-
tum: unum enim interiectum medium et se ipsum et
ea, quibus esset interpositum, conligaret.

Sed cum soliditas mundo quaereretur, solida autem


omnia uno medio numquam, duobus semper copu-
lentur, ita contigit, ut inter ignem atque terram aquam
deus animamque poneret eaque inter se compararet et
proportione coniungeret, ut,

- quemadmodum ignis animae, sic anima aquae,


- quodque anima aquae, id aqua terrae proportione
redderet.
Qua ex coniunctione caelum ita aptum est, ut sub
aspectum et tactum cadat.
Itaque et ob earn causam et ex iis rebus numero
quattuor mundi est corpus effectum, ea constrictum
comparatione, qua dixi: ex quo ipse se concordi qua-
dam amicitia et caritate complectitur atque ita apte co-
haeret, ut dissolvi nullo modo queat nisi ab eodem, a
quo est conligatus.

Earum autem quattuor rerum, quas supra dixi, sic in


omni mundo partes omnes conlocatae sunt, ut nulla
pars huiusce generis excederet extra atque ut in hoc
E R S C H A F F U N G DES WELTKÖRPERS

Wenn nun der Weltkörper sich nur zweidimensional und


gleichmäßig darstellte und an ihm keine dritte Dimension
erforderlich wäre, würde ein eingeschobenes >Mittleres<
sowohl sich selbst mit den Dingen, zwischen die es sich
einfügt, als auch diese miteinander verbinden.

15 Da für das All jedoch Körperhaftigkeit verlangt wird,


alles Körperhafte aber niemals durch e i η >Mittleres<, son-
dern immer durch z w e i verbunden wird, so ergab sich,
dass der Schöpfergott zwischen das Feuer und die Erde das
Wasser und die Luft treten ließ, diese miteinander verband
und proportional vereinigte, so dass
- so, wie das Feuer der Luft, die Luft dem Wasser, und
- so, wie die Luft dem Wasser, das Wasser der Erde pro-
portional entspricht.
Aus dieser Verbindung ist das All so gefügt, dass es vom
Gesichts- und vom Tastsinn erfasst wird.
Und auf diese Weise und aus diesem Grunde ist aus die-
sen Elementen, vieren an der Zahl, der Weltkörper ge-
schaffen und durch die genannte comparado (Analogie) fest
verbunden; deshalb umfasst er sich selbst in einer Art ein-
trächtiger Freundschaft und Liebe und hält derart fest zu-
sammen, dass er auf keine Weise aufgelöst werden kann,
außer von eben dem, von dem er verbunden worden ist.

16 Von jenen vier Baustoffen, die ich oben genannt habe,


sind im gesamten All die Teile alle so zusammengefügt,
dass kein Teil dieser Art sich nach außen davonmacht und
30 TIMAEUS

universo inessent genera illa universa; id ob eas cau-


sas:
- primum ut mundus animans posset ex perfectis par-
tibus esse perfectus,
- deinde ut unus esset, nulla parte, unde alter gigne-
retur, relicta,

- postremo ne qui morbus eum posset aut senectus


attingere.

Omnis enim coagmentatio corporis vel caloris vel fri-


goris vi vel aliqua impulsione vehementi labefactatur
et frangitur et ad morbos senectutemque compellitur.
Hanc igitur habuit rationem effector mundi molitor-
que deus, ut unum opus totum atque perfectum ex
omnibus totis atque perfectis absolveret, quod omni
morbo seniove vacaret.

Formam autem ei maxime cognatam et decoram de-


dit. A quo enim animanti omnes reliquos contineri
vellet animantes, hunc ea forma figuravit, qua una
omnes reliquae formae concluduntur: et globosum est
fabricatus, quod σφαιροειδές Graeci vocant, cuius
omnis extremitas paribus a medio radiis attingitur; id-
que ita tornavit, ut nihil efficere posset rotundius, nihil
asperitatis ut haberet, nihil offensionis, nihil incisum
angulis, nihil anfractibus, nihil eminens, nihil lacuno-
sum, omnesque partes essent simillimae omnium,
quod eius iudicio praestabat dissimilitudini similitudo.
ERSCHAFFUNG DES WELTKÖRPERS 31

dass in diesem All jene Arten resdos enthalten sind, und


zwar aus folgenden Gründen:
- zuerst damit das All ein aus vollkommenen Bestandtei-
len (gebildetes,) vollkommenes Lebewesen sein kann,
- sodann damit es einzig sei, da kein Teil, aus dem ein an-
deres All erzeugt werden könnte, (außerhalb) zurück-
geblieben ist,
- schließlich damit keine Krankheit oder Alterung ihm
zusetzen kann.

17 Jedes Gefüge wird nämlich durch Einwirkung von


Wärme wie Kälte oder durch einen heftigen Stoß gelockert
und zerbrochen und zwangsläufig dazu gebracht, dass es
krank wird und altert. Daher hatte der Gott als Schöpfer
und Beweger des Alls die Absicht, sein Werk als einzig und
ganz und vollkommen aus lauter ganzen und vollkomme-
nen (Bestandteilen) zu vollenden, so dass es von jeder
Krankheit und Alterung frei bleibe.

VI Er gab ihm aber eine ihm möglichst verwandte und


schöne Form. Dem Lebewesen, in dem seinem Willen
nach alle anderen Lebewesen enthalten sein sollten, gab er
nämlich die Form, in der allein alle übrigen Formen enthal-
ten sind: Er hat es kugelförmig gestaltet, was die Griechen
als σφαιροειδές bezeichnen: Jeder seiner Außenflächen-
punkte wird vom Mittelpunkt aus durch gleich lange Ra-
dien erreicht; und dieses Gebilde drechselte der Schöpfer-
gott so, dass er nichts Runderes hätte erschaffen können,
dass es keinerlei Unebenheit hatte, keine vorstehende
Stelle, keine Einbuchtung durch Winkel oder Krümmung,
nichts Herausstehendes, nichts Lückenhaftes, und dass alle
Teile untereinander völlig ähnlich waren, weil nach seinem
Urteil Ähnlichkeit den Vorzug hatte vor Unähnlichkeit.
32 TIMAEUS

Omni autem totam figuram mundi levitate circumde-


dit. Nec enim oculis egebat, quia nihil extra, quod
cerni posset, relictum erat, nec auribus, quia ne quod
audiretur quidem, ñeque erant anima circumfusa ex-
trema mundi, ut respirationem requireret. Nec vero
desiderabat aut alimenta corporis aut detractionem
confecti et consumpti cibi: ñeque enim ulla decessio
fieri poterat neque accessio, nec vero erat, unde. Ita-
que se ipse consumptione et senio alebat sui, cum ipse
per se et a se et pateretur et faceret omnia. Sic enim ra-
tus est ille, qui ista iunxit et condidit, ipsum se conten-
tum esse mundum neque egere altero.

Itaque ei nec manus adfinxit, quoniam nec capiendum


quicquam erat nec repellendum, nec pedes nec aliqua
membra, quibus ingressum corporis sustineret.

Motum enim dedit caelo eum, qui figurae eius esset


aptissumus, qui unus ex septem motibus mentem at-
que intellegentiam cieret maxime; itaque una conver-
sione atque eadem ipse circum se torquetur et vertitur.
Sex autem reliquos motus ab eo separavit atque ab
omni erratione eum liberavit. Ad hanc igitur conver-
sionem, quae pedibus et gradu non egeret, ingrediendi
membra non dedit.

Haec deus is, qui erat, de aliquando futuro deo cogi-


tane, levem illum effecit et undique aequabilem et a
E R S C H A F F U N G DES W E L T K Ö R P E R S 33

18 Nach außen hin gab er dem All eine völlig glatte Ober-
fläche. Es brauchte nämlich weder Augen, weil nichts au-
ßerhalb geblieben war, was gesehen werden könnte, noch
Ohren, weil es ja nichts zu hören gab, noch waren die äu-
ßersten Grenzen des Alls von Luft umgeben, so dass ein
Atmungsorgan erforderlich gewesen wäre. Auch benötigte
es weder Nahrungszufuhr für den Körper noch Entsorgung
verarbeiteter und verdauter Speise: Es konnte nämlich kei-
nerlei Ausscheidung stattfinden noch irgendeine Zufuhr: Es
war ja nichts da, von woher sie erfolgen sollte. Und so er-
nährte es sich durch Verbrauch und Schwund seiner selbst,
da es durch sich und von sich alles selbst erfuhr und voll-
brachte. Denn jener Schöpfergott, der das alles zusammen-
fügte und gründete, war überzeugt, dass so das All mit sich
selbst zufrieden sei und keines zweiten Alls bedürfe.

19 Deshalb erschuf er ihm auch keine Hände, da es ja


nichts zu fassen oder wegzustoßen gab, auch keine Beine
oder irgendwelche anderen Gliedmaßen, mit denen es sich
als Körper fortbewegen könnte.
Ais Bewegung gab er dem All diejenige, die für seine Ge-
stalt die geeignetste war, nämlich die, die als einzige von
den sieben Bewegungsmöglichkeiten den Geist und das
Erkenntnisvermögen besonders anregt; daher dreht und
wendet das All sich in ein und derselben Kreisbewegung
um sich selbst. Die sechs anderen Bewegungsarten aber
hielt er von ihm fern und befreite es so von jedem Irrlauf.
Zu dieser Rotation also, die ja weder Beine noch Schritte
verlangte, brauchte er ihm keine Fortbewegungsgliedma-
ßen zu geben.

20 Solche Gedanken machte sich der Schöpfergott, der


(von Ewigkeit) war, bezüglich des erst demnächst ins Da-
34 TIMAEUS

medio ad summum parem et perfectum atque absolu-


tum ex absolutis atque perfectis.

Animum autem ut in eo medio conlocavit, ita per


totum tetendit; deinde eum circumdedit corpore et
vestivit extrinsecus caeloque solivago et volubili et in
orbem incitato complexus est, quod secum ipsum
propter virtutem facile esse posset nec desideraret al-
teram, satis sibi ipsum notum et familiare.

Sic deus ille aeternus hunc perfecte beatum deum pro- 21


creavit.
ERSCHAFFUNG DES WELTKÖRPERS 35

sein tretenden Gottes; und so schuf er jenes All glatt, nach


allen Seiten hin gleich ausgedehnt, mit gleichem Radius
vom Mittelpunkt zur Oberfläche und vollendet und voll-
kommen aus Vollkommenem und Vollendetem.
Der Seele wies der Schöpfergott zwar ihren Platz im
Zentrum an, spannte sie aber auch durchs ganze All; so-
dann umgab er diese Weltseele mit dem Weltkörper, um-
kleidete sie damit von außen her und umfasste sie mit dem
sich allein bewegenden, kreisenden und in Rotation ver-
setzten Himmel, der aufgrund seiner Vollkommenheit
leicht mit sich selbst zufrieden sein konnte und nach kei-
nem zweiten verlangte, da er mit sich selbst hinreichend
bekannt und vertraut war.

2i So hat jene ewige Gottheit diesen vollkommen seligen


Gott geschaffen.
36

Sed animum haud ita, ut modo locuti sumus, tum de-


nique, cum corpus ei effecisset, inchoavit: neque enim
esset rectum minori parere maiorem; sed nos multa in-
considerate ac temere dicimus.

Deus autem et ortu et virtute antiquiorem genuit ani- VII


mum eumque ut dominum atque imperantem oboe-
dienti praefecit corpori; idque molitus tali quodam est
modo:

- Ex ea materia,
quae individua est et quae semper unius modi sui-
que similis,
- et ex ea,
quae in corporibus dividua gignitur,
tertium materiae genus ex duobus in medium admis-
cuit, quod esset eiusdem naturae et quod alterius; id-
que interiecit inter individuum atque id, quod divi-
duum esset in corpore.

Ea cum tria sumpsisset, unam in speciem temperavit, 22


naturamque illam, quam alterius diximus, vi cum ea-
dem coniunxit fugientem et eius copulationis alienam;
quae permiscens cum materia cum ex tribus effecisset
37

ERSCHAFFUNG DER WELTSEELE

Die Weltseele hat der Schöpfergott jedoch nicht so, wie wir
eben gesagt haben, erst dann begonnen, als er einen Kör-
per für sie geschaffen hatte: Denn es wäre nicht recht, dass
das Altere dem Jüngeren gehorcht; wir reden halt vielerlei
unüberlegt und aufs Geratewohl daher.

VII Der Schöpfergott schuf die Weltseele sowohl ihrem


Ursprung als auch ihrer Vollkommenheit nach zuerst und
setzte sie als Herrin und Gebieterin über den Weltkörper,
der zu gehorchen hat; und dies bewerkstelligte er auf etwa
folgende Weise:
- Aus der Wesenheit,
die >ungeteilt und immer von e i n e r Art
und nur sich selbst ähnlich ist«,
- und aus der,
die an den Körpern >teilbar entsteht«,
mischte er die Weltseele als eine aus den beiden (gebildete)
dritte Wesenheit zu einem Mittelding; diese Art sollte >von
derselben« u n d >von der anderen Natur« sein, und diese
legte er zwischen das >Unteilbare< und das, was am Körper
>teilbar ist«.

22 Nachdem er diese drei genommen hatte, verband er sie


zu einer Einheit und verband jene Natur, die wir >von der
andern Art« nannten, gewaltsam mit (der von) derselben
(Art)«, die sich dem entziehen wollte und dieser Verbin-
dung widerstrebte; nachdem er, indem er diese mit der
Materie vermischte, aus dreien E i n e s geschaffen hatte,
3« TIMAEUS

unum, id ipsum in ea, quae decuit, membra partitus


est. Iam partes singulas ex eodem et ex altero et ex ma-
teria temperavit. Fuit autem talis ilia partitio:

- unam principio partem detraxit ex toto,


- secundam autem primae partis duplam,
- deinde tertiam,
quae esset secundae sesquiáltera, primae tripla,
- deinde quartam, quae secundae dupla esset,

- quintam inde, quae tertiae tripla,


- tum sextam octuplam primae,

- postremo septimam, quae Septem et viginti partibus


antecederet primae.
ERSCHAFFUNG DER WELTSEELE 39

teilte er eben dieses E i n e in die gehörige Zahl von Glie-


dern auf. Nunmehr mischte er die einzelnen Teile aus >dem
Selben< und aus >dem Anderen* und aus der Seelenmaterie.
Jene Teilung sah nun folgendermaßen aus:
- zunächst zog er vom Ganzen e i n e n Teil ab,
- als zweiten Teil aber das Doppelte des ersten Teils,
- als dritten danach einen Teil, der das Anderthalbfache
des zweiten und das Dreifache des ersten sein sollte,
- dann einen vierten Teil, der das Doppelte des zweiten
sein sollte,
- einen fünften Teil hierauf, der das Dreifache des dritten,
- anschließend einen sechsten Teil, der das Achtfache des
ersten sein sollte,
- und zum Schluss einen siebten Teil, der den ersten um
das Siebenundzwanzigfache übertreffen sollte.
40

Deinde instituit dupla et tripla intervalla explere, par-


tes rursus ex toto desecans; quas in intervallis ita loca-
bat, ut in singulis essent bina media (vix enim audeo
dicere medietates, quas Graeci μεσότητας appellant,
sed quasi ita dixerim intellegatur; erit enim planius),

- earum alteram eadem parte praestantem extremis


eademque superatam,

- alteram pari numero praestantem extremis parique


superatam.

Sesquialteris autem intervallis et sesquitertiis et ses-


quioctavis sumptis ex his conligationibus in primis in-
tervallis sesquioctavi intervallo sesquitertia omnia ex-
plebat, cum particulam singulorum relinqueret.

Eius autem particulae intervallo relieto habebat nume-


rus ad numerum eandem proportionem comparatio-
nemque in extremis, quam habent ducenta quinqua-
ginta sex cum ducentis quadraginta tribus. Atque ita
4i

INTERVALLE

23 Danach begann der Schöpfergott, die zweifachen und


die dreifachen Intervalle auszufüllen, indem er weitere
Teile aus dem Ganzen herausschnitt; diese fügte er in die
Zwischenräume so ein, dass in jedem Intervall zwei Mit-
glieder waren. (Kaum wage ich nämlich, diese als medieta-
tes zu bezeichnen - die Griechen nennen sie μεσότητες - ,
aber man möge das so verstehen, dass ich den Ausdruck
nur hilfsweise verwende; die Sache wird {dadurch) gewiss
leichter verständlich).
- Das eine von diesen Zwischengliedern (gestaltete) er
so, dass es um den selben Bruchteil die Außenglieder
übertraf und von diesen um den selben Bruchteil über-
troffen wurde,
- das andere so, dass es die Außenglieder um eine gleiche
Zahl übertraf und (von ihnen) um die gleiche (Zahl)
übertroffen wurde.
Nun nahm er die anderthalbfachen, die eineindrittelfachen
und die eineinachtelfachen Intervalle und füllte mit diesen
Verbindungen in den ursprünglichen Intervallen alle ein-
eindrittelfachen mit dem Intervall des Eineinachtelfachen
auf, und ließ dabei von jedem der einzelnen einen kleinen
Teil übrig.

24 Da nun das Intervall dieses kleinen Teils übrig gelassen


war, hatte dieses, in Zahlen ausgedrückt, im Verhältnis der
Glieder zueinander dieselbe Proportion wie sie zwischen
den Zahlen 256 und 243 besteht. Und damit hatte der
4* TIMAEUS

permixtum illud, ex quo haec secuit, iam omne con-


sumpserat.

Hanc igitur omnem coniunctionem duplicem in longi-


tudinem diffidit mediamque accommodans mediae
quasi decusavit, deinde in orbem intorsit, ut et ipsae
secum et inter se ex commissura, qua e regione essent,
iungerentur, eoque motu, cuius orbis semper in eodem
erat eodemque modo ciebatur, undique est eas circum-
plexus.

Atque ita cum alteram esset exteriorem, alteram inte- 25


riorem amplexus orbem, ilium eiusdem naturae, hunc
alterius notavit,

- eamque, quae erat eiusdem, detorsit a latere in dex-


teram partem,
- hanc autem citimam a mediana linea direxit ad lae-
vam;
sed principatum dedit superiori, quam solam indivi-
duam reliquit.

Interiorem autem cum in sex partes caeli divisisset,


septem orbes dispares duplo et triplo intervallo moveri
iussit contrariis inter se cursibus. Eorum autem trium
fecit pares celeritates, sed quattuor et inter se dispares
et dissimiles trium reliquorum.
INTERVALLE 43

Schöpfergott jene Mischung, von der er dieses abschnitt,


nunmehr völlig aufgebraucht.

Diese ganze doppelte Verbindung spaltete er nun der


Länge nach durch und legte die Teile - Mitte auf Mitte - in
Form eines C h i (X) übereinander, bog sie danach zu je
einem Kreis, so dass sie sowohl selbst miteinander als auch
untereinander an den Schnittstellen, die einander senk-
recht gegenüberlagen, verbunden wurden, und fasste sie in
der Bewegung zusammen, deren Kreislauf immer in der-
selben Bahn und auf dieselbe Weise angetrieben wurde,
von allen Seiten zusammen.

25 Als der Schöpfergott den einen Kreis so als äußeren,


den anderen als inneren angelegt hatte, bezeichnete er den
einen als den >von derselben Natur<, den andern als den
>von der andern (Natur) <;
- und die Natur, die >von derselben Art< war, bog er von
der Seite nach rechts (d. h. im Uhrzeigersinn) herum,
- die andere aber lenkte er als die nächstgelegene von der
Mittellinie nach links (d.h. gegenläufig) herum;
den Vorrang aber gab er der erstgenannten, die er allein
ungeteilt ließ.

Nachdem er aber den Innenraum in die sechs (so entste-


henden) Teile des Himmels geteilt hatte, befahl er, dass die
sieben ungleichen Kreise sich im doppelten und dreifachen
Intervall in untereinander gegensätzlichen Bahnen beweg-
ten. Von dreien davon machte er die Geschwindigkeit
gleich - von (den verbleibenden) vieren aber machte er sie
sowohl untereinander ungleich als auch denen der drei üb-
rigen unähnlich.
44 TIMAEUS

Animum igitur cum ille procreator mundi deus ex sua Vili


mente et volúntate genuisset, tum denique omne, 26
quod erat concretum atque corporeum, substernebat
animo interiusque faciebat atque ita medio medium
accomodans copulabat.

Sic animus a medio profectus extremitatem caeli a su-


prema regione rotundo ambitu circumiecit seseque
ipse versans divinum sempiternae sapientisque vitae
induxit exordium.

Et corpus quidem caeli spectabile effectum est; animus 27


autem oculorum effugit optutum. Est autem unus ex
omnibus rationis concentionisque, quae άρμονία
Graece, sempiternarum rerum et sub intellegentiam
cadentium compos et particeps. Quo nihil ab optimo
et praestantissimo genitore melius procreatum.

Quippe qui ex eadem iunctus alteraque natura, ad-


iuncta materia, temperatione trium partium propor-
tione compacta, se ipse conversans, cum materiam
mutabilem arripuit et cum rursus individuam atque
simplicem,

- per se omnis movetur


- discernitque,
-- quid sit eiusdem generis, quid alterius,
- et cetera diiudicat,
-- quid cuique rei sit maxime aptum,
- quid quoque loco aut modo aut tempore contingat,
- quaeque distinctio sit inter ea, quae gignantur, et
ea, quae sint semper eadem.
INTERVALLE 45

V i l i 26 Nachdem also jener Gott, der das All erschuf, die


Weltseele nach seinem Geist und seinem Willen gebildet hatte,
da unterwarf er schließlich alles, was konkret und körperlich
war, der Seele, verlegte es nach innen und verband es (mit
ihr), indem er Mitte auf Mitte übereinanderlegte.

So nahm die Weltseele ihren Ausgang von der Mitte, umgriff


die äußerste Grenze des Alls von der obersten Region aus,
umkreiste sie und setzte, indem sie in sich selbst kreiste, den
göttlichen Beginn eines ewigen und vernunftbegabten Lebens.

27 Der Weltkörper ist sichtbar gestaltet; die Weltseele hin-


gegen entzieht sich der Wahrnehmung durch das Auge.
Einzig sie ist der Vernunft und der Harmonie (concentio,
welche die Griechen αρμονία nennen) der ewigen und der
unter das Erkenntnisvermögen fallenden Dinge vollkom-
men mächtig. Sie ist das Beste von allem, was der überra-
gende Schöpfergott hervorgebracht hat.

Die Seele ist ja als Verbindung aus der >selben< und der >an-
deren< Natur unter Einbeziehung der Seelenmaterie, also
durch proportionale Mischung dreier Teile, zusammenge-
fügt; sie kreist in sich selbst; sobald sie veränderbare Mate-
rie mitgerissen hat und dann wiederum Unteilbares und
Einfaches,
— wird sie in ihrem ganzen Sein erregt,
— unterscheidet,
— was >derselben Art< und was >der anderen< zugehört,
— und entscheidet bezüglich des Übrigen,
— was für jegliches Ding am besten geeignet ist,
— was am jeweiligen Ort nach Lage oder Zeit passt, und
— welcher Unterschied zwischen dem besteht, was >ent-
steht<, und dem, was »immer das Selbe ist<.
46

Ratio autem vera, quae versatur in iis, quae sunt sem- 28


per eadem, et in iis, quae mutantur,
- cum in eodem et in altero movetur ipsa per sese sine
voce et sine ullo sono, cum eandem partem attingit,
qua sensus cieri potest, et orbis illius generis alterius
immutatus et rectus omnia animo mentique denun-
tiat, tum opiniones assensionesque firmae veraeque
gignuntur;

- cum autem in illis rebus vertitur, quae, manentes


semper eadem, non sensu, sed intellegentia conti-
nentur ...
47

MEINUNGEN UND ZUSTIMMUNGEN

28 Die wahre Vernunft aber verweilt in dem, was >immer


das Selbe ist<, und in dem, was >sich änderte
- Wenn sie sich aber >in dem Selben< und >im andern<
ohne Geräusch lautlos durch sich selbst bewegt, und da-
bei den Teil berührt, durch den die Sinneswahrnehmung
erregt werden kann, und der unveränderliche und rich-
tige Kreis jener >anderen Art< der Seele und dem Ver-
stand alles meldet, dann entstehen verlässliche, wahre
Meinungen und Zustimmungen.
- Wenn sie aber in dem kreist, was, indem es >immer das
Selbe< bleibt und was nicht durch Sinneseindruck, son-
dern durch Erkenntnisvermögen erfasst wird,
{... kommen zwangsläufig vernünftige Einsicht und Wis-
sen zustande ... )

Lange Lücke im Cicero-Text (Piaton 37CJ-)8CJ).


entsprechend ca. j8 Oxoniensis-Zeilen.
48

... ratione igitur et mente divina ad originem temporis IX


curriculum inventum est solis et lunae ... 29

... alterius natura converteret, ut terram lunae cursus


proxime ambirei, eique supra terram próxima Solis
circumvectio esset. Lucifer deinde et sancta Mercuri
stella cursum habent Solis celeritati parem, sed vim
quandam contrariam, eaque inter se concursationes
habent Lucifer Mercurius Sol, aliique alios vincunt vi-
cissimque vincuntur.
49

E R S C H A F F U N G DER ZEIT. PLANETEN

IX 29 ... durch die Überlegung und den Gedanken des


Schöpfergottes, den Lauf der Zeit beginnen zu lassen, ist
also der Umlauf der Sonne und des Mondes erfunden wor-
den ...

Kurze Lücke im Cicero-Text (Piaton }8c ¡-d 1)


entsprechend ca. 4 Oxoniensis-Zeilen;
mit Platon j8d 1 setzt der Cicero-Text wieder ein.

( Und nachdem der Schöpfergott den Körper eines jeden Pla-


neten gebildet hatte, setzte er ihrer sieben in die sieben Kreise
hinein ... )
... (die) die Natur (des >Andern<) in Umlauf setzte, so
dass die Bahn des Mondes die Erde im geringsten Abstand
umkreist und er oberhalb der Erde die sonnennächste
Bahn innehat. Danach haben Lucifer und der dem Merkur
heilige Stern ihre Bahn, mit gleicher Geschwindigkeit wie
die Sonne, aber mit einer Art von gegensätzlicher Kraft,
und durch diese haben Lucifer, Merkur und Sonne Begeg-
nungen: Sie überholen einander und werden abwechselnd
überholt.
5o

Reliquorum siderum quae causa conlocandi fuerit


quaeque eorum sit conlocatio, in sermonem alium dif-
ferendum est, ne in eo, quod attingendum fuit, quam
in eo, cuius causa id attingimus, longior ponatur ora-
tio.

Q u a n d o igitur sibi quidque eorum siderum cursum


decorum est adeptum, ex quibus erat motus temporis
consignandus, conligatisque corporibus vinculis ani-
malibus cum animantia orta sunt eaque imperio parere
didicerunt, tunc ex alterius naturae motione trans-
versa in eiusdem naturae motum incurrentia in eaque
haerentia atque impedita,

- cum alia maiorem lustrarent orbem,


- alia minorem,
tardius, quae maiorem, celerius, quae minorem, motu
unius eiusdemque naturae quae velocissime moveban-
tur, et ea celeritate vinci a tardioribus et cum super-
abant, superari videbantur.

Omnes enim orbes eorum quasi helicae inflexione ver-


tebat, qua bifariam contrarie simul procedentia efficie-
bant, ut, quod esset tardissimum, id proximum fieret
celerrimo. Atque ut esset mensura quaedam evidens,
quae in octo cursibus celeritates tarditatesque declara-
5i

WEITERE GESTIRNE

30 Was der Grund war, den restlichen Gestirnen ihren


Platz anzuweisen, und wie sie angeordnet wurden, das ist
eine Frage, die auf ein anderes Gespräch vertagt werden
muss, damit nicht dem, was nur nebenher zu behandeln
wäre, eine längere Erörterung gewidmet werde als der
Frage, deretwegen wir diese Nebensache angetippt haben.

Nachdem also ein jedes derjenigen Gestirne, nach denen


die Bewegung der Zeit zu bezeichnen war, die ihm gemäße
Bahn eingenommen hatte, aus ihren durch beseelte Bänder
verbundenen Körpern Lebewesen geworden waren und
diese ihren Auftrag auszuführen gelernt hatten, liefen sie
aus der schrägstehenden Bahn der >anderen Natur< in die
Bahn der >selben Natur< hinein, blieben in ihr hängen und
wurden darin festgehalten, wobei
- die einen auf einer weiteren Bahn,
- die andern auf einer engeren liefen -
langsamer die auf der weiteren, schneller die auf der enge-
ren Bahn - ; durch die Bewegung >ein und derselben Natur<
schienen die am schnellsten laufenden trotz ihrer Schnel-
ligkeit von den langsameren überholt zu werden, auch
wenn sie selbst jene überholten.

31 Denn alle Kreisbahnen der Gestirne legte der Schöpfer-


gott gleichsam als Spiralen an, wodurch die Gestirne in ih-
rem zwiefachen und zugleich gegenläufigen Voranschreiten
bewirkten, dass dasjenige, das am langsamsten war, dem
schnellsten am nächsten kam. Und damit ein klares Maß
5* TIMAEUS

ret, deus ipse solem quasi lumen accendit ad secun-


dum supra terram ambitum, ut quam maxime caelum
omnibus conluceret animantesque, quibus ius esset
doceri, ab eiusdem motu et ab eius, quod simile esset,
numerorum naturam vimque cognoscerent.

