R Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer (HG.) : Das Lachen Der Medusa
R Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer (HG.) : Das Lachen Der Medusa
zusammen m1t
aktuellen Beiträgen
Helene Cixous: Das Lachen der Medusa
Pa ssage n Philosophie
sther Hutfless, Gertrude Postl,
lisabeth Schäfer (Hg.)
lelene Cixous: Das Lachen der Medusa
usammen mit aktuellen Beiträgen
'assagen
1hilosophie
Das Lachen der Medusa- 1975 auf Fran
zösisch erschienen - zählt zu den Schlüs
seltexten der feministischenTheorie und ist
ein widerständiges, vitales und provokantes
Bekenntnis zum Schreiben als politischer
Akt, ausgehend vom weiblichen Begeh
ren. Damit steht er im Gegensatz zu dem
für viele feministische Texte der 1970er
Jahre typischen Opfergestus der Frau.
Der Sammelband präsentiert die deutsche
Erstübersetzung dieses ausschlaggeben
den Essays von Helene Cixous zusam
men mit aktuellen Beiträgen von Ulrike
Oudee Dünkelsbilhler, Esther Hutfless, Eva
Laquieze-Waniek, Sandra Manhartseder,
Elissa Marder, Gertrude Post!, Elisabeth
Schäfer, Claudia Siroma und Silvia Stoller.
Ein Int.erview mit Helene Cixous, gefUhrt
von Elisabeth Schäfer und Claudia Simma,
kontextualisiert Das Lachen der Medusa
interdisziplinär.
Helene Cixous
Das Lachen der Medusa
Passagen Verlag
Deutsche Erstausgabe
Eine Politik des Schreibens und des Lachens: Versuch einer historischen
Kontextualisierung von Helime Cixous' Medusa-Text
Gertrude Post/ 21
Flugschrift 131
Von weißer Tinte zu Medusas Schlangen- Der Frauen- und Subjektbegriff
in Helene Cixous' Ecriture Feminine
Eva Laquieze-Waniek 135
Warum lacht Medusa? Zur Bedeutung des Lachens bei Helene Cixous
Silvia Stoller 155
Dieses Buch hat sich einem Lachen (in der Schrift) verschrieben- wenn es das gibt:
ein Lachen ... ist doch das Lachen immer schon mehr, plural, rhythmisch, sich in
einem Körper ausdehnend und über diesen hinaus; Lachen dauert; es ist eine Anei
nanderreihung von Lauten, eine glottale Schwingung, genauer: mehr als eine, es ist
mehr als nur ein Lacher- das Lachen ist sogar ansteckend, es überträgt sich, es geht
auf andere über, setzt sich fort, breitet sich aus. Diesem sich-fortsetzenden, anste
ckenden, pluralenWeitergehen versucht der vorliegende Band Raum zu geben und
widmet sich ganz "der luftigen Schwimmerin, der fliegenden Diebin"1, der Medusa.
Ihr Lachen ist in dem 1975 erstmals in französischer Sprache erschienenen Text
Le Rire de Ia Meduse der französischen Philosophin und Schriftstellerin Helene
Cixous ein zukünftiges Lachen, ein Lachen, das aus der Zukunft her kommt. Diesen
Text von Helene Cixous erstmals ins Deutsche zu übertragen und zusammen mit
aktuellen Beiträgen zur Erscheinung zu bringen, lässt ein Stück dieser pluralen,
unabgeschlossenen - weil offenen und weitergehenden - Zukunft ankommen, so
die Hoffnung von uns Herausgeberinnen.
Die Medusa dieser stets offenen Zukunft kommt aufuns zu, uns entgegen, um zu
insistieren - immer wieder-, sodass wir ihrem Ruf nachgekommen sind. Ergebnis
dieses Nachkommens, dieser Antwort auf einen Ruf stellt der nun vorliegende Band
dar, der sowohl die deutsche Erstübersetzung des berühmten Essays von Helime
Cixous umfasst als auch aktuelle Stimmen aus verschiedenen Feldern zu diesem
vteldtskutierten Text enthält.
Wir möchten insbesondere Helene Cixous für ihre immer freudige, begrüßende,
feine und äußerst zuverlässige Unterstützung dieses Buchprojektes herzlich dan
ken. Ein ebenso von Herzen kommender Dank gilt der Übersetzerio von 'Le Rire
de Ia Meduse, Claudia Simma, die mit äußerst kundiger, wachsamer und sensibler
Spracharbeit die Sprache des Medusa-Textes ins Deutsche übertragen hat und die
Grenzen der deutschen Sprache stets behutsam, aber mit Nachdruck, dort gedehnt
hat, wo der Cixous'sche Text dies fordert. Der schriftliche Austausch mit ihr zwi-
13
sehen Wien, New York und Paris hat diesem Band wichtige Impulse gegeben und
die Arbeit der Herausgabe um ein intensives Denken und Gestalten bereichert. lm
Anschluss an die Übersetzung findet sich im Buch ein ausführlicher Anmerkungs
teil der Übersetzerin. Weiters danken wir ganz herzlich unseren Autorinnen Ulrike
Oudee Dünkclsbühler, Eva Laquieze-Waniek, San Man, Elissa Marder, Claudia
Simma und Silvia Stoller fiir ihre Belträge und die Je ganz eigen herausgearbeiteten
Auseinandersetzungen mit Helene Cixous' Essay, die diesem Bandjene bunte Stim
menvielfalt geben, nach der die Medusa ruft.
Peter Engelmann, Verleger des Passagen Verlags und Herausgeber der Reihe
,,Passagen Philosophie", in der dieser Band erscheint, sowie den Mitarbeiterin
nen Eva Kühn, Markus Mittmansgruber, Elisabeth K.locker, Gabriella Attems und
Johanna Hofieitner möchten wir ebenso für die gute Zusammenarbeit danken wie
auch Joanna Deiarme von Editions Galih!e, Paris; sowie fiir die freundliche Bereit
schaft, die Abbildungen im Buch zur Verfugung zu stellen, der Universitätsbiblio
thek der Universität Gent und der Künstlerin VALlE EXPORT.
Der vorliegende Band umfasst neben der deutschen Erstübersetzung von Helene
Cixous' Essay Le Rire de Ia Meduse zehn aktuelle Beiträge, die aus der Perspekti
ve dekonstruktiven Denkens und Schreibens, der feministischen Philosophie, der
strukturalen Psychoanalyse, der Literaturwissenschaft, des performativen Schrei
bens, derecriture feminine und der Philosophie des Lachens jenen Text aus dem
Jahr1975 neu verorten. Auf Fragen der Aktualität und der Reaktualisierung des
Lachens der Medusa antwortet Helene Cixous am Schluss des Bandes im Interview
"Medusas ,Changeance"', geführt von Elisabeth Schäfer und Claudia Simma.
Das Lachen der Medusa als Lachen einer weiblichen Gestalt, die uns, ihres Körpers
beraubt, nur mehr als schlangenumsäumtes Haupt einer mythologischen Vergan
genheit erscheint, ist nichtsdestotrotz und gerade deshalb ein körperliches Lachen
und ein wildes. stürmisches, fordemdes; ein Lachen, das das Abgetrennte und Ver
worfene der Gegenwart aus der Zukunft zurückzubringen vermag. Ein Lachen, das
sich mit wenigen Flügelschlägen über die patriarchale Mangelökonomie hinweg
setzen kann.
In diesem Sinne ist Helene Cixous' Essay als radikalfeministische, performati
ve, sprachliche und damit auch politische Intervention zu verstehen, die bis heute
nichts an Brisanz und Schlagkraft verloren hat. Einer auch in feministischen Krei
sen immer stärker um sich greifenden Ablehnung des sprachlich-performativen
Aspekts einer feministischen Politik zugunsten klar argumenticrbarer Forderungen
und legalisierbarer Maßnahmen stellte Cixous' Text bereits 1975 einen erweiterten
14
Begriff des Politischen entgegen, den es gilt, neu zu beleben-heute mehr denn je.
Dem historischen
a,
wie dem aktuellen Kontext von Helene Cixous' Medusa-Text
widmet sich Gertrude Post! in ihrem Beitrag "Eine Politik des Schreibens und des
Lachens: Versuch einer historischen Kontextualisierung von Helene Cixous' Medu
sa-Text" z u Beginn des Bandes ausführlich und verortet dessen Aktualität im Rah
men der feministischen Philosophie und als wichtigen Impuls eines feministischen
Politischen. Post! betont: "Es gibt für Cixous keinen Geist ohne Körper, keine Kul
tur ohne Natur, keine Philosophie ohne Poesie, und es gibt vor allem keinen Körper
ohne Sprache und keine Sprache ohne den Körper - Begehren ist eine Form der
Signifikation."2 Eben diese Signifikation ist flir Gertrude Post! das Movens eines
feministischen Politischen.
Nicht allein aus der Perspektive der Übersetzerin, sondern zugleich aus jener
der Philosophin und LiteraturWissenschaftlerin liest Claudia Siroma mit ihrem
Beitrag "Medusas diebische Vergnügen" in der Quecksilbrigkeit des Cixous'sehen
Textes: "Genau auf jenen poetischen Schwingen aber, die dem Bewußtsein und
seinem begreifenden Konzeptdenken gestohlen bleiben können, durchfliegt Das
Lachen der Medusa sinnverwirrende Abgründe ohne ihr unordentliches Chaos zu
zuschütten und unsichtbar machen zu wollen."3 Im Tiefenverständnis komplexer
sprachlicher Ebenen und Schichten des französischen Originals analysiert Claudia
Siroma - ohne jedoch den Text je oder jäh zu zerschneiden- das Motiv des VOL,
des Fliegens/Stehlens, das als zentral fur Cixous' Essay, wie auch für das gesamte
Schreibprojekt von Helene Cixous gelten kann. Es geht darum, dass Medusa (wie
der) mit zwei Flügeln fliegen kann -jedenfalls ein paar luftige Längen durch den
deutschsprachigen Raum.
In "Wir, Schreiben, Lust" ist der Körper im Fokus. San Mans Text stellt ein
Close-up auf die Frage der Lust und des Begehrens für das Schreiben dar. Hier gibt
es keine Meta-Ebene, kein Reflektieren auf; San Man macht Ernst mit dem medu
sierenden Ruf "Schreib!" und radikalisiert das Cixous'sche Projekt einer ecriture,
die immer auch ein Aufgelesen-Werden und Weitergeschrieben-Werden ist: "Was
geht, ist durchlassen, vorbeilassen, aufschnappen. "4
Elissa Marder geht in ihrem Beitrag ,,Die Kraft der Liebe" zunächst von jenem
buchstäblichen Flug der Medusa um die Welt aus, der mit der Übertragung des
Textes ins Englische 1976 begann. Zugleich kritisiert sie jedoch auch die Rezep
tionsgeschichte des Textes im angloamerikanibchen Raum und problematisiert die
Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung ftir einen Text, der wesentlich vom
Lachen selbst lebt und damit von einer körperlich libidinösen und unbewussten
Ebene her seine Kraft spei�t "Lachen ist eine Urform der Übersetzung, indem es
an allen natUrliehen Sprachen teilhat und doch zu keiner von ihnen gehört. Seine
15
Niederschrift entspringt dem ursprünglichen, resistenten, erotischen Lachen, das
die Gesetze der Sprache bewohnt und ihnen von innen her widersteht."s
Ulrike Oudce Dünkelsbühler bezieht sich in ihrem Beitrag ,,Lengage der Libel
len'· schreibend-lesend-übersetzend, spracharbeitend und sprachpendelnd mitten in
jener Spannung, die sie mit einer Vielzahl von Figuren und Tieren et cetera benennt,
auf die "Revolte mit V.O.L. mitten im Wort"«>. Ausgehend vom Ruf der Medusa, in
die Schrift, ins Schreiben zu tauchen, darin zu fliegen, ist Ulrike Oudee Dünkels
bühler auf der Spur einer immer schon verqueeren Natur und Literatur, die Libelle
nämlich hat ihren Namen von einem "grässlichen Monsterfisch, genannt der Ham
merhai"1, um den herum noch weitere Bedeutungen schwimmen. Dünkelsbühler
setzt mit traumwandleciseher Sicherheit auf die Kraft jener halsbrecherischen Häu
tung, die wir von den Libellen lernen könnten, wären wir nur ebenso gewandt im
"Schwirr- und Rüttelflug"8 der Sprache.
In ihrem zweispaltig pluralen Text ,,Brechen/Schneiden wir rasch ab __ " be
fragt Esther Hutfless die Figur der Medusa eingangs "Ob s1e immer schon hässlich
war, als Ungeheuer geboren?" 9• In der Folge beleuchtet sie aus feministisch psy
choanalytischer Perspektive den patriarchalen Diskurs Freuds als exemplarischen
Diskurs über Weiblichkeit kritisch, und im Namen der ecriture feminine fordert
sie ,,Das Schöne da1f nicht mehr verboten sein. "10 Aus der poetischen und philoso
phischen S pannkraft beziehen die nebeneinander herlaufenden parallelen Texte das
Potential deutlicher und vielfaltiger Verweisungszusammenhänge, in denen Helene
Cixous' Medusa selbst steht.
Die ,,Flugschrift"" auf den Seiten 131 und 132 dieses Bandes greift das vielfältige
Motiv "der luftigen Schwimmcrin, der fliegenden Diebin"12 auf und ist prinzipi
ell aus dem Band herauszulösen und weiterzugeben: "Die Bewegungen dieser Oe
konstruktion rühren nicht von außen an die Strukturen. Sie sind nur möglich und
wirksam, sie können nur etwas ausrichten, indem sie diese Strukturen bewohoen"13,
schreibt Jacques Derrida in seinem Text Das Ende des Buches und der Arifang der
Schrift.
Eva Laquieze-Wanieks Beitrag "Von weißer Tinte zu Medusas Schlangen- Der
Frauen- und Subjektbegriff in Helime Cixous' Ecriture Feminine" arbeitet vom
Standpunkt der strukturalen Psychoanalyse die wichtigsten Kritikpunkte Helene
C'ixous' an den zentralen Konzepten jener psychoanalytischen Tradition heraus,
wie unter anderem die Kritik an der Phalluszentriertheit, an der Organisation des
Subjekts über den Mangel und an der Sublimierungstheorie. Cixous' Kritik wird
plastisch und zugleich selbst auch von Laquieze-Waniek kritisch beleuchtet: "Viel
leicht sollte man hier deshalb auch besser von einem weiblichen Schreiben mit
ohne Phallus sprechen?"'�
16
Silvia Stoller nähert sich in ihrem Beitrag "Warum lacht Medusa? Zur Bedeu
tung des Lachens bei Helene Cixous" dem Cixous'schen Essay mit den klassischen
philosophischen Theorien zum Lachen und kommt zu dem Ergebnis, dass sich
Cixous' Text keiner der vorhandenen Theorien klar zuordnen lässt. Für Stollers Un
tersuchung spielen Metaphern des Explosiven und Eruptiven eine zentrale Rolle,
um die befreiende und umwerfende Rolle des Lachens in Helene Cixous· Text zu
beleuchten: "[m)it der Metapher des Vulkanischen wird die Explosivkraft der fe
ministischen Subversion zusätzlich unterstrichen[.]"15 Auf diese Weise kann Silvia
Stoller zeigen, dass mit dem Lachenjene Zensur überschritten werden kann, die die
phallokratische Ordnung für das weibliche Geschlecht errichtet hat.
Elisabeth Schäfer befragt in ihrem Text "Und mich schüttelte eine [Medusa].
Fotographie eines Traumes" Helene Cixous' Kritik a n einem fundamentalen Man
gel als Konstitutivum ftlr das Subjekt, die Sprache und das Begehren auf experi
mentelle Weise und spricht sich fur eine Affirmation des Lachens und damit auch
des Körperlichen aus,"[... ] dass die Zeit in ihrem Werden den Charakter des Man
gels ablegt [...)".16
Dem Ruf der Medusa, jenem "Schreib!" nachzukommen- immer wieder- hat von
..
allem Anfang der Konzeption dieses Bandes ftlr uns Herausgeberinnen bedeutet,
notwendigerweise andere Stimmen herbeizurufen, um auf diese Weise den Ruf der
Medusa weiterzugeben- "Schreib!"- und andere einzuladen, vielfältige Zugänge
und Antworten auf diesen Ruf zu versammeln. Die Medusa ruft eine Vielstim
migkeit "Es ist unerläßlich, daß die Frau sich schreibt: daß die Frau von der Frau
ausgehend schreibt und die Frauen zum Schreiben bringt, [...]"Y Ein Schreiben,
das eine offene Genealogie begründet. Ein Schreiben, das ein Weiterschreiben he
rausfordert und anruft, das die Dimensionalität der Zeit überwindet, das das Ver
worfene aus der Zukunft ankommen lassen kann. Für alle, als alle und für keine_n
in besonders festen Grenzen. Schreiben vom gesellschaftlich Verdrängten und Ver
worfenen aus irritiert und queert, bewegt und schüttelt, :·otzfrecht und bricht- in
Lachen aus.
Schreiben heißt auch von anderen gelesen werden. Schreiben, Lesen, Lesen,
Schreiben ... die Prozesse sind nicht mehr zu trennen, sie changieren, sie gehen
ineinander über, entwickeln sich auseinander, ein wiederkehrender Rhythmus von
Schreiben, Lesen, Lesen, Schreiben ... Der Text bringt die Frau "auf die Welt, und
in die Geschichte", bringt sie hervor, "aus ihrer eigenen Bewegung heraus" .18 Teil
dieser Bewegung ist es ebenso, Texte verfügbar, zugänglich und lesbar zu machen,
herauszugeben, zu editieren, zu revidieren, korrigieren und lektorieren ... damit es
an ,,Mangeltexten" nicht mehr mangelt. Wir wollen sie alle lesen, die Kostbarkei-
17
ten, die verborgenen, verlorenen, (noch) nicht Obersetzten- in allen Sprachen, in
allen Zeichen, quer durch die Welt und durch die Geschichte. Herausgeben und
Ubersetzen, ein Schreiben und Lesen, das die Texte vervielfältigt, zirkulieren lässt,
sie aufeinander treffen und miteinander sprechen lässt, das Texte zuallererst zum
Fliegen bringt, wie Helene Cixous sagen wUrde. Die Herausgeber_in, Übersetzer_
in sowohl als Vogel als auch als Diebin'�, ste "stiehlt" die Texte der anderen, nicht
um sie sich anzueignen oder ihren Wert in bare Münze umzusetzen, sondern, um
sie wieder anderen zur Verfugung zu stellen, sie zu verbreiten, in ein Gespräch
miteinander zu bringen. Um sie weiterzuschreiben. Verschwenderisch, ohne Angst
vor Risiko, ohne Vorsicht- einfach schreibend. Der Text wird so zu einem Wachsen
und Wuchern, einem pcnnanenten Entstehen, manchmal auch Vergeben, ständig in
Bewegung, nicht länger gebunden an die Autor_in, an ein Mein Dein Ihres Unser
... ,,Es geht ihr nicht um sich selbst, der luftigen Schwimmerin, der fliegenden Die
bin."20
18
Anmerkungen
llelene CLXOUS, Das Lachen der Medusa, aus dem Französischen von Clau.dia Simma, in: Esther
HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabeth SCHÄFER (Hg.), Helene Cixaus. Das Lachen der Medusa
zusammen mit aktuellen Beiträgen. Wien: Passagen Verlag 2017 [2013), 55.
2 Gertrude POSTL, Eine Politik des Schreibens und des Lachens: Versuch einer historischen Konrex-
rualisier·ung von He/ene Cixous 'Medusa-Text. in: ebenda, 28.
3 Clau.dia SIMMA, Medusas diebische Vergnilgen, in: ebenda,77/78.
4 San MAN, Wb; Schreiben, Lust, in: ebenda, 83.
5 Elissa MARDER, Die Kraft der Liebe, in: cbenda, 89.
6 Ulrike Ou.dee DÜNKELSBÜHLER, Lengage der Libellen, in: ebenda, 103.
7 Ebenda, 114.
8 Ebenda, 112.
9 Esther HUTFLESS, Brechen/Seimelden w1r rasch ab_, in: ebenda, 12 1.
10 Ebenda, 123.
11 Folgende Zitate sind in die Flugschrift integnen und werden hiennit ausgewiesen: "Tou.t Ia nature e t in
oure." aus: HeleneCJXOUS, Un effet d'epine rose, in: dieselbe,LeRire de Ia Meduse et a11tre ironies, Pa
ris: Galilee 20 I 0, 23-35, hier: 32;"[...] Ia queen dequeers" aus: ebenda, 32; "Manmr!ßUberdie Möglich
ke iten des Mittels hinausgehen. Doch unbewußterweise." aus: HeleneCIXOUS,L 'Ange au secret, Paris:
Editions desFemmes 1991, 237; "lcannot livewith a single bodycutoffthe rcst." aus: HehlneCIXOUS,
What is it 0 'Clock, in: dieselbe, Stigmata. Escaping Texts, New York: Routledge 1998, 57-84, hier 75.
Texteinfall sowie graphische Gestaltung der Flugschrift: Estber Hutftess und Elisabcth Schäfer. Wir
danken Claudia Siroma fur den Hinweis auf eine .,lnterpu.nktionsweise" der Musik, die Atemzeichen,
und fllr das schöne Wort "Quecksilbrigkeit" sowie fllr vieles mehr, das in der Flugschrift mitschwingt.
Ausgehend von der Flugschrift entstand das Textprojekt von Esther Hutftess und Ehsabeth Schäfer, in
dem sie in kontinuierlichen Beitrtlgen fllr die Zeitschrift S11blin/mes versuchen den Begriff queer rur
die Philosophie, das politische Denken, dte feministische Theorie e1 cetera in neuer Weise produktiv
zu machen. Bisher erschienen: Estber HUTFLESS, Elisabeth SCHÄFER, Die Transience des Le
bendigen denken/ eine queere Philosophie versprechen, in: Subl nl
i mes. Philosophientn von unten. A
queer reviewedjoumal. #1, Wien 2012, 15-19; Esther HUTFLESS, Elisabeth SCHÄFER, Don� pur
up a bravefrontl Fragmente queentrAnarchien am Rand, an der Grenze, im Zwischen, in: Sublin/mes.
Philosophieren von unten. A queer reviewedjournal. #2, Wien 2013, 13-18. Download der Artikel
unter: http://sublinesblog.wordpress.com/.
12 Helene CIXOUS, Das Lachen der Medusa, aus dem Französischen von Claudia Simma, in: Esther
HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabetb SCHÄFER (Hg.), He/ene Cixous. Das Lachen der Medusa
zusammen mit aktuellen Beiträgen, Wien: Passagen Verlag 2017 [2013), 55.
13 Jacques DERRIDA. Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift, in: derselbe, Die drfference
Ausgewählte Texte, Stuttgan: Reclam 2004. 31-68, hier: 60/61.
14 Eva LAQUIEZE-WANIEK, Von weißer Time zu Medusas Schlangen- Der Frauen- und Subjek
tbegriff in He/ene Cixous' Ecri/1/re Feminine, in: Esther HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabetb
SCHÄFER(Hg.), Helene Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen, Wien:
Passagen Verlag 2017 [2013], 147.
15 Silvia STOLLER, Warum lacht Medusa? Zur Bedeutung des Lachens bei Helene Cixous, in: ebenda,
159.
16 Elisabcth SCHÄFER, Undmich schüttelte eine [Medusa}. Fotographieeines Traume.1, in: ebenda, 176.
17 lll!lene CIXOUS, Das Lachen der Medusa, aus dem Fran7.ösischen von Clau.dia Simma, in: eben da, 39.
18 Ebenda.
19 Ebenda, 55.
20 Ebenda.
19
Eine Politik des Schreibens und des Lachens:
Versuch einer historischen Kontextualisierung von
Helene Cixous' Medusa-Text
Gertrude Post!
Wie Uber diesen Text schreiben? Was sagt uns heute ein Text, geschrieben im Jahre
1975, schon damals von vielen kritisiert, heute von vielen vergessen oder als irrele
vant erklärt? Gleichzeitig aber auch ein Text, der von anderen mit nostalgischer
Verehrung immer wieder gelesen wird, der immer noch einen fixen Platz auf diver
sen Leselisten für Kurse über feministische Theorie einnimmt, ein Text, den die
backlash-, postfeminism-, trans- und inter- gezeichnete (immer noch) Feministin
des 21 sten Jahrhunderts konsultiert, wenn sie etwas von der Energie, dem Drive,
der Ironie, der Frechheit und Experimentierfreudigkeit der 70er Jahre auftanken
möchte.
Ja, natürlich, vieles ist passiert, seit Helene Cixous diesen Text schrieb. Women s
Studies wurde zu Gender Studies, das Wort "Feminismus" ist mittlerweile ein dis
kreditierender Ausdruck, die Sex/GenderTrennung ist lange passe, das Persönliche
ist immer noch politisch - wenn auch nur insofern, als der technologisch ausge
stattete Überwachungsstaat die Idee einer Privatsphäre immer absurder erscheinen
lässt, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht wurde nach der sozialen Konstruktion
zu einer Sache medizinischer Technologie, die Frauenbewegung ist keine "Bewe
21
Langsam. Es war einmal ... Es war einmal eine Zeit, in der die Debatte darum
ging, ob Frauen anders sprechen als Männer, anders schreiben als Männer ... Es war
einmal eine Zeit, in der ernsthaft die Frage diskutiert wurde, ob Frauen überhaupt
von sich aus sprechen oder schreiben; oder ob sie vielmehr nur sprechen oder sch
reiben, was in sie hineingelegt, von ihnen verlangt, erwartet wird. Es war einmal
eine Zeit, in der über "Frauen" und ,,Männer'' diskutiert wurde, in vielfacher Weise
... Und diejenigen, die "Frauen" diskutierten {als Körperwesen, begehrend, in Ih
rer Abwesenheit), sich jedoch weigerten "Frau" zu definieren, wurden des Essen
tialismus bezichtigt, als unpolitisch abgetan und als "Französinnen" bezeichnet. Und
jene, die ebenfalls über "Frauen" sprachen und vorgaben zu wissen, was "Frau" sei,
reklamierten fiir sich, die richtigen politischen Forderungen zu kennen, um Frauen
aus ihrer Unterdrückung zu befreien. Und dennoch ergab es sich, dass trotz der
Umsetzung vieler richtiger politischer Forderungen und des angeblichen Wissens
darum, was Frauen seien und wollen, Frauen immer noch weniger verdienen als
Männer, Frauen misshandelt, verkauft und ausgebeutet werden, Frauen ihre Körper
weiterhin als Sexobjekte zu Markte tragen und weiterhin für Kinder, Heim und
Herd zuständig sind, obwohl die meisten von ihnen dem Hausfrauendasein längst
entflohen sind. Vielleicht war es damals, als alles begann, doch nicht so abwegig,
über das Schreiben zu schreiben, das Schreiben als politischen Akt zu verstehen,
das Lesen im Sinne eines potentiellen Schreibens zu begreifen, politischen Wider
stand im Sinne sich ständig erweiternder, schreibender Yemetzungen zu fassen.
Was immer man/frau über Helene Cixous' Medusa-Text denken mag, es steht
außer Zweifel, dass es sich dabei um einen der wichtigsten und einflussreichsten
Texte in der Geschichte der feministischen Theorie handelt. Warum daher dieser
Text, verfasst im Jahre 1975, bislang immer noch nicht auf Deutsch existiert, ist
eines der großen Rätsel von Übersetzungsentscheidungen und der darin zum Aus
druck kommenden Ein- und Ausschlussverfahren bestimmter Nationalsprachen.
Feministinnen im deutschsprachigen Raum haben sich längst daran gewöhnt, den
Text entweder in englischer Übersetzung oder tm französischen Original zu ver
wenden. Das vorliegende Projekt versteht sich daher nicht ausschließlich im Sinne
einer Pragmatik der Zugänglichkeit. Vielmehr soll diese längst Uberfallige deutsche
Übersetzung von Helene Cixous' Schlüsseltext den Anlass bieten, darüber zu re
flektieren, worin die anhaltende Bedeutung des Medusa-Texts besteht. Es dürfte
Gründe dafur geben, dass er 20 I 0 auf Französisch neu aufgelegt wurde, ihm die
Ncw York University im September 2010 ein Symposium widmete, und er nun
endlich ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Reaktionen auf Cixous' Text sind heute so gespalten wie dazumal, mit dem
Unterschied, dass die Kritikerinnen heute die historische Entwicklung auf ihrer Sei-
22
te sehen. Für viele gegenwärtige Feministinnen ist der sogenannte französische Fe
minismus2- und
1 damit auch der Medusa-Text- historisch überholt, eine kurzlebige
Modeerscheinung, die frau mütlerweile nicht einmal mehr zu kritisieren braucht,
leere Provokation und philosophische Verirrung. Für Anhängerinnen von Cixous
hingegen ist "Das Lachen der Medusa" ein bleibendes Manifest der immer noch
nicht eingelösten feministischen Hoffnungen und Wünsche, ein Bekenntnis zur po
litischen Relevanz des Schreibens, der Sprache, der Ebene der Repräsentation. Die
neue Frau ist eine schreibende/sprechende Frau, und sie schreibt und spricht ihrer
eigenen Gesetzmäßigkeit, ihrer eigenen Ordnung zufolge - sie schreibt ihr Begeh
ren. Zugegeben, die neue Frau, welche Cixous im Medusa-Text zelebriert, hat sich
noch nicht ereignet, wir schreiben immer noch nicht "mit weißer Tinte". Aber das
Blau der alten Tinte hat mittlerweile etwas an Farbkraft verloren. Feministinnen
in den westlichen Ländern des 21. JahrhundertS finden sich in einem seltsamen,
nicht immer klar zu definierenden Dazwischen-vieles hat sich verändert seit 1975,
vieles ist gleich geblieben, vieles wird noch immer nicht gesehen, gesagt, gedacht,
bleibt im Unterirdischen, Verborgenen, Unbewussten ... Und es ist gcnau dieses
Dazwischen, das Cixous im "Lachen der Medusa" artikuliert.
Den Text allgemein zu charakterisieren ist schwierig. Versuche, ihn als Parade
beispiel für die ecriturefeminine zu lesen, greifen ebenso ZU kurz wie Hinweise auf
die thematische Nähe zu den frühen Arbeiten von Luce Irigaray und Julia Kristeva.3
Auch scheint es unzulänglich, in diesem Text nur das feministisch-politische Ma
nifest zu sehen, das er zweifelsohne darstellt. ,,Das Lachen der Medusa" ist weder
inhaltlich noch stilistisch klar festzulegen, vielmehr unterwandert der Text genau
jene Unterscheidung zwischen thematischen Inhalten und stilistischem Vorgehen,
so wie auch jene zwischen Schreiben und Lesen, Schrift und Sprechen, Philosophie
und Literatur, Theorie und Politik. Seine anhaltende Aktualität besteht gerade in der
Vielschichtigkeil der miteinander verwobenen Ebenen - feministisches Pamphlet,
Metaphysikkritik, eine neue Art des Philosophierens, ein Ausloten der sogenannten
weiblichen Erfahrung, Poesie, politische Utopie ... Es geht um Vieles in diesem
Text ... Dtes soll jedoch rucht dazu verleiten, ihn im Sinne eines Anything goes
zu interpretieren, und zu glauben, dass er in gut relativistischer Manier filr jedeln
etwas bereitstellen und somit jeder und jedem gerecht würde. Ganz im Gegenteil.
Das "Lachen der Medusa" ist-trotz seiner vielfältigen Schichten und Bezüge, oder
vielleicht gerade deshalb- ein klar gerichteter, sehr parteilicher, Position beziehen
der Text. Er ist ein radikaler politischer Text, auch wenn dies seine Kritikerinnen
immer wieder in Zweifel gezogen haben. Die politischen Implikationen des Texts
werden jedoch nur dann in ihrer gesamten Tragweite ersichtlich, wenn wir die ein
zelnen Ebenen oder Schichten in ihrer Interaktion miteinander erfassen. Den Text
23
ausschließlich als feministisches Manifest zu lesen, greift ebenso zu kurz wie in ihm
eine feministisch angereicherte Neuauflage von Derridas Ausführungen zur Schrift
oder eine Form körperbezogener Poesie zu sehen. Und es ist genau dieses Zusam
mengreifen und Einander-Bestimmen der einzelnen Elemente, wodurch der Text
Bedeutung produziert und seine (anhaltende) Bedeutung erhält. Aber es ist auch ge
nau diese Vielfalt miteinander verwobener Schichten, die das Lesen des Texts (als
auch das Schreiben darüber) zur Herausforderung werden lässt, insofern ein linear
fortschreitendes Lesen einer immer weiter ausholenden zirkulären Lesebewegung
Platz machen muss.
Als Beitrag zur feministischen Debatte war der Text auch bereits im Jahre 1975
eine Provokation. In einem Klima, in dem der vorherrschende feministische Dis
kurs sich auf "die Frauen" konzentrierte, verweigerte es Cixous (so wie übrigens
auch Irigaray und K.risteva), Frau zu definieren: "Aber allem voran muß gesagt sein,
daß es heutzutage (...] keine verallgemeinerbare Frau gibt, keine Frau die ein re
präsentativer Typus wäre."4 Und sie verweigerte es überdies, weibliches Schreiben
zu definieren: "Unmöglich eine weibliche Art des Schreibens zu definieren, das ist
von einer Unmöglichkeit die weiterbestehen wird, denn man wird diese Schreibart
nie theorisieren, umgrenzen, kodieren können, was nicht bedeutet, daß es sie nicht
gibt."5 Vielmehr ist "Das Lachen der Medusa" ein Vorexerzieren dessen, was weib
liches Schreiben bedeuten kann.6 Aus der Perspektive gegenwärtiger Diskussionen
ließe sich dieses Vorgeben als performativ bezeichnen- ein Konzept, das in vielem
auf Cixous zutrifft, jedoch 1975 noch nicht en vogue war. Und- und dies ist im Be
sonderen für den Medusa-Text erhellend Cixous nahm eindeutig Abstand davon,
Frau als Opfer oder als kastriertes Wesen zu begreifen. Patriarchale Misogynie ist
ihre Sache ebensowenig wie der Lacansche Topos von der Frau als Mangel-"[...)
nichts zwingt uns dazu, unsere Leben auf ihre Mangelbanken zu tragen [...]".7 Im
Medusa-Text geht es um das Zelebrieren einer neuen Frau der Zukunft und nicht
um die den Frauen im Laufe der Geschichte zugefügten Ungerechtigkeiten und Ver
letnmgen.8 Im Gegensatz zu vielen ihrer vor allem anglo-amenkamschen, feminis
tischen Kolleginnen jener Phase scheint Cixous relativ uninteressiert an der Frau
der Vergangenheit: "Es ist Zeit, die NEUE Frau von der ALTEN zu befreien (... ]."9
In diesem Sinne ist der gesamte Text als ein radikaler Entwurf der Frau der Zu
kunft zu lesen, als utopisch konzipierter Neubeginn- "[wir] stehen(...] am Anfang
einer neuen Geschichte, oder vielmehr am Anfang einer Entwicklung, wo mehrere
Geschichten einander durchdringen".10 Die Frauen des Medusa-Texts sind nicht pri
mär geprägt von den ihnen durch das Patriarchat zugefUgten Leiden, sie sind stark,
furchtlos, grenzüberschreitend, sich verausgabend, grenzenlos. "forauenstürmisch
sind wir [...]. Unsere Blicke Liehen davon, tmser Lächeln läuft, das Lachen all un-
24
serer Münder, unser Blut rinnt und wir verströmen uns ohne uns zu erschöpfen,
unsere Gedanken, unsere Zeichen, unser Schreiben, die halten wir nicht zurück,
und wir haben vor dem Mangel keine Angst."11 Es ist diese so erzeugte Stimmung
eines Aufbruchs, eines Wagnisses, einer subversiven Überschreitung, die fiir den
Medusa-Text charakteristisch ist. Sowohl dieser utopische Charakter als auch die
Betonung weiblicher Stärken (statt der hinlänglich bekannten Untt:n.h il�.-k ung der
Frau) setzen den Text deutlich ab von anderen feministischen Manifestationenjener
Zeit, die eine mögliche Befreiung von Frauen an deren Opferrolle banden.
Für viele von Cixous' Kritikerinnen war genau diese Aufbruchsstimmung, die
ses freche und lachende Sich-Hinwegsetzen Ober die politische Kleinarbeit sozialer
Veränderungsprozesse, das unerschütterliche Bekenntnis zur sexuellen Differenz,
das Insistieren auf der Bedeutung des Körpers und der Rolle des Unbewussten
fii r politische Befreiung, die Politisierung des Schreibens, das filr poststruktura
listisches Denken insgesamt typische, radikale lnfragestellen herkömmlicher philo
sophischer Grundkategorien, das Lachen und die Ironie des Medusa-Texts der Stein
des Anstoßes. Wider allen Erwartungen kreuzten die Fronten von Ablehnung und
Zustimmungjedoch sowohl die Achsen von analytischem und kontinentalem Den
ken als auch jene von französischem (oder poststrukturalistischem) versus anglo
amerikanischem Feminismus. Einige Vertreterirrne u des Kontinentalfeminismus
als berühmteste Beispiele seien Rosi Braidotti und Gayatri Chakravorty Spivak zu
erwähnen - standen Cixous ebenso kritisch gegenüber wie die französischen Mar
xistinnen der Zeitschrift Questions Feministes, so zum Beispiel Christine Delphy
25
sehe Einwände, als dieser Text wie kein anderer schlichtweg mit ecriture feminine
identifiziert wurde und somit für alle damit in Verbindung gebrachten Projektionen
und Missverständnisse gerade stehen musste. Diese Kritik ging von der Gleich
setzung von französischem Feminismus und ecriture feminine aus und behandelte
Cixous' Medusa-Text im Sinne des dazugehörigen theoretischen Programms.
So sah zum Beispiel ·roril M01 Cixous' Insistieren auf einer nicht biologischen
Verwendung der Ausdrücke "feminin" und ,,maskulin" von inhärenten Widersprü
chen durchzogen und konstatierte - in Bezug aufden Medusa-Text - eine "slippage
from ,feminine' to ,female' ."u Weiters monierte Moi, dass Cixous das Politische
dem Poetischen unterordne und dadurch Frauen auf das Imaginäre, auf Emotio
nalität und Intuition festlege, statt ihnen den Bereich des praktischen politischen
Handeins zuzuschreiben. Sie warf Cixous vor, ständig zwischen einem Dereida
schen Konzept von differance und einem metaphysischen Verständnis von Schrift
als Stimme, Präsenz und Ursprung zu lavieren. •• Ann Rosalind Jones wiederum
bezichtigte Cixous einer naiven Auffassung des weiblichen Körpers als totalisie
render Entität, unproblematisch begehrend und in gefahrlieber Nähe zu einer Glori
fizierung von Mutterschaft. Sie bezweifelte die von Cixous behauptete subversive
Kraft dieses weiblichen Begehrens und gab zu bedenken, dass ein solcherart begeh
render weiblicher Körper andere Aspekte weiblicher Erfahrung zum Verschwinden
bringen und der pragmatischen Seite politischer Veränderung jegliche Bedeutung
absprechen würde.15 Elaine Showalter diskutierte in ihrem für feministische Litera
turkritik äußerst einflussreichen Text "Ferninist Criticism in the Wildemess" Cixous
unter der Kategorie "organic or biological criticism" und fasste ihre Position als
.,anatomy is textuality" zusammen.16 Gayatri Spivak wiederum solidarisierte sich in
ihrer Kritik der- von ihr so bezeichneten - französischen anti-feministischen Femi
nistinnen mit den Autorinnen von Questions Feministes und kritisierte Cixous aus
Marxistbcher Perspektive. Sie warf h
i r überdies eine missverständliche, verkürzte
Übernahme De1Tidascher Gedanken vor.17 Und Rosi Braidotti - Cixous wesentlich
gewogener als die meisten anderen Kritikerinnen - machte auf einige strukturelle
Schwächen von Cixous' Texten aufmerksam, so zum Beispiel, dass das Insistieren
auf einer .,wedcr-noch"-Position oder Cixous' ständiges Shiften zwischen Positio
nen (ecarts) ein Ausweichen vor der zentralen Frage darstelle, wie wir das ausdrü
cken können, wofllr wir (noch) keine Sprache haben. Diese angebliche Weigerung,
sich der eigentlichen Herausforderung zu stellen, führe laut Braidotti dazu, dass
Cixous hauen mit Literatur und Männer mit dem Logos und der Philosophie iden
tifiziere und dadurch alre binäre Gegenüberstellungen perpetuiere statt sie zu über
winden}' Eine der wenigen ernsthaften Auseinandersetzungen mit Cixous' Medu
sa-Text im deutschsprachigen Raum ist die zwar kritische, aber sehr ausfuhrliehe
26
Untersuchung von Herta Nagl-Docekal. Anhand einer detaillierten Analyse der von
Cixous zugrundegelegten gegensätzlichen Begriffspaare versucht Nagl-Docekal zu
zeigen, dass die von Cixous (und anderen französischen Feministinnen) propagierte
Gleichsetzung von symbolischer Ordnung und "phallisch" problematisch sei, als
sie Frauen vor die Alternative stelle, entweder in ein Außerhalb gedrängt zu werden
oder sich eines als männlich bestimmten Schreibstils zu bedienen. Statt Frauen er
neut auf Körper, Sexualität und Mutterschaft festzulegen, solle es vielmehr darum
geben, "die Deutung der symbolischen Ordnung neu aufzurollen" und Frauen "ihre
Teilhabe an den menschlichen Kulturleistungen" zu sichern statt ihnen diese wie
derum abzusprechen.19
Ungeachtet der nicht unerheblichen Unterschiede zwischen Cixous' Kritikerin
nen sind ihnen entscheidende Fehleinschätzungen von Cixous' Texten (inklusive
des Medusa-Texts) gemein. Cixous zufolge sind weder das Konzept des Weiblichen
nochjenes einer ecriturefeminine in einem biologischen Sinn zu verstehen, sondern
immer schon vennittelt durch die Sprache, durch das Schreiben zu denken. Durch
Cixous' Schreibgestus werden traditionelle Gegensatzpaare wie Natur/Kultur, Ma
terie/Form, Körper/Geist, Körper/Sprache, Schrift/Sprechen, Literatur/Philosophie,
Unbewusst/Bewusst, Poesie/Politik et cetera in ihrem hierarchischen Aufeinander
Bezogensein dekonstruiert und somit auf eine völlig neue Ebene gestellt und mit
völlig neuen Bedeutungskonnotationen versehen. Der Einfluss J acques Derridas
auf das Denken von Helene Cixous wird genau an diesem Punkt am deutlichs
ten sichtbar- Derridas ,,Methode" folgend dekonstruiert auch Cixous die besagten
Dichotomien im Sinn einer Umkehrung und Verschiebung, wodurch sich ein Zwi
schenraum ergibt, welcher die einzelnen Elemente in neuer Bedeutung miteinander
in Beziehung setzt.20
Wenn daher Cixous über Körper und Sprache schreibt, so hat dies wenig mit
dem in metaphysische Dichotomien eingebetteten Körper zu tun aber auch wenig
mit einem Konzept von Sprache (in der Opposition von Sprechen/Schrift), die als
intellektuelle Funktion körperlichen Befindlichkeiten di:_:�metral gegenübergestellt
ist. Ausgedrückt in den Worten von Barbara Freeman: "Rather than ms1sting, as her
critics would have it, that the body is prior to writing, Cixous suggests that the body
is already in Operation wirhin it [... ] the body and writing are not linked causally,
but rather are correlates of each other [.. . ] not only is there no anatomy outside the
ext,
t but also there is no (feminine) text outside anatomy [...] Body and text [...] are
co-constitutive. The anatomical, the body, is already inhabited by writing, just as
writing, in order to exist as such, is alrcady inhabited by the body."21 Und sogar Rosi
Braidotti, in einer Diskussion von ecriturefeminine allgemein, gesteht zu, dass der
Körper nicht auf eine rein biologische Entität zu reduzieren ist: "I think it is crucial
27
to see that the ,body' in question in the ecriturefeminine movement is not a natural,
biologically detennined body, but rather a cultural artifact that carries a whole his
tory, a memory of coding and conditioning."22
Wenn K.ritierlnnen Cixous vorwerfen, dass sie Frauen auf den Körper, auf Irra
tionalität, auf Pathos, auf Literatur festschreibe, dann signalisiert dies ein grundle
gendes Missverständnis von Cixous' Projekt. Es gibt für Cixous keinen Geist ohne
Körper, keine Kultur ohne Natur, keine Philosophie ohne Poesie, und es gibt vor
allem keinen Körper ohne Sprache und keine Sprache ohne den Körper- Begehren
ist eine Form der Signifikation. Die sprachliche Intervention der Frau/des Weib
lichen wird nur dann möglich sein, wenn Sprechen und vor allem die Schrift in
einem körperbezogenen - und dies bedeutet immer schon in einem das Unbewusste
freisetzenden - Sinn gedacht wird. Und es ist genau dieses Körper-Schreiben, das
den Akt des Schreibens zu einem politischen Akt werden lässt - "[s)chreib Dich:
es ist unerläßlich. daß Dein Körper Gehör bekommt. Dann wird aus unermeßlichen
Quellen der Reichtum des Unbewußten hervorsprudeln. Unser Erdöl wird auf der
Welt, ohne Dollars Gold oder Schwarz, unkotierte Werte verströmen, die die Regeln
des alten Spiels verändern".23
Losgelöst von jeder Bindung an eine bestimmte Anatomie bezeichnet ecriture
feminine einen Schreibstil, der eine andere Ökonomie im Umgang mit der Sprache
und der Schrift einfUhrt; eine Ökonomie, die sich aus einem als weiblich bezeichne
tem Erfahrungshorizont speist, und dies bedeutet ein Erfahrungshorizont des Aus
schlusses, des Vergessens, der Verdrängung. "[... ] Schreiben (ist] bis heute auf viel
weitverbreitetere, repressivere Weise als man ahnt oder sich eingesteht, von einer
typisch männlichen libidinös kulturellen- und demzufolge politischen - Ökonomie
gesteuert worden (...] Von einem Ort aus, an dem [ ...] das Verdrängen der Frau
reproduziert worden ist [ ...), wo die Frau nie zu ihremWort gekommen ist."24 Diese
männlich bestimmte Ökonomie der Schrift, deckungsgleich ,,mit der Geschichte der
Vernunft"2\ wird nun einer anderen, "weiblichen" Ökonomie gegenübergestellt, die
nicht definiert werden kann, die jedoch notwendigerweise immer schon außerhalb
und jenseits eines phallozentrischen Sprachgebrauchs stattfindet.
Diese unterschiedlich gekennzeichneten Schreibstile folgen unterschiedlichen
Gesetzmäßigkeiten, anderen Ordnungen, einem anderen Umgang mit dem Körper
und dem Begehren. Das vernunft- und subjekt-zcntriert.e Schreiben der männlichen
Tradition erachtet Schrift als Veräußerung des Selbst und zu diesem wieder zu
rUckfuhrend. Der nicht zu definierende Stil der ecriturefeminine hingegen ist ein
Schreiben, das das Unbewusste freisetzt und den Körper spricht, das sowohl das
Andere als auch flir Andere schreibt. D1eser Stil orientiert sich am Geben, dem
Überfluss und der Verschwendung - und er unterscheidet nicht zwischen philoso-
28
phisehern Argument, politischer Proklamation und poetischer Ahnung. Dieser Stil
lässt sich nur von außerhalb des Systems erschließen, er kommt aus dem Dunklen,
dem Unbekannten und Unbewussten, aus dem Körper, vom Rande der Kultur, von
jenseits aller Autoritäten. Diese andere weibliche Ökonomie entspringt der Nicht
Zugehörigkeit, dem Ausgeschlossensein, sie repräsentiert das Fremde, Andere und
orientiert sich am Geben und nicht am Nehmen oder Verre�.-hue;:u. "Eine solche
, Ökonomie', die läßt steh mcht mehr in den Begriffender Ökonomie ausdrücken."26
Es geht daher bei einer "solchen Ökonomie" nicht um biologische Frauen, sondern
um ein anderes Verhältnis zwischen Körper und Sprache beziehungsweise Schrift
und damit einhergehend um ein anderes Verständnis von Politik. In ihrem Versuch,
einen biologisch fundierten Essentialismusvorwurf von vomherein abzuwenden,
verweist Cixous immer wieder auf jene männlichen Schriftsteller, die einer "sol
chen Ökonomie" des Weiblieben sehr nahe standen - allen voran Jean Genet, aber
auch Kleist, Kafka, Joyce ... Und im Gegenzug spricht sie von den Ausnahmen
schreibender Frauen, sieb selbst eingeschlossen: "denn es hat, sonst würde ich nicht
schreiben (ich-Frau, Überlebende), Ausrutscher gegeben in der Riesenmaschinerie
die sich dreht und ihre ,Wahrheit' seit Jahrhunderten wiederholt".2'
Weibliches Schreiben, fiir Cixous, ist ein Balanceakt, eine der anderen Ökonomie
folgende ständige Bewegung, die Unterschiede nicht verwischt oder verschmilzt,
sondern sie sichtbar werden lässt und dadurch in einen nicht-dialektischen, pro
duktiven Austausch überfuhrt - Unterschiede zwischen den etablierten Hierarchien
,
metaphysischer Gegensätze, aber auch jene zwischen dem Seiben und dem Ande
ren, oder den beiden Geschlechtern. Für letztere Variante wird der Begriff Bisexu
alität eingefiihrt, jedoch unter deutlicher Abgrenzung von seiner Verwendung im
Kontext der Psychoanalyse. Bisexualität bedeutet demnach fiir Cixous nicht nur
"das Zugegensein beider Geschlechter", sondern in erweiterter Anwendung des
sen auch die "Vervielfi!ltigung der Einschreibewirkungen des Begehrens, auf allen
Teilen meines und des anderen Körpers".28 Aus "historisch-kulturellen Gründen"
(nicht aus biologischen) steht die Frau dieser Auffassung von Bisexualität näher;
der Ausschluss aus dem phallozentrischen System gereicht thr also zum Vorteil,
ermöglicht ihr- sollte sie endlich zu schreiben beginnen - einen Umgang mit der
Schrift, der genau jene umwälzenden Veränderungen hervorbnngt, die Cixous mit
dem Schreiben verbindet.
Diese andere Ökonomie der Schrift kann jedoch die Konfronation
t mit "dem
System" nicht vermeiden. Aber statt den Ausschluss des Weiblichen zu betrauern
und eine Teilnahme am "System" einzufordern (gleiche Rechte, ihre Sprache spre
chen dürfen, ihren Standards entsprechen wollen, et cetera), inszeniert Cixous die
sen (Wieder)Eintritt der Frauen als einen kindlich-grotesken Aufmarsch, den "die
29
Ordnungshüter des Geschlechts" nur mit Mühe zurückhalten können: "Die Frauen
kommen von weither zurück: aus dem lmmerschon: aus dem ,Draußen', aus der
Heide wo die Hexen sich am Leben halten. Von unten, aus dem Diesseits der ,Kul
tur', aus ihren Kindheilen [. ].''29 Diese (Körper)-Wesen aus dem Draußen, aus dem
..
Unbewussten, aus dem Dunklen, aus Afrika ... sie können nicht länger kontrolliert,
im Zaum gehalten werden. D1ese Frauen sind keine Biustellerinnen, sie wollen
nicht Einlass ins System, sie wollen ein anderes System.
Und insofern "das System" in seinen Grundzügen immer noch das gleiche ist
wie in den 70er Jahren, die patriarchale Ökonomie des Auf- und Gegenrechnens
weiterhin erfolgreich sowohl das Denken, als auch die Sprache, den Körper, und vor
allem das Begehren strukturiert, ist Cixous' Radikalität von damals für jene, die sie
hören/lesen wollen, auch heute noch von nicht zu unterschätzender Relevanz. Nein,
in der gegenwärtigen Situation sind Frauen - zumindest in westlichen Ländern -
nicht länger gefangen in der Küche oder eingesperrt "in der engen Puppenstube
[...] wo man ihnen eine himtötende, mörderische Erziehung verpaßt hat".30 Aber
sie sind auch noch weit entfernt von jenen lachenden, stürmischen Frauen, die von
der Heide zurückkehren an jene Orte, an denen sie ohnehin immer schon waren.
Das von Cixous heraufbeschworene Zeitalter der vielstimmigen Gesänge und einer
Ökonomie der Gabe ist noch nicht angebrochen. ,,Hierarchisierender Austausch"
und "Ringen um Herrschaft" dominieren weiterhin das Geschehen. Aber "daß diese
Zeit noch eine Gegenwart besitzt, hindert die Frau nicht daran anderswo die Ge
schichte des Lebens zu beginnen".31
Cixous' "neue Frau" ist heute noch so aktuell wie 1975, sie spricht durchaus zu
gegenwärtigen Lcserlnnen. Nicht die "neue Frau" hat sich seit damals verändert
(sie ist immer noch Utopie) sondern die "alte" - gefangen in einem seltsamen Zwi
schenreich, ist sie heute weder voll gleichgestellt noch ist es ihr gestattet, anders zu
sein. Beurteilt aus der Perspektive des gegenwärtigen Stands feministischer Politik
und Theorie hat sich die von Cixous propagierte ganz andere Ökonomie - orientiert
an der Gabe. gespeist aus einer Libido des Körpers, ausgerichtet auf eine Vielfalt
des Ausdrucks und auf ein Gewährenlassen des anderen, kurz eine Ökonomie, die
sich nicht in Form hierarchisierter Oppositionen strukturiert - noch nicht ereignet.
Die nicht zu leugnenden seit 1975 gemachten Fortschritte im Hinblick auf die Situ
ation von Frauen lassen sich eher im Sinne einer Teilnahme am patriarchalen Sys
tem beschreiben denn als Überwindung desselben. Obwohl die Anfange der Frau
enbewegung durch eine Bandbreite politischer Forderungen gekennzeichnet waren,
haben sich im Bereich der Realpolitik letztendlich die Ansprüche des Gleichheits
feminismus durchgesetzt, welche darauf zielten, Frauen in das bereits bestehende
System einzubinden. Die rorderung nach einem Sichtbarmachen der Geschlechter-
30
differenz blieb eine Sache der Theorie. Aber vielleicht erklärt genau diese mangeln
de Radikaliät t der praktisch-politischen Umsetzung feministischer Forderungen die
gegenwärtige Schere zwischen tatsächlichen Erfolgen und Verbesserungen weibli
chen Lebens und eine weiterhin bestehende Grundstruktur von Herrschaft und Un
terordnung. Das Unbewusste, der begehrende Körper, eine andere Art zu schreiben/
sprechen, ein (philosophisches) Denken jenseits wertender Gegensat:.::paarc werden
als nicht politikfähig ignoriert, belächelt, im besten Fall dem Bereich der Ästhetik
überantwortet. In westlichen Ländern stehen Frauen heute alle Berufszweige offen,
sie können in die Politik und Wirtschaft einsteigen, sie sind Künstlerinnen, Schrift
stellerionen, Philosophinnen, sie haben Kinder oder auch nicht, sie können Frauen
lieben oder auch nicht, sie können sogar zu Männem werden ... Diese Fonsehrirre
täuschen jedoch oft darüber hinweg, dass der sogenannte öffentliche Diskurs, von
der Politik über die Wirtschaft bis hin zur Wissenschaft weiterhin fest in Händen
jener "Geschichte der Vernunft" liegt, die Cixous mit "männlich" identifiziert. Ein
Abweichen von etablierten Normen im Sprechen und Schreiben, von einem be
stimmten Konzept von Vernunft, ist höchstens für Literatur und Kunst gestattet
(und dort war es immer schon erlaubt), wird jedoch in anderen Bereichen schnell
als Irrationalität und "Unvernunft" abgetan und den üblichen Ausschlussprozessen
untel"\vorfen.
Helene Cixous wurde vorgeworfen, von der Politik auf die Poesie auszuweichen
und Frauen erneut auf die Literatur festzuschreiben. Aber so wie auch im Fall der
bereits diskutierten anderen Gegensatzpaare wird die Gegenüberstellung von Poli
tik und Poesie, von Literatur und Philosophie durch den dekonstruktiven Prozess
ebenfalls erschüttert. Ecriture feminine ist deshalb politisch, weil sie eine Art des
Schreibens vorgibt, die die alten Zuordnungen überschreitet. Um mit "weißer Tinte"
zu schreiben, um "das System" zu unterwandern, gilt es poetisch zu schreiben, mit
und durch eine Poesie des Körpers. "[E]ine weibliche Art des Schreibens [...] wird
immer über den, vom phallozentrischen System bestimmten Diskurs hinausfUhren.
Sie findet anderswo statt und wird anderswo stattfinden al: injenen Gebieten die der
phtlosophtsch-theoretlschen Herrschaft untergeordnet sind."32
Diese "weibliche Art des Schreibens", die "anderswo" stattfindet, steht immer
schon in einer Nähe zur Stimme, zu einem körperlich gelebten Sprechen. Auch an
diesem Punkt gilt es, nicht in Gegensatzpaaren zu denken. Die Stimme begleitet
das Schreiben, geht darin ei� und transfom1iert den geschriebenen Text zu einem
Klangkörper. Das Schreiben vollzieht sich im Zusammenspiel mit der Pcrforma
tivitäl und Musikalität des Sprechens, ein Ineinander-Verschränkt-Sein, das Eine ist
nicht ohne das Andere zu denken. In einem Gespräch mit Jacques Derrida äußert
sich Ilelene Cixous zur Rolle der Stimme für ihr Schreiben: "I have this need to Iet
31
myselfbe haunted by voices coming from my elsewheres that rcsonate through me.
I want to have voices [ ...] We both Iet the word take its flight: this release ofthe word
like the release of a bird or a breath: let go something that will have made a crossing
[ ... ) I have [ ...] the feeling of song, of music."33 Dem automatischen Schreiben der
Surrealisten vergleichbar schreiben die Stimmen hier den Text. Die Vermittlung
von Sprache und Körper wird hautnah, ste tst keme intelligible Wunschkonstrukti
on. Vielmehr forciert diese Nähe der Schrift zur Stimme, zur Musik, zum Gesang
eine Sprachauffassung im Sinne eines körperlichen Agicrens und nicht als ein vom
Sprechen losgelöstes, abstraktes System von Signifikanten. Die schreibende Frau
wird gleichermaßen zur Sängerin, Performerin, Tänzerin mitWorten. Abigail Bray
sieht gcnau in diesem Punkt die Materialität der Schrift: "[ ... ] writing is caught up
in the materiality ofa performing body. For Cixous the material texture of writing is
produced through and with the body [... ) writing demonstrates the impossibility of
sustaining the mind/body dichotomy."34
Und diese Art des Schreibens - obwohl an die neue Frau gebunden - ist weder
abgehobene theoretische Konstruktion noch pure politische Utopie. Vielmehr ist
diese Art des Schreibens sehr deutlich in einem weiblichen Erfahrungskontext ver
ankert (das Persönliche ist politisch35), nimmt Anleihen bei einem Spektrum weibli
cher Erfahrungsmomente im Umgang mit der Sprache. Die Frau ,"spricht' nicht, sie
wirft ihren bebenden Körper in die Luft, sie lässt sich gehen, sie fliegt, sie geht ganz
und gar in ihre Stimme ein, mit ihrem Körper unterstreicht sie lebend die ,Logik'
ihrer Rede; ihr Fleisch sagt die Wahrheit. Sie exponiert sich. Tatsächlich materiali
siert ste fleischlich was sie denkt, sie bedeutet es mit ihrem Körper".36
Auch dieser performative Aspekt des Sprechens,37 der - laut Cixous - immer
schon Eingang in die Schrift findet. beim Schreiben mitschwingt und sich so in
den Text einschreibt, ist nicht anatomisch bedingt. Als dieses fleischliche Zum
Ausdruck-Bringen, das Körper-Sprechen der Frau ist er das Ergebnis kultureller
Zurichrungen und historisch entwickelter Differenzen zwischen den Geschlechtern.
