Tonio Kröger (Mann, Thomas) PDF
Tonio Kröger (Mann, Thomas) PDF
TONIO KRÖGER
1964
S. FISCHER VERLAG
S. FISCHER SCHULAUSGABEN
TEXTE MODERNER AUTOREN
Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter
Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war's in den
giebeligen Gassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht
Eis, nicht Schnee.
Die Schule war aus. Über den gepflasterten Hof und heraus aus der
Gatterpforte strömten die Scharen der Befreiten, teilten sich und enteilten
nach rechts und links. Große Schüler hielten mit Würde ihr
Bücherpäckchen hoch gegen die linke Schulter gedrückt, indem sie mit dem
rechten Arm wider den Wind dem Mittagessen entgegen ruderten; kleines
Volk setzte sich lustig in Trab, daß der Eisbrei umherspritzte und die
Siebensachen der Wissenschaft in den Seehundsränzeln klapperten. Aber
hie und da riß alles mit frommen Augen die Mützen herunter vor dem
Wotanshut und dem Jupiterbart eines gemessen hinschreitenden
Oberlehrers…
»Kommst du endlich, Hans?« sagte Tonio Kröger, der lange auf dem
Fahrdamm gewartet hatte; lächelnd trat er dem Freunde entgegen, der im
Gespräch mit anderen Kameraden aus der Pforte kam und schon im
Begriffe war, mit ihnen davonzugehen… »Wieso?« fragte er und sah Tonio
an… »Ja, das ist wahr! Nun gehen wir noch ein bißchen.«
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. Hatte Hans es vergessen,
fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute mittag ein wenig zusammen
spazierengehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der Verabredung
beinahe unausgesetzt darauf gefreut!
»Ja, adieu, ihr!« sagte Hans Hansen zu den Kameraden. »Dann gehe ich
noch ein bißchen mit Kröger.« – Und die beiden wandten sich nach links,
indes die anderen nach rechts schlenderten.
Hans und Tonio hatten Zeit, nach der Schule spazierenzugehen, weil sie
beide Häusern angehörten, in denen erst um vier Uhr zu Mittag gegessen
wurde. Ihre Väter waren große Kaufleute, die öffentliche Ämter bekleideten
und mächtig waren in der Stadt. Den Hansens gehörten schon seit manchem
Menschenalter die weitläufigen Holzlagerplätze drunten am Fluß, wo
gewaltige Sägemaschinen unter Fauchen und Zischen die Stämme
zerlegten. Aber Tonio war Konsul Krögers Sohn, dessen Getreidesäcke mit
dem breiten schwarzen Firmendruck man Tag für Tag durch die Straßen
kutschieren sah; und seiner Vorfahren großes altes Haus war das
herrschaftlichste der ganzen Stadt… Beständig mußten die Freunde, der
vielen Bekannten wegen, die Mützen herunternehmen, ja, von manchen
Leuten wurden die Vierzehnjährigen zuerst gegrüßt…
Beide hatten die Schulmappen über die Schultern gehängt, und beide waren
sie gut und warm gekleidet; Hans in eine kurze Seemanns-Überjacke, über
welcher auf Schultern und Rücken der breite, blaue Kragen seines
Marineanzuges lag, und Tonio in einen grauen Gurtpaletot. Hans trug eine
dänische Matrosenmütze mit kurzen Bändern, unter der ein Schopf seines
bastblonden Haares hervorquoll. Er war außerordentlich hübsch und
wohlgestaltet, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit
freiliegenden und scharf blickenden stahlblauen Augen. Aber unter Tonios
runder Pelzmütze blickten aus einem brünetten und ganz südlich
scharfgeschnittenen Gesicht dunkle und zart umschattete Augen mit zu
schweren Lidern träumerisch und ein wenig zaghaft hervor… Mund und
Kinn waren ihm ungewöhnlich weich gebildet. Er ging nachlässig und
ungleichmäßig, während Hansens schlanke Beine in den schwarzen
Strümpfen so elastisch und taktfest einherschritten…
Tonio sprach nicht. Er empfand Schmerz. Indem er seine etwas schräg
stehenden Brauen zusammenzog und die Lippen zum Pfeifen gerundet
hielt, blickte er seitwärts geneigten Kopfes ins Weite. Diese Haltung und
Miene war ihm eigentümlich.
Plötzlich schob Hans seinen Arm unter den Tonios und sah ihn dabei von
der Seite an, denn er begriff sehr wohl, um was es sich handelte. Und
obgleich Tonio auch bei den nächsten Schritten noch schwieg, so ward er
doch auf einmal sehr weich gestimmt.
»Ich hatte es nämlich nicht vergessen, Tonio«, sagte Hans und blickte vor
sich nieder auf das Trottoir, »sondern ich dachte nur, daß heute doch wohl
nichts daraus werden könnte, weil es ja so naß und windig ist. Aber mir
macht das gar nichts, und ich finde es famos, daß du trotzdem auf mich
gewartet hast. Ich glaubte schon, du seist nach Hause gegangen, und ärgerte
mich…«
Alles in Tonio geriet in eine hüpfende und jubelnde Bewegung bei diesen
Worten.
»Ja, wir gehen nun also über die Wälle!« sagte er mit bewegter Stimme.
»Über den Mühlenwall und den Holstenwall, und so bringe ich dich nach
Hause, Hans… Bewahre, das schadet gar nichts, daß ich dann meinen
Heimweg allein mache; das nächste Mal begleitest du mich.«
Im Grunde glaubte er nicht sehr fest an das, was Hans gesagt hatte, und
fühlte genau, daß jener nur halb soviel Gewicht auf diesen Spaziergang zu
zweien legte wie er. Aber er sah doch, daß Hans seine Vergeßlichkeit
bereute und es sich angelegen sein ließ, ihn zu versöhnen. Und er war weit
von der Absicht entfernt, die Versöhnung hintanzuhalten…
Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon vieles um ihn
gelitten hatte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muß leiden, –
diese schlichte und harte Lehre hatte seine vierzehnjährige Seele bereits
vom Leben entgegengenommen; und er war so geartet, daß er solche
Erfahrungen wohl vermerkte, sie gleichsam innerlich aufschrieb und
gewissermaßen seine Freude daran hatte, ohne sich freilich für seine Person
danach zu richten und praktischen Nutzen daraus zu ziehen. Auch war es so
mit ihm bestellt, daß er solche Lehren weit wichtiger und interessanter
achtete als die Kenntnisse, die man ihm in der Schule aufnötigte, ja, daß er
sich während der Unterrichtsstunden in den gotischen Klassengewölben
meistens damit abgab, solche Einsichten bis auf den Grund zu empfinden
und völlig auszudenken. Und diese Beschäftigung bereitete ihm eine ganz
ähnliche Genugtuung, wie wenn er mit seiner Geige (denn er spielte die
Geige) in seinem Zimmer umherging und die Töne, so weich, wie er sie nur
hervorzubringen vermochte, in das Plätschern des Springstrahles hinein
erklingen ließ, der drunten im Garten unter den Zweigen des alten
Walnußbaumes tänzelnd emporstieg…
Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der Ferne das
Meer, die Ostsee, deren sommerliche Träume er in den Ferien belauschen
durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, mit denen er sich gleichsam
umstellte und zwischen denen sich sein inneres Leben abspielte, Dinge,
deren Namen mit guter Wirkung in Versen zu verwenden sind und auch
wirklich in den Versen, die Tonio Kröger zuweilen verfertigte, immer
wieder erklangen.
Dieses, daß er ein Heft mit selbstgeschriebenen Versen besaß, war durch
sein eigenes Verschulden bekanntgeworden und schadete ihm sehr, bei
seinen Mitschülern sowohl wie bei den Lehrern. Dem Sohne Konsul
Krögers schien es einerseits, als sei es dumm und gemein, daran Anstoß zu
nehmen, und er verachtete dafür sowohl die Mitschüler wie die Lehrer,
deren schlechte Manieren ihn obendrein abstießen, und deren persönliche
Schwächen er seltsam eindringlich durchschaute. Andererseits aber
empfand er selbst es als ausschweifend und eigentlich ungehörig, Verse zu
machen, und mußte all denen gewissermaßen recht geben, die es für eine
befremdende Beschäftigung hielten. Allein das vermochte ihn nicht, davon
abzulassen…
Da er daheim seine Zeit vertat, beim Unterricht langsamen und
abgewandten Geistes war und bei den Lehrern schlecht angeschrieben
stand, so brachte er beständig die erbärmlichsten Zensuren nach Hause,
worüber sein Vater, ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit sinnenden
blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug, sich sehr
erzürnt und bekümmert zeigte. Der Mutter Tonios jedoch, seiner schönen,
schwarzhaarigen Mutter, die Consuelo mit Vornamen hieß und überhaupt so
anders war als die übrigen Damen der Stadt, weil der Vater sie sich
einstmals von ganz unten auf der Landkarte heraufgeholt hatte, – seiner
Mutter waren die Zeugnisse grundeinerlei…
Tonio liebte seine dunkle und feurige Mutter, die so wunderbar den Flügel
und die Mandoline spielte, und er war froh, daß sie sich ob seiner
zweifelhaften Stellung unter den Menschen nicht grämte. Andererseits aber
empfand er, daß der Zorn des Vaters weit würdiger und respektabler sei,
und war, obgleich er von ihm gescholten wurde, im Grunde ganz
einverstanden mit ihm, während er die heitere Gleichgültigkeit der Mutter
ein wenig liederlich fand. Manchmal dachte er ungefähr: Es ist gerade
genug, daß ich bin, wie ich bin, und mich nicht ändern will und kann,
fahrlässig, widerspenstig und auf Dinge bedacht, an die sonst niemand
denkt. Wenigstens gehört es sich, daß man mich ernstlich schilt und straft
dafür, und nicht mit Küssen und Musik darüber hinweggeht. Wir sind doch
keine Zigeuner im grünen Wagen, sondern anständige Leute, Konsul
Krögers, die Familie der Kröger… Nicht selten dachte er auch: Warum bin
ich doch so sonderlich und in Widerstreit mit allem, zerfallen mit den
Lehrern und fremd unter den anderen Jungen? Siehe sie an, die guten
Schüler und die von solider Mittelmäßigkeit. Sie finden die Lehrer nicht
komisch, sie machen keine Verse und denken nur Dinge, die man eben
denkt und die man laut aussprechen kann. Wie ordentlich und einverstanden
mit allem und jedermann sie sich fühlen müssen! Das muß gut sein… Was
aber ist mit mir, und wie wird dies alles ablaufen?
Diese Art und Weise, sich selbst und sein Verhältnis zum Leben zu
betrachten, spielte eine wichtige Rolle in Tonios Liebe zu Hans Hansen. Er
liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in allen Stücken
als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien. Hans Hansen war ein
vortrefflicher Schüler und außerdem ein frischer Gesell, der ritt, turnte,
schwamm wie ein Held und sich der allgemeinen Beliebtheit erfreute. Die
Lehrer waren ihm beinahe mit Zärtlichkeit zugetan, nannten ihn mit
Vornamen und förderten ihn auf alle Weise, die Kameraden waren auf seine
Gunst bedacht, und auf der Straße hielten ihn Herren und Damen an, faßten
ihn an dem Schopfe bastblonden Haares, der unter seiner dänischen
Schiffermütze hervorquoll, und sagten: »Guten Tag, Hans Hansen, mit
deinem netten Schopf! Bist du noch Primus? Grüß Papa und Mama, mein
prächtiger Junge…«
So war Hans Hansen, und seit Tonio Kröger ihn kannte, empfand er
Sehnsucht, sobald er ihn erblickte, eine neidische Sehnsucht, die oberhalb
der Brust saß und brannte. Wer so blaue Augen hätte, dachte er, und so in
Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte wie du! Stets
bist du auf eine wohlanständige und allgemein respektierte Weise
beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt hast, so nimmst du
Reitstunden oder arbeitest mit der Laubsäge, und selbst in den Ferien, an
der See, bist du vom Rudern, Segeln und Schwimmen in Anspruch
genommen, indes ich müßiggängerisch und verloren im Sande liege und auf
die geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele starre, die über des Meeres
Antlitz huschen. Aber darum sind deine Augen so klar. Zu sein wie du…
Er machte nicht den Versuch, zu werden wie Hans Hansen, und vielleicht
war es ihm nicht einmal sehr ernst mit diesem Wunsche. Aber er begehrte
schmerzlich, so wie er war, von ihm geliebt zu werden, und er warb um
seine Liebe auf seine Art, eine langsame und innige, hingebungsvolle,
leidende und wehmütige Art, aber von einer Wehmut, die tiefer und
zehrender brennen kann als alle jähe Leidenschaftlichkeit, die man von
seinem fremden Äußeren hätte erwarten können.
Und er warb nicht ganz vergebens, denn Hans, der übrigens eine gewisse
Überlegenheit an ihm achtete, eine Gewandtheit des Mundes, die Tonio
befähigte, schwierige Dinge auszusprechen, begriff ganz wohl, daß hier
eine ungewöhnlich starke und zarte Empfindung für ihn lebendig sei, erwies
sich dankbar und bereitete ihm manches Glück durch sein
Entgegenkommen – aber auch manche Pein der Eifersucht, der
Enttäuschung und der vergeblichen Mühe, eine geistige Gemeinschaft
herzustellen. Denn es war das Merkwürdige, daß Tonio, der Hans Hansen
doch um seine Daseinsart beneidete, beständig trachtete, ihn zu seiner
eigenen herüberzuziehen, was höchstens auf Augenblicke und auch dann
nur scheinbar gelingen konnte…
»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles…«, sagte
er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons, die sie
beim Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennige erstanden
hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich ›Don Carlos‹ von Schiller…
Ich leihe es dir, wenn du willst…«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »das laß nur, Tonio, das paßt nicht für
mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen
sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind
Augenblicksphotographien, und man sieht die Gäule im Trab und im
Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar
nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht…«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber ›Don
Carlos‹ betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du
sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt, daß es
gleichsam knallt…«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen… »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem
Marquis betrogen ist… aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe
betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem
Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat.
›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich
betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich
starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat,
und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis
zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun
glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn…«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonios Gesicht, und irgend etwas in
diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob
plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonios und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und
Flandern…«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.
Tonio verstummte. Möchte ihn doch, dachte er, die Erde verschlingen,
diesen Jimmerthal! Warum muß er kommen und uns stören! Wenn er nur
nicht mit uns geht und den ganzen Weg von der Reitstunde spricht… Denn
Erwin Jimmerthal hatte ebenfalls Reitstunde. Er war der Sohn des
Bankdirektors und wohnte hier draußen vorm Tore. Mit seinen krummen
Beinen und Schlitzaugen kam er ihnen, schon ohne Schulmappe, durch die
Allee entgegen.
»Tag, Jimmerthal«, sagte Hans. »Ich gehe ein bißchen mit Kröger…«
»Ich muß zur Stadt«, sagte Jimmerthal, »und etwas besorgen. Aber ich gehe
noch ein Stück mit euch… Das sind wohl Fruchtbonbons, die ihr da habt?
Ja, danke, ein paar esse ich. Morgen haben wir wieder Stunde, Hans.« – Es
war die Reitstunde gemeint.
»Famos!« sagte Hans. »Ich bekomme jetzt die ledernen Gamaschen, du,
weil ich neulich die Eins im Exerzitium hatte…«
»Du hast wohl keine Reitstunde, Kröger?« fragte Jimmerthal, und seine
Augen waren nur ein Paar blanker Ritzen…
»Nein«, antwortete Tonio mit ganz ungewisser Betonung.
»Du solltest«, bemerkte Hans Hansen, »deinen Vater bitten, daß du auch
Stunde bekommst, Kröger.«
»Ja…«, sagte Tonio zugleich hastig und gleichgültig. Einen Augenblick
schnürte sich ihm die Kehle zusammen, weil Hans ihn mit Nachnamen
angeredet hatte; und Hans schien dies zu fühlen, denn er sagte erläuternd:
»Ich nenne dich Kröger, weil dein Vorname so verrückt ist, du,
entschuldige, aber ich mag ihn nicht leiden, Tonio… Das ist doch überhaupt
kein Name. Übrigens kannst du ja nichts dafür, bewahre!«
»Nein, du heißt wohl hauptsächlich so, weil es so ausländisch klingt und
etwas Besonderes ist…«, sagte Jimmerthal und tat, als ob er zum Guten
reden wollte.
Tonios Mund zuckte. Er nahm sich zusammen und sagte:
»Ja, es ist ein alberner Name, ich möchte, weiß Gott, lieber Heinrich oder
Wilhelm heißen, das könnt ihr mir glauben. Aber es kommt daher, daß ein
Bruder meiner Mutter, nach dem ich getauft worden bin, Antonio heißt;
denn meine Mutter ist doch von drüben…«
Dann schwieg er und ließ die beiden von Pferden und Lederzeug sprechen.
Hans hatte Jimmerthal untergefaßt und redete mit einer geläufigen
Teilnahme, die für ›Don Carlos‹ niemals in ihm zu erwecken gewesen
wäre… Von Zeit zu Zeit fühlte Tonio, wie der Drang zu weinen ihm
prickelnd in die Nase stieg; auch hatte er Mühe, sein Kinn in der Gewalt zu
behalten, das beständig ins Zittern geriet…
Hans mochte seinen Namen nicht leiden, – was war dabei zu tun? Er selbst
hieß Hans, und Jimmerthal hieß Erwin, gut, das waren allgemein
anerkannte Namen, die niemand befremdeten. Aber ›Tonio‹ war etwas
Ausländisches und Besonderes. Ja, es war in allen Stücken etwas
Besonderes mit ihm, ob er wollte oder nicht, und er war allein und
ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen, obgleich er doch
kein Zigeuner im grünen Wagen war, sondern ein Sohn Konsul Krögers, aus
der Familie der Kröger… Aber warum nannte Hans ihn Tonio, solange sie
allein waren, wenn er, kam ein dritter hinzu, anfing, sich seiner zu
schämen? Zuweilen war er ihm nahe und gewonnen, ja. Auf welche Weise
verrät er ihn denn, Tonio? hatte er gefragt und ihn untergefaßt. Aber als
dann Jimmerthal gekommen war, hatte er dennoch erleichtert aufgeatmet,
hatte ihn verlassen und ihm ohne Not seinen fremden Rufnamen
vorgeworfen. Wie weh es tat, dies alles durchschauen zu müssen!… Hans
Hansen hatte ihn im Grunde ein wenig gern, wenn sie unter sich waren, er
wußte es. Aber kam ein dritter, so schämte er sich dessen und opferte ihn
auf. Und er war wieder allein. Er dachte an König Philipp. Der König hat
geweint…
»Gott bewahre«, sagte Erwin Jimmerthal, »nun muß ich aber wirklich zur
Stadt! Adieu, ihr, und Dank für die Fruchtbonbons!« Darauf sprang er auf
eine Bank, die am Wege stand, lief mit seinen krummen Beinen darauf
entlang und trabte davon.