Nox igitur et dies ad hunc modum et ob has generata


causas unum circuitum orbis efficit sapientissimum at-
que optimum,
- mensis autem, quando luna lustrato suo cursu so-
lem consecuta est,
- annus, ubi sol suum totum confecit et peragravit or-
bem.

Ceterorum autem siderum ambitus ignorantes homi-


nes praeter admodum paucos neque nomen appellant
ñeque inter se numero commetiuntur; itaque nesciunt
hos siderum errores id ipsum esse, quod rite dicitur
tempus, multitudine infinita, varietate admirabili prae-
ditos. Ac tarnen illud perspici et intellegi potest, abso-
luto perfectoque numero temporis absolutum annum
perfectumque tunc compleri denique, cum se octo
ambitus confectis suis cursibus ad idem caput rettule-
runt cumque eos permensus est idem et semper sui si-
milis orbis.

Has igitur ob causas nata astra sunt, quae per caelum


penetrantia solstitiali se et brumali revocatione conver-
WEITERE G E S T I R N E S3

gegeben sei, das die unterschiedlichen Geschwindigkeiten


in den acht Bahnen erkennbar macht, entzündete der
Schöpfergott selbst die Sonne gleichsam als Leuchte auf der
zweiten Bahn oberhalb der Erde, auf dass sie den Himmel
für alle möglichst hell ausleuchte und so die belebten We-
sen, die Anspruch auf Belehrung hatten, an der Bewegung
>des Selben< und dessen, was nur >ähnlich< ist, die Natur
der Zahlen und deren große Macht erkennen könnten.

32 Zusammen mit dem Tag vollzieht die Nacht, die auf


diese Weise und aus diesen Gründen geschaffen wurde,
einen Kreislauf, den weisesten und besten;
- ein Monat aber vollendet sich, wenn der Mond seine
Bahn durchlaufen und die Sonne erreicht hat,
- ein Jahr, sobald die Sonne ihren Kreislauf vollendet und
durchlaufen hat.

33 Die Umläufe der übrigen Gestirne kennen die Men-


schen bis auf sehr wenige nicht, sie können weder deren
Namen nennen noch ihre Beziehungen berechnen; daher
wissen sie nicht, dass diese vermeintlichen Irrläufe der Ge-
stirne in ihrer unbegrenzten Menge und ihrer bewunderns-
werten Vielfalt genau das sind, was man gemeinhin als
>Zeit< bezeichnet. Und dennoch kann man durchschauen
und begreifen, dass bei absoluter und perfekter Zeitmes-
sung das absolute und perfekte {Große) Jahr perfekt dann
erfüllt wird, wenn die acht Sphären nach Vollendung ihrer
Umläufe zum selben Ausgangspunkt zurückgekehrt sind,
wobei der >selbe und immer sich ähnliche« Kreis ihr Be-
zugssystem gebildet hat.

34 Aus diesen Gründen also sind die Gestirne geschaffen,


die, durch den Himmel dahinziehend, in ihrem Lauf zur
54 TIMAEUS

terent, ut hoc omne animal, quod videmus, esset illi


animali, quod sentimus, ad aeternitatis imitationem si-
millimum.
WEITERE GESTIRNE 55

Zeit der Sommer- und der Wintersonnenwende umkeh-


ren, so dass dieses ganze Lebewesen, das wir sehen, jenem
Lebewesen, das wir nur gedanklich erfassen können, als
Abbild des Ewigen am nächsten kommt.
$6

Et cetera quidem usque ad temporis ortum expressa X


ab illis, quae imitabatur, ecfinxerat; sed quia nondum
omne animal in mundo intus incluserat, ex ea parte
deficiebat ad propositum exemplar imaginis simili-
tudo. Quot igitur et quales animalium formas mens in
speciem rerum intuens poterat cernere, totidem et ta-
ies in hoc mundo secum cogitavit effingere.

Erant autem animantium genera quattuor, quorum 3$


- unum divinum atque caeleste,
- alterum pennigerum et aerium,
- tertium aquatile,
- pedestre atque terrestre quartum.
Divinae animationis maxime speciem faciebat ex igne,
ut et splendidissimus esset et aspectu pulcherrimus;
cumque eum similem universi naturae efficere vellet,
ad volubilitatem rotundavit comitemque eum sapien-
tiae quam optimae mentis effecit circumque omne cae-
lum aequaliter distribuit, ut hune varietate distinctum
bene Graeci κόσμον, nos lucentem mundum nomina-
remus.

Dédit autem divinis duo genera motus, 36


57

VIER ARTEN LEBEWESEN

X Und bis zum Beginn der Zeit hatte der Schöpfergott das
meiste als Kopie von dem, was er nachgestaltete, ausge-
formt. Weil er aber noch nicht jedes Lebewesen ins All ein-
bezogen hatte, fehlte in dieser Hinsicht dem Bild die Ähn-
lichkeit mit dem vorgestellten Urbild. Alle Formen von
Lebewesen, welcher Art auch immer, die der Schöpfergott
beim Blick auf die Ideen erkennen konnte, gedachte er
folglich nach Zahl und Qualität in seinem All nachzubil-
den.

35 Es waren dies aber vier Arten von Lebewesen,


- die erste davon göttlich und himmlisch,
- die zweite gefiedert und in der Luft lebend,
- die dritte im Wasser lebend,
- auf Füßen laufend und am Land lebend die vierte.
Die Art mit der stärksten göttlichen Beseelung erschuf
der Schöpfergott aus Feuer, so dass sie am meisten glänzt
und am schönsten anzuschauen ist; und da der Schöp-
fergott sie der Natur des Universums ähnlich gestalten
wollte, rundete er sie zur Kugelgestalt, machte sie zur
Begleiterin der Weisheit des besten Geistes und verteilte
sie gleichmäßig über den ganzen Himmel hin, so dass die
Griechen diese durch Vielfalt geschmückte Art richtig
κόσμος (d.h. Schmuck) nennen, wir Lateiner aber >das
leuchtende A l k

36 Er verlieh den göttlichen Wesen zwei Arten von Bewe-


gung,
58 TIMAEUS

- unum, quod semper esset in eodem quodque et


idem isdem de rebus atque uno modo cogitaret,

- alterum, quod in anticam partem a conversione


eiusdem et similis pelleretur.
Quinqué autem reliquis motibus orbum eum voluit
esse et expertem, immobilem et stantem.

Ex quo genere ea sunt sidera, quae infixa caelo non


moventur loco, quae sunt animantia eaque divina, ob
eamque causam suis sedibus inhaerent et perpetuo
manent. Quae autem vaga et mutabili erratione labun-
tur, ita generata sunt, ut supra diximus.

Iam vero terram, altricem nostram, quae traiecto axe 37


sustinetur, diei noctisque effectricem eandemque cus-
todem, antiquissimam deorum omnium voluit esse
eorum, qui intra caelum gignerentur.

Lusiones autem deorum et inter ipsos deos concursio-


nes,

- quaeque in orbibus eorum conversiones quaeque


antecessiones eveniant,
- cumque inter se paene contingant, eos, qui prope
copulentur contrariaque regione, et pone quos aut
ante labantur,
- quibusque temporibus a nostro aspectu oblitescant
rususque emersi terrorem incutiant rationis experti-
bus -
VIER ARTEN LEBEWESEN 59

- die eine, die immer >in dem Selben* sein und auch >das
Selbe von denselben Dingen< auf gleiche Weise denken
sollte,
- die zweite, die von der Umdrehung >des Selben< und
>des Ahnlichen* vorangetrieben werden sollte.
Die fünf übrigen Bewegungsarten aber enthielt er der Fix-
sternsphäre vor, da er diese unbewegt und stillstehend ha-
ben wollte.
Von dieser Art sind die Gestirne, die am Himmel festge-
heftet sind und sich nicht von ihrem Platz bewegen. Sie
sind beseelt und göttlich, und aus diesem Grunde haften
sie auf ewig an ihren Sitzen. Diejenigen aber, die umher-
schweifend und in veränderlichem Irrlauf dahingleiten,
sind so geartet, wie wir oben sagten.

37 Nun wollte der Schöpfergott aber, dass die Erde, un-


sere Ernährerin, die durch eine hindurchlaufende Achse im
Gleichgewicht gehalten wird, Tag und Nacht bewirkt und
zugleich darüber wacht, die wichtigste all der Gottheiten
sei, die innerhalb des Universums geschaffen wurden.

Wenn wir aber die Tanzspiele der Götter (d. h. der Plane-
ten) und ihre Begegnungen untereinander mit bloßen Wor-
ten zu erklären suchten -
- welche Rück- und Vorausläufe sich auf ihren Bahnen er-
eignen, und
- mit welchen sie bei ihren Beinahe-Berührungen in Kon-
junktion und in Opposition treten und hinter oder vor
welchen sie vorbeigleiten, und
- zu welchen Zeiten sie aus unserem Gesichtskreis ver-
schwinden und bei ihrem Wiederauftauchen denen, die
nichts davon verstehen, Schrecken einjagen - ,
6o TIMAEUS

si verbis explicare conemur nullo posito ob oculos si-


mulacro earum rerum, frustra suscipiatur labor.

Sed haec satis sint dicta nobis, quaeque de deorum,


qui cernuntur quique sunt orti, natura praefati sumus,
habeant hunc terminum.
VIER A R T E N L E B E W E S E N 61

wenn wir alle diese Erscheinungen mit bloßen Worten zu


erklären suchten, ohne dabei ein Modell davon vor Augen
zu haben, wäre das vergebliche Liebesmüh.

Aber nun genug davon! Was wir vom Wesen der Götter,
die sichtbar und entstanden sind, im Vorausgehenden be-
sprochen haben, habe hier sein Ende.
62

Reliquorum autem, quos Graeci δαίμονας appellant, XI


nostri, ut opinor, Lares, si modo hoc recte conversum 38
videri potest, et nosse et nuntiare ortum maius est,
quam ut profiteri nos scire audeamus. Credendum ni-
mirum est veteribus et priscis, ut aiunt, viris, qui se
progeniem deorum esse dicebant itaque eorum voca-
bula nobis prodiderunt. Nosse autem generatores suos
optime poterant, ac difficile factu est a deis ortis fidem
non habere: quamquam nec argumentis nec rationibus
certis eorum oratio confirmatur; sed quia de suis nobis
rebus videntur loqui, veteri legi parendum est.

Sic igitur, ut ab his est traditum, horum deorum ortus 39


habeatur atque dicatur, ut Oceanum Salaciamque Caeli
satu Terraeque conceptu generatos editosque memore-
mus, ex his Saturnum et Opem, deinceps Iovem atque
Iunonem, reliquos, quos fratres inter se agnatosque
usurpari atque appellari videmus, et eorum, ut utamur
veteri verbo, prosapiam.
«3

D I E >J U Ν G Ε Ν < G O T T H E I T E N

X I 38 Über die sonstigen Götterwesen, die die Griechen


als Daimonen, die Unsern, wie ich meine, als Lares be-
zeichnen (wenn dies überhaupt als richtige Ubersetzung
gelten kann), etwas zu wissen und über ihren Ursprung zu
berichten ist ein zu schwieriger Gegenstand, als dass wir
zu behaupten wagten, wir wüssten das. Man muss natür-
lich den Alten und, wie sie sagen, Uralten glauben, die be-
haupteten, sie seien Göttersprösslinge, und die uns so de-
ren Namen überliefert haben. Sie konnten aber ihre
Erzeuger bestens gekannt haben, und es ist schwer, Wesen,
die von Göttern abstammen, nicht zu glauben: Zwar wird
ihre Aussage weder durch Argumente noch durch sichere
Vernunftgründe bestätigt; da sie uns aber von ihren eige-
nen Verhältnissen zu berichten scheinen, muss man dem
alten Gesetz und dem alten Brauch gehorchen.

39 Folglich soll der Ursprung dieser Götter so, wie er von


ihnen überliefert ist, für richtig gehalten und beschrieben
werden, nämlich dass wir sagen, Oceanus und Salacia
seien vom Samen des Himmelsgottes (Caelus) gezeugt,
von der Erdgöttin (Terra) empfangen und geboren wor-
den, von diesen Saturnus und Ops, danach Iuppiter und
Iuno, dann die übrigen, die, wie wir sehen, als miteinander
verwandte Geschwister aufgefasst und genannt werden,
und dazu, um ein altertümliches Wort zu gebrauchen, de-
ren gesamte Sippschaft.
64

Quando igitur omnes et qui moventur palamque se 40


ostendunt et qui eatenus nobis clarantur, qua ipsi vo-
lunt, creati sunt, tum ad eos is deus, qui omnia genuit,
fatur haec:

,Vos, qui deorum satu orti estis, adtendite! Quorum


operum ego parens effectorque sum, haec sunt in-
dissoluta me invito: quamquam omne conligatum
solvi potest, sed haudquaquam boni est ratione
vinctum velie dissolvere. Sed quoniam estis orti, im-
mortales vos quidem esse et indissolubiles non pot-
estis, neutiquam tamen dissolvemini, neque vos ulla
mortis fata periment nec fraus valentior quam con-
silium meum, quod maius est vinculum ad perpetui-
tatem vestram quam illa, quibus estis tum, cum gi-
gnebamini, conligati.

Quid sentiam igitur, cognoscite! Tria genera nobis 41


reliqua sunt eaque mortalia, quibus praetermissis
caeli absolutio perfecta non erit. Omnia enim ge-
nera animalium complexu non tenebit, teneat autem
oportebit, ut ex eodem ne quid absit. Quae a me
ipso si effecta sint, deorum vitam possint adac-
quare; ut igitur mortali condicione generentur, vos
suscipite, ut ilia gignatis imiteminique vim meam,
qua me in vestro ortu usum esse meministis ! In qui-
bus qui tales creabuntur, ut deorum immortalium
REDE DES SCHÖPFERGOTTES

40 Da also alle (Gestirne) erschaffen waren, sowohl die-


jenigen, die sich bewegen und offen zeigen, als auch dieje-
nigen, die sich uns nur insoweit zeigen, als sie selbst es
wollen, sprach der Schöpfergott, der alles erzeugt hat, zu
ihnen folgendes :
»Ihr, die ihr aus Göttersamen entstanden seid, höret zu!
Die Werke, deren Erzeuger und Schöpfer ich bin, sind
gegen meinen Willen nicht auflösbar: Man kann zwar al-
les, was verbunden ist, auch wieder trennen, es ist aber
keinesfalls Sache eines Guten, das, was vernünftig ver-
bunden ist, wieder auflösen zu wollen. Da ihr entstan-
den seid, könnt ihr gewiss nicht unsterblich und unzer-
störbar sein; dennoch werdet ihr sicher nicht vernichtet
werden, noch wird euch irgendein tödliches Verhängnis
dahinraffen oder sonst eine Tücke, die stärker ist als
mein Beschluss, der ein festeres Band für eure bestän-
dige Existenz ist als jene Bänder, durch die ihr damals
verbunden worden seid, als ihr geschaffen wurdet.
41 Nehmet also zur Kenntnis, was ich denke! Wir ha-
ben drei weitere Arten (von Lebewesen), und zwar
sterbliche; wenn diese entfielen, gäbe es keine Vollkom-
menheit des Alls, denn es würde dann nicht alle Arten
von Lebewesen enthalten; es muss sie aber enthalten,
damit ja nichts von dem >Selben< fehlt. Angenommen,
ich würde diese Arten selbst erschaffen, dann könnten
sie wohl auch die Lebensdauer von Göttern erreichen;
damit sie also unter der Bedingung der Sterblichkeit ge-
zeugt werden, sollt ihr es übernehmen, sie zu zeugen
66 TIMAEUS

quasi gentiles esse debeant, divini generis appellen-


tur teneantque omnium animantium principatum
vobisque iure et lege volentes pareant. Q u o r u m vo-
bis initium satusque tradetur a me, vos autem ad id,
quod erit inmortale, partem attexitote mortalem; ita
orientur animantes, quos et vivos alatis et consump-
tos sinu recipiatis!'
REDE DES S C H Ö P F E R G O T T E S 67

und (dabei) eine ähnliche Macht wie ich ausüben, von


der ich bei eurem Ursprung, wie ihr euch erinnert, Ge-
brauch gemacht habe. Diejenigen unter ihnen, die so ge-
schaffen werden, dass sie gleichsam Stammesbrüder der
Unsterblichen sein dürfen, sollen >von göttlichem Ge-
schlecht genannt werden und den Vorrang unter allen
beseelten Wesen innehaben und euch nach Recht und
Gesetz willig gehorchen! Ihr Ursprung und ihre Zeu-
gung wird euch von mir übertragen werden, ihr aber
sollt zu dem, was unsterblich ist, den sterblichen Teil da-
zugeben. So werden beseelte Wesen entstehen, die ihr
im Leben nähren und nach ihrem Tod ans Herz drücken
werdet.«
68

Haec ille dixit, deinde ad temperationem superiorem 42


revertit, in qua omnem animum universae naturae
temperans permiscebat superiorisque permixtionis re-
liquias fundens aequabat eodem modo ferme, nisi
quod non ita incorrupta, ut ea, quae semper idem, sed
ab iis secundum sumebat atque etiam tertium.
69

ZWEITE UND DRITTE SEELENQUALITÄT

42 Das sprach der Schöpfergott. Daraufhin kehrte er zu


seiner früheren Mischarbeit zurück; dabei vermischte er
die gesamte Seele der gesamten Natur gründlich, goss die
Uberreste aus der früheren Mischung hinzu und glich sie
etwa auf dieselbe Weise aus, bloß dass sie nicht so unzer-
störbar war wie das, was >immer das Selbe< ist, nahm aber
davon nur die zweite und auch die dritte Qualität.
70

Toto igitur omni constituto sideribus parem numerarti XII


distribuit animorum et singulos adiunxit ad singula at- 43
que ita quasi in currum universitatis imposuit com-
monstravitque leges fatales ac necessarias et ostendit
primum ortum unum fore omnibus eumque modera-
tum atque constantem nec ab ullo inminutum; satis
autem et quasi sparsis animis fore, uti certis temporum
intervallis oreretur animal, quod esset ad cultum deo-
rum aptissimum.

Sed cum duplex esset natura generis humani, sic se res 44


habebat, ut praestantius genus esset eorum, qui essent
futuri viri. Cum autem ánimos corporibus necessitate
insevisset cumque ad corpora tum accessio fieret tum
abscessio, principio necesse erat sensum exsistere
unum communemque omnium vehementiore motu
excitatum coniunctumque naturae, deinde voluptate
et molestia mixtum amorem, post iram et metum et
reliquos motus animi comités superiorum et his etiam
contrarios dissidentesque. Quos qui ratione rexerit,
iuste vixerit, qui autem iis se dederit, iniuste.
7i

SEELENWANDERUNG

X I I 43 Nachdem also das All errichtet war, teilte der


Schöpfergott den Planeten eine gleiche Zahl von Seelen zu,
verband jede mit einem Gestirn und setzte sie so gleichsam
in den Lauf des Universums; er verkündete ihnen nach-
drücklich die schicksalhaft bindenden Gesetze und er-
klärte, dass ihnen allen bei ihrer erstmaligen Geburt genau
dasselbe zugeteilt werde, wohlbemessen, auf Dauer und
von niemandem beeinträchtigt. Nachdem die Seelen ge-
zeugt und gleichsam ausgestreut wären, werde es gesche-
hen, dass in bestimmten Zeitintervallen ein Lebewesen
entstehe, das sich für die Verehrung der Götter in beson-
derem Maße eignet.

44 Weil es aber bei den Menschen zwei Geschlechter ge-


ben sollte, verhielt es sich so, dass die vorzüglichere Art die
derer war, die Männer werden sollten. Da der Schöpfergott
die Seelen eng mit den Körpern verbunden hatte und die
Körper bald zunehmen, bald abnehmen, war es von An-
fang an notwendig, dass ein allen (d. h. beiden Geschlech-
tern) gemeinsames Empfindungsvermögen entstand, das
durch eine heftigere Erschütterung erregt wird und mit der
Natur verbunden ist, sodann aus Lust und Leid gemischte
Liebe, dann Zorn und Furcht und die übrigen Seelenre-
gungen als Begleiter der oben genannten und auch im Wi-
derstreit mit ihnen liegend. Wer diese Seelenregungen
durch Vernunft beherrscht, der hat gerecht gelebt, wer sich
aber ihnen hingibt, ungerecht.
TIMAEUS

Atque ille, qui recte atque honeste curriculum vivendi 45


a natura datum confecerit, ad illud astrum, quocum
aptus fuerit, revertetur; qui autem inmoderate et in-
temperate vixerit, eum secundus ortus in figuram mu-
liebrem transferet, et, si ne tum quidem finem vitio-
rum faciet, gravius etiam iactabitur et in suis moribus
simillimas figuras pecudum et ferarum transferetur ñe-
que malorum terminum prius adspiciet, quam illam
sequi coeperit conversionem, quam habebit in se ipse
eiusdem et similis innatam et insitam: quod tum eve-
niet, cum ilia, quae ex igni anima aqua atque terra tur-
bulenta et rationis expertia insederint, ratione depule-
rit et ad primam atque optimam adfectionem animi
pervenerit.

Quae cum ita designasset seseque, si quid postea frau- XIII


dis aut vitii evenisset, extra omnem culpam causam- 46
que posuisset, alios in terram, alios in lunam, alios in
reliquas mundi partes, quae sunt spatiorum temporis
signa et notae constitutae, spargens quasi serebat.

Post autem earn sationem dis, ut ita dicam, iunioribus


permisit, ut corpora mortalia effingerent, quantumque
esset reliquum ex humano animo, quod deberet acce-
dere, id omne, et quae consequentia essent, perpoli-
rent et absolverent, deinde ut huic animanti principes
se ducesque praeberent vitamque eius quam pulcher-
rime regerent et gubernarent, quatenus non ipse bene
factus sua culpa sibi aliquid miseriae quaereret.
SEELENWANDERUNG 73

45 Und wer den von der Natur gegebenen Lebensweg


richtig und mit Anstand vollendet, der wird zu dem Ge-
stirn, mit dem er verbunden ist, zurückkehren; wer aber
maßlos und unbeherrscht gelebt hat, den wird eine zweite
Geburt mit einem Frauenleib versehen, und wenn er auch
dann seinen Lastern noch kein Ende setzt, wird er noch
schwerer geschlagen und in den seinem Betragen entspre-
chenden Körper eines Haus- und Wildtiers gesteckt wer-
den, und er wird ein Ende seiner Übel erst sehen, wenn er
jenem Umschwung zu folgen beginnt, der ihm als der des
>Selben< und des >Ahnlichen< eingeboren und eingesät ist:
Das wird dann der Fall sein, wenn er das, was sich aus
Feuer, Luft, Wasser und Erde wirr und vernunftlos in ihm
festgesetzt hat, durch Vernunft vertreibt und zur ursprüng-
lichen und besten Verfassung seiner Seele gelangt ist.

XIII 46 Nachdem der Schöpfergott dies so vorgegeben


hatte und für den Fall, dass später Betrug oder Fehler auf-
treten sollten, jede Verantwortung von sich gewiesen hatte,
verteilte er die einen auf die Erde, die andern auf den
Mond, wieder andere auf die übrigen Himmelskörper, die
als Gestirne und Anzeiger der Zeit bestimmt sind, und säte
sie gewissermaßen an.
Nach dieser Ansaat erlaubte er den jüngeren Gottheiten
(ich will sie einmal so nennen), sterbliche Körper zu bil-
den, auch dass sie, soviel noch übrig war an Menschensee-
lenstoff, der (zu den Körpern) hinzutreten musste, dies al-
les und was die Folgen davon waren, ordentlich zu Ende
brächten, sodann, dass sie sich diesem beseelten Wesen als
Meister und Führer anböten und sein Leben so gut wie
möglich leiteten und lenkten, sofern es sich nicht trotz sei-
ner guten Ausstattung durch eigene Schuld selbst ins Un-
glück stürzt.
74

Atque is quidem, qui cuncta composuit, constanter in


suo manebat statu; qui autem erant ab eo creati, cum
parentis ordinem cognovissent, hunc sequebantur. Ita-
que cum accepissent inmortale principium mortalis
animantis, imitantes genitorem et effectorem sui partí-
culas ignis et terrae et aquae et animae a mundo, quas
rursus redderent, mutuabantur easque inter se copula-
bant, haud isdem vinclis, quibus ipsi erant conligati,
sed talibus, quae cerni non possent propter parvita-
tem, crebris quasi cuneolis inliquefactis unum efficie-
bant ex omnibus corpus atque in eo influente atque ef-
fluente animi divini ambitus inligabant.

Itaque illi in flumen inmersi ñeque tenebant neque te-


nebantur, sed vi magna tum ferebant tum ferebantur.
Ita totum animal movebatur illud quidem, sed inmo-
derate et fortuitu, ut sex motibus veheretur: nam et
ante et pone et ad laevam et ad dextram et sursum et
deorsum, modo hue, modo illue ...
75

DIE >JUNGEN< G O T T H E I T E N AM WERK

47 Und der Schöpfergott, der alles ersann, blieb unwan-


delbar; als aber die Gottheiten, die von ihm geschaffen wa-
ren, die Anordnung ihres Erzeugers zur Kenntnis genom-
men hatten, folgten sie ihm. Nachdem sie aber den
unsterblichen Keim des sterblichen Lebewesens in Emp-
fang genommen hatten, taten sie es ihrem Erzeuger und
Schöpfer gleich, borgten sich vom All Teilchen von Feuer,
Erde, Wasser und Luft, die sie wieder zurückzugeben hat-
ten, und verbanden sie untereinander, jedoch nicht mit
denselben Fesseln, mit denen sie selbst zusammengefügt
worden waren, sondern mit solchen, die wegen ihrer
Kleinheit unsichtbar sind. Sie verschmolzen gewisserma-
ßen zahlreiche winzige Pflöckchen und bildeten aus allen
Bestandteilen jeden einzelnen Körper und banden in die-
sen Leib, der aufnimmt und ausscheidet, die Umschwünge
der göttlichen Seele ein.

48 Also wurden die Seele wie in einen Strom eingebun-


den, und jene konnten ihn weder aufhalten noch ließen sie
sich aufhalten, sondern drängten bald mit viel Kraft, bald
wurden sie bedrängt. So wurde jenes ganze Lebewesen in
Bewegung gesetzt, jedoch regellos und zufallsabhängig, so
dass es sich in sechs Richtungen bewegte: nämlich nach
vorne und hinten, nach links und nach rechts, aufwärts
und abwärts, bald hierhin, bald dorthin ...
Lücke im Cicero-Text (Piaton 4jb~46a 2)
entsprechend ca. 102 Oxoniensis-Zeilen;
mit 46a $ setzt der Cicero-Text wieder ein.
76

XIV

... cum unus de his in levitate et splendore consedit, 49


tum vel eadem species vel interdum inmutata redditur,
cum ignis oculorum cum eo igne, qui est ob os effusus,
se confudit et contulit.

- Dextra autem videntur, quae laeva sunt, quia con-


trariis partibus oculorum contrarias partes attin-
gunt.

- Respondent autem dextra dexteris, laeva laevis con-


versione luminum, cum ea inter se non cohaeres-
cunt: id fit, cum speculorum levitas hinc illincque
altitudinem adsumpsit et ita dextera detrusit in lae-
vam partem oculorum laevaque in dexteram.

- Supina etiam ora cernuntur depulsione luminum,


quae convertens inferiora reddit, quae sunt supe-
riora.
77

AUGE UND SPIEGEL

XIV (Hiernach ist auch die Entstehung von Bildern im


Spiegel und in allem Glatten und Glänzenden nicht mehr
schwierig zu begreifen ... )
49 ... wenn e i n e r von diesen (Feuerstrahlen) auf eine
polierte, glänzende Spiegeloberfläche trifft, wird ein (der
Wirklichkeit) entsprechendes Bild wiedergegeben oder
bisweilen ein spiegelverkehrtes, wenn das den Augen (ent-
strömende) Feuer sich eng mit dem Feuer verbindet, das
(vom Objekt ausgehend) sich gegen das Gesicht ergießt.
- Als rechts liegend erscheint, was (in Wirklichkeit) links
liegt, weil die Bilder mit den entgegengesetzten Seiten
der Sehstrahlen auf die entgegengesetzten Seiten (des
Objekts) treffen.
- Umgekehrt entspricht die rechte Seite der rechten und
die linke der linken infolge einer Umlenkung der Strah-
len, wenn diese sich nicht miteinander verbinden: Dies
ist der Fall, wenn die glatte Spiegelfläche zu den Rän-
dern hin erhöht ist und so das Rechtsliegende nach der
linken Seite der Augen wegdrängt und das Linke nach
der rechten.
- Auch kopfstehend sieht man Gesichter infolge einer Re-
flexion der Sehstrahlen, die die Seiten vertauscht und als
untenliegend wiedergibt, was in Wirklichkeit oben liegt.

Atque haec omnia ex eo genere sunt, quae rerum adiu-


vant causas, quibus utitur ministeriis deus, cum optimi
speciem, quoad fieri potest, efficit.

Sed existimant plerique non haec adiuvantia causa-


rum, sed has ipsas esse omnium causas, quae vim ha-
beant refrigerandi calficiendi concrescendi liquendi,
careant autem omni intellegentia atque ratione, quae
nisi in animo nulla alia in natura reperiantur; animus
autem sensum omnem effugit oculorum, at ignis aqua
terra anima corpora sunt eaque cernuntur.

