0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
348 Ansichten457 Seiten

MW 04 896 Kiening Stercken Schrifträume

Hochgeladen von

felix rusch
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
348 Ansichten457 Seiten

MW 04 896 Kiening Stercken Schrifträume

Hochgeladen von

felix rusch
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 457

Christian Kiening

Martina Stercken (Hg.)

Schrift hat vielerlei Dimensionen. Sie ist nicht nur auf­


gezeichnete Sprache und Träger von Information. Sie
ist auch Spur von Bewegungen und Ergebnis von Hand­ SchriftRäume

SchriftRäume
lungen, magisches Objekt und auratische Materie. Sie
­vermag ­Flächen zu gestalten und Räume zu eröffnen – Dimensionen von Schrift
mentale wie reale, akustische wie optische. Der vorlie­ zwischen Mittelalter und Moderne
gende, reich bebilderte Band macht diese Dimensionen
von Schrift an ­repräsentativen Beispielen sichtbar, die
­­vom frühen Mittel­alter bis zur Moderne reichen.

Martina Stercken (Hg.)


Christian Kiening
SchriftRäume
Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen

Veröffentlichungen des Nationalen Forschungsschwerpunkts


»Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen.
Historische Perspektiven«

Herausgegeben von christian kiening und martina stercken

in Verbindung mit elvira glaser, jürg glauser, martin-dietrich glessgen,


barbara naumann und andreas thier

Band 4
christian kiening, martina stercken (Hg.)

SchriftRäume
Dimensionen von Schrift
zwischen Mittelalter und Moderne
Weitere Informationen zum Programm:
www.chronos-verlag.ch

Umschlag: Thea Sautter, Zürich


© 2008 Chronos Verlag, Zürich
ISBN 978-3-0340-0896-9
Vorwort 5

Schrift hat vielerlei Dimensionen. Sie ist nicht nur aufge- Sammlungs- und Materialschwerpunkten. Er dokumentiert
zeichnete Sprache und Träger von Information. Sie ist auch aber nicht einfach die Ausstellungen, liefert vielmehr deren
Spur von Bewegungen und Ergebnis von Handlungen. Als Summe: einen übergreifenden Rahmen, der noch, wenn die
Zeichen, Figur und Linie bezeugt sie, was geschehen ist, und exponierten SchriftRäume sich wieder geschlossen haben,
beeinflusst, was geschieht und geschehen wird. Lange in der die imaginativen lebendig hält.
Hand von wenigen, war sie Ausdruck geheimnisvollen Wis- Die chronologische Ordnung der vier Teile ist zugleich eine
sens. Ihr Ursprung galt als göttlich, ihr Wesen als gleichzeitig perspektivische, vertreten durch vier Oberbegriffe:
dauerhaft und fragil, materiell und immateriell. Immer indes (1) Geheimnis (Stiftsbibliothek St. Gallen) – damit verbindet
hat sie vermocht, Flächen zu gestalten – ob auf dem Stein- sich der Blick auf den noch weitgehend dem Klerus vorbe-
block, der Codexseite oder dem Bildschirm. Immer hat sie haltenen Schriftgebrauch im frühen Mittelalter. Angesiedelt
es ermöglicht, Räume darzustellen, zu beanspruchen und zu in den klösterlichen Skriptorien, geht von der Schrift eine
entwerfen – mentale wie reale, akustische wie optische. enorme Faszination aus: Kost­bare Materialien und aufwän-
Um dieses Vermögen der Schrift, Orte in der Welt zu beset- dige Ausstattungen machen sie als Medium des Göttlichen
zen und aus ihnen wiederum Welten hervorgehen zu lassen, sinnfällig. Undurchsichtige Rätsel, unsichtbare Kommentare
kreist der vorliegende Band. Er gibt einen substanziellen und mysteriöse Zeichen spielen mit den Möglichkeiten des
Überblick über die Inszenierungen von Schrift seit dem frü- Verbergens und Enthüllens. Kompilationen, Kommen­tare
hen Mittelalter. Er zeigt den Reichtum ästhetischer, religiöser, und Übersetzungen experimentieren mit Anordnungen von
politischer und sozialer Aspekte des Umgangs mit Schrift, Schrift auf der Seite. Mit Schriftstücken, die raum­bezogene
umreißt ihre kommunikative und mediale Bedeutung. Er Rechtsansprüche aufzeichnen, werden Speicher für Herr-
macht damit die Historizität von Phänomenen sichtbar, die schaftswissen hergestellt.
in der zeitge­nössischen Kunst und den digitalen Medien (2) Aura (Zentralbibliothek Zürich) – hier geht es um die
einen vielfachen Spiegel finden. Wirkmacht von Schriftstücken im hohen und späten Mittelal-
Der Band geht hervor aus der Arbeit des Nationalen For- ter. Schrift wird nun in zunehmendem Maße gestaltet. Fakto-
schungsschwerpunkts Medienwandel – Medienwechsel ren wie Größe, Material, Farbgebung und Layout dienen dazu,
– Medienwissen. Historische Perspektiven, der vom Schwei- Autorität zu erzeugen, Verbindlichkeit, Geltung und Macht
zerischen Nationalfonds und der Universität Zürich geför- herzustellen. Ältere Schriftformen erlauben es, neue Artefakte
dert wird. Zugleich steht er in Zusammenhang mit dem im zu authentisieren. Schrift wird in Szene gesetzt, in religiöse
Jahr 2008 began­genen 175-Jahr-Jubiläum dieser Universität, und politische Handlungszusammenhänge eingebunden, als
die das leading house des Forschungsschwerpunkts darstellt. Medium der Präsenz und der Übertragung verwendet – in Bi-
Vier Ausstellungen an vier Orten präsentieren im Rahmen bel- ebenso wie in Tora- und Koranhandschriften, in Rechts-
des Jubiläums Formen schriftlicher Überlieferung zwischen büchern wie in Urkunden, auf Rollen wie auf Karten.
frühem Mittelalter und Moderne. Der Band folgt dieser Auf- (3) Heil (Museum Burg Zug) – unter diesem Begriff wird
teilung und den durch die jeweiligen Institutionen gegebenen gezeigt, wie sich im späten Mittelalter und in der frühen
6 Neuzeit die Möglichkeiten der Heilsvermittlung und -über­ Die aus den Reihen des Nationalen Forschungsschwerpunkts
tragung vermehren. Am Beispiel von Überlieferung vor gebildeten Ausstellungsteams bestanden aus (soweit nicht
allem aus dem Kloster Einsiedeln kommen die vielfältigen anders vermerkt: Universität Zürich):
Versuche in den Blick, das, was eigentlich jenseits des Dar- St. Gallen: Prof. Dr. Elvira Glaser, Dr. Martin Graf, Dr.
stellbaren bleibt, in Schriften, Bildern, Objekten, Tönen zur Andreas Nievergelt, PD Dr. Ludwig Rübekeil, lic. phil. An-
Erscheinung zu bringen. Ob Riesenbibeln oder kleinforma- nina Seiler, PD Dr. Martina Stercken, Prof. Dr. Peter Stotz,
tige Stundenbücher, Altarretabeln oder Heiltums­weisungen lic. phil. Michelle Waldispühl.
– sie alle bieten nicht nur religiöse Information, sondern Zürich (ZB): Dr. Stefan Geyer, Dr. Christine Hediger, Dr.
vermitteln Anteil am Heiligen, ja eröffnen Räume des Heils: Katherine Sarah Heslop, Prof. Dr. Andreas Kaplony, PD
im liturgischen Kontext oder klösterlichen Tagesablauf, bei Dr. Brigitte Kurmann-Schwarz, Ellen E. Peters M.A., Dr.
der Pilgerreise oder der privaten Kontemplation. des. Lena Rohrbach, lic. phil. Ralph A. Ruch, lic. phil. An-
(4) Bewegung (Strauhof Zürich) – hier kommt ins Spiel, wie gela Sabine Schiffhauer, PD Dr. Martina Stercken, Prof. Dr.
die Literatur seit dem 18. Jahrhundert die Schrift entdeckt: Simon Teuscher.
als dasjenige, an dem sie ihr eigenes Wesen bestimmt und Zug: Prof. Dr. Cornelius Claussen, lic. phil. Richard F. Fa­
bespiegelt, als Möglichkeit, scheinbar Lebloses mit Leben sching (Université de Fribourg), lic. phil. Fabrice Flückiger
zu versehen und in Bewegung zu versetzen. Die Idee, die (Université de Genève), Dr. des. Cornelia Herberichs, lic.
Welt sei wie eine Schrift lesbar, lebt fort. Doch vermehrt phil. Stefan Kwasnitza, Dr. Daniela Mondini, lic. phil. Alek-
sich die Skepsis, ob der Mensch diese wirklich zu entziffern sandra Prica, Dr. Constanze Rendtel, Prof. Dr. René Wetzel
vermag. Neue Aufzeichnungsverfahren versuchen der Natur (Université de Genève), Dr. Maria Wittmer-Butsch.
ihre Geheimnisse zu entlocken. Gleichzeitig überträgt die Zürich (Strauhof): PD Dr. Ulrich Johannes Beil, Prof.
Literatur den Welt­deutungsanspruch auf sich selbst. Sie will Dr. Christian Kiening (Kuratoren), PD Dr. Martina Stercken
in ihrer Schrift nicht nur etwas sagen, sondern auch etwas (Beratung).
zeigen: Bewegungen, Linien, Figuren, an die wiederum die Für die gestalterische Umsetzung sorgten Woodtli, Design &
neuen Medien Photographie und Film anknüpfen. Communication AG (ZB, Strauhof), Yves Sablonier (Stifts-
Ermöglicht wurden die Ausstellungen und der vorliegende bibliothek). Koordination der Aus­stellungen und Redaktion
Band durch die großzügige Unterstützung verschiedener des Katalogs lagen in den Händen von Sabina Neumayer. Bei
Institutionen: der Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr der Beschaffung von Abbildungen und Zusammenstellung
(Dr. Hugo Bütler, Hanna Widrig), der Universität Zürich der Bibliographie half Alexandra Domke.
(Rektor Prof. Dr. Hans Weder, Dr. Katrin Züger), der Auch ihnen gebührt unser großer Dank. Ebenso den zahlrei-
Stiftsbibliothek St. Gallen (Prof. Dr. Ernst Tremp, Dr. Karl chen Bibliotheken und Museen, die Reproduktionsvorlagen
Schmucki), dem Stiftsarchiv St. Gallen (lic. phil. Lorenz zur Verfügung stellten, und dem Chronos Verlag, Zürich,
Hollenstein, Dr. Peter Erhart), der Zentralbibliothek der dafür sorgte, dass aus den vielfältigen Bemühungen ein
Zürich (Prof. Dr. Christoph Eggenberger, Anne Marie schöner und bilder­reicher Band werden konnte.
Wells), dem Museum Burg Zug (Urs Beat Frei M.A.), dem
Strauhof Zürich (Roman Hess). Ihnen allen gilt unser
herzlicher Dank. Zürich, Ende 2007 Ch. K. / M. St.
Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die erhabene Schrift 8

Teil 1: Geheimnis 129


Teil 2: Aura 197
Teil 3: Heil 277
Teil 4: Bewegung 351

Fotonachweise 440
Bibliographie 441
8
christian kiening 9

Die erhabene Schrift


Vom Mittelalter zur Moderne

Alte und neue Medien

Ein Beginn in Schwarzweiß: Ein Pinsel zeichnet japanische von Schriftlichkeit, für die auch Greenaway ein Faible hat.
Schriftzeichen auf das Gesicht eines kleinen Mädchens. Eine Zwei Momente der Be- und Verschriftung sind es damit, die
Stimme begleitet die Geste mit japanischen Worten, englisch Nagiko prägen: Sie sucht sich Kalligraphen als Liebhaber, die
untertitelt: »When God made the first clay model of a hu- ihren Körper beschreiben/bemalen und signieren, und sie
man being | He painted in the eyes | the lips | and the sex. beginnt ein eigenes Kopfkissentagebuch, in dem sie ihr Leben
| Then He painted in each person’s name | Lest the owner dokumentiert und reflektiert. Eine Erfüllung ihrer Sehnsucht
should ever forget it.« Das Mädchen betrachtet sein Gesicht findet sie in Hongkong, als sie den europäischen Überset­zer
im Spiegel, wo es sich in Farbe verwandelt. Der Text fährt Jerome kennenlernt. Mit ihm kommt es zu einem Austausch
fort: »If God approved of His creation | He brought the auf mehreren Ebenen: Sie selbst beschreibt nun seinen Kör-
painted clay model into life | By signing His own name.« per und wird beschrieben – nicht mehr mit japanischen Zei-
Diese Signatur beschließt die Sequenz. Auf dem Nacken chen, sondern mit lateinischen Buchstaben: eine Inschrift in
angebracht, nehmen die Zeichen langsam grellrote Farbe an, Versalien, das Vaterunser in verschiedenen Sprachen. Im Akt
während das übrige Bild schwarzweiß bleibt. Der mythische wechselseitigen Beschreibens werden kalli­graphischer und
Schreib- und Schöpfungsakt stellt den Geburtstagsgruß eines sexueller Vollzug zur Einheit, überdies die auf dem Körper
Vaters an seine Tochter dar. Er eröffnet den Film The Pillow angebrachten Schriften zu Literatur. Doch der Literatur vom
Book (dt. Die Bettlektüre) des englischen Regisseurs Peter flüchtigen Körper- zum dauerhafteren Buchtext zu verhelfen
Greenaway (1996). ist ein Verleger nötig – jener, der schon vom Vater für eine
Im Zentrum des Films steht die Geschichte jenes Mädchens: Publi­kation seiner Werke die sexuelle Hingabe verlangte.
Nagiko, die Tochter des Kalligraphen, wächst in den siebzi- Jerome, der den Namen des lateini­schen Bibelübersetzers
ger Jahren des 20. Jahrhunderts in Kioto auf. Das Geburts- trägt, dient als Mittler und zugleich als von beiden Seiten
tagsritual begleitet ihre Kindheit und Jugend ebenso wie das – der schreibenden Frau wie dem lesenden Verleger – um-
Vorlesen aus dem Kopfkissenbuch der Hofdame Shonagon kämpftes Objekt. Nach seinem Liebes­selbstmord eignet sich
Sei (um 1000). Bezogen auf den japanischen Kaiser­hof der der Verleger den toten Körper an und lässt die mit Zeichen
Heian-Zeit hält es Ereignisse, Stimmungen und Reflexionen bedeck­te Haut zu einem Faltbuch verarbeiten. Nagiko wie-
fest, unter anderem in Form der Auflistung – jener Urform derum schickt ihm lebendige Botschaf­ten, beschriftete junge
Männer, um ihn zur Herausgabe seines Buches zu bringen.
Erst bei dem dreizehnten (›The Book of Dead‹) ist er dazu
Abb. 1–6 Peter Greenaway, The Pillow Book, 1996 bereit. Nagiko begräbt das Faltbuch in einem rituellen Akt
10 unter einem jungen Bonsaibaum, den man im letzten Bild des Todes. Es geht ein in komplexe Konstellationen. Seiten
blühen sieht. Das Geburtstagsritual der Beschriftung gibt sie des alten Buches werden überblendet mit Andeutungen
an ihre eigene kleine Tochter weiter. bildlicher Umsetzung. Das Hypermedium Film zeigt das
Verheißungen und Probleme von Schrift. Auf der einen Seite Medium Schrift in allen denkbaren Dimensionen: als Kör-
steht in The Pillow Book die zauberhafte Schrift, lebendig, per, der durchbohrt und verbrannt wird, als Materie, die die
beweglich, dynamisch, sinnlich, intensiv, in der Lage, Welten Sinne anspricht, als Botschaft, die gelesen und entziffert wird,
zu entwerfen und Gefühle zu transportieren. Auf der ande- als Chiffrennetz, das Oberflächen und Körper bedeckt. Es
ren Seite die zwiespältige Schrift, verbunden mit Praktiken entsteht die Utopie einer grenzüberschreitenden Medialität.
der Macht, Situationen der Kon­kurrenz und Techniken der Verwischt sind die Grenzen zwischen Körper und Schrift
Mediatisierung, dem leblosen Körper näher als dem leben- – die japanischen Zeichen im ersten von Nagikos lebendigen
digen. Die Figur des Verlegers bildet eine Kontrollinstanz Büchern heben an mit dem Programm: »Ich will den Körper
an der Grenze von Körper-, Hand-, Buch- und Computer­ als ein Buch beschreiben, ein Buch als einen Körper«. Und
schrift. Diese Instanz muss dazu gebracht werden, sich selbst verwischt sind die Grenzen zwischen Schrift und Bild. Die
zu überwinden, damit wiederum die Kalligraphentochter dargestellten Formen des Kalligraphischen, kombiniert mit
sich von der Hypothek befreien kann, die auf ihr lastet: der den filmischen Mitteln langsamer Überblen­ dungen und
Koppelung von Schrift, Begehren und Macht. Am Ende häufiger Bildteilungen, machen Schrift so präsent, dass Zei-
überführt sie nicht nur ihr totes Medium Jerome in neues gen und Sagen, Ausschnitt und Rahmen, Raum und Fläche
Leben. Sie gibt auch zu erkennen, wie eine dauerhafte Kör- ineinander übergehen. So wie Nagikos Texte hauptsächlich
perbeschriftung aussehen kann: Ihr Oberkörper ist mit einer um das Schreiben kreisen, so kreist der Film um die anderen
Tätowierung geziert, in der sich Zeichen und pflanzliche Medien, die er in sich aufheben und zu seiner Selbstausstel-
Elemente ornamental verschlingen.1 lung wie -aufladung benutzen kann. Auf diese Weise erneuert
Eine archaische Körper-Schriftlichkeit erscheint unter den er den Mythos einer gottgleichen Schöpferkraft, den Traum,
medialen, kulturellen und politi­ schen Bedingungen der aus toter Materie sowohl Kunst wie Leben zu schaffen: »If
Postmoderne. Der Film versetzt seine Protagonistin aus dem God approved of His creation | He brought the painted clay
tradi­tionellen Kioto ins hybride Hongkong und zugleich model into life | By signing His own name.«
aus der noch wirksamen Vergangen­heit in die unmittelbar
bevorstehende Zukunft – das Jahr 1997, Jahr der Rückgabe
der britischen Kronkolonie an China. In diesem Rahmen Oberfläche und Stofflichkeit
vollzieht sich die Um- und Über­schreibung des tausend
Jahre alten Kopfkissenbuches, aus dem unter anderem der In Ostasien siedelt der Film eine jahrtausendealte Schriftfas­
Satz zitiert wird: »If Writing did not exist | What terrible zi­nation an und dezentriert so die im Westen eingespielte
depressi­ons we should suffer«. Wie für Shonagon Sei ist auch Gleichsetzung von Schrift und Alphabet­ schrift. Zugleich
für Nagiko das Schreiben ein Lebenselexier. Doch dieses bringt er eine Dimension wieder zur Geltung, die sowohl
Elixier macht nicht einfach mehr Abwesendes anwesend. für die abend- wie die morgenländische Welt wichtig war:
Es ist von der Sehnsucht nach voller Präsenz durchzogen. das Visuelle und Materielle, das Graphische und Malerische.
Es oszilliert zwischen Momenten der Geburt und solchen Damit wiederum hat er teil an mehreren Bewegungen: Wie-
derentdeckt wurde, zum Beispiel in der Performance Art, der müssen.«7 Mit Hilfe einer ›écriture automatique‹ suchten 11
Körper als hochkomplexes Medium, wiederentdeckt wurde sie eine Entsprechung von innerer und äußerer Bewegung.
aber auch in den 1910er und 1920er Jahren, dann wieder seit Die Avantgarden der Nachkriegszeit knüpften daran an.
den 1960er Jahren Schrift als ästhetisches und theoretisches Sie atomisierten, zum Beispiel im französischen Lettrismus
Phänomen.2 Zwar war die Auseinandersetzung und das Ex- Isidore Isous, die Wörter zu Buch­staben und setzten sie zu
perimentieren mit Schrift seit den antiken Anfängen nie zum sinnfreien Lautgebilden neu zusammen.8 Sie lenkten, zum
Erliegen gekommen. Doch hatte die zunehmende Mecha- Beispiel in der Konkreten und Visuellen Poesie, das Au-
nisierung des Schreibens und Druckens bestimmte Formen genmerk auf die Formdimensionen der Schrift und stellten
von Schrift privilegiert: jene Formen, die sich im Prozess der die Trennung von Text und Bild in Frage. Der Begründer
Informationsübermittlung unsichtbar machten, die transpa- der tschechischen experimentellen Poesie Jiří Kolář entwarf
rent wirkten und die Identität des Symbols über die Diversität Buchstabenkonstellationen und -flächen, Schrift-Gedichte
der Zeichen setzten. Die gleiche Zeit, die das Phantasma einer und -Collagen, Analphabetogramme, Hypergraphien und
hieroglyphischen Naturschrift pflegte, die Zeit um 1800, sah Blindengedichte.9 Russische Poeten stellten Zahlen, Bilder,
sich mit einer wachsenden Abstraktheit der Schrift konfron- Farben, Gesten und Klänge in den Dienst einer komplexen
tiert: Sprachtheoretiker betrachteten die Schriftzeichen als Intermedialität.10
»desto funktionaler, je ›leerer‹ sie sind«.3 Schriftgestalter soll- Im deutschsprachigen Raum skizzierte Eugen Gomringer
ten alles Ungewohnte und Fremdartige vermeiden, das »die eine neue Formbestimmtheit, verbunden mit Einprägsamkeit
Aufmerksamkeit auf die Materia­lität und Konfiguration der und sozialer Relevanz. Zusammen mit Ideogrammen, Typo-
Schriftformen lenken könnte«.4 Die modernen Ökonomien grammen und Palindromen sollten ›poetische Piktogramme‹
der Schrift richteten sich auf die störungsfreie Übermittlung. eine Vermittlung zwischen Bedeutung und Erscheinung leis-
Sie wandten sich gegen die Tradi­ tionen kalligraphischer ten: als »textanordnungen, deren erscheinungs­bild absicht-
Schrift- und Schreibkunst. 5
Sie akzentuierten die inhaltliche, lich abbildende umrisse hat. es kann deshalb z. b. erst eine
nicht die erscheinungshafte Dimension. Die Formen hinge- figur gedacht oder skizziert vorhanden sein, deren formen
gen, in denen Schrift auffälliger und unselbstverständlicher dann mit sprachmaterial aufgefüllt werden, oder es kann
ist, in denen die ikonische und materielle Dimension in den ein text durch die umrisse einer abbildenden figur begrenzt
Vorder­grund tritt, in denen der Blick eher auf Textflächen werden. der anteil der poesie besteht darin, das verhältnis
als auf Textketten gelenkt wird, verla­gerten sich auf spezielle von grafischer figur und textlicher aussage semantisch und
Diskurse – der Literatur, der Kunst oder der Theorie. Dort semiotisch zu bestimmen«.11 Franz Mon entwickelte Gedan-
aber entfalteten sie im Laufe des 20. Jahrhunderts eine nicht ken zu einer Poesie der Fläche, die mit Hilfe von Buchstaben­
unbeträchtliche Wirkung.6 kon­stellationen und Zwischenräumen den Text zu einem
Die Avantgarden der Zeit um und nach 1900 erprobten performativen macht: »in der zweidimensionalität der fläche
Möglichkeiten, Schrift zu entgren­ zen, zu verräumlichen kann sich ein teil der gestik eines textes darstellen: expan-
und zu dynamisieren. Sie machten sich die Besonderheit sion, schachtelung, reihung, stauung, fallenlassen und viele
der Buch­staben zunutze, »gleichzeitig als lineare Elemente andere, oft nicht mehr beschreibbare gestische bewegungen
zu fungieren, die man im Raum verteilen kann, und als Zei- vermögen sich in der flächigen textordnung niederzuschla-
chen, die in der Reihenfolge der Lautkette realisiert werden gen, ohne den text selbst thema­tisch zu belasten. das textbild
12 vollzieht sie, statt daß von ihnen gehandelt wird. die optische Schriftkunst
gestik gesellt sich selbstverständlich zur phonetischen und
zur semantischen – als ergän­zung, erweiterung, spannung, Zahllos sind die Formen, in denen die Kunst der letzten
negation.«12 Otl Aicher verstand die von ihm entworfene Jahrzehnte Schrift zum Einsatz gebracht und zum Gegen-
Rotis-Schrift als visuelle Repräsentation eines demokrati- stand gemacht hat.14 Der russisch-französische Art-Deco-
schen Prinzips: »die buchstaben selbst sollten brüderliche Künstler Erte kreierte zwischen 1927 und 1967 ein Alphabet
individuen sein, nicht uniformierte, zurechtgeschneiderte aus menschlichen, vor allem weiblichen Figuren, eine
soldaten. dabei ist es möglich, daß einzelne buchstaben, etwa Neuerfindung älterer Figurenalphabete, inspiriert von dem
das kleine e, einen ausgeprägten charakter erhalten. und doch Graphis­mus imagi­närer Arabesken, der Vielfalt menschlicher
wurde das o so gezeichnet, daß es kein unabhängiger, für sich Körperformen und der kühlen Rhetorik der Revuetheater
stehender kreis ist, sondern in der senkrechten eine betonung mit ihren Federboas, Schleiern und Pelzen.15 Die belgische
erhält, damit es sich kollegial zu einem anderen buchstaben Gruppe cobra widmete sich in den Nachkriegsjahren der
mit geraden strichen, etwa dem kleinen n, verhält.«13 Erkundung einer »Kunst ohne Grenzen«, in der ebenfalls
Programm und Realisierung standen in enger Beziehung. die Arabeske, nun aber die asymmetrische, eine zentrale
Auch in der Folgezeit waren es gerade die Übergänge von Rolle spielt. Im Katalog der ersten großen Ausstellung (1949)
Dichtung, Prosa und Theorie, an denen die geometri­schen, findet sich ein Plädoyer Pour une physique de l’écriture, das
ornamentalen und akustischen Aspekte von Texten bedacht auch nach dem Ende der Gruppe nachhallte: Pierre Ale-
wurden. Der digitalen Entmaterialisierung und Enthisto- chinsky ließ sich von der japanischen Kalligraphie anregen;
risierung setzte der poetische Blick die Stofflichkeit des Christian Dotremont fertigte Wortzeich­ nungen an und
Schreibens und die Geschichtlichkeit der Schrift entgegen. begründete das Genre der Text und Bild verschmelzen­den
Raoul Schrott verschränkt in seinem Wissenschaftsgedicht Logogramme; eine postume Ausstellung würdigte ihn als
Tropen. Über das Erhabene (1998) eine Geschichte der ›peintre de l’ecriture‹.16 Ein Künstler aus dem Umkreis des
Schrift mit einer der Berge, des Lichts und der Perspektive. Tachismus, Camille Bryen, schuf das ›delirische Gedicht‹
Er lotet die Beziehungen von Poetik und Physik aus und Hépérile éclaté, bei dem mit Hilfe von Einsprengseln aus
entwirft Bilder, in denen die Welt in ihrer Chiffrenhaftigkeit kanneliertem Glas eine neue Schrift entsteht, die die Spra-
und die Chiffren in ihrer Welthaftigkeit sich durchdringen: che in ›Über-Wörter‹ zersplittern lässt. Andere Lettristen
»auf den zu ton gebrannten scherben schreibt sich der regen erfanden ›hypergraphische‹ Alphabete, oszillierend zwischen
mit seinem sanskrit ein und in den unregelmäßigen metren Schrift und Bild wie Schönbergs Pierrot Lunaire zwischen
der winde loht eine zeile um die andere aus der asche auf: Musik und Sprache.17
die sibilanten der erde«. Durs Grünbein umkreist in seinen Inspirierend auf die zeitgenössische ästhetische Schriftrefle-
42 Cantos Vom Schnee (2003) nicht nur eine Phase im Leben xion wirkte der Belgier Marcel Broodthaers, der wie Dotre-
von Descartes, sondern auch die Nähe zwischen dem Weiß mont von der Literatur herkam. In seinem Werk On the Art
des Schnees und dem des Papiers, die Frage von Lesbarkeit of Writing and on the Writing of Art (1968) führt er auf zwei
und Unlesbarkeit: »Die Schrift verschwimmt, die Paragra­ Flächen verschiedene Erschei­nungshaftigkeiten von Schrift
phen schneiden Fratzen. Ein Bandwurm jeder Satz. Ist das (schwarz auf weißem Grund, weiß auf schwarzem Grund)
ein n, ein u?« (Nr. 3.). vor; anhand verschiedener Materialien (Öl, Leinwand,
Photo) wird die Durch­dringung der Medien anschaulich. Auch andere Künstler arbeiten mit der Spannung von 13
In der als ›Leseübung‹ bezeichneten Installation Le Corbeau Vertrautem und Fremdem. Hanne Darbovens monumen-
et le Renard (1967) wird ein Film, der vor Textfragmenten tales Schreibzeit-Projekt (1975–1981), beinahe 4.000 Seiten
platzierte oder mit Wör­tern versehene Gegenstände zeigt, auf umfassend, kombiniert Lesefrüchte mit chronistischen und
eine ihrerseits bedruckte Leinwand projiziert. Damit wird annalistischen Einträgen. Die Eigentexte beschränken sich
momenthaft unentscheidbar, wo sich die Schrift befindet: auf dem Schreibprozess selbst geltende Formeln: »schreibe
auf der Leinwand, den Objekten oder im Hintergrund des hinunter und hinauf«, »schreibe und beschreibe nicht« (Bd.
Bildes? Im Film zu Projet pour un texte (1969) reflektiert IX, S. 2397). Und doch verwandelt sich die Zeit- und Ereig-
Broodthaers, wie Erscheinen und Verschwinden geradezu nisgeschichte in gleichem Maße, in dem sich auch einzelne
tragikomisch verknüpft sind: Man sieht den Künstler im Texte verwan­deln: Rückerts Gedicht »Die Schöpfung ist
Garten in das Schreiben eines Texts vertieft, der nie fertig zur Ruh gegangen« wird auf acht aufeinander folgenden
wird, weil der beständig fallende Regen die Tinte immer Seiten achtmal abgeschrieben, zunächst gestisch in Form
wieder vom Papier wäscht.18 Die Werke bewegen sich in der von Schlangenlinien, »dann wörtlich, dann mit Textformeln
Spannung zwischen statischem und bewegtem Bild, Prozess durchsetzt, dann in spiegelnder Manier rückent­wickelt bis
und Resultat, Vergangenheit und Gegenwart. Sie zielen nicht zur gestischen Abschrift des Ausgangspunkts«.22 Die Schrift
auf e i n e Bedeutung, sondern auf die Produktion von Be- erfährt Metamor­phosen. Sie wird bei allem dokumentari-
deutung – in vielschichtigen Übertragungsprozessen und schen Gehalt zur Spur eines Prozesses und zum Vollzug einer
formal-inhaltlichen Beziehungen.19 textuellen wie graphischen Bewegung. Sie erfüllt sich »als
In den USA nahmen Popartisten wie Roy Lichtenstein selbstbezügliche Form gerade im Sosein ihrer graphischen
Schrift- und Bildele­mente der Werbekultur in ihre Werke Oberfläche«.23
auf. Künstler wie Cy Twombly eröffneten einen neuen Während hier eine private Schrift sekundär in öffentliche
Blick auf die Schrift: In seinen Blackboard-Bildern erschei- Räume eindringt, geht es in anderen Fällen um eine öf-
nen Zeilen voll schwungvoller Kringel und Schleifen auf fentliche Schrift, die aber nur temporär die öffent­lichen
dunklem Grund, in den Werken der siebziger Jahre spielen Räume besetzt: eine ephemere Schrift aus Licht, Rauch oder
historische Bezüge, längere Textpassagen und Gedichte Kondensstreifen, die sich der Fixierung und Wiederholung
eine Rolle. Buchsta­ben und Wörter stellen wie in der Kal- verweigert,24 sich zwar an Architekturen schmiegt, aber
ligraphie die Geste des Schreibens aus, präsentieren aber nicht an diesen haften bleibt. Remy Zaugg, Peter Fischli und
anders als in dieser keine schönen, sondern hingeworfene, David Weiss wären zu nennen. Vor allem aber Jenny Holzer
kraklige, linkische Zeichen: unsicher geführte Linien, dem mit den zunächst auf Gebäuden angebrachten Truisms und
kindlich-experimentellen Gekritzel nahe:20 »Als würde sich Inflammatory Essays in New York, dann den Xenon-Projek-
die Malerei zurückverwandeln in ein Erproben ihrer Alpha- tionen auf Fassaden, Plätzen, Gewässern der ganzen Welt.25
bete, ihrer selbst. Als würde sich die Hand nicht sicher sein Die Auseinan­dersetzung mit politischen und sozia­len An-
können, sich einüben, sich ›stimmen‹ müssen – ohne dass es liegen der Zeit verbindet sich hier mit dem geheimnisvollen,
je zur Eindeutigkeit eines Gemeinten käme.«21 Die Schrift emotional berührenden Zauber der projizier­ten Lichtschrift.
trägt Züge des Alltäglichen und gewinnt doch durch Rahmen Sie macht inmitten eines von Zeichen und Bot­schaften ge-
und Kontext einen nicht alltäglichen Zauber. sättigten Alltags auf eine Kraft der Schrift aufmerksam, die
14 Abb. 7/8 Arnold Dreyblatt, The ReCollection Mechanism,
Datenprojektion; Berlin, Hamburger Bahnhof, 1999 (Foto:
Luca Ruzza); The Wunderblock, Installation mit Tisch, Stuhl,
Bildschirm, Computer; Berlin, Galerie Anselm Dreher, 2000
(Foto: Arnold Dreyblatt). Mit freundlicher Genehmigung des
Künstlers
Abb. 9/10 Arnold Dreyblatt, Ephemeris Epigraphica, Lentiku- 15
larbilder; Berlin, Hamburger Bahnhof, 2006 (Fotos: Waldemar
Kremser). Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
16 mit der Erfahrung eines besonderen Raum-Zeit-Moments geschrie­ben und ausgelöscht, der instabile, fragmentarische
einhergeht. Charakter der Erinnerung wird sichtbar (The Wunderblock,
Schrift löst sich hier von den herkömmlichen Trägermateria­ 2000). In einem dunklen Raum sucht eine automatische
lien Stein, Pergament oder Papier und bleibt doch auf diese Schreib- und Rezitationsmaschine unaufhörlich Wörter
bezogen. Sie erweist sich als beweglich und bewegend. Als aus einem Textreservoir heraus, projiziert sie auf die Wand
Umschaltstelle zwischen Materiellem und Immateriellem, und überträgt sie in Stimmen – die sich überkreuzenden
Semantischem und Nicht-Semantischen, Konventionellem Schriftschichten wie Stimmfetzen verwandeln einerseits den
und Unkonventionellem. Als Metapher oder Metonymie Raum in einen Textraum, zersetzen andererseits die Idee ar-
sowohl menschlicher Erinnerungsarbeit als auch technischer chivalischer Ordnung (The ReCollection Mechanism, 1998).
Archivierungsprozesse. Wie wichtig Schrift für das kultu- Die optischen Arbeiten greifen alte Formen epigraphischer
relle Gedächtnis ist und wie in ihr Kalkül und Kontingenz, Inschriften auf Stein oder Papyrus auf, überlagern sie aber im
Festschrei­bung und Freisetzung zusammentreffen, hat in den Lentikularverfahren mit anderen Textschichten, die je nach
letzten beiden Jahrzehnten kaum ein Künstler so vielfältig Betrachterposition auftauchen oder verschwinden und je
erfasst wie der aus den USA stammende Arnold Dreyblatt. neue Palimpsest-Konfigurationen hervorbringen (Ephemeris
Sowohl mit traditionellen Techniken der Handschrift und Epigraphica, 2006).
des Drucks als auch mit avancierten optischen und digitalen
Verfahren, Installationen und Performances umkreist er die
Frage, wie Erinnerung sich bildet, verstetigt und vergeht: von Schrifttheorie
den Scrolls (1993), einer endlos langen Schriftrolle, die Daten
aus dem Who’s Who in Central & East Europe in archaisch Die wenigen Beispiele zeigen die Vielfalt und Eindringlich-
sakraler Form enthält, zu Retrospect (2003), wo sich eine keit, mit der sich die zeitgenössi­sche Kunst den Aspekten
Rolle mit Auszügen aus Kierkegaards Essay über Erinnerung und Formen der Schrift angenommen hat. Ihr Bemühen
in einer Buchstabenlandschaft am Horizont verliert. Dabei richtet sich darauf, die Schrift der modernen Alltäglichkeit
kippt in der Betrachtung das Verhältnis von Text und Kon­ und Selbstverständlichkeit zu entreißen. Statt des Hin-
text: Das Schwarz der Buchstaben macht Platz für das Weiß durchschauens d u r c h die Zeichen geht es um ein Schauen
zwischen den Buchstaben, das sich in Bäche, Ströme und a u f diese.27 Statt des kurzen Blickes, der vor allem den
Wege verwandelt und die Frage aufwirft, wie Fragmente der Informationen gilt, soll ein langer Blick provo­ziert werden,
Vergangenheit der Erinnerung gegenwärtig werden.26 Die di- der im scheinbar Vertrauten einen ungeahnten sinnlichen
gitalen Arbeiten stellen Schrift in den Schnittpunkt von alter wie intellektuellen Reichtum entdeckt.28 Grund­sätzlich
Buch- und neuer Computerschrift­lichkeit (The Open Book, bewegt sich ja Schrift zwischen zwei Polen: hier Algebra,
2000) oder in die Spannung von Lesbarkeit und Unlesbarkeit Kalkül, formale Operation, dort Ikon, Figur, mimetische
fixierter geschichtlicher Erfahrung (The Missing Letters, Beziehung.29 In Ideogrammen und Diagrammen wird das
2005). Riesige Projektionsfenster zeigen zufällig erzeugte Kippen zwischen hervor- und zurücktretender Figürlichkeit
und einander dauernd überschreibende Daten (Data Wall, zum Prinzip.30 Und eben dieses Kippen hat in den letzten
1995). Ein Tisch mit Display bietet eine Anverwandlung Jahrzehnten wach­sendes Interesse auf sich gezogen. Dabei
von Freuds Wunderblock, Textstücke werden in einem Zug verbindet sich das ästhetische Anliegen vielfach mit theoreti­
scher Reflexion. Teilweise nimmt es sogar auf zeitgenössische Schrift: Systeme und Formen, Materialien und Funktionen, 17
Schrifttheorie Bezug. Vor allem Jacques Derrida hatte in den Ursprünge und Veränderungen. Nebeneinander stehen an-
sechziger Jahren mit seinen Büchern De la grammatologie thropologische, psychologische, soziologische, linguistische
und L’écriture et la différance die Schrift neu zur Geltung und poetologische Perspektiven. Nicht aus­gespart sind auch
gebracht – als Figur mehr im abstrakten denn im konkreten die individuellen Prozesse, in denen Schrift Wahrnehmungs-
oder materiellen Sinne. Ausgehend von der Annahme, die und Erfah­rungsräume eröffnet. Unter dem Stichwort ›Infini‹
abendlän­dische (philosophische) Tradition habe überwiegend schreibt Barthes: »Ich habe eine Manuskriptseite vor mir;
das Sein als Präsenz gedacht und Präsenz an Stimme gekop- etwas, das gleichzeitig an der Perzeption, der Intellektion,
pelt, suchte er nachzuweisen, dass ein solches Denken immer der Assoziation teilhat – aber auch am Gedächtnis und am
schon einen allgemeinen Begriff von Schrift (eine ›Urschrift‹) Genuss – und das man Lektüre nennt, setzt sich in Gang.
voraussetzen müsse, um die konkrete Schrift als bloßes Sup- Diese Lektüre, wo werde ich, wo kann ich damit innehalten?
plement der gesprochenen Sprache verstehen zu können. Das Sicher, ich sehe genau, von welchem Raum mein Auge aus-
Argument, mit Blick auf den Phonozentrismus Rousseaus, geht; aber wohin? Welchem anderem Raum passt es sich an?
Hegels und anderer entfaltet, verwendet einen metaphorisch Reicht es hinter das Papier? (aber hinter dem Papier ist der
schillernden Begriff von Schrift. Deren reale Vielfalt hingegen Tisch). Welches sind die Elemente, die jede Lektüre entdeckt?
ist für das Abendland fast völlig ausgeblendet. Weder die Wie ist die Kosmogonie beschaffen, die dieser einfache Blick
Erschei­nungs- noch die Reflexionsformen von Schrift wer- postuliert? Sonderbarer Kosmonaut, der ich bin, durchquere
den entfaltet.31 Die Komplexität einer ›graphischen Rhetorik‹ ich viele Welten, ohne in einer einzigen innezuhalten«.34
findet Derrida nur in den Schriften ›primitiver‹, schriftloser Zwar blieb für weite Teile der Linguistik Schrift aufgezeich-
oder von anderen Zeichenlogiken bestimmten Kulturen: nete Sprache.35 Doch entwickel­ten die Kulturwissenschaften
Die chinesischen und japanischen Schriften zum Beispiel einen neuen Sinn für die Materialität der Kommunikation.36
seien zwar »schon in frühester Zeit von phonetischen Ele- Bewusst wurde: Die kognitiven Prozesse des Lesens sind
menten durchsetzt« gewesen, dürften aber doch, weil »vom nicht von der Oberfläche, der Räumlichkeit, der Medialität
Ideogramm oder von der Algebra beherrscht, als Zeugnisse der Schrift zu trennen.37 Gerade die Computerschriftlichkeit
einer mächtigen Zivilisations­bewegung« gelten, »die sich wurde zur Herausforderung eines neuen Schriftbegriffs.
außerhalb jedes Logozentrismus entfaltet hat.«32 Sie warf die Frage auf, in und mit welchen Räumen Schrift
Aus dem Blick gerät hierbei, dass auch im Abendland die hier operiere und ob im Hypertext, der alle bisherigen
Idee einer naturhaften Beziehung zwischen Zeichen und Schrift­formen und Medien zu integrieren vermag, die alte
Dingen, wie sie sich etwa in der graphischen Form der Druckkultur an ihr Ende gekommen sei.38 Antworten auf
Buchstaben zeigt, eine wichtige Rolle spielt: Gérard Genette diese Fragen dürfen sich nicht allein auf die Alphabet-
hat diese Idee am Beispiel von Platons Kratylos und seiner schriften konzentrieren.39 Auch sind Schrift­ konzepte zu
Wirkungsgeschichte verfolgt.33 Geradezu einen Gegenpol zu erproben, die weniger auf dem Phono­graphischen als auf
Derridas auf die logozentrische Dimension von Schrift be- dem Zwischenräum­lichen basieren. In ihnen erscheint Schrift
zogenem Ansatz bilden Roland Barthes’ 1973 geschriebene, nicht nur als Sprache, sondern auch als Bild, nicht nur als Zei-
aber erst postum publizierte Variations sur l’écriture. Sie chengefüge, sondern auch als Technik, nicht nur als statisches
behandeln in knappen Streifzügen das ganze Spektrum der Resultat, sondern auch als performativer Prozess, nicht nur
18 als Mittel der Kommunikation, sondern auch der Kognition, les Schöpfungs­mittel gilt dieses Vermögen schon der Antike
und nicht nur als Form der Transparenz, sondern auch der – oder zumindest als reizvolles Spiel: »zur Spielerei« wird
Opakheit.40 Dementsprechend hat sich die Aufmerksam­keit der Mensch, so Platon, »das Gartenland der Schrift besäen«
in den letzten Jahren den Verbin­dungen von Bild, Schrift und (Phaidros 276d).
Zahl, der Textilität des Textes, der Sichtbarkeit von Schrift Welche Formen dieses ›Besäen‹ angenommen hat, soll im
und den Szenen des Schreibens zugewandt.41 Folgenden allein am Abendland und auch hier erst in der
Die Konsequenz: Schrift gewinnt eine neue Erha­benheit Entwicklung vom frühen Mittelalter an betrachtet werden.
und Auffälligkeit. Oder anders gesagt: Sie gewinnt ein Stück Diese Verkürzung ist nicht unproblematisch. Sie bestärkt
jener Erhabenheit und Auffälligkeit zurück, die sie in Gesell­ noch einmal die auch sonst oft vorherrschende eurozen-
schaften besaß, in denen der Schriftgebrauch auf spezifische trische Fixierung auf die Alphabetschrift. Doch sie lässt
Gruppen und Situationen beschränkt war. In diesen Gesell- sich rechtfertigen. Zum einen ist es so zu vermeiden, zu
schaften sind die Techniken des Schreibens erst ansatzweise viel Heterogenes auf knappem Raum miteinander in Ver-
verinnerlicht. Eben deshalb ist an ihnen gut zu beobachten, bindung zu bringen. Zum andern können vom Mittelalter
wie eng Schrift und Räumlichkeit verbunden sind.42 Diese her, wo der ›Text‹ als materielles oder graphisches ›Objekt‹
Verbindung ist eine mehrfache. Erstens ist Schrift, zumindest erscheint, manche historische Linien klarer hervortreten.
in der Hand- und der Druckschrift, immer auch Spur von ›Alteuropa‹ kennt einen enormen Reichtum an Formen, in
Bewegungen in einem Raum. Zweitens impliziert sie selbst denen konkrete und reflexive Momente einer auratischen
immer eine Raumdimension: der massive Steinblock, die Schriftlichkeit sich verbinden, in denen Schrift hervortritt
in sich zusammengezogene Rolle, die sich zu Corpora for- und in diesem Hervortreten ihre Prinzipien ausstellt. Auch
mierenden Pergament- und Papierseiten, die animierte und bilden sich hier Traditionen heraus, die sich im Sinne einer
tiefesuggerierende Bildschirmoberfläche. Drittens besitzt inneren und nicht nur äußerlichen, einer reflexions- und
sie die Macht, ihrerseits Räume darzustellen, auf solche zu nicht nur technikbezogenen Geschichte der Schrift verfolgen
verweisen oder Ansprüche zu erheben. Viertens schließlich lassen. Sie erlauben es, einen Bogen zu spannen zwischen
ermöglicht sie Wahrnehmungsformen, in denen, wie Barthes den Zeiten früher Schriftnutzung und jenen der modernen
andeutet, das lesende oder betrachtende Subjekt in und mit Schriftexperimente.
Schrift seine eigenen Räume konstruiert: mentale wie reale,
akustische wie optische.
Darin liegt nicht die geringste Verheißung der Schrift: Orte Erhabenheit
in der Welt zu besetzen und sie so zu besetzen, dass aus
ihnen ihrerseits Welten hervorgehen. Für dieses Vermögen Die sumerischen, ägyptischen, semitischen, phönizischen,
wird sie gepriesen: Als Wunder gilt noch der Moderne, dass griechischen, minoischen, etrus­
kischen, römischen oder
»es Zusammenstellungen von Worten gibt, aus welchen, wie keltischen Kulturen des Altertums benutzten Schrift zu
der Funke aus dem geschlagenen dunklen Stein, die Land- bestimm­ten Zwecken.44 Zu administrativen und ökono-
schaften der Seele hervorbrechen, die unermeßlich sind wie mischen: um Güter zu verzeichnen, Rechts­verhältnisse zu
der gestirnte Himmel, Landschaften, die sich aus­dehnen im fixieren, Besitzanprüche zu markieren. Zu archivalischen
Raum und in der Zeit«.43 Als Gottesgeschenk und machtvol- und memorialen: um Wissen zu speichern, Überlieferung
zu bilden, Tradition zu stiften. Zu sakralen: um mit dem 19
Göttlichen zu kommunizieren und dieser Kommunikation
zugleich Dauer zu verlei­hen. Zu sozialen: um ein bestimmtes
Prestige zum Ausdruck zu bringen. Wichtig war damit die
pragmatische Dimension: Schrift als Form der Markierung
und Registrierung. Doch wichtig war auch die auratische
Dimension: neben der einfachen Liste und dem geschäft­
lichen Dokument in schmuckloser Kursive das erhabene
Monument in gemeißelten Lettern oder wuchtiger Kapitalis,
manchmal dreidimensional gestaltet und auf Fernwirkung
ange­legt. In ihm waren die Buchstaben ausgezeichnet durch
materielle Dignität und räum­liche Wirkung, durch Geomet-
risierung und Stilisierung, durch Differenzierung zwischen
Größen, Typen und Sorgfältigkeits­ graden, Verwendung
unterschiedlicher Tinten, Einsatz kostbarer Materialien
– vergoldet und von der sonstigen Schrift unterschieden
erschienen zum Beispiel die Gottesnamen in hebräischen
Handschriften.
Schrift wurde durch derlei Mittel als ein besonderes, ja
göttliches Medium a u s gestellt. Sie wurde aber auch als ein
solches explizit d a r gestellt. Ägyptische Sakralbilder zeigen
Priester mit Buchrolle, Wandgemälde in Beamtengräbern
Schreibszenen.45 Auf antiken Fresken, Mosaiken und Reliefs,
Vasen, Steinen und Sarkophagen sind Alphabete zu sehen;46
höher­ rangige Figuren halten auch hier oft das Attribut
der Buchrolle in der Linken.47 Andere Bilder zeigen die
Schicksalsgöttinnen (griech. Moirai, lat. Parcae) mit Spindel,
Schriftrolle und Waage; sie werden in der römischen My-
thologie als Hüterinnen der fata scribunda zu regelrechten
Sekretärinnen Jupiters; ihre Arbeitshöhle erscheint als Sekre-
tariat, »wo eine schöne Frau das Horoskop diktiert, eine an- Abb. 11 Gregor der Große mit den Schreibern, Elfenbeindiptychon,
dere es aufzeichnet und eine dritte das Los jedes Sterblichen 3. Drittel 9. Jh.; Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv.
vorliest.«48 Spätantike und frühmittelalterliche Diptychen Nr. 8399

auf Buchdeckeln und Handschrif­tenilluminationen rücken


in den Bildern der hörend-schreibenden Evangelisten und
Kirchenväter die Übertragung zwischen göttlichem und
20 menschlichem Wort ins Zen­trum.49 Zugleich reflektieren historia 7,57).52 Nonnos fasst die Einführung der Schrift
sie, wenn sie die Evangelisten mit Buch, die Propheten mit durch Kad­mos in poetische Worte: »Von der geheimen Macht
Rolle in der Hand darstellen, die sich um das 4. Jahrhundert hochheiliger Bücher gesättigt | Ritzte mit gleitender Hand
herum vollziehende Ablösung der (Papyrus-)Rolle durch er schräge Rillen und schrieb so | Kreisgebogene Bilder«
den (Pergament-)Codex.50 Diese Ablösung prägt die weitere (Dionysiaka 4, 267–269).53
abendländische Geschichte von Schriftlichkeit und Textu- Isidor von Sevilla, der frühmittelalterliche Enzyklopädiker,
alität. Sie bringt neue Techniken des Lesens und Blätterns bringt die verschiedenen Traditionen in einem nicht restlos
mit sich, eine neue Beweglichkeit in der Aufbereitung von stimmigen Gesamtbild zusammen: Der Anfang der hebräi-
Wissen, einen neuen Umgang auch mit der einzelnen Seite schen Buchstaben verbinde sich mit Moses, der der syrischen
bzw. der aufgeschlagenen Doppelseite: Diese steht, gegen- und chaldäischen mit Abraham, der der ägyptischen mit
über der Rolle, stärker für sich. Sie erlaubt aber auch eine der Göttin Isis, die sie in Griechenland gefunden und nach
unmittelbarere Verbindung mit anderen Seiten. Ägypten gebracht habe (Etymologiae 1,3,5). Von den Phöni-
Wo Schrift ihrerseits in Texten behandelt wird, geht es häufig ziern, von denen wiederum Kadmos die Buchstaben an die
um eine Nobilitierung dadurch, dass ihre Ursprünge in eine Griechen übermittelte, stamme der Usus, Majuskeln durch
mythische Vorzeit verlegt werden. Herodot berichtet, die purpurrote Farbe (Phoeniceus color) auszuzeichnen. Auf die
Ionier hätten die Buchstaben von den unter der Führung Griechen gingen die fünf besonders mit Bedeutung aufgela-
Kadmons nach Griechenland eingewanderten Phöniziern denen mystischen Buchsta­ben zurück: »das Y als Sinnbild des
übernommen; auch behauptet er, selbst Buchstaben aus menschlichen Lebens, das Θ als Signum des Todes, das T als
der Zeit Kadmons im Tempel des Apollon Ismenios im Symbol des Kreuzes und das A et Ω als Zeichen für Christus,
böothischen Theben gesehen zu haben (Historien V,58f.). der der Anfang und das Ende aller Dinge ist« (1,3,8f.).54 Die
Platon lässt Sokrates erzählen, der ägyptische Gott Theut Erfindung der lateinischen Buchstaben wird der prophetisch
habe nach der Zahl und dem Rechnen, der Messkunst und begabten Nymphe Nikostrate zugeschrieben, deren ande-
der Sternenkunde, dem Brett- und dem Würfelspiel auch die rer Name Carmentis auf die künftig gesungenen carmina
Buchstaben erfunden (Phaidros 273c). Andere griechische verweise (1,4,1). Spätere christliche Autoren bringen die
Autoren nennen die großen mythischen Erfinder, Künstler ›nationalen‹ Alphabete mit Heiligen und Missionaren in Ver-
und Heroen ihrer Kultur: Palamedes, Sisyphos, Prome­ bindung: Wulfila für das Gotische, Cyrillus und Methodius
theus, Orpheus, aber auch, selten, Athena.51 Plinius referiert für das Kyrillische, Mesrop Mashdotz für das Armenische
die verbreitete Ansicht, Kadmon habe die (16 Buchstaben und Georgi­sche.55 Sie alle vermitteln der Menschheit mit der
umfassen­de) Schrift aus Phönizien nach Griechenland ge- göttlichen Technik auch ein Stück des Göttlichen selbst – und
bracht, Palamades (bzw. Aristoteles) und Simonides sie um auch die anderen Buchreligionen kennen ähnliche Prinzipien:
vier weitere Buchstaben ergänzt. Für die ersten Anfänge stellt Der Koran nimmt einen göttlichen Ursprung des Schreibens
er nebeneinander die Meinung des Antikleides, der Ägypter an, wenn er in seiner 96. Sure die Offenbarung Gottes damit
Menon habe die Schrift »15.000 Jahre vor Phoroneus, dem beginnen lässt, dass Moham­med aus den Schriften rezitieren
ältesten König der Griechen, erfunden«, und die des Epige- soll, die der Engel vom Himmel gebracht hat: »denn der
nes, man habe »bei den Babylo­niern astronomische Texte Herr hat den Gebrauch des Stiftes gelehrt, hat dem Menschen
schon vor 720.000 Jahren auf Ziegeln festgehalten« (Naturalis beigebracht, was er nicht wusste«.
Außer den verschiedenen Herkunftsgeschichten gibt es an- 21
dere Texte, die sich mit einer Deutung der Buchstaben und
der (sakralen) Abkürzungen beschäftigen, und dann auch
solche, die sich zum Beispiel im Rahmen der spekulativen
Grammatik mit überlieferten schrifttheoretischen Konzep-
ten auseinandersetzen.56 Dessenungeachtet werden in Antike
und Mittelalter nur selten die Dimensionen und Leistungen
von Schrift ausführlicher reflektiert. Platons Überlegungen
im Phaidros, der Moderne zum zentralen Referenzpunkt
geworden, bleiben in ihrer hellsichtigen Prägnanz lange
unerreicht – und dem Mittelalter sogar unbekannt. Platon
hatte auf den Punkt gebracht, dass die Schrift zwar erlaubt,
Erinnerungen zu bewahren, dass sie aber auch ein Moment
des Scheinhaften und Äußer­lichen besitzt. Sie erweckt den
Eindruck von Lebendigkeit, ohne wirklich lebendig zu sein.
Sie steht für ein selbst Abwesendes, ohne ursprüngliche
Bedeutungen aus eigener Kraft sichern zu können. Diese
Überlegungen schriftskeptischer oder -kritischer Natur
gehen einher mit ambivalenten Perspektiven auf die Schrift.
Diese ist als pharmakon für Platon zugleich Heilmittel und
Rausch­mittel.57 Er konzipiert seine Dialoge im Wissen um Abb. 12 Astrologischer Traktat, Mitte 11. Jh.; Paris, Bibliothèque Na-
die Möglichkeiten der Schrift. Er setzt diese in raffinierter tionale de France, Ms. lat. 12117, fol. 130v
Weise ein, »um die Illusion der Prä­senz zu erzeugen«.58 Ja,
er begreift das Alphabet als Grundmodell philo­sophisch-
wissen­schaftlicher Tätigkeit.59 Doch er markiert auch die
Grenzen der Schrift und sucht seiner Lehre eine Dynamik der Konvention unmittelbar auf das Innere des Adressaten
zu sichern, die über die schriftliche Fixierung hinausweist. zielt«60 und doch Nachhaltigkeit zu erreichen vermag. Seine
Im Kratylos lässt er darüber diskutieren, ob die Buchstaben Verheißung ist es, Aufzeichnung und Übertragung unter
und Silben das Wesen eines jeden Dinges nachahmen (423e). Ausschluss von Störungen zu ermöglichen. Seine Form
Im Phaidros führt er eine Überschreitung der Schrift im aber ist, soweit er selbst im Medium der Schrift hervortritt,
Hinblick auf eine lebendige Kommunikation der Seelen deren Paradoxierung und Transzendierung. In der Schrift
vor, die ihrerseits in der Metapher der Schrift gefasst ist: Das erscheinen Selbstüberschreitungen der Schrift. Und daraus
Wort der Wahrheit werde »mit Einsicht geschrieben in des ergibt sich jenes grundlegende Spannungsfeld zwischen ei-
Lernenden Seele« (Phaidros 276a). nem kritischen und einem emphatischen Schrift­begriff, das
Dieses ›Seeleneinschreibeverfahren‹ suggeriert, es gäbe ei- die abendländische Geschichte bestimmt.61 Auch wenn dem
nen »Kommunikationsakt, der frei von den Verfälschungen christlichen Mittel­alter Platons Überlegungen unbekannt
22 zwischen Materialität und Immaterialität der Schrift, zwi-
schen schriftlichem Text und mündlicher Lehre, Fixierung
und Aktualisierung, Verstetigung und Verlebendigung. Die
zahlreichen biblischen Schriftszenarien boten dafür anschau-
liche Modelle. Ich greife nur die beiden bekanntesten aus dem
alt- und dem neutestamentlichen Kontext heraus.

Biblische Schriftszenarien

Die berühmte Begründung des in der Dekalogtafel fixierten


Bundesschlusses zwischen Gott und dem Volke Israel zeigt
eine zugleich auratische und prekäre Schriftlichkeit. Moses
schreibt zunächst die Worte Jahwes nieder (Exodus 24,4)
und erhält sodann auf dem Berge Sinai die beiden Gesetzes-
tafeln aus Stein, vom Finger Gottes selbst auf beiden Seiten
beschrieben (31,18; 32,15). Zu seinem Volk zurückkehrend
findet er dieses in der Anbetung des Goldenen Kalbes befan­
gen und zerstört im Zorn die Tafeln. Gott verspricht ihm,
diese zu erneuern (34,1). Am Ende aber scheint es Moses
selbst zu sein, der Jahwes Worte aufschreibt (34,28). Damit
ist das Gesetz zwar in einem göttlichen Ursprung verankert,
dieser Ursprung aber selbst vervielfacht. In Entsprechung
zur Komplexität der Beziehung zwischen Mensch und
Gott erweist sich auch die Schrift als eine sowohl göttliche
wie menschliche, sowohl massive wie fragile. Dass Gott
Abb. 13 Matthew Paris, Illustration zu Prognostica Socratis basilei, vor selbst seine Worte fixiert, garantiert noch keine Stabilität
1259; Oxford, Ashmolean Museum, MS. Ashm. 304, fol. 31v unter den Bedingungen des Irdischen. Doch erlaubt gerade
der verdoppelte Schreibakt das sichtbar zu machen, was
Geschichte begründet: Wieder­ holungen.63 Sie allerdings
werfen immer auch die Frage auf, wie sich Ursprüng­liches
blieben, stand es diesen ja doch in zweifacher Hin­sicht und Späteres zueinander verhalten. Im gegebenen Fall ist
nahe: Es erhob einerseits Schrift zur Grundlage von Ge- die Identität zwischen erster und zweiter Tafel nur durch
schichte und Heilsgeschichte, nahm andererseits beständige das mündliche Gotteswort zu sichern, das seinerseits in der
Überschreitungen und Übertragungen eines engeren Schrift­ Schrift nur ein von Menschen überliefertes ist. Nahegelegt
begriffs vor.62 So kam es zu einem immer neuen Oszillieren wird so die Möglichkeit mehrerer Originale und Anfänge,
zugleich aber verwischt, wie die Texte der verschiedenen 23
Stufen zueinander stehen.
Die auratisierten und legitimierten Tradierungsvorgänge
bringen gleichermaßen substanziell identische ›Kopien‹ und
je neue Gründungsakte, schriftliche Übertragungen und
mündliche Übermittlungen mit sich. Im Buch Josua wird
davon erzählt, wie Josua auf dem Berg Ebal einen Altar er-
richten lässt, vor den Augen aller Israeliten »auf den Steinen
eine Abschrift des Gesetzes des Mose« anfertigt und sodann
»das Gesetz im vollen Wortlaut, Segen und Fluch« verliest,
»genau so, wie es im Buch des Gesetzes aufgezeichnet ist.
Von all dem, was Mose angeordnet hatte, gab es kein einziges
Wort, das Josua nicht vor der ganzen Versammlung Israels
verlesen hätte« (8,31–35). Im zweiten Buch der Könige ist
dann aber bereits explizit von einem Gesetz b u c h die Rede,
das im Haus des Herrn gefunden und vom Staatsschreiber
zuerst allein gelesen und dann dem König vorgelesen wird
(22,8–13). Die verschiedenen Texte lassen verschiedene his-
torische Momente erkennen, hier die steinerne Monumental­
inschriftlichkeit, dort die archivalische Buchschriftlichkeit.
Deutlich ist aber auch, wie das Schriftliche selbst immer
wieder neu im Blick auf mündliche, performative Akte des
Vollzugs dynamisiert wird.64
Auf der Linie solcher Dynamisierungen liegt es, wenn Pau-
lus, dies die zweite Urszene, die religiöse Kommunikation
in den neuen heidenchristlichen Gemeinden begründet. Er
be­zieht sich dabei ebenfalls auf den Ursprung des Gesetzes
am Sinai. Im zweiten Korinther­brief schreibt er: »Fangen wir Abb. 14 Moses empfängt die Gesetzestafeln; Hebräischer Pentateuch
denn abermals an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen aus Regensburg, um 1280; Jerusalem, Israel Museum, Ms. 180/52, fol.
wir, wie gewisse Leute, Empfehlungsbriefe an euch oder 154v

von euch? Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrie­ben,


erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar
geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht
Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurech-
dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, nen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist
sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. Solches von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des
24 neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. gleich aufzunehmen und zu verwandeln. Diese Verwandlung
Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. betraf zum einen die Materialität der Schrift: Zwar spielte das
Wenn aber schon das Amt, das den Tod bringt und das mit ganze Mittelalter hindurch die Idee einer auf massiven Trä-
Buchstaben in Stein gehauen war, Herrlichkeit hatte, sodass gern angebrachten, eingegrabenen und nicht aufgetragenen
die Israeliten das Angesicht des Mose nicht ansehen konnten Schrift eine Rolle. Doch die monumentale Inschriftlichkeit,
wegen der Herrlichkeit auf seinem Angesicht, die doch auf­ der man auf kirchlichen und städtischen Gebäu­den begegnet,
hörte, wie sollte nicht viel mehr das Amt, das den Geist gibt, hatte nicht die gleiche Bedeutung wie etwa in der islamischen
Herrlichkeit haben?«65 Architektur, in der sie das Göttliche aufscheinen lässt – ge-
Paulus setzt sich ebenso ab vom pragmatischen Schriftmodell rade in jener Verflechtung von Schrift und Ornament, die den
der Empfehlungsbriefe (das er selbst praktiziert hatte) wie abendländischen Betrachter verwirrt. Cees Nooteboom hielt
vom genealogischen Schrift­modell des alten Bundes (das das diese Verwirrung am berühmten Beispiel der Alhambra in
jüdische Denken beherrschte). Er überblendet den mosai- Granada fest: »und doch war ich ein Blinder, weil ich nicht
schen Gedanken mit dem prophetischen der inskünftigen wußte, daß es Buchstaben waren, da am Beckenrand, ich
Begründung eines neuen Bundes, von dem Jeremias (31,33) hatte nur Verzierungen gesehen, doch es waren Worte, ich
Jahwe selbst sprechen lässt: »Ich werde mein Gesetz in ihr sah einen sich selbst nachlaufenden, in sich selbst zurück-
Inneres legen und ihnen ins Herz hinein schreiben«. Dies fließenden Arabeskenstrom, und doch war es Schrift«.66
konkretisiert sich im Sinne der christologischen Überbie­ Blind ist der Betrachter auch deshalb, weil die monumentale
tungsidee in einem pneumatischen Schriftbegriff. In ihm sind Inschriftlichkeit sich in und seit dem christlichen Mittelalter
sowohl die Trennung von Botschaft und Adressat wie die auf bestimmte Verwendungen (Stiftungen, Grabdenkmäler)
Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Urheber verla­gert hatte und nurmehr einen Hintergrund für die be-
aufgehoben. Die angesprochenen Korinther sind zugleich der weglichere Buch- und Objektschrift­lichkeit bildete.
Brief des Apostels und derjenige Christi. Sie haben teil an der Die Verwandlung eines auf eine materielle göttlich-menschli-
Herzens­gemeinschaft, die wiederum als ›Körper‹ des Briefs che Urschrift gegründeten Schriftbegriffs betraf zum andern
erscheint. Damit begründet Paulus, auf der Linie Platons, dessen metaphorische Ausdehnung auf vielerlei Phäno­mene.67
die folgenreiche Opposition zwischen einer toten und einer So wie das Innere des Menschen zum Entfaltungsraum
lebendigen Schrift, folgenreich auch deshalb, weil sie in der einer zugleich emphati­schen und dauerhaften Gott- und
sich ausbildenden christlichen Tradition nicht mehr auf das Geist­erfülltheit werden konnte, so ließ sich die Schöp­fung
Verhältnis von Alten und Neuem Testament, sondern auf selbst, Natur, Elemente, Steine, Pflan­zen, Lebewesen, als auf
das von Wortsinn und Spiritual­sinn des biblischen Textes Schriftoffenbarung gegründeter Kommunikationszusam-
bezogen wurde. menhang verstehen. Für Plotin und andere Neuplato­niker
Mit dem mosaischen Tafelwerk war die Idee einer göttlichen waren die Sterne »gleichsam Buchstaben, die immer auf den
Urschrift gegeben, die es späteren Zeiten ermöglichte, ihre Himmel geschrieben werden, oder auch Buchstaben, die ein
Normen und Regeln durch den Rückgriff auf Ursprünge zu für alle Mal geschrieben sind und sich bewegen« (Enneade
legitimieren. Mit der paulinischen Herzensschrift hingegen II,3,7).68 Für Lukrez spiegelte sich das Wunder der Natur,
war die Idee einer unmittel­baren Kommunikation gegeben, die je neue Bildung und Zusammen­setzung von Formen aus
die es ermöglichte, den alttestamentlichen Schriftbegriff zu- bestimmten Elementen, in der Erscheinung der Buchstaben,
25

Abb. 15 Modena, Dom, Stiftungsepigraph mit Lob des Wiligelmus, kurz nach 1099

die je neue Laut- und Sinngefüge bilden: »Siehst du ja sogar geänderte Ordnung. Aber die Ursprungskörper der Dinge
in diesen Versen hier selber viele der Buchstaben doch auch vermögen zu wenden mehr noch an, woraus das Verschie­
vielen Worten gemeinsam, während die Verse und Worte je- denste kann sich entwickeln.«69
doch, das muß man bekennen, sich in Bedeutung und Klang In der Folgezeit trafen in den verschiedenen Schattierungen
unterscheiden. Soviel vermag der Buchstabe schon durch des Begriffs scriptura, der zuerst bei dem byzantinischen
26 der die Menschen verführte, habe ihnen »das Schreiben
mit Tinte und [auf] Papier gelehrt, und dadurch haben sich
viele seit Ewigkeit bis in Ewig­keit und bis auf diesen Tag
versündigt. Denn dazu sind die Menschen nicht geschaffen
worden, daß sie in dieser Weise durch Griffel und Tinte ihre
Treue bekräftigen.«71 Johannes Chrysostomos räsonnierte in
seinen Homilien zu Matthäus: »Eigentlich sollten wir nicht
auf die Hilfe der Hl. Schrift angewiesen sein, vielmehr ein
so reines Leben führen, daß die Gnade des Hl. Geistes in
unseren Seelen die Stelle der Hl. Schriften verträte und sich
in unsere Herzen wie die Tinte auf den Büchern einschreiben
könnte. Weil wir diese Gnade aber ausgeschlagen haben,
wollen wir das Geschriebene, das ein zweitrangiges Vehikel
ist, mit Freuden benutzen« (I,1).72
Doch war es auch möglich, das ›zweitrangige Vehikel‹ auf­
zuwerten. Zum Beispiel durch die Idee, es gäbe einen sub-
stanziellen Zusammen­hang zwischen der Schöpfung und den
Medien ihrer Darstellung. Oder durch die Idee einer nicht-
phonetischen Urschrift, die auf einer inneren Beziehung zwi­
schen Zeichen und Bezeich­netem basiert. Plotin stellte für
Abb. 16 Augustinus, De civitate dei, 3. Viertel 12. Jh.; Engelberg, Stifts- die ägyptischen Hieroglyphen fest: »Jedes eingeschnittene
bibl., Cod. 17, fol. 91r Zeichen ist eine Weisheit, eine Wissenschaft, eine wirkliche
Sache, die mit einem Schlag erfasst worden ist« (Enneade
5,8,5f.). Iamblichos erklärte in De mysteriis Aegyptiorum, die
Ägypter hätten »mittels Symbolen verborgene mystische In-
Grammatiker Priscian in abstrakter Form für das griechi- tentionen ans Licht gebracht.«73 Symbole benutzte aber auch
sche τά γραφόμενα begegnet, spezifische Schriftformen die antike Mnemotechnik, die, von Cicero und Quintilian
und allgemeine Bedeutungsgefüge zusam­men.70 Zwar war an, Erinnerungs- und Schreibakte parallelisierte.
man sich, wie bei Lukrez zu sehen, der Nachrangigkeit oder
Mittelbarkeit der Schrift bewusst. Augustinus, der sie erfun-
den sah, »damit wir auch mit Abwesenden reden können«, Christliche Schrifthermeneutik
begriff sie als eine Ordnung dritten Grades – Zeichen für
Wörter, die ihrer­seits Zeichen für Dinge sind (De trinitate Die christlichen Autoren arbeiteten an den vielfältigen Ent-
15,10,19). Im visionären äthiopischen Henochbuch aus der sprechungen zwischen den beiden großen Büchern, dem liber
frühchristlichen Ära erscheint die Schrift als Ausdruck der naturae und dem liber scripturae. Sie kosteten den Reiz aus,
gefallenen Existenz der Menschheit. Der vierte böse Engel, zentrale Momente der Heilsgeschichte in Metaphern der
27

Abb. 17 Bible moralisée, 1. Hälfte 13. Jh.; Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2554, fol. 16r

Buch­schriftlichkeit zu fassen. Schon der Spätantike galt die und Bischof Richard de Bury im späten Mittelalter: »O du
Gottesmutter Maria als von Gott zugerichtetes Papyrusblatt beson­dere Bedeutung der Schrift, die selbst den Schöpfer
oder als zu lesendes und zu deutendes Buch; doch stellte man des Weltalls zwingt, sich zu bücken, um sie zu schaffen!«75
sie auch selbst lesend oder schreibend dar und und dach- Weit ver­breitet war das apokryphe sog. Kindheitsevangelium
te sich die in der Verkündi­gungsszene konzentrierte I n k a r­ des Thomas aus dem 2. Jahrhundert, in dem der junge Jesus,
n a ­t i o n als einen Akt der I n s k r i p t i o n .74 Jesus wiederum der die Buchstaben lernen soll, seinerseits Zachäus mit einer
konnte, obschon er selbst keine Schriften hinterließ, mit dem allegori­schen Beschreibung des ersten Buchstabens belehrt:
einzigen Schreib­akt, der in den kanonischen Evangelien von »Höre, Lehrer, die Anordnung des ersten Schriftzeichens
ihm berichtet wird, in eine besondere Bezie­hung zur Schrift und achte hier darauf, wie es Geraden hat und einen Mittel-
gesetzt werden. Aus der Szene bei Johannes, in der Jesus an- strich, der durch die zusammengehörigen Geraden, die du
gesichts der Anklage der Ehebrecherin zweimal in den Sand siehst, hindurchgeht, (wie diese Linien) zusammenlaufen,
schreibt (8,6–8), schloss der englische Diplomat, Lordkanzler sich erheben, in Reigen schlingen, drei Zeichen gleicher Art,
28 sich unter­ordnend und tragend, gleichen Maßes; da hast du Dies irae beginnen: Liber scriptus proferetur, | in quo totum
die Linien des Alpha.«76 continetur, | unde mundus iudicetur. Klösterliche Verbrüde-
Der Gottessohn, mit dem Alpha und Omega identifiziert, rungs- und Gedenkbücher (libri vitae) eröffnen skripturale
verkörperte die Erfüllung des Gesetzes. Er wurde beispiels- wie memoriale Räume, in denen die Toten fortleben und
weise in einer Handschrift der Bible moralisée (um 1230) zugleich die Lebenden durch ihren eigenen Tod hindurch
als in einem Buch liegend gezeigt – im Kontrast zu dem ein neues Leben zu gewinnen hoffen.
in seinem Körbchen liegenden kleinen Moses.77 Häufig Die vielzähligen Übertragungen der Schrift- und Buchmeta-
auch erscheint er, anders als alle vorchristlichen Götter der phorik auf theologische und anthropologische Sachverhalte
mediterranen Welt, mit Buchrolle oder Codex: »Er allein zielten auf eine Durchlässigkeit zwischen verschiedenen
hat göttliche Attribute und hält eine Rolle. Er ist das Wort, Seinsbereichen und zwischen Dingen und Zeichen. Sie
und er offenbart das Buch.«78 Zugleich stellt er damit eine nährten die Idee einer universalen Lesbarkeit der Welt, die
Aufforderung für Rezipienten dar, Textlektüre und imi- in der mittelalterlichen Hermeneutik der verschiedenen
tatio Christi zu verschränken.79 Ordnete die Psychologie Schrift­sinne zum Austrag kam.84 Und sie führten zu einer
des hohen Mittelalters dem religiösen Subjekt einen liber charakteristischen Dialektik: auf der einen Seite Heraus-
conscientiae, liber cordis, liber memoriae, liber rationis oder stellung des sinnlich Gegebenen, auf der andern dessen
liber experientiae zu, an dem sich die jeweilige Disposi­tion Aufhebung in spirituellen Bedeutungen. Spätantike und mit-
zum Heil oder Unheil ablesen ließe,80 so übertrug die Passi- telalterliche Theologen legten die Rede vom ›Finger Gottes‹
onsmeditation des späten Mittelalters auf Chris­tus die alte, auf den ›Geist Gottes‹ hin aus.85 Doch wurden in Text und
in der Johannesapokalypse aufgegriffene Metapher des liber Bild auch immer wieder konkrete göttliche und himmlische
vitae.81 Petrus Berchorius machte daraus im 14. Jahrhundert Schreibakte vorgeführt. Die Schrift stellte als Heilige Schrift
exakte Entsprechungen: »Der mensch­gewordene Gottessohn die Grundlage für Gottes Handeln gegenüber den Menschen
wurde vom Vater diktiert, im Schoß Mariens vom Heiligen dar. Sie war Erscheinungsform des göttlichen Willens – wie
Geist auf jungfräuliches Pergament geschrieben, der Welt zur in jener berühmten Szene vom Gastmahl des Belsazar, in
Kenntnis gebracht in der Offenbarung der Geburt, korrigiert der die von Gott geschickten Finger einer Menschenhand
in der Passion, abgeschabt bei der Geißelung, punktiert geheimnisvolle Worte an die Wand des Palastes schreiben,
und durchstochen bei der Durchbohrung der Wunden, auf die von Daniel gedeutet werden (Daniel 5). Diese Schrift ist
ein Lesepult gestellt im Akt der Kreuzigung, illumiert d. h. zunächst nur sichtbar und nicht lesbar – und gerade dadurch
mit roten Buchstaben versehen durch die Vergießung des wirksam. Sie vermittelt eine Präsenz der Zeichen und eine
Blutes, gebunden in der Auferstehung und schließlich zur Absenz ihres Urhebers. Sie führt zu einer existenziellen
Disputation gestellt bei der Himmelfahrt […]. Geöffnet Erschütterung seitens des Königs und einer semantischen
und aufgeschlagen wird das ›Christus-Buch‹ im letzten Auflösung seitens Davids – der die geheimnisvollen Zeichen
Gericht.«82 Die Vorstellung, das ›Buch des Lebens‹ würde als Form der Anwesenheit Gottes kenntlich macht. Die latei-
die ins Himmelreich Aufgenom­menen registrieren, verband nischen Gesta Romanorum (Nr. 42) beziehen eine ähnliche
sich mit der Idee, das ›Buch der Werke‹ würde die mensch- Schrift­erscheinung, die auf einer Säule sichtbar werdenden
lichen Taten verzeichnen und am Ende der Zeiten geöffnet Buchstabengruppen PPP, RRR, SSS und FFF, auf den späte-
werden.83 Thomas von Celano lässt die fünfte Strophe des ren Untergang Roms. Hier wie dort zeigt sich: In der Schrift
29

Abb. 18 Rembrandt, Gastmahl des Belsazar, um 1635; London, National Gallery, NG6350
30 flüssigen‹, um die in ihr verkörperten göttlichen Geheim­nisse
freizusetzen.86 Im Buch Ezechiel (Hesekiel) sieht der Prophet
in der Vision einen Geist, der ihn auffordert, eine Schriftrolle
zu essen: »Er breitete sie vor mir aus, und sie war außen
und innen beschrieben und darin stand geschrieben Klage,
Ach und Weh. Und er sprach zu mir: ›Du Menschenkind,
iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin
und rede zum Hause Israel!‹ Da tat ich meinen Mund auf
und er gab mir die Rolle zu essen und sprach zu mir: ›Du
Menschenkind, du musst diese Schriftrolle, die ich dir gebe,
in dich hineinessen und deinen Leib damit füllen.‹ Da aß ich
sie und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.«87 In es-
chatologischer Perspektive führt nicht die Lektüre, sondern
die Inkorporation der Schrift zur Präsenz des Göttlichen im
Menschen. Doch bedeutet dies andererseits nicht, der Text
der Schrift selbst wäre belanglos gewesen. Gerade im Falle
geoffenbarter Texte ging es darum, deren Gehalt zu sichern
– zum Beispiel durch magisch-performative Mittel, wie sie
Abb. 19 Prophet diktiert die von Christus/Logos eingegebenen Weis- am Schluss der Johannesapokalypse beschworen werden:
sagungen: Frowin-Bibel, 3. Viertel 12. Jh.; Engelberg, Stiftsbibl., Cod. 3, »Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung
fol. 189v in diesem Buch: Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott
ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben
stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten
des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil
ist das Wissen ebenso ums Irdische wie ums Überirdische wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt,
festgehalten. Doch ihr Fluchtpunkt liegt, zumindest neutes- von denen in diesem Buch geschrieben steht.«88
tamentlich, in jenem lautlosen, stimmlosen göttli­chen Wort, Handschriftliche Illustrationen der Apokalypse bringen die
jenem absoluten, kreativen göttlichen Logos, den der Prolog verschiedenen Formen, mit Schriftlichkeit umzugehen, zur
des Johannes­evangeliums in Anklang an die Genesis aufruft. Anschauung. Die erste Bibel Karls des Kahlen vereint auf
Es ist der in Christus fleischgewordene Logos, von dem es einer Seite zu schauende und zu genießende Momente der
am Ende des gleichen Evangeliums heißt: »Wollte man das Schrift: oben ein monumentaler, gold- und silbergeschmück-
alles [was Jesus getan hat] im einzelnen niederschreiben, ter Codex auf einem Thron, unten Johannes, der das Buch,
würde – so glaube ich – selbst die (ganze) Welt die Bücher das ihm ein Engel reicht, verspeist, und eine Personifikation
nicht fassen, die man da schreiben müsste« (Joh 21,25). der Einheit der Schrift, die das thronende Buch ersetzt. Auf
Es galt also, die Schrift, die statische und fixierende, beständig anderen Seiten sind Gedichte in die Handschrift integriert,
zu beleben und zu entgren­zen, zu dynamisieren und zu ›ver- die, geschrieben in goldenen Buchstaben auf purpurnem
Pergament, die Schrift mit Nah­rung vergleichen und die 31
Rezipienten auffordern, eins mit ihr zu werden.89 Die sakrale
Dimension der Schrift beruht auf einem Kippen zwischen
Inhalt und Form, Bedeutung und Materialität, Sinnhaftigkeit
und Sinnlichkeit. Produzenten wie Rezipienten wechselten
hin und her zwischen den verschiedenen inneren und äuße-
ren Sinnen, zwischen Auslegen und Aneignen (Verspeisen,
Ansichtragen), Lesen und Betrachten, Verstehen der Heilsge­
schichte und Übertragen der Heilsenergie auf das eigene
Dasein.90 Man benutzte die Bibel, insbesondere den Psalter,
um durch divinatorisches Aufschlagen einer Seite Hinweise
auf Kommendes zu erhalten. Man trug aber auch Sorge, dies
nicht zu einem Mechanismus verkommen zu lassen, indem
man die Unverfügbarkeit des Göttlichen auf der einen Seite,
die Notwendigkeit einer richtigen inneren Einstellung auf
der andern hervorhob. Abb. 20 Johannes-Apokalypse, um 1310/25; New York, The Metropoli-
Schriftstücke wurden durch ihr Alter und ihren Bezug zur tan Museum of Art, The Cloisters Collection, Ms. 68.174, fol. 16v
Transzendenz entrückt, andererseits wurde das durch sie
Verkörperte je neu gegenwärtig gemacht. Eigenhändige
Aufzeichnungen oder Diktate von Jesus und Maria scheinen
aus der christlichen Urzeit zu stammen – wie etwa die Mari- Pilger in der im Spätmittelalter weitverbreiteten Pelerinage
ensequenz Planctus ante nescia, die mehrere Handschriften de vie humaine erhält von der göttlichen Gnade ein Büchlein
als von Maria diktiert bezeichnen. Sie können aber auch je mit Mariengebeten, die nach dem ABC geordnet sind.93 Er
neu auftauchen, vom Himmel fallen, um auf aktuelle Miss- folgt der Vorgabe sowohl in Form wie Inhalt und lässt die
stände hinzuweisen oder bestimmte Figuren als gottnah zu Leser und Leserinnen ihrerseits das ›Alphabet des Heils‹
kennzeichnen.91 In diesem Sinne wird dem Legendenhelden nachvollziehen.
Eraclius schon kurz nach seiner Geburt ein Zeichen göttli- Die Buchstaben galten als physische Verkörperungen me-
cher Auserwähltheit zu teil: »Als das Kind getauft war, da taphysischer Gegebenheiten. Schon im antiken Judentum
geschah es eines Tages um die Mittagszeit, als es in seiner wurde die Erschaffung der Welt als eine gedacht, bei der
Wiege lag und schlief, daß ein versiegelter Brief auf es fiel. Die sich Gott der Buchstaben bediente, die er – nach dem Buch
Mutter bemerkte es und erschrak sehr. Sie nahm den Brief der Schöpfung aus dem 3./4. Jahrhundert – meißelte und
in die Hand. Außen, aufge­schrieben in leuchtender Schrift, schnitzte, wog und vertauschte und mit denen er alles Ge-
fand sie den Vermerk, daß sie das Kind wohl behüten solle, formte formte.94 Das christlich-abendländische Mittelalter
sich sehr um es kümmern, es mit Büchern vertraut machen, entwickelte einen reichen Symbolismus alphabetischer
und daß sie den Brief bis zu dem Zeitpunkt aufbewahren Bedeutungsstiftungen, auch wenn diese selten so umfassend
solle, an dem es ihn selbst lesen und verstehen könne.«92 Der ausgebreitet wurden wie in dem joachitischen Traktat De
32 Zeichen des Scheidewegs und als Sinnbild des menschlichen
Lebens fungierte, sowie das kreuzförmige T, das außer auf
die Passion auch, als Signum Thau (Tav: letzter Buch­stabe
des hebräischen Alphabets), auf die Kennzeichnung der
Auserwählten gedeutet werden konnte: Von ihm erzählt
das Buch Ezechiel (Kap. 9), dass Gott den Engel es auf die
Stirn der Erwählten zu machen heißt, und erzählt das Buch
Exodus (Kap. 12), dass Gott den Israeliten es mit Blut auf
ihre Türpfosten zu schreiben aufgibt.96
Das Thau erlebte seit dem hohen Mittelalter eine besondere
Konjunktur. Die Kreuzfahrer stellten sich unter das end-
zeitlich getönte Zeichen. Die Antoniter machten es zum
Merkmal ihres Ordens. Von ihnen über­nahm es Franz von
Assisi, der es als Siegel des lebendigen Gottes verstand und
als persön­liches Sinnzeichen nahm. Er brachte es ebenso
auf den Wänden seiner Zellen an wie auf seinen Briefen,
zum Beispiel auf dem berühmten Segen für Bruder Leo, auf
dem das T mit einem Kopf verbunden ist. Leo notierte sich
auf dem gleichen Blatt: Simili modo fecit istud signum thau
cum capite manu sua (»Ebenso verfertigte er dieses Zeichen
Thau mit dem Kopf mit eigener Hand«). Bald schon diente
das T als universales Symbol der Buße, der Erinnerung und
des Schutzes: gegen Pest oder Hunger, Schlangengift oder
Abb. 21 Franciscus von Assisi, Segen für Bruder Leo, um 1220/30; Viehseuche. Es hatte damit teil an den vielfältigen Formen
Assisi, Sacro Convento, Basilica, Capella delle reliquie der Schrift­magie in der christlichen Kultur: Das griechische
und lateinische ABC wurde im Rahmen der Kirchweihe in
die vier Ecken der Kirche eingeschrieben.97 Gottesnamen,
Namen himmlischer Personen und Engel, Psalmenzitate,
semine scripturarum aus dem frühen 13. Jahrhundert. In ihm der Beginn des Johannesevangeliums wurden immer und
wird einerseits das prophetische Geheimnis der Buchstaben immer wieder notiert – zum Beispiel auf kleine Zettel, die,
ent­rätselt, andererseits aus der Abfolge der Buchstaben die vergraben, verarbeitet, gegessen oder auf der Haut getragen,
heilsgeschichtliche Bedeutung der einzelnen Jahrhunderte den Gedanken der heilsträchtigen Macht der Schrift konkret
zwischen der Gründung Roms und dem Weltende ermit- nutzbar zu machen suchten.98
telt.95 Häufiger ging es um einzelne machtvolle Buchstaben:
neben dem A und dem O/Ω, in denen die ganze Potenz des
Alphabets konzentriert ist, das pythagoreische Y, das als
33

Abb. 22 ABCDarium zur Kirchweihe; aus: Pontifikale, Mitte 12. Jh.;


Köln, Dombibl., Hs. 139, fol. 66v/67r
34 diktinische ora et labora zusammentrafen.99 Er war Arbeit,
die in Metaphern des Fruchtbarmachens beschrie­ben wurde:
»Was mehr Nutzen bringt [als tatsächliches Säen und Bewäs-
sern]: Als Pflug soll die Hand zur Feder greifen, statt Äcker
sollst du die Seiten mit göttlichen Worten bedecken, auf den
Blättern die Beete des göttlichen Wortes bestellen, und wenn
die Saat reif, das heißt die Bücher vollendet sind, werden sie
mit vielfältiger Frucht die hungrigen Leser speisen, und so
wird das himmlische Brot den lebensbedrohenden Hunger
der Seele stillen.«100
Diese landwirtschaftliche, nährende Arbeit ist aber auch
Mühsal und Leiden, wie viele Schreiber in ihren Nachsätzen
hervorhoben101 und wie ein Miniaturist am Ende einer Hand-
schrift von Augus­tinus’ De civitate dei (um 1140) humorvoll
darstellte: Während der Gehilfe Everwinus in das Malen
einer Ranke vertieft ist, lässt sich der Schreiber Hildebertus
von einer Maus ablenken, die sich über ein Stück Käse her-
macht und eine Schale bereits vom Tisch geworfen hat. Der
im Buch zu lesende Text nimmt mit einer Verfluchung darauf
Bezug: Pessime mus. Sepius me prouocas ad iram ut te deus
Abb. 23 Augustinus, De civitate dei, um 1140; Prag, Knihovna Metro- perdat (»Üble Maus. Oft reizt du mich zum Zorn, möge Gott
politní Kapituli, Ms. A XXI/1, fol. 153r dich vernichten«).102 Die dynamische Maus musste auch in
anderen zeitge­nössischen theologischen Zusammenhängen
herhalten, die Wirksamkeit der Sakra­mente bei Störungen
zu diskutieren. Hier steht sie dem kontempla­tiven Akt des
Schrift performativ und materiell Schreibens entge­gen, der auch sonst mancherlei Gefährdun-
gen ausgesetzt ist: Der Unterteufel Tutivillus, der im späten
Schrift zählte nicht nur als Gegebenheit, sondern auch Mittelalter vor allem in englischen Texten sein Unwesen
als Prozess. Der Akt des Lesens galt als ein Vollzug, ein treibt, registriert in einer Negativfassung des Buchs der
körperlicher, in dem eine Anverwandlung ans Gelesene Werke die von den Menschen begangenen Sünden des Wortes
stattfinden kann. Er hat seine eigenen Dynamiken, die in – in der Kirche ebenso wie in der Schreibstube.103
einmaliger Form der Teppich von Bayeux (letztes Drittel 11. Nur der in rechter Haltung ausgeführte Akt des Schreibens
Jh.) entfaltet, indem er auf einer Länge von 70 Metern eine konnte wirklich als heilsver­ mittelnd geltend – oder als
kontinuierliche Parallelbewegung der Figuren, der Bilder, zumindest die Hoffnung nährend, dem Seelenheil dienlich
der Schriftzeichen ins Werk setzt. Der Akt des Schreibens zu sein. Ordericus Vitalis lässt in seiner bis 1142 geführ-
wiederum gehörte zu jenen Tätigkeiten, in denen das bene- ten Historia ecclesiastica den Abt Teo­dericus von einem
Mönch erzählen, der sowohl eine Neigung zur Sünde wie 35
zum Schreiben hat. Nach seinem Tod werden alle von ihm
geschriebenen Buchstaben gezählt und gegen die Sünden
gestellt – mit dem Resultat, dass die Buchstaben die Sünden
um eins überwiegen: Seine Seele darf zum Körper zurück-
kehren, um ihre schwarzen Flecken gutzu­machen.104 Auf
dem Titelblatt einer wenig später entstandenen Handschrift
von Isidors Etymologien sieht man im oberen Feld den Au-
tor, ein Schriftrolle in der linken Hand, die der Herausgeber
seiner Schriften, Braulio, mit der rechten stützt; sie trägt die
Inschrift Fac mea scripta legi que te mandate peregi (»Bereite
meine Schriften zum Lesen, die ich auf dein Geheiß hin
verfasst habe«) und vermittelt zwischen zwei aufge­falteten
Pergamentbögen als Zeichen für die Weitergabe des Werks.
Das untere Feld zeigt den Schreiber der vorliegenden Hand-
schrift (Swicher), auf dem Totenbett liegend. Sein in einem
Codex personifiziertes Werk wird auf der Waagschale des
Gerichts gewogen und für gewichtig befunden. Ein Engel
nimmt die Seele zu sich, während der Teufel das Weite sucht.
Christus selbst, als Richter mit dem Buch (des Lebens) in
der Hand, gibt durch die Blickrichtung seiner Augen die
Zuwendung zum Schreiber und seinem Werk zu erkennen.
Zwischen beiden Feldern vermitteln die Schriftzeilen, welche
die humilitas gegenüber dem göttlichen Wort zum Ausdruck
bringen und sich sowohl auf den ursprünglichen Autor wie
seinen späteren Schreiber beziehen lassen: Scriptoris miseri
dignare deus misereri. Noli culparum pondus pensare mea- Abb. 24 Isidor von Sevilla, Etymologiae; um 1160–65; München, Baye-
rum. Parva licet bona sint superexaltata malis sint. Nox luci rische Staatsbibl., Clm 13031, fol. 1r
cedat. Vite mors (»Erbarme dich Gott eines erbarmungswür-
digen Schreibers. Wäge nicht das Gewicht mei­ner Sünden.
Auch wenn die guten Taten wenige sind, mögen sie mehr
als die schlechten wiegen. Die Nacht weiche dem Licht, der
Tod dem Leben«).105 Ein anderer Schreiber, Radulf, Mönch staben ich mit dem Stift hinmale, von wievielen Zeilen die
im Kloster Saint-Vaast d’Arras, sieht sich, Augustins Enar­ Seite durchpflügt wird, mit wievielen scharfen Punkten das
rationes in psalmos schreibend, vom Himmel herab vom Blatt von hier und dort zerstochen wird« – und werde den
Hl. Vedastus beobachtet; dieser vermerke, »wieviele Buch- entsprechenden Sündenerlass gewähren.106
36 cke und Bücher Objekte, die nicht zuletzt aufgrund ihres
materiellen Wertes geschätzt wurden. Hergestellt bis ins
14. Jahrhundert aus kostbarem Pergament und unter hohem
Arbeitseinsatz, geschmückt innen durch Bilder und Initialen,
außen durch Einbände und Verkleidungen, manchmal aus
Elfenbein, besetzt mit Gold, Email und Edelsteinen, reprä-
sentierten sie Schätze, die sorgsam gehütet wurden. Schon im
altenglischen Exeter Book (2. Hälfte 10. Jh.) gibt es Rätsel,
in denen die Gefährdungen der Schrift zur Sprache kommen
(»eine Motte fraß ein Wort«) oder das Pergament selbst
beschreibt, wie es aus der ursprünglichen Tierhaut durch
die verschiedenen Herstellungsvorgänge die gegenwärtige
Form erlangte (»Dann kleidete mich ein Mann in schützende
Bretter und bedeckte mich mit Haut und schmückte mich
mit Gold«).107
Die »schützenden Bretter«, Buchdeckel und Diptychien,
verwandeln die Materialität des Geschriebenen vollends
in eine veritable Körperlichkeit. Sie weisen ebenso wie die
Zierelemente am Anfang eines Textes, eines Kapitels oder
größeren Abschnitts architekto­nische Züge auf. Sie legen
eine Analogie mit sakralen Gebäuden nahe: die Begegnung
mit dem Buch als Eintritt in, der Weg über die Seite als Be-
wegung durch einen Heilsraum. Die Schriftstücke rücken in
die Nähe mnemotechnischer Ortssysteme.108 Zugleich gelten
sie als heilsame Medizin der Seele,109 als quasi lebendige
Entitäten, die eingekleidet und herumge­tragen werden, als
Reliquien, die man ausstellt, aufbahrt und verehrt, als Kör-
Abb. 25 Vorwort des Hieronymus zu Didymus Alexandrinus, 1487; per, die Menschen und Institutionen vertreten, han­deln und
New York, Pierpont Morgan Library, Morgan MS 496, fol. 2r leiden können. Der Hl. Brandan findet, nach einem Zweig
der Legende, in seinem Kloster ein von den Wundern der
Welt berichtendes Buch, dem er nicht zu glauben vermag.
Er verbrennt das Buch und muss zur Strafe die Wunder auf
Zwar gab es immer wieder Stimmen, die den Inhalt und nicht ausgedehnten Reisen selbst erfahren – bis er am Ende das
die Materialität eines Buches für das Entscheidende hielten; neue Buch, das die Erlebnisse der Reise verzeichnet, auf
die Zisterzienser etwa wandten sich gegen die Verwendung dem Altar der Gottesmutter darbringen kann.110 Der Hl.
von Goldinitialen. Doch überwiegend waren Schriftstü- Bonifatius erhielt in den Viten eine zunehmend ausgestaltete
Sterbeszene, bei der ein Buch eine zentrale Rolle spielte. Er 37
habe dieses bei der Attacke der Heiden schützend über sich
gehalten, ohne daß ein Buch­stabe beschädigt worden sei
– eine Herleitung des in Fulda verehrten, durch Einschnitte
gekennzeichneten Ragyndrudis-Codex.111 Bischof Turgot
erzählt in seiner Biographie der Königin Margaret von
Schottland (ausgehendes 11. Jh.), wie ihr Lieblingsevangeliar
(heute in der Bodlein Library in Oxford) auf wundersame
Weise einen Sturz ins Wasser überlebte: »Seine Blätter wur-
den von der Strömung ohne Unterlass hin und her gezerrt,
und die seidenen Läppchen, welche die goldenen Buchstaben
bedeckten, damit sie nicht durch die Berührung mit den
Blättern abstumpften, waren von der Gewalt des Flusses
abgerissen worden. Wer hätte gedacht, dass das Buch noch Abb. 26 Eike von Repgow, Sachsenspiegel, 3. Viertel 14. Jh.; Wolfen-
etwas wert sein könnte? Wer hätte geglaubt, dass darin büttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 3.2 Aug. 2°, fol. 85va
auch nur ein Buchstabe weiterbestehen würde? Und doch:
unversehrt, unverdorben, unbeschädigt zog man es mitten
aus dem Fluss, so dass es schien, als sei es überhaupt nicht
mit dem Wasser in Berührung gekommen.«112 Sichtbarkeit
Wie die Märtyrer überstehen auch die Bücher Angriffe und
Unbilden ohne Schäden – wenn sie göttlichen Geistes sind. Die Aussagen zur Materialität der Überlieferung betreffen
Eine Handschrift des Sachsenspiegel zeigt das Rechtsbuch, nicht nur den Codex, sondern auch die Schrift. Diese besaß,
aus dem Gott sich erhebt und unter dem der Autor her- geschrieben zum Beispiel mit massivem Goldauftrag auf
vorschaut, attackiert von den Feinden des Rechts – sowohl Purpurgrund, eingegraben ins Pergament, unterbrochen
verbal durch Schmähworte als auch körperlich durch Fuß- durch Löcher und angepasst an die Unregelmäßigkeiten
tritte.113 Richard de Bury spricht in seinem Philobiblon (1345) des natürlichen Materials, eine haptische Qualität. Auf der
von Büchern als Individuen, die zwar in ihren Körpern ver- Vorderseite schimmerte die Rückseite durch. Zeigehände
gänglich, ihrem Gehalt aber dauerhaft seien: sie abzuschrei- am Rand hoben bestimmte Stellen hervor. Und manche
ben heißt, Söhne zu zeugen, und so muss der Kleriker dafür Einträge in Handschriften lassen ahnen, wie der tatsächliche
sorgen, dass »ein heiliges Buch, das der Natur seinen Tribut Umgang mit Schriftstücken aussah: »O glücklichster Leser«,
zollt, einen Erben erhält, der an seine Stelle tritt und durch stellt der Schreiber des Westgotischen Rechtsbuches (8. Jh.)
das ein Samen aufgeht, ähnlich dem verstorbenen Bruder, fest, »wasche deine Hände und fasse so das Buch an, drehe
so dass jenes Wort des Ekklesiastes sich erfüllt [30,4]: Der die Blätter sanft, halte den Finger weit ab von den Buchsta-
Vater ist tot, aber er ist dennoch nicht tot, denn er hat einen ben«.115 Ein Schreiber aus Corbie (9. Jh.) vermerkt: »Freund,
anderen hinterlassen, der wie er selber ist.«114 der du dies liesest, halte deine Finger zurück, damit du nicht
unversehens die Buchstaben verdirbst, denn ein Mensch,
38 welcher nicht schreiben kann, glaubt keine Arbeit vor sich Königs- und Papsturkunden machten Rechtsförmigkeit und
zu haben, doch wie dem Seemann der Hafen lacht, so dem Geltungsansprüche sinnfällig; sie waren als Kunstwerke ge-
Schreiber die letzte Zeile. Die Feder wird mit drei Fingern staltet und, wie schon aus den Urkundenprotokollen selbst
gehalten, und der ganze Körper müht sich.«116 Das wirft hervorgeht, dafür bestimmt, gelesen, gesehen oder gehört
Licht auf verbreitete Praktiken: Der Finger folgte den Buch- zu werden; teilweise wurden sie wohl bei Heiltumsschauen
staben beim Lesen. Die Augen und der die Worte stumm gezeigt.119 In den Texten selbst ist immer wieder vom Sehen
artikulierende Mund näherten sich dem Blatt. Gelegentlich der brief oder der schrift die Rede.120
berührten die Lippen heilsträchtige Buchstaben oder Wörter. Im Innern der Bücher ermöglichte die sukzessive Durch-
Die Ohren lauschten auf die Stimmen der Bücher, die voces setzung der Worttrennung gegen­über der antiken scriptura
paginarum.117 Richard de Bury entwirft ein drastisches Bild continua ein schnelleres visuelles, sich von der Mitartiku-
der Rücksichtslosigkeit einzelner Benutzer: Sie beschmieren lation lösendes Lesen.121 Die Verbindung der Schrift mit
das Buch mit Nasenschleim und besprühen es beim Reden figürlichen Elementen und graphischen Symbolen lenkte
mit Speichel. Sie merken sich mit dreckigen Fingernägeln das Augenmerk auf die optische Dimension.122 Gegliederte
Stellen an, essen Obst und Käse über dem Buch und legen Seiten dienten nicht nur der Strukturierung des Textes,
Blumen hinein. Vor allem werden sie »zu Glossatoren der sondern auch der Etablierung eigener Formen der Wahr-
prächtigen Bände, die man ihnen anvertraut. Wo früher nehmung und Erinnerung.123 Schon Optatianus Porfyrius,
ein breiter Rand um den Text war, da sieht man bald ein der sich zwischen paganen Tradi­tionen und christlichen
absonderliches Alphabet oder sonst eine Unverschämtheit, Neuansätzen bewegte, verfasste im frühen 4. Jahrhundert,
wie sie sich in ihrer Phantasie einstellt und wie sie in ihrem zur Zeit der Kon­stantinischen Wende, im Exil eine Reihe von
Zynismus die Frechheit besitzen, sie dort hinzumalen« panegyri­schen Figurengedichten, bei denen er bedauerte,
(Philobiblon, Kap. 17). sie aufgrund der Gegebenheiten nicht in Purpurcodices mit
Richard bezeugt damit auch, indem er die negativen Um- silberner Schrift und goldenen Intexten, sondern nur auf
gangsformen brandmarkt, wie wichtig die Schauseite der gewöhnlichem Pergament mit schwarzer und roter Tinte
Schriftstücke war. Früh schon besaßen kostbar geschmückte schreiben zu können.124 Die geometrischen Gittergedichte,
Buchdeckel die Aufgabe, wesentliche Aspekte des Inhalts die die Seite als Grundfläche der Anordnung nehmen,
oder zusammenfassende Sinn­bilder der christlichen Lehre beziehen sich selbst immer wieder auf das darstellerische
auch denen darzubieten, die nicht bis ins Innere vordrangen. Prinzip. Sie enthalten poetologische Reflexionen, verweisen
Bei den zweiseitig mit Zeichen bedeckten süditalie­nischen auf den Schriftcharakter der Texte und bieten Erläuterungen
Exultetrollen wandte sich die Seite der Bilder zur Gemeinde zum Verständnis der Intexte: In hac pagine per omnes partes
hin. Aufgeschlagene Riesenbibeln, Missale und Prozessio- tricenæ septenæ litteræ sunt et auro scripta est species palmæ
nale boten sich zum Betrachten dar. Derlei Ostentationen …125 Der angelsächsische Missionar Bonifatius legte die
hatten auch mit der Inszenierung von Macht zu tun: »Bei Struktur seines eigenen figurativen Kreuz­gedichts in einem
Besitzänderungen, Stiftungen, Belehnun­gen usw. wurden Widmungsbrief an Sigibert ausführlich dar: »Nun habe ich
Schriftstücke regelmäßig den Betroffenen gezeigt, auf den auf die Titel­seite meines Werkes ein Viereck gesetzt, das in
Altar gestellt, sichtbar und manchmal gleichzeitig mit sym- der Mitte die Gestalt des heiligen Kreuzes enthält und die
bolischen Objekten übergeben«.118 Großformatige Kaiser-, Worte ›Jesus Christus‹ darstellt. Das Viereck bietet, einge-
rahmt von zwei Versen, während andere querlaufen, in spie- 39
lerischer Aneinander­fügung von Sätzen die Buchstaben, die
einander entgegen zu lesen sind. Es ist aber dieses Viereck,
wie du wissen sollst, gebildet in der Gestalt des Alten und
des Neuen Testaments.«126
Neben solchen auf ein je neu ansetzendes, kombinatorisches
Lesen zielenden Figuren­gedichten sind es auch einzelne
Seiten wie diejenigen mit den Kanonestafeln, die die Vor-
stellung einer Räumlichkeit des Buches zugleich umsetzen
und reflektieren: »In einem als Gebäude aufgefaßten Buch
taucht ein Bild auf, das den Buchtext wiederum als Gebäude
begreifbar macht.«127 Vor allem aber sind es die Initialen, die
Schrift- und Bildelemente verschränken. Nachdem schon
in spätantiken Codices paganer Texte Zierbuchstaben zur
Hervorhebung von Anfängen geläufig geworden waren,
entstand in den irisch-christlichen Handschriften des 7. und
8. Jahrhunderts eine dynamische Verknüpfung von Initialen
und Textbuchstaben: »Der Zeilenanfang der großen Ab-
schnitte senkt sich zur Normalschrift in einer Art Diminu-
endo, von der Höhe der durch Punktkonturen, rote Farbe,
Spiral­endungen und ähnliche Verzierungen ausgezeichneten
Initiale oder monogrammartigen Ligaturen hinab zum
Fußvolk der schlichten, in gewöhnlicher Tinte geschriebe-
nen Lesebuchstaben.«128 Andere Buchstaben bestehen aus
Tierkörpern, die ineinander über­gehen und sich wiederum Abb. 27 Chi-Rho-Initiale, Book of Lindisfarne, um 700; British Li-
mit Ornamenten verbinden. Die Initiale »entpuppt sich als brary, Cotton MS Nero D.IV, fol. 29r
ein elastisches Wesen, das von dynamischen Energien erfüllt
ist und die Fähigkeit besitzt, Teile seines Körpers beliebig
zu dehnen oder zu verkürzen«.129 Am spektakulärsten ist
die Ausdehnung einzelner Zierbuchstaben über die ganze
Seite. Die Chi-Rho-Initiale etwa, als Christusmonogramm
benutzt, die bei der Illustration des Matthäusevangeliums
die Geburt Christi markiert, bietet einen Ornamentteppich,
zusammengesetzt aus eckigen und runden Formen, regel-
mäßigen und unregelmäßigen Elementen. Die Initialkom-
bination am Beginn des Markusevangeliums verwebt den
40 ebenfalls abgekürzten Namen Christi in eine wunder­bar in
sich verschlungene Linienwelt.
Die Buchstaben legten nahe, Lektüre und Betrachtung,
Erkennen der Schriftbestandteile und Sichverlieren im Lini-
engeflecht zu verbinden und sich auf die Entdeckung eines
Mikrokosmos einzulassen. In ihm soll die Schrift ontolo-
gische Dimension haben und wieder­um die Ontologie sich
als Schrift erweisen. Zwar faszinierte in der Folgezeit nicht
zuletzt die ästhetische und optische Dimension: bewohnte
Initialen mit Ranken­kletterern und anthropomorphen oder
zoomorphen Figuren, gezeichnete oder Fleuronné-Initialen
mit teils phantastiereichem Linienwerk, Bildinitialen, die
wie in einem Fenster den Blick auf Szenen freigeben130 – bis
das Szenische im späteren Mittelalter selbst ganz in den
Vordergrund tritt wie in jenen Stundenbüchern, in denen die
Schrift die Mitte der Seite einnimmt, plaziert, ja aufgehängt
vor den Bildern an Schnüren oder Baumstämmen (s. unten
Abb. 35).131 Doch bleibt ungeachtet solcher Entwicklungen
zumal bei den bibli­schen und liturgischen Handschriften
eine innere Beziehung zwischen der Initiale und dem heiligen
Text, den sie einleitet, wirksam. Besonders betont werden die
Anfänge der Evangelien und des Psalters, wo die B-Initiale
des Textbeginns Beatus vir mit dem genealogischen Modell
der Wurzel Jesse oder dem auktorialen des David rex kom-
biniert werden konnte.132 Allerdings ist gerade am Beispiel
der Psalterillustration auch die Entwicklung zu erkennen:
Eine strenge liturgisch-magische Formelhaftigkeit, die sich
etwa im Stuttgarter Psalter (um 830) als Verschränkung von
Abb. 28 Bibel von Santa Cruz, Mitte 12. Jh.; Porto, Biblioteca pública graphisch wirksamer Schrift und wortbezogen wirksamem
municipal, Ms. 32, fol. 1v Bild manifestiert, weicht schon in hochmittelalterlichen
Psalterien einer stärkeren Spiritualisierung und Allegorisie-
rung.133 Das Materielle wird nicht unwichtig, verliert aber
seine primär sinnstiftende Funktion. Es geht ein in einen
Kontext komplexerer memorialer Praktiken. Zum Beispiel
wurde nun das in den Missalen herausgehobene Te igitur des
ersten Kanongebets (in der Messe Beginn der sogenannten
41

Abb. 29 Lateinischer Psalter wohl aus Hildesheim, um 1235 (An-


dachtsbücher des Mittelalters aus Privatbesitz, bearb. von Joachim M.
Plotzek, Köln 1987, Nr. 3), fol. 52v/53r

Kanonstille) mit einer Darstellung des Gekreu­zigten ver- Suggestion, das Gemeinte sei in der Figur des Schriftbildes
knüpft und damit zu einer sich in der Schrift vollziehenden selbst anwesend.134
Rememoration der Passion erhoben. Auch für sie aber gilt: Aus diesem Grund wurde Schrift auf allen möglichen Ma-
Die Buchstaben besitzen eine ontologische Zeichenhaf- terialien angebracht: Objekten, Textilien, Tafeln, Gemälden,
tigkeit. Sie transportieren eine Bedeutsamkeit, die nicht Wänden. Als Teil von Glasscheiben konnte sie buchstäblich
einfach auf einer Verweisbezie­hung beruht, sondern auf der zum Leuchten gebracht werden und als Medium der Trans­
42 zendenz erscheinen. Als Moment klerikaler Praxis konnte sie Zugleich kommt es zu markanten Thematisierungen und
aber auch ihre Aura verlieren und zum bloßen Instru­ment Inszenie­rungen von Schriftlichkeit. Hrabanus Maurus for-
werden. Alles in allem heißt dies: Im Mittelalter durchdrin- muliert die heilige Aufgabe des Kopierens des göttlichen
gen sich pragmatischer und sakraler Schriftgebrauch in je Gesetzes in einem an den Fuldaer Abt Eigil gerichteten
anderer Weise. Und das heißt: Gegenüber der archivalischen Gedicht: Diese fromme Arbeit sei keiner anderen Handar-
kann die materielle, die visuelle, die performative oder die beit vergleichbar, erfreue sie doch nicht nur die Finger beim
magische Dimension der Schrift je nach dem in den Vorder- Schreiben, sondern auch die Augen beim Sehen und den
grund treten.135 Die Punkte, an denen ein solches Hervor- Geist beim Studium des tiefen Sinns der göttlichen Worte.
treten besonders sichtbar wird, stehen wohl nicht zufällig Kein Werk gäbe es, das nicht durch den Lauf der Zeit zer-
im Kontext weiterreichender Veränderungen skripturaler stört oder verkehrt würde – außer dem der Schrift: »nur
Praktiken. Das macht es nötig, das vorstehend in groben Buchstaben sind unsterblich und überwinden den Tod, nur
Konturen angerissene Bild im Blick auf verschiedene histo- Buchstaben in Büchern erwecken Vergangenes zum Leben.
rische Konstellationen und Phasen zu konkretisieren. Gottes Hand selbst schnitt ja Buchstaben in den Stein, als
er das Gesetz seinem Volke gab, und diese Buchstaben ent-
hüllen alles in der Welt, das ist, war oder vielleicht künftig
Frühmittelalterliche Schriftinszenierungen sein wird.«139
Der gleiche Hrabanus ist es auch, der der von Porfyrius
In der Karolingerzeit kommt es in Zusammenhang mit viel- geprägten und von Bonifatius, Alkuin und anderen Autoren
schichtigen Bestrebungen der Bildungsförderung auch zu der Hofschule Karls des Großen aufgegriffenen Gattung des
einem beträchtlichen Schriftlichkeitsschub. Die Schrift wird Figurengedichts neue Dimensionen verleiht. Um 813/814
vermehrt für Zwecke der Herrschaft und Verwaltung, aber verfasst er einen Liber de laudibus sanctae crucis. Die 28
auch der Aufzeichnung histori­schen und theologischen Wis- Gedichte dieses Zyklus enthalten jeweils durch andere
sens eingesetzt. Man beginnt antike Inschriften abzuschrei- Schriftfarben oder Hintergründe hervorgehobene Felder
ben und zu verbreiten. Die Vollendung der karolingischen und Figuren, Buchstaben, Kreuzzeichen und Evangelis-
Minuskel bringt eine Vereinheit­ lichung des skripturalen tensymbole, die sich zugleich als Texte erweisen, welche
Wildwuchses mit sich. 136
In den Handschriften gewinnt die den Haupttext ergänzen und vertiefen.140 Seite für Seite
Struk­turierung und Hierarchisierung verschiedener Textebe- werden die Buchstaben neu ›verstreut‹ (litteras spargere),
nen an Bedeutung.137 Die Glossierung von biblischen und anti- entsteht eine textbildliche Gesamtkomposition, auf deren
ken Texten geht mit einem Erproben von Schriftanordnungen Einheit Hraban selbst hinweist. Nicht nur bezeichnet er
einher. Verschlüsselungen und Geheimschriften kommen zur sich sowohl als Dichter wie als Maler (opifex), er hält auch
Geltung. In Darstellungen des orbis terrarum – zum Beispiel im Widmungsschreiben an Hatto fest: »Ich bitte dich,
im Rahmen von Isidors Etymologien – ist es die Kombination Bruder, falls du das dir übersandte Werke jemandem zum
aus Linie und Kreis, aus verschieden eingefärbter Tinte, die Abschreiben übergibst, daß du ihn ermahnst, er möge darauf
ein ›Bild‹ der Welt erzeugt. Generell erfahren Heilsvermittlung achten, die darin enthaltenen Figuren und die Reihenfolge
und religiöse Unterweisung mit Hilfe der Schrift eine neue der Schriftzeichen zu bewahren, damit er nicht den Wert
Ausbreitung – auch in adligen und laikalen Kreisen.138 des Werkes verderbe, indem er die Gestalt der Figuren
und die Anordnung des Textes verändert.«141 Die Texte der 43
einzelnen Seiten bieten jeweils auch declarationes Hrabans,
die das Verständnis der Gedichte erleichtern und deren ein-
zelne Elemente geistlich auslegen. In einem Gedicht werden
vier griechische Buchstaben, die ein Kreuz bilden, in ihren
numerischen Entsprechungen auf die Jahre der Heilsge-
schichte von der Schöpfung bis zum Tode Christi bezogen
und zugleich »nach ihrer orthographischen Form auf die
paulinische Tugendtrias« gedeutet.142 Ein anderes fügt zur
»universalistischen Symbolik des Kreuzes […] ein weiteres
Buchstabenspiel: Das O am Ende der Kreuzarme und das
von A-Buchstaben umgebene M im Zentrum charakterisie-
ren, da Anfang, Mitte und Ende des Alphabets markierend,
den das Universum umfassenden Christus am Kreuz.«143
Die Evangelistenfigur plaziert die Symbole von Markus,
Matthäus, Lukas und Johannes kreuzförmig um das Agnus
dei in der Mitte herum.144
Die Figurengedichte des Hrabanus wirkten das ganze Mit-
telalter hindurch inspirierend: fast 80 Handschriften haben
sich, über alle Jahrhunderte verteilt, erhalten; auch das frühe
Druckzeitalter hat sich ihrer angenommen. Ihnen zur Seite
zu stellen wären zahlreiche andere Handschriften, in denen
die Schrift mit architektonischen Gefügen verknüpft ist, in
denen die Seiten geometrisiert werden, in denen einzelne
Buchstaben oder Wörter besonders heraustreten. Das
prachtvolle, von Karl dem Großen selbst in Auftrag gegebene Abb. 30 Hrabanus Maurus, De laudibus s. crucis, Fulda, um 826; Rom,
Godescalc-Evangelistar (zwischen 781 und 783), eines der Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 124, fol. 4v
frühesten Beispiele für die Verwendung der karolingischen
Minuskel, zeigt jede Seite »einem millimetergenau festgeleg-
ten und durchgehend befolgten Linie­rungssystem unterwor-
fen«. Es macht aber auch »die Schrift- und Buchwerdung Regna poli roseo pate – sanguine – facta tonantis | Fulgida
des Gottes­wortes, die Authentizität der Evangelien« und stelligeri promunt et gaudia caeli, | Eloquiumque dei digno
den »Heils- und Erlösungscharakter des Gotteswortes« fulgore choruscans | Splendida perpetuae promittit praemia
selbst zum Thema.145 Das Programm kulminiert in dem vitae (»Die goldenen Buchstaben werden auf purpurnen
Widmungsgedicht auf den beiden letzten Seiten des Codex. Blättern gemalt. Sie offenbaren das durch das rosen­farbige
Es beginnt: Aurea purpureis pinguntur grammata scedis | Blut Gottes eröffnete Himmelreich und die glänzenden
44 Freuden des gestirnten Himmels, und das Wort Gottes, in Hochmittelalterliche Auratisierungen
würdigem Glanz schimmernd, verheißt den leuchten­den
Lohn des ewigen Lebens.«)146 Die karolingische Bildungsreform fand keine unmittel-
Insofern in der Schrift sich das Gotteswort manifestieren soll, bare Fortsetzung. Erst seit dem ausgehenden 11. und dem
geht es darum, diese immer wieder aufs neue zu dynamisie- 12. Jahrhundert breitete sich Schrift in größerem Maße in
ren: durch die Beweglichkeit oder Farbigkeit des Erschei­ Recht, Verwaltung und Wirtschaft aus.149 Die scholastische
nungsbildes, das Wechselspiel zwischen der Flächigkeit der Wissenschaft arbeitete an der immer besseren Erschließung
Seite und der Linearität der Schrift, die Aufforderung zu von Texten: durch differenzierte Seitenlayouts, unterschie-
einer synästhetischen Rezeption. In diesem Sinne heißt es dene Textstufen, Kolumnentitel, Inhaltsverzeichnisse und
im Widmungsgedicht zum Dagulf-Psalter (ausgehendes 8. Register.150 Diese Mittel standen im Dienste einer verfei-
Jh.): »Goldene Buchstaben malen die Gesänge Davids; | es nerten Mnemotechnik: Die Farbe, Form und Position der
ziemt sich dass derartige Lieder so schön verziert werden. Lettern, die »Spur der Buchstaben oder der ornamentalen
| Goldene Worte ertönen […] | Passend werden sie schön Oberfläche auf dem Pergament« dienen dazu, so Hugo von
geschmückt mit Tafeln aus Elfenbein.«147 Otfrid von Weißen- St. Viktor in De tribus maximis circumstanciis gestorum, das
burg reflektiert in einem an Erzbischof Luitbert von Mainz Gedächtnis zu stimulieren.151 Damit verbunden war eine fol-
gerichteten Widmungsbrief zu seinem althochdeutschen genreiche Abstraktionsleistung: »Im Dienst eines Dutzends
Evangelienbuch nicht nur, warum der vorlie­gende Text in der neuer graphischer Konventionen werden die überkommenen
Volkssprache verfasst ist, warum die Graphien auf bestimmte zwei Dutzend Buchstaben Bausteine für eine beispiellose
Eigentüm­lichkeiten des Fränkischen Rücksicht zu nehmen Konstruktion. […] Der dictator hatte das Pergament zu ei-
versuchen und warum das Prinzip des Endreims zum Tragen nem Garten der Worte gemacht. Der neue Denker und auctor
kommt. Er entwirft auch das Modell einer umfassenden Wir- räumte, mit eigener Hand und in schnellen Kursivbuchsta-
kung des Evangelientextes auf die zum Höheren strebenden ben, einen Bauplatz für die Kathedrale einer summa.«152 Das
menschlichen Sinne: »Worin wir auch durch Sehen, Riechen, Alphabet gewann Bedeutung als Mittel enzyklopädischer
Tasten, Schmecken, Hören fehlen: durch die Vergegenwärti­ Ordnung des Materials. Gleichzeitig trieb die Ausgestaltung
gung des Evangelientextes reinigen wir uns ganz von unserer der Buchmetaphorik im Hinblick sowohl auf die Schöpfung
Verderbtheit. Unsere Seh­kraft, erhellt durch die Worte des wie das Subjekt vielfältige Blüten. Auch die mit der Schrift
Evangeliums, soll stumpf werden für die Aufnahme unnützer und dem Schreiben verbundenen Praktiken, geprägt durch
Dinge; nicht länger soll ein dem Schlechten geöffnetes Ohr zunehmende Verwendung von Ligaturen und Abkürzun-
dem Herzen Schaden zufügen; Geruchs- und Geschmacks- gen, fanden nun häufig Widerhall in literarischen Tex­ten.
sinn sollen sich aller Schlechtigkeit entschlagen und sich Guibert de Nogent kokettiert im frühen 12. Jahrhundert
der Süße Christi verbinden; das Herzinnere soll stets mit damit, noch nachts gelesen und gedichtet und heimlich eine
seiner Geisteskraft diese in der Volkssprache gedichteten ambitiöse Bibelexegese betrieben zu haben – nicht zunächst
Texte betasten.«148 auf Wachstafeln, sondern gleich auf Pergament. Auch spricht
er über die Hand des Schreibenden als einem zwiespältigen
Glied, das einerseits zwar dem Willen des Verstan­des folgt,
andererseits aber eine gefährliche Eigenbewegung entwi-
ckelt.153 Baudri von Bourgueil verfasst mehrere Gedichte auf 45
seine kleinen wächsernen Schreibtäfelchen, die er durch neue
›gigantische‹ Formen abgelöst sieht.154 Guido Cavalcanti lässt
in seinem Sonett XVIII die Schreibgeräte selbst sprechen:
»Wir sind die Federn, traurig und zerschlissen, | die Scheren,
Messerchen, von Leid geplagt, | die unter Schmerzen das
Gedicht gewagt.«
Einen besonderen Reichtum an Schriftreflexionen bietet die
neu einsetzende volkssprach­liche Literatur.155 Für sie gestat-
tet die Bezugnahme auf Schrift nicht nur eine Thematisie­rung
ihrer eigenen Bedingungen und eine Reflexion der Möglich-
keiten, Welt- und Wahr­nehmungsräume zu entwerfen.156 Für
sie geht es auch darum, an jener Legitimität zu parti­zipieren,
die die lateinische Sprache und Literatur seit langem besaß.
Das spielte gerade für heilsgeschichtliche Texte eine Rolle. So
wie Otfrid im 9. Jahrhundert es für nötig befunden hatte zu
begründen, warum das Gotteslob nunmehr auch in der frän-
kischen Sprache erklingen solle, so sahen auch die Autoren
des hohen Mittelalters Notwendigkeit wie Chance, das zu
authentisieren, was sie an heilsgeschichtlichen Stoffen boten.
Dabei konnte es genügen, auf die Autorität von Vorlagen
zu verweisen und zu beteuern, man habe diesen gegenüber
nichts hinzugefügt oder weggelassen. Nicht selten aber reizte
die Spannung zwischen dem kanonischem Prätext und der
gegenwärtigen Schrift dazu, komplexere Begründungssze-
narien zu entwerfen.
Ein rheinischer Autor der zweiten Hälfte des 12. Jahrhun-
derts, der sich selbst als Wilder Mann bezeichnet, legte
ein deutschsprachiges Christusleben vor, verwoben mit
einer Geschichte der Veronika und des Kaisers Vespasian.
Im Zentrum steht eine Episode, in der die Frage nach der
authentischen Darstellung des Göttlichen auf den Punkt
kommt: Veronika wünscht sich, ein Bild des Heilands zu
besitzen, und betraut Lukas – traditionell, aufgrund seiner
ausführlichen ›Schilde­rung‹ der Kindheit Jesu, mit der Ma- Abb. 31 L-Initiale am Beginn des Lukas-Evangeliums, Bibel von
lerei verbunden – mit der Aufgabe. Dreimal scheitert der Stavelot, 11. Jh.; London, British Library, Add. 28107, fol. 161v
46 Evangelist, jedes Mal zeigt das fertige Bild keine Ähnlich- Um- oder Nachschrift des Prätextes hinausweisen lässt.159
keit mit dem Abgebildeten. Darauf erbarmt sich Jesus und Den Kern der Ge­schichte bildet ein Wunder: Der Bericht
drückt sein gewaschenes Antlitz in ein Tuch. Dieses nicht über den Descensus Christi ad inferos wird mitgeteilt von
von Menschenhand hergestellte Abbild, das in Kontakt mit zwei Zeugen, die selbst tot waren und nun wieder unter
dem Urbild steht, kann, so die Suggestion des Textes, eine den Lebenden weilen. Sie repräsentieren also die maximale
Identität transportieren, die irdische Medien nie zu erreichen Nähe zu dem, was den Irdischen, denen selbst der Leich-
vermögen. Es lässt sich dement­sprechend nicht fassen mit nam entzogen ist, unverfügbar bleibt. Sie dürfen aber, so
jenem Begriff scriven, den der Autor für die Tätigkeit des die ihnen auferlegten Regeln, keinen mündlichen Bericht
Lukas verwendet: ein Begriff, der ebenso wie das lateinische liefern, sondern nur einen schriftlichen. Dieser Bericht stellt
Verb scribere den Akt des Ziehens von Linien und damit das eigentliche Wunder dar, erweisen sich doch die von den
das Schreiben wie das Malen bezeichnen kann.157 Von dieser beiden Zeugen unabhängig voneinander niedergeschriebe­nen
›Schrift‹ ist der Abdruck radikal unterschieden, doch das Texte als sowohl inhaltlich wie formal übereinstimmend:
Medium, in dem der Unterschied formuliert werden kann, ist »Als man die Schrift betrach­tete und las, waren sowohl die
seinerseits die Schrift. Und sie wird dadurch aufgeladen, dass Buchstaben wie der Sinn in einer solchen Weise gleich, dass
sie sich als gleichermaßen unzureichend wie verheißungs- niemand beim Vergleich auch nur ein Jota zuviel oder zu-
voll erweist: unzureichend als Mittel der Fixierung und der wenig fand und keiner der beiden die Wahrheit des andern
Speicherung, verheißungsvoll als Mittel der Erfüllung und in Frage stellte: ihrer beider Schrift gab sich als identisch zu
des Vollzugs. Der Wilde Mann legt nahe, er wüsste mehr zu erkennen.«160 Im Zeitalter je singulärer Handschriften ist eine
berichten als der Evange­list Lukas. Auf alttestamentliche völlige Ununter­schiedenheit faktisch unerreichbar. Sie kann
Prophetenreden und den ersten menschlichen Autor, Moses, deshalb als Wunder gelten, als Einbruch der Transzendenz in
bezugnehmend, erhebt er seine eigene Schrift in den Rang die Immanenz, bei dem die Schrift selbst ein spezielles Me-
eines Heilsmediums. Der Beginn des Textes: dit is Veronica | dium ist: dem Irdischen angehörend, zugleich aber auch fürs
dat di wilde mann gedihtet hat bekommt von dort her einen Überirdische transparent. Wie aber lässt sich diese Aura nicht
eigentümlichen Doppelsinn: Die Schrift will nicht nur eine nur i m vorliegenden Text behaupten, sondern auch f ü r
Veronica-Geschichte bieten, sondern in gewissem Sinne eine diesen sichern? Konrad wählt zwei Mittel. Zum einen bezieht
Veronica sein – eine Mehr-als-Schrift, die das authentische er sich im Prolog auf eine Schriftkultur, gewohnt, Texte zu
Zeugnis zu präsentieren vermag.158 verbessern, Pergamente mit Bimsstein und Schabmesser zu
Auch andere Autoren umkreisen das Problem, wie ein volks- bearbeiten, Vergessenes am Rand hinzuzufügen.161 Indem er
sprachlicher Text Geltung als Träger der Heilsgeschichte das eigene Werk vor solchen Praktiken zu schützen versucht,
zu erhalten vermag, ein Text, der nicht bloß als Text auf die unternimmt er es zugleich, dieses bei aller Demut doch als
Transzendenz nur verweisen kann, sondern auch gegenüber notwendig zu erweisen, damit eine an heilsgeschichtlichem
den autoritativen transzen­denzgesättigten Texten der Tradi- Sinn reiche Geschichte nicht verkümmere. Zum andern
tion eine unumgängliche Nachträglichkeit besitzt. Konrad koppelt er die Bewahrung der Form seines Textes an die Er-
von Heimesfurt löst dieses Problem in seiner deutschspra- kennbarkeit von dessen Urheber – er nennt seinen Namen in
chigen Bearbeitung des Evange­lium Nicodemi (um 1220) einem sich durch den Text ziehenden Akrostichon: chunrat
so, dass er auf mehreren Ebenen die Schrift über eine bloße von heimesvurt hat diz buch gimachet des raten unde turt gu-
ten samen swachet. Das Akrostichon bildet einen Vierzeiler, wieder. In dieser übermateriel­len Verkündungs­schrift sind 47
der auf das biblische Gleichnis vom Unkraut (Mt 13,24–30) dauerhafter Beschreibstoff und flüchtige Präsenz vereint.
anspielt. Es bringt – als Pendant zu der ebenfalls sowohl Und in ihr treffen die Mitteilung der Bedingungen, unter
zu lesenden wie zu betrachtenden Schrift der Zeugen – den denen der leidende Grals­könig zu erlösen wäre, und die
Zusammenhang von textueller und visueller Dimension der Mitteilung der Bedingungen, unter denen die Gralsritter sich
Schrift zur Geltung. An ihn koppelt Konrad die Hoffnung, in fremden Länder aufhalten dürfen, zusammen. Doch sie
seine eigene Schrift möge kein Unkraut sein, sondern ein treffen so zusammen, dass der Leser selbst seinen Sinn aus
guter Samen, der im Vollzug der Lektüre aufgeht. der Verknüpfung gewinnen muss. Ihm zeigt sich die Schrift
Modelle auratischer Schrift wurden durchaus auch für pro- als Medium der Verschiebung, Verlagerung und Verzöge-
fane Stoffe in Anschlag gebracht. Wolfram von Eschenbach rung. Das spielt auch für die politische Ebene des Textes
verknüpft in seinem Parzival (1200/1210) das Geheimnis eine Rolle: Gawan setzt in einem ausführlich geschilderten
der Herkunft der Erzählung mit dem Mysterium der Bot- Akt der Geheimdiplomatie einen handgeschriebenen Brief
schaften des Grals, beide bezogen auf Formen der Schrift.162 so ein, dass er mit seiner Hilfe, die Bedingungen des Lesens
Skizziert wird eine Quellenkette, in der ein gewisser Kyot und Vorlesens einkalkulierend, die Hilfe des Hofes zu er-
das Binde­glied darstellt zwischen einer ins Heidnisch-Alt- langen vermag.
testamentliche und auf die Sterne zurückrei­chenden Schrift Hin- und hergehende Briefe, Boten und Botschaften bilden
und der gegenwärtigen in christlichen Kontext versetzten in den höfischen Erzählungen des hohen Mittelalters eine
Geschichte. Kyot habe in Toledo ein heidnisches Buch ge- Konstante.163 Im Lai Milun der Marie de France korres­
funden, das die von Flegetanis in den Sternen gelesene und pondieren der Protagonist und seine Geliebte zwanzig
niedergeschriebene Geschichte des Grals bot. Er habe in la­tei­ Jahre lang mittels eines Schwans, dem sie versiegelte Briefe
nischen Chroniken nach der Geschichte des Gralsgeschlechts um den Hals hängen. Daneben sind es in der Zeit vor allem
gesucht und diese in Anschouwe gefunden. Damit ist eine die erhabenen Formen der Schrift, die eine besondere Be-
Figur besonderer Authentizität geschaffen. Sie vermag deutsamkeit transportieren: Epita­ phien, auf prunkvollen
sowohl heidnische, in Chiffren (karacter; 453,15) geschrie- Grä­bern angebracht, Inschriften, auf Decken, Hauben und
bene Bücher wie französische und britan­nische Chroniken Teppi­che gestickt oder auf Waffen und Pokale eingraviert.
zu verstehen. Sie dient als Medium zur Auratisierung der Das Epitaph, das in den Diamanthelm von Parzivals Vater
Geschichte im Hinblick auf überirdische Ursprünge wie ge- Gahmuret eingeschnitten wird, ist 26 Verse lang und nennt
heimnisumwitterte Übertragungen. Zwar sind die Prinzipien Todesart, Name, Stand, Geburtsort, Aspekte des ritterlichen
der Transkription und Translation schrift­literarische, doch Lebens sowie christlichen Heilswunsch (107,29–108,28).164
erweisen sie sich zugleich als Teil komplexer Kommunikati- Die Inskription auf Lohengrins Helm, Buchstaben aus Edel-
onsverhältnisse. Der Gral selbst wird in doppel­ter Weise mit stein mit Goldverbindung, ist eigens darauf angelegt, der
transzendenter Energie aufgeladen: einerseits in Form einer Öffentlichkeit die Bindung des Ritters an seine Minnedame
Taube – sie legt jeden Karfreitag eine Hostie auf den Stein; sichtbar zu machen.165 Ebenfalls aus Edelsteinen besteht die
andererseits in Form einer am Rand des Steins erscheinenden Schrift auf der langen, kostbaren Leine, die in Wolframs Ti-
Chiffrenschrift (von karacten ein epita­fum; 470,25) – sie turel ein geheimnisvoller Bracke hinter sich herschleift – zu
nennt die jeweils zum Gral Berufenen und verschwindet einem jungen Paar, das in der auf sich verschlingenden
48 Bändern eingefalteten Schrift mit einer Ahnung des eigenen fordert ihn auf, die Inschrift auf dem goldenen Reif ihrer
Schicksals konfrontiert wird.166 Während die beiden den Text Krone zu lesen. Erst beim dritten Anlauf »war er in der Lage,
nie vollständig erfahren, wird die Schrift in der Fortsetzung die Schrift zu lesen und zu verstehen. Doch wurde ihm un-
der Titurel-Stücke durch einen Kleriker namens Albrecht tersagt, die Schrift irgendeinem Menschen zu offenbaren.«168
(Jüngerer Titurel) sogar mehrfach öffentlich verlesen, was Auf diese Art und Weise wird die Schrift, die anders als das
jeweils zu allgemeinem Wohlbefinden führt. mündliche Wort immer die Möglichkeit besitzt, andere als
Die Heilswirkung der Schrift erweist sich hier als an ihre die ursprünglichen Adressaten zu erreichen, von der schon
Kundgabe gebunden – so wie umgekehrt die Nicht-Kund- von Platon gesehenen Beliebigkeit und Missverständlichkeit
gabe einer Schrift genuin antichristlich sein kann. Im Orient­ freigehalten. Sie wird ausgezeichnet sowohl als kollektives,
roman Reinfried von Braunschweig (um 1300) entdecken die inklusives Medium, an dem sich eine Gemeinschaft zu ori-
Protagonisten im Grab des Zauberers Savilon ein angekette- entieren vermag, wie als individuelles, exklusives Medium,
tes magisches Buch, das jedem Leser, welcher Sprache auch in dem der Einzelne mit dem Göttlichen kommuniziert. Das
immer mächtig, verständlich sei: Es geht damit »hinter die spielt für die frömmig­keitsgeschicht­liche Entwicklung seit
babylonische Sprachenvielfalt zurück und unterläuft deren dem hohen Mittelalter eine wichtige Rolle: Die Schrift bildet
gottgesetzte Bedeutung.«167 Es verspricht das christliche einen Schnittpunkt zwischen der wachsenden Bedeutung
Buch der Geschichte wie des Lebens einzuklammern in laikaler Kreise für die Heilsver­mittlung und der steigenden
einem endlosen Moment der Nicht-Differenz. Tatsächlich Relevanz individuell intensivierter Zugänge zur Transzen-
aber bezeugt es nur seine eigene Ohnmacht gegen­über dem denz mit Hilfe von Lektüre und Meditation.
von Gott verfassten Plan. Das Kettenbuch enthält nämlich
die Bio­graphie Savi­lons, die von dem gescheiterten Versuch
geprägt ist, die Geburt Christi mit Hilfe magischer Schrift- KörperSchrift
lichkeit zu verhindern: In den Sternen die Inkarnation
vorhersehend, stellte Savilon einen Brief her, der, solange Ebenfalls Caesarius von Heisterbach ist es, der in seinem
unentdeckt, die Geburt Christi hinauszuschieben vermochte. Dialogus die Passion Christi als eine lectio betrachtet, einen
Gleichzeitig konzipierte er einen komplizierten Schutzme- Sinnzusammenhang, der lesend und deutend aufgenommen
chanismus gegen die Entdeckung des Briefes – den nach wird. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, die Metapher
1200 Jahren Vergil aushebelt. Mit der Brechung der Macht des Buchs des Lebens auf Chris­tus zu beziehen, er setzt sie
der magischen Schriftzeichen kann auch die Erfüllung der auch in eine detaillierte Analogie um: »Auf der Haut seines
göttlichen Schrift in Christus ihren Lauf nehmen. Körpers waren kleine schwarze Buchstaben geschrieben:
Ob wie hier negativ oder sonst meist positiv perspektiviert: wegen der bläulichen Flecken von den Geißelschlägen; rote
Die Bedeutung von Schrift hängt an dem Geheimnis, das Buchstaben und Großbuchstaben: wegen der Einschläge der
sie umgibt. Unter den Marienmirakeln, die der Zisterzien- Nägel; Punkte und auch Virgeln: wegen der Einstiche der
ser Caesarius von Heisterbach um 1220 in seinen Dialogus Dornen. Ebenso war die Haut vorher schon durch vielerlei
miraculorum aufnimmt, findet sich die Geschichte eines Stöße geglättet, durch Faustschläge und Speichel eingerieben,
Mönchs, der nachts in den Chor tretend über dem Altar die durch Rohre liniert worden.«169 Der geschundene Christus
Gottes­mutter, ihren Sohn und viele Heilige erblickt. Maria gleicht also einer nach den Gepflogenheiten der Zeit bear-
beiteten Pergamentseite. Umgekehrt heißt dies: Der Blick Schulmeister in Imola Knaben die Stenographie lehrte und 49
eines Lesers vermag, sich vom Sinn des Textes auf dessen während einer Christenverfolgung angeklagt wurde. Seine
Erscheinungsform wendend, aus der Pergamentseite ein Bild Schüler nutzen dies, sich zu rächen. Weil er als Pädagoge ver-
der Passion zu gewinnen, so wie Parzival aus dem Anblick sagt hat, ihnen die ungewohn­ten stenographischen Zeichen
dreier Blutstropfen im Schnee das Antlitz seiner Frau zu er- beizubringen, bewerfen sie ihn zunächst mit ihren Tafeln, die
zeugen vermag. Die Beziehung zwischen den Spuren auf der ihn aber nicht verletzen, und schreiben sodann mit spitzen
zugerichteten Menschenhaut und den Zeichen auf der präpa- Griffeln in seine Haut, was auch noch nicht unmittelbar den
rierten Tierhaut ist solchermaßen eine doppelte: Sie legt eine Tod, aber enorme Schmerzen verursacht. Erst sukzessive
Analogie des Seien­den und nicht nur Repräsentation nahe. stirbt Kassian (im doppelten Sinne) a n der Schrift – was die
Zugleich bindet sie das Erkennen dieser Analogie an eine Bedingung dafür ist, i n ihr, d. h. der Schrift des Prudentius,
Imaginationsleistung – Intensität der Vergegenwärtigung zu überleben.170
und Realität des Erschei­nens wirken zusammen. Caesarius Im Falle der Stigmata aber geht es um anderes. Sie bringen
berichtet von einem Novizen, der bei einem Gebet an die die Christusförmigkeit des Asketen zur Vollendung. Gleich-
Trinität und in Gedanken an die Passion das Kreuzzeichen zeitig unterstreichen sie die Hoff­nung, Manifestationen des
in seine Stirn eingedrückt fühlte (crucem fronti suae imprimi Überirdischen im Irdischen ließen sich gemäß einer skrip-
sensit; 8,23). Er bringt damit die Idee einer nicht durch den turalen Hermeneutik lesen. Die Kehrseite dieser Hoffnung
Menschen, sondern durch Gott erfolgenden Einschreibung allerdings war die Sorge, wie denn die göttliche Schrift mit
zum Aus­druck. Diese Idee fand gerade in der Frauen- und den Mitteln menschlicher Schriftdeutung überhaupt als sol-
Laienspiritualität der Zeit reichen Zuspruch: Sie erlaubte es, che zu sichern wäre. Die Positionen bezüglich der Stigmata
die eigene Existenzform sowohl durch Schrift zu dokumen- gingen deshalb im jungen Franziska­nerorden auseinander.171
tieren und zu legitimieren wie diese Schrift als unmittelbare Skepti­ker wussten von Fällen wie der 1213 gestorbenen
zu erweisen. Die Schrift dient hier also gleichermaßen der Begine Marie von Oignies (die sich selbst Verstümmelungen
Begründung wie der Überschreitung religiösen ›Virtuosen- zugefügt hatte), dass Wunden des Körpers, auch wenn im
tums‹. Sie kommt einerseits nachträglich zu dem sich an Kör- Feuer über­großer Gottesliebe entstanden, nicht immer von
pern und Handlungen Zeigenden hinzu. Sie ist anderer­seits Gott selbst herrühren mussten. Vor die­sem Hintergrund
vorgängig, insofern sich in den Körpern und Handlungen entwarf Bonaventura in seiner Legenda maior (1260–1265),
eine göttliche Urschrift zu lesen gibt. die ältere Viten des Ordensgründers ablösen sollte, ein kom-
Nur wenige Jahre, nachdem Caesarius seinen Dialogus ab- plexes Geflecht aus skripturalen, visuel­len und körperlichen
schloss, 1226, schrieb Bruder Elias von Cortona nach dem Aspekten. Schon die Erfüllung der Christusförmigkeit auf
Tod des Franciscus von Assisi einen Brief an die Provinzi- dem Berg Alverna erscheint nicht einfach als selbstgewählt,
alminister des Ordens, in dem zuerst von der wunderbaren sondern als divinatorisch bestimmt: Franciscus erhält in einer
und unerhörten Stigmatisierung die Rede ist, die Franciscus göttlichen Offenbarung die Eingebung, »Christus werde ihm
zuteilgeworden sei. Beispiele für eine Koppelung von Ein- beim Aufschla­gen des Evangelienbuches zeigen, was Gott an
schreibung und Leiden gibt es schon aus früherer Zeit: In Peri ihm und durch ihn am wohlgefälligsten sei. Als er mit großer
stephanon (Über die Siegeskränze) schildert der spätantike Inbrunst gebetet hatte, nahm er das heilige Evangelienbuch
Dichter Prudentius das Martyrium Kassians, der als strenger vom Altar und hieß einen Gefährten, einen gottgeweihten
50 frommen Mann, es im Namen der heilig­sten Dreifaltigkeit auch hier liegt die Erfüllung der Macht des Zeichens nicht in
öffnen. Als er beim dreimaligen Aufschlagen stets auf den menschlicher Hand: Eines Tages auf einem Band der Vitas
Leidens­ bericht des Herrn stieß, erkannte der von Gott patrum einschlafend sieht er im Traum ein Licht aus seinem
erfüllte Mann, er müsse, bevor er aus dieser Welt scheide, Herz dringen – do erschein uf sinem herzen ein guldin krúz,
Christus in der Bedrängnis und in dem schmerzvollen Leiden und dar in waren verwúrket in erhabenr wise vil edelr stein,
ähnlich wer­den, wie er ihn zeitlebens in sei­nem Handeln und die luhten zemal schon (17,5–7). Der Einschreibung der
nachgeahmt hatte.«172 Auch als die Wundmale öffentlich Buchstaben in die Haut korrespondiert die Ausgie­ßung des
werden, geschieht dies nicht auf Initiative von Franciscus, Lichts aus dem Herzen. Die eine bestätigt die andere durch
der sie im Gegenteil verbirgt, sondern durch Gott selbst. die materielle Erhabenheit, die sie mit sich bringt. Zugleich
Der Stigmatisierte wird zum Instrument der Selbstmit­teilung erweist sich die Anbringung der Schrift als Form, den Die-
Gottes. Er verwandelt sich in den Heiland, so wie dieser sich ner medial transparent zu machen für die Ausstrahlung
in Franciscus erneuert. Er wird eine vera icon, »eine leben- des Göttlichen. Die Schrift vermittelt zwischen Innen und
dige Tafel«.173 Seine Erscheinung transformiert die paulinisch Außen, Welt und Überwelt, Materialität und Immateriali-
umcodierte mosaische Schrift erneut – in ein Moment leben- tät. Sie vermittelt auch zwischen Tradition und Gegenwart.
diger, gleichwohl durchaus materieller Schrift: Vom Alverna Am Ende des Exemplars, der durch die Vita eingeleite­ten
herabsteigend, habe Franciscus das Bild des Gekreuzigten an Zusammen­stellung von Seuses Schriften, ist das Motiv des
sich getragen, das »nicht Künstlerhand auf Tafeln aus Stein Jesusmonogramms aufge­griffen. Es wird nun bezogen auf das
oder Holz gemeißelt, sondern der Finger des lebendigen Wort des Bräutigams aus dem Hohenlied »Tue mich wie ein
Gottes den Gliedern seines Leibes eingeprägt hatte« (non Siegel auf dein Herz« (pone me ut signaculum super cor tuum;
in tabulis lapideis vel ligneis manu figuratam artificis, sed in 8,6). Und es wird ausgelegt auf die beständige Präsenz Gottes
carneis membris descriptam digito Dei vivi; II,13,5). in der menschlichen Existenz: ald wir gangen, wir essen ald
Wenn der Dominikaner Heinrich Seuse hundert Jahre später trinken, so sol alwent daz guldin fúrspan IHS uf unser herz
in seiner Vita die eigene imitatio Christi beschreibt, erhält gezeichent sin (392,6f.). Zwei Vorstellungen verflechten sich
die Spannung zwischen einer konkreten und einer meta­ damit: Die Schrift, angebracht auf dem Körper, bliebe ständig
phorischen, einer menschlichen und einer göttlichen Schrift lebendig und beweglich und sie würde ihrerseits durch einen
weitere Komponenten. Er bringt die Verehrung des Herzens ihr inne­wohnenden Bewegungskern gespeist. Die Autogra-
Jesu, die in der Mystik des 13. Jahrhunderts an Bedeutung phie zeigt sich als Konkretisierung eines Bibelworts und
gewonnen hatte, in Verbindung mit dem Monogramm Jesu. die Schrift zugleich als ein ›Bild‹, das durch andere ›Bilder‹
Beide stellen eine metony­mische Nähe zum Gottessohn in aufgehoben werden soll – in der bildlosen Einheit des ersten,
Räumen des Intimen und Innerlichen her. Die Suche nach ursprünglichen und ewigen ›Exemplars‹.
einem Minnezeichen, das als ewige urkúnde zwischen der ei- Die reiche Rezeption von Seuses Schriften verbindet sich im
genen Person und Gott dienen könnte, mündet in eine blutige 15. Jahrhundert mit einer viel­fältigen Verwendung des Na-
Autographie: Der Diener der göttlichen Weisheit nimmt einen mens Jesu als Heilszeichen. In Seusehandschriften wie dem
Griffel und sticht sich das Monogramm in die Haut über Einsiedler Codex 710 ist das Monogramm durch Goldschrift
der Herzgegend – und stach also hin und her und uf und ab, hervorgehoben. Gleichzeitig kommt es zu einer intensiven
unz er den namen IHS eben uf sin herz gezeichent.174 Doch Verschränkung von Text und Bild, die jeweils das eine auf
51