»Jimmerthal mag ich leiden!« sagte Hans mit Nachdruck. Er hatte eine
verwöhnte und selbstbewußte Art, seine Sympathien und Abneigungen
kundzugeben, sie gleichsam gnädigst zu verteilen… Und dann fuhr er fort,
von der Reitstunde zu sprechen, weil er einmal im Zuge war. Es war auch
nicht mehr so weit bis zum Hansenschen Wohnhause; der Weg über die
Wälle nahm nicht so viel Zeit in Anspruch. Sie hielten ihre Mützen fest und
beugten die Köpfe vor dem starken, feuchten Wind, der in dem kahlen
Geäst der Bäume knarrte und stöhnte. Und Hans Hansen sprach, während
Tonio nur dann und wann ein künstliches Ach und Jaja einfließen ließ, ohne
Freude darüber, daß Hans ihn im Eifer der Rede wieder untergefaßt hatte,
denn das war nur eine scheinbare Annäherung, ohne Bedeutung.
Dann verließen sie die Wallanlagen unfern des Bahnhofes, sahen einen Zug
mit plumper Eilfertigkeit vorüberpuffen, zählten zum Zeitvertreib die
Wagen und winkten dem Manne zu, der in seinen Pelz vermummt zuhöchst
auf dem allerletzten saß. Und am Lindenplatze, vor Großhändler Hansens
Villa, blieben sie stehen, und Hans zeigte ausführlich, wie amüsant es sei,
sich unten auf die Gartenpforte zu stellen und sich in den Angeln hin und
her zu schlenkern, daß es nur so kreischte. Aber hierauf verabschiedete er
sich.
»Ja, nun muß ich hinein«, sagte er. »Adieu, Tonio. Das nächste Mal begleite
ich dich nach Hause, sei sicher.«
»Adieu, Hans«, sagte Tonio, »es war nett, spazierenzugehen.«
Ihre Hände, die sich drückten, waren ganz naß und rostig von der
Gartenpforte. Als aber Hans in Tonios Augen sah, entstand etwas wie
reuiges Besinnen in seinem hübschen Gesicht.
»Übrigens werde ich nächstens ›Don Carlos‹ lesen!« sagte er rasch. »Das
mit dem König im Kabinett muß famos sein!« Dann nahm er seine Mappe
unter den Arm und lief durch den Vorgarten. Bevor er im Hause
verschwand, nickte er noch einmal zurück.
Und Tonio Kröger ging ganz verklärt und beschwingt von dannen. Der
Wind trug ihn von hinten, aber es war nicht darum allein, daß er so leicht
von der Stelle kam.
Hans würde ›Don Carlos‹ lesen, und dann würden sie etwas miteinander
haben, worüber weder Jimmerthal noch irgendein anderer mitreden konnte!
Wie gut sie einander verstanden! Wer wußte, – vielleicht brachte er ihn
noch dazu, ebenfalls Verse zu schreiben?… Nein, nein, das wollte er nicht!
Hans sollte nicht werden wie Tonio, sondern bleiben, wie er war, so hell
und stark, wie alle ihn liebten und Tonio am meisten! Aber daß er ›Don
Carlos‹ las, würde trotzdem nicht schaden… Und Tonio ging durch das alte,
untersetzte Tor, ging am Hafen entlang und die steile, zugige und nasse
Giebelgasse hinauf zum Haus seiner Eltern. Damals lebte sein Herz;
Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig
Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.
II
Die blonde Inge, Ingeborg Holm, Doktor Holms Tochter, der am Markte
wohnte, dort, wo hoch, spitzig und vielfach der gotische Brunnen stand, sie
war's, die Tonio Kröger liebte, als er sechzehn Jahre alt war.
Wie geschah das? Er hatte sie tausendmal gesehen; an einem Abend jedoch
sah er sie in einer gewissen Beleuchtung, sah, wie sie im Gespräch mit einer
Freundin auf eine gewisse übermütige Art lachend den Kopf zur Seite warf,
auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht besonders schmale, gar nicht
besonders feine Kleinmädchenhand zum Hinterkopfe führte, wobei der
weiße Gazeärmel von ihrem Ellenbogen zurückglitt, hörte, wie sie ein Wort,
ein gleichgültiges Wort, auf eine gewisse Art betonte, wobei ein warmes
Klingen in ihrer Stimme war, und ein Entzücken ergriff sein Herz, weit
stärker als jenes, das er früher zuweilen empfunden hatte, wenn er Hans
Hansen betrachtete, damals, als er noch ein kleiner, dummer Junge war.
An diesem Abend nahm er ihr Bild mit fort, mit dem dicken, blonden Zopf,
den länglich geschnittenen, lachenden, blauen Augen und dem zart
angedeuteten Sattel von Sommersprossen über der Nase, konnte nicht
einschlafen, weil er das Klingen in ihrer Stimme hörte, versuchte leise, die
Betonung nachzuahmen, mit der sie das gleichgültige Wort ausgesprochen
hatte, und erschauerte dabei. Die Erfahrung lehrte ihn, daß dies die Liebe
sei. Aber obgleich er genau wußte, daß die Liebe ihm viel Schmerz,
Drangsal und Demütigung bringen müsse, daß sie überdies den Frieden
zerstöre und das Herz mit Melodien überfülle, ohne daß man Ruhe fand,
eine Sache rund zu formen und in Gelassenheit etwas Ganzes daraus zu
schmieden, so nahm er sie doch mit Freuden auf, überließ sich ihr ganz und
pflegte sie mit den Kräften seines Gemütes, denn er wußte, daß sie reich
und lebendig mache, und er sehnte sich, reich und lebendig zu sein, statt in
Gelassenheit etwas Ganzes zu schmieden…
Dies, daß Tonio Kröger sich an die lustige Inge Holm verlor, ereignete sich
in dem ausgeräumten Salon der Konsulin Husteede, die es an jenem Abend
traf, die Tanzstunde zu geben; denn es war ein Privatkursus, an dem nur
Angehörige von ersten Familien teilnahmen, und man versammelte sich
reihum in den elterlichen Häusern, um sich Unterricht in Tanz und Anstand
erteilen zu lassen. Aber zu diesem Behufe kam allwöchentlich
Ballettmeister Knaak eigens von Hamburg herbei.
François Knaak war sein Name, und was für ein Mann war das! »J'ai
l'honneur de me vous représenter«, sagte er, »mon nom est Knaak… Und
dies spricht man nicht aus, während man sich verbeugt, sondern wenn man
wieder aufrecht steht, – gedämpft und dennoch deutlich. Man ist nicht
täglich in der Lage, sich auf französisch vorstellen zu müssen, aber kann
man es in dieser Sprache korrekt und tadellos, so wird es einem auf deutsch
erst recht nicht fehlen.« Wie wunderbar der seidig schwarze Gehrock sich
an seine fetten Hüften schmiegte! In weichen Falten fiel sein Beinkleid auf
seine Lackschuhe hinab, die mit breiten Atlasschleifen geschmückt waren,
und seine braunen Augen blickten mit einem müden Glück über ihre eigene
Schönheit umher…
Jedermann ward erdrückt durch das Übermaß seiner Sicherheit und
Wohlanständigkeit. Er schritt – und niemand schritt wie er, elastisch,
wogend, wiegend, königlich – auf die Herrin des Hauses zu, verbeugte sich
und wartete, daß man ihm die Hand reiche. Erhielt er sie, so dankte er mit
leiser Stimme dafür, trat federnd zurück, wandte sich auf dem linken Fuße,
schnellte den rechten mit niedergedrückter Spitze seitwärts vom Boden ab
und schritt mit bebenden Hüften davon…
Man ging rückwärts und unter Verbeugungen zur Tür hinaus, wenn man
eine Gesellschaft verließ, man schleppte einen Stuhl nicht herbei, indem
man ihn an einem Bein ergriff oder am Boden entlang schleifte, sondern
man trug ihn leicht an der Lehne herzu und setzte ihn geräuschlos nieder.
Man stand nicht da, indem man die Hände auf dem Bauch faltete und die
Zunge in den Mundwinkel schob; tat man es dennoch, so hatte Herr Knaak
eine Art, es ebenso zu machen, daß man für den Rest seines Lebens einen
Ekel vor dieser Haltung bewahrte…
Dies war der Anstand. Was aber den Tanz betraf, so meisterte Herr Knaak
ihn womöglich in noch höherem Grade. In dem ausgeräumten Salon
brannten die Gasflammen des Kronleuchters und die Kerzen auf dem
Kamin. Der Boden war mit Talkum bestreut, und in stummem Halbkreise
standen die Eleven umher. Aber jenseits der Portieren, in der anstoßenden
Stube, saßen auf Plüschstühlen die Mütter und Tanten und betrachteten
durch ihre Lorgnetten Herrn Knaak, wie er, in gebückter Haltung, den Saum
seines Gehrockes mit je zwei Fingern erfaßt hielt und mit federnden Beinen
die einzelnen Teile der Mazurka demonstrierte. Beabsichtigte er aber, sein
Publikum gänzlich zu verblüffen, so schnellte er sich plötzlich und ohne
zwingenden Grund vom Boden empor, indem er seine Beine mit
verwirrender Schnelligkeit in der Luft umeinander wirbelte, gleichsam mit
denselben trillerte, worauf er mit einem gedämpften, aber alles in seinen
Festen erschütternden Plumps zu dieser Erde zurückkehrte…
Was für ein unbegreiflicher Affe, dachte Antonio Kröger in seinem Sinn.
Aber er sah wohl, daß Inge Holm, die lustige Inge, oft mit einem
selbstvergessenen Lächeln Herrn Knaaks Bewegungen verfolgte, und nicht
dies allein war es, weshalb alle diese wundervoll beherrschte Körperlichkeit
ihm im Grunde etwas wie Bewunderung abgewann. Wie ruhevoll und
unverwirrbar Herrn Knaaks Augen blickten! Sie sahen nicht in die Dinge
hinein, bis dorthin, wo sie kompliziert und traurig werden; sie wußten
nichts, als daß sie braun und schön seien. Aber deshalb war seine Haltung
so stolz! Ja, man mußte dumm sein, um so schreiten zu können wie er; und
dann wurde man geliebt, denn man war liebenswürdig. Er verstand es so
gut, daß Inge, die blonde, süße Inge, auf Herrn Knaak blickte, wie sie es tat.
Aber würde denn niemals ein Mädchen so auf ihn selbst blicken?
O doch, das kam vor. Da war Magdalena Vermehren, Rechtsanwalt
Vermehrens Tochter, mit dem sanften Mund und den großen, dunklen,
blanken Augen voll Ernst und Schwärmerei. Sie fiel oft hin beim Tanzen;
aber sie kam zu ihm bei der Damenwahl, sie wußte, daß er Verse dichtete,
sie hatte ihn zweimal gebeten, sie ihr zu zeigen, und oftmals schaute sie ihn
von weitem mit gesenktem Kopfe an. Aber was sollte ihm das? Er, er liebte
Inge Holm, die blonde, lustige Inge, die ihn sicher darum verachtete, daß er
poetische Sachen schrieb… er sah sie an, sah ihre schmalgeschnittenen,
blauen Augen, die voll Glück und Spott waren, und eine neidische
Sehnsucht, ein herber, drängender Schmerz, von ihr ausgeschlossen und ihr
ewig fremd zu sein, saß in seiner Brust und brannte…
»Erstes Paar en avant!« sagte Herr Knaak, und keine Worte schildern, wie
wunderbar der Mann den Nasallaut hervorbrachte. Man übte Quadrille, und
zu Tonio Krögers tiefem Erschrecken befand er sich mit Inge Holm in ein
und demselben Karree. Er mied sie, wie er konnte, und dennoch geriet er
beständig in ihre Nähe; er wehrte seinen Augen, sich ihr zu nahen, und
dennoch traf sein Blick beständig auf sie… Nun kam sie an der Hand des
rotköpfigen Ferdinand Matthiessen gleitend und laufend herbei, warf den
Zopf zurück und stellte sich aufatmend ihm gegenüber; Herr Heinzelmann,
der Klavierspieler, griff mit seinen knochigen Händen in die Tasten, Herr
Knaak kommandierte, die Quadrille begann.
Sie bewegte sich vor ihm hin und her, vorwärts und rückwärts, schreitend
und drehend, ein Duft, der von ihrem Haar oder dem zarten, weißen Stoff
ihres Kleides ausging, berührte ihn manchmal, und seine Augen trübten
sich mehr und mehr. Ich liebe dich, liebe, süße Inge, sagte er innerlich, und
er legte in diese Worte seinen ganzen Schmerz darüber, daß sie so eifrig und
lustig bei der Sache war und sein nicht achtete. Ein wunderschönes Gedicht
von Storm fiel ihm ein: »Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.« Der
demütigende Widersinn quälte ihn, der darin lag, tanzen zu müssen,
während man liebte…
»Erstes Paar en avant!« sagte Herr Knaak, denn es kam eine neue Tour.
»Compliment! Moulinet des dames! Tour de main!« Und niemand
beschreibt, auf welch graziöse Art er das stumme e vom ›de‹ verschluckte.
»Zweites Paar en avant!« Tonio Kröger und seine Dame waren daran.
»Compliment!« Und Tonio Kröger verbeugte sich. »Moulinet des dames!«
Und Tonio Kröger, mit gesenktem Kopfe und finsteren Brauen, legte seine
Hand auf die Hände der vier Damen, auf die Inge Holms, und tanzte
›moulinet‹.
Ringsum entstand ein Kichern und Lachen. Herr Knaak fiel in eine
Ballettpose, welche ein stilisiertes Entsetzen ausdrückte. »O weh!« rief er.
»Halt, halt! Kröger ist unter die Damen geraten! En arrière, Fräulein
Kröger, zurück, fi donc! Alle haben es nun verstanden, nur Sie nicht.
Husch! Fort! Zurück mit Ihnen!« Und er zog ein gelbseidenes Taschentuch
und scheuchte Tonio Kröger damit an seinen Platz zurück.
Alles lachte, die Jungen, die Mädchen und die Damen jenseits der
Portieren, denn Herr Knaak hatte etwas gar zu Drolliges aus dem
Zwischenfall gemacht, und man amüsierte sich wie im Theater. Nur Herr
Heinzelmann wartete mit trockener Geschäftsmiene auf das Zeichen zum
Weiterspielen, denn er war abgehärtet gegen Herrn Knaaks Wirkungen.
Dann ward die Quadrille fortgesetzt. Und dann war Pause. Das
Folgmädchen klirrte mit einem Teebrett voll Weingeleegläsern zur Tür
herein, und die Köchin folgte mit einer Ladung Plumcake in ihrem
Kielwasser. Aber Tonio Kröger stahl sich fort, ging heimlich auf den
Korridor hinaus und stellte sich dort, die Hände auf dem Rücken, vor ein
Fenster mit herabgelassener Jalousie, ohne zu bedenken, daß man durch
diese Jalousie gar nichts sehen konnte, und daß es also lächerlich sei,
davorzustehen und zu tun, als blicke man hinaus.
Er blickte aber in sich hinein, wo so viel Gram und Sehnsucht war. Warum,
warum war er hier? Warum saß er nicht in seiner Stube am Fenster und las
in Storms ›Immensee‹ und blickte hie und da in den abendlichen Garten
hinaus, wo der alte Walnußbaum schwerfällig knarrte? Das wäre sein Platz
gewesen. Mochten die anderen tanzen und frisch und geschickt bei der
Sache sein!… Nein, nein, sein Platz war dennoch hier, wo er sich in Inges
Nähe wußte, wenn er auch nur einsam von ferne stand und versuchte, in
dem Summen, Klirren und Lachen dort drinnen ihre Stimme zu
unterscheiden, in welcher es klang von warmem Leben. Deine länglich
geschnittenen, blauen, lachenden Augen, du blonde Inge! So schön und
heiter wie du kann man nur sein, wenn man nicht ›Immensee‹ liest und
niemals versucht, selbst dergleichen zu machen; das ist das Traurige!…
Sie müßte kommen! Sie müßte bemerken, daß er fort war, müßte fühlen,
wie es um ihn stand, müßte ihm heimlich folgen, wenn auch nur aus
Mitleid, ihm ihre Hand auf die Schulter legen und sagen: Komm herein zu
uns, sei froh, ich liebe dich. Und er horchte hinter sich und wartete in
unvernünftiger Spannung, daß sie kommen möge. Aber sie kam keines
Weges. Dergleichen geschah nicht auf Erden.
Hatte auch sie ihn verlacht, gleich allen anderen? Ja, das hatte sie getan, so
gern er es ihret- und seinetwegen geleugnet hätte. Und doch hatte er nur aus
Versunkenheit in ihre Nähe ›moulinet des dames‹ mitgetanzt. Und was
verschlug das? Man würde vielleicht einmal aufhören zu lachen! Hatte etwa
nicht kürzlich eine Zeitschrift ein Gedicht von ihm angenommen, wenn sie
dann auch wieder eingegangen war, bevor das Gedicht hatte erscheinen
können? Es kam der Tag, wo er berühmt war, wo alles gedruckt wurde, was
er schrieb, und dann würde man sehen, ob es nicht Eindruck auf Inge Holm
machen würde… Es würde keinen Eindruck machen, nein, das war es ja.
Auf Magdalena Vermehren, die immer hinfiel, ja, auf die. Aber niemals auf
Inge Holm, niemals auf die blauäugige, lustige Inge. Und war es also nicht
vergebens?…
Tonio Krögers Herz zog sich schmerzlich zusammen bei diesem Gedanken.
Zu fühlen, wie wunderbare spielende und schwermütige Kräfte sich in dir
regen, und dabei zu wissen, daß diejenigen, zu denen du dich hinübersehnst,
ihnen in heiterer Unzugänglichkeit gegenüberstehen, das tut sehr weh. Aber
obgleich er einsam, ausgeschlossen und ohne Hoffnung vor einer
geschlossenen Jalousie stand und in seinem Kummer tat, als könne er
hindurchblicken, so war er dennoch glücklich. Denn damals lebte sein Herz.
Warm und traurig schlug es für dich, Ingeborg Holm, und seine Seele
umfaßte deine blonde, lichte und übermütig gewöhnliche kleine
Persönlichkeit in seliger Selbstverleugnung.
