Brockhaus Die Brueder Grimm 2013
Brockhaus Die Brueder Grimm 2013
Die
Brüder
Grimm
Pioniere
deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts
GEFÖRDERTVON
HESSEN
H essisches M inisterium
für W isse n sch a ft und Kunst
Jacob Grimm wurde
1785, sein Bruder
Wilhelm 1786 in
Hanau geboren.
Lange Jahre in diesem
geografischen Raum - vor allem in Kassel -
als Märchensammler und Sprachforscher tätig,
wirkten die Brüder später weit über Hessen
und noch über Deutschland hinaus und
leisteten einen entscheidenden Beitrag zur
Erforschung der deutschen Sprache und zur
Entwicklung moderner deutschsprachiger
Wörterbücher. Kaum jemand vor ihnen oder
nach ihnen hat die deutsche Sprache so in
all ihren Facetten dokumentiert und durch
leuchtet wie diese beiden.
Die
Brüder
Grimm
Pioniere
deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts
Herausgegeben von
Jochen Bär, Mark-Georg Dehrmann,
Holger Ehrhardt, Jürg Fleischer,
Heidrun Kämper, Sabine Krome,
Steffen Martus, Norbert Richard Wolf
4
MIX
P a p ie r au s vera n tw o r-
tu n g sv o llen Q u e lle n
FSC
www.fsc.org FSC® C095359
V___________________________________________________________ /
ISBN 978-3-577-00305-6
5
Vorwort
Doch alle, die sich eingehender mit Leben und Werk der Brüder Grimm
beschäftigen, wissen, dass Jacob und Wilhelm Grimm weit mehr gewesen
sind als nur Märchensammler. Es ist keine Frage, dass sie derTradition des
Erzählens und den Inhalten der Geschichten, die sie hörten, große Aufmerk
samkeit geschenkt haben. Doch war dieses Sammeln und Aufschreiben bis
dahin mündlich tradierter Inhalte nicht auch nur ein Baustein eines über
geordneten Forschungsziels? Der Ausdruck eines unter französischer Domi
nanz entstandenen Wunsches, eine nationale, eine »stolze« und weit in die
Geschichte zurückreichende »eigene« deutsche Geistesgeschichte nachzu
weisen? Die unterschiedlichen Forschungsansätze zur Rechtsgeschichte und
zur Literaturgeschichte, aber auch das politische Engagement der Brüder
Grimm lassen diesen Tenor, der sich durch das ganze Werk zieht, erkennen.
Ich freue mich sehr, dass diese Publikation einen Beitrag leistet, einen eher
der Fachwelt bekannten Teil des Schaffens der Brüder Grimm auch ein Stück
weit in die breitere Öffentlichkeit und in die Diskussion zu rücken. Denn
die Auswirkungen der germanistischen Forschungen des Brüderpaars auf
die internationalen Sprach- und Literaturwissenschaften waren und sind
ganz enorm.
Eva Kühne-Hörmann
Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst
6
Inhalt
Einleitung............................................................................................ 10
Zwei Leben für die deutsche Sprache: Warum die Leistung
der Brüder Grimm noch heute einzigartig ist.......................................... 10
Bildnachweis 160
8
Autoren
Berater
Prof. Dr. Jürg Fleischer
Jürg Fleischer ist Professor für Sprachgeschichte des Deutschen und Direkto
riumsmitglied des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas an der Philipps-
Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Syntax der
älteren Sprachstufen und Dialekte des Deutschen. Außer in seinen Vorlesungen
begegnen ihm die Brüder Grimm bzw. deren Spuren auch immer wieder in der
schönen MarburgerOberstadt.
Setzung der Grimms mit den wichtigen politischen Themen, den literarhis
torischen Positionen und den prägenden Persönlichkeiten ihrer Zeit, etwa
im gedanklichen Austausch mit den Romantikern Clemens Brentano und
Achim von Arnim sowie dem Rechtsgelehrten Carl von Savigny.
Wissenschaft verstanden die Brüder immer auch als Dienst an der Gesell
schaft, der sie sich zeitlebens verantwortlich und verpflichtet fühlten, auch
wenn ihr Demokratieverständnis nicht mit dem der heutigen Zeit ver
gleichbar ist: In einer Epoche des Umbruchs, geprägt von den Nachwirkun
gen der Französischen Revolution, in der alte Sicherheiten und scheinbare
Selbstverständlichkeiten auseinanderzubrechen drohten, aber gleichzeitig
auch die Chance eines geeinten Deutschland so greifbar nahe lag, versuch-
12
ten die Grimms, durch die Besinnung auf die Vergangenheit »alte Werte«
wiedererlebbar und damit für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Das
einigende Band dieser Bemühungen war für sie die - deutsche - Sprache,
deren Wurzeln und Bedeutung sie von den Anfängen bis zur Gegenwart
intensiv verfolgten und die sie als Mittel des Verstehens und der Verständi
gung zwischen den Jahrhunderten, den Kulturen und den Menschen als
ein Fundament moderner Demokratiebewegungen begriffen.
Dabei haben Jacob und Wilhelm durchaus ihre jeweils ganz eigenen Spuren
hinterlassen: So war Jacob als der wohl strukturiertere, systematischere der
beiden Brüder der alleinige Verfasser der deutschen Grammatik (1819-
1837) wie der >Geschichte der deutschen Sprache< (1848). Er konzentrierte
sich auf die Sammlung historischer Sprachdokumente und Rechtsaltertümer,
Brüderliche Freiheit
Nach dem Tod seines Bruders Wilhelm verfügte Jacob Grimm testamentarisch:
Ich will und verordne unverbrüchlich, daß auf Wilhelms und meinem
Grabstein nichts anderes gesetzt werde als:
hier liegt hier liegt
Wilhelm Grimm Jacob Grimm
geb. 24. Febr. 1786 geb. 4. Jan. i 785
gest. 16. Dez. 1859 gest.
Berlin, 11. Dezember 1862 Jacob Grimm.'
Den Platz für sein eigenes Sterbedatum ließ er naturgemäß noch frei. Dass
dies nicht mehr lange so bleiben würde, darüber machte er sich keine Illu
sionen, im Gegenteil: Fast hat es den Anschein, als verstehe er den Tod Wil
helms als Mahnung an die eigene nur noch knapp bemessene Arbeitszeit.
Die Anweisung für den Grabstein jedenfalls wiederholte eine ähnliche
Order für das Titelblatt des deutschen Wörterbuchs<, des letzten giganti
schen Projekts, das die Brüder Grimm gemeinsam bearbeiteten. Wilhelm
1 Schoof, Wilhelm: Die Brüder Grimm in Berlin. Berlin 1964, S. 106. Ausführliche
Hinweise auf die Forschungsliteratur in: Steffen Martus: Die Brüder Grimm.
Eine Biographie. 3. Aufl. Berlin 2010.
_^£_
Sinnbild der
Brüderlichkeit
war darüber verstorben, und zwar exakt zu dem Zeitpunkt, als er die von
ihm übernommenen Artikel vollendet hatte.
Das >Deutsche Wörterbuch< wurde dem Publikum nicht etwa als Werk der
»Brüder Grimm« oder als Werk von »Jacob und Wilhelm Grimm« angeboten,
sondern als Werk zweier unterschiedlicher Autoren. Jacob Grimm verfügte
am 22. Januar 1852:
DieserTitel war Programm: Während die erste Anzeige das Lexikon noch den
»Brüdern Grimm« zugeordnet hatte, erschienen beide nun als eigenständige
Persönlichkeiten.2*Und so, wie Jacob und Wilhelm auf dem Titelblatt neben
2 Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit den Verlegern des >Deutschen
Wörterbuchs< Karl Reimer und Salomon Hirzel. Hg. von Alan Kirkness unter Mit-
arbeit von Simon Gilmour. Stuttgart 2007, S. 71, 265.
16
................. ;................................................................................................... «
Ich soff hier vom hnider reden, den nun schon ein hafbes jahr fang
meine äugen nicht mehr erb ficken, der doch nachts im träum,
ohne affe ahnung seines abscheidens, immer noch neben mir ist.
Was dann folgte, war eine der seltsamsten Liebeserklärungen der Akade
miegeschichte, eine Liebeserklärung ganz eigener Art: mit vielen kritischen
Tönen, egoman, vielfach von der Person des Betrauerten abschweifend zu
grundsätzlichen Fragen der Wissenschaftstheorie. Denn Jacob hielt keine
3 So in der Erinnerung von Herman Grimm: Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l.
Hg. von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel. 2. Aufl. Berlin 1864, S. 179.
17
Nach ihrer Schulzeit wurden die Brüder getrennt, weil Jacob 1802 das Jura
studium in Marburg aufnahm, wohin der Bruder ihm erst ein Jahr später
folgte. Für das Studium der Rechtswissenschaft entschieden sich beide
nicht aus Neigung, sondern weil sie auch in diesem Fall dem Familienauf
trag - die Beamtenlaufbahn immer fest im Blick - folgten. Gleichwohl hat
diese Entscheidung das Leben der Brüder entscheidend geprägt. Denn in
Marburg lernten sie den Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny kennen.
Der blutjunge Professor führte sie erstmals zu den mittelalterlichen Quellen
und vermittelte ihnen zudem methodische Richtlinien sowie eine For
schungshaltung, der Jacob und Wilhelm fortan treu bleiben sollten. 1804
gab Savigny seine Professorenstelle auf und reiste für rechtshistorische
Studien nach Paris. 1805 folgte ihm Jacob Grimm für einige Monate als
studentische Hilfskraft.
Im urbanen Milieu von Paris fühlte sich Jacob Grimm sichtlich unwohl, selbst
wenn er durchaus den bescheidenen Luxus, den Savigny ihm gönnte, genoss.
Er schreibt nach Hause: »Übrigens erhalte ich hier sehr gutes Eßen, wie ich
20
es noch nie gehabt habe. Wir sind schon einigemal zum Diner bei einem
Restaurateur (so heißen sie hier die Gastköche) gewesen, wo zwar stets auf
Silber in prächtigen Sälen servirt wird, wo es aber auch für eine Person jedes
mal 6 Livres d.i. ein Laubthaler, kostet. Im Ganzen ist man freilich genirt,
man muß z. B. immer gut gekleidet sein.«6 In der französischen Metropole
nahm nun das brüderliche Forschungsprojekt Kontur an. Mit Wilhelms Idee,
für die >Zeitung für die elegante Welt« Berichte aus Paris zu liefern, wusste
Jacob Grimm nichts anzufangen.7 Man erfährt aus seinen Briefen wenig
über Paris, und wenn, dann kommt die Metropole nicht gut weg. Die erste
längere Stadtbeschreibung in einem Brief an Wilhelm vom 1. März 1805
erklärte eingangs kurz und bündig: »In Paris gefällt es mir weiter gar nicht
u. ich mögte nicht für lange Zeit hier wohnen.«8 Die Straßen seien schmut
zig, krumm und eng; es gebe zu wenig öffentliche Plätze, und beim Gang
durch die Stadt denke er mit Schaudern an die Ereignisse der Französischen
Revolution.
Charakteristisch ist, wie abrupt Jacob Grimm die erste Einführung in das
Kunst- und Geistesleben von Paris beendet und zum »Projekt« einer ge
meinsamen »Büchersammlung« mit seinem Bruder übergeht.9 Denn
während sich die Brüder über ihre Bücher austauschten, entwickelten sie
ihre einzigartige Beziehung weiter. Für Wilhelm war die Entfernung von
seinem Bruder besonders schmerzlich. Beim Weggang Jacobs meinte er,
sein Herz würde »zerreißen«.101Noch drei Wochen nach der Abreise schrieb
er an einen Freund: »Die Trennung von meinem Bruder thut mir immer
noch so weh.«11Jacob versuchte, sein »allerliebstes Wilhelmchen« zu trös
ten, umarmte ihn in Gedanken und bat ihn, »ja nicht traurig zu sein«. In
Traumreisen kehrte er zurück. Regelmäßig kam ihm die Abschiedsszene
in den Sinn - wobei er im Traum bezeichnenderweise nicht von Wilhelm
Abschied nahm, sondern von seiner Bibliothek.12 In diesem Zusammen
hang nun schrieb ihm Wilhelm:
6 200 Jahre Brüder Grimm. Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und
Wirkens. Hg. von Dieter Henning u. Bernhard Lauer. Kassel o. J. [1985], S. 183.
7 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel. Hg. von Heinz Rölleke. Teil 1: Text.
Stuttgart 2001, S. 42.
8 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 39.
9 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30, 42.
10 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30.
11 Briefwechsel der Brüder Grimm mit Ernst v. d. Malsburg. Hg. von Wilhelm Schoof.
In: Zeitschrift für deutsche Philologie 36 (1904), S. 173-232, S. 201.
12 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30.
21
In Paris also fahndeten die Grimms erstmals nach den Quellen ihrer künf
tigen Forschung. Mehr noch: Genau hier trafen die beiden Brüder eine
Grundentscheidung. Zwar wurde diese noch mehrfach auf eine harte Probe
gestellt. Aber letztlich hielten die Grimms an ihrem Entschluss fest - als
brüderliche Gemeinschaft wollen sie unzertrennlich sein. »Ich denke«,
schrieb Jacob nach Kassel, »wenn wir auf diese Art fortfahren, (denn daß
es auf einen Plan ankommt ist gewiß wahr u. Savigny hat es schon längst
gesagt) so werden wir uns einmal hübsche Werke sammeln, es versteht
sich, daß wir in Zukunft etwas mehr dran wenden können u. immer zusam
men vereinigt, denn lieber Wilhelm wir wollen uns einmal nie trennen [...].
Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Verein
zeln zum Tod betrüben könnte.« Auch hier behält Jacob das eigentliche
»Projekt« der gemeinsamen Büchersammlung fest im Blick: »Doch damit
das nicht zu rührend wird«, fügt er hinzu, »will ich dir nur sagen, daß wir
uns recht um Aukzionskataloge bemühen wollen, denn ohne das ist es
unmöglich mit wenigem etwas zu leisten.«1 14
3
»Denn lieber Wilhelm wir wollen uns einmal nie trennen« - diese berühmte
Stelle aus dem Brief Jacobs vom 12. Juli 1805 wird oft zitiert. Man übersieht
dabei jedoch leicht die Verbindung zwischen dem Projekt der Brüderge
meinschaft und dem Projekt der Buchsammlung. Beides, die Bruder- und
die Bücherliebe, steht in einem syntaktischen und gedanklichen Zusammen
hang. Der Entschluss zur Brüderlichkeit, der Jacob und Wilhelm Grimm zu
Ikonen der deutschen Kultur gemacht hat, wird umrahmt von Überlegungen,
wie die beiden ihre Büchersucht am besten befriedigen können. Ihre Sam
melprojekte und Forschungsvorhaben hängen sehr eng mit jener »brüder
lichen Lebensform« zusammen, zu der sie sich in Paris über eine Entfer
nung von mehr als 120 Stunden Kutschfahrt hinweg entschlossen hatten.
Arnim war es auch, der den Grimms die erste Publikationsmöglichkeit anbot.
Ihre ersten Veröffentlichungen finden sich 1806 versteckt in Achim von
Arnims und Clemens Brentanos »Volkslied«-Sammlung >Des Knaben Wunder-
horn<. Darauf folgten programmatische Beiträge unter je eigenem Namen
in Arnims >Zeitung für Einsiedler und anderen Zeitschriften. Nach außen
traten Jacob und Wilhelm als gelehrtes Bollwerk auf. Aber intern knirschte
es in der Beziehung. Im Briefwechsel mit Arnim gingen die Argumente
hin und her: Jacob vertrat vehement die These, dass die Zeiten der »Natur
poesie« ein für alle Mal vorüber seien und danach die Phase der »Kunst-
23
poesie« beginne; Wilhelm und Arnim waren sich da nicht so sicher. Jacob
hielt die Übersetzung naturpoetischer Kunstwerke in moderne Sprachen
für unmöglich; Wilhelm unternahm mit seiner Übertragung >Altdänischer
Heldenlieden genau dies. Und auch bei der Einschätzung von Arnims Roman
>Gräfin Dolores< gingen die Urteile weit auseinander.
Eine charakteristische Szene ihres Lebens spielte sich im Jahr 1809 während
Wilhelms Kuraufenthalt in Halle ab. Wilhelm möchte sein Herzleiden bei dem
Mediziner Johann Christian Reil auskurieren. Der ausführliche Briefwechsel,
den die Brüder Grimm in dieser Zeit führen, ist der Schlüssel für ihre Bezie
hung: Hier erschreiben sie sich ihr Modell einer Lebens- und Arbeitsgemein
schaft. Während Wilhelm den Kuraufenthalt genießt, fehlen Jacob solche
Glücksmomente in Kassel. In den Briefen wirkt er unleidlich: Seine Tätigkeit
auf Schloss Napoleonshöhe erscheint ihm als pure Zeitverschwendung. Hinzu
kommt der Ärger über seine jüngeren Geschwister Ferdinand, Carl und Lotte,
die Jacob teils für faul oder unfähig, teils für missmutig und undankbar hält.
Aber Jacobs schlechte Laune erklärt sich nicht nur dadurch, dass ihm die Ge
schwister auf die Nerven gingen oder dass ihm das Hofzeremoniell zuwider
war. Er suchte nach seiner Position im Leben. In einer Reihe von Briefen an
Wilhelm erörterte Jacob daher seine generelle Abneigung gegen Geselligkei
ten. Er sei nicht bereit, sich den Anforderungen eines feinen Gesellschafts
lebens auszusetzen. Wilhelm kannte Jacob gut und wunderte sich nicht
darüber, dass die Kasseler Gesellschaften den Bruder langweilten:
»es ist aus derselben Ursache, aus welcher du nicht gern spatziren gehst,
ohne einen Zweck [...]. Du kannst für dich still studiren und arbeiten, aber
nicht für dich blos seyn, und alles nicht arbeiten macht dir Langeweile.«
Und er fügt hinzu: »Gesellschaften müßen seyn, denn meiner Meinung
nach ist der Mensch durchaus gesellig.«15
wie konntest du es über dich bringen, eine solche stelle, die mich ich kann
nicht sagen wie erschrocken hat, zu schreiben, ja bis zum Schluß deines
Briefs aufzubehalten? ich habe mich in dein Herz dafür geschämt u. Gott
gebe, daß du schon vorher und nicht erst jetzo bereut, was du so übereilt,
unverständig u. lieblos schreiben mogtest.
Jacob begriff nicht, wie es Wilhelm - entgegen aller Kritik, die der Ältere
am Jüngeren übte - überhaupt möglich war, auch nur »einen Augenblick«
an ihm zu zweifeln.17
Es ist entscheidend, dass sich die brüderliche Beziehung aus solchen Kon
flikten heraus entwickelte. Denn allmählich lernten Jacob und Wilhelm
Grimm, ihre Meinungsverschiedenheiten zu akzeptieren. Während Wilhelms
Aufenthalt in Halle legten sie die Fundamente für ein Verhältnis, das Kontro
versen erträgt, das Abweichungen toleriert und das vor allem durch solche
Differenzen nicht einen sehr viel tiefer liegenden Konsens verdeckt: die
grundlegende Gewissheit, dass selbst gegensätzliche Meinungen nichts
an der Zuneigung und Treue, an der unbedingten Solidarität zwischen den
beiden Brüdern ändern würde. Vor Jacob und Wilhelm Grimm lag eine gewal
tige Aufgabe, denn in den vehement geführten Streitigkeiten während
Wilhelms Reise war letztlich der Beweis zu erbringen, dass ihre wechsel
seitige Liebe »der einzige Grund« ihres Lebens sei.18
Wie also sollte sie ihre eng gelebte Brüderbeziehung auf all die Unterschiede
abstimmen, die sich zwischen ihnen zeigten? Die Brüder Grimm loteten
aus, wie weit sie gehen konnten, und arrangierten sich, ohne sich wirklich auf
eine Linie zu einigen. Jacob und Wilhelm repräsentierten zwei Seiten einer
Medaille: Während Jacob aufrichtig, freimütig und entsprechend grob agier
te, bezog Wilhelm - nicht weniger offen - eine flexible Position. Im Lauf der
Zeit stellte er sich auf einen ausgleichenden Standpunkt und votierte für
Meinungsvielfalt bei grundsätzlicher Einigkeit. Jacob und Wilhelm entwi
ckelten auf diese Weise zwei Lösungsmodelle für ein und dasselbe Problem.
Nicht zuletzt darin liegt ihre Modernität. Sie verbanden Eigensinn und Flexi
bilität, unnachgiebige Härte, Offenheit und Aufrichtigkeit wider alle Regeln
des Anstands und die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen.
Nach Wilhelms Rückkehr aus Halle gingen die persönlichen Zankereien
und die Fachdebatten weiter. Sachlich waren diese Streitigkeiten oftmals
unfruchtbar. Vor allem Jacob reizte die Möglichkeiten aus, die ihm sein Bru
der und seine Freunde für »aufrichtige« und »freimütige« Kritik anboten. Fast
könnte man meinen, er wollte die Grenzen des Zumutbaren bei seinen Dis
kussionspartnern ausloten. Das aber würde alles zu sehr ins Spielerische
verlegen. Denn Jacobs Unnachgiebigkeit, das sahen er und Wilhelm ähn
lich, ankerte tief in seinem Charakter. Wilhelm meinte zu Recht, Jacobs
»Irrthümer hängen so genau mit seinem Charakter zusammen, daß, jemehr
Sie übten großen Einfluss auf die Brüder Grimm aus: Der Jurist Friedrich Carl
von Savigny (1779-1861) vermittelte den Brüdern das methodische Handwerks-
zeug und führte sie in den Kreis der Heidelberger Romantiker ein, zu dem auch
Achim von Arnim (1781 -1831) und Clemens Brentano (1778-1842) gehörten
26
sich dieser zu äußern Gelegenheit hat, jene immer härter werden«. Jacob
werde in bestimmten Fragen nie mit Wilhelm übereinstimmen. Wilhelm
war sich allerdings ebenso sicher, dass Jacob »aus Treue« zu ihm »die ganze
Edda ohne Nachdenken verbrennen« würde.19
..................................... ;...............................................................................«
geschw ister aher stehen untereinander, ihrer wechselseitigen hiebe
zum trotz, f r e i u n d unabhängig, so dasz ihr urtheif kein bhatt vor
den m und nimmt.