Abb. 32/33 Heinrich Seuse, Exemplar, um 1490; Einsiedeln, Stiftsbibl.,


Cod. 710 (322), fol. 88r und 130r

das andere hin überschreitet: »Das Bild lenkt den Blick von das Jesusmonogramm mit einer Anweisung, die vor dem
der Schrift ab und bindet ihn zugleich in einer rätselhaften Hintergrund zweier Paulusstellen die gegenwärtige Schrift
Weise daran, ist doch gerade das Bild im Text als Schmuck an die Heilige anschließt: Ein yeclicher der do anruffet den
ein Ort der Verführung zum Lesen«.175 Auch die neuen For- namen Jesus des herren der wirt selig. Den keyn ander nam
men mechanischer Vervielfältigung, wie etwa die Einblatt- den menschen geben ist selig zu werden dan diser.176
drucke, setzen auf metonymische Momente, auf Berühren Die materielle Schrift führt auf eine übermaterielle, der äu-
und Be­trachten, Sichanverwandeln und Zueigenmachen der ßerliche Vollzug auf einen inner­lichen. Analog dazu gilt auch
Schrift. Ein Blatt aus dem frühen 16. Jahrhundert kombiniert sonst: Es gibt zwar eine enorme Zunahme von Schriftlichkeit
52

Abb. 34/35 Heures de Jean de Chasteauneuf, um 1493; Paris,


Bibliothèque Nationale de France, N. a. lat. 3210, fol. 15r und 34v

in der religiösen Kommuni­kation – in Form erbaulicher tologisches Modell von Schrift bezogen, andererseits durch
Handschriften, in Form von Schrift auf Objekten und Bil- Mündlichkeit und Bildlich­keit in komplexe kommunikative
dern, im Kirchenraum und in der Klosterzelle.177 Doch diese Ereignisse integriert.178 Die Verkündigungsbilder etwa zeigen
Zunahme mündet nicht eindimensional in eine Pragmatisie­ eine in ihrer Lektüre innehaltende Maria und nutzen dies,
rung von Schrift im Dienste religiöser Verhaltensnormierung die jeweils aufgeschlage­nen Seiten der Bibel oder des Stun-
– die konkrete Schrift wird einerseits beständig auf ein on- denbuchs kunstvoll auszugestalten. Sie zeigen aber auch, wie
die Auserwählte über den Engel des (mündlichen) göttlichen Weg wählen, benötigt dafür aber, da er selbst nicht schrei- 53
Logos teilhaftig wird und ihrerseits mit einem Psalmenwort ben kann, die Hilfe eines Schreibers. Dieser setzt Bertschis
(50,17) darum bittet, Gott möge ihre Lippen öffnen, auf dass mündlich konzipiertem Minnebrief eine schriftliche Fassung
sie sein Lob singe. Mündliche und schriftliche Kommuni- (v. 1878–1922) entgegen, die »von musterhafter Ordnung in
kation greifen ebenso ineinander wie Transzendenz und der paragraphen­artigen Aufzählung der erbetenen Gaben«
Immanenz. Der göttliche Logos wird als Schrift sichtbar, ist. Indem überdies der Briefschluss gemäß Kanzleipraxis die
doch diese Schrift, in goldenen Lettern und oft auf dem Kopf identischen Anfänge und Enden mehrerer Zeilen graphisch
stehend gezeigt, ist eine andere als die des Buches. Oft wird auszeichnet, zeigt sich das Schriftstück als »nur auf dem
das Schriftband mit dem Ave Maria im späten Mittel­alter Brief konzipierbar und nur mit dem Auge wahrnehmbar«;
als Urkunde dargestellt. Es wird »zum versiegelten Brief, es bewährt »so den Charakter des Briefes als schriftliches
der den Heilsplan enthält, den der Engel an Maria übergibt. und nur schrift­liches Dokument.«181 Doch dieses Dokument
Die Menschwerdung Gottes im Schoß Marias erscheint als bringt keinen verfeinerten brieflichen Austausch in Gang.
Selbstmitteilung Gottes durch ein versiegeltes Dekret, das Vielmehr kommt es zu einer irritierenden Unschärfe zwi-
sich erst in der empfangen­den Maria wieder in das Wort schen kruder Mate­rialität und subtiler Allegorizität: Das an
(verbum) verwandelt, aus dem es hervorgegangen ist«.179 einen Stein gebundene und auf den Dachboden beförderte
briefel verletzt Mätzli am Kopf; sie lässt einen Arzt rufen,
um den Inhalt der Botschaft zu erfahren. Der nutzt dies
Ironisierungen und Paradoxierungen aus, sie zu verführen. Nachdem er ihr ein Mittel zur Vor-
täuschung von Jungfräulichkeit beschrieben hat, verfasst er
Auch für den Bereich von Herrschaft, Recht und Verwal- seinerseits einen mehrere hundert Verse langen Antwort-
tung ist im späteren Mittelalter zu beobachten: Vermehrter brief (v. 2261–2554), der die pragmatische Schriftlichkeit
Schriftgebrauch heißt noch nicht, Schrift würde alltäglich, des ersten Briefes in einer auratischen über­bietet: Bertschis
wohl aber gewinnt der Einsatz materieller Geltungsbeweise Brief wird nun zum Himmelsbrief; es erscheinen Venus und
eine größere Selbstverständlichkeit. Mündlichkeit wird nicht Maria, in ihren Kronen durch Schriftpartien charakterisiert.
schlechterdings zurückgedrängt, vielmehr zu kommunikati- Das Szenario kaschiert einerseits auf raffinierte Weise den
ver Effizienzsteigerung genutzt und reflektiert eingesetzt.180 Fehltritt, entwirft andererseits ein fundamen­tales Modell
Das schlägt sich wiederum in narrativen Insze­nierungen gegensätz­licher Lebensorientierungen.182 Die Schrift wird
nieder, in denen eine erhabene Schrift zwischen mündlichen zur Kippfigur: In zweifelhafter Absicht verfasst und doch
und schriftlichen Praktiken, auratisierenden und entaurati- durchaus Bedenkenswertes präsentierend, kann sie ebenso
sierenden Tendenzen steht. Heinrich Wittenwiler erzählt in der Sinn­destruierung wie der Heilsorientierung dienen. Sie
seinem schillernden Versepos Der Ring (wohl um 1408/10) ermöglicht verschiedene Lesarten – die abwechselnd grünen
eine Episode der eigentümlichen Liebesbeziehung zwischen und roten Linien am Rande des auktorialen Manuskripts
Bertschi Triefnas und Mätzli Rüerenzumph als Hin und machen auf dieses Prinzip aufmerksam.183
Her zwischen professionalisierter Schrift- und bäuerlicher Um Kippfiguren geht es auch in anderen Texten. In den im
Körperkommunikation: Bertschi muss, da Mätzli vom Va- 15. Jahrhundert beliebten Melusineromanen stößt einer der
ter auf dem Dachboden eingesperrt wurde, den brief­lichen Protagonisten, Geffroy, in einer Berghöhle auf ein Grab­mal
54 mit einer liegenden Figur und einer Statue, die eine Schriftta- wird, ist nicht die Rede. Reflektiert wird das ›alte Medium‹
fel in Händen hält – aus ihr erfährt er die Geschichte von Me- der Mündlichkeit »insofern, als die Modalitäten des Vortrags
lusines Eltern, der eigenen Großeltern.184 Diese Geschichte vor dem Hintergrund des Mediums der unveränderbaren
überschreitet schon aufgrund ihrer Länge das materiell Schrift erkennbar werden.« Die Druckfassungen des Textes
Gegebene der Tafel. Sie bietet überdies eine Potenzierung hingegen verzichten auf das Moment des Auswendiglernens
der Handlung, insofern hier das die Fee umgebende Tabu und Vortragens, sie sprechen vom Übersetzen und beziehen
auf ein weiteres (gebrochenes) Tabu zurück­geführt wird. »sich zurück auf die Technik der Handschrift: Die ›meister‹
Damit erweist sich das Verhältnis zwischen Geschichte schreiben, aber ihr Produkt ist jetzt unveränderbar und be-
und Vorgeschichte als schillernd. Die Tafel enthüllt, was sonders, es hat die Aura des Einmaligen, die der Handschrift
Schrift grundsätzlich ausmacht: die Macht, Sinnpotenziale erst aus dem Blickwinkel des Druckes zukommt«.185
für spätere Sinnstiftungen aufzubewahren. Als genealogi-
sche Gründungs­schrift vermittelt sie zwischen dem toten
Großvater und der untoten Ahnfrau Melusine. Sie stiftet Alte und neue Buchstaben
Erinnerung, verschleiert aber auch Zusammenhänge: Zeit-
und Raumsprünge, Motivationslücken und Ambivalenzen Die Zunahme mechanischer Vervielfältigung mit Hilfe der
prägen einen Text, in dem sowohl der Ursprung wie seine Xylographie und vor allem der Typographie brachte nicht
Entzogenheit sichtbar werden. Das wiederum ermöglicht von heute auf morgen einen radikalen Wandel.186 Die Ein­blatt­
eine Ermäch­tigung des vorliegenden Textes: Situiert eben- drucke erprobten zunächst verschiedenste Kombinationen
falls zwischen einer entzogenen und einer fortwirkenden aus Text und Bild.187 Die frü­hen Typendrucke orientierten sich
Vergangen­heit, wird er selbst zum Geheimnis. in Schrift und Layout an den Handschriften. Teilweise ohne
Eine mehrstufige Textursprungsgeschichte bietet auch der Initialen und häufig ohne Interpunktion versehen, waren sie
Prolog zu dem Heldenepos Wolfdietrich D: In einem Kloster nach wie vor auf die personali­sierende ›Vervollständigung‹
sei ein Buch gefunden worden, das zunächst an den Bischof seitens der Käufer und Benutzer angelegt. Auch die Geltung
von Eichstätt gelangte und dann an dessen Kaplan, der es des neuen Mediums wurde mit alten Mitteln hergestellt:
wiederum in ein Kloster brachte, das Frauenkloster St. Wal- durch Orientierung an heilsge­ schichtlichen Stoffen und
burg in Eichstätt, wo die Äbtissin es zwei Meister auswendig Nobilitierung mit Hilfe geistlicher Muster. Im Kolophon des
lernen ließ, die es, mit Melodie versehen, durch ›Singen und von Gutenberg gedruckten Catholicon des Johannes Balbus
Sagen‹ in der Christenheit verbreiteten. Das bringt auf den (1460) wird Gott dafür gepriesen, dass das vortreffliche
Punkt, dass Schrift nicht automatisch sofort zu (größerer) Buch »nicht mit Hilfe des Schreibrohrs, des Griffels oder der
Verbreitung von Texten führt, sondern dass sich mit ihr Feder, sondern durch das wunderbare Übereinstimmen, die
immer auch eine Latenz verbindet. Schrift kann irgendwann Maßgerechtigkeit und Formeneinheit der Patronen (Patrizen)
wirksam werden. Sie kann irgendwann eine neue (mündliche) und Formen (Lettern) gedruckt und vollendet« wurde.188 Im
Aktualisierung erfahren. Sie kann aber auch den Bezug zur Kolophon der Institutiones Justinians (1468) werden »die
Wirklichkeit kappen, indem sie sich statt auf den Gegenstand Erfinder mit den kunstfertigsten Handwerkern des Alten
auf sich selbst bezieht – vom Inhalt der Heldengeschichte, die Testaments« verglichen, »die Stiftshütte (tabernacu­lum) und
gemäß Wolfdietrich-Prolog über mehrere Stationen tradiert Tempel­gerät schufen.« 189 Guillaume Fichet lobt Guten­berg
als Verwirklicher gött­licher Dinge, der »Buchstaben aus Erz« 55
kreierte, »schnell, sauber und schön«, universal geeignet,
alles, was gesagt oder gedacht werden kann, aufzuschreiben,
umzuschreiben und zu überliefern.190 Als Wunder galt, was
schon Konrad von Heimesfurt ins Zentrum gestellt hatte:
formale wie inhaltliche Identität – bei dem 1484 vorgenom-
menen Vergleich der Exemplare eines gedruckten Missales
ergab sich, dass der Text in allem, Buchstaben, Sil­ben, Worte,
Redeteile, Inter­punktion, Rubriken, mit den Vorlagen über-
einstimmte.191
Zwar ließ der Sponheimer Abt Johannes Trithemius 1494 im
Dienste der Klosterreform einen Traktat De laude scriptorum
drucken. Darin argumentierte er, auch Drucke bräuchten
handschriftliche Vorlagen und die Arbeit des Abschreibens
sei eine heilige, der himmlischer Lohn winke. Aber die
Argumente wirken gesucht. Trithemius konfrontiert die
Kurzlebig­keit der auf Papier gedruckten Ausgaben mit der
Dauerhaftigkeit der auf Pergament herge­stellten Abschriften.
Doch er weiß sehr wohl, dass einerseits Prachtexemplare
auf Perga­ment gedruckt werden und andererseits Papier für
Handschriften längst zur Regel gewor­den ist. 1506 spricht
er denn auch in einem Brief an seinen Bruder, eine schon im
Kolo­phon des Mainzer Psalters (1457) verwendete Wen-
dung aufgreifend, von der ars illa mirabilis et prius inaudita Abb. 36 Figurenalphabet aus: Giovannino de’ Grassi, Skizzenbuch,
imprimendi et characterizandi libros.192 Die ›wunderbare Ende 14. Jh.; Bergamo, Biblioteca Civica, Cod. VII.14, fol. 30r
Kunst‹, Bücher zu ›prägen‹ durch Buchstaben (characteres),
die mehr sind als gewöhnliche Zeichen, manifes­tierte sich eine eigene Dynamik. Im Kupferstichalphabet des süddeut-
nicht zuletzt in der Gestaltung des Buchschmucks. Zier- schen Meisters E. S. verschlingen sich Menschen und Tiere
initialen, nicht wie die hochmittelalterlichen Figuren und vielfältig ineinander.194 Der Uracher Druck des Buchs der
Szenen enthaltend, sondern aus Figuren zusammen­gesetzt, Beispiele (1481/82) bietet 12–13zeilige Figureninitialen.195
knüpften zunächst an eine schon bei spätgotischen Buch- Hans Holbeins d. J. um 1523 entstandenes Totentanzalpha-
und Schriftmalern beliebte Tradition an: Giovannino de’ bet, als reformatorisches Flugblatt verbreitet und in vielen
Grassi hatte Ende des 14. Jahrhunderts in einem gemalten Drucken der Zeit verwendet, eröffnet auf kleinstem Raum
Musterbuch auf Pergament ein Modell aller aus Tier- und ganze Mikrokosmen.196
Menschenkörpern gebildeten Buchstaben des Alphabets Eine beachtliche Summe der Beschäftigung mit Schriftformen
geboten.193 Schnell aber entwickelten die neuen Techniken und -typen bietet der Band Champ fleury von Geoffrey Tory
56

Abb. 37 Johann Theodor de Bry, Nova alphati effictio, Köln 1613 (Jo-
seph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel, Johann Theodor de Bry, New
kunstliches Alphabet 1595, Ravensburg 1997, S. 60)

(Paris 1529): Sein Anhang enthält eine Zusammenstellung Alphabet heraus (Nova alphati effictio, Frankfurt/M. 1595),
verschiedenster Alphabete, beginnend mit dem Hebräischen das der Vorliebe der Zeit für ornamentale, aus Pflanzen,
und endend mit »Les Lettres phantastiques. Les Vtopiques, Tieren und Menschen kombinierte Grotesken frönt. Die bei-
quon peut dire Voluntaires. Et finablement Les Lettres Flo- gegebenen Merkverse folgen dem akrophonetischen Prinzip:
ryes« (Vorrede).197 In der Folgezeit entsteht eine Fülle wei- Das durch den jeweiligen Buchstaben eingeleitete erste Wort
terer Alphabete, gebildet als Schattenriss oder in simulierter nennt die Figur (meist aus dem Alten oder Neuen Testament)
Dreidimensionalität aus Instrumenten, Architekturelemen­ oder die Thematik (Fides, Wahrheit), die wiederum im Buch-
ten und Akrobaten, arabesken Figuren, nackten Menschen, stabenbild im Zentrum steht.199
alltäglichen und mythologi­schen Szenen.198 Die Gebrüder Neben der Ausgestaltung von Initialen und der Beigabe illus-
de Bry bringen gleichzeitig mit ihrer Americaserie auch ein trierender Holzschnitte kam es schon früh zur aufwändigen
57

Abb. 38/39 Buchstaben B und W aus: Johann Theodor de Bry, Nova


alphati effictio, Frankfurt/M. 1595 (Kiermeier-Debre/Vogel, S. 15 und 53)

Verschränkung von Text und Bild in großen Druckunterneh­ Produkt mit einem grazilen und eleganten Körper (»cuerpo
men wie Schedels Weltchronik, Fridolins Schatzbehalter airoso y galan«). Ihm werde durch das Zusammen­wirken
oder Maximilians Ehrenpforte. Doch änderten auch diese der verschiedenen am Druckvorgang beteiligten Personen
Unternehmen nichts daran, dass längerfristig mit der Aus- die Seele eingehaucht. Doch der Vergleich ist als rhetori-
breitung gedruckter Bücher eine weitreichende Veränderung scher ausgewiesen, er dient der Veranschaulichung, nicht der
einherging: die Entindividualisierung, Entmaterialisierung Ontologisierung.200 Auch kann die Tatsache, dass manch ein
und Entauratisierung des einzelnen Schriftstücks. Zwar Besitzer die platzsparend engbedruckten universitären oder
vergleicht noch eines der ersten volkssprachlichen Manuale konfessionellen Hefte zu einem ansehnlichen Codex binden
der Druckkunst, die kastilische Institución y Origen del Arte lässt, in dem er sich durch Einträge und Exlibris verewigt,
de la Imprenta (um 1680), das in der Druckerei hergestellte nicht verdecken: Diesem Codex kommt zunehmend weniger
58 die Aufgabe zu, durch seine Materialität Tradition zu sichern. sonsten in der Zeit der dokumentarische Charakter in den
Dauer garantiert »nicht mehr das Monument der Schrift, son- Vordergrund rückt: Die von Adligen, Patriziern, Kaufleu-
dern die vielfältigen Institutionen, die eine ständig wachsende ten und Söldnern angelegten Bücher sind in einer Kursive
Schrift­produktion selegieren und wirksam wer­den lassen. geschrieben, die ihrer­seits Ziermomente in sich aufnehmen
Text und Tradition lassen sich abgelöst vom hier und jetzt kann. Sie sind mal mehr von autobiographischen, familiären,
vorhandenen Über­lieferungsbestand entwerfen. Der Autor genealogischen oder zeitgeschichtlichen Aspek­ten, mal mehr
und der von ihm vermeinte Sinn werden als Größen hinter von listenartigen Ausgaben- und Einnahmenvermerken
dem schriftlich Überlieferten gesucht.«201 Theologisch heißt geprägt, in jedem Fall benutzen sie die Schrift als Mittel der
dies im Sinne Luthers: Die Heilige Schrift ist nicht deshalb Archivierung und der Memorierung. Noch Shakespeare
heilig, weil sie mit dem ›Finger Gottes‹ geschrieben worden beschwört in seinem 65. Sonett die Möglichkeit der Schrift,
oder vom Himmel gefallen wäre, sondern weil sie von Jesus das Zerstörungs­werk der Zeit zu überdauern und die Liebe
Christus Zeugnis ablegt. Das Prinzip sola scriptura räumt aus der magischen Erscheinungshaftigkeit der schwarzen
zusammen mit der eigenmächtigen kirch­lichen Traditions- Tinte wiedererstehen zu lassen: »That in black ink my love
bildung auch mit der Bindung von Schrift an die äußerliche may still shine bright.«206
Erscheinungs­form auf. Rückkehr zum Urtext und Auffinden
des Gotteswortes im eigenen Innern verschränken sich.
Zugleich ergibt sich eine Ausdifferenzierung der Formen Frühneuzeitliche Schreib- und Druckkunst
und Funktionen von Schrift.202 Handschriftlichkeit spielt
nach wie vor eine große Rolle, ja erfasst, da die allgemeine Das Handschriftliche konzentriert sich von nun an auf
Schreibfähigkeit zunimmt, immer weitere Kreise.203 Es ent- Bereiche eher innerinstitutioneller oder (halb)privater als
stehen prächtig ausgeschmückte Handschriften. Doch sie öffentlicher Kommunikation. Es gewinnt dabei aber in
zirkulieren vor allem im Familien- und Freundeskreis – wie Form eines sich ausweitenden Kanzlei- und Korrespon-
das mit über hundert Federzeichnungen versehene Vergäng- denzwesens seinerseits neue Professionalität. Die erste
lichkeitsbuch des schwäbi­schen Grafen Wilhelm Werner gedruckte Kanzleiordnung in deutscher Sprache (1495)
von Zimmern (1485–1575). Dem kontemplativen Gelehrten enthält exakte Vorschrif­ten, um eine Buchstabentreue über
diente das Abschreiben und Abmalen vorhandener Texte und die verschiedenen Instanzen hinweg zu sichern.207 Ein Brief
Bilder in benediktinischer Tradition als heilsvermittelnder von Sir Joseph Williamson (1674) lässt erkennen, wie genau
Akt, in dem sich das Überirdische angesichts der Grenzen die Arbeit der Schreiber aufgeteilt war: Um Hunderten von
des Irdischen bedenken ließ. Hingegen stellen die von Korrespondenten Genüge zu tun, hatte jeder Schreiber von
seinem Original durch professionelle Schreiber und Maler Dienstag bis Samstag zwischen sieben und dreizehn Briefe
angefertigten Kopien Bilderbücher dar. Ihre Aura ist weniger auszufertigen, lange, welche die Neuigkeiten der Woche,
eine heils- als eine familiengeschichtliche. Ihre Orientierung und kurze, welche die des jeweiligen Tages enthielten.208
ist weniger hin zur Transzendenz als zur Augenlust.204 Die Schon um 1500 zeigt sich eine beträchtliche Systematisierung
Kalligraphen produzieren anspruchsvolle Manuskripte, und Standardisierung: Im habsbur­ gischen Kanzlei- und
die als Wertgegenstände fungieren.205 Ihnen geht es um das Verwaltungssystem um Kaiser Maximilian setzt sich die
monumentale Erscheinungsbild der Schrift, während an- Fraktur durch, ein eigentümlicher Zwitter aus Hand- und
59

Abb. 40/41 Georg Bocskay, Joris Hoefnagel, Mira calligraphiae monu-


menta, Wien 1561/62 (Schrift), um 1591–96 (Ausmalung); Los Angeles,
J. Paul Getty Museum, Ms. 20, fol. 106r, 143v

Druckschrift: hergestellt mit Hilfe der mechanischen Typen beiden Seiten der gleichen Münze: Hier eine Entzauberung
und der serialisierten Buch­staben, aber angenähert der Kal- der alten auf Körperlichkeit, Anwesenheit und Sinnfülle
ligraphie. Im gleichen Augenblick, in dem die neue Tech- beruhenden Schrift: »Anstelle der Manöver im Medium der
nik zur Grundlage staatlicher Verwaltung und politischer Präsenz, der pompösen Inszenierung der Kanzlei­tätigkeiten,
Machtausübung wird, nobiliert sie sich durch Anleihen der liturgischen Verkündigun­gen und der auf den weltlichen
bei sakralen und magischen Schriftpraktiken. Das sind die Prozessionen mitgeführten Akten-Monstranzen des Staufer-
60

Abb. 42/43 Conrad Grahle, Ein neu Schriften-Büchl, Leipzig, Nürnberg


o. J. (Kupferstiche um 1615); Privatbesitz (Werner Doede, Schön schrei-
ben, eine Kunst, München 1988, S. 62)

Kaisers verrichten die Kanzleien ihre Tätig­keiten unsichtbar des Drucks und des Holzschnitts, der seinerseits die Ima-
in den abgeschotteten Räumen der Rathäuser oder den gination der Benutzer braucht, in der sich die gewaltigen
Hinterzimmern am Hof.«209 Dort eine Neuverzauberung Bauten und Züge ›realisieren‹. Das Ganze spielt sich ab in
durch den geheimnisvollen Charakter einer ›Gitterschrift‹ einer Zeit, in der Schrift in ihren Gebrauchsformen immer
und deren Amalgamierung mit überbordenden Bildformen: selbstver­ständlicher, in ihren kalligraphischen Formen immer
ein »Super-Kult der Bildschrift«, der immer wieder aufs Hie- auffälliger wurde. Es entwickelte sich ein regel­rechtes Virtuo-
roglyphische zurückgreift und Effekte von Bedeutsamkeit sentum des Schreibens bzw. der Letternkunst. Zunächst noch
produziert – die »verschnörkelten, eine Zierschrift nachah- handgeschrie­bene, dann gedruckte Schreibmusterbüchlein
menden Lettern […] verbergen kein wirkliches Arkanwissen, boten Vorlagen für die einzelnen Typen und Untertypen.
sondern verdecken hinter der ornamentalen Oberfläche ein Der Augsburger Benediktiner Leonhard Wagner, einer der
untergegangenes Mysterium.«210 gefragtesten Kalligraphen der Zeit um 1500, versammelte
Die Schriftpraxis der kaiserlichen Kanzlei ist ebenso re- in seinen Proba centum scripturarum 100 verschiedene
staurativ wie progressiv. Sie monumentalisiert die Schrift, spätmittelalter­liche Schriftarten.211 Sein Schüler Nikolaus
vollzieht die Monumentalisierung aber im neuen Medium Autenrieth stellte für einen Blaubeurer Mitbruder auf einigen
61

Abb. 44 Johann Neudörffer, Anweysung vnnd eygentlicher Bericht,


Nürnberg 1544, o. P. (Albert Kapr, Johann Neudörffer der Ältere, ein
großer Schreibmeister der Deutschen Renaissance, Leipzig 1956, S. 46)

Pergamentblättern die wichtigsten Formen zusam­men.212 dargestellt werden können: Die Bilder zeigen wie diejeni-
Johann Neudörffer war als Schreibmeister so geschätzt, dass gen im Schriften-Büchl des Conrad Grahle manieristisch
Dürer ihn beauftragte, die Texte auf seinen Apostelbildern angehaucht die Buchstaben auf Simsen liegend, aneinander
anzubringen. Hans Holbein d. J. fertigte 1516 ein Aushän- gelehnt, zu emblematischen Einheiten verschmolzen.214
geschild für einen Schulmeister an, auf dem er einen langen Zahlreich sind auch die Bücher für den Schreib- und Rechen-
Werbetext und eine kleine Unterrichtsszene unterbrachte. unterricht und die pädago­gischen Werke, die dem Schreiben
Der Nürnberger Bürger Wolf­gang Fugger publizierte 1553 einzelne Kapitel widmen. Sie erläutern die Buchstaben, Art
Ein nutzlich und wolgegrundt Formular mancherley schöner und Zurichtung der Federn, Handhaltungen etc.215 Der
Schrifften, in dem er die Grundtypen, Kurrentschrift, Kanz- erwähnte Neudörffer legte für seine Schüler mehrere Ein-
leischrift, Fraktur, Textura, Rotunda, nicht nur illustrierte, führungen ins Schreiben vor. Sie beginnen mit Federübungen
sondern auch prägnant in Anlage und Verwendung charak- an den ersten Buchstaben und münden schließlich in ein
terisierte.213 Der Goldschmied Hans Lencker, ebenfalls aus Gespräch zwischen Schülern, die sich gegenseitig unter-
Nürnberg, demonstrierte 1567 in einer Perspectiva literaria, weisen.216 Andere Werke verbinden die Demonstration der
wie alle Buchstaben des Alpha­bets als Körper perspekti­visch Form der Buchstaben und ihrer Semantik mit katechetischem
62 die Nymphe Nicostrata, sagenhafte Erfinderin der latei-
nischen Schrift, mit der Alphabettafel in der Rechten; sie
führt einen Schüler in einen Turm, in dem er sich von den
Anfängen der Grammatik und Sprachlehre über die sieben
freien Künste bis zur Theologie/Metaphysik emporarbeiten
kann.217 Eras­mus von Rotterdam lässt in sei­nem Dialog De
recta Graeci et Latini sermonis pronuntiatione (1528) einen
Bären und einen Löwen die Frage der Artikulation alter
Sprachen diskutie­ren.218 Über die Form antiker Buchstaben
kommen die beiden auch auf deren Ursprung. Leo erwähnt
die bekannte Cadmusgeschichte, bezieht sie allerdings nicht
nur auf die Vermittlung der Schrift an die Griechen, sondern
auch auf ihre Herkunft aus der Natur: Cadmus habe in zwei
Furchen Drachenzähne gesäht, aus denen zwei Reihen Men-
schen erwachsen seien, die sich bekriegt hätten. Ursus liefert
die Deutung: Die Zahl der Zähne sei gleich der der Lettern,
das Erscheinungsbild der sich erhebenden Krieger mit ihren
Helmen und Schilden entspreche demjenigen der Buchsta-
ben. Allegorisch betrachtet rührt die Schrift also aus dem
Wilden, Chthonischen und Kriegerischen her. Gleichzeitig
ist sie mit dem Prozess der Humanisierung verbunden. Dabei
überspielt Erasmus die Differenz von Schrift und Sprache.
Er lässt Ursus eine etymologische Beziehung herstellen
zwischen dem lateinischen Wort für Rede (sermo) und dem
Abb. 45 Gregor Reisch, Margarita philosophica, Freiburg 1503, fol. a für Säen (serendo), das wiederum metaphorisch mit dem
iijr; Freiburg, Universitätsbibl., A 7315 Furchenziehen des Schreibens verknüpft ist.
Auch Geoffrey Tory verbindet in seinem kurz nach dem
Erasmusdialog gedruckten Champ Fleury Überlegungen
zum Rang der Volkssprache mit solchen zur Nobilität der
Elementarunterricht: Die Schüler sollen das Gelernte an Schrift. Auf knapp zwei Seiten referiert er die verschiedenen
Grundtexten wie dem Vaterunser, dem Glaubensbekenntnis Meinungen der Alten zur Erfindung der Buchstaben. Da-
und dem Tischgebet anwenden. runter ist diejenige Lukans, die Phönizier seien die ersten
Verschiedentlich berühren die Texte der Zeit den Ursprung gewesen, »qui ont voulu faire arester la voix des hommes en
der Schrift und das Verhältnis von Schrift und Sprache. figures descripture & en lettres«, und diejenige des Flavius
Gregor Reisch zeigt in seiner Margarita philosophica (zuerst Josephus, »que les enfans de Adam inuenterent les figures &
1503) auf dem Typus Grammaticae betitelten Holzschnitt caractheres des letteres, & et quilz les escripuirent en deux
colomnes, en delaissant a cognoistre a leurs posterieurs les demonstriert auch, dass sich dem geometrisch bestimmten I 63
innumerables maulx, grands aduersites & tribulations qui in seinen Hilfslinien die neun Musen und dem O die sieben
debuoient aduenir« (fol. Vr). Der humanistischen Gräko- freien Künste einschreiben lassen. Überdies entsprechen
philie entsprechend wendet sich Tory gegen die römische die beiden Lettern den Idealproportionen des menschlichen
Durchsetzung des lateinischen Alphabets und bringt statt Körpers und des menschlichen Gesichts. Das I repräsentiert
dessen die griechischen, genauer: ionischen Ursprünge zur auch noch die bei Homer erwähnte goldene Kette, welche die
Geltung: In der Geschichte von Jupiter und Io, der in eine Himmlischen mit den Irdischen verbindet. In diesem Sinne
Kuh verwandelten Tochter des Inachus, sieht er die poetische werden im dritten Teil des Buches alle Buchstaben einzeln
Einkleidung des uranfänglichen Charakters der Buchstaben behandelt: Stellen aus den Klassikern belegen ihren Adel und
I und O – aus ihnen ließen sich alle anderen Buchstaben ihre Bedeutung. Das A beispielsweise wird mit dem Kreuz
ableiten. als einem christlichen Elementarzeichen verbunden und gilt
In Texten wie diesen wird Schrift einerseits in Einklang ebenfalls als Basis aller Buchstaben. Symmetrisch konstruiert
mit antiker rhetorischer Tradition als sekundär gegenüber mit zwei Hauptlinien und einem von ihnen einge­schlossenen
dem mündlichen Wort, als dessen Fixierung gedacht. An- spitzen Winkel, ist es zugleich ein magisches Zeichen und
dererseits gilt dieses Wort selbst als Realisation eines ihm eines, bei dem sich Form und Artikulation entsprechen: Es
innewohnenden (stummen) schriftlichen Urworts. Schreiben sei »Kennzeichen für die Stimme, die zwischen den beiden
und Buchstabieren erweisen sich als nahezu identisch. Die Teilen des Gaumens hervortritt, und die obere Konkavität
platonische Differenz zwischen Scheinhaftem und Wahrem, des Mundes« (fol. XXXIIIIr).220 Alles in allem seien die
Spielerischem und Ernsthaftem, Memoria­lem und Skriptura- Buchstaben »si nobles et divines, qu’elles ne veulent aucu-
lem verliert gerade in der Zeit, in der Phaidros und Kratylos nement estre contrefaictes, mutilées ni changées de leur
wiederentdeckt werden, ihre Schärfe – das Alphabet wird zur propre figure«.221
Keimzelle des Humanen, seine Samen werden als Buchstaben
sowohl in die Seele gesät wie aus ihr heraus verbreitet.219
Und dies gilt nicht nur für die Handschrift: Um dem Wild- Schriftreflexion
wuchs der gotischen Schrift Einhalt zu gebieten, werden die
Druckbuchstaben geometrisch vermessen: Albrecht Dürer In den Blick rücken in der frühen Neuzeit allerdings auch die
widmet das ganze dritte Buch seiner Underweysung der Komplexitäten historischer Rekonstruktion. Tory bekennt,
Messung (1525) der Konstruktion von Lettern, die in sich für die Frühgeschichte der Schrift auf Meinungen oder Mut-
und untereinander gleichmäßig und überdies, auf Gebäu- maßungen angewiesen zu sein. Heinrich Cornelius Agrippa
den angebracht, auch perspektivisch gleichgroß erscheinen von Nettesheim behandelt in seiner Abrechnung mit der
sollen. Die Proportion wird als eine göttliche begriffen, in Ungewissheit und Eitelkeit der Wissenschaften (De incertitu­
der sich die Prinzipien der Welt eingefaltet finden. Tory dine et vanitate scientiarum atque artium, 1530) eingangs die
führt nicht nur vor, wie aus dem I (das auch für Dürer den hebräische, griechische, lateinische, syrische, chaldäische,
geometrischen Ausgangspunkt darstellt) und dem O die ägyptische und gotische Schrift. Im Blick auf die Prozesse
restlichen Buchstaben durch Brechung, Drehung, Weglas- der Ausbreitung, Umdeutung und Veränderung resümiert
sung und Zusammen­setzung gebildet werden können. Er er erkenntniskritisch: Bei keiner Sprache und keiner Schrift
64 lasse sich eine eindeutige Beziehung zwischen gegenwärtigen diese Momente bei Sebastian Franck wieder. Agrippas Text
und vergangenen Formen herstellen – auch nicht bei der benutzend bestreitet er aus theolo­gischer Warte »die Schrift-
hebräischen, für die er unter­schiedliche Schrifttheorien der mäßigkeit von Wahrheit« und stellt damit »die in der Schrift
Talmudisten heranzieht.222 Zwar betrachtet Agrippa in De garantierte Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem in
occulta philosophia die hebräische Schrift als heiligste der Frage«.226 Für Franck lässt sich das Göttliche, alles Mediale
Schriften, »da sie die vollkommenste Entsprechung zwischen transzendierend, weder in sich selbst noch in der aus ihm
Buchstaben, Dingen und Zahlen hergestellt hat.«223 Auch teilt hervorgehenden Schöpfung als ›Schrift‹ fassen. Die Welt ist
er dort allerlei pseudo-hebräische Alphabete mit, »in denen nicht lesbar. In ihr herrscht die Abwesenheit, finden sich
mysteriöse Konfigurationen manchmal aus einer Art graphi- allenfalls Spuren, die als Hinweise dienen können, geheim-
scher Abstraktion eines originären hebräischen Buchstabens nisvolle nicht-phonetische Bůchstaben/ Character/ vnd
erwachsen«.224 In De incertitudine aber geht es ihm darum, handt eins schreibenden an ein wand (Kronbüchlein, 1534,
das gesamte Fundament der Wissenschaften als unsicher fol. 123r). Das ist die Kehrseite der Schriftskepsis, die sich
zu enthüllen. Die Schrift dient als Demonstrationsobjekt schon bei Platon findet: die Verbildlichung und Verdingli-
epistemologischer Skepsis. Dementsprechend erscheint hier chung. Franck verabschiedet Schrift als ontologische Größe,
auch die Faszination an der kabbalistischen Schriftmystik nur um sie als Denk- und rhetorische Figur neu aufzuladen.
(Kap. 47), in De occulta philosophia als Hinführung zu ei- Er stellt sie in das Zentrum metaphorischer Bestimmungen
ner ursprünglichen, adamitischen Entsprechung zwischen des Verhältnisses zwischen Gott, der Welt und dem Sub­jekt
Dingen, Namen und Himmels­ phänomenen verstanden, – das in seiner inneren Erfahrung, seinem um Wahrheit rin-
am Ende kritisch gebrochen: Die Aufmerksamkeit für »alle genden Schreiben den tö­tenden Charakter des Buchstabens
Details des graphischen Zeichenrepertoires« sei »eine Form überwindet. Die Schriftmetaphorik ist Teil von Francks
unseriösen und unverbind­lichen Spiels« und überdies eine Paradoxierungsbewegungen: »Indem er sich gegen die
»gefährliche Form des Aberglaubens, die es erlaubt, mit Hilfe dreifache Schriftgläubigkeit seines Zeitalters stellt – die der
von Permutationen der Buchstaben, Silben und Wörter den Reformation, des Humanismus und der Naturphilosophie
Sinn von sakralen Texten zu verdrehen«.225 –, tre­ten Schrift, (göttlicher) Geist und Subjekt in ein neues
Agrippa hält damit zwar ebenso wie Luther am Prinzip Verhältnis. Gottes Wort hat sich aus der Präsenz im ›Buch der
heiliger Schriften fest. Luther empfahl z. B. auf reformierten Bücher‹ wie im ›Buch der Welt‹ zurückgezogen: Die Schrift,
Altären Aufsätze anzubringen, die in goldenen Buchstaben die zwischen Gott und den Menschen vermittelte, bleibt als
Jesu Worte zur Einsetzung der heiligen Kommunion dar- tote Hülse zurück. Auf das lebendige Wort kann nur jedes
stellten – in manchen Kirchen wie etwa in der Pfarrkirche einzelne Subjekt zeugnishaft hindeuten, doch bedarf es dafür
Dinkelsbühl (1537) wurde dies genutzt, mittels der Form wieder der Schrift.«227
der Buchstaben den Schriftzügen eine spezielle Aura zu Narrativ ausgespielt werden die frühneuzeitlichen Ambiva-
verleihen. Agrippa aber macht eine vergleichende Pers- lenzen der Schrift zum Beispiel in der zuerst 1587 erschie-
pektive geltend, die über die christliche Fixierung auf die nenen Historia von D. Johann Fausten.228 Sie beschreibt die
Bibel hinausweist – so wie seine gelehrte Rekonstruktion Sehn­sucht, in metaphysische Geheimnisse einzudringen, die
der Schriftgeschichte zugleich die Schriftfixierung zeitge- Curiositas auf das, was sich unter der Oberfläche verbirgt.
nössischer Wissenschaften unterminiert. Radikaler kehren Faust legt die Heilige Schrift »hinder die Thür vnnd vnter
die Bank« und beschäftigt sich statt dessen mit »Chaldei- 65
schen / Persischen / Arabischen vnd Griechi­schen Worten /
figuris / characteribus / conuirationibus / incantationibus«
(14,29–31). Er lässt sich auf einen Pakt mit dem Teufel ein,
der ganz der frühneuzeitlichen Ausdehnung juristischer
Prinzipien auf das Verhältnis des Menschen zum Überir-
dischen gehorcht. Nach dem Muster der Schuldverschrei-
bung fertigt der Gelehrte ein »Instrument / Recognition /
brieffliche Vrkund« aus und bekräftigt die Gültigkeit, indem
er den Text mit seinem eigenen Blut zu Papier bringt. Der
Erzähler wiederum berichtet, man habe, als er sich die Hand
aufstach, darin »ein gegrabne vnnd blutige Schrifft gesehen«
des Wortlauts O homo fuge. Die göttliche Schriftwarnung
schlägt nicht durch. Faust investiert Körper und Seele, um
eine Verfügungsgewalt ausüben zu können, die sich als nicht
so umfassend erweist, wie er zunächst gehofft hatte. Wesent-
liche Einsichten in Himmel und Hölle bleiben ihm verwehrt.
Andererseits ist auch der Vertrag nicht so bindend, wie es
zunächst den Anschein hatte. Schon von der Blutschrift
muss, als ginge es um reguläre Rechtsförmigkeit, eine Kopie
angefertigt werden. Später ist eine zweite Verschreibung
nötig, um Faust angesichts aufgetauchter Zweifel erneut zu
binden. Einerseits unauflöslich, andererseits vergänglich,
bekommt die magische Schrift zwiespältige Züge – auch Abb. 46 Ein warhaffte vnd erschröckliche Geschicht:
als Quelle der vorliegenden Historia: Diese erweckt den Von D. Johann Fausten (›Reimfaust‹), [Tübingen: Hock]
Anschein, sowohl Fausts eigenhändige Schriftstücke wie 1587/88, Titelblatt; Kopenhagen, Kongelige Bibliotek

die Lebensbeschreibung seines Schülers Wagner wiederzu-


geben. Sie scheint aber auch geprägt von der Auswahl des
ungenannten Redaktors, der die entscheidenden Koniurati-
onsformeln weglässt, dafür Marginalkommentare hinzufügt. Die Historia spielt mit der Faszination der Leser, sich durch
Die Spannung zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Raum und Zeit zu bewegen, Natürliches und Übernatürli-
Wissen, die den Protagonisten bestimmt, wird auf die Leser ches zu erfahren. Gleichzeitig entlarvt sie diese Faszination,
übertragen. Konfrontiert mit einer Schrift, die sich mit Magie indem sie zu ihrer Befriedigung nur ein mehr oder weniger
auflädt und gleichzeitig das Magische durchstreicht, sind sie veraltetes Wissen auffährt. Auch verweigert sie sich der Idee,
– vom schwarz-roten Titelblatt an – hin- und hergeworfen das Buch der Natur – von dem Galileo Galilei in seinem Sag-
zwischen dem Reiz am Verbotenen und seiner Bannung. giatore wenig später sagen wird, es sei »mit geometrischen
66 Figuren geschrieben« – immer genauer entziffern und lesen Menschentypen beschaffen ist: bei den Ungenauen, die
zu können.229 Diese Idee findet ansonsten in der frühen Neu­ analog zum Allerweltskürzel für et cetera keine tiefere
zeit reiche Entfaltung. Francis Bacon spricht von den beiden Bedeutung, sondern nur einen Schein von Fülle erzeugen;
Büchern, die vor den Menschen ausgebreitet lägen: das der bei den ›Stelzen‹, die wie die Unterlängen der Buchstaben
Bibel, das Gottes Willen bezeugt, und das der Geschöpfe, das mancher Schreiber über ausladende Stiele, aber wenig Geist
seine Macht zum Ausdruck bringt (Valerius terminus I,1). verfügen. Aufgeklärt über Laster und Torheiten der Stände
Offenbarung und Geschichte lassen sich so aufeinander und Völker erreichen die Protagonisten am Ende die Insel
beziehen, zugleich kann der Geschichte eine eigene Dyna- der Unsterblichkeit, gelegen ihrerseits in einem See aus Tinte,
mik zugestanden werden. Insofern zu den Geschöpfen der dem Medium zum Entwurf einer Welt.
Mensch gehört, der seinerseits über Schrift verfügt, gibt es Diese Welt aber ist um die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht
eine Instanz, welche die Macht hat, das Buch der Natur als mehr notwendig die abend­ländische oder überhaupt die
Manifest der Macht zu erkennen und aus ihm »die Namen irdische. Cyrano de Bergerac charakterisiert in seinem utopi­
zu nehmen, bei denen die Dinge gerufen werden, […] und schen Reisebericht L’Autre Monde ou les États et Empires de
dadurch wieder über sie zu herrschen.«230 Die wahre Phi- la Lune (gedr. 1657) die Lunarier unter anderem durch ihre
losophie bestünde dann in einer exakten Wiedergabe der Schriftpraktiken: Sie verfügen über Bücher, kaum größer als
Signaturen der Welt. Ihr Paradigma ist die Nymphe Echo. Nüsse, die sich bequem überallhin mitnehmen lassen und
Sie wiederholt getreulich die Worte der Welt und schreibt sich überdies selbst laut vorlesen – in der jeweiligen Landes-
das nieder, was diese ihr diktiert. Sie ist »nichts anderes als sprache.232 Während in der gleichen Zeit die voces paginarum
das Abbild und die Widerspiegelung« der Welt (De sapientia sonst längst innere geworden sind, beginnen sie hier erneut
veterum VI). zu ertönen – im Dienste einer kontinuierlichen, zugleich
Die literarische Konsequenz aus dieser Idee zieht Baltasar aber steuerbaren und flexiblen Präsenz des Wissens der
Gracián. Er inszeniert seinen allegorischen Reiseroman El Welt. Dieses Wissen bleibt denn auch als sprachliches nicht
Criticón (1651–57) als Weg durch ein lesbares und doch gebunden an die traditionellen Ein­heiten der Silbe und des
nicht immer leicht lesbares Universum. Das Kapitel über Wortes, es vermag sich einfach durch die Stimme oder durch
die Entzifferung der Welt (III,4) geht von dem Satz aus, das ein Musikinstrument zu artikulieren. Die Schrift wird damit
beste Buch der Welt sei die Welt selber, geschrieben in leuch- frei für andere Zwecke: Gedichte, auf Blätter geschrieben,
tenden Schriftzeichen (brillantes caracteres) und illuminiert erfüllen die Funktion des Geldes – Papiergeld also (dessen
mit Strahlen statt Federzügen und Sternen statt Lettern.231 Einführung wenige Jahre zuvor Johann Palmstruch vorge-
Gut zu verstehen sei dies in seiner Oberfläche, nicht hin- schlagen hatte), das überdies, jeweils nur einmal benutzt,
gegen in dem, was sich unter den Dächern der Menschen vom Problem der Fälschung befreit ist.233
abspielt; da sei alles versiegelt und undurchdringlich; ohne Was hier fasziniert, ist die sich an die Schrift anlagernde und
»Gegenchiffre«, so der Führer Descifrador (Entzifferer) zu aus ihr ergebende Reflexion der Bedingungen von Reprä-
den Wandernden, »müsst ihr in die Irre gehen und könnt sentation und Kommunikation – Bedingungen, die zugleich
kein Wort lesen, keinen Buchstaben, keinen Strich und anhand von Verfremdungen sichtbar gemacht werden. Auch
kein Tüpfelchen.« Die Entschlüsselungskunst wird damit die ABC-Bücher und Muster­blätter gewinnen bei allem
zur Moralistik. Sie deckt auf, wie es bei den verschiedenen religiösen Hintergrund spielerische, ausufernde, überbor-
dende Züge. Der kaiserliche Notar und Kalligraph Adam 67
Fabritius wirbt 1645 mit dem kunstvollen im Uhrzeigersinn
zu lesenden Schreibmeister­blatt Speculum hominis für seine
eigene Kunst und zugleich für die generelle Möglichkeit der
Schrift, dem lesenden Betrachter einen ›Spiegel‹ zu bieten,
in dem er seine eigene (christliche) Lebens­gestaltung zu re-
flektieren vermag.234 Ebenfalls sogartig ist die Bewegung, mit
der der Zürcher Johann Caspar Hiltensperger in einem Blatt
des Jahres 1654 die Schrift auf das Jesus Sirach-Wort »Alle
Weisheit ist bei Gott« zulaufen lässt. Das anonyme ABC cum
notis variorum (1695 u. ö.) versammelt in satirischer Absicht
eine Abhandlung über die Buch­ staben im Allgemeinen,
Anweisungen für Anagramme und Geheimschriften sowie
kuriose Anekdoten, Rätsel und Gedichte, die sich irgendwie
den einzelnen Buchstaben zuordnen lassen.235
Kaum weniger vielfältig begegnen die Formen der Schrift
im Simplicissimus des Hans Jacob Christoffel von Grim-
melshausen (1669). In der Continuatio des Romans tritt
auch das Papier in den Vordergrund.236 Der erneut in die
Welt aufbre­chende Einsiedler führt auf der Latrine einen
langen Dialog mit dem aus zerlesenen Drucken stammenden
Toilettenpapier (Scheermesser), das sich als Verkörperung
der unauf­hörlichen Verwandlung aller Stoffe der Welt, als Abb. 47 Johann Caspar Hiltensperger, Alle Weisheit ist bey Gott, Zü-
Teil der unendlichen ›Kette der Wesen‹ entpuppt: Klagend rich 1654 (Werner Doede, Schön schreiben, eine Kunst, München 1988,
lässt es die vielerlei Stationen und Zustände Revue passieren, S. 81)

die es durchläuft, bevor es auf dem Abort sein Ende findet.


Dieser Dialog verschränkt den Prozess, in dem ein Hanfkorn
zur Textilie wird, mit dem Prozess, in dem das vorliegende Die Szenen im Simplicissimus indes spielen dergestalt mit
Erzählen sich selbst konstituiert. Er ist überdies eingebettet der Macht der Schrift, dass sie sie gleich auch ins Zwielicht
in Szenen, die auf das zeit­genössische Interesse an Buch- ziehen. Simplicius begegnet einer sprechenden Statue, die
herstellung und Geheimschriften bezugnehmen: Tommaso sich in einen Schreiber verwandelt. Diese Personifikation
Garzonis Piazza universale (dt. Übersetzung 1659), von der Veränderlichkeit, Baldanders, schreibt ihm einen, wie es
Grimmels­hausen eifrig benutzt, hatte ein ganzes Kapitel scheint, magischen, verschlüsselten Text in sein Buch – un-
den »Scribenten / Schreibern / Papierern / Federschneidern ter der Überschrift »Jch bin der Anfang und das End / und
/ Cifranten / Hieroglyphisten und Ortho­graphisten« gewid­ gelte an allen Orthen«. Die Überschrift gibt nicht nur einen
met.237 Hinweis auf die Buchstaben, die bei der Entzifferung zu
68 berück­sichtigen sind, sie verweist auch auf das paradoxe Mannschaft des holländischen Kapitäns, die den Einsiedler
Prinzip der Schrift der Erzählung, die ihre Abgeschlossen- auf seiner Insel aufstört, sind die eingeritzten Sprüche zwar
heit immer schon voraussetzt und gleichzeitig immer neue Ausdruck der Tätigkeit eines ›sinnreichen Poeten‹, zugleich
Anfänge setzt. Simplicius behandelt den Text in seinem Buch aber auch rätselhaft-dunkle ›Oracula‹. Das Manuskript wie-
als einen magischen: Er hütet sich ihn auszusprechen – und derum wird entwendet, zurückgegeben und nach Europa
zugleich als einen technischen: Er nimmt ihn als Heraus- transportiert – nur um am Ende im Strudel der auktorialen
forderung für kombinatorische Akte. Die Lösung erweist Spielereien zu verschwinden: Der sich unter dem Kürzel des
sich für den geübten ›Zifferanten‹ als Kinder­spiel: »mein Autors nennende Herausgeber gibt an, den Simplicissimus
geringste Kunst ist / einen Brieff auff einen Faden: oder wohl unter den nachgelasse­nen Papieren des Samuel Greifnson
gar auff ein Haar zuschreiben / den wohl kein mensch wird von Hirschfeld (ein Anagramm Grimmels­hausens) als eines
außsinnen oder errathen können / zumahlen auch vor längs- von dessen frühen Werken gefunden zu haben; die Authen­
ten wohl andere verborgene Schrifften außspeculiert; als die tisierung und Exotisierung des vorliegenden Textes durch die
Steganographiæ Trythenio seyn mag; also sah ich auch diese Behauptung, er stamme von der Peripherie der Welt, wird
Schrifft mit andern Augen an / und fande gleich daß Baldan- nicht aufgegriffen. Deutlich ist nur an allen Ecken und En-
ders mir die Kunst nit allein mit Exempeln: sonder auch in den: Dieser Text besteht selbst durch und durch aus Texten.
obiger Schrifft mit guten teutschen Worten viel auffrichtiger Er greift sie so auf, dass er seinerseits zum Proteus wird – in
communiciert, als ich ihm zugetraut«.238 Die Aufrichtigkeit der Schrift verwandelt er die Schrift in eine Kippfigur zwi-
allerdings erweist sich als Banalität, bietet der Text doch nur schen Text und Welt, mit der Schrift erhebt er sich über die
die Weisheit, dass es nicht schwer falle, die sich an jedem Schrift wie der Pegasus, der auf dem Titelblatt über die Erde
Ding entwickelnde Einbildung für die Wahrheit zu halten. hinaus zu den Sternen stürmt.
Auch der eigene Schriftzettel, den Simplicius als angebliches
Mittel gegen Gewehrkugeln produziert, ist nicht weniger
banal: geschützt sei man dort, wo keiner ›hinscheiße‹. Urschriften
Werden auf diese Weise die Verheißungen magischer
Schriftlichkeit als hohl entlarvt, so kommen doch am Ende Die barocken Titelblätter gehören neben den wieder in Mode
diejenigen religiöser Schriftpraxis zur Geltung. Schiff­brüchig kommenden Figurentexten zweifellos zu den markantesten
findet der Held Zuflucht auf einer Insel am Rand der Welt, Phänomenen der Buchkultur einer Zeit, welche die Schrift
einer Insel, die ihm zum Inbegriff der Welt und zugleich zu einer Erscheinungsform des theatrum mundi machte.
zum Buch des Heils wird.239 Überall, in den Bäumen, den Immer wieder neu öffnen sich Vorhänge, geben architek-
Äpfeln, den Steinen, dem Meer, dem Garten, sieht er Me- tonische Rahmen den Blick frei auf Szenarien alter und
morialzeichen der Passion Christi. Seinerseits schneidet er neuer Welten. In diesem Rahmen gewinnt auch die Schrift
in die Bäume geistliche Sentenzen ein – ein sonst vor allem monumentale Züge. Sie erscheint auf Kartuschen, Säulen und
in der barocken Liebesdichtung benutztes Motiv. In einem Triumphbögen. Sie schwebt zwischen der Oberfläche der
mit Brasilholztinte auf Palmblättern geschriebenen Buch Darstel­lung und der Tiefe des dargestellten Raumes. Und sie
zeichnet er die eigene Lebensgeschichte auf. Doch auch wird präsentiert in einer Form, die auf eigentümliche Weise
diese Verheißungen bleiben nicht ungebrochen. Für die die ältere Bindung der Schrift an den menschlichen Körper
aufnimmt: als Beschriftung einer abgezogenen menschlichen 69
Haut. Dieses Motiv, in Mythos und Legende ausgestaltet,
begegnet verschiedentlich in medizinischen Drucken. Mal
wird die Haut von den Ahnherren der Medizin, Hippokrates
und Galen, gehalten, mal von zwei Gerippen, zwei Satyren
oder zwei Engeln, mal hängt sie einfach an zwei Nägeln vor
einer Nische – jeweils geht es um moralische Aspekte des
anatomischen Tuns, geht es aber auch um die Suggestion, mit
dem Aufschlagen des Bandes zugleich auf die Oberfläche
des Körpers und der Schrift zu treffen und mit der Lektüre
im Buch selbst in das einzudringen, das sich unter der Haut
verbirgt. 240
Die Hautinschriften teilen mit den zeitgleichen Baum- und
Palmblätterbeschriftungen des Simplicissimus das Spiel mit
einer auf zugleich natürlichem und fremdartigem Material
herge­stellten Schrift, die überdies bei Grimmelshausen in
der Fremde selbst produziert wird. Das schließt an die im
16. und 17. Jahrhundert durch viele Reiseberichte genährte
Erwartung an, die Schrift selbst, auch noch die gedruckte,
vermöchte etwas von der Fremde ins Vertraute zu trans-
portieren. Dazu trugen neben den Beschreibungen und
Illustrationen eingestreute Fremdwörter oder beigegebene
Miniwörterbücher bei – oder auch der Abdruck von Al-
phabeten. Die Gebrüder de Bry erhoben in ihrem kleinen
Büchlein Alpha­beta et characteres (Frankfurt/M. 1596) den
Anspruch, sämtliche Alphabete und Buchstaben seit dem
Anbeginn der Welt wiederzugeben. Im Hintergrund stand
dabei auch die Sugges­tion, zumindest die orientalischen Abb. 48 Thomas Bartholin, Anatomia reformata, Leiden 1651, Titel-
und die okzidentalischen Sprachen und Schrif­ten ließen blatt; München, Bayerische Staatsbibl., Anat. 51a
sich in eine innere Beziehung bringen. Noch 1748 wird in
Leipzig unter dem Titel Orientalisch- und Occidentalischer
Sprachmeister ein Schriftatlas gedruckt werden, der auch
das Vaterunser in 200 geographisch geordneten Versionen Für die Beziehung zwischen den Sprachen und Schriften
enthält, »[a]us glaubwürdigen Auctoribus zusammen ge- war einerseits die biblisch-theologische Orientierung an
tragen« und einen urchristlichen Kern der verschiedenen der Ursprache Hebräisch modellbildend, andererseits das
Kulturen nahelegend. enzyklopädische Interesse an einer Systematisie­rung der
70 Das Interesse an historisch-genealogischer Herleitung
verband sich mit der Sehnsucht, eine Universalsprache zu
finden, in der alle anderen Sprachen enthalten wären. Als
Bezugs­punkte dienten sowohl die Kabbala, die auf Überein-
stimmungen zwischen überirdischen und irdischen ›Signatu-
ren‹ zielt, als auch die von Raimun­dus Lullus entworfene Ars
magna, eine perfekte philosophische Sprache und universale
Kombina­tionskunst, dazu gedacht, aus wenigen Buchstaben
und Figuren eine zugleich umfassende und übersichtliche
Darstel­lung allen Wissens zu geben.242 Georg Philipp Hars-
dörffer entwickelte 1651 einen Fünf­fachen Denckring der
Teutschen Sprache, in dem die einzelnen Kreise die Vorsilben,
die Anfangsbuchstaben, die Mittelbuchstaben, die Endbuch-
staben sowie die Nach- bzw. Ableitungssilben darstellen: In
je neue Konstellation gebracht, sollten sie geeignet sein, ein
»vollständiges Teutsches Wortbuch« zu erzeugen.243
Die Buchstaben und Figuren der kombinatorisch gewon-
nenen Universalsprache sind meist als formale verstanden.
Abb. 49 Thomas Morus, De optimo reipublicae Nicht vergessen geht aber auch ihre ontologische und ihre
statu, Basel 1518, S. 13; London, British Library, mimetische Dimension. Gestalt der einzelnen Lettern und
713 f. 1 Reihenfolge im Alphabet gelten als natürliche, in denen sich
Formen der Artikulation und Erscheinungen der Welt, ja die
Ordnung der Schöpfung im Ganzen spiegelt. Schon Tory
Vielfalt. Katholische und refor­mierte Theologen diskutierten hatte dies in seinem Champ fleury (1529) ausführlich durch-
die Frage nach dem Ursprung von Sprache und Schrift. Dabei exerziert: Das O beispielsweise sei in seiner runden Form
gab es auch Positionen, die Moses als Erfinder der Schrift Sinnbild der Perfektion so wie auch seine ›runde‹ Artikulation
identifizierten und damit eine mögliche ältere Überlieferung im Französischen »signifie parler perfectement et amplement«
ganz in den Bereich des Mündlichen verwiesen: Ihm ordnete (S. LIr). Auch die Autoren des 17. Jahrhunderts gehen auf
beispielsweise Johann Heinrich Ursinus (1661), auf Platons solche Nationaleigenschaften ein: Georg Schottelius betont
Phaidros zurück­greifend, eine Kultur zu, in der Künste und in seiner Ausführliche[n] Arbeit von der Teutschen Haubt-
Wissenschaften sich mit Hilfe der lebendigen Stimme an die Sprache (1633) die Göttlichkeit der deutschen Sprache, die
Nachkommen vermittelten. Das ermöglichte es ihm, zugleich auch in den Buchstaben und einzelnen Wörtern zu finden sei.
die theolo­gische Vorstellung des biblischen Schriftursprungs Doch lässt sich das gleiche Prinzip auch auf andere Sprachen
und die »philologische Kritik profaner Ursprungsmythen anwenden. Franciscus Mercurius Baron van Helmont ana-
und heterodoxer Überlieferungen zur Frühgeschichte des lysiert in seiner Alphabeti vere naturalis hebraici brevissima
Menschen« zu stützen.241 delineatio (1657) die hebräischen Buchstaben als Bilder, »die
71

Abb. 50 Athanasius Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amsterdam 1671, S. 709

im Profil die Stellung der Zunge im Augenblick der Emission« Faszination an einer vollkommenen Lesbarkeit der Welt: In
darstellen.244 Harsdörffer nennt in seinen Delitiae Philosophi- den Formationen der Wolken, den Spiegelungen im Wasser,
cae et Mathematicae (1653) mancherlei Gründe, warum in den Maserungen im Holz, den Linien auf Steinen und den
allen geschriebenen Sprachen das A der erste Buchstabe im Figuren der Pflanzen – überall sehen sie die Künstlerin Natur
Alphabet ist: weil es (1) »einer Thür gleiche / dadurch man selbst am Werk. Sie sehen sie spielerisch Zeichen und Bilder
zu den andern Buchstaben allen gleichsam eingehen müsse« produzieren, die zu enthüllen wiederum komplizierte Appa-
(was allerdings im Hebräischen und Deutschen nicht der Fall raturen dienen.246 Noch im 18. Jahrhundert wird ein Theologe
sei), weil man (2) »den gantzen Mund eröffnen muß / wann wie Friedrich Christian Lesser, allerdings konjunktivisch, die
man das A aussprechen wil«, weil es (3) »der allerhelleste Muster auf den Gehäusen von Schnecken und Muscheln als
und klärste Buchstab unter allem / dem Laut nach seye«. Zeichen lesen: »Ja einige solcher Linien sind gestaltet fast wie
Ein weiteres ›Geheimnis‹ des Buchstabens habe Athanasius Buchstaben, gleich als hätte die Natur einen Schreiber abge-
Kircher aufgedeckt, indem er an den einzel­nen Linien des ben wollen, welcher auf diesen Schalen, als A.B.C. Bretern,
großen A zeigte, dass dieses »eine Vorbildung des Ab- und die wunderbaren Wercke GOttes in der Natur beschreiben
Zunehmens alles Weltwesens« darstelle.245 Kircher und andere wollen.« Als konkrete Beispiele nennt er die arabischen, chi-
Universalgelehrte sind in der Tat Musterbeispiele für die nesischen und hebräischen ›Buchstaben-Schnecken‹.247
72

Abb. 51 Cornelis Norbertus Gijsbrechts, Quodlibet, 1675; Köln, Wall- Abb. 52 Edwaert Collier, Stilleben, 1693; London, Christie’s, Auktion
raf-Richartz-Museum 1998, Lot 185

Auch die Figurentexte, die Harsdörffer in seinen enzyklopä­ etc., welche die Zeit so schätzt, sie sind nicht nur optische
di­schen Frauenzimmer-Gesprächs­spielen (1642–49) immer Spielerei: Zwar wirkt in ihnen wie in den wuchernden Kal-
wieder aufgreift, sind von der Idee einer Übereinstimmung ligraphien der Zeit eine Faszination an sich verschlingenden
von Figur, Wort und Ding geprägt.248 Die Gedichte in Form Linien, am Zauber und Reichtum der Formen. Doch dabei
von Kreuzen, Altären, Krügen, Bäumen, Säulen, Pyrami- sollen sich auch Zeichen, Wörter und Dinge miteinander
den, Instrumenten, Flaschen, Pflanzen, Früchten, Flügeln verweben, verheißt sich eine Verbindung im Seienden selbst.
Auch die das Alphabet zunehmend als Ordnungsmuster 73
verwendenden Enzyklopädien zielen darauf, in der Ord-
nung der Worte die Ordnung der Dinge zu spiegeln – oder
überhaupt erst ans Licht zu bringen.249 Manche Stillleben
nehmen sich wie Miniaturen solcher Enzyklopädien aus:
Sie verknüpfen Objekte und Zeichen und zeigen ihre ei-
gene Kunst, zusammen mit anderen Dingen der Welt auch
alle möglichen Schriften und Schriftstücke illusionistisch
wiederzugeben.
Potentiell jedes Zeichen lässt sich so in eine mimetische
Beziehung zu Phänomenen der Welt setzen. Unterschiede
zwischen verschiedenen Schriften spielen jedoch durchaus
eine Rolle. Giordano Bruno stellt in seiner Abhandlung
De magia fest, es seien »nicht alle Schrif­ten von derselben
Nützlichkeit wie jene Lettern, die durch ihre Form und
Konfiguration selbst auf die Dinge verweisen, weshalb es
Zeichen gibt, die einander gegenseitig zugeneigt sind, sich
ansehen und einander umarmen«.250 Solche Zeichen fand man Abb. 53 Codex Mendoza; Oxford, Bodleian Library, MS. Arch. Selden.
frühneuzeitlich zum Beispiel in den mittelamerikanischen A. 1, fol. 12r
Piktogrammschriften, die den Chronisten der Neuen Welt
Petrus Martyr de Anghiera enorm faszinierten: »Die Schrift-
zeichen sind von den lateinischen sehr verschieden und
bestehen aus Stäbchen, Haken, Knoten, Schlängeln, Sternen Andere der Alphabetschrift verstehen ließ.252 Sie repräsentier­
und Formen anderer Art. Sie sind aber wie die lateinischen ten für die Gelehrten der Zeit symbolische Sinnkonzentra-
in Zeilen gesetzt. Manchmal ähneln sie auch den ägyptischen tionen, in denen Bild und Text eine Einheit darstellen, eine
Hieroglyphen. Zwischen den Linien zeichnen die Schreiber Einheit indes, die in ihrer vollen Tiefe nur den Eingeweihten
Bilder von Menschen und Tieren, besonders von Häuptlin- zugänglich ist. Die Hieroglyphen hatten somit eine sowohl
gen und Vornehmen. Daraus kann man schließen, daß in ursprüngliche wie esoterische Komponente, und die Hoff-
den Büchern die Taten der Ahnen eines jeden Häuptlings nung war, durch ihre Erforschung ein frühes Wissen über
festgehalten sind. Ähnliches findet sich in diesem Zeitalter das Wesen der Dinge wie der Zeichen wieder freizusetzen.
auch bei uns, daß nämlich Buchmaler in eine allgemeine Bei allen Differenzen zur Alphabet­ schrift interessierten
Darstellung der Geschichte und auch in Sagen­büchern zu deshalb auch mögliche unterschwellige Kontinuitäten. Kir-
dem Vorgang, der erzählt wird, Bilder der Helden einfügen, cher entwirft in seinem vierbändigen Oedipus Aegyptiacus
um damit stärker zum Kauf anzuregen.«251 (1652–54) – der zahlreiche orientalische Schriften erstmals
Vor allem die ägyptischen Hieroglyphen, auch hier anklin- im Typendruck darstellt, die aztekische Schrift in einem
gend, boten ein Modell natur­hafter Zeichen, das sich als das ganzen Kapitel behandelt und Widmungen in über 20 alten
74 Sprachen bietet – »ein (ziemlich phantasie­volles) Alphabet »Ursprung der Sprachen und Buchstaben, die volksmäßige
von 21 Hieroglyphen, aus deren Form er durch sukzessive oder vulgäre genannt werden«, deutet. Indem er diesen
Abstraktionen die Buchstaben des griechischen Alphabets Ursprung allein im Hinblick auf die heidnische Geschichte
hervorgehen« lässt.253 Die ägyptische Welt wird Teil eines behandelt, die jüdisch-christliche der Bibel hingegen weder
Laboratoriums, in dem Archaik und Monstrosität sich ver- in Zweifel noch aber auch in Betracht zieht, schafft er sich
schränken. Die Erscheinungsformen schwanken zwischen den Freiraum, mit neuen geschichtsphilosophischen Ideen
totem Präparat und lebendiger Rekreation: »Ich entfalte zu experimentieren. Dazu zählt die von ihm als ureigenste
vor deinen Augen«, schreibt er in der Widmung an Kaiser Entdeckung betrachtete Vorstellung, die ersten heidni­schen
Ferdinand III., »das vielgestaltige Reich des Hieroglyphi- Völker seien notwendigerweise Poeten gewesen. Sie hätten
schen Morpheus: ein Theater mit einer immensen Vielfalt sich in ›poeti­schen Charakteren‹ mitgeteilt, d. h. in einer
von Monstren, und es sind nicht nackte Monster der Natur, Form, die nicht dem meist angenommenen Nacheinander
sondern so prächtig mit den rätselhaften Chimären einer von Sprache und Schrift entspreche, sondern als Einheit
uralten Weisheit geschmückte, daß ich hier darauf vertraue, es in der Zweiheit begriffen werden müsse. Diese Charaktere
möchten die gewitzten Geister unermeßliche Wissens­schätze sind einerseits abstrakte (phantastische Genera, Allgemein-
darin aufspüren, nicht ohne Vorteil für die Literatur. Hier begriffe, mentale Bilder), andererseits konkrete (Gestalten,
der Hund von Bubastis, der Saitische Löwe, der Widder von Körper, Gegen­stände), ja in ihnen sind Abstraktheit und
Mendes, das Krokodil mit seinem gräßlich aufgesperrten Konkretheit untrennbar. In ihnen fallen auch Schreiben und
Rachen, sie alle entdecken unter dem Schattenspiel der Bilder Zeichnen ineins: »Die Poeten sind ›Graphiker‹, Zeichner po-
die verborge­nen Bedeutungen der Gottheit, der Natur, des etischer Graphismen.«255 Diese Vorstel­lung erlaubt es, einen
Geistes der antiken Weisheit.«254 gemeinsamen Ursprung von Sprache und Schrift der ver-
schiedenen Völker anzunehmen, ohne deren Unterschiede
zu leugnen und ohne eine späte Rationalität zum Maßstab
Poetische Charaktere zu nehmen. Das Gemeinsame Geistige Wörterbuch (Dizio-
nario Mentale Comune), das Vico im Auge hat, führt nicht
»Nicht ohne Vorteil für die Literatur« schreibt Kircher. In auf ein Ur-Volk, sondern auf eine universale Verbundenheit
der Tat wird die mit neuen Autonomien experimentierende der Menschheit in politisch-rechtlicher Hinsicht. Und es
romantische Literatur eine eigene Hieroglyphensehnsucht besteht nicht einfach aus gewohnheitsmäßigen Zeichen,
entwickeln. Zuvor schon beginnt aber die Metapher des sondern auch aus deren Kehrseite: »Der Urgrund dieser so
Buchs der Natur poetische Züge anzunehmen. Giambattista zivilisierten konventionellen, rationalen, scheinbar nicht
Vico leitet seine Principj di una Scienza Nuova in der zwei- abbildlichen Sprache ist ein wilder, nicht-konventioneller,
ten und dritten Auflage (1730/44) mit einem Kupferstich phantastischer, abbild­licher.«256 Auch die Schrift verliert
ein, der zeigt, wie der Strahl der göttlichen Vorsehung über damit ihren Charakter der Nachträglichkeit und erweist sich
die Figur der Metaphysik auf die Statue Homers fällt, des als der anfänglichen Kommunikation selbst inhärent.
ersten Autors des Heidentums. Unter den ihn umgeben- Bei anderen Autoren ist dieser Gedanke in Form eines gra-
den ›Hieroglyphen‹ befindet sich auch eine Tafel mit dem phischen Symbolismus wirksam. Rowland Jones sieht Mitte
lateinischen Alphabet, die Vico im erläuternden Text als des 18. Jahrhunderts das O als Symbol für den unendlichen
Kreis der Zeit und des Raums, das L, zusammengesetzt aus 75
einem die Länge anzeigenden vertikalen und einem die Breite
anzeigenden horizontalen I, als Symbol der Ausdehnung.
»M, oder m, stellt ein Profil von Hügeln und Tälern dar oder
die Wellen des Meeres; von daher Erde, Meer, Gebirge, aber
auch der Tod. N ist eine Verkleinerung oder Verneinung von
M.«257 Für die zeitgenössischen Poeten wiederum drängte
sich die Frage auf, wie sich das Lesen im Buch der Natur
in der eigenen Schrift manifestieren könne. Der Hambur-
ger Senator Barthold Heinrich Brockes übte sich barocker
Tradition entsprechend in lautmale­rischen Gedichten – zum
Beispiel über ein Gewitter: Hier ist das ›rollende‹ r zunächst
vermieden, dann häufig eingesetzt und schließlich wieder
ausgespart.258 Vor allem aber bemühte er sich, die frühaufklä-
rerische Physikotheologie in seinen neun Bänden Irdisches
Vergnügen in Gott (1721–48) umzusetzen. Immer aufs
Neue lässt er die Allgegenwärtigkeit einer schöpferischen
Instanz hervortreten. Sie durchdringt die Welt, macht alles
und jedes, auch Autor und Leser, zu Buchstaben im Werk
des göttlichen Schreibers. Im Gedicht Die Welt (1721) heißt
es: »Es ist ein jedlicher Gesicht-Kreis hier ein Blatt; | Der
Sonnen Strahl und Licht sind GOtt an Griffels statt; | Die
Elementen Dint; und alle Creaturen, | Im Himmel, Erd’ und
Meer, sind Lettern und Figuren. | O unbegreiflichs Buch; O
Wunder-A,B,C! | Worin, als Leser, ich, und auch als Letter, Abb. 54 Joseph Friedrich Leopold, Deß berühmten Italiänischen Ca-
steh! | Laß, großer Schreiber, mich im Buche dieser Erden, | valliers und Kunstmahlers Josephi Mariae Mitelli von Bologna curioses
Zu Deines Namens Ruhm, ein lauter Buchstab werden!«259 großes Bilder Alphabet, Augsburg 1717; München, Bayerische Staats-

Im Gedicht Das Blümlein Vergißmeinnicht (1728) klingt bibl., Chalc. 234

es so: »Und fand von Kräutern, Gras und Klee | In so viel


tausend schönen Blättern | Aus dieses Weltbuchs A B C |
So viel, so schön gemalt, so rein gezogene Lettern, | Daß
ich, dadurch gerührt, den Inhalt dieser Schrift | Begierig | Denn jedes Äderchen durchs Licht illuminiert, | Stellt’ ei-
wünschte zu verstehen | Ich konnt es überhaupt auch als­bald nen Buchstab vor.«260 Die Bedeutung dieser Schrift ist, dass
sehn | Und, daß er von des großen Schöpfers Wesen | Ganz »Gott in allem, was wir sehen«, sich befindet. Und sie ergibt
deutlich handelte, ganz deutlich lesen. | Ein jedes Gräß­chen sich aus dem Vergissmeinnicht (das schon im Mittelalter
war mit Linien geziert, | Ein jedes Blatt war vollge­schrieben; Gegenstand von Allegorien war) selbst. In seinem Schein
76 und Glanz und Namen soll sich die Selbstmit­teilung des wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und ausspre-
Schöpfers wahrnehmen lassen. Diese Selbstmitteilung wie- chen, wir wißen so gar die Sprache in der es geschrieben ist
derum, die Gott und Natur einander annähert, soll fassbar – Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber
werden in den eigenschöpferischen Qualitäten der Sprache: zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen Auszug zu
Wenn Brockes die kleine Fliege, das klare Wassertröpfchen machen. Es gehört also mehr dazu als Physik um die Natur
oder den weißen Schmetterling beschreibt, zielt er auf er- auszu­legen. Physik ist nichts als das ABC. Die Natur ist eine
eignishafte Momentaufnahmen von Dingen, deren Präsenz Aequation einer unbekanten Größe; ein hebräisch Wort,
sich in seiner eigenen Schrift erfüllt. Als ›Übersetzung‹ der das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der
Schöpfungsschrift stilisiert, scheint sie an deren auratischer Verstand die Puncte setzen muß.«264
Ursprünglichkeit zu partizipieren.261 Das Buch der Natur ist auslegungsbedürftig. Es braucht die
Brockes’ Anliegen ist zugleich die lehrhafte Vermittlung. Aktualisierung im performati­ven Vollzug. Es ist angelegt auf
Die Gedichte exemplifizieren auf poetische Weise ein aus die Entfaltung mit Hilfe menschlichen Vermögens. Dieses
deistischen, pantheistischen und animistischen Elementen Vermögen ermöglicht zugleich eine neue Schöpfung, in der
kombi­niertes Weltbild. In anderen, prosaischen Texten der sich die erste reflektiert. Es ergibt sich eine Parallele zwischen
Zeit steht hingegen weniger die ästhetische Dimension der dem als ›Schriftsteller‹ verstandenen göttlichen Urheber und
Natur im Zentrum als die funktionale. Zwar betonen Theo­ dem menschlichen Autor, der in seiner individuellen Schrift
logen, das Buch der Natur, in dem Gott »bald mit grüner, ein Pendant produziert zu der selbst oft eigensinnigen Natur.
bald mit rother, bald mit anderer Dinte von seinen Tugen- Es ergibt sich aber auch eine strukturelle Differenz bei der
den« schreibt, sei unzulänglich gegenüber dem Buch der ›Übersetzung‹ der Weltschrift in poetische Schrift. Hamann
Bibel, in dem allein vom Erlösungswerk durch Jesus Christus kleidet sie in die Metapher, der poetische Text sei die »ver-
berichtet wird.262 Doch unabweisbar ist die Verheißung, kehrte Seite von Tapeten«, also etwas, was nur ›von hinten‹
eine vertiefte Kenntnis der Schöpfung gerade aus der Natur lesbar wäre: »Natur-Schrift und poetische Schrift stünden
zu gewinnen: aus Blitz und Donner, Feuer und Wasser, aus diesem Bild zufolge im Verhältnis der wechselseitigen
Steinen und Insekten – die Physikotheologie entfaltet sich Komplementarität, aber auch der Verkehrung – wie Positiv
im 18. Jahrhundert in vielzählige Unterabteilungen (Bron- und Negativ aufeinander bezogen, das eine Korrelat jeweils
totheologie, Pyrotheologie, Hydrotheologie, Lithotheolo- präsent, wo das andere abwesend ist.«265 Damit erhalten
gie, Insectotheologie), die alle mehr oder weniger auf die die poetischen Zeichen ihre Funktion nicht mehr allein im
Metaphoriken von Schrift und Lesbarkeit zurückgreifen.263 Hinblick auf die Elemente der Schöpfung, sondern auch auf
Nicht weit davon entfernt ist es auch, wenn Johann Georg deren Leerstellen: »Wo noch nichts oder nichts mehr zu lesen
Hamann von dem pädagogischen Projekt einer »Kinderphy- ist, findet der poetische Text seinen Raum.«266
sik« träumt, die, von Erwachsenen verfasst, ebenso einfältig Dieser Raum ist ein Zwischenraum. Hamann gibt ihm im
zu sein hätte wie ein für Menschen geschriebenes göttliches Layout der eigenen Texte Gestalt und bringt ihn zur Spra-
Buch. Im zweiten Brief an Kant (1759) ist dieser Gedanke che in seiner Neue[n] Apologie des Buchstabens h (1773).267
ausgeführt: »Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel Verfasst als Reaktion auf den Vorschlag Christian Tobias
(im philosophischen Verstande) oder wie Sie sie nennen Damms, das H, wo nicht artiku­liert, aus dem Schriftbild
wollen. Gesetzt wir kennen alle Buchstaben darinn so gut zu entfernen, macht Hamann gerade an diesem Buchsta-
ben, Anfangsbuchstabe seines Nachnamens, eine Theorie einige Buchstaben dieses göttlichen Alphabets so leserlich 77
skripturaler Zwischenräumlichkeit fest. Er lässt das H selbst vorzuzeich­nen, daß jedes gesunde Auge dieselbe wird finden
sprechen und begründen, warum gerade dieser scheinbar und erkennen können, wo sie ihm wieder vorkom­men.«269
nicht notwendige Buch­ stabe die besondere Geschicht- Doch diesen Optimismus teilen nicht alle. Georg Christoph
lichkeit (und die geschichtliche Diffe­renz von Schrift und Lichtenberg, natur­wissenschaftlich denkend, hält ihm in
Sprache) zum Ausdruck bringe. Das H repräsentiert eine seinen Sudelbüchern (ed. Promies: J 2154) entgegen: »Wir
Unordnung, die das historisch Gewordene kennzeichnet. sehen in der Natur nicht Wörter sondern immer nur An-
Zugleich verkörpert es das Prinzip des Lebens, die mit fangsbuchstaben von Wörtern, und wenn wir alsdann lesen
dem Hauch verbundene Enargeia. Es ist damit zugleich ein wollen, so finden wir, daß die neuen sogenannten Wörter
Ur-Buchstabe, »privilegierter Statthalter des abwesenden wiederum bloß Anfangsbuchstaben von andern sind«. Nötig
Logos, exemplari­scher Fall sichtbarer Repräsentation eines ist solchermaßen ein konjekturales Verfahren, das es erlaubt,
Unsichtbaren, Paradigma des ›Zeichens‹ in einem nicht bloß die Lücken zumindest mit Hypothesen zu füllen. Autoren
instrumentalistischen Sinn.«268 Ein göttlich-menschlicher wie Schelling, Schlegel oder Eichendorff sehen die Welt allen-
Buchstabe, insofern in ihm die ganze Fragilität einer Wahr- falls als einen zerbrochenen, kryptischen, unleserlichen Text,
nehmung des Nicht-Wahr­nehmbaren eingefangen ist. eine Ansammlung von Bruchstücken, ein Buch, in dem der
Wind »die Blätter so schnell und verworren durcheinander
[weht], daß einem die Augen über­gehen«.270
Literatur und Schrift Doch ergibt sich daraus auch eine spezifische Aufgabe der
Dichtung: nicht einfach das Unlesbare lesbar zu machen, das
Die Schrift der Natur und die Schrift der Poesie stehen an Naturbuch zu wiederholen, sondern einen selbst produk­
der Schwelle zur Romantik nicht einfach mehr in einem tiven Text zu schaffen, ein neues Original hervorzubringen,
Analogieverhältnis. Schon George Berkeley, Theologe das in seiner Eigenheit ein Stück von der Eigenheit der
und Empi­rist, hatte in An Essay towards a new Theory of Welt sichtbar macht. Der Traum gilt einer Schrift, die die
Vision (21732, § 143) festgestellt, nicht das Verhältnis zwi- Trennung vom Körper (des Urhebers) wie von den sinn-
schen Schriftzeichen und Lauten, wohl aber das zwischen lichen Gegebenheiten der Welt aufzuheben vermag.271 Der
Buchstaben und Dingen sei ein arbiträres: Niemand werde Traum gilt einer Schrift von höch­ster Lebendigkeit, die
behaupten wollen, »the single Letter a, or the Word Adul- sich die Natur anzuverwandeln, und einem Dichter von
tery are like unto, or of the same Species with the respective prophe­tischer Art, der die Bewegung der Natur in die der
Sounds by them represented. It is indeed arbitrary that, in Sprache zu übertragen vermag.272 Zum einen wird deshalb
general, Letters of any Language represent Sounds at all: but das Hiero­glyphische beschworen – als eine Form der Signi-
when that is once agreed, it is not arbitrary what Combina- fikation, in der die Trennung von Zeichen und Bezeichnetem
tion of Letters shall represent this or that particular Sound.« aufgehoben wäre, eine Logik der Natur, ihrer Schichten und
Johann Caspar Lavater hofft zwar, das Wesen der Menschen Erscheinungsformen, eine, wie Novalis sagt, gleichzeitige
an ihren Physiognomien abzulesen und wenn schon nicht »Ton und Schriftbildersprache«.273 Zum andern ist eine Em-
»das tausendbuch­stäbige Alphabeth zur Entzifferung der phatisierung von Kommunikation zu beobachten, die gerade
unwillkührlichen Natursprache im Antlitze« so »doch das Distanzmoment der Schrift zur Herstellung von Nähe
78 benutzt: In der empfindsamen Literatur wird Körperlichkeit Kursivierungen und Versalien, Wechsel zwischen Fraktur
evoziert, Mündlichkeit simuliert, Schriftlichkeit fetischiert und Anti­qua, Seitenumbrüche und Verschränkungen von
– mit dem Ziel einer unmittelbaren Kommunikation zwi- Haupttext und Fußnote lenken den Blick auf die diagram-
schen den (mit) einander korrespon­dierenden Seelen. Bei ihr matische Erscheinungshaftigkeit der Schrift. Hinzukommt
schafft die Schrift gerade, in dem sie Abwesenheit spürbar »die eigentüm­liche Alphabetisierung des Textes, von Z bis
macht, stellvertretende Anwesenheiten. Friedrich Gottlieb A«, mit der »die philologische Figurierung ironisch auf
Klopstock bekennt am 29. Oktober 1751 seiner Verlobten die Spitze« getrieben ist.276 Laurence Sterne schaltete in
Meta Moller, oft »so närrisch« zu sein, dass er ihre Briefe seinen Tristram Shandy (1760–67) Seiten ein, die den Le-
küsse und von diesen auf die Urheberin selbst übergehe: seprozess sowohl unterbrechen wie thematisieren:277 Eine
»Eine gewisse kleine Hand, die schrieb; ein gewisses blaues schwarze Seite bezieht sich auf den Tod Yoricks und bringt
Auge das zusah, als die Hand schrieb; ein gewisses unver- zugleich die Kommunikation von Nicht-Kommunikation
gleichliches Herz (doch ein Herz kann man ja nicht küssen) zur Anschauung. Weiße Seiten verweisen auf die Macht des
ja, ..u was denn nun noch mehr?«274 Autors, Aussparungen und Verschiebungen vorzunehmen.
Gleiches widerfährt aber auch dem Dichter und seinen Eine marmorierte Seite, ein technisches Kunststück, rückt
Büchern selbst. In Johann Martin Millers tränenreichem das Verhältnis zwischen dem Äußeren (Vorsatzblatt) und
Klosterroman Siegwart (1776) verlieren sich zwei Figuren dem Inneren des Buches in den Blick. Dargestellte Linien
in einer schwärme­rischen Lektüre von Klopstocks Messias. formalisieren schalkhaft die verschiedenen vom geraden Weg
Geßners Idyllen nimmt der Protagonist auf sein Zimmer, um abweichenden Bewegungen des Erzählens. Die Schrift wird
der Intimität mit dem Buch, in dem sich der Geist der Gelieb- in ihrer Kontingenz gekennzeichnet, aber auch in ihrer Zwi-
ten verkörpert und Spuren ihrer Präsenz finden, zu frönen: schenstellung zwischen der sinnlichen Schönheit der Linie,
»Das Buch war ihm nun ganz heilig geworden. Er blätterte die Schiller in seinem fünften Kalliasbrief (1793) behandeln
es durch, und verweilte sich bey jedem Blatt. Jegliches schien wird, und der funktionalen Transparenz der Buchstaben, die
ihm zu glänzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie groß zeitgenössische Typographen im Auge haben.
war seine Freude, als er klein Stückchen blauer Seide drinn Die Schrift ist damit auch ein Paradigma für die Verknüp-
liegen fand, von der Farbe, wie sie zuweilen ein Kleid trug. fung von Lesbarkeit und Sichtbar­keit. Zwar hatte Lessing
Dieses Stückchen war ihm mehr werth, als dem Abergläubi- in seinem Laokoon (1766) gerade aus der vielbeschworenen
gen das Stückchen vom Gewand eines Heiligen. […] Als er (scheinbaren) Konvergenz von Malerei und Poesie ein Mo-
noch weiter blätterte, fand er auch ein Schnippelchen Papier, dell semiotischer Differenz und medialer Angemessenheit
auf welchem Marianens Name stand. Er sprang hoch, hub es entwickelt. Doch in der Praxis ging es eher um wechselsei-
in die Höhe, drückte es hundertmal an seinen Mund und an tige Ergänzung. In die Texte werden Bilder aufgenommen.
sein Herz, und betrachtete jeden Zug unzähligemale.«275 Kunstgeschichtliche Drucke setzen die abgebildeten und
Eine andere Möglichkeit, die poetische Schrift mit Unmit- dekontextualisierten Kunstwerke in ein neues Verhält­nis
telbarkeit aufzuladen, bestand in der Hervorhebung der zu den sie umgebenden Texten. Frontispizdarstellungen
schriftbildlichen Dimension. Hamann machte, als er 1760 verwandeln die Schrift in In­schrift und das Artefakt in
verschie­dene eigene Texte in den anonymen Kreuzzüge[n] einen Beschreibstoff, eine Fläche, »die der Schrift als Folie
des Philologen versammelte, deren Buch­stäblichkeit sichtbar: dient«.278 Die Architekturalphabete zeigen Grundrisse, in
79

Abb. 55 Antonio Basoli, Alfabeto pittorico, Bologna 1839 (Joseph


Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel, Antonio Basoli, Alfabeto pittorico
1839, Ravens­burg 1998, S. 11)
80

Abb. 56/57 Giovanni Battista de Pian, Architekturalphabet, Wien um


1842/44 (ebd., S. 14 und 40)

denen aus einer quasi-göttlichen oder fürstlichen Perspek- aber auf Umsetzung angelegt sind, will das Architectonische
tive die irdischen Monumente als Chiffren lesbar sind. Der Alphabet von Johann David Steingruber (1773) auch die
französische Hofarchitekt Thomas Gobert spielt in seinem bauliche Phantasie anregen.279 In ihm sind die einzelnen
Traitté d’Architecture (um 1680) mit dem Namen LOVIS LE Komplexe detailliert ausgeführt. Dabei verschränkt sich das
GRAND, dessen einzelne Buchstaben jeweils in Grundriss, Prinzip der Lesbarkeit der Welt im Buchstaben mit jenem
Aufriss und Ansicht erscheinen. Während diese Entwürfe der Erläuterung von Diagrammen mit Hilfe beigefügter
vor allem den absolutistischen Anspruch verkörpern, nicht Buchstaben.
Die etwas späteren malerischen Alphabete eines Antonio 81
Basoli (1839) oder Giovanni Battista de Pian (1842/44) ge-
hen einen anderen Weg. Sie verbinden in Form dekorativer
Bühnenbilder exotische, historische und archäologische
Dimensionen. Basoli macht überdies jede einzelne Litho-
graphie zu einem enzyklopädisch-lexiko­graphischen Archiv.
Zahllose mit dem jeweiligen Buchstaben beginnende Begriffe
sind veranschaulicht, die wiederum der begleitende Text
erläutert: »Der Buchstabe A ist auf der Fassade des Gebäu­
des hervorgehoben und geschmückt mit den Zeichen des
arabischen Alphabets, und der Autor vermutet, dass hier
die Vorschriften des Koran für den Ackerbau geschrieben
stehen. Zwei altertümliche Pflüge (Aratri antichi), die die
Agrikultur versinnbildlichen, sind in die Basen der seitlichen
Schenkel (Aste) der Initiale eingemeißelt, und in die Spitze Abb. 58 Victor Hugo, Les travailleurs de la mer, 1866; Paris, Biblio­
der Halbmond mit dem Namen Alilat. Durch einen groß- thèque Nationale de France, N. a. f. 247451, fol. 2 (boîte 1, n° 1)
artigen Bogen (Arco) mit Archivolte, die in einen Architrav
übergeht, welcher seinerseits mit originellen Arabesken
verziert ist, hat man Zutritt zu dem Gewächshaus«.280
Auch den Literaten lagen weniger die kategorialen Unter- und archi­tektonische Szenarien; ein Blatt zu Les travailleurs
schiede als die dynami­schen Beziehungen der Medien am de la mer (1886) verknüpft die Buchstaben mit wesentlichen
Herzen: Sie ließen Kupferstiche zu ihren Werken anfertigen. Elementen des Romans.283
Sie versahen die eigenen Manuskripte mit allerlei Skizzen Aus den Selbstüberschreitungen medienspezifischer Eigen-
und Drolerien und machten das manische Aufschreiben zum heiten versuchten die Dichter wechselseitige Steigerungen
Ausdruck empfindsamer Seelen. Sie suchten wie Goethe zu schaffen – mit den Worten A. W. Schlegels: »das seltene
in Mahomets Gesang (1772), wo das Motiv des Stroms im aber entzückende Schauspiel des Zusammenwirkens zweier
Zeilenbild aufscheint, Entspre­chungen zwischen Inhalt und Künste, in Eintracht und ohne Dienstbarkeit. Der bildende
Form oder betrieben kalligraphische Schreibübungen: Aus Künstler gäbe uns ein ein neues Organ, den Dichter zu
dem Umfeld des West-östlichen Divan haben sich mehrere fühlen, und dieser dolmetschte wiederum in seiner ho-
Blätter erhalten, auf denen Goethe die für ihn unlesbare hen Mundart die reizende Chiffersprache der Linien und
arabische Schrift nachahmt.281 Von Victor Hugo, der in sei- Formen.«284 Einer, der dies um 1800 am eindringlichsten
ner Jugend von einer hieroglyphischen Interpretation der verwirklichte, war der englische Dichter und Maler William
Buchstaben träumte (»O ist die Sonne, P ist der Lastträger, Blake, der unter anderem bei jenem John Flaxman gelernt
aufrecht mit seiner Last auf dem Rücken«),282 stammt eine hatte, dem Schlegels Aufsatz gilt. Blake entwickelte ein eige-
Reihe von handgemalten ›Visitenkarten‹ für Freunde. Auf nes Verfahren, die Reliefradierung, um seine Verse und seine
ihnen integriert er den eigenen Namen in landschaftliche Bilder in die gleiche Platte einzuzeichnen. Auf diese Weise
82 zusammengeführt sind. Gelegentlich findet sich ein Reflex
des Verfahrens in den Radierungen selbst: Im Rahmen des
Zyklus Jerusalem – The Emanation of The Giant Albion
(1804–20) sieht man auf einem Bild den Giganten Albion in
Melancholie versunken, neben ihm eine kleine menschliche
Figur, die eine Schriftrolle hält – der analog zum Radier-
vorgang in Spiegelschrift geschriebene Text spricht davon,
wie sich der Mensch einst von seinem Schemen (›spectre‹)
befreien und zu wahrer Menschlichkeit gelangen werde.285
Wie eine späte ironische Note zur Laokoon-Diskussion
wirkt es, wenn Blake eine Einzelradierung der berühmten
Skulpturengruppe, von der Lessing ausgegangen war, mit
dem Abstand der Jahre überarbeitet: Das zunächst um 1815
in Zusammenhang mit Illustrationen zu einer Enzyklopädie
geschaffene Werk erfährt 1826 oder 1827 eine alle leere Flä-
che füllende Beschriftung – Erläuterungen, die in nuce eine
ganze Theorie zur Verschränkung von Kunst und Religion
enthalten und die Figur Laokoons nunmehr auf Gott selbst
hin deuten: »Jah[we] & his two Sons Satan & Adam as they
were copied from the Cherubim of Solomons Temple by
three Rhodians & applied to Natural Fact, or History of
Ilium«.286

Geheimnisse des ABC

Unterwandert wurde die Lessingsche Trennung von Text und


Abb. 59 William Blake, Jerusalem. The Emanation of the Giant Albion, Bild auch durch ein anderes Genre der Zeit: die ABC-Bücher.
1804, plate 41; New Haven, Conn., Yale Center for British Art Die Zunahme der Alphabetisierung gehört zweifellos zu
den markantesten Erscheinungen des 18. Jahrhunderts. Sie
steht auch im Hintergrund des Streites zwischen Vertretern
der (deutschen) Frakturaschrift und solchen der (römisch-
sollte es möglich werden, die Kühnheit von Visionen wie- romani­schen) Antiquaschrift: Im Hinblick auf die Leser-
derzugeben, in denen hebräische, griechische und keltische freundlichkeit sprechen sich um 1800 zahlreiche Literaten für
Mythen zu einer kosmologischen Verschmelzung von Gott die Antiqua aus, doch trägt schließlich mit dem Argument
und Mensch unter dem Zeichen von Freiheit und Gleichheit nationaler Eigenheit die Fraktura den Sieg davon.287 Für die
83

Abb. 60 William Blake, Laocoön, 1826; Altadena/Cal., Collection


Robert N. Essick
84 Literatur spielt die Alphabeti­sierung eine wichtige Rolle.288 all die Verschlingungen und Verknotungen«? Sein eigener Vor-
Novalis erwägt, ob nicht vielleicht das höchste Buch ein schlag läuft auf einen ›sokratischen Schriftunterricht‹ hinaus,
ABC-Buch sei.289 Karl Philipp Moritz präsentiert in seinem vielfältig, sensibel, angepasst an die Lernenden, angelegt auf
Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik (1786) das eine spielerische, phantasie- und körperbetonte Entdeckung
Alphabet als die Kunst, »Töne zu malen« und unsichtbare der Buchstaben: »Jeder Zögling bestimmt einige Zeichen für
Gegen­stände »durch sichtbare Zeichen […] vor das Auge einige Töne, und mit diesen selbsterfundnen Buchstaben nun
zu bringen«. Es stellt das Fundament allen Wissens dar: geschrieben = freilich nicht mit Feder und Papier – Kreide und
Der Austausch und Handel zwischen den Menschen, die Tafel, oder noch lieber ein Stock und eine ebne Sandfläche sind
Regelung gesellschaftlicher Angelegenheiten, die Bildung der ganze Schreibapparat.«292
von Geschichte und Überlieferung, die Erinnerung an die So progressiv sind die vielen bebilderten ABC-Büchlein des
Toten – »Das verdanken wir alles den vierundzwanzig klei- 19. Jahrhunderts selten. Doch lassen sie immerhin erkennen,
nen Figuren, die wir Buchstaben nennen, und aus denen wie sich der Zusammenhang zwischen Buchstaben und
alle Bücher zusammengesetzt sind.«290 Ergänzt wird diese Wörtern lockert und die Wissensvermittlung gegenüber dem
Erfindung durch die Erfindung der Druckkunst, die eine reinen Buchstabenlernen wichtiger wird. Auch vollzieht sich
neue Geschwindigkeit und enorme Ausbreitung ermög- in den Bildern eine Ausdehnung des häuslich-vertrauten
licht: Der Abdruck der aus den kleinen metallenen Figuren Bereichs auf Exotisches, Abenteuerliches oder Kurioses. Jean
zusammengesetzten Worte ist »in weniger als einer Minute Midolle sammelte Alphabete und Schriften aus der Antike
da – und zwar mit weit mehr Schönheit und Ordnung, als und dem Mittelalter und legte das Ergebnis 1834/35 in seinen
wenn die Worte geschrieben wären – denn wenn man etwas, Oeuvres vor: drei großformatige Teile mit etwa 120 Farbta-
daß sehr schön geschrieben ist, bezeichnen will, so sagt man: feln, darunter ein Teufelsalphabet mit Drachen, Hexen und
es ist geschrieben, als ob es gedruckt wäre.«291 Dämonen, das die gotische Schrift nachahmt.293 Franz Graf
In seinem erläuternden Text nimmt Moritz Bezug auf die von Pocci schuf eine ganze Reihe sowohl von Alphabeten
begleitenden Illustrationen von Chodowiecki und gestaltet wie von ABC-Büchlein, die nach Zielgruppen (Erwachsene,
damit die Hinführung zur Logik im Zusam­menspiel lesender Kinder, Bauern) und Anlässen (z. B. Weihnachts-ABC) vari-
und betrachtender Wahrnehmung. Das Neue A.B.C. Buch, ieren und »die Wirklichkeit der europäischen Industrialisie-
welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder ent- rung als beschauliche Lebenswelt« interpretieren.294
hält (1790) zielt überdies durch die schlichten Reime und die Dass die Buchstaben die Basis von Wissen und Kommunika-
Koppelung der Buchstabenbilder an die verschiedenen Sinne tion bilden, war um 1800 ebenso Konsens wie die Ansicht,
auf eine synästhe­tische Erfahrung. Sie soll die aufklärerische dass sie mit Geist zu erfüllen seien, um nicht tote Lettern zu
Bewegung zum Selbstdenken vorbereiten. Auch Johann An- bleiben. Im Gefolge von Rousseau und Herder gab es eine
dreas Schmellers mit 18 Jahren verfasster Entwurf zu einem kritische Sicht auf die Schrift – als sekundäres und supplemen-
ABC-Büchlein (1803) setzt auf das aktive Moment des Ler­nens täres Medium, Verkümmerung der Stimme und Verwir­rung
der Buchstaben. Die griechischen scheinen ihm »zu grazil, zu des Geistes.295 Schleiermacher schreibt in seinen Reden über
unbestimmt: Man sehe eine fortgesetztre Reihe solcher Buch- die Religion (1799): »Zuviel geht verloren von dem ursprüng-
staben: gleicht sie nicht einem Labirinthe, das bei’m ersten lichen Eindruck in diesem Medium, worin alles verschluckt
Anblick den bangen Gedanken erregt, wie auseinanderwirren wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, in denen
85

Abb. 61/62 Franz Pocci, Johann Baptist Bach, Güldenes Weihnachts-


ABC, 3. Aufl., München 1884

es wieder hervorgehen soll, wo Alles einer doppelten und Diesem Verlust entgegen wirken Tendenzen, die Buchstäb-
dreifachen Darstellung bedürfte, indem das ursprünglich Dar- lichkeit der Buchstaben zu transzendieren. Allenthalben
stellende wieder müßte dargestellt werden und dennoch die werden zum Beispiel die Grenzen zwischen Sprache und
Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit Schrift überspielt. Wilhelm von Humboldt sieht erst im al-
nur schlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfäl- phabetischen Aufschreibesystem die Sprache zu sich selbst
tigte Reflexion; nur wenn sie verjagt ist aus der Gesellschaft kommen: Die Buchstaben­schrift verstärke durch den engen
der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im Anschluss »an die eigenthümliche Natur der Sprache […]
toten Buchstaben.«296 Novalis bezeichnet die Welt zwar als gerade die Wirkung dieser, indem sie auf die prangenden
Mitteilung Gottes und Offenbarung des Geistes, doch die Vorzüge des Bildes und Begriffsausdrucks Verzicht leistet.«298
Zeit als vergangen, »wo der Geist Gottes verständlich war. Zeitgenössische Wörterbücher versuchen durch Angaben der
Der Sinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind beym verschiedenen Aussprache­formen die Stimme in der Schrift
Buchstaben stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende einzufangen.299 Jacob Grimm beginnt 1854 sein Deutsches
über der Erscheinung verlohren. Formularwesen.«297 Wörterbuch mit einem Eintrag zum Buchstaben A, in dem
86 semantische Zuschreibungen ganz fehlen, Graphem und oder »Die Klosternonne will thun Bus, | Ein Nagelbohr
Phonem als Einheit erscheinen:300 »A, der edelste, ursprüng- man haben muß« – auf der Linie solcher Kombinationen
lichste aller laute, aus brust und kehle volle erschallend, den liegt es noch, wenn der grüne Heinrich in Gottfried Kellers
das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt, den Roman (Erstfassung 1853–55: I,5) das große P, das ihm »in
mit recht die alphabete an ihre spitze stellen. a hält die mitte seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch
zwischen i und u, in welche beide es geschwächt werden vorkommt«, als Pumpernickel benennt.
kann, welchen beiden vielfach es sich annähert« (S. 1). Jean Paul nun, der Enzyklopädiker unter den Romantikern,
Überschreitung und Transzendierung eines starren Schrift- in dessen Exzerpten Lesen, Blättern und Schreiben ineinan-
begriffs ist es auch, was sich die Dichtung auf die Fahnen der fließen,303 gibt zwar im Leben Fibels das ABC-Büchlein
geschrieben hat. Sie bringt das Erscheinende, von dem No- im Anhang wieder. Seine Geltung aber zersetzt er durch die
valis spricht, in der Schrift durch Schönheit oder Anmut, vorgeschaltete Biographie des vermeintlichen Urhebers und
Romantisierung oder Frag­mentierung zur Geltung. Ihr ist es Namengebers. Als entscheidende Szene für die Entste­hung
aber auch gegeben, das Schillernde der Schrift, das Abgrün- des Büchleins erscheint ein Traum, in dem Fibel von einem
dige ihrer Medialität und das Bedrohliche ihres Erstarrens Hahn davongetragen und mit einer Lücke im Alphabet kon-
herauszustellen. Goethe lässt die einstigen Mitglieder einer fontiert wird: »er hatte lange Mühe, das Hahnen-Deutsch
Akademie, aufs Buchstabengerüst reduziert, geisterhaft in Menschen-Deutsch zu übersetzen, bis er endlich heraus-
auftreten: »Hier ist’s, wo unter eignem Namen | Die Buch- brachte, es klinge ha, ha. Es sollte damit weniger – sah er
staben sonst zusammen kamen! | Mit Scharlach­ kleidern schon im Schlafe ein – der Name des Hahns ausgesprochen
angetan | Saßen die Selbstlauter obenan: | A, E, I, O und U […] werden, sondern als bloßes ha des Alphabets, welches
dabei, | Machten gar ein seltsam Geschrei. | Die Mitlauter h freilich der Hahn ebensogut he betiteln konnte, wie b be,
kamen mit steifen Schritten, | Mußten erst um Erlaubnis oder hu, wie q ku, oder hau, wie v vau, oder ih, wie x ix.
bitten: | Präsident A war ihnen geneigt; | Da wurd ihnen Fibel hörte hinter sich über funfzehn Schulbänke das Abc
denn der Platz gezeigt.«301 Carl Jonas Love Almqvist führt aufsagen, aber jedesmal das h über­hüpfen; endlich fuhr der
ein Akademie­gespräch vor, in dem verschiedene Mitglieder Reithahn unter sie, und sie riefen einhellig: ha, ha etc. etc.,
in ausschweifender Weise anhand der Zeichen Om Mam- ohne zu lachen. Und Helf konnte jetzt sehen, daß jede Bank
seller etymologische, semantische und skripturale Fragen ein Abcbuch voll eingeschnitzter Bilder war – z. B. bei A
erörtern.302 Jean Paul erzählt in Leben Fibels, des Verfassers einen Hintern, bei B eine Birkenrute für jenen –, aber nur um
der Bienrodischen Fibel (1812) eine schillernde literarische H war nichts gemalt, bis der Hahn leibhaftig den Buchstaben
Entstehungsgeschichte des ABC-Buchs. Sich satirisch den vorstellte so wie Hennen die en« (Kap. 13).
Typus der huldigenden Biographie anverwandelnd rückt er Die ›traumatische‹ Erfahrung jener (Leer-)Stelle, die auch
zugleich die Form des anonymen, sog. Bienrodischen Le- Hamann zum Knackpunkt eines lebendigen Alphabets
selernbuchs ins Zwielicht. Dieses hat über Jahrzehnte hinweg gemacht hatte, manifestiert sich für Fibel in einer Verwi-
prägend gewirkt, befremdet nun aber mit seiner Mischung schung der Grenzen zwischen Buchstaben und Gegenstän-
aus christlicher Unterweisung und absurder Kombinatorik. den, Bezeichnungen und Verkörperungen. Daraus entsteht
Erläutert werden in ihm die Buchstaben mit Versen wie »Ein die Idee zu einem neuen ABC, die sofort umgesetzt wird:
Affe gar possirlich ist, | Zumal wenn er vom Appfel frißt« »schon die erste Seite war ein schönes Tuskulanum und
Utopien für Helf; er schrieb das kleine Abc in schöner Alte Handschriften 87
Kanzleischrift, ohne einen Buchstaben auszustreichen,
geschweige ein Wort, lustig und ungestört herab. Zwischen In der Zeit um 1800 intensiviert sich die wissenschaftliche
alle schwarze Buchstaben steckte er rote auf, um allgemeine Beschäftigung mit alten und fremden Schriftsystemen. Doch
Aufmerksamkeit zu erregen; daher die meisten Kinder bleibt die Sehnsucht nach Ursprüngen wirksam: Die Sprachen,
Deutschlands sich noch der Freude entsinnen, mit welcher denen Adelbert von Chamisso auf seiner Weltreise 1815–18
sie aus den schwarzen die rot gekochten wie gare Krebse begegnet, nähren in ihm die Vermutung, es gäbe einen ge-
heraus­fischten und genossen.« Für ihren Urheber liegt der meinsamen Stamm, der noch durchscheinen mag durch ein
Genuss vor allem im »reinen Alpha­bet«, das heißt in den Alphabet wie das tagalische (Philippinen), in dem Elemente
einfach aneinandergehängten Buchstaben, die jeweils in der des Sanskrit mit malayischen, arabischen und indianischen
Fibel den Kopf der Seite zieren, bevor sie sich – wie der in Merkmalen sich vermischen.304 In der gleichen Zeit vollzieht
der Ars combinatoria geschulte Heraus­geber feststellt – als sich auch die philologische und national­geschichtliche Wie-
»angewandte Buchstaben-Mathesis« auf die Worte und derentdeckung mittelalterlicher Überlieferung. Parallel dazu
über die Seite verteilen. Dieser Herausgeber und Biograph füllen sich die literarischen Werke mit Szenarien, in denen die
indes ist seinerseits auf Zufälle angewie­sen, um seine eigene Protagonisten auf alte, geheimnisvolle, auratische Schriften
(Re-)Konstruktion voran zu bringen: Auf der Suche nach stoßen. Werther und Lotte verlieren sich bei Goethe (1774) an
einer älteren Lebensbeschreibung findet er nur Überreste, die Vorweltszenarien der angeblich von Ossian stammenden
die fragliche Hahnenszene begegnet ihm in Gestalt eines altgälischen Fragmente.305 Der kunstliebende Klosterbruder in
vorübersegelnden Papierdrachens. Die schwierige Geburt Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen (1797)
des ABC-Büchleins erhält so ein Pendant in derjenigen von findet »unter manchem nichts­nützigen bestäubten Pergament
dessen Entstehungsgeschichte. Im Spiel zwischen den ver- einige Blätter von der Hand des Bramante, von denen nicht zu
schiedenen textuellen Ebenen und den ein- wie angelagerten begreifen ist, wie sie an diesen Ort gekommen sind.«306 Von
Schriften ergibt sich ein abgründiger Entwurf der alphabe- anderen Manus­kripten, von der Hand Leonardo da Vincis,
tischen Fixierung allen Schreibens. Er reißt en passant auch bemerkt er, sie warteten »noch auf denjenigen, welcher den
die Hieroglyphensehnsucht in den Sog des Vieldeutigen, Geist des alten Malers, der darin verzaubert schläft, daraus
Unsinnigen und Selbst­bezüglichen hinein: In Arnstadt, heißt erwecken und aus den lange getragenen Banden erlösen
es, sei 1807 ein Büchlein mit dem Titel Enthüllung der Hiero- soll.«307 Der Jüngling Christian in Ludwig Tiecks Runenberg
glyphen in dem Bienrodischen Abcbuche erschienen. In eben (1802) stößt auf eine geheimnisvolle Tafel, »die von vielen
diesem Jahr hielt der 17–jährige Jean-François Champollion eingelegten Steinen, Rubinen, Diamanten und allen Juwelen
in Paris einen Vortrag über die Ähnlichkeiten zwischen dem glänzte« und »eine wunderliche, unverständliche Figur mit
Koptischen und den Hieroglyphen – ein erster Schritt zu ihren unterschiedlichen Farben und Linien zu bilden« schien.
der 1822 vollendeten Entzifferung der Hieroglyphen. Sie Diese Tafel bindet ihn an das Zauberreich. Obschon sein
markiert den Beginn einer modernen Ägyptologie, aber auch Vater ihn vor dem kalten, grausamen Charakter der Schrift,
die definitive Verschiebung der hieroglyphischen Verheißung den blutdürstigen Zügen der »Lineamente« warnt, vermag er
ins Imaginäre und Metaphorische. sich nicht von der unterirdischen Welt, aus der sie kommen,
loszusagen.
88 Heinrich von Ofterdingen entdeckt in Novalis’ Roman Salamanders mit der grünen Schlange« (8. Vigilie). So wie die
(1802) unter den Büchern des Einsiedlers in der Höhle eines, Schlangenlinie zwischen Ornament und Zeichen schwankt,
das in einer fremden und doch nicht ganz fremden Sprache bewegt sich der ganze Text auf der Grenze zwischen Schrift
geschrieben scheint. Ohne dass er es lesen könnte, zieht es und Nicht-Schrift. Er zersetzt die aufkläre­rische Ökonomie
ihn magisch an (I,5). Das liegt vor allem an den Bildern, des Skripturalen und bringt optische und akustische Mo-
in denen er sich selbst und verschiedene Bekannte in eine mente ins Spiel. In einer Zeit, in der, nach Darstellungen zu
andere Zeit versetzt wiederfindet. Die alte Handschrift bie- schließen, das Lesen d e s Buches immer mehr zum Lesen
tet einen verklärten Spiegel der eigenen Lebenswelt. Sie ist i m Buch wird,309 gewinnt auch der Eindruck der Seite an
ein Relikt des Vergangenen, das zugleich die Hoffnung auf Bedeutung. Im Goldenen Topf wie in anderen phantasti-
deren Wiederkehr nährt. Angesiedelt wieder im Unterirdi- schen Erzählungen schlummert in den Buchstaben eine
schen, wo auch die alchemistische Vereinigung von Lebens-, ganze Welt. Die Einbildungskraft beginnt sie zu beleben
Menschheits- und Naturschrift ihren Ort hat, verkörpert sie und in sie einzutauchen. Das Chimäri­sche lauert nicht mehr
das Buch, das dem Leser seinerseits vorliegt.308 Als Ausdruck einfach an Rändern oder in Abgründen. Es »entsteht jetzt
jener absoluten, unendlich gespiegelten Schrift, in der die auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten
Chiffrenschrift der Natur sich realisiert, ist die Handschrift Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band,
ähnlich verheißungsvoll wie andere schillernde Gebilde, in der, geöffnet, einen Schwarm vergessener Wörter entläßt;
denen prismenartig Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft es entfaltet sich säuberlich in der lautlosen Bibliothek mit
vereint scheinen: die blaue Blume oder der von dem Jüngling ihren Buchkolonnen, aufgereihten Titeln und Regalen, die
im eingeschalteten Atlantismärchen (I,3) gefundene Karfun- es nach außen ringsum abschließt, sich nach innen aber den
kel – er zeigt auf einer Seite »eingegrabene unverständliche unmöglichsten Welten öffnet. Das Imaginäre haust zwischen
Chiffern« und weckt ein »unwiderstehliches Verlangen«, dem Buch und der Lampe.«310
selbst das »rätsel­hafte Zeichen« mit Worten zu umgeben. In dieser Bibliothek muss Anselmus erleben, wie er in eine
In E.T.A. Hoffmanns vielschichtigem modernem Märchen Flasche gebannt wird und eine alte Hexe vor ihm erscheint,
Der goldene Topf (1814) über­nimmt der Student Anselmus, die Blätter aus Folianten herausreißt und mit ihnen ihren
geschickt im Schönschreiben wie im Zeichnen, die Auf- Körper bedeckt. Es gelingt ihm, sich zu befreien und mit
gabe, für den Archivar Lindhorst arabische, koptische und seiner grünen Schlange Serpen­tina im geheimnisvollen Reich
sonderbar geschriebene Manuskripte zu kopieren. Er gerät von Atlantis zu verschwinden. Seine Kollegen Konrektoren
damit in ein Niemandsland zwischen dem professionellen und Registratoren wähnen ihn dem Wahnsinn anheimge-
Schreib­wesen der Bürokratie und dem eigentümlichen Zau- fallen. Die letzten Seiten indes machen deutlich, dass das
berreich der Phantasie. Er will verzwei­feln angesichts der Unheimliche sich nicht so einfach stillstellen lässt: Der Autor
»seltsam verschlungenen Zeichen« und »bei dem Anblick teilt ein Billet mit, in dem Lindhorst ihn selbst auffordert,
der vielen Pünktchen, Striche und Züge und Schnörkel, die in jenes Bibliothekszimmer zu kommen, in dem Anselmus
bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schrieb. Dort soll er das Ende seines Textes, Anselmus auf
schienen«, doch fühlt er, je mehr er sich in die Überschrift seinem Rittergute in Atlantis, antreffen. Er ist geneigt, diese
der Pergamentrolle vertieft, »daß die Zeichen nichts anders wunderbare Vision ihrerseits den Künsten des Salamanders
bedeuten könnten als die Worte: Von der Vermählung des zuzuschreiben: »herrlich war, daß ich sie, als alles wie im
Nebel verloschen, auf dem Papier, das auf dem violette- 89
nen Tische lag, recht sauber und augen­scheinlich von mir
selbst aufgeschrieben fand.« Verheißung und Verhängnis
der Ausliefe­rung an die Schrift liegen nahe bei einander. In
Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (Teil des ersten Bandes
der Serapions-Brüder, 1819) meint zwar der Protagonist Elis,
er allein verstehe »die geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle
Schrift, die die Hand der Königin selbst hineingrabe in das
Steingeklüft«, und er vermöge den in der Tiefe liegenden
Almadin, »auf den unsere Lebenstafel eingegraben«, seiner
Braut zu schenken – doch wenig später schon hat ihn der Berg
bei einem Einsturz der ganzen Grube in sich begraben.311
Die erhabene Schrift, von Gott herstammend, ist ins Ver-
borgene zurückgesunken – aus dem sie nur momenthaft und
bruchstückhaft wieder hervorzuholen ist. Der schwäbische
Arzt und Dichter Justinus Kerner bemüht zu diesem Zweck
den Mesmerismus/Magnetis­mus und die Geisterkunde. In
seiner Geschichte zweyer Somnambülen (1824) versucht er,
die andere, höhere Welt durch die Medien der Vision und
der Schrift hindurch fassbar zu machen, ohne sie tatsächlich
lesen können. Als Bericht seiner Patientin Christiana Käpp­
linger hält er fest: »Schon nach den ersten magnetischen
Strichen, die ich heute erhielt, erschien vor dem Spiegel auf
meiner Herzgrube ein ganz sonderbares Buch, aber zuerst Abb. 63 Justinus Kerner, Die Seherin von Prevorst, 3. Aufl., Stuttgart,
nur dunkel, jetzt liegt es hell vor mir aufgeschlagen, allein ich Tübingen 1838, Anhang
kann es nicht lesen, denn es hat ganz eigene, von mir noch
nie gesehene Buchstaben, nur sein erstes Blatt vermag ich zu
lesen, auf diesem steht in deutscher Sprache: Geisterschrift
– Sein Band ist wie von weißem Sammet, die Buchstaben In der Abarbeitung an den Rudimenten einer erhabenen
sind wie silberhell. Sie strengte sich nun sehr an, die Buch- Schrift drängen sich aber auch die literarischen Texte selbst
staben dieses Buchs entziffern zu können, und lag lange in den Vordergrund. In Kleist kurzer Anekdote Der Griffel
tief nachsinnend und eiskalt da, allein es gelang ihr nicht« Gottes (1810) verwandelt sich nicht nur eine aus scheinbar
(S. 91f.).312 Für Friederike Hauffe in Die Seherin von Prevorst dauerhaftem Erz gegossene Grab­ inschrift durch einen
(1829) kann Kerner dann immerhin »Proben ihrer inneren Blitzschlag in ein scheinbar göttliches, aber nur durch
Schrift« mitteilen: einer Buchstaben-Zahlen-Schrift, in der ›Zusammen­lesen‹ erkennbares Urteil (»Sie ist gerichtet«).
die kabbalistische Sprachmagie nachklingt.313 Hier verwandelt sich auch ein Bericht über ein Schriftereignis
90 in eine »Metapher der Grabschrift selbst. Der ›Griffel‹ ist das sowohl dem Sammeln der auf Blättern oder Rollen vorlie-
Grab, das Zeichen, die Schrift und die Inschrift selbst.«314 In genden Lieder wie der Herstellung des Manuskripts breiten
Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1842) gibt erst Raum. Auch hier aber deutet sich an, dass es Dinge gibt,
der letzte Satz eine Übersetzung der in den Baum gehauenen die der Schrift selbst nicht zugänglich sind: die anonyme
hebräischen Inschrift, eine Über­setzung indes, die keines- Volkspoesie etwa. Ihre Existenz scheint nur gelegentlich auf –
wegs alle Rätsel löst, vielmehr neue Schleifen und magische bei einem alten Sänger, der zwar noch lesen, aber nicht mehr
Effekte erzeugt: »Wenn du dich diesem Ort nahest, so wird schreiben kann. Sein »ledernes Ränzchen voll verblichener
es dir ergehen, wie du mir getan hast.«315 und abgegriffener Lieder­büchlein« wird von Hadlaub nicht
Historistisch erscheinen die alten Schriftstücke im realisti- für seine Sammlung genutzt. Die idealisierte Vergangenheit
schen Erzählen. Eine unbekannte Tacitushandschrift sucht zeigt sich gleich auch gebrochen – durch Distanz, Ironie und
der Philosophieprofessor Felix Werner in Gustav Freytags leise Tragik. Alle Archivierung, das scheint aus Erzählungen
Gelehrtenroman Die verlorene Handschrift (1864). Er wie diesen hervorzugehen, macht immer auch auf die Gren­
bekommt es nicht nur mit Intrigen, sondern auch mit Fäl- zen des Archivierbaren aufmerksam. Die Gleichung von
schungen zu tun. Die beiden Pergamentblätter, die er in Schrift und Leben funktioniert nur im emphatischen, nicht
einem Schlossturm auftreibt, halten der wissenschaftlichen im faktischen Sinne. Die Literatur lebt zwar von der Schrift,
Prüfung nicht stand: »die Lesarten des ersten Floren­tiner doch die Schrift ist zugleich dasjenige, das die Literatur vom
Kodex, sogar die Eigentümlichkeiten seiner Orthographie Leben abschneidet. Es bleibt die Sehnsucht, die Verschrift-
sind mit einer ängstlichen Genauigkeit, welche jedem alten lichung des Lebens mit einer Verlebendigung der Schrift zu
Abschreiber unmöglich gewesen wäre, auf diese Blätter verbinden – Kellers grüner Hein­rich träumt davon, nachdem
nachgezeichnet« (V,1). Am Ende findet Werner zwar in er seine Jugendgeschichte zu Papier gebracht hat, »das Dasein
einer Höhle neben seiner Gattin auch die Handschrift wie- Gottes« in die Brust des liebsten Freundes, »ein köstliches
der – doch nur die Einbanddeckel, der Inhalt selbst bleibt Pergament«, zu schreiben oder »es mit seinem eigenen Blute
verschollen. Das Gelehrtenphantasma macht nun dem [zu] besiegeln« (Erstfassung 1853–55: III,6).
familiären Fortpflanzungs­traum Platz – oder findet sich in Diskrepanzen u n d Kongruenzen also von Leben und
diesem aufgehoben, ist doch die Zukunft der beiden auf den Schrift – aus ihnen resultiert eine stille Melancholie, in der
letzten Seiten geborenen Gelehrtenkinder vorgezeichnet: Ihr aber auch eine magische Verheißung wirkt: die Verheißung
»werdet eure ersten Reitübungen auf Folianten anstellen, einer Nähe zwischen Dingen und Worten nicht aufgrund
euren ersten Helm und eure erste Schürze werdet ihr aus von Emphase, sondern von sprachlich purifizierter Gegen-
Korrekturbogen eurer Väter anfertigen, früher als andere ständlichkeit. Die Handschrift, die in Adalbert Stifters Die
werdet ihr mit heimlichem Bangen auf die Bücher schauen, Mappe meines Urgroßvaters (in: Studien, Bd. 3, 1847) im
die eure rosige Jugend umstehen.« Zentrum steht, ist zwar keine mittelalterliche, aber nicht
Wie Kinder zu Schreibern werden und zugleich ihr per- weniger kostbar: das Pergamentbuch des Urgroß­ vaters,
sönliches Glück finden, zeigt Gottfried Kellers historische eines berühmten Arztes, geschrieben in einer alten krausen
Novelle Hadlaub (1878). Sie erzählt von der entscheidenden Kursive mit »starken Schattenstrichen«, »schlecht aus la-
Rolle des Zürchers Johannes Hadlaub bei der Entstehung teinischen und deutschen Buch­staben gemischt«, aber mit
der berühmten Manessischen Liederhandschrift und widmet schönen Initialen und roten Titeln versehen.316 Das Buch
taucht auf dem Speicher unter dem Plunder auf und bewahrt Mechaniken des Schreibens 91
wie dieser die (Leidens-)Spuren eines vergangenen Daseins.
Sein roter Lederdeckel ist von einer dicken Staubschicht In der gleichen Zeit, in der die Realisten den Zauber der
bedeckt, die Schrift teil­weise zerflossen und unleserlich ge- Dinge in den Zauber der Worte zu bannen versuchen, kommt
worden. Es fügt sich in eine Reihe von Erinnerungs­büchern es zu gravierenden Veränderungen in der Ordnung des
ein, die sich alle des gleichen Mittels der Lebensbewältigung Schrei­bens selbst. Um 1850 hat das auf der handschriftlichen
durch Schreiben und Lesen bedienen: »Es besteht darin, daß Wort-für-Wort-Übertragung beruhende System der Kanz-
einer sein gegenwärtiges Leben, das ist, alle Gedan­ken und leien seine umfassende Mittlerfunktion verloren. Wie eine
Begebnisse, wie sie eben kommen, aufschreibt, dann aber Allegorie dieser Situation wirkt es, wenn Herman Melville
einen Umschlag darum siegelt und das Gelöbnis macht, die in seiner Erzählung Bartleby (1853) einen Schreiber ins Zen-
Schrift erst in drei bis vier Jahren aufzubrechen und zu lesen« trum stellt, der mit seiner Arbeit eins ist, der Lettern vertilgt
(S. 417). Von dieser Praxis zeugen im Buch des Doktors noch wie andere Kekse, der als Aufzeichnungsmaschine fungiert,
die Verwundungen des Pergaments dort, wo Gruppen von bei der alle menschlichen Störungen ausgeschlossen sind – ein
Blättern mit dem Messer durch­stochen und mit roten und Phantasma mechanischer Reproduktion, das aber als solches
blauen Seidenbändchen zusammengebunden waren – jene kenntlich wird: Bartleby erweist sich als inneres Hemmnis
Bändchen, welche die Liebe des Schreibenden in das Medium der Aktenausfertigung und -vervielfältigung. Er kopiert
der Erinnerung einwoben. Dieser liebevollen Rückwendung schließlich keine Buchstaben mehr, sondern verkörpert das
aufs Vergangene ist aber auch schon ihre Vergeblichkeit Prinzip des ›dead-letter-office‹ selbst. »Als Figur der toten
eingeschrieben. Das Lesen ist mühsam und kommt an kein Buchstaben unter­liegt er ihrer tödlichen Bestimmung. Der
Ziel. Vieles ist übrig, das der Urenkel gar nicht mitteilt und Kanzlist regrediert zum cancellus, wird Schranke, verbringt
seinerseits vor allem als wahrhaftiges Zeugnis und stummes Tage auf einem bannister, einem Treppengeländer sitzend.
Bild des Geschehenen betrachtet: »Oft waren ganze Abtei- Der Sprechakt der Cancellierung beginnt, sich gegen ihn zu
lungen in das fahleste Eisen­ockergelb geschossen, indessen richten. Der Satz vertilgt den Sprecher.«317
oft Randbemerkungen aus späteren Zeiten mit dem glän- Die Schnelligkeit und Genauigkeit des Kopierens, die
zendsten Schwarz dastanden, wie übermütige Ansiedler und Bartleby ursprünglich auszeichnete, hat nicht zuletzt mit
Anbauer, welche die armen Ureinwohner fast zu verdrängen einem neuen Gerät zu tun. Um 1850 hat die Stahlfeder
strebten. Auch ist die Handschrift oft sehr schwer zu entzif- überwiegend die natürlichen Federn abgelöst. Sie ermög-
fern. Wie gewöhnlich, und nur für ihn geschrieben manches licht längere Haltbarkeit, größere Gleichmäßig­ keit und
auch ist, so ist wieder vieles lieb und schön und oft wahrhaft höhere Schreibgeschwindigkeit – so zumindest in den
erhebend« (S. 576). Werbeblättern der zeitge­ nössischen Hersteller. Friedrich
Niezsche, wegen seines Augenleidens für alle Hilfsmittel
aufgeschlossen, schreibt am 5. Juli 1882 an seine Schwester:
»Bitte, um Himmels Willen: Stahlfedern!«318 In Scherz, List
und Rache, dem »Vorspiel in deutschen Reimen« zur Geburt
der Tragödie (1882), formuliert er seine Situation ironisch
(Nr. 59): »Die Feder kritzelt: Hölle das! | Bin ich verdammt
92 zum Kritzeln-Müssen? — | So greif’ ich kühn zum Tinten- Modelle) verloren die Kinderkrankheiten schnell an Ge-
fass | Und schreib’ mit dicken Tintenflüssen. | Wie läuft das wicht. Brockhaus’ Konversations-Lexikon kann 1895 unter
hin, so voll, so breit! | Wie glückt mir Alles, wie ich’s treibe! dem Stichwort ›Schreibmaschine‹ (14. Aufl., Bd. 14, S. 613)
| Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit — | Was tut’s? Wer festhalten, jeder lerne mit ihr »in kurzer Zeit leicht, schnell
liest denn, was ich schreibe?« und, da die Schrift nicht mehr individuell ist, absolut schön
Zu diesem Zeitpunkt hat er sich aber schon auf eine noch und deutlich schreiben, wodurch die für den geschäftlichen
spektakulärere Erfindung eingelassen: eine Schreibkugel, eine Verkehr so wichtige Sicherheit der Mitteilung durchaus
der Varianten der frühen Schreibmaschinen.319 Im Februar verbürgt ist. Die Leistung eines geübten Maschinenschrei-
1882 schafft er sich, um dem ›Krikelkrakel‹ der Handschrift bers beträgt […] das Zweieinhalb- bis Dreifache des Hand­
zu entgehen, eine dänische Malling Hansen an. Das schrei- schreibers. Ein weiterer Vorzug der S. besteht darin, daß
bende Denken, das ihm früh schon Mittel war, die noch Gelähmte, die nur noch einen Finger brauchen können,
nicht erfundene Maschine zu ersetzen, die »unsre Gedanken Blinde und Schreibkrampfbehaftete zu schreiben im stande
auf irgend einem Stoffe, unausgesprochen, ungeschrieben, sind, und daß auch jugendliche und billige Hilfskräfte mit
abzuprägen« vermöchte,320 es verlegt sich auf die nun­mehr, nicht ausgeschriebener Handschrift zu geschäftlichen und
zunächst für Blinde und Taubstumme, erfundene Maschine. amtlichen Schreibarbeiten herangezogen werden können.
Sie leistet zwar keine unmittelbare Registratur, verspricht […] Gegen­über der Ansicht, daß nur Abschreibearbeiten
aber immerhin deren Erleichterung. Doch sie funktio­niert vorteilhaft mit der S. herzustellen seien, wird von geübten
nicht wie erhofft: Die Typenstangen sind verbogen, die Maschinenschreibern allgemein versichert, daß die Denk-
Zeilen handschriftlich zu ergänzen, das Farbband hält nicht arbeit beim Arbeiten an der S. leichter von statten gehe, als
lange, auf manchen Blättern ist wenig zu erkennen. Nach beim Schreiben mit der Feder.«
sechs Wochen, fünf Reparaturen und insgesamt 33.610 Tas- Etwa zur gleichen Zeit rückt die Schreibmaschine auch
tenanschlägen gibt Nietzsche den Versuch auf. Es bleibt bei schon ins Zentrum eines Romans. In Bram Stokers Dracula
einem kleinen Konvolut mit Fingerübungen, Briefen und (1897) tippt Mina die handschriftlichen Tagebücher der
Texten experimenteller Art. Zum Beispiel ein ebenso ambi- verschie­de­
nen Beteiligten mit mehreren Durchschlägen
tiöses wie bizarres, handschrift­lich ergänztes Titelblatt, das ab, so dass für die entschei­dende Phase der Vampirjagd alle
noch ältere Erscheinungsformen von Schrift anklingen lässt: über den gleichen Kenntnisstand verfügen. Zum Einsatz
»500 AUFSCHRIFTEN | AUF TISCH UND WAND | FUER kommt auch die Stenographie, von der man sich erhoffte,
NARREN | VON | NARRENHAND«. Oder ein Subjekt und die Vorteile der Schreibmaschine noch einmal zu steigern:
Maschine selbstreflexiv zusammenspannendes Kurzgedicht: Rudolf von Freydorf berichtet 1908 von einer in der ersten
»SCHREIB­KUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON Hälfte des 19. Jahrhunderts erfundenen ›Schnellschreibma-
EISEN | UND DOCH LEICHT ZU VERDREHN ZUMAL schine‹, die Elemente des Telegraphen und des Akkorde-
AUF REISEN. | GEDULD UND TAKT MUSS REICHLICH ons in sich vereinte.321 Der Phonograph wiederum, der in
MAN BESITZEN | UND FEINE FINGERCHEN, UNS ZU Dracula ebenfalls eine prominente Rolle spielt, ermöglicht
BENUETZEN.« eine Echtzeit-Registratur, doch müssen die auf ihm herge-
Nicht für Nietzsche, wohl aber für viele andere Benutzer stellten Aufzeichnungen ihrerseits erst durch Trans­kription
(etwa der nicht mehr mit Kugel operierenden Remington- verfügbar gemacht werden. Da dies alles noch nicht genügt,
werden die Formen der Nahkommuni­kation durch solche 93
der Fernkommunikation ergänzt: Telegraphie und Telepa-
thie. Nur so scheint man des Numinosen habhaft werden
zu können, das in dem sowohl toten wie untoten Dracula
liegt, das aber mindestens ebensosehr in den sowohl morti­
fizierenden wie vivifizierenden Prinzipien der Zirkulation,
Ausbreitung und Über­tragung selbst liegt. Es entsteht das
Bild einer Mediensituation, in der alte und neue Praktiken,
manuelles und maschinelles Schreiben, konkrete und me-
taphorische Graphien inter­ferieren – wirksam zwar, aber
auch Zweifel säend, was am Ende von der Wahrheit der
Überlieferung bleibe.
An der Schreibmaschine lassen sich mit den Verheißungen
und Gefährdungen der neuen Technik auch die Chancen und
Probleme der alten diskutieren. Unter den frühen Entwürfen
eines filmischen Schreibens, die Kurt Pinthus 1913 in seinem
Kinobuch versammelt, findet sich der Beitrag Leier und
Schreibmaschine von Richard A. Bermann. In ihm erzählt
»ein kleines braunes Schreibmaschinenmädchen« ihrem
Freund von einem gerade gesehenen märchenhaften Film,
in dem es seinerseits um das Schreiben geht: Ein Dichter hat
Mühe, etwas zu Papier zu bringen. Er geht ins Café, begegnet
einer blonden Muse, folgt ihr und steht schließlich vor einer
Tür: »MINNIE TIPP | Schreibmaschinenbureau | Abschriften
literarischer Arbeiten | Diktat«. Er diktiert ihr: »›Mein Fräu-
lein, ich liebe sie!‹ Sie schreibt es, und die Schrift wird auf
der weißen Wand gezeigt. Aber sie wirft ihm den Wisch vor
die Füße, setzt sich wieder und schreibt: ›Ich habe keine Zeit
für müßige Flaneure. Wenn Sie literarische Arbeiten haben,
kommen Sie wieder.‹« Er bemüht sich, etwas zu produzieren,
holt viel Papier, kaut aber nur den Federhalter ab. Erst als Abb. 64 von Freydorf: »Eine Stenographiermaschine«, in: Süd-
Amor aus seinem Köcher das sterile Tintenfaß des Dichters deutsche Monatshefte 5 (1908), S. 318–323
füllt, kommt die Feder in Bewegung: »jetzt läuft sie ganz
von selbst. Kaum hat die Feder das Papier berührt, so ist es
mit den herrlichsten Versen beschrieben und flattert davon.
Gleich ist das ganze Zimmer voll von Manuskripten.« Er
94 diktiert sie Minnie. Und diesmal stehen die verschiedenen gilt ihm das Schreiben als anspruchsvolles Handwerk, ja als
Techniken und Haltungen nicht mehr der Kommunikation Vereinigung vieler Handwerke. Den Schüler Fritz Kocher
der Seelen entgegen. Das Maschine­schreiben löst sich vom lässt er nicht ohne Ironie sogar die Tätigkeit des Bürogehilfen
Bürokratisch-Reproduktiven und wird zum Liebesakt: »Sie poetisch verklären: »Beim Ansetzen der Feder zaudert ein
schreibt mit langen spitzen Fingern, aber sie blickt nicht auf tüchtiger Commis einige Augenblicke, wie um sich gehörig
die Maschine und macht keine Zwischenräume zwischen den zu sammeln, oder wie um zu zielen wie ein kundiger Jäger.
Wörtern. Sie tanzt auf der Maschine einen Liebestanz. Es Dann schießt er los, und wie über ein paradiesisches Feld
ist ein stummes Duett. Er ist ein sehr glücklicher lyrischer fliegen die Buchstaben, Worte, Sätze, und ein jeder Satz hat
Dichter. Er geht stürmisch heim.« Als er jedoch mit den die anmutige Eigenschaft, meist sehr viel auszudrücken.«325
fertigen Texten auch eine hohe Rechnung erhält, verkauft er Siegfried Kracauer erzählt 1927 in der in der Frankfurter Zei-
seine Manuskripte dem Käsehändler und unternimmt einen tung erschienenen Geschichte Das Schreibmaschinchen von
Selbstmordversuch – gewinnt aber schließlich, von einem einer Liebes­beziehung zwischen dem Schriftsteller und sei-
Verleger für seine Dichtungen bezahlt, doch die Stenoty- ner Maschine. Ganz gebannt ist er von ihr, füllt große Bögen
pistin, die er sich nun »für Stunden, Tage und Ewigkeiten mit Zahlenkolonnen, Buchstabenbildern und Schriftfiguren
mieten« kann. Die Erzählerin schließt daraus auf die erziehe- ohne Sinn, klimpert schließlich, als »gingen die Tasten von
rische Wirkungen der Frauen, ihr Freund hingegen auf »die selber weiter«, nur noch vor sich hin. Doch die Reparatur
geistigen Gefahren der Schreibmaschine«: Der Film »wird einer winzigen Taste, des Accent grave, genügt, den Zauber
den Dichtern zeigen, daß diese verfluchte Schreibmaschine zu zerstören. Der prosaische Umgang des Mechanikers mit
sie tüchtig macht und die Frauen kalt.«322 der Maschine fördert »ihre eigene, kontingente Mechanizität
Die neuen Möglichkeiten des (Ab-)Schreibens ermöglichen zu Tage«.326 Die Maschine wird wieder zum Ding. Das auf
es zwar, wie Alfred Polgar 1922 ausführt, das Medium des ihr Geschriebene hat keinen emphatischen Charakter mehr.
von Hand schreibenden und mit Körper wie Geist kämp- »Meine Freunde sind zufrieden mit mir, weil sie die Schrift-
fenden Schriftstellers auszuschalten oder allemal durch- stücke verstehen.«
lässiger zu machen.323 Doch sie stehen auch im Ruch der Der Blick auf die Exzesse lässt die Gegebenheiten des
Entauratisierung. Sie machen eben das, worin eine Existenz Normalen schärfer hervortreten. An den Praktiken des
sich verkör­pert, zum technischen Vorgang. Sie unterwerfen Aufzeichnens macht Stoker das Erkennen des sich dem
den Menschen der Eigendynamik der Maschine. Sie tilgen Begreifen Entziehenden, aber von den Rändern Eindrin-
das Spurhafte des Schreibvorgangs. So zumindest die Sug- genden zum Faszinosum. An den Formen des Einschreibens
gestion man­cher Texte, die ihrerseits, indem sie den Verlust umkreist Franz Kafka das blitzartige Moment des Erken-
der Aura des Schreibens beschwören, munter an der Reau- nens, das dort auftritt, wo das Vertraute sowohl außer Kraft
ratisierung arbeiten. Robert Walser, »der Schreibkünstler mit wie erst eigentlich in sein Recht gesetzt scheint. Die kurze
der kalligraphisch ambitionierten Kanzleischrift«, bekennt, Erzählung Ein Traum aus den Paralipomena zum Process
den Gebrauch der Schreibmaschine immerhin gedanklich (zuerst gedr. 1916) schildert, wie Joseph K. auf den Friedhof
in Erwägung gezogen zu haben – wenn auch nur in einem gerät und Zeuge eines eigentümlichen Eingravierungsaktes
sozial und ästhetisch trivialen Kontext: um »Unteraufsehe- wird: Ein Mann schreibt in gespreizter Haltung mit einem
rinnen herzgewinnende Briefe zu schrei­ben«.324 Ansonsten gewöhn­lichen Bleistift Buchstaben auf den Grabstein (»Hier
ruht –«). ­Plötzlich erscheinen die Buchstaben »rein und scheinens und Verschwindens. Subjektivität, Intensität und 95
schön, tief geritzt und in vollkommenem Gold«. Doch das Momentaneität verschränken sich. Hugo von Hofmannsthal
Weiter­schreiben stockt, der nächste Buchstabe, ein J, entsteht beschreibt in seiner kurzen Erzählung Das Glück am Weg
blaß und unsicher. Erst als K. ins Grab sinkt, ›erfüllt‹ sich die (1893) die visuelle Erfahrung eines Ich, das von seinem
Schrift, ohne dass es den Künstler noch bräuchte: »Während eigenen Schiff ein anderes vorbeiziehen sieht und durch
er aber unten, den Kopf im Genick noch aufgerichtet, von der sein Fernglas »einen bestimmten Fleck des fremden Schiffs
undurchdringlichen Tiefe aufgenommen wurde, jagte oben ganz nahe, fast unheimliche nahe« wahr­nimmt, ohne ihn
sein Name mit mächtigen Zieraten über den Stein. | Ent­zückt aber genauer bestimmen zu können. Erst am Ende, als das
von diesem Anblick erwachte er.« Vordergründig ein Büro- Schiff schon im Verschwinden ist, erkennt er, um was es
kratentraum: Un­schein­bare Bleistiftnotizen gewinnen erha- sich handelt: »Es waren vergoldete Genien, goldene, an das
bene Form, Schreibschrift verwandelt sich in Druck­schrift, Schiff geschmiedete Geister, die trugen auf einem Schild in
ein Name wird bedeutsam durch goldene, bewegliche, sich blinkenden Buchstaben den Namen des Schiffes: ›La For-
selbst schreibende Lettern. Tatsächlich eine Inszenierung tune‹ …«. Erst die sich entziehende Schrift markiert den
der Paradoxien der Schrift: Die Transformation des Banalen Moment als einen des Glücks. Erst sie lässt eine Gegenwär-
ins Auratische erweist sich als gebunden an ein Subjekt, das tigkeit erkennen, deren Intensität darin liegt, dass sie nicht
in seinem Namen (Joseph K.) den Namen des biblischen dauert.328 Rainer Maria Rilke entwirft in seinen Aufzeich-
Traumdeuters mitführt und sich selbst zugleich innerhalb nungen des Malte Laurids Brigge (1910) ein schreibendes
und außerhalb des Traums befindet. Die gewundenen Wege und genau registrierendes Subjekt, dem aber auch genau in
des Subjekts lassen sich schon eingangs auf eine Schreibbe- seinem Schreiben nicht nur die Selbstvergewisserung winkt,
wegung beziehen, die zunächst konkret wird und dann in sondern auch die Selbstentfremdung droht. Die Hand wird
der Inschrift, im Grab, im Tod ihr Ziel findet. Der Tod, der zu einem fremden Körperteil. Sie agiert eigenmächtig, aus
mit dem Erwachen zusammenfällt, repräsentiert aber auch der Wand kommt ihr eine noch nie gesehene andere Hand
die Grenze, die sich zwischen der Verwandlung der Schrift entgegen: »es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit
und dem Begreifen der Verwandlung befindet. Erst in ihm von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde,
erlangt die tote Schrift eine ›lebendige‹ Größe. In ihm ist sie wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der
als ganze da und in einem aus der Zeit herausfallenden Mo- anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort
ment erkennbar. In ihm zeigt sie sich in jenem selbsttätigen auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken
Vollzug, den die ältere Tradition dem Göttlichen zuordnete, sich auflösen und wie Wasser niedergehen.« Das Subjekt
und jenem Bezug auf den Gottes­namen, der als unaussprech- hat den Eindruck, es sei etwas Unerhörtes da, »das mich
licher in der Schrift aufscheint und doch nicht da ist: Das J, nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf. […]
an dem das Schreiben stockt, ist im Hebräischen das Jod, mit Wie ein leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang, den
dem das Tetragrammaton (JHWH) beginnt.327 Boulevard wieder hinauf«.329 Gustav Meyrink, der mystische
Die Aura der Schrift verflüchtigt sich also nicht einfach im Übungen durchführte, bei denen auf der Haut buchsta-
Mechanischen. Sie wirkt zumindest in der Literatur und benförmige Reizungen sichtbar wurden,330 lässt im Golem
Kunst fort, doch bezogen nun einerseits auf Subjekte und (1915) seinen Protagonisten erleben, wie ein Pergamentbuch,
deren Wahrnehmungen, andererseits auf Formen des Er- dessen goldene I-Initiale (s. Tory) er restaurie­ren soll, ihn so
96 in seinen Bann zieht, dass er in eine fremde Welt einzutreten das ornamental-graphische: der eigentliche Spruch bildet
meint. Am Ende hat er das Gefühl, »als hätte ich suchend in nur einen schmalen Gürtel inner­halb eines Labyrinths von
meinem Gehirn geblättert und nicht in einem Buche«. Die ›Zieraten‹.332 Der Reisende hat denn auch den Eindruck, »die
Unterscheidung von Buchwelt, imaginierter und realer Welt Macht der früheren Zeiten« zu verspüren. Doch eben diese
verfließt. Eine geistige Krankheit droht. Das Buch wird in Zeiten, in denen das vom ersten Kommandanten der Kolonie
die Schublade gesperrt. Doch eine Rückkehr zur verlorenen ersonnene Verfahren blühte, sind vorbei. Der Einzige, der
Sicherheit winkt nur, wenn es möglich wäre, »das, was mit die Maschine noch perfekt versteht, vermag sie nurmehr an
feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert sich selbst zu demon­strieren – und scheitert darin: Die Egge
ist«, zu entziffern, oder sich zurück­zubewegen in die Tage beschreibt ihn nicht, sondern ersticht ihn bloß. Das Wunder-
der Jugend, »wenn ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter werk existiert schließlich nur noch als Ursprungsmythos einer
Reihenfolge vornähme von Z bis A um dort anzulangen, wo verfemten Gemeinschaft, die den Kommandanten als Messias
ich in der Schule zu lernen begonnen«.331 verehrt und seine Wiederkehr erwartet. Zumindest ist es das,
Nicht mehr der tötende Charakter der Buchstaben, sondern was der Reisende am Ende in kleinen Buch­staben auf einem
deren phantastische, unheim­liche, totalisierende Ei­gen­­dyna­ unscheinbaren Grabstein liest – was aber, obschon von allen
mik beschäftigt eine Moderne, die sich der Unhin­ter­gehbarkeit belächelt, genau jene Macht zur Geltung bringt, welche die
der Schrift bewusst geworden ist. Einschrei­bungen sind für Schrift wirklich auszeichnet: Latenz zu ermöglichen, aus der
sie Schreibprozesse, die als fremde Mächte im eigenen Innern einflussreiche Prophezeiungen erwachsen können.333
das Subjekt bestimmen. Sie dienen ihr als kontrastive Muster
gegenwärtiger Schriftpraktiken, als Hintergründe einer tech-
nisch, bürokratisch und juristisch geprägten Welt, die ihre Neue Graphien
Transzendenzbezüge gekappt oder verwischt sieht. In Kafkas
Erzählung In der Strafkolonie (entstanden 1914, veröffentlicht Die Schriftmaschine der Strafkolonie ist, so archaisch man-
1919) besitzt zwar der als Strafe ersonnene Einschreibemecha- che ihrer Komponenten wirken, eine durchaus moderne.
nismus von vornherein seine eigene Rationalität. Doch diese Sie zielt auf ein Erkennen der Logik der Strafe. Und sie
Rationalität ist zugleich durch den Kontext, eine Tropen­insel beruht auf einer ausgeklügelten Automatik, deren Kern ein
unter sengender Hitze, ein im Niedergang befindliches Sys- Übertragungsvorgang bildet: Geschriebene und gezeich-
tem, ein seinerseits fremder Beobachter, eingeklammert. Eine nete Vorlagen werden in die Maschine eingelegt und von
komplex konstruierte Maschine schreibt mit einer Egge den ihr selbstständig in Bewegungen umgesetzt. Damit klingt
Urteilsspruch auf den Körper des Verurteilten und schreibt einerseits die Mechanisierung des Buchstaben­ schreibens
dabei so langsam, dass der Verurteilte, dem sein Urteil zu- an. Andererseits scheint die Möglichkeit von Graphien auf,
vor nicht mitgeteilt wurde, in der Lage ist, die Schrift, ohne in denen ›natürliche‹ Gegebenheiten ohne die Brechung
sie zu sehen, an sich selbst zu entziffern. Diese Maschine durch alphabetische Schriften, menschliche Codierun­gen
vereint verschiedene Momente älterer Schriftlichkeit in sich und Symbolisierungen zum Ausdruck kämen. Das 19. Jahr-
– das transzendente: eine höhere Macht schreibt sich in den hundert entwickelte eine enorme Fülle solcher Graphien:
menschlichen Körper ein, das performative: die Bedeutung neue Techniken des Aufschreibens, Aufzeichnens und
des Eingeschriebenen enthüllt sich erst sukzessive im Vollzug, Registrierens.334 Schon Ernst Florens Friedrich Chladni un-
ternahm es um 1800, durch runde Scheiben aus Blech oder 97
Glas Schwingungen im Sand sichtbar zu machen.335 Diese
ornamentalen Klang­figuren, in Kupferstichen abgebildet und
systematisiert, elektrisier­ten die Zeitgenossen, weil sie nicht
einfach Schallwellen abbilden, sondern diese dazu bringen,
sich gewissermaßen, wie Novalis sagt, »selbst abzudrucken
– zu chiffriren – auf eine Kupfertafel zu bringen«.336 Damit
schien gerade das Unzureichende einer analogen Aufzeich­
nungsform, wie die Schrift sie bietet, aufge­hoben, ihre Un-
möglichkeit, Bewegung einzufangen: »Keine menschliche
Kunst vermag das Fließen eines mannigfaltigen Stroms […]
mit Worten fürs Auge hinzuzeichnen, – die Sprache kann
die Veränderungen nur dürftig zählen und nennen, nicht
die aneinander­hängenden Verwandlungen der Tropfen uns
sichtbar vorbilden.«337
Da allerdings auch die Experimente Chladnis immer b e -
s t i m m t e Töne visualisieren, können auch sie das Nicht-
Diskrete nicht wiedergeben.338 Es ist deshalb in tieferer
Weise wahr, wenn Novalis die Klangfiguren als »Figurirte
Schallbewe­gungen wie Buchstaben« bezeichnet339 – sie
unter­liegen ähnlichen Einschränkungen wie die Schrift. In
ihnen spiegelt sich damit das Problem der musikalischen
Aufzeichnung. In den Ahnungen aus dem Reiche der Töne Abb. 65 E.T.A. Hoffmann, Kapellmeister Kreisler mit Partitur der
(1814) betrachtete E.T.A. Hoffmann die Notenschrift ›Undine‹, 1815; Bamberg, Staatsbibl., I R 65
noch als Chiffrenschrift und die musikalische Partitur als
»Zauberbuch, welches die geheimste Sprache der Natur
geformt und gestaltet im Leben festhält, dass sie willkürlich
und vernehmbar ertönt.« Bei der Überarbeitung des Textes künstliche Anreihen der Hieroglyphe erhält uns nur die
zu Johannes Kreislers Lehrbrief (1816) betonte er dagegen Ahnung dessen, was wir erlauscht.«340
die Klänge, die nicht zu Schrift werden können: »Bei der Auf die Einschränkungen der Schrift reagierten die neuen
individualisier­ten Sprache waltet solch innige Verbindung Aufzeichnungsformen. Teilweise benutzen sie alte Mittel.
zwischen Ton und Wort, dass kein Gedanke in uns sich ohne Mit der Schilffeder füllt der grüne Heinrich (IV, 1) die große
seine Hieroglyphe – (den Buchstaben der Schrift) erzeugt, die graue Papierfläche auf seiner Staffelei: Aus einfachen Feder-
Musik bleibt allgemeine Sprache der Natur, in wunderbaren, proben in der Ecke erwächst ein Gewebe von Strichen und
geheimnisvollen Anklängen spricht sie zu uns, vergeblich Linien, Mustern und Motiven, ein Labyrinth, ungegenständ-
ringen wir danach, diese in Zeichen festzubannen, und jenes lich, dynamisch, unendlich, in dem sich ein momentaner
98 Zustand des Daseins zum Nieder­schlag bringt. Vor allem als geradezu magische Präsenz des Dargestellten erscheinen
aber sind es neue technische Mittel, die es unternehmen, die konnten. Frühe Berichte stellen die Photographie in die Nähe
Eigendynamiken der Natur ohne Umcodierungsprozesse zu archeiropoietischer, nicht von Menschenhand hergestellter
erfassen. Der französische Physiologe Étienne-Jules Marey Bilder oder Abdrucke, jener vera icon zum Beispiel, wie
entwickelt verschiedene Geräte, um kinetische Prozesse sie auf dem Schweißtuch der Veronika vorliegt. Das erste
des Körpers festzuhalten. Der Sphygmograph überträgt Photobuch, von William Henry Fox Talbot in den Jahren
die Bewegungen des Pulses, des Kreislaufs und der Herz- 1844–46 publiziert, trägt den Titel The Pencil of Nature.
klappen in Schreibbewegungen. Die Anwendbarkeit des Andere Autoren betonen, »daß erstmals die Sonne selbst zur
Verfah­rens auf letztlich alle messbaren Phänomene fasst das Künstlerin geworden sei: sie schreibe und zeichne mit dem
Buch von 1878 zusammen: La méthode graphique dans les Licht Bilder, die vollkommener sind, als es die Menschen-
sciences expérimentales et principalement en physiologie et hand vermöchte.«341 Oder auch zur Historikerin: Die Sonne
en médecine. Ausgangspunkt ist das, was die Wissenschaft wird »zum Geschichtsschreiber der Zukunft werden, durch
behindert: die Mangelhaftigkeit der mensch­ lichen Sinne die Genauigkeit ihres Stiftes ebenso wie durch die Präzision
und die Unzureichendheit der Sprache. Beides verspricht ihrer Aufzeichnung die Wahrheit selbst festhalten«.342
das graphische Ver­fahren aufzuheben. Es rückt in den Rang Die Photographie gilt als eine Form der Schrift – wie auch
einer zugleich alten und neuen Universalsprache: »Non pas die Wirklichkeit selbst, die von der Photographie auf neue
seulement cette admirable invention de l’écriture qui fixe sur Weise gelesen wird. So kommt es einerseits zu konkreten
la pierre ou sur le papier les signes conventionels du langage, Verbindungen zwischen Photographie und Schrift: Zum
mais le graphique naturel: celui qui, à toutes les époques et Beispiel werden die Abzüge unter­schrieben oder mit Wid-
chez tous les peuples, a représenté les objets de la même mungen und anderen Texten versehen – der Wiener Dichter
manière, qui nous permet de suivre sur les stèles d’Égypte Peter Altenberg ›umschreibt‹ eine von ihm angebetete
les scènes d’une civilisations disparue. Cette représentation Tänzerin in ähnlicher Weise wie hundert Jahre zuvor Blake
graphique, si elle s’appliquait à la représentation des idees seinen Laokoon.343 Andererseits stellen Schriftmetaphern
comme à la figuration des objets, constituerait la véritable allenthalben das neue Medium in einen Bezug zum alten.
langue universelle« (S. IV). Im Sinne einer ›Philologie des Auges‹344 schließen sie es an
Allerdings bedeutet die graphische Repräsentation immer dessen lange Geschichte an und erweisen es gleichzeitig
auch Abstraktion. Sie reduziert komplexe Gefüge auf Linien, als deren Erfüllung. Diese Erfüllung besteht nicht nur in
Kurven und Figuren. Sie übersetzt die Natur zwar in eine einem unerhört genauen Registrieren des Sichtbaren, des
nicht-zeichenhafte, nicht-alphabetische, aber doch in eine Unbeweglichen und Beweglichen, sondern auch in einem bis
diskrete, punktuelle Aufzeich­nung. Nicht so im Falle der dato undenk­baren Eindringen ins Unsichtbare. In den 1860er
Photographie, der sich auch Marey ab etwa 1880 zuwandte. Jahren soll ein Photograph die Erlaubnis erhalten haben,
Sie ermöglicht, dass sich die Natur in Form des durch die bei einem toten Mann, der aufgrund seiner Physio­gnomie
jeweiligen Rahmungen bestimmten Bildes auf dem lichtemp- überaus intelligent schien, das Gehirn, in hauchdünne La-
findlichen Medium selbst niederschlägt. Und sie gewinnt mellen zerschnit­ten, zu photographieren. Was er entdeckt
dabei einen Detailreichtum, eine Plastizität und Lebendig- haben soll: »Inschriften unterschiedlichster Sprachen und
keit, die im Falle der Daguerrotypien manchen Betrachtern unterschied­lichster Gestalt in größtem Durcheinander«345
Fluidal- und Strahlen­photographie, die auf das Sichtbar- 99
machen des Übersinnlichen gerichtet war.346 Es faszinierte
aber auch die Idee, natürliche und künstliche Formen durch
Abtasten zum Sprechen zu bringen: Rilke spielt 1919 in dem
Text Urgeräusch mit der Idee, die Kranznaht des mensch-
lichen Schädels habe »eine gewisse Ähnlichkeit mit der
dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phono­graphen
in den empfangenden rotierenden Zylinder des Apparates
eingräbt«. Dann wäre umgekehrt, indem man den Stift über
die Naht gleiten lässt, nicht eine graphische Übersetzung,
sondern eine natürliche Tonfolge zu gewinnen.347
Auch der Psychoanalyse geht es darum, aus Spuren das Un-
sichtbare und Unbewusste zu erschließen. Zwar versucht sie,
diese Spuren nicht einfach in Schrift, sondern in Erzählung
zu verwandeln. Als ihren Gegenstand aber kann sie durchaus
ein Gefüge, fassbar in Figuren der Schrift, begreifen. In der
Notiz über den »Wunderblock« (1925) bezieht Sigmund
Freud sich auf eine bei Kindern beliebte mit Wachsschicht
und Zelluloidblatt bedeckte Schreibtafel, auf der sich das
Geschriebene jederzeit wieder auslöschen lässt, ohne aber
völlig unsichtbar zu werden. Diese Art des Schriftträgers,
auf dem Schrift erscheint und verschwindet, bietet eine
Parallele zum »Aufleuchten und Vergehen des Bewußtseins
bei der Wahrnehmung«. Die Vorstellung der Schrift als Spur
veranschaulicht das Funktio­nieren des Gedächtnisses und
des Unbewuss­ten. Ja, sie führt sogar auf eine weitergehende
Analogie bezüglich der Instanzen des Einschreibens und
des Auslöschens: »Denkt man sich, daß während eine Hand
Abb. 66 Peter Altenberg, Photographie für Elsie Altmann-Loos, 1918; die Oberfläche des Wunderblocks beschreibt, eine andere
Wien, Historisches Museum, Inv. Nr. 94 872 periodisch das Deckblatt desselben von der Wachstafel ab-
hebt, so wäre das eine Versinnlichung der Art, wie ich mir
die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungs­ apparats
– ein Tod also durch Verwirrung der Zeichen, aufgedeckt vorstellen wollte.«348
durch ein Verfahren, das versprach, das Wirkliche und das Umgekehrt aber werden die Deutungen der äußeren und
Überwirk­liche besser lesbar zu machen, als dies die Schrift inneren Wirklichkeit nicht nur mit Hilfe der Schrift erläutert,
jemals vermochte. Deshalb faszinierte um 1900 die Geister-, sondern auch auf diese selbst angewandt. Die anagrammati-
100 schen Forschungen von Ferdinand de Saussure zielen darauf, Schrift in Bewegung
aus der indoeuropäischen und insbesondere lateinischen
Dichtung ein ursprüngliches historisches Wissen und eine Einerseits also viele und neue Aufzeichnungsverfahren, an-
allge­meine Theorie der Poesie zu entwickeln.349 Die Gra- dererseits dynamisierte Schriften und Schriftbegriffe – beides
phologie von Ludwig Klages und anderen setzt auf eine geht um 1900 Hand in Hand. Schon in der zweiten Hälfte
Korrelation von Schrift- und Persönlichkeits­merk­malen. des 19. Jahrhunderts waren in Bilderbüchern wie denen
Die Schrift gilt als dynamische Lebenserscheinung und als von Rodolphe Töpffer, Lewis Carroll oder Wilhelm Busch
Ausdrucksprinzip, bei dem innere, seelische und äußere, kör- pointierte Verschränkungen von Text und Bild geläufig ge-
perliche Bewegungen einander entsprechen. Das Ergebnis worden. Töpffer beschreibt in seinem Essai d’autographie
sind allerdings nur typische Charakterbilder. Die Grapho- (1842) das neue lithographische Verfahren, das er auch in
logie wird deshalb weiterentwickelt zu einer Beschäftigung seinen sieben Bildergeschichten zur Anwendung brachte und
mit der Handschrift nicht als kausaler Ausdrucks­bewegung, das ihm erst jene enorme Beweglichkeit von Bild und Text
sondern als manifester Spur einer Geste, die einerseits in ermöglichte, die für die Folgezeit prägend werden sollte.351
ihrer Bildlichkeit, andererseits ihrer Geschichtlichkeit zu Carroll, auch für seine ausdrucksstarken Photogra­ phien
analysieren ist. Mit den Worten Walter Benjamins: »Unmög- von Kindern und Erwachsenen bekannt, experimentierte in
lichkeit die Handschrift zu deuten, ohne eine Vorstellung seinen frühen Arbeiten mit graphischen Elemen­ten, die sich
von dem normalen Aussehn (Vorbild) der Buchstaben und in die Schrift hineinschieben: Er bildet eine angel­sächsische
Worte. Daher unmöglich, die Handschrift zu deuten, wenn Strophe in Runenschrift nach und zeigt einen Astrologen in
man sie auf den Kopf stellt. Daher keine bloße graphische goldenen Buchstaben einen schrecklichen Fluch auf eine ma-
Kurve der Impulse (wie beim Barometer etwa) sondern gische Rolle schreiben.352 In seinen (auch von Mathematikern
Auseinandersetzung mit einer virtuellen Vorzeichnung.«350 geschätz­ten) illustrierten Kinderbüchern stehen die Logiken
Auch die in dieser Zeit an antiken und mittelalter­lichen von Sprache und Bild zur Disposition. In den viktorianischen
Handschriften ausgebildete Paläo­graphie bezieht sich auf das Fabelbüchern von Walter Crane werden Text und Bild in
Spannungsverhältnis von Konventionalität und Individuali- so schillernde Beziehun­ gen versetzt, dass der erhobene
tät. Sie nimmt die Handschrift als Relikt vergangenen, durch Zeigefinger, der die Geschichten begleitet, weniger auf eine
Rekonstruktion wieder erschließ­baren Lebens und nutzt feste Lehre als auf das unerschöpfliche Reich der Phantasie
die photographischen und litho­graphischen Methoden, um aufmerksam zu machen scheint.353
Vergleichs­corpora aufzubauen. Ludwig Traube, Begründer In den 1890 publizierten, aber schon Jahrzehnte früher
der mittel­lateinischen Philolo­gie, sieht die Verheißung die- entstandenen Kleksographien von Justinus Kerner dient
ser Methoden darin, dass sie dazu beitragen, aus den toten ein Kinder- und Gesellschaftsspiel dazu, ›archeiropoi-
Schriftstücken lebendige Überlieferungszusammen­ hänge etische‹, ›hiero­ glyphische‹ Bilder zu erzeugen: Ein mit
zu gewinnen. Er rekonstruiert aber auch in seinem Buch Tinte beträufeltes Blatt wird gefaltet, und die sich daraus
Nomina sacra (1907) die fort­wirkende Macht des tabube- ergebenden Gebilde, Arabesken, Grotesken, Tier- und
setzten Gottesnamens anhand der Formen der Abkürzung: Menschenfiguren, inspirieren Gedichte, welche die Figuren
Sie scheinen gerade deshalb aussage­kräftig, weil sie zwischen auslegen oder weiter­spin­nen und in Handschrift und Druck
bewussten und automati­sierten Prozessen situiert sind. eine Einheit mit ihnen bilden: »Als ich vor dem Tinten­faß |
101