Ilium autem, qui intellegentiae sapientiaeque se ama-


torem profitetur, necesse est intellegentis sapientisque
naturae primas causas conquirere, dein secundas ea-
rum rerum, quae necessario movent alias, cum ipsae
ab aliis moventur. Quocirca nobis sic cerno esse fa-
ciendum, ut de utroque nos quidem dicamus genere
causarum, separatim autem de iis, quae cum intelle-
gentia sunt efficientes pulcherrimarum rerum atque
optumarum, et de iis, quae vacantes prudentia incon-
stantia perturbataque efficiunt.

Ac de oculorum quidem causis, ut habeant earn vim,


quam nunc habent, satis ferme esse dictum puto; ma-
79

ZWEI ARTEN VON URSACHEN

50 Alle diese Erscheinungen sind von der Art, dass sie die
Ursachen der Dinge unterstützen; ihrer bedient sich der
Schöpfergott, wenn er die Idee des Besten verwirklicht, so-
weit das geschehen kann.
Die meisten meinen jedoch, dass es sich hierbei nicht um
Hilfsursachen handelt, sondern dass dies die eigentlichen
Ursachen aller Dinge sind, welche zwar die Kraft haben
abzukühlen, zu erwärmen, zu verfestigen und zu verflüs-
sigen, aber ohne alle Intelligenz und Vernunft sind, da
diese Gaben nur in der Seele und in keiner anderen Natur
zu finden sind; die Seele entzieht sich jedoch jeder Wahr-
nehmung durch die Augen, das Feuer jedoch, das Wasser,
die Erde und die Luft sind Körper und als solche wahr-
nehmbar.

51 Wer sich aber als Liebhaber von Vernunft und Weisheit


bekennt, muss die ersten Ursachen notwendigerweise in
der vernünftigen und weisen Natur suchen, dann die zwei-
ten Ursachen in den Dingen, die andere zwangsläufig be-
wegen, während sie selbst von anderen bewegt werden.
Daraus ersehe ich, dass wir von beiden Ursachenarten
sprechen müssen, jedoch mit Unterscheidung zwischen
denen, die mit Intelligenz Erzeuger der schönsten und bes-
ten Dinge sind, und denen, welche ohne Einsicht nur Un-
beständiges und Wirres hervorbringen.

52 Von den die Augen betreffenden Hilfsursachen, dass sie


nämlich die Kraft haben, welche sie nun einmal haben, ist
8o TIMAEUS

xuma autem eorum utilitas donata humano generi


deorum muñere deinceps explicetur.
ZWEI ARTEN V O N U R S A C H E N 8l

meiner Ansicht nach in etwa genug gesagt; ihr außeror-


dentlicher Nutzen, der dem Menschengeschlecht von den
Göttern geschenkt wurde, soll im Folgenden erläutert wer-
den.
82

Rerum enim optumarum cognitionem nobis oculi at-


tulerunt. N a m haec, quae est habita de universitate
oratio a nobis, haud umquam esset inventa, si neque
sidera neque sol neque caelum sub oculorum aspec-
tum cadere potuissent. Nunc vero dies noctesque ocu-
lis cognitae, tum mensium annorumque conversiones
et numerum machinatae sunt et spatium temporis di-
mensae, et ad quaestionem totius naturae impulerunt.

Quibus ex rebus philosophiam adepti sumus, quo


bono nullum optabilius, nullum praestantius neque
datum est mortalium generi deorum concessu atque
muñere neque dabitur.
»3

AUGE U N D PHILOSOPHIE

Die Augen haben uns die Kenntnis der besten Dinge ver-
mittelt. Denn dieser Vortrag, den wir über das Universum
gehalten haben, wäre niemals erdacht worden, wenn we-
der die Gestirne noch die Sonne und der Himmel mit den
Augen hätten erfasst werden können. Nun sind aber Tage
und Nächte mit den Augen erkennbar, sodann haben die
Umläufe der Monate und Jahre sowohl (den Begriff) Zahl
hervorgebracht als auch die Dimension Zeit für Messun-
gen erschlossen und so den Anstoß zur Erforschung des
Weltalls gegeben.

Dadurch haben wir die Philosophie erhalten, das wün-


schenswerteste und hervorragendste Gut, das dem Men-
schengeschlecht von den Göttern als Gnadengabe zuge-
standen worden ist; eine bessere wird es niemals erhalten.

Mit Platon 4jb 2 endet der Cicero-Text;


bei Piaton geht der Dialog etwa ¡o Oxoniensis-Seiten weiter bis 92c 9.
FRAGMENTA

1 Plato quidem plus ausus est dicere, elatum esse sci-


licet Deum gaudio mundi universitate perfecta.

(Haec verba cum Plat. Tim. 37c ή γ ά σ θ η τε και


ευφρανθείς ετι δή μάλλον ομοιον προς τό
π α ρ ά δ ε ι γ μ α ένεποίησεν ά π ε ρ γ ά σ α σ θ α ι possunt
conferri, sed pro certo habere non possumm Ciceronem
in his verbis delitescere).
(Augustinus, Civ. Dei X I 21)
2 Curriculum neutro genere Cicero Timaeo: ratione
igitur et mente divina ad originem temporis [curris]
curriculum inventum est solis et lunae.
(Nonius 198,30)
3 Si dii minores, quibus inter ammalia terrestria cetera
etiam hominem faciendum commisit Plato, potue-
runt, sicut dicit, ab igne removere urendi qualita-
tem, lucendi relinquere, quae per oculos emicaret...

(Haec verba cum Plat. Tim. 45b του πυρός δσον τό


μέν κάειν ουκ εσχε τό δέ παρέχειν φως ... διά
των ομμάτων ρεΐν possunt conferri).
(Augustinus, Civ. Dei XIII18)

4 defenstrix quoque Cicero in Timaeo protulit addita


V.
(Priscianus, G.L.K. 463.19 sq. ad Verg. Aen. 1,16)
FRAGMENTE

1 Plato geht sogar noch weiter und sagt, der Schöpfergott


sei offenbar vor Freude »hingerissen« gewesen über die
Vollendung des Weltalls. [Übers. C . J. Perl]
(Diese Worte können mit Plat. Tim. 37c verglichen wer-
den: »... da empfand er (der Schöpfergott) Wohlgefallen
daran, und in seiner Freude beschloss er denn, es (das
All) noch mehr seinem Urbilde ähnlich zu machen«,
aber wir können nicht sicher sein, dass sich hinter diesen
Worten Cicero verbirgt. [Übers. F. Susemihl]
2 Im Neutrum findet sich das Wort curriculum in Ciceros
Timaeus 29 (Plat. Tim. 38c 3: »Zufolge solcher ... Be-
trachtung und Überlegung Gottes in bezug auf die Zeit
entstanden ... Sonne, Mond ...«). [Übers. F. Susemihl]
3 Wenn die kleineren Götter, denen Plato es anvertraute,
unter den erdbewohnenden Lebewesen auch den Men-
schen zu schaffen, es, wie er sagt, vermochten, dem
Feuer die Eigenschaft des Brennens zu nehmen, ihm
aber die des Leuchtens zu lassen, welches durch die Au-
gen herausleuchten solle ...
(Diese Worte können mit Plat. Tim. 45b 4 verglichen
werden: »Soviel nämlich vom Feuer nicht die Eigen-
schaft hat zu brennen, sondern das milde Licht zu ver-
breiten, ... ließen sie (die νέοι θεοί) ... aus den Augen
ausströmen«). [Übers. F. Susemihl]
4 Das Wort defenstrix hat auch Cicero unter Hinzufügung
eines >t< verwendet.
ANHANG
ÜBERLIEFERUNG UND TEXTGESTALTUNG

ZUR ÜBERLIEFERUNG

Der nicht erhalten gebliebene Archetypus unserer Hand-


schriften wird in die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert da-
tiert (R. Giomini, p. XIX). Er enthielt folgende Werke Ci-
ceros:

De natura deorum, De divinatione, Timaeus, De fato, To-


pica, Paradoxa Stoicorum, Lucullus, De legibus. Von ihm lei-
ten sich auf verschiedenen Wegen die wichtigsten Hand-
schriften ab:

Vossianus 84, Leiden, s. IX med.


Vossianus 86, Leiden, s. IX med.
Vindobonensis Lat. 189, Wien, s. IX med.
Marcianus Lat. 257, Florenz, s. IX med.
Palatinus Lat. 1519, Vatikan, s. X - X I
Monacensis Lat. 528, s. X - X I , UB München
Heinsianus Lat. 118, Leiden, s. XI

Wichtig ist darüber hinaus

Vossianus Lat. Q 10, Leiden, der die von dem Neupia-


toniker Chalcidius im 4. Jahrhundert n. Chr. geschaffene
Übersetzung des Platonischen Timaios in Lateinische
enthält (bis 53c 3). Das Piaton-Studium beruhte im Mit-
telalter nahezu ausschließlich auf diesem Text.
90 Ü B E R L I E F E R U N G U N D TEXTGESTALTUNG

Zur Zeit der Cicero-Gesamtausgabe durch Io. Casp.


Orelli, Band IV,2, Zürich 1828, waren nur fünf Codices be-
kannt, die heute als unbedeutend beiseite bleiben:

cod. Regin. Lat. (1762), s. X I I (deficit in cap. X ) ,


cod. Rehdigerianus,
cod. Creuzeri, olim Uffenbachianus,
codd. duo Oxonienses.

Als um so beeindruckender darf die Leistung der Philolo-


gen gelten, die seit 1471 an der Emendation der Uberliefe-
rung gearbeitet haben: Ihr Text kommt dem heutigen Er-
kenntnisstand ziemlich nah. Allerdings hat man jetzt in der
Regel sicheren Boden unter den Füßen, wo frühere Bear-
beiter allein auf ihren Scharfsinn angewiesen waren.

Inkunabeln

1471 R o m
1474 Venedig
1477 Venedig
1475 Lorenzo Valla
1494 Venedig
1496 Venedig
1498 Mailand
1499 Bologna

Neueste Ausgaben

Eine vollständige Liste findet man auf den Seiten X X X V I f.


der Teubner-Ausgabe von R . Giomini. Hier die des
20. Jahrhunderts:
ÜBERLIEFERUNG UND TEXTGESTALTUNG

O. Piasberg, Leipzig 1908


W. Ax, Leipzig 1938
Pini, o. O., 1965 (bei Giomini)
R. Giomini, Leipzig 1975

ZUR TEXTGESTALTUNG

Der Text umfasst rund 4300 lateinische Wörter.


Die vorliegende Ausgabe folgt der Textgestaltung durch
R. Giomini.

Abweichungen :
§ 06 inveneris (mit SV, invenerit Giomini)
§ 08 putate (mitAtzert; putat Giomini)
§ 20 corpore (corpori Giomini mit S)
§ 27 ipse {mit ABD, ipsa Giomini)
§ 27 cuique (mit ABV, qoique Giomini)
§ 29 alterius (... ius Giomini)
§ 30 et ea celeritate (et addidi)
§ 34 expressa mit Stephanus (impressa Giomini)
% 37 quibusque (quisque Giomini)
§ 38 ut opinor (mit Stephanus, opinor Giomini)
§ 38 eorum (del. mit Stephanus)
§ 52 mensium (mit VF, mensum Giomini)

In favorem lectoris wurden einige -«-Endungen in -es geändert, z.B. pluris


aut innumerabiles in plures aut innumerabiles (12; weiterhin quodsi statt quod
si, quemadmodum statt quem ad modum.

Streichungen wie Giomini:


§ 23 eadem partem praestant in extremis eademque supe-
ratum
92 ÜBERLIEFERUNG U N D TEXTGESTALTUNG

§ 44 necessitate
§ 45 uni
§ 46 que (alios[que] Giominì)
§ 46 ad
§ 50 quae vim habeant frigoris et caloris

Die Satzzeichen sind vielfach geändert worden.

Das erste Wort eines jeden Satzes ist grundsätzlich groß-


geschrieben.
EINFÜHRUNG

ZUM LITERARISCHEN W E R K

Vorlage

Dem Timaeus Ciceros liegt Piatons Dialog Timaios zu-


grunde. Dieser gehört mit den Dialogen Sophistes, Politi-
kos, Philebos, Kntias und den Nomoi in die letzte der vier
Schaffensperioden Piatons, also in die Jahre nach seiner
Heimkehr vom dritten Syrakusaufenthalt (360 v.Chr.;
siehe dazu auch Erläuterungen zu § 36 s. ν. πλανήτες). Be-
nannt ist das Werk nach dem Staatsmann und Pythagoreer
Timaios aus Lokroi.

Bearbeitung durch Cicero

Ciceros Bearbeitung umfasst, wenn man von den durch die


Uberlieferung entstandenen Lücken absieht, Tim. 2γά
4~4jb 2, also etwa ein Viertel des Platon-Textes; seine Vor-
lage erwähnt Cicero im erhalten gebliebenen Text mit kei-
nem Wort. Für die Datierung kommen die Jahre 45 bis
44 v. Chr. in Frage, in denen Cicero in fliegender Eile mehr
als ein Dutzend Werke veröffentlicht hat. Die wichtigsten
darunter sind im Jahr 45: Academici libri, De finibus, Tus-
culanae disputationes, 44: De natura deorum, De divina-
tione, De fato, Cato maior, Laelius, Topica, De officiis.
Aus Hinweisen in diesen Texten ergibt sich, dass der Ti-
maeus im Jahre 45 v. Chr. entstand, und zwar
94 EINFÜHRUNG

- nach den Libri Academici und nach den Tusculanae dis-


putationes, in denen Cicero ein Werk über die pythago-
reische Lehre ankündigt ($,io),
- aber vor De natura deorum, wo der Timaeus erwähnt
wird (1,30).
Gestützt wird diese Datierung durch das Todesjahr des
P. Nigidius Figulus (45 v.Chr.).
Im Laufe des 13. bis 15. Jahrhunderts hat der Timaeus ver-
schiedene Untertitel erhalten:
- De cosmi sive mundi creatione Parisinus Lat. 633 s. ΧΠΙ,
- De essentia seu productione mundi Ambrosianus Lat. E if
- De universalitate Rossianus Lat.
- De unversitate Parisinus 662 (in margine).
Buchtitel wie Cato maior de senectute oder Laelius de ami-
citia mögen dazu angeregt haben. Dass Cicero beim Ti-
maeus analog verfuhr, ist keineswegs undenkbar (s. § 52).

Sitz des Ciceronischen Timaeus im Platonischen Timaios

(Die von Cicero übersetzten - und erhalten gebliebenen - Partien sind fett
gedruckt)

Stephanus Seiten

17 Einleitung
18 >Der Staat«
19

20 Solon in Ägypten
21
22

24 Atlantis-Mythos

26
27b
ZUM LITERARISCHEN WERK 9$

Steph. Cicero Steph. Steph.

Teleologisches Prinzip Kausales Prinzip Zusammenwirken


27 (νους) 3" 4 48(ανάγκη) 69b (αίτίαι)
28 Das All 4" « 49 Vier Elemente 70 Körper des
Menschen
*9 6-10 50 71
30 10-13 51 Idee 72
31 13-15 52 Sein, Werden, Raum 73
3» 15-17 53 Stereometrie 74
33 17-20 54 (Platonische Körper) 75
34 20-22 55 76 Pflanzen
35 22-24 5« 77 Physiologie
36 24-28 57 78 Atmung
37 28 58 79
38 [Lücken] 29-31 59 Erscheinungsformen 80
39 31-35 60 der Elemente 81 Krankheiten
40 35-40 61 Sinneswahrnehmung 82
41 40-43 62 83
41 44-48 63 84
43 Empfindungen 64 85
44 [Lücke] 65 86
45 Auge 66 87
46 49-51 «7 88 Arzneimittel
47b 5* 68 89
69a 90 Frauen
91 Tiere

92c Abschluss

Diese Gliederung folgt im wesentlichen der von Dietrich Mannsperger in


Kindlers Literatur-Lexikon angegebenen.
9é EINFÜHRUNG

Lücken

Ciceros Text setzt nicht mit dem Beginn der Platonischen


Vorlage ein, sondern lässt deren Einleitungsteil mitsamt
dem Atlantis-Mythos beiseite und beginnt sogleich mit
dem Thema »Weltall«. Dieser Befund entspricht mit gro-
ßer Wahrscheinlichkeit Ciceros Absicht.
Seine Bearbeitung reicht aber auch bei weitem nicht bis
zum Ende seiner Vorlage, sondern bricht mit (47b 2 - § $2)
ab. O b Cicero das so gewollt hat, ist die Frage. Dass er sich
nicht scheute, das ihn weniger Interessierende schon zu
Beginn wegzulassen, legt den Schluss nahe, dass er auch
ein ihm zusagendes Ende suchte. Der Schlusssatz seiner
Ubersetzung stützt diese Vermutung: »Dadurch haben wir
die Philosophie erhalten, das wünschenswerteste und her-
vorragendste Gut, das dem Menschengeschlecht von den
Göttern als Gnadengabe zugestanden ist; eine bessere wird
es niemals erhalten« (vgl. Tusc. 5,5).
Damit wäre Ciceros Timaeus kein Fragment. Gewissheit
kann es freilich keine geben. Im übrigen schließt Piaton an
gleicher Stelle den ersten Hauptteil seiner Überlegungen
ab.

Es stellt sich die Frage, was in der Lücke zwischen § 2 und


3 gestanden haben mag. Man darf vermuten, dass da die
Aufgaben verteilt wurden (s. § 7: vos qui iudicetis) und dass
Kratippos die peripatetische Auffassung zu vertreten hatte,
Cicero die akademische. Gleich im ersten Satz bekennt Ci-
cero seine Ablehnung der Naturphilosophie, wie sie von
den phystci vertreten wird. In De natura deorum, De divi-
natione und De fato wird er seine Kritik an ihnen systema-
tisch fortsetzen. In dem vorliegenden Timaeus-Text bleibt
er stumm. Das Wort hat ausschließlich Nigidius; es gibt
Z U M L I T E R A R I S C H E N WERK 97

keinen Einwurf eines der anderen Teilnehmer. Freilich ist


das bei Piaton ähnlich: Ein einziges Mal (29c 4-6) meldet
sich Sokrates, aber nur, um Timaios zum Weitersprechen
zu ermuntern.

Die Lücken bei § 28 und § 48 sind durch Verstümmelung


entstanden. Die erhalten gebliebenen Fragmente lassen
sich in sie einordnen.

Qualität der Ubersetzung

Mit der Ubersetzung des Timaios wollte Cicero den Rö-


mern einen weiteren Zugang zur griechischen Philosophie
eröffnen. Darauf zielt wohl auch die Verlegung des Dialogs
in die eigene Zeit.

Die Übersetzung wird gern als »ziemlich wörtlich« bezeich-


net. Das mag angehen, wenn man darüber hinwegsieht, dass
Cicero Zusätze eingefügt und durch Auslassungen und
Missverständnisse manches verundeutlicht wiedergegeben
hat. Der gebildete römische Leser wird damit zurechtge-
kommen sein; man wird aber fragen dürfen, wie es dem er-
ging, der den griechischen Text nicht danebenlegen oder ihn
vielleicht gar nicht lesen konnte.

Da der lateinischen Sprache wichtige Wörter fehlen, muss-


te Cicero sich auch als Sprachschöpfer betätigen: § 13
(αναλογία), § 17 (σφαιροειδής), § 23 (μεσάτης), § i j
(άρμονία), § 31 (ελιξ), § 35 (άέριος), § y j ά ξ ω ν . Bedauer-
licherweise scheute er sich, das Wort κόσμος ins Lateini-
sche einzuführen (zuerst bei Paulinus, Adversus paganos 194,
196); er bot dafür (Piaton folgend) omne igitur caelum sive
mundus, sive quo alio vocabulo gaudet, hoc a nobis nuncupa-
98 EINFÜHRUNG

tus sit (§ 4). Für einen so wichtigen Begriff wäre - aus unse-
rer Sicht - ein einheitlicher Terminus hilfreich gewesen.

Im übrigen hat Cicero, was puritanische Kritiker freilich


tadeln könnten, in das Werk auch eigene Gedanken einge-
bracht und ihm durchaus seinen eigenen Stil aufgeprägt.
Ein Beispiel (33b 4 - § 17):

...et globosum est fabrìcatus


quod σφαιροειδές Graeci vocant, òlo κ α ι σφαιροειδές,
cuius omnis extremitas έκ μέσου πάνττ) π ρ ο ς τάς τελευτάς
paribus a medio radiis attingitur; ίσον άπέχον,
idque ita tomavit. ut κυκλοτερές αυτό έτορνεύσατο.
nihil efficere posset rotundius. πάντων τελεώτατον
nihil asperitatis ut haberet,
nihil offensionis,
nihil incisum angulis,
nihil anfractibus,
nihil eminens,
nihil lacunosum,
omnesque partes (essent) ο μ ο ι ο τ α τ ο ν τε α υ τ ο ε α υ τ φ
simillimae omnium, σχημάτων,
quod eius iudicio praestabat ν ο μ ί σ α ς μ υ ρ ί ω κάλλι,ον
dissimilitudini similitudo. ομοιον άνομοίου.

Nachwirkung

Die Nachwirkung des Platon-Dialogs war enorm. Da das


europäische Mittelalter von den Werken Piatons zunächst
n u r den Timaios kannte, galt er als Piatons Hauptwerk.
In Raffaels »Schule von Athen« (1509/1511) hält Piaton ihn
den Ethika des Aristoteles entgegen.

Man kannte den Timaios freilich nur in der lateinischen


Ubersetzung durch den Neuplatoniker Chalcidius (4. Jh.
ZUM L I T E R A R I S C H E N WERK 99

n.Chr.). Die ältesten Codices mit Ciceros Übersetzung


stammen aus dem 9. Jahrhundert, der erste Druck aus dem
Jahr 1471.

Die Gesamtheit der Werke Piatons wurde im Westen v. a.


im Zusammenhang mit der Bedrohung Konstantinopels
durch die Türken bekannt. Marsilius Ficinus übersetzte sie
1483 f. ins Lateinische, Aldus Manutius brachte 1513 die Edi-
tio princeps des griechischen Textes heraus.

Ob man so weit gehen kann, für den Verfall der Naturphi-


losophie seit der Antike Piaton, in Sonderheit seinen Ti-
maios verantwortlich zu machen, erscheint etwas gewagt:
»Was im Mittelalter herrschte, war letztlich die Denkform
des platonischen >Timaios<, nicht die der aristotelischen
>Physik<« (O. Gigon). Schließlich war doch das Werk des
Aristoteles viel früher als das des Piaton im Westen be-
kannt geworden, v. a. durch den Kreuzzug von 1202-1204:
Der Dominikaner Wilhelm von Moerbeke (1215-1286)
übersetzte einige Werke des Aristoteles neu und revidierte
ältere Werke. Thomas von Aquin (1225-1274) leitete die
Synthese mit der christlichen Theologie ein, aus der die
Scholastik hervorging. Im 13. Jahrhundert und auch in fol-
genden 200 Jahren wusste man von Piatons Lehre wenig,
bis eben auf die Timaios-Übersetzungen. Mit gewissen
Einschränkungen zustimmen kann man aber O. Gigons
Warnung, »dass gerade der >Timaios< eine äußerst gefahr-
volle Einladung bedeutet, die Frage nach dem Wesen des
Kosmos und des Menschen in erhabenen Metaphern un-
tergehen zu lassen.« Die Gefahr lag wohl eher in der Auf-
wertung der Astrologie.
ΙΟΟ EINFÜHRUNG

ZUM LEHRINHALT: Α . GRUNDGEDANKEN

Wenn man sich mit Ciceros Timaeus befasst, beschäftigt


man sich letztlich immer mit Piaton. Beschränkt man nun -
bei allem Respekt vor Ciceros Ubersetzungsleistung - den
Blick auf die Platonische Textvorlage, so steht man vor
einem sehr komplexen Gedankenkonstrukt:

- Auf der einen Seite werden Sätze aus der Logik (darun-
ter v. a. als argumentum argumentorum: Es gibt kein ur-
sachenloses Geschehen) aufgebaut und die eine Gottheit
charakterisierenden oder ihr zuzuschreibenden Eigen-
schaften ins Feld geführt, gegen die man nichts einwen-
den kann.
- Auf der anderen Seite werden Phänomene des exis-
tierenden Universums, deren Deutung in der damaligen
philosophischen Diskussion als unbestritten oder we-
nigstens als wahrscheinlich galt, als Absichten des Wir-
kens eines Demiurgos oder wenigstens als Folgen seines
Wirkens interpretiert.
- Zwischen diesen beiden Dämmen wird das Vorge-
hen des Weltenschöpfers gewissermaßen kanalisiert und
zum Transport pythagoreischer Grundgedanken (bei
maligner Interpretation: zum Betreiben pythagoreischer
Mühlen) gezwungen.
Durch den ständigen Bezug auf die beiden »Uferdämme« -
Abstraktion und Empirie - wächst dem vorgetragenen
Weltbild fortwährend Glaubwürdigkeit zu. Paradoxer-
weise wird diese noch dadurch verstärkt, dass Timaios
(bzw. Nigidius) sie selbst in Frage stellt und sich mit einer
Wahrscheinlichkeitshoffnung begnügt.
In Wirklichkeit ist der Sprecher mit geradezu sektie-
rerischer Hartnäckigkeit darauf aus, seine Vorstellungen
ZUM LEHRINHALT ΙΟΙ

durch ständige Wiederholung im Gedächtnis des Lesers zu


verankern. Um im Bilde zu bleiben: Bei jeder der vielen in
den Kanal eingebauten Kaskaden wird die Vorstellung von
einem vorzeitlichen idem und alterum neu eingespeist.
Man könnte auch von einem Spiralgang der Gedanken
sprechen. Sie winden sich empor und halten dabei den
Grundgedanken, Spirale für Spirale unter jedesmal erwei-
tertem Aspekt variiert, präsent.

Merkwürdigerweise lässt Piaton gegen alle Dialoggewohn-


heiten seinen Pythagoreer so gut wie ohne jeden Einwand
predigen. Was mochte ihn bewogen haben, einer nicht in
seiner Akademie entstandenen Lehre Gehör zu verschaf-
fen? Man kann sich das nur damit erklären, dass er, immer
schon zur Mathematik neigend, manches aus dem pytha-
goreischen Gedankengut durchaus schätzte und es in seine
Lehre weiter einzubeziehen bereit war.
In einer Zeit so lange nach der sog. sokratischen Wende,
die in der Abkehr von der vorsokratischen Kosmologie be-
stand, ist dieser Rückgriff erstaunlich. Der Timaios signa-
lisiere Piatons »entschlossene Hinwendung zur Kosmolo-
gie«, stellt A. Lesky fest. Dies wohl, aber eben nicht zur
»alten« Kosmologie der Milesier und ihrer Fortsetzer, son-
dern zu einer völlig neuen, sich einer Fachwissenschaft nä-
hernden: numerorum naturam vimque cognoscere (§ 31) war
das neue Programm, getragen von der trotzigen Gewiss-
heit: ac tarnen illud perspici et intellegi potest - früher Vor-
bote einer Mythologie-Dämmerung.

Noch erstaunlicher ist dieses Gewährenlassen freilich bei


Cicero, der doch ausdrücklich vorhat, contra physicos zu
schreiben, und sogar die Methode nennt, nach der er dabei
vorgehen will (Cameadeo more). Im erhalten gebliebenen
102 EINFÜHRUNG

Text findet sich allenfalls eine Spur von karneadeischer


Skepsis in io: si modo investigan aliquid coniectura potest.

Zum Zeitprofil

Jeder Autor kann nur linear erzählen. Das gilt erst recht,
wenn es um die opistophetische Aufklärung von Vorgän-
gen geht, die vor dem Auftreten von (geschichtsschreiben-
den) Menschen liegen. Durch die im Timaios/Timaeus ent-
wickelte kühne Vorstellung, der Schöpfergott habe die Zeit
zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen, entsteht eine
ante-/post-Gliederung des Schöpfungsprozesses.

ante:
- Vor aller Zeit ist die Gottheit (deus, qui erat); sie >ist<
ewig nicht nur im Sinne des Fehlens eines Endes, son-
dern auch eines Anfangs.
- Im gleichen Sinne ewig ist das Gegensatzpaar idem und
alterum, wovon das eine die ewige Identität (mit sich
selbst), das andere die Nicht-Identität (also die dauernde
Veränderlichkeit) bedeutet.
- Hinzu kommen die Zahlen, die als Ideen zu verstehen
sind, und das exemplum!'exemplar als die Idee, der die
Schöpfergottheit folgt (imitatur).
- Ewig (im Sinne von ohne Anfang) ist schließlich auch
die Materie, d. h. das die vier Elemente in sich bergende
Chaos.

post:
- Die Tätigkeit des Demiurgos setzt ein mit dem Ordnen
des Chaos - sie hat das Ziel, einen Weltkörper zu schaf-
fen - und mit der Erzeugung der Weltseele.
ZUM LEHRINHALT 103

Die literarische F o r m u n g kann diese Vorgänge n u r als


zeitlich fortschreitendes Geschehen darstellen. Z w a r
weist der Sprecher ausdrücklich auf diese Zwangslage
hin, doch nennt er keine Alternative, die z.B. in schlag-
artiger Gleichzeitigkeit bestehen könnte. So wird das
Schöpfungsgeschehen (mit nahezu 200 meistens im Per-
fekt, in Ii Fällen merkwürdigerweise im Imperfekt ver-
wendeten Verben oft sehr anthropomorphistischer Pro-
venienz) in sorgfältig überlegte Einzelschritte gegliedert.

