100% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
514 Ansichten163 Seiten

Brockhaus Die Brueder Grimm 2013

Hochgeladen von

Murat Kuş
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
100% fanden dieses Dokument nützlich (1 Abstimmung)
514 Ansichten163 Seiten

Brockhaus Die Brueder Grimm 2013

Hochgeladen von

Murat Kuş
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 163

BROCK

Die
Brüder
Grimm
Pioniere
deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts

GEFÖRDERTVON
HESSEN
H essisches M inisterium
für W isse n sch a ft und Kunst
Jacob Grimm wurde
1785, sein Bruder
Wilhelm 1786 in
Hanau geboren.
Lange Jahre in diesem
geografischen Raum - vor allem in Kassel -
als Märchensammler und Sprachforscher tätig,
wirkten die Brüder später weit über Hessen
und noch über Deutschland hinaus und
leisteten einen entscheidenden Beitrag zur
Erforschung der deutschen Sprache und zur
Entwicklung moderner deutschsprachiger
Wörterbücher. Kaum jemand vor ihnen oder
nach ihnen hat die deutsche Sprache so in
all ihren Facetten dokumentiert und durch­
leuchtet wie diese beiden.

So sammelten sie Heldengesänge, mittelalter­


liche Lieder und Rechtssprüche, sie forschten
über die Grammatik, und auf dem heiß um­
strittenen Gebiet der deutschen Rechtschrei­
bung waren sie progressiver als die Reformer
heute. Mit der Entdeckung der germanischen
Lautverschiebung und ihren wegweisenden
sprach- und literaturwissenschaftlichen Unter­
suchungen gelten die Grimms als Gründerväter
der modernen Germanistik.

Dabei vertraten sie ihre Positionen mit Mut


und Entschlossenheit, wenn nötig, auch gegen
Obrigkeit und Autorität: in ihrem wissenschaft­
lichen Denken wie im gesellschaftlichen,
bildungspolitischen und kulturellen Umfeld
der Zeit.
BROCK
HAUS

Die Brüder Grimm


Pioniere deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts
BROCK
HAUS

Die
Brüder
Grimm
Pioniere
deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts

Herausgegeben von
Jochen Bär, Mark-Georg Dehrmann,
Holger Ehrhardt, Jürg Fleischer,
Heidrun Kämper, Sabine Krome,
Steffen Martus, Norbert Richard Wolf
4

Chefredaktion: Dr. Sabine Krome


Projektmanagement: Bernhard Roll
Texte und Redaktion: Bernhard Roll, Andrea Rocha-Lieder
Bildredaktion: Anka Hartenstein, Nadja Buchczik
Grafiken: Hendrik Wittemeier
Projektmanagement Satz und Layout: Daniel Großkraumbach
Layout und Satz: Roman Bold & Black, Köln
Herstellung: Astrid Warkus
Covergestaltung: Günter Pawlak, Designbüro FaktorZwo!
Druck und Bindung: Himmer AG, Augsburg

Das Wort BROCKHAUS ist für den Verlag F.A. Brockhaus/wissenmedia


in der inmediaONE] Gm bH als Marke geschützt.
Alle Rechte Vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

MIX
P a p ie r au s vera n tw o r-
tu n g sv o llen Q u e lle n
FSC
www.fsc.org FSC® C095359
V___________________________________________________________ /

© F.A. Brockhaus/wissenm edia in der inmediaONE] GmbH,


Gütersloh/M ünchen, 2013
w w w.brockhaus.de
ww w .w issenm edia.de
Printed in Germany

ISBN 978-3-577-00305-6
5

Vorwort

Eine Vielzahl von Veranstaltungen prägt das Jubiläumsjahr der Grimm'schen


Kinder- und Hausmärchen 200 Jahre nach deren erstem Erscheinen. Diese
Begeisterung ist nachvollziehbar, denn es gibt kaum einen Menschen auf
der Welt, der die Märchen der Brüder Grimm nicht kennt. Kein anderes Buch
deutschen Ursprungs ist international so weit verbreitet und in derart viele
Sprachen übersetzt worden. Die Dimension der Bekanntheit hat sich nicht
zuletzt während des internationalen Grimm-Kongresses gezeigt, den die
Universitäten Kassel und Frankfurt am Main aus Anlass des Jubiläums unter
Beteiligung von Forschern aller Kontinente jüngst ausgerichtet haben.

Doch alle, die sich eingehender mit Leben und Werk der Brüder Grimm
beschäftigen, wissen, dass Jacob und Wilhelm Grimm weit mehr gewesen
sind als nur Märchensammler. Es ist keine Frage, dass sie derTradition des
Erzählens und den Inhalten der Geschichten, die sie hörten, große Aufmerk­
samkeit geschenkt haben. Doch war dieses Sammeln und Aufschreiben bis
dahin mündlich tradierter Inhalte nicht auch nur ein Baustein eines über­
geordneten Forschungsziels? Der Ausdruck eines unter französischer Domi­
nanz entstandenen Wunsches, eine nationale, eine »stolze« und weit in die
Geschichte zurückreichende »eigene« deutsche Geistesgeschichte nachzu­
weisen? Die unterschiedlichen Forschungsansätze zur Rechtsgeschichte und
zur Literaturgeschichte, aber auch das politische Engagement der Brüder
Grimm lassen diesen Tenor, der sich durch das ganze Werk zieht, erkennen.

Ich freue mich sehr, dass diese Publikation einen Beitrag leistet, einen eher
der Fachwelt bekannten Teil des Schaffens der Brüder Grimm auch ein Stück
weit in die breitere Öffentlichkeit und in die Diskussion zu rücken. Denn
die Auswirkungen der germanistischen Forschungen des Brüderpaars auf
die internationalen Sprach- und Literaturwissenschaften waren und sind
ganz enorm.

Eva Kühne-Hörmann
Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst
6

Inhalt

Einleitung............................................................................................ 10
Zwei Leben für die deutsche Sprache: Warum die Leistung
der Brüder Grimm noch heute einzigartig ist.......................................... 10

Biografie und Persönlichkeiten.................................................................. I4


Brüderlichkeit als Lebensform: Jacob und Wilhelm Grimm als
moderneTraditionalisten.................................................................................... 14
Focebook mit Feder und Tinte -
die sozialen Netzwerke der Brüder Grimm...................................................... 32

Das wissenschaftliche Wirken der Brüder G rim m .............................36


Auf der Suche nach dem Ursprung der deutschen Sprache -
Die deutsche Grammatik von Jacob G rim m ............................................ 36
Märchen - Sagen - Minnelieder:
Die Wiederentdeckung des Mittelalters als Mythos
einer unversehrten Vergangenheit................................................................ 48
Papierdeutsch? - Jacob Grimm und die alte Rechtssprache
im modernen D eutsch............................................................................................60

Das Deutsche W örterbuch...........................................................................64


»Von Wörtern eingeschneit« - das Jahrhundertprojekt
Deutsches Wörterbuch....................................................................................... 64
Von Schneegäcken, Mürfelfteren und Froteufeln -
eine ungewöhnliche Reise durch das Deutsche Wörterbuch..................80
Vom Zettelkasten zum Computer - Wörterbucharbeit damals
und heute ..................................................................................................................86
Märchensammler und Wörterbuchmacher -
sinnverwandt oder paradox?............................................................................ 100
7

Sprache - Politik - Bildung........................................................................ 104


Wie Sprache Teilung überwindet -
das politische Erbe der Brüder Grim m ......................................................104
Wider Sklaverei und Knechtschaft -
Jacob Grimm in der Paulskirche.....................................................................118
Sprache für das Volk: Die Brüder Grimm als Volkserzieher
und Vorreiter eines modernen Bildungsbegriffs..................................124
»schreibt alle substantive klein!« - Der Kampf Jacob Grimms
für eine vereinfachte Rechtschreibung.....................................................134
Die Bedeutung der Brüder Grimm für die
deutsche Sprache und Sprachkultur heute............................................ 146

Ausgewähltes Literaturverzeichnis 156

Bildnachweis 160
8

Autoren

Prof. Dr. Jochen Bär


Jochen A. Bär ist Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der
Universität Vechta, Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften.
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört die Geschichte der Sprachtheorie
und Sprachwissenschaft, insbesondere zur Zeit der Romantik. Er arbeitete
u. a. zur Sprachgeschichtsauffassung Jacob Grimms. Jochen Bär verfasste
den Beitrag »Auf der Suche nach dem Ursprung der deutschen Sprache -
>Die deutsche Grammatik von Jacob Grimm«.

Dr. Mark-Georg Dehrmann


Mark-Georg Dehrmann unterrichtet als Privatdozent Neuere Deutsche
Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Im Rahmen eines seiner
Forschungsschwerpunkte - der Geschichte der philologisch-historischen
Wissenschaften - beschäftigt er sich nicht zuletzt mit den philologischen
Arbeiten der Brüder Grimm. Mark-Georg Dehrmann verfasste den Beitrag
»Märchen - Sagen - Minnelieder: Die Wiederentdeckung des Mittelalters
als Mythos einer unversehrten Vergangenheit«.

Prof. Dr. Holger Ehrhardt


Holger Ehrhardt ist Inhaber der Grimm-Stiftungsprofessur »Werk und Wir­
kung der Brüder Grimm« an der Universität Kassel. Er ist Mitherausgeber
des Jahrbuchs der Brüder Grimm-Gesellschaft (2000-2005) und des Brüder
Grimm Gedenken (seit 2012) und hat zu verschiedenen Grimm-Themen -
zu biografischen, mythologischen und überlieferungsgeschichtlichen
Fragestellungen sowie der Herausgabe von Briefen und Tagebüchern der
Brüder Grimm - geforscht. Holger Ehrhardt verfasste die Beiträge »Facebook
mit Feder und Tinte - die sozialen Netzwerke der Brüder Grimm« und »Mär­
chensammler und Wörterbuchmacher - sinnverwandt oder paradox?«.

Prof. Dr. Heidrun Kämper


Heidrun Kämper ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche
Sprache, Mannheim, und Professorin an der Universität Mannheim. Am
Institut für Deutsche Sprache leitet sie den Arbeitsbereich Sprachliche
Umbrüche des 20. Jahrhunderts^ Ihre Forschungsgebiete sind u.a. Kultur­
wissenschaft und Sprache, Sprache des 20. Jahrhunderts, Sprache und
9

Politik, Diskurslinguistik und Lexikographie. Als Mitherausgebern des


deutschen Wörterbuchs< von Hermann Paul beschäftigt sie sich seit lan­
gem mit der Grimm'schen Wörterbuchkonzeption. Heidrun Kämper ver­
fasste die Beiträge »Sprache für das Volk: Die Brüder Grimm als Volkserzie­
her und Vorreiter eines modernen Bildungsbegriffs« und »Die Bedeutung
der Brüder Grimm für die deutsche Sprache und Sprachkultur heute«.

Prof. Dr. Steffen Martus


Steffen Martus lehrt als Professor für Neuere deutsche Literatur an der
Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunkten Literaturgeschichte
seit dem 18. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte und -theorie der Ger­
manistik. Er schrieb eine umfangreiche Biografie der Brüder Grimm (Berlin
2010, Reinbek bei Hamburg 2013). Steffen Martus verfasste den Beitrag
»Brüderlichkeit als Lebensform: Jacob und Wilhelm Grimm als moderne
Traditionalisten«.

Berater
Prof. Dr. Jürg Fleischer
Jürg Fleischer ist Professor für Sprachgeschichte des Deutschen und Direkto­
riumsmitglied des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas an der Philipps-
Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Syntax der
älteren Sprachstufen und Dialekte des Deutschen. Außer in seinen Vorlesungen
begegnen ihm die Brüder Grimm bzw. deren Spuren auch immer wieder in der
schönen MarburgerOberstadt.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Norbert Richard Wolf


Norbert Richard Wolf ist emeritierter Professor der deutschen Sprachwissen­
schaft an der Universität Würzburg, Honorarprofessor an den Universitäten
Ostrava und Opava (Tschechien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die deutsche
Sprachgeschichte, Grammatik, Textlinguistik sowie Dialektologie. Im Rahmen
seiner sprachhistorischen Forschungen und Vorträge spielten auch die Brüder
Grimm immer wieder eine wichtige Rolle.
10

Zwei Leben für die


deutsche Sprache: W arum die Leistung
der Brüder G rim m
noch heute einzigartig ist

Die Brüder Grimm: Sie gelten als die bekanntesten Märchen­


erzähler der Deutschen und waren doch weit mehr - schon
die Zeitgenossen nahmen die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft
der Brüder aufgrund der ungeheuren Bandbreite ihrer Inter­
essen und Forschungsgebiete, ihrer enormen Produktivität
und nicht zuletzt ihrer geistigen und politischen Unabhängig­
keit als einzigartig wahr. In ihrer Epoche haben sie Bedeuten­
des geleistet, doch ihre Ideen und ihr Gedankengut weisen
nicht nur in der Verbreitung der Märchen über Deutschland
hinaus - bis ins 2 1.Jahrhundert, in eine Zeit der Globalisierung
und der Erweiterung geografischer, politischer und sprachlicher
Grenzen.W as aber macht die Leistung der beiden Brüder -
oder vielmehr die Leistung von Jacob (1785-1863) und Wilhelm
Grimm (1786-1859) - so einzigartig?

So vielfältig die Aktivitäten der Brüder, so unterschiedlich und kontrovers


sind die Deutungen ihres Schaffens - das Spektrum der Bewertung bewegt
sich zwischen den Polen von Autoritätskritik, Idealismus und Anpassung,
Vergangenheitsorientiertheit und radikaler Innovation, Tradition und
Moderne.

Der vorliegende Band versucht, dem Grimm'schen Wirken aus verschiedens­


ten Perspektiven auf den Grund zu gehen: Ausgehend von der engen, zu­
gleich aber auch spannungsvollen persönlichen Beziehung zwischen den
beiden unterschiedlichen Charakteren schlägt er einen Bogen über ihre
Erfahrungen mit Macht und Autorität in Zeiten fundamentaler gesellschaft­
licher Umwälzungen bis zu ihrem beruflichen und wissenschaftlichen
Engagement, ihrer Sammelleidenschaft und ihren grundlegenden sprach-
geschichtlichen Arbeiten. Beleuchtet wird schließlich auch die Auseinander-
__>s__

Setzung der Grimms mit den wichtigen politischen Themen, den literarhis­
torischen Positionen und den prägenden Persönlichkeiten ihrer Zeit, etwa
im gedanklichen Austausch mit den Romantikern Clemens Brentano und
Achim von Arnim sowie dem Rechtsgelehrten Carl von Savigny.

Das Wirken der beiden Brüder spiegelt


dabei auf vielfältige Weise die politisch­
gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer
Zeit - ihre breitgefächerten Netzwerke
in Politikwissenschaft und Kunst kön­
nen aber auch schon als erste Wegberei­
ter der sozialen Netzwerke des 21. Jahr­
hunderts gelten. Mit ihren Sammlungen
von Sagen und Heldenliedern, vor allem
aber dem enormen Fundus der in aller

Die Brüder Grimm.


Gemälde von Elisabeth Jerichau-
Baumann, Berlin, Nationalgalerie.

Welt bekannten Märchen sowie ihren wissenschaftlichen Arbeiten von der


deutschen Grammatik bis zur »sprachlichen Krönung« ihres Schaffens,
dem gewaltigen deutschen Wörterbuchs können die Brüder darüber
hinaus als Vorreiter eines modernen Bildungsbegriffs bezeichnet werden.
Dies wird noch gestützt durch ihr gewichtiges Engagement in der Politik,
das in dem leidenschaftlichen Plädoyer Jacob Grimms für die Freiheit eines
jeden Deutschen in der Paulskirchenversammlung gipfelte.

Wissenschaft verstanden die Brüder immer auch als Dienst an der Gesell­
schaft, der sie sich zeitlebens verantwortlich und verpflichtet fühlten, auch
wenn ihr Demokratieverständnis nicht mit dem der heutigen Zeit ver­
gleichbar ist: In einer Epoche des Umbruchs, geprägt von den Nachwirkun­
gen der Französischen Revolution, in der alte Sicherheiten und scheinbare
Selbstverständlichkeiten auseinanderzubrechen drohten, aber gleichzeitig
auch die Chance eines geeinten Deutschland so greifbar nahe lag, versuch-
12

ten die Grimms, durch die Besinnung auf die Vergangenheit »alte Werte«
wiedererlebbar und damit für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Das
einigende Band dieser Bemühungen war für sie die - deutsche - Sprache,
deren Wurzeln und Bedeutung sie von den Anfängen bis zur Gegenwart
intensiv verfolgten und die sie als Mittel des Verstehens und der Verständi­
gung zwischen den Jahrhunderten, den Kulturen und den Menschen als
ein Fundament moderner Demokratiebewegungen begriffen.

Dabei haben Jacob und Wilhelm durchaus ihre jeweils ganz eigenen Spuren
hinterlassen: So war Jacob als der wohl strukturiertere, systematischere der
beiden Brüder der alleinige Verfasser der deutschen Grammatik (1819-
1837) wie der >Geschichte der deutschen Sprache< (1848). Er konzentrierte
sich auf die Sammlung historischer Sprachdokumente und Rechtsaltertümer,

FREIH EIT, f. libertas, iX ev& egla. der älteste und schönste


ausdruck fü r diesen begrif war der sinnliche freihals, collum
liberum, ein hals, der kein joch a u f sich trägt, goth. freihals,
ahd. frihals, fries. frihals, und durch ausfall des h verdunkelt
ags. freols, altn. frials, schui. fräls, dän. frels. in den friesi-
schen geselzen auch gesondert fria hals, fria halsar, wie sich
in lat. schrißen liberum collum verwendet findet, z .b . in B er t -
hül us annalen (P er t z script. 6 , 278) von den Sachsen und
Thüringen: quod ipsi jugum subactionis grave nimis, imo
potius omnino durissimum pensantes, illud jam utpote impar
et importabile cervicibus suis, non posse prorsus libero suo
collo longius trahere, querula satis proclamatione detrectabant.
mhd., geschweige nhd., hört diese benennung auf. für die abs-
traction musten freithum und frei heit taugender scheinen, jenes Der Eintrag »Freiheit« im
hat sich im ags. freodöm, engl, freedom befestigt, auch ahd. und d e u tsc h e n Wörterbuch«
mhd. begegnen frituom, vrituom, sind aber nhd. ungebräuchlich. der Brüder Grimm.
freiheit ist uns nun der technische ausdruck geworden, ahd. friheit,
mhd. vrlheit, nnl. vrijheid, dän. frihed, und selbst ins isl. friheit n.
privilegium übergegangen.
die bedeulungen von freiheit folgen denen des adj. frei.
1) freiheit im gegensatz zu knechtschaft und Unterwürfigkeit,
was früher freihals hiesz: leibeigen magd, die nicht erlöset
ist, noch freiheit erlanget hat. S Mos. 19, 20; denn der herr
ist der geist, wo aber der geist des herrn ist, da ist freiheit
({>arei ahma fraujins, |>aruh freihals ist). 2 Cor. 3, 17; zu ver-
kundschaffen unser freiheit, die wir haben in Christo ibi-

erfasste die Materialien in Form eines Thesaurus und systematisierte sie.


Wilhelm mit seiner starken Neigung zur erzählenden Literatur kommt hin­
gegen zum großen Teil das Verdienst zu, neben der Erforschung deutscher
Fleldensagen (1829) und mittelhochdeutscher Dichtungen die Märchen
(1812-1815) in ihrer »Rohfassung« bearbeitet und für das zeitgenössische
Lesepublikum von Weitsicht, Darstellung und Bewertung, aber auch von
Sprache und Stil her, so meisterhaft aufbereitet zu haben, dass sie auch
heute noch für ein weltweit breites Publikum ein prägender Einstieg in
Leseerlebnisse, Welt- und Wirklichkeitserfahrung sind.
13

Die Frankfurter National­


versam m lung in der Pauls-
kirche: Hier stritt Jacob
Grim m für die Freiheit und
Einheit der Deutschen.

So rückwärtsgewandt oder zumindest »(wert-)konservativ« die Brüder, vom


heutigen Standpunktaus betrachtet, in ihren Werken, Werten und Idealen
zum Teil auch sein mochten, wenn sie danach trachteten, nach dem Verlust
von geschichtlicher Kontinuität durch Revolution und Säkularisation mit
dem Rückgriff auf Mythen, Märchen, germanische und indogermanische
sprachliche Vorstufen die Vergangenheit zu rekonstruieren und wiederzube­
leben, so modern erweisen sie sich doch gleichzeitig in ihrem weitreichenden
Ansatz der Wahrnehmung und Beurteilung einer komplexen Wirklichkeit
auch jenseits der unmittelbaren Gegenwart. Ihr Kernanliegen - das Bewährte,
sei es in sprachlicher, politischer, wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher
Hinsicht, für die Gegenwart zu bewahren und in einer ganzheitlichen Sicht
auf die Geschichte für den Einzelnen Einheit, Freiheit, Selbst- und Mitbe­
stimmung zu erreichen - weist die Brüder Grimm in jeder Hinsicht als
»moderne Traditionalisten« aus und damit als Pioniere nicht nur deutscher
Sprachkultur des 21. Jahrhunderts.

sie noch heute!«


14

Brüderlichkeit als Lebensform:


Jacob und W ilhelm Grimm
als moderne Traditionalisten

Im allgemeinen Bewusstsein werden die Brüder Grimm stets als


Einheit wahrgenommen. Nicht ohne Grund: Sie lebten die meiste Zeit
ihres Lebens im gemeinsamen Haushalt. Die Kinder- und Hausmär­
chen gaben sie zusammen heraus, und beide forschten wegweisend
für die deutsche Sprachgeschichte.Tatsächlich waren sie jedoch sehr
unterschiedliche Temperamente, die erst lernen mussten, mit ihren
charakterlichen Gegensätzen umzugehen und sich mit ihren Eigen­
heiten und Eigentümlichkeiten zu akzeptieren.

» denn fteßer ‘Wüfiefm, wir xvoffen uns einmaß nie trennen. . . «

Brüderliche Freiheit
Nach dem Tod seines Bruders Wilhelm verfügte Jacob Grimm testamentarisch:

Ich will und verordne unverbrüchlich, daß auf Wilhelms und meinem
Grabstein nichts anderes gesetzt werde als:
hier liegt hier liegt
Wilhelm Grimm Jacob Grimm
geb. 24. Febr. 1786 geb. 4. Jan. i 785
gest. 16. Dez. 1859 gest.
Berlin, 11. Dezember 1862 Jacob Grimm.'

Den Platz für sein eigenes Sterbedatum ließ er naturgemäß noch frei. Dass
dies nicht mehr lange so bleiben würde, darüber machte er sich keine Illu­
sionen, im Gegenteil: Fast hat es den Anschein, als verstehe er den Tod Wil­
helms als Mahnung an die eigene nur noch knapp bemessene Arbeitszeit.
Die Anweisung für den Grabstein jedenfalls wiederholte eine ähnliche
Order für das Titelblatt des deutschen Wörterbuchs<, des letzten giganti­
schen Projekts, das die Brüder Grimm gemeinsam bearbeiteten. Wilhelm

1 Schoof, Wilhelm: Die Brüder Grimm in Berlin. Berlin 1964, S. 106. Ausführliche
Hinweise auf die Forschungsliteratur in: Steffen Martus: Die Brüder Grimm.
Eine Biographie. 3. Aufl. Berlin 2010.
_^£_

Sinnbild der
Brüderlichkeit

Damals v\ie heute werden die


Brüder Grimm als unzertrenn-
liche Lebens- und Arbeitsge-
meinschaft wahrgenommen.
Tatsächlich waren die Brüder
sehr unterschiedliche I orscher-
persönlichlceiten. Selbst bei
der gemeinsamen Arbeit am
•Deutschen Wörterbuch< folgte
jeder seinen eigenen Vorlieben.
Denkmal der Bruder Grimm
in Kassel.

war darüber verstorben, und zwar exakt zu dem Zeitpunkt, als er die von
ihm übernommenen Artikel vollendet hatte.

Das >Deutsche Wörterbuch< wurde dem Publikum nicht etwa als Werk der
»Brüder Grimm« oder als Werk von »Jacob und Wilhelm Grimm« angeboten,
sondern als Werk zweier unterschiedlicher Autoren. Jacob Grimm verfügte
am 22. Januar 1852:

auf den titelzu setzen:


Deutsches Wörterbuch
von Jacob Gr. und Wilhelm Gr.

DieserTitel war Programm: Während die erste Anzeige das Lexikon noch den
»Brüdern Grimm« zugeordnet hatte, erschienen beide nun als eigenständige
Persönlichkeiten.2*Und so, wie Jacob und Wilhelm auf dem Titelblatt neben­

2 Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit den Verlegern des >Deutschen
Wörterbuchs< Karl Reimer und Salomon Hirzel. Hg. von Alan Kirkness unter Mit-
arbeit von Simon Gilmour. Stuttgart 2007, S. 71, 265.
16

einanderstanden und nicht als symbiotisches Duett auftraten, so arbeite­


ten sie auch am Wörterbuch nebeneinanderher. Jeder für sich. Jeder nach
eigenen Vorstellungen an seinem Schreibtisch. Wilhelm hielt sich nur sehr
locker an jene lexikographischen Vorgaben, die Jacob im großen Vorwort
zum ersten Band des Wörterbuchs formuliert hatte. Der Jüngere folgte
seinem eigenen Arbeitsrhythmus, seinen stilistischen Vorlieben, seinen
literarischen Neigungen. Deutlicher denn je also führte das >Deutsche Wör-
terbuch< dem Publikum vor Augen, dass es sich bei den Brüdern Grimm
keinesfalls um die siamesischen Zwillinge der Germanistik handelte. So
stand Jacob Grimm an seinem Lebensabend vor zwei großen Problemen:
Zum einen hatte er seinen Lebenspartner verloren; zum anderen stellte
sich ihm noch einmal dringlich die Frage, wie er der Öffentlichkeit dieses
eigentümlich harmonische und zugleich doch so widersprüchliche Verhält­
nis zu seinem Bruder erklären sollte.

................. ;................................................................................................... «
Ich soff hier vom hnider reden, den nun schon ein hafbes jahr fang
meine äugen nicht mehr erb ficken, der doch nachts im träum,
ohne affe ahnung seines abscheidens, immer noch neben mir ist.

Jacob (Jrimm: (Rede auj 'WifheCm Cjrimm*5

Beide Probleme verhandelte Jacob in einem der schönsten Texte, den er


jemals geschrieben hat: in der Totenrede aufseinen Bruder, die er am
5. Juli 1860 in der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt. Wie so oft
fühlte er sich vor Publikum zunächst nicht wirklich wohl, als er ans Pult trat.
Es war schon spät an diesem Sitzungstag. Der alte Mann, so berichtete
man, musste die Blätter ins Licht des Fensters halten, um seine Handschrift
zu entziffern. Das weiße Haar strahlte sanft im Dämmerlicht. Er begann
mit heiserer, leicht gebrochener Stimme. Nur langsam kam seine Rede in
Fluss.3

Was dann folgte, war eine der seltsamsten Liebeserklärungen der Akade­
miegeschichte, eine Liebeserklärung ganz eigener Art: mit vielen kritischen
Tönen, egoman, vielfach von der Person des Betrauerten abschweifend zu
grundsätzlichen Fragen der Wissenschaftstheorie. Denn Jacob hielt keine

3 So in der Erinnerung von Herman Grimm: Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l.
Hg. von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel. 2. Aufl. Berlin 1864, S. 179.
17

Rede über das traute Verhältnis zwischen gleichgesinnten Brüdern, sondern


eine Rede über die brüderliche Beziehung von zwei sehr unterschiedlichen
Forscherpersönlichkeiten: Der eine (Wilhelm) ist kränklich, der andere (Jacob)
ein harter Arbeiter; der eine neigt zu Goethe, der andere zu Schiller; der
eine plädiert für die Vielfalt von Meinungen, der andere will allein Recht
behalten; der eine führt seine Forschungen ruhig aus, den anderen beseelt
ein fast schon faustischer Entdeckerdrang; der eine ist gesellig, der andere
liebt die Einsamkeit. Man weiß, dass das so nicht stimmt: Wilhelm konnte
viel härter und unnachgiebiger seine Position vertreten als sein Bruder; und
umgekehrt war Jacob ein glänzender Unterhalter an geselligen Abenden.
Zudem hatten sich beide der Forschung verschrieben, Wilhelm bis in die
letzten Tage seines Lebens.

Jacob war offensichtlich etwas anderes viel wichtiger: Denn er verwies


darauf, dass beide Positionen »jede für sich reiz und glanz« haben.45Darin
nämlich bestehe das Geheimnis brüderlicher Beziehungen: Deren Einklang
toleriert Unterschiede. Brüder bildeten auf diese Weise die Keimzelle von
Gesellschaft überhaupt:

geschlechter haben sich zu Stämmen, Stämme zu Völkern erhoben nicht


sowol dadurch, daszaufden vater söhne und enkel in unabsehbarer reihe
folgten, als dadurch dasz brüder und bruderskinder auf der seite fest zu
dem stamm hielten.

Nicht Vater-Sohn-Verhältnisse begründen demnach die soziale Ordnung,


sondern »auf brüderschaft beruht ein volk in seiner breite«.

Brüder, so meinte Jacob, leben zusammen, gewöhnen sich aneinander und


formen so einen Zusammenhalt aus, der über fehlende Gemeinsamkeiten
hinwegträgt. Sie arrangieren sich mit der Zeit, ohne dass es einer ordnenden
Hand von außen bedarf. Zwischen ihnen bestehe nicht das Machtgefälle,
das noch im liebevollsten Verhältnis zwischen Vater und Sohn herrsche.
Brüder bleiben, »ihrer wechselseitigen liebe zum trotz, frei und unabhän­
gig, so dasz ihr urtheil kein blatt vor den mund nimmt«.5Genau auf dieser
Freiheit und Freimütigkeit bestand Jacob auch gegenüber seinem toten
Bruder und verzichtete daher in derTotenrede auf alle gesellschaftlichen

4 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l, S. 175f.


5 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l, S. 164 (Hervorhebung d. Verf.).
18

Konventionen der betulichen Rücksichtnahme. Nicht zuletzt damit erwies


er Wilhelm die größte Ehre: Dass er sich genauso gab, wie er war, und nicht
einmal dem Toten gegenüber meinte, sich verstellen zu müssen.

Den Entschluss zur Brüderlichkeit


Es war ein langer und labyrinthischer Weg, bis die Brüder Grimm so souverän
mit ihren Gegensätzen umzugehen gelernt hatten und sich wechselseitig
gerade auch in ihren Eigenheiten und Eigentümlichkeiten akzeptierten. Nach
dem frühen Tod des Vaters, der am 10. Januar 1796 mit 44 Jahren gestorben
war, hatte man den beiden eine Familienaufgabe gestellt: Nicht der Älteste,
sondern die beiden ältesten Brüder von sechs Geschwistern sollten so
schnell wie möglich die Rolle des Vaters übernehmen und die Familie ver­
sorgen. Dafür mussten sie 1798 Mutter und Geschwister verlassen, um in
Kassel das Gymnasium besuchen zu können. Hier also lebten sie erstmals
in der brüderlichen Zweisamkeit, ohne noch wissen zu können, dass diese
ihre Lebensform bestimmen würde. Die Umstände hatten sie aus dem Kreis
der Geschwister herausgelöst. Ihren Familienauftrag nahmen sie überaus
ernst. Sie durcheilten die Klassenstufen, bürdeten sich zu dem ohnehin
schon anspruchsvollen Unterricht noch Privatstunden auf. Sie arbeiteten
energisch auf die Hochschulreife zu, um von dort aus die Beamtenkarriere
einzuschlagen, die ihr Vater ihnen vorgelebt hatte.

Wilhelm überforderte dieses


ehrgeizige Programm. In Kas­
Mutter der Brüder sel begann seine Krankenge­
Dorothea Gninm schichte, die ihn zeitlebens
(geborene Zimmer, immer wieder an den Rand
geh. 1755). Nach dem des Todes führen sollte. Oft
frühen Tod ihres schwebte er in Lebensgefahr.
Mannes musste sie Dies aber bedeutete, dass
die Ausbildung der sich die Grimms genau zu
Brüder mit ihrem dem Zeitpunkt, als sie zum
schmalen Vermögen ersten Mal als Brüder aufein­
bestreiten. Den gro- ander verwiesen waren und
ßen Erfolg der Brü- ihre Brüderlichkeit ausleben
der erlebte sie nicht mussten, zu zwei sehr unter­
mehr, sie starb l£ 8 Radierung von schiedlichen Charakteren
Ludwig Eint) Gri m (1790-1863). entwickelten: Jacob war von
nun an stets der Schnellere,
19

der forscher und oftmals aggressiver und ungeduldiger zu Werk ging;


Wilhelm nahm sich Zeit, ging geruhsamer und langsamer voran, und dies
nicht nur im übertragenen Sinn: Der flinke Schritt Jacob Grimms bei seinen
Spaziergängen ist legendär.

Nach ihrer Schulzeit wurden die Brüder getrennt, weil Jacob 1802 das Jura­
studium in Marburg aufnahm, wohin der Bruder ihm erst ein Jahr später
folgte. Für das Studium der Rechtswissenschaft entschieden sich beide
nicht aus Neigung, sondern weil sie auch in diesem Fall dem Familienauf­
trag - die Beamtenlaufbahn immer fest im Blick - folgten. Gleichwohl hat
diese Entscheidung das Leben der Brüder entscheidend geprägt. Denn in
Marburg lernten sie den Rechtshistoriker Friedrich Carl von Savigny kennen.
Der blutjunge Professor führte sie erstmals zu den mittelalterlichen Quellen
und vermittelte ihnen zudem methodische Richtlinien sowie eine For­
schungshaltung, der Jacob und Wilhelm fortan treu bleiben sollten. 1804
gab Savigny seine Professorenstelle auf und reiste für rechtshistorische
Studien nach Paris. 1805 folgte ihm Jacob Grimm für einige Monate als
studentische Hilfskraft.

Universitätsstadt Marburg, Blick über die Lahn auf die Altstadt.


Radierungum 1900.

Im urbanen Milieu von Paris fühlte sich Jacob Grimm sichtlich unwohl, selbst
wenn er durchaus den bescheidenen Luxus, den Savigny ihm gönnte, genoss.
Er schreibt nach Hause: »Übrigens erhalte ich hier sehr gutes Eßen, wie ich
20

es noch nie gehabt habe. Wir sind schon einigemal zum Diner bei einem
Restaurateur (so heißen sie hier die Gastköche) gewesen, wo zwar stets auf
Silber in prächtigen Sälen servirt wird, wo es aber auch für eine Person jedes­
mal 6 Livres d.i. ein Laubthaler, kostet. Im Ganzen ist man freilich genirt,
man muß z. B. immer gut gekleidet sein.«6 In der französischen Metropole
nahm nun das brüderliche Forschungsprojekt Kontur an. Mit Wilhelms Idee,
für die >Zeitung für die elegante Welt« Berichte aus Paris zu liefern, wusste
Jacob Grimm nichts anzufangen.7 Man erfährt aus seinen Briefen wenig
über Paris, und wenn, dann kommt die Metropole nicht gut weg. Die erste
längere Stadtbeschreibung in einem Brief an Wilhelm vom 1. März 1805
erklärte eingangs kurz und bündig: »In Paris gefällt es mir weiter gar nicht
u. ich mögte nicht für lange Zeit hier wohnen.«8 Die Straßen seien schmut­
zig, krumm und eng; es gebe zu wenig öffentliche Plätze, und beim Gang
durch die Stadt denke er mit Schaudern an die Ereignisse der Französischen
Revolution.

Charakteristisch ist, wie abrupt Jacob Grimm die erste Einführung in das
Kunst- und Geistesleben von Paris beendet und zum »Projekt« einer ge­
meinsamen »Büchersammlung« mit seinem Bruder übergeht.9 Denn
während sich die Brüder über ihre Bücher austauschten, entwickelten sie
ihre einzigartige Beziehung weiter. Für Wilhelm war die Entfernung von
seinem Bruder besonders schmerzlich. Beim Weggang Jacobs meinte er,
sein Herz würde »zerreißen«.101Noch drei Wochen nach der Abreise schrieb
er an einen Freund: »Die Trennung von meinem Bruder thut mir immer
noch so weh.«11Jacob versuchte, sein »allerliebstes Wilhelmchen« zu trös­
ten, umarmte ihn in Gedanken und bat ihn, »ja nicht traurig zu sein«. In
Traumreisen kehrte er zurück. Regelmäßig kam ihm die Abschiedsszene
in den Sinn - wobei er im Traum bezeichnenderweise nicht von Wilhelm
Abschied nahm, sondern von seiner Bibliothek.12 In diesem Zusammen­
hang nun schrieb ihm Wilhelm:

6 200 Jahre Brüder Grimm. Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und
Wirkens. Hg. von Dieter Henning u. Bernhard Lauer. Kassel o. J. [1985], S. 183.
7 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel. Hg. von Heinz Rölleke. Teil 1: Text.
Stuttgart 2001, S. 42.
8 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 39.
9 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30, 42.
10 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30.
11 Briefwechsel der Brüder Grimm mit Ernst v. d. Malsburg. Hg. von Wilhelm Schoof.
In: Zeitschrift für deutsche Philologie 36 (1904), S. 173-232, S. 201.
12 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 30.
21

Ich habe daran gedacht ob du nicht in Paris einmal unter den


Manuss[kripten] nach alten deutschen Gedichten u Poesien suchen könn­
test, vielleicht fändest du etwas das merkwürdig und unbekannt.’3

In Paris also fahndeten die Grimms erstmals nach den Quellen ihrer künf­
tigen Forschung. Mehr noch: Genau hier trafen die beiden Brüder eine
Grundentscheidung. Zwar wurde diese noch mehrfach auf eine harte Probe
gestellt. Aber letztlich hielten die Grimms an ihrem Entschluss fest - als
brüderliche Gemeinschaft wollen sie unzertrennlich sein. »Ich denke«,
schrieb Jacob nach Kassel, »wenn wir auf diese Art fortfahren, (denn daß
es auf einen Plan ankommt ist gewiß wahr u. Savigny hat es schon längst
gesagt) so werden wir uns einmal hübsche Werke sammeln, es versteht
sich, daß wir in Zukunft etwas mehr dran wenden können u. immer zusam­
men vereinigt, denn lieber Wilhelm wir wollen uns einmal nie trennen [...].
Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Verein­
zeln zum Tod betrüben könnte.« Auch hier behält Jacob das eigentliche
»Projekt« der gemeinsamen Büchersammlung fest im Blick: »Doch damit
das nicht zu rührend wird«, fügt er hinzu, »will ich dir nur sagen, daß wir
uns recht um Aukzionskataloge bemühen wollen, denn ohne das ist es
unmöglich mit wenigem etwas zu leisten.«1 14
3

»Denn lieber Wilhelm wir wollen uns einmal nie trennen« - diese berühmte
Stelle aus dem Brief Jacobs vom 12. Juli 1805 wird oft zitiert. Man übersieht
dabei jedoch leicht die Verbindung zwischen dem Projekt der Brüderge­
meinschaft und dem Projekt der Buchsammlung. Beides, die Bruder- und
die Bücherliebe, steht in einem syntaktischen und gedanklichen Zusammen­
hang. Der Entschluss zur Brüderlichkeit, der Jacob und Wilhelm Grimm zu
Ikonen der deutschen Kultur gemacht hat, wird umrahmt von Überlegungen,
wie die beiden ihre Büchersucht am besten befriedigen können. Ihre Sam­
melprojekte und Forschungsvorhaben hängen sehr eng mit jener »brüder­
lichen Lebensform« zusammen, zu der sie sich in Paris über eine Entfer­
nung von mehr als 120 Stunden Kutschfahrt hinweg entschlossen hatten.

Die innere Einigkeit der Gegensätze


Im September 1805 endete Jacob Grimms Parisaufenthalt. Er kehrte nach
Kassel zurück. Nun zogen auch die Mutter und die Geschwister in die Resi­

13 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 52.


14 Grimm, )acob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 86.
22

denzstadt und begründe­


ten einen gemeinsamen
Haushalt. In Kassel ver­
brachten die Brüder Grimm
die glücklichsten Jahre
ihres Lebens - so bezeich-
neten sie einmal die Zeit ab
1815, als sie Seite an Seite
als Bibliothekare der kur­
fürstlichen Bibliothek tätig
waren, bevor sie 1829 ein
Angebot der Universität
Nach Beendigung ihrer Studien lebten und arbeiteten Göttingen annahmen und
die Brüder von 1806 bis 1830 gemeinsam in Kassel. ins benachbarte Königreich
Hier entstanden auch die Kinder- und Hausmärchen. Hannover wechselten. Am
Fotografie des historischen Stadtkerns um 1890. Anfang hatte es jedoch
einige Zeit gedauert, bis sie
ihren harmonischen Arbeitsrhythmus gefunden hatten. Das lag nicht nur
daran, dass Kassel kurz nach der Rückkehr der Grimms im Jahr 1806 von
den französischen Truppen überrannt worden war und zur Residenzstadt
des napoleonischen Modellstaats Westphalen mutierte. Auch nicht nur an
jener unruhigen Zeit der zu Ende gehenden napoleonischen Herrschaft seit
1813, die die Grimms und vor allem Jacob als Diplomat im alliierten Heer­
lager und beim Wiener Kongress aus nächster Nähe begleitete. Dass das
gemeinsame Leben sich nur sehr allmählich einspielte, geht vor allem auf
die Unterschiede zwischen Jacob und Wilhelm Grimm zurück. Dies zeigt sich
etwa an ihren leidenschaftlichen und kontroversen Debatten mit Achim
von Arnim über Vergangenheit, Kunst und Kultur und ihre Darstellung in
zeitgenössischer Dichtung.

Arnim war es auch, der den Grimms die erste Publikationsmöglichkeit anbot.
Ihre ersten Veröffentlichungen finden sich 1806 versteckt in Achim von
Arnims und Clemens Brentanos »Volkslied«-Sammlung >Des Knaben Wunder-
horn<. Darauf folgten programmatische Beiträge unter je eigenem Namen
in Arnims >Zeitung für Einsiedler und anderen Zeitschriften. Nach außen
traten Jacob und Wilhelm als gelehrtes Bollwerk auf. Aber intern knirschte
es in der Beziehung. Im Briefwechsel mit Arnim gingen die Argumente
hin und her: Jacob vertrat vehement die These, dass die Zeiten der »Natur­
poesie« ein für alle Mal vorüber seien und danach die Phase der »Kunst-
23

poesie« beginne; Wilhelm und Arnim waren sich da nicht so sicher. Jacob
hielt die Übersetzung naturpoetischer Kunstwerke in moderne Sprachen
für unmöglich; Wilhelm unternahm mit seiner Übertragung >Altdänischer
Heldenlieden genau dies. Und auch bei der Einschätzung von Arnims Roman
>Gräfin Dolores< gingen die Urteile weit auseinander.

Eine charakteristische Szene ihres Lebens spielte sich im Jahr 1809 während
Wilhelms Kuraufenthalt in Halle ab. Wilhelm möchte sein Herzleiden bei dem
Mediziner Johann Christian Reil auskurieren. Der ausführliche Briefwechsel,
den die Brüder Grimm in dieser Zeit führen, ist der Schlüssel für ihre Bezie­
hung: Hier erschreiben sie sich ihr Modell einer Lebens- und Arbeitsgemein­
schaft. Während Wilhelm den Kuraufenthalt genießt, fehlen Jacob solche
Glücksmomente in Kassel. In den Briefen wirkt er unleidlich: Seine Tätigkeit
auf Schloss Napoleonshöhe erscheint ihm als pure Zeitverschwendung. Hinzu
kommt der Ärger über seine jüngeren Geschwister Ferdinand, Carl und Lotte,
die Jacob teils für faul oder unfähig, teils für missmutig und undankbar hält.
Aber Jacobs schlechte Laune erklärt sich nicht nur dadurch, dass ihm die Ge­
schwister auf die Nerven gingen oder dass ihm das Hofzeremoniell zuwider
war. Er suchte nach seiner Position im Leben. In einer Reihe von Briefen an
Wilhelm erörterte Jacob daher seine generelle Abneigung gegen Geselligkei­
ten. Er sei nicht bereit, sich den Anforderungen eines feinen Gesellschafts­
lebens auszusetzen. Wilhelm kannte Jacob gut und wunderte sich nicht
darüber, dass die Kasseler Gesellschaften den Bruder langweilten:

»es ist aus derselben Ursache, aus welcher du nicht gern spatziren gehst,
ohne einen Zweck [...]. Du kannst für dich still studiren und arbeiten, aber
nicht für dich blos seyn, und alles nicht arbeiten macht dir Langeweile.«
Und er fügt hinzu: »Gesellschaften müßen seyn, denn meiner Meinung
nach ist der Mensch durchaus gesellig.«15

Dies war nicht die einzige grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwi­


schen Jacob und Wilhelm Grimm. Die Brüder tauschten sich wieder über den
aktuellen Literaturbetrieb aus, verhandelten die neuesten Werke Goethes,
Jean Pauls oder Ludwig Tiecks, kritisierten ihre eigenen Rezensionen oder
besprachen das Problem der Modernisierung älterer Poesie. Wilhelm musste
sich dabei von dem Älteren viel gefallen lassen: Bei seiner Wertung der mittel­
hochdeutschen Literatur liege er ebenso regelmäßig daneben wie bei der

15 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 147, 150.


24

Würdigung von Gegenwartsliteratur; die Kompetenz in musiktheoretischen


Fragen erkannte Jacob ihm schlechterdings ab; und selbst bei der Bewer­
tung von Wilhelms Gesprächspartnern in Halle mischte er sich ein und korri­
gierte den Bruder.

Zudem schlich sich ein seltsames Misstrauen in die Brüderbeziehung ein.


Richtete sich Jacobs Geselligkeitskritik letztlich gegen Wilhelms kostspie­
ligen Aufenthalt in Halle? Wilhelm unterstellte ihm dies in einem Brief:
»Es gibt nur zweierlei, gerade heraus alles zu sagen oder nichts, das erste
ist das beste, zu sagen aber daß man etwas zu sagen habe quält blos«.16

Auf diese Mischung aus Vorhaltung, Belehrung und Verdächtigung reagierte


Jacob mehr als gereizt:

wie konntest du es über dich bringen, eine solche stelle, die mich ich kann
nicht sagen wie erschrocken hat, zu schreiben, ja bis zum Schluß deines
Briefs aufzubehalten? ich habe mich in dein Herz dafür geschämt u. Gott
gebe, daß du schon vorher und nicht erst jetzo bereut, was du so übereilt,
unverständig u. lieblos schreiben mogtest.

Jacob begriff nicht, wie es Wilhelm - entgegen aller Kritik, die der Ältere
am Jüngeren übte - überhaupt möglich war, auch nur »einen Augenblick«
an ihm zu zweifeln.17

Es ist entscheidend, dass sich die brüderliche Beziehung aus solchen Kon­
flikten heraus entwickelte. Denn allmählich lernten Jacob und Wilhelm
Grimm, ihre Meinungsverschiedenheiten zu akzeptieren. Während Wilhelms
Aufenthalt in Halle legten sie die Fundamente für ein Verhältnis, das Kontro­
versen erträgt, das Abweichungen toleriert und das vor allem durch solche
Differenzen nicht einen sehr viel tiefer liegenden Konsens verdeckt: die
grundlegende Gewissheit, dass selbst gegensätzliche Meinungen nichts
an der Zuneigung und Treue, an der unbedingten Solidarität zwischen den
beiden Brüdern ändern würde. Vor Jacob und Wilhelm Grimm lag eine gewal­
tige Aufgabe, denn in den vehement geführten Streitigkeiten während
Wilhelms Reise war letztlich der Beweis zu erbringen, dass ihre wechsel­
seitige Liebe »der einzige Grund« ihres Lebens sei.18

16 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 150.