Abb. 67 Lewis Carroll, »The Walking-Stick of Destiny, Ch. 5«, aus:


The Rectory Umbrella and Mischmasch [1849/50] (Repr. New York
1971, S. 41)

Abb. 68 Justinus Kerner, Kleksographien, Stuttgart, Leipzig, Berlin,


Wien 1890, S. 61

Wieder mit der Feder saß, | Und mit solcher tief gestochen übertragen die Handlungsmacht an die Figuren selbst und
| In die Tinte bis zum Satz, | Kam etwas heraufgekrochen, arbeiten mit der Suggestion, Unsichtbares bringe sich in
| Wie der Schwanz von einer Katz’« (S. 76f.). Das Spiel ist ihnen zur Erscheinung. Wie im Falle der Photographie geht
mehr als nur ein Spiel: Kerners Gedichte sind durchzogen es auch hier darum, das Medium so einzusetzen, dass sich in
von der Vorstellung, aus der Tinte würden unheimliche, ihm die Natur gerade in ihren versteckten Elementen und
dämo­nische, teuflische Wesen ans Licht treten. Die Texte Prinzipien manifestieren kann.354
102 Der Aufmarsch der Buchstaben, den die zeitgenössischen Gedankens, die zum erstenmal in den Raum gebreitet war
ABC-Bücher ins Werk setzen (allein für den Zeitraum von … Hier sprach wirklich die räumliche Weite, sie sann, gebar
1883 bis 1887 hat man 639 neue Fibeln gezählt), hat etwas zeitliche Formen. Erwartung, Zweifel, geistige Gespannt-
durchaus Bedrohliches.355 Er besitzt eine eigendynamische heit waren sichtbare Dinge geworden. Mein Blick fiel auf
Macht, welche die Physiologen dadurch in den Griff zu gleichsam körperlich gewordenes Schweigen. In Ruhe ließen
bekommen versuchen, dass sie den Buchstaben Farbwerte sich unschätzbar flüchtige Augenblicke betrachten: Der Se-
zuwei­sen und den Leseprozess in Wahrnehmungseinheiten kundenbruchteil, während dessen ein Gedanke aufschrickt,
zerlegen. Statt um die Naturschrift selbst, um die es Kerner leuchtet, verlischt; das Zeitatom, das als Keim psychologische
noch geht, geht es um die physischen Bedingungen des Lesens Äonen und endliche Folgen in sich birgt, – sie traten nun auf
und die technischen Apparaturen zu seiner Erforschung. wie lebendige Wesen, rings umgeben von ihrem wahrnehm-
Damit ist ein weiterer, radikaler Schritt vollzogen in der bar gemachten Nichts. Ein wahrer geistiger Sturm – schaubar
Umstellung eines ontologischen auf ein epistemologisches gewordenes Murmeln, Zuraunen, Donnergrollen war über
Schriftverständnis. Diese Radikalität bringen ästhetisch die die Seiten hingeführt bis zur äußersten Grenze des Denkens,
Schriftexperimente der franzö­sischen Symbolisten zum Aus- bis zu einem Punkt unsagbaren Bruches: hier vollzog sich
trag. Stéphane Mallarmé legt in seinem Coup de dés (1897) ein das Wunderbare, hier, auf dem Papier, bebte unendlich rein
Gedicht vor, in dem bekannte Traditionen (Figurengedicht, das Funkeln entferntester Sterne in jener zwischenbewuß-
Universalschrift, Weltmodell) zu einem markanten Neuein- ten Leere, in der, wie eine neuartige Materie, als Ballungen,
satz zusammentreten.356 Einerseits kommen die Buchstaben Schwärme, Systeme verteilt, das Wort gleichzeitig da war!«357
und Wörter in Bewegung, indem sie weit auseinander rücken: Walter Benjamin urteilt: »Mallarmé, wie er mitten in der kris-
Es ergibt sich, wie Mallarmé im Vorwort festhält, eine »mo- tallinischen Konstruktion seines gewiß traditio­nalistischen
bilité de l’écriture« und ein Hin und Her zwischen Verlang­ Schrifttums das Wahrbild des Kommenden sah, hat zum
samung und Beschleunigung der Wahrnehmung. Andererseits ersten Male im ›Coup de dés‹ die graphischen Spannungen
tritt das Weiß des Papiers in den Vordergrund: Die üblicher- der Reklame ins Schriftbild verarbeitet.«358
weise domi­nante Positivität der schwarzen Buchstaben vor Demgegenüber mutet es beinahe harmlos an, wenn Guillaume
neutralem Hintergrund kehrt sich um. Sichtbar werden an Apollinaire in seinen Calligrammes (1913–16) die Tradi-
der Fläche und an der Leere die Bedingungen der Möglichkeit tion des Figurengedichts für die Lebenswelten des frühen
der Schrift. Deren referentielle Aspekte indes verlieren sich. 20. Jahrhunderts adaptiert und textuelle und visuelle Wahr-
Ein Nullpunkt sowohl von Schrift wie von Literatur, der nehmung vermählt. Oder wenn Stefan George in seinen
wiederum beiden eine geradezu mythisch-ursprungshafte Gedichten eine wechselseitige Durchdringung und Annähe-
Dimension verleiht. Ein Ort vor aller Schöpfung, an dem die rung von Handschrift und Druck sucht. Die zusammen mit
Differenz zwischen Text und Bild ebensowenig besteht wie dem Typographen Melchior Lechter kreierte Druckschrift
diejenige zwischen Autor und Werk. (Stefan-George-Schrift) kombiniert ältere Lettern­formen zu
Paul Valéry bringt diese Schrift treffend mit einer Sternen- einem Gesamt-›Gebilde‹. In ihm herrscht eine strenge geo-
schrift in Verbindung und bezeugt den gewaltigen ersten Ein- metrische Ornamentik und ästhetische Abgeschlossenheit.
druck, den die hingeworfene, hingewürfelte Buchstaben­welt In dem Band Der Teppich des Lebens (zuerst 1899) treffen
bei ihm hinterließ: »Ich sah, so schien mir, die Figur eines im Teppich­motiv Thema und Form zusammen. Der Text
schlingen menschen mit gewächsen tieren | Sich fremd zum 103
bund umrahmt von seidner franze […] Und kahle linien
ziehn im reich-gestickten | Und teil um teil ist wirr und
gegenwendig«.359
Auf den Punkt gebracht hat die Doppelnatur des Buchstabens
als eines zugleich sinnlichen und sinnhaften Zeichens Wassily
Kandinsky in seinem Aufsatz Über die Formfrage (1912):
»Wenn der Leser irgendeinen Buchstaben dieser Zeilen mit
ungewohnten Augen anschaut, d. h. nicht als ein gewohntes
Zeichen eines Teiles eines Wortes, sondern erst als Ding, so
sieht er in diesem Buchstaben außer der praktisch-zweckmä-
ßig vom Menschen geschaffenen abstrakten Form, die eine
ständige Bezeichnung eines bestimmten Lautes ist, noch eine
körperliche Form, die ganz selbständig einen bestimmten äu-
ßeren und inneren Eindruck macht, d. h. unabhängig von der
eben erwähnten abstrakten Form. In diesem Sinne besteht
der Buchstabe: 1. aus der Hauptform = Gesamterscheinung,
die, sehr grob bezeichnet, ›lustig‹, ›traurig‹, ›strebend‹, ›sin-
kend‹, ›trotzig‹, ›protzig‹ usw. usw. erscheint; 2. besteht der
Buchstabe aus einzelnen, so oder anders gebogenen Linien,
die auch jedesmal einen bestimmten inneren Eindruck ma-
chen, d.h. ebenso ›lustig‹, ›traurig‹ usw. sind. Wenn der Leser
diese zwei Elemente des Buchstabens gefühlt hat, so entsteht
in ihm sofort das Gefühl, welches dieser Buchstabe als Wesen
mit innerem Leben verursacht.«360
Diese Kippfigur der Wahrnehmung beflügelt in den ersten
Abb. 69 Stephan George, Teppich des Lebens, Reinschrift, 1899; Stutt- Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Literaten wie Künstler.
gart, Württembergische Landesbibl., Stefan-George-Archiv In Lyrik und Prosa werden Bewegungsformen (Tanz,
Akrobatik) und Fortbewegungsmittel (Flugzeug, Automo-
bil) aufgerufen und zugleich phonetisch, syntaktisch und
s p r i c h t vom Gewebe und i s t ein Gewebe. Er realisiert ästhetisch umgesetzt.361 In dadaistischen, futuristischen,
das metaphorische Prinzip von Textualität und thematisiert konstruktivisti­schen Collagen und Gemälden treten opti-
es zugleich in poetologischer Reflexion. Im Vorspiel heißt sche und skripturale Momente zu je neuen Kombinationen
es: »Du findest das geheimnis ewiger runen | In dieser zusammen. Es wimmelt von Schriftelementen: geschrie­
halden strenger linienkunst | Nicht nur in mauermeeres bene oder gezeichnete, gedruckte oder ausgeschnittene,
zauberdunst«. Das erste Gedicht des Zyklus hebt an: »Hier lesbare oder unlesbare, fremde oder vertraute, Schnipsel
104

Abb. 70 Paul Ostaijens, Bezette Stad, Antwerpen 1921, o. P. Abb. 71 Programm der Kleinen Dada-Soirée, 1923; Zürich, Kunsthaus

der Wirk­lichkeit oder Facetten des Imaginären.362 Bei dem fenden Sprache zum Tragen, die mal bedeutungshaft, mal
italienischen Futu­risten Filippo Tommaso Marinetti finden blank unsinnig auftritt; in den i-Zeichnungen erscheint die
sich reine Bildelemente neben konventionellen Zeichen, halb Einheit von Idee, Material und Kunstwerk zugleich suggestiv
sprachliche neben halb bildlichen Formen, Druck- neben und absurd; in der Ursonate geraten die Buchstaben sowohl
Handschriften­buchstaben.363 Bei dem flämischen Expressio- optisch wie akustisch in Bewegung.365
nisten Paul van Ostaijen (1896–1928) entsteht eine rhythmi- In je anderer Weise loten die verschiedenen Avantgarden das
sche Typographie, die den Wortklang in eine visuelle Partitur Spannungsfeld von logischen und alogischen, grammatischen
überset­zen möchte: »das Klimmen und Steigen der Zeilen, und ungrammati­schen, semantischen und asemantischen,
magere und schwere Buch­staben, die Kaskaden der fallen- linearen und nicht-linearen Formen aus. Setzen die einen
den Wörter über das Blatt, sogar unterschiedliche Buchsta­ mehr auf die Verwandlung kon­ventioneller Zeichen in Pic-
bentypen: so viele Mittel, die typographisch den Rhythmus togramme und Hieroglyphen, so die anderen auf die Erfin-
des gesprochenen Wortes suggestiv wieder­geben.«364 Bei dung einer neuen Zeichenordnung aus dem Geist radikaler
Kurt Schwitters kommt in den Wort-Bild-Collagen und Sprachskepsis heraus.366 Marcel Duchamps versucht mit
Merz-Gedichten das anarchi­sche Element einer selbstlau- Hilfe der Schreibmaschine den Einfluss des schreibenden
Subjekts auszuschalten. Tristan Tzara arbeitet mit vorgege- 105
benem Material (Zeitungsausschnitte etc.), um mittels neuer
Zusammenstellung konventionelle Sinnstrukturen zu irritie-
ren.367 Zur Methode wird der Selbstlauf der Sprache in der
›écriture automatique‹: einem frei flottie­renden, intentionale
Bedeutungsstiftungen ausschaltenden Schreiben. Mit ihm
erpro­ben Surrealisten wie André Breton die Möglichkeit,
eine ›absurdité immédiate« zu produzieren, eine direkte,
durch den Schreibakt geförderte Beziehung zwischen Unbe-
wusstem und Kunst­form.368 Adolf Wölfli und Robert Walser
geben sich nicht nur in punktuellen Experimenten, sondern
in lebensbegleitenden Projekten solch manischem Schreiben
hin: Sie füllen größer- und kleinerformatige Schrifträume
aus, Wölfli in einem Horror vacui, Walser in teils ironischer
Korrespondenz mit vorgängigen Schriften anderer, beide
aber mit einem Sinn für die Anordnung von Text und Bild
auf der Seite.
Auch für den zeitgenössischen Film ist Schrift ein essentielles
Mittel: um zu erzählen, auf literarische Prätexte zu verweisen
und die filmische Eigenart zu reflektieren. Neben den Zwi-
schentiteln gibt es zahlreiche Formen des Schriftlichen, »ob
sie nun als reine Erläute­rungen oder als Gedankenverbinder
erscheinen: Buchstabenschrift, Zettel, Brief, Ansichts­karte,
Telegramm, Rechnung, Vertrag, Kriegsordre, Haftbefehl, To-
desurteil, Zahlungs­befehl, Pfandschein, Zeitungsausschnitt
und Inserat, Testament, kurz Akten und Urkunden aller Abb. 72 Adolf Wölfli, Campbell’s Tomato Soup, 1929; Bern, Kunstmu-
Art.«369 Zwar sind die Zwischentitel für viele Zeitgenossen seum, Adolf Wölfli-Stiftung
eher Übel als Hilfen und die gezeigten Schriftstücke selten
sorgfältig entworfen. Doch die künstlerisch anspruchs­
volleren Produktionen widmen auch der Schriftgestaltung
größere Aufmerksamkeit. In Wegener-Ryes Der Student Gedicht den Protagonisten auf seinem eigenen Grabstein
von Prag (1913) sieht man am Anfang und Ende auf einer sitzend (»Hier ruht Balduin«). Deutlich wird, wie Bild
gezeichneten Papierrolle Alfred de Mussets romantisches und Schrift gemeinsam daran arbeiten, Paradoxien und
Gedicht La nuit de Décembre ablaufen, in dem Themen des Unheimlichkeiten zu erzeugen. In Filmen wie Das Cabinet
Films aufscheinen: Nachahmung, Verdoppelung, Tod. Die des Dr. Caligari (1919/20), Der Golem, wie er in die Welt
letzte Einstellung zeigt in Entsprechung zum Mussetschen kam (1920) oder Nosferatu (1922) spielen geheimnisvolle, ja
106

Abb. 73/74 Allan Dwan, Robin Hood, 1922

magische Schriftstücke eine wichtige Rolle.370 In Mittelalter- enthoben, das Eingehen in die Buntheit hat sie zu Glanz-
filmen wie Robin Hood (1922) zeigt sich diese Magie als die fragmenten zerstückelt, die sich nach anderen Gesetzen als
wieder­erweckende Macht des Mediums selbst: So wie sich den gewohnten zusammenfügen. Der Reklamesprüh­regen
alte Ruinen in stolze Burgen verwan­deln, verwandeln sich wird zu Stern­bildern an einem fremden Himmel.«373 Auch
mittelalterliche in moderne Schriftzüge.371 die kurz zuvor entwickelte Luftwerbung mit Hilfe chemi-
scher Raucherzeugung, in der Deutsche[n] Himmelschrift
Gesellschaft institutiona­lisiert, schuf solche neuen ›Stern-
Schrift analytisch und melancholisch bilder‹.374
Der andere große Entzifferer seiner Zeit ist Walter Ben-
Als zentrale Herausforderung für die zeitgenössischen De- jamin. Für ihn wird die Spannung zwischen älteren und
chiffrierkünste erwies sich die Großstadt. Sie bot eine Fülle neueren Dimensionen von Schrift konstitutiv. In seinem
bedeutungstragender Elemente, konfrontierte aber auch mit unabge­schlossenen Passagen-Werk überträgt er den alten
zunehmender Unübersichtlichkeit. Zu denen, die sich ab Gedanken vom Buch der Natur auf die jüngere Geschichte:
Mitte der zwanziger Jahre an eine Lektüre und textuelle Re- Die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts solle als Schrift lesbar
präsentation großstädtischer Raumbilder machten, gehörte werden – an textuellen Ausschnitten, die zugleich dingliche
Sieg­fried Kracauer. Er las die Oberflächen der städtischen Fragmente darstellen. In dem Kapitel Vereidigter Bücherre-
Lebenswelt und die Massenbilder der neuen Medien als visor aus der Prosasammlung Einbahnstraße (1928) bezieht
Hieroglyphen der Moderne.372 Dabei gewann er auch der er sich auf die Experi­mente der Symbolisten und Dadaisten,
Licht­reklame einen beson­deren Reiz ab. In einem Text in stellt sie aber in einen größeren Kontext – historisch gese-
der Frankfurter Zeitung von 1927 heißt es: »Man kann in hen: der Ablösung des Buches, sozial gesehen: einer neuen
diesem Gewimmel noch Zeichen und Schriften erkennen, Öffentlichkeit der Schrift. »Die Schrift, die im gedruckten
doch Zeichen und Schriften sind ihren praktischen Zwecken Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasein
107

Abb. 75–80 Walter Ruttmann, Berlin – Die Sinfonie der Großstadt, 1927

führte, wird unerbittlich von den Reklamen auf die Straße Wesen und behandelt ihre Schicksale als teilneh­mender Be-
hinausgezerrt […]. Wenn vor Jahrhunderten sie allmählich obachter. Prägnant erfasst er das von wechselnden Zeichen,
sich niederzulegen begann, von der aufrechten Inschrift zur Farben, Lichtern erzeugte Flirren der modernen Großstadt,
schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich das kurz zuvor der poetische Dokumentarfilm Berlin – Die
sich im Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam Sinfonie der Großstadt (1927) als mediale Durchdringung
sich wieder vom Boden zu heben. Bereits die Zeitung wird der Lebenswelt vorge­führt hatte. Auch lenkt er den Blick
mehr in der Senkrechten als in der Horizontalen gelesen, auf das gewaltsame Moment der Situation: Nun, da die
Film und Reklame drängen die Schrift vollends in die dik- Schrift nicht mehr nur Welten erzeugt, sondern überall in
tatorische Vertikale. Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, der Welt ist, drohen jene Refugien zu schwinden, in denen
ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes die kontemplative Lektüre sich vollzog.
Gestöber von wandel­baren, farbigen, streitenden Lettern Doch geht es nicht um rückwärtsgewandte Klage. Es geht da-
niedergegangen, daß die Chancen seines Eindringens in die rum, die Impli­kationen freizulegen, welche die Veränderung
archaische Stille des Buches gering geworden sind.«375 Benja- mit sich bringt, und die weitere Entwicklung prophe­tisch
min personifiziert die Schrift zum handelnden und leidenden einzuschätzen. Diese Einschätzung ist keineswegs negativ:
108 Die Allgegenwärtig­keit der Schrift kann auch zu einer neuen Lebens […] ein paar Fransen« zu bewahren vermag.376 Das
Nähe von Dingen und Worten führen. Sie kann poetische Schreiben ist für Benjamin ein memorialer Akt, in dem Er-
Energien freisetzen. Sie kann neue Bildbereiche ins Spiel scheinen und Ver­schwin­den aufs Engste verschwistert sind.377
bringen: Benjamin zieht Parallelen zwischen Büchern und Jede Aufzeichnung vollzieht sich wie die Einschreibung auf
Dirnen (S. 53f.) und vergleicht die Anlage eines Traktats mit dem Wunderblock: Das Notierte ist zugleich vergangen und
der eines arabischen Bauwerks: eine außen nicht wahrnehm­ gegenwärtig, geprägt von dem Sündenfall der Repräsenta-
bare, sich nur von innen her eröffnende Struktur, eine nicht tion, der Zeit, der Geschichte, der Kontingenz, aber auch
verbal über­schriebene, sondern nur mit Ziffern bezeichnete verheißungsvoll durch eine Dynamik, die das Verhältnis von
Kapiteleinteilung, eine nicht malerisch belebte, sondern mit Worten und Dingen als paradoxes zur Erscheinung bringt.
ornamentalen Netzen bedeckte Fläche (S. 55f.). Vergleiche Die Schrift ist ein Medium sowohl der Distanz wie der
wie diese sind auf den Augenblick ausgerichtet, »da Quanti- Nähe: Sie fixiert und dynamisiert. Sie bezeichnet und zeigt.
tät in Qualität umschlägt und die Schrift, die immer tiefer in Sie verkörpert ein unumgängliches Danach, in dem doch ein
das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlich- unverfügbares Davor zur Geltung kommen kann.
keit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte Daraus erklärt sich Benjamins Faszination an der Kindheit,
habhaft wird« (S. 43). Adäquat heißt: der modernen medi- die er bei seinem eigenen Sohn, an dessen Wörtern und
alen Lebenswelt eingedenk. Für Schriftsteller zum Beispiel Redensarten, ausführlich dokumentiert.378 Die Kindheit
werden sowohl Zettelkästen und Kartotheksysteme als verkörpert jene Phase, in der sich die Fixierungen erst bilden
auch statistische und technische Diagramme an Bedeutung und vieles noch in Bewegung ist. Das Schreiben und Lesen
gewinnen – das, was auch für Benjamins eigenes Arbeiten zum Beispiel, es ist ein Abenteuer, spielerisch, experimentell,
wichtig ist. märchenhaft, in dem die Buchstaben eigene Wesen darstellen.
Situationsanalyse und Selbstbeschreibung verschränken sich. In einer Notiz Schreibendes Kind aus dem Jahr 1929 wird
Benjamin, der zeitlebens mit der Hand schrieb und seine dies, anknüpfend an die Texte zur Kindheit aus der Einbahn­
Schreibmaterialien (Füllfederhalter, Notiz­ buch, dünnes straße, zur zauberhaften Urszene: »Die schreibende Hand
Pergament) zu Fetischen machte, streift mit der Thematik hängt im Gerüst der Linien wie ein Athlet im schwindelnden
des Schreibens seinen eigenen Lebensnerv. Er reflektiert, Gestänge der Arena (des Schnür­bodens). Maus, Hut, Haus,
indem er die Materialität der Schrift umkreist, die eigene Fas- Zweig, Bär, Eis und Ei füllen die Arena, ein blasses, eisiges
zination an dem, was die Schrift nicht nur mitteilt, sondern Publikum sehen sie ihren gefährlichen Nummern zu. | Salto
auch erscheinen lässt. Nicht bloß seine Reinschriften, auch mortale des s / Beachte die Hand, wie sie auf dem Blatt die
die Entwürfe, Gliederungen und Material­sammlungen sind Stelle sucht wo sie ansetzen will. Schwelle vo[r]m Reich der
bestimmt von einem ausgeprägten Sinn für die graphisch- Schrift. Die Hand des Kindes geht beim Schreiben auf die
bildliche Form von Texten. Sie stellen Momentaufnahmen Reise. Eine lange Reise, mit Stationen, wo sie übernachtet.
eines Schreibprozesses dar, beständig zur Erstar­rung neigend Der Buchstabe zerfällt in Stationen. Angst und Lähmung
und beständig im Fortschreiben am Leben gehalten. Als Spur der Hand, Abschiedsweh von der gewohnten Landschaft
einer Geste und Konkreti­sation des Augenblicks macht das des Raumes: denn von nun an darf sie sich nur in der Fläche
Schriftbild sichtbar, was immer nur als Fragment zu fassen bewegen.«379 Der Prozess des Schreibenlernens bedeutet
ist – so wie die Erinnerung aus dem »Teppich des gelebten nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust. Wo zunächst noch
Teilhabe an den Mitteln der Schrift war, steht nun deren Ge- Helene Pufahl. Das war der Name meiner Lehrerin. Das P, 109
brauch. Die Fläche, auf der sich die Buchstaben anordnen, mit dem es anhob, war das P von Pflicht, von Pünktlichkeit,
ist kein Raum, sondern nurmehr Möglichkeit, einen solchen von Primus; f hieß folgsam, fleißig, fehlerfrei und was das l
zu erzeugen. am Ende anging, war es die Figur von lammfromm, lobens-
Ein Pendant zu dieser Minatur bietet eine andere Urszene, wert und lernbegierig. So wäre diese Unterschrift, wenn sie
die in der anonymen Druck­fassung von 1933 den Titel Der wie die semitischen aus Konsonanten allein bestanden hätte,
Lesekasten trägt, in Hand­schriften auch als Das Lesespiel nicht nur Sitz der kalligraphischen Vollkommenheit gewesen,
oder Der Schreibkasten erscheint. Hier geht es um die sondern die Wurzel aller Tugenden.«381
kleinen Buch­staben­tafeln, welche die kindliche Hand zu Walter Benjamin steht an einer Schwelle. In ihm kommt
Wörtern zusammenfügt. Benjamin schlüpft in die kindliche noch einmal eine Tradition der Sprach- und Schriftmagie
Sicht, in der die Lettern einen eigenen ›Orden‹ bilden. Er zum Austrag, die es unternahm, die Differenz zwischen
trägt aber auch in diese Sicht schon das Moment hinein, das Zeichen und Bezeichnetem zugunsten einer ›unmittelbaren
schließlich ihr Ende bedeuten wird: Das Kind bewegt sich Signifikation‹ zurückzudrängen.382 In ihm kommt aber auch
nicht einfach unter den Buchstaben, es herrscht über sie, ist jene Moderne radikal zur Geltung, die von der unwiderruf-
aber auch aus ihrer Eigenwelt ausgeschlossen. Daraus resul- lich medial geprägten Beziehung des Menschen zur Welt
tiert eine merkwürdige Verschränkung von Vergan­genheit gezeichnet ist. Von Benjamin lässt sich zurückschauen auf
und Gegenwart: Was der Erwachsene als seine Sehnsucht die lange Geschichte eines ontologisch und metaphysisch
begreift, erweist sich als Ahnung eines Verlusts schon der bestimm­ten Schriftbegriffs. Von ihm lässt sich aber auch
Situation eingeschrieben, auf die sich seine Sehnsucht be- nach vorne schauen: auf die Auto­ reflexivität modernen
zieht. Eine Metonymie dieser komplexen Zeiterfahrung ist Schreibens, die Verknüpfung von Schriftlichkeit und Me-
der Lesekasten: »Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist sie dialität, die Entwicklung einer neuen Schriftbildlichkeit.
selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, Oder auch die Paradoxie einer gleich­zeitigen Vorgängigkeit
mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sich und Nachträglichkeit der Schrift. Cees Noote­boom hat sie
zu Wörtern reihen sollten.«380 an dem sich sowohl selbst schreibenden wie geschrieben
Der Lesekasten verkörpert die Kindheit und zugleich die werdenden Gedicht unübertrefflich zugespitzt:
Unmöglichkeit einer Verkörpe­rung. Zwar gibt es die Hand
noch, welche die Spur der Erinnerung bewahrt. Doch ihre Das Gedicht hörte, wie es geschrieben wurde,
es sah die riesige Hand,
Geste erinnert das Vollzogene, ohne es erneut vollziehen
aus der es anscheinend wortweise entstand,
zu können. Wahre Präsenz stiftet allein die vorliegende es hielt mit sich selber kaum Schritt.
Schrift, die sich an einer paradox erinnerten Vergangenheit
ihre eigene Gegenwärtigkeit schafft. In ihr erleben alle jene Schritt, sah es stehen, und sagte,
sich echoend Schritt, Schritt, aber schon
alphabetischen Ordnungen der Welt eine Auferstehung,
war die Hand vorbei, gehetzt
in der das Wissen um eine frühe Fülle des Sinns fortwirkt: von der wütenden Schrift,
»Unter den Ansichtskarten meiner Sammlung gab es einige, dem Heimweh nach Form.
deren Schriftseite mir deutlicher in der Erinnerung haftet
als ihr Bild. Sie trugen die schöne, leserliche Unterschrift:
110 Es schmerzt, nicht fertig zu sein, Anmerkungen
wenn man nirgendwoher kommt.
Atemlos liegen die Wörter auf dem Tisch, 1 Im Szenario heißt es, Nagiko lasse die letzten auf Jeromes Körper
die Hand verschwindet, kommt wieder, verschwindet, befindlichen kalligraphischen Zeichen auf ihren eigenen tätowieren;
das Gedicht erinnert sich an nichts, Peter Greenaway: The Pillow Book. Paris 1996 (frz. Version), S. 98
(Section 90). Facettenreiche Interpretation des Films bei Begemann
(2002).
und der Kopf, so weit da oben
2 Vgl. Gilbert (2006).
und noch immer durchwegs unkenntlich, 3 A[leida]/J[an] Assmann: Art. Schrift, in: Historisches Wörterbuch
es sei denn als Maske von Chaos und Ursprung, der Philosophie 8 (1992), Sp. 1417–1429, hier 1425 unter Bezug auf
entläßt die Zeilen, Wilhelm von Humboldt: Über die Buchstaben-Schrift und ihren
Zusammenhang mit dem Sprachbau (1824).
sein Atem gebiert 4 Wehde (2000), S. 243. Joachim Heinrich Campe z. B. entwickelte um
1790 zusammen mit seiner Übersetzung des Hermit of Warkworth
die Kadenz des Denkens,
(Thomas Percy) eine neue Schrift zwischen Fraktur und Antiqua.
das Gedicht, 5 Zu deren semiotischer Stellung zwischen Schreiben und Malen
nichts als ein Hauch.383 Coulmas (1978).
6 Zu einer ›Wiederkehr der Schrift‹ auch Wetzel (1991).
7 Foucault (1974), S. 13.
8 Vgl. Grasshoff (2001); umfassende Aufarbeitung bei Lentz (2000).
9 Winter (2006).
10 Schmidt (2000), S. 14.
11 Gomringer (1972/2001), S. 166; s. auch Walther/Harig (1970), Kopfer­
mann (1974), Weiß (1984), Gomringer (1996).
12 Mon (1967/1972), S. 171f.
13 Aicher (1989), S. 201.
14 Vgl. Zbikowski (1996), Mössinger/Milde (2005), Gilbert (2006).
15 Barthes, Erté (1971/90), Schabert (1998).
16 Vgl. COBRA. COpenhagen, BRüssel, Amsterdam. Beiträge von
Troels Andersen u. a. [Katalog von Ausstellungen in Lausanne,
München und Wien]. München 1997.
17 Massin (1970), S. 244.
18 Eric de Bruyn: Das Museum der Attraktionen: Marcel Broodthaers
und die »Section Cinéma«, unter: http://www.medienkunstnetz.de/
themen/kunst_und_kinematografie/broodthaers; Marcel Broodtha-
ers. Cinéma. Ausstellungskatalog. Düsseldorf 1997, S. 184f.; ebd. auch
eine ausführliche Interpretation des Textes durch Jean-Christophe
Royoux.
19 Vgl. Metz (2007) und Woord en Beeld (1992).
20 Vgl. Barthes (1979/1990).
21 Boehm (2004), S. 111.
22 Jussen (2000), S. 25.
23 Krüger (2000), S. 54.
24 Vgl. Kimpel (1986); Steber (1988); Gilbert, Ephemere Schrift (2006);
Vogel (2004).
25 Vgl. Holzer (2006).
26 Vgl. die kurze Selbstbeschreibung unter: http://www.dreyblatt.
de/html/art.php.
27 Zu diesen beiden Dimension Bolter (1991), S. 166f.
28 Zu den beiden Blicken A. Assmann (1988).
29 Vgl. auch Derrida, Grammatologie (1967/1974), S. 519f.
30 Vgl. Lapacherie (1990). 62 Wenzel/Seipel/Wunberg (2000), zur Schriftskepsis Mainberger
31 Zu den Reflexionsformen Schlieben-Lange (1994). (1995).
111
32 Derrida, Grammatologie (1967/1974), S. 164. 63 Die Konsequenzen dieser Figur für die jüdische Tradition hat Derrida
33 Genette (1976/1996). Die Erinnerung an dieses Buch verdanke ich im Blick auf das Werk von Edmond Jabès erläutert: »Gott hat sich von
Ulrich J. Beil. sich selbst getrennt, um uns sprechen, staunen und fragen zu lassen.
34 Barthes (1994/2006), S. 155/157. Er tat das nicht, indem er sprach, sondern schwieg, indem er dem
35 Günther/Ludwig (1994–1996), differenzierend dort aber z. B. der Schweigen die Möglichkeit gab, seine Stimme und seine Zeichen zu
Beitrag von Ehlich; speziell zur Schriftlinguistik Dürscheid (2006). unterbrechen, indem er die Tafeln brechen ließ«; Derrida, Die Schrift
36 Gumbrecht/Pfeifer (1988). (1967/1972), S. 106.
37 Gross (1994). 64 Vgl. Graham (1993).
38 Bolter (1991). 65 2 Cor 3,1–8: »incipimus iterum nosmet ipsos commendare aut num-
39 Gumbrecht/Pfeiffer (1993). quid egemus sicut quidam commendaticiis epistulis ad vos aut ex
40 Koch/Krämer (1997), Krämer (2003), Krämer (2005); vgl. auch Gre- vobis epistula nostra vos estis scripta in cordibus nostris quae scitur
ber/Ehlich/Müller (2002). et legitur ab omnibus hominibus manifestati quoniam epistula estis
41 Bild, Schrift und Zahl: Krämer/Bredekamp (2003); Textilität: Greber Christi ministrata a nobis et scripta non atramento sed Spiritu Dei
(2002); Sichtbarkeit: Strätling/Witte (2006), auch Uebele (1999); Sze- vivi non in tabulis lapideis sed in tabulis cordis carnalibus fiduciam
narien: Stingelin (2004), Giuriato/Stingelin/Zanetti (2005), Giuriato autem talem habemus per Christum ad Deum non quod sufficientes
(2006). simus cogitare aliquid a nobis quasi ex nobis sed sufficientia nostra
42 Vgl. etwa Christin (1977). ex Deo est qui et idoneos nos fecit ministros novi testamenti non
43 Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte (1903), in: litterae sed Spiritus littera enim occidit Spiritus autem vivificat quod
ders.: Brief des Lord Chandos. Poeto­logische Schriften, Reden und si ministratio mortis litteris deformata in lapidibus fuit in gloria ita
erfundene Gespräche. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen ut non possent intendere filii Israhel in faciem Mosi propter gloriam
von Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Frankfurt/M., Leipzig 2000 vultus eius quae evacuatur quomodo non magis ministratio Spiritus
(insel taschenbuch 2659), S. 157–174, hier 174. erit in gloria«. Zur neueren Forschung Hafemann (1995), Scholtissek
44 Überblick zu den verschiedenen alten Schriftsystemen bei Haarmann (2000), Grindheim (2001), Davis (2002).
(1991) und Seipel (2003), Bd. 3; grundlegend auch Assmann/Hard- 66 Cees Nooteboom: Der Umweg nach Santiago. Frankfurt/M. 1992,
meier (1983); zum Zusammenhang von Schrift und Politik Morison S. 333; zur Schrift an der islamischen Architektur Vogt-Göknil (2007);
(1972). Überblick über die arabische Kalligraphie bei Papadopoulo (1977).
45 Zahlreiche Bildbeispiele bei Schlott (1989). 67 Vgl. Curtius (1953), S. 306–352.
46 Dornseiff (1925), S. 158–168. 68 Ebd., S. 311.
47 Birt (1907). 69 Titus Lucretius Carus: De rerum natura. Welt aus Atomen. Lat./dt.
48 Illich (1991), S. 130. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner. Stuttgart
49 Am Beispiel von Gregor: Eberlein (1995); s. auch Wenzel (2000). 1973 (Reclam UB 4257) I, 823–819: »Quin etiam passim nostris in
50 Vgl. Roberts (1954). versibus ipsis | multa elementa vides multis communia verbis, | cum
51 Dornseiff (1925), S. 8f. tamen inter se versus ac verba necessest | confiteare et re et sonitu
52 Ernst (2002/2006), S. 205f. distare sonanti. | tantum elementa queunt permutato ordine solo. | at
53 Curtius (1953), S. 312 mit Übersetzung von Thassilo von Scheffer; in rerum quae sunt primordiae, plura adhibere | possunt unde queant
der Übertragung durch Dietrich Ebener (Nonnos: Werke. Bd. 1. Ber- variae res quaeque creari.«
lin und Weimar 1985, S. 68) klingen die Verse so: »Dort [in Ägypten] 70 Vgl. auch William Graham: »Scripture«, in: Encyclopedia of Re-
sog der Sohn aus heiligen Schriften tiefe Erkenntnis, kritzelte schräge ligion. Bd. 12, 2. Aufl. (2005) [Gale Virtual Reference Library],
Zeichen und malte Kreise, geschweifte, von rechts nach links.« S. 8194–8205.
54 Ernst (2002/2006), S. 210; Schreiner, Litterae (2002), S. 278f. 71 Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. In
55 Vgl. Dornseiff (1925), S. 4f.; Jon Christian Billigmeier, Pamela Burn- Verbindung mit Fachgenossen übersetzt und hg. von E. Kautzsch.
ham: »Alphabets«, in: Encyclopedia of Religion. Bd. 1, 2. Auflage 2. Bd.: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments. Tübingen 1900,
(2005) [Gale Virtual Reference Library], S. 269–275. 4
1975, S. 275 (Kap. 69, 9f.).
56 Zu den Nomina sacra vgl. schon Traube (1907), S. 3–8; ansonsten 72 Vgl. Kemp (1994), S. 220f.
Maas (1986), Schlieben-Lange (1994), S. 104–109. 73 Eco (1997), S. 153f. Zur ägyptischen Schrift vgl. die verschiedenen
57 Derrida (1972). Arbeiten von Assmann sowie Morenz (2004).
58 Moser (2006), S. 138; grundlegend: Havelock (1963), Szlezak (1985). 74 Kesting (1968), Schreiner (1996), S. 159–167; ders., »Göttliche
59 Villers (2005), zum Phaidros S. 77–151. Schreib-Kunst« (2002).
60 Koschorke (1999), S. 328. 75 Richard de Bury: Philobiblon. Edizione critica a cura di Antonio Al-
61 Andree (2005). tamura. Neapel 1954, Kap. 16, Z. 30f. (S. 123): »O scripture serenitas
112 singularis, ad cuius fabricam inclinatur artifex orbis terre«; Philobiblon S. 315–322; Überblick über die Schriftmagie bei Dornseiff (1925)
das ist der Traktat des Richard de Bury über die Liebe zu den Büchern. und Tiemann (1941).
Erstmalig aus dem Lateinischen übertragen von Franz Blei. Neu hg. 99 Vgl. Heinzer (2002).
und eingeleitet von Martin Lehnert. Leipzig 1989, S. 88. 100 The letters of Peter the Venerable, hg. von Giles Constable. Bd. 1.
76 Edgar Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Über- Cambridge/Mass. 1967, S. 38f.: »quod est utilius, pro aratro conver-
setzung. 3., völlig neu bearbeitete Auflage hg. von Wilhelm Schneemel- tatur manus ad pennam, pro exarandis agris divinis litteris paginae
cher. 1. Bd.: Evangelien. Tübingen 1959 u. ö., S. 290–299, hier 295. exarentur, seratur in cartula verbi dei seminarium, quod maturatis
77 Wenzel (2000), S. 29–33. segetibus, hoc est libris perfectis, multiplicatis frugibus esurientes
78 Illich (1991), S. 131. lectores repleat, et sic panis caelestis laetalem animae famem depel-
79 Vgl. Stammberger (2003), S. 23. lat.«
80 Leclercq (1964); Köpf (2002). 101 Wattenbach (1896/1958), S. 278–299, 317ff.
81 Zur alten Tradition Koep (1952). 102 Stammberger (2003), S. 44f.
82 Schreiner (1971), S. 1449f.; Wenzel (2000), S. 35. Ein anderes Beispiel 103 Vgl. Jennings (1977).
findet sich im Specchio dei croce des Domenico Cavalca ebenfalls aus 104 The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis. Vol. II. Books III and
dem 14. Jahrhundert; Ernst (1994/2006), S. 292f. IV, ed. by Marjorie Chibnall. Oxford 1969, S. 50f.
83 Schreiner (1996), S. 154f. 105 Stammberger (2003), S. 58f.
84 Zur Lesbarkeit Blumenberg (1981). 106 Legner (1985), S. 217 mit lat. Text.
85 Schreiner, »Göttliche Schreib-Kunst« (2002), S. 97f. 107 Bridges (2005), S. 104f.
86 Vgl. Schneider (2000); zur lateinischen Oralität Haye (2005). 108 Gormans (2003), S. 291–307.
87 Ez 2,10–3,3: »qui erat scriptus intus et foris et scriptae erant in eo 109 Vgl. Herkommer (1999).
lamentationes et carmen et vae et dixit ad me fili hominis quodcumque 110 Vgl. Strohschneider (1997), Kiening, Zwischen Körper und Schrift
inveneris comede comede volumen istud et vadens loquere ad filios (2003), S. 14–17.
Israhel et aperui os meum et cibavit me volumine illo et dixit ad me 111 Vgl. Becht-Jördens (1996), Aris (2004). Zu dem über den Kopf ge-
fili hominis venter tuus comedet et viscera tua conplebuntur volumine haltenen oder auf Kopf und Nacken gelegten Evangeliar als einem
isto quod ego do tibi et comedi illud et factum est in ore meo sicut rituellen Handlungselement Schreiner, Litterae (2002), S. 292–301.
mel dulce«. 112 Bridges (2005), S. 109; s. jetzt Rebecca Rushforth: St Margaret’s
88 Ap 22,18f.: »contestor ego omni audienti verba prophetiae libri huius Gospel Book. The Favourite Book of an Eleventh Century Queen
si quis adposuerit ad haec adponet Deus super illum plagas scriptas of Scots. Oxford 2006.
in libro isto et si quis deminuerit de verbis libri prophetiae huius 113 Wenzel (2000), S. 42f.
auferet Deus partem eius de ligno vitae et de civitate sancta et de his 114 Richard de Bury, Philobiblon, Kap. 16, Z. 13–17 (Kap. 16): »quod
quae scripta sunt in libro isto«. liber sacer, solvens nature debitum, hereditarium obtineat substitutum
89 Kessler (2004), S. 87. et simile semen fratri mortuo suscitetur verificeturque statim illud
90 Zur Magie des Buches und des Lesens Ganz (1992), Classen (1998). Ecclesiastici XXX°: ›Mortuus est pater illius et quasi non est mortuus,
91 Koep (1952), Schreiner, »Göttliche Schreib-Kunst« (2002). similem enim sibi reliquit post se‹.«
92 Der Eraclius des Otte. Übersetzt, mit Einführung, Erläuterungen 115 Wattenbach (1896/1958), S. 283: »O beatissime lector, lava manus
und Anmerkungen versehen von Winfried Frey. Kettwig 1990 (Er- tuas et sic librum adprehende, leniter folia turna, longa a littera digito
zählungen des Mittelalters 3), S. 45 (v. 387ff.). pone.«
93 Guillaume de Deguileville: Le pelerinage de vie humaine, ed. by J. J. 116 Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. lat. 12296, f. 162r (CMD-
Stürzinger. London 1893, v. 10871–10892. F 3, S. 283).
94 Schreiner, »Göttliche Schreib-Kunst« (2002), S. 99. Allgemein Dorn- 117 Balogh (1927).
seiff (1925). 118 Morsel (2006), S. 313.
95 Vgl. jetzt die Edition Arnaldi de Villanova Introductio in librum 119 Blaschitz (2000), S. 152 mit Beispiel von 1360; früheres Beispiel bei
[Ioachim] »De semine scripturarum« e Allocutio super significatione Rück (1991); Überblick bei Rück (1996), Heidecker (2000), Späth
nominis Tetragrammaton, curante Josep Perarnau. Barcelona 2004 (2005).
(Corpus scriptorum Catalauniae. Series A: Scriptores. Arnaldi de 120 Morsel (2006), S. 316 mit weiteren Verweisen.
Villanova Opera theologica omnia 3). 121 Saenger (1997).
96 Schreiner, Litterae (2002), S. 280–292. 122 Rück (1996).
97 So im Rahmen des Pontificale Romano-Germanicum; vgl. Glaube 123 Zur Rolle der Farbe Ernst (1994/2006).
und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek. München 124 Ernst (1991), S. 97–142, hier 97.
1998, S. 413 (Nr. 85). 125 Ebd., S. 120, 128.
98 Zur Verwendung des Johannesprologs Schreiner, Litterae (2002), 126 Bonifatius: Epistulae. Willibaldi vita Bonifatii, hg. und übersetzt von
R. Rau. Darmstadt 1968, S. 364f.: »Interea circulum quadrangulum in 150 Parkes (1976); Rouse/Rouse (1982); Martin/Vezin (1990); Michael 113
fronte huius laboris apposui in medio figuram sanctae crucis continen- (2006), S. 201–205.
tem JHS XPS et exprimentem, qui ludivaga sermonum serie duobus 151 Carruthers (1990), S. 9 und 264.
ambitus versibus, aliis in transversum currentibus socialis adiutorii 152 Illich (1991), S. 126f.
utrimque sonantes in obviam offert litteras. Hunc autem circulum 153 Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003), Kap. 7.
in scemate novi et veteris instrumenti figurari non nescias«; Ernst 154 Dazu Chartier (2005), S. 17–31.
(1991), S. 160–167. 155 Vgl. Ernst (1997/2006), Kiening, Zwischen Körper und Schrift
127 Gormans (2003), S. 306. Zu den Kanonestafeln auch Kemp (1994), (2003).
S. 137–148. 156 Vgl. Wandhoff (1996), Wandhoff (2003), zur lateinischen Literatur
128 Pächt (1984), S. 63; für die frühe Zeit Nordenfalk (1970), Jakobi- Ratkowitsch (1991).
Mirwald (1998). 157 Zur erst ansatzweisen Ausdifferenzierung von Schreiben und Malen
129 Pächt, S. 65. Wenzel (1995), S. 292; zur beinahe synonymen Verwendung von
130 Vgl. Kendrick (1999) sowie den Überblick bei Jakobi-Mirwald (2004), scriptor und pictor bei Caesarius von Heisterbach Küsters (1999),
S. 180–186. S. 87, Anm. 15.
131 Pächt (1984), S. 201. 158 Vgl. Quast (1999).
132 Ebd., S. 88f., 94f. 159 Grundlegend dazu Strohschneider (2004); vgl. auch ders. (2002).
133 Heinzer (2005). 160 Konrad von Heimesfurt: »Unser vrouwen hinvart« und »Diu ursten-
134 Vgl. Ganz (1992), zum Austrag kommt diese Suggestion bei Czer- de«, hg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann. Tübingen 1989
winski (1997). (ATB 99), Urstende, v. 1686–1692: »dô man die schouwet unde las, |
135 Vgl. auch Ludwig (2005). dô wâren buochstap unde sin | so gar gelîch daz mê noch min | wider
136 Vgl. Bischoff (1986), S. 151–160. einen puncten niemand vant | und ir deweders hant | dem andern sîn
137 McKitterick (1990), S. 301–304; Illich (1991). wârheit brach; | ir ietweder schrift gelîche jach.«
138 McKitterick (1989). 161 Urstende, v. 13–18: »daz ich ez sô besniten habe | daz mir iemen iht
139 MGH Poetae aevi Karolini 2 (ed. Dümmler), S. 186 (Nr. XXI), Z. 9–14: dar abe | mit pumz oder mit mezzer | schabe und mir bezzer | in dem
»Grammata sola carent fata, mortemque repellunt, | Praeterita reno- margine dâ bî | des in dem blate vergezzen sî«; dazu Quast (2001);
vant grammata sola biblis. | Grammata nempe dei digitus sulcabant außerdem Strohschneider (2005).
in apta | Rupe, suo legem cum dederat populo | Sunt, fuerant, mundo 162 Zuletzt dazu Strohschneider (2006).
venient quae forte futura | Grammata haec monstrant famine cuncta 163 Vgl. Wenzel (1997), Reuvekamp-Felber (2003). Überblick über
suo.« Schriftszenarien im höfischen Roman bei Ernst (1997/2006).
140 Vgl. Reudenbach (1984); Ernst (1991), S. 222–332. 164 Ernst (1997/2006), S. 50.
141 MGH Epistulae 5, S. 382, Z. 1–4: »Quapropter obsecro te, frater, 165 Lohengrin, v. 5337–5350; Ernst, ebd., S. 38.
ut si cui commissum tibi opus ad rescribendum tradideris, illum 166 Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003), Kap. 10.
admoneas, ut figuras in eo factas et conscriptionis ordinem servare 167 Strohschneider (2006), S. 46.
non negligat, ne forte, si formas figurarum variaverit, et scripturae 168 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, hg. von Joseph
ordinem commutaverit, operis precium perdat«. Strange. Bd. 2. Köln, Bonn, Brüssel 1851, S. 24 (7, 19): »tertio eodem
142 Ernst (1991), S. 268. modo depositus et reductus, litteras quidem legere et intelligere potuit,
143 Ebd., S. 291. sed ne scripturam ulli hominum proderet, interdictum accepit.«
144 Ebd., S. 286. 169 Ebd., S. 109 (8, 35): »In pelle siquidem corporis eius scriptae erant
145 Reudenbach (1998), S. 89, 84. litterae minores et nigrae, per lividas plagas flagellorum; litterae ru-
146 Ebd., S. 98f. beae et capitales, per infixiones clavorum; puncta etiam et virgulae,
147 Vgl. Mettauer (2005), S. 46 und Abb. 11. per punctiones spinarum. Bene pellis eadem prius fuerat multiplici
148 Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Auswahl. Althochdeutsch/ percussione pumicata, colaphis et sputis cretata, arundine liniata«;
neuhochdeutsch., hg., übersetzt und kommentiert von Gisela Voll- vgl. Küsters (1999), S. 83f.
mann-Profe. Stuttgart 1987 (Reclam UB 8384), S. 20f.: »Quicquid 170 Aurelii Prudentii Clementis Carmina, hg. von Johannes Bergman.
visu, olfactu, tactu, gustu, audituque delinquimus, in eorum lectionis Wien, Leipzig 1926 (CSEL 61), S. 366–370; vgl. Genz (2005).
memoria pravitatem ipsam purgamus. Visus obscuretur inutilis, 171 Vgl. Menke/Vinken (2004).
inluminatus evangelicis verbis; auditus pravus non sit cordi nostro 172 Bonaventura: Legenda maior, 13,2: »Immissum est igitur menti eius
obnoxius; olfactus et gustus sese a pravitate constringant Christique per divinum oraculum, quod in apertione libri evangelici revelaretur
dulcedine jungant; cordisque praecordia lectiones has theodisce ei a Christo, quid Deo in ipso et de ipso maxime foret acceptum.
conscriptas semper memoria tangent.« Oratione itaque cum multa devotione praemissa, sacrum Evangelio-
149 Vgl. Clanchy (1993). rum librum de altari sumptum in sanctae Trinitatis nomine aperiri
114 fecit per socium, virum utique Deo devotum et sanctum. Sane cum 201
Müller (1988), S. 215.
in trina libri apertione Domini passio semper occurreret, intellexit 202
Vgl. Steinmann (1995).
vir Deo plenus, quod sicut Christum fuerat imitatus in actibus vitae, 203
Maas (1985).
sic conformis ei esse deberet in afflictionibus et doloribus passionis, 204
Vgl. Wilhelm Werner von Zimmern. Totentanz, hg. und kommen-
antequam ex hoc mundo transiret.« tiert von Christian Kiening. Konstanz, Eggingen 2004 (Bibliotheca
173 Küsters (2002), S. 50. suevica 9), Nachwort.
174 Heinrich Seuse: Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 205 Flügge (2005).
1907, S. 16, Z. 10f.; vgl. Beling (2000). 206 Vgl. A. Assmann (1993), S. 146.
175 Largier (1999), S. 242. 207 Vissmann (2000), S. 161–163.
176 Griese/Honemann (2002), S. 240. 208 Chartier (2005), S. 97f.
177 Zu Objekten Blaschitz (2000); zum Kirchenraum Boockmann (1994), 209 Vissmann (2000), S. 155.
Slenczka (1998), Signori (2005), S. 36–73. 210 Ebd., S. 156.
178 Für den Unterricht Michael (2006). 211 Leonhard Wagner: Proba centum scripturarum. Ein Augsburger
179 Wenzel (2000), S. 29; vgl. auch Schreiner (1996), S. 116f.; zu bildlichen Schriftmusterbuch aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Faksimile
Tituli und ihrer textuellen Wiedergabe Arnulf (1997). Ausgabe mit Begleittext von Carl Wehmer. Leizig 1963.
180 Vgl. Sablonier (2002), Teuscher (2006 und 2007); für den speziellen 212 Die Schriftmuster des Laurentius Autenrieth vom Jahre 1520. Fak-
Bereich der Fechtbücher Müller (1992); generell zur Entwicklung simile der Handschrift Cod. hist. 4° 197 der Württembergischen
der spätmittelalterlichen Schriftlichkeit Keller (1992), Ludwig (2005), Landesbibliothek Stuttgart. Mit Beiträgen von Wolfgang Irtenkauf
S. 125–209. und Werner Gebhardt. Stuttgart 1979.
181 Cramer (1997), S. 215. 213 Wolfgang Fuggers Schreibbüchlein. Mit einer Einleitung von Fritz
182 Vgl. Eckart Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, Funke. Nürnberg 1958; vgl. auch Alte Berner Schreibkunst. Jakob
seine Welt und sein Ring. Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- Hutzli, das gülden ABC, hg. von Christian Rubi. Bern 21988; Lee
und Rechtsquellen 32), S. 246. Hendrix, Thea Vignau-Wilberg: An abecedarium. Illuminated alpha-
183 Dazu Putzo (2008). bets from the court of the Emperor Rudolf II. London 1997.
184 Vgl. Kiening, Zeitenraum (2005). 214 Vollständiger Titel: Johannes Lencker: Perspectiva literaria. Das ist ein
185 St. Müller (2006), S. 16. clerliche fuerreyssung/ Wie man alle Buchstaben des gantzen Alpha-
186 Neddermeyer (1998). bets/ Antiquitetischer oder Roemischer Schrifften/ auff mancherley
187 Vgl. Griese (2007). art vnd stellung/durch sondere kunstliche behende weys vnd weg/ so
188 Ferdinand Geldner: Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch bißhero nit ans liecht kommen/ in die Perspectif einer flachen ebnen
der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten. bringen mag. Nürnberg 1567.
Bd. 1. Stuttgart 1968, S. 29 mit Abb. 215 Vgl. Goldberg (1990); David P. Becker: The practice of letters. The
189 Müller (1988), S. 206. Hofer collection of writing manuals 1514–1800. The Harvard College
190 Giesecke (1991), S. 148–150. Library. Cambridge 1997.
191 Müller (1988), S. 213 nach Geldner. 216 Ein gute Ordnung, vnd kurtze vnterricht, der fuernemsten grunde
192 Giesecke (1991), S. 184. aus denen die Jungen, Zierlichs schreybens begirlich, mit besonderer
193 Abb. bei Wenzel (2000), S. 53. kunst vnd behendigkeyt vnterricht vnd geuebt moeg werden (1538);
194 Vgl. Meister E. S. Alle 320 Kupferstiche, hg. von Horst Appuhn. Anweysung vnnd eygentlicher bericht, wie man eynen yeden Kil
Dortmund 1989 (Die bibliophilen Taschenbücher 567), Nr. 289–320, zum schreiben erwölen, bereiten, teylen, schneiden vnnd temperiren
S. 366–371. sol (1544); Ein Gesprechbůchlein zweÿer schuler Wie einer den an-
195 Abb. bei Massin (1970), S. 58, Nr. 166–172. dern jm zierlichen schreyben vntherweÿst (1549); vgl. Kapr (1956);
196 Vgl. Kiening, Das andere Selbst (2003), Kap. 5. Doede (1988); zum Kontext Adolf Jaeger: Stellung und Tätigkeit
197 Geoffroy Tory: Champ Fleury au quel est contenu lart & science de der Schreib- und Rechenmeister (Modisten) in Nürnberg im aus-
la deue & vraye proporttio des lettres attiques, quo dit autrement gehenden Mittelalter und zur Zeit der Renaissance. Ein Beitrag zur
lettres antiques, & vulgairement lettres romaines proportionnées Geschichte eines ringenden und strebenden Mittelstandes aus der
selon le corps & visage humain. Paris 1529; digitales Faksimile unter Zeit der Blüte und des beginnenden Verfalls der Reichsstadt. Diss.
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k50961p; einige Abb. bei Massin Erlangen 1925.
(1970), S. 45–63. 217 Vgl. Ernst (2002/2006), S. 216f.
198 Vgl. auch Kiermeier-Debre/Vogel (2001). 218 Desiderius Erasmus: De recta Latini Graecique sermonis pronunti-
199 Joseph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel: Johann Theodor de Bry, atione dialogus, hg., übersetzt, kommentiert von Johannes Kramer.
Nejw kunstliches Alphabet 1595. Ravensburg 1997. Meisenheim/Glan 1978; Goldberg (1990), S. 175–181.
200 Zur Stelle Chartier (2005), S. 58. 219 Vgl. Goldberg (1990), S. 180.
220
Genette (1996), S. 82f. göttlichen Wesens, Aus natürlicher und geistlicher Betrachtung der 115
221
Zitiert nach Duplan (1977), S. 308. Schnecken und Muscheln. Leipzig 1744, S. 699. Freundlicher Hinweis
222
Ernst (2002/2006), S. 218–221. auf diesen und den Anm. 262 zitierten Lesser-Text von Paul Michel.
223
Eco (1997), S. 130. 248 Adler/Ernst (1990), S. 75; zu den Figurengedichten jetzt Plotke
224
Ebd., S. 133. (2007).
225
Ernst (2002/2006), S. 222. 249 Kilcher (2003).
226
Müller (1991), S. 653. 250 Eco (1997), S. 143.
227
Ebd., S. 673f. 251 Petrus Martyr de Anghiera: Acht Dekaden über die Neue Welt, über-
228
Zitate nach: Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von setzt, eingeführt und mit Anmerkun­gen versehen von Hans Klingel-
1587. Kritische Ausgabe, hg. von Stephan Füssel und Hans Joachim höfer. Darmstadt 1972/75 (Texte zur Forschung 5/6), S. 371–373 (IV
Kreutzer. Stuttgart 1988/1999 (Reclam UB 1516); am Beispiel der 8); lat. Text in: Petrus Martyr de Angleria: Opera. Legatio Babylonica.
Verträge Scholz-Williams/Schwarz (2004). De orbe novo decades octo. Opus epistolarum. Introduction Erich
229 Vgl. Blumenberg (1981), S. 74. Woldan. Graz 1966., f. lxjr (S. 155): »Sunt characteres a nostris valde
230 Ebd., S. 89. dissimilis, taxillis, hamis, laqueis, limis, stellisque, ac formis alterius-
231 Baltasar Graciàn: Das Kritikon. Aus dem Spanischen übersetzt modi lineatim exarati more nostro. Aegyptias fere formas emulantur,
und kommentiert von Hartmut Köhler. Mit einem Nachwort von interlineatim hominum, animaliumque spes, regum praecipue, ac
Hans-Rüdiger Schwab. Frankfurt/M. 2004 (Fischer 15902); vgl. auch progerum depingunt. Quare credendum est ibi esse maiorum ciuisque
Blumenberg (1981), S. 108–116. regis gesta conscriptas, quomodo nostra fieri tempestate videmus,
232 Chartier (2005), S. 102. sepenumero Calcographos generalibus historiis, fabulosis etiam
233 Ebd., S. 112. codicibus, ipsius rei, quae narratur, ad alliciendos emere cupientium
234 Adler/Ernst (1990), S. 198f. mit Abb. animos, auctorum figuras interserere.«
235 Eine digitale Version ist zugänglich unter: http://www.digibib.tu- 252 Vgl. V.-David (1965).
bs.de/?docid=00000619. 253 Eco (1997), S. 165.
236 Zu den Quellen der Episode Dallett (1976). 254 Ebd., S. 172.
237 Ernst (2002/2006), S. 224–226. 255 Trabant (1994), S. 50.
238 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke I,1: Der aben- 256 Ebd., S. 99.
theurliche Simplicissimus Teutsch. Continuatio des abentheurlichen 257 Genette (1996), S. 91f.
Simplicissimi, hg. von Dieter Breuer. Frankfurt/M. 1989 (Biblio- 258 Kiermeier-Debre/Vogel (1992), S. 178–183.
thek deutscher Klassiker 44 = Bibliothek der Frühen Neuzeit 4/1) 259 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Tl. 1.
606,16–24. Hamburg 1721, S. 490–496, hier 491 (Str. 8f.). Für den Hinweis auf
239 Strohschneider (2004); Kiening (2006), Kap. 6. den Text danke ich Paul Michel.
240 Abbildungen bei Herrlinger (1968). Zu verschiedenen Dimensionen 260 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Gedichte.
des Motivs Zeuch (2003). Auswahl und Nachwort von Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1982,
241 Zedelmaier (2001), S. 219. S. 11f.; vgl. auch Blumenberg (1981), S. 180–184.
242 Vgl. Eco (1997), Kap. 4; Kilcher (2003), S. 357–378. 261 Vgl. Schmitz-Emans (1995), S. 68.
243 Harsdörffer/Schwenter (Anm. 245), Bd. 2, S. 516; Adler/Ernst (1990), 262 Friedrich Christian Lesser: Lithotheologie, Das ist: Natürliche
S. 155. Historie und geistliche Betrachtung derer Steine. Neu-verbesserte
244 Ebd., S. 84. Auflage Hamburg 1751, S. XI (Vorrede).
245 Georg Philipp Harsdörffer [und Daniel Schwenter]: Delitiae Philo- 263 Vgl. Henrik Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus:
sophicae et Mathematicae. Der Philosophischen und Mathematischen Physikotheologie im Norddeutschland des 18. Jahrhunderts zwischen
Erquickstunden Dritter Teil. Neudr. der Ausgabe Nürnberg 1653, theologischer Erbauung und Wissensvermittlung. Diss. Kiel 2004; Paul
hg. und eingeleitet von Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1991 (Texte Michel: Physikotheologie. Ursprünge, Leistung und Niedergang einer
der Frühen Neuzeit 3), S. 36f. Denkform. Zürich 2008.
246 Den Hinweis auf die Figur bei Kircher verdanke ich Marie Theres 264 Brief von Ende Dezember 1759; Briefe an Kant, hg. und eingeleitet
Stauffer; vgl. dies.: »Nihil tam obvium, quam specula; nihil tam von Jürgen Zehbe. Göttingen 1971, Nr. 2, S. 4f.
prodigiosum, quam speculorum phasmata«. Zur Visualisierung von 265 Schmitz-Emans (1995), S. 102.
katoptrischen Experimenten des späten 16. und 17. Jahrhunderts, 266 Ebd.
in: Sebastian Schütze (Hg.): Kunst und ihre Betrachter in der frühen 267 Ebd., S. 89–98.
Neuzeit. Berlin 2005, S. 251–290, hier 270. 268 Ebd., S. 95.
247 Friedrich Christian Lesser: Testaceo-Theologia, oder: Gründlicher 269 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförde-
Beweis des Daseyns und der vollkommnesten Eigenschaften eines rung der Menschenkenntnis und Menschenliebe [1775]. Eine Aus-
116 wahl, hg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984 (Reclam UB 350), 296 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten
S. 10. Zu Lavaters ›physiognomischen Lettern‹ Renner (2004). unter ihren Verächtern. 4. Rede: Über das Gesellige in der Religion.
270 Schmitz-Emans (1995), S. 123 mit Zitat aus Eichendorffs Ahnung Berlin 1799 (anonym), S. 179f.; zitiert nach der Ausgabe von Carl
und Gegenwart. Heinz Ratschow. Stuttgart 1969 u. ö. (Reclam UB 8313), S. 120.
271 Zur zunehmenden Trennung zwischen Körper und Schrift A. Ass- 297 Novalis, a. a. O., S. 383 (Nr. 316).
mann (1993). 298 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zu-
272 Vgl. Voßkamp (2005). sammenhang mit dem Sprachbau (1824), in: ders.: Über die Sprache.
273 Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Reden vor der Akademie, hg. von Jürgen Trabant. Tübingen, Basel
hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philoso- 1994 (UTB 1783), S. 105; vgl. Müller-Wille (2005), S. 172–175.
phisch-theoretische Werk. München, Wien 1978, S. 377 (Vorarbeiten 299 Ebd., S. 170 am Beispiel von Almqvist.
1798, Nr. 264; Hervorhebung im Original); vgl. Montandon (1979), 300 Ebd., S. 176.
S. 12. 301 Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799; Gedichte 1800–1832.
274 Koschorke (1999), S. 213, zum Kontext ebd., S. 154–262; s. auch 2 Bde., hg. von Karl Eibl. Frankfurt/M. 1987, Bd. 1, S. 710 (Fassung
Reinlein (2003). von 1797); Bd. 2, S. 372 (nun, 1815, unter dem Titel Séance).
275 Koschorke (1999), S. 158. 302 Müller-Wille (2005), S. 195f.
276 Willer (2005), S. 370f. 303 Vgl. Kilcher (2003), S. 380–401, hier 385.
277 Vgl. Adler/Ernst (1990), S. 222–225. 304 Braun (2007), S. 320.
278 Niehr (2006), S. 99, Abb. S. 100f. 305 Vgl. Löffler (2005), S. 90.
279 Joseph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel: Johann David Steingru- 306 Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Herzenser-
ber, Architectonisches Alphabeth 1773. Ravensburg 1998. gießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, hg. von Martin
280 Joseph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel: Antonio Basoli, Alfabeto Bollacher. Stuttgart 2005 (Reclam UB 18348), 9,8–11 (»Raffaels
pittorico 1839. Ravensburg 1998 (mit viersprachigem Text), S. 83. Erscheinung«).
281 Polaschegg (2005). 307 Ebd., 35,29–32 (»Das Muster eines kunstreichen und dabei tiefge-
282 Voyage de Geneve à Aix, 24. Sept. 1839; Genette (1996), S. 400. lehrten Malers […]«).
283 Soleil d’encre. Manuscripts et dessins de Victor Hugo. Exposition 308 Vgl. Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988 (es
organisée par la Bibliothèque Nationale et la Ville de Paris. [Paris] 1470), S. 97–115.
1986, Abb. S. 206 und 221. 309 Schön (1987), S. 63–72; Braun (2007), S. 110.
284 [August Wilhelm Schlegel:] Über Zeichnungen zu Gedichten und 310 Foucault (1966/1974), S. 160.
John Flaxmans Umrisse, in: Athenaeum II.2 (1799); wieder in: Athe- 311 Böhme, a. a. O., S. 122–135.
naeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich 312 Braun (2007), S. 284.
Schlegel. Ausgewählt und bearb. von Curt Grützmacher. Bd. 2. 313 Ebd., S. 294f. mit Abb.
Reinbek 1969 (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. 314 Groddeck (2001), S. 77; vgl. auch Menke (2006).
Dt. Literatur 30), S. 73–104, hier 78. 315 Vgl. Kilcher/Kremer (1998).
285 In den einschlägigen Werkverzeichnissen: Bentley 41, Erdman 37, 316 Adalbert Stifter: Studien. Mit einem Nachwort von Karl Pörnbacher.
Keynes 41. Düsseldorf, Zürich 102001, S. 381–578, hier 396. Zur Rolle der Schrift
286 Bentley 1, Erdman 1, Keynes 1; neuere Interpretationen bei Herr- Turk (1988), Wirtz (1996).
strom (1986), Wright (2000). 317 Vissmann (2000), S. 57.
287 Wehde (2000), S. 220–245. 318 Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, be-
288 Kittler (1987), Koschorke (1999). gründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt
289 Vgl. Schmitz-Emans (1995), S. 136. von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Bd. III/1. Berlin, New
290 Karl Philipp Moritz: Kinderlogik. Faksimile der Erstausgabe von York 1981, S. 220, Nr. 260.
1786 mit den Illustrationen von Daniel Chodowiecki. Nachwort von 319 Vgl. Stingelin (1988), Windgätter (2005); Ausgabe: Friedrich Nietzsche:
Horst Günther. Frankfurt/M. 1980, S. 38. Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition, Faksimiles und kritischer
291 Ebd., S. 39. Kommentar, hg. von Stephan Günzel und Rüdiger Schmidt-Grépály.
292 Johann Andreas Schmeller: Über Schrift und Schriftunterricht. Ein Weimar 22003; umfassende technische Beschreibung bei Eberwein
ABC-Büchlein in die Hände Lehrender (1803), hg. von Hermann (2005).
Barkey. München 1965 (Bayer. Akad. der Wissenschaften. Phil.-hist. 320 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1858
Klasse. Sitzungsberichte 1965/3), S. 22, 46. – Herbst 1862. Hg. von Johann Figl. Bearbeitet von Hans Gerald
293 Kiermeier-Debre/Vogel (2001), S. 48f. Hödl. Unter Mitarbeit von Ingo W. Rath. Berlin, New York 2000
294 Ebd., S. 55. (Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe I,2), S. 447 (1862: Eu-
295 Vgl. Laermann (1990), S. 124–128. phorion Cap. I.).
321 [Rudolf] von Freydorf: Eine Stenographiermaschine, in: Süddeutsche 348 Sigmund Freud: Notiz über den »Wunderblock«, in: ders.: Gesammelte 117
Monatshefte 5 (1908), S. 318–323; wieder in: Kümmel/Löffler (2002), Werke. Bd. 14, hg. von Anna Freud. Frankfurt/M. 41968, S. 3–8, hier
S. 67–77. S. 8. Zu den Implikationen und Kontexten s. das Kapitel »Freud und der
322 Das Kinobuch. Kinostücke von Richard A. Bermann u. a., hg. und Schauplatz der Schrift« bei Derrida, Schrift (1967/1972), S. 302–350.
eingeleitet von Kurt Pinthus (1913/14), mit einer Nachbemerkung 349 Wunderli (1972), Starobinski (1980).
von Walter Schobert. Frankfurt/M. 1983 (Fischer 3688), S. 29–33; 350 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Fragmente vermisch-
vgl. Kittler (1987), S. 366/368. ten Inhalts, autobiographische Schriften. Frankfurt/M. 1985, S. 185;
323 Giuriato (2006), S. 32f. vgl. Pethes (1999), S. 136–143; Giuriato (2006), S. 42f.
324 Groddeck (2005), S. 171. 351 Lindner (1999).
325 Robert Walser: Fritz Kochers Aufsätze (zuerst 1904). Zürich, Frank- 352 Lewis Carroll: The Rectory Umbrella and Mischmasch. With a
furt/M. 1986 (st 1101), S. 53. Foreword by Florence Milner. New York 1932, Repr. 1971, S. 41.
326 Giuriato (2006), S. 34. 353 Dölvers (1990).
327 Vgl. Robert Alter: Necessary Angels. Tradition and Modernity in 354 Vgl. Arburg (2001), Braun (2007), S. 347–357.
Kafka, Benjamin, and Scholem. Cambridge/Mass. 1991, Kap. 3; 355 Vgl. Rommel (1988), hier S. 313, 322.
ausführliche Deutung bei Samuel (1988), vor dem Hintergrund der 356 Vgl. z. B. Schmitz-Emans (1995), S. 153–185.
Freudschen Traumdeutung: Groddeck (2004). 357 Paul Valéry: Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 3: Zur Literatur, hg.
328 Vgl. Schneider (2006), S. 283–293. von Jürgen Schmidt-Radefeld. Frankfurt/M. 1989, S. 245f.
329 Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. 358 Walter Benjamin: Einbahnstraße (zuerst 1928). Frankfurt/M. 1955
Mit einem Nachwort von Rainer Kirsch. Leipzig 1982 (Reclam u. ö. (Bibliothek Suhrkamp 27), S. 40; leicht abweichende handschrift-
Bibliothek 952), S. 35, 43, 47; vgl. auch Kittler (1987), S. 324–328. liche Fassung in: Walter Benjamins Archive (2006), S. 182.
330 Dornseiff (1925), S. 152f. 359 Vgl. Kurz (2007), bes. S. 88–137.
331 Gustav Meyrink: Der Golem. Nachwort von Eduard Frank. Frank- 360 Wassily Kandinsky: Über die Formfrage, in: Der Blaue Reiter, hg. [von
furt, Berlin 1981 (Ullstein 20140), S. 24–28, 84; zur zuletzt zitierten Wassily] Kandinsky, Franz Marc. München 1912. Dokumentarische
Stelle auch Kittler (1987), S. 330. Neuausg. von Klaus Lankheit. München 1965, S. 99.
332 Vgl. Anderson (1988). 361 Arns/Goller/Strätling/Witte (2004).
333 Zum Text und seinen Kontexten zuletzt u. a. Albert/Disselnköter 362 Vgl. etwa Zbikowski (1996).
(2002), Arburg (2003), Genz (2005). 363 Adler/Ernst (1990), S. 258.
334 Überblick bei Buddemeier (1970); s. auch Kittler (1987) und ders. 364 Vgl. Neef (2000), Neef (2005), S. 238f.
(1986). 365 Vgl. Kurt Schwitters: Anna Blume und andere. Literatur und Grafik,
335 Vgl. Lichtenhahn (2001), Menke (2004). hg. von Joachim Schreck. Köln 1986.
336 Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, 366 Überblick in dem Band von Münz-Koenen/Fetscher (2006).
hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philoso- 367 Zanetti (2005); zum Zeitungsausschnitt te Heesen (2006).
phisch-theoretische Werk. München, Wien 1978, S. 540, Nr. 362 (Das 368 André Breton: Manifestes du surréalisme. [Paris] 1963 (Idées 23),
Allgemeine Brouillon, 1. Handschriftengruppe, Sept./Okt. 1798). S. 34f., 42f. (aus dem ersten Manifest des Surrealismus, 1924).
337 Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck: Phantasien über 369 Paul Lenz: Das Wesen des Lichtsspiels (1913), in: Helmut H. Diederichs
die Kunst, hg. von Wolfgang Nehring. Stuttgart 1973 (Reclam UB (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès
9494/95), S. 82 (»Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst«). bis Arnheim. Frankfurt/M. 2004 (stw 1652), S. 147–157, hier 156.
338 Menke (2004), S. 169f. 370 Vgl. Lange (2000), Friedrich/Jung (2002), Kiening, Blick und Schrift
339 Novalis, a. a. O., S. 539, Nr. 362. (2005), Silberman (2006).
340 Lichtenhahn (2001), S. 101f. 371 Vgl. Kiening/Adolf (2006).
341 Stiegler (2006), S. 131. 372 Kabatek (2003).
342 Ebd., S. 132 (Zitat des schottischen Physikers David Brewster, Er- 373 Christen (2001), S. 169; vgl. auch Stalder (1996) und Gamper (2001).
finder des Kaleidoskops und des dioptrischen Stereoskops, aus dem 374 Vgl. Anm. 24.
Jahr 1856). 375 Benjamin, Einbahnstraße, a. a. O., S. 42f.
343 Hans Bisanz: Peter Altenberg: Mein äußerstes Ideal. Altenbergs 376 Giuriato (2006), S. 66.
Photosammlung von geliebten Frauen, Freunden und Orten. Wien, 377 Vgl. Pethes (1999).
München 1987, S. 109. 378 Walter Benjamins Archive (2006), S. 76–119.
344 Stiegler (2001). 379 Giuriato (2006), S. 23.
345 Stiegler (2006), S. 195. 380 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Mit einem
346 Krauss (1992). Nachwort von Theodor W. Adorno [Fassung letzter Hand und Frag-
347 Kittler (1987), S. 321–324. mente aus früheren Fassungen]. Frankfurt/M. 2006 (st 3759), S. 96f.
118 381 Ebd., S. 34. Abgekürzt zitierte Literatur
382 Vgl. Mennighaus (1980).
383 Cees Nooteboom: Nootebooms Hotel. Frankfurt/M. 2000, als Tb.
Adler, Jeremy; Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike
2002 (st 3387), S. 349f. Für den Hinweis auf den Text danke ich
bis zur Moderne. Weinheim 1987, ³1990.
herzlich Miriam Vorbrugg.
Aicher, Otl: typographie. Berlin 21989.
Albert, Claudia; Disselnkötter, Andreas: »Inmitten der Strafkolonie steht
keine Schreibmaschine«: Eine Re-Lektüre von Kafkas Erzählung, in:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
27 (2002), S. 168–184.
Anderson, Mark: The Ornaments of Writing: Kafka, Loos and the Jugendstil,
in: New German Critique 43 (1988), S. 125–145.
Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der
Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität,
Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 2005.
Arburg, Hans-Georg von: Dämonische Signaturen aus dem Tintenfaß.
Justinus Kerners Kleksographien und die ›Zufallsbilder‹ der Natur,
in: Arburg/Gamper/Stadler (2001), S. 43–67.
Arburg, Hans-Georg von: Archäodermatologie der Moderne. Zur The-
oriegeschichte der Tätowierung in der Architektur und Literatur
zwischen 1830 und 1930, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Litera-
turwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003), S. 407–445.
Arburg, Hans-Georg von; Gamper, Michael; Stadler, Ulrich (Hg.): »Wun-
derliche Figuren«. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. Mün-
chen 2001.
Aris, Marc-Aeilko: »Der Trost der Bücher«. Bonifatius und seine Bibliothek;
Erzähltes Sterben – Der Tod des Bonifatius im Spiegel der Bonifatius-
viten, in: Michael Imhof und Gregor K. Stasch (Hg.): Bonifatius. Vom
angelsächsischen Missionar zum Apostel der Deutschen. Petersberg
2004, S. 95–110, 111–126.
Arns, Inke; Goller, Mirjam; Strätling, Susanne; Witte, Georg (Hg.): Kineto-
graphien. Bielefeld 2004 (Schrift und Bild in Bewegung 10).
Arnulf, Arwed: Versus ad picturas. Studien zur Titulardichtung als Quellen-
gattung der Kunstgeschichte von der Antike bis zum Hoch­mittelalter.
München u. a. 1997.
Assmann, Aleida und Jan; Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift und Ge-
dächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I. München
1983.
Assmann, Aleida; Assmann, Jan (Hg.): Hieroglyphen. Stationen einer ande-
ren abendländischen Grammatologie. Archäologie der literarischen
Kommunikation VIII. München 2003.
Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde
Semiose, in: Gumbrecht/Pfeiffer (1988), S. 237–251.
Assmann, Aleida: Exkarnation. Gedanken zur Grenze zwischen Körper
und Schrift, in: Jörg Huber, Alois Martin Müller (Hg.): Raum und
Verfahren. Basel 1993, S. 133–155.
Assmann, Jan: Im Schatten junger Medienblüte. Ägypten und die Materialität
des Zeichens, in: Gumbrecht/Pfeiffer (1988), S. 141–160.
Assmann, Jan: Zur Entwicklung der Schrift im Alten Ägypten, in: Lorenz
Engell, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Archiv für Medienge-
schichte 3 (2003) [Medien der Antike], S. 13–24.
Assmann, Jan: Die Erfindung der Schrift, in: Karlheinz A. Geißler, Stefanie
Hajak, Susanne May (Hg.): Könnte es nicht auch anders sein? Die Er- Bridges, Margaret: Mehr als ein Text. Das ungelesene Buch zwischen Symbol 119
findung des Selbstverständlichen. Stuttgart, Leipzig 2003, S. 25–40. und Fetisch, in: Stolz/Mettauer (2005), S. 103–121.
Assmann, Jan: Antike Äußerungen zur ägyptischen Schrift, in: Assmann/ Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und
Assmann (2003), S. 27–35. Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. Untersuchungen und
Balogh, Joseph: Voces paginarum. Beiträge zur Geschichte des lauten Le- Dokumente. München 1970.
sens und Schreibens, in: Philologus 82, N. F. 36 (1927), S. 84–109, Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in the Me-
202–240. dieval Culture. Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval
Barthes, Roland: Erté oder An den Buchstaben (frz. 1971), in: ders.: Der Literature 10).
entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Chartier, Roger: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe
Frankfurt/M. 1990 (es 1367), S. 110–135. siècle). Paris 2005.
Barthes, Roland: Cy Twombly oder Non multa sed multum (frz. 1979), Christen, Matthias: »Wo Abfälle und Sternbilder sich treffen«. Lichtschrif-
in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische ten und photographische Chiffren im Werk Siegfried Kracauers, in:
Essays III. Frankfurt/M. 1990 (es 1367), S. 165–183. Arburg/Gamper/Stadler (2001), S. 165–186.
Barthes, Roland: Variations sur l’écriture [frz. 1994]. Variationen über die [Christin, Ann-Marie (Hg.)]: L’espace et la lettre. Écritures, typographies.
Schrift. Französisch-Deutsch. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef [Paris] 1977 (Cahiers Jussieu 3 = 10/18 1180).
Ortheil. Mainz 2006 (excerpta classica 2). Clanchy, M[ichael] T.: From Memory to Written Record. England 1066–
Becht-Jördens, Gereon: Heiliger und Buch. Überlegungen zur Tradition 1307. Oxford 21993.
des Bonifacius-Martyriums anläßlich der Teilfaksimilierung des Classen, Albrecht (Hg.): The Book and the Magic of Reading in the Middle
Ragyndrudis-Codex, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Ages. New York, London 1998.
46 (1996), S. 1–30. Coulmas, Florian: Zwischen Schreiben und Malen. Ansätze zu einer se-
Begemann, Christian: Die Schrift des Körpers und der Körper der Schrift. miotischen Analyse der Kalligraphie, in: Semiosis 12, 3. Jg., H. 4
Anthropologie und Semiotik in Peter Greenaways The Pillow-Book, (1978), S. 5–25.
in: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeu- Cramer, Thomas: Nabelreibers Brief, in: Wenzel (1997), S. 212–225.
gung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.
der Neuzeit. Freiburg 2002 (Rombach Litterae 82), S. 381–420. Bern 21953 u. ö.
Beling, Marcus: Der Körper als Pergament der Seele. Gedächtnis, Schrift Czerwinski, Peter: Verdichtete Schrift. comprehensiva scriptura. Prolego-
und Körperlichkeit bei Mechthild von Magdeburg und Heinrich mena zu einer Theorie der Initiale, in: Internationales Archiv für
Seuse, in: Clemens Wischermann (Hg.): Körper mit Geschichte. Der Sozialgeschichte der der deutschen Literatur 22/2 (1997), S. 1–35.
menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung. Stuttgart Dallett, Joseph B.: Auf dem Weg zu den Ursprüngen: Eine Quellenunter-
2000, S. 109–132. suchung zu Grimmelshausens Schermesser-Episode, in: Carleton
Birt, Theodor: Die Buchrolle in der Kunst. Archäologisch-antiquarische Germanic papers 4 (1976), S. 1–36.
Untersuchungen zum antiken Buchwesen. Leipzig 1907. Davis, Stephan K.: The Antithesis of the Ages. Paul’s Reconfiguration of
Bischoff, Bernhard: Paläographie des römischen Altertums und des abend- Torah. Washington DC 2002 (Catholic Biblical Quarterly. Mono-
ländischen Mittelalters. Berlin 1979, 21986 (Grundlagen der Ger- graph Series 33).
manistik 24). Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz (frz. 1967). Frankfurt/M.
Blaschitz, Gertrud: Schrift auf Objekten, in: Wenzel/Seipel/Wunberg (2000), 1972 u. ö.
S. 145–179. Derrida, Jacques: Grammatologie (frz. 1967). Frankfurt/M. 1974 u. ö.
Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1981 u. ö. (stw Derrida, Jacques: La pharmacie de Platon, in: ders.: La dissémination. Paris
592). 1972, S. 77–213.
Boehm, Gottfried: Gegen den Strich. Über die Arbeit mit Schrift und Bild, Doede, Werner: Schön schreiben, eine Kunst. Johann Neudörffer und seine
in: Neumann/Öhlschläger (2004), S. 109–123. Schule im 16. und 17. Jahrhundert. München 1957 (Bibliothek des
Bolter, Jay: Writing Space. The Computer, Hypertext and the History of Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 6); erweiterte Neuausg.
Writing. Hillsdale 1991. unter dem Titel: Schön schreiben, eine Kunst. Johann Neudörffer und
Boockmann, Hartmut: Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen die Kalligraphie des Barock. München 1988.
Kirchen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 Dölvers, Horst: Abbildung und Bebilderung. Subversive Zeicheninhalte
(1984), S. 209–224. in einem viktorianischen Bilderbuch, in: Dümchen/Nerlich (1990),
Boockmann, Hartmut: Belehrung durch Bilder? Ein unbekannter Typus S. 171–189.
spätmittelalterlicher Tafelbilder, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte Dornseiff, Franz: Das Alphabet in Mystik und Magie. Berlin 21925
57 (1994), S. 1–22. (ΣΤΟΙΧΙΑ 7).
Braun, Peter: Mediale Mimesis. Licht- und Schattenspiele bei Adalbert von Dümchen, Sybil; Nerlich, Michael (Hg.): Text – Image. Bild – Text. Berlin
Chamisso und Justinus Kerner. München 2007. 1990.
120 Dürscheid, Christa: Einführung in die Schriftlinguistik. Erweitert um ein Ganz, Peter (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt.
Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller. Göttingen 32006 Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5).
(Studienbücher zur Linguistik 8). Genz, Julia: Schreib-Schmerzen: Die Materialität des Schreibens bei Pru-
Duplan, Pierre: Pour une sémiologie de la lettre, in: Christin (1977), dentius und Kafka, in: arcadia 40 (2005), S. 375–389.
S. 295–347. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische
Eberlein, Konrad: Minatur und Arbeit. Frankfurt/M. 1995. Studie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommuni-
Eberwein, Dieter: Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches kationsmedien. Frankfurt/M. 1991 u. ö.
Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel. Gilbert, Annette: Ephemere Schrift. Flüchtigkeit und Artefakt, in: Strät-
Schauenburg 2005. ling/Witte (2006), S. 41–58.
Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (ital. 1993). Gilbert, Annette: Bewegung im Stillstand. Erkundungen des Skripturalen bei
München 1997 (dtv 30629). Carlfriedrich Claus, Elizaveta Mnatsakanjan, Valeri Scherstjanoi und
Ehler, Christine; Schaefer, Ursula (Hg.): Verschriftung und Verschriftli- Cy Twombly. Bielefeld 2006 (Schrift und Bild in Bewegung 15).
chung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Giuriato, Davide: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in
Epochen. Tübingen 1998. Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932–1939). München
Ehlich, Konrad: Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation, in: 2006 (Zur Genealogie des Schreibens 5).
Günther/Ludwig (1994), S. 18–41. Giuriato, Davide; Stingelin, Martin; Zanetti, Sandro (Hg.): »Schreibkugel
Ernst, Ulrich: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der
antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln, Weimar, Typoskripte. München 2005 (Zur Genealogie des Schreibens 2).
Wien 1991 (Pictura et Poesis 1). Goldberg, Jonathan: Writing Matter: From the Hands of the English Ren-
Ernst, Ulrich: Farbe und Schrift im Mittelalter unter Berücksichtigung aissance. Stanford 1990.
antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen, in: Ovidio Gomringer, Eugen: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie
Capitani (Hg.): Testo e Immagine nell’alto medioevo. Bd. 1. Spoleto (zuerst 1972). Stuttgart 2001 (Reclam UB 9350).
1994 (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioe- Gomringer, Eugen: visuelle poesie. anthologie. Stuttgart 1996 (Reclam UB
vo 41), S. 343–415; wieder in: ders., Facetten (2006), S. 251–322. 9351).
Ernst, Ulrich: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen Goody, Jack; Watt, Ian; Gough, Kathleen: Entstehung und Folgen der
und späten Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), Schriftkultur. Frankfurt/M. 21991.
S. 253–269; wieder in: ders., Facetten (2006), S. 1–148. Gormans, Andreas: Geometria et ars memorativa. Studien zur Bedeutung von
Ernst, Ulrich: Standardisiertes Wissen über Schrift und Lektüre, Buch und Kreis und Quadrat als Bestandteile mittelalterlicher Mnemonik und
Druck. Am Beispiel des enzyklopädischen Schrifttums vom Mittel- ihrer Wirkungsgeschichte an ausgewählten Beispielen. Aachen 2003.
alter zur Frühen Neuzeit, in: Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie Graham, William A.: Beyond the Written Word: Oral Aspects of Scripture
im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. München in the History of Religion. Cambridge 1987, 21993.
2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 78), S. 451–494; wieder in: Grasshoff, Richard: Der Befreite Buchstabe. Über Lettrismus. Letters in
ders., Facetten (2006), S. 201–252. Freedom. Diss. FU Berlin 2001 (digital unter: http://www.diss.fu-
Ernst, Ulrich: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustra- berlin.de/2001/9).
tion, Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006. Greber, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie.
Fichtenau, Heinrich: Mensch und Schrift im Mittelalter. Wien 1946 (Ver- Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln
öffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsfor- 2002 (Pictura et Poesis 9).
schung 5). Greber, Erika; Ehlich, Konrad; Müller, Jan-Dirk (Hg.): Materialität und Me-
Flügge, Lars: Die Auswirkungen des Buchdrucks auf die Praxis des Schrei- dialität von Schrift. Bielefeld 2002 (Schrift und Bild in Bewegung 1).
bens. Marburg 2005. Griese, Sabine: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität
Foucault, Michel: Un »fantastique« du bibliotheque (frz. 1966), in: gedruckter Bilder des 15. Jahrhunderts. Habil.-Schrift Zürich 2007.
ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M. 1988 (Fischer 7405), Griese, Sabine; Honemann, Volker: Zauber – Segen – Katechese. Position
S. 157–177. und Leistung der xylographischen Einblattdrucke in der Medienwelt
Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife. München 1974. des 15. Jahrhunderts, in: Meier/Keller/Honemann/Suntrup (2002),
Frank, Barbara; Haye, Thomas; Tophinke, Doris (Hg.): Gattungen mittel- S. 234–249.
alterlicher Schriftlichkeit. Tübingen 1997. Grindheim, Sigurd: The Law Kills but the Gospel Gives Life: The Letter-
Friedrich, Hans-Edwin; Jung, Uli (Hg.): Schrift und Bild im Film. Bielefeld Spirit Dualism in 2 Corinthians 3.5–18, in: Journal for the Study of
2002 (Schrift und Bild in Bewegung 3). the New Testament 84 (2001), S. 97–115.
Gamper, Michael: »Was nie geschrieben wurde, lesen«. Entzifferung und Groddeck, Wolfram: Grab und Griffel. Kleists semiologische Anekdote
Mythologisierung als Methoden der physiognomischen Lektüre in vom ›Griffel Gottes‹, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen
Großstadttexten, in: Arburg/Gamper/Stadler (2001), S. 317–345. in der Moderne. Insbruck u. a. 2001, S. 57–77.
Groddeck, Wolfram: Schreiben und Schrift. Zu Kafkas Prosastück ›Ein Herrstrom, David Sten: Blake’s Redemption of God in the Laocoon: Literal 121
Traum‹, in: Elmar Locher und Isolde Schiffermüller (Hg.): Franz Incarnation and the Marriage of Picture and Text, in: Mark Neuman
Kafka, Ein Landarzt. Interpretationen. Bozen 2004 (essay & poesie and Michael Payne (Hg.): Perspective: Art, Literature, Participation.
17), S. 243–253. London and Toronto 1986, S. 37–71.
Groddeck, Wolfram: Robert Walsers »Schreibmaschinenbedenklichkeit«, Holzer, Jenny: Die Macht des Wortes. I Can’t Tell You, hg. von Söke Dinkla.
in: Giuriato/Stingelin/Zanetti (2005), S. 169–182. Duisburg 2006.
Gross, Sabine: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne ent-
Leseprozeß. Darmstadt 1994. stand. Frankfurt/M. 1991.
Grube, Gernot; Kogge, Werner; Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtechnik Jakobi-Mirwald, Christine: Text – Buchstabe – Bild. Studien zur historisier-
zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005. ten Initiale im 8. und 9. Jahrhundert. Berlin 1998.
Günther, Hartmut; Ludwig, Otto u. a. (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Aus-
Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler stattung. Stuttgart 2004 (Reclam UB 18315).
Forschung. 2 Halbbde. Berlin, New York 1994–1996 (Handbücher Jennings, Margaret: Tutivillus. The Literary Career of the Recording Demon,
zur Sprach- u. Kommunikationswissenschaft 10.1 und 10.2). in: Studies in Philology 74/5 (1977), S. 1–98.
Gumbrecht, Hans Ulrich; Pfeifer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kom- Jussen, Bernhard (Hg.): Hanne Darboven – Schreibzeit. Köln 2000 (Kunst-
munikation. Frankfurt/M. 1988 (stw 750). wissenschaftliche Bibliothek 15 = Von der künstlerischen Produktion
Gumbrecht, Hans Ulrich; Pfeifer, K. Ludwig (Hg.): Schrift. München der Geschichte 3).
1993. Kabatek, Wolfgang: Siegfried Kracauers Verfahren der Oberflächenlektüre,
Haarmann, Harald: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt, New York in: Michael Barchet, Donata Koch-Haag, Karl Sierek (Hg.): Ausstel-
2
1991. len – Der Raum der Oberfläche. Weimar 2003, S. 199–224.
Hafemann, Scott J.: Paul, Moses and the History of Israel. The Letter/ Kapr, Albert: Johann Neudörffer der Ältere, ein großer Schreibmeister der
Spirit Contrast and the Argument from Scripture in 2 Corinthians Deutschen Renaissance. Leipzig 1956.
3. Tübingen 1995 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Keller, Hagen: Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen
Testament 81). von Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992),
Havelock, Eric A.: Preface to Plato. Cambridge/Mass. 1963. S. 1–31.
Havelock, Eric A.: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Kemp, Wolfgang: Christliche Kunst. Ihre Anfänge – Ihre Strukturen. Mün-
Revolution. Weinheim 1990. chen, Paris, London 1994.
Haye, Thomas: Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kendrick, Laura: Animating the letter. The figurative embodiment of writing
Kommunikation des hohen und späten Mittelalters. Berlin, New from late antiquity to the Renaissance. Columbus/Ohio 1999.
York 2005. Kessler, Herbert L.: Seeing Medieval Art. Toronto 2004 (Rethinking the
te Heesen, Anke: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Middle Ages 1).
Frankfurt/M. 2006 (Fischer 16584). Kesting, Peter: Maria als Buch, in: Würzburger Prosastudien I. Wort-, be-
Heidecker, Karl (Hg.): Charters and the Use of Writing in Medieval Society. griffs- und textkundliche Untersuchungen. München 1968 (Medium
Brüssel 2000. Aevum 13), S. 122–147.
Heinzer, Felix: »Exercitium scribendi« – Überlegungen zur Frage einer Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter
Korrelation zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im der Literatur. Frankfurt/M. 2003 (Fischer Tb. 15951).
Mittelalter, in: Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann (Hg.): Kiening, Christian: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle
Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Tübingen zur Neuzeit. München 2003.
2002, S. 107–129. Kiening, Christian: Zeitenraum und mise en abyme. Zum ›Kern‹ der Melu-
Heinzer, Felix: Wörtliche Bilder. Zur Funktion der Literal-Illustration sinegeschichte, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen-
im Stuttgarter Psalter (um 830). Berlin, New York 2005 (Wolfgang schaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 3–28.
Stammler Gastprofessur. Vorträge 13). Kiening, Christian: Blick und Schrift. Das Cabinet des Dr. Caligari und die Me-
Herkommer, Hubert: Das Buch als Arznei. Von den therapeutischen Wir- dialität des frühen Spielfilms, in: Poetica 37/1–2 (2005), S. 119–145.
kungen der Literatur, in: Henriette Herweg, Irmgard Wirtz und Stefan Kiening, Christian: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt.
Bodo Würffel (Hg.): Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Göttingen 2006 (Historische Semantik 9).
Raum und Zeit. Tübingen, Basel 1999, S. 87–111. Kiening, Christian; Adolf, Heinrich (Hg.): Mittelalter im Film. Berlin, New
Herrlinger, R[obert]: Die geschundene Haut im barocken anatomischen York 2006 (Trends in Medieval Philology 6).
Titelkupfer, in: Heinz Goerke und Heinz Müller-Dietz (Hg.): Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz: Poetische Abracadabra. Neu-
Verhandlungen des XX. Internationalen Kongresses für Geschich- estes ABC- und Lesebüchlein. München 1992 (dtv 2305).
te der Medizin. Berlin, 22.-27. August 1966. Hildesheim 1968, Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz: Antonio Basoli. Alfabeto
S. 474–496. pittorico 1839. Ravensburg 1995.
122 Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz: Menschenalphabete. Nackte Kurz, Stephan: Der Teppich der Schrift. Typographie bei Stephan George.
Models, Wilde Typen, Modische Charaktere. Marburg 2001. Frankfurt/M., Basel 2007.
Kilcher, Andreas B.: mathesis und poesis. Die Enzyklopädik der Literatur Laermann, Klaus: Schrift als Gegenstand der Kritik, in: Merkur 44/2 (1990),
1600–2000. München 2003. S. 120–134.
Kilcher, Andreas B.; Kremer, Detlef: Romantische Korrespondenzen und Landfester, Ulrike (Hg.): Schrift und Bild und Körper. Bielefeld 2002 (Bild
jüdische Schriftmagie in Drostes Judenbuche, in: Ernst Ribbat (Hg.): und Schrift in Bewegung 4).
Dialog mit der Droste. Paderborn 1998, S. 249–261. Lange, Sigrid: Schwarz auf Weiß. Die Schatten der Schrift im expressionis-
Kimpel, Harald: Himmelsschreiber. Dimensionen eines flüchtigen Mediums. tischen Film, in: Weimarer Beiträge 46 (2000), S. 346–365.
Marburg 1986. Lapacherie, Jean Gérard: Der Text als ein Gefüge aus Schrift (Über die
Kittler, Friedrich A.: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986. Grammatextualität), in: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Frankfurt/
Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme. 1800/1900. München 21987 M. 1990 (es 1475), S. 69–88.
u. ö. Largier, Niklaus: Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer
Koch, Peter; Krämer, Sybille (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Seuse-Handschrift des 15. Jahrhunderts, in: Jan-Dirk Müller, Horst
Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997. Wenzel (Hg.): Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent.
Koep, Leo: Das himmlische Buch in Antike und Christentum. Bonn 1952 Stuttgart, Leipzig 1999, S. 241–271.
(Theophaneia. Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Largier, Niklaus: Schrift als Ereignis. Zur Inszenierungsstruktur mittelalter-
Altertums 8). licher Liturgie, in: Thomas Rathmann (Hg.): Ereignis. Konzeptionen
Köpf, Ulrich: Das ›Buch der Erfahrung‹ im 12. Jahrhundert, in: Cora Dietl eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln, Weimar,
und Dörte Helschiger (Hg.): Ars und Scientia im Mittelalter und Wien 2003, S. 85–102.
in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Leclercq, Jean: Aspects spirituels de la symbolique du livre au XIIe siècle,
Tübingen und Basel 2002, S. 47–56. in: L’homme devant dieu. Mélanges offerts au Père Henri de Lubac.
Kopfermann, Thomas (Hg.): Theoretische Positionen zur konkreten Poesie. Bd. 2. Paris 1964 (Théologie 57), S. 63–72.
Texte und Bibliographie. Tübingen 1974 (deutsche texte 33). Legner, Anton: Illustres manus, in: ders. (Hg.): Ornamenta ecclesiae. Kunst
Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des und Künstler der Romanik. Bd. 1. Köln 1985, S. 187–230.
18. Jahrhunderts. München 1999. Leipoldt, Johannes; Morenz, Siegfried: Heilige Schriften. Betrachtungen zur
Krämer, Sybille: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Di- Religionsgeschichte der antiken Mittelmeerwelt. Leipzig 1953.
mension der Schrift, in: Krämer/Bredekamp (2003), S. 157–176. Lentz, Michael: LautPoesie/-Musik. Nach 1945. Eine kritisch-dokumenta-
Krämer, Sybille: ›Operationsraum Schrift‹. Über einen Perspektivenwechsel rische Bestandsaufnahme. 2 Bde. Wien 2000.
in der Betrachtung der Schrift, in: Grube/Kogge/Krämer (2005), Lichtenhahn, Ernst: Sichtbare Sprache in der Natur. Zur romantischen Deu-
S. 23–57. tung musikalischer Chiffrenschriften, in: Arburg/Gamper/Stadler
Krämer, Sybille; Bredekamp, Horst (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München (2001), S. 97–113.
2003. Lindner, Walter: Bilder mit Geschichten. Geschichten mit Bildern. Die
Krajewski, Markus: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geist Glasbildsammlungen des Schloßmuseums Jever und die Bilderalben
der Bibliothek. Berlin 2002 (copyrights 4). des Genfer Zeichners Rodolphe Töpffer. Oldenburg 1999.
Krauss, Rolf H.: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Photogra- Löffler, Jörg: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe. Berlin 2005
phie bei bestimmten paranormalen Phänomenen – ein historischer (Philologische Studien und Quellen 193).
Abriß. Marburg 1992. Ludwig, Otto: Geschichte des Schreibens. Bd. 1: Von der Antike bis zum
Krüger, Klaus: Die Zeit der Schrift. Medium und Metapher in der »Schreib- Buchdruck. Berlin, New York 2005.
zeit«, in: Jussen (2000), S. 43–68. Maas, Utz: Lesen – Schreiben – Schrift. Die Demotisierung eines professionel-
Kuchenbuch, Ludolf; Kleine, Uta (Hg.): ›Textus‹ im Mittelalter. Kompo- len Arkanums im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Zeit-
nenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985), S. 55–81.
Feld. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts Maas, Utz: »Die Schrift ist ein Zeichen für das, was in dem Gesprochenen
für Geschichte 216). ist«. Zur Frühgeschichte der sprachwissenschaftlichen Schriftauf-
Kümmel, Albert; Löffler, Petra (Hg.): Medientheorie 1888–1933. Texte und fassung: das aristotelische und nacharistotelische (phonographische)
Kommentare. Frankfurt/M. 2002 (stw 1604). Schriftverständnis, in: Kodikas/Code 9 (1986), S. 247–292.
Küsters, Urban: Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelal- Mainberger, Sabine: Schriftskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhal-
ters, in: Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel (Hg.): Mittelalter. Neue Wege tern, Kalligraphen. München 1995.
durch einen alten Kontinent. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 81–109. Martin, Henri-Jean; Vezin, Jean: Mise en page et mise en texte du livre
Küsters, Urban: Ebenbild und Spur. Der gezeichnete Körper des Hl. Fran- manuscript. Paris 1990.
ziskus, in: Ulrike Landfester (Hg.): Schrift und Bild und Körper. Massin [, Robert]: La lettre et l’image. Du signe à la lettre et de la lettre au
Bielefeld 2002 (Bild und Schrift in Bewegung 4), S. 43–66. signe. Paris 1970.
McKitterick, Rosamond: The Carolingians and the written word. Cam- Müller, Jan-Dirk: Zwischen mündlicher Anweisung und schriftlicher 123
bridge 1989. Sicherung von Tradition. Zur Kommunikationsstruktur spätmit-
McKitterick, Rosamond: Text and image in the Carolingian world, in: ders. telalterlicher Fechtbücher, in: Helmut Hundsbichler (Hg.): Kom-
(Hg.): The uses of literacy in early medieval Europe. Cambridge munikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Wien
1990, S. 297–317. 1992, S. 379–400.
Meier, Christel; Hüpper, Dagmar; Keller, Hagen (Hg.): Der Codex im Ge- Müller, Jan-Dirk (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Frü-
brauch. München 1996 (Münstersche Mittelalter-Schriften 70). her Neuzeit. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien.
Meier, Christel; Keller, Hagen; Honemann, Volker; Suntrup, Rudolf (Hg.): Berichtsbd. 17).
Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftlichkeit. München Müller, Stephan: Alte Medien. Einmaligkeit und Mehrmaligkeit von Stimme
2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79). und Schrift im Prolog des Wolfdietrich D in Handschrift und Druck,
Menke, Bettine: Aufgezeichnete Bewegung: Schall-Figur, Bewegungs-Bild, in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 1–18.
in: Arns/Goller/Strätling/Witte (2004), S. 159–177. Müller-Wille, Klaus: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des
Menke, Bettine: Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, …, Archivs in Texten von C. J. L. Almqvist. Tübingen und Basel 2005
in: Strätling/Witte (2006), S. 203–215. (Beiträge zur Nordischen Philologie 39).
Menke, Bettine; Vinken, Barbara (Hg.): Stigmata. Poetiken der Körperin- Münz-Koenen, Inge; Fetscher, Justus (Hg.): Pictogrammatica. Die visuelle
schrift. München 2004. Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900–1938).
Mennighaus, Winfried: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frank- Bielefeld 2006 (Schrift und Bild in Bewegung 13).
furt/M. 1980. Neddermeyer, Uwe: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schrift-
Mettauer, Adrian: Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als lichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.
Geschenk Karls des Grossen an Papst Hadrian I., in: Stolz/Mettauer Quantitative und qualitative Aspekte. 2 Bde. Wiesbaden 1998 (Buch-
(2005), S. 41–63. wissenschaftl. Beiträge aus dem dt. Bucharchiv München 61).
Metz, Petra: Aneignung und Relektüre. Text-Bild-Metamorphosen im Werk Neef, Sonja: Kalligramme. Zur Medialität einer Schrift. Anhand von Paul
von Marcel Broodthaers. München 2007. van Ostaijens ›De feesten van angst en pijn‹. Amsterdam 2000.
Michael, Bernd: Textus und das gesprochene Wort. Zu Form und Theorie Neef, Sonja: Handspiel. Stil/us und rhythmische Typographie bei Paul van
des mittelalterlichen Universitätsunterrichts, in: Kuchenbuch/Kleine Ostaijen, in: Guiriato/Stingelin/Zanetti (2005), S. 235–253.
(2006), S. 179–206. Neumann, Gerhard; Öhlschläger, Claudia (Hg.): Inszenierungen in Schrift
Mössinger, Ingrid; Milde, Brigitta (Hg.): Schrift. Zeichen. Geste. Carlfried- und Bild. Bielefeld 2004 (Schrift und Bild in Bewegung 7).
rich Claus im Kontext von Klee bis Pollock. Köln 2005. Neumann, Gerhard, Oesterle, Günter (Hg.): Bild und Schrift in der Ro-
Mon, Franz: zur poesie der fläche (1967), in: Gomringer (1972/2001), mantik. Würzburg 1999.
S. 169–176. Niehr, Klaus: Dem Blick aussetzen. Das exponierte Kunstwerk, in: Bernd
Montandon, Alain: Écriture et folie chez E.T.A. Hoffmann, in: Romantisme Carqué, Daniela Mondini, Matthias Noell (Hg.): Visualisierung
24 (1979), S. 7–28. und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen
Morenz, Ludwig D.: Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen: Die Her- Darstellungen der Neuzeit und Moderne. Göttingen 2006 (Göttinger
ausbildung der Schrift in der Hohen Kultur Altägyptens. Fribourg, Gespräche zur Geschichtswissenschaft 25), S. 53–102.
Göttingen 2004 (Orbis biblicus et orientalis 205). Nordenfalk, Carl: Die spätantiken Zierbuchstaben. Stockholm 1970.
Morison, Stanley: Politics and Script. Aspects of Authority and Freedom in Ong, Walter J.: Orality and Literacy: The Technologizing of the Word.
the Development of Graeco-Latin Script from the 6th Century B.C. New York 1982 u. ö.
to the 20th Century A.D. Oxford 1972 u. ö. Pächt, Otto: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, hg. von Dagmar
Morsel, Joseph: Brief und schrift. Überlegungen zu den sozialen Grundlagen Thoss und Ulrike Jenni. München 1984.
schriftlichen Austauschs im Spätmittelalter am Beispiel Frankens, in: Papadopoulo, Alexandre: La calligraphie arabe, in: Christin (1977), S. 137–
Kuchenbuch/Kleine (2006), S. 285–321. 162.
Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Parkes, Malcolm B.: The Influence of the Concepts of Ordinatio and
Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Compilatio on the Development of Books, in: J. J. G. Alexander
Tübingen 2006 (Communicatio 36). and M. T. Gibson (Hg.): Medieval Learning and Literature. Oxford
Müller, Jan-Dirk: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen 1976, S. 115–141.
Handschrift und Druck, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pethes, Nicolas: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion
Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988 nach Walter Benjamin. Tübingen 1999 (Communicatio 21).
(stw 750), S. 203–217. Plotke, Seraina: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. Mün-
Müller, Jan-Dirk: Buchstabe, Geist, Subjekt: Zu einer frühneuzeitlichen chen 2007.
Problemfigur bei Sebastian Franck, in: Modern Language Notes Polaschegg, Andrea: »Diese geistig technischen Bemühungen …«. Zum
106 (1991), S. 648–674. Verhältnis von Gestalt und Sinnversprechen der Schrift: Goethes
124 arabische Schreibübungen und E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf, Schabert, Ina: Körperalphabete, Modealphabete und die somatographische
in: Grube/Kogge/Krämer (2005), S. 279–304. Kunst von Erté, in: Gertrud Lehnert (Hg.): Mode, Weiblichkeit und
Putzo, Christine: Komik, Ernst und Mise en page. Zum Problem der Farbli- Modernität. Dortmund 1998, S. 62–85.
nien in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, in: Archiv für das Studium der Schlieben-Lange, Brigitte: Geschichte der Reflexion über Schrift und Schrift-
neueren Sprachen und Literaturen 245 (2008). lichkeit, in: Günther/Ludwig (1994), Bd. 1, S. 102–121.
Quast, Bruno: Vera icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst Schlott, Adelheid: Schrift und Schreiber im Alten Ägypten. München 1989.
in der ›Veronika‹ des Wilden Mannes, in: Müller/Wenzel (1999), Schmidt, Henrike: Wortmusik, Schrifttanz, Textbilder. Intermediale Sprach-
S. 197–216. konzeptionen in der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts. Diss.
Quast, Bruno: Hand-Werk. Die Dinglichkeit des Textes bei Konrad von Bochum 2000 (elektonisch unter: http://www-brs.ub.ruhr-uni-bo-
Heimesfurt, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und chum.de/netahtml/HSS/Diss/SchmidtHenrike).
Literatur 123 (2001), S. 65–77. Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen
Ratkowitsch, Christine: Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995.
Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung Schneider, Karin: Paläographie/Handschriftenkunde für Germanisten. Eine
des 12. Jahrhunderts. Wien 1991. Einführung. Tübingen 1999.
Reudenbach, Bruno: Das Verhältnis von Text und Bild in De laudibus sanctae Schneider, Sabine: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Litera-
crucis des Hrabanus Maurus, in: Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt- tur um 1900. Tübingen 2006 (Studien zur deutschen Literatur 180).
Wiegand, Klaus Speckenbach (Hg.): Geistliche Denkformen in der Schneider, Wolfgang Christian: Geschlossene Bücher – offene Bücher. Das
Literatur des Mittelalters. München 1984 (Münstersche Mittelalter- Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices, in: Historische
Schriften 51), S. 282–320. Zeitschrift 271 (2000), S. 561–592.
Reudenbach, Bruno: Das Godescalc-Evangeliar. Ein Buch für die Reform- Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des
politik Karls des Großen. Frankfurt/M. 1998 (Fischer 12177). Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987 (Sprache und
Reuvekamp-Felber, Timo: Briefe als Kommunikations- und Strukturele­ Geschichte 12).
ment in der ›Virginal‹. Reflexionen mittelalterlicher Schriftkultur in Scholtissek, Klaus: »Ihr seid ein Brief Christi« (2 Kor 3,3), in: Biblische
der Dietrichepik, in: Beiträge zur Geschich­te der deutschen Sprache Zeitschrift 44/2 (2000), S. 183–205.
und Literatur 125 (2003), S. 57–81. Scholz Williams, Gerhild; Schwarz, Alexander: Existentielle Vergeblichkeit.
Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identi- Verträge in der Mélusine, im Eulenspiegel und im Dr. Faustus. Berlin
täten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003 (Epistemata 455). 2004 (Philologische Studien und Quellen 179).
Renner, Ursula: Ein Setzkasten physiognomischer Lettern – Johann Caspar Schreiner, Klaus: »… wie Maria geleicht einem puch«. Beiträge zur Buchme-
Lavaters Bildarchiv, in: Neumann/Öhlschläger (2004), S. 17–47. taphorik des hohen und späten Mittelalters, in: Archiv für Geschichte
Roberts, C. H.: The Codex, in: Proceedings of the British Academy 40 des Buchwesens 11 (1971), S. 1437–1464.
(1954), S. 169–204. Schreiner, Klaus: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. München 1996
Rommel, Bettina: Psychophysiologie der Buchstaben, in: Gumbrecht/Pfeif- (dtv 4707).
fer (1988), S. 310–325. Schreiner, Klaus: Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Reli­
Rouse, Richard H.; Rouse, Mary A.: Statim invenire. Schools, Preachers, giöse Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im
and New Attitudes to the Page, in: Robert L. Benson and Giles Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Wenzel/Seipel/Wunhold
Constable (Hg.): Renaissance and Renewal in the Twelfth Century. (2000), S. 58–103.
Oxford 1982, S. 201–225. Schreiner, Klaus: »Göttliche Schreib-Kunst«. Eigenhändige Aufzeichungen
Rück, Peter: Die Urkunde als Kunstwerk, in: Anton von Euw, Peter Schrei- Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kon-
ner (Hg.): Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens texten, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 95–132.
um die Wende des ersten Jahrtausends. Köln 1991, S. 311–333. Schreiner, Klaus: Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buch-
Rück, Peter (Hg.): Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. staben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters,
Beiträge zur diplomatischen Semiotik. Sigmaringen 1996. in: Meier u. a., Pragmatische Dimensionen (2002), S. 277–337.
Sablonier, Roger: Verschriftlichung und Herrschaftspraxis: Urbariales Seipel, Wilfried (Hg.): Der Turmbau zu Babel: Ursprung und Vielfalt von
Schriftgut im spätmittelalterlichen Gebrauch, in: Meier/Keller/Hone- Sprache und Schrift. Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums
mann/Suntrup (2002), S. 91–120. Wien für die Europäische Kulturhauptstadt Graz. Milano 2003.
Saenger, Paul: Space between Words. The Origins of Silent Reading. Stan- Signori, Gabriela: Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt
ford/Cal. 1997. und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter. Ostfildern 2005.
Samuel, Günter: Schrift-Bilder/Bilder-Schrift. Textauslegung von Kafkas Silberman, Marc: »Mixed Messages«. Schrift und Bild im expressionistischen
›Ein Traum‹, in: Jochen Schütze, Hans-Ulrich Treichel, Dietmar Film, in: Münz-Koenen/Fetscher (2006), S. 145–160.
Voss (Hg.): Die Fremdheit der Sprache. Studien zur Literatur der Slenczka, Ruth: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen. Köln,
Moderne. Hamburg 1988, S. 64–83. Wien u. a. 1998 (Pictura et poesis 10).
Späth, Markus: Kopieren und Erinnern. Zur Rezeption von Urkundenlay- Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelal- 125
outs in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters; in: Britta terlichen Literatur. Berlin 2005 (Zeitschrift für deutsche Philologie
Bußmann, Albrecht Hausmann, Annelie Kreft, Cornelia Logemann 124/2005 Sonderheft), S. 309–344.
(Hg.): Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Strohschneider, Peter: Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens,
Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin, New York 2005 (Trends in in: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33–58.
Medieval Philology 5), S. 101–128. Szlezak, Thomas Alexander: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie.
Stalder, Helmut: Hieroglyphen-Entzifferung und Traumdeutung der Groß- Inter­pretationen zu den frühen und mittleren Dialogen. Berlin, New
stadt. Zur Darstellungsmethode in den ›Städtebildern‹ Siegfried York 1985.
Kracauers, in: Andreas Volk (Hg.): Siegfried Kracauer. Zum Werk Teuscher, Simon: Notiz, Weisung, Glosse. Zur Entstehung ›mündlicher
des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers Rechtstexte‹ im spätmittelalterlichen Lausanne, in: Kuchenbuch/
und Soziologen. Zürich 1996, S. 131–155. Kleine (2006), S. 253–284.
Stammberger, Ralf M. W.: Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel Teuscher, Simon: Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und
mittelalterlicher Handschriften. Graz 2003. Traditionsbildung im Spätmittelalter. Frankfurt 2007.
Starobinski, Jean: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Tiemann [, Hermann]: Schreiben, Schrift, Geschriebenes, in: Handwörter-
Saussure (frz. 1971). Frankfurt/M. [u. a.] 1980 (Ullstein Tb. 35049). buch des deutschen Aberglaubens 9 (1941), Sp. 293–388.
Steber, Jörg: Der Himmelsschreiber. Geschichte und Technik der Luftwer- Trabant, Jürgen: Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie.
bung. Planegg, München 1988. Frankfurt/M. 1994 (stw 1134).
Steinmann, Martin: Von der Handschrift zur Druckschrift der Renaissance, Traube, Ludwig: Nomina sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen
in: Barbara Tiemann (Hg.): Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhun- Kürzung. München 1907 (Quellen und Untersuchungen zur latei-
dert. Erster Halbband. Hamburg 1995, S. 203–264. nischen Philologie des Mittelalters 2).
Stiegler, Bernd: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Turk, Horst: Die Schrift als Ordnungsform des Erlebens. Diskursanalyti-
Welt im 19. Jahrhundert. München 2001. sche Überlegungen zu Adalbert Stifter, in: Harro Müller und Jürgen
Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Fohrmann (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frank-
Metaphern. Frankfurt/M. 2006 (es 2461). furt/M. 1988 (st 2091), S. 400–417.
Stingelin, Martin: Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibma- Uebele, Andreas: Schrift im Raum.Visuelle Kommunikation und Archi-
schine, in: Gumbrecht/Pfeiffer (1988), S. 326–341. tektur. Mainz 1999.
Stingelin, Martin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. V.-David, Madeleine: Le débat sur les écritures et l’hiéroglyphe aux XVIIe
Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München 2004 (Zur et XVIIIe siècles et l’application de la notion de déchiffrement aux
Genealogie des Schreibens 1). écritures mortes. Paris 1965 (Bibliothèque générale de l’école pratique
Stock, Brian: The Implications of Literacy. Written Language and Models des hautes études. VIe section).
of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton, Villers, Jürgen: Das Paradigma des Alphabet. Platon und die Schriftbedingt-
New Jersey 1983. heit der Philosophie. Würzburg 2005.
Stolz, Michael; Mettauer, Adrian (Hg.): Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M. 2000
Bild – Kommunikation. Berlin, New York 2005. (Fischer 14927).
Strätling, Susanne; Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. Mün- Vogel, Juliane: Horizontal/Vertikal. Bild und Schrift zwischen den Achsen,
chen 2006. in: Neumann/Öhlschläger (2004), S. 205–225.
Strohschneider, Peter: Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Er- Vogt-Göknil, Ulya: Die Schrift an islamischer Architektur. Tübingen u. a.
fahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende, in: 2007.
Scientia Poetica 1 (1997), S. 1–34. Voßkamp, Wilhelm: »Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren«. Bilder und
Strohschneider, Peter: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Hieroglyphenschrift bei Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig
Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Tieck und Friedrich von Hardenberg (Novalis), in: ders. und Brigitte
›Alexius‹, in: Gert Melville und Hans Vorländer (Hg.): Geltungsge- Weingart (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse.
schichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Köln 2005 (Mediologie 13), S. 25–45.
Ordnungen. Köln u. a. 2002, S. 109–147. Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. Hg. vom Walter
Strohschneider, Peter: Kultur und Text. Drei Kapitel zur Continuatio des Benjamin Archiv. Frankfurt/M. 2006.
abentheurlichen Simplicissimi, mit systematischen Zwischen­stücken, Walther, Elisabeth; Harig, Ludwig (Hg.): Max Bense. muster möglicher
in: Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel, Michael Waltenberger (Hg.): welten. Wiesbaden 1970.
Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität Wandhoff, Haiko: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie
der Germanistik. Berlin 2004, S. 91–130. zur höfischen Literatur. Berlin 1996 (Philologische Studien und
Strohschneider, Peter: Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad Quellen 141).
von Heimesfurt im Problemfeld vormoderner Textualität, in: Joachim Wandhoff, Haiko: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume
126 in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2003 (Trends in Medieval kenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philo-
Philology 3). logie‹. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 61), S. 207–223.
Wattenbach, Wilhelm: Das Schriftwesen im Mittelalter. 3Leipzig 1896, Zeuch, Ulrike (Hg.): Verborgen im Buch – Verborgen im Körper. Haut
unveränd. Nachdr. Graz 1958. zwischen 1500 und 1800. Wiesbaden 2003 (Ausstellungskataloge der
Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und Herzog August Bibliothek 82).
kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwick- Zbikowski, Dörte: Geheimnisvolle Zeichen. Fremde Schriften in der Ma-
lung. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der lerei des 20. Jahrhunderts. Paul Gauguin, Wassily Kandinsky, Paul
Literatur 69). Klee, Willi Baumeister, Julius Bissier, Joaquin Torres-García, Adolph
Weiß, Christina: Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten Gottlieb, Mark Tobey. Göttingen 1996.
und nachkonkreten visuellen Texten. Zirndorf 1984. Zumthor, Paul: La lettre et la voix. De la ›littérature‹ médiévale. Paris
Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Gedächtnis und Kultur 1987.
im Mittelalter. München 1995.
Wenzel, Horst u. a. (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis
und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Berlin 1997 (Philologische
Studien und Quellen 143).
Wenzel, Horst: Die Schrift und das Heilige, in: Wenzel/Seipel/Wunberg
(2000), S. 14–57.
Wenzel, Horst; Seipel, Wilfried;Wunberg, Gotthart (Hg.): Die Verschrift-
lichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters
und der Frühen Neuzeit. Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen
Museums 5).
Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von
den literarischen zu den technischen Medien. Weinheim 1991.
Willer, Stefan: »Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischer Zeichen«.
Philologische Schriftbildlichkeit am Beispiel Johann Georg Hamanns,
in: Grube/Kogge/Krämer (2005), S. 357–373.
Windgätter, Christof: »Und dabei kann immer noch etwas verloren gehen!–«.
Eine Typologie feder- und maschinenschriftlicher Störungen bei Fried-
rich Nietzsche, in: Giuriato/Stingelin/Zanetti (2005), S. 49–74.
Winter, Astrid: Metamorphosen des Wortes. Der Medienwechsel im Schaffen
Jirí Kolárs. Göttingen 2006.
Wirth, Uwe: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buch-
druck in Jean Pauls Leben Fibels, in: Stingelin (2004), S. 156–174.
Wirtz, Thomas: Schrift und Familie in Adalbert Stifters ›Mappe meines
Urgroßvaters‹, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996),
S. 521–540.
Woord en Beeld in de Belgische Kunst von a tot z. Les mots et les Images
dans l’art Belge de a à z. Word and Image in Belgian Art from a to z.
[Katalog] Antwerpen 1992.
Wright, J. M.: The Medium, the Message, and the Line in Blake’s Laocoon,
in: Mosaic 33 (2000), S. 101–124.
Wunderli, Peter: Ferdinand de Saussure und die Anagramme. Tübingen 1972
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 14).
Wuth, Henning: was, strâle unde permint. Mediengeschichtliches zum
Eneasroman Heinrichs von Veldeke, in: Wenzel (1997), S. 63–76.
Zanetti, Sandro: Techniken des Einfalls und der Niederschrift. Schreibkon-
zepte und Schreibpraktiken im Dadaismus und im Surrealismus, in:
Guiriato/Stingelin/Zanetti (2005), S. 205–234.
Zedelmaier, Helmut: Der Ursprung der Schrift als Problem der frühen
Neuzeit. Die These schriftloser Überlieferung bei Johann Heinrich
Ursinus (1608–1667), in: Ralph Häfner (Hg.): Philologie und Er-
Geheimnis
Einleitung 129

