Waldenfels, Bernhard - DE - Leib Zwischen Natur Und Kultur
Waldenfels, Bernhard - DE - Leib Zwischen Natur Und Kultur
„Natur und Kultur, sie scheinen sich zu fliehen“, so könnte man einen alten Satz
Goethes abwandeln. Doch haben sie sich wirklich, „eh’ man es denkt, gefunden“?
Und wenn ja, worin finden sie sich? Natur steht hier für das, was blindlings ohne
unser Zutun geschieht, Kultur für all das, was wir Menschen aus uns und unserer
Umwelt machen und was durch Gewöhnung zur zweiten Natur wird. Als Zwischen-
glied bietet sich der Leib an, aber nur dann, wenn wir die lebendige Leiblichkeit,
die jedem von uns eignet, von der bloßen Körperlichkeit unterscheiden, die auch
Himmelskörpern und Festkörpern der Physik zukommt.1
1 Teile dieses Textes erschienen Online im Programm des Goethe-Instituts: Kultur/Tanz, Nov. 2014.
2 Vgl. Phenomenology of Nature, Festschrift in Honor of Kah Kyung Cho, ed. by Young-Ho Lee
and Soon-Young Park, Seoul: The Korean Society for Phenomenology 1998.
https://doi.org/10.1515/yewph-2017/0005
Der Leib als Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur | 21
In Platons Timaios ist das Weltall nicht nur mit einer Weltseele, sondern auch mit
einem Weltleib (sōma tou kosmou) ausgestattet.
Mit dem Einbruch der Moderne verwandelt sich die Physis in die natura, in der
sich nichts selbst bewegt, sondern alles ohne Ziel und Zweck nach mechanischen
Gesetzen bewegt wird. Die bloße Natur tritt in Gegensatz zu einer autarken Welt des
Geistes. Die freigiebige Mutter Natur verwandelt sich in Material, das der Schaffung
einer menschlichen Kulturwelt dient,3 so dass wir Menschen uns zu „maîtres et
possesseurs de la nature – Herren und Eigentümern der Natur“ aufschwingen.4
Doch die erfolgreiche Reduktion der Natur auf bloße Kausalabläufe rächt sich,
indem sie unseren Leib von der Seele abspaltet und ihn in eine Körpermaschine
verwandelt. Die Dualität von kulturell gepflegter Innenwelt und technisch be-
arbeiteter Außenwelt ist seit Descartes ein Dauerthema. Es beginnt ein Prozess
permanenter Bastelei, der bis heute andauert. Dualistische Konstruktionen führen
zu extremen Alternativen wie Naturalismus oder Kulturalismus, Materialismus
oder Spiritualismus. Sie werden kompensiert durch monistische Einheitsvisionen,
die teils spekulativ angelegt sind, teils ins Esoterische und Irrationale ausufern.
Visionen des Lebens, die zwischen spirituellen, vitalistischen, biologistischen
und auch rassistischen Zügen hin und her schwanken, gehören zum Erbe einer
westlichen Kultur und Zivilisation, die ihren eigenen Erfolgen zu erliegen droht. In
Deutschland hat die Weimarer Zeit und die sich daran anschließende Katastrophe
eine Fülle lebendiger, aber auch zwielichtiger Zeugnisse hinterlassen.
Es fehlt nicht an Versuchen, die alten Dualismen zu überwinden, ohne auf
einen neuerlichen Monismus zu verfallen. In der jüngeren Gegenwart, die manche
als Postmoderne bezeichnen und die ich, wenn es sein muss, als Hypermoderne
bezeichnen würde, weicht der Gegensatz von Natur und Kultur vielfach einer
Verflechtung oder Verschränkung, einem Ineinander von Kultur und Natur. Die
neuere Phänomenologie des Leibes, die Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche
frühe Anregungen und Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty und Helmuth
Plessner grundlegende Impulse verdankt, spielt hierbei eine entscheidende Rolle.
Husserl setzt mit seiner anticartesianischen Revision bei der Lebenswelt an. In
seiner 1935/36 entstandenen Krisis stellt er sich angesichts einer weitgehenden
Überschattung der Philosophie durch die Psychologie die Frage: „Wie steht es
nun mit den menschlichen Seelen?“ Die Antwort lautet lapidar: „Konkret erfahren
sind Menschen.“ Erst die Abstraktion der Welt auf eine Außenwelt bloßer Körper
und die Abstraktion des Menschen auf pure Körperlichkeit ruft als „ergänzende
3 Zu dieser modernen Alchemie, in der sich die mythische mater in physische materia verwandelt,
vgl. John Locke, The Second Treatise of Government, V, 28 bzw. V, 43.