Der .,alten" Frau war es untersagt in der Öffentlichkeit zu sprechen, geschrieben
hat sie im Geheimen - "[w]eil Schreiben, das ist gleichzeitig zu hoch, zu groß fiir
Dich [ ...) Außerdem hast Du ja ein bißchen geschrieben, aber verstcckt".38 Diese
über Jahrhunderte tradierten Geschlechtsunterschiede im Umgang mit der Sprache,
die Erfahrungen im Umgang mit den Signifikanten, haben ihre Spuren hinterlassen
- Spuren, die fiir die Utopte der "neuen" Frau zu berücksichtigen sind, die Cixous
hineinwebt in das Bild der stürmischen, lachenden, schönen Medusengestalt Die
"neue" Frau nimmt sich die Sprache zurück, aber nicht jene des Mannes - die an
dere Ökonomie der ecriturefeminine ist gebunden an dte Geschichte des Sprechens
und Schreibens der Frau, sie ist ohne diese Geschichte nicht konzipierbar. Und es
32
ist nur unter Reflexion auf diese Geschichte möglich, dass sich die politische Di
mension der Perfonnativität von Sprechen und Schrift voll erschließen, "[...) als
die Schrift ja genau die Möglichkeit selbst der Veränderung ist, der Raum von dem
ausgehend ein subversives Denken sich aufschwingen kann [...]".39
Im Gegensatz zum männlichen Schreiben geht es in dieser Ökonomie nicht da
rum, sich durch den Akt des Schreibens zu veräußern und � o e::ine:: Mallifcstation
eigenen Denkens zu produz1eren, es geht nicht darum, den eigenen Namen an den
Text zu heften und so das Schreiben zu einer Erweiterung des eigenen Subjekts zu
degradieren, es geht nicht um ein Schreiben, das über die potentiellen Leserinnen
zum eigenen Selbst zurückfUhrt. Cixous' Auffassung von Schreiben strebt genau
in die entgegengesetzte Richtung: Bei diesem Schreiben, diesem "Raum, von dem
ausgehend ein subversives Denken sich aufschwingen kann" ist der Überschuss
und Überfluss gerichtet, es geht um eine Transgression von der Schreibenden zur
Leserin, wobei die Aufgabe der Leserin darin besteht, nun ihrerseits einen Text
zu schreiben, das Textgefuge fortzusetzen, sich an andere potentielle Leserlnnen/
Schreiberinnen zu richten. Dadurch steht der Prozess, der Schreibablauf im Vorder
grund und nicht das Produkt oder die Autorin. "Es ist unerläßlich, daß die Frau sich
schreibt: daß die Frau von der Frau ausgehend schreibt und die Frauen zum Schrei
ben bringt [...) Es ist unerläßlich, daß die Frau sich auf und in den Text bringt - so
wie auf die Welt, und in die Geschichte -, aus ihrer eigenen Bewegung heraus."40
Der Ausschluss der Frau aus der Geschichte der Schrift befabigt sie dazu (eher als
den Mann}, Schreiben in einem nicht selbst-bezogenen, nicht selbst-darstellenden
Sinn zu begreifen. Die Frau ist nicht kontaminiert durch die Schreibpraktiken der
abendländischen Kulturgeschichte. Nie ein Subjekt gewesen zu sein, erweist sich
in diesem Fall als ihre Chance - Sprache muss nicht m i mer aufs Neue dazu funk
tionalisiert werden, den eigenen Subjektstatus durch Abgrenzung vom Anderen zu
sichern. In Cixous' Auffassung vom Schreiben fallt die Trennung zwischen Selbst
und Anderem, es geht ganz generell darum, etablierte Barrieren zu überwinden
statt sie erneut zu festigen. "Zulassen daß Schreiben eben genau bedeutet (im) Da
ZWISchen zu arbeiten, die Entwicklung des Seiben und des Anderen zu befragen
ohne die nichts lebt [...] vielfaltig unerschöpflicher Weg aus tausend Begegnungen
und Verwandlungen des Seiben ins Andere und ins Zwischen [...) ..1 .'
Dieses Umdenken bezüglich der Produktion des Texts löst die enge Bindung von
Autorln und Text und macht so die oben beschriebene Generierung einer Vielfalt
von Texten möglich. Die Forderung, dass Frauen ftlr andere Frauen schreiben sollen,
führt zu einer Verbindung von Frauen über das Mittel des Texts. Eine horizontale
Vemctzung ersetzt die auflndividuation und Abgrenzung gegründete hierarchische
Strukturierung von Texten und wird so zu einem über das Schreiben vermittelten
33
Zusammenschluss- ein in unvorhersehbare Riebrungen sich entfaltendes, wuchern
des Textgeruge, das nicht mehr in Kategorien der Autorinnenschaft, der Zuordnung,
des Mein und Dein klassifiziert werden kann. Ein sich ständig verändernder Text
ohne Namen, ohne Fußnoten, ohne Zitiernachweise. Ein Text als sich fortsetzen
de Bewegung, als etwas, das sich weder vereinnahmen, identifizieren noch zählen
lässt, vergleichbar einem Musikstück, eim:m Gesang, einer Woge, einer Naturge
walt ... Kein unpolitisches Spiel mit Worten", sondern Politik auf anderer Ebene.
"
Dieses immer schon politische, andere Schreiben unterliegt nicht dem Zwang,
Recht zu haben, folgt nicht einer Logik von Prämissen und Schlussfolgerungen.
Dieses Schreiben ist assoziativ, sprunghaft, nicht systematisch, es versucht, emoti
onale und körperbezogene Schattierungen zu erfassen, es ist gleichzeitig Autobio
graphie, Kommentar, feministisches Manifest, politischer Traktat, philosophischer
Diskurs, Narration, Poesie und Gesang - ein schier undurchdringliches Gewebe
von Gatrungen und Stilen. Und es ist genau dieses Bezugsgefiecht, das die von
Cixous propagierte Textbewegung oder "Textkette" erst ermöglicht, da dadurch das
"Ein- und Aussteigen" in/aus einen/m Text gewährleistet ist. Nur ein sowohl stilis
tisch als auch argumentativ "offener Text" eignet sich dazu, von den Leserinnen
in Form eigener Texte fortgesetzt zu werden. Ein Text, der seiner eigenen, inneren
Logik entsprechend ein geschlossenes Ganzes bildet, lässt sich schwer fortsetzen
- er konstituiert ein vollendetes Werk, in das niemand Einlass finden kann. An
ders Cixous' Medusa-Text: Er besteht aus Brüchen, Sprüngen, entfaltet sich als lose
zusammengesetztes Gefilge, das beim Lesen Assoziationen, Querverbindungen,
eigene Erfahrungen, körperliche Erinnerungen evoziert statt diese zu verunmög
lichen oder aus dem Leseprozess auszuklammern. Er bietet das Material fUr einen
potentiell neuen Text an. Das Schreiben wird dann politisch - destruierend als auch
widerständig und kreativ gestaltend -, wenn der Prozess des Lesens nicht durch
passive Unterordnung und ein krampfhaftes Bemühen um Verstehen gekennzeich
net ist. Lesen ist für Cixous nicht nur ein rezipierender, aufnehmender Akt sondern
immer schon ein aktives Involviertsein, ein eigenes Gestalten, ein gemeinsames
Sprechen - das subversive Denken, von dem Cixous spricht, das in Schrift gefasste
subversive Potential des begehrenden weiblichen Körpers, welches in herkömmli
chen Konzeptionen des Politischen nie in Erscheinung treten durfte, ist nur durch
die Auseinandersetzung mit dem Anderen, und dies heißt notwendigerweise mit
dem "anderen Text", möglich.
Ein solcherart gemeinsam produzierter Text, der Austausch zwischen einem
Selbst und einem Anderen, zwischen Autorio und Leserln, manifestiert sich im Me
dusa-Text durch d1e über Personalpronomen zum Ausdruck gebrachte, sich ständig
verändernde Position der "Erzählerin". Vom "ich" zum "du" der direkten Anrede,
34
von "die Frauen" und "sie" (dritte Person plural) zum einschließenden "wir'' schöpft
die Autorio das
1 gesamte ihr zur Verfügung stehende grammatikalische Repertoire
aus, um so den Effekt nicht nur sich andauernd verändernder weiblicher Subjekt
positionen, sondern im Verlauf des Texts sich ständig wandelnder Beziehungen
zwischen Autorio und Leserinnen zu erzeugen.
Feministische Politik besteht nicht nur im Organisieren von Demonstrationen,
dem Sammeln von Unterschriften, Blog-Eintragungen, Slutwalks oder dem Okku
pieren öffentlicher Räume - Politik besteht auch im Okkupieren des Raums der
Schrift. Solange Frauen diesen Raum jedoch nur unter den Bedingungen bereits
eingeführter Standards erobern und an der Trennung zwischen Körper und Sprache,
Rede und Schrift, AutorIn und Leserio festhalten und den performativen Charakter
des Schreibens nicht wahrhaben, werden wir nie mit weißer Tinte schreiben42, nie
die Wahrheit vor Lachen biegen'3 und nie "die andere tausendsprachige Sprache
sprechen, die weder Mauer noch Tod kennt".44 Wenn es eine Zukunft des Feminis
mus gibt, oder einen Feminismus der Zukunft, dann nur unter RUckwendung auf
einen Text aus dem Jahre 1975.
35
Anmerkungen
10 Ebd., 47.
ll Ebd., 42.
12 für eine Zusammenfassung der Kritik an Hclene Cixous allgemein siebe Abigail BRAY, Helene
Cuous: Wr/lmg and Sexual Difference, New York: Palgrave Macmillan, 2004, 28-42.
13 Tori! MOl, Sexual!Textual Politics: Feminist Lfterary Theory, London, New York: Methuen, 1985,
113.
14 Ebd.. l l 9-126.
15 Ann Rosalind JONES, Toward an Understanding of "L 'Ecriture Feminine", in: Feminist Studies,
Band 7, Nr. 2, 1981, 247-263. Reprintcd in: Elaine SHOWALTER (llg.), Feminist Crilicism: Essays
on Women, Litera/ure, and Theory, New York: Pantheon Books, 1985, 252-255.
16 Elaine SHOWALTER, Feminist Criticism in the Wilderness, in: Critical loquiry, Band 8, Nr 2, 1981,
179--205; 187. Reprinted n i : Elaine SHOWALTER (Hg.), Fem nist i Cruicism. Essays on Women,
Literarure, and Theon•, New York: Pantheon Books, 1985.
17 Gayatri Chakravorty SPIVAK. French Feminlsm in an lmernationaf Frame, in: in Other Worfds.
Essays in Cultural Politics, New York, London: Methuen 1987, 134-153.
18 Rosi BRAIDOTTI, Patterns ofDissonance, New York: Routledge, 1991, 241-242.
19 Herta NAGL-DOCEKAL, Femimstische Phifosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Fank
furt!Main: Fischer, 2000, 100. Für eine frühe Studie zu Heli:ne Cixous im deutschsprachigen Raum
stehe auch Eva WANIEK, Helene Cixous. Entlang einer Theorie der Schrift Wien: Turia t Kant,
1993.
20 Ote Bezüge zwischen Cixous und Derricla sind zahlreich, von besonderer Relevanz fur .,Das La
eben der Medusa·• seten hier Oerridas Gegenüberstellung von Sprache und Schrift, von Prä!>CDZ und
Abwesenheit, sowie sein Konzept der Gabe erwähnt, welche allesamt von Ctxous im Hmblick auf
die Frage der Geschlechterdifferenz adaptiert werden. Zur genaueren Untersuchung der BezUge im
Denken von Cixous und Derrida siebe Elisabeth SCHÄFER. Die of f ene Seite der Schrift. J.D. und
II C. Cöte iJ Cote Wien: Passagen Verlag, 2008 sowie die Beiträge von Ulrike Oudee DÜNKELS
,
36
24 Ebd., 43.
25 Ebd.
26 Ebd., 60.
27 Ebd., 43.
t kann bis zueinem gewissen Grad als Vorläufer der späteren
28 Ebd., 49. Cixous' Konzept der Bisexualiät
Queer Theory angesehen werden.
29 Helene CIXOUS. Das Lachen der Medusa. a. a. 0., 41.
30 Ebd.
31 Ebd.,60.
32 Ebd., 47.
33 Helene ClXOUS, White Ink. Interviews on Sex, Texr and Politics, hg. von Susan Seilers, New York:
Columbia University Press 2008, 167. Zur Doppelbedeurung des franz. " voler" siehe den Anmer
kungsteil der Übersetzerio auf Seite 68 f.
34 BRAY, a. a. 0., 96.
35 "ln derFrauüberlagert die Geschichte aller Frauen ihre persönliche, die nalionale und internationale
Geschichte." (Helene CLXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 47)
36 Ebd., 45.
37 Angesichts der Bedcurung des perfonnativen Aspekts ftlr Cixous ist es erstaunlich, dass sich Judith
Butler - abgesellen von einem kurzen Hinweis auf Medusas Lachen in ihrer Diskussion des Seiben
und des Anderen - kaum mit Cixous auseinandersetzt Siehe Juditb BUTLER, Gender Trouble. Fe
minism and the Subversion ofldentity, New York, London: Routledge 1990, I 03.
38 Helene CIXOUS,Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 40 f.
39 Ebd., 43.
40 Ebd., 39.
41 Ebd., 48.
42 Ebd., 46.
43 Ebd., 53.
44 Ebd., 55.
37
Das Lachen der Medusa
Helene Cixous
Obersetzt aus dem Französischen von Claudia Simma
Ich werde über weibliche Schrift sprechen: darüber was sie bewirken wird. Es
ist unerläßlich, daß die Frau sich schreibt: daß die Frau von der Frau ausgehend
schreibt und die Frauen zum Schreiben bringt, zum Schreiben von dem sie unter
Gewaltanwendung ferngehalten worden sind, wie sie es auch von ihren Körpern
waren; aus denselben Gründen, kraft desselben Gesetzes, mit demselben todbrin
genden Ziel. Es ist unerläßlich, daß die Frau sich aufund in den Text bringt - so wie
auf die Welt, und in die Geschichte -, aus ihrer eigenen Bewegung heraus.
Vergangenheit darfnicht mehr zukunftsbestimmend sein. Ich bestreite nicht, daß
die Auswirkungen der Vergangenheit weiterbestehen. Aber ich weigere mich sie zu
bekräftigen indem ich sie wiederhole, ihnen etwas Unverrückbares zu verleihen das
einem Schicksal gleichkommt, Biologisches und Kulturbedingtes zu verwechseln.
Vorausschauen tut dringend Not.
Folgende Überlegungen, da sie sich in ein Gebiet vorwagen das in seiner eigenen
Entdeckung begriffen ist, sind notgedrungen von der Zwischenzeitlichkeit gezeich
net die wir leben; eine Zeit während derer das Neue sich vom Alten, und genauer
die Neue sich vom Alten ablöst. Deshalb, weil es keinen Ort gibt von dem eine Rede
ausgehen könnte, sondern einen tausendjährig verdorrten Grund den es zu spalten
gilt, hat was ich sage mindesten� zwei Seiten und zwei Ziele: ?erstören, in Trümmer
legen; das Unvorhergesehene vorhersehen, projizieren.
Ich schreibe dieses als Frau auf die Frauen zu. Wenn ich "die Frau" sage, spreche
ich von der Frau in ihrem unvermeidlichen Ringen mit dem klassischen Mann; und
von einer Frau die ein universales Subjekt ist und die Frauen zu ihrem/n Sinn/en
und ihrer Geschichte kommen lassen soll. Aber allem voran muß gesagt sein, daß es
heutzutage, und dies trotz der maßlosen Verdrängung die die Frauen im "Dunkel"
verhaftet gehalten hat, das man versucht sie als ihr Attribut anerkennen zu lassen,
keine verallgemeinerbare Frau gibt, keine Frau die ein repräsentativer Typus wäre.
Was die Frauen gemeinsam haben, das werde ich sagen. Aber was mir auffällt, ist
39
der unendliche Reichtum ihrer je einzelnen Wesensarten: man kann nicht von einer
weiblichen Sexualität sprechen, die gleichförmig, einheitlich, vorgegebene Stufen
durchliefe, nicht eher als von einem solchen Unbewußten. Die Vorstellungswelt
der Frauen ist unerschöpflich, wie Musik, Malerei, Schrift: die Schmelzflüsse ihrer
Vorstellungskräfte sind unerhört. Mehr als einmal war ich davon gebannt was mir
eine Frau aus ihrer ganz eigenen Welt beschrieb, die sie im Geheimen seit ihrer
frühesten Kindheit aufgesucht hat. Welt des Forschens, der Erarbeitung von Wissen,
ausgehend vom systematischen Erfahren der Funktionsweisen des Körpers, vom
genauen und leidenschaftlichen Befragen seiner Erogenität. Diese Art vorzugehen,
von außergewöhnlichem Erfindungsreichtum, insbesondere was die Masturbation
betrifft, setzt sich in der Erzeugung von Formen fort oder ist von ihr begleitet, in
einer wahrhaft künstlerischen Tätigkeit. Jede Phase des Genießens schreibt sich
als Klangbild ein, als Komposition, als etwas Schönes. Schönheit wird nicht mehr
verboten sein. Also WÜnschte ich mir, daß sie schreibt und dies einzigartige Imperi
um bekanntgibt Damit andere Frauen, andere uneingestandene Hoheiten, ausrufen:
auch ich gehe über, meine Begehren haben neue Begehren erfunden, mein Körper
kennt noch ungehörtes Singen, auch ich habe mich so oft zum Bersten voll mit
reißend leuchtenden Strömen gefühlt, mit Formen die an Schönheitjene weit über
treffen die sich eingerahmt verkaufen fiir die ganze stinkende Gelderei. Und ich
habe auch nichts gesagt, ich habe nichts sehen lassen, ich habe den Mund nicht auf
gemacht, ich habe meine Hälfte der Welt nicht neu gemalt. Ich habe mich geschämt.
Ich hatte Angst und habe meine Scham und meine Angst hinuntergeschluckt. Ich
habe mir gesagt: du spinnst ja! Was soll denn dieses Heraufdrängen, dieses Überge
hen, dieses Aufwallen? Welch brodelnde und grenzenlose Frau hat sich nicht ihrer
Kraft geschämt, in ihre Naivität versunken wie sie es war, vom großen elterlich
ehelich-phallogozentrischen Griff in Obskurantismus und Selbstverachtung festge
haltcn? welche hat sich nicht angeklagt ungeheuer zu sein, bestür7t und entsetzt
vom unheimlichen In-ihr-Umgehen ihrer Triebe (denn man hat sie glauben lassen,
daß eine gut geregelte, normale Frau von ... göttlicher Ruhe ist)? welche, die eine
seltsame Lust (zu singen, zu schreiben, von sich zu geben, kurz Neues aus sich
hervorgehen zu lassen) verspürte, hat sich nicht krank gewähnt? Ihre schändliche
Krankheit besteht aber darin, daß sie dem Tod Widerstand leistet, und daß sie gro
ßes Kopfzerbrechen verursacht.
Und warum schre1bst Du nicht? Schreib! Schrift ist fiir Dich, Du bist fiir Dich,
Dein Körper ist Dein, nimm ihn. Ich weiß warum Du nicht geschrieben hast. (Und
warum ich nicht geschrieben habe bevor ich siebenundzwanzig war.) Weil Schrei
ben, das ist gleichzeitig zu hoch, zu groß fiir Dich, das ist den Großen vorbehalten,
das heißt den .,großen Männem"; das sind "Dummheiten". Außerdem hast Du ja ein
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bißeben geschrieben, aber versteckt. Und es war nicht gut, aber das ist weil es ver
'
steckt war, und weil Du Dich dafilr, daß Du geschrieben hast bestraft hast. Weil Du
es nicht zu Ende geftlbrt hast, oder dann weil unwiderstehlich Schreiben, so wie wir
uns im Geheimen masturbiert haben, nicht da war um weiter zu gehen, sondern um
die Anspannung ein bißeben zu lockern, gerade soviel, daß das Übervolle zu quälen
aufhört. Und dann, sobald man gekommen ist, ftlhlt man sich schnell schuldig- da
mit einem vergeben wird oder um zu vergessen, zu begraben, bis zum nächsten Mal.
Schreib, niemand soll Dich zurückhalten, nichts soll Dich aufhalten. Weder
i der die Verlagshäuser listig und
Mann, noch blöde kapitalistische Maschinerie n
unterwürfig die Imperative einer Wirtschaft vertreten die gegen uns und auf unsere
Kosten funktioniert, noch Du selbst.
Wirkliche Texte von Frauen, Texte mit Frauengeschlechtem, das macht ihnen
keine Freude, das macht ihnen Angst, davor graust ihnen. Leserfratzen, Kollek
tionsleiter und throne nde Direktoren.
Ich schreibe Frau: es ist unerläßlich, daß die Frau die Frau schreibt. Und der
Mann den Mann. Hier wird man demzufolge nur beiläufige Überlegungen Richtung
Mann finden, denn es ist an ihm, zu sagen wie es für ihn um seine Männlichkeit und
seine Weiblichkeit bestellt ist: das wird uns dann etwas angehen, wenn die Männer
die Augen aufgemacht haben werden um sich anzusehen.1
Die Frauen kommen von weither zurück: aus dem Immerschon: aus dem "Drau
ßen", aus der Heide wo die Hexen sich am Leben halten. Von unten, aus dem Dies
seits der "Kultur", aus ihren Kindheiten die man mit so großer Mühe versucht sie
vergessen zu machen, die man zum in pace verdammt. Eingemauert die kleinen
Mädchen mit den "ungezogenen" Körpern. Konserviert, von sich selber unberührt,
im Eis. Frigidifiziert. Aber wie es da drunter wimmelt! Was für Anstrengungen
sie unternehmen müssen, immer wieder von Neuem, die Ordnungshüter des Ge
schlechts, um der drohenden Rückkehr den Weg abzuschneiden. Sowohl auf der
einen als auch auf der anderen Seite, ein solches Aufgebot aller Kräfte, daß dieses
Ringen Jahrhunderte lang im zitternden Gleichgewicht eines toten Punkts stillge
standen hat.
Da kommen sie wieder, sie die immer schon Kommenden: denn das Unbewußte
kann nicht bezwungen werden. Sie sind im Kreis herumgeirrt in der engen Pup
penstube wo man sie eingelocht, wo man ihnen eine himtötende, mörderische Er
ziehung verpaßt hat. Es ist so, einkerkern, bremsen kann man, man kann mit dem
Trick der APARTHEID allzu lange Zeit Erfolg haben, aber nicht die ganze Zeit.
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Man kann ihnen, sobald sie zu reden anfangen, mit ihrem Namen zugleich beibrin
gen, daß ihr Reich schwarz ist: weil du Afrika bist, bist du schwarz. Dein Erdteil ist
schwarz. Schwarz ist gefährlich. Im Dunkeln siehst du nichts, hast du Angst. Beweg
dich nicht, sonst flillst du. Geh aufkeinen Fall in den Wald. Und den Schrecken vor
dem Dunkel, den haben wir verinnerlicht.
An den Frauen haben sie das ��.-hwer�te aUer Verbrechen verübt: sie haben sie un
merklich, gewaltsam, dazu gebracht die Frauen zu hassen, ihre eigenen Femdmnen
zu sein, ihre unermeßliche Kraft gegen sich selbst aufzubieten, die Handlangerin
nen ihrer männlichen Schmutzarbeit zu sein.
Sie haben ihnen einen Antinarzißmus erfunden! einen Narzißmus der sich nur
liebt indem er sich dafiir Liebkind macht, was man nicht hat! Sie haben die beschä
mende Logik der Antiliebe fabriziert.
Wir die zu früh Gekommenen, wir die von der Kultur Verdrängten, die schönen
Münder von Knebeln verbarrikadiert, Blütenstaub, Atem durchgetrennt, wir die La
byrinthe, die Leitern, die mit Füssen getretenen Räume, wir die Bestohlenen - wir
sind "schwarz" und wir sind schön.
Frauenstürmisch sind wir, was unser ist löst sich von uns ab, ohne daß wir fürch
teten dadurch geschwächt zu sein. Unsere Blicke ziehen davon, unser Lächeln läuft,
das Lachen all unserer Münder, unser Blut rinnt und wir verströmen uns ohne uns
zu erschöpfen, unsere Gedanken, unsere Zeichen, unser Schreiben, die halten wir
nicht zurück, und wir haben vor dem Mangel keine Angst.
Glück mit uns, den Übergangenen, den von den Erbschaftsszenen Ferngehaltenen
wir inspirieren uns und expirieren ohne den Atem zu verlieren, wir sind überall!
Wir, die immer schon Angekommenen, wer kann uns schon, künftig, wenn wir
sprechen, den Mund verbieten?
Es ist Zeit, die NEUE Frau von der ALTEN zu befreien, sie zu kennen und dafür
zu lieben, daß sie davonschießt, daß sie die ALTE ohne Zögern hinter sich äßt,
l und
dem entgegenkommt was die NEUE sein wird. So wie die Pfeilige von der Sehne
schnellt und in einem Schuß die Schwingungen musikalisch zusammenrafft und
sondert, um mehr als nur ein selbst zu sein.
Ich sage es ist unerläßlich: denn es hat noch, bis auf ein paar seltene Ausnahmen,
keine Schrift gegeben die Weiblichkeit einschreibt. So selten diese Ausnahmen, daß
man, wenn man die Literatur nach Zeiten, Sprachen und Kulturen2 durchstreift, nur
bestürzt von diesem beinah gänzlich fruchtlosen Beutezug zurückkehren kann. Es
ist allbekannt, daß die Zahl der schreibenden Frauen (obwohl sie ab dem 19. Jahr
hundert leicht, sehr leicht, angestiegen ist) immer lächerlich klein war. Nutzloses
und irreführendes Wissen, wenn man von diesen Schreibenden nicht zuerst einmal
die riesige Mehrzahl jenerabzieht, deren Schreibweise sich in nichts von der männ-
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liehen Schrift unterscheidet, die die Frau entweder im Dunkeln läßt, oder die klassi
.
sche Art die Frau vorzustellen nachbildet (sensibel-intuitiv-träumerisch, etc.).l
Ich mache hier eine Klammer auf: ich meine wie ich sage männliche Schrift.
Ich vertrete unzweideutig die Auffassung, daß es gezeichnete Schriften gibt; daß
Schreiben bis beute aufviel weitverbreitetere, repressivere Weise als man ahnt oder
sich eingesteht, von einer typisch männlichen libidinös kulturellen - und dern:wfol
ge politischen - Ökonomie gesteuert worden ist. Von einem Ort aus, an dem, mehr
oder minder bewußt, das Verdrängen der Frau reproduziert worden ist, und dies
auf sehr geflihrliche weil oft nicht wahrnehmbare, oder dann von der trügerischen
Verfuhrungskraft der Fiktion überspielte Weise. Von einem Ort aus, der undifferen
ziert alle Anzeichen fur Gegensätzlichkeit (und nicht die für Unterschiedlicbkci
ten) zwischen den Geschlechtern mitgetragen hat und wo die Frau nie zu ihrem
Wort gekommen ist. Was um so schlimmer und unverzeihlicher ist als die Schrift
ja genau die Möglichkeit selbst der Veränderung ist, der Raum von dem ausgebend
ein subversives Denken sich aufschwingen kann, Bewegung, welche Vorbotin einer
Umgestaltung der sozialen und kulturellen Strukturierungen ist.
Beinah die ganze Geschichte der Schrift deckt sich mit der Geschichte der Vernunft,
deren Ergebnis, deren Hilfskraft und deren bevorzugtes Alibi sie gleichzeitig ist.
Die Schrift ist eins gewesen mit der phallozentrischen Tradition. Sie ist sogar der
sich selbstgeflillig musternde Phallozentrismus, der sich aufdie Schulter klopft.
Mit Ausnahmen: denn es hat, sonst würde ich nicht schreiben (ich-Frau, Über
lebende), Ausrutscher gegeben in der Riesenmaschinerie die sich dreht und ihre
"Wahrheit" seit Jahrhunderten wiederholt. Es hat Poeten gegeben, die da waren,
um jeden Preis etwas der Tradition nicht Homogenes durchzuschmuggeln. Män
ner, fahig die Liebe zu lieben und demzufolge die Anderen zu lieben und sie zu
wollen, die Frau zu denken die dem Zermalmtwerden Widerstand leisten und zwn
stolzen, gleichberechtigten Subjekt würde, die also "unmöglich", unhaltbar, war im
bestehenden sozialen Rahmen. Diese Frau konnte der Poet nur wollen, wenn er die
kodierten Gewohnheiten zerschlug die sie verleugnen. Ihr Auftauchen würde not
wendigerweise, vielleicht nicht eine Revolution - denn die Festung stand unabän
derlich -, so doch erschütternde Explosionen mit sich bringen. Manchmal geschieht
es übrigens, daß der Poet in der Bresche die ein Erdbeben schlägt, im radikalen
Wandel der Dinge, der dadurch veranlaßt ist, daß sie materiell zusammenstürzen,
wenn alle Strukturen vorübergehend orientierungslos sind und etwas flüchtig Wil-
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des die Ordnung hinwegfegt, - daß der Poet in diesem befristeten Zeitraum etwas,
das Frau ist, durchschmuggelt. Das hat Kleist getan, bis er gestorben ist am Wunsch,
daß die Schwestergeliebten, die Tochtennütterlichen Mutterschwestern leben sollen
die sich nie haben unterwerfen lassen. Dann, sobald die Justizpaläste wieder aufge
richtet sind, muß bezahlt werden: sofortige und blutige Hinrichtung jener unkon
trollierbaren Elemente.
Nur Poeten, nicht Romanschriftsteller die solidarisch sind mit klassischer Reprä
sentation. Poeten, weil Poesie ja nichts anderes ist, als Kraft aus dem Unbewußten
schöpfen und weil das Unbewußtc, dies andere Land ohne Grenzen, der Ort ist wo
die Verdrängten überleben : die Frauen oder, wie Hoffmann sagen würde, die Feen.
Es ist unerläßlich, daß sie sich schreibt, weil das Erfinden einer neuen, aufrühr
erischen Schrift es ist, was es ihr erlauben wird, wenn der Moment ihrer Befrei
ung gekommen ist, die erforderlichen Durchbrüche und Umgestaltungen in ihrer
Geschichte vorzunehmen und das auf zwei untrennbar miteinander verbundenen
Ebenen:
a) individuell: indem sie sich schreibt, wird die Frau auf ihren Körper zurUck
kommen, den man ihr mehr als beschlagnahmt hat, aus dem man den unheimlichen
Fremden im Heim gemacht hat, den Kranken oder Toten, und der so oft ein schlech
ter Gef
ährte ist, Grund und Ort der Hemmungen. Wenn man den Körper zensuriert,
zensuriert man gleichzeitig den Atem, das Wort.
Schreib Dich: es ist unerläßlich, daß Dein Körper Gehör bekommt. Dann wird
aus unermeßlichen Quellen der Reichtum des Unbewußten hervorsprudeln. Unser
Erdöl wird auf der Welt, ohne Dollars oder schwarzes Gold, unkotierte Werte ver
strömen, die die Regeln des alten Spiels verändern.
Schreiben, ein Akt der nicht nur das ent-zensurierte Verhältnis der Frau zu ih
rer Sexualität, zu ihrem Frausein "in Wtrklichkeit umsetzen" und ihr den Zugang
zu ihren eigenen Kräften wieder öffnen wird. Der ihr ihre GUter, ihre Lüste, ihre
,
Organe, ihre riesigen unter Verschluß gehaltenen Körperreiche zurückgeben und
sie der Überichstruktur entreißen wird, in der man ihr den immer selben Platz der
Schuldiggesprochenen zugewiesen hat (schuldig in allem, in jedem Falle: Verlan
gen zu empfinden, kein Verlangen zu empfinden; frigid zu sein, zu "heiß" zu sein;
nicht beides gleichzeitig zu sein; zu sehr Mutter zu sein und nicht genug; Kinder zu
haben und keine Kinder zu haben; zu nähren und nicht zu nähren ...). Der sie dieser
Überichstruktur durch ebenjene forschungs- Analyse- und Erleuchtungsarbeit ent
reißen wird, durch jenes Freisetzen ihres eigenen wunderbaren Textseins, das sie
dringendst sagen lernen muß. Eine Frau ohne Körper, eine Verstummte, eine Blin
de, kann keine gute Mitstreiterio sein. Sie ist zur Bediensteten, zum Schatten, des
männlichen Widerstandskämpfers herabgesetzt. Diese falsche Frau die die Lebende
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am Atmen hindert muß man umbringen. Den Atem der ganzen Frau einschreiben;
b) ein Akt auch welcher das zu WORTKOMMEN der Frau, und demzufolge ih
ren schmetternden Einritt in die GESCHICHTE anzeigen wird, die sich immerfort
auf ihrer Verdrängung gegründet hat. Schreiben um sich die Waffe des Antilogos
zu schmieden. Um endlich teilzunehmen und nach ihrem Wohlgefallen initiativ zu
werden, für ihre eigenen Rechte, in jedem symbolischen System, in jedem politi
schen Prozeß.
Es ist Zeit, daß die Frau ihre Coups landet, in der geschriebenen und in der ge
sprochenen Sprache.
Jede Frau hat die Qual des Zum-gesprochenen-Wort-Kommens erfahren, das
Herz das zum Zerbersten klopft, manchmal den Absturz in die Sprachlosigkeit,
Boden, Sprache die unter ihr nachgeben. Sosehr ist in der Öffentlichkeit sprechen
- ich würde sogar sagen: in der Öffentlichkeit den Mund aufmachen - für die Frau
ein Wagnis, eine Transgression. Doppelte Qual, denn selbst wenn sie die Transgres
sion wagt, f
ällt ihr Wort beinah immer ins taube männliche Ohr, das in der Sprache
nur hört was männlich spricht.
Von den Frauen her und auf sie zuschreibend, und indem sie die Herausforderung
der vom Phallus geftlhrten Rede annimmt, wird die Frau die Frau anders bestätigen
können als auf dem Platz der hr
i im und vom Symbol vorbehalten ist, dem des
Schweigens nämlich. Sie soll aus der Schweigefalle heraustreten. Sie soll sich nicht
ein Randgebiet oder den Harem als Hoheitsgebiet andrehen Jassen.
Hör zu wie eine Frau n
i einer Versammlung spricht (wenn sie nicht schmerzlich
den Atem verloren hat): sie "spricht" nicht, sie wirft ihren bebenden Körper in die
Luft, sie läßt sich gehen, sie fliegt, sie geht ganz und gar in ihre Stimme ein, mit
ihrem Körper unterstreicht sie lebend die "Logik" ihrer Rede; ihr Fleisch sagt die
Wahrheit. Sie exponiert sich. Tatsäeblich materialisiert sie fleischlich was sie denkt,
sie bedeutet es mit ihrem Körper. Auf gewisse Weise schreibt sie ein, was sie sagt,
weil sie dem Trieb sein undisziplinierbares und leidenschaftliches Teilhaben am
Wort nicht abspricht. Ihre Rede, auch wenn sie ,,theoretisch" oder politisch ist, ist
nie einfach oder gradlinig, oder "objektiv" verallgemeinernd: die Frau bringt ihre
Geschichte in die Geschichte mit ein.
Da ist diese Abgeschnittenheil nicht, dtcse Trennung die der Mann gemeinhin
zwischen der Logik der gesprochenen Rede und der Logik des Textes vornimmt,
versteift wie er ist, auf sein althergebrachtes, berechnendes und ihn knechtendes
Verhältnis zur Kontrollnahme. Daher diese Engherzigkeit in der Rede, die Lippen
bekenntnis ist und nur den kleinsten Teil des Körpers plus die Maske mit aufs Spiel
setzt.
Im Wort der Frau wie in der Schrift hört nie auf rnitzuklingen, was, weil es uns
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einst durchdrungen, unmerklich tiefberührt hat, die Fähigkeit behält uns zu bestim
men, das Singen, die erste Musik, die der ersten Liebesstimme, diejede Frau leben
dig bewahrt. Wie erklärt sich dies besondere Verhältnis zur Stimme? Dadurch, daß
keine Frau so viele triebfeindliche Abwehrmechanismen anhäuft wie ein Mann. Du
befestigst nicht, Du vermauerst nicht wie er es tut, Du hältst Dich nicht so "vorsich
tig" von der Lust fern. Auch wenn das phallische Trugbild iu den meisten Fällen
die guten Verhältnisse getrübt hat, ist die Frau nie weit entfernt von der "Mutter"
(die ich hier jenseits vom Rollenspiel meine, ,,Mutter" als Nicht-Name und als Ur
sprung des Guten). Immer besteht in ihr wenigstens ein bißeben gute Muttermilch
weiter. Sie schreibt mit weißer Tinte.
Frau fiir Frauen: in der Frau hält sich immer etwas von jener Kraft die Ande
re hervorbringt und von Anderen hervorgebracht wird, von der Kraft der anderen
Frau vor allem. ln ihr, urformend, wiegend-gebend, sie selbst ihre Mutter und ihr
Kind, sie selbst ihre Tochter-Schwester. Du sagst: und was ist mit der hysterischen
Ausgeburt einer schlechten Mutter? Das alles wird sich ändern, wenn die Frau der
anderen Frau die Frau geben wird. In ihr, verborgen, immer bereit, ist Ursprung.
Und Raum für Andere. Auch die Mutter ist eine Metapher: es ist unerläßlich und es
reicht schon, daß der Frau von einer anderen das Beste ihrer selbst gegeben wird
damit die Frau sich lieben und in Liebe den Körper der ihr "geboren" ist wiederge
ben kann. Du, wenn Du es willst, berühr mich, herz mich, gib mich, Du Lebende
ohne Namen, sei ich selbst und liebe mich wie ich selbst liebe. So wenig wie die
Verbindung zur Kindheit (Kind das s1e war, das sie ist, das sie macht, wieder macht,
auseinanderdröselt, an dem Ort wo, sie selbst, sich andert) ist die Verbindung zur
,,Mutter" aus Köstlichkeiten und Gewalten, abgerissen. Text, mein Körper: Que
rung aus singenden Schmelzgüssen; hör und versteh mich, das ist nicht eine kleb
rige, bindende "Mutter". Es ist, Dich berührend, die mehrdeutige Vielstimme die
Dich bestimmt, die Dich von Deiner Brust aus dazu drängt zur Sprache zu kom
men, die Deine Kraft aufkommen läßt. Es ist der Rhythmus der Dir zulacht, ioners
ter Empfänger, der alle Metaphern möglich und begehrenswert macht, Körper (der?
die?), nicht beschreibbarer als Gon, die Seele oder das ANDERE. Es ist der Teil
Deiner selbst der in Dieb dringt, Dich beraumt und Dich dazu drängt in die Sprache
Deinen Frauenstil einzuschreiben. In der Frau gibt es immer mehr oder weniger
Mutter die wieder gutmacht und nährt, und der Trennung widersteht. Eine Kraft die
sich nicht durchtrennen läßt, sondern die die kodierten Regeln außer Atem bringt.
Wir werden die Frau von allen Formen und Zeiten ihres Körpers ausgehend neu
46
erdenken. "We are a/1 /esbians", erinnern uns die Amerikanerinnen, was bedeutet,
erniedrige nicht die Frau, tu ihr nicht was sie Dir getan haben.
'
Weil ihre Trieb"ökonomie" verschwenderisch gebend ist, kann sie, wenn sie das
Wort ergreift, gar nicht nicht alle aufmännlicher Sparsamkeit gegründeten Tausch
systeme direkt und indirekt abwandeln. Ihre Libido wird weit radikalere politische
und soziale Umgestaltungen bewirken als man denken möchte.
Weil ste aus dem Immerschon zu uns stößt, lebendig, stehen wir am Anfang ei
ner neuen Geschichte, oder vielmehr am Anfang einer Entwicklung, wo mehrere
Geschichten einander durchdringen. Als Subjekt der Geschichte, findet die Frau
immer gleichzeitig an mehreren Orten statt. Sie zerdenkt die vereinheitlichende,
(an)ordnende Geschichte, die die Kräfte homogenisiert und kanalisiert und Wider
sprüche dem Lösungsansatz des immer selben Schlachtfelds überantwortet. In der
Frau überlagert die Geschichte aller Frauen ihre persönliche, die nationale und in
ternationale Geschichte. Als politische Kämpferio ist die Frau allen Befreiungsbe
wegungen körperlich verbunden. Sie muß weit vorausschauen. Nichts Kurzfristi
ges. Sie sieht voraus, daß ihre Befreiung mehr als nur die Kräfteverhältnisse ändern
oder der anderen Partei den Ball zuspielen wird; sie wird einen Wandel der mensch
lichen Beziehungen, des Denkens, aller Handlungsweisen mit sich bringen. Es geht
nicht nur um Klassenkampf, den zieht sie faktisch in eine weitläufigere Bewegung
mit hinein. Nicht daß man um Frau und Kämpferio zu sein aus dem Klassenkampf
austreten oder ihn leugnen müßte. Aber man muß ihn öffnen, aufbrechen, weiter
drängen, anfüllen mit dem grundsätzlichen Kampf, um zu verhindern, daß der
Klassenkampf, oder jedwede andere Befreiungsbewegung einer Klasse oder eines
Volks, als verdrängende Instanz funktioniert, als Vorwand das Unvermeidliche, die
überwältigende Veränderung der individuellen Kräfte- und Produktionsverhältnis
se, hinauszuschieben. Diese Verändenmg besteht schon: in den USA beispielswei
se, wo Millionen von Maulwürfen die Familie aus den Angeln heben und die ganze
amerikanische Gesellschaftsordnung untergraben."
Die neue Geschichte kommt, sie ist kein Traun1, sie übe.rsteigt nur das männliche
Vorstellungsvermögen, und das aus gutem Grund: sie wird die Männer ihrer Kon
zeptorthopädie berauben, sie beginnt damit, daß sie ihnen ihre Lug- und Trugma
schinerie ruiniert.
Unmöglich eine weibliche Art des Schreibens zu definieren, das ist von einer
Unmöglichkeit die weiterbestehen wird, denn man wird diese Schreiban nie theo
risieren, umgrenzen, kodieren können, was nicht bedeutet, daß es sie nicht gibt.
Aber sie wird immer über den, vom phallozentrischen System bestimmten Diskurs
hinausführen. Sie findet anderswo statt und wird anderswo stattfinden als in jenen
Gebieten die der philosophisch-theoretischen Herrschaft untergeordnet sind. Sie
47
wira}6icflnur von den Subjektivitäten denken lassen, welche die Automatismen in
irummcr legen, und entlang der Grenzen eilen, keiner Autorität je untertan.
Daher die Notwendigkeit die Aufschwünge der Frau zu bejahen, die Übergänge, d1e
nah und fernen Wege und Stege, dahingehend neu zu formen. Beginnend mit dem
Hinweis darauf: I) daß das Einander-Gegenüberstellen der Geschlechter, das immer
dem Mann zum Vorteil gereicht hat, so sehr, daß es auch die Schrift seinem Gesetz
untergeordnet hielt, nur eine historisch-kulturell bedingte Schranke ist. Immer un
gestümer und schneller aufeinander abfolgend gibt es jetzt und wird es Fiktion mit
unbezwinglich weiblieber Wirkungskraft geben; 2) daß es aus Unwissenheit ge
schieht, wenn die meisten Leser, Kritiker, Schriftsteller beider Geschlechter zögern,
die Unterscheidung männliche/weibliche Schrift anzuerkennen oder sogar deren
Möglichkeit und Zweckmäßigkeit rundheraus abstreiten. Meist sagt man, indem
man den Unterschied zwischen den Geschlechtern verabschiedet, entweder, daß
alle Schrift, in dem Maße in dem sie ans Licht tritt, weiblich ist; und umgekehrt,
aber das ist Dasselbe, daß die Geste des Schreibens einer männlichen Masturbation
gleichkommt (und die schreibende Frau, die fertigt sich dann wohl einen Penis aus
Papier). Oder dann, daß Schrift bisexuell ist und infolgedessen neutral, was die
Möglichkeit zu unterscheiden ausschließt. Zulassen daß Schreiben eben genau be
deutet (im) Dazwischen zu arbeiten, die Entwicklung des Seiben und des Anderen
zu befragen ohne die nichts lebt, das Wirken des Todes zu zersetzen, das bedeutet
zuerst einmal Beides zu wollen. Und die Beideo, das Gemeinsamsein des Einen und
des Anderen nicht in Kampf- Ausschluß- oder sonstigen Tötungshaltungen festge
fahren, sondern vom unablässigen Austausch des Einen zwischenmit dem Anderen,
sich von ihm unterscheidenden Subjekt, in unendliche Bewegung gesteigert. Jedes
sich und das Andere nur vom lebendigen Umriß ausgehend erkennend und neu be
ginnend: vielfältig unerschöpflicher Weg aus tausend Begegnungen und Verwand
lungen des Seiben ins Andere und ins Zwischen, aus dem die Frau ihre Fonneo
schöpft (und der Mann auch, seinerseits, aber das ist seine andere Geschichte).
Ich habe erklärend "bisexuell und infolgedessen neutral" gesagt, um mich auf
die klassische Auslegung der Bisexualität zu beziehen, die, unter dem Zeichen der
Kastrationsangst gebeugt dasteht und unter zu Hilfenahme der Vorstellung eines
"ganzheitlichen" (aber aus zwei Hälften bestehenden) Wesens den Unterschied aus
zublenden sucht, da Unterscheiden als Verlustgeschäft, als erschreckendes Zeichen
der Teilbarkeit empfunden wird.
48
Dieser Bisexualität, die verschmilzt und verwischt, die die Kastration bannen
will (bei einem Schriftsteller der auf sein Aushängeschild schreibt: hier wird bi
sexuell geschrieben, da ist einiges zu wetten, schaut nur nach, daß er weder noch
ist), halte ich die andere Bisexualität entgegen, diejenige, dank derer jedes nicht ins
Trugtheater der phallozentrischen Vorstellung eingesperrte Subjekt sein erotisches
Universum begründet. Bisexualität, das heißt Suche in sich, fur sich, nach dem
Zugegensein belder Geschlechter, die, jedem und jeder entsprechend, verschieden
ausgeprägt und deutlich werden. Das bedeutet auch weder Ausschluß der Unter
schiede noch Ausschließen eines Geschlechts, und von dieser "Erlaubnis" die man
sich gibt ausgehend, Vervielfaltigung der Einschreibewirkungen des Begehrens,
auf allen Teilen meines und des anderen Körpers.
Und es findet sich, daß heute, aus historisch-kulturellen Gründen, die Frau sich
dieser Bisexualität in Trance öffnet, die die Unterschiede nicht annulliert, sondern
sie ins Leben ruft, ihnen nachgeht, sie aneinanderfügt, und daß die Frau daraus Ge
winn zieht: auf gewisse Weise kann man sagen .,die Frau ist bisexuell". Der Mann,
das ist für niemand ein Geheimnis, ist darauf dressiert, die glorreiche phallische
Monosexualität anzustreben. Mit dem Bekräftigen und Umsetzen des phallischen
Primats hat die phallokratische Ideologie mehr als nur ein Opfer gefordert: als Frau
konnte es vorkommen, daß ich mich vom großen Schatten des Szepters berücken
ließ, und man hat mir gesagt: bete ihn an, ihn den du nicht schwingen kannst. Aber
gleichzeitig hat man dem Mann das groteske und, denk nur, wenig beneidenswerte
Schicksal bereitet, zu einem einzigen Götzenbild mit tönernen Eiem herabgewür
digt zu werden. Und, wie Freud und seine Nachfolger bemerken, eine solche Angst
davor zu haben, Frau zu sein! Denn, obwohl sich die Psychoanalyse von der Frau
ausgehend und indem sie das Weibliche verdrängt, aufgebaut hat (Verdrängung,
die, wie es die Männer beweisen, nicht sonderlich gut geglückt ist), so gibt sie von
der männlichen Sexualität ein unterdessen kaum zu widerlegendes Zeugnis ab. Wie
alle "Human"wissenschaften reproduziert sie das Männliche deren Ergebnis sie ist.
Hier begegnen wir dem unvermeidlichen Männerfels, steif aufgerichtet in seinem
alten freud'schen Feld, so wie ihn die Linguistik übernimmt und ihn .,von Neuem"
konzeptualisiert, bewahrt Lacan ihn in der Kultstätte des Phallus auf, "beschützt"
vor dem Kastrat1onsmangel! Die "symbolische Ordnung" der Männer existiert, sie
ist an der Macht, wir, die diese Ordnung stören, wissen das nur zu gut. Aber nichts
zwingt uns dazu, unsere Leben auf ihre Mangelbanken zu tragen, die Subjektwer
dung als Trauerspiel voller verletzender Wiederholungen zu denken, ohne Unterlaß
die Religion des Vaters neu zu finanzieren. Denn es verlangt uns danach nicht. Wir
drehen uns nicht im Kreis rund um das hohe Loch herum. Wir haben nicht den
leisesten Frauengrund dem Negativen einen Treueeid zu schwören. Das Weibliche
49
(die Poeten haben es geahnt) bejaht: "[ . .] andyes I saidyes !will
. Yes". Und ja, sagt
Molly und trägt Ulysses über jedes Buch hinaus auf die neue Schrift zu, ich habe
ja gesagt, ich will JA.
Der " schwarze KONTINENT'' ist weder schwarz noch unerforschlich. Er ist nur
deshalb noch nicht erforscht weil man uns glauben gemacht hat, daß er zu schwarz
ist erforscht zu werden. Und weil man uns glauben machen will, daß das, was uns
interessiert der weiße Kontinent ist, mit seinen MANGELdenkmälem. Und wir
haben geglaubt. Man hat uns zwischen zwei erschreckenden Mythen zum Erstarren
gebracht: zwischen Medusa und dem Abgrund. Das wäre Grund genug, die Hälfte
der Menschheit in Geächter
l ausbrechen zu lassen, wenn es nicht unverändert so
weiterginge. Denn der phallogozentrische Nachwuchs ist da, und er ist militant,
reproduziert die alten Schemen, ist im Dogma der Kastration verankert. Sie haben
nichts verändert: sie haben ihren Wunsch zur Wahrheit emportheorisiert! Sollen sie
zittern, die Priester, wir werden ihnen schon zeigen wie wir Sexte machen!
Ihr Pech, wenn sie es nicht ertragen zu entdecken, daß Frauen keine Männer
sind, oder daß die Mutter keinen hat. Aber kommt ihnen diese Angst nicht gelegen?
Wäre das Schlimmste nicht, ist denn in Wirklichkeit das Schlimmste nicht, daß die
Frau nicht kastriert ist, daß es reicht, daß sie den Sirenen kein Gehör mehr schenkt
(denn die Sirenen waren Männer), damit die Geschichte ihre Richtung und ihren
Sinn ändert? Es reicht Medusa ins Gesicht zu schauen, um sie zu sehen: und sie ist
nicht tödlich. Sie ist schön und sie lacht.
Sie sagen, es gibt zwei Dinge, die sich nicht darstellen lassen: der Tod und das
weibliche Geschlecht. Denn sie müssen Weiblichkeit mit dem Tod assoziieren; sie
werden ja nur vor Angst steif! vor Angst um sich selber! sie müssen sich vor uns
furchten. Schau nur, wie die Perseuse zitternd auf uns zusteuern mit Abwehramu
letten bewehrt, rückwärts gehend! Hübsche Rücken! Da ist keine Minute mehr zu
verlieren. Nichts wie weg hier.
Eilen wir uns: dieser Kontinent ist nicht von undurchdringlichem Dunkel. Ich
war oft dort. Eines Tages bin ich voll Freude Jean Genet dort begegnet. Das war in
Pompes funebres: er war von seinem Hänsel angeftlhrt dort eingetroffen. Es gibt
Männer (so wenige) die vor der Weiblichkeit keine Angst haben.'
Über Weiblichkeit bleibt den Frauen noch beinah alles zu schreiben. Über ihre
Sexualität, das heißt über ihre unendliche und in Bewegung begriffene Komplexi
tät, über ihre l:.rotisation, über das blitzartige Entbrennen dieser oder jener winzig
immensen Region ihres Körpers. Nicht über das Triebschicksal, sondern über das
Abenteuer dieses oder jenes Triebes, Reisen, Durchquerungen, Vorankommen, über
plötzliches und allmähliches Erwachen, Entdeckungen einer früher schüchternen,
nunmehr hervortretenden Zone. Der Körper der Frau, mit seinen tausend und einem
50
Glutherden: wenn sie ihm erlauben wird - Joch und Zensur zerschmetternd - die
•
üppige Reichhaltigkeit der Bedeutungen zu artikulieren, von der er nach allen Rich
tungen sinnbringend durchlaufen ist, wird er die alte einspurige Muttersprache wohl
mit mehr als einer Sprache zum Klingen bringen.
Wir haben uns von unseren Körpern abgewendet, die man uns gelehrt hat be
schämt zu ignorieren und mit dem dummen Schamgefuhl zu schlagen. Mit folgen
dem Kuhhandel hat man uns übers Ohr gehauen: es solljeder das andere Geschlecht
lieben. Ich gebe dir deinen Körper und du, du gibst mir den meinen. Aber welches
sind schon die Männer, die den Frauen den Körpergeben den diese ihnen blindlings
anvertrauen? Warum so wenig Texte? Weil erst so wenig Frauen ihren Körper zu
rückgewinnen. Es ist unerläßlich, daß die Frau mit ihrem Körper schreibt, daß sie
die unbezwingliche Sprache erfindet, die die Abschrankungen, Klassifizierungen
und Rhetoriken, Vorschriften und Kodierungen kaputtschlägt Daß sie die letzte
Rückzugsreserve des Diskurses überflutet, durchdringt, sich darüber hinwegsetzt,
auch über jenen Diskurs dem es nichts ausmacht das Wort "Schweigen" ausspre
chen zu müssen, jenen der das Unmögliche anstrebt, der genau vor dem Wort "un
möglich" innehält und es als "Ende" schreibt.
Die weibliche Mächtigkeit ist so beschaffen, daß die Frauen, die Syntax mit sich
fortschwemmend und den berühmten Faden (ein ganz kleiner Faden nur, so sagen
sie) verlierend, aufdas Unmögliche zugehen werden - jenen Faden, der den Män
nern als Nabelschnurersatz dient damit sie sicher sind, sonst können sie nicht kom
men, daß die alte Mutter immer noch hinter ihnen steht und ihnen beim Phallus
spielen zuschaut.
...
Wenn ,.das Verdrängte" der Männerkultur und -gesellschaft wiederkehrt, dann han
delt es sich um die explosive, absolut umwerfende, überwä
l tigende Rückkehr einer
nie zuvor freigesetzten Kraft, so maßlos wie die erschreckendste aller Unterdrück
ungen: denn wenn sich dte Zeit des Phallus ihrem Ende zuneigt, werden die Frauen
entweder vernichtet oder zu höchstgewaltsamster Weißglut gebracht worden sein.
Die lange Betäubung ihrer Geschichte haben sie in Träumen gelebt, in Körpern,
aber in totgeschwiegenen, n
i Wortlosigkeiten, in stimmlosen Auftehnungen.
Und mit wieviel Kraft in ihrer Zerbrechlichkeit: ,,Zerbrechlichkeit'', Verletzlich
keit, die im Ausmaß ihrer unvergleichlichen Ausdauer entspricht. Sie haben nicht
sublimiert. Glücklicherweise: sie haben ihre Haut, ihre Energie gerettet. Sie haben
nicht daran gearbeitet, die Sackgasse zukunftsloser Leben auszubauen. Sie haben
wildwUtend diese ihre prachtvollen Körper bewohnt: bewundernswerte Hysteri-
51
kerinnen die Freud so viel wollüstige schwierig einzugestehende Glücksmomente
beschert haben, während sie seine Ichstatue mit ihren fleischlichsinnlich leiden
schaftlichen Wortkörpern beschossen. Die in ihm mit ihren unvernchmbaren nie
derschmetternden Anklagen herumgespukt sind, mehr als nackt unter den sieben
Schleiern der Scham, blendend schön. Diejenigen die mit einem einzigen Körper
wort das maßlos Schwindelerregende einer Geschichte eingeschrieben haben, die
sich wie ein Pfeil von der ganzen Männergeschichte, der biblisch-kapitalistischen
Gesellschaft loslöst, sie sind es, die gestern Hingeopferten, die den neuen Frau
en voranschreiten, sie in deren Gefolge keine intersubjektive Beziehung je wieder
dieselbe Form annehmen kann. Du bist es Dora, Du, Unbezähmbare, poetischer
Körper, Du die wahre "Herrin" des Signifikanten. Deine Bedeutungskraft, die wird
man sich vor morgen ans Werk machen sehn, wenn sich Dein Wort nicht mehr ton
los nach innen, mit der Spitze gegen Deine Brust richtet, sondern sich auf andere
zuschreibt.
Als Körper: mehr als der Mann, zu sozialen Erfolgen, zum Sublimieren gela
den, sind die Frauen Körper. Mehr Körper und deshalb mehr Schrift. Lange hat
die Frau als Körper auf die Quälereien, auf das familial-konjugale Bezähmungsun
ternehmen, auf die wiederholten Kastrationsversuche, geantwortet. Diejenige, die
zehntausendmal siebenmal ihre Zunge im Mund hemmgedreht hat, bevor sie nichts
gesagt hat, ist entweder daran eingegangen, oder sie kennt ihre Zunge, ihre Sprache,
ihren Mund besser als jeder andere. Jetzt werde ich-Frau das GESETZ in die Luft
sprengen: ein Zum-Bersten-Bringen das inzwischen möglich ist, und unabwendbar;
und auf daß es jetzt gleich stattfinden möge. in der Sprache.
Laßt uns nicht in die Falle einer Analyse gehen, die von alten Automatismen erst
unvollständig frei ist: es steht nicht zu befiirchten, daß sich in der Sprache, weil es
die Sprache der Männer und ihre Grammatik ist, ein unbesiegbarer Feind verbirgt.
Ein Ort, der ebensowenig alleiniges Eigentum der Männer ist, als wir es sind, soll
ihnen nicht abgetreten werden.