SchriftRaum – BildungsRaum

Der Kosmos, der unsere Menschenwelt umgibt und be- und Unerklärlichem, sie versuchen Rätselhaftes zu ent-
stimmt, lockte schon in früherer Zeit zur Enträtselung. Die schlüsseln, sie halten Wissen fest, das für des Lesens und
Gestirne und die von ihnen ausgehenden Zeitstrukturen, die Schreibens Unkundige ungreifbar und geheim bleibt, und
Gestalt der Erde selber, die Kräfte, die auf ihr wirksam sind, sie sind meist in einer Sprache geschrieben, die außerhalb
beschäftigten auch die Menschen des Frühmittelalters. Damit der Klostermauern als solche schon wie eine Geheimsprache
verbunden waren immer auch religiöse Fragen, wie die nach wirkte, weil sie erst mühsam gelernt werden musste: Latein.
dem Sinn des Lebens, nach dem Wesen Gottes, der Schöp- Schrift schlechthin erschien damals manchem als mysteriöses
fung und den Bedingungen der menschlichen Existenz. Der Zeichengefüge, und auch die Schriftkundigen selbst hatten
Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ermöglichte Vergnügen am Verrätseln von Geschriebenem. Gelegentlich
es, Texte über die Rätsel der Welt und existentielle Fragen stellen sich Schrifteinträge wohl auch nur für uns moderne
über Zeiten und Räume hinweg auszutauschen, selbst solche Betrachter als Rätsel dar, weil wir den Code oder ihre Funk-
Texte zu verfassen und sich in diesen mit den verschiedensten tion nicht mehr kennen oder nicht erkennen.
Themen auseinanderzusetzen. Die erste Sektion setzt genau Die ausgewählten vorwiegend frühmittelalterlichen Hand-
an dieser Schnittstelle an, wo die Geheimnisse der inneren schriften und Schriftstücke aus der Stiftsbibliothek und
und äußeren Welt sowie des Überweltlichen über das Me- dem Stiftsarchiv St. Gallen zeigen, wie in einer Zeit, in der
dium der Schrift traktiert, tradiert, gedeutet und weiterver- Schriftlichkeit noch wenig verbreitet war, Geschriebenes
mittelt werden. Geheimnishaftes interessiert hier, insofern funktional, auch als Herrschaftsinstrument, eingesetzt wurde
es seinen Weg auf Pergament, das heißt einen schriftlichen und wie mit undurchsichtigen (und durchsichtigen) Rätseln,
Niederschlag gefunden hat. Zwar ist jede mittelalterliche unsichtbaren Kommentaren und fremden Zeichen, aber auch
Pergamenthandschrift ein Unikat, die Unikate stehen aber mit kostbaren Materialien und aufwendigen Ausstattungen
über vielfältige Rezeptionswege wie Kopieren, Kompilieren, Schrift inszeniert wurde. Die mittelalterlichen Textzeugnisse
Interpretieren, Kommentieren und Übersetzen miteinander zeigen uns einen Umgang mit dem Medium der Schrift, der
in Beziehung. In St. Gallen setzt dieser Prozess wie an vielen uns heute in vielem fremd ist. Hie und da begegnen wir
Orten des nordalpinen Raums im Zusammenhang mit der dann auf dem Pergament Hinweisen auf die Akteure der
Christianisierung und den damit verbundenen zahlreichen Inszenierungen und glauben die Motive ihres Handelns zu
Klostergründungen in einem Moment ein, als die Schrift- erkennen. Schreiben und Lesen ist für uns heute eine banale,
kunst bereits an eine jahrhundertealte Tradition im Mittel- alltägliche Praxis, wir müssen auch nicht mit dem Schreib-
meerraum anknüpfen kann. erwerb gleichzeitig eine völlig fremde Sprache erlernen; den
Mittelalterliches Schrifttum beinhaltet in vielfältiger Weise mittelalterlichen Benediktinermönchen war das Schreiben
Geheimnisvolles. Die Schriften handeln von Mysteriösem jedoch heilige Pflicht und oft genug Mühsal, aber sicher auch
130 immer wieder Vergnügen. Verblüffende Parallelen lassen sich Psalterhandschrift wie die unter der Leitung des Mönchs
dabei im spielerischen Umgang mit der Schrift in heutigen Folchart im 9. Jahrhundert entstandene (S. 138) kann die
Praktiken entdecken. feierliche Atmosphäre des Psalmensingens in der mittelal-
Der Schriftraum, der sich mit den genannten Fragestellungen terlichen Klosterkirche gut vermitteln. Dabei zieht uns nicht
öffnet, wird in verschiedenen Themenkreisen sichtbar und nur die ebenmäßig schöne karolingische Minuskelschrift mit
erfahrbar gemacht. Es ist die Fläche, die mit den Schrifteinträ- zahlreichen in Gold und Silbertinte auf Purpur ausgeführten
gen materiell gestaltet wird, der damalige Weltraum, der er- Initialornamenten in ihren Bann, die abgebildete Darstellung
kundet und beschrieben wird ebenso wie der geistige Raum, aus der den Psalmen vorangestellten Allerheiligenlitanei
der durch die Textinhalte eröffnet oder durch Illustrationen beeindruckt beispielsweise auch mit dem Erzählbogen, der
aktiviert wird. Die präsentierten Objekte kreisen um das Ge- von einer alttestamentarischen Szene über Christus zum
heimnis und seine Enthüllung, sie zeigen, wie Schrift ebenso zeitgenössischen Auftraggeber Hartmut gespannt wird.
helfen kann, Komplexes, Dunkles und Geheimnisvolles zu Weltberühmt sind aufgrund ihres überaus kunstvollen und
entschlüsseln, wie sie auch dazu dienen kann, Botschaften zu charakteristischen reichen Buchschmucks auch einige angel-
verschlüsseln. Der Zeitraum, mit dem wir es zu tun haben, ist sächsische und irische Evangelien-Handschriften des 7. bis
die Zeit der Pergamenthandschriften, nach der Ablösung der 9. Jahrhunderts (vgl. S. 140 im irischen Stil des 8. Jahrhun-
antiken Papyrusrollen und vor der Ausbreitung des Papiers, derts), die den Stellenwert dieser die zentralen Glaubensinhalte
der dann bald die Erfindung des Buchdrucks folgt, also die vermittelnden Texte eindrücklich vor Augen führen. Neben
Jahrhunderte zwischen Spätantike und Hochmittelalter. Die den bekannten christlichen Symbolen etwa der Evangelisten
gezeigten Schriftstücke sind teils in St. Gallen geschrieben, finden sich auch zahlreiche Bildelemente, deren Symbolik uns
teils früher oder später an diese bedeutende Bildungsstätte heute ebenso fremd ist wie die irische Halbunziale der Text-
der Karolingerzeit gebracht worden. schrift. Aber auch der Bibeltext selbst wird seit jeher als Träger
verschiedener Schriftsinne angesehen, die erst entschlüsselt
werden müssen, worum sich bereits die Kirchenväter in ih-
Schreiben für einen höheren Zweck ren Schriften intensiv bemühten, die dann ihrerseits wieder
in Abschriften rezipiert, aber auch exzerpiert, kompiliert
Der Gebrauch der Schrift und die Gestaltung von Büchern und kommentiert wurden. Dabei ist die Allegorisierung
standen zunächst im Dienst der Verbindung zum Über- beziehungsweise die allegorische Auslegung ein zentrales
weltlichen in Gottesdienst und Andacht. Dass der Schreib- Verfahren der Textkommentierung. Die Erläuterung des latei-
tätigkeit im christlichen Abendland so viel Aufmerksamkeit nischen Wortes allegoria, eigentlich ›sinnbildliche Darstellung‹
gewidmet wurde, hängt mit der Rolle der Heiligen Schrift (S. 142), durch das in Runen geritzte Wort keruni (Geheimnis)
in der christlichen Religion zusammen. Sie gilt erstens als gibt vielleicht einen Hinweis auf das Verständnis eines in den
göttliche Offenbarung und ist so von zentraler Bedeutung Paulusbriefen angeführten Gleichnisses.
für alle Gläubigen, und sie ist zweitens aufgrund ihrer Rolle Die nötigen Arbeiten fanden in den klösterlichen (seltener
in der Liturgie ein unabdingbarer Bestandteil jeder Kirche. bischöflichen) Skriptorien statt, denen eine zentrale Stellung
Unter allen Handschriften sind daher Bibelhandschriften, im Kloster eingeräumt wurde – in dem berühmten St. Galler
insbesondere Psalter und Evangeliare, die prächtigsten. Eine Klosterplan (Handschrift Nr. 1092) beispielsweise in nächster
Nähe zur Klosterkirche. Die nach ihrem Verfasser Benedikt Das Glossieren, das heißt das Versehen eines Textes mit mehr 131
von Nursia so genannte Benedikt-Regel (S. 144), die in jedem oder weniger zahlreichen Worterklärungen, Synonymen,
Kloster vorhanden sein musste, enthält in ihrer Aufforderung, Paraphrasen und weiteren Ausführungen, war ansonsten
im Tages- und Jahreslauf immer wieder die heiligen Schriften eher eine gängige Methode zur Aneignung der Texte anderer,
zu studieren, auch die Notwendigkeit, die für das Studium so wie wir uns noch heute einen fremdsprachlichen Text mit
nötigen Bücher zu besorgen, etwa im eigenen Skriptorium Übersetzungsnotizen direkt im Text besser verständlich ma-
herzustellen. Das Schreiben war damit eine angesehene Fer- chen. Bei Bedarf wurden diese Glossen dann zum allgemeinen
tigkeit, deren Vermittlung in der Klosterschule, wenn eine Gebrauch zu Glossaren zusammengefasst. Es gibt hierzu eine
solche wie in St. Gallen vorhanden war, vorgesehen war. lange, schon antike Tradition. Dass die St. Galler Mönche,
Denjenigen innerhalb und außerhalb des Klosters, die des großenteils alemannischer Muttersprache, besondere Mühe
Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, erschienen diese mit dem Lateinischen hatten, das sie ohne in der Mutterspra-
Tätigkeiten geheimnisvoll, teilweise sogar suspekt, was zu che abgefasste Grammatik und ohne umfassendes zweispra-
innerklösterlichen Animositäten Anlass geben konnte, wie chiges Wörterbuch lernen mussten, ist leicht vorstellbar. So
sie in der Chronik des Gallusklosters von Ekkehart IV. aus behalfen sie sich zunächst mit den genannten Glossaren, die
dem 11. Jahrhundert berichtet werden (S. 146). dunkle, schwierige, jedenfalls erklärungsbedürftige lateinische
Die Bandbreite dessen, was in einem klösterlichen Skripto- Lemmata mit lateinischen Erläuterungen zusammenstellten.
rium wie in St. Gallen geschrieben wurde, war beachtlich, Nicht immer ist für uns einsichtig, worin die Hilfe dieser so
aber es war durchweg in der Bildungssprache Latein gehalten. genannten Interpretamente im Einzelfall bestand, waren die
Neben Bibeltexten wurden Texte der Kirchenväter kopiert, Glossare doch häufig das Resultat mehrfacher Kopiervor-
christliche Dichtung und Philosophie, klassisch-heidnische gänge, und die Zusammenstellung ist im Detail nicht mehr
Autoren für den Lateinunterricht, Kirchenrechtliches, histo- nachvollziehbar. In Ermangelung besserer Hilfsmittel waren
risches und naturkundlich-geographisches Schrifttum, aber sie dennoch sehr geschätzt, was sich darin zeigt, dass für
auch grammatische Schriften und insbesondere immer wie- ihre Eintragung ältere Texte gelegentlich einfach ausradiert
der neue Glossare, die beim Textverständnis oder gar beim wurden, so dass es zu Palimpsesten, wiederbeschriebenen
Verfassen eigener lateinischer Texte dienlich sein sollten. Die Handschriftenseiten, kam (S. 150). Insbesondere wurde aber,
dichterischen Versuche Einzelner sind meist nicht erhalten gerade auch in St. Gallen, bei der Lektüre die Textglossierung
geblieben, das Gedichtbuch des genannten Ekkehart IV., der praktiziert, das heißt die Eintragung der Erläuterungen (In-
sog. Liber benedictionum, ist jedoch insofern ein Glücksfall terpretamente) direkt in den Text wie im Falle Ekkeharts IV.
der Überlieferung, als man hier Einblicke in den sonst im (S. 148), sei es oberhalb der zu erklärenden Lemmata oder am
Verborgenen bleibenden Arbeitsprozess eines hochmittel- Rand, in solchen Fällen manchmal mit Verweiszeichen wie in
alterlichen Dichters erhält (S. 148). Ekkeharts Hexameter, der Prudentiushandschrift Nr. 134 (S. 152). So sah auch ein
die auf uns eher ungelenk und dunkel wirken, sind durch späterer Benutzer sogleich, wo er die Erklärung zum besseren
zahlreiche Änderungen, Streichungen und Rasuren gegan- Verständnis zu Hilfe nehmen konnte. In Bibelhandschriften
gen und bedurften am Schluss immer noch erläuternder entwickelte sich um 800 sogar ein spezifisches Layout, das
sogenannter Glossen, die er selber zwischen den Zeilen und diesen Sachverhalt von zentralem Grundtext und erläuternden
am Rand beifügte. Sekundärtexten unmissverständlich zum Ausdruck brachte.
132 Dem sorgfältig und gut lesbar geschriebenen Bibeltext stan- ten althochdeutschen Wortschatzes solchen Glossierungen
den uneinheitlich, aber durchweg am Rand und interlinear zu verdanken ist, wie sie etwa in den Handschriften Nr. 70
in kleinerer Schrift eingetragene Kommentare gegenüber. zu den Paulusbriefen (S. 158), Nr. 134 zu Prudentius (S. 152),
Diese Praxis wurde auch in St. Gallen aufgenommen, wie die Nr. 219 zur Pastoralregel Gregors des Großen (S. 160) und
Psalterhandschrift Nr. 27 (S. 154) zeigt. Nr. 916 zur Benediktinerregel (S. 144) vorliegen. Allein in
der St. Galler Stiftsbibliothek haben sich über siebzig Hand-
schriften erhalten, in denen sich solche althochdeutschen
Schreiben als kulturelles Experiment Textglossen befinden, die erst teilweise untersucht sind und
noch manches Geheimnis bergen.
In diesem Zusammenhang begegnen wir auch den ersten Auch für andere Volkssprachen, wie das Altirische, ist der
originalen schriftlichen Zeugnissen der Volkssprachen. Of- Glossenbestand, wie er etwa in der Grammatikhandschrift
fenbar war hie und da der Rückgriff auf lateinische Synonyme Nr. 904 (S. 162), zu sehen ist, eine äußerst bedeutende Quelle.
oder Paraphrasen nicht ausreichend, zu umständlich oder Die Volkssprache mischt sich dabei oft völlig unsystematisch
praktisch unmöglich, etwa bei Tier- und Pflanzennamen unter das Lateinische, so dass man den Eindruck gewinnt,
(S. 156), und das Bedürfnis, das Gemeinte in der heimischen dass keine unterschiedlichen Absichten hinter dem Gebrauch
Sprache präzise festzuhalten, so groß, dass die Gleichung der einen oder anderen Sprache lagen. Untersuchungen, die
Schriftliches = Lateinisches überwunden werden konnte. einen Aufschluss über die Schreiber, ihre Sprachkenntnisse
Mit Hilfe des lateinischen Alphabets und der erlernten Laut- und ihre Motivationen geben könnten, sind aber noch selten,
Buchstaben-Entsprechungen notierte man nun notdürftig da die Germanisten, Anglisten oder Keltologen bislang meist
die volkssprachliche Lautgestalt. Das Festhalten der mut- ausschließlich an den jeweils ›eigenen‹ volkssprachlichen
tersprachlichen Laute mit einem sonst für andere Sprachen Sprachzeugnissen interessiert waren, und die Mittellateiner
verwendeten Alphabet wurde damals fast für ein Ding der ihrerseits angesichts ihrer reichhaltigen Textbasis dieser oft
Unmöglichkeit gehalten, wie aus der Vorrede Ot­frids von unzulänglichen und bruchstückhaften Überlieferung keine
Weißenburg zu seinem Evangelienbuch hervorgeht (Rädle große Beachtung schenkten. Dabei gewinnen wir mit diesen
1974). Man muss nur an heutige des Dialektschreibens unge- Eintragungen einen einmaligen Einblick in die Bemühun-
wohnte Personen denken, um sich vorzustellen, welche Mühe gen um das Textverständnis, das ja von den grammatischen
ein solches Unterfangen bereitete, die eigene Sprechsprache Grundlagen bis hin zum tieferen Textsinn mannigfache Pro-
mit dem Schriftsystem einer anderen Sprache zu fixieren. bleme bieten konnte. Auch lassen sich daraus, welche Texte
Vermutlich waren es irische Mönche, die diese Möglichkeit welcher Autoren glossiert wurden, gewisse Rückschlüsse
zuerst gesehen und verwirklicht haben. Im deutschsprachi- auf mittelalterliche Lektürepraktiken ziehen. Da die Glossen
gen Raum begegnet uns dann die Volkssprache in solchen auch immer wieder textuelle Missverständnisse aufdecken,
Glossierungen seit etwa der Mitte des 8. Jahrhunderts, typi- lässt sich ermessen, einen wie breiten Raum diese profane
scherweise in Handschriften aus angelsächsischen Missions- Beschäftigung mit dem Lateinischen in einem nicht-romani-
zentren wie dem heute luxembur­gischen Echternach (Glaser, schen Umfeld zwangsläufig einnehmen musste, bevor man zu
Moulin-Fankhänel 1999). Diese Praxis breitete sich dann philosophisch-theologischen oder literarischen Höhenflügen
allerdings schnell aus, so dass ein Großteil des heute bekann- ansetzen konnte.
Wenn von Glossierung die Rede ist, muss hier auch noch von vorkommen. Auch hier gingen die Kelten und Angelsach- 133
einer Schreibpraxis gesprochen werden, die uns heutzutage sen voraus, indem sie ihren Muttersprachen eine so große
höchst geheimnisvoll anmutet, die aber aller Wahrschein- Wertschätzung entgegenbrachten, dass sie auch in früher Zeit
lichkeit nach im frühen und hohen Mittelalter überhaupt schon umfangreichere Texte in ihnen verfassten. Gelehrte
keinen derartigen Charakter hatte, das Schreiben mit dem wie der Angelsachse Beda Venerabilis († 735) schrieben ihre
Griffel, das heißt ohne Tinte und Farbe, so dass die Eintra- Abhandlungen dennoch meist auf Latein. Seinen Gedanken
gung lediglich einen ›Eindruck‹ oder eine Ritzung im Per- zum nahenden Tod gab Beda aber schließlich doch noch
gament hinterließ, die man bis heute mehr oder weniger gut in altenglischen Versen unmittelbaren Ausdruck (S. 164).
lesen kann. Auch hierfür gibt es schon Vorbilder in irischen Für die Entwicklung der volkssprachlichen Schriftlichkeit
Handschriften des 7. Jahrhunderts. Auf dem Kontinent im deutschsprachigen Raum ist charakteristisch, dass der
tritt diese Praxis mit den ersten Glossierungen in Echter- größte Teil der Textüberlieferung ausgerechnet von einem
nach in Erscheinung und findet sich dann in praktisch allen Autor stammt, dessen umfangreiche Textproduktion prak-
Skriptorien, auch in St. Gallen, hier sogar offenbar schon im tisch ausschließlich in einem Gemisch aus Lateinisch und
8. Jahrhundert, wie jüngste Entdeckungen gezeigt haben. Althochdeutsch verfasst ist: Notker III. von St. Gallen, dem
Die Motivation dieser Praxis liegt für uns momentan noch begnadeten Lehrer der Klosterschule um das Jahr 1000. Seine
im Dunkeln. Immerhin lässt sich aber zum einen anführen, Texte, wie etwa der im Codex Nr. 21 (S. 168) überlieferte
dass der Griffel ein mittelalterliches Alltagsinstrument war, Psalterkommentar, zeigen höchst eindrücklich das Ringen
der eben leichter zur Verfügung stand als Tinte, da er für No- um das Verständnis des lateinischen Textes, wobei einzelne
tizen auf den stets mitgeführten Wachstäfelchen gebraucht Sätze und Satzteile einer elaborierten Bearbeitung unterzogen
wurde. Zum anderen fügt sich in manchen Handschriften der wurden, die von der Umstellung des Lateinischen über die
Gebrauch des unscheinbaren Griffels in die angesprochene Übersetzung einzelner Teile bis hin zur Kommentierung und
Layoutpraxis der Zurückstufung der kommentierenden, zu Exkursen reichte. Die Handschrift Nr. 21 spiegelt diese
sekundären Eintragungen ein. Wir begegnen hier einer Komplexität teilweise auch durch die farblich unterstützte
Schreibpraxis, die im Laufe des Mittelalters außer Gebrauch Schriftgestaltung wider. Die Verwebung von Deutsch und
gekommen ist, weswegen unsere ungeübten Augen die un- Latein, die hier sichtbar wird, lädt zur Reflexion darüber ein,
scheinbaren Eintragungen auch allzu lange übersehen haben. wie stark das Deutsche als Schriftsprache dem Lateinischen
Sicher wollte hier niemand etwas verheimlichen, auch nicht verpflichtet ist. Dass neben diesen Zeugnissen klösterlicher
den Gebrauch der Volkssprache, denn Griffeleintragungen Bildung und Ernsthaftigkeit schon früh auch in der Volks-
finden sich außer in althochdeutscher Sprache in mindestens sprache schalkhaft-übermütige bis hin zu derben Eintra-
gleichem Umfang auch in lateinischer. gungen auftauchen (S. 172), meist am Rand oder versteckt
Auf der anderen Seite war der Schritt zu einer eigenstän- zwar, zeigt doch, dass die Verschriftung der Volkssprache,
dig-sinnhaften volkssprachlichen Eintragung enorm. Einer einmal begonnen, zumindest im begrenzten klösterlichen
Zeit, in der die Namen der Dinge nicht von den Dingen zu Raum in durchaus selbständiger Weise angewendet wurde.
trennen waren und für die die Welt in göttlicher Ordnung Oft geben aber gerade diese Kleintexte im Hinblick auf die
ruhte, musste der schriftliche Gebrauch einer anderen als der Motivation und Funktion ihrer Eintragung besondere Rätsel
heiligen Sprachen Latein, Griechisch, Hebräisch unheimlich auf (Bergmann 2000).
134 Handschriften als exklusive Wissensspeicher wie etwa die Osterfestberechnung, standen, schmälert die
Bedeutung dieser Texte keineswegs. Die wissenschaftlichen
Nach diesen Ausführungen zu der zwischen dem 8. und Erkenntnisse über den Lauf der Sonne, den Sternenhimmel
11. Jahrhundert sich zaghaft und punktuell entwickelnden und die Zeit wurden dabei nicht nur in Worten vermittelt, die
volkssprachlichen Schriftlichkeit, die von ihren Ursprüngen Handschriften enthalten immer wieder auch Illustrationen
her offensichtlich ganz im Dienste der Erlernung des La- und Diagramme, die die komplexen Sachverhalte räumlich-
teinischen und der Sicherung des Textverständnisses stand, bildlich wiedergeben. Das Misslingen einer schematischen
ist nochmals deutlich festzuhalten, dass diese Zeugnisse in Darstellung der Jahreszeiten, wie in der Handschrift Nr. 238
der Gesamtheit der handschriftlichen Überlieferung eine des St. Galler Schreibers Winithar (S. 176), zeigt, dass es nicht
marginale Rolle spielen. Die Schreibermönche notierten immer selbstverständlich war, dass entsprechende ältere
und kopierten fleißig, aber in aller Regel Lateinisches. Eine Darstellungen, in diesem Falle Isidors von Sevilla, korrekt
außerordentlich wichtige Rolle spielt diese mittelalterliche nachvollzogen werden konnten.
schriftliche Überlieferung für die Bewahrung und Weiterver- Der Gleichung von Wissen und Schrift, die in dieser hand-
mittlung antiker Wissensbestände und Anschauungen, die in schriftlichen Überlieferung zum Ausdruck kommt, äußert
das Verständnis der Schöpfung Gottes eingebaut wurden. sich in anderer Weise auch in den menschlichen Sozialstruk-
Benediktinerklöster wie St. Gallen stellten nicht nur Orte turen selber. Die Beherrschung des Mediums Schrift erzeugte
der stillen Andacht und religiösen Vertiefung dar, sondern und verschaffte nicht nur Weltwissen, sondern auch Kontrolle
waren geistige Bildungszentren, die bemüht waren, in den über Besitzverhältnisse, etwa in Urkunden oder urbariellen
Besitz des für das Verständnis der Welt wichtigen Wissens Aufzeichnungen, zu deren Inhalt die nicht-schriftkundigen
zu gelangen, das von Autoren der Antike, Spätantike und Untergebenen allenfalls indirekt Zugang hatten (Stiftsarchiv
des Frühmittelalters schriftlich festgehalten war. Antike St. Gallen, Urk. FF3 L 58, S. 182). Das schriftliche Festhalten
Texte wurden auf oft verschlungenen Pfaden schriftlich von raumbezogenen Rechtsverhältnissen sorgte für deren
weitergegeben. Sie wurden einerseits in den klösterlichen Beständigkeit. Allerdings bedeutet dies nicht notwendig, dass
Schreibstuben abgeschrieben, andererseits wurde antikes damit faktisch bestehenden Ansprüchen Geltung verschafft
Wissen auch durch frühchristlich-lateinische Autoren wei- wurde. Fälschungen wurden produziert oder aber Rechte
tervermittelt, deren Texte dann wiederum in karolingischer fixiert, die zum Teil nicht (mehr) durchgesetzt werden konn-
Zeit abgeschrieben und weiterverarbeitet wurden. Bevor ten. Hier wird deutlich, dass die Klöster neben ihrer Rolle,
die Gelehrsamkeit im fränkisch-alemannischen Raum Fuß die sie als Bildungseinrichtungen spielten, auch Institutionen
fassen konnte, war im angelsächsischen Bereich bereits eine der Herrschaftsausübung darstellten.
erste Blüte im 7./8. Jahrhundert zu verzeichnen, die so be-
deutende Autoren wie den schon genannten Beda Venerabilis
hervorbrachte. Der St. Galler Codex Nr. 250 (vgl. S. 174) Verschlüsselung, Verrätselung, Umsetzung
belegt jedenfalls sehr deutlich, welch großes Interesse dort
im 9. Jahrhundert der Sammlung wissenschaftlicher Erkennt- Man wäre versucht, die Verschlüsselung schriftlicher Ein-
nisse, in diesem Fall aus der Astronomie, beigemessen wurde. tragungen ebenfalls unter die Bemühungen einzureihen,
Dass dahinter teilweise durchaus praktische Bedürfnisse, Wissen möglichst für sich selbst zu behalten. Tatsächlich
finden sich nämlich in einer ganzen Reihe von Handschrif- Beispiele anführen können. Die Angehörigen der Gemein- 135
ten ausgerechnet Glossierungen, die ja, wie erläutert, dem schaft der Schriftkundigen liebten es wohl, das, was ihnen zu
Textverständnis dienen sollen, geheimschriftlich verschlüs- eigen war, in eine exklusive Sphäre des Geheimnisvollen zu
selt. Diese Praxis, die gleichermaßen lateinische wie alt- hüllen, vielleicht um dem Leser eine gewisse Denkanstren-
hochdeutsche Wörter betreffen kann, gibt einige Rätsel auf. gung abzunötigen oder auch um die eigene Gelehrsamkeit
An eine ernsthafte Geheimhaltungsabsicht ist aber kaum vorzuführen. Immer wieder finden sich in Handschriften
zu denken. Dazu war die Entschlüsselung letztlich doch zu mehr oder weniger geglückte griechische Alphabete oder
leicht möglich. Die Masse der geheimschriftlich eingetrage- Runenreihen (S. 166), teils mit, teils aber auch ohne konkrete
nen Glossen ist nämlich mit der Bonifatius zugeschriebenen Verschlüsselungsabsicht, oder es werden griechische Wörter,
sogenannten bfk-Technik verschlüsselt, bei der die Vokale etwa in Hieronymustexten, mit lateinischen Buchstaben
durch den jeweils nachfolgenden Konsonanten ersetzt transliteriert (oder sogar umgekehrt lateinisch geschrie-
werden, also a, e, i durch b, f, k, so dass ein Wort wie ahd. bene griechische Wörter oder griechische Lehnwörter in
follicho (völlig) als fpllkchp erscheint (S. 160). Zwar ist die ein – meist fehlerhaftes – Griechisch umgesetzt). Das alles
Auflösung nicht so leicht möglich wie die Verschlüsselung, kann kaum einer anderen Funktion gedient haben als der
da man entscheiden muss, welche Konsonanten als Chiffren Demonstration persönlicher Gelehrsamkeit.
und welche für sich selber stehen, so dass sich öfter mehr- Einer ähnlichen Inszenierung des eigenen Scharfsinns begeg-
fache Auflösungen ergeben, beispielsweise für pftp sowohl nen wir in den vielfältigen Rätseln. Diese mögen manchmal
ofto (oft) als auch peto (ich greife) und damit je nachdem einfach dem Zeitvertreib gedient haben, wie es von den Ioca
ein althochdeutsches oder ein lateinisches Wort. Dennoch monachorum, ›Zeitvertreib für Mönche‹ genannten Frage-
ist die Geheimhaltung hier sicher im Allgemeinen nur eine und Antwort-Spielen angenommen werden kann. Die seit
temporäre gewesen. Die geheimschriftliche Eintragung der klassischen Antike beliebte Gattung der Rätselfragen
verursachte eine Verzögerung beim Erkennen des Wor- mit nicht immer ernst gemeinten Fragen und Antworten
tes. Aber auch dann stellt sich wieder die Frage nach der behandelte die verschiedensten Themenbereiche, wobei
Motivation der Geheimniskrämerei. Kann man von einer auch biblisches, etwa alttestamentarisches Wissen abgefragt
didaktischen Funktion ausgehen, etwa dass die Klosterschü- wurde. Es gibt geradezu Rätselhandschriften, die verschie-
ler nicht auf Anhieb die ›Lösung‹ für ein lateinisches Wort dene Typen von Rätselfragen, Rätseldichtungen und bildliche
sehen sollten? Hierfür gibt es wenig Anhaltspunkte. Eher Rätsel enthalten, so etwa die St. Galler Handschrift Nr. 196
scheint die geheimschriftliche Eintragung, die sich niemals (vgl. S. 186, 188 und 190). Bei den Texträtseln spiegelt sich
in Haupttexten findet, den Charakter der Glossierung als deren dialogischer Charakter in der Schriftauszeichnung,
Sekundäreintragung zu unterstützen, also gewissermaßen so dass Frage und Antwort leicht auseinanderzuhalten sind.
Layoutfunktionen zu erfüllen. Auch bei den Rätseln der Handschrift Nr. 196 ist also kaum
Vielleicht lässt sich das Chiffrieren – das sich im übrigen an eine ernsthafte Prüfung zu denken, da die Lösung direkt
auch anderer Zeichensysteme, etwa des griechischen Alpha- auf die Rätselfragen oder Rätselverse folgt. Man könnte aber
bets oder der Runen (S. 142) oder gar erfundener Schriften, an eine Art Lehrerhandbuch denken.
bedienen kann – zumindest teilweise auch dem Bereich Mit den Bildgedichten, die in ihrer optischen Präsentation
des Spielerischen zuordnen, für den wir auch noch andere den Text zunächst verrätseln, weil er erst in einem zweiten
136 Anlauf gelesen werden kann, wenn die Textrichtung ent- eigenen Notationssystem zu ›verschriften‹, das erst später
schlüsselt ist, betreten wir einen neuen Schriftraum, wie von anderen Systemen abgelöst wurde.
er bis heute von der konkreten Poesie genutzt wird. Der
Schrifttext gewinnt hier ganz auffällig durch die bildliche
Anordnung eine zusätzliche Sinndimension, die im Normal- SpielRäume
fall einer linearen Texteintragung ungenutzt bleibt. Völlig im
Räumlichen liegt die Sinngebung verbildlichter Rätsel, wie Gleichviel ob sich das handschriftlich Fixierte minimalistisch
sie in den häufig auch an Wänden und Steinen angebrachten auf die Vermittlung einer sprachlich bestimmten Botschaft
Labyrinth-Darstellungen vorliegen. Das Labyrinth dient konzentriert oder ob, wie oft, zusätzlich die Materialität und
generell als Symbol des menschlichen Irrens, andererseits Flächigkeit der schriftlichen Eintragung dazu genutzt wird,
wird der antike Mythos des kretischen Labyrinths so um- diese Botschaft kommunikativ zu unterstützen, zu variieren
gedeutet, dass Christus und die göttliche Gnade wie der oder zu ergänzen – all diesen Erscheinungsformen ist gemein-
Faden der Ariadne den Weg hinaus weisen. Einige solche sam, dass sie im Unterschied zur Flüchtigkeit des Gedankens
Einweg-Labyrinthe, gekennzeichnet durch verschlungene und des Wortes es ermöglichen, über weite Räume hinweg zu
Umwege, aber ohne die Gefahr des Verirrens, haben auch kommunizieren und auch die nachfolgenden Generationen an
den Weg aufs mittelalterliche Pergament gefunden (S. 192), den eigenen Überlegungen teilhaben zu lassen. Grundsätzlich
wo sie mit der durch sie gestalteten Fläche ohne Worte den geht es auf den gestalteten Pergamentseiten also um Mittei-
Leser zur Reflexion und Meditation anregen. lung, um längerfristige Kommunikation in all ihren Facetten.
Geradezu das Gegenteil von Verrätselung haben wir in der Um diesen Kern herum können sich mannigfaltige andere
Eintragung der Neumen vor uns (S. 194), jener mittelalter- Zwecke herausbilden, die den Kern zeitweise gar überlagern,
lichen musikalischen Notation, die lediglich relative Me- oder es können sogar (zumindest vordergründig) gegenläufige
lodieverläufe notiert und deren Entschlüsselung im Sinne Absichten der Geheimhaltung verfolgt werden. Es entstehen
einer Rekonstruktion der tatsächlich gesungenen Melodie vielfältige Paratexte, die den eigentlichen Haupttext ergän-
nicht ohne Zusatzinformation möglich ist. Die rudimentäre zen, erläutern, spielerisch flankieren und jedenfalls dessen
Notation ist in diesem Fall nicht absichtlicher Verkürzung Wahrnehmung steuern. Die verschiedenen Niederschriften
und Geheimhaltung geschuldet, sondern wir haben es dabei geraten aufgrund ihrer räumlichen Anordnung und optischen
mit den ersten Anfängen der Entwicklung musikalischer Wahrnehmung auf den Handschriftenseiten in vielfältige
Notation in unserem Raum zu tun. Dies heißt, dass wir Beziehungen, wodurch sich innere und äußere Spielräume
hier dem Bemühen begegnen, nicht-sprachliches Wissen in öffnen, die der Mündlichkeit nicht in gleicher Weise zur Ver-
einem eindeutigen Zeichensystem festzuhalten, um es, so fügung stehen. Der Schriftraum, einmal geschaffen, steht für
transponiert, reproduzierbar zu machen. Während das bis Interpretationen offen.
heute erfolgreiche Kodierungssystem der Alphabetschrift
bereits auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, elvira glaser

bevor die fränkischen und alemannischen Mönche damit


konfrontiert wurden, stehen wir im Fall der Neumen einem
ersten mittelalterlichen Versuch gegenüber, Musik mit einem
138 Folchart-Psalter

St. Gallen, 872–883


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 23, S. 12
Pergament, 38 × 29 cm

Unter der Leitung des Mönchs Folchart (gest. nach 898/99) halten. Die Säulen mit Basis, Schaft und Kapitell sowie die
wurde dieser Psalter als Prachthandschrift geschaffen; er darüber errichteten Bogen zieren in vielfältiger Abwand-
war von Anfang an für das feierliche Psalmensingen in der lung pflanzliche und geometrische Formen. Bei einzelnen
Klosterkirche, die geistliche Mitte des mönchischen Le- Kapitellen sind Akanthusblätter angedeutet. Sie dürften auf
bens, bestimmt. Wahrscheinlich gehörte er zu den dreizehn die korinthischen Kapitelle Bezug nehmen, welche die von
Psalterien, die nach dem Bericht des Klosterchronisten Abt Gozbert 830–837 errichtete Klosterkirche schmückten.
Ekkehart IV. um 900 an dreizehn Sitzen im Chor aufgestellt Fünf dieser korinthischen Kapitelle konnten anlässlich der
und »entweder mit Gold bemalt oder sonst wie edel gestaltet archäologischen Grabungen 1963–1967 geborgen werden
waren« (Casus sancti Galli, Kap. 42). Eine gusseiserne Hal- und sind heute im St. Galler Lapidarium ausgestellt.
terung mit Kette am oberen Hinterdeckel aus dem 16. Jahr- Auf Seite 12 erzählen zwei szenische Lünettenbilder von
hundert zeigt, dass der Psalter damals als Kettenbuch (liber König David und seinem Gefolge. Sie veranschaulichen die
catenatus) am Chorgestühl angekettet war. Rückführung der Bundeslade (2 Sam 6,1 ff.). Zwei Ochsen
Den Haupttext des Psalters bildet das vom heiligen Hie- ziehen den Wagen mit der Bundeslade (rechte Lünette).
ronymus zwischen 386 und 387 aus der griechischen Sep- Dahinter tanzt und spielt David auf der von einem weißge-
tuaginta-Fassung der Bibel ins Latein übersetzte und in kleideten Mann gehaltenen Harfe (linkes Feld). Links außen
seine Vulgata-Gesamtübersetzung eingegangene Psalterium assistiert eine Gruppe stehender Männer. In die Zwickel der
Gallicanum. Auf die 150 Psalmen folgen die biblischen beiden Lünetten sind an Stelle der üblichen Pflanzenorna-
Lobgesänge und die Glaubensbekenntnisse. Üblicherweise mente drei Figuren eingefügt: in der Mitte der im Blätterkelch
beschließt die Allerheiligenlitanei mit den Bitten (Roga- erhöhte und mit dem Kreuznimbus ausgezeichnete Christus.
tiones) diesen zweiten Teil eines karolingischen Psalters. Beide Hände erhebt er zu den seitlich stehenden Gestalten,
Im Folchart-Psalter ist hingegen der Teil mit der besonders die sich ihm zuneigen. Zu seiner Rechten steht barhäuptig,
prachtvoll gestalteten Allerheiligenlitanei den Psalmen vo- mit beiden Händen das Buch darbringend, Folchart. Zu
rangestellt (S. 7–14). Nur auf diesen acht Seiten finden sich seiner Linken steht, mit der Kapuze auf dem Haupt, Abt
figürliche Darstellungen. Sie sind diskret in den Lünetten Hartmut, der Auftraggeber. Das Bildprogramm spannt in
angebracht. Nicht sie, sondern die Anrufungen der Litanei eindrücklicher Weise den Bogen von den alttestamentlichen
auf zwei Spalten beherrschen die Zierseiten. Der Text ist Szenen zur Gegenwart, zur Dedicatio des Psalters an Hart-
– ähnlich den Konkordanzreihen in den Kanontafeln zu Be- mut und, in eine höhere Sphäre übertragen, an Christus.
ginn eines Evangeliars – in ein doppelbogiges Arkadensystem
literatur: Ochsenbein/von Scarpatetti (1987) – Schmuki/Ochsenbein/
in Unzialschrift eingefügt. Die ebenmäßige, feierliche Schrift
Dora (2000) – von Euw (2008).
auf Purpurgrund ist abwechselnd in Gold und in Silber ge-
ernst tremp
139
140 Kreuztafeln im irischen Evangeliar

Irland, um 750
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 51, S. 6
Pergament, 29,4 × 22,4 cm

Das in der Mitte des 8. Jahrhunderts in Irland oder aber in der, Gitterwerk, Flechtwerk, geometrische Ornamentik,
einer irischen Kolonie auf dem europäischen Kontinent in Band- und Fadengeschling oder etwa langgestreckte Tiere,
irischer Minuskelschrift geschriebene Evangelienbuch mit die in seltsamen Knickungen miteinander verflochten sind.
den vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Jo- So sehen wir im oberen rechten Rechteckfeld langgezo-
hannes ist das bezüglich Buchschmuck repräsentativste und gene flamingoähnliche Vögel, im Feld unten links ist eine
schönste Werk irischer Provenienz in der Stiftsbibliothek Diagonalkomposition aus acht einander ähnlichen Vögeln
St. Gallen. Von Fachleuten wird es in einem Atemzug mit auszumachen, in der sich die einzelnen Tierkörper kaum
den bekanntesten irischen Handschriften des 7. bis 9. Jahr- voneinander trennen und isolieren lassen. In der Mitte der
hunderts genannt wie dem Book of Durrow, dem Book of gesamten Komposition mit den vier mit hellblauer Farbe
Lindisfarne, dem Lichfield-Evangeliar oder gar dem Book umrissenen Rechteckfeldern entstanden so, gleichsam passiv,
of Kells. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass nicht ein Kreuz und ein Kreuzfeld, das mit einem kleinteiligen
nur einzelne Seiten für sich geschmückt, sondern die beiden Spiralornament mit ungewöhnlich langgezogenen Trompe-
nebeneinander liegenden Seiten zusammen als harmonisches ten gefüllt wurde.
Ganzes gestaltet sind, und dies im ganzen Buch sechsmal,
literatur: Duft/Meyer (1953) – Henry/Marsh-Micheli (1984) – Stevick
nämlich zu Beginn des jeweiligen Evangeliums, zum Anfang
(1990) – Ochsenbein/Schmuki/von Euw (1990) – Harbison (1998).
des Stammbaums Christi und ganz am Ende des Johannes-
Evangeliums (und vor einigen sanktgallischen Federproben
des 9. Jahrhunderts) mit einer eindrücklichen und geheim- karl schmuki

nisvollen Darstellung von Christus als Gekreuzigtem mit


Stephaton und Longinus sowie Christus als Weltenrichter
am Jüngsten Tag mit zwei Tuba blasenden Engeln und den
zwölf Aposteln. Viermal erscheint so auf der linken Seite je
einer der vier Evangelisten mit seinem Symbol, und diesen
Evangelistenporträts wird jeweils auf der rechten Seite eine
vielfältig und dekorativ verzierte Initiale gegenübergestellt.
Die abgebildete Seite zeigt die teppichartige Kreuztafel von
Seite 6, die dem griechischen Christus-Monogramm (XPI
= Christi) zu Beginn des Stammbaums Christi (Christi
autem generatio sic erat) gegenübersteht. Die verwendeten
ornamentalen Stilmittel sind breitgefächert: Rautenmäan-
141
142 Runenglossen zum Galaterbrief

Kloster St. Gallen, letztes Viertel 8. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 11, S. 144
Pergament, 22 × 13 cm

Der Codex 11 gilt in seinen ältesten Teilen als eines der frü- Hinblick auf das verwendete Schriftsystem. Es handelt sich um
hesten Schriftwerke, die in St. Gallen selbst entstanden sind. Runen, eine von Germanen in den ersten Jahrhunderten un-
Die Handschrift, die von Schriftexperten ins 8. Jahrhundert serer Zeitrechnung entwickelte Schrift (vgl. S. 166). Zweitens
datiert wird und an welcher der bekannte Schreiber Winithar lautet das Wort selbst , in Umschrift keruni, was alt-
mitarbeitete (vgl. S. 158 und 134), enthält zur Hauptsache hochdeutsch ist und »Geheimnis« bedeutet. Als Erläuterung
Auszüge aus der Bibel. Auf Seite 144, inmitten des vierten des lateinischen Wortes allegoria, eigentlich »sinnbildliche
Kapitels des Galaterbriefs, wo Paulus den Unterschied Darstellung«, verleiht es vielleicht der Tiefe des Mysteriums
zwischen Gesetzestreue und Glaube anhand eines Sinnbil- Ausdruck, das, nach dem Textverständnis des Glossators,
des zweier Frauen erläutert, steckt buchstäblich mitten im hinter dem von Paulus verwendeten Gleichnis steht.
Pergament ein Geheimnis. Entdecken kann es nur, wer sich Warum aber schrieb der Glossator in Runen? Hatte ihn
mit viel Geduld auf eine genaue Beobachtung der Pergamen- dazu etwa der Gleichklang der Wurzel rūn- mit einer damals
toberfläche einlässt. Diese ist im Codex 11 längst nicht mehr schon gebräuchlichen Bezeichnung für die Runen inspiriert?
glatt, sondern weist altersbedingt Knitter und Wellungen auf. Oder sollte das Geheimnishafte mit einer fremdartigen
Richtet der Betrachter seinen Blick auf die 16. Textzeile, so Schrift unterstrichen werden? Tatsache ist, dass in Glos-
erkennt er vielleicht, dass es sich bei Unebenheiten über dem seneintragungen vielfach Geheimschriften vorkommen,
Wort allegoriam nicht um die erwähnten Pergamentknitter und zwar ganz unabhängig vom betreffenden Glossenwort
handelt, sondern um Schriftzeichen. Tatsächlich steht hier und dem jeweiligen Textzusammenhang. Die üblichste Art
eine Glosse, also ein Übersetzungswort zum lateinischen der geheimschriftlichen Verschlüsselung war eine mono-
Textwort, mit einem stumpfen Griffel diskret ins Pergament alphabetische, das heißt, dass wie üblich das lateinische
eingedrückt. Alphabet verwendet wurde, dabei aber Schriftzeichen durch
Dass sie so unscheinbar ist, macht allein noch nicht das Ge- andere ersetzt wurden. Der Gebrauch von gänzlich anderen
heimnishafte der Eintragung aus. Möglicherweise war sie im Schriften ist in Glossen sehr selten. Runenschrift war in den
Originalzustand ja kräftiger und ist mit fortschreitender Zer- althochdeutschen Glossen bisher gar völlig unbekannt. Die
knitterung des Pergaments oder auch durch den Bindedruck erst vor kurzem entdeckten runischen Griffelglossen im
schwächer geworden. Bei günstiger Beleuchtung ist sie gut Codex 11 stellen das einzige Beispiel einer althochdeutschen
lesbar. Dass vom Schreiber wohl nicht beabsichtigt war, ein Textglossierung mit Runen dar. Das macht sie, zumindest für
unsichtbares Wort einzutragen, beweisen drei weitere Glossen uns heute, noch ein weiteres Stück geheimnisvoller.
desselben Glossators im Codex, die sehr deutlich im Perga-
literatur: Bruckner (1936) – Nievergelt (2008).
ment eingeprägt sind. Geheimnisvoll ist die Glosse vielmehr
in einem anderen und gleich zweifachen Sinne. Erstens im andreas nievergelt
143
144 Lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel

St. Gallen, kurz nach 800


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 916, hier S. 45
Pergament, ca. 19,5 × 12,5 cm

Das Ereignis, das als ›Cannstatter Blutgericht‹ in die Ge- lage solch geistiger Arbeit war. Medium jener Bildung war
schichte eingegangen ist, bedeutete das Ende des autonomen die lateinische Sprache, für deren mühsames Erlernen man
alamannischen Herzogtums. Seit der Mitte des 8. Jahrhun- verschiedene Strategien ersann und für deren Verstehen man
derts übernahmen im alemannischen Raum die Franken sich verschiedener Hilfen bediente. Gerade bei einem latei-
die Führung. Diese politische Vorrangstellung wurde nach nischen Text, der sprachlich nicht einfach ist und mit dessen
und nach auch durch fränkische Einflussnahme in andere Inhalt man als Benediktinermönch vollumfänglich vertraut
Bereiche ausgedehnt, unter anderem durch die Einführung sein musste, konnte es nützlich sein, wenn man eine Über-
der Mönchsregel des heiligen Benedikt im Kloster St. Gallen, setzung zur Verfügung hatte. Eine solche liegt im Codex 916
die 747 von König Pippin dem Jüngeren veranlasst wurde zweifellos vor: Der mit schwarzer Tinte geschriebene Text ist
und hier ältere Formen der Gemeinschaft ersetzte. Gewis- der lateinische Grundlagentext; auf vielen seiner Seiten findet
sermaßen ein Glücksfall, denn mit dem Leben nach der sich eine in bräunlicher Schrift eingetragene Übersetzung in
Regel Benedikts erwuchsen die fränkischen Klöster – und althochdeutscher Sprache. Doch täuscht der Eindruck einer
besonders auch das Kloster St. Gallen – zu ›Kulturklöstern‹, zweisprachigen Textpräsentation leicht: Die althochdeutsche
in denen neben der Kontemplation auch Schule, Mission und Version bildet keinen durchgängigen, für sich allein lesbaren
Seelsorge vorgeschrieben waren. Text, sondern ist eine Wort-für-Wort-Übertragung, die an
Benedikt von Nursia (um 480–547), einer der Begründer nur wenigen Stellen eigentlichen Textcharakter gewinnt.
des christlichen Mönchtums im europäischen Westen und Der lateinische Text, hier zwei Absätze aus dem Kapitel
Gründer des Klosters Montecassino in Süditalien, hatte über die Demut, und die althochdeutsche ›Interlinearver-
für seine Mönchsgemeinschaft ein Regelwerk für das Le- sion‹ bilden einen faszinierend etagierten Schriftraum, in
ben im Kloster verfasst. Dieses erlangte zusammen mit dem Textzugriffe auf vielfältige Art möglich erscheinen:
dem als vorbildlich angesehenen Kloster Montecassino im zum Nachschlagen, zum Vorlesen, zum Selbststudium, zum
8. Jahrhundert große Popularität, insbesondere nachdem Schulgebrauch – Zugriffsmöglichkeiten, die den Codex als
Karl der Große beglaubigte Abschriften des Originals hatte polyvalentes Medium etablieren und ihn nicht nur für die
anfertigen und verbreiten lassen. Eine dieser Abschriften, Sprachgeschichte, sondern auch für die Geschichte klöster-
die als in direkter Linie auf das Original zurückgehend gilt, licher Philologie insgesamt zu einem wertvollen Dokument
liegt noch heute als Codex 914 im Kloster St. Gallen. Sogar machen.
noch älter, doch auf einer anderen Texttradition basierend,
literatur: Daab (1959) – Masser (1997, 2000 und 2002).
ist die Benediktinerregel des Codex 916. Sie ist in ganz
wesentlichem Ausmaß Ausdruck jener karolingischen Bil-
dungsbeflissenheit, in der exaktes Textstudium die Grund- martin h. graf
145
146 Ekkehart IV. von St. Gallen: Klostergeschichten

St. Gallen, 12. (und 13.) Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 615, S. 119
Pergament, 16 × 10,5 cm

In St. Gallen hatte man schon früh das Bedürfnis, die eigene Ekkehart IV. schreibt nicht einfach Tatsachenberichte nieder.
Geschichte schriftlich festzuhalten. Mit der Aufzeichnung Die Anregungen zur Gestaltung einer Szene holt er sich,
dessen, »was sich im Galluskloster zutrug« (Casus sancti außer bei der mündlichen Haus-Überlieferung, bei den Wun-
Galli), hatte zu Ende des 9. Jahrhunderts Ratpert den An- dergeschichten der Heiligen, aber auch bei der römischen
fang gemacht. Geraume Zeit später, in der ersten Hälfte des Komödie. Sindolf erscheint als übler Ohrenbläser und als
11. Jahrhunderts, setzte Ekkehart IV., ein höchst begabter eine Kontrastfigur zu den drei Freunden.
Erzähler, die Darstellung fort und führte sie bis in die 970er Diese treffen sich nächtens, erlaubterweise, im Skriptorium
Jahre weiter. Unsere Abbildung zeigt eine Seite aus der und führen hier – vielleicht im Zusammenhang mit der
Handschrift 615; darin wurden im 12. und 13. Jahrhundert Anlage von Handschriften – gelehrte oder erbauliche Ge-
von mehreren Händen die Chronik Ratperts, dann diejenige spräche. Für den abergläubischen Sindolf allerdings sind die
Ekkeharts und schließlich deren Fortsetzungen bis 1203 nächtlichen Unterhaltungen, welche die Freunde über ihren
niedergeschrieben. Die Handschrift, für Ekkeharts Chro- »schwarzen Büchern« führen, Teufelswerk. Er belauscht sie
nik der älteste und weitaus wichtigste Textzeuge, zeigt eine im Dunkeln, um sie dann bei seinem mächtigen Schutzherrn
gleichmäßige nachkarolingische Minuskel, in welcher sich anzuschwärzen. Sie entdecken ihn und besprechen – latei-
bereits die gotische Buchschrift ankündigt. nisch, damit er sie nicht versteht – seine Bestrafung: Tuotilo
Ekkehart lässt in seiner Klostergeschichte seinen Vorgänger lässt ihn durch Ratpert verprügeln und behauptet später
Ratpert mit dessen berühmteren Freunden Notker (Balbu- scheinheilig, er habe geglaubt, den Teufel gefasst zu haben,
lus) und Tuotilo zusammen auftreten. Eine der Erzählungen, den habe gerade ein Engel geschlagen. Wie Sindolf wenig
die er ihnen widmet, handelt von dem gelehrten Umgang mit später Notker und Ratpert im Refektorium zu bedienen hat,
Buch und Schrift. Sie veranschaulicht die Tatsache, dass im knallt er, einen Fluch auf den Lippen, das Gefäß mit ihrer
Europa der späten Karolingerzeit die Sphären von Latein Weinration grob auf den Tisch. Dieses fällt zu Boden, aber
und Schriftgebrauch einerseits und der volkssprachigen wundersamerweise wird der Wein nicht verschüttet. Für
Mündlichkeit andererseits wie durch eine unsichtbare Mauer Sindolf ist die Sache klar, und er verkündet es den Herbei-
geschieden waren – sogar in einem Kloster. Unter den dorti- gelaufenen: Der Teufel selber sei seinen Hexenmeistern, die
gen Laienbrüdern gab es Naturburschen und Analphabeten, so zweifelhafte Künste praktizierten, zu Hilfe geeilt!
und einen solchen Gesellen, Sindolf mit Namen, stellt uns Die abgebildete Textseite enthält ein Stück von Sindolfs
Ekkehart vor Augen. Bei Abt Salomo III., einem vorneh- Charakterisierung und (ab Zeile 8: Erat …) den Beginn der
men Herrn, wusste er sich einzuschmeicheln; er wurde von nächtlichen Szene.
ihm zum Vorarbeiter der klösterlichen Werkleute gemacht.
literatur: Ekkehard (1980) – Stotz (1997) – Tremp (2006).
Auch übte er im Kloster das Amt des Speisemeisters aus.
peter stotz
147
148 Ekkehart IV. von St. Gallen:
Liber benedictionum

St. Gallen, 1. Hälfte/Mitte 11. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 393, S. 194
Pergament, 20,7 × 16,2 cm

Im Mittelalter zählte lateinisches Dichten manchenorts zu handelt sich um eine Art Katalogdichtung.) Hinzu kommen
dem, was man in der Schule erlernte. Sich bei Bedarf dich- dichterische Inschriften für eine geplante Ausmalung des
terisch äußern zu können, gehörte zu den Umgangsformen Domes von Mainz und für eine solche des Klausurbezirks im
mittelalterlicher Gebildeter. Ekkehart IV. (um 980/990 – um Kloster St. Gallen, dazu einige weitere Stücke.
1060), bekannt durch seine Klostergeschichte, wurde in jungen Die abgebildete Seite aus den Segenssprüchen enthält den
Jah­ren durch seinen Lehrer, Notker III. (den Deutschen), zum Übergang von den Speisen (Melonen, Knoblauch, Kürbisse,
Abfassen von Gedichten angehalten. Zweifellos war Notker Lattich) zu den Getränken – und hier wird in zahlreichen
von der Begabung seines Schülers angetan, und er stellte ihm Einzeilern das Thema des Weintrinkens umkreist. Der zweite
für seine Dichtübungen Pergamentblätter (oder -streifen) zur Vers besagt: »Der Knoblauch möge den erschlafften Mägen
Verfügung, die er dann jeweils an sich nahm. Später, vielleicht die gewohnte Kraft wiedergeben.« Dabei stehen zwei Wörter
nach dem Tode Notkers, trug Ekkehart diese Texte – dazu und der Anfang eines dritten über einem nachträglich ausge-
Dichtungen, die er inzwischen verfertigt hatte – in einem Co­ schabten Textstück: Hier hatte der Dichter zunächst anders
dex, nachmals Liber benedictionum genannt, zusammen. formuliert. Darüber steht in Prosa: »Knoblauch bekommt
Autographen – vom Verfasser eigenhändig niedergeschrie- dem Magen gut, aber den Nieren schlecht.« Und hiermit wie-
bene literarische Texte – haben sich aus dieser Zeit nur derum hängt die Einfügung eines Verses zusammen, in dem
selten erhalten. Und gerade Ekkeharts Gedichtbuch erlaubt es um Nierensteine geht; dessen Anfang hatte ursprünglich
ungewöhnliche Einblicke in die Arbeitsweise dieses hochmit- ebenfalls anders gelautet. Einige Zeilen weiter unten (Beginn
telalterlichen Dichters, denn während seines langen Lebens mit Sit) finden wir ein Beispiel für eine Glosse: Über noster
arbeitete er an diesen Texten unaufhörlich weiter: Er radierte (unser) steht die Erklärung fratrum (der [Kloster-]Brüder).
und überschrieb, er brachte Varianten des Wortlautes bei, Zum zweituntersten Vers (Beginn mit Hunc) bringt Ekke-
auch fügte er Verständnishilfen ein. Letzteres war nötig, denn hart an zwei Stellen mit vel (oder) Varianten bei, die sich
seine Verse (Hexameter mit Binnenreim) sind etwas ungelenk, ins Versmaß fügen: uitis / calicis haustum (den Trunk von
ihr Sinn bliebe ohne die Glossen manchenorts dunkel. der Rebe / aus dem Becher) und noua gratia / benedictio
Der erste und umfangreichste Teil der Sammlung besteht (erneuerte Gnade / Segen). Ekkehart IV. gehört nicht zu den
aus längeren Gedichten zu kirchlichen Festtagen und zu den bedeutendsten Dichtern des lateinischen Mittelalters, aber
damit verbundenen Heilsgeheimnissen, auch zu Themen, die zu denen, die uns einen besonders guten Einblick in den
mit dem gelehrten Unterricht zusammenhängen. Darauf folgt Arbeitsprozess erlauben.
eine lange Reihe von Einzelversen, in denen für alle möglichen
literatur: Ekkehart IV. (1909) – Stotz (1981) – Schmuki/Ochsenbein/
Speisen und Getränke Gottes Segen erbeten wird. (Nicht alles,
Dora (2000) – Weber (2003).
was darin genannt ist, kam im Refektorium auf den Tisch; es
peter stotz
149
150 Orakelbuch

Untere Schrift: spätantikes Verzeichnis von Los-Orakeln, Italien, Ende


6. Jh. – Obere Schrift: lateinisch-lateinisches Glossar aus dem Frühmit-
telalter, St. Gallen, 8. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 908, S. 191
Pergament, 21 × 13,3 cm

Pergament war teuer. So hat man vielfach Texte, für die man um Bedrohungen durch Feinde, um die Dauer des Lebens
keine Verwendung mehr hatte, mit dem Messer – zum Glück und um vieles andere mehr. Die Antworten-Serien waren
nicht immer ganz gründlich – ausgeschabt, um damit Platz zu durchnummeriert, und die ›richtige‹ Antwort ermittelte man
schaffen für einen neuen Text, den man für wichtiger ansah. durch Würfeln. In der vorliegenden Niederschrift sind die
Diese Codices rescripti oder Palimpseste bergen für uns große Antworten – etwa 500 haben sich ganz oder teilweise erhal-
Geheimnisse: Meist ist der getilgte ursprüngliche Text eine ten – mit Absicht durcheinandergebracht worden. Die Texte
Rarität und daher für die Forschung wichtiger als der darüber sind in einem Volkslatein gehalten, in welchem sich manche
geschriebene, und so sucht man ihn mit modernsten Metho- romanischen Entwicklungen ankündigen (z. B. fugíre statt
den wieder lesbar zu machen. Die Stiftsbibliothek St. Gallen fúgere ›fliehen‹, vgl. italienisch fuggire, französisch fuir). Als
besitzt besonders viele palimpsestierte Handschriften. Der Beispiele seien die erste sowie die drei letzten Zeilen der abge-
vorliegende Codex wurde von Stiftsbibliothekar Ildefons bildeten Seite herausgegriffen. Sie lauten übersetzt: »Zwar will
von Arx 1823 aus Palimpsestfragmenten zusammengestellt, er fliehen, aber er wird auf der Reise aufgegriffen.« / »Auf der
die aus verschiedenen Codices stammten. Hier nun geht Flucht wirst du in Gefahr geraten.« / »Du bringst nirgendwo
es beim ursprünglichen Text um ein Orakelbuch vielleicht etwas zustande.« / »Es ist nötig, dass du fliehst, und du wirst
vom Ende des 4. Jahrhunderts (Sortes Sangallenses), nieder- wiederum zurückkehren.«
geschrieben in einer gepflegten Unziale des ausgehenden Die in zwei Spalten angeordneten neuen Einträge gehören
6. Jahrhunderts. Im 8. Jahrhundert wurden die Blätter zur einem ausführlichen lateinisch-lateinischen Glossar an. Links
Anlage eines umfangreichen Glossars wieder verwendet. stehen die zu erklärenden Wörter (Lemmata), rechts die
Dass der untere Text getilgt wurde, bedeutet übrigens nicht Erklärungen (Interpretamente). Die Lemmata sind in Bezug
eine Stellungnahme gegen einen im Heidentum verwurzel- auf den Anfangsbuchstaben – aber nicht feiner – alphabetisch
ten Aberglauben: Überaus häufig, und so gerade für dieses geordnet. Dieses (als solches) bisher ungedruckte Wörterver-
Glossar, hat man auch biblische und liturgische Texte, die zeichnis ist eine Variante des nach seinem Anfangswort Amoe-
man nicht mehr benötigte, getilgt. num benannten Glossars (Dionisotti 1996, S. 225f.). Behandelt
Dieses Orakelbuch, das aus der christlichen Spätantike und werden nicht immer die Grundformen der jeweiligen Wörter,
wohl aus Gallien stammt, bestand ursprünglich aus Serien von sondern oft deren Deklinations- bzw. Konjugationsformen,
jeweils zwölf Antworten auf bestimmte Fragen – die Fragen wie sie in einer bestimmten antiken Dichtung vorkamen.
als solche sind nicht mit überliefert. Einfache Leute holten sich
literatur: Dold/Meister (1948–1951) – Demandt (1990) – Dionisotti
damit Rat für ihre Alltagsprobleme. Da ging es um geplante
(1996) – Schmuki/Ochsenbein/Dora (2000).
Reisen, um die bevorstehende Ernte, um Versprechungen,
peter stotz
151
152 Glossen zu Prudentius

Kloster St. Gallen, 9./10./11. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 134, S. 39
Pergament, ca. 20,5 × 15,6 cm

Inhaltliche Vorlagen, sprachliche Muster, Erinnerungen, Ein- »ungekämmte«) handelt. Stehen sie auf dem Blattrand, zeigen
fälle – all diese Nebenräume, Unter- und Obergeschoße eines Verweiszeichen an, zu welchem Textwort sie gehören.
Textes sind Bestandteile seines Aufbaus. Unter dem neuen Was sich als so klare Textbearbeitung präsentiert, ist in einem
Begriff Hypertext sind sie von den elektronischen Medien Punkt rätselhaft: Warum werden die Textwörter einmal latei-
der Gegenwart in die Darstellung des Textes einbezogen nisch, ein anderes Mal althochdeutsch glossiert? Ja, warum
worden, und zwar – das ist das eigentlich Neue – in der Form brauchte es denn eigentlich althochdeutsche Glossen, wo die
unmittelbar verfügbarer Zusatztexte. Wo in elektronischen Textbenützer doch offensichtlich das Latein beherrschten?
Texten Links plaziert sind, standen vormals Hinweise auf die Die Erforschung des Althochdeutschen ist noch weit davon
Mittexte, dienten Fußnoten, Querverweise und Verzeichnisse entfernt, diese Fragen, die für die Verschriftungsgeschichte
als Orientierungs- und Verständnishilfen. Ihre Vorläufer in des Deutschen von zentraler Bedeutung sind, beantworten
den mittelalterlichen Codices waren die Glossen. Vergleich- zu können. Es lässt sich jedoch mit einiger Sicherheit voraus-
bar mit den modernen Links durchbrachen sie schon damals sagen, dass der Weg zur Lösung durch die ›Maueröffnungen‹
die Fläche des Textes wie Fenster eine kompakte Mauer und führt, mit deren Hilfe die mittelalterlichen Gelehrten in die
öffneten den Blick auf Zusatzwissen. Tiefe der Texte vorzudringen suchten.
Ein im eigentlichen Wortsinn plastisches Beispiel dafür
literatur: Bergmann (2005).
liefert uns die Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek
Nr. 134. Den Texten des christlichen, spätantiken Dichters andreas nievergelt

Prudentius, die der Codex enthält, sind in großer Zahl Glos-


sen beigefügt worden. Sie dienen hier zur Hauptsache der
Bedeutungserschließung einzelner Wörter und verweisen
auf Wörtersammlungen der damaligen Zeit. Die Erläu-
terung der Textwörter wird unterschiedlich gehandhabt.
pullati (schwarzgekleidete) in Zeile 7 wurde auf dem rechten
Blattrand mit einer dreizeiligen lateinischen Definition des
Begriffs pulla uestis (grauschwarze Kleidung) ausführlich
erklärt. Im Normalfall erfolgte die Glossierung jedoch mit
Einzelwörtern, bei denen es sich entweder um ein lateini-
sches Synonym (über Claucos »blaugrüne« in Zeile 4 steht
nigros »schwarze«) oder aber ein althochdeutsches Überset-
zungswort (rechts neben impexa in Zeile 9 steht vngestralta
153
154 Glossierter Psalter

St. Gallen, um 850/860
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 27, S. 21
Pergament, 31,7 × 23,8 cm

Der Heiligen Schrift hat man in den Handschriften in der Re- geistlicher Studien und frommer Versenkung. Gotteswort
gel größte Sorgfalt und edelste Gestaltung angedeihen lassen: und Menschenwort sind in der Darstellung klar geschieden.
Der Hoheit des Wortes Gottes suchte man durch formvollen- Bestimmte erklärende Materialien wurden bei Anlage der
dete Schrift und durch Buchschmuck angemessenen Ausdruck Handschrift in den flankierenden Kolonnen eingetragen,
zu verleihen. Andererseits waren die biblischen Texte seit jeher manchenorts blieb Raum für spätere Einträge. Von einer an-
durch Erklärungen erschlossen worden. Ein neuer Gedanke dern, ebenfalls zeitgenössischen Hand wurden zunächst auch
war es nun, das sakrale Wort und erklärende Elemente durch einzelne Wörter des Grundtextes über der Zeile glossiert,
eine wohlüberlegte Einrichtung der Buchseite miteinander allerdings ist dieses Vorhaben schon nach wenigen Seiten
zu verbinden. Erstmals fassbar ist dies in irischen Bibelhand- aufgegeben worden. Diese Hand ist wohl mit derjenigen
schriften aus der Zeit um 800 sowie in einer gleichaltrigen des Nachtrags in der rechten Spalte ganz unten identisch,
Psalterhandschrift aus Fulda. In St. Gallen hat man um die während der Eintrag darüber dem Spätmittelalter zugehört.
Mitte des 9. Jahrhunderts diese Anregung aufgenommen und Ebenfalls erst im Spätmittelalter hat man das Nachschlagen
weiterentwickelt; das neue Darstellungsprinzip sollte in der durch Kolumnentitel (ganz oben, Mitte) erleichtert.
Folge für die mittelalterliche Praxis der Verbindung von Text Den Psalter teilte man in Gruppen zu je fünfzig Psalmen
und Kommentar höchst bedeutsam werden. Auf jedem Blatt auf; vielfach – und so hier – ist dem ersten, dem 51. und
der Handschrift begegnen sich zwei unterschiedliche Sphären: dem 101. Psalm besonderer Buchschmuck zugeordnet.
So wie ein hoher Herr von Dienern flankiert wurde, ist der Der erste Psalm, in welchem das Bild des Gerechten, des
heilige Text beidseits begleitet von dienenden Elementen: von aufrechten Verehrers Jahwes, gezeichnet wird, wurde im
Textstücken, die aus ausführlichen Kommentaren ausgezogen älteren Christentum zu einer Prophetie auf Christus um-
worden sind und welche das Verständnis und das meditative gedeutet. Darauf bezieht sich manches in dem begleitenden
Eintauchen in den Bibeltext herbeiführen sollen. Kommentarmaterial, so die mit Iste beginnende Scholie in
Der Psalter, das Gebetbuch der alten Israeliten, ist von der linken Spalte, aber auch die Gegenüberstellung von altem
den Christen im Gottesdienst und in der privaten Andacht und neuem Adam in den Interlinearglossen des Grundtextes
weiterverwendet worden. In ihm gewahrten sie allerorten bei (Bea)tus. Zu den weiteren Themen gehören die Erklärung
verborgene Bezugnahmen auf Christus. Und dies hat sich von beatus (selig), die Charakterisierung von lex (Gesetz)
in zahlreichen Kommentaren niedergeschlagen; im lateini- und von pestilentia (Seuche).
schen Westen gehören diejenigen Augustins und Cassiodors
literatur: Gibson (1994) – Schaab (1999) – Schmuki/Ochsenbein/Dora
zu den wichtigsten. Die vorliegende Psalterhandschrift
(2000) – von Euw (2008).
vergegenwärtigt die doppelte Rolle der Psalmen als Ge-
bets- und Gesangstexte in der Liturgie und als Gegenstand peter stotz
155
156 Lexikalische Texterschließung

St. Gallen, 2. Hälfte 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 299, S. 33
Pergament, 22,4 × 15,8 cm

Die stille Lektüre von Texten gehörte im mittelalterlichen haben und nicht direkt auf einen Text bezogen waren. Sie
Mönchtum zu den täglichen Beschäftigungen. Dabei zähl- spiegeln frühe Versuche wider, den lateinischen Wortschatz
ten die Bibel und die bibelexegetischen Kommentare der mit Hilfe des volkssprachigen zu erfassen. Zudem lässt
Kirchenväter zu den meistgelesenen und -bearbeiteten auch die übersichtliche Darstellung in drei Spalten – wie die
Schriften. Durch den häufigen Gebrauch wuchs das Interesse Abbildung zeigt – auf einen Gebrauch als Nachschlagewerk
am Verständnis dieses großen Textkomplexes, was zuneh- schließen. In einer Spalte steht jeweils das lateinische Wort
mend lexikographische Arbeit nach sich zog. Die St. Galler links und die althochdeutsche Übersetzung rechts daneben.
Handschrift Nr. 299 ist ein Dokument zeitgenössischer Die einzelnen Sachgruppen sind mit einer Überschrift in
lexikalischer Texterschließung. Es handelt sich um eine Kapitalien versehen, womit das schnelle Auffinden eines
Zusammenstellung von Glossaren, die in Aufbau und wohl Wortes ermöglicht und die Handlichkeit des Hilfsmittels
auch Funktion einem Wörterbuch vergleichbar sind. Um gesteigert wird. Auf Seite 33 sind zuerst die Vögel (DE UO-
allfälligen Sprachproblemen begegnen zu können, wurde eine LATILIBUS), dann die Fische (DE PISCIBUS), in der zweiten
Sammlung von volkssprachigen Übersetzungen zu einzelnen Spalte die Körperteile (DE MEMBRIS) und in der dritten die
Wörtern und Textstellen angelegt, die während der Lektüre Verwandtschaftsnamen (DE PARENTIBUS) aufgelistet.
als Hilfsmittel zum Wort- und Textverständnis beigezogen Die Wortsammlungen gehören zu den ältesten Zeugnissen
werden konnte. der deutschen Sprache und sind darum für die Sprachge-
Die Handschrift Nr. 299 enthält Glossare verschiedener Art. schichtsforschung von erheblicher Bedeutung.
Den meisten Platz nehmen die Bibelglossare und die Glossare
literatur: Suolahti (1909) – Riecke (2004).
zu den Texten der Kirchenväter ein. Sie sind größtenteils ein-
spaltig, in Form eines Fließtextes geschrieben. Auf ein Wort
oder eine Wortgruppe aus dem lateinischen Text folgt jeweils michelle waldispühl

eine lateinische Erklärung oder eine volkssprachige Überset-


zung. In den Bibelglossaren sind diese Interpretamente in der
Reihenfolge angeordnet, in der sie auch im Text vorkommen.
Dem Leser war es dadurch möglich, während der Lektüre das
Textglossar fortlaufend zu konsultieren. Es gibt allerdings
auch einen alphabetisch geordneten Teil, der sich vielleicht
wie ein modernes Wörterbuch verwenden ließ.
Neben den Textglossaren wurden auch Sachglossare angelegt,
die eher als Nachschlagewerke und Wissensspeicher gedient
157
158 Glossen zum Römerbrief

Kloster St. Gallen, ca. 760–780


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 70, S. 15
Pergament, ca. 28,5 × 20 cm

Winithar heißt der erste uns namentlich bekannte Schreiber überhaupt. Paläographische Gutachten sprechen ihnen so-
des St. Galler Skriptoriums. Seine in ihrer Urwüchsigkeit gar den Altersrekord zu. Dass ihre Erforschung noch nicht
unverwechselbare Schrift taucht in einer ganzen Reihe von abgeschlossen ist, hat mit ihrem Erhaltungszustand zu tun.
Handschriften aus dem dritten Viertel des 8. Jahrhunderts Schon zu Beginn der Entzifferungsbemühungen muss ein
auf. Drei dieser Handschriften, die Codices 70, 238 und 907 großer Teil der Eintragungen stark verblasst gewesen sein.
der Stiftsbibliothek, wurden von Winithar ganz allein ge- Einige sind wohl für immer erloschen.
schrieben. Codex 70 enthält auf Seite 250 gar noch auf einer Erst vor einem guten Jahr wurde die überraschende Entde-
Rasur eine Unterschrift des fleißigen Schreibers. ckung gemacht, dass der Codex nicht nur diese Federglossen,
Während seiner Wirkenszeit in St. Gallen hat Winithar, in sondern auch eine große Zahl farbloser, mit dem Griffel ins
Zusammenarbeit mit anderen Schreibern, offensichtlich Pergament eingeritzter althochdeutscher Glossen enthält.
an einem größeren Bibelprojekt gearbeitet, das sich an den Diese befinden sich zum überwiegenden Teil im Römer-
Anfang der St. Galler Bibelphilologie stellt. Der Codex 70 brief, wo auch Federglossen stehen. Die Abbildung zeigt die
ist ein Teil dieses eindrucksvollen Lebenswerks. Die Hand- althochdeutsche Griffelglosse keheilagot (»geheiligt«), die
schrift enthält die Paulinischen Briefe, denen Winithar eine als Übersetzung über dem lateinischen Textwort segregatus
Ansprache an seine Mitbrüder beifügte, die in der Forschung (»ausgesondert«) steht.
als das erste eigenständige literarische Werk bezeichnet wird, Die neu entdeckten Griffelglossen, die in Teilen ebenso alt
das in St. Gallen entstand. sein dürften wie die Federglossen und damit wie jene von
Eine spezielle Bedeutung erlangte die Handschrift in der größter Bedeutung sind, zeigen keine offensichtliche Verbin-
Erforschung der deutschen Sprache, als E. G. Graff 1834 in dung zur Federglossierung. Es scheint sich um ein eigenes
der Vorrede seines althochdeutschen Wörterbuchs darauf Glossierungsprojekt gehandelt zu haben, das unser Bild der
hinwies, dass sich zwischen den Zeilen des lateinischen frühen St. Galler Bibelglossierung um zahlreiche volksspra-
Bibeltextes mit Feder und Tinte eingetragene althochdeut- chige Übersetzungswörter bereichert. Wie diejenige der Fe-
sche Glossenwörter befinden. Seit dieser Veröffentlichung, derglossen bereitet ihre Entzifferung einige Schwierigkeiten.
die in die Anfangszeiten der historischen germanistischen Nicht wenige sind aber deutlich eingeritzt und gut lesbar.
Sprachwissenschaft fällt, dauern die Versuche seitens der Weshalb während der 170 Jahre, in welchen die Handschrift
Forscher, diese Glossen in einer vollständigen Edition zu wiederholt von Germanisten eingesehen wurde, nicht we-
erfassen, bis in die jüngste Zeit an. Das große Interesse an nigstens eine dieser Griffelglossen gesehen wurde, gehört zu
den Eintragungen ist verständlich, handelt es sich doch um den Geheimnissen der Forschungsgeschichte.
Glossen aus dem dritten Viertel des 8. Jahrhunderts und
literatur: Graff (1834–1842) – Voetz (1987).
damit um eines der ältesten deutschen Sprachdenkmäler
andreas nievergelt
159
160 Griffelglossen zur Pastoralregel

Kloster St. Gallen (?), 2. Viertel 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 219, S. 163
Pergament, 22 × 15,5 cm

Die theologischen und pastoralen Schriften des spätesten folgt; a wird folglich mit b, e mit f, i mit k, o mit p und u mit
der vier großen lateinischen Kirchenlehrer, Papst Gregors x wiedergegeben.
des Großen († 604), waren in der mittelalterlichen Kirche Die Griffelglosse, die auf dem unteren Blattrand der Seite
überaus beliebt. Beredtes Zeugnis von Gregors Bedeutung 163 eingeritzt ist, lautet fpllkchp. Nach Regeln der bfk-Ver-
legt die hohe Zahl von Handschriften mit seinen Werken ab. schlüsselung ist sie als althochdeutsches follicho (»völlig«)
Auch das Kloster St. Gallen besaß eine stattliche Anzahl. aufzulösen. Mit der Glosse wird das lateinische Textwort
Schon im ältesten Katalog aus dem 9. Jahrhundert machen medullitus (»völlig, zutiefst«) aus der letzten Zeile übersetzt.
die Gregor-Handschriften einen ansehnlichen Teil des ver- Die Glosse lässt sich in direkter Weise mit einer modernen
zeichneten Buchbestandes aus. Einen weiteren Nachweis für Fußnote vergleichen. Was heute das Fußnotenzeichen ist,
die intensive Beschäftigung mit Gregor dem Großen liefern konnte damals ein Verweiszeichen sein. Dieses besteht bei
die althochdeutschen Glossen. Gregors Schriften zählen zu unserer Glossierung in einem Punkt, der sowohl über m- des
den meistglossierten. Besonderer Beliebtheit erfreute sich die lateinischen als auch über -c- des althochdeutschen Wortes
sogenannte Regula pastoralis, die Pastoralregel. Es handelt gesetzt wurde und die Verbindung von Textstelle und Glosse
sich um eine Anleitung zum Amt des Seelsorgers. Bis heute sichtbar macht.
kennt man rund dreißig Regula pastoralis-Handschriften Warum aber verschlüsselte der Glossator das althochdeut-
mit althochdeutschen Glossen und vierzehn weitere Hand­ sche Wort? Dazu gibt es nur Vermutungen. Vielleicht steckt
schriften, die Textglossare zur Pastoralregel enthalten. ein Gelehrten-, vielleicht ein Lernspiel dahinter, vielleicht
Von den fünf erhaltenen Regula pastoralis-Handschriften diente die Geheimschrift der graphischen Kennzeichnung
der Stiftsbibliothek, den Codices 216–220, enthalten bis von Textzusätzen. Ernsthafte Geheimniskrämerei war wohl
auf Codex 220 alle althochdeutsche Glossen. Die dichteste nicht im Spiel, dafür ist die Geheimschrift zu leicht durch-
Glossie­rung weist die Handschrift Nr. 219 auf. Beim Haupt- schaubar. Wer genau hinschaut, kann über medullitus noch
teil der ca. 300 Glossen handelt es sich um althochdeutsche eine weitere geheimschriftliche Griffelglosse entdecken. Sie
und lateinische Griffelglossen, und sie zeigen eine Beson- kann als fpllp gelesen werden. Dies brauchen wir jetzt für
derheit. Viele von ihnen sind nämlich in einer Geheimschrift unsere Leserschaft schon nicht mehr aufzulösen.
geschrieben, was bei Federglossen nicht ungewöhnlich, bei
literatur: Glaser/Nievergelt (2004) – Bergmann (2005) – Nievergelt
Griffelglossen jedoch äußerst selten ist. Die verwendete Ge-
(2008).
heimschrift ist die sogenannte bfk-Schrift, die ihren Namen
nach dem Verschlüsselungsprinzip trägt: Chiffriert werden andreas nievergelt

nur die Vokale, und zwar mittels desjenigen Konsonanten,


der auf den jeweiligen Vokal im Alphabet der damaligen Zeit
161
162 Randbemerkungen zu Priscian

Irland, Mitte 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 904, S. 204
Pergament, 39 × 28,5 cm

Dieser gewaltige Codex, der die lateinische Grammatik insgesamt noch sieben weitere solche Eintragungen auf den
Priscians enthält, ist um 845 in Irland entstanden und im Seiten 50 (am unteren Rand), 70, 170 und 193–196 (jeweils
Verlaufe des 10. Jahrhunderts durch unbekannte Umstände am oberen Rand). Dass dieses Schriftsystem in einer irischen
nach St. Gallen gekommen. Priscians in den Jahren 526/27 Handschrift verwendet wurde, ist nicht überraschend. Etwas
entstandene Institutiones grammaticae gehören zu den geheimnisvoll erscheinen jedoch die verschiedenen Inhalte:
wichtigen Lehrbüchern im Mittelalter. Die mittelalterliche Die Randbemerkung auf Seite 50 ist lateinisch und lautet – in
Kommentierung dieses spätantiken Werkes beginnt in Irland lateinischer Umschrift – feria cai hodie (»heute ist das Mo-
und verbreitet sich anschließend über ganz Europa. Bestre- Choi-Fest«). Auch die beiden Eintragungen auf den Seiten
bungen werden fassbar, den lateinischen Text Priscians zu 70 (fel martain, »St. Martins Fest« und 170 minchasc, »kleine
verstehen und zu analysieren. Der in zwei Spalten sorgfältig Ostern, Ostersonntag«) verweisen auf Feiertage, nun aber auf
angeordnete und sauber geschriebene Text wurde bei der Altirisch. Diese drei Bemerkungen haben keinen inhaltlichen
Verwendung laufend bearbeitet. So kamen lateinische Scho- Bezug zum Prisciantext und könnten Hinweise für eine aus-
lien dazu, Passagen wurden ausradiert oder paraphrasiert, gewählte Gruppe von Mönchen gewesen sein. Die weiteren
Wörter wurden unterstrichen oder ins Irische übersetzt. Die fünf Eintragungen beziehen sich direkt auf die Bearbeitung des
Übersetzungen, die als Glossen meist in kleiner Schrift zwi- Texts. An den oberen Rändern der Seiten 193–196 steht jeweils
schen die Zeilen geschrieben wurden, machen diesen Codex das altirische Wort cocart (»Korrektur«), möglicherweise als
zu einer der bedeutendsten Quellen des Altirischen. interner Hinweis eines Korrektors, dass er auf den jeweiligen
Nicht alle Glossen aber dienen dem Verständnis des lateini- Seiten die Korrekturen erledigt hat. Inhaltlich etwas aus dem
schen Texts. Einige sind Bemerkungen zum Schreibprozess Rahmen fällt die auf der Seite 204 eingetragene Bemerkung. Es
und zu den Mühen der Mönche in den Schreibstuben. So handelt sich um das altirische Wort latheirt, was »erheblicher
gibt es Klagen wie »Ach, meine Hand!« (S. 176) oder »Neues Bierkonsum« oder freier übersetzt »gewaltiger Kater« bedeu-
Pergament, schlechte Tinte, ich sage nichts mehr« (S. 217) tet und laut McManus (1997, S. 133) als Entschuldigung des
und Aussagen wie »Ich will jetzt gehen, wenn es dir lieber Schreibers für die vielen Schreibfehler auf dieser Seite gewertet
ist« (S. 210). Einträge ähnlicher Art sind mitunter sogar in werden könnte. Hier scheint es nachvollziehbar, warum der
einem anderen Schriftsystem angebracht. Betrachtet man Schreiber eine Schrift gewählt hat, die nicht auf Anhieb von
die Seite 204 genau, entdeckt man am oberen Rand eine aus jedem gelesen werden konnte.
senkrechten und diagonalen Strichen bestehende Eintra-
literatur: Hofmann (1996) – McManus (1997) – Schmuki/Ochsenbein/
gung. Diese Schrift ist von irischen Steinmonumenten aus
Dora (2000).
dem 5. bis 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bekannt
und wird Ogam genannt. In der Handschrift Nr. 904 gibt es michelle waldispühl
163
164 Bedas Sterbelied

9. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 254, S. 253 (Ausschnitt:
l. Sp. Z. 6–11)
Pergament, 29 × 22 cm

Der angelsächsische Gelehrte Beda Venerabilis starb im Jahr Dem Brief von Cuthbert können wir entnehmen, dass Beda
735 am Abend des 25. Mai, dem Tag vor Christi Himmelfahrt, vor seinem Tod immer wieder verzweifelt war. Was ihn
im nordhumbrischen Kloster Jarrow. Wie er die Wochen beschäftigte, war die Tatsache, dass der Mensch nie weiß,
vor seinem Tod verbracht hatte, beschreibt Bedas Schüler was ihn nach dem Tod erwartet. Dieses Geheimnis erschien
Cuthbert in einem Brief an den Mitbruder Cuthwine. Dieser ihm vielleicht weniger unergründlich, wenn er sich ihm auf
Brief ist in der St. Galler Handschrift Nr. 254 auf den Seiten Altenglisch annähern konnte.
252–255 überliefert. Cuthbert berichtet darin, daß Beda Cuthberts Brief über Bedas Tod ist im Zusammenhang mit
vor Ostern krank geworden war; trotzdem führte er seinen der angelsächsischen Mission auf den Kontinent und so
Unterricht und seine Arbeit fort. Offenbar ahnte er, daß sein nach St. Gallen gelangt. Codex Sangallensis 254 basiert wohl
Tod bevorstand, denn er ermahnte seine Schüler, immer an auf einer Weißenburger Vorlage, die in der Zeit des Abtes
den Tod zu denken. In diesem Zusammenhang spricht Beda Grimald abgeschrieben wurde, der von 847–870 beiden
auch das folgende altenglische Gedicht (S. 253, linke Spalte, Klöstern vorstand. Da die nordhumbrischen Klöster durch
Z. 6–11), die einzigen altenglischen Zeilen, die von Beda die Wikinger-Einfälle im 9. Jahrhundert zerstört oder ge-
heute erhalten sind: plündert wurden, hat sich in England keine Handschrift mit
der ursprünglichen Fassung von Bedas Sterbelied erhalten;
Fore th[er]e neidfaerae naenig uuiurthit es existieren heute nur in die westsächsische Schriftsprache
thoncsnotturra than him tharf sie umgeschriebene jüngere Versionen. Der nordhumbrische
to ymbhycggannae aer his hiniongae Text ist in Deutschland und Österreich in mehreren Hand-
huaet his gastae godaes a[et]htha yflaes schriften aus dem 11. bis 16. Jahrhundert erhalten. Die
aefter deothdaege doemid uueorthae. St. Galler Handschrift Nr. 254 aus dem 9. Jahrhundert bietet
somit das älteste Textzeugnis dieses kurzen altenglischen
Auf Deutsch übersetzt bedeutet das ungefähr: »Vor der un- Gedichtes – es ist nur etwa hundert Jahre nach Bedas Tod
vermeidlichen Reise wird niemand weiser an Gedanken, als niedergeschrieben worden.
es nötig ist, um vor seinem Hinscheiden zu bedenken, was
literatur: van Kirk Dobbie (1937) – Petilli (1996) – Schopf (1996) –
seiner Seele an Gutem oder Schlechtem nach dem Todestag
Reichardt (1997) – Dora (2000).
angerechnet wird.« Beda, der rund vierzig Werke in vorbild-
lichem Latein verfaßt hat, wählt im Angesicht des Todes seine annina seiler

vertraute Muttersprache Altenglisch und den germanischen


Stabreimvers, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen.
165
166 Isruna-Traktat

Kloster St. Gallen (?), Mitte 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 270, S. 52
68 Pergamentseiten + 6 Papierseiten, 20,5 × 14 cm

Schriftkundig muss im europäischen Mittelalter gleichge- und wieder mit den lateinischen Entsprechungen, diesmal
setzt werden mit lateinkundig. Die lateinische Schrift, die über den Runen, versehen.
auch heute noch für die meisten europäischen Sprachen Der darauf folgende lateinische Text erklärt fünf verschie-
verwendet wird, war das verbreitetste und bekannteste dene Geheimschriften. Die erste Geheimschrift (Zeilen 9–12)
Schriftsystem. Andere Schriftsysteme wurden vorwiegend zeigt mit kurzen und langen i-Runen, die mit Bezug auf den
aus gelehrtem Interesse festgehalten. Aber sie boten sich Runennamen is (»Eis«) der i-Rune isruna genannt werden,
auch an, um Inhalte zu verschlüsseln – so die Runenschrift. die Position des jeweiligen Zeichens in der Runenreihe an.
Die Runen sind ein Zeichensystem, das erstmals um 200 n. Die einzelnen Runen sind in drei Achter- und eine Vierer-
Chr. in Dänemark und Norddeutschland auf Fibeln, Waffen gruppe aufgeteilt, was in der Handschrift mit kurzen Strichen
und Steinen belegt ist und vor allem in der Wikingerzeit in dunklerer Tinte eingezeichnet ist. Zu der Erklärung auf
in Skandinavien für Gedenksteine gebraucht wurde. Die Latein ist ein Beispiel aufgeführt, die Verschlüsselung von
Mönche des 9. Jahrhunderts hatten vorwiegend antiqua- c-o-r-u-i (lat. »Raben«). Die kurzen i-Runen verweisen
risches Interesse an den Runen und verwendeten sie als auf die Gruppe, die langen auf die Position des Zeichens
Geheimschrift (vgl. S. 142). innerhalb der Gruppe (❘·❘❘❘❘❘❘ = c). Die weiteren drei Geheim-
Der Isruna-Traktat ist inmitten von bildungsrelevanten Tex- schriften (lagoruna, hahalruna und stofruna) funktionieren
ten zur Dialektik, Rhetorik, Musik und zum Griechischen in gleich, unterscheiden sich lediglich in der Notationsart.
der Sammelhandschrift Nr. 270 festgehalten. Die übersicht- Bei den clofruna handelt es sich wohl um etwas Ähnliches
liche und relativ kleine Handschrift war möglicherweise ein wie ein Morsealphabet, es gibt aber keine Belege für deren
Lehrerhandbuch. Dass das Buch rege verwendet wurde, zeigt Anwendung. Für die stofruna allerdings und die tatsächliche
auch die Seite mit dem Isruna-Traktat, die wohl im Voraus Verwendung dieser Geheimschrift stehen Ekkeharts soge-
bewusst konzipiert und später von unterschiedlichen Schrei- nannte chlophruna (St. Galler Handschrift Nr. 176), in denen
bern bearbeitet wurde. Die Gliederung der Seite wurde durch er seinen Namen verschlüsselt.
Abstände und nachträgliche Bleistifteinträge vorgenommen.
literatur: Derolez (1954) – Schmuki/Ochsenbein/Dora (2000) – Düwel
Auf den ersten vier Zeilen wird die angelsächsische Runen-
(2001).
reihe, die nach den ersten sechs Runen Futhorc genannt wird,
mit den Runennamen über den Zeichen (z.B feh für die f- michelle waldispühl

Rune heißt »Vieh, Besitz«) und dem lautlich entsprechenden


lateinischen Schriftzeichen neben der jeweiligen Rune auf-
gelistet. In den nächsten vier Zeilen sind die Runenzeichen
in der Reihenfolge des lateinischen Alphabets umgruppiert
167
168 Notker der Deutsche: Psalter-Kommentar

Einsiedeln, 12. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 21, S. 236
Pergament, 31 × 24 cm

Notker III. von St. Gallen (um 950–1022), der wegen seiner Textes und einen exegetischen Kommentar, beide in eine sehr
Physiognomie auch Labeo (Dickmaul) und wegen seiner metaphorische Sprache gefasst. Überdies werden viele Kom-
Affinität zur Volkssprache auch Teutonicus (der Deutsche) mentare ihrerseits mit meist in kleinerer Schrift übergeschrie-
genannt wurde, war einer der bedeutendsten Lehrer und benen Glossen erläutert. Die vorliegende Abschrift gründet
Gelehrten an der Grenze zwischen Früh- und Hochmittel- sicher nicht allein in der Konzeption Notkers (insbesondere
alter. Er war ein wichtiger Vermittler klassischer Literatur bei den Interlinearglossen dachte man eher an seinen Schüler
und bearbeitete auch Werke, die sonst eher am Rande des Ekkehart IV.), doch finden sich in diesem hybriden Text auf
klösterlichen Literaturkanons standen. Seine bis heute nach- jeder Ebene Spuren seines Einflusses.
wirkende Bedeutung rührt aber vor allem daher, dass er der Die abgebildete Seite zeugt vom vielschichtigen Textaufbau
lange Zeit gemiedenen Volkssprache, dem Deutschen, zu mit lateinischem Text, deutscher Übersetzung und latei-
einer zuvor nicht erreichten literarischen Geltung verhalf. Er nisch-deutsch gemischten Kommentaren. In der unteren
verfasste einen großen Teil seiner Paraphrasen, Auslegungen Seitenhälfte etwa wird der Psalmsatz 68 (69),11 Et cooperui in
und Kommentare in althochdeutscher Sprache und gab die- ieiunio animam meam et factum est in opprobrium mihi über-
ser zugleich ein eigenes Gepräge – sowohl hinsichtlich ihres setzt als Ih pedáhta in uástun mîna sêla . daz uuard mir oûh
Wortschatzes als auch hinsichtlich ihres schriftlichen Erschei- ze íteuuîzze (»Ich bedeckte meine Seele in Fasten; das wurde
nungsbildes. Notkers große Produktivität führt dazu, dass mir auch zur Schmach«). Der nachfolgende gemischtspra-
ein beträchtlicher Teil aller überlieferten althochdeutschen chige Kommentar bezieht sich auf die Exegese dieses ­Satzes
Literatur seinen Namen trägt. Unter allen seinen Arbeiten ist bei Augustin (Enarrationes in psalmos); die lateinischen Teile
die Psalter-Bearbeitung wiederum die umfangreichste. amaricantes und malui ieiunare ab illis werden ihrerseits
Die vorliegende Handschrift des Notker-Psalters ist zwar mit den deutschen Interlinearglossen píttir (»bitter«) und
erst ein gutes Jahrhundert nach Notkers Tod in Einsiedeln mir uuas liêbra iro nuôhtarnîn sîn (»mir war es lieber, mich
entstanden. Sie ist jedoch für die ursprüngliche Anlage weit- ihrer zu enthalten«) erläutert. An dieser Stelle begegnet uns
gehend repräsentativ; das betrifft sowohl die charakteristische einer der frühesten Belege für das Wort nuôhtarnîn (heute
notkersche Orthographie als auch die Hervorhebung des nüchtern), dessen Geschichte und Herkunft bis heute nicht
lateinischen Psaltertextes gegenüber der deutschen Erklärung. völlig geklärt sind, das aber möglicherweise Notker selbst
Notker beabsichtigte offenbar keine ›zweisprachige Ausgabe‹, erst in die deutsche Sprache eingeführt hat.
kein Nebeneinander zweier Paralleltexte, sondern eine Syn-
literatur: Die Werke Notkers (1981) – Gaberell (2000).
these, in welcher zudem die graphische Kontrastierung den
Schriftraum sinnvoll untergliedert. Die althochdeutschen
Textabschnitte enthalten die Übersetzung des lateinischen ludwig rübekeil
169
170 Notker der Deutsche: Griffelglossen zu Cicero

Kloster St. Gallen, 10. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 820, hier S. 124
Pergament, ca. 28,2 × 21,5 cm

Am Handschriftenbestand der Stiftsbibliothek lässt sich An einer Textstelle trifft man überdies auf sechs althochdeut-
ablesen, dass die Bereitstellung von möglichst umfangreicher sche Glossen. In der Forschung nimmt man an, dass alle diese
Schulliteratur ein wichtiges Anliegen der Klostergemein- Eintragungen auf Notker zurückgehen, ja, dass es Notker
schaft war. Einen breiten Raum nehmen darin die christlichen selber war, der die ausführliche gelehrte Glossierung auf die
Dichter wie zum Beispiel Prudentius ein. Daneben umfasst Seitenränder schrieb. Dass der Glossator dabei planmäßig
die Unterrichtsliteratur zahlreiche Werke nichtchristlicher, vorging, zeigen die zahlreichen Griffeleintragungen im
antiker Autoren. Wie umsichtig und sachlich Wissensvermitt- Codex. Ein großer Teil der Glossierung, die auch schema-
lung in St. Gallen betrieben wurde, lässt sich exemplarisch am tische Zeichnungen enthält, ist nämlich zunächst mit einem
Schulfach Rhetorik zeigen. In der St. Galler Schulbibliothek Griffel entworfen und erst nach dieser Skizze mit Tinte ins
gehen antikes und christliches Schrifttum eine einmalige Reine geschrieben worden. Auf der abgebildeten Seite 124
Verbindung ein, mit welcher die große Rhetoriktradition liegen sämtliche Randanmerkungen auf einer eingeritzten
repräsentativ dokumentiert wird. Die Werke Ciceros bilden Entwurfsskizze. Ob die Griffel- und die Tintenschrift von
darin einen Schwerpunkt. Ciceros Gesellenstück, das Lehr- derselben Hand stammen, ist noch nicht untersucht worden.
werk De inventione, ist eines der frühesten theoretischen Wenn aber wirklich Notker der Autor der Glossen war, dann
Werke zur Rhetorik in lateinischer Sprache. Es ist in zwei ist seine Hand zuallererst in den Griffeleinträgen zu sehen,
Teile gegliedert, von denen der erste der Beurteilung und die die originalen Spuren der Rezeptionstätigkeit darstellen.
Wahl des Stoffes, der zweite der rednerischen Ausgestaltung Textschrift und Entwurfs- und Reinschrift der Glossen
gewidmet ist. Codex 820, eine Sammelhandschrift aus mehre- verteilen sich in der Handschrift Nr. 820 auf Eintragungs-
ren Faszikeln verschiedenen Inhalts, enthält das vollständige techniken und auf spezielle Felder der Seiteneinteilung und
Werk; dieses ist von einer Hand des 10. Jahrhunderts auf gut gestalten so zusammen den Schriftraum zu einem lebendigen
100 Seiten niedergeschrieben. Erzählbild über Tradition und Rezeption eines Textes.
Notker der Deutsche (um 950–1022), der der St. Galler
literatur: Sonderegger (1980a) – Bergmann (2005).
Klosterschule als Leiter vorstand, hat sich intensiv mit der
Redekunst auseinandergesetzt. Er gilt als Begründer einer
deutschen Rhetoriklehre. Die Werke Ciceros nehmen darin andreas nievergelt

eine zentrale Stellung ein und dürften die wichtigste Quelle


zu Notkers De arte rhetorica gewesen sein. Keinen andern
Schriftsteller hat Notker so häufig zitiert wie Cicero.
Der De inventione-Text im Codex 820 ist auf den Blatträn-
dern ausgiebig mit lateinischen Scholien versehen worden.
171
172 St. Galler Spottvers

St. Gallen, spätes 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 30, S. 1
Pergament, 20,5 × 15 cm

Die überwiegende Mehrheit der St. Galler Handschriften Auf der ersten Seite einer Handschrift, die überwiegend
enthält bedeutungsschwere theologische Traktate, philo- Texte des Alten Testaments enthält, steht, teils überdeckt
sophische Erörterungen, didaktische Bibelübersetzungen von anderen Kritzeleien und Zeichnungen, ein kurzer endge-
und -kommentare; für leichtere Kost bot das wertvolle Per- reimter Spruch mit folgendem Wortlaut: Liubene ersazta sine
gament selten Raum. Aus der beginnenden Überlieferungs- gruz unde kab sina tohter uz, to cham aber starzfidere, prahta
zeit volkssprachiger Texte im frühen Mittelalter ist in den imo sina tohter uuidere (»Liubene setzte sein Getreidebier
Klosterbibliotheken nur ein verschwindend geringer Anteil an und gab seine Tochter weg; da kam aber Starzfidere und
an – offenkundig oder nur scheinbar – »sinnlosen« Texten brachte ihm seine Tochter zurück«).
erhalten. Diese erscheinen sozusagen als Manifestationen der Der kurze Text beschreibt in der ersten Hälfte die Vorberei-
Denkpause, in denen sich Augenblicke des Übermuts oder tungen zu einer Hochzeit: Ein Mann mit Namen Liubene
der Schreibunlust dokumentieren: versteckte Manifestati­ bereitet das Festbier vor, weil er seine Tochter an einen
onen zumeist, denn solchen Texten wird kein zentraler Platz gewissen Starzfidere verheiraten will. Der zweiten Hälfte
auf der Pergamentseite eingeräumt, sie bekommen keinen zufolge scheitert diese Ehe jedoch, und die Tochter wird nach
prachtvollen Rahmen, und nichts weist auf einen Plan hinter Hause zurückgeschickt. Man wollte die knappen Zeilen als
ihrer Niederschrift hin. Sie finden sich in der Regel an peri- Volksdichtung verstanden wissen und deutete sie gleichzeitig
pheren Stellen, zu Beginn oder am Ende einer Handschrift, als wichtige rechtshistorische Quelle, welche uns Einblicke
zwischen zwei Texten, sind manchmal auf Deckblätter in den formellen Rahmen eines Heiratsgeschäfts bietet. Die
gekritzelt oder stehen auf dem Kopf, um vom gewichtigen wenigen Zeilen bleiben uns jedoch die meisten Informatio-
lateinischen Text abgehoben zu werden. nen schuldig, selbst die wichtigste Auskunft geben sie nicht
So einleuchtend diese kurzen, oft privat scheinenden preis: Was war der Grund für das Scheitern der Ehe und die
Notizen, Sprüche, Verse auf uns auch wirken mögen, das Rückkehr der Braut? Von Untreue oder Unfruchtbarkeit,
individuelle Motiv und die konkreten Umstände ihrer wie die Forschung vermutete, ist keine Rede; deshalb kom-
Aufzeichnung bleiben im Dunkeln. Unklar bleibt auch, ob men auch andere Deutungen in Betracht. Letztlich ist nicht
und wie sehr die klösterlichen Lehrer und Auftraggeber einmal ausgeschlossen, dass es sich bei dem sogenannten
derartige Einträge als Ärgernis aufgenommen oder vielleicht Spottvers um eines der beliebten Rätsel handelt, in welchem
sogar als Wertminderung oder Banalisierung der Hand- Liubene und Starzfidere lediglich Decknamen sind.
schriften betrachtet haben und auf welche Weise sie ihnen
literatur: Steinmeyer (1916) – Sonderegger (1980b und 1999) – Müller
beizukommen versuchten. Auf keinen Fall jedoch wurde
(2007).
den Texten die akademische Aufmerksamkeit zuteil, die sie
heute erhalten. ludwig rübekeil
173
174 Astronomisch-komputistische
Sammelhandschrift

St. Gallen, Ende 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 250, hier S. 110
Pergament, 24,5 × 18,5 cm

Seit dem frühen 9. Jahrhundert kursieren in Europa ›astro- Prüm. Aratos, ein griechischer Schriftsteller des vierten und
nomisch-komputistische Enzyklopädien‹, große Textsamm- dritten vorchristlichen Jahrhunderts, hat mit seinem umfang-
lungen, die auf Bestrebungen Karls des Großen zurückgehen, reichen Werk über die Himmelserscheinungen (Phainomena)
das Wissen über die Zeitrechnung, über die antike Astrono- durch spätere lateinische Übersetzungen (Aratus Latinus)
mie sowie vor allem über die Osterfestberechnung und den das Wissen über die Gestirne in früheren Epochen wohl am
19jährigen Mondzyklus zu systematisieren und reformieren. maßgeblichsten geprägt. Der Aratus-Text, der im Codex über
Auf der Aachener Reichssynode von 809 wurde nämlich im 70 Seiten einnimmt, ist mit zahlreichen äußerst sorgfältigen
Zuge der ›karolingischen Kalenderreform‹ beschlossen, ein Federzeichnungen illustriert, die die Handschrift zu einer der
verbindliches Lehrbuch über Astronomie und Komputistik bedeutendsten Bilderhandschriften St. Gallens machen. Da-
zu erstellen. Den Anlass zu dieser vertieften Auseinanderset- neben enthält sie besonders in den Beda-Passagen viele Dia-
zung mit Fragen der Zeit und der Gestirne gab besonders Al- gramme, Tabellen und schematische Darstellungen, darunter
kuin von York, der von 782–796 an der Hofschule Karls des das hier abgebildete quadrierte Diagramm über den Lauf der
Großen weilte und hierhin die Schriften seines Landsmannes Sonne in den zwölf Tierkreiszeichen. Die Seite bildet einen
Beda Venerabilis (ca. 673–735) mitbrachte. Bedas immenses eigentlichen SchriftRaum, der das komplexe Geschehen von
Schrifttum, das von grammatischen Abhandlungen bis zur Raum und Zeit gleichzeitig in Schrift fasst und zweidimensi-
Geschichtsschreibung reichte, verbreitete sich in der Folge onal auflöst. Schematisierungen dieser Art brechen mit einem
schnell, und bereits hundert Jahre nach seinem Tod erachtete linearen Schriftverständnis und ermöglichen gleichzeitig
man seine Autorität den Kirchenvätern gleich. Insbesondere einen direkten, unmittelbaren Zugriff auf den ›bedeutenden‹
seine bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Studien (die Raum. Dass solcherlei Darstellungen neben einem didak-
nur zu einem Teil auf Isidor und Plinius fußen) trugen viel tisierenden auch einen ästhetischen Anspruch verfolgten,
zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den muss durchaus angenommen werden, hatten astronomische
Phänomenen der Welt bei. und komputistische Abhandlungen doch auch immer den
Auch der St. Galler Codex 250 gehört zu der Gruppe der Zweck, die planvolle und wohldurchdachte Harmonie der
astronomisch-komputistischen Sammelhandschriften. Die Schöpfung zu erweisen – eine Harmonie, die nicht immer
Handschrift ist gegen Ende des 9. Jahrhunderts entstanden unmittelbar ersichtlich war und deren Geheimnisse erst in
und enthält viele der zentralen Schriften, die dieser Text- der wissenschaftlichen Zergliederung zutage traten.
gattung zuzuordnen sind. Darunter befinden sich neben
literatur: Springsfeld (2004).
Schriften Bedas auch solche von Aratos von Soloi, Julius
Hyginus, Aldhelm von Malmesbury oder Wandalbert von martin h. graf
175
176 Winithar: Jahreszeitendiagramm

St. Gallen, um 770


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 238, S. 331
Pergament, 29,5 × 21,5 cm

Der Codex, der die Nummer 238 trägt, ist in besonderem einer Jahreszeit zur nächsten, was sehr schön die zyklische
Maße mit dem Skriptorium des Klosters St. Gallen verbun- Wiederkehr aufzeigt. Bei Winithar stehen jedoch die den
den, ist er doch in seinem ganzen Umfang von einem einzi- Jahreszeiten entsprechenden Adjektive in den beschrifteten
gen Schreiber verfasst: von Winithar, der ersten namentlich Feldern jeweils fehlerhaft beieinander, so dass (rechts) der
bekannten Schreiberpersönlichkeit im Kloster. Gleich an drei Frühling (vernus) als warm (calidus) und warm (calida),
Stellen in der Handschrift weist dieser selbstbewusst darauf (unten) der Sommer (aestas) als trocken (siccus) und trocken
hin, dass er selbst alle Texte proprio labore deo auxiliante (sicca) erscheint, der Winter (hiems) sogar vierfach charakte-
(»mit eigener Mühe und mit Gottes Hilfe«) geschrieben risiert als feucht (humidus) und feucht (humida) sowie kalt
habe. Gleichwohl gilt Winithar als nicht besonders begabter (frigidus) und kalt (frigida), während doch eigentlich die
Schreiber, misst man ihm doch eine »schwere, ungefüge, fast unterschiedlichen grammatischen Genera der Adjektive je
ungeschlachte Hand« zu (Löffler 1929, 60), die jedoch im schon zur jeweils nächsten Jahreszeit hätten gehören und in
Laufe der Zeit an Geschmeidigkeit gewonnen hat. den dazwischenliegenden Feldern hätten stehen sollen. Diese
Noch wenig Feinheit vermitteln die Textstücke in Codex fehlerhafte Zuordnung führt so weit, dass für den Herbst
238; dies gilt für die unregelmäßige Schrift ebenso wie für die (autumnus) nur noch die Antonyme trocken (siccus) und
graphischen Darstellungen und die etwas grob geschmückten feucht (humidus) übrig bleiben.
Initialen. Hier abgebildet ist eine schematische Darstellung
literatur: Löffler (1929) – Ochsenbein (2000).
des Jahreslaufes und seiner spezifischen Qualitäten, ein-
gebettet in einen Ausschnitt aus De natura rerum, einem martin h. graf

naturkundlichen Werk Isidors von Sevilla (um 560–636).


Der Abschnitt handelt von den Jahreszeiten und erläutert,
wie der Stand der Sonne je nach Jahreszeit Temperatur und
Luftfeuchtigkeit beeinflusst. Das Diagramm, das aus anderen
Handschriften überliefert ist, soll diesen Zyklus abbilden,
doch scheint es, dass Winithar seine Vorlage entweder nicht
verstanden oder nur sehr skizzenhaft in seine Handschrift
übertragen hat. Isidor wollte zeigen, dass der Frühling feucht
und warm sei, der Sommer warm und trocken, der Herbst
trocken und kalt, der Winter kalt und feucht – der Frühling
dann wiederum feucht und warm usw., je nach Stand der
Sonne. Die Qualitätsadjektive überschneiden sich jeweils von
177
178 Sternenuhr

St. Gallen, um 1000


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 18, S. 43
Pergament, 24 × 19 cm

Der Pergamentcodex 18 ist um das Jahr 1000 entstanden; er die Nachtstunden berechnen ließen – was nötig war, um die
enthält keinen durchgängigen Text, sondern ist aus vier Teilen Mönche für das nächtliche Chorgebet rechtzeitig wecken zu
zusammengesetzt, die zum Teil in jüngerer Zeit überschrie- können. Die Sternenuhr, ein Sehrohr, an dessen Ende eine
ben worden sind. Besonders betrifft dies den dritten Teil, der oder mehrere Berechnungsscheiben eingesetzt waren (in
sechs reskribierte Seiten umfasst, die ehemals einen astro- der Zeichnung schematisch in Frontalansicht dargestellt),
nomischen Text enthielten und, mit Ausnahme einer Zeich- wurde dabei in St. Gallen auf ca. 47° auf den nördlichen
nung aus dem ursprünglichen Text, im 15. Jahrhundert mit Sternenhimmel gerichtet, fixiert wurde der dem Nordpol der
liturgischen Texten überschrieben worden sind. Die Spuren Ekliptik um das Jahr 1000 am nächsten liegende Stern, 32 H
jenes astronomischen Textes dokumentieren den Stellenwert, Camelopardis, um den sich die computatrix (Berechnerin),
den man im früheren Mittelalter der Wissenschaft zumaß, im nämlich Polaris, der Schwanzstern des Kleinen Bären, von
vorliegenden Fall der Astronomie. Wissenschaft hat – heute Ost nach West bewegte. Mit der Hilfe einer Art Lochkarte,
wie damals – zu dienen: Im Sinne einer Mittlerin ist sie das die Löcher im Abstand von je ca. 15° aufwies, konnten mit
Analyse-Instrumentarium, das dem Menschen inmitten der dem Durchlaufen von Polaris die zwölf Stunden der Nacht
Welt der Phänomene hilft, sich zurechtzufinden, und sei es nachvollzogen werden, wobei vermutlich jahreszeitlich un-
›nur‹, wie im vorliegenden Fall, um auch in der finsteren terschiedlich konstruierte Scheiben zum Einsatz kamen, da
Nacht eine Uhr zu haben, ein Medium der Orientierung im die Winternächte länger, die Sommernächte kürzer waren.
Rahmen des nächtlichen Stundengebets im Kloster. Wahrscheinlich ist das Loch im heutigen Pergamentblatt
Seite 43 der Handschrift zeigt die berühmte und lange nicht auf eine ›räuberische Hand‹ zurückzuführen. Eher
geheimnisumwitterte Zeichnung eines Mönchs, der, auf hatte man die Pergamentscheibe schon in der ursprüngli-
einem Schemel stehend, durch ein Sehrohr nach rechts oben chen Anlage herausgetrennt, um mit ihrer Hilfe als drehbare
in ein kreisrundes Gebilde blickt. Während die Zeichnung Scheibe die Funktionsweise der Sternenuhr demonstrieren zu
des Mönchs und der Säule außerordentlich fein und gehalt- können. Möglicherweise enthielten auch die übrigen reskri-
voll erscheint, sind das Sehrohr und das Kreisgebilde eher bierten Blätter astronomische und komputistische Texte, die
schematisch gehalten. Wie nachgewiesen werden konnte, im Unterricht verwendet wurden und für die Schüler jenes
handelt es sich bei der Darstellung um eine nachgebildete Medium waren: Wissenschaft im Dienste des Menschen und
konkrete Beobachtungssituation des nächtlichen Sternen- der christlichen Gemeinschaft.
himmels, und zwar vermittels eines horologium nocturnum,
literatur: Wiesenbach (1993 u. 1994).
einer Nacht- oder Sternenuhr, wie sie von Pacificus von
Verona im 9. Jahrhundert erfunden wurde. Der Veroneser martin h. graf

Gelehrte hatte ein Gerät entwickelt, mit dessen Hilfe sich


179
180 Schriftliche Beweismittel

Gerichtsurkunde, Rankweil, 920 März 8


Stiftsarchiv St. Gallen, Urk. IV 477
Pergament, 37 × 32 cm

Unter den rund 800 noch erhaltenen frühmittelalterlichen Spiel, indem er mit den Worten »und all dies weiß das ganze
Urkunden des Klosters St. Gallen finden sich auch einige Volk von Churwalchen« schloss. Zur Untermauerung seiner
eindrucksvolle Beispiele für Mechanismen, die zur Beile- Argumente verweist er schließlich auf eine Gerichtssitzung
gung eines Konfliktes zu greifen begannen, und Urkunden, vor König Konrad. Auch dort hatte »das ganze anwesende
denen als schriftliche Beweismittel eine besondere Kraft Volk« geurteilt, dass Cozolt falsch gehandelt hatte »und
innewohnte. Stritt man in der Regel um den Besitz von Land deshalb gab mir mein Herr [scil. Salomo] dieses Diplom
oder Unfreien, ging es im Jahr 920 um die kulturell und über Pfäfers, das ich in meiner Hand halte«. Waldo zeigte
wirtschaftlich bedeutende Abtei Pfäfers. Diese um 740 über in einer dramatischen Geste die Königsurkunde und ließ sie
dem Taminatal gegründete Abtei gelangte 905 durch eine verlesen.
Schenkung von König Ludwig dem Kind in die Hände von Erst nachdem die Urkunde laut vorgelesen worden war,
Bischof Salomon von Konstanz, der zugleich Abt des Klos- sollte nach dem römischen Recht des Beklagten und nicht
ters St. Gallen war. Zwischen dessen Neffen Waldo, der bald nach dem alemannischen des Klägers entschieden werden.
darauf zum Bischof von Chur aufgestiegen war, und dem Die Beweislast wird nach diesem Recht dem Kläger zugeteilt,
Kloster St. Gallen entzündete sich bald darauf ein Konflikt der nach der Forderung der rätischen und alemannischen
um das Kloster Pfäfers, der in einer öffentlichen Gerichts- Richter seine Klage mit Leuten aus Churwalchen stützen soll.
versammlung in Rankweil am 8. März 920 mündete. Sowohl Da Cozolt und sein weltlicher Vertreter diese offenkundig
Bischof Waldo, der gemeinsam mit dem rätischen Herzog nicht aufbringen konnten, unterblieb auch die tatsächliche
Burchard den Vorsitz innehatte, als auch eine zehnköpfige Urteilsverkündung. Stattdessen hatte die übereinstimmende
Delegation der St. Galler Mönche waren mit ihren advocati Haltung der Anwesenden eine Entscheidung herbeigebracht.
erschienen. Der nun folgende Streitdiskurs veranschaulicht Scheinbar war auch der Verhandlungsort gut gewählt, um
verschiedene Mittel frühmittelalterlicher Beweisführung. die sechzig Richter und das Volk von Churwalchen auf der
Nachdem die Mönche erneut ihren Ansprüchen auf die Abtei Seite des Bischofs zu wissen. Recht und Form der Urkunde
Pfäfers Ausdruck verliehen hatten, reagierte Waldo erbost, richteten sich ebenfalls nach dem Gerichtsort. Landeskundig
indem er selbst das Wort ergriff und einen der St. Galler wurde das Urteil aber erst durch dessen öffentliches Verlesen.
Mönche namens Cozolt attackierte: »Was fragst du da, Damit liefert diese Gerichtsurkunde ein zusätzliches Indiz
rechtswidrig, denn du selber, Cozolt, hast mit deinem ad- dafür, dass vorgelesenes Latein in Churrätien um diese Zeit
vocatus Dominicus mir und meinem Onkel Salomo [Bischof noch verstanden wurde.
von Konstanz und Abt von St. Gallen] Gewalt angetan,
literatur: Wartmann (1883) – Erhart/Kleindinst (2004) – Heidecker
denn der hatte eine Übereinkunft mit dir und den Mönchen
(2006).
von St. Gallen […]. All dies hast du gebrochen.« Geschickt
brachte er zum Abschluss auch die öffentliche Meinung ins peter erhart
181
182 Urkunden der Beata

Verkaufsurkunde, Benken, 741–745, November 29


Stiftsarchiv St. Gallen, Urk. Bremen 2
Pergament, 30 × 24 cm

In den frühen 40er Jahren des 8. Jahrhunderts traf eine Ale- gewohnt schlicht gehaltene Pergamentblatt mit der nur leicht
mannin namens Beata eine folgenschwere Entscheidung. kursiven Schrift des Mönchs Hirinchus wurde mehrmals ge-
Um ihren Weg nach Rom bestreiten zu können, verkaufte faltet im Klosterarchiv abgelegt. Entscheidend war aber nicht
sie ihren Besitz an insgesamt zehn Orten im Zürichgau die äußere Form, sondern die schriftlich fixierte Zeugenliste,
einschließlich ihres kleinen Hausklosters auf der Insel an deren Spitze der alemannische Graf Pebo und Abt Arnefrid
Lützelau im Zürichsee an das Kloster St. Gallen. Erst kurz vom Kloster Reichenau aufscheinen. Ihrem Einfluss entzogen
zuvor hatte sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter Hatta auf sich allerdings jene Manipulationen, die mehr als ein Jahrhun-
diese kleine Insel zurückgezogen, um nun – ausgerüstet mit dert später an der Urkunde vorgenommen wurden.
70 Gold- und Silbersolidi und fünf Pferden samt Saumzeug Unterzieht man Pergament und Schrift der Beata-Urkunde
und Decken – nach Rom zu pilgern. Offenbar starb Beata einer genaueren Autopsie, entdeckt man bei der Aufzählung
auf ihrer Reise oder in Rom selbst, denn nur wenige Monate der Güter eine auffällige radierte Stelle. Offenbar wurde hier
später übergab ihr Sohn Lantbert für das Seelenheil seiner ein Ortsname getilgt und durch Peroluinchoua, das heutige
Eltern dem Kloster St. Gallen sein umfangreiches Erbe im Berlikon (Bez. Hinwil/ZH), ersetzt. Dass hier ursprünglich
Tösstal und am Zürichsee. Sich selbst sicherte er zusätzlich Tatinchoua (Dattikon/ZH) stand, geht aus einer Abschrift
einen Platz als Wohngast im Kloster. der Urkunde hervor, die zeitlich nahe beim Original einge-
Als Quelle für diese Geschehnisse im südlichen Alemannien ordnet werden kann. In Berlikon hatte Beata vermutlich nie
dienen die ältesten Originalurkunden aus dem Archiv des über Grundbesitz verfügt. Rasur und Neubeschriftung dieser
ehemaligen Klosters St. Gallen. Diese werfen jedoch nicht Urkunde hängen vermutlich mit einem von Abt Hartmut
nur unvermittelt ein Schlaglicht auf eine frühmittelalterliche erwirkten Diplom König Ludwigs des Deutschen von 875
Adelsfamilie, deren frommes Handeln der Forschung bis zusammen. Mit diesem restituierte der König auf Bitten des
heute Rätsel aufgibt. Sie erfüllten auch eine rechtliche Funk- Abtes Hartmut und nach einer durch Königsboten vorge-
tion, auf der über Jahrhunderte hinweg die Besitzansprüche nommenen Untersuchung jenen Besitz in Berlikon, welchen
des Klosters St. Gallen im Zürichgau basierten. Dennoch eine gewisse Beata an das Kloster übertragen hatte. Graf Ge-
scheint in diesem Ausnahmefall nicht das Kloster, sondern rold hatte diesen zuvor dem Kloster entrissen und der Zür-
Beata die Spielregeln diktiert zu haben. In einer stark von cher Grafschaft einverleibt. Offenbar nutzten die St. Galler
mündlichen Abmachungen geprägten Gesellschaft machte sie Mönche die Gelegenheit, um auf der Grundlage der leicht
Schrift zu einem Instrument ihrer Interessen. Ein Schreiber verfälschten Beata-Urkunde ihren Besitz am Zürichsee mit
ihrer Wahl – vermutlich ein Mönch des von ihr gegründeten Hilfe Ludwigs des Deutschen zu arrondieren.
Klosters in Benken – setzte am Ort ihrer Wahl – Benken – eine
literatur: Chartae Latinae (1954/56) – Borgolte (1984) – Hellmuth
Urkunde auf, mittels derer sie im Falle einer Rückkehr aus
(1998).
Rom ihre Rechte geltend machen konnte. Das bei Urkunden
peter erhart
183
184 Verzeichnis von Einkünften des
Klosters St. Gallen

Um 1200, neudatiert 1. Hälfte 14. Jh.


Stiftsarchiv St. Gallen, Urk. FF4 G10/11
Pergament, 228 × 35,4 cm

Das Verzeichnis von Erträgen aus dem Besitzstand des im Plattstich fein gestopft worden sind. Auf die Bedeutung
Klosters St. Gallen ist ein anschauliches Zeugnis für das des Schriftstücks verweisen gleichzeitig die ordentliche goti-
im 13. Jahrhundert offensichtlich wachsende Bedürfnis, sche Kursivschrift, in der es verfasst wurde, und das Layout,
herrschaftliche Ansprüche zu fixieren, Wissen festzuhalten, das durch registerartige Herausstellung der Namen von
die Verwaltung zu optimieren und über ein Instrument zu Hofesverbänden insbesondere die aus diesen erwachsenden
verfügen, das im Bedarfsfall zur Legitimation herangezogen Einkünfte betont.
werden konnte. Auf älteren Aufzeichnungen beruhend, stellt Über die Kontexte seines Entstehens und Gebrauchs aller-
es eine umfangreiche Zusammenstellung von Natural- und dings gibt das Rödel selbst wenig Auskunft; nur in Ansätzen
Geldabgaben dar, die das Kloster zu bestimmten Terminen gewährt es Einblick in Formen klösterlichen Wirtschaftens.
aus Orten und Dörfern sowie von Hofesverbänden und Zwar scheint das fast völlig von einer Hand aufgezeichnete
einzelnen Personen geltend machte. Obschon diese Rechte Schriftstück als Bestandesaufnahme angelegt worden zu sein,
offenbar faktisch nur noch zum Teil durchgesetzt werden doch offensichtlich in erster Linie als Zusammenstellung von
konnten, so vermittelt das Einkünfteverzeichnis doch für vom Kloster beanspruchten Einkünften. Weder finden sich
eine Zeit, in der Herrschaft noch nicht klar begrenz- und klare Angaben über die Organisation des Einzugs von Ab-
kartographierbar ist, eine linear lesbare Vorstellung von der gaben, die in erster Linie in Naturalien (Eier, Käse, Getreide,
Reichweite und den räumlichen Schwerpunkten sanktgalli- Wein und Fleisch) und lediglich partiell in Geldbeträgen
scher Herrschaftsrechte. Denn die Abgabenpflichtigen wer- (für Eier und Wein) ausgewiesen sind, noch wurde das Ver-
den geographisch gebündelt für den Südwesten des Heiligen zeichnis im Verlaufe der Zeit systematisch fortgeschrieben.
Römischen Reichs und vor allem für die heutigen Kantone Wie einzelne Einträge zwischen den Zeilen, am Rande der
St. Gallen, Appenzell, Thurgau und Zürich ausgewiesen. Aufzeichnungen und auf einem angebundenen kleinen Per-
Die urbarielle Aufzeichnung trägt zwar weder eine Über- gamentzettel deutlich machen, wurde es lediglich in einigen
schrift, noch ist sie in einer anderen Weise kommentiert, wenigen Fällen korrigiert und aktualisiert.
doch lässt allein schon ihre Konzeption darauf schließen,
literatur: Urkundenbuch Abtei St. Gallen 3 (1882), Nr. 59, S. 746–755 –
dass sie zum wichtigeren klösterlichen Verwaltungsschrift-
Hägermann (1999) – Bünz (1995) – Sablonier (2002) – Zangger (2003).
gut gehörte. Darauf deutet ihre beachtliche Länge von über
zwei Metern hin, die durch das Aneinandernähen von vier
Pergamentstücken erzielt wurde. Dies zeigt ebenso die martina stercken

sorgfältige Bearbeitung der Fleischseite des Pergaments,


dessen Löcher vor dem Beschreiben mit hellen Seidenfäden
185
186 Rätsel des Symphosius

2. Drittel 9. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 196, S. 374–387, S. 377
Pergament, 38 × 25 cm

Die St. Galler Handschrift Nr. 196 enthält neben Werken des (Ameise, Maus, Frosch) oder Naturphänomene (Regen,
Venantius Fortunatus 99 Rätseldichtungen eines Schriftstel- Nebel) auf verschleiernde Art beschrieben, so dass der Leser
lers namens Symphosius oder Symposius. Nebst der Form oder der Hörer – denn die Rätsel, deren Lösungen in roter
des Namens ist auch die Herkunft und Lebenszeit dieses Farbe gleich daneben angegeben sind, wurden wohl auch
Dichters unklar; vielleicht hat er im 5. Jahrhundert in Afrika mündlich abgefragt – regelrecht auf eine falsche Fährte ge-
gelebt. Seine Rätselsammlung war im frühen Mittelalter sehr lenkt wird. Hier als Beispiel das Rätsel zum Thema ›Fluss
beliebt, wie die Existenz von rund dreißig Handschriften aus und Fische‹ (Z. 11ff.):
der Zeit vom 8. bis zum 11. Jahrhundert zeigt. Nur schon in
St. Gallen gibt es außer der Handschrift Nr. 196 noch zwei Est domus in terris, clara quae voce resultat.
weitere Abschriften (Cod. Sang. 273, 450). Ipsa domus resonat, tacitus sed non sonat hospes.
Diese Rätseldichtungen sind oft in der Umgebung von Ambo tamen currunt, hospes simul et domus una.
Schultexten überliefert. Hier jedoch folgen sie auf Venantius
Fortunatus. Auf den ersten Blick fällt es schwer, den Zu- »Es gibt eine Wohnung auf Erden, die mit heller Stimme
sammenhang zwischen dessen religiösen Gedichten und den erklingt. Das Haus selbst ertönt, aber der stumme Bewohner
Schul- oder Unterhaltungstexten von Symphosius zu finden. klingt nicht. Dennoch eilen beide zusammen, der Bewohner
Da die Handschrift von einem einzigen Schreiber geschrieben und die Wohnung zugleich.« Symphosius führt den Hörer
wurde, lässt sich ein zufälliges Zusammentreffen der beiden mit paradoxen Beschreibungen in die Irre: Die Wohnung tönt,
Texte ausschließen. Der gemeinsame Nenner scheint nicht der doch ihr Bewohner ist stumm, und sie bewegt sich zusammen
Inhalt der beiden Texte zu sein, sondern die Art und Weise, mit ihrem Bewohner. Dadurch wird verdeckt, dass es sich
wie er präsentiert wird: Die Bildgedichte in Kreuzform von beim Bewohner um etwas Belebtes – einen Fisch – handelt
Venantius Fortunatus und die Rätsel von Symphosius spielen und bei seiner ›Wohnung‹ – dem Fluss – um etwas Lebloses.
damit, dass ihr Gegenstand im Text gleichermaßen versteckt Erst wenn die Lösung bekannt ist, können die einzelnen
und enthüllt wird – bei Fortunatus dient dies der religiösen Informationen den Eigenschaften der beschriebenen Dinge
Vertiefung, bei Symphosius der Schärfung des Geistes und zugeordnet werden: Das Klingen der Wohnung kann mit dem
der Unterhaltung. Die Handschrift Nr. 196 ist also eine Art Gurgeln und Plätschern des Wassers identifiziert werden, die
›Rätselhandschrift‹, was auch durch die Ioca monachorum, Bewegung von Wohnung und Bewohner mit dem Fließen des
ein mönchisches Fragespiel, bestätigt wird, die auf den letzten Wassers und dem darin schwimmenden Fisch.
zwei Seiten des Codex eingetragen wurden (vgl. S. 188).
literatur: Bergamin (2005).
In den Rätseln von Symphosius werden alltägliche Sachen
wie Gebrauchsgegenstände (Schlüssel, Schreibfeder), Tiere annina seiler
187
188 Mönchisches Ratespiel

2. Drittel 9. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 196, S. 388
Pergament, 38 × 25 cm

Die letzten zwei Seiten der ›Rätselhandschrift‹ Nr. 196 Erde, das nie Sonne oder Wind sah, außer während einer
enthalten unter dem Titel Enigmata interrogativa eine Art einzigen Stunde eines einzigen Tages, weder vorher noch
Frage- und Antwort-Spiel, das zu den sogenannten Ioca nachher? – Es ist das Stück Erde, welches das Volk Israel im
monachorum (Mönchsscherzen) gezählt wird. Diese Gat- roten Meer trockenen Fußes betrat«). Dies bezieht sich auf
tung ist seit der klassischen Antike bis in die Gegenwart Exodus 14,16–22, wo Moses das Wasser des Roten Meers
hinein in vielen Regionen beliebt; sie umfasst kurze, wohl teilt und die Israeliten so den Ägyptern entkommen. Ein
nicht immer ernst gemeinte Fragen und Antworten, die an ›medizinisches‹ Problem ist Gegenstand der neunten Frage,
moderne Rätselfragen erinnern (z.B. »Welcher König ist wobei die Antwort nicht besonders befriedigend scheint: Ubi
ohne Land? – Der Zaunkönig«). In den mittelalterlichen est anima hominis quando dormit? – Aut in corde vel in san-
Varianten werden alle möglichen Themen zum Gegenstand guine dormit vel in cerebro (»Wo ist die Seele des Menschen,
dieses Fragespiels. Ihr Charakter schwankt zwischen ernst wenn er schläft? – Sie schläft entweder im Herzen oder im
gemeinter Wissensprüfung und Unterhaltung. Blut oder im Gehirn«). Mit Geographie beschäftigt sich der
In der Handschrift Nr. 196 sind die Fragen mit rotem grie- vierzehnte Iocus: Quot sunt civitates in mundo? – iiii milia ccc
chischem Δ und die Antworten mit M gekennzeichnet. Diese xxx iii exceptis castellis et oppidis (»Wieviele Städte gibt es in
beiden Buchstaben stehen für Schüler und Lehrer, wobei der Welt? – 4333 ohne Dörfer und Höfe«). Wie es zu dieser
jedoch nicht klar ist, was für wen steht: Griechisch didaskalos Zahl kommt, ist unklar.
(Lehrer) und mathetes (Schüler) widersprechen im Hinblick Die St. Galler Handschriften Nr. 913 (Vocabularius Sancti
auf die Anfangsbuchstaben den lateinischen Begriffen discipu- Galli) und Nr. 908, beide aus dem 8. Jahrhundert, enthalten
lus (Schüler) und magister (Lehrer). Beide Möglichkeiten sind ebenfalls Ioca monachorum, die aber nicht die gleichen Fra-
denkbar: Entweder stellt der Lehrer dem Schüler Fragen, um gen wie die Handschrift Nr. 196 umfassen. Überhaupt ist
ihn zu testen, oder der Schüler fragt seinen Lehrer über Dinge die Zahl und Art der Fragen und Antworten nicht fixiert.
aus, die er nicht versteht. Die Tatsache, dass griechisches Delta Vermutlich haben die Schreiber je nach Platz oder Laune die
steht und dass die Fragen in der Regel implizieren, der Frager Ioca in die einzelnen Handschriften übertragen. In Nr. 196
kenne die Antwort bereits, sprechen eher für D als Lehrer, wurden die zwei letzten Seiten der Handschrift, die nach
der den Schüler in verschiedenen Gebieten prüft: Religiöses dem Eintragen der Symphosius-Rätsel noch leer geblieben
Wissen ist zum Beispiel im fünften Iocus gefragt, in dem es waren (vgl. S. 186), mit Rätselfragen gefüllt.
um Ereignisse aus dem Alten Testament geht: Quae fuit terra
literatur: Daly/Suchier (1939) – Suchier (1955) – Jakobi (1998).
quae nunquam vidit solem nec ventum nisi in una hora diei,
nec antea nec postea? – Terra est quam populus israeliticus
in mari rubro siccis plantis calcavit (»Welches war das Stück annina seiler
189
190 Venantius Fortunatus: Kreuzgedicht

2. Drittel 9. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 196, S. 40
Pergament, 38 × 25 cm

Die St. Galler Handschrift Nr. 196 enthält Werke des Venan- Crux mihi certa salus, crux est quam semper adoro
tius Fortunatus, eines spätantiken christlichen Dichters Crux Domini mecum, crux mihi refugium.
(6. Jahrhundert), darunter auf den Seiten 38, 39, 40 und 147
auch vier Bildergedichte; die ersten drei davon gehören zu »Das Kreuz ist meine sichere Rettung, das Kreuz ist das,
einer Gruppe von Texten, die der Kreuzverehrung dienen. was ich immer anbete. Das Kreuz des Herrn ist mit mir, das
Sie sind wohl im Zusammenhang mit der Beschaffung einer Kreuz ist mein Zufluchtsort.« Das Kreuz wird in diesem Text
Kreuzesreliquie 568/69 für das Kloster von Königin Rade- auf verschiedenen Ebenen thematisiert: Auf den ersten Blick
gunde in Poitiers entstanden. sieht der Betrachter das Bild des Kreuzes; als zweites wird
Diese Bildgedichte folgen dem gleichen Prinzip wie moderne der Leser mit dem grün hervorgehobenen Wort crux kon-
Kreuz­­worträtsel – die Buchstaben des Textes sind an einem frontiert, das sich in der Mitte des Bildes in alle Richtungen
Raster ausgerichtet und bilden nicht nur von links nach rechts ausbreitet. Die grüne Raute wird gegenüber dem Rest des
ge­lesen einen Text, sondern auch zum Beispiel von oben nach Kreuzes überall durch den Buchstaben X begrenzt, womit
unten ­­oder diagonal. Die zusätzlichen Leserichtungen sind das Kreuz in der Form des Buchstabens nochmals graphisch
mit bunter Tinte (rot, grün) hervorgehoben und bilden hier aufgenommen wird. Die nächste Ebene ist die inhaltliche
meistens die Form eines Kreuzes. Das zweite Stück, auf S. 39, Text-Ebene – wenn der Leser in der richtigen Reihenfolge
ist nicht fertig gestellt. An ihm lässt sich erkennen, dass Venan- den Text durchliest, erfährt er die Bedeutung des Kreuzes für
tius Fortunatus zuerst die hervorgehobenen Verse (ein Kreuz, den Glauben; in der Anordnung der beiden Verse vollzieht
eine Raute und den Rahmen) geschrieben und dann den Rest der Leser nochmals die Form des Kreuzes. Das jedes Mal
›aufgefüllt‹ hat. Das Kreuzgedicht auf S. 40 (siehe Ab­bil­­dung) am Anfang und in der Mitte des Verses repetierte Wort crux
stammt nicht mit Sicherheit von Fortunatus; es folgt einem führt zu einer meditativen Beschäftigung mit dem Kreuz.
anderen System. Der ganze Text bildet die Form eines Kreuzes, Die geistige Suche nach dem religiösen Geheimnis wird im
dessen Arme sich abschließend verbreitern, und er ist nur von Leseprozess verdeutlicht, der zuerst einmal die Suche nach
der Mitte her lesbar. In einer grünen Raute, die die Kreuzung dem Beginn und Verlauf des Textes verlangt. Der Inhalt des
der beiden Arme markiert, kann man vom Buchstaben C in der Textes und die Gestaltung des Schriftraums ergänzen sich
Mitte in alle vier Richtungen crux (Kreuz) lesen. Der Text setzt perfekt.
sich fort – jeder Arm bildet einen halben Vers, wobei man, am
literatur: Ernst (1991) – Venantius Fortunatus (2006).
Rand angekommen, in den senk­­rechten Armen nach links oder
rechts weiter lesen kann und in den waagrechten nach oben
oder unten. Wenn man von der Mitte aus nach oben, unten, annina seiler

rechts und links liest, ergibt sich folgendes Distichon:


191
192 Labyrinth

10. Jh.
Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 197, S. 122
Pergament, 25,4 × 18 cm

Das Labyrinth symbolisiert im Mittelalter zuerst einmal den ausgemalt und der Eingang zum Labyrinth ist mit zwei fuß-
error, das heißt das Umherirren und Fehlgehen. Als Meta- oder blattförmigen Verzierungen hervorgehoben. Um ins Ziel
pher bezeichnet es die menschlichen Fehler und Irrtümer. zu gelangen, muss der Betrachter immer wieder das Zentrum
Gleichzeitig steht es für das Streben nach Gott, das heißt für umrunden, wobei er auf der Achse jeweils drei Windungen
den Ausweg aus dem Irrgarten. Diese beiden Aspekte sind nach innen rücken kann, dann zweimal um eine nach außen,
bereits im ›Ur-Labyrinth‹ von Knossos angelegt: Gemäß dann wieder zweimal drei nach innen und so weiter.
der antiken Mythologie erbaute Daedalus das Labyrinth, In St. Gallen gibt es zwei weitere Labyrinth-Handschriften
um das Monster Minotaurus einzuschließen. Theseus, der aus dem Frühmittelalter: Im Codex Nr. 878, einer Sam-
dem Minotaurus zum Fraß vorgeworfen wurde, konnte melhandschrift Walahfrid Strabos aus dem 9. Jahrhundert,
sich jedoch mit dem berühmten Faden der Ariadne retten. findet sich ein Labyrinth des gleichen Typs, das aber nur
Im Mittelalter führte dies zur Interpretation des Labyrinths zwei Mäanderschleifen (also sieben Gänge) umfasst. Im
als Hölle und des Minotaurus als Teufel. Theseus wurde als Zentrum steht das Wort domus (Haus); ein mittelalterlicher
Präfiguration Christi gedeutet, der Ariadne-Faden als die Betrachter hat den Weg ins Zentrum eingezeichnet. Neben
göttliche Gnade. der Abbildung steht, fast nicht mehr lesbar, domus dedali –
In den handschriftlichen Labyrinth-Abbildungen wird nur hac minotaurum conclusit (»Haus des Daedalus – darin hat
dieser zweite Aspekt graphisch umgesetzt. Die Irrgärten er [Daedalus] den Minotaurus eingeschlossen«). Das dritte
werden hier allein durch den zu beschreitenden Weg gebildet, Labyrinth findet sich in Notkers des Deutschen Boethius
der so verschlungen wie möglich geführt wird, aber keine (Handschrift Nr. 825) vom Anfang des 11. Jahrhunderts. Es
Kreuzungen und Abzweigungen aufweist – man kann sich besteht aus sechs Gängen, die so angeordnet sind, dass man
in diesen Labyrinthen also gar nicht verirren. Sie stellen nicht am Schluss des ersten Mäanders den Eindruck hat, direkt ins
den auswegslosen Irrgarten dar, sondern gewissermaßen den Zentrum zu gelangen, dann aber nochmals zurückgelenkt
Faden der Ariadne, der dem Irrenden den Weg zeigt. Gebildet wird und zuerst den zweiten Mäander durchlaufen muss.
werden sie aus konzentrischen Kreisen mit einer oder mehre- Nach Haubrichs (1980, S. 74 und 139) verdeutlicht dies den
ren Achsen, die den Durchgang von einem Kreis-Gang zum Inhalt des nebenstehenden Texts, in welchem das Labyrinth
nächsten ermöglichen. Die Abbildung aus der Handschrift als Metapher für Gedankengänge dient, die da zu enden
Nr. 197 zeigt ein besonders schönes und großes Labyrinth scheinen, wo sie begonnen haben.
aus zwölf Doppel-Kreisen, die elf Gänge bilden. Die Gänge
literatur: Haubrichs (1980) – Batschelet-Massini (1978) – Reed Doob
führen in drei Mäanderschleifen ins Zentrum des Kreises,
(1990).
wo das Einstichloch des Zirkels noch gut erkennbar ist. Die
Begrenzungen sind teilweise mit roter und brauner Farbe annina seiler
193
194 Tropar mit Neumen

Kloster St. Gallen, um 1050/1060


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 378, S. 41
Pergament, 18,8 × 12,5 cm