17 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 151.
18 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel, S. 111.
25

Wie also sollte sie ihre eng gelebte Brüderbeziehung auf all die Unterschiede
abstimmen, die sich zwischen ihnen zeigten? Die Brüder Grimm loteten
aus, wie weit sie gehen konnten, und arrangierten sich, ohne sich wirklich auf
eine Linie zu einigen. Jacob und Wilhelm repräsentierten zwei Seiten einer
Medaille: Während Jacob aufrichtig, freimütig und entsprechend grob agier­
te, bezog Wilhelm - nicht weniger offen - eine flexible Position. Im Lauf der
Zeit stellte er sich auf einen ausgleichenden Standpunkt und votierte für
Meinungsvielfalt bei grundsätzlicher Einigkeit. Jacob und Wilhelm entwi­
ckelten auf diese Weise zwei Lösungsmodelle für ein und dasselbe Problem.
Nicht zuletzt darin liegt ihre Modernität. Sie verbanden Eigensinn und Flexi­
bilität, unnachgiebige Härte, Offenheit und Aufrichtigkeit wider alle Regeln
des Anstands und die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen.
Nach Wilhelms Rückkehr aus Halle gingen die persönlichen Zankereien
und die Fachdebatten weiter. Sachlich waren diese Streitigkeiten oftmals
unfruchtbar. Vor allem Jacob reizte die Möglichkeiten aus, die ihm sein Bru­
der und seine Freunde für »aufrichtige« und »freimütige« Kritik anboten. Fast
könnte man meinen, er wollte die Grenzen des Zumutbaren bei seinen Dis­
kussionspartnern ausloten. Das aber würde alles zu sehr ins Spielerische
verlegen. Denn Jacobs Unnachgiebigkeit, das sahen er und Wilhelm ähn­
lich, ankerte tief in seinem Charakter. Wilhelm meinte zu Recht, Jacobs
»Irrthümer hängen so genau mit seinem Charakter zusammen, daß, jemehr

Sie übten großen Einfluss auf die Brüder Grimm aus: Der Jurist Friedrich Carl
von Savigny (1779-1861) vermittelte den Brüdern das methodische Handwerks-
zeug und führte sie in den Kreis der Heidelberger Romantiker ein, zu dem auch
Achim von Arnim (1781 -1831) und Clemens Brentano (1778-1842) gehörten
26

sich dieser zu äußern Gelegenheit hat, jene immer härter werden«. Jacob
werde in bestimmten Fragen nie mit Wilhelm übereinstimmen. Wilhelm
war sich allerdings ebenso sicher, dass Jacob »aus Treue« zu ihm »die ganze
Edda ohne Nachdenken verbrennen« würde.19

..................................... ;...............................................................................«
geschw ister aher stehen untereinander, ihrer wechselseitigen hiebe
zum trotz, f r e i u n d unabhängig, so dasz ihr urtheif kein bhatt vor
den m und nimmt.
Jacob Cjnmm: (Rede a u f M/iChehn (Jnmm

Diese Bereitschaft zum leidenschaftlichen Streit hängt wie das Vertrauen


auf die tief verankerte wechselseitige Treue gewiss mit individuellen Befind­
lichkeiten zusammen. Sie ist vielleicht auch begründet in dem typischen
Habitus von Aufsteigern, die aufeinander angewiesen sind und ihre Position
verteidigen, weil sie - wie die Grimms durch den Tod ihres Vaters - um die
Unsicherheiten des Lebens wissen. Aber muss man sich nicht gleichwohl
darüber wundern, dass sich Jacob so unbarmherzig gab? Dass Wilhelm bei
allen verbalen Ohrfeigen, die er von seinem Bruder erhielt, so fest auf Jacobs
Treue und Liebe vertraute? Und dass sich auch Freunde wie Arnim oder
Savigny so offen für die uneinsichtige Kritik Jacobs zeigten? Tatsächlich zeigt
sich darin etwas Typisches für die Epoche. Denn auf ihre je eigene Weise
glaubten alle diese Romantiker an die »innere Einigkeit der Gegensätze«,
wie Wilhelm es einmal in einem Brief an Arnim formulierte.20

Sie alle litten am Anbruch einer neuen Zeit: Politisch hatte die Französische
Revolution liebgewonnene Gewissheiten regelrecht guillotiniert; das gesel­
lige Amüsement zerstreute aus ihrer Sicht die Menschen mehr, als dass es
sie wirklich zueinander in Beziehung setzte; sie sahen gewachsene gesell­
schaftliche Strukturen zerfallen, ohne dass ein Platzhalter für die vakante
Position in Sicht gewesen wäre. Gleichwohl glaubten sie alle auch fest daran,
dass es jenseits dieser disparaten Verhältnisse eine »höhere« oder »tiefere«
Ordnung gebe, die es poetisch, philologisch oder rechtshistorisch zu erkun-

19 Steig, Reinhold: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Stuttgart/Berlin
1904, S. 80, 124f.; Steig, Reinhold: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Stutt-
gart/Berlin 1914, S. 140.
20 Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 124.
27

den gelte. Sprache, Literatur und Recht appellierten für sie gleichermaßen an
Tiefenschichten des Einzelnen wie auch der Gesellschaft - Tiefenschichten,
die die »unbewusste« Grundlage für den sozialen Zusammenhalt bildeten:
Gefühlsgewissheit und Gefühlssicherheit, voraussetzungsloses Vertrauen
und nicht hinterfragbare Gemeinsamkeiten garantierten letztlich das fried­
liche Miteinander und ermöglichten deswegen den produktiven Streit.

F o rsc h u n g a u s dem G e is t d e r B rü d e rlic h k e it


In diesem Glauben an die »innere Einigkeit der Gegensätze« verbarg sich das
Lebensprinzip der Brüder Grimm. Danach richteten sie sich in der Familie,
in der Politik und in der Wissenschaft. So hatte für sie etwa jede Poesie über
alle Unterschiede hinweg Teil an einem göttlichen Ursprung, der sich in den
Kunstwerken historisch und national auf je eigene Weise manifestiert. Die
Literatur- und die Sprachgeschichte zeigte den Grimms mithin zwei Gesich­
ter: Zum einen zehrte sie von einer vorgeschichtlichen Einheit, einer gemein­
samen Herkunft; zum anderen zerfiel sie in mannigfaltige Erscheinungen.
Wie in dieser Mannigfaltigkeit die Einheit bewahrt werden kann, das war
eines der großen intellektuellen Probleme der Zeit. Findet sich die Einheit
im Ich, wie die Philosophen meinten? Im Kunstwerk oder im Genie, wie die
Künstler und Kunsttheoretiker vermuteten? Oder in der Nation, wie Politiker
behaupteten?

Die ungeheure Energie, mit der die Grimms sich an ihre Editions- und Sam­
melprojekte machten, zeigt jedenfalls, wie wichtig es ihnen war, sich auf
die Spur dieser verlorenen Einheit zu begeben, die noch greifbaren Reste
zu bewahren, bevor auch diese von der unbarmherzigen Dynamik der
Modernisierung aller Lebensverhältnisse vernichtet würden. So war selbst
ihre später so berühmte Märchensammlung anfangs als Teil einer Literatur­
geschichte gedacht, die nach dem Muster der romantischen Mythologie­
forschung ein internationales Netzwerk von Motiven und Themen erforscht.
In einer gemeinsam verfassten Rezension, die 1809 in den >Heidelbergischen
Jahrbüchern< erscheint, erklärten Jacob und Wilhelm programmatisch:
»Die geschichte der alten poesie soll nichts anders Vorhaben, als die verschie­
dene gestalt zu erläutern und zu beschreiben, worin die sage erschienen ist,
und sie so weit als möglich auf ihren Ursprung zurückzuführen.«21 Bei aller
Faszination durch die Vergangenheit war dieses Interesse ganz und gar vom
Geist der Moderne geprägt. Entsagungsvoll widmeten die Grimms ihre

21 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.4, S. 27.


28

Aufmerksamkeit dem scheinbar Unbedeutenden; zumal Jacob Grimm war


stets dazu bereit, seine Ergebnisse immer wieder zu revidieren; und beide
ließen sich nicht davon irritieren, dass man ihren Forschungen oftmals mit
Unverständnis gegenüberstand. Ihr Blick richtete sich in die Vergangenheit,
ihre Haltung gehörte ganz der Gegenwart. Die Brüder entwickelten sich zu

; ; «
zwei modernen Traditionalisten.

.................................................................. ................... .............................


dasz jed er seine eige nthümfichheit wahren u n d walten Cassen sollte,
hatte sich immer von selbst verstanden, w irglaubten solche besonder-
heiten würden sich zusammenßigen u n d ein ganzes bilden gönnen.
Jacob (Jnmrn: (Rjjde a u f ‘WdheCm (Jrimm

Die »innere Einigkeit der Gegensätze« hält für Jacob und Wilhelm Grimm
letztlich alles zusammen. Dieses Prinzip dirigiert das Verhalten der Brüder
Grimm gegenüber dem Forschungsgegenstand genauso wie gegenüber
Freunden oder Familienangehörigen: Jenseits aller Differenzen gibt es für
sie eine Bindungskraft, die jeden Streit und alle Uneinigkeit übersteigt.
Zwar polemisiere Jacob viel gegen Wilhelm, bekannte dieser gegenüber
Arnim, »welches aber nichts thut, da [...] wir uns doch darum kein Bischen
weniger liebhaben [,..]« .22 Eines also wird den Brüdern Grimm im Lauf
ihrer Streit-Gemeinschaft klar: Sie mögen unterschiedlicher Meinung sein
und gegeneinander polemisieren, das Recht auf eine eigene Meinung
aber gestehen sie sich zu. In den »Hauptsachen«, so Wilhelm, seien sie sich
nämlich einig: »in der Liebe zu einander, in der Liebe zum Studium und
in der Liebe zu dem Herrlichsten in den alten Denkmälern [,..]« .23 Das
Prinzip der Brüderlichkeit war die Basis ihrer Zusammenarbeit jenseits aller
Kontroversen, und auf dieser Grundlage lernten sie, Unzulänglichkeiten
zu akzeptieren.

In den Jahren nach den ersten intensiven Auseinandersetzungen zwischen


den Grimms steckte diese brüderliche Arbeitsgemeinschaft weiter ihr Feld ab,
und dabei durfte ihr niemand in die Quere kommen. Die polemische Energie
im Innern der Brüderbeziehung strahlte nach außen ab. Zu den Streitschriften
dieser Zeit gehört auch das erste Buch des nunmehr sechsundzwanzigjähri-

22 Steig: Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, S. 121.
23 Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Aus dem Savignyschen Nachlaß hg. in
Verbindung mit Ingeborg Schnack von Wilhelm Schoof. Berlin 1953, S. 100.
29

gen Jacob Grimm: >Überden altdeutschen Meistergesang< (1811), in dem


er einige Kontroversen aus seinen publizistischen Anfängen fortführte.
Letztlich ging es Jacob wieder einmal um den prinzipiellen Unterschied von
Natur- und Kunstpoesie, über den ja auch mit seinem Bruder kein wirklicher
Konsens herrschte. Diesmal entwickelte Jacob das Thema am Beispiel des
Verhältnisses von Minneliedern und Meistersang. Für viele Philologen in
seinem Umfeld hatten die beiden Gattungen nichts miteinanderzu tun.
Jacob aber beharrte entgegen aller augenscheinlichen Unterschiede erneut
auf einer untergründigen Gemeinsamkeit.

Letztlich ging es auch in diesem Buch um ein grundlegendes philosophi­


sches Problem: Dass die ursprüngliche Einheit zerfallen war und nur noch
in Überresten, in halb verwischten Spuren und Andeutungen fortwirkte.
Das dreiblättrige Kleeblatt derTitelvignette, das Jacob Grimm selbst entwor­
fen und gezeichnet hatte, sollte daher das Verhältnis von »Mannichfaltigkeit«
und »Identität« im Verhältnis von Minne- und Meistersang illustrieren. Das
war nur indes ein Beispiel für ein die ganze Welt durchwirkendes Prinzip.
Daher reflektierte Jacob auf versteckte Weise in seinem Buch die Verhält­
nisse im Kasseler Haushalt, die ja von dauernden Reibereien zwischen den
Geschwistern geprägt waren. Die Widmung lautet: »Meinen zwei lieben
Brüdern Wilhelm und Ferdinand Grimm zugeeignet ausTreue, Liebe und
Einigkeit«. Auch hier also war die »innere Einheit der Gegensätze am Werk«:
in der Familie (Jacob, Wilhelm und Ferdinand), in der Poesie (Minne- und
Meistersang) und in der Natur (die Blätter der Pflanze).

Es lag für Jacob offenbar nahe, Natur- und Literaturgeschichte mit familiären
Verhältnissen zu assoziieren. Und nicht nur das: Als dritten Gegenstands­
bereich kam er in der Vorrede, vorbereitet durch Titelvignette und Widmung,
auf die Politik zu sprechen und formulierte sein Glaubensbekenntnis einer
politischen Romantik: Die bindende Kraft einer Gesellschaft sei die »Liebe«,
»so wie der Staat einzig und allein in dem Worte: Vaterland, verstanden wird,
und wie ohne die Einheit der bis zum Tod bereiten Herzen alles Recht und
alle Sicherheit eine elende Verrichtung bleibt, so stirbt alle Verbindung oder
hat nie gelebt ohne jenen befruchtenden Thau«. Das klingt beinahe martia­
lisch. Und tatsächlich zeigten sich Jacob und Wilhelm Grimm immer wieder
überraschend gewaltbereit, wenn es um die Durchsetzung ihres grund­
legenden politischen Ziels ging: die Herstellung der »Einheit und Einigkeit
Deutschlands«. Dieser Vision folgten sie während der Befreiungskriege und
während des Wiener Kongresses - Jacob Grimm war als Diplomat in beide
30

Ereignisse unmittelbar eingebunden. Die Einheitsphantasie leitete sie wäh­


rend der Julirevolution, beim Protest der »Göttinger Sieben« und auch bei
ihrer Einschätzung der »Revolution« von 1848, deren Folgen Jacob Grimm
als Mitglied des Paulskirchenparlaments politisch verarbeitete.

Politische Verhältnisse, Familienbeziehungen und Naturphänomene also


variierten für Jacob Grimm auf romantische Weise gemeinsame Prinzipien.
Und dies galt eben auch für die Wissenschaft. Genauso wie ihn faszinierte
Wilhelm vor allem die weit entfernte Vergangenheit. Davon allerdings darf
man sich - wie gesagt - nicht täuschen lassen: Entscheidend ist die Art und
Weise, wie sie mit den Quellen umgingen. Ihre wissenschaftliche Flaltung
und ihr Forschungsethos waren ganz und gar nicht rückwärtsgewandt.
Jacob Grimms Meistersang-Studie zeigt, was es bedeutete, ein eminent
modernerTraditionalist zu sein, denn im Namen des Alten erhob er einen
radikalen Innovationsanspruch. Er untersuchte zudem mit dem Meistersang
einen Gegenstand, der für viele Literaturkritiker um 1800 als ausgemacht
langweilig galt, und demonstrierte damit, dass er sich auch trockenen
Themen mit wissenschaftlicher Akribie zu widmen verstand. Und er be­
wies die Bereitschaft zur unaufhörlichen Selbstverbesserung - dies sind die
Kernelemente nicht allein von Jacob Grimms, sondern auch von Wilhelms
Forschungsmentalität. Das Buch endet folgerichtig nicht mit dem Kapitel
»Zusammengenommenes Resultat«, sondern mit der Rubrik »Berichtigun­
gen und Zusätze« und antwortet anschließend auf einen soeben erschie­
nenen Forschungsbeitrag.

Auch die wissenschaftlichen Marketingstrategien waren typisch für die


Modernität der Brüder Grimm und hatten so gar nichts mit der Gemütlich­
keit von zwei Märchenonkeln zu tun. Nach Erscheinen des Bändchens
begann Jacob eine Kampagne: Für die Besprechung in den >Göttingischen
Gelehrten Anzeigern gewann er mit einer gewissen Hartnäckigkeit den
befreundeten Göttinger Philologen Georg Friedrich Benecke, dessen
>Beyträge zur Kenntniss der altdeutschen Sprache und Litteratur< er gerade
in den >Heidelbergischen Jahrbüchern< gelobt hatte. Dort wiederum be­
sprach jetzt Görres, dessen Mythenforschung die Grimms vielfach positiv
erwähnten, Jacobs Buch. Zudem versuchte Jacob Grimm einige Selbstrezen­
sionen zu platzieren, was die zuständigen Redakteure jedoch als unschick­
lich ablehnten. Ihn störte dies wenig: Er brachte seinen Artikel schließlich
in der >Neuen Leipziger Literaturzeitung< unter. Die Grimms wussten durch­
aus, wie man sich im Medienbetrieb durchsetzt.
31

So märchenhaft also auch die Aura sein mag, die das Markenlabel »Brüder
Grimm« umgibt, die Arbeitsformen und Darstellungsweisen von Jacob und
Wilhelm Grimm waren auf je eigene Weise radikal modern: Ihre Unnachgie­
bigkeit in Sachlagen kannte keinen Respekt vor verbürgten und etablierten
Autoritäten, auch nicht vor der Autorität des jeweils anderen Bruders. Radi­
kal bewahrten sie so die Sprache und deren Geschichte, die Mythen, Mär­
chen und Sagen. Sie wollten die Vergangenheit bewahren, und genau mit
ihrer innovativen Leidenschaft für die Geschichte waren sie unbedingte
Zeitgenossen. Die beiden freundlichen Herren, die unsere >Kinder- und
Hausmärchen< aufgezeichnet haben, die emsigen Erforscher von Grammatik,
Recht, Mythologie und Poesie, die Bewahrer unseres Sprachschatzes im
deutschen Wörterbuch«, deren Porträt auf dem 10OO-D-Mark-Schein abge­
bildet war - diese beiden eigensinnigen und eigentümlichen Persönlich­
keiten gehörten jener Zeit gewiss nicht mehr an, in der das Wünschen noch
geholfen hat.

Als daher Jacob Grimm an


seinem Lebensabend in der
Rede auf den toten Wilhelm
grundsätzlich über Brüder­
lichkeit als Lebensform
räsonierte und die Ergeb­
nisse präsentierte, die ihm
eine lebenslange Erfahrung
zugetragen hatte, da for­ Die Brüder Grimm auf dem 1000-DM-Schein
mulierte er gezielt Ideale
moderner Wissenschaftlichkeit: die Toleranz gegenüber Meinungsverschie­
denheiten; die Flexibilität im Umgang mit der Zeitlichkeit des Wissens und
ein gemeinsames Ethos - bei aller Flexibilität und Wandlungsfähigkeit, bei
aller Offenheit für abweichende Positionen und bei aller Streitbereitschaft
gilt es, nicht zu vergessen, dass ein unbedingtes Bemühen um die Wahrheit
alle diese Unternehmungen trug, so vorläufig die Ergebnisse der Erkenntnis­
arbeit auch immer sein mochten. Was sich in der Rede auf Wilhelm Grimm
»beispielsweise an einem brüderpaar erzeigt«, so meinte Jacob, dies könne
»höhere anwendung auf den betrieb der Wissenschaften insgemein leiden«,
und zwar auf Wissenschaften, die eines demonstrieren: »ein endloses, kein
nahes ziel, sondern das fernste in die äugen fassendes bestreben«.24

24 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1, S.175.


Facebook m it Feder und Tinte -
die sozialen Netzwerke
der Brüder Grim m

Die Brüder Grimm waren bienenfleißige Gelehrte. Aber ohne


die vielen Gleichgesinnten und Verbündeten, die sie bei ihrer
Arbeit unterstützten, wäre ihr gigantisches Lebenswerk kaum
denkbar. Über 20.000 erhaltene Briefe aus ihrer Korrespon­
denz mit Familienangehörigen, Freunden, Gelehrten und Politi­
kern zeigen vor allem eines: Die Brüder Grimm waren nicht
nur herausragende Wissenschaftler, sie waren auch geniale
Netzwerken

Das wichtigste Netzwerk für die Brüder Grimm war die Familie. Durch den
sehr frühen Tod des Vaters (1796) und den unerwarteten Tod der Mutter
(1808) waren die sechs Geschwister auf gegenseitige Unterstützung und
Zusammenhalt angewiesen. Jacob fühlte sich als Familienoberhaupt ver­
antwortlich für die jüngeren Geschwister, und so opferte er seine Zeit, die
er viel lieber mit Forschungen verbracht hätte, immer wieder dem Brotberuf.
Dies ging so weit, dass Jacob auch nach Wilhelms Hochzeit mit im Haushalt
bei dessen Familie wohnen blieb. Selbst die Briefe, die Jacob an seinen
Bruder schrieb, waren an dessen Frau Dorothea adressiert, die sie dann im
Familienkreis vorlas.

Lassen Sie uns afsofreundschaftfich privatim


einander helfen.
Ja co b (Jrimm an K a rl Lachmann

»
Netzwerke in Notlagen
Familiäre, freundschaftliche oder wissenschaftliche Netzwerke waren immer
verfügbar und funktionierten, wenn die Brüder Grimm in existenzielle Not­
lagen gerieten. Nach dem Tod des Vaters half die Schwester der Mutter,
Henriette Philippine Zimmer, die als Hofdame bei der Kurfürstin Caroline
von Hessen in Kassel lebte. Ihrer Unterstützung verdankten Jacob und Wil­
helm eine angemessene Schulbildung. Ihre freundschaftliche Verbindung
zum kurfürstlichen Hof mag wesentlich dafür verantwortlich sein, dass Jacob
auch ohne Universitätsabschluss eine Stelle beim Kasseler Kriegskolleg
erhalten konnte. Als diese Stelle kurze Zeit später durch die Errichtung des
Königreichs Westphalen aufgehoben wurde, vermittelte Achim von Arnim
eine Anstellung Jacobs zum Privatbibliothekar des Königs Jeröme.1Als die
Kasseler Verhältnisse für die Brüder Grimm unerträglich wurden, war der
Mitforscher und langjährige Korrespondenzpartner Benecke aus Göttingen
zur Stelle und vermittelte die Berufung beider Brüder an seine Universität.
Und auch der Ruf nach Berlin wurde durch den Zuspruch ihres Lehrers Savigny
und - noch leidenschaftlicher - von Bettina von Arnim vorangetrieben.

Ein Netzwerk von Romantikern


Ein für die Brüder Grimm sehr wichtiges Netzwerk entstand in Marburg, wo
sie durch ihren akademischen Lehrer und Freund Friedrich Carl von Savigny
mit dem Kreis der Heidelberger Romantiker, Achim von Arnim, Clemens und
Bettina Brentano, bekannt wurden. Durch die Wertschätzung von Volksüber-



Persönliches Umfeld
Wissenschaft
Das Netzwerk
der Bruder Grimm
Politik
Romantiker

Achim von Arnim Dorothea viehmann

Brüder Grimm

Friedrich Christoph Dahlmann1 Karl Lachmann

1 Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hg. v. lngeborg Schnack und Wilhelm Schoof.
Berlin/Bielefeld 1953, S. 36.
34

lieferungen und die Sammlung solcher poetischer Formen in diesem Kreis


erhielten die Brüder Grimm die entscheidenden Impulse für ihre Sammlungs­
tätigkeit, ohne die die Herausgabe der >Kinder- und Hausmärchen< überhaupt
nicht denkbar gewesen wäre. In Kassel organisierten die Brüder eine Lese­
gesellschaft, an der neben befreundeten Familien auch einige Märchen-
beiträger teilnahmen: die Schwestern Wild, die Hassenpflugs oder die
Schwestern Ramus, die Töchter des Predigers der französischen Gemeinde,
die den Kontakt zur »Märchenfrau« Dorothea Viehmann herstellten. In diesen
Freundeskreisen kam es auch zu familiären Verbindungen: Lotte heiratete
Ludwig Hassenpflug, Wilhelm Dortchen Wild.

Politische Netzwerke
Die Netzwerke der Grimms beruhten zum großen Teil auf persönlichem Um­
gang oder brieflichem Kontakt mit Freunden, Verwandten oder Kollegen.
Doch diese vermeintlich kleinen Zirkel hatten nicht nur eine private Seite:
In einer Zeit, in der es noch keine politischen Parteien gab, in der öffentliche
Äußerungen in der Presse oder Vereinsaktivitäten von Zensur und staatlicher
Repression bedroht waren, konnte aus solchen vertraulichen, informellen
Zirkeln liberaler Bürger heraus eine äußerst wirksame Gegenöffentlichkeit
entstehen.

Die berühmten »Göttinger Sieben«, die sich 1837 gegen den offenen Ver­
fassungsbruch König Ernst Augusts von Hannover wandten, waren im Kern
ein Freundeskreis, bestehend aus dem Historiker und Politikwissenschaftler
Friedrich Christoph Dahlmann, den Brüdern Grimm und dem Literaturwissen-
schaftler Gottfried Gervinus. Die Protestaktion der Gelehrten stieß überra­
schend schnell weitere Aktionen anderer Netzwerke an. Das Protestations­
schreiben, das Gervinus einem befreundeten Gelehrten überlassen hatte,
wurde binnen weniger Stunden von Studenten kopiert, kursierte Tage später
in Tausenden Abschriften in allen deutschen Ländern und sogar im Ausland
und erreichte auf diese Weise eine enorme Breitenwirkung und Presseöffent­
lichkeit, auch für das politische Engagement der Brüder Grimm.

Ein Netzwerk von Wissenschaftlern


Nach politisch und beruflich bewegten Jahren folgte 1815 eine ruhigere
Phase im Leben der Brüder Grimm, in der sie als kurfürstliche Bibliothekare
viel Zeit auf ihre Forschungen verwenden konnten. Es ist auch die Zeit, in
der sie ausgedehnte Korrespondenzen mit Fachkollegen pflegten, die bei
Jacob alle anderen Kontakte zurückdrängten. Seine Briefe sind »Arbeiten,
35

International vernetzt: Die erste Purrr PartßtrA


Auszeichnung, die Jacob Grim m
erhielt, war die Ernennung zum
Ritter der Französischen Ehren­ ut h ™__ ;f _ _ öV ... r)tt .■ '‘i r J iiT n Q j) t ü <i f.
(io J r ü X -tauv/ ’ß rrQ iJf’q ifrf' ^ W
legion. In dem Schreiben sucht
GVuaPcJ/, ftX / «a 4 u Ü JnÄrv^i,. da£t, &,
Jacob Grimm um die Erlaubnis & fowr
CjAktK. -IMV'I n u id v .y
nach, den Orden auch in Preu­ Ou«, nißt)*. 3/u 4^/sL,, y
ßen tragen zu dürfen. O r iä A i.e u L S « « -^ c)u/-|tu^c I d
f l .
rxuo

Fragen und Antworten auf das, £:<r«/


was man unmittelbar studiert«2,
die er beispielsweise mit Georg
Friedrich Benecke in Göttingen,
Karl Lachmann in Königsberg 32 Tncu
oder Karl Hartwig Gregor von
Meusebach in Berlin austauschte. Um alte oder seltene Handschriften zu
erlangen, verkehrten die Brüder Grimm brieflich auch mit dem etwas frag­
würdigen Ferdinand Glöckle, der privilegierten Zugang zu den vatikanischen
Handschriften hatte, welche ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Im
Gegenzug war Jacob denn auch bereit, sein Wissen preiszugeben und auf
Fragen zu antworten, die von bekannten, aber auch von fremden Forschern
an ihn herangetragen wurden.

Das Meisterstück eines funktionierenden Netzwerks von Beiträgern gelang


Jacob Grimm, als er die Exzerpierung der literarischen Werke für das d e u t­
sche Wörterbuch< organisierte. Über 80 Mitarbeiter, die die Brüder Grimm
mit der Erstellung von Wort- und Textsammlungen »beauftragt hatten,
oder die [diese] von freien stücken und nach eigner wähl anboten«3, trugen
600.000 Belegstellen und Auszüge aus Büchern zusammen. Damit hatten
die Grimms eine Materialgrundlage für das umfangreichste Wörterbuch
der Welt geschaffen.

Mit ihren zahlreichen Kontakten und Verbindungen auf den verschiedensten


Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen hatten sie außerdem eines
der umfangreichsten wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen
Netzwerke ihrer Zeit hervorgebracht, das der großflächigen modernen Infor-
mations- und Wissensvernetzung in wenigem nachsteht.

2 Briefe der Brüder Grimm an Savigny, S. 296.


3 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 1. Bd. Leipzig: Hirzel, 1854,
Sp. LXV1.
36

A u f der Suche nach dem Ursprung


der deutschen Sprache -
>Die deutsche Grammatik< von Jacob Grimm

Es kann als ein Glücksfall gelten, dass zu dem Zeitpunkt, als Jacob Grimm
sich mit den Schriftquellen zu den germanischen Sprachen beschäftigte,
die Sprachwissenschaft im Aufbruch begriffen war. Die Erkenntnis, dass
durch den Vergleich der einzelnen Lautentwicklungen grundlegende
sprachliche Verwandtschaften und Veränderungen aufgedeckt werden
können, wurde zur Basis für die mehrbändige >Deutsche Grammatil«, in
der Jacob Grimm die germanischen Sprachen systematisch vergleichend
darstellte. Sein damals formuliertes Lautgesetz zur ersten Lautver­
schiebung, das im angloamerikanischen Sprachraum noch heute als
»Grimms Law« bezeichnet wird,gehört nach wie vor zum Handwerks­
zeug angehender Germanisten.

»ßlfe diese Sprachen u n d (Diafe({te des großen germanischen Stammes setzte


sich Jacob Qrimm vor, in seiner Qrammatifc^zu umspannen.«
WiChefm Scherer

Jacob Grimm gilt, anders als sein Bruder Wilhelm, der stärker der Literatur­
wissenschaft zugeneigt war, als einer der Gründerväter der deutschen
Sprachwissenschaft. Neben dem gemeinsam mit Wilhelm begründeten und
bearbeiteten deutschen Wörterbuch« legte er eine Reihe von eigenständi­
gen linguistischen Veröffentlichungen vor, von denen zwei von besonderer
Bedeutung sind: die vierbändige >Deutsche Grammatik« (1819-37) und die
zweibändige >Geschichte der deutschen Sprache« (1848). Bei beiden Werken
ist der Titel aus heutiger Sicht irreführend, denn »deutsch« bezog sich in
der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur auf die deutsche Sprache im heu­
tigen Sinne, sondern bezeichnete auch die germanischen Sprachen in ihrer
Gesamtheit. Auf eine klare Unterscheidung zwischen der engeren und der
weiteren Bedeutung von »deutsch« wurde üblicherweise verzichtet.

Friedrich Schlegel hatte als einer der Ersten den Zusammenhang des Sanskrit
mit den meisten europäischen Sprachen erkannt (1808) und befeuerte damit
maßgeblich die Suche nach der Ursprache. Diese Suche ist im 19. Jahrhundert
nicht mehr religiös oder sprachphilosophisch motiviert, sondern beruht auf
systematischen Vergleichen. Franz Bopp bündelt 1816 die Erkenntnisse und
37

inspiriert damit weitere Forschungen. Jacob Grimm, der seinerseits ursprüng­


lich die Vorstellung von Lautgesetzmäßigkeiten abgelehnt hatte, erkennt
durch seine eigenen Forschungen die Berechtigung dieser Ansätze. Er schreibt
seine »deutsche« Grammatik aus der Sicht des historisch-vergleichenden
Sprachwissenschaftlers, und auch in der >Geschichte der deutschen Sprache<
steht die Frage nach den Wurzeln im Vordergrund: so sehr, dass Grimm pri­
mär Vorgeschichte behandelt. Die Darstellung endet - mit Ausnahme etwa
der Flexion, die er bis ins Neuhochdeutsche verfolgt - dort, wo aus heutiger
Sicht das Deutsche beginnt: beim Althochdeutschen in der Mitte des 8. Jahr­
hunderts.

In einer Zeit, in der die Deutschen ihre nationale Einheit noch nicht er­
reicht hatten und in zahlreiche Klein- und Kleinststaaten geteilt waren,
erfüllt eine derartige Sicht auf die Sprache auch eine ideologische Funk­
tion: Indem Grimm der nicht vorhandenen politischen Einigung eine -
fiktive - sprachliche Einheit unterlegte und diese bis in graue Vorzeit zurück­
datierte, ließ sich argumentieren, dass »die Deutschen« immer schon
eine große (Sprach-)Familie gewesen seien; der Zustand der staatlichen
Zersplitterung wurde so als unnatürlich und auf landesfürstlicher Willkür
beruhend angesehen.

Sir William Jones (1746-1794)

Ähnlich wie )acob Grimm war Sir William


)ones studierter Jurist. Als Schüler und Stu-
dent batte er sich intensiv mit dem Persischen,
Arabischen und Hebräischen beschäftigt.
Während eines Aufenthaltes in Indien, wo er
als Kolonialrichter wirkte, studierte er das alt-
indische Sanskrit, ln einem Vortrag vor der
Royal Asiatic Society 1786 in Kalkutta sprach
Jones die berühmte Hypothese aus: Sanskrit,
Persisch, Griechisch, Latein sowie die germa-
nischen und keltischen Sprachen stammten
alle von einer gemeinsamen Ursprache ab,
die verloren sei.
38

Jacob Grimm gehört aufgrund seiner Lebenszeit und seiner persönlichen


Kontakte1 in den Umkreis der deutschen Romantik. Auch wenn er sich
in etlichen seiner Positionen, etwa zur Bearbeitung der Märchen durch
Clemens Brentano, grundlegend von Ansichten der Romantiker abhebt,
finden sich viele Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, insbesondere
bei der Art zu denken. Es sei »gleich tödtlich für den Geist, ein System zu
haben, und keins zu haben«, hatte der Mitbegründer der Romantik, Friedrich
Schlegel, bereits 1798 behauptet und daraus den paradoxen Schluss gezo­
gen: »Er wird sich also wohl entschließen müssen, beydes zu verbinden.«*2
Ebendies tat Jacob Grimm. Ein sprachwissenschaftliches System, ein großes
logisches Gedankengebäude, in dem jede Einheit, jedes sprachliche Phäno­
men seinen Platz findet, war seine Sache nicht. Die >Deutsche Grammatik
ist kein durchkomponiertes Ganzes, sondern sie entstand fortlaufend wie
eine Erzählung - und sobald er
genügend Text für einen Bogen,
16 Seiten, beisammen hatte,
Friedrich Schlegel schickte er den Abschnitt zum
(1772-1829) Drucker. Das Buch wurde also
Der jüngere der bei- nicht erst geschrieben und dann
den Schlegel-Brüder gedruckt, sondern beides geschah
studierte nach einer fast zeitgleich - und dass auf die­
Kaufmannslehre Iura. se Weise bei einem Werk von an­
Philosophie, Altphilo- nähernd 3500 Seiten am Anfang
logie und Kunstge- nicht das Ende überblickt werden
schichte. Während kann, liegt auf der Hand. Entspre­
eines Parisaufenthaltes 1802-04 forschte er chend weist jeder der vier Bände
über Sanskrit und orientalische Sprachen. eine Reihe von Nachträgen auf:
Seine Studien veröffentlichte er 1808 in sei Ergänzungen und Korrekturen, die
nein vielbeachteten Buch -Über die Sprache der Autor erst anbrachte, nachdem
und Weisheit der Indier«. die entsprechenden Passagen
schon gedruckt worden waren.

Allerdings fundierte Jacob Grimm seine Arbeiten zur Sprachgeschichte durch


eine nie zuvor dagewesene Kenntnis der Quellen - auch die >Deutsche
Grammatik ist eine historische Grammatik, die unterschiedliche Sprachzu-

1 Durch sein Geburtsjahr 1785 zählt Jacob Grimm zur zweiten Romantikergeneration
in Deutschland; sein Lehrer Friedrich Carl von Savigny war der Schwager Clemens
Brentanos, mit Brentano und Achim von Arnim war Grimm befreundet.
2 Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Athenaeum. Berlin 1798, S. 3-146, S. 15.
39

stände hintereinanderstellt. So war er imstande, Zusammenhänge zu sehen,


die vor ihm allenfalls ansatzweise erkannt worden waren. Die Sprachwissen­
schaft hatte zwar seit dem späten 18. Jahrhundert durch die Entdeckung der
indoeuropäischen (indogermanischen) Sprachverwandtschaftsverhältnisse
enorme Fortschritte gemacht, einen linguistischen Quantensprung, der mit
dem Namen Sir William Jones (1746-1794) verknüpft ist. Jones war britischer
Kolonialrichter in Indien und erlernte in seinen Mußestunden Sanskrit, die
altindische Literatursprache. Diese Sprache, schreibt er, sei

von wundervollem Bau; vollkommener als das Griechische, wortreicher als


das Lateinische und kunstreicher entwickelt als beide, gleichwohl beiden
weit ähnlicher als es durch Zufall hätte zustande gebracht werden können.3

Die Entstehung der vergleichenden Sprachwissenschaft, die freilich nicht


allein auf die Erkenntnisse der Sanskrit-Philologie zurückzuführen ist4, traf in
Deutschland zusammen mit einer Welle der Beschäftigung mit der eigenen
Vergangenheit und verstärkte diese. Das (kultur)historische Interesse hatte
schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Autoren wie Bodmer, Brei-
tinger, Klopstock und Herder zum Studium älterer deutscher oder überhaupt
zur germanischen Sprachfamilie gehörender Literatur, zu Editionen und
literarischen Bearbeitungen gebracht - Arbeiten, die ihre Wirkung auf die fol­
gende Generation, die der deutschen Frühromantik, nicht verfehlten. Durch
deren Beschäftigung mit dem Mittelalter erhielt dann die »aufkeimende
Germanistik ihre Impulse«.5 Ludwig Tiecks Edition der >Minnelieder aus dem
Schwäbischen Zeitalter« (1803), die auf Johann Jacob Bodmers >Sammlung
von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte« (1758-59) zurückgeht,
hat »den wirklichen Durchbruch der Mittelalterrezeption erzielt«6, und August
Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst«
(1801-04) können nicht nur als eine Geburtsstunde der historisch-verglei­
chenden Literaturwissenschaft, sondern auch als eine der ersten Sternstunden

3 »of a wonderful structure; more perfect than the Greek, more copious than the Latin,
and more exquisitely refined than either, yet bearing to both of them a stronger affinity
[...] than could possibly have been produced by accident«. Zitiert nach: William Jones.
Discourses Delivered at the Asiatick Society 1785-1792. O. O. 1993, S. 24-46, S. 34.
4 Gipper, Helmut/Peter Schmitter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeit-
alter der Romantik. Tübingen 21985, S. 18f.
5 Schmidt, Ronald Michael: Das neunzehnte Jahrhundert - wissenschaftliche Textaus-
gaben. In: Elmar Mittler (Hg.): Codex Manesse: Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni
bis 4. September 1988. Heidelberg [1988], S. 388-395, S. 389.
6 Schmidt, Ronald Michael: Das neunzehnte Jahrhundert, S. 389.
40

der deutschen Philologie gelten. In einer 1803 erschienenen Rezension


hatte der ältere der Schlegel-Brüder erstmals von einer »vergleichende[n]
Grammatik« gesprochen, »eine[r] Zusammenstellung der Sprachen nach
ihren gemeinschaftlichen und unterscheidenden Zügen«.7 Man müsse

das Griechische und Lateinische; [...] das Deutsche, Dänische, Schwedische


und Holländische; [...] das Provenzalische, Französische, Italiänische, Spa­
nische, Portugiesische; dann das in der Mitte liegende Englische; endlich
wieder alle zusammen als eine gemeinschaftliche Sprachfamilie nach gram­
matischen Uebereinstimmungen und Abweichungen und deren innerm
Zusammenhänge vergleichen. Eben so die orientalischen erst unter sich,
hernach mit den occidentalischen.8

Sein Bruder Friedrich übernimmt die Formulierung »vergleichende Gram­


matik« und macht sie 1808 in seinem vielbeachteten Buch >Über die Sprache
und Weisheit der Indien publik. Seine Begabung, intuitiv sprachhistorische
Zusammenhänge zu erkennen, führt ihn bereits 1805 zu der Beobachtung,
dass das lateinische c (gesprochen: k) »sehr oft d[em] Deutsch[en] h [...] ent­
spricht«.9Allerdings konnte Schlegel dies aufgrund unzureichender Material-

Die Laut­ Noch merkwürdiger als die einftimmung der liqu. und fpir.
ift die abweichung der lippen- Zungen- und kehllaute nicht
verschiebung allein von der gothifchen, fondern auch der alth. einrichtung.
Jacob Grimm führte Nämlich genau wie das alth. in allen drei graden von der goth.
Ordnung eine Itufe abwärts gefunken ift, war bereits das goth.
1822 im 1 Band felbft eine ftufe von der lateinifchen (griech. indifchen) herab-
gewichen. [f. nachtr.] Das goth. verhält fich zum lat. gerade
seiner Grammatik wie das alth. zum goth. Die ganze für gefchichte der fprache
den Begriff »Laut- und litrenge der etymologie folgenreiche zweifache lautverfchie-
bung ftellt fich tabellarifch fo dar:
verschiebung« ein griech. P. B.F. T. D. TH. K. G. CH.
goth. F. P.B. TH. T. D. . . K. G.
alth. B(V ) F. P. D. Z. T. G. CH. K.
oder anders aufgefaßt:
gr- goth. alth. gr- goth. alth. gr- goth. alth.
P F B(V) T TH D K .. G
B P F D T Z G K CH
F B P TH D T CH G K

7 Schlegel, August Wilhelm: Ankündigung. Sprachlehre von A. F. Bernhardi. In: Europa


2/1803, S. 193-204, S. 203.
8 Ebd.
9 Schlegel, Friedrich: Deutsche Grammatik. Zitiert nach: Kritische Friedrich-Schlegel-
Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 17: Fragmente zur Poesie und Literatur. 2. Teil. Mün-
chen/Paderborn/Wien/Zürich 1991, S. 3-31, S. 18.
41

basis nicht in seiner ganzen Tragweite detailliert erfassen und empirisch


belegen; er beließ es bei der beiläufigen Notiz. Die tatsächliche Entdeckung,
dass hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt, blieb Jacob Grimm Vorbehalten, der in
der 2. Auflage von Band 1 seiner deutschen Grammatik« diese Lautwandel­
erscheinung als »lautverschiebung«10 beschrieb.

Dabei handelt es sich um die Beobachtung, dass bestimmte Konsonanten


in einigen indoeuropäischen Sprachen im Laufe der Geschichte regel­
mäßig eine bestimmte Entwicklung durchlaufen haben. Durch die »erste«
oder »germanische Lautverschiebung« - im anglophonen Sprachraum mit
Blick auf die Erstbeschreibung durch Jacob Grimm auch als »Grimm'sches
Gesetz« (»Grimm's Law«) bekannt - bilden sich die germanischen Sprachen
als eine Sprachfamilie innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie
heraus; durch die »zweite« oder »hochdeutsche Lautverschiebung« unter­
scheidet sich das Hochdeutsche (zunächst als Althochdeutsch) von den
übrigen germanischen Sprachen - u.a. Englisch, Niederländisch, den skan­
dinavischen Sprachen sowie dem schon zu Grimms Zeiten ausgestorbenen
Gotischen.

Die Formulierung solcher Lautgesetze ist von großer Bedeutung für die
wissenschaftliche Begründung der Etymologie. Welche Wurzel einem Wort
zugrunde liegt, lässt sich (da Quellentexte aus der Zeit vor dem 8. Jahrhun­
dert kaum oder gar nicht vorliegen) nur dadurch herausfinden, dass man
klärt, welche Wörter in anderen, verwandten Sprachen ihm entsprechen.
Dies aber lässt sich nur dadurch prüfen, dass man die Regelhaftigkeiten
des Lautwandels kennt.

Eine der zweifellos größten Leistungen Jacob Grimms besteht darin, in


der überwältigenden Fülle des historischen Materials, das er überblickte,
Zusammenhänge, eine innere Ordnung zu sehen. Als seine herausragende
Eigenschaft wird von seinem Schüler Wilhelm Scherer »wissenschaftliche!/]
Witz«, d. h. »combinatorische[r] Geist« mit einer »oft überraschenden und
scheinbar zufälligen Wirkung« benannt.11

Ebendiese Eigenschaft, »durch welche allein es möglich war eine so staunens-


werthe und weitverzweigte Thätigkeit zu entwickeln wie Jacob Grimm sie

10 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil; zweite Ausgabe. Göttingen 1822,
S. 584. Vgl. S. 40 (Infokasten).
11 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. Berlin 1865, S. 47.
42

»Grimm'
sLaw«-Ers
teLau
tver
schiebung
:
etwa500v.Ch
r.b
ise
twazurZei
tenwende

p f (g
rie
chpous v
s.d
t
.Fuß\l
at
.piscisv
s.d
t Fisch)

I O M
th) (
lat
.tres>d
re
i<v
s.eng
l three)

c(k
) o h (
lat
.carpere»p
flü
cken
,ern
ten
»vs
.eng
l.Harvest,
d
t.Herbst;l
at
.cornu v
sdt
.Horn)

d ■
=> t (
latdecem »
zeh
n«v
s.eng
l,ten)

bh ■
=> b (
san
skr
.bhratarv
s.eng
l,brother
,dt
.Bruder)

gw o kw (g
rie
ch.gyne »
Frau
«vs
.no
rweg
.kwynne,eng
l,queen)

k
vv o w (
tocha
rkwipe »V
ulv
a«v
s.d
t
.Weib)

vonseine rdeu tschen G ramma tikaben twi ckeltha t«1,


2wu rdevonse ine r
Schülergene rationg lei
chwoh lals»M angel«13ge sehen.Dennau fgrundse iner
unablä ss
igen ,g leichsamfau stischenTä tigke i
t-»ohneRa stdehn tersein
W
irkenau sübe rimme rg rößereundg rößereGeb iete.KeineAu fgabes chreck
t
ihn,zuke inerve rsagenihmd ieK räfte«14-s chein tJacobG r
immzuähn l
icher
Fragmen tariz
itätve rur
teiltw iede rpro totypischeRoman tikerS chlegel
:Ihm
»feh
lte[ .
..
]gan zundga rda sBedü r
fn iß
,e ineSa cheab zuschließen,au szu­
schöp fen,denhö chs
ten mög lichen G radvon Gew ißhe i
tda rübe rzue r
rei­
chen,undke ineF ragezeichens tehenzula ssenohne No th«.15W asnö t
igw ar
,
damits ichd iea ltdeutschePh ilologiea l
sW issen schaftetab l
ierenkonn te,
nämlich»d asBedü rfn
ißundd ieKun stde r Methode[ ..
.]
,de renhö chstesZiel
d
iere inl
i cheF ierau sa
rbe i
tungde sS iche ren[ .
.
.]undd ievo r s
ichtigeAbwä ­
gungvon G radende r Wahrs cheinlichke i
t«16ist
, mu s
stedahe rdu rcheinen
anderena lsJacobG rimme ingeb rach twe rden:du rchseinenKo l
legenund
FreundK arlLachmann .D ieserwa r» e
inGen iede r Methodew ieJa cobG rimm
e
inGen iede rComb inat
ion« .17

1
2S che
rer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.48
.
1
3 Ebd
.
1
4 Ebd
.
1
5 Ebd
.
1
6S ch
erer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.48
f.
1
7S ch
erer
,Wi
lhe
lm:Ja
cob G
rimm
,S.49
.
43

Zweite Lautverschiebung:
vermutlich im 6./7. Jh.