4 René Descartes, Discours de la méthode, VI.
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Abstraktion“ eine psychische Innenwelt hervor.5 Die Lebenswelt, von der all unsere
Gefühle, Gedanken und Taten ausgehen, geht jedoch einer Verdoppelung in Kultur
und Natur voraus. Keine Kultur ist zugänglich, ohne dass die Natur „mitfungiert“.6
Die Natur ist „immer mit dabei“ wie unser eigener Leib.
Befragen wir nach dem transzendentalen Phänomenologen den strukturalen
Anthropologen Claude Lévi-Strauss. In seinem Werk Die elementaren Strukturen
der Verwandtschaft, das etwa zehn Jahre nach Husserls Krisis verfasst wurde, stellt
er fest, der Gegensatz von Kultur und Natur sei „weder eine ursprüngliche Ge-
gebenheit noch ein objektiver Aspekt der Weltordnung“, sondern vielmehr eine
„künstliche Schöpfung der Kultur“. Es gibt eine „Verzahnung“ von Natur und Kul-
tur, derart, dass immer wieder Natürliches durchbricht und eine neue „Reprise“
anhebt. So gibt es keine „Naturvölker“, sondern eine kulturell wechselnde Nähe
oder Ferne zur Natur.7 Es gehört zur Selbstentdeckung und Selbstaufklärung der
Kultur, dass sie selbst mehr ist als reine Kultur, da sie über sich selbst hinausweist,
auf einen präkulturellen Vorbereich, einen interkulturellen Zwischenbereich und
auf transkulturelle Überschüsse. Diese Figur der Selbstüberschreitung hat die
Kultur mit der Leiblichkeit gemein.8 Neuere kulturanthropologische Versuche
wie die von Bruno Latour oder Philippe Descola lassen deutlich erkennen, wie
man von cartesianischen Denkmustern nicht loskommt, wenn man einer Konzep-
tion der Leiblichkeit beharrlich aus dem Wege geht. So geht Descola in seinem
Kampf gegen einen angeblichen Grundkontrast zwischen prämodernem Animis-
mus und modernem Naturalismus von der Annahme aus, „dass jeder Mensch sich
als eine aus Interiorität [= Geist, Seele, Intentionalität, Reflexivität, Affekte etc.]
und Physikalität [= Substanz, physiologische Prozesse, anatomische Züge etc.]
zusammengesetzte Einheit wahrnimmt“.9 Entgegen diesem zwiefachen Jenseits
von Natur und Kultur versetzt uns das Phänomen des Leibes in ein Diesseits von
Natur und Kultur, das heißt in einen Bereich, in dem eine strikte Trennung noch
nicht stattgefunden hat.
5 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno-
menologie, Den Haag: Nijhoff 1954 (Husserliana VI), S. 231.
6 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag: Nijhoff 1950
(Husserliana I), S. 162.
7 Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übersetzt von E. Molden-
hauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 24 f.
8 Vgl. Bernhard Waldenfels, Verfremdung der Moderne, Kap. IV: „Genealogie der Kultur“, Göttin-
gen: Wallstein 2001, hier S. 113.
9 Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, übersetzt von M. Kauppert, Berlin: Suhrkamp
2011, S. 182. Zur Kritik an diesen neocartesianischen Restbeständen vgl. Bernhard Waldenfels,
Sozialität und Alterität, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 245–248.