Die für einen Laien unverständlichen kleinen Zeichen, die Die Abbildung zeigt den Titel und den Anfang eines der
nach der Initiale H (H)odie cantandus est nobis puer quem beiden Hauptteile dieser für die musikalische Umrahmung
gignebat über den einzelnen Wörtern stehen, heißen Neumen des Gottesdienstes verwendeten Handschrift 378, den Beginn
und sind die ältesten Notenzeichen im christlichen Abend­ des Tropar-Teils. Der Codex, während der Abtszeit von
land. Der Begriff Neumen geht auf das griechische Wort Nortpert von Stablo (1034–1072) zwischen 1050 und 1060
νευμα (Wink) zurück. Diese linienlosen Neumen geben nur möglicherweise vom St. Galler Mönch Cotescalc geschrieben
den ungefähren Verlauf der Melodie, nicht hingegen exakte und festlich geschmückt, enthält mehrere Teile. Einem Kalen-
Tonhöhen oder den Rhythmus der Melodie wieder und konn- dar (S. 1–24) folgt ein außergewöhnlich umfangreicher Com-
ten so das Gedächtnis der Musizierenden, des Kantors und putus-Teil (S. 41–145) mit Diagrammen, Tafeln, Merkversen
seiner Sänger, nicht ersetzen. Der Kantor hatte die Melodien in und Texten zur Kalenderberechnung. Es folgen zwei mit
seinem Kopf gespeichert. So basiert die Neumennotation »auf Neumen versehene Teile, nämlich ein Tropar (S. 41–145) und
der Wahrnehmung und visuellen Wiedergabe melodischer Pa- ein Sequentiar (S. 146–296). Sowohl Tropen (zum Introitus)
rameter des Textvortrags als in der Schriftrichtung des Textes als auch Sequenzen (nach der Epistellesung im unmittelbaren
fortschreitende Bewegungen der Stimme in einem Tonraum« Anschluss an das Alleluia) waren Einschaltgesänge, die an
(Lexikon für Theologie und Kirche). Wie diese einstimmigen den Festtagen des Kirchenjahres im Gottesdienst gesungen
gregorianischen Melodien damals, im 10. und 11. Jahrhundert, zu werden pflegten. Die St. Galler Mönche Tuotilo und Not-
geklungen haben, können wir einzig dann einigermaßen re- ker Balbulus zeichneten sich als herausragende Schöpfer von
konstruieren, wenn spätere Parallelaufzeichnungen des hohen Tropen respektive Sequenzendichter aus. Während sich die
und späten Mittelalters mit Notenlinien existieren. Den Laien Neumen im Tropar oberhalb der silbenbildenden Vokale des
imponiert die gleichmäßige Notenschrift über den sorgfältig Textes befinden, zeigt das Sequentiar die Neumen neben dem
kalligraphierten Textzeilen, sie wirkt geheimnisumwoben, Text, am linken oder rechten Rand des jeweiligen Pergament-
aber auch für die Musikwissenschaftler ist der Schleier über blattes. Den ebenfalls mit Neumen versehenen Antiphonen,
den Neumen noch nicht vollständig gelüftet. Offertoria und Tractus (S. 297–344) folgen Nachtragsseiten
In der Stiftsbibliothek St. Gallen befinden sich gleich mehrere aus dem 13. Jahrhundert.
Musikhandschriften aus dem frühen Mittelalter von überra-
literatur: Haug (1987) – Heinz (1998) – von Euw (2008).
gender Bedeutung. Das so genannte St. Galler Cantatorium
(Handschrift Nr. 359) stellt gar weltweit die älteste vollstän-
dig erhaltene Neumenhandschrift dar; der hier präsentierte karl schmuki

kleinformatige Codex 378 gehört zu den schönsten Musik-


handschriften des 11. Jahrhunderts.
195
Aura
Einleitung 199

Heilige Bücher und mächtige Zeichen sind von einer Aura, kann dann der Fall sein, wenn das betreffende Schriftstück an
einer besonderen Ausstrahlung umgeben. Dies gilt nicht (rechtlicher) Geltungskraft verloren hat, etwa weil aktuellere
ausschließlich, aber vielleicht in spezifischer Weise für die Texte an seine Stelle getreten sind. Oder dann, wenn der ur-
mittelalterliche Handschriftenkultur, in der sich jede einzelne sprüngliche Kontext, in den ein Schriftstück eingebettet ist,
Handschrift durch ihre Einmaligkeit auszeichnet. Denn mit in Vergessenheit geraten ist (vgl. S. 264). Genau durch diesen
der Einzigartigkeit eines Objekts geht eine Unverfügbarkeit Verlust des Kontextes kann ein Schriftstück aber auch erst
einher, die jedes Artefakt zu etwas Blendendem und sich mit einer Aura aufgeladen werden, insofern es als Spur zu
Entziehendem macht. Zugleich jedoch, und dies erscheint einer unwiederbringlich verloren gegangenen Vergangenheit
zunächst paradox, ist für die Entfaltung von Aura eine be- verstanden wird. Diese aus der zeitlichen Distanz zum Ent-
sondere Präsenz des betreffenden Objektes unabdingbar: stehungskontext heraus erwachsende Aura ist Ausgangspunkt
Aura ist das, was dem Beobachter bei der Betrachtung eines für die Faszination des heutigen Betrachters und beeinflusst
Objektes erwidert wird, das, was ihm im Zuge der Wahr- unwillkürlich unsere Wahrnehmung. Unser Blick soll jedoch
nehmung im Hier und Jetzt widerfährt, das, was gleichzeitig vor allem auf die Strategien gerichtet werden, auf die im Mit-
nah und fern ist. telalter selbst zurückgegriffen wurde, um Schriftstücke mit
Ein Schriftstück ist nun sicherlich keineswegs immer ein aus einer Aura zu versehen und in Szene zu setzen.
sich heraus strahlendes, kunstvoll angefertigtes Objekt, son- Die im Folgenden präsentierten heiligen Bücher und mäch-
dern häufig Ausdruck einer pragmatischen Handlung, wie tigen Zeichen umspannen unterschiedliche Bereiche der mit-
etwa im Falle von flüchtigen Notizen auf einem Einkaufzet- telalterlichen Schriftkultur: Prachthandschriften der heiligen
tel oder in einem Kalender. Selbst das profanste Schriftstück Schriften der drei Buchreligionen ebenso wie Urkunden,
ist dennoch immer ein von Menschen hergestelltes Artefakt, in denen Rechtsverhältnisse profaner und sakraler Natur
das in einem bestimmten Kontext entstanden ist und verwen- festgehalten werden; so genannte Jahrzeitbücher, die Namen
det wird. Diese Begleitumstände können dem Schriftstück, von für die Gemeinden wichtigen Persönlichkeiten verzeich-
unabhängig vom Inhalt und der sprachlichen Bedeutung neten und die in die Liturgie der Messe einbezogen wurden,
der niedergeschriebenen Schriftzeichen, besondere Aus- ebenso wie Visualisierungen von Weltvorstellungen und
strahlung verleihen. Dies ist beispielsweise dann gegeben, kartographische Darstellungen säkularer Herrschaftsgebiete,
wenn der Schreibende oder Ausstellende mit einer hohen die durch ihre Anordnung von Schrift- und Bildelementen
Autorität versehen ist oder wenn – auch nachträglich – dem auf die Heilsgeschichte Bezug nahmen; Kirchenfenster, bei
Schriftstück eine herausgehobene Rolle in symbolischen denen die Anwesenheit von Schrift der bildlichen Darstel-
Handlungszusammenhängen zugewiesen wird. lung Autorität verlieh, ebenso wie Glossenhandschriften der
Die Aura eines Schriftstücks ist somit abhängig von der Per- Bibel, des römischen Rechts und der lateinischen Klassiker,
spektive des Betrachters und kann durchaus auch verloren die den autoritativen Status der kommentierten Texte durch
gehen, wenn die äußeren Bedingungen sich ändern. Dies ihr spezifisches Layout verbürgten.
200 Die vorangegangenen Überlegungen lassen bereits deutlich des Interesses steht. Dabei werden vor allem drei Aspekte
werden, dass die Aura eines Schriftstücks in enger Verbindung aufgegriffen, die jeweils andere Inszenierungsstrategien von
mit der einem Schriftstück zugesprochenen Autorität steht. Schrift im Raum in den Blick nehmen, um deren Besonder-
Die Autorität wiederum wird durch die Präsentation der heiten aufzudecken. Die drei Aspekte können unter den
Schrift im Raum und in ihrer Räumlichkeit in Szene gesetzt. Stichwörtern der Materialität, der Performanz und des Spiels
Im Zuge einer solchen Inszenierung werden bestimmte Me- mit der Schrifttradition zusammengefasst werden.
chanismen und Verfahren zur Herstellung von Bedeutung
eingesetzt und wird etwas zur Erscheinung gebracht, das
nicht gegenständlich vorhanden ist, das im Text selbst nicht Materialität – Der Glanz prunkvoller Lettern
enthalten ist und somit jenseits der sprachlichen Bedeutung
der Schriftzeichen liegt. Das Verhältnis von Schrift und Raum Die Aura der Schrift kann zunächst primär auf ihrer Gegen-
kann dabei auf einer Vielzahl verschiedener Ebenen aufge- ständlichkeit beruhen. Schrift ist auf die Materialität ihres
griffen werden. Zunächst ist die Schrift selbst stets räumlich, Schriftträgers – sei es nun Stein, Pergament, Papier, Glas oder
weil materiell. Sie wird auf einem räumlichen Schriftträger Stoff – angewiesen und somit selbst stets materiell gebunden.
platziert, dessen Eigenschaften die Präsentation der Schrift Denn nur in ihrer konkreten materiellen Ausgestaltung er-
elementar beeinflussen. Die Anordnung der Schrift auf einem zeugt Schrift Bedeutung, auch wenn diese Materialität der
Schriftträger, im Falle eines Codex auf der räumlichen Seite, Schrift in der Regel vom Rezipienten beim Lesevorgang
kann dabei auf Darstellungskonventionen zurückgreifen nicht wahrgenommen wird. Gleichzeitig wirkt Schrift aber
oder diese modulieren und so über den Bedeutungsgehalt bereits vor der Bedeutungsebene durch ihre bloße Präsenz,
des niedergeschriebenen Textes hinaus neue Bedeutungen das heißt durch ihre Ausgestaltung in Bezug auf verwendete
durch das gewählte Layout erzeugen. Weiterhin tritt Schrift Materialien, durch die Größe und Form der Schriftzüge und
auf dem Schriftträger in eine Wechselbeziehung mit anderen des Schriftträgers und durch die Positionierung der Schrift-
Elementen wie Ornamenten und Bildern. Auch in diesem züge und des Schriftstücks im Raum. Schrift hat somit in
Zusammenspiel entstehen Räumlichkeiten der Schrift, in ihrer konkreten Ausführung eine Bedeutung unabhängig
denen der Schrift eine spezifische Stellung und Funktion im von und sozusagen diesseits ihrer Zeichenbedeutung. Die
Gesamtgefüge zugeordnet ist. Vor allem in Karten sind Schrift Gegenwärtigkeit eines Schriftobjektes in all seiner Pracht und
und Bild in untrennbarer Weise aufeinander bezogen, indem Ausstattung kann eine spezifische Aura hervorrufen, bei der
die über Bildkonzeptionen und Zeichensysteme visualisierten der Inhalt und die Bedeutungsebene der Schrift in den Hin-
räumlichen Verhältnisse durch Schriftelemente strukturiert tergrund treten. Auch auf nicht lesekundige Betrachter – und
und definiert werden und die Schrift zugleich im Raum veror- im Mittelalter war die Mehrheit der Bevölkerung Analpha-
tet wird. Schließlich ist das Schriftstück als Objekt im Raum beten – wirkte Schrift und wirkten wertvolle Exemplare der
präsent, etwa indem es an einem bestimmten Ort aufbewahrt Schriftkultur eindrücklich und Autorität heischend. Dies lässt
und präsentiert wird oder indem es im Rahmen eines Rituals sich auch daran festmachen, dass im Laufe des Hochmittelal-
festen Regeln folgend durch den Raum bewegt wird. ters die Schrift immer häufiger als Verkörperung der Botschaft
Es ist diese durch das Verhältnis von Schrift und Raum Gottes in der Bildkunst erscheint, um die Authentizität und
erzeugte Aura, die auf den folgenden Seiten im Mittelpunkt Autorität der überbrachten Kunde zu belegen.
Einige der bekanntesten Handschriften des Mittelalters Scheiben erscheinen als homogene dunkle Fläche. Anders als 201
wirken auf die heutigen wie wohl auch die mittelalter- bei der materiellen Pracht von Codices wirken die Scheiben
lichen Betrachter aufgrund ihrer ausnehmenden Pracht daher erst in einem Zusammenspiel von Material und (im-
imposant. Vor allem Handschriften liturgischer Natur wie materiellem) Licht. Durch ihre Transluzidität strahlen sie
das frühmittelalterliche Book of Kells oder auch der spät- eine Aura der Unverfügbarkeit aus, die durch den Ort ihrer
byzantinische Purpurpsalter aus dem 6. Jahrhundert (vgl. Anbringung in den hohen Fenstern des Kirchenraums noch
S. 208) sind oftmals überaus prunkvoll ausgestattet. Sie verstärkt wird (vgl. S. 212 und 214).
sind mit kostbaren Werkstoffen wie feinstem Pergament, Schließlich können Schriftstücke auch durch ein außerge-
Gold, Silber und Purpur hergestellt und mit aufwändigen wöhnliches Format in Szene gesetzt werden. Ein besonders
Illuminationen versehen. Die Heilige Schrift wird in solchen kleines Schriftstück wie etwa die aus dem Osmanischen
Prachthandschriften durch die Materialität des Schriftträgers Reich stammende Amulettrolle aus dem 19. Jahrhundert
und der Schriftzeichen in Szene gesetzt. Derart ausgestaltete (S. 228) oder der in einer Blechbüchse aufbewahrte, achte-
Codices sind geradezu mit einer doppelten Präsenzwirkung ckige Miniaturkoran aus dem 16. Jahrhundert (S. 226) ist von
versehen, da die Heilige Schrift in der mittelalterlichen einer Aura der Unverfügbarkeit umgeben. Auch über das
Liturgie als zeichenhafte Verkörperung Jesu Christi ver- außergewöhnlich kleine Format hinaus werden diese beiden
standen wurde. Handschriften mithilfe von Goldverzierungen und farbigen
Diese materielle Inszenierung eines Schriftstücks ist zugleich Dekorationen als heilige Schrift inszeniert.
eng mit einer autorisierenden Wirkung verknüpft. Dies lässt Eine vergleichbare Aura geht von besonders großen Schrift-
sich besonders eindrücklich am Liber aureus, dem Goldenen stücken wie etwa der abgebildeten Torarolle aus dem
Buch von Pfäfers illustrieren. Bei diesem Codex handelt es 17. Jahrhundert aus. Auch die sorgfältige Ausführung der
sich um ein äußerst prächtig ausgestattetes Evangeliar, in das Schrift, für die es strenge Vorschriften hinsichtlich der zuge-
im 14. Jahrhundert nachträglich lokale Rechtstexte auf frei lassenen Schreiber, Materialien und des Schrifttyps gibt, trägt
gebliebenen Seiten eingetragen wurden. Die Autorität dieser zu der ehrwürdigen Ausstrahlung dieser Schriftrolle bei. In
Rechtstexte wurde durch die Einbindung in das auratische den drei Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam
Ensemble inszeniert und zugleich verbürgt. Dies wird vor hat die Buchrolle eine lange Tradition, die sich bis auf die
allem dadurch unterstrichen, dass weitere Verbürgungsakte, Antike zurückverfolgen lässt. Die hier gesammelten Beispiele
die üblicherweise der Verschriftlichung von Rechtstexten zeigen, dass auch im Mittelalter und darüber hinaus noch in
beigefügt wurden, hier unterblieben (vgl. S. 210). allen drei Kulturkreisen auf die Inszenierung der Schrift in
In einigen Fällen rührt die Präsenzwirkung nicht allein von dieser Form zurückgegriffen wird, vor allem in der schriftli-
der Materialität des Objekts an sich her. Andere Faktoren chen Darbietung heiliger Texte. Durch die Rollenform wird
müssen hinzutreten. Die vor allem in der gotischen Ar- ein besonderes Lese- und Schreibverhalten bedingt, bei dem
chitektur aufkommenden, aus einer Vielzahl von farbigen das Schriftstück auf andere Art in Szene gesetzt wird als etwa
Glasstücken und Bleiruten bestehenden Fensterscheiben bei einem Codex, bei dem man Seite für Seite durchblättern
etwa bedürfen zu ihrer Inszenierung unabdinglich eines kann. Die Rollen müssen immer vom Anfang (oder Ende)
Lichteinfalls. Nachts können die Bildmotive und aufgetra- aufgerollt werden, damit man an eine bestimmte Textstelle
genen Schriftzüge der Scheiben nicht betrachtet werden, die gelangen kann, und soll diese dann für längere Zeit lesbar
202 sein, muss die Rolle in einer spezifisch dafür vorgesehenen bei der Begehung von in Jahrzeitbüchern festgehaltenen
Vorrichtung wie etwa dem Torarollenständer aufbewahrt Gedenktagen von Stifterpersönlichkeiten (vgl. S. 232). Das
werden. alljährliche Gedenken an Stifterpersönlichkeiten ist dabei
mindestens ebenso sehr politische wie religiöse Inszenie-
rung, da durch die wiederholte Verkündung der Stiftungen
Performanz – Inszenierung von Schrift in ritualisierten zugleich die Herrschaftsansprüche der betreffenden Familien
Handlungszusammenhängen legitimiert wurden.
Auch die Ausstrahlung so genannter Stifterscheiben – Glas-
Nicht nur prächtig ausgestattete, auch eher schlicht an- scheiben in Kirchen, auf denen Stifterpersönlichkeiten
mutende Schriftstücke oder Schriftzüge können eine Aura abgebildet sind – entspringt dem performativen Potenzial
besitzen, die aus ihrer Einbindung in ritualisierte Handlungs- der Schriftzüge (S. 216 und 218). Im Gegensatz zu anderen
zusammenhänge erwächst. Religiös und sozial verankerten Glasscheiben, auf denen Bilderzyklen oder einzelne Heili-
Ritualen kommt eine besondere performative Dimension genfiguren abgebildet sind, wurden Stifterscheiben meist
zu, die in ihrem formalisierten Ablauf, dem autoritativen am unteren Rand der hohen gotischen Kirchenfenster an-
Charakter und der transformativen Natur von Ritualen gebracht. Die Platzierung der Stifterscheiben ist Ausdruck
begründet liegt. Performative Handlungen zeichnen sich dafür, dass die Lesbarkeit zur Einlösung der Funktion dieser
dadurch aus, dass durch sie nicht nur bestehende Verhältnisse Scheiben äußerst bedeutsam ist, da nur bei erfolgreicher
beschrieben, sondern neue Zustände geschaffen werden. Entzifferung der Namen der Stifter und möglicher weiterer
Beim performativen Umgang mit Schrift bildet der Akt des Anweisungen gewährleistet ist, dass den Persönlichkeiten
Niederschreibens, des Verlesens oder des Überreichens des gedacht werden kann.
Schriftstücks einen integralen Bestandteil der Bedeutungser- Die Performativität der Stifterscheiben eröffnet sich für jeden
zeugung. Dabei muss jedoch ein bestimmter institutioneller einzelnen lesekundigen Kirchenbesucher, wenn er die Auf-
Rahmen vorhanden sein, der die Autorität der Schrifthand- forderung zum Gebet liest und für sich selbst nachvollzieht.
lung verbürgt. Ist dieser gegeben, so erhält das Schriftstück Im Falle der Estherrolle ist die performative Dimension hin-
eine besondere Aura, die über die Materialität hinausreicht gegen hochgradig reglementiert. In religiösen Traktaten ist
und dem Schriftstück auch bei erneuter Vergegenwärtigung detailliert festgehalten, wie der Text der Estherrolle während
innewohnt. Die Schriftobjekte sind materielle Spuren der des jüdischen Purimfestes verlesen werden soll, um auf diese
ursprünglichen und zugleich integraler Teil der wiederho- Weise jedes Jahr erneut die so genannte Esthergeschichte zu
lenden performativen Situation. aktualisieren (vgl. S. 224). Auch wenn Estherrollen häufig mit
Aus der religiösen Sphäre lassen sich Gedenkakte als Beispiele Illustrationen ausgestattet sind, zeigen die Vorschriften, dass
für eine performative Handlung nennen. Im Rahmen dieser die genaue Verlesung und das Verstehen des Wortlautes der
Rituale kommt dem Umgang und dem Handeln mit Schrift Geschichte als essentiell angesehen werden, und dass es primär
eine herausgestellte Bedeutung zu, etwa bei der Eintragung die Ausführung dieses Aktes ist, von dem die Ausstrahlung
von Namen im Reichenauer Verbrüderungsbuch und der der Schriftstücke herrührt. Auch Gerichtsprotokollen wie
späteren Vergegenwärtigung (commemoratio) dieser in der etwa dem eher unansehnlichen Pergamentrotulus aus Hilter-
so genannten Gebetsverbrüderung in der Messe (S. 230) oder fingen, auf dem Zeugenbefragungen eines Gerichtsprozesses
aus dem 14. Jahrhundert schriftlich festgehalten sind, wohnt Weise manifestiert, sind seit dem Frühmittelalter bekannte 203
aufgrund ihrer Einbindung in einen ritualisierten Handlungs- Chirographen. Zwei identisch lautende Abschriften einer
zusammenhang, einen Prozess nach römisch-kanonischem Urkunde können passgenau aneinandergelegt werden und
Verfahren, Autorität und Ausstrahlung inne (S. 238). so die Authentizität des Urkundentextes bestätigen (vgl.
S. 240). Dabei kommt sowohl dem Akt des Verfassens und
In der politischen Sphäre sind Urkunden geradezu das Zerschneidens des Dokuments als auch der erneuten Zusam-
Paradigma für einen performativen Umgang mit Schrift. menfügung eine inszenatorische Wirkung zu.
Urkunden wie der Zürcher Zweite Geschworene Brief Bei den hier kurz vorgestellten verschiedenen Schriftstücken
(S. 236), in denen Privilegien vergeben und festgeschrieben tritt die Inszenierung des Schriftobjekts im Raum in den
werden, sind als politische Inszenierungen von Macht und Vordergrund, die Schrifträumlichkeit des Objekts selbst ist
Autorität zu verstehen. Herrscherurkunden, so genannte hingegen von sekundärem Interesse. Es ist die ritualisierte
Privilegien, können als performative Schrifträume von Handlung mit der Schrift, die dem materiellen Schriftobjekt
Herrschaft verstanden werden: Der Akt der Überreichung als Spur folgt und dieses mit einer Aura versieht.
ist integraler Bestandteil ihrer Wirkkraft, und oftmals wird
bei der Übergabe weitaus mehr ausgehandelt als der Gegen-
stand des betreffenden Dokuments. Herrschaftsverhältnisse Spiel mit der Schrifttradition – Mittelalterliche Karten und
werden bestätigt, Hierarchien implizit fixiert oder infragege- Glossenhandschriften
stellt. Dass die Inszenierung des Schriftstücks als materielles
Objekt in dieser performativen Handlung eine wichtige Schließlich kann sich die Aura der Schrift auch aus dem
Funktion hat, wird an der sorgfältigen Ausstattung vieler Aufgreifen von älteren, mit Autorität versehenen Traditionen
Urkunden deutlich. Die Urkunden zugesprochene Autorität herleiten. Die Schrift als solche basiert in ihrer Funktio-
wurde ab 1400 auch vermehrt in der Ikonographie aufge- nalität auf der ständigen Perpetuierung von Darstellungs-
griffen, etwa in der Darstellung der himmlischen Botschaft konventionen: Der Bedeutungsgehalt der Schrift wird vom
anlässlich Mariä Empfängnis in Urkundenform. Lesenden aufgrund der Wiedererkennbarkeit der Zeichen
Die Echtheit von Urkunden sowie die Legitimität der Aus- entschlüsselt. Die Übernahme von Konventionen kann dabei
stellenden wurden in karolingischer und ottonischer Zeit in auch über die Ebene der Einzelzeichen hinausgehen und
der Regel durch Herrschermonogramme bestätigt. Die Au- sich auf die räumliche Anordnung der Schriftzeichen auf
thentifizierung eines Herrschermonogramms erfolgte durch dem Schriftträger erstrecken. Im Falle der beiden im Fol-
den so genannten Vollziehungsstrich, der vom Herrscher genden ausgeführten Übertragungsprozesse werden durch
selbst ausgeführt wurde. Seit dem Hochmittelalter authen- einen solchen Rückgriff auf etablierte Darstellungsformen
tifizierte vor allem das Siegel die Echtheit eines Dokuments. Bedeutungshorizonte eröffnet und wird die Autorität des
Durch das Abdrücken des Siegelrings des Ausstellenden jeweiligen Schriftgegenstandes legitimiert. In diesem Sinne
wird dessen Autorität auf das Schriftstück übertragen, das liegt die Aura der betreffenden Schriftstücke gerade in der
Siegel kann als Repräsentation des Siegelinhabers verstanden Reproduzierbarkeit und der Präsenz eines Schemas, wenn
werden. Ein anderer Urkundentyp, in dem sich die perfor- auch jede einzelne Handschrift für sich ein einzigartiges
mative Natur von Urkunden in besonders anschaulicher Artefakt bleibt.
204 Karten bilden aufgrund ihres besonderen Zusammenspiels senschaft übertragen werden. Dies wird vor allem in den
von bildlicher und schriftlicher Tradition einen besonderen kartographischen Darstellungen anschaulich, die Ende des
Typus von Schrifträumlichkeit. Als neue Form der Auf- 15. Jahrhunderts Albrecht von Bonstetten in einer ersten
zeichnung, bei der Schrift auf der Räumlichkeit des Schrift- Beschreibung der eidgenössischen Länder vorgelegt hat (vgl.
trägers verortet wird und zugleich immer schon Teil des S. 248). Insbesondere die Darstellung der Eidgenossenschaft
wiedergegebenen Raums ist, wird sie im frühen Mittelalter in übernimmt sowohl das sparsam beschriftete traditionelle
Auseinandersetzung mit spätantikem Schrifttum entwickelt. Kreisschema als auch die heilsgeschichtliche Komponente
Es ist zunächst vor allem die damals bekannte Welt, deren der überkommenen Weltkarten. Sie zeigt nicht nur die Eid-
drei Kontinente, Europa, Afrika und Asien, geostet in einem genossenschaft als eigenen Weltenkreis, sondern rückt den
meeresumspülten Kreis kartographisch dargestellt werden. Berg Rigi am Vierwaldstättersee ins Zentrum, der damit in
In Texten abgebildet, die im Unterricht eine wichtige Rolle seiner Bedeutung der Heiligen Stadt Jerusalem angenähert
spielten, dienten diese schematischen Karten wohl vor allem wird, die auf den Weltkarten im Gefolge der Kreuzzüge meist
dazu, komplexe Beschreibungen der Welt auf eine einfache im Kartenmittelpunkt platziert ist.
Vorstellung zu reduzieren und memorierbar zu machen. Konrad Türsts Karte der Eidgenossenschaft nimmt in ver-
Zu diesen viel rezipierten Schriften zählen etwa die Ety- schiedener Hinsicht Elemente aus Bonstettens Werk auf.
mologien des Isidor von Sevilla, mit deren Abschriften ein Nicht nur ist auch sie Bestandteil einer Landesbeschreibung,
besonderer Typ von Weltkarte entwickelt wurde. Hier wird die auf die Geschichte und gegenwärtige politische Situation
das Weltenrund nicht nur durch die Schriftzüge gegliedert, des Landes verweist. Die nach den aktuellen technischen
die die Kontinente bezeichnen, sondern auch durch die Standards angelegte Kartierung Türsts scheint auch symbo-
diesen jeweils zugeordneten Namen der Söhne Noahs auf lisch wirksame Konstruktionsprinzipien der älteren Tradi-
die biblische Tradition zur Besiedlung der Erde verwiesen tion aufzunehmen. Wie Bonstetten nämlich lenkt Türst den
(S. 244). Auf diese Weise erhält die einfache Karte eine neue Blick auf das Kartenzentrum und damit die Innerschweiz,
heilsgeschichtliche Dimension, die bei der Lektüre mitbe- das älteste Kerngebiet der Eidgenossenschaft (S. 250).
dacht werden kann. Die über das Mittelalter hinaus fassbare Wirkung solcher Dar-
Die enge Verknüpfung von kartographischer Form und heils- stellungstraditionen wird schließlich auch mit Jos Murers 1566
geschichtlicher Bedeutung wird zu einem charakteristischen angefertigter Karte des Zürcher Herrschaftsgebietes fassbar,
Element mittelalterlicher Kartographie, das in besonderem die eine detailreiche Vorstellung von Ausmaß und Gegen-
Maße und bis ins ausgehende Mittelalter die Tradition der stand städtischer Herrschaft erkennen lässt. Auch hier stehen
Weltdarstellungen prägt. Sie wird in der Folgezeit aber auch kartographische Darstellung und Angaben zur Geschichte
auf immer neue Zusammenhänge übertragen. So wird sie von Stadt und Landschaft in einem engen Wechselverhältnis
bei Darstellungen des Heiligen Grabes in Jerusalem (vgl. (S. 252), und auch Murer greift auf die Strategie der Zentrali-
S. 242) wie auch bei Kartographien der Stadt Jerusalem selbst sierung zurück, um Herrschaftsverhältnisse herauszustellen.
verwendet. Wie diese Darstellungsschemata nachwirken, Indem er Zürich ins Zentrum seiner Darstellung setzt, wird
machen auch Kartenbeispiele an der Schwelle vom Mittel- nicht nur seine Rolle als herrschende Stadt augenfällig, sondern
alter zur frühen Neuzeit deutlich, bei denen Elemente der gleichzeitig seine Bedeutung als Zentrum der Reformation, als
mappa mundi-Tradition auf Darstellungen der Eidgenos- neues reformiertes Jerusalem in Szene gesetzt.
Auch die Kulturtechnik des Glossierens durchlief seit dem treten und sich gegenseitig legitimieren. Und gerade diese 205
12. Jahrhundert verschiedene Übertragungsprozesse. Das Darstellungskonvention verbürgt auf den ersten Blick die
charakteristische Glossenlayout, bei dem zentral auf der auctoritas des umrahmten Wortlauts. Es wurden keineswegs
Buchseite angeordnet der auszulegende Text platziert ist und alle Textsorten glossiert, sondern lediglich solche, denen ein
in den Zeilenzwischenräumen (interlinear) und um den Text- besonderer autoritativer Status zugeordnet wurde. Dieser
block herum geordnet (marginal) der kommentierende Textteil war im Mittelalter vornehmlich davon abhängig, ob der
angeordnet ist, hat frühmittelalterliche Vorläufer. Schon ab betreffende Text Gegenstand schulischen oder universitären
dem 8. Jahrhundert im irischen Mönchtum belegt, fand es Unterrichts war. Im 12. Jahrhundert lässt sich eine Verschie-
in karolingischer Zeit seinen Weg nach Kontinentaleuropa. bung des Begriffs glos(s)a von einer Worterklärung hin zu
Dort wurde dieses Layout zunächst beinahe ausschließlich einer umfassenderen Auslegung des Textinhaltes feststellen,
für die Werke der lateinischen Klassiker, die den literarischen so dass auch längere Passagen erläuternde Scholien in der
Kanon des mittelalterlichen Schulunterrichts bildeten, und Folge regelmäßig als Glossen bezeichnet werden. Etwa zur
einzelne Bücher der Bibel angewendet, bevor es gegen Ende gleichen Zeit findet auch eine Bedeutungsverschiebung des
des 10. Jahrhunderts vorübergehend aus der kontinental- Begriffs textus vom materiellen Objekt des in der Liturgie
europäischen Handschriftenkultur verschwand. Erst gegen verwendeten Evangeliars auf abstrakte Texteinheiten statt,
Anfang des 12. Jahrhunderts wurde es im scholastischen die wissenschaftlich ausgelegt wurden. Die Neubelegung die-
Umfeld, ausgehend von den Kathedralschulen in Laon und ser beiden Begrifflichkeiten geht zugleich mit dem Transfer
Paris erneut auf einzelne Bücher der Bibel angewendet (vgl. des Layouts auf immer neue Textsorten einher.
S. 254). Der Wortlaut der Glossierung ebenso wie die räumli- So wird die Technik des Glossierens zunächst für das rö-
che Anordnung von Textblock und Glosse verfestigten sich im mische und dann auch das kanonische Recht übernommen
Laufe des 12. Jahrhunderts, und seit 1220 finden sich die ersten (vgl. S. 262). Ebenso wie bei der Glossierung der Bibel lässt
glossierten Handschriften für alle Bücher des Alten und Neuen sich bei den Handschriften des gelehrten Rechts zu Beginn
Testaments, in denen die Glossen zu den einzelnen Büchern der Überlieferung noch eine Unfestigkeit des Glossentextes
zusammengetragen sind. Dieser Glossenapparat wird als glossa feststellen, wie beispielsweise in der aus dem Bologneser
ordinaria bekannt, in Bibliotheksverzeichnissen dieser Zeit Raum stammenden Handschrift des Decretum Gratiani aus
findet sich als Novität – zunächst beschränkt auf die Bücher dem 12. Jahrhundert, in der die Glossen von verschiedenen
der Bibel – die Bezeichnung libri glossati. Die Verfestigung des Händen angefertigt wurden (S. 260).
Glossentextes zeugt ebenso wie die einsetzende Kommentie- Methode und Darstellungsform werden in der Folge seit
rung der Glossen von dem Ansehen und der Autorität, welche dem Anfang des 14. Jahrhunderts von im römischen und
die Glossen selbst im Laufe der Zeit erhalten hatten. kanonischen Recht ausgebildeten Gelehrten auch auf volks-
Die Glossen dienen einerseits als Hilfsmittel zur Erschlie- sprachliche Rechtsbücher wie den Sachsenspiegel (vgl. S. 266)
ßung der Textinhalte und verweisen auf Schrifträume jenseits und schließlich auch auf lokale Rechtsaufzeichnungen wie
des vorliegenden Textraums. Andererseits eröffnen sie durch Weistümer oder Stadtrechte übertragen. Für den Sachsen-
die spezifische Anordnung des Grundtextes und seiner spiegel liegen verschiedene Glossenapparate vor, die ebenso
auslegenden Erläuterungen auf der Buchseite einen Reflexi- wie die Glossen des gelehrten Rechts aus Worterläuterun-
onsraum, in dem Text und Glosse in ein Wechselverhältnis gen bestehen und verschiedene Lehrmeinungen aufführen,
206 gleichzeitig aber auch stets Parallelen der Sachsenspiegel-Re-
gelungen zum kanonischen und römischen Recht aufzeigen.
Auf diese Weise autorisiert die Glosse den Sachsenspiegel
sowohl durch das althergebrachte Layout als auch durch
den Rückverweis auf etablierte Rechtsquellen.
Auch im Judentum und im Islam werden Texte autoritativer
Natur erläuternd ausgelegt. Die Handschriften weisen in
ihrem Layout eine Reihe von Parallelen zur christlichen Tra-
dition der Glossierung auf, und auch bezüglich der Funktion
lässt sich der Vorgang in den drei Kulturkreisen durchaus
vergleichen. Die aus Ausspracheregeln und textkritischen An-
merkungen bestehende Masora (S. 256) umrahmt den hebräi-
schen Bibeltext von allen vier Seiten und platziert diesen somit
in der Mitte der Seite. Die ältesten Codices, die dieses Layout
aufweisen, stammen aus der Zeit vor 900 n. Chr. Auch das
abgebildete arabische Rechtshandbuch (S. 268) zeigt dieselbe
Anordnung der verschiedenen Textbestandteile im Raum.
Die Positionierung eines Textes im Zentrum und der kom-
mentierenden Glosse als Rahmung auf der Fläche der Seite
zeigt durch die Tradition dieses Layouts einen Autoritätsan-
spruch an, und im Laufe des christlichen Mittelalters werden
immer neue Texte durch den Rückgriff auf dieses Layout in
Szene gesetzt. Boccaccios Autograph der Teseida (S. 272)
zeigt beispielhaft, dass mittelalterliche und humanistische
Verfasser durch die Selbstglossierung ihrer Werke sich
selbst den Status einer Autorität zuordneten oder zumindest
zuzuordnen versuchten. Boccaccio versieht seine Teseida
ähnlich wie die scholastischen Glossen der Bibel und des
gelehrten Rechts mit Hinweisen auf antike und zeitgenössi-
sche Autoritäten. Vor dem Hintergrund seines Studiums des
kanonischen Rechts und seines umfassenden Wissens über
die lateinischen Klassiker kann die Selbstglossierung seiner
Teseida als bewusster Rückgriff auf die autorisierende Kraft
der kommentierenden Glossierung interpretiert werden.

lena rohrbach
208 Der Zürcher Purpurpsalter

Syrien, 6. Jh.
Zentralbibliothek Zürich, RP 1, hier fol. 147r
Gold- und Silbertinte, Mennige auf purpurgefärbtem Pergament,
22 × 15,5 cm

Der älteste Codex der Sammlung der Zentralbibliothek geschrieben sind. Dem Farbakkord Purpur/Rot kommt stets
Zürich ist wohl in Syrien, in Antiochia, dem heutigen tür- eine Bedeutung von universaler Tragweite zu, hier als Zeug-
kischen Grenzort Antakya, im Auftrag des byzantinischen nis der mächtigen Benediktinerabtei Reichenau. Der Psalter
Kaiserhauses entstanden. Nur der Kaiser durfte Purpur ver- war also in einem abendländischen Kloster in Gebrauch, die
wenden. Gold und Silber steigern den hohen Anspruch und Schrift erinnert an die im 9. Jahrhundert gepflegte Capitalis
die Ausstrahlung. Der Psalter ist eine der sieben erhaltenen rustica der rubrizierten Überschriften wie derjenigen im
griechischen Purpurhandschriften, neben Prunkhandschrif- Reichenauer Verbrüderungsbuch (vgl. S. 230). Anhand der la-
ten wie die noch ins 5. Jahrhundert zu datierende Cotton teinischen Versanfänge konnte sich auch der des Griechischen
Genesis in London, die Wiener Genesis und das Evangeliar Unkundige, wie es die meisten Benediktiner waren, im Psalter
in Rossano (Kalabrien). »Purpur« bezeichnet den aus dem zurechtfinden. Ebenso muss bedacht werden, dass die Mönche
Drüsensekret der Murex-Schnecken gewonnenen Farbstoff. die Psalmen auswendig kannten, sie psalmodierten den ganzen
Man ist stets davon ausgegangen, dass damit das Pergament Psalter jede Woche. In der Liturgie wie im Stundengebet ist
gefärbt wurde. Bis heute konnte bei keiner Handschriften das es aber zentral, die Texte vor sich haben; das Christentum ist
originale Purpur nachgewiesen werden, auch das Pergament eine Buchreligion. Im Unterschied jedoch zu den liturgischen
des Zürcher Psalters wurde gemäss R. Fuchs und D. Oltrogge Büchern für den täglichen Gebrauch war der Purpurpsalter
mit Orseille, dem aus verschiedenen Flechten gewonnenen eine Prunkhandschrift.
Farbstoff gefärbt. Der symbolischen Bedeutung des Purpurs, Der Weg von der Reichenau in die Stadtbibliothek Zürich,
der Farbe Christi und des Kaisers, tut dies keinen Abbruch. wo der Purpurpsalter 1709 erstmals erwähnt wurde, ist
Die Datierung ist neu näher zum Rossano-Evangeliar, also kurz, doch kann er bis heute nicht belegt werden. Johann
ins ausgehende 6. Jahrhundert zu rücken. Das kleinere For- Jakob Breitinger publizierte 1748 bei Heidegger in Zürich
mat mag damit zusammenhängen, dass der Psalter mehr der ein 72 Seiten starkes Büchlein samt einem Faksimile »avant
privaten Frömmigkeit des byzantinischen Kaiserhauses diente la lettre« von einer Seite des Psalters. Seither ist die Hand-
als der Repräsentation. Der Zürcher Purpurpsalter ist unvoll- schrift fester Bestandteil der Handschriften- und der Sep-
ständig überliefert mit den Psalmen 25 bis 30, 36 bis 41, 43 bis tuaginta-Forschung. 1928/29 wurde sie in den Werkstätten
64 und 71 bis 151 sowie den Hymnen 6 bis 14 auf insgesamt der Biblioteca Vaticana restauriert und die Doppelblätter in
223 Folios. Er gelangte über Rom bereits zu karolingischer einzelne Mäppchen gelegt.
Zeit ins Kloster Reichenau, was bereits Gallus Öhem um
literatur: Katalog der Handschriften der ZB Zürich (1952) – Codex pur-
1500 und Konrad Gessner im Jahr 1549 wussten. Vermuten
pureus Rossanensis (1987) – Crisci/Eggenberger/Fuchs/Oltrogge (2007).
konnte man dies länger schon wegen der Psalmenversanfänge
nach Vulgata, die an den Rändern in roter Farbe (Mennige)
christoph eggenberger
209
210 Das Goldene Buch von Pfäfers

Liber Aureus, Pfäfers, 11.–15. Jh., Einband um 1590


Stiftsarchiv St. Gallen, Codex Fabariensis 2, hier fol. 15v und 16r
Pergament, 28,1 × 18,8 cm

Der Liber Aureus gehörte während Jahrhunderten zu den Siegel sehen, die das Kloster freilich nicht vorlegen konnte.
wichtigsten Rechtsdokumenten des Klosters Pfäfers. Des- Viele Rechtsansprüche waren nur im Goldenen Buch schrift-
halb beschlossen 1794 einige revolutionär gesinnte Unter- lich fixiert. Nachdem die Symbolkraft des Goldenen Buchs
tanen, dem Kloster dieses Machtinstrument zu stehlen. Sie bei den reformierten Untertanen gebrochen war, musste das
wollten darin gelesen haben, dass dem Abt jedes erdenkliche Kloster 1532 seine eidgenössischen Schirmherren bitten, die
Recht zustehe, einschließlich des ius primae noctis. Auch Rechtsansprüche mit handfesteren Mitteln durchzusetzen.
in Pfäfers hat das ›Recht der ersten Nacht‹ nie existiert; die Dennoch behandelte das Kloster den Liber Aureus weiterhin
Verschwörung zeigt aber, welche symbolische Macht das wie eine Reliquie. Um 1590 erhielt er seinen silbervergolde-
Goldene Buch noch Ende des 18. Jahrhunderts ausgeübt ten Einband, auf dem neben Jesus und Maria auch die vier
hat. Dies war vom Kloster durchaus erwünscht, ja sogar Evangelisten, die Heiligen Benedikt und Pirmin sowie die
intendiert: Seit jeher beruhte die Autorität des Liber Aureus Reliefs von Papst und Kaiser zu sehen sind. Die Akzeptanz
vor allem auf seiner Symbolkraft. des für das Kloster nach wie vor unentbehrlichen Rechts-
Das Goldene Buch wurde um 1080/90 als Evangeliar angelegt dokuments sollte dadurch noch einmal gestärkt werden. Als
und mit kunstvollen Bildern der vier Evangelisten ausgestat- 1602 auch die Eidgenossen die Legitimität des Goldenen
tet. Der zwischen den Lesungen frei gebliebene Platz wurde Buchs in Frage stellten, argumentierte der damalige Abt, die
ab dem 14. Jahrhundert für die Eintragung von Weistümern Rechtskraft dieser Handschrift beruhe nicht auf Siegeln und
(›Dorfgesetzen‹) verwendet. Das Weistum von Männedorf Beglaubigungen, sondern auf den Bildern der Heiligen sowie
auf Folio 15v schließt unmittelbar an das Lukasevangelium den auf den goldenen Beschlägen dargestellten Halbfiguren
an. Untypischerweise deutet in den Texten nichts darauf hin, von Papst und Kaiser. Die Eidgenossen akzeptierten diese
dass die Untertanen bei der Niederschrift befragt wurden Auslegung und bestätigten dem Kloster die im Goldenen
und dass sie das (neu) verschriftete Recht anerkannten. Die Buch verzeichneten Rechte. Diese behielten ihre Gültigkeit
Einfügung in eine liturgische Handschrift reichte offenbar noch bis über die Französische Revolution hinaus.
zur Legitimierung aus. Tatsächlich scheint das Kloster seine
literatur: Vogler (1972) – Perret/Vogler (1986) – Das Goldene Buch von
Rechte in den Besitzungen, die das Goldene Buch verzeich-
Pfäfers (1993) – Kaiser (1994).
net, für lange Zeit unangefochten ausgeübt zu haben.
Nach der Reformation begannen einige neugläubige Unter- jakob kuratli

tanen die Rechtskraft des Liber Aureus in Frage zu stellen.


Die Einbettung in einen liturgischen Kontext galt ihnen nicht
mehr als Garant für die Rechtmäßigkeit der im Goldenen
Buch verzeichneten Ansprüche. Sie wollten Urkunden und
211
212 Prophet Daniel

Rundscheibe aus der Klosterkirche von Hauterive (FR), 2. Viertel 14. Jh.


Schweizerisches Landesmuseum Zürich, LM 12796
In der Masse gefärbte, bemalte Flachgläser und Blei, Durchmesser
33,7 cm

Die heute zu einer Rundscheibe zusammengefügten Halb- fragmentes noch gut sichtbar. An ihrem angestammten Ort
medaillons stammen aus einem Chorfenster der Kirche in der Klosterkirche durchschnitt aber der noch viel breitere
von Hauterive. Im Chor dieser Zisterzienserkirche wurde schwarze Balken der eisernen Armatur den Schriftzug, was
die Vita Christi im Achsfenster von Aposteldarstellungen das Lesen der Inschrift noch schwieriger machte. Dass die
flankiert, die auf rechteckigen Glasscheiben Platz fanden. Je Lesbarkeit von Inschriften gerade bei Prophetendarstellun-
nach Position im Fenster wurden diese Apostelfiguren oben gen oft nicht im Vordergrund stand, beweisen Figuren mit
und/oder unten von einem horizontal geteilten Halbmedail- Spruchbändern, auf denen ›fingierte‹ Texte stehen, das heißt
lon flankiert, das die Hälfte einer Prophetenbüste zeigt. Aus auf denen Buchstaben aneinandergereiht sind, die zwar als
zwei solchen Medaillonhälften setzt sich die Danielsscheibe Schrift identifiziert werden können und sollen, aber keinen
zusammen. Sinn ergeben (zum Beispiel die Propheten des Wurzel-Jesse-
Wie bei den meisten frühen Inschriften auf Glasfenstern sind Fensters im Berner Münster).
die Buchstaben des Schriftzuges, den der Prophet auf seinem Die Präsenz der leuchtenden Schrift dient in der Daniels-
Schriftband vorzeigt, aus einer opaken Schwarzlotschicht scheibe also nicht in erster Linie der Identifizierung, sie
ausgeschabt. Der Schriftzug leuchtet somit vor dem dunklen charakterisiert vielmehr den Dargestellten als Propheten
Hintergrund auf, was ihm im buchstäblichen Sinne eine Aura und verleiht ihm Würde und Ansehen. Was einen alttesta-
verleiht. Durch diesen technischen Kunstgriff konnte die mentlichen Seher ausmacht, ist ja nicht etwa seine äußerliche
transzendente Dimension, welche die Schrift als Medium der Erscheinung, welche das Bild wiedergibt, sondern in erster
göttlichen Offenbarung in der christlichen Religion besitzt, Linie sein privilegierter Umgang mit Sprache und Schrift in
im Bild anschaulich dargestellt werden. der Funktion als Sprachrohr Gottes. Die Inschrift bezeichnet
Die Inschrift lautet TANIEL PROFETA. Ihr bloß identi- den dargestellten Propheten als einen ins Schriftgeheimnis
fizierender Inhalt steht aber wohl nicht im Vordergrund, Eingeweihten. Die Bildfigur selbst lenkt durch ihren Zeige-
wichtiger ist die reine Präsenz der leuchtenden Buchstaben. gestus von ihrer eigenen Darstellung ab auf das Wesentliche,
Die Inschrift war in der Kirche von Hauterive aus verschie- nämlich auf die Schrift, die hier für die im Medium der
denen Gründen nämlich kaum zu entziffern. Der Schriftzug Sprache offenbarte Prophetie steht.
ist nicht nur sehr klein, er war auch in einem hoch über dem
literatur: Beer (1965) – Schneider (1970) – Parello (2004).
Boden gelegenen Fenster angebracht. Die Prophetendarstel-
lungen und ihre Inschriften sind zudem aus zwei verschie-
denen Glasscheiben zusammengesetzt: Die Scheibengrenze christine hediger

ist in der horizontalen kontinuierlichen Bleilinie des Daniel-


213
214 Christus mit den Zürcher Stadtheiligen
Felix, Regula und Exuperantius

Doppelscheibe aus der Kirche von Maschwanden (ZH), 1506


Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Dep. 579a und b
In der Masse gefärbte, bemalte Flachgläser und Blei, je 97,5 × 52 cm

Auf den vorliegenden Glasscheiben wird die Schrift in erster Eine der beiden Inschriften auf dem Maschwander Schei-
Linie der hohen Wertschätzung wegen eingesetzt, die sie im benpaar windet sich als langes Schriftband um die rahmende
Christentum als Medium der göttlichen Offenbarung be- Astarkade und lautet: Venite b(e)n(edi)cti patris mei . perci-
sitzt. Unabhängig von ihrem Inhalt dient bereits ihre bloße pite regnum . celo 1506. Das Bibelzitat aus Mt 25,34 zeichnet
Präsenz der Legitimation des Bildes, welches im Mittelal- die Heiligen als Selige aus, die beim Jüngsten Gericht auf der
ter vielen Christen grundsätzlich suspekt war. Zahlreiche Seite der Gerechten stehen werden. Daneben autorisiert es
mittelalterliche Theologen kritisierten, Bilder würden sich durch den Rückbezug auf die Heilige Schrift die bildliche
allzu einseitig nur an die Sinne wenden, bloß die Augenlust Darstellung einer an sich ahistorischen und durch keinen
befriedigen und – anders als die heiligen Texte – keine tiefer Text direkt bezeugten Begebenheit, nämlich der Begegnung
gehende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Inhalt aus- zwischen Christus und den drei Märtyrern.
lösen. Kurz und prägnant hat dies Agobard in seinem Liber Der in den Saum des heiligen Exuperantius eingewobene
de imaginibus sanctorum formuliert: »Es (das Bild) besitzt Schriftzug SAN EXUPERAN führt seinerseits in seiner
kein Leben, kein Gefühl, keinen Verstand. Es ist bloß Nah- fiktiven Materialität das in der mittelalterlichen Literatur
rung für das Auge, nicht für den Geist. Man soll Gott aber oft benutzte Bild vom ›Text‹ als Gewebe (lat. textum) vor
mit dem Geiste lobpreisen« (Agobard, Liber de imaginibus (vgl. S. 312). Die Schrift ist hier kein bloß hinzugefügtes
sanctorum c. 31, PL 104, 225). Einzig in seiner Funktion als Element, sondern sie besetzt direkt den dargestellten Körper
scriptura laicorum, als Übersetzung der Heiligen Schrift in beziehungsweise dessen Kleidung. Sie identifiziert somit
ein Medium, das auch denen zugänglich ist, die nicht lesen nicht nur den am wenigsten bekannten der drei Heiligen,
können, war es tolerierbar. Bilderfreundliche Theologen sondern führt auch bildhaft vor Augen, worin gemäß den
haben denn auch das ganze Mittelalter über den Begriff der Theologen das christliche Bild seine alleinige Existenzbe-
scriptura laicorum immer wieder bemüht, wenn es darum rechtigung findet, nämlich in der getreuen Verkörperung
ging, das Bild als christliches Medium gegen Bilderkritiker der (Heiligen) Schrift.
zu verteidigen. Exemplarisch dafür ist die Formulierung
literatur: Lehmann (1926) – Schneider (1970).
Gregors des Großen in seinem berühmten Brief an Serenus:
»Was die Schrift für die Lesekundigen, das sind die Bilder für
die nicht Lesekundigen, die in diesen sehen, was sie befolgen christine hediger

sollen; denn in ihnen lesen sie, was sie in den Büchern nicht
lesen können« (Registrum Epistolarum, Epistola XI, 10,
CSEL 140A, 874).
215
216 Stifterscheibe des Johannes Heggenzi
von Wasserstelz

Doppelscheibe mit Stifter und Darstellung des heiligen Johannes des


Täufers aus der Kirche von Wald (ZH), 1508
Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Dep. 20 und 21
In der Masse gefärbte, bemalte Flachgläser und Blei, 78,7 × 36,4 cm
(Stifterscheibe), 78,8 × 36,7 cm (Johannesscheibe)

Im Unterschied zu vielen Inschriften in Glasfenstern, die Wald, einer Besitzung des Ritterhauses Bubikon, steuerte er
ihre Hauptfunktion auch erfüllen, wenn sie nicht entziffert 1509 275 Pfund bei (Staatsarchiv Zürich, Regest des Kirchge-
werden können (vgl. S. 212 und 214) sind Stifterinschriften meindearchivs Wald, Urkunde vom 10. Jan. 1509). Bereits ein
grundsätzlich auf Lesbarkeit hin angelegt. Nur wenn sie Jahr zuvor, nämlich 1508, hatte er die Glasscheiben, die ihn
lesbar sind, können sie die eindeutige Identifizierung des kniend in voller Waffenrüstung vor dem heiligen Johannes
Stifters gewährleisten und dafür sorgen, dass die Erinnerung zeigen, für die Chorfenster derselben Kirche gestiftet. Ob-
an seine Person auch dann erhalten bleibt, wenn die orale wohl konkrete Quellenbelege dafür fehlen, darf man davon
Tradition einmal abbrechen sollte. Wohl auch aus diesem ausgehen, dass in der Pfarrkirche von Wald dem Wohltäter
Grund wurden Stifterinschriften meist am unteren Rand und ehemaligen Komtur regelmäßig gedacht und für sein
der Fenster platziert, wo sie für den Betrachter leichter zu Seelenheil gebetet wurde.
entziffern sind. Über die Identifizierung hinaus haben die Die Inschrift Her johans hegenzi. Obriste meister jn tütsche
Inschriften wie das Stifterbild die Funktion, den Betrachter landen. S. Joha(n)sorden. 1508 erinnert an die Großzügig-
zum Fürbittegebet für den Dargestellten beziehungsweise keit des Johannes Heggenzi und an die daraus resultierende
den Genannten aufzurufen. Verpflichtung der Kirchgänger von Wald, für den Wohltäter
Stifterscheiben stehen meist im Zusammenhang mit umfang- zu beten. Die Inschrift entfaltete erst bei der Befolgung der
reicheren Stiftungen, zu denen auch Messen am Todestag des impliziten Handlungsanweisung, d. h. im praktischen Voll-
Verstorbenen gehören, während denen sein Name verlesen zug des Fürbittegebets der Gläubigen und in der Liturgie,
und um sein Seelenheil gebetet wird. Der Stifter des vorlie- ihre ganze Macht und Aura.
genden Scheibenpaares, Johannes Heggenzi von Wasserstelz,
literatur: Lehmann (1926) – Schneider (1970).
stammt aus einem Schaffhauser Adelsgeschlecht, das sich
nach ihren Wasserburgen Schwarz- und Weisswasserstelz
im Rhein bei Kaiserstuhl (AG) von Wasserstelz nannte. christine hediger

Johannes machte innerhalb des Johanniterordens eine steile


Karriere und bekleidete ab 1505 bis zu seinem Tod im Jahre
1512 das Amt des deutschen Großpriors. Im Zusammenhang
mit diesem Amt stand er ab 1505 auch den Schweizer Nieder-
lassungen von Leuggern-Klingnau, Wädenswil und Bubikon
als Komtur vor. An den Chorneubau der Pfarrkirche von
217
218 Stifterscheibe des Andreas Gubelmann

Doppelscheibe mit Stifter und Darstellung der heiligen Agatha aus der
Kirche von Bubikon (ZH) 1498
Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Dep. 19 und 18
In der Masse gefärbte, bemalte Flachgläser und Blei, 72,8 × 34,6 cm (Stif-
ter), 73,4 × 33,8 cm (Heiligenscheibe)

Kopie der Stifterscheibe von Johann Martin Usteri (1763–1827)


Schweizerisches Landesmuseum Zürich, COL-5400-AG-12313
Aquarellierte Federzeichnung, 14,4 × 7,1 cm (Bild), 53 × 39 cm (Blatt)

Die Schrift dient auch auf dieser Stifterscheibe zunächst einmal Obwohl sonstige Quellenbelege dafür fehlen, dass der Kom-
der Identifizierung des Dargestellten. Andreas Gubelmann tur Gubelmann in der Kirche von Bubikon ein liturgisches
gehörte dem Johanniterorden an und war Seelgerätmeister in Gedenken an seinem Todestage einrichtete, so deutet die
Bubikon, bevor er Komtur von Küsnacht wurde. Um 1498 Inschrift der Scheibe doch darauf hin, dass genau dies ge-
stiftete er in die Kirche der Niederlassung von Bubikon, dem schah. Anders als die bloß identifizierende Inschrift der Heg-
ältesten und wichtigsten Ritterhaus der Schweiz, zwei Schei- genzischeibe enthält der Schriftzug der Gubelmannscheibe
ben, die ihn im Gebet vor der heiligen Agatha zeigen. Die eine Fürbitte, aus der hervorgeht, dass der Hauptzweck der
Inschrift auf dem Schriftband, welches das Haupt des Ritters Scheibenstiftung in der Tat die Erlangung des Seelenheils für
rahmt, lautet O.sancta.agatha.ora.p(ro).me.andrea.gubelman. den Johanniter war. Konkret wird der Vollzug der Fürbitte
com(m)endatori.in.Küssnach.1498. Die bildliche Darstellung durch die Formulierung der Inschrift bereits vorgegeben.
mit der expliziten Inschrift sichert die Erinnerung an die Der Schriftzug verfolgt so das Ziel, auch außerhalb der
Person des Stifters und ruft die gläubigen Betrachter zum Liturgie sozusagen ›automatisch‹ Fürbittegebete für den
Fürbittegebet für den Verstorbenen auf. Viel unmittelbarer Stifter zu generieren.
als im Fall der Stifterscheibe des Johannes Heggenzi (vgl.
literatur: Lehmann (1926) – Schneider (1970) – Rüdisühli (1994).
S. 216) konditioniert die Formulierung in diesem Beispiel
auf raffinierte Weise die Sprechhandlung der Fürbitte, zu
welcher der Betrachter aufgefordert ist. Wird die Inschrift christine hediger

nämlich laut gelesen, wovon im Mittelalter auszugehen ist, so


leiht der Betrachter beziehungsweise Leser dem dargestellten
Stifter seine Stimme und spricht an seiner Stelle das in der
ersten Person Singular formulierte Fürbittegebet, das an die
daneben dargestellte heilige Agatha gerichtet ist: »Oh Heilige
Agatha, bitte für mich!«. Der Leser führt somit unweigerlich
diejenige Handlung aus, zu der ihn das Bild und die Inschrift
motivieren wollten.
219
220 Bilderrolle mit heilsgeschichtlichem
Stammbaum

Frankreich oder Niederlande, 1430–1450


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. 193
Pergament, 270 × 27 cm

Die vor dem Codex übliche Buchrolle überlebte für spezielle Symbole als Zeichen der typologischen Verbindung von Al-
Zwecke (Exultet- und Torarollen, Familienstammbäume). tem und Neuem Testament und der Überleitung zur Jetztzeit
Ms. Rh. 193 ist ein heilsgeschichtlicher Stammbaum, von der Entstehung der Buchrolle. Die doppelt rot umkreisten
Adam und Eva reicht er über zwei Meter und siebzig Medaillons, die die Namen des Stammbaums einschließen,
Zentimeter bis zur Geburt Jesu. So wird auch in der Länge sind auch in Handschriften von Chroniken und der Bible
die nicht erfassbare Größe der Heilsgeschichte vor Augen moralisée zu finden; sie gehören zum Instrumentarium
geführt. der Typologie. Die Bildmedaillons setzen Akzente in der
Die eindrückliche, bebilderte Genealogie ist in sechs Weltal- Heilsgeschichte, die auch in Parallele mit der Weltgeschichte
ter gegliedert, von Adam bis Noah, von Noah bis Abraham, gesetzt wird: der Sündenfall, Kain und Abel, Noah, Abraham
weiter bis David, bis zur Babylonischen Gefangenschaft, und Isaak, Moses, David, Ezechias, Alexander der Große,
während das fünfte Weltalter bis zu Christus reicht und die Geburt Jesu.
das sechste bis zum Ende der Welt, usque finem mundi, wie Wann die Rolle in die Bibliothek des Benediktinerkloster
es im zweiten Text auf der linken Seite steht. Die biblische Rheinau gelangte, ist noch unklar; die Signatur Ms. Rh. 193
Grundlage bildet der Liber generationis in Mt 1,1–17, und ist nicht im Katalog von Pater Basilius Germann (1727–1794)
Lk 3,23–38. Die Genealogie der Rolle folgt dem scholasti- enthalten. Die Nähe zum Speculum humane salvationis, Ein-
schen Theologen Petrus von Poitiers (um 1130 bis 1205). In siedeln Codex 206 (vgl. S. 300), lässt vermuten, dass die Rolle
Zürich darf ein interessantes Detail nicht unerwähnt bleiben: im französisch-niederländischen Gebiet lokalisiert und in die
Ulrich Zwingli III., der Enkel des Reformators, gab die Ge- Zeit zwischen 1430 und 1450 datiert werden kann. Die hohe
nealogie des Petrus von Poitiers 1592 in Basel heraus. Qualität der Bildmedaillons und die Eleganz der Figuren
Das Ganze wird überfangen vom siebenarmigen Leuchter scheint jedoch eher auf eine Herkunft aus Frankreich, wenn
nach dem Vorbild desjenigen in der Stiftshütte. Der erste nicht aus Paris zu deuten.
Text Tres calami auf der linken Seite nimmt den Kommentar
literatur: M. Petri Pictaviensis Galli (1592) – Deutsche Bibelauszüge des
des Hrabanus Maurus auf und deutet die sieben Lampen des
Mittelalters (1931) – von Euw/Plotzek (1982) – Magister Petrus Pictavi-
Leuchters als das Zusammenfügen der Zeit vor und nach
ensis Genealogia Christi (2000).
der Inkarnation Christi (PL 108, 151) und als die dona Spi-
ritus sancti (PL 108, 635), die sieben Gaben des hl. Geistes christoph eggenberger

(Weisheit, Verstand, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit,


Gottesfurcht). Aus den alttestamentlichen Ölgefäßen aus
Gold sind Kannen und Kelche geworden, eucharistische
221
222 Torarolle

Elsass oder Süddeutschland (?), 17. Jh.


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 181
Pergament, 68 × ca. 3000 cm

Die Tora, hebräisch Weisung, ist die Bezeichnung für die fünf geschrieben; allein die verschiedenen Abstände markieren
Bücher Mose. Die Tora ist in 54 Leseabschnitte eingeteilt den Anfang von Leseabschnitt, Kapitel oder Buch. Sprach-
und wird im synagogalen Gottesdienst im Laufe eines Jahres liche Eigenheiten wie Reime finden jedoch ihren Ausdruck
vorgelesen beziehungsweise gesungen. Der Zyklus endet und in spezieller Gestaltung: Die Abbildung zeigt das Mirjamlied
beginnt mit dem Fest Torafreude, Simcha Tora, an dem die Ex 15,1–15.
Rolle in einer Prozession durch die Synagoge getragen wird. Neben dem Textblock ist auf der visuellen Ebene die Schrift
Zur liturgischen Verwendung darf die Tora nur in Rollen- festgelegt: nur die Quadratschrift darf verwendet werden
form und auf Pergament geschrieben verwendet werden; ihre und die minimale Verzierung, die Tagin, Krönchen, sind
Herstellung unterliegt in materieller und visueller Hinsicht ebenfalls vorgegeben.
strengen Bestimmungen. Die Tora ist in der jüdischen Tradi- Schließlich verlangt die Autorität der Tora auch hohe Anfor-
tion das offenbarte Gotteswort und die Autorität schlechthin, derungen an den Schreiber: Ein glaubenstreuer Mann soll er
auf der alle weiteren religiösen Texte letztlich basieren. Wäh- sein und körperlich makellos. Er muss nicht nur das Schrei-
rend Text und Melodie durch die Masora festgehalten sind, berhandwerk perfekt beherrschen, sondern das Geschriebene
werden materielle und visuelle Aspekte im Traktat Sofrim, auch verstehen. Diese letzte Vorschrift hat – wie viele andere
Schreiber, erwähnt: Nur die Haut der zum Genuss erlaub- auch – nicht nur eine spirituelle Dimension, sondern auch
ten Tiere darf verwendet werden, also beispielsweise von eine praktische: Es entstehen weniger Fehler.
Rindern, Schafen oder Ziegen. Das Pergament muss neben Die sorgfältig hergestellte Tora verlangt höchste Aufmerk-
Salz und Mehl zudem mit Galläpfeln behandelt werden. Für samkeit im synagogalen Gottesdienst. Als Repräsentantin
die Nähte sind ausschließlich Sehnen zu verwenden und die der Offenbarung Gottes genießt sie eine Verehrung wie eine
Stiche sind ebenfalls genau definiert. Auf der visuellen Ebene Königin. Sie trägt eine Krone, einen prächtig verzierten Man-
ist einerseits die Gestaltung der Textblöcke definiert, vorerst tel und Silberschmuck. Diese Insignien stehen im Gegensatz
der Abstand von zwei Fingern zwischen den Kolonnen und zur Nüchternheit der Textgestaltung. Beiden Traditionen
einer Faustlänge vom unteren resp. zwei Drittel davon vom liegt jedoch dasselbe Anliegen zu Grund: die Ehrfurcht vor
oberen Rand. Festgelegt ist auch die Anzahl von drei bis acht der Heiligkeit der Tora.
Kolonnen pro Blatt, die Abstände der Bücher, der Zeilen und
der einzelnen Buchstaben voneinander. Dabei geht es nicht olivia franz-klauser

um strenge kalligraphische Vorgaben, sondern um die Gestal-


tung eines gut les- bzw. singbaren Textes, dessen graphische
Anordnung den rituellen Gebrauch nicht erschweren soll.
Der Text wird ohne Kapitel und Versangaben fortlaufend
223
224 Estherrolle

Europa (?), um 1750


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Heid. 210, hier: Est 9,7–9
Fünf zusammengenähte Pergamentblätter mit Holzgriff, 162 cm × 9,8 cm

Im biblischen Buch Esther wird die Rettung des jüdischen erklärt, man dürfe sie im Gegensatz zur Tora auch sitzend
Volkes durch die mutige Königin Esther erzählt. Die Ge- vortragen, sie jedoch weder in verkehrter Reihenfolge lesen
schichte spielt am Hof des persischen Königs Ahasweros noch auswendig rezitieren (Mischna Megilla 2,1). Die Ver-
im 5. Jahrhundert v. Chr. Haman, ein Günstling des Königs, pflichtung, den Text auch wirklich zu lesen, unterstreicht
plante die Juden im ganzen persischen Reich auszurotten seine Autorität. In Rücksicht auf die Situation der Diaspora
und bestimmte hierzu das Datum durch das Los, hebr. Pur, wird Ausländern erlaubt, die Rolle auch in einer Fremdspra-
das auf den 14. Adar des jüdischen Kalenders fiel. Als Esther che zu lesen; der Text soll nicht nur gelesen, sondern auch
von diesem Plan hörte, gab sie sich ihrem Ehemann als Jüdin verstanden werden.
zu erkennen und erreichte durch geschickte Diplomatie in Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts verzierte man Esther-
Zusammenarbeit mit ihrem Onkel Mordechai die Rettung rollen für den häuslichen Gebrauch mit Illustrationen zur
ihres Volkes. Statt der Juden wurde am 14. Adar Haman samt Geschichte: In der oberen Bildhälfte ist der König zu sehen,
seinen zehn Söhnen umgebracht. der Esther das goldene Szepter entgegenhält zum Zeichen,
Verfasst wurde das Buch Esther im 2. Jahrhundert v. Chr., dass sie zur Audienz empfangen wird. Weiter links steht ein
als sich das Judentum durch den Hellenismus bedroht sah. Galgen, an dem Mordechai hätte erhängt werden sollen, weil
Auch in späteren Jahrhunderten wurde die Bewahrung vor er Haman nicht mit Kniefall gegrüßt hatte. Daneben ist der
Verfolgung immer wieder als Aktualisierung der Estherge- schlaflos im Bett liegende König dargestellt.
schichte interpretiert. Der Sieg über Haman, den Prototypen Die Textstelle Est 9,7–9, in der die zehn Söhne Hamans
des Antisemiten, wird bis heute am Purimfest gefeiert. Das aufgezählt werden (s. Abb. unten), ist immer visuell hervor-
Festdatum fällt in die Fastnachtszeit, was die Entstehung gehoben – meist durch größere Schrift – da die Namen in
von karnevalähnlichen Bräuchen erklärt. Jüdische Kinder einem Atemzug gelesen werden müssen (Babylonischer Tal-
verkleiden sich gerne als Esther oder Mordechai. Purim ist mud, Megilla 16b); diese Vorschrift wird auch dahingehend
das ausgelassenste Fest im jüdischen Jahreszyklus, wobei interpretiert, dass der Untergang der Feinde kein Anlass
jedoch gemahnt wird, sich nicht über das Schicksal Hamans zur Freude ist. Die Textgestaltung folgt hier den rituellen
zu freuen. Der Talmud gestattet, so viel Wein zu trinken, bis Vorschriften und nützt diese zugleich zur kalligraphischen
man nicht mehr weiß, ob Mordechai gesegnet und Haman Visualisierung des Gesetzes.
verflucht sein soll oder umgekehrt (Babylonischer Talmud,
literatur: Die Mischna (2002).
Megilla 7b).
Die kultischen Vorschriften für das Purimfest sind unter olivia franz-klauser

anderem im Mischnatraktat Megilla festgehalten. So wird


beispielsweise zur Pflicht, an Purim die Estherrolle zu lesen,
225
226 Miniaturkoran in Blechbüchse

16. Jh.
Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 117 fol. 1r
Oktagonformat, Durchmesser 3,6 cm

Nach koranischer Auffassung offenbart sich Gott den Men- auch Sure 1 (jetzt verloren) auf einer aufwändig gestalteten
schen über ein Buch. Hinter diesem Bild steckt eine tiefe Prachtseite stand.
Vertrautheit mit der alten Welt der Handschriften. Wie ein Die reiche Ausstattung des Miniaturkorans spiegelt dessen
Autor sein Buch in einer Schreibstube vervielfältigen lässt, in Bedeutung sowie literarische Einzigartigkeit wider und deu-
der es ein Vorleser mehreren Schreibern diktiert, so befiehlt tet die in ihm verborgene geistliche Kraft an: Er ist winzig
Gott dem Erzengel Gabriel, sein himmlisches Urbuch den klein und steckt in einem schmucklosen Blechdöschen, doch
Propheten – von Moses über David und Jesus bis zu Mo- wer ihn als Amulett oder Statussymbol an einer Silberkette
hammed – vorzulesen. Und diese Propheten geben es den um den Hals trägt oder an die Spitze einer militärischen
Menschen weiter. Die Analogie geht sogar noch weiter. In der Fahne steckt, kann nicht besiegt werden – dies in Kürze die
Schreibstube wird die Richtigkeit der Abschrift überprüft, Botschaft.
aber mit jeder späteren Abschrift nehmen die Fehler zu: Je
literatur: Nünlist (2008).
weiter eine Abschrift vom Original entfernt ist, umso mehr
Abschreibefehler enthält sie. Daher der Vorwurf, dass die andreas kaplony

älteren Offenbarungen der Juden und Christen verfälscht


seien, während der arabische Koran, wörtlich »die Lesung«
des letzten Propheten, Mohammeds, unverfälscht sei. Nicht
in das Bild passt allerdings, dass Mohammed seine Offenba-
rung nicht selber aufschreibt, sondern zuerst nur mündlich
weitergibt.
Anders als die Bibel ist der Koran also nicht nur ein (Of-
fenbarungs-)Text – einer späteren Theorie zufolge sogar
ein literarisch ›unvergleichlicher‹ Text –, sondern ganz
grundsätzlich auch ein Buch. Dies zeigt der mit Lücken
erhaltene osmanische Miniaturkoran, vermutlich aus dem
16. Jahrhundert, sehr schön. Wenngleich er mikroskopisch
klein geschrieben ist, ist der arabische Text doch vollständig
vokalisiert. Ein gold-schwarz-blau-schwarzer Rahmen ziert
jedes Blatt, die einzelnen Verse sind mit goldenen Pünkt-
chen voneinander getrennt. Das Blatt mit dem Anfang von
Sure 2 ist prächtig verziert, und wir müssen annehmen, dass
227
228 Amulettrolle mit Kapsel

Osmanisches Reich, wohl 19. Jh.


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 20
Papier, 4 × 300 cm

Der Islam kennt im eigentlichen Sinne nur ›einen‹ heiligen heimnisvollen Buchstaben‹ am Anfang gewisser Suren im
Text – und nur ›ein‹ heiliges Buch, den Koran. Doch daneben Koran eingenommen. In der zweiten Hälfte finden wir, in
haben die Fatiha (Sure 1) und einzelne Verse wie der Thron- sehr kleiner Schrift, das ›Mantelgedicht‹, ein Lobgedicht auf
vers (Sure 2, Vers 255) und der Lichtvers (Sure 24, Vers 35) Mohammed. In einem Punkt allerdings unterscheiden sich
ein Eigenleben entwickelt: Ihnen wird eine ganz besondere die Amulettrollen unmissverständlich von Koranexemplaren:
Segenskraft zugeschrieben. Es sind Rollen, keine Bücher.
Diese Koranverse werden, zusammen mit einer Anzahl
literatur: Nünlist (2008).
weiterer Formeln, zu einer alternativen Textsorte heiliger
Texte kombiniert, nämlich – zu Amuletten. Wie der ganze andreas kaplony

Korantext können auch Amulette allein durch ihren heili-


gen Text wirken, können aber auch, wie diese osmanische
Amulettrolle aus dem 19. Jahrhundert, zusätzlich reich mit
Gold und Farben verziert sein. Die ›Farbenpracht‹ veran-
schaulicht die verborgene Kraft des Textes, denn Farben und
Text wirken verborgen in der (möglicherweise originalen)
Holzkapsel. Zusätzlich zu dieser visuellen Aussage kommt
die Ausstrahlung der arabischen Sprache – die von einer
ganz besonderen Aura umgebene Sprache des Korans und
der religiösen Sphäre. Im Osmanischen Reich sprachen die
Gebildeten aber auch Persisch, die Sprache der Literatur,
und Türkisch, die Sprache des Alltags.
Charakteristisch ist, dass solche Amulettrollen immer ›aus
Einzelteilen zusammengesetzt‹ sind. Nicht die Gesamtkom-
position steht im Vordergrund, sondern die Einzelteile. Auf
der Zürcher Amulettrolle fallen die raffiniert angeordneten
geometrischen Elemente auf (Kreise, Salomonssiegel und
Rechtecke). Ihre Vielfältigkeit wird überdies durch 14
farbige Felder betont. Die erste Hälfte der Rolle wird von
Gebeten und Anrufungen, den ›Schönen Namen‹ Gottes,
den besonderen Eigenschaften Mohammeds und den ›Ge-
229
230 Reichenauer Verbrüderungsbuch

Kloster Reichenau, 9.–16. Jh.


Zentralbibliothek Zürich, MsRh. hist. 27, hier fol. 62v/63r
Pergament/Papier, 28,5 × 20,5 cm

Das Verbrüderungsbuch des Klosters Reichenau dokumen- verzeichnet waren. Im Reichenauer Verbrüderungsbuch
tiert die mittelalterliche Gepflogenheit der Gebetsverbrüde- hingegen herrscht ein verwirrendes Durcheinander zahlloser
rung, eine vertragliche Vereinbarung mit anderen Klöstern, Namen. Aufgrund der Schwierigkeit, Tusche von Pergament
einzelnen Geistlichen und Laien, einander im Gebet zu zu entfernen, schien eine ›doppelte Buchführung‹ und somit
gedenken. Die Namen der in die Fürbitte Aufgenommenen die Aktualisierung des Buches nicht möglich. Deswegen
wurden ausgetauscht und in Verbrüderungsbüchern (libri ist anzunehmen, dass es mit der Zeit als Gedenkliste zu
vitae) verzeichnet, entweder durch Abschrift von Listen unhandlich wurde.
oder im Diktat. Der im frühen 9. Jahrhundert begonnene Die Bedeutung des Verbrüderungsbuchs muss also im
Reichenauer Codex war mehrere Jahrhunderte in Gebrauch Schnittpunkt von Materialität und Performanz und in
und hat über 38’000 Namenslexeme aufgenommen. Zu Be- der Vermittlung zwischen der irdischen Gegenwart und
ginn erfolgten die Einträge nach einem auf den ersten Seiten himmlisch-eschatologischen Perspektiven gesucht werden.
verzeichneten Plan, doch im Laufe der Zeit wurden die ein- Es wird angenommen, dass das Buch während der Messe
zelnen Blätter immer wieder beschrieben. Seitenränder und auf dem Altar lag und der Priester lediglich darauf verwies.
andere Leerräume wurden genutzt, um neue Einzelnamen Die präsenzstiftende Funktion von Schrift ist auch an der
und Namensgruppen einzutragen. Die sukzessive Entste- beschrifteten Altarplatte von Niederzell erkennbar, wo die
hung ist auch am Schriftträger selbst zu sehen: Der älteste Inschriften (10./11. Jahrhundert) so nah wie möglich am Ort
Teil besteht aus Kalbspergament, die Erweiterung aus dem der Eucharistie angebracht sind. Allein durch die Nähe von
10. Jahrhundert aus Schafspergament und ein vom 14. bis geschriebenen Zeichen zum Heiligen konnte Heil vermittelt
16. Jahrhundert hinzugefügter Teil sowie einzelne Ergän- werden. Auf dieselbe Weise vollzieht das Verbrüderungsbuch
zungsblätter sind aus Papier. Der heutige Einband stammt schon durch den Eintrag seine sakrale Funktion: Man er-
aus dem späten 17. Jahrhundert. hoffte sich damit einen entsprechenden himmlischen Eintrag
Gebetsverbrüderung ist Teil der memoria, der mittelalterli- im Liber vitae Gottes, wie es im Salzburger Liber confrater-
chen performativen Praxis kollektiven Gebets für Lebende nitatum heißt: »Du mögest, Herr, diejenigen, deren Namen
und Verstorbene. Im Zentrum standen dabei Gedenkbü- im liturgischen Lebensbuch aufgeschrieben sind, auch in
cher wie das Reichenauer Verbrüderungsbuch, die in der deinem himmlischen Lebensbuch aufschreiben«.
Nachfolge der Tradition des diptychon stehen. Diese zwei
literatur:
Oexle (1976) – Authenrieth et al. (1979) – Angenendt (1984) –
miteinander verbundenen, zusammenklappbaren Wachsta-
Schmenk (2003).
feln mit eingeritzten Namen dienten dem Priester während
der Messe als Gedankenstütze, wobei auf einer der beiden kate heslop/ellen e. peters

Tafeln die Lebenden, auf der anderen die Verstorbenen


231
232 Jahrzeitbuch

Pfarrkirche St. Andreas in Uster, 1469–1473


Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 1, hier fol. 42r
Pergament, 47 × 34 cm

In Jahrzeitbüchern wurden seit dem Spätmittelalter nach Aktualisierung und Demonstration von Herrschaft dar, die
kalendarischem Prinzip die Namen von Verstorbenen ver- gewissermaßen von kirchlicher Seite und damit von Gott
zeichnet, die einem Kloster oder einer Kirche Stiftungen sanktioniert wurde. Um das ›alte Herkommen‹ des Ge-
gemacht hatten. Als Gegenleistung sollte an ihrem Todestag schlechts und damit die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft
›auf ewige Zeiten‹ für ihr Seelenheil gebetet werden. Die zu verdeutlichen, heißt es etwa im Vorspann des Ustermer
Höhe der Stiftungen war nicht festgelegt; sie reichen von Jahrzeitbuchs, dass bereits bei der Kirchengründung, angeb-
einer Handvoll Kernen (Getreide) als jährlichem Zins bis lich im Jahr 1099, ein Altar über dem Grab eines Herrn von
hin zu ganzen Altären, Pfründen und kostbaren liturgischen Landenberg errichtet worden sei. Tatsächlich aber existierte
Geräten. Die Einkünfte kamen meist dem Pfarrer, dem Kir- ein Geschlecht dieses Namens zu diesem Zeitpunkt noch
chenbau und den ›Armen‹ zugute, denen auf dem Stiftergrab nicht, und die Landenberger kamen erst Jahrhunderte später
Geld, Brot oder Wein ausgeteilt wurde, damit auch sie sich in den Besitz der Kirche Uster.
an der Fürbitte beteiligten. Jahrzeiten also erzählen die – bisweilen weitgehend fiktive –
Das Jahrzeitbuch von Uster gilt als das schönste der deutsch- Geschichte von Kirche und Herrschaft. Den versammelten
sprachigen Schweiz. Den Namen vornehmer Stifter wie der Kirchgenossen wurde so alljährlich ihre Herrschaftszuge-
Herren von Landenberg (Abbildung) sind hier kunstvoll hörigkeit und ihre Position im sozialen Gefüge zu Ohren
ausgeführte Wappen beigegeben. Die Wappen haben neben gebracht. Wenn man in Uster noch im 15. Jahrhundert die
ihrer symbolisch-repräsentativen Bedeutung auch eine Ver- Jahrzeit des 1386 bei Sempach gefallenen Herzogs Leopold
weisfunktion: Zum einen verweisen sie innerhalb des Buchs beging und damit weiterhin Loyalität zum habsburgischen
vom Kalendereintrag auf die Stiftungsbestimmungen im Landesherrn bewies, oder wenn man auf Anordnung der
Anhang, denen ein entsprechendes Wappen beigefügt ist – ein Zürcher Stadtregierung in einer feierlichen Schlachtjahrzeit
mittelalterlicher Vorgänger des ›Hyperlinks‹. Zum anderen der Besatzung von Greifensee gedachte, die im Alten Zü-
nehmen die Wappen Bezug auf den sakralen Raum. Denn in richkrieg 1444 massakriert worden war, wurde aber auch das
der Kirche und auf dem Friedhof sind die Wappen der Stif- Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung geprägt.
ter allgegenwärtig, sei es auf Grabsteinen, Wappenscheiben
literatur: Hegi (1922) – Kläui (1964) – Schuler (1987) – Schmid (2005) –
(vgl. S. 216 und 218), Wandgemälden, Altarbildern oder auf
Zimmermann (2006).
gestifteten Messgewändern und -kelchen.
Die Wappen als Herrschaftszeichen deuten ferner noch rainer hugener

auf einen weiteren, bislang kaum beachteten Aspekt des


Jahrzeitgedenkens: Die alljährliche Verkündigung der Stif-
tungen, vornehmlich der Herren, stellte auch eine Form der
233
234 Privilegierung mit Stadtrecht

Miniatur aus Der statt Arouw nüwe Ordnung und Satzungen wie hernach
volgett, um 1510
Stadtarchiv Aarau, StAAa II, 1, fol. 32v (hier Ausschnitt)
Pergament, 27 × 38 cm

Im Rechtsleben kleiner Städte spielen Stadtrechtsprivilegien gen Aarauer Bürger eine Urkunde, deren besondere Bedeu-
eine besondere Rolle. Als herrschaftliche Fixierungen von tung durch drei große anhängende Siegel herausgehoben
Stadtstatus und bürgerlichen Rechten, die zur Legitimation wird. Der Bürger von Aarau ist zwar offensichtlich in der
städtischer Ansprüche herangezogen werden konnten, wer- Position des Beherrschten, wird aber durch seine Kleidung
den sie sorgsam bewahrt, vor allem in unruhigen Zeiten immer in den Stadtfarben schwarz und weiß sowie ein Schwert, das
wieder abgeschrieben und damit aktualisiert. Die Pergament- auf Wehrfähigkeit hinweist, als Würdenträger charakterisiert.
handschrift aus Aarau, die nach den Schwaben­kriegen zu Der von ihm gehaltene Schild mit dem Stadtwappen, das
Beginn des 16. Jahrhunderts stadtrechtliche Re­ge­­lungen und einen Adler darstellt, erweckt den Eindruck, als sei Aarau im
Ratsbeschlüsse zusammenträgt, lässt dies deutlich werden. 13. Jahrhundert dem König als Reichsstadt entgegengetreten.
Sie zeichnet unter anderem auch erneut das den Bürgern von In die Privilegierungsszene eingefügt ist damit allerdings ein
Aarau 1283 von König Rudolf ausgestellte Stadtrechtsprivileg erst im 15. Jahrhundert belegtes städtisches Wappen. Mit
auf, das im Wesentlichen Rechtssätze zum Geltungsgebiet des diesem wird das überkommene Siegelbild weiterentwickelt,
städtischen Rechts, zu persönlichen Vorrechten von Stadtbe- das einen wachsenden Adler über einer dreiblättrigen Linde
wohnern und Bürgern, zum Strafrecht und zum Herrschafts- (volksetymologische Interpretation: Aue des Adlers) präsen-
verhältnis festhält, wie sie zuvor bereits den Winterthurern tiert. Gleichzeitig scheint das Wappen den Anspruch der Stadt
durch Rudolf von Habsburg verbrieft worden waren. Durch auf Reichsfreiheit in Erinnerung zu rufen, den diese seit 1415
die aufwändige Gestaltung der Handschrift selbst wie auch erheben konnte, als habsburgische Landstädte im Gefolge der
durch farbig gefasste Initialen und eine Miniatur wird die Maßnahmen gegen ihren Stadtherrn, den geächteten Herzog
Abschrift als bedeutsames Schriftstück in Szene gesetzt. Friedrich, König und Reich unterstellt wurden. Wichtige
Die Miniatur stellt die Übergabe des Stadtrechtsprivilegs Momente der städtischen Geschichte aus verschiedenen
durch König Rudolf von Habsburg an einen Vertreter der Jahrhunderten zusammenführend verweist die Miniatur auf
Aarauer Bürgerschaft dar. Die bildliche Darstellung des Akts den königlich legitimierten besonderen Status der nun unter
der Privilegierung erinnert an die Herkunft des Stadtrechts bernischer Herrschaft stehenden kleinen Stadt.
und verleiht zudem dem abgeschriebenen Rechtstext eine
literatur: Merz (1925) – Boner (1979) – Stercken (1999 u. 2006) – Rau-
größere Authentizität, indem sie diesen in eine Handlung
schert (2006) – Brun (2006).
einbindet. Präsentiert wird ein Moment der Ausübung von
Herrschaft: Der König, charakterisiert durch Haartracht, martina stercken

Krone, Szepter und pelzbesetztes Gewand, überreicht in


straffer Haltung dem zu seinen Füßen knienden, barhäupti-
235
236 Zweiter Geschworener Brief

Zürich, 1373
Staatsarchiv Zürich, C I 536
Pergament, 4 Siegel an Schnüren 51 × 73,5 cm

Eine regelmäßige, gut lesbare Urkundenschrift füllt das Blatt; anderer Städte der Eidgenossenschaft lässt sich jedoch ver-
Abschnitte des Textes werden mit größeren Buchstaben muten, dass der jeweils geltende Geschworene Brief (der hier
oder einem Schrägstrich, gefolgt von zwei Punkten, gekenn- gezeigte galt bis 1393) an den Schwurtagen vorgelesen und
zeichnet. Eine rote Zierinitiale schließt den Schriftraum vom während der Eidesleistung der Bürger vom Bürgermeister
linken Rand aus, gehalten von einer gekrönten Frauengestalt sichtbar in der Hand gehalten wurde. Die Bürger schworen
in blauem, weltlichen Gewand, den Finger der Rechten zu auf den Brief als rituelles Objekt (»den Brief schwören«,
einer Zeigegeste erhoben. »In dem Lob der heiligen Drei- heißt es im Text). In der gezeigten Urkunde verbinden sich
faltigkeit«, beginnt der Zweite Geschworene Brief der Stadt damit Aspekte ritueller Schriftlichkeit – es geht um Schrift
Zürich von 1373. Vier Siegel hängen daran, das der Äbtissin als Objekt – mit einer textlichen Verwendung, die auf die
Beatrix von Wolhusen als Stadtherrin, des Probstes Werner inhaltliche Fixierung der institutionellen Ordnung durch
von Rainach, des Kapitels des Großmünsterstifts und das Schrift abzielt.
der Stadt Zürich. Die Bedeutung der Frauengestalt in der Zierinitiale ist nicht
Mit dem Zweiten Geschworenen Brief änderten die Zürcher geklärt. Zum einen wird in ihr die Äbtissin Beatrix gesehen,
Bürger in einer besonderen Versammlung die politische Ord- wofür sprechen würde, dass sie den Zweiten Geschworenen
nung, die ihnen der Ritter Rudolf Brun († 17. Juli 1360) mit Brief als (nominelle) Stadtherrin genehmigt hat. Andere
dem Ersten Geschworenen Brief (1336) hinterlassen hatte. sehen in ihr die Jungfrau Maria, was auf das blaue Gewand
Wie so oft war die Erneuerung der Institutionen aus einem gestützt werden kann. Gegen beides sprechen die weltlich-
Konflikt hervorgegangen, den sie befriedete. Die Bürger höfische Bekleidung und der politische Kontext, in dem die
schrieben auf, was sie als Ergebnis festhalten wollten: Man Urkunde zustande kam. Das Geheimnis um die Figur bleibt
beschränkte die starke Position des Bürgermeisters, die damit erhalten.
auf Rudolf Brun zugeschnitten gewesen war, und weitete
literatur: Weiß (1938) – Gilomen (1995) – Sieber (2001).
zugleich den politischen Einfluss der Zünfte auf Kosten
der Patrizier und Ritter (organisiert in der Constaffel) aus.
Neben den institutionellen Änderungen wiederholt der stefan geyer

Zweite Geschworene Brief die wesentlichen Regelungen


des Ersten, die Ausdruck der städtischen Gemeinschaft als
Schwureinung sind. Zweimal im Jahr, bei jedem Amtswech-
sel, müssen alle Bürger die bestehende Ordnung durch einen
Eid bekräftigen. Der Ablauf dieser Eidesleistungen ist für
Zürich nicht überliefert. In Anlehnung an die Schwurrituale
237
238 Verhörprotokoll

Verhörrodel zu den Rechten der Herrschaft und des Patronats über die
Kirche Hilterfingen am Thunersee, um 1312
Staatsarchiv Bern, Urkunden Stift 1318
Acht zusammengenähte, zwischen 12,5 und 17 cm breite und zusammen
397 cm lange Pergamentstreifen

Was hier in kleiner, enger Schrift festgehalten ist, sieht nach solchen Antworten finden sich Erinnerungen an Sterbende,
flüchtigen Notizen aus. Tatsächlich beruhte die Autorität die ihren Nachkommen Rechte einschärften, Anekdoten
dieser Aufzeichnungen nicht auf ihrer Materialität, sondern über die Ahndung von Rechtsübertretungen und märchen-
auf ihrer Bedeutung in einem ritualisierten Verfahrensablauf. hafte Erzählungen über Ursprünge von Rechten in grauer
Im römisch-kanonischen Zivilprozess hielten Kommissare in Vorzeit. Die Schreiber mussten anspruchsvolle literarische
dieser Weise Aussagen von Zeugen fest, zu denen Anwälte Darstellungstechniken einsetzen, um die in der deutschen
Stellungnahmen abgaben, bevor ein Richter urteilte. Im vor- Umgangssprache gemachten Zeugenaussagen so wiederzuge-
liegenden Fall mussten 40 Personen – Priester, Mönche, Rit- ben, dass sie auch in der lateinischen Schriftsprache lebendig,
ter, Bauern, Knechte und Mägde – über Ereignisse Auskunft mündlich und authentisch wirkten.
geben, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte zurücklagen. Hierin liegt auch das Paradox solcher Aufzeichnungen: Um
Dieser groß angelegte Versuch, so etwas wie ein ›kollektives angeblich im Denken und Handeln der breiten Bevölke-
Gedächtnis‹ der Leute am Thunersee zu erfassen, zielte dar- rung verankerte Rechtsvorstellungen zu beweisen, musste
auf, ungeschriebene regionale Rechte zu beweisen. die rigide Verhörtechnik des gelehrten Rechts aufgeboten
Der Rodel ist kennzeichnend für Verfahren, die von der werden. Und letztlich sind es anspruchsvolle Techniken
um 1300 aufkommenden Vorstellung ausgingen, dass sich des Schriftgebrauchs, die es erlauben, Überlieferungen und
Rechte wie Tatsachen erkennen und beweisen ließen. Das Erzählweisen schriftunkundiger Bauern in den Dienst der
Vorgehen lehnte sich an den Zeugenbeweis im römischen Rekonstruktion –  oder eher der Konstruktion? – eines
Zivilprozess an. Nur wurden hier nicht Delikthergang und mündlichen Gewohnheitsrechts zu stellen.
Tatbestand, sondern ungeschriebenes Recht ›bewiesen‹. Die
literatur: Fontes Rerum Bernensium 5, Nr. 34, S. 34–87 – Tremp
Zeugen mussten einzeln, unter Eid, die Wahrheit sagen, und
(1986) – Teuscher (2007).
im Rahmen eines streng regulierten Verhörs von Handlun-
gen erzählen, an denen sich zeigte, dass ein ungeschriebenes simon teuscher

Recht in der Gegend seit unvordenklichen Zeiten wider-


spruchslos beachtet wurde. Der obere Pergamentstreifen
enthält die 27 Fragen, die jedem Zeugen gestellt wurden und
die jeweils mit dem Wort item beginnen. Auf dem unteren
Streifen folgen Antworten des ersten Zeugen, eines gewis-
sen Werner von Basel, Priester und Chorherr in Interlaken
(Wernherus de Basilea, sacerdos, canonicus Interlacensis). In
239
240 Chirograph

14. August 1543


Stadtarchiv Zürich, I.A. 672 und 673
Papier, je 32 × 22 cm

Ein Chirograph besteht aus zwei oder mehr gleichlauten- Die Häufung von Chirographen im Zürcher Umland wurde
den Texten, die auf ein Pergament oder Papier geschrieben von der Forschung als Ausdruck zunehmender Gemeinde­
wurden. Zwischen die Schriftspiegel setzte man Buchstaben, autonomie dargestellt. Die ›mechanische Manipulation‹ der
Ornamente oder Worte, häufig chirographum. An dieser Urkundenteilung habe es dabei den Gemeinden erlaubt, das
Stelle wurde das Schriftstück gewellt oder gezahnt zer- herrschaftliche Siegeln ihrer Urkunden durch den Landvogt
schnitten. Jeder Vertragspartner erhielt eine Teilurkunde, zu umgehen. Gegen diese Annahme sprechen zahlreiche
deren Echtheit sich durch Aneinanderlegen der getrennten Chirographen, die von der Herrschaft selbst, dem Zürcher
Stücke überprüfen ließ. Rat, ausgestellt wurden (z. B. StAZH A 112 / 1, Nr. 16 bzw.
Im ausgestellten Beispiel von 1543 verleiht die Stadt Zürich im Umfeld von Klöstern StAZH C V 3, 15a, Nr. 34; C II 11,
Klaus Thomann von Wipkingen ein Haus mit Hofstatt und Nr. 687).
Zubehör, Wiesen und Waldstücken, Weinreben und Acker- Die häufige Wahl der Teilurkunden-Form könnte auch auf
flächen als Handlehen. Darauf lasten Getreideabgaben und den performativen Akt des Zerschneidens und Zusammen-
3 Pfund 15 Schilling Jahreszinsen. Zwischen den Parteien fügens eines gemeinsam erstellten Schriftstücks zurückzu-
bestehen gewisse finanzielle Verpflichtungen, die genau führen sein: Im Rahmen einer inszenierten, ritualisierten
geregelt werden. Handlung wurde der Chirograph vor dem Hintergrund
Der Chirograph als besondere Form der Beurkundung er- konfliktueller Handlungszusammenhänge als passendes
scheint im Frühmittelalter zuerst in England, später auf dem Instrument gewählt, das die Gültigkeit der Vereinbarung und
Kontinent, wo sie cartae divisae, partitae, dentatae, chirogra- die gegenseitige Verpflichtung verstärkte. Im Unterschied
phum bipertitum, instrumenta per alphabetum divisa, cartae zu den »einfachen Zetteln« entfaltete das zerschnittene Do-
per chirographum divisae oder auch abecedaria genannt wer- kument in der spezifischen Gebrauchssituation zusätzliche
den. In den Zürcher Archiven finden sich Chirographen vom Ausstrahlung.
15.–18. Jahrhundert unter der zeitgenössischen Bezeichnung
literatur: Bischoff (1955) – Trusen (1979) – Sayers (1996) – Sigg (2006).
»zerschnittene Zettel«. Ihre Inhalte reichen von Bestimmun-
gen über Zäune bis hin zu privaten Kaufverträgen.
Als Herstellungsanlass für diese Art von Schriftstücken wird stefan kwasnitza

in typischen Schlussformeln der mögliche Urkundenverlust


genannt. Beispiele aus der Region zeigen jedoch, dass oft
beide Teile des Chirographen in ein und derselben Lade
aufbewahrt wurden und deshalb regelmäßig gemeinsam
verbrannten.
241
242 Grundriss der Grabeskirche in Jerusalem

Adamnanus, De locis sanctis, wohl Reichenau, 9. Jh. (vor 846)


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Rh. 73, fol. 5r
Pergament, 24 × 17 cm

Die Handschrift enthält die Schilderung der heiligen Stätten, benutzt, in das sich das Weltbild einordnen lässt, andererseits
die der Ire Adamnan (Abt von Iona, um 688) nach eigener wird das religiöse Weltverständnis in den Planskizzen veror-
Aussage aufgrund des Berichts des fränkischen Bischofs tet. Geographische Beschreibung wie exakte Lokalisierung
Arculf verfasste, der auf der Rückreise von Jerusalem vor konkreter Begebenheiten sind in engem Zusammenhang zu
der schottischen Küste Schiffbruch erlitten haben soll. Ge- sehen mit der Beglaubigung des Bibeltextes und des Heils-
schrieben ist der Text in einer irisch beeinflussten Minuskel. geschehens.
Da der Reichenauer Bibliothekar Reginbert († 846) auf dem Interessant ist in dieser Hinsicht die auffällige Verschiebung
ersten Blatt der Handschrift einen Eintrag vornahm, kann sie des Grabes Christi aus dem Zentrum im Grundriss der Gra-
in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts datiert werden. Auf beskirche in die obere Hälfte des Kreises. Es ergibt sich daraus
welchen Wegen sie in die Bibliothek des Klosters Rheinau eine unwillkürliche Assoziation zu frühen Darstellungen der
gelangte, ist ungewiss. Welt in Kreisform, mit den Kontinenten Asien in der oberen,
Neben der Grabeskirche finden sich in der Handschrift Europa und Afrika in der unteren Hälfte (vgl. S. 244). Aus
Pläne der Zionsbasilika (in langgezogener Rechteckform), dieser Dreiteilung resultiert der Buchstabe T, im Mittelalter
der Himmelfahrtskirche (in Kreisform wie die Grabeskirche) Symbol für das Kreuz Christi, für dessen Opfertod und für
und der Kirche über dem Jakobsbrunnen (in Kreuzform). die Erlösung – eine Weltsicht, wie sie hintergründig auch in
Die Planzeichnungen, aufgebaut aus gerade und kreisför- der Grundrisszeichnung der Grabeskirche in der Rheinauer
mig verlaufenden Linien, sind dem St. Galler Klosterplan Handschrift zum Ausdruck kommt.
eng verwandt. Ein zweiter Schreiber, der am St. Galler In der Betrachtung der Planskizzen konnte eine vertiefte re-
Klosterplan beteiligt war, übernahm auch die Beischriften ligiöse Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den bibli-
in den Grundrissen der vorliegenden Handschrift, die in schen Themen erfolgen. Schließlich ist auch der Reisebericht
karolingischer Minuskel gehalten sind. Die Forschung geht Adamnans nicht eine bloße Schilderung der Heiligen Stätten,
heute davon aus, dass die Skizzen nicht als exakte Baupläne sondern sein Aufbau folgt den Stationen des Osterritus mit
dienten, sondern vielmehr idealtypisch aufzufassen sind oder Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. Sein Anliegen
als Merk- und Meditationsbilder dienten. ist die Verortung und Verankerung der Heilsgeschichte, die
Der Kreis als Bild der Vollkommenheit (ohne Anfang und geographische und lokale Beschreibung steht im Dienst der
Ende) und die Kreissymbolik spielten im Mittelalter eine theologischen Auslegung.
besondere Rolle, ebenso das Kreuz. Die Grundrisszeichnun-
literatur: Autenrieth (1982) – Stähli (2005) – Gnägi (2006).
gen machen sozusagen einen virtuellen Besuch der Heiligen
Stätten möglich und dienen der geistigen Orientierung.
Dabei wird einerseits das Gedächtnis als räumliches Modell marlis stähli
243
244 Noachidenkarte

Weltkarte, in: Isidor von Sevilla, Etymologiae, 2. Hälfte 9. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 236, S. 89 (hier Ausschnitt)
Pergament, 28,9 × 21,9 cm

Im frühen Mittelalter entsteht eine neue Form der Aufzeich- geführt, während alle weiteren Angaben rubriziert sind. Dies
nung geographischen Raums. Neben beschreibende Texte gilt sowohl für die vier Himmelsrichtungen, die außerhalb
treten Visualisierungen von räumlichen Verhältnissen, die des als Streifen markierten Weltozeans (mare oceanum) auf-
über Bild- und Schriftelemente funktionieren. Diese geben geführt sind, als auch für die Kontinente selbst, die nicht nur
kleinräumige Situationen wieder (St. Galler Klosterplan); vor mit ihren Namen bezeichnet, sondern auch mit den Namen
allem aber interpretieren sie spätantike Vorstellungen vom der Söhne Noahs belegt sind, Asien mit Sem, Europa mit
Aufbau der Welt. Zu den ersten kartographischen Darstel- Jafet und Afrika mit Cham.
lungen dieser Art gehören Weltkarten (mappae mundi), die Durch die Identifizierung der Kontinente mit den Söhnen
mit Abschriften der Etymologien des Bischofs Isidor von Noahs wird dem antiken Weltbild eine neue, christliche Di-
Sevilla (um 560/70–636) entstanden sind. Bildlich umgesetzt mension verliehen. Die Vorstellung von einer dreigeteilten
wurden damit vor allem Angaben aus dem 14. Buch des Welt wird verquickt mit der im Buch Genesis beschriebenen
enzyklopädischen Werks, das im gesamten Mittelalter breit Besiedlung der Welt durch die von den Nachkommen Sems,
rezipiert und im Unterricht verwendet wurde. Wie andere Chams und Jafets abstammenden Völkerschaften, die sich
Weltdarstellungen gliedern diese sogenannten ›Isidor-Kar- nach der Sintflut verzweigt haben. Auf die Bedeutung dieser
ten‹ in prägnanten Memorierbildern das von einem Ozean Geschichte wird nicht nur durch die Zuordnung von Namen
(mare oceanum) umgebene, geostete Weltenrund in die drei und Kontinenten verwiesen, sondern auch durch ein in Rot
bekannten, jeweils von Gewässern t-förmig abgetrennten beigefügtes, umrahmtes Textfeld, in dem es heisst: Ecce sic
Kontinente, wobei Asien etwa die Hälfte und Europa und diviserunt terram filii noe post diluvium (»Siehe, so verteilten
Afrika etwa je ein Viertel der Kartenfläche zukommt. die Söhne Noahs die Erde nach der Sintflut«).
Die Mappa Mundi, die wahrscheinlich zwischen 850 und
literatur: Woodward (1987) – Braude (1997) – Schmucki (2000) – Wajn-
900 im Skriptorium des Klosters St. Gallen entstanden ist,
traub (2006) – Schmucki (2007).
zeigt eine derartig schematische Abbildung der Welt. Schrift
ist hier unabdingbares Element der Raumbestimmung; sie
allein macht die Teile der kreisförmig angelegten Welt als martina stercken/ralph ruch

solche identifizierbar. Zudem organisiert sie zweifarbig und


in Großbuchstaben geographische Angaben und Heilsge-
schichte im Kartenbild. So sind der Erdkreis und die diesen
teilenden Gewässer, der Don (tanai fluvius), das Asowsche
Meer (meotides paludes), der Nil (nilus fluvius) sowie das
Mittelmeer (mare magnum) jeweils in schwarzer Farbe auf-
245
246 Perinus Vesconte: Portulankarte

Venedig, 1321
Zentralbibliothek Zürich, RP 4, fol. 5v u. 6r
Pergament auf Holz im Lederfutteral, 29,5 × 14,5 cm

Als Portulankarten werden kartographische Darstellungen Heiligen Christophorus und des Heiligen Bartholomäus
der Mittelmeerküsten bezeichnet, die seit der Wende vom 13. in der rechten oberen und der rechten unteren Ecke des
zum 14. Jahrhundert von italienischen, iberischen und mal- Portulans an die Schutzpatrone von Seefahrern und Schiffs-
lorquinischen Kartenmachern produziert wurden. Zwar sind bauern.
Herkunft und Herstellungsprozesse dieser neuen Form der Die Titulatur trägt auf andere Weise zur Steigerung der
Kartographie unklar, unbestritten scheint jedoch, dass diesen Bedeutung des ohnehin schon prachtvoll materialisierten
Seekarten ursprünglich pragmatische Funktionen zukamen Portulans bei. Wird zum einen die Verfasserschaft des Peri-
und sie Kaufleute- und Seefahrerwissen visualisieren. nus Vesconte, vermutlich Sohn oder Neffe Pietro Vescontes,
Der Portulanatlas des Perinus Vesconte besteht aus insge- eines bekannten Kartenmachers in Venedig, durch rote Farbe
samt sechs Tafeln, die jeweils in einem komplexen System herausgestellt, so wird die Bedeutung des Verfassers und mit-
aus Bild- und Schriftzeichen für die Seefahrt wesentliche hin des Portulans selbst durch einen in schwarz ausgeführten
Angaben festhalten: Der abgebildete Teil, der den westli- Kommentar noch gesteigert, den offenbar ein Kartenbesitzer
chen Mittelmeerraum, die europäische Atlantikküste bis zur angefügt hat. Womöglich war es ein Mitglied der Zürcher Fa-
Nordsee sowie die britischen Inseln darstellt, verzeichnet wie milie Murer, in deren Besitz sich der Portulan seit der Wende
die anderen Teile des Atlas Küstenlinien, Häfen, Flussmün- vom 16. zum 17. Jahrhundert befand, das damit versuchte,
dungen sowie zum Teil Klippen und Sandbänke. Zwar ist die Perinus Vesconte in die Historiographie Venedigs und die
Küstenlinie in grünlicher Farbe angelegt, doch wird die Form Genealogie der Visconti zu integrieren.
der Landmassen vor allem durch die vielzähligen, senkrecht
literatur: Kretschmer (1962) – de La Roncière/Mollat du Jourdain
zur Küstenlinie stehenden Ortsnamen erkennbar und durch
(1984) – Campbell (1987) – Zeichen der Zeit (2002).
besonders wichtige, in roter Farbe gekennzeichnete Häfen
markiert. Dieser vor allem durch Schrift konturierte und
strukturierte Raum wird durch ein differenziertes, farblich martina stercken/ralph ruch

gestuftes Netz von Windstrichlinien überzogen, die zusam-


men mit einem Kompass die Orientierung auf See ermöglich-
ten. Gleichzeitig wird eine Maßtabelle zur Verfügung gestellt,
an der Distanzen abgegriffen werden konnten.
Der Kartenraum wird aber nicht allein durch Ortsbezeich-
nungen sowie technische Systeme und Angaben definiert,
sondern verweist auch auf die Heilsgeschichte als Bestim-
mung menschlichen Daseins. So erinnern Darstellungen des
247
248 Albrecht von Bonstetten:
Karte der Eidgenossenschaft

Superioris Germanie Confoederationis Descriptio, wahrscheinlich Ein-


siedeln, 1480
Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Lat. 5656, fol. 8
Papier, 14,5 × 21,5 cm

Die erste kartographische Darstellung der Eidgenossenschaft eidgenössischen Orte um den Regina mons, die zur Königin
ist in der Superioris Germanie Confoederationis Descriptio, der Berge stilisierte Rigi. Damit wird diese zum räumlichen
einer Landesbeschreibung eidgenössischen Gebiets enthal- Mittelpunkt der im lockeren eidgenössischen Bündnissystem
ten, die der Einsiedler Dekan Albrecht von Bonstetten 1479 zusammengefassten terrae und erhält die Position, die Jeru-
verfasst hat. Text und Karten Bonstettens, die in verschie- salem auf den mittelalterlichen Weltkarten im Gefolge der
denen Fassungen vorliegen, zielen in erster Linie darauf ab, Kreuzzüge einnimmt. Die durch die Rezeption der mappa
nach den Erfolgen der Eidgenossen in den Burgunderkriegen mundi-Tradition im Kartenbild aufgerufene heilsgeschicht-
das heterogene bündische Gebilde der Eidgenossenschaft als liche Dimension des eidgenössischen Verbundes wird in der
politisch einheitliches und historisch legitimiertes Gebilde Landesbeschreibung aufgegriffen und durch den Verweis
vorzustellen. Die abgebildete lateinische Handschrift ge- auf Quellen als historisch verbürgt bekräftigt. Bonstetten
hört zu den europäischen Herrschaftsträgern zugestellten beschreibt darin die Rigi als einen alten Ort des Gotteslobs
Ausfertigungen; sie wurde 1480 dem König von Frankreich und der Verkündigung.
gewidmet. Eine deutsche Version der Descriptio entstand Die mit kartographischen Traditionen und symbolischer
offenbar erst 1485 und auf Druck der Eidgenossen, die über Bedeutung spielende Vorstellung der achtörtigen Eidgenos-
das nach außen vermittelte Bild ihres politischen Systems senschaft als heilsgeschichtlich legitimierte Einheit ist gleich-
informiert sein wollten. zeitig eine prägnante und leicht memorierbare Darstellung
Bonstettens Karte steht in einer Folge von Darstellungen, von politischem Raum. Unter dem rubrizierten Titel Divisio
mit der die Eidgenossenschaft über einfache Zeichnungen terrarum Confoederatorum werden die Bezeichnungen der
und einige wenige erklärende Schriftzüge im Universum und eidgenössischen Städte- und Länderorte (Thuregum, Zug,
in Europa situiert wird. Wie die anderen Karten so nimmt Clarona, Switia, Urania, Unterwaldia, Berna, Lucerna) in
auch diese Darstellungsprinzipien der mappae mundi auf. geographisch korrekter Folge aufgeführt.
Bestimmend ist die Kreisform, die hier allerdings nicht die
literatur: Sieber-Lehmann (1994) – Sieber-Lehmann (1997) – Baumgärt-
bewohnte Welt symbolisiert, sondern das Gebiet der Eidge-
ner (2001) – Stercken (2006) – v. d. Brincken (2006) – Stercken (2008).
nossenschaft, die somit als eigener geschlossener Weltenkreis
präsentiert wird. Eine rot ausgeführte Binnengliederung
verdeutlicht nicht nur die außerhalb des Kreises aufgeführ- martina stercken/ralph ruch

ten Himmelsrichtungen (Oriens, Meridies, Occidens, Sep-


tentrio), sondern strukturiert auch die Bezeichnungen der
249
250 Konrad Türst: Karte der Eidgenossenschaft

Beschribung gemeiner Eydgnosschaft, um 1496


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Z XI 307
Pergament, 56 × 42 cm

Die gesüdete Karte der Eidgenossenschaft des Zürchers Kon- oder der Schwarzwald und der Jura (Blauwen) im Norden,
rad Türst zeigt erstmals das Gebiet der Eidgenossenschaft, deuten Grenzsituationen an. Schrift definiert das Gebiet der
dargestellt nach den wiederentdeckten gradnetzorientierten Eidgenossenschaft gleichzeitig als historischen Raum. Denn
Darstellungsprinzipien, die der spätantike Gelehrte Clau- indem die Namenszüge angrenzender Volksstämme der An-
dius Ptolemäus in seiner Geographia entwickelt hatte. Sie tike, der Insubrer, Allobroger und Sequaner, bezeichnet sind,
ist Teil einer Landesbeschreibung (De situ confoederatorum werden nicht nur Grenzsituationen angedeutet, sondern wird
descriptio oder Beschribung gemeiner Eydgnosschaft), die darüber hinaus der Eidgenossenschaft eine gentile Vergan-
der Arzt, Astrologe und Kartograph Türst zwischen 1495 genheit in der antiken Geschichte Europas zugewiesen.
und 1497 verfasste. In lateinischen und deutschen Ausgaben Die Anlage des Kartenbilds lässt sich auch als symbolischer
überliefert, sollten Text und Karte offenbar dazu dienen, in Hinweis auf das Selbstverständnis der Eidgenossen werten.
einer Zeit innerer Wirren am Vorabend der Schwabenkriege Wurde diese bisher mit technischem Unvermögen oder mit
im Lande und gegenüber auswärtigen Herrschaftsträgern der Absicht erklärt, den unter Einfluss der Eidgenossen-
die Eidgenossenschaft als neue politisch und geographisch schaft stehenden Südwesten des Reichs in die Darstellung
bestimmte Größe vorzustellen. Die abgebildete Karte war einbeziehen zu wollen, so lässt ein Vergleich mit der Karte
ursprünglich gefaltet als letztes Blatt in eine wohl 1496/97 Albrecht von Bonstettens (vgl. S. 248 f.) noch eine andere
erstellte und dem Berner Altschultheißen Rudolf von Erlach mögliche Bedeutungsebene erkennen: Auch Türst lenkt in
gewidmete Version eingebunden. seiner modern und wissenschaftlich anmutenden kartogra-
Türsts Karte zeigt die Gebiete der zehnörtigen Eidgenossen- phischen Darstellung der Eidgenossenschaft den Blick auf
schaft – Städte, Dörfer, Burgen und Klöster, die Berge, Pässe, die Innerschweiz und weist ihr so besondere Bedeutung als
Seen, Flüsse sowie Brücken – zwischen Rottweil und Gott- eidgenössische Kernlandschaft zu.
hard sowie Pontarlier und Chur in vogelperspektivischer
literatur: Ischer (1945) – Höhener (1999) – Stercken (2008).
Darstellung. Farbigkeit und Größe der Signaturen lassen eine
Hierarchisierung des Zeichensystems erkennen. Wenn auch
nicht durch Grenzlinien, so wird das Gebiet der Eidgenossen martina stercken/ralph ruch

doch durch unterschiedlich gestaltete Schriftzüge gegliedert.


Die in Großbuchstaben hervorgehobenen Namen der eid-
genössischen Städte- und Länderorte verweisen auf deren
Bedeutung als wichtige Herrschaftsträger. Herausgestellte
Bezeichnungen der Landmarken, etwa das Gotthardgebirge
(Alpes Leopontii, Adula) und die Alpes Rhaetiae im Süden
251
252 Jos Murer:
Karte des Zürcher Herrschaftsgebiets von 1566

Eigentliche Verzeichnuss der Stätten, Graffschafften, und Herrschafften,


welche in der Statt Zürich Gebiet und Landschafft gehörig seind, 3. Auf-
lage von 1670 (?)
Zentralbibliothek Zürich, Kartensammlung Wak R 1
Papier, 85 × 104 cm (ohne Rand), 105 × 125 cm (mit Rand)

Im 16. Jahrhundert beginnen sich Karten als Form der Auf- übergeordneten Rahmen des Reiches. Akustische Kompo-
zeichnung von Herrschaft im Raum zu etablieren. Jos Murers nenten der Herrschaftsausübung werden mit einer Szene auf
Karte des Herrschaftsgebietes der Stadt Zürich gehört zu dem Zürichsee ins Kartenbild eingebracht, die ein Boot mit
den frühen kartographischen Darstellungen von Herr- städtischen Würdenträgern zeigt, das durch Fanfaren-Bläser
schaftsräumen, die sich auf moderne Vermessungstechniken angekündigt wird. Indem er die Stadt Zürich als Zentrum des
und Darstellungskonventionen berufen und gleichzeitig gestalteten Landes darstellt, betont Murer nicht nur ihre Rolle
durchaus über symbolträchtige, im Mittelalter entwickelte als Herrschaftsträgerin, sondern verweist auch auf eine andere
Zeichenstrukturen und Bildkonzeptionen funktionieren. Ebene ihrer Bedeutung. Als Mittelpunkt des Kartenbildes
Vielfältige Schrift- und Bildelemente, die in je eigener Weise erhält Zürich die Position, die auf den Weltkarten im Gefolge
von der Größe und Bedeutung von Zürich als städtischer der Kreuzzüge Jerusalem einnimmt, und wird damit als neues,
Herrschaftsträgerin und Zentrum religiöser Erneuerung reformiertes Zentrum des Glaubens propagiert.
zeugen, werden im Kartenbild verschmolzen: Erst beim Näherrücken lesbar, wird deutlich, dass die zum
Der Zürcher Glasmaler, Illustrator und Autor Jos Murer Teil aufwändig gerahmten Schrifttafeln in den Randberei-
stellt das Herrschaftsgebiet der Stadt Zürich als begrenzt chen der Karte mit dem Kartenbild korrespondieren: Mit
und in seinen Ausmaßen nachvollziehbar dar, indem er – für der Überschrift wird der Lobspruch Ottos von Freising auf
seine Zeit noch ungewöhnlich – dieses mit einer gepunkteten Zürich zitiert, der dieses als Nobile Thuregum multarum
Linie klar einfasst und einen Maßstab in den Kartenrahmen copia rerum bezeichnet. In die Karte eingefügt werden ferner
einlässt. Definiert wird auf diese Weise ein herrschaftlich chronikalische Texte, welche die aktuellen Verhältnisse in
besetzter Raum, der durch zum Teil individuell ausgeprägte, Zürich und in seinem Herrschaftsgebiet in einen bis in die bi-
in Vogelschau abgebildete Siedlungen, Städte, Dörfer, Weiler, blische und antike Geschichte zurückreichenden historischen
Gebäude, Häuser, Brücken sowie Berge und Hügel, Seen, Kontext einordnen, die städtische Herrschaft gegenüber
Flüsse, Wälder und Weinberge strukturiert ist. Orte und anderen Herrschaftsträgern legitimieren und sie im Rahmen
Gewässer, die systematisch durch Schriftzüge bezeichnet des Reiches und der Eidgenossenschaft definieren.
werden, lassen sich klar identifizieren. Besonders heraus-
literatur: Dürst (1975) – Harley (2001) – Stercken (2004) – Stercken
gestellt wird die Stadt Zürich als Herrschaftsträgerin: Die
(2008).
in einem Kranz zusammengefassten Zürcher Stadt- und
Reichswappen akzentuieren die reichsunmittelbare Stellung martina stercken/ralph ruch

der Stadt und legitimieren die städtische Gebietsherrschaft im


253
254 Paulusbriefe mit Marginal- und
Interlinearglossen

Frankreich (?), 12. Jh.


Zentralbibliothek Zürich, Ms. Car. C 149, 145 Bll., hier fol. 37v/38r
Pergament, 22,5 × 14 cm

Die vorliegenden Paulusbriefe präsentieren einen Typus der Bibeltext und Glossentext sind durch Schrift und Gestal-
Glossenhandschrift, der in engem Zusammenhang mit den tung klar voneinander unterschieden. Sie verlaufen parallel,
Bibelglossierungen in den Kathedralschulen von Laon und sind jedoch in der gedanklichen Auseinandersetzung eng
Paris steht. Die räumliche Aufteilung der Seiten in einen Tex- miteinander verwoben. Die marginal und interlinear an-
tusblock und einen Glossenraum ist bereits voll ausgeprägt. geordneten Glossen kommentieren den Bibeltext sowohl
Die abgebildeten Seiten stammen aus dem ersten Korinther- hinsichtlich seines Wortlauts (philologisch) als auch des
brief (1 Kor 9,15–10,4). Die durch Majuskelschrift deutlich Inhalts (allegorisch).
hervorgehobenen Verweise auf die Autoritäten Hieronymus Durch die exegetische Auseinandersetzung mit dem un-
und Augustinus – die durchaus nicht immer zutreffend sein veränderlichen Wortlaut des Bibeltextes in der Scholastik
müssen – können ein Indiz für eine frühe Datierung der wurden neue Deutungsfelder der Heiligen Schrift eröffnet,
Handschrift sein. Solche Verweise ebenso wie Hinweise auf die sich bald verfestigten und selbst wiederum Gegenstand
die Art der Auslegung (grammatisch, allegorisch, moralisch) von Auslegungen wurden. Die hochmittelalterlichen Bibel-
fielen nach einigen Jahrzehnten mit der Verfestigung und glossen greifen Kommentare der Kirchenväter (Augustinus,
gewachsenen Autorität des Glossentextes weg. Hieronymus, Ambrosius) und karolingischer Theologen
Die Handschrift ist in eleganter frühgotischer Minuskel wie des Reichenauer Abtes Walahfrid Strabo (808–849) auf.
geschrieben. Prachtvolle Zierinitialen in spätromanischem Als eine der treibenden Kräfte in der Entwicklung der so
Stil, mit Blattwerk, Fabeltieren und Fratzen in mehrfarbiger genannten glossa ordinaria – der großen Kompilation der
Federzeichnung geschmückt, leiten die Briefgruppen ein. Glossen zu allen Büchern des Alten und Neuen Testaments,
Die Handschrift ist hochformatig, ein Eindruck, der durch in der die scholastische Beschäftigung mit der Bibel zu Be-
die schmalen, hochgezogenen Mittelspalten des Grundtextes ginn des 13. Jahrhunderts schließlich gerinnt – gilt Anselm
verstärkt wird. Das Layout stellt den Bibeltext ins Zentrum von Laon († 1117), Vorstand der Kathedralschule von Laon.
einer jeden Seite. An den Seitenrändern und zwischen den Ihm können mit einiger Sicherheit die Glossen des Psalters,
Zeilen ist von vornherein Raum für die deutlich kleiner ge- des Johannesevangeliums und auch der Briefe des Paulus
schriebenen, den Grundtext links und rechts einrahmenden zugeordnet werden.
Marginalglossen und für die Interlinearglossen freigehalten.
literatur: Châtillon (1984) – De Hamel (1984) – Lobrichon (1984).
Höhe und Breite von Buchblock und Schriftraum sowie
der Glossen- und Textspalten sind sorgfältig berechnet und
aufeinander abgestimmt, was zu einem sehr harmonischen lena rohrbach/marlis stähli

Gesamteindruck führt.
255
256 Hebräische Bibel

Mitteleuropa (?), spätestens 15. Jh., Geschenk des Herzogs von Rohan an
die Stadtbibliothek Zürich im Jahr 1631
Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 152, fol. 12v
Pergament, 22,5 × 15 × 11 cm

Masora, hebräisch Überlieferung, bezeichnet die Überliefe- Buchkunst. Im Unterschied zu muslimischen oder christli-
rung der Leseart und Schreibweise des hebräischen Bibel- chen Kalligrammen haben die kunstvoll gestalteten Orna-
textes. Vokale und Akzente werden dem Konsonantentext mente oder Tiere der Masora figurata jedoch keinen Bezug
als Punkte und Striche beigegeben, kurze Bemerkungen zu zum Text, der aufgrund seines Inhalts vor allem Gelehrte
einzelnen Wörtern werden auf der Seite oder am unteren interessierte. Diese hingegen waren von der verschnörkelten
Rand notiert. Wie in der jüdischen Tradition materielle und Mikrographie wenig begeistert, vereinfachte sie die ohnehin
visuelle Gestaltung biblischer Schriften mit großer Sorgfalt anspruchsvolle Lektüre doch nicht gerade. Juda ben Samuel
geregelt wurde (vgl. S. 222), genoss auch die Überlieferung he-Chassid (ca. 1150–1217) empfahl etwa, man solle einen
des Textes seit der Spätantike die Aufmerksamkeit der jüdi- Schreiber nur unter der Bedingung anstellen, dass er die Ma-
schen Gelehrten. Während sich der Konsonantentext seit dem sora nicht in Form von Vögeln oder Bäumen schreibe (Sefer
1. Jahrhundert kaum veränderte, wurde die vorerst mündlich Chassidim, Paragraf 709). Offensichtlich fand der große
überlieferte Masora im 8. Jahrhundert schriftlich festgehalten. Gelehrte wenig Gehör; jedenfalls monierte Jakob ben Chajim
Im 9. Jahrhundert bündelten in Tiberias die beiden Gelehr- (1470–1538) dreihundert Jahre später, die Masora figurata sei
tenfamilien Ben Ascher und Ben Naftali die verschiedenen unentzifferbar; den Schreibern gehe es nur um Verzierung
Überlieferungen der Masora in je einen Traditionsstrang, ihrer Kodices statt um die seriöse Überlieferung des Textes.
wobei sich im Laufe der Zeit die Version von Ben Ascher Elijahu ha-Levi (1469–1549) schließlich beklagte, die Eben-
durchsetzte. In der vorliegenden hebräischen Bibel geht dem mäßigkeit des Musters verlange zusätzliche Abstände oder
Text eine Gegenüberstellung der beiden Traditionen voraus: Verdoppelungen von Wörtern und Buchstaben im Dienste
rechts Ben Ascher, links Ben Naftali. Auf der abgebildeten der Kalligraphie und pervertiere dadurch die eigentliche
Seite werden die Differenzen in den kleinen Propheten (Do- Absicht der Masora. Trotz dieser Einwände erfreute sich der
dekapropheton), Ruth und Psalmen aufgelistet. hübsche Buchschmuck der sephardischen Juden großer Be-
Während die Wiedergabe des Bibeltextes genauesten Vor- liebtheit und breitete sich vom Nahen Osten nach Nordafrika
schriften unterlag, boten die masoretischen Glossen eine will- und von dort über Spanien in aschkenasische Regionen wie
kommene Gelegenheit für die Schreiber, ihre kalligraphischen Nordfrankreich, das Rheinland und Süddeutschland aus. Von
Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und den nüchternen dort stammt auch die vorliegende Handschrift.
Bibeltext ästhetisch ansprechend zu verzieren. So entstand
literatur: Sirat (1981) – Gutmann (1989).
die hebräische Mikrographie im Zusammenhang mit der
Verschriftlichung der Masora in Palästina. Eingebettet ins
kulturelle Umfeld des Islam spiegelt sie den Stil arabischer olivia franz-klauser
257
258 Arabisches Logikhandbuch

at-Tahtani, Lawamiʿ al-asrar fi sharh Mataliʿ al-anwar (»Die Strahlen


der Geheimnisse: ein Kommentar zu den ›Sonnenaufgängen der Lichter‹«),
Iran, 1382
Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 120, fol. 78v/79r
Papier, 22 × 14,5 cm

Ab dem 9. Jahrhundert erfahren die Wissenschaften eine Welle Die Einleitung folgt festen Konventionen. Ein Inhaltsver-
der ›Didaktisierung‹: Diese beginnt im Ost-Iran, verläuft über zeichnis nennt alle Kapitel. Der Haupttext ist in Kapitel und
den Irak, Kleinasien, Ägypten, Nordafrika und Spanien und Unterkapitel eingeteilt, nur sind die Titel nicht eingerückt,
erreicht schließlich im 12. Jahrhundert auch Westeuro­ pa. sondern in roter Farbe geschrieben. Zitate kommen häufig
In verschiedenen Wissensgebieten wie der Medizin, der vor, denn es handelt sich um den Kommentar zu einem
Geographie und der islamischen Traditionsliteratur (Hadith- Ausgangstext. Während wir Zitate heute zwischen Anfüh-
Literatur) entstehen Überblickswerke, die – und dies ist neu rungszeichen setzen, sind sie hier nach damaliger Konvention
– hierarchisch in Kapitel und Unterkapitel gegliedert sind. rot überstrichen. Wo nötig, werden Sachverhalte mit Tabellen
Wer sich über ein bestimmtes Teilgebiet informieren möchte, und Skizzen veranschaulicht. Die Reihenfolge der Seiten wird
muss nicht mehr ein ganzes Werk durchlesen, sondern kann nicht mit Seitenzahlen gesichert, sondern mit sogenannten
über die Gliederung direkt auf die ihn interessierenden In- ›Kustoden‹. Das heißt, dass das erste Wort der nächsten Seite
formationen zugreifen. Eines der berühmtesten Werke dieser auf dem unteren Rand der vorangehenden Seite erscheint.
Art ist der »Kanon in der Medizin« (al-Qanun fi t-tibb) von Am Schluss des Buches erfahren wir, dass der Abschreiber
Avicenna (gest. 1037 in Hamadhan, West-Iran). Dieses me- Muhammad ibn Husain ibn ʿUmar ar-Rumi al-ʿAbadani
dizinische Lehrbuch wird im 12. Jahrhundert in Spanien ins at-Tibri hiess und diese Kopie am 10. Djumada I 784/22. Juli
Lateinische übersetzt, 1527 auch gedruckt und bleibt bis ins 1382 in der Rashidiya-Medrese in Isfahan (Iran) beendete.
17. Jahrhundert das unangefochtene Standard-Lehrbuch der Indizes gibt es in arabischen Handschriften nicht.
westeuropäischen Medizin. Interessanterweise haben einem der Leser diese Gliederungs-
Während diese didaktische Welle in den Westen wandert, und Layout-Techniken nicht genügt: Um gewisse Seiten
werden die Methoden in der Islamischen Welt weiter verfei- schneller zu finden, hat er grün-blaue Fäden als Lesezeichen
nert, wie die ausgestellte Handschrift zeigt. Es handelt sich eingenäht. Zwischen den Zeilen und am Rand gibt es zahl-
dabei um ein arabisches Logikhandbuch, genauer gesagt um reiche Anmerkungen von verschiedener Hand. Nicht zuletzt
den Kommentar »Die Strahlen der Geheimnisse« (Lawamiʿ haben die stolzen Besitzer sich auf dem Vorsatzblatt und auch
al-asrar) von at-Tahtani (gest. 1364) zum Logikhandbuch auf anderen Seiten immer wieder mit Besitzervermerken und
»Die Sonnenaufgänge der Lichter« (Mataliʿ al-anwar) von -stempeln verewigt.
al-Urmawi (gest. 1282 in Konya, Kleinasien).
literatur: Nünlist (2008).
Der Text ist nicht durch Absätze und Satzzeichen gegliedert,
sondern mit roten Markierungen versehen. Abgesehen davon andreas kaplony

ist das Werk jedoch ähnlich organisiert wie heutige Bücher:


259
260 Decretum Gratiani (mit Glossen)

Oberitalien, um 1165/1175, mit Nachträgen bis ins 13. Jh.


Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phillipps 1742
(= Rose Nr. 96), 298 Bll., hier fol. 2v/3r
Pergament, 37,5 × 22,5 cm

Diese Berliner Handschrift des Decretum Gratiani, die aus der Die Berliner Handschrift ist ein typisches Beispiel für die
Bibliothek des 1763/4 aufgelösten Pariser Jesuitenkollegs, des Schwierigkeiten, die Anforderungen an das Layout autori-
Collège de Clermont, stammt, wurde in der älteren Forschung tativer Textbücher in einer Zeit sich stürmisch entfaltender
zumeist in das 13. Jahrhundert datiert. Sie ist jedoch wesent- wissenschaftlicher Produktivität grundsätzlich zu lösen.
lich älter. Drei Zeitschichten lassen sich deutlich erkennen: Ihre zahlreichen Interlinearglossen und ihre textlich und
a) Der Grundstock des Bandes mit einer angelagerten ersten zeitlich übereinandergeschichteten Marginalglossen von
Glossenschicht ist wegen der stilistischen Eigentümlich- verschiedenen Händen, die mühselig herzustellenden Be-
keiten der historisierten H-Initiale mit dem Brustbild eines züge zwischen Text und Glosse über nicht immer einfach
Erzbischofs und eines Königs als Repräsentanten göttlichen zu lokalisierende Verweisungszeichen, ihre meist anonymen,
und weltlichen Rechts in Ober­italien gegen Ende des dritten nur teilweise durch Siglen zugeschriebenen Glossen lassen
Viertels des 12. Jahrhunderts (Edward B. Garrison), wohl um das koordinierte Gegenübertreten von Textwort und Aus-
1165/75, entstanden. Der gleichzeitige Fleuronnée-Schmuck legung und eine einfache Parallellektüre beider kaum zu.
entstammt derselben Werkstatt wie der einer in die Zeit um Über den tastenden, sehr traditionellen und pragmatischen
1175 zu datierenden Gratian-Handschrift in Cambridge Versuch hinaus, Text und Glosse deutlich im Schriftgrad zu
(Sidney Sussex College, MS 101). b) Die sich fast über den unterscheiden und die Seiten mit breiten Rändern für den
ganzen Band erstreckende, von mehreren Händen geschrie- Eintrag der Glossen auszustatten, sind die frühen Gratian-
bene zweite Glossenschicht mit juristischem Material aus der Handschriften noch nicht hinausgekommen. Ihr Layout lässt
Zeit von 1160–1180 sowie eine auf nachträglich zugefügten den Typus der klassischen Bologneser Rechtshandschriften
groben Pergamentblättern aufgezeichnete, um 1180/81 in des 13. Jahrhunderts mit der den textus umklammernden
Italien entstandene unsystematische Dekretalensammlung einheitlichen Glossierung, der die stabil fixierte Form der
(Collectio Berolinensis) gehören wohl den Achtzigerjahren Kommentierung, den apparatus, voraussetzt, noch nicht ein-
des 12. Jahrhunderts an. c) Die dritte Glossenschicht mit ju- mal erahnen. Der Texteinrichtung der seit 1170 professionell
ristischem Material aus der Zeit bis um 1200 stammt von einer hergestellten glossierten Bibelhandschriften hatte die sich
vermutlich französischen Hand aus der Zeit um 1200 oder aus entfaltende Glossierung der juristischen Textbücher noch
dem Anfang des 13. Jahrhunderts, die den Band am Schluss nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.
um weitere Texte (eine Provinciale aus der Zeit vor 1200;
literatur: L’Engle/Gibbs 2001 – Michael (2002).
Einführungsschriften zum Decretum Gratiani) ergänzt hat.
Durch diesen Schreiber könnte der Codex schon zu Beginn
des 13. Jahrhunderts nach Frankreich gelangt sein. bernd michael
261
262 Accursius: Apparatus ad digestum vetus

Italien (Bologna ?), 2. Hälfte 13. Jh.


Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, UB C I 1, fol. 90v/91r
Pergament, 42,5 × 26,5 cm

Eine Doppelseite des Digestum vetus mit Rahmenglosse: inhaltliche Erfassung rechtlicher Begriffe und Fragestellun-
Der auf der Mitte der Seite platzierte Rechtstext ist rundum gen; sie sind im Stil der auch sonst im Mittelalter üblichen
mit Anmerkungen versehen, deren Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Textgattungen gehalten. Glossen dienen
Haupttext durch Buchstabenverweise (in Art von Fußnoten) auch ganz allgemein der Textbereinigung.
hergestellt wird. Dort wo noch Platz bleibt, sind gedrängt Mit dem Apparatus des Accursius wurde die inhaltliche Er-
Erläuterungen einer zweite Hand platziert, optisch weniger fassung des römischen Rechtstextes abgeschlossen. Er wurde
kalkuliert, in der Art eines Nachtrags in die Anmerkungen. deswegen, ähnlich wie vergleichbare Leitglossierungen, etwa
Eine Zierinitiale auf der rechten Seite hebt den rot gefassten die der Bibel (vgl. S. 254), als glossa ordinaria bezeichnet. Der
Titel De petitione hereditatis hervor, abgesetzte rote Buch- Glossenapparat des Accursius bildet die Voraussetzung für
staben mit blauem Durchstrich kennzeichnen den Anfang die systematische Aufarbeitung der in Einzelfallentscheidun-
einzelner leges (Rechtssätze). Die beiden aufeinander bezo- gen niedergelegten Rechtsregeln. Das Sprichwort Quicquid
genen Textblöcke eröffnen einen Raum autonomer Schrift- non agnoscit glossa nec agnoscit forum (»Was die Glosse
lichkeit, in dem sich die Autorität des Grundtextes auf die nicht anerkennt, erkennt auch das Gericht nicht an«) belegt,
ihn umrahmenden Anmerkungen erstreckt. dass dem Apparatus schließlich ein eigener normativer Wert
Die aufgeschlagene Seite zeigt einen Ausschnitt des Mitte des beigemessen wurde. Einmal selbst autoritativer Text, blieb
13. Jahrhunderts vom Bologneser Rechtsgelehrten Accursius ihm das Schicksal erneuter Glossierung nicht erspart, wie
(1185–1263) in Verdichtung älterer Glossen erstellten Glos- unser Beispiel zeigt.
senapparats. Abgehandelt werden Fragen des Erbrechts, die
literatur: Lange (1997) – Weimar (1997) – Jakobs (2006).
den Pflichtteil und die Erbschaftsherausgabeklage betreffen
(von D. 5,2,27 Si instituta de inofficioso bis D. 5,3,6 Si testa-
mentum falsum). Die Technik der Glossierung hängt auch stefan geyer

im Kontext des gelehrten Rechts eng mit dem universitären


Unterricht zusammen, wie er für die Rechtswissenschaft
zunächst in Bologna konzipiert wurde. Vorrangige Funk-
tion der Glossierung ist die Orientierung im Rechtstext. Sie
weist auf einzelne Materien oder wichtige Stellen besonders
hin oder erläutert das Verhältnis der angemerkten Stelle zu
vorhergehendem oder nachfolgenden Text. Auch Quer-
verbindungen zu weiter entfernten Textstellen konnten so
hergestellt werden. Weiter bemühen sich Glossen um die
263
264 Einzelseite des Codex Iustiniani

13. Jh.
Staatsarchiv Zürich, StAZH C VI 1/IV, fol. 2v
Pergament, 34 × 27 cm

Im Staatsarchiv Zürich liegt eine Sammelmappe, in der man 1555. Der zu lesende Text enthält das 29. und 30. Kapitel
beim Durchblättern Fragmente von Handschriften des ge- aus dem 5. Buch des Codex Iustiniani. Auch ihre Schwes-
lehrten Rechts sehr unterschiedlichen Alters entdeckt. So terseite schützte ein Rechnungsbuch und ist beschriftet mit:
verschiedenartig die Stücke in dieser Mappe sind, sie haben Rütiampt unnd Beerenberg 1553. Wahrscheinlich wurden
alle eines gemeinsam: Die meist aufwändig ausgestatteten die beiden Seiten gleichzeitig aus dem Codex herausgelöst.
Seiten sind Überreste prächtiger mittelalterlicher Codices, Was aus den übrigen Seiten der Handschrift wurde, ist nicht
die im Laufe des 19. Jahrhunderts von spätmittelalterlichen bekannt.
oder frühneuzeitlichen Bucheinbänden abgelöst und auf Die beiden Seiten wurden wie zahlreiche andere Handschrif-
diese Weise wiederentdeckt wurden, auch wenn sie nun ein ten Opfer einer Geringschätzung mittelalterlicher Hand-
Dasein in einer Archivschachtel fristen. schriftenüberlieferung, die vor allem nach dem Aufkommen
In dieser Sammlung befinden sich auch zwei Seiten aus einer der Drucktechnik im ausgehenden 15. Jahrhundert einsetzte.
Handschrift des Codex Iustiniani, die auf das 13. Jahrhun- Bereits 1477/78 erschien die erste Gesamtausgabe des Corpus
dert datiert werden. Der Codex Iustiniani war Bestandteil Iuris Civilis in Venedig, bis 1800 summierte sich die Zahl
des sogenannten Corpus Iuris Civilis, der Sammlung des der Ausgaben auf über 200. Der hohe ökonomische Wert
römischen Rechts (vgl. S. 262), der mit Beginn ihrer Rezep- der Handschriften und die Autorität, die der vorliegenden
tion an den Rechtsschulen und Universitäten im Laufe des Textseite als Teil eines – auch im 16. Jahrhunderts noch
12. Jahrhunderts ein hoher Rang an Autorität zukam. Im so- aktuellen – Rechtstextes ursprünglich zukam, waren offen-
genannten ›Bologneser Layout‹, in dem auch die vorliegende sichtlich irrelevant für diejenigen, die sie als Einband ihres
Seite angefertigt ist, befindet sich der Rechtstext zweispaltig Rechnungsbuches verwendeten. So wurde aus einem Pracht-
im Zentrum jeder Seite. Um diesen Textblock herum ist die stück mittelalterlicher Buchkultur schnöde Makulatur.
dazugehörige Glosse angeordnet, die ebenso wie im Falle
literatur: Bruckner (1969) – Jakobs (2006).
der Digestum vetus-Handschrift die glossa ordinaria des
Franciscus Accursius (1185–1263) ist.
Es handelt sich um eine sorgfältig angefertigte, prächtige lena rohrbach

Handschrift im Großfolioformat. Die einzelnen Kapitel sind


von vergoldeten, illuminierten Initialen eingeleitet. Die ab-
gebildete Seite diente als Umschlag für ein Rechnungsbuch.
Zu sehen ist die nach außen gewendete Seite, auf der sich am
unteren Rand und auf dem Kopf stehend zwischen Textblock
und Glosse ein Titel entziffern lässt: Rüttij und Berennberg
265
266 Sachsenspiegel (mit Buch’scher Glosse)

nach 1368
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 390,
hier fol. 10v/11r
Pergament, 108 Bll., 31,5 × 24 cm

In der ersten Hälfte des 14. Jahrhundert begannen Rechtsge- Der Text des Sachsenspiegels wird hier jeweils in lateinischer
lehrte, die Kulturtechnik der Glossierung auf volkssprach- und deutscher Sprache dargeboten. Zu sehen ist ein Kapitel
liche Rechtsbücher anzuwenden. Der mittelniederdeutsch aus dem ersten Buch (van drierhande rechte), das drei Re-
abgefasste Sachsenspiegel wurde erstmals 1325, rund 100 Jahre geln des sächsischen Gewohnheitsrechts nennt, welche die
nach seiner Entstehung, durch den markgräflich-branden- Sachsen angeblich gegen den Willen Karls des Großen, als
burgischen Hofrichter Johann von Buch mit einem gelehrten dessen Privileg der Sachsenspiegel verstanden wird, behalten
Kommentar versehen. Buch, der in Bologna Recht studiert hätten. Die Glosse zu diesem Artikel beginnt bereits auf
hatte, war bestrebt, die im Sachsenspiegel niedergeschriebenen der Seite vorher (10r) und wird hier fortgesetzt (10v). Ein
sächsischen Rechtsnormen mit dem römischen und kanoni- direktes und stets stimmiges Nebeneinander von Textus und
schen Recht in Einklang zu bringen. In der Glosse gibt er Glosse ist bei dieser Art der räumlichen Anordnung kaum
Begriffsdefinitionen, weist auf Parallelstellen im gelehrten zu erreichen. Später setzte sich in der Sachsenspiegel-Glos-
Recht hin und versucht, vermeintliche Unstimmigkeiten sierung ein Layout durch, das die Glosse artikelweise auf
innerhalb des Werkes selbst und im Verhältnis zum gelehrten den Textus folgen ließ.
Recht aufzulösen. Die Glosse trug maßgeblich zur Autorität des Rechtsbuchs
Die aufgeschlagene Seite einer Sachsenspiegel-Handschrift bei. Johann von Buch betonte nicht nur noch einmal, dass
aus dem 14. Jahrhundert zeigt eine Anordnung von Text und der Sachsenspiegel ein kaiserliches Privileg sei, sondern stellte
Glosse, wie sie in der Bibelglossierung üblich war, später von den Text auch durch die aus dem gelehrten Recht entlehnte
den Glossatoren des gelehrten Rechts und schließlich von de- Kulturtechnik der Glossierung implizit in eine Reihe mit
nen der Volksrechte übernommen wurde. Der zweispaltig in dem römischen und kanonischen Recht.
der Mitte der Seite angeordnete Textus wird von der ebenfalls
literatur: Gumbert (1992) – Kaufmann (2002) – Kümper (2005).
zweispaltigen Glosse umrahmt. Text und Glosse werden nicht
nur durch ihre Positionierung auf der Seite deutlich vonein-
ander abgesetzt, sondern unterscheiden sich außerdem durch kerstin seidel

die Schriftgröße. Die Referenz zwischen Text und Glosse wird


durch ein Lemma hergestellt, ein Stichwort, das aus dem Tex-
tus übernommen und in der Glosse wieder aufgegriffen wird.
Zur Orientierung im Codex sind die Kapitelüberschriften
rot hervorgehoben; die Anfänge der Artikel werden durch
abwechselnd rote und blaue Initialen gekennzeichnet.
267
268 Arabisches Rechtshandbuch

al-Djundi, al-Muhtasar fi l-furuʿ al-malikiya (»Die Zusammenfassung:


die verschiedenen Zweige der malikitischen Rechtsschule«), Nordafrika,
15.–16. Jh.
Zentralbibliothek Zürich, Ms. Or. 141, fol. 34v/35r
Papier, 25,5 × 17,5 cm

Wie das »Arabische Logikhandbuch« von at-Tahtani (vgl.