Mehr als einmal stand er mit erhitztem Angesicht an einsamen Stellen,
wohin Musik, Blumenduft und Gläsergeklirr nur leise drangen, und suchte
in dem fernen Festgeräusch deine klingende Stimme zu unterscheiden,
stand in Schmerzen um dich und war dennoch glücklich. Mehr als einmal
kränkte es ihn, daß er mit Magdalena Vermehren, die immer hinfiel,
sprechen konnte, daß sie ihn verstand und mit ihm lachte und ernst war,
während die blonde Inge, saß er auch neben ihr, ihm fern und fremd und
befremdet erschien, denn seine Sprache war nicht ihre Sprache; und
dennoch war er glücklich. Denn das Glück, sagte er sich, ist nicht, geliebt
zu werden; das ist eine mit Ekel gemischte Genugtuung für die Eitelkeit.
Das Glück ist, zu lieben und vielleicht kleine, trügerische Annäherungen an
den geliebten Gegenstand zu erhaschen. Und er schrieb diesen Gedanken
innerlich auf, dachte ihn völlig aus und empfand ihn bis auf den Grund.
Treue! dachte Tonio Kröger. Ich will treu sein und dich lieben, Ingeborg,
solange ich lebe! So wohlmeinend war er. Und dennoch flüsterte in ihm
eine leise Furcht und Trauer, daß er ja auch Hans Hansen ganz und gar
vergessen habe, obgleich er ihn täglich sah. Und es war das Häßliche und
Erbärmliche, daß diese leise und ein wenig hämische Stimme recht behielt,
daß die Zeit verging und Tage kamen, da Tonio Kröger nicht mehr so
unbedingt wie ehemals für die lustige Inge zu sterben bereit war, weil er
Lust und Kräfte in sich fühlte, auf seine Art in der Welt eine Menge des
Merkwürdigen zu leisten.
Und er umkreiste behutsam den Opferaltar, auf dem die lautere und keusche
Flamme seiner Liebe loderte, kniete davor und schürte und nährte sie auf
alle Weise, weil er treu sein wollte. Und über eine Weile, unmerklich, ohne
Aufsehen und Geräusch, war sie dennoch erloschen.
Aber Tonio Kröger stand noch eine Zeitlang vor dem erkalteten Altar, voll
Staunen und Enttäuschung darüber, daß Treue auf Erden unmöglich war.
Dann zuckte er die Achseln und ging seiner Wege.
III
Er ging den Weg, den er gehen mußte, ein wenig nachlässig und
ungleichmäßig, vor sich hin pfeifend, mit seitwärts geneigtem Kopfe ins
Weite blickend, und wenn er irreging, so geschah es, weil es für etliche
einen richtigen Weg überhaupt nicht gibt. Fragte man ihn, was in aller Welt
er zu werden gedachte, so erteilte er wechselnde Auskunft, denn er pflegte
zu sagen (und hatte es auch bereits aufgeschrieben), daß er die
Möglichkeiten zu tausend Daseinsformen in sich trage, zusammen mit dem
heimlichen Bewußtsein, daß es im Grunde lauter Unmöglichkeiten seien…
Schon bevor er von der engen Vaterstadt schied, hatten sich leise die
Klammern und Fäden gelöst, mit denen sie ihn hielt. Die alte Familie der
Kröger war nach und nach in einen Zustand des Abbröckelns und der
Zersetzung geraten, und die Leute hatten Grund, Tonio Krögers eigenes
Sein und Wesen ebenfalls zu den Merkmalen dieses Zustandes zu rechnen.
Seines Vaters Mutter war gestorben, das Haupt des Geschlechtes, und nicht
lange darauf, so folgte sein Vater, der lange, sinnende, sorgfältig gekleidete
Herr mit der Feldblume im Knopfloch, ihr im Tode nach. Das große
Krögersche Haus stand mitsamt seiner würdigen Geschichte zum Verkaufe,
und die Firma ward ausgelöscht. Tonios Mutter jedoch, seine schöne,
feurige Mutter, die so wunderbar den Flügel und die Mandoline spielte und
der alles ganz einerlei war, vermählte sich nach Jahresfrist aufs neue, und
zwar mit einem Musiker, einem Virtuosen mit italienischem Namen, dem
sie in blaue Fernen folgte. Tonio Kröger fand dies ein wenig liederlich; aber
war er berufen, es ihr zu wehren? Er schrieb Verse und konnte nicht einmal
beantworten, was in aller Welt er zu werden gedachte…
Und er verließ die winklige Heimatstadt, um deren Giebel der feuchte Wind
pfiff, verließ den Springbrunnen und den alten Walnußbaum im Garten, die
Vertrauten seiner Jugend, verließ auch das Meer, das er so sehr liebte, und
empfand keinen Schmerz dabei. Denn er war groß und klug geworden, hatte
begriffen, was für eine Bewandtnis es mit ihm hatte, und war voller Spott
für das plumpe und niedrige Dasein, das ihn so lange in seiner Mitte
gehalten hatte.
Er ergab sich ganz der Macht, die ihm als die erhabenste auf Erden
erschien, zu deren Dienst er sich berufen fühlte, und die ihm Hoheit und
Ehren versprach, der Macht des Geistes und Wortes, die lächelnd über dem
unbewußten und stummen Leben thront. Mit seiner jungen Leidenschaft
ergab er sich ihr, und sie lohnte ihm mit allem, was sie zu schenken hat, und
nahm ihm unerbittlich all das, was sie als Entgelt dafür zu nehmen pflegt.
Sie schärfte seinen Blick und ließ ihn die großen Wörter durchschauen, die
der Menschen Busen blähen, sie erschloß ihm der Menschen Seelen und
seine eigene, machte ihn hellsehend und zeigte ihm das Innere der Welt und
alles Letzte, was hinter den Worten und Taten ist. Was er aber sah, war dies:
Komik und Elend – Komik und Elend.
Da kam, mit der Qual und dem Hochmut der Erkenntnis, die Einsamkeit,
weil es ihn im Kreise der Harmlosen mit dem fröhlich dunklen Sinn nicht
litt und das Mal an seiner Stirn sie verstörte. Aber mehr und mehr versüßte
sich ihm auch die Lust am Worte und der Form, denn er pflegte zu sagen
(und hatte es auch bereits aufgeschrieben), daß die Kenntnis der Seele allein
unfehlbar trübsinnig machen würde, wenn nicht die Vergnügungen des
Ausdrucks uns wach und munter erhielten…
Er lebte in großen Städten und im Süden, von dessen Sonne er sich ein
üppigeres Reifen seiner Kunst versprach; und vielleicht war es das Blut
seiner Mutter, welches ihn dorthin zog. Aber da sein Herz tot und ohne
Liebe war, so geriet er in Abenteuer des Fleisches, stieg tief hinab in
Wollust und heiße Schuld und litt unsäglich dabei. Vielleicht war es das
Erbteil seines Vaters in ihm, des langen, sinnenden, reinlich gekleideten
Mannes mit der Feldblume im Knopfloch, das ihn dort unten so leiden
machte und manchmal eine schwache, sehnsüchtige Erinnerung in ihm sich
regen ließ an eine Lust der Seele, die einstmals sein eigen gewesen war, und
die er in allen Lüsten nicht wiederfand.
Ein Ekel und Haß gegen die Sinne erfaßte ihn und ein Lechzen nach
Reinheit und wohlanständigem Frieden, während er doch die Luft der Kunst
atmete, die laue und süße, duftgeschwängerte Luft eines beständigen
Frühlings, in der es treibt und braut und keimt in heimlicher
Zeugungswonne. So kam es nur dahin, daß er, haltlos zwischen krassen
Extremen, zwischen eisiger Geistigkeit und verzehrender Sinnenglut hin
und her geworfen, unter Gewissensnöten ein erschöpfendes Leben führte,
ein ausbündiges, ausschweifendes und außerordentliches Leben, das er,
Tonio Kröger, im Grunde verabscheute. Welch Irrgang! dachte er zuweilen.
Wie war es nur möglich, daß ich in alle diese exzentrischen Abenteuer
geriet? Ich bin doch kein Zigeuner im grünen Wagen, von Hause aus…
Aber in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt ward, verschärfte
sich seine Künstlerschaft, ward wählerisch, erlesen, kostbar, fein, reizbar
gegen das Banale und aufs höchste empfindlich in Fragen des Taktes und
Geschmacks. Als er zum ersten Male hervortrat, wurde unter denen, die es
anging, viel Beifall und Freude laut, denn es war ein wertvoll gearbeitetes
Ding, was er geliefert hatte, voll Humor und Kenntnis des Leidens. Und
schnell ward sein Name, derselbe, mit dem ihn einst seine Lehrer scheltend
gerufen hatten, derselbe, mit dem er seine ersten Reime an den
Walnußbaum, den Springbrunnen und das Meer unterzeichnet hatte, dieser
aus Süd und Nord zusammengesetzte Klang, dieser exotisch angehauchte
Bürgersname zu einer Formel, die Vortreffliches bezeichnete; denn der
schmerzlichen Gründlichkeit seiner Erfahrungen gesellte sich ein seltener,
zäh ausharrender und ehrsüchtiger Fleiß, der im Kampf mit der
wählerischen Reizbarkeit seines Geschmacks unter heftigen Qualen
ungewöhnliche Werke entstehen ließ.
Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer,
der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts
achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im übrigen
grau und unauffällig umhergeht, wie ein abgeschminkter Schauspieler, der
nichts ist, solange er nichts darzustellen hat. Er arbeitete stumm,
abgeschlossen, unsichtbar und voller Verachtung für jene Kleinen, denen
das Talent ein geselliger Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich
waren, wild und abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten
Luxus trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu
leben bedacht waren, unwissend darüber, daß gute Werke nur unter dem
Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und
daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein.
IV
»Störe ich?« fragte Tonio Kröger auf der Schwelle des Ateliers. Er hielt
seinen Hut in der Hand und verbeugte sich sogar ein wenig, obgleich
Lisaweta Iwanowna seine Freundin war, der er alles sagte.
»Erbarmen Sie sich, Tonio Kröger, und kommen Sie ohne Zeremonien
hinein!« antwortete sie mit ihrer hüpfenden Betonung. »Es ist bekannt, daß
Sie eine gute Kinderstube genossen haben und wissen, was sich schickt.«
Dabei steckte sie ihren Pinsel zu der Palette in die linke Hand, reichte ihm
die rechte und blickte ihm lachend und kopfschüttelnd ins Gesicht.
»Ja, aber Sie arbeiten«, sagte er. »Lassen Sie sehen… Oh, Sie sind
vorwärtsgekommen.« Und er betrachtete abwechselnd die farbigen Skizzen,
die zu beiden Seiten der Staffelei auf Stühlen lehnten, und die große, mit
einem quadratischen Liniennetz überzogene Leinwand, auf welcher, in dem
verworrenen und schemenhaften Kohleentwurf, die ersten Farbflecke
aufzutauchen begannen.
Es war in München, in einem Rückgebäude der Schellingstraße, mehrere
Stiegen hoch. Draußen, hinter dem breiten Nordlicht-Fenster, herrschte
Himmelsblau, Vogelgezwitscher und Sonnenschein, und des Frühlings
junger, süßer Atem, der durch eine offene Klappe hereinströmte, vermischte
sich mit dem Geruch von Fixativ und Ölfarbe, der den weiten Arbeitsraum
erfüllte. Ungehindert überflutete das goldige Licht des hellen Nachmittags
die weitläufige Kahlheit des Ateliers, beschien freimütig den ein wenig
schadhaften Fußboden, den rohen, mit Fläschchen, Tuben und Pinseln
bedeckten Tisch unterm Fenster und die ungerahmten Studien an den
untapezierten Wänden, beschien den Wandschirm aus rissiger Seide, der in
der Nähe der Tür einen kleinen, stilvoll möblierten Wohn- und Mußewinkel
begrenzte, beschien das werdende Werk auf der Staffelei und davor die
Malerin und den Dichter.
Sie mochte etwa so alt sein wie er, nämlich ein wenig jenseits der Dreißig.
In ihrem dunkelblauen, fleckigen Schürzenkleide saß sie auf einem
niedrigen Schemel und stützte das Kinn in die Hand. Ihr braunes Haar, fest
frisiert und an den Seiten schon leicht ergraut, bedeckte in leisen
Scheitelwellen ihre Schläfen und gab den Rahmen zu ihrem brünetten,
slawisch geformten, unendlich sympathischen Gesicht mit der Stumpfnase,
den scharf herausgearbeiteten Wangenknochen und den kleinen, schwarzen,
blanken Augen. Gespannt, mißtrauisch und gleichsam gereizt musterte sie
schiefen und gekniffenen Blicks ihre Arbeit…
Er stand neben ihr, hielt die rechte Hand in die Hüfte gestemmt und drehte
mit der Linken eilig an seinem braunen Schnurrbart. Seine schrägen Brauen
waren in einer finsteren und angestrengten Bewegung, wobei er leise vor
sich hin pfiff, wie gewöhnlich. Er war äußerst sorgfältig und gediegen
gekleidet, in einen Anzug von ruhigem Grau und reserviertem Schnitt. Aber
in seiner durcharbeiteten Stirn, über der sein dunkles Haar so
außerordentlich simpel und korrekt sich scheitelte, war ein nervöses
Zucken, und die Züge seines südlich geschnittenen Gesichts waren schon
scharf, von einem harten Griffel gleichsam nachgezogen und ausgeprägt,
während doch sein Mund so sanft umrissen, sein Kinn so weich gebildet
erschien… Nach einer Weile strich er mit der Hand über Stirn und Augen
und wandte sich ab.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte er.
»Warum hätten Sie nicht, Tonio Kröger?«
»Eben stehe ich von meiner Arbeit auf, Lisaweta, und in meinem Kopf sieht
es genau aus wie auf dieser Leinwand. Ein Gerüst, ein blasser, von
Korrekturen beschmutzter Entwurf und ein paar Farbflecke, ja; und nun
komme ich hierher und sehe dasselbe. Und auch den Konflikt und
Gegensatz finde ich hier wieder«, sagte er und schnupperte in die Luft, »der
mich zu Hause quälte. Seltsam ist es. Beherrscht dich ein Gedanke, so
findest du ihn überall ausgedrückt, du riechst ihn sogar im Winde. Fixativ
und Frühlingsarom, nicht wahr? Kunst und – ja, was ist das andere? Sagen
Sie nicht ›Natur‹, Lisaweta, ›Natur‹ ist nicht erschöpfend. Ach, nein, ich
hätte wohl lieber spazierengehen sollen, obgleich es die Frage ist, ob ich
mich dabei wohler befunden hätte! Vor fünf Minuten, nicht weit von hier,
traf ich einen Kollegen, Adalbert, den Novellisten. ›Gott verdamme den
Frühling!‹ sagte er in seinem aggressiven Stil. ›Er ist und bleibt die
gräßlichste Jahreszeit! Können Sie einen vernünftigen Gedanken fassen,
Kröger, können Sie die kleinste Pointe und Wirkung in Gelassenheit
ausarbeiten, wenn es Ihnen auf eine unanständige Weise im Blute kribbelt
und eine Menge von unzugehörigen Sensationen Sie beunruhigt, die, sobald
Sie sie prüfen, sich als ausgemacht triviales und gänzlich unbrauchbares
Zeug entpuppen? Was mich betrifft, so gehe ich nun ins Café. Das ist
neutrales, vom Wechsel der Jahreszeiten unberührtes Gebiet, wissen Sie,
das stellt sozusagen die entrückte und erhabene Sphäre des Literarischen
dar, in der man nur vornehmerer Einfälle fähig ist…‹ Und er ging ins Café;
und vielleicht hätte ich mitgehen sollen.«
Lisaweta amüsierte sich.
»Das ist gut, Tonio Kröger. Das mit dem ›unanständigen Kribbeln‹ ist gut.
Und er hat ja gewissermaßen recht, denn mit dem Arbeiten ist es wirklich
nicht sonderlich bestellt im Frühling. Aber nun geben Sie acht. Nun mache
ich trotzdem noch diese kleine Sache hier, diese kleine Pointe und Wirkung,
wie Adalbert sagen würde. Nachher gehen wir in den ›Salon‹ und trinken
Tee, und Sie sprechen sich aus; denn das sehe ich genau, daß Sie heute
geladen sind. Bis dahin gruppieren Sie sich wohl irgendwo, zum Beispiel
auf der Kiste da, wenn Sie nicht für Ihre Patriziergewänder fürchten…«
»Ach, lassen Sie mich mit meinen Gewändern in Ruh', Lisaweta Iwanowna!
Wünschten Sie, daß ich in einer zerrissenen Sammetjacke oder einer
rotseidenen Weste umherliefe? Man ist als Künstler innerlich immer
Abenteurer genug. Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und
sich benehmen wie ein anständiger Mensch… Nein, geladen bin ich nicht«,
sagte er und sah zu, wie sie auf der Palette eine Mischung bereitete. »Sie
hören ja, daß es nur ein Problem und Gegensatz ist, was mir im Sinne liegt
und mich bei der Arbeit störte… Ja, wovon sprachen wir eben? Von
Adalbert, dem Novellisten, und was für ein stolzer und fester Mann er ist.
›Der Frühling ist die gräßlichste Jahreszeit‹, sagte er und ging ins Café.
Denn man muß wissen, was man will, nicht wahr? Sehen Sie, auch mich
macht der Frühling nervös, auch mich setzt die holde Trivialität der
Erinnerungen und Empfindungen, die er erweckt, in Verwirrung; nur, daß
ich es nicht über mich gewinne, ihn dafür zu schelten und zu verachten;
denn die Sache ist die, daß ich mich vor ihm schäme, mich schäme vor
seiner reinen Natürlichkeit und seiner siegenden Jugend. Und ich weiß
nicht, ob ich Adalbert beneiden oder geringschätzen soll, dafür, daß er
nichts davon weiß…
Man arbeitet schlecht im Frühling, gewiß, und warum? Weil man
empfindet. Und weil der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe
empfinden. Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivität
dieses Pfuscher-Irrtums, – melancholisch vielleicht, aber er lächelt. Denn
das, was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an
und für sich gleichgültige Material, aus dem das ästhetische Gebilde in
spielender und gelassener Überlegenheit zusammenzusetzen ist. Liegt Ihnen
zu viel an dem, was Sie zu sagen haben, schlägt Ihr Herz zu warm dafür, so
können Sie eines vollständigen Fiaskos sicher sein. Sie werden pathetisch,
Sie werden sentimental, etwas Schwerfälliges, Täppisch-Ernstes,
Unbeherrschtes, Unironisches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales
entsteht unter Ihren Händen, und nichts als Gleichgültigkeit bei den Leuten,
nichts als Enttäuschung und Jammer bei Ihnen selbst ist das Ende… Denn
so ist es ja, Lisaweta: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer
banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und
kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems.