Jacob Cjnmm: (Rede a u f M/iChehn (Jnmm
Sie alle litten am Anbruch einer neuen Zeit: Politisch hatte die Französische
Revolution liebgewonnene Gewissheiten regelrecht guillotiniert; das gesel
lige Amüsement zerstreute aus ihrer Sicht die Menschen mehr, als dass es
sie wirklich zueinander in Beziehung setzte; sie sahen gewachsene gesell
schaftliche Strukturen zerfallen, ohne dass ein Platzhalter für die vakante
Position in Sicht gewesen wäre. Gleichwohl glaubten sie alle auch fest daran,
dass es jenseits dieser disparaten Verhältnisse eine »höhere« oder »tiefere«
Ordnung gebe, die es poetisch, philologisch oder rechtshistorisch zu erkun-
19 Steig, Reinhold: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart/Berlin
1904, S. 80, 124f.; Steig, Reinhold: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Stutt-
gart/Berlin 1914, S. 140.
20 Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 124.
27
den gelte. Sprache, Literatur und Recht appellierten für sie gleichermaßen an
Tiefenschichten des Einzelnen wie auch der Gesellschaft - Tiefenschichten,
die die »unbewusste« Grundlage für den sozialen Zusammenhalt bildeten:
Gefühlsgewissheit und Gefühlssicherheit, voraussetzungsloses Vertrauen
und nicht hinterfragbare Gemeinsamkeiten garantierten letztlich das fried
liche Miteinander und ermöglichten deswegen den produktiven Streit.
Die ungeheure Energie, mit der die Grimms sich an ihre Editions- und Sam
melprojekte machten, zeigt jedenfalls, wie wichtig es ihnen war, sich auf
die Spur dieser verlorenen Einheit zu begeben, die noch greifbaren Reste
zu bewahren, bevor auch diese von der unbarmherzigen Dynamik der
Modernisierung aller Lebensverhältnisse vernichtet würden. So war selbst
ihre später so berühmte Märchensammlung anfangs als Teil einer Literatur
geschichte gedacht, die nach dem Muster der romantischen Mythologie
forschung ein internationales Netzwerk von Motiven und Themen erforscht.
In einer gemeinsam verfassten Rezension, die 1809 in den >Heidelbergischen
Jahrbüchern< erscheint, erklärten Jacob und Wilhelm programmatisch:
»Die geschichte der alten poesie soll nichts anders Vorhaben, als die verschie
dene gestalt zu erläutern und zu beschreiben, worin die sage erschienen ist,
und sie so weit als möglich auf ihren Ursprung zurückzuführen.«21 Bei aller
Faszination durch die Vergangenheit war dieses Interesse ganz und gar vom
Geist der Moderne geprägt. Entsagungsvoll widmeten die Grimms ihre
; ; «
zwei modernen Traditionalisten.
Die »innere Einigkeit der Gegensätze« hält für Jacob und Wilhelm Grimm
letztlich alles zusammen. Dieses Prinzip dirigiert das Verhalten der Brüder
Grimm gegenüber dem Forschungsgegenstand genauso wie gegenüber
Freunden oder Familienangehörigen: Jenseits aller Differenzen gibt es für
sie eine Bindungskraft, die jeden Streit und alle Uneinigkeit übersteigt.
Zwar polemisiere Jacob viel gegen Wilhelm, bekannte dieser gegenüber
Arnim, »welches aber nichts thut, da [...] wir uns doch darum kein Bischen
weniger liebhaben [,..]« .22 Eines also wird den Brüdern Grimm im Lauf
ihrer Streit-Gemeinschaft klar: Sie mögen unterschiedlicher Meinung sein
und gegeneinander polemisieren, das Recht auf eine eigene Meinung
aber gestehen sie sich zu. In den »Hauptsachen«, so Wilhelm, seien sie sich
nämlich einig: »in der Liebe zu einander, in der Liebe zum Studium und
in der Liebe zu dem Herrlichsten in den alten Denkmälern [,..]« .23 Das
Prinzip der Brüderlichkeit war die Basis ihrer Zusammenarbeit jenseits aller
Kontroversen, und auf dieser Grundlage lernten sie, Unzulänglichkeiten
zu akzeptieren.
22 Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 121.
23 Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlaß hg. in
Verbindung mit Ingeborg Schnack von Wilhelm Schoof. Berlin 1953, S. 100.
29
Es lag für Jacob offenbar nahe, Natur- und Literaturgeschichte mit familiären
Verhältnissen zu assoziieren. Und nicht nur das: Als dritten Gegenstands
bereich kam er in der Vorrede, vorbereitet durch Titelvignette und Widmung,
auf die Politik zu sprechen und formulierte sein Glaubensbekenntnis einer
politischen Romantik: Die bindende Kraft einer Gesellschaft sei die »Liebe«,
»so wie der Staat einzig und allein in dem Worte: Vaterland, verstanden wird,
und wie ohne die Einheit der bis zum Tod bereiten Herzen alles Recht und
alle Sicherheit eine elende Verrichtung bleibt, so stirbt alle Verbindung oder
hat nie gelebt ohne jenen befruchtenden Thau«. Das klingt beinahe martia
lisch. Und tatsächlich zeigten sich Jacob und Wilhelm Grimm immer wieder
überraschend gewaltbereit, wenn es um die Durchsetzung ihres grund
legenden politischen Ziels ging: die Herstellung der »Einheit und Einigkeit
Deutschlands«. Dieser Vision folgten sie während der Befreiungskriege und
während des Wiener Kongresses - Jacob Grimm war als Diplomat in beide
30
So märchenhaft also auch die Aura sein mag, die das Markenlabel »Brüder
Grimm« umgibt, die Arbeitsformen und Darstellungsweisen von Jacob und
Wilhelm Grimm waren auf je eigene Weise radikal modern: Ihre Unnachgie
bigkeit in Sachlagen kannte keinen Respekt vor verbürgten und etablierten
Autoritäten, auch nicht vor der Autorität des jeweils anderen Bruders. Radi
kal bewahrten sie so die Sprache und deren Geschichte, die Mythen, Mär
chen und Sagen. Sie wollten die Vergangenheit bewahren, und genau mit
ihrer innovativen Leidenschaft für die Geschichte waren sie unbedingte
Zeitgenossen. Die beiden freundlichen Herren, die unsere >Kinder- und
Hausmärchen< aufgezeichnet haben, die emsigen Erforscher von Grammatik,
Recht, Mythologie und Poesie, die Bewahrer unseres Sprachschatzes im
deutschen Wörterbuch«, deren Porträt auf dem 10OO-D-Mark-Schein abge
bildet war - diese beiden eigensinnigen und eigentümlichen Persönlich
keiten gehörten jener Zeit gewiss nicht mehr an, in der das Wünschen noch
geholfen hat.
Das wichtigste Netzwerk für die Brüder Grimm war die Familie. Durch den
sehr frühen Tod des Vaters (1796) und den unerwarteten Tod der Mutter
(1808) waren die sechs Geschwister auf gegenseitige Unterstützung und
Zusammenhalt angewiesen. Jacob fühlte sich als Familienoberhaupt ver
antwortlich für die jüngeren Geschwister, und so opferte er seine Zeit, die
er viel lieber mit Forschungen verbracht hätte, immer wieder dem Brotberuf.
Dies ging so weit, dass Jacob auch nach Wilhelms Hochzeit mit im Haushalt
bei dessen Familie wohnen blieb. Selbst die Briefe, die Jacob an seinen
Bruder schrieb, waren an dessen Frau Dorothea adressiert, die sie dann im
Familienkreis vorlas.
»
Netzwerke in Notlagen
Familiäre, freundschaftliche oder wissenschaftliche Netzwerke waren immer
verfügbar und funktionierten, wenn die Brüder Grimm in existenzielle Not
lagen gerieten. Nach dem Tod des Vaters half die Schwester der Mutter,
Henriette Philippine Zimmer, die als Hofdame bei der Kurfürstin Caroline
von Hessen in Kassel lebte. Ihrer Unterstützung verdankten Jacob und Wil
helm eine angemessene Schulbildung. Ihre freundschaftliche Verbindung
zum kurfürstlichen Hof mag wesentlich dafür verantwortlich sein, dass Jacob
auch ohne Universitätsabschluss eine Stelle beim Kasseler Kriegskolleg
erhalten konnte. Als diese Stelle kurze Zeit später durch die Errichtung des
Königreichs Westphalen aufgehoben wurde, vermittelte Achim von Arnim
eine Anstellung Jacobs zum Privatbibliothekar des Königs Jeröme.1Als die
Kasseler Verhältnisse für die Brüder Grimm unerträglich wurden, war der
Mitforscher und langjährige Korrespondenzpartner Benecke aus Göttingen
zur Stelle und vermittelte die Berufung beider Brüder an seine Universität.
Und auch der Ruf nach Berlin wurde durch den Zuspruch ihres Lehrers Savigny
und - noch leidenschaftlicher - von Bettina von Arnim vorangetrieben.
•
•
Persönliches Umfeld
Wissenschaft
Das Netzwerk
der Bruder Grimm
Politik
Romantiker
Brüder Grimm
1 Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hg. v. lngeborg Schnack und Wilhelm Schoof.
Berlin/Bielefeld 1953, S. 36.
34
Politische Netzwerke
Die Netzwerke der Grimms beruhten zum großen Teil auf persönlichem Um
gang oder brieflichem Kontakt mit Freunden, Verwandten oder Kollegen.
Doch diese vermeintlich kleinen Zirkel hatten nicht nur eine private Seite:
In einer Zeit, in der es noch keine politischen Parteien gab, in der öffentliche
Äußerungen in der Presse oder Vereinsaktivitäten von Zensur und staatlicher
Repression bedroht waren, konnte aus solchen vertraulichen, informellen
Zirkeln liberaler Bürger heraus eine äußerst wirksame Gegenöffentlichkeit
entstehen.
Die berühmten »Göttinger Sieben«, die sich 1837 gegen den offenen Ver
fassungsbruch König Ernst Augusts von Hannover wandten, waren im Kern
ein Freundeskreis, bestehend aus dem Historiker und Politikwissenschaftler
Friedrich Christoph Dahlmann, den Brüdern Grimm und dem Literaturwissen-
schaftler Gottfried Gervinus. Die Protestaktion der Gelehrten stieß überra
schend schnell weitere Aktionen anderer Netzwerke an. Das Protestations
schreiben, das Gervinus einem befreundeten Gelehrten überlassen hatte,
wurde binnen weniger Stunden von Studenten kopiert, kursierte Tage später
in Tausenden Abschriften in allen deutschen Ländern und sogar im Ausland
und erreichte auf diese Weise eine enorme Breitenwirkung und Presseöffent
lichkeit, auch für das politische Engagement der Brüder Grimm.
Es kann als ein Glücksfall gelten, dass zu dem Zeitpunkt, als Jacob Grimm
sich mit den Schriftquellen zu den germanischen Sprachen beschäftigte,
die Sprachwissenschaft im Aufbruch begriffen war. Die Erkenntnis, dass
durch den Vergleich der einzelnen Lautentwicklungen grundlegende
sprachliche Verwandtschaften und Veränderungen aufgedeckt werden
können, wurde zur Basis für die mehrbändige >Deutsche Grammatil«, in
der Jacob Grimm die germanischen Sprachen systematisch vergleichend
darstellte. Sein damals formuliertes Lautgesetz zur ersten Lautver
schiebung, das im angloamerikanischen Sprachraum noch heute als
»Grimms Law« bezeichnet wird,gehört nach wie vor zum Handwerks
zeug angehender Germanisten.
Jacob Grimm gilt, anders als sein Bruder Wilhelm, der stärker der Literatur
wissenschaft zugeneigt war, als einer der Gründerväter der deutschen
Sprachwissenschaft. Neben dem gemeinsam mit Wilhelm begründeten und
bearbeiteten deutschen Wörterbuch« legte er eine Reihe von eigenständi
gen linguistischen Veröffentlichungen vor, von denen zwei von besonderer
Bedeutung sind: die vierbändige >Deutsche Grammatik« (1819-37) und die
zweibändige >Geschichte der deutschen Sprache« (1848). Bei beiden Werken
ist der Titel aus heutiger Sicht irreführend, denn »deutsch« bezog sich in
der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur auf die deutsche Sprache im heu
tigen Sinne, sondern bezeichnete auch die germanischen Sprachen in ihrer
Gesamtheit. Auf eine klare Unterscheidung zwischen der engeren und der
weiteren Bedeutung von »deutsch« wurde üblicherweise verzichtet.
Friedrich Schlegel hatte als einer der Ersten den Zusammenhang des Sanskrit
mit den meisten europäischen Sprachen erkannt (1808) und befeuerte damit
maßgeblich die Suche nach der Ursprache. Diese Suche ist im 19. Jahrhundert
nicht mehr religiös oder sprachphilosophisch motiviert, sondern beruht auf
systematischen Vergleichen. Franz Bopp bündelt 1816 die Erkenntnisse und
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In einer Zeit, in der die Deutschen ihre nationale Einheit noch nicht er
reicht hatten und in zahlreiche Klein- und Kleinststaaten geteilt waren,
erfüllt eine derartige Sicht auf die Sprache auch eine ideologische Funk
tion: Indem Grimm der nicht vorhandenen politischen Einigung eine -
fiktive - sprachliche Einheit unterlegte und diese bis in graue Vorzeit zurück
datierte, ließ sich argumentieren, dass »die Deutschen« immer schon
eine große (Sprach-)Familie gewesen seien; der Zustand der staatlichen
Zersplitterung wurde so als unnatürlich und auf landesfürstlicher Willkür
beruhend angesehen.
1 Durch sein Geburtsjahr 1785 zählt Jacob Grimm zur zweiten Romantikergeneration
in Deutschland; sein Lehrer Friedrich Carl von Savigny war der Schwager Clemens
Brentanos, mit Brentano und Achim von Arnim war Grimm befreundet.
2 Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Athenaeum. Berlin 1798, S. 3-146, S. 15.
39
3 »of a wonderful structure; more perfect than the Greek, more copious than the Latin,
and more exquisitely refined than either, yet bearing to both of them a stronger affinity
[...] than could possibly have been produced by accident«. Zitiert nach: William Jones.
Discourses Delivered at the Asiatick Society 1785-1792. O. O. 1993, S. 24-46, S. 34.
4 Gipper, Helmut/Peter Schmitter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeit-
alter der Romantik. Tübingen 21985, S. 18f.
5 Schmidt, Ronald Michael: Das neunzehnte Jahrhundert - wissenschaftliche Textaus-
gaben. In: Elmar Mittler (Hg.): Codex Manesse: Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni
bis 4. September 1988. Heidelberg [1988], S. 388-395, S. 389.
6 Schmidt, Ronald Michael: Das neunzehnte Jahrhundert, S. 389.
40
Die Laut Noch merkwürdiger als die einftimmung der liqu. und fpir.
ift die abweichung der lippen- Zungen- und kehllaute nicht
verschiebung allein von der gothifchen, fondern auch der alth. einrichtung.
Jacob Grimm führte Nämlich genau wie das alth. in allen drei graden von der goth.
Ordnung eine Itufe abwärts gefunken ift, war bereits das goth.
1822 im 1 Band felbft eine ftufe von der lateinifchen (griech. indifchen) herab-
gewichen. [f. nachtr.] Das goth. verhält fich zum lat. gerade
seiner Grammatik wie das alth. zum goth. Die ganze für gefchichte der fprache
den Begriff »Laut- und litrenge der etymologie folgenreiche zweifache lautverfchie-
bung ftellt fich tabellarifch fo dar:
verschiebung« ein griech. P. B.F. T. D. TH. K. G. CH.
goth. F. P.B. TH. T. D. . . K. G.
alth. B(V ) F. P. D. Z. T. G. CH. K.
oder anders aufgefaßt:
gr- goth. alth. gr- goth. alth. gr- goth. alth.
P F B(V) T TH D K .. G
B P F D T Z G K CH
F B P TH D T CH G K
Die Formulierung solcher Lautgesetze ist von großer Bedeutung für die
wissenschaftliche Begründung der Etymologie. Welche Wurzel einem Wort
zugrunde liegt, lässt sich (da Quellentexte aus der Zeit vor dem 8. Jahrhun
dert kaum oder gar nicht vorliegen) nur dadurch herausfinden, dass man
klärt, welche Wörter in anderen, verwandten Sprachen ihm entsprechen.
Dies aber lässt sich nur dadurch prüfen, dass man die Regelhaftigkeiten
des Lautwandels kennt.
10 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil; zweite Ausgabe. Göttingen 1822,
S. 584. Vgl. S. 40 (Infokasten).
11 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. Berlin 1865, S. 47.
42
»Grimm'
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:
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l.Harvest,
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l,ten)
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=> b (
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s.eng
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.Bruder)
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rie
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«vs
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.kwynne,eng
l,queen)
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s.d
t
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1
2S che
rer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.48
.
1
3 Ebd
.
1
4 Ebd
.
1
5 Ebd
.
1
6S ch
erer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.48
f.
1
7S ch
erer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.49
.
43
Zweite Lautverschiebung:
vermutlich im 6./7. Jh.
Der name jenes chattischen hauptortes Mattium führt unmittelbar auf die
von der Eder abliegenden, westwärts gesessenen Mattiaci [...]. Nach ihnen
hiessen die am fusse des Taunus sprudelnden heilquellen [Aquis Mattiacis,
das heutige Wiesbaden] [...].
18 Vgl. Ginschel, Gunhild: Der junge Jacob Grimm 1805-1819. Berlin 21988; Wyss, Ul-
rich: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.
19 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. Leipzig 1848, S. 159f.
45
Lässt sich Mattium [...] aus dem wiesengrund an der Eder deuten, so stimmt
auch hier das schwäbische und alemannische mate, matte pratum, fries.
mede, ags. mädo, engl, meadow [...]. man sucht in Wisbaden, nhd. Wies
baden denselben Begriff der matte oder wiese, und zugleich des bades.
ich hielt [...] zu Wsinobates Usipetes und bin nicht entgegen, dass in Usi Visi
und vielleicht wiese liege, ja des Ptolemaeus 'iyypiüjvec, an derselben stelle
und der spätere Engiresgau könnten aufanger pratum zurückgehn, so
dass Usipetes, Mattiaci und Engriones in dem begrif wiese, matte und anger
zusammenträfen.20
Jacob Grimm vermutet darüber hinaus, dass der Name der Mattiaker im Orts
und Landschaftsnamen Nassau weiterlebt.21 Letzterer erscheint in urkund
licher Deutung als madidum territorium (>nasses, feuchtes Gebiet<),
und nun ist nur ein schritt weiter zu thun. das lat. madere und madidus
scheint unserm nass [...] urverwandt, M hat sich geschwächt in N; die
Chatten konnten noch zu Tacitus Zeit das alte M in Mattium, Mattiaci
besitzen, das hernach und schon bei den Goten des vierten jh. N ward, die
bedeutung der wiese und nässe scheint sich aber leicht zu einigen, matte
wird wie aue einen wasserumflossnen platz bezeichnen.22
20 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 2. Leipzig 1848, S. 581f.
21 Grimm, Jacob: Geschichte. Bd. 2, S. 582.
22 Grimm Jacob: Geschichte. Bd. 2, S. 583.
23 Reichmann, Oskar: Einige Thesen zur Bedeutungserläuterung in dem von Jacob
Grimm bearbeiteten Teil des >Deutschen Wörterbuches< und im >Wörterbuch der
deutschen Sprache< von Daniel Sanders. In: Antonsen, Elmar H. u.a. (Hgg.): The Grimm
Brothers and the Germanic Past. Amsterdam/Philadelphia 1990, S. 87-113, S. 98f.;
Reichmann, Oskar: Zum Urbegriff und seinen Konsequenzen für die Bedeutungs-
erläuterungen Jacob Grimms. In: Kirkness, Alan u.a. (Hgg.): Studien zum Deutschen
Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1. Tübingen 1991,
S. 299-345, S. 303.
46
Ein bekanntes und eindrucksvolles Beispiel ist seine Erklärung des Wortes
Ehre als etymologisch verwandt mit Wörtern wie Erz, lat. aes (>Erz<), aestas
(>Sommer<), aestus (>Hitze, Glut<) und aestimare (>wertschätzen<), wobei er
eine »Zurückleitung des abstracten [...] era auf ais und er, das glänzende,
leuchtende metall« nahelegt25, so dass der allen genannten Wörtern zu
grunde liegende »Urbegriff« das >Glänzen< oder >Schimmern< gewesen sein
müsse.
24 Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Zitiert nach:
August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. v. Ernst Behler.
Bd. 1. Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, S. 181-472, S. 250.
25 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862, Sp. 54.
26 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd 1. Leipzig 1854, Sp. 553.
27 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. 554.
47
die Vorstellung so faszinierend für ihn, dass sie ihn zu haltlosen Spekulatio
nen verleitet: »wie gefühlvoll erschiene die spräche, welcher der arme ein sol
cher ist, den man mitleidig, liebreich aufnimmt und in die arme schlieszt«.28
Dergleichen klingt nun nicht nur durchaus romantisch, sondern ist es auch:
Der Gedanke vom semantischen Zusammenhang des Adjektivs arm und des
Substantivs Arm findet sich nämlich in ähnlicher Form - vermutlich jedoch
eher als sinnreiches Wortspiel gedacht - bereits bei Clemens Brentano, der ja
mit Grimm persönlich bekannt und befreundet war. In seinem Roman Godwi
liest man Folgendes:
Freilich hat sich Jacob Grimm seit seiner Arbeit an der deutschen Gram
m atik um Empirie und Methode bemüht. Er bleibt dabei gleichwohl auch
Romantiker und behält seine (aus)schweifende, spekulative Sprachbetrach-
tung bei. Nicht umsonst hat die ihm folgende Generation von Fachwissen
schaftlern Schwierigkeiten mit ihm, beispielsweise sein Schüler Wilhelm
Scherer, der Grimm einen Mangel an »wissenschaftliche^] Solidität« beschei
nigt.30 Der jungen deutschen Philologie, die doch nicht umhin konnte, sich
auf ihn zurückzuführen, erschien Jacob Grimms Arbeitsweise »fremd, wild,
exterritorial«.31 Was für Scherer daraus folgte, war, Jacob Grimm einerseits auf
einen Sockel der Ahnenverehrung zu setzen und andererseits in seiner eige
nen sprachhistorischen Arbeit diejenige Grimms weitgehend zu ignorieren.