Der Leib als Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur | 23
2 Leibliche Zwischenphänomene
Es stellt sich die Frage, wie wir die Zwischenstellung des Leibes fassen können,
ohne einer einseitig kulturalistischen oder naturalistischen Sicht- und Sprechweise
zu verfallen. Diese Frage stellte sich schon Descartes in seinem Briefwechsel mit
der Prinzessin Elisabeth – übrigens einer der seltenen Fälle innerhalb der west-
lichen Philosophietradition (nur der westlichen?), in denen eine Frau das Wort
bekommt; ein anderer Fall ist die liebeskundige Diotima in Platons Symposion. Des-
cartes’ adelige Gesprächspartnerin bezweifelt, dass der Arzt den Leib repariert wie
eine defekte Maschine und dass Schmerzen nichts weiter sind als Anzeichen von
Körperzuständen. Die Antwort, die Descartes in seinem Brief vom 28.6.1643 gibt,
lautet bekanntlich: „Die Dinge, die zur Vereinigung von Seele und Körper gehören
lassen sich sehr klar erkennen durch die Sinne“. Darauf folgt der Rat: „Indem man
schließlich nur das Leben lebt und gewöhnliche Reden führt, und davon absieht,
Dinge zu bedenken und zu studieren, welche die Vorstellungskraft übersteigen,
lernt man, die Vereinigung der Seele und des Körpers zu begreifen.“10 Doch hierbei
handelt es sich für den Philosophen nur um eine „zweitbeste Fahrt“,11 die den
Verworrenheiten des ordre de la vie verhaftet bleibt und die Klarheit des ordre de la
raison nicht erreicht. Im Gegensatz dazu drehen sich für eine Phänomenologie des
Leibes und der Lebenswelt die Verhältnisse um. Sie beginnt mitten im leiblichen
Zwischenbereich und nicht mit einem reinen „Ich denke“, aber auch nicht mit
einem privaten „Ich fühle“. Mit einem neueren sentio ergo sum stünde es nicht
viel besser als mit dem älteren cogito ergo sum. Das Ego mag unumgänglich sein,
doch dreht sich alles um dieses? Gibt es im leiblichen Erleben und Verhalten ein
Privateigentum, das sekundär in ein Gemeineigentum überführt wird? Kann das
Ich für sich eine „absolute Identität“ reklamieren, ohne sich durch die schiere
Behauptung einer solchen selbst Lügen zu strafen?
Scheuen wir uns also nicht, dem halbherzigen Rat Descartes’ zu folgen und
ihm mehr Kredit einzuräumen, als Descartes selbst es tut. Sobald wir gewöhnliche,
unscheinbare leibliche Phänomene in den Blick nehmen und uns nicht durch
Vorurteile den Blick trüben lassen, werden wir gewahr, wie wir uns als leibliche
Wesen unaufhörlich auf der Schwelle von Kultur und Natur bewegen.
Das beginnt mit dem schlichten, beruflichen oder nachdenklichen Gehen. Der
aus der Physik der epikureischen Schule schöpfende Gassendi pariert Descartes’
Satz „Ich denke“ mit einem „Ich gehe“; das cogito ergo sum weicht einem provo-
10 Der Briefwechsel zwischen Elisabeth von der Pfalz und René Descartes, hg. von Sabrina
Ebbersmeyer, München: Fink 2015, S. 35.
11 Vgl. Platon, Phaidon 99c–d.
24 | Bernhard Waldenfels
kanten ambulo ergo sum. Das Gespräch endet mit einem Patt. Descartes’ Anrede ô
caro dient als ironische Replik auf Gassendis Anrede ô anima.12 Doch in welcher
Sprache reden die beiden Philosophen miteinander? Hätte Gassendi sich nicht dar-
auf berufen können, dass doch auch der Gedankengang etwas mit dem aufrechten
Gang des Körpers zu tun hat? In seinem Text zum Gehen greift der österreichische
Schriftsteller Thomas Bernhard diesen alten Kontrast auf, indem er Gehen und
Denken auf obsessive Weise ineinander verknäuelt und darin Spuren von Geistes-
krankheit entdeckt. „Wir können nicht sagen, wir denken, wie wir gehen, wie wir
nicht sagen können, wir gehen, wie wir denken“, so heißt es dort.13 Die hartnäckig
behauptete Unvergleichbarkeit von Denken und Gehen entspringt selbst einem
Vergleich, beide Bewegungen gehen überkreuz. Ferner tritt hinter das „Ich“ des
„Ich gehe“ ein Fragezeichen. „Ich gehe“ und „Es geht“ sind unzertrennlich, wenn
wir uns die alltägliche Fehlleistung des Stolperns vor Augen halten. Auch Thales