Im Oberdeutschen und teilweise un Mitteldeutschen

t cz> S im In- und Auslaut nach Vokal (niederdt. s c h ie fe n

[engl, sh it] vs. hochdt s c h e iß e n ; niederdt. dat [engl. that\

vs. hochdt. das)

p O f im In- und Auslaut nach Vokal (niederdt. slapen


[engl, s le e p ] vs. hochdt. s c h la fe n ; niederdt. S c h ip

[engl sh ip ] vs. hochdt. S c h iff)

k o ch im In- und Auslaut nach Vokal (niederdt m aken

[engl, m a k e ] vs. hochdt m achen-, niederdt. ik vs.


hochdt ich)

t <=t> z im Anlaut sowie im ln- und Auslaut nach Konsonant


und in der Gemination (niederdt. T id [engl, tid e] vs.
hochdt. Z e it ; niederdt. v erteilen [engl, teil] vs. hochdt.
erz ä h len ; niederdt. H a rt [engl, h e a rt ] vs. hochdt. H erz )

Nur in oberdeutschen Dialekten

P o pf im Anlaut sowie im In- und Auslaut nach Konsonant


und in der Gemination (niederdt. P la u ch [engl, p lo u g h ]

vs. oberdt. P flu g ; niederdt. s c h e rp [engl, s h a r p ] vs. oberdt.


sch a rp f, niederdt. A ppel [engl, a p p le j vs. oberdt. A p fe l)

k o kch im Anlaut sowie im ln- und Auslaut nach Konsonant


und in der Gemination (niederdt. K in d vs. oberdt. K c h in d ;

niederdt. m erk en [engl, m a rk ] vs. oberdt. m erk ch en )

Jacob Grimm gehört also, soll Scherers plakative, vereinfachende Gegenüber­


stellung von »Romantikertum« und »Wissenschaftlichkeit« gelten, keineswegs
allein auf eine der beiden Seiten, und auch die Vorstellung, dass er sich - im
Zuge seiner Arbeit an der >Deutschen Grammatik - vom schweifenden
»Romantiker« zum seriösen »Wissenschaftler« gewandelt habe, erweist sich
als problematisch. Diese Sichtweise entspricht auch den Ergebnissen von
44

Arbeiten18, die gezeigt haben,


dass kaum von einem Vorher
und Nachher zu reden sei,
dass vielmehr der »Romantiker«
Jacob Grimm immer auch
schon »Wissenschaftler« war
und der »Wissenschaftler«
Jacob Grimm immer auch
»Romantiker« geblieben ist.

In der Tat neigt er dazu, vor


allem bei seiner sprachhistori-
schen Arbeit, überall Zusam­
menhänge zu finden. Ebendies
Gennanenstäinme: in einer Darstellung des späten ist das Grundanliegen seiner
19. Jahrhunderts: Da eine schriftliche Überlieferung gesamten historisch-verglei­
fehlte, versuchte Jacob Grimm die Verwandtschaft chenden Sprachforschung: Er
über die Stammesnamen zu erschließen. versucht durch den Nachweis
von Sprachverwandtschaftsver­
hältnissen »erkennen zu lassen,
wie fest [...] die ganze europäische vorzeit unter sich und mit Asien Zusam­
menhänge [...]. alle einzelnen Völkerstämme sind [...] in dieser betrachtung
ein großes geschlecht«.19 Die Triebfeder solchen (Wunsch)denkens ist, wie er­
wähnt, das Verlangen nach nationaler Einheit; es kulminierte im zeitgenössi­
schen Politikversuch des Paulskirchenparlamentes, dessen Mitglied Jacob
Grimm war. Oft genug allerdings gehen seine Sinnstiftungen etwas weit.
So bemüht er sich beispielsweise, einen wenn schon nicht etymologischen,
so doch begrifflichen Zusammenhang zwischen den Stammesnamen der
chattischen Mattiaker, der Usipeter und der Ingrionen herzustellen, eine
Vermutung, die er zwar nicht beweisen kann, die ihn aber so zu faszinieren
scheint, dass er sie im suggestiven Konjunktiv dennoch vorträgt:

Der name jenes chattischen hauptortes Mattium führt unmittelbar auf die
von der Eder abliegenden, westwärts gesessenen Mattiaci [...]. Nach ihnen
hiessen die am fusse des Taunus sprudelnden heilquellen [Aquis Mattiacis,
das heutige Wiesbaden] [...].

18 Vgl. Ginschel, Gunhild: Der junge Jacob Grimm 1805-1819. Berlin 21988; Wyss, Ul-
rich: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München 1979.
19 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. Leipzig 1848, S. 159f.
45

Lässt sich Mattium [...] aus dem wiesengrund an der Eder deuten, so stimmt
auch hier das schwäbische und alemannische mate, matte pratum, fries.
mede, ags. mädo, engl, meadow [...]. man sucht in Wisbaden, nhd. Wies­
baden denselben Begriff der matte oder wiese, und zugleich des bades.
ich hielt [...] zu Wsinobates Usipetes und bin nicht entgegen, dass in Usi Visi
und vielleicht wiese liege, ja des Ptolemaeus 'iyypiüjvec, an derselben stelle
und der spätere Engiresgau könnten aufanger pratum zurückgehn, so
dass Usipetes, Mattiaci und Engriones in dem begrif wiese, matte und anger
zusammenträfen.20

Jacob Grimm vermutet darüber hinaus, dass der Name der Mattiaker im Orts­
und Landschaftsnamen Nassau weiterlebt.21 Letzterer erscheint in urkund­
licher Deutung als madidum territorium (>nasses, feuchtes Gebiet<),

und nun ist nur ein schritt weiter zu thun. das lat. madere und madidus
scheint unserm nass [...] urverwandt, M hat sich geschwächt in N; die
Chatten konnten noch zu Tacitus Zeit das alte M in Mattium, Mattiaci
besitzen, das hernach und schon bei den Goten des vierten jh. N ward, die
bedeutung der wiese und nässe scheint sich aber leicht zu einigen, matte
wird wie aue einen wasserumflossnen platz bezeichnen.22

Solch abenteuerliches Walten »combinatorischen Geistes«, der unverzagt


in alle Richtungen schweift und aus allen Gebieten des Wissens zusammen­
trägt, was in den seltensten Fällen tatsächlich zusammengehört, ist bei
Jacob Grimm nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es manifestiert sich
in seiner zentralen Bezeichnung des »Urbegriffs«, also der Vorstellung, dass
man jedes Wort etymologisch auf eine ursprüngliche sinnliche Anschauung
zurückverfolgen können müsse.23 Diese Vorstellung, die sich bereits in Her­
ders Sprachursprungsschrift von 1772 - allerdings ohne die Apostrophierung
als »Urbegriff« - findet, ist auch eine der Grundannahmen der frühromanti-

20 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 2. Leipzig 1848, S. 581f.
21 Grimm, Jacob: Geschichte. Bd. 2, S. 582.
22 Grimm Jacob: Geschichte. Bd. 2, S. 583.
23 Reichmann, Oskar: Einige Thesen zur Bedeutungserläuterung in dem von Jacob
Grimm bearbeiteten Teil des >Deutschen Wörterbuches< und im >Wörterbuch der
deutschen Sprache< von Daniel Sanders. In: Antonsen, Elmar H. u.a. (Hgg.): The Grimm
Brothers and the Germanic Past. Amsterdam/Philadelphia 1990, S. 87-113, S. 98f.;
Reichmann, Oskar: Zum Urbegriff und seinen Konsequenzen für die Bedeutungs-
erläuterungen Jacob Grimms. In: Kirkness, Alan u.a. (Hgg.): Studien zum Deutschen
Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 1. Tübingen 1991,
S. 299-345, S. 303.
46

sehen Sprachreflexion, insbesondere ihres Hauptvertreters August Wilhelm


Schlegel. Nach dessen Ansicht besteht ursprünglich ein notwendiger »Zusam­
menhang gewisser Laute mit gewissen inneren Regungen«24; mit anderen
Worten: Ein Ausdruck ist notwendig so, wie er ist, und nicht anders. Wer der
ursprünglichen Bedeutung sprachlicher Zeichen auf den Grund gehen will,
der muss demzufolge eine sinnlich-anschauliche Vorstellung suchen, von der
man allenfalls durch Übertragung im Laufe der Zeit zu abstrakt-begrifflichen
Bedeutungen gekommen sein konnte - und ebendies ist nun Jacob Grimms
Anliegen nicht nur an der zitierten Stelle in der >Geschichte der deutschen
Sprache^ wo Mattiaker, Usipeter und Ingrionen als letztlich dasselbe,
nämlich »Wiesenbewohner«, dargestellt werden, sondern auch durchgän­
gig im deutschen Wörterbuchs

Ein bekanntes und eindrucksvolles Beispiel ist seine Erklärung des Wortes
Ehre als etymologisch verwandt mit Wörtern wie Erz, lat. aes (>Erz<), aestas
(>Sommer<), aestus (>Hitze, Glut<) und aestimare (>wertschätzen<), wobei er
eine »Zurückleitung des abstracten [...] era auf ais und er, das glänzende,
leuchtende metall« nahelegt25, so dass der allen genannten Wörtern zu­
grunde liegende »Urbegriff« das >Glänzen< oder >Schimmern< gewesen sein
müsse.

Nach einem solchen sinnlich-anschaulichen Urbegriff sucht Jacob Grimm mit


großer philologischer Akribie und nicht selten noch größerer philologischer
Phantasie. Dies ist der Fall bei seinem Versuch, einen »innern Zusammen­
hang« zwischen dem Adjektiv arm >miser, pauper< und dem Substantiv Arm
>brachium< herzustellen, sosehr sich auch ein solcher Zusammenhang »dem
ersten blick verbirgt«.26 Der erste Blick ist dabei der des methodisch vorge­
henden Wissenschaftlers, der zu sein Jacob Grimm allenthalben beansprucht;
der zweite hingegen der liebende, liebevolle Blick des Philologen im wört­
lichen Sinne, der hier sozialutopischem Idealismus verpflichtet zu sein scheint:
»armen hiesz amplecti, in manus tollere, umarmen, das grenzt geradezu an
erbarmen, bemitleiden«.27 Obgleich Jacob Grimm auf der Basis der von ihm
selbst formulierten Lautgesetze keine Beweise Vorbringen kann, ist doch

24 Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Zitiert nach:
August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hg. v. Ernst Behler.
Bd. 1. Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, S. 181-472, S. 250.
25 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862, Sp. 54.
26 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd 1. Leipzig 1854, Sp. 553.
27 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. 554.
47

die Vorstellung so faszinierend für ihn, dass sie ihn zu haltlosen Spekulatio­
nen verleitet: »wie gefühlvoll erschiene die spräche, welcher der arme ein sol­
cher ist, den man mitleidig, liebreich aufnimmt und in die arme schlieszt«.28

Dergleichen klingt nun nicht nur durchaus romantisch, sondern ist es auch:
Der Gedanke vom semantischen Zusammenhang des Adjektivs arm und des
Substantivs Arm findet sich nämlich in ähnlicher Form - vermutlich jedoch
eher als sinnreiches Wortspiel gedacht - bereits bei Clemens Brentano, der ja
mit Grimm persönlich bekannt und befreundet war. In seinem Roman Godwi
liest man Folgendes:

Der Name Reichthum kommt allein von reichen;


Hinreichen sollen wir das eigen; allen,
Die arm sind, sollen froh wir geben,
Weil sie die Arme gar so traurig heben.29

Freilich hat sich Jacob Grimm seit seiner Arbeit an der deutschen Gram­
m atik um Empirie und Methode bemüht. Er bleibt dabei gleichwohl auch
Romantiker und behält seine (aus)schweifende, spekulative Sprachbetrach-
tung bei. Nicht umsonst hat die ihm folgende Generation von Fachwissen­
schaftlern Schwierigkeiten mit ihm, beispielsweise sein Schüler Wilhelm
Scherer, der Grimm einen Mangel an »wissenschaftliche^] Solidität« beschei­
nigt.30 Der jungen deutschen Philologie, die doch nicht umhin konnte, sich
auf ihn zurückzuführen, erschien Jacob Grimms Arbeitsweise »fremd, wild,
exterritorial«.31 Was für Scherer daraus folgte, war, Jacob Grimm einerseits auf
einen Sockel der Ahnenverehrung zu setzen und andererseits in seiner eige­
nen sprachhistorischen Arbeit diejenige Grimms weitgehend zu ignorieren.

Unbestritten jedoch bleibt das Verdienst Jacob Grimms, mit seiner d e u t­


schen Grammatik die vergleichende und die historische Sprachwissenschaft
maßgeblich befördert zu haben. Mit seinen Arbeiten schuf er das Funda­
ment für systematische Sprachvergleiche und für Forschungen von den
Ursprüngen bis zur modernen Sprachentwicklung des 21. Jahrhunderts.

28 Ebd.
29 Brentano, Clemens (1801): Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Zitiert nach:
Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe.
Hg. v. Jürgen Behrens u. a. Bd. 16. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 151.
30 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm, S. 47.
31 Wyss, Ulrich: Die wilde Philologie, S. 13 f.
48

Märchen - Sagen - Minnelieder:


Die Wiederentdeckung des Mittelalters
als Mythos einer unversehrten Vergangenheit

Schon um 1850 wurden die Grimms von nicht wenigen Zeitgenossen


als geradezu mythische Gründerfiguren einer historischen Wissenschaft
angesehen, die sich mit einem identitätspolitisch zentralen Gegenstand
befasst: der Erkenntnis des eigenen Volkes. Die exorbitante Produk­
tivität der Grimms und ihre wissenschaftlichen Leistungen machen
sie hier in der Tat zu herausragenden Figuren. Aber daneben sind sie
auch geschickte Wissenschaftsstrategen, die es verstanden haben, sich
und ihre Methoden gegen wissenschaftliche Konkurrenten durchzu­
setzen. Die Grimms haben ihren Mythos als Gründer der Germanistik
nachhaltig mitgestaltet.

»In die rauften ‘WäCder unsrer Vorfahren suchte ich einzudringen, ihrer edfen
Sprache und reinen Sage bauschend«
Jacob (Jrimm

Von der modernen Universität und auch von den Schulen ist die Literaturwis­
senschaft nicht wegzudenken. Auch heute noch tritt sie meist in Form von Na­
tionalphilologien auf, beispielsweise als Germanistik oder Anglistik. Dass man
die Literatur und Sprache moderner, d. h. nicht antiker Sprachgemeinschaften
als sinnvolle wissenschaftliche Gegenstände versteht, die man im Zusammen­
hang eines Faches studiert, ist ein relativ junges Phänomen. Es entstand im
19. Jahrhundert, nicht schlagartig, sondern in einem langsamen Prozess.

Die Brüder Grimm sind an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Sie ge­
hören zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer jungen Generation von
Gelehrten, die neue Methoden und Theorien entwickeln, um Literatur und
sprachliche Überlieferungen jeder Art zu sammeln, kritisch zu durchdringen,
aufzubereiten und zu systematisieren. Nicht nur »reine« Gelehrte beteiligen
sich daran, sondern auch eine Reihe von romantischen Dichtern wie Clemens
Brentano, Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff, Ludwig Tieck oder Lud­
wig Uhland. Wie wenige andere ihrer Mitstreiter haben es die beiden Brüder
jedoch verstanden, nach und nach zu zentralen Integrationsfiguren in ihrem
Feld aufzusteigen.
Die Sammlung, Edition und In­
terpretation von Märchen, Sa­
gen und mittelalterlicher Dich­
tung wie dem >Nibelungenlied<
oder dem Minnesang sind nur
ein Teilbereich dessen, wofür
die Brüder Grimm und ihre
Mitstreiter sich interessierten.
Neben der Dichtung spielte
die historische Erschließung
der Sprache eine entscheiden­
de Rolle, ebenso aber auch die
Rekonstruktion alter Rechtsge­
pflogenheiten oder der Mytho­
logie, d.h. des religiösen Glau­
bens. Alle diese Dinge haben
gemeinsam, dass sie Ausdruck
von Sitten, Gepflogenheiten
oder Denkmustern sind. Sie
Des Knaben Wunderhorn
zeugen davon, wie frühere
Menschen bzw. Kulturen die hur die von Clemens Brentano und Achim von Arnim
Welt verstanden und interpre­ herausgegebene Liedsammlung lieferten die Brüder
tiert haben. Dieses übergrei­ Grimm ab 18Ü6 Beitrage. Titelblatt der Ausgabe von
fende, nicht auf die »schöne 1808 mit einem Stich von Philip Otto Runge.
Literatur« beschränkte Interesse
prägte nicht nur die Tätigkeit
der Brüder Grimm, sondern die »Germanistik« bis weit ins 19. Jahrhundert
hinein. Von einer heutigen Fachsystematik aus gesehen, gehörten dazu
neben den Literaturwissenschaftlern auch Linguisten, Historiker, Volkskund­
ler, Religionswissenschaftler. Geprägt wurde der Begriff von Juristen, die eine
Transformation des gegenwärtigen Rechts anhand der historischen Rechts­
überlieferung anstrebten. Bezeichnend dafür ist, welche uns heute fremde
Bedeutung die Bezeichnung »Germanist« ursprünglich trug. Wirkungs­
mächtig wurde dieser Begriff durch die erste Versammlung der deutschen
Rechts-, Geschichts- und Sprachforscher 1846 in Frankfurt am Main, den
ersten »Germanistentag«. Der ursprünglich rein juristische Begriff sollte,
wie Jacob Grimm auf derTagung erläutert, als einheitliche Bezeichnung für
alle diejenigen dienen, die sich mit deutscher bzw. deutschsprachiger Über­
lieferung beschäftigten:
50

Es wird also nur einige Gewöhnung k o s t e n u m die Ausdehnung


des Namens Germanisten auf Forscher des Rechts, der Geschichte und
Sprache über allen Zweifel zu erheben. Er drückt dann gar nichts aus
als einen, der sich deutscher Wissenschaft ergibt, und das ist wohl eine
schöne BenennungJ

»Deutsche Wissenschaft« - Merkmal von Identität und


Eigenständigkeit
Deutsche Wissenschaft - ein entscheidendes Stichwort für die Grimms
und ihre Mitstreiter. Zwar hatten sich durchaus auch in den vorherigen
Jahrhunderten - seit dem Humanismus - Gelehrte für die volkssprachliche
Überlieferung interessiert. Aber erst um 1800 begann die Frage nach der
historischen Identität der Völker zu einer zentralen Vorstellung zu werden,
die im Laufe des 19. Jahrhunderts eine breite kulturelle und politische Wir­
kung entfaltete. Diese Gegenstände drangen auch in die Bildungssysteme
ein, wurden zu zentralen Bildungsstoffen der Schulen und Universitäten.

Heute sind viele Entwicklungen, die damals ihren Anfang nahmen, für uns
selbstverständlich geworden, so etwa dass der Unterricht in der Mutterspra­
che und ihrer Literatur zu den fundamentalen Aufgaben der Schulen gehört.
Fremd dagegen erscheint uns heute das nationale und oft nationalistische
Interesse, das sich im 19. Jahrhundert - und darüber hinaus bis ins »Dritte
Reich« - mit der Erforschung nationalsprachlicher Überlieferungen verband.
Noch fremder und zunächst unverständlich schließlich mag uns heute die
Tatsache erscheinen, dass dieses nationale Interesse bis in die 1850er Jahre
maßgeblich mit der Entwicklung eines demokratischen Gedankens zusam­
menhing. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Bürgertum
der progressive Teil der Bevölkerung, auch wenn hier mehrheitlich nicht
von Demokraten im heutigen Sinne die Rede sein kann. In der spezifischen
politischen Situation dieser Zeit bedeutete das Interesse für das Volk daher
nicht selten einen Einspruch gegen bestehende monarchische Systeme.

Auffallend viele Teilnehmer des Germanistentags beteiligten sich 1848/49 an


der Nationalversammlung in Frankfurt, um die - schließlich gescheiterte -
Paulskirchenverfassung zu entwerfen: beispielsweise der Historiker Gustav
Droysen oder der Dichter und Germanist Ludwig Uhland. Jacob Grimm nahm1

1 Grimm, Jacob: Über den Namen der Germanisten. In: Verhandlungen der Germa-
nisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846. Frankfurt am
Main 1847, S. 104.
51

auch teil, obwohl man auch die Brüder nicht zu denen zählen kann, die tat­
sächlich für eine demokratische Ordnung im heutigen Sinne eintraten.

Eine wirkungsmächtige Denkfigur für jene »deutsche Wissenschaft« (Jacob


Grimm) ist die eines durchaus metaphysisch verstandenen »Volksgeistes«,
der sich in allen Zeugnissen des Volkes ausspreche. Die Sichtung und Durch­
dringung der Überlieferung sollte helfen, den »Geist« der verschiedenen
Völker zu erkennen und ihn in der Gegenwart wiederzubeleben. Die Grimms
und viele andere verstanden den Begriff des Volkes dabei in einem spezi­
fischen Sinn, von dem sowohl sein nationales bzw. nationalistisches als
auch - damals - sein demokratisches Potenzial abhing. So meinten sie etwa,
dass in alten Überlieferungen dieser Volksgeist besonders rein enthalten
sei. In dieser Auffassung zeigt sich etwas, was man als Unbehagen an der
Neuzeit bzw. der Moderne bezeichnen kann. Die Grimms suchten nach Zeug­
nissen aus einer Zeit, in der das Volk noch nicht in verschiedene Schichten
bzw. Klassen differenziert gewesen sei, so dass jeder gewissermaßen vollen
Anteil an der eigenen »völkischen« Identität gehabt habe. Die neuzeitliche
Gesellschaft dagegen erlebten sie als problematisch: Gelehrte und andere
hätten sich vom Volk abgespalten und folgten lediglich ihrem je eigenen,

Kollektive Wunschvorstellung: Anders als dieses Bdd veranschaulichen soll,


sind die Brüder Grimm nie märchensammelnd durch ihre Heimat gezogen.
Sie ließen sich alle Märchen zu Hause in Kassel erzählen Kolorierter Holz-
schnitt nach einem Gemälde von Louis Katzenstein (1824-1907).
52

individuellen Interesse. Das eigentliche Volk dagegen verkümmere. Hier wird


auch das politische Potential dieses Gedankens deutlich. Er liegt dem zu­
grunde, was man - recht verstanden - als »Entdeckung des Mittelalters«
bezeichnen könnte: des Mittelalters als einer emphatisch positiv verstandenen
»guten, alten« Zeit, in der die Menschen, von modernen Problemen unbe­
helligt, noch mit sich selbst identisch waren. In Form der alten Überliefe­
rungen - so die Vorstellung - reiche diese heile Welt bis in die Gegenwart
hinüber. Dieser Gedanke trägt die Philologie der Grimms und auch ihrer Mit­
streiter. Es ist allerdings eine bedenkenswerte Ironie, dass die philologische
Sammlung alter Zeugnisse selbst auch eine gelehrte Tätigkeit ist - und
gerade solche dem »Volk« fremden Praktiken hatten ja eigentlich für die
Grimms den Verfall jener noch »heilen« Vergangenheit mit verursacht.

Die Märchen und ihre Mythen


Der attraktive Mythos einer noch unverdorbenen Vergangenheit ist also para­
doxerweise Produkt einer Philologie, die sich selbst nicht mehr als Teil dieser
heilen Welt begreifen kann. Das mit Abstand berühmteste Erzeugnis der
Grimm'schen Tätigkeit trägt deutlich diese ambivalente Signatur. Als die jun­
gen Brüder 1806 begannen, »Kinder- und Hausmärchen« zu sammeln, ver­
folgten sie nicht in erster Linie das Ziel, ein besonders attraktives Kinderbuch
zu publizieren. Ihre Suche nach solchen Geschichten des Volkes gründete viel­
mehr in ihrem philologischen Interesse für jene Überlieferungen aus der alten
Zeit. Als sie 1812 den ersten Band publizierten - der zweite folgte 1815-,
konnten sie nicht ahnen, dass daraus Jahrzehnte später eine der größten
literarischen Erfolgsgeschichten der Welt werden würde. Sie wussten auch
nicht, dass sich damit ein zweiter Mythos zu bilden begann, der bis heute
ihr populäres Bild mitbestimmt: der der märchensammelnden Wanderer.

Die Geschichte dieser Märchen würde selbst wie ein zauberhaftes Märchen
wirken, wenn sie nicht von Anfang bis Ende wahr wäre. Es waren einmal
zwei Brüder, sehr gelehrt - was es in Deutschland oft gibt - und sehr innig
miteinander, was man nicht so oft sieht.... Und so durchzogen die beiden
Brüder Deutschland in allen Himmelsrichtungen, sie standen mit der Sonne
auf und wanderten bis ins Abendrot, während der Mittagshitze lauschten
sie den Schnittern im Schatten und in der Nacht den Spinnerinnen auf der
Ofenbank.2

2 Grimm, Brüder: Contes de la famille par les Freres Grimm, traduits de l’Allemand
par N. Martin et Pitre-Chevalier. Paris 1846, S. I, VI. Übersetzung vom Vf.
53

Schon zu Lebzeiten der Brüder konnten die Leser der ersten französischen
Übersetzung der >Kinder- und Hausmärchen< (1846) dieses reizvolle, roman­
tische Bild auf sich wirken lassen. Für den anonymen Autor der Vorrede
sind die Brüder selbst zu märchenhaften Gestalten geworden, wert, mit der
berühmt gewordenen Eingangsformel »es war einmal« ihrer eigenen Ge­
schichten bedacht zu werden. Dass sich ein solcher Mythos um die Autoren
bilden konnte, zeugt von dem immensen Erfolg, den die Märchen mit dem
fortschreitenden 19. Jahrhundert bekamen. Noch 2005 hat sich der englische
RegisseurTerry Gilliam diese Vorstellung in seinem Film >The Brothers Grimm<
zu eigen gemacht. Matt Dämon und Heath Ledger ziehen hier als Will und
Jake durch thüringische Urwälder und mittelalterlich anmutende >deutsche<
Kleinstädte mit Butzenscheiben. Erst, nachdem sie »echten« Märchenge­
stalten begegnet sind und den Spuk besiegt haben, beschließen sie, die
Geschichten des Volkes zu sammeln.

Diese Vorstellungen sind denkbar weit entfernt von der tatsächlichen Arbeit,
aus der die Märchen entstanden sind. Wollte man sich diese in einer anschau­
lichen Szene vorstellen, so dürfte man nicht an romantische Wanderungen

Dorothea Viehmann, bekannt als «die Viehmännin« - eine der wichtigsten


Märchenerzählerinnen: Seit 1819 wurde ihr Porträt in Ausgaben der >Kinder-
und Hausmärchen< aufgenommen, namentlich wurde sie jedoch nicht erwähnt.
54

durch die Natur denken. Der passende Ort der gelehrten Brüder wäre viel­
mehr der Schreibtisch in der Gelehrtenstube oder in der Bibliothek, ihre Insig­
nien wären nicht Stab und Hut, sondern Schreibfeder, Karteikarte und Buch.
Das Bild der wandernden Brüder wurde durch die spätere Rezeption ge­
schaffen. Aber ganz unschuldig waren die Grimms daran nicht. In der Vorrede
zur Erstausgabe (1812) entwickeln sie eine Theorie des Märchens, die tief
romantisch geprägt ist. Ein Leser, der sich davon anstecken lässt, könnte sich
die philologische Sammlung eher als Wanderung denn als Zettelwirtschaft
vorstellen. Bei den Märchen, so die Grimms, handele es sich um uralte Erzäh­
lungen, entstanden in einer Zeit, als sich die Menschen noch nicht durch
Vernunft und Reflexion von der Natur entfremdet hätten. Daher behandeln
die Grimms die Märchen geradezu als Produkte der Natur selbst, nicht als
Erfindungen einzelner Individuen oder Dichter. Sie würden im Volk treu
mündlich weitergegeben und blieben dadurch über lange Zeiten hinweg
im Kern stabil. Weil sie aus dem Volk entstanden seien, weil das Volk sich in
ihnen wiedererkenne und sie liebe, bewahrten diese Märchen in sich auch
den »Geist« dieses noch unverdorbenen Volkes auf. Die Märchen wären
demnach gleichsam »Urworte« einer noch kindlich-naiven Menschheit, die
freilich von den Grimms national gedacht wird. Hierin liege ihre unver­
gleichliche poetische Schönheit, hierin aber liege auch ihre Gefährdung in
der Gegenwart. Denn die fortschreitende moderne Kultur, die unerbittlich
auch das einfache Volk ergreife, lasse diese Naturpoesie mehr und mehr in
Vergessenheit geraten. Hier müsse die Philologie als Retterin eingreifen
und diese Spuren archaischer Einfachheit sammeln und sichern.

Die Grimm-Forschung hat in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht,


aus welchen Quellen die Brüder ihre jeweiligen Märchen bekommen haben.3
Dabei wurde deutlich, dass das Bild des unverdorbenen Volkes nicht nur aus
ideologischen Gründen problematisch ist. Vielmehr stammten diejenigen,
die den Grimms die Märchen zutrugen, aus durchaus gebildeten Schichten.
Zunächst sammelten die Grimms Erzählungen in ihrem Bekanntenkreis,
beispielsweise bei jungen Damen aus gehobenen bürgerlichen oder adligen
Kreisen. Darunter waren etwa Wilhelm Grimms spätere Ehefrau Dorothea
Wild, einige Schwestern des Philologen Werner von Haxthausen oder die
junge Annette von Droste-Hülshoff, die selbst auf dem Weg war, eine bedeu­
tende Dichterin zu werden. Ihrem Publikum gegenüber freilich hielten die
Grimms dies alles eher zurück.

3 Vor allem Heinz Rölleke hat hier wichtige Arbeit geleistet. Rölleke, Heinz:
Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004
Stattdessen hoben sie eine an­
dere Erzählerin besonders her­
vor, die nicht zu diesen Kreisen "H
gehörte: Dorothea Viehmann.
Sie lebte in einem Dorf bei Kas­
sel und besuchte die Grimms,
um ihnen Märchen zu erzäh­
len. Berühmt geworden ist sie
durch das Porträt, das die Brü­
der 1815 dem zweiten Band PETIT CHAPERON
der Märchensammlung voran­
R O U G E .
stellten. Sie stellen Dorothea
Viehmann als typische, unver­ Rotkäppchen und der Wolf
dorbene Bäuerin aus dem Volk
dar, mit einem unerschöpfli­ Viele der Kinder- und Hausmarchen gehen aul
chen Gedächtnis für Märchen, französische Einflüsse, besonders auf die Märchen-
die über die Generationen sammlung von Charles Perrault (1628-1703), zu
mündlich weitergegeben wor­ rück Diese enthalt auch >Le petit chaperon rouge»,
den seien. In Wirklichkeit aller­ zu Deutsch .Rotkäppchen«, das 1697 erschien,
dings war die sogenannte (acob Grimm erwarb die hier abgebildete Ausgabe
»Viehmännin« keine Bäuerin, 1815 während seiner Z,ext beim Wiener Kongress.
sondern mit dem Dorfschnei­
der verheiratet; sie stammte
aus einer hugenottischen Familie, sprach Französisch und war keinesfalls
ungebildet: Beispielsweise kannte sie die Märchen des französischen Dichters
Charles Perrault (1697) und ließ sie auch in die Geschichten einfließen, die
sie den Grimms erzählte. Andere Märchen fanden die Grimms in gedruck­
ten Büchern von Autoren des 15. bis 18. Jahrhunderts, die ihren eigenen
Werken traditionelle Erzählstoffe einverleibt hatten. Als belesene Philologen
identifizierten die Brüder diese Texte und nahmen sie in ihre Sammlung auf.

Ein weiterer Mythos, der sich bis heute mit den Märchen verbindet, wird
ganz ausdrücklich durch die Vorrede der >Kinder- und Flausmärchen< beför­
dert. Es heißt dort:

Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als möglich war aufzufas-
sen... Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert
worden, denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche Sagen mit
ihrer eigenen Analogie oder Reminiscenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich.
56

Für die Theorie des Märchens, wie sie die Grimms vertraten, ist es nicht un­
wichtig, dass sie diese »Urworte« des Volkes unverändert darbieten wollen.
Denn jede Veränderung geschähe schließlich nicht im »Geist« der unmit­
telbaren Volkserzählung, sondern aus dem Horizont eines modernen, nicht
mehr naiven Bewusstseins. Sie liefe Gefahr, die Poesie der reinen Natur zu
verfälschen. Allerdings haben die Grimms von Beginn an intensiv an den
Texten gearbeitet. Schon die Märchen der Erstausgabe weichen signifikant
von den erhaltenen Manuskripten ab, die ihr zugrunde liegen. Mehr noch
gilt dies für die verschiedenen Auflagen der Märchensammlung, die zu Leb­
zeiten der Grimms bis 1857 sieben Mal neu aufgelegt und dabei jeweils
meist stark verändert wurden. Vor allem war es Wilhelm, der den Stil der
Märchen nach und nach bearbeitete, ihn auf kunstvolle Weise >naiver<
machte und gleichzeitig viele Details in nicht wenigen Erzählungen weiter
ausführte.4

Schon in der ersten Ausgabe lässt sich beobachten, wie die Grimms
manchmal verschiedeneVersionen eines Stoffes, der ihnen aus mehreren
Quellen zugekommen war, zu einer neuen Fassung verschmolzen. Auf dem
Titelblatt treten die Brüder als bloße Sammler und Herausgeber der Mär­
chen auf. In Wirklichkeit jedoch sind sie mehr. Sie selbst erst haben nach
und nach den Erzählstil geschaffen, der ihrer romantischen Theorie des Mär­
chens entsprach und der noch heute unverkennbar ist. Die Forschung
spricht daher von der »Gattung Grimm«. Hier liegt eine weitere, bedenkens­
werte Ironie: Die Grimms haben mit als Erste entschieden für eine Aufwer­
tung der Volkstraditionen plädiert und damit nachhaltig zu einer Revoluti­
on im zeitgenössischen Verständnis von Literatur beigetragen. Aber die
Dichtungen des Volkes, die sie lediglich dokumentieren wollten, haben erst
sie selbst in die wundervolle, bis heute faszinierende Form gebracht.

Entdeckung des Mittelalters als Entdeckung der Volkskultur


Die Märchen sind nicht die einzigen Zeugnisse, von denen die Grimms
sich eine Einsicht in das Denken und Leben jener frühen, unverdorbenen
Menschen versprachen. Daneben stehen beispielsweise die Sagen, die die
Grimms mit einer noch heute einleuchtenden Unterscheidung von den
Märchen differenzierten. Zwar sind auch die Sagen Volkserzählungen.
Während aber die Märchen nicht an spezifische Orte gebunden sind, be­
richten die Sagen von wunderbaren Geschehnissen, die geografisch genau

4 Einführend: Rölleke, Heinz: Märchen der Brüder Grimm. 2004.


lokalisiert sind: Man denke etwa an die Sage, dass Kaiser Friedrich Barba­
rossa im Kyffhäuser auf seine Auferstehung warte. Die Grimms haben auch
eine Sammlung von Sagen herausgegeben, die freilich nicht einmal ent­
fernt dieselbe Wirkung gehabt hat wie die >Kinder- und Hausmärchenc5
Wichtiger noch für die Grimms und andere frühe Germanisten sind jedoch
die epischen Überlieferungen aus dem Mittelalter, allen voran das N ibe­
lungenliede An diesem Werk fasziniert sie etwas, das mit den Märchen

"|ö ffr Mta '.fr


Das Nibelungenlied
Jpvmhcr -vnot «tntor Oi Die Handlung des /wischen ca. 1190 und
rohen (ohd i * SWMI)tr
D‘ nmgr tm -womdttr et 1205 entstandenen Nibelungenlieds spielt
« n Bit - ivo uh k WM w
Svtntr Bit fiirötn liettn
<jmrr (jfltgtn. in der Welt der hochmittelalterlichen
-jr ' #Vt md)f djimeemnt
viouivt (nt it mnitr
... -Ir twtrr o‘
Höfe, greift aber auf ältere mythologische
iHirt 9" in Olt t»bc Uc-finr
Von ttdtmi lootticrtii vö trn* fmmt lehn an cQcn Figuren und Geschehnisse zurück. Jacob
JlOKCT «VBflt VOtl'ViruOf fnrtttr »MM.«' « u * mfi

Ö Grimm sah in dem Werk den Schlüssel


vno Hortigrcimi -von -um m g t p r jr w rmvd
iim i vno von ttjtajei.-uJ ft l|rrn |»Mn.
dlÄiitr rf*c> ftrarn |Hv mw-n nulor von «nt
j j t a -wtiriMr I1Ä1 ftffn (Wh grtom. (Bit (tROfroo zur eigenen nationalen Identität
WH*« mbvnfvnfr nuoitn dtvntOtf mkm
„ on c w mrtgrO'n.tM, ot errijont. ;»vCmjfey Im Bild: Handschrift D. I. Viertel des
nt/iilcn Uiitni mit|t rrfio mvnttn <h wn» tr wnt jr
turnt ftvmttn fnmtiti'
mro rnodnr fm irnnltilr
WiW 0 «rtwnntn Bir v m i ■iwrtttr (mt intTKirrntt
14 Jahrhunderts.
on Crtioitn « (, i t r n i nnintm tn (om.
mt m»«tn ö jm -vtl -vl* r A t m rnnt.fnvomtn
frn tro ti|>- mit tv dnofr hi oitmr von
ir 1mm ml i w « tourt»)
L."sv muta, xvMgo»
r~ W r tmnmritltriicn mo
«ft mu loOdiltai er« vn»
m -jr mtfnrn djvw «dir Sn tr m tn y a .£ i ftvtW
mcnuni -wo» tr «non. dne iifnifrtirtltn <h» von xw
nullten fdnftw fSivnoir ettr vzomvrn tut.
W wmt lip a‘ umdjft-0" ft ötett djvmgt wrtnt
ivtn (ttioi* o» -wrmi «n . «li idi «efft^r Jlftn
«"Von •'*U()dfia. rtlai m
etd'Vnnndi ■nwm vnttimmt ovdi Bit

eng zusammenhängt. Denn auch das Nibelungenlied ist keine vollständige


Erdichtung eines einzelnen Autors, sondern es vereinigt Personen und Ereig­
nisse, die sich zum Teil in anderen, älteren Überlieferungen wiederfinden
lassen, so beispielsweise in den Liedern der mittelalterlichen isländischen
>Edda<. Anders als die meisten anderen großen mittelalterlichen Epen - wie
etwa der >Parzival< des Wolfram von Eschenbach - stammen viele dieser
Motive aus nordischen Kulturkreisen. Das Nibelungenlied galt den Zeit­
genossen daher als Zeugnis eines genuin nordischen bzw. germanischen
»Volksgeistes« und damit als Schlüssel zur eigenen nationalen Identität.6

5 Grimm, Brüder (Hg.): Deutsche Sagen. Berlin 1816.


6 Ehrismann, Otfrid: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption
des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg.
München 1975.
58

Minnesang
Durch die in der Heidelberger
Liederhandschrift gesammelten
Minnelieder kamen die Brüder
Grimm erstmals mit der älteren
deutschen Literatur in Kontakt. Die
anfängliche Faszination von dieser
literarischen Gattung wich jedoch
bald einer gewissen Skepsis.
Bild: Große Heidelberger Lieder-
handschrift, Codex Manesse,
1. Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Auch in den Märchen glaubten die Grimms Spuren dieser nordischen Mytho­
logie zu finden, und alle diese Texte und Motive sind daher auch in ihre
späteren Versuche eingegangen, verschiedenste Aspekte der »germanisch­
deutschen« Kultur systematisch zu rekonstruieren, so etwa in Jacobs d e u t­
sche Mythologie< (1835) oder in Wilhelms Abhandlung über d ie deutsche
Heldensage< (1829).

Hier zeigt sich, inwiefern man bei den Brüdern Grimm von einer »Entdeckung
des Mittelalters« sprechen bzw. inwiefern diese Formulierung auch irre­
führen kann. Denn gerade im Nibelungenlied, wie es aus dem 13. Jahrhun­
dert überliefert ist, verbinden sich mehrere zeitliche Schichten. Einerseits
bedient sich der unbekannte Dichter einer Reihe von alten, mythologischen
Figuren und Geschehnissen, so etwa Siegfrieds, des Nibelungenhortes
oder Brünhildes. Gleichzeitig aber versetzt er diese überlieferten Momente
in eine hochmittelalterliche Welt der glänzenden Höfe, Feste und ritter­
lichen Sitten.

Die Grimms interessierten sich jedoch in erster Linie für die älteren Elemente
des Mythos. In ihnen sahen sie Spuren jener urtümlichen Gemeinschaft.
Den hochmittelalterlichen Raum dagegen blendeten sie weitgehend aus.
Er war für sie die individuelle Zutat eines Dichters, in der sich bereits die
Abtrennung der Dichtung vom Volk und ihre Vereinnahmung durch gebil-
59

dete, höfische und gelehrte Schichten zeigten. Gerade solche Momente,


die heutzutage besonders das populäre Bild vom Mittelalter prägen, galten
den Grimms bereits als Verfallsprodukte einer Kultur, die sich vom Volk zu
entfernen begann.

Deutlich wird dieser Zugang auch an der mittelalterlichen Lieddichtung, vor


allem dem Minnesang. Zwar erzählt der alte Jacob Grimm, als er 1850 sei­
ne Laufbahn als deutscher Altertumsforscher rekapituliert, wie er während
seines Studiums gerade anhand einer Sammlung von Minneliedern begon­
nen habe, sich für die alte deutsche Dichtung zu begeistern.7 Die Forschun­
gen, die der junge Mann daraufhin anstellt, begegnen jedoch den Liedern
der höfischen Dichter wie Walther von der Vogelweide mit Skepsis. Zwar
setzt er sich mit diesen Dichtungen 1811 in der ersten Monografie ausein­
ander, die er überhaupt geschrieben hat. Aber er betont, dass diese Sänger
durchaus nicht solche aus dem Volk sind, sondern vielmehr Adlige, die ihre
Dichtung am Hof vortragen. Daher kann er bei ihnen auch all das nicht fin­
den, was ihn an den Märchen und am Nibelungenlied fasziniert, nämlich
jenes naive, einfache Volk, das im Einklang mit der Natur lebt und dichtet.
Der Minnesang, so schreibt er lustlos, sei einer der »trockensten und ver-
wickeltsten« Gegenstände »in der altdeutschen Poesie überhaupt«. Viel lie­
ber hätte er sich dem Studium der »überall erfreuenden und im Resultat viel
reicher lohnenden [...] poetischen Sagen« gewidmet.8 Ein Jahr später er­
scheinen die Märchen.

Die Brüder Grimm haben durch ihre vielfältigen Forschungen entscheidend


dazu beigetragen, dass die alte deutsche Überlieferung und insbesondere
das Mittelalterzu zentralen Gegenständen der philologisch-historischen
Forschung geworden sind. Aber es gilt doch, ihre »Entdeckung des Mittel­
alters« in einer besonderen Weise zu verstehen. Nicht zuletzt sind es die
mittelalterlichen Dichtungen und Zeugnisse, in denen die Grimms Spuren
des »Volksgeistes« aufbewahrt sehen. Ihre eigentliche Liebe und Leiden­
schaft gilt jedoch in erster Linie einer Volkskultur, die sie in noch frühere
Schichten jenseits der Höfe, Edelfräulein und höfischen Sänger zurückverfol­
gen wollen. Mit diesem Anliegen erweisen sich die Brüder Grimm einmal
mehr auch mit ihrer Sammlung, Aufbereitung und Erforschung von Märchen,
Sagen und Minneliedern als »moderne Traditionalisten«.

7 Grimm, Jacob: Das Wort des Besitzes. Eine linguistische Abhandlung. In: ders.:
Kleinere Schriften Bd. 1. Berlin 1864, S. 113-144, S. 115f.
8 Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen 1811, S. 4.
60

Papierdeutsch? Jaco b Grimm


und die alte Rechtssprache
im m odernen Deutsch

Wendungen wie je m a n d e m a u fs D a ch s te ig e n , m it H a u t
und H a a r oder g a n g und g ä b e haben eines gemeinsam:
Sie sind ganz selbstverständlich in unserem W ortschatz vor­
handen, ihre ursprüngliche Bedeutung ist uns aber meist nicht
mehr bewusst. Es war Jacob Grimm, der die Deutschen über
diese historische Dimension ihrer Sprache aufgeklärt hat.

Alte Rechtsquellen der deutschen Sprache haben Jacob Grimm ein Leben
lang fasziniert. Bereits als junger Jurastudent war er für seinen Rechtsprofes­
sor Friedrich Carl von Savigny nach Paris gereist und hatte in der französi­
schen Nationalbibliothek Rechtsquellen und -dokumente gesammelt und
abgeschrieben. Auch später sammelte, kopierte und dokumentierte er in
mühevoller Kleinarbeit, was immer er in Bibliotheken und Archiven zutage
fördern konnte: mittelalterliche Rechtsbücher, Ordnungen, Weistümer,
Sprüche, Stadtrechte.

Seine rege Editionstätigkeit gipfelte in den deutschen Rechtsalterthümern<


(1828) und in den >Weistümern< (1840-1872). Noch heute gelten beide Werke
als Meilensteine der Rechts- und Geschichtswissenschaft. Auch für Jacob
Grimm sollte sich die Arbeit auszahlen. Die >Rechtsalterthümer< brachten ihm
den Doktor ein und legten den Grundstein für seine Karriere als Professor.
Und das, obwohl er sein Jurastudium nie zum Ende geführt hatte.

(Daß (Recht uncf (Poesie miteinander aus einem


(Rette aufgestanden waren, häft nicht schwer
z u gfaußen.
Jaco6 grimm
»
61

Von der Poesie im Recht


Wie aber kam der Märchensammler und Philologe Grimm dazu, sich dieser
trockenen Wissenschaft zu widmen? In seinem berühmten Aufsatz »Von der
Poesie im Recht< antwortete er bezeichnenderweise mit einem Märchen:

Nach einem Volksmärchen soll der Teufel dem Bauer ein Haus fertig bauen,
eh der Hahn kräht, sonst ist der Bauer frei, der Teufel verfallen. Schon naht
sich das Werk dem Ende, eine einzige Ziegel bleibt noch aufzudecken;
da ahmt der Bauer das Hahnenkrähen nach und plötzlich erkrähen alle
Hähne in der Runde, der Menschenfeind aber verliert die Wette.

Die Übergabe des


Handschuhs symbo­
lisiert hier die Rück­
gabe des Lehens:
Buchmalerei, An­
fang 14. Jhd., aus
dem Sachsenspie­
gel, dem ältesten
deutschen Rechts­
buch.

Der Literaturwissenschaftler Grimm konnte zeigen, dass das Motiv des Hah­
nenschreis, der die Kraft hat, einen Zauber zu lösen oder zu binden, auch in
der älteren Mythologie zu finden ist. Dem Rechtshistoriker Grimm fiel auf,
dass auch in Vertragsklauseln mittelalterlicher Verträge ähnliche Formulie­
rungen zu finden waren, wenn es etwa hieß, dass ein Vertrag in Kraft bleibt,
solange »der Wind weht und der Hahn kräht«.

Jacob Grimm war dabei besonders von der »sinnlichen Qualität« des mittel­
alterlichen Rechts fasziniert. Rechtsakte wurden mit Hilfe von Gegenständen
und symbolischen Handlungen vor aller Öffentlichkeit sichtbar, fühlbar und
hörbar dargestellt: So symbolisierte ein Handschuh in der mittelalterlichen
Vorstellung Herrschaft und Besitz. Wurde einem Vasallen ein Lehen verliehen,
wurde ihm ein Handschuh übergeben; bei einer Aufkündigung des Lehens
musste er diesen wieder zurückgeben.
Ein Bauer vor der Mühle: »Wer zuerst
kommt, mahlt zuerst«: Viele Sprich­
wörter gehen auf alte Rechtsgewohn­
heiten oder Gesetze zurück.

Alte Rechtssprache im
modernen Deutsch
Es waren solche Zusammenhänge, die Jacob
Grimm faszinierten: Philologie, Mythologie
und Jurisprudenz waren für ihn keine getrenn­
ten wissenschaftlichen Disziplinen, vielmehr
eng verwandte Gebiete, die denselben Gegen­
stand betreffen.

» D ie drei heit der spräche, des glaubens


u n d des rechts [eiten sich aus
einem u n d demselben g m n d h e r . . . «

Besonders in den Rechtsformeln und Rechtssprichwörtern trat für ihn diese


Übereinstimmung zutage, denn auch sie arbeiten mit poetischen Stilmit­
teln: mit Reimen (schalten und walten), Alliterationen (ganz und gar) oder
Tautologien (Grund und Boden). In seinen zahlreichen Publikationen klärte
Grimm darüber auf, dass auch im modernen Deutsch noch Hinweise auf
diese ehemaligen Rechtsbräuche enthalten sind.