[Imperfekta: iungebat 13; explebat 23; locabat 23; copuUbat 26; faciebat 26;
substernebat 26; faciebat 35; aequabat 42; permiscebat42; sumebat 26; serebat
46.]

- Die Schaffung der Zeit ist identisch mit der Ingangset-


zung der Planetenläufe: D e r Begriff >Zeit< kann freilich
erst von d e m M o m e n t an Sinn gewinnen, in d e m die
Zeit von einem lebenden Wesen, insbesondere v o m
Menschen w a h r g e n o m m e n wird.
- Die Erschaffung solcher animantia erfolgt jedoch erst
danach. D e r Schöpfergott überträgt sie den di iuniores,
also den traditionellen olympischen Göttern, die, unter
Zusicherung ihres Weiterexistierens zu keineswegs ewi-
gen D ä m o n e n herabgestuft, sich u m das Schicksal der
Menschen zu k ü m m e r n haben, w o m i t die Ethik aus der
Kosmologie hergeleitet wird.

Pythagoreische Zahlenlehre

Für die Pythagoreer ist die Zahl so etwas wie die ά ρ χ ή


( ο ΰ τ ο ι τ ό ν ά ρ ι θ μ ό ν ν ο μ ί ζ ο ν τ ε ς ά ρ χ ή ν ε ί ν α ι [VS 45 Β 5
= Aristoteles, Metaph. Α 5.986a i j ] , nach der die frühesten
Vorsokratiker geforscht haben. Geradezu als heilig galt
104 EINFÜHRUNG

den Pythagoreern die sog. Tetraktys (auch Tetrás), d.h. die


Grundzahlen ι bis 4, aber auch deren Summe 10.

Aus diesen Zahlen werden (ganzzahlige) Verhältnisse ge-


bildet, die sich in den Tonintervallen finden lassen. So ent-
spricht z . B . die Quint dem Zahlenverhältnis 3:2 oder die
Quart dem von 4:3, der Ganzton 9:8, die Oktave 2:1 usw.
bis hin zum Verhältnis 256:243 für das >Leimma<, mit dem
man in den Problembereich des »Wohltemperierten Kla-
viers« vorstößt. Diese Werte wurden durch Messen der
Saitenlängen von Musikinstrumenten gewonnen bzw. be-
stätigt.

Die entscheidende Leistung der Pythagoreer bestand nun


darin, dass sie diese Intervalle auf die Berechnung von
Planetenbahnen anwandten. Dieser Gedanke lebte bis
zum Beginn der Neuzeit fort: Kepler (f 1630) war inso-
weit noch >Pythagoreer<. Hinderlich war das Beharren
auf dem geozentrischen Weltbild, in dem Sonne und
Mond den Status von Planeten haben, während die Erde
feststeht. O b Piaton von der Möglichkeit, die Dinge he-
liozentrisch zu sehen, wusste, ist fraglich. Wirklich belegt
ist der Gedanke jedenfalls erst für Aristarch aus Samos
(3. Jh. v. Chr.); durchgesetzt hatte er sich erst mit Koper-
nikus ( t 1543)· Im Timaios werden die Abstände der Pla-
neten von der im Mittelpunkt des Alls stehenden Erde als
Intervalle im oben dargestellten Sinne verstanden. Dabei
ist von >Harmonie<, nicht aber von der >Brudersphären
Wettgesang< die Rede.
ZUM LEHRINHALT IOJ

Proportion und Harmonie

Im mathematischen Zusammenhang sind im Timaios zwei


Begriffe von Bedeutung: die soeben erwähnte Harmonie
und die Analogie. Sie garantieren den Zusammenhalt des
pythagoreischen Alls und sein inneres Zusammenwirken.

Das griechische Wort ά ν α λ ο γ ί α übersetzt Cicero mit pro-


portio bzw. comparatio (§ 13); Dieser Begriff wird zur Er-
klärung des Mischungsverhältnisses der vier Elemente bei
der Konstruktion des Weltkörpers eingeführt. Zur Her-
stellung von Ordnung im regellos wogenden Chaos fügt
der Weltenschöpfer zuerst Erde und Feuer zusammen.
Hierunter sind die Prinzipien des Festen, Trockenen und
des Leuchtenden, Wärmenden zu verstehen.
Nach der Vorstellung des Timaios bedarf man zum Zu-
sammenfügen von zwei Materien eines Dritten (omnia an-
ient duo ad cohaerendum tertium aliquid anquirunt et quasi
nodum vinculumque desiderant). Dieses quasi vinculum ist
jedoch nicht materieller Art; es besteht vielmehr im richti-
gen Mischungsverhältnis, eben in der ά ν α λ ο γ ί α . Auf diese
Weise entsteht letzlich die angestrebte Einheit (efficitur, ut
omnia sint unum).
Was für die Herstellung von Zweidimensionalität gilt,
gilt auch beim Aufbau der dritten Dimension (crassitudo
bzw. soliditas), nur sind hierbei immer zwei vincula vonnö-
ten (sed cum ... solida ... omnia uno medio numquam, duo-
bus semper copulentur, ita contigit, ut ...). Hierbei ergibt
sich das richtige Mischungsverhältnis wiederum nach dem
Prinzip der proportio. Das angestrebte Ergebnis besteht in
der Unauflöslichkeit der so entstandenen Mischung (... ita
apte cohaeret, ut dissolvi nullo modo queat nisi ab eodem, a
quo est conligatus).
io 6 EINFÜHRUNG

Das griechische Wort α ρ μ ο ν ί α übersetzt Cicero (§ 27) mit


concentio. Sie kommt ausschließlich der Weltseele zu:
»Der Weltkörper ist sichtbar gestaltet; die Weltseele hinge-
gen entzieht sich der Wahrnehmung durch das Auge. Ein-
zig sie ist der Vernunft und der Harmonie (concentio, wel-
che die Griechen α ρ μ ο ν ί α nennen) der ewigen und unter
das Erkenntnisvermögen fallenden Dinge vollkommen
mächtig. Sie ist das Beste von allem, was die überragende
Schöpfergottheit hervorgebracht hat.« Die Erklärung hier-
für liegt darin, dass die Weltseele aus den beiden Grund-
prinzipien eadem alteraque natura unter Beischluss von
Materie {ex eadem iunctus alteraque natura, adiuncta mate-
ria) zusammengefügt ist, wobei ihre drei Bestandteile in
proportionaler Mischung verfugt sind (temperatione trium
partium proportione compacta).
Das pythagoreische Weltall ist als intelligentes Lebewe-
sen konzipiert. Es ist in allen seinen Teilen nach im weite-
sten Sinn mathematischen Gesetzen konstruiert, die dem
Ganzen Harmonie garantieren. Dies entspricht einem
Grundanliegen Piatons, das seit seinem Phaidon (85e 4-5,
92b 8 [Lyra/Harmonie] 92e 3, 94b 1 [Seele/Harmonie])
immer wieder anklingt.

Musiktheorie

Wenn man von der frühen Musik zur Zeit der homerischen
Sänger und der frühen Lyrik absieht, kann man folgende
Entwicklungsstufen annehmen, die getragen werden

- von den Atomisten, v.a. von Demokrit aus Abdera


(gest. um 370 v. Chr.),
- von den Pythagoreern, v. a.
Hippasos aus Metapont ($. Jh. v. Chr.),
Z U M LEHRINHALT 107

Philolaos aus Kroton (5-/4. Jh. v. Chr.) und


Archytas aus Tarent (4. Jh. v.Chr.,
- sodann von Piaton aus Athen (428/427-348/347), v.a. in
seinem Timaios,
- schließlich von dem an den Pythagoreern interessierten
Peripatetiker Aristoxenos aus Tarent (354-300).

Nach der atomistischen Auffassung des D e m o k r i t sind


die Töne in Analogie zu Atomen vorzustellen. Die An-
nahme, die Oktave bestehe aus 72 gleichen Kleininterval-
len, stimmt aber nicht zur musikalischen Realität; denn
wenn man die Oktave arithmetisch in zwei Hälften teilt,
fällt die Mitte auf keinen Ton, der mit den anderen Tönen
konsonant ist.

Die P y t h a g o r e e r experimentierten zunächst mit dem


sog. Monochord, einer Vorrichtung mit einer über einen
beweglichen Steg gespannten Saite. Aus den Ergebnissen
ihrer Messungen entwickelten sie ein mit ihrer Zahlen-
theorie vereinbares harmonisches System, das auf einer Te-
traktys beruht.

Unter τ ε τ ρ α κ τ ύ ς ist die Summe der ersten vier Grundzahlen zu verstehen


(1 + 2 + 3 + 4 = 10); aber auch die vier Proportionalterms (6 : 8 : 9 : 1 0 ) , die
den musikalischen Hauptintervallen entsprechen, werden als τ ε τ ρ α κ τ ύ ς
bezeichnet (Plutarch 2.381 f.)

1
2 . .

3 . . .
4 . . . .

[Nach K . Freeman, The Pre-Socratic Philosophers. A Companion to


Diels, Fragmente der Vorsokratiker. O x f o r d Ί959, S. 224, A n m . a.]
ιο8 EINFÜHRUNG

Ein anderes pythagoreisches Modell ordnet die Grundzah-


len und ihre Potenzen in Form eines Lambda (Λ) an:

1 = 1
2 3 2 3
4 9 32
8 27 23 33

Ihrer Bestimmung der Intervalle zwischen den Tönen leg-


ten die Pythagoreer zunächst das Tetrachord (τετράχορ-
δον) zugrunde, d. h. eine Abfolge von vier Tönen, deren
beide äußeren zueinander im Verhältnis einer Quart (4 : 3)
stehen. Die zwei dazwischenliegenden Töne wurden durch
variable Intervalle - in moderner Notenschrift ggf. durch f
oder \> gekennzeichnet - definiert.

Der Pythagoreer A r c h y t a s aus Tarent entwickelte eine


Proportionslehre, die er auf die Musiktheorie anwandte,
und daraus eine Harmonielehre, die in die Berechnung der
Ton-Intervalle mündete. Beides findet man im Timaios an-
gesprochen. Archytas soll bei seinen Berechnungen der
Uberlieferung zufolge von Schnelligkeit des Schalls ausge-
gangen sein, während die übrigen sich mit der Abhängig-
keit der Tonhöhe von der Länge einer Saite befassten.

Einblick in das Denken des Archytas gibt folgende Tabelle


der Intervallverhältnisse (VS 47 A 16, bei Ptolem., Harm.
I, 13 p. 30,9 D.) (Man rechnete die Tonintervalle immer
vom höheren Ton zu niedrigeren, also z . B . von E zu F in
allen drei Tongeschlechtern 28 : 27):
ZUM LEHRINHALT 109

enharmonisch chromatisch diatonisch

A 1512 1512 1512


1 5:: 4 ]1 32 : : 27 ]1 9:8
G 1890 1792 1701
j1 )6 : 35 I1 243 :1224 ]1 8: 7
F 1944 1944 1944
1ι 28 ••27 ]1 28 : 27 ]1 28:27
E 2016 2016 2016

(Die neben den Intervallen angegebenen vierstelligen Zahlen ergeben sich


durch Multiplikationen bzw. Divisionen; z . B . 1890 : 1 5 1 2 = 1,25 = 1890 χ
y6 = 68040, 68040 : 35 = 1944·)

Rechenmodus !/4 χ % χ % =% % χ UJ / !24 χ % =% \ χ% χ% = %

Man erkennt hierin das Tetrachord: Das Intervall zwischen


A und E ist immer 2016 : 1512 (= 4 : 3), also die Quart. Je
nach Gestaltung der Intervalle G zu F und F zu E ergibt
sich das enharmonische, das chromatische oder das diato-
nische Tongeschlecht.
Das dargestellte Beispiel stellt einen relativ unkompli-
zierten Fall vor. Es gibt aber nicht nur die schon genannten
drei Tongeschlechter (enharmonisch, chromatisch, diato-
nisch), sondern auch drei Tonarten (dorisch, phrygisch,
lydisch) mit Untertonarten (z.B. äolisch), die mit dem In-
tervall ! % j nicht auskommen, also nach noch kleineren In-
tervallen verlangen:

Ρ h i 1 o 1 a o s bezog die Oktave ein; sie ergibt sich aus zwei


durch einen Ganzton getrennten Tetrachorde (διεζευγμένα:
e' d' c' h II a g f e. Das Pendant (συνημμένον) wäre ein
gemeinsamer Ton: d ' c ' h' a g f e)
no EINFÜHRUNG

Über die Theorie des Philolaos sind wir verhältnismäßig


gut unterrichtet (VS 44 Β 6,i6ff.):
»Die Größe der Harmonie (Oktave 1 : 2) umfaßt die
Quarte (j : 4) und Quinte (2 : j). Die Quinte ist aber um
einen Ganzton (8 ; 9) größer als die Quarte. Denn von der
Hypate (E) bis zur Mese (A) ist eine Quarte, von der Mese
zur Nete (E) eine Quinte, von der Nete zur Trite (Η, spä-
ter Paramese) eine Quarte, von der Trite (Η) zur Hypate
(E) eine Quinte. Zwischen Trite (Η) und Mese (v4) liegt ein
Ganzton. Die Quarte aber hat das Verhältnis 3 : 4, die
Quinte 2 : 3 .
So besteht (nach ihm)
- die Oktave aus fünf Ganztönen und zwei Halbtönen
(πέντε έπόγδοα και δΰο διέσιες), [j χ % + 2 χ 25<;/24,]
- die Quinte aus drei Ganztönen und einem Halbton
(τρία έπόγδοα και δίεσις), [3 χ \ + 2'6/24}]
- die Quarte aus zwei Ganztönen und einem Halbton
(δύ' έπόγδοα και δίεσις).« [2 χ \ + 1ί6/Η}]
[Übers. Η. Diels/W. Kranz]

Alle Töne werden sodann durch Kombination der >Urzah-


len< konstruiert,
- so der »Ganzton« (τόνος) q : 8
als Differenz Quart - Quint, [Rechenmodus
X •.% = %}
- der »kleine Halbton« (δίεσις) i<¡6 : 243
als Differenz Quart - 2 Ganztöne. [Rechenmodus

%: - *%J.
- Die Zahl 27 schließlich gibt das Verhältnis 27 : 1 als
Summe von 4 Oktaven und 1 großen Sext an und damit
den Umfang aller Töne vom tiefsten bis zum höchsten
überhaupt hörbaren (vom großen G bis zum e'").
[Nach E. Frank, S. 163ff.]
ZUM LEHRINHALT III

A n einem Tonbeispiel kann man sich die Struktur der O k -


tave wie folgt vorstellen:

a' - g ' - f ' - e ' - d ' - c - h - a

9 χ 9 * 256 * 9 * 9 χ 9 * 256
8 χ 8 χ 243 χ 8 χ 8 χ 8 χ 243

% Χ χ = ν,

(Quart) (Quint) (Oktave)

Teilung des Ganztons anhand eines Tonbeispiels:


F bis G I 1 Ganzton (27)
F bis Fis I 1 Leimma (13) = Diesis 256 : 243
Fis bis G I 1 Apotome (14) 2187 : 2048
Fis bis Fis* |-| Komma ( ι)
Fis* bis G I 1 Leimma (13) s . o .

Der Unterschied zwischen großem und kleinem Halbton


heißt >Komma<, dessen Hälfte >Schisma<.
Diese Unterteilungen finden sich bei Boethius, Inst. Mus.
III 5 p. 276,ij Friedl. (= V S 44 A 26) und Inst. Mus. III 8
p. 278,11 Friedl. (= V S 44 Β 6, S. 410,4-10). Bei Platon/Ci-
cero spielen sie keine Rolle.

Hinter all diesen Konstruktionen steht der Wille des Py-


thagoreer, das Axiom der ganzzahligen Verhältnisse gegen
den Einbruch irrationaler Zahlen abzuschotten: die apolli-
nische Kithara im Streit mit der dionysischen Flöte (Aulos).

Ρ1 a t ο η hatte die pythagoreische Musiktheorie bei seinen


Aufenthalten in Unteritalien und Sizilien kennengelernt.
Er bezog sie in sein System ein, zielte dabei jedoch nicht
auf die musikalische Praxis, sondern auf das mathemati-
112 EINFÜHRUNG

sehe Problem der Teilung einer absoluten, nicht auf be-


stimmte Töne festgelegten diatonischen Oktave. Dass die
arithmetische Teilung, bei der zwei gleiche Intervalle ent-
stünden, einen Irrweg darstellte, war bekannt. Bei der har-
monischen Teilung der Oktave entstehen zwei ungleiche
Intervalle, nämlich die Quart (4 : 3) und die Quint (3 : 2).
Die ihnen entsprechenden Töne sind >konsonant<. In sei-
nem Timaios referiert Piaton die Zahlenverhältnisse der
Hauptkonsonanzen :

Oktave 1 :2 (Diapason - δ ι α π α σ ώ ν )
Quint 3:2 (Diapente - διαπέντε)
Quart 4 :3 (Diatessaron - διά τεσσάρων)

N u r diese Konsonanzen galten ihm als wahre Konsonan-


zen; sie erfüllten die Bedingungen eines von Timaios po-
stulierten Gesetzes, nach dem sie entweder »vielfache«
Verhältnisse (d.h. der Zähler ist ein Vielfaches des Nen-
ners) darzustellen hatten oder »überteilige« (d. h. der Zäh-
ler ist um ι größer als der Nenner).
Die Terz (5 : 4) wurde (gegen Archytas bis hin zu Ptole-
maios, Harm., p. 13,25 D.) nicht als konsonant anerkannt,
wohl weil die 5 nicht ins Lambda-Modell passt.

In den Rang einer Wissenschaft wurde die Beschäftigung


mit den verschiedenen Musiktheorien durch den Aristote-
lesschüler A r i s t o x e n o s aus Tarent erhoben. Von seinen
angeblich 453 Schriften ist in dieser Hinsicht das wichtigste
die »Harmonik < ( ' Α ρ μ ο ν ι κ ά στοιχεία).
B o e t h i u s (480-524) wurde zum Vermittler für das
westliche Mittelalter. Leider ist sein Werk De musica nicht
vollständig erhalten geblieben.
ZUM LEHRINHALT "3

Astronomie

Die Anfänge der abendländischen Astronomie liegen au-


ßerhalb der Grenzen Europas, in Ägypten und in Babylon.

Die Astronomie Ä g y p t e n s regelt unseren Alltag bis


heute, denn bis heute gilt im Prinzip das ägyptische Son-
nenjahr, wie es von C . Iulius Caesar 46 v.Chr. für Rom
eingeführt und durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582
nachgebessert wurde.
Man nimmt an, dass die Ägypter, die ihre durch die jähr-
lichen Nilüberschwemmungen verwüsteten Felder immer
wieder neu vermessen mussten, ein dem sog. pythagorei-
schen Lehrsatz zumindest nahekommendes Verfahren ent-
wickelt haben, also mit rechtwinkligen Dreiecken umzu-
gehen wussten.

Die B a b y l o n i e r haben, wie zahlreiche Funde von Keil-


schrift-Tontafeln beweisen, seit dem 8. Jahrhundert v. Chr.
sehr gewissenhaft Sterndaten gesammelt und auf Listen fest-
gehalten, nicht zuletzt, um Mond- und Sonnenfinsternisse
vorhersagen zu können. Man nimmt an, dass die Herr-
scherhäuser Interesse an der Pflege solcher (Geheim-)
Kenntnisse hatten, um den ungebildeten Untertanen ihre
nahe Verbindung zu den Göttern beweisen zu können. Ba-
bylonischer Ursprung wird jedenfalls für die 36o°-Einteilung
des Himmels samt der Gliederung in 12 Tierkreiszeichen,
die die Konstruktion des gleichseitigen Dreiecks voraus-
setzt, angenommen. Auch die Ekliptik als vom Äquator ab-
weichende Bahn der Sonne war den Babyloniern bekannt.

In keinem der beiden Kulturkreise kam es jedoch zur Ent-


wicklung eines Weltbildes, in dem die Erde im Mittelpunkt
114 EINFÜHRUNG

eines sphärisch kreisenden Himmels stand. (Nach J. Teich-


mann)

Eine völlig neue Sicht der Dinge entwickelte sich, als bei den
G r i e c h e n die ersten Naturphilosophen auftraten. Wenn
man das mythische Weltbild der Homerischen Epen (um
750 v. Chr.) - die Erde eine vom Ozean umflossene Scheibe -
mit dem Weltbild A n a x i m a n d e r s (um 570 v.Chr.; 12 A
Ii.12) vergleicht - er ließ die Erde bereits frei schweben, auch
die Konstruktion einer σφαίρα traute man ihm zu - , ahnt
man das Ausmaß des Erkenntniszuwachses. Dazu trug
nicht zuletzt die Kolonisationstätigkeit der kleinasiatischen
Griechenstädte mit ihren vielen Verbindungen über den ge-
samten Mittelmeerraum hin, darunter auch nach Ägypten
und in den Nahen Osten, viel bei.

Mit A r i s t o t e l e s aus Stageira (384-322 v.Chr.) und sei-


ner peripatetischen Schule entstand ein gänzlich neues
Weltbild, um dessen wissenschaftlichen Ausbau sich insbe-
sondere E u d o x o s aus Knidos (391-337 v.Chr.) verdient
gemacht hat. Er gilt manchen als größter aller Mathemati-
ker überhaupt.

Zwischen den sog. Vorsokratikern und dem Peripatos liegt


die Entstehung der Akademie als Wirkungsstätte P l a -
t o n s (426/427-348/347). Als eines seiner Spätwerke ist
dort (nach 360 v. Chr.) der Dialog Timaios entstanden. Pia-
ton hat dieses Werk nach einem Pythagoreer, Timaios aus
Lokroi, benannt, und in der Tat hat Piaton damit wichtige
Elemente der pythagoreischen Lehre in sein philosophi-
sches Denken integriert.
Die Bereitschaft dazu rührt von seiner Begegnung mit
dem Pythagoreer A r c h y t a s aus Tarent (4. Jh. v.Chr.)
ZUM LEHRINHALT "5

her. Ihn hatte er bei seinen Reisen nach Sizilien näher ken-
nengelernt, und ihm verdankte er auch seine Rettung, als
er mit Dionysios II., dem Tyrannen von Syrakus, in Kon-
flikt geraten war.
Piatons Interesse gehörte nun nicht der Musik als sol-
cher, sondern den mathematischen Teilungsverhältnissen,
also gewissermaßen einer absoluten, abstrakten Musik.
Dies führte ihn dazu, die musikalischen Intervalle in die
Astronomie zu übertragen und zur Vorstellung einer
»Sphärenharmonie« auszubauen. Die sieben Planeten ent-
sprechen den sieben Tönen der Tonleiter. Wie deren Inter-
valle verhalten sich auch die Abstände der Planetenbahnen
voneinander, und in ihren kreisenden Umschwüngen voll-
führen sie eine Himmelsmusik, die der Mensch nur des-
halb nicht wahrnimmt, weil er von Geburt an an sie ge-
wöhnt ist.
Natürlich erschöpft sich Piatons Astronomie nicht in
dieser Theorie. Er hat eine genaue Vorstellung von der Un-
endlichkeit des kugelförmig gedachten Weltalls; dessen
Radius unendlich ist: Es gibt nichts außerhalb des Alls. Im
Zentrum des Alls liegt die Erde, die äußerste Kugelschale
bildet der Fixsternhimmel. Im Raum zwischen der Erde
und dem Fixsternhimmel bewegen sich die sieben Planeten
(zu ihnen zählt auch die Sonne) auf Kreisbahnen, die sich
berechnen lassen; sie drehen sich zugleich um sich selbst,
wie auch die Erde.
Neben dieser Vorstellung vom Raum spielt im Timaios
die Definition des Begriffes >Zeit< eine wichtige Rolle. Die
Zeit ist mit der Schaffung des Alls, genauer: mit dem In-
gangsetzen der Planetenumläufe, entstanden. Sonne und
Mond liefern in ihrem regelmäßigen, also mit konstanter
Geschwindigkeit sich vollziehenden Gang die Zeiteinhei-
ten Tag, Monat, Jahr und Großes Jahr (etwa 26000 Son-
né EINFÜHRUNG

nenjahre, in denen der Pol des Himmelsäquators einen


Umlauf um den Pol der Ekliptik ausführt).

Die pythagoreische Interpretation formiert damals allge-


mein bekannte Tatsachen neu, indem sie die Phänomene
ihrer Zahlentheorie unterordnet. Dies ist Gegenstand des
Dialogs Timaios.

Z U M LEHRINHALT: B. SCHÖPFUNGSPROZESS

Das Weltall ist nicht immer gewesen und nicht ewig, son-
dern in einem bestimmten Augenblick geschaffen und da-
her (von seinem Schöpfer) auch wieder zerstörbar.

Die Schöpfergottheit

Die Gottheit, die das All erschaffen wird, ist als personaler
Gott gedacht. Diese Vorstellung ist monotheistisch; sie un-
terscheidet sich aber von der des Xenophanes (VS 21Β 24),
der von seinem Gott sagt: ούλος όρα, ούλος νοεί, ούλος
δέ τ' ακούει, deutlich durch seine geradezu handwerk-
lichen Tätigkeiten.

D i e Ü b e r s e t z u n g v e r w e n d e t verschiedentlich das W o r t » G o t t h e i t « z u m
einen, u m die U n t e r s c h e i d u n g v o n d e n di mniores z u gewährleisten, z u m
andern u m d e n E i n d r u c k z u vermeiden, Piatons G o t t sei mit d e m bibli-
schen b z w . christlichen identisch. D i e d e m G r i e c h i s c h e n entsprechende
W i e d e r g a b e mit »der G o t t « w ü r d e nicht recht z u m deutschen Sprachge-
brauch stimmen.

B e z e i c h n u n g e n der G o t t h e i t :
deus passim (15x)
deus is, qui erat 20
ZUM LEHRINHALT n7

deus Ule aeternus 21


ille (haec ille dixit) 42

Eigenschaften der Gottheit:


optimus: quo nihil ab optimo et prestantissimo genitore melius pro-
creatum. 27 - qui esset optimus 10
praestans: neque quicquam eius aedificatore praestantius 07
praestantissimus: quo nihil ab optimo et prestantissimo genitore melius
procreatum 27
probitas: probitate videlicet praestabat 09
probus: si probus eius artifex 06. - probus ... invidet nemini 09
providens: hunc mundum ... esse ... divina Providentia constitutum 09

Vor der Schöpfung

ι. Vor dem Schöpfungsakt, also vor der Entstehung dieser


Welt existieren:
1.1 die Gottheit
1.2 das ewige und unbewegte Sein der Ideen (Idealzah-
len, Tetraktys); daraus ableitbar die Vorstellung des
>Identischen< und des >Anderen< (Einheit vs. wan-
delbare Vielheit). - Anschluss an Parmenides
1.3 der ewige und unbewegte, aber >nichtseiende< leere
Raum, als Stätte des >Werdens<. - Anschluss an He-
raklit
1.4 die ewige, aber nie >seiende<, sondern stets >wer-
dende< Materie, (auch in Form der vier Elemente). -
Anschluss an Empedokles;
sie füllt den Raum in regelloser Bewegung; es gibt
nur mechanische Bewegungen durch Stoßen bzw.
Gestoßenwerden.
π8 EINFÜHRUNG

Schöpfungsakte

ζ. Erster Schöpfungsakt: Weltkörper (§§ 9-21)


2.1 Die Gottheit als Weltenschöpfer (Demiurg)
2.2 schafft den Weltkörper im Hinblick auf die ewigen,
überräumlichen I d e e n .
2.3 Der Weltkörper ist strukturierte, aber tote (anorga-
nische) M a t e r i e ;
2.4 Im R a u m gibt es nur nach Maß und Zahl geregelte
Bewegungen.
2.5 Außerhalb des Alls existiert nichts.

Funktionen der Schöpfergottheit:

aedificator: eius mundi aedificatorem 07


artifex: si probus eius artifex 06
effector: effector mundi et molitor deus 17. - quorum ego parens effec-
torque sum. 40. - imitantes genitorem et effectorem sui 47
fabricator: ille fabricator huius tanti operis 06
genitor: quo nihil est ab optimo et praestantissimo genitore melius pro-
creatum 27. - imitantes genitorem et effectorem sui 47
molitor: effector mundi et molitor deus 17
parens: ilium ... quasi parentem huius universitatis 06. - quorum
operum ego parens effectorque sum 40
procreator: ille procreator mundi deus 26
ille, qui ista iunxit et condidit 18
is deus, qui omnia genuit 40. - is, qui cuncta composuit 47

3. Zweiter Schöpfungsakt: Weltseele (§§ 21-28)


3.1 Die Gottheit erschafft die Weltseele,
die sich als Prinzip des Lebens selbst zu bewegen
vermag.
3.2 Sie formt das Identische, das Wandelbare und die
Materie gewaltsam (vi) zu einer Einheit (§§ 21.22).
3.3 Das All wird so zu einem organischen Körper, zu
ZUM LEHRINHALT 119

e i n e m intelligenten L e b e w e s e n g e f o r m t , das K u g e l -
gestalt hat.
3.4 E s b e g i n n t d e r K r e i s l a u f >des I d e n t i s c h e n < , d i e I d e e
der Einheit, des identischen D e n k e n s ( ν ο υ ς ) , d . h .
der Vernunft bzw. der Fixsternkugel,
u n d d e r K r e i s l a u f >des ( n i c h t i d e n t i s c h e n ) A n d e r e n < ,
der Vielheit, d . h . der richtigen Vorstellung (δόξα
ά λ η θ ή ς ) b z w . der Planetenbahnen.