Wenn die Frau immer .,innerhalb'" des Männerdiskurses funktioniert hat, als Sig
nifikant der immer auf den ihm entgegengesetzten Signifikanten bezogen blieb, was
seine besondere Energie aufgehoben, seine so andersartigen Klänge unterdrUckt
oder crstickt hat, dann ist es Zeit, daß die Frau dieses "Innerhalb" auseinander
bricht, es zum Bersten bringt, es umdreht und sich seiner bemächtigt. Daß sie es
steh zu eigen macht, indem sie es verstehend in sich aufnimmt, es in ihren eigenen
Mund nimmt, ihm mit ihren eigenen Zähnen auf die Zunge und Sprache beißt, daß
sie eine Sprache erfindet um mit ihm zusammenzustoßen. Und mit wieviel Leichtig
keit, Du wirst sehen, kann sie aus diesem "Innerhalb" in das sie schläfrig eingebettet
war, aufund über die Lippen kommen die übergehen werden von ihrem Schäumen.
52
Es geht auch nicht darum, sich Männerinstrumente, -konzepte, -Stellungen anzu
eignen, noch darum ihre Herrscherposition anzustreben. Wissen, daß ein Identifi
kationsrisiko besteht, bedeutet nicht, daß wir ihm unterliegen. Überlassen wir das
den Friedlosen, der Männerangst und ihrer Sucht sich Funktionsweisen untertan zu
machen, ihrer Sucht nach Wissen darum "wie es geht" um das gegen die anderen
auszunutzen. Nicht sich etwas aneignen um es sich einzuverleiben, oder um es zu
manipulieren, sondern mit einem Federstrich durchqueren und ,.entfliegen".
Sich davonstehlen, entfliegen, das ist die Bewegung der Frau, in der Sprache
stehlend entfliegen, die Sprache dazu bringen sich flugs davonzustehlen. Was Steh
len und Entfliegen betrifft, so haben wir alle die zahlreichen Fertigkeiten dieser
Kunst erlernt, da wir seit Jahrhunderten nur verstohlen Zugang zum Haben finden.
Da wir wie im Fluge, verstohlen, von Diebereien gelebt haben und unser Begehren
auf schmale, geheime Querverbindungen gekommen ist. Es ist kein Zufall wenn
"voler" mit beiden Bedeutungen von "vor' spielt, Diebstahl und Flug, in den Genuß
der einen und der anderen kommt und die Sinnpolizei verwirrt. Es ist kein Zufall:
die Frau hat Ähnlichkeiten mit Vogel und Dieb so wie der Dieb der Frau und dem
Vogel gleicht: flugs sind sie vorbei, männlich-weiblich, sie fliehen, sie freuen sich
diebisch, weiblich-männlich, die räumliche Anordnung durcheinander zu bringen,
in der Orientierung zu stören, die Möbel, Dinge, Werte zu verschieben, einzubre
chen, die Rahmenstrukturen zu leeren, Eigentum umzustürzen .
Welches ist die Frau die nicht gestohlen hat? Die nicht die Bewegung heraus
gespürt, erträumt, ausgeführt hat welche der Funktionsweise der Gesellschaft zu
widerläuft? Die nicht die Grenzschranke verrückt hat, die nicht lachend über sie
hergezogen ist, und mit ihrem Körper das Unterschiedliche Andersartige einge
schrieben, das System der Paare und paarweisen Gegensätze zersiebt, die logische
Abfolge, Verkettung, die Mauer der Rundumverwinung mit einer Übertretung Uber
den Haufen geworfen hat?
Ein weiblicher Text kann gar nicht nicht weit mehr als subversiv sein: wenn er
sich schreibt, dann indem er vulkanisch die alte unbewcghche Immobilienkruste
auf- und anhebt, die die männlichen Investitionswerte trägt, und nicht anders. Ist da
kein Platz für die Frau, wenn sie nicht ein er ist? Wenn sie sie-sie ist, dann nur unter
der Bedingung, daß sie alles zerschlägt, die Gerüste der Institutionen zerstückt, das
Gesetz in die Luft sprengt, die "Wahrheit" vor Lachen biegt.
Denn wenn sie sich ihren Weg in der symbolischen Ordnung bahnt, kann ste aus
ihr gar nicht nicht den Chaosmos des persönlichen "Eigentums" machen, aus seinen
Personalpronomen, aus seinen Namen, Hauptworten und aus seiner Referentenban
de. Aus gutem Grund: man blickt da auf die lange Gynozidgeschichte zurück. Wie
die es wissen, die gestern noch unter Kolonialherrschaft gestanden haben, Arbeiter-
53
Innen, Völker, jene Geschöpfe auf deren Kosten die MännerGESCHICHTE Gold
gemacht hat: wer die Schmach des Verfolgtseins erlebt hat, nährt aus ihr ein künf
tig hartnäckiges Verlangen nach Größe. Die Eingekerkerten crsehrnecken die freie
Luft genauer als ihre Kerkermeister. Es ist ihrer Geschichte zu verdanken, wenn die
Frauen heute (zu tun und zu wollen) wissen was die Männer erst viel später den
.
ken können werden. Ich sage die Frau bringt das "Eigene" durcheinander: da man
ihr mit Gesetzeskraft, Lügen, Erpressung, Heirat, immer ihr Recht auf sich selber
zugleich mit ihrem Namen abgepreßt hat, hat sie in dieser tödlich entfremdenden
Bewegung selbst die Beschränktheit des "Eigenen" aus nächster Nähe herauslesen
können, diese herabsetzende Kleinlichkeit der männlich-konjugalen Subjektöko
nomie, der sie doppelt Widerstand leistet. Einerseits ist sie notgedrungen zu jener
.,Niemandsperson" geworden, die fäh ig ist einen Teil ihrer selbst zu verlieren ohne
verloren zu sein. Aber im Geheimen, Verschwiegenen, in ihrem tiefsten Inneren,
weitet und vervielfältigt sie sich, denn, andererseits, weiß sie über Leben und das
Verhältnis zwischen Triebökonomie und Ichfuhrung, einiges mehr als jeder Mann.
Im Unterschied zum Mann, dem so viel liegt an seinem Titel und seinen Wertpa
pieren, an seiner Börse, an Haupt, Krone und allem was mit seinem Oberhauptsein
zusammenhängt, lacht die Frau nur über die Angst enthauptet (oder kastriert) zu
werden, und sie wagt sich ohne das männliche Zittern ins Anonymat vor, mit dem
sie zu verschmelzen weiß ohne zu vergehen: weil sie gebend ist.
Ich habe einiges zu sagen über die ganze trügerische Problematik des Gebens.
Die Frau ist ganz offensichtlich nichtjene von Nietzsche erträumte Frau die nur gibt
um zu. Wer kann schon Geben als Geben-das-wegnimmt denken wenn nicht eben
der Mann der alles einnehmen will?
Wenn es etwas der Frau "Eigenes" gibt, dann paradoxerweise ihre Fähigkeit
sich ohne Berechnung zu ent-eigenen: Körper ohne Ende, olme "Endstück", ohne
Haupt"teile". Wenn sie eine Ganzheit ist, dann eine Ganzheit die aus Teilen be
steht die Ganzheiten sind, nicht einfach nur Teilstücke, sondern in Bewegung und
Wandel begriffene Gemeinsamkeit, grenzenloser Kosmos den Eros ohne Unterlaß
durchläuft, unermeßlicher Sternenraum der nicht um eine Sonne herumorganisiert
ist die mehr Stern wäre als die anderen.
Das soll nicht heißen, daß die Frau ein undifferenziertes Magma ist, sondern daß
sie ihren Körper und ihr Begehren nicht einer einzigen Vorherrschaft unterwirft. Soll
d1e männliche Sexuahtät nur um den Penis herumkreisen und jenen zentralisierten
Körper (politische Anatomie) hervorbringen, der dem Diktat der Geschlechtstei
le unterliegt. Die Frau, ihrerseits, unternimmt keine solche Regionalisierung ih
res Körpers, die dem Paar aus Haupt und Geschlecht den Vorrang gibt und sich
nur innerhalb gegebener Grenzen einschreibt. Ihre Libido ist kosmisch, so wie ihr
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Unbewußtes weltweit ist: ihre Schrift kann also nur immer weiterfuhren, ohne je
Konturen einzuschreiben oder unterscheidbar zu machen, und sie wagt schwin
delerregende Durchquerungen des Anderen, flüchtigvergängliche leidenschaftliche
Aufenthalte in ihm, ihr, ihnen, jenen, die sie, kaum sind sie entstanden, bewohnt bis
sie ihr Unbewußtes aus nächster Nähe wahrnehmen, bis sie sie aus größter Trieb
nähe lieben konnte, und dann geht sie, ganz durchdrungen von diesen kurz�::n Iden
tifizierungsurnarmungen, weiter, geht und geht über in Unendlichkeit. Sie allein
wagt und will von Innen her Kenntnis haben, vom Innen dessen Sprachvorstufe
sie, die Ausgeschlossene, nie aufgehört bat klingen zu hören. Sie läßt die andere
tausendsprachige Sprache sprechen, die weder Mauer noch Tod kennt. Dem Leben
verweigert sie nichts. Ihre Sprache dämmt nicht ein, sie trägt, sie hält nicht zurück,
sie macht möglich. Dort wo Undeutliches sich ausspricht, Wunder an Vielfalt, wehrt
sie sich nicht gegen diese ihre eigenen Unbekannten die zu sein wahrzunehmen sie
sich überrascht, während sie sich über ihre Begabung zur Veränderlichkeit freut.
Ich bin geräumiges singendes FLEISCH, auf das sich wer weiß was fur ein/e mehr
oder weniger menschliche/s Ich pfropft, das in erster Linie lebendig ist da es in
Veränderung begriffen ist.
Schreib! und indem er sich sucht erkennt sich DEIN Text filr mehr als Fleisch
und Blut, als Teig der sich knetet und aufgeht, aufrührerisch, voller klingender,
duftender Zutaten, als stürmisch bewegte Verbindung von entfliegenden Farben,
Blättern und Flüssen die ins Muttermeer münden das wir speisen. Aha! das also
ist ihr Meer, wird mir der entgegnen, der mir sein Becken voll vom Wasser seiner
kleinen phallischen Mutter hinstreckt von der er sich nicht trennen kann. Aber es
ist so, daß unsere Meere sind was wir aus ihnen machen, sie sind fischreich oder
nicht, trüb oder durchsichtig, rot oder schwarz, bewegt oder spiegelglatt, schmal
oder uferlos, und wir sind selber Meer, Sand, Korallen, Algen, Strände, Gezeiten,
Schwimmerinnen, Kinder, Wellen
Mehr oder weniger ungefiihr Meer, Erde, H1mmel, welche Materie soll uns denn
abstoßen? Wir wissen sie alle zu sprechen.
Heterogen, ja, zu ihrem glückbringenden Gewinn ist die Frau erogen, sie ist
die Erogenität des Heterogenen; es geht ihr nicht um sich selbst, der luftigen
Schwimmerin, der fliegenden Diebin. Sie ist vcrteilbar, verschwenderisch gebend,
schwindelerregend, begehrend und des Anderen fähig, fähig der anderen Frau die
ähig zu ihm, fähig zu Dir.
sie sein wird, der anderen Frau die sie nicht ist, f
55
Frau hab Angst weder vor dem Anderswo, noch vor Demselben, noch vor dem
Anderen. Meine Augen, meine Zunge und Sprache meine Ohren meine Nase meine
Haut mein Mund mein Körper - ftlr den Anderen - als Anderes, nicht daß ich ihn/
sie/es begehre um mir ein Loch zuzustopfen, um einem meiner Mängel abzuhelfen,
oder weil mir schicksalsbedingt die weibliche "Eifersucht" auf den Fersen wäre.
Nicht weil ich in die Verkettung der Et:.atzhandlungen hineingezogen bin, die das
Ersetzende wieder auf das endgültige Objekt zurückfUhrt. Das reicht jetzt mit den
Märchen vom kleineo Däumling, mit dem *Penisneid den uns die alten menschen
fressenden Großmütter zugeflüstert haben, diese Dienerinnen ihrer Sohn-Väter.
Daß sie glauben, daß sie es nötig haben, um sich wichtig zu machen, zu glauben,
daß wir vor Neid platzen, daß wir dieses vom Neid aufihren Penis urnränderte Loch
sind, das ist seit undenklichen Urzeiten ihre Angelegenheit. Es ist unbestreitbar (wir
stellen es zu unseren Ungunsten - aber auch zu unserer Belustigung- fest), daß die
Männer sich nur darüber strukturieren, sich mit fremden Federn zu schmücken. Sie
lassen uns wissen, daß sie steif sind, damit wir ihnen versichern (wir die mütterli
chen Herrinnen ihres kleinen Taschensignifikanten), daß sie mit dabei sind, daß sie
ihn noch haben. Im Kind ist es nicht der Penis den die Frau sich wünscht, nicht dies
berühmte Teil um das sich der ganze Mann im Kreis dreht. Schwangerschaft ist, au
ßer innerhalb der historischen Grenzen der ALTEN VERGANGENHEIT, nicht auf
etwas Schicksalhaftes zurückzuftlbren, auf jene mechanischen Ersatzhandlungen
die vom Unbewußten einer ewig "Eifersüchtigen" ausgeführt würden. Weder auf
*Penisneid, noch auf Narzißmus, noch auf eine Homosexualität deren Grund die
Immergegenwärtige-Mutter ist! Ein Kind machen zwingt weder die Frau, noch den
Mann, unweigerlich in Verhaltensmuster abzustürzen, den Reproduktionskreislauf
neu aufzuladen. Wenn ein Risiko Z\var besteht, so handelt es sich doch nicht um
eine Falle die sich nicht meiden ließe: auf der Frau sollen, unter dem Vorwand der
Bewußtwerdung, nicht noch zusätzliche Verbote lasten. Du willst ein Kind oder
Du willst keins, das isl Deine Angelegenheit. Niemand soll Dir drohen; die Angst
aus früheren Zeiten "vereinnahmt" zu werden soll, wenn Du Dir Deinen Wunsch
erfu
l lst, nicht von der Angst abgelöst werden, zur Komplizin einer Gesellschafts
ordnung zu werden. Und wirst Du etwa, mit der Blindheit und Passivität aller rech
nend, befiirchten daß das Kind aus dem Mann einen Vater macht, und daß sich die
Frau mit einem Kind also gleich mehr als ein Unglück einhandelt und gleichzeitig
das Kind- dte Mutter - den Vater- die Familie auf die Welt bringt? Nein. Es liegt
an Dir, die alten Kreisläufe zu durchbrechen. Frau und Mann werden die Aufgabe
haben, die alte Beziehung mit allem was sie bewirkt hat ablaufen zu lassen, das
Auflwmmen eines neuen, lebendigen Subjekts zu denken, mit Ent-familisierung.
Ent-mutter-vatern wir lieber als. um zu verhindern, daß die Fortpflanzung von einer
56
Ideologie eingeholt wird, die Frau um eine hochspannende Epoche ihres Körpers
•
zu bringen. Laßt uns entfetischisieren. Treten wir aus der Dialektik aus die da ver
langt, daß ein guter Vater ein toter Vater ist, oder daß das Kind den Tod der Eltern
bedeutet. Das Kind ist das Andere, aber das gewaltfreie Andere, ohne Umweg Ober
Verlust oder Kampf. Das reicht jetzt mit der Anknüpferei, der Fabrik der Knoten,
die immer durchgehauen werden müssen, mit der Kastrationslitanei die sich vererbt
und Genealogie wird. Wir werden nicht mehr rückwärtsvorwärtsschreiten. Wir wer
den doch nicht etwas so Einfaches wie die Lust aufLeben verdrängen. Oraler Trieb,
analer Trieb, Stimmtrieb, alle Triebe sind unsere guten Kräfte und dazu gehört der
Trieb Leben zu geben - genauso wie das Bedürfhis zu schreiben: ein Bedürfnis
sich innerlich zu erleben, eine Lust des Bauchs, der Zunge und Sprache, des Bluts.
Wir werden uns, wenn wir Lust daraufhaben, das Köstliche einer Schwangerschaft
nicht versagen. Schwangerschaft ist übrigens in den klassischen Texten immer
übertrieben dramatisch dargestellt oder ganz ausgeblendet, oder mit einem Fluch
belegt. Denn wenn es ein besonderes Verdrängtes gibt, dann ist es wohl da zu fin
den: Tabu der schwangeren Frau, recht aussagekräftig darüber was die Macht und
Kraft betrifft mit der sie dann ausgezeichnet scheint. Denn schon immer ahnt man
dunkel, daß die Frau wenn sie schwanger ist, nicht nur ihren Marktwert verdoppelt,
sondern vor allem in ihren eigenen Augen als Frau an Wert und unbestreitbar an
Körper und Geschlecht zunimmt.
Es gibt tausend Arten eine Schwangerschaft zu leben, mit diesem noch unsicht
baren Anderen in ein Verhältnis anderer Intensität zu treten oder nicht. Und wenn
Du diese Lust nicht hast, bedeutet das nicht, daß sie Dir fehlt. Jeder Körper verteilt
auf einzigartige, beispiellose, ungenormte Weise die unbegrenzte und veränderli
che Gesamtheit seines Begehrens. Entscheide Du fur Dich über deinen Standort
im Raum der Widersprüchlichkeiten wo Lust und Realität einander umschlungen
halten. Gib dem Anderen Leben: die Frau weiß die Ablösung zu leben; gebären
bedeutet weder verlieren, noch sich einen Gewinn verschaffen. Es bedeutet dem
generellen Leben ein weiteres hinzufligen. Erträum ich mir das? Verkenne ich die
Tatsachen? Ihr, Verfechter der "Theorie", Jasager und KONZEPTabsegner, die ihr
den Phallus (aber nicht den Penis) auf einen Thron setzt, ihr werdet wieder lauthals
meinen "Idealismus" beklagen, oder schlimmer noch, ihr werdet mir wütend vor
werfen, daß ich ,.mystisch" bin.
Aber was ist denn mit der Libido? habe ich denn ,,Die Bedeutung des Phallus"
nicht gelesen? Und die Trennung, dieses Stück Selbst dessen bei der Geburt erlitte
nen Verlusts Dein Begehren immerdar eingedenk bleibt, wie sie behaupten?
Außerdem, sieht man denn nicht, in meint!n Texten, daß der Penis zirkuliert, daß
ich ihm Raum und Anziehungskraft verleihe. Allerdings. Ich will alles. Ich will
57
mich ganz mit ihm ganz. Warum sollte ich mir einen Teil des uns versagen? Ich
will also alles was von uns kommt und an uns dran ist. Natürlich hat die Frau Lust,
eine liebende Lust nicht eine "neidige". Nicht weil sie beschnitten wäre. weil sie
diese Herabgeminderte wäre, die sich ein Loch zu stopfen sucht, diese Versehrte
die sich trösten und rächen will. Ich will keinen Penis mit dem ich meinen Körper
schmücken kann. Sondern ich begeh•�: den Anderen als Anderen, männlich ganz
oder weiblich ganz; denn leben bedeutet alles wollen was ist, alles was lebt, und es
lebendig wollen. Kastration? Um die sollen sich andere kümmern. Was ist schon
ein Begehren das im Mangel seinen Ursprung nimmt? Ein wahrlich kleines Begeh
ren. Die Frau die sich noch von der großen Phalle schrecken läßt, beeindruckt vom
Zirkus der phallischen Instanz die unter Trommelwirbeln von einem LOYALEN
Herrn und Meister angefl.lhrt wird, das ist die Frau von gestern. Es gibt sie noch
die einfachen und zahlreichen Opfer der ältesten aller Pharcen. Entweder man gibt
ihnen eine Rolle in der ersten stummen Version, und auf h
i ren Körpern richtet sich
in althergebrachter Weise das theoretische Mahnmal an den goldenen Phallus auf
den sie nie zu Gesicht bekommen, sie die hingestreckten Titaninnen unter Gebir
gen, die sich auf Grund ihres Bebens erigieren. Oder dann heute, wo sie aus ihrer
lnfanszeit heraustreten, sehen sie sich plötzlich von den Erbauern des analytischen
Imperiums bedrängt und, sowie sie das neue Begehren formulieren, nackt, namen
los, und rundum fröhlich aufzutauchen, sind sie schon von den neuen Urgreisen aus
dem Bad gepflückt und schwupp! auf Umwegen, in Modernität gekleidet verkauft
ihnen der Dämon der Interpretation mit klingenden Klunkersignifikanten dieselben
Ilandschellcn und all die anderen kettenden Anhängerchen: zweite, "aufgeklärte"
Version ihrer beschämenden Erniedrigung. Welche Kastration magst Du denn lie
ber? Welcher gefallt Dir besser, der vom Vater oder der von der Mutter? Ob hastDu
aberhübscheAugen Du, da, Du hübsches kleines Mädchen, kauf mir meine Brillen
ab und Du wirst sehen wie Ich-der-Ich-die-WAHRHEIT-bin dir alles sage was Du
glauben sollst. Setz sie Dir aufdie Nase und wirf den Blick des Fetischisten (der Du
bist, ich, der andere Analytiker, beweise es Dir) auf Deinen Körper und den Körper
des Anderen. Siehst Du? Nicht? Warte, wir werden Dir alles erklären und Du wirst
endlich verstehen welcher Art von Neurose Du angehörst. Halt still, wir machen Dir
Dein Porträt, damit D u schnell beginnen kannst ihm gleich zu sehen.
Ja, sie sind noch Legion, die Naiven ersten und zweiten Grades. Die Neuankom
menden, wenn sie es wagen außer Reichweite des Theoretischen schaffend tätig
7U sein, werden von den Ordnungshütern des SIGNlFlKANTEN in Gewahrsam
genommen, fichiert, zur Ordnung zurückgerufen die sie doch kennen sollten, über
listet und auf einen bestimmten Platz in jener Bedeutungskette fixiert, die sich im
mer zum Vorteil des einen bevorzugten "Signifikanten" fugt. Man gliedert uns der
58
Verbindung ein, die, wenn sie nicht auf den NAMEN-des-VATERS, euch an seiner
statt auf die phallische-Mutter zurückführt, um der Sache ein neueres Gesiebt zu
verleihen.
Freundin, hüte Dich vor einem Signifikanten der Dich auf die Autoriät
t einer
einzigen Bedeutung und eines Sinns zurückführen will! Hüte Dich vor Diagnosen,
die suchen, Deine schöpferische Kraft zu schmälern. Auch "Gemein"namen sind
Eigennamen die Deine Besonderheit verringern indem sie sie einer Spezies zuord
nen. Durchbrich die Kreisläufe; verweil nicht innerhalb der psychoanalytischen
Schranken: geh sie ab und überquere sie!
Und wenn wir Legion sind, dann weil der Befreiungskrieg erst eine schmale Bre
sche geschlagen hat. Aber in ihr drängen sich die Frauen, ich habe sie gesehen,
diejenigen die weder unterworfen noch einer Täuschung erlegen sind, diejenigen
die keine Angst vor dem Risiko haben Frau zu sein.
Vor keinem Risiko, vor keinem Begehren, vor keinem in ihnen, zwischen ihnen
und anderen oder sonstwo noch unerforschten Raum. Die Frau fetischisiert nicht,
sie verweigert nicht, sie haßt nicht, sie beobachtet, sie nähert sich, sie sucht die an
dere Frau, das Kind, den Geliebten zu sehen, nicht um ihren Narzißmus zu befriedi
gen oder die Stärke oder Schwäche eines Herrn und Meisters zu erproben, sondern
um besser zu lieben, um folgendes zu erfinden:
Die ANDERE LIEBE:
An den Anfängen sind unsere Unterschiedlichkeiten. Die neue Liebe wagt das
Andere, wünscht es, schwingt sich auf zu schwindelerregenden Flügen zwischen
Erkennen und Erfinden. Sie, die immer schon Ankommende, sie verweilt nicht,
sie geht überallhin, sie tauscht aus, sie ist das Gebende-Begehren. (Nicht mehr im
Paradox des Gebens das wegnimmt eingeschlossen; auch nicht in der Illusion der
vereinheitlichenden Verschmelzung. Darüber sind wir hinaus.) Sie kommt herein,
sie kommt zwischen sich mich und dich zwischen das andere ich wo das eine immer
unendlich mehr als eins und mehr als ich ist, ohne zu befürchten je an eine Grenze
zu stoßen: sie genießt unser Entstehen. Und wir werdec dabei kein Ende finden!
Die Frau durchquert defensive Liebe, Bemutterungen und Auffressen: jenseits des
geizigen Narzißmus, im beweglichen, offenen Übertragungsraum läuft sie ihre Ri
siken. Jenseits des tödlichen Kampfes, der im Bett erneut ausgetragen werden soll,
des Liebeskriegs der vorgibt Gegenseitigkeit und Austausch zu sein, lacht sie über
eine Erosdynamik die vom Hass genährt wäre - Hass: das i&t Erbe, immer noch,
das ist ein Rest, ein trügerisches Dem-Phallus-Untertan-Sein. Lieben, den Anderen
im Anderen schauen-denken-suchen, ent-spckulieren, entspiegeln. Ist das schwie
rig? Es ist nicht unmöglich: und das ist es was das Leben am Leben erhält, eine
Liebe, die nicht dies friedlose Begehren unterhält das sich vor Mangel schützt und
59
sucht sich Fremdartiges anzugleichen, es der Schuldigkeit zu überweisen oder es zu
vernichten, sondern die sich über verviellliltigenden Austausch freut. Wo sich die
Geschichte noch als Geschichte des Todes im Kreis dreht, tritt sie nicht ein. Gegen
sätzlichkeit, hierarchisierender Austausch, Ringen um Herrschaft das nur immer
mit mindestens einem Tod endet (ein Herr-ein Sklave, oder zwei Nicht-Herren =
zwei Tote), das alles gehört in eine von phallogozentrischen Werten bestimmte Zeit.
Daß diese Zeit noch eine Gegenwart besitzt, hinden die Frau nicht daran anderswo
die Geschichte des Lebens zu beginnen. Anderswo gibt sie. Sie "weiß" nicht was sie
gibt, sie ern1ißt es nicht; aber sie gibt weder zurück oder heraus noch gibt sie was sie
nicht hat. Sie gibt mehr. Ohne Sicherheit, daß ihr aus dem was sie gibt ein Gewinn
erwächst, auch kein unverhoffter. Sie gibt zu leben, zu denken, urnzufonnen. Eine
solche "Ökonomie", die läßt sich nicht mehr in den Begriffen der Ökonomie aus
drücken. Wo die Frau liebt, sind alle Konzepte der alten Wirtschaftsführung über
holt. Sie kommt dabei nicht, nach einer mehr oder weniger bewußten Veranschla
gung, auf ihre Rechnung, sondern auf ihre Differenzen. Ich bin für Dich das von
dem Du willst, daß ich es bin im Augenblick wo Du mich so siehst wie Du mich
noch nie gesehen hast: in jedem Augenblick. Wenn ich schreibe, dann schreiben
sich von mir ausgehend alljene von denen wir nicht wissen, daß wir sie sein kön
nen, ohne Ausnahme, ohne Voraussicht, und all das was wir sein werden ruft uns
zur unermüdlichen, berauschenden, unstillbaren Liebessuche. Niemals werden wir
uns (ver)fehlen.
60
Anmerkungen
Es bleibt ihnen noch alles zu sagen, den Männem, über 1hre Sexualilät, und alles zu schreiben. Dann
was sie davon formuliert haben, gehört größtenteils dem GegensatzpaarAktivilät/Passivitllt an, dem
Kräfteverhältnis in dem sich eine erzwungen erobernde, dominierende Männlichkeit fantasiert, die
infolgedessen die Frau als .,dunklen Erdteil" vorstellt, in den es einzudringen und den es zu .,befrie
den" gilt (man weißt aber was Befrieden an Ausklammerung des Anderen nnd an <;P)h<tvtrkennung
bedeutet). Beim Erobern geschieht es schnell, daß man seine Grenzen himer sich läßt, sich aus den
Augen und dem Körper verliert. Die Art wie der Mann aus sich heraus in jene eindringt die er nicht
ftlr jemand Anderen, sondern ftlr sein Eigentum hält, bringt ihn, weiß er das, um das Reich seiner ei
genen Körperlichkeit. Da er sich mit seinem Penis verwechselt, und sieb zum Angriffaufmacht, kann
man verstehen, daß er der Frau seine Angst davor nachträgt, von ihr "eingenommen" zu werden, in
ihr verloren, absorbiert oder alleine zu sein.
2 leb spreche hier nur vom Platz der in der abendländischen Welt der Frau ,,zugewiesen" wird.
3 Welches also sind die Schriften vondenen man sagen könnte, daß sie"weiblich" sind? Ich werde hier
nur Beispiele nennen: man müßte LektUren dieser Texte vorschlagen, die, was sich in ihnen an Weib
lichkeit verbreitet, versinnbildliebend auftauchen lassen. Das werde ich anderswo tun. Ln Frankreich
(bat man unsere unendliche Armut auf diesem Gebiet bemerkt? Die angelsächsischen Under haben
Uber weit kräftigere Quellen verftlgt), wenn ich durchblättere was das zwanzigste Jahrhundert sieb
bis heute [ 1974] bat schreiben lassen, und das ist sehr wenig, dann habe ich nur bei CoIette, Margue
rite Ouras und ... Jean Genet Weiblichkeit sich einschreiben sehen.
4 Aber das innerhalb ökonomisch-metaphysischer Schranken deren Grenzen, da sie nicht analysiert,
nicht tbeorisiert sind, bald die Reichweite dieser Bewegung aufhalten, eindämmen werden (wenn
sich nicht eine heute schwer absehbare Veränderung ergibt).
5 Cf. Jean GENET: Pompesfunebres, in: CEuvres completes, lll, Paris: Gallimard, 1953, 185-186.
61
Anmerkungen zur Ü bersetzung
Claudia Simma
In seinem Text "H.C. pour la vie, c'est ä dire.. ."1 sagt Jacques Derrida Folgendes
über die besondere, seltr unkonventionelle Interpunktionsweise Heleoe Cixous':
"[.. .) niemand kann besser interpunktieren, gemäß mir, und interpunktieren heißt
schreiben, niemand weiß die Interpunktionszeichen besser wegzunehmen/wegzu
lassen [en/ever] als Helene Cixous, ja, sie zu enlever ,sie wegzunehmen, sie zu
be-schwingen' - ob sie dasteht oder nicht [qu 'elle soit marquee ou non], ihre In
terpunktion ist enlevee ,be-schwingt' - [ ... ]" ( Obersetzt von C.S.). Ilelene Cixous'
be-schwmgte (also gleichsam mit Flügeln versehene, rhythmische) Interpunktions
weise, die auch dem Lachen der Medusa seinen besonderen, fliegend-flüchtig un
bändigen Rhythmus, seine Geschwindigkeit und Vehemenz verleiht, funktioniert
musikalisch. Es geht nicht darum, die klassischen Interpunktionsregeln einfach zu
übertreten und, zum Beispiel, gar keine Kommata mehr zu setzen. Es scheint viel
mehr darum zu gehen, rhythmisch-musikalisch zum sprachlichen und klanglichen
Sinnreichtum des Textes beizutragen, was zusätzliches Lesen/Interpretieren heraus
fordert. Folgender - recht willkürlich unter vielen anderen möglichen Beispielen
ausgewählter - Satz übertritt zum Beispiel die allbekannte Regel, daß Kommata
63
zwischen die einzelnen Elemente einer Aufzählung gehören, auf mindestens zwei
sinnbringende Weisen: Mesyeux, ma Iangue mes oreilles mon nez ma peau ma bou
che mon corps -pour - (I ')autre, non queje le desirepour me boucher un trou, pour
parer a quelque mien defaut, ou talonnee destinalement par Iafeminine ,,Jalousie"
[... ]. (Le Rire de Ia Meduse et autres ironies, S. 62) Hier der deutsche Übersetzungs
versuch: "Meine Augen, meine Zunge und Sprache [ma Iangue] meine Ohren meine
Nase meine Haut mein Mund mein Körper - fiir den Anderen - als Anderes, nicht
daß ich ihn/sie/es begehre um mir ein Loch zuzustopfen, um einem meiner Män
gel abzuhelfen, oder weil mir schicksalsbedingt die weibliche ,Eifersucht' auf den
Fersen wäre." (Das Lachen der Medusa, S. 56) Naeb dem ersten Element der Auf
zählung "Mes yeux [meine Augen] • ..." steht noch ein regelgerechtes Komma. Aber
sobald "ma Iangue [meine Zunge und Sprache]" im Text genannt ist, werden die
Kommata der Aufzählung von einer Art reißendem Sprachfluß weggeschwemmt,
weggetragen (enleve). Das weiblich fließende Übergebenjedes Sinnes des Körpers
in jeden anderen bekommt dadurch musikalischen Ausdruck. Als der Text dann im
zweiten Satzteil Bezug nimmt auf verschiedene Arten, Weiblichkeit über Mangel
und Penisneid zu definieren, erscheint ein Komma, wo eigentlich keines hingehört.
In einer weiteren Aufzählung wird verschiedenen psychoanalytischen Möglichkei
ten, Weiblichkeit als Mangel zu lesen, widersprochen: [ ..] non queje le desire pour
.
64
S. 39 Es ist unerläßlich, daß die Frau sich aufund in den Text bringt - so wie auf
die Welt, und in die Geschichte -, [...]
IIfaut que Iafemme se mette au texte - comme au monde, et a I 'histoire -,
[. . .]: Im frz. Ausdruck se mettre a überlagert sich hier die Bedeutw1g von "beginnen,
sich mit etwas ause inander zu setzen; sich an etwas dransetzen, dranmachen" mit
der Bedeutung von (se) mettre au monde "(sich selber) auf die Wdt bringen, gebä
ren".
[...] alle Anzeichen für Ge gensätzlichkeit (und nicht die f\ir Unterschiedlich
keilen) zwischen den Geschlechtem [. ..]
[ .. .] tous !es signes de l 'opposition sexuelle (et non de La difference) l. . .] :
Opposition sexuelle meint die Gegenüberstellung von Mrum und Frau, von bio
logisch männlichem und weiblichem Geschlecht. Eine solche Gegenüberstellung
geht davon aus, daß männlich und weiblich ein Gegensatzpaar bilden, beziehungs-
65
weise, daß männlich das Gegenteil von weiblich ist (wie aktiv/passiv, Kultur/Natur,
Logos/Pathos, et cetera: siehe dazu auch "Sorties" in Le Rire de Ia Meduse et autres
ironies, Paris: Galilee, 2010, 7 1 ff.). Das Denken der difference "des Unterschieds.
des Unterscheidens, des Differenzierens, der Unterschiedlichkeiten, [ . .]" ent-hier
.
S. 46 [ ... ] sei ich selbst und liebe mich wie ich selbst liebe.
[ ... ] meme moi comme moi-meme. Schwierig wiederzugebendes Wortspiel,
bei dem in meme "selbst" das homophone m 'ahne "(er/sie) liebt mich" oder auch
eine, etwas abgewandelte, Fortn des Imperativs "liebe mich" mitklingt
logismus bei dem aus autre "anders, anderer" ein reflexives Verb gemacht wird
(s 'autrer).
mehrdeutige Vielstimme
equivoix: Kofferwort, gebildet aus equivoque "mehr- oder vieldeutig" und
voix "Stimme". Dieses Kofferwort erinnert daran, daß das frz. Wort equivoque sel
ber sich aus lat. aequus "gleich, unparteiisch" und vocus "Stimme, Worte" ableitet.
S. 47 Sie zerdenkt [ . .]
.
Elle de-pense [...]: Der Bindestr1ch in diesem Wort lenkt die Aufmerksamkeit
einerseits auf den Neologismus de-penser "zerdenken, ent-denken", andererseits
auf das homophone Verb depenser "(Geld) ausgeben, vergeuden, unwirtschaftlich
handeln". Sollte mit dem Thema der Ökonomie in Verbindung gebracht werden.
66
ters, der ihm soeben offenbart hat, auf welches verdrängte Verbrechen der Staat
Dänemark sich fortan gründet, als old mole, das heißt als "alten Maulwurf".
stelle, wird hier daraufverzichtet, damit die Aussage des Satzes nicht auf zu bruske
Weise einer im deutschsprachigen Raum üblichen Regel unterworfen wird. Helene
Cixous' Schreiben lebt davon, daß es Weiblichkeit oder weibliche Libido-Ökono
mie auf poetische und immer wieder neu und anders entstehende Weise sich in ihre
Texte einschreiben läßt - ohne die eine, alte Regel durch eine andere, neue zu erset
zen. Zum Thema Feminisierung, allerdings was den französischsprachigen Raum
betrifft, kann manlfrau zum Beispiel aufS. 72 von He/ene Ci
xous, Photos de Raci
nes (Paris: des femmes, 1994) eine kurze, zusammenfassende Stellungnahme lesen:
"leb glaube, man sollte die Handlungsbereiche voneinandertrennen. Der Gebrauch,
vor allem in Kanada, von Worten wie ,une ecrivaine, une auteure ' etc. ..., ist eine
militante Praxis. [...] Man ersetzt eine Institution durch eine andere, eine Fixierung
oder Grammatikalisierung. [... ] All das hat nichts mit literarischer Praxis zu tun.
Nimm einen Ameise (un fourmi - wie im Deutschen, ist im Frz.fourmi normaler
weise weiblich (AdO)), eine Adler (une aigle) : un fourmi ist vielleicht aufflHliger
als une aigle, da aigle im Französischen weiblich sein kann. Unjourmi ist weniger
geläufig. Wenn un fourmi in einem meiner Texte auftaucht, dann überrascht mich
das und ist verwunderlich, das ist unvermeidlich. Unfourmi lenkt die Aufmerksam
keit auf sich; stellt (in) Frage/n: Ia fourmi, lefourmi, uns - alles. Sobald sich etwas
dieser Art regt, erbebt alles. Mit un fourmi kann man die Welt erschüttern, wenn
man es bedenkt." (Übersetzt von C.S.) Zu /efourmi siehe auch Jacques Derrida,
"Fourmis", in Lectures de Ia difference sexuelle, Actes du colloque tenu au College
International de Philosophie, Paris: des femmes, 1990.
S. 50 [ ... ] wir werden ihnen schon zeigen wie wir Sexte machen!
[...] on va leur montrer nos sextes! Sextes ist ein Kofferwort in dem sexe, hier
67
"(weibliches) Geschlecht" und texte "Text" zusammenschwingen. Die frz. Formu
lierung macht auf diese Weise ein weibliches Geschlecht aus dem Text und umge
kehrt. Wörtlich klänge das etwa wie: Wir werden ihnen unsere sextes schon zeigen!
[... ] ihm mit ihren eigenen Zähnen auf die Zunge und Sprache beißt [ ...)
[...] que de ses dents a elle elle lui morde Ia Iangue [.. .]: Der Text spielt hier
mit der Tatsache, daß im Frz. Iangue sowohl "Zunge" als auch "Sprache" bedeutet.
S. 53 [... ] Wissen darum "w1e es geht" um das gegen die anderen auszunutzen.
[...) savoir «Comment {:a marcheJ> ajin de <<faire marchen>: schwierig beizu-
behaltendes Sinnspiel mit dem Echo zwischen den beiden idiomatischen Wendun
gen comment 9a marche "wie etwas funktioniert, wie es gebt" w1d faire mareher
,jemanden hereinlegen, ausnützen, manipulieren". Der marche, der "Markt'', klingt
ebenfalls mit an.
68
re ab: "fliegen, mit großer Geschwindigkeit kommen und gehen". Der erweiterte
Sinn "sich unrechtmäßig etwas aneignen, was einem nicht gehört, stehlen" wird im
Frz. erst in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gebräuchlich. Ausfuhr
liebere Analysen zu diesem Homonym und seinem Spiel im Text finden sich im
Beitrag "Medusas diebische Vergnügen" des vorliegenden Bandes.
[ ...] flugs sind sie vorbei, männlich-weiblich, sie fliehen, sie freuen sich die
bisch, weiblich-männlich, [. .. )
[...] ilfes passent, illesfilent, illesjouissent [...] : i n illes sind die beiden Perso
nalpronomen der dritten Person Plural ei/es (sie: die Frauen) und ils (sie: die Diebe)
miteinander vermischt.
S. 54 Niemandsperson
Personne bedeutet als Substantiv "Person, Individuum, menschliches Wesen". Da
von abgeleitet ist das unbestimmte Personalpronomen in der Verneinung ne.. .per
sonne "niemand". Beide Bedeutungen leiten sich etymologisch von lateinischen
persona "Theatermaske, Rolle, Menschentypus" und, erweitert, "Individuum" ab.
S. 55 [.. .] das also ist ihr Meer, wird mir der entgegnen, der mir sein Becken voll
vom Wasser seiner kleinen phallischen Mutter hinstreckt [ ...]
[...] Ia voila sa mer, me dira-t-il, l'autre qui me tend son bassin plein d'eau
i Frz. mer "Meer" und
de Ia petite merephallique r... ]: Spiel mit der Tatsache, daß m
mere ,,Mutter" homophon sind. Anklänge auch an matiere "Materie", das sich von
Jat. Mater "Mutter" ableitet.
S. 56 Neid/Lust
Das frz. Wort envie hat be1de Bedeutungen, "Neid, Eifersucht" und "Lust, Begeh
ren, Bedürfnis". Um das psychoanalytische Konzept des Penisneids zu dekonstru
leren, läßt der Text das Sub stantiv envie auf den folgenden Seiten zwischen diesen
verschiedenen Bedeutungen hin und her oszillieren.
S. 60 Liebessuche
chercherie d'amour: chercherie isl ein Kofferwort, in dem ehereher "su
chen", eher "lieb, teuer", cherie "Geliebte, Liebste" anklingen, und das außerdem
69
die Form eines Substantivs hat, welches mit "Sucherei" übersetzt werden könnte,
wenn das Wort "Sucberei" nicht eine negative Konnotation aufwiese.
Anmerkungen
70
Medusas diebische Vergnügen
Claudia Simma
"Voler; (sich davon)stehlen, (ent)fiiegen, das ist die Bewegung der Frau ... "1: Das
Spiel zwischen stehlen und fliegen würde aufs Erste dem unscheinbaren französi
schen Verb voler oder dem Substantiv vo/ ("Flug" und ,,Diebstahl") niemand ansehen
oder -hören: voler sieht aus wie voler und ist ihm klanglich gleich. Je nach Zusam
menhang, könnte man denken, werden sich die Leserinnen schon für den ,,richti
gen" Sinn dieses Homonyms entscheiden. Das Lachen der Medusa lenkt aber an
der schwierig zu übersetzenden Stelle, an welcher der Text selber die Übersetzungs
problematik ins Licht rückt, unsere Aufmerksamkeit darauf, wie im Französischen
hier der Sinn, nicht nur eines Satzes, sondern eines ganzen Abschnitts und darüber
hinaus Texts, durch das innere Pulsieren, durch den sichtbar-unsichtbar gemachten
Unterschied zwischen voler und voler m der Schwebe gehalten wrrd. Was aber steht
philosophisch auf dem Spiel, wenn es keinen ,,richtigen" Sinn und keine ,,richti·
ge" Lesart gibt: Wenn wir nicht anders können, als im Ungewissen schweben und
vom Text aufgerufen sind, seiner Uneindeutigkeit Gehör zu schenken? Mit anderen
Worten: Wenn wir eingeladen sind, auf die Denkanstöße zu horchen oder ihnen zu
ge-horchen, die durch die sinnschwankende Bewegung im Text ausgelöst werden?
Denn voler und der Flügelschlag des Unentschiedenen, Unentscheidbaren, das
sich aus diesem Homonym zum Beispiel für den Sinn des oben zitierten Satzes
ergibt, bestimmt im Lachen der Medusa Helenc Cixous' auch die Bewegung, inso-
73
fern sie lebendig weibliche Spuren hinterläßt und lesbar wird. Ein Wort wie voler
bewirkt, daß (uns) in der Sprache etwas geschieht, das Helene Cixous hier dem
Text zustoßen läßt: Was aber genau es ist, das flieht vor dem Festgehaltenwerden
oder Be-greif-barsein. Was sich aber sagen läßt, ist, daß dem Begreifen und dem
Bedürfnis begritllich zu fassen, zu definieren, hier etwas durch die Finger gleitet.
Voler, c 'est le geste de Ia femme: . .. 1� geste, das heißt auch die Handlungs- und
Funktionsweise der Frau, die von ihr ausgetragenen Gesten, was sie auf die Welt
bringt und wie sie es tut, ihre Gestik, die Spuren, die sie hinterläßt - und wohl auch
das, was sie zum Schreiben bewegt, einerseits, und was sie durch ihre Schreibgeste
in Bewegung setzen kann, andererseits. Für das Konzeptdenken unfaßbar flüchtig
sein, ihm entfliegen - ihm den Zugriff rauben, es auf diese Weise enteignen und in
es einbrechen: Wie ist das zu lesen?
Dieses In-der-Schwebe-gehalten-Sein voll innerer Cibergänge zwischen unter
schiedlichen Sinnen - das heißt, der dem Sehsinn und infolgedessen dem ihm tradi
tionell philosophisch verbundenen Anspruch auf Klarheit, Einsicht, Überschaubar
keit und, vor allem, Eindeutigkeit entzogene Unterschied- von dem voler gezeichnet
ist, ist melodisch-poetisch und philosophisch analog dazu, was bei Helene Cixous
difjerence sexuelle heißt. Diesem Gedanken ist es insofern interessant nachzusin
nen, als wirja, gerade was den Geschlechtsunterschied (um aufFreuds Analysen zu
diesem Thema zu verweisen) beim Menschen betrifft, gewohnt sind anzunehmen,
daß da alles klar und unmißverständlich in den Bereich des Sichtbaren gerückt ist
und erst dadurch psychisch und sozial wirksam wird. Dieser ausschließliche Bezug
zum Sichtbaren, erlaubt es aber nicht, Weiblichkeit anders zu denken, als fehlende
-
aler oder biologischer Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten zu differenzieren. Es
wird nicht nur einfach ein biologisches Geschlecht identifiziert, auf sich selber re
duziert und vom anderen getrennt, beziehungsweise das weibliche Geschlecht dem
männlichen gegenübergestellt. Diese subjektiv körperliche Erfahrung der difference
sexuelle ist aber das, was kein menschliches Wesen an der Stelle eines anderen em
pfinden (und/oder in Sprache übersetzen) kann. Nichts an einer solchen Erfahrung
ist verallgemeinerbar.
74
Welche Spuren ihrer Funktionsweisen läßt uns diese immer andere Gestik, die sich
den Übergängen, dem Zwischen4 öffnet, hier noch lesen? Da wir uns zwischen der
französischen und der deutschen Sprache hin und her bewegen, drängt sich der Ge
danke auf, daß ein Homonym wie voler und die Art und Weise, in der es im Lachen
der Medusa wie im Flug Spiel in gewisse Sätze bringt, uns die Möglichkeit nimmt,
in Ruhe und mit gutem Gewissen zu übersetzen. Um einen Satz wie: "roler; c'esr
le geste de lafemme, voler dans Ia Iangue, Ia faire voler" in einer anderen Sprache
wiederzugeben, müßte die Übersetzung eigentlich bei jedem voler aller drei hier
aufeinander abfolgenden, verschieden lesbaren voler nach einem Sinn haschen. Vo
ler oder voler? Stehlen oder Fliegen, stehlend fliegen, fliegend stehlen? Wie soll
man da entscheiden? Aber umgekehrt: wie soll man denn da nicht entscheiden,
wenn man übersetzen muß? Solche Übersetzungsentscheide bedeuten aber eine
einschneidende Vereinfachung der fließenden Übergänge zwischen verschiedenen
Sinnen, ein Reduzieren der vielfaltigen Beweglichkeit des Ausgangstextes, auf den
einen Sinn, den die Übersetzung festschreibt - manchmal sogar aus ganz unwill
kürlichem "Verstehen" heraus und ohne sich ihrer Willkür dabei auch nur bewußt
zu werden.
In ihrem Text "Un effet d'epine rose"s, welcher der 2010 erschienenen französi
schen Neuauftage des Rire de Ia Meduse vorangestellt ist, widmet Helene Cixous
dem vol folgende Zeilen, während sie darüber spricht, wie lange Medusa schon in
englischer Sprache rund um die Welt fliegt, ohne daß sie sich ihrer Autorio je aufge
drängt hätte, diesen von ihr fast vergessenen und in Frankreich längst vergriffenen
Text neu publizieren zu lassen:
Aber maneilmal wurmt es michja doch ro sehen daß der Vol, der mir so lieb ist, und das vor allem dank
i deren Genuß er im Französischen kommt, im Englischen nur ein halber vol ist da dort
der Homonymie n
das Unentschiedene in der Übersetzung verlischt Es ist als flöge meine Medusa mit nur einem Flügel
[aile], sie [elle] die so viele hat Da wird man uns wohl in der Übersetzung einen vol gestohlen haben
[vote un vo/].6
... on nous aura vole un vol ,. ... man wird uns einen vol gestohlen haben": ja, nur
welchen ...? Immer den, an den man gerade nicht dachte, nicht wahr? Und in der
deutschen Übersetzung dieses Absatzes, die ich hier versuche, ist Medusa gleich
noch einmal um einen ihrer F!Ogel gebracht. Um einen weiblichen F!Ogel noch
dazu, denn aile "Flügel" und elle "sie" (das weibliche Personalpronomen) sind im
Französischen homophon - ein Wortspiel rund um Fliegen und seine BezUge zu
Weiblichkeit?, das in die Fiktionen Helene Cixous' mit immer neuem Flattern Ein
gang findet und an das "Un effet d'epine rose" hier verstohlen erinnert. Im Lachen
der Medusa hingegen bekommt das geflilgelte weibliche Personalpronomen der
dritten Person Plural ei/es ("sie"-weiblich) einen "männlichen" Flügel mit auf den
75
Flug und wird, vermischt mit dem männlichen i/s ("sie"-männlich) im Text zum
Kofferwort illes, das die flink flüchtige Beweglichkeit bedeutet, die Frauen und
Dieben gemein ist:
[...] illes passent, illes filent, illesjouissent de brouiller !'ordre de l'espace, de le desorienter, de changer
de place les meubles, !es choses, les valeurs, de faire des casses, de vider !es structures, dc cbambouler
le propre.8
[ ...) ftugs sind sie vorbei, männlich-·weiblich, sie fliehen, sie freuen sieb diebisch, weiblich-männlich, die
räumliche Anordnung durcheinander zu bringen, m der Orientierung zu stören, die Möbel, Dinge. Wene
zu verschieben, einzubrechen, die Rahmenstrukturen zu leeren, Eigenrum umzustürzen.•
(Hervorhebungen von mir. C.S.)
76
deshalb, weil es sich einer phallischen Funktionsweise nicht angleichen, sich nicht
auf sie zurückftlhren läßt; einer Funktionsweise, die einerseits jeden Unterschied
ins Verhältnis zum einen, gleichen, mit sich selbst identischen Sinn und Wert
(Phallus) setzt12 und, andererseits, notwendigeiWeise zahlreiche Ausschluß- und
Verdrängungsmechanismen hervorbringen muß. Denn, was dem Verständnis nicht
dient, das kann dem logischen Diskurs ja im wahrsten Sinne dc:; Wortes "gestohlen
bleiben": verdichtende Sprachspiele, besondere Meloclie, ganz eigener Tonfall, po
etische Wendigkeit und Rhythmus eines Texts und, vor allem, die geheimen Wirk
samkeiten, die ein Text dadurch entstehen läßt. Alles, was singbarer Rest ist und so
mit nicht auf den einen, übersetzbaren, "Export-Importsinn" zurückgeftlhrt werden
kann, das bleibt ftlr gewöhnlich ungehört, verdrängt, ungelesen (beziehungsweise,
im Falle einer Übersetzung, oft tatsächlich nicht einmal mehr lesbar).
Natürlich ist Das Lachen der Medusa ein "theoretischer" feministischer Text und
dadurch dem logischen Diskurs und seinen argumentativen Fw1ktionsweisen bis zu
einem gewissen Grade verpflichtet. Aber Helene Cixous versagt sich das VergnUgen
nicht, die Schienen der objektiven logischen Argumentationsfilhrung zu verlassen
und zu voler dans Ia Iangue, Ia faire voler: ,.in der Sprache stehlend [zu] enrtlie
gen, die Sprache dazu [zu] bringen, sich flugs davonzustehlen". Und obwohl Das
Lachen der Medusa in jeder Übersetzung notwendig poetische Federn läßt Ulld uns
das Lachen, das aus dem Text aufsteigt, nur gedämpft an die Ohren dringt, so ist
doch diese Besonderheit bestimmt auch eine der vielen Ursachen ftlr den seit bei
nah vierzig Jahren andauernden Flug dieses Textes rund um die Welt. Man spürt
dem Lachen der Medusa den heftigen Atem der Fiktionen an, deren Autorio Helene
Cixous in erster Linie ist: So die Atmungen ihres oben zitierten Textes Sauffies zum
Beispiel, der beinah zeitgleich mit dem Lachen der Medusa veröffentlicht wurde
und in dem der vol über seine Beziehung zum Schönen zur Erfindung einer anderen
Ästhetik beiträgt. An dieser Stelle ist es interessant, darauf hinzuweisen, daß Helene
Cixous oft darüber gesprochen hat, wie sie sich beim Schreiben selbst bestiehlt zu
Anfang ihrer Arbeit als Schriftstellerio mit schrecklich schlechtem Gewissen und
so eigentlich zu ihrer eigenen Diebin wird. Denn in ihr Schreiben bricht ohne Unter
laß die Welt ihrer Träume ein - oder umgekehrt, ihre Träume in die ihres Schrei
bens. Sie entwendet ihre Träume dem Unbewußten, schreibt mit ihnen13 oder läßt
sich von ihnen schreiben. Träume und das Cnbewußte, dessen Ausdruck sie sind,
arbeiten aber auch mit poetisch zu nennenden Verschiebungen und Verdichtungen
und sagen verstohlen das, was aus der bewußten Welt verdängt bleiben soll.
Genau aufjenen poetischen Schwingen aber, die dem Bewußtsein und seinem
begreifenden Konzeptdenken gestohlen bleiben können, durchfliegt Das Lachen
77
der Medusa sinnverwirrende Abgründe ohne ihr unordentliches Chaos zuzuschüt
ten und unsichtbar machen zu wollen. Sie läßt ihre Leserinnen diese chaotische
Öffnung erfahren und lacht über unser gewohntes gemessen-philosophisch-theo
retisches, ein bißchen steifes-rigides-erigiertes Aufrechtgehen. In dem 1994 erschie
nen Gesprächsband Photos de racines sagt Helene Cixous: " [...] eine aufrechte
Körperhaltung einnehmen, jener gleich die sich theoretisch nennt, das ist ganz und
gar nicht mein Anliegen." 14 Sie verwahrt sich hier dagegen, nur als Autorio von
feministischer Theorie zu gelten:
Im Lebendigen ist Kontinuität, da wo Theorie Diskontinuität, Trennung mit sich bringt, all solches, was
dem Leben zuwiderläuft. Ich belege aber nicht jegliche Theorie mit einem Fluch. Theorie ist manchmal
unerläßlicll, um F01tschritte zu erzielen, nur alleine ist sie falsch. (eh entschließe mich zu ihr, wie zu
einem riskanten Hilfsmittel. Sie ist eine Prothese. Alles was vorgeht und weiterfuhrt ist luftverbunden
[aerien), losgelöst, nicht einzuholen. Also bin ich besorgt, wenn ich gewisse Lesetendenzen sehe: sie
halten dlb Reserverad für den Vogel.'1
Medusa ist zwar nicht ein "Vogel" im Sinne von Helene Cixous' Fiktionen, die
frei sind, Welten zu erfliegen und die das obige Zitat meint. Solchen Vögeln kann
nur folgen, wer sich ihrem Flug verbindet und das philosophisch Aufrechte - auch
alles moralisch Aufrichtige, oder dafllr Gehaltene - hinter sich läßt. Beim Fliegen
Lesen liegt oder schwimmt man sozusagen in der Luft des Texts und läßt hinter
sich, was sich gehört (in jedem möglichen Sinn). Im Gegensatz zu diesen poeti
schen Vögeln, ist Das Lachen der Medusa eine "bewußte, pädagogische, didakti
sche Bemühung, gewisse Überlegungen zusammenzustellen und zu ordnen, um ein
Minimum an Verstand zu unterstreichen"16• Sie gehört ja tatsächlich einem genau
datierbaren, historischen Moment in der Diskussion um den Unterschied zwischen
den Geschlechtern an: den siebziger Jahren und ihren intellektuell anspruchsvollen
ideologischen Auseinandersetzungen. Helene Cixous benützt aber, in diesem, zwar
in militanterAbsicht geschriebenen Text, eine gewisse ",Form' von Schrift"17, wie
ich am Beispiel von voler zu zeigen versucht habe. Diese ,.form" von Schrift ist es
wohl, die aus dem Lachen der Medusa diesen komischen Vogel macht, der s1ch allen
"Du sollst nicht voler"-Geboten entzieht- uns zur Freude.
78
Anmerkungen
I Helene CIXOUS, Sor@es. Paris: des femmes 1975, 163.
2 Soujfies (auf Deutsch etwa .,Atmungen, Atemzüge..) st i noch nicht ins Deutsche übenragen. Die
se beiden Übersetzungsversuche, die aber die Möglichkeiten eines solch unübersetzbaren Satzes
keineswegs erschöpfen, sind von mir. Hier noch weitere Satz,,atmungen": das Komma nach doiL.
bewirkt nämlich, daß sieb der S ion der Aussage erst recht nicht entscheiden läßt: Au vol ma Iangue
i
doit verleiht dem Verb devoir "schulden, müssen, danken'', neb en den soeben aufg.:;,:ählten
Bedeutungen, auch noch einen absoluten Sinn. Was geschuldet oder verdankt wird, stiehlt sich da
durch perfonnativ aus dem Satz weg oder fliegt ihm und uns davon, zum Beispiel so: "Dem vol dankt
meine Sprache, vielleicht daher daß sie sich im Französischen bewegen will, was es ihr ennöglicht
sich in mehreren Sinnrichtungen davonzustehlen ..." und der Satzsinn bricht ab oder nach mehreren
Riebrungen hin auf ... Diese Öffnung bleibt in der französischen fonnulierung neben den anderen
Lesanen hör- und spürbar. Neben dem grammatikalischen Objekt des Verbs devoir, das durch das
"vielleicht" in Frage gestellt bleibt, steht Helene Cixous' Sprachehier also absolut in der Schuld des
vol. Was oder \vie diese Sprachschuld in der Schrift verzeichnet ist, bleibt uns zu lesen. All das in
einem Satz, der sich das diebische Vergnügen macht, so zu tun, als spräche er das klassische Fran
zösisch des Grand Siecle: Das vor die Infinitive gestellte Reflexivpronomen in se wmloir mouvoir
(in modernem französisch müßte es heißen vouloir se mouvoir) imitiert dessen ehrwürdigen Tonfall
anscheinend nur, um die kl assi sche Sprache und ihre, im 17. Jh. festgelegten Regeln des logischen
Diskurses, besser "in die Luft zu jagen", lesfaire voler en eclats.