stolpert in eine Grube, zum Gelächter der thrakischen Magd; das Philosophieren
erweist sich als nicht ungefährlich, zumal dann, wenn nur der Leib (monon to
sōma) des Philosophen in der Stadt wohnt, während seine Seele Höhen und Tiefen
der Welt durchmisst.14 Descartes, der in der Zweiten Meditation gleich zu Beginn
seiner Denkübungen in einen Strudel gerät, geht in Distanz zu seinem Leib, und da
ist niemand der lacht. Man könnte schließlich mit Brecht fortfahren. Herr Keuner
hält einem Philosophieprofessor, der ihm allzu beredt von seiner Weisheit erzählt,
entgegen: „Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem. […]
Sehend dein Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.“15
Beim Schwimmen, bei dem wir Menschen den festen Boden unter den Fü-
ßen verlieren, würden wir untergehen wie ein schwerer Stein ohne geschickte
Bewegungen, mit denen wir uns über Wasser halten. Die Natur wirft uns einen
Rettungsring zu, indem sie alles Lebendige mit spontanen Bewegungsimpulsen
ausstattet. Dennoch müssen wir anders als Fische, die sich im Wasser in ihrem
Element fühlen, schwimmen lernen bis hin zu Schwimmtechniken wie dem Krau-
len. Wir sind von Natur aus Landtiere. Wäre dies nicht zu berücksichtigen, wenn
wir mit Zhuangzi und Helmut Wenzel Mutmaßungen über das Glück des Fisches
und das eigene Glück anstellen? Für das Fliegen, das wir den Vögeln nachtun, gilt
ähnliches. Ikarus bezahlt seine allzu kühnen Höhenflüge mit dem Leben.
Die Hand, die laut Aristoteles als das „Organ der Organe“ fungiert, dient als
multiples Brückenglied, wechselnd zwischen zärtlichem Streicheln und gewaltsa-
12 Vgl. Descartes’ Antwort auf Gassendis Objektionen gegen die Zweite Meditation (AT VII, S. 413).
13 Thomas Bernhard, Gehen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 85 (Kursivdruck B.W.).
14 Platon, Theaitet 173e–174a.
15 Bert Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003: „Weise am Weisen
ist die Haltung“.
Der Leib als Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur | 25
16 Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Den Haag: Nijhoff 1934, Neuaufl. Paderborn: Fink
2014, S. 192. Dieser deutsch-jüdische Emigrant hat mit seiner Konzeption der Gesundheit als einer
Responsivität des Organismus wesentlich zur Ausbildung der weiter unten erwähnten responsiven
Phänomenologie beigetragen,
17 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, übersetzt von M. Bischoff, Frankfurt/M.: Suhrkamp
1984, frz. Le geste et la parole, Paris: A. Michel 1964/65.
18 Vgl. Roman Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1969, S. 26.
19 Arthur Rimbaud, „Zweiter Seher-Brief“, in: Briefe und Dokumente, übersetzt und erläutert
von Carl Ochwadt, Reinbek: Rowohlt 1964, S. 23.
20 Claude Lévi-Strauss, Le cru et le cuit, Paris: Plon 1964.
26 | Bernhard Waldenfels
21 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen über Sexualtheorie (GW V), S. 91 f. Dazu Bernhard Wal-
denfels, Antwortregister, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, „Der libidinöse Leib“, S. 516–529.
22 Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S. 221,
deutsch: Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt von R. Boehm, Berlin: De Gruyter 1965,
S. 224.
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Europäers es tut, so wie auch die soziale Nähe im Grußritual variiert, von der
mehr oder weniger tiefen Verbeugung23 über den Händedruck bis zur Umarmung.
Die Umarmung von Politikern, die wir alltäglich am Bildschirm miterleben, ist
sicherlich alles andere als ein natürlicher Gefühlsausdruck.
23 Die Inlandpresse diskutierte neulich beim Besuch des amerikanischen Präsidenten in Hiroshi-
ma: Wie tief hat er sich verbeugt?
24 Merleau-Ponty (1945/1966), S. 171/176.
25 Jean-Paul Sartre, L‘être et le néant, Paris: Gallimard 1943, S. 395, deutsch: Das Sein und das
Nichts, übersetzt von H. Schöneberg und T. König, Reinbek: Rowohlt 1991, S. 583.