Ziele des Schöpfungsaktes:

absolutum: et quod ex omni parte absolutissimum est 12. -


effecit ... perfectum atque absolutum ex absolutis et perfectis 20. -
imperfecto autem nec absoluto simile pulchrum esse nihil potest π . -
ut hic mundus esset animanti absoluto simillimus ... 12.
optimum: optimi speciem, quoad fieri potuit, efficit 50
perfectum: effecit ... perfectum atque absolutum ex absolutis
et perfectis 20. - ut mundus posset ex perfectis partibus esse perfec-
tus 16.
praeclarum opus efficere 04
pulchritudo: pulchritudinem consequi 04
pulchrum: fas nec est nec umquam fuit quicquam nisi pulcherrimum
facere ei, qui esset optumus 10. - inperfecto autem nec absoluto
simile pulchrum esse nihil potest 11. - quod pulcherrimum in
rerum natura intellegi potest et quod ex omni parte absolutissimum
est 12

W e s e n der Seele

»Die Seele ist ein Mischprodukt aus Körper- und Ideensein und steht
daher zwischen beiden (Piaton, Tim. 35a, Phaidr. 246a etc.): In der Seele
wird das der Einheit Widerstrebende, ewig bewegte und teilbare Sein
der Körperlichkeit (d.h. des Raumes) unter die Einheit der unteilbaren
Idee gezwungen und gerade dadurch zur >Harmonie< gebracht (Piaton,
Tim. 35b). Als Einheit von Identität und Differenz ist die Seele ihrem
Wesen nach auch Selbstbewegung, aber als bewegt kann sie ihre Exi-
stenz doch nur im R a u m haben (Piaton, Leg. 893c): >Nicht im Raum
120 EINFÜHRUNG

sind eben nur die Ideen und Zahlen« (Aristoteles, Phys. 209b 34ft·., vgl.
Piaton, Phaidr. 247c).« (E. Frank, o . O . , S. 101, A n m . 274)

Kosmos-Vokabular

alter - idem - omnis - similis - solus - totus - universusm - universitas

Das grundlegende Begriffspaar idem - alterum ( τ α ύ τ ό - θ ά τ ε ρ ο ν ) begeg-


net zuerst in Piatons Phaidon, also einem Werk aus Piatons erster Schaf-
fensperiode, im Gespräch des Sokrates mit den Pythagoreern Simmias und
Kebes ( z . B . 78c 1 - 9 in Verbindung mit dem Gegensatzpaar σ ύ ν θ ε τ ο ν -
άσύν&ετον).

ALTER

adjektivisch:
28 orbis illius g e n e r i s a l t e r i u s inmutatus et rectus omnia animo men-
tique denuntiat
aïs Genitivtribut zu natura:
22 ea cum tria sumpsisset, unam in speciem temperavit, n a t u r a m que il-
lam, quam a l t e r i u s diximus ...
29 ... a l t e r i u s natura converter«, ut terram lunae cursus proxime
ambiret (Konjektur)

IDEM

adjektivisch:
attributiv z u natura:
30 motu unius e i u s d e m q u e n a t u r a e velocissime movebantur
prädikativ bei esse, manere:
03 quod unum atque i d e m s e m p e r est ...
04 earn speciem, quae s e m p e r eadem est
27 eadem distinctio sit inter ea, quae gignumtur, et ea, quae s i η t sem-
per eadem
28 ratio autem vera, quae versatur in iis, quae s u n t s e m p e r e a d e m , et
in iis, quae mutantur
Z U M LEHRINHALT 121

28 cum autem in illis rebus vertitur, quae, m a n e n t e s semper ea-


d e m , non sensu, sed intellegentia continentur
42 non ita incorrupta ut ea, quae s e m p e r í d e m , sed ...

substantiviert:
24 eoque motu, cuius orbis s e m p e r i n e o d e m e r a t eodemque modo
ciebatur, undique est eas circumplexus
25 eamque, quae e r a t e i u s d e m , detorsit a latere in dexteram partem
28 cum ( i n ) e o d e m et in altero m ο ν e t u r ipsa per sese sine voce et sine
ullo sono
36 duo genera motus, unum quod esset i n e o d e m quodque et idem is-
dem de rebus atque uno modo cogitaret
41 teneat autem oportebit, ut e x e o d e m ne quid absit

in Verbindung mir similis, unus:


attributiv:
30 motu u n i u s e i u s d e m q u e naturae, quae velocissime movebantur
33 eos permensus est i d e m et s e m p e r s u i s i m i l i s Orbis
substantiviert:
06 idne, quod s e m p e r u n u m i d e m e t s u i s i m i l e , an id, quod ge-
neratum ...
31 ab e i u s d e m motu et eius, quod s i m i l e est
36 alterum quod in anticam partem a conversione e i u s d e m e t similis
pelleretur
45 conversionem, quam habebit in se ipse e i u s d e m e t s i m i l i s inna-
tam

IDEM - ALTERUM

adjektivisch:
attributiv zu natura:
21 tertium materiae genus ex duobus in medium admiscuit, quod esset
eiusdem n a t u r a e et quod a l t e r i u s
25 amplexus orbem, illum e i u s d e m n a t u r a e , hunc a l t e r i u s notavit
27 quippe qui e χ e a d e m iunctus a l t e r a q u e n a t u r a , adiuncta mate-
ria, temperatione trium partium
30 tunc ex a l t e r i u s n a t u r a e motione transversa in e i u s d e m na-
t u r a e motum incurrentia
122 EINFÜHRUNG

attributiv zu genus:
27 discernitque, quid sit e i u s d e m g e n e r i s , quid a l t e r i u s , mentique
denuntiat

substantiviert:
22 naturam illam, quam a 11 e r i u s diximus, vi cum e a d e m coniunxit
22 iam partes singulas e x e o d e m e t e x a l t e r o et ex materia temperavit
28 cum ( i n ) e o d e m e t i n a l t e r o movetur ipsa per sese sine voce et sine
ullo sono

omnis 03.04.05.09.09.11.11.11.11.11.12.12.12.13.14.15.16.16.17.17.17.17.17.17.17.
17.18.19.23.24.24.26.27.28.31.31.34.35.37.40.40.40.40.41.41.43.43.44.
46.50
similis 06.il.12.12.31.31.33.35.36.45
solivagus 20
solus 12.25
totus 03.10.17.17.18.20.22.23.32.43.48.52
unigena 12
unus 03.06.12.12.12.16.17.21.22.22.30.31.36.36.36
universitas 06.43.52
universum 14.16.35
universus 11.16.42

Erschaffung der Menschen (§§ 46-48)

4. Das All wäre unvollständig, also kein All, wenn es nicht


alles, also auch alle Lebewesen in sich schlösse.
4.1 In Entsprechung zu den vier Elementen sind vier
Arten von Lebewesen genannt:
genus divinum, pinnigerum, aquatile, terrestre
4.2 D e m Menschen ist eine Sonderstellung vorbehal-
ten. Jeder erhält bei seiner erstmaligen Geburt vom
Schöpfer die gleiche Startchance und jeder wird auf
die Beachtung ethischer Prinzipien verpflichtet.
4.4 Von aller weiteren Sorge um das Menschenge-
schlecht stellt der Schöpfer sich frei, indem er sie
ZUM LEHRINHALT

den >jüngeren< Göttern (das sind die zu Dämonen


herabgestuften, mit den Planeten gleichgesetzten
olympischen Göttern) überträgt.
4.5 Ihnen teilt der Schöpfergott den benötigten Seelen-
stoff zu, der freilich von minderer Qualität ist.

Das fertige Weltall

5.1 Das Weltall ist ein Unikat (§ 12),


5.2 ist ein intelligentes, vernunftbegabtes Lebewesen
(S 10).
5.3 ist ein Gott, freilich kein ewiger, sondern ein von
der Schöpfergottheit geschaffener (§§ 20.21),
5.4 ist ranghöher vorzustellen als die olympischen Göt-
ter, die, mit den Planeten identisch, für die Men-
schen verantwortlich sind (§§ 40.41.47).
5.5 Seine Hauptbewegung ist das Kreisen (§§ 19.26).

Intelligenz-Vokabular

Wiedergabe des Platonischen >Intelligenz<-Vokabulars durch


ratio - intellegentia - intellegere/ns - sapientia - prudentia - mens

ανόητος io inintellegens
άπόδειξις· 38 rationes certae
αποδείξεις άναγκαϊαι
άλογος 03.45 ratio: rationis expers
διάνοια Φεοΰ 29 mens divina
εμφρων 51 intellegens sapiensque
εννους 10 intellegens
επιστήμη 51 sapientia
κατανοεΐν 33 intellegere
λογισμός· 17 ratio: hanc habuit rationem
δια τόν λογισμόν τόνδε
λογισμός ίο intellegentia
124 EINFÜHRUNG

λ ο γ ι σ μ ο ύ μετέχων 27 rationis compos


λογιστικόν 28 intellegentia
λογίζεσθαι 10 rationem habere
λογίζεσθαι οΰ δυνάμενος 37 rationis expers
λόγος 50 intellegentia
λογός 03 ratio
λόγος αληθής 28 ratio vera
λ ό γ ο ς · έξ ου ν λ ό γ ο υ ... 29 ratione inventum
λόγος' λόγψ κρατήσας 4 j ratione depulerit
λόγος· λόγω περιληπτόν 07 ratio: quod ratione
comprehenditur
νόησις 03 intelligentia
νοητά 27 sub intellegentiam cadentia
νοητά il.12 ratio: qui ratione intelleguntur
νοούμενα 12 intellegere: quod intellegi potest
νους 51 intellegentia
νους 34 mens
νους- μετά ν ο υ 51 cum intellegentia efficientes
νους· νουν εχον 10 intellegens
ν ο υ ς · ν ο υ ν ο ύ δ έ ν α εχειν j o ratio: ratione carere
φρόνησι,ς 7.35 sapientia
φρόνησις· 51 prudentia vacantes
φρονήσεως μονοθεΐσαι

Keine wörtliche Entsprechung bei Piaton haben:

7 rationis exordium; Ii ratione et intellegentia comprehendi; 23 intellega-


tur; 40 ratione vinctum; 44 ratione regere; 51 cum intellegentia efficientes
ERLÄUTERUNGEN

ι
Libri Academici: Cicero hat dieses seit 46 ν. Chr. geplante
Werk zweimal umgeschrieben: Von den zwei Büchern der
ersten Fassung {Academicipriores, Mai/Juni 45 v.Chr.) ist
das 2. Buch mit dem Titel Lucullus erhalten geblieben, von
den vier Büchern der dritten Fassung {Academici posterio-
res, 23. bis 26. Juni 45 v.Chr.) der Anfang des 1. Buches
samt einigen Fragmenten der weiteren Bücher. Die Arbeit
am Timaeus scheint Cicero in unmittelbarem Anschluss an
die libri Academia aufgenommen zu haben. Außer der Er-
wähnung im ersten Satz des Timaeus gibt es allerdings kei-
nen zitierbaren Bezug zwischen den beiden Werken. - ge-
gen die Naturphilosophen (physici): Das Wort physicus
findet sich in den philosophischen Werken Ciceros 7omal -
abgesehen von einem Vorkommen in De re publica (5.5) - ,
ausschließlich in den Werken der Jahre 45 und 44 v. Chr.,
besonders dicht in den Libri Academici priores (2,115-128)
und De natura deorum (1,25-33). Der Kreis der in Ciceros
Kritik Einbezogenen ist nirgends genau definiert. Hier, im
Timaeus, ist Nigidius als »eifriger und sorgfältiger Erfor-
scher (investigator) der Dinge« bezeichnet, »die von der
Natur verhüllt zu sein scheinen«. Dem entspricht in De
natura deorum 1,83 ACT physicus - in der Übersetzung durch
O. Gigon - als »einer, der das Wesen der Natur zu erspä-
hen und einzufangen sucht« {speculator venatorque na-
turae). - Zweifellos zählen auch die Pythagoreer zu den
physici. Um so erstaunlicher ist es, dass Cicero in seinem
Timaeus (wie schon Piaton in seinem Timaios) den Pyth-
126 ERLÄUTERUNGEN

agoreer ausführlichst zu Wort kommen lässt und sich - je-


denfalls im vorliegenden Text - jedes kritischen Einwands
enthält.
P. Nigidius [Figulus]: geb. um 100 v. Chr., stammte aus ei-
ner plebeischen Familie, wurde Senator und erreichte das
Amt eines Praetors. Seine aktive Parteinahme für Pompeius
trug ihm die Verbannung ein, in der er 45 v. Chr. gestorben
ist. Bedeutender ist seine literarische Tätigkeit als Gramma-
tiker (Hinweise bei Sueton) und Naturforscher (φυσικός).
Man kennt von acht seiner Werke die Titel. Cicero, der mit
ihm befreundet war, bezeichnet ihn im vorliegenden Para-
graphen als Erneuerer der pythagoreischen Lehre. - einem
freien Mann angemessen: Gemeint sind die artes liberales, die
»Sieben freien Künste«. Zu ihnen zählen (als Trivium:)
Grammatik, Dialektik, Rhetorik; (als Quadrivium:) Arith-
metik, Geometrie, Astronomie, Musik. Nicht dazu zählen
z.B. die Jurisprudenz und die Medizin. Eine Kanonbildung
ist erst ab Seneca (ep. 88,1-20) zu beobachten.
Kameades: geb. 214/213 v. Chr. in Kyrene, wurde später
athenischer Bürger. 129/128 ist er in hohem Alter gestorben.
Er gehörte der Akademie in ihrer Mittleren Phase an und
leitete sie als siebter Scholarch von 164/160 bis 137/136 v. Chr.
Bekannt ist seine Teilnahme an der Philosophengesandt-
schaft des Jahres 155 v.Chr., wo er in Rom an einem Tag
einen Vortrag hielt, in dem er die Gerechtigkeit verteidigte,
und einen zweiten, in dem er sie verwarf. Darin zeigt sich
seine dialektische Methode: in utramque partem dicere (Ci-
cero, Ac. 1,7), aus der seine grundsätzliche Skepsis gegen-
über der Zuverlässigkeit menschlicher Erkenntnis spricht.
Schriften hat Karneades nicht hinterlassen.
Pythagoreer: Die Schule der Pythagoreer wurde von Py-
thagoras aus Samos gegründet. Von seinen Lebensdaten ist
wohl nur das Jahr 532/531 gesichert, in dem er die von Po-
ZU PARAGRAPH ι I27

lykrates beherrschte Insel Samos verließ und sich in Kro-


ton (Unteritalien, Magna Graecia genannt) niederließ. Das
sektenähnliche Wirken seiner Anhänger führte zu Reibe-
reien mit der Nachbarschaft, die Pythagoras zum Umzug
nach Metapontion zwangen. Dort ist er um 497/496 ver-
storben. Er wurde von seinen Schülern als der vollkom-
mene Weise verehrt. -
Die Lehren der Pythagoreer betreffen zum einen Pro-
bleme der Ethik (κάθαρσις, σωτηρία), zum andern die
Mathematik und die Harmonie. Bekannt ist noch heute der
sog. pythagoreische Lehrsatz. Wenigstens ebenso folgen-
reich waren die Experimente mit dem Monochord, einem
mit nur einer Saite bespannten Messgerät. Ausgehend von
der aus der musikalischen Praxis bekannten Tatsache, dass
zwischen der Länge einer Saite und der Höhe des erzeugten
Tons ein Zusammenhang besteht, entdeckte man, dass
die harmonischen Töne dem Verhältnis ganzer Zahlen zu-
einander entsprechen, z.B. die Oktave 1 : 2. Diese Lehre
wurde bis in die Details weiter entwickelt und bis ins Spe-
kulative getrieben. Piatons Timaios (und damit auch Cice-
ros Timaeus) bilden eine wichtige, freilich nicht die einzige
Quelle für unsere Kenntnis der pythagoreischen Lehre. -
ausgetilgt: Die Unduldsamkeit der Pythagoreer führte zu
harten Auseinandersetzungen mit den Nachbarstädten. So
sollen sie im Jahre 510 v. Chr. von Kroton aus die nach ihren
strengen Maßstäben sittenlose Nachbarstadt Sybaris über-
fallen und zerstört haben. Im Gegenschlag wurden die
Pythagoreer angegriffen und in ihrem Lehrsaalgebäude in
Kroton verbrannt. Nur zwei von ihnen seien dem Massaker
entronnen. Damit war die Schule praktisch ausgetilgt. -
Für Piaton lag diese Katastrophe rund 100 Jahre zurück.
P. Nigidius hat die pythagoreische Schule nach nahezu
einem halben Jahrtausend wiederbelebt.
128 ERLÄUTERUNGEN

2
Reise nach Kilikien: Durch einen Senatsbeschluss vom
Februar 51 v.Chr. wurde Cicero das Prokonsulat in der
Provinz Kilikien (an der Südostküste von Kleinasien) über-
tragen. Für Cicero bedeutete das eine unerfreuliche Uber-
raschung, er musste sich praktisch abgeschoben fühlen.
Ende April 51 v.Chr. reiste er ab. - Ephesos: an der West-
küste Kleinasiens gelegen. - Gesandtschaftsreise (des Nigi-
dius): Uber diese legatio ist nichts Näheres bekannt. Das
Treffen mit Cicero wird in den Juli 51 v. Chr. (wohl zu spät)
datiert. - Mytilene: die größte Stadt auf der (der Ostküste
Kleinasiens vorgelagerten) Insel Lesbos.
Kratippos: Philosoph aus Pergamon (im Nordwesten
Kleinasiens). Mangels genauerer Daten wird er ins 1. Jahr-
hundert v.Chr. datiert. Nach seiner Übersiedelung nach
Athen übernahm er die Leitung des Peripatos. In den Jah-
ren 45/44 v. Chr. hörte Q . Cicero (der Bruder unseres Au-
tors) ihn dort. Schriftliches hat sich bis auf ein wörtliches
Zitat (De divinatione 1,70 f.) nicht erhalten.

Lücke zwischen den Paragraphen 2 und j. Uber den Inhalt dieser Lücke kann
man nur Vermutungen anstellen. Gewiss vereinbarte man für das Gespräch
einen locus amoenus. Dort müssen die Rollen verteilt worden sein. Es ist
kaum denkbar, dass nicht wenigstens eingangs von Piatons Dialog Timaios
die Rede war. Der Atlantis-Mythos wurde mit Sicherheit übersprungen.

3 (Piaton, Timaios ιγά 6-28a 6)


was immer >ist< - was ... niemals >ist<: Mit Recht ist diese
Grundsatzklärung an den Beginn der Untersuchung ge-
stellt. D e m hier im Sinne des Parmenides prägnant ge-
brauchten Verbum >sein<, also >existieren< entspricht die
Ursprungslosigkeit. Alles Geschaffene hat hingegen einen
Ursprung. - Das eine - das andere (alterwn - alterum): Ge-
meint ist hier das >immer Seiende< im Gegensatz zum >nie
Z U P A R A G R A P H 2-4 129

Seienden<; es bereitet sich aber sogleich der im weiteren


Verlauf des Gesprächs zu einer stereotypen Formel wer-
dende Gegensatz >Identität< (Einheit, Eins und immer das
Selbe) - >Nichtidentität< (Zweiheit, Vielheit, nie ein und
dasselbe) vor. - An die Stelle der adversativen Korrespon-
sion τό μέν - τό δέ (s. auch § 25) tritt ταύτό - θάτερον /
tò ετερον zur Unterscheidung zweier Wesenheiten; s. u. -
logisches Denken - Einbildung und vernunftlose Sinnes-
wahrnehmung (νόησις μετά λόγου - δόξα μετ' αισ-
θήσεως): Damit wird die Welt der Ideen von der den Sin-
nen zugänglichen Welt der Erscheinungen geschieden. -
was insgesamt auf bloßer Vorstellung beruht (opinabile - δο-
ξαστόν) ist: Alles Gezeugte/Geschaffene geht auch wieder
zugrunde, so dass ihm keine wirkliche Seinsqualität zu-
kommt. - muss ... notwendigerweise aufgrund irgendeiner
Ursache entstehen: Gesetz der Kausalität. Es gibt kein ur-
sachenloses Geschehen.

UNGESCHAFFEN - GESCHAFFEN -
UNVERGÄNGLICH VERGÄNGLICH

quod semper sit quod ... nec wnquam sit


ñeque ullum habeat ortum, gignatur
quorum alteram alteram,
intellegentia et ratione quod adfert opinio et
comprehenditur, sensus rationis expers,
quod unum atque idem semper est; quod totum opinabile est,
id gignitur et intent
nec umquam esse vere potest.

4 (28a 6 - b 4)
der es unternimmt, ein Werk zu schaffen: Im griechischen
Text steht hier das Wort Demiurg (δημιουργός); es be-
deutet ursprünglich >Handwerker<; hier (neben Piaton,
Pol. J3oa 6. 596b 6) erstmals im Sinne vom >Schöpfergott<
130 ERLÄUTERUNGEN

verwendet. - Urbild: Gemeint ist die Idee (species). Auf sie


treffen die in Paragraph 3 entwickelten Gedanken zu: Sie
ist >immer dasselbe< (semper eadem est). Würde der Demi-
urg sich etwas Geschaffenes zum Vorbild nehmen, so
müsste er sein Ziel verfehlen, ein praeclarum opus zu schaf-
fen, das sich durch Schönheit (pulchritudo), d.h. durch
Vollkommenheit, auszeichnet. Er schafft sein Werk »im
Hinblick auf die ewigen Ideen.« (s. auch Aristoteles, Me-
taph. 991a 22). - oder welche Bezeichnung ... sonst: Be-
dauerlicherweise entscheidet sich Cicero (wie Piaton) hier
nicht für einen eindeutigen Terminus. Für den Lateiner,
dessen Vokabular für philosophische Themen sich erst in
der Entwicklung befand, ergab sich die Gefahr von Miss-
verständnissen.

5 (28b 4-e 3)
durch keinen Ursprung / an irgendeinem Zeitpunkt entstan-
den: Das All ist nicht ewiggeschaffen, sondern in einem be-
stimmten Augenblick geschaffen. - Sinneseindruck (sensus
moventia - αισθητά).· Da das All körperhaft ist, erregt
es die Sinne (Auge, Tastsinn); solches hat seinen Sitz im
Bereich der Vorstellung (in opinatione considunt); vgl. § 3:
quod adfert opinio et sensus rationis expers sowie quod totum
opinabile est. - Im Verlauf des Dialogs wird die opinio
positiver gesehen: tum opiniones assensionesque f i r m a e
v e r a e q u e gignuntur (§ 28). - nichts ohne Ursachen:
s.o., § 3 a.E.

6 (28c 3~29a 4)
Schöpfer dieses Universums: deutliche Personifizierung. -
Frevel: allgemeine religiöse Rücksichten oder eine Spur
von Geheimlehre oder die Furcht vor einem Asebie-Ver-
fahren? - welchem Urbild... gefolgt: Gemeint ist die Idee. -
Z U P A R A G R A P H 4-8

was timmer eins und das Selbe und sich selbst ähnlich< ist;
s. § 3. - geschaffen und entstanden: s. § 3. - vollkommen
(wörtlich: schön): Für den Griechen besteht zwischen
>schön< (καλός) und >gut< (άγαθός) ein sehr enger Zu-
sammenhang (καλοκαγαθία). - Baumeister: Demiurg. -
dem ewigen Urbild - einem entstandenen Modell gefolgt: Ist
durch das Vorausgegangene bereits geklärt. Die Gedanken
des Verfassers kreisen mit großem Nachdruck um die in
Paragraph 3 gelegten Grundlagen.

7 ( 2 9 a 4-b 4)
er: der Demiurg. - vernünftiges Denken und Erkenntnis (ra-
tio sapientiaque - λόγος και φρόνησις).· In Paragraph 3
war von intellegentia et ratio (νόησις μετά λόγου) die
Rede. Gemeint ist, dass Gleiches von Gleichem erkannt
wird. - unveränderliche Ewigkeit: Da das All als etwas Ge-
schaffenes gedacht ist, kann sich diese Aussage nur auf das
richten, von dem dieses All zusammengehalten wird (com-
prehenditur): durch die Idee, auf die der Demiurg beim
Schöpfungsakt blickte (quin aetemitatem maluerit exse-
qui). - dieses All, das wir sehen: Es ist undique corporatus
(§ 5), also von den Sinnen fassbar, aber ebendeshalb nur ein
Abbild (simulacrum - είκών), und zwar von etwas Ewi-
gem. - die erste begriffliche Festlegung (prima distinctio -
ωδε ... διοριστέον); Damit ist der Gedankengang der Pa-
ragraphen 3-7 abgeschlossen.

Cicero hat einen Einwarf des Sokrates (Platon 2 yd 4-d 6), übngens den einzi-
gen im ersten Hauptteil des Dialogs, nicht übersetzt; es liegt keine Textlücke vor.

8 (29b 4-d 3)
ihrem Gegenstand entsprechen: Der Autor strebt eine
Rechtfertigung seines letztlichen Ungeniigens an. Ist von
ERLÄUTERUNGEN

einer stabilen und unveränderlichen Sache die Rede, so er-


wartet man mit Recht ein unwiderlegbares Ergebnis. Da
aber nur nachgeahmte und geschaffene Gebilde behandelt
werden können, muss man sich mit Ergebnissen zufrieden
geben, denen bloße Wahrscheinlichkeit zukommt (simili-
tudeÌ veri; griech: εικότα). Abstrakter ausgedrückt: Ewig-
keit (aetemitas; griech. ουσία) verhält sich zu Entstande-
nem (id quod ortum est-, griech. γένεσις) wie Wahrheit
(Veritas; griech. αλήθεια) zur Wahrscheinlichkeit (fides -
eigtl. Glaubwürdigkeit; griech. πίστις). - vom Wesen der
Götter: Cicero lässt den Werktitel De natura deorum (bei
Piaton περί θεών) anklingen. Er wird dieses Werk unmit-
telbar nach dem Timaeus, etwa Mitte März 45 v.Chr., fer-
tiggestellt haben. - nur ein Mensch: Die berechtigte Be-
scheidenheitsgeste lässt den Rang des Themas und die
Glaubwürdigkeit der Ausführungen entsprechend steigen.

9 (29d 7~30a 6)
nach dem Grund fragen: Das neue Thema wird nun ange-
gangen. Der entsprechende Passus in De natura deorum
2,133: Sin quis quaeret, cuiusnam causa tantamm rerum mo-
litio facta sit... - Vollkommenheit: Aus dieser Eigenschaft
der Gottheit ergibt sich als Erstes, dass ihr Werk nur voll-
kommen sein kann. Das Neid-iAoûv hat nur subsidiäre
Bedeutung. Vgl. zu pulcher, § 6. - dass es ihm gleiche:
omnia sui similia generavit (ότι μάλιστα ... παραπλήσια
έαυτφ); ein bemerkenswerter Anklang an den biblischen
Schöpfungsbericht (Gen. 1,27: κατ' εικόνα θεοϋ έποίησεν
αυτόν), der freilich von der Erschaffung des Menschen
handelt. - mit allem Guten zu erfüllen: eine weitere Konse-
quenz aus der Vollkommenheit des Schöpfers. Vgl. Piaton,
Leg. 509b 6-10. - alles, was da sichtbar war: Gemeint ist die
Materie. Dieser Gedanke eilt etwas voraus. - in regelloser
Z U P A R A G R A P H 8-i m

Bewegung: Der Zustand der (ewigen) Materie vor dem


Eingreifen der Gottheit; vgl. Demokrit VS 68 A 39. - aus
dem ungeordneten Zustand in den der Ordnung überführen:
Darin besteht der erste Schöpfungsakt. - hielt er für hesser:
Dass Ordnung besser ist als Unordnung, ergibt sich als
Zweites aus der Vollkommenheit der Gottheit.

1 0 (30a 6 - c 1)

das Schönste: s. o., §§ 4.6. - was von Natur aus sichtbar ist:
die Materie; s.o., § 9. - vernunftlos - vernunftbegabt: eine
dritte Konsequenz aus der Vollkommenheit des Welten-
schöpfers. - Vernunft in die Seele - Seele ... in den Körper:
Es ist nicht vom Menschen die Rede, sondern vom Welt-
all! - Mutmaßung (coniectura) : Ein prinzipieller Vorbehalt
gegen die Stringenz von Mutmaßungen, wie er in den zeit-
nah entstandenen Werken De divinatione und De natura
deorum häufig zu finden ist. Der griechische Text lautet im
übrigen anders: »So darf man denn mit Wahrscheinlichkeit
aussprechen ... « (οϋτως ούν δή κατά λόγον τον εικότα
δει λέγειν); vgl. hierzu o., § 8. Cicero hat hier seine eigene
Ansicht über die (der Wahrsagung nahestehende) coniec-
tura eingefügt. - dieses All ein Lebewesen, also ein beseeltes
(εμψυχον) Wesen: In dieser ungewöhnlichen Vorstellung
liegt der Grundgedanke der im Timaeus vorgetragenen
Weltschöpfungstheorie. - vernunftbegabt: intellegens, εν-
νους; vgl. Platon, Phaidr. 246. - durch göttliche Vorsehung
begründet: divina Providentia constitutum, διά τήν τοΰ
θ ε ο ΰ γενέσθαι πρόνοιαν· »durch Gottes Vorsehung ent-
standen sein«.