S. 258) hat auch das juristische Überblickswerk »Die Zu-
sammenfassung: die verschiedenen Zweige der malikitischen
Rechtsschule« von al-Djundi (gest. 1365) eine durchdachte
Gliederung. Statt einer hierarchischen Kapitelunterteilung
finden sich unzählige aneinander gereihte Kurzkapitel, die
alle mit einem roten bab (›Kapitel‹) oder fasl (›Abschnitt‹)
eingeleitet und damit schnell auffindbar waren. In der Ab-
schrift aus dem 15. oder 16. Jahrhundert sind darüber hinaus
einzelne Stichwörter mit roter Farbe hervorgehoben. Wie
im Logikhandbuch haben mehrere Vorbesitzer ihre Namen
eingetragen.
Die Handschrift zeigt viele Gebrauchsspuren und ist das
Zeugnis einer ganzen Generation von nordafrikanischen
Juristen, die in diesem Überblickswerk fleißig nachgeschlagen
und am Rand – der heutigen Praxis nicht unähnlich – immer
neue Kommentare hinzugefügt haben. Dass die Handschrift
sehr intensiv benutzt wurde und für ihre Besitzer unersetzlich
war, zeigt sich daran, dass die arabischen Juristen zahlreiche
Blätter sorgfältig restauriert und dabei den verlorenen Text
immer neu kopiert haben. Der Anfang und der Schluss des
Handbuchs haben schließlich so sehr gelitten, dass sie – von
zwei verschiedenen Händen – ganz neu geschrieben und in
die Handschrift eingebunden worden sind.

literatur: Nünlist (2008).


andreas kaplony
269
270 Vergil: Aeneis (mit Argumenta, Scholien und
Glossen)

1508
Zentralbibliothek Zürich, Ms. Car. C 94, 257 Bll., hier fol. 81v
Papier, 31,5 × 21,1 cm

Der von einer Hand geschriebene Codex, der sich nach seiner fortlaufende Interlinear-/Marginalglossen. Kommentare und
Entstehung im Jahr 1508 (vgl. fol. 188r) in der Bibliothek Felix Grundtext traten zunächst räumlich getrennt auf, rückten
Truebs († 1594) befand und der am 9. Juli 1736 von Johann aber im Mittelalter zusammen (nach- oder nebeneinander,
R. Cramer († 1737) aus den scrinia der Propstei in die Biblio- bei Glossen auch ineinander), formten oft ein Gebilde aus
thek des Carolinums überführt wurde, enthält im Grundtext Grundtext und rahmender Erklärung und konnten dann eine
die zwölf Bücher der Aeneis Vergils. Diesem berühmtesten Einheit bilden – so bei Vergil und Servius häufig.
lateinischen Epos vorangestellt sind ein Accessus, also eine In Ms. Car. C 94 führen fortlaufende notae (Scholien und
Einführung zu Autor und Werk (In enarrandis auctoribus), Glossen) neben den Argumenta durch das Epos, wobei
sowie zwei Inhaltsangaben (Argumenta) – eine in Prosa und die ebenfalls glossierten Vers-Argumenta, die als bekannte
eine spätantike, weithin bekannte in Versen (Primus habet spätantike Texte Autorität besaßen, gemäß Position und
Lybicam). Es folgen ein Argumentum zu Buch I in Prosa Schriftgröße zum Grundtext zählen. Der Verfasser der
sowie ein Wortregister aus meist seltenen Nomen, Verben Interlinear- und Marginalerklärungen, die – wie auch seine
und Eigennamen. Die Aeneis, in deren Text vor den einzelnen Einführung und Prosa-Argumenta – in kleinerer, weniger
Büchern – jedoch nicht vor jedem – Ovid zugeschriebene autoritativer Schrift ausgeführt sind, kannte ›Vergilklassiker‹
Vers-Argumenta eingefügt sind (am Rand stehen auch prosa- (Servius, Donatus) sowie damals moderne Autoren (F. Fi-
ische), beginnt fol. 4r mit einem nicht von Vergil stammenden lelfo, F. Beroaldo d. Ä., A. Mancinelli, J. ›Ascensius‹ Bade).
Vorspann aus vier Versen (Ille ego qui). Kompilationen einzelner, den Grundtext rahmender Kom-
Die von Anfang an erfolgreiche Aeneis wurde bald Schultext mentare waren auch in Vergildrucken jener Zeit beliebt. Bis
(Grammatik, Metrik, Rhetorik, Latein, Sachfragen), und tief ins 16. Jahrhundert war eine solche aus Servius, Donatus,
Vergil – meistgelesener Klassiker in mittelalterlichen Klos- Mancinelli, C. Landino und D. Calderini weit verbreitet. Für
terschulen und Schulautor bis heute – wurde als Musterautor den Unterricht druckte man auch später noch in dem ›Lay-
zu einem prägenden Vorbild in Poesie und Prosa. Spätestens out‹ und mit dem ›Zubehör‹ (Accessus, Argumenta, notae,
seit der Karolingerzeit war dieser ›größte aller Dichter‹ Register), wie sie der Zürcher Codex zeigt.
und ›Meister allen Wissens‹ omnipräsent. Als autoritativer
literatur: Comparetti (1872) – Mohlberg (1932) – Berschin (1986) – Ka-
(Schul-)Text wurde sein Werk kommentiert; zwei spätantike
talog der datierten Handschriften in der Schweiz (1991) – Stotz (1998).
Vergilkommentare – der selbst zur auctoritas gewordene des
Servius und der des Tib. C. Donatus – verkörpern zwei typi-
sche Arten der Erklärung: Scholien- und Expositionskom- stefan weber

mentar. Eine dritte, auf einzelne Wörter bezogene Art sind


271
272 Giovanni Boccaccio: Teseida (mit Glossen)

Florenz, 1341/42
Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Acquisti e Doni 325, hier
fol. 3r
Pergament, 27,5 × 19,6 cm

Bei dem von einer Hand geschriebenen Codex handelt es Früh trat er in Kontakt mit Dichterzirkeln sowie dem Hof
sich um ein Autograph Giovanni Boccaccios (1313–1375), in Neapel und verfasste erste Werke in Versen und Prosa.
bekannt als Verfasser des Novellenzyklus Decamerone. Boccaccios frühe Werke waren eng mit ihren klassischen
Der Autograph enthält eine der frühesten Dichtungen Boc- literarischen Vorlagen verbunden, welche er eingehend
caccios, die Teseida delle nozze d’Emilia. Das Epos, das in studierte, nachdem er sie gekauft, ausgeliehen, kopiert und
italienischer Sprache und in der typisch italienischen Form vor allem glossiert hatte. Viele Bücher seiner Bibliothek
von Oktaven (ottava rima) verfasst ist und primär auf der haben sich erhalten und belegen seine Arbeit mit glossierten
lateinischen Thebais des antiken römischen Dichters Statius Texten. In der eigenhändigen Glossierung einer verlorenen
basiert, erzählt in zwölf Gesängen vom Wettstreit zweier Thebais-Handschrift, die sich in seinem Besitz befand, lag
Krieger um die Liebe einer Frau (Emilia) vor dem Hinter- auch der Ursprung seines Teseida-Projekts, das er entweder
grund von Theseus’ erfolgreichem Kampf gegen Theben. noch in Neapel 1340 oder nach der Rückkehr in seine Hei-
Die Handschrift wird auf die Jahre 1341/42 datiert. Ihre matstadt Florenz 1341 aufnahm, wo er zunächst als Richter
Schrift ist eine zeitübliche gotische Buchschrift, wie der Dich- und Notar arbeitete.
ter sie kaum verändert lebenslang gebrauchte. Bemerkenswert Als ausgebildetem Juristen und Kenner der klassischen Li-
ist, dass der einspaltig geschriebene Text in weiten Teilen mit teratur war Boccaccio der autoritative Status von glossierten
Marginalglossen aus der Hand Boccaccios versehen ist. Die Texten bekannt. Seine Glossierung der Teseida kann daher
Schrift seiner Glossen ähnelt meist seiner formal gestalteten außer als Lesehilfe und Erklärung auch als Inszenierung
Buchschrift, doch finden sich auch solche in kursiver Ge- des eigenen Werks verstanden werden: Boccaccio rückte
brauchsschrift – in den Anmerkungen der Florentiner Hand- das Epos mittels dieser Darstellungsform in die Nähe ka-
schrift werden beide Formen verwendet. Bei diesen Glossen nonischer, autoritativer Schriften. Die Autorität, die einem
handelt es sich weitgehend um Erläuterungen inhaltlicher Art Dichter und seinem Werk postum zugesprochen wurde und
und um Verweise auf klassische und moderne Autoren, zum die in der kommentierenden Glossierung des entsprechen-
Beispiel Vergil oder Dante Alighieri. Mit Dante sollte sich den Textes Ausdruck fand, ordnete Boccaccio somit seinem
Boccaccio noch eingehend beschäftigen, so verfasste er eine eigenen Gedicht zu und erklärte sich damit selbst zu einem
Biographie und Kommentare zur Divina Commedia. literarischen ›Klassiker‹.
Als junger Mann wurde Boccaccio von seinem Vater um
literatur: Vandelli (1929) – Branca (1992) – Hauvette (1968) – De la Mare
das Jahr 1327 nach Neapel gesandt, um eine kaufmännische
(1973) – Anderson (1994) – Malagnini (2006).
Ausbildung zu beginnen. Später studierte er dort kanoni-
sches Recht. Schon in der Studienzeit zeigte sich sein großes
Interesse an lateinischer und volkssprachlicher Literatur. lena rohrbach/stefan weber
273
Heil
Einleitung 277

Schrift – Medium des Heils

Die Bibel, die Sacra Scriptura, ist für das Buch- und Schrift- Medium des Heils hat zeitgenössische Aussagen und Prak-
verständnis des Christentums zentraler Bezugspunkt: Sie tiken ebenso zu berücksichtigen wie sie auf die konkrete
vermittelt die Heilsgeschichte, indem sie die kanonischen Überlieferung und deren Erscheinungsformen verwiesen ist.
Bibeltexte überliefert. Doch e n t h ä l t sie nicht nur die Beispielsweise stehen vielfältige individuelle Ausgestaltungen
heiligen Schriften, sie selbst i s t heilige Schrift; sie fungiert der einzelnen Bibelexemplare der kanonischen Identität
nicht nur als Überlieferungsträger von heiligen Texten, son- der Sacra Scriptura gegenüber: Seitengröße, Textgestalt und
dern ist in ihrer Buchgestalt ein eminent auratisches Heils- Buchschmuck weisen auch in zeitlicher und geographischer
symbol. Der auratische Charakter der Bibel, der zwischen Nähe ihrer Produktionen je eigene Aneignungen und Insze-
Repräsentation und Präsenz von Heil oszilliert, hat sich in nierungen von Schriftbildlichkeit auf. In all ihren Einzelfällen
der Geschichte des Christentums auf zahlreiche weitere der Überlieferung sind daher die medialen Eigenschaften und
religiöse und weltliche Formen des Schriftgebrauchs über- das Nicht-Verbale der Schrift den individuellen Schriftträ-
tragen, deren Funktionen nicht auf das zu reduzieren sind, gern jeweils eigens ›abzulesen‹.
was in den Schriften textlich enthalten und formuliert ist. In Die Frömmigkeitsformen, die das Spätmittelalter charak-
liturgischen Büchern, Gebets- und Erbauungsbüchern, in der terisieren, haben eine Extension und Intensivierung der
Aufnahme von Buchstabenzeichen in Bilder, Gegenstände Gebrauchsformen von Schrift erzeugt; neue Frömmigkeits­
und in verschiedene Materialien fungiert Schrift nicht nur als praktiken entwickelten und veränderten auch das Verständ-
geschriebene Sprache, sondern kann als sichtbares Zeugnis nis von der Medialität der Schrift. In zahlreichen Bereichen
göttlicher Offenbarung in der Welt gelten. ist das Bestreben sichtbar, Schrift ästhetisch zu gestalten, die
Ein solches Konzept von Schriftlichkeit hat seine Quelle Aura der Schriftlichkeit augenfällig zu machen und sie als
auch in den biblischen Texten selbst, insbesondere in jenen ein Medium des Heils auszustellen; Schriftproduktion und
Passagen, in denen Schrift den Status eines transzendenten, -rezeption führen dabei lang etablierte Traditionen fort und
geheiligten Mediums besitzt. Zudem verdankt sich die au- bilden mitunter neue Formen aus.
ratische Aufladung der Bücher und Schriftzeichen ritueller
Praktiken und theologischer Diskurse. So sind für die lange
Geschichte des Christentums im Einzelnen zahlreiche his- Schrift-Raum und sozialer Raum
torische, regionale und kulturelle Differenzierungen anzu-
setzen. Sind einerseits die generellen Bedingungen religiöser Kulturelle Vorstellungen von Schrift- und Schriftmacht sind
Schriftlichkeit zu bedenken, so gilt es andererseits, den Blick stets abhängig von historischen Praktiken, die an soziale
für die historische Vielfalt der Kontexte und Funktionen zu Gruppen und Institutionen gebunden sind. Die Verwaltung
schärfen. Eine historische Beschreibung von Schrift als ein des Heils wie auch die der Schriftlichkeit liegen im Mittel-
278 alter lange Zeit in der Verantwortung der Kirche und lösen konnte, sollen Aspekte von Schrift als Medium des Heils im
sich erst im Spätmittelalter teilweise von ihr, verbunden späten Mittelalter skizziert werden.
mit der Ausweitung der Lesefähigkeit und der Entwick-
lung einer Laienfrömmigkeit, die sich auch außerhalb von
kirchlichen Institutionen und Strukturen entfaltet. Trotz der Der klausurierte Klosterraum:
zunehmenden gesellschaftlichen Literalität obliegt dem (in Wissens- und Heilsverwaltung
unterschiedlichem Maße) lese- und schreibkundigen Klerus
allerdings zumeist weiterhin, religiöses Schrifttum in seinen Das Kloster definiert sich schon von seiner Wortbedeutung
Erscheinungsformen und Inhalten zu prägen. Er ist zum her als abgeschlossener, eingegrenzter Bezirk; seine Bewoh-
Beispiel verantwortlich für die sukzessive Ausdifferenzie- ner halten zumeist die stabilitas loci ein. Gebetsleistung und
rung verschiedener liturgischer Bücher (Missale, Graduale, Gottesdienst aber verschränken den monastischen Raum
Prozessionale usw.) und vornehmlicher Produzent weiterer mit dem Lebensraum der Laien, denn die klösterlichen
Gattungen geistlicher Literatur (Erbauungsbücher, Predig- Handlungen für das Seelenheil dienen immer auch den
ten, Traktate und Übersetzungen theologischer Schriften in Menschen aus der säkularen Umwelt. Im Spätmittelalter
die Volkssprachen) im Spätmittelalter. Mitglieder des Klerus suchen die neuen Mendikantenorden dezidiert die Nähe der
verantworteten zumeist auch die visuelle und bildliche Ge- Stadt und sind in der Volksseelsorge tätig. Im Unterschied
staltung der Texte und Bücher. Doch sind die Eigenheiten zu den alten Orden fördern sie eine volkssprachliche Text-
spätmittelalterlicher Schriftlichkeit mit einer Beschränkung produktion, die auf eine vermehrte Lesefähigkeit und auch
auf die klerikale Kultur nicht hinreichend zu fassen. Als auf ein gesteigertes Bedürfnis nach privater Frömmigkeit
Schriftkultur hat das Mittelalter auch insofern zu gelten, als trifft. Doch vollzieht sich in der Geschichte der Orden keine
Geschriebenes von Personen und Personengruppen wahr- einsinnige Entwicklung, insbesondere die mendikantischen
genommen, identifiziert und angeeignet wurde, die selbst Nonnenklöster werden durch Reformbestrebungen wieder
nicht lesen und schreiben konnten. Auch illiterati nämlich stark an das benediktinische Ideal rückgebunden und leben
partizipierten an der Schriftkultur und beeinflussten sie in strenger Klausur.
sogar, zum Beispiel als Bücherbesitzer und Auftraggeber. Dem Heil der laikalen Mitmenschen dient die Gebetsleis-
Buchbesitz fungierte als Ausdruck von Status und Reprä- tung, die in den Dienst der Memoria gestellt wird: An den
sentation, zugleich aber auch als symbolische Teilhabe an Todestagen wird nicht nur der Heiligen gedacht, sondern
der geistlichen Schrift- und Buchkultur. auch der verstorbenen Angehörigen des Klosters, der Stif-
In mehrfachem Sinne ist Schrift als Medium der Transgres- ter und Wohltäter; im Rahmen von Gebetsverbrüderungen
sion von Räumen, Individuen, Gemeinschaften und Ständen werden auch die Namen anderer Verstorbener verlesen.
zu verstehen. Sie stiftet Identität und bildet communitas, Mitunter werden solche Namen in ein Exemplar des als liber
grenzt aber auch aus. Anhand verschiedener ›Räume‹, die vitae geltenden Evangeliums eingetragen, damit die Verstor-
als ›Kommunikationszentren‹ (Wenzel 1986) beziehungs- benen dereinst beim Jüngsten Gericht in Gottes ›Buch des
weise ›Teil- oder Binnenöffentlichkeiten‹ (Faulstich 1996) zu Lebens‹ übertragen werden können. Schrift garantiert hier
betrachten sind und in denen das heilswirksame Potenzial in der Form des Registers Memoria und Memoria garantiert
der Schrift auf je eigene Weise entstehen und sich entfalten Heil. Es entsteht eine solidarische, die Zeiten überdauernde
Gemeinschaft von Lebenden und Toten, die aneinander zu spezifischen Formen von Schriftlichkeit und Lektüretech- 279
denken und füreinander handeln. niken, die ein nicht-lineares Lesen einfordern; es entstehen
Die darin aufscheinende Heilsökonomie wird insbesondere komplexe Medialisierungen, in denen Wissen verräumlicht,
durch Schriftlichkeit verwaltbar und auf Dauer gestellt. Das schematisiert und in elaborierte Ordnungen transformiert
zeigt sich zum Beispiel im Einsiedler Brevier mit seinem wird (Meier 2003). Wird die natürliche Welt im christlichen
Urbarteil, wo Gebetsleistung und gestifteter Besitz zwi- Denken als zweites Buch Gottes aufgefasst, so werden in
schen denselben Buchdeckeln vereint erscheinen. Vielleicht den monastischen Schriftpraktiken für das ›Buch der Natur‹
wurde der Band auch für Eidesleistungen im Zusammenhang neue ›Aufschreibesysteme‹ geschaffen. Schrift und Natur,
mit Lehensakten benutzt, wie überhaupt der Schwur auf Grapheme und Episteme, Text- und Weltaneignung ver-
heilige Texte öfters die Legitimation von Rechtshandlun- schränken sich wechselseitig.
gen bekräftigt, eine symbolische Handlung, die gerade für Die klerikale Kultur prägt allerdings schon in ihrer tra-
illiterate Beteiligte augenfällig war und die Unwiderruf- ditionellen Vermittlung der Schreibfertigkeit bestimmte
lichkeit des Aktes demonstrierte (Bridges 2005). Kontakte Haltungen und Konzepte. So wird im Rahmen des Trivium
mit der Außenwelt über die Schrift ergaben sich aber nicht (Grammatik, Rhetorik, Logik/Dialektik) ein systematisch-
nur in Verwaltungsangelegenheiten: Bezeugt sind intensive logisches Sprach- und Schriftdenken eingeübt, aber auch ein
Austausch-, Geschenk- und Ausleihaktivitäten von Hand- Denken in (sprachlichen und mentalen) Bildern. Das Qua-
schriften, über Ordensnetzwerke, Familien-, Gönner- und drivium (Musik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie) sen-
Herrschaftsbeziehungen. sibilisiert für die Bedeutung der Zahlen und der Harmonie
Abgesehen von der spirituellen Sorge für die Umwelt und (auch Musik ist wesentlich ein theoretisches und schriftlich
von administrativen Aufgaben ist für das Klosterleben auch notiertes System, das ordo sichtbar macht). Systematizität,
in anderen Hinsichten die Grenzüberschreitung nach außen Logik und Harmonie finden in der mittelalterlichen Schrift-
konstitutiv. Der monastischen Abgeschiedenheit steht eine produktion nicht nur auf einer inhaltlichen, sondern auch
mentale Öffnung zur Welt gegenüber. Diese Öffnung erfolgt in der visuellen Gestaltung von Texten auf Pergament oder
in erster Linie über die Schrift und über das vermittelte Papier ihren Niederschlag. Besonders augenfällig werden
Schriftwissen. Bis zum Aufkommen der Universitäten ist diese Prinzipien in diagrammatischen Zeichnungen, aber
das Kloster der exklusive Ort der schriftlichen Wissenstra- auch schon in der Aufteilung von Buchseiten, in Layout
dierung, die Institution, an der sich das Wissen über den und in der Verteilung und Ausgestaltung von Initialen
Kosmos und die darüber hinausreichenden Dinge sammelt und Bildern. Die ästhetischen Dekorationen und mitunter
und die als Garant der Schriftauslegung fungiert. Auch in den aufwändigen visuellen Gestaltungen von Texten sind daher
späteren Jahrhunderten bleibt das Kloster eine prominente nicht einfach nur Schmuckelemente, sondern sind in ihren
Institution der Vermittlung und Konservierung von Bildung, Formen und Symmetrien sinntragend. Selten zufällig ist
auch für das naturkundliche Wissen. Es ist ein Wissen, das auch die Verwendung von Farben, welche im Wechselspiel
nicht in empirischer Erfahrung erworben wurde, sondern mit Schrift und Text ihre allegorischen und allegoretischen
aus Büchern, das sich in Schrift, Diagrammen und Bildern Bedeutungsdimensionen entfalten können (Ernst 2006).
auf den Buchseiten entfaltet und nur dort entziffert werden In der Klosterbibliothek wird das so gesammelte, aufberei-
kann. Die Verschränkung von Weltwissen und Schrift führte tete und tradierte Wissen aufbewahrt und der Gemeinschaft
280 zum Studium zur Verfügung gestellt; in der Bibliothek selbst mittelalterlichen Reformbewegung zugrunde lag, förderte
oder in der Klosterzelle erfolgt die Lektüre in individueller den geistlichen Gewinn der Schreiber ebenso wie die bis
Auseinandersetzung mit den Texten. Lectio und meditatio, dahin nicht gekannte, weite Verbreitung religiöser Texte.
Lesen und Beten, können dort ineinander übergehen, wo An die heilswirksame Kraft des Schreibens knüpft insbe-
das Ziel nicht die Aneignung von Wissen ist, sondern das sondere das mystische Konzept des ›Schreibbefehls‹ an, das
»Verkosten göttlicher Weisheit, ja Gottes selbst« (Angenendt den Impuls des Schreibens von Gott oder einem vertrauten
2
2000, S. 174). In den Büchern findet der lesekundige Mönch Mentor herleitet und das sich bei den spätmittelalterlichen
Stoff zum Studium, zur Reflexion und zur Meditation, aber Mystikerinnen mehrfach findet (Mechthild von Magdeburg).
auch direkte Anleitung für den persönlichen Erwerb von Im Kontext der Mystik erhält Schrift einen besonders auf-
Heil wie dessen gegenwärtige Aktualisierung. Schrift und geladenen, aber auch einen besonders prekären Status. Zum
Buch garantieren dabei die Authentizität der Texte. Das gilt einen ist den Mystikern das Paradox aufgegeben, dass sie
auch für die Texte, die im Klosteralltag in Gebrauch sind: nur über Sprache und Bilder ihr Heilserleben vermitteln
Klosterregel, Heiligenlegenden und die Texte der Kirchen- können, das letztlich nicht mit Worten zu beschreiben ist.
väter verbürgen in ihrer Schriftlichkeit die Autorisiertheit Die Visionen werden gerade dadurch authentisiert, dass sie
der Inhalte. Dieser Zusammenhang gilt noch für die soge- von Ungelehrten berichtet werden. Die inspirierte docta
nannten Reliquienauthentiken, die in schriftlicher Form den simplicitas erscheint aller Buchgelehrtheit weitaus überlegen
Reliquiaren beigegeben sind, um die Heiligen mittels der (Heimbach 1989). Zum anderen steht dieser Entmächtigung
Schriftzeichen identifizierbar zu machen. Auch dort, wo von Schrift ihre enorme Auratisierung entgegen, denn der
Texte auswendig gewusst sind, bleiben Inszenierungen von göttliche Auftrag zu schreiben, die Buchmetaphorik und
Schrift für deren Autorisierung wesentlich. In der Schola Schriftmetaphysik der Visionen, in denen das mystische
cantorum beispielsweise reihen sich die Klostermitglieder Buch unmittelbar von Gott authentisiert scheint, desavou-
um ein oft imposantes und für alle sichtbares Chorbuch ieren die mittelalterliche Schriftkultur gerade nicht, sondern
auf, welches weniger als Gedächtnisstütze für die auswendig verorten die Mystik in ihr. Der Körper des Mystikers wird
vorgetragenen Gesänge dient, als dass es die Tradition der dabei selbst zur Einschreibfläche und zum Schriftträger,
auf Papst Gregor den Großen zurückgeführten und von etwa wenn Heinrich Seuse die Buchstaben des Namens Jesu
Gott inspirierten heiligen Musik als privilegierten Zugang in sein eigenes Herz einzeichnet (Küsters 1999). Das Motiv
zum Heil legitimiert. der Körperschrift erscheint dort besonders komplex, wo die
Aus der klösterlichen Praxis stammt auch die Anschauung, Inkarnation Christi als Diktat, Christi Körper als Schrift-
dass Schreiben selbst bereits als frommes Werk gilt. Das stück, in das sich die Wunden der Passion eingeschrieben
benediktinische Ideal des ora et labora definiert das Herstel- haben, erscheint (Wenzel 2000). Im Spätmittelalter wird diese
len und Abschreiben von Büchern als eine Möglichkeit des Allegorese des Buches in der Volkssprache breit entfaltet,
Heilserwerbs; das in mühevoller Arbeit kopierte Buch wird beispielsweise im Marienleben des Heinrich von St. Gallen
am Tag des Jüngsten Gerichts zu den guten Taten gerechnet (Richter 1968). Das Charisma der Schrift erhält im Bild
werden. Diese Vorstellung prägt auch die asketische Schreib- der Körpereinschreibung eine zusätzliche Verdichtung, die
praxis der Devotia Moderna. Das Ideal des ›Schriftapostolats‹ wiederum die Schriftlichkeit und Ausstattung mystischer
(Kock 1999), das der hohen Schriftproduktivität dieser spät- Überlieferung affiziert.
Der öffentliche Kirchenraum: Heil im Prozess Gott wohne zwischen zwei Buchdeckeln, deutet das Buch 281
als Reliquiar, in dem ein heiliger Körper aufbewahrt wird
Die Funktionen, die Schrift und Buch auch im öffentlichen (Wenzel 2000). Im Gottesdienst werden liturgische Bücher
Kirchenraum einnehmen, sind in vielen Hinsichten von den (Sakramentar, Epistolar, Evangelistar, Graduale, Psalterium,
monastischen Buchpraktiken abhängig. Die klösterliche Pro- Pontifikale, Missale u. a.) in den rituellen Ablauf der Messe
duktion liturgischer Bücher mit ihren festen Texten ließ über- einbezogen und dem Gläubigen demonstrativ vor Augen
haupt erst eine einheitliche Traditionsgemeinschaft entstehen gestellt, indem sie feierlich getragen, gehoben, berührt,
und gab ihr über größere zeitliche und räumliche Distanz geküsst und geöffnet werden und daraus mit besonderem
hinweg Bestand. Die liturgischen Handschriften fixieren Tonfall oder Sprechgesang vortragen wird. Das Buch wird
und kodifizieren religiöse Kommunikation und machen sie derart zum Objekt der Verehrung, von ihm geht eine au-
wiederholbar, wodurch sich die Glaubensgemeinschaft nicht ratische, mitunter geradezu magische, nicht nur Heil brin-
nur in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Ausdehnung als gende, sondern auch körperlich heilende Ausstrahlung aus,
ein corpus mysticum verwirklichen kann (Klöckener/Häuß- wie etwa der Einsatz heiliger Schriften auch außerhalb des
ling 2004). Die sichtbare Anwesenheit liturgischer Codices gottesdienstlichen Kontextes, im lebensweltlichen Umfeld,
in den Gottesdiensten verweist auch auf diese vernetzende bezeugt (Schreiner 2002). Charakteristisch für das Spätmit-
Funktion von Schriftlichkeit. telalter ist allerdings, dass diesem Trend zur Materialisierung
Die Schrift und ihre Zeichenhaftigkeit oszillieren im kirch- des Heils einer zur religiösen Verinnerlichung gegenüber-
lichen Kontext zwischen Revelation und Verbergen: Für steht. Die zunehmende Bedeutung, welche das subjektive
den illiteraten Gläubigen, welcher die Schrift und ihren Sinn Verstehen und das emotionale Nachvollziehen der Liturgie
nicht selbst zu entziffern und zu deuten in der Lage ist, sind gewinnt, resultiert sogar in einer »Aufspaltung von Ritus
Schrift und Buch ein Faszinosum, deren Bedeutsamkeit über und Frömmigkeit« (Angenendt 2000); es entstehen neue
Ausstrahlung, Präsenz und Einbindung in rituelle Praktiken Buchtypen, die sich auf die kirchlichen Riten beziehen, aber
erfahrbar gemacht werden kann. Für den gebildeten Kleriker für die individuelle Rezeption gedacht sind. Volkssprachige
hingegen eröffnen sich über die Entzifferung der Schrift Messandachten und -auslegungen und die Übersetzungen
hinaus weiterreichende, vielschichtige, letztlich aber doch theologischer Werke gehören zu den spätmittelalterlichen
unergründliche Dimensionen, die auch nach Anwendung Neuerungen, die sich darum bemühen, auch unter den La-
der erlernten exegetischen Mittel und dem Studium der kirch­ teinunkundigen das Verständnis des lateinischen Ritus zu
lichen Autoritäten auf das Geheimnis zurückverweisen. fördern (Burger 2001; Lentes 2001).
Das Spätmittelalter kannte zahlreiche Rituale, die eine Die Zeichenhaftigkeit des Kirchenraumes nimmt zahlreiche
wechselseitige Auratisierung von Schrift und Kulthandlun- Elemente der Schriftkultur auf und schließt an Formen der
gen bewirkten und deren Tradition noch in die Spätantike schriftlichen Bedeutungskonstitution an. Die Wand- und
zurückreichen. So dienen Evangeliare in zeremoniellen In- Tafelgemälde oder Skulpturen, aber auch die geometrische
szenierungen als Objekte der Verehrung, die durch rituelle Symbolik der Kirchenarchitektur sind mit den Mitteln der
Berührung und Kuss heilsvermittelnde Kräfte freisetzen. In Allegorese zu deuten, aber zusätzlich auch mit allen Sinnen
diesem symbolischen Verständnis konnte die Bibel als ma- zu erfahren. Der gotische Kirchen- und Kathedralraum ist
terielle Vergegenwärtigung Gottes gelten. Die Vorstellung, selbst nicht nur Kulisse für die Liturgie, sondern spielt selbst
282 mit, ist ›Liturge‹ (Gerhards 1998). Die zumeist in Latein imaginär mit ihr verschränkte (Angenendt 2001). Eine wich-
gehaltenen Schriftelemente auf Glasfenstern, Skulpturen, tige Rolle für die private Heilssorge erhielt insbesondere das
Wandmalereien – aus dem Schriftraum des Buchs auf an- Stundenbuch, das es Adligen und wohlhabenden Bürgerin-
dere Medien übertragen und in programmatische, zum Teil nen und Bürgern ermöglichte, das klösterliche Stundengebet
hochkomplexe theologische Bezüge gesetzt – dienen auch nachzubilden. Die oftmals prächtige Ausstattung bezeugt
hier nicht einzig der korrekten Identifizierung und Deutung den repräsentativen Status dieser Bücher und macht am
ikonographischer Programme, sondern sie repräsentieren kostbaren Exemplar die Bedeutung sichtbar, die den rituellen
(und dies nicht nur für illiterate Bevölkerungsschichten) Tagzeiten auch im privaten Raum zukommt.
Schriftlichkeit als solche. Im Spätmittelalter erhalten zudem Das Lesen im Stundenbuch förderte nicht nur eine Privati-
die Bildbeschriftungen in den Kirchen neue Funktion. Wurde sierung des Gebets, sondern auch ein spezifisches Verhältnis
der Glaube an die präsentische, unmittelbare Wirkmacht von zur Schriftlichkeit der religiösen Texte. Der visuelle Akt des
Bildern seitens der Kleriker immer häufiger kritisiert, so stillen Lesens, der an die Stelle des mündlich artikulierten
wurde durch die Beischriften, welche die lehrhaften Gehalte Gebets treten konnte, wird in den Stundenbüchern zuneh-
von Bildern fixierten und vereindeutigten, einer quasi-magi- mend reflektiert: Durch das Auge dringe der Text ins Herz,
schen Wahrnehmung der Bilder entgegengesteuert (Slenczka das Auge, das die Schrift lese, heißt es beispielsweise, ›höre‹
1998; Lentes 1999). Die Präsenz von Schrift im spätmittel- die geschriebenen Gebete (Saenger 1985). Zudem entstehen
alterlichen Kirchenraum ist dementsprechend vielfältig: Sie zwischen den neuen handlichen, portablen Stundenbüchern
zeigt und verhüllt gleichzeitig, sie objektiviert und auratisiert, und ihren Besitzern enge und individualisierte Beziehungen.
sie dient der individuellen Meditation und der raumübergrei- Kleine Gebetbücher, die stets bei sich getragen werden kön-
fenden Herstellung von communio. Zu beobachten sind auch nen, werden zunehmend beliebter, mitunter fungieren sie
zunehmend private Formen der Heilssorge, für die sich neue sogar in einem schriftmagischen Sinne als Talisman.
Medien des Heils ausbildeten. Die Erscheinungsform der sich vermehrenden volksspra-
chigen Texte orientiert sich dabei vornehmlich an den
Konventionen lateinischer Schriftlichkeit. Initialenschmuck,
Der Privatraum: Heil im Alltag Layout und Schrifttechniken der für die Laien (aber auch
für den privaten Gebrauch von Ordensleuten) bestimmten
Die generelle Verbreitung der Schriftlichkeit im Spätmittel- Bücher zitieren die autorisierende Funktion der gelehrten
alter vermehrte auch die Formen und Medien, in denen das Schriftkultur in die volkssprachige Lektüre. Schließlich
von Kloster und Kirche erwartete Heil in die Alltagswelt der setzt im Spätmittelalter die Produktion von Schriftlichkeit
Laien übertragen werden konnte. Die zahlreichen spätmittel- auch seitens privater Personen ein. Das Herstellen eigener
alterlichen Messandachten beispielsweise dienten auch dazu, Andachts- und Erbauungsbücher, die private Sammlung von
Messgebete und Handlungen individuell und außerhalb der religiöser Literatur knüpft mitunter noch an das monastische
Kirche nachzuvollziehen. Neben das Beten in der Messe tritt Konzept des Schreibens als einer heilswirksamen Praxis an.
derart das private, schriftgebundene Beten der Messe, das Der frühneuzeitliche Buchdruck wird die Produktion von
sich zeitlich und räumlich von der kirchlichen Institution Schriftlichkeit gänzlich aus den Kontrollbereich der Kirche
unabhängig gestalten konnte, sich jedoch konzeptionell und rücken; doch auch hier ist im Medium der neuen Technik eine
Anknüpfung an die Schriftinszenierung früherer lateinischer Im liturgischen Jahr gaben insbesondere die zahlreichen, 283
Buchproduktion als eine autorisierende Strategie zu beob- im Spätmittelalter zunehmenden Prozessionen vielfachen
achten. Die technische Reproduzierbarkeit von Schrift bleibt Anlass, innerhalb von Gottesdiensten den Kirchenraum zu
derart imprägniert von der handschriftlichen Praxis. Wie sich verlassen und in rituellen Zügen durch die Stadt, das Dorf,
beispielsweise an den deutschsprachigen Perikopenbüchern auch den Feldern entlang zu prozessieren, bis man wieder in
zeigt, bleibt die Verschränkung der privaten Lektüre mit den den Kirchenraum zurückgelangte. Die Umgänge schließen
kirchlichen Gottesdiensten oftmals weiterhin eine enge. den umliegenden Raum, indem er abgeschritten wird, eng
an die lokale Kirche an; sie knüpfen derart Verbindungen
zwischen den Zentren der Heilsverwaltung und der Periphe-
Der freie Raum: Heil in der Welt rie des Alltagslebens. Prozessionen dienen dazu, den Raum
sinnfällig zu strukturieren, symbolisch zu transformieren,
Ist religiöses Schrifttum demnach an bestimmte Entstehungs- ihn sogar zu heiligen (Felbecker 1995). Verschiedene Ge-
und Rezeptionsräume geknüpft, welche die Heilswirksam- bräuche konnten die Umgänge mit Schrift verbinden: Das
keit der Schrift prägen, so ist die Abhängigkeit von Raum Lesen von Evangelienanfängen an vier Stationen in vier
und Schrift insofern vielfach reziprok, als durch Schrift Raum Himmelsrichtungen, das Lesen von einzelnen Perikopen
heilswirksam strukturiert, semantisiert und auch virtualisiert auf den Wegen, auch das Mitführen des Prozessionale, das
werden kann. So geben Pilgerführer den Reisenden prakti- Anweisungen für den Prozessionszug enthält – solcher Ge-
sche Informationen, die sie für ihre Wegetappen benötigen; brauch von Büchern dient einem Prozess der Semantisierung
sie erläutern die Sakraltopographie des Wallfahrtsortes, die des Raumes, der jedoch in der geographischen Umwelt
oft verknüpft ist mit konkreten Angaben der jeweils zu ge- selbst keine Spur hinterlässt; dies gilt auch für das Beispiel
winnenden Ablässe. Solche Texte wurden mitunter Grund- einiger Kirchenglocken, die als ein Medium des Heils vom
lage für persönliche Pilgerberichte, doch zeichnen sie sich Kirchturm aus in den freien Raum hinauswirken: Eingeprägt
in der Regel dadurch aus, dass die individuellen Erlebnisse in diese Verkündungsinstrumente ist eine Schrift, die weder
mit Elementen autoritativer Texte verquickt sind, die sich sicht- noch hörbar ist und die dennoch die Glocke auf die
aus Bibelpassagen oder Heiligenviten speisen und die Wahr- jeweils durch die Inschrift akzentuierte Weise heilswirksam
nehmung am Zielort steuern (Ganz-Blättler 1990). Mitunter zu machen sucht.
wurden diese Texte von vorneherein als Anleitung für eine
›geistliche Pilgerfahrt‹ konzipiert, sie dienten dem mentalen
Nachvollzug der räumlichen Bewegung in der Imagination. Resümee
Für Leser aus dem monastischen Bereich sowie für jene, die
aufgrund körperlicher Gebrechen nicht selber pilgern kön- Ist der Status von Schrift einerseits jeweils auf Räume ihrer
nen, bietet die Lektüre der Texte gleichwertigen Ersatz für die Produktion und Rezeption zu beziehen, so ist als eine Ent-
Reise (Beloschnitschenko 2004). Diese Substitutionsfunktion stehungsbedingung für sie zugleich die stete Überschreitung
wird besonders dort augenfällig, wo die vor Ort praktizierten dieser Räume vorausgesetzt; diese transzendierende Eigen-
Gebete und Gesänge in den Text inseriert sind; Text- und schaft ist geradezu konstitutiv für Schrift und prädestiniert
Wegetappen werden so in der Schrift enggeführt. sie als ein Medium des Heils. Das späte Mittelalter mit seinen
284 multiplen Formen von Schriftlichkeit vervielfältigte auch die
Möglichkeiten, mittels der Schrift regionale, institutionelle,
soziale und ästhetische Räume zu überschreiten. Oftmals
erweisen sich zudem die Räume, die ›Kommunikationszent-
ren‹, von Schriftproduktion und -rezeption als eng vernetzt:
So unternahmen die Bürger der Stadt Zug, wie auch Bürger
vieler anderer Stände und Orte der Schweiz, seit dem späten
Mittelalter alljährlich Wallfahrten zum benediktinischen
Kloster Einsiedeln. Die erhaltenen Bestände in Zug und
Einsiedeln, aus welchen die Mehrzahl der im Folgenden
abgebildeten Objekte ausgewählt wurden, können derart als
Zeugnisse spätmittelalterlicher Schriftproduktion und Buch-
sammlung gelten, die sowohl die Spezifik als auch die stete
Vermengung von regionalen und kulturellen Eigenheiten der
Stadt, der Pfarrei, des Klosters und der Wallfahrtspraxis zu
illustrieren vermögen; sie vermitteln auch heute noch einen
lebendigen Eindruck davon, wie vielgestaltig sich im christ-
lichen Kontext Heil in und als Schrift verheißt.

cornelia herberichs/rené wetzel


286 Einsiedler Monumentalbibel

Einsiedeln, 2. Viertel 11. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 1(8), 484 Bll., hier fol. 405v/406r
Pergament, 48 × 37,5 cm

›Riesenbibeln‹ werden gewöhnlich mit der Kirchenreform in der Bibliothek befanden. Der Band ist überdies reich an
der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Verbindung ge- kunstvollen Initialen, Kanontafeln, Federzeichnungen (im
bracht und bürgern sich nördlich der Alpen erst im 12. Jahr- Oktateuch-Teil) und besitzt ganzseitige Evangelistenbilder.
hundert ein. Die ursprünglich aus zwei Teilen bestehende Im klösterlichen Kontext dienten solche Bibeln in erster
und im 15. Jahrhundert zu einem einzigen Band vereinte Linie dem Lese- bzw. Vorleseakt, der lectio divina; es wurde
Monumentalbibel aus dem Einsiedler Skriptorium datiert aus ihnen im Rahmen des Chorgebets, im Kapitelsaal oder
von Euw (2004 und 2006) aber schon in die Zeit zwischen Refektorium (aber kaum bei der Messfeier) vorgetragen und
1030–1050 und stellt sie zumindest ihren ästhetischen Nor- damit das im Buch sichtbare Wort Gottes auch akustisch zum
men nach in die Tradition der karolingischen Alkuin-Bibeln. Erklingen gebracht und hörbar gemacht.
Ihre außerordentlichen Dimensionen erklären sich nicht nur Zu sehen ist der Beginn des Johannesevangeliums mit vorge-
aus der technischen Herausforderung, die gesamte Heilige schaltetem Evangelistenbild. Im Gegensatz zu den anderen
Schrift in zwei Bänden unterzubringen. Sie repräsentieren Evangelisten in diesem Band wendet Johannes seinen Kopf
in ihrer Materialität, ihrem Gewicht und in ihrer Größe nicht dem Text zu. Es ist das Tintenhörnchen mit der Feder,
auch eindrucksvoll und unübersehbar die uneingeschränkte welches den Bezug zum geschriebenen Text auf dem gegen-
Autorität der Heiligen Schrift und stellen die Gegenwart überliegenden Blatt herstellt, mit derselben roten Tinte im
Gottes selbst zur Schau; damit sind kostbare Bibeln und Hörnchen wie im rubrizierten Textbeginn. Damit wird der
Evangeliare auch als sakrale Bedeutungsträger, als verkörper- dort evozierte Logos (In principio erat verbum) dezidiert
tes Glaubensgeheimnis und materialisierte, Heil bringende als Schrift-Wort inszeniert. Dieses nimmt entsprechend der
Glaubenswahrheit zu verstehen. Die Interaktion zwischen Architektur, in welche der Evangelist integriert ist, seinen
Mensch und Buch ist nicht ausschließlich eine zwischen Schrift-Raum auf dem Blatt ein und entfaltet sich auf unter-
Buch und Leser oder Buch und Hörer. Die Bibel als materi- schiedlichen Ebenen (Initiale, Rubrik, Text, Randmargina-
elle Vergegenwärtigung des Logos, das heißt des körperlich lien mit Hinweisen zur Konkordanz mit den drei anderen
abwesenden Gottes, bildet quasi den zweiten Körper Gottes, Evangelien).
eine Wohnstätte, die ihn über Zeit und Raum hinweg gegen-
literatur: Bruckner (1943) – Telesko (2003) – von Euw (2004) – Bridges
wärtig macht. Diese (oft auch wundertätige) Präsenz Gottes
(2005) – von Euw (2006).
wird gleichzeitig erhöht und sinnlich erfahrbar gemacht
durch eine reiche und künstlerisch wertvolle Ausstattung. rené wetzel

242 einjährige Schafe oder Ziegen mussten für den Band


ihr Leben lassen, bis zu zwölf Schreiberhände haben an
der Abschrift von Textvorlagen gearbeitet, die sich bereits
287
288 Engelberger Benediktinerregel

Engelberg, 3. Viertel 13. Jh.


Stiftsbibliothek Engelberg, cod. 72, hier fol. 1v
Pergament, 24,5 × 16,2 cm

Mit der Aufforderung Liebs chint virnim dû gebot dins üblich – der Abt des Männerklosters war, und welches von
meistirz! v̄n gneige daz ôre dins herzen beginnt der Prolog einer Meisterin geleitet wurde. So wird die Entstehungsge-
der mittelhochdeutschen Fassung in der zweisprachigen schichte und Bestimmung der Handschrift innerhalb der von
Engelberger Benediktinerregel (fol. 2r). Neben der An- zwei Tragefiguren gestützten szenischen Eröffnungsinitiale
kündigung der folgenden, in 73 Kapiteln behandelten Vor- des lateinischen Prologs A(usculta = höre!/vernimm!) auf
schriften wird damit thematisiert, was auch der erste Teil fol. 1v jedenfalls bildlich dargestellt: In einer Dedikations-
des benediktinischen Grundsatzes ora et labora! (Bete und gebärde kniet ausserhalb des linken A-Balkens ein Mönch
arbeite!) anspricht: Die von Benedikt von Nursia im frühen namens Ch∆no, vermutlich der Übersetzer, Schreiber oder
6. Jahrhundert verfasste »heilige Regel« (Benediktinerregel, Illuminator des Codex, der zu einem Engel aufblickt. Diesem
Kapitel 23) dient nämlich nicht nur der praktischen Ordnung Himmelsboten überreicht der in der Mitte des Buchstabens
des Klosterlebens, sondern sie bietet auch eine Anleitung mit Abtsstab und Pluviale abgebildete Abt Walter den Codex
zum spirituellen Leben im gemeinsamen Gebet und in der zur Bestätigung. Stellvertretend für das Frauenkloster St.
persönlichen Betrachtung, im »Hören mit dem Herzen« auf Andreas, welches die lateinische Regel mit mittelhochdeut-
Gott und ist somit »Auftrag und Verheißung« (Jaspert 1989) scher Übersetzung erhalten sollte, ist rechts außerhalb des
zugleich. Verinnerlicht und memoriert wird die bekannte A-Balkens mit andächtig gesenktem Haupt die Meisterin
Klosterregel – neben der Heiligen Schrift war sie das im Gøta dargestellt; wahrscheinlich diejenige Guota, deren
Mittelalter weit verbreitetste Buch – in Benediktiner- und Todestag laut einem Nekrolog von 1345 jährlich am 18. Mai
Benediktinerinnenklöstern auch heute noch, indem täglich gedacht wurde.
nach der Mahlzeit im Refektorium ein kurzer Abschnitt Die Eröffnungsinitiale A der Engelberger Benediktiner-
daraus vorgelesen wird, so dass die Mönche oder Nonnen regel diente folglich nicht nur als Buchschmuck, sondern
die gesamte Regel jährlich dreimal hören. bot zudem Raum für die bildliche Darstellung der Entste-
Für die Tischlesung war vermutlich auch der Engelberger hungsgeschichte und göttlichen Approbation des Buches,
Codex 72 gedacht, der im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts dessen »heiligen« Text sie einleitet, ohne jedoch in diesen
im Auftrag eines Engelberger Abtes Walter (Walter von einzugreifen.
Yberg oder dessen Nachfolger Walter von Cham) geschrie-
literatur: Middle High German Translations (1933) – Schneider (1987)
ben wurde. Bestimmt war die Handschrift, in der auf jedes
– Jaspert (1989) – De Kegel (2000) – Ruh (2000) – Regula Benedicti
lateinische Kapitel die deutsche Übersetzung folgt, für das
(2006).
um 1120 gegründete und bis 1615 an den Männerkonvent
angeschlossene Frauenkloster St. Andreas (heute in Sarnen), richard f. fasching

dessen Oberhaupt – wie bei Doppelklöstern in aller Regel


289
290 Gedenkbuch aus dem Kloster Pfäfers

Liber Viventium Fabariensis, Pfäfers, um 820–830


Stiftsarchiv St. Gallen, Cod. Fabariensis 1, 89 Bll., hier S. 24
Pergament, 31 × 20,5 cm

Der Liber Viventium gehört zur Gattung der libri vitae des ka- Viventium folgt diesem Schema: Die auf den Blättern des
rolingischen Mittelalters. Entstanden ist er höchstwahrschein- Codex eingetragenen Verstorbenen leben in einem zwischen
lich um 820–830 in Pfäfers. Das Werk enthält 4500 Namen von den Buchdeckeln geschaffenen, virtuellen Erinnerungsraum
Lebenden und Toten, deren Gedenken es schriftlich festlegt. und ihre Namen wurden höchstwahrscheinlich während der
Einer der üblichen Strukturen solcher Gedenkbücher folgend, täglichen Messfeiern des Konvents verlesen.
werden die Namenslisten mit sog. Lesungen (Auszügen) aus In diesem Gedenksystem sind die Arkadenstrukturen, unter
den vier Evangelien in Beziehung gesetzt. Das abgebildete fol. denen die Namen der Verstorbenen auf jedem Blatt verzeich-
24, auf dem die Namen der Karolinger eingetragen wurden, net sind, sowie die Nennung der Namen im Zusammenhang
lässt die für Gedenkbücher typische Umrahmung der Na- mit den vier Evangelien von besonderer Bedeutung. Die
mensliste mit einer Doppelarkade erkennen. Doppelarkaden schaffen auf dem Pergament den virtuellen
In der mittelalterlichen Gesellschaft war die Memoria zentra- Raum, in den die Toten aufgenommen werden. Sie erweitern
ler Bestandteil des religiösen Lebens und spielte eine wichtige auf bildhafte Weise den Prozess, den schon die Nennung der
Rolle bei der Sicherung des Heils. Das Christentum kann als Verstorbenen realisierte: Den Toten wird der ihnen gebüh-
Gedächtnisreligion gelten, in der das Erinnern »religiöser rende Platz in der Gesellschaft eingeräumt. Zusätzlich sind
Imperativ« war (Oexle 1994, S. 302). Erinnerung an göttliche die Doppelarkaden und die damit verbundenen Namenslisten
Heilstaten war Inhalt des Glaubens und Gegenstand des eng mit den Evangelientexten des Liber Viventium verknüpft:
Kultes, hatte Christus doch beim Abendmahl explizit zum Jeder der vier wird von dem entsprechenden Evangelisten-
Gedenken aufgefordert (»Das tut zu meinem Gedächtnis«, symbol, dem jeweils eine ganze Seite gewidmet ist, und von
Lk 22, 19). einer Doppelarkadenfolge umrahmt. Den Verstorbenen wird
In der Messfeier wurde im Canon missae auch für die Toten damit symbolisch Eingang in das Buch des Lebens, die Bibel,
Fürbitte geleistet, wobei die Namensnennung den Verstor- gewährt. Insofern, als im Liber Viventium ein memorialer
benen auch nach dem irdischen Leben einen sozialen und Raum für die Verstorbenen geschaffen und dieser über die
rechtlichen Status sicherte. Die Stellung der Verstorbenen Evangelienperikopen mit dem Wort Gottes verbunden wird,
im Mittelalter muss in diesem Zusammenhang gesehen ist der mittelalterliche Codex Medium des Heils. Auch die
werden, denn zur Zeit des Liber Viventium und teilweise Abbildungen der Evangelistensymbole spielen hier eine
bis in die Neuzeit wurde die christliche communitas als wichtige Rolle, indem sie die vier Evangelisten als Zeugen des
eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten aufgefasst. Heilsgeschehens im Codex selbst vergegenwärtigen.
Das Aussprechen des Namens garantierte das Weiterleben
literatur: von Euw (1988) – Oexle (1994) – Oexle (1995) – Schmitt
in der christlichen Gemeinschaft und war Mittel, dem
(1995).
Verstorbenen zum Heil zu verhelfen, weil das Vorlesen der
Namen mit einem Gebet verbunden wurde. Auch der Liber fabrice flückiger
291
292 Einsiedler Brevier und Einkünfteverzeichnis

Kloster Einsiedeln, 12. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 83(76), fol. 117v/118r
Pergament, 25,5 × 35,5 cm

Das Brevier der Benediktinerabtei Einsiedeln aus dem Die räumliche Anordnung der Besitznotizen auf den Buch-
12. Jahrhundert umfasst das Stundengebet, d. h. die Hym- seiten des Breviers weist auf eine Texthierarchie hin, bei
nen, Psalmen, Antiphonen und Gebete, die jeden Tag im der Urbar und Brevier einen je anderen Status innehaben:
Chor des Klosters gesungen wurden. Es handelte sich um Die urbariellen Einträge sind in kleinerer Schrift im Stil
regelmäßige Gebetsleistungen der communitas, wobei die einer kommentierenden Glosse am oberen und äußeren
Lektüre dieser Texte auch für Äbte und Mönche auf Reisen Rand dem Haupttext des Breviers untergeordnet. Die darin
verpflichtend war. Das Brevier enthält ferner für das Kloster verzeichneten Güter selbst nahmen damit sakralen Charak-
wichtige Texte, wie das Kalendar und die Dedikationen von ter an, womit der Besitzanspruch des Klosters legitimiert
Einsiedler Kirchen. Zahlreiche Gebrauchsspuren weisen auf werden sollte. Tatsächlich enthält das Urbar vor allem die
die intensive Benutzung des Bandes hin. im so genannten Marchenstreit des 13. Jahrhunderts heftig
An den freien Rändern des Breviers wurde nach fol. 105 das umstrittenen Einkünfte in der Landschaft Schwyz (Steinen,
in Latein verfasste erste Urbar Einsiedelns eingetragen, das Iberg und Schwyz).
den verstreuten Klosterbesitz und die damit verbundenen Das Einsiedler Brevier wurde möglicherweise auch für Eides-
Abgaben der Abhängigen auflistet: Reditus in Pfeffinkon. De leistungen benutzt. Wenn Lehensnehmer und Abhängige ihre
Ûvenowo tercius dimidius mod. tritici et ducenti pisces in festo s. Hand zum Schwur auf den Codex legten, anerkannten sie den
Andree. Anhand der vorkommenden Namen lassen sich diese Grundbesitz des Klosters, der im Mittelalter als Eigentum
Aufzeichnungen ins erste Viertel des 13. Jahrhunderts datieren, des Klosterheiligen wahrgenommen wurde. Klosterbesitz,
deutlich später als die Handschrift selbst. Das Besitzverzeich- Klostertradition und Klosterpatron waren im Einsiedler
nis ist als Fließtext gestaltet, uneinheitlich gegliedert und ledig- Brevier präsent und ihre Verknüpfung wurde nach außen
lich andeutungsweise geographisch geordnet. Als Grundlage offenbar. Diese Verbindung könnte die Darstellungsabsicht
einer schriftgestützten Verwaltung erscheint es unbrauchbar, und damit die Anfänge der Verwaltungsschriftlichkeit in
da sich nur schwer bestimmte Einträge finden oder hinzufü- liturgischen Handschriften erklären.
gen lassen. Es fehlen zudem die bei diesem Schriftguttyp zu
literatur: Bruckner (1943) – Quellenwerk zur Entstehung der Eidgenos-
erwartenden Aktualisierungen in Form von Streichungen und
senschaft, Abt. III – Galle/Kränzle/Kwasnitza (2004).
Nachträgen. Zwar ist es für diese Zeit nicht außergewöhnlich,
dass solche Texte in einer liturgischen Handschrift überliefert
sind, jedoch greift ihre Deutung als Kontrollverzeichnis von stefan kwasnitza

Abgaben zu kurz. Die Bedeutung des Überlieferungsträgers


für den spezifischen Entstehungszusammenhang dieser Ein-
künfteverzeichnisse bleibt in den Editionen unbeachtet.
293
294 Einsiedler Antiphonar

Kurz vor 1314


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 610(88) (»Schwandencodex«), 337 Bll.,
hier S. 366/367
Pergament, 33,5 × 23,5 cm

Neben dem Wort ist die Musik die privilegierte Art der sache sich dem Leser durch Verfolgen der gezeichneten Linie
Kontakt­aufnahme des Menschen mit dem Heiligen und Gött- wieder erschließt« (Gottschewski 2005, S. 253), als »Schreib-
lichen. Das Ohr gilt aber auch als Türe zur Seele und Gott wird bewegung, die eine melodische Erinnerung abzurufen hilft«
durch das Ohr empfangen. Der Gesang verbindet Musik mit (Bruggisser-Lanker 2005, S. 23), wird durch ihre Fixierung auf
dem Wort, dem Logos, und seine akustische Wahrnehmung Notenlinien ein formalisiertes Koordinatensystem eingeführt,
bereitet die Aufnahme des Gotteswortes vor bzw. stellt selbst welches eine waagrechte Zeit- und eine senkrechte Tonhö-
einen Akt seiner Aufnahme und Meditation dar. Er ist eine henachse besitzt. Die Handschrift – hier aus dem Proprium
würdige Art, Gott zu loben, wie das auch die Engelschöre de Sanctis das Responsorium zum 6. Dezember Confessor
im Angesicht Gottes tun. Als Lobopfer (sacrificium laudis) dei Nicolaus – inszeniert Sprachzeichen und Musikzeichen
bildet der liturgische Gesang zusammen mit den rezitierten in einer Art, in welcher diese Harmonie sowohl sicht- wie
Texten die Basis des Kults und der rituellen Erinnerung an das auch hörbar wird (Auf- und Abbewegung, Melismen). Der
Erlösungswerk Christi im Kirchenjahr und verknüpft somit Prolog des St. Galler Hartker-Antiphonars (um 1000) be-
unlösbar Ritus und Memoria. Er spiegelt sowohl die musica schreibt die Realisierung eines solchen Gesangs räumlich
humana als auch die musica mundana wider: In ihm werden als Weg, auf welchem Töne und Wörter gleichberechtigt zu
Seele und Leib, Himmel und Erde, Gott und Mensch vereint einer harmonischen Einheit verschmelzen: Sollicitam rectis
und wird das im Jenseits zu erwartende Heil schon auf Erden mentem adhibete sonis; / Discite verborum legales pergere
ein Stück weit erfahrbar gemacht. calles, / Dulciaque egregiis iungite dicta modis, / Verborum ne
Der Einsiedler Codex 610 enthält den Winterteil eines cura sonos, ne cura sonorum, / Verborum normas nullificare
zweibändigen, für den Einsatz im Stundengebet gedachten queat. – »Richtet euren aufmerksamen Sinn auf die richtigen
Antiphonarium officii, das in Cod. 612 (Sommerteil) seine Töne; lehrt euch voranzuschreiten durch die rechtmäßigen
Fortsetzung erhält. Er ist eines von vier im Auftrag von Gassen der Wörter, und liebliche Texte verbindet mit erle-
Abt Johannes I. von Schwanden (1299–1327) hergestellten senen Melodien, so dass weder die Sorge um die Wörter die
Antiphonaren, die in Einsiedeln noch bis gegen Ende des Töne, noch die Sorge um die Töne die Gesetze der Wörter
17. Jahrhunderts im Gebrauch waren. Die Schwandencodi- zunichte macht« (Haug 2004, S. 430).
ces ­führen in Einsiedeln die Guidonische Notenschrift ein,
literatur: Beer (1959) – Haug (2004) – Hirschmann (2004) – Bruggisser-
welche die bisher in Neumen notierten Melodien in diaste-
Lanker (2005) – Gottschewski (2005) – Lang (im Druck).
matischer Choralnotation auf terzabständigen Linien fixiert
(vgl. S. 194). Sind die Neumen der älteren Notationsformen
als eigentliche »Bewegungsspuren« aufzufassen, »deren Ur- rené wetzel
295
296 Hieronymus von Prag:
Scutum katholice veritatis

Zug, 1445
Zug, Pfarrarchiv St. Michael, Cod. 10, ohne Seitenangaben
Papier, 21,4 × 14.5 cm

Seitenfüllend zwischen Predigten von Nikolaus von Din- sprengte er die gültige Lehrmeinung, wonach deus nicht als
kelsbühl († 1433) und den Sermones de Eucharistia des ein Gattungsbegriff aufgefasst werden dürfe, sondern die
Pseudo-Thomas von Aquin hat der anonyme Schreiber der Essenz der Trinität bezeichne. Die Begriffe aqua, animal und
Zuger Sammelhandschrift ein ›Schild der katholischen Wahr- homo, die jeweils Dinge aus der erschaffenen Welt bezeich-
heiten‹ gezeichnet. Das Schema dieses Diagramms besitzt nen, könnten – so die Kritik an Hieronymus – keineswegs
eine lange Tradition, die in das 12. Jahrhundert zurückreicht. analogen Status zum Begriff deus beanspruchen. Auf der
An ihrem Beginn steht eine Zeichnung des Petrus Alfonsi Generalversammlung des Konzils von Konstanz (1414–1418)
(† ca. 1150), das die Trinität veranschaulicht: In den Ecken musste sich Hieronymus unter anderem für seine Ausdeu-
eines gleichschenkligen Dreiecks schrieb Petrus die Namen tung des scutum verteidigen. Er wurde am 30. Mai 1416 auf
Vater, Sohn und Hl. Geist; durch die Koppula est bzw. non dem Scheiterhaufen als Ketzer verbrannt.
est verbunden, ergibt sich folgender Text: Pater non est Filius Die Implikationen des scutum erweisen sich nur bei genauer
non est Spiritus S[anctus] – für jedes der Glieder aber gilt: Lektüre des Diagramms als intrikat. Können die Ebenen
est Deus. Das Dreieck wurde schon früh zu einem Schild isoliert voneinander nämlich jeweils widerspruchsfrei gelesen
umstilisiert, so dass die geometrische Form symbolische werden, so ist doch die Auslegung des Gesamtensembles als
Qualität gewann; in allegorischen Bildern des Mittelalters Analogie theologisch anstößig. Erst die logischen Interfe-
erscheint das scutum zuweilen als Mittel zur Abwehr häre- renzen der Einzelebenen, die im Diagramm selbst aber nicht
tischer Anfechtungen. verbalisiert werden, deuten Hieronymus’ prekäre Auffassung
Hieronymus von Prag (ca. 1365–1416) erweiterte das Schild der Allgemeinbegriffe an. Im Kontext der Zuger Handschrift,
um zusätzliche Ebenen, indem er die augustinische Trias mit deren Version des scutum hier erstmals abgebildet wird, ist
dem vorhandenen Schema verband: memoria non est voluntas nach der Funktion des Schildes noch genauer zu fragen, da
non est intellectus –: est anima. Außerdem integrierte Hie- die Überlieferungsgemeinschaft mit den Predigten des Ni-
ronymus noch weitere triadische Ebenen, für die ebenfalls kolaus von Dinkelsbühl – einem Ankläger des Hieronymus
Analogien zur trinitätslogischen Figur suggeriert werden auf dem Konstanzer Konzil – eine spannungsreiche Pointe
sollten: nix non est pluvia non est glacies – : est aqua | homo besitzt.
non est aquila non est asinus – : est animal | Ieronimus non est
literatur: Šmahel (1966) – Evans (1980) – Brandmüller (1997) – Šmahel
ambrosius non est augustinus – : est homo. Auf diese Weise
(2003) – Ferrari (2003).
erzeugte er allerdings eine konfliktreiche Konstellation:
Hieronymus setzte nämlich generische Überbegriffe in das cornelia herberichs

mittlere Feld des scutum (aqua, animal, homo). Damit aber


297
298 Magisches Satorquadrat

Heinrich Seuse, Büchlein, (Reichenau), 15. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 623(341), S. 64
Papier, 29,5 × 10,5 cm

Auf S. 64 (alte Tintenzählung: 68) dieser aus der Reiche- Symbol der Erde und des Irdischen – einerseits und die
nau nach Einsiedeln gelangten Seuse-Handschrift steht als unendliche Bewegung des Rades (rota) und des Palindroms
Randeintrag das viel umrätselte magische Quadrat mit der andererseits zur Quadratur des Kreises verbunden. Das
so genannten ›Sator-Formel‹ (sator arepo tenet opera rotas). Quadrat lädt ein, über fundamentale Zusammenhänge zu
Als fortlaufender Satz lässt sich diese palindromartig vor- meditieren und das in und hinter der Schrift Verborgene zu
wie rückwärts lesen, im Quadrat angeordnet auch von oben entdecken. Dabei ist auch die anagrammatische Methode
nach unten und umgekehrt. Das Quadrat ist zum ersten Mal erlaubt: Unter Verwendung sämtlicher Buchstaben des
in Pompeji bezeugt, man findet es unter anderem auf ägyp- Quadrates lässt sich in Kreuzesform ein zweifaches pater
tischen und koptischen Zauberpapyri, in Kombination mit noster formen (mit dem n als Schnittpunkt), welchem je ein
Kreuz, Chrismon oder Fischsymbol, auf Bronzeamuletten a und ein o (Alpha und Omega) vor- beziehungsweise nach-
frühchristlicher Zeit im byzantinischen und kleinasiatischen zustellen ist. Ausgehend vom Buchstaben o in sator und rotas
Raum sowie in mittelalterlichen Handschriften und Kirchen lässt sich im Rösselsprung des Schachspiels ein zweifaches
Europas. Im Volksglauben wird ihm apotropäische Wirkung Stoßgebet oro te, pater bilden, die verbleibenden Buchstaben
u. a. gegen Feuer, Diebstahl, Tollwut oder die Wirkung eines formen ein sanas und drücken den Wunsch nach Heil aus.
Wettersegens zugeschrieben. Die fünf Wörter wurden auch als die Namen der fünf Kreu-
Die Übersetzung bietet Probleme (lateinisch arepo ist nicht zesnägel interpretiert. Im Zusammenhang mit dem Eintrag in
nachzuweisen), vielleicht am ehesten: »Der Sämann (auch die Seuse-Handschrift fällt auf, dass das Quadrat direkt über
Urheber, Schöpfer, Gott) Arepo (Name?) hält seine Werke folgender Passage zum Leidensnachvollzug aus dem vierten
(Schöpfung) in Bewegung.« In Schlangenlinie und mit dop- Kapitel des zweiten Buchs steht: Lůge min rehte hant wz dur
pelter Verwendung von tenet (das zweite Mal rückwärts) neglot · min lingú hant dur schlagen […]. Das nachfolgende
gelesen, lässt sich arepo vermeiden: sator opera tenet, tenet fünfte Kapitel ist überschrieben: Wie du sel kunt vnder dem
opera sator. Der Sämann, z.B. bei Markus (Mk 4,1–20) Bild krútz ze ainem hertzklichen rúwen. Ein Zusammenhang der
für den Logos, ist hier als Schöpfergott zu denken, der die Formel-Verwendung mit der Kreuzesthematik und -medi-
Schöpfung, repräsentiert durch den Lauf der Gestirne (opera tation ist daher wahrscheinlich.
rotas), trägt und lenkt. Das tenet, welches im Quadrat ein
literatur: Köhler (1900) – Darmstaedter (1932) – Carcopino (1963) –
Kreuz bildet, enthält vier te beziehungsweise je zwei et und
Schreiner (1999) – Page (2004) – Lang (im Druck).
zwei te: Der Schöpfergott hält also nicht nur den Makrokos-
mos, sondern auch den direkt angesprochenen Menschen (et rené wetzel

te) als Mikrokosmos in Bewegung. Himmel und Erde, Zeit


und Ewigkeit sind durch das Quadrat – in seiner Vierzahl
299
300 Heilsspiegel

Speculum humanae salvationis, 15. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 206(49), S. 62f.
Papier, 36,8 × 27,1 cm

Das Speculum humanae salvationis gehört zu den ver- schen Büchern Genesis (49,9) und Jesaja (33,10). Zusammen
breitetsten und beliebtesten Text-Bild-Werken des späten mit den Prophetenporträts führen sie innerhalb des Bildes
Mittelalters. Es umfasst über 5000 Verse und mehr als 180 zusätzliche Zeitebenen ein und steigern die Komplexität der
farbige Miniaturen. Die gesamte Heilsgeschichte von der Zeichenrelationen: Die Bücher Mose und Jesaja erscheinen in
Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht ist das Thema dieses der Mikrostruktur des Einzelbildes als Verweise auf das Buch
komplex gestalteten Andachts- und Unterweisungsbuches. Jona. Die Bildkomposition als Ganze verweist innerhalb der
Jede aufgeschlagene Doppelseite zeigt jeweils in vier Spalten Makrostruktur der Doppelseite wiederum auf den Antitypus.
ein zentrales heilsgeschichtliches Ereignis innerhalb mehr- Die graphische Gestaltung der Schriftbänder reflektiert diese
schichtiger typologischer Verweisungszusammenhänge. Die Verschränkung: Während die Bildbeischriften im 32. Kapitel
Anordnung der Bilder vernetzt und überkreuzt biblische ansonsten außerhalb der Bildgrenzen die Darstellungen rah-
Geschichten und historische Zeiten. Die Buchseite wird men, sind sie im Jonasbild in die Darstellung integriert und
so zu einem Ensemble, das die Linearität von Schrift und lösen die Grenzen zwischen Innen und Außen auf.
Geschichte auflöst zugunsten heilsgeschichtlicher Synopsen Die Texte in den Kolumnen erzählen die biblischen Ge-
unter jeweils verschiedenen Perspektiven. schichten; kleine, rote Zahlen ( ) am Spaltenrand verweisen
Der Titel des Werkes benutzt eine Metapher, die die Mediali- auf das dem Text jeweils zugehörige Bild. Die Texte gehen
tät des Buches ausdrücklich thematisiert: Der Begriff Specu- in ihren Ausdeutungen noch über das in den Bildern Ge-
lum betont die visuelle Rezeption des Buches und impliziert zeigte hinaus: So heißt es, im Buch Jonas bezeichne (desi-
zugleich die paradoxe Repräsentation von Heil, das stets nur gnat) das gefährliche Meer die heilsbedürftige Welt. Die
medial vermittelt – im Medium des Spiegels – als Spur eines Funktion der Bilder wiederum erschöpft sich nicht darin,
nicht-sichtbaren Anwesenden erfahrbar ist. Verständnishilfe für die Ungelehrten und Leseunkundigen
Das 32. Kapitel handelt von Christi Auferstehung und den zu sein. Vielmehr dynamisieren sie die Leserichtungen der
diesem Antitypus zugeordneten Präfigurationen Samson, Jona Doppelseiten; Motivkorrespondenzen (wie das Mauerwerk
und dem Eckstein des Salomonischen Tempels. Die Leserich- in Bild 2 und 4) stiften Bezüge, die in den Kolumnentexten
tung der Doppelseite kehrt die zeitliche Chronologie um: Das nicht verbalisiert werden. Texte und Bilder knüpfen derart
Ereignis aus dem Neuen Testament steht an erster Position, sich gegenseitig überlagernde, im Lektüreprozess zu inter-
die figurae folgen diesem räumlich, obwohl sie dem Ereignis pretierende Netze.
zeitlich vorgängig sind. So wie Jona zum Beispiel nach drei
literatur: Lutz/Perdrizet (1907/1909) – Niesner (1995).
Tagen aus dem Bauch des Fisches befreit wird, so wird Chris-
tus nach drei Tagen vom Tode auferstehen. Die Schriftbänder
im dritten Bild enthalten Textstellen aus den alttestamentari- cornelia herberichs/aleksandra prica
301
302 Littera mystica T

Missale Einsidlense, Einsiedeln, um 1070–1080


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 113(466), S. 226
Pergament, 24 × 18 cm

Das ›Zeichen‹ (hebräisch: Tav), welches Gott in der Vision In diesem Sinne wird seit der zweiten Hälfte des 8. Jahr-
des Propheten Ezechiel (Ez 9,4) dem Engel auf die Stirn der hunderts in Sakramentarien das T von Te igitur, dem Beginn
Erwählten zu machen befiehlt, die in der Stadt Jerusalem der Gebetsbitte, welche den eigentlichen Kanon der Messe
allein über die darin verübten Untaten und Gräuel klagen eröffnet, besonders reich geschmückt, bildhaft in Form eines
und trauern und die deshalb als Einzige das von Gott ange- Kreuzes gestaltet und mit der Figur des Gekreuzigten verse-
ordnete Massaker überleben sollen, wird in der Vulgata mit hen oder in seinem Buchstabenkörper figürlich ausgemalt.
dem griechischen Buchstaben Tau identifiziert, der Vorform Im Fall des Einsiedler Plenar-Missales, welches teilweise von
des lateinischen T. Der Buchstabe T galt daher schon den einem in der Reichenauer Malschule zum Künstler ausge-
altchristlichen Theologen als ein Schutz- und Heilzeichen, als bildeten Laien (?) für den Einsiedler Konvent geschrieben
ein Zeichen der Erwählung beziehungsweise als ein Eigen- und ausgemalt wurde, füllt das T in Kreuzform den ganzen
tumszeichen, mit welchem Jahwe die Seinen auszeichnet und Schrift-/Bildraum bis zum inneren goldenen Rahmen aus,
das zudem durch seine kreuzartige Form als figura Dominicae wodurch die zentrale Stellung und Würde dieses Zeichens
crucis (Isidor von Sevilla), als typologisches Abbild des Kreu- hervorgehoben wird. Das Purpurrot als Hintergrund evo-
zes Christi, gesehen werden konnte. Das griechische T reiht ziert in seiner Farbsymbolik das Blut Christi. Die Seite ist
sich bei Isidor von Sevilla deshalb in die Reihe der fünf litterae in der Bildmitte abgenutzt von den Küssen des Priesters, der
mysticae der Griechen ein (Y als Symbol für den Lebensweg: nach den Worten des Kanons Fleisch und Blut des Gekreu-
Der Fuß steht für die Kindheit und die Gabelung für die zwei zigten gegenwärtig werden lässt.
Wege, zwischen denen man sich in der Jugend entscheiden Der mystische Buchstabe T ist hier also nicht nur stark
muss; Θ für den Tod; A und Ω als Christussymbole). mit religiösen Bedeutungen aufgeladen, sondern wirkt als
Eine Verbindung des christlichen Kreuzeszeichens mit dem ein veritables Medium des Heils. Das Zusammenspiel von
hebräischen ›Zeichen‹ und Buchstaben Tav, der im phöni- liturgischem Ritus und Kuss des im mystischen Buchstaben
kisch-hebräischen Alphabet in Form eines liegenden oder und in der Messe anwesenden gekreuzigten Christus macht
stehenden Kreuzes wiedergegeben wurde, ergibt sich in der aus dem Missale einen auratisch ausstrahlenden Hort und
altkirchlichen Exegese jedoch auch aus der Aufforderung Garanten des Heils.
Jahwes an die Israeliten, bei ihrem Auszug aus Ägypten die
literatur: Lang (2000b) – Schreiner (2000) – Schreiner (2002) – Ott (2003)
Türpfosten mit dem Blut des Paschalammes zu bestreichen
– von Euw (2004).
(Ex 12,13): Dadurch eröffnen sich erneut typologische Be-
züge zwischen dem alttestamentarischen Opferlamm und rené wetzel

dem Lamm Gottes Christus am Kreuz. Und wieder ist es ein


Zeichen der Erwählung, des Schutzes und des Heils.
303
304 Zuger Graduale

Wende 15./16. Jh.


Pfarrarchiv St. Michael, Zug, ohne Signatur, fol. 220v/221r
Pergament, 32,5 × 42 cm

Seit dem 12. Jahrhundert ist in der lateinischen Kirche die tenrand noch vor der blauen, mit Blumenranken und Vögeln
Bezeichnung ›Graduale‹ einerseits für den Gesang des Mess­ geschmückten Anfangsinitiale in roter Schrift der titelartige
propriums nach der ersten Lesung und andererseits für das Vermerk In dedicatione ecclesie. Auf dem geweihten Raum
Choralbuch mit den Texten und Noten der Messgesänge (der Kirche) wird in der Folge insistiert: Es ist vom Haus
gebräuchlich. Erbe aus dem synagogalen Gottesdienst ist die (domus) und den Wohnungen (tabernacula) Gottes die Rede,
solistische, auf den Stufen (gradus) des Ambo ausgeführte von der Himmelspforte (porta caeli) und von den Vorhöfen
Darbietung als Psalmgesang. Früh bezeugt sind Gradua- des Herrn (atria Domini). Der offenbar korrekturhalber
lien allerdings auch als Wechselgesänge zwischen Kantor eingeklebte Zettel auf 221r trägt den Psalmvers: Adorabo ad
und Schola. Sie gehören zu den wichtigsten Vertretern der templum sanctum tuum et confitebor nomini tuo (Ps 138,2).
responsorialen Form unter den gregorianischen Chorälen. Damit kommt der Schrift auf verschiedenen Ebenen eine
Als Codices sind Gradualien oft reich verziert. Besonders die räumlichen und zeitlichen Grenzen sprengende Funk-
im Spätmittelalter erreichen sie sehr große Formate und tion zu: Durch das Zitat aus Genesis 28,17 wird der Ort
bedienen sich einer beträchtlichen Schriftgröße, die meist von Jakobs Begegnung mit Gott auf den Raum der Kirche
dahingehend interpretiert wurde, dass dem Chor das Lesen übertragbar, die Hallen und Hütten, Häuser und Tempel der
von Text und Noten auch aus einer gewissen Entfernung alttestamentlichen Psalme werden zum gegenwärtigen Ort
möglich sein musste. Allerdings gibt es gewichtige Argu- göttlicher Einwohnung, an dem Heil erfahrbar ist. In ihrer
mente, welche die Wahrscheinlichkeit dieser gängigen These rätselhaften Größe wird die Schrift als ein den Raum über-
in Frage stellen: Zum einen ist die Lesbarkeit aus der Ent- schreitendes Medium begreifbar, das auch dann noch seine
fernung auch bei großer Schrift durchaus zweifelhaft, zum Wirkung entfaltet, wenn es nicht lesbar ist und als auratisches
anderen kann man davon ausgehen, dass die Ausführenden auf die Dimension der Transzendenz verweist, an die es in
die Gesänge der Messe auswendig kannten. Versucht man seiner immanenten Konkretheit gebunden bleibt.
probeweise am Beispiel des Zuger Graduale Format und
literatur: Jammers (1958) – Fischer (1960) – Bieritz (2004).
Schrift in Verbindung mit dem Inhalt weniger unter dem
Gesichtspunkt der pragmatischen Funktion als vielmehr
unter demjenigen medialer Auffälligkeit zu sehen, ergibt sich aleksandra prica

eine veränderte Perspektive auf den Gegenstand. Auf den


Seiten 220v und 221r des eher schmucklosen, vom Gebrauch
abgenutzten und teilweise beschädigten Codex findet sich
der Introitus Terribilis est locus iste, der bevorzugt zur Kir-
chenweihe gesungen wurde. Auf 220v steht am rechten Sei-
305
306 Engelberger Antependium

Benediktinerinnenkloster St. Andreas Engelberg/Sarnen, 1. Hälfte 14. Jh.


Textilmuseum St. Gallen, Sammlung Iklé, Inv.Nr. TM 24090 (Iklé 1197)
Seidenstickerei auf Leinen, 93 × 160 cm

Der Altarbehang dürfte um 1320/30 im Frauenkonvent Empfängnis. Zugleich binden die Inschriften das Mysterium
des Doppelklosters in Engelberg gestickt worden sein. Die der Menschwerdung an die Autorität der Heiligen Schrift
beschrifteten senkrechten Bordüren gliedern den Raum in zurück. Die gleiche Funktion haben die vier Evangelisten-
drei Flächen. Während die beiden äußeren Felder eine de- symbole; als visuelle Chiffren verweisen sie ebenfalls auf die
korative Musterung aufweisen, gelten die Darstellungen im Autorität der biblischen Berichte.
mittleren Bildfeld den zentralen Momenten der christlichen Die beiden vertikalen Schriftbänder rahmen die Verkündi-
Heilsgeschichte. In der Mitte erscheint das Lamm Gottes mit gung und ›glossieren‹ sie mit liturgischen Texten. In der lin-
Siegesfahne in einem Rundmedaillon, umgeben von den vier ken Borte wird ein Versikel zitiert, der sich inhaltlich auf den
Evangelistensymbolen in kleineren Kreisen. Die Verkündi- daneben dargestellten Engel bezieht, der die frohe Botschaft
gungsszene umrahmt das Lamm Gottes: links der Engel, vom Kommen des Erlösers überbringt: missvs . ab . arce .
rechts die Jungfrau Maria mit herabfliegender Taube. Die veniebat . magnam . le[titiam nuntiabat: Est Christus
Komposition ist auf die Funktion der Stickerei als Altarzierde venturus, alvo Matris procreatus]. Der Text der rechten
abgestimmt; sie verweist auf ihren räumlichen Kontext, Borte stammt aus dem Marienpsalter und redet die daneben
indem sie thematisch auf das liturgische Handeln am Altar stehende Maria preisend als Mutter des sanftmütigen, von
während der Messe Bezug nimmt. Das Lamm ist Sinnbild für Königen verehrten Lammes an: ave . mater . mitis .
den Opfertod Christi am Kreuz, der in der Eucharistiefeier agni . c[uius] . nom[en] . reg[es] ma[gni Admirantur et
nachvollzogen wird. In Farbe und Form erinnert die runde tremiscunt, Per quem regnum adipiscunt]. Die horizontale
Einfassung des Opferlamms an die Hostie. Borte am unteren Rand des Behangs schließlich nennt mit
Schrift erscheint auf dem Behang an verschiedenen Orten Abt Walther (1317–1331) den Stifter des Altarschmucks:
und in unterschiedlichen Funktionen. Beim Verkündi- D[omi]N[u]S . ABBAS . Walthervs . de . monte . an-
gungsengel ist das Wort Ave zu lesen, das mit Marias gelorvm . venerabil[i]s . et . reli[gi]osus. Der Abt
Antwort Fiat korrespondiert. Der biblische Bericht des des Doppelklosters, der auch dem Frauenkonvent vorstand,
Lukas­evangeliums wird hier nur als Abbreviatur ins Bild sichert sich mit der Nennung seines Namens das Gebet der
zitiert: Ave (Lk 1,28) steht für den Gruß des Überbringers Nonnen für sein Seelenheil.
der göttlichen Botschaft, die demütige Antwort der Jungfrau
literatur:Durrer (1899–1928) – Dreves (1866–1922) – Hesbert (1963–
ist auf Fiat (Lk 1,38) reduziert. Gerade diese Verkürzung
1979) – Wenzel (1993) – Marti 2002.
aber fokussiert das Wesentliche. Die im schlichten Fiat (»es
geschehe«) ausgedrückte Zustimmung ist Voraussetzung für johanna thali

die Verwirklichung des göttlichen Heilsplans – die Kirchen-


väter verstanden Marias Einwilligung als Augenblick der
307
308 Engelberger Antependium für die Osterzeit

Benediktinerinnenkloster St. Andreas Engelberg/Sarnen, 1516 (Inschrift)


Schweizerisches Landesmuseum Zürich, LM 4693
Tempera auf ungrundierter Leinwand, neuer Rahmen, 103,5 × 234 cm

Wie das bestickte Antependium aus dem 14. Jahrhundert ternacht im Chorgebet gesungen werden. Die Texte werden
(vgl. S. 306) ist vermutlich auch dieser jüngere, bloß bemalte auf dem Behang neu ›komponiert‹ und bestimmen mit den
Behang im Benediktinerinnenkloster Engelberg entstanden. Figuren die Bildaussage. Die Inschrift auf dem Sarkophag
Da das Bildprogramm und die Inschriften ganz auf Christi beispielsweise (In pace factVs e[st] locvs eivs [et
Tod und Auferstehung ausgerichtet sind, darf man anneh- in Sion habitatio ejus]) und die Schriftbänder darüber (in
men, dass der Behang exklusiv für die Ostertage bestimmt pace in idipsvm [dormiam et requiescam] und Caro
war, als Schmuck für eine Altarmensa oder für ein Heiliges mea reqviescit in spe) geben Antiphonen wieder, die
Grab, das bei der Inszenierung der Osterliturgie verwendet in der Nacht zum Karsamstag in der Matutin angestimmt
wurde. werden. Einzelne Texte lassen sich einer bestimmten Figur
Die figürlichen Darstellungen rufen Jesu Erlösungswerk zuordnen, so das Spruchband, das sich rechts des auferstan-
emblemartig auf. Die Bildmitte dominiert der Sarkophag. denen Christus in die Höhe schwingt. Die Worte o mors
Da dieser sowohl mit dem Leichnam als auch leer gedacht ero mors tva morsvs tv[vs] ero inferne zitieren
werden kann, versinnbildlicht er zugleich Christi Tod und eine Antiphon, die am Karsamstag bei Tagesanbruch in den
Auferstehung. Diese Thematik bestimmt auch die beiden Laudes gesungen wird. In diesem Text, der als einziger ganz
Bildhälften. Links des Sargs erscheint Joseph von Arimathäa; in goldenen Buchstaben erscheint, kristallisiert sich die ös-
die Dornenkrone in seiner Rechten erinnert an Jesu Leiden terliche Heilsbotschaft des Behangs: die Überwindung des
und Sterben. Links außen stehen trauernd weitere Zeugen Todes durch den Tod des Erlösers.
der Passion: Johannes der Evangelist, Maria und Maria Mag- Die gemalten Texte verbinden die heilsgeschichtlichen
dalena. Rechts des Sargs erscheint der Auferstandene mit Ereignisse mit deren Erinnerung in der Osterliturgie: Ver-
Siegesfahne. In Begleitung eines Engels wendet er sich zur gangenheit und liturgische Vergegenwärtigung fallen in
Vorhölle, wo Adam und Eva betend den Erlöser erwarten. In eins. Die schwebenden Schriftbänder vermitteln zwischen
der Bildmitte über dem Grabmal schließlich sind Gottvater Immanenz und Transzendenz, ihre formale Gestaltung
und ein Engel zu sehen. verleiht ihnen einen zeitenthobenen Charakter. Die Schrift
Den größten Teil der Bildfläche aber beanspruchen die viel- lässt so im Raum zwischen Erde und Himmel die von den
fach gewundenen Schriftbänder, die den Raum zwischen dem Nonnen in der Osterfestzeit angestimmten Gesänge auch
irdischen Bereich am unteren Bildrand und der himmlischen visuell ›erklingen‹.
Sphäre oben füllen. Sie sind mit lateinischen Texten versehen,
literatur: Durrer (1899–1928) – Hesbert (1963–1979) – Wüthrich/Ruoss
wobei rote Initialen jeweils den Textanfang und damit die
(1996).
Leserichtung signalisieren. Zitiert werden zumeist Initien
liturgischer Gesänge, die in der Karwoche und in der Os- johanna thali
309
310 Verkündigung

Ulrich Mair von Kempten zugeschrieben, Altarflügel aus Arth (SZ), beid-
seitig bemalt (Außenseite Drachenkampf des hl. Georg), um 1470
Schweizerisches Landesmuseum Zürich, LM 3405.51
Eitempera und Öl auf Fichtenholz, 175,5 × 113,5 cm

Die Verkündigung an Maria auf der Flügelinnenseite ei- erhalten – sein eigenes Wort an, das sich auf dem entrollten
nes spätgotischen Schreinaltars wurde nur an Hochfesten Schriftband zeigt, streckenweise auf dem Kopf steht und
gezeigt. An Werktagen blieb der vermutlich aus der 1690 so nur für Gottvater ›richtig‹ zu lesen ist: Ganng hin min /
abgetragenen Kapelle St. Georg und Zeno in Arth (SZ) Eewigs wort zuo maria der / hÿmelport dz de[r] val ade und
stammende Wandelaltar verschlossen. eve werd wid[er] …. Das Mysterium der Fleischwerdung ist
Das Verkündigungsbild schildert eine komplexe mediale über Gabriel und Maria im nackten Christkind (Logosknabe),
Konstellation, die in der Durchdringung von Schrift und Bild das mit geschultertem Passionskreuz hinter der Geistestaube
auf eine ›audiovisuelle‹ Wahrnehmung zielt (Wenzel 1993). In zu Maria herabschwebt, körperlich sichtbar gemacht. Das
ihrem Gemach hält Maria bei der Lektüre inne, denn um sie Spruchband des Logosknaben berührt und durchkreuzt
herum ereignet sich Außerordentliches. Golden leuchtet der beim Wort »Eva« – der Ursünderin – das gottväterliche Band,
Himmel hinter den vier Lanzettenfenstern, während sich links umfließt mit eleganten Windungen das Kind und endet auf
das Fenster mit hereindrängenden Seraphinen füllt. Sie gehö- dessen Mundhöhe mit der Antwort: O Vater vom hÿmel mit
ren zum Gefolge des Erzengels Gabriel, der mit flatterndem gehorsam ich das thon mit / allen tugend ist sÿ geziret schon.
Chormantel die linke Bildhälfte dominiert. Der Leer-Raum Wohl nahezu gleichzeitig ist das Spruchband zu lesen, das sich
zwischen Gabriel und Maria markiert den ›Ort‹ der Über- unterhalb des Logosknaben von der Hand des Engels aus um
tragung der Heilsbotschaft: Die Armlehne des Scherenstuhls dessen Lilienstab windet und exakt auf Ohrenhöhe Marias
trennt zwar die Figuren, ihre Diagonale verstärkt aber zugleich Nimbus berührt: Ave Gratia plena Dominus tecum (Lk 1,28).
die der Bildkomposition unterlegte visuelle Kommunikations- Es ist der einzige lateinische Text im Bild – die Hochsprache
richtung von links oben nach rechts unten. Die Jungfrau hat unterstreicht seine biblische Autorität. Marias Spruchband
sich dem Engel zugewandt und erwidert mit erhobener Hand- steigt steil Richtung Himmel empor: Nim war die dienerin
fläche seinen Gruß. Sie kniet vor einem geöffneten Schränk- gottes heren geschech mir nach dinen / worten geÿähen.
chen, das vier Bücher birgt und als Gebetspult dient. Marias Der Maler hat die in der mittelalterlichen Kunst verbreiteten
linke Hand hält eine Seite des auf dem Pult aufgeschlagenen Schriftbänder als spezifisches Mittel eingesetzt, um nicht
Codex zurück, die der vom Einbruch des himmlischen Boten bloß den Transzendenzeinbruch im Diesseits dramatisch zu
ausgelöste ›Wind‹ – als Zeichen der stattfindenden Erfüllung steigern, sondern durch ›Unähnlichkeit‹ dem Paradox des
des Bibelwortes – aufgeblättert hat. Fleisch bzw. Bild werdenden Wortes im ›Figurationsprozess‹
Der Spruchbändertanz in der oberen Bildhälfte bekräftigt eine Form zu geben (Didi-Huberman 2007).
als visuelle Interferenz bis hin zur Redundanz das wunder-
literatur: Guldan (1968) – Wenzel (1993) – Wüthrich/Ruoss (1996) – Ho-
bare Ereignis von entsandtem Wort und Inkarnation. Mit
rat (2004) – Didi-Huberman (2007).
segnender Hand spricht Gott – sein Kopf ist nicht mehr
daniela mondini
311
312 Freiburger Nelkenmeisteraltar

Altarretabel (Mitteltafel), Auftrag an den Maler Albrecht Nentz in So-


lothurn, um 1479/1480, Fertigstellung durch die Basler Werkstatt des
Bartholomäus Rutenzweig (Nelkenmeister)
Franziskanerkirche (Hochaltar) in Freiburg/Schweiz
Öl auf Leinwand und Fichtenholz, 214 × 702 cm

Das Retabel des Hochaltars der Freiburger Franziskanerkir- ter in Gebete zu hüllen und sie damit gleichsam zu kleiden.
che zeigt bei geöffneten Flügeln in der Mitte die Kreuzigung Das Weben eines ›Mantels‹ für Maria gehörte wohl zu den
mit Maria und Johannes, die von vier franziskanischen Hei- beliebtesten Gebetsübungen. Das Reihengebet wurde ins-
ligen gerahmt wird. Auf den Außenflügeln sind die Geburt besondere für das Seelenheil von Verstorbenen verrichtet.
Christi (links) und die Anbetung der drei Könige (rechts) So sind Anweisungen aus Frauenklöstern überliefert, die
dargestellt. In geschlossenem Zustand sind die Verkündigung verlangen, beim Tod einer Nonne 90’000 Ave Maria im Vo-
an Maria und zwei weibliche Heilige des Ordens zu sehen. raus für diejenige Mitschwester zu sprechen, die als nächste
Das Bildprogramm weist Maria als Mutter des Erlösers aus dem Leben scheidet, damit sie Maria in der Todesstunde
eine herausragende Rolle im dargestellten Heilsgeschehen unter ihren schützenden Mantel nimmt.
zu. Entsprechend würdevoll ist ihre Kleidung. Sie erscheint Die gemalten Lob- und Bittgebete sind in ungewöhnlich
in rotem Kleid und blauem Mantel, dessen Saum mit Gold raffinierter Weise in den Bildraum integriert. Die Idee der
verziert ist. Erst auf den zweiten Blick wird der Betrachter textilen Schrift verdankt sich wohl der Gebetsübung der
merken, dass diese Borte in allen drei Darstellungen des geistigen Kleidergabe an Maria. Die Gebete sind den Ge-
geöffneten Altars mit Schriftzeichen besetzt ist: In goldenen mälden ›eingeschrieben‹ und damit auf Dauer festgehalten.
Lettern schmücken zwei Mariengebete den Mantelsaum. Sie Sie werden im materialen Bild gewissermaßen stellvertretend
bringen die heilsgeschichtliche Bedeutung der Gottesmut- geleistet: In der goldverzierten Borte ihres Mantels wird die
ter zum Ausdruck: Das Ave Maria preist sie als von Gott Mutter des Erlösers unaufhörlich gepriesen und als Heils-
begnadete und auserwählte Frau, das Salve Regina ruft sie vermittlerin angerufen. Stellvertretend für wen? Für die
als Fürsprecherin (advocata nostra) an. Auf der abgebil- Betrachter, die Brüder des Klosters? Oder war es der Maler,
deten Mitteltafel ziert das Salve Regina die Borte: Es setzt der das Bild bis ans Ende der Zeit für sein Seelenheil beten
links oben über der Schulter Marias ein und folgt dann den lässt? Auf der Tafel mit der Geburt Christi jedenfalls wird
Falten des Stoffes, der sich um ihre Hände legt, bis sich der das Salve Regina durch bisher nicht entschlüsselte Buchsta-
Text dort, wo der Mantel am Boden aufliegt, den Augen des benfolgen unterbrochen, die möglicherweise als versteckte
Betrachters entzieht. Der Gebetsschluss, den er sich auf der Malersignatur zu deuten sind.
Rückseite des Mantels vorstellen muss, bleibt unsichtbar.
literatur: Lentes (1996) – Gutscher/Villiger (1999).
Die Worte (Gloria Patri et Filio) auf dem Saum rechts
unten zitieren den Anfang der kleinen Doxologie.
Beide Mariengebete wurden im Mittelalter oft reihenweise johanna thali

verrichtet. Dabei begegnet die Vorstellung, die Gottesmut-


313
314 Devotionsbild des Magisters Eberhart mit
Hl. Anna Selbdritt und Hl. Oswald

Tafelgemälde, anonym, Zug, datiert im Bild 1492


Museum Burg Zug (Leihgabe der kath. Kirchgemeinde), Inv. Nr. 3235
Tempera auf Leinwand und Holz, 43 × 55 cm, mit altem Rahmen 56 ×
68 cm

In einem von hohen Mauern umgebenen Gartenbezirk die Stadt Zug und an die neue Stadtkirche denken darf. Statt
(Hortus Conclusus) kniet rechts der dunkel und vornehm eines atmosphärischen Himmels hat der unbekannte, ver-
gekleidete Besteller des Bildes, der vermutlich mit dem Haupt- mutlich niederländisch beeinflusste Maler wohl auf Wunsch
förderer des Neubaus von St. Oswald, dem Zuger Stadtpfarrer des Bestellers den in dieser Zeit außer Gebrauch kommenden
Magister Johannes Eberhart (1435–1497), identifiziert werden Goldgrund eingesetzt.
kann. Vor ihm am Boden liegt ein aufgeschlagenes Gebetbuch. Für ein Altarretabel ist das Bild zu klein. Es könnte privater
Seine betenden Hände berühren fast die Linke des stehenden Andacht, aber auch als Memorialbild in der Kirche gedient
Ritters in schimmernder Rüstung mit Herrschermantel, der haben. In der Kirche St. Oswald hatte sich Magister Eberhart
seinen Kronenhelm auf der Erde abgelegt hat. Im Nimbus als Hauptstifter das Anrecht auf eine prominente Grabstätte
liest man: Sant Oswaldus ora pro nobis. Der Patron der Zuger in der Mittelachse erworben. In Analogie zu Niederländi-
Kirche, ein Northumbrischer König des Frühmittelalters, schen Bildern (z. B. Jan van Eyck, Madonna van der Paele,
ist durch seine ikonographischen Attribute – das Gefäß mit 1435) darf der unbestimmt nach oben gerichtete Blick des
Salböl und die Raben mit dem Ring – kenntlich gemacht. Der Beters so interpretiert werden, dass es sein inneres Bild ist,
Heilige schaut den Stifter an und empfiehlt ihn den Personen das der Maler konkretisiert und für uns sichtbar gemacht hat.
der Dreiergruppe (Anna Selbdritt) auf der Rasenbank, die Ausgangspunkt ist dabei die Lektüre des Stundenbuches, die
durch einen kostbaren Stoffhintergrund als die Ranghöchsten in der Kontemplation nachwirkt und das innere Bild beför-
und Adressaten des Gebets kenntlich gemacht sind. Anna (Sta dert. Das heilsvermittelnde Medium, die davon genährte
Anna ora pro nobis) trägt ihre noch kindliche Tochter Maria innere Bilderwelt und die im Werk des Künstlers dauernd
auf dem Oberschenkel. Diese wiederum hält das Jesuskind festgehaltene Bitte um ewiges Seelenheil des Stifters sind in
auf dem Schoß, das sich segnend zum Stifter umwendet. Ein dieser Tafel auf sinnfällige Weise verschränkt. Ablesbar ist
Apfel ist aus der Hand des Kindes auf den Boden gefallen. das auch in der Reihenfolge der Gegenstände am Boden: dem
Links öffnet sich ein Durchblick auf zwei heilige Frauen- Gebetbuch, der Krone (des ewigen Lebens) und dem Apfel
gestalten mit vielen nimbierten Kleinkindern unter einem (als Zeichen des Paradieses).
Obstbaum, eine verkürzte Darstellung der ›Heiligen Sippe‹.
literatur: Keller (1989) – Jezler/Konrad (1994) – Göttler (1994) – Keller
Hinter der Einfriedung dieses paradiesischen Bereiches wird
(2002).
eine Stadtlandschaft zwischen dem Türkis der Wellen eines
Sees und schroffen Bergen in derselben Farbe sichtbar, bei peter cornelius claussen

der man auch ohne topographische Wiedererkennbarkeit an


315
316 Deutsche Bibel von 1477

Augsburg, Anton Sorg, 1477


Pfarrarchiv St. Michael, Zug, Inc. 44, fol. 1r
Papier, 38 × 29cm

Die von Anton Sorg gedruckte Biblia ist der siebte von Die Holzschnitte sind nachträglich von Hand mit Aqua-
insgesamt 14 deutschen Bibeldrucken der Frühen Neuzeit. rellfarben ausgemalt worden, so auch die hochrechteckige
Den Übergangscharakter dieser Epoche charakterisiert eine Illustration des Kirchenvaters Hieronymus auf der Eingangs-
enge Verflechtung von Handschriften- und Druckproduk- seite der Biblia. Der Übersetzer der Vulgata wird – wie im
tion; Sorg kam ursprünglich selbst aus dem Briefmaler- und Mittelalter üblich – im Habit eines Kardinals dargestellt, ihm
Rubrikatorengewerbe. Für die vorreformatorischen Bibeln zu Füßen sein Attribut, der Löwe. Im Bildhintergrund sieht
verwendeten die Drucker eine deutsche Vulgata-Überset- man oberhalb des Fensters ein spätmittelalterliches Beutel-
zung, die schon im 14. Jahrhundert handschriftlich überlie- buch aufliegen, das hier rot koloriert ist. Den Seitenrand
fert ist und für die Inkunabeln verschiedentlich überarbeitet ziert eine prächtige, von Hand hinzugefügte Schmuckleiste,
wurde. Doch nicht nur textuell, auch hinsichtlich der gra- die an der Holzschnittinitiale des Textes ansetzt. Die Ein-
phischen Gestaltung weist Sorgs Biblia Merkmale auf, die gangsseite weist derart eine Reihe von Ungleichzeitigkeiten
der handschriftlichen Vorlage entstammen: Das Layout der auf: Die Autorschaft des Hieronymus wird in einer traditi-
Seite ähnelt in seiner zweispaltigen Anlage beispielsweise onellen Bildformel visualisiert, indem der Kirchenvater am
dem Vorbild des 14. Jahrhunderts (die schmale Zeilenbreite Schreibpult sitzt und seine Hand eine Feder über die Seiten
wurde womöglich auch deshalb übernommen, weil sie ein eines aufgeschlagenen Buches führt. Die Geltung der hand-
flüssigeres Lesen des Textes gestattet). Zudem prägen wirt- schriftlichen Autorschaft wird so auf die drucktechnisch
schaftliche Aspekte die Erscheinungsform der Seite: Das vervielfältigte Bibel übertragen, die sich unmittelbar vom
kleine Schriftformat erlaubte Sorg eine Einsparung von fast ursprünglichen Schreibakt herleitet
100 Seiten gegenüber der gleichzeitig gedruckten Zainer-
literatur: Eichenberger/Wendland (1977) – Matter (1986) – Janota/Krapp
Bibel. Waren die ersten deutschen Bibeln nicht illustriert,
(1995) – Ferrari (2003).
so werden seit Pflanzmann in den deutschen Bibeldrucken
Holzschnittillustrationen verwendet, die nachträglich von cornelia herberichs

Hand koloriert wurden. Da in der Inkunabelzeit die ein-


zelnen Produktionsschritte noch nicht mechanisiert waren,
unterscheiden sich die einzelnen Druckexemplare der selben
Auflage durch Ausstattung, Rubrizierung, Initialenschmuck
und Bucheinband stark voneinander.
Sorg verwendete für seine kleinformatigen Illustrationen
einen Großteil der einfachen Linienholzschnitte der Pflanz-
mann-Bibel (um 1475), die in seinen Besitz gelangt waren.
317
318 Stundenbuch

Meister der Münchener Legenda Aurea, Frankreich, um 1430/40


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 291(1108), 166 Bll. hier fol. 11v/12r
Pergament und Papier, 17,4 × 12 cm

In der Benediktinerregel sind in Anlehnung an die römische mehr oder minder luxuriös mit Miniaturen und Bordüren
Tageseinteilung bestimmte Zeitpunkte (Vigil/Matutin, Lau- ausgeschmückt. Einfache Exemplare mit Gebrauchsspuren
des, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet) für das Gebet sind seltener erhalten als prestigeträchtige Meisterwerke, die
der Klostergemeinschaft festgesetzt. Dieses officium divinum – nicht selten als persönliches Eigentum von Frauen – über
besteht aus Hymnen, Psalmen, Antiphonen, Evangelienle- Generationen vererbt wurden.
sungen und Gebeten, wobei die liturgischen Elemente je Das abgebildete lateinischsprachige Exemplar gelangte als
nach der kirchlichen Bedeutung des Tages variieren. Die Geschenk von Johann Wilhelm Gotthard († 1649), Chorherr
Abfolge der im Chorraum der Kirche gesungenen horae im St.-Ursen-Stift zu Solothurn, ins Kloster Einsiedeln.
prägt bis heute die Struktur des monastischen Alltags. Für Entsprechend der französischen Bildtradition spielt sich die
die Bedürfnisse der Laien wurden seit dem 13. Jahrhundert Verkündigungsszene in einem Kirchenraum ab; ein Para-
Codices mit Marien-Offizium, Toten-Offizium, Bußpsal- vant verleiht der Handlung einen intimeren Charakter. Das
men, Allerheiligenlitanei sowie mit Gebeten zu Maria und Gewölbe ist als blaues Himmelszelt gemalt, drei Oculi und
den Heiligen hergestellt, wobei man aus dem Gebetsschatz ein Zwillingsfenster verweisen auf jenen Moment, in dem
von Mönchen und Weltgeistlichen schöpfte. Das Stunden- sich der Himmel öffnet und Gottvater den Hl. Geist auf
buch stellt eine ›mediale Brücke‹ her zwischen dem einzel- die Jungfrau Maria herabsendet. Ein Zweig mit drei Lilien
nen Gläubigen und den Gebetskollektiven in Klöstern und trennt den wie ein Diakon gekleideten Erzengel Gabriel
Kollegiatsstiften; die räumliche Trennung der Betenden wird von der Jungfrau, auf deren Knien ein großes, zum Lesen
durch eine annähernde Synchronisation von Zeit und Text aufgeschlagenes Buch liegt. Diese Miniatur erzeugt für den
überwunden. Ob laut rezitiert oder still gelesen, die Lektüre im Stundenbuch Lesenden eine ›mise en abyme‹, also eine
überführt Schrift in Handlung, nämlich in die Kommuni- Darstellung und damit Verdoppelung jener Handlung, die
kation des Individuums und der universellen Gemeinschaft er bei Tagesanbruch gerade selbst ausführt. Der fromme
aller Christen mit Gott. Laie wird so in den Zeitraum der Heilsgeschichte (Mari-
Ein Kalendarium am Anfang der Stundenbücher erleichtert enleben, mitunter zusätzlich Passion Christi) einbezogen,
die Orientierung im Kirchenjahr und dessen komplexer den er während des Tages abschnittweise lesend und betend
Gliederung nach Hochfesten und Heiligentagen. Die Heili- durchschreitet.
genfeste sind teilweise spezifisch für einzelne Diözesen und
literatur: Achten (1980) – Hartan (1982) – Reinburg (1988) – Häußling
erlauben deshalb Rückschlüsse auf den Entstehungsort der
(1997) – Millman (2003).
Handschrift beziehungsweise auf deren Auftraggeber aus
dem Adel und reichen Stadtbürgertum. Auf dessen Wunsch maria wittmer-butsch

wurden weitere Gebete eingefügt und wurde das Werk


319
320 Heinrich Seuse: Exemplar

Raum Konstanz, nach 1455


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 710(322), fol. 22v–184v, hier fol. 106r
Papier, 30 × 20,5 cm

Die nach 1455 entstandene Einsiedler Sammelhandschrift rung von der Welt ab und duldet alles von außen zugefügte
stammt aus dem Besitz des Konstanzer Bürgerpaares Hein- Leiden, das durch Pfeile und Schwerter symbolisiert wird.
rich Ehinger (1438–1479) und Margaretha von Kappel (um Die völlige Gelassenheit gegenüber allen weltlichen Dingen
1440 bis nach 1483) und gelangte vermutlich 1503 beim (unten links) und das geistliche Mitsterben mit dem gekreu-
Klostereintritt der Enkelin der Ehingers ins Konstanzer zigten Christus (Mitte links) lässt den Menschen die äußeren
Dominikanerinnenkloster St. Peter. Der Codex enthält neben Sinne überwinden, sodass er nun in der Gottebenbildlichkeit
dem Gedicht Christus und die minnende Seele und kürzeren, nur noch in und durch Gott lebt (oben links). Nach dieser
praktisch-theologischen Stücken das sogenannte Exemplar Verschmelzung mit Gott wird der Mensch – vor jeglichen
des Dominikaners Heinrich Seuse (1295/97–1366), eine mit äußeren Einflüssen geschützt (Mitte oben) – in den bildlosen
Bildern ausgestattete, vom Autor redigierte Sammlung seiner Grund Gottes entrückt (Mitte oben).
Schriften. In der legendenhaft stilisierten Autobiographie Obwohl der im Text verborgene Sinn in Seuses Exemplar
(Vita) beschreibt Seuse im Anschluss an die theologisch »erst eigentlich in der Illustration erschlossen« werden kann
anspruchsvollen vorangehenden Kapitel 50–52 in Kapitel (Lentes 2004), ist das theologische Konzept, das hinter den
53 die Vereinigung mit Gott als Ausfluss Gottes in die Seele Bildern steht, bei der individuellen stillen Lektüre in der
des Menschen und deren Rückfluss in die Gottheit. Dieser Klosterzelle oder im Privathaus ohne die bilderklärenden
mystische Kreislauf wird auf fol. 106r in einer Folge von Beischriften kaum verständlich. Diese beschreiben das
Einzelszenen dargestellt und mit Beischriften erklärt. Die bildnishaft dargestellte Unfassbare auf einer vernunftmäßig
Illustration versucht, den an sich unbeschreibbaren mysti- nachvollziehbaren Ebene und tragen so zum Verständnis der
schen Vorgang auf verständliche Weise zu veranschaulichen. Bilder und schließlich auch der darin dargestellten Lehre von
Die Leseabfolge der einzelnen Stationen des Kreislaufes wird der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott bei.
dabei mit einem ›roten Faden‹ angezeigt:
literatur: Seuse (1907) – Haas (1996) – Hamburger (1998) – Lentes
Die in einer dreifachen Ringfigur abstrakt dargestellte Gott-
(2004) – Hamburger (im Druck) – Lang (im Druck).
heit (oben links) nimmt über einen Flügelaltar in den drei
trinitarischen Personen Form an (oben rechts) und fließt,
symbolisiert durch kleine Ringfiguren, in den nach dem richard f. fasching

Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen über (Mitte rechts).


Außerhalb des geistlichen Weges stellt ein Engelssturz das
Verderben durch den Tod und die weltliche Minne dar (un-
ten rechts). Der geistliche Mensch hingegen (unten, in der
Mitte) wendet sich bußwillig in einer bewussten Sinnesände-
321
322 Visiones Georgii

1580
Pfarrarchiv St. Michael, Zug, Cod. 22, hier fol. 62v
Papier, 31 × 21 cm

Im achten Kapitel des Johannesevangeliums findet sich die Besitz der adligen Familie Eggs zu Rheinfelden nach Zug
einzige Bibelstelle, die Jesus als Schreibenden bezeugt: »Da gekommen ist. Die Übersetzung C der spätmittelalterlichen
bückte sich Jesus nieder und schrieb mit dem Finger auf die lateinischen Vorlage kennt nur die mündliche Botschaft, ver-
Erde.« Was er schreibt, wird nicht gesagt. Dieser Mangel an schweigt aber ebenfalls deren Inhalt. Der Vergleich fördert
Schriftstücken aus der Feder des Gottessohnes hat christli- eine mediale Situation von besonderer Brisanz zu Tage: Die
ches Denken seit der Spätantike beschäftigt und eine lange Redaktion schafft ein Schriftstück, wo sich die Übersetzung
Tradition der Legendenbildung um den schreibenden Jesus lediglich eines mündlichen Boten bedient. Sie macht die
begründet. Beispiele wie der breit überlieferte, von Chris- Erlebnisse des Georgius zudem implizit zum Gegenstand
tus oder Gott verfasste und direkt vom Himmel gefallene der Nachricht und ihn als Boten zum Augenzeugen, indem
›Himmelsbrief‹ zeigen, dass die irdische Vergegenwärtigung sie seine mündliche Ergänzungskompetenz betont. In der
von Heil konkreter Objekte bedarf, deren transzendenter Redaktion entspräche der Inhalt des zu überbringenden Brie-
Ursprung ihnen zugleich anhaften muss. In dem Maße, in fes damit demjenigen der jeweiligen Visiones-Handschrift,
welchem man sich schließlich vom Zeitpunkt der ursprüng- in unserem Fall des Zuger Exemplars. Dessen Gültigkeit
lichen Heilsübertragung entfernt, werden Ketten von Tra- ließe sich über die Tradierungskette der Würdenträger als
dierungen als Kontinuitätsgaranten wichtig. Die Teilhabe Briefempfänger und den Augenzeugen und Boten Geor-
am Himmlischen wie Irdischen, die in der Immanenz einen gius bis auf den göttlichen Urherber zurückführen. Nicht
Heilsraum zu eröffnen vermag, zeichnet auch den Brief aus, zuletzt durch den Umstand, dass man es in Zug zu einem
den der Ritter Georgius in den Visiones Georgii von seinem so späten Zeitpunkt mit einer Handschrift statt mit einem
Bußgang durch die Unterwelt auf die Erde mitbringt. Vom Druck zu tun hat, wird suggeriert, man lese just den Brief,
Erzengel Michael ein Stück seines Weges durch Fegefeuer, den Georgius einst von seiner Reise mitgebracht haben soll.
Hölle und Paradies geleitet, erhält Georgius von diesem den Freilich bleibt die Unsicherheit über den tatsächlichen Inhalt.
Auftrag, göttliche Botschaften an fünf geistliche Würden- Doch wie schon die Bibel über das von Jesus Geschriebene
träger zu überbringen. In einen einzigen Brief gefasst, über schweigt, so scheint auch in den Visiones gerade diese Lücke
dessen Inhalt der Erzähler der Visiones nichts zu wissen die Heilsqualität der potentiellen Botschaft zu bestätigen.
vorgibt, sind sie nur dem Georgius zugänglich, der sie bei
literatur: Schnell (1999) – Ferrari (2003) – Weitemeier (2006).
Bedarf mündlich ergänzen kann (63v). Die Übermittlung von
Gottes Nachricht im Medium des Briefes ist in der Gruppe
C der deutschsprachigen Handschriften der Visiones eine aleksandra prica

Besonderheit der Redaktion. Ihr folgt auch die Zuger Hand-


schrift, die vermutlich um das Jahr 1620 aus dem weltlichen
323
324 Frühmittelalterliche Rombeschreibungen

nach 800 in Fulda (?) kompiliert


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 326(1076), fol. 67r–86r, hier fol. 68v/69r
Pergament mit schwarzer und roter Tinte, Einband aus Schafleder auf
Holzdeckel (13. Jh.), 17,8 × 12,6 cm

Der kleine Codex enthält auf 20 Seiten – neben weiteren ka- Auf der abgebildeten linken Seite des Codex sind zwei ver-
rolingischen Schriften vorwiegend geistlichen Inhalts – drei lorene Versinschriften aus der Petersbasilika aufgezeichnet,
die Stadt Rom betreffende Texte: eine Inschriftensammlung gefolgt von antiken Inschriften am Marcellustheater und an
(Sylloge), ein Itinerar und eine Beschreibung der römischen der Trajanssäule: Die monumentalen Verse im Apsismosaik
Stadtmauer. Der Schreiber hatte wohl selbst nie römischen von St. Peter, das Christus bei der Übergabe des Gesetzes
Boden betreten, konnte aber auf Aufzeichnungen eines anti- an Petrus und Paulus zeigte, stimmen eine Lobeshymne
quarisch interessierten Pilgers zurückgreifen, der in den 790er auf den Schöpfer und den Erbauer (Konstantin?) an. Die
Jahren in Rom die Gräber der Apostel Petrus und Paulus anschließende Inschrift stammte von der von Papst Pela-
aufgesucht hatte. Bei der Abschrift des Itinerars unterliefen gius II. (579–590) gestifteten Sängerkanzel: Sie fordert die
dem Kompilator Fehler, die kein Ortskundiger gemacht hätte Sänger auf, emporzusteigen und den Herrn zu preisen. Die
und die auch die Funktion dieser Aufzeichnungen als ›Pil- (nachträgliche?) Hervorhebung der beiden Inschriften durch
gerführer‹ oder als Exzerpt einer Romkarte unwahrscheinlich kleine Hände mit überlangem Zeigefinger am Seitenrand
machen. Trotz des ›Taschenformats‹ handelte es sich also nicht verrät, dass diese Stellen innerhalb der Rom-Dokumentation
um einen Führer für die Orientierung vor Ort (vgl. S. 242, leicht gefunden werden sollten, um dem daheim gebliebenen
326), sondern um ein gelehrtes Kompendium für die Verge- Leser im Geiste die Teilnahme an der Liturgie beim Grab
genwärtigung der Hauptstadt des orbis christianum. Petri zu ermöglichen.
In der Sylloge sind lateinische und griechische Inschriften Durch die Einsiedler Sylloge erahnen wir heute im Medium
von antiken Bauten und Kirchen ohne topographische der Abschrift von Abschriften monumentaler Inschriften die
Ordnung in schwarzen karolingischen Minuskeln zusam- Wahrnehmung und den Aneignungsversuch eines nordal-
mengestellt. Eine Majuskel markiert jeweils auf einer neuen pinen frühmittelalterlichen Pilgers: Ihm erschien die Stadt
Zeile den Anfang einer Inschrift, während die mit roter Rom mit ihrer überwältigenden Fülle von durch Schrift
Tinte und Capitalis-Lettern rubrizierte Ortsangabe meist ausgezeichneten und sprechenden (Bau-)Denkmälern als
in die verbliebene Lücke der vorangehenden Zeilen gesetzt gebauter Schriftraum, in dem Altertum und christliche Heils-
ist. Vom epigraphischen Erscheinungsbild des Originals geschichte unauflösbar miteinander verflochten waren.
(Zeilenführung, Buchstabentyp) ist nichts auf die Perga-
literatur: Walser (1987) – Bauer (1997).
mentseite überführt, auf der eine Ästhetik des homogenen
geschlossenen Blocksatzes herrscht (ob jedoch die vor Ort daniela mondini

entstandene Vorlage typographisch ausdifferenzierter war,


bleibt offen).
325
326 Spätmittelalterlicher Rompilgerführer

Mirabilia Romae und Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae, Ende 14. Jh.


Stiftsbibliothek St. Gallen, Handschrift Nr. 1093
Pergamentrotulus, 419,5 × 11,5 cm

Seit dem Frühmittelalter war Rom mit den Gräbern der Zudem war die kleinformatige Rolle leicht zu transportieren.
Apostel Petrus und Paulus neben Jerusalem das begehrteste Für die Konsultation war sie jedoch alles andere als handlich,
Wallfahrtsziel der christlichen Welt (vgl. S. 324). An den Or- da sie beidhändig auf- und umgerollt werden musste, wollte
ten, wo Petrus und Paulus gewirkt hatten, konnten die Pilger man nicht den langen Pergamentstreifen hinter sich herzie-
Heilung finden. Im späteren Mittelalter entwickelte sich der hen. In der schwierigen Handhabung und der damit verbun-
Erlass von Sündenstrafen durch den Papst zum zentralen denen Abnutzung liegt wohl der Grund dafür, dass nur fünf
Heilskonzept. Handschriftliche Romführer als Orientierungs- solcher lateinisch beschriebenen Rotuli bekannt sind – ein
hilfen für Pilger wurden zur Massenware, konnten wohl vor 5,6 m langer Rotulus samt Futteral aus der ersten Hälfte des
Ort erworben werden und wurden laufend aktualisiert. Ein 14. Jahrhunderts befindet sich in der Württembergischen
Beispiel dafür ist die vier Meter lange, aus sechs aneinander Landesbibliothek Stuttgart. Manuskripte auf Pergament
genähten Streifen zusammengesetzte Pergamentrolle aus der oder Papier in Heftform und später dann gedruckte Bücher
Stiftsbibliothek St. Gallen. Sie ist der Breite nach einspaltig waren als Romführer erfolgreicher.
in schwarzer Minus­ kelschrift des späten 14. Jahrhunderts Charakteristisch für die spätmittelalterliche Frömmigkeit
beschrieben. In ihr fanden sich auf wenig Raum alle Informa- sind die hohen Ablassangaben in Tausenden von Jahren und
tionen, die ein Rompilger brauchte: Neben einem detaillierten Tagen. Damit ist die Reduktion der Sündenstrafendauer
Reliquien- und Ablassverzeichnis der sieben Hauptbasiliken gemeint, die jeder Gläubiger nach dem Tod im Fegefeuer
und weiterer 35 Kirchen Roms enthält der Rotulus im vor- erdulden sollte. Die Indulgentienverzeichnisse der einzelnen
deren Teil einen der beliebtesten Texte des Mittelalters, die Kirchen warben um die Aufmerksamkeit der Pilger, deren
Mirabilia Romae. Diese um die Mitte des 12. Jahrhunderts Spenden begehrt waren, mit sich überbietenden Ablasshöhen,
entstandenen ›Wunder Roms‹ berichten über antike Bau- und aber auch mit ausgefallenen Reliquien und mit auf den Ort
Kunstwerke, überliefern Legenden, die einen heilsgeschichtli- bezogenen Legenden. Die wörtliche Wiedergabe im Rotulus
chen Zusammenhang zwischen heidnischem und christlichem von in den Kirchen ausgestellten Reliquieninventaren war auf
Rom herstellen, und beschreiben einen Rundgang durch die Wiedererkennbarkeit angelegt und diente der gegenseitigen
Stadt. Sie befriedigten somit auch die gelehrten und ›touristi- Authentisierung von Pilgerführer und Gnadenort.
schen‹ Interessen der frommen Rombesucher.
literatur: Vatikanstadt, BAV, Vat. lat. 9022, fol. 229–242 (Abschrift
Auffällig ist die antikisierende ›Buchform‹ der Pergamen-
des 18. Jahrhunderts) – Scherrer (1875) – Miedema (1996) – Miedema
trolle: Möglicherweise handelt es sich dabei um einen
(2003) – Flury (2007).
bewussten Rückgriff auf einen außer Gebrauch geratenen
altertümlichen Schriftträger, mit dessen Form die Autorität daniela mondini

des Inhalts verbürgt werden sollte (vgl. S. 220).


327
328 Einsiedler Pilgerzeichen und Missale

Fundort: Burgruine Hohenbaden, 14. Jh.


Landesmuseum Karlsruhe, Inv. Nr. C 9603
Gitterguss, Blei-Zinn-Legierung, Durchmesser 5,5 cm

Missale, Einsiedeln, 12. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 111(464), fol. 26: O-Initiale in Minium
(Omnipotens sempiterne Deus)

Aus Santiago de Compostela zurückkehrende Pilger nähten 15. Jahrhundert. Zur näheren Bestimmung des dargestellten
sich seit dem 11. Jahrhundert als Beleg für ihre Reise eine Heiligen wurden zuweilen Schriftbänder mit dessen Namen
Muschelschale auf Tasche oder Hut. Sie stellten sich damit und dem Kultort in den Gitterguss integriert. Solche Unter-
unter den Schutz des Apostels Jakobus d. Ä.; Romfahrer scheidungsmerkmale wurden vor allem bei den vielen Gna-
erwarben am Ziel Metallmarken mit den Brustbildern der denstätten der Gottesmutter Maria genutzt. Von Einsiedeln
Apostel Petrus und Paulus in der Tradition päpstlicher waren zwei Bildmotive im Umlauf. Das jüngere Zeichen
Siegel, was den Zeichenträgern Glaubwürdigkeit und An- zeigt die Engelweihe, das ältere die Ermordung des Hl. Mein-
recht auf materielle Unterstützung verlieh. Mit derartigen rad durch zwei Räuber im Jahr 861. Die Umschrift lautet:
Markierungen machten auch andere Wallfahrtsorte auf sich + dis ist unser zeichen von sant meinrat von neisidell. Das
aufmerksam. Als Werbemittel, direkt am Körper getragen, gewählte Bildmotiv stammt aus einem anderen medialen Zu-
waren diese Zeichen rezeptionsbezogen auf die personale sammenhang: Man griff auf ein klostereigenes Messbuch aus
Präsenz der Pilger ausgerichtet: Der mündliche Bericht den Jahren 1100–1120 zurück, das zum Festtag des Heiligen
ergänzte bei Bedarf das visuelle Signet. Das ortsgebundene in einer O-Initiale die älteste Darstellung von Meinrads Mar-
Heil der Wallfahrtstätten eroberte sich durch diese mediale tyrium überliefert. Zu sehen ist Meinrad im Mönchshabit,
Umsetzung neue Räume als Einzugsgebiete. wie er unter Keulenschlägen der beiden Mörder zu Boden
Über diese pragmatischen Funktionen hinaus beanspruchten sinkt, während ein Engel ihm Trost spendet. – Das Einsiedler
die Zeichen Geltung als Medien des Heils. Die religiösen Bild- Zeichen übernimmt von der durch Alter und liturgischen
motive verliehen den Objekten von vornherein eine sakrale Gebrauch geheiligten Vorlage die Figurenkomposition und
Würde; auf Holzbrettchen befestigt und an die Wand gehängt, die zu dieser Zeit noch seltene runde Form. Ergänzt werden
konnten sie der privaten Andacht dienen. Adlige und Reiche nur Brot und Kelch in den Händen des Heiligen. Dies akzen-
ließen Exemplare aus Edelmetall in ihre kostbar illuminierten tuiert die den Räubern zunächst gewährte Gastfreundschaft
Gebetsbücher (vgl. S. 318) einnähen oder abmalen. Auf Bitten und unterstreicht damit das Perfide des Gewaltaktes. Zudem
der Pilger wurden manchenorts die Metallmarken mit der verweisen diese Attribute auf die Priesterwürde Meinrads,
Heiligenstatue in direkte Berührung gebracht. Dadurch wurde der wie Christus als schuldloses Opfer starb.
das Heil übertragen, gewannen Metallmarken Reliquienstatus,
literatur: Ringholz (1919) – Köster (1984) – Lang (2000a) – Lustenberger
wurde ihnen apotropäische Wirksamkeit zugeschrieben.
(2000) – de Kroon (2005).
Die Blütezeit dieser aus Blei-Zinn-Legierungen seriell
hergestellten Flach- oder Gittergüsse datiert ins 14. und
maria wittmer-butsch
329
330 Papsturkunde von 1464

Papst Pius II., 10. April 1464


Stiftsarchiv Einsiedeln, A.D.3
Pergament, Bleisiegel an Seidenschnur, 52 × 40 cm

1464 stellte Papst Pius II. dem Kloster Einsiedeln zwei entfernten Rom wirkte nun anstelle der fraglich gewordenen
Urkunden aus (StiAE A.D.3 und A.K.3). Im abgebildeten Engelweihbulle vor Ort unangreifbar heilsvermittelnd.
Schriftstück gibt er den Mönchen von Einsiedeln die zeit- Noch bis zur Reformation verkündete eine Tafel über der
lich unbegrenzte Erlaubnis, den Pilgern die heiligen Sakra- Türe zur Gnadenkapelle die im Innern zu erwartende reli-
mente zu spenden. In der anderen Urkunde bestätigt er die giöse Dienstleistung (vgl. S. 334). In der Kirche war zudem
Einsiedler Engelweihbulle, deren Original schon damals an der Kanzel in plakativer Demonstrativität eine Kopie der
verloren war. Engelweihbulle angeschlagen. Schrift- und lateinkundige
Mit den beiden Urkunden Pius’ II. endete vorerst ein jah- Pilger schrieben den Text als Erinnerung an ihre Wallfahrt
relanger Streit um die Ablasspraxis der Benediktinerabtei, und die damit verbundene Heilszusage ab. Eine solche Ab-
dessen Grundlage eine angeblich von Leo VIII. aus dem schrift aus dem 14. Jahrhundert findet sich z. B. zusammen
Jahr 964 stammende Papstbulle bildete (vgl. S. 332). Sie be- mit der Engelweihlegende im Jahrzeitbuch der Leutkirche
stätigt, dass die zu einer Kapelle umgebaute Meinradszelle St. Vinzenz in Bern. Kopien der lateinischen Ablassurkunde
auf göttliche Intervention hin von Engeln und nicht vom konnten auch bei den periodisch in Einsiedeln stattfindenden
zuständigen Ortsbischof geweiht worden war. Die Bulle Engelweihfeiern im Siegelhaus gekauft werden.
ist eine Reichenauer Fälschung aus dem 12. Jahrhundert Das urkundlich von Rom nach Einsiedeln übertragene Heil
und wurde erst im 14. Jahrhundert um die entscheidenden wurde zentraler Antrieb der rasanten Entwicklung des
Ablassbestimmungen ergänzt. Klosters zum bedeutenden Wallfahrtsort und Heiligtum der
1432 erregte die Engelweihbulle erstmals Verdacht, als der werdenden Eidgenossenschaft. Die große Anziehungskraft
Bischof von Konstanz gegen die Einsiedler Ablasspraxis, der Einsiedler Gnadenkapelle gründete in der Verbindung
den Pilgern die Absolution von bischöflichen Reservatfällen des Engelweihablasses mit der Spendung des Bußsakraments,
zu erteilen, vor Papst und Konzil Einspruch einlegte. Die da besonders im Spätmittelalter beide Gnadenmittel als un-
Einsiedler Mönche reagierten mit Betriebsamkeit, ließen abdingbar für das Seelenheil galten. 1466 wurden am Fest der
den Inhalt der Urkunde ins Kartular des Klosters übertragen Engelweihe mehrere zehntausend Pilgerzeichen verkauft.
und schickten Prokuratoren nach Basel und Rom, um das
literatur: Ringholz (1904) – Sieber (1996) – Lustenberger (2002) – Galle/
Original als verbrannt zu melden. Daraufhin versandete die
Kränzle/Kwasnitza (2004).
päpstliche Untersuchung. 1451 verlängerte Papst Nikolaus V.
auf Bitten Herzog Albrechts von Österreich die Vollmachten stefan kwasnitza

des Klosters auf 15 Jahre. Schließlich erweiterte Pius II. in der


abgebildeten Urkunde die Spendung der heiligen Sakramente
auf unbegrenzte Zeit. Dieses besiegelte Dokument aus dem
331
332 Einsiedler Meinrad-Blockbuch

Basel (?), Mitte 15. Jh.