26 Zum folgenden vgl. im Detail Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, Frankfurt/M.: Suhr-
kamp 2000, Kap. VI: „Der Leib als Umschlagstelle“ und Kap. VII: „Eigenleib und Fremdleib“;
Sinnesschwellen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, Kap. 1: „Nähe und Ferne des Leibes“ und Kap. 2:
„Eigenleib und Fremdkörper“; Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M.:
Suhrkamp 2006, Kap. IV: „Leibliche Erfahrung zwischen Selbstheit und Andersheit“, englisch:
Phenomenology of the Alien. Basic Concepts, übersetzt von A. Kozin und T. Stähler, Evanston, Ill.:
Northwestern 2011.
28 | Bernhard Waldenfels
Stimme höre ich mich selbst, doch Sehender und Gesehenes, Hörender und Ge-
hörtes sind nicht schlicht dasselbe. Wir überraschen uns selbst, wenn wir vom
Normalen abweichen; von ‚Identität‘ sollten wir nur mit Vorsicht sprechen. Der
Selbstbezug ist verquickt mit einem Selbstentzug; der Eigenleib, französisch als
corps propre bekannt, nimmt selbst Züge eines Fremdkörpers an. In diesem Sinne
sprechen wir mit Husserl, Scheler oder Plessner von einem Leibkörper, bei dem das
Leibsein sich mit einem Körperhaben verbindet. Wie das Ich bei Rimbaud: JE est
un autre so ist auch das leibliche Selbst ein Anderes, was nicht heißt, dass es etwas
Anderes ist. Insofern hat es keinen Sinn, einen subjektiv gespürten Leib als primäre
Gegebenheit gegen die sekundäre Gegebenheit eines objektiv wahrgenommenen
und behandelten Körper auszuspielen, wie es in der Neuen Phänomenologie ge-
schieht, was zu der absurden Konsequenz führt, daß Merleau-Ponty hartnäckig der
Leibbezug abgesprochen wird.27 Schon Pascal begreift den Menschen auf paradoxe
Weise als „denkendes Schilfrohr (roseau pensant)“. Denken und Schilfrohr, das
klingt wie Feuer und Wasser. Doch tatsächlich erfahre ich die Natur am eigenen
Leib als „meine Natur“,28 während umgekehrt Spuren meines Tuns in der Natur
auftauchen, so etwa als Fingerabdrücke oder Fußspuren.
Dabei gibt es spezifische Erfahrungen, die das Fremdwerden des eigenen Leibes
eigens hervortreten lassen. An erster Stelle sind spontane Fehlleistungen zu nennen,
in denen ich mir selbst entgleite, so etwa das schon erwähnte Stolpern, das Stottern,
der lapsus linguae oder auch die alltägliche Ermüdung. Dazu schreibt Paul Valéry,
der zu Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes so manches Stichwort geliefert
hat: „Dans la fatigue le ‚corps‘ devient chose étrangère – In der Ermüdung wird
der ‚Leib‘ zu etwas Fremden.“29 In solchen Fällen ist es die natürliche Einstellung
im Sinne Husserls, die sich verfremdet und gegen jede „Einleibung“ des Frem-
den sperrt. – An zweiter Stelle wären methodisch durchgeführte Zu- und Eingriffe
zu erwähnen, so etwa die Blutdruckmessung, die Einnahme von Medikamenten,
die Implantation oder die Amputation eines Körperglieds. In der medizinischen
Behandlung kommt es zu einer Trennung von Leib und Körper. Behandelt wird
der leibhaftige Patient, aber dies geschieht mittels einer Einwirkung auf dessen
Körper. Die therapeutische Einstellung, die sich aus der Zweite-Person-Perspektive
dem Patienten zuwendet, geht über in eine technische Einstellung, die aus der
Dritte-Person-Perspektive auf dessen Körper einwirkt. Husserls Unterscheidung
27 So erst kürzlich wieder: Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg,
München: Alber 2016, S. 160 f.
28 Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
losophie, Zweites Buch, Den Haag: Nijhoff 1952 (Husserliana IV), S. 280.
29 Paul Valéry, Cahiers, Bd. I, Paris: Gallimard 1973, S. 1137, deutsch: Cahiers/Hefte, Bd. 3, Frank-
furt/M.: Suhrkamp 1989, S. 325.
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30 Sechste Meditation (A.T. VII, S. 76). Siehe Meditationes de prima philosophia, hg. von Lüder
Gäbe, Hamburg: Meiner 1959, S. 136 f.
31 Um phänomenologische Annäherungen an Psychoanalyse und Neurologie bemühe ich mich
in Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt/M.:
Suhrkamp 2002, Kap. VII-VIII.