1 1 (30c 2 - d 1)

Nimmt man ... das als gegeben an: Das All ist ein beseeltes
Wesen (s. § 10 a.E.). - lebende Wesen: den bekannten le-
134 ERLÄUTERUNGEN

benden Wesen haftet der Mangel an, dass sie alle in gewisse
Arten gegliedert (in quaedam genera partita) oder erst ange-
legt (inchoata, εν μέρους εϊδει πεφυκότα), d.h. unvoll-
kommen sind. - Ähnlichkeit mit einem lebenden Wesen an-
gestrebt: Nach den vorangegangenen Ausführungen kann
die Gottheit das Vorbild für das zu erschaffende All nicht
in einem der bekannten lebenden Wesen gesucht haben,
da diese »in keiner Weise vollendet sind«. Dies wird hier
gewissermaßen im Umkehrschluss mit der Schönheit
des Alls begründet (άτελεΐ γάρ έοικός ουδέν ποτ' αν
γένοιτο καλόν), die sich nur aus Vollkommenem (also
aus Ganzem und nicht aus Geteiltem) erklären lasse. -
Dem aber (sc. dem Vollkommenen), von dem jedes Lebe-
wesen gleichsam nur ein Teilchen ist: Während die bekann-
ten Lebewesen als solche wegen ihrer »Zugehörigkeit zur
Gattung der Teile« (εν μέρους ειδει) als mögliche Bauvor-
lage zurückgewiesen werden, soll das Umgekehrte gelten:
Das, wovon die übrigen (τάλλα - fehlt bei Cicero) Lebe-
wesen bloße Teile sind, dem ist das All am ähnlichsten. Ob
einzeln und der Gattung nach (καθ' εν και κατά γένη)
spielt in dieser Hinsicht keine Rolle. - allein vom Geist er-
kannt - alles, was sichtbar ist: Diese visibilia et invisibilia
schließen nichts aus. Cicero schreibt: quae animo cernun-
tur, Piaton νοητά; eine Ubersetzung mit >Seele< ginge also
am Sinn vorbei. - durch die Umschließung mit Vernunft und
Denken: complexu rationis et intellegentiae. Bei Piaton steht
nur έν έαυτω περιλαβόν εχει· »fasst in sich zusammen«,
»fasst in sich«. - ebenso ... wie: ein Vergleich. Da das All
(ό κόσμος) nur den Bereich der visibilia umgreift, kann
das Weitergefasste, dem (auch) die invisibilia, die Ideen
also, zugehören, nicht mit dem All identisch sein; somit
muss der Weltenschöpfer selbst gemeint sein.
Z U P A R A G R A P H 11-13 135

1 2 (3od 1 - 3 Λ 3)

das Schönste (also das Vollkommenste) : Der Gedankengang


kommt immer wieder auf diese Aussage zurück. Die Gott-
heit wollte das All dem Vollkommensten, also sich selbst,
ähnlich gestalten. - e i η sichtbares Lebewesen: Vgl. den
Schluss von Paragraph 10; jetzt erweitert um >sichtbar<. - ein
All oder ... mehrere oder unzählige?: Dass es nur e i η All
sein kann, ergibt sich aus dem Anspruch der Vollkommen-
heit. Gäbe es etwas außerhalb, müsste dies dem All fehlen,
womit es seine Vollkommenheit einbüßte. - Unzählige
Welten postulierten Anaximander (VS 12 A 17,11: κόσμους
άπειρους ύπέθετο), danach Anaximenes, Archelaos, Xe-
nophanes, Diogenes, Leukipp (12 A 17,16f.) und Demokrit
(68 A 51 = Cicero, De natura deorum 173). - Abbild jenes
letzten, nicht eines vorletzten: Wenn das gedachte All nicht
alles in sich fasste, es also etwas außerhalb von ihm gäbe,
wäre es nicht das >letzte<, sondern nur ein >vorletztes< All;
es könnte nur einen Teil eines größeren, also des wirklich
>letzten< Alls darstellen. Die Attribute >letztes< und >vor-
letztes< sind also nicht als Zeitangaben zu verstehen.

1 3 (31b 4 - e 4)
körperhaft ..., sichtbar und ... anfassbar ... sein: Alles Ge-
schaffene muss diese Bedingungen erfüllen. Eine Begrün-
dung dafür bleibt aus (necesse est - δει); sie ist aus den Fol-
gen des nachstehenden Vorgangs rückzuerschließen. -
Feuer ... Erde: Die beiden ersten der klassischen vier Ele-
mente des Empedokles ermöglichen das >Anfassen< und
das >Sehen<. - Jede Zweiheit verlangt aber zum Herstellen
einer Verbindung nach etwas >£hittem<: Gemeint ist zunächst
die Verbindung der Elemente Feuer und Erde. Das >Dritte<,
bildlich als >Knoten< oder >Fessel< (nodus vinculumque-, im
griech. Text steht nur δεσμός) bezeichnet, soll aus sich
i36 ERLÄUTERUNGEN

selbst und dem, was sie verbindet (τά σ υ ν δ ο ύ μ ε ν α ) , mög-


lichst >Eines< herstellen (εν ποιειν): Die bildliche Ausdrucks-
weise suggeriert zunächst einen handwerklichen Vorgang:
So werden z . B . zwei Bretter mit einem passenden Kleb-
stoff zu einer nicht mehr trennbaren Bohle verleimt. Dies
trifft natürlich so nicht zu. Es handelt sich vielmehr um
eine Operation der pythagoreischen Mathematik bzw.
Musik. - Analogie: Cicero betätigt sich als Sprachschöpfer;
er gibt griech. ά ν α λ ο γ ί α mit comparatici (>'Verbindung des
Gleichen mit Gleichem*) oder proportio ^ausgewogenes
Verhältnis*) wieder. Beide Substantive sind vor Cicero
nicht belegt.

14 (31C 4-3*b 1)
Wenn nämlich: Der Satz expliziert das in Paragraph 13 bild-
lich Ausgesagte.
- Zunächst wird die durch Analogie hergestellte Verbin-
dung vom >Mittleren< zum >Ersten< und zum >Letzten<,
sodann >umgekehrt< vom >Letzten< und vom >Ersten<
zum >Mittleren< hin betrachtet;
- aus der so entstandenen engen Verbindung ergibt sich,
dass man nicht mehr unterscheiden kann, was das >Er-
ste<, das >Mittlere< und das >Letzte< ist bzw. war, weil das
vorher Getrennte jetzt zum >Selben< (eadem - τά αυτά),
also >Eins< (unum - εν) geworden ist.
zweidimensional (planum - ε π ί π ε δ ο ν ) : Das All ist nicht
als geometrische Fläche vorstellbar. - dritte Dimension (so-
liditas - β ά θ ο ς ) : zur Darstellung stereometrischer Körper
wie Tetraeder, Hexaeder usw. - Der Einschub e i n e s
Mittleren würde zur Darstellung von Körpern nicht ausrei-
chen.
Z U P A R A G R A P H 13-15 137

Analyse von Paragraph 14


Quando enim trium vel numerorum
vel figurarum
vel quorumcumque generum
contingit,
ut,
quod medium sit, medium
ut ei primum proportione, > primum
ita id postremo comparatur > postremo
vicissimque
ut extremum cum medio, > extremum - medio
sic medium cum primo conferatur, > medium - primo
id,
quod medium est, medium
tum primum fit tum postremum, > primum/postremum
postrema autem et prima media fiunt: postrema/prima
> media

15 (32b i - c 4)
Körperhaftigkeit (.soliditas, wörtl. >Dichte< - στερεοειδές,):
Gemeint ist die dritte Dimension. - immer zwei ... : Durch
den letzten Satz von Paragraph 14 ist diese Bedingung für
die Uberwindung der Zweidimensionalität vorbereitet. -
Wasser und ... Luft: Nun werden die beiden noch fehlen-
den Elemente eingeführt. - proportional vereinigt: unter-
einander sowie mit Wasser und Erde, wie anschließend be-
schrieben. - vom Gesichts- und vom Tastsinn erfasst: s. dazu
o., § 13, Satz ι. - auf diese Weise ... ist der Weltkörper ge-
schaffen: insoweit abschließend. - die genannte Analogie:
s.o., § 13. - Freundschaft und Liebe (amicitia et cantas -
φιλία,): zur Verdeutlichung der sehr engen Verbindung. Es
bereitet sich pythagoreische Harmonie vor. Vgl. dazu Pia-
ton, Rep. 43 ι e 7 f. - dass er auf keine Weise aufgelöst wer-
den kann, außer ... : Der Weltenbaumeister behält sich die
Verfügungsgewalt über sein Geschöpf vor. Was er geschaf-
fen hat, kann er - und nur er - auch zerstören.
i38 ERLÄUTERUNGEN

1 6 (32c 5-333 2)
Der Paragraph 16 besteht überwiegend aus Wiederholung
und Zusammenfassung. - kein Teil ... sich nach außen da-
vonmacht: die Kugelform (s. § 17, hier noch nicht genannt)
schließt das aus. - jene Arten restlos enthalten sind: So ver-
langt es der Begriff >A11<; s. bereits § 12. - das All... voll-
kommen: s.o., § 12. - einzig: s.o., § 12. - kein Teil, aus dem
ein anderes All erzeugt werden könnte: s.o., § 12. - keine
Krankheit oder Alterung (morbus aut senectus - άγηρον και
άνοσο ν): ein letztes Moment, das der widerruflich erteil-
ten ewigen Dauer gefährlich werden könnte (Memnon-Ef-
fekt: ewiges Leben, aber ohne ewige Jugend).

1 7 (33a 2-b /)
durch die Einwirkung von Wärme wie Kälte oder durch ei-
nen heftigen Stoß: Fortsetzung und Ergänzung des Schluss-
gedankens von Paragraph 16. Die ältere Kapiteleinteilung
zieht diesen Teil des Paragraphen 17 noch zu Kapitel V und
beginnt Kapitel VI mit Formam autem ... - kugelförmig
(glohosus - σφαιροειδής,): Der Versuch, die Kugelgestalt
des Alls mit Worten zu beschreiben, mündet in die mathe-
matische Definition durch die gleiche Länge aller Radien. -
Die Kugelgestalt der Erde war spätestens seit 380 v.Chr.
erkannt (Phaidon 108c). - weil Ähnlichkeit den Vorzug hatte
vor Unähnlichkeit (μυρίψ κάλλιον δμοιον άνομοίου):
Vgl. § 9 a.Ε., »Ordnung besser als Unordnung«, dort ein-
geleitet mit iudicabat (ήγησάμενος), hier mit eius iudicio
(νομίσας): Die Prinzipien der Gottheit lassen sich alle aus
ihrer Vollkommenheit herleiten.

18 (33b 7-d 3)
eine völlig glatte Oberfläche: eine Eigenschaft der Kugel. -
weder Augen ... noch Ohren: Da das All als Lebewesen dar-
Z U P A R A G R A P H 16-19 y9

gestellt ist, könnte der Laie erwarten, dass es - wie andere


Lebewesen auch - mit Sinnesorganen ausgestattet ist. Inso-
fern ist es von der Systematik der Darstellung (oder als Vor-
beugung gegen Veralberung) geboten, auf die Entbehrlich-
keit solcher Organe hinzuweisen und sie zu begründen. -
Nahrungszufuhr für den Körper - Ausscheidung: Anders als
bei den Sinnesorganen liegt der Gedanke, das All betreibe
einen Stoffwechsel, außerhalb des normalerweise Erwarte-
ten. - Verbrauch und Schwund seiner selbst (consumptione et
senio): Kein Widerspruch zu §§ 16 a.E. und 17 a.E. Das All
ist offenbar als eine Art Wiederaufbereitungsanlage ge-
dacht: durch sich und von sich (per se et a se) ist es Objekt
und Subjekt zugleich (patitur etfacit omnia). - mit sich selbst
zufrieden: Diese Zufriedenheit mit sich selbst ergibt sich
nicht notwendig aus dem Nichtvorhandensein eines Kon-
kurrenz-Alls (ut unus esset), sondern aus seiner Vollkom-
menheit. - bedarf keines zweiten: siehe z.B. o., § 16.

! 9 (33 d 3-34» 7)
keine Hände, Beine, keine anderen Gliedmaßen: in Fort-
führung der Gedanken des Paragraphen 18 (keine Augen
usw.). - Bewegung: die für die Kugel geeignetste Bewegung
ist die Rotation. - sieben Bewegungsmöglichkeiten: kreisen,
vorwärts/rückwärts; aufwärts/abwärts, nach links / nach
rechts; s. u., § 48. - die ... den Geist und das Erkenntnisver-
mögen (mentem atque intellegentiam - νουν και φρόνησιν^
besonders anregt: eine als Folgerung aus der Vollkommen-
heit logische, freilich dem Normalempfmden eher wider-
sprechende Feststellung. - Kreisbewegung: Rotation. -
befreite ... von jedem Irrlauf: im Vorgriff auf die Planeten-
bewegung; s.u., § 33 siderum errores. - keine Fortbewe-
gungsgliedmaßen: Begründung für die Entbehrlichkeit von
Beinen; s.o., am Anfang von Paragraph 19.
140 ERLÄUTERUNGEN

2 0 (34a 8-b 8)
der ... erst demnächst ins Dasein tretende Gott (futurus
deus) : das im Entstehen begriffene All. - glatt, nach allen
Seiten hin gleich ausgedehnt, mit gleichem Radius ... voll-
endet und vollkommen: Zusammenfassung der im Voraus-
gehenden entwickelten Eigenschaften des Weltkörpers.
Das All hat offenbar eine (freilich im Unendlichen lie-
gende) Außenseite. Folglich müsste es eigentlich auch et-
was außerhalb des Alls Liegendes geben. Das Nichts? -
Seele: Die Weltseele hat ihren Sitz im Zentrum der Kugel,
erfüllt aber von dort aus den gesamten Kugelinhalt. - Welt-
seele ... von außen her mit dem Weltkörper umgeben: Der
mit circumdedit beschriebene Vorgang wird durch nachfol-
gendes et vestivit expliziert. - umkleidete ... und umfasste
sie mit dem ... in Rotation versetzten Himmel: Offenbar ist
zwischen der Innenseite und der (im Unendlichen liegen-
den) Außenseite des >Himmels< (caelum - ουρανός) un-
terschieden. - dem sich allein bewegenden Himmel: Cicero
übersetzt έρημος mit solivagus (ούρανόν ενα μόνον
ερημον κατέστησεν). Dieses Adjektiv betont die Einma-
ligkeit des Alls, nicht seine Selbstbewegung. - der in Rota-
tion versetzte Himmel: s.o., § 19 (motus, qui figurae eius
esset aptissimus). - Vollkommenheit: virtus (αρετή).- im Ti-
maeus nur hier und in Paragraph 21 - mit sich selbst zufrie-
den: zur Autarkie s. z.B. § 18 a.E. Der griechische Text
scheint auf das Fehlen sexueller Bedürfnisse anzuspielen
(συγγίγνεσθαι) - nach keinem zweiten verlangte: siehe
ebd.

2 1 (34b 8 - 3 5 a 6)
diesen vollkommen seligen Gott geschaffen: Gemeint ist das
beseelte All. - Weltseele ... nicht erst (nachträglich)
begonnen: Der Schöpfergott kann alles gleichzeitig schaf-
ZU PARAGRAPH ζο-ζι 141

fen, nicht aber der Autor. Daher die Selbstkorrektur. -


schuf die Weltseele ... zuerst: Damit setzt der Autor noch
einmal ganz vorne an. Der »weitere Schöpfungsakt« meint
kein historisches Nacheinander; er ergibt sich vielmehr aus
der schriftstellerischen Notwendigkeit, den linear voran-
schreitenden Text zu gliedern. - Herrin und Gebieterin über
den Weltkörper: Das ergibt sich aus dem Vorrang der Idee
gegenüber dem Abbild. - ungeteilt und immer von e i n e r
Art und nur sich selbst ähnlich (individua, semper unius
modi, sui similis): Es ist die Welt der ewigen Ideen, die als
idem (ταύτό) dem veränderlichen alterum (ϋάτερον) ge-
genübersteht. - die in den Körpern >teilbar entsteht<: s. dazu
Einführung, o. S. 118. - eine dritte Wesenheit (tertium mate-
riae genus - τρίτον) aus beiden: vgl. dazu o., § 13: die (Fes-
sel, die) aus sich selbst und den Stoffen, die sie zusammen-
bindet, möglichst >Eines< herstellt (quod ex se atque de iis,
quae stringit, quam maxime unum efficit). Nach Paragraph
22 ist dieses >Dritte< die Weltseele. - zwischen das > Unteil-
bare' und das, was am Körper > teilbar iste vergleichbar dem
Vorgang der Vereinigung von Erde und Feuer, s.o., § 13.

21 (3ja 6-c 2)
diese drei... verband er zu einer Einheit: in Fortsetzung von
Paragraph 21. - jene Natur ... >von der andern Art< - mit
>derselhen (Art)<: die nunmehr bekannte Unterscheidung -
verband er gewaltsam: Da die Bestandteile dieser Verbin-
dung widerstrebten, wandte der Schöpfergott hier - und nur
hier - Gewalt an (vi - βία). »In der Seele wird das der Ein-
heit Widerstrebende, ewig Bewegte und teilbare Sein der
Körperlichkeit (d. h. des Raumes) unter die Einheit der un-
teilbaren Idee gezwungen und gerade dadurch zur >Harmo-
nie< gebracht«. (E. Frank, S. 101). - mischte die einzelnen
Teile aus >dem Selbem und aus >dem Anderem und aus der
I42 ERLÄUTERUNGEN

Seelenmaterie: Neu ist daran, dass zu den bekannten Ingre-


dienzien nun die >Seelenmaterie< hinzutritt. - Die nachfol-
gend ausgeführten Teilungen sind aus der von Piaton wei-
terentwickelten pythagoreischen Musiktheorie zu erklären.
Es geht um die Teilung der (absoluten, also nicht tonartge-
bundenen) Oktave in Intervalle. Vgl. dazu o., S. io6ff.

2 3 (35c 2-3éb ζ)
die zweifachen und die dreifachen Intervalle ausfüllen: Es
geht um die Bestimmung der noch nicht definierten Inter-
valle innerhalb der Oktave und damit um die Konstruktion
einer diatonischen Idealtonleiter. - in jedem Intervall zwei
Mittelglieder: Diese >Mittelglieder< bilden die Trennungsli-
nie, z.B. innerhalb der Quint. - medietates: Im Lateinischen
fehlte ein Wort, mit dem man griech. μεσότητες wiederge-
ben konnte; Cicero führt daher das neue Wort medietas un-
ter großem Vorbehalt nur hilfsweise ein; vgl. o., § 13 compa-
ratio proportiove. - das eine Zwischenglied - das andere:
Dieser sehr kryptische Satz lautet bei Piaton (35c 2-36 a):

Darauffüllte er die zweifachen und dreifachen Abstände ( δ ι α σ τ ή μ α τ α )


aus,
indem er von dort (d.h. von der Grundmasse) noch weitere Stücke
(μοίρας) abschnitt und sie zwischen jene einsetzte,
so dass zwischen jedem Abstand (ωστε έν έ κ ά σ τ φ δ ι α σ τ ή μ α τ ι ) zwei
Arten von Mittelwerten ( δ ύ ο μ ε σ ό τ η τ ε ς ) waren:
- der eine von ihnen übertraf die eine der beiden äußeren Zahlen und
wurde von der anderen übertroffen,
und zwar beide Male um den gleichen Bruchteil ( τ α ύ τ ψ μέρει),
- während der andere sie um dieselbe Zahl (ί'σιρ κ α τ ' α ρ ι θ μ ό ν ) über-
traf bzw. übertroffen wurde ( ΰ π ε ρ έ χ ο υ σ α ν - ύ π ε ρ ε χ ο μ έ ν η ν ) .
(Übers. R . Rufener)

Aus dem nachfolgenden Satz geht hervor, dass durch die


neuerliche Teilung die Intervalle i'/2, iV und iVs entstanden.
Z U P A R A G R A P H 22-24 143

Gemeint sind die harmonische und die arithmetische Tei-


lung (άρμονική - αριθμητική μεσάτης ). - Das Intervall
ι1/ (= V2) ist die Quint, i'/} (= V) die Quart, i7„ (= %) ein
Ganzton.

Bei Piaton (36a 6-b 2) steht:

D a aber infolge dieser Verbindungsglieder innerhalb der früheren A b -


stände nun neue Abstände ( δ ι α σ τ ά σ ε ι ς ) von i'/j, 4/} und '/8 entstanden
waren, füllte er mit dem Abstand ( δ ι ά σ τ η μ α ) von '/, alle jene von 4/} aus,
indem er von jedem von ihnen noch e i n e n Teil (μορίον) übrigließ, so
dass der noch übrige Abstand dieses Teils, in einem Zahlenverhältnis
ausgedrückt, 256 : 243 betrug.
(Übers. R . Rufener)

Der Satz »Da nun das Intervall dieses kleinen Teils ... in Zahlen ausge-
drückt - dem Verhältnis der Glieder 243 zu 256 entsprach«, wird in den Ci-
cero-Ausgaben zu Paragraph 24 gestellt.

24 (36b i - c 4)
kleiner Teil: zum Verhältnis 256 : 243 s. o., bei § 22. Es han-
delt sich um den >kleinen Halbton«, die sog. δίεσις oder
das λεΐμμα (der große Halbton heißt άποτομή). Zusam-
men mit 2 Ganztönen (je %) füllt es z.B. den Tonraum
zwischen E und A. - Glieder (οροί): Gemeint sind die
>Überbleibsel< (λείμματα) im Zahlenverhältnis 256 : 243. -
Mitte aufMitte in Form eines Chi (X) übereinander: Die bei-
den Kreise liegen nicht in derselben Ebene, sondern
schneiden sich in zwei Punkten in einem schiefen Winkel,
den man mit einem X (in der Schreibweise Piatons) ver-
gleichen kann. - Schnittstellen, die einander senkrecht ge-
genüberlagen: Alle Meridiane bilden mit dem Äquator
einen rechten Winkel. - Bewegung, deren Kreislauf immer
in derselben Bahn und auf dieselbe Weise angetrieben wurde:
Da der Kreis mit seiner Bahn identisch ist, handelt sich um
ein Kreisen in sich selbst.
144 ERLÄUTERUNGEN

Der bei Piaton anschließend (36c3-4) stehende Satz >und machte den einen
dieser Kreise zum äußeren und den anderen zum innerem (και τον μέν εξω,
τον δ' έντός έποιεΐτο των κύκλων) wird in den Cicero-Ausgaben zu Pa-
ragraph 2$ gestellt.

2 5 (36c 4-d 7)
den einen Kreis als äußeren, den anderen als inneren anle-
gen: Der äußere Kreis ist der >von derselben Natur<, der in-
nere der >von der andern [Natur]<\ vgl. dazu o., S. 120f. -
die >von derselben Art< war, bog er von der Seite nach rechts
herum, die andere aber von der Mittellinie nach links herum:
Piaton schreibt κατά διάμετρον. - den Vorrang aber gab
er der äußeren: Das ist die >von derselben Natur<, also der
Fixsternhimmel. - allein ungeteilt: >allein< steht nicht bei
Piaton. - sechs Teile des Himmels: Übertragung der Musik-
theorie auf den Planetenhimmel. - sieben ungleiche Kreise:
Die Himmelskörper sind neben der Erde im Zentrum
ι. Mond, 2. Sonne, 3. Venus, 4. Merkur, 5. Mars, 6. Jupiter,
7. Saturn; der Fixsternhimmel (mit dem Zodiakus) schließt
das System ab. - im doppelten und dreifachen Intervall: Die
Intervalle entsprechen den o., S. 108, in Lambdaform ange-
schriebenen pythagoreischen Urzahlen. - in untereinander
gegensätzlichen Bahnen: Damit wird die Erklärung der
scheinbaren Stillstände und Schleifenbildungen (errores
oder lusiones) der Planeten vorbereitet; s. § 29 a.E. - Von
dreien davon machte er die Geschwindigkeiten gleich: die
der >äußeren< Planeten. - von vieren aber ... sowohl unter-
einander ungleich als auch denen der drei übrigen unähnlich:
die der vier >inneren< Himmelskörper (Mond, Sonne, Ve-
nus, Merkur). Die dem (platonischen) Mittelpunkt des
Alls nächsten Himmelskörper bewegen sich am schnell-
sten (Merkur 48 km/s), die fernsten am langsamsten (Sa-
turn 10 km/s); die Feststellung solcher Geschwindigkeits-
unterschiede erfordert lange Beobachtungszeiten.
Z U P A R A G R A P H 24-27 145

Zu den Planeten-Geschwindigkeiten:
[neuzeitl.
Entdeckungen]
Merkur Venus Erde Mars Jupiter Saturn [Uranus Neptun]
[seit 1781; seit 1846]
Bahnumfang
4900 8900 18000 28000
in Mio km 360 680 940 1400
Umlauf (sid.)
in Jahren 0,24 0,62 1,00 1,88 11,86 29,46 84,02 164,71

Umlaufge-
schwindigkeit 48 35 30 24
in km/s

Seit Eudoxos aus Knidos (391-337) konnte die Konstanz


der Bahngeschwindigkeiten vorausgesetzt werden. Piaton
(427-347) war über die Arbeiten seines jüngeren Zeitge-
nossen offenbar bestens informiert.

26 (j6d 8-e 5)
die Weltseele ... gebildet: Abschluss des Schöpfungsbe-
richts. Die Weltseele ist nach den Gesetzen der Musik
strukturiert, s.o., §§ 22 ff. - unterwarf... alles, was konkret
und körperlich war, der Seele: zur Vorherrschaft der Welt-
seele s.o., § 21. - verlegte ... nach innen: vgl. o., § 20. - sie
Mitte auf Mitte übereinanderlegend: vgl. o., § 24. - die Welt-
seele ... umgriff die äußerste Grenze des Alls: vgl. o., § 29. -
indem sie in sich selbst kreiste: s. o., § 24. - göttlicher Beginn:
Der >göttliche Beginn< ergibt sich aus dem Schöpfungspro-
zess. - ewiges und vernunftbegabtes Leben: >ewig< bedeutet
hier >vom Ursprung ab<, die Seele ist weder >ewig< im Sinne
von >seit jeher existierend< noch im Sinne von >niemals un-
tergehends da Geschaffenes auch zerstört werden kann.

27 G«e 5-37b 3)
Weltkörper sichtbar - Weltseele entzieht sich der Wahrnehmung
durch das Auge: eine Grundannahme. - Einzig sie ist der Ver-
146 ERLÄUTERUNGEN

nunft (ratio - λογισμός) und der Harmonie ... vollkommen


mächtig: Die >Harmonie< ergibt sich aus der oben dargestell-
ten, an der Musik orientierten Struktur der Weltseele. Zur
Harmonie bei Demokrit s. VS 68 A 167,15 (την δ' εύθυμίαν
και εύεστώ και άρμονίαν, συμμετρίαν τε και άτα-
ραξίαν καλεί). - Harmonie (concentio): ein dritter Uberset-
zungsvorschlag Ciceros; vgl. o., § 13 αναλογία und § 23
μεσάτης. - Erkenntnisvermögen: rerum sub intellegentiam
cadentium compos - των νοητών μετέχουσα. - das Beste,
was die Schöpfergottheit hervorgebracht hat: Gemeint ist na-
türlich der absolute Superlativ des Guten. Bei Piaton: ΐιπό
του άριστου άριστη γενομένη των γενηΦέντων. - aus
>derselben< und >der anderen Nature s. dazu o., S. 120 f. - un-
ter Einbeziehung der Seelenmatene ... zusammengefügt: Die
Seele ist also gewissermaßen ein Mischprodukt. - durch pro-
portionale Mischung dreier Teile: vgl. dazu o., § 13. - kreist in
sich selbst: In der Kreisbewegung sieht Piaton das Wesen der
Seele (auch der menschlichen und der tierischen); vgl. Pia-
ton, Tim. 34a. 42c. 47d; Rep. 564 f., Leg. 897e u.ö. - wird sie
in ihrem ganzen Sein erregt (αυτή άνακυκλουμένη προς
αυτήν).· die Schöpfergottheit hingegen ist der ««bewegte
Beweger. - unterscheidet, was > derselben Art< und was > der an-
derem zugehört: Aus der beschriebenen Qualität der Welt-
seele werden nun Schlüsse für die menschliche Seele gezo-
gen: Da sie zwischen den beiden Wesenheiten des Seienden
und des Veränderlichen unterscheiden kann, ist sie in der
Lage, je nach Zeit und Ort (οπη και όπως και όπότε) rich-
tige Entscheidungen zu treffen. Dieses ihr >Wissen< könnte
man auch als >Gewissen<, die ganze Einrichtung geradezu als
einen Gewissensautomaten bezeichnen. Dementsprechend
ist der Mensch für sein Tun und Lassen verantwortlich;
siehe dazu u., § 46. »Der gestirnte Himmel über mir und das
Sittengesetz in mir« - liegt dieser Gedanke hier fern?
ZU PARAGRAPH 27-29 HZ

2 8 (37b 3-c 3)
Die wahre Vernunft: Der ratio vera entspricht bei Piaton
λόγος. F. Susemihl versteht hier Piaton anders: »Wird nun
aber diese Kundgebung ... auf gleiche Weise wahr ...«; R.
Rufner: »Wenn aber diese Überlegung ... in gleicher Weise
wahr wird ... « - ohne Geräusch lautlos: Hier gibt es also
nichts der Sphärenharmonie Entsprechendes. - durch sich
selbst bewegt: vgl. o., § 27: se ipsa conversans. - den Teil,
durch den die Sinneswahmehmung (sensus - αισθητόν) er-
regt werden kann: Dies trifft auf die Materie zu; lat. ean-
dem (partem) kann hier also nicht im Sinne des Grundge-
gensatzes idem - alterum aufgefasst werden. - der Seele und
dem Verstand alles meldet: Der unveränderte Kreis jener
anderen Art< unterrichtet die Seele (ψυχή) und den Ver-
stand (mens - bei Piaton ohne Entsprechung). - verläss-
liche, wahre Meinungen und Zustimmungen: Zu den Zu-
stimmungen (opiniones) s.o., § 3: - alterum, quod adfert
opinio et sensus rationis expers. Hier, in Paragraph 18, ist von
opiniones adsensionesque firmae veraeque die Rede; dies
entspricht δόξαι και πίστεις βέβαιοι και άληθεΐς bei
Platon. Die assensiones spielen im Denken Ciceros eine be-
deutende Rolle bei der Suche nach der Wahrheit. - durch
Erkenntnisvermögen (intellegentia - λογιστικών) erfasst
wird: im Gegensatz zu sensus - αισθητικό ν.