3 Die frz. Formulierung dieses Satzes lautet Voler; c 'est Je geste de Ia femme, voler dans Ia Iangue,
Iafaire voler. Möglichst wönlich übersetzt: .,Fliegen-Stehlen, das ist die Bewegung der Frau, in der
Sprache stehlen-fliegen, die Sprache dazu bringen, zu fliegen-stehlen." Vgl. dazu: Helene CIXOUS,
Das Lachen der MedtJSa, aus dem Französischen von Claudia Simma, in: Esther HUTFLESS, Ger
trude POSTL, Elisabeth SCHÄFER, Helene Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuel
len Beiträgen, Wien: Passagen 2017 [2013], 53.
4 Entre heißt dieses ,,Zwischen" im Lochen der Medusa. Auch hier spielt der Text mit Polysemie,
denn entre kann auch \vie der Imperativ des Verbs entrer gelesen werden: ,,komm herein, trin ein!'·.
Gemeinsam kl ingt das dann zum Beispiel wie: .,Tritt ein in den bviscbenraum, komm dahin, wo die
Drnge unentschieden sein können".
5 Helene ClXOUS, Un effet d'epine rose, in: Le Rire de Ia Meduse et autres ironies, Paris: Ga\i
lee 2010, 23-33. Es sei hier nur ganz kurz darauf hingewiesen, daß der Titel .,Un effet d'epn i e
rose" ein interessantes Beispiel an Verdichtung aus beweglich männlich-weiblichen Differenzen
darstellt Die Rückkehr Medusas ins Französische gibt Helene Cixous einen Stich, sagt sie, den sie
in scherzhaftem Ernst als den ,,rosa Dorneffekt" bezeichnet (cf. Le Rire de Ia Meduse, op. cit., 30).
Einen rosa Stachel oder Dom assoziiert man ohne große Mühe mit einem phallischen Symbol - dem
aber das Rosarote auch gleich seine phallische Spitze nimmt und eher an ein ganz unphallisches
männliches "Vogi" (noch ein Vogel!) erinnert. Außerdem meint das Wort rose im Französischen
nicht nur das Farbadjektiv .,rosa" (zum Beispiel ofi immer noch neugeborenen klernen Mädchen
zugeordnet), oondem auch das Sub�tantiv •.Rose". Dre Rose ihrerseit> ist aber ein ausgeprägt weib
liches Symbol, außerdem emer langen poetischen Tradition Weiblichkeit zu besmgcn verbunden.
Auf gewisse Weise hat Das Lachen der Med1.sa tatsächlich die Welt militant-phallisch eroben und
die Macht Ober seine Autorio ergriffen: ,,Medusa ist viel schneller, viel weiter, vtel krafiiger vor
wärtsgekommen als meine Fiktionen und später men i Theater. Ganz ehrlieb gesagt, war ich darüber
verargen. [...) Ich wurde die Autorio des Lochens der Medusa, auf der ganzen Welt, anders ge
sagt ihr Vater, oder h
i re Dienerin!" (29; Wenn nicht anders angegeben, stammen dte Übersetzun
gen aus noch nicht ins Deutsche übertragenen Texten von mir (C.S.)). Dabei besingt dteser Text
ja auch Weiblichkeit jenseits von Opposition und (Geschlecbter)Krieg und schreibt s1e aucb ein.
Die Wurzeln des im Französischen differentiell bisexuellen ,,rosa Dorneffekts" (ein Rosendornef
fekt wären weniger unerwanet aber auch weniger interessant - er schwingt allerdings trotzdem mit)
reichen tief in die seit Jahren andauernde Arbeit Helene Cixous' an Prousts Recherche hmein . Diese
Arbeit findet in ihrem Seminar statt und ist nicht veröffentlicht, aber ein Echo davon ist rom Beispiel
in dem 2005 bei Gali\ee erschienen Band Le Tablier de Sirnon Hantar zu lesen.
79
6 lbid., 30.
7 Über die aufs Erste überraschend anmutende As snziationskette, in der das uralte kulturelle Thema
des Unreinen (l'1mmonde, impropre . unrein" aberauch "un-eigen, ungehörig' ) Vögel (zum Beispiel
. '
m der Bibel als unrein von der Nahrung ausgeschlossen), Dichter (man kann sich an Thot erinnern ,
den ägyptischen Gott mit dem Falkenkopf, der die Schrift erfindet aber auch daran, daß Di chter sich
mit Vögeln und ibrer Freiheit, ihrer Schönheit identifizieren, aber als den Sinn "verunreinigend" oft
filr vogelfrei erklärt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden) und Frauen (ebenfalls "un
rein": zu verschleiern, unsi chtb:�r körper und sprachlos gemacht) \'erbindet, kann man. beispiels
,
weise, in: He1ene CIXOUS Three Sreps on rhe Ladder ofJVriting, New York: Co1umbia University
,
Metonymie, zum symbolischen Bezugspunkt für alle Denk- und Handlungsstrukturen, die Einheit,
Eindeutigkeit, ldentifizierbarkeit nicht nur anstreben, sondern auch als den po siti v zu bewertenden
Nonnalfall darstellen. Der von Derrida geprägte Begriff Plrallogozentrismus gtbt dieser Funktions
weise, dieser economie, einen sprechenden Namen. Man kann sagen, daß dtese phallogozentrische
Funktions- und Denkweise in unserem Kulturerbe dominiert - auch wenn si e weit davon entfernt
ist, die einzig mögliche zu sein. Wie Helene Cix.ous m
i Lachen der Medusa zetgt, entspricht es einer
Reduktion, einer verdrängenden Vereinfachung, wenn alles, was menschlich lebt und webt, kreucht
und fleucht, in diese eine, phallogozentrische Funktionsweise zwangsübersetzt wird. ln ihren Fikti
onen schreiben sich immer aufs Neue Welten, die vom Phallogozentrismus nicht eingeholt werden
können.
13 Eines unter Abertausenden von Beispielen findet sich im oben zitierten "Un effet d'epine rose": Dort
träumt der Text plötzlich von einer Herde rosa Pferden, die durch di e Luft fli egen und an Pegasus er
innern, das geflügelte Pferd. Auf ihre Enthauptung durch Perseus antwortet Medusa nämlich, indem
sie Pegasus auf die Welt bringt, das geftOgclte Fabelwesen, Freund der Musen und Dichter.
14 Helene CDCOUS. Photo.rderacines. par Mireille Calle-Gruber et Helene Cixous, Paris: des femmes
1994, 17. Ins Deutsche über�etzt lautet der Titel etwa "Wurzelphotograpbien", das heißt, wenn man
den doppelten Genitiv berücksichtigt, sowohl Photographien. aufdenen Wurzeln zu sehen sind, als
auch Photographien, die von diesen Wurzeln aufgenommen worden sind.
15 lbid., 14.
16 lbid., 15.
17 lbid., 17
80
Wir, Schreiben, Lust
San Man
Der Körper ist im Fokus. Aber er hat keinen. Und der geht hm
i auch nicht ab. Erst
dann, wenn er was in sich suchen soll. Aus sich was rausholen, sich enträtseln. Das
genau geht nicht. Was geht, ist durchlassen, vorbeilassen, aufschnappen.
Es gibt Texte, die liest man, es gibt welche, von denen wird man gelesen und es
gibt solche, die kommen vorbei und lesen eine auf. Wie wenn man irgendwo eher
zufällig mitgenommen wird; aufgelesen, nicht abgeschleppt; irgendwohin gebracht,
wovon man immer irgendwie wusste, dass es das gibt, das man aber vergessen hat
te. "Solche Texte" sind keine Gattung, so wenig wie das, woran sie erinnern, wohin
sie eine mitnehmen und worin sie eine aufnehmen, ein Bereich, ein Gebiet oder
eine Disziplin ist; es ist eher das Erinnern selbst, woran sie erinnern. Ein lrgendwo,
das sich seiner Bestimmung immer entzieht. Nicht ein Irgendwo, Irgendwohin, das,
weil unbestimmt, leer wäre, sondern bewohnt mit einem Irgendwir.
Wir, Schreiben, Lust Parataktik, keine Programmatik, aber widerständig; nicht wie
derholbar, nicht imitierbar, aber ansteckend. Sich anstecken lassen und sich erin
nern. Sich daran erinnern, sich anstecken zu lassen; raus aus der Abkapselung, dem
Narzissmus, den Projekten und Projektionen und sich von einander, von Lust auf
einander anstecken lassen.
Ob wir auf emander Lust haben, macht emen Unterschied. Immer w1eder raunt es
mich an: die Lust ist vergangen. Am Schreiben, am Tun, am Vögeln, am Suchen,
am Finden. Warum lässt sie sich so gern und immer wieder vom Verlust ersticken?
(An dem es auch eine Lust gibt, aber eine armselige, eine auf Erschöpfung abzie
lende, eine, die sich die Ersch öpfung zum Ziel setzt, eine, die nur kommt, um sich
eh schon erschöpft zu haben).
Aber es ist gar nicht schlimm, es ist nur die eine Lust, die Lust am Einen vergangen,
die, die sich in unzähligen Darstellungen des Immerseiben pennanent unter Beweis
83
stellen muss, die dauernd demonstrieren muss, dass es sie gibt, die sich aufrichten
muss. Nur diese sich empörende Lust, nur die Lust an Empörung, an Aufstand, an
Erektion.
Schreiben, umschreiben, (sich) desorientieren und offen lassen. Was andres tun, als
schreibend Schreiben verbarrikadieren, hintt:r Zitaten, die befestigen und absichern,
hinter Bestätigungen, die dann als Affirmation verkauft werden und hinter Imperati
ven des "was gesagt werden muss" und immer nur meinen: jetzt und von mir.
.
Wir, Schreiben, Lust Klang, Tonfall, Wendungen und Windungen, kein Innehalten,
kein Thematisieren, auch kein Entgegensternmen; woanders anfangen, kein Abar
beiten und kein Fertigwerden.
Das kommt nicht auf Kommando, das passiert: auf einen Tonfall treffen, der nicht
voraus- oder nacheilender Gehorsam ist und vor der Betriebsleitung präventiv ein
knickt. Die Unstimmigkeit treffen. Voraus- oder nacheilend, eine Frage der Zeit.
Nicht für die Langsamkeit und gegen die Hektik, sondern Warten. Ich warte, gerne,
ungeduldig.
84
-
Die Kraft der Liebe
Elissa Marder
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Gertrude Post/ und Elisabeth Schäfer
Sie allein wagt und will von Innen her Kenntnis haben, vom
Innen dessen Sprachvorstufe sie, die Ausgeschlossene, nie
aufgehört hat klingen zu hören. Sie läßt die andere tausend
sprachige Sprache sprechen, die weder Mauer noch Tod
kennt. Dem Leben verweigert sie nichts. Ihre Sprache dämmt
nicht ein, sie trägt, sie hält nicht zurück, sie macht möglich.
Helene Cxous,
i DasLachen der Medusa'
Wer hätte je vorhersehen können, dass Das Lachen der Medusa die Welt der femi
nistischen Theorie derart erschüttern und zu einem der anhaltend einflussreichsten
kritischen Texte des späten 20. Jahrhunderts werden würde?
Sogar jetzt, da wir nach all der Zeit, die inzwischen vergangen ist, zurückblicken
auf diesen Text, entdecken wir, dass der explosiven Kraft dieses schmalen Essays
etwas wahrhaft Überwältigendes und vielleicht auch zutiefst Ironisches anhaftet. Zu
dieser Ironie gehört auch der Umstand, dass es ausgerechnet die Übertragung ins
Englische war, die den Flug des Lachens um die Welt zu allererst lanciert hat. Un
geachtet dessen, dass sie über sechzig einschlägige literarische Werke in französi
scher Sprache publiziert hat (ohne ihre Theaterstücke oder ihre kritischen Arbeiten
mitzuzählen), ist Helene Cixous außerhalb des französisch-sprachigen Raumes bis
heute vornehmlich flir die zwar wohlmeinende aber nichtsdestotrotz höchst proble
matische englische Übersetzung von Le Rire de Ia Meduse bekannt. Keith Cohens
und Paula Cohens Übersetzung von Cixous' Lachen erschien zuerst in dem ameri
kanischen akademischen Journal Signs im Jahr 1976 und wurde in der Folge in der
Anthologie New French Feminsms,
i herausgegeben von Elaine Marks und Isabelle
de Courtivron, wieder abgedruckt und erschien zur großen Freude feministischer
Kreise im Jahr 1980.
Von Beginn an war das Schicksal des Lachens der Medusa gekennzeichnet von
einer Vielzahl von Paradoxien, Widersprüchen und komplexen Ironien, die sich aus
einem radikalen Auseinanderfallen zwischen den in Cixous' Essay aufgeworfenen
87
Fragen an die Sprache und der Art ergeben haben, wie ebendiese Fragen durch
die Sprache der englischen Übersetzung ausgelöscht und durch eine Reihe von
Anliegen - alle bestimmt durch den kulturellen Kontext, welcher die Übersetzung
hervorbrachte und zirkulieren ließ - verschoben wurden. Obschon der Essay sehr
bald als Vorbote eines neuen feministischen Schreibens begrüßt und als militantes
Manifest dessen aufgefas�t wurde, wa� al� ,,Französischer Feminismus" bekannt
werden sollte, ist es wichtig daran zu erinnern, dass dieser sogenannte "Französi
sche Feminismus" als solcher lediglich ein kulturelles Produkt des anglo-amerika
nischen Diskurses gewesen ist, und (zumindest anflinglich) einzig in englischen
Übersetzungen existiert. DerBegriff,,Französischer Feminismus" ist also im Grun
de von der englischen Sprache geprägt worden und hat seine spezifische Bedeutung
aus der Art und Weise bezogen, wie er in den- sich entwickelnden und verändern
den - feministisch-akademischen Kontext der späten 70er und frühen 80er Jahre
in den üSA eingeschrieben wurde. Es ist bekannt, dass es sich bei dem Ausdruck
"Französischer Feminismus" um einen Sammelbegrifffür eine sehr diverse Gruppe
französisch-sprachiger Autorinnen (zumeist werden Helene Cixous, Luce Irigaray,
Julia Kristeva und Monique Wittig zu dieser Gruppe gezählt) handelt, die wohl
nicht sehr viel mehr eint als die gemeinsame Sprache (Französisch) und die Auf
fassung, dass Fragen der Sexualität und Politik untrennbar mit solchen der Sprache
und der Repräsentation verbunden sind. Paradoxerweise wurde jedoch gerade durch
die im Zuge der englischen Übersetzung erfolgte Zusammenfügung als Gruppe ihr
einziges gemeinsames Anliegen (die Untersuchung dessen, wie sich Geschlechter
politik [sexual politics3] in die Strukturen von Sprache einschreibt) am stärksten
verschleiert und verstellt.
Während es außer Frage steht, dass die amerikanische Publikation des Lachens
der Medusa für Feministinnen aller Richtungen ein wahrhaftig explosives, inspi
rierendes und transformatives Ereignis gewesen ist und dieser Text in der Tat neue
Strömungen feministischen Schreibens ins Leben gerufen hat, wurde die arnerika
nische Rezeption des Lachens gleichzettig auch zum Schauplatz einer enttäuschen
den Verfehlung von Cixous' Schreiben und Denken im allgemeinen, und ihr Text,
obschon oft zitiert, zum Gegenstand einiger unglücklicher Missverständnisse und
zur Zielscheibe zahlreicher verkürzender Febldeutw1gen.4
Um zu verstehen, wie und warum Cixous' Lachen weiterhin sowohl eine zwingen
de Ausstrahlung zukommt als auch seltsam missverstanden bleibt, ist es notwendig,
zum Ausgangspunkt seines gewaltigen Gelächters zurückzukehren. Der Text lacht,
bevor er spricht. Von Anfang an setzt diese Form der Kommunikation Sprache nicht
ein, um Sinn zu erzeugen, zu sprechen, oder Behauptungen aufzustellen, sondern
eher als eine Form der Berührung, die ihre zukünftige Leserio erschüttert und zu
88
einer Entwicklung bewegt. Wenn daher dieser Text "eingeschlagen hat" (trotz der
vielen Ungenauigkeiten der Übersetzung), dann zum Teil deshalb, weil sein Lachen
ansteckend ist. Wie der Ausbruch von verrücktem Gelächter (was die Franzosenfou
rire nennen) bringt die Berührung durch Cixous' Text seine zukünftige Leserin zu
allererst hervor, indem er sie in dieses gemeinsame Gelächter hineinzieht.
Lachen widerfahrt einem Körper in der Gemeinschaft mit anderen Körpern: Es
ist ein intimes erotisches Ereignis, das nichtsdestotrotz an andere gerichtet und mit
anderen geteilt wird. Es ist selbstaffektiv, kommunikativ und kommunizierbar. Je
mand, der lacht, bringt jemand anderen zum Lachen. Im Gegensatz zwn einsamen
Gelächter des Wahnsinnigen ist das verrückte weibliche Lachen des Lachens der
Medusa angenehm ansteckend, auf eine aufregende Weise störend. Es erzeugt sei
ne eigenen Bedeutungen, indem es den von kulturellen Gesetzen vorgeschriebenen
Paradigmen zufolge genau keinen Sinn ergibt. Indem er sich respektlos und spie
lerisch der psychoanalytischen Beschreibung von Lachen als einer transgressiven
Entladung gebundener Libidoenergien bedient, appelliert Cixous' Text an die Quel
len des Unbewussten, um den Akt der Bedeutungsgebung von jenem verarmten
und eingeschränkten Feld loszulösen, das von traditionellen philosophischen Kon
zepten reguliert wird, welche die Gesetze einer (patriarchalen) Kultur garantieren.
Die Kraft ihres Lachens löst Worte von Konzepten los und stellt die Sprache des
Gesetzes in Frage, indem die Bedeutungsproduktion vom Bereich des artikulierten
Sprechens zu jenem einer vergnügten Handlung, vom philosophischen Konzept zu
einem körperlichen Ereignis verschoben wird. Lachen kommt vor der Sprache und
führt uns zu ihrem Ursprung zurück; Lachen ist weder innerhalb noch außerhalb
der Sprache: Es macht sich selbst hör- und fühlbar, es reagiert und bedeutet, mani
festiert sich und handelt - alles ohne je ein Wort zu sagen. Lachen ist eine Urform
der Übersetzung, indem es an allen natürlichen Sprachen teilhat und doch zu keiner
•
von ihnen gehört. Seine Niederschrift entspringt dem ursprünglichen, resistenten,
erotischen Lachen, das die Gesetze der Sprache bewohnt und ihnen von innen her
widersteht. Im Französischen hält sich das Verb "lachen" (rire) im Verb "schreiben"
(ecrire) auf. Indem sich in Cixous' Text das latente Gelächter im Schreiben entlädt,
wird er zum lebenden Beweis dafür, dass Schreiben im Körper, dem Körper und mit
dem Körper passiert. So wie es kein Lachen gibt, das nicht den Körper erschüttert,
ihn von seiner Achse in Erregungen und Spasmen wirft, kein Lachen, das nicht die
Welt in ihren Bahnen stoppt und das Selbst in das Außerhalb seiner selbst schleu
dert, ereignet sich weibliebes Schreiben in der Sprache des Körpers und es passiert
dem Körper der Sprache.
Wir könnten sogar darüber spekulieren, dass für viele anglophone Leserllmen,
die von Cixous' Text berührt und begeistert waren, die Übersetzung paradoxer-
89
weise den Einfluss des skandalösen, zweideutigen Lachens, das von ihrem Text
her kommt, verstärkt haben mag, während sie gleichzeitig einen Großteil des spie
lerischen, witzigen und erfind ungsreichen Humors im Text zum Verstummen ge
bracht bat. Viele der Probleme der Übersetzung können der Tatsache zugeschrieben
werden, dass das Französische, im Gegensatz zum Englischen, eine geschlechtlich
markierte Sprache [gendered language] i:.t. In der Übertragung von einer expli
zit geschlechtlich markierten [sexed tonguep zu einer angeblich neutralen Sprache
hat die Übersetzung unbeabsichtigt einen provozierenden poetischen Text, in dem
sich das Schreiben der sexuellen Differenz innerhalb des Körpers der französischen
über die Sprache
Sprache ereignet, zu einem militanten feministischen Manifest
des Körpers umgewandelt. Obwohl daher die Übersetzung des Lachens eine ganze
Welt von Frauen zum Lachen brachte, mag es durchaus der Fall sein, dass einige
der Frauen, die am lautesten gelacht haben,jene gewesen sind, die den trickreichen
Humor des Texts nicht verstanden haben. Im Unterschied zum Lachen selbst (aber
der Poesie vergleichbar) wenden Witze, Wortspiele und Scherze eine Sprache von
innen nach außen und stellen sie auf den Kopf, vom Innen der Sprache her, "dans
Ia langue"6.
Cixous' Text bricht sozusagen in lautes Gelächter aus, mit offenem Mund, und
legt dadurch sowohl die erotischen Möglichkeiten als auch die Geschlechterpoli
tik [sexual politics] offen, die immer schon in der Sprache am Werk sind, "dans
Ia Iangue". Die Zunge ist beides, ein körperliches Bild für die Sprache sowie der
f jenen Körperteil, der Sprechen ermöglicht. Aber sie ist auch ein Bild für
Name ür
die Art und Weise, wie sexuelle Differenz und Bisexualität den Körper bewohnen
- wie die Zunge den Mund. Insofern es sich um eine geschlechtlich markierte Spra
che [gendered language] handelt, wird jede Äußerung im Französischen [French
tongue] zu einem Ausdruck sexueller Differenz.
Es sei hier erwähnt, dass die Übersetzung von l 'ecriture fbninine als women 's
writing im ersten Satz des Essays als eine der Hauptursachen für die zahlreichen
Missverständnisse und irrtüm lichen Lesarten des Lachens im anglophonen Kontext
anzusehen ist. Im Französischen ist das Wortfeminine natürlich ein Adjektiv, das
ein (weibliches) Substantiv modifiziert und nicht eine Qualiät
t des Schreibens, die
mit jenen Menschen assoziiert wird, die aufgrund ihres biologischen oder sozt alen
Geschlechts "Frauen" sind. Weibliebe Schrift ist eine Beziehung zu Sexualität und
Körper, die steh in der Sprache ereignet. Indem das Bestimmungswort feminine
dem Substantiv ecriture beigefUgt wird, erinnert uns Cixous auf spielerische Weise
daran (mit e inem imp liziten Kopfnicken in Richtung Jacques Derridas), dass das
Wort "Schrift" im Französischen immer schon weiblich gewesen ist.
Und mit ihrem spielerischen grammatikalischen Pleonasmus (ecriturefeminine)
90
fUhrt sie die Schrift zu ihrem weiblichen Ursprung in der Sprache zulilck, "dans Ia
Iangue".
In der englischen Übersetzung scheintjedoch die Betonung aufeiner vorgestellten
Kategorie erkennbarer "Frauen", genauer: den schreibenden Frauen, zu liegen, stan
auf der weiblichen Beziehung zum Akt des Schreibens. Die lmplikationen dieses
Unterschiedes sind enorm: fm ersten Fall bezieht sich "weibliches Schreibe::n" auf
eine Art des Schreibens und eine Beziehung zur Schrift, die von einer Person jeden
Geschlechts ausgefiihrt werden kann (und es sei hier daran erinnert, dass Cix.ous im
Lachen explizit Jean Genet als einen weiblichen Schriftsteller erwähnt), die Eng
lische Übersetzung hingegen impliziert nicht nur, dass "Frauenschrift" [women s
writing] etwas ist, das nur von Frauen hervorgebracht werden kann, sondern auch,
dass es möglich ist zu wissen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, und dass es aus
reiche, eine Frau zu sein, um in der Folge dazu in der Lage zu sein, ,,Frauenschrift"
[women s writing] zu produzieren.
Allein durch diese domestizierende Geste der Übersetzung wird die gesamte de
konstruktive Kraft von Cixous' Lachen einem Risiko ausgesetzt.
Das Lachen der Medusa beginnt -beriihrnt - mit einer gewundenen Adresse an die
zukünftigen Akte weiblichen Schreibens, die wie eine magische Beschwörung oder
ein Zauberspruch widerhallt: "Je parlerai de l'ecriture feminine: de ce qu 'ellefera."
[Ich werde über weibliche Schnft sprechen: darüber was sie bewirken wird7]. Das
"Ich", welches den Text eröffnet, indem es sich der grammatikalischen Zukunft
bedient, kündigt nicht nur an, dass sie in der Zukunft über die Zukunft sprechen
wird, sondern - radikaler noch - der Text impliziert auch, dass sie ebenso von der
Zukunft her sprechen wird.8 Die zukünftige Sprecherin, die die zukünftigen Er
findungen der weiblichen Schrift heraufbeschwört, wird selbst als Sprecherio von
eben dieser Zukunft der weiblichen Schrift, über welche sie verspricht zu sprechen,
hervorgebracht [en-gendered]. Obwohl der Text in der ersten Person zu sprechen
scheint, impliziert sein Insistieren auf zukUnftigen Ereignissen, die von dem, was
weibliche Schrift n
i der Zukunft "tun wird", hervorgebracht werden, dass er selbst
eine unbekannte Zukunfthervorbringen wird, eine Zukunft, die immer im Kommen
ist. Der erste Absatz des Texts beginnt mit diesen Worten:
feminine: de ce qu'elle fera. II faut que Ia femme s'ecrive: que Ia femme c!crive
Je parlerai de l'c!criture
de Ia femme et qu'elle fasse venir les femmes a l'ecriture, dont elles ont ete eloignees aussi violemment
qu'elles l'ont ete de leurs corps; pour les memes rais ons par Ia meme loi, dans le meme but monel. II
,
faut que Ia femme 'e mette au texte comme au monde, et ä l'histoire,- de son propre mom·ement.
91
leb werde über weibliebe Schrift sprechen: darliber was sie bewirken wird. Es ist unerläßlich, daß die
Frau sich schreibt: daß die Frau von der Frau ausgehend schreibt und die Frauen zum Schreiben bringt,
zum Schreiben von dem sie unter Gewaltanwendung ferngehaltenworden sind, wie sie es auch von ihren
Körpern waren; aus denselben Gründen, kraft desselben Gesetzes, mit demselben todbringenden Ziel. Es
ist unerläßlich, daß die Frau sich aufund in den Text bringt- so wie auf die Welt, w1d in die Geschichte
-, aus ihrer eigenen Bewegung heraus.•
Im Zuge des Einleitungsabsatzes wird es sogar deutlicher, dass Cixous, wenn sie
sich darauf bezieht, was weibliche Schrift in der Zukunft "tun wird", indirekt die
Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass das französische Wort faire ("ma
chen") im Ausdruck ce qu 'el/e fera sowohl die Bedeutung von machen als auch
tun in sich trägt. Wenn man daher die Frage stellt, "was weibliche Schrift machen
wird", so bietet der Text eine klare Antwort an. Wenn eine Frau dem Ruf der weib
lichen Schrift, Frau zu schreiben, Folge leistet, dann lässt ("macht'') der Akt des
Schreibens Frauen kommen ... zum Schreiben. Im Ausdruckfasse venir /esfemmes
(,,Frauen kommen machen") können wir sie schon lachen hören. Frauen kommen
machen, lässt ("macht") Frauen zum Schreiben kommen! Die semiotische Kette,
die die sexuelle Lust ("kommen") an textuelle Produktion bindet, erzeugt ein Ge
flecht von verbalen Assoziationen (eingebunden in das Wort venir ("kommen")),
denen zufolge Cixous später im Text behaupten wird- ohne sozusagen eine Miene
zu verziehen dass Masturbation (innerhalb von sich selbst kommen) der sichere
Weg zur Erfindung neuer ästhetischer Formgebung sei:
Mehr als einmal war ich davon gebannt was mir eine Frau aus ihrer ganz eigenen Welt beschrieb, die
sie m
i Geheimen seit ihrer frühesten Kindheit aufgesucht bat. Welt des Forscbens, der Erarbeitung von
Wissen, ausgebend vom systematischen Erfahren der Funktionsweisen des Körpers, vom genauen und
leidenschaftlieben Befragen seiner Erogem!l!t. Diese Art vorzugehen, von außergewöhnlichem Erfin
dungsreichtum, insbesondere was die Masturbation betriffi. setzt sich tn der Erzeugung von Formen fort
i r begleitet, in einer wahrhaft kilostierischen Tätigkeit. Jede Phase des Genießens schretbt
oder ist von h
sich als Klangbild ein, als Komposition, als etwas Schönes. Schönheit wird nicht mehr verboten sein.'0
Hier ist es auch wichtig, an Folgendes zu erinnern: Wenn die Zukunft der weibli
chen Schrift und der Widerstand gegenüber der patriarchalen Kultur damit begin
nen muss, dass Frauen sich selbst (und einander) sexuelle Lust bereiten, dann ist
dies genau deshalb, weil diese Kultur von der Unterdliickung und Verdrängung der
weiblichen Sexualität ausgeht. Im Insistieren darauf, dass weibliche sexuelle Lust
genau die Grundlage von Sprache und Kultur ausmacht, verdeutlicht Cixous' La
chen einen entscheidenden Punkt, der - obwohl ihn offensichtlich ein Blinder sieht
- dennoch immer wieder übersehen zu werden scheint. Das gesamte institutionelle
Gefüge einer patriarchalen Gesetzgebung und Kultur (wie es von Philosophie, An
thropologie, Religion, Wissenschaft und Psychoanalyse beschrieben wird) gründete
92
immer schon - stillschweigend oder auch nicht - auf der Sicherstellung dessen, dass
Frauen der Erfahrung ihrer eigenen sexuellen Lust entfremdet bleiben. Und dieser
entfremdete weibliche Körper (was Cixous später im Essay als ,,Anti-Narzissmus"
bezeichnen wird) war immer schon das Produkt einer patriarchalen Sprache und
Kultur. fn anderen Worten, kein Körper befindet sich jemals außerhalb von Spra
che und Kultur. Kultur entsteht, indem ihre Gesetze auf den Körpt:l eingeschrieben
werden. Handlungen der Liebe und Ausdrucksformen von Sexualität gehören nicht
zum Bereich des "Individuums"; sie sind der Ursprung sozialer Beziehungen und
die ersten Kampfplätze politischen Widerstands.
Es geschieht also genau, weil patriarchale Institutionen auf der ganz bestimm
ten Regulierung weiblicher Sexualität errichtet sind (sowohl in den Gesetzen, die
garantieren, dass Besitz, Eigentum, Tausch und Erbschaft als vom Vater kommend
und zum Vater zurückkehrend legitimiert sind, als auch in den philosophischen,
libidinösen, ökonomischen und repräsentativen Strukturen, die diese patriarcha
len Gesetze sichern), dass in Cixous' Text weibliche Sexualität zum bevorzugten
Austragungsort politischen Widerstands gegen die patriarchale Kultur wird. Den
gesamten Textverlauf hindurch zeigt sie auf, wie die Glaubhaftigkeit patriarchaler
Kultur davon abhängt, dass Frauen die entfremdete und entfremdende Beziehung
zu ihren eigenen Körpern, die ihnen durch die Sprache des Gesetzes vermittelt wird,
internalisieren. Sie werden genötigt, das Gesetz zu schlucken, das ihnen vorgege
ben ist, und seine Erässe
l mit jeder Äußerung, die sie in der ihnen aufgezwungenen
phallischen Sprache fphallic tongue] aussprechen, zu umarmen.
Das Gesetz bewohnt die Sprache so wie die Zunge den Mund.
Aber Cixous sagt all das, während sie lacht. Und das Lachen entkommt dem töd
lichen Double Bind der sprachlichen Binarismen des patriarchalen Gesetzes. Über
das Gesetz zu lachen, ist eine Verweigerung, seine Bedingungen zu akzeptieren,
indem dadurch seine Legitimität unterwandert und die Anerkennung seiner Autori
tät - auch nur in irgendeiner Form- zurliekgewiesen wird. Eine lachende Reaktion
auf das Gesetz (er)findet einen neuen Durchgang zwische!l der Scylla unterwürfiger
Fügsamkeit (die "Ja" zum Gesetz sagt) und der Charybdis eines zom1gen, trotzigen
Widerstands, welcher - obwohl er ,,Nein" sagt- immer noch den Bedingungen ge
nau jenes Gesetzes verhaftet bleibt, gegen das er vorgibt sich zu widersetzen.
Lachend streckt sie der Sprache des Gesetzes die Zunge heraus. Ironisch (tongue
in cheek] kehrt sie das Gesetz um, indem sie seine Sprache - seine Zunge - im Text
umkehrt. Und dann beisst sie diese Zunge, um eine neue Sprache der Liebe (wie
der) zu erfinden. Alles in diesem Text ereignet sich "dans Ia Iangue", in der Zunge/
Sprache und mit der Zunge/Sprache.
Cixous spielt nicht nur mit den vielfältigen Bedeutungen des Wortes "Zunge"
93
sondern vervielfl!ltigt diese Bedeutungen, indem sie die Zungen, mit denen der Text
spricht, vervielfältigt. Wie immer in ihrem Schreiben nimmt ihre .,französische"
Zunge Worte aus anderen Sprachen auf (inklusive Deutsch, Englisch, Arabisch,
Portugiesisch, et cetera) und bezieht die Stimmen andererAutorinnen in ihren eige
nen Text ein.11 ln ihrer Funktion als Bezeichnung für Sprache, als Bezeichnung fur
t
jenen Körperteil, der Sprache ermöglicht, und als ein in sich selbst eroisches Organ
wird die Zunge zu einer besonders überdeterminierten Figur. So wie das erotische
Labyrinth des Körpers einer Frau, das nicht um die Zentralität einer eindeutig phal
lischen Gestalt organisiert ist, spricht die weibliche Schrift in Vieldeutigkeit. Cixous
vergleicht die vielfaltigen erogenen Zonen des weiblichen Körpers mit dem Körper
eines poetischen Texts, der vielfaltige Einstiegspunkte und unendliche Möglichkei
Len der Bedeutung hat. Ein solcher Körper spricht mit mehr als einer Zunge.
Der Körper der Frau, mit seinen tausend und einem Glutherden: wenn sie ihm erlauben wird-Joch und
Zensur zerschmenemd - die üppige Reichhaltigkeit der Bedeutungen zu anikulieren, von der er nach
allen Richtungen sinnbringend durchlaufen ist, wird er die alte einspurige Muttersprache wohl mit mehr
als einer Sprache zum Klingen bringen.12
Während die textuelle Qualität weiblicher Sexualität die Vielfähigkeiten ihrer ero
.,
tischen Energien durch den Körper hindurch verbreitet, posnrliert die Sprache der
patriarchalen Kultur implizit eine einsprachige politische Analogie zwischen dem
Kopf und dem Penis. Wie ein König, der seine Macht im Haupt des Staatskörpers
zentralisiert, rationalisiert der Kopf des Körpers seine anderen Teile, während der
Penis die Entladungen libidinöser Energie konsolidiert und reguliert. Die phallische
Autorität verlangt, dass der Geist vom Körper getrennt ist: Der Kopf diktiert die
Produktion von Bedeutung, während der Penis deren Bewegungsrichtungen kon
trolliert und stabilisiert:
�oll die männliche Sexualität nur um den Penis herumkreisen und jenen zentralisierten Körper (poli
tische Anatomie) hervorbringen, der dem Diktat der Geschlechtsteile unterliegt. Die Frau, ihrerseits,
unternilllOlt keine solche Regionalisierung ihres Körpers, die dem Paar aus Haupt und Geschlecht den
Vorrang gibt und sich nur innerhalb gegebener Grenzen einschreibt Ihre Libido i<t ko<misch. so wie ihr
Unbewußtes wehweit ist."
Im gesamten Text des Lachens bedient sich Cixous der Sprache des Unbewussten,
um sich so der Dominanz des Monolinguismus der phallokratischen Kultur zu wi
dersetzen. Obwohl sie es exphzit mit den männlichen Begründern der Psychoanaly
se (Freud und Lacan) aufnimmt, wendet sie sich an die Sprache der Psychoanalyse,
insofern diese eine zwingende Kritik am patriarchalen Gesetz bereit stellt und eine
Oberzeugende Alternative dazu abgibt. Cixous deckt verborgene Ressourcen der
Psychoanalyse auf, da diese als erster institutionalisierter Diskurs erkannte, dass im
94
Fall jener Frauen (der Hysterikerinnen), die unfähig waren, ihr Begehren zu spre
chen, dieses Begehren stattdessen auf ihre Körper eingeschrieben wurde.
Aber Cixous stellt die Sprache der Psychoanalyse genau insofern auf den Kopf,
als sie sich weigert, die von Freud dem Penis als Genitalsurrogat zugeschri ebene
zentrale Stelle, anzuerkennen. Sie führt am psychoanalytischen Diskurs eine Nietz
scheanische Umwertung von Werten durch, indem sie das Hinausfallen der frauen
aus der männlichen Kultur - bedingt durch ihr unterschiedliches (verkörpertes und
unbewusstes) Verhältnis zum Tod und zur Kastration- zelebriert statt es zu bedau
ern. Wo daher Freud argumentieren wird, dass die Sublimierung entscheidend fur
die Enterotisierung der Kultur ist und dass Männer (aufgrund der Kastrationsangst,
die sie dazu verleitet, sich ihre erotischen Investitionen im Namen eines höheren
Wertes zu versagen) besser sublimieren als Frauen, zieht Cixous es vor, genau das
i terfragen. Sie deckt auf, dass die an
Verlangen nach diesem "höheren Wen" zu hn
geblich ,,moralische" Grundlage der männlichen Kultur nichts anderes ist als eine
männliche Fantasie, die auf dem geisterhaften phallischen Residuum des fetischi
sierten Penis gründet und dass sich die Konsequenzen dieser Fantasie ausnahmslos
als das Bedürfnis manifestieren, Frauen zu unterwerfen, die Verbreitung von Be
deutung zu kontrollieren und erotische Ausdrucksformenjeglicher Art zu regulieren
- all dies im Namen eines "höheren Wertes".
Indem Cixous die Sprache der Psychoanalyse gegen die unterdrückenden Ge
bärden ihrer Grtlnderväter kehrt, lacht sie angesichts der Kastrationsdrohung (und
jener der Enthauptung, die damit einhergeht) und zelebriert die Tatsache, dass Frau
en nicht so gut sublimieren wie Männer. Mit Hilfe der Sprache der Psychoanalyse
(im Idiom der Wiederkehr des Verdrängten) stellt sie sich eine weibliche Zukunft
vor (nach dem Ni edergang des phallischen Zeitalters), in der die verdrängten, libi
dinösen, strahlenden Träume von Frauen mit beispielloser Gewalt wiederkehren,
um das durch die phal\okratische Weltordnung aufgezwungene Schweigen und die
Aphasien aus den Angeln zu beben.
Wenn .,das Verdrängte" der Männerkulmr und -gesellschaft Wiederkehrt, dann handelt es sich um die
explosive, absolut umwerfende, überwältigende Rückkehr einer nie zuvor freigesetzten Kraft, so maßlos
wie die erschreckendsie aller UnterdrUckungen: denn wenn sich die Zeitdes Phallus ihrem Ende zuneigt,
werden die Frauen entweder vernichtet oder zu höcbstgewaltsamster Weißglut gebracht worden sein. Die
lange Betäubung ihrer Geschichte haben sie in Träumen gelebt, in Körpern, aber in totgeschwiegenen, in
Wortlosigkeuen, n i stimmlosen Auftehnungen.
Und mit wieviel Kraft in ihrer Zerbrechlichkeit: ,,Zerbrechhchke1t", Verletzlichkeit, die im Ausmaß ih
rer unvergleichlichen Ausdauer entspricht Sie haben nicht sublimiert. Glücklicherweise: sie haben ihre
.
Haut, ihre Energie gerettet. Sie baben nicht daran gearbeitet, die Sackgasse zukunftsloser Leben auszu
bauen. Sie haben wildwütend diese ihre prachtvollen Körper bewohnt: bewundernswerte Hysterikerin
nen die freud so viel wollüstige schw1erig einzugestehende Glücksmomente besehen haben, während
sie sen
i e Icbstame mit ihren fleischlichsinnlich leidenschaftlichen Wortkörpern beschossen. Die in ibm
95
mit ihren unvernehmbaren niederschmetternden Anklagen herumgespukt sind, mehr als nackt unter den
sieben Schleiern der Scham. blendend schön. Diejenigen die mit einem einzigen KOrperwort das maßlos
Schwindelerregende einer Geschichte eingeschrieben haben, die sich wie ein Pfeil von der ganzen Män
nergeschichte, der biblisch-kapitalistischen Gesellschaft loslöst, sie sind es, die gestern Hingeopferten
die den neuen Frauen voranschreiten, sie in deren Gefolge keine intersubjektive Beziehung je wieder
dieselbe Fonn annehmen kann. Du bist es Dora, Du, Unbezähmbare, poetischer Körper, Du die wahre
.,Herrin'· des Signifikanten. Deine Bedeutunj!,Skraft, die wird man sich vor morgen ans Werk machen
sehn. wenn sich Dein Wort nicht mehr tonlos nach innen. mit der Spitze gegen Deine Brust richtet, son
dern sich aufandere zuschreibt.''
"In Körpern" ("en corps") schreibt sie, Jacques Lacans berühmte Fo1mel für weib
liche Sexualität wiederholend (encore!), aber dabei wandelt sie sein Insistieren auf
den Zwang zur Wiederholung in ein Bild für verkörperte weibliche Vielfalt um. Sie
entgegnet lachend, dass die Wiederkehr des Verdränbrten aus den Regionen des Un
bewussten k01mnt, als eine paradoxerweise unheimliche ,,machtlose" Kraft - eine
Kraft, die nicht auf männliche Machtfantasien vertraut, sondern eher auf die gewal
tigen Kräften der Imagination, wie sie im weiblichen Schriftkörper wiederbelebt
werden. Die Hysterikerinnen werden genau deshalb zu ihren Musen weiblichen
Schreibens, weil sie nicht sublimieren. Die Kraft ihres Widerstands gegenüber dem
patriarchalen Gesetz zeigt den Weg zu einer anderen Form des Sprechens und des
Seins.
Als Kö1per: mehr als der Mann, zu sozialen Erfolgen, zum Sublimieren geladen, sind die Frauen Kör
per. 'vlehr KOrper und deshalb mehr Schrift. Lange bat die Frau als Körper auf die Quä l ereien, auf das
familial-konjugale Bezährnungsunternehmen, auf die wiederholten Kastrationsversuche, geantwortet.
DieJenige, die zehntausendmal siebenmal ihre Zunge im Mund herumgedreht hat, bevor sie nichts ge
sagt hat, ist enr.weder daran eingegangen, oder sie kennt ihre Zunge, ihre Sprache, ihren Mund besser
als jeder andere. Jetzt werde ich-Frau das GESETZ in die Luft sprengen: ein Zum-Bersten-Bringen das
inzwischen möglich ist. und unabwendbar; und auf daß es jetzt gleich stattfinden möge, in der Sprache
(,.dans Ia Iangue"; Anfogung aus demfranzösischen Originaldurch E.M.) "
Frauen werden auf das Schweigen reduziert, wenn sie nicht dazu in der Lage sind,
die Vorherrschaft der einzigen phallischen Zunge/Sprache zu akzeptieren: Die
,,zehntausend Zungen", die sie innerhalb ihrer verschlossenen Mi.lnder bewahren,
machen sie mundtot. In Reaktion darauf reißt Cixous ihren Mund auf und legt- mit
einem explosionsartigen Lachen - die zehntausend Zungen frei und lässt sie in alle
Richtungen entfliegen. So wie die Myriaden von anti phallischen Schlangen, die
-
Medusas Haupt zieren (und die Freud mit der kastrierenden Gewalt der mütterli
chen Genitalien vergleicht, welche den MännemAngst mache, da die Mutter kei
nen Phallus hat), widersetzen sich diese Zungen der Kastration und verweigern ihr
Gesetz, indem sie sich einer poetischen Ausdrucksweise bedienen, die die Sprache
in alle Richtungen wirbeln lässt.
96
An einer der ausdrucksstärksten Stellen des Lachens der Medusa vergleicht
Cixous die Att, wie die Frau immer schon in den männlichen Diskurs eingeschrie
ben war mit der Art, wie die phallische Zunge/Sprache immer vorschrieb, was Frau
en zu sagen erlaubt war. Und dann, in einem gewaltvoll-sexuellen Bild, stellt sie
sich vor, was geschehen würde, wenn die phallische Zunge abgebissen würde.
Aber Cixous hat dieses ursprüngliche Bild der Kastration nicht erfunden. Indem
sie in die ältesten Bereiche westlicher Mythen zurückgreift, erinnert sie an eine
Geschichte, die die Poeten erzählen: Dass, wenn der Vater Zeus seinem Vater Chro
nos die Geschlechtsteile abschneidet, die Zeit beginnt und die Göttin der Liebe und
Schönheit aus den im Meer verteilten und ausgestreuten Samen geboren wird. Die
Liebe ersteht aus dem Schaum und kündigt den Anbruch eines neuen Zeitalters an.
Indem sie sich dieses Urbilds entsinnt, erfindet Cixous eine neue Sprache der Liebe.
Die ANDERE LIEBE: An den Anfängen sind unsere Unterschiedlichkeiten. Die neue Liebe wagt das
Andere, wünscht es, schwingt sich auf zu sclnvindelerregenden Flügen zwischen Erkennen und Erfin·
den. Sie, die immer schon Ankommende, sie verweilt nicht, sie geht überallhin, sie tauscht aus, sie ist
das Gebende-Begehren."
"Die andere Liebe" gibt ohne Reserve und spricht zu anderen in tausend Zungen. In
der Erinnerung an die klassischen Quellen poetischer Sprache bringt Cixous die Zu
kunft der weiblichen Schrift hervor. Ihr Text ist mit der Kraft der Liebe geschrieben.
Und aus ibm entstehen weibliche Schriften, andauernd, in tausend, zehntausend
Zungen.
97
Anmerkungen
98
siehe meinen Aufsatz Birthmarks (G1ven Names), in: The Mother in the Age ofMechanical Repro
duction: Psychoanalysis, Photography. Deconsrruction. New York: Fordham University Press 2012,
214-228. Für eine ähnliche Diskussion der Figur der ahgettennten Zunge im feministischen Diskurs
Disaniculated Voices: Femuusm and Philomela, in: Christina HENDRICKS,
siehe meinen Anikel
Kelly OLIVER, (Hg.), Language and Liberation: Feminism, Philosophy and Language, Albany:
SUNY Press 1999, 149-172.
12 Helene CIXOUS, Das Lachen der Medusa a.a. 0., 50 f.
,
1 3 Ebd., 54 f.
14 Ebd., 5 1 f.
15 Ebd., 52.
16 Ebd.
17 Ebd., 59.
99
-
Lengage der Libellen
Ulrike Oudee Dünkelsbühler
"... an F. K."
LE xm: L I VR E
Du Mmtau,ou poill"on!uif.
Es treibt m1ch tn die Verzweiflung, diese ÜberOpp1gke11. Ich muss mein Leben mit zehn multiplizieren,
mit hunden Zehntenzen [cent dlfs] und noch mehr, um zu versuchen, deine mit Gedanken mit Wonen
mit Sätzen verausgabten [depenses] Welten am Leben zu erhalten es ist urunöglich menschenunmöglicb,
man muss sich nach dem (iberunmöglichen ausstrecken, ich habe es immer versucht, versuchen auszu
strecken, sich nach dem Versuchen ausstrecken das ist das Minimum.3
So stehe ich da. Schon lang. Viel zu lang. Unsäglich, nicht zu verantworten. Jeden
Tag anders, aber das Zitat stimmt jeden Tag immer noch anders. Dabei ist es nur
ein Beispiel, ich hätte unzählige andere Zitate parat, und jedes wäre sehr anders so
101
vielsagen� so wunderbar, so schrecklich einschüchternd, intimidierend- und wäre
fast mit h. Es schreit mir aus der Seele, und das macht alles so schlimm. Denn ist
es nicht so: Wenn jemand dir aus der Seele spricht, egal jetzt, ob spricht, schreit.
ft.Ustert oder haucht, dann gibt es eben darum am allerbesten nichls zu sagen - und
schon gar nicht, zumindest in diesem Fall, zu schreiben. Ich mag das Wort Schrei
nicht -auch nicht als cn wie ecris - nicht einmal via Cixous will ich es hören, von
ihr her, die sich auf den Rilkeschen Schrei beruft, den vielleicht nicht einmal die
Engel hören.
"Ecris-toi!"4, s •ecrie-t-elle, zitierend oder nicht, unübersetze ich, "schreib dich !"5,
schreit sie, ich höre nichts anderes mehr, seit Wochen halte ich mir die Ohren zu,
aber Membranen gehorchen anderen Gesetzen. Und ich bin, am besten gebe ich es
gleich zu, voller Übemeid, wie Helene Cixous6 es schaffi, unter, saus, mit, nein: in
diesem Auftrag-Vertrag-Pakt des Lesens/Lebens - des Lebenlesenzulernens -, trotz
dieser übergewichtigwichtigen Überichdichte in die Vollen zu gehen. Der Last der
Gabe des Erbes des Freundes bietet sie die Stirn, nein: Sie stellt sich ihr, ihm, und
noch vor der "Überunmöglichkeit" der Aufgabe resigniert sie nicht, sondern, fast im
Gegenteil: Sie re-signiert sie, sie unterschreibt, sie cixsubskribiert. Und wie sie, wie
es scheint, sich mit fliegenden Fahnen und Flügeln das Äußerste traut: die Trauer zu
schreiben, weiterzuschreiben, sich hm
i zu schreiben, Sie werden es hören, auf ihre
fac;on (auch das ein Wort, um das sie sich gekümmert hat).
Aber vielleicht schaffe ich es wenigstens doch noch zu erklären, warum ich das,
i sbesondere was sie adDerridata schreibliest ("lecrit' nennt
was Cixous schreibt, n
sie es jetzt, habe ich gestern Abend zufällig entdeckt, ihre lecriture, Volltreffer!),
sehr genau ft.\r stingulär halte, aber ich glaube es jeden Tag weniger. Was die Ver
zweiflung noch einmal verdoppelt. Alles ist schon gesagt oder fast, jedenfalls weit
mehr als ich weiß.
Stingulär: vielleicht weil dieses Wort zu ermöglichen schien, den Stachel oder
Dorn endlich so zu benennen wie er sich mir, bei ihr, zu lesen gab. Stachel, Dom,
epine, taucht auf, 20 I0 im Titel ihres Vorworts zur Neuveröffentlichung von Le
rire de Ia Meduse in Frankreich. Das Vorwort heißt "Un effet d'epine rose" (etwa:
"Eme Rosendornwirkung'·) und erzählt vom Sch1cksal, das Cixous' Medusa in den
35 Jahren ereilt hat, seit sie erschien, das war 1975.7 Nur ein Jahr später landet Me
dusa per Transatlantikflug in den USA und startet von dort aus flUggerweise durch,
en
erfolg- und folgenreich, auf Welttournee. D. h. in der Folge einer Übersetzung
anglais. Hören Sie die Winkel von angles und die Engel in Englisch? Ja, wir wer-
102
den es mit Flügelschicksalen und verwinkelten Engpässen zu tun bekommen. Beim
Übersetzen. Zur Sache: Deutsche wohlgemerkt Erstveröffentlichung, man darf hof
fen, 2013, ein Verzug ohne Worte, ein Politikum, ich spekuliere ohne Worte.
,,icris-toi!", s 'ecrie-t-elle, "Schreib dich!", schreit sie, sie, Medusa,jaja, der Appell
von damals. Und: "man hat gesagt: ein Manifest." Appell ja, Manifest übrigens
nein, stellt sie später richtig. Klar musste das laut sein, das waren die 70er, da ging
es um alles und nichts geht ihr über Stimme (.,l 'equivoix" sogar: Gleich- oder Mehr
stimme), Körper Schrift (ohne Komma), und das bitte endlich sofort, jetzt und pu
blik, im vollen Rampenlicht! Schluss mit der leisen weiblichen Schönheit, auf die
nur das Verschwinden folgt, Knicks und ab, endlich Schluss auch mit dem, wenn
überhaupt, dann so verschämt kämmerlichen Schreiben en cachette, im Versteck!
Ein Protest also, eine Revolte mit V.O.L. mitten im Wort, ein Appell, ein "Anruf
bei der Welt" sagt sie, ein Aufruf-Aufschrei, der anstecken, anstiften, anstacheln
wollte: All dieses heißt auf Lateinisch instigare, aus Griechisch stigma-Stich. Und
zwar anstiften zum Aufschwingen in die grenzenlosen Lüfte und Lüste eines alles
ändernden ,,Ecris-toi!". Das nenne ich volonte mit vol wie Wollen, volupte und
Wolllust, Revolution hin und her, dire le desir, Wörter auf der Couch.
Wer schreibt, der ruft, das heißt, will gehört werden, aber dann wäre doch jeder
Text ein Appell, dachte ich, sowieso und immer schon, toujours deja. Noch dazu
will sie, dass rit wie rythme dich Jacht-rit, aber wie bitte auf Deutsch? Sehr witzig,
Meduse die Muse, ma muse m 'amuse, nicht mal das Lachen-rire in ec-rire hatte ich
untergebracht und schrieb, helas: was für ein Ach in Lach und Sprache. Besagter
Appell erging an die Frauen, aber nicht im biologisch geschlechtlichen Sinn. Das
lasen manche nicht, woraus ein mittelprächtig bis halbgrandioses Missverständnis
erwuchs, indem sie meinten, "Männer raus!", also zwei minus eins Macht Eins:
Aber das hatten wir doch schon, bitte nicht wieder diese erbärmliche, kastrationsob
sedierte und reduktionistiscbe Exklusivität-auf-Kosten-von, nur diesmal mit umge
drehtem Spieß! Nein, Cixous alias sämtliche herauszustreckenden Medusenzungen
und -fl.ügel appellieren, insistieren, beschwörenplus d'un, plus d'une. Derridas plus
d'une Iangue (mehr als eine Sprache I keine Eine mehr) weitet sie aus aufplus d'un
sexe. Sie will, sie will mehr und nicht mehr nur eins, elle veut, son vceu, ihr Gelübde
lautet: le texte le sexte mon texte mon corps - .,le? !es?", fragt sie zurecht, denn
corps wie Korpus hat schon im Singular ein S. Lauter also und lauter plurale Sin
gulare ohne Kommata, bloß kein Blatt vor dem Mund. Vielmehr Blätter nur noch
als Schreibtragfl.ächen, Flügel fiir die Stifte Stile Stachel Sporne, alles unerhört und
103
endlich neu und anders! Dafiir will Medusa Stimulus und Impuls sein, beides, und
beide Wörter sind Triebe, und zwar schon wieder aus dem Verb instigo - ich stifte,
rege, rühre, will sagen: Ich treibe an und dränge. Das ist ihr Einsatz, Wette, Pfand.
schon damals gage, und das nenne ich ihr, hier: lengage.
,jcris-toi.'": Auch hätte ich mich doch glatt noch daraufkapriziert zu behaupten,
dass dieses "Erschreiben" des Körpen. als Konversion der hysterischen Konversion,
also quer zu Freuds Einbahnstraße von psyche nach soma, lesbar ist. Denn Cixous
huldigt der Hysterie. Hier stUnde also der Einsatz einer Körperschrift auf dem Spiel,
die den Körpern ihren Text verspricht - und umgekehrt - und nicht seinen, Freuds
Text, über sie. Ihr Text ist Einsatz, Wette, gage, der nicht konvertierend deutet,
belehrt und bekehrt, sondern den Körper erschreibend gebiert, Hebamm e von sich,
aber was heißt "sich"?
Wer die Wörter aufweckt, wer die Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkelt lenkt, wer seine Wörter ab
wägt (du sagst: "Ich wiege meine Wörter", dann wiegst du diesen Ausdruck und das Wort wiegen), lenkt
ebenso gut, im Guten wie im Schlechten, Liebe und Hass auf sich. Denn er zeigt, lehrt, lernt [apprend]
zu lesen. Die MUhe zu leben auf sich zu nehmen [aprendre]. Die MUhe lernen, um zu leben. Zugl eich
alles lesen (anders gesagt: zusehen zu lesen, sehen, schreiben, denken und sieb ihrer annehmen), suchen
geben und empfangen, geschehen Jassen, wonach du schließlich mit einem weitreichend gastfreundli
chen Wort riefst: das Ereignis.
Überwerfung und Unterwerfung. Seide zusammen. (Ins. 79160)
Beide zusammen, beide zugleich. Denn - getrennt oder schlecht oder nicht - wo
es um zwei geht und um lebenlesenlernendes Nehmen und Auf-sich-nehmen, wird
immer schon eingeschnitten sein, insect. Beide8, verzichte nicht, aber das sagen
beide nicht. Außer auf das Entweder-oder vielleicht, das es sich viel zu oft viel zu
leicht macht. Zu alledem kommt hinzu: Schreiben, erschreiben, sich schreiben, ich
verstehe es nicht oder zu gut, jedenfalls wäre es im Zuge dieser unmöglich-not
wendigen Aufgabe einer lecrih1re infinie9 um ein unaufhörliches Transformieren,
Subvertieren, Differenzieren, Verwandeln, ja Mutieren gegangen, heißt Ia mue, aus
lateinisch mutare, doch Stimmbruch und namentlich auch das, was sich bei Insekten
Häutung nennt: muer und se muer - sich verwandeln, schon wieder "sich". Noch
dazu konunt mue dem so geläufigen Verbmouvoir nicht nur entgegen: Mouvoir, be
wegen und sich bewegen; Sie sehen sofort, dass nicht nur savoir sein Wissen sieht
wiepouvoirsein Können, auch mouvoir "bewegt", ja rührt, sehendenAuges, bis hin
zu Motiv, Motivation, Emotion.
La mue wie Wandlung, Bewegung und Häutung also, aber halt, auch dem Wört
chen muet - "stumm" - kommt mue wunderbar nah. So nah, Si pres, titelt sie 2007,
nur ein Jahr nach Insister. A Jacques Derrida, aus dem ich zitiere. Si pres war ein
weiteres Kaddisch auch und wieder an den Freund "seit jeher", und wieder, ohne
104
Wunder, keine deutsche Übersetzung in Sicht. Muet-stumm ist da, wo jemandem
die Stimme abgezogen oder er-sie-es ihrer beraubt wird, vole. Das nur als Kurz
schrift dafilr, dass ich es tatsächlich wagen wollte, das, womit sogenannte "hemi
metabole" Insekten einen Großteil ihres Lebens verbringen - nämlich mit Häuten,
Häuten, Häuten -, als einen Prozess des Übersetzens zu lesen, dieses langsamen
Switchen zwischen Schichten, gleichsam schreibchenweise. Zu solcht:n hemimeta
bolen Insekten gehören gewisse Seidenraupen übrigens nicht, wohl aber Libellen.