Es ist nötig, daß man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches
sei, daß man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten
Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu
spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die
Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und
wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche
Verarmung und Verödung voraus. Denn das gesunde und starke Gefühl,
dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. Es ist aus mit dem Künstler, sobald
er Mensch wird und zu empfinden beginnt. Das wußte Adalbert, und darum
begab er sich ins Café, in die ›entrückte Sphäre‹, jawohl!«
»Nun, Gott mit ihm, Batuschka«, sagte Lisaweta und wusch sich die Hände
in einer Blechwanne; »Sie brauchen ihm ja nicht zu folgen.«
»Nein, Lisaweta, ich folge ihm nicht, und zwar einzig, weil ich hie und da
imstande bin, mich vor dem Frühling meines Künstlertums ein wenig zu
schämen. Sehen Sie, zuweilen erhalte ich Briefe von fremder Hand, Lob-
und Dankschreiben aus meinem Publikum, bewunderungsvolle Zuschriften
ergriffener Leute. Ich lese diese Zuschriften, und Rührung beschleicht mich
angesichts des warmen und unbeholfenen menschlichen Gefühls, das meine
Kunst hier bewirkt hat, eine Art von Mitleid faßt mich an gegenüber der
begeisterten Naivität, die aus den Zeilen spricht, und ich erröte bei dem
Gedanken, wie sehr dieser redliche Mensch ernüchtert sein müßte, wenn er
je einen Blick hinter die Kulissen täte, wenn seine Unschuld je begriffe, daß
ein rechtschaffener, gesunder und anständiger Mensch überhaupt nicht
schreibt, mimt, komponiert… was alles ja nicht hindert, daß ich seine
Bewunderung für mein Genie benütze, um mich zu steigern und zu
stimulieren, daß ich sie gewaltig ernst nehme und ein Gesicht dazu mache
wie ein Affe, der den großen Mann spielt… Ach, reden Sie mir nicht darein,
Lisaweta! Ich sage Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche
darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben… Ist der Künstler
überhaupt ein Mann? Man frage ›das Weib‹ danach! Mir scheint, wir
Künstler teilen alle ein wenig das Schicksal jener präparierten päpstlichen
Sänger… Wir singen ganz rührend schön. Jedoch –«
»Sie sollten sich ein bißchen schämen, Tonio Kröger. Kommen Sie nun zum
Tee. Das Wasser wird gleich kochen, und hier sind Papyros. Beim
Sopransingen waren Sie stehengeblieben; und fahren Sie da nur fort. Aber
schämen sollten Sie sich. Wenn ich nicht wüßte, mit welch stolzer
Leidenschaft Sie Ihrem Berufe ergeben sind…«
»Sagen Sie nichts von ›Beruf‹, Lisaweta Iwanowna! Die Literatur ist
überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch, – damit Sie's wissen. Wann
beginnt er fühlbar zu werden, dieser Fluch? Früh, schrecklich früh. Zu einer
Zeit, da man billig noch in Frieden und Eintracht mit Gott und der Welt
leben sollte. Sie fangen an, sich gezeichnet, sich in einem rätselhaften
Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen zu fühlen,
der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der Sie
von den Menschen trennt, klafft tiefer und tiefer, Sie sind einsam, und
fortan gibt es keine Verständigung mehr. Was für ein Schicksal! Gesetzt,
daß das Herz lebendig genug, liebevoll genug geblieben ist, es als furchtbar
zu empfinden!… Ihr Selbstbewußtsein entzündet sich, weil Sie unter
Tausenden das Zeichen an Ihrer Stirne spüren und fühlen, daß es
niemandem entgeht. Ich kannte einen Schauspieler von Genie, der als
Mensch mit einer krankhaften Befangenheit und Haltlosigkeit zu kämpfen
hatte. Sein überreiztes Ichgefühl zusammen mit dem Mangel an Rolle, an
darstellerischer Aufgabe, bewirkten das bei diesem vollkommenen Künstler
und verarmten Menschen… Einen Künstler, einen wirklichen, nicht einen,
dessen bürgerlicher Beruf die Kunst ist, sondern einen vorbestimmten und
verdammten, ersehen Sie mit geringem Scharfblick aus einer
Menschenmasse. Das Gefühl der Separation und Unzugehörigkeit, des
Erkannt- und Beobachtetseins, etwas zugleich Königliches und Verlegenes
ist in seinem Gesicht. In den Zügen eines Fürsten, der in Zivil durch eine
Volksmenge schreitet, kann man etwas Ähnliches beobachten. Aber da hilft
kein Zivil, Lisaweta! Verkleiden Sie sich, vermummen Sie sich, ziehen Sie
sich an wie ein Attaché oder ein Gardeleutnant in Urlaub: Sie werden kaum
die Augen aufzuschlagen und ein Wort zu sprechen brauchen, und
jedermann wird wissen, daß Sie kein Mensch sind, sondern irgend etwas
Fremdes, Befremdendes, Anderes…
Aber was ist der Künstler? Vor keiner Frage hat die Bequemlichkeit und
Erkenntnisträgheit der Menschheit sich zäher erwiesen als vor dieser.
›Dergleichen ist Gabe‹, sagen demütig die braven Leute, die unter der
Wirkung eines Künstlers stehen, und weil heitere und erhabene Wirkungen
nach ihrer gutmütigen Meinung ganz unbedingt auch heitere und erhabene
Ursprünge haben müssen, so argwöhnt niemand, daß es sich hier vielleicht
um eine äußerst schlimm bedingte, äußerst fragwürdige ›Gabe‹ handelt…
Man weiß, daß Künstler leicht verletzlich sind – nun, man weiß auch, daß
dies bei Leuten mit gutem Gewissen und solid gegründetem Selbstgefühl
nicht zuzutreffen pflegt… Sehen Sie, Lisaweta, ich hege auf dem Grunde
meiner Seele – ins Geistige übertragen – gegen den Typus des Künstlers
den ganzen Verdacht, den jeder meiner ehrenfesten Vorfahren droben in der
engen Stadt irgendeinem Gaukler und abenteuernden Artisten
entgegengebracht hätte, der in sein Haus gekommen wäre. Hören Sie
folgendes. Ich kenne einen Bankier, einen ergrauten Geschäftsmann, der die
Gabe besitzt, Novellen zu schreiben. Er macht von dieser Gabe in seinen
Mußestunden Gebrauch, und seine Arbeiten sind manchmal ganz
ausgezeichnet. Trotz – ich sage ›trotz‹ – dieser sublimen Veranlagung ist
dieser Mann nicht völlig unbescholten; er hat im Gegenteil bereits eine
schwere Freiheitsstrafe zu verbüßen gehabt, und zwar aus triftigen
Gründen. Ja, es geschah ganz eigentlich erst in der Strafanstalt, daß er
seiner Begabung inne wurde, und seine Sträflingserfahrungen bilden das
Grundmotiv in allen seinen Produktionen. Man könnte daraus, mit einiger
Keckheit, folgern, daß es nötig sei, in irgendeiner Art von Strafanstalt zu
Hause zu sein, um zum Dichter zu werden. Aber drängt sich nicht der
Verdacht auf, daß seine Erlebnisse im Zuchthause weniger innig mit den
Wurzeln und Ursprüngen seiner Künstlerschaft verwachsen gewesen sein
möchten als das, was ihn hineinbrachte? – Ein Bankier, der Novellen
dichtet, das ist eine Rarität, nicht wahr? Aber ein nicht krimineller, ein
unbescholtener und solider Bankier, welcher Novellen dichtete, – das
kommt nicht vor… Ja, da lachen Sie nun, und dennoch scherze ich nur halb
und halb. Kein Problem, keines in der Welt, ist quälender als das vom
Künstlertum und seiner menschlichen Wirkung. Nehmen Sie das
wunderartigste Gebilde des typischsten und darum mächtigsten Künstlers,
nehmen Sie ein so morbides und tief zweideutiges Werk wie ›Tristan und
Isolde‹ und beobachten Sie die Wirkung, die dieses Werk auf einen jungen,
gesunden, stark normal empfindenden Menschen ausübt. Sie sehen
Gehobenheit, Gestärktheit, warme, rechtschaffene Begeisterung,
Angeregtheit vielleicht zu eigenem ›künstlerischen‹ Schaffen… Der gute
Dilettant! In uns Künstlern sieht es gründlich anders aus, als er mit seinem
›warmen Herzen‹ und ›ehrlichen Enthusiasmus‹ sich träumen mag. Ich habe
Künstler von Frauen und Jünglingen umschwärmt und umjubelt gesehen,
während ich über sie wußte… Man macht, was die Herkunft, die
Miterscheinungen und Bedingungen des Künstlertums betrifft, immer
wieder die merkwürdigsten Erfahrungen…«
»An anderen, Tonio Kröger – verzeihen Sie –, oder nicht nur an anderen?«
Er schwieg. Er zog seine schrägen Brauen zusammen und pfiff vor sich hin.
»Ich bitte um Ihre Tasse, Tonio. Er ist nicht stark. Und nehmen Sie eine
neue Zigarette. Übrigens wissen Sie sehr wohl, daß Sie die Dinge ansehen,
wie sie nicht notwendig angesehen zu werden brauchen…«
»Das ist die Antwort des Horatio, liebe Lisaweta. ›Die Dinge so betrachten,
hieße, sie zu genau betrachten‹, nicht wahr?«
»Ich sage, daß man sie ebenso genau von einer anderen Seite betrachten
kann, Tonio Kröger. Ich bin bloß ein dummes malendes Frauenzimmer, und
wenn ich Ihnen überhaupt etwas zu erwidern weiß, wenn ich Ihren eigenen
Beruf ein wenig gegen Sie in Schutz nehmen kann, so ist es sicherlich
nichts Neues, was ich vorbringe, sondern nur eine Mahnung an das, was Sie
selbst sehr wohl wissen… Wie also: Die reinigende, heiligende Wirkung
der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und
das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur
Liebe, die erlösende Macht der Sprache, der literarische Geist als die
edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt, der Literat als
vollkommener Mensch, als Heiliger, – die Dinge so betrachten, hieße, sie
nicht genau genug betrachten?«
»Sie haben ein Recht, so zu sprechen, Lisaweta Iwanowna, und zwar im
Hinblick auf das Werk Ihrer Dichter, auf die anbetungswürdige russische
Literatur, die so recht eigentlich die heilige Literatur darstellt, von der Sie
reden. Aber ich habe Ihre Einwände nicht außer acht gelassen, sondern sie
gehören mit zu dem, was mir heute im Sinne liegt… Sehen Sie mich an. Ich
sehe nicht übermäßig munter aus, wie? Ein bißchen alt und scharfzügig und
müde, nicht wahr? Nun, um auf die ›Erkenntnis‹ zurückzukommen, so ließe
sich ein Mensch denken, der, von Hause aus gutgläubig, sanftmütig,
wohlmeinend und ein wenig sentimental, durch die psychologische
Hellsicht ganz einfach aufgerieben und zugrunde gerichtet würde. Sich von
der Traurigkeit der Welt nicht übermannen lassen; beobachten, merken,
einfügen, auch das Quälendste, und übrigens guter Dinge sein, schon im
Vollgefühl der sittlichen Überlegenheit über die abscheuliche Erfindung des
Seins, – ja, freilich! Jedoch zuweilen wächst Ihnen die Sache trotz aller
Vergnügungen des Ausdrucks ein wenig über den Kopf. Alles verstehen
hieße alles verzeihen? Ich weiß doch nicht. Es gibt etwas, was ich
Erkenntnisekel nenne, Lisaweta. Der Zustand, in dem es dem Menschen
genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben
angewidert (und durchaus nicht versöhnlich gestimmt) zu fühlen, – der Fall
Hamlets, des Dänen, dieses typischen Literaten. Er wußte, was das ist: zum
Wissen berufen werden, ohne dazu geboren zu sein. Hellsehen noch durch
den Tränenschleier des Gefühls hindurch, erkennen, merken, beobachten
und das Beobachtete lächelnd beiseite legen müssen noch in Augenblicken,
wo Hände sich umschlingen, Lippen sich finden, wo des Menschen Blick,
erblindet von Empfindung, sich bricht, – es ist infam, Lisaweta, es ist
niederträchtig, empörend… aber was hilft es, sich zu empören?
Eine andere, aber nicht minder liebenswürdige Seite der Sache ist dann
freilich die Blasiertheit, Gleichgültigkeit und ironische Müdigkeit aller
Wahrheit gegenüber, wie es denn Tatsache ist, daß es nirgends in der Welt
stummer und hoffnungsloser zugeht als in einem Kreise von geistreichen
Leuten, die bereits mit allen Hunden gehetzt sind. Alle Erkenntnis ist alt
und langweilig. Sprechen Sie eine Wahrheit aus, an deren Eroberung und
Besitz Sie vielleicht eine gewisse jugendliche Freude haben, und man wird
Ihre ordinäre Aufgeklärtheit mit einem ganz kurzen Entlassen der Luft
durch die Nase beantworten… Ach ja, die Literatur macht müde, Lisaweta!
In menschlicher Gesellschaft kann es einem, ich versichere Sie, geschehen,
daß man vor lauter Skepsis und Meinungsenthaltsamkeit für dumm gehalten
wird, während man doch nur hochmütig und mutlos ist… Dies zur
›Erkenntnis‹. Was aber das ›Wort‹ betrifft, so handelt es sich da vielleicht
weniger um eine Erlösung als um ein Kaltstellen und Aufs-Eis-Legen der
Empfindung? Im Ernst, es hat eine eisige und empörend anmaßliche
Bewandtnis mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des
Gefühls durch die literarische Sprache. Ist Ihnen das Herz zu voll, fühlen
Sie sich von einem süßen oder erhabenen Erlebnis allzusehr ergriffen:
nichts einfacher! Sie gehen zum Literaten, und alles wird in kürzester Frist
geregelt sein. Er wird Ihnen Ihre Angelegenheit analysieren und
formulieren, bei Namen nennen, aussprechen und zum Reden bringen, wird
Ihnen das Ganze für alle Zeit erledigen und gleichgültig machen und keinen
Dank dafür nehmen. Sie aber werden erleichtert, gekühlt und geklärt nach
Hause gehen und sich wundern, was an der Sache Sie eigentlich soeben
noch mit so süßem Tumult verstören konnte. Und für diesen kalten und
eitlen Scharlatan wollen Sie ernstlich eintreten? Was ausgesprochen ist, so
lautet sein Glaubensbekenntnis, ist erledigt. Ist die ganze Welt
ausgesprochen, so ist sie erledigt, erlöst, abgetan… Sehr gut! Jedoch ich bin
kein Nihilist…«
»Sie sind kein –«, sagte Lisaweta… Sie hielt gerade ihr Löffelchen mit Tee
in der Nähe des Mundes und erstarrte in dieser Haltung.
»Nun ja… nun ja… kommen Sie zu sich, Lisaweta! Ich bin es nicht, sage
ich Ihnen, in bezug auf das lebendige Gefühl. Sehen Sie, der Literat begreift
im Grunde nicht, daß das Leben noch fortfahren mag, zu leben, daß es sich
dessen nicht schämt, nachdem es doch ausgesprochen und ›erledigt‹ ist.
Aber siehe da, es sündigt trotz aller Erlösung durch die Literatur unentwegt
darauf los; denn alles Handeln ist Sünde in den Augen des Geistes…
Ich bin am Ziel, Lisaweta. Hören Sie mich an. Ich liebe das Leben – dies ist
ein Geständnis. Nehmen Sie es und bewahren Sie es, – ich habe es noch
keinem gemacht. Man hat gesagt, man hat es sogar geschrieben und
drucken lassen, daß ich das Leben hasse oder fürchte oder verachte oder
verabscheue. Ich habe dies gern gehört, es hat mir geschmeichelt; aber
darum ist es nicht weniger falsch. Ich liebe das Leben… Sie lächeln,
Lisaweta, und ich weiß, worüber. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es
nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder
an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn auf den Schild erhebt! Er ist mir
nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das geringste auf ihn, und ich
werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und
Dämonische als Ideal verehren mag. Nein, das ›Leben‹, wie es als ewiger
Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, – nicht als eine
Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das
Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das
Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer
Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität! Der ist noch
lange kein Künstler, meine Liebe, dessen letzte und tiefste Schwärmerei das
Raffinierte, Exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt
nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, nach ein wenig
Freundschaft, Hingebung, Vertraulichkeit und menschlichem Glück, – die
verstohlene und zehrende Sehnsucht, Lisaweta, nach den Wonnen der
Gewöhnlichkeit!…
Ein menschlicher Freund! Wollen Sie glauben, daß es mich stolz und
glücklich machen würde, unter Menschen einen Freund zu besitzen? Aber
bislang habe ich nur unter Dämonen, Kobolden, tiefen Unholden und
erkenntnisstummen Gespenstern, das heißt: unter Literaten Freunde gehabt.
Zuweilen gerate ich auf irgendein Podium, finde mich in einem Saale
Menschen gegenüber, die gekommen sind, mir zuzuhören. Sehen Sie, dann
geschieht es, daß ich mich bei einer Umschau im Publikum beobachte, mich
ertappe, wie ich heimlich im Auditorium umherspähe, mit der Frage im
Herzen, wer es ist, der zu mir kam, wessen Beifall und Dank zu mir dringt,
mit wem meine Kunst mir hier eine ideale Vereinigung schafft… Ich finde
nicht, was ich suche, Lisaweta. Ich finde die Herde und Gemeinde, die mir
wohlbekannt ist, eine Versammlung von ersten Christen gleichsam: Leute
mit ungeschickten Körpern und feinen Seelen, Leute, die immer hinfallen,
sozusagen, Sie verstehn mich, und denen die Poesie eine sanfte Rache am
Leben ist, – immer nur Leidende und Sehnsüchtige und Arme und niemals
jemand von den anderen, den Blauäugigen, Lisaweta, die den Geist nicht
nötig haben!…
Und wäre es nicht zuletzt ein bedauerlicher Mangel an Folgerichtigkeit,
sich zu freuen, wenn es anders wäre? Es ist widersinnig, das Leben zu
lieben und dennoch mit allen Künsten bestrebt zu sein, es auf seine Seite zu
ziehen, es für die Finessen und Melancholien, den ganzen kranken Adel der
Literatur zu gewinnen. Das Reich der Kunst nimmt zu, und das der
Gesundheit und Unschuld nimmt ab auf Erden. Man sollte, was noch davon
übrig ist, aufs sorgfältigste konservieren, und man sollte nicht Leute, die
viel lieber in Pferdebüchern mit Momentaufnahmen lesen, zur Poesie
verführen wollen!