32 Husserl (1952), S. 161, 286.
30 | Bernhard Waldenfels
Das Fremdwerden des eigenen Leibes verstärkt sich in der Fremdheit des frem-
den Leibes, so dass nicht nur Kultur und Natur, sondern auch Eigenes und Fremdes
ineinander übergehen. Die Verdoppelung des Leibes nimmt nun eine besondere
Form an. Die Andersheit des Anderen, die sich als eines der Leitthemen einer Phä-
nomenologie des Leibes herausgestellt hat, beschränkt sich nicht auf den trivialen
Sachverhalt, dass es mehrere Exemplare und Typen der Spezies Mensch gibt, und
auf den faktischen Sachverhalt, dass ich zufällig auf Andere stoße. Der Andere, den
ich in mir selbst entdecke, so wie ich mich selbst im Anderen entdecke, entpuppt
sich als eine Art Doppelgänger, dessen ich mich ebenso wenig entledigen kann wie
meines Schattens. So bemerkt wiederum Valéry: „Autrui, un autre semblable, ou
peut-être double de moi, c‘est le gouffre le plus magnétique […] Singe plus qu‘imi-
tateur – reflet qui répond, devance, étonne. – Der Andere, einer meinesgleichen,
oder vielleicht mein Doppelgänger, das ist der magnetischste Abgrund […] Eher
Nachäffer als Nachahmer – ein Reflex, der dir antwortet, zuvorkommt, dich ver-
blüfft.“33 Das Staunen darüber, dass es Andere gibt, steht dem Staunen darüber,
dass es diese unsere Welt gibt, in nichts nach. In der Beziehung zum leibhaften
Anderen lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: der Bezug auf den Anderen
als frontales Gegenüber, das mir direkt von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt,
und die laterale Beziehung zum Anderen, der sich zusammen mit mir auf Drittes
bezieht und auf den ich mich indirekt beziehe. Wie ich in dem bereits erwähn-
ten Buch Sozialität und Alterität zu zeigen versuche, dominiert im ersten Fall die
Alterität, im zweiten Fall die Sozialität.
Die Alterität kulminiert in der leibhaftigen Abwesenheit des fremden Ange-
sichts, die Emmanuel Levinas in seiner Ethik des Anderen umkreist. Ein viel
beachtetes Schlüsselphänomen bildet der Wechselblick, der uns schon in der
Reihe der Zwischenphänomene begegnet ist. Das Drama des Wechselblicks, das
jederzeit von Fremdheit in Feindschaft umschlagen kann, beginnt nicht mit einem
video; es beginnt nicht damit, dass ich den Anderen oder die Andere sehe, gleich
wie er oder sie mich sieht, vielmehr beginnt es mit einem videor. Es beginnt nicht
mit einem Akt, den ich vollziehe, sondern damit, dass mir etwas widerfährt. Ich
entdecke mich, indem mich unerwartet und unwiderruflich in einem fremden Blick-
feld wiederfinde. Der fremde Blick ist nicht etwas, was ich sehe, sondern etwas,
wovon ich mich affiziert, angesprochen, herausfordert fühle und worauf ich wohl
oder übel antworte, auch wenn ich wegblicke. Der eigene Blick ist wie das eigene
Wort eine Antwort, die anderswo, in der Fremde beginnt. Wenn das Antworten
ein Tun ist, so ein Tun, das an sich hält, das Anderes kommen lässt. Alles Antwor-
ten, das über das Repertoire normaler Antworten hinausgeht, tritt auf mit einer
33 Valéry (1973), S. 499, deutsch: Cahiers/Hefte, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 38.
Der Leib als Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur | 31
34 Vgl. Waldenfels (2006), ferner Question of the Other. The Tang Chun-I Lecture for 2004, Hong-
kong/New York: The Chinese University Press/SUNY Press 2007. In die Hongkong-Vorlesungen
sind mancherlei Belehrungen zur chinesischen Sprache und Kultur eingegangen, die ich Tze-wan
Kwan als dem Initiator dieser Vorlesungen verdanke.
35 Siehe Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Den Haag: Nijhoff 1974 (Husserlia-
na XVII), S. 297.