28 Ebd.
29 Brentano, Clemens (1801): Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Zitiert nach:
Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe.
Hg. v. Jürgen Behrens u. a. Bd. 16. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 151.
30 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm, S. 47.
31 Wyss, Ulrich: Die wilde Philologie, S. 13 f.
48
»In die rauften ‘WäCder unsrer Vorfahren suchte ich einzudringen, ihrer edfen
Sprache und reinen Sage bauschend«
Jacob (Jrimm
Von der modernen Universität und auch von den Schulen ist die Literaturwis
senschaft nicht wegzudenken. Auch heute noch tritt sie meist in Form von Na
tionalphilologien auf, beispielsweise als Germanistik oder Anglistik. Dass man
die Literatur und Sprache moderner, d. h. nicht antiker Sprachgemeinschaften
als sinnvolle wissenschaftliche Gegenstände versteht, die man im Zusammen
hang eines Faches studiert, ist ein relativ junges Phänomen. Es entstand im
19. Jahrhundert, nicht schlagartig, sondern in einem langsamen Prozess.
Die Brüder Grimm sind an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Sie ge
hören zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer jungen Generation von
Gelehrten, die neue Methoden und Theorien entwickeln, um Literatur und
sprachliche Überlieferungen jeder Art zu sammeln, kritisch zu durchdringen,
aufzubereiten und zu systematisieren. Nicht nur »reine« Gelehrte beteiligen
sich daran, sondern auch eine Reihe von romantischen Dichtern wie Clemens
Brentano, Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff, Ludwig Tieck oder Lud
wig Uhland. Wie wenige andere ihrer Mitstreiter haben es die beiden Brüder
jedoch verstanden, nach und nach zu zentralen Integrationsfiguren in ihrem
Feld aufzusteigen.
Die Sammlung, Edition und In
terpretation von Märchen, Sa
gen und mittelalterlicher Dich
tung wie dem >Nibelungenlied<
oder dem Minnesang sind nur
ein Teilbereich dessen, wofür
die Brüder Grimm und ihre
Mitstreiter sich interessierten.
Neben der Dichtung spielte
die historische Erschließung
der Sprache eine entscheiden
de Rolle, ebenso aber auch die
Rekonstruktion alter Rechtsge
pflogenheiten oder der Mytho
logie, d.h. des religiösen Glau
bens. Alle diese Dinge haben
gemeinsam, dass sie Ausdruck
von Sitten, Gepflogenheiten
oder Denkmustern sind. Sie
Des Knaben Wunderhorn
zeugen davon, wie frühere
Menschen bzw. Kulturen die hur die von Clemens Brentano und Achim von Arnim
Welt verstanden und interpre herausgegebene Liedsammlung lieferten die Brüder
tiert haben. Dieses übergrei Grimm ab 18Ü6 Beitrage. Titelblatt der Ausgabe von
fende, nicht auf die »schöne 1808 mit einem Stich von Philip Otto Runge.
Literatur« beschränkte Interesse
prägte nicht nur die Tätigkeit
der Brüder Grimm, sondern die »Germanistik« bis weit ins 19. Jahrhundert
hinein. Von einer heutigen Fachsystematik aus gesehen, gehörten dazu
neben den Literaturwissenschaftlern auch Linguisten, Historiker, Volkskund
ler, Religionswissenschaftler. Geprägt wurde der Begriff von Juristen, die eine
Transformation des gegenwärtigen Rechts anhand der historischen Rechts
überlieferung anstrebten. Bezeichnend dafür ist, welche uns heute fremde
Bedeutung die Bezeichnung »Germanist« ursprünglich trug. Wirkungs
mächtig wurde dieser Begriff durch die erste Versammlung der deutschen
Rechts-, Geschichts- und Sprachforscher 1846 in Frankfurt am Main, den
ersten »Germanistentag«. Der ursprünglich rein juristische Begriff sollte,
wie Jacob Grimm auf derTagung erläutert, als einheitliche Bezeichnung für
alle diejenigen dienen, die sich mit deutscher bzw. deutschsprachiger Über
lieferung beschäftigten:
50
Heute sind viele Entwicklungen, die damals ihren Anfang nahmen, für uns
selbstverständlich geworden, so etwa dass der Unterricht in der Mutterspra
che und ihrer Literatur zu den fundamentalen Aufgaben der Schulen gehört.
Fremd dagegen erscheint uns heute das nationale und oft nationalistische
Interesse, das sich im 19. Jahrhundert - und darüber hinaus bis ins »Dritte
Reich« - mit der Erforschung nationalsprachlicher Überlieferungen verband.
Noch fremder und zunächst unverständlich schließlich mag uns heute die
Tatsache erscheinen, dass dieses nationale Interesse bis in die 1850er Jahre
maßgeblich mit der Entwicklung eines demokratischen Gedankens zusam
menhing. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Bürgertum
der progressive Teil der Bevölkerung, auch wenn hier mehrheitlich nicht
von Demokraten im heutigen Sinne die Rede sein kann. In der spezifischen
politischen Situation dieser Zeit bedeutete das Interesse für das Volk daher
nicht selten einen Einspruch gegen bestehende monarchische Systeme.
1 Grimm, Jacob: Über den Namen der Germanisten. In: Verhandlungen der Germa-
nisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846. Frankfurt am
Main 1847, S. 104.
51
auch teil, obwohl man auch die Brüder nicht zu denen zählen kann, die tat
sächlich für eine demokratische Ordnung im heutigen Sinne eintraten.
Die Geschichte dieser Märchen würde selbst wie ein zauberhaftes Märchen
wirken, wenn sie nicht von Anfang bis Ende wahr wäre. Es waren einmal
zwei Brüder, sehr gelehrt - was es in Deutschland oft gibt - und sehr innig
miteinander, was man nicht so oft sieht.... Und so durchzogen die beiden
Brüder Deutschland in allen Himmelsrichtungen, sie standen mit der Sonne
auf und wanderten bis ins Abendrot, während der Mittagshitze lauschten
sie den Schnittern im Schatten und in der Nacht den Spinnerinnen auf der
Ofenbank.2
2 Grimm, Brüder: Contes de la famille par les Freres Grimm, traduits de l’Allemand
par N. Martin et Pitre-Chevalier. Paris 1846, S. I, VI. Übersetzung vom Vf.
53
Schon zu Lebzeiten der Brüder konnten die Leser der ersten französischen
Übersetzung der >Kinder- und Hausmärchen< (1846) dieses reizvolle, roman
tische Bild auf sich wirken lassen. Für den anonymen Autor der Vorrede
sind die Brüder selbst zu märchenhaften Gestalten geworden, wert, mit der
berühmt gewordenen Eingangsformel »es war einmal« ihrer eigenen Ge
schichten bedacht zu werden. Dass sich ein solcher Mythos um die Autoren
bilden konnte, zeugt von dem immensen Erfolg, den die Märchen mit dem
fortschreitenden 19. Jahrhundert bekamen. Noch 2005 hat sich der englische
RegisseurTerry Gilliam diese Vorstellung in seinem Film >The Brothers Grimm<
zu eigen gemacht. Matt Dämon und Heath Ledger ziehen hier als Will und
Jake durch thüringische Urwälder und mittelalterlich anmutende >deutsche<
Kleinstädte mit Butzenscheiben. Erst, nachdem sie »echten« Märchenge
stalten begegnet sind und den Spuk besiegt haben, beschließen sie, die
Geschichten des Volkes zu sammeln.
Diese Vorstellungen sind denkbar weit entfernt von der tatsächlichen Arbeit,
aus der die Märchen entstanden sind. Wollte man sich diese in einer anschau
lichen Szene vorstellen, so dürfte man nicht an romantische Wanderungen
durch die Natur denken. Der passende Ort der gelehrten Brüder wäre viel
mehr der Schreibtisch in der Gelehrtenstube oder in der Bibliothek, ihre Insig
nien wären nicht Stab und Hut, sondern Schreibfeder, Karteikarte und Buch.
Das Bild der wandernden Brüder wurde durch die spätere Rezeption ge
schaffen. Aber ganz unschuldig waren die Grimms daran nicht. In der Vorrede
zur Erstausgabe (1812) entwickeln sie eine Theorie des Märchens, die tief
romantisch geprägt ist. Ein Leser, der sich davon anstecken lässt, könnte sich
die philologische Sammlung eher als Wanderung denn als Zettelwirtschaft
vorstellen. Bei den Märchen, so die Grimms, handele es sich um uralte Erzäh
lungen, entstanden in einer Zeit, als sich die Menschen noch nicht durch
Vernunft und Reflexion von der Natur entfremdet hätten. Daher behandeln
die Grimms die Märchen geradezu als Produkte der Natur selbst, nicht als
Erfindungen einzelner Individuen oder Dichter. Sie würden im Volk treu
mündlich weitergegeben und blieben dadurch über lange Zeiten hinweg
im Kern stabil. Weil sie aus dem Volk entstanden seien, weil das Volk sich in
ihnen wiedererkenne und sie liebe, bewahrten diese Märchen in sich auch
den »Geist« dieses noch unverdorbenen Volkes auf. Die Märchen wären
demnach gleichsam »Urworte« einer noch kindlich-naiven Menschheit, die
freilich von den Grimms national gedacht wird. Hierin liege ihre unver
gleichliche poetische Schönheit, hierin aber liege auch ihre Gefährdung in
der Gegenwart. Denn die fortschreitende moderne Kultur, die unerbittlich
auch das einfache Volk ergreife, lasse diese Naturpoesie mehr und mehr in
Vergessenheit geraten. Hier müsse die Philologie als Retterin eingreifen
und diese Spuren archaischer Einfachheit sammeln und sichern.
3 Vor allem Heinz Rölleke hat hier wichtige Arbeit geleistet. Rölleke, Heinz:
Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004
Stattdessen hoben sie eine an
dere Erzählerin besonders her
vor, die nicht zu diesen Kreisen "H
gehörte: Dorothea Viehmann.
Sie lebte in einem Dorf bei Kas
sel und besuchte die Grimms,
um ihnen Märchen zu erzäh
len. Berühmt geworden ist sie
durch das Porträt, das die Brü
der 1815 dem zweiten Band PETIT CHAPERON
der Märchensammlung voran
R O U G E .
stellten. Sie stellen Dorothea
Viehmann als typische, unver Rotkäppchen und der Wolf
dorbene Bäuerin aus dem Volk
dar, mit einem unerschöpfli Viele der Kinder- und Hausmarchen gehen aul
chen Gedächtnis für Märchen, französische Einflüsse, besonders auf die Märchen-
die über die Generationen sammlung von Charles Perrault (1628-1703), zu
mündlich weitergegeben wor rück Diese enthalt auch >Le petit chaperon rouge»,
den seien. In Wirklichkeit aller zu Deutsch .Rotkäppchen«, das 1697 erschien,
dings war die sogenannte (acob Grimm erwarb die hier abgebildete Ausgabe
»Viehmännin« keine Bäuerin, 1815 während seiner Z,ext beim Wiener Kongress.
sondern mit dem Dorfschnei
der verheiratet; sie stammte
aus einer hugenottischen Familie, sprach Französisch und war keinesfalls
ungebildet: Beispielsweise kannte sie die Märchen des französischen Dichters
Charles Perrault (1697) und ließ sie auch in die Geschichten einfließen, die
sie den Grimms erzählte. Andere Märchen fanden die Grimms in gedruck
ten Büchern von Autoren des 15. bis 18. Jahrhunderts, die ihren eigenen
Werken traditionelle Erzählstoffe einverleibt hatten. Als belesene Philologen
identifizierten die Brüder diese Texte und nahmen sie in ihre Sammlung auf.
Ein weiterer Mythos, der sich bis heute mit den Märchen verbindet, wird
ganz ausdrücklich durch die Vorrede der >Kinder- und Flausmärchen< beför
dert. Es heißt dort:
Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als möglich war aufzufas-
sen... Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert
worden, denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit
ihrer eigenen Analogie oder Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich.
56
Für die Theorie des Märchens, wie sie die Grimms vertraten, ist es nicht un
wichtig, dass sie diese »Urworte« des Volkes unverändert darbieten wollen.
Denn jede Veränderung geschähe schließlich nicht im »Geist« der unmit
telbaren Volkserzählung, sondern aus dem Horizont eines modernen, nicht
mehr naiven Bewusstseins. Sie liefe Gefahr, die Poesie der reinen Natur zu
verfälschen. Allerdings haben die Grimms von Beginn an intensiv an den
Texten gearbeitet. Schon die Märchen der Erstausgabe weichen signifikant
von den erhaltenen Manuskripten ab, die ihr zugrunde liegen. Mehr noch
gilt dies für die verschiedenen Auflagen der Märchensammlung, die zu Leb
zeiten der Grimms bis 1857 sieben Mal neu aufgelegt und dabei jeweils
meist stark verändert wurden. Vor allem war es Wilhelm, der den Stil der
Märchen nach und nach bearbeitete, ihn auf kunstvolle Weise >naiver<
machte und gleichzeitig viele Details in nicht wenigen Erzählungen weiter
ausführte.4
Schon in der ersten Ausgabe lässt sich beobachten, wie die Grimms
manchmal verschiedeneVersionen eines Stoffes, der ihnen aus mehreren
Quellen zugekommen war, zu einer neuen Fassung verschmolzen. Auf dem
Titelblatt treten die Brüder als bloße Sammler und Herausgeber der Mär
chen auf. In Wirklichkeit jedoch sind sie mehr. Sie selbst erst haben nach
und nach den Erzählstil geschaffen, der ihrer romantischen Theorie des Mär
chens entsprach und der noch heute unverkennbar ist. Die Forschung
spricht daher von der »Gattung Grimm«. Hier liegt eine weitere, bedenkens
werte Ironie: Die Grimms haben mit als Erste entschieden für eine Aufwer
tung der Volkstraditionen plädiert und damit nachhaltig zu einer Revoluti
on im zeitgenössischen Verständnis von Literatur beigetragen. Aber die
Dichtungen des Volkes, die sie lediglich dokumentieren wollten, haben erst
sie selbst in die wundervolle, bis heute faszinierende Form gebracht.
Minnesang
Durch die in der Heidelberger
Liederhandschrift gesammelten
Minnelieder kamen die Brüder
Grimm erstmals mit der älteren
deutschen Literatur in Kontakt. Die
anfängliche Faszination von dieser
literarischen Gattung wich jedoch
bald einer gewissen Skepsis.
Bild: Große Heidelberger Lieder-
handschrift, Codex Manesse,
1. Hälfte des 14. Jahrhunderts.
Auch in den Märchen glaubten die Grimms Spuren dieser nordischen Mytho
logie zu finden, und alle diese Texte und Motive sind daher auch in ihre
späteren Versuche eingegangen, verschiedenste Aspekte der »germanisch
deutschen« Kultur systematisch zu rekonstruieren, so etwa in Jacobs d e u t
sche Mythologie< (1835) oder in Wilhelms Abhandlung über d ie deutsche
Heldensage< (1829).
Hier zeigt sich, inwiefern man bei den Brüdern Grimm von einer »Entdeckung
des Mittelalters« sprechen bzw. inwiefern diese Formulierung auch irre
führen kann. Denn gerade im Nibelungenlied, wie es aus dem 13. Jahrhun
dert überliefert ist, verbinden sich mehrere zeitliche Schichten. Einerseits
bedient sich der unbekannte Dichter einer Reihe von alten, mythologischen
Figuren und Geschehnissen, so etwa Siegfrieds, des Nibelungenhortes
oder Brünhildes. Gleichzeitig aber versetzt er diese überlieferten Momente
in eine hochmittelalterliche Welt der glänzenden Höfe, Feste und ritter
lichen Sitten.
Die Grimms interessierten sich jedoch in erster Linie für die älteren Elemente
des Mythos. In ihnen sahen sie Spuren jener urtümlichen Gemeinschaft.
Den hochmittelalterlichen Raum dagegen blendeten sie weitgehend aus.
Er war für sie die individuelle Zutat eines Dichters, in der sich bereits die
Abtrennung der Dichtung vom Volk und ihre Vereinnahmung durch gebil-
59
7 Grimm, Jacob: Das Wort des Besitzes. Eine linguistische Abhandlung. In: ders.:
Kleinere Schriften Bd. 1. Berlin 1864, S. 113-144, S. 115f.
8 Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen 1811, S. 4.
60
Wendungen wie je m a n d e m a u fs D a ch s te ig e n , m it H a u t
und H a a r oder g a n g und g ä b e haben eines gemeinsam:
Sie sind ganz selbstverständlich in unserem W ortschatz vor
handen, ihre ursprüngliche Bedeutung ist uns aber meist nicht
mehr bewusst. Es war Jacob Grimm, der die Deutschen über
diese historische Dimension ihrer Sprache aufgeklärt hat.
Alte Rechtsquellen der deutschen Sprache haben Jacob Grimm ein Leben
lang fasziniert. Bereits als junger Jurastudent war er für seinen Rechtsprofes
sor Friedrich Carl von Savigny nach Paris gereist und hatte in der französi
schen Nationalbibliothek Rechtsquellen und -dokumente gesammelt und
abgeschrieben. Auch später sammelte, kopierte und dokumentierte er in
mühevoller Kleinarbeit, was immer er in Bibliotheken und Archiven zutage
fördern konnte: mittelalterliche Rechtsbücher, Ordnungen, Weistümer,
Sprüche, Stadtrechte.
Nach einem Volksmärchen soll der Teufel dem Bauer ein Haus fertig bauen,
eh der Hahn kräht, sonst ist der Bauer frei, der Teufel verfallen. Schon naht
sich das Werk dem Ende, eine einzige Ziegel bleibt noch aufzudecken;
da ahmt der Bauer das Hahnenkrähen nach und plötzlich erkrähen alle
Hähne in der Runde, der Menschenfeind aber verliert die Wette.
Der Literaturwissenschaftler Grimm konnte zeigen, dass das Motiv des Hah
nenschreis, der die Kraft hat, einen Zauber zu lösen oder zu binden, auch in
der älteren Mythologie zu finden ist. Dem Rechtshistoriker Grimm fiel auf,
dass auch in Vertragsklauseln mittelalterlicher Verträge ähnliche Formulie
rungen zu finden waren, wenn es etwa hieß, dass ein Vertrag in Kraft bleibt,
solange »der Wind weht und der Hahn kräht«.
Jacob Grimm war dabei besonders von der »sinnlichen Qualität« des mittel
alterlichen Rechts fasziniert. Rechtsakte wurden mit Hilfe von Gegenständen
und symbolischen Handlungen vor aller Öffentlichkeit sichtbar, fühlbar und
hörbar dargestellt: So symbolisierte ein Handschuh in der mittelalterlichen
Vorstellung Herrschaft und Besitz. Wurde einem Vasallen ein Lehen verliehen,
wurde ihm ein Handschuh übergeben; bei einer Aufkündigung des Lehens
musste er diesen wieder zurückgeben.
Ein Bauer vor der Mühle: »Wer zuerst
kommt, mahlt zuerst«: Viele Sprich
wörter gehen auf alte Rechtsgewohn
heiten oder Gesetze zurück.
Alte Rechtssprache im
modernen Deutsch
Es waren solche Zusammenhänge, die Jacob
Grimm faszinierten: Philologie, Mythologie
und Jurisprudenz waren für ihn keine getrenn
ten wissenschaftlichen Disziplinen, vielmehr
eng verwandte Gebiete, die denselben Gegen
stand betreffen.
Man denke etwa an Wendungen wie mit Haut und Haar. Heute verwendet
man diese Formulierung, wenn man etwas Vollständiges, den ganzen
Menschen meint. Tatsächlich war ursprünglich eher das Gegenteil gemeint:
Nach einer Bestimmung im >Sachsenspiegel< durfte eine Frau, wenn sie
schwanger war, nur an Haut und Haaren gestraft werden: Gemeint war das
Haareabschneiden und das Auspeitschen mit Ruten - eine Schand- und
Körperstrafe also, die aber keine bleibenden Schäden hinterlassen sollte.
Auch die Wendung jemandem aufs Dach steigen geht auf eine alte Schand-
strafe zurück: Einem Schuldner, der seine Rückstände nicht begleichen
konnte, wurde das Dach abgedeckt.
Viele Redewendungen im Deutschen konnte Grimm auf typische mittel
alterliche Vertragsformeln zurückführen, deren Bedeutung sich in ihrer Ent
wicklung meist erweiterte: Die Wendung gang und gäbe verwendet man
heute, wenn man etwas als »allgemein gültig und anerkannt, als allgemeine
Praxis« bezeichnen will. Ursprünglich bezog sich gang und gäbe lediglich auf
einen Spezialbereich, die Münzwährung; die Formulierung legte fest, dass
eine Summe nur in umlaufender, also gängiger Währung gezahlt werden
durfte. Ähnlich liegt der Fall bei der Redewendung wer zuerst kommt, mahlt
zuerst. Hier handelte es sich ursprünglich um eine Bestimmung des >Sachsen-
spiegelsc der er zu der mul kumt, der melte. Sie legte fest, dass der Bauer,
der zuerst sein Korn zur Mühle brachte, Anspruch darauf hatte, dass es auch
zuerst gemahlen wurde.