Denn schließlich, – welcher Anblick wäre kläglicher als der des Lebens,
wenn es sich in der Kunst versucht? Wir Künstler verachten niemand
gründlicher als den Dilettanten, den Lebendigen, der glaubt, obendrein bei
Gelegenheit einmal ein Künstler sein zu können. Ich versichere Sie, diese
Art von Verachtung gehört zu meinen persönlichsten Erlebnissen. Ich
befinde mich in einer Gesellschaft in gutem Hause, man ißt, trinkt und
plaudert, man versteht sich aufs beste, und ich fühle mich froh und dankbar,
eine Weile unter harmlosen und regelrechten Leuten als ihresgleichen
verschwinden zu können. Plötzlich (dies ist mir begegnet) erhebt sich ein
Offizier, ein Leutnant, ein hübscher und strammer Mensch, dem ich niemals
eine seines Ehrenkleides unwürdige Handlungsweise zugetraut hätte, und
bittet mit unzweideutigen Worten um die Erlaubnis, uns einige Verse
mitzuteilen, die er angefertigt habe. Man gibt ihm, mit bestürztem Lächeln,
diese Erlaubnis, und er führt sein Vorhaben aus, indem er von einem Zettel,
den er bis dahin in seinem Rockschoß verborgen gehalten hat, seine Arbeit
vorliest, etwas an die Musik und die Liebe, kurzum, ebenso tief empfunden
wie unwirksam. Nun bitte ich aber jedermann: ein Leutnant! Ein Herr der
Welt! Er hätte es doch wahrhaftig nicht nötig…! Nun, es erfolgt, was
erfolgen muß: lange Gesichter, Stillschweigen, ein wenig künstlicher
Beifall und tiefstes Mißbehagen ringsum. Die erste seelische Tatsache,
deren ich mir bewußt werde, ist die, daß ich mich mitschuldig fühle an der
Verstörung, die dieser unbedachte junge Mann über die Gesellschaft
gebracht; und kein Zweifel: auch mich, in dessen Handwerk er gepfuscht
hat, treffen spöttische und entfremdete Blicke. Aber die zweite besteht
darin, daß dieser Mensch, vor dessen Sein und Wesen ich soeben noch den
ehrlichsten Respekt empfand, in meinen Augen plötzlich sinkt, sinkt,
sinkt… Ein mitleidiges Wohlwollen faßt mich an. Ich trete, gleich einigen
anderen beherzten und gutmütigen Herren, an ihn heran und rede ihm zu.
›Meinen Glückwunsch‹, sage ich, ›Herr Leutnant! Welch hübsche
Begabung! Nein, das war allerliebst!‹ Und es fehlt nicht viel, daß ich ihm
auf die Schulter klopfe. Aber ist Wohlwollen die Empfindung, die man
einem Leutnant entgegenzubringen hat?… Seine Schuld! Da stand er und
büßte in großer Verlegenheit den Irrtum, daß man ein Blättchen pflücken
dürfe, ein einziges, vom Lorbeerbaume der Kunst, ohne mit seinem Leben
dafür zu zahlen. Nein, da halte ich es mit meinem Kollegen, dem
kriminellen Bankier – –. Aber finden Sie nicht, Lisaweta, daß ich heute von
einer hamletischen Redseligkeit bin?«
»Sind Sie nun fertig, Tonio Kröger?«
»Nein. Aber ich sage nichts mehr.«
»Und es genügt auch. – Erwarten Sie eine Antwort?«
»Haben Sie eine?«
»Ich dächte doch. – Ich habe Ihnen gut zugehört, Tonio, von Anfang bis zu
Ende, und ich will Ihnen die Antwort geben, die auf alles paßt, was Sie
heute nachmittag gesagt haben, und die die Lösung ist für das Problem, das
Sie so sehr beunruhigt hat. Nun also! Die Lösung ist die, daß Sie, wie Sie
da sitzen, ganz einfach ein Bürger sind.«
»Bin ich?« fragte er und sank ein wenig in sich zusammen…
»Nicht wahr, das trifft Sie hart, und das muß es ja auch. Und darum will ich
den Urteilsspruch um etwas mildern, denn das kann ich. Sie sind ein Bürger
auf Irrwegen, Tonio Kröger, – ein verirrter Bürger.«
– Stillschweigen. Dann stand er entschlossen auf und griff nach Hut und
Stock.
»Ich danke Ihnen, Lisaweta Iwanowna; nun kann ich getrost nach Hause
gehn. Ich bin erledigt.«
V
Und Tonio Kröger fuhr gen Norden. Er fuhr mit Komfort (denn er pflegte
zu sagen, daß jemand, der es innerlich so viel schwerer hat als andere
Leute, gerechten Anspruch auf ein wenig äußeres Behagen habe), und er
rastete nicht eher, als bis die Türme der engen Stadt, von der er
ausgegangen war, sich vor ihm in die graue Luft erhoben. Dort nahm er
einen kurzen, seltsamen Aufenthalt…
Ein trüber Nachmittag ging schon in den Abend über, als der Zug in die
schmale, verräucherte, so wunderlich vertraute Halle einfuhr; noch immer
ballte sich unter dem schmutzigen Glasdach der Qualm in Klumpen
zusammen und zog in gedehnten Fetzen hin und wider, wie damals, als
Tonio Kröger, nichts als Spott im Herzen, von hier gefahren war. – Er
versorgte sein Gepäck, ordnete an, daß es ins Hotel geschafft werde, und
verließ den Bahnhof.
Das waren die zweispännigen, schwarzen, unmäßig hohen und breiten
Droschken der Stadt, die draußen in einer Reihe standen! Er nahm keine
davon; er sah sie nur an, wie er alles ansah, die schmalen Giebel und
spitzen Türme, die über die nächsten Dächer herübergrüßten, die blonden
und lässig-plumpen Menschen mit ihrer breiten und dennoch rapiden
Redeweise rings um ihn her, und ein nervöses Gelächter stieg in ihm auf,
das eine heimliche Verwandtschaft mit Schluchzen hatte. – Er ging zu Fuß,
ging langsam, den unablässigen Druck des feuchten Windes im Gesicht,
über die Brücke, an deren Geländer mythologische Statuen standen, und
eine Strecke am Hafen entlang.
Großer Gott, wie winzig und winklig das Ganze erschien! Waren hier in all
der Zeit die schmalen Giebelgassen so putzig steil zur Stadt
emporgestiegen? Die Schornsteine und Maste der Schiffe schaukelten leise
in Wind und Dämmerung auf dem trüben Flusse. Sollte er jene Straße
hinaufgehen, die dort, an der das Haus lag, das er im Sinne hatte? Nein,
morgen. Er war so schläfrig jetzt. Sein Kopf war schwer von der Fahrt, und
langsame, nebelhafte Gedanken zogen ihm durch den Sinn.
Zuweilen in diesen dreizehn Jahren, wenn sein Magen verdorben gewesen
war, hatte ihm geträumt, daß er wieder daheim sei in dem alten, hallenden
Haus an der schrägen Gasse, daß auch sein Vater wieder da sei und ihn hart
anlasse wegen seiner entarteten Lebensführung, was er jedesmal sehr in der
Ordnung gefunden hatte. Und diese Gegenwart nun unterschied sich durch
nichts von einem dieser betörenden und unzerreißbaren Traumgespinste, in
denen man sich fragen kann, ob dies Trug oder Wirklichkeit ist, und sich
notgedrungen mit Überzeugung für das letztere entscheidet, um dennoch
am Ende zu erwachen… Er schritt durch die wenig belebten, zugigen
Straßen, hielt den Kopf gegen den Wind gebeugt und schritt wie
schlafwandelnd in der Richtung des Hotels, des ersten der Stadt, wo er
übernachten wollte. Ein krummbeiniger Mann mit einer Stange, an deren
Spitze ein Feuerchen brannte, ging mit wiegendem Matrosenschritt vor ihm
her und zündete die Gaslaternen an.
Wie war ihm doch? Was war das alles, was unter der Asche seiner
Müdigkeit, ohne zur klaren Flamme zu werden, so dunkel und schmerzlich
glomm? Still, still und kein Wort! Keine Worte! Er wäre gern lange so
dahingegangen, im Wind durch die dämmerigen, traumhaft vertrauten
Gassen. Aber alles war so eng und nah beieinander. Gleich war man am
Ziel.
In der oberen Stadt gab es Bogenlampen, und eben erglühten sie. Da war
das Hotel, und es waren die beiden schwarzen Löwen, die davor lagen und
vor denen er sich als Kind gefürchtet hatte. Noch immer blickten sie mit
einer Miene, als wollten sie niesen, einander an; aber sie schienen viel
kleiner geworden seit damals. – Tonio Kröger ging zwischen ihnen
hindurch.
Da er zu Fuß kam, wurde er ohne viel Feierlichkeit empfangen. Der Portier
und ein sehr feiner, schwarzgekleideter Herr, welcher die Honneurs machte
und beständig mit den kleinen Fingern seine Manschetten in die Ärmel
zurückstieß, musterten ihn prüfend und wägend vom Scheitel bis zu den
Stiefeln, sichtlich bestrebt, ihn gesellschaftlich ein wenig zu bestimmen, ihn
hierarchisch und bürgerlich unterzubringen und ihm einen Platz in ihrer
Achtung anzuweisen, ohne doch zu einem beruhigenden Ergebnis gelangen
zu können, weshalb sie sich für eine gemäßigte Höflichkeit entschieden.
Ein Kellner, ein milder Mensch mit brotblonden Backenbartstreifen, einem
altersblanken Frack und Rosetten auf den lautlosen Schuhen, führte ihn
zwei Treppen hinauf in ein reinlich und altväterlich eingerichtetes Zimmer,
hinter dessen Fenster sich im Zwielicht ein pittoresker und mittelalterlicher
Ausblick auf Höfe, Giebel und die bizarren Massen der Kirche eröffnete, in
deren Nähe das Hotel gelegen war. Tonio Kröger stand eine Weile vor
diesem Fenster; dann setzte er sich mit gekreuzten Armen auf das
weitschweifige Sofa, zog seine Brauen zusammen und pfiff vor sich hin.
Man brachte Licht, und sein Gepäck kam. Gleichzeitig legte der milde
Kellner den Meldezettel auf den Tisch, und Tonio Kröger malte mit
seitwärts geneigtem Kopfe etwas darauf, das aussah wie Name, Stand und
Herkunft. Hierauf bestellte er ein wenig Abendbrot und fuhr fort, von
seinem Sofawinkel aus ins Leere zu blicken. Als das Essen vor ihm stand,
ließ er es noch lange unberührt, nahm endlich ein paar Bissen und ging
noch eine Stunde im Zimmer auf und ab, wobei er zuweilen stehenblieb und
die Augen schloß. Dann entkleidete er sich mit langsamen Bewegungen und
ging zu Bette. Er schlief lange, unter verworrenen und seltsam
sehnsüchtigen Träumen. –
Als er erwachte, sah er sein Zimmer von hellem Tage erfüllt. Verwirrt und
hastig besann er sich, wo er sei, und machte sich auf, um die Vorhänge zu
öffnen. Des Himmels schon ein wenig blasses Spätsommer-Blau war von
dünnen, vom Wind zerzupften Wolkenfetzchen durchzogen; aber die Sonne
schien über seiner Vaterstadt.
Er verwandte noch mehr Sorgfalt auf seine Toilette als gewöhnlich, wusch
und rasierte sich aufs beste und machte sich so frisch und reinlich, als habe
er einen Besuch in gutem, korrektem Hause vor, wo es gelte, einen
schmucken und untadelhaften Eindruck zu machen; und während der
Hantierungen des Ankleidens horchte er auf das ängstliche Pochen seines
Herzens.
Wie hell es draußen war! Er hätte sich wohler gefühlt, wenn, wie gestern,
Dämmerung in den Straßen gelegen hätte; nun aber sollte er unter den
Augen der Leute durch den klaren Sonnenschein gehen. Würde er auf
Bekannte stoßen, angehalten, befragt werden und Rede stehen müssen, wie
er diese dreizehn Jahre verbracht? Nein, gottlob, es kannte ihn keiner mehr,
und wer sich seiner erinnerte, würde ihn nicht erkennen, denn er hatte sich
wirklich ein wenig verändert unterdessen. Er betrachtete sich aufmerksam
im Spiegel, und plötzlich fühlte er sich sicherer hinter seiner Maske, hinter
seinem früh durcharbeiteten Gesicht, das älter als seine Jahre war… Er ließ
Frühstück kommen und ging dann aus, ging unter den abschätzenden
Blicken des Portiers und des feinen Herrn in Schwarz durch das Vestibül
und zwischen den beiden Löwen hindurch ins Freie.
Wohin ging er? Er wußte es kaum. Es war wie gestern. Kaum, daß er sich
wieder von diesem wunderlich würdigen und urvertrauten Beieinander von
Giebeln, Türmchen, Arkaden, Brunnen umgeben sah, kaum daß er den
Druck des Windes, des starken Windes, der ein zartes und herbes Aroma
aus fernen Träumen mit sich führte, wieder im Angesicht spürte, als es sich
ihm wie Schleier und Nebelgespinst um die Sinne legte… Die Muskeln
seines Gesichtes spannten sich ab; und mit stille gewordenem Blick
betrachtete er Menschen und Dinge. Vielleicht, daß er dort, an jener
Straßenecke, dennoch erwachte…
Wohin ging er? Ihm war, als stehe die Richtung, die er einschlug, in einem
Zusammenhange mit seinen traurigen und seltsam reuevollen Träumen zur
Nacht… Auf den Markt ging er, unter den Bogengewölben des Rathauses
hindurch, wo Fleischer mit blutigen Händen ihre Ware wogen, auf den
Marktplatz, wo hoch, spitzig und vielfach der gotische Brunnen stand. Dort
blieb er vor einem Hause stehen, einem schmalen und schlichten, gleich
anderen mehr, mit einem geschwungenen, durchbrochenen Giebel, und
versank in dessen Anblick. Er las das Namensschild an der Tür und ließ
seine Augen ein Weilchen auf jedem der Fenster ruhen. Dann wandte er
sich langsam zum Gehen.
Wohin ging er? Heimwärts. Aber er nahm einen Umweg, machte einen
Spaziergang vors Tor hinaus, weil er Zeit hatte. Er ging über den
Mühlenwall und den Holstenwall und hielt seinen Hut fest vor dem Winde,
der in den Bäumen rauschte und knarrte. Dann verließ er die Wallanlagen
unfern des Bahnhofes, sah einen Zug mit plumper Eilfertigkeit
vorüberpuffen, zählte zum Zeitvertreib die Wagen und blickte dem Manne
nach, der zuhöchst auf dem allerletzten saß. Aber am Lindenplatze machte
er vor einer der hübschen Villen halt, die dort standen, spähte lange in den
Garten und zu den Fenstern hinauf und verfiel am Ende darauf, die
Gatterpforte in ihren Angeln hin- und herzuschlenkern, so daß es kreischte.
Dann betrachtete er eine Weile seine Hand, die kalt und rostig geworden
war, und ging weiter, ging durch das alte, untersetzte Tor, am Hafen entlang
und die steile zugige Gasse hinauf zum Haus seiner Eltern.
Es stand, eingeschlossen von den Nachbarhäusern, die sein Giebel
überragte, grau und ernst wie seit dreihundert Jahren, und Tonio Kröger las
den frommen Spruch, der in halb verwischten Lettern über dem Eingang
stand. Dann atmete er auf und ging hinein.
Sein Herz schlug ängstlich, denn er gewärtigte, sein Vater könnte aus einer
der Türen zu ebener Erde, an denen er vorüberschritt, hervortreten, im
Kontorrock und die Feder hinterm Ohr, ihn anhalten und ihn wegen seines
extravaganten Lebens streng zur Rede stellen, was er sehr in der Ordnung
gefunden hätte. Aber er gelangte unbehelligt vorbei. Die Windfangtür war
nicht geschlossen, sondern nur angelehnt, was er als tadelnswert empfand,
während ihm gleichzeitig zumute war wie in gewissen leichten Träumen, in
denen die Hindernisse von selbst vor einem weichen und man, von
wunderbarem Glück begünstigt, ungehindert vorwärts dringt… Die weite
Diele, mit großen, viereckigen Steinfliesen gepflastert, widerhallte von
seinen Schritten. Der Küche gegenüber, in der es still war, sprangen wie vor
alters in beträchtlicher Höhe die seltsamen, plumpen, aber reinlich
lackierten Holzgelasse aus der Wand hervor, die Mägdekammern, die nur
durch eine Art freiliegender Stiege von der Diele aus zu erreichen waren.
Aber die großen Schränke und die geschnitzte Truhe waren nicht mehr da,
die hier gestanden hatten… Der Sohn des Hauses beschritt die gewaltige
Treppe und stützte sich mit der Hand auf das weißlackierte, durchbrochene
Holzgeländer, indem er sie bei jedem Schritte erhob und beim nächsten
sacht wieder darauf niedersinken ließ, wie als versuche er schüchtern, ob
die ehemalige Vertrautheit mit diesem alten, soliden Geländer wieder
herzustellen sei… Aber auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, vorm
Eingang zum Zwischengeschoß. An der Tür war ein weißes Schild
befestigt, auf dem in schwarzen Buchstaben zu lesen war: Volksbibliothek.
Volksbibliothek? dachte Tonio Kröger, denn er fand, daß hier weder das
Volk noch die Literatur etwas zu suchen hatten. Er klopfte an die Tür… Ein
Herein ward laut, und er folgte ihm. Gespannt und finster blickte er in eine
höchst unziemliche Veränderung hinein.
Das Geschoß war drei Stuben tief, deren Verbindungstüren offenstanden.
Die Wände waren fast in ihrer ganzen Höhe mit gleichförmig gebundenen
Büchern bedeckt, die auf dunklen Gestellen in langen Reihen standen. In
jedem Zimmer saß hinter einer Art von Ladentisch ein dürftiger Mensch
und schrieb. Zwei davon wandten nur die Köpfe nach Tonio Kröger, aber
der erste stand eilig auf, wobei er sich mit beiden Händen auf die
Tischplatte stützte, den Kopf vorschob, die Lippen spitzte, die Brauen
emporzog und den Besucher mit eifrig zwinkernden Augen anblickte…
»Verzeihung«, sagte Tonio Kröger, ohne den Blick von den vielen Büchern
zu wenden. »Ich bin hier fremd, ich besichtige die Stadt. Dies ist also die
Volksbibliothek? Würden Sie erlauben, daß ich mir ein wenig Einblick in
die Sammlung verschaffe?«
»Gern!« sagte der Beamte und zwinkerte noch heftiger… »Gewiß, das steht
jedermann frei. Wollen Sie sich nur umsehen… Ist Ihnen ein Katalog
gefällig?«
»Danke«, antwortete Tonio Kröger. »Ich orientiere mich leicht.« Damit
begann er, langsam an den Wänden entlang zu schreiten, indem er sich den
Anschein gab, als studiere er die Titel auf den Bücherrücken. Schließlich
nahm er einen Band heraus, öffnete ihn und stellte sich damit ans Fenster.