Man denke etwa an Wendungen wie mit Haut und Haar. Heute verwendet
man diese Formulierung, wenn man etwas Vollständiges, den ganzen
Menschen meint. Tatsächlich war ursprünglich eher das Gegenteil gemeint:
Nach einer Bestimmung im >Sachsenspiegel< durfte eine Frau, wenn sie
schwanger war, nur an Haut und Haaren gestraft werden: Gemeint war das
Haareabschneiden und das Auspeitschen mit Ruten - eine Schand- und
Körperstrafe also, die aber keine bleibenden Schäden hinterlassen sollte.

Auch die Wendung jemandem aufs Dach steigen geht auf eine alte Schand-
strafe zurück: Einem Schuldner, der seine Rückstände nicht begleichen
konnte, wurde das Dach abgedeckt.
Viele Redewendungen im Deutschen konnte Grimm auf typische mittel­
alterliche Vertragsformeln zurückführen, deren Bedeutung sich in ihrer Ent­
wicklung meist erweiterte: Die Wendung gang und gäbe verwendet man
heute, wenn man etwas als »allgemein gültig und anerkannt, als allgemeine
Praxis« bezeichnen will. Ursprünglich bezog sich gang und gäbe lediglich auf
einen Spezialbereich, die Münzwährung; die Formulierung legte fest, dass
eine Summe nur in umlaufender, also gängiger Währung gezahlt werden
durfte. Ähnlich liegt der Fall bei der Redewendung wer zuerst kommt, mahlt
zuerst. Hier handelte es sich ursprünglich um eine Bestimmung des >Sachsen-
spiegelsc der er zu der mul kumt, der melte. Sie legte fest, dass der Bauer,
der zuerst sein Korn zur Mühle brachte, Anspruch darauf hatte, dass es auch
zuerst gemahlen wurde.

Dass derartige alte Wendungen heute meist in einem anderen Bedeutungs­


zusammenhang gebraucht werden, ohne dass dem Sprecher der ursprüng­
liche Gehalt unmittelbar erkennbar wäre, hat Jacob Grimm nie kritisiert.
»Sprache«, so schrieb er in der Vorrede zum deutschen Wörterbuchs »ist
allen bekannt«, und sie ist zugleich auch »ein Geheimnis«. Aber wer ihre
Ursprünge erforscht, dem bietet sie Mittel und Möglichkeiten, sich ver­
gangenen Wirklichkeiten zu nähern:

Selbst der ganzen Sprache sämmtlicher Schatz bietet die merkwürdigsten


Mittel an Hand, vieles verschollen und verloren geschienene bleibt noch aus
ihr zu lösen.

Mit ihrer Arbeit haben die Brüder Grimm


nicht nur die Geschichten, Märchen oder
Rechtsbräuche, die sich hinter heutigen
Wörtern und Wendungen verbergen, zutage
gefördert. Sie haben eindrucksvoll bewie­
sen: Sprache hat ein kulturelles Gedächtnis,
das weit, manchmal sehr weit zurückreicht.

Viele gegenwärtige Redewen­


dungen und Ausdrücke lassen
sich aus der m ittelalterlichen
Gerichtssprache ableiten.
Femegericht, Federzeichnung,
Ende des 15. Jahrhunderts.
»Von W örtern eingeschneit« -
das Jahrhundertprojekt
Deutsches Wörterbuch

Die Dimensionen des von Jacob und Wilhelm Grimm begonnenen


>Deutschen Wörterbuchs< sind auch heute noch rekordverdächtig:
32 Bände und eine Bearbeitungszeit von 130 Jahren. Dass das d e u t­
sche Wörterbuch« darüber hinaus als Meilenstein der Lexikographie
gilt und zum Vorbild für Projekte wie das >Oxford Dictionaryc, aber
auch für Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache wurde,
verdankte es den visionären Ideen der beiden Brüder, auch wenn sie
nur die Buchstaben A bis E vollenden konnten.

bis an die scfiubtern ins deutsche Wörterbuch vergraben «

Die Geschichte des deutschen Wörterbuchs< begann 1837 mit einem poli­
tischen Paukenschlag. Deutschland befand sich mitten in der Ära, die heute
als Restauration und Vormärz bezeichnet wird. In den Jahrzehnten nach
dem Wiener Kongress suchten die Staaten des ehemaligen Deutschen Rei­
ches jede freiheitliche, demokratische oder konstitutionelle Regung mit
den Mitteln staatlicher Repression zu unterdrücken. In dieser Situation trat
1837 der reaktionär gesinnte Ernst August seine Regentschaft als König von
Hannover an. Der König brach mit der liberalen Politik seines Vorgängers,
löste das Parlament auf und beseitigte mit dem Patent vom 1. Oktober auch
formal die Verfassung. Der offene Verfassungsbruch wurde in der Öffent­
lichkeit und besonders an der Göttinger Universität heftig diskutiert. Doch
am Ende waren es nur sieben Professoren, darunter Jacob und Wilhelm
Grimm, die dem König die Stirn boten. In ihrer >Unterthänigsten Vorstel-
lung< erklärten sie, dass sie keine vom König einberufene Versammlung
anerkennen könnten, da es ihre Gewissenspflicht sei, dem früher geleiste­
ten Diensteid treu zu bleiben. Die Antwort erfolgte prompt: Am 11. Dezem­
ber wurden die Professoren wegen »staatsgefährlicher Gesinnung« ent­
lassen, drei von ihnen, darunter Jacob Grimm, zudem des Landes verwiesen.

Der couragierte Akt der »Göttinger Sieben«, die für Ihre konstitutionelle
Überzeugung den Verlust ihrer Stellung in Kauf genommen hatten, löste in
den deutschen Staaten eine beispiellose Welle der Sympathie und Hilfsbe­
reitschaft aus. Die Erklärung wurde zusammen mit den Porträts der Entlas-
Die Göttinger Sieben

Der Protest der »Göttinger


Sieben« wurde europaweit be-
kannt. Abbildungen mit den
Porträts der entlassenen Pro-
fessoren und .Nachdrucke des
Protestschreibens fanden gro-
ße Verbreitung. Jacob Grimm
(obere R. rechts), der Litera-
turhistoriker Georg Gottfried
Gervinus (obere R. Mitte)
und der Historiker Friedrich
Christoph Dahlmann (untere
R. Mitte) galten als die trei-
benden Kräfte der »Göttinger
Sieben«. Die drei Professoren
wurden des Landes verwiesen.

senen im Druck verbreitet, selbst auf Pfeifenköpfen wurden ihre Konterfeis


verewigt. In Leipzig gründeten Gelehrte und Geschäftsleute ein Komitee,
dessen Zweck einzig darin bestand, die »Göttinger Sieben«, die nun auch im
übrigen Deutschland keine Chance auf Anstellung hatten, materiell zu unter­
stützen. Unter diesen Unterstützern fanden sich auch die beiden Verleger
Karl August Reimer und sein Schwager Salomon Hirzel, denen gemeinsam
die Leitung der Weidmannschen Buchhandlung oblag.

Die beiden Verleger sahen die günstige Gelegenheit gekommen, eine alte
Projektidee wieder aufleben zu lassen. Mit Unterstützung des Philologen und
Germanisten Moriz Haupt unterbreitete Karl Reimer Wilhelm Grimm den
Vorschlag zu einem von ihm und seinem Bruder herauszugebenden großen
neuhochdeutschen Wörterbuch, das den Zeitraum von Luther bis Goethe
umfassen sollte. Wie weit der Arbeitsbeitrag der Brüder tatsächlich gehen
sollte, ließ Reimer vorsichtig in der Schwebe: »Daß Ihre und Ihres Herrn
Bruders Anwesenheit besonders für den Anfang von ungemeinem Nutzen
66

sein würde, ist einleuchtend.«1Moriz Haupt fasste dies noch vorsichtiger:


In Wilhelms und seines Bruders Arbeiten solle das Wörterbuch nicht störend
wirken. Für die Arbeit des »mechanischen stoffsammelns« seien »andere, ge­
ringere kräfte zu verwenden«.1 2Jacob Grimm dagegen gab sich, was den
Arbeitsaufwand betraf, kaum Illusionen hin. Dem Fünfzigjährigen graute vor
der Unternehmung. Ihm schien seine verbliebene Lebenszeit nicht einmal
ausreichend, die laufenden Projekte zu Ende zu führen. Verlockend und wohl
ausschlaggebend für die Annahme des Vorschlags war aber die Unabhängig­
keit von staatlicher Willkür, die beide am eigenen Leib erfahren hatten: »In der
Stimmung, in der ich gegenwärtig bin«, schrieb Wilhelm an Jacob, »ist mir
der Gedanke an sich recht, von jedem Staatsdienst unabhängig zu sein.«

Inzwischen waren die Verhandlungen mit der Weidmannschen Buchhand­


lung schon so weit gediehen, dass im September 1838 ein erster Vorvertrag
geschlossen werden konnte, in dem die Umrisse des Wörterbuchs festgelegt
waren: Sechs bis sieben eng bedruckte Bände sollte das Werk umfassen;
als Bearbeitungszeit waren sechs bis sieben Jahre vorgesehen. Die Auflagen­
höhe veranschlagten die Verleger mit 5000 Exemplaren, den Autoren stand
ein jährlicher Vorschuss von 1000 Talern zur Verfügung.34

......................... ;............................................................... ;.......................... «


Von atten arbeiten, die ich jemaCs vorgenommen, bat kleine scbxverer
a u f meinen schuCtem gedrückt als die des Wörterbuchs/

Jacob Cnmm

» ------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Etwa zeitgleich begann die Einweisung und Vorbereitung der fast 100 Ex-
zerptoren, die auf kleinen Zetteln Wortbelege aus den Schriften der Dichter
und anderer Schriftsteller herausziehen sollten. Aber auch die Brüder blie­
ben nicht untätig. »Ich hacke«, teilte Jacob mit, »täglich ein paar Stunden
Holz, d. h. ich arbeite an den Sammlungen für das Wörterbuch«. Der mun­
tere Ton sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wörter­
buch, wie er später bekannte, schwer auf seinem Gemüt lastete.

1 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs 1838-1863. Stuttgart 1980, S. 53.
2 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 54.
3 Kirkness, Alan: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm.
In: Klaus B. Kaindl (Hg.): Die Brüder Grimm in Berlin. Katalog zur Ausstellung. Stutt-
gart 2004, S. 154-165, S. 154.
4 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 226.
67

Tatsächlich sahen sich die Brüder trotz ermutigenden Zuspruchs befreun­


deter Gelehrter erheblichen Problemen gegenüber: Die Qualität der einlau­
fenden Belegzettel erwies sich vielfach als mangelhaft, so dass Nacharbeiten
notwendig waren. Erschwerend kam hinzu, dass notwendige Hilfe, mit der
die Brüder fest gerechnet hatten, ausblieb: Noch in seinem Todesjahr dachte
Jacob nicht ohne Bitterkeit an den verweigerten Beistand zurück:

ich erwartete damals in meinen Gedanken ersthafte [sic] Unterstützung


des Wörterbuchs von einigen freunden, die sehr befähigt dazu schienen,
keiner hat aber dafür gewirkt. Lachmann that nicht das mindeste und
scheint gering von dem erfolg des werks gedacht zu haben... Meuse­
bach spottete heimlich über die arbeit, er selbst, geschickt einzelne Wörter
bis in die spitzen zu treiben, war untaugend ihren verhalt im Zusammen­
hang zu erkennen.5

Selbst Moriz Haupt, der so intensiv für das Wörterbuch geworben hatte,
trug selbst nichts dazu bei.

Auf der wirtschaftlichen Seite deutete sich jedoch Entspannung an. Die
nationale Bedeutung des deutschen Wörterbuchs< war auch den Regie­
rungen der deutschen Länder nicht verborgen geblieben. Und so lud der
preußische König Friedrich Wilhelm IV. auf den Rat Alexander von Humboldts
hin die Brüder 1841 als Privatgelehrte nach Berlin, damit sie dort, ausge­
stattet mit einem Gehalt von jährlich 3000 Talern, ihre Arbeiten an dem
Monumentalwerk fortsetzen konnten. Zudem besaßen sie als Mitglieder
der Preußischen Akademie der Wissenschaften das Recht, an der Universität
Vorlesungen zu halten. Damit war die wirtschaftliche Existenz der Brüder
gesichert. Von da an lebten und arbeiteten sie in Berlin.

Ein weiteres Problem vertagten Jacob und Wilhelm schlicht und einfach:
Beide waren sich sehr wohl derTatsache bewusst, dass ihnen in der Wörter­
bucharbeit jede Erfahrung fehlte. Nicht nur die Frage, wie man eine der­
artig riesige Belegfülle organisatorisch bewältigen konnte, blieb offen. Auch
wissenschaftlich betraten sie Neuland. Ein historisches Wörterbuch, das
einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren abdeckte, dessen etymologische
Herleitungen bis in germanische Zeiten zurückreichen sollten, war bis dahin
ohne Beispiel.

5 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 261.


68

Konzept oder Vision?


Im Jahr 1846, kurz vor Beginn der eigentlichen Bearbeitung, wagten sich die
Brüder zum ersten Mal direkt an die Öffentlichkeit. Es erwies sich dabei als
Segen und Fluch für das >Deutsche Wörterbuchs dass sich die Brüder dem
Vorhaben bewusst als »Fachfremde« näherten, denn sie orientierten sich
nicht an vorangegangenen Vorbildern. Vielmehr stellten sie die Kernfrage
neu: Wozu braucht eine Sprachgemeinschaft überhaupt ein Wörterbuch der
eigenen Muttersprache? Welchem Zweck soll es dienen? Die Antwort, die
die Brüder auf diese Grundfragen gaben und die Wilhelm Grimm 1846 in sei­
ner Rede vor der Frankfurter Germanistenversammlung vorstellte, brach mit
allen bisherigen Traditionen, und sie provoziert mit ihrem Plädoyer für die
unbedingte Freiheit der Sprache erstaunlicherweise bis heute.6

Titelbild zum
>Deutschen Wörterbuch<

Jacob Grimm (rechts) fand sich nur wider-


willig mit dem Titelbild zum »Deutschen
Wörterbuch» ab. Dem Stahlstich lag eine
Fotografie des bekannten Port rät fotograten
Hermann Biow zugrunde, die Jacob Gnmin
nicht mochte. Doch der Graveur hatte das
Bild nach Jacobs Meinung eher noch ver-
schlimmert: »»was in meinem gesicht durch
das daguereotyp getroffen war, hat der Engel-
hard oder Engelmann in fünf oder sechs Sit­
zungen, mit denen er mich peinigte, wieder
verwischt.«

Bevor Wilhelm in seiner Rede zur eigentlichen These seiner Argumentation


kam, lenkte er die Aufmerksamkeit der Zuhörer - so wie dies auch heute
noch häufig geschieht, wenn Sprachpflege im weiteren Sinne betroffen ist -
dem westlichen Nachbarn Frankreich zu: Wenn ein Franzose sich über die
Bedeutung eines Wortes im Unklaren sei, wenn er nicht wisse, ob es in der

6 Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch. In: Grimm, Wilhelm:
Kleinere Schriften. Hg. von Gustav Hinrichs. Bd. 1. Berlin 1881, S. 508-520.
7 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 261.
_^£_

Schriftsprache überhaupt zulässig sei, wenn er fürchte, orthografisch einen


Fehler zu machen, so greife er zum Gesetzbuch. Und das sei in seinem Fall
das Wörterbuch der französischen Akademie: »Er schlägt nach und findet
eine Entscheidung, welche, um mich juristisch auszudrücken, kein Gericht
wieder umstoßen darf, mit andern Worten, er schreibt korrekt und ist gegen
jeden Tadel gesichert«.8

Tatsächlich ist dieser vermeintlich »französische« Gebrauchsfall eines Wör­


terbuchs bis heute aktuell. Die Rechtschreibung ist normiert - vielleicht
weit strenger, als die Brüder Grimm sich dies vorstellen konnten. Und man
schlägt im Wörterbuch nach, um die korrekte Schreibung herauszufinden,
vielleicht auch, um sich über die Bedeutung oder die grammatischen Eigen­
schaften eines Wortes zu informieren. Stets steckt dahinter die unausge­
sprochene Überzeugung, dass es für jedes Wort eine verbindliche Norm
und nur eine gültige Verwendungsweise gibt. Und genau im Gegensatz
zu dieser damals wie heute verbreiteten Vorstellung arbeitete Wilhelm
mit scharfem Skalpell den radikal andersartigen Standpunkt der Brüder
Grimm zu Sprache und Sprachnormierung heraus.

Für Wilhelm stehen Sprachnorm und Sprachwirklichkeit im krassen Wider­


spruch zueinander: Hinter der scheinbar perfekten, glänzenden Fassade
gedruckter Werke sehe es ganz anders aus. Und als Kronzeuge diente aus­
gerechnet der ungeliebte Napoleon Bonaparte, dessen stilistische und
sprachliche Fähigkeiten Grimm gleichwohl würdigte: »er drückte sich vor­
trefflich aus, scharf, bestimmt, wie es die französische Sprache vermag, er
schlug den Nagel auf den K o p f..., aber er schrieb erbärmlich.« Gemeint
war die Rechtschreibung - der Korse gilt bekanntermaßen als berühmtester
Legastheniker der Weltgeschichte. Doch nicht in den mangelnden ortho­
grafischen Fähigkeiten sah Wilhelm das eigentliche Problem, sondern in der
nachträglichen vermeintlichen Verbesserung und Glättung: Natürlich könn­
ten »Handlanger« das Fehlerhafte bessern und die Orthografie berichtigen,
die Sprache gewissermaßen auf einen gesetzlichen Fuß bringen. Dann
würde gedruckt und die Welt erfahre nichts von dem eigentlichen Zustand,
»der dahinter besteht und das einzig wahre ist«. Dieses Rohe, manchmal
Verwahrloste, bisweilen Hingesudelte war für Wilhelm die Realität. Und alle
Versuche, Sprache zu bevormunden, würden letztlich ins Gegenteil des
Gewünschten Umschlägen. Sprache, so sein Fazit, dulde keine Fesseln.

8 Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch, S. 510.


70

Und hier sah er im Gegensatz zum Französischen auch den großen Vorteil
der deutschen Hochsprache, die sich ohne Eingriffe einer Akademie ent­
wickelt habe:

..................... - • .......... ; ....... — ....................... .......... .................... «


Vnsere Schriftsprache kennt keine G esetzgebung, keine richterCiche
'Entscheidung über das, was zufässig und was auszustoßen ist, sie
reinigt sich sefbst, erfrischt sich u n d zieht N ahrung aus dem (Boden,
in dem sie würzeCt.

Jacob grim m

Und der Boden der Schriftsprache, das war für Wilhelm Grimm die Münd­
lichkeit, die sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts und in den Jahrhun­
derten davor in den Dialekten äußerte. Die Schriftsprache, die er hier mit
der Hochsprache gleichsetzt, schwebt dieser Vorstellung nach gewisser­
maßen über allem und nimmt die Einflüsse der verschiedenen Dialekte in
sich auf - ohne dass es dazu einer lenkenden Institution bedarf. Genau
dieses Verhältnis zwischen Hoch- bzw. Schriftsprache und mündlicher
Sprachrealität nimmt Wilhelm als Matrix für das >Deutsche Wörterbuchc

Sie sehen, meine Herren, wo ich hinaus will, welches Ziel ich dem Wörter­
buch stecke. Sollen wir eingreifen in den Sprachschatz, den die Schriften
dreier Jahrhunderte bewahren? entscheiden was beizubehalten, was zu
verwerfen ist? sollen wir, was die Mundarten zugetragen haben, wieder
hinausweisen? den Stamm von den Wurzeln ablösen? Nein, wir wollen
der Sprache nicht die Quelle verschütten, aus der sie sich immer wieder
erquickt, wir wollen kein Gesetzbuch machen, das eine starre Abgrenzung
der Form und des Begriffs liefert, und die nie rastende Beweglichkeit der
Sprache zu zerstören sucht. Wir wollen die Sprache darstellen, wie sie
sich selbst in dem Lauf von drei Jahrhunderten dargestellt hat, aber wir
schöpfen nur aus denen, in welchen sie sich lebendig offenbart.9

Was Wilhelm hier vorwegnahm, gilt in der modernen Wissenschaft unter


dem Stichwort deskriptive Linguistik als Standard: die möglichst wertungs­
freie, nicht vorschreibende Form der Sprachbeschreibung, die sich in erster
Linie auf empirische Beobachtung stützt. Sie bildet - allerdings mit Aus-

9 Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch, S. 513.


71

nähme der Orthografie - auch heute noch eine der Grundsäulen der
modernen Lexikographie. Und ebenso wie bei den Brüdern Grimm liegen
den modernen Wörterbüchern riesige Sprachkorpora zugrunde.

Der Anspruch, die Sprache möglichst in ihrem tatsächlichen Vorkommen


darzustellen, hatte auch Folgen für ein wichtiges Element eines jeden
Wörterbuchs: die Bedeutungserklärung. Einer abstrakten Definition standen
die Brüder, besonders Wilhelm, kritisch gegenüber, sie erinnere zu sehr an
»Gesetzgebung«. Die Bedeutung sollte durch den Gebrauch im konkreten
Einzelfall offenbar werden: »Ich hoffe, es wird dem deutschen Wörterbuch
gelingen, durch eine Reihe ausgewählter Belege darzutun, welcher Sinn in
dem Wort eingeschlossen ist, wie er immer verschieden hervorbricht, anders
gerichtet, anders beleuchtet, aber nie völlig erschöpft wird; der volle Gehalt
läßt sich durch keine Definition erklären.«101

Damit hatte Wilhelm 1846 vor der Germanistenversammlung die Pflöcke


eingeschlagen und die visionären Umrisse des Wörterbuchs enthüllt. Eine
schlüssige Konzeption blieb er jedoch schuldig. Ungeschickt sei es, schon
jetzt von der inneren Einrichtung des Wörterbuchs oder von der Weise zu
reden, wie beide gedachten, den kaum zu überschauenden Stoff zu bewälti­
gen. Und tatsächlich hatten die Brüder noch keine klare Vorstellung: Bis zum
Erscheinen des ersten Bandes lag nicht einmal für den internen Gebrauch ein
Plan vor.11

Am Anfang war das W ort


Zum Zeitpunkt der Rede hatte
die Exzerptionsphase bereits
erheblich länger gedauert als
geplant. Gehofft hatten die
Brüder, schon 1840 mit der
Ausarbeitung und Redaktion
beginnen zu können, tatsächlich
war man noch 1847 damit
beschäftigt, die Belegzettel Die Titelvignette zum >Deutschen Wörterbucln
alphabetisch zu sortieren. mit dem Bibelzitat »am anfang war das wort«

10 Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch, S. 513.


11 Haß, Ulrike: »alle weit erwartet hier eine erklärung von mir« - Jacob Grimms
Vorrede zum Deutschen Wörterbuch zwischen Apologie und Programm.
In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 25/1997, S. 1-21, S. 3.
72

Insgesamt häuften die Mitarbeiter bis zu Beginn der 50er Jahre über
600.000 Belegzettel an, hinzu kam noch das umfangreiche Material, das
Jacob und Wilhelm selbst beisteuerten. Als es an die konkrete Bear­
beitung ging, teilten sich die Brüder die Arbeit in der für sie charakteris­
tischen Weise auf: Jacob übernahm die Buchstaben A, B und C, Wilhelm
sollte mit D einsetzen.

Im Oktober 1848, kurz nach seinem Ausscheiden aus der Frankfurter Natio­
nalversammlung, begann Jacob Grimm mit der eigentlichen Redaktions­
phase und arbeitete sich nun in der ihm eigenen Emsigkeit durch die Text­
massen. Doch auch er geriet bisweilen an die Grenzen seiner Schaffenskraft.
In einem Brief von 1850 klagte er gegenüber dem befreundeten Politiker
Georg Gottfried Gervinus - auch er einer der »Göttinger Sieben« -, dass er
trotz Erkrankung schon wieder am Wörterbuch sitze. Dass die mit höchster
Intensität vorangetriebene Wörterbucharbeit auch in der Psyche ihre Spuren
hinterließ, kleidete Jacob Grimm in der Vorrede zum deutschen Wörter­
buch in ein beklemmendes Sprachbild:

im vorgerückten alter fühle ich, dasz die faden meiner übrigen angefang­
nen oder mit mir umgetragnen bücher, die ich jetzt noch in der hand halte,
darüber abbrechen, wie wenn tagelang feine, dichte flocken vom himmel
nieder fallen, bald die ganze gegend in unermeszlichem schnee zugedeckt
liegt, werde ich von dermasse aus allen ecken und ritzen auf mich andrin­
gender Wörter gleichsam eingeschneit, zuweilen möchte ich mich erheben
und alles wieder abschütteln. . . 12

Lob und Tadel: Zwei Spinnen im W örtergarten


Am 1. Mai 1852 - insgesamt 14 Jahre nach Beginn der ersten Vorbereitung -
lag die erste Lieferung des deutschen Wörterbuchs< vor. »Ein schöner Tag,
um mit einem schönen Werk ans Licht zu gehen«, schrieb der Verleger
Reimer optimistisch an Jacob Grimm. Und die freundliche Aufnahme
schien ihm Recht zu geben. Schon die Ankündigung im Verlagsprospekt
hatte ein teils euphorisches Echo gefunden: »Das deutsche Volk«, verkünde­
te das Literarische Centralblatt, »erhalte an diesem Buche ein Nationalwerk
im höchsten und umfassenden Sinne des Wortes.« Die Brüder Grimm seien
dafür »die denkbar geeignetsten Männer, die ein solches Projekt leiten

12 Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. Ilf.
73

Am Anfang w ar das W o rt
Ill l ! ' I H M

Als zwei Jahre nach Erscheinen der ersten


I.ieferung der erste Band des -Deutschen
W 0 U T K K B I (’ II
Wörterbuchs« 1854 komplett vorlag, schr ieb
Jacob Grimm einen warmen Dankesbrief an JAH>B (»KIMM tM> WILHELM «.KIMM.

den Verleger Hirzel. »Sie sollen keinen Un­

dank, nur dank ernten, für alles was Sie mit


liebevoller Sorgfalt zur ausschmückung des
wb. ausersonnen haben.« Dennoch hatteer
einiges auszusetzen. Die Titelvignette mit
dem Spruch »am an fang war das wort« fand
er unpassend. Die Vögel auf dem Eichenlaub
passten eher »zur Verzierung eines kinder-
märchen[s] nicht eines Wörterbuchs«.'

könnten«.14Auch auf der Leipziger Buchmesse erregte das Werk großes Auf­
sehen und wurde, wie der Verleger zufrieden vermerkte, »höchstens mit
Ausnahme einiger Neidhammel« durchweg gelobt. Wie bei größeren Lexikon­
projekten üblich, wurde das Werk in regelmäßig erscheinenden Einzelliefe­
rungen von 15 Bögen (120 Seiten) verkauft. So konnten die Leser mit der
ersten Lieferung einen ersten Einblick in das Werk nehmen und seine er­
staunliche Reichhaltigkeit und Tiefe bewundern.

Allerdings verzeichnete Reimer auch vereinzelt Kritik, und sogar eine gewisse
Ratlosigkeit war zu spüren. Es war offensichtlich, dass sich dieses Wörter­
buch gravierend von allem Bisherigen unterschied: Auffallend waren die
eigentümliche, historisierende Rechtschreibung, die Bedeutungsangaben,
die auf Latein gefasst waren, und die umfangreichen und teils umständ­
lichen wortgeschichtlichen Herleitungen. Karl August von Varnhagen sprach
wohl vielen aus der Seele, als er nach der Lektüre der ersten Seiten irritiert
in sein Tagebuch schrieb: »mitunter etwas eigensinnig«15. Was fehlte, war
eine programmatische Vorrede, eine Erläuterung zur Stichwortauswahl und

13 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 165.


14 Ebd. S. 137.
15 Haß, Ulrike: »alle weit ...«, S. 1.
74

zur Artikelstruktur. Selbst auf einfachste Benutzerhinweise musste der Leser


verzichten. Den zaghaften Vorschlag des Verlegers, doch wenigstens die
Abkürzungen auf dem Umschlag der ersten Lieferung aufzuschlüsseln,
konterte Grimm mit dem Hinweis auf fehlende Zeit: Die Leser müssten sich
bis zum Schluss von Band 1 gedulden, das seien nun mal die »übelstände
der heftweisen erscheinung, aber unvermeidliche.«16

So hatten die Kritiker leichtes Spiel, zumal sie auf etliche Ungereimtheiten stie­
ßen, als sie versuchten, sich die lexikographischen Prinzipien aus dem vorhan­
denen Material zu erschließen. Dass die ersten Lieferungen noch mit Mängeln
behaftet waren, darüber gaben sich die Brüder Grimm keinen Illusionen hin.
Die Heftigkeit der Kritik, die noch im selben Jahr über das Wörterbuch herein­
brach, traf sie jedoch unvorbereitet und verletzte sie tief. Eine der Besprechun­
gen stammte aus der Feder des ehemaligen Gymnasialprofessors Christian
Friedrich Ludwig Wurm. Dieser konstatierte, dass das »W.[örterbuch] in keiner
Hinsicht den Anforderungen genüge, welche an ein für alle Stände geeignetes
Sprachwerk nach Recht und Billigkeit gestellt werden.« Für Deutschlernende,
für fremde Geschäftsleute, selbst für Schulen sei es unpraktisch. Zudem konn­
te er bereits für die erste kurze Wortstrecke 40 Stichwörter anführen, die die

Das Berliner Arbeitszimmer von Jacob Grimm


Hier entstand das -Deutsche Wörterbuch

16 Kirkness (1980), S. 137.


Brüder Grimm nicht aufgenommen hatten.17 Noch schärfer fiel die Kritik von
Daniel Sanders - auch er war Gymnasialprofessor - aus. Schon zu Beginn sei­
ner mehr als 300 Seiten starken Abrechnung zog er ähnlich wie Wurm das
vernichtende Fazit: »daß das Werk in seiner ganzen Anlage und großentheils
auch in seiner Ausführung durchaus verfehlt ist«. Er bemängelte auch das Feh­
len moderner Schriftsteller wie Heine, Börne oder Freiligrath, und er kreidete
den Grimms wie schon Wurm erhebliche Lücken bei der Wortauswahl an.
Als »noch nicht dagewesen« (Sanders markierte diesen Ausruf gleich mit zwei
Ausrufezeichen) und nahezu unglaublich erschien ihm dieTatsache, dass
selbst Äußerungen aus dem Munde von Dienstboten oder selbst Zeitungs­
annoncen als belegwürdig erachtet wurden.18

An den Kritiken von Sander und Wurm lässt sich leicht ersehen, dass sie ei­
gentlich ein Wörterbuch für den alltäglichen Gebrauch erwartet hatten. Nun
hätten Autoren und Verlag es sich leicht machen können und das >Deutsche
Wörterbuch< als ausschließlich historisches Wörterbuch für den wissenschaft­
lichen Gebrauch kennzeichnen können. Es wäre von der Fachwelt dann eben­
so wie ein Wörterbuch des Mittelhochdeutschen oder Althochdeutschen
wohlwollend zur Kenntnis genommen worden, um dann in den Bibliotheken
zu verstauben. Aber genau das lag nicht im Interesse der Brüder Grimm. Sinn
und Zweck des Wörterbuchs war eine Demonstration: Über den aktuellen all­
täglichen Wortschatz sollte auch dem wissenschaftlichen Laien ein Fenster in
die sprachliche Vergangenheit eröffnet werden. Schon Jahrzehnte früher, in
seiner Vorrede zur Grammatik, hatte Jacob Grimm diesen besonderen Blick­
winkel ausgehend von der Gegenwart in die Vergangenheit hervorgehoben:
Spuren des Alten, die in der jetzigen Sprache noch »trümmerhaft und gleich­
sam versteint stehen geblieben«, seien ihm dann deutlich geworden, »wenn
das Neue sich zu dem Mitteln reihen konnte und das Mittele dem Alten die
Hand bot«.19 Kurz: Für Jacob Grimm war die Etymologie »Salz und Würze des
Wörterbuchs«.20 In einem deutschen Wörterbuch sei es Pflicht, allen Mitteln
und Handhaben nachzugehen, die die Sprache selbst biete.21 Als Beispiel
für diesen Anspruch sei hier ein Auszug für den Artikel Bahn zitiert, der den
sprachgeschichtlichen Zusammenhang zum Wort Wunde herstellt:

17 Wagner, Doris: Christian Friedrich Wurm (1801-1861) Der von Jacob Grimm ver-
schmähte DWB-Mitarbeiter und seine Wortsammlung. In: Denecke, Ludwig (Hg.):
Brüder Grimm Gedenken. Bd. 13, S. 133-143, S. 137.
18 Kirkness, Alan: Geschichte des deutschen Wörterbuchs, S. 188.
19 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Göttingen 1819. S. XVII.
20 Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. XLVII.
21 Grimm: Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Sp. LI.
76

B A H N [ b a n ] , f. v ia trita , e i n f ü r d ie g e s c h i c h t e u n s e r e r s p r ä c h e l e h r r e i c h e s w o r t :

g o t h . f i n d e n w ir b a n j a v u i n u s , a g s . b e n n , ( . . . ) e n g l, b a n e g if t u n d v e r d e r b e n ,

d a s w ill s a g e n m o r d u n d t o d s c h l a g , ... So u n v e r e i n b a r a n fa n g s a u c h d ie b e ­

g r if f e t o d s c h l a g u n d s t r a s z e s c h e i n e n , b e i d e r e ih e n m ü s s e n e i n e r q u e l l e e n t ­

f l o s s e n s e in , w i e d i e b e d e u t u n g le h r t , s e t z e n w ir a ls w u r z e l b a n fe rire , s o e n t ­

s p r i n g t d a r a u s b a n ja rrX g y g , it. fe r ita , d i e g e s c h l a g n e w u n d e , b a n a p e r c u s s o r ,

t o d s c h l ä g e r , u n d b a h n , v ia trita , le c h e m i n b a t t u , d i e v o n f ü s z e n u n d w a g e n

g e tre tn e , b r e it g e s c h la g e n e stra sz e . n ic h t a n d e rs s a g te m a n d ie s tra fe , d e n

w e c b e rn , d e n w e g t r e t e n ...

Die sprachgeschichtlichen Dimensionen der Wörter wurden dem Leser


aber nicht nur mittels etymologischer Beschreibungen vor Augen ge-
führt, sondern vor allem durch die große Anzahl historischer Belege,
anhand derer das ganze historische Bedeutungsspektrum der Wörter
aufgefächert wird. Auch ulitergegangene Bedeutungen werden dabei
aufgenommen:
5) auf die bahn kommen, h era u s k o m m en , ersch ein en : wann sie die heili-
gen hochpieisen. so kompt gleich die anrufung der heiligen aui die ban.
h ien en k . 37b;
so wird er kommen auf die bahn,
dich hören und beschützen. Ringwald g e i s t l . lied . E 5b:

6) auf die bahn bringen, a u fs t a p e t , v o r b i in gen : er wollte die sache auf


die bahn bringen. Wickram r o l lw . 88;
das du grob zotten bringst auf dban. bcheit grob, g 2;

könt seltzam gschicht auf die bahn bringn. Ayrerf a s t n 7a,

Auch wenn die Kritiker die tatsächliche Bedeutung des Wörterbuchs nicht
erkannt hatten, so zeigte sich doch, dass, Jacob und Wilhelm Grimm ihr Lese­
publikum überfordert hatten. Das Projekt erwies sich als wissenschaftlich zu
ambitioniert, um wirklich für einen größeren Leserkreis interessant zu sein.
Dennoch betonte Jacob in der Vorrede zum ersten Band des >Deutschen
Wörterbuchs< noch einmal, dass das Wörterbuch auch für den Laien »im
edelsten sinne practisch« sei. Seine Kritiker Sanders und Wurm bedachte er
mit einem boshaften Seitenhieb, der ihm selbst nicht zur Ehre gereichte:
77

Zwei spinnen sind auf die kräuter dieses wortgartens gekrochen und haben
ihr gift ausgelassen, alle weit erwartet hier eine erklärung von mir, ihnen
selbst würde ich nie die ehre anthun eine Silbe auf die roheit ihrer anfeindung
zu erwidern.22

Oberflächlich hatte die scharfe Kritik wenig bewirkt. Die Brüder Grimm und
der Verleger ließen sich nicht beirren, besonders Jacob arbeitete zügig weiter.

Auch wenn sich Jacob Grimm in seiner Vorrede demonstrativ unbeeindruckt


gab, so leitete die Kritik langfristig einen Paradigmenwechsel ein. Das Pub­
likum wandte sich ab, abgeschreckt auch durch den langsamen Erschei­
nungsverlauf. Dafür aber brachten Sprachwissenschaftler und Historiker
dem deutschen Wörterbuch< größere Aufmerksamkeit entgegen.

.......................;..............................................................................................«
(Berliner Z eitungen von 1825? - aber daß derartige Zeitungsannoncen
f ü r die Cjebrüder Cjmnm als (Beweissteden geh en können... das ist!!!
noch nicht dagew esen!! cM an muß es sehn, um es zu glauben!!!

(D anielSanders, Tintiger des »(Deutschen 'W örterbuchs«

Zunehmend rückte damit nicht mehr so sehr die baldige Fertigstellung des
Projekts in den Fokus, sondern eine möglichst umfassende, wissenschaftli­
chen Kriterien genügende Belegbasis. Dieser wachsende Anspruch sollte
sich vor allem nach dem Tod der Brüder massiv auf das Projekt auswirken,
er trat aber schon in dem Moment zutage, als Wilhelm Grimm mit dem
Buchstaben D in die Wörterbucharbeit eintrat. Seine Arbeitsweise unter­
schied sich grundlegend von der Jacobs und sollte die Verleger vor völlig
neue Probleme stellen.

Abschiede vom W örterbuch


Nach Erscheinen des 1. Bandes 1854 hatte Jacob so weit vorgearbeitet,
dass er schon im März 1855 die letzten Manuskriptseiten von C an Hirzel
schicken und sichtlich erleichtert seine wohlverdiente Auszeit vom Wörter­
buch ankündigen konnte: »ich gönne mir die erholung in die ich jetzt blicke«.
»Erholung«, das hieß für einen Jacob Grimm freilich nicht Müßiggang, viel-

22 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd 1, Sp. LXVII1


78

mehr fand er nun endlich die Zeit, sich anderen Projekten zu widmen. Über
Wilhelms Mitarbeit und die Art, wie sich die Brüder die Arbeit aufgeteilt
hatten, war Hirzel allerdings mehr als unglücklich. Es erwies sich, dass Wil­
helm nicht nur erheblich langsamer und bedächtiger arbeitete. Er wich
auch erkennbar von den Methoden Jacobs ab. Das stellte den Verlag, der
auf regelmäßige Lieferungen angewiesen war, um seine Kunden nicht zu
verlieren, vor erhebliche Probleme. In zahlreichen Briefen beschwor Hirzel
Jacob, die Beiträge von Wilhelm zu korrigieren, um wenigstens eine formale
Einheitlichkeit sicherzustellen. Doch Wilhelm und Jacob lehnten unisono
ab. Wilhelm stellte für diesen Fall seine Mitarbeit zur Disposition. Jacob ging
einem Konflikt mit seinem Bruder lieber aus dem Weg:

ich empfinde bei mir selbst den gröszten Widerwillen davor, Wilhelms
ausarbeitung vorher durchzusehen, in sie einzugreifen, es wäre mir,
als sei er gestorben und ich bekäme seine papiere in hand, vor rührung
würde ich keinen buchstab daran anders machen können.23

Die unterschiedlichen Redaktionsstile nahm Jacob notgedrungen in Kauf.


Immerhin ließ er sich so weit erweichen, dass er 1858 - früher als geplant -
wieder in die Wörterbucharbeit einstieg. Nun arbeiteten beide parallel -
ein Zustand, den Jacob lieber vermieden hätte, denn tatsächlich verlief die
gemeinsame Arbeit nicht immer so harmonisch, wie vielfach dargestellt:

Daß wir beide zugleich Wörterbuch arbeiten, hat auch äußerlich man­
ches gegen sich. Die Menge von Büchern die dabei gebraucht werden,
müssten bald hier bald dort weggenommen werden... Ich weiß nicht
ob sie sich unsre Hauseinrichtung deutlich vorstellen. Fast alle Bücher
sind an den Wänden meiner Stube aufgestellt und Wilhelm hat die größte
Neigung, sie in seine Stube zu holen, wo er sie auf Tische legt, daß man
sie schwer wieder findet. Trägt er sie aber an die alte Stelle, so ist ein
unendliches Thür-Auf- und Zuschlägen, das uns beiden lästig wird.
Dies ist nur ein äußeres Hindernis, das aus dem Zusammenarbeiten
hervorgeht, die inneren sind viel schwerer. 24

Wilhelm schickte derweil alle vier Wochen kleinere Lieferungen an den


Verleger. Am 16. Dezember 1859, kurz nachdem er die letzten Manuskript-

23 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs, S. 222.


24 Ebd., S. 231.
seiten zum Buchstaben D abgeliefert hatte, starb Wilhelm Grimm im Alter
von 73 Jahren.

Jacob sah sich nun allein mit dem Wörterbuch konfrontiert, arbeitete aber
dennoch unbeirrt weiter. Hirzel teilte er mit, dass er den Buchstaben E bald
vollendet haben werde. Dennoch schritt die Arbeit des überlebenden Bru­
ders nun langsamer voran. Klagen über körperliche Gebrechen häuften
sich. Als Jacob allerdings eine kurze Auszeit nehmen wollte, reagierte Hirzel
alarmiert, sah das »Gespenst der verlorenen Jahre 1855 bis 1858« wieder
vor sich und bestürmte Jacob, seine Arbeit fortzusetzen. Jacob gab dem
Drängen nach und versprach weiterzuarbeiten, plante seine Arbeiten sogar
bis über den Buchstaben G hinaus. Bereits F konnte er jedoch nicht mehr
vollenden. Am 20. September 1863 starb er bei der Ausarbeitung des Stich­
wortes »Frucht«: Friedrich Karl Weigand kommentierte diesen denkwürdi­
gen Einschnitt in der einzigen Fußnote des Werkes: »Mit diesem worte sollte
Jacob Grimm seine feder von dem werke leider für immer niederlegen,
das übrige bis zu ende des so weit geführten buchstabens ist meine arbeit.«
Es begann nun die Arbeit der Nachfolger, die sich über mehr als ein Jahr­
hundert erstrecken sollte.

Jahrhundertprojekt >Deutsches Wörterbuch<

1863-1908 Nach dem Tod Jacob Grimms arbeiten Friedrich Karl Weigand, Moriz
Heyne und Rudolf Hildebrand am »Deutschen Wörterbuch« weiter.
1908-1930 Die Preußische Akademie der Wissenschaften übernimmt die wissen-
schaftliche Leiiung des Werks, ln Göllingen wird eine Zentralsammel-
stelle eingerichtet, die 2 Millionen neue Wortbelege sammelt
1930-1947 Inhaltliche und organisatorische Neuerungen verändern die Arbeit am
»Deutschen Wörterbuch«: Die Struktur der Wörterbuchartikel wird ver-
einheitlich!. In Berlin wird eine zentrale Arbeitsstelle eingerichtet.
1947-1971 Die beiden Arbeitsstellen in Göttingen und Ost-Berlin arbeiten gemeinsam
an der Fertigstellung des »Deutschen Wörterbuchs«. 1960 erscheinen die
letzten drei Bände, 1971 wird ein Quellenband erarbeitet.
1957 bis heute Beginn der Neubearbeitung der Bände A-F durch die Berlin Branden-
burgische und die Göttinger Akademie der Wissenschaften
1998-2003 Erstellung einer digitalen Volltextausgabe des »Deutschen Wörterbuchs«
80

Von Schneegäcken, Miirfeltieren


und Froteufeln - eine ungewöhnliche
Reise durch das
>Deutsche W örterbuch/

Wohl kein Mensch hat je die 67.000 Spalten des >Deutschen


Wörterbuchs< von A - Z komplett durchgelesen. Dennoch war
es eine liebevoll gehegte Vorstellung der Brüder Grimm, dass
man in ihrem W örterbuch wie in einem Märchenbuch lesen
könne. Und tatsächlich findet man unter der scheinbar trocke­
nen lexikographischen Oberfläche spannenden, oft sogar
humorvollen Lesestoff.

Walter Jens hat das >Deutsche Wörterbuch< einmal als »gewaltiges Warenhaus
des Geistes« bezeichnet, als »abenteuerliches Lesebuch, das dem Leser oft
genug den Atem stocken lässt«.1Wer das Wörterbuch aufschlägt oder - was
inzwischen auch möglich ist - es auf digitalem Wege durchblättert, findet die­
se Einschätzung schnell bestätigt. Spalte für Spalte entfaltet sich ein unge­
heuer mannigfaltiger, facettenreicher Wortschatz, stößt man auf Wörter wie
Federleser, sauersichtig, anzicken, Orlog oder Raspelhaus. An jeder Stelle des
Wörterbuchs spürt man den Impetus der Brüder Grimm und der nachfolgen­
den Bearbeiter, dem Leser - wie Wilhelm es einmal formulierte - »das Gefühl
für das Leben der Sprache zu erfrischen«1 2. ---

<Der Cjroße Cjrimm ist ein (Bazar; ein gew altiges


‘W arenhaus des f e i s t e s . . .
W alter Jen s

1 Jens, Walter: Das Vorratshaus der Deutschen: Zur Geschichte und Bedeutung des
Grimmschen Wörterbuchs. In: |ens, Walter: Reden. Leipzig und Weimar 1989, S. 261t.
2 Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Erster Rand. Hg. v. Gustav Hinrichs.
Berlin 1881, S. 516.
Marktplatz Sprache: A u b e i! - W u p p d ich - N u m m e r d u m
Kunterbunt und lautstark geht es im Wörterbuch bisweilen zu, so dass man
sich an das Sprachgewirr auf einem Marktplatz erinnert fühlt. Dazu tragen
die zahlreichen Ausrufe der Überraschung oder des Schmerzes Äks!, Aubei!,
Autsch! ebenso bei wie die zahlreichen Schallwörter Bardouz!, Boltribol!,
Bumbs!, Klitschklatsch!, Nummerdum!, Puff!, Wischiwaschi! oder Wuppdich! -
lautmalerische Bildungen, die den Kreationen heutiger Comic-Autoren in
nichts nachstehend Dass das »Deutsche Wörterbuch« das »Ohr am Volk«

Nicht nur bei Max und Moritz:


Auch das »Deutsche Wörterbuch«
überliefert zahlreiche Spott- und
Schim pfnam en für die Schneider.

Und schon ist er auf der Brücke,


Kracks! Die Brücke bricht in Stücke;

hatte, zeigt sich einmal mehr an den zahlreichen Schimpf- und Spott­
namen, die sich die Menschen in den vergangenen 400 Jahren an den
Kopf warfen. Besonders schlecht scheint es dabei der Berufsgruppe der
Schneider ergangen zu sein, die sich Beleidigungen wie Fadenbeißer oder
Geißbock an hören mussten. Aber auch die nach Geschlecht differenzierten
Schmähungen wie Spillendrulle, Schneegacke, Kittelaffe, Löffelkatze, Husche
oder Fummel für Frauen und Ofenkriecher, Mürfeltier, Gienaffe, Hippenbube
oder Blotzwedelfür Männer zeugen von reichlich boshafter Kreativität. Oft
sind bei den Beschimpfungen Tiere im Spiel: So steht Schneegacke eigent­
lich für Dohle. Das Mürfeltier bezieht sich auf das Murmeltier, wobei mür-
feln auch die Kaubewegungen zahnloser alter Menschen bezeichnet. Bei

3 Schmidt, Hartmut: Was bietet das Deutsche Wörterbuch seinen Lesern? In: FriemeL
Berthold (Hg.): Brüder Grimm Gedenken. Bd. 16. Stuttgart 2005, S. 161-176.
82

STtamcn6m ©ürcfung I 2

Auch alte Kräuter- und M edizinbücher


werteten die Brüder Grimm als Quellen aus,
SSinfaag. !Cet*3tfflc(m.
oftmals mit überraschenden Ergebnissen.
Seite aus: Hieronymus Bock, genannt
Tragus (1498-1554): >new kreütter büche
Straßburg 1577.