Die Geschichte des deutschen Wörterbuchs< begann 1837 mit einem poli
tischen Paukenschlag. Deutschland befand sich mitten in der Ära, die heute
als Restauration und Vormärz bezeichnet wird. In den Jahrzehnten nach
dem Wiener Kongress suchten die Staaten des ehemaligen Deutschen Rei
ches jede freiheitliche, demokratische oder konstitutionelle Regung mit
den Mitteln staatlicher Repression zu unterdrücken. In dieser Situation trat
1837 der reaktionär gesinnte Ernst August seine Regentschaft als König von
Hannover an. Der König brach mit der liberalen Politik seines Vorgängers,
löste das Parlament auf und beseitigte mit dem Patent vom 1. Oktober auch
formal die Verfassung. Der offene Verfassungsbruch wurde in der Öffent
lichkeit und besonders an der Göttinger Universität heftig diskutiert. Doch
am Ende waren es nur sieben Professoren, darunter Jacob und Wilhelm
Grimm, die dem König die Stirn boten. In ihrer >Unterthänigsten Vorstel-
lung< erklärten sie, dass sie keine vom König einberufene Versammlung
anerkennen könnten, da es ihre Gewissenspflicht sei, dem früher geleiste
ten Diensteid treu zu bleiben. Die Antwort erfolgte prompt: Am 11. Dezem
ber wurden die Professoren wegen »staatsgefährlicher Gesinnung« ent
lassen, drei von ihnen, darunter Jacob Grimm, zudem des Landes verwiesen.
Der couragierte Akt der »Göttinger Sieben«, die für Ihre konstitutionelle
Überzeugung den Verlust ihrer Stellung in Kauf genommen hatten, löste in
den deutschen Staaten eine beispiellose Welle der Sympathie und Hilfsbe
reitschaft aus. Die Erklärung wurde zusammen mit den Porträts der Entlas-
Die Göttinger Sieben
Die beiden Verleger sahen die günstige Gelegenheit gekommen, eine alte
Projektidee wieder aufleben zu lassen. Mit Unterstützung des Philologen und
Germanisten Moriz Haupt unterbreitete Karl Reimer Wilhelm Grimm den
Vorschlag zu einem von ihm und seinem Bruder herauszugebenden großen
neuhochdeutschen Wörterbuch, das den Zeitraum von Luther bis Goethe
umfassen sollte. Wie weit der Arbeitsbeitrag der Brüder tatsächlich gehen
sollte, ließ Reimer vorsichtig in der Schwebe: »Daß Ihre und Ihres Herrn
Bruders Anwesenheit besonders für den Anfang von ungemeinem Nutzen
66
Jacob Cnmm
» ------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Etwa zeitgleich begann die Einweisung und Vorbereitung der fast 100 Ex-
zerptoren, die auf kleinen Zetteln Wortbelege aus den Schriften der Dichter
und anderer Schriftsteller herausziehen sollten. Aber auch die Brüder blie
ben nicht untätig. »Ich hacke«, teilte Jacob mit, »täglich ein paar Stunden
Holz, d. h. ich arbeite an den Sammlungen für das Wörterbuch«. Der mun
tere Ton sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wörter
buch, wie er später bekannte, schwer auf seinem Gemüt lastete.
1 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs 1838-1863. Stuttgart 1980, S. 53.
2 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 54.
3 Kirkness, Alan: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
In: Klaus B. Kaindl (Hg.): Die Brüder Grimm in Berlin. Katalog zur Ausstellung. Stutt-
gart 2004, S. 154-165, S. 154.
4 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 226.
67
Selbst Moriz Haupt, der so intensiv für das Wörterbuch geworben hatte,
trug selbst nichts dazu bei.
Auf der wirtschaftlichen Seite deutete sich jedoch Entspannung an. Die
nationale Bedeutung des deutschen Wörterbuchs< war auch den Regie
rungen der deutschen Länder nicht verborgen geblieben. Und so lud der
preußische König Friedrich Wilhelm IV. auf den Rat Alexander von Humboldts
hin die Brüder 1841 als Privatgelehrte nach Berlin, damit sie dort, ausge
stattet mit einem Gehalt von jährlich 3000 Talern, ihre Arbeiten an dem
Monumentalwerk fortsetzen konnten. Zudem besaßen sie als Mitglieder
der Preußischen Akademie der Wissenschaften das Recht, an der Universität
Vorlesungen zu halten. Damit war die wirtschaftliche Existenz der Brüder
gesichert. Von da an lebten und arbeiteten sie in Berlin.
Ein weiteres Problem vertagten Jacob und Wilhelm schlicht und einfach:
Beide waren sich sehr wohl derTatsache bewusst, dass ihnen in der Wörter
bucharbeit jede Erfahrung fehlte. Nicht nur die Frage, wie man eine der
artig riesige Belegfülle organisatorisch bewältigen konnte, blieb offen. Auch
wissenschaftlich betraten sie Neuland. Ein historisches Wörterbuch, das
einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren abdeckte, dessen etymologische
Herleitungen bis in germanische Zeiten zurückreichen sollten, war bis dahin
ohne Beispiel.
Titelbild zum
>Deutschen Wörterbuch<
6 Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch. In: Grimm, Wilhelm:
Kleinere Schriften. Hg. von Gustav Hinrichs. Bd. 1. Berlin 1881, S. 508-520.
7 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 261.
_^£_
Und hier sah er im Gegensatz zum Französischen auch den großen Vorteil
der deutschen Hochsprache, die sich ohne Eingriffe einer Akademie ent
wickelt habe:
Jacob grim m
Und der Boden der Schriftsprache, das war für Wilhelm Grimm die Münd
lichkeit, die sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts und in den Jahrhun
derten davor in den Dialekten äußerte. Die Schriftsprache, die er hier mit
der Hochsprache gleichsetzt, schwebt dieser Vorstellung nach gewisser
maßen über allem und nimmt die Einflüsse der verschiedenen Dialekte in
sich auf - ohne dass es dazu einer lenkenden Institution bedarf. Genau
dieses Verhältnis zwischen Hoch- bzw. Schriftsprache und mündlicher
Sprachrealität nimmt Wilhelm als Matrix für das >Deutsche Wörterbuchc
Sie sehen, meine Herren, wo ich hinaus will, welches Ziel ich dem Wörter
buch stecke. Sollen wir eingreifen in den Sprachschatz, den die Schriften
dreier Jahrhunderte bewahren? entscheiden was beizubehalten, was zu
verwerfen ist? sollen wir, was die Mundarten zugetragen haben, wieder
hinausweisen? den Stamm von den Wurzeln ablösen? Nein, wir wollen
der Sprache nicht die Quelle verschütten, aus der sie sich immer wieder
erquickt, wir wollen kein Gesetzbuch machen, das eine starre Abgrenzung
der Form und des Begriffs liefert, und die nie rastende Beweglichkeit der
Sprache zu zerstören sucht. Wir wollen die Sprache darstellen, wie sie
sich selbst in dem Lauf von drei Jahrhunderten dargestellt hat, aber wir
schöpfen nur aus denen, in welchen sie sich lebendig offenbart.9
nähme der Orthografie - auch heute noch eine der Grundsäulen der
modernen Lexikographie. Und ebenso wie bei den Brüdern Grimm liegen
den modernen Wörterbüchern riesige Sprachkorpora zugrunde.
Insgesamt häuften die Mitarbeiter bis zu Beginn der 50er Jahre über
600.000 Belegzettel an, hinzu kam noch das umfangreiche Material, das
Jacob und Wilhelm selbst beisteuerten. Als es an die konkrete Bear
beitung ging, teilten sich die Brüder die Arbeit in der für sie charakteris
tischen Weise auf: Jacob übernahm die Buchstaben A, B und C, Wilhelm
sollte mit D einsetzen.
Im Oktober 1848, kurz nach seinem Ausscheiden aus der Frankfurter Natio
nalversammlung, begann Jacob Grimm mit der eigentlichen Redaktions
phase und arbeitete sich nun in der ihm eigenen Emsigkeit durch die Text
massen. Doch auch er geriet bisweilen an die Grenzen seiner Schaffenskraft.
In einem Brief von 1850 klagte er gegenüber dem befreundeten Politiker
Georg Gottfried Gervinus - auch er einer der »Göttinger Sieben« -, dass er
trotz Erkrankung schon wieder am Wörterbuch sitze. Dass die mit höchster
Intensität vorangetriebene Wörterbucharbeit auch in der Psyche ihre Spuren
hinterließ, kleidete Jacob Grimm in der Vorrede zum deutschen Wörter
buch in ein beklemmendes Sprachbild:
im vorgerückten alter fühle ich, dasz die faden meiner übrigen angefang
nen oder mit mir umgetragnen bücher, die ich jetzt noch in der hand halte,
darüber abbrechen, wie wenn tagelang feine, dichte flocken vom himmel
nieder fallen, bald die ganze gegend in unermeszlichem schnee zugedeckt
liegt, werde ich von dermasse aus allen ecken und ritzen auf mich andrin
gender Wörter gleichsam eingeschneit, zuweilen möchte ich mich erheben
und alles wieder abschütteln. . . 12
12 Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. Ilf.
73
Am Anfang w ar das W o rt
Ill l ! ' I H M
könnten«.14Auch auf der Leipziger Buchmesse erregte das Werk großes Auf
sehen und wurde, wie der Verleger zufrieden vermerkte, »höchstens mit
Ausnahme einiger Neidhammel« durchweg gelobt. Wie bei größeren Lexikon
projekten üblich, wurde das Werk in regelmäßig erscheinenden Einzelliefe
rungen von 15 Bögen (120 Seiten) verkauft. So konnten die Leser mit der
ersten Lieferung einen ersten Einblick in das Werk nehmen und seine er
staunliche Reichhaltigkeit und Tiefe bewundern.
Allerdings verzeichnete Reimer auch vereinzelt Kritik, und sogar eine gewisse
Ratlosigkeit war zu spüren. Es war offensichtlich, dass sich dieses Wörter
buch gravierend von allem Bisherigen unterschied: Auffallend waren die
eigentümliche, historisierende Rechtschreibung, die Bedeutungsangaben,
die auf Latein gefasst waren, und die umfangreichen und teils umständ
lichen wortgeschichtlichen Herleitungen. Karl August von Varnhagen sprach
wohl vielen aus der Seele, als er nach der Lektüre der ersten Seiten irritiert
in sein Tagebuch schrieb: »mitunter etwas eigensinnig«15. Was fehlte, war
eine programmatische Vorrede, eine Erläuterung zur Stichwortauswahl und
So hatten die Kritiker leichtes Spiel, zumal sie auf etliche Ungereimtheiten stie
ßen, als sie versuchten, sich die lexikographischen Prinzipien aus dem vorhan
denen Material zu erschließen. Dass die ersten Lieferungen noch mit Mängeln
behaftet waren, darüber gaben sich die Brüder Grimm keinen Illusionen hin.
Die Heftigkeit der Kritik, die noch im selben Jahr über das Wörterbuch herein
brach, traf sie jedoch unvorbereitet und verletzte sie tief. Eine der Besprechun
gen stammte aus der Feder des ehemaligen Gymnasialprofessors Christian
Friedrich Ludwig Wurm. Dieser konstatierte, dass das »W.[örterbuch] in keiner
Hinsicht den Anforderungen genüge, welche an ein für alle Stände geeignetes
Sprachwerk nach Recht und Billigkeit gestellt werden.« Für Deutschlernende,
für fremde Geschäftsleute, selbst für Schulen sei es unpraktisch. Zudem konn
te er bereits für die erste kurze Wortstrecke 40 Stichwörter anführen, die die
An den Kritiken von Sander und Wurm lässt sich leicht ersehen, dass sie ei
gentlich ein Wörterbuch für den alltäglichen Gebrauch erwartet hatten. Nun
hätten Autoren und Verlag es sich leicht machen können und das >Deutsche
Wörterbuch< als ausschließlich historisches Wörterbuch für den wissenschaft
lichen Gebrauch kennzeichnen können. Es wäre von der Fachwelt dann eben
so wie ein Wörterbuch des Mittelhochdeutschen oder Althochdeutschen
wohlwollend zur Kenntnis genommen worden, um dann in den Bibliotheken
zu verstauben. Aber genau das lag nicht im Interesse der Brüder Grimm. Sinn
und Zweck des Wörterbuchs war eine Demonstration: Über den aktuellen all
täglichen Wortschatz sollte auch dem wissenschaftlichen Laien ein Fenster in
die sprachliche Vergangenheit eröffnet werden. Schon Jahrzehnte früher, in
seiner Vorrede zur Grammatik, hatte Jacob Grimm diesen besonderen Blick
winkel ausgehend von der Gegenwart in die Vergangenheit hervorgehoben:
Spuren des Alten, die in der jetzigen Sprache noch »trümmerhaft und gleich
sam versteint stehen geblieben«, seien ihm dann deutlich geworden, »wenn
das Neue sich zu dem Mitteln reihen konnte und das Mittele dem Alten die
Hand bot«.19 Kurz: Für Jacob Grimm war die Etymologie »Salz und Würze des
Wörterbuchs«.20 In einem deutschen Wörterbuch sei es Pflicht, allen Mitteln
und Handhaben nachzugehen, die die Sprache selbst biete.21 Als Beispiel
für diesen Anspruch sei hier ein Auszug für den Artikel Bahn zitiert, der den
sprachgeschichtlichen Zusammenhang zum Wort Wunde herstellt:
17 Wagner, Doris: Christian Friedrich Wurm (1801-1861) Der von Jacob Grimm ver-
schmähte DWB-Mitarbeiter und seine Wortsammlung. In: Denecke, Ludwig (Hg.):
Brüder Grimm Gedenken. Bd. 13, S. 133-143, S. 137.
18 Kirkness, Alan: Geschichte des deutschen Wörterbuchs, S. 188.
19 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Göttingen 1819. S. XVII.
20 Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. XLVII.
21 Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. LI.
76
B A H N [ b a n ] , f. v ia trita , e i n f ü r d ie g e s c h i c h t e u n s e r e r s p r ä c h e l e h r r e i c h e s w o r t :
g o t h . f i n d e n w ir b a n j a v u i n u s , a g s . b e n n , ( . . . ) e n g l, b a n e g if t u n d v e r d e r b e n ,
d a s w ill s a g e n m o r d u n d t o d s c h l a g , ... So u n v e r e i n b a r a n fa n g s a u c h d ie b e
g r if f e t o d s c h l a g u n d s t r a s z e s c h e i n e n , b e i d e r e ih e n m ü s s e n e i n e r q u e l l e e n t
f l o s s e n s e in , w i e d i e b e d e u t u n g le h r t , s e t z e n w ir a ls w u r z e l b a n fe rire , s o e n t
t o d s c h l ä g e r , u n d b a h n , v ia trita , le c h e m i n b a t t u , d i e v o n f ü s z e n u n d w a g e n
w e c b e rn , d e n w e g t r e t e n ...
Auch wenn die Kritiker die tatsächliche Bedeutung des Wörterbuchs nicht
erkannt hatten, so zeigte sich doch, dass, Jacob und Wilhelm Grimm ihr Lese
publikum überfordert hatten. Das Projekt erwies sich als wissenschaftlich zu
ambitioniert, um wirklich für einen größeren Leserkreis interessant zu sein.
Dennoch betonte Jacob in der Vorrede zum ersten Band des >Deutschen
Wörterbuchs< noch einmal, dass das Wörterbuch auch für den Laien »im
edelsten sinne practisch« sei. Seine Kritiker Sanders und Wurm bedachte er
mit einem boshaften Seitenhieb, der ihm selbst nicht zur Ehre gereichte:
77
Zwei spinnen sind auf die kräuter dieses wortgartens gekrochen und haben
ihr gift ausgelassen, alle weit erwartet hier eine erklärung von mir, ihnen
selbst würde ich nie die ehre anthun eine Silbe auf die roheit ihrer anfeindung
zu erwidern.22
Oberflächlich hatte die scharfe Kritik wenig bewirkt. Die Brüder Grimm und
der Verleger ließen sich nicht beirren, besonders Jacob arbeitete zügig weiter.
.......................;..............................................................................................«
(Berliner Z eitungen von 1825? - aber daß derartige Zeitungsannoncen
f ü r die Cjebrüder Cjmnm als (Beweissteden geh en können... das ist!!!
noch nicht dagew esen!! cM an muß es sehn, um es zu glauben!!!
Zunehmend rückte damit nicht mehr so sehr die baldige Fertigstellung des
Projekts in den Fokus, sondern eine möglichst umfassende, wissenschaftli
chen Kriterien genügende Belegbasis. Dieser wachsende Anspruch sollte
sich vor allem nach dem Tod der Brüder massiv auf das Projekt auswirken,
er trat aber schon in dem Moment zutage, als Wilhelm Grimm mit dem
Buchstaben D in die Wörterbucharbeit eintrat. Seine Arbeitsweise unter
schied sich grundlegend von der Jacobs und sollte die Verleger vor völlig
neue Probleme stellen.
mehr fand er nun endlich die Zeit, sich anderen Projekten zu widmen. Über
Wilhelms Mitarbeit und die Art, wie sich die Brüder die Arbeit aufgeteilt
hatten, war Hirzel allerdings mehr als unglücklich. Es erwies sich, dass Wil
helm nicht nur erheblich langsamer und bedächtiger arbeitete. Er wich
auch erkennbar von den Methoden Jacobs ab. Das stellte den Verlag, der
auf regelmäßige Lieferungen angewiesen war, um seine Kunden nicht zu
verlieren, vor erhebliche Probleme. In zahlreichen Briefen beschwor Hirzel
Jacob, die Beiträge von Wilhelm zu korrigieren, um wenigstens eine formale
Einheitlichkeit sicherzustellen. Doch Wilhelm und Jacob lehnten unisono
ab. Wilhelm stellte für diesen Fall seine Mitarbeit zur Disposition. Jacob ging
einem Konflikt mit seinem Bruder lieber aus dem Weg:
ich empfinde bei mir selbst den gröszten Widerwillen davor, Wilhelms
ausarbeitung vorher durchzusehen, in sie einzugreifen, es wäre mir,
als sei er gestorben und ich bekäme seine papiere in hand, vor rührung
würde ich keinen buchstab daran anders machen können.23
Daß wir beide zugleich Wörterbuch arbeiten, hat auch äußerlich man
ches gegen sich. Die Menge von Büchern die dabei gebraucht werden,
müssten bald hier bald dort weggenommen werden... Ich weiß nicht
ob sie sich unsre Hauseinrichtung deutlich vorstellen. Fast alle Bücher
sind an den Wänden meiner Stube aufgestellt und Wilhelm hat die größte
Neigung, sie in seine Stube zu holen, wo er sie auf Tische legt, daß man
sie schwer wieder findet. Trägt er sie aber an die alte Stelle, so ist ein
unendliches Thür-Auf- und Zuschlägen, das uns beiden lästig wird.
Dies ist nur ein äußeres Hindernis, das aus dem Zusammenarbeiten
hervorgeht, die inneren sind viel schwerer. 24
Jacob sah sich nun allein mit dem Wörterbuch konfrontiert, arbeitete aber
dennoch unbeirrt weiter. Hirzel teilte er mit, dass er den Buchstaben E bald
vollendet haben werde. Dennoch schritt die Arbeit des überlebenden Bru
ders nun langsamer voran. Klagen über körperliche Gebrechen häuften
sich. Als Jacob allerdings eine kurze Auszeit nehmen wollte, reagierte Hirzel
alarmiert, sah das »Gespenst der verlorenen Jahre 1855 bis 1858« wieder
vor sich und bestürmte Jacob, seine Arbeit fortzusetzen. Jacob gab dem
Drängen nach und versprach weiterzuarbeiten, plante seine Arbeiten sogar
bis über den Buchstaben G hinaus. Bereits F konnte er jedoch nicht mehr
vollenden. Am 20. September 1863 starb er bei der Ausarbeitung des Stich
wortes »Frucht«: Friedrich Karl Weigand kommentierte diesen denkwürdi
gen Einschnitt in der einzigen Fußnote des Werkes: »Mit diesem worte sollte
Jacob Grimm seine feder von dem werke leider für immer niederlegen,
das übrige bis zu ende des so weit geführten buchstabens ist meine arbeit.«
Es begann nun die Arbeit der Nachfolger, die sich über mehr als ein Jahr
hundert erstrecken sollte.
1863-1908 Nach dem Tod Jacob Grimms arbeiten Friedrich Karl Weigand, Moriz
Heyne und Rudolf Hildebrand am »Deutschen Wörterbuch« weiter.
1908-1930 Die Preußische Akademie der Wissenschaften übernimmt die wissen-
schaftliche Leiiung des Werks, ln Göllingen wird eine Zentralsammel-
stelle eingerichtet, die 2 Millionen neue Wortbelege sammelt
1930-1947 Inhaltliche und organisatorische Neuerungen verändern die Arbeit am
»Deutschen Wörterbuch«: Die Struktur der Wörterbuchartikel wird ver-
einheitlich!. In Berlin wird eine zentrale Arbeitsstelle eingerichtet.
1947-1971 Die beiden Arbeitsstellen in Göttingen und Ost-Berlin arbeiten gemeinsam
an der Fertigstellung des »Deutschen Wörterbuchs«. 1960 erscheinen die
letzten drei Bände, 1971 wird ein Quellenband erarbeitet.
1957 bis heute Beginn der Neubearbeitung der Bände A-F durch die Berlin Branden-
burgische und die Göttinger Akademie der Wissenschaften
1998-2003 Erstellung einer digitalen Volltextausgabe des »Deutschen Wörterbuchs«
80
Walter Jens hat das >Deutsche Wörterbuch< einmal als »gewaltiges Warenhaus
des Geistes« bezeichnet, als »abenteuerliches Lesebuch, das dem Leser oft
genug den Atem stocken lässt«.1Wer das Wörterbuch aufschlägt oder - was
inzwischen auch möglich ist - es auf digitalem Wege durchblättert, findet die
se Einschätzung schnell bestätigt. Spalte für Spalte entfaltet sich ein unge
heuer mannigfaltiger, facettenreicher Wortschatz, stößt man auf Wörter wie
Federleser, sauersichtig, anzicken, Orlog oder Raspelhaus. An jeder Stelle des
Wörterbuchs spürt man den Impetus der Brüder Grimm und der nachfolgen
den Bearbeiter, dem Leser - wie Wilhelm es einmal formulierte - »das Gefühl
für das Leben der Sprache zu erfrischen«1 2. ---
1 Jens, Walter: Das Vorratshaus der Deutschen: Zur Geschichte und Bedeutung des
Grimmschen Wörterbuchs. In: |ens, Walter: Reden. Leipzig und Weimar 1989, S. 261t.