Das war aber nur der Anfang. Denn am Ende, ganz spät, nach oft jahrelangen und
sage und schreibe zehn bis 1 5 Häutungen erst, alle unter Wasser, unsichtbar oder
fast - und das ist ein bisscheu wie im und in Traum, "comme en reve" - taucht
auf, was Sie vom Sehen kennen: Was bis dahin Nymphe hieß, marschiert eines
schönen Tages an Land, sucht sich einen Stil, mit oder ohne Blatt, und schlüpft,
ein allerletztes Mal. Aber halt, denn es ist ein wahres Laborieren, ein Gebären, ein
buchstäbliches Sich-aus-sich-heraus-larvieren, das lebensgefahrliehe Ewigkeiten,
weil in völliger Selbstabsorbiertheit und ohne rechten Halt während des Schlupfs,
der in e inen Sprung münden muss, dauem kann. Mit ziemlichem Glück schlüpft sie
dann, hinterlässt eine Hemdhaut oder Exuvie mehr, wartet wieder, muss trocknen,
sich sonnen. Dann pumpen sich die Flügel auf, drückt sich das Blut, die Energie,
das nennt man Impuls , durchs haarenge FIUgelgeäder, lauter Linien, längs und quer.
Und dann, auch das natürlich instinktiv, schon wieder sting*, fliegt sie endlich los.
Und wie! Rasant mit Ausdauer ist sie , die sich als Akrobatin der Lüfte einen ihrer
tausend �amen gemacht hat. Und die ab da, zum Schluss, wo es um fliegen-paaren
sterben geht, Imago heißt, wohl, weil wir sie dann erst sehen.
Erst jetzt, viel zu spät für meinen Geschmack kommt hier Zitat vier, mit dem
ich pariout anfangen, ansetzen wollte, den Anschnitt Einschnitt Stich wagen und,
Entomologie hin oder her, mit diesem Jncipif "entamieren" wollte. Vergeblich, zu
spät, Insekten:
Insekten: wir sind damit geboren. Wir mU�sen es uns nicht sagen. Wir spielen sie un; in der Ge&enwart
w1eder zu. Zwischen uns werden die Insekten 7U Wörtern, die Wörter 1nsekten und insexionieren sich
gegenseitig. (/ru. 130/88)
Wobei gewisse Punkte eine höchst erstaunliche Rolle spielen. Diese nennt man pte
rostigmata, auch Flügelmale genannt. Male, die tatsächli ch Gewichte sind, Wuch
ten, und diese Last on top ermöglicht ein noch schnelleres Fliegen! Erklärung:
Gleich einer Adaptronik helfen diese Stigmen, und zwar aufgrund der Differenz
ihrer Dichte, im Flug das Gleichgewicht zu halten, indem sie die Vibration nament
lich dämpfen. Dämpfen wie Dämpfer, ein mute auf einem Saiteninstrument, ein
Stummer, ich muss es nicht mehr sagen, muet.
105
Und Sie dachten, schrieb ich zu diesem Punkt irgendwann, ab jetzt würde es
hübsch still und leise zugehen, ein bisschen beschauliche Theorie mit ein wenig
Zirpen und Schwirren vielleicht. Es stimmt, Libellen sind leise und können ohne
Ohren hören.
Wohingegen es n i meinem Fall des Papiers bedarf, damit der Satz greift. leb brauche die Haut, den
Körper, rechte Hand auf dem Körper, um das Chaos in einen Satz zu zähmen. Die Hüchtigsten Wörter
einfangen [trap].
Er bemerkt das Wott .,falle" [trap]. Du benutzt es die ganze Zeit. Er ertappt mich dabei . Er fllngt mich
[traps me I m 'af/l•ape]. Er passt genau auf, was ich sage. (Wir sprechen viel Ober Jagd und Fischfang,
merkst du das?) leb hatte es nicht gemerkt. (Ins. 87 fJ65)
Da capo - ich hatte hoffnungslos viele da capos, so wird das nie was - ,,'Ecris-toi!',
s 'ecrie-t-e/le", aber meine ziemliche Aufgebrachtheit über diesen so gnadenlosen
und wie von mindestens einem Über-Ich entsprechend über-heblich diktierten Im
perativ, der bei Cixous/Mectuse noch dazu und paradoxerweise gegen die "überichi
sierte" Struktur10 angeht, ist Zigseiten und Ewigkeiten her. Ich habe geduldig ver
sucht, kommentierend zu folgen und dieses aberwitzige "dich" von "schreib dich",
dieses "sich" von "sich schreiben" zu lesen und zu übersetzen ("das ist das Mini
mum"), um dann zu behaupten: Derridas Unendlicharbeit an dem, was die Aufgabe
adäquaten Lesens zu nennen wäre und die er im - sollte ich sagen - Appell des
"Lesens auf der Höhe" gipfeln lässt - "a Ia hauteur" -, mehr noch: des Lesens "auf
der Höhe dessen, was Sie lesen müssen" (Herv. J.D.), hat alles mit Übersetzen zu
tun: und Übersetzen mit Abwägen und Wiegen (peser), immer zwei Waagschalen.
mit Wagnis auch (to dare - wagen, sieh an, sieht aus wie lateinisch dare, was geben
heißt!), das Denken selbst, penser! Den Mund bisscheu voll genommen, fand ich
dann, also anders: Ich hätte Übersetzen gleichsam als Scharnier zwischen Lesen
und Schreiben gesetzt, obwohl die beiden bei ihm doch längst mehr als eng ver
schränkt11 sind!
Lesen w1d Schreiben stehen hier also insofern in einem konstitutiven Verhältnis,
wie man so hübsch sagt, als ein Gelesenes fiir Derrida gegenzuzeichnen, das Lesen
(des Anderen) also schreibend zu beantworten, zu bezeugen ist, ja zu beschwören,
Schrift als Schwur. Und zwar "dans une autre Iangue", was immer das heißt. Da
zwischen also Übersetzung12 - und Übersetzung immer auch als Unmöglichkeit,
bien sitr, gewiss. Nein, nicht genug: als Notwendigkeit im Maß der Unmöglichkeit!
"Im Maß" lässt noch nicht scharf genug hören, wie Derrida inSIStiert und durch das
scheinbar so harmlos daherkommende "aussi ... que" zuspitzt: Engpass, engster
Pass, größte Last, auch hier in der schwerelosen Schwebe eines absoluten Gleich
gewichts, ni der Horizontale eines .,Eben-so": ,.aUSSI necessaire qu 'impossible"
106
als eine gewonnene, eine Möglichkeit mehr zu verstehen ist. Und als Gipfel, genau
er: Als Stachel eines solchen Unmöglichen wollte ich das berühmte Unentscheidba
re bemühen, auf so gut wie nichts anderes hatte ich es abgesehen.
Das, l'indecidable, Derrida nicht nur der Philosophie zugemutet hat, nicht nur
sie wird er um dieses, um dieses eine Unmögliche mehr, bereichert haben und
unaufhörlich gezeigt, wie es in der Übersetzung seine Schärfe erhält und Promi
nenz gewinm. Für diesen Sachverhalt des Unentscheidbaren schien mir das Bild der
Waage angemessen, adäquat, von aequus gleich, wie equal und egal. Natürlich nur,
sofern und während - pendant, hören Sie das Pendel während man pendant sagt?
- sie eine perfekte Balance anzeigt. Während die Waage also im Gleichgewicht
steht und die Schalen trotz der Gewichte wie schwerelos wirken. Während sie ein
bisscheu zittert, Sie kennen das Zünglein an der Waage. Genau da hätte ich darauf
bestanden, auf diesen Gewichten zu insistieren, ja im Maß ihrer Minimalität zu
pochen: als Differenz nämlich, die die Unentscheidbarkeit überhaupt erst bewirkt.
Es ist kompliziert und man kann es nicht scharf genug versuchen zu formulieren:
Dieselbe Differenz, die die Äquivalenz, Äquivokation, die Homonymie usw. pro
duziert, ist zugleich die Differenz, auf der sie beruhen! Das heißt, je geringer, ja mi
nimaler das Gewicht oder je maximaler es abgetragen, diminuiert, beschliffen oder
befeilt wurde, desto wirkungsvoller, wenn nicht ausschlaggebender, die Differenz.
Die dann der Stimulus von Instigation, deutsch Anstiftung, sein kann. Stingulär.
Einen solchen Stich, Sporn oder Dom kann eine Übersetzung einem aber auch
gerade dadurch verpassen, dass eine Differenz in der und damit der Stachel der
Unentscheidbarkeit selbst verloren geht. Von einem solchen Dom ist in Cixous'
Vorwort zu Le rire, in besagter "Rosendornwirkung", die ich am liebsten Rosen
spornwirkung nennen würde, die Rede: 13
Aber trotzdem ärgert es mich manchmal zu sehen, dass der Vol, der mirso am Herzen liegt und vor allem
Dank der Homonymie, derer er sieb im Französischen erfreut, im Englischen nur ein Halb-vo/ ist, bei
dem die Unentscheidung [l'indecision] in der Übersetzung erlischt [s 'ereint]. Es ist, als flöge meine Me
dusa mit nur einem FlUge!, sie, die so viele hat. So wird man uns n
i der Übersetzung einen Flug geraubt
haben [vo/e 1111 vo/].14
Oder einen Raub geflogen- oder geraubt. Die Wirkung der Übersetzung, dieses Ro
sendoms, besteht hier paradoxerweise darin, dass nicht nur der Stachel der "Unent
scheidung" gezogen ist, "erlöscht", sondern von diesem Brandschaden selbst keine
Spur bleibt. Denn, wenn Sie zum Beispiel in einer Übersetzung "stibitzt" lesen,
werden Sie nie wissen, ob etwas gepickt oder entflogen ist, geklaut oder geraubt
wurde. Und vor allem: dass das überhaupt eine Frage war! Und das ist struktu
rell unendlich, gespickt mit einem Mehr voller Verluste an Flügen, Flügeln und
Zungen. Anders: Was durch die Übersetzung ausgelöscht wird (,,s 'eteint"), ist die
107
Unentscheidung als Feuer, als Anstiftung, Stimulus einer Differenz, in diesem Fall
die zwischen vol und vol. So brennt und - eben: - er-stickt der Dorn oder Sporn,
die ebenso notwendige wie unendliche weil unmögliche Trauer, die, melancholisch
genug, genau da am Stechendsten ist, wo der Verlust selbst erlosch: Denn das Verb
eteindre (auslöschen) kommt wiederum von stingere und dieses heißt seinerseits
oft genug, man staunt, extingere. Womit der Verlust des antreibenden, anstiftenden,
entflammenden, stimulierenden stingere besiegelt scheint, aber ohne irgend kennt
lich zu sein. Und damit der Verlust der appellierenden Insistenz auf den Mehrwert
der Unentschiedenheit, eben dessen, was Differenz bewirkt und srigma macht - und
das bewirkt den Stich. So ging eine Unentscheidbarkeit nebst ihrem Verschwinden
verloren, eine Unmöglichkeit wurde cntmöglicht: stingulär hoch zwei? Das nennt
Cixous "Rosendomwirkung", hätte ich allen Ernstes behauptet.
Aber das Vorwort war ein l\achwort. Ich setze: Seit dem 9. Oktober 2004, als
Derrida starb, wird Helene Cixous "nur" (!) noch Nachwörter schreiben, ich glaube,
das ist sicher. Nachnife, um es genauer zu sagen und leiser zu rufen, denn , ,man
schreit nur einmal'', sagt sie. Dennoch: Ihre Art zu insistieren ändert sich bis auf
Inhalt Tonart Datum und alles, was Sie wollen, kein bisschen: Singulär genug, sin
gend schreibt sie und noch ihre Gebete tanzt sie. Die innige Eindringlichkeit bleibt.
HauchdUnn geschrieben. Eine Hautf!Ugelflilsterin, Cixoujfleuse. Ein Kaddisch an
den Freund folgt auf das nächste, ich kenne das Wenigste, sie schreibt weiter. Pas
Iu, palü, wo doch gilt, "il faut tout Iire!": alles, als wäre das das Minimum. Die
Betonung auf tout raubt mir den Atem, "es treibt mich in die Verzweiflung, diese
Überüppigkeir', etc., das anfängliche Zitat trifft immer noch, es hallt und hä
l t mich,
oder ich es, wir uns, gefangen, befangen, verfangen. Dabei möchte ich sagen: das
Überich, le sur-moi trapps.
Weiter, es wird spät, aber um zu beschleunigen, müssen wir rückwärts gehen.
Libellen können rückwärts fliegen, aber im Gehen, da aufgewachsen unter Wasser,
saus eau, sind sie schlecht Von Waagschalen war die Rede, bliebe anzumerken, dass
Gewicht auf Lateinisch libra beißt, wie Pfund oder auch winzigste, fast wertlose
Bruchteile davon, Klimpergeld zum Beispiel, wie sous in Cixous. Die Wortfamilie
ist gewachsen, und zu libra-Pfund gehörte per Metonymie bald eine kleine (Was
ser-)Waage, ein Wäglein, libella, das über nive/la hörbar wird in Ievel und Niveau.
,,Libellen lesen." Übersetzen Sie. Aber auf�iveau! Es ist unmöglich, präziser: Es ist
unentsche1dbar, ob die Libellen hier Objekt oder Subjekt der LektUre sind, immerhin
haben sie außergewöhnlich gute Augen, verschiedene Sorten sogar, Facettenaugen,
Punktaugen, ich kürze ab. Aber das Hauptaugemnerk hinsichtlich der Übersetzungs
unmöglichkeiten scheint stets aufder Homonymie zu liegen, wovon "Libellen lesen"
in meinen Augen aber gerade kein Beispiel ist. ,Ecrs
, i -tot" übrigens auch nicht.
108
Und erst recht nicht, wenn Cixous einen meiner absoluten Lieblingssätze schreibt:
"Tu es my insister, me dit-il", i ter, sagt er mir", sagt sie).
dit-elle ("Du bist my inss
Kein Sprachenwechsel innerhalb eines Satzes ist übersetzbar, ist sprachwechselbar!
Was Peggy Kamuf in der amerikanischen Übersetzung von ,Jnsister. A Jacques
Derrida" mit diesem Titel gemacht hat, ist von einer Kühnheit und Brillanz, die mir
den Atem verschlagen hat, coupe, pique, vole: Auf Englisch h�:ißt das Bu(;h sage
und schreibe "Jnsister ofJacques Derrida" ! Ja, das widmend schickende und schen
kende ,,A" ("Insister. [Punkt] A Jacques Derrida"15) transkribiert w1d -formiert, ver
und überserzt sie in ein gleichsam rückadressierendes "of", sie setzt insister somit
als Nomen, fast als (Eigen-)Name und bringt so diese höchst gewagte Homonymie
des bzw. der Insister noch einmal und mit neuem Nachdruck zu Gehör - "dans une
autre Iangue". Hier in der Sprache "of" Peggy Kamuf, die als Überserzerio firmiert.
Was Cixous an Derridas Geschenk in Form seines "tu es my insistel"' - .,dieses oder
diese Unübersetzbare" ("ce ou cette intraduisib/e") - so "wunderbarerweise ge
Lallt", ist, sagt die Cixousceur, dass sie es ihm, dank der englischen Genusneutraliät,
t
"ebenso zurückgeben" (.,retouner egalement"), d. h. der Schwester ein/e Schwester
hinzugesellen und "sie" so zum singularen Plural machen kann: Auch er, sagt sie,
sei filr sie .,... my insister. Mon ins ster.
i Mon insisteur." Nur: Wie sprechen Sie
Insister fortan um Himmels Willen aus? Wo betonen und wie in-tonieren Sie über
haupt in diesem unendlichen Tanz der insistierenden Intensitäten? Im Rausch dieses
schwesterlichen Gabentauschs hörte ich irgendwann den Stern in Geschwistern.
Insister, insister: keine echte Homonymie also und doch aber auch keine Mög
lichkeit, "adäquat" zu übersetzen. Und genau da bin ich aus der Kurve geflogen, das
konnte ich irgendwi e nicht zusammendenken mit den Zwei- und Mehrdeutigkei
ten, den equivoques und equivoix, die Cixous und Derrida mit bis hin zu exstatisch
diebischer Freude aufspüren und die Übersetzungscrux dabei, vor allem er, kein
bisschen verschweigen. Von Homonymien ist wiederum das nicht minder berühmte
Wort VOL - Flug und Raub, beide - ein ungebrochen schönes Beispiel, wenngleich
inzwischen \ielleicht schon ein bi�schen arg strapaziert, zerrupft, verraubt Kein
Entweder-oder also, wie Flug oder Raub, und das zu überserzen ist unmöglich und
nicht egal: Man muss entscheiden und kann es nicht, man darf nicht entscheiden
und muss es! So stellt (nicht nur) die Homonymie der Übersetzung nicht nur ein
Bein, sondern sehr genau beide.
Was also mit diesem ,,Ecris-to1�' anstellen, mit dem "Sich" von "Schreib dich"?
Wiederum unentscheidbar ist übrigens, ob es nicht auch "schreib dir" heißen könn
te. Nicht sichtbar, aber zu hören wäre noch mehr, etwa "schreib du jetzt mal." Eine
der Thesen, zu denen ich mich dann irgendwann verstieg, war zu behaupten, dass
das "Sich" sich auch gleichsam nach außen biegen kann, schließlich ist es flexibel,
109
da Teil eines Reflexivums, und muss sich also nicht nur eindirektional und einsam
in sich selbst oder seine S 'ichs zurückbiegen, einrollen oder -igeln. Dass es sich also
an den berühmten Anderen wendet, so wie man "sich" flir Gewöhnlich nicht mit
sich, sondern mit Anderen verabredet. Dann gefiel mir nicht, wie ich das entfaltet
hatte und war dann drauf und dran, den Apostroph, der ja für etwas Weggelassenes
steht, wegzulassen: secrire. So wie es secrel gibt (Geheimnis) und seduire (verfüh
ren) sowie das fast insektuös anmutende separer, ihre berühmte ,.separeunion'·. Zu
der es wiederum schon wieder viel zu viel zu sagen gäbe, aber wahrscheinlich steht
das Beste schon irgendwo. Sonst hätte ich nämlich versucht, separeunion am Hals
der Libelle vorzuführen, sie hat nämlich fast keinen und dennoch müssen caput und
thorax ja irgendwie verbunden sein, zusammenhängen (schreibt man das jetzt aus
einander?). Tatsächlich ist ihr Hals derartig dünn, man möchte meinen ein seidener
Faden, dass ihr nur die geniale Erfindung eines sogenannten Klettverschlusses im
Flug und bei der Paarung den Kragen retten kann. Diesen Klettverschluss-Sicher
heitsgurt, eine Art Hals- oder Kragensupplement, muss sie dann blitzartig anlegen
und aber auch ebenso schnell wieder ablegen können. Es gäbe noch viele andere
Momente von separeunion bei denen, die ja nicht umsonst zu den Gliederfüßern
zählen und Insekten heißen. Jedenfalls und wie gesagt würde der Kopf unserer Li
belle ohne Klettverschluss beim Paaren und schnellen Fliegen schlicht abreißen
- und das heißt aber eben auch beim Raubflug oder Flugraub, schließlich ist sie ein
Raubtier und hat Zähne, ihr Ordnungsname Odonata ("die Bezahnten") zeugt von
nichts anderem!
In anatomischer Wahrheit hat die Libelle einen "Querkopf". In genauso wahrer
Wahrheit ist es aber viel trauriger. Es geht um Trennung, Tod und Trauer, und Cixous
führt auch einen Kampf: Es gilt jedes Mal und nicht zuletzt Jacques fois unique,
zu versuchen, separer in immer wieder neuer, anderer, unerhörter Weise in und als
reparer .::u transkribieren. Zu metamorphorisieren, ZU metaphorisieren, d.h. tragend,
ertragend und übertragend zu verwandeln. Aber ohne, und das ist die Kunst, den
Stich, den Schnitt, das stig"' und das
sect" der Trennung und des Verlusts zu tilgen
und ohne das Gebot der Diskretion zu missachten, d. h. die Schwebe einer explizi
ten Implizitheit, die nicht zuletzt die Intimität von Leiden und Schmerz betrifft, im
taktvollen Gleichgewicht dessen zu halten, was Jean-Luc Nancy in einem anderen
Kontext "Berührung im Abstand" nennt.16 Ausgang ungewiss, das ist die einzige
Gewissheit. Btsher aber und von Außen betrachtet: Ein Buch nach dem anderen
erscheint, jedes insistiert, nicht ja oder nein, nicht Innen oder Außen, nicht verhüllt
oder enthüllt, sondern übersetzendes Schälen und Feilen, ein "Exuieren" (so wie
man ein Hemd auszieht) von Schichten zwischen Schichten, eine Häutung nach
der anderen. "Das Denken der Haut" und "Die Haut denken" - auch das ein Topos
110
von ihr! Ihre Wörter so minutiös hörend zu zeichnen und scheinbar schwerelos zu
,.
streifen, ohne - unterschwellig, indirekt, en reserve - die Last der Wucht und den
Schmerz des Doms auch nur für eine Sekunde oder Seite zu beseitigen: Das hätte
ich ihre Kunst genannt und ihrer ,,poethique" (mit h und nicht von mir) zugeschrie
ben, ihren Körperwörtern voller vigueur: vigueur, das heißt Kraft,puissance, auch
und durchaus im physikalischen Muskelsinn. Und hierfür erfand Derrida eigens ein
Verb für sie, ein Infinitiv im Konjunktiv: puisser - "können mögen" (und mehr)!
Ich will Stigmata. Ich will nicht, dass die Stigmata verschwinden. Meine Eingravierungen, die Stiche in
meinem Fleisch und mein mentales Pergament sind mir ans Herz gewachsen. Ich beftlrchte njcbt, dass
Trauma und Stigma eine Allianz bilden werden: die Literatur in mir will Spuren behalten und reani·
mieren.
Trauma als Eröffnung der Zukunft einer Wunde ist das Versprechen eines Texts. "
"Ich will Stigmata"18: Erste Unwägbarkeit: Die "Eröffnung der Zukunft einer Wun
de" kann "das Versprechen eines Texts" immer auch nicht halten. Diese Möglich
keit besteht auch dann, wenn ich den eben zitierten Satz wirklich gelesen hätte.
Aber - zweite Unwägbarkeit - nichts ist ungewisser als das, denn dem Autor einer
gewissen "Seidenraupe" zufolge gilt: zitieren ist nicht lesen. Sondern vielleicht eher
(heraus-)picken, spicken, stibitzen -piquer: Zitat als Raub, vol, Flug. Und gilt nicht
dasselbe für die Übersetzung: Einer Sprache beraubt, Federn geklaut, pique-vole,
flugs, diese An-, Um- und Übereignung ohne Besitz, das ist Raub im Flug und um
gekehrt, vole en vol, aber an diesem Punkt griff ich damals vor, das war zu eilig,
volant. Noch dazu ist vole, egal welches der beiden, ein Anagramm von Iove, ich
liebe nichts anderes, aber Lesen ist langsam und eine der Fragen hätte gelautet,
gleichsam subkutan oder underground: In welchem Verhältnis steht Übersetzen
zum Lesen? Genauer: zu dem, worauf Derridas Frage nach adäquatem Lesen so
unendlich, immer wieder neu und anders, insistiert? Er, der Tänzer, Spieler, Jong
leur, der Vagabund und Freund noch der winzigsten Differenz, immer auch und
anders "en analyse", fordert hier einmal mehr so gut wie alles:
Aber hier lesen können [savou· Iire], das ist der Zirkel, kann nur von dem Pfand (gagej aus gelernt
werden, der gegeben wurde, und in erster Linie dem gegeben, was es endlich zu lesen gjlt, auf der Höhe
dessen, was Sie lesen müssen: [... ] Um dies zu erreichen, auf der Höbe dieses Korpus hler, [... ] muss man
schreiben und seinerseits unterzeichnen, gegenzeichnen, indem man etwas anderes schreibt, in einer an
deren Sprache, ohne die Aufforderung oder den Appe ll des ersten Siegels zu verraten. Man wird niemals
beweisen können, dass es passiert ist, nurschwören. Der Meineid muss möglich bleiben. Dies stellt eine
Aufgabe dar, die zu respekti eren ist. (Herv. J.D.)'�
Bis ich das hier sah. Als hätte Derrida Cixous' Schrei von ,,Ecrs-toi"
i gehört - und
seinerseits gegengezeichnet. Ich zitiere, nicht wissend, ob zitieren lesen ist. Und
was, wenn dasselbe fürs Übersetzen gilt?
111
Wir schreiben uns. Übersetzen Sie: wir schreiben uns, wir haben uns viel geschrieben - sie und ich.
Aber was Sie eben aufdiese Weise Obersetzt haben (wir haben uns viel geschrieben) bleibt absolut un
übersetzbar (also lesbar unlesbar). Sie werden die Unentschiedenheil in einer anderen Sprache nicht im
vorgefundenen Zustand belassen können, im unentscheidbaren Zustand, zwischen "uns", zwischen den
beiden "wir", die sich sagen: das "wir haben uns selbst viel geschrieben" und dem "wir haben uns viel
geschrieben'· (wir selbst filr uns selbst oder der eine dem anderen) und diese Unentschiedenheil :zwischen
zwei Homonymen ist kein Spiel. Sie ist so ernst, dass sie für mich selbst unentschei
dbar bleibt. Absolute
Differenz. die, hier, aufdasselbe binaus kommen kann.
Zwischen uns gibt es die Sprache. Wiederzubeleben. Anzuzünden ohne Animositllt. Das ist die Wahrheit:
es gibt Fälle wo, wenn zwei sich schreiben, man nicht mehr weiß, ob sie s1ch schreiben oder ob sie sich
schreiben, und ob viel die ganze oder einen Teil der Homonymie abdeckt. (Herv. J.D.)'0
Und hierzu gibt es wiederum eine Version oder Anwendung oder Antwort von
Cixous, ein Muss fiir die Ohren:
Der Leser-Analytiker wird bemerken, dass ich Jacques Derridas Traum notJert habe. Ich notiere schnell,
frühzeitig, ich versuche- bis ins kleinste Detail genau zu sein. Wie filr meine eigenenTräume, die enorm
anders sind. Wir notieren uns gegenseitig.
Man wird sich fragen, warum. Wir auch. Wir fragen uns das. Aus irgendeinem Grund fragen wir uns das.
Ohne uns zu fragen. Gegenseitig [mutually]. (Ins. 143/95)
112
Und dann später, ein Zufall genügt, entdeckt man, dass dieser oder jener Ein
fall, an dem ich tagelang herumeditiert und -meditiert, geschliffen und gefeilt hatte,
schon sonst wo steht, wunderbar entwickelt, wirklich gelesen! , anders, klar, aber
vor allem: auf welchem Niveau und immer, toujours, "in another language", ich
schwöre es!
Alles, was ich hier tue, ist Wörter aufpicken, picorer, picoter, piquer, stochern
und stibitzen, und nur ein paar wenige aus ihrer unerschöpflichen Schatzkiste, die
voller Diebes- und Liebesgut ist, diese beiden Fischer, Jäger und Rebellen-nicht
Libellen schwärmen eben fUrWörter, falls man das so sagen kann, denn in Wahrheit
zünden sie sie an, und noch aus dem Verb "auslöschen" machen sie einen Flächen
brand! "Zwischen uns gibt es die Sprache. Wiederzubeleben und anzuzünden ohne
Animosität."
Bref, kurz, und endlich komme ich vielleicht doch noch zum Ende. Was zur
schreibenden Beseelung von Körperwörtern werden kann, nenne ich inzwischen
mitunter Edel- oder Mosaiksteinchen. Libellen, die sogenannten Edelsteine der
Lüfte, haben nämlich alles mit Beschleifen und Feilen zu tun, als In- und Trans
kription, darauf insistierte ich aber bereits. Auch darauf, dass Cixous unter vielem
anderen eine Künstlerin des Schliffs ist. Tatsächlich heißt lepo, der Vorfahre von
frz. Iivre - Buch und Waage bzw. Pfund - auf Griechisch schlicht "ich schäle".
Nun wurde ein gewisser Meeresfisch ,,Pez Limo" genannt. Ich erwähne das, weil
spanisch limar "feilen" heißt, aber dieser Fisch hat noch andere Namen, und ein
paar davon sind fur unseren Fang von Belang. So gehören - neben Wassetjungfer
und Augenstecher - auch Schleifer und, denkt man an den Klettverschluss dieses
Insekts, nicht ganz ohne Komik, auch Halsabschneider zu den Namen der Libelle,
bevor die Wissenschaft obsiegte.
Fest steht, dass besagter Riesenfisch der Gattung der Libella angehört. Viel
leicht schaffe ich es noch ganz kurz, diese höchst sonderbaren und multiplen Tauf
schleifen nicht gänzlich nicht zu nennen. Also zurück zum Wort Livre: leb könnte
jetzt unschuldig tun und sagen: Merkwürdige Koinzidenz, dieses Buch- und Waage
Ding, aber es stimmt, es ist, genau wie bei voile (le voi/e-Schleier, Ia voi/e-Segel),
auch hier "nur" eine Frage der sog. sexuellen Differenz oder was man Genus mit
leider nur einem S nennt. Im singulär geliebten Plural kötmen Sie gena.u das aber
nicht unterscheiden.22
Weshalb man auch putzig gestritten hat- jahrhundertelang! - warum die Libelle
Libelle heißt, sprich ob ihr Name von liber Buch oder liber Waage bzw. Gewicht
kommt. Aber es fing noch anders an. Einer der Gattungsbegriffe dessen, was Medu
sa als Appell - Manifest oder nicht - ergehen lässt, wäre nämlich auch als Pamphlet
zu bezeichnen, selbst ein Wort, das auf eine populäre Liebesgeschichte aus dem
113
Mittelalter zurückgeht, die ich nicht kenne, palü. Aber just bei Pamphlet fand ich
na! - Libell! Es ist ein Libell, son appel un Iibei! ! ! Zu Deutsch ein Büchlein, dessen
pejorative Konnotationen wie Streit-, Spott- oder Schmähschrift erst später dazu ka
men, aber als Medusa alle Zungen rausstrecken sollte, war es schon soweit. Libell,
Diminutiv von fiber-Buch also, worunter ein kleines, wohlgemerkt und Hauptsache
ungebundenes Schriftstück verstanden �ird, lateinisch libellus. Daher auch fran
zösisch Iibeiie, was schlicht ein Wortlaut ist und auch als Verb existiert, libeller:
"formulieren", im Sinne einer sprachlichen Präzisierung und auch, was man in der
digitalen Welt ein tag nennt.
Libelle aus libellus also, weil sie im Flug an die Blätter eines offenen Buchs erin
nert, an liber, maskulin. Wobei Buch nur metonymisch stimmt, denn liber m. heißt
Bast, und das ist jene lebendige Zellschicht unter der Rinde höherer Pflanzen, auf
der man tatsächlich schrieb, bevor es Papyros gab. Somit: liber-Bast vermutlich aus
ASn(!), "ich schäle". Ab er oder auch: Libelle von liber feminin, woraus libra-Pfund
und überhaupt ein Wert von Gewicht wird, und auch hier kommt es zum metonymi
schen Gebrauch, der libella kleine Waage heißen lässt, den horizontalen Linien des
Fluges der Libelle angeblich vergleichbar.
Aber ach, beide Versionen stimmen nicht, denn endlich fand man jüngst die
Schriften von Rondelet ( 1558), der zu guter Letzt aufklärt und seinerseits nun ein
Patt der besonderen Art beschert. Es ist ein wunderbares Beispiel flir unser schwe
bendes Pegel- und Pendelpensurn, das anders zu denken gibt- penser.
Das wäre die eine These gewesen: Die Libelle heißt Libelle, weil ihre Namens
gebung schon selbst eine Geschichte des Unentscheidbaren ist. Darum wäre es ge
gangen: um das Equilibrium eines Unentscheidbaren zwischen Equivozität-Mehr
deutigkeit und Equivokation-Irrtum.23 Und vice versa.
Alles quer Literatur ist immer schon queer, sagt Cixous, denn, halten Sie sich
fest, Rondelet legt das Rätsel folgendermaßen dar: Libelle kommt von einem gräss
lichen Monsterfisch, genannt der Hammerhai oder Judenfisch, oops, ,.poissonjuif'!
Das sei aber nicht abwertend gemeint- hierauf eigens hinzuweisen fiihlt sich eine
lateinische Schrift gleichwohl bemüßigt , sondern es handele s1ch schlicht um eine
Ähnlichkeit mit der damaligen Kopfbedeckung provenzalischer Juden. Diese wie
derum hatte eine Querfonn wie der Kopf des Hammerhais - eine Gattung aus der
Ordnung der Quennäuler -, dessen Kopf ihn aussehen lässt wie ein großes T oder
d1e Richtwaage bzw. das Bleilot der Maurer, sagt Rondelet, das Bild dazu sahen Sie
eingangs.24 Fazit: weder Bast, Borke, Büchlein oder Wäglein, sondern der Name
Libelle verdankt sich einem dunklen Meeresungetüm, dessen Körperbau wiederum
einem Twie 1ext "oder" einer Waage ähnelt, englisch "Spirit levef', geistreich oder
nicht.
114
*
Dann kam ein Traum. Vor mir stand, in großen und sehr schönen und klaren Lettern
das Wort LIBELLULAE, aber es kippte dann irgendwie über cachette-Versteck hin
zu Ia petite}eweresse (oder sogar ,.ma petitejeweresse"?) undjewereine - reine wie
reine (Königin), renn! und sereine (heiter), das sage ich aber etst jetLl -, und dann
ging alles in Richtung, vers, Cixouvereine. Aus mir völlig unerfindlichen Gründen
wachte ich wie erlöst auf, als könnte dieser Traum meinen Text vielleicht doch
noch retten, mit dem Gefühl, dass}eweresse ja nicht nur auf etwas wie Jewishness
anspielt, sondern, mehr noch als auf ,.jew-ef' maskulin und ,.jfnv-elle" feminin, zu
mindest auch, trotz und vor allem, auf einjewe/, ein Juwel, Jubel,joy,joie! Immer
hin vielleicht. Reve-toi'?25 Cut.
"Das Unentscheidbare überhaupt", sagt Cixous, ist ,.juif" - und ich verweige
re die Übersetzung. Denn man ist es nie ganz, nie richtig, nie genug oder viel zu
sehr. Unendliche Differenz in einem einzigen Wort und dann, weiblich juive : noch
einmal ganz anders. Das "schreibt sich" noch einmal ganz anders, woanders und
wannanders, aber sie schreibt sich. Ad lib
115
Anmerkungen
Bildzitat aus: Guillaume RONDELET, L 'histo1re entiere des p01ssons [Die ganze Geschichte der
Fische], aus dem Lateinischen von Laurent Joubcrt, Lyon: Mace Bonhomme 1558. Creative-Com
mons-Lizcnziert (CC-BY NC: bttp://creativecommons.org/licenseslby-nc-sa/2.0/be.ldeed.en). Der
Scan wurde dankenswerterweise von der Universitätsbibliothek Gent zur Verfugung gestellt.
2 Jacques DERRIDA, Circonjess10n, in: Geoffrey BE�INGTON Jacques DERRIDA, Jacques Der
nda, Paris: Seuil 1991. 119. Alle Übersetzungsversuche sind, soweit nicht anders angegeben hier
und im Folgenden von mir.
3 llelime CIXOUS, lnsister ofJacques Den"ida, aus dem Französischen von Peggy Kamuf, Stanford:
Stanford University Press 2007, 95; Original: l11sister. A Jacques Derrida, Paris: Galilee 2006, 70.
Fortan gilt die Sigle Ins. und die Seitenangabe der amerikanischenAusgabe, gefolgt von der des fran
zösischen Originals.
4 Hclene crxous, Le Rire de Ia Meduse et Oll/res IrQnies (gefolgt von Sonies von Catherine Clement
und H.C.), Paris: Galilee 2010, 45. Allerdings folgt im Original auf den Imperativ kein Ausrufezei
chen, sondern ein Doppelpunkt: "Ecris-toi:''.
5 Entsprechend (siehe vorige Anm.) im Deutschen: "Schreib Dich:'". Vgl. Helene CIXOUS, Das La-
chen der Medusa, aus dem Französischen von Claudia Simma, vorliegender Band, 44.
6 Sprich (siHu:].
7 ln: L'Arc06l (Simone de Beauvoir), 1975, 39-54.
8 "Sei zwei: das ist I'ecriture selbst.", sagt sie woanders.
9 Cf. Ginene MICHAliD, Jnfinilire Derrida er Cixous, in: Spirale n• 209, 2006, 39-41. AufMicbauds
Albeiten hinzuweisen, ist hier absolut unverzichtbar, exemplarisch sei hier nur eines ihrer jüngsten
Werke genannt: Battements du :;ecret /iuerau-e. LireJacques Derrida et Helerle CixollS. Volume I,
Paris: Editions He1mann 20 I 0.
10 "Schreiben, ein Akt, der (...] sie (die Frau] der Überichstruktur [strucrure surmolsee] entreißen wird.
in der man ihr immer denselben Platz der Schuldigen reserviert bat (...]. [. ..) Eine Frau ohne Körper,
eine Stumme (mueue], eine Blinde, kann keme gute Mitstreiterio sein." (Das Lachen ..., op. cit, 44,
Übs. leicht modifiziert.)
I I "Verquickt" würde friedrich Kittler in seiner so einzigartig singenden Wörterrhythmik sagen, ges
tern (18.10.20 II) ist er gestorben, es ist unmöglich, "chaque fois uniquc, Ia fin du monde"! (Cf.
i unique. /afin du monde, Pans: Gali!ee 2003). Nicht zuletzt ist es
Jacques DERRIDA, Chaquefos
Kittlers gastfreundlieben Gesten zu verdanken, nichts Geringerem denn einem gewissen französi
schen Denken ru seinen ersten, inkl. Derrida übersetzenden, Sprüngen über den Rhein verholfen zu
haben.
I2 Dass Übersetzung immer auch Trauerarbeit ist, wollte ich dieses Mal unbedingt verhindern, rheo
reusch zu fassen zu ven.u�hen (zu einem >Oicben Versuch cf. Ulrike Oudee DÜNKELSBÜlfLER,
Reframing the Frume ofRea>utl. Trans-Laliu11 in and Beyond Kanr andDetTida, aus dem Deutschen
von Max STATKIEWTCZ, Vorwort von Jacques DERRTDA, New York: Humanity Books 2002,
Orig. Kritik der Rahmen- Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, Vorwort von J.D.,
München: Fink 1991). Angenommen, was Theorie heißt, ließe sich sondernd angeben (welche Fik
tion!): lst ihr zu widersteben nicht vielleicht einer, wenn nicht der drive - um nicht zu sagen die
Trauer selbst - des Cixous'schen <Eu\Te? Das. was - zugunsten eines .,S'ecrire"- insistiert? Ware
diese Trauer al>o nicht auch und gerade der Widerstand gegen jede Theorie der Traue?
r Zu dieser
Spannung 7.\\ischen resisrunce und insistance bleibt sehr viel zu sagen. Hier kommt hinzu, was
manchmal bis zum äußersten Widerstand (der kapitulierendes Erstu111men bedeuten kann) wirkt und
diesen Text im besten Fall behindert: die subjektive Tatsache nämlich, dass zum Beispiel das deut
sche Wort "Trauer'" (heftiger noch: .,Trauerarbeit") wie ein selbst schon überwältigender Brocken
und so viel trllchttger. triefender, spröder und harscher klingt als der schmerzend zarte Klang von
1 16
deuil, ein Wort, das sieb spätestens seit Derrida weder bei due/ oder deux, noch bei dieux anhalten
lässt. Was bleibt, ist die hässliche Angst vor der Peinlichkeit der mitunter pathetischen Ruppigkeit
dessen, was ich "meine" Sprache nennen muss sowie die Empömng angesichts der Zumutung, fast
alles auch noch in sie hinein übersetzen zu müssen. Ist am Ende das, was mich zu dieser Fußnote
treibt, ein Alibi furs Scheitem der Trauer an der Sprache? Das - und die - das Schreiben ineins ver
unmöglicht und im Scheitern ermöglicht. Ganz anders, hier, übersetzt:
"Ich behindere mich Ich sehe mich etwas tun doch nichts geschieht leb weiche mir aus Jedes Wort
gibt mir die Gelegenheit zu einer Flucht Ich könnte leicht zehn Seiten nach dem Wort hindem
schreiben ein ausgezeichnetes Wort aber ich hindere mich leb wechsele das Thema Sagen wir man
nicht ich das geht besser Man sieht hier den Kampf den ich iu mir so oft fuhre Es handelt sich um
folgende Szene in dem Moment wo ich mich daran mache sagt mir eine Stimme das darfman nicht
sagen leb weiss nicht wer diese Stimme ist Ich merke dass ich mir einen Hasen vorsetze Sind sie
einmal losgelassen bin ich wie ein Hund ich renne überall hin Montaigne hat sich Hasen vorgesetzt
und noch ganz andere Tiere dazu aber das ist keine Entschuldigung Um auf die Stimme zurückzu
kommen es ist nicht so dass ich ihr gehorchte doch diskutiere ich mit ihr und verliere damit Zeit
Meinem Freund zufolge ist das ganz nonnal und wahrscheinlich unvermeidlich Man hört nicht auf
sich zu teilen anzustossen zu stolpern die Beine in die Hand zu nehmen und umgekehrt jedesmal
wenn man sich zum Schreiben anschickt das ist sogar das Zeichen des Schreibens sein Hasenfuß Es
schützt sich [...]." (Helene CIXOUS, Benjamin nach Montaigne: Was man nicht sagen daif, aus dem
Französischen von Helmut Müller-Sievers, Wien: Passagen Verlag 2008, 42 f.)
13 Die Ironie nimmt kein Ende: Inzwischen - Januar 2012 - hat man mir die brandneue Übersetzung
von Le Rire ins Deutsche zukommen lassen, allein Cixous' Vorwort von 2010, beziehungsweise die
Übersetzung von "Un effet d'epine rose", fehlt im deutschen Band. Vole? Eteint? Genau davon ist im
hier folgenden Zitat die Rede.
14 H.C., Le Rire ..., op. cit., 30.
15 Eine wunderbar filigran hörende Lektüre schon allein des französischen Titels hat Ginette Micbaud
vorgelegt in: G. M., Infinilire Derrida et Cixous, op. cit.
16 Cf. Jean-Luc NANCY, Die Annäherung, aus dem Französischen von Ignatz KNIPS, hg. von J.
KNIPS und J.-C. RITTER, Köln: Salon Verlag 2008.
17 Helene CIXOUS, Stigmata: Escaping Texts, New York, Londou: Routledge 1998, xiv.
18 Ist Stigma, griechisch "Stich", eine Metapher fur Differenz? Oder wäre umgekehrt das vom Sehtnerz
abstrahierte bzw. sedierte Wort "Differenz", ein Lieblingstem1 der Theorie, entgegen allem Ansebein
eine Metapher? Die ihrerseits im Zeitalter von Klartext, Eigentlichkeits- und EindeutigkeilSzwang
und -gläubigkeit nicht unstigmatisiert blieb. Mehr noch: Theorie, die gerne vorgibt, keiner Metapho
rik zu bedürfen, braucht sie, um sieb die "instigierendeo" und animierenden, aber feLLergef<ihrlichen
Impulswirkungen von Konkretismen wie "Stich" und "Wunde" löschend und betäubend vom Leib
zu halten, wohl weil keine Vivisektion ohne An-Ästhesie beherrschbar ist.
19 Jacques DERR!DA, Un ver a soie, in: J. DERRIDA, Helene CIXOUS, Voiles, Paris: Galilee 1998,
79; englisch: A Silkwarm ofOne's Own, in: Veils, aus dem Französischen von Geoffrey BENNlNG
TON, Stanford: StanfordUniversity Press 2001,83 f.; deutsch: Eine Seidenraupefiir sich, in: Voiles.
-
Schleier undSegel, aus dem Französischen von Markus SEDLACZEK, Wien: Passagen Verlag 2007
(Übs. leicht modifiziert).
20 Jacques DERRIDA, H.C. pour Ia vie, c 'est adire..., zit in: Ginette MICHAUD, Point{s} de rencon
tre, croisements et contresignatures. Une Ieeiure des rapports Cixous-Derrida, in: Cecile ·HAYEZ,
M. LISSE, (Hg.), Apparitions de l'auteur. Etudes interdisciplinaires du concept d'aweur, Bern: Pe
ter Lang 2005, 63-!06 (hier: 63 f.). Derridas Text erschien zuerst in: Mireille CALLE-GRUBER
(Dir.), Helene Ci�ous. Croisees d'une reuvre (Actes du colloque de Cerisy 1998), Paris: Ga1i1ee 2000;
deutsch: H.C.fiir das Leben, das heißt... , aus dem Französischen von Markus SEDLACZEK, Wien:
Passagen Verlag 2007, 154.
117
21 Tatsächlich gibt es eine herz- und in diesem Fall auch geschwistcrzerreissende Fahrradgeschich
te in Cixous' Re�·eries de Ia Jenune sauvage von 2000. Sofort klingeln Becketts Fahrradglocken
(Cixous' Becken-Lektüren: paliinonplü, zu deutsch "auchnichtgelesen"), aber unbecketthafterwei
se schreibt Cixous ihr Rad, das hier regelrecht das Objekt des Begehrens zweier Geschwister ist,
groß, doppelt groß sogar: "Le Velo". Vergisscsi Aber velo ist schließlich ein Anagramm von vole
(Sie wissen schon) und, herrjeh, auch von spanisch el velo, was ausgereebnet Schleier heißt! Ken
nen Sie Voiles (Paris: Galilee 1998; deutsch: Voiles. Schleier und Segel, aus dem Franzosischen
von Markus SEDLACZEK, Wien: Passagen Verlag 2007), dieses Gemeinschaftswerk der Beiden.
in dem Cixous den Entzug des Schleiers eines gewissen höchst ungewissen "Wissehens" (,,Savoir")
betrauert und Derrida am Ende, wenn man so will (und ich will), aus Rauben Raupen macht? Na
mentlich in "Eine Seidenraupe fllr sich" ("Un ver a soie") - a soie aus Seide, a soi fur sich, soit,
sei's drum! Hilft es unserem schleierhaften Sich von s 'ecrire, dass sich dort ein Etwas aus soi(e)
herauswindet, sich in sich und sich aus sich ver- und entpuppt? Mehr noch vielleicht oder mehr
verminden, "dirninuien": velo (Schleier), Anagramm von vole und vole. zwei in einem, das span
Zeit. Und das pedalisierte Geschwindigkeitswort wzlo(-cite) hat ja wiederum alles mit Zeitersparnis
und mit einem plus d'un n1 tun, in diesem Fall mit der Zahl zwei wie bi-cycles. Erstaunlich, wo
doch das ,.Dekonstruktion'' genannte Verfahren gerade die Binarismen, Duahtäten und begrifflieben
Oppositionen stets als differenzannullierenden oder -verschleiernden Skandal auffliegen lAsst. Was
aber eben nur dann, wenn es nur einen einzigen Gewinner und damit zwei Verlierer gibt, stimmt.
PS.: Nicht nur because l love Je velo, sendem dass man sich in Parisjetztzunehmend flugs mit einem
Gefährt durch die Straßen schwingt, das sich ausgereebnet des Namens ve/lb' erfreut, kann dieser
Text. kurz nach dem Trip und vor dem Druck, nicht nicht noch schnell und grilßend sagen.
22 .,Der Geist der Unentscbeidung. Das Balancieren. Warum haben wir zwei Beme wenn nicht um
von einem Fuß auf den anderen zu denken. Ein von Marionetten bevölkertes Stück spielt die
Wahrheit, die wir in der Gesellschaft gerne verleugnen wUrden: bis zu welchem Punkt wir zu
Jilckweichen indem wir voranschreiten, und fliehen indem wir droben und drohen indem wir flie
hen, der RUcken ist unser anderes Gesicht, und von einem Augenblick zum anderen können wir
Schicksal, Wahl, Glaube, Treue, Genre. Richtung, Partei und sogar das Geschlecht wechseln! [...]
Was unveränderbar bleibt ist der Schmerz." (Helene CIXOUS, Tambours sur Ia digue (Theätre du
SoleiI), Montreuil-Sous-Bois: Tbeatrales 1999.)
23 Cf. spanisch equivocarse "sieb irren".
24 .,D1eses Tier ist sehr klein [fort petit], von der Gestalt eines T oder einer Waage (Niveau]" (RON
DELET. Du lt.farteau ou .Viveau d'eau douce [Übers. von U D : Vom Hammer oder der Süßwasser
waage], in: L 'histoire ..., op. Cll.; cf. http:/lwww.sylvestris.org/odonatallibella.htm; zuletzt ge�ich
tet: 01.07.2012.). Ein T sieht streng aus, ist sehr symmetrisch und aus nichts als rechten Winkeln
gebaut, könnte aber dennoch von instabiler Bodenhaftung sein. Bei diesem Buchstaben steht also
die Balance auf dem Spiel. <;o folgt die Ähnhchkeit mit Bleilot und Joch, weshalb dieser Hai auch
,Harnrne�och" heißt, einem T. das lieber nicht kursiv gesetzt sein sollte. Hai. französisch requin: Für
den, der ihm zum Opfer fallt, bleibt nur noch das Requiem, so lautet ein Teil der, sagen wir, etwas
unbeholfenen l:tymologie für das Wort requin.
25 ,,Edelsteine der LUfte" war schließlich einer der Namen. "Rcve-toi" - Träum dich. Cf. zum Beispiel
Helene ClXOUS, Reve je 1e dis [Träum sag ich dir], Paris: Galilee 2003 und Hyperreve [Hyper
traum). Paris: Galilee 2006.
118
Brechen/Schneiden wir rasch ab
- ---
Esther Hutfiess
Als ich eine junge Frau war ... Ob sie immer schon hässlich war, als
Nun leben wir weit weg, hoch im Ungeheuer geboren? Oder durch einen
Norden unter der Erde, im Erdenschoß Fluch ihre unsterbliche Schönheit ver
Oder im Meer. Oder den Lüften und lor und sich in jene schreckliche Gestalt
Winden. Aufden Gipfeln der höchsten wandelte, deren Anblick erstarren lässt?
Berge. Giftige Schlangen umzüngeln ihr Haupt,
Versteckt, verborgen, verbannt, glühende Augen stoßen Blitze hervor, ein
geschützt? Schuppenpanzer umschließt ihren Leib,
Stheno, Euryale, Medusa. Reißzähne ragen aus ihrem geöffneten
Schlund.
Im Schlafschmiege ich meine Flügel Starr vor Schreck. Abgeschnitten ist ihr
eng um meinen Körpe1; mein Kopf Haupt nicht weniger Grauen erweckend.
liegt ruhend in der Halsbeuge meiner Auf Simsen, über Portalen, auf Kampf
Schwester. Die Blüten kitzeln meine schilden soll ihr steinernes Antlitz das
Haut. Wir ruhen am Abgrund und doch Böse und Fremde femhalten.
spüre ich noch diefeuchte Erde unter Kastrationsschreck.
meinem Leib. "Kopfabschneiden = Kastrieren."1 Der
Ich lebe. Ich bücke mich um jeden Körper der Frau wird von ihrer Stimme,
Tropfen, jeden Sonnenstrahl aufzulesen ihren Augen und Olu·en getrennt. Die Sinne
und einzusammeln. Wir strecken unsere lahmgelegt. Das Nervensystem gekappt.
Häupter in den Himmel, mit allen Mit Freud ist die Kastrationsangst an den
Zungen riechen und schmecken. Mit den Anblick gebunden. Der Knabe erblickt
Augen berühre ich die schneebedeckten das weibliche Genital, wahrscheinlich
Berge und das Meer. dasjenige einer Erwachsenen: ein "von
Haaren urnsäumtes, im Grunde das der
Wir müssen essen, uns stärken. Es Mutter."2
braucht Zeit, bis wir uns annähern Immerhin: Es sind Schlangen, keine Pe
können. nisse; das wäre noch Wlerträglicher. Viele
Schwänze auf dem Haupt, kein einziger
121
zwischen den Beinen. Aber immerhin
Er reitet uns aufseinem Penis auf dem Haupt: Die Schlangen werden
entgegen. Der Falke landet auf dem zum auf die Kastration verweisenden
schäbigen Betondach des Hochhauses, Fetisch, der den Jungen jedoch vor dem
umklammert den steinernen Torso einer existentiellen Schrecken bewahrt.
Frau mit seinen Schwingen. Beton ist Den Jungen ...
geduldig, Papier nicht. "Leider können wir diese Verhältmsse
Nein! Wir sind uns noch nicht begegnet. nur filr das männliche Kind beschreiben,
in die entsprechenden Vorgänge beim
kleinen Mädchen fehlt uns die Einsicht."3
Der unerträgliche Schrecken im Anblick
des weiblichen Genitals wird Ferenczi
gemäß "von unten nach oben" verscho
ben. Die vielen Schlangen um das Haupt
Nein! Kanntest Du mich denn nicht? verweisen auf das Gegenteil: dass da
Haben wir uns nicht schon einmal nichts ist und dass da etwas war, das
gesehen, ... damals, als ichjung war. weggenommen, abgeschnitten werden
Einejunge Frau. kann.4
Derrida spricht von Trance, von einer Er
fahrung, "wo nichts ankommt/geschieht
(advient), wo das, was aufkommt, ,gleich
zeitig' zusammenbricht, wo man nicht
zwischen Mehr und Weniger entschei
den (trancher) kann."s Die Koinzidenz
von Erektion und Kastration. Traneher
entscheiden oder abschneiden? Traneher
heißt auch: ein Urteil ftHlen.
Das Blut von damals schießt mir ins Das Haupt muss ab!
Gedächtnis oder in den Unterleib. Die jungfräuliche Athene trägt es fortan
Nichts istje vergessen. auf ihrem Schild. Sie ist die Erhabene,
Wir kamen aus dem Mee1: Gibt es Dich die Unnahbare. Sie ist das jegliche sexu
- meinen Traum. Du Wesen der Nacht! elle Gelüste zurückweisende Weib.6
Manchmal kann ch i mich nicht mehr Athene ist bewaffnet. ,.Brechen/Schnei
erinnern. den (coupons) wir rasch ab, machen wir
In God, I do not trust. Man sagt, er sehr schnell: dieser Schwanz (bite), ne
habe die Schlange erschaffen. Um uns ben dem ich schlafe, ist weniger der des
zu verführen, uns an einen Platz zu Vaters, wie man glauben könnte, als die
venveisen - als Ausgestoßene. Jungfrau (Vierge) Maria selbst. Jch sage
122
nicht, daß er nicht der des Vaters ist, ich
sage ,weniger als'."7
MANN kann ihn also verlieren und sie hat
ihn verloren.
Freud entwirft eine Analogie. Wie der
Dann kam das Schwert oder die Anblick der Medusa einen erstarren lässt,
Gladiole. Ich binde mir daraus einen den "Beschauer" in Stein verwandelt, so
Strauß oder eine Giraffe oder eine vollzieht sich das Erstarren auch beim
Schlange. Ich mag die Tiere mit den gaffenden Jungen. Starr-Werden meint
langen Wimpern. hier Erektion. Die Erektion ist der Trost
des Erschreckten. Er ist noch da, MANN
kann sich seiner versichern. Rektion von
REGERE ist die Beherrschung.
Wenn MANN ihn zeigt, den erigierten Pe
nis, so bedeutet das mit Freud: "Ich fur
chte mich nicht vor dir, ich trotze dir, ich
habe einen Penis."8
Als Ausweg aus der Kastrationsangst
bietet Freud hier als einzige Möglichkeit
die männliche Erektion.
Ich streife meine Haut ab und den Die Frau wird zum gespaltenen Objekt.
Trenchcoat über. Ich möchte durch Im Medusenhaupt manifestiert sich mit
das Fenster steigen und in die Welt Freud das Grauenhafte, während das
hinausgehen. lusterregende Moment im Beschauen
Wir müssen unser Schamgefühl isoliert wird.
verpacken undper Eilpost an den "Das gedachte Sein ist das beherrschte
Absender schicken. Sein."9
Ich erinnere mich an die Gemme, die Ein katastrophales Ereignis: In der Sint
Du mir geschenkt hast. Ich werde in die flut wendet sir.h Mutter-Natur gegen den
Nacht hinausfliegen - nu_it - und sie Mann/Menschen. Sie "verliert die Fas
an meinem Körper tragen, sodass alle sung, fängt an zu toben".10 Er beginnt,
sie sehen können. das zu beherrschen, was ihn behütet, ge
Ich kann mir alles vorstellen. Wir schützt und genährt hatte. Das Bedrohli
sprechen oft davon. Das Schöne darf che zu beherrschen, heißt zu begreifen,
nicht mehr verboten sein. zu erfassen, es in Begriffe zu fassen. Das
gedachte Sein ist das beherrschte Sein.
Der Begriffzerschneidet und unterbricht,
stellt die Guillotine auf- im Namen des
123
M-Other, ich höre all eure Stimmen. Vaters. Und den Turm! Hege! berichtet
Das Lachen im reißenden Strom, die von Nimrod, dem Erbauer jenes Turmes,
Begierde im Schnattern der Klarinette. der in den Himmel ragt, um all den be
Wortfür Wort. Fraufür Frau. drohlichen Fluten stand zu halten.1 1 Die
Das Hören sti mein Vergnügen. Kastration wird zur Erektion oder um
Ich gebe Dir Zell, um weit zu gehen. gekehrt: "genau das aufs Spiel setzen,
Wohin willst Du reisen? Ans Nordkap was man bewahren will; vorab verlieren,
oder zum Südpol. Ans Ende der Welt was man aufrichten (eriger) will; außer
und an ihren Anfang. Kraft setzen, was man erhebt: aujhe
ben.''12 Die Dynamik der Aufhebung
dient der Abwehr.
Kopfabschneiden ist Kastrieren. Wäh
rend Medusa den Kopf verliert, sprießen
die Schlangen aus dem Boden, da wo ihr
Blut ihn tränkte. Die Phalli sind unsterb
lich.
Kopfabschneiden ist Kastrieren; aber sie
hat ihn doch schon verloren!
Komm, ich halte Dir die Tür auf und Eine grausame Tat, ein Bad im Blut. Ihr
wir treten gemeinsam ein. Tod sichert die Erektion: Aus dem, was
Der Raum ist schön - nach oben hin nicht ist - der fehlende Penis der Frau,
offen. Du weißt, ich bin keine gute das Nicht-Geschlecht - werden die be
Einrichterin. drohenden kastrierenden Schlangen auf
Reißen wir den überreichen Schmuck dem Haupt der Medusa - Verschiebung
von den Wänden.' von nichts unten zu ETWAS oben. Sodann
Wir brauchen nur das Wasser. wird sie - die Frau, Medusa - zum per
Wenn das Wasser in die Wanne fekten Opfer, das im heroischen Kampf
jließtJange ich an zu schreiben. Den w11 die männliche Selbstgewissheit un
Gedanken an das Schaumbad und terliegt. Ein Sieg über das NICHTS. ER hat
Gianna Nannini halte ich mit beiden nichts zu verlieren, während Sie das, was
Armenfest. sie nicht hat, gleich zweimal verliert.