Gienaffe geht das Wort affe allerdings nicht


auf das Tier zurück, sondern auf das Adjektiv
offen. Ebenso wie bei der Redewendung
- S S S ä S S - Maulaffen feilbieten steht das Schimpfwort
Gähnaffe für einen dummen Menschen, der
jemanden verständnislos mit offenem Mund
angafft. Ein Hippenbube bezieht sich auf die
sozial wenig anerkannte Tätigkeit des Waffel-
Verkäufers, der seine Ware auf der Straße und in Wirtshäusern mit einem
lauten »Hipp!« anpries.

und d u r c h g e h e c h e l t - was Kräuterbücher


a b g e f e im t
über Wörter und Wendungen verraten können
Dass einige Stichwörter des deutschen Wörterbuchs< so anders wirken
als die Einträge in heutigen lexikographischen Werken, liegt auch an der
besonderen Sammelleidenschaft der Brüder Grimm, die sich bei ihrer Jagd
nach Wörtern nicht nur mit gebräuchlichen oder neu gebildeten Wörtern
beschäftigten. Auch den modernen Wortschatz, z. B. aus den Naturwissen­
schaften oder dem sozialen Bereich, registrierten sie - anders als die späte­
ren Bearbeiter des Wörterbuchs bisweilen allerdings etwas lückenhaft.
Die Grimms suchten »besondere« Wörter - Wörter, die wertvollen Auf­
schluss über die frühere Sprachgeschichte des Deutschen versprachen. Die­
sem Anspruch wurden die Brüder voll und ganz gerecht. So werteten sie
neben Werken von Luther und Goethe eben auch Predigten, Kräuterbücher,
Verträge, Apothekerschriften, Handwerksbücher und vieles mehr aus. Die
Ergebnisse vermitteln Einsichten in den deutschen Wortschatz, die noch
heute verblüffen. Man denke nur an das schöne, wiewohl rätselhafte Wort
abgefeimt, das sich so passend zum abgefeimten Schurken fügt, dessen
eigentliche Bedeutung uns jedoch nichts mehr sagt. Überraschenderweise
helfen Rezept- und Arzneibücher des 16. Jahrhunderts auf die Sprünge:
83

So führt Jacob Grimm unter dem Stichwort abfeimen den Beleg aus einem
alten Kräuterbuch an: »dasz man wasser und honig in einem kessel sieden
lasse und jederzeit abfeime, bis es ganz klar wird.«

Durch das Beispiel wird die ursprüngliche Bedeutung sofort greifbar: Beim
kochenden Sud wird der Schaum - das alte Wort lautete Feim - abgeschöpft,
bis das Gebräu klar wird. Während Substantiv und Verb in der Sprache immer
seltener gebraucht wurden und heute praktisch aus unserem Wortschatz
verschwunden sind, überdauerte die Partizipform abgefeimt, wobei die
ursprünglich neutrale Bedeutung (>rein<, >geklärt<) immer stärker negativ
besetzt wurde. Auch das zeigen die Zitate, die Jacob Grimm etwa von Goe­
the anführt: »du bist ein abgefeimter Spitzbube«. Heute verwendet man
abgefeimt im Sinne von besonders durchtriebene

Aber nicht nur Medizinbegriffe, auch viele Fachbegriffe aus dem Handwerk
haben sich im modernen Wortschatz erhalten, wenngleich sich ihre Bedeu­
tung völlig verändert hat. Ein typisches Beispiel ist die Wendung etwas durch­
hecheln. Mit dem hechelnden Hund hat dieser Ausdruck sprachgeschichtlich
wenig gemein. Vielmehr liegt ein Arbeitsschritt der Textilherstellung zugrunde.
Ein wichtiges Arbeitsinstrument zur Gewinnung von Pflanzenfasern war die
Fiechel, ein Brettchen, das eng mit dünnen, spitzen Stiften besetzt war. Durch
sie wurde der gebrochene Flachs gezogen, um die Fasern vom Werg zu
trennen - der Flachs wurde durchgehechelt. Der Begriff wurde offenbar
schon bald im übertragenen Sinne gebraucht, zunächst allerdings eher
im Sinne von >derb verspotten« oder >verhöhnen<.

» er, jedes Vorzugs unbewuszt,


empfindet grausam süsze fust
sieb selbst Ceichtfertig durchzuhecheln «
W dhefm g o tte r (1 7 4 6 -1 7 9 7 )

Märchen, Mythen, Aberglaube: Von F r o t e u f e ln ,


K a p a u n s te in e n , R u m p e lg e is t e r n und dem B u tz e n m a n n
Der letzte Artikel, den Jacob Grimm noch zum Abschluss bringen konnte,
war Froteufel. Diese eigenartig klingende Bezeichnung für einen Dämon
kann stellvertretend für einen ganzen Schatz von Wörtern aus Mythologie,
Märchen oder Volksglauben stehen. Hier befanden sich die Brüder Grimm auf
ihrem ureigenen Terrain und konnten auf ihre weitläufige Sammlung von
Sagen, Überlieferungen und Prozessakten zurückgreifen, die Jacob Grimm
84

Butzenmann oder Boggelmann:


Im Spanischen lautet die Bezeichnung für
diese Figur, die Kinder erschreckt, e l c o c o
(hier in einer Darstellung von de Goya).
Im d e u tsch e n W örterbuch; wird neben
sprachlichen auch auf solche kulturellen
Parallelen hingewiesen.

in seinem Werk >Deutsche Mythologie; um­


fassend ausgewertet hatte. Auf diese Vorarbei­
ten der Brüder griffen vor allem die späteren
Bearbeiter des >Deutschen Wörterbuchs; immer
wieder zurück. Und so gibt es im Wörterbuch
ein Wiedersehen mit bekannten Figuren wie
Aschenputtel, Frau Holle oder auch mit dem Butzenmann, der aus dem im
>Wunderhorn< überlieferten Kinderlied bekannt ist. Hier zeigt die im Wörter­
buch aufgearbeitete Überlieferungsgeschichte allerdings, dass die auch als
Boggelmann bekannte Figur vor allem als übler Kinderschreck ihr Unwesen
trieb und in Spanien als el coco bekannt und gefürchtet war.

Auch sonst stößt man immer wieder auf Ausdrücke, die von abergläubischen
Vorstellungen zeugen oder magische Gegenstände bezeichnen, wie etwa
den Armring aus Gold, mit dem man Geister erblicken kann, wenn man nur
hindurchsieht. Populär war auch der Kapaunstein, der dem Volksglauben ge­
mäß im Magen eines Masthahns heranwächst und dem heilende Kräfte zu­
gesprochen wurden. Immer wieder stößt man auf magische Kräuter wie die
Alraune oder die Wegwartwurzel, deren Genuss unverwundbar machen sollte:

die wegwartwurzeln soltu niecht(ern) essen, so magstu nit wund werden


von hauen noch von stechen.

Woher die Elben kommen - Die Brüder Grimm als


Ahnherren der Fantasy-Literatur
Jacob Grimm hatte auch wenig Skrupel, gebräuchliche Wörter abzuändern,
wenn ihm die Wortform nicht korrekt erschien. Ein Beispiel sind die in der
Fantasy-Literatur so reichlich vertretenen Elben. Das Wort Elb für Elf stellt
eigentlich eine rekonstruierende Sprachschöpfung Jacob Grimms dar. Im
Wörterbuch schreibt er:
85

elb, (...) habe ich statt des unhochdeutschen elf hergestellt, welches m an...
ohne Überlegung, dem engl, elf nachgebildet hatte; elf klingt in unsrer
spräche so, als wollten wir kalf, half anstatt kalb, halb sagen, ... ableitungen
wie Zusammensetzungen elbisch, Elbegast, Elbenstein, Elberich, Elblin sind
gewähr genug.

J. R. R. Tolkien, Autor des Fantasy-Klassikers >Der Herr der Ringe<, bewun­


derte die Werke der Brüder Grimm und ließ sich von den >Kinder- und Haus-
märchen< ebenso inspirieren wie von Jacob Grimms deutscher Mythologie«.4
Und ähnlich wie Jacob Grimm behagte auch ihm das englische Wort elf
nicht, weil er es als Resultat einer verfälschenden Überlieferung ansah. Er
war es, der unter ausdrücklicher Würdigung des deutschen Wörterbuchs<
die Übersetzung Elb vorschlug. Außerhalb der Fantasy-Literatur sucht man
das Wort freilich vergebens.

E l f e n oder E l b e n l - Jacob
Grimm hielt das Wort F/ffür
eine falsche Bildung und
schlug dafür E l b vor. J. R. R.
Tolkien schloss sich dieser
Meinung an. Filmszene aus:
»Der Herr der Ringe: Die
Rückkehr des Königs< (2003).

Einige der von den Grimms aufgenommenen ungewöhnlichen Wortschöp­


fungen sind der Zeit zum Opfer gefallen. Dies betrifft vor allem zeitgenös­
sische Ausdrücke der Umgangssprache wie spontan gebildete Schall- oder
Schimpfwörter. Andere hingegen haben sich im deutschen Wortschatz bis
heute erhalten, zum Teil in abgewandelter Form, zum Teil mit neuer, ver­
änderter Bedeutung. Dass ihre Herkunft heute noch bis zu ihrem Ursprung
zurückverfolgt werden kann, ist nicht zuletzt der akribischen Sammler-
Leidenschaft der Brüder Grimm und der lückenlosen Dokumentation dieser
Wörter und Wendungen im »Deutschen Wörterbuch« zu verdanken.

4 Shippey, Tom A.: The road to middle-earth. London, Boston 1982, S. 43-45.
Vom Zettelkasten zum Computer -
W örterbucharbeit damals und heute

Wörterbücher gelten als die Vorratskammer einer Sprache: Auf engs­


tem Raum versammeln sie eine riesige Informationsfülle zum W ort­
schatz. Aber wie kommen die Autoren eines Wörterbuchs eigentlich
an W örter und Wortbeispiele? Und wie gelingt es ihnen, die Material­
fülle zu bewältigen? Jede Zeit hatte ihre eigenen Rezepte, um diese
besonderen Herausforderungen zu bewältigen.

eine (Denhrfunst, welche die (Regeln des Verstandes


zur (Erforschung der (Wahrheit anwendet«

Als Jacob und Wilhelm Grimm ihre Arbeit am deutschen Wörterbuch<


begannen, hatten sie sicherlich mit vielen Problemen gerechnet, aber nicht
mit diesem: Gelehrte und offizielle Mitarbeiter, die Wörter und Belege sam­
meln sollten, schliefen, wie uns Jacob Grimm in der Vorrede zum ersten Band
des deutschen Wörterbuchs< verrät, ob der für sie ungewohnten Arbeits­
weise reihenweise ein:

......................................................................................................................«
die von befreundeten ... männern angelegten Zettelkasten blieben leer oder
unaufgethan: so schw er w ar es, vor dem langen w erfe den ersten eifer
wach zu erhalten u n d nicht bald in trägen Schlummerfa llen zu lassen.1

Jacob Cjnmm

An anderer Stelle lieferte Jacob Grimm auch eine Erklärung für dieses
Phänomen: Es habe nicht allen die volle Einsicht in das Ziel der Aufgabe
vorgeschwebt. Richtig war wohl, dass die Mitarbeiter schlicht und einfach
überfordert waren. Denn was die Brüder Grimm hier anstrebten, war Mitte
des 19. Jahrhunderts außerordentlich innovativ. Ihre Neuerungen läuteten
einen tiefgreifenden Wandel in der Lexikographie ein. Doch worin bestand
das Neue? Die Beantwortung der Frage hängt eng mit zwei Grundproblemen
zusammen, vor denen damals wie heute jeder Lexikograph steht: Woher
beziehe ich das Material? Wie organisiere ich die Arbeitsprozesse?

1 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. LXV.
87

Ein W örterbuch als Vorlage für andere W örterbücher


Vor den Brüdern Grimm hatten sich die Autoren von Wörterbüchern nur
selten der Mühe unterzogen, selbst zu recherchieren oder aufwendig Beleg­
material zu sammeln. Die wichtigste Quelle für Wörterbücher waren stets
andere Wörterbücher. Dies galt bereits für das erste zweisprachige Wörter­
buch im deutschsprachigen Raum, den um 765 entstandenen >Abrogans<.
Dessen Grundlage bildete eine lateinische Synonymensammlung, in die die
Mönche die althochdeutschen Übersetzungen eintrugen. Das erste latei­
nische Wort abrogans gab der Sammlung den Namen, und die althoch­
deutsche Übersetzung dokumentiert erstmals das schöne deutsche Wort
dheomodi (= >demütig<).

Das ganze Mittelalter hindurch orientierten sich die Wörterbücher einzig


und allein am Lateinischen. Daran änderte sich auch wenig, als Kaspar
Stieler 1691 mit seinem >Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fort­
wachs oderTeutscher Sprachschatz< erstmals ein Wörterbuch vorlegte,
bei dem das Deutsche im Mittelpunkt stand. Es beruhte zu einem großen
Teil auf dem Wortschatz lateinisch-deutscher Wörterbücher: Jedem
deutschen Lemma, jeder Redewendung war die lateinische Herkunft
zugeordnet.2

Dass so fleißig abgeschrieben wurde, wurde keinesfalls als Plagiat oder gar
als ehrenrührig betrachtet. Noch für Johann Christoph Adelung war die
Qualität eines Wörterbuchs überhaupt erst dann erwiesen, wenn es anderen
zur Vorlage diene.3 Der Grundgedanke ist leicht zu ersehen: In dem von
Dialekten und unterschiedlichen Orthografien zerrissenen deutschen Sprach-
raum sollte ein möglichst einheitliches Hochdeutsch als Leitsprache vorge­
geben werden. Das »Abkupfern« konnte der angestrebten Vereinheitlichung
nur zugutekommen. Inspiriert und gefördert wurden die Wörterbücher
des 17. und 18. Jahrhunderts von den Sprachgesellschaften, deren erklär­
tes Ziel es war, den Ausdrucksreichtum der Volkssprache zu demonstrieren
und damit das Deutsche als »Hauptsprache«, als eine dem Lateinischen und
Griechischen gleichwertige Bildungssprache zu etablieren. Dies ging einher
mit einer Kultivierung der Sprache, die von fremden und niederen Einflüssen
gereinigt werden sollte, wie die Grundsätze der Leipziger »Muttergesell­
schaft« veranschaulichen:

2 Haß, Ulrike: Deutsche Wörterbücher - Brennpunkt von Sprach- und Kultur-


geschichte. Berlin 2001, S. 81.
3 Haß, Ulrike: Deutsche Wörterbücher, S. 253.
88

Man soll sich allezeit der Reinigkeit und Richtigkeit der Sprache befleißigen;
das ist, nicht nur alle ausländische Wörter, sondern auch alle Deutsche
unrichtige Ausdrückungen und Provinzial-Redensarten vermeiden; so daß
man weder Schlesisch noch Meißnisch, weder Fränckisch noch Niedersäch­
sisch, sondern rein Hochdeutsch schreibe; so wie man es in gantz Deutsch­
land verstehen kann.4

In diesem Sinne verstanden sich die Wörterbuchautoren in erster Linie als


Sprachpflegen Und damit kommen wir zur zweiten wichtigen Quelle für
Wörterbücher: der Sprachkompetenz ihrer Autoren. Diese wählten eben
nicht nur die Stichwörter aus und entfernten Fremd- oder Dialektwörter,
sie waren vor allem schöpferisch tätig. So hat Adelung für sein Wörterbuch
mindestens ein Drittel aller Belege von seinen Vorgängern übernommen
aber über die Hälfte der Wortbeispiele selbst gebildet. Nur zu einem gerin­
gen Teil entstammen die Belege der Fachliteratur oder der schönen Literatur.
Wenn es sein musste, »erfanden« Wörterbuchautoren aber auch neue Wörter:
Vor allem der Konkurrent Adelungs, Joachim Heinrich Campe, wurde kreativ,
wenn es galt, fremdsprachige Wörter durch deutsche Neubildungen zu er­
setzen. Manche seiner Vorgaben haben sich, wie denkkünstig anstelle von
logisch, nicht durchgesetzt. Andere, wie z. B. Zerrbild anstelle von Karikatur,
sind heute noch in Gebrauch. Wörterbücher waren bis zu Beginn des 19. Jahr­
hunderts also mehr Vorbild als Abbild der deutschen Sprache. Es waren im
Wesentlichen Autorenwerke, die - binnen weniger Jahre in gewaltigen Kraft­
akten entstanden - die vorangegangene Lexikontradition ebenso widerspie­
gelten wie die Sprachkompetenz ihrer Autoren.

Die lexikographische Revolution


Erst vor dem Hintergrund dieser lexikographischen Tradition erschließt sich
die gewaltige Dimension des Projekts deutsches Wörterbuch< der Brüder
Grimm. Denn was Wilhelm Grimm 1847 auf der Germanistenversammlung
ankündigte, war tatsächlich radikal und erregte europaweit Aufsehen. Ein
Wörterbuch, so erklärte Wilhelm, dürfe sich nicht als Sprachrichter auffüh­
ren, der Gebrauch der Wörter und auch ihre Bedeutung sollten sich aus­
schließlich durch die Fülle der Anwendungsbeispiele erschließen: Jedes
Wort sollte in allen seinen Bedeutungen und Bedeutungsnuancen durch
Anwendungsbeispiele mit Nachweis der Quellen, denen sie entnommen
wurden, dokumentiert werden. Mit dieser Konzeption bildete erstmals ein

4 Cherubim, Dieter/Walsdorf, Ariane: Sprachkritik als Aufklärung: die Deutsche


Gesellschaft in Göttingen im 18 Jahrhundert. Göttmgen 2004, S. 90.
89

Verdeutschungen von
Joachim H. Campe (1746-1818)
Dei Pädagoge und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe war der Erste,
der sich umfassend und systematisch mit Fremdwörtern beschäftigte, ln sei-
nen Schriften und seinem 'Wörterbuch der Deutschen Sprache« schlug er
zahlreiche Verdeutschungen für Fremdwörter vor:5

Collegium sanitatis Gesundheitsamt


Delikatesse Feingefühl
Despotismus Gewaltherrschaft
Dormeuse Schlafwagen
Insekt Kerbtier
Kalender Zeit weiser
Karikatur Zerrbi !d
Katholik Zwangsgläubiger
Komet Schweifstern
Pantomime Gebä rdensprache
pikant prickelnd
Protestant Freigläubiger
realisieren verw ii'klichen

riesiges Textkorpus die ausschließliche Basis für ein Wörterbuch. Ein solches
Jahrhundertprojekt konnte jedoch unmöglich von zwei Personen allein
gestemmt werden, es erforderte die Zuarbeit zahlreicher Mitarbeiter. Und
es wurde auch erst dadurch möglich, dass man sich einer wissenschafts­
organisatorischen Innovation bediente, die sich erst im 20. Jahrhundert
wirklich durchsetzen sollte: der Karteikarte.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Arbeit mit Karteikarten nicht
sonderlich von der Arbeitsweise früherer Zeiten, war doch seit der Erfindung
des Papiers das Abfassen von Notizzetteln als Gedächtnisstütze eine durch­
aus beliebte Methode: Gelehrte notierten die Textstellen wichtiger Autoren,
Bibelstellen oder Rechtstexte auf Zetteln. Doch diese Arbeitsweise wurde
durchaus als problematisch, bestenfalls als Übergangslösung angesehen:
Nach der Vorstellung des Mittelalters und der frühen Neuzeit war Wissen
etwas Zeitloses, das in einem organischen, systematisch geordneten

5 Kirkness, Alan: Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871. Teil 1. Tübingen 1975,


S. 161-167.
90

Wiener Hofbibliothek im 17. Jahrhundert

Buch und Bibliothek waren Inbegriff des Wissens.


Die Vorstellung, Informationen isoliert in Karteien
7.11 organisieren und vorzuhalten, war der frühen Neuzeit fremd.

Zusammenhang stand. In diesem komplizierten System hatte jeder noch so


kleine Wissensbestandteil seinen festen Ort.6In den Anleitungen zum wissen­
schaftlichen Arbeiten wurde deshalb ausdrücklich vor einer losen Zettel­
wirtschaft gewarnt, stattdessen wurde das Anlegen von Ordnungssystemen
vorgeschlagen. Der Gelehrte Konrad Gessner beschrieb Mitte des 16. Jahr­
hunderts eine Methode, bei der Gelehrte ihre Exzerptzettel in eigens dafür
hergestellten Büchern einheften und damit systematisch sortieren konnten.
Besonderes Aufsehen erregte Vincent Placcius im 17. Jahrhundert mit seinem
»gelehrten Kasten«, einem Vorläufer des Karteischranks. Hier konnten Notiz­
zettel an Registerkärtchen angeheftet werden. Diese waren zwar sortierbar,
doch letztlich wurden die Karten auch hier den überkommenen Kategorien
im Wissenssystem, wie z. B. »Gott«, »Glaube«, »Tugend«, zugeordnet.

Dieses strenge Systemdenken endete mit der Aufklärung. Es begann die Zeit
der Zettelkästen, in denen die Gelehrten ihre Exzerpte, Gedanken und Ideen

6 Zedelmaier, Helmut: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten. In: Pompe, Hedwig:


Archivprozesse, die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002, S. 38-53, S. 38f.
91

Der »gelehrte Kasten« des Vincent Placcius

Dieser Vorläufer des heutigen Karteikastens enthielt beschriftete Blech-


kartchen mit Haken, an denen die Notiz oder Exzerptzettel thematisch
passend angehangt werden konnten

sammelten und nach eigenem Gutdünken immer wieder neu sortierten.


Doch war allen diesen Arbeitsweisen gemein, dass die Zettelsammlung nur
ein vorübergehendes, privates Larvenstadium darstellte. Am Ende stand, wie
schon in der frühen Neuzeit, das Buch. Jacob Grimm ist für diese Methode
selbst das beste Beispiel. Man weiß von ihm, dass er Gedanken und Exzerpte
auf unzähligen Notizzetteln oder als Randbemerkungen in Büchern nieder­
schrieb. Am Ende führte er alles in einer gewaltigen Konzentrations- und
Gedächtnisleistung in einem Zug zusammen. Verbesserungen und Ergänzun­
gen nahm er schließlich nur noch an seinen gedruckten Werken vor.7

Doch was die Grimms mit dem deutschen Wörterbuch« praktizierten, unter­
schied sich in vielen Punkten vom Vorherigen: Die Informationen wurden
nicht mehr von einer einzelnen Person, sondern von einem Heer von
Zuträgern gesammelt. Um hier den Überblick zu behalten, war eine strikte
Einheitlichkeit der Erfassung notwendig. Jacob Grimm legte nicht nur das

7 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs 1838-1863. Stuttgart 1980,


S. 268.
92

genaue Format der Belegzettel fest, sondern gab auch vor, welche Informa­
tionen notiert werden sollten. Zum Notizzettel früherer Zeiten kamen so
zwei neue Elemente hinzu: zum einen die strikte Gleichförmigkeit der Infor­
mation, die eine Sortierung z. B. nach dem Alphabet möglich machte, zum
anderen die Annotation. Die Informationen wurden mit zusätzlichen Infor­
mationen angereichert. Für das >Deutsche Wörterbuch< war dies z. B. die
Quelle, aus der das Wort bzw. die Belegstelle stammte.

Auch wenn die Brüder Grimm nach diesem neuen System arbeiteten - viele
Vorteile, die sich aus der von ihnen praktizierten Methode ergaben, haben
sie nicht erkannt oder einfach nicht genutzt. Als die ersten Lieferungen des
deutschen Wörterbuchs< gedruckt Vorlagen, trugen sie Ergänzungen und
Verbesserungen nur noch auf den Druckbögen ein, die Zettelwirtschaft hatte
ausgedient. Auch die Pflege des vorhandenen Zettelbestandes vernachlässig­
ten sie sträflich - offenbar aus Zeitmangel. Das mussten die Nachfolger leid­
voll erfahren: Als Karl Weigand und Rudolf Hildebrand in die übergroßen
Fußstapfen der Brüder Grimm traten, um das >Deutsche Wörterbuch< fortzu­
führen, stellten sie fest, dass vieles im Argen lag. Schon Jacob hatte einräu­
men müssen, dass »freilich bei dem besten willen« nicht alle Belegstellen
hatten aufgebracht werden können, weil der eine oder andere ein Zitat
nicht aufgenommen hatte oder das Werk, aus dem zitiert wurde, abhanden­
gekommen war.8

In England war man zu dieser Zeit bereits einen Schritt weiter: Die eigentli­
che Neuerung begann 1879 mit James Murray, dem neuen Leiter des 1857
ins Leben gerufenen >Oxford English Dictionaryc Dieser rief auf einem Zet­
tel, den er als Beilage zu Büchern verbreiten ließ, Englischsprechende in
aller Welt dazu auf, Wortbeiträge einzusenden. Ziel war es, ein Wörterbuch
zu erarbeiten, das das Englische so beschreiben sollte, wie es tatsächlich
geschrieben oder gesprochen wird. Jeder Wortbeleg wurde akribisch auf
Karteikarten notiert und durch Informationen zu Belegstelle und Erschei­
nungsjahr angereichert. Binnen weniger Jahre wuchs mit Hilfe von tausen­
den Mitarbeitern, darunter einem im Gefängnis einsitzenden, verurteilten
Mörder, eine riesige Kartei mit insgesamt weit über eine Million Belegen. Auf­
grund der guten Organisation der Karteikarten konnte dieses Wörterbuch
vergleichsweise zügig fertiggestellt werden. Die erste Lieferung erschien
1884, der letzte von 12 Bänden konnte 1928 vorgelegt werden.

8 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1., Sp. XXXVI.


93

Murray nutzte mit seinem Verfahren bereits viele Vorteile, die eine Annota­
tion der Wortbelege bot. Verzeichnet wurde zum Beispiel das Belegjahr. So
konnten Wörter nach Jahren sortiert und eine Wortgeschichte nachgezeich­
net werden: wann ein Begriff zum ersten Mal auftrat und wann er wieder
aus dem Wortschatz verschwand. Erkennen ließ sich so auch, wie häufig ein
Wort im Vergleich zu anderen nachzuweisen war. Anders als die 600.000 Be­
legzettel der Brüder Grimm war die Wortsammlung Murrays bereits eine Art
sprachlicher Datenbank, die auf Dauer angelegt war und die weitere Unter­
suchungen möglich machte. Nach dem Vorbild des >Oxford Dictionary<
entstanden andere riesige Textkorpora mit Millionen von Wortbelegen, die
zunächst noch mit großem Zeit- und Materialaufwand mühsam auf Kartei­
karten gesammelt werden mussten.

Den Computer betritt die Bühne


Mit dem Aufkommen des Computers veränderte sich die Lexikographie
nachhaltig. Eine der Folgen ist für den heutigen Benutzer offensichtlich:
Er hat die Wahl, ob er im Buch, auf einer CD oder im Internet ein Wort nach­
schlagen möchte, denn ein Lexikonverlag legt heute seine Daten und Inhalte
plattformneutral an. Die wichtigsten Veränderungen vollzogen sich jedoch

Wörterbuch-Arbeit in
den 1 9 6 0 e r Jahren

Professor Gerhard Wahrig


(192 3 -1 9 7 8 )in den 1960er Jah-
ren vor seinen Karteikästen
und den Druckfahnen zur
Erstausgabe von »WAHRIG
Deutsches Wörterbuch», dem
sogenannten »Großen VVah
rig«. In der DDR entstand an
der Deutschen Akademie der
Wissenschaften zwischen 1957
und 1977 das »Wörterbuch der
deutschen Gegenwartssprache«.
94

für den Benutzer unsichtbar: Für die großen Wörterbücher sind riesige Text­
korpora auf digitaler Basis und die Methoden der Computerlinguistik heute
unverzichtbar.

Dabei stand die deutsche Lexikographie nach dem Krieg vor einem radi­
kalen Neuanfang: Als etwa Gerhard Wahrig in den 60er Jahren des 20. Jahr­
hunderts die Arbeit an seinem deutschen Wörterbuch< begann, konnte
er sich nicht mehr an den Wörterbüchern der Vergangenheit orientieren:
In der Zeit des Nationalsozialismus waren Wörterbücher als Propaganda­
instrumente missbraucht und mit ideologisch gefärbten Belegen und Be­
griffen angereichert worden. Auch der Wortschatz war hoffnungslos ver­
altet. Zugleich wurde immer stärker offenbar, dass in einer globalisierten
Welt, in der sich über Massenmedien ständig ein Austausch an Produkten,
Ideen und Erkenntnissen vollzieht, in der sich Wertvorstellungen wandeln,
auch die Sprache einem ständigen, sich beschleunigenden Veränderungs­
prozess unterworfen sein würde. Es war offensichtlich, dass dies das Ende
der Zettelkästen war. Es mussten neue Korpora erstellt werden, die mit der
Sprache und ihrer Entwicklung mitwachsen konnten.

Die Arbeitsmethoden blieben jedoch zunächst noch hinter den Ansprüchen


zurück: In den 1960er Jahren arbeiteten die Redaktionen noch mit Kartei­
kästen. Und auch wenn in England vereinzelt schon seit den 1950er und
1960er Jahren der Computer eingesetzt wurde, mussten die Daten noch
mühsam per Hand eingegeben werden. Dies änderte sich erst, als in den
1990er Jahren Texte digital verfügbar wurden. Wissenschaftliche Institutio­
nen wie die Universität Leipzig, das Institut für Deutsche Sprache in Mann­
heim und Verlage wie Duden und Bertelsmann begannen damit, digitale
Textkorpora aufzubauen. Allein das für >WAHRIG Deutsches Wörterbuch«
aufgebaute Textkorpus umfasst heute mehrere Milliarden Wortbelege. Für
den Lexikographen bieten solche Textkorpora eine einzigartige Möglichkeit,
die deutsche Sprache und ihre Entwicklung »in Echtzeit« zu beobachten.

Grimms Erben: Verloren in der digitalen Datenflut?


Die Lexikographen heute befinden sich in einer ungleich günstigeren Posi­
tion als die beiden Pioniere vor 180 Jahren: Die Verwendung von Compu­
tern und vor allem der Einsatz neuer sprachwissenschaftlicher Verfahren
zur Analyse und Aufbereitung von Sprachdaten ermöglichen vielfache fas­
zinierende Einblicke in die Welt der Kommunikation. Einfacher ist die lexiko-
graphische Arbeit deshalb nicht geworden: Wo die Grimms mühsam nach
95

Vom Zettelkasten zum Computer

Belegzettel von Wilhelm Grimm zum Stichwort »Wunder« mit Beleg


beispiel und Quellenangabe.

■Vlrn ' ) ( * ' -

^44 pi/Ij X 'C /i’/ H’ l.n rVy

/f" 111, ■?, ■

Moderne Korpusabfrage zu »Public Viewing«. ledes Wort kann mit


seinem Kontext sowie Quelle und Belegjahr abgerufen werden.

name | _▼] wahng structures config —*

ar das so genannte Public Viewing lediglich in den zwölf WM-Städten gesichert gewesen . Keine kommerziellen Ziele " Veranstalte *
e Regelung filr das Public Viewing . Es besteht nunmehr Klarheit in allen Fragen, und ich wünsche m ir, dass die Spekulationen der
" Das so genannte Public Viewing , bei dem bis zu 30000 Menschen vor Großleinwänden feiern wollen , ist eine besondere Gefahr«
■storben . Lexikon : Public Viewing PubHc Viewing - öffentliches .Anschauen - nennen die Organisatoren der Fußball-WM im Somm
m : Public Viewing Public Viewing - öffentliches Anschauen - nennen die Organisatoren der Fußball-WM im Sommer ihr Konzept,
>der in irgendeinem Public Viewing . Natürlich könnten wir auch unseren Gemeinschaftsraum zur Verfügung stellen . Der ist größer
" Showkick Private Public View ing " . Vom 9. Juni bis 9. JuH werden FußbaD-Lh e-Cbertragungen auf der Großbikfleinwand im Zus>
en das so genannte Public Viewing häufiger oder gelegentlich nutzen, also beispielsweise zur Fanmeile auf der Straße des 17. Juni >
.eranstaltungen wie Public Viewing überdenken . Dort sind bislang nur Stichproben bei den Taschenkontrollen geplant. Vielleicht so!
eit sein , auch beim Public Viewing wird der Sicherheitsstandard sehr hoch sein ." Bernd Schiphorst, Chef des Berliner Fußball-W}
id der Sonambiente Public Viewing World Cup Sound .An Lounge im Haus der Berliner Festspiele Informationen im Internet: wtv*
sein , wie sich das Public V iew ing.......das öffentliche Fußballgucken auf Großleinwänden........ entwickelt. In dieser Größenordn
lion hatte ich nicht, Public Viewing gab es auch noch nicht. Also war ich wohl zu Hause - vorm Fernseher . Das Gespräch führten
ang Knaackstr. 97. Public Viewing inklusive Aftergame-Party kosten 3 Euro . Einlass: eine Stunde vor Spielbeginn . Die Aftergame
Fancamps und der Public Viewing Standorte ausgeweitet, es güt dort bis zum 16. JuH . Der Bauchladenhandel ist au f rund 60 Straf
innen . Das Wort " Public Viewing " hätten wir übrigens auch nicht gebraucht, wenn eigentHch nur öffentliches Femsehgucken gen
i . Das so genannte Public Viewing wird bei der Ermittlung der Einschaltquote nicht berücksichtigt. Auch die Zuschauer in Kliniken
ängerzone zur WM Public Viewing zu bieten . Bernhard Skrodzki ( FDP ) , der Wirtschaftsstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf
iäh es sich mit dem Public Viewing wie mit dem Fußball selbst: Mal klappen die Kombinationen und die spektakulären Szenen häuft

Belegen für ein Wort suchen mussten, sehen sich moderne Lexikographen
mit einer riesigen Datenfülle konfrontiert. Und manche Fragestellungen
und Probleme sind nach wie vor aktuell.

Als Jacob und Wilhelm gemeinsam mit der Weidmannschen Buchhandlung


das Wörterbuch planten, waren sich alle Beteiligten darüber im Klaren,
dass die Sammlung an Belegen möglichst umfangreich sein müsse. Und
der immense Aufwand der Vorarbeiten beeindruckt bis heute: Insgesamt
werteten die Brüder mit 90 Mitarbeitern in zehn Jahren mehr als 1270 Bü­
cher aus und trugen dabei über 600.000 Belegzettel zusammen. Doch trotz
dieser enormen Anstrengungen musste Jacob schon bald die unangeneh-
96

Warum für ein Textkorpus Größe und Belegmenge so


entscheidend ist

Nicht nur für die Brüder Grimm war die Große und Ausgewogenheit ihres Zettel-
kasten-Korpus entscheidend, auch für digitale Korpora im 21. Jahrhundert spielen
diese Faktoren eine große Rolle. Wenn Verlage oder Institute allerdings heute ein
Korpus aufbauen, dann sammeln sie nicht mehr einzelne Wörter und Anwen-
dungsbeispiele, sondern sie erstellen digitale Volltextdatenbanken, das heißt, sie
lesen ganze Bücher und Zeitungsjahrgänge vollständig ein. Die Größe solcher
Volltextdatenbanken ist enorm: Man halte sich die Regalreihen einer mittleren
Stadtbibliothek mit ungefähr 30.000 Büchern vor Augen Deren Inhalt belauft
sich auf ungefähr 2 Milliarden Wörter. Würde sich nun jemand der Sisyphusarbeit
unterziehen, m diesem Meer von Wörtern deren Häufigkeit auszuzählen, er käme
aut erstaunliche Zahlen: So begegnet ein Wort wie u n d vielleicht 30 Millionen
Mal. Auf ein so gängiges Wort wie S c h m e t t e r li n g würde man dagegen nur noch
4000 Mal stoßen, und ein Wort wie K o h lw e iß l in g findet sich vermutlich nicht mehr
als 30 Mal. Das sind nur unglaubliche 0,0000857142% der Häufigkeit von und.

Die Gefahr liegt also nahe, dass in kleineren Korpora etliche wichtige Wörter des
deutschen Wortschatzes digital »untergingen« und gar nicht entdeckt würden.

me Erfahrung machen, dass die Menge der Belege letztlich nicht einmal
ausreichend war: Für viele Wörter fanden sich keine Beispiele. In seiner
Not zog er weitere Quellen, wie Journale, hinzu und rief in einer Anzeige
die Bevölkerung dazu auf, Wortbeiträge einzureichen. Dennoch musste
er an zahlreichen Stellen auf Nachweise für den Gebrauch eines Wortes
verzichten.

Dieses Problem der Brüder Grimm hat bis heute nichts von seiner Bedeu­
tung verloren: Der Grund liegt in der höchst ungleich verteilten Häufigkeit,
mit der Wörter im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden: Wäh­
rend ein kleinerer Kernwortschatz, also Wörter des Grundwortschatzes und
vor allem Strukturwörter wie und oder auf, extrem häufig nachzuweisen ist,
nimmt die Frequenz zu den Rändern des Wortschatzes hin erheblich ab.
Verblüffend sind dabei die Ausmaße der unterschiedlichen Verteilung.
Dies zeigen moderne Textkorpora deutlich.
97

Sachbereiche, che ein modernes Textkorpus abdeckt.

Neben der Größe ist entscheidend, dass ein Textkorpus sinnvoll und aus­
gewogen zusammengesetzt ist. Die Brüder Grimm beschränkten sich in
ihrer Auswahl noch weitgehend auf die schöne Literatur. Ganz im Sinne der
Romantik wurden Sprache und Wortschatz als im Kern poetisch begriffen.
Heutigen Textkorpora werden dagegen meist Zeitungen und Zeitschriften
auch deshalb zugrunde gelegt, weil diese einen Querschnitt durch zahlrei­
che Themengebiete, etwa Kultur, Sport, Technik, Wissenschaft, Politik sowie
Freizeit, darstellen und das Korpus so einen annähernd repräsentativen
Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache umfasst. Dazu gehört, dass
auch andere, unterschiedliche Textsorten, wie z. B. Berichte, Interviews,
Ausschnitte aus literarischen Texten, im Korpus vertreten sind. Und darüber
hinaus sollte ein modernes Textkorpus zur deutschen Sprache auch die
verschiedenen Sprachregionen, wie Österreich und die Schweiz, ange­
messen berücksichtigen.

Ein weiterer enormer Vorteil von Zeitungen und Zeitschriften als Basis für
Textkorpora ist die Aktualität, die Korpora wachsen mit der Sprache. Da
laufend neue Jahrgänge in das Korpus eingespeist werden, sind aktueller
Sprachgebrauch und Wortschatzentwicklung des Deutschen im Längs-
98

100
90

Bevor sich das neu aufgekommene Wort G ig a lin e r durchsetzte, ein 2006 entstandener
Neologismus, standen zunächst verschiedene Begriffe in Konkurrenz zueinander.

schnitt zu beobachten. Die Lexikographen werden auf diese Weise Zeuge


einer ständigen Erneuerung der Sprache, der Tatsache, dass fast täglich
neue Wortkreationen aufkommen, so zum Beispiel aktuell eine Fülle von
Anglizismen, wie etwa Flashmob, Gentrifzierung und viele andere neue
Wörter in immer schnellerer Folge. In der Längsschnittbeobachtung lässt
sich auch zeigen, ob solche Neuwörter vielleicht Eintags- bzw. »Einjahres­
fliegen« sind - wie etwa das nur 2009 sehr frequente Wort Schweinegrippe -
oder ob sie sich dauerhaft im Sprachgebrauch festsetzen.

Während die Brüder Grimm zum großen Teil auf Einzelfunde und -belege
angewiesen waren, ermöglichen es die ausgefeilten Suchverfahren, die ein
modernes Korpus bietet, auch, bedeutungsgleiche oder -ähnliche Wörter
parallel zu beobachten. So kann etwa die Entstehung und Etablierung von
Neologismen verfolgt werden.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Bezeichnung Gigaliner. Im Jahr 2006, als heftig
über die Zulassung dieses überlangen Lastwagens auf deutschen Autobah­
nen diskutiert wurde, konnten die Lexikographen fasziniert beobachten,
dass sich verschiedene Benennungen wie Eurocombi, Riesen-Lkw, Monster­
truck, XXL-Brummi und Gigaliner einen Wettstreit lieferten. Am Ende ging
mit weitem Abstand der Gigaliner durchs Ziel.
Damit Häufigkeitsanalysen wie diese möglich sind, müssen Volltextdaten­
banken mit großem Aufwand aufbereitet werden. Eine amorphe Masse von
Daten, mit denen zum Teil schon Jacob Grimm konfrontiert war und wie sie
die Texte im Internet in ungleich größerer Menge darstellen, wäre für Lexi­
kographen und Sprachwissenschaftler nur von geringem Wert. Damit die
Daten überhaupt vergleichbar und so einer Auswertung zugänglich werden,
erhält jedes einzelne Wort im Korpus eine Annotation, eine (unsichtbare)
Ergänzung, so z.B. nach Wortart, Flexionsstufe, Belegjahr, Quelle und Fach­
bereich. Und da die Daten immer auch im Zusammenhang ihrer Entstehung
und neben vergleichbaren Fällen gezeigt werden können, ist auch die Wort­
umgebung analysierbar, was für Jacob Grimm häufig ein unlösbares Prob­
lem darstellte, für Lexikographen aber besonders wichtig ist. Denn mit der
unterschiedlichen Umgebung eines Wortes ändert sich oft auch seine
Bedeutung: So bedeutet etwa die Wendung abwarteri und Tee trinken etwas

; «
völlig anderes als eine Tasse Tee trinken.

............................................. ......................................................................................................................
(Es ist immer noch %nocfienar6eit, a6er man kann am E nde
mehr damit anfangen.10

Lexikograph über die Arbeit mit einem Textkprpus

Natürlich wird der Computer, werden vollautomatische Datenbanken den


Redakteur niemals vollständig ersetzen können. Immer dann, wenn es dar­
um geht, Bedeutungsgehalt, Bedeutungsebene oder Relevanz eines Wortes
zu ermitteln, wird die menschliche Sprachkompetenz dem Computer wie
schon zu Grimms Zeiten auch in absehbarer Zukunft noch überlegen sein.
Per Computer lässt sich ermitteln, wie häufig die neuen Ausdrücke Monster­
truck oder Nacktscanner Vorkommen. Dass diese aber neben ihrer sach­
lichen Bedeutung zugleich eine (ab)wertende Nebenbedeutung aufweisen,
ist nur der menschlichen Sprachkompetenz zugänglich. Zugleich bleibt
damit das Vermächtnis, aber auch die Lehre der Brüder Grimm aktuell:
Damit Wörterbücher ein lebendiges und realistisches Abbild der Sprache
vermitteln können, muss zunächst die Sprache selbst sprechen. Und für
diese objektiv-empirische Auswertung, die Jacob Grimm mit dem ersten
korpusbasierten Wörterbuch auf Zettelkastengrundlage begann, sind die
digitalen Medien im 21. Jahrhundert ein unverzichtbares Hilfsmittel.

9 Haß, Ulrike: Deutsches Wörterbuch, S. 365.


100

M ärchensam m ler und


W örterbuchm acher -
sinnverwandt oder paradox?

Märchensammler und W örterbuchmacher - auf den ersten


Blick so unterschiedlich, wie sie nur sein könnten. Und doch:
Die Brüder Grimm haben die beiden Gattungen in ihrem
Lebenswerk verbunden und zwei bleibende, allseits bekannte
W erke geschaffen, die noch heute in Fachkreisen hochge­
schätzt oder - wie die Märchen - von Jung und Alt gleicher­
maßen gelesen werden. Lassen sich hier Gemeinsamkeiten
erkennen? Worin besteht das Besondere, das Grimm-Typische
beider Werke?

Die Brüder Grimm wurden mit ihrer Sammlung der >Kinder- und Hausmär-
chen< (1812/15) auf der ganzen Welt bekannt und vielfach nachgeahmt.
Die Erfolgsgeschichte dieses Frühwerks der Brüder Grimm, in dem Erzäh­
lungen aus dem Volk versammelt und aufbereitet waren, begründete den
Ruhm der beiden Wissenschaftler vor allem außerhalb der Fachwelt. Das
>Deutsche Wörterbuch< hingegen, das in der mittleren Schaffensperiode
der Grimms (1838) begonnen wurde und dessen erster Band 1852 erschien,
ist das große Alterswerk der Brüder Grimm. Dieses Werk sicherte ihnen blei­
bende Popularität vor allem innerhalb der Germanistik, es ist bis heute das
umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache geblieben. Wie passt
diese Popularität innerhalb und außerhalb der Fachwelt zueinander?
101

Vorlesen im 19. Jahrhundert:


Nicht nur die M ärchen, auch
Artikel aus dem »Deutschen Wör­
terbuch« sollten nach der Vor­
stellung der Brüder Grim m im
Familienkreis vorgelesen werden.

Märchen und Sagen


aus dem Volk?
Über den Antrieb, die Märchen
zusammenzutragen, sagt Jacob
Grimm im Nachhinein, »daß nicht
länger gesäumt werden dürfe,
auf die rettung dessen bedacht
zu nehmen, dem in den nächsten generationen fast gänzlicher Unter­
gang droht«.1Seit ihrer Bekanntschaft mit Friedrich Carl von Savigny, Achim
von Arnim und Clemens Brentano sammelten die Brüder Grimm alles, was
sie über das deutsche Altertum erfahren konnten. Sie wurden angeregt,
nicht nur in alten Büchern und Handschriften, sondern auch nach Erzäh­
lungen aus dem Volk - Sagen und Märchen - zu suchen, in denen sich Reste
ältester deutscher Poesie erhalten hatten. Im Hinblick auf die Märchen
betonten sie, dass diese aus mündlichen Quellen zusammengetragen
waren, verrieten jedoch bis auf eine Ausnahme nicht, wer ihre Gewährs­
leute waren.

Die Sammlung und Systematisierung der Belege entsprach einer Methode,


die die Brüder Grimm für sich als sehr produktiv erkannt hatten. Die seit der
Studienzeit gesammelten Exzerpte, Belegzettel oder daraus angefertigten
Konkordanzen und Register lieferten die neuen Erkenntnisse für ihre weiteren
Bücher: die »Deutschen Sagen«, »Über deutsche Runen«, die »Deutsche Gram­
matik«, die »Deutschen Rechtsaltertümer« und die »Deutsche Mythologie«.
Aber auch die Quellen aus dem Volk spielten weiterhin eine wichtige Rolle.
Die Brüder Grimm waren davon überzeugt, dass mündliche Volksüberlie­
ferung einen bisher unbeachteten Zugang zum Altertum ermögliche. In
dieser waren Fragmente alter Poesie, Sitten und Gebräuche gespeichert.

1 Friemel, Berthold: Spuren des Mythos. In: ZEIT Geschichte 4/12 (2012), S. 28-36, S. 34.
102

Zwei große Werke - eine Methode


1837 erhielten Jacob und Wilhelm Grimm, nachdem sie ihres Professoren­
amtes in Göttingen enthoben worden waren, das Angebot der Weidmann-
schen Buchhandlung, ein neuhochdeutsches Wörterbuch zu schreiben. In
dieser Offerte besteht die erste Gemeinsamkeit zwischen dem »Deutschen
Wörterbuch« und den »Kinder- und Hausmärchenc Beide Projekte waren -
ungleich allen anderen Werken - nicht den
Plänen der Grimms entsprungen. Die Mär­
chen waren ursprünglich als Beiträge für
Clemens Brentanos Sammlung gedacht.
Auch mit lexikographischen Arbeiten, mit
Wörterbüchern, hatten die Brüder Grimm
bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Erfahrung.

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren:


Viele eigentüm liche Ausdrücke der M är­
chen fanden auch Eingang ins »Deutsche
Wörterbuch«.

So organisierten sie mit großer Energie ein


Netzwerk von Exzerptoren, die nach vorge­
gebenen Richtlinien Wortbelege aus der
wichtigsten Literatur der zurückliegenden
drei Jahrhunderte anfertigen sollten. Und
auch hier waren es wie bei den Märchen Zu­
arbeiter, die den Grundstock für dieses Großprojekt legten. 83 Exzerptoren
arbeiteten für das »Deutsche Wörterbuchs für die Märchen lassen sich weit
über 100 Beiträger nachweisen. Bei beiden Werken war die Qualität der Bei­
träge sehr unterschiedlich, und die Brüder Grimm mussten gelegentlich sti­
listische Bearbeitungen vornehmen bzw. die Exzerpte neu anfertigen lassen.