Hier war das Frühstückszimmer gewesen. Man hatte hier morgens
gefrühstückt, nicht droben im großen Eßsaal, wo aus der blauen Tapete
weiße Götterstatuen hervortraten… Das dort hatte als Schlafzimmer
gedient. Seines Vaters Mutter war dort gestorben, so alt sie war, unter
schweren Kämpfen, denn sie war eine genußfrohe Weltdame und hing am
Leben. Und später hatte dort sein Vater selbst den letzten Seufzer getan, der
lange, korrekte, ein wenig wehmütige und nachdenkliche Herr mit der
Feldblume im Knopfloch… Tonio hatte am Fußende seines Sterbebettes
gesessen, mit heißen Augen, ehrlich und gänzlich hingegeben an ein
stummes und starkes Gefühl, an Liebe und Schmerz. Und auch seine Mutter
hatte am Lager gekniet, seine schöne, feurige Mutter, ganz aufgelöst in
heißen Tränen; worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen
gezogen war… Aber dort hinten, das kleinere, dritte Zimmer, nun ebenfalls
ganz mit Büchern angefüllt, die ein dürftiger Mensch bewachte, war lange
Jahre hindurch sein eigenes gewesen. Dorthin war er nach der Schule
heimgekehrt, nachdem er einen Spaziergang, wie eben jetzt, gemacht, an
jener Wand hatte sein Tisch gestanden, in dessen Schublade er seine ersten,
innigen und hilflosen Verse verwahrt hatte… Der Walnußbaum… Eine
stechende Wehmut durchzuckte ihn. Er blickte seitwärts durchs Fenster
hinaus. Der Garten lag wüst, aber der alte Walnußbaum stand an seinem
Platze, schwerfällig knarrend und rauschend im Winde. Und Tonio Kröger
ließ die Augen auf das Buch zurückgleiten, das er in den Händen hielt, ein
hervorragendes Dichtwerk und ihm wohlbekannt. Er blickte auf diese
schwarzen Zeilen und Satzgruppen nieder, folgte eine Strecke dem
kunstvollen Fluß des Vortrags, wie er in gestaltender Leidenschaft sich zu
einer Pointe und Wirkung erhob und dann effektvoll absetzte…
»Ja, das ist gut gemacht!« sagte er, stellte das Dichtwerk weg und wandte
sich. Da sah er, daß der Beamte noch immer aufrecht stand und mit einem
Mischausdruck von Diensteifer und nachdenklichem Mißtrauen seine
Augen zwinkern ließ.
»Eine ausgezeichnete Sammlung, wie ich sehe«, sagte Tonio Kröger. »Ich
habe schon einen Überblick gewonnen. Ich bin Ihnen sehr verbunden.
Adieu.« Damit ging er zur Tür hinaus; aber es war ein zweifelhafter
Abgang, und er fühlte deutlich, daß der Beamte, voller Unruhe über diesen
Besuch, noch minutenlang stehen und zwinkern würde.
Er spürte keine Neigung, noch weiter vorzudringen. Er war zu Hause
gewesen. Droben, in den großen Zimmern hinter der Säulenhalle, wohnten
fremde Leute, er sah es; denn der Treppenkopf war durch eine Glastür
verschlossen, die ehemals nicht dagewesen war, und irgendein
Namensschild war daran. Er ging fort, ging die Treppe hinunter, über die
hallende Diele, und verließ sein Elternhaus. In einem Winkel eines
Restaurants nahm er in sich gekehrt eine schwere und fette Mahlzeit ein
und kehrte dann ins Hotel zurück.
»Ich bin fertig«, sagte er zu dem feinen Herrn in Schwarz. »Ich reise heute
nachmittag.« Und er bestellte seine Rechnung sowie den Wagen, der ihn an
den Hafen bringen sollte, zum Dampfschiff nach Kopenhagen. Dann ging er
auf sein Zimmer und setzte sich an den Tisch, saß still und aufrecht, indem
er die Wange in die Hand stützte und mit blicklosen Augen auf die
Tischplatte niedersah. Später beglich er seine Rechnung und machte seine
Sachen bereit. Zur festgesetzten Zeit ward der Wagen gemeldet, und Tonio
Kröger stieg reisefertig hinab.
Drunten, am Fuße der Treppe, erwartete ihn der feine Herr in Schwarz.
»Um Vergebung!« sagte er und stieß mit den kleinen Fingern seine
Manschetten in die Ärmel zurück… »Verzeihen Sie, mein Herr, daß wir Sie
noch eine Minute in Anspruch nehmen müssen. Herr Seehaase – der
Besitzer des Hotels – ersucht Sie um eine Unterredung von zwei Worten.
Eine Formalität… Er befindet sich dort hinten… Wollen Sie die Güte
haben, sich mit mir zu bemühen… Es ist nur Herr Seehaase, der Besitzer
des Hotels.«
Und er führte Tonio Kröger unter einladendem Gestenspiel in den
Hintergrund des Vestibüls. Dort stand in der Tat Herr Seehaase. Tonio
Kröger kannte ihn von Ansehen aus alter Zeit. Er war klein, fett und
krummbeinig. Sein geschorener Backenbart war weiß geworden; aber noch
immer trug er eine weit ausgeschnittene Frackjacke und dazu ein
grüngesticktes Samtmützchen. Übrigens war er nicht allein. Bei ihm, an
einem kleinen, an der Wand befestigten Pultbrett, stand, den Helm auf dem
Kopf, ein Polizist, welcher seine behandschuhte Rechte auf einem
buntbeschriebenen Papier ruhen ließ, das vor ihm auf dem Pulte lag, und
Tonio Kröger mit seinem ehrlichen Soldatengesicht so entgegensah, als
erwartete er, daß dieser bei seinem Anblick in den Boden versinken müsse.
Tonio Kröger blickte von einem zum andern und verlegte sich aufs Warten.
»Sie kommen von München?« fragte endlich der Polizist mit einer
gutmütigen und schwerfälligen Stimme.
Tonio Kröger bejahte dies.
»Sie reisen nach Kopenhagen?«
»Ja, ich bin auf der Reise in ein dänisches Seebad.«
»Seebad? – Ja, Sie müssen mal Ihre Papiere vorweisen«, sagte der Polizist,
indem er das letzte Wort mit besonderer Genugtuung aussprach.
»Papiere…« Er hatte keine Papiere. Er zog seine Brieftasche hervor und
blickte hinein; aber es befand sich außer einigen Geldscheinen nichts darin
als die Korrektur einer Novelle, die er an seinem Reiseziel zu erledigen
gedachte. Er verkehrte nicht gern mit Beamten und hatte sich noch niemals
einen Paß ausstellen lassen…
»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich führe keine Papiere bei mir.«
»So?« sagte der Polizist… »Gar keine? – Wie ist Ihr Name?«
Tonio Kröger antwortete ihm.
»Ist das auch wahr?!« fragte der Polizist, reckte sich auf und öffnete
plötzlich seine Nasenlöcher, so weit er konnte…
»Vollkommen wahr«, antwortete Tonio Kröger.
»Was sind Sie denn?«
Tonio Kröger schluckte hinunter und nannte mit fester Stimme sein
Gewerbe. – Herr Seehaase hob den Kopf und sah neugierig in sein Gesicht
empor.
»Hm!« sagte der Polizist. »Und Sie geben an, nicht identisch zu sein mit
einem Individium namens –« Er sagte »Individium« und buchstabierte dann
aus dem buntbeschriebenen Papier einen ganz verzwickten und
romantischen Namen zusammen, der aus den Lauten verschiedener Rassen
abenteuerlich gemischt erschien und den Tonio Kröger im nächsten
Augenblick wieder vergessen hatte. »– welcher«, fuhr er fort, »von
unbekannten Eltern und unbestimmter Zuständigkeit wegen verschiedener
Betrügereien und anderer Vergehen von der Münchener Polizei verfolgt
wird und sich wahrscheinlich auf der Flucht nach Dänemark befindet?«
»Ich gebe das nicht nur an«, sagte Tonio Kröger und machte eine nervöse
Bewegung mit den Schultern. – Dies rief einen gewissen Eindruck hervor.
»Wie? Ach so, na gewiß!« sagte der Polizist. »Aber daß Sie auch gar nichts
vorweisen können!«
Auch Herr Seehaase legte sich beschwichtigend ins Mittel.
»Das Ganze ist eine Formalität«, sagte er, »nichts weiter! Sie müssen
bedenken, daß der Beamte nur seine Schuldigkeit tut. Wenn Sie sich
irgendwie legitimieren könnten… Ein Papier…«
Alle schwiegen. Sollte er der Sache ein Ende machen, indem er sich zu
erkennen gab, indem er Herrn Seehaase eröffnete, daß er kein Hochstapler
von unbestimmter Zuständigkeit sei, von Geburt kein Zigeuner im grünen
Wagen, sondern der Sohn Konsul Krögers, aus der Familie der Kröger?
Nein, er hatte keine Lust dazu. Und waren diese Männer der bürgerlichen
Ordnung nicht im Grunde ein wenig im Recht? Gewissermaßen war er ganz
einverstanden mit ihnen… Er zuckte die Achseln und blieb stumm.
»Was haben Sie denn da?« fragte der Polizist. »Da, in dem Porteföhch?«
»Hier? Nichts. Es ist eine Korrektur«, antwortete Tonio Kröger.
»Korrektur? Wieso? Lassen Sie mal sehen.«
Und Tonio Kröger überreichte ihm seine Arbeit. Der Polizist breitete sie auf
der Pultplatte aus und begann darin zu lesen. Auch Herr Seehaase trat näher
herzu und beteiligte sich an der Lektüre. Tonio Kröger blickte ihnen über
die Schultern und beobachtete, bei welcher Stelle sie seien. Es war ein guter
Moment, eine Pointe und Wirkung, die er vortrefflich herausgearbeitet
hatte. Er war zufrieden mit sich.
»Sehen Sie!« sagte er. »Da steht mein Name. Ich habe dies geschrieben,
und nun wird es veröffentlicht, verstehen Sie.«
»Nun, das genügt!« sagte Herr Seehaase mit Entschluß, raffte die Blätter
zusammen, faltete sie und gab sie ihm zurück. »Das muß genügen,
Petersen!« wiederholte er kurz, indem er verstohlen die Augen schloß und
abwinkend den Kopf schüttelte. »Wir dürfen den Herrn nicht länger
aufhalten. Der Wagen wartet. Ich bitte sehr, die kleine Störung zu
entschuldigen, mein Herr. Der Beamte hat ja nur seine Pflicht getan, aber
ich sagte ihm sofort, daß er auf falscher Fährte sei…«
So? dachte Tonio Kröger.
Der Polizist schien nicht ganz einverstanden; er wandte noch etwas ein von
›Individium‹ und ›vorweisen‹. Aber Herr Seehaase führte seinen Gast unter
wiederholten Ausdrücken des Bedauerns durch das Vestibül zurück,
geleitete ihn zwischen den beiden Löwen hindurch zum Wagen und schloß
selbst unter Achtungsbezeugungen den Schlag hinter ihm. Und dann rollte
die lächerlich hohe und breite Droschke stolpernd, klirrend und lärmend die
steilen Gassen hinab zum Hafen…
Dies war Tonio Krögers seltsamer Aufenthalt in seiner Vaterstadt.
VII
Die Nacht fiel ein, und mit einem schwimmenden Silberglanz stieg schon
der Mond empor, als Tonio Krögers Schiff die offene See gewann. Er stand
am Bugspriet, in seinen Mantel gehüllt vor dem Winde, der mehr und mehr
erstarkte, und blickte hinab in das dunkle Wandern und Treiben der starken,
glatten Wellenleiber dort unten, die umeinander schwankten, sich
klatschend begegneten, in unerwarteten Richtungen auseinanderschossen
und plötzlich schaumig aufleuchteten…
Eine schaukelnde und still entzückte Stimmung erfüllte ihn. Er war ein
wenig niedergeschlagen gewesen, daß man ihn daheim als Hochstapler
hatte verhaften wollen, ja, – obgleich er es gewissermaßen in der Ordnung
gefunden hatte. Aber dann, nachdem er sich eingeschifft, hatte er, wie als
Knabe zuweilen mit seinem Vater, dem Verladen der Waren zugesehen, mit
denen man, unter Rufen, die ein Gemisch aus Dänisch und Plattdeutsch
waren, den tiefen Bauch des Dampfers füllte, hatte gesehen, wie man außer
den Ballen und Kisten auch einen Eisbären und einen Königstiger in dick
vergitterten Käfigen hinabließ, die wohl von Hamburg kamen und für eine
dänische Menagerie bestimmt waren; und dies hatte ihn zerstreut. Während
dann das Schiff zwischen den flachen Ufern den Fluß entlang glitt, hatte er
Polizist Petersens Verhör ganz und gar vergessen, und alles, was vorher
gewesen war, seine süßen, traurigen und reuigen Träume der Nacht, der
Spaziergang, den er gemacht, der Anblick des Walnußbaumes, war wieder
in seiner Seele stark geworden. Und nun, da das Meer sich öffnete, sah er
von fern den Strand, an dem er als Knabe die sommerlichen Träume des
Meeres hatte belauschen dürfen, sah die Glut des Leuchtturms und die
Lichter des Kurhauses, darin er mit seinen Eltern gewohnt… Die Ostsee! Er
lehnte den Kopf gegen den starken Salzwind, der frei und ohne Hindernis
daherkam, die Ohren umhüllte und einen gelinden Schwindel, eine
gedämpfte Betäubung hervorrief, in der die Erinnerung an alles Böse, an
Qual und Irrsal, an Wollen und Mühen träge und selig unterging. Und in
dem Sausen, Klatschen, Schäumen und Ächzen rings um ihn her glaubte er
das Rauschen und Knarren des alten Walnußbaumes, das Kreischen einer
Gartenpforte zu hören… Es dunkelte mehr und mehr.
»Die Sderne, Gott, sehen Sie doch bloß die Sderne an«, sagte plötzlich mit
schwerfällig singender Betonung eine Stimme, die aus dem Innern einer
Tonne zu kommen schien. Er kannte sie schon. Sie gehörte einem
rotblonden und schlicht gekleideten Mann mit geröteten Augenlidern und
einem feuchtkalten Aussehen, als habe er soeben gebadet. Beim
Abendessen in der Kajüte war er Tonio Krögers Nachbar gewesen und hatte
mit zagen und bescheidenen Bewegungen erstaunliche Mengen von
Hummer-Omelette zu sich genommen. Nun lehnte er neben ihm an der
Brüstung und blickte zum Himmel empor, indem er sein Kinn mit Daumen
und Zeigefinger erfaßt hielt. Ohne Zweifel befand er sich in einer jener
außerordentlichen und festlich-beschaulichen Stimmungen, in denen die
Schranken zwischen den Menschen dahinsinken, in denen das Herz auch
Fremden sich öffnet und der Mund Dinge spricht, vor denen er sich sonst
schamhaft verschließen würde…
»Sehen Sie, Herr, doch bloß die Sderne an. Da sdehen sie und glitzern, es
ist, weiß Gott, der ganze Himmel voll. Und nun bitt' ich Sie, wenn man
hinaufsieht und bedenkt, daß viele davon doch hundertmal größer sein
sollen als die Erde, wie wird einem da zu Sinn? Wir Menschen haben den
Telegraphen erfunden und das Telephon und so viele Errungenschaften der
Neuzeit, ja, das haben wir. Aber wenn wir da hinaufsehen, so müssen wir
doch erkennen und versdehen, daß wir im Grunde Gewürm sind, elendes
Gewürm und nichts weiter, – hab' ich recht oder unrecht, Herr? Ja, wir sind
Gewürm!« antwortete er sich selbst und nickte demütig und zerknirscht
zum Firmament empor.
Au… nein, der hat keine Literatur im Leibe! dachte Tonio Kröger. Und
alsbald fiel ihm etwas ein, was er kürzlich gelesen hatte, der Aufsatz eines
berühmten französischen Schriftstellers über kosmologische und
psychologische Weltanschauung; es war ein recht feines Geschwätz
gewesen.
Er gab dem jungen Mann etwas wie eine Antwort auf seine tief erlebte
Bemerkung, und dann fuhren sie fort, miteinander zu sprechen, indem sie,
über die Brüstung gelehnt, in den unruhig erhellten, bewegten Abend
hinausblickten. Es erwies sich, daß der Reisegefährte ein junger Kaufmann
aus Hamburg war, der seinen Urlaub zu dieser Vergnügungsfahrt benutzte…
»Sollst«, sagte er, »ein bißchen mit dem Steamer nach Kopenhagen fahren,
denk' ich, und da sdeh ich nun, und es ist ja soweit ganz schön. Aber das
mit den Hummer-Omeletten, das war nicht richtig, Herr, das sollen Sie
sehn, denn die Nacht wird sdürmisch, das hat der Kapitän selbst gesagt, und
mit so einem unbekömmlichen Essen im Magen ist das kein Sbaß…«
Tonio Kröger lauschte all dieser zutunlichen Torheit mit einem heimlichen
und freundschaftlichen Gefühl.
»Ja«, sagte er, »man ißt überhaupt zu schwer hier oben. Das macht faul und
wehmütig.«
»Wehmütig?« wiederholte der junge Mann und betrachtete ihn verdutzt…
»Sie sind wohl fremd hier, Herr?« fragte er plötzlich…
»Ach ja, ich komme weither!« antwortete Tonio Kröger mit einer vagen und
abwehrenden Armbewegung.
»Aber Sie haben recht«, sagte der junge Mann; »Sie haben, weiß Gott, recht
in dem, was Sie von wehmütig sagen! Ich bin fast immer wehmütig, aber
besonders an solchen Abenden wie heute, wenn die Sderne am Himmel
sdehn.« Und er stützte wieder sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger.
Sicherlich schreibt er Verse, dachte Tonio Kröger, tief ehrlich empfundene
Kaufmannsverse…
Der Abend rückte vor, und der Wind war nun so heftig geworden, daß er
das Sprechen behinderte. So beschlossen sie, ein wenig zu schlafen, und
wünschten einander gute Nacht.
Tonio Kröger streckte sich in seiner Koje auf der schmalen Bettstatt aus,
aber er fand keine Ruhe. Der strenge Wind und sein herbes Arom hatten ihn
seltsam erregt, und sein Herz war unruhig wie in ängstlicher Erwartung von
etwas Süßem. Auch verursachte die Erschütterung, welche entstand, wenn
das Schiff einen steilen Wogenberg hinabglitt und die Schraube wie im
Krampf außerhalb des Wassers arbeitete, ihm arge Übelkeit. Er kleidete sich
wieder vollends an und stieg ins Freie hinauf.