Den Verlust bezahlt Sie mit dem Leben,
dem Begehren.
Die Kastration bat auch mit der Moral zu
tun: Der Junge gibt seine libidinösen Be
124
Siehst Du dort die Frau mit dem Kern des Über-Ichs bilden. Das Über-Ich
schönen Hut? Sie wird eine Geschichte tritt so das Erbe des Ödipus-Komplexes
schreiben. an.
Womit wirdsie es machen? Wie wird sie "Man zögert es auszusprechen, kann sieb
schreiben? aber doch der Idee nicht erwehren, daß
Mit allem, was ihr entgegenkommt. Mit das Niveau des sittlich Normalen für das
den Gardinen oder der Motorsäge, mit Weib ein anderes sein wird."13 Sie wird
dem Fensterglas oder dem Türspalt. weniger unabhängig von ihren affektiven
Ihrseidja nicht mehr normal! Werden Ursprüngen, ihr Über-Ich wird weniger
sie sagen. Wir haben das schon in so stark ausgeprägt sein und darum wird
vielen Büchern über uns gelesen. das Weib "weniger Rechtsgefühl" zeigen
Ja, das ist immer so. Die Normalen als der Mann, wird sich weniger unter
geben ungefragt Anweisungen. Die "die großen Notwendigkeiten des Le-
Anormalen haben nichts zu sagen. bens" unterwerfen, wird Entscheidungen
Es ist, als sollte ich vor mir selbst geleitet "von zärtlichen und feindseligen
erschrecken. Gefühlen" treffen. Freud wittert schon
Ich sehe davon ab_weiterhin die den "Widerspruch der Feministen, die
Ratgeberbücher über das schöne Leben uns eine völlige Gleichstellung der Ge
zu beherzigen. schlechter aufdrängen wollen", doch er
Zum loosten Mal befiille ich, gehorsam will sich "in solchen Urteilen nicht be-
wie ich immer schon war; dieses irren lassen". 14
Formular und kenne mich immer noch Nun, neu ist das nicht. Auch Hege! be
nicht aus. All das hat nichts mit uns zu stimmte den Unterschied der Geschlech
tun. Wir werden uns ausdenken müssen, ter in Hinblick auf deren Sittlichkeit.
was richtig ist. Sollen wir die Scham Der Mann ist Bürger, besitzt "die selbst
wieder auspacken? bewußte Kraft der Allgemeinheit", er
erkauft sich "dadurch das Recht der Be
gierde, und erhält zugleich die Freiheit
von derselben". Die Frau dagegen ist in
ihrer Sittlichkeit unrein.15
Ich möchte aus dem Vollen schöpfen. Die fratt, die Hege! in ihrer Mangelhaf
Ungeniert in den Waschtrog greifen tigkeit noch am sittlichsten erscheint,
und nach Wörtern wühlen, die ich nach ist die Schwester. Die Schwester wird
Herzenslust ausstreuen kann. Hier, ich vom Frau-Sein abgeschnitten, im Ge
schenke Dir Plastik und Mond. schwisterlichen begehrt sie nicht. Das
Möchtest Du auch Papiervogel haben? Geschwisterliche ist in gewisser Weise
"geschlechtslos". Nur ohne Geschlecht,
ohne Begierde gelangt die Frau zur Sitt-
125
lichkeit. "Das Weibliche hat daher als
Ich küsse die Lippen Deiner Augen. Schwester die höchste Ausdehnung des
sittlichen Wesens;"16 Wir dürfen hier nun
Wir kommen. Die Wörter tropfen aus nicht zu dem Schluss kommen, dass es
allen Höhlungen. die Schwester mit dem Bruder aufneh
nten könnte: denn der Bruder verlässt die
Mein liebster Engel! negative Sittlichkeit der Familie, um zu
wahrer Sittlichkeit zu finden.
"Heget findet es (9a) sehr gut, sehr be
ruhigend", schreibt Derrida.17 Also wie
der zurück zur Jungfrau? Oder kehren
wir zurück zur Schlange? Bekanntlich
war sie einst ein heiliges Tier. Sich häu
tend, in den warmen Spalten der Erde
lebend, schien sie der Sterblichkeit zu
trotzen und die Grenze zwischen Le
ben und Tod unbeschadet zu queren.
Sie lebte in den heiligsten Tempeln, sie
zu töten schien undenkbar. Mit der Ent
stehung der Schrift und der "Geburt des
Logos" wird sie zum Drachen, zum Bö
sen, zur Sünde, zur Todbringerin.18 Die
christlich-abendländische Kultur kennt
unzählige mythische Erzählungen, deren
Protagonisten ihren Heldenruhm dem
Unterwerfen, Enthaupten und Töten von
Schlangen oder Drachen verdanken.
"Da sprach Gorr der HERR zur Schlange:
Weil du das getan hast, seist du verflucht,
verstoßen aus allem Vieh und allen Tie
ren auf der Erde. Auf deinem Bauche
Ob sie uns sofort begraben wollen? sollst du kriechen und Erde fressen dein
Wir miissen langsam gehen, damit wir Leben lang. Und ich will Feindschaft
sie nicht erschrecken. setzen zwischen dir und dem Weibe und
zwischen deinem Nachkommen und ih
rem Nachkommen; der soll dir den Kopf
zertreten, und du wirst ihn in die Ferse
stechen."19
126
\
Aus etwas wurde NICHTS, um dann wie
der ETWAS zu werden, das getötet werden
kann. Die gerettete Schlange ist die be
herrschte, die augeeignete und einver
leibte. Die Natter des Asklepios - Sym
bol männlicher Weisheit und Heilkunst
Das wiederum trifft sich gut mit Freud.
Freud denkt auch an den Penis20 und
Schlafnun süß und träum was Schönes! findet das sehr beruhigend. Schlange
Und wenn wir ausgeruht sind, werden = Penis. Brechen/Schneiden wir rasch
wir die Träume in unsere Rucksäcke ab_____ _ __ _ _ _
packen und weitergehen.
127
Anmerkungen
Sigmund FREUD, Das Medusenhaupt, in: ders., Gesammelte Werke, Schriften aus dem Nachlass
1892- 1938, Frankfurt!M.: Fischer 1999,47.
2 Ebenda.
3 Sigmund FREUD, Die infantile Genita/organisation, in: ders., Schriften über Liebe und Sexualität,
Frankfurt/M.: Fischer 2000, 156.
4 Simdor FERENCZI, Zur Symbolik des Medusenhauptes, in: dcrs., Erfahrungen undBeispiel!' aus
der analytischen Praxis, Internationale Zeitschrift filr Psychoanalyse, Wien 1923, 67-70.
5 Jacques DERRIDA, Glas, MUnchen: Wilhelm Fink Verlag 2006, 28.
6 Sigrnund FREUD, Das Medusenhaupt, 47.
7 Jacques DERRIDA, Glas, 36.
8 Sigmund FREUD, Das Medusenhaupt, 48.
9 Jacques DERRIDA, Glas, 45.
I0 Ebenda, 44. De1·rida verweist hier aufHegels "Der Geist des Christentums und sein Schicksal".
1 1 Ebenda, 46.
1 2 Ebenda, 54.
13 Sigmund FRE\;D, Einige psychologische Folgen des anatomischen Geschll'chtsunterschieds, in:
ders., Schriften über Liebe und Sexualität, FrankfurtJM.: Fischer 2000, 180.
14 Ebenda.
1 5 G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, Stuttgart: Reclam 1996, 323 f.
1 6 Ebenda, 322.
1 7 Jacques DERRIDA, Glas, 168.
18 Vgl. Christina VON BRAUN, Nicht Ich. Logik, Liige, Libido, FrankfurtJM.: Verlag Neue Kritik
1999, 1 1 4 f.
19 Mose 1.3.14-15.
20 Zur Traumsymbolik siehe: Sigrnund FREUD, Vorlesungen zur Einfohrung in die Psychoanalyse,
Frankfurt!M ·
Fiseber 2007, 142-161.
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keine unterbrechung ' was unser ist löst sich von uns ab ' wandert durch den wald ' die haut der text der
körper das worl ' taute Ia nature est inoui"e ' von haus aus queer ' und von der zukunft her ' medusa ' the
queen ofqueers ' bisher ' bis hierher ' und immer weiter ' toutes directions '
ohne haupt ' mit worten befreit sich die schrift die transitivität des sinns ' bedeutung kommt vom
irgendmit ' ihre quecksilbrigkeit kennt keine grenzen ' es sei denn ' das unendliche ufer einer anderen von
der her sie sich schreibt·
beenden wir die niederkunfl der hauptwörter ' richten wir uns nicht so sehr auf ' schreiben wir in der tat
im Iu-wort im verb im zeit-wort im zustand ' häuten wolken und luften wir uns ' ' nur atemzeichen '
verirren wir uns nicht al-!fden identitären wegen ' sublimieren wir uns nicht in den repräsentationen '
das sublime bleibt unerhört ' diesseits ' man muss über die möglichkeiten des mittels hinausgehen ' doch
unbewußterweise ' nicht vom kopfzum schwanz noch umgekehrt '
bekennen wir als ort des mit ein agonales kontinuum ' I cannot live with a single body cut offthe rest '
reibungenfragmente differenzen ' ohnefrakturen und schnitte ' handle with care ' das irgendmit wohnt
zwischen uns ' balancieren wir aufder traverse ' durch über queeren wir uns zueinander ' überall kann
anfang sein '
Von weißer Tinte zu Medusas Schlangen -
Der Frauen- und Subjektbegriff in Helene
Cixous' Ecriture Feminine1
Eva Laquieze- Waniek
Helene Cixous' aufrührerischer Text Das Lachen der Medusa ist eine in der Lite
ratur einmalige Anrufung an Frauen, sich schreibend zu entwerfen, der seit seiner
Veröffentlichung 1975 nicht aufgehört hat, Wirkungen zu entfalten und dabei längst
schon selbst rezeptive Geschichte geschrieben hat. Ausgehend von dem Konzept
)
einer weiblichen Schrift/ forcierte Cixous bierbei die poetische Schreibweise und
ausdrucksstarke Seite der Sprache, da sie in ihr das innovative Mirtel zur Verände
rung und Erneuerung der Gesellschaft als symbolischer Ordnung erkannte. Die
se Ordnung wird von Cixous zweifellos als patriarchal kritisiert, da Frauen in der
abendländischen Kultur auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit aus den intellek
tuellen Bereichen des öffentlichen Lebens weitgehend ausgeschlossen wurden, was
ihnen kulturgeschiehtlieb nicht nur den Zugang zur Schrift als Medium der eigenen
Reflexion, Kritik und Tradierung erschwerte, sondern auch den vollen Eintritt in die
Sozieät
t lange Zeit verwehrte.
Cixous' Aufforderung an Frauen, sich deshalb vennehrt schreibend in die Ge
schichte dieses Ausschlusses einzubringen,4 verbindet damit von Anfang an den
poetischen Gestus mit einem politisch feministischen Anspruch, demJenigen, das
in dieser Geschichte unter dem Namen des "Weiblichen" verdrängt wurde, Stim
me zu verleihen; eine Stimme, die jedoch nicht nur das Recht auf eigene Meinung
und Ausdruck, rechtliche Gleichstellung und soziale Partizipation erhebt, sondern
die auch die Lust und das Genießen des weiblichen Körpers/ der in der europäi
schen, androzentristisch strukturierten Kultur oftmals als Projektionsfläche flir das
"Dunkle"6 und "Unheimliche" im Sinne eines fremden Anderen diente und derart
abwehrhaft zum zentralen Signifikanten der Verdrängung des Weiblichen gemacht
wurde, bekräftigen sollte.
135
Diese "Stimme"7 - oder man sollte besser sagen: dieses Stinm1engewirr - hat
Helene Cixous keineswegs einförmig, sondern polyphon entworfen, was in anderen
Worten heißt, dass ihr Frauenbegriffden differenten identiären
t Formen und vielfäl
tigen Lebensweisen von Frauen gerecht werden will. In diesem Sinne weist Cixous
ausdrUcklieh darauf hin, dass es "[...] keine verallgemeinerbare Frau gibt, keine
Frau, die ein repräsentative! Typu:., wäre"!, wobei sie nichtsdestotrotz an der Frau
als einem auch .,universalen Subjekt"9 festhält, insofern dieses durch eine weibhebe
Sexualität gekennzeichnet ist, und es exakt jene Sexualität sei, die, von der Kultur
verdrängt, zu den konkreten sozialen Ausschlüssen von Frauen flihrte:
Wenn ich "die Frau" sage, spreche ich von der Frau in ihrem unvenneidlichen Ringen mit dem klassi
schen Mann; und von einer Frau die ein universales Subjekt ist und die Frauen zu ihrem/n SinnJen und
ihrer Geschichte kommen lassen soll. '0
Damit aber bekräftigt Cixous ein Frauenkonzept, das nicht nur die verschiedenen
identitätskonstituierenden Aspekte von Frauen ausdrUcklieh berücksichtigt, son
dern das gleichzeitig auch an einem universellen Aspekt festhält, wodurch sie in
epistemologischer Hinsicht von der Frau als einem allgemeinen Subjekt ausgehen
und in ihrem 1\amen "feministische Politik" einfordern kann.
Dieser bei Cixous in den 70er-Jabren noch eindeutig hergestellte Bezug zwischen
der Frau als Subjekt und Referent feministischer Politik sollte jedoch spätestens auf
Grund einer diskurstheoretisch motivierten Kritik der Geschlechtertheorie'' inzwi
schen dort unklar werden, wo die sexuelle Differenz als eine bloß soziale Differenz
unter vielen anderen (wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, Religion,
Nation, Ethnie und so weiter) betrachtet wird und die es - weil als ein ideologisch
problematischer Effekt von Gender verstanden - letztlich aufzulösen gelte.12
Um Missverständnissen vorzubeugen, soll hier keinesfalls der Gewinn eines dis
kurstheoretischen Ansatzes prinzipiell in Frage gestellt werden, da es damit gelang,
Geschlecht von einer beschreibenden Kategorie hin zu einer strukturellen Analy
sekategorie weiterzuentwickeln. In diesem Sinne schlug die Historikenn Joan W.
Scott 1986 pionierhaft vor, Geschlecht im Sinne von Gender als eine Verschränkung
von verschiedenen identitären Kategorien wie "Sex, Class and Race" et cetera zu
begreifen,13 wodurch zum Beispiel die damit verbundenen kulturellen, gesellschaft
lichen oder institutionellen Ausschlussmechanismen von Frauen in ihren vielschich
tigen Verzahnungen oder Überlappungen intersektional bestimmbar wurden. Doch
auch, wenn man inzwischen mittels einer relationalen, differentiellen und perfor
mativen Auffassung von Geschlecht die diskursiv erzeugten Ausschlüsse sozialer
Geschlechtlichkeit erfolgreich sichtbar machen kann, fuhrt eine Theorie, die ihren
Forschungsgegenstand nur als eine semantische Größe, die nach Ansicht mancher
136
aufzulösen sei, definiert, zu dem Problem, auf der politischen Ebene im Namen
eines problematisch gewordenen Referenten14 nach wie vor soziale und rechtliche
Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen einfordern zu müssen. Dieser unklare
beziehungsweise auch widersprüchliche Gebrauch veranlasste schließlich Joan W.
Scott fünfzehn Jahre später dazu, die von ihr einst forcierte Kategorie "Gender'' als
eine mittlerweile problematisch beziehungsweise ineffizient gewordene Analyse
kategorie zu bezeichnen.15 Dementsprechend bevorzugt Scott nun den Begriff der
sexuellen Differenz, der den Vorteil hat, keine vorgefassten Geschlechterzuschrei
bungen zu transportieren, wobei sie sich epistemologisch auf psychoanalytische
Konzepte stützt, die von der individuellen Aneignung des geschlechtlichen Körpers
als einem vielschichtigen identifikatorischen Prozess des Subjekts in Zusammen
hang mit den Normen der Gesellschaft ausgehen, und die es derart erlauben, stereo
type Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern in Frage zu stellen beziehungs
weise die Verbindungen von kollektiven und individuellen Phantasien im Bezug auf
männliche und weibliche Körper sowie auf geschlechtliche Identitäten forschend in
den Blick zu nehmen.
Angesichts dieser Entwicklung feministischer Theorien nimmt sich Cixous' Ent
wurf aus den 70er-Jahren, retrospektiv gesehen, als richtungweisend aus, insofern
er die Sexualiät
t von Frauen gerade da als ein reales Moment des Geschlechtlichen
ins Spiel bringt, wo es, bezogen auf die sexuelle Differenz, um die Verbindung der
individuellen Aneignung geschlechtlicher Identität und der kollektiven Verdrän
gung des Weiblichen mitsamt den damit einhergehenden konkreten gesellschaft
lichen Benachteiligungen von Frauen geht. Diese konzeptuelle Stärke hängt auch
bei Cixous mit der Forcierung einer psychoanalytisch geprägten Auffassung des
Subjekts zusammen, wonach seine Geschlechtlichkeit nicht im Diskurs oder im
Sprachlichen aufgeht (auch wenn es zweifelsohne Sprache und Diskurs sind, die
vor einem normativen Hintergrund identitätsanleitend auf das Subjekt einwirken),
sondern vor allem auch einem sexuellen Genießen16 des Körpers geschuldet ist;
ein Genießen, das aber nicht nur von je her Relevanz fur die Reproduktion und
ökonomische Ordnung einer Gesellschaft besitzt, sondern das auf Grund seiner
ideologischen Resistenz immer wieder auch einen destabilisierenden Faktor für die
politische und symbolische Organisation dieser Gesellschaft darstellt.
Die Macht des Diskurses und seine Ausschlüsse zu benennen sowie die subver
siven Möglichkeiten einer Ein- und Gegenschreibung zu forcieren, ohne dabei das
geschlechtliche Subjekt dem Diskursiven gänzlich unterwerfen zu müssen, gelingt
Cixous somit durch das Festhalten an der Sexualität und Triebhaftigkeit des Kör
pers, der sich weder im Sprachlichen noch im Normativen der Sozietät erschöpft,
sondern als "Körper des Genießens"17 einen in die Bilder und Symbole der Gesell-
137
schaft stets auch unübersetzbaren "Rest" darstellt- ein Verständnis von Geschlecht
lichkeit also, das sich auf die se.;ruelle Differenz als etwas Realem gründet, insofern
dieses als widerständiger, opaker Aspekt des Geschlechtlichen gerade nicht mit
seinen soziokulturellen Bedeutungen im Sinne von Gender gleichgesetzt wird. So
gesehen, kann man die Geschlechternormen und sozialen Geschlechtsidentitäten
(Gender) als imaginäre und symbolische Dca.1tungsven.uche der sexuellen Differenz
verstehen - eine Differenz, die durch diese Deutungen im Kontext verschiedener
ideologischer Interessen identifikationsanleitend oftmals "ruhiggestellt" werden
soll, was aber auf Grund des normativ widerständigen sexuellen Genießens der ein
zelnen nie gänzlich gelingen kann.
2. Vom Kö1per des Genießens zur Politisierung eines Subjekts des Begehrens
Indem Cixous an den Subjektbegriff der Psychoanalyse und deren Wissen vom Un
bewussten anknüpft, unterscheidet sich ihr Einschreibungskonzept auch maßgeb
lich von dem diskursanalytischen Modell Michel Foucaults (beziehungsweise auch
von dessen Übernahme durch Judith Butler). Denn im Unterschied zu Foucault,
der das Subjekt über die diskursive Einschreibung der Normen auf den Körper
beziehungsweise in dessen Seele bei einem gleichzeitig bewussten methodischen
Ausschluss des Begehrens als Analysekategorie denkt,18 basiert der psychoanalyti
sche Subjektbegriff (zum Beispiel nach Lacan) auf der Spalhmg von diskursivem
Denken und Sein im Sinne eines realen Genießens19 sowie auf einem Begehren,
das, beide verbindend, die Einzigartigkeit des Subjekts ausmacht und deshalb im
Zentrum der theoretischen und klinischen Analyse steht. Erst angesichts dieser
Spaltung, die nur dem Menschen eigentümlich ist, können Phänomene wie jene der
Verdrängung, der Verleugmmg oder auch der Verwerfung des Subjekts argumen
tativ in Sicht kommen, da sie als unbewusste Abwehrreaktionen auf den Konflikt
des Subjekts zwischen (a) Wunscherftlllung beziehungsweise Triebanspruch und
(b) dem normierenden Druck der Sozietät, diesem Anspruch Grenzen zu setzen,
aufgefasst werden, der wiederum (c) im Subjekt als eine von anderen vermittelte
Zensur verinnerlicht werden kann. Der Diskurs wird hier somit nicht nur in seinen
interpersonellen Auswirkungen bedacht, sondern auch in Hinblick auf die von ihm
verursachte intrapersonelle Spaltung des Subjekts in unbewusstes Genießen und
ein verinnerlichtes Ideal seiner Grenzzichung, das den Normen der Gesellschaft
geschuldet ist, begriffen.
Körper und Psyche stehen dadurch auch bei Cixous an der Schnittstelle von einer
seits gesellschaftlichen Werten, die neben kulturermöglichenden Verboten wie je-
138
nes des Inzestverbotes freilich auch Ausdruck von hegemonialen oder partikularen
Machtansprüchen sein können, sowie von einem andererseits sexuell motivierten,
individuellen Streben nach Genuss, das sich an den kulturellen Verboten formierend
zwar reibt, doch von dem durch die Kultur vermittelten Geschlechterideal (im Sinne
von Gender) sich nicht beherrschen lässt. Hierdurch bleibt letztlich aber auch offen,
wer sich mit welchen Normen, Idealen, Rollenbildern nicht, schon, teil weise oder
mehrheitlich und so weiter identifiziert, wodurch der Prozess der geschlechtlichen
Identifikation des/der einzelnen sowie auch die von ihm/ihr unbewusst gewählte
Form des Genießens, die in der gelebten und phantasierten Sexualpraxis zum Aus
druck kommt, nicht berechenbar sind. Dadurch ist es jedoch das groBteils unbe
wusste Streben nach Genuss, das das Subjekt davor bewahrt, in den Konventionen
des Diskurses und dessen normativer Anrufung restlos aufzugehen.20
Exakt von hier aus kann Helene Cixous programmartig die Frauen zur Mastur
bation anstiften,21 wodurch Triebbefriedigung im Sinne einer genusshaften eigenen
weiblichen Körpererfahrung ermöglicht und als Geste des Widerstandes gegen eine
l ustfeindliche, passive und all zu opferbereite Rollenhaltung, die die abendländische
patriarchale Kultur klassischerweise Frauen anbietet, gesetzt werden soll. Beides
soll zum Beharren auf der je eigenen Lust beitragen, um diese sodann in sublimier
ter Form in die Gesellschaft übertragen zu können,22 wobei Cixous darauf hinweist,
dass die Sexualität von Frauen aus einer Vielfalt von äußerst verschiedenen Formen
des Lustgewinns besteht, sodass man nicht idealtypisch von "einer" weiblichen Se
xualität sprechen kann.
Einschreibung heißt damit bei Cixous nicht wie bei Foucault körperliche bezie
hungsweise seelische Unterwerfung unter die Normen des gesellschaftlichen Dis
kurses, dessen Gesetz oder Begehren sich in das Subjekt gewaltig oder grausam
einritzen würde, sondern: Festhalten an einer libidinösen Kraft, die sich aus dem
Genuss des sexuellen Körpers im Konflikt mit den gesellschaftlichen Diskursen
und den darin enthaltenen Normen und hegemonialen MachtansprUche speist und
die es fur die einzelnen Frauen sowie letztlich fur eine neue Gesellschaft, in der
Weiblichkelt mcht mehr verdrängt oder abgewertet wird, auch diskursiv fruchtbar
zu machen gilt.
Damit hat Helene Cixous einen vielschichtigen Frauen- und Subjektbegriff ent
worfen, denn genau genommen denkt Cixous das Subjekt FrauJen über die Ver
knüpfung von einer geschlechtlichen und feministischen Argumentationsebene
anband vier verschiedener identifikatorischer Momente, indem sie: (a) mit "der
Frau" als Objekt einer diskursiven Zuschreibung (in der "männlichen Schrift") im
Sinne einer kulturellen Verdrängung von Weiblichkeit argumentiert, die zu kulture l
len Abwertungen bis hin zu rechtlichen Ungleichbehandlungen und sozialen Aus-
139
schlüssen von konkreten Frauen führte; (b) individuelle Frauen als Subjekte eines
vielfaltigen sexuellen Genießens, das mit dem weiblichen Körper als etwas Realem
in Verbindung gebracht werden muss, anspricht; (c) sich weiters an konkrete Frauen
wendet, die zu Subjekten eines eigenen Begehrens werden können, dadurch dass sie
an der Erfahrung ihres sexuellen Genießens festhalten und diese mittels Schrift in
die rnisogyne Kultur ubemagen soilen, wodurch die Einschreibung von Frauen in
die Kulrur ermöglicht werden soll; (d) was letztlich die verschiedenen Frauen auch
zur Identifikation mit einemfeminis tischen Subjekt führen sollte im Sinne der Her
vorbringung eines neuen widerständigen und lustvolleren Frauenbildes, das Cixous
im ~amen des antiken Vorbildes von Medusa anruft, um derart zur symbolischen
Aufwertung von Weiblichkeit in der Kultur beizutragen.
Wie animierend Cixous' Aufforderung zur Einschreibung der Frau in die abend
ländische Kultur auch wirken mag und wie richtungweisend sich ihr Frauenbegriff
filr theoretische Debatten über das Geschlecht noch erweisen kann, so diskussions
würdig scheint mir heute ihre in den 70er-Jahren vorgenommene Phallozentrismus
kritik zu sein. Denn, auch wenn Cixous den psychoanalytischen Subjektbegriff für
ihr feministisches Projekt übernimmt, prangert sie dennoch die Psychoanalyse als
einen patemalen Diskurs an, was sie - im Namen von Medusa als mythischem Vor
bild für ein widerständiges weibliches Genießen - schließlich dazu bringt, Freuds
und Lacans Theorien der Sexuierung des Subjekts nicht nur als phallozentristisch
zu kritisieren, sondern auch die feministische Gretchenfrage "Wie hältst Du es mit
dem Phallus?", scheinbar mit dessen VerwerjUng zu beantworten.23
Cixous fokussiert dabei zentral aufLacans These von 1958, wonach der Phallus
als libidinöse Größe die Sexuierung beider Geschlechter maßgeblich strukturiere,
und deutet diese schließlich als eine verkürzende und abwertende Sichtweise auf
Weiblichkeit, da der prototypische Vergleich mit der Männlichkeit den mit dem
Penis ausgestatteten Mann als ganzen und positiven Repräsentanten, die Frau hin
gegen als mangelhafte und negative Repräsentantin des am Phallus ausgerichteten
Libidokonzeptes erscheinen lassen \.vUrde.
Diese Kritik, d1e in ihrer Argumentationsweise mittlerweile als klassisch femi
nistische Kritik an Lacan bezeichnet werden kann,'• vereinfacht jedoch (a) Lacans
Siebtweise der Subjektgenese und die Rolle, die der Phallus darin für die Sexuie
rung spielt; sie blendet weiters (b) eine zentrale Komponente aus, wonach weder
Männer noch Frauen den Phallus haben können beziehungsweise auch niemand
140
der Phallus sein kann; sie verabsäumt es, (c) die relativierenden Modifikationen,
die Lacan 1975 an dem früheren Phalluskonzept vornahm, wahrzunehmen; und sie
berücksichtigt auch nicht (d) den besonderen Kontext, für den diese Beschreibung
entwickelt wurde; (ich werde auf diese vier Punkte noch zurückkommen).
Im Anschluss an ihre Kritik am Phallus (sowie auch an Freuds These einer einzi
gen Libidotheorie für beide Geschlechter) schlägt Cixous ihren Leserinnen vor, sich
der Psychoanalyse nicht zu verschreiben, sondern sie bloß zu durchqueren ("traver
se")/5 was nun aber die Frage aufwirft, ob damit ein kritisches Festhalten oder aber
eine Verabschiedung der Psychoanalyse insgesamt gemeint war.26
Wie verständlich Cixous' Vorbehalte an manchen psychoanalytischen Beschrei
bungen der Weiblichkeit auf den ersten Blick auch wirken mögen, so wenig zielfüh
rend würde ich es jedoch erachten, von der Psychoanalyse gänzlich abzulassen und
sie nicht detailliert dort zu kritisieren, wo eine sorgfaltige und beharrliche Diskus
sion der problematischen Aspekte Veränderungen hervorrufen und derart zu einer
komplexen Sichtweise von Frauen und Sexualität - sei diese hetero-, homo- oder
bisexuell - führen kann.
In diesem Sinne sollte bei aller Kritik gerade heute auch nicht darauf vergessen
werden, dass die Psychoanalyse als einzige Humanwissenschaft ein Wissen entwi
ckelte, wonach Geschlechtlichkeit auf einem identifikatorischen Prozess der An
nahme des Körpers beruht, der nicht nur von der Verinnerlichung sozialer Normen,
sondern auch von den Brüchen mit, beziehungsweise derAbwehr27 und dem Wider
stand gegen diese Normen geprägt ist, wodurch die Psychoanalyse darlegen kann,
..
warum dieselben Normen von Individuen unterschiedlieb verinnerlicht werden und
auch verschiedene geschlechtliche Identifikationen hervorbringen, was sie meines
Erachtens zu einer unverzichtbaren Theorie der Sexuierung für die Geschlechter
theorie macht. Vergessen sollte weiters nicht werden, dass erst die Psychoanalyse
die unumgängliche Bindung an die ersten anderen ("Primat des anderen") sowie
der Ablösungsmöglichkeiten als Bedingung der Subjektkonstitution aufzeigte, wo
durch sie eine soziale und bindungstheoretische Sichtwe-ise auf die Intelligibilität
des Subjekts entwickeln konnte, anders zum Beispiel als die traditionelle Philo
sophie, wo der Logos als ein Vermögen für sich aufgefasst und die konstitutive
Verbindung mit dem Körper und dem Begehren des anderen sowie mit den sozialen
Normen, denen dieser andere unterliegt, nicht wahrgenommen wird.
Will man in diesem Sinne die Konstitution des geschlechtlichen Subjekts ver
stehen, so macht dies zum Ersten den Blick auf die Genese des Menschenkindes in
Zusammenhang mit den anderen, den gesellschaftlichen Normen und dem Diskurs
notwendig - im Sinne eines Konstitutionsprozesses, der eindeutig vor der Sexuie
rung beginnt-, tm1 dann zum Zweiten diskutieren zu können, ob die Bedeutung des
141
Phallus wie zum Beispiel in Freuds These vom ,,Primat des Phallus"28 in Bezug auf
die Subjektkonstitution überschätzt oder fehleingeschätzt wurde.
(Ad a) Lange also bevor der Phallus auf der psychoanalytischen "Bühne" der
Subjektwerdung in Erscheinung tritt, kann man mit Lacan, Klein und Freud darauf
hinweisen, dass die symbiotische Bindung des kleinen Kindes an die Mutter als ers
ter anderen die unumgehban; Vorau:>:>euung fur die Anh.'Wlft des Menschen als sym
bolisches Wesen ist. Stationenartig kann diese Ankunft über verschiedene Konflikte
gefasst werden, Bindungen einzugehen und diese wieder loslösend zu transferieren,
um dabei jenseits der ersten Bezugspersonen autonomieermöglichend eine eigene
geschlechtliche Identität sowie Zugang zu Lust mit Dritten zu finden.
So ist es bekanntlich das Fort-da-Spiel, 29 das einem eineinhalbjährigen Kind die
erste sublimierende Loslösung von der noch allmächtig erscheinenden, symbioti
schen Mutter abnötigte, indem es ihr Fortgehen mittels einer Holzspule und eines
daran befestigten Fadens szenisch darstellte. Indem das Kind einen symbolischen
Ausdruck fand, der, in Anlehnung an die konventionelle Sprache der anderen, so
wohl die Anwesenheit als auch die Abwesenheit der Mutter zu bezeichnen half- es
rief "o" für "fort", wenn es die Spule verschwinden ließ, und "da!", wenn es sie
wieder hervorzog -, gelang es ibmjedoch nicht nur, den Konflikt und die Angst vor
dem Verlassenwerden aktiv zu bewältigen, sondern auch die symbolische Welt von
Sprache und Zeichen zu betreten.
Lacan hat mit Klein dargelegt,30 dass die abwesende Spule als böse und die anwe
sende als gute Brust gedeutet werden kann, jene zwei Eigenschaften, die das Kind
vor dem Spiel noch nicht mit ein- und demselben Objekt in Zusammenhang bringen
konnte, wodurch das Fort-da-Spiel (das Kinder mit allen möglichen Gegenständen
spielen) sowohl die libidinöse als auch intellektuelle Möglichkeit beinhaltet, die
Mutter jenseits der Spaltung erstmals als ganzes Objekt mit guten und schlechten
Eigenschaften auftauchen zu lassen, was das Kind zu guter Letzt auch dazu bringt,
sich als ein von der Mutter getrenntes, eigenes Subjekt zu begreifen.
Findet dteser um die Spule gewickelte Faden nicht später als "Schrift" seine
mediale beziehungsweise graphemische Ersetzung, mdem sich seme die An- und
Abwesenheit verbindende Funktion auf das Schreiben überträgt? Buchstabe ftlr
Buchstabe im Sinne von Fort und Da aufzurollen sowie im Hin und Her der Zei
lenabfolge die jeweilige symbolische Vermessung der guten und bösen Teile der
anderen sowie von uns selbst zu proji..deren, um sie als symbolische Werte setzen
und mit anderen tauschen zu können, wobei wir gleichzeitig zu einem Autor-Sub
jekt werden können? Dabei kann auch die Trennung von den geliebten-gehassten
ersten anderen tröstend verschmerzt und neue Objekte libidinös besetzt oder eben
auch sublimatarisch erschaffen werden,31 worin meines Erachtens der wichtige Bei-
142
trag der Psychoanalyse zur Frage der Sublimierung des Subjekts liegt. Denn damit
kann nun dargelegt werden, dass die Sublimierung eine triebaufschiebende bezie
hungsweise das Genießen transzendierende Bewältigungsform eines unbewussten
Konfliktes ist, der bereits vor der Sexuierung des Subjekts - und das heißt: lange
noch bevor der Phallus als bedeutungsvolle libidinöse Größe auftreten kann - als
Ablösung von der symbiotischen Mutter statfindet
t und somit nicht auf das Ge
schlechtliche oder Phallische (um das die Sublimierung später freilich auch kreisen
kann) reduziert werden darf, so wie es Cixous Freud vorwarf.32
Von hier aus wird nun aber auch ersichtlich, dass erst nachdem der Schritt zur
Identifikation mit der Sprache und den Symbolen, die die Gesellschaft bereit hält,
vollzogen wurde, die gesellschaftliche und gesetzesartige
Forderung des Jnzest
verbots/3 dem Wunsch abzuschwören, mit den ersten beiden anderen in Genuss zu
verschmelzen, an das Kind herangetragen werden kann - im Sinne der Akzeptanz
i
einer sozialen Ethik des sprachlichen Signifikanten, die m "Nein zum kindlich
"
inzestuösen Verlangen nach der Mutter (als erster anderen) dem Vater (als zweiten
anderen) als Verbot in den Mund gelegt wird. Erst hier kann die kastrative Drohung
und entsprechende Angst des Kindes Sinn beziehungsweise auch Ausdruck gewin
nen, eingebettet in das nun auch allmähliche Gewahrwerden der sexuellen Differenz
im Sinne eines Mangels am Ganzsein, der alle Menschen - eben als Männer oder als
Frauen - betrifft, und wodurch wir aufgefordert sind, uns auf der weiblichen oder
männlichen Seite davon identifikatorisch einzurichten beziehungsweise von dort
aus ein Objekt des Begehrens zu errichten.34
Warum und nach wem sollten wir ein Begehren entwickeln, wenn uns nichts und
niemand fehlt? Oder anders gefragt: Wenn wir illr immer im imaginären Ganzsein
mit der allmächtigen Mutter genießend verharren könnten, wozu bedürfte es dann
der Sublimierung oder des Begehrens nach einer/m Dritten?35
Die Wahrnehmung, dass die Mutter ein eigenes Begehren hat,36 das über das Kind
hinaus zu diesem Dritten in die Gesellschaft (di e der Vater hier mit seinem Namen
als "zweiter anderer" metaphorisch repräsentiert) illhrt, hilft. dem Kind noch nach
haltiger, sich von ihr zu lösen, da über den gesellschaftlichen Druck, sich nicht dem
verschmelzenden Genuss mit ihr hinzugeben, ihm nun entweder eine geschlechtli
che Identifizierung mit ihr (oder dem zweiten anderen) oder auch ein Begehren nach
ihr (oder dem zweiten anderen oder auch nach beiden wie im Falle der Bisexualität)
abverlangt wird37 - etwas, das dem Subjekt strukturierend auch dann noch Konsis
tenz geben wird, wenn sein konkretes Liebesobjekt einmal verloren gehen sollte.
So gesehen, ist der Phallus mit mindestens zweierlei Bedeutung verbunden, die
der Vater als anderer ft1r die Mutter im Sinne eines Begehrens, das das Kind nicht
stillen kann, hat, wobei zum ersten das entsprechende Szenario die Ankunft. des
143
Kindes betrifft - ausgedrückt in seiner Frage: "Warum und wie bin ich in die Welt
gekommen? Was bat meine Eltern veranlasst, mich zu zeugen?"; und zum zweiten
die Einführung eines sozialen Gesetzes, wonach das Kind aufdie sexuelle Lust mit
dem ersten (und dann auch noch mit dem zweiten) anderen zu verzichten hat im
Sinne der Frage: "Warum darfman seinein MutterNater nicht heiraten?"
Zurtlckkommend zum Fort-Da-Spiel kann man nun �agen, dass das Kind in die
ser Phase das Spiel irrigerweise auf die immer stärker von ihm gleichzeitig wahr
genommene sexuelle Differenz überträgt, so dass es fllr Drei- bis Fünfjährige den
Anschein hat, die Geschlechtlichkeil bestünde gerade darin, dass es Menschen ein
mal ,.mit" und einmal "ohne Phallus" gäbe; eines Phallus, der- im Anschluss an die
Trauer um die verlorene mütterliche Brust - phantasmatisch zum rettenden "Zau
berstab" für eine nun geschlechtlich errichtete Ganzheit taugt: eine Illusion, wie
Lacan hinweist, da diesen "ganzmacbenden Phallus", den wir in der Verliebtheit auf
andere projizieren, niemand sein oder haben kann,l8 weder Frauen noch Männer,
und derjenige, der/die an diesem Phantasma festhält, niemals wirklichen Genuss am
anderen erfahren wird können.39 Nicht zuletzt kann man deshalb nun auch sagen,
dass alle Kulturen oder Gesellschaften, die Verdrängungen oder Abwertungen des
weiblichen Geschlechts aufweisen, das phallische Phantasma in kollektiver Weise
fortsetzen, was wie eine sozial anerkannte Rechtfertigung der kindlichen Abwehr
wirken und diese bestätigend versärken
t muss.
Bezogen auf den Phallus, der nach Lacans Theorie also vom Kind als ein Zei
chen des Begehrens der Mutter nach einem Dritten gedeutet werden sollte, kommt
diesem insofern eine triangulierende Funktion zu, als er dem Kind - Mädchen oder
Knaben - hilft, sich aus der symbiotischen Beziehung mit der Mutter endgültig zu
lösen, um seine Liebeswünsche aufDritte in der Gesellschaft übertragen zu können.
Spätestens hier erweist es sich als hilfreich, zwischen der imaginären und symboli
schen Funktion des Phallus zu unterscheiden, wobei erstere das Ganzheitsphantas
ma des Kindes als eine Abwehr beider Geschlechter gegen die sexuelle Differenz
umfasst (und dementsprechend auch die verschiedenen fiir die Klinik wichtig zu
unterscheidenden Abwehrformen von Verdrängung (Neurose), Verleugnung (Per
version) und Verwerfung (Psychose) strukturiert); und zweitere die triangulierende
Wirkung meint, die unter dem Druck des sprachlich vennittelten Inzestverbots als
ein fiir alle verbindliches Gesetz der Sozialisierung hinleitet.40
(Ad b) Wenn man- wte Ctxous - jedoch Lacan für sein Phalluskonzept kritisiert,
insofern es den Mann ganz und die Frau nur mangelhaft ausstatten und letztere
damit abwerten würde, dann blendet man dabei aus, dass der Phallus von Lacan
negativ als eine Illusion für imaginäre Ganzheit auf der geschlechtlichen Ebene der
Subjektgenese sowohl für Frauen als auch fUr Männer cingefiihn wurde (und von
144
ihm dementsprechend auch "minus Phi" genannt wurde), wobei Lacan ausdrücklich
darauf hinwies, dass der Phallus somit weder mit dem Penis noch mit der Klitoris
verwechselt werden dürfe. Vielmehr sollte er in seiner Wirkung als symbolischer
Signifikant begriffen werden, der das Subjekt in die Welt des Begehrens als Effekt
des gesellschaftlich installierten Inzestverbots und somit in die Welt des für alle
verbindlichen Gesetzes tmd somit in das Soziale einführen kann.41
(Ad c) In diesem Sinne muss hier weiters vermerkt werden, dass es sich bei
diesem Phalluskonzept Lacans um einen bestimmten Entwurf aus dem Jahr 1958
(publiziert 1966) handelt, den Lacan später relativierend modifizierte, was von der
feministischen Kritik nicht berücksichtigt wurde. Denn Lacan schränkte 1975 - im
selben Jahr also, in dem Cixous das Lachen der Medusa schrieb - das volle subjekt
strukturierende Wirken des "Phallus" weitgehend auf die Neurosen ein. So zeigte
er mit Hilfe James Joyces' auf, dass es diesem mit der Hervorbringung seines poe
tischen Werkes gelang, die (offensichtliche) Verwerfung des Phallus, die, klinisch
gesehen, zum Ausbruch einer Psychose fUhren kann, krisenlos zu handhaben. Dies
führte Lacan dazu, eine Theorie des Sinthomes zu entwerfen, in der die Sublimie
rung - hier anhand des Kunstwerks- dem Subjekt hilft, die triangulierende Wirkung
des Vaters (als den von der Mutter begehrten anderen) symbolisch zu ersetzen;42 ein
Entwurf, der wiederum von Genevieve More! 2004 genutzt wurde, um auch eine
weibliche Genese der Subjektkonstitution, die von einer krisenlosen Verwerfung
des Phallus (aber nicht des Gesetzes) gekennzeichnet ist, vorstellbar zu machen.43
(Ad d) Was nun den Kontext des Szenarios, in dem der Phallus als libidinöse
Größe in der Psychoanalyse Lacans beschrieben wurde, anbelangt, so kann darauf
hingewiesen werden, dass dieser die unbewussten Phantasien des Kindes um seine
Herkunft und Erzeugung betrifft, insofern diese die subjektkonstituierende Frage
nach der Bedeutung der sexuellen Differenz und des Begehrens der Mutter bein
halten. Dieses Szenario ist somit nicht dem Wunsch psychoanalytischer Theorie
verbunden, eine (zum Beispiel idealtypische) Beschreibung des Geschlechterver
hältnisses zwischen Erwachsenen zu geben, noch dem Anliegen geschuldet, eine
bestimmte (zum Beispiel heterosexuelle) Liebesform als normal oder ein gewisses
(zum Beispiel kleinbürgerliches) Familienmodell als universell zu verkünden, noch
ist sie dem Vorhaben entsprungen, die Wahrnehmung des je eigenen oder anderen
geschlechtlichen Körpers aus einer erwachsenen erotischen Perspektive (zum Bei
spiel phänomenologisch) adäquat zu beschreiben.44
Lacans Bestreben war es vielmehr, Theoreme zur unbewussten Subjektgenese zu
entwickeln, die helfen sollten, die klinische Frage, wie das Begehren des Menschen
entsteht und auch gefördert werden kann, zu erhellen. Danach fungiert der gemein
same subjektkonstituierende Bezug von Mädchen und Knaben auf Brust und Phal-
145
lus45 trotz möglicher Unterschiede im Prozess ihrer geschlechtlichen Identifizierung
gerade als jener gemeinsame Faktor, der sie auch zu gleichartigen libidinösen We
sen macht - und eben nicht zu wesensfremden Geschöpfen, die entweder von der
"Venus" oder vom "Mars'46 her auf die Erde fanden und somit von differentem
galaktischen Ursprung wären.
Denn Lacan zeigte vielmehr auf, da�s der Mensch zwar auf einer realen Ebene
aus der sexuellen Differenz hervorgeht, diese aber die beiden Geschlechter nicht zu
unterschiedlieben psychischen Wesen macht, sondern diese im Bezug aufGenießen
und Begehren über die gleichen libidinösen Parameter strukturiert, auch wenn dies
unterschiedliche Formen der Integration und Identifikation ermöglicht. Damit gibt
Lacan - über das klinische Interesse hinaus, das den wissenschaftlichen Kontext
seiner Überlegungen ursprünglich bestimmte - auch den Kulturwissenschaften me
thodische Mittel an die Hand, die unbewussten Motive und Ursachen im Sinne von
intra- und interpersonellen Faktoren der Genese von Subjekten, die zur Abwehr und
Abwertung des weiblichen Geschlechts führen können, zu analysieren, was jedoch
nicht mit der Abwehr von Weiblichkeit selbst verwechselt werden sollte.
Was sich hiervon für die Frage der weiblichen Schrift als wichtig erweisen kann, ist,
dass trotz der radikal negativen Form, in der der Phallus als Ursache des Begehrens
der Mutter vom Kind durch den Akt der Verwerfung zurückgewiesen werden kann,
vom Gesichtspunkt der Subjektkonzeption aus betrachtet, er dennoch nicht aufhört,
eine dispositive Rolle zu spielen, auch wenn diese Rolle - wie in der Psychose
letztlich zurAuslöschung des gesamten Konflikts in der Erinnerung des Subjekts zu
fUhren scheint (dies im Unterschied zur Verdrängung, wo der Konflikt erinnerbar
bleibt und damit auch wiederbewusst gemacht werden kann). Bezogen auf Cixous'
Forderung, mit "we1ßer Tinte", aber "ohne Phallus" zu schreiben, könnte man so
mit erwägen, ob hier ein Schreibideal propagiert wird, das sich wohl an der "guten
Brust" der Mutter orientiert, aber auf den Vater als den anderen des mütterlichen
Begehrens verzichten und ihn in der Figur des Phallus als bedeutsamen anderen
verwerfen möchte. 47
Doch Medusa, die hterzu von Cixous vorbildhaft angerufen wird, scheint mir
gerade nicht die Verwerfung des Phallus zu repräsentieren: Ihre Schlangen weisen
noch immer, wenn auch nicht in der üblichen phallischen Repräsentation (einer ein
zigen Schlange an der Stelle des Geschlechts), sondern, von der unteren Körpermitte
hinauf auf den Kopf verschoben sowie zahlenmäßig als schlangennestartiger Ersatz
146
des Kopfhaares vermehrt, daraufhin,48 dass es mit der Auslöschung des Begehrens
der Mutter nach einem anderen (Dritten) nicht so einfach ist. Vielleicht sollte man
hier deshalb auch besser von einem weiblichen Schreiben mit-ohne Phallus spre
chen? So wie es auch Kinder zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr auszu
drücken pflegen, wenn sie um etwas wie zum Beispiel um eine Suppe "mitohne"
Sahne, Pfeffer oder Brot et cetera bitten; was daraufhindeutet, dass die Vorstellung
von einem Gegenstand ohne ein bestimmtes Attribut in der Subjektgenese49 offen
sichtlich zunächst den assoziativen Weg über die Anwesenheit desselben Elementes
nimmt, und erst die konventionelle Sprache den Prozess der Subtraktion, der nach
folgt, wieder ausblendet, um sich mit ihrem Resultat im Wort"ohne" zu begnügen.so
Könnte dieses Mitohne somit nicht auch aufschlussreich fur Medusas Antlitz
sein, indem es genau den Moment des Ersclu·eckens des Kindes festhält, bei dem
der Blick auf den mütterlichen Schoß gelenkt wird und ihr weibliches Geschlecht,
der Logik des Fort-Da-Spieles entsprechend, nun irrigerweise "ohne Phallus" ge
deutet wird, wobei das Grauen davor für immer im Blick eingefroren wird?
Ein Antlitz, das selbst noch in der Form des abgeschnittenen Kopfes tödliche
Wirkung entfaltet fur jede/n, der oder die sich ihm nähert im Sinne von: "Alles, nur
nicht das",S1 was Lacan wiederum mit "der Frau", als Sinthome verstanden, in Ver
bindung bringt, die er jedoch nicht im Mythos der Medusa, sondern in einer anderen,
aber gleichfalls schlangenerfahrenen Frauenfigur repräsentiert sieht: So könne man
Eva, die im Hebräischen das Leben bezeichnet, und die er deshalb "E-V-I-E" nennt,
als "die Frau" verstehen, da sie als einzige ft1r alle Frauen stehen könne und sie es
auch gewesen wäre (und nicht etwa Adam), die als erster Mensch die Tiere zu be
nennen begann. Durch Eva wisse man auch, dass die Schlange "spricht" (das heißt,
dass der Phallus ein Signifikant ist) und dass es stets die Mutter ist, die die Sprache
dem Kind zuallererst, und zwar in Verbindung mit dem Genießen vermittle. Dem
entsprechend nannte Lacan die von der Mutter vermittelte, singsangartige Sprache
"lalangue" und setzte sie von der Sprache als einem arbiträren und bloß konventio
nellen Bedeutungssystem der Zeichen der symbolischen Ordnung (im Sinne von "la
Iangue") ab:52 ein Theorem, das Cixous' These, wonach die Frau, wenn sie spreche
oder schreibe, auch singe, bekräftigt.
Doch zurück zu Medusas Schlangen, um deren Deutung im Sinne eines unbe
wussten Konflikts auch Freud bemüht war, als er schrieb:
Wenn das Medusenhaupt die Darstellung des weiblieben Genitales ersetzt, vie.Jmehr dessen grauener
regende Wirkung von seiner lusterregenden isolie1i, so kann man sich erinnern, dass das Zeigen der
Genitalien auch sonst als apotropaeische Handlung bekannt ist. Was einem selbst Grauen erregt, wird
auch auf den abzuwehrenden Feind dieselbe Wirkung äußern. Noch bei Rabelais ergreift der Teufel die
Flucht, nachdem ihm das Weib ihre Vulva gezeigt hat.53
147
Was könnte dies für "Mcdusas Lachen" bedeuten, das Cixous zum Idol einer weib
lichen Schrift programmhaft in den 70-er Jahren erhoben bat? Welcher Teufel soll
hier in die Flucht geschlagen werden? Und wodurch gelingt es Medusa, ihren bis
lang wortlosen Schrecken nun in stimmhaftes Lachen zu verwandeln?
Freilieb könnte man nun auch bei Cixous Medusas Schlangenhaar mit Freud und
Rabelais im Zeichen des Erschreckens und der Verdrängung einer vermeintlich kas
trativen Verstümmelung des mütterlichen Geschlechts verstehen, mit dem sich die
Tochter, wenn zwar nur widerwillig, so dennoch durch die Annahme einer weibli
chen Identität auch zu identifizieren habe, wobei es hinkünftig ihre Rache wäre, mit
eben dieser erschreckenden Geste sich selbst widerspenstig gegen andere zu wen
den, um sich deren Begehren und Annäherungsversuche vom Leib zu halten -jener
maskenhaften Waffe gleich, die der von Perseus abgeschnittene KopfMedusas, mit
dem sich die keusche Athene, Göttin der Weisheit, des Kampfes und der Kunst,
gegen andere zu wehren wusste, schlussendlich zu erfüllen hatte.S4
Indem Cixous in ihrer Schrift aber auf diese Waffe bewusst zurückgreift und sie
durchaus auch im Sinne eines widerständigen Genießens gegen die patriarchalen
Zugriffe auf Frauen einsetzt, nützte sie Medusas erschrockenen/erschreckenden
Ausdruck nicht nur als Zeichen eines individuellen Konfliktes von Weiblichkeit,
sondern verwandelte diesen Ausdruck in eine feministische Geste des politischen
Widerstandes gegen ihre Zeit. So gesehen, nutzte Cixous Medusa für eine Bedeu
tungsveränderung, um sie in eine Widerstandshaltung zu transformieren und derart
gegen die kulturelle Vereinnahmung der Frau als Repräsentantin der Kastration ein
setzen zu können. Durch diesen mimetisch hergestellten, performativen Akt der Be
wusstmachung gelingt es Cixous, dasjenige, was n
i unserer Kultur zuvor noch als
kastrative und entwertende Fehldeutung der Frau galt, nunmehr in ein Zeichen des
Widerstandes gegen ihre kulturelle Verdrängung und Abwertung zu verwandeln.
In großer Nähe zu Cixous' ideologiekritischem Vorgehen entwarf die bildende
148
Mit diesen "Einschreibungen" Medusas in und gleichzeitig gegen die traditionelle
Darstellung von Frauen ist es Helene Cixous und VALIE EXPORT erfolgreich ge
lungen, die gängige passive, duldsame, konfliktscheue und opferbereite Rollenzu
weisung an Frauen durch ein widerspenstiges, aggressives und starkes Frauenbild
markant zu konterkarieren und damit die Vorstellung von Weiblichkeit im kollekti
ven Imaginären unserer Kultur nachhaltig zu verändern.
149
Anmerkungen
Dieser Text ist im Kontext des vom Wiener Wissenschafts-, Technologie- und Forschungsfonds ge
f
örderten Projekts Obertragungen: Psychoanalyse-Kunst- Gesellschaft am Institut fur Philosophie
der Universität Wienentstanden. Ich danke VALlE EXPORT herzlich fur den von ihr zur VerfUgung
gestellten Abdruck ihres Fotos/Plakats ,,Aktionshose : Genitalpanik" auf Seite 149.
2 Helene CIXOIJS, Das Lach."n der Medusa, in: Esther HL'TFLESS, Gertrude POSTL, Elisabeth
SCHÄFER (Hg.), Helene Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mir aktuellen Beiträgen, Wien:
Passagen 2017 [20 13], (französische Erstveröffentlichung 1975), 52.
3 Zum poetisch-politischen Konzept der "Ecriture Feminine" und deren diskurstheoretischen lmpli
kationen bei Cixous siehe: Eva WANIEK, Helene Cixous. Entlang einer Theorie der Schrift Wien:
,
Turia + Kant 1993; zum •··eiblichen Sprechen vgl.: Gertrude POSTL, Weiblc
i hes Sprechen. Feminis
tische Entwiitfe zu Sprache & Geschlecht, Wien: Passagen 1991.
4 So spricht Cixous von der ,.Einschreibung des Weiblichen" in die "männliche Schrift", da diese
mehrheitlich männlichen Autoren vorbehalten war; vgl. CIXOUS 2017[2013], Medusa, 42 f.
5 Vgl. CIXOUS 2017 (2013], Medusa, 44.
6 Vgl. ebenda, 42.
7 Vgt. ebenda, 45 f.
8 Ebenda, 39.
9 VgL ebenda.
10 Ebenda.
II Zum Beisp•el durch Judith BUTLER, Das U11behagen der Geschlechter. Frankfurt!M.: Suhrkamp
1991; (Englische Erstveröffentlichung 1990).
12 Vgl. hierzu die Kontroverse um die Ersetzung des Begriffs .,Frauen" durch ,.Gender" im Bereich
feministischer Forschung zum Beispiel bei Rita CASALE, Barbara RENDTORfF (Hg.), Was kommt
•weh der Genderforschung? Zur Zulamftfeministischer Theoriebildung, Bielefeld: Transcript 2008.
13 Joan W. SCOTT. Gender: Eme 11ützliche Kategorie der hstorischen
i Analyse, in: Nancy KAISER
(Hg.), Selbst Bewußt. Frauen m den USA, Leipzig: Reclam 1994.
14 Vgl. hierzu zum Beispiel Tove SOILAND, dte dieses Problem unter dem Schlagwort "Feminismus
ohne Frauen?" pointiert diskutiert in: Luce lrigarays Denken der sexuellen Differenz. Wien: Turia +
Kant 20 I0, 35 ff.
15 1\ach Scott 200 I 1st der Gebrauch von Gender da problemarisch beziehungswei�e ineffizient gewor
den, wo er Frauen als politische Referenten von Genderpolitik unklar macht (,.Feminismus ohne
Frauen"). wo er als Schlagwort verstanden wird, das zu einer unhinterfragten Grenzziehung zwi
schen den Geschlecl!tern beitrllgt und wo es um die Erforschung der sich durchdringenden Verbin
dung zwischen Körper, Sozialem, Geschlecht und Sexualität geht. da er auf der Trennung von kör
perliebem (Sex) und psychowztalem Geschlecht (Gender) beruht; vgl. Joan W SCOTT Mille11nial
,
150
die Diskurse übertragenen Ver- und Geboten in den Leib beziehungsweise die Seele des einzelnen
einschreiben würden - einer grausamen Inschrift gleich, die von einem nicht näher bestimmten "Be
gehren nach Normierung" der Gesellschaft Beleg gibt, gegen das der einzelne sich mitsamt seinen
mitunter abweichenden Lüsten nicht zu widersetzen vermag. Vgl. Michel FOUCAULT, ObeJWachen
und Strafen. Die Geburt des Geflingnisses. Frankfurt!M.: Suhrkamp 1977, (französische Veröffent
lichung 1975); vgL dazu Judith BUTLER, Foucault and the Paradox ofthe Bodily Inscriptions, in:
The Joumal ofPbilosophy, Volume LXXXVI, Nr. II, November 1989.
19 "Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke." Jacques LACAN, Das Drängen des
Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften I!., Weinheim-Berlin:
Quadriga 1986 (Veröffentlichung auffranzösisch 1966).
20 Nach Lacan (1958) ist unter dem Genießen (jouissance) reale BedüJfnisbefriedigung (besoin) be
ziehungsweise das sie abwehrende Symptom zu verstehen, während unter Begehren (desir) der Auf
schub von Befriedigung gemeint ist, was die Fähigkeit zur libidinösen Übertragung beinhaltet; vgl.
Jacques LACAN, Die Bedeutung des Phallus, in: ders., Schriften !I, Weinheim-Berlin: Quadriga
1986 (Veröffentlichung auf Französisch 1966). Auf die Unterscheidung Lacans zwischen einem
phallischen und weiblichen Genießen des Menschen von 1972-1973 kann ich hier nicht näher einge
hen.