Das »Deutsche Wörterbuch« ist im Gegensatz zu den Märchen, bei denen die
Mündlichkeit der Überlieferung im Vordergrund stand, ein Werk, das sich im
Wesentlichen auf literarische Quellen beruft. Die Brüder Grimm waren beson­
ders darauf bedacht, dass gerade die besten Autoren der verschiedenen
Epochen exzerpiert wurden. Damit sollten Sprachgebrauch und Wandel von
Wortbedeutungen im Verlauf dreier Jahrhunderte dokumentiert werden.
Beim genaueren Hinsehen erweist sich jedoch, dass auch die »Kinder- und
Hausmärchen« - fast zu einem Drittel - auf literarische Quellen zurückgehen.
103

Für die Grimms war dies kein Widerspruch, sie fassten diese literarischen
Quellen als Belege für die Verbreitung von Märchen und ihr hohes Alter bzw.
als frühe Stufe einer schriftlichen Fixierung mündlicher Erzähltraditionen auf.

Die >Kinder- und Flausmärchen< wurden von den Brüdern Grimm auch als
Quelle für das >Deutsche Wörterbuch< verwendet. So fanden auf der Suche
nach ungewöhnlichen Wörtern auch einige Ausdrücke aus den Märchen
Eingang in das Wörterbuch. Als ein Beleg für das Wort »Dummbart« findet
sich beispielsweise aus dem Märchen >Der Teufel mit den drei goldenen
Haaren< ein Ausspruch des Teufels: »He! Der Dummbart«. Solche Eigenzitate
tauchen auch in weiteren von Wilhelm bearbeiteten Artikeln auf: der,
Diebshand, Ding, Dings, Drude, du, durchblinken, durchhutzeln, Duttenkragen.
Auch bei den von Jacob bearbeiteten Stichwörtern finden sich entspre­
chende Belege aus den >Kinder- und Hausmärchenc auslaufen, Bodentreppe,
Einäuglein, Eisenofen, Endchen, faul, Feder, fett, Flachsfeld, Fladendach, freien.

Umgekehrt hat auch die Arbeit am deutschen Wörterbuch< Spuren in den


Märchen hinterlassen. Die Studien zur Bedeutungsgeschichte von Wörtern
dort haben insbesondere bei der Bearbeitung der 6. Ausgabe der >Kinder-
und Hausmärchen< (1850) eine Rolle gespielt. Wilhelm Grimm führt im Vor­
wort ein Beispiel für »eigenthümliche Redensarten des Volks, auf die [er]
immer horche«, an, das »schon altdeutsche Dichter rühmen.«2 Die immer
tieferen Einsichten in die Entwicklung der Sprache und Wörter erlaubten es
Wilhelm Grimm, bei der Bearbeitung von Märchen zunehmend alte Wörter
und Sprachformen zu gebrauchen.

Mit Blick auf die Rezeption, die Aufnahme der beiden hier in Frage stehenden
Werke der Brüder Grimm, fällt eine weitere Besonderheit ins Auge. Die Er­
wartung der Brüder Grimm, dass das >Deutsche Wörterbuch< in jedem Haus­
halt gelesen werden solle, und zwar vom Vater, ging nicht in Erfüllung, es
ist ein Fachbuch geblieben. Die Märchen aber, die, von der Mutter vorge­
lesen, auch als »Erziehungsbuch«3 gedacht waren, haben sich im Lauf ihrer
200-jährigen Geschichte zum beliebtesten Forschungsgegenstand von
Erzählforschern entwickelt. Märchenerzähler und Wörterbuchmacher er­
weisen sich hier in gleicher Weise als sinnverwandt wie auch paradox.

2 Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen (1850), Bd. 1,


S. XXII (Vorrede).
3 Briefe der Brüder Grimm an Savignv. Hg. von Ingeborg Schnack und Wilhelm Schoof.
Berlin, Bielefeld, 1953, S. 143.
104

W ie Sprache Teilung überwindet -


das politische Erbe der Brüder Grimm

Die Brüder Grimm lebten in einer Zeit politischer und gesellschaft­


licher Verwerfungen, sie erlebten Fremdherrschaft und staatliche
Repressionen. Der Traum von der staatlichen Einheit Deutschlands
lag in weiter Ferne. Doch trotz zahlreicher Enttäuschungen engagierten
sich die Brüder politisch immer wieder leidenschaftlich. Denn beson­
ders Jacob war überzeugt:Wenn es etwas gibt, das Zerrissenheit und
Teilung überwinden kann, dann ist es die Sprache.

»Icfi traue jedem dieser Gegensätze einen großem oder f f einem ‘IfeiC ‘Wahrheit zu,
und haftefür unmögdch, daß sie in voCCer‘Einigung a u f gehn.«
Jacob Grimm

Es war, wie so oft, eine Mischung aus Optimismus und bohrender Sorge,
mit der Jacob Grimm im Sommer 1848 das turbulente Klima der ersten Sit­
zungswochen der Frankfurter Nationalversammlung beurteilte. »Jetzt haben
wir das politische im überschwank.« Doch während von des »volks freiheit«
schon alle Vögel von den Dächern zwitscherten, habe man von der Einheit
Deutschlands »kaum den schatten«.1

Am 18. Mai des Revolutionsjahres 1848 war für große Teile der deutschen Be­
völkerung ein langgehegterTraum in Erfüllung gegangen: Feierlich und unter
dem Jubel der Frankfurter Bevölkerung zogen die in freier Wahl bestimmten
Abgeordneten in die Frankfurter Paulskirche ein. Auch Jacob und Wilhelm
Grimm hatten an dieses erste deutsche Parlament hohe Erwartungen ge­
knüpft. Denn die zentralen nationalpolitischen Forderungen der Zeit, die die
verfassungsgebende Nationalversammlung nun endlich in Recht und Gesetz
gießen sollte - die Einheit Deutschlands, eine Verfassung, die die Grund­
rechte garantierte -, waren auch Herzensthemen der Brüder Grimm. Und sie
verfolgten den Prozess nicht nur aus der Ferne: Jacob war Mitglied im soge­
nannten »Vorparlament« gewesen, das die Wahlen zur Nationalversamm­
lung organisiert hatte. Für seinen Freund und Professorenkollegen Friedrich
Christoph Dahlmann trat er als Wahlmann auf. Und zwei Wochen nach der

1 Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. Bd. 1. Leipzig 18532, Widmungs-
vorrede an Gervinus o. S.
105

feierlichen Eröffnung nahm auch Jacob Grimm als Abgeordneter im Mittel-


gang der Paulskirche, unmittelbar vor der Rednertribüne, seinen Platz ein.

Vergangenheit als Richtschnur?


Aller Anteilnahme und allem organisatorischen Engagement zum Trotz:
Im Parlamentsbetrieb blieb Jacob Grimm eher ein Außenseiter. Anders als
sein Freund Dahlmann, der Mitglied in der Allgemeinen Ständekammer
des Königreichs Hannover gewesen war und an der Verfassung des König­
reichs mitgearbeitet hatte, besaß er keine Erfahrung im parlamentarischen
Geschäftsgang. Er war auch kein polemischer Aktivist vom Schlage eines
Ernst Moritz Arndt. Für ihn lag, wie er in einer Parlamentsrede bekannte, der
Schlüssel für die künftige Einheit im rechten Verständnis der Vergangenheit:

Meine Herren, ich gehöre nicht


zu denen, welche dafür halten,
daß bloß die Gegenwart für
uns Maßstab geben müsse, ich
glaube auch an unsere große
Vergangenheit, und ich glaube,
daß über Diejenigen, welche
nicht von der Vergangenheit
wissen wollen, sehr bald auch
die Zukunft den Stab brechen
werde.2

Das Protokoll vermerkt im An­


schluss an diesen Satz Beifall von Berliner Lesecafe um 1830: Die Lesecafes bilde-
allen Seiten. Lebhafte Zustim­ ten einen wichtigen Teil der politischen Öffent-
mung erntete Jacob stets, wenn lichkeit. Die Brüder Grimm wirkten als Journa-
er das Wort ergriff, was insgesamt listen in dieser Öffentlichkeit und registrierten
nur vier Mal geschah. Seine Ände­ genau, wie in den Zeitungen über sie berichtet
rungsanträge zu Gesetzentwürfen wurde Auch die Reden der Abgeordneten in der
wurden von anderen Rednern Paulskirche wurden in den Zeitungen mit ver-
zitiert und gelobt. Eine Mehrheit folgt. Ölgemälde »Alles liest Alles» von Gustav
für seine Anträge erhielt er frei­ Taubert (1755-1839), 1832.
lich nie.

2 Wigard, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deut-
schen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main; (Nr. 16, 14.Juni
1848) 15. Sitzung, 9 Juni, S. 289.
106

Man hat Jacob Grimms Orientierung an der historischen Sprachwissen­


schaft oft als naive Verklärung der Vergangenheit missverstanden, seine
offene Distanz zum politischen Betrieb als realitätsfern gewertet und letzt­
lich beides für sein Scheitern in der Paulskirche verantwortlich gemacht.
Sein erster Biograf, der österreichische Sprachwissenschaftler Wilhelm
Scherer, war an dieser Deutung nicht ganz unschuldig: »Fachmännische
politische Argumentation« habe nicht in der Art von Jacob Grimms Bildung
gelegen.3 Überhaupt charakterisierte er die Brüder Grimm als in sich selbst
ruhende, zurückgezogene, im Grunde apolitische Forscher: Die »Genüg­
samkeit, die Freude der Armuth, das Behagen in traulicher Enge« habe die
Brüder Grimm »auf einem sanften Wege durchs Leben« geleitet. Diese selbst­
gewählte idyllische Befangenheit ihrer geliebten Schranken müsse man
letztlich als geheime Triebfeder ihrer Forschung interpretieren.4 In den
1960er Jahren überspitzte der Schriftsteller und Germanist Walter Boehlich
diesen beschaulichen Blick zur bösen Pointe: »Er [Jacob Grimm] lebte mit
oft großen und oft absurden Gedanken in seiner Kleinwelt, halb seiner
Märchenromantik, halb einem hilflosen Biedermeier zugehörig.«5 Boehlich
sah in Jacobs Vorstellungen von der sprachlichen Einheit Deutschlands
sogar den Traum vom »Großdeutschen Reich« aufkeimen, der letztlich die
Germanistik zum Faschismus geführt habe.

Die intensive Forschung zu den Brüdern Grimm hat inzwischen viele dieser
Vorstellungen als zeitbedingte Klischees entlarvt. Weder die Vorstellung
von den Brüdern Grimm als zurückgezogen lebende, apolitische Gelehrte
noch die von Wegbereitern eines aggressiven Nationalismus entsprechen
den tatsächlichen Überzeugungen der Brüder Grimm. Führt man ihre zahl­
reichen, verstreut in Artikeln, Vorreden, Briefen und Reden geäußerten
Ansichten zu gesellschaftlichen und politischen Fragen ihrer Zeit zusammen,
so erweisen sich die Brüder Grimm als hellwache politische Köpfe, die stets
auch einen feinen Sensor für Ungerechtigkeiten behördlicher Obrigkeits­
willkür besaßen, welche in Freiheitsrechte der Menschen eingriff. Als typi­
sches Beispiel von vielen sei hier nur der Brief Wilhelms über das bedrü­
ckende politische Klima während der Restaurationszeit im heimatlichen
Hessen zitiert:

3 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. 3. Auflage mit Vorwort und Einleitung zur Gesamt-
ausgabe von Ludwig Erich Schmitt. Hildesheim/Zürich/New York 1985, S. 252.
4 Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm, S. 151; siehe auch S. 251-253.
5 Walter Boehlich: Aus dem Zeughaus der Germanistik. Die Brüder Grimm und der
Nationalismus, ln: Der Monat 18 (1966) H. 217, S. 56-68, S. 65.
107

Es sah sich jeder um, wenn er das unschuldigste Wort laut auf der Strasze
gesprochen hatte, das jemand hinter ihm hatte hören können und wenn er
einen Bonbon in den Mund gesteckt, warf er das Papier, worin er gewickelt
war, nicht weg, weil es ein Polizeidiener aufhob und eine geheime Nach­
richt darin zu finden hoffte.67

Forschung und Politik bildeten für die Brüder ein beziehungsreiches Span­
nungsfeld, das sie antrieb, aus dem sie Kraft und Bestätigung für ihre Arbeit
schöpften. Gleichwohl bleibt es heute eine Herausforderung, die politischen
Vorstellungen der Brüder Grimm aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und
angemessen zu beurteilen.

□er Untergang des alten »Deutschen Reiches«


Die Brüder Grimm lebten in einer Zeit, die von Revolutionen, massiven
gesellschaftlichen Umbrüchen und politischen Verwerfungen geprägt war.
Dies war jedoch zunächst noch nicht absehbar. Bis zum Tod ihres Vaters
verlebten sie eine weitgehend glückliche Kindheit in der Landgrafschaft
Hessen. Das alte Deutsche Reich stand allerdings kurz vor dem Zusammen­
bruch, zur Wahl des letzten deutschen Kaisers konnten die Brüder noch die
Salutschüsse der vorbeiziehenden Truppen hören. Gleichwohl war Patriotis­
mus für sie, wie für viele Menschen, hauptsächlich auf die eigene Heimat
ausgerichtet:

liebe zum Vaterland war uns, ich weisz nicht wie, tief eingeprägt, wir hiel­
ten unsern fürsten für den besten, den es geben könnte, unser land für das
gesegnetste unter allen/

Auch Wilhelm zählt zu seinen frühesten Kindheitserlebnissen eine Begeg­


nung mit dem Landgrafen Wilhelm I. und erinnert sich, wie er »vom Amts­
diener auf die Mauer gehoben wurde, um den Herrn besser sehen zu kön­
nen. Er zeigte sich auch wirklich in der glänzenden Uniform am Fenster.«8
Bezeichnenderweise spielt an dieser Stelle der beiden Selbstbiografien das
deutsche Vaterland noch keine Rolle. Tatsächlich wäre eine Bestimmung

6 Grothe, Ewald: Die Brüder Grimm und die hessische Politik. In: Heidenreich,
Bernd/Grothe, Ewald (Hgg.): Kultur und Politik: die Grimms. Frankfurt 2003,
S. 179-204, S. 191.
7 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1. Berlin 1864, Hg. v. Karl Müllenhoff und
Eduard Ippel. Berlin 1864, S. 2.
8 Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Erster Band. Hg. v. Gustav Hinrichs. Berlin
1881, S. 7.
108

dessen, was man als deutsche Nation hätte bezeichnen können, außer­
ordentlich schwierig.

Die geistige Heimat


Staatsrechtlich bestand das aus dem Mittelalter überkommene Heilige
Römische Reich Deutscher Nation mit dem Kaiser an der Spitze weiterhin.
Politisch aber war es ein unübersehbares Konglomerat aus fast 300 mehr
oder weniger autonomen staatlichen Gebilden. Da existierten in einer bunten
Gemengelage moderne Territorialstaaten neben absolutistischen Regierun­
gen, Zwergfürstentümer neben geistlichen Territorien und halbautonomen
Reichsstädten. Dazu beanspruchten noch 1475 Reichsritter souveräne Rechte
und übten Gerichtsbarkeit aus. Ein monströses, nicht reformierbares Staats­
gebilde, das sich mit den innovativen, modern verwalteten Flächenstaaten
wie Frankreich oder England nicht messen konnte. Aber auch in anderer Hin­
sicht gab es Unstimmigkeiten. Das Staatsgebiet deckte sich nicht mit den

Der Wiener Kongress 1815: Jacob Grimm war nichl nur als Legationssekretär vor Ort. Er
schrieb Berichte über den Kongress, die im »Rheinischen Merkur- erschienen. Dass in den
diplomatischen Hinterzimmern die Einheit Deutschlands verspielt wurde, verbitterte ihn
und viele andere zutiefst.
109

Sprachgrenzen: So zählten deutschsprachige Gebiete wie Ostpreußen oder


das Herzogtum Schleswig nicht zum Reich, während andererseits viele Men­
schen mit einer nichtdeutschen Muttersprache im Reich lebten.

Wichtiger wurde eine andere Form nationaler Identität, die sich nicht an
Staatsgrenzen orientierte, wie es Friedrich Schiller präzise erfasste: »Abgeson­
dert vom Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet,
und wenn auch das Imperium unterginge, bliebe die alte Würde unangefoch­
ten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der
Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.«9 Deutsche
Identität war im Wesentlichen ein Bewusstsein gemeinsamer Werte, eine
kulturelle Identität, welche die politisch empfundene Machtlosigkeit kom­
pensieren sollte. »Über alle politischen Wechselfälle hinweg bildete ... die
geistige Heimat der Gebildeten das eigentliche Reich der Deutschen. Die un­
sichtbare, unpolitische staatenübergreifende >Kulturnation<, sie konstituierte
das wahrhafte, das unvergängliche Deutschland«, das durch seine Aufgabe
als globaler, säkularisierter Heilsbringer welthistorisch überhöht wurde.«101

Die Brüder Grimm wuchsen mit zunehmendem Alter in dieses national­


politische Klima hinein. Ihre emotionalen Bindungen an die real erfahrene
politische Heimat blieben jedoch bestehen. Noch 1815, als während des
Wiener Kongresses die Gefahr bestand, dass Hessen endgültig in Preußen
aufgehen sollte, schrieb Jacob: »Wir fühlen, daß wir Hessen sind und bleiben
wollen u. so besser deutsch sind, als wenn man uns eintopft.«11 Ablesen
lässt sich diese Haltung auch an ihrem Lebensweg: Selbst als sie mit ihren
Schriften weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurden, schlugen
sie zahlreiche lukrative Stellenangebote aus, darunter Professorenstellen
in Bonn und hochinteressante Bibliothekarsstellen in München. Sie lebten
und arbeiteten in Kassel, bis sie 44 bzw. 45 Jahre alt waren. Erst als Kurfürst
Wilhelm I. ihnen eine längst fällige Beförderung verwehrte und damit end­
gültig offenkundig wurde, wie wenig er die Arbeiten der Grimms schätzte,
entschlossen sie sich 1830 zum Wechsel ins Königreich Hannover - aus den
Bibliothekaren wurden nun Professoren.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Blickfeld der Brüder Grimm, vor allem
Jacob Grimms, massiv erweitert. Als anerkannte Wissenschaftler waren sie

9 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd 1. München 1987, S. 45.


10 Wehler, Hans-Ulrich: Gesellschaftsgeschichte, S. 45.
11 Grothe, Ewald: Die Brüder Grimm und die hessische Politik, S. 186.
110

fest etabliert. Ihre >Kinder- und Hausmärchen< hatten sich nach einer ver­
legerischen Durststrecke beim Publikum durchgesetzt. Zugleich hatten
die Erfahrungen der Umbrüche, der enttäuschten Hoffnungen der vergan­
genen zwei Jahrzehnte, die Konturen ihres wissenschaftlichen und gesell­
schaftspolitischen Weltbildes geschärft und aus den Grimms politisch
denkende und verantwortlich handelnde Wissenschaftler gemacht.

Sprache und Patriotismus


Die Politisierung der Brüder fiel in eine Epoche des radikalen Umbruchs
von Politik und Gesellschaft. Und es ist kein Zufall, dass in einer Zeit, in der
sich staatliche Grenzen und Herrschaftsverhältnisse auflösten, auch die
Brüder ihrem vorgegebenen Berufsweg eine neue Richtung gaben.

1805 und 1806 besiegt Napoleon in schneller Folge Österreich und Preußen.
Im Oktober 1806 legt Franz I. die Kaiserkrone nieder, das Deutsche Reich hat
damit aufgehört zu bestehen. Ein Jahr später existiert auch das Heimatland
der Brüder Grimm nicht mehr: Die Landgrafschaft Hessen geht im Königreich
Westphalen auf, das nun von Jeröme, dem Bruder Napoleons, regiert wird.
Mit den Besatzern hält auch neues Recht Einzug: Der »Code Napoleon« löst
die alten Gesetze und Gewohnheitsrechte ab, Rechtsprechung und Verwal­
tung werden nach modernen Maßstäben umgestaltet. Für Wilhelm, der die
Ereignisse auch noch zwanzig Jahre später anschaulich schildern konnte,
war dies eine Katastrophe.

Während Napoleon sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befindet, kön­
nen die Brüder, materiell nun halbwegs abgesichert, an ihrer neuen Karriere
arbeiten: Wilhelm sammelt weiter Volkslieder für >Des Knaben Wunder­
horm und beginnt seine Studien zu den altdänischen Heldenliedern, die
1811 als Buch publiziert werden. Jacob veröffentlicht seine Studie >Über
den altdeutschen Meistergesänge Auf Clemens Brentanos Anregung hin
beginnen sie auch, die ersten Texte für ihre Märchensammlung aufzu­
spüren: 1812, als nach der Niederlage in Russland der Stern Napoleons
zu sinken beginnt, liegt schließlich der erste Band der >Kinder- und Haus-
märchem vor.

Die Brüder Grimm haben zumindest im Rückblick einen Bezug zwischen


ihren wissenschaftlichen Arbeiten und Märcheneditionen und den politi­
schen Ereignissen hergestellt und sie gewissermaßen als kulturellen Wider­
stand gegen französische Überfremdung interpretiert. In der Zeit der
in

Schmach, schreibt Jacob 1841 - also über zwanzig Jahre später habe
er »trost in der geschichte der deutschen literatur und spräche« gesucht.

es war eine unsichtbare, schirmende waffe gegen den feindlichen Übermut,


daszin unscheinbaren aber unentreiszbaren gegenständen Vorzüge und
eigenheiten verborgen lagen und wieder entdeckt werden konnten, an
denen unser bewustsein mit gerechter anerkennung haften durfte, von der
grammatik und ihren nicht spärlichen früchten schritt ich vor zu der erfor-
schung einheimischer poesie, sage und sitte.12

Tatsächlich gehörte es zur prägenden Grunderfahrung Jacob Grimms, dass


all das, was er in seinen Studien über historische, sprachliche und kulturelle
Gemeinsamkeiten der Deutschen zutage förderte, in der aufkeimenden
nationalen Begeisterung eine gesellschaftliche Entsprechung zu finden
schien. Als nach dem Sieg über Napoleon 1815/16 auf dem Wiener Kon­
gress die Neuordnung Europas verhandelt wurde, glaubten die Brüder
Grimm, wie viele andere auch, dass trotz aller Zerrissenheit eine staatliche
Einheit Deutschlands greifbar nahe läge.

Doch Jacob Grimm, der beim Wiener Kongress als Sekretär des kurhessischen
Legaten vor Ort war, musste aus nächster Nähe miterleben, wie die von
vielen erhoffte Einheit Deutschlands in den Hinterzimmern der Diplomatie
begraben wurde. Anstelle der erhofften Nation entstand ein lockerer Zusam­
menschluss aus 39 souveränen Staaten und Stadtstaaten. Im Rheinischen
Merkur< machte Jacob seiner Enttäuschung Luft: »soll denn unsere volk­
warme, bewegte Zeit und Meinung so mutwillig und frevelhaft hart von
denen, die nach der Karte, den Flüssen und Bergen, nicht nach den Herzen
Länder machen, angetastet werden?«13

Als einfacher Legationssekretär hatte Jacob Grimm auf diese Verhandlun­


gen keinerlei Einfluss. Dennoch existiert ein Dokument, das bereits seine
politische Grundüberzeugung preisgibt. In seinen kritischen Anmerkungen
zu einem Verfassungsentwurf, der ihm zur Korrektur überlassen war, formu­
lierte er seine eigenen Verfassungsideen: »Das deutsche Reich ist ein heili­
ges und einiges und will sein Recht und seinen Gebrauch hiermit setzen
und ordnen, wie nachfolget./Denn wir wollen in keinen neuen Bund treten,

12 Kraus, Hans Christoph: Jacob Grimm - Wissenschaft und Politik. In: Heidenreich,
Bernd/Grothe, Ewald: Kultur und Politik, S. 148-178, S. 153.
13 Kraus, Hans Christoph: Wissenschaft und Politik, S. 153f.
112

sondern den ewigen alten wieder aufgehen laßen.« Als Grundbestimmungen


setzte Jacob, »1. daß jeder Deutsche frei,/2. daß jeder Deutsche gebunden
ist an sein Vaterland«.14 Es ist eine Verfassung, die keine politische Ordnung
begründet, vielmehr eine »ohnehin vorhandene Verfasstheit einer Nation«
zum Ausdruck bringt.15 Jacob Grimm bewegt sich damit auf den Spuren
eines Mannes, der für die Brüder Grimm eine herausragende Rolle gespielt
hat, von dem er sich gleichwohl klar emanzipieren sollte: Friedrich Carl von
Savigny.

Vom Recht zur Sprache


Selten waren sich die Brüder Grimm so einig wie in der Beurteilung der
Person des Juristen, Hochschullehrers, Mentors und Menschen Savigny:
»was kann ich aber von Savignys Vorlesungen anders sagen, als dasz sie
mich aufs gewaltigste ergriffen und auf mein ganzes leben und studieren
entschiedenen einflusz erlangten?«, schreibt Jacob Grimm in seiner Selbst­
biografie.16

Es war besonders der Rückgriff auf alles Geschichtliche, der bei den Brüdern
ins Mark traf. In seinen Forschungsarbeiten demonstriert Savigny, wie alte
Quellen mit wissenschaftlicher Methodik einer modernen kritischen Analyse
zugänglich gemacht und in ihren historischen Zusammenhang eingebettet
werden können. Mehr noch: Durch Savigny erfahren sie, dass die Erforschung
historischer Texte auch für aktuelle, gesellschaftliche Fragen Relevanz besitzt.

Die Haltung Savignys war rückwärtsgewandt und modern zugleich: Seine


Vorstellung einer langsamen Evolution des Rechts im Einklang mit dem
»Volksgeist« richtete sich gegen jeden revolutionären Umsturz, wie man
ihn durch die Französische Revolution erleben konnte. Sie richtete sich
aber ebenso gegen den absolutistischen Zugriff des Monarchen auf die
Macht. Im Grunde gab Savigny damit im politischen Spektrum die beiden
Pole vor, zwischen denen sich die Brüder Grimm zeitlebens politisch bewe­
gen sollten. Innerhalb dieses Horizontes entwickelten die Brüder aller­
dings ihre eigenen politischen Vorstellungen, so wie sie auch in der Wissen­
schaft ihren eigenen Weg gingen.17

14 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010, S. 242.
15 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. S. 242.
16 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1, S. 113.
17 Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechts-
wissenschaft. Heidelberg 1828, S. 13f., 47.
113

Sprache als Klammer der Gesellschaft


Die Brüder Grimm machten Savignys Konzept für ihr Fachgebiet fruchtbar
und entwickelten es konsequent weiter. Während jener in seinen Überle­
gungen stets vom Römischen Recht ausging, suchten die Brüder Grimm in
Mythen, Märchen, Sagen, Epen und alten Rechtsaufzeichnungen den von
Savigny propagierten Volksgeist zu fassen. 1816 veröffentlichte Jacob
Grimm in der von Savigny gegründeten Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft seinen berühmten Aufsatz >Von der Poesie im Recht18
und argumentierte, dass Epen und Gesetz ihren eigenen Ursprung im
Mythos, im Glauben haben. Und Jacob ging noch einen Schritt weiter. Er
sah nicht nur alte Rechtsaufzeichnungen wie den Sachsenspiegel, sondern
vor allem die Sprache selbst als Quelle an:

Alles was anfänglich und innerlich verwandt ist, wird sich bei genauer Unter­
suchung als ein solches stets aus dem Bau und Wesen der Sprache selbst
rechtfertigen lassen, in der immerhin die regste, lebensvollste Berührung
mit den Dingen, die sie ausdrücken soll, anschlägt. Und so reicht die auf­
gestellte Verwandtschaft zwischen Recht und Poesie schon in die tiefsten
Gründe aller Sprachen hinab.19

Der unermüdlich wühlende, nach Erkenntnis strebende Forschergeist Jacob


Grimms wandte sich also von den literarischen Quellen direkt der Sprachwis­
senschaft zu, die in seinem Schaffen einen immer breiteren Raum einnahm:
1819 erschien der erste Band seiner >Grammatik der deutschen Sprachen
1822 erscheint der komplett überarbeitete Band, bevor 1826-1837 drei
weitere Bände erscheinen, 1848 folgt seine >Geschichte der deutschen
Sprachen Wer hinter Jacob Grimms >Grammatik< eine Schulgrammatik des
Deutschen, vergleichbar einer lateinischen Grammatik, vermutet, irrt. Er bot
vielmehr eine historische vergleichende Grammatik der germanischen
Sprachen, die er beginnend mit dem Gotischen in ihrer gesamten sprach-
geschichtlichen Entwicklung darstellte. Es waren vor allem die Gemeinsam­
keiten der Sprachen und Dialekte, deren »fortschreitende, unaufhörliche
Verbindung bis in das Einzelnste« er zu ergründen und darzustellen ver­
suchte.20 Der historische Blick auf die Sprache, die ihren »unabänderlichen
Gang« geht und sich wie ein lebender Organismus immer weiter fortentwi-

18 Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechts-
wissenschaft. Bd. 2, 1816, S. 25-99.
19 Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht, S. 30.
20 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen 1819, S. XVII.
114

ekelt, korrespondierte bei Jacob mit einer erstaunlich liberalen und vor allem
optimistischen Auffassung zur Sprachpolitik: Sprache ist für ihn zwar niemals
perfekt, besonders die deutsche »hat mancherlei Schaden erlitten und muß
ihn tragen«. Jeder willkürliche Eingriff in die Sprache führt aber zu größerem
Schaden: »Sobald Critik gesetzgeberisch werden will, verleiht sie dem gegen­
wärtigen Zustand der Sprache kein neues Leben, sondern stört es geradezu
auf das empfindlichste.«21Der wahre Ausgleich stehe in der »Macht des uner­
müdlich schaffenden Sprachgeistes, der wie ein nistender Vogel wieder von
neuem brütet, nachdem ihm die Eier weggethan worden«.22

In der Sprache erkennt Jacob Grimm mehr und mehr die Klammer, die eine
Gesellschaft zusammenhält. Sie ist für ihn das eigentliche Fundament des
Staates, was er vielleicht am deutlichsten 1830 in seiner Antrittsvorlesung
>Über die Heimatliebe< an der Universität Göttingen formuliert. Durch nichts
anderes werde das Band zur Heimat und ihre Unentbehrlichkeit so beleuch­
tet und ans Licht gezogen wie durch die Gemeinschaftlichkeit der Sprache:

ich behaupte, daß weder ein Volk wirklich blühen kann, das seine Mutter­
sprache vernachlässigt, noch eine Sprache verfeinert werden kann von
einem Volke, das seine Freiheit verloren hat.23

Es war dieses unbedingte Verständnis von Freiheit, das die Brüder Grimm
gegen die Vereinnahmungen des Obrigkeitsstaates immunisierte und 1837
zu einer direkten Konfrontation führte.

Die Verantwortung des W issenschaftlers


Die Auseinandersetzung der »Göttinger Sieben« mit dem König von Han­
nover gehört wie das Wartburgfest 1817 oder das Hambacher Fest 1832 zu
den zentralen Ereignissen, die die Revolution von 1848 vorbereiteten. Nach
dem Tod des kinderlosen Wilhelm IV., König des vereinigten Königreichs
von England, Schottland und Hannover, endete 1837 auch die Personaluni­
on zwischen England und Hannover. Hannover hatte dabei das Pech der
genetischen Lotterie: Während in England mit Königin Victoria das nach ihr
benannte Zeitalter eingeläutet wurde, bestieg in Hannover mit dem hoch­
konservativen Ernst August ein erklärter Reformgegner und Antiliberaler,

21 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik, S. XV.


22 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik, S. XV.
23 Grimm, Jacob: Über die Heimatliebe (De desiderio patriae). In:Göttinger Univer-
sitätsreden. Hg. v. Wilhelm Ebel. Göttingen 1978, S. 220-227, S. 222.
Ernst August, König von
Hannover (1771-1851)
Mit seiner Beseitigung eines fort-
schrittlichen Staatsgesetzes galt er
im ganzen deutschsprachigen Raum
als Sinnbild monarchischer Restau-
ration. Seine Verachtung von Profes-
soren brachte er in einem vielfach
überlieferten Zitat zum Ausdruck:
»Professoren. Tänzerinnen und
Huren kann man überall für Geld
wiederhaben.«

Sein Widerstand gegen die freiheitli-


chen Bestrebungen blieb allerdings
ohne nachhaltigen Erfolg. Unter dem
Druck der Revolution von 1848 muss-
te er schließlich einer der fortschritt-
lichsten Verfassungen Deutschlands
seine Unterschrift geben.

den Thron. Und er schuf zügig Tatsachen: Schon kurz nach seinem Amtsan­
tritt im Juli stellte er klar, dass er sich nicht an die liberale, unter Friedrich
Wilhelm IV. ausgehandelte Verfassung gebunden fühle, und kündigte eine
Überprüfung an. Ende Oktober löste er die Ständeversammlung auf, erklär­
te am 1. November die Verfassung für ungültig und entband alle Staatsdie­
ner vom Eid auf diese neue Verfassung.

Der Widerstand, der sich von Seiten der Beamten gegen diesen Staatsstreich
regte, war minimal. Nur eine kleine Gruppe von Professoren um Friedrich
Christoph Dahlmann - gerade einmal sieben von insgesamt 32 Professoren
- wagte es, Einspruch zu erheben.

Diese Untertänigste Vorstellung<, die die Professoren am 18. November beim


Universitätskuratorium in Hannover einreichten, war im Ton denkbar defen­
siv formuliert: Die Professoren machten aber deutlich, dass die Verfassung
116

von 1833 trotz der von Ernst August zur Last gelegten Mängel gültig sei und
sie sich somit weiterhin an den Eid gebunden sähen. Die Reaktion des
Königs folgte umgehend: Am 14. Dezember wurden alle sieben Professoren
ihrer Ämter enthoben. Dahlmann, Jacob Grimm und der Literaturhistoriker
Georg Gottfried Gervinus wurden als Rädelsführer des Landes verwiesen.

Trotz des überwältigenden öffentlichen Interesses blieben die Brüder Grimm


parteipolitisch zurückhaltend. Eine Polarisierung lehnte Jacob Grimm in
seiner Rechtfertigungsschrift, die er in enger Absprache mit Wilhelm ver­
fasste, von Grund auf ab und setzte dagegen das Ethos des abwägenden,
sachlich differenzierenden Wissenschaftlers:

Ich traue jedem dieser Gegensätze einen großem oder kleinern Theil
Wahrheit zu, und halte für unmöglich, daß sie in voller Einigung aufgehn.

Friedrich Christoph
Dahlmann (1785-1860)

Der Historiker Friedrich


Christoph Dahlmann gilt als
Kopf der »Göttinger Sieben«.
Er organsierte den Wider-
stand der Professoren und
verfasste die »Untertänigste
Vorstellung«, die zu ihrer
Entlassung führte. Dahl-
mann war auch vorher
schon durch sein politisches
Engagement aufgelalien-
In Schleswig-Holstein setzte
er sich gegen den Wider-
stand Dänemarks für die
ständischen Rechte der Reichsritterschatt ein und kämpfte publizistisch für die
Unabhängigkeit von Dänemark. In Hannover war er maßgeblich an der Aus-
arbeitung des Staatsgrundgesetzes beteiligt. 1848 zog er als Abgeordneter in die
Frankfurter Nationalversammlung ein. Mit den Brüdern Grimm verband ihn
auch privat eine enge Freundschaft.
117

Wer fühlte nicht in gewissen Puncten zusammen mit dem Liberalen,


mit dem Servilen [Konservativen], Constitutionellen und dem Legiti-
misten, Radicalen und Absoluten, sobald sie nur nicht unredlich oder
Heuchler sind?

Darin wird deutlich, dass es nicht politische oder juristische Erwägungen


sind, die im Zentrum seiner Begründung stehen. Es ist die ethische und
gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft und Lehre, die Jacob
zum Widerstand bewegt.

Jacob Grimm vertrat nicht die Ansicht der »Wissenschaft im Elfenbeinturm«.


EineTrennung von Wissenschaft und Gesellschaft kam für ihn nicht in Frage:
Die Juristen und Politikwissenschaftler seien kraft ihres Amtes angewiesen,
die »Grundsätze des öffentlichen Lebens aus dem lautersten Quell ihrer Ein­
sichten und Forschungen zu schöpfen«; Lehrer der Geschichte dürften die
Auswirkungen von Verfassungen und Regierungen auf das Wohlergehen
der Völker nicht verschweigen. Auch der Sprachwissenschaft weist Jacob in
diesem Zusammenhang eine wichtige Aufgabe zu: Sie hat zu zeigen, wie
sich »freie oder gestörte Volksentwicklung« in der Sprache niederschlägt.
Insgesamt zeichnet Jacob die Universität als eine Institution, die in der Mitte
der Gesellschaft verankert ist, denn beide stehen in einer wechselseitigen
Beziehung: Durch ihren Erziehungsauftrag wirkt die Hochschule in die Ge­
sellschaft hinein, zugleich vermittelt sie einen Maßstab für verantwortungs­
volles politisches Handeln, und sie ist, wie alle Bürger, auch von politischen
Fehlentwicklungen betroffen:

Wie allseitig muß also die Universität von der Kunde ergriffen werden,
daß die Verfassung des Landes dem Umsturz ausgesetzt sei. Eine Menge
junger Leute nehmen anteil an der veränderten Lage ihrer Eltern, Brüder,
Freunde und Lehrer; alle bewegt ein allgemeines Gefühl schwebender
Gewalttätigkeit.

In dieser Forderung an sich selbst, unbedingt für das Gemeinwohl einzu­


treten und Missstände auch gegen den Widerstand des Staates zu formulie­
ren, etablierten die Brüder Grimm einen neuen Typ Wissenschaftler, für den
politische Verantwortung, Wissenschaft und Sprache eine untrennbare
Einheit darstellten.
118

W ider Sklaverei und Knechtschaft -


Jaco b Grim m in der Paulskirche

Die Debatte der Frankfurter Nationalversammlung 1848 über


die Grundrechte des deutschen Volkes gehört sicher zu einer
der Sternstunden des deutschen Parlamentarismus. Auch Jacob
Grimm hat sich an dieser Diskussion aktiv beteiligt. Sein be­
rühmter Freiheitsantrag wurde später vielfach als rückwärts­
gewandt und unzeitgemäß kritisiert. Aber neuere Forschun­
gen zeigen: Grimm war in seinem Denken viel fortschrittlicher,
als man glaubte.

Das erste frei gewählte gesamtdeutsche Parlament der Paulskirche stand


unter einem immensen Erfolgsdruck. Bei den Abgeordneten herrschte die
Sorge, die gerade gewonnene Einheit könnte wieder verspielt werden: »Wenn
wir fortfahren, wie bisher«, brachte es ein Abgeordneter unter Bravo-Rufen
auf den Punkt, »so wird man von uns sagen, wir glichen Männern, die in
einem brennenden Hause sitzen und berathen, wie man Feuerspritzen tech­
nisch einzurichten habe.«1Gleichwohl musste das Parlament neue Wege zur
Konsensfindung beschreiten und über kleinteilige Fragen wie Geschäftsord­
nungen, Ausschussbildungen und Sonderanträge verhandeln.

ß 6er der (B egriff von Freiheit ist ein so heiCiger


u n d w ichtiger, daß es mir durchaus nothw endig
erscheint, ihn an die Spitze unserer G rundrechte
zu steCCen.
Ja co 6 Grimm

1 Wigard, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen
constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Bd. 1. Frankfurt am
Main 1848, S. 69.
119

Man muss es den Abgeordneten daher hoch anrechnen, dass sie sich allem
Druck zum Trotz die Zeit nahmen, intensiv über die Grundlagen eines moder­
nen Staates zu debattieren, und in ihren Verfassungsberatungen die Grund­
rechte an den Anfang ihrer Beratungen stellten. An diesem Prozess hat sich
auch Jacob Grimm intensiv beteiligt, und seine Beiträge vermitteln wichtige
Einblicke in sein politisches Denken.

Jacob Grimm in der


Frankfurter Natio­
nalversammlung
(Pfeil): Der distan­
ziert wirkende Blick
Grimm s täuscht. In
den Debatten war
Jacob Grimm ein
aufm erksam er Zu­
hörer. Er beteiligte
sich durch grundle­
gende Anträge und
Debattenbeiträge.

Grundrechte nur für Deutsche?


Am 24. Mai, bereits zwei Tage nach dem ersten Zusammentritt des Parla­
ments, hatte eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Verfassungsent­
wurfs begonnen, der den Parlamentariern schon am 6. Juni zur Beratung
vorlag. An die Spitze der Verfassung setzte die Kommission in 12 Artikeln
und 48 Paragraphen die Grundrechte des deutschen Volkes, darunter Ver­
sammlungsfreiheit, Pressefreiheit und das Recht auf Eigentum. Als erster
Artikel sollte jedoch die Staatsbürgerschaft geklärt werden:

§ 1Jeder Deutsche hat das allgemeine deutsche Staatsbürgerrecht. Die ihm


kraft dessen zustehenden Rechte kann er in jedem deutschen Lande ausüben

Dass eine formale Frage wie das Staatsbürgerrecht an die Spitze der Grund­
rechte gestellt wurde, erstaunt heute. Nachvollziehbar wird dies aber durch
120

den Umstand, dass mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1803 eine
formale Klammer für die Verfassung fehlte. Die Abgeordneten mussten
»die Lücke ausfüllen, welche der Untergang des Reiches gelassen hatte«,
wie es das Ausschussmitglied Carl Georg Christoph Beseler (1809-1888)
formulierte.2

Schon über diesen ersten Artikel prasselte eine Flut von Änderungsan­
trägen herein, begleitet von heftigen Debatten. Gleich der erste Redner,
der liberale Publizist und Professor für Philosophie, Friedrich Carl Bieder­
mann (1812-1901), stellte die Frage, wer überhaupt als Deutscher zu ver­
stehen sei. »Dieses Wort >Deutsche< ist jedenfalls unklar. Man weiß nicht,
ob jeder Deutsche im Auslande, oder jeder, der in zwei Staaten ansässig ist,
gemeint ist.«3 Nicht anders wurden die folgenden Änderungsanträge be­
gründet: Man verwies darauf, dass Deutschland in den Grenzen des Alten
Reiches ein Vielvölkerstaat war: »Viele Völker anderer Zungen leben in unserm
großen Lande, Italiener, Slaven und selbst Franzosen. Diese würden dann
natürlicherweise glauben, sie seien unter dem Ausdruck »Deutsche« nicht
begriffen.«4 Der Abgeordnete Carl Friedrich Wilhelm Jordan (1819-1904)
verwies allerdings darauf, dass sich auch der Begriff »Nation« verändert habe,

Jacob Grim m s Antrag zum


Grundrecht auf Freiheit im
Original.

2 Droyseru Johann Gustav: Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der


deutschen Nationalversammlung. Leipzig 1849, S. 26ff
3 Wigard, Franz: S t e n o g r a p h i s c h e r Bericht. Bd. 1, S. 732.
4 Wigard, Franz: S t e n o g r a p h i s c h e r Bericht. Bd. 1 S. / 34.
121

er konstatierte, der Begriff »Nation« sei ein viel weiterer geworden: »Er hat
sich völlig geändert, die Nationalität ist nicht mehr begrenzt durch die
Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den
politischen Organismus.« So hätte sich aus den Stämmen Nordamerikas eine
sehr scharf bestimmte Nationalität gebildet.5

Freiheit als Menschenrecht


Und Jacob Grimm? Sein Änderungsantrag schien völlig aus dieser Diskus­
sion herauszufallen:

Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft.
Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.6

Grimm wollte diesen Artikel nicht als einen unter vielen verstanden wissen,
denn »der Begriff von Freiheit« so erklärte er, »ist ein so heiliger und wichti­
ger, dass es mir durchaus nothwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer
Grundrechte zu stellen.« Eine weitergehende Begründung unterließ er: »Ich
glaube«, kommentierte er am Schluss, »das Gesagte reicht hin, um Ihnen
den Antrag zu empfehlen.«7Tatsächlich vermerkt das Protokoll am Schluss
des Beitrags »(Bravo von vielen Seiten)«. Der nachfolgende Redner, der
Schriftsteller Carl Friedrich Wilhelm Jordan versuchte sogar, Grimms Antrag
an der Tagesordnung vorbei sofort zur Abstimmung zu bringen: » Ich glau­
be, was der geehrte vorhergehende Redner gesagt hat, wird bei Allen eine
solche Beistimmung gefunden haben, daß Sie gewiß geneigt sind, es anzu­
nehmen.« Der Präsident der Nationalversammlung, von Gagern, war aller­
dings auf der Hut, er unterbrach abrupt und verschob die Abstimmung, die
erst nach Tagen quälender Diskussionen am 20. Juli erfolgte. Während die
meisten Änderungsanträge mangels Unterstützung nicht einmal zur Ab­
stimmung kamen, scheiterte Grimm nur knapp mit 205 zu 192 Stimmen.

Welche Absicht verfolgte Jacob Grimm mit seinem Antrag? War dieser Aus­
druck aufrechter demokratischer Gesinnung, wie positive Stimmen mein­
ten, oder nur eine inhaltsleere Reminiszenz an seine altdeutschen Forschun­
gen, wie ein Kritiker behauptete? Tatsächlich wirkt der Antrag in der
Wortwahl archaisch, wenn von biblischen Begriffen wie »Knechtschaft«
die Rede ist. War dies ein Symptom der politischen Naivität Grimms?

5 Wigard, Franz: Stenographischer Bericht. Bd. 1. S. 737.


6 Wigard, Franz: Stenographischer Bericht. Bd. 1,S. 737.
7 Wigard, Franz: Stenographischer Bericht. Bd. 1, S. 737.
Gleichheit - ein universales Grundrecht
Neuere Beobachtungen8 zeichnen ein wesentlich differenzierteres Bild,
denn der Antrag steht in engem Zusammenhang mit einem Kontakt zu
einem alten Freund der Grimms, der in der Forschung lange übersehen
wurde: Friedrich Wilhelm Carove (1789-1852). Dieser heute völlig verges­
sene Schriftsteller stand in der Zeit zwischen 1812 und 1818 in engerem
brieflichen Kontakt mit den Grimms, der sich vornehmlich im Rahmen
einer Gelehrtenkorrespondenz bewegte: Man tauschte Nachrichten über
Sprachdenkmäler und Abschriften wichtiger Texte oder Nachrichten über
gemeinsame Bekannte aus.

Eine interessante Figur ist Carove aber vor allem wegen seines politischen
Engagements: Der in den Burschenschaften aktive Carove kämpfte nicht
nur für demokratische Reformen und die Einheit Deutschlands, er engagierte
sich auch gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; in den Vierzi­
gerjahren schloss er sich der europäischen Bewegung zur Abschaffung der
Sklaverei an. Im Januar 1848 setzte Carove gemeinsam mit anderen einen
»Aufruf zur Bildung eines deutschen Nationalvereins für Abschaffung der
Sklaverei« auf. In dem gedruckten Flugblatt folgten dem eigentlichen Auf­
ruf noch zwei weitere Schriften: eine längere Begründung sowie eine von
ihm verfasste Nachschrift. Alle drei Schriften sandte Carove Jacob Grimm
zu - sie befinden sich heute noch in dessen Nachlass. Es ist auch sehr wahr­
scheinlich, dass die beiden sich in dieser Zeit persönlich begegnet sind
und sich austauschen konnten. Beide hatten schon im sogenannten Vor­
parlament gesessen, das im Frühjahr 1848 die eigentliche Nationalver­
sammlung vorbereitete.