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Inc. 495(831), 64 Seiten, hier S. 50/51
Papier, 19 × 13,8 cm, 48 kolorierte Holzschnitte

Das Einsiedler Blockbuch mit den Eingangsworten Dis ist Blockbuch eine prominente Rolle spielt. Der Bischof von
der erst aneuang, als unser lieben frowen cappell zuo den ein- Konstanz und der Abt von Einsiedeln sollen nämlich im
sidlen von sant meinrat selbs buwen wart entstand vermutlich Jahr 964 von Papst Leo VIII. einen vollkommenen Ablass
um 1450/60 in Basel, einem Zentrum des frühen Buchdrucks, erhalten haben für alle, die am Fest der Engelweihe nach
vielleicht als Werk des Brief- und Kartenmalers Lienhart Einsiedeln pilgern (vgl. S. 330). Im Blockbuch wird der Emp-
Ysenhut. Blockbücher verkörpern eine Sonderentwicklung fang dieser Urkunde – im Bild als Blatt mit den lateinischen
innerhalb des Medienwandels vom handschriftlich erstellten Anfangsworten angedeutet – dargestellt, wobei in Rom auch
Codex zum Buch, dessen Text mit beweglichen Metalllettern die höchste weltliche Autorität, Kaiser Otto I. und dessen
gesetzt wird. Die Holzschnitt-Technik verbreitete sich seit Gemahlin Adelheid, präsent gewesen seien. Auf der Seite
dem späten 14. Jahrhundert und diente zunächst der Verviel- gegenüber dieser Illustration steht die deutsche Übersetzung,
fältigung von Bildern mit religiösen Motiven. Der Entwurf so dass man den Inhalt der Urkunde gleichzeitig vor Augen
wurde auf einen Holzblock übertragen, die Form darin ein- hat. Ein Gebet zur Gottesmutter Maria, die in Einsiedeln
geschnitten, geschwärzt und im Reibeverfahren auf Papier im Spätmittelalter bereits im Mittelpunkt des Kultes stand,
übertragen. Im 15. Jahrhundert gestaltete man ganze Bücher beschließt das Büchlein.
mit Zeichnungen, Bildlegenden und Texten in der aufwän- Das Zusammenspiel von Bild und Text im Blockbuch zeugt
digen Holzschnitt-Technik; vor dem Zusammenbinden der von beachtlichem Medienwissen. Die Verwendung der
Blätter wurden die Illustrationen häufig noch koloriert. Bei Volkssprache und der hohe Bildanteil erleichterten die Ver-
den 44 bekannten Blockbüchern dominieren Stoffe zur geist- gegenwärtigung dessen, was man am Wallfahrtsort gehört
lichen Belehrung beziehungsweise moralischen Erbauung und gesehen hatte. Konzipiert als Pilgerandenken hatten
(Armenbibel, Ars moriendi, Zehn Gebote). diese Büchlein auch Werbefunktion, weil sie zweifellos im
Die anonyme Herausgeberschaft des Einsiedler Blockbuchs Bekanntenkreis ihrer Besitzer herumgezeigt wurden. Das
benutzte eine legendenartig erweiterte Vita des Hl. Meinrad entsprach der Intention des Klosters Einsiedeln, das sich als
(† 861), die im 14. Jahrhundert entstand und bald danach Wallfahrtsstätte profilieren wollte.
ins Deutsche übersetzt wurde. Das Büchlein enthält ferner
literatur:
Benziger (1912) – Das Blockbuch von Sankt Meinrad (1961) –
Angaben zur Klostergründung von 934 sowie die Legende
Blockbücher des Mittelalters (1991) – Baurmeister (1994) – Günthart
von der Engelweihe der Kapelle im Jahr 948. Damit folgt
(2006).
es einer lateinischen Kompilation des Dominikaners Georg
von Gengenbach (1378), der vermutlich eine Einsiedler maria wittmer-butsch

Textvorlage abschrieb. Eines der heilsrelevanten Konzepte


der spätmittelalterlichen Wallfahrt bildete der Ablass, der im
333
334 Meister E. S.: Engelweihe oder Große Madonna
von Einsiedeln

Kupferstich zur Wallfahrt von 1466


Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin / Inv. 339–1
Papier, 20,6 × 12,3 cm

Der 1466 datierte Stich, der mit zwei kleineren Blättern des sen Zuspruchs man sich auch außerhalb Einsiedelns bildlich
selben Themas dem Meister ES zugeschrieben wird, führt versichern wollte, bemerkenswert, wenn nicht befremdend
im Andacht einfordernden Blick auf die Gnadenkapelle drei an. Die fehlende Ähnlichkeit könnte zum einen Hinweis auf
Ebenen zusammen. Auf dem Altan nehmen unter einem Bal- ein Medium sein, das in dieser Frühzeit nicht in erster Linie
dachin die Gestalten der Trinität mit einem dicht gedrängten abbilden will, sondern ein Bild in größtmöglicher Schönheit
Gefolge von Engeln die Weihe vor, bevor es zur Dedikation nach eigenen Gesetzen erschafft und damit die Erwartungen
durch Bischof Konrad kommt. Die größte der regelmäßigen seines Publikums trifft. Dies im Gegensatz zu den neuzeitli-
Wallfahrten zum Jahrestag der legendären Engelweihe von chen Pilgerblättern auch aus Einsiedeln, die alles daran set-
948 fand im Entstehungsjahr des Blattes statt, nachdem die zen, das Gnadenbild in seiner Umgebung klar kenntlich zu
Gnadenkapelle im Jahr zuvor durch Brand schwer beschädigt machen. Eine andere Erklärung stützt sich auf den Kontext:
worden war. Auf den Ablass deutet das päpstliche Wappen Zur Zeit des Auftrags an den Stecher (wohl Ende 1465) lag
an der Brüstung. In der Laibung des Bogens steht als Erläu- die Kapelle nach dem Brand noch in Trümmern. Das bisher
terung der Heiligkeit dieses Raums: Dis ist die engelwichi verehrte Marienbild war vermutlich zerstört, da sogar die
zu unser lieben frouwen zu den einsidlen ave grcia plenna. Münzen im Opferstock in der Hitze verschmolzen waren.
Das durch den Papst verliehene Ablass-Privileg neben dem So könnte man schließen, dass das visuelle Medium im Mo-
Portal (unleserlich) bestätigt als Text (vgl. S. 330) die durch ment der äußersten Gefährdung des verehrten Ortes dessen
den Künstler visualisierte Legende und legitimiert die Ein- unzerstörbare und weiterwirkende Kraft in einer Form
siedler Wallfahrtspraxis. Der Bogen öffnet den Blick auf ein präsentieren soll, welche die Realität absichtlich ausblendet
altarähnliches Podest mit der Muttergottes, flankiert vom Hl. und durch eine höhere Bildrealität Kontinuität schafft. Der
Meinrad und einem Engel. In der untersten Ebene umrunden Verweis auf die wunderbare Engelweihe und das Ave Maria
drei Pilger das Gnadenbild, während im Vordergrund ein in der Bogeninschrift geben einer solchen, die Katastrophe
vornehmes Paar kniet. überspielenden Deutung zusätzliches Gewicht.
Die bis hin zu den Steinmetzzeichen realistisch wirkende
literatur: Lehrs (1910) – Schmidt (1994) – Welzel (1995) – Oechslin/
Architektur, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der damaligen
Buschow Oechslin (2003).
Marienkapelle. Warum ist als Gnadenbild nicht eine stehende
Madonna abgebildet, wie sie in Einsiedeln seit dem 15. Jahr- peter cornelius claussen

hundert verehrt wurde, sondern der im Mittelalter weit ver-


breitete Typus einer thronenden Muttergottes? Der Verzicht
auf Wiedererkennbarkeit mutet bei einem Gnadenbild, des-
335
336 Einsiedler Guttäterbuch

1588
Stiftsarchiv Einsiedeln, A.WD.11a, hier S. 8/9
Pergament, 30 × 42 cm

Im Auftrag Abt Ulrich Wittwilers (1585–1600) legte Leon- Evangeliar in Händen hält. Über der Gnadenkapelle schwe-
hard Zingg 1588 ein Verzeichnis der Stifter und Guttäter ben zwei Engel, von denen der eine ein Weihrauchfass hält,
des Klosters Einsiedeln an. Nicht nur die Geschichte des während der andere ein unbeschriebenes Spruchband trägt.
Gotteshauses, sondern auch das Andenken an die Wohltäter Das leer gelassene Band soll gesprochene Rede darstellen und
sollte darin festgehalten werden. Eingetragen wurde, wer auf die »Mündlichkeit der Kommunikationssituation« (Ott
dem Kloster zur Sicherung seines Seelenheils Privilegien 2000, S. 106) hinweisen.
ausgestellt sowie Güter oder Zinsen vermacht hatte. Der Wunsch sich als Marienverehrer in Szene zu setzen
Der im Zeitalter des Buchdrucks nochmals handschriftlich führte im 16. Jahrhundert vielerorts zu Vorrangstreitigkeiten
auf teurem Pergament geschriebene Codex beginnt mit einer unter den Stiftern, da der Platz für Ehrenbezeugungen in
kurzen Chronik der Äbte. Darauf folgen hierarchisch aufge- den Kapellen selbst begrenzt war. Als Alternative bot sich
führt die Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Prälaten, Priester und im Wallfahrtsort Einsiedeln der Eintrag in das in der Kus-
geistlichen Frauen, die dem Gotteshaus Wohltaten erwiesen torei aufbewahrte Guttäterbuch. Aufwändig auf wertvollem
haben. Schließlich sind die Kaiser und Kaiserinnen, Könige Material geschrieben, ersetzte so die Dignität des Buches
und Königinnen, Herzöge, Grafen, Freiherren, Ritter, Edel- die Dignität des Kapellenraums. Der schriftliche Eintrag,
frauen und zuletzt die Stifter aus den Reihen der Eidgenossen verknüpft mit dem Bildprogramm bestehend aus Meinrads-
eingetragen. Beginnend mit den Schenkungen der Ottonen vita, Engelweihe und Marienverehrung, ließ die Teilhabe
wurde das Verzeichnis bis 1779 weitergeführt. der Stifter am Transzendenten auch nach außen hin deutlich
Neben einem Wappenblatt enthält das Guttäterbuch drei wei- werden. Für das Heil der im Codex Eingetragenen wurde
tere, als Temperamalerei ausgeführte Miniaturen mit den für jeden Tag eine besondere Messe gelesen, ferner am Samstag
die Heiligkeit Einsiedelns zentralen Elementen: dem Klos- ein Hochamt zelebriert und jeden Montag ein gesungenes
terheiligen St. Meinrad, der Gnadenkapelle und der hier ab- Requiem gehalten. Hinzu kamen vier kollektive Jahrzeiten
gebildeten Darstellung der Engelweihe (vgl. S. 330). Letztere und die Aufnahme in die Einsiedler Bruderschaft Unserer
zeigt, wie die zu einer Kapelle umgebaute Meinradszelle auf Lieben Frau.
Intervention der Engel hin von Christus selbst und nicht vom
literatur: Ott (2000) – Oberli (2004) – Galle/Kränzle/Kwasnitza
zuständigen Ortsbischof geweiht wurde. Christus erscheint
(2004).
in Begleitung von Petrus, der den Weihwasserkessel trägt.
Die vergeblich zur Kirchweihe angetretenen Bischöfe stehen stefan kwasnitza

hinter zwei Engeln: Bischof Konrad von Konstanz mit roter


Dalmatika, der Einsiedler Abt Eberhard mit weiß-schwarz
gemusterter Mitra sowie Bischof Ulrich, der ein kleines
337
338 Aachener Heiltumsblatt

Holzschnitt, koloriert, wohl 1468 oder 1475


München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 118308
Papier, 27,5 × 37,5 cm

Der Holzschnitt zeigt die wichtigsten Heiltümer der 1300 gefeierten Heiligen Jahre zurück und die zu diesem
Mehrorte-Wallfahrt von Aachen, Maastricht und Korne- Anlass an der Peterskirche vollzogene Weisung der vera
limünster und wurde vermutlich zur Heiltumsweisung icon, einer Tuchreliquie mit dem wahren Antlitz Jesu. Im rö-
von 1468 oder 1475 gedruckt. Die in drei Längsspalten misch-­deutschen Regnum treten sie in der ersten Hälfte des
angeordneten Reliquien werden durch kurze Beischrif- 14. Jahrhunderts zunächst an Kirchen auf, die in besonderer
ten in deutscher Sprache identifiziert. Links sind die in Weise der karolingischen Reichstradition verbunden waren.
Maastricht gezeigten Objekte mit der Reliquienbüste des Dies trifft auch auf das Aachener Marienstift zu, wo die deut-
Hl. Servatius samt dessen Kelch und Patene zu sehen. schen Könige gekrönt wurden und man einen bedeutenden
Darunter ein kleines Kreuz, das angeblich der Hl. Lukas Reliquienschatz verehrte, der nach der Überlieferung auf
für die Gottesmutter angefertigt hatte, daneben der rechte Karl den Großen zurückgeht. Dieser Reliquienschatz – eines
Arm des Apostels Thomas. In der Mitte sind die Aachener der wichtigsten Wallfahrtsziele nördlich der Alpen – wurde
Reliquien abgebildet: das Hemd Mariens, das Tuch, in das seit 1349 alle sieben Jahre am Kirchweihfest von einer spe-
man Christus bei der Kreuzabnahme hüllte, das Tuch, in ziell dafür errichteten Turmgalerie am Marienstift gewiesen.
dem Salome das abgeschlagene Haupt von Johannes dem Maastricht und das nahe bei Aachen gelegene Kornelimüns-
Täufer hielt, zuunterst die Hosenbeinlinge des Hl. Josef, in ter schlossen sich im 15. Jahrhundert mit dem Termin ihrer
die das Christkind mangels Windeln gewickelt worden war. Heiltumsweisungen an die Aachenfahrt an.
Rechts folgen die Heiltümer von Kornelimünster: das Tuch, Der Einblattdruck, von dem heute nur noch dieses Exemplar
mit dem der Heiland den Jüngern nach der Fußwaschung bekannt ist, diente wahrscheinlich als Werbe- bzw. Infor-
vor dem Abendmahl die Füße trocknete, das Tuch, das man mationsmedium der Wallfahrt zu den genannten Orten.
Christus auf das Antlitz legte, als er im Grab lag, dann das Dafür spricht nicht nur der Text mit der Verheißung der
Haupt und der rechte Arm des Hl. Kornelius und das Tuch, Ablässe, sondern auch die summarische Darstellung der
in welches Josef von Arimathia bei der Kreuzabnahme den Hauptreliquien der genannten Orte. Die große Popularität
Leichnam Christi wickelte. Der Text am Kopf der drei Ko- dieser Wallfahrt und der europaweite Zulauf sind auch im
lonnen gibt Auskunft über den Umfang der an den jeweiligen Zusammenhang mit solchen gezielten Werbemaßnahmen
Heiltumsweisungen zu erlangenden Ablässe, für Aachen zu sehen.
heißt es summarisch: do ist also vil ablaß zu verdienen das
literatur: Schreiber (1927) – Kühne (2000) – Eisermann (2001) – Griese
man des nit genenmen oder erzelen kan.
(2003a) – Kühne (2004).
Die regelmäßigen Heiltumsweisungen (vgl. S. 342), die
in charakteristischer Weise Reliquienschau und Vergabe constanze rendtel

bedeutender Ablässe verbinden, gehen auf die in Rom seit


339
340 Andechser Heiltumsblatt

Holzschnitt, koloriert, 1496


London, British Museum, Department of Prints and Drawings,
Inv. Nr. 1895-1-22-188 und 189
Papier, 53 × 76 cm

Das Blatt zur Andechser Wallfahrt, von dem nur das hier die Reihen gemalter Reliquiare mit erläuterndem Text zeigen.
reproduzierte Exemplar bekannt ist, wurde 1496 mit vier 1497 ließ Herzog Sigismund von Bayern für sein Schloss
Holzstöcken gedruckt, wobei jeweils zwei Teile die obere Blutenburg bei München eine gemalte Kopie des Andechser
und die untere Hälfte bilden. Dargestellt sind in fünf Reihen Altars anfertigen. Dabei wurden die Texte unterhalb der Re-
circa 100 Reliquiare unterschiedlichster Art mit deutsch- liquiare auf sorgfältig applizierte, ca. fünf Zentimeter hohe
sprachigen Erläuterungen unterhalb von jedem Objekt. Pergamentstreifen geschrieben. Möglicherweise spiegelt sich
Das Oval in der Mitte präsentiert die Hauptreliquie der darin die originale Situation am Andechser Altar.
bayerischen Gnadenstätte: eine Monstranz mit drei wunder- Der Einblattdruck könnte in Anbetracht seiner Größe und
tätigen Hostien. In der untersten Zone sind auf schwarzem des querrechteckigen Formats, das demjenigen von Ab-
Grund, umgeben von Schriftbändern, menschliche Gebeine lassurkunden entspricht, für den öffentlichen Aushang in
abgebildet, sie verweisen auf weitere noch in Andechser Erde Kirchen bestimmt gewesen sein, hätte demnach also Werbe-
befindliche Reliquien: Item es ist zu merkenn das auff dem und Informationsfunktion gehabt. Zu denken ist vielleicht
Hailigenn Perg ist noch vorhannden vil treffenlich hailtumb. auch an den Erwerb für die Andacht im privaten Rahmen.
Das Textfeld rechts davon enthält auf 16 Zeilen eine kurze, Deutlich ist das Bemühen, den Andechser Altar möglichst
legendenartige Chronik des Reliquienschatzes, zitiert aus genau nachzubilden. So wie auf der Blutenburger Kopie
dem Andechser Missale. Daneben das Wappen der Herzöge werden auch auf dem Holzschnitt die Beischriften in Form
von Bayern, denen der mons sanctus von Andechs gehörte. loser Zettelchen dargestellt, die als Authentiken die Reliquien
Rechts gegenüber befindet sich eine Auflistung der in An- als echt verifizieren und damit das Heil garantieren. Damit
dechs zu erwerbenden Ablässe. scheint das Blatt als gedruckte Kopie des (Reliquien-)Altars
Der Einblatt-Holzschnitt bildet vermutlich bis in Einzelhei- auch geeignet, etwas von diesem Heil der Wallfahrtsstätte auf
ten den 1494 für Andechs geschaffenen Flügelaltar ab. Bei das Papier zu übertragen.
diesem nicht erhaltenen Werk handelte es sich möglicher-
literatur: Schreiber (1927) – Griese (2003a) – Griese (2003b) – Kühne
weise um einen Reliquienaltar, in dem die Reliquiare wie
(2004) – Eisermann (2005) – Cordez (2006).
in einem Schrank auf mehreren Regalbrettern übereinander
angeordnet waren. In geschlossenem Zustand, also der Zeit constanze rendtel

zwischen den dreimal jährlich stattfindenden Heiltumswei-


sungen, brachte der Schrein das Andechser Heiltum den
Besuchern vermutlich in gemaltem Zustand zur Anschauung.
Dies legen zwei erhaltene Fragmente der Altarflügel nahe,
341
342 Wittenberger Heiltumsbuch

Unnummeriertes Blatt der 2. Aufl., gedruckt 1509 bei Symphorian


Reinhart
Bayerische Staatsbibliothek München, Res. 4 H.eccl. 851
Papier, Oktav-Format

Das Besondere der Heiltumsweisungen besteht in der poli- Die Wittenberger Heiltumsweisung wurde durch den säch-
tischen Selbstinszenierung der Veranstalter durch den Bezug sischen Kurfürsten Friedrich den Weisen (1486 bis 1525)
auf sakrale Objekte, also im Einsatz des Reliquienhorts als eingesetzt und steht in Zusammenhang mit dem Ausbau der
Heilsmedium für eine breite Öffentlichkeit. Oft steht er in Stadt zur Residenz. Mit der Abbildung der kostbaren, über-
Zusammenhang mit dem Ausbau bischöflicher oder landes- wiegend neu geschaffenen Reliquiare beauftragte der Kurfürst
fürstlicher Residenzen. Fast ausnahmslos machten die Ver- die Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. Das Ergebnis war ein
anstalter der Heiltumsweisungen dabei auch von den neuen Werk, das auf 51 Blättern 104 Reliquiare in Holzschnitten
drucktechnischen Möglichkeiten Gebrauch (vgl. S. 338). abbildet. Es erschien 1509, doch noch im selben Jahr wurde
Massenhaft produzierte Einblattdrucke zur Ankündigung eine zweite Ausgabe gedruckt, dem raschen Anwachsen der
der Reliquienschau zeigen einen anspruchslosen Einsatz Sammlung Rechnung tragend. Die graphische Umsetzung
der neuen Medien. Komplexer war das Bestreben, sämtliche durch Cranach geht mitunter so weit, dass der Gefäßcharakter
bei der Reliquienweisung gezeigten Objekte in illustrierten dieser Objekte kaum mehr erkennbar ist, wie bei dem hier
Schriften abzubilden und zu beschreiben. Diese Heiltums- vorliegenden Reliquiar, das modellhaft den Ölberg nachbildet
büchlein, die sich aus einfachen Inventarlisten entwickelten, mit den schlafenden Jüngern und Christus im Gebet. Während
dienten dazu, das Ereignis einer Heiltumsweisung gleichsam der Text in kargen Worten die im Reliquiar befindlichen Heil-
aufs Papier zu bannen und alle Aspekte der realen Handlung tümer aufzählt sowie die Zahl der dadurch zu erwerbenden
genauestens wiederzugeben: Dazu gehörte die korrekte Rei- Ablassjahre nennt, lädt der lebendig gestaltete Holzschnitt zur
henfolge der in einem festen liturgischen Rahmen gezeigten Kontemplation ein. Hier wird deutlich, welches Potenzial die
Reliquiare sowie alle vom Ausrufer hierbei gegebenen Erläu- Heiltumsbücher hatten: Der Intention nach sind sie wohl als
terungen. Die Heiltumsbücher dienten wohl vor allem der autorisierte Wiedergabe der Reliquienweisung anzusprechen,
privaten Andacht und Commemoratio der Wallfahrt. Damit bei der Umsetzung ins Graphische öffnete sich eine weitere
wurde dem Wunsch entsprochen, das Heil unabhängig vom mediale Ebene, diejenige der Kunst. Die hohe Wertschätzung,
Ort verfügbar zu haben, was freilich auf längere Sicht die die der Herausgeber dem Heiltumsbuch beimaß, zeigt sich
Außerordentlichkeit der Weisung relativierte. Inwieweit daran, dass das Werk für gehobene Ansprüche auch auf Per-
damit eine Deauratisierung der Reliquien einherging, ist gament gedruckt wurde.
nicht zu klären. Offen ist zudem, ob die bei der Weisung
literatur: Merkel (1994) – Lentes (2000) – Cárdenas (2002) – Heiser
der Reliquien gespendeten Ablässe allein schon durch Be-
(2006) – Cordez (2006).
trachtung und Lektüre des Heiltumsbuchs erworben werden
konnten. constanze rendtel
343
344 Einsiedler Prozessionale

Processionale pro Ecclesia Einsidlensi, vor 1314


Stiftsbibliothek Einsiedeln, Cod. 631(915), 173 Bll., hier fol. 49v/50r
Pergament, 18 × 13 cm

Prozessionale enthalten die Gesänge für die im Mittelal- onszüge gehalten haben: Findet sich die Mehrzahl von ihnen
ter sehr häufigen Prozessionsgottesdienste. Die Anlässe im Bereich der Klosterkirche, so ist unter anderem mit der
werden vom liturgischen Jahr vorgegeben; Prozessionen St. Gangulf-Kapelle auf dem Brüel auch eine Station jenseits
besitzen derart eine memorative Dimension, indem sie in der Grenzen des Einsiedler Klosterbereiches im Processionale
der zyklisch vergehenden Zeit vergangene Ereignisse und verzeichnet. Die Gnadenkapelle St. Marien ist zwanzig Mal
Martyrien erinnern. Da sie während der Prozessionen vom erwähnt, zumeist wird schlicht mit dem Wort capella (wie
solistisch singenden Kantor bei sich getragen wurden, sind auf 50r) auf sie verwiesen.
Prozessionale zumeist als handliche Buchformate gestaltet. Indem Distanzen im Ritual abgeschritten werden, dienen
Im Lauf des Mittelalters fand eine zunehmende Ausdiffe- Prozessionen außerdem der Verknüpfung von auseinan-
renzierung zu einem eigenen Genre statt: Waren vordem die derliegenden Räumen. Die Bewegung im Raum verleiht den
Prozessionsgesänge bei den betreffenden Tagen im Graduale Wegen und Orten spezifische Bedeutungen und erzeugt auch
eingetragen, so finden sich nun Handschriften, in denen die eine Verbindung, die über den Zeitraum der Prozession hin-
Liedtexte und Abläufe zusammengefasst verzeichnet sind. aus bestehen bleibt. Zugleich unterstreicht die Bewegung, die
Die liturgische Entwicklung führte im Lauf des 14. und stets als Ausgangspunkt das Chorum hat, diesen Ort als ein
15. Jahrhunderts zu einer anwachsenden Produktion die- signifikantes Zentrum, von dem aus die rituellen Wege aus-
ses Buchtyps. Das Spektrum der Ausstattungen ist dabei gehen und stets zurückkommen. Die mitgeführten Objekte
enorm groß. So sind reich und wertvoll illustrierte neben materialisieren die Verschränkung von Zeit und Raum. Auch
schlicht und schmucklos gestalteten Prozessionalen auf das Prozessionale übersteigt insofern seine instrumentelle
uns gekommen. Da sich gewisse Prozessionsanlässe und Funktion, die Gesänge zu notieren; es verstetigt in seiner
-orte je nach Region unterscheiden können, drücken sich in schriftlichen Registrierung des Prozessionsablaufs und der
ihnen regionale Spezifika aus. Das Einsiedler Processionale gesungenen Texte das rituelle Ereignis und es wird selbst
pro Ecclesia ist auf Veranlassung des Abtes Johannes I. von zum Medium der Memoria, das eine vergangene Prozession
Schwanden († 1327) kurz vor 1314 angefertigt worden. Es erinnert und auf die künftige Wiederholung vorausweist.
enthält Lieder und Incipits unterschiedlicher Gattungen:
literatur: Fiala/Irtenkauf (1963) – Rubin (1992) – Kranemann (1993) –
einstimmige Gesänge, Sequenzen, Hymnen, Antiphone und
Carmassi (2004).
Responsorien. In den Rubriken sind die Stationen bezeich-
net, die von den Zügen erreicht werden. Die verzeichneten cornelia herberichs

Gesänge wurden ad choram (49v) oder ad capellam (50r),


also auf dem Weg zum Chor bzw. zur Kapelle gesungen. Die
Handschrift nennt auch die Altäre, an denen die Prozessi-
345
346 Hünenberger Glocke

St. Wolfgang-Hünenberg ZG, Gießerei Füssli in Zürich, 1480


Museum Burg Zug, Inv.-Nr. 3250
Bronzeguss, Durchmesser 54 cm, Höhe 48 cm

Seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. waren in europäischen Wunder blieben nicht aus und St. Wolfgang entwickelte sich
Klöstern einfache, aus Metallblechen zusammengenietete zum regionalen Wallfahrtsziel. Die Hünenberger Glocke
Glocken gebräuchlich. Mit dem Glockenläuten als akusti- datiert auf 1480 und wird dem Zürcher Glockengießer Pe-
schem Signal rief man die Mönche siebenmal am Tag zum ter II. Füssli zugeschrieben. Auf der Glockenschulter steht
Chorgebet zusammen. Die Technik des Glockengießens in gotischen Minuskeln: + ave maria gracia plena dominvs
ist hingegen erst seit dem 9. Jahrhundert belegt; die dabei tecvm m cccc lxxvv iar. Diese Aufschrift macht klar, dass die
verwendete Bronze erzeugte einen angenehmen und weit Glocke speziell zur Angelus-Zeit geläutet wurde, und zwar
tragenden Ton. Nach mittelalterlicher Meinung konnte in einer für das Mittelalter typischen medialen Verdoppe-
durch das Läuten der Glocke Unheil, etwa Blitz und Donner, lung: nämlich in appellativer Funktion als Einladung zum
Sturm und Feuersbrunst oder der Einfall von bösen Geistern Gebet und in performativer Funktion als stellvertretender
abgewehrt werden. Diese apotropäische Wirkung erstreckte Vollzug des Gebets. Die Angelus-Glocke weist ferner zwei
sich nicht nur auf die Klostergemeinschaft selbst, sondern Pilgerzeichen auf mit dem Hl. Wolfgang im Bischofsornat.
auch auf ihr soziales Umfeld. Er steht in einem spätgotischen Architekturgehäuse und hält
Inschriften auf Glocken sind in zunehmender Zahl seit ein Kirchenmodell in der rechten Hand, in der linken den
dem 11. Jahrhundert überliefert; meist handelt es sich um Krummstab und als weiteres Attribut ein Zimmermannsbeil.
Anrufungen Gottes, Christi, Mariens oder des Kirchenpa­ Es handelt sich offensichtlich um Variationen von Zeichen
trons. Der lateinische, im dauerhaften Metall gewissermaßen aus dem viel besuchten oberösterreichischen Wallfahrtsort
verewigte Text formuliert die Bitte um Schutz und Frieden, St. Wolfgang am See, wo der Heilige vorrangig verehrt
die durch das Läuten in den Raum getragen wurde. Seit dem wurde. Hünenberg war nur eine sekundäre Kultstätte; sie
13. Jahrhundert versah man die nun in größerem Format sollte wohl durch diese mediale Übertragung aufgewertet
herstellbaren Glocken oft mit einem Relief religiösen In- werden. Am unteren Rand der Hünenberger Zeichen be-
halts. Sie waren nicht nur ein Instrument zur Regelung des findet sich das schräg gestellte Zuger Wappen, wodurch
Tagesablaufs, sondern durch das Anbringen von Texten und die neue Wallfahrtstätte als zum Hoheitsgebiet dieser Stadt
Bildern oder Abdrücken von Pilgerzeichen (vgl. S. 328) auch gehörig markiert wird.
sakral aufgeladene, akustische Medien, die der Kommunika-
literatur: Wacha (1978) – Köster (1984) – Schilling (1988) – Grünenfelder
tion zwischen Himmel und Erde dienten.
(2006).
Die Kirche bei Hünenberg war 1473/75 auf Initiative der
Stadt Zug an einer Straßenkreuzung gebaut worden, an der maria wittmer-butsch

zuvor zur Abwehr des Bösen ein Bild des Hl. Wolfgang von
Regensburg angebracht gewesen war. Erzählungen über
347
Bewegung
Einleitung 351

Der Gebrauch der Schrift in den frühen Hochkulturen verband sich der Vorgang der Verschriftlichung mit der
(etwa ab dem 4. Jahrtausend v. Chr.) stand fast ausschließ- Hoffnung, den Komplikationen der Lebenswelt durch das
lich im Dienst von Beamten und Priestern. Gesetzgebung, vergleichsweise feste Material des Aufzeichnungssystems
Wirtschaft und Religion bildeten schon bei den Sumerern, verlässliche und dauerhafte Konturen entgegenzusetzen.
dann den Ägyptern die ersten Bereiche, denen man durch Entsprechend lang und wirksam ist die Tradition, der gemäß
den Einsatz der Schrift Durchsetzungskraft und Verbind- der Schriftgebrauch als positives Ereignis aufgefasst wird:
lichkeit zu verleihen suchte. Als fixierte, verbindliche und als Fixierung und Bewahrung eines eigentlich mündlichen
der Staatsmacht zugeordnete Form gehörte die Schrift der Textes. Doch schon die philosophischen Zeugnisse der
geheiligten Sphäre des Todes an, während die gesprochene griechischen Antike reagieren kritisch auf die Vorstellung,
oder gesungene, mit der Stimme transportierte Sprache dem die Bedeutung der Schrift liege lediglich im Bewahren des
vergänglichen Leben assoziiert war. Doch von Beginn des gesprochenen Wortes. Das berühmteste frühe Monument
Schriftgebrauchs an zeigten sich auch die durch die Schrift des Nachdenkens über die Schrift, eine grundsätzliche und
sanktionierten Bereiche als mit Beweglichkeit infiltriert: Die umfassende Schriftkritik, ist Platons Dialog Phaidros. Die
fest geschriebenen Texte mussten durch neue Generationen schriftskeptische Haltung des Sokrates bündelt dieser Text;
immer wieder neu ausgelegt werden; Sinn und Geltung bis heute wirkungsmächtig ist in ihm gleich in mehrfachem
der Überlieferung erwiesen sich oft als unwägbar. Schnell Sinne von der Beweglichkeit der Schrift die Rede. Sokrates
mochten sich Abschreibefehler einschleichen, vor allem hält die Schrift für ein unstetes, unselbstständiges Hilfsmittel
aber konnten Texte intentional verändert werden; schließlich und möchte vor dem Schriftgebrauch warnen. Die Schrift
konnten sie in menschlich oder naturbedingten Katastrophen könne nur demjenigen etwas sagen, der auch ohne die Schrift
wie Kriegen oder Bränden Schaden nehmen – man denke nur zu sagen weiß, was die Schrift sagen möchte: »Wer also eine
an den Brand der Ptolemäischen Bibliothek von Alexandria Kunst in Schriften hinterlässt, und auch wer sie aufnimmt, in
(wohl 48 v. Chr. und 391 n. Chr). Und natürlich drohten der Meinung, dass etwas Deutliches und Sicheres durch die
Texte ihre Aktualität zu verlieren, einfach dem Vergessen Buchstaben kommen könne, der ist einfältig genug und weiß
anheimzufallen. Die Überlieferung selbst macht aus der in Wahrheit nichts von der Weissagung des Ammon, wenn er
Festigkeit der Texte ein bewegliches Abenteuer, das ganz und glaubt, geschriebene Reden wären noch sonst etwas als nur
gar eingebunden ist in die Kontingenz der Geschichte. demjenigen zur Erinnerung, der schon das weiß, worüber
Den großen Mythen und Epen der Kulturgeschichte gingen sie geschrieben sind« (Platon, Phaidros, 274c/d).
in der Regel lange Perioden der mündlichen Überlieferung Die Einwände des Sokrates erklären die Vorstellung zur
voraus, bevor sie schriftlich fixiert wurden. Homers Odyssee Illusion, die Schrift könne als Schrift Sinn produzieren und
und Ilias wurden im 8. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrie- Eindeutigkeit gewinnen. Er hält die Schrift für unzuverlässig
ben, zirkulierten aber zuvor als mündliche Erzählungen im und für unfähig, sich selbst zu erklären und zu situieren.
griechischen Teil des kleinasiatischen Raums. Nicht selten Man könne zudem dem Geschriebenen nicht ansehen, wer
352 überhaupt geschrieben habe und wie dessen nähere Um- und ihrer prekären Überlieferung befindet sich Schrift stets
stände und Befindlichkeiten beschaffen seien. Abwesenheit in Bewegung. Im Zuge der klassischen Entgegensetzung
und Negativität sind es deshalb, die für Sokrates die Schrift von Schrift und mündlicher Rede entstand die Hypothese,
kennzeichnen. Schrift manifestiere zunächst und vor allem dass die Schrift, insbesondere die phonetische Schrift, aus
den Verlust der lebendigen Gegenwart des gesprochenen der Absicht resultiere, der Flüchtigkeit des Mündlichen
Sinns. Lediglich zu einem Zweck mag Sokrates der Schrift eine fixierende, dokumentierende, aufzeichnende Funktion
eine sinnvolle Funktion zugestehen: Sie sei in der Lage, Erin- entgegenzusetzen. Diese vor allem in der Linguistik wirk-
nerungen für die Seele zu speichern, etwa für jene Zeit, wenn same Vorstellung, die schon Roland Barthes als ›transkrip-
einmal das vergessliche Greisenalter erreicht ist. Schrift sei tionalistisches Vorurteil‹ bezeichnet hat, ist in jüngerer Zeit
das rechte Medium für die alten Leute. Aus der Perspektive durch genauere Erforschung der Schriftgeschichte überholt
des ganz auf die Rede vertrauenden Philosophen aber gerät worden. Tatsächlich sprechen viele Indizien für eine von der
die Schrift zu einem hermeneutischen Zufallsspiel, in dem Mündlichkeit unabhängige Entwicklung des menschlichen
Unzuverlässigkeit und Beweglichkeit herrschen. So zeigten Symbol-, Zeichen- und Schriftgebrauchs. Aus dieser Pers-
sich Auslegungsbedürftigkeit und Spekulation gerade dort, pektive bildet die Geschichte des Schriftgebrauchs auch eine
wo der Schriftgebrauch darauf abzielt, genaue Aussagen zu Geschichte der Kulturtechniken ab, wobei der bedeutende
treffen und festzuhalten. Der sokratische Vorbehalt gegen Umstand nicht vergessen werden darf, dass mit schriftlichen
die Schrift zielt also in einem kritischen Sinne auf die Ab- Symbolen eben nicht allein die Schriftsprache, sondern
wesenheit. Abwesend ist nämlich all jenes, was Autorschaft, auch das Zählen, das mathematische Verständnis der Welt
Herkunft und Kontext der Schrift bestimmt. Später wird entwickelt wurde. Kulturhistoriker verweisen in diesem Zu-
die neutestamentliche Auffassung der Schrift diesen Aspekt sammenhang auf den gemeinsamen Ursprung von Zahl- und
des Mangels radikalisieren und im Gegenzug die Wahrheit Buchstabenzeichen in der sumerischen Keilschrift.
des Glaubens ganz an die lebendige Rede des predigenden
Christus, an das mündlich verkündete Wort binden: »Wer
Ohren hat, der höre«, lautet nun die gegen die Schriftgelehr- Bewegliche Alphabete
ten formulierte Botschaft des Matthäus (13,41–43). Indem
Matthäus das Hören der frohen Botschaft gegenüber dem Die Schrift lässt sich nicht nur lesen, sondern auch anschauen,
Sinn der Schrift privilegiert, wendet er sich ab von der jüdi- ohne gelesen zu werden. Nicht zuletzt ist sie ein pikturales
schen Tradition der Schriftauslegung. und als solches auch ein im Wortsinne aisthetisches, mit
Am Anfang der europäischen Text-, Philosophie- und den Sinnen erfahrbares Symbolsystem, das mit seiner
Kulturgeschichte stehen also vielfältige Überlegungen zur großen Variabilität und Kombinatorik zur Aufzeichnung
Kritik der Schrift, und sie haben in der Tat bis heute wenig und Darstellung verschiedenster Umstände taugt. Schon
von ihrer Brisanz verloren. Die Schriftkritik wurde und im alltäglichen Umgang mit Schriften wird der aisthetische
wird immer dann aufgegriffen, wenn es darum geht, die Aspekt sinnfällig: Schöne Schriften, gleich ob gedruckt oder
Unsicherheiten genauer zu bestimmen, die der Schriftge- mit der Hand geschrieben, können dem Auge schmeicheln
brauch für die Erzeugung und Überlieferung des Sinns mit und die Auffassung des Textes erleichtern –; umgekehrt
sich bringt. Schon aufgrund ihrer Auslegungsbedürftigkeit lassen undeutlicher Druck oder schlechte Typographie das
Auge und die Aufmerksamkeit leiden. Blickt man auf die Solche haptisch-gestischen Körperschriften und -alphabete 353
Schrift als ein graphisches und pikturales Ereignis, so zeigt stellen einen Versuch dar, das menschliche Ausdrucksgeba-
sich, dass ihr Gebrauch und ihre Erscheinungsweise sich ren zu versammeln – ähnlich wie im Mienenspiel, doch mit
im Raum der Bildlichkeit bewegen. Besonders die farbig genaueren referentiellen Operationen.
und prunkvoll ausgestatteten Initialen mittelalterlicher Im Laufe des 18. Jahrhunderts, das um die Anschaulichkeit
Handschriften führen die Wertschätzung des Schriftbildes des Wissens bemüht war und neue visuelle Praktiken in viele
eindrücklich vor Augen. Aber nicht allein Schönheit und Bereiche des Wissens integrierte, zogen Buchstabenbilder in
Üppigkeit der Ausmalung im Sinne eines Dekors spielen die aufgeklärte und pädagogisierte Leseerziehung in Schu-
dabei eine Rolle. Zugleich wird deutlich, dass die Schrift len und privaten Unterrichtsstuben ein. Die Pädagogen im
Raum und Körper ist. Schließlich sind Größe, Ausstattung Zeitalter der Handschriften legten nicht nur Wert auf gut
und Verteilung der Schrift auf dem Pergament oder Papier lesbare, sondern auch auf schöne Manuskripte. Die bis heute
das Ergebnis eines geometrischen Konzepts (der Seite, des anhaltende Wirksamkeit der an Lavaters Studien geschulten
Buchs, des Textkorpus etc.) und einer ebenfalls geometrisch physiognomisch-psychischen Hypothese, der zufolge die
und zugleich physiologisch aufzufassenden Körperbewe- Handschrift den Charakter des Schreibers zu ›lesen‹ gibt,
gung der schreibenden Hand. hängt damit zusammen. Das Lesenlernen, mitsamt dem
Besonders prägnant ist die Verbindung der Schrift mit der Erlernen einer schönen, klaren Handschrift, gehörte zum
Gestaltung des Raums und der Geometrisierung des mensch- Ausbildungsprogramm des aufzuklärenden Jungmenschen.
lichen Körpers in den Körperalphabeten der Renaissance. Sie ABC-Bücher und Lesefibeln waren belebt von buchstaben-
machen den menschlichen Körper zum Maß der Schrift – und bildender Fauna und Flora. Die Bildlichkeit der Alphabete
die Schrift zum Maß des Körpers. Sie nutzen die Bewegungs- ließ den Bezug zum Körper des Schriftmediums deutlich
möglichkeiten des Körpers zur Dynamisierung der strengen in Erscheinung treten, um zu durchaus unkörperlichen,
Buchstabengeometrie. Wie in den Buchstaben des Meisters nämlich ideal aufgeklärten, ›geistigen‹ Ausbildungszielen
E. S. (Mitte 15. Jh.) zu sehen, bauen unter Umständen auch überzuleiten. Bis heute spielen Tier- und Körperalphabete
Tierkörper am lebendigen Universum des Alphabets. Die beim Lesenlernen eine Rolle. Das lässt sich unschwer an
Präzision der Strichführung, die der Kupferstich ermöglicht, Kinderbüchern wie dem Mouse House ABC erkennen: Nur
lässt das besonders komplizierte Körperarrangement deutlich wenige Zentimeter gross, kommt ein der Mausgröße ange-
werden. Die Buchstaben fügen sich zu einem allegorischen passtes Alphabet für Kinder dadurch zustande, dass Mäuse
Schriftspiel, das die Lesbarkeit als einen Bewegungseffekt aus Käse und anderen Objekten Buchstaben zurechtnagen
der lebendigen Geschöpfe auffasst. In den variantenreichen (vgl. S. 360). Auch in der musikalischen Populärkultur ist das
und sehr populären Körperalphabeten jener Zeit werden die Körperbuchstabieren noch anzutreffen. Als der Popsänger
Buchstaben nicht selten akrobatisch geturnt oder getanzt Prince im Jahr 1988 für die etwas älteren ›Kids‹ eine »Al-
und von bekleideten wie entblößten Körpern dargestellt phabet Street« besang, wusste er das Buchstabieren sogleich
(vgl. S. 55f.). Unter den Körperschriften, die tatsächlich dem ›sexy talk‹ gleichzusetzen: »No! – I’m going down 2
körperlich, haptisch ausagiert werden, spielen heute die im Alphabet Street // I’m gonna crown the first girl that I meet
Wortsinne gut handhabbaren Handalphabete vor allem in der // I’m gonna talk so sexy // She’ll want me from my head 2
Kommunikation taubstummer Menschen eine große Rolle. my feet« (Prince 1988).
354 Aufschreibeverfahren hier ein Gerät erwähnt, das den menschlichen Blutdruck
sichtbar machen konnte: der so genannte Sphygmograph
Während die menschlichen und tierischen Körperalphabete oder Pulswellenschreiber des französischen Physiologen
die Schrift auf die Abbildung geometrisierter Körper über- Étienne-Jules Marey (1830–1904). Es handelt sich um eine
trugen und damit den Darstellungsraum der Schrift zum Bild Vorrichtung, welche das Schlagen des Herzens als Kurve
hin erweiterten, wurde ausgehend von neuen naturwissen- abbildet (vgl. S. 416). Die wie der Sphygmograph im
schaftlichen Entwicklungen im Laufe des 18. und vor allem Dienste einer spezialisierten Naturforschung entwickelten
des 19. Jahrhunderts nach abstrakten Aufzeichnungsverfah- Apparaturen des 19. Jahrhunderts lassen erkennen, dass die
ren gesucht. Die neuen Erkenntnisse über die dynamischen allgemeine wissenschaftliche Orientierung sich schnell und
Abläufe in der Natur – man denke an die Fortschritte der gründlich vom metaphysischen Theorem einer natürlichen
Meteorologie oder der Medizin – sollten adäquat formalisiert Schrift oder Naturschrift abwandte. Gefragt waren nun
und lesbar gemacht werden. Dabei führte der wachsende Be- Techniken der Aufzeichnung und Symbolisierung, die als
darf an wissenschaftlich verlässlichen graphischen Verfahren aktives Produktionsmittel der wissenschaftlichen Erkennt-
zu einer Springflut von Aufzeichnungssystemen und -appa­ nis genutzt werden konnten. Die Graphik und das Schema
raten, die die Modelle der Hand- und Buchstabenschrift sollten die Naturvorgänge nicht nur exakt repräsentieren,
und der von Hand gezeichneten Graphik verließen. Unter was eine selbstverständliche und unverzichtbare Vorausset-
der Vielzahl von Aufzeichnungsverfahren und Apparaten zung ihres Gebrauches war; sie sollten darüber hinaus eine
zur Erzeugung von Graphiken sei an die berühmte Schwin- produktive Rolle bei der Entwicklung wissenschaftlicher
gungslehre von Ernst Florens Friedrich Chladni erinnert Hypothesen und bei der Veranschaulichung von Ergeb-
(Chladni 1802). Chladnis ›Klangfiguren‹ versprachen, eine nissen und Beweisen spielen. Im 19. Jahrhundert begann
lang gehegte Hoffnung der romantischen Naturwissenschaft die Wissenschaft in einem langen und schwierigen Prozess
einzulösen, nämlich, die Sprache der Natur sichtbar und sich von der Erwartung zu verabschieden, die Natur selbst
lesbar zu machen. Mehr noch: Die Natur selbst sollte, unter würde von sich erzählen oder ihre Geheimnisse als Schrift
Beistand des freundlich gesinnten Menschen, einen figuralen, preisgeben. Die Wissenschaft erkannte vielmehr ›Schrift‹ und
einen schriftartig formalisierten und zugleich vollkommen ›Lesbarkeit‹ als medial erzeugte Bausteine der wissenschaft-
anschaulichen Ausdruck hervorbringen. Jeder Schwingung, lichen Formalisierung.
jeder Tonhöhe gehörte ein individuelles, distinktes Muster
aus Eisenfeilspänen zu, das das akustische Ereignis verbild-
lichte und, wie Chladni hoffte, letztlich Rückschlüsse zuließ Schreibakt und Bildszene. Schrift und Bild
auf eine quasi-grammatische Organisation der Natur. in der dichterischen Phantasie
Spätestens seit dem Übergang zum 19. Jahrhundert wurde
allerdings die grammatisch-rhetorische Auffassung der »Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«,
Natursprache von der Konzentration auf neue wissen- formulierte Friedrich Nietzsche 1882 in einem Brief an
schaftliche Aufzeichnungsverfahren verdrängt. Aus der seinen Sekretär Peter Gast (Nietzsche: Sämtliche Briefe Bd.
Fülle der naturwissenschaftlichen Aufzeichnungsapparate, 6, S. 172). In medienhistorischer Hinsicht ist dieser Satz
die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, sei aufschlussreich, weil der Philosoph ihn auf einer Schreib-
maschine tippte. Er mühte sich zu jener Zeit an der kürzlich diese Problematik aufgefallen wäre. Vielmehr lässt sich ohne 355
(1867) erfundenen Malling Hansen-Schreibkugel ab, einer Übertreibung sagen, dass die Literatur seit der Neuzeit ein
der ersten Schreibmaschinen, die ursprünglich für Blinde ent- selbstreflexives Reservoir für die Inszenierung des Schreibens
wickelt wurde (vgl. S. 418). Wenn Nietzsches Hoffnung auf und der Schrift ausgebildet hat. Besonders die Literatur des
eine Erleichterung des Schreibprozesses durch die Stahlkugel 18. und 19. Jahrhunderts bietet eine Fülle von Versuchen, die
auch enttäuscht wurde, so verdanken wir seiner Auseinan- Eigendynamik der Schrift zu begreifen und sie nicht mehr
dersetzung mit der Technik doch den prägnanten Hinweis nur als ein neutrales Werkzeug aufzufassen, das unabhängig
darauf, dass die Arbeit des Denkens nicht eine rein ideelle von ihr erzeugte Gedanken fixiert. Nicht zufällig treten
Sache des Geistes sei, sondern des ›Schreibzeugs‹ bedürfe. deshalb die Komplikationen und Bewegungen der Schrift in
Vor allem Nietzsches späte Werke stehen paradigmatisch Übertragungsbeziehungen zu anderen Darstellungsformen,
für die Erkenntnis, dass das Denken und Schreiben auch die von vornherein auf das Anschauen, also auf die sinnliche
»am Leitfaden des Leibes« geschehe: Zu den Agenten, die Wahrnehmung durch den Blick ausgerichtet sind: auf die
dem philosophischen oder dichterischen Text wesentliche bildende Kunst und die Malerei.
Züge mitteilen, gehören die schreibende Hand, der – mög- In die Tradition der Autoren, die sich mit der Widerstän-
licherweise schmerzende – Kopf, gehören Physiologie und digkeit des Schreibens und Denkens befasst haben, ge-
Sinneseindrücke und eben auch Werkzeug und Werkstatt: hört – lange vor Nietzsche – unzweifelhaft Heinrich von
Schrift, Stift, Feder, Papier und räumliche Umgebung. Der Kleist (vgl. S. 390). In der Anekdote Der Griffel Gottes, die
späte Nietzsche wird auch noch das Klima und die Diät in er in den Abendblättern Nr. 5 vom 5. Oktober 1810 veröf-
den Kontext des Schreibprozesses einbeziehen. Das Denken, fentlichte, schreibt eine gewaltsame göttliche Hand mit Hilfe
so meinte Nietzsche, entwickelt sich aus der physiologischen eines Blitzschlages die Inschrift auf dem Leichenstein einer
und psychischen Disposition des Denkenden ebenso wie »polnischen Gräfin von P…« um. Die von ihrem Namen
aus den medialen Bedingungen des Schreibvorgangs. Schrift nach dem Blitz übrig gebliebenen Buchstaben bedeuten nun
wird demnach in nicht unerheblicher Weise durch die nicht- »sie ist gerichtet«. Darin wird in einer möglichen frommen
intentionalen Strebungen des Körpers bestimmt. Sie ist mit Lesart die »wahre Inschrift Gottes« erkannt –, zugleich
und nach Nietzsche nicht mehr als isoliertes Element einer aber betont diese Anekdote die Eigendynamik der Schrift
Geistesgeschichte zu betrachten, sondern als das Problem und der Autorenschaft. Eine geringe Umstellung kann
und die offene Frage einer anthropologisch informierten ein ganzes Sinnimperium zum Wanken bringen, weil der
Mediengeschichte. Schriftgebrauch letztlich der menschlichen Intentionalität
entzogen erscheint.
Nicht wenige Autoren geben freimütig über ihre Schreibge-
Schrift, Bild und poetische Phantasie wohnheiten Auskunft oder möchten über ihre Nachlässe den
Nachvollzug des kreativen Prozesses ermöglichen. Diesen
Wenn Nietzsche auch das Verdienst zukommt, die Philoso- Zeugnissen verdanken wir genauere Einblicke in die körper-
phie auf die Komplikationen des Schreibens und der Schrift lichen, materialen, habituellen und psychischen Umstände
nachdrücklich aufmerksam gemacht zu haben, so ist er doch des Schreibens. Zu jenen selbstdarstellungs­freudigen Auto-
keineswegs der einzige und schon gar nicht der erste, dem ren zählt Georg Christoph Lichtenberg (vgl. S. 374). Seine
356 Sudelbücher enthalten vermischte Gedanken und Aphoris- Die Linie ist zeichenhaft, doch kein Zeichen, sie ist schrift-
men, die der angehende Philosoph und Naturwissenschaftler artig, doch keine konkrete Schrift, sie erscheint als pictura,
1765 als Student aufzuzeichnen begann und bis zu seinem formt jedoch kein Bild, sie vollzieht eine Bewegung, ist aber
Tod 1799 fortführte. Die Aufzeichnungen umfassen eine stillgestellt; möglicherweise zeigt sie nur einen Ausschnitt aus
Folge von alphabetisch (von A bis L) geordneten Heften, einer endlos zu denkenden Bewegung. Die artistische, philo-
die er sein Leben lang als eine Experimentierbühne für sein sophische und mediale Uneindeutigkeit der Linie umschreibt
aphoristisches Denken nutzte. Die alphabetische Ordnung das ganze Potenzial von Spielmöglichkeiten, die sich in den
der Aphorismen fungiert nicht als Begrenzung, sondern eher Literaturen vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts finden.
als Öffnung für das sich stetig ausdehnende Universum und Aber die Linie hat nicht nur Philosophen und Ästheten zu
die ars combinatoria der vielseitigen naturwissenschaftlichen, Spekulationen über die Idee des Schönen herausgefordert.
literarischen und philosophischen Interessen des Mannes, der Vielleicht noch mehr hat sie solche Autoren angesprochen,
im Hauptberuf als Professor der Physik, Mathematik und die das witzig-ironische Potenzial dieser an sich ganz und gar
Astronomie in Göttingen lehrte. nicht erhabenen und auch nicht weiter schönen Figuration
Unter den graphischen Figuren, die in der Romankunst wie aufzugreifen wussten. Laurence Sterne etwa lässt in seinem
in der Malerei, in der Ästhetik wie in der Poetik seit dem Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy (1759–67)
18. Jahrhundert eine bedeutende Karriere gemacht haben, ist eine Schlangenlinie zur Parodie des Horazischen Diktums
an erster Stelle wohl die geschwungene Linie zu nennen. Bei ut pictura poesis geraten und setzt Bild und Text in ein ver-
Hogarth taucht eine solche Linie schon im Jahr 1745 als Line zerrtes, asymmetrisches Verhältnis: Schreiben im anschau-
of Beauty and Grace in einem Gemälde und acht Jahre später lichen Sinne heißt für einen Romanautor eben auch, einen
im Titel des Buches – The Analysis of Beauty (1753) – auf, mit guten Plot und gewitzte Figuren zu erfinden, die durch die
dem der Maler die Grundzüge seiner formalen ästhetischen schlängelnde Handlungslinie zusammengebunden werden,
Theorie einem breiteren Publikum zugänglich machte. sich aber niemals in solchen letztlich kargen Formalisierun-
Im Bereich der bildenden Kunst stammt die gezeichnete Linie gen erschöpfen (vgl. S. 380). Mitunter kommt der Linie ein
meist von freier Hand; sie ist ein Graphem, das sich genau allegorischer Sinn zu. Gerade aufgrund ihrer formelhaften
auf der Grenze zwischen Schrift und Bild bewegt und diese Verkürzung vermag sie das Bild eines ganzen Lebens, eine
Grenze gewissermassen sinnfällig umspielt. Es ist leicht nach- Lebenslinie, oder das Bild einer Lebensform – wie in Sternes
zuvollziehen, dass die Diskussion um die Schönheitslinie ei- Fall des Zölibats –, und selbst das Bild des ganzen Romans
nen ganzen Fächer von Fragen erschließen konnte. Sie reichen zu geben. Gegenüber allen diesen Kontexten jedenfalls
von malereitechnischen Aspekten bis zur metaphysischen zeigt sich die Linie als unterkomplexe, schlichte Form und
Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Schönen an eröffnet so den Spielraum der Ironie. Genauer noch lässt sie
sich. So etwa bei Karl Philipp Moritz – Die metaphysische den Roman in ein ironisches Verhältnis zu sich selbst treten.
Schönheitslinie (1793) –, der das Bewegungsmoment der Linie Schließlich verweist die Linienfigur in einem noch anderen
als Verkörperung von Schönheit als Lebendigkeit auffasste, Sinne auf ›Lebendigkeit‹, denn die von Sterne aufgezeichnete
oder in Friedrich Schillers Kalliasbriefen (1793), die die Har- mäandrierende Bewegungslinie ähnelt dem Schlängeln des
monie zwischen Schönheit und gesellschaftlicher Gerechtig- Spermatozoons, dessen erste bildliche Darstellungen man
keit zu bestimmen suchten (vgl. S. 372 und 382). zu jener Zeit bestaunte.
Nicht selten haben Autoren, die auch als Maler tätig wa- men von Ökonomie und Macht, und zugleich zu »den trieb- 357
ren – hier sind im 19. Jahrhundert unter anderem E.T.A. gebundenen Tiefenschichten des Körpers und den subtilsten
Hoffmann, Adalbert Stifter, Gottfried Keller, William Blake und gelungensten Produktionen der Kunst« (Barthes 2006,
zu nennen –, die Beziehung zwischen den Ausdrucksmedien S. 11). Weil letzteres der Fall ist, geht die Schrift ebenso wenig
Schrift und Bild als Konkurrenz und Quelle schmerzlichen wie das Bild auf im intentionalen Ausdruck einer vorgängig
Entscheidungsdrucks, zugleich aber als Quelle der Inspira- schon fixierten Idee.
tion erfahren. So verschieden die Ergebnisse des kreativen Von E.T.A. Hoffmann ist bekannt, dass er ein künstlerisches
Aktes aussehen mögen, so sehr der geschriebene Text sich Multitalent war – und nicht nur ein künstlerisches. Er arbei-
vom gezeichneten oder gemalten Bild unterscheidet, so ähn- tete als Jurist und Verwaltungsbeamter, er war Komponist,
lich ist doch in vielerlei Hinsicht der Akt des Schreibens dem Zeichner, Karikaturist und Maler. Schließlich war er auch ein
Akt des Zeichnens und Malens. Nicht wenige der im Folgen- sehr erfolgreicher Schriftsteller, wenn auch diese Tätigkeit von
den wiedergegebenen Bild-Text-Zeugnisse unterstreichen die ihm selbst viel weniger als die musikalische geschätzt wurde.
Ähnlichkeit und Übergänglichkeit beider Ausdrucksformen In fast allen Texten Hoffmanns fällt neben der starken musi-
(so bei Sterne und Balzac, bei Keller und Hoffmann). Lange kalischen Orientierung die eminente Rolle auf, die Bilder in
bevor die Schrifttheoretiker des 20. Jahrhunderts hervor- thematischer wie formaler Hinsicht spielen. Für Hoffmann
hoben, dass die Schrift einen performativen Zug besitze, war das Malen, Zeichnen, Skizzieren und auch Kritzeln eine
führten die genannten Autoren bewegliche Schrift- und beinahe täglich praktizierte Äußerungsform. Von durchge-
Bildbeziehungen vor Augen. Schrift und Bild können – mit arbeiteten Skizzen, Wand- und Ölbildern über Kostüm- und
den Worten Roland Barthes’ – als »Schreibung«, als »mus- Kulissenentwürfe bis zu Kritzeleien und Karikaturen auf
kulärer Akt des Schreibens, der Prägung der Buchstaben« losen Blättern und Texträndern spannt sich die Bandbreite
– oder der Linien und Farbfelder – verstanden werden. Beide seiner bildlichen Äußerungen. Zeichnungen und Karikaturen
sind miteinander verbunden durch den »Gestus, mit dem lassen erkennen, dass Hoffmann den Körper nicht nur als
die Hand ein Werkzeug ergreift […], es auf eine Oberfläche Gegenstand des Bildnisses, des Porträts, thematisiert, son-
stützt und […] regelmäßige, rhythmische wiederkehrende dern die Physiologie und Physiognomie ausdrücklich in eine
Formen einprägt« (Barthes 2006, S. 7). Schrift und Bild stehen Schrift-Bildbeziehung integrierte. Im Selbstportrait mit physi-
in medialer Verwandtschaft und Konkurrenz, weil beide eine ognomischen Erläuterungen wird wiederum ein bruchstück-
»zweidimensionale Ordnung im Raume« darstellen (Krämer haftes Alphabet als Ordnungsmuster der ironisch gewendeten
2003, S. 159); beide sind visuell rezipierbare Symbolsysteme. Selbstbeschreibung zugrunde gelegt, wobei die Schrift hier
Darüber hinaus beleuchten sie die anthropologische Dimen- einfach zu wiederholen scheint, was das Bild zu sehen gibt
sion des Schreib- und Zeichenvorgangs, da Schrift und Bild (vgl. S. 394 und 396). Man sieht ein A auf der Nase und findet
über die physiologische und symbolische Beziehung des unter ›a‹ in den Erläuterungen die wörtliche Wiederholung
Aufzeichnungsaktes zum Körper Aufschluss geben. Die dieses Sachverhalts: ›die Nase‹. Schrift, so lässt Hoffmann hier
Beziehung der skripturalen Geste zum Körper stellt einen vernehmen, ist Wiederholung – und dennoch nicht identisch
wichtigen gemeinsamen Ausgangspunkt von Schrift und Bild mit dem, was sie zu lesen gibt. Und ebenso wenig ist es das
dar. Als graphischer Akt gehört die Schrift zum »gröbsten Bild, auch wenn es einer mimetischen Anstrengung unterliegt.
Realen« der Gesellschaft, also zu den Regulationsmechanis- Dem Medienwechsel von der Schrift zum Bild und vom Bild
358 zur Schrift ist durch die Wiederholung eine ironische oder Betty und dem Bett. Die Vermischung von bildender Kunst
sogar groteske Verzerrung eingeschrieben, wie sie potentiell und Textfragmenten ist zugleich eine Landkarte der Kunst
jedem überzeichneten Porträt eignen kann. Das Abgründige und der Seele; sie bietet eine Psychographie der Konflikte,
in Hoffmanns literarischen Texten wie in seinen Skizzen und die Keller im Prozess seiner Entscheidung für die Schrift-
Bildern entsteht regelmäßig aus der Inszenierung solcher stellerexistenz und gegen das Leben als Maler beschäftigten
Verschiebungen: Das Dargestellte gerät durch die Darstellung und quälten. Schrift und Bild stehen bald nebeneinander,
zum Fragwürdigen und Zweifelhaften. Die Verschiebung ent- bald gehen sie ineinander über, bald befruchten sie sich,
springt dabei aus den Komplikationen des Schriftgebrauchs bald kommentieren sie sich ironisch, wobei sie stets um den
und des Zeichnens selbst; sie erwächst aus der Dynamik des unerfüllten Wunsch kreisen. Von dem Prozess einer langen
Mediums und den körperlichen und geistigen Bedingtheiten und schwierigen Auseinandersetzung mit und schließlich
dessen, der es gebraucht. Unschwer lässt sich erkennen, dass der Entscheidung gegen die Malerei, dem ursprünglichen
Hoffmann ein glänzender und deshalb auch nicht immer be- »Ziel meiner langen Wünsche« (Keller: Der grüne Heinrich,
liebter Karikaturist in Wort und Bild war. Er wusste die Mög- 1. Fassung, Kap 2.05) zeugen beide Fassungen des Grünen
lichkeiten der konstitutiven Doppelbödigkeit beider Medien Heinrich. Sebald versteht die Kunst des Schreibens als eine
auszuschöpfen und in die Abgründigkeit des Witzes und der Art therapeutisches Verfahren, um die Geister des Bildes
Ironie wie auch in Trostlosigkeit und Angst zu wenden. Die bzw. der bildenden Kunst durch Schrift wieder zu bannen.
vielen Beispiele für das beeindruckende Ausdrucksspektrum Keller selbst war skeptischer und behielt von seinem Roman
des Autors zeigen, dass er zwar als ›Gespenster-Hoffmann‹ noch während des Erscheinens der zweiten, überarbeiteten
berühmt, mit dieser Etikettierung aber enorm unterschätzt Fassung von 1871 den Eindruck eines durch Zeit und Sorgfalt
wurde. nicht zu bändigenden Unternehmens zurück – ähnlich, wie es
W.G. Sebald hat in einem Essay über Gottfried Keller mit fol- die Schreibmappe zwanzig Jahre zuvor entworfen hatte. Wie
genden Worten den nicht-intentionalen, psychologisch mo- stark der Schriftsteller, auch Jahre nach der Verabschiedung
tivierten Kern des Schriftgebrauchs zu bestimmen gesucht: seiner Karriere als Landschaftsmaler, das Romanschreiben
»Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze noch im Bilde des Malens und Zeichnens begreift, geht aus
Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im einer Notiz an den österreichischen Literaturkritiker Emil
Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Per- Kuh hervor, dem er am 3. 4. 1871 mitteilte: »So gleicht das
sönlichkeit« (Sebald, S. 125f.). Kellers so genannte ›Berliner Opus einer Zeichnung, auf welcher neben den letzten Fe-
Schreibmappe‹ aus dem Jahr 1855 enthält wohl geringere derstrichen noch alle anfänglichen Kohlen- u. Bleistiftstriche
Spuren der Selbstzensur als jedes andere Dokument des nebeneinander zu sehen sind, ja sogar noch der Verderb u.
Autors (vgl. S. 408). Sie lässt das frei phantasierende Begeh- Schmutz des Papieres durch die arbeitende Hand haftet«
ren nach der Frau, der Schrift, dem Bild, der Künstler- und (Keller, 2006). Noch der etablierte Schriftsteller begriff sich
Dichterexistenz in all seiner Ungerichtetheit und Vermi- als Maler. Die Übertragungsbewegungen zwischen Schrift
schung erkennbar werden. Ein Schrift- und Zeichnungs-Ge- und Bild ließen sich für Keller nicht zugunsten einer Seite
wusel aus schönen Lettern, undeutlichem Kritzeln, schönem lösen oder gar vereindeutigen. Für das Schreiben standen
(Landschafts-)Zeichnen, karikaturhaften Skizzen zeigt das Bild und Schrift stets in einem angespannten, unauflösbaren
unzensierte und doch umwegige erotische Verlangen nach Verhältnis, ihre Beziehung blieb virulent.
Bewegte Bilderschriften und Schrift im (Daten-)Fluss bens. Nicht wenige Autoren bedienen sich ihrer, aber den 359
einfachen Rückschluss, die Arten der Schrifterzeugung seien
Wie stark die neuen visuellen, nicht primär auf die Schrift be- deshalb medial kompatibel, lässt dies nicht zu.
zogene Medien sich dennoch durch die Auseinandersetzung Schon die einfachsten Programmfunktionen wie das Lö-
mit der Schrift profilieren, ist an prominenten Beispielen aus schen, Ausschneiden und Umstellen, das Ineinanderblenden
der Filmgeschichte zu erkennen. Dabei geht es nicht nur von Texten und ihrer diversen Korrekturschichten, das Ein-
um die charakteristischen Schrifttafel-Einblendungen des tragen von Bilddateien und Grafiken oder die Vernetzung
Stummfilms, die den dramaturgischen Übergang von sprach- mehrer Texte in einer hypertextuellen Verweisungsstruktur
zu augenzentrierter Medialität sinnfällig machen. Vielmehr machen die gravierende Differenz zu allen anderen Formen
erlaubt die Fülle von Beispielen einer im Film inszenierten des Schriftgebrauchs deutlich. Schreiben heißt im Zeitalter
Schriftfaszination den Schluss, dass die Entwicklung des der elektronischen Medien Textverarbeitung. Zudem ist es
noch jungen Mediums nicht allein aus Traditionen bildlicher die Möglichkeit der zeitnahen Zirkulation von Textdateien,
Aufzeichnungsverfahren (also auch der Photographie) und gleichsam in Echtzeit, die eine Destabilisierung des klassi-
dramatisch-theatralischer Formen heraus zu verstehen ist. schen Schriftgebrauchs mit sich bringt. Die bisher entwi-
Filme wie Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) versetzen ckelten Sammlungs-, Ordnungs- und Zuweisungsverfahren
buchstäblich die Schrift in Bewegung (vgl. S. 428). Nach- von schriftlicher Information werden durch die neuen
drücklich werden Schriften in Szene gesetzt und der Ka- Kommunikations- und Speichermedien radikal affiziert. Die
mera die Bewegung des über einen Text wandernden Auges Gebrauchsweisen der Schrift wie auch die Fülle des Wissens,
überantwortet. Der Caligari-Film gebraucht die Schrift als das die Schriftkultur über Jahrtausende entwickelt hat,
ein vieldeutiges, visuell rezipierbares Instrument und er- versinken allerdings nicht einfach in einem alles beschleuni-
möglicht damit eine doppelte, bildhafte und wortbezogene, genden Strom digitaler Daten, sondern bilden nachgerade die
Lesbarkeit der psychischen Vorgänge seiner Protagonisten. Voraussetzung der Nutzung vieler neuer Schnittstellen, die
Der expressionistische Film nahm sich der Schrift nicht die Text- und Bildinformationen für eine weitere Bearbei-
zuletzt zur Inszenierung eines Vorgangs an, der bedrohlich, tung und Zirkulation zugänglich machen. Noch immer liest
weil nicht sichtbar war. Darin werden die textuellen Wurzeln man gedruckte Bücher und Texte, aber auch solche, die aus
deutlich, aus denen die Obsession des expressionistischen dem Netz gefischt sind, und vielleicht liest man sogar die so
Films mit der unheimlichen Psychographie entsprungen ist: genannte Netz- und die Printversion ein und derselben Zeit-
die erzählten Bildphantasien eines E.T.A. Hoffmann und schrift. Doch die topische Zuordnung der Information zu be-
eines Edgar Allan Poe. stimmten Quellen, zu den sammelnden, distribuierenden und
Spätestens seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts multiplizierenden Einheiten wie Zeitung, Zeitschrift, Buch,
spielt sich der Schriftgebrauch zum größten Teil unter Ein- Verlag, Sender etc. wird in einem Netzwerk oder Cyberspace
satz elektronischer Medien ab. Wo die elektronische Text- simultan existierender Informationen immer schwieriger. Die
verarbeitung, wo der Gebrauch des Computers alltägliche klassische Form der Zuordnung von Medium, Multiplikator
Selbstverständlichkeit geworden ist, bildet das Schreiben mit und Publikum wird deshalb, wenn man den Prognosen der
Bleistift, Füllfederhalter oder mechanischer Schreibmaschine Medienforscher glauben darf, neuen, sich selbst organisie-
eine emphatische Geste eines anderen, artistischen Schrei- renden Kommunikationsformen einer virtuellen Öffent-
360 lichkeit weichen. Aber auch im Cyberspace kann sich der
Schriftgebrauch immer noch an eine einzelne Person richten
oder ausgewählte Gruppen zur Öffentlichkeit bestimmen
(die Verwandtschaft der Ehefrau, die Forschergruppe, den
Tangokurs …). Vor dem Hintergrund einer virtuellen Kom-
munikation ist es wichtig zu sehen, dass die alten Kenntnisse
Lesen und Schreiben in ihrer Funktion als Grundlage der
gesellschaftlichen Kommunikation nichts eingebüßt haben;
im Gegenteil: Deren Bedeutung ist im elektronischen Zeit-
alter stark gewachsen. Das, was wir als Schrift und Bild zu
denken gewohnt sind, gleicht phänomenologisch nicht selten
noch seinen früheren Formen und Gebrauchsweisen, auch
wenn die technischen Grundlagen, die Herstellungs- und
Zirkulationsverfahren sich grundlegend verändert haben.
Die körperliche Erfahrung der schreibenden Hand ist in
den Operationen eines so genannten Datenhandschuhs noch
aufbewahrt – und noch stellt die Beweglichkeit des Schrift-
und Bildsinnes sich als Herausforderung an den elektronisch
formierten Mediennutzer wie einst an den klassischen Leser
des gedruckten Buchstabens. Der umfängliche Sinn dessen,
was Schreiben und Lesen heißt, kann nicht gänzlich an
Kommunikationsmaschinen abgetreten werden, jedenfalls
zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Was Leroi-Gourhan in Bezug
auf die Entwicklung der ganzen Gattung Mensch feststellte,
behält seine Gültigkeit auch im Hinblick auf deren eminente
Kulturleistung, den Schriftgebrauch: »Arten altern nicht,
sie transformieren sich oder sie verschwinden.« Die Schrift
jedenfalls bleibt vorerst in Bewegung.

barbara naumann
362 Athanasius Kircher: Obeliscus Pamphilius […]
interpretatio […] obelisci hieroglyphici

Erstausgabe: Roma: Ludovico Grignani 1650, 560 + 90 unpag. S., hier:


Frontispiz
Zentralbibliothek Zürich, R 118

Der deutsche Jesuitenpater und Universalgelehrte Athanasius Lernen repräsentierende Gestalt (Philomatheia) hockt am Fuß
Kircher (1602–1680) war nach Rom gelangt, wo seine Kennt- des Obeliskensockels und überträgt die Offenbarungen des
nisse vom päpstlichen Hof in Anspruch genommen wurden. Gottes in das Buch, das bereits den Namen des Autors trägt.
Papst Innozenz X. (1644–1655) hatte sich auf der römischen Sie stützt sich mit dem rechten Ellenbogen auf einen Stapel von
Piazza Navona vor seinem Geburtshaus mit der ›Fontana dei vier Büchern, die das gesamte Wissen der Antike zu beinhalten
Quattro Fiumi‹ von Gianlorenzo Bernini bereits ein Denk- scheinen und für den Künstler Inbegriff alles Wissenswerten
mal setzen lassen. Von ihm erhielt Kircher den Auftrag, den waren: die Weisheit der Ägypter, das mathematische Werk des
Brunnen mit dem über 16 Meter hohen Granitobelisken des Pythagoras, die griechische Philosophie und schließlich das
Kaisers Domitian (81–96) zu bekrönen. Kircher nahm den astronomische Wissen der Babylonier. Dem entsprechen im
Auftrag zum Anlass, die hieroglyphischen Inschriften, die rechten Bildvordergrund vier stufenartig angeordnete Stein-
im Wesentlichen eine kaiserliche Titulatur nach Vorbild der platten, die Inschriften in fünf verschiedenen Sprachen und
fünfteiligen altägyptischen Königstitulatur enthalten, zu ana- Schriften tragen: die oberste in hebräischer Quadratschrift,
lysieren und seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Er deutete darunter ein Schriftzug, der an Devanagari- oder S­ anskrit-
die Schriftzeichen als komplexe, bedeutungsgeladene Sinn- Zeichen erinnert; auf der drittobersten ein griechisches
­­
symbole, tradierte mithin das seit der Spätantike bestehende oder koptisches Wort, daneben ein arabisches; zuunterst ein
Missverständnis über den Charakter der Hieroglyphenschrift Beispiel für die von Kircher entwickelte Universalschrift.
und deutete die nüchternen Titel- und Namensreihungen Im Rücken des schwebenden Hermes sind der Sockel sowie
auf den vier Obeliskenseiten als universelle Summenformeln der nach rechts umgestürzte Obelisk zu erkennen, den der
ägyptischer Theologie. Diese Deutung entsprach seinem ganz- sichelschwingende Chronos angreift, während die allegorische
heitlichen wissenschaftlichen Denken und Anspruch. Gestalt der Pheme an den Sockel gekettet ist und versonnen
Das Frontispiz des Obeliscus Pamphilius veranschaulicht schweigt – ihr Einfluss auf das Wirken Kirchers soll gebändigt,
diesen Denkansatz Kirchers. Mit der in der Bildmitte nieder- das wissenschaftliche Werk somit frei von Spekulation und
schwebenden Hermes-Gestalt muss Hermes Trismegistos, Halbwahrheit bleiben. Die ganze Szene ist vor dem Hinter-
die griechische Interpretation des ägyptischen Gottes Thot, grund einer fiktiven ägyptisierenden Landschaft situiert.
gemeint sein, der seit der Antike als Erfinder der Schrift und
literatur: Iversen (1968) – Preimesberger (1974) – Habachi (1982) – Gre-
Personifikation von Weisheit und Wissen galt. Er wird hier
nier (1987) – Marrone (2002).
als Offenbarer genau solcher Weisheit repräsentiert, indem er
einer musenähnlichen, geflügelten Gestalt, die Kirchers Platz carsten knigge salis

einnimmt, die Bedeutung des Obelisken erläutert. Diese das


363
364 Johann David Steingruber: Architectonisches
Alphabet bestehend in Dreyssig Grund- u. Auff-
Rissen

Schwabach: Johann Gottlieb Mizler 1773/74, 76 S., hier Tab. XIII


40 × 30 cm

Das Architectonische Alphabet des ansbachischen Bauin- Penibel eingetragen sind nicht nur die Stubenöfen, sondern
spektors Johann David Steingruber (1702–1787) stellt einen auch Dienstbotengänge und Aborte.
Höhepunkt spätbarocker Erfindungslust dar. Steingruber Kaum lesbar ist der Buchstabe im Aufriss des dreigeschossigen
veröffentlichte das Stichwerk, das in zwei Lieferungen von Gebäudes, das über dem Sockelgeschoss mit einer Kolossal-
1773 bis 1774 erschien, auf eigene Kosten. Aus den einzelnen ordnung zeitgemäß formuliert ist. Die zentrale Eingangshalle
Buchstaben des lateinischen Alphabets, die ihm jeweils als wird durch eine Krone als Dachaufsatz nobilitiert und ver-
Grundriss dienten, entwickelte er dreidimensionale architek- weist auf die Funktion des Baus. Der Buchstabe wäre aber
tonische Entwürfe von Schlössern, lediglich das I kombinierte wohl nur bei einer Umrundung des Schlosses oder einem
er mit E und A zum Grundriss einer Klosteranlage. Für einige Blick von oben deutlich erkennbar gewesen, so wie auch
Buchstaben – A, M, Q, R und X – legte er zudem Alternativ- die Namensinitialen in barocken Gartenanlagen mit einem
projekte vor, da ihm beispielsweise das »M« als Namensinitiale erhöhten Betrachterstandpunkt rechneten. Die symbolhafte
vieler bedeutender Persönlichkeiten eine Wahlmöglichkeit Bedeutung des Buchstabengebäudes ist jedoch nicht einfach an
wünschenswert erscheinen ließ. Eine letzte, dritte Lieferung dessen Erkennbarkeit gebunden, sondern sie wird im Wissen
mit zwanzig Schlossentwürfen nach den Grundrissinitialen der eingeweihten Bewohnerinnen und Besucher produziert.
bedeutender zeitgenössischer Herrscher kam aus finanziellen Steingrubers Gebäudealphabet ist nicht das einzige Beispiel
Gründen nicht zustande. Zwei dieser aus mehreren Buchsta- eines »Lettrismus« avant la lettre in der Architektur, der
ben kombinierten Architekturen stellte Steingruber schließlich den Buchstaben, zumindest im Anspruch, verräumlicht und
an den Anfang seines Buches und ehrte damit seine Landesher- ihm – im Dienste des Herrscherlobs – in einem blow-up-Ver-
ren Carl Friedrich Carl Alexander (»CFCA«), den regierenden fahren gigantische Ausmaße verleiht. Bereits vor 1690 hatte
Markgrafen von Brandenburg-Onolzbach und Bayreuth, und der französische Architekt Thomas Gobert aus den zwölf
dessen Gemahlin Friederica Carolina (»FC«). Lettern »Louis le Grand« Kirchengrundrisse gestaltet. 1942
Der Schlossgrundriss in Form eines M zeigt, dass Steingruber wurde als unterwürfige Ehrerbietung an Benito Mussolini
bau- und bewohnbare Buchstabenarchitekturen projektierte, in der Gründungsstadt Littoria (jetzt: Latina) auf einem M-
auch wenn die Entwürfe Papierarchitektur blieben und die förmigen Grundriss der Sitz der »Fasci di Combattimento«
großen Antiqua-Lettern, die fast keine Serifen aufweisen, nur nach dem Entwurf von Oriolo Frezzotti verwirklicht.
von kleinen Buchstaben bevölkert werden. Das Zentrum bil-
literatur: Wolpe (1972) – Oechslin (1982) – Kiermeier-Debre/Vogel
det eine sechseckige Einganghalle, die von Treppen flankiert
(1997) – Grasshoff (2001) – Altenbuchner (2006).
wird. Unregelmäßig geschnittene Zimmer vermitteln zu den
geraden Raumfluchten mit Enfilade seitlich eines Korridors.
isabel haupt/daniela mondini
365
366 Giambattista Vico: Principj di una Scienza
Nuova d’intorno alla commune natura delle
nazioni

Dritte Auflage: Napoli: Stamperia Muziana 1744, 2 Bde., 526 S., hier:
Bd. 1, Frontispiz
Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. 1927
13,5 × 20,5 cm

Giambattista Vico, der 1668 geborene napolitanische Philo- die idea des Buches zu erfassen und sich seine Hauptmotive
soph, stand lange Zeit im Schatten von Denkern wie Locke, einzuprägen. Dieser an die Emblem- und Memoria-Tradition
Rousseau oder Kant. Erst im späten 20. Jahrhundert hat man der Renaissance erinnernden dipintura hat Vico detaillierte
den fast Vergessenen wiederentdeckt: als einen Kulturhisto- allegorische Erläuterungen gewidmet. Der Lichtstrahl, der,
riker avant la lettre, als Vorläufer Herders, Heynes, Schel- vom göttlichen Auge ausgehend, auf die Brust einer weibli-
lings und Hegels, einen der ersten Modernen, denen nicht chen Figur, der Metaphysik, trifft, dort von einem Edelstein
mehr nur, wie den Cartesianern, die Natur als bevorzugter reflektiert und auf eine männliche Statue gelenkt wird, die
Erkenntnisgegenstand galt, sondern auch Gesellschaft und Homer darstellt, scheint nach dem »Vater« der heidnischen
Geschichte. Neu schätzen lernte man im Zuge der Phono- Poesie zwar unterbrochen; eine imaginäre Linie führt aber,
zentrismus-Diskussion insbesondere auch seine Sprach- und von einer Pflugschar geleitet, am Altar vorbei weiter zu der
Zeichenreflexionen. In der zweiten und dritten Auflage ABC-Tafel, eine Linie, die die von Gott ausstrahlende pro-
seines Hauptwerks Principj di Scienza Nuova d’intorno videntielle energeia auf den Bereich der Sprachen und der
alla commune natura delle nazioni (Prinzipien einer neuen Literatur überträgt. Kulturgeschichtliche Errungenschaften
Wisenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, 1730/44) des Menschen wie Religion, Ackerbau, Seefahrt oder Politik,
begegnet man einem Denker, der die Ursprünge der Sprache um die ABC-Tafel herum als geroglifici (»Hieroglyphen«)
nicht, wie von Aristoteles bis Rousseau üblich, in lautlicher gruppiert, lassen sich mit Vicos Hilfe entziffern. Als kehre
Kommunikation vermutet, sondern in einem visuellen logos, die neuplatonische Stufenlehre im Raum der Geschichte
einer bildhaft-phantastischen, poetischen Schrift, in der wieder, gehört das Lettern-Tableau einerseits noch dem
die vier Grundtropen Metapher, Metonymie, Synekdoche vormodernen metaphysischen Kosmos an. Andererseits
und (später) Ironie erstmals zum Vorschein kommen. Die kann es aber auch als Indiz dafür gelesen werden, dass der
Vorliebe für die archaische Poesie, für Schrift und Visualität Mensch seine Lebenswelt auf der Basis der Schrift und ihrer
wirkt sich auf die Darstellungsform der Scienza Nuova aus. Überlieferungen nunmehr eigenhändig gestaltet.
Auch wenn das nach Vicos eigenen Angaben angefertigte
literatur: Frankel (1981) – Papini (1984) – Trabant (1994) – Otto
Titelkupfer von 1730/44 in einigen Ausgaben fehlt, muss
(2001) – König (2005).
es doch als unverzichtbar angesehen werden für jede ernst-
hafte Lektüre. Vico selbst hatte in der Einleitung zur Idea ulrich johannes beil

dell’opera betont, dass der Stich es den Lesern ermögliche,


367
368 Barthold Hinrich Brockes: Irdisches Vergnügen
in Gott, bestehend in Physicalisch- und
Moralischen Gedichten, Mit Musicalischen
Compositionen

Zürich: Bürckli 1740, 2 Bde., 2145 S., hier Bd. 1, S. 571/572

In einer seltenen ›Züricher Ausgabe‹ findet sich das neben- Wahl des Vergißmeinnicht, um den Leser an die Bedeutung
stehende Gedicht Barthold Hinrich Brockes’ abgedruckt. Sie Gottes zu erinnern (symbolisiert anhand der Farbe), der sich
enthält neben den Vertonungen Brockes’scher Dichtungen bei der Betrachtung der Natur stets deren Schöpfer bewusst
alle bis dahin erschienenen sechs Teile der ›Hamburger halten soll (wie der Name imperativisch ausstellt: Vergiß
Ausgabe‹, die 1721 erstmals in Publikation ging. Kenn- mein nicht). Gott ermöglicht überhaupt, das in der Natur
zeichnend für die Dichtung Brockes sind die detailreichen, vorgezeichnete ABC zu einer vollständigen Schrift zusam-
mikroskopischen Naturbetrachtungen, die in allegorisch- menzusetzen; das Verständnis des Buches, als welches sich
paränetischer Form eine Apotheose Gottes darstellen. Ihr die Welt vor dem sehenden oder lesenden Betrachter offen-
liegt die Vorstellung zugrunde, jeder einzelne vermöge das bart, konstituiert erst der »himmelblaue«, d. h. der göttliche
Werk Gottes in der Natur zu erkennen und auch ohne Zu- »Schein«. Denn, wie zunächst die alleinige Aufzählung des
hilfenahme der Heiligen Schrift zu entschlüsseln. Diese phy- hiefür benötigten Materials, der »Lettern«, »Blätter« und
sikotheologische Betrachtungsweise, der gemäß die Natur, einzelnen »Buchstaben« veranschaulicht: »Was eigentlich die
als die Schöpfung Gottes und seinen Gesetzen unterliegend, Wort sein, Blieb mir noch unbekannt […]«, bis das lyrische
wie ein Buch angesehen, gelesen und dekodiert werden Ich besagtes Vergißmeinnicht erschaut. Literale und figür-
kann, illustriert auch Das Blümlein: Vergiß mein nicht. In liche Ebene kreuzen sich hier im Wort, in der Bedeutung:
Form einer (kaum versteckten) Allegorie rekurriert der In einer möglichst exakten naturgetreuen Darstellung wird
Text auf die Schönheit der Natur – wenngleich stets nur ein zugleich der Code für das Weltbuch mitgeliefert.
spezieller Teil der Flora apostrophiert wird: »Kräuter, Gras
literatur: Peters (1993) – Gerth (1995).
und Klee« – sowie den ihr zugrunde liegenden göttlichen
Bauplan. Komplettiert wird die über eine bloße Abbildung alexandra domke

weit hinausreichende Betrachtung der Umgebung durch die


panegyrische Beschreibung des Himmels, der das Gesehene
inversiv reflektiert: »[…] Bewunderte bald in der blauen Flut
Des Luftsaphirs saphirnen Spiegel […].« Auffällig ist die
Verwendung einer eingeschränkten Farbsymbolik: Grün und
Blau – dieses Farbe des Lebens und der Unsterblichkeit, jenes
Verweis auf das Göttliche –, die gegen Ende des Gedichtes,
nach Erkenntnis der Schönheit der Natur als göttliches Werk,
zusammengeführt werden. Keineswegs zufällig ist daher die
369
370 Johann Georg Hamann: Brief an Kant

Ende Dezember 1759


Erstdruck: Hamann’s Schriften, hg. von Friedrich Roth. 1. Tl. Berlin:
Reimer 1821, S. 504–514, hier S. 508/509

Gegen Ende des Jahres 1759 erhält der junge Königsberger Das Buch der Bücher ist zwar unabdingbare Voraussetzung,
Philosophieprofessor Immanuel Kant von Johann Georg sich verstehend zum ›Buch der Natur‹ verhalten zu können.
Hamann, dem eifrig theologisierenden spiritus rector von Was es aber genau damit auf sich hat, das muss ein ewiges
Aufklärern wie Aufklärungsgegnern, einen Brief mit dem Rätsel und wohl eine Sache des Glaubens bleiben. Mit der
Vorschlag, gemeinsam eine Kinderphysik auszuarbeiten. theologischen Verschränkung des natürlichen und des heili-
Die Anforderungen für ein solches der Mode der Zeit ent- gen Buches reiht sich Hamanns Projekt einer Kinderphysik
sprechendes Lehrbuch der Natur für Kinder liefert Hamann in die lange Geschichte der Zwei-Bücher-Theorie ein, die
gleich mit: Es gilt, sich gedanklich einfältig zu machen und mit Augustinus beginnt, über Hugo von St. Victor, Johannes
die Welt zu erklären am Leitfaden des ›Buchs der Natur‹ von Salisbury und Bonaventura im Mittelalter tradiert wird
sowie der Schöpfungsgeschichte. Warum die Welterschlie- und in den Lehren der Physikotheologie bis in die Zeiten der
ßungsmetapher und der Genesistext für jegliche Naturlehre Aufklärung wirkt. Doch selbst der Bezug zu dieser Tradition
einen notwendigen Zusammenhang bilden, erläutert Hamann vermag nicht zu verhindern, dass Kant Hamanns Antrag un-
in einem Briefanhang. Die Naturphänomene – so Hamann beantwortet lässt und mit seinem Schweigen die Kinder der
– zeigen sich als Schrift, die es zu lesen gilt: »Die Natur ist ein Aufklärung um ein weiteres Lehrbuch der Natur bringt.
Buch, ein Brief, eine Fabel«. Beim Lesen stellt sich aber ein
literatur: Gründer (1958) – Nadler (1978) – Blumenberg (1981).
Problem: Selbst wenn der Lesende alle Elemente der Schrift
zu entziffern vermag, »alle Buchstaben«, »alle Wörter«, selbst
wenn er um das System dieser Schrift weiß, »die Sprache in benno wirz

der es geschrieben ist«, so reicht all die Kenntnis nicht aus,


die Schrift zu verstehen. Das ›Buch der Natur‹ lässt sich nicht
erklären anhand von Gesetzen, die es sich selbst gibt und
die es schriftlich zu erkennen gibt: »Es gehört mehr dazu als
Physik um die Natur auszulegen.« Die Schrift lässt sich nur
verstehen im Horizont eines grundlegenderen Buches – des
Buchs der Bücher –, in dem die Naturerscheinungen ihre
Erklärung finden. Für Hamann ist die Bibel der Schlüssel
zum ›Buch der Natur‹, dessen Schrift seinerseits auf die
Heilige Schrift verweist. Doch kann auch der Schlüssel nicht
garantieren, Aufschluss über die Naturphänomene zu geben:
»Die Natur ist eine Aequation einer unbekannten Größe«.
371
372 Karl Philipp Moritz: Neues A.B.C. Buch,
welches zugleich eine Anleitung zum Denken
für Kinder enthält

Erstausgabe: Berlin: Christian Gottfried Schöne 1790, 35 S., mit Kupfern


von Adolf Haas

Moritzens kleine Kinderfibel ist ein Schlüsseltext für die ländlichen Lebenswelt des Kindes zeigt. Eine inscriptio (ein
Hoffnungen, die der pädagogische Impetus der Aufklärung Motto, Thema) und eine gereimte subscriptio (Erläuterung,
auf das Medium der Schrift richtete. In verwandelter Form Unterschrift) kommentieren das Bild, ein kurzer Prosatext
lebt der vormoderne Gedanke vom Heilsmedium Schrift führt diese Erläuterungen in elementar formulierten Haupt-
fort, wenn Moritz im Seitenstück zu seinem Abc-Buch, dem sätzen weiter aus. Dabei beginnt und endet der Kosmos
1792 erschienenen Lesebuch für Kinder, von einem Buch der Kinder programmatisch beim Lesen. Die ersten beiden
als einer »heiligen Sache« spricht. Den Kindern über das Kupfer zeigen das lesende Auge des Kindes, dem sich die
Lesenlehren den Weg in diese heilbringende Bücherwelt zu Welt nur über die Buchstaben vermittelt, nur als gelesene
bahnen, ist daher eine Aufgabe, der sich der einstige Reform- erschließt. Wie das Lesen aufs Selbstdenken führt, lernt das
pädagoge und jetzige Professor der Ästhetik mit höchstem Kind mit dem Buchstaben G und der zugehörigen Über-
philosophischem Ernst widmet. Diese Heilserwartung ist schrift »Geist«. Das Bild zeigt einen Mann, der über das
insofern radikal säkularisiert, als die Buchstaben nicht mehr Gelesene nachdenkt. Diesem sinnenden Lesenden nun, so
in die Lektüre der Bibel und der Katechismuslehren einfüh- die Abfolge der weiteren Tafeln, eröffnet sich die Ordnung
ren, sondern zum Selbstdenken anleiten sollen. Schrift muss der Dinge in einer vom Konkreten zum Abstrakten aufstei-
für den Aufklärer transparent sein auf den vermittelten Sinn. genden Folge von Gegensätzen, dem zwischen Geist und
Im autobiographischen Roman Anton Reiser macht der Held Körper, Mensch und Tier, Natur und Kultur, Leben und
als Initiation in die Schriftkultur die beglückende Erfahrung, Tod. Der Fluchtpunkt dieser lesenden Welterkenntnis ist
»dass wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetz- die Selbsterkenntnis als denkendes Wesen, »denn es ist die
ten Buchstaben ausgedrückt« werden. Moritz verzichtet da- höchste Würde, ein Mensch zu seyn.«
her auf die in den Fibeln üblichen religiösen Erstlesetexte und
literatur: Utz (1990) − Hollmer (2000) − Müller (2006).
verfolgt stattdessen das ehrgeizige Ziel, mit den Strukturen
der Sprache auch die des logischen Denkens zu vermitteln.
Der Tradition eines Orbis pictus eher als der einer bloßen sabine schneider

Buchstabierlehre folgend soll dabei die Ordnung der Welt


in ihrer Totalität erklärt werden.
Die Zuordnung von Schrift und Welt bedient sich in den
beigefügten Kupfertafeln von Adolf Haas noch der emble-
matischen Anordnung von Bild und Wort. Jedem Buchstaben
ist ein Bild beigefügt, das meist kleine Alltagsszenen aus der
373
374 Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismus zum
Buch der Natur

Sudelbuch J (Leitzmann Nr. 1346, Promies Nr. 2154), entstanden 1793


Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms.
Lichtenberg IV, 31, fol. CXXX

Zum Abschluss seiner England-Reise im Jahre 1775 schenkt sogenannten Wörter wiederum bloß Anfangsbuchstaben von
die englische Königin dem Göttinger Mathematiker und anderen sind«. So ist für Lichtenberg das ›Buch der Natur‹
Astronomen Georg Christoph Lichtenberg eine Ausgabe zwar nicht unlesbar, aber unleserlich geschrieben. Der The-
von Lavaters eben erschienenen Physiognomischen Fragmen- matisierung dieser »Dämonie« der Natur hat der Meister des
ten. Der kleinwüchsige, bucklige Professor, berüchtigt ob deutschen Aphorismus eine unübertreffliche Form gegeben:
seiner scharfen Feder, bedankt sich für diese Gabe mit einer Als flüchtiger Eintrag, als Gedanke ohne abschließendes
Streitschrift, welche die Physiognomik als frisch geborene Satzzeichen, so dass offen bleibt, ob ein weiteres Aperçu
wissenschaftliche Disziplin buchstäblich unmöglich macht. hinzuzufügen wäre, findet sich diese Notiz eingepfercht
Zwar anerkennt Lichtenberg, dass es sich beim physiogno- zwischen einer Bemerkung zum Verhältnis von Wärme und
mischen Geschäft um etwas Alltägliches handelt – auch er Gerüchen sowie eines Einfalls, wie sich das Phänomen der
liebt es, Menschen zu mustern, in ihren Gesichtern zu lesen Galvanischen Frösche mit den Belegungen der Leidenschen
und auf ihre Charaktere zu schließen. Doch weist er den von Flaschen verbinden ließe. Lichtenbergs pointierte Skepsis an
Lavater gestellten, wissenschaftlichen Anspruch, aufgrund der ›Lesbarkeit der Welt‹ schwebt so stets in Gefahr, im Wust
des Äußerlichen das Innere erkennen zu können, als unzu- der aufschießenden Gedanken selbst überlesen zu werden.
lässige Anwendung des Satzes vom hinreichenden Grund
literatur: Blumenberg (1981) – Baasner (1992) – Schmitz-Emans
zurück. Im Nachhall zum Physiognomikstreit eröffnet sich
(1995).
Lichtenberg aber ein Problemhorizont, der weit über die
Menschenkenntnis hinausreicht und die Frage des Verstehens benno wirz

von Welt überhaupt betrifft: »Die Frage aber ist, ob alles


für uns lesbar ist.« Eine mögliche Antwort darauf bildet die
ein paar Jahre später verfasste, nebenstehende Notiz J 1346.
Lichtenberg suggeriert darin, dass die Natur ein offenes Buch
ist. Die Schrift aber, die sie zu lesen gibt, zeigt sich unseren
Augen nur lückenhaft: »Wir sehen in der Natur [….] immer
nur Anfangsbuchstaben von Wörtern«. Es ist durchaus mög-
lich, die Lücken der natürlichen Schrift durch gedankliche
Spekulation zu füllen. Nur führt jeder Versuch, Sinn in die
Natur zu tragen, auf einen Holzweg. Die Schrift besteht aus
Spuren, die sich ins Unendliche verlieren, insofern »die neuen
375
376 Johann Gottfried Herder: Die Welt und die
Bücher

Erstdruck: Adrastea, Leipzig: Johann Friedrich Hartknoch. Bd. 3, 1802


Ausgabe: Herders Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan. Berlin:
Weidmannsche Buchhandlung. Bd. 27, 1881, S. 334

Die Rede vom ›Buch der Natur‹ findet ihre mediengeschicht- Konkreten der Erscheinungen gegen eine mit ihrer eigenen
liche Voraussetzung in einer vitalen Schrift-, Bibliotheks- Spekulation beschäftigte Vernunft. Inbegriff dieser philoso-
und Gelehrtenkultur. Dagegen wendet sich die Metapher phischen Eingleisigkeit ist ihm die Encyclopédie, worin alles
in polemischer wie paradoxer Weise: Die Natur wird in der mögliche Wissen über die Welt registriert und so allen zur
Gestalt des Buches wider die Vorherrschaft der Bücherkultur Verfügung gestellt wird. Mit diesem Jahrhundertwerk fällt
ins Feld geführt, um das Denken von Gedankeneskapaden, für Herder die Natur als ursprüngliche und unmittelbare
Wortklaubereien und aberwitzigen Differenzierungen zu- Quelle des Wissens außer Betracht, insofern aufgeklärte
rückzuführen zur unmittelbaren Erfahrung und Einheit des Menschen ihr Streben nach Welterkenntnis durch den Blick
Lebenszusammenhangs. Dieser Polemik verschreibt sich in ein Buch stillen. Die Encyclopédie interessiert sich nicht
auch der deutsche Theologe und Philosoph Johann Gottfried mehr dafür, im ›Buch der Natur‹ zu lesen, obwohl das Den-
Herder, wenn er in seinen späten, aufklärungskritischen ken der Aufklärung in der anfänglichen Selbstbehauptung
Texten an Tommaso Campanella (1568–1639) erinnert. Er gegenüber der Scholastik – wie etwa bei Campanella – sich
überträgt 1802 einige philosophische Gedichte des beinahe ausgiebig dieser Wendung bedient hat. In der Übertragung
vergessenen Dominikanermönchs ins Deutsche – unter ande- Herders wandelt sich des Italieners Wahlruf »O kehrt zu-
rem das Sonett Die Welt und die Bücher – und findet in der rück,/ Zu Eurem Urbild, Menschen, und zum Glück« zu
Metapher vom ›Buch der Natur‹ die eigene kritische Haltung einem frommen Wunsch und der Hymnus auf das ›Buch der
gegenüber der herrschenden Philosophie ausgedrückt – al- Natur‹ zum Abgesang auf eine zur Geschichte gewordenen
lerdings unter anderem Vorzeichen als bei Campanella. Metapher.
Dem Neapolitaner dient die Metapher als Parole gegen die
literatur: Curtius (1942) – Blumenberg (1981) – Campanella (1996).
»todte(n) Tempel« und »Kopieen des Lebendigen« einer in
ihrer Scholastik erstarrten Kirchengelehrsamkeit, wie sie
sich in der Verurteilung Galileis machtvoll manifestiert hat. benno wirz

Als dessen Apologet wehrt er sich gegen die Unterwerfung


der Wahrheit unter die Texte der Autoritäten und führt
stattdessen die Evidenz der Naturbetrachtung ins Feld: »Die
Welt, ein Buch […] ist ein lebendiger Tempel […] Les’ und
betrachte jeder diese Kunst.« Für Campanella bietet sich die
Welt unseren Sinnen dar, so dass das ›Buch der Natur‹ allen
offensteht. Auch Herder kämpft mit der Hinwendung zum
377
378 Laurence Sterne: The Life and Opinions of
Tristram Shandy, Gentleman

Erstausgabe: 9 Vols. London 1760–1767, hier Vol. III, London: R. and


J. Dodsley 1761, S. 169/170 (»Marbled Page«)
Exemplare: Harry Ransom Library (University of Texas) Fireston Library
(Princeton University), Toronto Library

Laurence Sterne (1713–1768) hat mit seinen beiden Haupt- Sie evoziert die marmorierte Erscheinung des Bildes und
werken Tristram Shandy und A Sentimental Journey maß- zugleich den steinernen, den undurchdringlichen Charakter
geblich die Entwicklung des modernen Romans vorbereitet. des Bildsinns, eine harte Nuss für den Leser. Das graphische
Zu den erzähltechnischen Innovationen beider Werke ge- Emblem des Buches ist der Denkstein der Lektüre. Die
hören unter anderem: die programmatische Dissoziation »marbled page« bietet zudem und vor allem die sichtbare
von erzählter Zeit und Erzählzeit, die Abkehr von der Projektionsfläche der »marblings« eines Autors, der sich
traditionellen linearen Handlungs- und Figurenführung entschieden hat, seine Meditationen und Sentimentalismen
durch den Einsatz von Digressionen und Strukturparodien nicht mehr allein dem Medium der Schrift anzuvertrauen. –
und die Entwicklung einer vielfältigen selbstreflexiven For- Aufgrund des damaligen Standes der Drucktechnik war es
mensprache. Der Verfasser des Tristram Shandy ist einer der unmöglich, das Design der marmorierten Seite exakt zu ko-
ersten europäischen Romanautoren von Rang, der die Schrift pieren. Es ist dies ein Umstand, der dem idiosynkratischen
›graphisch‹ in Bewegung setzt. Schlangenlinien, ganze Zeilen Individualismus des Buches zugute kam. Alle 4000 Exemp-
von Auslassungszeichen, schwarze Seiten, marmorierte Sei- lare der Erstausgabe aus dem Jahr 1761 präsentieren auf den
ten und weiße beziehungsweise leere Seiten durchziehen das Seiten 169 und 170 des 3. Bandes durchgängig verschiedene
gesamte Buch. Die nicht buchstabenbasierten graphischen Ansichten der »marbled page«. Das Emblem des Tristram
Darstellungsmedien eröffnen für den Roman einen neuen Shandy zeigt sich also in jedem Band der Erstausgabe als eine
Bedeutungshorizont. Sie übertragen einen Sinn und nicht bewegliche, individuelle, nicht-kopierbare Erscheinung.
zuletzt eine Sinnlichkeit, die dem Sprachspiel des Romans
literatur: Holtz (1970) – Day (1972) – Patterson (1991) – Levenston
wesentlich sind, die aber in buchstäblicher Weise nicht ge-
(1992).
schrieben und ausgesagt werden.
Im Tristram Shandy erklärt Sterne die graphische Struktur edgar pankow

einer marmorierten Seite zum »buntscheckigen Emblem mei-


nes Werkes« (»motly emblem of my work«). Die vom Autor
zum zentralen Emblem des Buches erhobene »marbled
page« ist zweideutig: Vor- und Rückseite des Blattes bieten
unterschiedlich marmorierte Ansichten. Zweideutig und
wohlmöglich eine kalkulierte Attacke auf den Ernst des Le-
sens überhaupt ist auch die Redewendung »marbled page«.
379
380 Laurence Sterne: The Life and Opinions of
Tristram Shandy, Gentleman

Erstausgabe: 9 Vols. London 1760–1767, hier Vol. VI, London: T. Becket


and P. A. Dehondt 1762, Chap. XL (»A tolerable straight line«); Vol. IX,
Ebd. 1767, Chap. IV (»Flourish with his stick«)

Tristram Shandy ist ein Roman der witzigen Einfälle, der relativieren einander, aber sie repräsentieren sich nicht. Die
satirischen Kommentare und der skurrilen Obsessionen. fehlgehende Erwartung, das Bild zeige den ihm zugespro-
Er bietet nicht die Linearität einer zielgerichtet erzählten chenen Sinn nutzt Sterne ganz im Gegenteil als komisches
Geschichte. Der Vortrag über das Leben und die Meinungen Ingredienz der windschiefen interpersonellen Kommunika-
des englischen Gentleman folgt einem als Autobiographie tion. Das Lob der Freiheit von den Zwängen des Ehelebens,
getarnten Assoziationsstrom mit fragwürdigem Anfang in das Toby und der Korporal Trim im Laufe einer angeregten
und offenem Ende. Statt des traditionellen Plots offeriert Diskussion einstimmen, wird vom Korporal mit einer be-
Sterne eine Überfülle von Digressionen. »Digressionen, zeichnenden Geste seines Stockes begleitet, »giving a flourish
ohne Zweifel, sind der Sonnenschein; -- sie sind das Leben, with his stick thus --«. Der Text lässt darauf die Abbildung
die Seele des Lesens, -- entferne sie aus diesem Buch, zum einer sich mehrfach windenden Linie folgen. Tristram liest
Beispiel – man könnte ebenso das Buch mit ihnen entfernen; den Schwung des Stockes durch den Raum als Apologie des
-- ein langer kalter Winter würde auf jeder seiner Seiten Zölibats. Aber Tristram, der Name sagt es, ist »shandy«, halb
regieren« (»Digressions, incontestably, are the sun-shine; -- verrückt. Ganz andere Junggesellenphantasien kommen ins
they are the life, the soul of reading; -- take them out of this Spiel, wenn man einräumt, dass der Schwung (»flourish«) des
book, for instance -- you might as well take the book along Stockes auch dessen Blühen (»flourish«) bedeuten könnte.
with them; -- one cold eternal winter would reign in every Tatsächlich ähnelt die von Sterne in seinen Text inserierte
page of it«; Vol. I, Chap. XXII). Einen Leitfaden durch das Abbildung zeitgenössischen Darstellungen der Bewegung
Labyrinth der Digressionen gewährt Sterne dem verblüfften, des Spermatozoons.
eher linear gesinnten Leser nur scheinbar. Das Versprechen,
literatur: Bloom (1987) – New (1992) – Rogers (1993).
auch nur Teile des Buches durch eine passable gerade Linie
(»a tolerable straight line«) zu repräsentieren, dient eher
einem Zugewinn an Witz als einem Zugewinn an Klarheit. edgar pankow

Im Tristram Shandy lässt sich die Bewegung der Schrift nicht


mehr durch die Schrift zur Ruhe bringen.
Die klassische, auf Horaz zurückgehende Forderung, Dich-
tung und Malerei einander anzugleichen (ut pictura poesis),
ist von Sterne durchgehend parodiert worden. Dichtung
und Malerei werden im Tristram Shandy als eigengesetzli-
che Medien eingesetzt. Sie kommentieren, perspektivieren,
381
382 Friedrich Schiller:
Brief an Christian Gottfried Körner

23. Februar 1793


Deutsches Literaturarchiv Marbach, HSA Schiller, Zug. Nr. 52.241
Erstausgabe: Schillers Briefwechsel mit Körner. Berlin: Veit 1847, 3. Bd.,
403 S., hier S. 69

Bei den so genannten ›Kallias-Briefen‹ handelt es sich um Sprache übertragen werden müssen, die Medialität folglich
Briefe vom Januar und Februar 1793, die Schiller seinem gleich doppelt zu überwinden wäre.
Freund Körner zukommen ließ, die jedoch erst 1847 in der Trotz dieser Ungleichheit von bildender Kunst und Dicht-
Gesamtausgabe des Briefwechsels zum ersten Mal erschienen kunst vereint Schiller im Brief vom 23. Februar 1793 ge-
sind. Die dabei von Schiller entwickelte Schönheitstheorie schriebene und gezeichnete Linien und lässt sie sogar ohne
gründet auf seiner intensiven Auseinandersetzung mit Imma- Unterbruch, also ohne Punkt als abschließendes Satzzeichen,
nuel Kants Ästhetik. Ausgehend von Kants Begrifflichkeiten ineinander übergehen. Dazu kommt, dass Schiller ebenfalls
und vor allem von dessen Definition des Geschmacksurteils an dieser Stelle die gemäß seiner Theorie zu tilgende Media-
als eines freien, interesselosen sowie subjektiven »Wohlgefal- lität gleich doppelt veranschaulicht. Zum einen wird das zum
lens«, entwickelt Schiller seine eigene Schönheitstheorie mit Schreiben und Zeichnen notwendige Medium, die Feder,
dem Ziel, einen objektiven Schönheitsbegriff zu deduzieren. explizit genannt und für die »nicht schöne« Linie verant-
Das angebliche Scheitern dieser Deduktion ist denn auch wortlich gemacht. Zum anderen stellt die unregelmäßig und
ein gewichtiger Grund dafür, dass die ›Kallias-Briefe‹ in der mit mehrmaligem Ansetzen gezeichnete Schlangenlinie ihr
Auseinandersetzung mit Schillers philosophischem Schaffen Gemachtsein direkt aus: die Linie verläuft gerade aufgrund
mehrheitlich vernachlässigt und in erster Linie als Vorar- ihrer Medialität nicht dem Ideal entsprechend.
beit für die folgenden theoretischen Schriften, nicht aber Mit der Korrelation von Text und Bild und mit dem Wech-
als eigenständige in sich abgeschlossene Studie verstanden sel vom Realis in den Potentialis (folgende Linie ›ist‹ eine
werden. Als für Schillers philosophisches Werk grundlegende schöne Linie, oder ›könnte‹ es zumindest sein, wenn meine
Formulierungen gelten die Sätze »Schönheit ist Freiheit in Feder besser ›wäre‹) zeigt sich Schillers Schönheitstheorie
der Erscheinung« und »(Kunst-)Schönheit ist Freiheit in als eine immer schon mit der Problematik des Darstellens
der Darstellung«, die in nuce Schillers Schönheitstheorie verbundene und führt an dieser Stelle den dem Kunstschö-
vorstellen. Der Transfer ins Medium Sprache, das Darstellen nen inhärenten und lediglich theoretisch wegzudenkenden
also, muss gemäß Schiller im Dargestellten verschwinden, medialen Transfer vor.
der Stoff ganz von der Form beherrscht werden. Während
literatur: Koopmann (1998) – Dommes (2005) – Müller Nielaba (2005).
der bildenden Kunst lediglich die materielle Ähnlichkeit
zwischen Darzustellendem und Darstellendem fehlt, findet
sich bei der poetischen Darstellung auch keine formale Ähn- christine du bois de dunilac

lichkeit, da die Ideen immer erst in das arbiträre System der


383
384 William Blake: The First Book of Urizen

Copy A, 1794
Yale Center for British Art, pl. 1
14,9 × 10,3 cm

Das Titelblatt von William Blakes The First Book of Urizen bean­sprucht selbst Zutritt zur differenzlosen Einheit der
zeigt den Titelhelden in einer Schreibszene. Urizens Bart Ewigkeit. Dem entspricht das durchkomponierte Mitein-
fällt auf ein aufgeschlagenes Buch. Er hält zwei Schreib- ander von Bild und Handschriftlichkeit. Zur ersten Blüte-
instrumente, eine Feder (oder einen Zeichenstift) und eine zeit industrieller Massenreproduktion zielt es darauf, die
Radierna­del (oder einen Pinsel) – je nach Druckfassung konventionelle Differenzwahrnehmung der piktoralen und
jeweils in der linken oder rechten Hand. Diese auffällige typographi­schen Zeichensysteme durch eine dem Textsinne
Geste markiert die von Blake angestrebte Vereinigung von nach ›ewige‹ Erfahrung mystischer Ununterschiedenheit zu
Schrift und Bild, die ein zentrales Motiv für die von ihm überbieten. Gleichwohl schwankt diese medientechnisch
eigens entwickelte Technik des ›Re­lief Printing‹ bildet, der erzeugte Autographie bis zuletzt zwischen wiederholbarem
sich das Book of Urizen wie auch andere seiner bekann- Zeichenmuster und individuell­ster Körpergeste. Graphisch
testen Werke verdanken. Um Blätter wie das vorliegende ist durch das Diskontinuum von Text-, Schrift- und Bildfor-
herzustellen, schreibt Blake die Textpassagen mit einer Fe- men der souveräne Ort eines ›poet painter‹ markiert, der sich
der seitenverkehrt von rechts nach links, die Bildelemente an der Schwelle zwischen dem einheitlichen Herrschaftsraum
werden mit einem feinen Pinsel aufgetragen. Die verwendete der Ewigen und der ausdifferenzierten Hegemonie des Uri-
Lackfarbe schützt die entsprechenden Partien des Kupfers zen verortet. So verhilft Blakes Relief Printing einer religiös
vor der verdünnten Nitratsäurelösung, der die Druckplatte ge­prägten ›Imagination des Unbeobachtbaren‹ zu ihrem
anschließend ausgesetzt wird. Aus diesen Flächen entsteht Recht: als im Akt der Konkre­tion von Bild- und Zeichen­
das ›reliefartige‹ Hochdruckklischee, dem Blakes Drucktech- inhalten erfahrene Widerständigkeit, die spurenhaft je­nen
nik seinen Namen verdankt. Rest bezeichnet, der sich einer vollkommenen Übereinstim-
Im ersten Teil des Urizen schildert Blake, wie sich der Ti- mung von ästhetischer Darstellung und sinn­lich-­irdischen
telheld aus der ganzheitlichen Weltordnung der ›Eternals‹ Wahrnehmungsinhalten dauerhaft entzieht und so einen
abspaltet und sich als Herrschergott instituiert; auch deswe- transzendenten Überschuss menschlicher Welt- und Selbst-
gen wurde das Werk immer wieder als Parodie der biblischen erfahrung zur Anschauung bringt.
Genesis gelesen. Urizen repräsentiert die Machtansprüche
literatur: Eaves (1973) – Mitchell (1978) – Essick (1980)– Dörrbecker
der anglikanischen Staatskirche, des vorherr­schenden empi-
(1992) – Viscomi (1993).
ristischen Erkenntnismodells, vier Jahre nach der Französi-
schen Revolution firmiert er auch als politischer Gesetzgeber. roger lüdeke

Die prophetische Erzählinstanz des Book of Urizen insze-


niert sich dagegen als Urheber einer der biblischen Genesis
noch vorausgehenden Schöpfungs­geschichte. Der ›prophet‹
385
386 Novalis: Heinrich von Ofterdingen.
Ein nachgelassener Roman

Berlin: Buchhandlung der Realschule 1802, 2 Tle., 338 S., hier S. 76

Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, der sich valis angestrebte Romantisierung der Welt als Vereinigung
selbst als Novalis – der Neuland Bestellende – bezeichnet, von Wissenschaft und Poesie. Sie verliert einen Edelstein,
erlebte die Drucklegung seines Werkes Heinrich von Of- der »eingegrabene unverständliche Chiffern« aufweist und
terdingen nicht mehr; sie wurde posthum durch Ludwig vom Jüngling entdeckt wird. Nahezu spiegelbildlich, in
Tieck, August Wilhelm und Friedrich Schlegel ermöglicht, »rätselhafte[n] Zeichen«, artikuliert er dieses allegorisch;
was bereits der Untertitel anzeigt. Das Werk ist unvollendet, schreibt es nieder, gräbt es ein auf Papier, kleidet den Stein da-
ein Fragment – ebenso wie die im fünften Kapitel erzählte mit ein. Denn: Besagter Stein ist nicht nur der gefundene, er
Lebensgeschichte Heinrichs, des zum Dichter berufenen ist zugleich die Metapher für das Herz der Angebeteten, wie
Protagonisten. Er entdeckt sich, Freunde und Bekannte(s), die synonyme Beschreibung beider Begriffe figuriert. Spricht
aber auch Unbekannte(s) in einem Buch, vermag jedoch nicht der Text zunächst davon, dass der Stein lediglich mit einem
die unverständliche Schrift, sondern nur die Bilder darin zu Herzen zu vergleichen sei, vollzieht er in den anschließenden
enträtseln. Doch selbst einige dieser sind »dunkel«, da ihm Versen diesen Vergleich; mehr noch, die Sprache überwindet
noch nicht bewusst ist, dass sie ihn als Dichter zeigen, über- ihn, hebt ihn unmittelbar auf. Nicht zufällig häufen sich in
haupt von der Dichtkunst handeln, wie später ein Eremit dieser Passage, welche die Auflösung des scheinbaren Wi-
erklärt. Auch gibt es keine nachfolgenden Bilder, die darüber derspruchs vollzieht, die Verweise auf das »Licht« als eine
Auskunft geben könnten, denn, wie der Erzähler berichtet, Umschreibung für Erkenntnis und Verstehen. Daher fragt
»[…] der Schluß des Buches schien zu fehlen«. Auch hier der Jüngling auch, ob diese Liebe Erfüllung findet: »Wird
also: Ein Buch, das die Erlebnisse eines Dichters und die diese auch das Herz des Herzens haben?«
ausführliche Beschreibung von Dichtung und Dichtkunst
literatur: Uerlings (1991) – Uerlings (1998) – Frühwald (2004).
zum Inhalt hat, mit einem fehlenden Ende.
Neben der hier geschilderten Geschichte gibt es zahlreiche,
die Poesie thematisierende andere Narrationen im Ofterdin- alexandra domke

gen, welche der Roman in Spiegelstruktur variiert, die die


Erzählung immer wieder kreisen lassen. Es sind selbst poten-
zierte »Eingrabungen« des Geschriebenen in der Dichtung
als Dichtung – wie auch die abgebildete Seite, eine Passage
des so genannten ›Atlantis‹-Märchens des dritten Kapitels,
zeigt. Erzählt wird hier die Begegnung einer Prinzessin
mit einem Jüngling: diese Personifikation der Poesie, jener
diejenige der Natur, und, in der Verbindung, deren Liebe
zueinander. Beide veranschaulichen dialektisch die von No-
387
388 Friedrich Hölderlin: Unsichtbare Verse

Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Hölderlin-Archiv, ›Hom-


burger Folioheft‹ 307/40
39,2 cm × 24,2 cm

In Hölderlins vielleicht wichtigstem Arbeitskonvolut, dem größeren – Schriftzüge auf dem leeren Blatt entspricht so auf
›Homburger Folioheft‹, das viele der Entwürfe zu den gro- eine seltsam mimetische Art dem physischen Vorgang beim
ßen Gedichten nach 1800 enthält, scheint die Seite 40 auf den Gewahrwerden der Sternbilder am nächtlichen Himmel,
ersten Blick leer zu sein. Erst Friedrich Beißner entdeckte sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat. – Es
eine Reihe von Schriftzügen, die Hölderlin – vermutlich mit mag sein, dass der Dichter zunächst nur, um seinen Einfall
tintenleerer Feder – ins Papier eingeritzt hat. Beißner teilte nicht zu verlieren, die Verse eilig ohne Tinte ins Papier
seine Entdeckung 1936 mit und schrieb dazu: »Die Seite ist gekratzt hat, doch könnte die Aufzeichnungsweise auch
sonst ganz leer. Am oberen Rande aber sind bei schräger Absicht gewesen sein, immerhin hat Hölderlin die beiden
Beleuchtung zwei in großer Schrift eingeritzte Verse lesbar: Verse später weder abgeschrieben noch auch nur verdeut-
Und der Himmel wird wie eines | Mahlers Haus | Wenn seine lichend mit Tinte nachgezogen. Was bleibt, ist die einzig-
Gemählde sind aufgestellet.« artige Schönheit einer poetischen ›Konstellation‹ von sich
Beißner hat die – in einem gewissen Sinne unsichtbare – No- entziehender Schrift und Sinnentstehung. Die Bedeutung
tiz als Nr. 53 unter »Pläne und Bruchstücke« in der ›Großen dieses einzigartigen Schrift-Bilds liegt zum einen in seiner
Stuttgarter Ausgabe‹ veröffentlicht, in der ›Frankfurter Höl- graphischen Unübersetzbarkeit (als wollte es Mallarmé um
derlin-Ausgabe‹ ist die Aufzeichnung in einem Faksimile in fast ein Jahrhundert vorwegnehmen), zum andern in der
größtmöglicher Originaltreue wiedergegeben. Man glaubt selbstbezüglichen Bewegung seiner verzögerten Lesbarkeit:
zunächst, die ganze Seite sei leer, aber bei geduldiger Suche Kontemplation der Schrift.
und genauerem Hinsehen in richtiger Beleuchtung gewahrt
literatur: Beißner (1936) – Hölderlin (1986) – Groddeck (1995).
man allmählich einzelne Buchstaben und dann auch Wörter,
die sich zu Sätzen fügen und schließlich Vers und Sinn er-
geben. – Das Merkwürdige bei einem solchen Lesevorgang wolfram groddeck

ist hier aber, dass er eben dem sich angleicht, wovon die
Verse sprechen. Der Himmel wird mit einer Gemäldeaus-
stellung verglichen; dabei ist es für die reflektierte Lektüre
der Notiz bedeutsam, dass es nicht heißt: ›der Himmel ist
wie‹, sondern: ›der Himmel wird wie‹. Das Phänomen, das
Hölderlin in seinem Vergleich evoziert, ist das allmähliche
Sichtbarwerden der Sternbilder am Nachthimmel. Die
Entzifferung der zunächst unsichtbaren – und im Vergleich
zu den anderen Eintragungen im selben Heft auch deutlich
389
390 Heinrich von Kleist: Der Griffel Gottes

Erstdruck: Berliner Abendblätter, Bl. 5, 5. Oktober 1810, S. 21

Der vorliegende Text gehört zu einer Reihe von Anekdoten, so zentrale wie fatale Rolle gespielt. Aus einer nicht näher
die Kleist in den von ihm zwischen dem 1. Oktober 1810 und bezeichneten testamentarischen Inschrift, in dem der Gräfin
dem 30. März 1811 herausgegebenen Berliner Abendblättern »mit vielem Gepränge« für ihr Vermächtnis gedankt worden
ohne Autorhinweis veröffentlichte. Auf der Basis von Stil­ war, wird in der ›Bearbeitung‹ die ihrem ursprünglichen Sinn
analysen ist Kleists Autorschaft in diesem Fall aber kaum zu zuwider laufende, ja Hohn sprechende Buchstabenkombi-
bezweifeln. Karl August Varnhagen zufolge wurde Kleist nation »sie ist gerichtet«. Die réécriture im Griffel Gottes
die Geschichte von der polnischen Gräfin, ihrer von einem eröffnet aber nicht nur eine poetologische, sondern auch eine
Blitz entstellten und neu zusammengefügten Grabinschrift mediale Dimension. Mit diesem Medium, dem ›Schreibgerät‹
in Grundzügen von dem Fürsten Anton Heinrich von Rad- »Blitz«, stehen Momente wie Plötzlichkeit, Zufall, Gewalt,
ziwill mitgeteilt. Kleist hat sie dann abgewandelt und radika- Elektrizität gegen die trügerische Beständigkeit des Erzes,
lisiert: Aus einer Dame mit lockerem Lebenswandel wurde des Mediums einer alten, wenig vertrauenswürdigen Institu-
eine, »die ein sehr bösartiges Leben führte«. Der Grabstein tion. Damit deutet sich zugleich eine Schwelle an: zwischen
wird nicht von ihr selbst, sondern von dem Kloster gesetzt, einer zweifelhaft gewordenen Autorität, wie sie durch die
dem sie nach der Absolution ihr Vermögen vermachte; und christlich-katholische Buch- und Ablassreligion repräsentiert
das polnische Wort potępiona (verdammt) wird von Anfang wird, und jenen neuen Medien des 19. Jahrhunderts, die
an in das deutsche »sie ist gerichtet« übersetzt. Der Text wie Photographie und Film das Gefüge der traditionellen
enthält Anspielungen auf Schiller (in der »Hymne an den Schriftkultur nachhaltig erschüttern.
Unendlichen« findet sich das Bild des Griffels, das in Kleists
literatur: Jacobs (1979) – Theisen (1996) – Groddeck (2001) – Brors
»Hymne an die Sonne« wiederkehrt) und auf das Ende von
(2002) – Locher (2005).
Goethes Faust I, wo das mephistophelische »sie ist gerichtet«
allerdings von Gott durch ein »ist gerettet« korrigiert wird. ulrich johannes beil

Der Griffel Gottes in Form eines Blitzes erinnert einerseits


an ein prozessual gewordenes ›Buch der Natur‹ und lässt im
Rahmen der Theodizeediskussion seit Rousseau und Voltaire
auf ein ›Gottesurteil‹ schließen. Andererseits kommt dem
Tun dieses ›Griffels‹ aber auch, als sekundäre Bearbeitung ei-
nes von Menschen verantworteten ›Originals‹, die Funktion
einer entstellenden réécriture zu. Diese bedient sich bekann-
ter poetologischer Verfahren wie des Anagramms oder des
»Logogriphs«, des von Kleist in der Novelle Der Findling so
genannten ›Worträtsels‹. Auch im Findling hatte das Chan-
gieren zwischen den Namen »Nicolo« und »Colino« eine
391
392 Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers
der Bienrodischen Fibel

Erstausgabe: Nürnberg: Johann Leonard Schrag 1811, vordatiert 1812,


358 S., hier S. 109
Holzschnitt aus der Bienrodischen Fibel: Jean Pauls Sämtliche Werke.
Historisch-kritische Ausgabe, hg. von der Preußischen Akademie der
Wissenschaften. 1. Abt., 13. Bd. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger
1935, S. 527

Kein anderer Autor der Zeit um 1800 war so schriftver- hervorbringt. In diesem von Angstlust geprägten Traum lau-
sessen wie Jean Paul. Unablässig machen seine Werke die fen die Lettern gleichsam wild, der »ha, ha« buchstabierende
mediale Konstellation, der sie ihre Herkunft verdanken, Fibelhahn fährt als lebendige Letter in die Alphabetreihe
zum Gegenstand eines selbstironischen Spiels. Unter diesen hinein, die beim H eine Lücke aufwies. Zugleich Buchstabe
Schriftinszenierungen nimmt der späte Roman Leben Fibels und Tier, vermischt er die Ebenen von Sprache und Ding, die
eine Sonderstellung ein, weil er eine Ursprungserzählung doch die Aufklärung so säuberlich getrennt hat. Mithilfe einer
der Schrift liefert. Deren Elementares sind die Buchstaben, Taschendruckerei druckt Fibel sein Werkchen nun in mas-
die jeder »früher gelesen [hat] als Bibel und Homer«. Am senhafter Verbreitung. Seine geschäftstüchtigen Mitarbeiter
Buchstabieren hat sich Sinn und Unsinn einer schriftvermit- gründen zur weiteren Büchervermehrung eine biographische
telten Weltordnung zu erweisen. Dass diese Ordnung im Fall Akademie, in der sie in vierzig Bänden Fibels ereignisloses
eines Abc-Buchs schlicht alphabetisch und damit wie Sprache Leben beschreiben und in den Druck bringen. Gespiegelt
überhaupt arbiträr ist, macht für Jean Paul den Reiz aus und wird diese mit dem Buchstäblichen befasste Autorschaft
liefert ihm die Grundidee seines Romans. Erzählt wird die Fibels auf der Ebene der Romanproduktion selbst. Denn der
Lebensgeschichte Gotthelf Fibels, des angeblichen Verfassers »Autor« hat beim Verfassen der Lebensbeschreibung seines
einer verbreiteten Schulfibel, die dem Roman als Anhang Helden ähnlich wie dieser mit dem widerständigen Schrift-
beigeheftet ist. Nicht nur sein allegorischer Name ordnet den material zu kämpfen. Mühsam muss er seine Informationen
Romanhelden der Schriftlichkeit zu, sondern auch seine Ob- aus verstreuten Makulaturblättern zusammenklauben, deren
session für deren materielle Seite. Fibels Buchstabenliebe gilt materieller Aggregatzustand als »Papierdrache«, »Kaffee-
den Lettern selbst, dem »Genuß des reinen Alphabets«, nicht Düten« oder gar Toilettenpapier in den Kapitelüberschriften
dessen Inhalt. Um eine »gelehrte Feder« zu führen, schafft vermerkt ist. Die Mühsal lohnt sich, bei aller Selbstironie ist
er sich in komischer Verwechslung prächtige Schreibfedern Jean Pauls autoreflexiver Roman eine Liebeserklärung an das
nebst kostbarer Tinte an. Die Lektüre dieses Schriftmonoma- eigene Medium. Denn, so resümiert er in seiner Levana oder
nen sind Makulaturblätter, alte Kalender, Sprachlehren und Erziehlehre, »gesegnet sei, wer die Schrift erfand.«
Register, die Alphabete aller Sprachen lernt er auswendig.
literatur: Schmitz-Emans (1992a/b) − Simon (1992) − Pfotenhauer
Ein Inspirationstraum an seinem Hochzeitstag begründet
(2000) – Wirth (2004).
Fibels Autorschaft als Verfasser des Abc-Buchs, das er in
Supplementierung bio­logischer Zeugung im »Gehirnuterus« sabine schneider
393
394 E.T.A. Hoffmann: Selbstporträt mit
C. F. Kunz und Chr. Pfeuffer – Selbstporträt
mit physiognomischen Erläuterungen

Zeichnung, zwischen 1809 und 1813 Bleistiftzeichnung, Jahreswende 1815/16


Bamberg, Staatsbibl., E.T.A. Hoffmann-Slg., V A 227 Original 1943 zerstört
Radierung von August Hoffmann nach Hoffmanns Zeichnung für die Radierung von J. B. Sonderland nach Hoffmanns Zeichnung für die Hoff-
Hoffmann-Edition: Stuttgart: Brodhag 1839, Supplement Bd. 1 mann-Edition, Stuttgart: Brodhag 1839, Supplement Bd. 3

E.T.A. Hoffmann setzte sich mit den Eigenheiten der Bild- anzutreffende Eigenheit verstärkt den irisierenden Zug der
wahrnehmung nicht nur als Schriftsteller auseinander. Die Darstellung: Der Verlauf der Linie scheint sich vom Blatt
Bildorientierung der Romane und Erzählungen stammt von des Künstlers zu emanzipieren und ein figurales Eigenleben
einem Autor, der auch als bildender Künstler tätig war und jenseits der Alternative von Bild und Text zu führen.
auf diesem Feld eine Reihe beachtlicher Arbeiten hinterließ. Mitunter hatte Hoffmann bei seinen gezeichneten Selbst-
Vieles, vielleicht sogar das Markanteste der Bildproduktion portraits das Modell der literarischen, wenn nicht sogar der
ist verschollen; insbesondere die von Zeitgenossen bezeug- buchstäblichen Beschreibung im Auge. In einem Brustbild,
ten großformatigen Arbeiten, die sich über ganze Wände das um die Jahreswende 1815/16 entstand, beschreibt er sich
erstreckten. Auffällig an den weitaus bekannteren Karika- buchstäblich selbst und hält zugleich ironischen Abstand
turen und Gelegenheits­zeichnungen ist der starke Zug zur von seinen Selbstcharakterisierungen. Die Bleistiftzeichnung
Ausbildung reflexiver Selbstverhältnisse. Häufig handelt es zeigt einen skeptischen Physiognomiker, der das in den vier
sich dabei um Darstellungen mit deutlich porträtähnlichen Bänden der Physiognomische[n] Fragmente zur Beförderung
Zügen, die Hoffmann beim Schreiben oder Zeichnen zeigen. der Menschenkenntniß und Menschenliebe entwickelte Ver-
Ein undatiertes Blatt (1809–1813?) zeigt die Untersuchung fahren des Johann Caspar Lavater (1741–1801) verspottet
des Weinhändlers Carl Friedrich Kunz, des ersten Verlegers und doch nicht vollkommen verwirft. So steht etwa das »l«
Hoffmanns, durch den Medizinal­direktor Christian Pfeu- ein für »Der Backenbart oder übernächtigte Gedanken eines
fer: Auf der rechten Bildseite findet sich ein Selbstporträt Mondsüchtigen«, das »m« zwischen den Augen für »die
Hoffmanns, der dem ärztlichen Prozedere zuschaut. Dass es Mephistophelesmusik oder Rachgier u. Mordlust – Elixiere
sich bei dem medizinischen Vorgang um eine Untersuchung des Teufels«, das »o« für »Das Ohr oder Kreislers Lehrbrief
der Zunge handelte, mochte für den zwischen Sprach- und der weder gehört noch verstanden word« und das »p«, auf
Zeichenkunst nomadisierenden Beobachter von besonderem der Höhe des Bauchnabels, verzeichnet ein lapidares »Und
Interesse gewesen sein. Hoffmann zeichnet mit Blick auf die so weiter«. Hoffmanns gezeichnete Porträts und vor allem
Sprache, hier: auf die Zunge seines ersten Verlegers –, genau die Selbstporträts nähern sich der Physiognomik des sprach-
dies ist die Konstellation, die die Anfänge des Schriftsteller- lichen Zeichens. Stets beziehen sie die charakteristische Figur
daseins Hoffmanns bestimmte und die es erlaubt, dieses Blatt auf die Möglichkeit der Sprache und den Sinn der Schrift.
in einem weiteren, lebensweltlich kontextualisierten Sinne
literatur: Lavater (1968/69 [1775, 1776, 1777, 1778]) – Müller (1973
als Selbstporträt aufzufassen. Eine auch in anderen Blättern
[1925])– Stelzer (1964) – Riemer (1976).

edgar pankow
395
396 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann

Federzeichnung, vor Mitte November 1815


Zuerst publiziert in: Aus Hoffmanns Leben und Nachlass, hg. von dem
Verfasser des Lebens-Abrißes Friedrich Ludwig Zacharias Werners [i. e.
Julius Eduard Hitzig]. 2 Tle. Berlin: Dümmler 1823, hier nach S. 920
(Nr. 2)

Von besonderem Interesse für die Beziehung von Schrift und in der Deutung des Schriftzuges als Bild-Titel, der sich nicht
Bild ist Hoffmanns Federzeichnung zum Sandmann. Der auf einen Referenten im Bildinnenraum, sondern auf das
Sandmann ist eine Erzählung, die das Verhältnis von Sehen Bildganze bezöge. Nichts spräche darüber hinaus dagegen,
und Verblendung ihrerseits durch eine multi-perspektivisch in der Signatur die Unterschrift des Künstlers zu erkennen,
angelegte Textkonstruktion (verschiedene Briefschreiber und und das hieße dann: die Unterschrift desjenigen, der, indem
Erzähler) in Szene setzt. Julius Hitzig, der erste Biograph des er eine Reihe anscheinend gleichberechtigter Perspektiven
Künstlers, veröffentlichte die Zeichnung, »um zu zeigen, wie anbietet, dem Betrachter zugleich auch Sand in die Augen
Hoffmann die Gestalten, die er auftreten ließ, lebendig vor streut. Der Erzähler des Sandmann schildert das Bild-Wer-
sich stehn sah. Er erzählte dem Herausgeber den Inhalt des den des Erzählens in folgender Weise: »Hattest du aber, wie
Sandmanns, den er sich zu schreiben vorgesetzt, und warf, ein kecker Maler, erst mit einigen verwegenen Strichen, den
während des Sprechens, die Szene S. 13 Th. 1 der Nachtstü- Umriß deines innern Bildes hingeworfen, so trugst du mit
cke, auf ein vor ihm liegendes Aktenpapier« (Tl. 1, S. [XVI]). leichter Mühe immer glühender und glühender die Farben
Das Blatt zeigt die Begrüßung des Advokaten Coppelius auf und das lebendige Gewühl mannigfacher Gestalten riß
durch den Vater des kleinen Nathanael; erschrocken verfolgt die Freunde fort und sie sahen, wie du, sich selbst mitten im
der hinter dem Vorhang eines offenen Schranks versteckte Bilde, das aus deinem Gemüt hervorgegangen!« ›Im Bilde
Knabe das Geschehen. Wiederum schildert Hoffmann die sein‹ heißt für Schreiber und Leser, einbegriffen und imaginär
Beobachtung eines Beobachters. Innerhalb des Verlaufs der absorbiert zu sein im Prozess der literarischen Produktion.
Erzählung beschreibt der gewählte Moment der Darstellung
literatur: Hitzig (1823) – Müller (1973 [1925]) – Stadler (1986) – Pankow
den Beginn der Szene, die mit dem kindlichen Phantasma
(2003).
des Augenverlustes endet: »Mir war als würden Menschen­
gesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußli-
che, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer.« edgar pankow

Das Bild ist mit »Der Sandmann« unterzeichnet. Wie die


Erzählung selbst, so ist auch die Unterschrift einer multi-
perspektivischen Lektüre zugänglich. Zum einen mag man
den Schriftzug als Hinweis auf den Titel der 1816 erschienen
Erzählung deuten. Ebenso plausibel ist es, die inscriptio als
Benennung des Advokaten aufzufassen, unter dessen linkem
Fuß sie plaziert ist. Eine andere Möglichkeit der Lektüre läge
397
398 Johann Wolfgang von Goethe: Eigenhändige
Exzerpte aus Diez’ ›Denkwürdigkeiten von
Asien II.‹

27./28. Januar 1816


Goethe-und-Schiller-Archiv Weimar, Fasz. 25, XI, XVI

Bereits die ersten Schriftzeichen von Goethes West-Östli- orientalische Weisheit: »dem Gott erleichtere was er will«
chem Divan sind es, welche in die Fremde ziehen. Entrückt und »Vaterlandsliebe Gehört zum Glauben«. Der Rest des
aus den Wirren der westlichen Welt macht sich Goethes Ge- Blattes ist von wenigen Ausnahmen abgesehen übersät mit
dichtzyklus auf eine Reise in den Osten, an deren Ende sich Namen aus dem östlichen Raum.
die Heimkehr ins Paradies ereignet. Der Okzident findet sich Entlang von Ortschaften und Namen geht zwischen drei
wieder in der morgenländischen Wiege seiner Kultur, von wo Vertikalen arabischen Zeichen und daher nicht ohne klei-
man einst ausging: Befreit von der irdischen Last erwachse- nen Umweg die Reise ins Morgenland. Von den westlichen
nen Daseins; heiter geborgen im Himmel des Orients. Es ist Buchstaben auf der linken Seite und im oberen Drittel des
dies eine Reise auf den Spuren des persischen Dichters Hafis Blattes, die dem Europäer verständlich Informationen über-
(1320–1389), dessen Divan Goethe zu seinem Werk inspi- mitteln, gelangt man im westlichen Lektüremodus zu den
rierte. Auch so ist der Divan west-östlich: als Dialog zweier exotischen gegenläufigen Zügen des Ostens, deren andere
Dichter über die Zeit hinweg, als Dialog zweier Kulturen, Lektürerichtung und deren Unverständlichkeit – Goethe
unterschiedlicher poetischer Formen und Bildreservoirs und selber, wiewohl er Kenntnisse der orientalischen Sprachen
nicht zuletzt verschiedener Schrifttypen – des lateinischen besaß, konzentrierte sich nach eigenen Aussagen im Akt des
Alphabets und der arabischen Schrift. Schönschreibens nicht sonderlich auf die Inhalte – die nackte
Goethe hat sich zeit seines Lebens immer wieder, zum Teil Schönheit des Mediums Schrift wiedererscheinen lässt. Man
sehr intensiv, mit der orientalischen Kultur auseinanderge- erblickt das Muster verschlungener Linien und tritt durch die
setzt. In den Publikationen Heinrich Friedrich von Diez’ fremden Zeichen in eine andere Welt, wo ein von den Wirren
(1751–1817) fand er Gelegenheit, u. a. die arabische Schrift des alltäglichen Gebrauches vernutztes Medium frisch wie
zu studieren. Das vorliegende Exponat stellt Exzerpte und vom ersten Tage erstrahlt; durch die Bewegung der Reise
Schreibübungen Goethes aus Diez’ Denkwürdigkeiten von vermag das Medium wieder zu bewegen. Diese Erfahrung
Asien II dar. Mit schwarzer Tinte hat Goethe in der linken färbt auch auf das Alphabet aus dem Westen zurück. Goethe
Hälfte des Blattes vorwiegend Ortsnamen übertragen. Dort hat sich von seinem West-Östlichen Divan eine Reinschrift
stehen die fremden Schriftzeichen unmittelbar unter den zu privaten Zwecken angefertigt. Jedes Gedicht steht hier auf
ihnen entsprechenden vertrauten lateinischen. Im oberen einem eigenen Blatt, mit großen klaren Schriftzeichen. Noch
Drittel der rechten, breiteren Spalte kann man deutlich die in dieser Reinschrift, so scheint es, blitzt plötzlich – jenseits
lateinisch geschriebenen Namen Istanbul und etwas weiter der Information – die pure Schönheit des Mediums auf.
unten Constantinopel lesen; darunter jeweils die Übertragung
literatur: Diez (1811) – Mommsen (1961, 1988) – Birus (1986, 1992) –
ins arabische Medium. Jedem dieser Städtenamen folgt eine
Goethe (1994).

christian van der steeg


399
400 Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben
eines Taugenichts und das Marmorbild:
Zwei Novellen nebst einem Anhange von
Liedern und Romanzen

Erstausgabe: Berlin: Vereinsbuchhandlung 1826, 278 S., hier S. 73/74

Die Taugenichts-Erzählung ist vielleicht das meist gelesene zurückkehren zu ihr, die ohne ihn nicht mehr sein kann. Was
Werk Joseph von Eichendorffs und zugleich einer der po- der Taugenichts hier liest, das ist das eine. Vielmehr: ›was‹ er
pulärsten Texte schlechthin der so genannten Deutschen liest, das ist bereits das andere, ist, ›wie‹ er liest. Die »Buch-
Romantik. Der Dichter schickt darin einen jungen, hoch- staben«, belebt und unkontrollierbar geworden durch die
gradig sensiblen und musisch veranlagten Müllerssohn auf Kontingenz des Ko-Textes, jener »Sonnenstrahlen« nämlich,
weite Fahrt; auf eine Italienreise, als ein Schweifen in die so wie diese genau im Lesemoment »tanz[.]en«, sie geraten in
Ferne, das allegorisch auch eine Reise ›zu sich selbst‹ wird. Eigenbewegung und bilden Figurationen, dynamische und
Ein Sänger und Dichter, der seiner bornierten Umwelt als instabile Formationen, die nun haargenau jene Umarmungen
bloßer Faulpelz gilt – nicht zu überlesen, selbstverständlich, mimetisch bilden, von denen das »Briefchen« seinem Sinne
eine gewisse ironische Selbstreferenz zum Autor –, rebelliert, nach erst ankündigend spricht, als einem Versprechen auf die
indem er genau dasjenige tut, was man von ihm erwartet: mögliche Zukunft. – Das Lesen als Generator der Bewegung
Nichts, nichts ›Nützliches‹ zumindest. »›Nun‹, sagte ich, von Schrift führt zum produktiven Paradoxon: Je uneindeu-
›wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die tiger die Buchstabengestalt, je unbuchstäblicher die Schrift,
Welt gehen und mein Glück machen.‹« Mit ihrer Vorliebe für desto eindeutiger wird dasjenige, was der Text an seinen
die Ortlosigkeit und ihrem feinen Sinn für die Universalpo- Buchstaben selber zu lesen gibt. – Leben als Zusammen-
esie der Natur gilt die Taugenichtsfigur seit ihrem Auftritt kommen in Bewegung, als erotische Verschlingung dessen,
in der deutschsprachigen Literatur als die geradezu ideal- was als ungelesene Schrift bloßes Nichts-Sagen, reines dar-
typische Verkörperung eichendorffschen Dichtens: Als die stellerisches Nichts-Taugen bliebe. Im Gelesenwerden gibt
Personifikation einer von den Theoriekontaminationen und der Text zu sehen, dass dasjenige, was er sagt, nichts ist, was
dem rigiden ›Kritik‹-Anspruch der Frühromantik sich frei- der Lektüre vorgängig oder ihr enthoben wäre: Dass es ihn
geschrieben habenden, dem einfachen ›Volkslied‹ sich wieder ›gibt‹ als etwas, das im strikten Sinne niemals ›ist‹, sondern
verbindenden spätromantischen Ästhetik des Einfachen. stets neu ›wird‹ – gelesen wird.
Was allerdings Eichendorffs vorgebliche ›Einfalt‹ als tatsäch-
literatur: Adorno (1958).
lich abgrundtiefe Einfaltung dem lesenden Auge bereithält,
offenbart exemplarisch die hier gezeigte Passage: Der ver- daniel müller nielaba

liebte Protagonist der Novelle, auf abenteuerlichen Wegen in


Italien gelandet, erhält und liest ein »Briefchen« einfachsten
Inhaltes: Er wird schmerzlich vermisst, von der Verfasserin
des Schreibens augenscheinlich, und er soll unverzüglich
401
402 Clemens Brentano: Gockel Hinkel Gakeleia.
Mährchen

Erstausgabe: Frankfurt: Schmerber 1838, 346 S., Titelkupfer

Clemens Brentano ist dem Lesepublikum vor allem durch Gleiche bezeichnet – sind doch Gackel und Hinkel nur
die gemeinsam mit Achim von Arnim ab 1805 publizierte weitere Synonyme für’s Federvieh. Aufgrund der paritä-
Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn bekannt. Da tischen Anordnung der Satzstruktur bleiben sich auch bei
der Dichter zu Lebzeiten einer Drucklegung seiner zahl- gegenseitiger Substitution der Wörter diese inhaltlich stets
reichen Schriften eher kritisch gegenüberstand, existieren gleich; eine bloße Wortwiederholung also, die scheinbar
nur wenige, unter seinem vollen Namen und einzig von nichts weiter sagt, als dass sie dasselbe sagt. Jedoch: Zwar
ihm verfasste Veröffentlichungen, so beispielsweise das bedeutet Gakelei primärsemantisch ›Plauderei‹, doch wer
Märchen Gockel Hinkel Gakeleia, dessen Titelkupfer auf dieses so begreift, sitzt einer weiteren Gaukelei auf. Dem
nebenstehender Seite zu sehen ist. Ähnlich wie sich das Text ist vielmehr eine hochgradig autopoetische Artifizia-
›Büblein‹ aus dem das Märchen beschließenden »Tagebuch lität eigen, die weit über Märchen und Kunstmärchen im
der Ahnfrau« auf das Geschriebene nicht verpflichten will (es herkömmlichen Verständnis hinausweist. Die vom Autor
verschwindet, »[…] als habe es sein eignes Dasein aus der Fe- gesetzte Gattungsbezeichnung wird vom Text, der sich als
der geputzt«), tut es der Autor, wie der Untertitel illustriert: Realisation Schlegelscher transzendentalpoetischer Theorien
Der ohne jeglichen Artikel gebrauchte Zusatz »Mährchen, liest, ad absurdum geführt – und zugleich: auch gerade nicht.
wieder erzählt von Clemens Brentano« lässt bereits offen, Schlussendlich ist er damit wieder beim Märchen angelangt,
ob die Gattungsbezeichnung im Singular oder Plural steht. das Novalis in seinen Blüthenstaubfragmenten als die neue
Unentscheidbar also, ob die Geschichte ein Märchen ist oder romantische Kunstform zur Darstellung der Poesie schlecht-
jemand ›Märchen erzählt‹, also die Unwahrheit spricht. Über hin etabliert hatte.
den Erzähler zumindest wird genau dieses einige Seiten spä-
literatur: Lorenczuk (1994) – Schulz (1999) – Brüggemann (2001).
ter berichtet. In mehrfacher Lesart exponiert der Titel dieses
Spiel mit den Worten und Bedeutungen, denn wagt es der
Leser seinerseits, ergibt sich der folgende: ›Gockel Hinkel alexandra domke

Gackeleia von Brentano[, der] wieder Mährchen erzählt.‹


»Wiedererzählt« ist in diesem Kontext nur sekundär als das
Sammeln und Niederschreiben, ähnlich den Grimmschen
Märchen, zu verstehen; primär ist es auf die Kreisbewegung
des Erzählens, der Illustration gleicher Gestaltungsweisen
zu beziehen. Paronomasie, also Wortspiel, in einem ande-
ren Sinn stellt beispielsweise der nun durch die Beifügung
»Gakeleia« ergänzte Stichtitel der früheren Ausgabe dar,
welcher explizit in dreimaliger Repetition das semantisch
403
404 Honoré de Balzac: La Peau de chagrin
(Das Chagrinleder)

La peau symbolique (Die symbolische Haut)


Erstausgabe: Paris: Gosselin-Canal 1831
›Edition Furne‹: La Comédie humaine. Œuvres complètes de M. de Balzac,
chez Furne, Dubochet et Cie, Hetzel et Paulin. vol. 14. Paris 1846

Wie E.T.A. Hoffmann orientiert sich auch Honoré de Balzac jeder Wunscherfüllung kleiner wird und sich selbst wie
(1799–1850) an den graphischen Eigenheiten des Tristram auch das Leben des Wünschenden verkürzt. Eingekerbt in
Shandy. Balzacs erster erfolgreicher Roman La Peau de cha- das Leder ist ein aus arabischen Schriftzeichen bestehender
grin zitiert die geschlängelte Luftlinie, die der von Corporal Text, der diese Eigenschaften zum Ausdruck bringt. Die
Trim geführte Stock beschreibt, als Motto. Die von Balzac Form des Textes ähnelt dem oberen Teil einer Stundenuhr.
gezeichnete Linie verläuft jedoch horizontal, nicht vertikal Der sich nach unten verjüngende Text, der zugleich auf sein
wie bei Sterne; in der von Balzac noch selbst betreuten Erst- eigenes Verlöschen und auf das Verlöschen seines Lesers
ausgabe der Comédie humaine, der Edition Furne, verändert hinausläuft, ist das Emblem der Schrift in Bewegung. Wie in
sich die Linienführung ein weiteres Mal: Sie bietet nun eine einer perspektivischen Überkreuzung sind die Bildlichkeit
spiegelverkehrte Version der Erstausgabe. Wie Sterne scheint der Schrift und die Schriftlichkeit des Bildes in dieser Dar-
es Balzac vor allem auf die Verbindung der geschlängelten stellung aufeinander bezogen. Die arabischen Schriftzeichen
Figur mit dem Verlauf der Erzählung anzukommen. Dass mögen das Ihre dazu beigetragen haben, dass für die meisten
die vom Auf und Ab des »Zauberstabs« (engl.: »wand«) be- französischsprachigen Leser die Schrift allein als Schriftbild
schriebene Linie dem nicht domestizierten Junggesellenleben erkennbar war. Die Fremdheit der Zeichen rückt ihren
zur Rechtfertigung dient, korrespondiert mit der allegorischen Bildcharakter in den Vordergrund. Unter dem Aspekt der
Geschichte des Begehrens, die Balzac in La Peau de chagrin Bildlichkeit unterhalten die arabischen Schriftzeichen eine
in Szene setzt. Eine von Balzac vielleicht verfasste, vielleicht gewisse Ähnlichkeitsbeziehung zur gewundenen Figuration
auch nur überwachte Einführung in den Roman verweist auf des dem Tristram Shandy entlehnten Mottos: Sie erscheinen
»das Leben mit seinen bizarren Ondulationen, mit seinem va- vornehmlich als Arabesken – geschlängelt, vagabundierend
gabundierenden Verlauf und seiner schlangengleichen Allüre, und bizarr onduliert. Das Bild zeigt an, dass der Leser, der
mit seinem unter tausend Metamorphosen immer gegenwärti- die Schrift beim Wort nimmt und ihren Sinn realisiert, auf das
gen Egoismus« (»la vie avec ses ondulations bizarres, avec sa Nichts zusteuert. Das letzte Wort des Chagrinleders – »Soit!«
course vagabonde et son allure serpentine, avec son égoïsme (»So sei es!«) – verzeichnet zugleich den Anfang des Vertrages
toujours présent sous mille métamorphoses«). und die allerletzte Verengung des Handlungsverlaufs, die
Die Darstellung der Schrift als Bild und des Bildes als Schrift Erfüllung der Schrift und das Ende des Leserlebens.
hat Balzac in der titelgebenden Allegorie des Buches – dem
literatur: Chasles (1992 [1831/1833]) – Citron (1992 [1979]) – Castex (1979)
Chagrinleder – miteinander verbunden. Das Leder figuriert
– Duchet (1979) – Weber (1979) – Le Men (1985) – Pankow (2003).
im unmittelbaren Erzählzusammenhang als ein mit Magie
begabtes Ding, das Wünsche zu erfüllen vermag, aber mit edgar pankow
405
406 Honoré de Balzac: La Femme supérieure
(Die überlegene Frau)

Erstausgabe: Paris: Werdet 1838


Manuskript und korrigierte Druckfahnen: Bibliothèque nationale de
France, Paris, N. a. fr. 6901

Für Balzac stellten die für den Druck vorbereitete Hand- Für Balzac war diese Problematik nicht nur in literatur-
schrift und der gedruckte Text lediglich Zwischenetap- theoretischer und ästhetischer Hinsicht von Interesse. Die
pen im kreativen Prozess dar. Verbesserungen, Zusätze, umfangreichen Fahnenkorrekturen verursachten immense
Streichungen hielten die Schrift in Bewegung über ihren Kosten, die vom Verfasser selbst beglichen werden muss-
gedruckten Zustand hinaus. Bei diesem Vorgang handelte ten. Sie trugen dazu bei, dass der ohnehin von Schulden
es sich bei weitem nicht nur um die üblichen Korrekturen geplagte Autor den größten Teil seines Arbeitslebens in der
der ersten Druckfahnen. Balzac verstand die Drucklegung Schuldenfalle verblieb, der er durch das Schreiben entgehen
als Provisorium und nahm bei der Durchsicht der Kor- wollte und die er durch das Korrigieren des Geschriebenen
rekturbögen die Arbeit an der Textgestaltung in einem stets wieder erneuerte. – Balzac machte es sich zur Gewohn-
ungeschmälerten Sinne wieder auf. Der damit einsetzende heit, die verschiedenen Stufen der Textentstehung sorgsam
Revisionsprozess entfaltete eine ganz eigene, bisweilen zu sammeln. Im Jahr 1843 übergab er die Manuskripte und
autodestruktive Dynamik. Die Abbildungen zeigen, dass Korrekturbögen von La Femme supérieure, mitsamt einer
die Überarbeitungen mitunter einen Umfang annehmen Widmung, einem Freund, dem Bildhauer David d’Angers.
konnten, der die Lesbarkeit der zugrunde liegenden Texte
literatur: Meininger (1996 [1977]) – Satiat (1999).
und der Seite insgesamt aufs Äußerste in Mitleidenschaft
zog: Textherstellung und Textzerstörung vollziehen sich
in diesen Passagen in ein und demselben Akt. Korrekturen edgar pankow

überlagern Korrekturen von Korrekturen in einem bis zur


Unkenntlichkeit defigurierten Text: Rettende Konstruk-
tion und rücksichtslose Destruktion des zugleich eigenen
und verfremdeten literarischen Gebildes werden ununter-
scheidbar. Balzac hat die ambivalente Struktur dieses fast
manischen ›work-in-progress‹ durchaus erkannt und sie in
der Erzählung Le Chef-d’œuvre inconnu (Das unbekannte
Meisterwerk) zur Darstellung gebracht. In dieser Geschichte
ist es ein Maler, der sein Meisterwerk aus guten Gründen
über Jahre hinweg revidiert, überarbeitet, korrigiert, bis nur
noch er allein das Werk, seine Freunde und Kollegen aber
lediglich eine »Mauer aus Farbe« erkennen können.
407
408 Gottfried Keller: Berliner Schreibunterlage

April-Mai 1855
Zentralbibliothek Zürich, Gottfried Keller Nachlass, Ms. GK 8b
Federzeichnungen auf dunkelblauem Papier, 55,6 × 66,7 cm

»Betty, Betti, bitte Betti, Betti bitte, bethely, Bettyjoggel, magischem Wünschen und bittrem Verzicht – auf das Malen
Bettioggelein, bittre, bittre schöne süsse Zeit, bittre Kräu- und die Liebe – und mündet in das Fazit »Resignatio ist keine
ter, Bitterlichkeiten…«. Es ist 1855, als Gottfried Keller in schöne Gegend«. Doch die Vergeblichkeit des Wünschens
endlosen Wortgirlanden den Namen Betty auf einer blauen verschafft dem »goldnem Überfluss der Welt« zum Durch-
Schreibunterlage beschwört und mit Zeichnungen umrankt. bruch, jener »poetischen Seligkeit« im Medium der Schrift,
Seit April dieses Jahres schlägt Kellers Herz für die Schwä- die für Keller das Wesen der Dichtung ausmacht. Sie ist das
gerin seines Berliner Verlegers, die schöne Betty Tendering: unverhoffte Geschenk, das seinem Sehnen zuteil wird, dem
»Das ist der Mai Betty« steht auf der Schreibunterlage. Ist Bettys Name auf der Schreibunterlage zu guter Letzt wie eine
dieses Dokument ein Liebesbrief, der nie abgeschickt wurde? zarte Wolke entschwebt. Zusammen mit dem Motivkreis, der
Oder ist es ein Rufen, das insgeheim jemand anderem gilt, ihn umgibt, kehrt dieser Name in verwandelter Form zurück:
wie jenes Liebesgeständnis, das der Grüne Heinrich für Anna als das dichterische Werk Gottfried Kellers. Im Landvogt
schreibt und das auf dem nackten Körper der badenden von Greifensee findet sich dazu eine Anspielung: Für die fünf
Judith landet? Fest steht, dass Schrift und Bild unter dem Frauen seines Lebens, die seine Liebe zurückgewiesen haben,
Einfluss von Kellers Liebe zu Betty auf der Schreibunterlage veranstaltet der Landvogt eine Feier, von der es heißt: »Es
ein lustvolles und zugleich abgründiges Spiel miteinander soll ein schöner Tag für mich sein, ein Tag, wie es sein müsste,
treiben. Eine einzigartige Situation, denn der Dichter und wenn es wirklich einen Monat Mai gäbe, den es bekanntlich
Maler Keller hat in seinen Notiz- und Studienbüchern stets nicht gibt, und es der erste und letzte Mai zugleich wäre.«
gleichzeitig gezeichnet und geschrieben, jedoch die beiden Der erste und letzte Mai zugleich ist aber die Dichtung.
Medien kaum miteinander verbunden. Noch nicht lange ist
literatur: Keller (1948) – Villwock (2000) – Kasper (2007).
es her, dass Keller als Maler gescheitert ist. Vor ihm steht je-
doch die Laufbahn des erfolgreichen Schriftstellers. Fast sein
ganzes dichterisches Werk kommt im Jahr 1855 zustande. monika kasper

Die intensive Produktivität hat ihre Spur in der bewegten


Dichte der Notate auf der Schreibunterlage hinterlassen.
Zweifellos ist die Ballung primär Ausfluss der Liebesnot,
denn Betty erwidert Kellers Gefühle nicht. Das ist verhee-
rend, denn »cette foi ça va pour la vie«, verrät die Schreibun-
terlage. Im Rückblick ist man versucht, diesen Ernst auch
auf Kellers Ringen um eine Synthese seiner Doppelbegabung
zu beziehen. Die Lebenskonstellation steht im Zeichen von
409
410 Adalbert Stifter:
Die Mappe meines Urgroßvaters

Dritte Fassung, 1864


Tschechische Nationalbibliothek Prag, Adalbert-Stifter-Archiv

In Hebbels Verriss des Nachsommer wird Stifter zu jenen Archäologie ergibt den (in der letzten Fassung gestrichenen)
gerechnet, die »den unverrückbaren Markstein«, den Les- Befund: »Nach einer Stunde saß ich schon bis auf die Kniee
sing im Laookon »für alle Zeiten« zwischen Literatur und in Papieren« (Stifter 1998a, S. 12).
Malerei gesetzt habe, missachteten. Stifters Roman stelle Die Beschreibung der aufgefundenen Lebensschriften er-
sogar ein »Äußerstes« dieser Richtung dar: »es fehlt nur zeugt nicht nur den von Hebbel beschriebenen Effekt, sie
noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und produziert auch analoge Mengen an Papieren, die zu lesen
die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung ebenfalls gelernt sein will. Heißt es von der alten »Schrift auf
niederschreibt« (Enzinger 1968, S. 229). Zieht man Stifters dem Pergamente«, sie trug das »Gepräge der Eilfertigkeit«
Lebenswerk Die Mappe meines Urgroßvaters heran, von (Stifter 1998, S. 15), so offenbart erst der Blick auf Stifters
dem vier erheblich abweichende Fassungen existieren, so Manuskripte, wie dies durch die Rasterung und Gitter-Struk-
bekommt dieses negative Urteil eine ganz unpolemische tur der Streichungen, durch notwendig gewordene Beilagen
Evidenz, die für die radikale Modernität von Stifters Schrei- und gestrichene Zusätze produziert wird. Umgekehrt sind
ben spricht. Nur zwei Fassungen, nämlich die noch in die die mit unterschiedlicher Wertung konstatierte Entdrama-
1830er Jahre zurückreichenden ersten Ansätze der Journal- tisierung der Handlung und die epische Retardierung des
fassung (als Fortsetzungsgeschichte 1841/42 publiziert) und Erzählens der letzten Fassungen nur möglich aufgrund eines
die »Studien«-Fassung von 1847 erschienen zu Lebzeiten allein in den Handschriften sichtbar werdenden Schrift-
des Autors. In zwei späten Bearbeitungsschüben 1864 und Furors.
1867 (bis wenige Tage vor seinem Tod) entsteht das diskon- Das Schrift-Konvolut der Mappe ist nicht zuletzt ein em-
tinuierliche Fragment eines seit 1850 erwogenen, auf zwei phatisches Zeugnis dafür, was »Aufschreibung des Lebens«
Teile angelegten sozialen Romans, phasenweise parallel zu heißen könnte.
seinen »Malerarbeiten«, über die Stifter seit 1854 penibel
literatur: Enzinger (1968) – Stifter (1998a/b) – Mayer (2001) – Stifter
Buch führt.
(2005).
Das Blatt aus der dritten Fassung der Mappe zeigt eine von
Streichung und Substitution gehemmte Dynamik; erst in karl wagner

der Handschrift wird ersichtlich, dass die von Hebbel und


anderen kritisierte Ereignislosigkeit ein Resultat größter
Schreib-Anstrengung ist. In direkter Korrespondenz mit
dem dargestellten Auffinden des Lebensbuches des Urgroß-
vaters zeigt sich, wie viel »Plunder« anfällt und auch nötig ist,
um ein Leben erinnern zu können. Die betriebene familiäre
411
412 Lewis Carroll: Alice’s Adventures
in Wonderland

London: Macmillan & Co 1866, 192 S., hier S. 37

Das Kinderbuch soll auf eine Geschichte zurückgehen, die Rezeptionsmöglichkeiten des Gleichklangs zu vereinen: Der
der unter dem Pseudonym Lewis Carroll publizierende Ma- graphisch dargestellte Mausschwanz (»Tail«) ist zugleich die
thematikdozent, Diakon und leidenschaftliche Photograph Geschichte (»Tale«) bzw. die Geschichte (»Tale«) steht in
Charles Lutwidge Dodgson den Liddell-Töchtern Alice, Form eines Mausschwanzes (»Tail«) da, so dass aufgrund der
Lorina und Edith auf einer Bootsfahrt erzählt habe. Mit akustischen Ununterscheidbarkeit die Geschichte und der
diesem phantastischen Roman begann nicht nur Carrolls Mausschwanz, also Inhalt und mediale Darstellungsform,
schriftstellerischer Erfolg, sondern auch eine neue Phase der untrennbar zusammenfallen. Diese Unbestimmbarkeit der
englischen Literatur. In diesem so genannten ›Golden Age of richtigen Rezeptionsweise wird weiter hervorgehoben, wenn
English Children’s Literature‹ hält das auf E.T.A. Hoffmanns die unaufmerksame Alice nachfragt, ob die Maus mit ihrer
Nussknacker-Märchen zurückgehende kinderliterarische Geschichte (»Tale«) bis zur fünften Biegung (»fifth bend«)
Erzählmodell Einzug in die englische Kinderliteratur und des Schwanzes (»Tail«) gelangt sei, die poetische Form der
hat seine Aktualität bis heute nicht verloren. Anknüp- Geschichte also von den Mausschwanzbiegungen abhängig
fungspunkte sind zudem die Tradition des Kunstmärchens gemacht wird und damit über sich selbst als poetische Dar-
sowie ältere Kinderbücher mit Nonsens-Elementen – eine stellung hinausreicht, wie es der Text in seiner graphischen
als ur-englische Literaturform geltende ›ästhetische‹ Aus- Ausgestaltung zu lesen gibt.
drucksweise des englischen Humors. Entsprechend ist das
literatur: Carroll (1965) – Ernst (1992) – Kümmerling-Meibauer
Verhalten der Romanfiguren oft unsinnig, und es gesche-
(1999) – O’Sullivan (2000).
hen groteske Verwandlungen. Dass der Roman auch von
Erwachsenen sehr gerne gelesen wird, liegt nicht zuletzt an christine du bois de dunilac

den komplexen und geistreichen Sprachspielen sowie seiner


psychologischen Tiefe. Ein solches Spiel mit Sprache und
Sinn findet sich denn auch im dritten Kapitel: The Mouse’s
Tale wird dort als emblematisches Mouse’s Tail-Gedicht vi-
sualisiert. Diese Darstellungsweise illustriert das auf der Ho-
mophonie von »Tale« und »Tail« beruhende Missverständnis
zwischen der erzählenden Maus und der rezipierenden Alice.
Carroll schließt mit der Visualisierung dieses Mouse’s-Tail/
Tale an die bereits seit der Antike verwendete Technik des
Figurengedichts an, bei der dem Gedicht aufgrund seiner
Anordnung eine weitere, visuelle Bedeutungskomponente
zukommt. Carroll nutzt diese Darstellungsweise, um beide
413
414 Wilhelm Busch: Wie man Napoliums macht

Erstausgabe in: Deutsche Laterne, Jg. 1, Probe-Nummer 1, Frankfurt/M.