Wolken jagten am Monde vorbei. Das Meer tanzte. Nicht runde und
gleichmäßige Wellen kamen in Ordnung daher, sondern weithin, in
bleichem und flackerndem Licht, war die See zerrissen, zerpeitscht,
zerwühlt, leckte und sprang in spitzen, flammenartigen Riesenzungen
empor, warf neben schaumerfüllten Klüften zackige und unwahrscheinliche
Gebilde auf und schien mit der Kraft ungeheurer Arme in tollem Spiel den
Gischt in alle Lüfte zu schleudern. Das Schiff hatte schwere Fahrt;
stampfend, schlenkernd und ächzend arbeitete es sich durch den Tumult,
und manchmal hörte man den Eisbären und den Tiger, die unter dem
Seegang litten, in seinem Innern brüllen. Ein Mann im Wachstuchmantel,
die Kapuze überm Kopf und eine Laterne um den Leib geschnallt, ging
breitbeinig und mühsam balancierend auf dem Verdecke hin und her. Aber
dort hinten stand, tief über Bord gebeugt, der junge Mann aus Hamburg und
ließ es sich schlecht ergehen. »Gott«, sagte er mit hohler und wankender
Stimme, als er Tonio Kröger gewahrte, »sehen Sie doch bloß den Aufruhr
der Elemente, Herr!« Aber dann wurde er unterbrochen und wandte sich
eilig ab.
Tonio Kröger hielt sich an irgendeinem gestrafften Tau und blickte hinaus
in all den unbändigen Übermut. In ihm schwang sich ein Jauchzen auf, und
ihm war, als sei es mächtig genug, um Sturm und Flut zu übertönen. Ein
Sang an das Meer, begeistert von Liebe, tönte in ihm. Du meiner Jugend
wilder Freund, so sind wir einmal noch vereint… Aber dann war das
Gedicht zu Ende. Es ward nicht fertig, nicht rund geformt und nicht in
Gelassenheit zu etwas Ganzem geschmiedet. Sein Herz lebte…
Lange stand er so; dann streckte er sich auf einer Bank am Kajütenhäuschen
aus und blickte zum Himmel hinauf, an dem die Sterne flackerten. Er
schlummerte sogar ein wenig. Und wenn der kalte Schaum in sein Gesicht
spritzte, so war es ihm im Halbschlaf wie eine Liebkosung.
Senkrechte Kreidefelsen, gespenstisch im Mondschein, kamen in Sicht und
näherten sich; das war Möen, die Insel. Und wieder trat Schlummer
dazwischen, unterbrochen von salzigen Sprühschauern, die scharf ins
Gesicht bissen und die Züge erstarren ließen… Als er völlig wach wurde,
war es schon Tag, ein hellgrauer, frischer Tag, und die grüne See ging
ruhiger. Beim Frühstück sah er den jungen Kaufmann wieder, der heftig
errötete, wahrscheinlich vor Scham, im Dunklen so poetische und blamable
Dinge geäußert zu haben, mit allen fünf Fingern seinen kleinen rötlichen
Schnurrbart emporstrich und ihm einen soldatisch scharfen Morgengruß
zurief, um ihn dann ängstlich zu meiden.
Und Tonio Kröger landete in Dänemark. Er hielt Ankunft in Kopenhagen,
gab Trinkgeld an jeden, der sich die Miene gab, als hätte er Anspruch
darauf, durchwanderte von seinem Hotelzimmer aus drei Tage lang die
Stadt, indem er sein Reisebüchlein aufgeschlagen vor sich hertrug, und
benahm sich ganz wie ein besserer Fremder, der seine Kenntnisse zu
bereichern wünscht. Er betrachtete des Königs Neumarkt und das ›Pferd‹ in
seiner Mitte, blickte achtungsvoll an den Säulen der Frauenkirche empor,
stand lange vor Thorwaldsens edlen und lieblichen Bildwerken, stieg auf
den Runden Turm, besichtigte Schlösser und verbrachte zwei bunte Abende
im Tivoli. Aber es war nicht so recht eigentlich all dies, was er sah.
An den Häusern, die oft ganz das Aussehen der alten Häuser seiner
Vaterstadt mit geschwungenen, durchbrochenen Giebeln hatten, sah er
Namen, die ihm aus alten Tagen bekannt waren, die ihm etwas Zartes und
Köstliches zu bezeichnen schienen und bei alledem etwas wie Vorwurf,
Klage und Sehnsucht nach Verlorenem in sich schlossen. Und allerwegen,
indes er in verlangsamten, nachdenklichen Zügen die feuchte Seeluft
atmete, sah er Augen, die so blau, Haare, die so blond, Gesichter, die von
eben der Art und Bildung waren, wie er sie in den seltsam wehen und
reuigen Träumen der Nacht geschaut, die er in seiner Vaterstadt verbracht
hatte. Es konnte geschehen, daß auf offener Straße ein Blick, ein klingendes
Wort, ein Auflachen ihn ins Innerste traf…
Es litt ihn nicht lange in der munteren Stadt. Eine Unruhe, süß und töricht,
Erinnerung halb und halb Erwartung, bewegte ihn, zusammen mit dem
Verlangen, irgendwo still am Strande liegen zu dürfen und nicht den
angelegentlich sich umtuenden Touristen spielen zu müssen. So schiffte er
sich aufs neue ein und fuhr an einem trüben Tage (die See ging schwarz)
nordwärts die Küste von Seeland entlang gen Helsingör. Von dort setzte er
seine Reise unverzüglich zu Wagen auf dem Chausseewege fort, noch drei
Viertelstunden lang, immer ein wenig oberhalb des Meeres, bis er an
seinem letzten und eigentlichen Ziele hielt, dem kleinen weißen Badehotel
mit grünen Fensterläden, das inmitten einer Siedelung niedriger Häuschen
stand und mit seinem holzgedeckten Turm auf den Sund und die
schwedische Küste hinausblickte. Hier stieg er ab, nahm Besitz von dem
hellen Zimmer, das man ihm bereitgehalten, füllte Bord und Spind mit dem,
was er mit sich führte, und schickte sich an, hier eine Weile zu leben.
VIII
Schon rückte der September vor: es waren nicht mehr viele Gäste in
Aalsgaard. Bei den Mahlzeiten in dem großen, balkengedeckten Eßsaal zu
ebener Erde, dessen hohe Fenster auf die Glasveranda und die See
hinausblickten, führte die Wirtin den Vorsitz, ein bejahrtes Mädchen mit
weißem Haar, farblosen Augen, zartrosigen Wangen und einer haltlosen
Zwitscherstimme, das immer seine roten Hände auf dem Tafeltuche ein
wenig vorteilhaft zu gruppieren trachtete. Ein kurzhalsiger alter Herr mit
eisgrauem Schifferbart und dunkelbläulichem Gesicht war da, ein
Fischhändler aus der Hauptstadt, der des Deutschen mächtig war. Er schien
gänzlich verstopft und zum Schlagfluß geneigt, denn er atmete kurz und
stoßweise und hob von Zeit zu Zeit den beringten Zeigefinger zu einem
seiner Nasenlöcher empor, um es zuzudrücken und dem anderen durch
starkes Blasen ein wenig Luft zu verschaffen. Nichtsdestoweniger sprach er
beständig der Aquavitflasche zu, die sowohl beim Frühstück als beim
Mittag- und Abendessen vor ihm stand. Dann waren nur noch drei große
amerikanische Jünglinge mit ihrem Gouverneur oder Hauslehrer zugegen,
der schweigend an seiner Brille rückte und tagüber mit ihnen Fußball
spielte. Sie trugen ihr rotgelbes Haar in der Mitte gescheitelt und hatten
lange, unbewegte Gesichter. »Please give me the wurst-things there!« sagte
der eine. »That's not wurst, that's schinken!« sagte ein anderer, und dies war
alles, was sowohl sie als der Hauslehrer zur Unterhaltung beitrugen; denn
sonst saßen sie still und tranken heißes Wasser.
Tonio Kröger hätte sich keine andere Art von Tischgesellschaft gewünscht.
Er genoß seinen Frieden, horchte auf die dänischen Kehllaute, die hellen
und trüben Vokale, in denen der Fischhändler und die Wirtin zuweilen
konversierten, wechselte hie und da mit dem ersteren eine schlichte
Bemerkung über den Barometerstand und erhob sich dann, um durch die
Veranda wieder an den Strand hinunterzugehen, wo er schon lange
Morgenstunden verbracht hatte.
Manchmal war es dort still und sommerlich. Die See ruhte träge und glatt,
in blauen, flaschengrünen und rötlichen Streifen, von silbrig glitzernden
Lichtreflexen überspielt, der Tang dörrte zu Heu in der Sonne, und die
Quallen lagen da und verdunsteten. Es roch ein wenig faulig und ein wenig
auch nach dem Teer des Fischerbootes, an welches Tonio Kröger, im Sande
sitzend, den Rücken lehnte, – so gewandt, daß er den offenen Horizont und
nicht die schwedische Küste vor Augen hatte; aber des Meeres leiser Atem
strich rein und frisch über alles hin.
Und graue, stürmische Tage kamen. Die Wellen beugten die Köpfe wie
Stiere, die die Hörner zum Stoße einlegen, und rannten wütend gegen den
Strand, der hoch hinauf überspült und mit naßglänzendem Seegras,
Muscheln und angeschwemmtem Holzwerk bedeckt war. Zwischen den
langgestreckten Wellenhügeln dehnten sich unter dem verhängten Himmel
blaßgrün-schaumig die Täler; aber dort, wo hinter den Wolken die Sonne
stand, lag auf den Wassern ein weißlicher Sammetglanz.
Tonio Kröger stand in Wind und Brausen eingehüllt, versunken in dies
ewige, schwere, betäubende Getöse, das er so sehr liebte. Wandte er sich
und ging fort, so schien es plötzlich ganz ruhig und warm um ihn her. Aber
im Rücken wußte er sich das Meer; es rief, lockte und grüßte. Und er
lächelte.
Er ging landeinwärts, auf Wiesenwegen durch die Einsamkeit, und bald
nahm Buchenwald ihn auf, der sich hügelig weit in die Gegend erstreckte.
Er setzte sich ins Moos, an einen Baum gelehnt, so, daß er zwischen den
Stämmen einen Streifen des Meeres gewahren konnte. Zuweilen trug der
Wind das Geräusch der Brandung zu ihm, das klang, wie wenn in der Ferne
Bretter aufeinanderfallen. Krähengeschrei über den Wipfeln, heiser, öde
und verloren… Er hielt ein Buch auf den Knien, aber er las nicht eine Zeile
darin. Er genoß ein tiefes Vergessen, ein erlöstes Schweben über Raum und
Zeit, und nur zuweilen war es, als würde sein Herz von einem Weh
durchzuckt, einem kurzen, stechenden Gefühl von Sehnsucht oder Reue,
das nach Namen und Herkunft zu fragen er zu träge und versunken war.
So verging mancher Tag; er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viele, und
trug kein Verlangen danach, es zu wissen. Dann aber kam einer, an
welchem etwas geschah; es geschah, während die Sonne am Himmel stand
und Menschen zugegen waren, und Tonio Kröger war nicht einmal so
außerordentlich erstaunt darüber.
Gleich dieses Tages Anfang gestaltete sich festlich und entzückend. Tonio
Kröger erwachte sehr früh und ganz plötzlich, fuhr mit einem feinen und
unbestimmten Erschrecken aus dem Schlafe empor und glaubte, in ein
Wunder, einen feenhaften Beleuchtungszauber hineinzublicken. Sein
Zimmer, mit Glastür und Balkon nach dem Sunde hinaus gelegen und durch
einen dünnen, weißen Gazevorhang in Wohn- und Schlafraum geteilt, war
zartfarbig tapeziert und mit leichten, hellen Möbeln versehen, so daß es
stets einen lichten und freundlichen Anblick bot. Nun aber sahen seine
schlaftrunkenen Augen es in einer unirdischen Verklärung und Illumination
vor sich liegen, über und über getaucht in einen unsäglich holden und
duftigen Rosenschein, der Wände und Möbel vergoldete und den
Gazevorhang in ein mildes, rotes Glühen versetzte… Tonio Kröger begriff
lange nicht, was sich ereignete. Als er aber vor der Glastür stand und
hinausblickte, sah er, daß es die Sonne war, die aufging.
Mehrere Tage lang war es trüb und regnicht gewesen; jetzt aber spannte
sich der Himmel wie aus straffer, blaßblauer Seide schimmernd klar über
See und Land, und durchquert und umgeben von rot und golden
durchleuchteten Wolken, erhob sich feierlich die Sonnenscheibe über das
flimmernd gekrauste Meer, das unter ihr zu erschauern und zu erglühen
schien… So hub der Tag an, und verwirrt und glücklich warf Tonio Kröger
sich in die Kleider, frühstückte vor allen anderen drunten in der Veranda,
schwamm hierauf von dem kleinen hölzernen Badehäuschen aus eine
Strecke in den Sund hinaus und tat dann einen stundenlangen Gang am
Strande hin. Als er zurückkehrte, hielten mehrere omnibusartige Wagen
vorm Hotel, und vom Eßsaal aus gewahrte er, daß sowohl in dem
anstoßenden Gesellschaftszimmer, dort, wo das Klavier stand, als auch in
der Veranda und auf der Terrasse, die davor lag, Menschen in großer
Anzahl, kleinbürgerlich gekleidete Herrschaften, an runden Tischen saßen
und unter angeregten Gesprächen Bier mit Butterbrot genossen. Es waren
ganze Familien, ältere und junge Leute, ja sogar ein paar Kinder.
Beim zweiten Frühstück (der Tisch trug schwer an kalter Küche,
Geräuchertem, Gesalzenem und Gebackenem) erkundigte sich Tonio
Kröger, was vor sich gehe.
»Gäste!« sagte der Fischhändler. »Ausflügler und Ballgäste aus Helsingör!
Ja, Gott soll uns bewahren, wir werden nicht schlafen können, diese Nacht!
Es wird Tanz geben, Tanz und Musik, und man muß fürchten, daß das lange
dauert. Es ist eine Familienvereinigung, eine Landpartie nebst Reunion,
kurzum, eine Subskription oder dergleichen, und sie genießen den schönen
Tag. Sie sind zu Boot und zu Wagen gekommen, und jetzt frühstücken sie.
Später fahren sie noch weiter über Land, aber abends kommen sie wieder,
und dann ist Tanzbelustigung hier im Saale. Ja, verdammt und verflucht,
wir werden kein Auge zutun…«
»Das ist eine hübsche Abwechslung«, sagte Tonio Kröger.
Hierauf wurde längere Zeit nichts mehr gesprochen. Die Wirtin ordnete ihre
roten Finger, der Fischhändler blies durch das rechte Nasenloch, um sich
ein wenig Luft zu verschaffen, und die Amerikaner tranken heißes Wasser
und machten lange Gesichter dazu.
Da geschah dies auf einmal: Hans Hansen und Ingeborg Holm gingen
durch den Saal. –
Tonio Kröger lehnte, in einer wohligen Ermüdung nach dem Bade und
seinem hurtigen Gang, im Stuhl und aß geräucherten Lachs auf Röstbrot; –
er saß der Veranda und dem Meere zugewandt. Und plötzlich öffnete sich
die Tür, und Hand in Hand kamen die beiden herein, – schlendernd und
ohne Eile. Ingeborg, die blonde Inge, war hell gekleidet, wie sie in der
Tanzstunde bei Herrn Knaak zu sein pflegte. Das leichte, geblümte Kleid
reichte ihr nur bis zu den Knöcheln, und um die Schultern trug sie einen
breiten, weißen Tüllbesatz mit spitzem Ausschnitt, der ihren weichen,
geschmeidigen Hals frei ließ. Der Hut hing ihr an seinen
zusammengeknüpften Bändern über dem einen Arm. Sie war vielleicht ein
klein wenig erwachsener als sonst und trug ihren wunderbaren Zopf nun um
den Kopf gelegt; aber Hans Hansen war ganz wie immer. Er hatte seine
Seemanns-Überjacke mit den goldenen Knöpfen an, über welcher auf
Schultern und Rücken der breite, blaue Kragen lag; die Matrosenmütze mit
den kurzen Bändern hielt er in der hinabhängenden Hand und schlenkerte
sie sorglos hin und her. Ingeborg hielt ihre schmal geschnittenen Augen
abgewandt, vielleicht ein wenig geniert durch die speisenden Leute, die auf
sie schauten. Allein Hans Hansen wandte nun gerade und aller Welt zum
Trotz den Kopf nach der Frühstückstafel und musterte mit seinen
stahlblauen Augen einen nach dem anderen herausfordernd und
gewissermaßen verächtlich; er ließ sogar Ingeborgs Hand fahren und
schwenkte seine Mütze noch heftiger hin und her, um zu zeigen, was für ein
Mann er sei. So gingen die beiden, mit dem still blauenden Meere als
Hintergrund, vor Tonio Krögers Augen vorüber, durchmaßen den Saal
seiner Länge nach und verschwanden durch die entgegengesetzte Tür im
Klavierzimmer.
Dies begab sich um halb zwölf Uhr vormittags, und noch während die
Kurgäste beim Frühstück saßen, brach nebenan und in der Veranda die
Gesellschaft auf und verließ, ohne daß noch jemand den Eßsaal betreten
hätte, durch den Seitenzugang, der vorhanden war, das Hotel. Man hörte,
wie draußen unter Scherzen und Gelächter die Wagen bestiegen wurden,
wie ein Gefährt nach dem anderen auf der Landstraße sich knirschend in
Bewegung setzte und davonrollte…
»Sie kommen also wieder?« fragte Tonio Kröger…
»Das tun sie!« sagte der Fischhändler. »Und Gott sei's geklagt. Sie haben
Musik bestellt, müssen Sie wissen, und ich schlafe hier überm Saale.«
»Das ist eine hübsche Abwechslung«, wiederholte Tonio Kröger. Dann
stand er auf und ging fort.
Er verbrachte den Tag, wie er die anderen verbracht hatte, am Strande, im
Walde, hielt ein Buch auf den Knien und blinzelte in die Sonne. Er bewegte
nur einen Gedanken: diesen, daß sie wiederkehren und im Saale
Tanzbelustigung abhalten würden, wie es der Fischhändler versprochen
hatte; und er tat nichts, als sich hierauf freuen, mit einer so ängstlichen und
süßen Freude, wie er sie lange, tote Jahre hindurch nicht mehr erprobt hatte.