28/29
Große Lücke im Cicero-Text (Platon 3yc3-38c3), entsprechend ca. 38 Zei-
len Oxoniensis-Text.
Der durch Textverlust unvollendete Satz lautet bei Piaton (3jb3-c /J.-
Wenn aber diese Überlegung - ob sie sich auf das Verschiedene bezieht
oder auf das Selbe - auf gleiche Weise wahr wird, wobei sie sich in der
von ihr veranlassten Bewegung ohne Laut und ohne Geräusch herum-
dreht, dann entstehen, wenn sie sich auf das Wahrnehmbare richtet und
148 ERLÄUTERUNGEN

der Kreis des Verschiedenen richtig verläuft u n d er die N a c h r i c h t e n da-


v o n der g a n z e n Seele weitergibt, w o h l g e g r ü n d e t e u n d w a h r e M e i n u n -
gen ( δ ό ξ α ι ) und Ü b e r z e u g u n g e n ( π ί σ τ ε ι ς ) ; bezieht sie sich aber u m g e -
kehrt auf das D e n k b a r e u n d der Kreis des Selben verläuft dabei richtig
u n d gibt diese K u n d e , so k o m m e n mit N o t w e n d i g k e i t Einsicht ( ν ο υ ς )
u n d Wissen ( ε π ι σ τ ή μ η ) zustande.
... U n d w e n n irgend j e m a n d den Bereich, in d e m dies beides entsteht,
anders bezeichnen wollte als Seele, so w i r d er damit eher alles andere als
die Wahrheit sagen.

In dem fehlenden Textstück ( j j c j-j8c 2) zeigt sieb die Schöpfergottheit mit


dem Geschaffenen zufrieden (vgl. Moses 1,1 ji: και είδεν ό θ ε ό ς τά πάντα,
ό σ α έ π ο ί η σ ε ν , κ α ι ι δ ο ύ κ α λ ά λίαν.· s. auch Fragm. ι). Sie beschließt nun,
»ein bewegtes Abbild der Ewigkeit zu schaffen«, die Zeit.

Zum Anschluss an die Cicero-Übersetzung hier das letzte Sechstel (Piaton38b


6-cj) des in der g rofî en Lücke verlorengegangenen Cicero-Textes:

D i e Zeit ist also z u s a m m e n mit d e m H i m m e l entstanden, damit die bei-


d e n , die zugleich g e w o r d e n sind, auch miteinander vergehen, w e n n
einst ihr U n t e r g a n g erfolgen sollte, u n d damit sie ihm, nach d e m Vorbild
der e w i g e n N a t u r , so ähnlich w i e m ö g l i c h sei.
D e n n das Vorbild ist ein Seiendes, das die ganze E w i g k e i t dauert; die
Z e i t dagegen ist v o n A n f a n g bis ans E n d e die ganze Zeit hindurch ein
G e w o r d e n e s und ein Seiendes und ein Seinwerdendes.
(Übers. R . Rufener)

2 9 (38c 3 - c 5; d i - d 6)
Die Cicero-Übersetzung setzt mit Platon 38c j-c j wieder ein.

Überlegung und Gedanke des Schöpfergottes: Cicero über-


setzt λ ό γ ο ς και δ ι ά ν ο ι α θ ε ο ί mit ratio et mens divina
(eigtl. >göttlicher Geist<). Der Schöpfergottheit die dem
Menschen zugedachte >Vernunft< zuzuschreiben wäre hier
unangemessen; daher >Uberlegung<. - den Lauf der Zeit
beginnen lassen: >Zeit< im Sinne messbarer Größen setzt
entsprechende Messmarken und qualifizierte Beobachter,
ZU PARAGRAPH 28-29 149

also Menschen voraus; Tiere und Pflanzen reagieren nur


auf den Wechsel der Tages- und der Jahreszeiten. Im geo-
zentrischen System wie im heliozentrischen orientiert sich
die Zeitmessung am Lauf der Sonne. Mit deren >Ingang-
setzung< (durch die Natur >des Anderen<) und Sichtbar-
machung (s. §§ 31.52) beginnt die Möglichkeit, >Zeit< zu
beobachten und zu messen. Erwähnenswert erscheint der
Anklang an Psalm 103,19: έποίησεν σελήνην εις καιρούς·
ό ήλιος εγνω την δύσιν αΰτοϋ. »Er schuf den Mond, die
Zeit zu bestimmen; die Sonne weiß, wann sie untergehen
soll.« (Ubers. CI. Schedi) und Moses 1,1,14ff.

Der Cicero-Text wird sogleich wieder durch eine kleine Lücke (Platon jSc j -di)
unterbrochen.
Zur Überbrückung dieser kleinen Lücke hier Piaton (38c j-d 1):

Aus diesem Gedanken und Entschluss Gottes über das Werden der Zeit
sind also, damit diese geschaffen werden konnte, Sonne und Mond und
die fünf anderen Gestirne, die sog. Planeten, entstanden, damit sie die
Zahlenverhältnisse der Zeit begrenzen und über sie wachen sollen.
Nachdem der Gott diesen ihre Leiber geschaffen hatte, setzte er sie
dort, wo sich das Verschiedene im Kreise bewegte, in Umlauf, ihrer sie-
ben in sieben Bahnen: den Mond in die erste, die rings um die Erde
geht, die Sonne in die zweite, oberhalb der Erde, den Morgenstern aber
und jenen, der, wie man sagt, dem Hermes heilig ist, in der Weise, dass
sie einen Kreis beschreiben, der an Geschwindigkeit der Sonne gleich
ist, wobei sie aber einen ihr gegenläufigen Bewegungsimpuls bekamen;
daraus ergibt sich, dass die Sonne und der Stern des Hermes und der
Morgenstern einander einholen und entsprechend voneinander einge-
holt werden.
(Übers. R. Rufener)

Die Natur des >Andem< in Umlauf setzte: Der Anstoß geht


also nicht von der Natur >des Selben< aus; die Zeit ist
nichts Ewiges. - die Bahn des Mondes umkreist die Erde im
geringsten Abstand: Die Erde ist dabei als Mittelpunkt des
IJO ERLÄUTERUNGEN

Alls gedacht. Die Aussage über den Mond gilt natürlich


auch im heliozentrischen System. - oberhalb der Erde die
sonnennächste Bahn: Lucifer (eosphoros: der >Morgenbrin-
ger< - Venus) und Merkur. Die Sonne zählt im geozentri-
schen System zu den Planeten. - mit gleicher Geschwindig-
keit wie die Sonne: Diese Angaben entsprechen allenfalls
dem Augenschein. Je weiter außen ein Planet liegt, desto
geringer ist seine Umlaufgeschwindigkeit. - Lucifer, Mer-
kur und Sonne haben Begegnungen: Opposition, Konjunk-
tion, Quadratur; erste Erklärungsversuche für diese Phä-
nomene lieferte Eudoxos aus Knidos durch Annahme von
vier Sphären. Zur Veranschaulichung s. Abb. i.

3 0 ( 3 8d 6 - 3 9 a 5)
Grund, den restlichen Gestirnen ihren Platz anzuweisen:
Dieses Problem wird ausgeklammert. - Nachdem ein jedes
derjenigen Gestirne ... die ihm gemäße Bahn eingenommen
hatte: s. Abb. 2.-6. - nachdem aus ihren durch beseelte Bän-
Z U P A R A G R A P H 29-30 IJI

Abb. 2: Planetensystem antik: Schnitt in der Eben der Ekliptik nach Piaton,
Staat X 6i6d ff.
Dieselbe Reihenfolge der Planeten auch Timaios 38c, doch sind im Timaios
die Distanzen andere (1 : 2 : 3 : 4 : 8 : 9 : 27)

der verbundenen Körpern Lebewesen geworden waren: s.o.,


§ 13. - ihren Auftrag auszuführen gelernt hatten: s. o., § 21. -
liefen sie aus der schrägstehenden Bahn der >anderen Natur<
in die Bahn der >selben Natun hinein: Gemeint sind der
Himmelsäquator und die Ekliptik, die mit ihm einen Win-
kel von 23,5o bildet. - langsamer die auf der weiteren,
schneller die auf engeren Bahn: s. dazu o. § 29. - schienen ...
trotz ihrer Schnelligkeit von den langsameren überholt zu
ERLÄUTERUNGEN

Abb. }: Planetensystem modern: Sonne (im Zentrum), Merkurbahn (stark


exzentrisch), Venus-, Erd-, Mars- und Jupiterbahn. Die radialen Linien
deuten die Stellung der Längsachsen der Bahnen an.

werden: Es geht wieder um die scheinbare Schleifenbil-


dung von Planetenbahnen; s.u., Abb. 5.6.

31 (39a 5-e 1)
alle Kreisbahnen ... legte die Gottheit gleichsam als Spiralen
an: Cicero schreibt quasi helicae inflexione vertebat, das
entspricht Piatons στρέφουσα έλικα. Bei geozentrischer
Betrachtung durchläuft die Sonne im Laufe eines Jahres
eine Spiralenbahn zwischen dem Nördlichen und dem
Z U P A R A G R A P H 30-31 'S3

POL

Abb. 4: Himmelskugel mit aufrecht gestellter Achse. Drei Parallelkreise.


Ekliptik mit den Symbolen des Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winter-
punktes. Neigung gegen den Äquator 23 .' Grad.

Südlichen Wendekreis. - ein klares Maß: Dieses >Maß< ist


weder ethisch noch ästhetisch zu verstehen, sondern im
Sinne von >messbar machende ut esset mensura quaedam
evidens - ϊνα Ò' εϊη μέτρον εναργές. - in den acht Bah-
nen: die sieben Planeten, (zu denen auch die Sonne, nicht
aber die Erde zählt) und die Fixsternsphäre. - die Sonne ...
auf der zweiten Bahn oberhalb der Erde: Zwischen der Erde
im Zentrum des Alls und der Sonne liegt die Mondbahn. -
die belebten Wesen, die Anspruch auf Belehrung hatten: Hier
trifft sich das Interesse der Pythagoreer mit der Planung
der Schöpfergottheit: Die Geschöpfe haben einen An-
154 ERLÄUTERUNGEN

Abb. j: Schlingen und Schlangenlinien der Planeten. Das Widderbild bleibt


unverändert.

H I M M

Abb. 6: Jupiterbahn, sonnenzentrisch gleichmäßig rechtsläufig, erdzen-


trisch scheinbar rechts- und rückläufig
Z U P A R A G R A P H 31-33 155

titfSTin XouAro*MKKT

0»>UNKI OirPUNKf
A b b . 7: S c h e m a der Jahresschraubenbahn der Sonne am ruhenden
H i m m e l , v o m A u ß e n p o l aus gesehen. L i n k s A u f s t i e g im Frühling, Rechts
A b s t i e g im S o m m e r . D i e äußeren Kreise bedeuten den Ä q u a t o r , die inneren
den nördlichen Wendekreis.

spruch (jus) darauf, die Natur der Zahlen und deren große
Macht erkennen zu können. Bei Piaton steht: τά ζ ω α ,
δσοις ήν π ρ ο σ ή κ ο ν ... (Vgl. Platon, Rep. 6i6b., Phaidros
246 ff., Leg. 890 ff.

32 (39c I - C 5)
Definition des Begriffes >Tag< als (24-Stunden-)Summe
von Tag und Nacht, des Monats und des Jahres.

33 (39c 5-d 7)
sehr wenige: Nach Piatons Kenntnis beschäftigte sich nur
ein enger Zirkel ernstlich mit Astronomie. - vermeintliche
Irrläufe: Gemeint sind die scheinbaren Schlingenbewegun-
gen ilusiones et errores § 37) der Planeten, genauer v. a. die
der >äußeren<. Eudoxos aus Knidos (391-337 v.Chr.) wird
ihnen den Namen >Hippopede< (Pferdefessel) geben; man
könnte die Bahnfigur auch als brezelähnlich bezeichnen
(s. dazu Abb. 5, S. 154). - Und dennoch kann man durch-
schauen und begreifen: Darauf vertrauen die Pythagoreer:
Die Bedeutung dieses Eppuro-Satzes (εστίν δ' ομως ουδέν
ήττον κ α τ α ν ο ή σ α ι δυνατόν) sollte nicht unterschätzt
werden. Seine radikale Absage an alle mythologischen Spe-
1,6 ERLÄUTERUNGEN

kulationen auf diesem Gebiet ist identisch mit der Auffor-


derang zur rationalen Erforschung der Phänomene mit ma-
thematischen und physikalischen Methoden, also mit der
vis numerorum (§ 31). Cicero verschärft diese Zielvorgabe
noch. - das absolute und perfekte {Große) Jahr: s.o., § 32. -
zum selben Ausgangspunkt: zum Widderpunkt zur Zeit der
Frühjahrssonnenwende. - Bezugssystem: Alle astronomi-
schen Messungen setzen ein (am Himmel nicht sichtbares)
Bezugssystem voraus. Im Falle des Timaeus besteht es aus
dem Himmelsäquator und der Ekliptik (Sonnenbahn). Die
Beobachtungsmöglichkeiten sind abhängig vom jeweiligen
Entwicklungsstand der Feinmechanik. Das dioptrische
Fernrohr wurde erst zu Beginn des 17. Jahrhundert in Hol-
land (von Jan Lipperhey, Jakob Metius oder Zacharias Jan-
sen) erfunden, das astronomische 1611 von Johannes Kepler.
Neue Erkenntnisse waren die baldige Folge.

3 4 (39d 7-e 9)
Aus diesen Gründen: vgl. o., § 9f. (Grund für die Erschaf-
fung des Alls). - als Abbild des Ewigen am nächsten kommt:
bezüglich des sich selbst immer gleichbleibenden >Sel-
ben<. - als Kopie von dem, was sie nachgestaltete: vgl. dazu
o., § 3. - Alle Formen von Lebewesen: Das All muss alle
denkbaren Formen von Lebewesen in sich schließen, weil
es andernfalls nicht vollkommen wäre (s. dazu u., § 41).

3 5 (39 e I0-
4 ° a 7)
vier Arten von Lebewesen: Sie entsprechen den vier Ele-
menten Feuer, Luft, Wasser, Erde; vgl. Piaton, Leg. 823b,
Soph. 22ie. (Das Pflanzenreich bleibt hier offenbar unbe-
rücksichtigt.) - Die Art mit der stärksten göttlichen Besee-
lung: Gemeint sind die Gestirne. Hier erstmals eine An-
deutung, dass die Seelensubstanz weder quantitativ noch
Z U P A R A G R A P H 33-36 157

qualitativ einheitlich verteilt wird; s. dazu u., §§ 41.42. -


rundete er sie zur Kugelgestalt: Mit freiem Auge ist die Ku-
gelgestalt nur für Sonne und Mond offensichtlich, beson-
ders gute Augen mögen sie auch beim Mars beobachten.
Die von der Theorie geforderte Übertragung auf alle Pla-
neten bestätigte sich erst, als das Fernrohr erfunden
wurde). Bez. der sog. Fixsterne besteht die Vermutung
weiter. - machte sie (sc. diese Ari) zur Begleiterin der Weis-
heit des besten Geistes (d. h. des Sichselbstgleichen) : Lambinus
schreibt comitemque eum sapientiae quam optimae mentis
effecit (die Codices haben sapientiamque). Das stimmt
nicht zu Piaton: »Und er setzte sie dem vernünftigen Den-
ken des Mächtigsten als dessen Begleiterin ein, indem
er ...« (τίθησίν τε εις την του κρατίστου φρόνησιν
έκείνω συνεπόμενον). - verteilte sie gleichmäßig über den
ganzen Himmel hin: Wenn die Fixsterne eingeschlossen
sind, mag diese Behauptung leidlich angehen. Eigentlich
spricht die Verdichtung der Gestirne im Bereich der Milch-
straße dagegen. Bei Piaton steht im übrigen »im Kreise«
(κύκλω), nicht ομοίως o. ä. - die Griechen nennen diese ...
Art >Kosmos<, wir Lateiner >das leuchtende All· (lucens mun-
dus): Hier hat Cicero leider darauf verzichtet, ein adäqua-
tes lateinisches Wort einzuführen.

36 (40a j-b 8)z


verlieh den göttlichen Wesen zwei Arten von Bewegung:
Wie der vorletzte Satz des Paragraphen 36 zeigt, sind hier
die Fixsterne gemeint. Die >eine< Bewegung ist die Kreis-
bewegung mit der gesamten Fixsternsphäre, die >zweite<
die nach vorne (in anticam partem), d. h. die Fixsterne ken-
nen - anders als die Planeten - keine »Rückwärtsläufe«.
Diese beiden Bewegungsarten aller Himmelskörper finden
sich zuerst bei Piaton; vgl. Herakleides, fr. 50 V. - des Ahn-
i58 ERLAUTERUNGEN

lichen: similis ist hier - wie im Timaeus immer - als (sem-


per) sui similis zu verstehen. - die fünf übrigen Bewegungs-
arten: rückwärts, aufwärts, abwärts, nach links und nach
rechts; vgl. o., § 19. - am Himmel festgeheftete Gestirne: die
Fixsterne (suis sedibus inhaerent et perpetuo manent). - um-
herschweifend und in veränderlichem Irrlauf dahingleiten:
die Planeten (πλανήτες, zuerst bei Xenophon, Mem.
4,7,5, von πλανάσθαι >umherirren<), in älterem Deutsch
auch >Wandelsterne< genannt (vaga et mutabili erratione la-
buntur). Oben, in Paragraph 33, waren die >Irrläufe< (side-
rum errores) als für nur wenige Menschen durchschaubar
und als dennoch berechenbar bezeichnet worden (ac tarnen
illud perspici et intellegipotest); s. auch u. § 37 (lusiones deo-
rurrì). W. Burkert datiert die Memorablien auf die Jahre
357/355. Daraus könnte ein Argument für die Datierung
des Platonischen Timaios gewonnen werden.

3 7 (40b 8-d 5)
eine (durch sie) hindurchlaufende Achse: die Erdachse, wo-
mit gesagt ist, dass die Erde um diese Achse rotiert; denn
welchen anderen Zweck sollte sie denn haben? - Tag und
Nacht bewirkt: infolge der Erddrehung in je 24 Stunden. -
die wichtigste aller Gottheiten: Nach Hesiod (Theogonie
116 ff.) brachte Gaia den Himmel und das Meer hervor.
Dass neben dieser mythologischen Auffassung an die Rolle
des Elements >Erde< gedacht ist (s.o. § 13: solidum nihil,
quod terrae sit expers), ist weniger wahrscheinlich. - die
Tanzspiele (der Planeten) ... mit bloßen Worten erklären:
Das wäre in der Tat zu schwierig. Daher der Hinweis auf
ein Modell. Daraus ist zu entnehmen, dass es zu Piatons
Zeit solche Modelle gab, möglicherweise Vorläufer der
späteren Astrolabien, wie sie offenbar Ptolemaios (3. Jh.
n.Chr.) kannte. Ein früher Vorläufer war möglicherweise
Z U P A R A G R A P H 36-39 159

die für Anaximander (VS 12 Α 1) bezeugte σφαίρα. - de-


nen, die nichts davon verstehen, Schrecken einjagen: Man
kann sich heute kaum mehr vorstellen, dass eine Mond-
oder Sonnenfinsternis die Menschen in Angst und Schrek-
ken versetzte. Als aber Thaies (VS 11 A 5) die Sonnenfin-
sternis vom 28. Mai 585 v.Chr. vorhersagte, galt das als
eine Sensation, von der man Jahrhunderte hindurch
sprach; siehe dazu auch Cicero, Rep. i.2iff. - habe hier ein
Ende: ein deutliches Gliederungssignal.

38 (4od 6 - e 4)
Daimonen (δαίμονες): Die olympischen Götter und auch
alle sonstigen Gottheiten werden damit entthront. An ihre
Stelle tritt eine grundsätzlich monotheistische Gottesvor-
stellung. - Laren ... richtige Ubersetzung: Die Lares waren
etruskische und römische Schutzgottheiten. Ihre Gleich-
setzung mit >Dämonen< mag angehen; der Position, die die
olympischen Götter in den staatlichen Kulten und im öf-
fentlichen Bewusstsein hatten, wurde sie nicht gerecht. -
Man muss den ... Uralten glauben: Den offenen Bruch wagt
Piaton nicht. Sokrates war u.a. wegen der Einführung
neuer Götter< angeklagt und verurteilt worden. - noch
durch sichere Vernunftgründe bestätigt: So weit konnte Pia-
ton gehen, wenn er (wie Sokrates im Kriton 54b) versi-
cherte, man müsse dem alten Brauch gehorchen.

3 9 (4°e 3 - 4 " 3)

Ursprung dieser Götter: s.o., § 38. - Oceanus/Okeanos:


Sohn des Caelus/Uranos und der Terra/Gaia. - Salacia/Te-
thys: eine Meergottheit, Tochter des Caelus/(Uranos und
der Terra/Gaia, als Gemahlin des Oceanus/Okeanos bei
Varrò, L. L. 5,57, und Servius, ad Verg. Aen. 10,76 erwähnt. -
Caelus/Uranos: Vater des Oceanus/Okeanos; bei Ennius,
ι6ο ERLÄUTERUNGEN

Ann. 27, Cicero, De natura deorum 2,63 als Vater des


Saturnus genannt. - Terra/Gaia: Mutter des Oceanus/
Okeanos und der Salacia/Tethys. - Saturnus/Kronos: einer
der Titanen, Gemahl der Ops/Rheia, Vater des Iuppiter/
Zeus. - Ops: mit der Rheia/Kybele identifizierte Gott-
heit. - Iuppiter/Zeus, Iuno/Hera: Kinder des Saturnus/
Kronos und der Ops/Rheia/Kybele - Geschwister: in den
oberen Rängen der Götterwelt war Geschwisterehe unver-
meidlich. - Die mythologische Genealogie kennt viele Va-
rianten. - Sippschaft: prosapia ist (nach Quintilian 1,6,40)
ein archaisches Wort, das eigentlich verpönt war. Wahr-
scheinlich ist es auch im Timaeus eher unfreundlich ge-
meint.

Caelus Terra
Uranos Gaia

Oceanus 00 Salacia Saturnus 00 Ops


Okeanos Tethys Kronos Rheia/Kybele

h"
3000 Okeaniden Iuppiter co Iuno
Zeus Hera

(Zeus ist der jüngste Sohn, Hera die j. Tochter)

4 0 (41a 3-b 6)
gegen meinen Willen nicht auflösbar: Alles Geschaffene ist
auflösbar, also auch das All. Zur Unzerstörbarkeit s.o.,
§§ 15.28 und u., § 42. - gewiss nicht unsterblich und unzer-
störbar: Die olympischen Götter trifft das hart; vgl. o.,
§ 38. - mein Beschluss, der ein festeres Band für eure bestän-
dige Existenz ist: Der (ewige) Schöpfergott ist allmächtig. -
jene Bänder, durch die ihr verbunden worden seid: s. dazu
o., § 13.
Z U P A R A G R A P H 39-42

4 1 (41b 6 - d 3)

drei weitere Arten, und zwar sterbliche: in der Luft, im Was-


ser, auf der Erde lebende Wesen; s.o., § 35. - gäbe es keine
Vollkommenheit des Alls: Dem All darf es an nichts mangeln.
Zu diesem Beweisgang vgl. o., §§ 12.16. - die Lebensdauer
von Göttern erreichen: Bei Piaton steht deutlicher: »sie wür-
den den Göttern gleich« (θεοΐς ίσάζοιντ' άν). - unter der
Bedingung der Sterblichkeit gezeugt: Die Gottgleichheit ist
dem Menschen versagt, aber den Weg zu den Sternen kann
er gehen; s.u., § 45 {adilludastrum, quocum aptusfuerit, re-
vertetur). - sollt ihr es übernehmen, sie zu zeugen: Die Men-
schen werden den Planetengöttern anvertraut (die damit
eine Art von Schutzengelfunktion zu erfüllen haben.) Die
Menschen haben den Vorrang unter allen beseelten Wesen
inne und werden »von göttlichem Geschlecht« genannt. - nach
Recht und Gesetz willig gehorchen: Worin >Recht und Ge-
setz< bestehen sollen, bleibt zunächst ungesagt; s. jedoch u.,
§ 43. Der hier geforderte willige Gehorsam schließt die Wil-
lensfreiheit nicht aus. Dies ergibt sich aus der im weiteren
beschriebenen Seelenwanderung; s. dazu u., §§ 42-45. - ihre
Zeugung wird euch von mir übertragen: Der Mensch wird -
im Auftrag der Schöpfergottheit - von einem der Planeten-
götter gezeugt, indem dieser zu dem, was unsterblich ist -
also zur Seele - den sterblichen Teil - also den Körper - hin-
zugibt (Piaton: προσυφαίνων »hinzuwebend«). - Damit ist
freilich auch der Weg zur Astrologie vorgezeichnet. - Wesen,
die ihr im Leben nähren und nach ihrem Tod ans Herz drücken
werdet: Diese Inaussichtstellung gilt mit der Einschränkung,
dass der Mensch sich an >Recht und Gesetz< hält.

4 2 (4id 4 - d 7)
kehrte zu seiner früheren Mischarbeit zurück: aus der Bilder-
welt des Handwerks. - nicht so unzerstörbar wie das, was
162 ERLÄUTERUNGEN

>immer das Selbe< ist: Es bleibt unklar, wieso etwas Unzer-


störbares nicht ganz so unzerstörbar sein kann wie das Un-
zerstörbare der ersten Qualität; denkbar wäre >leichter<
bzw. >nicht so leicht< zerstörbar. Es bleibt auch offen, wel-
che Wesen mit diesen minderen Qualitäten ausgestattet
werden. Piaton beschreibt den Mischvorgang wie folgt: τά
πρόσβεν υπόλοιπα κατεχειτο μίσγων τρόπον μέν
τινα τόν αυτόν, άκήρατα δέ ούκέτι κατά ταύτα
ωσαύτως (»... aber nicht mehr so gleichmäßig rein«);
άκήρατος χρυσός »lauteres« Gold. - zweite und dñtte
Qualität: Die Qualitätsunterschiede sind offenbar das Re-
sultat einer Resteverwertung.

43 (4id 8-42a i)
teilte ... den Planeten eine gleiche Zahl von Seelen zu: im Voll-
zug der Ankündigung o., § 41 (quorum vobis initium satusque
tradetura me). - verkündete ihnen die schicksalhaft bindenden
Gesetze: s.o., § 41 (vobisque iure et lege volentespareant). -
dass ihnen allen bei ihre erstmaligen Geburt genau dasselbe zu-
geteilt werde: Die Gleichheit ist nur dieses eine Mal gege-
ben. - in bestimmten Zeitintervallen entstehe ein Lebewesen,
das sich für die Verehrung der Götter in besonderem Maße eig-
net: Die Andeutung bleibt dunkel. Es kann nicht gemeint
sein, dass ein Mensch, der iuste vixerit (s.u., § 44) nur >alle
heiligen Zeiten« auftreten werde. Damit hätte der Welten-
schöpfer eine vielleicht realistische, aber doch völlig de-
motivierende Norm gesetzt. Bei Piaton steht an dieser Stelle:
»... dass sie (die Seelen) dann, wenn sie auf die Werkzeuge
der Zeit gesetzt seien, die einer jeden zukommen, zu dem
Lebewesen werden sollten, das am besten die Götter zu ver-
ehren wisse« (Übers. R. Rufener). Der Mensch ist demnach
generell als das ζφων τό θεοσεβέστατον angelegt, als das
gottesfiirchtigste unter allen Lebewesen.
Z U P A R A G R A P H 42-4; 163

44 (42a i - b 2)
die vorzüglichere Art... die Männer: Nach heutiger Auffas-
sung ein Skandalon, nach damaliger zwar nicht galant,
aber wahrscheinlich nicht anstößig. - ein gemeinsames
Empfindungsvermögen: Die Geschlechter müssen sich ver-
ständigen können (sensus unus ... communisque omnium -
αισθησις μία πάσιν). - aus Lust und Leid gemischte Liebe
(voluptate et molestia mixtus amor - ήδονη και λύπη με-
μειγμένος ερως): voluptas - molestia bei Cicero, De re
publica 3, fr. ι, De finibus 1,32.37.56, Tusculanae disputatio-
nes 5,103. Fragm. 2,4, aber nie in Verbindung mit amor. -
Zorn und Furcht und die übrigen Seelenregungen (ira et me-
tus et reliqui motus animi - φόβος καί θυμός όσα τε
επόμενα αύτοΐς,).· ira ~ metus bei Cicero, Tusculanae dis-
putationes 4,21, also keine für Cicero typische Kombina-
tion. - durch Vernunft beherrschen: Nun wird die Ethik ins
System eingebaut. Der Mensch, ob Mann, ob Frau, mit
gleichen Seelenregungen konfrontiert, wird daran gemes-
sen, wie er mit ihnen zurechtkommt. - gerecht/ungerecht
leben: Wer in seinem Leben seine Affekte beherrschen
konnte, hat gerecht gelebt, wer nicht, ungerecht. Der Be-
griff >Tugend< (virtus - άρετή) - er bezeichnet im Timaeus
die allein dem Schöpfergott zukommende Vollkommen-
heit - fällt hier nicht. Die Ethik ist auf den Intellekt gegrün-
det. Die Art der Lebensführung bleibt nicht ohne Konse-
quenzen, da der Mensch für sein Tun um so mehr
verantwortlich ist, als er durch seine Verbindung mit dem
>Selben< jederzeit feststellen kann, wie er zu handeln hat; s.
dazu o., § 27; u., § 46.