21 CIXOUS 2017 [2013], Medusa, 40.
22 Vgl. ebenda.
23 Vgl. ebenda, 56 ff.
24 Neben der klassisch feministischen Lacank:ritik (siehe zum Beispiel Elizabeth GROSZ, Jacques
Lacan. A Feminist lntroduction, London-New York: Routledge !990, 188) gibt es aber auch eine
Rezeption, die Lacans Werk f
lir feministische beziehungsweise Gender-Anliegen nutzbar macht wie
Zl.lm Beispiel bei: Joan Copjec, Jan und Kirsten Campbell, Brubara Rentdorff, Jacqueline Rose, Regula
Schindler,Edith Seifert, Tove Soiland, Michael TumlJeim und Slavoj Zizek-tun hier nur einige Nan1eu zu
nennen.
25 Vgl. CIXOUS 20 1 7 (2013), Medusa, 59 (im französischen Originaltext, 66).
26 Wobei gegen einen Abbruch nicht zuletzt auch Cixous' bis heute andauernde Auseinaodersetzung
mit der Psychoanalyse spricht.
27 Dies veranlasste wiederum Derrida 1992 dazu, in dem von der Psychoanalyse aufgezeigten, unbe
wussten Widerstand des Subjekts die Ursache für alle Analysen und damit auch von Theorie über
haupt zu erkennen - etwas, das die klassische Phänomenologie bis hin zu Husserl verabsäumt habe
wahrzunehmen; vgl. Jacques DERRIDA, Widerstände, in: ders.: Vergesse11 wir nicht die Psycho
analyse! Frankfurt!M.: Suhrkamp 1998. Zum Schriftbegriffbei Derrida und Cixous siehe: Elisabeth
SCHÄFER, Die offene Seite der Schrift. J.D. und H.C. Cote a Cote, Wien: Passagen2008.
28 Sigmund FREUD (1923), Die irifantile Genitalorganisation, in: Band XIII (1920-!924) der Gesam
melten Werke, Frankfurt/M.: Fi:;cher 1999, 295.
29 Vgl.: Sigmund FREUD (1920), Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke, Bd. XIII, 1999,
1l-l3.
30 Siehe: Jacques LACAN, SeminarIV. 195fr57. Die Objektbeziehung, Wien: Turia + Kant 2003; so
wie Metanie KLEIN, Beitrag zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände und: Die Trauer
und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen, beide in: dies., Gesammelte Schriften, Bd.
1.2, Stuttgart: Frommann-Holzboog Verlag 1996; (Erstveröffentlichungen auf Englisch !935 und
.
���
31 Vgl. Julia KIUSTEVA, Schwarze Sonne. Depression und Melancholie, Frankfurt!M.: Brandes &
Apsel 2007 (französische Veröffentlichung 1987); sowie Lacans Einfuhrung des Dings in: Seminar
VII, 1959-/960. Die Ethik der Psychoanalyse, Weinbeim-Berlin: Quadriga 1996 (französische Ver
öffentlichung !986).
32 CIXOUS 20 ! 7 [2013), Medusa, 49 f. und 5 1 f.
151
33 Lacan nennt das Inzestverbot auf Grund seiner kulturermöglichenden Funktion "Gesetz", was nicht
mit der konkreten Gesetzgebung eines Staates vetwechselt werden sollte.
34 Kurz das. was freud mittels der vier Tendenzen der ödipalen Identifizierung beschrieb. die auf der
Grundlage einer strukturellen Bisexualität .ru sowoW manifesten als auch latenten Formen der ge
schlechtlichen Identifikanon und des Begehrens mit oder nach den ersten beiden Bezugspersonen
fUhrt. Vgl. 3. Kapitel in: Sigmund FREUD (1923), DasIch unddas Es, in: ders.: Band XIII (1920-24)
der Gesammelten Werke, 1999.
35 Hier zeigt sich eine epistemologische Unstimmigkeit in Cixous' Konzept einer weiblichen Schrift,
insofern es einerseits auf der Frau als begehrendem Subjekt aufbaut, andererseits aber den symboli
schen Mangel, nicht ganz zu sein (da man i n der Regel nur ein Geschlecht hat), zurückweist, der nach
der Logik der Psychoanalyse das Begehren des Subjekts erst möglich macht (vgl. CIXOUS 2017
(20 1 3] Medusa, 42 und 59).
,
tierte die Freudschen Partialobjekte Brust, Fäzes und Phallus durch die Stimme und den Blick des
anderen und bezeichnete sie als "Objekt klein a", als Verursscher des Begehrens de� Subjekts.
46 Dies als Anspielung auf das populäre Buch von John GRAY, Mt>n Arefrom Mars, Women Arefrom
Venus, NewYork: HarperCollins Publisher 1992.
47 Wohingegen Cixous 1975 nichts gegen den realen Penis einzuwenden habe, sondern nur den Phallus
in seiner {symbolischen und imaginären) Bedeutung ablehne. Das aber impliziert, dass ein auf den
Peni� reduzierter Vater zwar als Spender des Genusses beziehungsweise als zeugender Mann, nicht
aber in seiner Bedeutung des Begehrens filr die Mutter wahrgenommen wird, wofilr nach Lacan der
Phallus als trianguherende Größe m Bezug auf das Kind Jedoch steht. Vgl. CIXOUS 2017 [2013],
Medusa, 57.
48 Vgl. dazu Ferenczi, nach dessen Beobachtung in Analysen das Medusenhaupt als schreckhaftes
Symbol der weiblichen Gtmitalgegend lU deuten wäre, dessen Einzelheiten .,Von unten nach oben"
verlegt wurden: Die vielen Schlangen, die sich um das Haupt ringeln, dürften dabei das Gegenteil
dar.tellen nämlich das Vermissen des Penis. die angstvoll und l!ngstigend vorquellenden Augen des
152
Medusenhauptes hänen die Nebenbedeutung der Erektion. Sandor FERENCZl ( 1923), Zur Symbolik
des Medusenhauptes, in: ders., Schriften zur Psychoanalyse, Band U., Gießen: Psychosozial-Verlag
2004, 134.
49 Was Lacans Thesen zum ,,mütterlichen Phallus" bekräftigen könnte.
50 Interessantes zeigt der Blick auf andere Sprachen wie zum Beispiel auf das Französische, wo es ei
nen ähnli chen Ausdruck mit .,pas avec'" gibt, sowie aufdas Englische, wo das Mitolme im "without"
zur Gänze erhalten ist. (Ich danke Ulrike Kadi fUr den liinweis aufdie Entsprechung im Englischen.)
5I Vgl. hierzu LACAN o. J., Le Sint6me. SeminarXXJif, 5.
52 Vgl. LACAN, ebenda, 3-5 sowie ClXOUS 2017 [2013],Medusa, 46 f.; und auch Cixous' 2009publi
zierter Roman: Eve s 'evade. La Ruine et Ia Vie (Paris : Galih!e) lässt eine Gemeinsamkeit bezüglich
der Auseinandersetzung mit dem Mythos von Eva erkennen.
53 Nach Freud wäre das Zeigen des Penis allerdings noch ein anderer Weg zur Einschüchterung des bö
sen Geistes. Sigmund FREUD (192211940}, Das Medusenhaupt, in: ders., Schriftenaus dem Nach
153
-
VVarurn lacht �edusa?
Zur Bedeutung des Lachens bei Helene Cixous
Si/via Stoller
Rezipientinnen der Schriften von Helene Cixous sind sich in ihrem Urteil einig,
dass das Lachen nicht nur m
i Lachen der Medusa, sondern im Gesamtwerk Cixous'
einen zentralen Stellenwert einnimmt: "Seriously though, the act of laughter does
have an important place in Cixous's work."2 Dass Medusa lacht, versteht sich je
doch nicht von selbst. Medusa ist in der griechischen Mythologie eine von drei
ursprUnglieh schönen Gorgonen, die von Athene zur Strafe in ein schreckliches
Monster verwandelt wird, nachdem sie von dieser mit Poseidon beim Liebesspiel
erwischt wurde. Wer fortan in ihr Antlitz blickt, den ereilt der Tod. [m Schlafwird
sie schließlich von Perseus überwältigt und enthauptet.3 Dass die französische
Schriftstellerio und Philosophin Helene Cixous Medusa als lachende Frau vorstellt,
muss daher zwangsläufig das Interesse auf sich ziehen. Warum aber Medusa lacht,
das erschließt sich im Lachen der Medusa nicht auf den ersten Blick. Als erschwe
rend erweist sich die Tatsache, dass Cixous in ihrem Text njcbt mit Explikationen
zum Lachen aufwartet und das Lachen abgesehen vom Titel nur siebenmal explizit
Erwähnung findet. Dennoch möchte ich im Folgenden der Qualität des Lachens
im Text von Cixous nachgehen, um auf diese Weise Licht ins Dunkel des Lachcns
der Medusa zu bringen. Um welches Lachen gcnau es sich eigentlich handelt, wird
im Zentrum stehen. Zur Klärung dieser Frage werde ich in einem ersten Schritt
klassische philosophische Theorien über das Lachen heranziehen. In einem zweiten
Schritt werde ich mich um eine nähere Charakterisierung des Lachens anband der
relevanten Stellen in Cixous' Text bemühen, um schließlich drittens einige Schluss
folgerungen daraus zu ziehen.
155
Entspannungstheorie.4 Die Superioritätstheorie besagt, dass man sich im Lachen
über jemanden oder etwas erhebt. Sie beschreibt das Lachen aus Überlegenheits
Zu dessen Ausdrucksformen zählen das Auslachen oder das höhnische, sarkasti
sche und spöttische Lachen. Thomas Hobbes gilt als klassischer Vertreter der Su
perioriätstheorie
t im 17. Jahrhundert. Er zählt das Lachen zu den Affekten und be
schreibt es als "plötzliches Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder
Fehler''6. Damit sich ein solches Überlegenheitsgefühl einstellen kann, bedarf es
der "Wahrnehmung irgendeines Fehlers bei einem anderen, wobei man sich selbst
Beifall spendet, indem man sich damit vergleicht"'. Anders als Aristoteles' "zoon
politikon" ist der Mensch bei Hobbes von Eigennutz getrieben: "[k]ommen Men
schen des geistigen Verkehrs oder des Vergnügens wegen zusammen, so neigt jeder
dazu, sich besonders an dem zu erfreuen, was Lachen erweckt, damit er selbst (wie
es die Natur des Lächerlichen mit sich bringt) durch Vergleich mit den Fehlern und
Schwächen anderer Menschen wenigstens seiner Meinung nach desto lobenswerter
hervortrete"8• Das schließt übrigens die Zunft der Philosophen nicht aus. Kommen
nämlich Philosophen zum gemeinsamen Philosophieren zusammen, dann will jeder
von ihnen nur als "Meister" erscheinen und sich gegenüber den anderen profilie
ren.9 Hobbes liefert mit diesen Reflexionen über das Lachen nicht nur einen Beitrag
zur politischen Theorie, indem er die Ursachen von Gemeinschaft und Geselligkeit
durchleuchtet; er wartet auch mit einer quasi psychologischen Interpretation des
Superioritätsgeft.lhls auf, indem er den Menschen mit ihrem Drang zur Überlegen
heit einen Minderwertigkeitskomplex attestiert. Es handele sich dabei insbesondere
um Menschen, "die sich bewußt sind, daß sie selbst nur äußerst geringe Fähigkeiten
habcn"10, also um Menschen, die ihre eigene Unvollkommenheit mit einem Überle
genheitsgefühl glauben kompensieren zu müssen. Dieses Lachen aus Überlegenheit
ist keine lobenswerte Eigenschaft, und zwar insbesondere dann nicht, wenn man
sich über Schwächere lustig macht. Ein großer Geist zeichne sich demgegenüber
dadurch aus, dass er anderen hilft und diese vor Spott schützt. Handelt er gegen
diesen ethischen Wert, steht sein Handeln im ,,Zeichen von Kleinmütigkeit"11• Mit
dieser Einschätzung reiht sich Hobbes n
i die Reihe jener ein, die bereits viele Jahr
hunderte vor ihm das überlegene Lachen aus ethischen Gründen missbilligten.12
Gemäß der Inkongruenztheorie, auch Kontrasttheorie genannt, wird das Lachen
durch das Prinzip der Inkongruenz, d. h. der �ichtübereinstimmung, erklärt. Artbur
Schopenhaucr ISt ein typischer Vertreter d1eses Ansatzes. Damit es zum Lachen
kommt, muss seiner Ansicht nach eine Nichtübereinstimmung zwischen Begriff
und Gegenstand bzw. Abstraktem und Anschaulichem vorliegen: "Das Lachen ent
steht jedesmal aus nichts anderm als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongru
enz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn in irgendeiner
156
Beziehung gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser
Inkongruenz."13 Das ,,Phänomen des Lachens" erklärt sich aus einer "plötzliche[n]
Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch
denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem
Anschaulichen"14• Eine solche Inkongruenz kann sich sowohl in Worten als auch in
Taten äußern, und je größer und unerwarteter die Nichtübereinstimmung bzw. die
Inkongruenz zwischen Begriff und Gegenstand ist, desto heftiger flillt das Lachen
aus.15 Im Band II seiner Welt als Wille und Vorstellung liefert er ein Beispiel: In
einem Theater wird auf der Bühne das Improvisieren verboten. Als nun ein Schau
spieler mit einem Pferd die Bühne betreten muss, lässt das Pferd plötzlich Mist
fallen, woraufhin der Schauspieler zum Pferd sagt: "Was machst denn du? weißt
du nicht, daß uns das Improvisieren verboten ist?"16 Man kann an diesem Beispiel
sehen, dass der ,,Begriff' (Improvisationsverbot) nicht mit dem "Gegenstand"
(Bühnengeschehen) übereinstimmt. Das auf der Bühne Notdurft verrichtende Pferd
kommt mit der Regieanweisung, nicht zu improvisieren, in Konflikt; es entsteht eine
Nichtübereinstimmung zwischen Regieanweisung und Pferd. Da diese Inkongruenz
besonders "groß" und "unerwartet" ist, feHlt die "Wirkung des Lächerlichen"17 zu
dem besonders heftig aus.18
Der dritte Theorieansatz ist die sogenannte Entspannungstheorie. Anlass dafür
gibt nicht zuletzt das Phänomen des sich explosionsartig äußernden Lachens. Das
sogenannte "erlösende Lachen" ist der paradigmatische Fall eines solchen Lachens.
Auch das "apokalyptische Lachen" - das Lachen angesichts des Todes - kann die
sem Erklärungsansatz zugerechnet werden.19 Die Entspannungstheorie geht davon
aus, dass das Lachen ein Prozess der Abfuhr überschüssiger und angestauter see
lischer Energie ist: Es löst eine vorhandene Spannung und äußert sich in Entspan
nung. Prominenter Vertreter dieses Erklärungsansatzes ist Sigmund Freud, wenn
gleich dieser weniger von Entspannung als vielmehr von Abfuhr spricht. In seiner
Studie über den Witz liefert er den Nachweis, dass der psychische Mechanismus
des Witzes mit demjenigen des Traumes zu vergleichen ist und dass zwischen den
Techniken des Witzes und denjenigen des Traumes eine weitgehende .,Übereinstim
mung"20 herrscht. Dabei scheint Freud besonderes Interesseam "explosionsartige[n]
Lachen" zu haben, das er für ein Kennzeichen des guten Witzes hält.21 Der Witz steht
im Dienste des Lustgewinns, das heißt, er zielt darauf ab, "Lust aus den seelischen
Vorgängen [...] zu gewinnen"Y Dabei wird Lust bzw. Triebenergie freigesetZt, die
in der Kultur normalerweise verboten ist und durch Mechanismen der psychischen
Zensur unterdrückt bleiben muss. Es kommt zur Befriedigung dieser Lust, wenn die
inneren Hemmungen aufgehoben werden und Lust freigesetzt wird. "Wir WÜrden
sagen, das Lachen entstehe, wenn ein früher zur Besetzung gewisser psychischer
157
Wege verwendeter Beitrag von psychischer Energie unverwendbar geworden ist,
so daß er freie Abfuhr erfahren kann."23 In der Regel nämlich muss der psychische
Apparat eine sogenannte Besetzungsenergie aufwenden, also eine Energie, die ver
hindert, dass die verbotene Lust zum Durchbruch kommt. Beim Witz nun, welcher
selbst nicht kulturell sanktioniert ist, wird diese Besetzungsenergie "aufgehoben"
und somit die Hemmung "überfiüssig"�4• Die Aufhebung der Hemmungsfunktion
sowie das mit ihr einhergehende Lustpotenzial äußern sich im Lachen. Wie be1 der
Trawnbildung wird also auch bei der Witzbildung die Hemmung der Zensur über
wunden und im Lachen die so vormals unterdrückte Lust freigesetzt. Dieser Vor
gang wird als ein Vorgang der Entspannung beschrieben.
Im Folgenden wird der Blick auf diejenigen Stellen im Text von Cixous gerichtet,
an denen mehr oder weniger explizit vom Lachen die Rede ist. Anhand dessen wird
entlang einer interpretierenden Lektüre das Lachen der Medusa näher charakteri
siert werden.
2. 1 Explosives Lachen
Zunächst ist festzuhalten, dass es in Cixous' Text um das Lachen und nicht um das
Lächeln geht. Wie im Deutschen wird auch im Französischen sprachlich zwischen
diesen beiden Ausdrucksformen unterschieden. Im französischen Original ist die
Rede vom "le rire", so im Titel Le Rire de Ia Meduse, und nicht etwa vom "Ia riset
te" oder "le sourire", das n
i der französischen Sprache das Lächeln bezeichnet. Hel
muth Plessner, dem außergewöhnliche philosophische Arbeiten zum Lachen und
Lächeln zu verdanken sind, sagt zu Recht, dass das Lächeln eine "Ausdrucksform
sui generis"2s ist. Das Lächeln ist eine feine, diminutive Form des Ausdrucks, wäh
rend das Lachen eine heftige, explosionsartig auftretende Ausdrucksform ist: "lhm
[dem Lächeln) fehlt die Explosivität. Es ist lautlos und gedämpft, ein Ausdruck im
Diminutiv."26
Mehrere Stellen im Lachen der Medusa legen Zeugnis davon ab, dass Cixous
em solches explos1ves Lachen im Sinn hat, und zwar insbesondere jene Stellen, an
denen die weibliche Befreiung vom phallozentrischen Diskurs angesprochen wird.
Mehrfach wird die notwendige Befreiung der unterdrUckten Weiblichkeit ausdrUck
lieh in den Worten der Explosion oder Eruption beschrieben. Die in Aussicht ge
stellte Wiederkehr der patriarchal verdrängten Weiblichkeit werde beispielsweise
158
eine "explosive, absolut umwerfende, überwältigende Rückkehr"27 sein. Cixous
scheut sich auch nicht, die feministische Neuordnung mit deutlicheren Worten ein
zufordern. Es sei ihrer Ansicht nach nämlich an der Zeit, die Vereinnahmung der
Frau durch den männlichen Diskurs "zur Explosion zu bringen"28• Das Auftauchen
der neuen, befreiten Frau würde in weiterer Folge wenn schon nicht eine Revolu
tion, "so doch erschütternde Explosionen mit sich bringen"29• Mit der Metapher
des Vulkanischen wird d
ie Explosivkraft der feministischen Subversion zusätzlich
unterstrichen, so beispielsweise wenn Cixous schreibt, dass ein "Frauentext" (un
texte feminin) in seinem Schreiben "vulkanisch"30 ist. Eine andere wiederkehrende
Metapher, welche die Kraft jener weiblichen Aneignung bezeichnet, ist der Sturm. Jl
Die Explosivität, mit der die weibliche Ordnung wiederkehren wird, korrespondiert
mit dem Charakter der Explosivität des explosiven Lachens.
Zur Explosivität des Lachens zählt seine auditive Dimension: Wer lacht, lacht
hörbar. Es ist kein verhaltenes oder gar unterdrücktes Lachen, sondern ein unge
hemmtes Lachen, das sich wortwörtlich in einem schallenden Gelächter äußern
kann. Es zieht die Aufmerksamkeit auf sich und wird mitunter auch als störend
wahrgenommen. In Anbetracht von Cixous' These, dass die Frau in der patriarcha
len Ordnung eine "Verstummte"32 ist und dass sie sich daher Gehör verschaffen
müsse33, kommt der nicht zu überhörenden Dimension des explosiven Lachens eine
wichtige Rolle zu. Mit dem Lachen kann sich die Frau Gehör verschaffen. Hier
zeigt sich der Unterschied zwischen der alten und der neuen Frau: Die neue Frau
soll nämlich nach Ansicht von Cixous nicht nur schreiben, sondern auch sprechen,
das heißt, stimmlich in Erscheinung treten, und das heißt eben auch hörbar werden
und gehört werden können. Das überschaUende, explosive Lachen erfüllt diese An
forderung aufbesonders deutliche Weise.
159
tes, der Lungen, der Muskeln, der Brust und der Kehle.36 lmmanuel Kant schließt
daran an, wenn er das "konvulsivische" Lachen als einen körperlich-mechanischen
Vorgang beschreibt und diesem eine heilsame, Lebenskraft stärkende Wirkung zu
spricht: "so ist das Lachen immer Schwingung der Muskeln, die zur Verdauung
gehören, welche dieses weit besser befördert, als es die Weisheit des Arztes tun
würdc"Y
Ein zentrales Kennzeichen dieses Lachens ist, dass sich der Lachende ganz sei
nem Körper überlässt. Er oder sie verliert die Kontrolle über den Körper. Der Kör
per verselbstständigt sich. Man kann mit Plessner von einer Emanzipation des Kör
pers in Bezug auf den Geist sprechen: "Körperliche Vorgänge emanzipieren sich.
Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das
Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht
gewissermaßen mit ihm, was sie will."38 Die Redewendung "sich nicht halten kön
nen vor Lachen" ist Ausdruck für diesen Verlust des Geistes zugunsten des Körpers.
Streng genommen kann nicht mehr behauptet werden, dass der Mensch lacht: ,,Er
selbst eigentlich lacht nicht, es lacht in ihm [... ]."39 Die dominierende Körperlich
keit bei gleichzeitigem Kontrollverlust hat Anlass zur Behauptung gegeben, dass
das Lachen letztlich ein "Einspruch des Körpers gegen die Philosophie'40 sei.
Dass auch bei Cixous das Lachen eng an die Körperlichkeit gebunden ist, de
monstriert das folgende Zitat: "Frauenstürmisch [orageuses] sind wir, was unser ist
löst sich von uns ab, ohne daß wir fürchteten dadurch geschwächt zu sein. Unsere
Blicke ziehen davon, unser Lächeln läuft, das Lachen all unserer Münder, unser
Blut rinnt und wir verströmen uns ohne uns zu erschöpfen (...]."41 Dass also das
Lachen - im französischen Original sogar im Plural (!es rires) - aus allen Mündern
strömt (de toutes nos bouches), bestätigt nicht nur die ungeheure Explosivkraft des
Lachens, sondern eben auch die enge Bindung des Lachens an den Körper.42 Hier
bleibt kein Auge trocken. Das Lachen strömt aus "allen" Mündern, aus dem Mund
des Gesichts ebenso wie aus allen anderen Körperöffnungen. Es bleibt auf keinen
bestimmten Körperteil beschränkt und ist m dieser grenzenlosen Körperlichkeit un
erschöpflich.
Die Körperlichkeit bzw. die Wiedergewinnung des weiblichen Körpers ist Ci
xous zufolge eine notwendige Bedingung für das Existieren der Frau. Die Befrei
ung der Frau von den Fesseln der patriarchalen Ordnung muss ihrer Ansicht nach
mit einer Befremng des Körpers einhergehen, da nur eine solche die verschüttete
Weiblichkeit zum Vorschein bringen kann: "Es ist unerläßlich, daß die Frau mit
ihrem Körper schreibt [ ...].'<43 Nur wenn der Körper befreit wird, kann die Frau in
die Ordnung des Symbolischen, das heißt der Sprache, eintreten, denn das, was der
Körper im Körperlich-Sprechen zum Ausdruck bringt, ist genau das, was ihr in der
160
patriarchalen Kultur verwehrt gewesen war. Anders und mit Cixous gesagt: "Wenn
.
man den Körper zensuriert, zensuriert man gleichzeitig den Atem, das Wort. "44 Wird
die Zensur des Körpers außer Kraft gesetzt, wie es im Zuge des körperlichen La
chens geschieht, dann wird das "Wort", das heißt Sprache, möglich. Der Logik des
Geistes stellt Cixous demnach eine Logik des Körpers gegenüber, die ihre eigene
Wahrheit besitzt und durch die Sprache der Vernunft nicht eingeholt werden kann:
"ihr Fleisch sagt die Wahrheit.., "sie [die Frau] bedeutet es mit ihrem Körper"45.
Die Körperlichkeit, die Cixous als eine notwendige Bedingung für die Befreiung
der Weiblichkeit von den Fesseln der Männlichkeit fonnuliert und die sich in der
Forderung nach dem Körperlich-Sprechen manifestiert46, findet im körperlich sich
äußernden Lachen ihren logischen Verbündeten.
Das von Helene Cixous im Lachen der Medusa adressierte körperliche Lachen ist
immer zugleich ein subversives Lachen. Es ist ein Mittel zur feministischen Sub
version. Das heißt, dass das Cixous 'sehe Lachen nicht auf seine Körperlichkeit re
duziert werden kann. Dass es Cixous um Subversion geht, liegt offen zutage. Die
Möglichkeit des weiblichen Schreibens und Sprechens soll nämlich ihrer Ansicht
nach einen Raum eröffnen, "von dem ausgehend ein subversives Denken sich auf
schwingen kann"47.
Das Lachen als subversives Mittel kann auf eine lange Tradition in der Geschich
te der feministischen Philosophie verweisen. Sie beginnt mit dem Lachen der thra
kischen Magd in der von Platon erzählten Geschichte und der einzigartigen feminis
tischen Interpretation dieser Erzählung von Adriana Cavarero.48 Wie bei Cavarero
wird auch bei Luce Irigaray das Lachen als ein Lachen angesichts der m
i pliziten
Denkfehler der Meisterdenker gedeutet.49 Julia Kristeva hat sich mit dem "apoka
lyptischen Lachen" beschäftigt. 5° Schließlich findet sich bei Judith Butler das "paro
distische Gelächter"51, das auf eine Strategie der parodistischen Wiederholung zum
Zwecke der Bedeutungsverschiebung von Geschlechternormen verweist.52
Cixous' Lachen der Medusa stellt im Wesentlichen eine feministische Kritik
am phallozentrischen Logos und an der phallozentrischen Fremdbestimmung des
Weiblichen dar. An diesem Punkt entzündet sich das subversive Lachen. Ihre Kritik
nimmt ihren Ausgang an der spezifischen Charakterisierung des weiblichen Ge
schlechts in der andrezentrischen Kultur. Im Kern zielt Cixous auf die psychoana
lytische Deutung des Weiblichen im 20. Jahrhundert ab, konkret wendet sie sich
gegen Sigmund Freud und Jacques Lacan. Gegenstand der Kritik an der Psycho
analyse sind die Darstellung des weiblichen Geschlechts als eines Mangelwesens53,
161
Freuds In-Bezug-Setzung des Mythos der Medusa mit der männlichen Kastrations
angst54 und seine Charakterisierung der Frau als "dark continent'55 . Nach Ansicht
von Cixous hätte diese Charakterisierung weitreichende Auswirkungen auf das Le
ben des weiblichen Geschlechts gehabt: Sie hätte zur weiblichen Verinnerlichung
des Schreckens vor diesem Dunklen geführt, den männlichen Hass auf das weib
liche Geschlecht genährt und schließlich den Verlust der weiblichen Selbstliebe
herautbeschworen.56 Dazu kommt die oftmalige VerknUpfung der Frau mit dem
Tod in kulturellen Darstellungen, das heißt die Darstellung der Frau als eines Tod
bringenden Wesens, wie das auch im Falle der Medusa geschehen ist.
Dass die Figur der Medusa als eine Schreckgestalt zum Synonym für das weib
liche Geschlecht werden konnte, ist fur Cixous Stein des Anstoßes und Grund fUr
Gelächter. Eine solche Darstellung des Weiblichen nämlich gäbe Anlass - zumin
dest dem weiblichen Teil der Menschheit -, sich darüber lustig zu machen: ,,Man
hat uns zwischen zwei erschreckenden Mythen zum Erstarren gebracht: zwischen
Medusa und dem Abgrund. Das wäre Grund genug, die Hälfte der Menschheit in
Gelächter ausbrechen zu lassen [...]."57 Die psychoanalytische Interpretation ver
steht sich nämlich nicht von selbst. Cixous ist vielmehr der Ansicht, dass das weib
liche Geschlecht n
i Form einer Angst auslösenden Schreckgestalt eine männliche
Konstruktion ist. Dies wird mit einer rhetorischen Frage angedeutet: "Aber kommt
ihnen [den Männem] diese Angst nicht gelegen?"58 Die männliche Kastrationsangst
ist dem männlichen Geschlecht nicht nur recht, es braucht diese Angst regelrecht:
"sie [die Männer] müssen sich vor uns filrchten"59• Der Grund, so lässt sich diese
Passage deuten, liegt darin, dass die Angst vor der Kastration die phallische Vor
rangstellung in ihrer Bedeutung umso deutlicher hervortreten lässt, denn nur, was
selbst Wert hat (oder haben will), kann Angst vor dessen Zerstörung hervorrufen.
Die männliche Angst vor der weiblichen Kastration stellt demnach eine Kon
struktion dar, die ihren Zweck darin hat, die männliche Macht zu bezeugen. Cixous
zufolge aber macht sich die Frau ilber jene konstruierte Kastrationsangst lustig;
sie kann nicht anders, als über die psychoanalytische Theorie der Kastration zu
lachen: Im Unterschied zum Mann "lacht die Frau nur über die Angst enthauptet
(oder kastriert) zu werden"60. Auch der von der Psychoanalyse entworfene Penis
neid gäbe aus feministischer Sicht Anlass zum weiblichen Gelächter. So sehr sich
dieser ,.ungünstig" auf das weibliche Geschlecht auswirke, so sehr trägt er auch zur
,.Belustigung•-ol (amusement) bei. Schließlich lieferten die Schlussfolgerungen der
psychoanalytischen Theorie in Bezug auf die Frage der Liebe den Frauen ausrei
chenden Grund, in Lachen auszubrechen. lm Abschnitt über "Die ANDERE Liebe"
(L 'Amour Autre) erweist sich die Frau als diejenige, die sich über die psychoanaly
tische Theorie der Geschlechterliebe lustig macht. Penisneid und Kastrationsangst
162
hätten nämlich dazu geführt, dass das Verhältnis der Geschlechter zueinander nicht
eigentlich durch Liebe, sondern durch Misstrauen und Feindseligkeit geprägt ist.
Aber auch genau darüber, so lässt Cixous die Leserinnen wissen, kann die Frau
lachen: Sie "lacht [... ] über eine Erosdynamik die vom Hass genährt wäre"62• Da die
patriarchalen Konstruktionen alle Frauen betreffen, haben auch alle Frauen Grund,
lachend über die maskulinistischen Begrenzungen "herzuziehen"6'. Die Figu.r der
Medusa steht für das weibliche Geschlecht, das um diese männliche Konstruktion
Bescheid weiß. Die lachende Medusa präsentiert sich daher als eine Wissende. In
der Wiedererzählung Cixous' lässt sich das weibliche Geschlecht nicht beirren und
nimmt die männliche Zuschreibung eines weiblichen Schreckgespenstes nicht an.
Es widersetzt sich denjahrhundertealten patriarchalen Zuschreibungen. Dieser Wi
derstand wird nicht zuletzt durch das Lachen zum Ausdruck gebracht. An der viel
leicht zentralsten Stelle, in jedem Falle aber der am meistzitiertesten Stelle dieses
Textes unternimmt Cixous darüber hinaus eine Art nietzscheanische Umwertung
aller bisherigen Werte betreffend Weiblichkeit und damit eine Umdeutung des My
thos der Medusa: Sie wird von ihrer schrecklichen Erscheinung und ihren fatalen
Auswirkungen befreit und kurzerhand in eine lachende Schönheit verwandelt: "Sie
[Medusa] ist schön und sie lacht."64 Medusa lacht, weil sie die patriarchale Logik
durchschaut, die männliche Fremdbestimmung verweigert und diese durch eine
Selbstbestimmung ersetzt.
Für Cixous ist es eine Notwendigkeit, die verdrängte Weiblichkeit zum Vorschein
kommen zu lassen. Ein Mittel zur Befreiung des Weiblichen wird in der Sprache
respektive in der Praxis des Schreibens gefunden. Vor allem der Poesie wird diese
Möglichkeit zur Freilegung des Verdrängten zugetraut. Nicht die wissenschaftliche
Sprache, sondern die poetische Sprache kann Cixous' Ansicht nach einen Weg zum
Verdrängten bzw. zum Unbewussten bahnen. In der poetischen Sprache können
jene unbewussten und verdrängten Anteile des Weiblichen, welche die Vernunft
in einer jahrhundertealten maskulinistischen Kultur überdeckt hat, freigelegt wer
den, "weil Poesie ja nichts anderes ist, als Kraft aus dem Unbewußten schöpfen
und weil das Unbewußte, dies andere Land ohne Grenzen, der Ort ist wo die Ver
drängten überleben"65. Wie Freud aber zeigte, hat auch das Lachen die Funktion,
unbewusste Energie freiwerden zu lassen. Im explosionsartigen Ausbrechen des
Gelächters wird demzufolge eine kulturell errichtete Hemmung außer Kraft gesetzt.
Das muss auch für das weibliche Geschlecht gelten: Lange Zeit unterdrückt, findet
die unterdrückte Weiblichkeit im ausbrechenden Lachen plötzlich ein Ventil, durch
163
das es befreit werden bzw. das Unbewusste seinen freien Lauf nehmen kann - ver
gleichbar mit der freiwerdenden Kraft des vulkanischen Ausbruchs, bei dem tief
liegendes Magma aus dem Erdinneren eruptiv über Öffnungen des Erdmantels an
die Erdoberfläche tritt. Es ist ein Kennzeichen dieses explosiven Lachens, dass es
eine lustvolle Energie freisetzt, die im Zustand des Vernünftigen unter Verschluss
gehalten wird und dem Geset.l der V�.:rbots Folge leistet. Trotz aller Kritik an der
Psychoanalyse teilt nämlich Helene Cixous mit Sigmund Freud die Erkenntnis, dass
die unbewussten Vorgänge, sprich: das Verdrängte, "unzerstörbar'ou bleiben. Sie
betont, dass die patriarchalen Unterd1ückungsmechanismen keine Strategie von
Dauer sind: "das Unbewußte kann nicht bezwungen werden".67 Weil sich das Unbe
wusste im Lachen ohne Umwege einen Weg in die Freiheit bahnt, kann man auch
im Falle des "Lachens der Medusa" von einem beji·eienden Lachen sprechen. Oder
wie es Judith Miller ausdrückte: "the Medusa's laugh became the rallying cry oftbe
liberated female creator".68
3 Konklusion
Cixous nimmt eine Haltung ein, die in der Geschichte der Philosophie des La
chens ursprünglich verpönt war. Platon hatte der thrakischen Magd eine Verken
nung des Wesens der Philosophie attestiert. Sich über etwas lustig zu machen und
sich lachend darüber zu erheben, das galt den antiken Philosophen seit Platon als
verwerflich. Wenn schon Lachen, dann sollte es sich um ein gemäßigtes Lachen
handeln, das Extreme tunliehst vermeidet. Cixous eignet sich aber genau dieses
Extrem an, da ihr Lachen alles andere als gemäßigt ist. Es ist geradezu gekenn
zeichnet von Übermaß und Überfluss. Es ist laut, es ist explosiv, es ist stürmisch
und es ist subversiv: befreiend und umstürzlerisch - es sprengt verkrustete Ordnun
gen auf und lässt eine andere Ordnung hervorbrechen. Es nimmt keine Rücksicht
auf philosophische Interpretationen, und schon gar nicht lässt sich Cixoüs von den
Warnungen eines übermäßigen und daher verwerflichen Lachens beeindrucken.
Im Gegenteil, das vermeintlich Verwerfliche {das Weibliche, das Körperliche, das
Unbewusste, die Sexualität, das Lachen) wird und soll durch einen Akt der Alleig
nung überhaupt erst ins Leben gerufen werden, da es bislang in der patriarcbalen
Kultur der Verdrängung anheimfiel oder ins Abseits gedrängt wurde. Die Tradition
der Lachfeindlichkeit wird dem:wfolge bei Cixous von einer Lachfreundlichkeit
abgelöst. Diese hat weniger etwas mit einer ,,Funkultur" als vielmehr mit einer neu
en Subversions- und Erkennmiskultur zu tun. Ihr wird eine wahrheitsbildende und
kritische Funktion attestiert. Das Lachen ist daher nicht einfach das Andere der
1 64
Vernunft, sondern eine andere Vernunft. So steht Cixous eher auf der Seite von
Nietzsche, der das Lachen in seinem Werken wiederholt von seiner Degradierung
befreit und zu seiner Aufwertung beigetragen hat.69 Wenn Cixous nun das Lachen
als Merkmal der feministischen Subversion fUr sich beansprucht, dann fuhrt sie
einen Diskurs in die Philosophie ein, der von einem Großteil der männlich gepräg
ten abendländischen Philosophie an den Rand gedrängt wurde. Zugleich eignet sie
sich emen Diskurs an, der von denselben Vertretern der Philosophie traditionell
dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurde. Während Männer die Vernunft
fur sich in Anspruch nahmen, blieb den Frauen die Unvernunft, das heißt das La
chen. Ähnlich wie in Cavareros Interpretation der thrakischen Magd wird aber das
Lachen von seiner vermeintlich "unvernünftigen" Eigenschaft befreit und zum Aus
druck einer Vernunft.
Den vorangegangenen Deskriptionen folgend, möchte ich abschließend das von
Cixous adressierte Lachen im Lachen der Medusa zu den eingangs vorgestellten
philosophischen Theorien des Lachens in Beziehung setzen.
a) Zum einen findet sich bei Cixous die Tendenz einer Superioritätstheorie des
Lachens. Dabei ist die "Superiorität" zunächst wörtlich zu nehmen: Cixous setzt
sich über den maskulin-patriarcbalen Diskurs hinweg, indem sie seine Interpretati
on der Frau als kastrierter Mann, vorzugsweise im Ausgang von Freuds psychoana
lytischer Interpretation des Weiblichen, und seine imaginierte Angst vor dem Weib
lichen als lächerlich (gr. geloios) entlarvt, also als etwas, worüber gelacht werden
kann. Sie erhebt sich - und das mit tönenden Worten und schallendem Gelächter
über den phallokratischen Logos in dem Sinne, dass sie die andrezentrischen
Theorien nicht ernst nimmt. Sie erachtet deren Erkenntnisse weder als einsichtig
noch als unumsößlich.
t In dem Maße, wie sie die Interpretation des Weiblichen als
Konstruktion entlarvt und eine andere Ordnung als die phallokratische fiir möglich
hält, ordnet sie sich nicht dem männlichen Herrschaftsdiskurs unter. Dazu zählt,
dass das Lachen bzw. das Gelächter mitunter Züge eines spöttischen Lachens an
nimmt, wenn es heißt: "Welches ist die Frau [...], die nicht lachend über sie herge
zogen ist [...]?"70 Erst das französische Original liefert das entsprechende Stichwort
zu dieser Stelle. Dort findet sich nämlich nicht das französische rire, sondern das
französische derision, das Spott bedeutet, und zwar in der Wendung .,tourner qu'
en derision", was ,jemanden verhöhnen" oder ,jemanden ins Lächerliche ziehen"
bedeutet. Im Unterschied jedoch zum Ansatz von Hobbes scheint die psychische
Funktion derErhebung über den anderen aufgrund eines Minderwertigkeitskomple
xes auf Cixous nicht zuzutreffen. Auch wenn es Cixous mit ihrem feministischen
Gegenentwurfbesser wissen mag, so kann man hier doch nicht von Besserwisserei
sprechen, es sei denn, man versteht diese nicht wie gemeinhin üblich als eine
165
selbstgefallige Geste, sondern als Ausdruck kritischer Erkenntnis. Darüber hinaus
ist das im Text angesprochene Lachen kein Lachen, dass individuell Befriedigung
verschaffen soll, wie das bei Hobbes der Fall zu sein scheint. Für Cixous ist das La
chen, symbolisch repräsentiert durch die antike Figur der Medusa, ein quasi kollek
tives Lachen der Frauen, sofern patriarchale Zuschreibungen nicht einzelne Frauen,
sondern Frauen im Allgemeinen betrdTen. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass
Cixous und mit ihr alle Frauen ein Minderwertigkeitsgefühl durch einen Akt der
Selbstüberschätzung kompensieren muss. Das ,,Lachen der Medusa" in einem über
tragenen Sinne speist sich weniger aus einem psychischen Minderwertigkeitsgefiihl
als vielmehr aus einem intellektuellen Erkenntnisakt, der Einsicht in die kulturelle
Konstruktion von Weiblichkeit. Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass
bei Hobbes das superiore Lachen in moralischer Hinsicht keine gute Eigenschaft
ist, insbesondere dann nicht, wenn das Lachen schwächeren Menschen gilt. Das
von Cixous thematisierte Lachen ist aber alles andere als an schwächere Menschen
adressiert, es gilt der männlichen Herrschaft der phallokratischen Ordnung. Aus
diesem Grund hat das Lachen bei Cixous auch eine gesellschaftskritisch-politische
Funktion. Demzufolge wäre das Lachen nicht verwerflich, sondern politisch gebo
ten, da damit ein politischer Akt der Befreiung einer unterdrückten Klasse vollzo
gen werden kann.
b) Zweitens lassen sich Verbindungen zur Inkongruenz- bzw. Kontrasttheorie
herstellen. In einer frl.lhen Phase dieses Artikels erzählte mir eine der Herausge
berinnen dieses Bandes, Gertrude Post!, dass sie bei der Lektüre des Cixous'schen
Textes immer wieder auflachen musste. Woher aber kommt dieses Lachen? Abge
sehen von der Bedeutung des Lachens, die Helene Cixous in ihrem Text themati
siert, gibt es auch eine Wirkung des Textes auf die Lesenden, die filr die Gattung der
ecriture feminine eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Diese Wirkung lässt sich
meiner Ansicht nach durch die Wahrnehmung des Kontrasts erklären, der sich aus
dem Unterschied zwischen der klassischen antiken Erzählung der Medusa und der
femmistlschen Umdeutung der Medusenfigur durch Cixous ergibt: dort die Häss
lichkeit, hier die Schönheit; dort die alte, hier die neue Frau. In dem Maße, wie
Cixous es vermeidet, traditionelle Weiblichkeitsrollen zu reproduzieren, wartet sie
mit unkonventionellen und durchaus l.lberraschenden Weiblichkeitsdeutungen auf.
lhrc Neuerzählung der Medusa brilliert durch eine extravagante, unerwartete Kenn
zeichnung des weiblichen Geschlecht:.. Dazu zählt, dass die Frau trotz der jahr
hundertealten patriarchalen Unterdrückung und der psychischen Verinnerlichung
ihrer negativen Zuschreibungen nicht durch Gebrochenheit und Hilflosigkeit ge
kennzeichnet ist. Sie ist im Gegenteil eine überaus starke Frau: Sie ist "frauenstl.lr
misch". es kann ihr niemand "den Mund verbieten", Frauen "verströmen sich, ohne
166
sich zu erschöpfen", sie "sind überall" und so weiter.71 Dazu zählt aber auch, dass
sich die Frau nicht vor ihrem eigenen Unbewussten fürchtet : Medusa ist "schön"
und sie ist "schwarz"!12 Man wird also mit einem imaginären Frauenbild konfron
tiert, das konträr zu den Bildern in der Geschichte der abendländischen Kultur ver
läuft. Das kann Grund genug für schallendes Gelächter sein. 73
c) Nicht zuletzt ist auch eine Nähe zur sogenannten Entspannungstheorie offen
sichtlich. Cixous geht es in ihrer Betonung des Körperlichen einerseits und in ihrer
Bedeutung der Poesie andererseits um ein Freilegen des Unbewussten. Mit Freud
betrachtet, erfü
l lt das Lachen die Funktion, unbewusste Inhalte freiwerden zu las
sen. Mit dem Lachen der Medusa ist nämlich für Cixous die Hoffnung verknüpft,
dass das verdrängte Weibliche im Akt des Lachens befreit werden kann. Die explo
sive Kraft, die dem Lachen der Medusa bescheinigt wird, lässt die Schlussfolgerung
zu, dass mit dem Lachen eine gewaltige unbewusste weibliche Energie freigesetzt
wird - ein Prozess, der mit den Mitteln der Vernunft nicht in Gang gebracht werden
kann, wie Cixous zu Recht betonte. Mit dem Lachen kann jene Zensur übergangen
werden, welche die phallokratische Ordnung für das weibliche Geschlecht errichtet
hat. Mit dem derart befreienden Lachen geht eine Entspannung einher, die aus der
Außer-Kraft-Setzung der Hemmung resultiert.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Lachen der Medusa charakteris
tische Merkmale aufweist, die in allen drei kulturgeschichtlichen Ansätzen zur Phi
losophie des Lachens beschrieben worden sind. Eine eindeutige Zuordnung zu nur
einer dieser Theorien ist folglich nicht möglich. Allerdings lassen sich auch schon
die genannten "klassischen" Theorien des Lachens nicht immer eindeutig voneinan
der unterscheiden, sodass es sehr oft keinen Sinn macht, einen bestimmten Ansatz
in eine dieser Theorien zu pressen. Das gilt auch für das Lachen der Medusa.74
167
Anmerkungen
1 llelene CIXOUS, Weiblichkeil in der Schrift, übers. von Eva DUFFKER, Berlin: Merve 1980, 87.
2 Abigail BRAY, Helene CL�ous. Writing and SexualDifference, New York: Palgrave Macmiilan 2004,
65.
3 Robert RANKE-GRAVES, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, übers. von Hugo SEIN
FELD, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt !98'7 1 1 2 7ur femini�tischeo Rezeption klassischer Mythen
einschließlich derjenigen von Medusa siehe Vanda ZAJK.O, Miriam LEONARD (Hg.), Laughing with
Medusa. Classical Myth and Feminist Thought, Oxford: Oxford University Press 2006.
4 Siehe John MORREALL, A New The01y ofLaughter, in dcrs. (llg.), The Philosophy ofLaughter and
Humor,Albany: State University ofNew York Press 1987, 128-138.
5 Das Wort Supenorität leitet sieb vom lateinischen Komparativ ,,superior'' ab und bedeutet in räumli
cher Hinsicht "weiter oben befindlich". In einem übertragenen Sinne bat es die Bedeutung von ,,höher
stehend", "!\berlegen" und ,,stärker".
6 Thomas HOBBES, Vom Menschen. Vom Bürger, eingeleitet und hg. von GUnter GAWLICK, Hamburg:
Felix Meiner 1959, 33.
7 Thomas HOBBES, Leviathan, hg. und eingeleitet von !ring FETSCHER, übers. von Walter EUCH-
NER, frankfun/Mam: Suhrkamp 1984, 44.
8 Thomas HOBBES, Vom Menschen, a. a. 0., 77.
9 Ebd., 78.
10 Thomas HOBBES, Leviathan, a. a. 0., 44.
II Ebd., 45.
12 Zur Vertreibung des Lachens aus der Philosophie siehe insbesondere Manfred GEIER, Worüber kluge
Menselren lachen. Kleine Philosophie des Lachens, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007.
13 Atthur SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, in: Sämtliche Werke, textkritisch
bearbeitet und hg. von Wolfgang Frhr. VON LÖI!NEYSEN, Bd. l, Frankfurt!Main: Suhrkamp 1986,
105.
14 Artbur SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. li, in: Sämtliche Werke, textkritisch
bearbeitet und hg. von Wolfgang Frhr. VON LÖHNEYSEN, Bd. li, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986,
122.
1 5 Ebd.
16 Ebd., 125 {Schreibung so m
i Onginal).
17 Ebd.
18 Auch Kant tst ein Vertreter der lnkongruenztheorie. Anstelle von Inkongruenz spricht er jedoch von
Kontrast. Die;cr resultiert seiner Auffassung nach aus einer Erwartung, die sich nicht erftlllt (siehe
lmmanuel KANT, Vorlesungen llber Anthropologie, Bd. 2, in: Ka11ts gesammelte Schriften, hg. von
der Berlin-Brandenburgiscben Akademie der Wissenschaften, Bd 25, hg. von der Akademie der Wis
>erl>chaften zu Göningen, bearbeitet \'OD Reinhard BRANDT und Werner STARK, Berlin: Walter de
Gruyter 1997, 140).
19 Ein solches Lachen, verstanden als eine bestimmte Auseinandersetzung mit einer Todeserfahrung, dUrf
te Cixous persönlich bekannt sein, wie einem Interview zu entnehmen ist: "When 1 was little, I was told
about the death ofa cousin ofmy falber, which happened shortly after !hat ofmy father andin the same
way: I hurst out laughing. Death went through me and I laughed" {Heleoe CIXOUS, Mireilte CALLE
GRUBER, Ht!lene Cixous. Ro01pri11ts. Memo') andLifo Wntmg, übers. von Eric PRENOWITZ, Lon
don-New York: Routledge 1997, 26).
20 Sigmund FREUD, Der Witz undseine Bezielumg zwn Unbewußten (1905), in: Studienausgabe, Bd. IV,
Frankfurt/Main: hscher 1970, 9-2 19, hier 85.
2 1 Ebd., 79.
22 Ebd.. 91.
168
23 Ebd., 138.
24 Ebd., l40.
25 Helmuth PLESSNER, Das Lächeln (1950), in ders., Gesammeile Schriften, Bd. VI!: Ausdruck und
menschliche Natur, hg. von Günter DUX, Odo MARQUARD und Elisabeth STRÖKER, Darmstadt:
Wissenschaftliebe Buchgesellschaft 2003, 419-434, hier 430.
26 Ebd., 423.
27 Helene CIXOUS, Das Lacheil der Medusa, aus dem Französischen von Claudia Simma, in: Esther
HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabeth SCHÄFER (Hg.), Helene Cixous. Das Lacheil der Medusa
zusamme11 mit aktuelleil BeiträgeII, Wien: Passagen Verlag 20 17 [20 13], 5 1 .
28 Meine Übersetzung (vgl. Helene CIXOUS, Le Rire de Ia Meduse er awre ironies, preface de Frede
s he Orig
tic REGARD, Paris: Galilee 2010, 58). Ich gehe hier auf das französic i nal zurück, weil die
deutsche Übersetzung von "qu'elle l'explose" mit "es zum Bersten btingt" übersetzt und damit die
Explosion (das Verb "exploser") zum Verschwinden bringt.
29 C[XOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 43.
30 Ebd., 53.
3 1 Ebd., 55.
32 Ebd., 44.
33 Vgl.: "es ist unerläßlich, daß Dein Körper Gehör bekommt" (ebd., 44; Schreibung so im Or ginal).
i
34 Simon CRITCHLEY, Über Humor, übers. voo Erik M. VOGT, Wien: Turia + Kant 2004, 1 7 f.
35 ARISTOTELES, Über die Glieder der Geschöpfe, in ders., Die Lehrschrifien, hg. von Paul GOHL.KE,
Paderbom: Ferdinand Schöningh 1959, 125.
36 Rene DESCARTES, Die Leidenschaften der Seele, hg. von Klaus HAMMACHER, Hamburg: Felix
Meiner 1996 (2. durchgesehene Aufi.), Art. 123-128.
37 lmmanuel KANT, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, hg.
von Wilhehn WEISCHEDEL, in: Werkausgabe, Bd. XI!, Frankfurt!Main: Suhrkamp 1988 (7. Auf!.),
595.
38 Hehnuth PLESSNER, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen melischliehen
Verhaltens (194!), in: Gesammelte Schriften, Bd. VII: Ausdruck und menschliche Nawr, Darmstadt
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 201-387, hier 274.
39 Ebd., 333.
40 Gustav SEIBT, Der Einspruch des Körpers. Philosophien des Lachens von Platon bs
i Plessner - und
zuriick,
in: Lachen. Über westliche Zivilisatian, hg. von Karl Heinz BOHRER und Kurt SCHEEL,
Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschriftfiir europäsi ches Denken 9110, 56. Jg. (September/Oktober
2002), 751-762, hier 762.
41 C!XOUS, Das Lochen der Medusa, a. a. 0., 42 (Schreibung so im Origioal).
42 Akashe-Böhme hat in feministischer Perspektive auf die überragende Bedeutung des Mundes fur
die Geschlechterforschung aufinerksam gemacht und die These vertreten, dass das kultw·ell weit
verbreitete Lachverbot ft.ir Frauen einhergeht mit dem Verstutrunen und der Uosichtbarmachung der
Frauen (Farideh AKASHE-BÖHME, Der Mund, in dies. (Hg.), Von der Auffälligkeit des Leibes,
Frankfurt!Main: Suhrkamp !995, 26-32, hier 3 1 f.).
43 CIXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 51 (Schreibung so im Original).
44 Ebd., 44.
45 Ebd., 45.
46 Zum Körperlich-Sprechen siehe ebd.
47 Ebd., 43. Vgl.: ,,Ein weiblicher Text kann gar nicht nicht weit mehr als subversiv sein [...)" (ebd., 53).
48 PLATON, Theaitetos, n i ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, übers. vonFriedeichSCHLEIERMACHER und
Hieronymus und Friedeich MÜLLER, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004 (34. Aufl.), 173c-177a;
Adriana CAVARERO, Die thrakische Dienstmagd, in dies., Plaron zum Trotz. Weibliche Gestalten der
antiken Philosophie, übers. von Gertraude GRASS!, Berlin: Rotbuch Verlag 1992, 53-89.
169
49 Luce !RIGARAY, Luce lrigaray. Key U?-itings, London-New York: Continuum 2004, viü; siehe auch
Luce IRIGARAY, Das Geschlecht, dasnicht eins ist, Berlin: Merve 1979, 169.
50 Julia KRJSTEVA, The Powers o[Horror. An Essay on Abjection, Obers. von Leon S. ROUDLEZ, New
York: Columbia University Press 1982, 8.
51 Judith BUTLER, Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina MENKE, Frankfurt/Jv!ain:
Suhrkamp 1991, 206.
52 Zum Thema ..feministisches Lachen" siehe Helga KOTTHOFF, Das Gelächter der Geschlechter.
Humor und Macht in Gesprächen von Frauen und Männern, Konstanz: UVK 1996 oder Gerburg
TREUSCH-DIETER, Das Gelächter der Frauen, in: Dietmar KAMPER, Christoph WULF (Hg.),
Lachen - Gelächter- Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt/Main: Syndikat 1986, 115-144.
53 Siehe Sigmund FREUD, Die Weiblichkeit, in: Swdienausgabe, Bd. I: Vorlesungen zur EilifUhrung in
die Psychoanalyse UndNeue Folge, Frankfurt!Main: Fischer 1969, 5�565; ders.. Über die weibliche
Sexualität (1931), in: Smdienausgabe, Bd. V: Sexualleben, Frankfurt!Main: Fischer 1972, 273-292.
54 Sigmund FREUD, Das Medusenhaupt, in: Gesammelte Werke, Bd. XVU, 45-48.
55 Sigmund FREUD, Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen (1926), in:
Studienausgabe, Ergänzungsband: Schriflen zur Behandlungsteclmik, Frankfurt/Jv!ain: Fischer 1975,
271-349, hier 303.
56 Siehe dazu CIXOUS, DasLachen derMedusa, a. a. 0., 42.
57 Ebd., 50.
58 Ebd.
59 Ebd.
60 Ebd.. 54 (Schreibung so im Original). Zum Thema Kastration und Enthauptung siebe auch l!elene
CIXOUS, Castration orDecapllation, in: Signs JournalofiJomen in Culwre andSociety 711 (Aununn
1981), 41-55.
6 t CIXOUS, Dc1s Lachen der Medusa, a. a. 0., 56.
62 Ebd., 59 (Schreibung so im Original).
63 Vgl. ebd., 53.
64 Ebd.,50.
65 Ebd., 44 (Schreibung so im Original).
66 Vgl. Sigmund �REUD, Die Traumdeutung, in: Studienausgabe, Bd. li, Frankfurt/Main: Fischer 1972,
550.
67 CLXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 41
68 Judith G. MILLER. Medusa andthe Mother!Bear, ThePeifonnance TextofHelene Cixous s..L 'lndiade
ou l'lndede leurs reves", in: Journal ofDramauc Theory and Criticisrn IV/I (Fall 1989), 135-142. hier
135.
69 Tanno KUNNAS, Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische bei Nietzsche, München: Edition
Wissenschall und Literatur 1982.
70 CIXOUS,DM Larhender Medu�a, a a. 0 , 53 Im fianzösischen Wortlaut: ,.QUI n'a pas brouille, toume
en derision, Ia barre de separation" (im fianzösischen Original, a. a. 0., 59).
71 Vgl. CIXOUS, DasLachen der Medusa, a. a. 0., 42.
72 Vgl. : "[w)ir sind ,schwarz' und wir sind schön" (ebd.). Das Schwarz steht hier metaphorisch fUr das
Unbewusste, Unbekannte und Bedrohliche.
73 Cixous selbst beweist durchaus Sinn für Humor und Z\,...arim Snne
i der \\\!.hmehmungeines unerwarteten
Kontrasts. Das 1st emer Stelle aus den ..Szenen � Menschlichen" zu entnehmen. Sie schreibt dort, dass
sie über Stendhals Aussage, er habe nur zwei große Leidenschaflen. nämlich Shakespeare und Spinat,
herzhaft lachen musste (Helcne C IXOUS, Szenen des Menschlichen, in: Mireille CALLE (Hg.), Ober
da� Weibliche, i!bers. von Ebcrhard GRUBER, Düsseldorf, Bonn: Parerga 1996, 97 120, hier 104 f.).
74 kh danke den Herausgebenonen dieses Bandes für ihre ausfilhrhchen Kommentare zu einer fn
il�eren
Version dieses Textes.
170
Und mich schüttelte eine [Medusa] .
Fotographie eines Traumes1
Elisabeth Schäfer
Ich lasse mich von meiner Sprache tragen als sei ich ausge
statte.t mit Finichen und es trüge mich in die Lüfte aber es
musz von allein kommen'
[ ...) und indem er sich sucht erkennt sich DEIN Text für
mehr als Fleisch und Blut, als Teig der sich knetet und auf
geht, aufrührerisch, voller klingender, duftender Zutaten,
als stürmisch bewegte Verbindung von entfliegenden Far
ben, Blättern und Flüssen ( .. V
Ein Bad ftir Medusa, ein Wind, eine Welle, Gezeiten, die sie heben mögen; lUften,
nicht wie ein Geheimnis, sondern wie Vögel, Insekten, Schwingen, wie Fische, Pa
pierstapel und Staub ... einen langen Atem dieser Neu- und immer Wiedergeborenen;
ihren leuchtenden Schatten wirft die Zukunft schon lange voraus. The time is now.
Die Zeit ist immer, und sie ist auch schon vorbei. Die Zeit kommt nicht von außen.