36 Vgl. den Husserl-Aufsatz von Maurice Merleau-Ponty in Signes, Paris: Gallimard 1960, S. 218,
deutsch: Zeichen, Hamburg: Meiner 2007, S. 252. Ein prägnantes Beispiel bietet das erotische
Wahrnehmen, Verstehen und Begehren, das blindlings Leib mit Leib verbindet, siehe Merleau-
Ponty (1945/1966), S. 183/188 (Üb. verändert).
37 Waldenfels (1994), S. 478–480.
32 | Bernhard Waldenfels
4 Zwischendinge
Die kulturell-natürliche Zwischenwelt findet ihre Stütze in Zwischendingen wie
Zeichen, Symbolen, Insignien, Geschenken, Werkzeugen, Waffen, Apparaturen,
die allesamt eine mediale Rolle spielen. Sie lassen sich weder dem Bereich der
Subjektivität noch dem der Objektivität zuschlagen; in ihnen verkörpern sich Modi
einer anonymen Verarbeitung von Erfahrung, die sowohl kulturellen Prägungen
wie natürlichen Vorprägungen unterliegen. So legen Brille oder Fernrohr nicht fest,
was man sieht oder wer sieht, wohl aber, wie genau man sieht, und so entscheidet
ein Verkehrsfahrzeug nicht darüber, wohin man sich bewegt, wohl aber darüber,
wie schnell oder bequem man dies tut. Was die Phänomenologie angeht, so be-
treibt sie von Anfang an keine direkte Sachforschung, die den Wissenschaften mit
ihren spezifischen Methoden und Modellen Konkurrenz machen würde. Sie befasst
sich mit der zentralen Frage, wie und als was etwas in unserer Erfahrung erscheint.
Dabei sind Was und Wie, Sachgehalt und Zugangsweise nicht von einander zu
38 Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 54, 238 f. Der
Autor dieses Buches, dessen Leittext bereits 1939 erschien, ist ein deutsch-jüdischer Emigrant, der
noch in die Schule Husserls ging.
39 Merleau-Ponty (1945/1966), S. 409/408.
40 Vgl. dazu Ichiro Yamaguchi, Ki als leibhaftige Vernunft. Beitrag zu einer interkulturellen
Phänomenologie der Leiblichkeit, München: Fink 1997.
Der Leib als Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur | 33
trennen. Das beginnt bereits mit der Seiten- oder Nah-Fern-Perspektive der Wahr-
nehmung, die weder der physischen Außenwelt noch der psychischen Innenwelt,
sondern der Sphäre des Leibes zuzurechnen ist. Ortsparameter wie oben/unten,
rechts/links, nah/fern schreiben wir zwar den Dingen zu, aber nur unter Bezug-
nahme auf das Hier und Jetzt leiblich situierter Wesen, deren Erfahrungsspielraum
enger oder weiter bemessen ist. Auch das leibliche Wohl- oder Missbefinden ist
ein affektiv moduliertes Befinden. Demgemäß beansprucht das mediale oder funk-
tionale Wie in Form von Techniken, Praktiken, Bewegungsrhythmen, Sicht-, Rede-
und Schreibweisen seinen spezifischen Ort in der leibkörperlichen Erfahrung. In
welch erheblichem Maß der Leib mit seinen Körpergliedern, Körperhaltungen
und Umweltbezügen in die Taxonomien der chinesischen Bildzeichen Eingang
gefunden hat, zeigt Tze-wan Kwan auf exemplarische Weise in seinen Studien zur
chinesischen Schrift.