45 (42b 3 - d 2)
wer den ... Lebensweg richtig und mit Anstand vollendet
(iuste vixerit): s.o., § 44; die stoische Maxime όμολο-
164 ERLÄUTERUNGEN

γουμένως ζην (ομολογουμένως, zuerst bei Xenophon,


Apol. 27) scheint sich darin vorzubereiten. - wird zu dem
Gestirn ... zurückkehren: s.o., § 41 (vos suscipite ...). - wer
maßlos und unbeherrscht gelebt hat: s.o., § 44 (iniuste (vi-
xerìt)). - eine zweite Geburt: kein Widerspruch zu § 43
(et ostendit ρ r i m u m ortum unum fore omnibus). - mit
einem Frauenleib versehen: vgl. dazu o., § 44 (qui essent fu-
turi viri ...). - den seinem Betragen entsprechenden Körper:
Der weitere Abstieg reicht bis zum Tier. - Ende seiner
Übel: Die Rückkehr zur eigentlichen Bestimmung ist mög-
lich. Wie ein >Wildtier< sie schaffen kann, wird nicht erör-
tert. - jenem Umschwung zu folgen: zum eingeborenen
Umschwung des Selben< s.o., § 30. - wenn er ... durch Ver-
nunft vertreibt: Die Seele ist in den chaotischen Zustand
der Elemente vor der Erschaffung des Alls zurückgefallen;
s. dazu o., § 9 (immoderate agitatum ...). - zur ursprüngli-
chen und besten Verfassung seiner Seele gelangen: Sie besteht
in der Übereinstimmung mit >dem Umschwung des Sel-
ben« (sequi conversionem, quam habebit in se ipse eiusdem
. . . ) . - Nicht erörtert ist, was mit den Gerechten geschieht,
nachdem sie in sinu deorum iuniorum (s. § 41 a.E.) ange-
langt sind. Da die Gesamtmenge der Seelenmaterie offen-
bar begrenzt ist (§ 43: sideribus parem numerum distribuii),
wird die der Gerechten wohl wiederverwendet werden
müssen. Wie aber bleibt deren Individualität erhalten?
Man denke an die Vision des Sokrates in der Apologie (40e
7 ff.), die freilich einen Hades voraussetzt.

46 (42d 2-e 4)
jede Verantwortung von sich weisen: Der Mensch ist wohl-
ausgestattet; was er mit seinen Gaben anstellt, hat er selbst
zu verantworten. - verteilte er die einen ... : auf die Plane-
ten, zu denen auch die Sonne und der Mond zählen. - er-
Z U P A R A G R A P H 45-47 165

laubte er den jüngeren Göttern: s. o., § 41. - ich will sie ein-
mal so nennen: vgl. dazu o., §§ 38.40. - soviel noch übrig
waran Menschenseelenstoff: Hieraus ist zu folgern, dass der
Menschenseelenstoff nur in begrenzter Menge zur Verfü-
gung steht; s. dazu o., § 41 a. E. Der Umgang mit ihm wird
wieder mit dem Vokabular aus der Welt der Handwerker
ausgedrückt. - dass sie sich als ... Führer anböten: s.o., § 41
a.E. - sofern es sich nicht durch eigene Schuld selbst ins Un-
glück stürzt: Der Gedanke der Eigenverantwortlichkeit des
Menschen wird hier noch einmal hervorgehoben.

47 (42e 5-43» <>)


blieb unwandelbar: Dies ist bei dem Schöpfergott eigent-
lich selbstverständlich, - folgten der Anordnung ihres Erzeu-
gers: Wie die Geschöpfe der Planetengötter diesen gehor-
chen (s.o., § 41), so die Planetengötter dem Willen ihres
Erzeugers. - der unsterbliche Keim des sterblichen Lebewe-
sens: entsprechend der Erschaffung des Alls; s.o., § 21 f. -
taten sie es ihrem Erzeuger ... gleich: Der Vorgang dieser
Nachahmung wird im folgenden entsprechend den Vor-
gängen bei der Erschaffung des Alls beschrieben. - Teil-
chen von Feuer, Erde, Wasser und Luft: die vier Elemente;
s.o., § 13. - die sie wieder zurückzugeben hatten: Hiermit
wird die Frage vorbereitet, was mit dem Menschen gesche-
hen soll, wenn er nach einem gerechten Leben (si iuste vi-
xerit; s.o., § 44 a.E.) zu dem Planeten, dem er zugeordnet
ist, zurückkehrt (quos et vivos alatis et consumptos sinu re-
cipiatis; s.o., § 41 a.E.). Offenbar ist an eine Wiederver-
wendung des >Seelenstoffes< gedacht. Erlischt damit das
ans Ziel gelangte Individuum? - Fesseln ... die wegen ihrer
Kleinheit unsichtbar sind: Diese vincla (δεσμοί) en minia-
ture entsprechen den bei der Erschaffung des Alls verwen-
deten; s.o., § 23. - winzige Pflöckchen: dem Bild cuneolis
ι66 ERLÄUTERUNGEN

inliquefactis unum efficiebant... corpus entspricht bei Platon


π υ κ ν ο ΐ ς γόμφους σ υ ν τ ή κ ο ν τ ε ς (»mit zahlreichen Stiften
verschmelzend«). - dieser Leib, der aufnimmt und ausschei-
det: Anders als das All haben die sekundären Geschöpfe
Stoffwechsel; s. o., § 18. - in die Umschwünge der göttlichen
Seele einbinden: Abschluss der Zusammenfügung von Leib
und Seele.

48 (43a 6 - b 4)
wie in einen Strom eingebunden: Die Konstruktion musste
sich dem Ansturm des Neuen erst anpassen: Das ganze
Lebewesen geriet zunächst in eine regellose und zufallsab-
hängige Bewegung. - jene: die Umschwünge {ambitus). -
wurden bedrängt: Die Beschreibung erinnert an die des
chaotischen Zustandes der Materie vor Beginn der Er-
schaffung des Alls; s. o., § 9. - sechs Richtungen: Es werden
sieben Bewegungsrichtungen unterschieden; s.o., § 19.
Die kreisende ist hier ausgeschlossen. Sie kommt - außer
der göttlichen Seele - nur dem All und den Planeten zu,
die darüber hinaus nur noch die vorwärts gerichtete ken-
nen; s. o., § 36. - Der Gedanke läuft auf die Einführung der
Sinneswahrnehmungen (αισθήσεις) hinaus. Ihr Ansturm
löst die beschriebenen Störungen aus. Der Text Piatons
wendet sich danach (43c 6) folgerichtig den Sinnesorganen
zu, zunächst dem Auge.

48/49 (43b 4 - 4 6 a 5)
Lücke im Cicero-Text (Piaton 43b ^-^éa}), entsprechend ca. 102 Oxoniensis-
Zeilen.
Man könnte die Frage stellen, ob sich die vorliegende Textlücke nicht doch
zum Teil aus der Unlust Ciceros erklärt, die etwas weitschweifigen Ausführun-
gen Piatons ausführlich wiederzugeben. Dagegen spricht das abrupte Abbre-
chen und Wiedereinsetzen des Textes. Es handelt sich wohl eher um den Ver-
lust des mittleren Blattes eines Quatemio.
ZU PARAGRAPH 47-49 167

Zur ieilweisen Üherhrückttng der Lücke hier die Fortsetzung des Paragraphen
bei Piaton:
43b 5:
Groß war ja schon die Woge, die dem Leib die Nahrung brachte, wobei
sie ihn überspülte und wieder abfloss; eine noch größere Erschütterung
ergab sich aber für jedes einzelne dadurch, dass sie den Zusammenprall
mit anderen Gegenständen erlitten,
- wenn etwa ein Leib von außen her mit einem fremden Feuer zusam-
menstieß
- oder einem festen Stück Erde
- oder mit der gleitenden Nässe des Wassers
- oder wenn er vom Wehen der Luftströmung erfasst wurde
- und dann durch die Einwirkung von alledem die Bewegungen durch
den Leib weitergetragen wurden und auf die Seele stießen -
deshalb bezeichnete man diese auch als Wahrnehmungen (αισθήσεις)
und nennt sie alle auch heute noch so.

43c 7-
Und indem sie schon im damaligen Augenblick die größte und stärkste
Bewegung hervorriefen, brachten sie, weil sie mit dem unablässig flie-
ßenden Strom die Umläufe der Seele in Bewegung setzten und heftig er-
schütterten, vor allem die Bewegung des >Selben< (Identischen) durch
ihr Entgegenströmen gänzlich zum Stillstand und hemmten nicht nur
ihre Herrschaft, sondern auch ihren Lauf.
43d 3:
Andererseits brachten sie aber auch die Bewegungen des »Verschiede-
nen« in Unordnung, was zur Folge hatte, dass sie je drei Abstände des
Zweifachen und des Dreifachen und die Zwischenglieder und Verbin-
dungsstücke zwischen dem Anderthalb ('/,), dem Vierdrittel (V3) und
dem Neunachtel ('/¡), die durchaus nur von dem aufgelöst werden konn-
ten, der sie zusammengeknüpft hatte - dass sie also diese auf alle Arten
verdrehten und alle Brüche und Beschädigungen der Kreise verursach-
ten, die es nur geben konnte, dergestalt, dass sie in ihrem Lauf kaum
noch einen Zusammenhang hatten, sondern sich ohne Vernunft bewe-
gen,
- einmal in entgegengesetzter Richtung,
- ein anderes Mal schräg nach der Seite
- und dann wieder kopfüber;
wie wenn ein Mensch den Kopf nach unten auf die Erde stützt, die Füße
aber nach aufwärts streckt und so einem anderen gegenübersteht; da er-
ι68 ERLÄUTERUNGEN

scheint in dem gegenseitigen Zustand, in dem sich sowohl der Betref-


fende als auch der Betrachter befinden, das, was für den einen rechts
ist, dem anderen links und das, was dem einen links ist, dem anderen
rechts ...
(Übers. R. Rufener)

Zum Anschluss des Endes der Lücke an Cicero, 5 49:


46a 2:
Wie aber die Bilder in den Spiegeln entstehen und auf allen glänzenden
und glatten Gegenständen, das ist nun nicht mehr schwierig einzusehen.
Denn jedesmal, wenn infolge der gegenseitigen Verbindung der beiden
Feuer, desjenigen in uns und desjenigen außerhalb von uns, die beiden
auf der glatten Fläche in einem Punkt zusammentreffen und dort auf
vielfache Weise verändert werden, so ergeben sich alle Erscheinungen
dieser Art mit Notwendigkeit, indem sich das vom Gegenstand ausge-
hende Feuer, das sich um das Angesicht herum befindet, mit dem Feuer
um den Sehstrahl herum auf der glänzenden und glatten Oberfläche fest
verbindet.
(Übers. R. Rufener)

49 (4<ia S-c 7)
wenn einer von diesen [Feuerstrahlen] auf eine polierte,
glänzende Spiegeloberfläche (wörtl. in der Glätte und im
Glanz) trifft: Nach moderner Vorstellung setzt der Sehvor-
gang eine Lichtquelle voraus, die ein Objekt beleuchtet.
Das vom Objekt reflektierte Licht trifft das Auge und wird
in ihm weiterverarbeitet. Die antike Vorstellung besteht
darin, dass ein (feuriger) Sehstrahl (πυρ) vom Auge auf
das Objekt ausgeht, ein ebensolcher aber auch vom Objekt
auf das Auge wirkt (wenn das den Augen (entströmende)
Feuer sich eng mit dem Feuer verbindet, das (vom Objekt
ausgehend) sich gegen das Gesicht ergießt)·, jede Materie
enthält ja auch einen Anteil vom Element Feuer. Der Spie-
geleffekt entsteht demnach dann, wenn beide Feuer sich in
e i n e m Punkt der Spiegeloberfläche treffen, (ένός περί
την λειότητα έκάστοτε γενομένου. Diesen Teilsatz
Z U PARAGRAPH 49-jo 169

scheint Cicero missverstanden oder undeutlich wiederge-


geben zu haben.) Der antike Spiegel bestand aus Metall;
die spiegelnde Fläche >hatte Glätte und Glanz<, d.h. sie
war fein geschliffen und poliert. - wenn die glatte Spiegel-
fläche nach den Rändern hin erhöht ist (wörtl. : von hier und
von dort Höhe angenommen hat - ενθεν και ενθεν υψη
λαβοΰσα): Das weitere betrifft also den Hohlspiegel. - Bei
den genannten Spiegeleffekten steht der Spiegel parallel
zum Betrachter. Wenn der Spiegel hingegen im rechten
Winkel zum Betrachter steht, entstehen kopfstehende Bil-
der, z.B. bei der Spiegelung eines Gebäudes in einem See.

JO (46c 7 - d 7)

Alle diese Erscheinungen sind von der Art, dass sie die Ursa-
chen der Dinge unterstützen: Zusammenfassend zu den
bisherigen Ausführungen über die Sinneswahrnehmung
durch das Auge. - der Schöpfergott verwirklicht die Idee des
(möglichst) Besten: (vgl. o., § 12 u.ö.) mit Hilfe (ministeriis
utitur) der causae. - Hilfsursachen ... eigentliche Ursachen:
Die causae adiuvantes (συναίτια) spielen (auch als proxi-
mae bezeichnet) in den philosophischen Werken Ciceros
nur in De fato 41 (dreimal) eine Rolle, dort ausdrücklich als
stoisches Gedankengut (inquit Chrysippus) bezeichnet. Ih-
nen sind die causae perfectae et principales gegenüberge-
stellt. Die ipsae causae (αϊτια) finden sich bei Cicero in De
divinatione 1,127 ( m it Verweis auf De fato), als Singular
(textkritisch unsicher) in den Libri Academia 2,63. Platon
verwendet das (merkwürdigerweise aus der Lyrik (s. Ai-
schylos, Agamemnon 1116) stammende Adjektiv schon im
Politikos 281c 4 und, in Gegenüberstellung zu αίτιος,
im Georgias 519b 1. Im Timaios 46d 1 deutet er an, dass die
Wertung der beiden Begriffe zur Zeit der Abfassung des
Dialogs strittig war. - Kraft abzukühlen, zu erwärmen, zu
170 ERLÄUTERUNGEN

verfestigen und zu verflüssigen: Die Änderungen der Aggre-


gatszustände unterliegen - der Mehrheitsmeinung zu-
folge - den ipsae causae·, sie entbehren jedoch jeder Intelli-
genz und Vernunft, (λόγον δέ ούδένα ουδέ νουν εις
ουδέν δυνατά εχειν έστίν), denn intellegentia atque ratio
eignen ausschließlich der Seele {animus - ψυχή). - die
Seele entzieht sich jeder Wahrnehmung durch die Augen:
s.o., §27 (animus ... oculorum effugit optutum) - ein Glos-
sem?)

51 ( 4 6d 7 - e 6)
Liebhaber von Vernunft und Weisheit (νου και έπιστήμης
έραστής): ein anderer Ausdruck für >Philosoph<. - die ers-
ten Ursachen in der vernünftigen und weisen Natur: iden-
tisch mit dem >Selben<, der >Natur des Selben< u. ä., vgl. o.,
§§ 21.22.25.27.29.30. - die zweiten Ursachen in den Dingen,
die andere zwangsläufig (necessario - έξ ανάγκης) bewe-
gen: mechanische Kräfte, die ohne Einsicht (prudentia -
φρόνησις) nur Unbeständiges (inconstantia - τό τυχόν)
und Wirres (perturbata - ατακτον) hervorbringen·, vgl.
dazu o., §§ 9.44. - auch wir: bei Piaton ποιητέον ... και
ήμιν. - von beiden Arten von Ursachen sprechen: zusam-
menfassend und wiederholend zu §§ 50.51.

52 (46e 6-4/b 2)
Von den die Augen betreffenden Hilfsursachen ... genug ge-
sagt: Piaton schreibt συμμεταίτια, meint also die Hilfsur-
sachen (joint-causes). Zur Formulierung eines gliedernden
Abschlusses vgl. z.B. o., § 37. - ihr außerordentlicher Nut-
zen: In der Cicero-Ubersetzung nicht mehr behandelt. -
Die Augen haben uns die Kenntnis der besten Dinge vermit-
telt: die Philosophie. - Vortrag ... über das Universum: der
Lehrvortrag (λόγοι) des Timaios/Nigidius. Ciceros Uber-
Z U P A R A G R A P H 50-52

Setzung ist auch unter dem Titel < Timaeus seu de universi-
tate< überliefert. Piaton schreibt περί του παντός. - Tage
und Nächte ...:s. dazu o., §§ 29 ff. - Anstoß zur Erforschung
des Weltalls: Aristoteles wird sich dieser Aufgabe anneh-
men. - haben wir die Philosophie erhalten: ein Lobpreis des
Sehvermögens, letztlich der Philosophie. - Diesen Gedan-
ken könnte Cicero durchaus für einen guten Abschluss ge-
halten haben. Jedenfalls lässt das Ende seiner Ubersetzung
kein Anzeichen einer Mutilation erkennen.

Mit 4yb 2 endet der Cicero-Text. Bis zum Ende 92c 9 fehlen ca. 60 Oxford-
Seiten. Bei Piaton fährt der Text fort wie folgt:

Das nenne ich denn also die größte Wohltat, die uns die Augen erwei-
sen; warum wollen wir aber auch all die anderen lobpreisen, die gerin-
ger sind? U m diese würde ja auch der, welcher kein Philosoph ist, falls
er erblinden müsste, jammern und vergebliche Tränen weinen. Das aber
soll von uns gesagt sein: die Ursache dafür, dass Gott für uns das Seh-
vermögen erfunden und es uns geschenkt hat, ist die, dass wir die U m -
läufe der Vernunft am Himmel betrachten und sie auf die Umläufe un-
seres eigenen Denkens übertragen können, die verwandt sind, wobei
freilich jene in ihrer Ordnung unerschüttert, die unseren dagegen durch-
einander gebracht sind; wenn wir dann diese genau kennengelernt und
uns die Berechnung ihrer Richtigkeit, wie sie der Natur entspricht, ge-
lungen ist, dann sollten wir die Umläufe des Gottes nachahmen, die in
gar keiner Weise irregehen, und dadurch jene in uns, die in die Irre ge-
gangen sind, berichtigen können.
(Übers. R . Rufener)

Die Übersetzung des Chalcidius endet erst mit 53c 3:


N u n c ad ordinationem genituramque eorum singillatim demonstran
convenit novo quidem et inusitato genere demonstrationis, verum vo-
bis, qui omnes eruditionis ingenuas vías peragravistis neque incognito et
ex levi admonitione perspicuo.
G L I E D E R U N G DES C I C E R O N I S C H E N
TIMAEUS

§§
ι Anlass des Gesprächs
3 Begriffsklärungen

Erster Ansatz:
8 Erschaffung des Weltkörpers
9 Motive der Schöpfergottheit
10 Das All, ein intelligentes Lebewesen
12 E i n All
13 Vier Elemente

Neuansatz:
21 Erschaffung der Weltseele
23 Intervalle
28 Meinungen und Zustimmungen
29 Erschaffung der Zeit, Planeten
(29/30 Lücke)
30 Weitere Gestirne
34 Vier Arten Lebewesen

Neuansatz:
38 Die >jüngeren< Götter
40 Rede des Schöpfergottes
41 Vorrangstellung des Menschen
174 G L I E D E R U N G DES C I C E R O N I S C H E N TIMAEUS

Neuansatz:
42 Zweite und dritte Seelenqualität
43 Seelenwanderung
47 Die alten Götter am Werk

Neuansatz:
(48/49 Lücke: Wahrnehmungsorgane)
49 Auge und Spiegel
51 Zwei Arten von Ursachen
52 Auge und Philosophie
LITERATURHINWEISE

Übersetzungen von Piatons Timaios

F. Schleiermacher, Piatons Werke, 3 Bde., Berlin 1804. - Bd. 3 1828. Nach-


drucke.
H. Müller, Piatons sämtliche Werke, mit Einleitungen von K . Steinhan,
8 Bde., Leipzig 1850-1866.
F. Susemihl / J . B. Metzler 1856.
Nachdruck in »Platon / Sämtliche Werke«, 3 Bde., hrsg. von E. Loewen-
thal, 6. Aufl. Köln/Olten 1969; Darmstadt 2004.
O. Kiefer, Piatons Timaios/Kritias/Gesetze X ins Deutsche übertragen,
Jena 1909.
O. Apelt, in Verbindung mit C . Ritter und G . Schneider, 7 Bde., Leipzig
1916-1926.
R. Rufener, in: Piaton, Spätdialoge Bd. 2, Zürich 1969 (mit einer Einleitung
v o n O . Gigon, S. X X X I I - L I ) .

Untersuchungen zu Piatons Timaios

E. Frank, Piaton und die sogenannten Pythagoreer, Halle 1923, 3. Nachdr.


Darmstadt 1962.
F. M. Conford, Plato's Cosmologie, London 1937.
T. Β. De Graff, Timaeus 41 A , in Classical Weekly 35 (1942) 244 f.
V. Goldschmidt, La religion de Platon, Paris 1949.
J . Sprute, Der Begriff der doxa in der platonischen Philosophie, Göttingen
1962 (Hypomnemata 102).
R. Giomini, Piatone Tim. 28e Cicerone Tim. 2.3, Rom 1963.
A . R. Sogdano, L'interpretazione ciceroniana di Tim. 41a 7 - b 6 nelle cita-
zioni testuali di S. Agostino, in: Rev. Augustin. 11 (1965) ijff.
G . E. L. Owen, The Place of the Timaeus in Plato' Dialogues, in: Studies in
Plato's Metaphysics, ed. by R . E. Allen, London 1965.
W. Scheffel, Aspekte der platonischen Kosmologie, Leiden 1976.
176 LITERATURHINWEISE

Untersuchungen zu Ciceros Timaeus

C . F. Hermann, De interpretatione Timaei Piatonis dialogi a Cicerone relic-


ta, (Diss.) Göttingen 1842.
F. Hochdanz, Quaestiones criticae in Timaeum Ciceronis e Platone trans-
scriptum, Nordhausen 1880.
C . Fries, Untersuchungen zu Ciceros Timaeus, in: Rhein. Mus. 54 (1899)
555«·
C . Fries, Untersuchungen zu Ciceros Timaeus, in: Rhein. Mus. 55 (1900)
18 ff.
C . Fries, Zu Ciceros Timaeus, in: Woch. f. Klass. Philol. 18 (1901) 246ff.
C . Fries, Zum Ciceronischen Timaeusfragment, in: Woch. f. Klass. Philol.
20 (1903) 1075 ff.
A. Engelbrecht, Zu Ciceros Übersetzung aus dem platonischen Timaeus,
in: Wiener Studien 34 (1912) 2i6ff.
P. Boyancé, Cicéron et les semailles d'âmes du Timée, in: Romanitas 3
(1961) m ff.
A. R. Sodano, L'interpretazione ciceroniana di Tim. 41a 7-b 6 nelle citazioni
testuali di S. Agostino, in: Rev. Augustin. 11 (1965) ijff.
R. Giomini, Riserche sul testo del Timeo ciceroniano, Rom 1967, Bd. ι : Il te-
sto del Timeo ciceroniano nei codici Paris. Lat. 6333 et Esco. V III 6;
Bd. 2: Platone Tim. 28a e Cicerone Tim. 2,3.
R. Giomini, Cicerone Tim. 6,17, in: Riv. di Cult. Class, e Med. 10 (1968)
59ff.
R. Giomini, Osservazioni sul testo del Timeo ciceroniano, in: Riv. di Cult.
Class. E Med. 11 (1969) 25iff.
R. Giomini, Emendamenti e precisazioni al testo del Timeo di Cicerone, in:
Studi Classici in onore di Q . Cautadella, III, Catania 1972,115 ff.
M. S. Celentano, Cicerone Tim. 13, in: Riv. di Cult. Class, e Med. 13 (1972)
iiéff.
D. Mannsperger, Timaios; in Kindlers Literaturlexikon s.v. 1974.

Zu Cicero als Ubersetzer

C . Atzert, De Cicerone interprete Graecorum, (Diss.) Göttingen 1908.


G. Cuentet, Cicéron et Saint Jérôme traducteurs, in: Rev. Ét. Lat. 11 (1933)
380 ff.
J. Humbert, À propos de Cicéron traducteur de Platon, in: Mélanges de
Philologie, Paris 1940,197ff.
LITERATURHINWEISE 177

A . Traglia, N o t e su C i c e r o n e critico e traduttore, R o m 1947.


P. Poncelet, C i c é r o n traducteur de Platon, Paris 1957.
T. de Villapadierna, C i c é r o n traductor, in: H e l m a t i c a 9 (1958) 425 ff.
D . M . Jones, C i c e r o as a Translator, in: Bull. Inst. Class. U n i v . L o n d o n 6
(1959) 22 ff.
A . Traglia, C i c e r o n e traduttore di Platone e di E p i c u r o , in: Studi in o n o r e di
V. D e Falso, N e a p e l 1971,307 ff.

Zu Cicero als Philosoph und Kritiker

H.-J. H ä r t u n g : K o s m o l o g i s c h e A u f k l ä r u n g und sokratische W e n d e . Z w e i


E p o c h e n g r e n z e n u n d Paradigmawechsel in C i c e r o s literarischem Ent-
w u r f der A n e i g n u n g griechischer T h e o r i e in R o m , in: Philologus 148
(2004) 64-87.
J. L e o n h a r d t , C i c e r o s Kritik der P h i l o s o p h e n s y s t e m e , M ü n c h e n (Zetemata
103); s. G n o m o n 2004/8, S. 669ff. ( C . L é v y ) .

ZurTimaios-Ubersetzung des Chalcidius

J. H . W a s z i n k , T i m a e u s a C a l c i d i o translatus, L e i d e n 1952*.
P. Poncelet, C i c é r o n et C h a l c i d i u s , in: Thèse Fac. Lettres Paris 1953.
C h . R a t k o v i t c h , D i e T i m a i o s - Ü b e r s e t z u n g des C h a l c i d i u s , in: Philologus
140 (1996) 139-162; s. G n o m o n 1999/3·

Weltbilder

J. Teichmann, Wandel des Weltbildes, M ü n c h e n 19963.

Brockhaus Riemann Musiklexikon

In vier Bänden u n d einem Ergänzungsband


hrsg. v o n C a r l D a h l h a u s und H a n s H e i n r i c h Eggebrecht, M a i n z 1979
[u.ö.].
REGISTER

Nomina

Academicus: in Academicis (libris) ι


Caelus: Caeli 39
Carneadeus: Carneadeo more 1
Cilicia: in Ciliciam 2
Cratippus 2; Cratippum 2
Ephesus: Ephesi 2
Graece 13.27.35
Graeci 17.23.38
Italia: in Italia 1
Iuno: Iunonem 39
Iuppiter: Iovem 39
Lares 38
Latine 13
Lucifer 29.29
Mercurius 29; sancta Mercuri stella 29
Mytilenae: Mytilenis 2
Nigidius: Nigidium 2; cum P. Nigidio 1
Oceanus : Oceanum 39
O p s : O p e m 39
P.: cum P. Nigidio 1
Peripatetici: Peripateticorum 2
Pythagorei: post illos nobiles Pythagoreos 1
Roma: Romam 2
Salmacia: Salmaciamque 39
Saturnus: Saturnum 39
Sicilia: in Siciliaque 1
Sol 29.29
Terra: Terraeque 39
ι8ο REGISTER

Graeca

αναλογία 13
άρμονία 27
δαίμων δαίμονας 38
κόσμος· κόσμον 35
μεσάτης- μεσότητας 23
σφαιροειδής· σφαιροειδές ιγ
BILDNACHWEIS

Die Abbildungen i, 3, 4,5, 6 und 7 stammen aus: Owald Thomas,


Astronomie. Tatsachen und Probleme, Salzburg 1942, S. 35, 64,
106,197, 254, 276.

Die Abbildung 2 stammt aus: Erich Frank, Plato und die soge-
nannten Pythagoreer, Halle a.d. Saale 1923, S. 27.

Das könnte Ihnen auch gefallen