2 Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Erster Rand. Hg. v. Gustav Hinrichs.
Berlin 1881, S. 516.
Marktplatz Sprache: A u b e i! - W u p p d ich - N u m m e r d u m
Kunterbunt und lautstark geht es im Wörterbuch bisweilen zu, so dass man
sich an das Sprachgewirr auf einem Marktplatz erinnert fühlt. Dazu tragen
die zahlreichen Ausrufe der Überraschung oder des Schmerzes Äks!, Aubei!,
Autsch! ebenso bei wie die zahlreichen Schallwörter Bardouz!, Boltribol!,
Bumbs!, Klitschklatsch!, Nummerdum!, Puff!, Wischiwaschi! oder Wuppdich! -
lautmalerische Bildungen, die den Kreationen heutiger Comic-Autoren in
nichts nachstehend Dass das »Deutsche Wörterbuch« das »Ohr am Volk«
hatte, zeigt sich einmal mehr an den zahlreichen Schimpf- und Spott
namen, die sich die Menschen in den vergangenen 400 Jahren an den
Kopf warfen. Besonders schlecht scheint es dabei der Berufsgruppe der
Schneider ergangen zu sein, die sich Beleidigungen wie Fadenbeißer oder
Geißbock an hören mussten. Aber auch die nach Geschlecht differenzierten
Schmähungen wie Spillendrulle, Schneegacke, Kittelaffe, Löffelkatze, Husche
oder Fummel für Frauen und Ofenkriecher, Mürfeltier, Gienaffe, Hippenbube
oder Blotzwedelfür Männer zeugen von reichlich boshafter Kreativität. Oft
sind bei den Beschimpfungen Tiere im Spiel: So steht Schneegacke eigent
lich für Dohle. Das Mürfeltier bezieht sich auf das Murmeltier, wobei mür-
feln auch die Kaubewegungen zahnloser alter Menschen bezeichnet. Bei
3 Schmidt, Hartmut: Was bietet das Deutsche Wörterbuch seinen Lesern? In: FriemeL
Berthold (Hg.): Brüder Grimm Gedenken. Bd. 16. Stuttgart 2005, S. 161-176.
82
STtamcn6m ©ürcfung I 2
So führt Jacob Grimm unter dem Stichwort abfeimen den Beleg aus einem
alten Kräuterbuch an: »dasz man wasser und honig in einem kessel sieden
lasse und jederzeit abfeime, bis es ganz klar wird.«
Durch das Beispiel wird die ursprüngliche Bedeutung sofort greifbar: Beim
kochenden Sud wird der Schaum - das alte Wort lautete Feim - abgeschöpft,
bis das Gebräu klar wird. Während Substantiv und Verb in der Sprache immer
seltener gebraucht wurden und heute praktisch aus unserem Wortschatz
verschwunden sind, überdauerte die Partizipform abgefeimt, wobei die
ursprünglich neutrale Bedeutung (>rein<, >geklärt<) immer stärker negativ
besetzt wurde. Auch das zeigen die Zitate, die Jacob Grimm etwa von Goe
the anführt: »du bist ein abgefeimter Spitzbube«. Heute verwendet man
abgefeimt im Sinne von besonders durchtriebene
Aber nicht nur Medizinbegriffe, auch viele Fachbegriffe aus dem Handwerk
haben sich im modernen Wortschatz erhalten, wenngleich sich ihre Bedeu
tung völlig verändert hat. Ein typisches Beispiel ist die Wendung etwas durch
hecheln. Mit dem hechelnden Hund hat dieser Ausdruck sprachgeschichtlich
wenig gemein. Vielmehr liegt ein Arbeitsschritt der Textilherstellung zugrunde.
Ein wichtiges Arbeitsinstrument zur Gewinnung von Pflanzenfasern war die
Fiechel, ein Brettchen, das eng mit dünnen, spitzen Stiften besetzt war. Durch
sie wurde der gebrochene Flachs gezogen, um die Fasern vom Werg zu
trennen - der Flachs wurde durchgehechelt. Der Begriff wurde offenbar
schon bald im übertragenen Sinne gebraucht, zunächst allerdings eher
im Sinne von >derb verspotten« oder >verhöhnen<.
Auch sonst stößt man immer wieder auf Ausdrücke, die von abergläubischen
Vorstellungen zeugen oder magische Gegenstände bezeichnen, wie etwa
den Armring aus Gold, mit dem man Geister erblicken kann, wenn man nur
hindurchsieht. Populär war auch der Kapaunstein, der dem Volksglauben ge
mäß im Magen eines Masthahns heranwächst und dem heilende Kräfte zu
gesprochen wurden. Immer wieder stößt man auf magische Kräuter wie die
Alraune oder die Wegwartwurzel, deren Genuss unverwundbar machen sollte:
elb, (...) habe ich statt des unhochdeutschen elf hergestellt, welches m an...
ohne Überlegung, dem engl, elf nachgebildet hatte; elf klingt in unsrer
spräche so, als wollten wir kalf, half anstatt kalb, halb sagen, ... ableitungen
wie Zusammensetzungen elbisch, Elbegast, Elbenstein, Elberich, Elblin sind
gewähr genug.
E l f e n oder E l b e n l - Jacob
Grimm hielt das Wort F/ffür
eine falsche Bildung und
schlug dafür E l b vor. J. R. R.
Tolkien schloss sich dieser
Meinung an. Filmszene aus:
»Der Herr der Ringe: Die
Rückkehr des Königs< (2003).
4 Shippey, Tom A.: The road to middle-earth. London, Boston 1982, S. 43-45.
Vom Zettelkasten zum Computer -
W örterbucharbeit damals und heute
......................................................................................................................«
die von befreundeten ... männern angelegten Zettelkasten blieben leer oder
unaufgethan: so schw er w ar es, vor dem langen w erfe den ersten eifer
wach zu erhalten u n d nicht bald in trägen Schlummerfa llen zu lassen.1
Jacob Cjnmm
An anderer Stelle lieferte Jacob Grimm auch eine Erklärung für dieses
Phänomen: Es habe nicht allen die volle Einsicht in das Ziel der Aufgabe
vorgeschwebt. Richtig war wohl, dass die Mitarbeiter schlicht und einfach
überfordert waren. Denn was die Brüder Grimm hier anstrebten, war Mitte
des 19. Jahrhunderts außerordentlich innovativ. Ihre Neuerungen läuteten
einen tiefgreifenden Wandel in der Lexikographie ein. Doch worin bestand
das Neue? Die Beantwortung der Frage hängt eng mit zwei Grundproblemen
zusammen, vor denen damals wie heute jeder Lexikograph steht: Woher
beziehe ich das Material? Wie organisiere ich die Arbeitsprozesse?
1 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. LXV.
87
Dass so fleißig abgeschrieben wurde, wurde keinesfalls als Plagiat oder gar
als ehrenrührig betrachtet. Noch für Johann Christoph Adelung war die
Qualität eines Wörterbuchs überhaupt erst dann erwiesen, wenn es anderen
zur Vorlage diene.3 Der Grundgedanke ist leicht zu ersehen: In dem von
Dialekten und unterschiedlichen Orthografien zerrissenen deutschen Sprach-
raum sollte ein möglichst einheitliches Hochdeutsch als Leitsprache vorge
geben werden. Das »Abkupfern« konnte der angestrebten Vereinheitlichung
nur zugutekommen. Inspiriert und gefördert wurden die Wörterbücher
des 17. und 18. Jahrhunderts von den Sprachgesellschaften, deren erklär
tes Ziel es war, den Ausdrucksreichtum der Volkssprache zu demonstrieren
und damit das Deutsche als »Hauptsprache«, als eine dem Lateinischen und
Griechischen gleichwertige Bildungssprache zu etablieren. Dies ging einher
mit einer Kultivierung der Sprache, die von fremden und niederen Einflüssen
gereinigt werden sollte, wie die Grundsätze der Leipziger »Muttergesell
schaft« veranschaulichen:
Man soll sich allezeit der Reinigkeit und Richtigkeit der Sprache befleißigen;
das ist, nicht nur alle ausländische Wörter, sondern auch alle Deutsche
unrichtige Ausdrückungen und Provinzial-Redensarten vermeiden; so daß
man weder Schlesisch noch Meißnisch, weder Fränckisch noch Niedersäch
sisch, sondern rein Hochdeutsch schreibe; so wie man es in gantz Deutsch
land verstehen kann.4
Verdeutschungen von
Joachim H. Campe (1746-1818)
Dei Pädagoge und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe war der Erste,
der sich umfassend und systematisch mit Fremdwörtern beschäftigte, ln sei-
nen Schriften und seinem 'Wörterbuch der Deutschen Sprache« schlug er
zahlreiche Verdeutschungen für Fremdwörter vor:5
riesiges Textkorpus die ausschließliche Basis für ein Wörterbuch. Ein solches
Jahrhundertprojekt konnte jedoch unmöglich von zwei Personen allein
gestemmt werden, es erforderte die Zuarbeit zahlreicher Mitarbeiter. Und
es wurde auch erst dadurch möglich, dass man sich einer wissenschafts
organisatorischen Innovation bediente, die sich erst im 20. Jahrhundert
wirklich durchsetzen sollte: der Karteikarte.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Arbeit mit Karteikarten nicht
sonderlich von der Arbeitsweise früherer Zeiten, war doch seit der Erfindung
des Papiers das Abfassen von Notizzetteln als Gedächtnisstütze eine durch
aus beliebte Methode: Gelehrte notierten die Textstellen wichtiger Autoren,
Bibelstellen oder Rechtstexte auf Zetteln. Doch diese Arbeitsweise wurde
durchaus als problematisch, bestenfalls als Übergangslösung angesehen:
Nach der Vorstellung des Mittelalters und der frühen Neuzeit war Wissen
etwas Zeitloses, das in einem organischen, systematisch geordneten
Dieses strenge Systemdenken endete mit der Aufklärung. Es begann die Zeit
der Zettelkästen, in denen die Gelehrten ihre Exzerpte, Gedanken und Ideen
Doch was die Grimms mit dem deutschen Wörterbuch« praktizierten, unter
schied sich in vielen Punkten vom Vorherigen: Die Informationen wurden
nicht mehr von einer einzelnen Person, sondern von einem Heer von
Zuträgern gesammelt. Um hier den Überblick zu behalten, war eine strikte
Einheitlichkeit der Erfassung notwendig. Jacob Grimm legte nicht nur das
genaue Format der Belegzettel fest, sondern gab auch vor, welche Informa
tionen notiert werden sollten. Zum Notizzettel früherer Zeiten kamen so
zwei neue Elemente hinzu: zum einen die strikte Gleichförmigkeit der Infor
mation, die eine Sortierung z. B. nach dem Alphabet möglich machte, zum
anderen die Annotation. Die Informationen wurden mit zusätzlichen Infor
mationen angereichert. Für das >Deutsche Wörterbuch< war dies z. B. die
Quelle, aus der das Wort bzw. die Belegstelle stammte.
Auch wenn die Brüder Grimm nach diesem neuen System arbeiteten - viele
Vorteile, die sich aus der von ihnen praktizierten Methode ergaben, haben
sie nicht erkannt oder einfach nicht genutzt. Als die ersten Lieferungen des
deutschen Wörterbuchs< gedruckt Vorlagen, trugen sie Ergänzungen und
Verbesserungen nur noch auf den Druckbögen ein, die Zettelwirtschaft hatte
ausgedient. Auch die Pflege des vorhandenen Zettelbestandes vernachlässig
ten sie sträflich - offenbar aus Zeitmangel. Das mussten die Nachfolger leid
voll erfahren: Als Karl Weigand und Rudolf Hildebrand in die übergroßen
Fußstapfen der Brüder Grimm traten, um das >Deutsche Wörterbuch< fortzu
führen, stellten sie fest, dass vieles im Argen lag. Schon Jacob hatte einräu
men müssen, dass »freilich bei dem besten willen« nicht alle Belegstellen
hatten aufgebracht werden können, weil der eine oder andere ein Zitat
nicht aufgenommen hatte oder das Werk, aus dem zitiert wurde, abhanden
gekommen war.8
In England war man zu dieser Zeit bereits einen Schritt weiter: Die eigentli
che Neuerung begann 1879 mit James Murray, dem neuen Leiter des 1857
ins Leben gerufenen >Oxford English Dictionaryc Dieser rief auf einem Zet
tel, den er als Beilage zu Büchern verbreiten ließ, Englischsprechende in
aller Welt dazu auf, Wortbeiträge einzusenden. Ziel war es, ein Wörterbuch
zu erarbeiten, das das Englische so beschreiben sollte, wie es tatsächlich
geschrieben oder gesprochen wird. Jeder Wortbeleg wurde akribisch auf
Karteikarten notiert und durch Informationen zu Belegstelle und Erschei
nungsjahr angereichert. Binnen weniger Jahre wuchs mit Hilfe von tausen
den Mitarbeitern, darunter einem im Gefängnis einsitzenden, verurteilten
Mörder, eine riesige Kartei mit insgesamt weit über eine Million Belegen. Auf
grund der guten Organisation der Karteikarten konnte dieses Wörterbuch
vergleichsweise zügig fertiggestellt werden. Die erste Lieferung erschien
1884, der letzte von 12 Bänden konnte 1928 vorgelegt werden.
Murray nutzte mit seinem Verfahren bereits viele Vorteile, die eine Annota
tion der Wortbelege bot. Verzeichnet wurde zum Beispiel das Belegjahr. So
konnten Wörter nach Jahren sortiert und eine Wortgeschichte nachgezeich
net werden: wann ein Begriff zum ersten Mal auftrat und wann er wieder
aus dem Wortschatz verschwand. Erkennen ließ sich so auch, wie häufig ein
Wort im Vergleich zu anderen nachzuweisen war. Anders als die 600.000 Be
legzettel der Brüder Grimm war die Wortsammlung Murrays bereits eine Art
sprachlicher Datenbank, die auf Dauer angelegt war und die weitere Unter
suchungen möglich machte. Nach dem Vorbild des >Oxford Dictionary<
entstanden andere riesige Textkorpora mit Millionen von Wortbelegen, die
zunächst noch mit großem Zeit- und Materialaufwand mühsam auf Kartei
karten gesammelt werden mussten.
Wörterbuch-Arbeit in
den 1 9 6 0 e r Jahren
für den Benutzer unsichtbar: Für die großen Wörterbücher sind riesige Text
korpora auf digitaler Basis und die Methoden der Computerlinguistik heute
unverzichtbar.
Dabei stand die deutsche Lexikographie nach dem Krieg vor einem radi
kalen Neuanfang: Als etwa Gerhard Wahrig in den 60er Jahren des 20. Jahr
hunderts die Arbeit an seinem deutschen Wörterbuch< begann, konnte
er sich nicht mehr an den Wörterbüchern der Vergangenheit orientieren:
In der Zeit des Nationalsozialismus waren Wörterbücher als Propaganda
instrumente missbraucht und mit ideologisch gefärbten Belegen und Be
griffen angereichert worden. Auch der Wortschatz war hoffnungslos ver
altet. Zugleich wurde immer stärker offenbar, dass in einer globalisierten
Welt, in der sich über Massenmedien ständig ein Austausch an Produkten,
Ideen und Erkenntnissen vollzieht, in der sich Wertvorstellungen wandeln,
auch die Sprache einem ständigen, sich beschleunigenden Veränderungs
prozess unterworfen sein würde. Es war offensichtlich, dass dies das Ende
der Zettelkästen war. Es mussten neue Korpora erstellt werden, die mit der
Sprache und ihrer Entwicklung mitwachsen konnten.
ar das so genannte Public Viewing lediglich in den zwölf WM-Städten gesichert gewesen . Keine kommerziellen Ziele " Veranstalte *
e Regelung filr das Public Viewing . Es besteht nunmehr Klarheit in allen Fragen, und ich wünsche m ir, dass die Spekulationen der
" Das so genannte Public Viewing , bei dem bis zu 30000 Menschen vor Großleinwänden feiern wollen , ist eine besondere Gefahr«
■storben . Lexikon : Public Viewing PubHc Viewing - öffentliches .Anschauen - nennen die Organisatoren der Fußball-WM im Somm
m : Public Viewing Public Viewing - öffentliches Anschauen - nennen die Organisatoren der Fußball-WM im Sommer ihr Konzept,
>der in irgendeinem Public Viewing . Natürlich könnten wir auch unseren Gemeinschaftsraum zur Verfügung stellen . Der ist größer
" Showkick Private Public View ing " . Vom 9. Juni bis 9. JuH werden FußbaD-Lh e-Cbertragungen auf der Großbikfleinwand im Zus>
en das so genannte Public Viewing häufiger oder gelegentlich nutzen, also beispielsweise zur Fanmeile auf der Straße des 17. Juni >
.eranstaltungen wie Public Viewing überdenken . Dort sind bislang nur Stichproben bei den Taschenkontrollen geplant. Vielleicht so!
eit sein , auch beim Public Viewing wird der Sicherheitsstandard sehr hoch sein ." Bernd Schiphorst, Chef des Berliner Fußball-W}
id der Sonambiente Public Viewing World Cup Sound .An Lounge im Haus der Berliner Festspiele Informationen im Internet: wtv*
sein , wie sich das Public V iew ing.......das öffentliche Fußballgucken auf Großleinwänden........ entwickelt. In dieser Größenordn
lion hatte ich nicht, Public Viewing gab es auch noch nicht. Also war ich wohl zu Hause - vorm Fernseher . Das Gespräch führten
ang Knaackstr. 97. Public Viewing inklusive Aftergame-Party kosten 3 Euro . Einlass: eine Stunde vor Spielbeginn . Die Aftergame
Fancamps und der Public Viewing Standorte ausgeweitet, es güt dort bis zum 16. JuH . Der Bauchladenhandel ist au f rund 60 Straf
innen . Das Wort " Public Viewing " hätten wir übrigens auch nicht gebraucht, wenn eigentHch nur öffentliches Femsehgucken gen
i . Das so genannte Public Viewing wird bei der Ermittlung der Einschaltquote nicht berücksichtigt. Auch die Zuschauer in Kliniken
ängerzone zur WM Public Viewing zu bieten . Bernhard Skrodzki ( FDP ) , der Wirtschaftsstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf
iäh es sich mit dem Public Viewing wie mit dem Fußball selbst: Mal klappen die Kombinationen und die spektakulären Szenen häuft
Belegen für ein Wort suchen mussten, sehen sich moderne Lexikographen
mit einer riesigen Datenfülle konfrontiert. Und manche Fragestellungen
und Probleme sind nach wie vor aktuell.
Nicht nur für die Brüder Grimm war die Große und Ausgewogenheit ihres Zettel-
kasten-Korpus entscheidend, auch für digitale Korpora im 21. Jahrhundert spielen
diese Faktoren eine große Rolle. Wenn Verlage oder Institute allerdings heute ein
Korpus aufbauen, dann sammeln sie nicht mehr einzelne Wörter und Anwen-
dungsbeispiele, sondern sie erstellen digitale Volltextdatenbanken, das heißt, sie
lesen ganze Bücher und Zeitungsjahrgänge vollständig ein. Die Größe solcher
Volltextdatenbanken ist enorm: Man halte sich die Regalreihen einer mittleren
Stadtbibliothek mit ungefähr 30.000 Büchern vor Augen Deren Inhalt belauft
sich auf ungefähr 2 Milliarden Wörter. Würde sich nun jemand der Sisyphusarbeit
unterziehen, m diesem Meer von Wörtern deren Häufigkeit auszuzählen, er käme
aut erstaunliche Zahlen: So begegnet ein Wort wie u n d vielleicht 30 Millionen
Mal. Auf ein so gängiges Wort wie S c h m e t t e r li n g würde man dagegen nur noch
4000 Mal stoßen, und ein Wort wie K o h lw e iß l in g findet sich vermutlich nicht mehr
als 30 Mal. Das sind nur unglaubliche 0,0000857142% der Häufigkeit von und.
Die Gefahr liegt also nahe, dass in kleineren Korpora etliche wichtige Wörter des
deutschen Wortschatzes digital »untergingen« und gar nicht entdeckt würden.
me Erfahrung machen, dass die Menge der Belege letztlich nicht einmal
ausreichend war: Für viele Wörter fanden sich keine Beispiele. In seiner
Not zog er weitere Quellen, wie Journale, hinzu und rief in einer Anzeige
die Bevölkerung dazu auf, Wortbeiträge einzureichen. Dennoch musste
er an zahlreichen Stellen auf Nachweise für den Gebrauch eines Wortes
verzichten.
Dieses Problem der Brüder Grimm hat bis heute nichts von seiner Bedeu
tung verloren: Der Grund liegt in der höchst ungleich verteilten Häufigkeit,
mit der Wörter im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden: Wäh
rend ein kleinerer Kernwortschatz, also Wörter des Grundwortschatzes und
vor allem Strukturwörter wie und oder auf, extrem häufig nachzuweisen ist,
nimmt die Frequenz zu den Rändern des Wortschatzes hin erheblich ab.
Verblüffend sind dabei die Ausmaße der unterschiedlichen Verteilung.
Dies zeigen moderne Textkorpora deutlich.
97
Neben der Größe ist entscheidend, dass ein Textkorpus sinnvoll und aus
gewogen zusammengesetzt ist. Die Brüder Grimm beschränkten sich in
ihrer Auswahl noch weitgehend auf die schöne Literatur. Ganz im Sinne der
Romantik wurden Sprache und Wortschatz als im Kern poetisch begriffen.
