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Friedrich Kittlers Semesterbrief Vom Sommer 1971 An Die Studienstiftung Des Deutschen Volkes - Deutsches Literaturarchiv 1968

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Friedrich-Adolf Kittler SEMESTERBERICHT SOMMER 1974 Das Sommersemester 1971 war das erste nach meinem Staatsexamen, Bs bedurfte einiger Zeit, mich an den Status au gewShnen, den ich im Jahr der Exemensvorbereitungen stets herbeigewiinscht hatte: ALL den Themen, die hatten liegenbleiben miissen, konnte ich mich in freier Wahl zuwendens Bin Komplex, der mich seit langem beschiftigt hatte, betraf die Tradition und Gegenwart der Interpretation und ihrer Theorie, Ich nahm an einem Colloquium von Prof.Dr.G.Kaiser iiber moderne litera- turwissenschaftliche Methoden und, als Tutor, wieder an einem Pro- seminar von Dr.Turk teil, diesmal einer Einfiihrung in die Inter- pretationslehre. Innerhalb des Colloquiums widmete ich mich vor allem den "Geschichtsphilosophischen Thesen" des spaten Walter Benjamin und verfolgte dessen Idee, der geschichtlichen Vergan- genheit ihr dialektisches Bild su entreissen, guriick in Richtung auf den Textbegriff der Kabbala; dies anhand der Arbeiten Gershom Scholems iiber jiidische Mystik und des mittelalterlichen Sohar- Traktates, Die bei Benjamin wie in der Tradition, daraus er schépft, gelehrte Objektivitaét des Sinnes, den es zu interpretie~ ren gilt, - eine derartige Objektivitat, dass selbst die Unendlich- keit méglicher Auslegungen im (Heiligen) Buch priiexistiert - be- rihrte sich als ein spekulatives Modell (wie immer zweifelhaft es sein mag) mit meiner Skepsis gegentiber dem Begriff der Einftih- lung und seiner Subjektivierung des Verstehensaktes als Bais der Hermeneutik. Im Proseminar von Dr.Turk hielt ich eine Sitzung iiber Hegel, des- sen Philosophie - wie mir seit langem vorschwebte - ich als eine interpretierende zu interpretieren suchte. Das Antigone-Kapitel der “Phinomenologie des Geistes" insbesondere sollte sich als die erste Interpretabion iiberhaupt im strikten Sinne zu erkennen ge- ben. Bs galt, die Voraussetaungen aufzudekkean, die dies ermig- licht hatten. Ich suchte sie namhaft zu machen als die Entdeckung der Geschichtlichkeit des Geistes - seit Vico ~ und die des Sy- stembegriffs - im Deutschen Idealismus, Schon Schelling hatte in der Tatsache, dass eine geistige Gestalt wie die ZwSlfzehl der olympischen Gétter sich selbst als systematische Totalitat gab, @ie Méglichkeit erblickt, sie immanent zu interpretieren, statt methodisch die Gdtter zu vereinzeln und "erklarend" auf anderes nurickzufiihren, Auch fiir Hegel ist es die systematische Verfasst- heit der zu begreifenden Inhalte, die es garantiert, dass der Phi- losoph nur der immanenten Bewegung der Gedankenbestimmungen zu- gusehen braucht und nicht subjektive Ausdeutungen herantragen muss. Preilich cilt Hegel solehe Objektivitit ale die des objek- tiven Geistes und kann darum auch ganz in Geist zurtickgenom= men werden, im Untersehied zu dem von Benjamin konzipierten mes- sianischen Sinn der Geschichte, den ale unverftigbaren kein Mensch 2u konstruieren vernichte. Mit einer modernen Variante dialektischer Interpretation hatte ich mich als Tutor au beschéftigens Innerhalb der diesem Thema gewidneten Arbeitsgruppe studierte ich neben Adorno vor allen Habernas' "Erkenntnis und Interesse". Den Akgent suchte ich dar auf gu setzen, dass Interpretation bei Habermas, wie schon bei Hegel, nicht erst und ausschliesslich die Mitigkeit des Vissen- schaftlers bedeutet, der eine Theorie von Kultur erstellt, son- dern vorab coin unabdingbarer Bestandteil der monschlichen Cat- tungsentwicklung selbst unter kulturellen Bedingungen