Sie kommt nicht von einem Außen, das nicht auch ein Innen ist. Sie schenkt sich und
mich und dich aus: immer schon. Die Zeit. Dieses taktvolle Herz. Das unsere, wie
keines das unsere ist. So sehr und so wenig zugleich. Die Zeit ist die unsere. Aber
vielleicht nur, weil wir die ihren sind. Gezeichnet von Zeit, sind wir auch Zeichen
allein von Endlichkeit? Ganz in der Zeit inbegriffen, kippen wir doch ganz aus ihren
Gesetzmäßigkeiten heraus - "I am the finite that wants its infinite. Love infinites
me.'"' Immer wieder, unendliche Momente von Veränderung, unerhörtes Wollen, Wi
derfahren; Aufruhr, die sogar die Zeit selbst bewegt - "[...] time is out ofjoint [... ]".5
Da bist du. Und da gehst du. Ein sattes Rot. Eine Erinnerung an eine permanente An
kunft. Postkarte aus der Zukunft. The dawn ofwriting. Oder auch: Abendrot. Abend
brot. Und morgens essen wir auch Brot. Eine voll gewordene Zeit. Zum Bersten.
Ein voll gewordenes Rot. Nicht morgen, nicht irgendwann, jetzt. Und es ist schon
gewesen. Und ich sage noch. Rotkehlchen oder auch Gesang. Das Wort ist ein Hin
dernis und ein Sprung
173
in der Zeit. Breakfast Breakfast.
Medusa hat ihre Schuhe gewechselt, vielleicht auch ihre Kleidung - cross-dressing
- wer weiß es schon?! "She doesn't age."6
Und sie hat so viele Stimmen und Münder - wie viele schreiben von den Schlan
i re un
gen auf ihrem Haupt - dabei �ind ihre Münder doch auch, so auffilllig, all h
sichtbaren Lippen beinahe noch viel züngelnder, tentakelnd 7, viel kräftiger als jene
Schlangen, die sie hat aus ihrem Kopfhinauswachsen lassen.
Wie sehr sich die Schlangen in den Köpfen drängen, ach, das wüsste eine ja nur zu
gut, würde sie Worte finden und Wege, sie aus dem Kopf zu lassen, ... diese "Fabrik
der Knoten."8
Die Schlangen häuten sich, so wie wir, nur weniger zerstreut; und so wie übrigens
auch die Nesseltiere, jene Meeresbewohnerinnen, Meduseae9, die ihre Giftkapseln
•
an den Tentakeln stets abwerfen und neu bilden.
Lasst die Schlangen in die Sonne, sie nehmen so gern ein Bad im heißen Sand.
Warum? Sie hören dann sehr gut. Jede Regung überträgt sich über ihre Kiefer in ihr
lnnenohr, das sie lange Zeit verborgen hatten. Jetzt sind sie aufgeflogen, die heim
lichen Hörerinnen. Jetzt wissen wir, dass sie hören; was sie hören, wissen wir noch
immer nicht, mit unseren großen hautigen Außenohren.
Schreiben mit jenen ,,.Höhlenforscher-Ohren"10 - mehr lauschen, wie die Poesie
wächst, die Ohren in den heißen Sand legen, unterirdisch, in den feuchten Schlamm,
unterseeisch, hören. Sinnend, so kommen die Worte, sie fliegen, sie tauchen - wir
waten mit baren Füßen im Schlamm dieses Sees, mit unseren großen spröde gewor
denen Taucherbrillen, durch die wir nur verschwommen sehen, daher die Worte an
geln und fest heranziehen wollen, gelborange Taucherinnen, den Geruch von altem
Gummi in der Nase, mit roten Herzen überall an der Brust, oh so viele, fur jedes
Wort eines oder mehr, haben wir auf unsere BadeanzUge genäht - Abzeichen, dass
wir schwimmen könnten und tauchen, dass wir schreiben könnten und fliegen - aber
können wir? Zwischen den Herzen auch schwarze Totenköpfe. Fest angenäht. Wel
che Abzeichen tragen unsere Körper von unseren Vermögen und welche Abzeichen
kennen wir von den Vermögen unserer Körper? Jede noch so kleine Stelle, auch jene
hmter den Ohren, will schwmgen und fl1egen, jedes Hautschüppchen will sich lösen
und verbreiten. Wie schwer fallt es uns m genießen, dass diese Worte aus Schlamm
und Wasser, diese kleinen wimmelnden Silbenansammlungen nur die ,,Atmung der
Materie"11 sind?! Dieser Chaosmos12, den wir bewohnen, an dem wir teilhaben. ist
nicht unser Eigentum. "[Wlas unser ist löst sich von uns ab[.)"13 Schlangen häuten
174
sich, auch ich mich, beständig verliere ich meine Haut und gewinne eine neue hinzu,
besonders bei intensiver Sonneneinstrahlung; diese Kraft der Gestime! Ihre bestän
digen Revolutionen! Da wird sogar die Haut einer M... ganz rot!
Woran es uns schmerzt, darum mühen wir uns. Was Freude bereitet, findet selten
Raum - noch Zeit. Auch der freudige Körper muss sich sein Lachen zu oft verknei
fen. Was uns schüttelte, was uns beben ließ, soll wieder, soll ankommen, soll künftig
immer kommen dürfen. Liebling Lachen, oh schüttele mich, dich, euch, uns ... wie
der und wieder ... 14
Unsere Blicke ziehen davon, unser Lächeln läuft, das Lachen all unserer Münder, unser Blut rinnt w1d wir
verströmen uns ohne uns zu erschöpfen, unsere Gedanken, unsere Zeichen, unser Schreiben, die halten
wir nicht zurück, und wir haben vor demMangel keine Angst."
Sollten wir? Der Mangel, zurnal als fundamenturn inconcussum, er soll ja dasjeni
ge sein, das uns am meisten beschenkt - das Begehren zu allererst stiftet, Subjekte
organisiert und nicht weniger als die Sprache gibt. So darf es uns am Mangel nicht
ermangeln. Nur das nicht, das darf nicht fehlen, ein Mangel muss mmer
i dabei sein.
Fehlt Dir was?!
Als hätten wir- hätten wir den Mangel verloren - alles verloren. Subjekt ontologi
schen Mangels sollen wir sein - oder des Realen, aber das Fürchten sollen wir lernen.
Vergesst nur: den Mangel nicht!
Alles ist eine Bewegung voller Risiken - sagen wir Mangel, sagen wir Angst, sa
gen wir: Bewä
l tigungsstrategie, oder auch Gesundheit! Sagen wir: Übermut, Überra
schung, FUlle, sagen wir: Ja! Sagen wir auch: Unsinn, Kinderei, Nicht-Anerkennung
des Scheitems. Alles bricht nach einer Seite zusammen, das ist die Schlagseite.
Mangel, das kommt vor, das ist Hunger, Sehnsucht, Unvermögen, Scheitern -
vielfach, mannigfaltig, wie die zerrissenen Schuhbänder, die abgerissenen Leben,
die quälenden Verluste von Liebe, Kleinod, Anderen.
Warum aber sollte ich im Fundament meines unbekannten Selbst keinen Platz
haben fiir Dich, Liebste, tir
f Dich, Liebling, nach dem/der/es mir so sehr verlangt,
wenn ich bereits erfullt bin von dieser, Deiner, einer Ankunft aus einer nahen, fer
nen Zukunft? Du sollst meinen Mangel und ich den Deinen bewohnen, ohne dass
wir unseren so vermehrten Mangel je auszufiillen vermöchten, weder, dass wir ihn
wirklich sähen, noch, dass wir einander mehr als wiederrum Mangel sein könnten.
Permanente Verfehlung, die Wahrheit des Subjektes eine hergestellte Täuschung, so
der Facteur der Wahrheit16; aber eine bestimmte und damit auch enträtselbare? Ach,
mein Herz wäre ein Karton, in dem nicht eine Spinne ihr Netz gebaut hätte. Gestopf
ter Strumpf� die Illusion - aber einzige Wahrheit - unserer selbst?!
175
Warum aber fliegen wir, fließen wir über? Ständig über uns hinaus, belagern uns
mit Worten, mit Küssen, mit Fäusten und Bissen?! Jaja, um zu stopfen. As they say.
Angenommen in die Brust des Subjektes sei nur ein Loch gestanzt und zwar so,
dass es nichts gäbe, was dieses auszufüllen vermöchte ... Aber ist unsere Löchrigkelt
nicht vielfach, wie auch unsere Fü l le?! Und die Fülle - wäre sie nicht auch anders
zu denken als nur als Stilbtand, stehender Sturmlauf?1 7 Das Fußbad für, Fußbad mit
... Belilhrung einer Wahrheit, könnte es sein, sie geschähe immer dann, wenn ein
Subjekt sich auf sein Außen bezieht, auf ein Anderes, meandemdes Um-Es-Herum,
Territorium ... übersteigen, überraschen, überfordern wir uns, schwinden wir aus der
Behausung unserer Innerlichkeit; herauskatapultiert aus diesem Illusionsgehäuse,
sind wir in die Wahrheit, Welt, unser Außen geraten - ins Unbekannte, Unverfügba
re. Wuchernd wie die Natur nimmt das Unverfügbare nicht länger den Charakter des
Mangels an, vielmehr ist es Dickicht und eigentliches Unterholz, Rechtfertigung des
Daseins; unerhörte Werte, die-Worte-wuchern-lassen, ohne ein einziger Wert-Wort
Turmbau zu sein ... Die Fiktionen unserer Wahrheiten schreiben sich fort ...
Wir - sollten wir dies sein wollen kötmen dürfen, !rgendwir18, die wir mit der Me
dusa fliegen - sind keine zahnlosen Träumerinnen, wir haben Biss w1d schlagkräftig
sind unsere Schwingen allzumal. Was die Bissigkeit dieser lronien angeht und die
Schlagkraft dieser Worte, die Medusa um sich sammelt, so richten diese sich aber
keineswegs gegen andere, erheben sich nicht, wollen sich nicht überheben, nein: Sie
wollen alles, so wie Medusa, vor allem das Lebendige. .,[I) eh begehre den Anderen
als Anderen, männlich ganz oder weiblich ganz; denn leben bedeutet alles wollen
was ist, alles was lebt, und es lebendig wollen. "19
Diese Bisse töten nicht, diese Hiebe erschlagen nicht. Medusa, Boxweltmeis
tenn im Fliegengewicht, sie tänzelt durch den Ring und lässt die Fäuste fliegen.
So schreibt sie. Mit der Motorsäge, der Gardine/0 mit der Hand, dem Singen, dem
Licht und dem Strom der Elektronen. Leuchtende Schatten, die mehr ankündigen,
als festschreiben, mehr touchieren, als festlegen. Sie hat sich ein Lachen aus tiefen,
aus hohen Stimmen, aus Zwischen, aus Irgend, ein Lachen aus Moos und Erde, aus
Glöckchen, aus Veilchen und Zeppelinen, aus Kirschen, Wmd, japanischen Papier
schirmehen und Süßkartoffeln um den Hals gelegt. Perlen ihrer Ahninnen; Aahnen,
das ist das ihre. Unsere Mütter wären unsere Enkelinnen ...21 Medusa; dass die Zeit
in ihrem Werden den Charakter des Mangels ablegt, please weil come22 ...
176
Anmerkungen
Helene Cixous spricht in Rootprints von ihrem Wunsch, einen Traum fotographieren zu können:
"Photo ofa dream: Dream is capable of Aashes of lighming - I would like to be able to take a photo
ofa dream." in: Helene CIXOUS, Mireille CALLE-GRUBER, Rootprints. Mem01yandLife Writing,
London-New York: Routledge 1997, 29. Von einem Traum lässt sich aus verschiedenen Gründen
schwerlich ein Bild machen, schon gar kein statisches, wie es die Fotografie tun wtlrde. Mit der Be
tonung der -graphie soll angedeutet werden, dass Helene Cixous' Wunsch, etwas von einem Traum
zu graphleren, sich sehr wohl in ihrem Schreiben ereignet. Der vorliegende Text ist durchsetzt von
traumartigen Elementen, die ebenfalls eine Annäherung an eine Traum-Schrift darstellen, eine Fikti
on, aber keine eindeutig hergestellte, sondern eine, die sich fortschreiben wUrde können.
2 Friederike MAYRÖCKER, Und ich schüuelte einen Liebling. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006,
10.
3 Helene CLXOUS, Das Lachen der Medusa, aus dem Französischen von Claudia Simma, in: Esther
HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabetb SCHÄFER, He!ene Cixous. Das Lachen der .Wedusa zu
sammen mit aktuellen Beiträgen, Wien: Passagen 2017 [2013], 55.
4 llelene CIXOUS, What s
i it O'Clock, in: dieselbe, Stigmata. Escaping Texts, London-New York
1998, 57-84, hier 75.
5 William SHAKESPEARE, Hamlet, I. Akt 5. Szene, Stuttgart: Reclam Verlag 1984, I 08.
6 Helene Cixous am 25. Juli 2012 auf die Frage, was die Zeit mit Medusa mache (autorisiert zum
Abdn1ck von Helene Cixous).
7 La Meduse, im frz. Umgangssprachgebrauch wie auch in der Zoologie die Bezeichnung fUr Nessel
tiere (Quallen), jene gallertartigen Organismen, die sich wie Schirme durchs Wasser bewegen. Die
meisten Tiere dieser An haben lange Tentakeln, in denen sie ein giftiges Sekret bilden können; das
Gift löst sieb bei Berührung (!50 bar, als sei Druck die Größe der Berührung ... aber so steht es m
i
Lehrbuch) aus den Nesselzellen. Quelle: Sabine HOLST, Urspriinglich undfaszinierend· Quallen an
.Vord- und Ostseekiiste in: Biologie n
, i unserer Zeit 41(4), 240--247 (201 1). Für den Hmwe1s auf diese
Bedeutung des Wortes Meduse danke 1ch Hugh J. Silvennan.
8 Helene CTXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a 0., 57.
9 Vgl. Sabine HOLST, Ursprünglich undfas:mierend: Quallen an Nord- und Ostseekiiste, m: Biologie
in unserer Zeit 41(4), 24�247 (201 1).
I0 Helene CIXOUS, Die Orange Leben, in: dieselbe, Weiblichkeit in der Schrift, Berlin: Merve 1980,
108-128, hier 114.
11 Ebenda.
12 llelene CIXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 53; Hervorhebung von mir (E.S.).
13 Ebenda 42 und siehe auch den Beitrag: Flugschrift, in: Esther HUTFLESS, Geruude POSTL, Elisa
beth SCHÄFER, Helene Cixous. Da� lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen, a. a.
0. 131-132.
.
14 Anspielung auf den Titel von friederike Mayröckers Prosa Und ich schiitleite emen Liebling. Die
Prosa Friederike Mayröckers mit dem zentralen Motiv der ,,Fittiche'· kommt der Ctxous'scben ecri
ture VIelfach nahe; zum Motiv der .,Fittiche · �iehe unter anderem: Friederike MAYRÖCKER, Und
'
177
Psychoanalyse wird so zur einen Wahrheit des Textes (der Rede) und der Psychoanalytiker zum einen
Deuter dieses Textes; diese Wahrheit kehrt folglich immer zu sich selbst zurück, sie ist der psycho
analytischen Theorie schon bekannt; was sich von dieser Wahrheit zeigt, sind Variationen, die auf
den einen Hinter-Grund zurliekgeführt werden können, so Derrida. "Die Bloßlegung diese� Stoffes,
die Entdeckung des semantischen Materials, solches wäre das Ende der analytischen Entzifferung.
Bloßlegend den Sinn hinter den formalen Verkleidungen, rUckgllngJg machend die Arbeit, stellt sie
zur Schau den primären Inhalt unter den sekundären Bearbeitungen." Jacques DERRIDA, Die Post
kane. Von Sokra es bis anFreud und jense/r~. 2. Liefenmg, a. a. 0., 187.
!7 ,,Niemals werden wir uns (ver)fehlen." aus: Helene CIXOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 60.
18 Das Wort Irgendwir stammt aus dem Text Wir, Schreiben, Lusr von San Man im vorliegenden Band,
siehe: San MAN, Wir, Schreiben, Lusr, in: EMher HUTFLESS, Gertrude POSTL, Elisabeth SCHÄ
ene Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen, a. a. 0.,
FER, Hel 83-84,
hier 83.
19 Helene C!XOUS, Das Lachen der Medusa, a. a. 0., 58.
20 In ihrem Text Brechen/Schneiden wir rasch ab__ lässt Esther Hutfie!>s eine Frau mit Gardinen
und einer Motorsäge et cetera schreiben, siebe: Esther HUTFLESS, Brechen/Schneideil wir rasch
ab in: Ebenda, 121-!28, hier: 125.
--·
21 ,,Eine denkende Mutter ist das, was ich möchte." Auf die Frage welchen Philosophen Derrida sich
als seine Mutter vorstellen köonte, sagt er: ,.Ich habe keine Antwort parat. Meine Mutter könnte
kein Philosoph sein oder ein Philosoph könnte nicht meine Mutter sein." Er dekonstruiere die Phi
losophie, weil sie Urihn männlich sei. Weiter sagt Derrida: .,Ein Philosoph, der meine Mutter sein
f
i
könnte, wäre post-dekonstruktivistsch. Meine Mutter als Philosoph wäre dann beispielsweise meine
Enkelin." Transkription aus: Kirby DICK, Arny Z!ERL!NG KOFMAN, Derrida, Jane Doe Film
Producrions 2002.
22 This is a welcome typo ...
178
Medusas "Changeance". Ein Interview mit Helene Cixous'
von Elisabeth Schäfer und Claudia Simma
Übersetzt von Claudia Simma
Elisabeth Schäfer: Am Anfang - oder sogar noch vor jedem Anfang - möchte
ich sagen, daß das, was ich im Sinn habe, nicht ein "Interview" ist.
Was ich im Sinn habe, ist nicht ein ,,view", nicht ein "Blick, der auf oder dazwi
schen geworfen wird", nicht etwas Unterbrechendes ... vielleicht jedoch ist es jenes
i Sinn habe, das als Schreiben keinen Anfang
"Inter", jenes "Zwischen", das ich m
und kein Ende kennt, keine Unterbrechung, die den einen und einzigen Beginn oder
das eine und einzige Ende dieses Schreibens markieren würde; ein Zwischen, ein
Schreiben also, das sich entrollt, entfaltet, jetzt, schon, wieder, noch, weiter, lang
sam in der Zeit- es kann begonnen haben, eines Tages ...
... zum Beispiel in einem Sommermonat, als "Die unendliche Zirkulation des Be
gehrens"2 meine Lektüre wurde, zum ersten Mal vielleicht, wobei es keine Not
wendigkeit gibt, je ein erstes Mal zu (er)finden ... In einer warmen und goldenen
Abendsonne im Innenhof der Universiät,
t die vorlesungsfreie Zeit hatte schon be
gonnen, und ich bin geblieben ... in der Stadt, und ich glaube, ich versuchte auch an
der Universität zu bleiben, um zu lesen, zu schreiben, einen Rhythmus zu finden,
Raum zu greifen, ... und ein Rhythmus hat tatsächlich begonnen sich ins Leben zu
rufen, auf mich überzugreifen ... auf meinen Körper, mein Schreiben, das Sinnen
und Denken. Und ich glaube, daß etwas sich zu wandeln beg01men hat in diesem
Licht, in diesem Rhythmus, dem der Sonne, des Raumes und des Textes "Die Un
endliche Zirkulation des Begehrens". Seit diesem Augenblick einer Lektüre, die es
wieder und wieder gegeben hat und geben wird, hat mein Schreiben sich gewandelt,
es wurde das eines "bunten Hundes", wie eine in der deutschen Sprache sagen kann,
(frz. etre connu comme le loup blanc). Und natürlich liebte ich es, wie es begann,
noch bevor es begann, (wie man immer liebt noch bevor ... ) - auch, wenn es aneckt
und anstößt, Schwierigkeiten macht, besonders, wenn es um den Wunsch geht, ei
nen Platz für dieses Schreiben im akademischen Raum zu finden ...
Obwohl es selbstverständlich nicht seit jenem Sonnenaugenblick so ist, weil das
Schreiben immer auch aus einem anderswo kommt, aus einer anderen Zeit, einer
anderen Zukunft, hat es nicht aufgehört sich zu wiederholen, zum wiederholten
181
Mal anzukommen; wie eine Katze, mit der nie gerechnet werden konnte, ... "[i]f I
bad known tbat I would come to (bave) a cat or that one day a cat would come to
me, I would have said no. I would not have wanted it."3 So ist es angekommen, hat
sich in ein Leben gerufen, ein Leben, das auch das meine zu nennen ist, hat also eine
Singulariät
t angenommen, es hat sieb in Texte gerufen und ruft sich immer wieder
auf: als ein Schreiben, eine Katze, ein Rhytlunu:., Denken eines Körpers ... "[e]ntirely
unexpected. Never desired beforeband."4
Mit all diesen "Katzenereignissen" des Ankommens, mit diesen "bunten Hunden
des Schreibens", hat sich Medusa ihren Weg gebahnt - sie insistierte anzukommen
und hat es, hat sich schließlich durchgesetzt, sodaß wir (Herausgeberinnen, bei
spielsweise) uns mit ihr eingelassen haben, mit ihrem Lachen, ihrem Rhythmus,
ihrer Zeit ... ihrem Schreiben, das nie allein das ihre bleibt, sie ruft uns in die Schrift,
ins Schreiben; und es ist ein Morgen des Schreibens, des Begehrens zu schreiben,
auf der Suche nach einer Zeit, die die ihre, die Medusas Zeit sein könnte ...
Wie ändert sich Medusa, wie meandert Medusa in der Zeit? Trägt sie andere Schube
oder ist cross-dressing sogar das ihre ... sie, die die .,queen of queers" sein könnte
... und in 250 Jahren? Wird Medusa einst weggeflogen sein mit ihrem einen, ihren
zwei oder mehr Flügelschlägen?! Können Sie sich Medusa als endliche in der Zeit
denken, ist ihre Zeit, die Zeit ihres Schreibens, Lachens eine begrenzte?!
Helene Cixous: Die erste Frage ist natürlich ein ... dieses Zusammenspiel aus
Fragen ist sehr ansprechend, aber es ist ein ,,Zusammen", ein Ensemble. Daß diese
Frage ein Ensemble von Fragen ist, hat vielleicht mit Mcdusas .,Medusigkeit" zu
tun. Das heißt damit, daß Medusa, deren Haarschopf überreichlich, überlebendig
und angeregt ist, mehr als nur eine Einzige, immer mehr als nur eine ist.
Sie hat wohl die Eigenschaft, unter anderem, von vorne weg in einer Bewegung
ich will nicht sagen in emem Zustand - sondern in einer Bewegung von Wandel
zu sein, in Wandelbarkeit, .,changeance", in Metamorphose. Was nicht bedeutet,
daß sie unkenntlich wird. Was sehr spannend ist an der Welt der Metamorphosen,
die, zumindest in der Literatur, von Ovid eingeweiht wird, ist die Lektion, daß im
Wandel, in der Bewegung, in dem, was ich eben "changeance" genannt habe, et
was übng und da bleibt, was erkennbar ist. Sagen wir, der Geist Medusa oder die
Dringlichkeit Medusa oder die Tragödie Medusa geht weiter. Oder ich könnte auch
die Worte ist dauerhaft, "perpetuelle", gebrauchen, die in Prousts Richtung zwin
kern. Aber natürlich nimmt Medusas Anwesenheit, ihre Reaktualisierung würde ich
es nennen, zu einem gegebenen Zeitpunkt, in einer Epoche (die die Dauer einer
182
Generation haben kann, das ist jedes mal neu abzuschätzen), ein Aussehen, Deter
minierungen und Namen an, die sich ändern. Dabei geht es nicht um Fragen der
Mode, sondern natürlich um Fragen der Änderungen eines Kulturzustands. Es ist
auch ein Übersetzungsprozeß. Das heißt, Medusa ist in Übersetzung begriffen. Sie
ist in Übersetzung begriffen, weil sie auf Reisen ist. Sie wird ständig losgeschickt.
Sie reist nicht nur von einer Epoche zur anderen, sondern natürlich auch von ei
nem Land, einer Kultur, einer Sprache zur anderen. Daraus ergeben sich ständig
Zeit- und Kulturverschiebungen. Und dabei wandelt sich ihr Aussehen. Es kann
passieren, daß man sie nicht gleich wiedererkennt, aber lange hält das nie an. Daß
sie weiterdauert, soviel ist sicher. Ganz einfach weil, historisch, würde ich sagen, im
historischen Perpetuum, kann ich mir im Moment nicht vorstellen -, von meinem
Zeitalter aus, jedenfalls, sehe ich in der Ferne kein Zeitalter auftauchen, das die
soziokulturellen Bedingungen gelöst hätte, die machen, daß es Medusa gibt. Das
heißt, das Schicksal, das den Frauen bereitet wird, wandelt sich, verschiebt sich,
man könnte sagen: bessert sich, einerseits. Aber so einfach ist das nicht. Verbesse
rung ist immer begleitet von ... oder hat eine Kehrseite, die im Gegenteil negativ
und repressiv ist. Das heißt, je besser es geht, desto schlechter geht es, denn Ver
besserung - und das ist das große Problem der Politi k -, Verbesserung scheint die
Fragestellungen gelöst zu haben. Also hält man inne, arbeitet nicht mehr, kämpft
nicht mehr und währenddessen gewinnt der alte Feind wieder Kraft.
Die Frage ob Medusa andere Schuhe et cetera trägt, gefallt mir sehr. Erstens, weil
ich denke - a propos Cross-dressing, wie ist das ins Deutsche übersetzt? Cross
dressing - ein Begriff, der dem Denken der amerikanischen Queerbewegung ent
lehnt ist. Erstens denke ich, daß Medusa immer, schon immer, cross-dressing war,
zu jeder Zeit und in jeder Form. Schon als sie begonnen hat, wenn ich das so sagen
kann, war sie androgyn. Sie war maskulin/feminin. Schon damals war, was flir die
Männer, Helden inbegriffen, an Medusa bedrohlich war ohne bedrohlich zu sein,
ihre phallische Seite. Und das, das hat sich nicht geändert. Ich denke, wir sind in
einem Zeitalter, in dem cross-dressing nicht mehr außergewöhnlich ist, wie es das
Jahrhunderte lang war. Wie zum Beispiel die Frau in Männerkleidern, die mytho
logisch ist und die man in Jeanne d'Are wiederfindet. Oder die Frauen, die sich
als Männer verkleiden im 19. Jahrhundert, wie George Sand et cetera, wie Colet
te. Endlich all die Beispiele, die wir kennen und die sehr zahlreich sind, wo mit
Hilfe eines Kostüms eine Grenze überschritten wird. Ganz ohne die wunderbaren
Figuren, die man bei Shakespeare findet, mitzuzählen, wo es sehr viele Beispiele
von Frauen gibt, die als Männer gekleidet fur Männer gelten, für Männer gehalten
werden, und umgekehrt. Das ist also durchaus sehr geläufig. Und heutzutage ist es
einfach gebräuchlich.
183
Hier sollte man in einer Fußnote sagen, daß man eh1e Riesenmenge an Beispie
len, Details, Analysen in Annes Buchs findet, das jetzt herauskommt und das eine
allgemeine Bestandsaufnahme des Zustands all der Fragen, welche die Feminis
men und .,Queerismen" zwischen Frankreich und Amerika betreffen, vorschlägt:
Gedankenaustausche, -Verschiebungen und auch das Universum an dem, was von
Generation zu Generation "'eitt:rgegeb..:n wird. Das ist \vichtig, denn was ich vor
vierzig Jahren - wie lang ist es her? Vierzig Jahre? Fünfzig? Ich weiß es nicht mehr,
jedenfalls ist es enorm - gemacht habe, hat Nachkommen. Diese Nachkommen
sind natürlich ähnlich und unähnlich. Und diese Nachkommenschaft, die wäre auch
das, was man - verändert durch Genkreuzungen mit anderen Kulturen - vorfl!n
de. Besonders mit der amerikanischen Theorie und Kultur, die nicht von densel
ben Gegebenheiten ausgeht wie ich damals, als ich angefangen habe, oder als ich
Medusa losgeschickt habe. Natürlich ist diese Nachkommenschaft heutzutage, zu
Beginn unseres Jahrhundens, queer. Aber sie wird weitergetragen. Das heißt, ich
weiß nicht, was die Nachkommenschaft der Queers sein wird, und außerdem wird
sie sowieso durchmischt sein mit Kreuzungen aus anderen Etappen in anderen Kul
turen, der Japanischen, Koreanischen, Afrikanischen, et cetera, et cetera. Aufjeden
Fall, wird es ständig zu Verbindungen kommen. Zu verschiedenen Verbindungen
und Verbündungen, natürlich.
Ich denke also, daß, was andauert und große Wichtigkeit hat, die Notwendigkeit ist,
das zu denken, was ich vorhin "changeance" genannt habe. Nicht eine Instabilität,
sondern einfach eine anhaltende Beweglichkeit, ein Weitergetragenwerden, das im
mer stattfinden wird, eine Art Spiel. Da wird immer Spiel sein: Es spielt und wird
gespielt. Es wird gespielt, wie im Theater. Das bedeutet, daß es sich selbst spielt,
sich auch in Szene setzt, sich verkleidet, die ganze Zeit in Entstehung begriffen ist.
Gleichzeitig gibt es eine Wurzel. Diese Wurzel, die meiner Ansicht nach mytholo
gisch ist, verwurzelt sich ständig neu. Und leider hat sie es mit der Beständigkeit
des Bösen zu tun. Mit dem, was ein Schicksal der Menschheit ist: Diese Feind
seligkeit, dieser Widerstreit. der sich aus dem Konflikt zwischen zweien, immer
zweicn, nährt. Zwischen :zweien, die sich der Einsicht mcht beugen wollen, daß das
menschliche Wesen viel mehr ist, als zwei. Viel mehr, daß es vielfaltig ist, plural,
die ganze Zeit, die ganze Zeit. Also kehrt diese Opposition, dieses Gegensätzli
che, immer wieder - es verschiebt sich, aber es kehrt wieder -, und die Mehrheit
Jener Menschen, die männlichen Ge!>chlechts sind auf der Welt, würde ich sagen,
denn man muß global sein, ist noch nicht ereilt und in Veränderung begriffen, noch
nicht gewonnen fiir oder bekehrt zu Mischformen, zum Anderen, zur Änderung.
Das Massaker der Medusen geht also in zahllosen Ländern weiter, auch in denen,
wo das Denken der differences sexuelles, der Geschlecbtsunterschiede, oder das
184
Denken von queer wenigstens anerkannt wird - nicht, daß man ihm anhinge oder
sich ihm verschriebe -, aber wo man um es weiß. Denn es gibt Länder, wo man
nicht um es weiß. Beispielsweise ein Teil der Welt, ein riesiger Teil der Welt, ein
Drittel der globalisierten Welt, das Drittel, das sich im Moment unter der Herrschaft
eines rigoristischen Islams, eines islamistischen Islams befindet, kann so etwas
nicht denken und will die Frauen immer noch den überholten Gt::.t:tz�n dc1 Sharia
unterwerfen. Man muß sich also sagen, daß es, wenn man die globalisierte Welt
betrachtet, geopolitisch überall Fortschritte gibt, die mit der Weiterentwicklung von
Denk- und Handlungsweisen zusammenhängen, die, würde ich sagen, sich größten
teils von den großen abendländischen Mythen ableiten - einerseits. Und anderer
seits, denn man darf sie nicht ausschließen, hängen sie mit der Weiterentwicklung
der großen asiatischen Mythen zusammen, so wie es sie beispielsweise in Indien
gibt, wo schon immer Raum ftir Geschlechtermischformen bestand, wenn man das
so sagen kann. Diese Welt, die ansonsten vielleicht ultrareaktionär ist, die hindui
stische - nicht die indische - die hinduistische Welt, ist eine Welt, in der die Götter
mehrgeschlechtlich sind. Man ist daran gewöhnt, einen Gott zu haben wie Shiva,
der halb männlich, halb weiblich ist. Das erlaubt rasches feministisches Fortschrei
ten oder das Weiterentwickeln von Vorstellungskräften, die hier im Okzident völlig
blockiert und verboten sind oder waren, da man unter der Fuchtel der christlichen,
derjüdisch-christlichen Hemmungen stand, wo man die Geschlechter streng trennt.
Vor allem der christlichen, denn da ist der Gott ein phallokratischer Gott, Gott auf
Erden ist der Sohn, und man kann wohl kaum schwieriger in Bewegung zu setzende
Grundbedingungen vorfinden. Medusa, oder die Welt der Medusen, hat also immer
- das ist paläontologisch, paläohistorisch - mit dem aktiven und erschreckenden
Primat der Ideologien zu tun, die von den Religionen abstammen. Die sind immer
von einem männlich phallischen Bild bestimmt. Die monotheistischen Religionen
und diejenigen, die ihnen verwandt sind, die phallokratischen Religionen. Denn
ich spreche natürlich nicht von den HeidentUmern ... aber man muß sagen, daß das
phallische Primat allgemein ist.
In 250 Jahren ... ich wüßte gern, wie es in 250 Jahren sein wird. Aber das geht so
schnell. Ich meine, es handelt sich um Abschnitte von 50 Jahren. Ich selber wer
de schon zwei oder drei erlebt haben, über mein Gedächtnis, und 250 Jahre sind
nicht viel. Wenn ich bis 1800 zurückgehe, zum Beispiel, dann besteht tatsächlich
kein großer Unterschied zu uns. Wenn ich mich also nach 2150 vor-denke: Es wird
semantische und technologische Veränderungen geben. Was ich natürlich nicht ab
sehen kann und was mich sehr interessiert, ist, was auf technologischer Ebene ge
schehen wird. Zum Beispiel wird es Wesen geben, es gibt sie schon, Cyborgs, die
185
nicht so sondern anders beißen werden. Es wird Geschöpfe geben, die Mischfonneo
aus Menschen und Maschinen sind und die also per definitionem queer sind, tech
nologische Queers. Das dürfte auch das Verhältnis zwischen "rein" menschlichen
und "unrein" menschlichen Wesen wie Medusa in Bewegung bringen. Ich denke
keineswegs, daß Medusa je verschwinden wird, nein.
Außerdem, ich hatte interessant�o:rweise - ich weiß nicht mehr in welchem Jahr das
war, in den neunziger Jahren, jedenfalls - die Eumeniden für das Theätre du Soleil
übersetzt und diese alten Gottheiten, die die antiken Göttinnen der Gerechtigkeit
und der Rache sind, sehr lieb gewonnen. Sie verteidigen, zum Beispiel im Fal
le der Eumeniden, die vom Sohn ermordete Mutter: Klytämnestra ermordet von
Orest. Eigentlich waren das, wenn man es sich recht überlegt, alte Medusen. In
den Eumeniden endet das StUck mit dem Triumph des Sohnes, der Söhne: Apollon,
Orest und mit der Niederlage der alten Ewneniden, dazu verurteilt unter die Erde
hinabzusteigen, den Mund voller Erde zu nehmen und sich nicht mehr zu melden.
Und das ist der Triumph des aufgeklärten Stadtstaates und der Justiz, die in Wirk
lichkeit maskulin ist. Das hat mich tatsächlich bekümmert, denn ich liebte diese
Alten sehr. Und wenig später, das heißt drei oder viertausend Jahre später, sind sie
in der Meineidigen Stadt6 wieder aufgetaucht, wo sie wiederkehren, diesmal um die
Verteidigung zeitgenössischer Figuren Ztl ergreifen, die der Opfer des Blutskandals,
beispielsweise. Deswegen denke ich, wenn es geschieht, daß Medusa und ihre Art
genossinnen sterben, dann auferstehen sie wieder, notwendigerweise. Ich stelle mir
also nicht eine Sekunde lang vor, daß Medusa endlich ist. Im Wandel begriffen, ja.
Elisabeth Schäfer: Diese Frage wendet sich auch an die Zukunft feministi
schen Denkens, feministischer Politiken und an die Zukunft weiblichen Schreibens,
das sich selbstverständlich stets ändert und verändern muß, dessen Begehren und
dessen Richtung immer ein anderes und eine andere wird, das plural und offen ist
... zugleich läßt sich der Frage nach der Zeit und nach der Endlichkeit Medusas eine
weitere Frage anfilgen: Warum wir stets mit großem Nachdruck nach dem Ende der
Dinge, nach dem Ende einer Bewegung fragen. Wir sind es bemahe gewohnt, nach
dem Ende einer Tradition zu fragen, dem Ende einer Kultur, dem Ende einer Bewe
gung. Auf diese Weise versuchen wir, festzustellen, was etwas ist, indem wir sagen
können, was es war. Dies bedeutet aber auch, daß wir das, was eine Bewegung
hervorgebracht haben wird, tmmer in der Perspektive ihrer Gewesenheit zu fassen
versuchen - sub Jpecies aeternitatis ...
... Und hier sind wtr ... im Inter-view ... allem dekonstruktiven Bemühen L:Um Trotz
besessen und eingeholt von der Situation des Interviews - wie dem entkommen?
186
Oder gilt es nicht zu entkommen, gilt es der Bewegung des Ent-Kommens zu wi
derstehen, beziehungsweise gibt es vielmehr ein anderes Begehren, ein Begehren
nämlich nach Unendlichkeit, die kein Entkommen kennt? Gibt es fiir uns, fur Me
dusa, die Notwendigkeit Unendlichkeit zu denken, gibt es fiir Frauen, Männer und
so weiter die Notwendigkeit von Unendlichkeit?! Für das Denken, das Schreiben,
das In-Der-Welt-Sein?!
Helime Cixous: Was die zweite Frage betrifft- die sehr komplex ist, denn wie
all Ihre Fragen ist es eine mit anderen Fragen angefullte Frage -, an welchem Ende
beginnen ...
Die Zukunft, die Zukunft weiblichen Schreibens ... dazu habe ich nicht so viel zu
sagen. Zum Teil habe ich schon geantwortet: Es hat kein Ende, natürlich, es wird
kein Ende haben, kein letztes Ende. Auch wenn man sich vorstellen könnte, daß es
wunderbar wäre, wenn es ein Ende gäbe. Ich, zum Beispiel, sage mir im Traum, ich
wünschte, daß es ein Ende nähme - ein gutes, ein gutes Ende -, daß man einen ide
alen, paradiesischen Zustand erreichte, das zweite Paradies, in das man, nachdem es
verloren war, zurückkehrt und wo alle Wesen dasselbe Schicksal teilen. Aber das ist
natürlich nur ein Traum - obwohl, der Traum ist schon etwas, das existiert.
Warum - um auf diese Frage zu antworten -, warum wir so oft nach dem Ende von
Dingen fragen, warum wir getrieben sind, das Ende von etwas zu wollen. Ich denke,
das hängt damit zusammen, daß man es müde ist, zu kämpfen. Man wünschte sich,
daß derKampfmit einem Sieg endet. Aber das ist nur ein reines ... eine reine Pause.
Man sagt sich, daß man sich ausruht, aber man ruht sich nur aus, um wieder in den
Kampf aufzubrechen. Etwas anderes habe ich mir nie vorstellen können.
Allermeistens, wenn man vom Ende spricht - und das ist in unserer Zeit ja sehr
geläufig: das Ende der Geschichte, das Ende der Philosophie, das Ende ... was habe
ich da noch gesehen ...? - handelt es sich einfach um den Todestrieb. Was man in
Wirklichkeit herbeiwünscht, ist das Ende dessen, was lebendig ist. Das ist banal und
meistens ein AlarmsignaL Andererseits aber findet man i11. zeitgenössischen Veröf
fentlichungen das Wort "Ende" in Verbindung mit der sozialpolitischen Analyse
von Phänomenen, die ... beispielsweise der Analyse von Kräften, die sich verschie
ben, die verschoben worden sind. Nehmen wir das Ende der Arbeit, ein Thema, das
von Rifkin, einem amerikanischen Soziologen, analysiert wurde. Oder was mir in
letzter Zeit zugetragen wurde: das Ende des Klassenkampfs, in Wirklichkeit das
Ende der Klassen. All das muß in Betracht gezogen werden, dem1, erstens, gibt es
einen Teil der Gesellschaft, der das Ende gewisser Kräfte herbeiwünscht. Zweitens,
gibt es etwas, das sich objektiv nachvollziehen und überprüfen läßt. Beispielswei
se, was sich im Moment in Frankreich abspielt: das Ende einer Industriemacht
187
Aber dieses Ende ist ein Ende, das schon vor langer Zeit angekündigt wurde. Es
ist erschreckend, denn es bedeutet, daß ein Teil der Lebenskräfte Frankreichs im
Sterben liegt. Auf dieselbe Weise erinnere ich mich 1982 hochgefahren zu sein,
als ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Präsidenten der Republik zu
Mittag aß, damals war das Mitterand, und er mir während des Mittagessens in al
ler Ruhe das Ende der fran,ösischen Aglik.ultur und der französischen Bauernwelt
erläuterte. Er hatte mir davon erzählt, ganz einfach, weil er, als politischer Analyst,
dieses Ende hat kommen sehen. Er hatte mir übrigens erklärt, was dazu fuhrte, daß
das Verschwinden eines solch immensen Teils der französischen Bevölkerung, der
französischen Geschichte, der französischen Produktionskraft et cetcra bevorstand.
Er war zum Verschwinden verurteilt vom damaligen Zustand der Weltwirtschaft,
das heißt, davon, daß die Globalisierung eintreten würde. Das hatte mich furchtbar
erschreckt und empört, ich hatte etwas Apokalyptisches darin wahrgenommen. Es
öffnete sich eine Ära, in der lebendige Teile eines politischen Körpers amputiert
werden würden, und, obwohl sich Antworten hätten finden lassen, suchte man sie
nicht einmal, aus innenpolitischen Gründen, eben. Voilä. Deshalb, jedes Mal wenn
das Wort "Ende" auftaucht, sage ich mir: Achtung, das bedeutet, daß man genau da
zu arbeiten beginnen muß, damit das Ende nicht ein endgültiges ist, sondern einer
Auferstehung weicht, damit es gleich in ein anderes Leben verwandelt wird.
Gerade heute befinden wir uns in einer Zeit, in der das Thema "Ende" herumspukt
Dieser Riesenabgrund, der Krise heißt und eine Krankheit ist, eine Krankheit der
Wirtschaft, eine Krankheit der Moral, eine Geisteskrankheit, und wo es nach allen
Seiten hin endet ... Natürlich ist das keine Fatalität, so etwas ist nie eine absolute Fa
talität. Der Anteil menschlicher Verantwortlichkeit in solch kritischen Momenten ist
riesengroß. Das bedeutet, daß es Todestrieb, daß es Mord gibt, bei den Menschen.
Und die Kräfte des Denkens sind da, die Falle zuerst einmal aufzuzeigen. Und um
zu zeigen, daß, wenn vorgegeben wird, daß etwas zu Ende ist, daß man da nichts
mehr machen kann, daß das einfach eine Art ist, die Akte so schnell wie möglich
zu schließen aus Gründen, die nie gerecht, wahrhaft oder ehrenvoll sind. Und dann
bedingt das naürlich,
t daß man sich an die Arbeit macht, daß man das Urteil analy
siert und überlegt, warum es ausgesprochen wird, wem es dient. Und was man tun
kann, um es zu widerlegen.
Zum zweiten Teil der Frage, wie Entkommen, und ob wir ein Begehren nach Un
endlichkeit haben: Ich denke nicht, daß wir ein Begehren nach Unendlichkeit ha
ben, das heißt nicht viel, denn die Unendlichkeit ist immer da. Ich denke, wir haben
ein Begehren nach Leben. Das Leben ist sowieso ohne Ende. Es gibt nur Leben.
Und dann, im Leben, im Leben selber drin, gibt es die Gewalten des Todes, die
versuchen, all das zum Schweigen, zum Verstummen zu bringen, was Leben ist
188
und macht. Dieses Jahr - das ist den Kräften des Theaters zu verdanken, denen
ich auch angehöre - arbeite ich viel, habe ich begonnen mich viel zu beschäftigen
mit etwas, das mir gar nicht vertraut ist: Ich habe mich über die Welt der Finanzen
und der Wirtschaft informiert. Das ist fi.lr mich wirklich die fremdeste Welt. Da ich
jemand bin, der im Genuß dessen steht, was, würde ich sagen, Superlativ gratis ist,
"le plus gratuit", anders gesagt, im Genuß der Gnade, "gräce", 1>elbst. det Literatur,
'.
der Kunst, bin ich per deflmt10nem weit entfernt von der Welt, die Dinge genießt,
die fi.lr mich ungenießbar, antigenießbar, gegen den Genuß, "antijouissance", sind.
Das heißt, Geld und Ansammeln; eine Welt, die man hrerseits
i nur versteht, wenn
man sieht - denn sonst kann man es nicht nachvollziehen - welchen erotischen
Wert Gold hat. Es hat einen Riesenwert, aber dieser Wert ist der Wert der Macht,
ein vollkommen phallischer Wert. Und in diesem Sinne ist es auch ein Wert mjt
einer männlichen Dominante. Ich habe mich also an diese Arbeit gemacht, die mir
sehr fremd ist, weil es drängt. Denn wir, die wir Bücher lesen - und in Büchern, das
muß man zugeben, ist vor allem von Leben, von Tod, von Liebe die Rede -, wir
sind auf gewisse Weise sehr wehrlos. Denn von diesen Bankgeschichten verstehen
wir nichts. Und doch sind sie es, diese Art Monster, diese gesichtslosen Titanen, die
aber Eigennamen tragen, wie GPMorgan, Goldman Sachs, BNP et cetera und alle
Weltbanken, deren Macionnetten wir im Augenblick sind. Das heißt, sie sind es,
Leute, die selber nur Teilchen einer Riesenmaschinerie zur Profitproduktion sind,
die die Veröffentlichung eines Buchs verbieten können. Nicht, daß sie das Buch
seines Inhalts wegen verbieten, sondern sie verhindem einfach, daß Wörter auf Pa
pier landen. Oder daß Schauspieler auf einer Bühne spielen. Ich denke also, daß da
eine Arbeit getan werden muß - aber kann diese Arbeit Literatur werden, das weiß
ich nicht, Theater schon -, was die Todesgewalten betrifft, die im Moment die Welt
anfUhren. Ich persönlich habe meine Existenz auf einem Schlachtfeld begonnen, auf
dem die Gewalten des Todes die Masken von Ideologien trugen. Der Nationalsozia
lismus, der Vichysmus in Frankreich, dann gleich ... oder vielmehr gleichzeitig und
dann länger andauernd der Stalinismus, waren ideologisc;he Gewalten. Sie waren
die Gewalten des Todes. Und dann 1hre Verbündeten, dieselben m Japan, dieselben
in Indien - denn die gab es, sie hatten Verbündete in Indien -, dieselben in Korea
et cetera. Zwei Drittel der Welt fielen durch die Zwangsvorstellung des Hasses auf
Andere langsam dem Tod anheim. Heutzutage befinden wir uns in einer Zeit, in
der die Gewalten des Todes andere Masken tragen. Also haben die Medusen noch
einiges an Arbeit vor sich.
Elisaheth Schäfer: Medusa, die Muse der Literatur, immer das Gradlinige
durchquerend, keine grade Furche ist vor ihr sicher; gibt es noch andere Musen um
189
sie, ist sie in Gesellschaft von mehreren, anderen Musen --- für Sie, für Ihr Schrei
ben, für Ihr Denken?!
Helme
i Cixous: Die Medusen haben noch einiges vor sich. Insbesondere da
sie tatsächlich mit den Musen im Bunde sind. Denn die Kräfte, die jenen zur Hilfe
kommen, die ganz bewußt den Armec:n des Todes keinen Einzug gewähren wollen,
die das nicht wollen aber nicht wissen was zu tun ist, die brauchen die Hilfe der
Vorstellungskraft, der Phantasie. Sie brauchen sie, denn ... was geschieht denn zum
Beispiel mit den Regierungen, die sich den Befehlen der Banken unterordnen? So,
daß man sich manchmal fragt, ob sie selber Bankiers sind oder nicht. Es können
sogar Sozialisten sein, und man fragt sich wirklich, warum sie sich dem Gesetz
der Banken beugen. Und man muß einsehen, daß es tatsächlich nicht ist, weil sie
sich bereichern wollen, sondern weil sie eine verflachte Vorstellungskraft haben.
Sie können sich nicht einmal vorstellen, daß die Welt anders sein kann. Sie sagen
sich, es ist soweit, die Drachen haben gewonnen, und das Beste, was man tun kann,
ist, sich mit den Drachen zu verbünden. Aber nein. Die Kultur der Vorstellungskraft,
die Phantasie kultivieren, andere Vorstellungen und Bilder kultivieren, dafür gibt es
die Künste. Und die Literatur zuerst. Warum? Weil sie die demokratischste Kunst
der Welt ist, aber das habe ich schon tausende Male gesagt. Man braucht keine
Technologie, um Gedichte zu machen. Allerdings braucht man Technologie, um sie
zu verbreiten, aber das ist etwas anderes.
Ehsabeth Schäfer: Gibt es eine Philosophie, die nicht zugleich auch Literatur
wäre, fiir Sie?
190
eine Philosophie, die nicht vorwärts kommt, die auf der Stelle tritt. Ich meine ohne
Schrift im Sinne Derridas, ohne in die Welt der Überraschung in der Sprache einzu
treten, in die Welt des Unentscheidbaren ...
Elisabeth Schäfer: Nun wird es das Lachen der Medusa in deutscher Sprache
geben; wir haben unser Bestes gegeben, der Medusa Flügel zu verleihen, so viele
Flügel wie wir schreiben konnten ... Nun gibt es zu hoffen, zu WÜnschen, daß sie
fliegen wird ...
Anmerkungen
1 Die Herausgeberinnen bedanken sich herzlich bei Helene Cixous für das Gespräch und bei Claudia
Simma für die technische Umsetzung und die Übersetzung des Interviews.
2 Helene CJXOUS, Die unendliche Zirkulation des Begehrens, Berlin: Merve 1977.
3 Helene CIXOUS, Writing blind, in: dieselbe, Stigmata. Escaping Texts, New York: Routledge 1998,
139-152, hier 1 5 1 .
4 Ebenda.
5 Anne-Emmanuelle BERGER, Le grand thecilre du genre: Identites, Sexualites et Feminisme en
«Amerique,>, Paris: Belin 2013.
6 Helene CJXOUS: Die Meineidige Stadt oder Das Envachen der Erinyen, Wiener Festwochen 1995.
191
1,1
Ulrike Oudee Dünkelsbühler Dr. phil., M.A.; prä- und postdoktorale Lehr-, Lern
und Wanderjahre in Konstanz, Berkeley, Montreal u.a.; Psychoanalytikerin mit ei
gener Praxis in Harnburg (http://psychoanalyse.duenkelsbuehler.de); freiberuflich
außerdem tätig in Sachen fremdsprachiges Coaching, Übersetzung und Dekons
truktion (www.philLingua.de);
193
Arbeiten zu Derrida, Kant, Freud (Kritik der Rahmen- Vernunft, Fink 1991, Refra
ming the Frame ofReason, Humanity Books 2001), Heidegger, Lispector, Nancy,
Ronell u.a.; derzeitige Projekte: "Hystheorie" (Freud nach Derrida), "Text als Ort"
(Kunstprojekt zusammen mit Markus Binner).
Esther Hutjless (geb. 1980) arbeitet als Philosophin und freie Wissenschaftlerin
in Wien. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut fur Philosophie der Universität Wien
und Ausbildungskandidatin im Wiener Arbeitskreis fUr Psychoanalyse. Ihre For
schungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Phänomenologie, Psychoanalyse,
Dekonstruktion, Poststrukturalismus und Gender Studies. Sie arbeitet gegenwärtig
zum Thema "Die Zeit der Körper".
Aktuelle Publikationen: In Dir mehr als Dich. Phänomenologien des Begehrens
zwischen diskursiver Produktion und leiblichem Zur-Welt-Sein. Königshausen &
Neumann, Würzburg 20 I I ; Das wilde Sein. Akt- Ereignis - Schöpfung. In: critica,
Zeitschrift fur Philosophie und Kunstthcorie, Band I I 2012, 17-29; Kollaps - Zur
politischen Dimension der passage a l'acte. In: Esther Hutfless, Roman Widholm
(Hg.): Reihe Verhältnisse, Band II: Zusammenbruch, Turia + Kant Verlag, Wien
2012.
Eva Laquieze-Waniek: Dr. phil., Studium der Philosophie, Psychologie und deut
schen Philologie in Wien, Graz und Berkeley; Lehrbeauftragte filr Philosophie und
Geschlechterforschung an den Universitäten Wien und Klagenfurt.
Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Sprach- und Bedeutungslehre,
Ästhetik und Psychoanalyse, zuletzt: WWTF-Forschungsprojekt "Übertragungen:
Psychoanalyse - Kunst - Gesellschaft" gemeinsam mit der Wiener Forschungs
gruppe Psychoanalyse Stuzzicadenti, 2009- 1 1 .
Publikationen u.a.: i Cixous. Entlang einer Theorie der Schrift, Wien: Turia
llelme
+ Kant I 993; sowie aktuell: Urhorden, Anrufungen und rätselhafte Botschaften -
Oder: Was die Ankunft des Menschen bestimmen mag, in: texte. psychoanalyse. äs
thetik. kulturkritik, Jg. 32, 1/2012, Wien: Passagen 201 2; Fort und Da. Zur Ankunft
des Subjekts, erscheint in: Peter Berz, Marianne Kubaczek, Eva Laquieze-Waniek,
Claus P1a�, David Unterholzner (Hg.), Spielregel. 2 5 Aufstellungen in Technik &
Medien, Ökonomie, Kunst & Psychoanalyse. Eine Festschrift für Wolfgang Pir
cher, Zürich, Berlin: Diaphanes 20 12; Von der melancholischen Identifikation zur
Aneigmmg des Geschlechrs - Butler liesr Freud, in: Ma1 Jen Bidwell-Steiner, Anna
Babka (Hg.), Obskure Differenzen: Psychoanalyse und Gender Studies, (= Geode-
1 94
11,
red Subjects, Band 7 der Serie des Referats Genderforschung der Universität Wien),
Gießen: Psychosozial-Verlag 2012. Weitere Informationen: http://waniek.philo.at
San Man (Sandra Manhartseder), geboren in Knittelfeld, aufgewachsen in Kla
genfurt, Studium (Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie) in Wien,
Paris, St. Petersburg. Lebt und schreibt in Berlin. Letzte künstlerische Projekte
(gem. mit Moritz Majce): Die Umsetzung (Hör-Stück, Localize-Festival Potsdam
und Ballhaus Ost Berlin 20 l l ), Ein Aufenthalt (Hör-Stück, Ballhaus Ost Berlin,
2011 ), Jetzt Wirds Ernst (Text-Installation, Ballhaus Ost Berlin 20 12). Letzte Ver
öffentlichungen: Eine Sendung for Alle und Keinen, in: Vom Publicurn: Das Öf
fentliche in der Kunst, hg. von D. Kammerer, Berlin 20 12; Ca!!for Papers (gem.
mit Bemd Böse!), in: Identifizierungen, hg. von E. Hutfless und R. Widholm, Wien
20 l l ; Moni und Magda (gern. mit Katja Mayer), in: Denken im Affekt, hg. von B.
Böse!, E. Schäfer, E. Pudill, Wien 20 I 0.
Elissa Marder, Professorin fur Französisch und Vergleichende Literaturwissen
schaft an der Emory Universität, Atlanta, wo sie auch am Institut für Philosophie
und in Women 's Studies lehrt. Sie ist Gründungsmitglied des Emory Psychoanalytic
Studies Program, welches sie von 2001-2006 leitete, und sie ist International Fel
low an der London Graduate School. 2001 erschien ihr Buch Dead Time: Temporal
Disorders in the Wake ofModernity (Baudelaire andFlaubert) bei Stanford Univer
sity Press. Ihr jüngstes Buch, The Mother in the Age ofMechanical Reproduction:
Psychoanalysis, Photography, and Deconstruction erschien im Januar 2012 bei
Fordham University Press. Darüberhinaus hat sie zahlreiche Essays zu verschiede
nen Themenbereichen aus Literatur, Literaturtheorie, Feministische Theorie, Film,
Fotographie und Psychoanalyse publiziert.
Gertrude Post!, Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität
Wien. Professorin für Philosophie und Koordinaterio für Women's Studies am Suf
folk County Community College, Seiden, New York, USA. Publikationen: Weibli
ches Sprechen. Feministische Ennvürfe zu Sprache und Geschlecht (Wien: Passa
gen 1991); Hg. von Contemporary Feminist Philosophy in German (Sonderband
von Hypatia. A Journal ofFeminist Philosophy, 2005); From Gender as Performa
tive to Feminist Performance Art: Judith Butler and Valie Export (Art, Praxis, and
Social Transformation: Radical Dreams and Visions, Special Ed., Journal of the
195
Radical Philosophy Association, Vol . 12, 2009); Mimetische Rhetorik: Luce Iriga
rays Wieder-Lesen der Philosophen (Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf,
Hg., Rhetorik und Gende1; Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Band 29, 2010).
Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: feministische Theorien zu Körper und
Sprache, zu Politik und Subversion sowie die Schnittstelle von Philosophie, Kunst
und Literatur.
Cloudia Simma hat an der Universität Zürich Philosophie und Literatur studiert.
Am Centrc d'etudes feminines der Universität Paris VIII hat sie m
i Jahr 2000 bei
Helene Cixous über Clariee Lispectors Die Passion nach G. H promoviert. Sie ist
Agregee de Lettres Modernes, unterrichtet Literatur am Gymnasium und ist Lehr
beauftragte am Ästhetikdepartement der IFS (Institute for European Studies, Uni
versity of Chicago) sowie am UFR Cinema et Audiovisuel der Sorbonne Nouvelle
Paris III. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Artikel ilber Villon, Flaubert (im Rah
men des Centre de Recherche sur !es Images et leurs Relations (CRIR)), Jacques
Derrida und Helene Cixous, deren Manhatfan Schreiben aus der Vorgeschichte sie
ins Deutsche übertragen hat (Passagen Verlag, 201 0). Sie arbeitet zur Zeit an einer
Publikation Ober das Verhältnis zur bildenden Kunst in den Texten Jacques Derridas
und Helene Cixous'.
1 96
tischen Philosophie und Gender Studies, der Phänomenologie und französischen
Gegenwartsphilosophie sowie der philosophischen Anthropologie (Schmerz, Liebe,
Alter, Lachen). Letzte Buchpublikation: Existenz - Differenz - Konstruktion. Phä
nomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Jrigaray und Butler (München:
Wilhelm Fink 2010); zuletzt erschienener Artikel: Schweigen oder Stille. Zu Jriga
rays Vorschlag einer Kultivierung der sexuellen Differenz, in: texte. psychoanalyse.
ästhetik. kulturkritik 2012 (im Erscheinen); letzte Edition: Age/Aging. On Sirnon de
Beauvoir 's " The Coming ofAge" (Bloomington, Indianapolis: Indiana University
Press) (in Arbeit).
197
Passagenfontm
Helene Cixous