Heutigen Textkorpora werden dagegen meist Zeitungen und Zeitschriften
auch deshalb zugrunde gelegt, weil diese einen Querschnitt durch zahlrei
che Themengebiete, etwa Kultur, Sport, Technik, Wissenschaft, Politik sowie
Freizeit, darstellen und das Korpus so einen annähernd repräsentativen
Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache umfasst. Dazu gehört, dass
auch andere, unterschiedliche Textsorten, wie z. B. Berichte, Interviews,
Ausschnitte aus literarischen Texten, im Korpus vertreten sind. Und darüber
hinaus sollte ein modernes Textkorpus zur deutschen Sprache auch die
verschiedenen Sprachregionen, wie Österreich und die Schweiz, ange
messen berücksichtigen.
Ein weiterer enormer Vorteil von Zeitungen und Zeitschriften als Basis für
Textkorpora ist die Aktualität, die Korpora wachsen mit der Sprache. Da
laufend neue Jahrgänge in das Korpus eingespeist werden, sind aktueller
Sprachgebrauch und Wortschatzentwicklung des Deutschen im Längs-
98
100
90
Bevor sich das neu aufgekommene Wort G ig a lin e r durchsetzte, ein 2006 entstandener
Neologismus, standen zunächst verschiedene Begriffe in Konkurrenz zueinander.
Während die Brüder Grimm zum großen Teil auf Einzelfunde und -belege
angewiesen waren, ermöglichen es die ausgefeilten Suchverfahren, die ein
modernes Korpus bietet, auch, bedeutungsgleiche oder -ähnliche Wörter
parallel zu beobachten. So kann etwa die Entstehung und Etablierung von
Neologismen verfolgt werden.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Bezeichnung Gigaliner. Im Jahr 2006, als heftig
über die Zulassung dieses überlangen Lastwagens auf deutschen Autobah
nen diskutiert wurde, konnten die Lexikographen fasziniert beobachten,
dass sich verschiedene Benennungen wie Eurocombi, Riesen-Lkw, Monster
truck, XXL-Brummi und Gigaliner einen Wettstreit lieferten. Am Ende ging
mit weitem Abstand der Gigaliner durchs Ziel.
Damit Häufigkeitsanalysen wie diese möglich sind, müssen Volltextdaten
banken mit großem Aufwand aufbereitet werden. Eine amorphe Masse von
Daten, mit denen zum Teil schon Jacob Grimm konfrontiert war und wie sie
die Texte im Internet in ungleich größerer Menge darstellen, wäre für Lexi
kographen und Sprachwissenschaftler nur von geringem Wert. Damit die
Daten überhaupt vergleichbar und so einer Auswertung zugänglich werden,
erhält jedes einzelne Wort im Korpus eine Annotation, eine (unsichtbare)
Ergänzung, so z.B. nach Wortart, Flexionsstufe, Belegjahr, Quelle und Fach
bereich. Und da die Daten immer auch im Zusammenhang ihrer Entstehung
und neben vergleichbaren Fällen gezeigt werden können, ist auch die Wort
umgebung analysierbar, was für Jacob Grimm häufig ein unlösbares Prob
lem darstellte, für Lexikographen aber besonders wichtig ist. Denn mit der
unterschiedlichen Umgebung eines Wortes ändert sich oft auch seine
Bedeutung: So bedeutet etwa die Wendung abwarteri und Tee trinken etwas
; «
völlig anderes als eine Tasse Tee trinken.
............................................. ......................................................................................................................
(Es ist immer noch %nocfienar6eit, a6er man kann am E nde
mehr damit anfangen.10
Die Brüder Grimm wurden mit ihrer Sammlung der >Kinder- und Hausmär-
chen< (1812/15) auf der ganzen Welt bekannt und vielfach nachgeahmt.
Die Erfolgsgeschichte dieses Frühwerks der Brüder Grimm, in dem Erzäh
lungen aus dem Volk versammelt und aufbereitet waren, begründete den
Ruhm der beiden Wissenschaftler vor allem außerhalb der Fachwelt. Das
>Deutsche Wörterbuch< hingegen, das in der mittleren Schaffensperiode
der Grimms (1838) begonnen wurde und dessen erster Band 1852 erschien,
ist das große Alterswerk der Brüder Grimm. Dieses Werk sicherte ihnen blei
bende Popularität vor allem innerhalb der Germanistik, es ist bis heute das
umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache geblieben. Wie passt
diese Popularität innerhalb und außerhalb der Fachwelt zueinander?
101
1 Friemel, Berthold: Spuren des Mythos. In: ZEIT Geschichte 4/12 (2012), S. 28-36, S. 34.
102
Das »Deutsche Wörterbuch« ist im Gegensatz zu den Märchen, bei denen die
Mündlichkeit der Überlieferung im Vordergrund stand, ein Werk, das sich im
Wesentlichen auf literarische Quellen beruft. Die Brüder Grimm waren beson
ders darauf bedacht, dass gerade die besten Autoren der verschiedenen
Epochen exzerpiert wurden. Damit sollten Sprachgebrauch und Wandel von
Wortbedeutungen im Verlauf dreier Jahrhunderte dokumentiert werden.
Beim genaueren Hinsehen erweist sich jedoch, dass auch die »Kinder- und
Hausmärchen« - fast zu einem Drittel - auf literarische Quellen zurückgehen.
103
Für die Grimms war dies kein Widerspruch, sie fassten diese literarischen
Quellen als Belege für die Verbreitung von Märchen und ihr hohes Alter bzw.
als frühe Stufe einer schriftlichen Fixierung mündlicher Erzähltraditionen auf.
Die >Kinder- und Flausmärchen< wurden von den Brüdern Grimm auch als
Quelle für das >Deutsche Wörterbuch< verwendet. So fanden auf der Suche
nach ungewöhnlichen Wörtern auch einige Ausdrücke aus den Märchen
Eingang in das Wörterbuch. Als ein Beleg für das Wort »Dummbart« findet
sich beispielsweise aus dem Märchen >Der Teufel mit den drei goldenen
Haaren< ein Ausspruch des Teufels: »He! Der Dummbart«. Solche Eigenzitate
tauchen auch in weiteren von Wilhelm bearbeiteten Artikeln auf: der,
Diebshand, Ding, Dings, Drude, du, durchblinken, durchhutzeln, Duttenkragen.
Auch bei den von Jacob bearbeiteten Stichwörtern finden sich entspre
chende Belege aus den >Kinder- und Hausmärchenc auslaufen, Bodentreppe,
Einäuglein, Eisenofen, Endchen, faul, Feder, fett, Flachsfeld, Fladendach, freien.
Mit Blick auf die Rezeption, die Aufnahme der beiden hier in Frage stehenden
Werke der Brüder Grimm, fällt eine weitere Besonderheit ins Auge. Die Er
wartung der Brüder Grimm, dass das >Deutsche Wörterbuch< in jedem Haus
halt gelesen werden solle, und zwar vom Vater, ging nicht in Erfüllung, es
ist ein Fachbuch geblieben. Die Märchen aber, die, von der Mutter vorge
lesen, auch als »Erziehungsbuch«3 gedacht waren, haben sich im Lauf ihrer
200-jährigen Geschichte zum beliebtesten Forschungsgegenstand von
Erzählforschern entwickelt. Märchenerzähler und Wörterbuchmacher er
weisen sich hier in gleicher Weise als sinnverwandt wie auch paradox.
»Icfi traue jedem dieser Gegensätze einen großem oder f f einem ‘IfeiC ‘Wahrheit zu,
und haftefür unmögdch, daß sie in voCCer‘Einigung a u f gehn.«
Jacob Grimm
Es war, wie so oft, eine Mischung aus Optimismus und bohrender Sorge,
mit der Jacob Grimm im Sommer 1848 das turbulente Klima der ersten Sit
zungswochen der Frankfurter Nationalversammlung beurteilte. »Jetzt haben
wir das politische im überschwank.« Doch während von des »volks freiheit«
schon alle Vögel von den Dächern zwitscherten, habe man von der Einheit
Deutschlands »kaum den schatten«.1
Am 18. Mai des Revolutionsjahres 1848 war für große Teile der deutschen Be
völkerung ein langgehegterTraum in Erfüllung gegangen: Feierlich und unter
dem Jubel der Frankfurter Bevölkerung zogen die in freier Wahl bestimmten
Abgeordneten in die Frankfurter Paulskirche ein. Auch Jacob und Wilhelm
Grimm hatten an dieses erste deutsche Parlament hohe Erwartungen ge
knüpft. Denn die zentralen nationalpolitischen Forderungen der Zeit, die die
verfassungsgebende Nationalversammlung nun endlich in Recht und Gesetz
gießen sollte - die Einheit Deutschlands, eine Verfassung, die die Grund
rechte garantierte -, waren auch Herzensthemen der Brüder Grimm. Und sie
verfolgten den Prozess nicht nur aus der Ferne: Jacob war Mitglied im soge
nannten »Vorparlament« gewesen, das die Wahlen zur Nationalversamm
lung organisiert hatte. Für seinen Freund und Professorenkollegen Friedrich
Christoph Dahlmann trat er als Wahlmann auf. Und zwei Wochen nach der
1 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. Leipzig 18532, Widmungs-
vorrede an Gervinus o. S.
105
2 Wigard, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deut-
schen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main; (Nr. 16, 14.Juni
1848) 15. Sitzung, 9 Juni, S. 289.
106
Die intensive Forschung zu den Brüdern Grimm hat inzwischen viele dieser
Vorstellungen als zeitbedingte Klischees entlarvt. Weder die Vorstellung
von den Brüdern Grimm als zurückgezogen lebende, apolitische Gelehrte
noch die von Wegbereitern eines aggressiven Nationalismus entsprechen
den tatsächlichen Überzeugungen der Brüder Grimm. Führt man ihre zahl
reichen, verstreut in Artikeln, Vorreden, Briefen und Reden geäußerten
Ansichten zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ihrer Zeit zusammen,
so erweisen sich die Brüder Grimm als hellwache politische Köpfe, die stets
auch einen feinen Sensor für Ungerechtigkeiten behördlicher Obrigkeits
willkür besaßen, welche in Freiheitsrechte der Menschen eingriff. Als typi
sches Beispiel von vielen sei hier nur der Brief Wilhelms über das bedrü
ckende politische Klima während der Restaurationszeit im heimatlichen
Hessen zitiert:
3 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. 3. Auflage mit Vorwort und Einleitung zur Gesamt-
ausgabe von Ludwig Erich Schmitt. Hildesheim/Zürich/New York 1985, S. 252.
4 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm, S. 151; siehe auch S. 251-253.
5 Walter Boehlich: Aus dem Zeughaus der Germanistik. Die Brüder Grimm und der
Nationalismus, ln: Der Monat 18 (1966) H. 217, S. 56-68, S. 65.
107
Es sah sich jeder um, wenn er das unschuldigste Wort laut auf der Strasze
gesprochen hatte, das jemand hinter ihm hatte hören können und wenn er
einen Bonbon in den Mund gesteckt, warf er das Papier, worin er gewickelt
war, nicht weg, weil es ein Polizeidiener aufhob und eine geheime Nach
richt darin zu finden hoffte.67
Forschung und Politik bildeten für die Brüder ein beziehungsreiches Span
nungsfeld, das sie antrieb, aus dem sie Kraft und Bestätigung für ihre Arbeit
schöpften. Gleichwohl bleibt es heute eine Herausforderung, die politischen
Vorstellungen der Brüder Grimm aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und
angemessen zu beurteilen.
liebe zum Vaterland war uns, ich weisz nicht wie, tief eingeprägt, wir hiel
ten unsern fürsten für den besten, den es geben könnte, unser land für das
gesegnetste unter allen/
6 Grothe, Ewald: Die Brüder Grimm und die hessische Politik. In: Heidenreich,
Bernd/Grothe, Ewald (Hgg.): Kultur und Politik: die Grimms. Frankfurt 2003,
S. 179-204, S. 191.
7 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1. Berlin 1864, Hg. v. Karl Müllenhoff und
Eduard Ippel. Berlin 1864, S. 2.
8 Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Erster Band. Hg. v. Gustav Hinrichs. Berlin
1881, S. 7.
108
dessen, was man als deutsche Nation hätte bezeichnen können, außer
ordentlich schwierig.
Der Wiener Kongress 1815: Jacob Grimm war nichl nur als Legationssekretär vor Ort. Er
schrieb Berichte über den Kongress, die im »Rheinischen Merkur- erschienen. Dass in den
diplomatischen Hinterzimmern die Einheit Deutschlands verspielt wurde, verbitterte ihn
und viele andere zutiefst.
109
Wichtiger wurde eine andere Form nationaler Identität, die sich nicht an
Staatsgrenzen orientierte, wie es Friedrich Schiller präzise erfasste: »Abgeson
dert vom Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet,
und wenn auch das Imperium unterginge, bliebe die alte Würde unangefoch
ten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der
Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.«9 Deutsche
Identität war im Wesentlichen ein Bewusstsein gemeinsamer Werte, eine
kulturelle Identität, welche die politisch empfundene Machtlosigkeit kom
pensieren sollte. »Über alle politischen Wechselfälle hinweg bildete ... die
geistige Heimat der Gebildeten das eigentliche Reich der Deutschen. Die un
sichtbare, unpolitische staatenübergreifende >Kulturnation<, sie konstituierte
das wahrhafte, das unvergängliche Deutschland«, das durch seine Aufgabe
als globaler, säkularisierter Heilsbringer welthistorisch überhöht wurde.«101
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Blickfeld der Brüder Grimm, vor allem
Jacob Grimms, massiv erweitert. Als anerkannte Wissenschaftler waren sie
fest etabliert. Ihre >Kinder- und Hausmärchen< hatten sich nach einer ver
legerischen Durststrecke beim Publikum durchgesetzt. Zugleich hatten
die Erfahrungen der Umbrüche, der enttäuschten Hoffnungen der vergan
genen zwei Jahrzehnte, die Konturen ihres wissenschaftlichen und gesell
schaftspolitischen Weltbildes geschärft und aus den Grimms politisch
denkende und verantwortlich handelnde Wissenschaftler gemacht.
1805 und 1806 besiegt Napoleon in schneller Folge Österreich und Preußen.
Im Oktober 1806 legt Franz I. die Kaiserkrone nieder, das Deutsche Reich hat
damit aufgehört zu bestehen. Ein Jahr später existiert auch das Heimatland
der Brüder Grimm nicht mehr: Die Landgrafschaft Hessen geht im Königreich
Westphalen auf, das nun von Jeröme, dem Bruder Napoleons, regiert wird.
Mit den Besatzern hält auch neues Recht Einzug: Der »Code Napoleon« löst
die alten Gesetze und Gewohnheitsrechte ab, Rechtsprechung und Verwal
tung werden nach modernen Maßstäben umgestaltet. Für Wilhelm, der die
Ereignisse auch noch zwanzig Jahre später anschaulich schildern konnte,
war dies eine Katastrophe.
Während Napoleon sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befindet, kön
nen die Brüder, materiell nun halbwegs abgesichert, an ihrer neuen Karriere
arbeiten: Wilhelm sammelt weiter Volkslieder für >Des Knaben Wunder
horm und beginnt seine Studien zu den altdänischen Heldenliedern, die
1811 als Buch publiziert werden. Jacob veröffentlicht seine Studie >Über
den altdeutschen Meistergesänge Auf Clemens Brentanos Anregung hin
beginnen sie auch, die ersten Texte für ihre Märchensammlung aufzu
spüren: 1812, als nach der Niederlage in Russland der Stern Napoleons
zu sinken beginnt, liegt schließlich der erste Band der >Kinder- und Haus-
märchem vor.
Schmach, schreibt Jacob 1841 - also über zwanzig Jahre später habe
er »trost in der geschichte der deutschen literatur und spräche« gesucht.
Doch Jacob Grimm, der beim Wiener Kongress als Sekretär des kurhessischen
Legaten vor Ort war, musste aus nächster Nähe miterleben, wie die von
vielen erhoffte Einheit Deutschlands in den Hinterzimmern der Diplomatie
begraben wurde. Anstelle der erhofften Nation entstand ein lockerer Zusam
menschluss aus 39 souveränen Staaten und Stadtstaaten. Im Rheinischen
Merkur< machte Jacob seiner Enttäuschung Luft: »soll denn unsere volk
warme, bewegte Zeit und Meinung so mutwillig und frevelhaft hart von
denen, die nach der Karte, den Flüssen und Bergen, nicht nach den Herzen
Länder machen, angetastet werden?«13
12 Kraus, Hans Christoph: Jacob Grimm - Wissenschaft und Politik. In: Heidenreich,
Bernd/Grothe, Ewald: Kultur und Politik, S. 148-178, S. 153.
13 Kraus, Hans Christoph: Wissenschaft und Politik, S. 153f.
112
Es war besonders der Rückgriff auf alles Geschichtliche, der bei den Brüdern
ins Mark traf. In seinen Forschungsarbeiten demonstriert Savigny, wie alte
Quellen mit wissenschaftlicher Methodik einer modernen kritischen Analyse
zugänglich gemacht und in ihren historischen Zusammenhang eingebettet
werden können. Mehr noch: Durch Savigny erfahren sie, dass die Erforschung
historischer Texte auch für aktuelle, gesellschaftliche Fragen Relevanz besitzt.
14 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010, S. 242.
15 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. S. 242.
16 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1, S. 113.
17 Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechts-
wissenschaft. Heidelberg 1828, S. 13f., 47.
113
Alles was anfänglich und innerlich verwandt ist, wird sich bei genauer Unter
suchung als ein solches stets aus dem Bau und Wesen der Sprache selbst
rechtfertigen lassen, in der immerhin die regste, lebensvollste Berührung
mit den Dingen, die sie ausdrücken soll, anschlägt. Und so reicht die auf
gestellte Verwandtschaft zwischen Recht und Poesie schon in die tiefsten
Gründe aller Sprachen hinab.19
18 Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechts-
wissenschaft. Bd. 2, 1816, S. 25-99.
19 Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht, S. 30.
20 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen 1819, S. XVII.
114
ekelt, korrespondierte bei Jacob mit einer erstaunlich liberalen und vor allem
optimistischen Auffassung zur Sprachpolitik: Sprache ist für ihn zwar niemals
perfekt, besonders die deutsche »hat mancherlei Schaden erlitten und muß
ihn tragen«. Jeder willkürliche Eingriff in die Sprache führt aber zu größerem
Schaden: »Sobald Critik gesetzgeberisch werden will, verleiht sie dem gegen
wärtigen Zustand der Sprache kein neues Leben, sondern stört es geradezu
auf das empfindlichste.«21Der wahre Ausgleich stehe in der »Macht des uner
müdlich schaffenden Sprachgeistes, der wie ein nistender Vogel wieder von
neuem brütet, nachdem ihm die Eier weggethan worden«.22
In der Sprache erkennt Jacob Grimm mehr und mehr die Klammer, die eine
Gesellschaft zusammenhält. Sie ist für ihn das eigentliche Fundament des
Staates, was er vielleicht am deutlichsten 1830 in seiner Antrittsvorlesung
>Über die Heimatliebe< an der Universität Göttingen formuliert. Durch nichts
anderes werde das Band zur Heimat und ihre Unentbehrlichkeit so beleuch
tet und ans Licht gezogen wie durch die Gemeinschaftlichkeit der Sprache:
ich behaupte, daß weder ein Volk wirklich blühen kann, das seine Mutter
sprache vernachlässigt, noch eine Sprache verfeinert werden kann von
einem Volke, das seine Freiheit verloren hat.23
Es war dieses unbedingte Verständnis von Freiheit, das die Brüder Grimm
gegen die Vereinnahmungen des Obrigkeitsstaates immunisierte und 1837
zu einer direkten Konfrontation führte.
den Thron. Und er schuf zügig Tatsachen: Schon kurz nach seinem Amtsan
tritt im Juli stellte er klar, dass er sich nicht an die liberale, unter Friedrich
Wilhelm IV. ausgehandelte Verfassung gebunden fühle, und kündigte eine
Überprüfung an. Ende Oktober löste er die Ständeversammlung auf, erklär
te am 1. November die Verfassung für ungültig und entband alle Staatsdie
ner vom Eid auf diese neue Verfassung.
Der Widerstand, der sich von Seiten der Beamten gegen diesen Staatsstreich
regte, war minimal. Nur eine kleine Gruppe von Professoren um Friedrich
Christoph Dahlmann - gerade einmal sieben von insgesamt 32 Professoren
- wagte es, Einspruch zu erheben.
von 1833 trotz der von Ernst August zur Last gelegten Mängel gültig sei und
sie sich somit weiterhin an den Eid gebunden sähen. Die Reaktion des
Königs folgte umgehend: Am 14. Dezember wurden alle sieben Professoren
ihrer Ämter enthoben. Dahlmann, Jacob Grimm und der Literaturhistoriker
Georg Gottfried Gervinus wurden als Rädelsführer des Landes verwiesen.
Ich traue jedem dieser Gegensätze einen großem oder kleinern Theil
Wahrheit zu, und halte für unmöglich, daß sie in voller Einigung aufgehn.
Friedrich Christoph
Dahlmann (1785-1860)
Wie allseitig muß also die Universität von der Kunde ergriffen werden,
daß die Verfassung des Landes dem Umsturz ausgesetzt sei. Eine Menge
junger Leute nehmen anteil an der veränderten Lage ihrer Eltern, Brüder,
Freunde und Lehrer; alle bewegt ein allgemeines Gefühl schwebender
Gewalttätigkeit.
1 Wigard, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen
constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Bd. 1. Frankfurt am
Main 1848, S. 69.
119
Man muss es den Abgeordneten daher hoch anrechnen, dass sie sich allem
Druck zum Trotz die Zeit nahmen, intensiv über die Grundlagen eines moder
nen Staates zu debattieren, und in ihren Verfassungsberatungen die Grund
rechte an den Anfang ihrer Beratungen stellten. An diesem Prozess hat sich
auch Jacob Grimm intensiv beteiligt, und seine Beiträge vermitteln wichtige
Einblicke in sein politisches Denken.