ist, weil diese Gattung je erst su bestimmen hat, was ihr als das Leben 9011 gelten kinnen, Diese Konzeption einer Gattungageschichte sehien mir den materialen Bedingungen oder vielmehr Implikationen von Kultur - mit fegels spekulativem Ansatz verglichen + besser Rechnung zu tragen, ohne darum doch die Fragwiirdigkeiten des Mar- zienus unverindert mitmachen gu miissen, denen auch Adorno noch nahe steht, sofern er den Begriff der cattungsgeschichtlichen Selbstinterprotation nicht ezpliziert, Sie war darum legitiniert, Gen Begriff der Interpretebilitit, den der Deutsche Idealisnus an Texten ~ die Sophokleisehe "Antigone" sollte paradignatisch dafiir einstehen ~ gewonnen und vorbildlich, vielleicht aber all- SU umetandslos auf die Wirklichkeit im ganzen tibertragen hatte, aus seiner postidealistischen Binengung auf Philologie wieder zu befreien. (Ieh fiige an, dass mir diese Arbeitsgruppe Gelegenheit bot, mit Studenten des sweiten und dritten Semesters lange zusammenguar- beitens fiir mich eine nachhaltige und echine Erfahrung, veil sieh die Frage nach wirklichem Verstehen und Verstehbarmachen in con- ereto stellte, Ich habe durch die Unbefangenheit der Gruppe man- ches tiber den Unterschied und die Vermittlung konmuniaierbarer und esoterischer Problemstellungen gelernt.) Habernas' Versuch, Hinsichten der Soziologie und der Psychoanaly- se in die dialektische Interpretation einzubeziehen = diesen Aspekt braehte mir ein Colloquium von Prof.Dr,.W.Narx nilher -, erweckte das Interesse an Freud aufs neue und filhrte mich in der Folge “36 aur Seschiiftigung mit der Lernpsychologie Piagets und der Psy- chosentheorie Arietis, Venn Interpretation von den awei Grund- tatsachen der Geschichtlichkeit und der Systemhaftigkeit von Be- wusstsein erniglicht wurde, so galt es, dies hinsichtlich der Genesis des Individuums zu konkretisieren, Grundkategorien des Systems, als welehes Verstehen ist, miissten sich als solche durch ihre entwicklungsgeschichtliche Prioritit ausweisen. + All dies schien weit abzufiihren von der Germanistik, weiter noch von einer germanistischen Doktorarbeit, deren Thema ich wihrend des Semesters imuer wieder erwogs Uber die Theorie der Interpre= tation su schreiben, etwa die Hegels, wie mir nahegelegt wurde, sehien mir abstrakt, weil derart der Ansprueh auf Interpretations- kepasitit, wie eine Theorie (und die Hegels in absoluter Weise) ibn erhebdt, nur analysiert und nicht eigentlich iberpriift hitte werden kénnen, Sei der Suche nach einem Thema indessen, das zu entfalten erlaubt hitte, inwiefern Poesie Interpretation ist und inwiefern sie sumal interpretation einfordert, seigten sich Sehwierigkeiten; ich las und entwerf viel und gab vieles wieder aut. Ich begann mit Novalis' "Ofterdingen" und Rilkes "Malte Leurids t Brigge"» Beide Romane beanspruchen eine allein der Poesie migli- che Deutung der Welt 2u leisten, der eine, indem er die Mrgebnis- 9¢ aller irkenntnissphiiren au synthesieren und in Hinbildungs- kraft aufzuheben trachtet, der andere, indem er guniichst, in einer gleichsam Husserlechen epoché, alle Gegebenheiten des objektiven Geistes, der Kultur, eausklemmert und in der Diaspora radikaler Vereinzelung einen Noubeginn unter Rekurs auf die magische und angsterfilllte Welt des Kindes versucht. Hermoneutik also und Bin- bildungskraft hiitte die Frage ungefihr gelautet. iur dass die in ext gegebenen Daten tiber Yirkungsweise und Hervorbringungen der pootischen Imagination sich nicht in einen derart systematisehen @usanmonhang bringen liessen, dass der ganze Roman nur noch seine Entfaltung gewesen wire, Un einen 2usemmenhang gleichwohl su kon= struieren, betrachtete ich daraufhin die Romane alo Darstellungen einer