1870, S. 1

Wilhelm Busch gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern vorzuführen. Dies geschieht denn auch vorwiegend mit de-
des 19. Jahrhunderts und wurde mit seinen Bildergeschich- iktischen Pronomina (›dies‹, ›das‹) oder Adverbien (›so‹), wo-
ten weltberühmt; er bleibt aber dennoch in der deutschen durch Text und Bild korrelieren und nicht mehr voneinander
Literaturgeschichte wenig beachtet. Das mag auch daran zu trennen sind. Mit dem siegreichen Napoleonsgesicht bei
liegen, dass er mit seiner konsequenten Synthese von Text Austerlitz und dem niedergeschlagenen bei Waterloo wird
und Bild weder von den Literaturwissenschaftlern noch also nicht nur eine Bildergeschichte entworfen, sondern die
von den Kunstkritikern richtig ernst genommen wurde und Korrelation von Text und Bild zugleich vorgeführt, so dass
er selbst mit seinem Schaffen den krisenhaften Zerfall der die mit der Feder geschriebenen und gezeichneten Linien
literarischen Kultur der Vergangenheit eher beschleunigte sowohl sich selbst als auch ihre Medialität ausstellen.
als aufhielt. Aufgrund des im 19. Jahrhundert immer stärker Anders muss die zweite Napoleonsdarstellung verstanden
werdenden Zweifels an der Sprache wurden Bücher mit werden, bei der nicht mehr vom Medium selbst ausgegan-
Bildern und später mit Photographien illustriert, um das gen wird, sondern bereits bildlich dargestelltes Gemüse
kulturelle Bedürfnis, die Welt in ihrer Sichtbarkeit zu zeigen, zur Darstellung verwendet wird. Auch diese Version der
abzudecken. Busch gelingt es, in seinen Bildergeschichten die Veranschaulichung von Napoleon ist poetologisch zu lesen
Ängste und Konflikte des Kleinbürgertums seiner Zeit auf- und zwar insofern, als Buschs Bildergeschichten ihre Komik
zugreifen, sichtbar zu machen und den Handlungen mittels gerade aus der Subjektwerdung der Dinge bzw. aus dem
konsequenter Verkleinerung oder ästhetischer Reduktion Eigenleben der Dingwelt ziehen, gerade so, wie der Kürbis
das Bedrohliche zu nehmen. mit Hilfe von Gurke und Radieschen zu Napoleon wird
Die Text-Bild-Kombinationen in Buschs Werk sind vielfältig, und damit zu einem ›Subjekt‹, welches das Bürgertum des
bilden aber immer eine untrennbare Einheit, so dass sich die 19. Jahrhunderts beschäftigte.
eigentliche Wirkung der Geschichten nur in der Korrelation
literatur: Ueding (1977 und 2007) – Ruby (1998).
von Text und Bild entfaltet. Die Bildergeschichte Wie man
Napoliums macht veranschaulicht nicht nur Buschs Schaffen,
sondern führt zugleich das Wechselspiel zwischen Text und christine du bois de dunilac

Bild an sich selbst vor. Mit dem ersten Bild und der Auffor-
derung »Nimm Feder und Tintenfass!« wird direkt auf das
Medium und damit auf das Gemachtsein dieser Bilderge-
schichte verwiesen: Feder und Tinte sind notwendig, um die
Linien wie vorgeführt zeichnen zu können. Es braucht aber
auch den Text, die Schriftlinien also, die wiederum erst mit
Tinte und Feder zustande kommen, um die Bilder adäquat
415
416 Étienne-Jules Marey: Sphygmograph

1860/70, erhaltenes Exemplar im Musée J. E. Marey in Beaune

Der Sphygmograph oder Puls(wellen)schreiber ist ein durch ein senkrecht fixiertes Metallstück ausgestattet, das die
Apparat, der das Schlagen des Herzens als Kurve les- und Bewegungen durch Kontakt auf einen Schreibarm übertrug.
messbar macht. Der erste, dank einfacher Handhabbarkeit Dieser war so montiert, daß die Kontaktstelle nahe an der
europaweit eingesetzte Sphygmograph (240 Gramm leicht) Drehachse lag – mit der Folge, dass das mit einem Stift be-
wurde vom französischen Physiologen Étienne-Jules Marey währte ferne Ende die kaum merklichen Bewegungen stark
(1830–1904) ersonnen und von einem gewissen Mathieu, vergrößerte. Und unten am Stift bewegte sich mit der Gleich-
einem geschickten Mechaniker, konstruiert; der Antrag auf mäßigkeit eines Uhrwerks ein auf einen kleinen Wagen fixier-
seine Patentierung erfolgte am 31. Dezember 1860 um 15 tes Papier vorbei. Der auf und ab schwebende Schreibarm
Uhr 58. hinterließ damit seine Bewegungen in Gestalt weißer Kurven
Das Herz ist, ganz unmetaphorisch, eine muskelgetriebene auf berußtem Papier oder, nach einem verwandten Verfahren,
Pumpe, die Blut von sich weg in fast alle Körperteile drängt als tintenschwarze Kurven auf weißem Papier. Doch so oder
und es von dort zu sich zurück holt. Lange vor der Geburt anders – die Einschreibungen waren letztlich nichts anderes
gibt es sich zu bemerken; es beendet das Leben mit dem als die analog über viele mechanische Übertragungskontakte
letzten Pulsschlag. Deshalb konnte William Harvey (1578– gelegte Spur des Herzlebens in Echtzeit.
1657) es einst als primum movens und als ultimum moriens So hatte der Sphygmograph den pulsertastenden Menschen
bezeichnen – als den allerersten Motor und als das zuletzt ersetzt. Das momentane, flüchtige, vergängliche Empfinden
Sterbende. Leben und Bewegung scheinen, physiologisch des Pulses in den Fingerkuppen war in visuelle, vermeßbare,
betrachtet, austauschbar, fast eins zu sein. Wer die Bewegung unsterbliche Schrift umgesetzt worden. Die Herztätigkeit
der Herzens erfasst, erfasst beinahe schon das Leben. wurde nicht mehr in der Unmittelbarkeit des berührenden
Mareys Sphygmograph revolutionierte die Herzkenntnis. und des berührten Organismus, sondern auf Papierstreifen
War der Puls zuvor an der Innenseite des Handgelenks von scharfsichtigen Blicken beobachtet. Deshalb können
ertastet und aufgrund fein anklopfender Empfindungen wir noch heute sehen, wie das Herz längst Verstorbener
festgestellt worden, übernahm nun der Apparat die Rolle des dereinst schlug.
Fingerspitzengefühls, um es in Kurven, gleichsam in dauer-
literatur: Marey (1860) – Marey (1878).
haft stillgestellte »Herzschriftzeichen«, zu transformieren.
Und das kam so zustande:
Ein mit der Innenseite des Handgelenks in aufliegende alexandre métraux

Berührung gebrachter, lamellenartiger, elastischer, am Puls-


wellenschreiber angebrachter Hebel wurde unter der Ein-
wirkung der noch so kleinen, im Pumpvorgang des Herzens
verursachten Druckveränderungen von den unter der Haut
liegenden Blutgefäßen auf und ab bewegt. Dieser Hebel war
417

Die Komponenten des Apparats sind mit dem Gestell B fest verbun- Welle auf das Papier ein, das auf dem Wagen G' fixiert ist. Der Wagen
den. Der federnde Schreibarm A wird in a mit dem Fühlpunkt an der G' wird in Richtung V durch ein mit der Konstanz eines Uhrwerks
Innenseite des Handgelenks in Berührung gebracht. Die im Fühlpunkt laufenden Motor E bewegt. Die Stellschraube links von V dient zur
entstehenden Druckveränderungen werden über den Hebel d an den richtigen Einstellung des Schreibarms; die Stellschraube b dient zur
Schreibarm (schraffiert hinter G abgebildet) geleitet. Die vom Schreibarm Austarierung des Drucks, den der Sensor A auf den Fühlpunkt in a
ausgeführten Auf-und-Ab-Bewegungen zeichnen sich in Gestalt einer ausübt.
418 Friedrich Nietzsche: Schreibmaschinentexte

Brief von Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck in Basel (Typoskript


32); Genua, 8. März 1882
Handschriften-Abteilung der Universitätsbibliothek Basel, Nachlass
Franz Overbeck 248
20,5 × 13 cm

Den Schlüssel zu einem »Fall von Identität« (1891) bildet insgesamt 33’610 Anschlägen rund drei und ein Viertel Mal
Sherlock Holmes’ Bemerkung, wie wundersam es sei, daß durchlaufen hat: Daraus errechnet sich unter Berücksichtigung
eine Schreibmaschine durch ihre Gebrauchsspuren genauso- des Übungseffektes eine Schreibgeschwindigkeit zwischen
viel Individualität besitze wie eine menschliche Handschrift. anfänglich 15 bis schließlich gut 100 Anschlägen pro Minute.
Tatsächlich lassen sich im Zusammenspiel von Mensch, Ma- Bei der nachweislichen täglichen Schreibzeit von einer ›guten
schine und Sprache, Geste, Technik und Ausdruckskraft keine Viertelstunde‹ lassen sich alle 57 erhaltenen Typoskripte,
anderen Szenen von Nietzsches Schreiben genauer datieren die durch Nietzsches vergleichsweise schwache Anschlags-
und eindringlicher vergegenwärtigen als das Tippen auf der kraft und die mechanische Abnützung seiner Schreibkugel
sogenannten ›Schreibkugel‹ von Hans Rasmus Johan Malling gezeichnet sind, chronologisch ordnen und den einzelnen
Hansen (1835–1890), die der erste »mechanisierte Philosoph« Schreibtagen zuweisen. Das im Brief an Franz Overbeck
(Kittler) zwischen dem 11. Februar und dem 24. März 1882 vom 8. März 1882, in dem die Umlaute wie in »FINGER­
in Genua mit wenigen, durch Reparaturen und eine Reise UEBUNG« noch ausgeschrieben sind, unmittelbar bevor-
nach Monaco bedingten Unterbrechungen an insgesamt 37 stehende Ereignis ist die durch den Zufall eines Vertippers
Tagen benützt hat. Im Gegensatz zu Friedrich Dürrenmatt, geschenkte Entdeckung der Hochpunkte am folgenden Tag,
der nach seinem Herzinfarkt 1969 vom Arzt zur Abstinenz die Nietzsche danach nicht mehr von Hand nachtragen, son-
von der Schreibmaschine angehalten worden ist und dessen dern gezielt setzen wird. Die Fama von Nietzsches Benützung
Sekretärinnen jedes nächtliche Manuskript beim Abtippen einer Schreibmaschine hat wohl Nietzsches unwillkommener
am nächsten Tag auf der Rückseite akribisch datiert haben, ›Apostel‹ Bernhard Förster in das Berliner Tageblatt getragen.
erfordern die Indizien im Fall von Friedrich Nietzsche Die kläglich gescheiterten Pläne des Antisemiten, nach der
allerdings indirekte Schlüsse, also Kriminalistik oder ›Ma- Heirat von Nietzsches Schwester Elisabeth in Paraguay auf
schinenschriftenphilologie‹, wie der forensische Schriftsach- der Grundlage des Holzhandels ein der Reinheit deutschen
verständige Peter Frensel und der wissenschaftshistorisch Wesens verpflichtetes ›Nueva Germania‹ zu errichten, sollte
geschulte Literaturwissenschaftler Christoph Hoffmann diese Nietzsche als »Försterei« verspotten. Die Lust am Wortspiel
Disziplin genannt haben. Schrift kommt hier nicht zuletzt im aber haben die zur Knappheit anhaltenden Begleitumstände
Transport des 3,5 Meter langen, 25 Milimeter breiten und 0,16 des Schreibens auf der Malling Hansen und der Eigenwille
Millimeter dicken anilinblaugetränkten Baumwollfarbbandes dieser Maschine in ihm geweckt.
in Bewegung, das sich im Original erhalten hat und das Nietz-
literatur: Kittler (1985) – Frensel/Hoffmann (1998) – Kammer (2000) –
sche, wie sein Maschinenschriftenphilologe und Restaurator
Nietzsche (2002) – Eberwein (2005).
seiner Schreibkugel Dieter Eberwein schlüssig nachweist, mit
martin stingelin
419
420 Bram Stoker: Dracula

Erstausgabe: Westminster [London]: Constable & Co. 1897, 390 S., hier
S. 223/224
Handschriftliche Notizen aus der Entstehungsphase: »An early chapter
outline for Dracula«; »A calender of events in the year 1893«; zwischen
1890 und 1896; Rosenbach Museum & Library, Philadelphia

Stokers Vampirroman ist ein Schwellentext für die mediale der schon eingangs Jonathans Schreibzeug konfisziert hat,
Formierung der Moderne. Er besitzt keine souveräne Erzähl­ Walze und Typoskript zerstört, geht der Schlag ins Leere,
instanz, besteht vielmehr aus verschiedenen Dokumenten ist doch eine Kopie im Tresor vorhanden. Umgekehrt aber
von insgesamt 17 Urhebern. Anfangs dominieren noch tra- müssen die Vampirjäger, auch wenn sie mittels Hypnose
ditionelle Formen des Tagebuchs und des Briefes. Im Laufe und Telepathie den Fluchtweg verfol­gen, am Ende auf tra-
des Textes treten Telegramme, Memoranden, Zeitungsartikel, ditionelle Fortbewegungsmittel und Waffen zurückgreifen,
Notizen, ein Report und ein Logbuch hinzu. Graf Dracula um den Grafen zur Strecke zu bringen. Der Text nährt die
selbst bedient sich, um sich in London niederzulassen, der Ahnung, die alten Medien des Heils (Rosenkranz, Hostie)
Karten, Briefe und Rechtstitel. Seine Opfer und Gegner könnten nach wie vor am besten geeignet sein, die Gegen-
wiederum entfalten in dem Maße, in dem sie der drohenden wart vor der in Dracula verkör­perten Vergangenheit zu
Gefahr innewerden, eine exzessive Aufzeichnungstätigkeit. bewahren. Zugleich schürt er die Verheißung, die neuen
Für den jungen Anwalt Jonathan Harker, seine journalistisch Medien der Kommunikation wüssten auf eigene Weise das
ambitionierte Braut Mina, den Irrenarzt Dr. Seward und den Unheimliche sowohl zu bannen wie freizusetzen. In Jona-
Kenner des Arkanen Dr. Van Helsing wird das Festhalten thans Schlussnotiz heißt es, kaum ein authentisches Zeugnis
von Ereignissen und Empfindun­gen zum Mittel der Selbst- der ungeheuerlichen Ereig­nisse sei vorhanden: »nothing but
vergewisserung angesichts eines unheimlichen Anderen und a mass of type-writing, except the later note-books of Mina
der im Selbst eingeschlossenen Abgründe. Dabei nutzen and Seward and myself, and Van Helsing’s memorandum«
sie neue stenographische und phonogra­phische Techniken – jene Schriften, die nur die Schlussphase der Jagd doku-
ebenso wie Schreibmaschinen, auf denen Mina die Texte ins mentieren. Was bleibt, ist somit der vorliegende Text, der als
Reine tippt – mit mehreren Durchschlägen, so dass jeder der paradoxes Dokument seiner eigenen Entstehung erscheint.
Vampirkämpfer für das Finale ein eigenes Skript besitzt. Das Oszillierend zwischen den alten und den neuen Praktiken
ist deshalb wichtig, weil der Kampf gegen Dracula auch ein der Schrift produziert er weniger ein gesichertes Wissen als
Kampf um die Mittel ist, mit denen der Vampirismus in seiner unerhörte Ausbreitungsmöglichkeiten – des selbst schon auf
Ausbreitung gefördert oder gebremst werden kann. Gegen Zirkulationen basierenden vampirischen Stoffs.
den ansteckenden Biss und den gefährlichen Blutverlust, die
literatur: Kittler (1982) – Wicke (1992) – Winthrop-Young (1994) –
Lebende in Untote verwandeln, hilft nach der Logik des Tex-
Fleissner (2000) – Lubrich (2005).
tes nur eine Bekämpfung der Ursachen: durch Verwandlung
der vampi­rischen Orte in Nicht-Orte und Sammlung des in christian kiening

Medien gespeicherten vampirischen Wissens. Als der Graf,


421
422 Stéphane Mallarmé:
Un coup de dés jamais n’abolira le hasard

Erstausgabe: Cosmopolis, 4. Mai 1897, S. 425–427

Dies Gedicht (es ist zwischen Oktober 1896 und Ende der Konzeption des späten Mallarmé gab es das Alphabet,
Februar/Anfang März 1897 entstanden) kann man zugleich den Vers, und dazwischen nichts. Der Vers war somit ›das‹
oder wechselweise als Text, Bild, szenische Darstellung Maß der dichterischen Sprache schlechthin – einer Sprache,
und Partitur lesen. Denn Bedeutungsfunktionen sind sei- die jenseits der überlieferten Gattungen nicht nur in gra-
nem Erscheinungsbild zugedacht worden: Das Format der phischen, sondern auch in melodischen, rhythmischen und
Doppelseite, die Verteilung der typographischen Elemente syntaktischen Figurationen sich neu erfand.
auf der Fläche, Größe und Aussehen der Buchstaben sind Der rätselhafte Titel ist beides: Name des Gedichts und
Teil der poetischen Aussage, oder umgekehrt: was einem die thematischer Grundvers, dessen Einzelteile gleichsam im
Schriftzeichen mitteilen, bestimmt sich auch durch die weiße Vordergrund einer Sprachszene an verschiedenen Stellen
Stille um sie herum. in Erscheinung treten. Um diesen Vers herum inszeniert
Veröffentlicht wurde das Gedicht am 4. Mai 1897 in der das Gedicht in der Gesamtlänge der Doppelseiten ein wie-
Zeitschrift Cosmopolis. Aufgrund drucktechnischer Wider- derholt im graduellen Ab und (beim Umblättern sichtbar
setzlichkeiten erschien es aber nicht in der von Mallarmé werdenden) schlagartigen Auf verlaufendes, vielstimmiges,
gewollten Gestalt. Statt in sanfter, nach rechts abfallender buchstäblich dargestelltes Ineinander von Versen. Den Mit-
Neigung ungefähr auf der Diagonale ›zweier‹ Seiten befanden telteil bildet eine kursiv gesetzte Parenthese, so, als seien die
sich die Zeilenumbrüche eingepfercht auf jeweils nur ›einer‹ anderen Schriftfiguren für eine Weile aus der Sprachszene
Seite. Das Textbild war zu steil und der weiße Hintergrund um ausgeschlossen. Und das Gedicht ohne Satzzeichen endet
seine Hälfte gebracht. Was Wunder, dass Mallarmé tags darauf ohne Satzzeichen – es legt nicht fest, ob es an seinen Anfang
an der Hervorbringung des Gedichts in jener Urarchitektur, zurückführt, um eine in sich geschlossene Schlaufe zu legen,
die ihm detailliert vor Augen schwebte, weiterarbeitete. Doch oder hinter einem Vorhang des Schweigens verschwindet.
auch dieser zweite Anlauf kam zum Abbruch – Mallarmé starb
literatur: Mallarmé (1914) – Murat (2005).
am 9. September 1898. 1914 übernahm ein gewisser Doktor
Bonniot die Federführung und erstellte jene posthume Lesart
ohne Seitenzahlen, die der Verlag Gallimard im selben Jahr alexandre métraux

herausbrachte (und die seitdem nachgedruckt wird).


Der Fremdartigkeit dieses Texts, in dem fast nichts anderes
geschieht als die Materialisierung der poetischen Sprache
durch sich selbst, war sich Mallarmé bewußt. Deshalb bot
er mit einleitenden Bemerkungen eine Lesehilfe an.
Das Textbild entspricht nur in Annäherung, der Textverlauf
dagegen ohne Zweifel den Vorstellungen seines Urhebers. In
423
424 Guillaume Apollinaire: Lettre-Océan

Erstausgabe: Les soirées de Paris 25 (15. Juni 1914), S. 326–327, hier


S. 326

Wellen (Ondes) – so lautet der Untertitel des ersten Teils lose Kommunikation aber in einem anderen raumzeitlichen
der Gedichtsammlung Calligrammes, in die Lettre-Océan Referenzsystem, das die transozeanische Kommunikation
1918 nach der Erstpublikation im Juni 1914 aufgenommen überlagert: Hierbei werden sowohl der Sender als auch der
wird; Wellen erschienen als Piktogramm auch gleich unter Empfänger als Ansichten des Eiffelturms lesbar (vgl. »sur la
dem Titel des Gedichts. Das Oszillieren zwischen symbo- rive gauche devant le pont d’Iena« im Zentrum des linken
lischer und ikonischer Zeichenhaftigkeit ist typisch für die Kreises korrespondierend mit »haute de trois cent mètres«
traditionsreiche, von Apollinaire mit großer Wirkung auf im Zentrum des nicht abgebildeten rechten Kreises), der als
die Avantgarden wiederbelebten Bild-Dichtung. Allerdings Telegraphenstation und erster Radiosender Frankreichs zum
verweisen die Wellen auf eine medienhistorische Zäsur, die Emblem drahtloser Signalübertragung im frühen 20. Jahr-
über die Spannung zwischen Bild und Schrift hinausreicht: hundert wird.
Sie evozieren – neben dem Ozean als physischem Raum – vor Der Eiffelturm wird somit zum technischen Versprechen
allem den technischen Raum der drahtlosen Telekommuni- auf Einlösung der Apollinaireschen Poetik (vgl. Apollinaire
kation: Deutlich wird dies im Gedicht durch die Abkürzung 1914, S. 176), nach der die Aufgabe des Dichters darin be-
»tsf« (»télégraphie sans fil«), die in ihrer hervorgehobenen stünde, den »lyrisme ambiant«, d. h. die lyrische Stimmung
Typengröße die räumliche Grenzlinie zwischen der rechten der Umgebung einzufangen: Empfangen wird dabei neben
und der linken Seite des Kalligramms (hier nur die linke Seite Funksignalen, die alphabetische Schriftzeichen kodieren,
gezeigt) bildet und damit gleichzeitig auf die verbindende, auch bedeutungsloses ›Rauschen‹, also z .B. das Klingeln ei-
grenzüberschreitende Funktion des Übertragungsmediums nes Busses, die Kratzgeräusche eines Grammophons oder das
verweist. Knarzen der Schuhe des Dichters. Apollinaires Lettre-Océan
Von hier aus wird eine mögliche Kommunikationssituation ist auf der Suche nach einer Aufzeichnungsform, die jenseits
in Lettre-Océan deutlich: Der autobiographische Sprecher des Symbolischen das sirenenartig lockende Rauschen des
des Gedichts grüßt seinen Bruder Albert in Mexiko, und es Realen inszeniert. Allerdings wäre dieses Akustisch-Reale
scheint sich eine drahtlose Kommunikation zwischen zwei nicht so prägnant wahrnehmbar, wenn es nicht typogra-
als Funktürmen dargestellten Sendern und Empfängern phisch als Kippfigur zwischen der alphabetischen Schrift und
zu entwickeln, in deren Zuge Guillaume von Albert Neu- der Ikonizität des Bildes in Erscheinung treten würde.
igkeiten von dessen Mexiko-Aufenthalt erfährt. Doch ist
literatur: Apollinaire (1914) – Longree (1985) – Bohn (1986) – Sacks-
die drahtlose Verbindung über den Atlantik 1914 de facto
Galey (1988) – Daniels (2002).
noch nicht realisiert und muss durch viel langsamere Kom-
munikationsformen wie zum Beispiel den Postverkehr per jörg dünne

Schiff ersetzt werden (vgl. den Verweis auf Postkarten und


Briefstempel links oben). Tatsächlich möglich ist die draht-
425
426 Adolf Wölfli: Dinamo=Maschine und
Trieb=Riemen

1910, in: Von der Wiege bis zum Graab, Heft N°. 4, S. 111
Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Inv. Nr. A9243

»Höhre lieber Leser: Ich Adolf der Jüngste von meinen Däh het ja bikantlich nüt, als im Höchsta Fall d’r Grind voll
lebenden Geschwistern, ich will Dich noch in Verhältnisse, Lüüs« (Heft N°. 3, S. 231). »Ich bin ein Pappier=Arbeiter,
Schiksaale, Begebenheitten, Reisen, Kultuhren und Ent- allerersten Ranges und, kann Dasselbe, sehr guht, gebrau-
wicklungen einweihen, soh daß Dihr bei Gott Die Hahre zu chen«, bedankt er sich denn auch am 5. November 1929 bei
Beerge steh’n«, so hebt Adolf Wölflis Lebensbeschreibung Emma Beuler, indem er gleichzeitig die dokumentarische
Von der Wiege bis zum Graab. Oder, Durch arbeiten und Materialität seines Lebensprojektes akzentuiert. So versteht
schwitzen, leiden, und Drangsal bettend zum Fluch zum er selbst die Bewegtheit seiner um Blei- und Farbstiftzeich-
wiederholten Male an (Heft N°. 1, S. 235–236). Zu den nungen geschwungenen Schrift, die als ornamentales Mo-
Verhältnissen und Entwicklungen des nervösen Zeitalters, ment mißverstanden und psychologi(sti)sch als Ausdruck
in die Adolf Wölfli seine Leser einweiht, zählen die Arkana von horror vacui gedeutet worden ist, als typographisches
der Industrialisierung im Verkehrs- und Nachrichtenwesen Experiment, wie es zur selben Zeit etwa auch im Kubismus,
im Allgemeinen, auf dem Gebiet der Schriftkultur im Be- Expressionismus, Futurismus oder Dadaismus zum Aus-
sonderen. Der ausdrücklichen ›Zerrüttung‹ der »Gehöhr- druck kommt. In Wölflis Augen wird die Moderne, dieser
nerven« durch das »Pfeiffen Zischen, schreien und rollen »Ohrt der unbezwinglichen, riesenhaften Strebsamkeit«
der beiden West=Bahnhööfe Madrid’s« (Heft N°. 1, S. 294) (Heft N°. 1, S. [14]), ebenso von Dynamomaschinen wie
steht die Sensibilisierung für Fragen der »Innvormattion« von Rotationspressen angetrieben.
(Heft N°. 9, S. 90) gegenüber, die bei Wölfli immer eine
literatur: Morgenthaler (1921) – Wölfli (1985) – Wölfli (1991) – Stingelin
Frage der ›Menschenfassungen‹ sind; es geht ihm um »in
(1993) – Kammer (2005).
fliegender Informattion befintliche Menschen« (Heft N°. 1,
S. [7]). Wie Franz Kafka hält sich deshalb auch Adolf Wölfli martin stingelin

als moderner Autor vornehmlich an den Begleitumständen


des Schreibens, daß heißt an seiner Körperlichkeit, seiner
Instrumentalität und seiner Sprachlichkeit auf, die er uner-
müdlich thematisiert, problematisiert und reflektiert: »Das
Lied’r=Thäxt=Dichta, ist eigatlich a so n a Sach, wie’s ist:
Es brucht v’rdammt=Chäiba=viel Papier, Bleistift u. Zitt.
D’rbiih z’rheit ma fast d’r Gring, und am Änd we ma glaubt,
es gäb a schöna Lohn d’rführ: So het ma doch numa d’r Schua
am Arsch, mit d’r allfälliga Süeßigkeit vo Sitta sin’r Mitmen-
scha: Mach Dich zum Tüüf’l, Du v’rwägana Chäib: Und
427
428 Robert Wiene: Das Cabinet des Dr. Caligari

Decla Film-Gesellschaft, Uraufführung: 26. 2. 1920 Berlin, Marmorhaus


Viragiert, 1492 m

Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari, einer der be- Somnambulen, die er enthusiastisch begrüßt hat, stürzt der
rühmtesten und einflussreichsten Stummfilme der Weimarer Psychiater mit dem vor Begeisterung halb zerfledderten Buch
Zeit, Musterbeispiel des expressionistischen Kinos, Vorbild in der Hand in den Park der Anstalt. Dort wird er – ekstatisch
zahlreicher Hollywoodproduktionen und des französischen tanzend, delirierend – immer wieder von dem leuchtschrift-
›Caligarisme‹, fasziniert nicht nur durch das avantgardistische artig eingeblendeten, taumelnden Satz »Du musst Caligari
Dekor, die verzerrten architektonischen Perspektiven, das werden!« verfolgt und gleichsam hypnotisiert. Der Film
»Chaos gebrochener Formen« und den »Zauber des Lichts« scheint auf der Schwelle zwischen Wahn und Wirklichkeit,
(Kurtz). Der Film besticht auch durch sein subtiles Vexierspiel Schrift und Bild, Aufzeichnung und Handlung zu balancieren
von Realität und Irrealität, die paradoxe Verschränkung von – wobei der filmische Raum sich als Einschreibefläche für
Handlung und Rahmen. Anders als es Siegfried Kracauers die Schrift erweist und die Schrift zugleich als bewegliches
einflußreiche ideologiekritische Deutung aus From Caligari Element den filmischen Raum durchdringt: eine Kippfigur,
to Hitler suggerierte, lässt sich, der neueren Forschung zu- in der der Film nicht zuletzt auch seine eigene Genese aus der
folge, nicht definitiv klären, ob die Taten des Somnambulen Schriftkultur, der Welt Hoffmanns und Poes, zu reflektieren
Cesare, der, hypnotisiert von einem Irrenhausdirektor namens und sie performativ hinter sich zu lassen scheint.
Dr. Caligari, in einer norddeutschen Kleinstadt mehrere
literatur: Budd (1990) – Scheunemann (2003) – Beil (2005) – Kiening
Morde begeht und eine junge Frau namens Jane entführt,
(2005) – Kurtz (2007).
dem Gehirn eines Geisteskranken entspringen und also Illu-
sion sind – oder ob der Irrenhausdirektor als der eigentlich ulrich johannes beil

Verrückte angesehen werden muss und der Internierte als


derjenige, der die Wahrheit spricht. Buch und Schrift beglei-
ten die Handlung des Films von Anfang an: So kommen der
Pro­tagonist Francis und einige Ärzte dem dunklen Treiben
des Dr. Caligari durch einen Sammelband über Somnambulis-
mus von 1726 auf die Spur, den sie in seinem Arbeitszimmer
entdecken; sie erfahren zudem aus dem eben dort aufgefun-
denen Tagebuch des Hypnotiseurs von dessen Versuch, in die
Rolle eines mystischen Caligari aus dem 18. Jahrhundert zu
schlüpfen, der sein somnambules Medium bestialische Morde
begehen ließ. In einer Schlüsselszene sieht man, wie sich die
wahnhafte Identifikation des Irrenhausdirektors mit dem
legendären Caligari vollzieht: Nach der Einlieferung eines
429
430 Paul Wegener:
Der Golem, wie er in die Welt kam

Projektions-AG »Union«, Uraufführung: 29. 10. 1920 Berlin, Ufa-Palast


am Zoo
Viragiert, 1961 m

Die Verknüpfung zwischen dem Rabbi Löw, der vorher- vorüberziehen. Als jedoch Ahasver in Großaufnahme er-
sieht, dass der jüdischen Gemeinschaft Unheil droht, und scheint, macht sich in der zunächst gebannt zuschauenden
der von ihm geschaffenen mächtigen Lehmfigur, dem Go- Gesellschaft Lachen breit. Die Bedingung, dass niemand die
lem, der den Kaiser rettet und damit die Vertreibung der Vorführung stören darf, ist gebrochen. Nur der Golem kann
Juden aus der Stadt abwendet, drang im 19. Jahrhundert in das Unglück des einstürzenden Palastes aufhalten. Doch er
die Literatur ein und erfuhr im frühen 20. breitenwirksame wird nun selbst zur Bedrohung. Erst als ein kleines Mäd-
Ausgestaltung. Der Film von 1920 war bereits Wegeners chen, von dem zunehmend menschlich wirkenden Koloss
dritter Golem-Film, doch der in Ausstattung und Bildge- auf den Arm genommen, die Kapsel mit dem ›Schem‹ von
staltung sorgfältig­ste; er wurde international zu einem der seiner Brust entfernt, erstarrt er. Die ambivalente magische
größten Erfolge des deutschen Stummfilms. Die Präg­nanz Schrift hat ihre Schuldigkeit getan. Sie hat Platz gemacht
des Films erweist sich nicht zuletzt daran, wie er verschie- für eine andere Magie: die kinematographische, die mit
dene Formen von Schriftlichkeit einsetzt. Die Schriftstücke der Macht der Belebung unmittelbar verbunden ist und in
des Hofes, Dekrete und Billete, verkörpern die Macht, der der Szene des Rosenfests autoreflexiv aufscheint. Der Film
die Juden ausgeliefert sind. Deren Schriftstücke wiederum knüpft insofern nicht nur an das alte Medium der Schrift
stehen mit der Magie in Verbindung – ihre Macht, sich gegen an, dessen auratische Dimension Franz Dornseiff 1914 in
die Obrigkeit zu behaupten. Eingangs konsultiert der Rabbi seiner Dissertation Das Alphabet in Mystik und Magie
ein geheimnis­volles Buch, um das in den Sternen Gelesene (gedr. 1922) beschrieb. Er zeigt auch, wie in Bezug auf dieses
zu deuten. Sodann erfährt er aus einem anderen, wie man Medium sein eigenes ›Blendwerk‹ (so der Kaiser) zu voller
den ›Golem‹ herstellt: indem man der Lehmfigur das le- Wirkung gelangt: zum Beispiel durch die von Hans Poelzig
benerweckende Symbolwort, den ›Schem‹, in eine Kapsel phantasiereich und plastisch gebaute Juden­stadt. Auch in
in der Brust legt. Schließlich liefert ein weiteres Werk, Ne- dem narrativen Geflecht von Gefahr und Rettung liegt ein
kromantie betitelt, den Schlüssel, das Symbolwort durch Reflex dessen, was das Kino vermag: die Geschichte von
Beschwörung des Geistes Astaroth zu gewinnen. Diese Zeiten und Völkern einzufangen, aber auch gefährliche
Beschwörungssequenz und die folgende Erweckungsse- Eigendynamiken freizusetzen.
quenz bilden das Zentrum des Films. Sie führen die Macht
literatur: Schönemann (2003).
vor, Unsichtbares sichtbar zu machen, Totes zum Leben
zu erwecken und ein kollektives Unheil abzuwehren. Auf christian kiening

dem Rosenfest des Kaisers präsentiert der Rabbi Löw seinen


Golem und lässt in einem weiteren Kunststück die Erzväter
431
432 Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu.
Eine Symphonie des Grauens

Prana Film, Uraufführung: 4. 3. 1922 Berlin, Marmorsaal


Viragiert, 1967 m

Der nach einem Drehbuch Henrik Galeens entstandene Film von Tod und Leben hinweg und überträgt diese Bewegung
orientiert sich an Stokers Roman Dracula, ändert aber aus auf die Medien selbst: hier die Schrift, vom Tod herkommend
urheberrechtlichen Gründen alle Namen und vereinfacht die und das Bild still­stellend, dort das Bild, den Tod überwin-
komplexe Handlung: Im Zentrum stehen nun Hutter, der dend und die Schrift in bewegte Handlung umsetzend. Die
dem Grafen Orlok die Unterlagen für den Haus­kauf nach Schrift, die das Geschehen einerseits festhält, andererseits
Transsylvanien bringt, und seine Frau Ellen, die sich, als beeinflusst, ist damit ebenso suggestiv wie ambivalent: Hut-
mit Orlok auch die Pest ihren Einzug in Wisborg gehalten ter stößt, unterwegs nach Transsylvanien, auf ein Buch über
hat, opfert, um den Vampir bis zum Morgengrauen bei sich Vam­pire; er verwirft es zunächst, benutzt es dann als herme-
festzu­halten. Rückverlegt ins Jahr 1838 schließt die Hand- neutisches Hilfsmittel und bringt es sogar nach Hause mit
lung an die spätromantisch-biedermeierlichen Szenarien des – wo Ellen, unwiderstehlich angezogen, in ihm den Hinweis
Unheimlichen an, die schon der Student von Prag (1913) findet, die Hingabe einer unschuldigen Frau vermöge den
publikumswirksam ausge­staltet hatte. Zugleich ergeben sich Vampir zur Strecke zu bringen. Sie, die als Somnambulin auf
andere medien­geschichtliche Bezugspunkte als im Roman. den »Ruf des Todesvogels« reagiert und mit dem das große
Nicht die neuen Aufzeichnungsformen spielen eine Rolle, Sterben auslösenden und seinerseits zu erlösenden Untoten
sondern die alten skripturalen und typographischen – diese telepathisch verbunden ist, stickt am Ende die Worte »Ich
allerdings in ihrer ganzen Vielfalt: Chronik, Buch, Zeitung, liebe Dich« auf einen Stoff – ob auf Hutter oder auf Orlok
Logbuch, Frachtbrief, städtische Bekanntmachung, Privat- bezogen, bleibt offen. Indem der Film die statische Schrift
brief und, nicht zu vergessen, ein hieroglyphischer Brief nun selbst in ihrer dynamischen Entstehung zeigt, verweist
Nosferatus, dessen Chiffren sich vielleicht auf einzelne Ele- er auf eine die Oppositionen von Tod und Leben wie Schrift
mente des Films beziehen. Alle zusammen erzeugen sie den und Bild überschreitende Bewegung, die sich in seinen eige-
Eindruck eines historischen Hintergrundes der Ereignisse. nen zwischen Lesbarkeit und Betrachtbarkeit oszillierenden
Schon eingangs sieht man das Titelblatt einer chronikalischen Oberflächen entfaltet.
»Aufzeichnung über das große Sterben in Wisborg«, auf die
literatur: Exertier (1980) – Bouvier/Leutrat (1981), bes. Kap. 3 – von
im Laufe des Films immer wieder zurückgegriffen ist. Diese
Keitz (1994) – Wild (2006).
Aufzeichnung vermittelt zwischen den intradiegetischen
Schriftformen und den extradiegetischen Zwischen­titeln. christian kiening

Sie hat aber selbst paradoxe Züge, stammt sie doch von einer
anonymen Instanz, die das unerhörte Ereignis der Pestka-
tastrophe ergründen wollte, ihm aber (wie die drei Kreuze
signali­sieren) erlag. Das Erzählen verläuft über die Schwelle
433
434 Robert Walser: Mikrogrammblatt 9

1932/33
Robert Walser-Archiv Zürich, RWA MKG 9
9,3 × 10,9 cm

Robert Walser hat in den letzten Jahren seiner Schriftstel- horizontale Orientierung des eigenen Zeilenverlaufs. Wäh-
lerexistenz seine Texte in Bleistift und in einer schwer zu rend Korrodis Mitteilung mit den Worten beginnt: »Es ist
entziffernden Kleinstschrift entworfen. Über 500 Blätter aus nett von Ihnen […]«, fängt der Text in Walsers Kolumne so
den Jahren 1924–1933 haben sich erhalten, und sie stellen an: »Welch einem netten Schriftsteller bin ich neulich begeg-
einen in dieser Art absolut singulären Dichternachlass dar. net. Längst ist er übrigens tot […].« Ein anderes Beispiel für
Auf dem Mikrogramm-Blatt 9, eines der letzten, die Wal- die kunstvolle Interferenz von Schrift und Text lässt sich in
ser beschriftet hat, erkennt man zunächst die Handschrift Bezug auf den letzten Satz Korrodis erkennen: »Indem ich
von Eduard Korrodi. Der mächtige Feuilletonredaktor der […] aus Ihren Schriftzügen lese«. Der in Korrodis Schriftzüge
Neuen Zürcher Zeitung schreibt hier – vermutlich Anfang hineinschreibende Walser entwirft nun, indem er die drei
Juli 1932 – an den seit dreieinhalb Jahren in der Irrenanstalt letzten Lücken des Blattes ausfüllt, eine Prosaskizze, deren
Waldau internierten Robert Walser Folgendes: erste Zeile direkt über dem zweiten I-Punkt­
­­ des Wortes
»Lieber Herr Walser! | Es ist nett von Ihnen, dass Sie wieder ›meinerseits‹ beginnt und so lautet: »Etwas vom Sinnreichs-
einmal an unsere ›Firma‹ denken. Ich bringe die sehr schöne ten und Zweckmäßigsten, das die neue Zeit in technischer
See-Skizze u ›zwei Lebenswege‹ im Verlauf der nächsten Hinsicht hervorbrachte, ist meiner Ansicht nach der Bahn-
zwei Wochen. | Indem ich meinerseits hoffe u es aus Ihren hof. Täglich, stündlich laufen Züge entweder in ihn hinein
Schriftzügen lese, dass es Ihnen gut geht, bin ich Ihr erge- oder aus ihm fort […].« In der Vorstellung vom ›Bahnhof‹
bener | E. Korrodi« entsteht so ein witzig-anschauliches Bild für das überfüllte
Walser hat Korrodis Briefkarte um 90 Grad im Uhrzeigersinn Mikrogrammblatt selbst, in welchem die ›Schrift-Züge‹ ein-
gedreht und darauf sieben verschiedene Prosaskizzen nieder- und ausfahren – Schrift in Bewegung.
geschrieben, die sich mosaikartig an- und ineinanderfügen;
literatur: Walser (1985) – Beretti (1997) – Walser (1985–2000).
insgesamt hat er auf diesem Blatt eine Textmenge von vielleicht
zehn Druckseiten untergebracht – ein in seiner Art einmaliges
Text-Schrift-Kunstwerk. Unter diesem Aspekt werden nun wolfram groddeck

auch die Zeilen Korrodis bedeutsam, die Walser in seine eigene


Schrift integriert hat. Sie lassen sich als Kristallisationspunkte
begreifen, nicht nur für die hochverdichtete Schrift Walsers,
die sich quer und skalenverschoben zu den ›offiziellen‹ Schrift-
zeichen stellt, sondern auch für die Textentstehung selbst.
Der kleine Block links unter dem gedruckten Wort »Zürcher«
benutzt den linken vertikalen Rand des Korrodi-Textes als
435
436 Walter Benjamin: Brief an Siegfried Kracauer

5. Juni 1927
Deutsches Literaturarchiv Marbach, Kracauer-Nachlass, 72.2042/23
Druck in: Benjamin (1995–1999), Bd. III, S. 262
21,3 × 13,7 cm

Nachdem am 1. Mai 1927 Siegfried Kracauers Text Das


Schreibmaschinchen in der Frankfurter Zeitung erschienen
war – die kurze Erzählung handelt von der Liebe zwischen
einem Schriftsteller und seiner Schreibmaschine, die ent-
flammt, als der Schriftsteller mit ihr eine ganz neue Text-
qualität erzielt, und die erlischt, als das Maschinchen einen
Defekt erleidet –, ließ es der Autor, der selbst Redakteur
bei der Frankfurter Zeitung war, seinem Mitarbeiter und
Briefpartner Walter Benjamin postalisch zukommen. Hier
wiedergegeben ist Benjamins Antwortbrief.
Der Brief enthält eine dezidierte Absage an die Schreib-
maschine, deren sich Benjamin zeitlebens nie eigenhändig
bedient hat. Dass er daher, wie alle Briefe Benjamins, hand-
schriftlich verfasst ist, hat seinen guten Grund, denn das von
Benjamin bevorzugte Schreibinstrument ist der Füllfeder-
halter. Der Brief berichtet nicht nur vom Verlust des Füll-
federhalters, der wie ein Tyrann über ihn geherrscht habe,
sondern auch vom Kauf eines neuen Füllfederhalters, der
ihm eine ungeahnte Produktivität erlaube. Dass der Brief die
Hoffnung ausspricht, man möge dies auch dem vorliegenden
Brief ansehen, verweist auf die Sorgfalt, mit der Benjamin das
Schriftbild seiner Manuskripte pflegte. Charakteristisch an
ihnen ist die feine Kleinheit der Schriftzüge, die gleichwohl
klar artikuliert und lesbar sind. Benjamin praktizierte seine
Mikrographie ab 1918 nicht nur in seinen Briefen, sondern
auch in seinen Arbeitsmanuskripten fast durchgängig. Sein
Freund Gershom Scholem berichtet auch von dessen Ehr-
geiz, hundert Zeilen auf eine Seite zu bringen.

literatur: Utz (2003) – Giuriato (2005a) – Giuriato (2005b).

davide giuriato
437
438 Walter Benjamin: Der Lesekasten

1932, aus: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, ›Felizitas‹-Exemplar


Privatbesitz, Dauerleihgabe beim Walter Benjamin Archiv, Akademie der
Künste. Archiv, Berlin
27,2 × 20,3 cm, starke Faltung des Blattes für Marginalienrand

Das Blatt stammt aus dem Konvolut der Berliner Kindheit die die Erinnerung an das Lesen- und Schreibenlernen und
um neunzehnhundert, das als ›Felizitas‹-Exemplar bekannt den kindlich traumhaften Umgang mit den vereinzelten
ist. Diese Benennung geht auf die Adressatin zurück, der Buchstaben schildert, findet sich etwa auch der frühere
Walter Benjamin im April 1940, kurz vor seiner Flucht vor Entwurf mit dem Titel Das Lesespiel. Benjamin hat das
den deutschen Truppen, das Manuskript zukommen ließ mit Stück Der Lesekasten noch mindestens zweimal umge-
der ausdrücklichen Bitte, dieses letzte ihm übrig gebliebene schrieben, ehe es am 14. Juli 1933 ohne Verfasserangabe in
Exemplar seiner Kindheitserinnerungen zu verwahren. der Frankfurter Zeitung erschien. Als Beleg für die seit der
Es handelt sich bei der Adressatin um Gretel Adorno, die Machtergreifung der Nationalsozialisten erheblich erschwer-
Benjamin in seinen Briefen mit dem Kosenamen ›Felizitas‹ ten Publikationsumstände kann Benjamins Anmerkung zu
ansprach. diesem Druck nur eine Ahnung geben: »Der Verfassername
Das Konvolut besteht aus 35 losen Blättern, die eine frühe wurde widerrechtlich fortgelassen«. Trotz der Publikation
Zusammenstellung von Benjamins Kindheitserinnerungen kann die Arbeit an diesem Textstück nicht als abgeschlossen
bilden. Sie sind mehrheitlich im Spätsommer und Frühherbst gelten. Noch bei der letzten Überarbeitung der Berliner
1932 entstanden. Es handelt sich um eine titellose Arbeits- Kindheit um neunzehnhundert 1938 versah es Benjamin mit
handschrift, um ein ›Brouillon‹, das zahlreiche Entwürfe zu der Notiz: »Noch umzuarbeiten«.
ein- bis dreiseitigen Textstücken enthält und das Benjamin
literatur: Giuriato (2006).
über Jahre benutzte. Mit Bestimmtheit lässt sich sagen,
dass er bis 1934 darin schrieb – vielleicht sogar bis 1938, davide giuriato

als Benjamin ein letztes Mal ohne Erfolg versuchte, seinen


Kindheitserinnerungen eine definitive Gestalt zu geben.
Das ›Felizitas‹-Exemplar zeigt deshalb in besonderer Weise,
wie er seine Texte immer wieder umschrieb, ohne je eine
festgelegte Form für sie zu finden. Es bewahrt etwas vom
Vorläufigen, Flüchtigen und Verzettelten seiner Produktion.
Das Konvolut hat keine festgelegte Reihenfolge der Stücke,
die Paginierungen sind nicht von Benjamins Hand.
Von einigen Textminiaturen enthält das ›Felizitas‹-Exemplar
mehrere Niederschriften. Zur hier vorgestellten Miniatur
Der Lesekasten (erste Transkription: Guiriato 2006, S. 272),
439
440 Fotonachweise zu den Teilen 1–4

Wir danken den Inhabern der Rechte für die Reproduktions­


genehmigung.

Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern: 427 – Badisches Lan-


desmuseum, Karlsruhe: 329 links – Bayerische Staatsbibliothek
München: 343, 367 – Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz,
Foto Donato Pineider: 273 – Bibliothèque nationale de France,
Paris: 249 – bpk Berlin, Foto: Volker-H. Schneider: 335 – British
Library: 421 oben – Deutsches Literaturarchiv Marbach: 383
– Freies Deutsches Hochstift Frankfurt: 403 – Jean Mülhauser,
Freiburg/Schweiz: 313 – Klassik Stiftung Weimar: 399 – Kleist
Archiv Sembdner, Heilbronn: 391 – Magistrat der Stadt Bad
Homburg: 389 – Niedersächsische Staats- und Universitätsbi-
bliothek Göttingen, Abteilung für Handschriften und Seltene
Drucke: 373, 375, 387, 401 – Öffentliche Bibliothek Universität
Basel: 263, 419 – Ottiger Fotografie Zug: 305, 315, 317, 323, 347
– Pfarrei St. Michael, Zug: 297 – Robert Walser Archiv, Zürich:
435 – Rosenbach Museum & Library: 421 unten – Schweizerisches
Landesmuseum Zürich: 213–219, 309, 311 – Staatliche Graphische
Sammlung München: 339 – Staatsarchiv des Kantons Bern, Foto:
Andreas Frutig: 239 – Staatsarchiv des Kantons Zürich: 237, 265
– Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz: 261, 267
– Stadtarchiv Aarau: 235 – Stadtarchiv Zürich: 241 – Stiftsarchiv
Einsiedeln: 331, 337 – Stiftsarchiv St. Gallen: 181–185, 211, 291
– Stiftsbibliothek Einsiedeln: 287, 289, 293, 295, 299–303, 319, 321,
325, 329 rechts, 333, 345 – Stiftsbibliothek Engelberg: 289 – Stifts-
bibliothek St. Gallen: 139–179, 187–195, 245, 327 – Textilmuseum
St. Gallen: 307 – Trustees of The British Museum, London: 341
– Universitätsbibliothek München: 393 – University of British
Columbia Library, Rare Books & Special Collections, Irving K.
Barber Learning Centre: 413 – Walter Benjamin Archiv, Berlin:
437, 439 – Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection,
USA/Bridgeman Berlin: 385 – Zentralbibliothek Zürich: 209, 221–
233, 243, 247, 251–259, 269, 271, 363, 369, 381, 397, 409, 415
Bibliographie 441

Achten, Gerard: Das christliche Gebetbuch im Mittelalter – Andachts- und Baumgärtner, Ingrid: Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen
Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck. Berlin 1980 (Ausstel- Weltkarten, in: Dieter Bauer, Klaus Herbers, Nikolas Jaspert (Hg.):
lungskataloge der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 13). Jerusalem im Hoch- und Spätmittelalter. Konflikte und Konflikt-
Adorno, Theodor W.: Zum Gedächtnis Eichendorffs, in: ders.: Noten zur bewältigung – Vorstellungen und Vergegenwärtigungen. Frankfurt,
Literatur I. Frankfurt/M. 1958, S. 105–143. New York 2001, S. 271–334.
Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1970. Baurmeister, Ursula: Das Blockbuch – Vorläufer oder Konkurrent des
Altenbuchner, Klaus: Buchstaben-Architektur, in: Winfried Nerdinger, mit beweglichen Lettern gedruckten Buchs, in: Peter Rück, Martin
Hilde Strobl (Hg.): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Boghardt (Hg.): Rationalisierung der Buchherstellung im Mittelalter
Bauten und Städte in der Literatur (Ausstellungskatalog). Salzburg und in der frühen Neuzeit. Ergebnisse eines buchgeschichtlichen
2006, S. 437–439. Seminars, Wolfenbüttel 1990. Marburg 1994 (Elementa diplomati-
Anderson, David: Boccaccio’s Glosses on Statius, in: Studi sul Boccaccio ca 2), S. 147–157.
22 (1994), S. 3–134. Beer, Ellen J.: Beiträge zur oberrheinischen Buchmalerei in der ersten
Angenendt, Arnold: Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten- Hälfte des 14. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der
Memoria, in: Karl Schmid, Joachim Wollasch (Hg.): Memoria. Der Initialornamentik. Basel, Stuttgart 1959.
geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Beer, Ellen J.: Die Glasmalereien der Schweiz aus dem 14. und 15. Jahr-
München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48). hundert (ohne Königsfelden und Berner Münsterchor). Basel 1965
Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt (Corpus Vitrearum Medii Aevi Schweiz 3).
2
2000. Beil, Ulrich J.: Die Bibliothek des Dr. Caligari, in: ders., Claudia S. Dorn-
Angenendt, Arnold: Liturgik und Historik. Gab es eine organische Li- busch, Masa Nomura (Hg.): Blickwechsel. Akten des XI. Lateiname-
turgie-Entwicklung? Freiburg/Br., Basel, Wien 2001 (Quaestiones rikanischen Germanistenkongresses (ALEG) São Paulo–Paraty–Pe-
disputatae 189). trópolis 2003. Bd. 2. São Paulo 2005, S. 155–162.
Angenendt, Arnold; Meiners, Karen: Erscheinungsformen spätmittelalter- Beißner, Friedrich: Kleiner Hölderlin-Fund, in: Dichtung und Volkstum
licher Religiosität, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im 37 (1936), S. 514f.
Mittelalter. Wolfenbüttel 2004 (Ausstellungskataloge der Herzog Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. 5 Bde. Hg. von Christoph Gödde,
August Bibliothek 83), S. 25–35. Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1995–1999.
Apollinaire, Guillaume: Simultanisme-librettisme, in: Les soirées de Paris 25 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
(15. 6. 1914); wieder in: ders.: Œuvres en prose complètes. Bd. 2. Hg. zierbarkeit. Drei Studien zu Kunstsoziologie. Frankfurt/M. 2001.
von Pierre Caizergues, Michel Décaudin. Paris 1991, S. 974–979. Benziger, Karl: Geschichte des Buchgewerbes im fürstlichen Benediktiner-
Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde stift U.L.F. v. Einsiedeln. Einsiedeln 1912.
Semiose, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Beretti, Michel: Robert Walser, in: ders., Armin Heusser (Hg.): Der letzte
Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988, S. 237–251. Kontinent. Bericht einer Reise zwischen Kunst und Wahn. Ein Bil-
Assmann, Jan: Stein und Zeit. München 1991. der- und Lesebuch mit Materialien aus dem Waldau-Archiv. Zürich
Autenrieth, Johanne; Geuenich, Dieter; Schmid, Karl (Hg.): Das Verbrüde- 1997, S. 152–160.
rungsbuch der Abtei Reichenau. Einleitung, Register, Faksimile. Han- Bergamin, Manuela: Aenigmata Symposii: la fondazione dell’enigmistica
nover 1979 (MGH Libri memoriales et necrologia. Nova series 1). come genere poetico. Firenze 2005.
Autenrieth, Johanne: Irische Handschriftenüberlieferung auf der Reichenau, Bergmann, Rolf: Zehn St. Galler Kleinigkeiten. Glossen zu allem möglichen
in: Heinz Löwe (Hg.): Die Iren und Europa im frühen Mittelalter. außerhalb von Texten. In: Guntram A. Plangg, Eugen Thurnher (Hg.):
Stuttgart 1982, S. 903–915. Sprache und Dichtung in Vorderösterreich: Elsaß, Schweiz, Schwaben,
Baasner, Rainer: Georg Christoph Lichtenberg. Darmstadt 1992 (Erträge Vorarlberg, Tirol. Innsbruck 2000 (Schlern-Schriften 310), S. 35–46.
der Forschung 278). Bergmann, Rolf: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glos-
Barthes, Roland: Variations sur l’écriture. Variationen über die Schrift. senhandschriften. 6 Bde. Berlin, New York 2005.
Französisch-Deutsch. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Berschin, Walter: Glossierte Virgil-Handschriften dreier Aetates Virgilianae,
Mainz 2006 (excerpta classica 2). in: Peter Ganz (Hg.): The role of the book in medieval culture.
Batschelet-Massini, Werner: Labyrinthzeichnungen in Handschriften, in: Proceedings of the Oxford International Symposium 1982. Bd. 2.
Codices manuscripti 4 (1978), S. 33–64. Turnhout 1986 (Bibliologia 3–4), S. 115–127.
Bauer, Franz A.: Das Bild der Stadt Rom in karolingischer Zeit. Der Bexte, Peter: Die Schönheit der Analyse. Nachwort zu William Hogarth:
Anonymus Einsidlensis, in: Römische Quartalschrift 92 (1997), Die Analyse der Schönheit. Dresden 1995, S. 212– 228.
S. 190–228. Bieritz, Karl-Heinrich: Liturgik. Berlin, New York 2004.
442 Birus, Hendrik: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Romantik. Würzburg 2001 (Stiftung für Romantikforschung 20),
Pauls. Stuttgart 1986 (Germanistische Abhandlungen 59). S. 207–274.
Birus, Hendrik: Goethes imaginativer Orientalismus, in: Jahrbuch des Freien Bruggisser-Lanker, Therese: Ritus und Memoria. Die Musik im liturgi-
Deutschen Hochstifts 1992, S. 107–128. schen Buch, in: Michael Stolz, Adrian Mettauer (Hg.): Buchkultur
Bischoff, Bernhard: Zur Frühgeschichte des mittelalterlichen Chirographum, im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. Berlin, New York
in: Archivalische Zeitschrift 50/51 (1955), S. 297–300. 2005, S. 15–40.
Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre. Katalog zur Ausstel- Brun, Peter: Schrift und politisches Handeln. Eine »zugeschriebene« Ge-
lung des Gutenberg-Museums Mainz 1991. Hg. von Sabine Mertens, schichte des Aargaus 1415–1425. Zürich 2006.
Cornelia Schneider. Mainz 1991. Brüning, Jochen: Wissenschaft und Sammlung, Sybille Kräme; Horst Bre-
Bloom, Harold (Hg.): Laurence Sterne’s Tristram Shandy. New York dekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 87–113.
1987. Budd, Mike (Hg.): The Cabinet of Dr. Caligari. Texts, Contexts, Histories.
Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1981. New Brunswick, London 1990.
Boccaccio, Giovanni: Teseida. Hg. von Salvatore Battaglia. Florenz 1938. Bünz, Enno: Probleme der hochmittelalterlichen Urbarüberlieferung, in:
Boccaccio, Giovanni: Teseida. Hg. von Alberto Limentani. Mailand 1964 Werner Rösener (Hg.): Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft
(Tutte le opere di Giovanni Boccaccio 3). im Hochmittelalter. Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-
Bohn, Willard: The Aesthetic of Visual Poetry 1914–1928. Cambridge Planck-Institutes für Geschichte 115), S. 31–75.
1986. Burger, Christoph: Direkte Zuwendung zu den ›Laien‹ und Rückgriff auf
Boner, Georg: Siegel, Fahnen und Wappen dreier aargauischer Kleinstädte, Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Berndt
in: Argovia 91 (1979), S. 318–389. Hamm, Thomas Lentes (Hg.): Spätmittelalterliche Frömmigkeit
Borgolte, Michael: Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer zwischen Ideal und Praxis. Tübingen 2001 (Spätmittelalter und
Zeit. Sigmaringen 1984 (Vorträge und Forschungen. Sonderbd. 31). Reformation N.R. 15), S. 85–109.
Bouvier, M[ichel]; Leutrat, J[ean]-L[ouis]: Nosferatu. Paris 1981. Campanella, Tommaso: Philosophische Gedichte. Frankfurt/M. 1996.
Branca, Vittore: Giovanni Boccaccio. Profilo biografico. Florenz 21992 Campbell, Tony: Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to
(Biblioteca universale Santoni 69). 1500, in: John B. Harley, David Woodward (Hg.): The History of
Brandmüller, Walter: Das Konzil von Konstanz. 1414–1418. Bd. 2. Pader- Cartography. Bd. 1. Chicago, London 1987/1994, S. 371–463.
born u.a. 1997. Carcopino, Jérôme: Etudes d’histoire chrétienne. Le Christianisme secret du
Braude, Benjamin: The Sons of Noah and the Construction of Ethnic and »Carré magique«. Nouvelle édition révisée et augmentée. Paris 1963.
Geo­graphical Identities in the Medieval and Early Modern Periods, Cárdenas, Livia: Friedrich der Weise und das Wittenberger Heiltumsbuch. Me-
in: The William and Mary Quarterly 3rd series, vol. 54 (1997), diale Repräsentation zwischen Mittelalter und Neuzeit. Berlin 2002.
S. 103–142. Carmassi, Patricia: Prozession, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit
Bridges, Margaret: Mehr als ein Text. Das ungelesene Buch zwischen Symbol im Mittelalter. Wolfenbüttel 2004 (Ausstellungskatalog der Herzog
und Fetisch, in: Michael Stolz, Adrian Mettauer (Hg.): Buchkultur August Bibliothek Wolfenbüttel 83), S. 336–339.
im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation. Berlin, New York Carroll, Lewis: The Annotated Alice: Alice’s adventures in wonder-
2005, S. 104–121. land – Through the looking-glass. Introduction and notes by Martin
Brincken, Anna-Dorothee von den: »… ut describetur universus orbis«. Gardner. London 1965.
Zur Universalkartographie des Mittelalters, in: Albert Zimmermann Castex, Pierre-Georges (Hg.): Nouvelles lectures de La Peau de chagrin.
(Hg.): Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters. Berlin Actes du colloque de l’École Normale Supérieure 1979. Clermont-
1970 (Miscellanea Mediaevalia 7), S. 249–278. Ferrand 1979.
Brincken, Anna-Dorothee von den: Jerusalem on medieval mappaemundi: a Chartae Latinae Antiquiores 1 und 2. Hg. von Albert Bruckner, Robert
site both historical and eschatological, in: Paul Dean Aldshead Harvey Marichal. Olten, Lausanne 1954/56.
(Hg.): The Hereford World Map. London 2006, S. 355–381. Chasles, Philarète: Introduction par Philarète Chasles aux »Romans et contes
Brors, Claudia: Anspruch und Abbruch. Untersuchungen zu Heinrich von philosophiques« [1931/1833], in: Honoré de Balzac: La Comédie
Kleists Ästhetik des Rätselhaften. Würzburg 2002. humaine. Hg. von Pierre-Georges Castex. Paris 1992 [1979] (Études
Bruckner, Albert: Scriptoria medii aevi helvetica. Denkmäler schweizerischer philosophiques 10), S. 1185–1197.
Schreibkunst im Mittelalter. Bd. 2; Bd. 3; Bd. 5. Genf 1936ff. Châtillon, Jean: La Bible dans les Ecoles du XIIe siècle, in: Pierre Riché,
Bruckner, Albert: Einige Bemerkungen zur Makulaturforschung in den Guy Lobrichon (Hg.): Le Moyen Age et la Bible. Paris 1984 (Bible
Archiven, in: Max Geiger (Hg.): Gottesreich und Menschenreich. de tous les temps 4), S. 95–114, 163–197.
Basel 1969, S. 11–22. Chladni, Ernst F. F.: Die Akustik. Leipzig 1802.
Brüggemann, Heinz: Sammlung und Spiel: Bild-Räume aus kulturellem Citron, Pierre: Notice: Introduction par Philarète Chasles aux »Romans
Gedächtnis. Erinnerung und Vergessen in Gockel, Hinkel, Gake- et contes philosophiques«, in: Honoré de Balzac: La Comédie hu-
leia. Mährchen, wieder erzählt von Clemens Brentano (1838), in: maine. Hg. von Pierre-Georges Castex. Paris 1992 [1979] (Études
Günter Oesterle (Hg.): Erinnern und Vergessen in der europäischen philosophiques 10), S. 1185.
Codex purpureus Rossanensis. Commentarium. Hg. von Guglielmo Ca- Sozialgeschichte, in: Atti dell’Accademia romanistica constantiniana 8 443
vallo, Jean Gribomont, Carl W. Loerke. Rom, Graz 1987 (Codices (1990), S. 635–650.
Selecti 81). Déroche, François u.a.: Manuel de codicologie des manuscripts en écriture
Comparetti, Domenico: Virgilio nel medio evo. 2 Bde. Livorno 1872 u. ö. arabe. Paris 2000.
Cordez, Philippe: Wallfahrt und Medienwettbewerb. Serialität und Formen- Derolez, René: Runica manuscripta. The English Tradition. Brugge 1954.
wandel der Heiltumsverzeichnisse mit Reliquienbildern im Heiligen Didi-Huberman, Georges: L’image ouverte. Motifs de l’incarnation dans
Römischen Reich (1460–1520), in: Andreas Tacke (Hg.): »Ich armer les arts visuels. Paris 2007.
sundiger mensch«. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum Die Werke Notkers des Deutschen: Der Psalter. Psalm 51–100. Hg. von
konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2006, S. 37–73. Petrus W. Tax. Tübingen 1981.
Craig, Helen: The Mouse House ABC. New York 1979. Diez, Heinrich Friedrich von: Denkwürdigkeiten von Asien I/II. Berlin
Crisci, Edoardo; Eggenberger, Christoph; Fuchs, Robert; Oltrogge, Doris: 1811.
Il Salterio Purpureo di Zurigo, Zentralbibliothek, RP 1, in: Segno e Dionisotti, Anna C.: On the Nature and Transmission of Latin Glossaries,
testo. International Journal of Manuscript and Text Transmission. in: Jacqueline Hamesse (Hg.): Les manuscrits des lexiques et glossaires
Università degli Studi di Cassino 5 (2007), S. 31–98. de l’antiquité tardive à la fin du moyen âge […]. Louvain-la-Neuve
Curtius, Ernst Robert: Schrift und Buchmetaphorik in der Weltliteratur, in: 1996 (Textes et études du moyen âge 4), S. 205–252.
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistes- Dold, Alban; Meister, Richard: Die Orakelsprüche im St. Galler Palimp-
geschichte 20 (1942), S. 359–411. sestcodex 908 (die sogenannten Sortes Sangallenses). Wien 1948–1951
Daab, Ursula (Hg.): Die althochdeutsche Benediktinerregel des Cod. Sang. (Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Öster-
916. Tübingen 1959 (Altdeutsche Textbibliothek 50). reichischen Akademie der Wissenschaften 225, 4/5).
Daly, Lloyd William; Suchier, Walther: Altercatio Hadriani Augusti et Dommes, Grit: Kallias, oder über die Schönheit, in: Matthias Luserke-Jaqui
Epicteti Philosophi. Urbana 1939 (Illinois Studies in Language and (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2005,
Literature 24/1). S. 382–388.
Daniels, Dieter: Prophezeiung und Poesie der drahtlosen Welt, in: ders.: Dora, Cornel: Bedas Sterbesang, in: Karl Schmuki, Peter Ochsenbein, Cornel
Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet. München 2002, Dora (Hg.): Cimelia Sangallensia. Hundert Kostbarkeiten aus der
S. 91–130. Stiftsbibliothek St. Gallen. St. Gallen 2000, S. 84f.
Dannhauer, Paul G.: Literatur und Buch in der islamischen Welt, in: Baye- Dörrbecker, Detlef W.: Konvention und Innovation. Eigenes und Entliehenes
rische Staatsbibliothek (Hg.): Das Buch im Orient. Handschriften in der Bildform bei William Blake und in der Britischen Kunst seiner
und kostbare Drucke aus zwei Jahrtausenden. Wiesbaden 1982 Zeit. Berlin 1992.
(Ausstellungskatalog), S. 99–108. Dreves, Guido Maria; Blume, Clemens; Bannister, Henry Mariott (Hg.):
Darmstaedter, Ernst: Die Sator-Arepo-Formel und ihre Erklärung, in: Isis Analecta Hymnica medii aevi. 55 Bde. Leipzig 1866–1922; Max
18 (1932), S. 322–329. Lütolf: Registerband 1–2. Bern, München 1978.
Das Goldene Buch von Pfäfers (Liber Aureus). Vollständige Faksimile- Duchet, Claude (Hg.): Balzac et La peau de chagrin. Paris 1979.
Ausgabe im Originalformat des Codex Fabariensis 2 des Stiftsarchivs Duft, Johannes; Meyer, Peter: Die irischen Miniaturen der Stiftsbibliothek
Pfäfers im Stiftsarchiv St. Gallen und Kommentar mit Beiträgen von St. Gallen. Olten, Bern, Lausanne 1953.
Anton von Euw, Werner Vogler und Lorenz Hollenstein. Hg. v. Durrer, Robert: Die Kunstdenkmäler des Kantons Unterwalden. Zur Statis­
Werner Vogler. Graz 1993 (Studia Fabariensia: Beiträge zur Pfäferser tik schweizerischer Kunstdenkmäler. Hg. von der Kommission für
Klostergeschichte 2). das schweizerische Landesmuseum. Zürich 1899–1928, Nachdruck
Daxelmüller, Christoph: Satorformel, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1999), 1971.
Sp. 1399f. Dürst, Arthur: Das älteste bekannte Exemplar der Holzschnittkarte des
Day, W.G.: Tristram Shandy: The Marbled Leaf, in: Library 27 (1972), Zürcher Gebiets 1566 von Jos Murer und deren spätere Auflagen,
S. 143–145. in: Vermessung, Photogrammetrie, Kulturtechnik (Fachblatt) 73,1
De Hamel, Christopher F. R.: Glossed Books of the Bible and the Origins (1975), S. 8–12.
of the Paris Book Trade. Woodbridge 1984. Dürst, Arthur: Jos Murers Karte des Zürcher Gebiets von 1566. Zürich 1986
De Kegel, Rolf: Am Anfang war das Doppelkloster – Der Frauenkonvent St. (Publikationen zur Geschichte der Kartographie 4).
Andreas in Engelberg 1120 (?) bis 1615, in: ders. (Hg.): Bewegung in Düwel, Klaus: Runenkunde. Stuttgart, Weimar 2001 (Sammlung Metz-
der Beständigkeit. Zu Geschichte und Wirken der Benediktinerinnen ler 72).
von St. Andreas/Sarnen Obwalden. Alpnach 2000, S. 9–29. Eaves, Morris: The Title-Page of The Book of Urizen, in: Morton D. Paley,
De la Mare, Albinia C.: The Handwriting of Italian Humanists. Bd. 1,1. Michael Phillips (Hg.): William Blake. Essays in Honour of Sir Geof-
Oxford 1973. frey Keynes. Oxford 1973, S. 225–230.
Debon, Claude: »Calligrammes« de Guillaume Apollinaire. Paris 2004 Ebel, Friedrich; Eijal, Andreas; Kocher, Gernot: Römisches Rechtsleben
(Foliothèque 121). im Mittelalter. Miniaturen aus den Handschriften des Corpus Iuris
Demandt, Alexander: Die Sortes Sangallenses. Eine Quelle zur spätantiken Civilis. Heidelberg 1988.
444 Eberwein, Dieter: Nietzsches Schreibkugel. Ein Blick auf Nietzsches Exertier, Sylvain: La lettre oubliée de Nosferatu, in: Positif 228 (1980),
Schreibmaschinenzeit durch die Restauration der Schreibkugel. S. 47–51.
Schauenburg 22005. Faulstich, Werner: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter, 800–1400.
Eichenberger, Walter; Wendland, Henning: Deutsche Bibeln vor Luther. Göttingen 1996 (Die Geschichte der Medien 2).
Die Buchkunst der achtzehn deutschen Bibeln zwischen 1466 und Felbecker, Sabine: Die Prozession. Historische und systematische Untersu-
1522. Hamburg 1977. chungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung. Altenberge 1995
Eisermann, Falk: Heiltumsbücher, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. (Münsteraner Theologische Abhandlungen 39).
Verfasserlexikon 2. Aufl. 11 (2001), Sp. 604–609. Ferrari, Michele C.: Vil guote Buecher zuo Sant Oswalden. Die Pfarrbibli-
Eisermann, Falk: Die Heiltumsbücher des späten Mittelalters als Medien othek in Zug im 15. und 16. Jahrhundert. Zürich 2003.
symbolischer und pragmatischer Kommunikation, in: Rudolf Sun- Fiala, Virgil; Irtenkauf, Wolfgang: Versuch einer liturgischen Nomenklatur,
trup, Jan R. Veenstra, Anne Bollmann (Hg.): The Mediation of Sym- in: Clemens Köttelwesch (Hg.): Zur Katalogisierung mittelalterlicher
bol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik und neuerer Handschriften. Frankfurt/M. 1963 (Zeitschrift für Bibli-
in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/M. 2005 (Medieval othekswesen und Bibliographie, Sonderheft), S. 105–137.
to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Fischer, Balthasar: Graduale, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (1960),
Frühen Neuzeit 5), S. 37–56. Sp. 1158f.
Ekkehard IV.: St. Galler Klostergeschichten. Hg. von Hans F. Haefele. Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung
Darmstadt 1980 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat,
Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10). Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und »performative
Ekkehart IV.: Der Liber benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleinern turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur
Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393. Hg. von Johannes Egli. Neuzeit. Köln 2003 (Norm und Struktur 19), S. 33–54.
St. Gallen 1909 (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 31). Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004.
Enzinger, Moriz: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Wien 1968. Fleissner, Jennifer L.: Dictation Anxiety: The Stenographer’s Stake in
Erhart, Peter; Kleindinst, Julia: Urkundenlandschaft Rätien. Wien 2004 Dracula, in: Nineteenth-Century Contexts 22 (2000), S. 417–455.
(Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 7). Flury, Theres: Die Mirabilia Romae – ein mittelalterlicher Reiseführer, in:
Ernst, Ulrich: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von Karten und Atlanten: Handschriften und Drucke vom 8. bis zum
den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln, 18. Jahrhundert. St. Gallen 2007 (Ausstellungskatalog), S. 120f.
Weimar, Wien 1991. Fontes Rerum Bernensium. 10 Bde. und Registerbd. Bern 1877–1956, Bd. 5.
Ernst, Ulrich: Die Entwicklung der optischen Poesie in Antike, Mittelalter Bern 1890.
und Neuzeit, in: Ulrich Weisstein (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Fortunatus, Venantius: Gelegentlich Gedichte. Das lyrische Werk. Die
Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenz- Vita des hl. Martin. Bd. 2. Hg. von Walter Berschin. Stuttgart 2006
gebietes. Berlin 1992, S. 138–151. (Bibliothek der Mittellateinischen Literatur).
Ernst, Ulrich: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illust- Frankel, Margherita: The »Dipintura« and the Structure of Vico’s New Sci-
ration, Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006 (Beihefte zum ence as a Mirror of the World, in: Giorgio Tagliacozzo (Hg.): Vico:
Euphorion 51). Past and Present. Atlantic Highlands N.J. 1981, S. 43–51.
Essick, Robert N.: William Blake, Printmaker. Princeton NJ 1980. Frensel, Peter; Hoffmann, Christoph: Maschinenschriftenphilologie. Zur
Euw, Anton von; Plotzek, Joachim M.: Die Handschriften der Sammlung Datierung von Typoskripten mit Hilfe der Maschinenschriftenun-
Ludwig. Band 3. Köln 1982. tersuchung an einem Beispiel aus dem Nachlaß Robert Musils, in:
Euw, Anton von: Liber Viventium Fabariensis: das karolingische Memo- Text. Kritische Beiträge 4 (1998), S. 33–60.
rialbuch von Pfäfers in seiner liturgie- und kunstgeschichtlichen Freyermuth, Gundolf S.: Der große Kommunikator. Soziale Konsequenzen
Bedeutung. Bern, Stuttgart 1988. von media merging und Transmedialisierung, in: Torsten Siever, Peter
Euw, Anton von: Kostbarkeiten auf Pergament. Buchmalerei im Kloster Schlobinski, Jens Runkehl (Hg.): Websprache.net. Sprache und Kom-
Einsiedeln von der Zeit der Ottonen bis zum Ende des 12. Jahr- munikation im Internet. Berlin, New York 2005, S. 15–45.
hunderts, in: Markus Riek, Markus Bamert (Hg.): Meisterwerke im Frühwald, Wolfgang: Nachwort, in: ders. (Hg.): Novalis: Heinrich von
Kanton Schwyz. Bd. 1. Schwyz, Bern 2004, S. 42–49. Ofterdingen: Ein Roman. Stuttgart 2004.
Euw, Anton von: Bibel, in: Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff Gaberell, Roger: Der Psalter Notkers III. von St. Gallen und seine Textu-
(Hg.): Canossa 1077 – Erschütterung der Welt: Geschichte, Kunst alität. St. Gallen 2000.
und Kultur am Aufgang der Romanik. Bd. 2. München 2006 (Aus- Galle, Sara; Kränzle, Andreas; Kwasnitza, Stefan et al.: Ad fontes Here-
stellungskatalog), Nr. 407, S. 298–300. mitarum – Quellen aus dem Stiftsarchiv Einsiedeln. Archivführer
Euw, Anton von: Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahr- und Katalog zur Ausstellung in der Stiftsbibliothek Einsiedeln.
hunderts. 2 Bde. St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli 3). Einsiedeln 2004.
Evans, Michael: The Geometry of the Mind, in: Architectural Association Ganz, Peter (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt.
Quarterly 12/4 (1980), S. 32–55. Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5).
Gastgeber, Christian: Literatur und Wissenschaft im Spiegel der handschrift- Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und 445
lichen Überlieferung, in: Andreas Fingernagel (Hg.): Romanik. Graz Gespräche. West-Östlicher Divan I/II. Hg. von Hendrik Birus.
2007 (Geschichte der Buchkultur 4), S. 145–288. Frankfurt/M. 1994.
Gautier Dalché, Patrick: Carte marine et portulan au XIIe siècle. Le Liber Gottfried-Keller-Homepage: www.gottfriedkeller.ch
de existencia riveriarum et forma maris nostri Mediterranei (Pise, Göttler, Christine: Eine Kleinstadt investiert in das Seelenheil. Mit Fron-
circa 1200). Rom 1995. diensten und Geschenken beteiligen sich rund 600 Personen am
Gawlik, Alfred: Monogramm, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1999), Kirchenneubau von St. Oswald in Zug, in: Peter Jezler (Hg.): Himmel
S. 762. Hölle Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Zürich 1994 (Ausstel-
Geneologia de Christo. Magister Petrus Pictaviensis (Faksimile der Hand- lungskatalog), Nr. 50, S. 231f.
schrift der Biblioteca Casanatense, Rom, ms. 4254). Barcelona Gottschewski, Hermann: Musikalische Schriftsysteme und die Bedeutung ih-
2000. rer »Perspektive« für die Musikkultur. Ein Vergleich europäischer und
Gerhards, Albert: Der Kirchenraum als »Liturge«, in: Franz Kohlschein, japanischer Quellen, in: Grube/Kogge/Krämer (2005), S. 253–278.
Peter Wünsche (Hg.): Heiliger Raum. Architektur, Kunst und Li- Graff, Eberhard G.: Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der
turgie in mittelalterlichen Kathedralen und Stiftskirchen. Münster althochdeutschen Sprache. 6 Bde. Berlin 1834–1842, Nachdruck
1998 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 82), Hildesheim 1963.
S. 225–242. Grasshoff, Richard: Der befreite Buchstabe. Über Lettrismus, Letters
Germann, Martin: Die reformierte Stiftsbibliothek am Großmünster Zü- in Freedom. Diss. Berlin 2001; digital: http://www.diss.fuberlin.
rich im 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1994 (Beiträge zum Buch- und de/2001/9/index.html.
Bibliothekswesen 34). Greber, Erika; Ehlich, Konrad; Müller, Jan-Dirk (Hg.): Materialität und
Gerth, Klaus: ›Ein Gespräch über Bäume.‹ Natur und Lyrik, in: Richard Medialität von Schrift. Bielefeld 2002 (Schrift und Bild in Bewe-
Fischer (Hg.): Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur gung 1).
vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. u.a. 1995 (Forschun- Grégoire, Réginald; Moulin, Léo; Oursel, Raymond: Die Kultur der Klöster.
gen zur Literatur- und Kulturgeschichte 52), S. 582f. Darmstadt 1985.
Gibson, Margaret: Carolingian Glossed Psalters, in: Richard Gameson Grenier, Jean-Claude: Les inscriptions hiéroglyphiques de l’Obélisque
(Hg.): The Early Medieval Bible. Its Production, Decoration and Pamphili, in: Mélanges de l’École Française de Rome. Antiquité 99
Use. Cambridge 1994, S. 78–100. (1987), S. 937–961.
Gilomen, Hans-Jörg: Innere Verhältnisse der Stadt 1300–1500, in: Niklaus Griese, Sabine: Bild – Text – Betrachter. Kommunikationsmöglichkeiten
Flüeler, Marianne Flüeler-Grauwiler (Hg.): Geschichte des Kantons von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert, in: Nikolaus Hen-
Zürich. Bd. 1. Zürich 1995, S. 386–389. kel, Martin H. Jones, Nigel F. Palmer (Hg.): Dialoge. Sprachliche
Giuriato, Davide: Tyrannischer Füllfederhalter oder zartes Maschinchen? Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter.
Walter Benjamin – Siegfried Kracauer, 1927, in: Amalia Kerekes, Ni- Hamburger Colloquium 1999. Tübingen 2003, S. 315–335.
colas Pethes (Hg.): Archiv – Zitat – Nachleben. Die Medien bei Walter Griese, Sabine: Heilige im Druck – Einblatt-Holzschnitte des 15. Jahrhunderts
Benjamin und das Medium Benjamin. Bern u. a. 2005, S. 113–134. als Zeichen und Symbole, in: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hg.):
Giuriato, Davide; Stingelin, Martin; Zanetti, Sandro (Hg.): »Schreibkugel Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävisti-
ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreib­szenen im Zeitalter der schen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 2003, S. 783–807.
Typoskripte. München 2005. Groddeck, Wolfram: Grab und Griffel. Kleists semiologische Anekdote
Giuriato, Davide: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in vom Griffel Gottes, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in
Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932–1939). München der Moderne. Insbruck u.a. 2001, S. 57–77.
2006. Groddeck, Wolfram: Hölderlin. Neue (und alte) Lesetexte. Oder vom
Glaser, Elvira; Moulin-Fankhänel, Claudine: Die althochdeutsche Überlie- Eigensinn der Überlieferung, in: Text. Kritische Beiträge 1 (1995),
ferung in Echternacher Handschriften, in: Michele C. Ferrari, Jean S. 61–76.
Schroeder, Henri Traufler (Hg.): Die Abtei Echternach. Luxembourg Grube, Gernot; Kogge, Werner; Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtechnik
1999, S. 103–122. zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005.
Glaser, Elvira; Nievergelt, Andreas: Althochdeutsche Griffelglossen: For- Gründer, Karlfried: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns ›Bi-
schungsstand und Neufunde, in: Albrecht Greule, Eckhard Mei- blische Betrachtungen‹ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie.
neke, Christiane Thim-Mabrey (Hg.): Entstehung des Deutschen. Freiburg, München 1958.
Heidelberg 2004 (Jenaer Germa­nistische Forschungen. N. F. 17), Grünenfelder, Josef: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zug. Bd. 2. Bern
S. 119–132. 2006.
Gnägi, Thomas: De locis sanctis. Zeichnungen im Pilgerbericht des Adam- Guldan, Ernst: »Et verbum carum factum est.« Die Darstellung der Inkar-
nan aus dem 7. Jahrhundert, in: Helmut Brinker, Wolfgang Kersten, nation Christi im Verkündigungsbild, in: Römische Quartalsschrift
Franz Zelger (Hg.): Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen für christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 63 (1968),
Instituts der Universität Zürich 2004/2005 (2006), S. 31–45. S. 145–169.
446 Gumbert, Johann Peter: Zur ›Typographie‹ der geschriebenen Seite, in: Haug, Walter: Überlegungen zur Revision meiner Grundlegung einer
Hagen Keller (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Theorie des mystischen Sprechens, in: ebd. S. 545–549.
Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. München 1992, Häußling, Angelus A.: Stundengebet, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997),
S. 158–174. Sp. 259–265.
Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Hauvette, Henri: Études sur Boccace (1894–1916). Turin 1968.
Präsenz. Frankfurt/M. 2004. Hegi, Friedrich: Die Jahrzeitenbücher der zürcherischen Landschaft, in:
Günthart, Romy: Deutschsprachige Literatur im frühen Basler Buchdruck ders., Anton Largiadèr (Hg.): Festgabe Paul Schweizer. Zürich 1922.
(ca. 1470–1510). Münster u. a. 2006 (Studien und Texte zum Mittel- S. 120–217.
alter und zur frühen Neuzeit 11). Heidecker, Karl: Konflikt und Schrift in der Karolingerzeit, in: Peter Erhart,
Gutmann, Joseph: Sacred Images: Studies in Jewish Art from Antiquity to Lorenz Hollenstein (Hg.): Mensch und Schrift im frühen Mittelalter.
the Middle Ages. Northampton 1989. St. Gallen 2006, S. 28–32.
Gutscher, Charlotte; Villiger, Verena: Im Zeichen der Nelke. Der Hochaltar Heimbach, Marianne: ›Der ungelehrte Mund‹ als Autorität. Mystische Er-
der Franziskanerkirche in Freiburg i. Ü. Bern 1999. fahrung als Quelle kirchlich-prophetischer Rede im Werk Mechthilds
Haas, Alois M.: Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Magdeburg. Stuttgart, Bad Cannstatt 1989 (Mystik in Geschichte
von Heinrich Seuses Mystik. Bern u. a. 21996. und Gegenwart I. Christliche Mystik 6).
Habachi, Labib: Die unsterblichen Obelisken Ägyptens. Mainz 1982. Heinz, Andreas: Neumen, in: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage
Hägermann, Dieter: Urbar, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1999), Sp. 1286– 7 (1998), Sp. 766f.
1289. Heinzer, Felix: Exercitium scribendi – Überlegungen zur Frage einer
Hamburger, Jeffrey F.: Medieval Self-Fashioning: Authorship, Authority Korrelation zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im
and Autobiography in Seuse’s Exemplar, in: Kent Emery Jr., Joseph Mittelalter, in: Hans-Jochen Schiewer, Karl Stackmann (Hg.): Die
Wawrykow (Hg.): Christ among the Medieval Dominicans. Notre Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Tübingen 2002,
Dame, Indiana 1998, S. 430–461; wieder in: ders.: The Visiual and the S. 107–129.
Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany. Heiser, Sabine: Andenken, Andachtspraxis und Medienstrategien – Das
New York 1998, S. 233–278. Wiener Heiltumsbuch von 1502 und seine Folgen für das Witten-
Hamburger, Jeffrey F.: Heinrich Seuse Das Exemplar, in: Katalog der berger Heiltumsbuch von 1509, in: Andreas Tacke (Hg.): »Ich armer
deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Bd. 4. sundiger mensch«. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum
(im Druck). konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2006, S. 208–238.
Hanebutt-Benz, Eva: Bucheinbände im 15. und 16. Jahrhundert, in: Barbara Helbling, Leo (Hg.): Das Blockbuch von Sankt Meinrad und seinen Mör-
Tiemann (Hg.): Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert. Stuttgart dern und vom Ursprung von Einsiedeln. Einsiedeln 1961; Farbige
1995, S. 265–335. Faksimile-Ausgabe zum 11. Zentenar des Heiligen 861–1961.
Harbison, Peter: Die Kunst des Mittelalters in Irland. Darmstadt 1998. Hellmuth, Doris: Frau und Besitz. Zum Handlungsspielraum von Frauen in
Harley, John Brian: The New Nature of Maps. Essays in the History of Alamannien (700–940). Sigmaringen 1998 (Vorträge und Forschun-
Cartography. Hg. von Paul Laxton. London 2001. gen; Sonderbd. 42).
Hartan, John: Stundenbücher und ihre Eigentümer. Freiburg/Br. 1982. Henry, Françoise; Marsh-Micheli, Geneviève: Studies in Early Christian
Haubrichs, Wolfgang: Error inextricabilis, in: Christel Meier, Uwe Ruberg and Medieval Irish Art. Bd. 2. London 1984.
(Hg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste Hesbert, René-Jean: Corpus Antiphonalium Officii. 6 Bde. Rom 1963–1979
in Mittelalter und früher Neuzeit. Wiesbaden 1980, S. 63–174. (Rerum Ecclesiasticarum Documenta. Series Maior. Fontes 7–12).
Haug, Andreas: Gesungene und schriftlich dargestellte Sequenz. Beob- Hirschmann, Wolfgang: Musiktheorie als Fundierung liturgischer Gesangs­
achtungen zum Schriftbild der ältesten ostfränkischen Sequenzen- praxis, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter.
handschriften. Neuhausen-Stuttgart 1987 (Tübinger Beiträge zur Wolfenbüttel 2004 (Ausstellungskataloge der Herzog August Biblio­
Musikwissenschaft, 12). thek 83), S. 415–423.
Haug, Andreas: Zum Wechselspiel von Schrift und Gedächtnis im Zeitalter Hitzig, Julius E.: Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß. Berlin 1823.
der Neumen, in: International Musicological Society Study Group Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke. 6 Bde. Hg. von Wulf Segebrecht u.a.
Cantus Planus. Papers read at the Third Meeting Hungary 1988. Frankfurt/M. 1985ff.
Budapest 1990, S. 33–43. Hofmann, Rijcklof: The Sankt Gall Priscian Commentary. Part 1 and 2.
Haug, Andreas: Musikhistorische Prozesse im liturgischen Gesang des Münster 1996.
Mittelalters, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mit- Höhener, Hans-Peter: Konrad Türst und seine Beziehungen zu Rudolf von
telalter. Wolfenbüttel 2004 (Ausstellungskatalog der Herzog August Erlach, in: Ellen J. Beer u. a. (Hg.): Berns große Zeit. Das 15. Jahr-
Bibliothek 83), S. 430–436. hundert neu entdeckt. Bern 1999, S. 323–328.
Haug, Walter: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens Hölderlin, Friedrich: Homburger Folioheft. Faksimile-Edition. Hg. von D.
(zuerst 1986), in: ders.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. E. Sattler, Emery E. George. Frankfurt am Main 1986 (Supplement-
Tübingen 1995, S. 531–544. band III der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe).
Hollmer, Heide: Eine Liebeserklärung an das Buch und Anleitung zum Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich. Bd. 1. Mittelalter- 447
Selber-Denken: Karl Philipp Moritz’ »ABC«-Buch, in: Karl Ph. liche Handschriften. Hg. von Leo Cunibert Mohlberg. Zürich 1952
Moritz: Neues ABC-Buch. Illustrationen von Wolf Erlbruch. Mün- (1. und 2. Lieferung 1932).
chen 2000, o. P. Kaufmann, Frank-Michael (Hg.): Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht.
Holtz, William V.: Image and Immortality. A Study of Tristram Shandy. Buch’sche Glosse (MGH Font. Iur. Germ. Ant. N. S. VII). 3 Bde.
Providence 1970. Hannover 2002.
Honemann, Volker: Der Laie als Leser, in: Klaus Schreiner (Hg.): Laien- Keitz, Ursula von: Der Blick ins Imaginäre. Über ›Sehen‹ und ›Erzählen‹ bei
frömmigkeit im späten Mittelalter. München 1992 (Schriften des F. W. Murnau, in: Klaus Kreimeier (Hg.): Die Metaphysik des Dekors.
Historischen Kollegs. Kolloquien 20), S. 241–251. Licht, Raum und Architektur im klassischen deutschen Stummfilm.
Horat, Heinz: Eine gemalte Predigt. Der spätgotische Altarflügel von Arth, Marburg 1994, S. 80–99.
in: Markus Riek, Markus Bamert (Hg.): Meisterwerke im Kanton Keller, Gottfried. Sämtliche Werke. Aufsätze II. Anhang. Die Berliner
Schwyz. Bd. 1. Bern 2004, S. 120–125. Schreibunterlagen. Bern 1948.
Ischer, Theophil: Die ältesten Karten der Eidgenossenschaft. Bern 1945. Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Hg. von Peter Stocker u. a. Basel,
Iversen, Erik: Obelisks in Exile. Vol. 1. Kopenhagen 1968. Zürich 2006.
Jacobs, Carol: The Style of Kleist, in: Diacritics 9.4 (1979), S. 47–61. Keller, Hagen: Schriftgebrauch und Symbolhandeln in der öffentlichen
Jakobi, Rainer: Adnoten zu den Ioca monachorum, in: Eranos 96 (1998), Kommunikation. Aspekte des gesellschaftlich-kulturellen Wandels
S. 72–74. vom 5. bis zum 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37
Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Aus- (2003), S. 1–24.
stattung. Stuttgart 2004. Keller, Hagen: Vom »heiligen Buch« zur »Buchführung«. Lebensfunkti-
Jakobs, Horst Heinrich: Magna glossa. Textstufen der legistischen glossa onen der Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 26
ordinaria. Paderborn 2006. (1992), S. 1–31.
Jammers, Ewald: Graduale, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 2 Keller, Rolf: Bildnis des Stifters Magister Johannes Eberhard mit hl. Anna
(1958), Sp. 1821. Selbdritt und hl. Oswald, in: Tugium 5 (1989), S. 81–95.
Janota, Johannes; Williams Krapp, Werner W.: Literarisches Leben in Keller, Rolf: Hl. Anna Selbdritt, hl. Oswald und Magister Johannes Eberhart,
Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (Studia in: ders., Beat Dittli, Mathilde Tobler (Hg.): Museum in der Burg Zug.
Augustana 7). Bau, Sammlung und ausgewählte Objekte. Zug 2002, S. 43.
Jaspert, Bernd: Benedikts Botschaft am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Regulae Kiening, Christian: Blick und Schrift. Das Cabinet des Dr. Caligari und die
Benedicti Studia. Annuarium Internationale16 (1989), S. 205–232. Medialität des frühen Spielfilms, in: Poetica 37 (2005), S. 119–145.
Jezler, Peter; Konrad, Bernd: Magister Eberhart, die treibende Kraft hinter Kiermeier-Debre, Joseph; Vogel, Fritz Franz (Hg.): Johann David Steingru-
dem Zuger Kirchenbau lässt von sich ein Devotionsbild malen, in: ber. Architektonisches Alphabet 1773. Ravensburg 1997.
Peter Jezler (Hg.): Himmel Hölle Fegefeuer. Das Jenseits im Mittel- Kirk Dobbie, Elliott van: The Manuscripts of Cædmon’s Hymn and Bede’s
alter. Zürich 1994 (Ausstellungskatalog), Nr. 49, S. 230. Death Song. With a Critical Text of the Epistola Cuthberti de obitu
Kaiser, Markus: Die Ragazer Verschwörung gegen das Goldene Buch von Bedæ. New York 1937.
Pfäfers, in: Terra plana, H. 4 (1994), S. 21–24. Kittler, Friedrich: nietzsche, der mechanisierte philosoph, in: kultuRRevoluti-
Kammer, Stephan: Tippen und Typen. Einige Anmerkungen zum Maschi- on. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 9 (Juni 1985), S. 25–29.
nenschreiben und seiner editorischen Behandlung, in: Christiane Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis, in: Dieter Hombach (Hg.): ZETA
Henkes, Harald Saller (Hg.): Text und Autor. Beiträge aus dem Vene- 02. Mit Lacan. Berlin 1982, S. 103–136; wieder in: ders.: Draculas
dig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs »Textkritik« München. Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 11–57.
Tübingen 2000 (Beihefte zu editio 15), S. 191–206. Kläui, Paul: Geschichte der Gemeinde Uster. Zürich 1964.
Kammer, Stephan: Auf/Zeichnung. Funktionen des Skripturalen bei Adolf Kleist, Heinrich von: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim
Wölfli, in: Grube/Kogge/Krämer (2005), S. 343–356. Reden, in: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ilse-Marie Barth u.
Kasper, Monika: Vom Malen zum Schreiben: Gottfried Kellers Berliner a. Frankfurt/M. 1986ff.
Schreibunterlage, in: Peter Hughes, Thomas Fries (Hg.): Schreib- Klöckener, Martin; Häußling, Angelus A.: Liturgische Bücher, in: Divina
prozesse. München 2007 (im Druck). Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter. Wolfenbüttel
Katalog der arabischen, türkischen und persischen Handschriften der Zentral- 2004 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 83),
bibliothek Zürich, [bearbeitet] von Tobias Nünlist, unter Mitarbeit von S. 341–372.
Andreas Kaplony und Tobias Heinzelmann. Wiesbaden 2008 (Kataloge Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache.
der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich 4) (im Druck). Berlin 221989.
Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift Kock, Thomas: Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenpro-
vom Anfang des Mittelalters bis 1550. Bd. 3,1 und 3,2. Hg. von Beat duktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter
Matthias von Scarpatetti, Rudolf Gamper, Marlis Stähli. Dietikon, des Medienwechsels. Frankfurt/M. 1999 (Tradition – Reform – In-
Zürich 1991. novation 2).
448 Köhler, Reinhold: Kleinere Schriften. Bd. 3. Hg. von Johannes Bolte. Berlin scripts in Cambridge collections. Cambridge 2001 (Exhibition
1900. Catalogue).
König, Peter: Giambattista Vico. München 2005. La Roncière, Monique de; Mollat du Jourdain, Michel: Portulane. Seekarten
Koopmann, Helmut: Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998. vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. München 1984.
Köster, Kurt: Mittelalterliche Pilgerzeichen, in: Lenz Kriss-Rettenbeck, Lang, Odo: Die Meinradsliturgie – Eine liturgiegeschichtliche Studie, in:
Gerda Möhler (Hg.): Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu ders. (Hg.): Sankt Meginrat. Festschrift zur zwölften Zentenarfeier
einer Ausstellung. München 1984, S. 203–223. seiner Geburt. München 2000, S. 65–295.
Krämer, Sybille: Schriftbildlichkeit. Über eine (fast) vergessene Dimension Lang, Odo: Im Kreuz ist Heil! Das Kreuz als Zeichen des Heils in Hand-
der Schrift, in: dies., Horst Bredekamp (Hg.): Bild – Schrift – Zahl. schriften und Drucken der Stiftsbibliothek. Stiftsbibliothek Einsie-
München 2003, S. 157–175. deln 2000 (Ausstellungskatalog).
Krämer, Sybille: Textualität, Visualität und Episteme. Über ihren Zusammen- Lang, Odo: Verzeichnis der Handschriften 501–1318 der Stiftsbibliothek
hang in der frühen Neuzeit, in: Renate Lachmann, Stefan Rieger (Hg.): Einsiedeln (im Druck).
Text und Wissen. Technologische und Anthropologische Aspekte. Lange, Hermann: Römisches Recht im Mittelalter. Bd. 1. Die Glossatoren.
Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie 16), S. 17–27. München 1997.
Krämer, Sybille: Operationsraum Schrift. Über einen Perspektivenwechsel Largier, Niklaus: Schrift als Ereignis. Zur Inszenierungsstruktur mittelal-
in der Betrachtung der Schrift, in: Grube/Kogge/Krämer (2005), terlicher Liturgie, in: Thomas Rathmann (Hg.): Ereignis. Konzepti-
S. 23–57. onen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln 2003,
Kranemann, Benedikt: Liturgische Bücher als schriftliche Zeugnisse der S. 85–102.
Liturgiegeschichte. Entstehung – Typologie – Funktion, in: Géza Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente: zur Beförderung
Jászai (Hg.): Imagination des Unsichtbaren. 1200 Jahre Bildende der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Mit einem Nachwort
Kunst im Bistum Münster. Münster 1993. von Walter Bredow. 4 Bde. Zürich 1968f.; Nachdruck der Ausgabe
Kretschmer, Konrad: Die italienischen Portulane des Mittelalters. Ein Leipzig 1775–1778.
Beitrag zur Geschichte der Kartographie und Nautik. Berlin 1909, Le Men, Ségolène: L’Indicible et l’irreprésentable: les éditions du Chef-d’œu-
Neudruck Hildesheim 1962. vre inconnu, in: École Nationale Supérieure des Arts décoratifs (Hg.):
Kroon, Marike de: Medieval pilgrimage badges and their iconographic Autour du Chef-d’œuvre inconnu de Balzac. Paris 1985, S. 15–33.
aspects, in: Sarah Blick, Rita Tekippe (Hg.): Art and Architecture Leclercq, Jean: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des
of Late Medieval Pilgrimage in Northern Europe and the British Mittelalters. Darmstadt 1963.
Isles. Boston 2005 (Studies in Medieval and Reformation Traditions Lehmann, Hans: Lukas Zeiner und die spätgotische Glasmalerei in Zürich,
104), S. 385–403. in: Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich 30 (1926),
Krupp, Michael: Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit deutscher Über- S. 5–71.
setzung und Kommentar. Jerusalem 2002. Lehrs, Max: Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederlän-
Kühne, Hartmut: Ostensio Reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, dischen und französischen Kupferstichs im 15. Jahrhundert. Bd. 2.
Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im Wien 1910.
römisch-deutschen Regnum. Berlin, New York 2000 (Arbeiten zur Lentes, Thomas: Gebetbuch und Gebärde. Religiöses Ausdrucksverhalten
Kirchengeschichte 65). in Gebetbüchern aus dem Dominikanerinnen-Kloster St. Nikolaus in
Kühne, Hartmut: Heiltumsweisungen. Reliquien – Ablaß – Herrschaft. Undis zu Straßburg (1350–1550). 2 Bde. Diss. Münster 1996.
Neufunde und Problemstellungen, in: Jahrbuch für Volkskunde N.F. Lentes, Thomas: ›Andacht‹ und ›Gebärde‹. Das religiöse Ausdrucksverhalten,
27 (2004), S. 43–62. in: Bernhard Jussen, Craig Koslofsky (Hg.): Kulturelle Reformation.
Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur: Sinnformationen im Umbruch 1400–1600. Göttingen 1999 (Veröffent-
ein internationales Lexikon. Bd. 1. Stuttgart 1999. lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), S. 29–67.
Kümper, Hiram: Art. Johann von Buch, in: Biographisch-bibliographisches Lentes, Thomas: Einleitung, in: Nikolaus Paulus: Geschichte des Ablasses
Kirchenlexikon 24 (2005), Sp 370–373. im Mittelalter, 3 Bde. Paderborn 1922–1923; Neuauflage Darmstadt
Kurtz, Rudolf: Expressionismus und Film. Nachdr. der Ausgabe von 1926 2000.
hg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Kiening und Lentes, Thomas: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich
Ulrich Johannes Beil. Zürich 2007 (Medienwandel – Medienwechsel Seuse – statt einer Einleitung, in: David Ganz, Thomas Lentes (Hg.):
– Medienwissen 2). Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der
Küsters, Urban: Auf den fleischernen Tafeln des Herzens. Körpersignatur Vormoderne. Berlin 2004 (KultBild 1), S. 13–73.
und Schrift in der Visionsliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Lentes, Thomas: Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus
Klaus Ridder, Otto Langer (Hg.): Körperinszenierungen in mittel- in der Liturgie, in: Ludolf Kuchenbuch, Uta Kleine (Hg.): »Textus«
alterlicher Literatur. Berlin 2002 (Körper – Zeichen – Kultur 11), im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im
S. 251–273. schriftsemantischen Feld. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des
L’Engle, Susan; Gibbs, Robert: Illuminating the law: medieval legal manu- Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), S. 133–148.
Leroi-Gourhan, André: Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Martschukat, Jürgen; Patzold, Steffen: Geschichtswissenschaft und »per- 449
Frankfurt/M. 1984. formative turn«. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und
Levenston, Edward A.: The Stuff of Literature: Physical Aspects of Texts Literatur, in: dies. (Hg.): Geschichtswissenschaft und »performative
and their Relation to Literary Meaning. Albany 1992. turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur
Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Neuzeit. Köln 2003 (Norm und Struktur 19), S. 1–31.
Promies. München 1967–1992. Masser, Achim (Hg.): Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel
Lobrichon, Guy: Une nouveauté. Les gloses de la Bible, in: Pierre Riché, Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916. Göttingen 1997 (Studien zum
Guy Lobrichon (Hg.): Le Moyen Age et la Bible. Paris 1984 (Bible Althochdeutschen 34).
de tous les temps 4), S. 95–114. Masser, Achim (Hg.): Regula Benedicti des Cod. 915 der Stiftsbibliothek
Locher, Elmar: Verstellte Schriften. Differenz und Spur. Anmerkungen zum von St. Gallen. Die Korrekturvorlage der lateinisch-althochdeut-
materiellen Substrat bei Kleist. Heidelberg 2005, in: www.textkritik. schen Benediktinerregel. Göttingen 2000 (Studien zum Althoch-
de/vigoni/locher.htm (29.06.2007). deutschen 37).
Löffler, Karl: Die St. Galler Schreibschule in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts, Masser, Achim: Kommentar zur lateinisch-althochdeutschen Benediktiner-
in: Wallace M. Lindsay (Hg.): Palaeographia Latina 6. Oxford 1929 regel des Cod. 916 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Untersuchun-
(St. Andrews University Publications 28), S. 5–66. gen – Philologische Anmerkungen – Stellennachweis – Register und
Longree, Georges H. F.: L’expérience idéo-calligrammatique d’Apollinaire. Anhang. Göttingen 2002 (Studien zum Althochdeutschen 42).
Paris 1985. Matter, Gerhard: Die Anfänge, in: Stadtbibliothek Zug. Zur Eröffnung der
Lorenczuk, Andreas: Die Bilder der Wahrheit und die Wahrheit der Bilder: Stadt- und Kantonsbibliothek Zug. Zug 1986 (Beiträge zur Zuger
zum »Großen Gockelmärchen (1838)« und den Emmerick-Schriften Geschichte 6), S. 7–85.
von Clemens Brentano. Sigmaringen 1994. Mayer, Matthias: Adalbert Stifter. Erzählen als Erkennen. Stuttgart 2001.
Lubrich, Oliver: Dracula vertextet. Bram Stoker und Adolf Loos entsorgen McManus, Damian: A Guide to Ogam. Maynooth 1997.
ein archaisches Monster, in: Arcadia 40 (2005), S. 2–29. Meininger, Anne-Marie: Introduction, histoire du texte, notes et variantes:
Lustenberger, Othmar: Bild und Abbild. Einsiedler Pilgerzeichen – Einsied- Les Employés, in: Pierre-Georges Castex (Hg.): Honoré de Balzac.
ler (Gnaden-)Kapellen – Einsiedler Gnadenbilder. Ein Forschungsbe- La Comédie humaine. Bd. VII. Paris 1996, S. 859–877; 1544–1557;
richt, in: Odilo Lang (Hg.): Sankt Meginrat. Festschrift zur zwölften 1557–1669.
Zentenarfeier seiner Geburt. München 2000, S. 257–295. Merkel, Kerstin: Die Reliquien von Halle und Wittenberg. Ihre Heiltums-
Lustenberger, Othmar: Einsiedler Marienverehrung am Vorabend der bücher und Inszenierung, in: Andreas Tacke (Hg.): Cranach. Meis-
Reformation, in: Mitteilungen des historischen Vereins des Kantons terwerke auf Vorrat. Die Erlanger Handzeichnungen der Universi-
Schwyz 94 (2002), S. 287–304. tätsbibliothek. München 1994 (Schriften der Universitätsbibliothek
Lutz, Jules; Perdrizet, Paul: Speculum Humanae Salvationis. Übersetzung Erlangen-Nürnberg 25), S. 37–50.
von Jean Mielot (1448). Die Quellen des Speculum und seine Bedeu- Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Frankfurt/M. 2002.
tung in der Ikonographie, besonders in der elsässischen Kunst des Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München
14. Jahrhunderts. 2 Bde. Leipzig, Mulhouse 1907. 2002.
M. Petri Pictaviensis Galli Genealogia et Chronologia Sanctorum Patrum Merz, Walter: Geschichte der Stadt Aarau im Mittelalter. Aarau 1925.
ante hac typis non excusa: Que A Iluio Caesare, usque ad nostra Michael Stolz, Adrian Mettauer (Hg.): Buchkultur im Mittelalter. Schrift –
tempora continiata est ab Hulderico Zvinglio iuniore. Novi testamenti Bild – Kommunikation. Berlin, New York 2005, S. 104–121.
in Schola Tigurina Professore. Basel 1592. Michael, Bernd: Juristische Handschriften aus der Sicht des Handschriften-
Malagnini, Francesca: Il Libro d’Autore dal Progetto alla Realizzazione: Il bearbeiters, in: Vincenzo Colli (Hg.): Juristische Buchproduktion im
Teseida delle Nozze d’Emilia (con un’appendice sugli autografi di Mittelalter. Frankfurt/M. 2002 (Studien zur europäischen Rechtsge-
Boccaccio), in: Studi sul Boccaccio 34 (2006), S. 3–102. schichte 155), S. 39–68.
Mallarmé, Stéphane: Un coup de dés jamais n’abolira le hazard. Paris Michael, Bernd: Textus und das gesprochene Wort. Zu Form und Theorie
1914. des mittelalterlichen Universitätsunterrichts, in: Ludolf Kuchenbuch,
Marey, Étienne-Jules: Recherches sur le pouls au moyen d’un nouvel Uta Kleine (Hg.): »Textus« im Mittelalter. Komponenten und Situ-
appareil enregistreur, le sphygmographe, présenté à la Société de ationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen
Biologie. Paris 1860. 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte
Marey, Étienne-Jules: La méthode graphique dans les sciences expérimentales 216), S. 179–206.
et principalement en physiologie et en medicine. Paris 1878. Middle High German Translations of the Regula Sancti Benedicti. The Eight
Marrone, Caterina: I geroglifici fantastici di Athanasius Kircher. Viterbo Oldest Versions. Hg. von Carl Selmer. Cambridge, Massachusetts
2002. 1933 (The Mediaeval Academy of America Publication 17).
Marti, Susan: Malen, Schreiben, Beten. Die spätmittelalterliche Handschrif- Miedema, Nine R.: Die Mirabilia Romae. Untersuchungen zu ihrer Über-
tenproduktion im Doppelkloster Engelberg. Zürich 2002 (Zürcher lieferung. Tübingen 1996 (Münchener Texte und Untersuchungen
Schriften zur Kunst-, Architektur- und Kulturgeschichte 3). zur deutschen Literatur des Mittelalters 108).
450 Miedema, Nine R.: Rompilgerführer in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Stiftsbibliothek St. Gallen. 150 faksimilierte Initialen aus dem 9. Jahr-
Die Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae. Deutsch-Niederländisch. hundert zu den Psalmentexten in der Übersetzung von Martin Luther.
Tübingen 2003. Freiburg, Basel, Wien 1987.
Millman, Miriam: Les heures de la prière. Catalogue des livres d’heures de Ochsenbein, Peter; Schmuki, Karl; Euw, Anton von: Irische Buchkunst.
la bibliothèque de l’abbaye d’Einsiedeln. Turnhout 2003. Die irischen Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen und das
Mitchell, W.J.T.: Blake’s Composite Art. Princeton N.J. 1978. Faksimile des Book of Kells. St. Gallen 1990 (Ausstellungskatalog).
Möller, Bernd: Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: Johannes Schil- Oechslin, Werner: Architektur und Alphabet, in: Carlpeter Braegger (Hg.):
ling (Hg.): Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Architektur und Sprache. Gedenkschrift für Richard Zürcher. Mün-
Aufsätze. Göttingen 1991, S. 73–85. chen 1982. S. 216–254.
Mommsen, Katharina: Goethe und Diez. Berlin 1961. Oechslin, Werner; Buschow Oechslin, Anja: Der Bezirk Einsiedeln I. Das
Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische Welt. Frankfurt/M. 1988. Benediktinerkloster Einsiedeln. Die Kunstdenkmäler des Kantons
Morgenthaler, Walter: Ein Geisteskranker als Künstler. Adolf Wölfli (zuerst Schwyz. Bd. III,1. Bern 2003 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz).
1921). Wien 1985. Oexle, Otto Gerhard: Die Gegenwart der Lebenden und der Toten, in:
Moritz, Karl Philipp: Die metaphysische Schönheitslinie (1793), in: Schrif- Karl Schmid (Hg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. Freiburg,
ten zur Ästhetik und Poetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. München, Zürich 1995, S. 74–107.
Tübingen 1962. Oexle, Otto Gerhard: Memoria und Memorialüberlieferung im frühen
Müller, Hans von (Hg.): Die Handzeichnungen E.T.A. Hoffmanns in Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 70–95.
Faksimilelichtdruck. E.T.A. Hoffmann als bildender Künstler. Text­ Oexle, Otto Gerhard: Memoria in der Gesellschaft und Kultur des Mit-
revision der Erläuterungen von Friedrich Schnapp. Berlin 1925, telalters, in: Joachim Heinzle (Hg.): Modernes Mittelalter. Leipzig
Nachdr. Hildesheim 1973. 1994, S. 297–323.
Müller, Lothar (Hg.): Das Karl-Philipp-Moritz-ABC. Anregungen zur O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000
Sprach-, Denk- und Menschenkunde. Frankfurt/M. 2006. (Probleme der Dichtung 28).
Müller, Stephan (Hg.): Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Ott, Norbert H.: Texte und Bilder. Beziehungen zwischen den Medien
Anthologie. Stuttgart 2007. Kunst und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Horst
Murat, Michel: Le Coup de dés de Mallarmé. Un recommencement de la Wenzel, Wilfried Seipel, Gotthart Wunberg (Hg.): Die Verschriftli-
poésie. Paris 2005. chung der Welt: Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters
Nadler, Josef: Hamann, Kant, Goethe, in: Reiner Wild (Hg.): Johann Georg und der Frühen Neuzeit. Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen
Hamann. Darmstadt 1978, S. 201–217. Museums 5), S. 105–144.
New, Melvyn: Tristam Shandy: Contemporary Critical Essays. London Ott, Norbert H.: Text im Bild – Text als Bild. Zu Materialität, Zeichencha-
1992. rakter und Aussageebene von Initialen in mittelalterlichen Hand-
Niesner, Manuela: Das Speculum Humanae Salvationis der Stiftsbibliothek schriften, in: Karl Brunner, Gerhard Jaritz (Hg.): Text als Realie.
Kremsmünster. Edition der mittelhochdeutschen Versübersetzung Internationaler Kongreß Krems an der Donau 2000. Wien 2003
und Studien zum Verhältnis von Bild und Text. Köln, Weimar, Wien (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters
1995 (Pictura et Poesis 8). und der Frühen Neuzeit 18), S. 337–358.
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Bd. 6. Otto, Stephan: Il conflitto tra immagini e parole. La filosofia del ricordo in
Berlin, New York 1980. uno sguardo su Vico e Hegel, in: Stefan Otto, Vincenzo Vitiello (Hg.):
Nietzsche, Friedrich: Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition. Faksi- Vico – Hegel. La memoria e il sagro. Napoli 2001, S. 11–73.
miles und kritischer Kommentar. Aus dem Nachlaß hg. von Stephan Page, Sophie: Magic in Medieval Manuscripts. London 2004.
Günzel, Rüdiger Schmidt-Grépály; mit einem Nachwort von Fried- Pankow, Edgar: Medienwechsel. Zur Konstellation von Literatur und Ma-
rich Kittler. Weimar 22002. lerei in einigen Arbeiten E. T. A. Hoffmanns, in: E. T. A. Hoffmann
Nievergelt, Andreas: Althochdeutsch in Runenschrift. Geheimschriftliche Jahrbuch 10 (2002), S. 42–57.
althochdeutsche Griffelglossen, in: Beiheft ZfdA 2008 (in Vorbe- Pankow, Edgar: Lektüre zum Tode. Sigmund Freud und Honoré de Balzac
reitung). als Leser der letzten Dinge, in: Sigmund Freud-Museum Newsletter
Oberli, Matthias: Machtkampf um die Gnadenkapelle – Die Neugestaltung 02 (2003), S. 4–16.
der Einsiedler Gnadenkapelle im 17. Jahrhundert, in: Markus Riek, Papini, Mario: Il geroglifico della storia. Significato e funzione della dipintura
Markus Bamert (Hg.): Meisterwerke im Kanton Schwyz. Bd. 1. nella ›Scienza nuova‹ di Giambattista Vico. Bologna 1984.
Wabern, Bern 2004, S. 174–179. Parello, Daniel: Neue Lösungen zur Bildprogrammatik Zisterziensischer
Ochsenbein, Peter: Sonderling im Galluskloster: Winitharius – der erste Prachtfenster im 14. Jahrhundert, in: Hartmut Scholz, Ivo Rauch,
Schriftsteller des Klosters St. Gallen, in: ders.: Cultura Sangallensis. Daniel Hess (Hg.): Glas. Malerei. Forschung. Internationale Studien
Gesammelte Aufsätze. St. Gallen 2000 (Monasterium Sancti Galli I), zu Ehren von Rüdiger Becksmann. Berlin 2004, S. 165–180.
S. 148–153. Patterson, Diana: Tristram’s Marblings and Marblers, in: Shandean 3 (1991),
Ochsenbein, Peter; Scarpatetti, Beat M.von: Der Folchart-Psalter aus der S. 70–97.
Perret, Franz; Vogler, Werner: Pfäfers, in: Helvetia Sacra III/1. Basel 1986, in: Klaus Schreiner (Hg.): Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. For- 451
S. 980–1033. men, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. München 1992
Peters, Günther: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumenge- (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 20), S. 310–318.
dichten von Brockes, Goethe und Gautier. München 1993. Ruby, Daniel: Schema und Variation. Untersuchungen zum Bildergeschich-
Petilli, Nicola: Le opere in volgare del Venerabile Beda, in: Città di vita 51 tenwerk Wilhelm Buschs. Frankfurt/M. 1998.
(1996), S. 151–156. Rüdisühli, Jeannette: Andreas Gubelmann, einst Verwalter der Seelgeräte,
Pfotenhauer, Helmut: Bild – Schriftbild – Schrift: Jean Paul, in: ders.: denkt auch an sein eigenes Heil und schenkt einer Dorfkirche zwei
Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Fenster, in: Peter Jezler (Hg.): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits
Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 123−136. im Mittelalter. Zürich 1994 (Ausstellungskatalog), S. 212.
Preimesberger, Rudolf: Obeliscus Pamphilius. Beiträge zu Vorgeschichte Ruh, Kurt: Der Handschriftenbestand des St. Andreas-Klosters in Engelberg.
und Ikonographie des Vierströmebrunnens auf Piazza Navona, in: Ein Überblick, in: Rolf De Kegel (Hg.): Bewegung in der Bestän-
Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3. F. 25 (1974), S. 77–162. digkeit. Zu Geschichte und Wirken der Benediktinerinnen von St.
Quellenwerk zur Entstehung der Eidgenossenschaft, Abteilung II: Urbare Andreas/Sarnen Obwalden. Alpnach 2000, S. 107–120.
und Rödel bis zum Jahre 1400. Hg. von der Allgemeinen Geschichts- Sablonier, Roger: Verschriftlichung und Herrschaftspraxis. Urbariales
forschenden Gesellschaft der Schweiz. 4 Bde. Aarau 1941–1957. Schriftgut im spätmittelalterlichen Gebrauch, in: Christel Meier (Hg.):
Rädle, Fidel: Otfrids Brief an Liutbert, in: Ernst J. Schmidt (Hg.): Kritische Be- Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. München
wahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Berlin 1974, S. 213–240. 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), S. 91–120.
Raible, Wolfgang: Von der Textgestaltung zur Texttheorie. Zur Entwicklung Sacks-Galley, Pénélope: Calligramme ou écriture figurée. Apollinaire in-
des Textlayouts und ihren Folgen, in: Peter Koch, Sybille Krämer venteur de formes. Paris 1988.
(Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Satiat, Nadine: Balzac ou la fureur d’écrire. Paris 1999.
Tübingen 1997, S. 29–41. Sayers, Jane E.: The land of chirograph, writ and seal. The absence of graphic
Rauschert, Jeanette: Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung von symbols in English documents, in: Peter Rück (Hg.): Graphische
Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters. Freiburg 2006 Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Sigmaringen 1996 (Histo-
(Scrinium Friburgense 19). rische Hilfswissenschaften 3), S. 533–548.
Reed Doob, Penelope: The Idea of the Labyrinth from Classical Antiquity Schaab, Rupert: Bibeltext und Schriftstudium in St. Gallen, in: Peter Och-
through the Middle Ages. Ithaca NY 1990. senbein (Hg.): Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle
Regula Benedicti. Die Benediktusregel Lateinisch-Deutsch. Hg. im Auftrag Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert. Darmstadt 1999, S. 119–136,
der Salzburger Äbtekonferenz. Beuron 42006. 248–253.
Reichardt, Paul F.: Bede on Death and a Neglected Old English Lyric, in: Scherrer, Gustav: Verzeichnis der Handschriften der Stiftsbibliothek von
Kentucky Philological Review 12 (1997), S. 55–60. St. Gallen. Halle 1875, Nachdr. Hildesheim 1975.
Reinburg, Virginia: Prayer and the Book of Hours, in: Roger S. Wieck (Hg.): Scheunemann, Dietrich: The Double, the Décor, and the Framing Device:
Time sanctified – The Book of Hours in Medieval Art and Life. New Once more on Robert Wiene’s The Cabinet of Dr. Caligari, in:
York 1988, S. 39–44. ders. (Hg.): Expressionist Film. New Perspectives. Rochester 2003,
Riecke, Jörg: Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fach- S. 125–156.
sprache im Deutschen. Bd. 2. Berlin 2004. Schilling, Margarete: Glocken – Gestalt, Klang und Zier. München 1988.
Rieger, Stefan: Mediale Schnittstellen. Ausdruckshand und Arbeitshand, in: Schmenk, Holger: Die frühmittelalterlichen Gedenkbücher des Bodensee-
Annette Keck, Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschen- raums. Marburg 2003.
bilder als Medienprojektionen. Bielefeld 2001, S. 235–250. Schmid, Bruno: Das Jahrzeitbuch als Rechtsgeschichtsquelle, in: Anzeiger
Riemer, Elke: E.T.A. Hoffmann und seine deutschen Illustratoren, in: von Uster (23. August 2005), S. 12.
Irmgard Wirth (Hg.): E.T.A. Hoffmann und seine Zeit. Gemälde, Schmid, Karl (Hg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. Freiburg, Mün-
Graphik, Dokumente, Bücher, Photographien. Berlin 1976 (Aus- chen, Zürich 1985.
stellungskatalog), S. 40–45. Schmidt, Peter: Die Kupferstiche des Meisters E.S. zur Wallfahrt nach Einsie-
Ringholz, Odilo: Geschichte des fürstlichen Benediktinerstiftes Unsere deln. Einige Überlegungen zum Publikum, Programm und Kontext,
Liebe Frau von Einsiedeln. Einsiedeln 1904. in: Stephan Flüssel, Gert Hübner, Joachim Knape (Hg.): ARTIBVS
Ringholz, Odilo: Die Einsiedler Wallfahrts-Andenken einst und jetzt, Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der
in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 22 (1919), S. 176–191, frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag.
232–242. Wiesbaden 1994, S. 293–318.
Rogers, Pat: Ziggerzagger Shandy: Sterne and the Aesthetics of the Crooked Schmitt, Jean-Claude: Die Wiederkehr der Toten. Geistergeschichten im
Line, in: Journal of the English Association 42 (1993), S. 97–107. Mittelalter. Stuttgart 1995.
Rubin, Miri: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture. Schmitt, Jean-Claude: L’imagination efficace, in: ders: Le corps des images.
Cambridge 1991. Essais sur la culture visuelle au Moyen Âge. Paris 2002 (Le temps
Rubin, Miri: Symbolwert und Bedeutung von Fronleichnamsprozessionen, des images), S. 345–362.
452 Schmitz-Emans, Monika: Das Leben Fibels als Transzendentalroman. Eine Schultz, Hartwig: Clemens Brentano. Stuttgart 1999.
Studie zu Jean Pauls poetischen Reflexionen über Sprache und Schrift, Sebald, W. G.: Anmerkungen zu Gottfried Keller, in: ders.: Logis in einem
in: Aurora 52 (1992), S. 143−166. Landhaus. München 1998, S. 95–126.
Schmitz-Emans, Monika: Der verlorene Urtext. Fibels Leben und die schrift- Seel, Martin: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite
metaphorische Tradition, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft eines Begriffs, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik
26/27 (1992), S. 197−241. der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und
Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt/M. 2001, S. 48–62.
zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995. Seuse, Heinrich: Deutsche Schriften. Hg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart
Schmuki, Karl: Mittelalterliche Weltkarten, in: Karten und Atlanten. Hand- 1907.
schriften und Drucke vom 8. bis zum 18. Jahrhundert (Katalog zur Sieber, Christian: Adelskloster, Wallfahrtsort, Gerichtshof, Landesheiligtum.
Jahresausstellung der Stiftsbibliothek St. Gallen). St. Gallen 2007, Einsiedeln und die Alte Eidgenossenschaft, in: Mitteilungen des His-
S. 19–40. torischen Vereins des Kantons Schwyz 88 (1996), S. 41–51.
Schmuki, Karl, Ochsenbein, Peter, Dora, Cornel: Cimelia Sangallensia. Hun­dert Sieber, Christian: Eidleistung und Schwörtage im spätmittelalterlichen
Kostbarkeiten aus der Stiftsbibliothek St. Gallen. St. Gallen 2000. Zürich, in: Staatsarchiv des Kantons Zürich: Zürich 650 Jahre eid-
Schneider, Jenny: Glasgemälde. Katalog der Sammlung des Schweizerischen genössisch. Zürich 2001, S. 19–58.
Landesmuseums Zürich. 2 Bde. Zürich 1970. Sieber-Lehmann, Claudius: Albrecht von Bonstettens geographische Dar-
Schneider, Karin: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. 1. Wiesba- stellung der Schweiz von 1479, in: Cartographica Helvetica 16 (1997),
den 1987. S. 39–46.
Schneider, Wolfgang Christian: Geschlossene Bücher – offene Bücher. Das Sieber-Lehmann, Claudius: Die Eidgenossenschaft 1479 und Europa am Ende
Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices, in: Historische des 20. Jahrhunderts. Zur Erfindung und Repräsentation von Ländern,
Zeitschrift 271 (2000), S. 561–592. in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 3 (1994), S. 178–192.
Schnell, Bernhard: Art. ›Himmelsbrief‹, in: Die deutsche Literatur des Mit- Sigg, Otto: Überlieferte Chirographie in Zürcher Gemeindearchiven – 15.–
telalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Bd. 4 (1983), Sp. 28–33. 18. Jahrhundert, in: Archivalische Zeitschrift 88 (2006), S. 949–958.
Schönemann, Heide: Paul Wegener. Frühe Moderne im Film. Stuttgart 2003. Signori, Gabriele: Wanderer zwischen den »Welten« – Besucher, Briefe,
Schopf, Alfred: Bedas Sterbelied, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Vermächtnisse und Geschenke als Kommunikationsmedien im Aus-
37 (1996), S. 9–30. tausch zwischen Kloster und Welt, in: Krone und Schleier. Kunst aus
Schreiber, Wilhelm L.: Handbuch der Holz- und Metallschnitte des 15. Jahr- mittelalterlichen Frauenklöstern. Bonn, Essen 2005 (Ausstellungs-
hunderts. 4. Bd. Leipzig 1927. katalog), S. 130–141.
Schreiner, Klaus: »... wie Maria geleicht einem puch.« Beiträge zur Buchme- Simon, Ralf: Allegorie und Erzählstruktur in Jean Pauls Leben Fibels, in:
taphorik des hohen und späten Mittelalters, in: Archiv für Geschichte Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 26/27 (1992), S. 223−241.
des Buchwesens 2 (1971), S. 1437–1464. Sirat, Colette: La lettre Hebraïque et sa signification. Micography as art.
Schreiner, Klaus: Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Paris 1981.
Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im Mittel- Sirat, Colette: Hebrew Manuscripts of the Middle Ages. Cambridge 2002.
alter und in der Frühen Neuzeit, in: Horst Wenzel, Winfried Seipel, Slenczka, Ruth: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen. Köln
Gotthart Wunberg (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text 1998 (pictura et poesis 10).
und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien Šmahel, František: Leben und Werk des Magisters Hieronymus von Prag.
2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), S. 59–103. Forschung ohne Probleme und Perspektiven?, in: Historica. Les
Schreiner, Klaus: Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buch- sciences historiques en Tchécoslovaquie 13 (1966), S. 81–111.
staben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters, Šmahel, František: Das scutum fidei christianae magistri Hiernoymi Pragensis
in: Christel Meier, Volker Honemann, Hagen Keller, Rudolf Suntrup in der Entwicklung der mittelalterlichen trinitarischen Diagramme,
(Hg.): Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. in: Alexander Patschovsky (Hg.): Die Bildwelt der Diagramme Joa-
Akten des Internationalen Kolloquiums 1999. München 2002 (Müns- chims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im
tersche Mittelalter-Schriften 79), S. 277–337. Mittelalter. Ostfildern 2003, S. 185–214.
Schreiner, Klaus: Heilige Buchstaben, Texte und Bücher, die schützen, heilen Sonderegger, Stefan: Notker der Deutsche und Cicero. Aspekte einer mit-
und helfen. Formen und Funktionen mittelalterlicher Schriftmagie, telalterlichen Rezeption, in: Otto P. Clavadetscher, Helmut Maurer,
in: Erika Greber, Konrad Ehlich, Jan-Dirk Müller (Hg.): Materia- Stefan Sonderegger (Hg.): Florilegium Sangallense. St. Gallen, Sig-
lität und Medialität von Schrift. Bielefeld 2002 (Schrift und Bild in maringen 1980, S. 243–266.
Bewegung 1), S. 73–89. Sonderegger, Stefan: St. Galler Spottverse, in: Die deutsche Literatur des Mit-
Schuler, Peter-Johannes: Das Anniversar. Zu Mentalität und Familienbe- telalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 1051–1053.
wußtsein im Spätmittelalter, in: ders. (Hg.): Die Familie als sozialer Sonderegger, Stefan: Althochdeutsch in St. Gallen, in: Peter Ochsenbein
und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und (Hg.): Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom
zur frühen Neuzeit. Sigmaringen 1987, S. 67–117. 8. bis zum 12. Jahrhundert. Darmstadt 1999, S. 205–222.
Springsfeld, Kerstin: Karl der Große, Alkuin und die Zeitrechnung, in: Bayerische Staatsbibliothek (Hg.): Das Buch im Orient. Handschrif- 453
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 27 (2004), S. 53–66. ten und kostbare Drucke aus zwei Jahrtausenden. Wiesbaden 1982
Stadler, Ulrich: Der Sandmann, in: Brigitte Feldges, Ulrich Stadler (Hg.): (Ausstellungskatalog), S. 31–66.
E. T. A. Hoffmann: Epoche – Werk – Wirkung. München 1986, Suchier, Walther (Hg.): Das mittellateinische Gespräch Adrian und Epictitus
S. 135–152. nebst verwandten Texten (Joca Monachorum). Tübingen 1955.
Stähli, Marlis: Die Grabeskirche in Jerusalem. Eine Reichenauer Handschrift Suolahti, Hugo: Die deutschen Vogelnamen: Eine wortgeschichtliche Un-
in Rheinau, in: Librarium 1 (2005), S. 20–30. tersuchung. Straßburg 1909.
Steinmeyer, Elias von: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Tateo, Francesco: Boccaccio. Bari 1998.
Berlin 1916. Telesko, Werner: Die Riesenbibeln. Beobachtungen zu Form und Gebrauch
Stelzer, Otto: Die Vorgeschichte der abstrakten Kunst. Denkmodelle und einer hochmittelalterlichen Gattung, in: Karl Brunner, Gerhard Jaritz
Vor-bilder. München 1964. (Hg.): Text als Realie. Internationaler Kongreß Krems an der Donau
Stercken, Martina: Kleinstadt, Herrschaft und Stadtrecht. Sursee 1999. 2000. Wien 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde
Stercken, Martina: Kartographische Repräsentation von Herrschaft. Jos des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 18), S. 319–335.
Murers Karte des Zürcher Gebiets von 1566, in: Ferdinand Opll Teuscher, Simon: Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und
(Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt. Linz 2004 (Beiträge zur Traditionsbildung im Spätmittelalter. Frankfurt/M. 2007 (Campus
Geschichte der Städte Mitteleuropas 19), S. 219–240. Historische Studien 44).
Stercken, Martina: Inszenierung bürgerlichen Selbstverständnisses und städ- Theisen, Bianca: Bogenschluß. Kleists Formalisierung des Lesens. Frei-
tischer Herrschaft, in: Bernd Roeck (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. burg/Br. 1996.
Sigmaringen 2006, S. 105–122. Trabant, Jürgen: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie.
Stercken, Martina: Kartographien von Herrschaft, in: Rheinische Viertel- Frankfurt/M. 1994.
jahrsblätter 70 (2006), S. 1–24. Tremp Utz, Kathrin: Gedächtnis und Stand. Die Zeugenaussagen im Pro-
Stercken, Martina: Städte der Herrschaft. Kleinstadtgenese im habsburgi- zess um die Kirche von Hilterfingen (um 1312), in: Schweizerische
schen Herrschaftsraum des 13. und 14. Jahrhunderts. Köln, Wien Zeitschrift für Geschichte 36 (1986), S. 157–203.
2006 (Städteforschung A 68). Tremp, Ernst: Auch der Teufel kann schreiben – Schreiben in Ekkeharts
Stercken, Martina: Regionale Identität im spätmittelalterlichen Europa. Casus sancti Galli, in: Peter Erhart, Lorenz Hollenstein (Hg.): Mensch
Kartographische Zeugnisse, in: Ingrid Baumgärtner, Hartmut Kugler und Schrift im frühen Mittelalter. St. Gallen 2006, S. 48–52.
(Hg.): Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Kon- Trusen, Winfried: Chirograph und Teilurkunde im Mittelalter, in: Archiva-
zepte. Wien 2008 (im Druck). lische Zeitschrift 75 (1979), S. 233–249.
Stetter, Christian: Medienphilosophie der Schrift, in: Mike Sandbothe, Ueding, Gert: Wilhelm Busch – Das 19. Jahrhundert en miniature. Frank-
Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie. Berlin 2005 furt/M. 1977.
(Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 7), S. 129–146. Uerlings, Herbert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und
Stevick, Robert D.: A geometer’s art: The full-page illuminations in St. Gal- Forschung. Stuttgart 1991.
len Stiftsbibliothek Cod. Sang. 51, an Insular Gospels Book of the Uerlings, Herbert: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Stuttgart 1998.
VIIIth century, in: Scriptorium 44 (1990), S. 162–192. Urkundenbuch der Abtei St. Gallen. Bearb. von Hermann Wartmann u. a.
Stifter, Adalbert: Die Mappe meines Urgroßvaters. Bd. 6,1; 6,3. Hg. von Bd. 3. St. Gallen 1882.
Herwig Gottwald, Adolf Haslinger. Faksimileausgabe der Dritten Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung
Fassung. Stuttgart u.a. 1998. in der Goethezeit. München 1990.
Stifter, Adalbert: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. Hg. v. Utz, Peter: Digitale Fingerübungen auf traurigen Tasten – eine Fußnote für
Wolfgang Matz. München 2005. Schreibhandwerker, in: www.gingko.ch/cdrom/Utz 2003 (Festschrift
Stingelin, Martin: Wölflis Moderne, in: Bettina Hunger u.a. (Hg.): Porträt für Michael Böhler).
eines produktiven Unfalls – Adolf Wölfli. Dokumente und Recher- Vandelli, Giuseppe: Un autografo della Teseide, in: Studi di filologia italiana 2
chen. Basel, Frankfurt/M. 1993, S. 13–32. (1929), S. 5–76.
Stingelin, Martin (Hg.): ›Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‹. Villwock, Peter: Betty und Gottfried. Eine Geschichte in Bildern, in: Der
Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004. Gottfried-Keller-Rabe. Hg. von Joachim Kersten. Zürich 2000 (Der
Stotz, Peter: Beobachtungen zur lateinischen Kommentarliteratur des Mittelal- Rabe. Magazin für jede Art von Literatur 61), S. 150–161.
ters. Formen und Funktionen, in: Das Mittelalter 3 (1998), S. 55–72. Viscomi, Joseph: Blake and the Idea of the Book. Princeton N. J. 1993.
Stotz, Peter: Dichten als Schulfach. Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung, Voetz, Lothar: Neuedition der althochdeutschen Glossen des Codex San-
in: Mittellateinisches Jahrbuch 16 (1981), S. 1–16. gallensis 70, in: Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach, Lothar Voetz
Stotz, Peter: Ekkehart IV. von St. Gallen, in: Volker Reinhardt (Hg.): (Hg.): Althochdeutsch. I. Grammatik. Glossen und Texte. Heidelberg
Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Stuttgart 1997 (Kröners 1987 (Germanische Bibliothek N. F. 3).
Taschenausgabe 435), S. 160–163. Vogler, Werner: Das Ringen um die Reform und Restauration der Fürstabtei
Striedl, Hans: Hebräische Literatur von den Anfängen bis zur Neuzeit, in: Pfäfers 1549–1637. Mels 1972.
454 Vollmer, Hans: Deutsche Bibelauszüge des Mittelalters zum Stammbaum and Eastern Civilization in Carolingian Times. Basel, Boston, Berlin
Christi mit ihren lateinischen Vorbildern und Vorlagen. Bibel und 1993, S. 229–250.
deutsche Kultur I. Potsdam 1931. Wiesenbach, Joachim: Der Mönch mit dem Sehrohr, in: Schweizerische
Wacha, Georg: Der hl. Wolfgang auf Wallfahrerzeichen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichte 44 (1994), S. 367–388.
Zeitschrift für Volkskunde 81 (1978), S. 263–270. Wild, Daniel Heinrich: The Writing on the Screen: Images of Text in the
Wajntraub, Eva und Gimpel: Noah and his family on medieval maps, in: German Cinema from 1920 to 1949. Pittsburg 2006.
Paul D. Aldshead Harvey (Hg.): The Hereford World Map. London Winthrop-Young, Geoffrey: Undead Networks: Information Processing
2006, S. 381–388. and Media Boundary Conflicts in Dracula, in: Donald Bruce (Hg.):
Walser, Gerold (Hg.): Die Einsiedler Inschriftensammlung und der Pilger- Literature and Science. Amsterdam 1994, S. 107–129.
führer durch Rom (Codex Einsidlensis 326). Facsimile, Umschrift Wirth, Uwe: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buch-
und Kommentar. Stuttgart 1987. druck in Jean Pauls Leben Fibels, in: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt
Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter
Zürich, Frankfurt/M. 1985. der Manuskripte. München 2004, S. 156–174.
Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. 6 Bde. Mikrogramme 1924–1933. Wölfli, Adolf: Von der Wiege bis zum Graab. Oder, Durch arbeiten und
Hg. von Bernhard Echte, Werner Morlang. Frankfurt/M. 1985– schwitzen, leiden, und Dranggsal bettend zum Fluch. Schriften
2000. 1908–1912. 2 Bde. Hg. von der Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum
Wartmann, Hermann: Das Kloster Pfäfers, in: Neujahrsblatt des Histori- Bern. Frankfurt/M. 1985.
schen Vereins des Kantons St. Gallen 1883, S. 6f. Wölfli, Adolf: Geographisches Heft N°. 11. Hg. von der Adolf-Wölfli-
Weber, Samuel: Unwrapping Balzac: A Reading of La peau de chagrin. Stiftung, Kunstmuseum Bern. Stuttgart 1991.
Toronto, Buffalo 1979 (University of Toronto romance series 39). Wolpe, Berthold (Hg.): Johann David Steingruber: Architectural Alphabet
Weber, Stefan: »Ekkehardus poeta qui et doctus«. Ekkehart IV. von St. Gallen 1773. Thirty-three Plates Reproduced in Facsimile. The text translated
und sein gelehrt poetisches Wirken. Nordhausen 2003. by E. M. Hatt. London 1972.
Weimar, Peter: Zur Renaissance der Rechtswissenschaft im Mittelalter. Woodward, David: Medieval Mappaemundi, in: John B. Harley, David
Goldbach 1997. Woodward (Hg.): The History of Cartography. Bd. 1, Chicago,
Weiß, Leo: Verfassung und Stände des alten Zürich. Zürich 1938. London 1987, S. 286–368.
Weitemeier, Bernd: Visiones Georgii. Untersuchung mit synoptischer Edi- Wüthrich, Lucas; Ruoss, Mylène: Katalog der Gemälde. Schweizerisches
tion der Übersetzung und Redaktion C. Berlin 2006. Landesmuseum Zürich. Zürich, Bern 1996.
Welzel, Barbara: Die Engelweihe in Einsiedeln und die Kupferstiche vom Zangger, Alfred: Die sankt-gallische Klosterherrschaft im Umbruch, in:
Meister E.S., in: Städel-Jahrbuch N.F. 15 (1995), S. 121–144. Sankt-Galler Geschichte 2 (2003), S. 155–180.
Wenzel, Horst: Die Verkündigung an Maria. Zur Visualisierung des Wortes in Zeichen der Zeit. Aus den Schatzkammern der Zentralbibliothek Zürich.
der Szene oder: Schriftgeschichte im Bild, in: Claudia Opitz, Hedwig Zürich 2002.
Röckelein, Gabriela Signori, Guy P. Marchal (Hg.): Maria in der Welt. Zimmermann, Helena: Stiftungsreduktion contra Stiftungswirklichkeit.
Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhun- Das Richterswiler Anniversar und die Entstehung pfarrkirchlicher
dert. Zürich 1993 (Clio Lucernensis 2), S. 23–52. Jahrzeitbücher im späten Mittelalter, in: Zürcher Taschenbuch 127
Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis (2006). S. 1–37.
im Mittelalter. München 1995.
Wenzel, Horst: Die Schrift und das Heilige, in: Horst Wenzel, Winfried
Seipel, Gotthart Wunberg (Hg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild,
Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Wien 2000 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), S. 15–57.
Wenzel, Horst: Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Über den
Zusammenhang von Bild, Schrift, Zahl, in: Sybille Krämer, Horst
Bredekamp: Bild-Schrift-Zahl. München 2003, S. 25–55.
Wenzel, Horst: Zentralität und Regionalität. Zur Vernetzung mittelalterlicher
Kommunikationszentren in Raum und Zeit, in: Klaus Grubmüller,
Günter Hess (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII.
Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 7.
Tübingen 1986, S. 14–26.
Wicke, Jennifer: Vampiric Typewriting: Dracula and its Media, in: English
Literary History 59 (1992), S. 467–493.
Wiesenbach, Joachim: Pacificus von Verona als Erfinder einer Sternenuhr,
in: Paul L. Butzer, Dietrich Lohrmann (Hg.): Science in Western

Common questions

Auf Basis von KI

Glosses function as pedagogical tools in medieval educational practices by providing immediate linguistic and interpretative support for learners who might struggle with Latin texts. They offer translations, explanations, and alternative readings directly on the page, enabling students to understand complex texts without extensive external guidance . Through these scripted annotations, students could engage more deeply with texts, as glosses served as a bridge to comprehension, especially in religious and philosophical works. They allowed for a self-guided learning experience, crucial in times when formal schooling was limited and literacy levels varied significantly .

The use of glosses in medieval Europe reflects the sociolinguistic landscape by illustrating the multilingual nature of society and the necessity of bridging Latin with vernacular languages. Glosses provide insight into the linguistic diversity and the socio-cultural need for accessible educational resources across different language speakers . They highlight the intersection of languages, serving both as tools for non-Latin readers and as evidence of the prestige and dominance of Latin, which necessitated these translations for broader understanding . The presence of glosses also indicates an educational and clerical effort to maintain Latin's relevance while accommodating linguistic diversity within Europe’s cultural tapestry .

Glossed texts in medieval manuscripts enhance the reader's understanding of the primary text by providing additional explanations and clarifications. These glosses often contain translations or synonyms for complex Latin words, making the text more accessible to readers who might not be fluent in Latin. For instance, in the St. Gallen handwritings, words appear alongside their meanings or translations, offering a more comprehensive understanding . The arrangement of glosses next to the main text allows readers to continuously consult them, facilitating a more fluent reading experience and deeper comprehension of the material .

The recurrence of the 'book as a motif' in medieval texts suggests a multifaceted view of knowledge and interpretation, where books are not merely vessels of information but are intertwined with the sacred and mystical traditions. They serve as mediators between the divine and the temporal, often presented as objects holding ultimate or concealed truths . This motif underscores the complex dynamics of reading and interpretation in a world where literacy was not widespread, highlighting the power dynamics between those who could read and those who depended on others to interpret for them. The 'book as a motif' symbolizes both the accessibility and inaccessibility of knowledge .

Medieval scholars used glosses to bridge linguistic and cultural gaps in annotated manuscripts by providing vernacular translations and explanations of Latin texts. These glosses serve as a tool for decoding difficult phrases or obscure references, making texts accessible to non-Latin speakers. For example, they often appear in the margins or between lines as translations or synonyms, offering contextual or cultural interpretation . Glosses also included comparative notes on different readings, thus helping to reconcile linguistic differences and facilitating a deeper understanding of the text's original meaning and intent .

In 'Die Bergwerke zu Falun,' the narrative technique reflects the protagonist's inner transformation through the use of symbolic and allegorical elements. The protagonist Elis perceives the mine as a manifestation of a mysterious, larger reality—he interprets the geological formations as "meaningful writings" inscribed by a higher power . This perception reveals his profound internal shift from a rational worldview to mystical introspection. The sudden entombment by the mine mirrors his surrender to this mystical allure, symbolizing his ultimate transformation and alignment with the deeper, secret truths he believes are inscribed in nature .

The concept of textual transformation in Simplicius's interaction with writings is illustrated through his engagement with texts as both magical and banal objects. Simplicius sees texts as challenges requiring decipherment, where each interpretation or reading transforms them into new beginnings . He perceives the magical aspects of texts—such as protective scripts against harm—as ultimately empty, revealing the writings’ hollowness and exposing reality's banalities beneath their mystique. This paradoxical interaction reflects how texts transform from things of lore into simple texts through reader interpretation, showcasing an evolving understanding of and relationship with text .

The motif of magical writings in Hugo von Hofmannsthal's work serves to explore the complex relationship between imagination and reality. These writings often appear to hold supernatural power or deeper truth but are eventually revealed as ordinary, thus emphasizing the theme of illusion versus reality. In his narrative, magical writings are portrayed as paradoxical—exposing wisdom and banality simultaneously . They challenge characters to distinguish between what is fantastical and what is real, illustrating the tension between belief and skepticism, a theme central to Hofmannsthal's exploration of the human condition .

Kafka's 'In der Strafkolonie' explores the theme of authority and punishment through an engraven writing mechanism that inscribes sentences onto the body of the condemned, blending the concept of text and corporeal punishment into a single, grotesque practice. This machine not only acts as the arbiter of sentences but transforms the act of punishment into a textually mediated experience, where the condemned only understands his fate as it is literally inscribed on his flesh . The authority in Kafka's narrative is depicted as both absolute and absurd, as the machine, a symbol of mechanized justice, operates independently of human empathy or mercy, reflecting on the dehumanizing effects of such systematic authority .

In Rainer Maria Rilke's writings, the implications of textual inscriptions on memory and identity are profound, as they illustrate the fluid boundary between self-perception and recorded expressions. Rilke suggests that writing is an estranging process where the act of inscribing one's thoughts results in a disassociation of the self, almost as if the hand controlling the writing becomes detached, acting independently from the mind . Through this concept, Rilke explores how writings, while meant to solidify identity and memory, can also lead to self-alienation, showing how linguistic expression both represents and distorts the essence of the self, entwining memory with a fragile, mutable identity .

Das könnte Ihnen auch gefallen