Dass eine formale Frage wie das Staatsbürgerrecht an die Spitze der Grund
rechte gestellt wurde, erstaunt heute. Nachvollziehbar wird dies aber durch
120
den Umstand, dass mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1803 eine
formale Klammer für die Verfassung fehlte. Die Abgeordneten mussten
»die Lücke ausfüllen, welche der Untergang des Reiches gelassen hatte«,
wie es das Ausschussmitglied Carl Georg Christoph Beseler (1809-1888)
formulierte.2
Schon über diesen ersten Artikel prasselte eine Flut von Änderungsan
trägen herein, begleitet von heftigen Debatten. Gleich der erste Redner,
der liberale Publizist und Professor für Philosophie, Friedrich Carl Bieder
mann (1812-1901), stellte die Frage, wer überhaupt als Deutscher zu ver
stehen sei. »Dieses Wort >Deutsche< ist jedenfalls unklar. Man weiß nicht,
ob jeder Deutsche im Auslande, oder jeder, der in zwei Staaten ansässig ist,
gemeint ist.«3 Nicht anders wurden die folgenden Änderungsanträge be
gründet: Man verwies darauf, dass Deutschland in den Grenzen des Alten
Reiches ein Vielvölkerstaat war: »Viele Völker anderer Zungen leben in unserm
großen Lande, Italiener, Slaven und selbst Franzosen. Diese würden dann
natürlicherweise glauben, sie seien unter dem Ausdruck »Deutsche« nicht
begriffen.«4 Der Abgeordnete Carl Friedrich Wilhelm Jordan (1819-1904)
verwies allerdings darauf, dass sich auch der Begriff »Nation« verändert habe,
er konstatierte, der Begriff »Nation« sei ein viel weiterer geworden: »Er hat
sich völlig geändert, die Nationalität ist nicht mehr begrenzt durch die
Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den
politischen Organismus.« So hätte sich aus den Stämmen Nordamerikas eine
sehr scharf bestimmte Nationalität gebildet.5
Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft.
Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.6
Grimm wollte diesen Artikel nicht als einen unter vielen verstanden wissen,
denn »der Begriff von Freiheit« so erklärte er, »ist ein so heiliger und wichti
ger, dass es mir durchaus nothwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer
Grundrechte zu stellen.« Eine weitergehende Begründung unterließ er: »Ich
glaube«, kommentierte er am Schluss, »das Gesagte reicht hin, um Ihnen
den Antrag zu empfehlen.«7Tatsächlich vermerkt das Protokoll am Schluss
des Beitrags »(Bravo von vielen Seiten)«. Der nachfolgende Redner, der
Schriftsteller Carl Friedrich Wilhelm Jordan versuchte sogar, Grimms Antrag
an der Tagesordnung vorbei sofort zur Abstimmung zu bringen: » Ich glau
be, was der geehrte vorhergehende Redner gesagt hat, wird bei Allen eine
solche Beistimmung gefunden haben, daß Sie gewiß geneigt sind, es anzu
nehmen.« Der Präsident der Nationalversammlung, von Gagern, war aller
dings auf der Hut, er unterbrach abrupt und verschob die Abstimmung, die
erst nach Tagen quälender Diskussionen am 20. Juli erfolgte. Während die
meisten Änderungsanträge mangels Unterstützung nicht einmal zur Ab
stimmung kamen, scheiterte Grimm nur knapp mit 205 zu 192 Stimmen.
Welche Absicht verfolgte Jacob Grimm mit seinem Antrag? War dieser Aus
druck aufrechter demokratischer Gesinnung, wie positive Stimmen mein
ten, oder nur eine inhaltsleere Reminiszenz an seine altdeutschen Forschun
gen, wie ein Kritiker behauptete? Tatsächlich wirkt der Antrag in der
Wortwahl archaisch, wenn von biblischen Begriffen wie »Knechtschaft«
die Rede ist. War dies ein Symptom der politischen Naivität Grimms?
Eine interessante Figur ist Carove aber vor allem wegen seines politischen
Engagements: Der in den Burschenschaften aktive Carove kämpfte nicht
nur für demokratische Reformen und die Einheit Deutschlands, er engagierte
sich auch gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; in den Vierzi
gerjahren schloss er sich der europäischen Bewegung zur Abschaffung der
Sklaverei an. Im Januar 1848 setzte Carove gemeinsam mit anderen einen
»Aufruf zur Bildung eines deutschen Nationalvereins für Abschaffung der
Sklaverei« auf. In dem gedruckten Flugblatt folgten dem eigentlichen Auf
ruf noch zwei weitere Schriften: eine längere Begründung sowie eine von
ihm verfasste Nachschrift. Alle drei Schriften sandte Carove Jacob Grimm
zu - sie befinden sich heute noch in dessen Nachlass. Es ist auch sehr wahr
scheinlich, dass die beiden sich in dieser Zeit persönlich begegnet sind
und sich austauschen konnten. Beide hatten schon im sogenannten Vor
parlament gesessen, das im Frühjahr 1848 die eigentliche Nationalver
sammlung vorbereitete.
Dass ein intensiver Kontakt bestanden haben muss, verdeutlicht der Brief,
den Carove an Jacob Grimm am 11.7., also wenige Tage nach dessen Bei
trag zu den Grundrechten, sandte. Darin verwies er darauf, dass auch deut
sche Schiffe vom Sklavenhandel profitierten: »Noch 1845 berichtete ein
Englischer Consul von Rio de Janeiro, daß von dort drei dem Sclavenhandel
bestimmte Schiffe unter Hamburgischer und eines unter Preußischer Flag
ge nach Afrika abgesegelt.« Carove schlug vor, dass Grimm seinen »preiß-
würdigen Antrag« noch um Zusätze präzisieren sollte. So sollten erstens
8 Seybold, Steffen: Freiheit statt Knechtschaft. Jacob Grimms Antrag zur Paulskirchen-
verfassung. In: Der Staat 51, 2. 2012, S. 215-231. Schmidt, Hartmut: >Kein Deutscher
darf einen Sclaven haltern - Jacob Grimm und Friedrich Wilhelm Carove. In: Neu-
mann, Werner/Techtmeier, Bärbel (Hgg.): Bedeutungen und Ideen in Sprachen und
Texten. Berlin 1987, S. 183-192.
123
Trotz vielfach e r
Verbote - am Sklaven
handel verdienten
auch deutsche Reeder.
auch Schiffe unter deutscher Flagge im Sinne Grimms als deutscher Boden
betrachtet werden und es zweitens jedem Deutschen verboten sein, sich
am Sklavenhandel zu beteiligen.
Wieder lässt sich aus dem Nachlass erschließen, dass sich Jacob Grimm von
Carove überzeugen ließ. Denn es existiert eine handschriftliche Fassung
Grimms, in der er seinem eigenen Artikel in einer sprachlich geglätteten
Form die Ergänzungen Caroves folgen lässt. Auch bei ihm hieß es nun:
Jacob Grimm hat diese Zusätze nicht mehr in das Parlament eingebracht, sie
wären ohnehin wohl nur für ein ausführendes Gesetz sinnvoll gewesen. Die
handschriftlichen Aufzeichnungen sind aber ein sicherer Hinweis dafür,
dass Jacob Grimm seinen Grundrechtsartikel in völliger Übereinstimmung
mit dem Kampf gegen Sklaverei sah. Sie belegen auch, dass für Jacob
Grimm Freiheit nicht nur ein Grundrecht der Deutschen, sondern ein univer
sell gültiges Menschenrecht darstellte, unabhängig von Nationalität und Her
kunft - ein Recht, das für Grimm in engem Zusammenhang mit anderen
Rechten, wie z. B. Gleichheit vor dem Gesetz, stand. So erweist sich Jacob
Grimms Antrag erstaunlich aktuell: Auch das Grundgesetz der Bundesrepu
blik Deutschland setzt mit dem ersten Artikel zur Unantastbarkeit der Würde
des Menschen ein universales Grundrecht an den Anfang aller Gesetze.
9 Schmidt, Hartmut: >Kein Deutscher darf einen Sclaven« halten, S. 191.
124
Das W erk Jacob und Wilhelm Grimms ist ohne einen pädagogisch
didaktischen Anspruch nicht zu denken. Dieser Anspruch ist der in
der Aufklärung geprägten Vorstellung der allmählichen Veredelung
des Menschen, der selbsttätigen Ausbildung zu einem Individuum
verpflichtet. Dabei ist, neben dem Bemühen um Erkenntnis,Volks
erziehung als Teilhabe des Einzelnen an der Wissensvermittlung ein
zentrales Thema sowohl der sprachgeschichtlichen Forschungen der
Brüder Grimm wie auch ihrer Sammlungen, insbesondere der Märchen
Dem Volk soll das zurückgegeben werden, was es selbst geschaffen
hat, in dem es seine Wurzeln hat. In diesem Sinne sind W örter wie
Volk, v o lk s m ä ß ig und V o lk sg e ist Schlüsselbegriffe der Grimmschen
Weitsicht, es sind zugleich Schlüsselbegriffe der Romantik.
» der mensch Heiszt niefit nu r so, w eit er denkt, sondern ist auch menscfi,
w eit er denkt, u n d spricfit, w e d e r d e n k t «
dermensch heiszt nicht nur so, weil erdenkt, sondern ist auch mensch, weil
erdenkt, und spricht, weil erdenkt, dieser engste Zusammenhang zwischen
1 Martus, Steifen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010, S. 146.
125
»Volk« also ist eine von den Grimms höchstbewertete Instanz. »Volksmäßig«
ist Gewähr für Wahrheit und Treue, für Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, für
Unverbildetheit und Einfachheit. »Volk« und seine Hervorbringungen sind
2 Grimm, Jacob (1851): Über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Reden in der
Akademie. Ausgewählt und herausgegeben von Werner Neumann und Hartmut
Schmidt. Berlin: Akademie Verlag. S. 64-100, S. 82.
3 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Vierter Theil. Göttingen 1837, S. V.
4 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs. 1838 - 1863. Dokumente zu
den Lexikographen Grimm. Stuttgart 1980, S. 43.
126
somit versehen mit Eigenschaften, die im Denken der Romantik als Ideal gal
ten. Dieses Volkkonzept prägt jegliche wissenschaftliche Arbeit der Brüder,
ob diese Arbeit sich auf Märchen und Sagen oder auf Rechtsaltertümer und
Wörter bezieht. Sie alle sind aus dem Volk entstanden, vom Volk geschaffen -
und damit von höchstem Wert. So ist »volksmäßig« auch das Argument, mit
dem Wilhelm Einwände gegen als allzu brutal und nicht kindgemäß gewer
tete Märchen ihrer Sammlung zurückweist:
Gedeihlich... kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir
trachten. Übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches
das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenk
lichkeiten nicht in ungleich größerem Maß einträten: der rechte Gebrauch
aber findet nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein
Zeugnis unseres Herzens.5
5 Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Vorrede. Zweiter Band. In: ders.
Kleinere Schriften 1 (1881). ND. Hildesheim 1992, S. 328-332, S. 331.
127
Wer nun unsere alte spräche erforscht und mit beobachtender seele bald
der Vorzüge gewahr wird, die sie gegenüber der heutigen auszeichnen,
sieht anfangs sich unvermerkt zu allen denkmälern der vorzeit hingezogen
und von denen der gegenwart abgewandt, je weiter aufwärts erklimmen
kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche gestalt der
spräche, je näher ihrer jetzigen fassung er tritt, desto weher thut ihm jene
macht und gewandtheit der form in abnahme und verfall zu finden.6
Der hohen Wertschätzung des Volks, der Menschen, als Schöpfer von Sprache
entspricht folgerichtig die Bewertung etwa des deutschen Wörterbuchs< als
»ein heiligthum der spräche, als ein hehres denkmal des volks, dessen vergan-
genheit und gegenwart in ihm sich verknüpfen«. Dass dieses Werk gleichsam
demokratischen Ansprüchen entspricht - »allen zu ihm den eingang offen
halten«9 versteht sich dann von selbst.
Vor allem aber: Wenn von einer an Sprache gebundenen Grimm'schen Volks
erziehung die Rede ist, dann muss im Besonderen auf Werte des Common
Sense verwiesen werden, denen man immer wieder in unterschiedlichen
sprachlichen Zusammenhängen begegnet und die volkserzieherische Grund
prinzipien der Brüder sind. Ein wesentliches Element dieses Konzepts ist das
der Freiheit. »Volk« ist ein Freiheitsbegriff. Das Volk bildet der freie unabhän
gige Mann der Ständegesellschaft, mit Flandlungsspielraum und hohem
Potenzial. Welche Verbindung lässt sich von hier aus zur Sprache hersteilen?
Jacob schafft ein Analogieverhältnis, indem er die ständische Konstellation
freier Mann, Adel, Unfreier mit den drei elementaren sprachlichen Stil
schichten Standard, höherer Stil und niedriger Stil parallelisiert:
der freie mann steht in der mitte, aus welcher auf der einen seite der edle sich
erhebt, auf der andern der unfreie herab sinkt, nicht anders steigt aus der das
volle maszdes natürlichen redevermögens darstellenden freien spräche
einerseits die edle, andrerseits die unfreie, das edle nennen wir auch das
höhere, erhabne, feine; das unfreie auch das niedrige (bas langage), platte,
gemeine, bäurische, grobe, derbe, die natürliche spräche hat in sich die
anlage zu beiden, dem feinen wie dem groben: aus der edlen spräche ist der
grobe, aus der groben der edle bestandtheil entfernt; das grobe, derbe wird
leicht unrein und schmutzig (sordidum, turpe), das feine geziert und zimp-
ferlich (ornatum, molle), oder auch schlüpfrig (lubricum) erscheinen.1'
Wie zentral die Freiheitsidee für das Grimm'sche Sprachkonzept ist, zeigt sich
dann in der aus diesem Bild abgeleiteten Mahnung Jacobs, die in der Stil
schichtenbewertung des 18. Jahrhunderts seit Adelung und von ihm einge
führte Markierung »pöbelhaft (plebejum) im sinne von bäurisch« zu vermei
den, »seit das volk (populus) und das volksmäszige als merkmal des freien
erkannt worden ist«.12 Dieses Freiheitskonzept ist nicht nur die Basis einer
umfassenden, allgemeineren Sprachtheorie, sondern auch Erklärungsinstanz
für sprachliche Einzelphänomene. Jacob erklärt damit etwa auch folgerich
tig die Lautverschiebung. Sie hänge
'Jacob Cjrmim
Bei dieser neuen philologie stehen ... alle zungen des erdbodens in dem
selben recht, und verachtet werden darf keine, ganz wie ins Wörterbuch alle
Wörter gehören und gleich berechtigt darin sind. Streben nach umfassender
samlung und behandlung ist also für ein Wörterbuch das erste erfordernis
und die allseitigkeit seines gebrauchs dadurch bedingt. Denn was diefdru-
cker]presse von sich gibt, will sie allen ohne aus/nahme bestimmt haben, was
allen dienen soll und kann, darf nichts ausschlieszen noch dahinten lassen.u
Jacob Grimm.
»warum sollte sich nicht
der vater ein paar Wörter
ausheben und sie abends
mit den knaben durchge
hend 7.ugleich ihre sprach -
gäbe prüfen und die eigne
anfrischen? die mutter
wurde gern zuhören«.
Bild: Vorlesen in einer
bürgerlichen hamilie.
w ie heiszt doch das wort, dessen ich mich nicht mehr recht erinnern kann?<
>der mann führt ein seltsames wort im munde, was mag es eigentlich sagen
wollen?<>zu dem ausdruck musz noch es bessere beispiele geben, lasz uns
nachschlagenc19
Und das berühmte Bild vom Wörterbuch als Haus- und Lesebuch spinnt diese
Benutzungssituation als - freilich in hohem Maß zeitgemäß patriarchalisch
geprägtes - Familienidyll fort.
15 Grimm, Jacob (1849): Über Schule Universität Academie. In: ders.: Reden in der
Akademie. Ausgewählt und herausgegeben von Werner Neumann und Hartmut
Schmidt. Berlin 1984. S. 212-249, S. 232f.
16 Grimm, Jacob: Über Schule Universität Academie, S. 233.
17 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. IV.
18 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. XII.
19 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. XII.
132
formuliert, »leser jedes Standes und alters sollen auf den unabsehbaren
strecken der spräche nach bienenweise nur in die kräuter und blumen sich
niederlassen, zu denen ihr hang sie führt und die ihnen behagen«.20
Dieses Angebot bezieht sich nicht nur auf die Form- und Bedeutungsge
schichte, sondern ebenso auf womöglich »anstösziges« - mit der Überzeu
gung, dass das Wörterbuch »kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches,
allen zwecken gerechtes unternehmen« sei, gehe der Benutzer, der hieran
»ein ärgernis nimmt« getrost an »den misfälligen Wörtern vorüber und
betrachte die weit überwiegende mehrzahl der andern«.21 Ferner sei die
Paraphrasierung der Bedeutung in Latein für diejenigen, die dieser Sprache
nicht mächtig seien, kein Anlass, das Wörterbuch etwa beiseitezulegen.
Die des Lateinischen »unkundig sind, hüpfen mit leichtem fusze daran vor
bei und finden sich dennoch zurecht, wie sie vorübergehn, wenn sie auf
ein wort gestoszen sind, dessen gehalt sie gar nicht anzieht«.22
Grimm’sche Philanthropie
Gesellschaftsbezogenes und wissenschaftliches Denken Jacob und Wilhelm
Grimms ist von demselben humanistisch motivierten Konzept geprägt, und
dieses Konzept realisiert ihre erzieherischen Ambitionen. So manifestiert
sich ein tiefgehender Humanismus in den Schriften der Grimms, in dessen
Zeichen sie gleichzeitig ihre erzieherischen Anliegen stellen. Volk - im Sinn
von »Mensch« - und wahre, wirkliche, unverbildete, natürliche Sprache
bilden eine Einheit. Im Volk finden die Brüder nicht nur die Quellen der
sprachlichen Manifestationen von Kultur - Märchen, Rechtszeugnisse, Wör
ter -, sondern das Volk ist der Adressat und zugleich auch legitimierende
Instanz für Forschung und gesellschaftliches Handeln. Ethische Universalien
wie »Freiheit« und »Gerechtigkeit«, die Common-Sense-Instanzen einer
allgemein gültigen bürgerlichen Sozialmoral, stellen dabei als Leitprinzipien
ihrer wissenschaftlichen Arbeit eine Legitimationsgrundlage für die Grimms
dar und bilden ein starkes Fundament ihres volkserzieherischen Konzepts.
Dieses Konzept folgt einem überzeugten Humanismus, der zwar als Werte
fundament gebildeter Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts allgemeine Gültig
keit hat, der aber in der Version einer »Grimm'schen Philanthropie« eine
spezifische Ausprägung erhält: Wenn Jacob in der Einleitung des Wörter
buchs fragt, ob »nicht der mensch selbst ihre [der natur] edelste hervorbrin-
20 ebd.Sp.XIII.
21 ebd. Sp.XXXV.
22 ebd. Sp. XLII.
133
Schulunterricht im 19. Jahrhundert: Die Brüder Grimm traten lür eine unver
bildete, natürliche Sprachentwicklung ein. Eine strenge Normierung oder gar
Grammatikunterricht in der Schule sahen sie kritisch. Kolorierter Stich.
gung« sei, ob »nicht die blüten seines geistes das höchste ziel«23 seien, dann
gibt er damit einen Beleg für dieses ausgeprägt philanthropische Ethos, das
in dem Grimm'schen Volkskonzept ausgedrückt ist.
Weltweit ist das Deutsche heute die einzige Sprache, in der Substan
tive konsequent großgeschrieben werden. Jacob Grimm war diese
Konvention ein Gräuel. Mit seiner ganzen Autorität und der Macht
des >Deutschen Wörterbuchs< stemmte er sich gegen diese Regel,
die er als beispiellosen Missstand ansah.
...................................................................................................................... «
'Was sich in der gesunkenen spräche des sechzehnten und siebzehnten
[JahrhundertsI vermehrtes festsetzte, nennt man nationale deutsche
Entwicklung; wer das gfauht, darf sich getrost einen zoprf anbinden
und perücfe tragen. 1
Jacob Grimm
» ------- ------------------------------------------------------------------------------
1 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l Hg. von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel.
Berlin 1864, S. 351.
135
Genau diesen Faden nahm Grimm in seinem Vortrag über das »pedantische
der deutschen spräche« wieder auf und führte die Missstände der Sprache
ursächlich auf die politische Zerrissenheit Deutschlands zurück. Letztlich
seien alle Errungenschaften und Fortschritte »schal..., wenn ihnen nicht die
freiheit und grösze des Vaterlands im hintergrund liege«. Das Streben nach
einer von historischer und politischer Beschränkung freien Sprache, die sich
in einem einigen Deutschland entwickeln sollte, war das Ziel beider Brüder.
Im genauen Gegensatz dazu stand das sogenannte »pedantische«, also sich
»wie ein schulknabe auf die gelernte regel alles ein[zu]bilden und vor lauter
bäumen den wald nicht [zu] sehen«. In dieser ängstlichen regel- und geset
zestreuen Haltung spiegele sich die repressive Politik des Vormärz, die eine
natürliche Sprachentwicklung habe unmöglich werden lassen.2 Einen Aus
weg aus dieser Sackgasse sah Jacob Grimm nur mit Hilfe einer »Orthogra
phie-Reformation«.
kes entgegenstehe. Und Grimm war fest entschlossen, vor allem durch sein
gutes Beispiel zu wirken. Bereits in der zweiten Auflage seiner >Grammatik<
von 1822 war Grimm zur Kleinschreibung übergegangen, immerhin schrieb
er an den Satzanfängen noch mit Großbuchstaben. Dieses Werk richtete
sich ausschließlich an Gelehrte, die Wirkung war so auf einen kleinen Kreis
begrenzt. Eine Schlüsselrolle maß er daher dem >Deutschen Wörterbuch« zu,
da es sich an eine weit größere Leserschaft richtet. 1849 legte Grimm in ei
nem Brief an die Weidmannsche Buchhandlung seine Vorstellungen dar
und zeigte sich darin fest entschlossen, sie umzusetzen: Der Verfasser eines
>Deutschen Wörterbuchs«, so schrieb er, vernichte unmittelbar seine mühsa
me Arbeit, solange er sich den Fehlern ergebe, deren Ursprung in Unwissen
heit und Verkennung der Sprachgesetze lägen.3 Und er hatte Erfolg:
Wer heute das >Deutsche Wörterbuch« zur Hand nimmt, erkennt, dass
3 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. B. 7,. Hg. von Karl MüllenhofF und Eduard Ippel.