Dass ein intensiver Kontakt bestanden haben muss, verdeutlicht der Brief,
den Carove an Jacob Grimm am 11.7., also wenige Tage nach dessen Bei­
trag zu den Grundrechten, sandte. Darin verwies er darauf, dass auch deut­
sche Schiffe vom Sklavenhandel profitierten: »Noch 1845 berichtete ein
Englischer Consul von Rio de Janeiro, daß von dort drei dem Sclavenhandel
bestimmte Schiffe unter Hamburgischer und eines unter Preußischer Flag­
ge nach Afrika abgesegelt.« Carove schlug vor, dass Grimm seinen »preiß-
würdigen Antrag« noch um Zusätze präzisieren sollte. So sollten erstens
8 Seybold, Steffen: Freiheit statt Knechtschaft. Jacob Grimms Antrag zur Paulskirchen-
verfassung. In: Der Staat 51, 2. 2012, S. 215-231. Schmidt, Hartmut: >Kein Deutscher
darf einen Sclaven haltern - Jacob Grimm und Friedrich Wilhelm Carove. In: Neu-
mann, Werner/Techtmeier, Bärbel (Hgg.): Bedeutungen und Ideen in Sprachen und
Texten. Berlin 1987, S. 183-192.
123

Trotz vielfach e r
Verbote - am Sklaven­
handel verdienten
auch deutsche Reeder.

auch Schiffe unter deutscher Flagge im Sinne Grimms als deutscher Boden
betrachtet werden und es zweitens jedem Deutschen verboten sein, sich
am Sklavenhandel zu beteiligen.

Wieder lässt sich aus dem Nachlass erschließen, dass sich Jacob Grimm von
Carove überzeugen ließ. Denn es existiert eine handschriftliche Fassung
Grimms, in der er seinem eigenen Artikel in einer sprachlich geglätteten
Form die Ergänzungen Caroves folgen lässt. Auch bei ihm hieß es nun:

§2 Kein Deutscher darfeinen Sclaven halten, noch sich unmittelbar oder


wissentlich mittelbar betheiligen bei Unternehmungen die aufSclaven-
handel ausgehn oder nur mittels Sclaven in Ausführung gebracht werden
können.9

Jacob Grimm hat diese Zusätze nicht mehr in das Parlament eingebracht, sie
wären ohnehin wohl nur für ein ausführendes Gesetz sinnvoll gewesen. Die
handschriftlichen Aufzeichnungen sind aber ein sicherer Hinweis dafür,
dass Jacob Grimm seinen Grundrechtsartikel in völliger Übereinstimmung
mit dem Kampf gegen Sklaverei sah. Sie belegen auch, dass für Jacob
Grimm Freiheit nicht nur ein Grundrecht der Deutschen, sondern ein univer­
sell gültiges Menschenrecht darstellte, unabhängig von Nationalität und Her­
kunft - ein Recht, das für Grimm in engem Zusammenhang mit anderen
Rechten, wie z. B. Gleichheit vor dem Gesetz, stand. So erweist sich Jacob
Grimms Antrag erstaunlich aktuell: Auch das Grundgesetz der Bundesrepu­
blik Deutschland setzt mit dem ersten Artikel zur Unantastbarkeit der Würde
des Menschen ein universales Grundrecht an den Anfang aller Gesetze.
9 Schmidt, Hartmut: >Kein Deutscher darf einen Sclaven« halten, S. 191.
124

Sprache iur das Volk: Die Brüder Grimm


als Volkserzieher und Vorreiter
eines modernen Bildungsbegriffs

Das W erk Jacob und Wilhelm Grimms ist ohne einen pädagogisch­
didaktischen Anspruch nicht zu denken. Dieser Anspruch ist der in
der Aufklärung geprägten Vorstellung der allmählichen Veredelung
des Menschen, der selbsttätigen Ausbildung zu einem Individuum
verpflichtet. Dabei ist, neben dem Bemühen um Erkenntnis,Volks­
erziehung als Teilhabe des Einzelnen an der Wissensvermittlung ein
zentrales Thema sowohl der sprachgeschichtlichen Forschungen der
Brüder Grimm wie auch ihrer Sammlungen, insbesondere der Märchen
Dem Volk soll das zurückgegeben werden, was es selbst geschaffen
hat, in dem es seine Wurzeln hat. In diesem Sinne sind W örter wie
Volk, v o lk s m ä ß ig und V o lk sg e ist Schlüsselbegriffe der Grimmschen
Weitsicht, es sind zugleich Schlüsselbegriffe der Romantik.

» der mensch Heiszt niefit nu r so, w eit er denkt, sondern ist auch menscfi,
w eit er denkt, u n d spricfit, w e d e r d e n k t «

Das Volk als Ursprungsinstanz


Der Grimm'sche Bildungsbegriff geht zurück auf ein Konzept von »Volk«
als Bezeichnung derjenigen Instanz, mit der die Brüder Ursprung und Er­
scheinungsformen von Sprache, ebenso wie von Recht und Poesie, erklären.
Dieses Konzept lässt sich zurückführen auf eine philanthropisch-humanis­
tische Idee von Sprachschöpfung und wurde den Grimms im Zuge ihres
Studiums in Marburg vermittelt, als sie Clemens Brentano und Achim von
Arnim begegneten.1 Im philologischen Kontext ihrer Wissenschaft ist das
Konzept vielleicht am eindrücklichsten und klarsten in Jacob Grimms
Sprachursprungstheorie formuliert. Jacob Grimm will von einer göttlichen
Herkunft der Sprache nichts wissen, sondern er sieht das Volk, also den
Menschen, die Menschheit, als Schöpfer von Sprache, ja Denken und Spre­
chen als Ursachen für Menschsein:

dermensch heiszt nicht nur so, weil erdenkt, sondern ist auch mensch, weil
erdenkt, und spricht, weil erdenkt, dieser engste Zusammenhang zwischen

1 Martus, Steifen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010, S. 146.
125

Ein wesentliches Element der politischen


Willensbildung ist das der Freiheit.
Freie Entwicklung der Sprache als Aus-
druck politischen Handelns und des
Volks standen für lacob Grimm in
einem untrennbaren Zusammenhang.
Bild: Montagsdemonstration in
Leipzig 1989.

seinem vermögen zu denken und zu reden bezeichnet und verbürgt uns


seiner spräche grund und Ursprung.2

Die Sprachkosmologie der Grimms ist also explizit anthropozentrisch. Sprach-


schöpfer und Sprachgestalter ist der Mensch in seinen historischen, gesell­
schaftlichen und kulturellen Bezügen. Unter dieser Voraussetzung stellen
sich die Grimms den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Sprache
als Spiegelung vor: »das wesen und die geschichte unseres volks [spiegeln
sich] in den eigenschaften und Schicksalen unserer spräche... ab«3- diese
hier von Jacob für die Vorrede des 4. Teils seiner >Deutschen Grammatik
formulierte Überzeugung prägt das Denken und Wollen der Brüder. Es wurde
ihnen von ihrem Lehrer Friedrich Carl von Savigny vermittelt, und es enthält
die insbesondere in der Romantik vorherrschende Vorstellung eines Volks­
geistes, der sich in Kulturmanifestationen offenbart. Zwar haben die Grimms
keine elaborierte Theorie zu dem Zusammenhang von Volksgeist und Sprach-
geist vorgelegt, aber »der intuitiv erfaßte Sprachgeist ist der Schlüssel zur
Sprachtheorie Jacob Grimms«, und da »er sich mit dem Volksgeist deckt, ist
er zugleich der Schlüssel zu seinem Weltbild schlechthin«.4

»Volk« also ist eine von den Grimms höchstbewertete Instanz. »Volksmäßig«
ist Gewähr für Wahrheit und Treue, für Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, für
Unverbildetheit und Einfachheit. »Volk« und seine Hervorbringungen sind

2 Grimm, Jacob (1851): Über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Reden in der
Akademie. Ausgewählt und herausgegeben von Werner Neumann und Hartmut
Schmidt. Berlin: Akademie Verlag. S. 64-100, S. 82.
3 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Vierter Theil. Göttingen 1837, S. V.
4 Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs. 1838 - 1863. Dokumente zu
den Lexikographen Grimm. Stuttgart 1980, S. 43.
126

somit versehen mit Eigenschaften, die im Denken der Romantik als Ideal gal­
ten. Dieses Volkkonzept prägt jegliche wissenschaftliche Arbeit der Brüder,
ob diese Arbeit sich auf Märchen und Sagen oder auf Rechtsaltertümer und
Wörter bezieht. Sie alle sind aus dem Volk entstanden, vom Volk geschaffen -
und damit von höchstem Wert. So ist »volksmäßig« auch das Argument, mit
dem Wilhelm Einwände gegen als allzu brutal und nicht kindgemäß gewer­
tete Märchen ihrer Sammlung zurückweist:

Gedeihlich... kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir
trachten. Übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches
das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenk­
lichkeiten nicht in ungleich größerem Maß einträten: der rechte Gebrauch
aber findet nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein
Zeugnis unseres Herzens.5

Die Grimms haben ihre Sammlungen dessen, was wir kulturgeschichtliche


Manifestationen nennen, unter die Idee der Volkserziehung gestellt. Das
ist die spezifische Perspektive der Grimms. Auf Sprache bezogen heißt das:
»Sprache für das Volk« in didaktischem Sinn ist stets auch umgekehrt »Spra­
che vom Volk«. Die den Grimms tief eingeschriebene Überzeugung vom
volksmäßigen Ursprung der Sprache in allen ihren Erscheinungen, als Epen,
Märchen, Rechtsaltertümer, Wörter, bildet das Zentrum ihrer Weitsicht über­
haupt und also auch ihres didaktischen Konzepts.

Was aber macht das Volksgemäße so wertvoll? Warum stellen Ursprünglich­


keit, Einfachheit und Natürlichkeit überhaupt Werte dar? Es sind dies Eigen­
schaften, die gleichgesetzt werden mit hohem Alter. Volksmäßiges ist in der
Geschichte zu finden, und hohes Alter ist Gewähr für Vollkommenheit. Der
Grimm'scheTopos vom Volksgemäßen ist ohne die Idee der Vollkommenheit
des Ursprungs nicht zu verstehen.

Insofern Einfachheit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit im Sinn von Vollkom­


menheit als höchstbewertete Eigenschaften des Volks gelten, findet sich in
dieser Überzeugung, die ebenfalls zeitgenössisch-romantischer Konsens war,
auch die Bewertung der sprachgeschichtlichen Stadien. Die älteste Stufe ist
diejenige, auf der die Sprache ursprünglich und damit vollkommen war:

5 Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Vorrede. Zweiter Band. In: ders.
Kleinere Schriften 1 (1881). ND. Hildesheim 1992, S. 328-332, S. 331.
127

Wer nun unsere alte spräche erforscht und mit beobachtender seele bald
der Vorzüge gewahr wird, die sie gegenüber der heutigen auszeichnen,
sieht anfangs sich unvermerkt zu allen denkmälern der vorzeit hingezogen
und von denen der gegenwart abgewandt, je weiter aufwärts erklimmen
kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche gestalt der
spräche, je näher ihrer jetzigen fassung er tritt, desto weher thut ihm jene
macht und gewandtheit der form in abnahme und verfall zu finden.6

Allerdings: Diese Wertschätzung der historischen Sprachstadien als die­


jenigen, die die Vollkommenheit von Sprache zeigen, ist nicht gleichzusetzen
mit einer unkritischen Grimm'schen Rückwärtsgewandtheit. Zum einen
erkennen die Brüder, dass die folgenden Stadien der Sprache z. B. die Elabo-
riertheit der intellektuellen Reflexion hinzufügen: »Man kann die innere
stärke der alten spräche mit dem scharfen gesicht, gehör, geruch der wilden,
ja unserer hirten und jäger, die einfach in der natur leben, vergleichen. Dafür
werden die Verstandesbegriffe der neuen spräche zunehmend klärer und
deutlicher.«7 Zum andern beziehen sie die Vollkommenheitsvorstellung
auf die formale Gestalt von Sprache, nicht aber etwa auf den Wortschatz.
So rechtfertigt Jacob in der Vorrede zum deutschen Wörterbuch< die Ein­
beziehung des Althochdeutschen, ja des Gotischen, weil deren »formen ...
voller und edler als die der mittelhochdeutschen sind, diese aber an reinheit
die unsrigen weit übertreffen«, weil man im Althochdeutschen und Gotischen
»der ältesten und vollendetesten gestalt eines ausdrucks habhaft« wurde.8
Der Reichtum des Wortinventars in der Gegenwart aber sei mit dem dürfti­
gen alt- und mittelhochdeutschen Wortbestand gar nicht zu vergleichen.
Wenn also die Grimms die von Savigny erlernte Perspektive der Geschichte
einnehmen, die, verbunden mit der Sprachvergleichung, als historisch-ver­
gleichende Methode die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts
paradigmatisch prägt, dann bezieht sich das aus diesem Vorgehen erlangte
Wissen insbesondere auf die Formgeschichte der sprachlichen Einheiten,
wie sie dann in den etymologischen Angaben zu Beginn ihrer Wörterbuch­
artikel erzählt wird.

Der hohen Wertschätzung des Volks, der Menschen, als Schöpfer von Sprache
entspricht folgerichtig die Bewertung etwa des deutschen Wörterbuchs< als
»ein heiligthum der spräche, als ein hehres denkmal des volks, dessen vergan-

6 Grimm, Jacob: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854, Sp. III.


7 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen: 1819. S. XXVII.
8 Grimm, Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. XIX.
128

genheit und gegenwart in ihm sich verknüpfen«. Dass dieses Werk gleichsam
demokratischen Ansprüchen entspricht - »allen zu ihm den eingang offen
halten«9 versteht sich dann von selbst.

der freie mann - die freie spräche


Die Grimm'sche Lesart von »volksmäßig« indes darf nicht gleichgesetzt wer­
den mit bukolischer Idylle, mit agrarisch-handwerklicher Ursprünglichkeit oder
Arme-Leute-Einfachheit (die Märchenszenarien verleiten womöglich dazu).
Bereits Jacobs Definition von Volk - »ein volk ist der inbegriff von menschen,
welche dieselbe spräche reden«101- verweist auf ein breit gedachtes Konzept.
Es ist der Bürger in all den Facetten, in denen sich Bürgerlichkeit entfaltet.

Vor allem aber: Wenn von einer an Sprache gebundenen Grimm'schen Volks­
erziehung die Rede ist, dann muss im Besonderen auf Werte des Common
Sense verwiesen werden, denen man immer wieder in unterschiedlichen
sprachlichen Zusammenhängen begegnet und die volkserzieherische Grund­
prinzipien der Brüder sind. Ein wesentliches Element dieses Konzepts ist das
der Freiheit. »Volk« ist ein Freiheitsbegriff. Das Volk bildet der freie unabhän­
gige Mann der Ständegesellschaft, mit Flandlungsspielraum und hohem
Potenzial. Welche Verbindung lässt sich von hier aus zur Sprache hersteilen?
Jacob schafft ein Analogieverhältnis, indem er die ständische Konstellation
freier Mann, Adel, Unfreier mit den drei elementaren sprachlichen Stil­
schichten Standard, höherer Stil und niedriger Stil parallelisiert:

der freie mann steht in der mitte, aus welcher auf der einen seite der edle sich
erhebt, auf der andern der unfreie herab sinkt, nicht anders steigt aus der das
volle maszdes natürlichen redevermögens darstellenden freien spräche
einerseits die edle, andrerseits die unfreie, das edle nennen wir auch das
höhere, erhabne, feine; das unfreie auch das niedrige (bas langage), platte,
gemeine, bäurische, grobe, derbe, die natürliche spräche hat in sich die
anlage zu beiden, dem feinen wie dem groben: aus der edlen spräche ist der
grobe, aus der groben der edle bestandtheil entfernt; das grobe, derbe wird
leicht unrein und schmutzig (sordidum, turpe), das feine geziert und zimp-
ferlich (ornatum, molle), oder auch schlüpfrig (lubricum) erscheinen.1'

9 Grimm, Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. XII.


10 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften Bd. VII. Leipzig 1884. ND. Hildesheim 1966,
S. 556-563, S. 557.
11 Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854,
Sp. XXXII.
129

Wie zentral die Freiheitsidee für das Grimm'sche Sprachkonzept ist, zeigt sich
dann in der aus diesem Bild abgeleiteten Mahnung Jacobs, die in der Stil­
schichtenbewertung des 18. Jahrhunderts seit Adelung und von ihm einge­
führte Markierung »pöbelhaft (plebejum) im sinne von bäurisch« zu vermei­
den, »seit das volk (populus) und das volksmäszige als merkmal des freien
erkannt worden ist«.12 Dieses Freiheitskonzept ist nicht nur die Basis einer
umfassenden, allgemeineren Sprachtheorie, sondern auch Erklärungsinstanz
für sprachliche Einzelphänomene. Jacob erklärt damit etwa auch folgerich­
tig die Lautverschiebung. Sie hänge

mit dem gewaltigen das mittelalter eröfnenden vorschritt und freiheitsdrang


der Deutschen zusammen ..., von welchen Europas Umgestaltung ausge­
hen sollte. Bis in die innersten laute ihrer spräche strebten sie vorwärts. 13

Dieses ausgeprägte Freiheitsbewusstsein dient nicht nur als philologisch-


sprachgeschichtliches Erklärungsmoment, sondern ist auch ein Grimm'sches
Lebensprinzip. Ein Schlüsseltext Jacob Grimms ist sein Antrag im Paulskir­
chenparlament, dem er rund vier Monate, vom 25. Mai bis 2. Oktober 1848,
angehörte. Jacob trägt diesen Antrag bei der Beratung über die Grund­
rechte vor.

alle Wörter gleich berechtigt


Dieser umfassende Volksbegriff führt zu einem weiteren Element des
Common Sense, nämlich einem ausgeprägten Gerechtigkeitsdenken, das
in direktem Zusammenhang mit der Freiheitsidee steht. Auch dieses be­
stimmt entscheidend das Welt- und Menschenbild der Grimms und wird
als ein Element ihrer didaktischen Konzeption immer wieder erkennbar.
Als ein lexikographisches ist es das Wort-Schatz-, das Thesaurusprinzip, das
ohne ausgeprägte Gerechtigkeitsidee nicht zu denken ist.

........ ;.........................; ; ................................................................................ «


(Bei dieser neuen phibofogie steh en . . . ade zungen des erdbodens in
demseCben recht, u n d verachtet werden d a r f ^ein e. ..

'Jacob Cjrmim

12 Grimm, Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. XXXII.


13 Grimm, (acob: Geschichte der deutschen Sprache. Band 1 Leipzig 1848, S. 417.
130

Ohne ein Empfinden dafür, dass alle (sprachlichen, textlichen) Elemente -


als vom Volk geschaffen - ein gleiches Daseinsrecht haben, ohne die Vor­
stellung, dass diese sprachlichen Elemente allesamt gleich-wertig sind,
hätten die Brüder ihre Sammlungen nicht realisieren können, weder die
der Rechtsaltertümer, noch die der Sagen, Märchen und Mythen, noch
Grammatik und Sprachgeschichte, und eben auch nicht das Wörterbuch.
Mit großer Emphase entwirft Jacob in der Einleitung des Wörterbuchs für
sein Konzept und dessen Voraussetzung ein entsprechendes Wissenschafts­
programm:

Bei dieser neuen philologie stehen ... alle zungen des erdbodens in dem­
selben recht, und verachtet werden darf keine, ganz wie ins Wörterbuch alle
Wörter gehören und gleich berechtigt darin sind. Streben nach umfassender
samlung und behandlung ist also für ein Wörterbuch das erste erfordernis
und die allseitigkeit seines gebrauchs dadurch bedingt. Denn was diefdru-
cker]presse von sich gibt, will sie allen ohne aus/nahme bestimmt haben, was
allen dienen soll und kann, darf nichts ausschlieszen noch dahinten lassen.u

In diesem Plädoyer wird deutlich, wie Jacob Gesellschaft und Wissenschaft im


Zeichen der Volkserziehung verbindet: Wissenschaft als Dienerin der Gesell­
schaft - im Sinn von »alle ohne ausnahme« - das bedeutet: »umfassende
samlung und behandlung« - im Sinn von »nichts ausschlieszen«.*

Jacob Grimm.
»warum sollte sich nicht
der vater ein paar Wörter
ausheben und sie abends
mit den knaben durchge
hend 7.ugleich ihre sprach -
gäbe prüfen und die eigne
anfrischen? die mutter
wurde gern zuhören«.
Bild: Vorlesen in einer
bürgerlichen hamilie.

14 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. Xf.


131

Sprachwissen als Angebot - im e d e lste n sin n e p r a c t is c h


Die Grimms waren also einerseits keine unerbittlich strengen Pedanten, die
unbarmherzig »grammatische verstösze für die schimpflichsten« hielten15,
sondern im Gegenteil nachsichtige Pädagogen, um »gleichmäszige ge-
rechtigkeit und milde in allen dingen«16 bemüht - so begegnen sie dem
Volk. Andererseits waren sie alles andere als nachsichtig und milde im Um­
gang mit Kollegen und Rezensenten. Diese Differenzierungsfähigkeit spie­
gelt sich auch in der Adressiertheit ihrer sprachwissenschaftlichen wie
überhaupt der kulturgeschichtlichen Werke. Von diesen hat insbesondere
das >Deutsche Wörterbuch< - im Unterschied zur Grammatik - zwei Adressa­
ten, nämlich zum einen Gelehrte und Wissenschaftler, zum andern das ein­
fache, nichtgelehrte Volk. Mit der Überzeugung, »dass ein deutsches Wör­
terbuch ... bisher [mislang] aus dem doppelten gründe, dasz es weder den
gelehrten noch dem volk ein genügen that«17, motivieren Jacob und Wil­
helm Grimm ihre Wörterbucharbeit, der Gewissheit folgend, dass die Sprache,
»wie sie den gelehrten mächtig anzieht,... auch der menge natürliche lust
und neigung eingepflanzt«18 hat. Aus dieser Überzeugung eines sprach­
lichen Wissensdurstes erwächst ihr pädagogisches Programm:

w ie heiszt doch das wort, dessen ich mich nicht mehr recht erinnern kann?<
>der mann führt ein seltsames wort im munde, was mag es eigentlich sagen
wollen?<>zu dem ausdruck musz noch es bessere beispiele geben, lasz uns
nachschlagenc19

Und das berühmte Bild vom Wörterbuch als Haus- und Lesebuch spinnt diese
Benutzungssituation als - freilich in hohem Maß zeitgemäß patriarchalisch
geprägtes - Familienidyll fort.

Das Bildungskonzept, das die Grimms unter diesen Voraussetzungen verfol­


gen, ist ein Konzept der Offerte. Das Wörterbuch mit seinem versammelten
historischen, semantischen, philologischen, etymologischen Wissen macht
Angebote. Man kann und soll auswählen aus einem weit angelegten Inventar
von Sprachwissen, oder, in der unnachahmlichen Grimm'schen Metaphorik

15 Grimm, Jacob (1849): Über Schule Universität Academie. In: ders.: Reden in der
Akademie. Ausgewählt und herausgegeben von Werner Neumann und Hartmut
Schmidt. Berlin 1984. S. 212-249, S. 232f.
16 Grimm, Jacob: Über Schule Universität Academie, S. 233.
17 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. IV.
18 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. XII.
19 Grimm Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp. XII.
132

formuliert, »leser jedes Standes und alters sollen auf den unabsehbaren
strecken der spräche nach bienenweise nur in die kräuter und blumen sich
niederlassen, zu denen ihr hang sie führt und die ihnen behagen«.20

Dieses Angebot bezieht sich nicht nur auf die Form- und Bedeutungsge­
schichte, sondern ebenso auf womöglich »anstösziges« - mit der Überzeu­
gung, dass das Wörterbuch »kein sittenbuch, sondern ein wissenschaftliches,
allen zwecken gerechtes unternehmen« sei, gehe der Benutzer, der hieran
»ein ärgernis nimmt« getrost an »den misfälligen Wörtern vorüber und
betrachte die weit überwiegende mehrzahl der andern«.21 Ferner sei die
Paraphrasierung der Bedeutung in Latein für diejenigen, die dieser Sprache
nicht mächtig seien, kein Anlass, das Wörterbuch etwa beiseitezulegen.
Die des Lateinischen »unkundig sind, hüpfen mit leichtem fusze daran vor­
bei und finden sich dennoch zurecht, wie sie vorübergehn, wenn sie auf
ein wort gestoszen sind, dessen gehalt sie gar nicht anzieht«.22

Grimm’sche Philanthropie
Gesellschaftsbezogenes und wissenschaftliches Denken Jacob und Wilhelm
Grimms ist von demselben humanistisch motivierten Konzept geprägt, und
dieses Konzept realisiert ihre erzieherischen Ambitionen. So manifestiert
sich ein tiefgehender Humanismus in den Schriften der Grimms, in dessen
Zeichen sie gleichzeitig ihre erzieherischen Anliegen stellen. Volk - im Sinn
von »Mensch« - und wahre, wirkliche, unverbildete, natürliche Sprache
bilden eine Einheit. Im Volk finden die Brüder nicht nur die Quellen der
sprachlichen Manifestationen von Kultur - Märchen, Rechtszeugnisse, Wör­
ter -, sondern das Volk ist der Adressat und zugleich auch legitimierende
Instanz für Forschung und gesellschaftliches Handeln. Ethische Universalien
wie »Freiheit« und »Gerechtigkeit«, die Common-Sense-Instanzen einer
allgemein gültigen bürgerlichen Sozialmoral, stellen dabei als Leitprinzipien
ihrer wissenschaftlichen Arbeit eine Legitimationsgrundlage für die Grimms
dar und bilden ein starkes Fundament ihres volkserzieherischen Konzepts.
Dieses Konzept folgt einem überzeugten Humanismus, der zwar als Werte­
fundament gebildeter Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts allgemeine Gültig­
keit hat, der aber in der Version einer »Grimm'schen Philanthropie« eine
spezifische Ausprägung erhält: Wenn Jacob in der Einleitung des Wörter­
buchs fragt, ob »nicht der mensch selbst ihre [der natur] edelste hervorbrin-

20 ebd.Sp.XIII.
21 ebd. Sp.XXXV.
22 ebd. Sp. XLII.
133

Schulunterricht im 19. Jahrhundert: Die Brüder Grimm traten lür eine unver
bildete, natürliche Sprachentwicklung ein. Eine strenge Normierung oder gar
Grammatikunterricht in der Schule sahen sie kritisch. Kolorierter Stich.

gung« sei, ob »nicht die blüten seines geistes das höchste ziel«23 seien, dann
gibt er damit einen Beleg für dieses ausgeprägt philanthropische Ethos, das
in dem Grimm'schen Volkskonzept ausgedrückt ist.

Was ist aus diesem ganzheitlich gedachten und gelebten ethisch-morali­


schen Ideal der Grimms, aus diesem Grimm'schen Humanismus, aus dieser
Grimm'schen Philanthropie in Bezug auf ihre Pädagogik ableitbar? Ihr Volks­
konzept hat eine sehr moderne Lesart, die auch den Bildungsbegriff betrifft:
Eine auf aufgeklärte Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit verpflichtete und
auf die Möglichkeit der Wahl aus einem Spektrum von Bildungsinhalten
setzende Erziehung entspricht einem Bildungsbegriff, den man als emanzi-
patorisch bezeichnen kann. Es ist dies ein philanthropischer Bildungsbegriff,
in dessen Zentrum zuallererst die Menschenwürde steht.

23 Grimm, Jacob/Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Sp III.


»schreibt alle substantive klein!« -
Der Kam pf Jacob Grimms
fiir eine vereinfachte Rechtschreibung

Weltweit ist das Deutsche heute die einzige Sprache, in der Substan­
tive konsequent großgeschrieben werden. Jacob Grimm war diese
Konvention ein Gräuel. Mit seiner ganzen Autorität und der Macht
des >Deutschen Wörterbuchs< stemmte er sich gegen diese Regel,
die er als beispiellosen Missstand ansah.

'Wer vief hobt, der darf auch maf scheften.«

Mit dieser harmlosen Kalenderweisheit setzte Jacob Grimm im Oktober 1847


zu einer heftigen Generalkritik an den Fehlentwicklungen und Missständen
der deutschen Sprache an, wie man sie bis dahin noch nicht gehört hatte
und deren Echo bis heute nachhallt. Es schmerze ihn, rief er in seinem Vor­
trag vor der Akademie der Wissenschaften aus, dass kein Volk unter allen, die
ihm bekannt seien, »seine spräche so barbarisch schreibt wie das deutsche«.
Der Vortrag >Über das pedantische der deutschen sprachen so der Titel der
Generalabrechnung, spannte einen breiten Bogen: von den Anredeformen,
übertrieben genauen Übersetzungen aus anderen Sprachen bis hin zu Fehl­
entwicklungen der Orthografie, wozu seiner Meinung nach so bekannte Pro­
blemfälle wie das Dehnungs-h gehörten oder die Fläufung von Konsonanten
für den Laut sch. Der größte Übelstand aber war seiner Meinung nach die
Groß- und Kleinschreibung. Bedenkt man, dass Grimm diesen Vortrag am
Vorabend der Revolution von 1848 hielt, so wirkt diese Themenstellung
eigentümlich akademisch und politikfern. Aber Sprachkritik war nach dem
Verständnis von Jacob Grimm eben immer auch Gesellschaftskritik.

...................................................................................................................... «
'Was sich in der gesunkenen spräche des sechzehnten und siebzehnten
[JahrhundertsI vermehrtes festsetzte, nennt man nationale deutsche
Entwicklung; wer das gfauht, darf sich getrost einen zoprf anbinden
und perücfe tragen. 1
Jacob Grimm

» ------- ------------------------------------------------------------------------------
1 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd.l Hg. von Karl Müllenhoff und Eduard Ippel.
Berlin 1864, S. 351.
135

Grthografiereform als Gesellschaftskritik


Unpolitisch war im Jahr 1847 nichts mehr, schon gar nicht, wenn ein Jacob
Grimm seine Stimme erhob. Hungerrevolten hatten im Frühjahr Süddeutsch-
land erschüttert, liberale Parteien gaben sich ein gesamtdeutsches Programm.
Auch das deutsche Bildungsbürgertum formierte sich. 1846 hatten sich in
Frankfurt am Main namhafte Juristen, Historiker und Sprachforscher zur ers­
ten Versammlung deutscher Germanisten zusammengefunden, 1847 folgte
in Lübeck die zweite Sitzung. Auf beiden Versammlungen spielten die Brü­
der Grimm eine herausragende Rolle: Bereits die erste Versammlung war von
Jacob Grimm feierlich eröffnet worden. Auf der Folgekonferenz in Frankfurt
wurde erzürn Vorsitzenden gewählt. Diese Vereinigung aus Sprachforschern,
Juristen und Historikern sah in der Bündelung ihrer wissenschaftlichen
Bestrebungen einen unmittelbaren Beitrag zur Gestaltung der politischen
Zukunft Deutschlands. Aus der Geschichte der deutschen Kultur ergab sich
auch ein Deutungshorizont für die aktuellen gesellschaftlichen Missstände
und ihre Beseitigung.

Genau diesen Faden nahm Grimm in seinem Vortrag über das »pedantische
der deutschen spräche« wieder auf und führte die Missstände der Sprache
ursächlich auf die politische Zerrissenheit Deutschlands zurück. Letztlich
seien alle Errungenschaften und Fortschritte »schal..., wenn ihnen nicht die
freiheit und grösze des Vaterlands im hintergrund liege«. Das Streben nach
einer von historischer und politischer Beschränkung freien Sprache, die sich
in einem einigen Deutschland entwickeln sollte, war das Ziel beider Brüder.
Im genauen Gegensatz dazu stand das sogenannte »pedantische«, also sich
»wie ein schulknabe auf die gelernte regel alles ein[zu]bilden und vor lauter
bäumen den wald nicht [zu] sehen«. In dieser ängstlichen regel- und geset­
zestreuen Haltung spiegele sich die repressive Politik des Vormärz, die eine
natürliche Sprachentwicklung habe unmöglich werden lassen.2 Einen Aus­
weg aus dieser Sackgasse sah Jacob Grimm nur mit Hilfe einer »Orthogra­
phie-Reformation«.

Großschreibung als Gipfel aller »pedantischen unart«


Der verwerfliche »misbrauch groszer buchstaben für das substantivum«
war für Jacob Grimm der Gipfel aller »pedantischen unart«, ein Ausdruck von
falscher Autorität und Engstirnigkeit, die die freie Entfaltung des Individuums
behindere und damit der demokratischen Entwicklung des deutschen Vol-

2 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd 1, S. 328, 331.


136

Die Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung -


ein deutscher Sonderweg?

Majuskelschrift und Minuskelschrift


Die Antike kannte aber weite Strecken ihrer
Entwicklung nur eine Form der Schreibung,
die Majuskel-Schreibung (Schreibung mittels
Großbuchstaben): Man schrieb in der soge-
nannten Script io continua, also in fortlau-
fender Schrift. Nicht einmal die Wörter
waren durch Leerraum getrennt In der Spätantike verwendete man zusätzlich
zur Majuskelschrift auch eine Minuskelschrift, Zunächst wurden Texte aber nur
entweder in der einen oder in der anderen Schrift aufgeschrieben.

Hierarchisierung der Schriften im Mittelalter


Im Fruhmittelalter kam es zu einer wichtigen Veränderung: Ab dem 7. Jahrhundert
wurden Wörter durch Zwischenräume (Spatien) und Sätze durch Interpunktions-
zeichen voneinander getrennt. Es entstand auch eine Schriftmisehung, hei der den
beiden Schriftformen unterschiedliche Funktionen zukamen: Die Minuskel wurde
zur Grundschrift für den fortlaufenden Text, die Majuskel verwendete man zur

kes entgegenstehe. Und Grimm war fest entschlossen, vor allem durch sein
gutes Beispiel zu wirken. Bereits in der zweiten Auflage seiner >Grammatik<
von 1822 war Grimm zur Kleinschreibung übergegangen, immerhin schrieb
er an den Satzanfängen noch mit Großbuchstaben. Dieses Werk richtete
sich ausschließlich an Gelehrte, die Wirkung war so auf einen kleinen Kreis
begrenzt. Eine Schlüsselrolle maß er daher dem >Deutschen Wörterbuch« zu,
da es sich an eine weit größere Leserschaft richtet. 1849 legte Grimm in ei­
nem Brief an die Weidmannsche Buchhandlung seine Vorstellungen dar
und zeigte sich darin fest entschlossen, sie umzusetzen: Der Verfasser eines
>Deutschen Wörterbuchs«, so schrieb er, vernichte unmittelbar seine mühsa­
me Arbeit, solange er sich den Fehlern ergebe, deren Ursprung in Unwissen­
heit und Verkennung der Sprachgesetze lägen.3 Und er hatte Erfolg:
Wer heute das >Deutsche Wörterbuch« zur Hand nimmt, erkennt, dass

3 Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. B. 7,. Hg. von Karl MüllenhofF und Eduard Ippel.
Berlin 1884. ND 1991, S. 221.
137

Auszeichnung, z. B. zur Markierung von Abschmtts-


anlangen. Dies nicht etwa, weil sie durch ihre Große op
tisch hervorstach, vielmehr galt die Majuskel die man
von den antiken römischen Monumenten her kannte,
als älter und damit als vornehmer. Mit Majuskeln wur-
den dann im Hochmittelalter zunehmend auch besonders
wichtige Wörter ausgestattet, etwa sakrale Begriffe.

Handschrifi der Bonifatius-


Die Orthografie wird grammatisch - brlefe. 9. fh Badische
Großschreibung in Deutschland Landesbibluithek Karlsruhe,
RastatI 22 f. 52v
LJm 1500 war die Großschreibung sowohl von Eigen-
namen als auch von geografischen Begriffen bereits feste Norm. Besonders reli-
giöse Begriffe (C o lt, H i m m e l, A postel, H e r r ) sowie Titel und Amtsbezeichnungen
(K ö n ig , K aiser, H e r z o g ) wurden großgeschrieben. Die Großschreibung nahm
danach immer mehr zu: Im 17. Jahrhundert wurden bald auch weitere Substantive
mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, allerdings zunächst nur dann, wenn
sie Gattungen oder Personen bezeichneten oder sich auf konkrete Gegenstände
bezogen. Im weiteren Verlauf wurden dann auch Abstrakta allgemein großge
schrieben (Z eit, F ieber, G e m ü t ) . In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts folgten
allmählich auch Substantivierungen ( d a s L a u fe n , d a s G u te, d a s N ein ).

Jacob Grimm hier sogar noch einen Schritt weiter ging: Mit großem An­
fangsbuchstaben werden nur noch Eigennamen geschrieben; selbst bei
Satzanfängen wird klein weitergeschrieben.

Es bleibt die Frage nach den Gründen. Welche Argumente konnten wichtig
genug sein, sich gegen den Schreibgebrauch des gesamten deutschen
Sprachraums zu stemmen? In der zweiten Ausgabe des ersten Bandes
seiner >Deutschen Grammatik hatte Grimm die Großschreibung noch
mit dem lakonischen Argument abgetan, dass für sie kein innerer Grund,
gegen sie vor allem der beständige Schreibgebrauch bis ins 16. Jahrhun­
dert wie auch der Schreibgebrauch aller anderen Völker spreche. Im
>Deutschen Wörterbuch< dann gedachte er, wie er seinem Verleger schrieb,
sein Vorhaben ausführlicher zu erläutern. In dieser detaillierten Be­
gründung stellt Grimm einen originellen Zusammenhang her, der die
Orthografiediskussion der folgenden Jahrzehnte stark beeinflussen sollte.
138

fdxmmcuacii wr Johann Christoph Adelungs


laigc/ auffocn i'tm&cn A/ollständige Anweisung zur
ünt> $ct>rr.
£ar:n fouol vnt* hchtnfc($fotourcf' tut VrpVofho*«
Deutschen Orthographie«
iK»/Pn*ctica acnant'SRn «jnlnlliU'cm
rtmrrict*c Oce vificren»
Erstaunlicherweise interessierten sich
SRirch ?lDam liefen.
im 1 550» Jar. die Grammatiker erst sehr spät für das
Phänomen der Groß- und Kleinschrei-
bung. Großen Einfluss hatte ). C. Adelungs
A'ollständige Anweisung zur Deutschen
Orthographie«, die 1788 erschien. In diesem
bahnbrechenden Werk legte er systema-
tische Regeln zur Groß und Kleinschrei-
bung fest.

Bei diesem Druck von Adam Ries


(fälschlich: Adam Rieses) »Kleinem
Rechenbuch«, brankfurt 1574, sind
bereits einige Substantive großge
schrieben.

Es waren in erster Linie Einsichten in die historischen Zusammenhänge


der Schriftentwicklung, die Jacob Grimm zur Ablehnung der Großschrei­
bung bewogen. Zu Anfang gab es vor allem in der römischen Antike nur
die sogenannte Majuskelschrift, die in Form z. B. der »Capitalis quadrata«
für repräsentative Inschriften in Stein gehauen wurde. Daneben entstand
in Spätantike und Frühmittelalter die flüssigere und aufgrund ihrer
Rundungen schneller zu schreibende Minuskel als Schrift auf Papyrus
und Pergament, bekanntestes Beispiel ist die karolingische Minuskel.
Später kam es dann zu einer Mischung der beiden Schriften: In Hand­
schriften wurde die Majuskel vor Absätzen - »verbogen und verzerrt«,
so Grimm - zunächst für Initialbuchstaben, dann auch zur Auszeichnung
von Eigennamen verwendet.

Es ist genau diese Erkenntnis Grimms, die noch heute verblüfft: Denn im
Grunde handelt es sich bei dem, was wir heute als Groß- und Kleinbuch­
staben einer einzigen Schrift wahrnehmen, schlicht um die Mischung
zweier unterschiedlicher Schriftstile. Dabei hatten die Majuskeln für Grimm
139

eine reine Zierfunktion, was sich an den aufwendig gestalteten Initial­


buchstaben der Handschriften und der frühen Drucke noch sehr gut
sehen lässt. Und solange diese Zierfunktion auf Abschnittsanfänge und
Eigennamen beschränkt blieb, konnte er ihr durchaus etwas abgewinnen,
da dies das Lesen erleichtere. Der Missbrauch setzte für Grimm erst im
16. Jahrhundert ein:

im laufe des 16jh. führte sich zuerst schwankend und unsicher, endlich
entschieden der misbrauch ein, diese auszeichnung auf alle und jede
substantiva zu erstrecken, wodurch jener vortheil wieder verloren gieng,
die eigennamen unter der menge der substantiva sich verkrochen und
die schrift überhaupt ein buntes, schwerfälliges ansehen gewann ...
kürze und leichtigkeit des ausdrucks, die im ganzen nicht unser Vorzug
sind, weichen vor diesem geschlepp und gespreize der buchstaben
völlig zurück,4

Nicht grammatische Auszeichnung von Wortarten, wie wir heute annehmen,


führte für Grimm zur Großschreibung von Substantiven. Vielmehr war es ein
fast schon manisches Bedürfnis zum »Verzieren« derTexte. Dass dies in einer
Phase der deutschen Sprachgeschichte geschah, die allgemein als Niedergang
betrachtet wurde, genügte bereits, um diese Eigenart als Fehlentwicklung ein­
zustufen.

Es gab aber noch einen weiteren Grund, der für Grimm die Substantivgroß­
schreibung auf fatale Weise begünstigte. Und auch dieser hatte seinen
Ursprung in der Schriftentwicklung: nämlich das Beharren auf einer Schrift,
die für Grimm nur »ungestalt und häszlich« war - der Frakturschrift oder
auch der sogenannten deutschen Druckschrift.

Fraktur und Antiqua - neue Wege zu neuem Denken


Dass Jacob Grimm sich so massiv gegen die Frakturschrift in Stellung bringt,
erstaunt heute. Schließlich wurden die Grimm'schen Hausmärchen selbst­
verständlich in Fraktur (und natürlich auch in Substantivgroßschreibung)
gesetzt. Und auch die großen geschwungenen Initialbuchstaben zu Beginn
eines jeden Märchens, wie sie uns selbst in modernen Ausgaben begegnen,
sind Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Insofern haben die Haus­
märchen auch stilbildend für die weitere Verwendung der Frakturschrift
gewirkt.

4 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1 Sp. LIV.


140

Die Fraktur ist eine Druckschrift des 16. Jahrhunderts. Sie geht zurück auf die
sogenannten »gebrochenen Schriften«, die sich seit denn 11. Jahrhundert als
gotischer Stil herausgebildet hatten. Dieser Schriftstil bevorzugte wie die
gotische Baukunst die senkrechte Linie, wobei die Rundungen der bis dahin
üblichen Schrift nun zu Ecken gebrochen und die Linien dichter zusam­
mengeschoben wurden. Nach diesem Stilprinzip setzte sich im 16. Jahrhun­
dert die Fraktur (= gebrochene [Schrift]<) durch.

Und auch die von Grimm favorisierte Antiqua hat eine langeTradition. Sie
stellt eine Entwicklung der Humanisten um 1400 dar. Die italienischen Hu­
manisten hatten die Schriften der lateinischen Antike in den ältesten ihnen
zugänglichen Handschriften rezipiert: Dies waren die Kopien der Karolin­
gerzeit. Die karolingische Minuskel wurde wegen ihrer leichten Lesbarkeit
und ihrer vermeintlichen Nähe zur Antike bevorzugt. Die Humanisten
nannten sie entsprechend Antiqua (= >alte [Schrift]<).

Wenn sich Grimm also so vehement gegen die Fraktur und für die Antiqua
aussprach, dann nicht in erster Linie, weil er sie als moderner oder leichter
lesbar beurteilte. Maßgeblich war für ihn vor allem die übergreifende histo­
rische Perspektive:

Leider nennt man diese verdorbne und geschmacklose Schrift sogar eine
deutsche, als ob alle unter uns im schwang gehenden misbräuche zu ur­
sprünglich deutschen gestempelt, dadurch empfohlen werden dürften,
nichts ist falscher, und jeder kundige weisz, daszim mittelalter durch das
ganze Europa nur eine schrift, nemlich die lateinische für alle sprachen galt
und gebraucht wurde, seitdem dreizehnten, vierzehnten jahrhundert be­
gannen die Schreiber die runden züge der buchstaben an den ecken auszu­
spitzen und der beinahe nur in rubriken und zu eingang neuer abschnitte
vorkommenden majuskel Schnörkel anzu fügen.5

Die Substantivgroßschreibung und die überwiegende Verwendung der


Fraktur sah Grimm als schweren Nachteil gerade im Vergleich zu den ande­
ren Nationen: Die Völker, die sich der lateinischen Schrift bedienten, seien
gar nicht auf den Gedanken »einer so sinnlosen Verkleisterung der substan­
tive« gekommen. Auch ihm ging es um Klarheit der Schrift. Und dafür
war Jacob Grimm bereit, historischen Ballast abzuwerfen:

5 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Sp. LII.


141

............. ;................................................. — ..............«


fassen wir doch an den häusem die gießet, die Vorsprünge der ßafhen,
aus den haaren das puder weg, warum soff in der schnft aCCer unrat
6heißen?
Ja co ß Cjnmm

Die unnötige Großschreibung von Substantiven und die Verwendung


der Frakturschrift waren für Jacob Grimm im Grunde zwei Seiten einer
Medaille: »meinestheils zweifle ich nicht an einem wesentlichen Zusam­
menhang der entstellten schrift mit der zwecklosen häufung der groszen
buchstaben, man suchte darin eine vermeinte zier und gefiel sich im schrei­
ben sowol an den Schnörkeln als an ihrer Vervielfachung.«

Wenn sich Jacob gegen die Großschreibung wandte, dann also nicht, weil
er die Rechtschreibung vereinfachen wollte, sondern weil er das historische
Ganze im Blick behielt. Was ihm an der Substantivgroßschreibung missfiel,
war das Übermaß an Regulierung und Normierung, die Sprache und Recht­
schreibung in ein Korsett zwängten und so in ihrer natürliche Entwicklung
einzuschränken drohten. Ausgerechnet diese Betrachtungsweise wurde
von den nachfolgenden Orthografiereformern nicht aufgegriffen.

Jacob Grimm - ein verkannter Radikalreformer?