Initiation in Kultur (bzw., bei Rilke, in eine Kultur, die aur gur existierenden sich antipodiseh verhiilt); in diese Analyse der Kulturinitiation, die der Roman darstellt und ist, hiitten Verfan- | wie @as der psychoanalytischen Interpretation sich als No mon e " einerdnen sollen, Je@och seigte es sich, dass die Idee einer =-4e interpretation, auf die ich um der Individualit und der Reflexionshthe der Texte willen nicht glaubte versich- ten au diirfen, sich mit der Allgemeinheit der gestellten Frage, die Ausgriffe in Realgesehichte au fordern schien, nicht verein- bertes _ Tndessen versuchte ich in der Folgeseit cleichwohl, der Abstrakt- ‘heit nicht durch imnanente Interpretation sondern durch Rtickgang auf die Geschichte absuhelfen. Gerade im “Intentionslosen” (Ben~ jamin) der allttglichen Mythologeme, die die Literatur des 19, dhs,, uns erkennbar, versammelt + und das diese Bpoche das Ar= beitsfeld sein sollte, var mein parti pris ~, hiitte sich Ausles gung 2u bewilhrend@ und von seiner unausdenkbaren Konkretion bezs- ge sie die ihre. Ich las nebom manchen poetae minores Immernann, Vaiblinger und, aus unserem Jahrhundert, Meyrink. Hur dass sich dabei kein Text fand, der (wie etwa das Werk Vietor Hugos) wo nicht gerade durch ReflexionshShe so doch durch die sozusagen exhaustive Art, in der er die Kulturerfahrungen eines Bewusst= seins darstellt, tiber das pregnatische Selbstbewusstsein dieses Subjekts hinausgewachsen wiires Und eine solche Totalitit selber, aus vielen Autoren, zu konstruieren, schien mir eine Sisyphosar= delt. Bei diesen Versuchen, die alle nicht tiberzeugten, kam mir auf einm&l ein Buch cu Hélfe, das endlich erschien: Sartres Flaubert- Btudie "L'idiot de le famille", durch deren ungezdhlte Seiten ich mich langsem vorwiirtslese, Sartre bezieht, beinahe zu weitgehend, in die Interpretation der Werke die des Bewusstseins ihree Autors ein, ohne dadurch dem alten Biographismus zu verfallen. Dadurch gewinnt die Analyse einer Initiation im Kultur, des Werdens-zu- sich eines Dichters erst ihre systematische Totalitiét, Das Such, des zu kopieren ebenso unvollbringbar wie absurd wire, zeigte doch eine ‘églichkeit, wie aus der Interpretation aller Nateri- alien ein Anspruch auf Objektivitat erhoben und eingelést werden kann. Teh verfiel auf Conrad Ferdinand Meyer, fiber den ich vor Semestern Gearbeitet hatte. Sollte eine das Bewusstsein des Autores einbesie~ hende Interpretation von literarischen Werken versucht werden, so | stellten die seinen diese Absicht vor ihre schverste Probe: Ob= _ wohl oder vielleicht gerade weil seine Existenz wie kaum eine an- dere innerhalb der Bpoche psychisch belastet gewesen war, erhob er als einer der ersten, in den hermetischen Werken so gut wie in poetologischen Theorie, den Anspruch auf aussehliesslich imma+ nente Interpretation. Diesen Anspruch au erfiiklen und doch au- gleich au hintersehen ~ durch Rlickfrage niimlich nach seinen Mo= tivationen und Intentionen -, schien mir die Bemiihung wert, weil am besonderen Problem Conrad Ferdinand Meyer ein allcemeines au stellen gestattete. Auf der einen Seite gilte es die Entstehung eines Selbstverstindnisses im Horizont des Imaginiren su unter- suchen, auf der anderen die Realisation dieses Imagintiren im auto~ _ nomen und ertifiziellen Werk, Wie beide Gesichtspunkte, in die ein Gutteil der Interessen eingeht, die mich in diesem Semester moti- vierten, in der Darstellung gu einem werden kénnen, muss sich zeigen, Im Augenblick bin ich gang beim Projektieren der Arbeit, Sobald ich mit Prof.sKaiser gesprochen und seine Zustimmung ge~ funden habe, méchte ich der Studienstiftung einen mntwurf vorle- gens

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