Einmal, durch irgendeine Verknüpfung von Vorstellungen, erinnerte er sich
flüchtig eines fernen Bekannten, Adalberts, des Novellisten, der wußte, was
er wollte, und sich ins Kaffeehaus begeben hatte, um der Frühlingsluft zu
entgehen. Und er zuckte die Achseln über ihn…
Es wurde früher als gewöhnlich zu Mittag gegessen, und das Abendbrot
nahm man ebenfalls zeitiger als sonst, im Klavierzimmer, weil im Saale
schon Vorbereitungen zum Balle getroffen wurden: auf so festliche Art war
alles in Unordnung gebracht. Dann, als es schon dunkel war und Tonio
Kröger in seinem Zimmer saß, ward es wieder lebendig auf der Landstraße
und im Hause. Die Ausflügler kehrten zurück; ja, aus der Richtung von
Helsingör trafen zu Rad und zu Wagen noch neue Gäste ein, und bereits
hörte man drunten im Hause eine Geige stimmen und eine Klarinette
näselnde Übungsläufe vollführen… Alles versprach, daß es ein glänzendes
Ballfest geben werde.
Nun setzte das kleine Orchester mit einem Marsche ein: gedämpft und
taktfest scholl es herauf: man eröffnete den Tanz mit einer Polonäse. Tonio
Kröger saß noch eine Weile still und lauschte. Als er aber vernahm, wie das
Marschtempo in Walzertakt überging, machte er sich auf und schlich
geräuschlos aus seinem Zimmer.
Von dem Korridor, an dem es gelegen war, konnte man über eine
Nebentreppe zu dem Seiteneingang des Hotels und von dort, ohne ein
Zimmer zu berühren, in die Glasveranda gelangen. Diesen Weg nahm er,
leise und verstohlen, als befinde er sich auf verbotenen Pfaden, tastete sich
behutsam durch das Dunkel, unwiderstehlich angezogen von dieser
dummen und selig wiegenden Musik, deren Klänge schon klar und
ungedämpft zu ihm drangen.
Die Veranda war leer und unerleuchtet, aber die Glastür zum Saale, wo die
beiden großen, mit blanken Reflektoren versehenen Petroleumlampen hell
erstrahlten, stand geöffnet. Dorthin schlich er sich auf leisen Sohlen, und
der diebische Genuß, hier im Dunkeln stehen und ungesehen die belauschen
zu dürfen, die im Lichte tanzten, verursachte ein Prickeln in seiner Haut.
Hastig und begierig sandte er seine Blicke nach den beiden aus, die er
suchte…
Die Fröhlichkeit des Festes schien schon ganz frei entfaltet, obgleich es
kaum seit einer halben Stunde eröffnet war; aber man war ja bereits warm
und angeregt hierhergekommen, nachdem man den ganzen Tag miteinander
verbracht, sorglos, gemeinsam und glücklich. Im Klavierzimmer, das Tonio
Kröger überblicken konnte, wenn er sich ein wenig weiter vorwagte, hatten
sich mehrere ältere Herren rauchend und trinkend beim Kartenspiel
vereinigt; aber andere saßen bei ihren Gattinnen im Vordergrunde auf den
Plüschstühlen und an den Wänden des Saales und sahen dem Tanze zu. Sie
hielten die Hände auf die gespreizten Knie gestützt und bliesen mit einem
wohlhabenden Ausdruck die Wangen auf, indes die Mütter, Kapotthütchen
auf den Scheiteln, die Hände unter der Brust zusammenlegten und mit
seitwärts geneigten Köpfen in das Getümmel der jungen Leute schauten.
Ein Podium war an der einen Längswand des Saales errichtet worden, und
dort taten die Musikanten ihr Bestes. Sogar eine Trompete war da, welche
mit einer gewissen zögernden Behutsamkeit blies, als fürchtete sie sich vor
ihrer eigenen Stimme, die sich dennoch beständig brach und überschlug…
Wogend und kreisend bewegten sich die Paare umeinander, indes andere
Arm in Arm den Saal umwandelten. Man war nicht ballmäßig gekleidet,
sondern nur wie an einem Sommersonntag, den man im Freien verbringt:
die Kavaliere in kleinstädtisch geschnittenen Anzügen, denen man ansah,
daß sie die ganze Woche geschont wurden, und die jungen Mädchen in
lichten und leichten Kleidern mit Feldblumensträußchen an den Miedern.
Auch ein paar Kinder waren im Saale und tanzten untereinander auf ihre
Art, sogar wenn die Musik pausierte. Ein langbeiniger Mensch in
schwalbenschwanzförmigem Röckchen, ein Provinzlöwe mit Augenglas
und gebranntem Haupthaar, Postadjunkt oder dergleichen und wie die
fleischgewordene komische Figur aus einem dänischen Roman, schien
Festordner und Kommandeur des Balles zu sein. Eilfertig, transpirierend
und mit ganzer Seele bei der Sache, war er überall zugleich, schwänzelte
übergeschäftig durch den Saal, indem er kunstvoll mit den Zehenspitzen
zuerst auftrat und die Füße, die in glatten und spitzen Militärstiefeletten
steckten, auf eine verzwickte Art kreuzweis übereinander setzte, schwang
die Arme in der Luft, traf Anordnungen, rief nach Musik, klatschte in die
Hände, und bei alldem flogen die Bänder der großen, bunten Schleife, die
als Zeichen seiner Würde auf seiner Schulter befestigt war und nach der er
manchmal liebevoll den Kopf drehte, flatternd hinter ihm drein.
Ja, sie waren da, die beiden, die heute im Sonnenlicht an Tonio Kröger
vorübergezogen waren, er sah sie wieder und erschrak vor Freude, als er sie
fast gleichzeitig gewahrte. Hier stand Hans Hansen, ganz nahe bei ihm,
dicht an der Tür; breitbeinig und ein wenig vorgebeugt, verzehrte er
bedächtig ein großes Stück Sandtorte, wobei er die hohle Hand unters Kinn
hielt, um die Krümel aufzufangen. Und dort an der Wand saß Ingeborg
Holm, die blonde Inge, und eben schwänzelte der Adjunkt auf sie zu, um
sie durch eine ausgesuchte Verbeugung zum Tanze aufzufordern, wobei er
die eine Hand auf den Rücken legte und die andere graziös in den Busen
schob; aber sie schüttelte den Kopf und deutete an, daß sie zu atemlos sei
und ein wenig ruhen müsse, worauf der Adjunkt sich neben sie setzte.
Tonio Kröger sah sie an, die beiden, um die er vorzeiten Liebe gelitten
hatte, – Hans und Ingeborg. Sie waren es nicht so sehr vermöge einzelner
Merkmale und der Ähnlichkeit der Kleidung, als kraft der Gleichheit der
Rasse und des Typus, dieser lichten, stahlblauäugigen und blondhaarigen
Art, die eine Vorstellung von Reinheit, Ungetrübtheit, Heiterkeit und einer
zugleich stolzen und schlichten, unberührbaren Sprödigkeit hervorrief… Er
sah sie an, sah, wie Hans Hansen so keck und wohlgestaltet wie nur jemals,
breit in den Schultern und schmal in den Hüften, in seinem Matrosenanzug
dastand, sah, wie Ingeborg auf eine gewisse übermütige Art lachend den
Kopf zur Seite warf, auf eine gewisse Art ihre Hand, eine gar nicht
besonders schmale, gar nicht besonders feine Kleinmädchenhand, zum
Hinterkopfe führte, wobei der leichte Ärmel von ihrem Ellenbogen
zurückglitt, – und plötzlich erschütterte das Heimweh seine Brust mit einem
solchen Schmerz, daß er unwillkürlich weiter ins Dunkel zurückwich, damit
niemand das Zucken seines Gesichtes sähe.
Hatte ich euch vergessen? fragte er. Nein, niemals! Nicht dich, Hans, noch
dich, blonde Inge! Ihr wart es ja, für die ich arbeitete, und wenn ich
Applaus vernahm, blickte ich heimlich um mich, ob ihr daran teilhättet…
Hast du nun den ›Don Carlos‹ gelesen, Hans Hansen, wie du es mir an eurer
Gartenpforte versprachst? Tu's nicht! Ich verlange es nicht mehr von dir.
Was geht dich der König an, der weint, weil er einsam ist? Du sollst deine
hellen Augen nicht trüb und traumblöde machen vom Starren in Verse und
Melancholie… Zu sein wie du! Noch einmal anfangen, aufwachsen gleich
dir, rechtschaffen, fröhlich und schlicht, regelrecht, ordnungsgemäß und im
Einverständnis mit Gott und der Welt, geliebt werden von den Harmlosen
und Glücklichen, dich zum Weibe nehmen, Ingeborg Holm, und einen Sohn
haben wie du, Hans Hansen, – frei vom Fluch der Erkenntnis und der
schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger Gewöhnlichkeit!…
Noch einmal anfangen? Aber es hülfe nichts. Es würde wieder so werden, –
alles würde wieder so kommen, wie es gekommen ist. Denn etliche gehen
mit Notwendigkeit in die Irre, weil es einen rechten Weg für sie überhaupt
nicht gibt.
Nun schwieg die Musik; es war Pause, und Erfrischungen wurden gereicht.
Der Adjunkt eilte persönlich mit einem Teebrett voll Heringssalat umher
und bediente die Damen: aber vor Ingeborg Holm ließ er sich sogar auf ein
Knie nieder, als er ihr das Schälchen reichte, und sie errötete vor Freude
darüber.
Man begann jetzt dennoch im Saale auf den Zuschauer unter der Glastür
aufmerksam zu werden, und aus hübschen, erhitzten Gesichtern trafen ihn
fremde und forschende Blicke; aber er behauptete trotzdem seinen Platz.
Auch Ingeborg und Hans streiften ihn beinahe gleichzeitig mit den Augen,
mit jener vollkommenen Gleichgültigkeit, die fast das Ansehen der
Verachtung hat. Plötzlich jedoch ward er sich bewußt, daß von irgendwoher
ein Blick zu ihm drang und auf ihm ruhte… Er wandte den Kopf, und sofort
trafen seine Augen mit denen zusammen, deren Berührung er empfunden
hatte. Ein Mädchen stand nicht weit von ihm, mit blassem, schmalem und
feinem Gesicht, das er schon früher bemerkt hatte. Sie hatte nicht viel
getanzt, die Kavaliere hatten sich nicht sonderlich um sie bemüht, und er
hatte sie einsam mit herb geschlossenen Lippen an der Wand sitzen sehen.
Auch jetzt stand sie allein. Sie war hell und duftig gekleidet wie die
anderen, aber unter dem durchsichtigen Stoff ihres Kleides schimmerten
ihre bloßen Schultern spitz und dürftig, und der magere Hals stak so tief
zwischen diesen armseligen Schultern, daß das stille Mädchen fast ein
wenig verwachsen erschien. Ihre Hände, mit dünnen Halbhandschuhen
bekleidet, hielt sie so vor der flachen Brust, daß die Fingerspitzen sich sacht
berührten. Gesenkten Kopfes blickte sie Tonio Kröger von unten herauf mit
schwarzen, schwimmenden Augen an. Er wandte sich ab…
Hier, ganz nahe bei ihm, saßen Hans und Ingeborg. Er hatte sich zu ihr
gesetzt, die vielleicht seine Schwester war, und umgeben von anderen
rotwangigen Menschenkindern aßen und tranken sie, schwatzten und
vergnügten sich, riefen sich mit klingenden Stimmen Neckereien zu und
lachten hell in die Luft. Konnte er sich ihnen nicht ein wenig nähern? Nicht
an ihn oder sie ein Scherzwort richten, das ihm einfiel, und das sie ihm
wenigstens mit einem Lächeln beantworten mußten? Es würde ihn
beglücken, er sehnte sich danach; er würde dann zufriedener in sein
Zimmer zurückkehren, mit dem Bewußtsein, eine kleine Gemeinschaft mit
den beiden hergestellt zu haben. Er dachte sich aus, was er sagen könnte;
aber er fand nicht den Mut, es zu sagen. Auch war es ja wie immer: sie
würden ihn nicht verstehen, würden befremdet auf das horchen, was er zu
sagen vermöchte. Denn ihre Sprache war nicht seine Sprache.
Nun schien der Tanz aufs neue beginnen zu sollen. Der Adjunkt entfaltete
eine umfassende Tätigkeit. Er eilte umher und forderte alle Welt zum
Engagieren auf, räumte mit Hilfe des Kellners Stühle und Gläser aus dem
Wege, erteilte den Musikern Befehle und schob einzelne Täppische, die
nicht wußten wohin, an den Schultern vor sich her. Was hatte man vor? Je
vier und vier Paare bildeten Karrees… Eine schreckliche Erinnerung
machte Tonio Kröger erröten. Man tanzte Quadrille.
Die Musik setzte ein, und die Paare schritten unter Verbeugungen
durcheinander. Der Adjunkt kommandierte; er kommandierte, bei Gott, auf
französisch und brachte die Nasallaute auf unvergleichlich distinguierte Art
hervor. Ingeborg Holm tanzte dicht vor Tonio Kröger, in dem Karree, das
sich unmittelbar an der Glastür befand. Sie bewegte sich vor ihm hin und
her, vorwärts und rückwärts, schreitend und drehend; ein Duft, der von
ihrem Haar oder dem zarten Stoff ihres Kleides ausging, berührte ihn
manchmal, und er schloß die Augen in einem Gefühl, das ihm von je so
wohl bekannt gewesen, dessen Arom und herben Reiz er in all diesen
letzten Tagen leise verspürt hatte, und das ihn nun wieder ganz mit seiner
süßen Drangsal erfüllte. Was war es doch? Sehnsucht? Zärtlichkeit? Neid?
Selbstverachtung?… Moulinet des dames! Lachtest du, blonde Inge,
lachtest du mich aus, als ich moulinet tanzte und mich so jämmerlich
blamierte? Und würdest du auch heute noch lachen, nun da ich doch so
etwas wie ein berühmter Mann geworden bin? Ja, das würdest du und
würdest dreimal recht daran tun! Und wenn ich, ich ganz allein, die neun
Symphonien, ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹ und ›Das Jüngste
Gericht‹ vollbracht hätte, – du würdest ewig recht haben, zu lachen… Er
sah sie an, und eine Verszeile fiel ihm ein, deren er sich lange nicht erinnert
hatte, und die ihm doch so vertraut und verwandt war: »Ich möchte
schlafen, aber du mußt tanzen.« Er kannte sie so gut, die melancholisch-
nordische, innig-ungeschickte Schwerfälligkeit der Empfindung, die daraus
sprach. Schlafen… Sich danach sehnen, einfach und völlig dem Gefühle
leben zu dürfen, das ohne die Verpflichtung, zur Tat und zum Tanz zu
werden, süß und träge in sich selber ruht, – und dennoch tanzen, behend
und geistesgegenwärtig den schweren, schweren und gefährlichen
Messertanz der Kunst vollführen zu müssen, ohne je ganz des demütigen
Widersinnes zu vergessen, der darin lag, tanzen zu müssen, indes man
liebte…
Auf einmal geriet das Ganze in eine tolle und ausgelassene Bewegung. Die
Karrees hatten sich aufgelöst, und springend und gleitend stob alles umher;
man beschloß die Quadrille mit einem Galopp. Die Paare flogen zum
rasenden Eiltakt der Musik an Tonio Kröger vorüber, chassierend, hastend,
einander überholend, mit kurzem, atemlosem Gelächter. Eines kam daher,
mitgerissen von der allgemeinen Jagd, kreischend und vorwärts sausend.
Das Mädchen hatte ein blasses, feines Gesicht und magere, zu hohe
Schultern. Und plötzlich, dicht vor ihm, entstand ein Stolpern, Rutschen
und Stürzen… Das blasse Mädchen fiel hin. Sie fiel so hart und heftig, daß
es fast gefährlich aussah, und mit ihr der Kavalier. Dieser mußte sich so
gröblich weh getan haben, daß er seiner Tänzerin ganz vergaß, denn, nur
halbwegs aufgerichtet, begann er unter Grimassen seine Knie mit den
Händen zu reiben; und das Mädchen, scheinbar ganz betäubt vom Falle, lag
noch immer am Boden. Da trat Tonio Kröger vor, faßte sie sacht an den
Armen und hob sie auf. Abgehetzt, verwirrt und unglücklich sah sie zu ihm
empor, und plötzlich färbte ihr zartes Gesicht sich mit einer matten Röte.
»Tak! O, mange Tak!« sagte sie und sah ihn von unten herauf mit dunklen,
schwimmenden Augen an.
»Sie sollten nicht mehr tanzen, Fräulein«, sagte er sanft. Dann blickte er
sich noch einmal nach ihnen um, nach Hans und Ingeborg, und ging fort,
verließ die Veranda und den Ball und ging in sein Zimmer hinauf.
Er war berauscht von dem Feste, an dem er nicht teilgehabt, und müde von
Eifersucht. Wie früher, ganz wie früher war es gewesen! Mit erhitztem
Gesicht hatte er an dunkler Stelle gestanden, in Schmerzen um euch, ihr
Blonden, Lebendigen, Glücklichen, und war dann einsam hinweggegangen.
Jemand müßte nun kommen! Ingeborg müßte nun kommen, müßte
bemerken, daß er fort war, müßte ihm heimlich folgen, ihm die Hand auf
die Schulter legen und sagen: Komm herein zu uns! Sei froh! Ich liebe
dich!… Aber sie kam keines Weges. Dergleichen geschah nicht. Ja, wie
damals war es, und er war glücklich wie damals. Denn sein Herz lebte. Was
aber war gewesen während all der Zeit, in der er das geworden, was er nun
war? – Erstarrung; Öde; Eis; und Geist! Und Kunst!…
Er entkleidete sich, legte sich zur Ruhe, löschte das Licht. Er flüsterte zwei
Namen in das Kissen hinein, diese paar keuschen, nordischen Silben, die
ihm seine eigentliche und ursprüngliche Liebes-, Leides- und Glückesart,
das Leben, das simple und innige Gefühl, die Heimat bezeichneten. Er
blickte zurück auf die Jahre seit damals bis auf diesen Tag. Er gedachte der
wüsten Abenteuer der Sinne, der Nerven und des Gedankens, die er
durchlebt, sah sich zerfressen von Ironie und Geist, verödet und gelähmt
von Erkenntnis, halb aufgerieben von den Fiebern und Frösten des
Schaffens, haltlos und unter Gewissensnöten zwischen krassen Extremen,
zwischen Heiligkeit und Brunst hin und her geworfen, raffiniert, verarmt,
erschöpft von kalten und künstlich erlesenen Exaltationen, verirrt,
verwüstet, zermartert, krank – und schluchzte vor Reue und Heimweh.
Um ihn war es still und dunkel. Aber von unten tönte gedämpft und
wiegend des Lebens süßer, trivialer Dreitakt zu ihm herauf.
IX