Von besonderem Gewicht ist heutzutage der Einfluss der Technik auf un-
sere Erfahrung. Werkzeuge und Produktionsmittel werden seit langem einem
„verlängerten Leib“ zugeschrieben.41 Marcel Mauss berücksichtigt in seinen so-
zioanthropologischen Untersuchungen auch diverse „Körpertechniken“, die er
im eigenen Körper als dem „ersten Werkzeug“ verankert.42 Man könnte diesen
Gesichtspunkt ausweiten, indem man den Leib nicht nur als Urwerkzeug, sondern
auch als Urmedium, Urzeichen, Urskript oder Urbild ansetzt.43 Indem die Hand
auf die Dinge zugreift, das Auge die Blickschärfe reguliert, die Gesichtsmimik Ge-
fühle zum Ausdruck bringt oder der Zeigefinger (digitus) vor aller Digitalisierung
eine Zeigegeste vollführt, verkörpert sich im Leib ein bestimmtes Können, Wissen
und Fühlen. Doch Werkzeuge, die wir benutzen, sind nicht restlos auf den zweck-
haften Gebrauch zugeschnitten. Sie entwickeln eine Eigendynamik und folgen
eigenen materiellen Gesetzen. Dies beginnt bereits mit dem primitiven Wurfge-
schoß oder dem Spielball, deren Fortbewegung sich schrittweise der leiblichen
Kontrolle entzieht. Ähnliches gilt für den uralten Einsatz von Zugtieren, die als
„beseeltes Werkzeug“ eigenen Impulsen folgen.44 Auch die östliche Kunst des
Bogenschießens zeichnet sich dadurch aus, dass der Bogenschütze dem Flug des
Pfeils freien Raum lässt und von sich selbst ablässt, so dass der Pfeil sich aus eige-
ner Kraft auf das Ziel hin bewegt. Man könnte diese Verbindung von Sachtechnik
und Selbsttechnik als meditativ gebremste Technik deuten. Die Eigenmacht des
Technischen verstärkt sich mit dem Übergang von der Motorik der Hand zu auto-
41 Vgl. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Ökonomie, Berlin: Dietz 1953, S. 391.
42 Vgl. Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. II, München: Hanser 1975, S. 206.
43 Vgl. Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp
2004, Kap. V: „Mediatisierte Erfahrung: Zwischeninstanzen“.
44 Die aristotelische Definition des Sklaven lässt sich sinngemäß auf Zugtiere anwenden.
34 | Bernhard Waldenfels
motorischen Maschinen, die wie die Wasser- und Windmühle die Bewegungskraft
der Elemente nutzen, und schließlich zu automatischen Maschinen, denen ein
sensomotorisches Gehirn eingebaut ist, das sie wie im Falle moderner Wasser-
kraftwerke und Windräder zur Selbststeuerung und Selbstregulierung befähigt. Es
bilden sich „Handlungsketten“,45 innerhalb derer die Mitwirkung der Dinge in eine
nur beschränkt kontrollierbare Eigen- und Fernwirkung übergeht. Ein aktuelles
Beispiel liefert der umstrittene Einsatz von Kampfdrohnen, die eine Art „letaler
Autonomie“ erlangen, wenn ihnen im Kampf gegen Terroristen von Fall zu Fall
Tötungsentscheidungen überlassen werden. Wir haben von einem Leibkörper ge-
sprochen. Hier begegnen wir nun einer zunehmenden Ablösung des Körperlichen
vom Leiblichen. Natürlich weiß die Drohne nicht, wen sie tötet, und sie spürt auch
keine Tötungshemmung, wie wir sie selbst den Tieren zuschreiben. Bedeutet dies,
dass die Technik sich völlig entleiblicht?
Falls wir die technischen Apparaturen und desgleichen die kulturellen und
sozialen Medien völlig aus der Rückbindung an den Leib entlassen, hypostasieren
wir diesen Zwischenbereich. Aus dem medium quo wird dann ein medium quod, bei
dem Message und Medium zusammenfallen. Die technische Zwischenwelt würde
sich einer quasi-natürlichen Eigenwelt annähern, die ihrem Schöpfer über den
Kopf zu wachsen droht wie die mythischen Skulpturen des Pygmalion, die lebendig
vom Sockel steigen. Diese künstliche Natur lässt sich verstehen als eine Metaphysik
im technologischen Gewand. Doch wie schon bei der älteren Metaphysik stellt
sich die Frage: Wer ist in der Lage, für dieses All zu sprechen? Ist die Sprache der
Technologie selbst Teil der Technologie? Oder um mit Heidegger zu reden: Ist das
Wesen der Technik selbst technisch?46 Fragen wir bescheidener nach dem Ort der
Technik. Diese Frage führt uns zurück zur leiblichen Schwelle von Kultur und Natur.
Der Leib als der Ort, an dem Kultur in Natur und Natur in Kultur umschlägt, markiert
zugleich die Stelle, an der die Technologie in die Erfahrung eingreift. Doch das,
worauf wir als leibliche Wesen antworten, entzieht sich dem technischen Zugriff.
Letzteres gilt für die kulturellen Erfindungen der Technik, aber auch für das Leiden
unter der Technik, das ihre Erfolge begleitet.