Berlin 1884. ND 1991, S. 221.
137
Jacob Grimm hier sogar noch einen Schritt weiter ging: Mit großem An
fangsbuchstaben werden nur noch Eigennamen geschrieben; selbst bei
Satzanfängen wird klein weitergeschrieben.
Es bleibt die Frage nach den Gründen. Welche Argumente konnten wichtig
genug sein, sich gegen den Schreibgebrauch des gesamten deutschen
Sprachraums zu stemmen? In der zweiten Ausgabe des ersten Bandes
seiner >Deutschen Grammatik hatte Grimm die Großschreibung noch
mit dem lakonischen Argument abgetan, dass für sie kein innerer Grund,
gegen sie vor allem der beständige Schreibgebrauch bis ins 16. Jahrhun
dert wie auch der Schreibgebrauch aller anderen Völker spreche. Im
>Deutschen Wörterbuch< dann gedachte er, wie er seinem Verleger schrieb,
sein Vorhaben ausführlicher zu erläutern. In dieser detaillierten Be
gründung stellt Grimm einen originellen Zusammenhang her, der die
Orthografiediskussion der folgenden Jahrzehnte stark beeinflussen sollte.
138
Es ist genau diese Erkenntnis Grimms, die noch heute verblüfft: Denn im
Grunde handelt es sich bei dem, was wir heute als Groß- und Kleinbuch
staben einer einzigen Schrift wahrnehmen, schlicht um die Mischung
zweier unterschiedlicher Schriftstile. Dabei hatten die Majuskeln für Grimm
139
im laufe des 16jh. führte sich zuerst schwankend und unsicher, endlich
entschieden der misbrauch ein, diese auszeichnung auf alle und jede
substantiva zu erstrecken, wodurch jener vortheil wieder verloren gieng,
die eigennamen unter der menge der substantiva sich verkrochen und
die schrift überhaupt ein buntes, schwerfälliges ansehen gewann ...
kürze und leichtigkeit des ausdrucks, die im ganzen nicht unser Vorzug
sind, weichen vor diesem geschlepp und gespreize der buchstaben
völlig zurück,4
Es gab aber noch einen weiteren Grund, der für Grimm die Substantivgroß
schreibung auf fatale Weise begünstigte. Und auch dieser hatte seinen
Ursprung in der Schriftentwicklung: nämlich das Beharren auf einer Schrift,
die für Grimm nur »ungestalt und häszlich« war - der Frakturschrift oder
auch der sogenannten deutschen Druckschrift.
Die Fraktur ist eine Druckschrift des 16. Jahrhunderts. Sie geht zurück auf die
sogenannten »gebrochenen Schriften«, die sich seit denn 11. Jahrhundert als
gotischer Stil herausgebildet hatten. Dieser Schriftstil bevorzugte wie die
gotische Baukunst die senkrechte Linie, wobei die Rundungen der bis dahin
üblichen Schrift nun zu Ecken gebrochen und die Linien dichter zusam
mengeschoben wurden. Nach diesem Stilprinzip setzte sich im 16. Jahrhun
dert die Fraktur (= gebrochene [Schrift]<) durch.
Und auch die von Grimm favorisierte Antiqua hat eine langeTradition. Sie
stellt eine Entwicklung der Humanisten um 1400 dar. Die italienischen Hu
manisten hatten die Schriften der lateinischen Antike in den ältesten ihnen
zugänglichen Handschriften rezipiert: Dies waren die Kopien der Karolin
gerzeit. Die karolingische Minuskel wurde wegen ihrer leichten Lesbarkeit
und ihrer vermeintlichen Nähe zur Antike bevorzugt. Die Humanisten
nannten sie entsprechend Antiqua (= >alte [Schrift]<).
Wenn sich Grimm also so vehement gegen die Fraktur und für die Antiqua
aussprach, dann nicht in erster Linie, weil er sie als moderner oder leichter
lesbar beurteilte. Maßgeblich war für ihn vor allem die übergreifende histo
rische Perspektive:
Leider nennt man diese verdorbne und geschmacklose Schrift sogar eine
deutsche, als ob alle unter uns im schwang gehenden misbräuche zu ur
sprünglich deutschen gestempelt, dadurch empfohlen werden dürften,
nichts ist falscher, und jeder kundige weisz, daszim mittelalter durch das
ganze Europa nur eine schrift, nemlich die lateinische für alle sprachen galt
und gebraucht wurde, seitdem dreizehnten, vierzehnten jahrhundert be
gannen die Schreiber die runden züge der buchstaben an den ecken auszu
spitzen und der beinahe nur in rubriken und zu eingang neuer abschnitte
vorkommenden majuskel Schnörkel anzu fügen.5
Wenn sich Jacob gegen die Großschreibung wandte, dann also nicht, weil
er die Rechtschreibung vereinfachen wollte, sondern weil er das historische
Ganze im Blick behielt. Was ihm an der Substantivgroßschreibung missfiel,
war das Übermaß an Regulierung und Normierung, die Sprache und Recht
schreibung in ein Korsett zwängten und so in ihrer natürliche Entwicklung
einzuschränken drohten. Ausgerechnet diese Betrachtungsweise wurde
von den nachfolgenden Orthografiereformern nicht aufgegriffen.
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143
Adelung war auch der wegweisende Vorreiter eines Konzepts der Groß
schreibung, auf die sich die deutsche Rechtschreibung bis heute stützt.
Denn nach seinen Darlegungen in der Vollständigen Anweisung zur Deut
schen Orthographie< hat die Großschreibung im Gegensatz zu den Ausfüh
rungen von Jacob Grimm nicht lediglich verzierende Funktion, sondern die
Aufgabe, »die Wörter nach dem Maße der Wichtigkeit ihres Begriffes in dem
Zusammenhänge der Rede auch für das Auge auszuzeichnen«9. Und daraus
wiederum leiten sich die entscheidenden Argumente für eine grammati
sche Begründung der Großschreibung ab: die leichtere Lesbarkeit durch die
Markierung und damit auch die Unterscheidung gleichlautender Wörter
verschiedener Wortarten durch die Orthografie. Dieses Konzept Adelungs
prägte die Geschichte der Rechtschreibung und die Diskussion um das um
strittene Thema nachhaltig.
Dennoch sollte sich die Flaltung von Konrad Duden und Rudolf von Raumer
auch hundert Jahre später noch als ausgesprochen realistisch erweisen:
Als Mitte der 1970er Jahre nach mehr als zwei Jahrzehnte währenden Bera
tungen die verantwortlichen Arbeitskreise ein Konzept der »gemäßigten«
Kleinschreibung vorlegten, so wie Jacob Grimm sie gefordert hatte, ernte
ten sie wütenden Protest. Politisch war die Kleinschreibung, wie schon zu
Zeiten der Brüder Grimm, in Deutschland nicht durchsetzbar und wurde
denn auch von der Kultusministerkonferenz der bundesdeutschen Länder
abgelehnt.
Im weiteren Verlauf bis in die 1990er Jahre konzentrierte man sich aller
dings darauf, die orthografischen Regeln für die Substantivierung zu syste
matisieren und damit zu vereinfachen: So wurde etwa bei Wendungen wie
in Bezug auf oder im Trüben fischen mit der Rechtschreibreform von 1996
wieder die Großschreibung eingeführt, in einigen Fällen wie von Weitem/
weitem wurde die Schreibung freigegeben. Diese Regelungen hatten,
anders als ursprünglich gewünscht, wiederum eine Vermehrung der Groß
schreibung zur Folge. Es blieb ein Konflikt, der die Vorschläge Jacob Grimms
auch in unserem Jahrhundert vor dem Flintergrund einer globalisierten
sprachlichen Welt ohne Großschreibung immer noch aktuell und vielleicht
bedenkenswerterscheinen lässt.
146
Diese Feststellung, die auf der Homepage der UNESCO zu lesen ist, bezieht
sich zwar auf die Märchen (die in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen
werden sollen), sie kann aber mit Fug und Recht auch auf die sprachwissen
schaftliche, Sprachkulturelle Arbeit der Grimms bezogen werden, zumal auch
dieTexte der Märchen selbst ja als Dokument der Sprachkultur anzusehen
sind. Die Brüder selbst machten in gewissem Sinn auch gar keinen Unter
schied zwischen Märchen und Wörtern, Rechtsaltertümern und Sagen -
zumindest im Hinblick auf ihren Ursprung, nämlich im Volk, betrachteten
sie die verschiedenen Gattungen stets im Zusammenhang.
Die Brüder Grimm haben mit ihrem Werk einen Beitrag zur deutschen
Sprachkultur geleistet, der bis in die Gegenwart reicht. Dieser Beitrag wurzelt
in einer Art des Denkens, das beinahe als »globalisiert« zu bezeichnen ist,
und besteht in der Art und Weise, wie sie ihre Werke und das in ihnen ver
sammelte und durch sie vermittelte Wissen verstanden. Die Brüder Grimm
und ihr sprachkulturelles Werk mit unserer Gegenwart in Beziehung zu set
zen, also nach der Modernität derTraditionalisten zu fragen, bedeutet zum
einen, ihre Werke überhaupt als einen Beitrag zu verstehen, der in dieser
Welt einen Wert hat, also ihre Modernität in Bezug auf ihre grammatischen,
sprachhistorischen und lexikographischen, ebenso wie auf ihre kulturge
schichtlichen Monumente anzuerkennen. Zum andern ist die Modernität der
Grimms im Hinblick auf ihr Denken und Handeln zu bewerten - die ja die
Voraussetzung für ihre Bedeutung in der Gegenwart ist. In dieser Hinsicht
besteht der zentrale sprachkultureile Beitrag der Grimms darin, die deutsche
Sprache in den europäischen Kontext als hoch entwickelte, eigenständige
Nationalsprache eingefügt zu haben, die ihre Entstehung einem komplex
wirkenden Prozess von Sprachkontakten verdankt.
Europäische Integration
Eine der zentralen Fragen ist dabei, was es für das heutige Deutsch bedeutet,
in Monumenten wie der deutschen Grammatik, der >Geschichte der Deut
schen Sprache« und vor allem dem deutschen Wörterbuch« erfasst zu sein:
Ihr Wert, auch im Hinblick auf die komplexen internationalen Gegebenheiten
der Gegenwart, besteht in der Darstellung der deutschen Sprache in ihrer
historischen Tiefe, in ihrer formalen Vielfalt, in ihrer semantischen Komplexi
tät - alles dies als Manifestationen deutscher Sprachkultur in einer europäi
schen Dimension.
Insofern bedeutet für die Grimms die Erforschung der deutschen Sprache
eine Perspektive einzunehmen, die das Gegenteil von national begrenzt
war. Denn ohne Frage: Kaum ein auf die Grimms bezogenes Vorurteil ist
unbegründeter als das der nationalistischen, weitabgewandten und -un-
148
..... ;...............................................................................................................«
'Überhaupt werden die ‘Würze hn u n d (Biegungen der europäischen
Sprachen, jew eiter man in ihr f l Cterthum zuriichdringen bann, sich
untereinander ähnhicher, a ß wenn man a u f ihre spätere gestuft
sieht, zum (Beweis ihres gemeinsamen Vrsprungs sowohl, a ß ihrer
<Besonderheit.
Jacob Cjnmm
Briefmarken aus aller Welt bezeugen: »Die »Kinder- und Hausmarchen< der
Brüder Grimm (Brüder-Grimm-Gesellschaft e. V.) sind neben der Luther-Bibel
das bekannteste und weltweit am meisten verbreitete Buch der deutschen Kultur-
geschichte. Sie sind zugleich die erste systematische Zusammenfassung und
wissenschaftliche Dokumentation der gesamten europäischen und orientalischen
Märchentradition.«3
3 S. 151 unten
150
Und bei der Sprache? Hier ist es die Perspektive der indogermanischen -
oder indoeuropäischen - Sprachfamilie, die eine indogermanische Urspra
4 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 32010, S. 185.
5 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm, S. 180.
6 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm, S. 181.
7 Grimm, Jacob: Deutsche Rechtsalterthümer. Leipzig 1899. Unveränderter,
reprografischer Nachdruck Darmstadt 1983, S. XIV.
151
che als gemeinsamen Ursprung des Sanskrit, der germanischen und italisch
romanischen, der balto-slawischen Sprachen, der griechischen und der
persischen Sprache annimmt:
Die deutsche spräche hängt in einer kette, die sie mit den meisten euro
päischen verbindet, dann aber zurück nach Asien leitet und gerades wegs
bis auf das sanskrit, das zend und das persische reicht, hieraus geht eine
fülle von erscheinungen und Verhältnissen hervor, die sich bald einigen
lassen, bald als eigenheiten einzelner sprachen von einander gehalten
werden müssen.8
In Bezug auf die Idee der Einheit spielt auch die politische Dimension der
Einheitsidee eine überragende Rolle, die Jacob Grimm als Paulskirchen
abgeordneter ebenso formuliert wie als Lexikograph. Die Überzeugung
von der Einheit stiftenden Macht der Sprache ist ihm und ebenso Wilhelm
als Politiker wie als Sprachhistoriker tief eingeschrieben.
So stellt sich auch Jacobs >Deutsche Grammatil« dar: Sie »schreitet... syste
matisch die gesamte Grammatik der vergleichend untersuchten Sprachen ab«,
wird so »das Modell..., nach dem historisch-vergleichende Grammatiken
der verschiedenen Sprachgruppen der Welt geschrieben werden«1 12. Die
»kette«, die die deutsche Sprache »mit den meisten europäischen verbindet«,
ist eine zentrale Forschungsperspektive der Grimms. Welche Folgerungen
ziehen sie daraus? Die historisch-vergleichende Sprachforschung des Indo
europäischen beziehen die Grimms zwar immer auf die deutsche Sprache
als Zielsprache. Insofern heißt historisch-vergleichend nicht im eigentlichen
Sinn »kontrastiv« zum Zweck der Feststellung eines Ähnlichkeits- oder
Gleichheitsverhältnisses. Und zugegeben: Im Wesentlichen ist es »das Ger
manische« - außer von Deutsch u. a. repräsentiert von Englisch, Dänisch,
Schwedisch sowie von den alten Sprachstufen und Sprachen Gotisch und
Altnordisch -, welches interessiert. Aber: Gegenstand der Forschung ist
Deutsch in europäischen Bezügen - synchron und insbesondere diachron,
es ist der Sprachenverbund, dessen Macht und Wirkung die Nationalspra
chen entstehen lässt.
Das gilt auch für ihr Wörterbuch: Es kann sicher nicht behauptet werden,
dass das Grimm'sche Wörterbuch normativ ist, und dies ist bereits eine Vor
aussetzung dafür, dass es als ein Monument deutscher Sprachkultur bis
heute seinen unbestreitbaren Platz hat. Denn nicht zuletzt der Reichtum
einer Sprache, dessen Darstellung der deskriptiv-nichtnormative Zugang
zum Ziel hat, erlaubt es, diesen Platz zu behaupten: Deutsch als hochent
wickelte Kultursprache mit einer langen Geschichte - sie rekonstruiert,
dargestellt und beschrieben zu haben, ist das Verdienst von Jacob und Wil
helm Grimm. Das Wörterbuch dokumentiert - auf der Grundlage eines breit
angelegten Archivs, nach heutigen Begriffen beinahe »korpusbezogen« -
auf sprachlicher Ebene einen Prozess der Verflechtung, der Vernetzung,
der gegenseitigen Einflussnahmen. Damit spiegelt es als sprachgeschicht-
11 Ebd. S. 110
12 Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. München
2006, S. 247.
153
Jacob (j'rimm
154
Denn wenn es ein ethisches Prinzip gibt, das die Moderne prägt wie kein
anderes, ist es das der Freiheit. Übertragen auf die Grimm'sche Konstellation:
Wenn es ein historisches Prinzip gibt, das die Geschichte der Sprache(n) kenn
zeichnet, ist es das der Freiheit, wenn es ein konzeptionelles Prinzip gibt, das
den Sprachbegriff der Grimms erklärt, ist es das der Freiheit, und wenn es ein
anthropologisches Prinzip gibt, das das Grimm'sche Menschenbild repräsen
tiert, ist es das der Freiheit. Wo immer wir ihnen begegnen - als Brüderpaar
oder als Politiker, als Orthografen und als Lexikographen, als Volkspädagogen
und als Gelehrte - in ihrer Lebensweise als kritische, unabhängige Köpfe
und eminent gesellschaftsbezogen handelnde Wissenschaftler ist es dieses
freiheitliche Grundprinzip der Moderne, das ihre Daseinsfacetten erklärt.
Diese unabdingbare Bindung der Grimms an das Prinzip der Freiheit leitet
über zu ihrem Menschenbild als Ausdruck ihrer Prinzipien. Es ist ein offenes,
155
bei dem die Idee der Gleichberechtigung aller Menschen und der Entschei
dungsfreiheit des Einzelnen im Mittelpunkt steht. Dieses Menschenbild
prägt auch die Brüder Grimm als Wissenschaftler: Sie sehen sich im Dienst
der Verbreitung und Erforschung der Sprachkultur als Bereicherung für den
Menschen - mit ihrem Konzept etwa des Wörterbuchs als Wissens- und
Bildungsangebot an den Leser und dies verleiht ihnen unbestreitbare
Modernität als Sprachpioniere auch des 21. Jahrhunderts.
Epochenübengreifende Perspektive
Nicht nur die Märchen, sondern viele grundlegende Positionen, Denkansätze
und Forschungen der Brüder Grimm wirken bis heute über ihren ursprüng-
lichen geografischen und zeitlichen Horizont hinaus und waren Anlass für
zahlreiche moderne kreative Bearbeitungen in Sprachgeschichte und Literatur.
So setzt etwa Günter Grass mit seinem Roman »Grimms Wörter - eine Liebes-
erklärung« den Brüdern Grimm und ihrem Wörterbuch ein Denkmal als
Fundgrube der deutschen Sprache. Daneben würdigt er ihr politisches Engage-
ment und ihren gesellschaftlichen Weitblick in Analogie zu gesellschaftlichen
Entwicklungen des 20. und 21 lahrhunderts. Auch die Sammlung der >Kinder-
und Hausmärchem ist seit eh und je aktuell und hat seit ihrem Erscheinen
zahlreiche Bearbeitungen erfahren, u.a. in etlichen Theater- und Operninsze-
nierungen. Die Berliner Ausstellung mit dem provokanten Titel »Rotkäppchen
kommt aus Berlin!« zum Grimm-lubiläum 2012/2013 - 200 Jahre Märchen-
Erstausgabe - widmet sich der Geschichte des Grimmschen Schaffens unter
diesem Blickwinkel.
Literatur in Auswahl
Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht. In: Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft. Bd. 2/1816, S. 25-99.
Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch. In: Ders.: Kleinere
Schriften. Bd. 1. ND. Hildesheim 1992. S. 328-332.
Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Vorrede. Zweiter Band. In: Ders.
Kleinere Schriften. Bd. 1. ND. Hg. von Otfried Ehrisman. Hildesheim 1992,
S. 328-332.
Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Bd. 1-4. Nachdruck der Ausgaben
Berlin 1881-1887. Hg. von Gustav Hinrichs. Berlin 1881. ND. Hildesheim
1992.
Biografisches
200 Jahre Brüder Grimm. Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und
Wirkens. Hg. von Dieter Henning u. Bernhard Lauer. Kassel o. J. [1985].
Briefwechsel der Brüder Grimm mit Ernst von d. Malsburg. Hg. von Wilhelm
Schoof. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 36/1904, S. 173-232.
Denecke, Ludwig:Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart 1971.
Ginschel, Gunhild: Der junge Jacob Grimm 1805-1819. 2. Aufl. Berlin 1988.
Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010.
Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. 3. Auflage. Hg. von Ludwig Erich Schmitt.
Hildesheim/Zürich/NewYork 1985.
Schoof, Wilhelm: Die Brüder Grimm in Berlin. Berlin 1964.
Literarische Biografie:
Grass, Günter: Grimms Wörter: eine Liebeserklärung. Göttingen 2010.
Quellen
Brentano, Clemens: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter
Roman von Maria. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Histo-
risch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens u.a. Bd. 16. Stuttgart/Berlin/
Köln/Mainz 1978.
Droysen, Johann Gustav: Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der
deutschen Nationalversammlung. Leipzig 1849.
Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechts-
wissenschaft. Heidelberg 1828.
Schlegel, August Wilhelm: Ankündigung. Sprachlehre von A. F. Bernhardi. 1. Th.
Berlin 1801.2. Th. 1803. In: Europa. Eine Zeitschrift. Herausgegeben von
Friedrich Schlegel. Bd. 2/1. Frankfurt a. M. 1803, S. 193-204.
Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Erster
Teil: Die Kunstlehre. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vor-
lesungen. Hg. von Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1.
Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, S. 181-472.
Schlegel, Friedrich: Deutsche Grammatik. 1.1805. Jun. Kritische Friedrich-Schle-
gel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 17: Fragmente zur Poesie und Litera-
tur. 2. Teil. München/Paderborn/Wien/Zürich 1991, S. 3-31.
Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wil-
helm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin
1798, S. 3-146.
Wigard, Franz: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen
Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. 10 Bde.
Frankfurt a. Main 1848ff.
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