Auch wenn Jacob Grimm nicht der Erste war, der Einwände gegen die
Substantivgroßschreibung erhob, so wurde seine Einlassung dagegen in
der Fachwelt doch als wegweisender Beitrag in der Orthografiediskussion
angesehen.6 Und sie stieß auf ein merkwürdig geteiltes Echo. Viele Ger­
manisten bewerteten Grimms Vorschläge positiv. Bezeichnend für die
Gelehrtenwelt ist aber die Reaktion des Literaturwissenschaftlers und
bedeutenden Fierausgebers Karl Lachmann, den Grimm über die ortho­
grafischen Besonderheiten seiner deutschen Grammatik auf dem Laufen­
den hielt. »Gut, wenn Sies durchsetzen mit den kleinen Anfangsbuchstaben.
So zerreißt der Consistorial Rath Dinter, ein bekannter Sachse, den armen
Schulmeistern nicht mehr ihre Papiere (ich habs aus seinem Munde), wenn
sie setzen: geschriebenes lesen.«7

6 Rädle, Karin: Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert.


Heidelberg 2003, S. 30.
7 Rädle, Karin: Groß- und Kleinschreibung, S. 33.
142

rlKon
Ka radF
ried
rich W
ilhe
lmLa
chmann

K
arlK
.F.W
. L
achmann(1793-L8SI)w
are
ine
rde
r
b
edeu
tend
sten H
erau
sgeb
erm
itt
elho
chdeu
tsche
r
T
ext
e.S
ein
eMe
thod
ede
rkr
it
ischenT
ext
edi
tion
g
altzus
ein
erZ
eita
lsvo
rbi
ldl
ich
.Einb
leib
end
esV
er-
d
ien
ste
rwa
rbs
ich1a
chmanndu
rchd
ieEd
it
iond
es
■N
ibe
lung
enl
ied
esc

La chmann s Ha ltung wa rdu rchaustypisch .G rund sä tz


lichs tande rder
Klein schreibungpo sit
ivgegenübe r
,undau chinse inen Hand s chr
iftenedi­
t
ionense t ztee rsiekon sequen tum .Inse inenp ri
va tenhand s chr
iftl
ichen
Briefenb liebe rab er
,w ied asebengenann teBe ispielzeigt,b eide rSub stan­
t
i vg roß s
ch reibung-von wen igenve r
su ch swe isenAu snahmene inma l
abge sehen .Be fürwo r
terfand G r
immh ingegenbe ive rschiedenenS chul­
pädagogen ,w iez .B.Phil
ipp Wa cke
rnagel,de rinseinemBu ch>D e
rUn terr
icht
inde r Mu ttersp racheeben fal
lsdafüre intrat, Ma juskelnau fSa t
zan fänge
undE igennamenzube schränken. Undau chd ieEmp fehlungende s»V e

e
in sfürdeu tscheRe ch t
schreibung«von1879g re
ifenG r
imm sVo rschläge
auf.D asssichd ieseEmp feh
lungenabe rau fwissen schaf
tliche We r ke
,diein
la teinischerS chrif
t,alsoinde rAntiqua,ge setztsind ,be schränken ,zeigt,
w
iei solier
tJa cobG r
imm m i
tse ine
rVo rstellungvonde rKlein schre
ibung
derSub s
tan tivele tzt
li
ch wa r
:

Anme rkung:Be
imGeb rau
chelat
eini
scherSch
ri
ft
,namen
tl
ichinwis
sen
­
schaft
lichen We
rken
,emp f
il
tess
ichdie Ma
juske
lnau
fSa
tzanfäng
e,
Eigennam enundTitu
latu
renzub e
schränk
en.8

Inw issenschaf
tli
chenPublika
tionen mochteneinige Wi
ssenschaf
tlertat­
sächl
i chberei
tsein,demVo rb
ildJacobGrimm szufolgen.Ima l
lgeme inen
Schreibgebrauchdagegenha tteGrimm sm as
siveK r
it
ikzunächstkeinerle
i
messba reAuswirkungen
. DerHauptgrundfürdiefehlendeAufnahmede r
VorschlägeJacobG r
imm sdü r
ftedar
ingelegenhaben ,da s
serdam its chl
icht
zuspä tk am:Denngan zandersalsdieOr
thog raf
iere
formerumKon rad
Dudene sum1900da r
ste
ll
ten-vonRe ch
tschreibchaoskonntezuG rimm s

8Z
it
.n.R
ädl
e,K
arin
:Groß
-und K
lein
sch
reibung
,S.3
6.
143

Zeiten um 1800-1850 nicht


die Rede sein. Die Pionier­
Johann Christoph
leistung durch J. C. Gott­
Adelung (1732-1806)
scheds Grundlegung einer
deutschen Sprachkunst<, ]. C. Adelung erlangte
insbesondere aber Johann durch seine grammatischen
Christoph Adelungs Wörter­ und lexikographischen
buch hatten, ohne dass es Schriften nachhaltigen
einer zentralen steuernden Einfluss auf die deutsche
Instanz bedurft hätte, im Orthografie. Mit der -Deut-
gesamten deutschen schen Sprachlehre für Schn
Sprachraum und über alle len- verfasste er die erste
Grenzen hinweg zu einer von einem Kultusministe-
relativ einheitlichen deut­ rium in Auftrag gegebene
schen Orthografie beige­ Schulgrammatik (1781).
tragen.

Adelung war auch der wegweisende Vorreiter eines Konzepts der Groß­
schreibung, auf die sich die deutsche Rechtschreibung bis heute stützt.
Denn nach seinen Darlegungen in der Vollständigen Anweisung zur Deut­
schen Orthographie< hat die Großschreibung im Gegensatz zu den Ausfüh­
rungen von Jacob Grimm nicht lediglich verzierende Funktion, sondern die
Aufgabe, »die Wörter nach dem Maße der Wichtigkeit ihres Begriffes in dem
Zusammenhänge der Rede auch für das Auge auszuzeichnen«9. Und daraus
wiederum leiten sich die entscheidenden Argumente für eine grammati­
sche Begründung der Großschreibung ab: die leichtere Lesbarkeit durch die
Markierung und damit auch die Unterscheidung gleichlautender Wörter
verschiedener Wortarten durch die Orthografie. Dieses Konzept Adelungs
prägte die Geschichte der Rechtschreibung und die Diskussion um das um­
strittene Thema nachhaltig.

Das unbequeme Verm ächtnis Jacob Grimms


Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erließen viele deutsche Staaten, wie z. B.
Hannover 1855, auf der Basis der Schriften von Adelung eigene Schulortho­
grafien, die sich inhaltlich stark glichen. Nicht zuletzt die Druckereien waren
an einer einheitlichen Hausorthografie interessiert. Gegen eine solchermaßen
verfestigte einheitliche Schreibtradition und die sie noch weiter verfestigen-

9 Rädle, Karin: Groß- und Kleinschreibung, S. 27.


144

de Kodifizierung durch Wörterbücher und Schulordnungen hatten die radi­


kalen Vorschläge Jacob Grimms keine Chance. Im Jahr 1872 zog Konrad Du­
den das Fazit:

Die Verwendung großer Anfangsbuchstaben für die Substantiva und für


alle Wörter, welche substantivische Geltung an nehmen, ist aber jetzt so
allgemein, daß sie nicht mit einem Schlage abgeschafft werden kann.w*

Konrad Duden (1829-1911)

Der Gymnasiallehrer Konrad Duden begründete mit


seinem 'Vollständigen orthographischen Wörterbuch
der deutschen Sprache* von 1880 die moderne Recht-
schreibung. Auf der 2. Orthographischen Konferenz
von 1901 wurde die auf den Regeln von Duden basie-
rende Rechtschreibung für das Deutsche Reich und
Österreich verbindlich festgelegt.

Das von Jacob Grimm geschürte Unbehagen an der Substantivgroßschrei­


bung lässt sich an Konrad Dudens Stellungnahme deutlich ablesen. Ihm,
wie auch dem Orthografiereformer Rudolf von Raumer, war jedoch klar,
dass Veränderungen bestenfalls über lange Zeiträume und nur in kleinen
Schritten möglich w aren:» Hätte man damit eine gründliche Reform der
Rechtschreibung verbinden wollen, so hätte man alsbald den Boden unter
den Füßen verloren und wäre einem in der Luft schwebenden Trugbilde
nachgejagt.«11 Die Folge war, dass sich die Sprachforscher nicht gegen die
Großschreibung generell wandten, jedoch bestrebt waren, sie nicht noch
weiter voranzutreiben und vermeintliche Auswüchse zurückzuschneiden.
Und hier entschieden die Reformer sogar in vielen Fällen gegen den allge­
meinen Schreibgebrauch.

So wurden vor der Regelung durch Duden im Schreibgebrauch beispiels­


weise auch Pronomen großgeschrieben: »Sie wissen Alle sehr g u t...«,
»Etwas Anderes ist verfügt worden«, »Es kommt nur darauf an, ob Einer

10 Zit. n. Rädle, Karin: Groß- und Kleinschreibung, S. 39.


11 Ebd., S. 40.
145

oder Drei zustimmen«... Gleiches galt für Substantive in Verbindung mit


bestimmten Verben, die als verblasste Substantive bezeichnet werden:
Statt finden oder Platz greifen waren im 19. Jahrhundert durchaus übliche
Schreibungen, ebenso schrieb man mir ist Angst, ich bin es Leid. Von Subs­
tantiven abgeleitete Temporaladverbien wurden ebenfalls durchgehend
großgeschrieben: Morgens, Mittags, Abends.

Konrad Dudens Regelungen führten in der Folge tatsächlich dazu, dass


die Großschreibung in einigen Bereichen zurückgedrängt wurde. Dadurch
ergab sich jedoch der paradoxe Effekt, dass eine Vielzahl schwer durch­
schaubarer, zum Teil sogar widersprüchlicher Einzelregelungen entstand -
eine Situation, die Jacob Grimm seinerzeit mit Sicherheit als »pedantische
unart« gebrandmarkt hätte. Die Groß- und Kleinschreibung blieb und bleibt
jedenfalls bis ins 21. Jahrhundert hinein die größte Fehlerquelle der Recht­
schreibung.

Dennoch sollte sich die Flaltung von Konrad Duden und Rudolf von Raumer
auch hundert Jahre später noch als ausgesprochen realistisch erweisen:
Als Mitte der 1970er Jahre nach mehr als zwei Jahrzehnte währenden Bera­
tungen die verantwortlichen Arbeitskreise ein Konzept der »gemäßigten«
Kleinschreibung vorlegten, so wie Jacob Grimm sie gefordert hatte, ernte­
ten sie wütenden Protest. Politisch war die Kleinschreibung, wie schon zu
Zeiten der Brüder Grimm, in Deutschland nicht durchsetzbar und wurde
denn auch von der Kultusministerkonferenz der bundesdeutschen Länder
abgelehnt.

Im weiteren Verlauf bis in die 1990er Jahre konzentrierte man sich aller­
dings darauf, die orthografischen Regeln für die Substantivierung zu syste­
matisieren und damit zu vereinfachen: So wurde etwa bei Wendungen wie
in Bezug auf oder im Trüben fischen mit der Rechtschreibreform von 1996
wieder die Großschreibung eingeführt, in einigen Fällen wie von Weitem/
weitem wurde die Schreibung freigegeben. Diese Regelungen hatten,
anders als ursprünglich gewünscht, wiederum eine Vermehrung der Groß­
schreibung zur Folge. Es blieb ein Konflikt, der die Vorschläge Jacob Grimms
auch in unserem Jahrhundert vor dem Flintergrund einer globalisierten
sprachlichen Welt ohne Großschreibung immer noch aktuell und vielleicht
bedenkenswerterscheinen lässt.
146

Die Bedeutung der Brüder Grimm


für die deutsche Sprache
und Sprachkultur heute

Dass die Brüder Grimm in ihrer Zeit Herausragendes geleistet haben,


steht außer Frage.Aber welche Bedeutung hat ihr Schaffen heute noch?
Die vielen verschiedenen Facetten ihres Wirkens beweisen eindrucks­
voll, dass ein Bild der Grimms als weltfremde, gegenwartsabgewandte
Einsiedler ein Stereotyp ist, das auch aus moderner Perspektive keinen
Bestand hat. Im Gegenteil - Leben und Werk, Denken und Handeln der
Brüder war stets von Offenheit, Kontakt und Grenzüberschreitung
gekennzeichnet und war damit wegweisend auch für die Entwicklungen
in einer Welt des 2 1.Jahrhunderts.

»(Die ‘E inzigartigkeit u n d gfo ßafe ‘Wirkung dieser Sa.mm.Cung g e fit d a ra u f


z u r ü c k dass die (Brüder Cjrimm die deutsche u n d europäische B ezu g swe ft
überschritten u n d ein universeffes (Muster vö f e r n 6 ergreifender (Märchen-
üßerfieferung geschaffen haßen.1«

Diese Feststellung, die auf der Homepage der UNESCO zu lesen ist, bezieht
sich zwar auf die Märchen (die in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen
werden sollen), sie kann aber mit Fug und Recht auch auf die sprachwissen­
schaftliche, Sprachkulturelle Arbeit der Grimms bezogen werden, zumal auch
dieTexte der Märchen selbst ja als Dokument der Sprachkultur anzusehen
sind. Die Brüder selbst machten in gewissem Sinn auch gar keinen Unter­
schied zwischen Märchen und Wörtern, Rechtsaltertümern und Sagen -
zumindest im Hinblick auf ihren Ursprung, nämlich im Volk, betrachteten
sie die verschiedenen Gattungen stets im Zusammenhang.

Die Brüder Grimm haben mit ihrem Werk einen Beitrag zur deutschen
Sprachkultur geleistet, der bis in die Gegenwart reicht. Dieser Beitrag wurzelt
in einer Art des Denkens, das beinahe als »globalisiert« zu bezeichnen ist,
und besteht in der Art und Weise, wie sie ihre Werke und das in ihnen ver­
sammelte und durch sie vermittelte Wissen verstanden. Die Brüder Grimm
und ihr sprachkulturelles Werk mit unserer Gegenwart in Beziehung zu set­
zen, also nach der Modernität derTraditionalisten zu fragen, bedeutet zum

1 UNESCO: http://www.unesco.de/mow-hausmaerchen.html 16.1.2013.


147

einen, ihre Werke überhaupt als einen Beitrag zu verstehen, der in dieser
Welt einen Wert hat, also ihre Modernität in Bezug auf ihre grammatischen,
sprachhistorischen und lexikographischen, ebenso wie auf ihre kulturge­
schichtlichen Monumente anzuerkennen. Zum andern ist die Modernität der
Grimms im Hinblick auf ihr Denken und Handeln zu bewerten - die ja die
Voraussetzung für ihre Bedeutung in der Gegenwart ist. In dieser Hinsicht
besteht der zentrale sprachkultureile Beitrag der Grimms darin, die deutsche
Sprache in den europäischen Kontext als hoch entwickelte, eigenständige
Nationalsprache eingefügt zu haben, die ihre Entstehung einem komplex
wirkenden Prozess von Sprachkontakten verdankt.

Dies zeigt sich in vielfältiger Weise auch in den unterschiedlichen Perspek­


tiven dieses Bandes. Modernität ist auf Grimm-spezifische Weise gleichsam
historisch fundiert: Ihr Blick in die Geschichte ist immer auch ein Blick in die
Gegenwart - und umgekehrt. Die Kategorie der »modernen Traditionalis­
ten« hat so eine Wertigkeit, mit der der Gegenwartsbezug in diesem Rah­
men hergestellt werden kann. Es bietet sich an, gleichsam resümierend,
und scheint nicht abwegig, diesen Rahmen mit der Idee einer europäischen
Integration zu beschreiben. Dieser Idee verpflichtet sind Instanzen des
Grimm'schen Denkens und Handelns, auf die sich die Beiträge im vorlie­
genden Band ebenfalls bereits aus den verschiedenen Perspektiven heraus
bezogen haben: ein freiheitliches Wertefundament und ein emanzipatori-
sches Menschenbild - immer manifestiert in den sprachwissenschaftlichen
Forschungen der Brüder Grimm und in ihren Befunden.

Europäische Integration
Eine der zentralen Fragen ist dabei, was es für das heutige Deutsch bedeutet,
in Monumenten wie der deutschen Grammatik, der >Geschichte der Deut­
schen Sprache« und vor allem dem deutschen Wörterbuch« erfasst zu sein:
Ihr Wert, auch im Hinblick auf die komplexen internationalen Gegebenheiten
der Gegenwart, besteht in der Darstellung der deutschen Sprache in ihrer
historischen Tiefe, in ihrer formalen Vielfalt, in ihrer semantischen Komplexi­
tät - alles dies als Manifestationen deutscher Sprachkultur in einer europäi­
schen Dimension.

Insofern bedeutet für die Grimms die Erforschung der deutschen Sprache
eine Perspektive einzunehmen, die das Gegenteil von national begrenzt
war. Denn ohne Frage: Kaum ein auf die Grimms bezogenes Vorurteil ist
unbegründeter als das der nationalistischen, weitabgewandten und -un-
148

erfahrenen Einsiedler. Der, freilich stark ausgeprägte, Patriotismus der


Grimms hat sie nicht daran gehindert, in höchstem Maß europäisch und
kulturübergreifend zu agieren: zu denken und zu forschen, zu lernen und
zu lehren.

..... ;...............................................................................................................«
'Überhaupt werden die ‘Würze hn u n d (Biegungen der europäischen
Sprachen, jew eiter man in ihr f l Cterthum zuriichdringen bann, sich
untereinander ähnhicher, a ß wenn man a u f ihre spätere gestuft
sieht, zum (Beweis ihres gemeinsamen Vrsprungs sowohl, a ß ihrer
<Besonderheit.
Jacob Cjnmm

Die Monumente, die sie hinterließen, Grammatik, Sprachgeschichte und


Wörterbuch, Märchen, Rechtsaltertümer und Weistümer - um nur die »gro­
ßen« Arbeiten zu nennen - präsentieren sie in diesem Sinn als Monumente
einer im europäischen Kontext stehenden Sprachkultur. Und obwohl ihnen
die politische Richtung des Liberalismus in hohem Maße suspekt war -
Denken und Menschenbild der Grimms waren im besten Sinn liberal, was
immer auch bedeutet, weltoffen und tolerant zu sein.

Wer von den »meisten mitlebenden völker[n] behauptet, so viel gesunden


blick vor uns voraus«2zu haben, dem sind nationalistische Bewertungen -
Abwertung des Anderen, Aufwertung des Eigenen - fremd. Wer den skan­
dinavischen Sprachen und Kulturen - als germanisch-vereinheitlichend
gedacht hin oder her - zugewandt ist - Wilhelms erste Publikation trägt
den Titel >Altdänische Heldenlieden -, besitzt sprachhistorischen Weitblick.
Wer nicht nur, aufgrund fundierter humanistischer Bildung auf Latein,
Griechisch und Hebräisch zurückgreifen kann, sondern außerdem auf Fran­
zösisch und Englisch, Spanisch und Dänisch, und offensichtlich auch - im
früheren 19. Jahrhundert Modeerscheinung hin oder her - des Serbischen
mächtig ist und mit großer Empathie die Geschichte der serbischen Sprache
erzählt, wer sich einer Grammatik der bulgarischen Sprache und russischen
Volksmärchen zuwendet, ebenso serbischen und schottischen Volksliedern
und den Canti popolari Toscani, wer eine Ausgabe albanesischer, spanischer
und serbischer Märchen rezensiert, wer die Idee einer europäischen Volks-

2 Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen 1819, S. IX.


149

dichtung formuliert - kurz: wer mit dieser perspektivenreichen Ausstattung


forscht und denkt, tut dies, bei aller Deutschzentriertheit, in wahrhaft euro­
päischen Dimensionen.

Einheit in der Vielfalt


Einen Anspruch als zuverlässige Etymologen, den sie als Lexikographen
und Wortforscher natürlich hatten, konnten sie anders auch gar nicht er­
füllen als mit der Einbeziehung der indoeuropäischen Sprachen - sie taten
es umfänglich, und in der aus dieser etymologischen Vernetzung entste­
henden Positionierung der deutschen Sprache im europäischen Verbund
liegt der Wert, liegt die Bedeutung ihrer Sprachforschung. Diesen integrieren-

Briefmarken aus aller Welt bezeugen: »Die »Kinder- und Hausmarchen< der
Brüder Grimm (Brüder-Grimm-Gesellschaft e. V.) sind neben der Luther-Bibel
das bekannteste und weltweit am meisten verbreitete Buch der deutschen Kultur-
geschichte. Sie sind zugleich die erste systematische Zusammenfassung und
wissenschaftliche Dokumentation der gesamten europäischen und orientalischen
Märchentradition.«3

3 S. 151 unten
150

den Effekt erzielt - die Grimms waren Neuerungen und wissenschaftlichen


Innovationen gegenüber in hohem Maß aufgeschlossen - die historisch­
vergleichende Methode der Sprachanalyse. Sie bedeutet eine weite Öff­
nung in die europäischen Sprachen hinein. Ohne die Überschreitung des
Nationalen ist Erkenntnis über den Ursprung nicht zu haben - und dieses
Wissen zu erlangen treibt die Grimm'sche Forschung.

DerTopos der »Einheit-in-der-Vielfalt« betont eine der Grundüberzeugun­


gen der Grimms: Sprachliche und überhaupt kulturelle Diversifizierung ist am
Ende auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen. Nach diesem Ur­
sprung zu suchen ist ihr »Forschungsprinzip«4. Wilhelm sucht nach nichts
Geringerem als nach dem Gemeinsamen der Menschheit und gebraucht
die Formel »innere Einigkeit der Gegensätze« (so in einem Brief an Achim
von Arnim). Es ist dies ein romantischer Glaubensinhalt. »Sie alle leiden an
der Moderne: Politisch hat die Französische Revolution liebgewonnene Ge­
wissheiten regelrecht guillotiniert. Aber sie alle vertrauen fest darauf, dass
es eine >höhere< oder >tiefere< Ordnung gibt, die es poetisch, philologisch
oder rechtshistorisch zu erkunden gilt.«5 Die Brüder sind davon überzeugt,
dass es »jenseits aller Differenzen ... eine Bindungskraft [gibt], die jeden
Streit und alle Uneinigkeit übersteigt.«6 Bei der Mythen-, Sagen- und Mär­
chenforschung ist es die Suche nach Ursprungsmotiven, die möglichst in­
terkulturell nachzuweisen waren, bei den Rechtsaltertümern die nach ähnli­
chem Rechtsgebrauch, die ohne ein gut fundiertes Konzept von »Einheit«
nicht zu denken ist:

Wird man schon durch die wunderbare einstimmung der rechtsformen


und sätze in den verschiednen ländern unseres volksstamms und zu
verschiedenen Zeiten überrascht; so muß die nicht weniger unleugbare
grundähnlichkeit mit dem rechtsgebrauch anderer Völker, die aber doch
zu dem deutschen in uralter gemeinschaft stehen, noch bedeutungs­
voller hervortreten.7

Und bei der Sprache? Hier ist es die Perspektive der indogermanischen -
oder indoeuropäischen - Sprachfamilie, die eine indogermanische Urspra­

4 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 32010, S. 185.
5 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm, S. 180.
6 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm, S. 181.
7 Grimm, Jacob: Deutsche Rechtsalterthümer. Leipzig 1899. Unveränderter,
reprografischer Nachdruck Darmstadt 1983, S. XIV.
151

che als gemeinsamen Ursprung des Sanskrit, der germanischen und italisch­
romanischen, der balto-slawischen Sprachen, der griechischen und der
persischen Sprache annimmt:

Die deutsche spräche hängt in einer kette, die sie mit den meisten euro­
päischen verbindet, dann aber zurück nach Asien leitet und gerades wegs
bis auf das sanskrit, das zend und das persische reicht, hieraus geht eine
fülle von erscheinungen und Verhältnissen hervor, die sich bald einigen
lassen, bald als eigenheiten einzelner sprachen von einander gehalten
werden müssen.8

In Hinsicht wissenschaftlicher Praxis und als forschungsleitende Grund­


position begegnet uns das Konzept also immer wieder als Erkenntnis- und
Erklärungsmoment. Die Grimm'sche Philologie hat die interkulturelle Suche
nach einem gemeinsamen Ursprung beherrscht - nach einer gemeinsamen
Form, nach einer gemeinsamen Bedeutung, immer mit dem Bestreben,
Einheit so zu »denken, dass man dem Ganzen und seinen Teilen gleicher­
maßen gerecht wird«.9

In Bezug auf die Idee der Einheit spielt auch die politische Dimension der
Einheitsidee eine überragende Rolle, die Jacob Grimm als Paulskirchen­
abgeordneter ebenso formuliert wie als Lexikograph. Die Überzeugung
von der Einheit stiftenden Macht der Sprache ist ihm und ebenso Wilhelm
als Politiker wie als Sprachhistoriker tief eingeschrieben.

Vielfalt in der Einheit


Mit der Überzeugung, dass die Suche nach dem »grund ... innerhalb der
grenze unserer spräche«10vergeblich sei, mit der Aufgabe vielmehr, histo­
risch-vergleichend zu fragen, »wie und nach welchem gesetz die erste ent-
faltung menschlicher rede angenommen werden könne«, leiten die Brüder
Wissen über die deutsche Sprache aus einer Perspektive ab, die gleichzeitig
globale Dimensionen hat. Denn die historisch-vergleichende Methode er­
schließt nicht nur die Einheit, sondern entfaltet auch die Vielfalt - Formen­
vielfalt, Bedeutungsvielfalt:

8 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Sp. XLVIII.


9 Martus, Steffen: Die Brüder Grimm, S„ 248.
10 Grimm, Jacob: Über Etymologie und Sprachvergleichung. In: Jacob Grimm. Reden
in der Akademie. Ausgewählt und herausgegeben von Werner Neumann und Hart-
mut Schmidt. Berlin 1984. S. 101-126, S. 102.
152

deutsche Sprachforschung soll eben so wenig jener groszartigen und


heilsamen sanskritregel sich verschlieszen, als ihren eignen und den nähe­
ren standpunct fallen lassen, den sie neben ihren nächsten nachbarn
einnimmt. Jenes hiesze sich obren verstopfen oder äugen verbinden,
dieses hiesze sich ein glied vom eignen finger abschneiden. 11

So stellt sich auch Jacobs >Deutsche Grammatil« dar: Sie »schreitet... syste­
matisch die gesamte Grammatik der vergleichend untersuchten Sprachen ab«,
wird so »das Modell..., nach dem historisch-vergleichende Grammatiken
der verschiedenen Sprachgruppen der Welt geschrieben werden«1 12. Die
»kette«, die die deutsche Sprache »mit den meisten europäischen verbindet«,
ist eine zentrale Forschungsperspektive der Grimms. Welche Folgerungen
ziehen sie daraus? Die historisch-vergleichende Sprachforschung des Indo­
europäischen beziehen die Grimms zwar immer auf die deutsche Sprache
als Zielsprache. Insofern heißt historisch-vergleichend nicht im eigentlichen
Sinn »kontrastiv« zum Zweck der Feststellung eines Ähnlichkeits- oder
Gleichheitsverhältnisses. Und zugegeben: Im Wesentlichen ist es »das Ger­
manische« - außer von Deutsch u. a. repräsentiert von Englisch, Dänisch,
Schwedisch sowie von den alten Sprachstufen und Sprachen Gotisch und
Altnordisch -, welches interessiert. Aber: Gegenstand der Forschung ist
Deutsch in europäischen Bezügen - synchron und insbesondere diachron,
es ist der Sprachenverbund, dessen Macht und Wirkung die Nationalspra­
chen entstehen lässt.

Das gilt auch für ihr Wörterbuch: Es kann sicher nicht behauptet werden,
dass das Grimm'sche Wörterbuch normativ ist, und dies ist bereits eine Vor­
aussetzung dafür, dass es als ein Monument deutscher Sprachkultur bis
heute seinen unbestreitbaren Platz hat. Denn nicht zuletzt der Reichtum
einer Sprache, dessen Darstellung der deskriptiv-nichtnormative Zugang
zum Ziel hat, erlaubt es, diesen Platz zu behaupten: Deutsch als hochent­
wickelte Kultursprache mit einer langen Geschichte - sie rekonstruiert,
dargestellt und beschrieben zu haben, ist das Verdienst von Jacob und Wil­
helm Grimm. Das Wörterbuch dokumentiert - auf der Grundlage eines breit
angelegten Archivs, nach heutigen Begriffen beinahe »korpusbezogen« -
auf sprachlicher Ebene einen Prozess der Verflechtung, der Vernetzung,
der gegenseitigen Einflussnahmen. Damit spiegelt es als sprachgeschicht-

11 Ebd. S. 110
12 Trabant, Jürgen: Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. München
2006, S. 247.
153

liches Phänomen das enge brüderliche Lebensprinzip der Grimms. In einem


solchen Verbund das einzelne Eigenständige als solches sichtbar zu machen
bzw. zu erhalten, war eines ihrer Anliegen. Es betrifft in unserer Zeit der
Globalisierung ein zentrales Moment kultureller Identität. In sprachlicher
Hinsicht tragen die Grimms dazu bei, indem sie die deutsche Sprache als
eigenständiges Ergebnis einer langen europäischen (Sprach-)Geschichte
darstellen.

Fremdwörter - Bedrohung oder Bereicherung


der deutschen Sprache?
In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwiefern die Haltung der Grimms
zu Fremdwörtern zu der beschriebenen europäischen Offenheit passt? Dem
Prinzip der europäischen Integration scheint zu widersprechen, was für das
Wörterbuch als ausgemacht gilt: Das Grimm'sche Wörterbuch erscheint
weitgehend fremdwortabstinent, und in derTat ist der Anteil an Fremd­
wörtern sehr gering. Erklärbar ist diese Abstinenz mit einem Fremdwort­
begriff, der diese als nicht zur indigenen Sprache gehörig versteht - eine
Sichtweise, die das Produkt der Fremdwörterbücher hervorgebracht hat.
Diese Position versteht Fremdwörter nicht vom Gebrauch her - als Ele­
mente einer Sprache in der Kommunikation -, sondern von der Herkunft
aus sozusagen als nicht zugehörig. Das ist auch die Perspektive Jacob und
Wilhelm Grimms, nachzulesen etwa im Vorwort des deutschen Wörter­
buchs«: »Dieser ausländerei und sprachmengung soll das Wörterbuch kei­
nen Vorschub, sondern will ihr allen redlichen abbruch thun.« Gleichzeitig
aber warnte Jacob auch vor übertriebenem Purismus als »abwege..., auf
welche von unberufenen sprachreinigern gelenkt worden ist.« Jacob
Grimm hält vielmehr ein Plädoyer für einen offenen, vor allem aber an der
Geschichte orientierten Gebrauch und lehnt ein Verbot längst eingeführter
Fremdwörter ab.

ohne an der Schönheit u n d fü d e unserer spräche seChst wahre freude


zu empfinden, strebt dieser ärgediche purismus dasfrem de, wo er seiner
nur gewahren bann, fem d fich zu verfolgen und zu tilgen.

Jacob (j'rimm
154

Vielfalt in der Einheit sowohl lexikographisch als auch grammatikographisch -


das Wörterbuch, ebenso wie die Sprachgeschichte und die Grammatik, sind
insofern eine Manifestation höchster Sprachkultur. Die Popularisierung des
deutschen Wörterbuchs< Mitte der 1980er Jahre als Taschenbuchausgabe
und dann insbesondere die digitale Volltextausgabe von 2003, die das Wör­
terbuch endgültig allgemein zugänglich macht, beweisen das unzweifelhaft.

Freiheit als Ausdruck für ein emanzipatorisches Menschenbild


Von dieser Sprachkonzeption aus kommt, in Bezug auf die sprachliche Ent­
faltung, die Freiheitsidee ins Spiel. Unter dem Zeichen der Freiheit wurde
bereits die Grimm'sche Orthografie gedeutet ebenso wie die volkspädago­
gischen Ziele der Brüder sowie ihr lexikographisches Thesaurus-Konzept.
Freiheit ist - zusammen mit Gerechtigkeit - die ethische Grundüberzeugung
der Brüder, die ihrem Denken und Handeln Motiv und Beschaffenheit gibt,
die in die Gegenwart und in die Vergangenheit zugleich verweist, die Mo­
derne und Tradition zugleich bedeutet.

Aus den verschiedenen Aspekten ihres Denkens in europäischen Dimensi­


onen sind daher Prinzipien ableitbar, die einmal mehr die Charakterisierung
der Grimms als moderne Traditionalisten rechtfertigen und die sich in den
unterschiedlichen Versionen ihres Lebens niederschlagen. Diese Prinzipien
sind die eines freiheitlichen Wertefundaments und eines emanzipatorischen
Menschenbildes. Sie machen die Modernität der Grimms aus, in ihnen ist
zugleich ihreTraditionalität begründet.

Denn wenn es ein ethisches Prinzip gibt, das die Moderne prägt wie kein
anderes, ist es das der Freiheit. Übertragen auf die Grimm'sche Konstellation:
Wenn es ein historisches Prinzip gibt, das die Geschichte der Sprache(n) kenn­
zeichnet, ist es das der Freiheit, wenn es ein konzeptionelles Prinzip gibt, das
den Sprachbegriff der Grimms erklärt, ist es das der Freiheit, und wenn es ein
anthropologisches Prinzip gibt, das das Grimm'sche Menschenbild repräsen­
tiert, ist es das der Freiheit. Wo immer wir ihnen begegnen - als Brüderpaar
oder als Politiker, als Orthografen und als Lexikographen, als Volkspädagogen
und als Gelehrte - in ihrer Lebensweise als kritische, unabhängige Köpfe
und eminent gesellschaftsbezogen handelnde Wissenschaftler ist es dieses
freiheitliche Grundprinzip der Moderne, das ihre Daseinsfacetten erklärt.

Diese unabdingbare Bindung der Grimms an das Prinzip der Freiheit leitet
über zu ihrem Menschenbild als Ausdruck ihrer Prinzipien. Es ist ein offenes,
155

bei dem die Idee der Gleichberechtigung aller Menschen und der Entschei­
dungsfreiheit des Einzelnen im Mittelpunkt steht. Dieses Menschenbild
prägt auch die Brüder Grimm als Wissenschaftler: Sie sehen sich im Dienst
der Verbreitung und Erforschung der Sprachkultur als Bereicherung für den
Menschen - mit ihrem Konzept etwa des Wörterbuchs als Wissens- und
Bildungsangebot an den Leser und dies verleiht ihnen unbestreitbare
Modernität als Sprachpioniere auch des 21. Jahrhunderts.

Epochenübengreifende Perspektive
Nicht nur die Märchen, sondern viele grundlegende Positionen, Denkansätze
und Forschungen der Brüder Grimm wirken bis heute über ihren ursprüng-
lichen geografischen und zeitlichen Horizont hinaus und waren Anlass für
zahlreiche moderne kreative Bearbeitungen in Sprachgeschichte und Literatur.
So setzt etwa Günter Grass mit seinem Roman »Grimms Wörter - eine Liebes-
erklärung« den Brüdern Grimm und ihrem Wörterbuch ein Denkmal als
Fundgrube der deutschen Sprache. Daneben würdigt er ihr politisches Engage-
ment und ihren gesellschaftlichen Weitblick in Analogie zu gesellschaftlichen
Entwicklungen des 20. und 21 lahrhunderts. Auch die Sammlung der >Kinder-
und Hausmärchem ist seit eh und je aktuell und hat seit ihrem Erscheinen
zahlreiche Bearbeitungen erfahren, u.a. in etlichen Theater- und Operninsze-
nierungen. Die Berliner Ausstellung mit dem provokanten Titel »Rotkäppchen
kommt aus Berlin!« zum Grimm-lubiläum 2012/2013 - 200 Jahre Märchen-
Erstausgabe - widmet sich der Geschichte des Grimmschen Schaffens unter
diesem Blickwinkel.

Bild: Illustration zur Ausstellung. Staatsbibliothek Berlin.


156

Literatur in Auswahl

Brüder GrimrrrWerke in Auswahl


Briefe der Brüder Grimm an Savigny. Hg. von Ingeborg Schnack und Wilhelm
Schoof. Berlin/Bielefeld 1953.
Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit den Verlegern des
»Deutschen Wörterbuchs« Karl Reimer und Salomon Hirzel. Hg. von Alan
Kirkness. Stuttgart 2007.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Contes de la famille par les Freres Grimm,
traduits de l'Allemand par N. Martin et Pitre-Chevalier. Paris 1846.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter
Hand. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 2003.
Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Göttingen 1835.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsche Sagen. Berlin 1816.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch Leipzig 1854ff.
Grimm, Jacob: Das Wort des Besitzes. Eine linguistische Abhandlung.
In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. 1. Berlin 1864, S. 113-144.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen 1819.
Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Erster Theil. Zweite Ausgabe.
Göttingen 1822.
Grimm, Jacob: Deutsche Rechtsaltertümer. 2 Bde. Göttingen 1828.
Grimm, Jacob: Geschichte der deutschen Sprache. 2 Bde. Leipzig 1848.
Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. Bd. 1-8. ND der Ausgaben Berlin
1864-1884 und Gütersloh 1890. Hg. von Otfried Ehrisman. Hildesheim 1965.
Grimm, Jacob: Reden in der Akademie. Hg. von Werner Neumann und
Hartmut Schmidt. Berlin 1984.
Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen 1811.
Grimm, Jacob: Über den Namen der Germanisten. In: Verhandlungen der
Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846.
Frankfurt am Main 1847.
Grimm, Jacob: Über den Ursprung der Sprache. In: Ders.: Reden in der Akademie.
Hg. von Werner Neumann und Hartmut Schmidt. Berlin. 1984, S. 64-100.
Grimm, Jacob: Über die Heimatliebe (De desiderio patriae). In: Göttinger
Universitätsreden. Hg. von Wilhelm Ebel. Göttingen 1978, S. 220-227.
Grimm, Jacob: Über Grundrechte. In: Ders.: Kleinere Schriften. Bd. VIII: Vorreden,
Zeitgeschichtliches und Persönliches. ND. Hildesheim 1966. S. 438-439.
__N^__

Grimm, Jacob: Von der Poesie im Recht. In: Zeitschrift für geschichtliche
Rechtswissenschaft. Bd. 2/1816, S. 25-99.
Grimm, Wilhelm: Bericht über das Deutsche Wörterbuch. In: Ders.: Kleinere
Schriften. Bd. 1. ND. Hildesheim 1992. S. 328-332.
Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Vorrede. Zweiter Band. In: Ders.
Kleinere Schriften. Bd. 1. ND. Hg. von Otfried Ehrisman. Hildesheim 1992,
S. 328-332.
Grimm, Wilhelm: Kleinere Schriften. Bd. 1-4. Nachdruck der Ausgaben
Berlin 1881-1887. Hg. von Gustav Hinrichs. Berlin 1881. ND. Hildesheim
1992.

Biografisches
200 Jahre Brüder Grimm. Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und
Wirkens. Hg. von Dieter Henning u. Bernhard Lauer. Kassel o. J. [1985].
Briefwechsel der Brüder Grimm mit Ernst von d. Malsburg. Hg. von Wilhelm
Schoof. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 36/1904, S. 173-232.
Denecke, Ludwig:Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm. Stuttgart 1971.
Ginschel, Gunhild: Der junge Jacob Grimm 1805-1819. 2. Aufl. Berlin 1988.
Martus, Steffen: Die Brüder Grimm. Eine Biographie. Berlin 2010.
Scherer, Wilhelm: Jacob Grimm. 3. Auflage. Hg. von Ludwig Erich Schmitt.
Hildesheim/Zürich/NewYork 1985.
Schoof, Wilhelm: Die Brüder Grimm in Berlin. Berlin 1964.

Literarische Biografie:
Grass, Günter: Grimms Wörter: eine Liebeserklärung. Göttingen 2010.

Wissenschaftliche Literatur zum W erk der Brüder Grimm


200 Jahre Brüder Grimm. Die Brüder Grimm. Dokumente ihres Lebens und
Wirkens. Hg. von Dieter Henning u. Bernhard Lauer. Kassel o. J. [1985].
Boehlich, Walter: Aus dem Zeughaus der Germanistik. Die Brüder Grimm und
der Nationalismus. In: Der Monat 18/ H. 217/1966, S. 56-68, S. 65.
Burkhardt, Armin: Jacob Grimm als Politiker. In: Sprache im Leben der Zeit.
Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergan­
genheit und Gegenwart. Hg. von Armin Burkhardt und Dieter Cherubim.
Tübingen 2001. S. 449-476.
Ehrismann, Otfrid: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption
des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten
Weltkrieg. München 1975.
Gipper, Helmut/Schmitter, Peter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie
im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik. 2.,
verb. Aufl. Tübingen 1985.
Grothe, Ewald: Die Brüder Grimm und die hessische Politik. In: Kultur und Politik:
die Grimms. Hg. von Bernd Heidenreich und Ewald Grothe. Frankfurt 2003,
S. 179-204.
Haß, Ulrike: »alle weit erwartet hier eine erklärung von mir« - Jacob Grimms
Vorrede zum Deutschen Wörterbuch zwischen Apologie und Programm.
In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 25/1997, S. 1-21.
Haß, Ulrike: Deutsche Wörterbücher - Brennpunkt von Sprach- und Kultur­
geschichte. Berlin 2001.
Jens, Walter: Das Vorratshaus der Deutschen: Zur Geschichte und Bedeutung
des Grimmschen Wörterbuchs. In: Jens, Walter: Reden. Leipzig/Weimar 1989,
S. 244-263.
Jones, William: [On the Hindus.] The Third Anniversary Discourse, delivered
2 February, 1786. In: William Jones. Discourses Delivered at the Asiatick
Society 1785-1792. Hg. von Roy Harris. O. 0 . 1993.
Kirkness, Alan: Geschichte des Deutschen Wörterbuchs. 1838-1863. Dokumente
zu den Lexikographen Grimm. Stuttgart 1980.
Kirkness, Alan: Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871.2 Bde. Tübingen
1975.
Kraus, Hans Christoph: Jacob Grimm - Wissenschaft und Politik. Hg. von Bernd
Heidenreich/Ewald Grothe: Kultur und Politik, S. 148-178.
Rädle, Karin: Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert.
Heidelberg 2003.
Reichmann, Oskar: Einige Thesen zur Bedeutungserläuterung in dem von Jacob
Grimm bearbeiteten Teil des Deutschen Wörterbuches und im Wörterbuch
der deutschen Sprache von Daniel Sanders. In:The Grimm Brothers and the
Germanic Past. Hg. von Elmar H. Antonsen/James W. Marchand/Ladislav
Zgusta. Amsterdam/Philadelphia 1990.
Reichmann, Oskar: Zum Urbegriff und seinen Konsequenzen für die Bedeu­
tungserläuterungen Jacob Grimms. In: Studien zum Deutschen Wörterbuch
von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Hg. von Alan Kirkness/Peter Kühn/
Herbert Ernst Wiegand. Bd. 1.Tübingen 1991, S. 299-345.
Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart 2004.
Schmidt, Hartmut: >Kein Deutscher darfeinen Sclaven halten« - Jacob Grimm
und Friedrich Wilhelm Carove. In: Bedeutungen und Ideen in Sprachen
und Texten. Hg. von Werner Neumann und Bärbel Techtmeier. Berlin 1987,
S. 183-192.
159

Schmidt, Hartmut: Was bietet das Deutsche Wörterbuch seinen Lesern?


In: Brüder Grimm Gedenken. Bd. 16. Hg. von Berthold Friemel: Stuttgart
2005, S. 161-176.
Seybold, Steffen: Freiheit statt Knechtschaft. Jacob Grimms Antrag zur Pauls-
kirchenverfassung. In: Der Staat 51, 2/2012, S. 215-231.
Wagner, Doris: Christian Friedrich Wurm (1801-1861): Der von Jacob Grimm
verschmähte DWB-Mitarbeiter und seine Wortsammlung. In: Brüder Grimm
Gedenken. Bd. 13. Hg. von Ludwig Denecke, S. 133-143, S. 137.
Wyss, Ulrich: Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München
1979.
Zedelmaier, Helmut: Buch, Exzerpt, Zettel sch rank, Zettelkasten. In: Archivprozes-
se: die Kommunikation der Aufbewahrung. Hg. von Hedwig Pompe. Köln
2002, S. 38-53.

Quellen
Brentano, Clemens: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter
Roman von Maria. In: Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Histo-
risch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Behrens u.a. Bd. 16. Stuttgart/Berlin/
Köln/Mainz 1978.
Droysen, Johann Gustav: Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der
deutschen Nationalversammlung. Leipzig 1849.
Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechts-
wissenschaft. Heidelberg 1828.
Schlegel, August Wilhelm: Ankündigung. Sprachlehre von A. F. Bernhardi. 1. Th.
Berlin 1801.2. Th. 1803. In: Europa. Eine Zeitschrift. Herausgegeben von
Friedrich Schlegel. Bd. 2/1. Frankfurt a. M. 1803, S. 193-204.
Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Erster
Teil: Die Kunstlehre. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vor-
lesungen. Hg. von Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1.
Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, S. 181-472.
Schlegel, Friedrich: Deutsche Grammatik. 1.1805. Jun. Kritische Friedrich-Schle-
gel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 17: Fragmente zur Poesie und Litera-
tur. 2. Teil. München/Paderborn/Wien/Zürich 1991, S. 3-31.
Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wil-
helm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin
1798, S. 3-146.
Wigard, Franz: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen
Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. 10 Bde.
Frankfurt a. Main 1848ff.
In te rn e tre fe re n ze n
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch:
http://dwb.uni-trier.de/de/
http://www.uni-goettingen.de/de/118878.html
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Briefwechsel:
http://www.grimmbriefwechsel.de/
Kulturportal Hessen:
http://www.kulturportal-hessen.de/de/grimm-2013
Grimmforum/Grimmbriefwechsel:
http://www.grimmnetz.de/
Hessische Landesausstellung Expedition Grimm:
h ttp://www.exped ition-grim rn.de/

A b b ild u n g s n a c h w e is
akg-images, Berlin: 11 o., 13 o., 19, 44, 51, 61, 102, 104, 105, 125/AP/Heinz Ducklau,
138 Brüder Grimm-Museum, Kassel © 2013:120 dpa Picture-Alliance GmbH, Frank-
furt: 55, 56/Costa/maxppp, 108/Judaica-Sammlung Richter Fotolia.com: 15/anweber,
33 u.l./Georgios Kollidas, 115/nlagentur, 116/Georgios Kollidas Getty Images, Mün-
chen: 123/Hulton Archive, 130/Rischgitz/Hulton Archive Imago, Berlin: 31 Interfoto,
München: 18/Slg. Rauch, 22/Mary Evans/Library of Congress, 33 o.r./Bildarchiv Hans-
mann, 35/Slg. Rauch, 49/Toni Schneiders, 53/Slg. Rauch, 53/Bildarchiv Hansmann, 55/
Slg. Rauch, 57/Slg. Rauch, 58/Bildarchiv Hansmann, 62/Slg. Rauch, 63/Karger-Decker,
65/ZeitBild, 82/Bildarchiv Hansmann, 84/PHOTOAISA, 85/NG Coli., 119/Slg. Rauch,
137/Karger-Decker laif, Köln: 71 oVGerald Haenel Mauritius Images, Mittenwald: 101/
United Archives Stephan Rosenthal: 153 shutterstock.com: 37/Georgios Kollidas,
136/Circumnavigation, 149 M./rook76,149 o.l./Neftali, 149 o.r./Neftali, 149 u.l./Neftali,
149 u.r./lgorGolovniov Stephan Rosenthal: 153 thinkstockphotos.de/Getty Images:
68 Photos.com Universitätsbibliothek München: 66/W 8 Krall 2390(2, 67/8 Mise.
844/1 wissenmedia, Gütersloh: 11,12,13 u., 2 5 1., 25 M., 25 r., 33 o.l, 33 u.M., 33 u.r., 38,
40,65,69,71 u., 81,133, 142,143.

Abbildungen auf dem Einband:


Handschrift: ©2012 by Brüder Grimm-Museum Kassel -
alle Rechte vorbehalten/Foto: T. Wiegand
Porträts: wissenmedia
Die Brüder Grimm - Pioniere deutscher
Sprachkultur des 21. Jahrhunderts
vermittelt authentisch und anschaulich
die »sprachkultureile« sowie die »sprach- und
bildungspolitische Seite« des berühmten
Brüderpaares und zeigt, dass ihr Vermächtnis
auch 150 Jahre später gerade in Zeiten der
Globalisierung unvermindert weiterwirkt.

■ Unter Mitwirkung und Beratung


namhafter Sprachhistoriker und
Grimm-Experten

■ Sprachkultur damals und heute an­


schaulich und verständlich präsentiert

■ Rund 50 Abbildungen lassen ein ein­


prägsames Zeitpanorama entstehen

■ Illustrierte Sonderseiten geben Einblick


in interessante übergreifende Themen
wie die Entstehung der germanischen
Sprachen oder die Idee der »Volksbildung«

■ Auch als E-Book digital erhältlich


Die Brüder Grimm
Pioniere deutscher Sprachkultur
d e s 2 1 . Ja h rh u n d e rts

Die bekanntesten Märchenerzähler der Deutschen - und


doch reicht die Wirkung der weltberühmten Brüder viel
weiter: Tatsächlich zählen Jacob und Wilhelm Grimm
zu den produktivsten Sprachforschern ihres Jahrhunderts.
'
Sie kamen der Entstehung der germanischen Sprachen
auf die Spur, und sie schufen mit dem »Deutschen Wörter­
buch« das umfangreichste Nachschlagewerk zur deutschen
Sprache überhaupt.

Wissenschaft verstanden sie dabei als Dienst an der Gesell­


schaft: In all ihren Arbeiten war immer auch der Gedanke
an Aufklärung, Sprachkultur und Volksbildung lebendig.
Die Brüder Grimm - Pioniere deutscher Sprachkultur
des 21. Jahrhunderts gibt einen aufschlussreichen
Überblick über das Wirken der Grimms, vermittelt Einblicke
in zwei außergewöhnliche Forscherleben und zeigt, wie
ihre Ideen und Konzepte bis heute aktuell geblieben sind.

IS B N :978-3 -5 7 7 -0 0 3 0 5 -6

9 783577 003056

Das könnte Ihnen auch gefallen